Klappentext Ein unheimlicher Fledermauskönig und seine riesige Vampirgefolgschaft haben Sunnydale heimgesucht und stell...
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Klappentext Ein unheimlicher Fledermauskönig und seine riesige Vampirgefolgschaft haben Sunnydale heimgesucht und stellen Buffy vor große Rätsel. Hat diese grausame Brut etwas mit den Zukunftsvisionen einer mysteriösen Seherin zu tun, von welcher der Geist der alten Jägerin Lucy Hanover berichtet? Buffy muss schnell handeln, um dem brutalen Unwesen ein Ende zu setzen. Doch anstatt zusammen mit Giles, Willow, Oz und Xander gegen diese neue, unberechenbare Gefahr vorzugehen, schlägt die Jägerin trotzig die Hilfe ihrer Freunde aus. Buffy hat sich in den Kopf gesetzt, Camazotz und seine Vampire ganz alleine zu bekämpfen. Eine fatale Entscheidung! Denn als Giles sich nicht beirren lässt und Buffy helfen will, den Unterschlupf der Vampirhorde ausfindig zu machen, kommt es zu einer Katastrophe, die ungeahnte Folgen haben wird...
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Christopher Golden
Die verlorene Jägerin Erstes Buch Die Prophezeiung Aus dem Amerikanischen von Sabine Arenz
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Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Buffy, im Bann der Dämonen– Köln: vgs Die verlorene Jägerin / Christopher Golden. Aus dem Amerikan. von Sabine Arenz Buch I. Die Prophezeiung. – I. Aufl. – 2001 ISBN 3-8025-2873-5
Das Buch »Buffy – Im Bann der Dämonen. Die verlorene Jägerin. Erstes Buch. Die Prophezeiung« entstand nach der gleichnamigen Fernsehserie (Orig.: Buffy, The Vampire Slayer) von Joss Whedon, ausgestrahlt bei ProSieben. © des ProSieben-Titel-Logos mit freundlicher Genehmigung der ProSieben Television GmbH Erstveröffentlichung bei Pocket Books, New York 2001. Titel der amerikanischen Originalausgabe: Buffy, The Vampire Slayer. The Lost Slayer. Part one. The Prophecies. ™ und © 2001 by Twentieth Century Fox Film Corporation. All Rights Reserved. I. Auflage 2001 © der deutschsprachigen Ausgabe: Egmont vgs Verlagsgesellschaft mbH Alle Rechte vorbehalten. Produktion: Sebastian Sabors Umschlaggestaltung: Sens, Köln Titelfoto: © Twentieth Century Fox Film Corporation 2001 Satz: Kalle Giese, Overath Druck: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3-8025-2873-5
Besuchen Sie unsere Homepage: www.vgs.de
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1 Buffy war bereit, doch weit und breit gab es nichts zum Jagen. Ein kalter Wind wehte vom Pazifischen Ozean. Buffy Summers zog den Reißverschluss ihres marineblauen Sweatshirts bis zum Hals hoch und fröstelte. Sicher, es war November, aber normalerweise war es in Kalifornien zu dieser Jahreszeit noch nicht so kalt. Am liebsten hätte sie sich die Kapuze über den Kopf gezogen, verzichtete aber darauf, weil sie keine Lust hatte, für ein Gangmitglied gehalten zu werden. Buffy ging an der Strandpromenade entlang, steckte die Hände in die Taschen ihres Sweatshirts und murmelte etwas vor sich hin. Ihr Blick schweifte über den Kai, die Konservenfabrik und die großen Frachtschiffe draußen auf der See. Auch Sunnydale besaß schöne Strände, wie überhaupt ganz Kalifornien, aber dieser hier gehörte definitiv nicht dazu. Das hier war Docktown, ein Stadtviertel, das die Industrie- und Handelskammer vor den Touristen zu verbergen suchte. Eigentlich war es erstaunlich, dass die Straßen immer noch auf dem Stadtplan verzeichnet waren. Bis jetzt war die Patrouille vollkommen ereignislos verlaufen – und es war schon spät. Mitternacht war vorbei, und Buffy hätte schon längst zu Hause im Bett liegen müssen. Am nächsten Morgen um zehn vor neun hatte sie einen Kurs, und sie wollte auf keinen Fall zu spät kommen. Nun, da sie aufs College ging, hatte sie ein neues Kapitel in der Geschichte der Jägerinnen aufgeschlagen. Den Rat der Wächter hatte die Erfahrung gelehrt, dass eine Jägerin nicht sowohl ihren privaten und beruflichen Interessen nachkommen als auch erfolgreich im Kampf gegen die Mächte der Finsternis sein konnte.
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Ganz egal, was die Zukunft bringen würde, Buffy war fest entschlossen, den Rat der Wächter vom Gegenteil zu überzeugen. Sie würde die beste und fähigste Jägerin aller Zeiten sein. Aber sie wollte auch ernsthaft studieren und das Studentenleben kennen lernen. In ihrer Schulzeit hatte sie manchmal Schwierigkeiten gehabt, beides miteinander zu vereinbaren, und oft genug hatte sie alles vermasselt. Aber mit dem College würde alles anders laufen. Okay, eine normale Studentin würde sie wohl niemals sein, aber mithilfe ihrer Kräfte als Jägerin würde es ihr schon irgendwie gelingen, beides miteinander zu vereinbaren. So hoffte sie zumindest. Falls ich es schaffe, morgen früh rechtzeitig zum College zu kommen, dachte sie dann. Was zum Teufel mache ich hier eigentlich die ganze Zeit?, kam ihr plötzlich in den Sinn. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten, und sie war recht einfach: ihren Job. Sie tat genau das, was von ihr erwartet wurde. Buffy war die Jägerin, die Auserwählte, das einzige Mädchen auf der ganzen Welt, das die Macht besaß, gegen die Mächte der Finsternis anzutreten. Doch heute Nacht war es recht ruhig gewesen. In Sunnydale nachts nach dem Rechten zu sehen war ein wichtiger Bestandteil ihrer Arbeit als Jägerin. Aber wenn die Patrouille so ruhig war wie heute, kamen ihr gelegentlich Zweifel. Zweifel daran, ob es ihr gelingen würde, den Balanceakt zwischen der Schule, ihrer Mutter, ihren Freunden und ihrem Job als Jägerin zu vollführen. Was sie jetzt brauchte, war Action, Adrenalin, ein oder zwei nette kleine Monster. Buffy und Monster. Buffy, wie sie den Monstern einen Tritt in den Hintern verpasst. Genau das brauchte sie jetzt, um nicht auf dumme Gedanken zu kommen. Plötzlich gellte ein Schrei durch die Nacht, kurz und brutal wie ein Schuss. Buffy schauderte – auch noch, als das Echo 6
schon längst nicht mehr zu hören war. Trotz dieses erschütternden Schreis konnte sie ein flüchtiges Lächeln nicht unterdrücken. Ihr Herz pochte laut, und wie der Blitz rannte sie über den Kai und ließ die Hafenmeisterei und einen lang gezogenen, hässlichen Betonklotz, in dem die Büros mehrerer Schiffsreedereien untergebracht waren, hinter sich. Sie erwartete einen weiteren Schrei, aber es war nichts mehr zu hören. In der Dock Street raste sie Richtung Stadt und kam an einem Spirituosengeschäft und an ein paar heruntergekommenen Mehrfamilienhäusern vorbei, deren Zimmer an Fischer und Fischhändler vermietet wurden. Einen halben Block weiter fiel ihr Blick auf das ramponierte und flackernde Neonschild des Fish Tank. Sie vermutete, dass der Schrei hier herkam. Vor dem Laden war niemand zu sehen, also begab sich Buffy direkt zum Eingang der Kneipe, der sich seitlich, in unmittelbarer Nähe einer übel riechenden Gasse befand. Diesen Schuppen als ›Kneipe‹ zu bezeichnen, war eine Beleidigung für alle anderen Kneipen dieser Welt. Kein Anzeichen eines Kampfes in der Gasse. Buffy runzelte die Stirn. Vielleicht hatten sie ihre JägerinnenInstinkte getäuscht. Sie schaute sich aufmerksam um und suchte nach Hinweisen auf denjenigen, der den Schrei ausgestoßen haben könnte. Sie kannte diesen Ort; sie war auf einer Patrouille schon einmal hierher geraten. Das Fish Tank war einer jener Orte, an dem anspruchslose Vampire, die sich davor fürchteten, die Aufmerksamkeit der Jägerin auf sich zu ziehen, gerne auf die Jagd gingen. Sie glaubten nämlich, es läge außerhalb von Buffys Wirkungskreis. Doch da täuschten sie sich. Aus der Gasse drang nun gedämpftes Lachen. Es schien aus dem hinteren Teil zu kommen, der vollständig in Dunkelheit getaucht war. Irgendetwas lauerte dort im Dunkeln; Wesen, deren leises und obszönes Gekicher auf finstere Absichten schließen ließ. 7
Buffy war seltsam fasziniert, dass ein einziges Lachen so viel Bösartigkeit verraten konnte. Sie lief die dunkle Gasse hinunter, die von den Häusern auf beiden Seiten völlig eingeschlossen war, blieb dann an einem Haus stehen, lehnte sich an eine Ziegelsteinmauer und verharrte regungslos. Zu ihrer Linken lag der kleine gepflasterte Hinterhof des Fish Tank, der nur von einer einzigen Glühbirne über der Hintertür beleuchtet wurde. In dem trüben gelblichen Licht konnte sie einen offenen Müllcontainer erkennen, der vor zusammengedrückten Bierdosen und den Überresten von etwas, das diese Kneipe wohl als Essen bezeichnete, nur so überquoll. Der Weg hinter den kleinen Häusern und Geschäften war so schmal, dass Buffy sich fragte, wie die Müllabfuhr es schaffte, sich dort hindurchzuquetschen – wenn auch nur einmal die Woche. Es stank bestialisch, so viel war klar. Aber weitaus wichtiger als der Gestank war die Tatsache, dass dieser Ort sehr abgelegen und gefährlich war, da er auf der einen Seite von den Häusern und auf der anderen Seite von einem Zaun begrenzt wurde und man im Falle einer plötzlich notwendigen Flucht nicht eben leicht entkommen konnte. Das war kein Ort, an dem man sich freiwillig lange aufhalten würde. Und doch hatten sie sich irgendwie die Frau dort hinten geschnappt. Vampire. Die Frau wurde von drei Vampiren bedrängt. Sie hatte nur einmal geschrien, zu weiteren Hilferufen war sie nicht mehr in der Lage gewesen. Sie hingen über ihr, als würden sie sich in einer Art Trance befinden, einer mit seinem Mund an ihrem Hals. Seine Fangzähne bohrten sich in ihr weiches Fleisch, sodass ein kleiner Bach aus Blut auf den Kragen ihres Aerosmith-T-Shirts rann und ihn dunkelrot färbte. Die anderen beiden saugten an ihren Armen und schienen konzentrierter 8
vorzugehen, da noch kein Blutstropfen danebengegangen war. Auf der nackten Haut der Vampire entdeckte Buffy Tätowierungen, aber die Symbole waren ihr fremd, und sie konnte nur vermuten, dass sie irgendeine geheimnisvolle Bedeutung hatten. Ansonsten waren die Blutsauger ganz in Leder gekleidet. Die Frau war wahrscheinlich um die vierzig, und ihr Aerosmith-T-Shirt und die ausgefransten Jeans ließen darauf schließen, dass sie ein Stammgast des Fish Tank war. Rocker, Alkoholiker und ähnliches Volk waren dort an der Tagesordnung, und eine Frau konnte fünfundzwanzig sein und wie vierzig aussehen – trotzdem fuhren jede Menge dieser Typen auf sie ab. Was für ein Leben, ging es Buffy durch den Kopf. Sie konnte nicht begreifen, dass es Läden wie das Fish Tank und vor allem genügend Leute, die auch noch regelmäßig dort hingingen, überhaupt gab. Aber es war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, sich darüber Gedanken zu machen. Handeln war angesagt. Rache nehmen. Aus dem, was sie sah, konnte Buffy schließen, dass die Frau ihre Hilfe nicht mehr benötigte: Drei Vampire saugten ihr gleichzeitig das Blut aus, und sie hing völlig schlaff, mit gläsernem Blick in ihren Armen. Zu spät, dachte Buffy bitter. Sie nahm einen langen Pfahl mit einem glatten Griff und einer scharfen Spitze aus einem kleinen Halfter an ihrem Rücken. Sie mochte es, sein Gewicht in ihrer Hand zu fühlen. Sie holte noch einmal tief Luft und schoss dann aus der Gasse auf die spärlich beleuchtete Zufahrt vor dem riesigen blauen Müllcontainer. Der Vampir, der seine Fänge tief in den Nacken der Frau gegraben hatte, gab einen grunzenden Laut von sich und richtete den Blick auf die Jägerin. Er hatte zwei schwarze Tattoos im Gesicht: eine Fledermaus mit ausgebreiteten 9
Flügeln über den Augen und ein weiteres Symbol, das aussah wie ein knorriger Bonsaibaum, auf der Höhe seines Kiefers. Seine Augen verengten sich. Zuerst dachte Buffy, dass ihr das gelbliche Licht etwas vorgaukelte, aber dann erkannte sie, dass sie sich nicht getäuscht hatte. Die Augen des Vampirs glühten in einem schwachen Orange, und sie schienen eine Art Energie auszustrahlen, die seinen ganzen Körper umgab und wie Elektrizität knisterte. Einem solchen Vampir war Buffy noch niemals zuvor begegnet. Einen Augenblick lang war sie wie gelähmt. Sie schüttelte den Kopf, als ihr wieder einfiel, wie sehr sie sich nach einem Kampf gesehnt hatte. Pass bloß auf mit dem, was du dir wünschst, mahnte sie sich. »Ich kann mich nicht entscheiden«, hob die Jägerin mit lauter und scharfer Stimme an, die kristallklar durch die kühle Nachtluft drang. »Vielleicht gehörst du zu einer Gang. Zu Sunnydales Fliegenden Bisamratten zum Beispiel. Oder so was in der Art«, sagte Buffy und zählte die Möglichkeiten an den Fingern ihrer linken Hand ab, hielt aber weiterhin den Pfahl umklammert. »Vielleicht hast du dich auch auf dem Weg zu einer Comic-Messe verlaufen. Oder aber, du hast Matrix zu wörtlich genommen und verwechselt jetzt Film und Realität.« Die Vampire ließen den leblosen Körper der Frau auf den Gehsteig sinken. Buffy fiel auf, dass die Augen der anderen ebenfalls in diesem merkwürdigen Orange glühten und eine stark energetische Aura absonderten. Das hatte die Jägerin bisher bei noch keinem Vampir ihrer gesamten Laufbahn erlebt. Alle drei hatten dasselbe Fledermaus-Tattoo im Gesicht. Der Effekt, der dadurch erzeugt wurde, war äußerst beängstigend. Langsam bewegte das Trio sich auf Buffy zu und bildete einen Halbkreis um sie, wie um sie daran zu hindern,
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die Flucht zu ergreifen. Natürlich hatte sie keineswegs die Absicht zu flüchten. »Dann bleibt nur noch eine Möglichkeit übrig«, sagte sie ruhig. »Alle eben genannten Möglichkeiten treffen zu.« Die drei Vampire gaben ein knurrendes Geräusch von sich, ihre Fangzähne funkelten in dem dämmerigen Licht, und ihre Augen glühten. Wenn sie sich bewegten, schien es, als würden sie zu einem einzigen Vampir verschmelzen, der wild zum Angriff ansetzte. Genau das hätte Buffy dazu verleiten können anzunehmen, dass sie gnadenlos dumm waren, wenn nicht ihre Augen diese finstere Intelligenz verraten hätten. Buffy machte es nervös, dass sie sich so still verhielten. Die Angeber und Aufschneider unter den Vampiren waren stets einfach zu töten. Die stilleren waren im Allgemeinen weitaus gefährlicher. Mit einem Zischen stürzten sie sich auf sie. Buffy wich zurück in Richtung Müllcontainer. Angeekelt von dem Gestank und der Anwesenheit der Vampire verzog sie den Mund. Sie machte einen Schritt auf sie zu. Der Vampir zu ihrer Rechten war nur noch wenige Zentimeter entfernt. Sie duckte sich so weit nach unten, bis er nicht mehr an sie herankommen konnte, schnellte dann hoch und rammte ihren Ellenbogen in seinen Nacken. Ohne ihn auch nur eines Blickes zu würdigen, brach sie ihm den Schädel. Bonsai stürzte sich schneller auf sie als erwartet. Als sie sich umdrehen wollte, um ihn zu pfählen, hatte er sie schon gepackt. Kräftige Hände umklammerten ihren Hals, und er hob sie mit einer Leichtigkeit in die Luft, die sie überraschte. Alle Vampire waren stark, aber das hier war ungewöhnlich. Die Kreatur schmetterte sie hart gegen den Müllcontainer, und ihr Kopf knallte auf das Metall. Wäre sie ein normaler Mensch gewesen, dann hätte sie jetzt tot sein müssen. Aber sie war kein normaler Mensch. Sie war die Jägerin.
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In ihrem Kopf explodierte ein Feuerwerk, und Sterne kreisten vor ihren Augen. Der Vampir drückte ihr die Luftröhre zu, und Buffy war dem Ersticken nahe. Ihre Augenlider flatterten einen Moment; sie fühlte, wie eine schreckliche Erschöpfung, eine dunkle Müdigkeit wie eine Welle über ihren Körper schwappte. Obwohl sie mit den Händen in sein Gesicht schlug und auf seinen Brustkorb trommelte, konnte sie sich nicht aus dem eisernen Griff befreien. Sie fragte sich, ob es vielleicht daran lag, dass der Vampir ihr auf irgendeine Weise Energie entzog. Oder bekam sie ganz einfach keine Luft mehr? Nicht dass es eine große Rolle spielte, welche der Vermutungen zutraf. Buffy sah nur eine Möglichkeit. Sie musste sich aus Bonsais Griff um ihren Hals befreien. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie, wie die anderen zwei – der eine hatte sich gerade wieder erholt – aus sicherer Entfernung dem Kampf zusahen und dabei grinsten wie Hyänen. Eine ungeheure Wut stieg in Buffy auf. Sie konzentrierte sich und vereinte tief in ihrem Inneren die Urkräfte der Jägerin. Dann stützte sie sich am Müllcontainer ab, riss die Beine hoch, presste sie dem Vampir gegen die Brust und schleuderte ihn davon. Auch die anderen zwei Vampire, die ihrem Kumpanen zu Hilfe eilen wollten, flogen schon bald darauf durch die Luft. Buffy sprang auf den Gehsteig und ging in die Hocke. Bei dem Versuch, sich aus Bonsais Griff zu befreien, hatte sie ihren Pflock fallen gelassen. Als die drei erneut auf sie zustürmten, hob sie ihn auf. Bonsai kam als Erster. Er näherte sich ihr, ohne selbst in Verteidigungsstellung zu gehen – wahrscheinlich in dem Glauben, dass ihre Flucht nur ein unglücklicher Zufall gewesen und sie ihm hoffnungslos unterlegen war. Zielstrebig rammte sie ihm den Pflock in die Brust, und die Spitze bohrte sich tief in sein Herz. Die Augen des Vampirs weiteten sich, was sehr komisch aussah, da sein schwarzes Fledermaus-Tattoo sich ebenfalls dehnte, und dann 12
explodierte er mit einem gedämpften Knall zu Staub und Asche. Die Jägerin war nun auf der Hut, sie würde sich nicht noch einmal von den Angreifern überwältigen lassen. Mit welcher Macht auch immer sie verbündet waren und was auch immer ihre Augen in diesem dunklen Orange glühen ließ, Buffy würde siegen. Sie wusste nun, dass es ihnen möglich war, ihrem Gegner die Energie zu rauben, so wie sie mithilfe ihrer Fangzähne einem Menschen das Blut aussaugten. Die beiden rasten auf sie zu. Buffy sprang in die Luft, drehte sich dabei einmal um die Achse, trat dann zu und erwischte einen der beiden. Doch der andere, dessen Körper über und über mit geheimnisvollen Symbolen tätowiert war, schaffte es, Buffy den Pflock zu entreißen. Das kostbare Stück rollte über den Boden, bis es in der Dunkelheit nicht mehr zu sehen war. Anschließend packte der Vampir sie brutal an’ den Haaren. Sie fühlte, wie ihre Kopfhaut zu bluten begann und er ihr, als er sie nach hinten schleuderte und ihr an die Kehle griff, einige Strähnen ausriss. Wie gebannt starrte er sie mit seinen orangefarbenen, glühenden Augen an, um kurz darauf seine Zähne in ihren Hals zu stoßen. Buffy zog verwundert die Augenbrauen hoch. Ich darf es nicht zulassen, dass er mich überwältigt, war ihr einziger Gedanke. Sie rammte ihren Kopf gegen sein Gesicht und nahm erleichtert wahr, wie sein Nasenbein zersplitterte und er rückwärts taumelte. »Willst du mich auf den Arm nehmen? Wenn du es auf mich abgesehen hast, wirst du mit dem Tod bezahlen, du Idiot. Diese Nosferatu-Nummer läuft bei mir nicht.« Während sie sprach, trommelte sie weiterhin mit den Fäusten auf ihn ein. Der Vampir versuchte sich zu verteidigen, aber es war ihm deutlich anzumerken, dass er kurz davor war aufzugeben. Er hatte die Oberhand verloren, und es war unwahrscheinlich, dass sich die Situation noch einmal zu 13
seinen Gunsten wenden würde. Buffy wirbelte herum und trat so fest zu, dass seine Rippen brachen, als er nach hinten flog und gegen den Zaun knallte, der die schmale Zufahrt begrenzte. Da entdeckte Buffy den Pflock. Schon wieder stürzten sich die Vampire auf sie, und ihr kam in den Sinn, dass diese Monster nicht nur sehr stark waren, sondern auch irgendwie überlegter vorgingen als andere. Dass sie alle die gleiche Tätowierung trugen, deutete darauf hin, dass sie sich organisiert hatten, und Organisation unter Vampiren war nicht nur äußerst selten, sondern auch ein sehr beunruhigendes Zeichen. Buffy holte zu einem Tritt aus und traf den Vampir zu ihrer Rechten, dann drehte sie sich blitzschnell herum und zerschmetterte mit einem schnellen Schlag den Kiefer des anderen Angreifers. Sie sank mit ihm auf den Boden und erledigte ihn schließlich mit ihrem Pflock. Er löste sich in Staub auf, und die Brise, die vom Meer herwehte, fegte seine Überreste davon, zusammen mit dem Gestank von abgestandenem Bier und vergammeltem Fisch. Der Vampir, der bis jetzt überlebt hatte, ging in die Knie und wimmerte. Buffy verpasste ihm einen Fußtritt, und er knallte gegen den Müllcontainer. Daraufhin packte sie ihn fest am Hals und hielt ihm den Pflock an die Brust, in unmittelbarer Nähe seines Herzens. »Die Tattoos. Was bedeuten sie?«, wollte die Jägerin wissen. Der Vampir grinste und leckte sich sein eigenes Blut von den Lippen und den rotgefärbten Zähnen. Die Haut an seiner Stirn war an genau der Stelle aufgerissen, wo die Fledermaus tätowiert war. »Mir gefällt nicht, dass ihr alle dasselbe Tattoo tragt. Mir gefällt nicht, dass ihr kein Wort sagt. Mir gefällt nicht, dass ihr euch vollkommen anders verhaltet, als es Vampire 14
normalerweise tun. Ich will Antworten. Entweder sagst du mir jetzt alles, was ich wissen will, und dein Tod ist kurz und schmerzlos, oder aber ich pfähle dich splitterfasernackt auf einem Dach dieser Betonklötze dort hinten, und dein Körper wird bei Sonnenaufgang Zentimeter für Zentimeter qualvoll verbrennen. Du bist zwar kein herkömmlicher Vampir, aber ich denke, du wirst ebenso gut brennen wie alle anderen.« Der Vampir verkrampfte sich, die Furchen auf seiner Stirn wurden tiefer, und ein knurrender Laut drang aus seiner Brust. Buffy presste die Spitze des Pflocks so fest an seine Brust, dass die Haut aufgeritzt wurde. Sie legte sich mit ihrem gesamten Gewicht auf den verletzten Vampir und antwortete ihm mit demselben drohenden Knurren. Sie behielt seine Hände im Auge, damit er nicht wie Bonsai versuchen würde, ihr die Energie auszusaugen. »Die Tattoos und eure Kampftaktik. Es gibt mehr von eurer Art als nur ihr drei. Wie viele? Wer ist euer Anführer? Wo versteckt ihr euch?« »Du wirst ihn nicht suchen müssen«, knurrte die Kreatur, und ihre heisere Stimme hatte einen Akzent, den Buffy noch nie zuvor gehört hatte.»Camazotz wird dich finden. Und seine Gefolgschaft ist unendlich.« »Wo ist sie?«, hakte sie nach. Er lachte gellend – ein heiseres, überlegenes, bösartiges Lachen. Buffy erhob sich, trat ihm gegen die Brust, stieß ihn auf den Boden und schleuderte ihn abermals gegen den Müllcontainer. »Die Sonne geht auf«, mahnte sie mit erzwungener Heiterkeit. »Du wirst rösten.« In einiger Entfernung hörte man nun Sirenengeheul. Buffy spähte hinüber zur Hintertür des Fish Tank und sah, dass sie beobachtet wurden. Die Tür war einen Spalt breit geöffnet, und ein paar Augen lugten hervor, aber nachdem man Buffys Blick bemerkt hatte, schlug man die Tür sofort zu. 15
Die Sirenen kamen näher. Dumme Fragen konnte sie jetzt überhaupt nicht gebrauchen. Leider hatte sie keine Zeit mehr, den Vampir die Straße hinunterzuschleifen und ihn auf ein Dach zu hieven. Buffy spürte, wie Wut in ihr hochstieg, aber sie versuchte sie abzuschütteln. Es ließ sich nicht ändern. Sie konnte schließlich nicht die ganze Nacht über die Kreatur wachen und dann am Morgen, ohne geschlafen zu haben, in ihren Kurs gehen. »Deine letzte Chance«, sagte sie zu dem Vampir. »Letzte Quizfrage. Was ist das für ein Geräusch, das da immer näher kommt?« Seine orangefarbenen, wilden und furchtlosen Augen funkelten noch einmal auf wie ein erlöschendes Feuer. Buffy pfählte ihn, und er löste sich in Staub auf. So viel dazu, Giles ein wenig Recherchearbeit zu ersparen, murmelte sie. Die Leiche des Opfers lag ausgestreckt an der Hauswand des Fish Tank, die Ärmel des Aerosmith-T-Shirts waren bis zu den Schultern hochgezogen. Buffy wusste, dass die Frau tot war, aber sie kniete sich neben sie auf den Boden und fühlte ihren Puls. Schließlich konnte sie doch nicht einfach so gehen. Aber natürlich war kein Puls mehr da. Das Sirenengeheul war jetzt ganz nah. Buffy stand auf und lief los, weg von diesem Ort, durchquerte die Hinterhöfe der Gebäude, wo weitere Mülltonnen auf die Müllabfuhr warteten. Als sie am Ende des Blocks angelangt war, hielt sie an und drehte sich um. Sie konnte das Blaulicht der Polizeiwagen in der Gasse sehen. Sie hatten den Weg genommen, der eigentlich für die Müllabfuhr vorgesehen war. Buffy bog um eine Ecke, und die Lichter hinter ihr verschwanden. Dann steckte sie den Pflock wieder in ihr Halfter zurück. Als sie ihre Patrouille begonnen hatte, war ihr kalt gewesen, jetzt schwitzte sie, und so zog sie ihr Sweatshirt aus und knotete es sich um die Hüften. Auf dem 16
Meer ertönte das Tuten einer Barke. Die salzhaltige Luft war erfrischend. Als Buffy endlich den Kopf auf ihr Kissen bettete, konnte sie nicht einschlafen. Jedesmal, wenn sie die Augen schloss, sah sie glühende orangefarbene Augen vor sich und spürte, wie sich kräftige Hände um ihren Hals schlossen und ihre Lebensgeister schwächer wurden. Ihr schwirrte der Kopf, wenn sie an diese neue Vampir-Spezies dachte. Die Tätowierungen und ihr Verhalten konnten nur bedeuten, dass sie einer Organisation angehörten. Sie waren Teil einer Einheit und nicht einfach eine Gruppe einzelner Aasfresser. Buffy musste am nächsten Tag dringend mit Giles darüber sprechen, und sie mussten herausfinden, mit was für einer dunklen Macht sie es diesmal zu tun hatten. Schließlich sank sie erschöpft in den Schlaf, und sie träumte. Sie träumte, wieder in Docktown zu sein... Orangefarbene Augen glühten aus jedem Schatten in der Gasse hervor. Sirenen schrillten von den Barken unweit des Kais, wo die Brandung gegen die hölzernen Wellenbrecher donnerte und gegen den Deich prallte. Ein kühler Wind strich durch das zerbrochene Schaufenster eines leer gefegten düsteren Ladens links von ihr und trieb Müll und Papierfetzen über die Straßen. Eine leere Bierflasche rollte über den Bürgersteig und klirrte melancholisch wie ein Windspiel. Buffy ging schneller. Die Kreaturen in den Schatten griffen nicht an, aber sie fühlte sich beobachtet, und ihr war unbehaglich zu Mute. Sie kam sich schwach vor, ängstlich, wie ein gehetztes Tier, das auf der Straße umherirrt und gleich überfahren wird... Als sie aufschaute, versperrte ihr ein Geist den Weg. Erschrocken wich Buffy ein Stück zurück und machte sich bereit zur Verteidigung. Ihr Herz klopfte heftig. Aber kurz 17
darauf entspannte sie sich wieder. Es war ein Geist, der da vor ihr stand, so viel war sicher. Diese spezielle Kreatur wollte ihr nichts Böses anhaben. Tatsächlich war die tote Frau, deren Geist nun schemenhaft und undeutlich vor ihr schwebte, vor Jahrhunderten selbst eine Jägerin gewesen. »Lucy?« Buffy starrte sie ungläubig an. Der Geist von Lucy Hanover wandelte nun auf den Ghost Roads, jenen Pfaden, die zwischen dem Diesseits und dem Jenseits verlaufen, und sie half verlorenen Seelen, den Weg zu ihrem ursprünglichen Bestimmungsort wieder zu finden. Sie hatte Buffy schon mehrere Male geholfen, erschien normalerweise aber nur Willow, was wohl in Zusammenhang mit Willows magischen Kräften stand. »Ich komme, um dich zu warnen, Buffy Summers«, flüsterte der Geist leise, mit einer Stimme wie Blätter, die im Wind rascheln. »Auf meinen Reisen bin ich der Seele einer alten Seherin begegnet. Sie verkündet, dass ein schreckliches Unheil bevorsteht.« Durch die schimmernde Gestalt des Geistes hindurch konnte Buffy auf die Straße blicken. Sie nahm den Schatten von etwas wahr, das soeben um die Ecke eines Häuserblocks huschte – und einen Hund, der an einer rostigen Kette angeleint war und versuchte, diesem Etwas hinterher zu laufen. Dann schlug der Hund Alarm. Buffy sah sich um und hoffte, dass die Polizei nichts gehört hatte und nicht herkommen würde, um nach dem Rechten zu sehen. Aber sie wusste, dass die Polizei nicht kommen würde. Sie war sich ihres Traumzustandes durchaus bewusst. Und trotzdem waren Buffys Träume nicht einfach nur Träume. Obwohl dieser hier in einer Art Traumlandschaft stattfand, hatte Lucys Besuch doch etwas sehr Reales. Lucy sprach so leise, dass die tosende Brandung fast ihre Worte übertönte. »Es wird deine Schuld sein«, sagte der Geist. 18
»Was meinst du damit?«, wollte Buffy wissen. »Was wird geschehen?« »Ich kann noch nichts Genaues sagen. Ich werde die Seherin wieder aufsuchen und hören, ob sie noch eine Vision gehabt hat. Bis dahin kann ich dir nur raten, bei all deinen Schritten äußerst vorsichtig und besonders wachsam gegenüber den dunklen Mächten zu sein, die sich um dich herum sammeln.« Der Geist der Jägerin schimmerte wieder auf, flimmerte und verwischte dann, wie ein Fernsehbild bei Sendepause oder Regenspritzer auf einer Windschutzscheibe, und dann war Lucy einfach verschwunden. Buffy starrte auf die Stelle, wo der Geist eben noch zu sehen gewesen war. Der Hund bellte nach wie vor. Ihre Lider flatterten, und sie öffnete kurz die Augen. Ein nachhaltiges Gefühl des Grauens hatte von ihren Gedanken Besitz ergriffen, und selbst als sie wieder einschlief, ließ es sich nicht aus ihrem Kopf verdrängen. »Na großartig. Vielen Dank auch«, murmelte sie, kurz bevor sie wieder in den Schlaf fiel. »Das war sehr hilfreich.« Doch es sollte nicht der letzte Traum sein, den sie in dieser Nacht haben würde. Und auch nicht der schlimmste.
