Stephen Jay Gould
Die Lügensteine von Marrakesch Vorletzte Erkundungen der Naturgeschichte Essays Aus dem Amerikanisch...
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Stephen Jay Gould
Die Lügensteine von Marrakesch Vorletzte Erkundungen der Naturgeschichte Essays Aus dem Amerikanischen von Sebastian Vogel
S.Fischer
Die amerikanische Originalausgabe erschien 2000 unter dem Titel ›The Lying stones of Marrakech‹ im Verlag Harmony Books, Random House, New York © 2000 Turbo Inc. Für die deutsche Ausgabe: © S. Fischer Verlag GmbH, Frankfurt am Main 2003 Alle Rechte vorbehalten Satz: Fotosatz Otto Gutfreund GmbH, Darmstadt Druck und Bindung: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany 2003 ISBN 3-10-027813-5
Für Jack Sepkoski (1948-1999), der mir eine Freude machte, wie sie für einen Lehrer größer nicht sein kann: die Freude, von einem Schüler über troffen zu werden. Kinder sollten nicht vor ihren Eltern sterben, und Studenten sollten ihre Lehrer überleben. Die Zeiten mögen aus den Fugen sein, aber Jack war dazu geboren, die Geschichte des Lebendigen in die richtige Reihenfolge zu bringen – was er auch tat!
Inhalt Vorwort
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I. Episoden aus den Anfängen der Paläontologie Fossilien und die Geschichte der Erde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Die Lügensteine von Marrakesch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der scharfäugige Luchs, ausgetrickst von der Natur . . . . . . . . . . 3. Wie der Vulvastein zum Armfüßer wurde . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Bei der Schöpfung gegenwärtig Wie die drei besten Wissenschaftler Frankreichs im
Zeitalter der Revolution die Naturgeschichte begründeten . . . . . . . .
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4. Die Erfindung des naturgeschichtlichen Stils . . . . . . . . . . . . . . . 99
5. Der Beweis von Lavoisiers Bildtafeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
6. Es wächst ein Baum in Paris: Lamarcks Unterteilung
der Würmer und der Umbau der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151
III. Darwins Jahrhundert – und unseres Was wir von den vier größten Naturforschern des
viktorianischen Großbritannien lernen können . . . . . . . . . . . . . . . . 189
7. Lyells Säulen der Weisheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8. Ein Langweiler namens Darwin: die vielen Facetten
eines Genies . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9. Eine Furcht erregend großartige Dinosaurier-Ironie . 10. Spekulationen über die Zukunft . . . . . . . . . . . . . . .
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. . . . . . . . . 219
. . . . . . . . . 236
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IV. Sechs kleine Aufsätze zu Bedeutung und Ort des Ausgezeichneten Nährboden und Leistung . . . . . . . . . 11. Tieftaucher im Quell der Weisheit 12. Ewiges Requiem . . . . . . . . . . . . 13. Ein Hoch auf ihn! . . . . . . . . . . .
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De Mortuis nur wahrhaft Bonum . . . . . . . . 14. Ein leuchtender Stern unter Milliarden . 15. Der Glanz seiner und unserer Zeit . . . . 16. Dies war ein Mann! . . . . . . . . . . . . . .
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Eine Geschichte von zwei Arbeitsplätzen . . Das innere Brandmal des scharlachroten W Dolly-Mode und der Tod eines Königs . . . . Vor allem keinen Schaden anrichten . . . . .
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V. Wissenschaft in der Gesellschaft 17. 18. 19. 20.
VI. Evolution in allen Größenordnungen 21. Von Embryonen und Vorfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 391
22. Das Paradox des sichtlich Irrelevanten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 411
23. Eigener Freiraum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 430
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Vorwort Im Herbst 1973 rief mich Alan Ternes an, der Redakteur der Zeitschrift Natural History. Er fragte mich, ob ich Lust hätte, jeden Monat eine Kolumne zu schreiben, und das sogar gegen Geld – bis dahin hatte ich ausschließlich in Fachzeitschriften publiziert. Es war eine reizvolle Idee, und ich erwiderte, ich würde es vorerst mit drei oder vier Artikeln versuchen. Heute, nach 290 monatlichen Essays (und keinem einzigen überzogenen Termin), rückt das Ende dieser langen Kette in greifbare Nähe – meine letzte Kolumne wird, genau mit der Nummer 300, in der Jahrtausend wende-Ausgabe im Januar 2001 erscheinen. Man sollte sich wirklich an die altehrwürdige Regel halten und aufhören, wenn es am schönsten ist – eine seltene Form der Würde, für die sich bewundernswerte Menschen entschieden haben, so unter anderem Michael Jordan und Joe DiMaggio, der seit Kindertagen mein persönliches Vorbild und mein Mentor war. (Joe starb, während ich dieses Buch zusammenstellte, im gesegneten Alter sowie mit größtmöglicher Würde und Eleganz, nachdem er zuvor einen letzten Rekord aufgestellt hatte – mit der Zahl der Gelegenheiten, bei denen er die Letzte Ölung erhielt und dann wieder zu Kräften kam.) Die Jahrtausendwende mag ein willkürlicher Einschnitt sein, den die Men schen den wahren Zyklen der Natur aufzwingen, aber könnte es im Leben eines Menschen ein großartigeres Symbol geben, um innezuhalten und dann seinen Weg fortzusetzen? Deshalb wird dieser neunte Essayband das vorletzte Buch einer Serie sein, deren letztes dann dem gleichen bevor zugten Dezimalsystem die Ehre erweist wie unser Übergang von einem Jahrtausend zum nächsten. Wenn diese Serie am Ende ihren eigenen, charakteristischen Tonfall gefunden hat, so habe ich die entsprechende Redeweise ganz langsam, allmählich und größtenteils unbewusst erlernt – ganz entgegen meinen
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Die Lügensteine von Marrakesch
tiefsten persönlichen Überzeugungen, wonach sich die Vernunft der Men schen in der Evolution durch punktuelle Veränderungen und (trotz eines völlig zufälligen Ursprunges) mit einer einzigartig zielgerichteten Kraft entwickelt hat. Vermutlich hatte ich im Literaturunterricht ein wenig Montaigne gelesen, und mit Sicherheit konnte ich das Wort buchstabieren, aber als Alan Ternes mich an jenem schönen Herbsttag anrief, hatte ich keine Ahnung von der Definition und Tradition des Essays als litera rischem Genre. Ich begann die Serie mit ganz traditionellen Vorstellungen von Wis senschaftsvermittlung für ein allgemeines Publikum. Wie nahezu alle Wissenschaftler glaubte ich (nicht auf Grund aktiver Gedanken oder Ent scheidungen, sondern weil ich passiv unser Berufsethos verinnerlicht hatte), die Natur spreche zu einem vorurteilsfreien Beobachter ohne jeden Umweg, und um für Nichtwissenschaftier verständlich zu schreiben, müsse man sich nur klar ausdrücken, Fachjargon vermeiden und in der Lage sein, den Reiz faszinierender Tatsachen und interessanter Theorien zu vermitteln. Wenn ich überhaupt glaubte, ich könne die bisherigen Bemühungen in dieser Richtung um eine persönliche Note erweitern, so gelang mir nur die unscharfe Formulierung zweier eigener Vorsätze: Erstens wollte ich versuchen, alle Themen mit der gleichen begrifflichen Tiefe zu behandeln, die ich auch in meinen Fachartikeln anstrebte (das heißt, ich wollte Gedanken nicht verflachen, um die notwendige Klarheit der Sprache zu erreichen); und zweitens wollte ich meine geisteswissenschaftlichen und historischen Interessen als »benutzerfreundliche« Brücke einsetzen, um meine Leser in die durchaus verständliche Welt der Naturwissenschaft einzuführen. Im Laufe der Jahre ist jedoch diese geisteswissenschaftliche »Brücke«, die anfangs nur ein Hilfsmittel war, ausdrücklich zum zentralen Bestand teil geworden, zu einem Merkmal, das ich selbst erst dann völlig akzeptierte, nachdem mir klar wurde, dass ich die ganze Zeit nicht nur eine Kolumne, sondern Essays geschrieben hatte – und dass der Essay sich in einer fast 500 Jahre alten Tradition als Genre durchgesetzt und bewährt hatte (und sogar ausdrücklich so definiert wurde), das der Darstellung persönlicher Gedanken und Erfahrungen gewidmet ist. Diese dienen dabei als elegante Einleitung oder zumindest als fesselnder Aufhänger für die Erörterung allgemeiner, umfassender Themen. (Naturwissenschaftler sind auf subtile Weise darauf trainiert, das Persönliche als höchst gefähr
Vorwort
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liehe Subjektivitätsfalle zu definieren, und vermeiden deshalb in allen Fachveröffentlichungen die erste Person Singular zu Gunsten des Passivs. Manche Redakteure von Fachzeitschriften streichen das gefürchtete Ich ganz automatisch überall da, wo es seinen hässlichen Kopf erhebt. Deshalb gelten »populärwissenschaftliche Werke« und »literarische Essays« als völlig unterschiedliche oder einander sogar feindlich gegenüberstehende Produkte, die sich nach der üblichen Vorstellung ebenso wenig mischen lassen wie öl und Wasser – eine Konvention, deren Überwindung für mich ein vorrangiges Ziel meines literarischen und naturwissen schaftlichen Lebens darstellt.) Im Laufe der Jahre, in denen diese Essays sich weiterentwickelten, war ich bestrebt, meinen geisteswissenschaftlichen »Zugriff« auf die Natur wissenschaft zu erweitern: War er ursprünglich nur ein einfaches prak tisches Hilfsmittel, so wurde er später zu einem echten Emulgator, der literarische Essays und populärwissenschaftliche Artikel zu etwas Eigenem verschmelzen konnte; auf diese Weise wollte ich unsere engstirnige Unterteilung der Fachgebiete überwinden und damit beiden Seiten einen Dienst erweisen: der Naturwissenschaft, weil ehrliche, persönliche Äußerungen kompetenter Autoren niemals wehtun; und der Literatur, weil man die spannenden Tatsachen der Natur nicht aus unseren schriftstellerischen Bemühungen heraushalten sollte. Zumindest aber können solche Versuche zur Vielschichtigkeit populärwissenschaftlicher Artikel beitragen: Von der Schönheit und Bedeutung der Naturtatsachen geht nichts verloren, wenn wir als zusätzliche Verfeinerung auch betrachten, wie wir zu unserem vermeintlich sicheren Wissen gelangt sind. Im Laufe der Serie habe ich mit vielen verschiedenen Methoden experimentiert, um diese geisteswissenschaftliche Komponente ins Spiel zu bringen; ich habe auf unterschiedliche Weise berichtet, wie wir zu unseren üblichen Ansichten über das gelangt sind, was nach unserem Urteil »da draußen« in der Natur existiert (oder welche Irrtümer uns dabei unterlaufen sind) – und nur allzu oft wurde dabei deutlich, wie untrennbar beide Elemente verbunden sind und wie notwendig es ist, »objektive« Kenntnisse in eine durch gesellschaftliche Normen und emotionale Ziele geformte Weltanschauung einzubetten. Aber wie schon Dorothy und T. S. Eliot auf unterschiedliche Weise erkannten, führen die traditionellen, erprobten Wege häufig tatsächlich am ehesten zum Ziel. Trotz bewusster Vermeidungsversuche ertappe ich mich ständig bei
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Die Lügensteine von Marrakesch
einer Neigung zu Biografien – was Vielschichtigkeit und Faszination angeht, kommt nun einmal nichts der Lebensgeschichte eines Menschen gleich, jener großartigen Mischung aus reinem Klatsch, einer kleinen, ganz persönlichen Gesellschaftsgeschichte, psychischer Dynamik und der Entwicklung zentraler Gedanken, die zum Motiv für eine Karriere werden und am Ende unter Umständen Berge versetzen. Und wenn ich auch immer wieder bestrebt bin, mit Biografien auf verschiedenen zentralen Themen aufzubauen, ist die Eindringlichkeit einer chronologisch erzähl ten Geschichte durch nichts zu ersetzen. (Nicht umsonst sind meine bei den Lieblings-Kunstmuseen das Pariser Picasso-Museum und der Turner Wing der Tate Gallery in London, weil beide das Werk eines großen, schöpferischen Menschen in streng chronologischer Reihenfolge ausstellen.) Deshalb habe ich mich angestrengter und ausdrücklicher als um alles andere in meinem schriftstellerischen Leben darum bemüht, eine charakteristische, persönliche Form des Essays zu entwickeln, mit der ich umfassende wissenschaftliche Themen im Zusammenhang einer Biografie behandeln kann – und das nicht mit dem tatsächlichen, chronologischen Ablauf der Höhen und Tiefen eines ganzen Lebens (eine ehrenwerte Aufgabe, die den Umfang eines vollständigen Buches erfordert), sondern über das intellektuelle Zusammenwirken zwischen einer Person und der Idee, die ihr Leben lenkte. Gelingt es mir, kann ich auf diese Weise das Wesent liche an den Bemühungen eines Wissenschaftlers einfangen, einschließlich der Hindernisse, denen er auf seinem Weg begegnete, aber auch mit den Erkenntnissen, die er dabei gewann; gleichzeitig lege ich den Kern einer entscheidenden Einsicht in dem höchst interessanten Mikrokosmos der Formulierungen und Meinungsäußerungen eines Menschen offen. In den ersten drei Teilen des vorliegenden Buches wende ich diese Stra tegie auf drei verschiedene Epochen, Orte, Themen und Weltanschauungen an – eine umfangreiche Prüfung meiner Behauptung, man könne einen eigenständigen Stil entwickeln, wenn man entscheidende wissenschaftliche Begriffe und ihre Geschichte aus biografischem Blickwinkel erläutert. Dabei wende ich in jedem Essay die gleiche grundlegende Strategie an: Ich bringe die Hauptidee eines Menschen, den Mittelpunkt eines Berufslebens, mit einem wichtigen Konzept beim Verstehen der Natur in Verbindung – oder mit anderen Worten: Ich verdeutliche Geltungsbereich und Kraft eines Prinzips am Beispiel der Rolle, die es für die intellektuelle
Vorwort
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Entwicklung eines besonders daran interessierten Wissenschaftlers spielte. Ich habe also versucht, in der strengen Form eines Essays das We sentliche sowohl eines Menschen als auch eines Konzepts unterzubringen. Im Teil I geht es um die faszinierendste Epoche in meinem eigenen Fachgebiet, der Paläontologie: um die frühe Neuzeit, als man sich darum bemühte, die Entstehung der Fossilien zu begreifen, während sich die neu entstehende Naturwissenschaft mit tief greifenden Fragen nach dem Wesen von Kausalität und Realität herumschlug. Sind Fossilien die Überreste urtümlicher Lebewesen aus der Frühzeit der Erde oder der Ausdruck einer unveränderlichen, allgemein gültigen Ordnung, die sich symbolisch durch Entsprechungen zwischen den drei großen Reichen der Natur – Tierreich, Pflanzenreich und Mineralreich – ausdrückt, wobei Fossilien ausschließlich Produkte des Mineralreiches sind und dort die Parallele zu den lebendigen Formen in den beiden anderen Reichen darstellen? Es ist ein Thema von grundsätzlicher Bedeutung, und nichts könnte uns größere Schauer über den Rücken laufen lassen als dieser Kampf um das Wesen der Realität. Ich biete – jeweils in biografischer Ausprägung – drei Variationen des Themas: eine Geschichte aus dem 18. Jahrhundert über die berühmteste Fälschung der Paläontologie, verknüpft mit einer seltsam ähnlichen Geschichte aus dem heutigen Marokko; dann die Beziehung des unbekannten Stelluti zu dem berühmten Galilei, eine Verbindung, die sich nicht nur auf Freundschaft gründete, sondern auch auf einen gemeinsamen Irrtum, den der Meister mit seiner ursprünglichen Ansicht über den Saturn ebenso beging wie Stelluti mit seiner falschen Überzeu gung, versteinertes Holz habe seinen Ursprung im Mineralreich; und schließlich eine »umgekehrte« Biografie, die sich nicht an der untersu chenden Person orientiert, sondern an den Gegenständen der Untersu chung – den Armfüßerfossilien, die man wegen ihrer Ähnlichkeit mit weiblichen Geschlechtsorganen früher als »Vulvasteine« bezeichnete. Im Teil II erörtere ich dann das größte Zusammentreffen einer Zeit, eines Themas und einer Gruppe hochinteressanter Menschen, das es in der Geschichte der Naturforschung jemals gab: Es geht um jene revolutionäre Epoche im Frankreich des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts, als einige der größten Köpfe des Jahrtausends die wissenschaftliche Naturforschung erfanden. Georges Buffon begründete mit den 44 Bänden seiner höchst literarischen Histoire naturelle auf dem edelsten Weg – der Definition einer neuen, historisch begründeten Art des Erkenntnisge
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Die Lügensteine von Marrakesch
winns – ein ganzes Fachgebiet, verlor dann aber aus interessanten, ganz und gar verständlichen Gründen auf dem Höhepunkt seiner Bekanntheit die öffentliche Anerkennung. Antoine Lavoisier, der scharfsinnigste Kopf, der mir jemals begegnet ist, fügte unserem Verständnis der Natur in der Geometrie geologischer Karten ganz buchstäblich eine neue Dimension hinzu – sein einziger Ausflug in mein Fachgebiet. Eventuelle weitere Absichten wurden durch die Guillotine zunichte gemacht. Und Jean-Bap tiste Lamarck schließlich strafte seinen schwer beschädigten Ruf der Feh lerhaftigkeit und geistigen Unbeweglichkeit Lügen, indem er auf bewegende Weise zu einem neuen Urteil über die tiefsten Grundlagen seiner eigenen Überzeugungen gelangte – die Irrfahrt, die ihn dorthin führte, be gann mit einem handgeschriebenen Kommentar und einer Zeichnung Lamarcks in seinem eigenen Exemplar seiner ersten Abhandlung über die Evolution, die hier zum ersten Mal entdeckt und beschrieben werden. Der Teil III beschreibt dann die große britische Antwort auf die geistige Vorherrschaft des Festlandes, die bemerkenswerten und literarisch höchst gebildeten führenden Köpfe der viktorianischen Wissenschaft in Darwins Zeitalter voller Umwälzungen und Neubewertungen. Das Kernstück von Lyells Uniformitarianismus betrachten wir ganz buchstäblich bei einem Besuch des Ortes, der als Vorbild für seine berühmteste Abbildung diente: der Säulen von Pozzuoli, die die Titelseite aller Auflagen seiner Principles of Geology schmücken. Dann geht es um Darwins geistige Entwicklung – von einem ersten Studium, das auf Grund seines Temperaments wenig vielversprechend war, bis zu seiner Rolle als sanftmütiger und doch gründlicher Revolutionär der Wissenschaftsgeschichte. Ebenso wird beschrieben, wie Richard Owen die Dinosaurier ausdrücklich als Hilfsmittel erfand, um in der Generation vor Darwin die Vorstellung von einer Evolution zu untergraben. Und Alfred Rüssel Wallace wird zum Muster beispiel für die vermeintliche, später erschütterte Sicherheit des viktorianischen Zeitalters. Die letzten drei Teile des Buches ziehen nicht so ausdrücklich Biografien heran, aber auch hier bediene ich mich des gleichen Hilfsmittels: Ein abstrakter Begriff verkörpert sich an einem Einzelfall, den man so detailliert und im unmittelbaren Zugriff behandeln kann, dass er in einen Essay passt. Das Zwischenspiel im Teil IV enthält einige Experimente in der ganz anderen literarischen Form kurzer Aufsätze, zum Beispiel Editoriais, Nachrufe und in einem Fall sogar eine Einführung für eine Serie mit CDs
Vorwort
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klassischer Kompositionen. Es sind sechs Versuche, das am schwersten fassbare und gleichzeitig wichtigste aller Themen einzufangen: Wesen und Bedeutung hervorragender Leistungen, ausgedrückt als allgemeine Aussage über Voraussetzungen (Kapitel 11), gefolgt von fünf Variationen über große Personen und ihre Leidenschaften, die sich über das ganze Spektrum menschlicher Tätigkeiten erstrecken – denn hervorragende Leistungen gibt es nicht nur in den geistigen Kategorien, sondern in allen Berei chen: von körperlicher Eleganz und Würde auf Gebieten, die durch die Verwechslung von Berühmtheit und Format herabgewürdigt werden, über die Individualität innerhalb langweiliger, großer Institutionen, bis hin zu den intellektuellen Neuerungen, die von den Fachleuten am häu figsten als Beispiel für diese höchst kostbare (und ungewöhnliche) menschliche Eigenschaft genannt werden. Der Teil V handelt von wissenschaftlichen Themen, die offenkundige gesellschaftliche Folgen nach sich ziehen. Auch hier bediene ich mich der Biografien, aber auf andere Weise: Ich verbinde mit ihrer Hilfe Geschichten aus der Vergangenheit mit der heutigen Realität; damit möchte ich die Lehre vermitteln, dass eine Objektivitätsbehauptung, die sich auf eine reine Entdeckung stützt, häufig nur die Wiederholung einer in der Geschichte begrabenen Episode darstellt, und ich möchte (durch Exhumie rung und Herstellung des Zusammenhanges) beweisen, dass auch unsere heutigen, angeblich sicheren Erkenntnisse in dem gleichen komplizier ten Zusammenhang von gesellschaftlichem Hintergrund und geistigen Blockaden stehen: Dies gilt für Spencers Sozialdarwinismus, den Brand bei der Firma Triangle Shirtwaist und die moderne Eugenik (Kapitel 17); für die heutige Prahlerei über die Entdeckung von Genen für einzelne Ver haltensweisen, Davenports Erblichkeit der Wanderlust und die alte medizinische Theorie der Körpersäfte (18); für das Klonschaf Dolly, die Eigen schaften eineiiger Zwillinge und die Enthauptung Ludwigs XVI. (19); und für J. B. S. Haldanes Ansichten über den »humanen« Einsatz von Giftgas und die Bedeutung der Unvorhersagbarkeit in der Naturwissenschaft (20). Im Teil VI schließlich tausche ich die Biografien gegen ein anderes Hilfsmittel der Essayisten ein: große Themen (im Zusammenhang mit den unterschiedlichen Ausprägungsformen der Evolution), fassbar gemacht am Beispiel seltsamer oder faszinierender Einzelfälle: fast 600 Mil lionen Jahre alte, fossile Embryonen (21); drei Geschichten über die mess
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Die Lügensteine von Marrakesch
bare Evolution bei Schnecken, Echsen und Fischen (22), die in der Regel fälschlich als so bescheiden gilt, dass sie nur im Rahmen gewaltiger erd geschichtlicher Zeiträume als Beweis für Darwins Mechanismus gilt, während sie in Wirklichkeit so schnell und plötzlich abläuft, dass sie bei Betrachtung in diesem großen, ungewohnten Maßstab keine solche Bedeutung mehr hat; und die Antipathie zwischen mehreren christlichen Gruppen, die einander in der »gemeinsamen« Grabeskirche in Jerusalem (dem Ort, an dem Jesus angeblich gekreuzigt wurde) aus dem Weg gehen (23). An dieser vorletzten Station, auf die noch eine weitere Etappe folgen wird, kann ich nichts tun, als mich bei meinen Lesern zu bedanken, die mir auf dem steinigen Weg gefolgt sind. Nur die Verbindung von wach sendem Zusammengehörigkeitsgefühl und zunehmendem Wissen – eine Schleife der ethischen und intellektuellen, emotionalen und rationalen Rückkopplung, die in dieser unendlich faszinierenden Welt der Sorgen eine optimistische Aussicht auf Überleben und vielleicht sogar Transzen denz eröffnet – kann den Zufall unseres Daseins rechtfertigen, indem wir die freie Entscheidung treffen, möglichst guten Gebrauch von jenen ein fachen Gaben zu machen, mit denen Natur und Evolution uns ausgestattet haben.
Teil I Episoden aus den Anfängen der Paläontologie Fossilien und die Geschichte der Erde
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1. Die Lügensteine von Marrakesch Andere an der Nase herumführen – darunter verstehen wir meist, dass wir uns kleine Augenblicke des verzeihlichen Vergnügens verschaffen – vom Furzkissen bis zur wasserspritzenden Nelke im Knopfloch – und Geschichten mit harmlosen Ausschmückungen versehen – vom lebhaften Augenzeugenbericht meines Großvaters über den Boxkampf DempseyFirpo, den er nie gesehen hatte, bis zu den 250 000 Menschen, die angeb lich bei Bobby Thomsons Home-Run dabei waren – in einem Stadion mit rund 50 000 Plätzen. Aber das Flunkern kann auch zu einer ernsten, wahrhaft tragischen Angelegenheit werden, die das Leben Tausender beeinträchtigt und ganze Berufszweige über Generationen hinweg unfruchtbar macht. Für Bösewichter mag es ein unwiderstehlicher Nährboden der Versuchung sein, bietet sich doch so oft ein unmittelbarer Gewinn an Geld oder Macht, und die Leichtgläubigkeit der Menschen eröffnet den geschickteren Zeitgenossen nun wirklich ein scheinbar unbegrenztes Betätigungsfeld. Van Goghs Sonnenblumen, die ein japanisches Versicherungsunternehmen 1987 für fast 25 Millionen Pfund Sterling – damals eine Rekordsumme für ein Gemälde – erwarb, könnte durchaus eine um 1900 entstandene, gefälschte Kopie von dem Aktienmakler und verhinderten Künstler Emile Schuffendecker sein. Der unechte Piltdownmensch, kunstlos zusammen gestoppelt aus dem Unterkiefer eines Orang-Utans und dem Schädel eines Jetztmenschen, warf das Fachgebiet der Paläontologie vierzig Jahre lang aus dem Gleis, bis er Anfang der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts als Fälschung entlarvt wurde. Frühere Fälle warfen sogar noch längere, weiter verzweigte Schatten der Enttäuschung. In Mittelalter und Renaissance gründete sich ein umfang reiches Gebäude der Gelehrsamkeit auf die Schriften von Hermes Tris
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Die Lügensteine von Marrakesch
megistus (des »dreimal großen Hermes«), auf Arbeiten, die man dem ägyptischen Weisheitsgott Thoth zuschrieb; sie galten einst als Quellen, die den biblischen und klassischen Schriften an Tiefgründigkeit ebenbür tig waren (von ihrem Alter gar nicht zu reden) – bis man sie als Serie von Fälschungen identifizierte, die größtenteils aus dem dritten Jahrhundert n. Chr. stammten. Und wie können wir den Schmerz der vielen tausend frommen Juden ermessen, die Wohnung und Besitz aufgaben, um dem falschen Messias Shabetai Tsevi im Weltuntergangsjahr 1666 nach Jerusalem zu folgen – nur um dort zu erfahren, dass ihr Führer, den der Sultan ins Gefängnis geworfen und mit Folter bedroht hatte, zum Islam überge treten war, sich jetzt Mehmed Efendi nannte und den persönlichen Tür steher des Sultans spielte. Die berühmteste Fälschungsgeschichte aus meinem eigenen Fachgebiet, der Paläontologie, erreicht zwar in dem Genre wahrscheinlich keinen ersten Platz, aber nachdem sie uns seit mehr als 250 Jahren im Gedächt nis geblieben ist, hat sie es sicher zu Ruhm und bleibendem Einfluss gebracht. Wie alle großen Legenden, so existiert auch diese Geschichte in einer kanonischen Form voller moralischer Aussagen, und sie wurde jahrhundertelang ohne jede inhaltliche Abwandlung weitererzählt. Wie üblich hat diese Standardform kaum Ähnlichkeit mit den tatsächlichen Ereignissen, soweit man sie auf Grund der vorhandenen Indizien nach bestem Wissen rekonstruieren kann. Und schließlich, um die dritte gän gige Eigenschaft solcher Legenden zu nennen, gewinnt die hergebrachte Geschichte in einer korrigierten Form an allgemeinem Wert, weil sie uns wichtige Erkenntnisse darüber vermittelt, wie wir unsere eigene Geschichte gebrauchen und missbrauchen können. Die alte Legende hat es also verdient, dass man sie noch einmal erzählt; zuerst werde ich sie in der kanonischen (und falschen) Version darbieten, die so viele Studentenge nerationen kennen. In Jahr 1726 brachte Dr. Johann Bartholomäus Adam Beringer, ein un erträglich hochnäsiger, dilettantischer Professor und Arzt aus Würzburg, das Buch Lithographiae Wirceburgensis (»Würzburger Lithographien«) heraus; darin beschrieb er mit beredten Worten und einundzwanzig Bildtafeln eine Reihe bemerkenswerter Fossilien, die er angeblich auf einem Berg in der Nähe der Stadt gefunden hatte. Die Versteinerungen zeigten ein breites Spektrum verschiedener Objekte, und alle lagen hübsch als dreidimensionale Reliefs auf flachen Steinen. In ihrer großen Mehrzahl
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handelte es sich um Lebewesen, und fast alle waren vollständig, ein schließlich interessanter verhaltensphysiologischer und anatomischer Merkmale, wie man sie bei herkömmlichen Fossilien bis dahin noch nie gefunden hatte – Eidechsen mit Haut, Vögel mit Schnabel und Augen, Spinnen mit ihrem Netz, fressende Bienen auf Blüten, Schlangen neben ihren Eiern und kopulierende Frösche. Andere zeigten aber auch Him melskörper: Kometen mit Schweif, den Halbmond mit Strahlen, eine leuchtende Sonne mit einem menschlichen Gesicht in der Mitte. Wieder andere stellten hebräische Buchstaben dar, und zwar fast immer das Tetragrammaton, den unaussprechlichen Namen Gottes – YHVH, im christlichen Europa meist mit »Jehovah« übersetzt. Beringer erkannte sehr wohl den Unterschied zwischen seinen Steinen und herkömmlichen Fossilien, und er äußerte über die neuen Funde auch keine abschließende Meinung. Andererseits zweifelte er aber auch nicht an ihrer Echtheit; Behauptungen, sie seien – entweder erst kürzlich als Betrugsversuch oder vor langer Zeit zu heidnisch-religiösen Zwecken – von Menschenhand geformt worden, tat er rundheraus ab. Aber nachdem Beringer sein Buch veröffentlicht und den Inhalt herumposaunt hatte, musste er leider doch erkennen, dass man ihn hinters Licht geführt hatte – vermutlich hatten seine Studenten ihm einen Streich gespielt. Manchen Quellen zufolge räumte er den Irrtum erst ein, nachdem er auf einem Stein seinen eigenen Namen gefunden hatte, geschrieben in hebräischen Buchstaben. Der Legende zufolge verarmte der völlig gebrochene Beringer später, weil er versuchte, alle Exemplare seines Buches zurückzukau fen – und wenige Jahre später starb er völlig verbittert. Seither sind Beringers falsche Fossilien unter dem Namen »Lügensteine« bekannt. Um den Stammbaum der kanonischen Geschichte aufzuzeigen, möchte ich die Version zitieren, die sich in der berühmtesten paläontolo gischen Abhandlung vom Beginn des 19. Jahrhunderts findet, dem Buch Organic Remains of a Former World (Band 1,1804) von Dr. James Parkin son. Der Autor, Arzt von Beruf und hervorragender Geologe aus Berufung, identifizierte die nach ihm benannte Nervenverfallskrankheit, die uns bis heute beunruhigt und Rätsel aufgibt. Über seinen Kollegen Berin ger schrieb er: Eine 1726 erschienene Arbeit verdient, besonders erwähnt zu werden; zeigt sie doch eindeutig, dass Gelehrsamkeit nicht immer ausreicht, um
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einen arglosen Menschen davor zu bewahren, dass er durch über mäßige Leichtgläubigkeit zum Gefoppten wird. Sie ist aber auch noch aus einem anderen Grunde der Erwähnung wert: Das Maß an Missbil ligung und Spott, denen der Urheber ausgesetzt war, hatte nicht nur die Wirkung, dass seine Zeitgenossen weniger anfällig für Täuschungen wurden; es machte sie auch vorsichtiger, was unbegründete Hypothe sen angeht ... Wir haben es hier mit der Darstellung von Steinen zu tun, die Versteinerungen von Vögeln tragen sollten, manche mit geschlosse nen, andere mit ausgebreiteten Flügeln; Bienen und Wespen, beide in ihren wunderlich gebauten Zellen ruhend, und bei der Tätigkeit des Honigsaugens aus entfalteten Blüten ... und, um die Absurdität vollkommen zu machen, versteinerte Darstellungen der Sonne, des Mondes, der Sterne und Kometen; daneben viele andere, die zu seltsam und lächerlich sind, als dass sie auch nur eine Erwähnung verdienten. Diese kunstvoll geformten Steine hatte man absichtlich auf einem Berg abge legt, den er zu erkunden pflegte, um den begeisterten Sammler gezielt hinters Licht zu führen. Leider glückte der alberne, grausame Scherz nur allzu gut: Er bereitete dem Hintergangenen ein derart großes Maß an Kummer, dass, wie man so sagt, seine Tage auf Erden verkürzt wurden. Hier sind alle Bestandteile der üblichen Handlung unserer Geschichte einschließlich der moralischen Aussagen bereits vorhanden: die Absur dität der Fossilien, die Leichtgläubigkeit des Professors, die persönliche Tragödie seines Unterganges und die beiden begleitenden Lektionen für junge Wissenschaftler: Halte dich nicht mit Spekulationen auf, die über die vorhandenen Belege hinausgehen, und lass dich nicht von der empirischen Methode der direkten Beobachtung abbringen. In dem Standardwerk aus der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts über die Geschichte der Geologie (The Birth and Development of the Geological Sciences, erschienen 1934) fügte Frank Dawson Adams ein paar Aus schmückungen hinzu, die sich im Laufe der Jahre angesammelt hatten, so unter anderem die unvergessliche Geschichte – für die es nie auch nur den Hauch eines Beweises gab –, Beringer habe kapituliert, als er auf einem der Steine seinen eigenen Namen in hebräischen Buchstaben las. Dass Adams seine letzte Zeile wörtlich von Parkinson »ausborgte«, macht außerdem einen anderen Grund deutlich, warum kanonische Geschichten sich nicht
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verändern: Spätere Nacherzählungen werden aus älteren Quellen abge schrieben. Einige Söhne des Teufels unter seinen Studenten modellierten eine Reihe künstlicher Fossilien; dazu gössen sie Formen verschiedener Lebewesen und Phantasiegebilde in Ton, der dann gebrannt und in Bruchstücken über die Berghänge verstreut wurde, wo Beringer gern nach Fossilien suchte ... Der erschütternde Höhepunkt jedoch war erreicht, als er später eines Tages einen Brocken fand, der seinen eigenen Namen trug. Als er bemerkte, dass er einer grausamen, albernen Fälschung aufgesessen war, waren Kummer und Demütigung so groß, dass er daranging, die gesamte Auflage seines Buches aufzukaufen. Dabei verarmte er, und das soll seine Tage auf Erden verkürzt haben. Moderne Lehrbücher geben meist auf den »Pflichtseiten« über die Geschichte des Fachgebietes einen karikaturistischen, »triumphalistischen« Bericht, wonach die Wissenschaft zwangsläufig vom düsteren Aberglau ben zum läuternden Licht der Wahrheit fortschreitet. Damit fließt in die Geschichte von Beringer noch eine zusätzliche moralische Aussage ein: Seine Schmach hatte wenigstens noch die positive Wirkung, dass der alte Unsinn über eine anorganische oder rätselhafte Herkunft der Fossilien widerlegt wurde; ein Beispiel ist der folgende Text für Erstsemesterstudenten, erschienen 1961: Die Vorstellung, Fossilien seien nur Launen der Natur, wurde zu Beginn des achtzehnten Jahrhunderts endgültig der Lächerlichkeit preisgege ben. Johann Beringer, ein Professor der Universität Würzburg, wandte sich energisch gegen die Idee von einem organischen Ursprung der Fossilien. Er veröffentlichte 1726 ein paläontologisches Werk... mit Zeich nungen vieler echter Fossilien, aber auch mit Gegenständen, die Sonne, Mond, Sterne und hebräische Buchstaben abbildeten. Erst später, als Beringer ein »Fossil« mit seinem eigenen Namen fand, erkannte er den Irrtum: Studenten, die seiner Lehren überdrüssig waren, hatten die »Fossilien« ausgelegt und geflissentlich dafür gesorgt, dass er sie selbst entdeckte.
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An Beringer musste ich denken, als ich kürzlich nach Marokko reiste. Schon seit einigen Jahren hatte ich mit zunehmender Faszination und Verblüffung beobachtet, wie Mineraliengeschäfte überall auf der Welt mit erstaunlichen Fossilien aus Marokko überschwemmt wurden. Vorwiegend handelte es sich um nautilusartige Tiere mit geradem Gehäuse (viel ältere Verwandte des heutigen Nautilus, der eine schneckenförmige, gekammerte Hülle besitzt) in schwarzem Marmor oder Kalkstein, und in der Regel wurden sie als große, hübsch polierte Platten für Tische oder Frisierkommoden angeboten. Ich fragte mich, wo solche Steine wohl in derart unglaublicher Fülle vorkommen; hatte man den Hohen Atlas bis auf Meereshöhe abgetragen? Ich wollte mich vergewissern, dass Marokko selbst noch als zusammenhängende Einheit existierte und nicht nur in Form auseinander gerissener Bruchstücke, welche die Couchtische dieser Welt zierten. Wie ich feststellen konnte, stammten die meisten derartigen Fossilien aus Steinbrüchen in der Felswüste ein ganzes Stück östlich von Marra kesch und nicht aus den dazwischen liegenden Bergen. Außerdem erfuhr ich etwas, das meine Furcht vor der bevorstehenden Auflösung eines ganzen Königreiches erheblich milderte. In der Gegend dort tummeln sich Mineralienverkäufer jeder Couleur, von kleinen Jungen, die an jeder Haarnadelkurve der Bergstraße ein oder zwei Stücke feilbieten, über schnell zusammengezimmerte Verkaufsstände an allen Aussichtspunkten bis hin zu großen, offiziellen Läden in kleineren und größeren Städten. Insgesamt muss es sich um ungeheure Gesteinsmengen handeln, aber die zum Verkauf angebotenen Stücke sind in ihrer Mehrzahl entweder Fälschungen oder zumindest stark »verbessert«. Daraufhin verlagerte sich mein Interessenschwerpunkt von der Sorge um die Quellen und ihre Grenzen auf den Umfang und die unterschiedliche Fachkunde einer wichtigen Branche, die sich mit der Herstellung gefälschter Fossilien befasst. Manche »Verbesserungen« muss ich als äußerst schlau bezeichnen, beispielsweise wenn die kräftigen Rippen eines echten Ammonitengehäuses mit dem Meißel bis in die kleinsten, innersten Windungen verlängert werden und dann in der äußersten Windung eine »Verbesserung« ihrer Regelmäßigkeit erfahren. Andere »Ammoniten« wurden aber auch einfach aus einer glatten Steinplatte herausgehauen oder sogar aus Ton geformt und dann in ein vorbereitetes Loch im Stein eingefügt. Wieder andere Fäl
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schungen kann man nur als absurd bezeichnen, so auch mein Lieblings beispiel, ein wurmähnliches »Ding« mit Ringen auf dem Rücken, Furchen auf beiden Seiten, Augen auf einem Kopfschild und einem doppelten Fortsatz, der an die gespaltene Zunge einer Schlange erinnert und vorn herausragt. (In diesem Fall hatte der überschlaue Fälscher wenigstens das Prinzip von Stück und Gegenstück richtig erkannt: Das »vollständige« Exemplar besteht aus zwei zusammenpassenden Hälften mit dem erhabenen »Fossil« auf der einen Platte und einem Negativabdruck auf der anderen – angeblich hatte das Tier seine Form dem umgebenden Sediment eingeprägt. Der Fälscher hatte in das Negativbild sogar Ringe und Vertie fungen eingraviert, die allerdings nicht zu den erhabenen Strukturen pas sen, und auch an dem »Fossil« selbst entsprechende Verschönerungen vorgenommen.) Aber eine bestimmte Art der Fälschungen hat sich offenbar zum »Industriestandard« entwickelt, was man an seiner ständigen Wiederholung und Gegenwart in allen Läden erkennt. Der »Standard« besteht aus kleinen, zehn bis fünfzehn Zentimeter langen, flachen Steinen, aus deren Oberfläche ein ausgebreitetes Lebewesen als dreidimensionales Relief herausragt. Die Fossilien decken dabei das ganze Spektrum ab, von plausiblen »Trilobiten« über Gliederfüßer (beispielsweise Krabben, Krebse und Skorpione) mit harten äußeren Körperteilen, bei denen man sich eine Versteinerung durchaus vorstellen könnte (wenn auch nicht in die ser exakten Vollständigkeit) bis hin zu kleinen Wirbeltieren (meist Frösche und Echsen) mit weichem Äußerem einschließlich so empfindlicher Teile wie Finger und Augen, die in geologischen Funden niemals erhalten sind.
Ein gefälschtes Reptilienfossil aus einem Laden in Marokko. Gipsabguss eines lebenden Tieres, der dann auf den Stein geklebt wurde.
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Nach vielen Nachforschungen lernte ich schließlich das übliche Herstellungsverfahren kennen. Die gefälschten Fossilien sind – häufig bemer kenswert gut gemachte – Gipsabgüsse. (Die in den Fotos wiedergegebene Echse, die ich dort erwarb, muss ein Abguss eines echten Tieres sein, denn mit der Lupe erkennt man sogar die einzelnen Poren und Schuppen auf der Haut.) Der Fälscher schneidet einen Stein mit einer glatten Fläche und klebt dann den Abguss auf diese Unterlage. Manche Exemplare sind grob zusammengestoppelt, aber bei den besten Stücken passen Farbe und Form des Gesteins so gut zu der Gipskopie, dass fast keine Unterschiede mehr zu sehen sind. Als mir die Fälschungen zum ersten Mal unter die Augen kamen, hatte ich ein ganz seltsames Déjà-vu-Erlebnis. Eine merkwürdige Überkreuzung von Alt und Neu ließ mir Schauer der Faszination und des Unbeha gens über den Rücken laufen, ein Gefühl, das durch den vorher in der Me dina von Fes verbrachten Tag noch verstärkt wurde. Die befestigte Altstadt hat sich in einem Jahrtausend des weltweiten Wandels kaum verändert – Maultiere und Esel tragen die Waren der Händler, und hohe Mauern, ein
Die berühmtesten Fälschungen der Paläontologiegeschichte (Beringers »Lügensteine« von 1726) und die modernen Produkte aus Marokko sind sich verblüffend ähnlich.