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2 »Buffy!« Sie träumte, dass sie in Angels Wohnung vor dem großen Kamin, in dem ein Feuer brannte, in seinen Armen lag und schlief. Sie wusste, dass seine Umarmung alles war, auf das sie jemals hoffen konnte, und doch erfüllte die Berührung seiner starken Arme sie mit einem tiefen und andauernden Gefühl von Zufriedenheit und Frieden. Es war ein Frieden, den sie, wenn sie gemeinsam auf Jagd gingen, besonders in der letzten Zeit niemals empfunden hatte. Harmonie. Doch dieses Gefühl wurde plötzlich von einem finsteren Verdacht verdrängt. Das Lächeln in ihrem schlafenden Gesicht gefror. Sie spürte, wie eine nicht greifbare bösartige Präsenz versuchte, in ihre Gedanken einzudringen, sie aus Angels zärtlicher Umarmung fortzureißen und in eine Welt aus Chaos, Furcht und Schrecken zu ziehen. »Buffy!« Etwas griff mit eisiger Hand nach ihrer nackten Schulter, und die Wärme des Kaminfeuers schwand noch im selben Augenblick. Buffy schüttelte den Kopf und versuchte, sich der Macht des Wesens entgegenzustellen. Ihr Blick fiel auf Angel, aber er schlief immer noch und ahnte nicht, dass sie angegriffen und von ihm fortgerissen wurde. »Nein!«, brüllte sie und schreckte vor der eisigen Berührung des Wesens zurück. Sie holte zu einem mächtigen Schlag aus und... »Nein!«, zischte Buffy und fand sich mit halb geschlossenen Augen und noch völlig benommen von ihrem Traum aufrecht im Bett wieder. Sie versuchte, ihre Gedanken zu ordnen, die so verworren waren, als hätte jemand in ihrem Kopf ein Spinnennetz gewoben, während sie geschlafen hatte. 20
Sie blinzelte ein- oder zweimal. Ihre Fingerknöchel schmerzten von dem Schlag, zu dem sie noch vor einem Moment ausgeholt hatte. Sie blickte auf ihre Hand und spürte, wie die Angst wieder in ihr hochstieg, dann wandte sie sich nach rechts, wo ihre beste Freundin und Mitbewohnerin Willow Rosenberg saß und die Hand auf einen roten Fleck in ihrem Gesicht presste, der immer größer wurde. Willows Augen waren vor Schreck weit aufgerissen, und ihr Mund war zu einem ›o‹ geformt, was unter anderen Umständen sicher lustig ausgesehen hätte. »Oh Gott, Will«, flüsterte Buffy. »Oh... ich habe... ich habe geträumt. Es tut mir Leid.« Willow runzelte die Stirn und rieb sich die Wange. »Das war das letzte Mal, dass ich dich geweckt habe.« Sie seufzte frustriert, griff dann nach einem dünnen Sweatshirt, das über der Lehne ihres Schreibtischstuhls hing, und zog es über den Kopf. »Bist du in Ordnung?«, fragte Buffy. Sie kletterte aus dem Bett und strich sich die vom Schlaf zerzausten Haare aus dem Gesicht. »Ich... ich weiß nicht, wie das passieren konnte. Ich hatte diesen Traum, und ich schätze, dein Versuch mich zu wecken, war irgendwie ein Teil davon, aber im Traum warst du dieses schreckliche Monster, das versucht hat...« Während Buffy sprach, war Willow zum Spiegel gegangen und tastete nun behutsam die Schwellung auf ihrer linken Wange ab. Sie wimmerte, als sie zu fest drückte. Buffy war von ihrer Tat so geschockt, dass sie mitten im Satz abbrach, und Willow drehte sich um und sah ihr in die Augen. »Dein Wecker hat ein paar Mal geklingelt. Du hast ihn einmal ausgestellt, aber er ging noch einmal an. Dann hast du ihn ganz ausgestellt. Das ist jetzt eine halbe Stunde her. Da in ungefähr« – sie blickte auf ihre Uhr – »sieben Minuten dein Kurs anfängt, dachte ich, es wäre besser, dich zu wecken. Du
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hast gesagt, dass du es dir nicht leisten kannst, ihn zu verpassen.« Buffy öffnete den Mund, fand aber keine Worte. Fassungslos schüttelte sie den Kopf und holte tief Luft. »Es tut mir echt Leid, Will. Gestern Nacht auf der Patrouille ist es sehr spät geworden. Ich glaube, ich hatte einfach Schlaf nachzuholen. Wie kann ich das wieder gutmachen?«, fragte sie strahlend. »Darf ich dich auf ein paar Mochaccinos einladen?« Willows ärgerlicher Gesichtsausdruck blieb noch einen Moment bestehen. Nicht, dass Buffy es ihr hätte übel nehmen können. Dann verschwand er jedoch so plötzlich, als wäre er nie da gewesen. Willow bot Buffy unmissverständlich ihr scheues, halb angedeutetes Lächeln an und verdrehte die Augen. »Heute Nachmittag nach dem College. Aber ich bestehe auf jede Menge Schlagsahne. Ach, ich bin so schwach.« Sie seufzte. »Ich sollte mich doch langsam daran gewöhnt haben, dass ich so verfressen bin.« Buffy nickte verständnisvoll. »Es ist nicht deine Schuld. Ich war nicht fair.« Mochaccinos sind wie ein Lockstoff für Willow, dachte sie. »Sie machen mich willenlos«, stimmte Willow dann auch zu. »So wirst du deine Freunde ein für alle Mal los. Umfassendes Wissen über ihre Verwundbarkeit, und sie sind erledigt.« »Das ist der Grund, warum ich dich niemals zum Feind haben will. Wenn wir gegeneinander kämpfen, wird niemand gewinnen.« Willow warf ihr ein breites Lächeln zu und jammerte dann vor Schmerzen, weil sie ihre Verletzung vergessen hatte, die ihr diese Gesichtsregung übel nahm. »Oh, Will«, sagte Buffy schnell und kam zu ihr. »Tut es so weh? Ich hoffe, ich habe dir nicht den Kiefer gebrochen oder so. Lass mich das mal genauer ansehen.«
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Sie traten ans halb geöffnete Fenster, wo Buffy Willows Gesicht im Sonnenlicht besser betrachten konnte. Die Schwellung war schon ein wenig zurückgegangen, aber der rote Bluterguss hatte sich schnell in einen dunkelvioletten Fleck verwandelt, der zu Willows Ärger sicher einige Aufmerksamkeit erregen würde. Eine kühle Brise wehte durch das Fenster, und Buffy fröstelte. »Das sieht gar nicht gut aus. Bist du sicher, dass du das nicht irgendwie verdecken willst? Ich könnte dir einen schönen Verband anlegen.« Traurig schüttelte Willow den Kopf. »Dann würde das so aussehen, als hätte mein Freund mich geschlagen, meinst du nicht? Ich will auf keinen Fall, dass jemand denkt, ich habe etwas zu verbergen. Das wäre peinlich, vor allem für Oz.« »Oz«, wiederholte Buffy und fuhr zusammen. »Er wird mich umbringen.« »Immerhin hast du seine Freundin geschlagen«, sagte Willow resigniert. Dann nickte sie entschlossen. »Ich werde mit ihm sprechen und versuchen, ihn von einer Kurzschlussreaktion abzuhalten. Davon abgesehen dürfte ein bisschen Camouflage ausreichen, das Ganze abzudecken. Ich brauche nur etwas Zeit. Am besten heute Nachmittag nach dem College. Da wir gerade davon sprechen, hallo, College? Du bist die neue Super-Buffy, erinnerst du dich? Supergirl. Du solltest dich mal auf den Weg machen.« Buffy wurde von Panik ergriffen. Die nächsten Tage würden ihren Entschluss, ihr Leben besser zu organisieren und gleichzeitig eine gute Jägerin und gute Studentin zu sein, auf eine harte Probe stellen. Morgen hatte sie eine Klausur in Geschichte, und am Montag musste sie ein Thesenpapier in Soziologie abliefern. Aber was ihr am meisten Sorgen bereitete, war neben ihren studentischen Verpflichtungen die
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Tatsache, dass sich in Sunnydale eine neue Vampir-Spezies breit gemacht hatte. Manchmal kam sich Buffy vor wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde. In ihrem speziellen Fall machte das Mädchen Buffy der Jägerin das Leben schwer – und umgekehrt. Ein wunderbares Beispiel hierfür war die Tatsache, dass sie gerade ihre beste Freundin geschlagen hatte. Aber Buffy war überzeugt, dass sie es, wenn sie nur hart genug arbeitete, schaffen konnte, die beiden Seiten ihres Lebens miteinander zu vereinbaren. »Ich werde wohl ein wenig zu spät kommen«, meinte sie. »Professor Blaylock wird sauer sein, aber ich muss mit Giles sprechen. Es gibt Neuzugänge in der Stadt, und ich würde gerne herausfinden, mit wem genau ich es da zu tun habe.« Willow nickte besorgt. »Wir gehen heute Nachmittag zu ihm, direkt nach den Mochaccinos. Ich muss mich heute sowieso an den Computer setzen, da kann ich auch direkt für Giles recherchieren.« »Ich verstehe«, meinte Buffy schnell. »Du hast selber genug zu tun.« »Genauso wie du«, erinnerte Willow sie. Dann zuckte sie die Schultern. »Ich bin immer für dich da, wenn du meine Hilfe benötigst.« »Danke. Warte noch einen Moment.« Sie wählte Giles’ Nummer und verzog enttäuscht das Gesicht, als der Anrufbeantworter ansprang. »Giles«, sprach sie aufs Band, »ich bin’s. Die Patrouille letzte Nacht war ziemlich heftig. Wir sollten uns darüber unterhalten. Ich versuche es später noch mal.« Sie seufzte und legte den Hörer auf. Willow schaute sie ungeduldig an. Buffy zog, so schnell sie konnte, einen dicken Wollpullover und Jeans an. Dann durchwühlte sie hektisch ihre Sachen nach einem Haargummi.
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»Weißt du, nach der Geschichte mit Kathy frage ich mich wirklich, ob du geeignet bist für eine WG«, meinte Willow und zog scherzhaft die Augenbrauen hoch. Sie machte Spaß, so viel stand fest. Buffys Mitbewohnerin im ersten Semester war eine ziemlich nervige Tussi gewesen, die ihr mit ihrem schlechten Musikgeschmack und absoluter Schlampigkeit, was den Haushalt und das Zusammenleben betraf, auf die Nerven gegangen war. Außerdem war sie ein Dämon gewesen, aber das war eine andere Geschichte. »Du bist eine Verräterin, Will. Danke, dass du mir so in den Rücken fällst«, erwiderte sie trocken. Sie schmunzelte, als sie sich aufs Bett setzte und die Schuhe anzog. »Okay, ich bin ständig unterwegs, aber ich glaube, ich bin trotzdem eine gute Mitbewohnerin. Und du bist auch nicht gerade perfekt. Nasse Handtücher auf dem Teppich, CDs, die in der ganzen Wohnung verstreut rumfliegen, und dann deine Lernerei. Du steckst deine Nase sogar noch nachts in die Bücher, sodass ich einen totalen Minderwertigkeitskomplex kriege. Kathy hatte die Entschuldigung, dass sie ein Dämon war. Aber was ist deine?« Willow antwortete nicht, und als Buffy hochschaute, musste sie feststellen, dass ihre Freundin sie mit einem verletzten Gesichtsausdruck anstarrte. »Ich habe nie behauptet, perfekt zu sein«, erwiderte Willow kühl. Sie war anscheinend sehr verärgert. »Mensch, ich habe doch nur Spaß gemacht«, meinte Buffy. Aber plötzlich war sie sich dessen nicht mehr so sicher. Ein Teil von ihr hatte diese Dinge ernst gemeint. Es war ihr nur rausgerutscht, weil sie so müde und erschöpft war, aber jetzt konnte sie ihre Worte nicht mehr rückgängig machen. Sie ging zu Willow und legte ihr eine Hand auf die Schulter. »Wirklich«, versicherte sie ihr. Willow nickte. »Ich weiß. Wir haben beide zu wenig Schlaf abbekommen. Dann sagt oder tut man manchmal sonderbare 25
Dinge und muss auch noch alles im College mitkriegen. Ich komme mir manchmal vor, als wäre mein Leben eine Seifenoper. Vielleicht solltest du versuchen, den Frust deiner Patrouillen beim Lernen abzubauen. Wir haben doch genug Freunde, die uns unterstützen.« Buffy atmete erleichtert auf. »Du hast vollkommen Recht. Ich putze mir noch schnell die Zähne, und dann können wir los.« »Wenn es dir nichts ausmacht, gehe ich schon mal vor«, antwortete Willow und ging Richtung Tür. »Ich möchte nicht zu spät kommen.« »Oh«, meinte Buffy leise. »Ist gut.« Willow verließ die Wohnung ohne ein weiteres Wort und zog die Tür hinter sich zu. Buffy starrte ihr nach und ließ das, was sich gerade abgespielt hatte, noch einmal Revue passieren. Willow hatte es abgestritten, aber Buffy wusste, dass ihre Worte sie verletzt hatten. Einen Fausthieb mitten ins Gesicht konnte sie verzeihen, aber die scherzhaften Bemerkungen über sie als Mitbewohnerin gingen tiefer. Buffy hatte Probleme, das nachzuvollziehen, und sie hoffte, dass Willow es im Laufe des Tages nicht mehr so ernst nehmen würde. Schließlich waren sie beste Freundinnen. Sie hielten zusammen, was immer auch passierte. Mittlerweile war es spät geworden, und ihr Kurs hatte vor drei Minuten begonnen. Professor Blaylocks Soziologie-Kurs fand im Bibeau Social Science Building statt, in einem Hörsaal mit über zweihundert Sitzplätzen. Er war ein beliebter Dozent, und zu Buffys Glück war das Seminar gut besucht. So konnte sie normalerweise, wenn sie zu spät kam, durch die Hintertür in den Hörsaal spähen und brauchte dann nur noch den Moment abzupassen, in dem sich Blaylock zur Tafel umdrehte, um
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hineinzuschlüpfen und sich zu setzen, ohne dass er etwas davon mitbekam. In den letzten Wochen war sie häufiger zu spät gekommen, aber Blaylock hatte sie nur einmal dabei erwischt. Buffy eilte durch die Tür und war gerade auf der Hälfte der kurzen Treppe angelangt, als ein Typ mit Igelschnitt, einem muskulösen Nacken und einer Nase, die so aussah, als wäre sie mindestens einmal gebrochen, sie anschaute und ihr ein verschwörerisches Lächeln zuwarf. Ein Footballer, dachte Buffy. Er war ihr schon häufiger aufgefallen, aber sie hatte sich noch nie mit ihm unterhalten. Der Typ hielt mit einem zur Tafel gerichteten Blick einen Finger hoch, um sie zu warnen. Buffy hörte, wie Professor Blaylock über die »Epidemie der Depression in den Vereinigten Staaten« sprach, was wohl sein Lieblingsthema war. Dann schweifte er ab zu den Manisch-Depressiven, und seine Stimmlage veränderte sich, als spräche er mit dem Rücken zum Publikum. Erwartungsvoll blickte Buffy zu Mr. Football, der sich nun umdrehte und ihr mit einem Grinsen im Gesicht zunickte. Buffy huschte die letzten Stufen so unauffällig wie möglich hoch und drängelte sich an drei Leuten vorbei, da sie sich auf den Platz direkt neben Mr. Football in der letzten Reihe setzen wollte. »He, hallo Sie da!« Buffy blieb wie angewurzelt stehen. Es war die Stimme von Professor Blaylock. Sie drehte sich um und sah ihn verlegen vom anderen Ende des Hörsaals an. Er hatte die Hände in die Hüften gestützt und lächelte sie freundlich an. »Entschuldigung«, sagte Buffy schüchtern. Sie zuckte mit den Achseln und wies auf ihren Stuhl. »Ich wollte...« »Nein, nein, bitte bleiben Sie, wo Sie sind.«
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Buffy blinzelte überrascht und blieb peinlich berührt stehen, da alle Studenten im Hörsaal sie anstarrten beziehungsweise angrinsten. »Wie ist Ihr Name, bitte? Es tut mir Leid, aber ich kann mir nicht alle Namen merken.« »Buffy«, erwiderte sie rasch. »Würden Sie bitte lauter sprechen?« Er lächelte immer noch, aber Buffy wurde klar, dass das Lächeln alles andere als freundlich war. »Buffy Summers«, sagte sie jetzt mit schnippischer Stimme, da ihre Verlegenheit bereits in Ärger umschwang. »Ah, ja, Miss Summers. Darf ich annehmen, dass Ihr Zuspätkommen mit den letzten Vorbereitungen für Ihr Thesenblatt zusammenhängt?« Buffy runzelte die Stirn. »Nun ja. Ich meine, ich arbeite noch daran.« Professor Blaylocks Lächeln verschwand. »Sie arbeiten noch daran? Heißt das etwa, Sie haben es nicht geschafft, es rechtzeitig abzugeben?« Buffy wurde bleich. Ihr Mund war auf einmal ganz trocken. Die anderen Studenten starrten sie immer noch an, aber einige hatten aufgehört zu grinsen. Ihr Gesichtsausdruck glich jetzt mehr den mitleidigen Blicken, die man Verkehrsopfern zuwarf, wenn man an einem Unfall vorbeifuhr. »Der Abgabetermin ist doch erst am Montag. Ich... ich habe es mir aufgeschrieben.« »Dann haben Sie es falsch aufgeschrieben«, erwiderte Blaylock kühl. Auf einmal sah sie die drei Stapel mehrfarbiger Schnellhefter, die unten auf dem Tisch des Professors lagen. Sie erkannte die zwei Assistenten des Professors, die in der ersten Reihe saßen und sich zu ihr umdrehten. Sie schauten sie freundlich an, aber das machte es für Buffy nur noch schlimmer. 28
»Ich schätze, das muss ich wohl«, sagte sie so leise, dass sie nicht wusste, ob er es überhaupt gehört hatte. Aber das machte jetzt sowieso keinen Unterschied mehr. »Ich schätze, das haben Sie wohl«, wiederholte Blaylock, und eine Spur von Spott lag unverkennbar in seiner Stimme. »Wissen Sie, Miss Summers, wenn Sie heute rechtzeitig erschienen wären, hätte ich nicht so viel Aufhebens um Ihr Thesenpapier gemacht. Aber so bin ich nicht bereit zu glauben, dass das Ganze einfach nur ein Irrtum Ihrerseits war.« Buffy spürte, wie die Wut wieder von ihr Besitz ergriff. »Es war ein Missverständnis, Herr Professor.« »Möglich. Aber vielleicht sind Sie ja der Meinung, Abgabefristen würden für Sie nicht gelten. So oder so, Sie haben Ihr Thesenpapier nicht fertig, oder? Nun, dann tun wir Folgendes: Sie nehmen sich so viel Zeit, wie Sie brauchen. Bis zum Semesterende, wenn Sie wollen.« Buffy schaute ihn ungläubig an und schüttelte andeutungsweise den Kopf. »Ich glaube, ich habe Sie nicht verstanden.« »Das sollten Sie aber«, gab Blaylock zur Antwort. »Und jetzt lassen Sie mich fortfahren, ja? Sie geben das Papier ab, wann Sie möchten, Buffy. Aber mit jedem Wochentag, der verstreicht, haben Sie zehn Punkte weniger. Das Wochenende zählt nicht. Von Mitternacht an, Mittwoch, geht es los mit neunzig. Zwölf Uhr morgen Nacht achtzig und Montag siebzig. Wenn Sie sich entschließen sollten aufzugeben, es einfach bleiben lassen, geben Sie es eben nicht ab, aber dann garantiere ich Ihnen, dass Sie diesen Kurs nicht bestehen werden.« Buffy konnte ihn nur noch anstarren. »Jetzt können Sie sich setzen.« Mochaccinos mit Buffy waren eine große Enttäuschung für Willow. Am Nachmittag, nach ihrem letzten Kurs im College, war Willow gemeinsam mit Buffy zum Espresso Pump gegangen und hatte ihr Bestes getan, für eine entspannte und 29
fröhliche Stimmung zu sorgen. Sie hatte es sich so nett vorgestellt, zusammen mit ihrer besten Freundin, nur sie beide. Aber Buffy war dermaßen fertig mit den Nerven wegen dieser Geschichte mit ihrem Soziologieprofessor, der sie vor allen Studenten gedemütigt hatte, und sie war so unzufrieden mit sich selbst, dass ihr Treffen nicht gerade ein Erfolg gewesen war. Willow hatte versucht ihr klarzumachen, dass das Ganze einfach nur ein Versehen gewesen war und dass es jedem hätte passieren können. Aber Buffy war in letzter Zeit dermaßen hart zu sich selbst und verlangte sich so viel ab, dass scheinbar nichts von dem, was Willow sagte, sie von ihrer schlechten Laune abbringen oder besänftigen konnte. Es machte Willow wahnsinnig, dass sie nicht in der Lage war, ihr zu helfen. Wenn sie so viel Wert darauf legt, alles allein zu machen, wozu braucht sie mich dann noch?, fragte sich Willow traurig. Aber es war nicht nur die Traurigkeit, die ihr zusetzte. Als sie den Campus überquerte und zu dem Haus ging, das Oz zusammen mit ein paar anderen Studenten bewohnte, wurde ihr klar, dass auch sie frustriert und verärgert war. Irgendjemand musste mit Buffy reden. Sie war sich ziemlich sicher, dass es helfen würde, wenn jemand anderes mit ihr sprach. Aber so lange Buffy nicht mal ihr zuhörte, würde es vermutlich nichts bringen. Und die Wahrheit war, dass nichts und niemand Buffy dazu zwingen konnte, etwas zu tun, was sie nicht wollte. Der Bluterguss auf ihrer Wange drückte auf den Knochen, und Willow schrie vor Schmerz auf, als sie die Stelle berührte. Sie seufzte. Noch etwas benommen vom Schmerz klopfte sie an Oz’ Haustür. Ein großer, stiller Typ, mit dem Willow noch nie ein Wort gewechselt hatte, öffnete ihr. Er hatte den etwas seltsamen Namen Moon. Als Freundin eines Typen, der Oz hieß und sich gelegentlich in einen Werwolf verwandelte, war 30
Willow eigentlich mit den merkwürdigsten Dingen vertraut, aber dass Oz’ Mitbewohner nun auch noch Moon hieß, war mehr als nur ein bisschen ironisch. »Hi«, sagte sie und trat ein. Moon zog die Augenbrauen hoch und hob die Hand zur Begrüßung. Willow war nicht ganz klar, ob ihm ihr Kommen ungelegen war oder nicht, denn er drehte sich sofort wieder um und ließ sie allein an der Tür stehen. Sie stieg die Treppe zu Oz’ Zimmer hoch und trat ein. Oz saß mit einer großen Akustik-Gitarre auf dem Boden und spielte eine komplizierte Reihe von Akkorden so sauber durch, dass jeder, der ihn kannte, sofort feststellen musste, dass er ein weitaus talentierterer Musiker war, als er jemals zugeben würde. »Hi«, begrüßte ihn Willow leise. Oz blickte überrascht auf und brummte etwas. Normalerweise verzog er nie eine Miene, aber jetzt lief ein winziges Zucken durch sein Gesicht, dass Willow fast als Mienenspiel bezeichnet hätte. Es war nicht so, dass er immer denselben Gesichtsausdruck aufsetzte – sie brachte ihn oft genug zum Lachen – es kam nur äußerst selten vor, dass er eine Miene verzog. »Nettes Veilchen.« Oz unterbrach sein Gitarrenspiel nicht, verpatzte aber einen Akkord, während er sprach. »Ich habe Buffy heute Morgen geweckt. Sie hatte wohl einen Albtraum. Ich bin nicht scharf darauf, sie noch einmal zu wecken. Und, na ja, sie ist meine beste Freundin und so weiter, also nehme ich es ihr nicht weiter übel. Kann ja mal passieren. Aber später war sie so... ich weiß nicht... seltsam.« Oz hörte ihr aufmerksam zu. Willow setzte sich neben ihn auf den Boden. Oz sah sie an und spielte eine wunderschöne leise Melodie, einen Blues-Riff, den sie schon einmal gehört hatte. Er musste immer seine Finger in Bewegung halten. Wahrscheinlich merkt er nicht einmal, dass er gerade diese Melodie spielt, dachte Willow. 31
»Ich meine, klar, es ist ziemlich hart für sie, alles unter einen Hut zu kriegen. Aber sie ist schließlich nicht die Einzige mit diesem Problem. Okay, ich bin vielleicht nicht jede Nacht auf Patrouille oder muss ständig damit rechnen, im Kampf gegen die dunklen Mächte getötet zu werden, Buffy steht in dieser Hinsicht schon mehr unter Druck. Aber das alles ist noch lange kein Grund, so gereizt zu sein.« Willow schwieg und sah Oz an, der aufgehört hatte zu spielen. Ein winziges Lächeln umspielte seine Mundwinkel. »Du bist ihre beste Freundin«, sagte er. »Ich weiß«, antwortete Willow und runzelte die Stirn. »Aber das ist nicht so einfach.« »Warum nicht?« Sie öffnete den Mund, schwieg aber. Dann rückte sie näher, blickte ihren Freund missmutig an und seufzte. »Ich weiß, ich weiß. Ich sollte versuchen, mehr Verständnis für sie aufzubringen, wenn sie fertig ist mit den Nerven. Das tue ich ja auch! Oft genug! Und dieses Mal... vielleicht war es nicht genug. Ja, ich bin irgendwie sauer. Und nicht nur wegen des Veilchens. Aber ich mache mir auch Sorgen. Sie setzt sich selbst zu sehr unter Druck. Sogar Superman hat es geschafft, sein Leben als Superheld ganz klar von seinem normalen Leben zu trennen, aber kapiert denn keiner, dass Superman eine Comicfigur ist?« »Und als Nächstes willst du mir weismachen, dass es den Weihnachtsmann in Wirklichkeit gar nicht gibt.« »Du machst dich lustig über mich«, erwiderte Willow grimmig, »aber ich meine es ernst. Ich glaube, diese ganze Geschichte mit Martha Stewart und ihrem Perfektionswahn hat ihr ziemlich zugesetzt und kommt jetzt wieder hoch. Es muss sie wahnsinnig machen, dass sie so wenig Kontrolle über ihr Leben hat. Heute Morgen hat sich wieder etwas zusammengebraut... es liegt immer so etwas in der Luft, wenn die Jägerin auf neue Dämonen trifft, die Ärger machen... aber 32
sie redet mit keinem darüber. Das passt zu dem neuen Bild, das sie sich von sich selbst gemacht hat. Super-Buffy. Sie muss sich ganz schön allein fühlen.« Oz’ Miene verfinsterte sich. »Aber sie ist nicht allein«, sagte er. »Nein«, stimmte Willow zu. »Ist sie nicht. Aber wie kann ich ihr das beweisen?« »Vielleicht kannst du das nicht«, meinte er. »Vielleicht ist das etwas, was sie von ganz allein herausfinden muss.« Rupert Giles stand vor der schmalen Kochnische, die seine Vermieterin als Küche bezeichnet hatte, die aber seiner Meinung nach eher aussah wie die Bordküche eines Flugzeugs. Er öffnete den Ofen und warf einen Blick auf das Essen, das er gerade zubereitet hatte. In der ganzen Wohnung roch es danach. Er lächelte zufrieden und summte den Refrain »Going Mobile« von The Who. Giles öffnete den Kühlschrank, nahm die zwei Flaschen Piesporter heraus, die er zum Kühlen hineingestellt hatte, und stellte erfreut fest, dass sie nun kalt genug waren. Dann suchte er nach dem Brie, fand ihn und griff nach einer Packung Cracker. Er war gerade dabei, das Ganze auf einer Platte anzuordnen, als es plötzlich an der Tür klingelte. »Hmm?«, murmelte Giles. Er blinzelte und sah auf die Uhr, die über dem Ofen an der Wand hing. Es war kurz vor halb fünf und somit recht unwahrscheinlich, dass sein Gast so früh kommen würde. Neugierig ging er durch das Wohnzimmer und öffnete die Tür. Buffy stand mit einem breiten Grinsen im Gesicht vor ihm. Über ihrer Schulter hing die dunkle Tasche aus Segeltuch, in der sie für gewöhnlich ihre Waffen aufbewahrte. »Guten Abend, Buffy«, begrüßte er sie freundlich. »Was ist denn so lustig?«
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Langsam schüttelte sie den Kopf, und ihr Grinsen wurde noch breiter. »Kleider machen Leute.« Giles schaute an sich herunter. Er war lässig gekleidet, aber stilvoll, wie immer. Was findet sie daran so...?, fragte er sich, doch dann fiel der Groschen, und er lief rot an. Auf seiner Schürze war ein knallbunter, wütender Duffy Duck abgebildet, über dem in großen Buchstaben stand: »Wann ist denn nun das Essen fertig?«. »Sieht so aus, als würden Sie jemanden erwarten«, meinte Buffy. »Haben Sie mich vielleicht deshalb nicht zurückgerufen?« Giles bedachte sie mit einem erstaunten Blick. »Was? Du hast angerufen?« »Fünfmal.« Verwirrt blickte er zu dem kleinen Ecktisch im Wohnzimmer, auf dem ein altes schwarzes Telefon neben einem Anrufbeantworter stand, der bereits antiken Wert besaß. Eine Topfpflanze stand ebenfalls auf dem Tisch und verdeckte das Telefon und den Anrufbeantworter zur Hälfte. »Tut mir schrecklich Leid«, sagte er und ging durch das Zimmer zum Telefon. »Ich war heute Morgen einkaufen und bin wohl etwas zerstreut. Aber taub bin ich nicht. Ist fünfmal nicht ein bisschen übertrieben?« Während er sprach, schob er die Topfpflanze beiseite und entdeckte die rot leuchtende Anzeige auf dem Anrufbeantworter und direkt daneben die Zahl fünf. »Fünfmal«, wiederholte Buffy. Giles murmelte eine Entschuldigung, drehte sich zu Buffy um und zuckte die Schultern. »Entweder hast du immer den ungünstigsten Moment erwischt, oder ich war zerstreuter, als ich dachte.« »Oder beides«, erwiderte Buffy und lächelte nachsichtig. Dann wurde sie ernst. »Wann kommt Ihr Gast?« 34
Giles entging die leise Anspielung in ihrer Stimme nicht. »Jetzt noch nicht«, versicherte er ihr. »Olivia kommt für ein paar Tage, und ich koche gerade, aber ich bin durchaus in der Lage, mich gleichzeitig mit dir zu unterhalten und mich um das Essen zu kümmern.« Buffy zögerte. »Ich will Sie nicht von Ihren Kochkünsten abhalten.« »Verdammt noch mal, jetzt komm endlich rein«, rief er ungeduldig und winkte sie in die Wohnung. »Entschuldigung. Ich habe mich wohl ein wenig im Ton vergriffen.« »Auf alle Fälle habe ich es kapiert«, sagte Buffy amüsiert. Sie spazierte durch das Wohnzimmer und ließ sich zielstrebig im bequemsten Sessel nieder. »Also, was kochen Sie für Ihre Liebste?« Giles sah sie verblüfft an. »Nun, ich weiß nicht, ob sie ›meine Liebste‹ ist, aber ich habe Brathähnchen gemacht, eins ihrer Lieblingsgerichte.« Buffy starrte ihn an. »Ja,... ähm, es ist so kalt draußen, und Olivia hat immer einen Riesenappetit, also dachte ich...« Giles seufzte, setzte sich auf die Lehne des Sofas und verschränkte die Arme. Er sah sie ruhig an, wurde sich aber im selben Moment bewusst, dass seine Gelassenheit von dem wütenden Duffy-Duck-Motiv auf seiner Schürze wohl etwas beeinträchtigt wurde. »Nun denn. Wir haben wohl Ärger, nehme ich an?« Buffys Miene verfinsterte sich. »Und zwar gewaltigen«, gab sie zu. »Ich weiß noch nicht, wie schlimm es wirklich ist. Der Weltuntergang steht uns wahrscheinlich nicht sofort bevor, aber ich bin da auf ein paar sehr merkwürdige Dinge gestoßen, und ich dachte, dass Sie vielleicht ein wenig Recherchearbeit betreiben könnten.« Aufmerksam lauschte Giles ihrem Bericht über die Patrouille am vorherigen Abend, einschließlich des Traums, in dem ihr 35
Lucy Hanover erschienen war. Damals, als Buffy noch dem Rat der Wächter unterstellt war, hatte Giles als ihr Wächter fungiert. Doch es war schon eine Weile her, seit sie die Verbindung zum Rat abgebrochen hatten; bei Giles war es vom Rat ausgegangen, und Buffy hatte die Verbindung von sich aus gelöst. Obwohl Buffy nun nicht mehr offiziell als sein Schützling galt, bedeutete sie Giles doch sehr viel. Gut, er war nicht mehr ihr Wächter, dafür aber ihr Freund und Mentor. Sein Training brauchte sie jetzt nur noch äußerst selten, aber sein Rat und seine Erfahrung waren für die Jägerin unverzichtbar. »Diese Vampire sind interessant.« »Sie meinen wohl eher unheimlich und beängstigend?«, schlug Buffy vor. »Wie? Ja, ja, genau das meinte ich. So, wie du sie beschrieben hast, sind sie mir völlig unbekannt. Wenn sie der armen Frau nicht das Blut ausgesaugt hätten, würde ich mich ernsthaft fragen, ob sie wirklich Vampire sind. Das Aussaugen von Energie und die glühenden Augen lassen eher auf Dämonen schließen. Ich werde mich bei meiner Recherche zunächst auf diese Eigenschaften und die Tätowierungen konzentrieren. Vielleicht gehören sie einem Orden oder einer Bruderschaft an, und die Tätowierungen sind so eine Art Symbol ihrer Zusammengehörigkeit. Es könnte auch ein Mal ihres Meisters sein, dieses Camazotz, den sie erwähnt haben. Der Traum mit Lucy Hanover kann, muss aber nicht unbedingt damit in Zusammenhang stehen. Allerdings ist es ungewöhnlich, dass sie dir einen Besuch abstattet. Sie muss einen triftigen Grund dafür gehabt haben, und doch ist ihre Botschaft so verschlüsselt, so...« »Leider so undeutlich?«, bot Buffy an. »Ja, in der Tat«, gab Giles zu. »Du solltest in den nächsten Tagen besonders vorsichtig sein. Wir alle sollten das. Vielleicht sind diese Vampire, auf die du letzte Nacht gestoßen 36
bist, wirklich die Bedrohung, vor der der Geist dich gewarnt hat. Dieser Camazotz...« »Ich hatte das Gefühl, dass es noch mehr von ihnen gibt«, unterbrach Buffy ihn. Sie erschauerte bei dem Gedanken an die Fledermaus-Gesichter. »Noch viel mehr.« »Ich vertraue deiner Intuition«, sagte Giles. Er dachte einen Moment nach. »Camazotz. Der Name kommt mir bekannt vor, aber ich kann mich nicht erinnern, wo ich ihn schon mal gehört habe. Und ich begreife nicht, was diese Tätowierungen bedeuten sollen. Der Volksglaube verbindet Fledermäuse mit Vampiren, aber wie du ja selbst weißt, handelt es sich dabei nur um eine Legende.« »Vielleicht haben sie zu viele Filme gesehen«, schlug Buffy vor. Giles nickte bedächtig. »Alles wäre denkbar.« »Das war ein Witz«, bemerkte Buffy trocken. Er zog die Augenbrauen hoch, wie um sie zurechtzuweisen, als ihm plötzlich der Geruch von verbranntem Essen in die Nase stieg. »Oh Gott, das Hähnchen!« Er stürzte in die Küche, rammte sich dabei das Knie am Kaffeetisch und brüllte vor Schmerz auf. Dann öffnete er den Ofen und fasste mit der Hand hinein, wobei der Topflappen leicht verrutschte und sein Daumen das brutzelnde Hähnchen berührte. Er fluchte und stellte die Auflaufform auf die Arbeitsplatte, deren Kunststoffoberfläche daraufhin sofort zu schmelzen begann. Giles stopfte ein paar Topflappen unter die Form, aber es war bereits zu spät. Weder die Arbeitsplatte noch seinen armen Daumen konnte er retten, und diese Erkenntnis veranlasste ihn, lauthals vor sich hin zu schimpfen. Er hielt den Daumen unter lauwarmes Wasser, steckte ihn dann in den Mund und lutschte daran. Dann fiel ihm ein, dass er nicht allein war.
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Er schaute zu Buffy rüber und musste feststellen, dass sie ihn mit besorgtem Gesicht beobachtete. »Ist es sehr schlimm?« Verlegen nahm Giles den Daumen wieder aus dem Mund. »Es brennt, aber das geht schon.« »Eigentlich meinte ich das Essen. Ist es noch genießbar?« Er betrachtete die braune Kruste oben auf dem Hähnchen und nahm dann eine Gabel, um sie abzukratzen. »Ich werde es schon irgendwie hinkriegen. Ich muss nur die verbrannte Kruste oben abmachen, bevor Olivia...« Es klingelte an der Tür. Giles schloss die Augen und stöhnte auf. »Wissen Sie was?«, sagte Buffy fröhlich. »Ich gehe jetzt. Patrouille. Die Stadt, die niemals schläft, und so weiter und so fort. Vielleicht begegnen mir diesmal mehr von diesen Fledermaus-Gesichtern, und es gelingt mir – man weiß ja nie! –, ein Foto oder so für Sie zu machen. Und... Sie kümmern sich um diesen Camazotz?« »Okay, okay. Machst du bitte die Tür auf?« »Und keine Hektik, ja?«, sagte Buffy. »Ich werde mich darum kümmern, und ich rufe dich an, sobald ich etwas herausgefunden habe.« Buffy war nun an der Tür. Sie öffnete sie, und eine überrascht aussehende Olivia stand ihr gegenüber. Giles setzte sein strahlendstes Lächeln auf, dann fiel ihm die Schürze ein, und er zog sie schnell über den Kopf und legte sie auf einem Stuhl ab. »Hallo Olivia«, begrüßte Buffy sie. »Ich wollte gerade gehen. Einen schönen Abend wünsche ich.« Sie lächelte Giles an. »Und amüsieren Sie sich gut.« Dann verschwand sie und zog die Tür hinter sich zu. Giles sah Olivia an. Sie war gerade erst mit dem Flugzeug aus London eingetroffen und sah so perfekt aus wie immer. Sie trug dunkle Hosen und ein elfenbeinfarbenes Top, das ihre 38
samtweiche Haut besonders gut zur Geltung brachte. Ihr süßes Lächeln tat Giles gut, und er stieß einen langen Seufzer aus. »Dein Anblick ist Balsam für meine müden Augen«, ließ er sie wissen. »Du siehst aber auch nicht schlecht aus«, antwortete Olivia mit einem neckischen Grinsen. Sie ging auf ihn zu, schlang ihre Arme um seinen Hals und streckte ihm ihren Mund entgegen. Er küsste sie. »Ich fürchte, unser Essen ist ungenießbar«, gestand Giles dann. Olivias Augen leuchteten auf. »Das Essen kann warten, Rupert.« Xander hatte das Klopfen zunächst nicht gehört. Er lag ausgestreckt vor dem Fernseher auf dem Boden, und seine Hand steckte in einer Tüte Planters Cheese Curls. Das Video, das er sich anschaute, war die Raubkopie eines Actionfilms mit dem Titel God of Gamblers, und der supercoole Chow Yun-Fat spielte die Hauptrolle. Xander war vollauf damit beschäftigt, die englischen Untertitel, die in gelber Schrift auf dem unteren Teil des Bildschirms prangten, zu lesen, und sein Besucher musste ein paar Mal klopfen, bis Xander endlich reagierte. Er runzelte die Stirn, sah zur Tür, blickte dann wieder auf den Fernseher und versuchte sich einzubilden, dass es eine Halluzination wäre. Dann klopfte es noch einmal, und er sah sich genötigt, aufzustehen und zur Tür zu schlendern. Seine Hand steckte immer noch in der Chips-Tüte. »Ich trete in keine Sekten ein«, brummte er zu der unbekannten Person, die vor der Tür stand. »Ich kaufe keine Steakmesser oder Enzyklopädien.« Natürlich wusste er, dass derjenige, der vor der Tür stand, kein Hausierer sein konnte. Schließlich befand sich seine Tür auf der Rückseite des Hauses seiner Eltern und führte direkt in 39
die Kellerwohnung, in die er nach der High School eingezogen war. Diese Tatsache stimmte ihn irgendwie traurig, da er einen kurzen Augenblick lang gehofft hatte, eine Gruppe von Pfadfinderinnen vor seiner Tür vorzufinden. Wegen der Cheese Curls natürlich. Weil Cheese Curls ein guter Köder für Pfadfinderinnen sind, und die armen Dinger ganz versessen darauf sind, dachte er. Xander hielt die Chipstüte vor seine Brust und öffnete die Tür. Doch es war niemand zu sehen. »Hallo?« Er trat auf die kleine betonierte Veranda, blickte sich um und sah gerade noch, wie Buffy zurück zum Vordereingang des Hauses ging. Als sie seine Stimme erkannte, drehte sie sich um und lächelte ihn an. »Hi, Xand.« »Buffy, hi. Welchem glücklichen Umstand verdanke ich deinen Besuch?« »Ich habe dich schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen und dachte, ich schau mal vorbei und frage, ob du Lust hast, diese Nacht mal wieder damit zu verbringen, mich auf der Patrouille zu begleiten?« Xander starrte sie erstaunt an. In der High School waren er, Willow und Buffy unzertrennlich gewesen, und sie hatten zum Kern der Gruppe gehört, die sie scherzhaft The Scooby Gang getauft hatten. Sie waren gemeinsam ins Bronze gegangen, hatten sich in der Schulbibliothek getroffen und viel Zeit auf Friedhöfen verbracht. Aber seit das College begonnen hatte, war alles anders. Xander hatte beschlossen, nichts mehr zu machen, was der Schule auch nur im Geringsten ähnelte – und das, obwohl Willow, Buffy und Oz auf die U.C. Sunnydale, das College, gegangen waren. Die Scooby Gang existierte zwar nach wie vor, und besonders in Krisensituationen hielten sie zusammen wie früher, aber sie verbrachten viel weniger Zeit miteinander als damals. Deshalb war es ungewöhnlich, dass 40
Buffy zufällig vorbeischaute und fragte, ob er mit auf Patrouille gehen wollte. »Xander?« Buffy runzelte die Stirn und schubste ihn ein wenig. »Entschuldigung«, antwortete er und schüttelte den Kopf. »Mein Gehirn ist nicht in der Lage, mehrere Informationen gleichzeitig zu verarbeiten, und ich gebe mir die größte Mühe, sexuelle Anspielungen bei Sätzen wie ›Die-Nacht-damit-zuverbringen‹ zu unterdrücken.« »Ich verstehe.« Sie trat unruhig von einem Bein auf das andere, und Xander wusste sofort, was mit ihr los war, dass sie am liebsten sofort losgezogen wäre, um ein paar Vampire zur Strecke zu bringen. »Und, was ist jetzt mit der Patrouille?« Xander fühlte sich geschmeichelt, dass Buffy ihn dabeihaben wollte, und er war neugierig. Er rieb sich die Wange in der Hoffnung, dass es sehr nachdenklich aussehen würde. »Hmm, mal schauen. Vor dem Fernseher hocken und einen wunderbaren Hong Kong-Actionfilm gucken und dabei leckere Sachen knabbern oder die Action aus erster Hand erleben, dabei etwas für die Kondition tun und mein Leben aufs Spiel setzen.« Er zuckte die Achseln. »Versprich mir, dass du nicht wiederholst, was ich jetzt sage, denn aus einem unerklärlichen Grund, den nur mein Therapeut begreifen wird, denke ich, dass ich mich dafür entscheide, mein Leben zu riskieren.« Buffy sah verwirrt aus. »Und was ist mit Anya?« »Die ist unterwegs und haut gerade ihr Geld für Klamotten auf den Kopf. Sie hat irgendwas von einem weiblichen Grundbedürfnis erwähnt. Was auch immer das sein soll.« Er nickte und warf einen Blick zurück in die Wohnung. »Ich hole noch schnell meine Jacke.« Schon fast zwei Stunden waren vergangen, ohne dass sie etwas Übernatürlichem begegnet waren. Buffy war ein bisschen enttäuscht, da sie damit gerechnet hatte, auf die 41
Fledermaus-Vampire von letzter Nacht zu stoßen. Sie war sehr neugierig und wollte auf keinen Fall nach Hause gehen, ohne etwas Neues über sie herausgefunden zu haben, vor allem da Giles wahrscheinlich noch nicht mit seiner Recherche begonnen hatte. Natürlich hätte sie auch Willow bitten können, etwas über die neue Vampirspezies in Erfahrung zu bringen – sie hatte fast ein schlechtes Gewissen, dass sie es nicht getan hatte –, aber als sie sich heute getroffen hatten, war es Buffy so vorgekommen, als wäre Willow ihr gegenüber etwas angespannt und distanziert gewesen. Und das gefiel ihr ganz und gar nicht. Willow war ihre beste Freundin. Sie sollte in der Lage sein, mit ihr zu sprechen, wenn sie etwas bedrückte oder störte. Aber Buffy war ja auch nicht besser. Keine von ihnen hatte die Spannung gelöst, bis Buffy das Treffen damit beendet hatte, dass sie aufgebrochen war, um Giles einen Besuch abzustatten. Sie war besorgt gewesen, weil er sich so lange nicht gemeldet hatte. Buffy nahm sich fest vor, mit Willow zu sprechen, sobald sie zu Hause war, und die Unstimmigkeiten, die seit dem Morgen zwischen ihnen herrschten, aufzuklären. Mittlerweile bedauerte sie zutiefst, dass sie Xander gebeten hatte, sie zu begleiten. Was zum Teufel habe ich mir nur dabei gedacht?, ging es ihr durch den Kopf. Aber eigentlich wusste sie den wahren Grund für ihr Verhalten. Da Giles Besuch von Olivia hatte und es zwischen ihr und Willow momentan nicht so gut lief, hatte sie einfach jemanden an ihrer Seite gebraucht, der ihr das Gefühl gab, dass sie mehr war als nur die Jägerin. Sie und Xander waren bereits die Gegend um das Bronze und die Hauptfriedhöfe abgegangen, und Buffy bog nun rasch nach Westen ab, Richtung Meer, wo es ein paar nette Viertel in Strandnähe gab, die jedoch nicht ihr Ziel waren. Natürlich rechnete sie nicht damit, die tätowierten Vampire wieder am 42
Fish Tank anzutreffen, aber da auf den üblichen Jagdrevieren nichts los war, beschloss sie, sich die Gegend am Kai noch mal anzusehen. Xander jammerte, dass seine Füße ihm wehtäten, aber es hielt sich noch in Grenzen. Buffy hatte das Gefühl, er jammere nur dann und wann, um ein Gesprächsthema zu haben und sie an seine Anwesenheit zu erinnern. Wenn es noch nicht so spät gewesen wäre, hätte sie vorgegeben, die Patrouille zu beenden, ihn nach Hause gebracht und dann allein weitergemacht. Sicher, er brachte sie zum Lachen. So war er eben. Er gab ihr das Gefühl, ein ganz normaler neunzehnjähriger Teenager zu sein. Aber das geschah nur an der Oberfläche. Tief in ihrem Inneren machte sie sich Sorgen und warf sich vor, ihn nur mitgenommen zu haben, damit sie sich selbst einreden konnte, noch Freunde zu haben. Aber so schlimm war es nun auch wieder nicht, versuchte sie sich selbst zu beruhigen. Dieser Zwiespalt war nun mal ein Teil ihres Lebens geworden. Sie zwang sich, nicht daran zu denken, wie Professor Blaylock sie gedemütigt hatte, und sie verdrängte den Gedanken an das Thesenpapier, das sie noch immer nicht geschrieben hatte, und an die Klausur, die ihr am nächsten Tag bevorstand. Sie durfte sich jetzt nicht ablenken lassen. Es war ziemlich kalt, seit die Sonne untergegangen war, und sie zitterte trotz des dicken Wollpullovers, den sie über ihrem T-Shirt trug. Auch Xander klappte gerade den Kragen seiner Jacke hoch. Buffy drehte den Kopf und spannte ihre Halsmuskeln an; sie brauchte Bewegung, um die Nervosität abzubauen. Die Tasche über ihrer Schulter war lästig, aber notwendig: Sie hatte Wert darauf gelegt, eine Armbrust mitzunehmen. Xander hatte die paar Pflöcke, die sie ihm gegeben hatte, in die Taschen seiner dunkelbraunen Jacke gesteckt. Gemeinsam gingen sie den menschenleeren Gehsteig
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einer Straße mit heruntergekommenen Häusern entlang, bis sie an der Ecke zu einer Tankstelle kamen. Auf der anderen Seite der Straße, gegenüber der Tankstelle, befand sich ein schmuddeliges italienisches Lokal, das Marias, und Buffy vermutete, dass es der Mafia gehörte. Daneben war ein Tattoo-Laden und gegenüber der Kat Scratch Club, ein scheußlicher Schuppen, dessen Fenster von einer Rußschicht bedeckt und mit Neonlampen und -schildern vollgestopft waren. Ein auffällig blinkendes Neonschild versprach Live Girls, und Buffy dachte, dass das doch gar nicht so schlecht war, wenn die nicht so unrealistische Alternative aus toten Mädchen bestand. Der Kat Scratch Club stellte ein Aufgebot von 365 barbusigen Tänzerinnen, so kündigte es zumindest ein von Hand geschriebenes Schild im Fenster an, das sie erst entdeckten, als sie die Straße überquerten und darauf zugingen. »Sollen wir nicht mal kurz reingehen, die Füße ausstrecken und ähm... einen Schluck Mineralwasser trinken?«, schlug Xander vor. Buffy schaute ihn zweifelnd an. Xander setzte sein unschuldigstes Gesicht auf und zuckte die Achseln. »Warum hast du mich mitgenommen?«, fragte er plötzlich. Buffy überraschte sein ernster Gesichtsausdruck. Zuerst wollte sie ihn fragen, was er damit meinte, aber sie wollte ihm nichts vormachen. Nur nicht die ganze Wahrheit sagen. »Darf ich dich nicht mal einfach so vermissen?«, fragte sie zurück. »Das darfst du nicht nur, das musst du sogar«, scherzte er. »Aber da steckt doch mehr dahinter. Du hättest Willow fragen können. Oder Giles. Nicht, dass ich nicht ständig kampfbereit wäre. Xander Harris und seine wirbelnden Fäuste dürsten nach dem Ruf des Kampfes. Aber... da ist ein ›Aber‹. Es liegt sozusagen in der Luft. Ein Aber. Also, was bedeutet das Aber?«
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Buffy nickte langsam und seufzte. Dann warf sie ihm einen entschlossenen Blick zu. »Es stimmt aber auch, dass ich dich vermisse.« »Okay.« »Ich habe mich mit Willow gestritten. Weißt du, im Moment weiß ich nicht, wo mir der Kopf steht. Morgen früh habe ich eine Klausur, und ich bin ziemlich erschöpft. Zum wievielten Mal sage ich das heute eigentlich schon? Dann habe ich die Abgabefrist eines Thesenpapiers in Soziologie verpasst, und ich habe keine Ahnung, wie das passieren konnte. Ich meine, alles geht irgendwie schief bei mir. So hat es zumindest den Anschein.« Xander lächelte. »Dein Leben ist bis obenhin vollgestopft, Buffy. Das kann manchmal stressig werden.« Buffy starrte ihn an. »Ich kann es aber nicht mehr ertragen, dass es so stressig ist, Xander. Manchmal denke ich, dass Buffy verschwindet und nur noch die Jägerin übrig bleibt.« »Nicht so lange ich da bin. Dafür hat man Freunde.« Xanders Lächeln verschwand, und es war ihm deutlich anzumerken, dass er es sehr ernst meinte. Er bedachte Buffy mit einem eindringlichen Blick. »Da wir gerade davon sprechen, was ist mit dir und Willow?« Buffy überlegte und suchte nach den passenden Worten, um nicht nur den Streit, sondern vor allem ihre Gefühle Willow gegenüber zu beschreiben. Dann blickte sie zur Eingangstür des Kat Scratch Club und sah drei Männer und eine Frau, die herauskamen, auf den Gehsteig stürzten und dabei lauthals lachten. Alle vier hatten tätowierte Fledermäuse über den Augen. Buffy griff in ihre Tasche. »Merk dir, wo wir stehen geblieben waren.«
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3 »Wow, die lassen auch Frauen rein? Wenn ich das früher gewusst hätte, dann hätte ich mir auch noch schnell so ein bescheuertes Tattoo ins Gesicht machen lassen.« Die vier Fledermaus-Gesichter starrten Buffy an, und ihre Augen begannen, orangefarbene Funken zu sprühen. Die Frau war wie die anderen ganz in schwarzes Leder gekleidet, und sie trat einen Schritt vor und musterte Buffy neugierig von oben bis unten. Buffy hatte ihre Tasche fallen gelassen und hielt nun die bereits gespannte Armbrust in den Händen. Es war ein altertümliches chinesisches Modell, ein Nachbau, aber immerhin konnte man damit sechs Bolzen in Abständen von nur wenigen Sekunden abfeuern. »Was bist du denn für eine?«, fragte die Frau amüsiert. Sie runzelte die Stirn und verzog missbilligend die Mundwinkel. Buffy sah, dass sie sich weiß geschminkt hatte, anscheinend, um den Kontrast zu ihrem schwarzen Fledermaus-Tattoo noch mehr hervorzuheben. Buffy grinste sie an. »Ich? Hast du dich in letzter Zeit mal im Spiegel betrachtet?« Einer der männlichen Vampire, ein breitschultriger Schlägertyp mit einem Bulldoggen-Gesicht und einer Kette, die an seinem rechten Ohr befestigt war und im Nasenloch mündete, schnaubte verächtlich. Seine glühenden Augen weiteten sich und funkelten. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie lustig das ist«, grollte er in dem merkwürdigen Akzent, den sie in der Nacht zuvor schon einmal gehört hatte. Anscheinend sprachen sie alle so. »Doch, ich kann.« Sie stutzten. Die vier Vampire betrachteten Buffy aufmerksam. Am anderen Ende der Straße begann ein Hund zu 46
heulen, und ein paar seiner Artgenossen stimmten in das Gebell mit ein. Es war kalt. Buffy fror, rang sich aber ein Lächeln ab. Sie hatte schon Mächten und Dämonen gegenüber gestanden, die älter waren als die Menschheit und deren Boshaftigkeit den tapfersten Kämpfer in die Flucht trieb, aber letztlich hatte sie sie doch besiegt. Sie würde sich ganz bestimmt nicht von vier Möchtegern-Vampiren mit angemalten Gesichtern verunsichern lassen. Und doch passierte genau das. Das Fledermaus-Tattoo trug einen Großteil dazu bei. Es sprach eine unbewusste Ebene in ihr an, einen Teil von ihr, in dem ihre Urinstinkte saßen, und ein Angstschauer, den sie nicht auf die heulenden Hunde schieben konnte, nahm von ihrem Körper Besitz. Sie starrten sie an, und Buffy erinnerte sich an die letzte Nacht, daran, wie diese lodernde Energie in ihren Augen ihr die Kraft geraubt hatte. Wenn sie sich nicht noch in letzter Sekunde befreit hätte, wäre sie ihnen machtlos ausgeliefert gewesen. Machtlos. Nichts jagte ihr mehr Angst ein. Xander hatte sich gemeinsam mit ihr den Vampiren genähert, und jetzt stand er ein, zwei Meter hinter ihrer rechten Schulter, genau dort, wo sie ihn haben wollte. Sie sah aus den Augenwinkeln, wie er von einem Bein aufs andere trat, vielleicht war er wegen der Hunde ein wenig unruhig geworden. »Ich bin nicht sicher, ob mir diese Rechenaufgabe gefällt, Buff«, flüsterte er. Die Vampire warfen ihm einen Blick zu, einen einzigen Blick, als wären sie ein Kollektiv oder ein Rudel Wölfe. Einer von ihnen, dessen tätowierte Fledermausflügel sich um seinen gesamten Glatzkopf schwangen, fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Dann grinsten sie und wandten ihre Aufmerksamkeit wieder Buffy zu. Ihre Gesichter verwandelten sich gleichzeitig, Fangzähne traten aus den Mündern hervor, 47
Stirnfurchen und Augenbrauen ragten aus ihren Gesichtern, und sie wurden zu Bestien. »Keiner hat Lust auf Mathematik, Xander«, stieß Buffy keuchend hervor. »Nur wir, weil wir gleich... subtrahieren werden.« Buffy setzte zum Sprung an. Die Vampire rasten auf sie zu. »Pass auf, dass sie dich nicht berühren!«, zischte sie Xander zu. Ein knurrender Laut drang tief aus ihrer Brust, in der rechten Hand hielt sie die seitlich ausgerichtete Armbrust, und mit ihrer linken Hand packte sie den Vampir vor sich am Hals und drückte ihm die Luft ab. Mit ihrem ganzen Gewicht stemmte sie sich auf ihn und verpasste dem Bulldoggen-Gesicht mit der Nasenkette, der von der Seite angeschossen kam, einen harten und schnellen Fußtritt gegen den Kiefer. Die Bulldogge krachte rückwärts in die Vampirin mit dem Clown-Gesicht, und beide gingen zu Boden. Buffy beugte sich wieder zu dem ersten Vampir, der auf sie losgegangen war. Während der kurzen Attacke von der Bulldogge hatte sie ihn nicht losgelassen, sondern weiterhin gewürgt. Nun schleuderte Buffy ihn im Kreis und warf ihn auf den Gehsteig. Das war ein Griff, den ihr ihr erster Wächter, Merrick, beigebracht hatte, als sie fünfzehn Jahre alt gewesen war. Das war eine ihrer ersten Lektionen als Jägerin gewesen. Immer effektiv und überlegt vorgehen. »Xander!«, brüllte sie. Sie drehte sich um und wehrte den Glatzkopf ab, sah aber aus den Augenwinkeln, wie Xander sich über den Vampir hermachte, den sie auf die Straße geschleudert hatte. Der Blutsauger schloss gerade Bekanntschaft mit einem Pflock. Plötzlich fühlte sie sich ein wenig besser. Diese Vampire waren schneller und stärker als alle, gegen die sie jemals gekämpft hatte, und sie saugten den Menschen mit ihren seltsamen phosphoreszierenden Augen die Energie aus... aber 48
wenn Xander es fertig brachte, sie zu pfählen und in Staub zu verwandeln, waren sie dann wirklich so stark? Bulldogge war wütend, dass man ihm den Hintern versohlt hatte. Er befreite sich von der Vampirin mit dem ClownGesicht, das heißt, er versuchte sich zu befreien. Ihr Zusammenstoß hatte ihn wertvolle Zeit gekostet. Der Kahlköpfige stürzte sich auf Buffy. Sie hielt die Armbrust fest in beiden Händen und feuerte einen Bolzen in das Herz des Vampirs, der daraufhin in einer Staubwolke explodierte. Sie legte den nächsten Bolzen ein und schwang die Armbrust in Richtung des Clown-Gesichts und der Bulldogge, die beide einen Augenblick erstarrten und dann zurück in den Club rannten. Buffy feuerte noch zwei Bolzen ab, bevor die beiden die Tür des Kat Scratch hinter sich zuknallten, und beide Bolzen trafen Bulldogge mit einem feuchten, platschenden Geräusch in den Rücken. Er wurde noch nicht einmal langsamer. »Jedesmal geht das so«, sagte Xander, der nun neben sie trat. »Sie sehen mich, kriegen eine Heidenangst und dann hauen sie ab.« »Du bist wirklich Angst einflößend«, bestätigte Buffy. »Echt. Es muss an deinem Bowling-T-Shirt liegen.« Empört schaute Xander auf sein blau-braun gemustertes TShirt unter der Jacke. »Hey, das ist jetzt total in. Vielleicht nicht jedermanns Geschmack, aber Mom kommt mit der Wäsche nicht so schnell hinterher.« »Ich dachte, deine Mutter hat aufgehört, sich um deine Wäsche zu kümmern, als du in die Kellerwohnung gezogen bist.« Xander zog die Augenbrauen hoch. »Das erklärt allerdings einiges.« »Also«, sagte Buffy. »Vier minus zwei?« »Gleich zwei. Sag, dass ich ein Ass in Mathe bin. Und was nun?« 49
Buffy blickte zur Tür des Clubs. »Wir subtrahieren weiter.« »Ich hätte nie gedacht, dass ich das mal gerne hören würde, aber schließlich warten Live Girls auf uns. Los geht’s!« Der Kat Scratch Club war in buntes, grelles Licht getaucht, und die Musik war so laut, dass man sie nur noch als Krach und wohl kaum noch als Rockmusik bezeichnen konnte. Obwohl es ein Ort war, an dem man sich ganz dem Alkoholgenuss und der käuflichen Liebe verschrieben hatte, schien sich niemand wirklich zu amüsieren. Biker, Fischer und Hafenarbeiter machten den Großteil der männlichen Gäste dieses Lokals aus... und zugleich den Großteil der gesamten Gäste. Es gab nur sehr wenige Frauen, die nicht auf der Bühne tanzten oder an den Tischen bedienten, und Buffy dachte, dass die meisten von ihnen entweder Prostituierte waren – oder zumindest Frauen, die aussahen wie Prostituierte. Als sie und Xander eintraten, hatte der Türsteher ihnen den Rücken zugewandt, und er starrte zur Bühne, wo ein Mädchen tanzte, das die Überreste der Uniform einer katholischen Mädchenschule trug, die ihr mehrere Nummern zu klein war. Die Theke zog sich an der gesamten Wand auf der linken Seite hin, und auf der rechten Seite waren zwei Bühnen aufgebaut. Dazwischen standen jede Menge Tische. Buffy kniff die Augen zu, als eine grell leuchtende Discokugel sie streifte, und versuchte, die Musik zu ignorieren. Die Vampire waren nirgends zu sehen, und es gab auch kein Anzeichen dafür, dass sie durch den Laden gestürmt waren. »Plötzlich bekommt die Wendung ›Die-Nacht-mit-etwasverbringen‹ eine ganz neue Bedeutung«, meinte Xander, der ziemlich beeindruckt war. Der Türsteher hatte ihn gehört. Der bullige, bärtige Typ drehte sich um, starrte sie an, bemerkte Buffys Armbrust und blickte der Jägerin direkt ins Gesicht. »Der einzige Weg hier hereinzukommen, Mädel, ist der über die Bühne.« 50
»Nicht dass diese Idee nicht auch ihren Reiz hätte«, sagte Xander zu dem Mann, »aber Sie hätten sich nicht so im Ton vergreifen sollen.« Der Türsteher schüttelte sich vor Lachen, und ein gefährliches Blitzen leuchtete in seinen Augen auf, als er sich nun Xander zuwandte. »So, du Wurm? Und warum nicht?« Xander schenkte ihm sein charmantestes Lächeln. »Hauptsächlich, weil ich annehme, dass Sie Ihre Zähne nicht bei Lloyds versichert haben, hab ich Recht?« In dem Moment, als der bullige Typ Xander an die Gurgel gehen wollte, packte Buffy sein Handgelenk. Er zuckte vor Schmerz zusammen, starrte sie überrascht an und versuchte, sich ihr zu entziehen. Buffy ließ nicht locker. Widerstand war zwecklos. »Du wirst weder meinen Freund noch mich anrühren. Wir sind hier nicht zum Spaß. Wir sind schneller wieder weg, als du gucken kannst. Aber du hättest nicht versuchen sollen, ihm wehzutun.« »Du eingebildete, kleine...«, zischte der Türsteher, als es ihm gelang, sich mit einem Fausthieb seiner linken Hand zu befreien. Buffy fing den Fausthieb mit ihrer Armbrust ab und stieß den Mann hart zurück. Er stürzte auf den mit Bierlachen bedeckten Holzboden und gab, bis auf ein leises Grunzen, keinen Ton mehr von sich. »Fünf Minuten. Dann verschwinden wir, als wären wir nie dagewesen.« Der Türsteher schluckte und rieb sich sein Handgelenk. Dann nickte er langsam, stand auf und postierte sich wieder an der Eingangstür. Ein ärgerliches Raunen ging durch den Club, und zwei der Mädchen hatten aufgehört zu tanzen. Ein BikerPärchen erhob sich und kam drohend auf sie zu.