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Straßenlabyrinth, winzige, offene Läden sowie die während des Ramadan besonders eindringlichen Rufe zum Gebet prägen eine Welt, die von der Zeit unberührt erscheint. Da wird jedes Klischee heraufbeschworen, das der uninformierte Abendländer über den »geheimnisvollen Orient« hegt. Ich betrachtete die standardisierten Fälschungen und sah Beringers Lügensteine von 1726 vor mir. Beide Macharten haben eine so gespenstische Ähnlichkeit, dass ich mich zunächst fragte, ob die marokkanischen Fäl scher ganz bewusst die Abbildungen der Lithographiae Wirceburgensis ko piert hatten – eine verrückte Idee, die ich fallen ließ, sobald ich wieder zu Hause war und mein Exemplar von Beringers Originalwerk zur Hand nahm. Dennoch sind die Übereinstimmungen verblüffend. Ich kaufte zwei Exemplare – eine Art Skorpion und eine Eidechse –, die praktisch genaue Abbilder von Beringers Lügensteinen sind, und diese beiden Paare, zwischen denen 250 Jahre und ein großer Unterschied in der Herstellung liegen, möchte ich hier zum Vergleich wiedergeben. Ich frage mich nur, ob der Händler meinen im besten Schulfranzösisch vorgetragenen Versiche rungen glaubte, dass ich Paläontologe von Beruf sei und dass seine Waren faux, absolutement et sans doute seien – oder ob er dachte, ich hätte mir nur eine besonders kluge Taktik zum Feilschen ausgedacht. Aber eine seltsame Ähnlichkeit zwischen weit auseinander liegenden Kulturen und Jahrhunderten allein ist kein ausreichend ergiebiges Thema für einen Essay. Die erforderliche allgemeine Lehre konnte ich erst her ausdestillieren, als mir etwas anderes klar wurde: Der großen äußeren Übereinstimmung steht ein Unterschied in der Bedeutung gegenüber, wie er tief greifender nicht sein könnte. Eine grundlegende Vorgehensweise der experimentellen Naturwissenschaft folgt einem Prinzip, das seit rö mischer Zeit unter dem Schlagwort ceteris paribus (»unter gleichen Umständen«) bekannt ist: Wenn man den entscheidenden Unterschied zwi schen zwei Systemen kennen lernen will, muss man alle anderen Elemente unverändert lassen; nur dann kann man den Unterschied auf den einzi gen Faktor zurückführen, dessen Veränderung man zugelassen hat. Will man beispielsweise die Wirkung einer neuen Diätpille testen, sollte man zwei übereinstimmende Gruppen bilden – Personen mit gleichem Alter, Geschlecht, Gewicht, Ernährungsverhalten, Gesundheitszustand, ethni schem Ursprung und so weiter. Dann gibt man der einen Gruppe die Pille und der anderen ein Placebo (und zwar ohne den Versuchspersonen mit zuteilen, was sie bekommen haben, denn allein dieses Wissen würde
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wegen der unterschiedlichen Erwartungshaltung eine Ungleichheit bedeuten). Es braucht nicht besonders betont zu werden, dass das Verfahren nicht hundertprozentig funktioniert (ein echtes ceteris paribus ist nie zu erreichen), aber wenn diejenigen, die die Pille genommen haben, stark ab nehmen, während die Gruppe mit dem Placebo so dick bleibt wie bisher, kann man den Schluss ziehen, dass das Medikament die gewünschte Wir kung hat. Ein noch viel größeres Luftschloss bleibt das ceteris paribus, wenn man zwei ganz unterschiedliche Zusammenhänge in der Geschichte eines Berufsstandes begreifen will, denn dabei können wir nicht heute eine Situation nach unseren Wünschen gestalten, sondern wir müssen frühere Umstände in einer komplizierten Kultur untersuchen, die keineswegs unseren Idealen von experimenteller Wissenschaft gehorchte. Aber jede Überein stimmung zwischen den beiden Zusammenhängen lässt unsere Hoffnung wachsen, dass wir die Abweichungen herausarbeiten und verstehen können. Das funktioniert auf folgende besondere Weise: Wenn wir heraus finden, wie das gleiche Objekt in zwei Kulturen behandelt wird, zwischen denen Welten liegen, können wir zumindest die beobachteten Abwei chungen auf die Unterschiede zwischen den Kulturen zurückführen, denn die untersuchten Objekte selbst ändern sich ja nicht. Die praktisch genau gleichartigen Lügensteine aus dem Würzburg des achtzehnten Jahrhunderts und dem Marrakesch unserer Tage verkörpern einen so interessanten Unterschied in der beabsichtigten Bedeutung und ihrer Behandlung durch die beiden Kulturen – und ich bin mir nicht sicher, ob wir über den Gegensatz zwischen damals und heute froh sein sollen. Aber wenn wir den wesentlichen Unterschied begreifen wollen, müssen wir zunächst die Legende von Beringer und seinen ursprünglichen Lügensteinen richtig stellen. Wie so oft, wenn kanonische Geschichten entstehen und moralische Lehren für spätere Generationen übermitteln sollen, sind in der Standard erzählung fast alle wichtigen Einzelheiten des traurigen Falles Beringer verzerrt. (Meine Informationen beziehe ich zum größten Teil aus dem hervorragenden Buch The lying Stones of Dr. Beringer von Melvin E. Jahn und Daniel J. Woolf, erschienen 1963 bei University of California Press. Jahn und Woolf legen eine vollständige Übersetzung von Beringers Werk sowie umfangreiche Anmerkungen über die Paläontologie seiner Zeit vor. Für alle Zitate in diesem Essay, die nicht von Beringer stammen, habe ich
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Originalquellen aus meiner eigenen Bibliothek benutzt.) Zunächst zu einem persönlichen Thema, das nicht unmittelbar mit der Aussage des vorliegenden Essays zu tun hat. Beringer wurde nicht durch einen harmlosen Stu dentenstreich hinters Licht ge führt, sondern ganz absichtlich von zwei Kollegen betrogen, die etwas gegen seine abschätzige Hochnäsigkeit hatten und ihn zu Fall bringen wollten. Diese Kollegen – J. Ignatz Roderick, Professor für Geografie und Algebra an der Uni versität Würzburg, und Georg von Eckhart, Hof- und Universitätsbibliothekar – gaben die gefälschten Fossilien richtiggehend in Auftrag (und Roderick führte wahrscheinlich einen großen Teil der Bildhauerarbeiten sogar selbst aus), und dann heuerten sie einen siebzehnjährigen Jungen namens Christian Zänger an, damit er sie auf dem Berg deponierte. Zän ger war so etwas wie ein Doppelagent: Er erhielt anschließend (zusammen mit zwei anderen Jungen, die offenbar nichts von dem Betrug wussten) von Beringer den Auftrag, die Steine auszugraben und einzusammeln. Diese Information, die eine Revision der kanonischen Erzählung notwendig macht, lag 200 Jahre lang in den unvollständigen, ein wenig wi dersprüchlichen Berichten über Anhörungen verborgen, die im April 1726 vor dem Würzburger Domkapitel und im Rathaus von Eibelstadt stattfanden. Der deutsche Gelehrte Heinrich Kirchner entdeckte diese Dokumente 1934 im Würzburger Stadtarchiv. Im Zentrum der Anhörungen standen die Zeugenaussagen der drei Jungen. Der »Doppel agent« Zänger berichtete, Roderick habe den Plan ausgeheckt, weil er »Dr. Beringer anklagen wollte... weil Beringer so arrogant war und sie alle verachtete«. Beeindruckt war ich auch von den Berichten der beiden Brüder, die Beringer engagiert hatte. Ihre Ahnungslosigkeit wird sehr deutlich in der scharfsinnigen Aussage von Nicklaus Hahn: Wenn er und sein Bruder »solche Steine machen könnten, wären sie nicht nur die Ausgräber«.
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Damit die kanonische Erzählung den gewünschten moralischen Effekt erzielt, verlangt sie natürlich, dass Beringer in den Ruin getrieben wurde; die Tatsachen sprechen aber eine andere Sprache. Ich habe keinen Zweifel daran, dass der Doktor peinlich berührt und sogar gedemütigt war, nachdem man seine Leichtgläubigkeit entlarvt hatte; aber offensichtlich kam er darüber hinweg: Er behielt Stellung und Titel, lebte noch weitere 14 Jahre und brachte mehrere neue Bücher heraus (darunter, allerdings vermutlich nicht von ihm geplant oder gewollt, eine zweite, posthume Auflage seiner Würzburger Lithographie!). Eckhart und Roderick wurde die verdiente Verachtung zuteil. Eckhart starb kurze Zeit später, und Roderick, der Würzburg verlassen hatte (ob freiwillig oder gezwungener maßen, wissen wir nicht), bat später in einem demütigen Brief an den Fürstbischof um die Erlaubnis, zurückkehren zu dürfen – was dieser nach einem gebührenden Rüffel für Rodericks Taten huldvoll gestattete – und wieder Zugang zur Bibliothek und den Archiven zu erhalten, damit er einen angemessenen Nachruf auf seinen dahingeschiedenen Freund Eck hart verfassen könne. Was aber die intellektuell weit wichtigere Frage nach Beringers Bedeu tung für die Geschichte der Paläontologie angeht, ist eine andere Korrek tur notwendig, und die stellt die herkömmliche Geschichte in besonders aufschlussreicher Weise auf den Kopf. Die übliche Hochglanzlegende von der Wissenschaft, die fortschreitet und über früheres Unwissen triumphiert, setzt geistig minderbemittelte »Bösewichter« voraus, die eine alte Denkweise des theologischen Aberglaubens auch angesichts objektiver Belege einer beobachtenden Wissenschaft aufrechterhalten; dafür werden sie dann als Dummköpfe gebrandmarkt, die sich den Tatsachen der Natur hartnäckig verweigern. In diese Kategorie des Alten und Schlechten fällt auch Beringer, und deshalb musste er sich in unserer Vorstellung von lächerlichen Fälschungen täuschen lassen, die jeder gute Beobachter sofort als solche erkannt hätte – daher das große Gewicht, das die herkömmliche Geschichte auf Beringers Demütigung und die absurde Machart der Lügensteine legt. Die Fälschungen von Würzburg sind natürlich nach unserer heutigen Definition und Kenntnis über Fossilien absurd. Wir wissen, dass Spinnennetze und Eidechsenaugen nicht versteinern können – von Sonnenstrahlen und dem hebräischen Namen Gottes ganz zu schweigen –, und deshalb können die Lügensteine nur von Menschen gemacht sein. Wir
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lachen darüber, dass Beringer nicht zu einer Identifizierung in der Lage war, die uns heute auf der Hand zu liegen scheint. Aber damit begehen wir den größten aller Fehler in der Geschichtsforschung: Wir fällen über unsere Vorfahren ein arrogantes Urteil dank eines Wissens, das ihnen damals selbstverständlich nicht zur Verfügung stand. Natürlich sind die Lügensteine lächerlich, nachdem wir unter Fossilien heute die erhalten gebliebenen Überreste uralter Lebewesen verstehen. Nach diesem Kriterium können Buchstaben und Sonnenstrahlen keine echten Fossilien sein, und jeder, der solche Gegenstände mit glaubwürdigen Bildern von Lebewesen auf eine Stufe stellt, ist demnach ein Narr. Begeben wir uns aber in Beringers Welt des frühen achtzehnten Jahrhunderts mit seinen geologischen Kenntnissen, erscheint seine Deutung durchaus nicht mehr so absurd. Zunächst einmal war er verblüfft über den einzigartigen Charakter seiner Lügensteine, und in der Frage, was sie bedeuteten, bildete er sich keine abschließende Meinung. Er betrachtete sie nicht als etwas Künstliches, sondern als Naturprodukte (was natürlich ein verhängnisvoller Fehler war), hatte aber Bedenken gegen eine weiter gehende Beurteilung und entschloss sich mehrmaligen Erklärungen zufolge nur deshalb zur Veröffentlichung, damit andere ebenfalls über die Information verfügten und besser über das Wesen von Fossilien debattieren konnten – eine Vor gehensweise, die Wissenschaftler angeblich zu schätzen wissen. Die abschließenden Worte seines vorletzten Kapitels mögen uns ein wenig pompös und selbstsüchtig erscheinen, aber sollten wir nicht das Bekennt nis zur Offenheit loben? Ich habe meine Bildtafeln absichtlich klugen Männern zur Überprüfung vorgelegt, da ich den Wunsch habe, ihr Urteil zu erfahren, statt mein eigenes in dieser völlig neuen, höchst strittigen Frage zu verkün den. Ich wende mich an die Gelehrten in der Hoffnung, ihre höchst ge bildeten Antworten mögen mich belehren... Es ist meine sehnliche Erwartung, dass hervorragende Lithographen Licht in diesen Disput bringen werden, der ebenso rätselhaft wie ungewöhnlich ist. Dazu werde ich meine eigene kleine Fackel beisteuern, und ich werde keine Mühe scheuen, um offen zu legen und klar zu machen, welche zukünftigen Funde aus dem Feld bei Würzburg durch die fortdauernde Anstrengung meiner Arbeiter zutage kommen wird, und welche Meinung ich in meinem Geiste darüber hege.
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Ein weiterer Vergleich zwischen gefälschten Fossilien aus Deutschland (1726) und Marokko (heute).
Was noch wichtiger ist: Beringers Fälscher hatten keineswegs alberne Gegenstände zusammengebastelt, sondern mit viel Überlegung – wie gesagt: sie hatten keine humorvollen, sondern bösartige Absichten – einen Betrug geplant, auf den ein anständiger, einigermaßen intelligenter Mensch nach den damaligen Maßstäben der Interpretation hereinfallen konnte. Beringer schrieb seine Abhandlung ganz am Ende einer Diskussion, die sich durch die Wissenschaft des siebzehnten Jahrhunderts gezogen hatte und noch immer nicht völlig beigelegt war: Was sind Fossilien eigentlich, und was kann man aus ihnen über das Alter der Erde, die Geschichte unseres Planeten sowie die Bedeutung und Definition von Leben lernen? Beringer hielt die Lügensteine für »natürlich«, aber das heißt nicht, dass er ihnen zwangsläufig einen organischen Ursprung zuschrieb. In der großen Debatte, die er kannte und ausgezeichnet dokumentierte, hielten viele Wissenschaftler die Fossilien für anorganische Produkte aus dem Mineralreich, die aus irgendeinem Grund Lebewesen ähnelten, ebenso gut aber auch die Form anderer Gegenstände wie Planeten und Buchsta
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ben annehmen konnten. In Beringers Welt konnte man die Lügensteine also nicht von vornherein als etwas Absurdes abtun. In der Diskussion ging es um ganz umfassende, entscheidende Themen der entstehenden geologischen und biologischen Wissenschaft – wenn Fossilien die Überreste von Lebewesen sind, muss die Erde sehr alt sein, das Leben muss auf eine lange Geschichte des bruchlosen Wandels zurückblicken, und Gestein muss sich durch die Ablagerung und Verhärtung von Sedimenten bilden. Können Fossilien dagegen als anorganische Produkte einer »for menden Kraft« im Mineralreich entstehen (die unter anderen Umständen auch interessante Formen wie Kristalle, Stalaktiten und gestreiften Achat hervorbringt), könnte die Erde auch jung und praktisch unverändert geblieben sein (abgesehen von den Verwüstungen durch die Sintflut), und das Gestein mit den darin eingeschlossenen Fossilien war dann keine historische Folge der Veränderung von Sedimenten, sondern vielleicht ein Produkt der ursprünglichen Schöpfung. Wenn Bilder von Planeten und hebräische Buchstaben ebenso zu »Fos silien« werden konnten wie angebliche Lebewesen, sprach das stark für die Theorie der anorganischen Entstehung – die Versteinerung eines Aleph oder eines Mondstrahls konnte man nicht als natürliches Objekt deuten, das in einem Flussbett versank, im Sediment begraben wurde und dann mit diesem versteinerte. Die anorganische Theorie hatte zu Beringers Zeit rapide an Ansehen verloren, während die organische Alternative immer mehr an Unterstützung gewann. Aber die Vorstellung von einer anorganischen Entstehung war nach wie vor plausibel, und vor diesem Hinter grund wirken die Lügensteine nicht albern und komisch, sondern schlau und geradezu perfide. Zu Beringers Zeit waren viele Wissenschaftler überzeugt, dass einfache Lebewesen ständig durch Spontanzeugung neu entstehen. Wenn ein Polyp sich durch Einwirkung des Sonnenscheins auf Wasser bilden kann und wenn eine Made durch Wärme in verfaulendem Fleisch entsteht, warum sollte man sich dann nicht auch vorstellen, dass einfache Bilder von Gegenständen im Gestein heranwachsen können, wenn Licht oder Wärme mit den inneren »Steinbildungskräften« in Wechselwirkung treten? Außerdem sollte man bedenken, wie rätselhaft das Bild eines Fisches innerhalb eines Steins auf Menschen gewirkt haben muss, die in diesen Steinen nicht die historische Folge der Sedimentbildung sahen, sondern Produkte einer einmaligen Schöpfung. Wie konnte ein Lebewesen dort
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hineinkommen? Und wie konnten Fossilien Lebewesen sein, wo sie doch häufig in versteinerter Form vorkamen und dann aus dem gleichen Gestein bestanden wie ihre Umgebung? Heute können wir auf solche Fragen einfache, »nahe liegende« Antworten geben, aber Beringer und seine Kollegen schlugen sich noch damit herum – wenn wir uns in den Zusam menhang des frühen achtzehnten Jahrhundert hineinversetzen, können wir begreifen, wie wichtig und spannend diese Debatten waren; dann ver stehen wir auch, warum die Lügensteine ein echtes Rätsel darstellten. Ich möchte aber Beringer nicht auf Grund einer unhaltbaren, pluralistischen Doktrin, wonach alle plausiblen Erklärungen über frühere Zei ten für sich das gleiche Gewicht berechtigter Argumente beanspruchen können, von aller Schuld freisprechen. Die Lügensteine waren vielleicht nicht absurd, aber Beringer verfügte auch über genügend Anhaltspunkte, mit denen er die Täuschung hätte entdecken und die peinlichen Folgen vermeiden können. Aus Gründen, die mit charakterlichen Schwächen und seiner passablen, aber nicht herausragenden Intelligenz zu tun haben, machte er dennoch weiter, und als er sein Urteil schließlich hinausposaunte, tat er es im Streben nach Anerkennung und Ehre für eine große Entdeckung, die ihn so viel Zeit und Geld gekostet hatte. Wie gern hätte er sich in dem Ruhm gesonnt, den er beim Schreiben schon zu spüren glaubte: Man betrachte diese Steinplatten, welche zu veröffentlichen ich mich bewogen fühlte, und das nicht nur in meinem unermüdlichen Streben, der Öffentlichkeit zu Diensten zu sein, sondern auch durch eure Wün sche und die meiner vielen Freunde, sowie durch meine innige Soh nesliebe für Franken, für das von diesen fein gestalteten Früchten sei nes Berges nicht weniger Ruhm ausgehen wird als von den köstlichen Weinen seiner rebenbestandenen Hügel. Ich bin kein Beringer-Fan. Zunächst einmal kommt er mir wie ein unerträglicher Pedant vor – die Frustration seiner Kollegen kann ich verstehen, auch wenn ich ihnen ihre Reaktionen nicht verzeihe. (Ich bin stolz darauf, dass ich immer aus Originalquellen zitiere, und ein Exemplar von Beringers Abhandlung steht in meinem Bücherschrank. Obwohl ich kein Alt philologe bin, kann ich die meisten Werke, die in der wissenschaftlichen Universalsprache von Beringers Zeit verfasst wurden, lesen und überset