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»Hinsetzen«, befahl Buffy den beiden mit unbewegter Miene und hob die Armbrust auf. Natürlich hätte sie nicht abgefeuert, aber das wussten die beiden schließlich nicht. Sie warfen dem Türsteher einen Blick zu und setzten sich wieder hin. »Los«, war Buffys einziger Kommentar, und dann arbeitete sie sich durch die Tischreihen, vorbei an glotzenden, muskelbepackten Arbeitern. Xander murmelte etwas, als er ihr folgte, aber Buffy reagierte nicht. Sie hatten mit dem Türsteher bereits zu viel Zeit vergeudet. Die Vampire waren nirgends zu sehen. Das bedeutete, dass sie entweder durch die Toiletten oder die Hinterräume entwischt waren. Buffy überlegte, ob sie zu einer Hintertür gerannt sein könnten, falls es überhaupt eine gab. Sie ging auf eine schwere Holztür am Ende der Theke zu. Das Licht war an dieser Stelle so schummrig, dass die meisten Gäste die Tür wahrscheinlich nicht registriert hatten. Die Musik dröhnte weiter aus den Boxen, und die Tänzerinnen fuhren mit ihrem Programm fort. Bevor Buffy und Xander die Tür erreicht hatten, waren alle wieder mit Trinken oder den Mädchen beschäftigt. Buffy hielt die Armbrust schussbereit, spannte ihre Muskeln an und machte sich wieder auf einen Kampf gefasst. »Xander, öffne die Tür.« Xander eilte neben sie, beugte sich nach unten, drehte am Knauf und stieß die Tür auf. Sein Gesichtsausdruck war jetzt ganz ernst, keine Spur mehr von Heiterkeit. Buffy ging voran und sah sich in dem Raum um, der anscheinend den Tänzerinnen als Umkleide diente. Es wimmelte von Spinden und Spiegeln, die in dem schwachen Licht allerdings kaum zu erkennen waren. Trotzdem war es nicht so dunkel, dass sie sie nicht gesehen hätte.
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Bulldogge. Clown-Gesicht. Vier... nein fünf weitere. Wie angewurzelt blieb Buffy in der Tür stehen und hinderte Xander am Eintreten. »Was ist los?«, fragte er ängstlich. »Noch mehr Matheaufgaben.« Sie lehnte sich nach hinten und reichte Xander einen Pflock. Dann tastete sie nach der Tür, zog sie hinter sich zu und ließ ihn im Club zurück. Xander rief nach ihr, doch Buffy brüllte zurück, er solle sich nicht von der Stelle rühren. Wenn im Club weitere Vampire waren, würden sie sich wohl kaum zu erkennen geben. Und falls doch, dann hatte Xander ja noch den Pflock. In der Zwischenzeit konnte sie arbeiten, ohne ihren Freund ständig im Augenwinkel behalten zu müssen. Die Vampire krochen fast geräuschlos durch den Raum, ja sie schienen wie Schlangen durch die Dunkelheit zu gleiten. Clown-Gesicht und Bulldogge hielten sich im Hintergrund, während die anderen näher kamen. Ihre orange glühenden Augen sahen in der Dunkelheit aus wie Kürbislaternen an Halloween, und eingerahmt von den schwarzen Tattoos war ihre Erscheinung mehr als Furcht einflößend. Sie begannen, etwas zu singen, und setzten dabei gleichzeitig ein, in einer Sprache, die Buffy nie zuvor gehört hatte. Es war mehr ein Summen, so als würden sie sich selbst etwas zuflüstern. Der Gesang ging Buffy unter die Haut, und sie hatte das Gefühl, als strichen ihr gespenstische Finger über den Rücken. Auf ihren Armen bildete sich Gänsehaut. Ihre Augen flatterten, und ihre Lider wurden ganz schwer. Gerade noch rechtzeitig schoss eine Welle von Zorn und Adrenalin in ihr hoch, und sie schaffte es, die Müdigkeit abzuschütteln. »Denkt ihr etwa, ihr kriegt mich so leicht?«, fragte sie verächtlich. Xander rief wieder nach ihr und drückte die Tür auf. Mit einer einzigen, blitzschnellen Bewegung drehte Buffy sich um, 53
schob ihn wieder in den Club und knallte die Tür zu. Dann wandte sie sich wieder den Vampiren zu, die sie mittlerweile umzingelt hatten. Ihre Finger spannten sich um den Abzug der Armbrust. Ein Bolzen schoss davon und bohrte sich in das Herz eines Vampirs in ihrer unmittelbaren Nähe – er explodierte in einer Wolke aus glühender Asche. Innerhalb von Sekunden feuerte sie einen weiteren Bolzen ab, aber einer der Vampire, dessen Tattoo von einer hellen Narbe durchzogen war, packte sie am Hals und strich sich mit seiner langen Zunge über die Fangzähne. Krallen griffen nach ihr. Auf keinen Fall durfte sie zulassen, dass einer sie erwischte und festhielt. Mit der Rückhand stieß sie ihrem Angreifer die linke Faust gegen den Kiefer und erwischte seine Zunge. Er brüllte vor Schmerz auf und taumelte orientierungslos zurück, wodurch Buffy genügend Freiraum erhielt, auf einen Dritten zu zielen und abzufeuern. Die Augen des Vampirs weiteten sich, als der Bolzen durch seine Brust schoss und dann sein Herz durchbohrte. Eine Sekunde später hatte er sich in Staub verwandelt. »Ihr seid zu still«, tadelte Buffy die übrig gebliebenen Blutsauger. »Verhaltet euch nicht wie Vampire. Lasst uns ein bisschen Bewegung in die Sache bringen. Typen wie ihr sind doch sonst ganz scharf darauf, Sprüche zu reißen.« Schweigen. Fünf waren noch übrig, doch Buffy entging nicht, wie Clown-Gesicht Bulldogge am Arm festhielt, als die drei anderen auf sie zukamen und sie in die Ecke drängen wollten. Buffy hatte nur noch einen Bolzen in der Armbrust. Sie hob die Waffe – und plötzlich griffen alle gleichzeitig an. Dieses Mal war sie nicht schnell genug. Die Armbrust wurde ihr mit einem so harten Hieb entwendet, dass ihre rechte Hand ganz taub war. »Hey!«, schrie sie überrascht auf.
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Einer der Vampire schubste die anderen beiseite, begierig darauf, Buffy anzugreifen. Er legte seine Krallen um ihren Hals und drückte ihr die Luft ab, sodass sie keinen Ton mehr von sich geben konnte. Anschließend schleuderte das Biest sie gegen einen Spiegel und provozierte dadurch einen wahren Glasscherbenhagel, der sich quer über den Boden verteilte. Buffy drückte ihren Fuß gegen die Wand, um sich abzustützen und knallte ihren Kopf so fest sie konnte gegen seinen. Sie verfehlte ihr Ziel nur knapp, und ihr Schädel krachte gegen sein Nasenbein. Sie hörte, wie Knochen zersplitterten und sah, wie Blut spritzte. »Diese Armbrust«, knurrte sie, »war eine Antiquität. Giles wird nicht sehr glücklich sein, wenn er davon erfährt. Wahrscheinlich wird er sogar stinksauer sein.« Einer der anderen Vampire kam von links auf sie zu. Buffy duckte sich, holte weit aus und verpasste seiner Brust einen Hieb, der ihn fast niederwarf. Schon langte noch ein Fledermaus-Gesicht nach ihr, aber Buffy war schneller. Binnen einer Sekunde zog sie einen Pflock aus dem Rückenhalfter, wirbelte herum und bohrte ihn in seine Brust. Unterdessen stürmte der Vampir mit der Narbe im Gesicht und der gebrochenen, zu Brei geschlagenen Nase durch die Staubwolke seines toten Kameraden auf sie zu. Buffy schwang ihre rechte Faust zu einem Hieb, der es in sich hatte, und er fiel hart auf den Boden. Danach bewegte sich Buffy wie eine Tänzerin in einer einzigen, ineinander verschmolzenen Bewegung. Einem wirbelnden Faustschlag ins Gesicht ihres verbliebenen Angreifers folgte ein gewaltiger Stich mit dem Pfahl, und noch mehr Staub wirbelte durch den Raum. Sie begab sich auf den Boden und hielt den Pflock über das Herz des Narbengesichts, befand sich Auge in Auge mit dem Vampir. Er atmete keuchend und stank nach altem Blut. Buffy verwandelte ihn in Staub. 55
Im nächsten Moment war sie wieder auf den Beinen. Sie drehte sich, alle Muskeln ihres Körpers waren angespannt, und sie war bereit und kampfwillig. Mit ein bisschen Glück konnte sie ihnen ein paar Antworten entlocken. Den letzten Überlebenden wollte sie verhören. Aber sie hatte nicht damit gerechnet, dass sie abhauen würden. Die letzten beiden, die sie Clown-Gesicht und Bulldogge nannte, waren fort – die weit geöffnete Hintertür des Clubs, durch die man bis nach draußen in die Nacht sehen konnte, zeugte davon. Ein halbes Dutzend dummer Sprüche, die sie ihnen noch hinterherbrüllen wollte, gingen ihr durch den Kopf, aber sie schwieg. Es kam häufig vor, dass Vampire vor ihr flüchteten, aber in diesem Fall war es etwas anderes. Ihr war klar, dass die beiden keineswegs aus Angst geflüchtet waren, sondern dass es sich eher um so etwas wie einen strategischen Rückzug handelte. Dieser Gedanke beunruhigte sie zutiefst. Vampire waren ein streitsüchtiger Haufen, und sie kamen selten so gut miteinander aus, dass sie Allianzen bildeten, von Familien oder kleinen Horden einmal abgesehen. Nur ein absolut charismatischer und mächtiger Vampir war in der Lage, die anderen zu unterwerfen. Wer auch immer dieser Camazotz war, er hatte seine Anhänger gut trainiert. Mit diesen finsteren Gedanken öffnete sie die Tür, die in den Club führte. Xander lehnte links von ihr an der Wand und starrte die zwei Tänzerinnen auf der Bühne an. Es dauerte fast zehn Sekunden, bis er bemerkte, dass Buffy neben ihm stand und ihn musterte. »Hi. Ich habe die ganze Zeit aufgepasst, dass dich niemand stört«, sagte er nervös. »Mein Held.« Buffy zog die Augenbrauen hoch. Xander wich ein Stück zurück. »Du hast mich rausgeschubst. Hast mir die Tür nicht nur einmal, sondern sogar zweimal vor die Nase geknallt. Ich dachte mir, da drinnen hätte ich nur als Kanonenfutter getaugt, also bin ich draußen geblieben. Ich 56
habe mir dann gesagt, dass du bestimmt gerufen hättest, wenn meine Hilfe nötig gewesen wäre.« »Ja, das hätte ich«, stimmte Buffy zu. Dann grinste sie. »Ob du mich allerdings gehört hättest, steht auf einem ganz anderen Blatt.« »Was?«, wollte Xander wissen. Sein Blick schweifte zur Bühne. »Oh, die meinst du? Hab sie kaum eines Blickes gewürdigt. Ich hab dir den Rücken freigehalten. Du wirst doch Anya erzählen, du hättest mich hier hineingeschleift, ja?« Buffy suchte sich ihren Weg durch die Tische und den Zigarettenqualm zum Ausgang des Kat Scratch Clubs. Keiner der Gäste schaute auf. Xander folgte ihr. »Buffy? Das wirst du ihr doch sagen, oder?«
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4 Das schrille Klingeln des Weckers riss Buffy um kurz nach sieben am nächsten Morgen aus dem Schlaf. Sie öffnete ein Auge und starrte den Wecker so hasserfüllt an, wie sie es sonst nur bei handfesten Dämonen tat. Doch da sie ihn mit bloßem Anstarren schließlich nicht zum Schweigen bringen konnte, setzte sie sich im Bett auf und schaltete ihn aus. Ihre Augen waren zu schläfrigen Schlitzen verengt. »Ich hasse Montage«, murmelte sie heiser. Natürlich war es überhaupt nicht Montag. Aber der Tag begann wie einer. Sie runzelte die Stirn und schaute sich im Zimmer um. Willows Bett war schon gemacht oder, besser gesagt, unbenutzt. Ihre Zimmergenossin war letzte Nacht nicht nach Hause gekommen. Daran war im Prinzip nichts Ungewöhnliches, Willow verbrachte die Nacht öfter bei Oz, aber Buffy hatte das Gefühl, dass das Fernbleiben ihrer besten Freundin etwas mit ihrem gestrigen Streit zu tun hatte. Sie wollte schon bei Oz anrufen, aber dafür war es noch zu früh. Zwar war Willow wahrscheinlich schon aufgestanden, aber bei Oz konnte man das nie so genau wissen. Mal stand er morgens auf und ging in alle Kurse am College, und dann wieder blieb er bis mittags in den Federn. »Nein«, sagte sie sich streng. »Keine negativen Gedanken.« Sie war entschlossen, den Tag gut gelaunt zu beginnen. Mit diesem Vorsatz stand sie auf und schaute aus dem Fenster. Der Himmel war grau und bedeckt, würde sich jedoch mit Sicherheit auflockern. Es war bereits Herbst, aber wohlgemerkt in Südkalifornien. Schlechtes Wetter kam vor, aber so selten, dass keiner darüber nachdachte, bis es irgendeinen Schaden anrichtete. Hinterher stritten dann alle darüber, ob es am schlechten Wetter gelegen hätte. Genau auf dieselbe Art und
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Weise verfuhren die Menschen in Sunnydale mit dem Übernatürlichen. »Keine negativen Gedanken«, wiederholte Buffy. Sie summte eine Melodie aus einem Lied vor sich hin, das die Dingoes immer im Bronze spielten, kramte ihre Sachen zusammen und ging den Flur hinunter, um zu duschen. Eine Viertelstunde später stand Buffy wieder in ihrem Zimmer. Ihre Gedanken kreisten um den gestrigen Kampf im Kat Scratch Club, um die Tätowierungen, den gespenstischen Gesang der Vampire, ihre sonderbaren Augen und ihre Arroganz. So sehr sie sich auch dagegen wehrte, es änderte nichts daran, dass diese Kreaturen ihr mächtig Angst einjagten und sie zudem noch aus dem Konzept brachten. Giles hatte versprochen, Informationen über Camazotz zu sammeln, und sie wusste, dass er sich für gewöhnlich so schnell wie möglich an die Arbeit machte. Aber da Olivia zu Besuch war, würde das nicht so einfach sein. Nach der ereignisreichen letzten Nacht war Buffy in Versuchung, ihrem ehemaligen Wächter einen Besuch abzustatten, aber die Gefahr, in ein romantisches Tête-à-tête zu platzen, hielt sie davon ab. Giles’ Liebesleben zu stören war das Letzte, was sie wollte, und sich vorzustellen, da mitten rein zu marschieren, während... Sie erschauderte. Dieser Gedanke war fast noch grauenhafter als die Fledermaus-Gesichter. Buffy bedachte ihren Feind, den Wecker, mit einem Blick. Es war erst kurz nach halb acht, noch massig Zeit also, und der Drang, Willow anzurufen und all die Dinge aus der Welt zu räumen, die unbedingt aus der Welt geräumt werden mussten, wurde immer stärker. Oz hob ab. »Ja?«, flüsterte er heiser. »Hallo Oz. Entschuldigung, dass ich so früh anrufe. Ist Willow schon auf?« »Moment.« 59
Ein gedämpftes Murmeln am anderen Ende, dann ging Willow an den Apparat. »Hallo.« »Hi. Tut mir Leid, wenn ich euch störe.« »Du störst nicht«, sagte Willow gut gelaunt. »Jedenfalls nicht mich. Aber ich bin ja auch nicht so ein Morgenmuffel wie eine ganz bestimmte Person. Was gibt’s?« Buffy stockte. Jetzt kamen ihr Bedenken, ob es ungeschickt wäre, direkt mit ihrem Streit ins Haus zu fallen, aber einfach nur zu sagen, dass sie aus keinem bestimmten Grund anrufen würde, war auch nicht viel besser. »Buffy? Geht’s dir gut?« »Ja«, antwortete Buffy schnell. »Keine Morgenmuffel hier. Hör mal, eine interessante, neue Spezies treibt hier ihr Unwesen, und ich wollte heute Nachmittag mal bei Giles vorbeischauen und besprechen, was wir tun können. Hast du Lust mitzukommen?« »Mmm«, antwortete Willow, und es schien, als würde sie abgelenkt. Buffy versuchte, nicht neidisch auf ihre beste Freundin zu sein, die einen Freund hatte, der es liebte, sie abzulenken. »Treffen wir uns in Giles Wohnung, ja?« »Einverstanden. Aber jetzt muss ich auch los. Ich muss noch ein bisschen lernen, ich habe ja heute die Geschichtsklausur. Danach muss ich mich an das Thesenpapier für Professor Blaylock setzen. Heute fange ich bei neunzig Punkten an.« »Tritt ihnen in den Arsch«, riet Willow. »Du weißt schon, wie ich das meine.« Sie verabschiedeten sich voneinander und legten auf. Als Buffy das Schlafzimmer verließ, strahlte sie übers ganze Gesicht. Willows Freundschaft war ihr wichtiger als alles andere, und Buffy hatte keine Ahnung, was sie tun würde, wenn Willow eines Tages vielleicht nicht mehr genauso dachte wie sie. 60
Oz saß im Schneidersitz auf dem Boden von Giles’ Wohnung und beförderte alte Schätze aus dessen Plattensammlung ans Tageslicht. Olivia, die Willow erst ein- oder zweimal gesehen hatte, und die Giles sehr viel bedeutete, saß auf einem gepolsterten Stuhl und erging sich in Begeisterungsschreien über ein paar Scheiben, die Oz hervorkramte. Nebenbei gab sie ein paar peinliche Anekdoten über Giles in seiner Jugend zum Besten. Sie war in der Tat eine sehr schöne Frau, und ihr britischer Akzent trug zu ihrer eleganten Erscheinung bei. Willow hatte ein schlechtes Gewissen, dass sie die beiden gestört hatten. »Sind Sie sicher, dass das in Ordnung ist?«, sagte sie mit leiser Stimme. Giles saß am Esstisch, als die beiden auf einen Stapel Zauberbücher stießen, von denen die meisten in spanischer Sprache geschrieben waren. Ein paar der Bücher waren sogar älter als die antiken Ausgaben, die Willow erst kürzlich in seiner Sammlung gesehen hatte. »Giles?« Er blinzelte ein paar Mal und sah Willow dann an, als wäre er gerade aus einer Hypnose erwacht. »Entschuldigung, Willow, was hast du gesagt? Hast du was gefunden?« »Nein, noch nicht. Ich wollte... ich weiß, dass Sie und Olivia sich nicht so oft sehen, und sie kann ja auch nicht lange bleiben. Sind Sie sicher, dass es Ihnen nichts ausmacht, dass wir uns heute hier treffen?« Giles nahm seine Brille ab und lächelte sie freundlich an. »Es ist sehr lieb von dir, dass du dir darüber Gedanken machst. Die Antwort ist natürlich nein. Natürlich kommt mir das Treffen nicht gerade gelegen. Aber mir ist auch klar, dass durch diese Neuankömmlinge viele Menschen in Gefahr sind, und ein paar Nachforschungen sind das Mindeste, was ich für Buffy tun kann, um sie bei ihrem Kampf zu unterstützen. Sie meint 61
vielleicht, sie wäre unsichtbar und unbesiegbar, aber solange da draußen Dämonen rumlaufen, die eine Bedrohung für die Menschen darstellen, müssen wir ihr zur Seite stehen.« Er warf einen Blick über die Schulter, als Olivia gerade angesichts einer bestimmten Schallplatte lachte. Oz flüsterte ihr etwas zu. Bestimmt etwas Ironisches, dachte Willow, typisch Oz. »Oz scheint Olivia gut zu unterhalten«, versicherte Giles ihr. »Aber wie er das anstellt, ohne seine Regel zu brechen, nicht mehr als zwölf Wörter die Stunde von sich zu geben, ist mir ein Rätsel.« »Er ist ein guter Zuhörer«, erwiderte Willow und rang sich ein mühsames Lächeln ab. Jedesmal, wenn sie das Gesicht verzog, schmerzte der Bluterguss, den Buffy ihr am Morgen zuvor zugefügt hatte, so sehr, dass sie fast an die Decke ging. Die Abdeckcreme, die sie darüber gestrichen hatte, verdeckte ihn zwar, aber änderte natürlich nichts an den Schmerzen. »Haben Sie schon etwas herausgefunden?«, fragte sie Giles. »Ja, sogar schon eine ganze Menge.« Er zog zwei Bücher aus dem Stapel. »Ich wollte es aber erst erzählen, wenn Buffy da ist, damit ich es nicht zweimal erklären muss.« Willow machte sich Sorgen, wo Buffy nur steckte. Am Morgen hatten sie ausgemacht, dass sie sich nach dem College alle bei Giles treffen würden. Willow wusste ganz sicher, dass Buffys letzter Kurs um kurz vor drei aus war. Jetzt war es schon fast vier Uhr, und Buffy war noch immer nicht da. »Ich habe eigentlich schon viel früher mit ihr gerechnet«, fügte Giles hinzu. Das beunruhigte Willow nur noch mehr. »Ich hoffe, ihr ist nichts...« Ein Klopfen unterbrach sie. Willow stand auf und ging zur Tür, und Giles griff nach einem Buch, das er beiseite gelegt hatte. Oz und Olivia, absolut vertieft in die Plattensammlung,
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wollten gerade eines der frühen Rolling Stones-Alben auflegen, hielten aber ebenfalls inne und blickten zum Eingang. Willow öffnete die Tür, und Buffy stand vor ihr. »Hi!«, begrüßte sie ihre Freundin. »Da bist du ja.« »Tut mir Leid, dass ich zu spät bin. Es ist wegen diesem Thesenpapier für Professor Blaylock. Ich dachte, es würde mir leicht fallen, das schnell runterzuschreiben, aber langsam kommt es mir so vor, als müsste ich bei null anfangen. Vor Montag werde ich es auf keinen Fall fertig bekommen, und das ist der Tag, den ich fälschlicherweise zuerst für den Abgabetag gehalten habe. Jetzt fange ich bei siebzig Punkten an. Ich muss es irgendwie hinkriegen. Und dann bin ich heute Nachmittag zufällig Aaron Levine, einem Typen aus meinem Geschichtskurs, über den Weg gelaufen. Wir haben uns über die Geschichtsklausur von heute Morgen unterhalten, von der ich eigentlich angenommen hatte, dass ich sie nicht so schlecht geschrieben habe. So wie es aussieht, ist das Ganze wohl doch nicht so gut gelaufen. Ich habe ein paar Königsfamilien miteinander verwechselt, und bei einer der Aufgaben, bei der es viele Punkte gab, habe ich kompletten Mist geschrieben. Ich weiß einfach nicht, was im Moment mit mir los ist.« Willow runzelte die Stirn, zwang sich aber, Buffy anzulächeln. »Soll ich dir mal was sagen? Du hast zu viel Stress. Vielleicht geht es dir besser, wenn du nach Hause gehst und mit deinem Thesenpapier weitermachst. Wir kümmern uns dann eine Weile allein um die Dämonen. Und wenn es dir wieder besser geht...« »Ich komme auch jetzt mit allem ganz gut klar«, fuhr Buffy sie an. Überrascht trat Willow einen Schritt zurück. Was hatte sie denn jetzt schon wieder Falsches gesagt? Sie blickte sich um und sah, dass jeder Buffy anstarrte. »Außer vielleicht mit deiner momentanen Laune«, schalt Giles sie. 63
Buffy sah aus, als wollte sie etwas zu ihrer Verteidigung hervorbringen, aber dann wurde ihr Gesichtsausdruck sanft. Zerknirscht blickte sie Willow an. »Tut mir Leid, Will. Vielleicht bin ich ein bisschen empfindlich im Moment, liegt vermutlich an dem ganzen Ärger, den ich zur Zeit am Hals habe. Es ist lieb, dass du dir Sorgen um mich machst, aber ich komme wirklich damit klar. Ich muss damit klarkommen.« »Du solltest nicht so schnell eingeschnappt sein«, antwortete Willow, die immer noch ein bisschen beleidigt war. Buffy legte eine Hand auf ihre Schulter. Willow sah in ihren Augen, dass sie es bedauerte, gleichzeitig aber total unter Strom stand, und sie wünschte, sie könnte mehr tun, um ihr zu helfen. »Hey. Ist jetzt wieder alles in Ordnung?«, wollte Buffy wissen. »Ja, ja, schon okay.« Willow nickte eifrig. »Und ich werde auch nicht nachtragend sein.« »Prima«, entgegnete Buffy glücklich. »Ich werde mir Mühe geben. Und die schlechte Laune in Zukunft zu Hause lassen.« »Keine schlechte Laune mehr«, versprach auch Willow. Giles erhob sich, als Buffy die Wohnung betrat. »Entschuldigung für den lustus interruptus«, sagte Buffy und warf Olivia einen bedeutungsvollen Blick zu. Olivia lächelte und winkte ohne eine Spur von Verlegenheit ab. Warum sollte sie auch verlegen sein?, dachte Willow. Es ist ja nicht ihre Wohnung, sie sind beide erwachsen, und die Eindringlinge sind ja schließlich wir. Andererseits, wäre Willow an ihrer Stelle gewesen, wäre sie sicher vor Scham rot angelaufen und hätte kein einziges vernünftiges Wort mehr herausbringen können. »Nun, wir sollten uns jetzt mit dem rituellen Massenmord beschäftigen, der in gewisser Weise alles andere in den Schatten stellt«, verkündete Giles. 64
Buffy sah Willow von der Seite an. »Weißt du, es ist genau dieses ›Massen‹, was mich so stutzen lässt. Ich hasse ehrgeizige Vampire. Warum sind sie so machtbesessen, und warum verhalten sie sich dermaßen anders als die übrigen Vampire?« Aus der Ecke erklang nun Oz’ Stimme. Er legte gerade eine Platte auf und sprach, ohne von dem antiken Grammophon aufzusehen. »Jeder sollte seine Träume haben.« Giles räusperte sich. »Tja, unser Timing ist mal wieder perfekt, Buffy, so wie immer. Ich glaube, wir haben gefunden, wonach wir gesucht haben.« »Wir wollten nur noch auf dich warten«, fügte Willow hinzu. »Giles wollte sich nicht wiederholen.« »Entschuldigt bitte, dass ich euch so lange habe warten lassen.« Giles hielt abwehrend eine Hand hoch. »Kein Problem. Können wir jetzt anfangen, bitte?« Willow und Buffy nahmen nebeneinander auf dem Sofa Platz. Oz stellte den Plattenspieler leiser und kam zu ihnen herüber. Olivia starrte sie kurz an, dann verdrehte sie amüsiert die Augen und stieg die Treppe hoch ins Dachgeschoss. Giles sah ihr verlegen nach und zuckte die Achseln. »Olivia ist eine Skeptikerin«, flüsterte er ihnen zu. »Ich glaube, sie hält uns alle für verrückt.« »Sie sollte mal für längere Zeit in Sunnydale bleiben«, erwiderte Buffy. »Dann würde sie sehr schnell merken, dass wir alles andere als verrückt sind.« Oz machte es sich auf einem alten Stuhl bequem. Giles stand vor ihnen und lehnte am Esstisch. Er hielt ein abgenutztes, in Leder gebundenes Buch in der Hand. »Alle Legenden, die ich gefunden habe, besagen, dass Camazotz kein Vampir, sondern ein Gott war«, begann Giles. »Oh, heidnische Götter. Haben wir nicht schon einmal welche gejagt?«, fragte Willow aufgeregt. 65
Oz lächelte sie an und streichelte ihre Wange. »Nicht die großen Gottheiten.« »Keiner der Hausgötter heißt Camazotz!«, warf Buffy ein. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass er eine große Gottheit ist.« »Ganz im Gegenteil«, konterte Giles. Er schlug das Buch auf und blätterte darin, bis er die gesuchte Seite ziemlich am Ende gefunden hatte. Papier raschelte. Willow erkannte sofort, was er ihnen zeigen wollte. Eine Zeichnung auf der unteren linken Seite zeigte eine abscheuliche Kreatur, die aussah wie eine Kreuzung aus Mensch und Fledermaus und zudem so groß war wie ein Riese. Anstatt eines Fells besaß sie Stacheln und war mit spitzen Ohren, langen, scharfen Fangzähnen und geäderten Flügeln ausgestattet. Sie hatte noch ein Dutzend kleinerer Gliedmaßen, die aus der Brust ragten, jedes einzelne mit eigenen Krallen besetzt, und einen dicken rattenähnlichen Schwanz, an dessen Ende ein messerscharfer Dorn saß. »Bei den alten Mayas«, fuhr Giles fort, »war Camazotz der Gott der Fledermäuse. Er war mit der Göttin der Finsternis, Zotzilaha Chimalman, verheiratet und lebte angeblich in einem alten, grabähnlichen Kellergewölbe, das zum Reich der Finsternis und des Todes führte. Übersetzt bedeutet der Name seiner Höhle einfach ›Haus der Fledermäusen‹.« Unruhig rutschte Buffy auf dem Sofa hin und her. »Also haben wir es mit Dämonen zu tun. Ein Gewölbe, das zum Reich des Todes führt, hört sich für mich sehr nach Höllenschlund an.« Giles legte das abgewetzte Buch auf dem Esstisch ab. Dann nahm er ein anderes in die Hand, eine kleinere Ausgabe diesmal als die erste und offensichtlich auch eine neuere, doch auch diesem Buch waren seine Jahre anzusehen. Als er es aufschlug, konnte Willow sehen, dass es von Hand geschrieben war, und ihr war klar, dass Giles eine der gebundenen Aufzeichnungen in den Händen hielt, die der Rat der Wächter seit Jahrhunderten aufbewahrte. 66