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zen. Aber in den gewundenen Formulierungen, Wortschöpfungen und absurd verdrehten Sätzen von Beringers Prosa wusste ich nicht mehr, wo vorne und hinten ist; deshalb musste ich hier auf die zuvor zitierte Übersetzung von Jahn und Woolf zurückgreifen.) Außerdem sah und schilderte Beringer mehr als genug Indizien, an denen er den Betrug hätte entlarven können, wenn er sich ein besseres Urteilsvermögen zu Eigen gemacht hätte. Er stellte ausdrücklich fest, die Lügensteine hätten keine Ähnlichkeit mit irgendwelchen anderen Objek ten, die der entstehenden Wissenschaft der Paläontologie bereits bekannt waren, nicht einmal mit den vielen »echten« Fossilien, die er auf dem Berg bereits gefunden hatte. Aber der Unterschied veranlasste ihn nun nicht etwa zu besonderer Wachsamkeit, sondern er schürte nur seine Hoffnun gen auf großen Ruhm. Viele seiner Beobachtungen hätten ihm auch nach den Maßstäben seiner Zeit als Anhaltspunkte dienen können, dass seine Fossilien Kunstprodukte waren: Warum waren sie fast immer vollständig und keine Bruchstücke wie die meisten anderen Funde? Warum lag jedes Stück fein säuberlich auf seiner Unterlage? Warum ragte stets nur die Oberseite heraus, während die unteren Teile mit dem umgebenden Gestein verschmolzen? Warum hatten fast alle Fossilien die gleiche Orientie rung – ausgebreitet und von oben gesehen, aber niemals von der Seite oder von unten? Eigentlich spricht Beringer mit eigenen Worten die nahe liegende, richtige Schlussfolgerung aus, die er nicht ertragen oder auch nur zur Kenntnis nehmen konnte: »Die auf diesen Steinen abgebildeten Gestalten, insbesondere jene von Insekten, passen so genau zu den Ab messungen der Steine, dass man schwören könnte, sie seien das Werk eines gewissenhaften Bildhauers.« Beringers Arroganz wurde ihm aber noch auf viel direktere Weise zum Verhängnis. Als Eckhart und Roderick erfuhren, dass er seine Arbeiten veröffentlichen wollte, wurde ihnen klar, dass sie zu weit gegangen waren, und sie bekamen Angst. Sie versuchten den Kollegen zu warnen – anfangs nur mit Andeutungen, später aber, als ihre Befürchtungen zunahmen, auch ganz direkt. Roderick brachte sogar ein paar Steine zu Beringer und zeigte dem Rivalen, wie man sie hergestellt hatte – er hoffte, Beringer werde nun auch über den Rest der Sammlung die gleiche nahe liegende Schlussfolgerung ziehen. Aber Beringer war mittlerweile wild entschlossen und ließ sich durch nichts mehr von seinem Weg abbringen. Er antwortete mit dem gleichen
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Argument wie alle echten Fanatiker, deren unerschütterlichem Glauben weder Vernunft noch Beweise etwas anhaben können: Ja, Sie haben be wiesen, dass diese übersinnlichen Fähigkeiten Betrug sind, aber meine übersinnlichen Fähigkeiten sind echt, und jetzt, wo Sie unfaire Verleum dungen über das ganze Unternehmen verbreitet haben, muss ich sie umso energischer verteidigen. An keiner Stelle erwähnt Beringer die Namen Ro derick oder Eckhart (deshalb wurden sie erst 1934 im Würzburger Stadt archiv entlarvt), aber man hatte ihn vor ihren Intrigen gewarnt. Im Kapi tel 12 seines Buches schreibt er: Dann, als ich meine Arbeit fast vollendet hatte, hörte ich von dem Gerücht, das in der Stadt die Runde machte ... dass alle diese Steine ... erst kürzlich von Menschenhand behauen wurden; dass man sie aussehen ließ, als wären sie zu verschiedenen Zeiten aus einer sehr alten Grabungsstätte wieder auferstanden, und dass man sie mir verkauft habe, weil ich Betrügereien nicht bemerke und im blinden Wahn meiner Neugier gefangen bin. Beringer berichtet von Rodericks Warnung, beschimpft den Rivalen dann aber als dümmliche moderne Karikatur des bekannten griechischen Bild hauers Praxiteles, der eine große Entdeckung durch künstliche Nachahmung in Misskredit bringen wolle: Unser Praxiteles hat in einem arroganten Brief eine Kriegserklärung vollzogen. Er hat gedroht, eine kleine Abhandlung zu schreiben und meine Steine darin als untergeschoben [sic] bloßzustellen – oder sollte ich sagen: seine Steine, entworfen und in betrügerischer Absicht herge stellt von seiner Hand. So bemüht sich dieser Mensch, der noch ganz unbekannt unter den Männern der Gelehrsamkeit und ein Neuling in der Wissenschaft ist, mit beschämender Verleumdung und Hochstape lei um den Aufstieg seines Ruhmes. Hätte Beringer doch nur erkannt, wie richtig und umfassend er von der »beschämenden Verleumdung und Hochstapelei« gesprochen hatte! Aber Roderick hatte Erfolg, weil er die Reliefs nach den Maßstäben des frühen achtzehnten Jahrhunderts so plausibel gestaltete, dass man daran glauben konnte. Anschließend nahm das Verhängnis für alle Beteiligten seinen
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Lauf, weil Beringer in seiner anmaßenden, halsstarrigen Arroganz seinen Ehrgeiz nicht mehr zügeln konnte, nachdem eine schlaue, plausible Fäl schung seinen Eifer und seine Eitelkeit geweckt hatte. Zusammenfassend betrachtet, spielten die Würzburger Lügensteine eine durchaus beachtenswerte Rolle für die wichtigste Debatte, die in der Paläontologie jemals geführt wurde – für einen Streit, der sich über Jahrhunderte hinzog und das Wesen der Realität selbst auf den Prüfstand stellte. Zu Beringers Zeit war die Diskussion weitgehend zu Gunsten der organischen Fossilien entschieden, und zu diesem Ergebnis wäre man auch dann gelangt, wenn es Beringer und die Lügensteine nie gegeben hätte. Beringer mag ein eitler, arroganter Mensch von begrenzter Begabung gewesen sein, der im akademischen Hinterhofseiner Zeit arbeitete, aber immerhin schlug er sich mit den großen Themen herum – und er scheiterte, weil die Fälscher genau wussten, welche großen Interessen und absichtlichen Betrügereien für diesen intellektuellen Streit von Bedeutung sein würden, so grotesk sie uns heute mit unseren zusätzlichen Kenntnissen und unseren radikal anderen Vorstellungen vom Wesen der Realität und Kausalität auch erscheinen mögen. (Oft braucht man die richtige Theorie, um den notwendigen Zusammenhang für die Aufdeckung eines Betruges herzustellen. Der PiltdownMensch narrte mehrere Generationen lang einige der besten Wissenschaftler der Welt. Ich werde nie vergessen, was W. E. le Gros Clark – einer der drei Wissenschaftler, die den Betrug in den fünfziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts entlarvten – zu mir sagte, als ich ihn fragte, warum die Fälschung vierzig Jahre lang für echt gegolten hatte. Selbst ein Ama teur der Wirbeltieranatomie – das kann dieser Schneckenfachmann hier aus eigener Erfahrung bestätigen – erkennt heute ohne Schwierigkeiten in den Knochen von Piltdown das, was sie sind. So grob ist die Färbung, so offensichtlich sind die neuen Feilspuren an den Orang-Utan-Zähnen im Unterkiefer – aber der Fälscher musste ja unbedingt dafür sorgen, dass sie menschlich aussahen, denn die Zahnhöcker von Affen und Menschen unterscheiden sich stark. Le Gros Clark erwiderte mir: »Man muss die Hypothese einer Fälschung schon im Kopf haben, wenn man die Knochen betrachtet. Vor diesem Hintergrund liegt der Betrug sofort auf der Hand.«) Dagegen sind die Lügensteine von Marrakesch einfach nur lächerlich und albern – wie ich es sonst ausdrücken soll, weiß ich nicht. Außer Un
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wissen – und natürlich ist mir klar, wie verbreitet diese allzu menschliche Eigenschaft nach wie vor ist – gibt es wohl keine Ausrede, wenn jemand überzeugt ist, die Gipsklumpen auf den marokkanischen Steinen seien echte Fossilien, die Überreste urzeitlicher Lebewesen. Beringer wurde auf seiner Suche nach letzten Wahrheiten großartig hinters Licht geführt, so unzureichend seine eigenen Fähigkeiten auch waren. Wir aber werden einfach nur reingelegt – für ein paar Dollar, die den meisten Touristen nicht wehtun, für die örtlichen Steinmetze aber unter Umständen den Unterschied zwischen Leben und Vegetieren bedeuten. Caveat emptor. Wenn ich die gegensätzlichen Bedeutungen dieser gleichartigen Fälschungen in so radikal unterschiedlichem historischem Zusammenhang einander gegenüberstelle, fällt mir zwangsläufig die berühmte Einleitungszeile des Achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte von Karl Marx ein, jenes spöttischen Essays über die Machtergreifung des eitlen, zynischen Napoleon III. nach der Revolution von 1848 im Gegensatz zu den großen Hoffnungen und Enttäuschungen, für die der erste Napoleon sorgte. (Im französischen Revolutionskalender hatte man die Monate umbenannt und mit der Gründung der Republik eine neue Zeitrechnung begonnen. Nach diesem System ereignete sich Napoleons Staatsstreich am achtzehnten Tag des Brumaire, eines nebligen Monats in einem umbe nannten Herbst des Jahres VIII – das heißt am 9. November 1799. Marx ist heute zwar wegen der schrecklichen Dinge, die in seinem Namen geschahen, völlig aus der Mode, aber er bleibt ein hervorragender Analytiker historischer Gesetzmäßigkeiten.) Seine polemische Abhandlung eröffnet Marx mit der Feststellung, dass alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen sich zweimal ereignen – einmal als Tragödie, das zweite Mal als Farce. Beringer war ein eingebildeter Fatzke, und seine blumigen, gewundenen Phrasen sind eine Karikatur echter Gelehrsamkeit. Dennoch stürzte er im Verlauf einer großen Debatte, und mit seinen beschränkten Fähig keiten verteidigte er eine Forschung, die ihm Spaß bereitete und von noch eingebildeteren Dummköpfen seiner Zeit verächtlich gemacht wurde – nämlich von jenen, nach deren Ansicht gebildete Menschen sich die Hände nicht im Modder der Berge die Hände schmutzig machten, sondern die drängenden Fragen über die Welt unter den Perücken in ihren Studierzimmern beantworteten. Über die pseudo-eleganten Salongelehr ten seiner Zeit schrieb Beringer:
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Sie betreiben [die Paläontologie] mit einem besonderen Zensorenstab und verdammen sie als leere Eitelkeit geistiger Müßiggänger zur Ver bannung aus der Geisteswelt. Zu welchem Zweck, so fragen sie, starren wir gebannt mit Auge und Geist auf kleine Steine und Felsfiguren, auf kleine Abbilder von Tieren oder Pflanzen, auf das Geröll von Berg und Fluss, welche wir durch Zufall inmitten des Schlammes und Sandes von Land und Meer finden? Dann verteidigt er seinen Beruf mit der größten aller geologischen Metaphern: Jeder [Paläontologe] wäre wie der David des Alten Testaments in der Lage, mit einem makellosen, dem Busen der Natur entnommenen Stein und einem einzigen Handstreich die riesige Masse von Einwänden und Spott zu Fall zu bringen und der Ehre dieser erhabenen Wissenschaft gegen alle Verleumder die ihr gebührende Geltung zu verschaffen. Beringer fand keinen »makellosen Stein« – er hatte Pech, wurde aber vor allem das Opfer seiner eigenen beschränkten Fähigkeiten; dennoch ver teidigte er zu Recht die Bedeutung der Paläontologie und der empirischen Naturwissenschaft im Allgemeinen. Das war die letzte Ironie des Schicksals: Was die Lügensteine anging, konnte Beringers Irrtum größer nicht sein, aber über die Bedeutung der Paläontologie hätte er nichts Richtigeres sagen können. In der Zeit seit 1726 hat die Naturwissenschaft zu einer so tief greifend anderen Vorstellung vom Wesen der Realität geführt, dass wir mit unserer heute üblichen Arroganz in den Würzburger Lügenstei nen nur etwas Albernes sehen können; zu Unrecht stellen wir sie in unse ren modernen Zusammenhang, Beringers Welt aber verstehen wir ebenso wenig wie die Gründe, derentwegen seine Fälschungen keine Farce waren, sondern eine Tragödie. Zu unserer heutigen Realität gehört ein unbezwingbarer Goliath des Kommerzdenkens, mit dem die modernen wissenschaftlichen Davids einen ehrenvollen Frieden schließen müssen – mit einer Steinschleuder ist dieser Kampf nicht zu gewinnen. Vielleicht bin ich hoffnungslos altmo disch, aber ich glaube nach wie vor, dass diese Ehre nur in Trennung und gegenseitigem Respekt zu finden ist. Gelegenheiten zu einer immer stärkeren Verschmelzung mit der Welt des Kommerziellen sind allgegenwär
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tig und bilden eine fast unwiderstehliche Versuchung, einfach weil der unmittelbare, greifbare »Lohn« so groß ist. Deshalb arbeiten Wissenschaftler für konkurrierende Pharma- oder Computerunternehmen und bezie hen riesige Gehälter, aber sie können sich ihre Forschungsthemen nicht aussuchen und die Ergebnisse nicht veröffentlichen. Museen erweitern ihre Andenkenläden auf die Größe der vernachlässigten Ausstellungssäle und bieten ihre Dinosaurier vorwiegend für bares Geld als Bilder auf Kaffeetassen oder T-Shirts an, oder aber in Form von Sonderausstellungen zu Mondpreisen: Dann werden Robotermodelle von kommerziellen Firmen gebaut und für die Show gemietet, und als Köder stellen sie dann genau die Eigenschaften – vor allem Furcht erregendes Heulen und grelle Farben – zur Schau, die in den Fossilfunden keine Spuren hinterlassen haben und deshalb in der Wissenschaft Gegenstand bloßer Spekulationen bleiben. Ich bin erleichtert, dass der Tyrannosaurus Sue, der bei Sotheby’s für über acht Millionen Dollar versteigert wurde, an das Field Museum in Chicago geht und nicht in den anonymen Sitzungssaal eines Unternehmens, wo er vielleicht neben einem gefälschten van Gogh stehen würde. Aber ich bin überhaupt nicht glücklich darüber, dass kein naturge schichtliches Museum der Welt die Mittel für diesen Kauf auftreiben konnte – und dass McDonald’s stattdessen das Geld bereitstellen musste. Schließlich ist McDonald’s keine wohltätige Institution, und dort wird man zu Recht einen Gegenwert haben wollen. Wird es im Field Museum demnächst einen Big-Mac-Saal geben? (Werden wir jemals wieder ein öf fentliches Objekt mit staatlicher Würde und unbelastet von kommerziellen Aussagen betrachten können? Ist es wirklich notwendig, dass städ tische Omnibusse fahrende Werbeträger sind, Laternenmasten hinter Werbung verschwinden, Taxis bemalt werden und selbst die Sitze im Konzertsaal an Sponsoren verkauft werden, deren Namen darauf dann in alle Ewigkeit auf Silberplaketten prangen?) Oder werden wir bald den Tyrannosaurusroboter Sue sehen, den verkauften Namen anstelle des eigent lichen Gegenstandes, weil Sues echtes Skelett für die Farben und Geräu sche der Roboter keine Verbesserung mehr darstellt und weil ihr Wert in diesem Zusammenhang nicht in ihrer wahrhaft gewaltigen wissenschaftlichen Bedeutung liegt, sondern nur noch im Bekanntheitsgrad ihres Na mens (und in der Erinnerung an die Dollars, die sie eingebracht hat). Ich bin bei diesem Thema weder Idealist noch Maschinenstürmer. Ich vertrete nur die Ansicht, dass die Welt des Kommerzes und die Welt des
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Geistes von ihrem inneren Wesen her unterschiedliche Wertvorstellungen haben und unterschiedliche Prioritäten setzen – und dabei ist der Kom merz um so vieles größer als unsere Domäne, dass er uns nur auffressen und zerstören kann, wenn wir den Teufelspakt eingehen und um des kurzfristigen Gewinns wegen nach Vereinigung streben. Der Wert von Fossi lien ist in Dollars schlicht und einfach nicht zu beziffern. Die Lügensteine von Marrakesch dagegen kann man nur auf diese rein symbolische Weise beurteilen – die marokkanischen Fälschungen haben keinerlei intellektuellen Wert und bringen nur das ein, was der Touristenverkehr (und die Habgier der Menschen) zulässt. Über diese traurige Situation können wir wohl nichts Besseres sagen als Shakespeare mit seinen berühmten Worten – einschließlich seiner Hoffnung für die Ehre und die Abgrenzung des Geistes gegenüber dem Mammon: Wer meinen Beutel stiehlt, nimmt Tand ... Doch wer den guten Namen mir entwendet Der raubt mir das, was ihn nicht reicher macht, Mich aber bettelarm. Wir müssen aber auch daran denken, wer diese Worte spricht: der heim tückische Jago, der Othellos eigene Zügellosigkeit ausnutzt und so den Mohren bald darauf zum Opfer des ergreifendsten, tragischsten Betruges der gesamten Weltliteratur werden lässt. Jeder moderne Intellektuelle, der Beringers traurigem Schicksal entgehen will, muss an dem Traum festhal ten – ohne dabei den nüchternen Blick für die Realität zu verlieren. Folgt eurer Glückseligkeit, aber denkt daran, dass man Taschentücher zu hin terhältigen Zwecken ablegen und Fossilien wegen des schnellen Geldes in Stein hauen kann.
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I. Galileo Galilei und die drei Saturnmonde Im Jahr 1603 gründete Federico Cesi, Herzog von Acquasparta, eine Or ganisation, die aus unsicheren Anfängen heraus zur ersten wissenschaftlichen Gesellschaft der europäischen Neuzeit wurde. Cesi (1585-1630), damals ein adliger Teenager, veranlasste drei geringfügig ältere Freunde (alle Mitte 20), mit ihm die Accademia dei Lincei (Akademie der Luchse) einzurichten. Sie sollte der wissenschaftlichen Forschung dienen (»dem Lesen in diesem großartigen, wahren, universalen Buch der Welt«, um Ce sis eigene Worte zu zitieren), und benannt war sie nach jenen geschmeidigen, listigen Fleischfressern, die damals noch in den Wäldern Italiens lebten und in Liedern und Geschichten wegen ihres unter Säugetieren bei spiellosen Scharfblicks gerühmt wurden. Die Legende vom scharfäugigen Luchs stammte schon aus der Antike und hatte sich bis in Cesis Zeit erhalten. Plinius bezeichnete das Tier in seinem naturgeschichtlichen Standardwerk als »scharfsichtigsten aller Vierbeiner«. Plutarch schmückte die Legende aus und sprach vom »Luchs, der mit seinem scharfen Blick sogar Bäume und Das offizielle Emblem der ersten wissenschaftlichen Gesellschaft Europas, der 1603 gegründeten Accademia dei Lincei (Akademie der Luchse). Eines ihrer ersten Mitglieder war Galilei.
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Felsen durchdringt«. Und Galen, ganz vergleichender Anatom, schrieb: »Wir würden mit unserer Sehkraft unsinnig schwach erscheinen, vergliche man uns mit dem Scharfblick eines Luchses oder Adlers.« (Ich habe diese Aphorismen unmittelbar aus dem Sammelwerk über Säugetiere von Conrad Gesner übernommen, das zu Cesis Zeit die übliche Quelle für solche Informationen war.) Aber trotz Cesis ehrgeiziger Namensgebung und Zielsetzung geriet die Akademie der vier jungen Leute zunächst ins Schlingern. Cesis Vater unternahm einen energischen Versuch, der Torheit seines Sohnes ein Ende zu bereiten, und die vier Luchse verteilten sich auf ihre Heimatstädte. Die Organisation wurde jetzt nur noch durch das unsichere Medium reitender Boten am Leben erhalten. Aber Cesi blieb hartnäckig und triumphierte (jedenfalls eine Zeit lang) dank mehrerer Fähigkeiten und Umstände. Zunächst einmal erwarb er mehr Macht und Ansehen, sowohl weil er älter wurde als auch, weil er ein beträchtliches Vermögen erbte. Am wichtigsten aber war, dass er im Rom der Gegenreformation zu einem geschickten Diplomaten und Vermittler in der höchst misstrauischen, verwickelten Welt der Staats- und Kirchenpolitik wurde. Die Luchse verdankten ihren Aufstieg vor allem der Tatsache, dass es Cesi gelang, das Misstrauen von Papst und Kardinalen zu besänftigen, während die Naturwissenschaft sich anschickte, das alte Weltbild in Trümmer zu legen und grundlegende neue Theorien über das Wesen von Materie und Kausalität zu entwickeln. Als guter Politiker wusste Cesi ganz genau, dass er unter den Mitgliedern der Luchse mehr Leute mit Hausmacht brauchte. Als fünftes und sechstes Mitglied der Organisation, die am Ende etwa dreißig Köpfe um fassen sollte, warb er deshalb zwei der angesehensten Denker und Macher jener Welt des frühen siebzehnten Jahrhunderts an. Er reiste 1610 nach Neapel und überredete dort den fünfundsiebzigjährigen Giambattista Della Porta, Leiter und Sprecher der dahinschwindenden Schule des Neo platonismus, sich einer Gruppe junger Männer anzuschließen, die seine Enkel hätten sein können. Anschließend, 1611, machte Cesi seinen pro minentesten Fang: Als sechstes Mitglied der Luchse rekrutierte er den umstrittensten Denker des Abendlandes – Galileo Galilei (1564-1642). Im Jahr zuvor, 1610, hatte Galilei sein Werk Sidereus nuncius (»Sternenbote«) herausgebracht und damit den endgültigen Beweis geliefert, dass Gutes meist in kleinen Portionen verpackt ist. Das Buch, eigentlich
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nur eine dünne Streitschrift, enthielt in jedem Absatz mehr Zündstoff als alles andere, was Wissenschaft und Druckerkunst jemals zuwege gebracht haben. Galileo erschütterte die ganze Welt, indem er sein kurz zuvor erfundenes Teleskop in den Weltraum richtete und den Mond als Planeten mit Bergen und Tälern sah – und nicht als die vollkommene Kugel, die er nach den herrschenden Vorstellungen von Wissenschaft und Theologie sein sollte. Galilei berichtete auch, dass Tausende bis dahin unsichtbare Sterne die Milchstraße bilden, womit er den Kosmos über alle zuvor denk baren Grenzen hinaus erweiterte, und dass vier Monde den Jupiter umkreisen und im Kleinformat eine Welt bilden, die der mit umlaufenden Planeten und einem zentralen Himmelskörper gleicht. Auch auf etwas anderes wies Galilei hin: Wenn Satelliten um die Planeten kreisen, kann es die Kristallsphären, die angeblich die Bereiche der einzelnen Planeten dar stellen, nicht geben: Die umlaufenden Monde würden diese mystischen Elemente eines geometrisch vollkommenen, makellosen, unveränderlichen Kosmos, diese himmlische Domäne Gottes, schlicht und einfach zerschlagen. Aber Galilei unterliefen in seiner ersten Untersuchung auch einige Fehler, und ich habe mich immer darüber gewundert, dass Standardwerke über die Geschichte der Astronomie, die stets im Stil der Helden- oder Heiligenverehrung verfasst sind, fast nie Galileis auffälligsten Irrtum erwähnen (oder ihn höchstens in eine wunderliche Fußnote verbannen). Ich selbst finde die Geschichte faszinierend; was das Wesen der Wissenschaft und das kreative Denken im Allgemeinen betrifft, ist sie nach mei ner Überzeugung viel aufschlussreicher als alle seine korrekten Beobachtungen. Galilei richtete sein Teleskop auch auf den Saturn, der von allen sicht baren Planeten am weitesten von uns entfernt ist, und sah die berühmten Ringe. Er konnte sich das Beobachtete aber nicht richtig vorstellen oder interpretieren, vermutlich weil in seiner Begriffswelt für ein so seltsames Objekt kein Platz war (gleichzeitig war auch sein Teleskop so grob, dass es die Ringe nicht in aller Klarheit abbilden konnte und deshalb seinen Geist, der schon von so vielen Überraschungen benommen war, nicht zu der seltsamsten, unvorhergesehensten aller Schlussfolgerungen zwang). Der verdutzte Galilei schaute und schaute, fokussierte und fokussierte, Nacht für Nacht. Schließlich deutete er den Saturn als dreifachen Körper mit einer größeren Kugel in der Mitte und zwei kleineren, gleich großen
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Kugeln an den Seiten, die beide den Hauptplaneten berührten. Nach einer verbreiteten Sitte seiner Zeit – die man eingeführt hatte, um Prioritätsansprüche zu sichern und vorläufige Schlussfolgerungen vor dem Diebstahl durch andere zu bewahren – verschlüsselte Galilei seine Deutung in einem lateinischen Anagramm, das er an Johannes Kepler schickte, seinen Freund und führenden Astronomenkollegen. Kepler war Galilei an Scharfsinn sicher ebenbürtig, aber das Anagramm entschlüsselte er nie richtig; er deutete die Nachricht fälschlich als Aussage über den Planeten Mars. Enttäuscht – und ein wenig pikiert – bat er Galilei um die Antwort. Sein Kollege erwiderte mit der beabsichtigten Lösung: Altissimum planetam tergenimum observavi. [Ich habe beobachtet, dass der entfernteste Planet dreifach ist.] Besonders aufschlussreich finde ich das letzte Wort von Galileis Ana gramm. Er vertritt seine Ansicht nicht mit Formulierungen wie »ich ver mute«, »ich stelle die Hypothese auf«, »ich folgere« oder »es scheint mir die beste Interpretation zu sein ...«, sondern er schreibt kühn observavi – ich habe beobachtet. Kein anderes Wort könnte so knapp und zutreffend den grundlegenden Wandel von Begriffen und Vorgehensweise (von der ethischen Beurteilung ganz zu schweigen) einfangen, der den Übergang zu der von uns heute so genannten »modernen Naturwissenschaft« kenn zeichnet. Eine ältere Formulierung (wie sie sich beispielsweise in dem zu vor zitierten Buch von Gessner über die Säugetiere findet) hätte die Behauptung der direkten Beobachtung nicht völlig hintangestellt, aber ein solches Argument wäre als nachträglicher, bestätigender Gedanke bewer tet worden, und in seiner Gewichtung hätte er sicher an zweiter Stelle ge standen – hinter Kriterien wie dem Zeugnis klassischer Autoren und der logischen Widerspruchsfreiheit mit einem Universum, von dem man »wusste«, dass es wahr und gerecht ist, oder mit anderen Worten: hinter Autoritäten und einer festgeschriebenen »Vernünftigkeit«. Aber der neue Geist der Skepsis gegenüber früheren Überzeugungen in Verbindung mit dem Respekt vor der »reinen«, eigenen Beobachtung, wie ihn Francis Bacon in England, Rene Descartes in Frankreich und die Luchse in Italien vertraten, fegte durch die gesamte Geisteswelt, brachte sämtliche üblichen Vorgehensweisen früherer Zeiten durcheinander und
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ließ die moderne Form einer Institution entstehen, die wir heute als »Na turwissenschaft« bezeichnen. Galilei verteidigte seine Theorie über den Saturn mit der stichhaltigsten Behauptung, die nach der neuen Ordnung möglich war, mit dem einzigen Argument, das allen Widerspruch beiseite räumen konnte, weil es sich auf eine direkte, unmittelbare, unverfälschte Botschaft aus der Natur berief. Galilei sagte einfach: Ich habe es beobachtet; ich habe es mit meinen eigenen Augen gesehen. Wie konnte der alte Aristoteles oder selbst der Papst seiner Zeit einen solchen Beleg leugnen? Ich habe nicht die Absicht, mit diesem Essay die übliche Ansicht zu widerlegen, wonach ein solcher Übergang von einer alten Autorität zur di rekten Beobachtung ein entscheidendes (und großartig heilsames) Ereig nis in der Geschichte der wissenschaftlichen Methodik darstellt. Aber ich möchte festhalten, dass jeder große Mythos inmitten echter Neuerungen auch eine gefährliche Vereinfachung beinhaltet – und solche negativen Aspekte haben ironischerweise häufig die Konsequenz, dass eine ursprünglich revolutionäre neue Lehre mit ihrer eigenen Form der einschränkenden, unhinterfragten Autorität befrachtet wird. Die Vorstellung, Beobachtungen könnten rein und unverfälscht sein (sodass sie keiner Diskussion mehr bedürfen) – und große Naturwissenschaftler seien automatisch auch Menschen, die ihren Geist von den Beschränkun gen der umgebenden Kultur frei machen können, sodass sie ausschließlich durch unbelastete Experimente und Beobachtungen in Verbindung mit klarem, allgemein logischem Denken zu ihren Erkenntnissen gelangen –, hat der Wissenschaft häufig geschadet, weil sie die empirische Methode zu einer hohlen Phrase machte. Das Ironische an dieser Tatsache erfüllt mich mit einer Mischung aus Schmerz über das fehlgeleitete (allerdings auch unerreichbare) Ideal und Belustigung über die menschlichen Schwächen – eine Methode, die entwickelt wurde, um die Autoritäten und ihre angeblichen Beweise infrage zu stellen, wird selbst zu einem Dogma ganz eigener Art. Und sei es auch nur, um die Binsenweisheit zu wiederholen, dass Freiheit ständige Wachsamkeit erfordert: Wir müssen uns auch als Wachhunde betätigen, um die autoritäre Form des Empirismusmythos zu entlarven – und um dem zutiefst menschlichen Prinzip zum Durchbruch zu verhelfen, dass Wissenschaftler nur in ihrem gesellschaftlichen und psychologischen Kontext arbeiten können. Eine solche Behauptung ent zieht der Naturwissenschaft als Institution keineswegs ihre Grundlage, sondern sie bereichert unsere Sicht auf die größte Dialektik der Mensch
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heitsgeschichte: für den Wandel der Gesellschaft durch wissenschaftlichen Fortschritt, der sich nur innerhalb eines Gerüstes vollziehen kann, das sei nerseits von der Gesellschaft vorgegeben, eingegrenzt und gefördert wird. Für dieses zentrale Prinzip kenne ich kein besseres Beispiel als die Geschichte über Galileis verlorenen Kampf mit dem Saturn: Er bestand auf dem Anblick als alleinige Begründung (observavi) und sah seinen Fehler niemals ein – vermutlich weil in seiner Geisteswelt kein Platz für Ringe um einen Planeten war. Galilei »sah« den Saturn nicht nur; er musste einen Gegenstand deuten, den seine Linsen ihm zeigten, und dazu musste er eine zweideutige Form (die beste, die seine schlechten optischen Instrumente ihm liefern konnten) innerhalb der Struktur seines geistigen Raumes einordnen – aber in dieser inneren Welt kamen Ringe nicht vor. Erst 1656, mehr als zehn Jahre nach Galileis Tod, konnte der große nie derländische Astronom Christiaan Huygens die Saturnringe endlich rich tig erkennen. Galilei, der sich gewaltig mit dem Saturn herumgeschlagen hatte, kam nie über seine Dreifach-Behauptung hinaus; er gab schließlich auf und wandte sich anderen Zielen zu. In seinem Buch über die Sonnen flecken, das die Luchse 1613 herausgegeben hatten (als Autor ist auf der Titelseite »Galileo Galilei Linceo« aufgeführt), beharrte er weiterhin dar auf, der Saturn müsse ein Dreifachkörper sein, weil er den Planeten so be obachtet hatte: »Ich bin entschlossen, über den Saturn nichts auszusagen als das, was ich bereits beobachtet und enthüllt habe – das heißt, zwei kleine Sterne, die ihn berühren, einer im Osten und einer im Westen.« Ge genüber einem Kollegen, der den Planeten als längliches Gebilde deutete, führte er einfach sein schärferes Sehvermögen ins Feld. Der Kollege, so schrieb Galilei, habe den Saturn weniger häufig und mit einem schlechte ren Teleskop betrachtet, »welchem die Vollkommenheit fehlt, sodass Gestalt und Unterscheidung der drei Sterne nicht vollständig zu sehen sind. Ich, der ich ihn tausend Mal zu verschiedenen Zeiten mit einem ausge zeichneten Instrument betrachtet habe, kann Ihnen versichern, dass es in dem, was ich gesehen habe, keine Veränderung gibt.« Aber gerade als Galilei die Veröffentlichung seines Buches über Sonnenflecken vorbereitete, beobachtete er den Saturn mit einem Abstand von zwei Jahren erneut – und die beiden seitlichen Planeten waren ver schwunden (was, wie wir heute wissen, daran liegt, dass wir die Ringe wegen der wechselnden Position des Planeten genau von der Seite sehen – als Linie, die mit Galileis schlechtem Teleskop nicht zu erkennen war).
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Daraufhin übte sich der verblüffte Galilei in einer geradezu untypischen Bescheidenheit, und ihm blieb gerade noch Zeit, im letzten Kapitel seines Buches eine Ergänzung vorzunehmen. Er widerrief keine seiner früheren Beobachtungen und stellte auch die Allgemeingültigkeit der empirischen Methode nicht in Frage. Stattdessen gestand er schlicht sein Erstaunen ein und machte eine wunderhübsche, klassische Anspielung auf den ursprünglichen Mythos über den Namenspatron des Saturns: Ich habe entdeckt, dass der Saturn aus drei Körpern besteht ... Als ich sie zum ersten Mal sah, schien ich sie fast greifen zu können, und so blieb es nahezu zwei Jahre lang ohne die geringste Veränderung. Es war ver nünftig, sie für feststehend zu halten.. .Also beobachtete ich den Saturn zwei Jahre lang nicht mehr. Aber in den letzten Tagen kehrte ich zu ihm zurück und fand ihn einzeln vor, ohne seine gewöhnlichen Helfersterne, so vollkommen rund und scharf begrenzt wie den Jupiter. Was kann man nun über diese seltsame Verwandlung sagen? Dass die zwei kleineren Sterne verzehrt wurden?... Hat Saturn seine Kinder gefressen? Oder war es tatsächlich eine Illusion und ein Trugbild, mit welchem mich die Linsen meines Teleskops so lange getäuscht haben – und nicht nur mich, sondern auch viele andere, die es mit mir gesehen haben?... Ich brauche nichts Endgültiges über ein so seltsames, unerwartetes Ereignis zu sagen; es ist zu neu, zu beispiellos, und ich bin beschränkt durch meine eigene Unzulänglichkeit und meine Furcht vor Irrtümern. Nach dieser langwierigen Vorrede über den zuhöchst gefeierten Galilei möchte ich nun die Hauptperson meines Essays vorstellen: den praktisch völlig unbekannten Francesco Stelluti, einen der ursprünglichen vier Luchse. Er war ein treuer Freund und Anhänger Galileis, und er gab sich auch alle Mühe, die nach Cesis frühzeitigem Tod 1630 völlig geschwächte Akademie der Luchse am Leben zu erhalten, bevor er sie 1652 schließlich in Würde auflöste. Zwischen Stelluti und Galilei bestanden vielfältige und faszinierende, bisher nicht genauer beschriebene Beziehungen, die das zentrale Thema des vorliegenden Essays sehr augenfällig deutlich machen: die Macht und Ohnmacht der reinen Empirie sowie die Notwendigkeit, den gesellschaftlichen und intellektuellen Zusammenhang genau zu un tersuchen – eine Notwendigkeit, der praktizierende Wissenschaftler ebenso unterliegen (damit sie nicht in Versuchung geführt werden) wie
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alle anderen, die etwas von der Bedeutung und Geschichte des Wissens verstehen wollen (damit sie begreifen, wie komplex und notwendig die Verzahnung von Wissenschaft und Gesellschaft ist). Die ursprünglichen Luchse waren anfangs vom Mut und der Geheimnistuerei eines typischen Jungmännerclubs geprägt (wie gesagt: Cesi war erst achtzehn, und seine drei Kameraden waren sechsundzwanzig). Sie schrieben komplizierte Regeln auf und verkündeten hochfliegende Ideale. (Ob sie sich einen geheimen Händedruck zu Eigen machten, weiß ich nicht!) Jeder von ihnen übernahm eine besondere Aufgabe, erhielt einen lateinischen Beinamen und nahm einen Planeten in sein Emblem auf. Der Anführer Cesi war als Coelivagus (»himmlischer Wanderer«) für die Botanik zuständig; der Niederländer Johannes van Heek las und interpretierte als Illuminatus die klassische Philosophie; Anastasio de Filiis wurde unter dem Namen Eclipsatus zum Historiker und Sekretär der Gruppe. Und der arme Francesco Stelluti, der wenig veröffentlicht hatte und sich selbst offenbar für ein systematisches Arbeitstier hielt, übernahm als Tardigradus (»der langsam Schreitende«) die Mathematik und Geometrie. Als Planeten wählte Stelluti für sich den am weitesten entfernten und am langsamsten rotierenden Himmelskörper: den Saturn, Gegenstand von Galileis Irrtum! In ihren reiferen Jahren lieferten die Luchse wirksame geistige und institutionelle Unterstützung für die aufgeschlossene, empirische Vorge hensweise in der Naturwissenschaft, wie ihr berühmtestes Mitglied Galilei sie vertrat. Aber in den Anfängen war den Luchsen die ältere Tradition lieber: Wissenschaft als abgelegene, geheime Form des Wissens, zugänglich nur für Eingeweihte, die Codes und Formeln erlernt hatten und des halb die rätselhaften Harmonien der Weltordnung enthüllen konnten – die astrologischen Verbindungen zwischen Planetenpositionen und dem Leben der Menschen; die Alchemistentränke und Steine der Weisen, erhitzt in Gefäßen, in denen sich unedle Metalle in Gold verwandeln konn ten; und Experimente mit Rauch, Spiegeln und optischen Täuschungen, die eine unsichere Stellung zwischen den damals ineinander übergehenden, heute als Magie und Wissenschaft bezeichneten Kategorien einnah men. Als lebende Legende dieser schwindenden Philosophie hatte Giambattista Della Porta überlebt, der fünfte Luchs; er hatte 1558, lange bevor einer der ursprünglichen Luchse überhaupt geboren war, mit einem Buch namens Magia Naturalis (»Natürliche Magie«) seinen Ruf begründet. In
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Neapel hatte er als junger Mann eine eigene geheimnisvolle Organisation gegründet, die Accademia dei Segreti (Akademie der Geheimnisse), die sich dem alchemistischen und astrologischen Wissen verschrieben hatte und später offiziell von der Inquisition unterdrückt wurde. Indem Cesi und seine Kameraden den alten Della Porta in die Akade mie der Luchse aufnahmen, zeigten sie, wie stark sie an der früheren geistigen Schule hingen; mit der Aufnahme von Galilei ein Jahr später mach ten sie deutlich, wie zwiespältig ihre Einstellungen waren und wie reizvoll ihnen die neuen Ansichten über Wissen und wissenschaftliche Vorge hensweise erschienen. Die Auswahl der beiden Neulinge bot praktisch die Gewähr für einen Streit um Definitionen innerhalb der Akademie: Della Porta und Galilei in Einklang zu bringen, konnte bei aller Liebe nicht gelingen, denn die bei den lagen nicht nur in ihrer grundsätzlichen philosophischen Einstellung zur Wissenschaft denkbar weit auseinander, sondern sie wären beinahe auch aus einem gezielteren Grund handgreiflich geworden, der sich in der ewig umstrittenen Frage nach der Priorität verkörperte. Galilei behauptete nie, er habe das Teleskop von Grund auf neu erfunden, sondern er sagte, er habe 1609, auf einer Reise nach Venedig, Berichte über eine grobe Form des Instruments gehört. Die dahinter stehenden optischen Gesetzmäßigkeiten kannte er, und dann baute er ein leistungsfähigeres Instru ment, mit dem er den Himmel absuchen konnte. Della Porta dagegen, der Linsen und Spiegel in seiner Natürlichen Magie für viele Vorführungen und Illusionen verwendet hatte und die Gesetze der Optik sicher ebenfalls kannte, behauptete nun, er habe alle Voraussetzungen zum Bau eines Teleskops formuliert (auch wenn er das Instrument selbst nicht konstruiert hatte), und deshalb gebühre ihm das Hauptverdienst für die Erfindung. Starke Spannungen blieben bestehen, aber die schwelende Frage führte nie zum offenen Streit, weil Galilei und Della Porta sich gegenseitig hoch achteten, und Della Porta starb schließlich 1615, bevor die wachsende Ver bitterung das Fass zum Überlaufen brachte. Im Rahmen dieses Streits traf Stelluti zum ersten Mal mit Galilei zusammen – und ergriff anfangs Della Portas Partei! Im Jahr 1610 – Della Porta gehörte schon zu den Luchsen, Galilei noch nicht – berichtete Stelluti in einem Tratschbrief an seinen Bruder über den Aufruhr, den der Sidereus nuntius verursacht hatte, und über die zweifelhaften Behauptungen des Urhebers dieses Pamphlets:
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Ich glaube, du musst jetzt Galilei gesehen haben, den vom Siderius nuncius ... Giambattista Della Porta schrieb darüber [über das Teleskop] vor über dreißig Jahren in seiner Natürlichen Magie... Der arme Galilei wird besudelt sein. Dennoch hat der Großherzog ihm achthundert Piaster gegeben. Als aber Galilei den Luchsen beitrat, während sein Ruhm und Erfolg sich gleichzeitig festigten und verbreiteten, dämpften Stelluti und seine Kame raden ihr Misstrauen, bis sie schließlich sogar zu begeisterten GalileiAnhängern wurden. Nachdem Della Porta tot war und der Sternenbote auf einer wahrhaft himmlischen Welle des Triumphes schwamm, wuchs die Akademie der Luchse und wurde zu Galileis stärkstem geistigem (und praktischem) Fundament, zur wichtigsten Institution, welche die neue, offene, empirische und experimentelle Sichtweise für wissenschaftliche Erkenntnis unterstützte. Cesi stellte die Verbindung zwischen Galileis Fehler und Stellutis Emblem her: In einem Brief an Stelluti schilderte er 1611 die Wunder des Teleskops, wie Galilei selbst sie dargestellt hatte, der gerade dem Herzog von Acquasparta einen langen Besuch abstattete: Jeden Abend sehen wir neue Dinge in den Himmeln, der wahren Domäne der Luchse. Jupiter und seine vier kreisenden Trabanten; den Mond mit seinen Bergen, Höhlen und Flüssen; die Hörner der Venus; und Saturn, deinen eigenen Dreifachstern [il triplice suo Saturno]. Eine solche Flut revolutionärer Neuerungen führt, um es vorsichtig auszudrücken, zur Entfremdung von den herrschenden Mächten, eine allge meine Regel, die in Rom zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts besonders deutlich zutage trat. Die von Kriegen gebeutelte und durch die Erfolge der Reformation erschütterte päpstliche Regierung stand allen Abweichungen von der Lehrmeinung besonders unfreundlich gegenüber. Galilei hatte am Ende seiner Briefe über Sonnenflecken (die 1613 von den Luchsen veröffentlicht wurden) eine vorsichtig unterstützende Anmer kung über das kopernikanische System geschrieben. Wenig später, näm lich 1616, wurde die kopernikanische Lehre von der Kirche offiziell für falsch erklärt, und man verbot Galilei, das heliozentrische System als phy sikalische Realität zu bezeichnen (als »mathematische Hypothese« durfte er es allerdings weiterhin erörtern). Galilei ließ daraufhin eine Zeit lang
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die Finger davon und widmete sich anderen Themen. Dann aber, 1623, freuten sich die Luchse über ein unvorhergesehenes Ereignis, das Galilei als »wunderbares Zusammentreffen« (mirabel congiuntura) bezeichnete: Sein Freund und Anhänger Maffeo Barberini bestieg als Urban VIII. den Papstthron. (In einem Akt buchstäblicher Vetternwirtschaft ernannte Maffeo kurz darauf seinen Neffen Francesco Barberini zum ersten neuen Kardinal. Im gleichen Jahr, 1623, wurde Francesco Barberini das 29. Mit glied der Luchse.) Am 12. August 1623 schrieb Stelluti von Rom aus an Galilei, der gerade in Florenz weilte, und brachte seine praktische und intellektuelle Befriedigung über den Ausgang der Papstwahl zum Ausdruck. Neben »vielen anderen Freunden« würden drei Mitglieder der Luchse in der neuen päpstlichen Regierung arbeiten. Dann begeisterte sich Stelluti über die Er nennung Maffeo Barberinis: Die Schaffung des neuen Papstes erfüllt uns alle mit Freude, denn wie du selbst so genau weißt, ist er ein Mann von Großherzigkeit und Güte. Und er ist insbesondere ein Helfer gelehrter Männer, also werden wir einen höchsten Schirmherrn haben ... Wir beten zu Gott, er möge das Leben dieses Papstes lange Zeit erhalten. Voller Hoffnung, nun werde sich die Freiheit der wissenschaftlichen Un tersuchung durchsetzen, trafen sich die Luchse 1624 auf Cesis Anwesen zu einer längeren Versammlung und Planungssitzung. Galilei hatte gerade das erste brauchbare Mikroskop für wissenschaftliche Arbeiten gebaut; zuvor hatte er erkannt, dass man mit richtig angeordneten Linsen nicht nur die riesigen Himmelskörper vergrößern kann, die dem menschlichen Beobachter nur wegen ihrer großen Entfernung winzig erscheinen, son dern auch wirklich winzige Gegenstände in nächster Nähe. Voller Vorfreude auf das geplante Treffen der Luchse schickte Galilei eines seiner ersten Mikroskope an Cesi; in einer beigefügten Notiz beschrieb er seine zweite große optische Erfindung: Ich habe gar zahlreiche winzig kleine Tiere mit unendlicher Bewunde rung untersucht. Die schrecklichsten unter ihnen sind die Mücken ... Völler Befriedigung habe ich gesehen, wie Fliegen und andere kleine Tiere über Spiegel wandern können, und das sogar kopfüber. Aber du,
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mein Herr, wirst eine großartige Gelegenheit haben, Tausende und Abertausende von Einzelheiten sichtbar zu machen ... Kurz gesagt, wirst du in der Lage sein, dich der unendlichen Betrachtung der großar tigen Natur zu erfreuen und zu sehen, wie erhaben, mit welch unglaublicher Geschicklichkeit sie arbeitet. Galileis Mikroskop versetzte die Luchse in Entzücken und wurde zum Höhepunkt ihrer Zusammenkunft. Besonders interessierte sich Stelluti für das neue Instrument; er beobachtete damit den Körperbau der Bienen und fertigte Zeichnungen an. 1625 veröffentlichte er die Ergebnisse einschließlich eines großen Stiches mit drei Bienen, die er unter Galileis Instrument untersucht und dann gezeichnet hatte. Der Wissenschaftshisto riker Charles Singer bezeichnet die Bienen als »älteste erhaltene Abbildungen, die mit Hilfe eines Mikroskops hergestellt wurden«. Wenn der Name des traurig unterbewerteten Francesco Stelluti, des Leisetreters unter den Luchsen, in den konventionellen Annalen der Wissenschaftsgeschichte überhaupt überlebt hat, dann nur in der »Liste der Ersten« wegen sei ner mikroskopischen Zeichnungen. Aber die Luchse waren nicht nur schlau, sondern auch gerissen, und sie wählten die Bienen nicht nur um der Belustigung willen für ihre Zeichnungen aus. Durchaus nicht zufällig zierten drei Bienen auch das Familienwappen des neuen Papstes und voraussichtlichen Luchs-Schirmherrn Maffeo Barbe rini. Stelluti widmete sein Werk Urban VIII. und schrieb in ein Banner, das er über den Bildern der Insek ten anbrachte: »Für Urban VIII. Pontifex Optimus Maximus... von der Akademie der Luchse, und in ewiger Verehrung widmen wir Euch dieses Symbol.«
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Das berühmte Titelblatt zu Galileis Dialog zwischen Ptolemäus und Kopernikus (mit Aristoteles als Vermittler).