»Hat der Rat Ihnen erlaubt, es zu behalten?«, fragte sie, ohne nachzudenken. »Hmm?« Giles blickte auf und runzelte die Stirn. Willow wünschte, sie hätte den Mund gehalten. Giles war vom Rat der Wächter abgesetzt worden, da man der Meinung gewesen war, seine Beziehung zu Buffy sei zu emotional geworden, zu intensiv, als dass er noch ein rationaler, überlegener Wächter hätte sein können. Er war sehr wütend gewesen und schien froh darüber, den Kontakt mit dem Rat abbrechen zu können, aber Willow vermutete, dass die Geschichte immer noch ein wunder Punkt für ihn war. Und jetzt hatte sie alte Wunden aufgerissen. »Die Aufzeichnungen«, wiederholte sie. »Ich dachte, Sie hätten Sie nach Ihrem, ähm, Ausscheiden dem Rat der Wächter zurückgeben müssen.« »Ach so, ja. Die meisten von den handgeschriebenen Exemplaren hat Wesley konfisziert. Ich durfte nur die behalten, die keine Originale waren, und diese eine Aufzeichnung hier. Meine Großmutter hat sie verfasst, sie hat diese Geschichten selbst von Hand aufgeschrieben. Sie hat alle Vampirlegenden und Mythen, von denen sie im Lauf der Jahre gehört hat, gesammelt und katalogisiert. Ich dachte, ich hätte in einer ihrer Geschichten mal etwas über die Mayas gelesen. Wenn die Legenden, die man ihr erzählt hat, stimmen, dann ist Camazotz ein Abkömmling eines richtigen Dämons, eines der ersten, die auf Erden wandelten, und eines Gottes. Was ›Gott‹ in diesem Zusammenhang bedeutet, ist unklar, da meines Wissens nach noch nie jemand von der Begegnung mit einem Gott berichtet hat. Mir erscheint wichtig festzuhalten, dass Camazotz eine Kreatur ist, die schon seit Jahrhunderten existiert. Mit Sicherheit ist er kein Vampir, versteht ihr, sondern einer Theorie nach, die meine Großmutter entwickelt hat, war
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Camazotz der Dämon, der verantwortlich war für die Erschaffung der Vampire.« Buffy rutschte an den Rand des Sofas und starrte ihn an. »Wissen wir, ob das stimmt?« »Leider haben wir keine Möglichkeit, es zu überprüfen«, entgegnete Giles. »Ich bin auch auf nichts gestoßen, was einen Hinweis darauf gegeben hätte, dass seine Anhänger größere Kräfte besitzen als herkömmliche Vampire.« »Der Gott der Fledermäuse. Was bedeuten dann die Tätowierungen auf ihren Gesichtern? Sind sie so etwas wie sein persönliches Markenzeichen?« »Vielleicht hat das etwas mit der Höhle zu tun«, meinte Willow. »Okay, nehmen wir mal an, dass dieser finstere und ungemütliche Ort wirklich existiert hat – dann ist es auch nicht schwer sich vorzustellen, dass es dort von Fledermäusen nur so wimmelte.« Sie nickte bedächtig. »Vielleicht hat er sie mit einem Zauber oder einem Trick angelockt und gefügig gemacht, der Gott der Fledermäuse. Und dann hat er sie als seine Lakaien mit einer Tätowierung gekennzeichnet.« »Oder es ist eine Art Brandzeichen. Wie beim Vieh. Man brandmarkt seinen Besitz.« Giles schien kurz darüber nachzudenken, dann hielt er die Aufzeichnungen seiner Großmutter hoch. »Das Einzige in den Aufzeichnungen, dass auf die Legenden der Mayas hinweist, ist, dass Camazotz als Fürst der Legionen der Finsternis bezeichnet wird, als Herrscher über die Kreaturen der Nacht. Als Gegner ist er einzigartig.« »Ist das alles? Steht dort nichts über seine Lakaien?«, fragte Buffy enttäuscht. »Glühende Augen, Aussaugen menschlicher Energie? Nichts?« »Mehr haben wir im Moment nicht, fürchte ich«, seufzte Giles. »Vielleicht war das Aussaugen nur ein Einzelfall, eine Fähigkeit, die nur dieser eine Vampir besaß, aber das werden wir schon noch herausfinden. Buffy, warum gehst du nicht...« 68
»Ich werde heute Nacht wieder auf Patrouille gehen. Und ich werde versuchen, einen von ihnen zu fassen zu kriegen. Mit ihren Tätowierungen sind sie ja kaum zu übersehen. Ich könnte auch bei Willy vorbeischauen, vielleicht hat er ja irgendetwas gehört, das uns weiterhelfen könnte.« Buffy stand auf, schwang die Jacke über ihre Schulter und ging zur Tür. Die ganze Zeit über war sie recht entspannt gewesen und hatte sogar Witze gemacht. Aber Willow entging die plötzliche Veränderung nicht, die in ihr vorgegangen war. Sie hatte jetzt wieder diesen entschlossenen, ernsten Gesichtsausdruck und schien nur allzu bereit, allein gegen die Mächte der Finsternis anzutreten. »Will, könntest du Xander anrufen und ihn und Anya bitten vorbeizukommen? Giles kann sie kurz einweisen. Falls Anya noch irgendwelche Kontakte zu Dämonen hat, und sie bereit wäre, mit ihnen zu sprechen, könnte sie sich etwas umhören und so vielleicht etwas herausfinden. Falls nicht, wäre es ganz gut, wenn ihr versucht, in Erfahrung zu bringen, wie die Vampire hierher gekommen sind und wo sie sich tagsüber versteckt halten. Vielleicht findet ihr Hinweise in der Zeitung, in den Passagierlisten der Fluggesellschaften und den Schifffahrtsbüros. Es sind ziemlich viele Vampire auf einmal gekommen, die können sich nicht in einem Mauseloch verstecken. Ich wette, irgendwo hier in Sunnydale hat Camazotz seine ganz private Version vom ›Haus der Fledermäuse‹. Das ist ein weiterer Punkt, den wir überprüfen müssen. Wo würde man hier auf Fledermäuse stoßen?« Während Buffy sprach, weiteten sich Willows Augen, und Panik und Hilflosigkeit sprachen aus ihnen. Sie schluckte. »Oz und ich gehen bei Xander vorbei. Giles hat seine Schuldigkeit für heute getan, würde ich sagen.« Buffy blickte hoch zum Dachgeschoss, wohin Olivia sich verzogen hatte. »Ja, natürlich!«, gab sie zur Antwort. »Du hast absolut Recht. Giles hat genug getan, und bis Morgen früh 69
machen wir allein weiter. Das werden wir schon hinkriegen. Wirklich. Wir kommen dann morgen vorbei.« Giles war damit beschäftigt, die Bücher auf seinem Tisch zu ordnen, und Willow und Oz folgten Buffy. Gemeinsam verließen sie die Wohnung. Als sie die Tür hinter sich zugezogen hatten, blieben sie stehen und sahen sich gegenseitig an. »Bist du sicher, dass du allein auf Patrouille gehen willst?«, wollte Willow wissen. Buffy schüttelte den Kopf. »Ich gehe allein, und ich mache auch nur den üblichen Rundgang und kontrolliere kurz die Bereiche, wo ich vorher schon mal auf sie gestoßen bin, das war’s. Dann werde ich nach Hause gehen und versuchen, mich noch ein bisschen an mein Thesenpapier zu setzen und den Gedanken an die Geschichtsklausur, die ich so jämmerlich in den Sand gesetzt habe, zu verdrängen.« Willow hätte Buffy gerne ihre Hilfe angeboten, aber Buffy war in den letzten Tagen so überreizt und genervt gewesen, dass sie sich kaum traute. Und doch musste sie es zumindest versuchen. »Hey, ich weiß, dass du versessen darauf bist, alles allein auf die Reihe zu kriegen, aber jeder braucht mal Hilfe, oder? Wir könnten die anderen zusammentrommeln und heute Nacht für dich den Ersatzmann spielen, und du hättest dann genug Zeit für dein Thesenpapier. Du würdest damit zehn Punkte reinholen. Und es ist ja auch nicht so, als würden wir zum ersten Mal für dich einspringen.« Buffy seufzte frustriert. »Okay, mir ist das ja alles klar. Und es ist auch nicht so, dass ich es nicht zu schätzen wüsste. Aber ich find’s nicht richtig, wenn ihr das tut. Ihr tragt keine Verantwortung, sondern ich ganz allein. Ich kann mir nicht ständig von euch helfen lassen. Wenn ich mehr sein will als nur Buffy die Jägerin, dann muss ich es selbst tun, ich muss selbst
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herausfinden, ob ich in der Lage bin, das alles miteinander zu vereinbaren.« Oz sagte nichts, sah ihnen nur schweigend zu. Willow warf Buffy einen flehenden Blick zu. »Deine Freunde sind auch ein Teil dieses Lebens, Buffy.« Buffy öffnete den Mund und starrte sie an. Sie zog eine Grimasse, und es war offensichtlich, dass diese Bemerkung sie verletzt hatte. Dann seufzte sie, und ihr Gesichtsausdruck wurde hart. »Du verstehst mich nicht, Will. Aber das ist schon in Ordnung, wirklich. Wie sollte das auch jemand verstehen können?« Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging davon. Willow blickte ihrer besten Freundin nach, wie sie in der Dunkelheit verschwand, und sie hoffte, Buffy würde sich noch einmal umdrehen und einsehen, dass sie es allein nicht schaffen würde. Willow wollte sie schon zurückrufen, aber Oz legte ihr seine Hand auf den Arm. »Lass sie.« Ungläubig starrte sie ihn an. »Es ist schwer für sie, das alles allein durchzustehen«, meinte er. Willow blickte zu Boden, damit Oz nicht sehen konnte, wie verletzt und enttäuscht sie war, aber daraus war kein Hehl mehr zu machen. »Es ist für uns alle schwer. Warum versteht sie nicht, dass sie nicht die Einzige ist, die Probleme hat? Niemand schafft es, alle Hürden, die das Leben einem manchmal in den Weg stellt, ohne Schwierigkeiten zu überwinden.« »Gib ihr ein bisschen Zeit. Irgendwann wird sie’s einsehen.« Dann legte er einen Arm um sie und geleitete sie zu seinem Auto. Willow schwieg die ganze Fahrt über und behielt ihre Enttäuschung für sich. 71
5 »Wir haben nichts gefunden.« Giles zog die Augenbrauen hoch und blickte von der Karte auf, die vor ihm auf dem Esstisch lag. Xander und Anya saßen in der Mitte des Zimmers auf dem Boden. Um sie herum waren sämtliche Ausgaben der Lokalzeitungen der letzten Woche ausgebreitet, sodass es den Anschein hatte, als hätte Giles sich einen Welpen angeschafft, der noch nicht ganz stubenrein war. »Aber es muss doch irgendetwas geben«, rief Giles verzweifelt, da Xanders Eingeständnis ihn nicht eben ermutigt hatte. »Ein abgeschossenes Flugzeug. Seltsame Ereignisse bei der Grenzwache. Gewalttätige Auseinandersetzungen beim Flughafenzoll in Los Angeles. Irgendeinen Hinweis darauf, wie sie hierher gekommen sind und wo sie ihr Lager aufgeschlagen haben.« Anya wies mit der Hand auf die ausgebreiteten Zeitungen. »Nichts. Der neue Bürgermeister hat weiter Lügen verbreitet, getarnt als Versprechen, wie man es von den meisten redegewandten Politikern gewohnt ist. Die Küstenwache streitet die Vorwürfe ab, sie hätte letzte Woche bei der Ölkatastrophe nicht schnell genug reagiert. Nichts. Letzte Nacht war ereignislos und langweilig, so wie heute.« »Wir haben eben Bapkes«, fügte Xander spontan hinzu. Anya, die einst ein Dämon und jetzt mit Xander zusammen war, starrte ihn unsicher an. »Bapkes?« »Nada«, sagte Xander. »Null. Absolute Pleite. Gar nichts. Er zuckte die Achseln. Bapkes. Ist mir gerade so gekommen.« »Seltsam«, meinte Anya. Sie schüttelte kaum merklich den Kopf und drückte somit ihren Ärger über diese verwirrende Welt um sie herum aus, eine Bewegung, die ihr genauso zu Eigen geworden war wie der unangemessene Ton, den sie ihren
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Mitmenschen gegenüber anschlug. »Das hört sich fast an wie ein sexueller Akt.« »Oh, um Himmels willen«, murmelte Giles leise. Die beiden ließen sich regelmäßig über die mehr körperlichen Aspekte ihrer Beziehung aus. »Du hast Recht«, sagte Xander nachdenklich. »Ich glaube, wir sollten diesen Ausdruck in unseren Wortschatz aufnehmen. Babkes. Wir werden die Ersten sein.« »Hört mal, ihr beiden!«, schnauzte Giles sie an. »Die Situation ist verdammt ernst. Wir haben es hier mit einer Invasion fremdartiger Vampire zu tun, die von einem antiken Dämonen-Gott angeführt werden. Lucy Hanover erscheint Buffy im Traum und warnt sie vor irgendeiner Katastrophe, und zur gleichen Zeit begegnet Buffy dieser neuen VampirSpezies. Ich bin mir ziemlich sicher, dass es da eine Verbindung gibt. Ich schlage vor, ihr versucht ernsthaft mitzuarbeiten und findet heraus, wo sich diese Neuankömmlinge verstecken, oder ihr macht mit euren... Albernheiten zu Hause weiter und verschwindet auf der Stelle.« Anya bedachte ihn mit einem süßen Lächeln. »Fantastisch«, sagte sie und stand auf. »Lass uns gehen, Xander. Wir haben erst die Hälfte des Kamasutra geschafft, und es gibt noch Dutzende von...« Xander hatte sich bei Giles’ Worten am Riemen gerissen und sah jetzt verlegen aus. »Hallo, Anya? Das war Sarkasmus. Bei Giles ist das immer schwierig zu unterscheiden, ich weiß. Aber er braucht unsere Hilfe und hat nicht ernsthaft gemeint, dass wir jetzt gehen sollen.« Xander runzelte die Stirn und sah zu Giles. »Stimmt doch, oder?« »Ich bin mir da selbst nicht mehr so sicher«, erwiderte Giles trocken. »Aber ich brauche jede Hilfe, die ich kriegen kann. Ich verstehe nicht, warum sich Buffy und Willow noch nicht gemeldet haben.« 73
»Buffy hat wahrscheinlich noch nichts Neues herausgefunden, sonst hätte sie dich heute Morgen bestimmt schon angerufen, meinst du nicht?«, beruhigte ihn Xander. »Sie ist zu Willy’s Alibi Room gegangen und wollte Willy mal auf die Füße treten. Wenn sie irgendetwas Nützliches aus ihm rausgekriegt hätte, wüssten wir es sicher schon.« Giles sah zum Telefon und betrachtete dann wieder den Stadtplan von Sunnydale, der auf dem Tisch ausgebreitet war. »Ich nehme an, du hast Recht«, gestand er schließlich ein. »Und wenn ihr etwas zugestoßen wäre, hätte Willow uns bestimmt schon heute Morgen Bescheid gesagt.« »Oder vielleicht auch nicht, so sauer wie sie auf Buffy war«, warf Anya ein. Xander und Giles warfen ihr beide exakt denselben verwirrten Blick zu. Anya verdrehte daraufhin nur die Augen. »Männer. Ihr kriegt aber auch nie irgendetwas mit. Ich könnte jede Seele – nicht meine eigene natürlich – darauf verwetten, dass Willow letzte Nacht bei Oz geschlafen hat und Buffy heute weder gesehen noch mit ihr gesprochen hat.« »Stimmt«, entgegnete Giles barsch. Er schob seinen Stuhl zurück und nahm die Karte in die Hand. »Lasst uns jetzt sofort weitermachen. Wenn dieser Camazotz herausgefunden hat, dass sie die Jägerin ist, dann wäre es gut möglich...« Das Telefon klingelte. Eilig rannte Giles auf den kleinen Tisch mit dem Apparat zu. »Macht ihr ruhig schon weiter«, ließ er Xander und Anya wissen. Nach dem zweiten Klingeln hob er ab. »Hallo?« »Hi, ich bin’s«, meldete Buffy sich. »Entschuldigung, dass ich noch nicht vorbeigekommen bin. Ich war im College, und dann musste ich noch in die Bibliothek.« »Ja, nun, ich bewundere, wie ernst du dein Studium nimmst, Buffy, aber Lucy Hanovers Warnung ist auch nicht auf die 74
leichte Schulter zu nehmen, stimmst du mir da zu? Wir müssen diesem Camazotz unsere volle Aufmerksamkeit widmen.« »Tue ich bereits«, erwiderte sie kühl. »Ich werde die Welt retten wie immer, okay? Aber es gibt da noch eine Sache in meinem Leben, die sich Studium nennt und um die ich mich ebenfalls kümmern muss. Mir ist klar, dass ich dieses Thesenpapier nicht vor Montag fertig haben werde, also habe ich für heute alle Kurse gestrichen. Aber geben Sie mir bitte kurz Zeit zum Verschnaufen, Giles. Ich verbringe schließlich nicht meine ganze Freizeit zusammen mit meiner Liebsten.« Giles zögerte. Ihr offensichtlicher Ärger und Frust bestürzten ihn. Er wollte sich verteidigen und sagen, dass er seine Verpflichtungen während Olivias Besuch in keinster Weise vernachlässigt hatte. Tatsache war, dass ihre gemeinsame Zeit durch Giles’ Verpflichtungen deutlich getrübt worden war. Aber er sagte nichts dergleichen, da er fürchtete, Buffy würde es in ihrer momentanen Erregung als Vorwurf ansehen. »Ist alles in Ordnung?«, fragte er so sanft, wie er konnte. »Ja, mir geht’s ausgezeichnet«, entgegnete sie, aber ihre Stimme klang gepresst. »Das ist seltsam, denn so hörst du dich ganz und gar nicht an. Buffy, eine der ersten Lektionen, die eine Jägerin lernen muss, ist, dass es zum Überleben absolut notwendig ist, sich anzupassen, zu improvisieren und auf jede Situation schnell und prompt zu reagieren. Mit dem bewundernswerten Versuch, deinem Leben Ordnung zu verleihen, hast du das, fürchte ich, vergessen.« »Genau das tue ich, Giles. Ich reagiere. Seit dem Tag, an dem ich entdeckt habe, dass ich die Jägerin bin, und an dem das Chaos in mein Leben getreten ist, versuche ich zu improvisieren und wieder Ordnung in mein Leben zu bringen. Ist das ein Fehler?« Er seufzte. »Ich fürchte, du musst das Chaos akzeptieren. Indem du dagegen ankämpfst, verlierst du dich nur immer 75
mehr darin. Und im Gegenzug opferst du eine der Gaben der Jägerin: die Macht, den Rest der Welt vor eben diesem Chaos zu bewahren.« Eine lange Pause entstand, bevor Buffy wieder etwas erwidern konnte. »Ich weiß nicht, ob ich so weiterleben kann. Wenn ich nicht mehr versuche, mein Leben in den Griff zu bekommen...« »Buffy, du weißt, dass du dabei immer mit meiner vollen Unterstützung rechnen kannst. Es gibt aber einfach Zeiten...« »Ich weiß«, antwortete sie traurig. »Ich danke Ihnen. Ich werde darüber nachdenken. Aber jetzt mache ich erst mal weiter. Letzte Nacht habe ich Willy das Messer an die Kehle gesetzt, aber er wusste von nichts. Von den FledermausGesichtern hat er zwar schon mal gehört, aber er konnte nicht sagen, wo sie sich aufhalten, warum sie hier sind und so weiter.« »Babkes«, murmelte Giles. Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen. »Sie haben sich alte Wiederholungen von Hill Street Blues angeschaut, hab ich Recht?« »Du wolltest mit deinem Bericht über die Patrouille fortfahren«, lenkte er schnell ab. »Ich bin die Innenstadt abgegangen, dann den Friedhof und die Gegend ums Bronze. Sonst ist dort immer was los, aber diesmal haben die Seelenlosen nicht einen Mucks von sich gegeben. Dann habe ich einen Rundgang durch Docktown gemacht. Ich habe zwar viele Tätowierte gesehen, aber leider niemanden mit einem Fledermaus-Tattoo im Gesicht.« Giles lauschte Buffys Bericht über die Patrouille der letzten Nacht und starrte auf den Stadtplan. Im Geiste versuchte er, den Weg, den Buffy genommen hatte, nachzuzeichnen. Er endete in Docktown, in jenem Teil der Stadt, den Sunnydale schon seit einem Jahrhundert als Hafen nutzte. Das Fish Tank, wo sie zum ersten Mal den Dienern von Camazotz begegnet 76
war, lag im Norden von Docktown, direkt am Kai, wo die Schiffe vor Anker lagen. Der Kat Scratch Club lag ein Stück weiter südlich in Richtung Innenstadt. Beide Läden waren recht weit entfernt vom Zentrum, das normalerweise von jungen Leuten nur so wimmelte und Vampire deshalb magisch anzog. Dieser Teil der Stadt war das erklärte Hauptziel der Blutsauger. Außerdem lag er näher am Höllenschlund, der die Vampire – so vermutete Giles – ebenfalls anzog. Die übernatürlichen Wesen der Stadt entfernten sich nie weit oder für lange Zeit vom Tor zur Hölle. Docktown. Und im Westen gab es nichts außer dem Pazifischen Ozean. »Buffy«, sagte Giles, und seine Stimme klang gepresst, »ich bin ein absoluter Idiot.« »Das sagen Sie mir jetzt erst, wo ich immer auf Ihre Ratschläge gehört habe?« »Es muss ein Schiff sein«, meinte er. »Das neue Haus der Fledermäuse, Camazotz’ Höhle.« Giles blickt zu Xander und Anya, die vom Boden aufgestanden waren und an den Tisch traten, da sie nun auch einen Blick auf die Karte werfen wollten. »Es muss ein Schiff sein. Irgendwie haben sie es geschafft, der lästigen Aufmerksamkeit der Zollbehörden und der Hafenmeisterei trotz ihrer auffälligen Tätowierungen im Gesicht zu entgehen.« »Das hört sich logisch an«, gab Xander zu. »Aber es muss jemand unter ihnen sein, der wie ein normaler Mensch aussieht und sie vor den Behörden vertritt. Man kann schließlich nicht ein ganzes Schiff verstecken. Es muss irgendwo gemeldet sein.« Buffy, immer noch am Apparat, war derselben Meinung wie Xander. »Das würde erklären, warum ich noch keinen von ihnen in der Innenstadt gesehen habe. Noch nicht. Und selbst wenn Sie nicht Recht haben mit Ihrer Vermutung, dann stehen wir auch nicht schlechter da als zuvor. Aber wie finden wir 77
ihren genauen Aufenthaltsort heraus? Es ist viel zu riskant, in jedes Schiff einzubrechen, das im Hafen vor Anker liegt, außerdem viel zu zeitaufwendig, und davon abgesehen habe ich auch keine Lust, verhaftet zu werden.« »Es müsste doch möglich sein, die gesuchten Informationen mit Hilfe des Computers herauszufinden. Ansonsten bleibt uns nur noch der Griff in die Zauberkiste. Auf jeden Fall solltest du Willow Bescheid geben.« »Ich könnte doch auch selbst nach Docktown gehen und mich mit der zuständigen Person aus der Hafenmeisterei unterhalten«, schlug Buffy vor. »Ja, das ist eine gute Idee«, stimmte Giles zu. »Aber die Hafenmeisterei ist eigentlich nicht dazu befugt, Informationen herauszugeben, und es wäre nicht sehr ratsam, jemanden einzuschüchtern, der mit den örtlichen Behörden zusammenarbeitet. Wir sollten uns eher darauf einstellen, dass wir per Computer und mithilfe von Magie nach ihnen suchen müssen. Und damit sind wir auf Willows Hilfe angewiesen.« Nachdem Buffy aufgelegt hatte, starrte sie das Telefon fast eine Minute lang unverwandt an. Giles wollte, dass sie Willow anrief. Auch für Buffy gab es keinen Zweifel daran, dass Willow eine Hilfe sein konnte, aber sie war nicht derselben Meinung wie Giles, der glaubte, dass ihre Hilfe unbedingt notwendig war. Sie hielt es sogar für die bessere Lösung, selbst zur Hafenmeisterei zu gehen und dort gegebenenfalls jemanden zum Reden zu zwingen, oder die Schiffe alle einzeln zu überprüfen – auch wenn sie wusste, dass die Zeit dafür zu knapp sein würde. Ein Teil von ihr hielt dies für die einfachere Lösung, der andere Teil war sich vollkommen im Klaren darüber, dass Giles und Willow Recht hatten. Aber sie hatte Angst vor dieser Möglichkeit. Wenn das wahr wäre, so flüsterte eine innere Stimme ihr zu, dann würde der Tag nicht fern sein, an dem sie sich zwischen ihrem Leben als Buffy 78
Summers und ihren Verpflichtungen als Jägerin entscheiden musste. Diese Entscheidung würde sie nicht überstehen. Buffy wünschte, sie hätte Giles gegenüber ihre Meinung deutlicher zum Ausdruck gebracht und ihm gesagt, sie sollten sich ruhig verhalten und einfach nur ihre Nachforschungen weiter vorantreiben. Doch jetzt war sie zuständig für ihre Sicherheit, und abermals lastete die ganze Verantwortung allein auf ihren Schultern. Doch sie würde es schaffen. Sie musste. Widerwillig wählte sie Oz’ Nummer. Nach dem dritten Klingeln ging er ans Telefon. »Hallo?« »Hier ist Buffy. Ist Willow da?« »Sie holt gerade eine Pizza.« Plötzlich war Buffy sehr erleichtert. Giles dachte, sie würden Willows Hilfe unbedingt benötigen. Natürlich würde es die Angelegenheit vereinfachen, wenn Willow ihnen half. Aber eine Jägerin wählte nicht den einfacheren Weg. Wenn Willow nicht da war, konnte sie vielleicht Giles wieder nach Hause schicken und ihm sagen, sie würden sich erst am nächsten Tag auf die Suche nach dem Schiff begeben. So könnte sie sich allein auf den Weg machen und die Dinge auf ihre Art erledigen. Sie würde nicht den einfachen Weg wählen. »Buffy? Ist irgendwas?«, fragte Oz. »Könntest du sie fragen, ob sie etwas für mich tun kann?«, begann sie. Dann erklärte sie Oz, dass Willow mithilfe des Computers nach dem Schiff suchen sollte, und dass es Giles Idee gewesen war, sich bei den Schifffahrtsbehörden einzuhacken. Zumindest würde sie Willow dabei keiner Gefahr aussetzen. Normalerweise war es ungefährlich, am Computer zu sitzen. »Ich ruf später noch mal an, um mich zu erkundigen, ob sie schon etwas herausgefunden hat.« 79
»Ich werd’s ihr ausrichten«, gab Oz zur Antwort. »Sie wird sich sehr freuen.« Seine Worte enthielten wie immer mehr Bedeutung, als es den Anschein hatte, aber Buffy fragte nicht weiter nach. Die Nacht war bereits angebrochen, als Buffy sich auf den Weg nach Docktown machte. Sie ging am Fish Tank vorbei und blieb einen Block weiter im Schatten eines zerfallenen Mietshauses stehen. Prüfend sah sie sich um. Gegenüber der heruntergekommenen Kneipe erkannte sie Giles’ alten Citroën. Das geparkte Auto sah ziemlich verlassen aus. Aber hier in dieser Gegend würde es nicht lange dauern, bis man es aufbrach. Buffy wusste Bescheid. Sie durchquerte eine schmale Gasse, um zu dem Auto zu gelangen, und kam an einem Obdachlosen vorbei. Der Mann hatte sich an der Ziegelmauer eine Art Unterstand aus verwittertem Holz errichtet, das er wahrscheinlich von den Docks entwendet oder von der Felsenküste in der Nähe aufgelesen hatte. Er bemerkte, dass sie ihn gesehen hatte, und zischte etwas in die Schatten hinter sich. Buffy lief es eiskalt den Rücken hinunter – sie fragte sich unwillkürlich, ob er nun mit einer finsteren, dämonischen Kreatur oder einem Wesen, das nur in seiner Fantasie existierte, kommunizierte. Die erste Möglichkeit fand sie allerdings wesentlich beunruhigender. Sie bewegte sich hauptsächlich im schützenden Schatten der umliegenden Gebäude vorwärts, legte dann jedoch einen Schritt zu. Einen Augenblick später stand sie hinter dem Citroën. In dem dämmrigen Licht, das vom Neonschild des Fish Tank auf der anderen Straßenseite ausging, erkannte sie Giles hinter dem Lenker. Er hatte eine fettige braune Papiertüte mit frittierten Muscheln, Pommes Frites und eine Flasche Wasser auf dem Schoß. Das Ganze war nicht gerade sein Lieblingsessen, aber wahrscheinlich hatte er in der Eile nichts 80
anderes bekommen. Sie konnte ihn gut verstehen, da sie selbst seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte, aber ihr war jetzt nicht nach Essen. Ihr Magen fühlte sich klein und hart an, als könne er nicht mal ein winziges Stück Brot vertragen. Später, wenn sie zu Hause war, würde sie etwas zu sich nehmen. Buffy beugte sich zu dem Auto hinunter und klopfte an Giles’ Fenster. Er fuhr zusammen, ließ eine Muschel fallen und fluchte, als ihm die Tartarsoße auf das Sweatshirt tropfte. Dann bedeutete er ihr, sich neben ihn zu setzen. Während Buffy auf den Beifahrersitz kletterte, versuchte Giles, die Soße zu entfernen. Er sah sie verwirrt an. »Du bist allein? Was ist mit Willow?« Buffys Gesichtszüge verhärteten sich. »Ich habe bei Oz angerufen, aber sie war nicht da. Ich habe ihm erklärt, dass sie am Computer Nachforschungen anstellen soll, aber ich fürchte, wir müssen diesen Teil unseres Plans auf morgen verschieben.« »Hast du Oz zu verstehen gegeben, wie dringend die Sache ist?« Sie zuckte die Achseln. »Willow war nicht da, Giles. Oz besitzt keine Zauberkräfte. Wir könnten noch mal anrufen und fragen, ob sie jetzt zurück ist, aber machen denn zwölf Stunden einen so großen Unterschied? Wenn sie sich an den Computer setzt, brauchen wir ihre magischen Kräfte vielleicht gar nicht mehr.« Buffy runzelte die Stirn. Giles räusperte sich und warf ihr einen vernichtenden Blick zu. »Zwölf Stunden können einen entscheidenden Unterschied machen, Buffy. Noch eine Nacht mehr kann zahllosen Menschen das Leben kosten.« Buffy blickte aus dem Fenster auf die verschmutzte Straße. »Ich werde mich hier umsehen und die ganze Nacht hier bleiben, wenn es sein muss. Morgen ist Samstag, wie Sie wohl 81