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Nun wurde Galilei kühn: Er entschloss sich, aus seinem intellektuellen Versteck herauszutreten und einen Disput über das kopernikanische System zu riskieren. 1632 erschien sein Epoche machendes Meisterwerk der Wissenschaftsgeschichte und, nach der späteren Tragödie zu urteilen, auch der Gesellschaftsgeschichte: Dialogo ... sopra i due massimi sistemi nel mondo tolemaico e copernicano (Ein Dialog über die beiden hauptsäch lichsten Weltsysteme, das ptolemäische und das kopernikanische). Galilei hoffte, er könne allen Schwierigkeiten mit der Kirche aus dem Weg gehen, indem er das Werk als Dialog anlegte – als Diskussion zwischen einem Anhänger des geozentrischen ptolemäischen Weltbildes und einem Verfech ter der kopernikanischen, heliozentrischen Sicht der Dinge. Die tragischen Folgen dieser Entscheidung kennen wir nur allzu gut. Der Papst, bis dahin Galileis Freund, war empört und befahl, dem Wis senschaftler vor der römischen Inquisition den Prozess zu machen. Das Tribunal befand Galilei für schuldig und zwang ihn, auf den Knien seine »falschen«, ketzerischen kopernikanischen Ansichten zu widerrufen. Anschließend stellte die Inquisition ihn für den Rest seines Lebens auf sei nem kleinen Anwesen in Arcetri unter eine Art Hausarrest – der ihm allerdings erlaubte, in wissenschaftlichen Angelegenheiten weiterhin in vollem Umfang tätig zu sein: Er empfing Besucher und führte bis zu seinem Tod eine umfangreiche Korrespondenz (obwohl er in den letzten vier Lebensjahren durch Blindheit beeinträchtigt war). 1638 schrieb er, teilweise heimlich, sein zweites großes Buch in Dialogform (und mit den gleichen Hauptfiguren), von dem er eine Abschrift zur Veröffentlichung in die Nie derlande schmuggeln ließ: Unterredungen und mathematische Demonstrationen über zwei neue Wissenszweige, die Mechanik und die Fallgesetze betreffend. Er durfte aber Arcetri nicht verlassen: Der Papst, nachtragend und immer noch verletzt, lehnte Galileis Wunsch ab, an der Ostermesse teilzunehmen und Ärzte in Florenz aufzusuchen, als sein Augenlicht nachließ. Die Literatur über das Warum und Wozu von Galileis Leidensweg könnte in einer wissenschaftlichen Bibliothek einen großen Raum füllen, und ich werde mich hier noch nicht einmal an einer knappen Zusam menfassung versuchen. (Zu den interessantesten und originellsten Büchern aus neuerer Zeit gehören Galilei, der Höfling von Mario Biagioli, S. Fischer 1999, und Galilei – der Ketzer von Pietro Redondi, Beck 1989.) In einem sind sich alle einig: Galilei wäre seinem Schicksal entgangen,
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wenn einer von hundert Umständen sich geringfügig anders dargestellt hätte. Mit anderen Worten: Er hatte Pech und fiel schlechtem Urteilsvermögen (auf beiden Seiten) zum Opfer, aber er war kein unvermeidliches Opferlamm in einem ewigen Krieg zwischen Naturwissenschaft und Re ligion. Dennoch war mir bis zu meinen Recherchen für diesen Essay nie klar gewesen, wie wichtig ein besonderer Faktor in dieser ganzen Verkettung von Unwägbarkeiten war. Aus der Sicht der Luchse hätte es Galilei eigentlich mit ziemlich großer Sicherheit gelingen müssen, einen raffinierten Weg zur Umgehung möglicher Probleme zu finden, wäre nicht das end gültigste aller Ereignisse dazwischengekommen. Federico Cesi, Gründer und ständiger Leiter der Luchse, starb 1630 mit 45 Jahren, auf dem Höhepunkt seines Einflusses. Galilei erfuhr die traurige Nachricht aus einem Brief von Stelluti: »Mein lieber Signor Galileo, mit zitternder Hand und mit Augen voller Tränen [con mani tremante, e con occhipieni di lacrime – eine solche Klage klingt auf Italienisch einfach viel besser!] muss ich Ihnen die unglückselige Nachricht vom Tode unseres Führers überbringen, des Herzogs von Acquasparta. Es war die Folge eines akuten Fiebers.« Ich bin überzeugt, dass Cesi sich dafür eingesetzt hätte, Galilei zu ver schonen, und zwar aus zwei Gründen. Erstens hätte er mit seiner Vor sicht und seinem diplomatischen Geschick in Verbindung mit seinem untrüglichen Gespür für das Praktische Galileis berühmte und gefährliche Impulsivität gedämpft. Galilei, der immer an die Grenzen ging und sich darüber hinaus in den Gefahrenbereich begab, verfasste sein Werk als Dialog zwischen einem Kopernikaner und einem Anhänger des ptolemäischen Universums, in dessen Mitte die Erde stand. Aber er hatte sicher keinen fairen Wettstreit konstruiert. Der Ptolemäus-Anhänger hieß Simplicio, und diesem Namen entsprach auch die Qualität seiner Argumente. Außerdem hatte sich bei Urban VIII. der bohrende Verdacht festgesetzt, Simplicio könne eine Karikatur auf seine eigene, hochherrschaftliche Person sein – daher seine Wut und der Eindruck, Galilei habe die Abmachung gebrochen, das kopernikanische Weltbild nur als wider spruchsfreie Theorie neben anderen, ebenso stichhaltigen Alternativen zu erörtern. Wäre Cesi noch am Leben gewesen, hätte er zweifellos darauf bestanden, dass Galilei sein Werk in weniger provozierender oder zumindest besser verschleierter Form verfasste. Damit hätte er sich auch durchgesetzt, einerseits, weil Galilei auf sein Urteil großen Wert legte, an
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dererseits aber auch, weil die Luchse das Werk auf Cesis Kosten verlegen wollten. Zweitens war Cesi eine der geschicktesten Gestalten auf dem politischen Parkett in Rom. Als Diplomat und Adliger (im Gegensatz zu Galilei, dem bürgerlichen Hitzkopf) hätte er alle Räder geschmiert und für ein rund laufendes Getriebe gesorgt. Galilei erkannte nur allzu gut, wie sehr er persönlich Pech hatte. An seinen Freund G. B. Baliani schrieb er 1630, kurz vor Cesis Tod: Ich war letzten Monat in Rom, um die Lizenz zum Druck des Dialoges zu erhalten, welchen ich gerade verfasse, um die beiden großen Systeme, das ptolemäische und das kopernikanische, zu untersuchen ... Wahrlich, hätte ich dies alles in den Händen unseres erlauchten Prinzen Cesi gelassen, so hätte er es mit viel Sorgfalt erreicht, wie er es auch bei meinen anderen Werken getan hat. Aber er fühlt sich unpässlich, und jetzt höre ich, es gehe ihm schlechter und er sei vielleicht in Gefahr. Cesis Tod hatte zwei vielschichtige, miteinander verknüpfte Folgen, die das Kernstück des vorliegenden Essays bilden: die spätere, vermeidbare Verurteilung Galileis sowie den Niedergang und dann zwangsläufig die Auflösung der Luchs-Gesellschaft. Stelluti versuchte heldenhaft, die Luchse am Leben zu halten. Er bestürmte Francesco Barberini, den Kar dinal und Papstneffen, der als einziges Mitglied der Luchse genug Format besaß und in Cesis Fußstapfen hätte treten können, er solle doch neuer Vorsitzender werden. Barberinis Weigerung besiegelte das Schicksal der Luchse, denn ein anderer Schutzherr mit ausreichend Geld und Adel war nicht zu finden. Stelluti hielt eine Zeit lang die Stellung und brachte 1651 in einem letzten großen Aufbäumen das Buch über die Naturgeschichte der Welt heraus, das die Luchse jahrzehntelang geplant hatten: Nova plan tarum et mineralium mexicanorum historia. Als letzten Liebesdienst nahm Stelluti Cesis unveröffentlichtes Werk über botanische Klassifikation in einen Anhang auf. 1652 starb Stelluti, das letzte Gründungsmitglied der Luchse – und die Organisation, die er ein Leben lang auf seine eigene, langsam-stetige Weise gehegt und gepflegt hatte, hörte auf zu bestehen.
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II. Francesco Stelluti und der Mineralwald
von Acquasparta
Francesco Stelluti blieb Galilei auch während der letzten Jahre des inneren Exils und Hausarrestes treu. Am 3. November 1635 schrieb er dem Freund in Arcetri einen langen, interessanten Brief, in dem er Galilei mit Neuigkeiten aus der wissenschaftlichen Welt aufheitern wollte. Zunächst verleiht Stelluti seinem Mitgefühl mit Galileis schrecklicher Lage Aus druck: »Gott weiß, wie viel Gram und Schmerz mir Ihre Qual bereitet« (Dio sa quanto mi son doluto e doglio de’ suoi travagli). Dann versucht er, Galileis Stimmung mit dem neuesten Bericht über ein altes Vorhaben der Luchse zu heben: über die Untersuchung einiger seltsamer Fossilien, die man auf Cesis Anwesen gefunden hatte: Du solltest wissen, dass während meines Aufenthaltes in Rom der Signor Cioli mehrmals die Gräfin [Cesis Witwe] besuchte, und bei sei ner Abreise gab sie ihm mehrere Stücke des versteinerten Holzes, das seinen Ursprung in Acquasparta hat... Er erkundigte sich, wo es gefunden werde und wie es entstanden sei... Denn er bemerkte, der Prinz Cesi, seligen Angedenkens, habe darüber etwas schreiben wollen. Dann bat mich die Gräfin, darüber etwas zu verfassen; das habe ich getan und es an Signor Cioli geschickt, zusammen in einem Paket mit mehreren Stücken des Holzes, einige schon ganz versteinert, andere am Beginn der Versteinerung. Das versteinerte Holz irritierte und faszinierte die Luchse schon seit langem. Stelluti hatte das Problem bereits am 23. August 1624 in einem Brief an Galilei geschildert, unmittelbar vor der Zusammenkunft der Luchse und der folgenschweren Kette von Ereignissen, die durch Stellutis mikro skopische Zeichnungen in Gang gesetzt wurde und eigentlich die Gunst des neuen Papstes gewinnen sollte. Unser Herr Prinz [Cesi] küsst dir die Hände und ist begierig, gute Neuigkeiten von dir zu hören. Es geht ihm sehr gut, trotz der nervtötenden Hitze, welche aber nicht dazu führt, dass er bei seinen Untersuchungen und schönen Beobachtungen an diesem mineralisierten Holz auch nur
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Die Titelseiten zu Galileis Buch über die Sonnenflecken und SteUutis Abhandlung über fossiles Holz; beide Autoren geben sich als Mitglieder der Akademie der Luchse zu erkennen.
die geringste Zeit verlieren würde. Er hat mehrere sehr große Stücke entdeckt, mit einem Durchmesser von bis zu sieben Handspannen, und andere sind voller Linien aus Eisen oder einem Stoff, welcher dem Eisen ähnelt... Wenn du auf deinem Weg nach Florenz hier Station machen würdest, könntest du das ganze Holz sehen, ebenso den Ort seiner Her kunft und einige der nahe gelegenen Feuerschlünde [dampfende Vul kanschlote bei Acquasparta, die für Stellutis Deutung des Holzes eine Schlüsselrolle spielten]. Das alles wirst du mit Überraschung und Begeisterung beobachten können. Gewöhnlich stellen wir uns unter Galilei keinen Geologen oder Paläonto logen vor, aber sein umfassendes Interesse richtete sich auf alles, was wir heute als Naturwissenschaft bezeichnen würden, also auch auf Tiere und Pflanzen. Zum ersten Treffen mit Cesi und den Luchsen nahm er 1611 sein neues Teleskop mit, und alle Anwesenden waren begeistert von Galileis neu konstruiertem Kosmos. Bei derselben Zusammenkunft hatte er aber
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auch einen seltsamen Stein dabei, den ein paar Alchemisten kurz zuvor in Bologna entdeckt hatten: den lapis Bononensis (Stein von Bologna) oder »Sonnenschwamm« – es schien, als würde der Stein das Sonnenlicht aufsaugen und dann wieder abgeben. Die Fundstücke sind nicht erhalten, und deshalb können wir über Zusammensetzung und Art von Galileis Stein (ob in der Erde gefunden oder künstlich hergestellt) nichts Genaues sagen. Wir wissen aber, dass die Luchse über dieses Wunder der Geologie in Verzückung gerieten. Cesi hatte versprochen, lange auf seinen Lände reien in Acquasparta zu bleiben, und bat Galilei um ein paar Exemplare, die er im Frühjahr 1613 auch erhielt. Anschließend schrieb Cesi an Galilei: »Ich danke Ihnen auf jede erdenkliche Weise, ist dies doch höchst kostbar, und ich werde bald jenem Schauspiel beiwohnen, das die Abwesenheit von Rom mir bisher verwehrt hat.« (Dieses Zitat und die Infor mationen über den Stein von Bologna stammen aus dem hervorragenden Buch Processing Nature von Paula Findlen, University of California Press, 1994.) Umgekehrt interessierte sich auch Galilei für Cesis geologische Ent deckung, das versteinerte Holz von Acquasparta; in Stellutis Briefen spiegeln sich also eindeutig gemeinsame Interessen wider. Deshalb stellte Stelluti, stets loyal, das Material zusammen, schrieb seinen eigenen unterstützenden Text, stach dreizehn wunderschöne Abbildungen und ver öffentlichte 1637 sein einflussreichstes Werk (abgesehen vielleicht von dem früheren Buch über die Bienen); der Titel war fast ebenso lang wie der ganze nachfolgende Text: Trattato del legno fossile minerale nuovamente scoperto, nel quale brevemente si accenna la varia e mutabil natura di detto legno, rappresentatovi con alcune figure, ehe mostrano il luogo dove nasce, da diversita del’ ondey ehe in esso si vedono, e le soe cosi varie, e maravigliose forme. (Abhandlung über neu entdecktes, steinern mineralisiertes Holz, in welcher wir auf die schwankende, wandelbare Natur dieses Holzes hinweisen, dargestellt durch mehrere Abbildungen, welche den Ort seiner Herkunft zeigen, die Vielfalt der Wellen [Wachstumslinien], die wir auf ihm erkennen, und seine höchst vielfältigen, wundersamen Formen.) Die Titelseite lässt mehrere Verbindungen zu Galilei erkennen. Bemer kenswert vor allem: die ähnliche Gestaltung und der gleiche Verlag (Mas cardi in Rom) beider Werke. Beide zeigen das offizielle Emblem der Luchse: das übliche Bild des Tieres (abgezeichnet aus Gesners Nachschla
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gewerk von 1551), umgeben von einem Lorbeerkranz, und ganz oben die Krone von Cesis Adelsfamilie. Beide Autoren geben die Zugehörigkeit auch in ihrem Namen zu erkennen: der Band über die Sonnenflecken von Galileo Galilei Linceo, die Abhandlung über das versteinerte Holz von Francesco Stelluti Accad. Linceo. Das Gespenst von Galileis Tragödie spukt auch auf Stellutis Titelseite – das Werk trägt (rechts unten in römischen Zahlen) die Jahreszahl 1637, als Galilei in Arcetri unter Arrest stand und heimlich sein eigenes letztes Buch schrieb. Außerdem widmet Stelluti sein Buch sehr unterwürfig »dem hervorragenden, hoch verehrten Herrn Kardinal Francesco Barberini« (und das in einer Schrift, die größer ist als Stellutis eigener Name), dem Neffen des Papstes, der Galilei verurteilt hatte; und das, obwohl der Kardinal Stellutis Aufforderung, die Luchse nach Cesis Tod zu führen (und zu retten), nicht nachgekommen war. Die größte und tiefgreifendste Ähnlichkeit zwischen Galileis Buch über die Sonnenflecken und Stellutis Abhandlung über versteinertes Holz geht aber weit über jede äußere Übereinstimmung hinaus: Sie liegt im Wesen einer Schlussfolgerung sowie in der grundsätzlichen rhetorischen und wissenschaftlichen Vorgehensweise. Galilei präsentierte seine (zuvor bereits zitierte) Beschreibung des Saturns in seinem Buch über Sonnenflecken – und dort behauptete er kühn, eine völlig falsche Interpretation müsse richtig sein, weil er das Phänomen mit eigenen Augen beobachtet habe. Stelluti bietet in seiner Abhandlung über das fossile Holz eine völlig falsche (sogar auf den Kopf gestellte) Interpretation für Cesis Entdeckung an und argumentiert dann nach genau demselben Muster, seine Ansicht müsse notwendigerweise wahr sein, weil er das beschriebene Phänomen selbst beobachtet habe! Trotz einiger praktischer Unannehmlichkeiten durch herrschende Mächte, die weder der Demokratie noch dem Pluralismus verpflichtet waren – immerhin konnte man wie Giordano Bruno auf dem Scheiterhaufen enden oder auch nur wie Galilei verhaftet, vor Gericht gestellt, ver urteilt und in der Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden –, muss die erste Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts als Zeit der wissenschaftlichen Hochspannung gelten. Alle grundlegenden Fragen nach Struktur, Bedeu tung und Ursachen der Naturerscheinungen wurden neu aufgeworfen, ohne dass es nahe liegende Antworten gab, und bedeutende Denker ver traten mit plausiblen Argumenten radikal unterschiedliche Alternativen. Mit der Erfindung eines einfachen Instruments zum genaueren Hinsehen
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brachte Galilei die alten Vorstellungen von den größten Dingen in der Na tur zu Fall. Zur gleichen Zeit stellten andere Wissenschaftler ganz irdisch ebenso tief greifende, beunruhigende Fragen nach dem Wesen der Mate rie und den Grundprinzipien von Wandel und Kausalität. Die gerade entstehende Wissenschaft der Paläontologie spielte für diese Neukonstruktion der Realität eine bedeutende Rolle, insbesondere weil sie entscheidende Befunde zur Beilegung der beiden großen Debatten lie ferte, die den Berufsstand zu Stellutis und Galileis Zeit Umtrieben und eigentlich sogar definierten (Näheres zu diesem Thema in Kapitel 1): 1. Was stellen Fossilien dar? Handelt es sich immer um die Überreste von Lebewesen früherer Zeiten, die im Gestein eingeschlossen wurden, oder können sie auch anorganisch als Produkte formender Kräfte aus dem Mi neralreich entstanden sein? (Auch regelmäßige Formen wie die Kristalle und komplizierte Gebilde wie die Stalaktiten können anorganisch entste hen; warum soll man also die Möglichkeit ausschließen, dass andere ver steinerte Körper, die große Ähnlichkeit mit Tieren oder Pflanzen haben, ebenso als Produkte aus dem Mineralreich hervorgehen können?) 2. Wie soll man natürliche Objekte anordnen und einteilen? Ist die Natur in ihrem Aufbau ein einziges Kontinuum der Komplexität und Lebens kraft, eine Seinskette, die sich lückenlos vom unbelebten, formlosen Schlamm und Lehm bis zum Gipfel des Menschlichen erhebt, ja vielleicht sogar bis zu Gott selbst? Oder lassen sich die natürlichen Gegenstände in scharf abgegrenzte, ein für alle Mal festgelegte Bereiche einordnen, die jeweils durch so unterschiedliche Strukturprinzipien definiert sind, dass man sich zwischen ihnen keine Übergangsformen vorstellen kann? Oder, konkreter formuliert: Entspricht die alte Dreiteilung in Mineral-, Tierund Pflanzenreich drei lose abgegrenzten Regionen innerhalb eines einzi gen Kontinuums (wobei es zwischen zwei Bereichen jeweils auch Übergänge gibt), oder handelt es sich um drei völlig verschiedene Seinsformen, die als Unterscheidungsprinzipien für drei einzigartige Kategorien natür licher Objekte dienen? Cesi hatte immer energisch und mit großer Beredsamkeit die Ansicht vertreten, die Untersuchung kleiner Gegenstände auf der Erde könne ebenso viele umwälzende Erkenntnisse liefern wie Galileis Himmelsbetrachtung.
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Mit anderen Worten: Das Mikroskop war in seinen Augen genauso wertvoll wie das Teleskop. Cesi schrieb: Wenn wir nicht die kleinsten Dinge kennen, sammeln und beherr schen, wie soll es uns dann jemals gelingen, die großen Dinge zu begreifen, ganz zu schweigen von dem größten von allen? Wir müssen höchsten Eifer und unsere ganze Sorgfalt auf die Behandlung und Beobachtung der kleinsten Gegenstände verwenden. Das größte Feuer be ginnt mit einem kleinen Funken; Flüsse werden aus winzigen Tropfen geboren, und aus Sandkörnern kann ein großer Berg entstehen. Als Cesi nun in der Nähe seines Anwesens eine rätselhafte Lagerstätte mit versteinertem Holz fand, untersuchte er mit Hilfe dieser kleinen, beschei denen Fossilien die beiden großen Fragen, die ich zuvor umrissen habe – und für beide gelangte er zu einer falschen Antwort! Er argumentierte, sein versteinertes Holz sei durch die Umgestaltung von Erde und Lehm in pflanzenähnliche Formen entstanden. Es entstamme also dem Mineralreich und sei ein Beweis, dass Fossilien anorganisch entstehen können. Seine Fossilien, so Cesi weiter, stünden also in der Mitte zwischen Mineral- und Pflanzenreich, und damit bildeten sie eine Brücke in einem reinen Kontinuum. Demnach müsse die Natur als Seinskette konstruiert sein. (Diese Haltung vertrat Cesi schon lange; man kann in ihm also kaum einen leidenschaftslosen, desinteressierten Fossilienbeobachter sehen. In seiner botanischen Klassifikation, die Stelluti 1651 schließlich veröffent lichte, ordnete er die Pflanzen in einer aufsteigenden Reihe an: von jenen, die nach seiner Deutung am stärksten den Mineralien ähnelten, bis zu Formen, die er fast für Tiere hielt.) Da Cesi seine Fossilien keinem der her kömmlichen Reiche zuordnen konnte, verlieh er ihnen einen eigenen Namen, der einen neuen Bereich zwischen Mineralien und Pflanzen bezeichnen sollte: Metallophyten. Stelluti spielte wie üblich die Rolle des treuen Jüngers: Er unterstützte in seiner Abhandlung von 1637 Cesis Argumente für die Zwischenstellung der Metallophyten und ihren Ursprung aus dem Mineralreich als umgewandelte Form von Erde und Lehm. Die Fossilien mochten wie Pflanzen aussehen, aber in Wirklichkeit entstammten sie angeblich dem erhitzten Boden der umgebenden ländlichen Region. (Dort brachte unterirdisches Magma das Wasser in bestimmten Bereichen zum Sieden und leistete so
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der Umwandlung lockerer Erde in feste Metallophyten Vorschub.) Stelluti gelangte zu folgendem Schluss: Die Entstehung dieses Holzes schreitet nicht vom Samen oder der Wur zel einer Pflanze aus fort, sondern nur aus einer Art Erde, welche stark dem Lehm ähnelt und sich in kleinen Schritten in Holz verwandelt. So wirkt die Natur, bis alle diese Erde zu Holz geworden ist. Ich glaube, dies geschieht mit Hilfe der Wärme aus den unterirdischen Feuern, welche man in diesem Gebiet findet. Um seine Behauptung zu untermauern, führte Stelluti fünf Hauptargumente an: 1. Das aus Erde entstandene fossile Holz habe stets die Form von Baumstämmen, aber nie die anderer echter Pflanzenteile: Es ist klar, dass dieses Holz nicht aus Samen, Wurzeln oder Zweigen ge boren ist wie andere Pflanzen, denn wir finden niemals Stücke dieses Holzes mit Wurzeln, Zweigen oder Nerven [den inneren Flüssigkeitsbahnen] wie bei anderen [wirklich pflanzlichen] Hölzern und Bäumen, sondern nur einfache Stämme in vielfältigen Formen. 2. Die fossilen Stämme seien nicht rund wie bei echten Bäumen, sondern zu einer ovalen Form zusammengedrückt, weil sie am Fundort aus Erde entstanden seien, die durch das Gewicht der darüber liegenden Sedimente platt gedrückt wurden (siehe die Wiedergabe von Stellutis Abbildung): Ich glaube, dass sie diese ovale Form annehmen, weil sie sich unter einer großen Erdmasse bilden müssen und nicht gegen das darüber lie gende Gewicht wachsen können, um so die gleiche kreis- oder vielmehr zylinderförmige Gestalt anzunehmen wie die Stämme echter Bäume. Ich kann deshalb zuversichtlich bestätigen, dass das ursprüngliche Ma terial dieses Holzes eine Erde von lehmiger Zusammensetzung gewesen sein muss. 3. Fünf von Stellutis Abbildungen zeigen genaue Zeichnungen der Wachstumslinien in dem fossilen Holz (die vermutlich teilweise mit Hilfe eines
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Drei Abbildungen mit fossilem Holz aus Stellutis Abhandlung von 1637.
Mikroskops angefertigt wurden). Für diese Details der inneren Struktur führt Stelluti das gleiche Argument an wie für die äußere Form der gesamten Fundstücke: Die Wachstumslinien bilden veränderliche Muster, in denen sich die unregelmäßige Entstehung aus Erde widerspiegelt, wobei das Gewicht der darüber liegenden Sedimente ihnen enge Grenzen aufer legt. Die Linien bilden nie die regelmäßigen, konzentrischen Kreise, die man in echten Bäumen beobachtet. Stelluti bezeichnet sie deshalb nicht als Wachstumslinien, sondern als onde (»Wellen«). Die Wellen und Venen sind nicht kontinuierlich und folgen nicht alle der gleichen Form wie bei [pflanzlichem] Holz, sondern sie sind in viel facher Weise geformt – manche lang und gerade, andere eingeschnürt, andere dick, andere verbogen, andere mäanderförmig... Das mineralische Holz erhält seine Form durch den Druck der umgebenden Erde und enthält deshalb Wellen von so vielfacher Form. 4. Nun folgt das Argument, das Stelluti für das stichhaltigste hält: Er behauptet, man könne viele Stücke im Übergangszustand finden, mit einigen Teilen, die noch aus formloser Erde bestehen, während andere in Ge
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stalt von Holz versteinert sind und noch andere sich vollständig in Holz verwandelt haben. Diese Stadien deutet Stelluti als echte Folge von Übergangszuständen. Über das große, am Fundort frei liegende Exemplar schreibt er: In einem Graben entdeckten wir eine lange Schicht dieses Holzes ... ziemlich fassförmig, wobei ein Abschnitt aus reiner Erde bestand, ein anderer aus mit Holz vermischter Erde und ein dritter aus reinem Holz ... Deshalb können wir es Erdholz [creta legno] nennen. Später zeichnete er einen kleineren Fund (der hier mit Stellutis Abbildung wiedergegeben ist) und behauptete: Der innere Teil besteht aus Holz und Metall, die äußere Kruste scheint aber aus rötlichem Material zu bestehen, das heißt aus gebrannter Erde wie bei Ziegelsteinen. 5. In einer letzten (und schlüssigen) Anwendung seiner empirischen Methode berichtet Stelluti über die Ergebnisse eines Experiments, das man angeblich einige Jahre zuvor angestellt hatte: Ein Stück feuchte Erde wurde aus dem Inneren dieses Holzes entnommen und in ein Zimmer des Palastes von Acquasparta gelegt, der dem Grafen Cesi gehört. Nach mehreren Monaten wurde festgestellt, dass es sich völlig in Holz verwandelt hatte – was der erwähnte Graf nicht ohne Erstaunen sah, und ebenso erstaunt waren andere, die es ebenfalls sahen. Kein Einziger zweifelte, dass die Erde der Same und die Mutter dieses Holzes war [la terra e seme e madre di questo legno]. Aus der Sicht des zwanzigsten Jahrhunderts verstehen wir ohne weiteres, warum Stelluti so in die Irre ging und seine Geschichte von hinten nach vorn las. Seine Funde waren ganz normales fossiles Holz, die Überreste urzeitlicher Pflanzen. Die Umwandlung vollzieht sich in Wirklichkeit vom Holz über die Verdrängung des Holzes durch einsickernde Mineralstoffe (Versteinerung) zur Erde, die entweder verwittertes oder abgebautes fos siles Holz darstellt oder aber schlicht um das Holz herum oder in seinem Inneren von fließendem Wasser abgelagert wurde. Mit anderen Worten:
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In seinem entscheidenden vierten Argument lässt Stelluti die Verwand lung rückwärts laufen – von der formlosen Erde zu Metallophyten, die er irgendwo zwischen Mineral- und Pflanzenreich ansiedelt. Außerdem gelten Stellutis Argumente über die Verformung durch darüber liegende Sedimente (Argumente 2 und 3) nicht nur für seine umge kehrte Abfolge, in der Metallophyten in einem eingeschränkten Raum heranwachsen, sondern ebenso gut auch für ursprünglich vorhandenes Holz, das später umgestaltet und zusammengedrückt wird. Empfindliche Teile versteinern nur selten; in der Tatsache, dass die Fundstücke sich auf Baumstämme beschränken, während Blätter und Stängel fehlen, spiegelt sich also nur der ungewöhnliche Weg der Erhaltung urzeitlicher Pflanzen wider, nicht aber Stellutis naive Vorstellung (Argument 1), die Baumstämme könnten nur dann zum Pflanzenreich gehören, wenn man auch fossile Samen oder Wurzeln findet. Und was das angeblich entscheidende Experiment (Argument 5) angeht – nun ja, was sollen wir mit einem nicht dokumentierten, dreihundert Jahre alten mündlichen Bericht anfangen, den schon Stelluti nur vom Hörensagen kannte? Dennoch spielte Stellutis Abhandlung eine große Rolle, und zwar auf der falschen Seite in der großen Debatte über das Wesen der Fossilien, die in der gesamten Naturwissenschaft des siebzehnten Jahrhunderts ein wichtiges Thema war und erst Mitte des achtzehnten vollständig beigelegt wurde (über eine späte Verteidigung aus dem Jahr 1726 berichtet Kapitel 1). In ganz Europa benutzten wichtige Autoren von Robert Plot in England (1677) bis zu Olaus Worm in Dänemark (1655) Stellutis Befunde als wichtige Begründung für ihre Ansicht, Fossilien könnten ihren Ursprung im Mineralreich haben und müssten keine Überreste von Lebewesen sein. (Stelluti beschränkte sich übrigens mit seiner Argumentation nicht auf das Holz von Acquasparta, sondern verallgemeinerte auch auf die gesamte Natur und die Stellung aller Fossilien. In einem abschließenden Argument, das auf einer verhängnisvollen Bildtafel mit Ammoniten wiedergegeben ist, stellt er die Behauptung auf, alle Fossilien gehörten zum Mineralreich und seien im Gestein herangewachsen.) Betrachtet man die Logik und Rhetorik in Stellutis Argumentation, so fallt eine einheitliche Strategie auf. Stelluti war endgültig zu einem echten Galilei-Jünger geworden: Die direkte, empirische Beobachtung hat Vor rang und wird automatisch als objektiv angesehen. Immer und immer wieder behauptet er, wir müssten seine Schlussfolgerungen anerkennen,
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weil er das Phänomen mit eigenen Augen gesehen habe, häufig sogar mehrmals im Laufe vieler Jahre. Schon früher hatte Stelluti sich dieser galileischen Rhetorik mit großem Nutzen bedient. Auf seinem wunderschönen, 1625 entstandenen Stich der drei Bienen für den Papst Urban fügte er ganz unten, knapp unter dem am stärksten vergrößerten Bienen-Beinpaar, eine kleine Anmerkung auf Latein hinzu. Mit fast den gleichen Worten, die Galilei in seinem Anagramm über den Saturn verwendete, schreibt Stelluti: Franciscus Stellutus Lynceus Fbris Microscopio Observavit – »Der Luchs Francesco Stelluti aus [der Stadt] Fabriano hat [diese Gegenstände] mit einem Mikroskop beobachtet.« Hier wenigstens hatte Stelluti seinem Freund etwas voraus – der Langsamtreter unter den Luchsen hatte exakte Beobachtungen angestellt und richtig gedeutet, Galilei dagegen war an dem viel schwierigeren Problem des Saturns gescheitert. (In dieser Anmerkung dürfte übrigens das Wort »Mikroskop« zum ersten Mal in gedruckter Form vorgekommen sein. Galilei hatte das Instrument als occhiolino – kleines Auge – bezeichnet; seine Luchskollegen prägten dann den heutigen Namen.) Aber bei Cesis Holz, wo er seinen Irrtum mit der gleichen Behauptung begründete, hatte das Glück Stelluti verlassen. Betrachten wir einmal in der Reihenfolge seines Textes ein paar typische Beispiele, wie er sich auf die unbestreitbare Stellung seiner direkten Beobachtungen beruft: Die Entstehung dieses Holzes, die ich so viele Male sehen und beobachten konnte, geht nicht von Samen aus ... Das Material dieses Holzes ist nichts anderes als Erde, denn ich habe Stücke davon gesehen [perche n’ho veduto io pezzi], bei denen ein Teil aus harter Erde und der andere aus Holz bestand. Abbildung 7 zeigt die Zeichnung des großen, ovalen Stückes, welches ich selbst aus der Erde ausgegraben habe. Die äußere Oberfläche des anderen Stückes scheint völlig aus Holz zu bestehen, wie man [in Stellutis Zeichnung] ohne weiteres erkennt. Stelluti schließt seine Abhandlung mit einer bravourösen Passage in dem gleichen Tenor: Er brauche nicht weit auszuholen, um seine Argumente zu rechtfertigen (sein Text ist auch nur zwölf Seiten lang), denn schließ lich stütze er sich ja mit seinen Arbeiten auf eigene Beobachtungen:
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Das ist alles, was ich mit größtmöglicher Kürze über dieses Material zu sagen habe, das ich so viele Male an jenen Orten sehen und beobachten konnte, wo es ein neues, seltenes, staunenswertes Phänomen natür lichen Ursprungs ist. Aber Stelluti hatte ein altes Prinzip vergessen, das sich heute in Witzen des Typs »ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht« verkörpert. Gali leis empirische Methode kann Wunder wirken. Aber kaum eine Ansicht kann stärker in die Irre führen als die unhinterfragte persönliche Überzeugung, das scheinbare Zeugnis der eigenen Augen müsse eine völlig ob jektive Wiedergabe sein, die über die eigentliche Behauptung selbst hinaus kaum einer Bestätigung bedarf. Die völlig unvoreingenommene Beobachtung ist ein Mythos und eine leere Phrase der Naturwissenschaft: Wir sehen nur das, was in unserem geistigen Rahmen Platz hat, und jede Beschreibung enthält neben der Wiedergabe des Wahrgenommenen auch eine Interpretation. Außerdem schließt unser geistiger Rahmen auch ein kompliziertes Gebäude aus gesellschaftlichen Beschränkungen, historischen Umständen und psychologisch begründeten Hoffnungen ein. Wenn wir einen scheinbaren Anblick mit notwendiger physischer Realität gleichsetzen, können wir schrecklich in die Irre gehen. Der große Galilei, einer der besten Wissenschaftler seiner Zeit und aller Zeiten, wusste, dass der Saturn – Stellutis Emblem – ein Dreifachplanet sein muss, weil er an dem entferntesten Planeten mit guten Augen und dem besten Teleskop seiner Zeit etwas Entsprechendes beobachtet hatte, aber er hatte es mit einem Geist beobachtet, in dem für Ringe um eine Himmelssphäre kein Platz war. Stelluti wusste, dass das fossile Holz aus Erde und dem Mineralreich hervorgehen muss, weil er mit seinen eigenen Augen gute Beob achtungen angestellt hatte und dann eine richtige Abfolge in seinem Geist falsch herum ablaufen ließ. So trickste die Natur zwei Luchse aus – und zwar bei Behauptungen, die für ihre Laufbahn von entscheidender Bedeutung waren. Beide Männer waren überzeugt, dass Hinsehen allein ausreicht, obwohl die richtige Lösung in Wirklichkeit auch das Hinterfragen geistiger Einstellungen und Einschränkungen verlangt. Eine letzte Ironie des Schicksals: Cesi hatte den Luchs, das Emblem der Gesellschaft von Stelluti und Galilei, als Vorbild für diese umfassendere, doppelte Denkweise ausgewählt. Der Herzog von Acquasparta benannte
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seine Akademie nach einer wilden, listigen Katze, die in der Legende schon lange den ehrenvollen Ruf genoss, unter allen Tieren den schärfsten Blick zu haben. Damit traf Cesi eine gute, hintersinnige Wahl, und das aus einem nahe liegenden, offenkundigen Grund. Für den Scharfblick des Luchses sind zwei einander ergänzende Tugenden verantwortlich: gutes Sehvermögen und tiefe Einsicht, außen und innen, Auge und Geist. Cesi übernahm das Emblem seiner neuen Gesellschaft von der Titel seite der Natürlichen Magie von Giambattista Della Porta (Ausgabe 1589). Dort steht das gleiche Bild eines Luchses unter dem Motto: aspicit et inspicit – wörtlich übersetzt heißt das »er blickt an und er blickt hinein«, aber in übertragener Bedeutung wird damit das doppelte Ideal von Beobachtung und Experiment formuliert. Der spätere fünfte Luchs, ein lebendes Überbleibsel der alten Denkweise, hatte also den reichhaltigeren neuen Weg zusammengefasst: die Kombination von Einsicht mit – wenn man so will – »Aussicht« oder Beobachtung. Dieses Ideal formulierte Cesi 1616 in einem Dokument, mit dem die Regeln und Ziele der Luchse fest geschrieben wurden: Um in diesem großen, wahren und universellen Buch der Welt zu lesen, müssen wir alle seine Teile aufsuchen und uns sowohl mit Experimenten als auch mit Beobachtungen beschäftigen, um mit diesen beiden guten Hilfsmitteln zu einer scharfsinnigen, tiefgründigen Betrachtung zu gelangen, welche die Dinge zuerst so darstellt, wie sie sind und sich unterscheiden, und dann feststellt, wie wir sie verändern und abwan deln können. Wenn wir gewillt sind, das gesamte Universum als potenzielle Domäne von Wissen und Erkenntnis zu betrachten – oder mit anderen Worten: wenn wir alle Größenmaßstäbe nutzen wollen, die uns sich durch Galileis berühmte Instrumente – das Teleskop und das Mikroskop – erschließen, sollten wir dazu alle Hilfsmittel der Wahrnehmung und des Denkens einsetzen, die ein paar Milliarden Jahre der Evolution unserem hinfälligen Körper mitgegeben haben. Dazu ist das Symbol des Luchses, der von außen scharf sieht, aber auch von innen zutiefst versteht, nach wie vor un ser bester Leitfaden. Stelluti formulierte diese Fülle, diese Dualität auf seine wunderschön poetische Weise mit einer Lobpreisung des Luchses. Sie erschien 1630 in seinem zweiten Hauptwerk, den Übersetzungen des
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Dichters Persius. Cesi hatte den Luchs wegen seiner sagenumwobenen Sehschärfe ausgewählt, aber Stelluti fügte hinzu: Nicht nur die äußeren Augen, sondern auch der Geist, welcher zur Be trachtung der Natur so notwendig ist, wie wir gelehrt haben und wie wir es praktizieren, wenn wir danach streben, zum Inneren der Dinge vorzudringen, die Ursachen und Wirkungsweisen der Natur kennen zu lernen ... genau wie der Luchs mit seiner überlegenen Sehschärfe, der nicht nur sieht, was außerhalb ist, sondern der auch bemerkt, was von innen aufsteigt.