wissen. Also kann ich ausschlafen. Ich werde in Docktown herumschnüffeln und so vielleicht etwas Neues erfahren. Und Sie und die anderen versuchen weiterhin, etwas über ihre seltsamen glühenden Augen herauszufinden, ja?« »Xander und Anya sind gerade dabei. Langsam kommt mir der Verdacht, dass es sich nicht um eine einzelne, unbekannte Vampir-Spezies handelt, sondern vielmehr um Vampire, die von Camazotz mit besonderen Fähigkeiten ausgestattet werden. Xander und Anya forschen auch in dieser Richtung. Aber so bedauerlich Willows Abwesenheit auch ist, wir sollten alle Möglichkeiten in Erwägung ziehen und auf alles gefasst sein, wenn wir ihre Höhle oder Lagerstätte finden wollen.« Giles startete den Motor und legte einen Gang ein. »Hey!«, rief Buffy überrascht. »Hören Sie, Giles, ich meine es wirklich ernst. Sie sind den anderen eine viel größere Hilfe. Was die Patrouille angeht – ein paar Leute einschüchtern und ein paar Fausthiebe austeilen, um Informationen zu bekommen –, das ist wohl eher die Sache der Jägerin, okay? Zuerst knöpfe ich mir den Hafenmeister vor, und dann geht’s weiter. Xander und Anya sind wahrscheinlich sowieso nicht mit Arbeiten bei Ihnen zu Hause beschäftigt, sondern knutschen die ganze Zeit herum. Wir werden nicht herausfinden, womit wir es zu tun haben, wenn die beiden die Bücher beiseite legen, weil sie Besseres zu tun haben. Ich bleibe hier und verteile schlagkräftige Argumente. Das ist mein Job. Sie gehen nach Hause und suchen nach Querverweisen in der einschlägigen Literatur. Das ist Ihr Job.« Giles warf ihr einen kurzen Seitenblick zu und zog erstaunt eine Augenbraue hoch. »Buffy, ich war schon dutzende, wenn nicht sogar schon hunderte Male zusammen mit dir auf Patrouille. Warum beharrst du so darauf, mich nicht dabeihaben zu wollen? Du kannst doch nicht so plötzlich ernsthaft um meine Sicherheit besorgt sein.« »Nein, garantiert nicht«, sagte Buffy verächtlich. 82
»Nun, das beruhigt mich aber.« Buffy wandte kurz den Blick ab. »Ich mache mir Sorgen um meine Sicherheit. Sie, Giles, haben mir erzählt, dass Jägerinnen normalerweise allein vorgehen. Sie haben keine Freunde um sich, so wie ich, Leute, auf die man sich verlassen kann. Für sie gibt es nur ihre Arbeit, daneben führen sie eigentlich kein Leben. Ich aber schon, das heißt, ich versuche es. Wenn ich zwei Leben führen will, muss ich doppelt so viel und doppelt so hart arbeiten. Für mich als Jägerin bedeutet das natürlich, dass ich die Verantwortung, die Auserwählte zu sein, ganz allein auf meine Schultern nehmen muss. Ich bin auserwählt, niemand sonst. Manchmal ist es schwer, aber ich muss lernen, mich auf niemand anderes als auf mich selbst zu verlassen. Die Einzige auf der ganzen Welt, erinnern Sie sich? Das haben Sie mir gesagt, als wir uns zum ersten Mal getroffen haben. Weder ein anderes Mädchen noch ihr Wächter, ihre besten Freunde, ihr Freund, ihre Freundin und wer auch immer uns über den Weg läuft, haben ihre Mittel. Ich muss es machen, Giles. Sie gehen. Ich bleibe.« »Jeder Mensch benötigt mal Hilfe, Buffy. Das ist in erster Linie der Grund, warum jede Jägerin einen Wächter hat, der ihr zur Seite steht«, meinte Giles und sah sie besorgt an. »Aber die Mächte wählen nicht die Wächter aus. Nur die Jägerinnen.« Giles nahm seine Brille ab und ließ sie an seinen Fingern baumeln, während er über Buffys Worte nachdachte. »Das ist jetzt nicht der passende Zeitpunkt, diese Dinge zu diskutieren, Buffy. Oder hast du vergessen, was meine Meinung dazu war, den Hafenmeister zu bedrohen? Ich habe gesagt, dass es nicht von Vorteil für uns wäre, wenn die Behörden davon Wind bekämen. Wir gehen zusammen dorthin, und ich werde zuerst mit ihm sprechen. Wenn er verdächtig wirkt, kannst du dich immer noch um ihn kümmern.« 83
Buffy wollte schon Einwände erheben, aber Giles schien fest entschlossen. Sie musste zugeben, dass es vermutlich besser war, wenn er als Erster mit dem Mann sprach. Irgendwie passte ihr das zwar nicht, aber sie hatte wohl keine andere Wahl. Im Moment zumindest nicht. Im Büro der Hafenmeisterei brannte noch Licht. Buffy wollte mitgehen, aber Giles bestand darauf, dass sie im Auto wartete. Sie versuchte, sich zwar selbst zu beweisen, dass sie alles tun konnte, was sie wollte, aber wieder mal musste sie sich eingestehen, dass es nicht immer klappte. Giles war der Ansicht, dass der Mann in der Hafenmeisterei eher bereit war, mit ihm zu reden, als mit einem Teenager. Er parkte den Citroën anderthalb Block weit entfernt und ging zu Fuß zum Büro. Es war ein kleines Gebäude mit zwei oder drei Räumen und lag ordnungsgemäß dem Meer zugewandt. Die Öffnungszeiten waren auf einer Tafel an der Tür angeschlagen, und sie waren schon lange vorbei, aber Giles deutete das Licht im Inneren als ein gutes Zeichen. Es gab keine Klingel, also klopfte er an die Tür. Gerade, als er zu einem erneuten Klopfen ansetzen wollte, drehte sich der Türknauf, und die große Eichentür öffnete sich. »Was zum Teufel wollen Sie?«, brüllte ihm ein bärtiger, grauhaariger Mann entgegen, dem eine Zigarre zwischen den Zähnen steckte. Giles sah ihn erstaunt an. Der Mann sah aus wie die Karikatur eines Hafenmeisters, oder zumindest so, wie Giles sich einen typischen Hafenmeister vorstellte. Er zwang sich, ihn nicht weiter anzustarren. Das Letzte, was er wollte, war, den Mann zu beleidigen. »Sie sind der Hafenmeister, nehme ich an?« »Wissen Sie, wie spät es ist?« »Ja, natürlich, Sir. Aber es wird nicht lange dauern. Ich bin... Journalist und recherchiere über die neuesten Vorkommnisse 84
hier in Docktown. Banden, die ihr Unwesen treiben, um genau zu sein. Ich hätte da ein paar Fragen an Sie.« Der Hafenmeister kniff die Augen zusammen, nahm einen Zug von seiner Zigarre und beäugte Giles misstrauisch. »Sie sind Engländer«, stellte er fest. »Ja.« »Was zum Teufel treibt ein Engländer nachts in Docktown? Was geht Sie denn an, was hier vor sich geht?« Giles zögerte. Er hatte schon befürchtet, dass das Ganze nicht funktionieren würde, aber der Mann hätte ihm erst recht nicht geglaubt und seine Fragen beantwortet, wenn er sich als Police Officer ausgegeben oder ihm einfach die Wahrheit gesagt hätte. »Wie ich schon sagte, Sir. Ich bin Journalist und arbeite für die L. A. Times. Ich schreibe einen Artikel über neue Banden, die sich hier angeblich breit gemacht haben«, sagte er nachdrücklich. Ohne zu zögern, fuhr er fort. »Es heißt, dass sich hier gewalttätige Ausschreitungen häufen, verursacht durch eine Gruppe von Raufbolden, die ein sehr auffälliges Tattoo tragen. Jeder von ihnen hat eine Fledermaus auf dem Gesicht tätowiert.« »Hhhm«, machte der alte Mann. Er kratzte sich am Bart und zog erneut an seiner Zigarre. Dann blies er den Rauch aus und pustete ihn Giles ins Gesicht, sodass er fast erstickte. »Wie sagten Sie, war Ihr Name?« »Robert Travers.« Nachdem er einen Moment nachgedacht hatte, drehte der Mann die Zigarre mit der Zunge zwischen seinen Zähnen und nickte. »Kann sein, dass ich was darüber weiß. Vielleicht hat sogar eine der Ratten, die hier über die Docks rennen, was gesehen. Zahlen Sie für die Information?« Giles lächelte. »Selbstverständlich.« Der alte Mann kniff wieder die Augen zusammen. »Sie bewegen sich keinen Millimeter von der Stelle. Ich werde mal kurz telefonieren gehen.« 85
»Ich stehe Ihnen zu Diensten.« Der alte Mann schloss die Tür. Möwen krächzten über ihm in der Dunkelheit. Der Himmel war leicht bedeckt, und nur wenige Sterne waren zu sehen. In der Ferne hupte jemand, und Giles blickte in Richtung Straße. Um diese Zeit waren hier nur sehr wenige Autos unterwegs, aber er hörte das Rattern eines Lastwagens, der ganz in der Nähe sein musste. Ein metallenes Scheppern war zu vernehmen, das von dem schwimmenden Dock und den vorund zurückschwappenden Wellen unterhalb der Hafenmeisterei verursacht wurde. Die Zeit verging. Schließlich blickte er stirnrunzelnd auf seine Armbanduhr und drückte den Knopf für das Licht. Siebzehn Minuten nach neun. Er hatte vorher nicht auf die Uhr geschaut, vermutete aber, dass er schon seit mindestens fünf, eher zehn Minuten wartete. Langsam fragte er sich, ob der Mann ihn zum Narren halten wollte. Giles entfernte sich ein paar Schritte von der Tür und blickte die Straße hinunter zu seinem Auto. Es war dunkel, und auch Buffy war nirgends zu sehen. Er seufzte und ging zurück an seinen Posten. Unruhig trat er von einem Bein auf das andere. Um neun Uhr zweiundzwanzig klopfte er an die Tür, dieses Mal eindringlicher. Der Mann öffnete die Tür vorsichtiger als vorhin. Sein Gesicht verzog sich zu einem grausamen Lächeln. »Sie sind ziemlich hartnäckig, was?«, grummelte er. »Das bringt mein Beruf mit sich«, gab Giles zur Antwort. »Sie machen Ihren«, sagte der Mann und kaute auf seiner Zigarre herum und zog sich seine zerrissene Jeans zurecht, »und ich meinen.« Mit diesen Worten schossen seine Hände mit einer schier übermenschlichen Geschwindigkeit nach vorne und legten sich um Giles’ Hals. Der alte Mann spuckte seine Zigarre aus, 86
schleppte Giles in das Innere der Hafenmeisterei und schleuderte ihn durch den Raum. Mit einem lauten Krachen fiel der ehemalige Wächter auf den Schreibtisch und schrie auf, als sein Rücken an der Kante aufschlug. Dann sank er ohnmächtig auf den dreckigen Holzboden. Der Hafenmeister zischte ihn an. Unter seinem langen grauen Bart traten Fangzähne hervor.
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6 Das dauert eindeutig zu lange, dachte Buffy. Sie lehnte sich über das Armaturenbrett und spähte durch die Windschutzscheibe. Giles stand draußen vor der Tür der Hafenmeisterei. Buffy sah, wie er auf seine Armbanduhr blickte. Also bin ich nicht die Einzige, die findet, dass es zu lange dauert, dachte sie. Einen Augenblick später hielt Oz’ Van hinter ihr. Buffy verzog das Gesicht. Das machte die Dinge noch komplizierter, und genau das hatte sie vermeiden wollen. Sie blickte noch einmal zu der Hafenmeisterei, vergewisserte sich, dass Giles noch da war und niemand sie beobachtete, dann stieg sie aus dem Auto und ging zu dem Van. Willow saß auf dem Beifahrersitz. Buffy war gleichzeitig verärgert und erfreut über ihr Kommen. Wahrscheinlich hatte ihre Freundin sich verpflichtet gefühlt, ihr beizustehen. Das Fenster war heruntergekurbelt. »Hallo«, begrüßte Willow sie. »Pst! Mach hinten auf.« Die Hintertür wurde geöffnet. Buffy ging um das Auto herum, stieg ein und blickte plötzlich in Xanders Gesicht. »Hi«, sagte er. »Was macht Giles denn da, steht einfach so herum?« Buffy sah ihn besorgt an und meinte: »Ich weiß es, ehrlich gesagt, auch nicht genau. Er wartet auf den Mann von der Hafenmeisterei. Der Kerl ist einmal an die Tür gekommen, hat sie dann wieder geschlossen, und seitdem steht Giles da und wartet. Aber was treibt euch hierher?« Oz behielt Giles weiterhin im Auge, aber Willow drehte sich auf ihrem Sitz um und blickte Buffy und Xander an. »Wir dachten, wir könnten dir den Rücken frei halten«, ließ sie verlauten. »Als Oz mir gesagt hat, dass du angerufen hast, 88
habe ich versucht zurückzurufen. Anscheinend warst du nicht da, also habe ich es bei Giles versucht. Xander hat mir dann alles erzählt. Wir haben ihn mitgenommen, und jetzt sind wir hier. Ich denke, Anya wird auch ohne uns mit der Recherche zurechtkommen.« »Ich danke euch.« Buffy lächelte. »Aber wir haben es ganz gut unter Kontrolle, denke ich. Ihr könnt ruhig wieder nach Hause fahren und weiter Bücher wälzen. Und Pizza essen. Und euch keine Sorgen machen.« »Die Pizza haben wir schon hinter uns«, entgegnete Willow. »Oder besser gesagt, Xander hat sie sich schon einverleibt.« »Mann!«, protestierte Xander. »Recherchieren macht mich immer hungrig.« »Wie so ziemlich alles«, gab Buffy zurück. »Du hast nichts von einem Zauberspruch erwähnt«, sagte Willow. Buffy schaute sie an. »Was?« »Als du mit Oz gesprochen hast. Du hast nichts von einem Zauberspruch erwähnt, aber Xander meinte, Giles möchte, dass ich einen Suchzauber oder so etwas in der Art erwirke. Ich hätte mir die Zutaten besorgen können.« »Du warst nicht da, Will. Ich dachte, wir verschieben das mit dem Zauberspruch einfach auf morgen. Giles versucht ja schon, irgendetwas aus dem Hafenmeister herauszubekommen«, antwortete Buffy. Eine leichte Spannung lag in der Luft, aber Buffy gab vor, es nicht zu bemerken, und hoffte, Willow würde ebenfalls darüber hinwegsehen. Sie lehnte sich nach vorn und blickte hinter Willow durch die Windschutzscheibe, als wäre das Gespräch jetzt beendet. Giles stand immer noch unruhig vor dem Eingang der Hafenmeisterei. »Meinst du nicht auch, dass da etwas nicht stimmt?«, wollte Xander wissen.
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Buffy dachte eine Weile darüber nach und wägte den Gedanken nach allen Möglichkeiten ab. Dieser Teil von Docktown war nunmehr menschenleer. Das Fish Tank – und mit ihm wenigstens ein paar Menschen – lag zwar nur ein paar Schritte von ihnen entfernt, aber hier unten war... nichts. Das war ein bisschen zu viel nichts. Durch das geöffnete Fenster an Willows Seite drang das ferne Heulen einer Sirene. Draußen auf dem Meer läutete die Glocke einer Heulboje immer und immer wieder, als würde es ewig Nacht bleiben. Buffy betrachtete die Türen und Fenster der umliegenden Häuser. Aus manchen flackerte das silbergraue Licht von Fernsehern und warf unheimliche Schatten auf die Straße. Aber die meisten Gebäude waren in absolute Dunkelheit getaucht. Eine unangenehme, beklemmende Vorahnung strömte durch ihren Körper und hinterließ ein dumpfes Gefühl in ihrer Magengrube. Die feinen samtigen Haare auf ihren Armen und in ihrem Nacken stellten sich auf und prickelten, als wären sie elektrisch geladen. Ihr Herz schlug schneller. »Irgendetwas stimmt hier wirklich nicht«, sagte sie. Auch Willow und Xander sahen aus, als hätte etwas Gespenstisches sie in seinen Bann gezogen. Sie starrten aus dem Van, als würden sie jeden Moment damit rechnen, dass die Schatten lebendig werden würden. »Merkt ihr es auch?«, fragte Buffy. Xander zuckte die Achseln. »Ich weiß nicht. Ich habe immer so ein komisches Gefühl, wenn wir auf Dämonenjagd gehen.« Aber Willow erwiderte Buffys Blick. »Irgendetwas. Du hast Recht. Ich weiß nicht genau, was es ist, aber da... ist etwas.« »Also hast auch du den sechsten Sinn?«, fragte Xander sie. »Das hat nichts mit übersinnlichen Kräften zu tun«, erwiderte Willow. »Vielleicht sind wir alle einfach nur paranoid. Es ist ja auch nicht gerade sehr gemütlich hier. Aber ich lass Buffy nicht im Stich.« 90
»Ich hätte Giles in die Hafenmeisterei begleiten müssen«, erklärte Buffy und durchwühlte ihre Tasche, nahm die Armbrust heraus und reichte sie Xander. »Nimm du sie. Ich möchte, dass wir vorbereitet sind, wenn...« »Buffy!«, rief Xander aufgeregt. Er deutete mit der Hand aus dem Fenster. Die Jägerin konnte gerade noch sehen, wie der alte Mann Giles packte und ihn mit übermenschlicher Kraft in das Büro der Hafenmeisterei schleifte. Die Tür knallte hinter ihm zu. »Gebt mir Deckung, aber bleibt auf alle Fälle im Van, bis ich euch sage, dass ihr rauskommen sollt.« Als Buffy aus dem Van sprang, fühlte sich ihr Herz so kalt und so schwer an wie ein Stein. Angst stieg in ihr hoch und lähmte ihre Bewegungen. Doch sie zwang sich dazu, die Straße hinunter zur Hafenmeisterei zu sprinten, und sie hatte dabei das Gefühl, als hätte sich alles um sie herum verlangsamt, als wäre die Welt stehen geblieben, als müsse sie nicht nur ein paar Meter, sondern unendlich viele Meilen zurücklegen. »Giles«, flüsterte sie mit atemloser Stimme, ihre Gedanken kreisten nur noch um ihn. Ihre Freunde im Van hatte sie völlig vergessen. Doch da hörte sie das Knattern eines Motors, und plötzlich waren sie wieder da. Anscheinend wollten sie ihr folgen. Aber so viel Zeit blieb Giles wahrscheinlich nicht mehr. Sie schoss vorwärts, ihre Schuhsohlen klatschten auf den aufgerissenen Gehsteig, und ihr Gesicht war trotz der Anstrengung plötzlich eiskalt. Die Welt um sie herum verschwand, und das Einzige, das sie noch hören konnte, war ihr eigener Atem. Alle anderen Geräusche waren gedämpft, als befände sie sich unter Wasser. Buffy raste auf den Eingang der Hafenmeisterei zu, zog einen Pfahl aus ihrem Halfter und trat die Tür mit solcher Wucht ein, dass der Rahmen splitterte und sie aus den Angeln brach. Das ganze Zimmer war voller Müll. Ein riesiger 91
Eichenholzschreibtisch, der in einer Ecke stand, war übersät mit Papier. Neben einem Telefon, dessen Kabel aus der Wand gerissen war, lag eine zerbrochene Lampe auf dem Boden. Beides hatte wohl ursprünglich auf dem Schreibtisch gestanden. Ein altes, gerahmtes Bild eines Schoners, der kurz davor war, neben einem Leuchtturm auf einen Felsen aufzulaufen, hing fast verkehrt herum an der Wand. Ein umgekipptes Bücherregal lag auf dem Boden. Zwei schwache Lampen brannten, aber ihr Licht reichte aus, um Buffy die schreckliche Szene mitbekommen zu lassen, die sich vor ihr abspielte. Giles lag in dem schmalen Flur, der in einen anderen Teil der Meisterei führte. Seine Hosenbeine waren zerrissen, und Blut sickerte durch den Stoff und färbte ihn rot. Er versuchte sich aufzusetzen, und als er den Kopf schüttelte und Buffy wie irr zublinzelte, entdeckte sie, wie glasig seine Augen waren. Sein Gesicht war schon ganz blau geschlagen und an mehreren Stellen aufgeschürft; Blut rann ihm aus dem Mundwinkel und tropfte am Kinn herunter. Der Vampir kauerte über ihm. Er hielt Giles mit seinen scharfen Krallen am T-Shirt fest. Mit der anderen Hand umfasste die graubärtige Kreatur seinen Hals. Als Buffy durch die Tür krachte, blickte der Vampir auf und knurrte sie an. Sein Anblick verblüffte sie: Noch nie hatte sie einen Vampir gesehen, der alt war. Normalerweise wählten Vampire nur die stärksten und schönsten Menschen aus, wenn sie sich auf der Suche nach neuen Gefährten befanden – und aus eben diesem Grunde wirkten die meisten Vampire so attraktiv und lebendig. Doch dann begriff Buffy: Camazotz’ Diener hatten diesen Mann nur deshalb in einen Vampir verwandelt, weil er der Hafenmeister war. Mit seiner Hilfe gestaltete sich ihre Einreise in die USA bedeutend einfacher. Der Hafenmeister fauchte sie an und entblößte die Fangzähne. Seine Stirn wölbte sich abscheulich, seine Augen 92
funkelten wild, und doch glühten sie nicht in diesem seltsamen Orange wie die der anderen. Noch ein Rätsel. »Lass ihn gehen«, befahl Buffy. Der Vampir lachte heiser. »Und wenn nicht? Wirst du mich dann töten? Und wenn ich ihn freilasse, was dann? Lässt du mich dann auch gehen? Wir sind nicht so dumm, wie du vielleicht meinst!« Mit diesen Worten schleuderte die Kreatur Giles in die Höhe, drehte sein Opfer und hielt es wie einen Schutzschild vor sich. »Buffy... du musst... gehen«, krächzte Giles. Und schon rammte der Vampir seine Stirn gegen Giles’ Hinterkopf. Der Aufprall war laut, Knochen krachten und zersplitterten. Buffy erstarrte. Ihr wurde speiübel. In Giles’ Augen trat das Weiße hervor, und er erschlaffte in den mächtigen Armen des Vampirs. Die Jägerin wurde rot vor Zorn und umklammerte ihren Pfahl fester. »Du hast wohl noch immer nicht kapiert, mit wem du es hier zu tun hast, du Hornochse!«, schrie sie ihn an. »Oder du bist einfach zu dumm, um es zu kapieren. Ich bin Buffy Summers. Ich bin...« »Die Jägerin.« Die Stimme ertönte hinter ihrem Rücken. Buffy fuhr herum und positionierte sich direkt an der Wand, sodass sie gleichzeitig den Flur und den Hafenmeister im Auge behalten konnte. Zwischen den Überresten der Tür stand ein Wesen, dessen Anblick ihr den Atem raubte. Es war groß, hatte einen nackten Oberkörper und kauerte mit lauerndem Blick vor ihr. Aus seinem Rücken ragten skelettartige Flügel, die wirkten, als wären sie in Stücke zerrissen oder durch ein Feuer verunstaltet worden. Auf seiner Brust klaffte eine riesige Narbe, in deren Mitte eine offene Wunde prangte, die nur halb verheilt zu sein schien.
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Die Haare der Kreatur waren schwarz und bestanden aus einer einzigen filzigen Masse, ebenso wie ihr Bart. Sie hatte eine kurze, hässliche Schnauze und feuchte Schlitze als Nüstern, und ihre kreideartige, grünlich-weiße Haut war über und über mit Pockennarben bedeckt. Die Stirn lag in tiefen Furchen, einem Vampir nicht unähnlich. Aus dem Mund ragte eine Reihe Zähne hervor, die wie Eiszapfen aussahen, und die Finger des Wesens waren länger und dünner als die eines Menschen und von einem solchen Weiß, dass sie eher an die Hände eines Skeletts erinnerten. Aber was Buffy am meisten erschütterte, waren seine Augen. Glühende orangefarbene Augen, wie Feuer, genauso wie die seiner Anhänger. »Camazotz«, flüsterte Buffy. Sie hasste sich selbst für den Schrecken und die Ehrfurcht, die aus ihrer Stimme sprachen. »Ich bin gerührt, dass du meinen Namen kennst.« Das Monster grinste hämisch. »Kein Wunder, dass du in einer Höhle lebst«, schnaubte Buffy verächtlich. »Wer würde das nicht, wenn man so aussieht wie du?« Sie beobachtete den Hafenmeister aus den Augenwinkeln, für den Fall, dass die Beleidigung, die sie seinem Herrn an den Kopf geworfen hatte, ihn zu einer plötzlichen Reaktion veranlassen würde – zum Beispiel dazu, ihrem Mentor das Genick zu brechen. Aber nichts dergleichen passierte. Camazotz grunzte nur amüsiert, wohingegen viele andere nach einer solchen Beleidigung getobt hätten. »Der Mann bedeutet dir etwas«, stellte der Dämonengott fest. »Ist er dein Wächter?« Seine Stimme schien irgendwie feucht und belegt, vergleichbar mit dem Tonfall einer Person, die in Treibsand geraten ist und verzweifelt versucht, sich zu befreien. Er sprach mit einem Akzent, den Buffy nirgendwo einordnen konnte – er
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ähnelte jedoch dem der Fledermaus-Gesichter, gegen die sie gekämpft hatte. Ihr Blick fiel auf Giles, der immer noch bewusstlos am Boden lag, und dann wieder zurück auf Camazotz. Lügen wäre jetzt sinnlos. Der Dämonengott war ganz offensichtlich nicht dumm, auch wenn das noch lange nicht hieß, dass sie ihm ihre Lebensgeschichte anvertrauen würde. »Nein, nicht mein Wächter. Ein Freund«, erwiderte sie. Sie wiegte den Pfahl in ihrer rechten Hand und richtete die Spitze auf Camazotz. »Du bist also der Gott der Fledermäuse, hm? Wenn du deinem Namen alle Ehre machen willst – und das nehmen wir doch mal an – dann sind das aber ziemlich erbärmliche Flügel.« Camazotz bebte vor Zorn. Auf Buffys erste Beleidigung hatte er nicht reagiert, aber diese hier schien ihm unter die Haut zu gehen. Neugierig musterte sie ihn und suchte nach weiteren Bemerkungen über seine äußere Erscheinung. »Tut bestimmt weh, oder?« Mit ihrem Pfahl wies sie auf seinen Rücken. »Da hat dich aber jemand ganz schön in die Mangel genommen. Kannst du damit überhaupt noch fliegen?« Camazotz verlor die Beherrschung, und ein primitives Knurren entstellte seine Gesichtszüge. Seine Augen glühten und funkelten. »Ich wusste, dass ich dich töten muss, wenn ich den Höllenschlund erreichen will, du Miststück. Ich bin bereit. Meine Kakchiquels sind von mir persönlich verwandelt und aufgezogen worden. Sie fürchten dich nicht, Mädchen, denn sie haben noch niemals von dir gehört. Sie werden dich allesamt, ohne zu zögern, angreifen – ganz einfach, weil sie nicht wissen, was eine Jägerin ist.« »Sicher«, entgegnete sie und knurrte ihn ebenfalls an, während sie den Griff um den Pfahl verstärkte. »Ich habe schon weitaus größere, bösartigere und abscheulichere Monster als dich getötet. Du willst mich besiegen? Dann komm und hol 95
mich.« Sie starrte ihn an, und ihr Schweigen schien die Luft zwischen ihnen mit knisternder Energie aufzuladen. Dann lächelte sie auffordernd. »Komm, du Krüppel, verlieren wir keine Zeit.« Das Fleisch des antiken Dämonengottes wogte vor Wut. Er erbebte, seine Nüstern zitterten, dann fletschte er seine langen, scharfen Zähne und erhob sich zu seiner vollen Größe, bereit, sich auf sie zu stürzen. Camazotz lächelte. Buffy fluchte still vor sich hin und begrub ihre Hoffnungen. Ihr Herz schmerzte. »Du willst mich tatsächlich zu einem direkten Zweikampf herausfordern, und du glaubst, du kannst mich besiegen und deinen... Freund retten«, sagte Camazotz ungläubig. »Und vielleicht würde es dir sogar gelingen, Jägerin. Vielleicht. Aber ich bin lange genug auf Erden gewandelt, bevor der menschliche Bazillus sie verseucht hat, und ich habe gelernt, vorsichtig zu sein.« Camazotz wandte sich an den Hafenmeister. »Wenn sie mir nicht auf der Stelle gehorcht, tötest du ihn. Trinkst ihn.« Er strich sich mit der Zunge über die Zähne und glotzte sie an. Jegliche Spur von Humor war aus seinem scheußlichen Antlitz verschwunden. »Lass den Pflock fallen! Auf die Knie! Kriech zu meinen Füßen!« Ihr Herz raste, und sie versuchte, die Wirkung seiner Worte auf sie zu verbergen. So gut sie auch kämpfen würde, er hatte sie in seiner Gewalt. In Windeseile ging sie im Kopf alle Möglichkeiten durch, die ihr noch blieben. Es war nur eine. Wenn sie nämlich tat, was er befahl, wären sie beide tot. Wenn sie ihn angriff, würde Giles verletzt, wahrscheinlich getötet werden, bevor sie ihn befreien konnte. Sie musste darauf hoffen, dass Camazotz Giles als Geisel behalten und ihn nicht töten würde, um etwas gegen sie in der Hand zu haben.
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Das war die einzige Möglichkeit. Vielleicht wird er trotzdem sterben, dachte Buffy entsetzt, aber ich habe keine andere Wahl. Sie warf einen letzten Blick auf Giles und unterdrückte die Tränen und den Schmerz in ihrer Seele, dann drehte sie sich um und rannte zum Schreibtisch des Hafenmeisters. Auch als Camazotz ihr etwas hinterherschrie, wurde Buffy nicht langsamer. Entschlossen hüpfte sie auf den Schreibtisch, zog die Schultern ein, sprang durch das Fenster und landete an der Hinterseite des Gebäudes auf der Straße. Sie fand sich auf dem Bürgersteig in einem Haufen aus zersprungenem Glas wieder, und die scharfen Kanten zerschnitten ihr die Haut. Sie hasste sich selbst für das, was sie getan hatte, wurde fast wahnsinnig vor Angst um Giles. Doch sie hatte keine andere Wahl gehabt. Nun musste sie rasch zu Willow und den anderen und... Buffy rannte um das Gebäude herum und erstarrte, den Mund weit geöffnet vor Schreck. Die Kakchiquels waren überall und hatten sich wie eine Armee auf der Straße aufgestellt. Es waren zwanzig, vielleicht mehr, und alle trugen Camazotz’ Zeichen im Gesicht. Auch weibliche Vampire waren unter ihnen. Aber sie sahen Buffy nicht. Ihre ganze Aufmerksamkeit war auf den Van gerichtet. Sie hatten den Wagen eingekreist, verharrten aber schweigend. Durch die Windschutzscheibe konnte Buffy Oz und Willow sehen, die sich nicht rührten, als befürchteten sie, dass eine einzige Bewegung die Vampire zum Angriff veranlassen würde. Sie griffen nicht eher an, bevor die anderen nicht den ersten Schritt taten; eine jämmerliche Strategie. Dann begannen die Kakchiquels zu singen. Ihre Stimmen wurden lauter, aber die Tonhöhe nahm ab, bis ihr Summen den Boden zum Erbeben brachte, und ein Donner grollte, der so laut war wie das Feuerwerk am Vierten Juli.
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Das Ganze dauerte nur einen Moment. Einen einzigen Moment. Camazotz trat aus der Hafenmeisterei und blickte Buffy mit glühenden Augen an. Der Dämonengott schleifte Giles an der Gurgel hinter sich her wie eine Stoffpuppe. Einen kurzen Augenblick dachte Buffy, dass sein Opfer schon tot war. Giles’ Brille war schon lange verschwunden, und das Blut auf seinem Gesicht war bereits zum Teil getrocknet. Seine Augen waren gläsern und matt. Eine Leiche, dachte sie. Er ist tot. Aber er atmete noch. Das reichte aus, um sie aus ihrer Erstarrung wachzurütteln, den kurzen Moment der Lähmung wie eine dünne Eisschicht auf einem See zu durchbrechen. »Oz!«, brüllte sie. »Fahr!« Camazotz schrie etwas in einer Sprache, die Buffy nicht verstand. Und dann war es, als hätte jemand einen Knopf gedrückt, denn mit einem Mal erwachten die Kakchiquels zum Leben und verwandelten sich in Furcht erregende, bösartige Monster. Sie schlugen die Windschutzscheibe ein, bevor Oz den Motor starten konnte. Eine unglaublich große Frau, die im Gesicht überall dort gepierct war, wo es normalerweise besonders wehtat, zerschmetterte mit beiden Fäusten das Fenster des Beifahrersitzes. Doch im selben Moment schoss der Van ein paar Meter nach vorn, schleuderte dabei vier Vampire zur Seite und zermalmte einen unter den Reifen. Der überfahrene Blutsauger brüllte auf vor Schmerz, aber er würde nicht sterben. Er konnte nicht sterben. Seine Qualen würden Jahrhunderte währen. Und das ist auch gut so, dachte Buffy. Schwerfällig drängte sie sich durch die Masse der Vampire, für vollendete Körperbeherrschung blieb ihr jetzt keine Zeit. Bei Typen wie diesen, dachte sie, heißt es alles oder nichts. Die Vampire umschwärmten sie wie Insekten und versuchten, eine Schwachstelle in ihrer Verteidigung auszumachen. Sie 98
wehrte einen Schlag von hinten durch eine wirbelnde Bewegung ab und brach damit ihrem Gegner das Nasenbein, fing einen Tritt ab, der ihren Brustkorb hätte zerschmettern können, und trat selber so hart zu, dass der Vampir vermutlich das Bein gebrochen hatte... es waren zu viele, um sie alle zu töten. Stattdessen musste sie sie kampfunfähig machen, sie zu Krüppeln schlagen. Nach wenigen Augenblicken hatte sie ihren Rhythmus gefunden, und sie kämpfte, als wäre ihr Körper darauf programmiert. Behände bohrte sie den Pfahl erst in ein Herz, dann in ein zweites, wehrte einen Faustschlag ab, fing einen Tritt ab und ließ den Pfahl anschließend in ein drittes Herz sausen. Eine Wolke aus Staub und Asche hüllte sie ein und überdeckte die salzige Luft des Meeres mit dem Gestank von verwesenden Körpern und erkalteter Asche. Irgendjemand schrie, grunzte, brüllte einen Schlachtruf nach dem anderen, bis Buffy auf einmal erkannte, dass es ihre eigene Stimme war. Schweiß tropfte ihr übers Gesicht, und ihr Bewusstsein hatte sich tief in ihr Innerstes zurückgezogen. Sie war nun nur noch Buffy die Jägerin, die Kriegerin. In der Hitze des Gefechts hatte Buffy ihr zweites Ich zurückgelassen. Fledermaus-Gesichter stürzten sich auf sie, aber sie sah sie nicht einmal mehr. Das Einzige, was ihr noch auffiel, war jene Stelle auf der Brust, in die sie ihren Pfahl bohren musste. Plötzlich zerriss ein Schrei die Nacht, unterbrach ihren rasenden Zorn und störte den blutigen Kampf, den Buffy jetzt nicht beenden wollte: Die Perfektion war gerade vollkommen, ihr Fieber, ihre Ekstase einzigartig. Jemand rief ihren Namen. Buffy horchte auf und sah, wie die große Vampir-Frau, stark wie eine Amazone und im ganzen Gesicht gepierct, Willow aus dem Fenster zerrte und auch dann nicht von ihr abließ, als Oz den Motor startete und sie fast überfuhr. Da jedoch ein halbes Dutzend Kakchiquels das Heck des Vans in die Höhe gestemmt hatte, konnte er nicht weiterfahren. Plötzlich 99
zersplitterte die Heckscheibe, Xander erschien mit der Armbrust und schoss einem der Angreifer mitten ins Herz. Das Manöver gelang, doch sofort nahm eine andere Kreatur den Platz ihres Vorgängers ein. »Verdammt, nein!«, schrie Buffy. Sie setzte zum Sprung an, drehte sich in der Luft blitzschnell um die eigene Achse und trat dem Fledermaus-Gesicht vor ihr fest genug in den Nacken, um ihm das Genick zu brechen. Als Buffy wieder festen Boden unter den Füßen hatte, rannte sie los zum Van. Zahlreiche Vampire stellten sich ihr in den Weg, aber sie sprang über sie hinweg auf das Autodach und pfählte die Vampir-Frau in letzter Sekunde. Sie explodierte in einer Staubwolke, und Willow rutschte wieder zurück auf den Sitz. Sie blutete aus mehreren tiefen Schnittwunden an Armen und Bauch. »Raus hier!«, rief Buffy und sprang wieder auf den Gehsteig. Durch die zerbrochene Scheibe konnte sie sehen, wie Xander weitere Bolzen in die Armbrust einlegte. Oz bedachte Willow mit einem erwartungsvollen Blick und startete den Motor. Willow ihrerseits starrte Buffy verblüfft an. »Aber Giles...«, setzte sie an. »Wir können ihm nicht helfen, wenn wir tot sind«, unterbrach Buffy sie. Dann kletterte sie wieder auf das Autodach, sprang hinten auf die Erde und schlug zwei der Vampire nieder, die den Wagen festhielten. Den dritten verwandelte sie in Staub. »Jetzt!«, brüllte sie und beobachtete, wie Xander mit der Armbrust einen Bolzen nach dem anderen abfeuerte. Oz gab Gas. Willow starrte Buffy verzweifelt und fassungslos durch die offene Rückscheibe an. Immer mehr Vampire versuchten, sich an dem fahrenden Van festzuklammern, aber Oz gelang es in Sekundenschnelle, ein paar abzuschütteln und zu überfahren. Zwei jedoch gaben nicht
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nach: Sie hingen hartnäckig am Auto und wurden hinter ihnen hergeschleift. Buffy kämpfte weiter und bekam aus den Augenwinkeln mit, wie der Van aus der Gefahrenzone fuhr. Ein letzter Blutsauger hing noch auf dem Dach. Als Buffy sich wieder kurz umblickte, sah sie, wie Xander sich durch das Loch im Dach aufrichtete. Sofort wollte der Vampir sich auf ihn stürzen, aber Xander feuerte einen Bolzen in seine Brust. Die Kreatur zerfiel zu Staub. Der Van war nicht mehr zu sehen. Sie sind in Sicherheit, dachte Buffy. Und jetzt zu Giles. Suchend blickte sie sich nach Camazotz und ihrem bewusstlosen ehemaligen Wächter um. Sie hatte mindestens ein Dutzend Kakchiquels zur Strecke gebracht, aber trotzdem schienen es immer mehr zu werden. Buffy war zwar die Jägerin, aber auch ihre Kräfte schwanden langsam. Doch sie kämpfte sich den Weg frei, ein Tritt, ein Schlag mit dem Ellenbogen, ein Stoß mit dem Pfahl setzte ihre Gegner für kurze Zeit außer Gefecht. Camazotz stand immer noch vor der Hafenmeisterei. Buffy starrte ihn an. Ihre Blicke trafen sich. Sie sahen sich in die Augen – und mit einem Mal wusste Buffy, dass er unbesiegbar war. Camazotz hob Giles mit einer Hand in die Luft. Giles’ Kopf knickte nach einer Seite weg, aber seine Augen waren geöffnet, und es hatte fast den Anschein, als würde er endlich aufwachen. Doch dann stieß der Dämon eine lange Kralle in Giles’ Hals, und erneut begann Blut zu fließen. Aus der Reihe der übrig geblichenen Vampire, die sich um ihren Meister postiert hatten, traten Clown-Gesicht und Bulldogge hervor. »Giles, nein!«, schrie Buffy. Sie war wie gelähmt vom glühenden Flackern in Camazotz’ Augen und der Erkenntnis, dass sie verloren hatte.
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Dann rief sie wieder seinen Namen und stürzte auf die Vampire zu. Camazotz begann zu lachen. Durch die Rufe war Giles anscheinend wieder zum Leben erwacht, denn er wehrte sich nun mit allen Mitteln. Buffy versuchte verzweifelt, zu ihm durchzudringen, pfählte einen Vampir und trat einem anderen so fest gegen den Kieferknochen, dass es ihm fast den Kopf abriss. Dann fiel Giles’ Blick auf Buffy, wie sie sich zwischen all den Vampiren hindurchkämpfte, und er hörte auf zu toben. Sie sahen sich in die Augen. »Sieh zu, dass du verschwindest!«, brüllte er ihr zu. »Du allein kannst ihn nicht besiegen. Hol Angel. Hol...« »Bringt ihn zum Schweigen!«, befahl Camazotz. Bulldogge hielt Giles fest, und Clown-Gesicht schlug ihm hart auf den Schädel. Der Wächter erschlaffte. Anschließend übergaben die zwei Vampire ihn den anderen Mitgliedern ihrer Brut. »Wähle, Jägerin!«, wies der Gott der Fledermäuse sie an. Buffy wollte ihm ihren ganzen Hass entgegenschreien, brachte aber keinen Ton heraus. Sie litt plötzlich Todesangst und entließ all ihren Zorn und all ihre Angst in einem gellenden Schrei, der ihre Lungenbläschen fast zum Platzen brachte und ihre Stimmbänder zu zerreißen drohte. Dann rannte sie los. Aber zwischen ihnen standen viele Vampire. Ihre Angst um Giles machte Buffy für einen Moment unaufmerksam, und so sah sie weder das Geschoss, das wie ein Baseball auf sie zuflog, noch hörte sie es nahen. Das hölzerne Etwas schlug auf ihrem Kopf auf und brach entzwei, als sie taumelte und auf den Gehsteig fiel. Doch sie verdrängte den Schmerz, wischte sich das Blut aus den Augen und sah auf. Die schneeweiß geschminkte Frau, die Buffy Clown-Gesicht nannte, stand über ihr und grinste sie
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blöd an. Kaum einen Herzschlag später war Bulldogge an ihrer Seite. Dann fingen sie an, Buffy zu treten. Ein oder zwei Rippen brachen. Sie kickten ihr mit den Füßen ins Gesicht, und Buffy spuckte einen Zahn aus. Blut tropfte aus ihrem Mund. Sie rollte sich herum und erhielt daraufhin einen Tritt in die Wirbelsäule, der einen eisigen Schmerz durch alle Nervenstränge ihres Körpers jagte. Ihre Augenlider zuckten, und verschwommen erkannte sie etwa dreißig Meter weit entfernt den hinteren Teil der Straße. Dort endete das Festland und die Docks begannen – unmittelbar dahinter lag, wie ein riesiger schwarzer Abgrund, das Meer. Clown-Gesicht schlug ihr auf die Augen. Mit letzter Kraft packte Buffy ihren Knöchel und verdrehte ihn so, dass sie das Gleichgewicht verlor. Dann schwang sie blitzschnell ihre eigenen Beine herum und trat Bulldogge die Füße weg. Zwei weitere Vampire eilten herbei, aber zu spät. Buffy entledigte sich ihrer mit einer Reihe von rasch aufeinander folgenden Fausthieben und rannte davon. Der Gesang war während des Kampfes verstummt, setzte aber jetzt wieder ein, und Camazotz brüllte etwas Unverständliches. Buffy biss sich auf die Lippen und betete zu allen Mächten, die ihr jetzt hoffentlich zur Seite standen, dass der Fledermausgott Giles als Geisel am Leben lassen würde. Als letzte Sicherheit. Sie presste sich die Hand auf die Brust, genau dort, wo die Rippen gebrochen waren und schrecklich schmerzten. Sie blutete überall, und ihr Körper war so geschunden, dass er gar nicht mehr auf den Schmerz reagierte. Wie betäubt lief sie weiter. Als sie endlich die Docks erreicht hatte, rannte sie noch ein Stück und sprang dann, ohne zu zögern, in die schäumenden Wellen. Wenigstens zwei Vampire nahmen die Verfolgung auf. Buffy hörte, wie sie ins Wasser eintauchten. 103
Und sie brauchen noch nicht einmal zu atmen, dachte sie verzweifelt. Ihre Hoffnungen schwanden gleichermaßen wie das Blut in ihrem Körper. Buffy tauchte in Richtung Grund, weiter, immer weiter, drückte das Wasser weg, drang in die düsteren Tiefen des Pazifiks ein und betete, sie mochten sie nicht vor morgen früh aufspüren. Doch der Morgen war nicht mehr fern. Und die Luft wurde knapp. Schon früher einmal war sie beinahe ertrunken. Aber jetzt würde niemand zur Stelle sein, um sie aus dem Wasser zu fischen. Ihre Augen brannten von dem Salzwasser, aber Buffy zwang sich, sie offen zu halten und in die Dunkelheit zu blicken. Ihre Lungen brannten. Die Düsternis, die sie umgab, wurde nicht nur von den Schatten verursacht, die auf den Meeresgrund geworfen wurden, sondern ihr wurde auch langsam schwarz vor Augen. Ihre Glieder erschlafften. Ihr Mund öffnete sich, und zum ersten Mal schluckte sie Wasser. Sie hörte auf zu schwimmen. »Buffy.« Sie kneift die Augen zusammen und versucht sich gegen die Hitzewelle, die durch ihren Körper läuft, zu wehren. Sie schmeckt Blut in ihrem Mund, beißend wie Kupfer, schluckt wieder etwas, röchelt und spuckt es aus, und ihr Gesicht sinkt auf den Grund. »Buffy.« Sie öffnet die Augen und blinzelt, schreckt zurück vor den hellen Sonnenstrahlen. Ihre Brust ist ganz schwer, ihr Hals schmerzt so sehr, dass sie nicht sprechen und kaum atmen kann. 104
»Buffy.« Feuchter Sand klebt an ihrer Brust, und Wasser tropft von ihren Beinen und ihrem Bauch. Sie öffnet die Augen zu Schlitzen und blickt auf, um zu sehen, wer dort unablässig ihren Namen ruft. Ein Geist. Es erstaunt sie nicht, denn ihr ist, als müsste sie tot sein. Lucy Hanover schwebt in der Luft, ein Geist, durch den sie hindurchblickt. Weiter oben an der Küste kann sie ein paar Bäume erkennen, die sich im Wind bewegen. Ein Gespenst, eine unheimliche Erscheinung, die schreckliche Dinge verkündet, deren Augen wie kleine Geister aussehen, Geister in einem Geist, Lucy, die sich selbst quält – durch das, was sie sieht und weiß. Sie hat keine Beine. Stattdessen ist dort Nebel. Wie die Nebelschwaden, die manchmal frühmorgens vom Meer aufsteigen. Vielleicht ist das alles, was sein wird. Sie treibt in der Luft umher. »Buffy.« »Lucy.« Ihre Stimme ist nur ein klein wenig lauter als das Scharren eines Krebses, der über den Sand krabbelt. »Die Katastrophe...« »Steht bevor«, ergänzt Buffy. »Ich hab’s kapiert.« »Nein.« Lucy schwebt näher zu ihr hin und legt ihre Hand auf Buffys Augen. Die Hitze der Sonnenstrahlen, die sie versengt haben, nimmt ab, und eine angenehme Kühle tritt an ihre Stelle und durchströmt ihren Körper. Sie entspannt sich. Aber... »Nein?« »Camazotz ist nicht die Gefahr, vor der ich dich gewarnt habe. Zumindest nicht ausschließlich. Die Seherin spricht von mehr. Eine Vampirplage wird kommen. Eine Plage, die die Sonne über dem Höllenschlund verdunkeln wird.« 105
»Es ist nicht Camazotz?« »Nicht er allein. Ich kann nur das Wenige verkünden, was sie mir mitgeteilt hat.« »Ist es mein Fehler?« In Lucys Augen schimmern Tränen. »Ja. Es tut mir Leid.« Buffys Tränen sind schon lange versiegt. »Das ist mir gleichgültig.« »Was meinst du damit?« »Giles«, entgegnete die Jägerin. »Das Einzige, was zählt. Ich habe ihn im Stich gelassen.« Lucy versteht, und eine Spur von Trauer trübt ihre Züge. Blaue und weiße Wolken steigen hinter ihr auf, durch sie hindurch. »Du lebst. Deine Alternative wäre der Tod gewesen.« »Ich bin nicht tot?« Eine Schockwelle durchläuft Buffy. Wieder schwappen die Wellen über sie. »Noch nicht.« »Buffy?« Der Traum verblasste und verschwand. Ihre Augen flatterten und öffneten sich, und sie zuckte vor der unbarmherzigen Sonne zurück, schmeckte feuchten Sand in ihrem Mund und fühlte das Plätschern von Wasser ganz in ihrer Nähe. Die Brandung rollte vor und zurück, und kleine Wellen berührten sie. Der Strand. Sie hatte es bis zum Strand geschafft. Vertraute Umrisse warfen ihren Schatten auf sie. »Bist du in Ordnung?« Es war Willow, mit Tränen in den Augen. Oz stand neben ihr, und sein normalerweise unbewegtes Gesicht war ganz angespannt vor Sorge. »Will«, krächzte Buffy. Der Schmerz in ihrem Hals war unerträglich. »Ich glaube, ich bin fast ertrunken«, flüsterte sie dann kaum hörbar. »Ich fühle mich, als wäre ich in der Hölle gewesen.« 106
»So siehst du auch aus«, meinte Oz. »Mensch, Buffy, wir haben den ganzen Morgen nach dir gesucht. Wir dachten, du wärst tot.« Das habe ich auch gedacht, schoss es Buffy durch den Kopf. Vorsichtig schlang Willow die Arme um sie, bedacht darauf, sie nicht an den Stellen ihres Körpers zu berühren, an denen sie verletzt war. Buffy brach fast das Herz, so dankbar war sie für diese liebevolle Geste ihrer besten Freundin, für das, was sie miteinander verband und für die Kraft, die Willow ihr in diesem Moment gab. Dann kam alles wieder hoch. »Willow«, sagte Buffy mit belegter Stimme, fast unfähig zu atmen. »Sie haben Giles. Camazotz hat ihn in seiner Gewalt. Ich weiß nicht, ob er noch... Ich weiß nicht...« Willow presste die Lippen aufeinander, versuchte, ihre eigene Furcht und ihren Kummer zu verbergen, und nickte dann entschlossen. »Wir werden ihn finden. Ich schwöre dir, dass wir ihn finden werden.«
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7 »Ich hätte nicht weglaufen dürfen.« Buffy fühlte sich ganz steif, und ihr war kalt. Obwohl ihre Schnittwunden und Prellungen bereits zu heilen begannen und teilweise sogar schon verschwunden waren, fühlte sie sich leer und ausgehöhlt, als wären ihre Lebenskräfte durch den Kampf mit Camazotz aufgebraucht worden. Und irgendwie war dem auch so. Willow griff nach Buffys Hand, wie um sie vor dem Ertrinken zu retten. Ertrinken. Sie saßen jetzt beide in dem Schlafzimmer, das sie miteinander teilten, doch Buffy fühlte sich, als wäre sie nie an den sicheren Strand gespült worden, als treibe sie immer noch auf den Wellen, den Gezeiten hilflos ausgeliefert. Oz lehnte im Türrahmen. Anya saß am Rand von Willows Bett, und Xander lag ausgestreckt hinter ihr. Ähnlich wie bei Willow war sein ganzer Körper übersät mit Stichwunden, die vom zerbrochenen Glas des Vans herrührten. Seine linke Stirnhälfte zierte eine Reihe von sechs Stichen. Es sah fast so aus, als wäre er auch am Hinterkopf genäht worden, aber Buffy hatte ihn nicht darum gebeten, es sehen zu dürfen. Xander war ungewöhnlich still. Er hatte Schmerzen. »Verdammt, ich kann’s einfach nicht glauben«, murmelte Buffy und schüttelte den Kopf. »Hey«, sagte Willow sanft. »Du hast das einzig Richtige getan.« Buffy sah sie alle der Reihe nach an und versuchte, aus den Augen der anderen zu schließen, was sie dachten. Dann schaute sie aus dem Fenster und kurz darauf wieder zu Willow. »Will... ich bin abgehauen. Giles könnte tot sein. Ich bin abgehauen!«
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»Nein. Du bist um dein Leben gerannt. Buffy, das ist ein Unterschied! Du hast selbst gesagt, dass, wenn du geblieben wärst, ihr jetzt vermutlich beide tot wäret. Es war deine einzige Chance. Und jetzt haben wir eine Chance.« »Wenn sie ihn nicht...« Buffy konnte an nichts anderes mehr denken. Xander fuhr zusammen. »Haben sie nicht«, sagte er tonlos. Auch wenn seine Augen nicht wie sonst funkelten, sah Buffy doch ein Leuchten in ihnen, das sie noch nie zuvor gesehen hatte. Ein scharfes Glimmen, ein Lichtstrahl wie der einer scharf geschliffenen Klinge. Nur Schmerz und Zorn konnten so etwas verursachen. Buffy wusste das besser als jeder andere. »Xand...« Er unterbrach sie mit einer Handbewegung. »Das war keine Falle, Buffy«, klärte er sie auf. »Aber es hätte eine sein können. Camazotz wusste, dass du kommen würdest, und er war bereit. Giles schnüffelte herum und machte den Hafenmeister misstrauisch, sodass der seinen Boss anrief, den Fledermausgott. Er hat Giles nicht getötet, doch es wäre ihm ein Leichtes gewesen. Und Camazotz hat ihn auch am Leben gelassen. Er ist ihre Versicherung. Du weißt, dass ich Recht habe. Du hast es instinktiv auch gewusst, sonst wärst du nicht ins Meer geflüchtet.« Wieder blickte Buffy ihre Freunde der Reihe nach an. Sie war immer noch ganz steif. Oz hatte einen grimmigen Gesichtsausdruck aufgesetzt und zog die Augenbrauen zusammen. Anyas Blick war erwartungsvoll. Aus Willows Augen sprachen Liebe und Besorgnis, und sie schlenkerte mit den Armen, wie um ihre eigenen Verletzungen vor Buffy zu verbergen. Aber es war Xanders blau geschlagenes, zerschnittenes Gesicht, das ihr am meisten zusetzte. Entschlossen blickte er sie an und fuhr dann fort. »Noch zwei Dinge, Buff«, sagte er. »Dann verabschiede ich mich, falls ihr erlaubt. Als Erstes wollte ich sagen, dass 109
Willow, Oz und ich tot wären, wenn du uns nicht gerettet hättest. Ich fühle mich zwar, als wäre ich von einer ganzen Vampirhorde schikaniert worden, aber das ist immer noch besser, als tot zu sein. Das Zweite ist, dass ich überzeugt bin, dass Giles noch lebt. Alles andere würde keinen Sinn machen. Nicht dass ich hier Druck machen will, aber ich finde, wir sollten uns mal Gedanken darüber machen, ob wir eine Truppe organisieren und ihn da rausholen.« Die Last der Verantwortung, sowohl in vergangener als auch in zukünftiger Hinsicht, lag unglaublich schwer auf Buffys Schultern. Alle blickten sie erwartungsvoll an, und sie starrte auf den Boden. Ihre Nasenflügel zitterten, und ihre Zähne knirschten. Langsam begann das steife Gefühl zu verschwinden. Sie begriff, dass es nur eine Schutzfunktion ihres Körpers gewesen war, damit ihre Verzweiflung und Angst um Giles nicht überhand nahmen und alles andere blockierten. Eine kurze Zeit lang war sie verloren gewesen. Das war jetzt vorbei. »Buffy?«, sprach Willow sie an. Sie berührte Willows Hand, nickte einmal und erhob sich. Mit grimmigem Gesichtsaudruck durchschritt sie das Zimmer und rief sich nicht nur die Ereignisse der letzten Nacht, sondern auch den seltsamen Traum von Lucy Hanover und die entsetzlichen Prophezeiungen der unbekannten, geisterhaften Seherin ins Gedächtnis. Als Buffy an den Strand gespült worden war, hatte Lucy sie wieder im Traum besucht. Die ehemalige Jägerin, die jetzt ein Geist war, hatte ihr erzählt, dass nicht Camazotz die Gefahr war, vor der sie sie vor kurzem gewarnt hatte. Das beunruhigte Buffy mehr als alles andere. Sie konnte es sich nicht leisten, die Augen zu verschließen, wenn Giles’ Leben auf dem Spiel stand, und die Stadt von Camazotz und seiner gefährlichen Gefolgschaft bedroht wurde.
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»Es ist alles meine Schuld«, flüsterte sie hilflos. »Ich war so sehr damit beschäftigt, alle Dinge unter einen Hut zu bringen und eure Hilfe auszuschlagen, dass ich...« Buffy schloss die Augen. Ihr Körper drohte wieder steif zu werden, aber sie versuchte sich zu entspannen. »Willow«, sagte sie rasch. »Du könntest den Zauberspruch vorbereiten, den Giles ursprünglich hatte einsetzen wollen. Nehmen wir an, du schaffst es, ihr Schiff ausfindig zu machen. Könntest du dann irgendeinen Zauber erwirken, um uns so lange vor ihnen zu verbergen, bis wir im Schiff sind? Einen Bannspruch, irgendetwas, das uns für sie unsichtbar macht, und wir den Überraschungsmoment ausnutzen können?« Willow runzelte die Stirn und dachte angestrengt nach. »Ich weiß nicht. Giles hätte...« Sie blickte schuldbewusst auf. »Lasst mich ein wenig recherchieren. Vielleicht ein Verhüllungszauber. Aber so etwas ist ernst zu nehmende Hexerei, und...« »Nein, tu’s nicht, wenn du meinst, es ist zu gefährlich. Ich möchte nicht, dass dir etwas zustößt. Keinem von euch.« Buffy blickte ihre Freunde an. »Das ist der Plan. Anya, du bleibst bei Willow und gehst ihr beim Recherchieren und bei den Zaubervorbereitungen zur Hand. Jahrhundertelange Dämonenerfahrung muss doch für irgendetwas gut sein, oder? Oz, wir arbeiten gemeinsam, stellen die Waffen zusammen und überlegen uns einen Schlachtplan.« »Hallo?«, ließ Xander verlauten und wackelte mit den Fingern seiner rechten Hand. Er hatte es sich immer noch bäuchlings auf Willows Bett bequem gemacht. »Was ist meine Aufgabe? Mission impossible?« »Dich brauche ich hier«, entgegnete Buffy. »Du musst auf Angel warten.« Alle blickten auf. Willow und Anya sprachen gleichzeitig. »Angel?«
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Buffy nickte ernst. »Sobald wir hier fertig sind, rufe ich ihn an und erzähle ihm, was hier los ist. Ich hab keine Ahnung, ob er kommen wird...« »Er wird kommen«, sagte Willow traurig. »Du weißt, dass er kommen wird.« »Ich hoffe, du hast Recht«, erwiderte Buffy. »Wir können jede Hilfe gebrauchen, die wir kriegen können. Ich wollte ihn nicht... aber nach dem, was Lucy Hanover mir erzählt hat, müssen wir uns auf das Schlimmste gefasst machen.« Sie drehte sich zu Willow um. »Wir müssen uns informieren, mehr darüber erfahren. Wir müssen Lucy rufen und versuchen, in direkten Kontakt mit diesem geheimnisvollen Sehergeist zu treten. Vielleicht gelingt es uns, mehr aus ihr herauszubekommen als ein ›Ihr seid dem Untergang geweiht‹.« Ausnahmsweise schien die Sonne... ausgerechnet jetzt, wo ein wenig Dunkelheit angebracht gewesen wäre. In Buffys und Willows Zimmer waren die Jalousien heruntergezogen, sodass nur ein winziger Schimmer Sonnenlicht seinen Weg durch die Ritzen fand. Sie hatten weiße Kerzen im Kreis aufgestellt, und deren orangeweiße Flammen flatterten in einem Windzug, der von nirgendwo zu kommen schien. Buffy und Willow saßen sich in ihren Schreibtischstühlen aus Holz gegenüber, die sie zwischen die beiden Betten gestellt hatten. Xander und Anya hatten sich auf das eine Bett, Oz auf das andere begeben, und zusammen bildeten sie auf diese Weise einen großen Kreis. Von den früheren Malen, an denen sie so etwas durchgeführt hatten, wusste Buffy, dass man das Ganze genaugenommen eine Séance nannte, oder auch Geistersitzung. Aber die Zeit war zu knapp, sich über derartige Formalitäten Gedanken zu machen. Viel zu knapp. »Konzentriert euch!«, befahl Willow. Ihre Stimme hört sich anders an als sonst, fiel Buffy auf, viel tiefer, selbstsicherer. In solchen Situationen war es stets so, als 112
würde Willow, der Teenager, ihre Schale abwerfen und sich in jene selbstbewusste und erfolgreiche Frau verwandeln, die sie einmal sein würde. Ihre Unsicherheit, die schüchterne Zurückhaltung, die so oft in ihrer Stimme zum Ausdruck kam, war vollständig verschwunden. Willow strahlte vor Energie, lehnte den Kopf zurück und schloss die Augen. Zunächst schien sie mit dem Licht der Kerze zu verschmelzen und dann mit der Energie im Raum eins zu werden. Buffy fand, dass sie noch nie so schön ausgesehen hatte. Willow schlug die Augen auf und sah Buffy durchdringend an. »Ich sagte, konzentriert euch!« »Oh«, erwiderte Buffy verlegen. »Entschuldigung.« Sie schloss die Augen und atmete lang und tief ein, hielt einen Moment inne und atmete dann aus, als wäre es ihr letzter Atemzug. Das war eine Atemtechnik, die Giles ihr vor vielen Jahren in der High School beigebracht hatte, und die man zu meditativen Zwecken einsetzte. Sie funktionierte immer. Giles. Buffy konzentrierte sich so gut es ging, aber die Gedanken an Giles ließen sich nicht aus ihrem Kopf vertreiben, sie waren wie eingeschlossen in dem Verlies ihrer Erinnerung. »Voller Hoffnung, Licht und Erbarmen öffnen wir unsere Herzen all jenen Wanderern zwischen den Welten, die mein Rufen hören und die wir bitten, uns in dieser dunklen Stunde beizustehen«, begann Willow und verlieh jedem einzelnen Wort ganz besonderes Gewicht. Buffy fühlte, wie Xanders Hand sie berührte, und sie spürte Oz’ Hand auf der anderen Seite. Es war, als ob die natürlichen Stärken Willows, ihre Ausgeglichenheit und die mystischen Fähigkeiten ihres Herzens und ihrer Seele sie so empfänglich machten für das Übernatürliche. Eine Art Energie floss wie eine elektrische Strömung durch sie hindurch, sie waren ein geschlossener Kreis weißer Magie, sichtbar für die Seelen, zu denen Willow jetzt sprach. 113
Hört sie sie, wenn sie die Augen schließt?, fragte Buffy sich. Kann sie sie sehen? Sie hatten nie darüber gesprochen, und Buffy glaubte nicht, dass sie Willow je fragen würde. Das Ganze war irgendwie zu intim, ungefähr so, als würde man jemanden über die Details einer leidenschaftlichen Liebesbeziehung ausfragen. »Ihr Geister der Luft, tragt meine Stimme zu den Pfaden der Toten, flüstert meine Botschaft jeder verlorenen Seele und jedem Wanderer zu«, fuhr Willow mit ihrer tiefen Stimme fort, die einem Gesang immer ähnlicher wurde. »Ich ersuche den Rat von Lucy Hanover, sie, die einst die Jägerin war. Sie, die nun die Laterne trägt, um den Pfad zwischen den Welten zu erleuchten und den Reisenden den Weg zu weisen.« Giles. Als erneut ein Hauch von Traurigkeit durch ihre Gedanken huschte, mahnte Buffy sich zur Konzentration. Giles war am Leben. Etwas anderes würde – und wollte – sie nicht glauben. Aber sie wusste, welches Schicksal ihm blühen konnte. Sie hatte gesehen, wie man ihn grün und blau geschlagen, wie der Hafenmeister ihm seine Fänge ins Fleisch gebohrt hatte und wie das Blut geflossen war, nachdem Camazotz ihm den Hals aufgeschlitzt hatte. Widerwillig erinnerte Buffy sich, dass Giles nicht viel von Geisterbeschwörung hielt. Ich möchte, hatte er gesagt, dass irgendwo festgehalten wird, dass ich dagegen bin. Die Geister der Toten zu rufen, ist nicht der ungefährlichste Weg. Natürlich hatte er Recht. Schließlich war es sein Job, über solche Dinge Bescheid zu wissen. Aber jetzt hatten sie nun einmal keine andere Wahl. Nur so konnten sie herausfinden, mit wem da draußen sie es zu tun hatten und welche Rolle Camazotz dabei spielte – falls er überhaupt eine spielte. Und vor allem mussten sie endlich Klarheit darüber erlangen, welche Rolle Buffy in der zu eskalieren drohenden Situation
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spielte und was sie tun konnte, um die Katastrophe zu verhindern. Nach dreißig Sekunden Stille sprach Willow wieder, dieses Mal war ihre Stimme kaum mehr als ein Flüstern. »Lucy, tragen die Seelen der Verlorenen meine Stimme zu dir?« Die Antwort folgte unmittelbar. »Ja, das tun sie.« Buffy öffnete die Augen, und die anderen taten es ihr gleich. In der Mitte des Kreises, den sie geschaffen hatten, erschien nun Lucy Hanover. Das Flackern der Kerzen und das wenige Sonnenlicht, das durch die Ritzen drang und Schatten ins Zimmer warf, erzeugte ein dämmriges, gedämpftes Licht. Sowohl der Raum als auch der Geist wirkten in dieser Umgebung ganz grau, und Lucy ähnelte weniger einem Wesen aus Nebel und Dunst als vielmehr einer uralten SepiadruckFotografie, die man irgendwie mitten in den Raum projiziert hatte. »Sei gegrüßt, Freundin Willow«, meldete sie sich zu Wort. Ihre Stimme hörte sich hohl an und schien von weit her zu kommen. Dann richtete der Geist seine dunklen Augen auf Buffy. »Wir treffen uns abermals, Jägerin. Ich bedaure, was passiert ist, Buffy. Die Reisenden zwischen den Welten bringen viel Gerede, aber auch schreckliche Botschaft.« Buffy blieb das Herz stehen. »Giles?«, fragte sie leise, als fürchte sie sich davor, seinen Namen zu laut auszusprechen. »Er ist doch nicht...« Lucys Augen blickten freundlich. »Nein. Er ist noch nicht unter den Geistern. Du hast noch Zeit, ihn zurückzuholen.« Obwohl sie fast gelähmt gewesen war vor Sorge um ihren Freund, wurde ihr erst jetzt, nach Lucys Worten, wirklich klar, wie viel Angst sie um ihn gehabt hatte. Beständig hatte ihr eine innere Stimme zugeflüstert, dass sie sich damit abfinden müsste, wenn es doch schon zu spät für Giles sein würde. Buffy nickte. »Ich werde ihn da rausholen.« 115
»Lucy«, unterbrach Willow die beiden. »Buffy hat uns erzählt, was du ihr im Traum gesagt hast. Über diese Seherin. Doch deine Warnungen sind undeutlich, und nach allem, was passiert ist, müssen wir so viel wie möglich darüber wissen. Wir möchten die vollständige Prophezeiung hören.« Lucy schüttelte traurig den Kopf. Ihre Silhouette bewegte sich, flackerte wie Kerzenlicht, und der Nebel, der ihre Beine verdeckte, zog sich zur Hälfte in die Breite, sodass es wirkte, als wäre sie geschrumpft. »Ich bin keine Seherin, Willow. Ich kann nicht versprechen, dass das, was sie vorhersagt, auch eintreffen wird. Ich kenne sie nicht und weiß nicht mehr über sie als das, was die verlorenen Seelen sich zuflüstern. Sie sagen, dass sie die Zukunft sehen kann, dass sie das Rätsel der Zeit durchschaut. Ich habe nur der Jägerin von ihren Prophezeiungen berichtet, damit ihr alle gewappnet seid gegen das, was kommen wird.« Willow warf Buffy einen besorgten Blick zu; sie war sich anscheinend unsicher, wie sie das Gespräch fortführen sollte. Buffy zögerte nicht lange. »Können wir mit ihr sprechen?« »Wenn sie bereit ist, mit euch zu sprechen«, antwortete Lucy mit hohler Stimme. »Ich werde nach ihr suchen.« Dann, als wäre sie nie dagewesen, war sie einfach verschwunden. Oz löste als Erster den Kreis auf. Er ließ Buffys Hand los, und Buffy ließ Xanders Hand los. Sie alle holten tief Luft, blinzelten und sahen sich schweigend an. Anya untersuchte Xander, als befürchte sie, dass die Anstrengung ihn zu Tode erschöpft haben könnte. Buffy fand das Ganze gleichermaßen süß und unheimlich – Xanders Freundin wirkte wie ein Pathologe, der den toten Körper eines geliebten Menschen autopsiert. Willow hatte ihre Selbstsicherheit wieder eingebüßt und sah ein wenig verloren aus, wie sie sich so umsah, offensichtlich unsicher darüber, was als Nächstes anstand. 116
Oz brach das Schweigen. »Na, das hat uns ja richtig was gebracht«, meinte er. »Was machen wir jetzt?« Xander blickte Buffy an, nickte auffordernd mit dem Kopf und zog die Augenbrauen hoch. »Buff?« »Wir warten.« »Und wie lange?«, drängte Anya. »Ich muss mal pinkeln. Manche finden das ja angeblich erotisch, aber ich find’s eher lästig und ziehe es persönlich vor, diesem Bedürfnis nicht in aller Öffentlichkeit nachzugehen.« Buffy fragte sich, ob ihr Gesichtsaudruck all ihren Ärger und Abscheu genügend zum Ausdruck brachte. »Ich stimme mit dir überein, dass es lästig ist... unangenehm. Bitte. Dort ist die Toilette.« Anya stand auf und ging zur Tür. Ein Windstoß warf sie fast um. Die Böe wehte so heftig durch das Zimmer, dass sie beinahe den Putz von den Wänden gefegt hätte. Amy lief wie wild in ihrem Rattenkäfig im Kreis und kreischte. Die Fenster waren geschlossen, doch jetzt rüttelte der Wind an ihnen. Das Wachs lief nur so von den Kerzen. Seltsamerweise gingen diese jedoch nicht aus, sondern brannten nach wie vor. Dann, als hätte jemand die Kerzen auf einem Geburtstagskuchen mit einem Mal ausgeblasen, wurde es plötzlich dunkel im Zimmer. Auch von dem Sonnenlicht, das vorher durch die Ritzen der Jalousien gekrochen war und die Schatten an die Wände geworfen hatte, war auf einmal nichts mehr zu sehen. Dann flaute der Wind etwas ab und erzeugte stattdessen in der Mitte des Zimmers eine Art Mini-Tornado. Er schien eine ölige Substanz abzusondern, wobei das Öl sich ausbreitete und zu einer Form verdichtete. Der Wind nahm ab. Nahm Gestalt an. »Sie ist willens mit euch zu sprechen.« 117
Buffy blickte rasch zum Fenster und sah den Geist von Lucy Hanover dort schweben, wachsam. Auf der Hut. Als sie sich wieder umdrehte, fiel ihr auf, dass kein Lufthauch mehr zu spüren war und das kreisende schwarze Herz des Tornados sich zu einer Figur geformt hatte, zu der Silhouette einer Frau. Die Seherin hatte jedoch weder ein Gesicht, noch bestand sie aus einer festen Substanz. Kein Nebelschleier verlieh ihr wie Lucy eine Form. Stattdessen war die Seherin nichts als ein Loch in der Mitte des Zimmers, das die Form einer Frau aufwies, ein schwarzer Abgrund, der in der Luft schwebte wie der Ruß eines Schornsteins. Aber das Loch sprach. Sie sprach. »Jägerin. Du hast mich gerufen. Womit kann ich dir dienen?« Ihre Stimme hörte sich an wie das heisere Flüstern eines Kettenrauchers, dessen Rachen vom Krebs vollständig zerstört worden ist. Sie sprach wie eine gequälte Kreatur, gepeinigt und wissend zugleich. Buffy beeilte sich. Je schneller die Seherin wieder aus dem Zimmer verschwand, desto besser. »Lucy hat mir erzählt, dass du eine schreckliche Katastrophe kommen siehst. Mit apokalyptischen Ausmaßen und ebenso böse, zumindest aber sehr schlimm. Sie sagte mir auch, dass du der Meinung bist, es würde durch meinen Fehler geschehen. Ich brauche deine Hilfe. Gibt es denn keine Möglichkeit, die Katastrophe zu verhindern? Den Fehler nicht zu begehen? Und wenn es wirklich keinen Weg gibt, das alles zu verhindern, dann muss ich mehr über das Böse, das kommen wird, wissen, wie es aussehen wird und wie ich es bekämpfen kann. Ein Dämon treibt hier in der Stadt sein Unwesen, ein uralter, mächtiger...« Die Seherin lachte. Ihre Gestalt, einem Obsidian gleich, flackerte und begann im Raum umherzutreiben, ein Riss
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zwischen den Welten. Es schmerzte, sie anzusehen, obwohl Buffy nicht einmal genau sagen konnte, warum. »Ich verstehe nicht, was jetzt so lustig ist«, entfuhr es Xander. Anya mahnte ihn, still zu sein, und Buffy hielt sie nicht davon ab. Bei derartigen Wesen sollte niemand versuchen, die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Aber Buffy hatte keine andere Wahl. »Du wirst uns also nicht helfen?« »Nein. Ich kann nicht.« Der wirbelnde Schatten bewegte sich ganz leicht auf Buffy zu. »Das, was du fürchtest, ist schon in Gang gesetzt worden. Die Würfel sind gefallen. Deinen Fehler, Jägerin, hast du bereits begangen.« »Was?«, fragte Buffy entsetzt. Sie starrte die Seherin mit offenem Mund an. Ihr setzte der Atem und einen Moment lang sogar der Herzschlag aus. Dann schüttelte sie den Kopf und gab einen leisen, kläglichen Aufschrei von sich. »Aber ich habe doch nichts getan. Wie kann das sein? Und es hat sich doch noch nichts verändert.« »Aber es wird sich etwas verändern«, erklärte die Seherin. »Niemand kann die Zukunft jetzt noch aufhalten. Die Uhr tickt bereits. Aber ich kann dir meine Vision zeigen, meine Sicht mit dir teilen, sodass du sehen kannst, was kommen wird, und du dich besser darauf vorbereiten kannst.« Buffy taumelte und starrte erst Willow und Oz und dann Xander und Anya an. Sie alle waren nicht minder geschockt von den Worten der Seherin. Lucy Hanover, die immer noch am Fenster schwebte, streckte beide Hände in Richtung der Jägerin aus, als wollte sie ihr helfen, sie halten, damit sie nicht unter der erdrückenden Last dieser Nachricht zusammenbrach. Prophezeiung, versuchte Buffy sich innerlich Mut zuzusprechen. Es ist noch keine unabänderliche Tatsache. Wir wissen nicht, ob es wahr ist.
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Aber es hörte sich wahr an. Die Worte der Seherin wogen schwer vor Endgültigkeit. Vor dem Untergang. Buffy schluckte und blickte dann wieder die ölige Form an. »Zeig es mir.« »Ich brauche dich nur zu berühren, und du wirst sehen.« »Tu es«, forderte Buffy sie auf. Die ölige, glänzende Form der Seherin glitt vorwärts. Der Riss im Gefüge der Welt, Finger wie Ranken näherten sich ihr. »Buffy«, sagte Willow bedächtig, und ihre Stimme zitterte ein wenig vor Furcht. »Vielleicht ist das keine so gute...« Die Seherin berührte sie. Drang in sie ein. Und Buffy schrie. Fortgerissen. Buffy raste vorwärts, nicht durch etwas, das sie nach vorne drückte, sondern sie wurde plötzlich in einen schwarzen und roten Abgrund gerissen, gezogen, geschleppt. Alles schmerzte, ihr Gesicht fühlte sich an, als würde es in Stücke gerissen und würde weiter und immer weiter in die schwarze, unendliche Schlucht vor ihr gezogen, getrennt von ihrem Körper, von dem Gewicht, das aus ihrem Fleisch und Blut und Knochen und dem Bild bestand, das sie von sich selbst hatte. Was war noch von ihr übrig? Geist und Herz und Seele. Ein Gesicht. Augen und Ohren und ein Mund. Wörter. Rote Strudel rissen Löcher in den samtigen Schatten, der sie umgab, flammten hinter ihr auf, als sie vorwärts gezogen wurde. Es sah aus, als würde das ganze Universum aus den Fugen gerissen und bluten. Eine vage Vermutung zunächst, doch sie vertrieb den Nebel, der ihren Geist umhüllte, und eine finstere Erkenntnis überwältigte sie. Das war keine Vision. Irgendwie hatte ihr Geist sich von ihrem Körper getrennt und reiste jetzt durch die Unendlichkeit. 120
Raste unaufhaltsam und ohne Kontrolle auf einen bodenlosen Punkt in weiter Ferne zu. Buffy fühlte, wie sie den Verstand verlor, von etwas erfasst und in die Leere gezogen wurde... weiter... und weiter. Sie wurde in eine Art Schlaf versetzt, war gleichzeitig bei Bewusstsein und doch unfähig, auf ihre Umgebung zu reagieren. Dann plötzlich fühlte sie, dass die Leere nicht unendlich, der Abgrund nicht grenzenlos war. Irgendwo gab es eine Schranke, eine Wand, und sie raste darauf zu und würde damit kollidieren. Sie spähte durch die Dunkelheit vor sich, aber alles war schwarz, blind. Blind oder sehend, sie konnte es fühlen, seine Nähe spüren, als sie weiter dem unvermeidlichen Aufprall entgegenstürzte. Dann kam die Wand. Kaltes Wasser platschte in ihr Gesicht. Geschockt starrte Buffy ihre gespreizten Finger, das schmutzige, rissige Porzellan des Waschbeckens und das Wasser an, das aus dem Hahn lief. Instinktiv schaute sie hoch, um sich im Spiegel über dem Waschbecken zu betrachten, aber da war kein Spiegel. Natürlich ist da kein Spiegel. Sie haben ihn am ersten Tag abgenommen, ging es ihr durch den Kopf. Ihr kam jener schreckliche Tag vor fünf Jahren in den Sinn, als ClownGesicht und Bulldogge sie überwältigt, sie blutig und fast bewusstlos geschlagen und anschließend in diese Zelle gesteckt hatten. Sie wollten nicht, dass ich mir die Pulsadern damit aufschneide, erinnerte sie sich. Wie ein in die Ecke getriebenes und gehetztes Tier wirbelte Buffy herum, und ihre Augen huschten durch den Raum. Die Zelle. Die Gitterstäbe vor den zwei hohen Fenstern ließen so gut wie kein Sonnenlicht aus der Außenwelt hinein. Nichts als
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meterdicke Steinwände. Eine vernietete Stahltür, an der es weder einen Türgriff noch ein Schlüsselloch gab. Für mich gebaut. Sie haben die Zelle für mich gebaut. Immer wieder murmelte Buffy diese Sätze vor sich hin. Sie packte sich mit den Händen an den Kopf und presste die Augen fest zu. Dann riss sie sie wieder auf, blickte sich in der Zelle um und schlang die Arme um sich. Buffy wusste es. Sie verstand nicht wieso, aber sie wusste es. Unmöglich. Aber es war die Wahrheit. Sie war schon seit sehr langer Zeit in dieser Zelle. Widerwillig und ängstlich zugleich musterte sie ihre Hände. Raue, grobe Hände, mit Rissen und Furchen, die vorher nicht da waren. Sie streckte sich, fühlte ihren Körper, sah in sich hinein. Sie war nicht dünner als früher. Aber stärker. Härter. Ihr Körper bestand nur noch aus Muskeln, so wie bei den olympischen Athleten, von denen sie Bilder im Fernsehen und in Zeitschriften gesehen hatte, und deren Leben aus nichts anderem als aus Üben, Üben, Üben und Training und Sport bestand. Aber ihr Körper war nicht wie der eines Sportlers. Buffys Körper war gespannt und gefährlich. Sie fühlte es, fühlte es in der Art, wie sie sich bewegte. Ihr Körper war eine Waffe. Die Zelle. Unzählige Tage und Nächte hatte sie darin verbracht, von nichts anderem umgeben als von den vier Wänden, und mit nichts anderem beschäftigt, als ihren Körper rücksichtslos zur Bewegung zu zwingen. Vampire mit tätowierten Gesichtern und orange glühenden Flammen in den Augen; sie gaben ihr zu essen, hielten sie am Leben, nicht mehr und nicht weniger. Keine Gespräche, noch nicht einmal Bedrohungen oder Beschimpfungen. Nur das Training ihres
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Körpers und die Hoffnung, eines Tages auszubrechen, hielten ihre Lebensgeister wach. Manchmal jedoch schwand auch diese Hoffnung dahin, und nur noch die Routine des Trainings blieb. Kaum noch Hoffnung. Das sind nicht meine Erinnerungen, zweifelte Buffy. Das können nicht meine Erinnerungen sein. Ich erinnere mich an gestern. Sie haben Giles gefangen. Camazotz ist in Sunnydale eingefallen. Lucy Hanover ist mir in meinen Träumen erschienen, und Willow hat sie gerufen und... Buffy starrte wieder ihre Hände an. Und es waren ihre Hände. Genauso wie die Erinnerungen an diesen Raum ihre eigenen waren – Monat um Monat wurde sie vertrauter mit diesen vier Wänden, sie aß darin den widerlichen Fraß, den sie ihr vorsetzten, und sie wartete darauf, dass die Stahltür sich öffnete. Die Furchen auf ihren Händen. Seit fünf Jahren saß sie in dieser Zelle. »Nein«, flüsterte sie. Das ist doch unmöglich. »Nein«, schrie sie. Zorn und Hass stiegen in ihr auf, und brüllend rannte sie auf die Tür zu. Obwohl sich ihr Körper noch fremd anfühlte, liebte sie die Art, wie er sich bewegte. Schnell und stark und tödlich. Mit voller Wucht trat sie gegen die Tür, schmiss sich so fest dagegen, dass beinahe ihr Kieferknochen zerschmettert wurde, fiel auf den Boden und donnerte mit dem Kopf auf den Steinboden. Adrenalin schoss in ihr hoch, und sie versuchte, den Schmerz zu unterdrücken. Mit einem Schwung war sie wieder auf den Beinen, und sie trat und schlug gegen die Tür, doch lediglich das Echo ihrer eigenen Schreie war zu hören. Einige Minuten verstrichen. Sie wurde langsamer und atmete keuchend. Langsam ließ der Adrenalinschub nach. Die Schmerzen in ihrem Schädel und an ihren blutenden, aufgerissenen 123
Fingerknöcheln waren echt, die Haut auf ihren Händen zerrissen. Buffy berührte ihren Hinterkopf an der Stelle, wo sie auf den Boden aufgeschlagen war, und als sie ihre Finger betrachtete, waren sie voller Blut. Ihre Wunden würden schnell heilen. Sie war immer noch die Jägerin. Auch wenn die Wunden echt waren. Das alles war echt. Voller Grauen hing sie diesen Gedanken noch einen Moment lang nach. Als sie ihren Körper untersuchte und ihre Umgebung betrachtete, stellte sie fest, dass ihre Erinnerungen an den Kampf mit Camazotz nachließen. Verzweifelt hatten sie Lucy Hanover um Hilfe angerufen; sie mussten Giles retten. Lucy hatte ein Wesen, bekannt als die Seherin, gerufen, und diese hatte Buffy versprochen, ihr ihre Vision der Zukunft zu zeigen, damit sie besser darauf vorbereitet war und Giles retten konnte. Die Seherin hatte sie berührt. Aber das war keine Vision. Was auch immer die Seherin mit ihr angestellt hatte, Buffy war keine neunzehn Jahre mehr alt. Buffy Summers war nun mindestens vierundzwanzig. Vielleicht sogar fünfundzwanzig. Irgendwie hatte diese Kreatur es an jenem Tag vor vielen Jahren geschafft, Buffys Geist von ihrem Körper zu trennen und ihn in die Zukunft, in diesen Körper, zu schicken. Ihre Erinnerungen an besagten Tag schwanden. Obschon sie ganz sicher wusste, dass es erst vor wenigen Momenten geschehen war, sagte ihre Erinnerung ihr, dass seitdem Jahre vergangen sein mussten. Aber in ihrer Erinnerung herrschte auch ein schwarzes Loch... einige Tage, von denen sie nichts mehr wusste... einige Tage vor ihrer Gefangennahme. Da war ein Riss in ihrer Erinnerung zwischen dem Tag, an dem die Seherin sie berührt hatte, und dem Tag, als Clown-Gesicht und Bulldogge sie in die Zelle gesteckt hatten.
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Fünf Jahre lang hatte sie versucht, die Leere in ihrem Gedächtnis auszufüllen, das Blackout zu vertreiben und sich zu entsinnen, was genau geschehen war. Nein. Das bin ich nicht. Ich bin nie hier gewesen. Es ist nie passiert, ermahnte sie sich. Und doch gab es keinen Zweifel mehr daran, dass das hier Wirklichkeit war. Sie konnte jeden Muskel fühlen, jeden Kratzer. Jede noch so kleine Gefühlsregung war zweifelsohne echt. Das war ihr eigener Körper, ihr eigenes Leben, und doch war der Geist eines neunzehnjährigen Mädchens in einen älteren Körper, in eine dunkle, entsetzliche Zukunft geschickt worden. Und das Einzige, was sie tun konnte, war, ihre Zelle abzuschreiten. Ihren Körper in Bewegung zu halten. Für den Tag zu trainieren, an dem die Vampire ihren Wächter entließen. Tage verstrichen. Sie trainierte und schlief und wusch sich und trainierte. Sie brachten ihr jeden Tag vor dem Morgengrauen etwas zu essen, immer in Alarmbereitschaft, in Gruppen von drei oder mehr Vampiren. Sie trieben sie in eine Ecke und hatten Angst, ihr zu nahe zu kommen. Als wäre sie ein wildes Tier. Sie musste unwillkürlich lächeln. Ungefähr zwei Wochen später brachten sie das Mädchen. Es war dunkel, als sie sie in die Zelle stießen. Sie war verletzt und voller Blut, aber bei Bewusstsein. Das Mädchen hatte braune Haare und sah südländisch aus. Vielleicht eine Italienerin, dachte Buffy. Sie war groß, doch noch sehr jung, und als sie Buffy herausfordernd mit wilden Augen anblickte, sah diese, dass sie noch ein Kind war. Nicht älter als sechzehn, vielleicht sogar jünger. Buffy stand einfach nur da und starrte sie an. Fünf Jahre ohne menschlichen Kontakt waren nicht spurlos an ihr vorübergegangen, und ihr Herz und ihre Seele waren verschlossen. Sie vereinte zwei Menschen in sich, zwei Buffys 125
auf einmal, die stählerne und gefährliche Gefangene und die junge Kriegerin. Dann geschah etwas Seltsames. Jener Teil ihres Geistes, der noch neunzehn Jahre alt war, erwachte. Jetzt begriff sie, was passiert war. Jetzt befreite sie sich. Ihr wahres Ich wachte auf und machte sich bemerkbar. Buffy ging auf das Mädchen zu und streckte die Hand aus. »Bist du in Ordnung?« Die Augen des Mädchens nahmen einen anderen Ausdruck an. Es blinzelte und starrte sie mit offenem Mund an. »Oh, mein Gott«, flüsterte das Mädchen, und ihre Stimme überschlug sich. »Du bist... du bist wirklich hier?« »Ich verstehe nicht.« Das Mädchen wich zurück, stand langsam mit schmerzverzerrtem Gesicht auf und starrte sie an. »Du bist Buffy Summers. Ich habe Fotos von dir gesehen.« »Ja? Wie sehe ich aus?« Trotz ihrer schlimmen Verletzungen musste das Mädchen lachen. Ein nicht sehr harmonisches Geräusch, aber Buffy war froh, es zu hören. »Entsetzlich«, sagte sie. »Du siehst entsetzlich aus.« »Wer bist du?«, wollte Buffy wissen. Aber sie hatte das Gefühl, die Antwort schon zu kennen. »Ich bin August.« Buffy zog die Augenbrauen hoch. »Du bist ein Monat?« »Das ist mein Name«, entgegnete das Mädchen verärgert. Sie wischte sich das Blut von der Nase, aber die Wunde blutete weiter. »Ich bin jetzt die Jägerin.« Buffy schloss die Augen. Sie schüttelte den Kopf, um sich besser konzentrieren zu können. Dann schwankte sie ein wenig. So viele Fragen. Aber wenn dieses Mädchen die Jägerin war, was ist dann mit... »Faith?« 126
August nickte. »Vor einem halben Jahr. Sie haben jahrelang versucht, sie zu fangen, so wie sie dich... wie sie dich gefangen haben. Wenn sie nicht gewesen wäre, hätten sie jetzt schon die ganze Westküste eingenommen, vielleicht sogar mehr. Jedenfalls meint mein Wächter das. Sie haben sie außerhalb von L.A. in die Falle gelockt, hab ich gehört.« Unsicher, vielleicht sogar ein wenig ängstlich, warf ihr das Mädchen einen vorsichtigen Blick zu. »Warst du die ganze Zeit hier eingesperrt? All die Jahre?« Nein. Ich bin gerade erst hierher gekommen. Vor ein paar Wochen. Ich sollte eigentlich nicht hier sein. Das waren die ersten Gedanken, die ihr durch den Kopf gingen, aber selbst in dem Moment wusste sie, dass sie nicht der Wahrheit entsprachen. »All die Jahre«, sagte Buffy. Sie drehte dem Neuankömmling den Rücken zu und schritt durch die Zelle. »Und jetzt habe ich Gesellschaft bekommen.« »Aber hast du nicht versucht...« Buffy drehte sich rasch um und fuhr das Mädchen barsch an: »Jeden Tag. Für wen zum Teufel hältst du mich? Ich bin die Jägerin.« »Du bist eine Jägerin«, berichtigte August sie. »Du bist nicht mehr die einzige Jägerin. Noch nicht lange allerdings. Der Rat nennt dich jetzt nur noch die Verlorene Jägerin. Sie nennen dich nicht einmal mehr bei deinem Namen.« Buffy brauchte einen Moment, bis sie die Bedeutung dieser Worte begriff. Sie ging in ihrer Erinnerung zurück zu dem Tag, von dem sie wirklich wusste, dass sie ihn erlebt hatte. Ihre Seele... war fortgezogen worden, ins Hier und Jetzt, und ihren Körper hatten sie von ihr getrennt und in der Vergangenheit behalten. Er war entführt worden. Was war seitdem passiert? Wo waren die anderen? Was war mit Giles geschehen? »Wie groß ist das Gebiet, das sie kontrollieren? Camazotz und die Vampire?«, fragte sie. 127
August erschien diese Frage unangenehm. Sie starrte zunächst die Stahltür, dann Buffy an und musterte sie kritisch. »Und?«, insistierte Buffy. »Sunnydale. Und ein paar andere Städte. Ungefähr einen Umkreis von dreißig Meilen.« »Und niemand vermutet etwas?« »Niemand glaubt es«, entgegnete August. »Niemand will es glauben. So gewinnen sie. Sie kontrollieren alles. Geben den Leuten die Illusion, das alles wäre völlig normal. Unzählige bereitwillige Helfer, die alles für ein Stückchen von der Macht tun.« »Oh Gott«, krächzte Buffy. »Es gibt also keine Fluchtmöglichkeit?«, wollte August wissen, und ihre Stimme klang verzweifelt – als hätte ein Teil von ihr bereits resigniert. »Du hast alles ausprobiert?« »Fünf Jahre sind eine lange Zeit«, gab Buffy zu bedenken. »Vielleicht wird es anders aussehen, wenn wir zu zweit sind, aber ich schätze, sie werden ganz einfach mehr Wächter schicken, wenn sie das Essen bringen.« »So wie es aussieht, haben wir wohl keine Chance«, sagte August mit weinerlicher Stimme. Tränen schimmerten in ihren Augen, aber sie wischte sie fort. Dann holte sie tief Luft, richtete sich wieder auf und machte ein grimmiges, entschlossenes Gesicht. »Ich verstehe dich schon wieder nicht, glaube ich«, sagte Buffy. August sah sie an, als wäre sie schwer von Begriff. »Sie haben dich gefangen, weil sie endlich schlauer geworden sind. Wenn niemand die Jägerin tötet, wird es auch keine neue Jägerin geben. Wenn sie dich hier festhalten...« Sie drehte sich im Kreis und warf hysterisch ihre Arme in die Luft. »Wenn sie uns hier gefangen halten, wird es niemals eine neue Jägerin geben.«
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Buffy sah sie ungläubig an. »Du hast wirklich ein Talent, das Offensichtliche in Worte zu fassen.« »Und du willst das einfach so hinnehmen? Dann wird sie niemand daran hindern, sich noch weiter auszubreiten.« August biss sich auf die Lippen, als versuchte sie, ihre Gedanken zu vertreiben. »Es ist schlimm. Es ist sehr schlimm«, erwiderte Buffy. Ihr entging der Schmerz in ihrer eigenen Stimme nicht. Die Verzweiflung. »Aber es gibt nichts, was wir tun können, als darauf zu warten, dass sie leichtsinnig werden und die Anzahl der Wärter reduzieren.« August strich sich eine Locke ihrer kurzen schwarzen Haare hinter die Ohren. Noch würde sie den Blick nicht heben und Buffy mit ihren stahlgrauen Augen konfrontieren. »Es gibt etwas, das ich tun kann«, sagte sie sanft. Buffy runzelte die Stirn und musterte sie. »Und was soll das sein? Was kannst du tun?« Schließlich drehte August sich um und sah sie an. Sah sie direkt an. Ihre sanften Augen funkelten jetzt wieder. Wilde, herausfordernde Augen. Kalte und entschlossene Augen. »Ich kann dich töten.« Fortsetzung folgt...
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