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3. Wie der Vulvastein zum Armfüßer wurde Die Renaissance stellen wir uns meist als klaren, schäumenden Fluss der Neuerungen vor, der den mittelalterlichen Damm der verkrusteten Gelehrsamkeit durchbrach. Aber die meisten, die zu dem großen Gären beitrugen, nannten als Motiv nicht das Streben nach Neuem, sondern ge nau das Gegenteil. Wie der Name der Epoche schon andeutet, blickten Denker und Handelnde der Renaissance nicht nach vorn, sondern rück wärts; sie wollten jene angebliche geistige Vollkommenheit wieder ent decken und wieder einführen, die man in Athen und Rom erreicht hatte und die in einer heruntergekommenen abendländischen Kultur in Ver gessenheit geraten war. Dass irgendjemand einmal Francis Bacon (1561-1626) als bescheide nen Menschen bezeichnet hat, bezweifle ich. Aber selbst die Muse des Ehrgeizes musste sicher über sein unverfrorenes Auftreten schmunzeln, als dieser wichtigste britische Philosoph seit dem Tod von John Ockham (1347), der auch englischer Schatzkanzler war und den finanzielle Unregelmäßigkeiten zu Fall brachten, »das ganze Wissen« zu seiner »Provinz« erklärte und sein Vorhaben bekannt gab: Er wollte eine »Great Instaura tion« (laut Webster’s Dictionary die »Wiederherstellung nach Verfall, Zu sammenbruch oder Zerstörung«) schreiben, um die fruchtbaren Regeln der Vernunft schriftlich niederzulegen und alle nützlichen Ergebnisse zusammenzufassen. Am Beginn einer geistigen Strömung, aus der die moderne Naturwissenschaft hervorgehen sollte, verneinte Bacon als metho dischen Ausgangspunkt sowohl die scholastische Ansicht, die Wissen mit Beibehaltung gleichsetzte, als auch die Reformen der Renaissance, die nach einer längst verloren geglaubten Vollkommenheit strebten. Unter natürlichem Wissen, so seine Behauptung, müsse man etwas völlig Neues verstehen: einen Prozess der einander ergänzenden Entdeckungen, vor
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angetrieben durch das vernunftbegabte menschliche Gehirn, das sinnliche Eindrücke aus der Außenwelt auswertet. Aristoteles’ Schriften über Logik hatte man zu einem Sammelwerk mit dem Titel Organon (»Werkzeug«) zusammengestellt. Mit dem ihm eige nen Überschwang bezeichnete Bacon das zweite Buch seiner großen Wiederherstellung als Novum Organumy neues Werkzeug der Vernunft – denn der Übergang zu dem ganz anderen Ideal des kumulativen Wissens, das in immer größeren Kenntnissen über die äußere Realität wurzelt, erforderte nach seiner Überzeugung auch eine neue Überprüfung von Logik und Vernunft selbst. Am Anfang des Novum Organum untersuchte Bacon des halb, welche Hindernisse dem Erwerb detaillierten, empirischen Wissens über die Welt im Wege stehen. Um solche Einschränkungen zu erkennen, bedurfte es keiner neuen Einsichten. Schon Aristoteles hatte die häufigs ten logischen Fallstricke im menschlichen Denken klassifiziert, und die äußeren Beschränkungen durch fehlende Daten – Sterne, die so weit ent fernt waren, dass man sie (selbst mit Galileis neu erfundenem Teleskop) nicht im Einzelnen untersuchen konnte, oder Städte, die es schon so lange nicht mehr gibt, dass keine Spuren von ihnen geblieben sind – erkannte ohnehin jeder an. Dennoch legte Bacon eine scharfsinnige, originelle Analyse vor, weil er sich auf die psychologischen Schranken der Erkenntnisse über die Natur konzentrierte. Er stellte sich die Erforschung der Natur als Verarbeitung der Sinneseindrücke durch geistige Mechanismen vor, und dabei erkannte er, dass die inneren Hindernisse im zweiten Stadium ebenso hoch sein können wie die äußeren Grenzen der Sinneswahrnehmung. Ebenso be griff er, dass die Domäne der geistigen Blockaden sich weit über die kalte, abstrakte Logik der aristotelischen Vernunft hinaus bis in unser Innen leben mit seinen Ängsten, Hoffnungen, Bedürfhissen, Gefühlen und den konstruktionsbedingten Grenzen des Geistesapparats erstreckt. Zur Klas sifikation dieser psychologischen Barrieren entwickelte Bacon eine treffende Metapher. Er bezeichnete die Hindernisse als »Götzenbilder« (idola) und unterschied bei ihnen vier Hauptkategorien: idola tribus (Götzenbilder des Stammes), idola specus (der Höhle), idola fort (des Marktes) und idola theatri (des Theaters). Auf dem Weg vom Speziellen zum Allgemeinen stehen an erster Stelle die Götzenbilder der Höhle, das heißt die Besonderheiten jedes einzelnen Menschen. Der eine gerät in Panik, wenn er eine mathematische Formel
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sieht, der andere unternimmt aus Gründen, die mit Unterdrückung in der Kindheit und einem entsprechenden Grundtemperament zu tun haben, niemals das Wagnis, mit seinen ausgesprochenen Gedanken die herge brachte Ordnung in Frage zu stellen. Die Götzenbilder des Marktes, vielleicht Bacons originellster Begriff, bezeichnen die von der Sprache auf erlegten Beschränkungen – wie können wir etwas ausdrücken oder formulieren, wenn es mit den Worten unserer Sprache nicht zu bezeich nen ist? (In der Kurzgeschichte »Averroes auf der Suche« malt sich Jorge Luis Borges – der Bacons Werke schätzte und diese Erzählung vielleicht schrieb, um die Götzenbilder anschaulich zu machen – die vergeblichen Bemühungen des größten arabischen Aristoteles-Kommentators aus, die Schlüsselbegriffe »Tragödie« und »Komödie« zu verstehen und zu übersetzen; beide konnte man in Averroes’ Kultur nicht ausdrücken, ja noch nicht einmal gedanklich erfassen.) Bei den Götzenbildern des Theaters handelt es sich um die offenkundigste Kategorie von Hindernissen: jene, die aus älteren Denkschulen erwachsen. Es wird uns entsetzlich schwer fallen, den Darwinismus zu be greifen, wenn wir eisern und unhinterfragt an der »alten Religion« festhalten und den Schöpfungsbericht wörtlich nehmen, in dem die Erde nur ein paar tausend Jahre alt ist und alle Lebewesen von einer Gottheit an sechs Tagen mit je 24 Stunden aus dem Nichts erschaffen wurden. Die Götzenbilder des Stammes schließlich – unseres Stammes, des Homo sapiens – sind jene Schwächen und Denkfehler, die über die Besonderheiten der einzelnen Kulturkreise hinausgehen und die ererbten Strukturen und Funktionsweisen unseres Gehirns widerspiegeln. Mit anderen Worten: Die Götzenbilder des Stammes wurzeln tief im Aufbau dessen, was wir als »Wesen des Menschen« bezeichnen. Besonders weist Bacon in seinen Beispielen auf zwei Götzenbilder des Stammes hin: erstens auf unsere Neigung, alle Phänomene in unserem räumlich und zeitlich unendlichen Universum mit altvertrauten Prinzipien zu erklären, die wir als einzige aus der unmittelbaren Erfahrung unseres eigenen Körpers kennen, obwohl dieser nur ein paar Jahrzehnte lebt und ein bis zwei Meter groß ist. Und zweitens auf unseren Hang, aus begrenz ten, voreingenommenen Beobachtungen allgemeine Schlüsse zu ziehen, wobei wir offenkundige Informationsquellen übersehen, wenn sie sich unseren Sinnen nicht gerade aufdrängen. Bacon nennt dafür ein liebenswür diges Beispiel: eine Kultur, nach deren Überzeugung der Meeresgott das
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Gebet schiffbrüchiger Seeleute erhört und sie rettet. Als Beleg dient die Aussage der geretteten Matrosen. Als man einen Skeptiker mit diesem Be weis konfrontiert und ihn fragt, ob er nun nicht »das Walten der Götter anerkenne«, kommt als Antwort die Gegenfrage: »Wo sind denn jene verzeichnet, die trotz ihrer ausgesprochenen Gelübde dennoch untergegangen sind?« In einer 1674 erschienenen englischen Übersetzung seiner Großen Erneuerung der Wissenschaften definiert Bacon die Götzenbilder in seiner typischen, sarkastischen Prosa so: Götzenbilder sind die schwerwiegendsten Fallstricke des menschlichen Geistes. Sie täuschen nicht nur über die Umstände [das heißt über die Gegenstände der Außenwelt] ... sondern bilden eine fehlerhafte, ver zerrt eingestellte Geisteshaltung; welche dann alle Voraussagen des Ver standes verdreht und untergräbt. Denn der menschliche Geist ... ist weit davon entfernt, wie ein glatter, ebenmäßiger, klarer Spiegel zu sein, welcher die Strahlen der Dinge je nach ihrem wahren Auftreffen ehrlich aufnimmt und zurückwirft; er gleicht vielmehr einem Zauberspiegel voller Aberglauben, Erscheinungen und Betrug. (Der Bacon-Übersetzer Gilbert Wats bezeichnet seinen Autor als »gelehr ten Mann, ohne weiteres der gelehrteste seit dem Zerfall des griechischen und römischen Reiches, als das Lernen einen hohen Stellenwert hatte«. Wats wusste auch Bacons charakteristischen Denkansatz zu schätzen, mit dem er das entstehende Gebiet der modernen Naturwissenschaft als Sammeln von Wissen über die empirische Welt definierte, wobei die Sinnesinformationen den voreingenommenen Apparat des menschlichen Geistes durchlaufen. Nach Wats’ Worten führte Bacon »als Erster die ver nünftige und experimentelle Philosophie zu regelmäßigem Austausch zusammen, wo zuvor entweder Spitzfindigkeiten der Worte oder Verwirrung über die Materie herrschten«. Anschließend fasst er Bacons Ansicht in einem faszinierenden Bild zusammen: »Denn die Wahrheit, wie sie auf uns zurückstrahlt, ist eine deckungsgleiche Übereinstimmung des Geistes mit dem Objekt... wo der geistige Globus und der Globus der Welt ihre Strahlen und Ausstrahlungen vermischen und in gerader Linie der Pro jektion die Wissenschaft hervorbringen.«) Wenn unser erstes Götzenbild sich in dem alten griechischen Sprichwort verkörpert, der Mensch sei das Maß aller Dinge, sollten wir uns nicht
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darüber wundern, dass wir in fast allen Errungenschaften die Spuren unseres Körpers wiederfinden, sogar (oder gerade) in unseren abstrakten Begriffen, so in der Stärke oder Virilität (vom lateinischen vir, »erwachse ner Mann«), in der Unreife der Infantilität (von lateinisch infans, »kleines Kind«) und der Verrücktheit oder Hysterie (die man ursprünglich für eine rein weibliche Krankheit hielt, abgeleitet von dem griechischen Wort für »Mutterleib«). Wenn wir solchen geschlechtsspezifischen Klischees zu Recht eine Absage erteilen, finden wir zumindest einen etwas seltsamen Trost in einer allgemeinen Regel der meisten indoeuropäischen Sprachen (allerdings nicht des Englischen), wonach auch unbelebten Gegenständen ein Geschlecht zugeschrieben wird. Abstrakte Begriffe sind dabei in der Regel weiblich – die edle (männliche) Tugend heißt in Frankreich la vertu, und auch die noch eindeutiger männliche Eigenschaft der Virilität ver kleidet sich wie ein Transvestit als la virilite. In eine noch tiefere Ebene können wir nach meiner Überzeugung vordringen, wenn wir Götzenbilder des Stammes erkennen, die vermutlich in der durch Evolution entstandenen, ererbten Struktur unserer Nervenverdrahtung wurzeln – in dem ganz grundlegenden, inneren Nährboden der »menschlichen Natur« (wenn dieser schlecht definierte, überstrapazierte und vielfach missbrauchte Begriff überhaupt etwas bedeutet). Manche Aspekte unseres Denkens scheinen so allgemein gültig, so bei allen Men schen verbreitet zu sein, dass ein Ursprung in der Evolution zumindest als vorläufige Hypothese plausibel erscheint. In der Neurologie hat man bei spielsweise Gehirnfelder identifiziert, die offensichtlich der Wahrneh mung von Gesichtern dienen. (Über den Wert einer solchen Neigung in der Evolution kann man ohne weiteres Spekulationen anstellen, anderer seits müssen wir auch zur Kenntnis nehmen, dass eine solche innere Vor eingenommenheit bei der Wahrnehmung unser Urteil auch unter anderen Umständen stark verzerren kann – das war der Grund, warum Bacon solche geistigen Vorlieben als Götzenbilder bezeichnete: Wir glauben bei spielsweise in den zufälligen Vertiefungen eines Sandsteinblocks auf dem Mars ein Gesicht zu erkennen und ziehen daraus sofort Schlussfolgerungen über außerirdische Zivilisationen. Diese Geschichte habe ich mir übrigens nicht ausgedacht; das Gesicht auf dem Mars ist auch heute noch ein Standard»beweis« der UFO- und Alien-Anhänger.) Nach meiner Ver mutung wird der Gehirnmechanismus zur Erkennung von Gesichtern durch das abstrakte Muster zweier gleich großer, nebeneinander liegender
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Kreise mit einer Linie darunter aktiviert – eine Anordnung, die man nicht nur in echten Gesichtern, sondern auch in vielen anderen Zusammen hängen findet. In dieser »tieferen« Kategorie der Stammes-Götzenbilder gibt es nach meiner Überzeugung kaum eine Regel, die häufiger angewandt wird und gleichzeitig zu größeren Schwierigkeiten führt als unsere Neigung, die Natur durch Zweiteilung jeweils in zwei einander gegenüberstehende Gruppen zu unterteilen. (Claude Levi-Strauss und die französischen Strukturalisten bauten auf dieser Voraussetzung eine ganze Theorie der menschlichen Natur und Gesellschaftsgeschichte auf – und irgendetwas in mir sagt, dass sie Recht haben, wenn sie auch die Anwendung vielleicht ein wenig zu weit treiben.) Wir gehen also von wenigen grundlegenden Unterteilungen wie männlich und weiblich oder Nacht und Tag aus und übertragen diese konkreten Beispiele dann auf allgemeinere Dinge wie Natur und Kultur (»das Rohe und das Gekochte« in dem Buch von LeviStrauss), Geist und Materie (im philosophischen Dualismus), Schönes und Erhabenes (in Burkes Theorie der Ästhetik); anschließend sind (heute oft mit tragischen Folgen) ethische Überzeugungen, Ausgrenzung sowie manchmal Krieg und Völkermord an der Reihe (Gut gegen Böse, das Göttliche, das über das Teuflische siegen muss, lebensunwertes Leben). Über die entwicklungsgeschichtlichen Wurzeln einer derart starken Neigung kann man wiederum nur spekulieren. In diesem Fall habe ich so gar den Verdacht, dass die Zweiteilung einen »Ballast« aus einer früheren Evolutionsphase mit einem viel einfacheren Gehirn darstellt; dieses Gehirn war vielleicht nur für jene schnellen Entscheidungen konstruiert – flüchten oder kämpfen, schlafen oder wach bleiben, sich paaren oder noch abwarten –, die in einer darwinistischen Welt über alles oder nichts ent scheiden. Vielleicht konnten wir nie die Mechanismen eines Apparates hinter uns lassen, der zur Erzeugung einfacher Zweiteilungen konstruiert war, sodass wir später alles, was komplexer war, auf einem derart vorge prägten, unzureichenden Fundament aufbauen mussten – auf diesem Götzenbild des Stammes, das uns von allen vielleicht am stärksten ein schränkt. Ich habe den ersten Teil des vorliegenden Essays einer allgemeinen Beschreibung unserer geistigen Einschränkungen gewidmet, weil dieser Rahmen nach meiner Überzeugung besonders gut ein besonderes Pro
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blem in der Geschichte der Paläontologie deutlich macht, das meine Fan tasie und Aufmerksamkeit nicht nur wegen seines eigenen, fesselnden Charakters anregt, sondern auch, weil es einen hervorragenden »Testfall« für eine wichtige allgemeine Gesetzmäßigkeit beim Wachstum der natur wissenschaftlichen Kenntnisse darstellt. Die klassischen Autoren und insbesondere Plinius in seiner Naturge schichte äußerten sich nur sehr sparsam über Fossilien; die Tatsache, dass man Muschelschalen auf Bergen fand, führten sie zu Recht darauf zurück, dass ein früherer Meeresboden später in die Höhe gehoben wurde. Im Mittelalter fügten wenige Autoren (insbesondere Albertus Magnus im 13. Jahrhundert) einige Kommentare hinzu, und Leonardo da Vinci beschrieb in seinem Codex Leicester (der Anfang des 16. Jahrhunderts entstand) umfangreiche, scharfsinnige paläontologische Beobachtungen, die aber erst im 19. Jahrhundert veröffentlicht wurden und deshalb die weitere Entwicklung dieses Wissenschaftsgebietes nicht beeinflussten. Die Geschichte der modernen Paläontologie begann demnach eigentlich erst Mitte des 16. Jahrhunderts mit zwei großen Werken herausragender Gelehrter. Die eine der beiden Abhandlungen über Fossilien brachte der deutsche Arzt und Bergbauingenieur Georgius Agricola 1546 heraus; die andere, verfasst von dem Schweizer Universalgelehrten Conrad Gesner, erschien 1565 (dem Jahr, als er in Zürich einer Pestepidemie zum Opfer fiel). In dem Nachschlagewerk mit latinisierten Trivialnamen, die damals zur Benennung von Fossilien dienten, beziehen sich die meisten Bezeichnungen entweder auf eine äußere Ähnlichkeit mit einem Natur- oder Kulturphänomen, oder sie weisen auf einen vermuteten, sagenhaften Ursprung hin. Die flachen, kreisförmigen Teile der Stämme von Haarsternen wur den als trochites (Rädersteine) bezeichnet; die Vertiefungen im Inneren ruhender Muschelschalenpaare wurden zu bucardites oder Stierherzen (siehe die 1665 erstmals erschienene Abbildung); abgerundete Versteine rungen der richtigen Größe nannte man enorchites oder Hodensteine (und wenn drei von ihnen verbunden waren, sprach man von triorchites oder »drei Bällen«); und Seeigelgehäuse nannte man brontia (Donnersteine), weil sie angeblich bei Gewittern vom Himmel fielen. Eine auffällige Gruppe von Fossilien stellte (wie wir noch genauer erfahren werden) für die ersten Paläontologen ein Rätsel dar. Man taufte sie auf den Namen hysterolithes, und umgangssprachlich wurden sie auch als
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Frauensteine, Gebärmuttersteine, Muttersteine oder Vulvasteine bezeichnet (wobei der wissenschaftliche Name auf die gleiche Wurzel zurückgeht wie das Wort hysteria, das zuvor bereits als Beispiel zitiert wurde). Der Grund für diese übereinstimmende Benennung wird an der ersten jemals veröffentlichten Zeichnung eines Hysterolithen deutlich – sie stammt von dem dänischen Naturforscher Olaus Worm und erschien 1665. Ein auf fälliger Schlitz in der Mitte eines runden, abgeflachten Gegenstan des – oder manchmal auch auf bei den Seiten – legte zwangsläufig den anatomischen Vergleich nahe – oder, um Worms eigene Worte zu zitieren, »quod muliebre pudendum figura exprimat« (»weil seine Form den weiblichen Geschlechtsorganen ähnelt«). Interessant ist, was man in Worms zweiter Abbildung erkennt: Die Rückseite mancher (aber nicht aller) Hysterolithen scheint das nicht ganz so gut zu erkennende Abbild der männlichen Entsprechung zu sein! Die Autoren, die mit ihren Werken die moderne Paläontologie begründeten, konnten über ein derart anregendes Objekt unmöglich hinwegsehen (insbesondere in einer Epoche, die kaum Gelegenheiten für gesellschaft-
Die erste Abbildung eines Hysterolithen oder »Vulvasteins« von Olaus Worm. In Wirklichkeit handelt es sich um den inneren Abdruck eines Armfüßers.
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lich akzeptierte, legale Erörterungen und Abbildungen derart intimer Gegenstände bot). Dieser Essay soll keine Rätselgeschichte werden; deshalb verderbe ich hier auch nicht den Spaß, sondern ich unterstreiche (hoffentlich) das beabsichtigte intellektuelle Thema, indem ich die Lösung vorwegnehme. Hysterolithen sind Abdrücke der Innenseite bestimmter Armfüßer gehäuse (ganz ähnlich wie die zuvor erörterten und abgebildeten Bucarditen, die als Abdrücke des Inneren bestimmter Muschelschalen entstan den sind). Die Armfüßer oder Brachiopoden sind mit den Muscheln nicht nur eng verwandt, sondern sie bringen auch wie diese zwei konvexe Halb schalen hervor, die sich mit Hilfe eines Scharniers an einer Seite des Gehäuses öffnen und ihre Kanten beim Schließen auf ihrer ganzen Länge aneinander legen. Wenn man also einen Abdruck herstellen will und dazu Gips in das geschlossene Gehäuse füllt, erhält man ein Gebilde ungefähr in der Form einer abgeflachten Kugel, wobei die Stärke der Abflachung vom Ausmaß der konvexen Wölbung des Gehäuses abhängt. Stark gewölbte Gehäuse (zum Beispiel die Muschelschalen, in denen die Bucarditen entstanden sind) erzeugen einen fast kugelförmigen Abguss, bei sol chen mit geringerer Wölbung – darunter die meisten Armfüßer und alle Gruppen, die Hysterolithen hervorbringen – ist er flacher. Da ein Abdruck die umgebenden Formen immer als Negativ wiedergibt, ist auch die vielsagende Gestalt der Hysterolithen ein umgekehrtes Abbild des Armfüßergehäuses. Der Spalt, der an eine Vulva erinnert und den Hysterolithen ihren Namen gab, ist der Negativabdruck einer schma len, vorstehenden Kante, der so genannten Mittelscheidewand, die sich in der Mitte vieler Brachiopodengehäuse von oben nach unten zieht und es eigentlich in zwei Hälften teilt. Die weniger gut ausgeprägten »männlichen« Merkmale auf der anderen Seite des Hysterolithen bilden als Positivform eine zylinderförmige Vertiefung im Inneren des Gehäuses ab, die bei manchen Armfüßergruppen einen Teil des Weichkörpers beher bergt (dieser ist vom Gehäuse getrennt und versteinert nur selten). Bis Mitte des 18. Jahrhunderts waren die Paläontologen übereinstim mend zu der richtigen Schlussfolgerung gelangt. Sie wussten, dass Hysterolithen die Abdrücke vom Inneren der Armfüßergehäuse sind, und hat ten sogar herausgefunden, welche Brachiopodenarten solche Abdrücke hinterließen. Und natürlich hatten sie auch erkannt, dass die zugegebenermaßen verblüffende Ähnlichkeit mit menschlichen Geschlechtsorga
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nen einen reinen, seltsamen Zufall ohne jeden Kausal- oder sonstigen Zu sammenhang darstellt. Die Geschichte der Hysterolithen liefert uns also ein sauberes, klares, besonders schönes Beispiel, wie Wissenschaft im besten Fall funktioniert. Dazu brauchen wir uns nur an das zu halten, was sie nach der üblichen Definition ausmacht und ihre Besonderheit ist: ein Verfahren, das dem schönsten aller Ziele gewidmet ist, dem Aufbau eines zutreffenden Stücks Wissen über die Natur. Diese Odyssee durch zwei Jahrhunderte und mehrere interessante Stadien verläuft von der verwunderten Unkenntnis in Agricolas erster Erwähnung von 1546 bis zu Linnés nicht mehr angefoch tener Meinung 1753. In ihren großen Umrissen möchte ich diese Geschichte sicher nicht in Frage stellen. Agricola und Gesner verfügten nur über wenige Anhaltspunkte und mussten sich zwischen zahlreichen Al ternativen entscheiden; das Spektrum reichte von der richtigen Antwort, die sich am Ende durchsetzte, über eine Hypothese der anorganischen Entstehung durch formende Kräfte im Gestein bis zur Entstehung durch verschiedene altertümliche Tiere, wobei der Stein als sinnhaltiges Symbol sogar Leiden der menschlichen Geschlechtsorgane heilen oder lindern kann. Die richtige Antwort erfüllte sicher nicht alle Hoffnungen der Men schen, aber Hysterolithen sind tatsächlich die Abdrücke von Armfüßern, und die Wissenschaft lieferte die Hilfsmittel, mit der man zu der richtigen Antwort gelangte. Eines allerdings zweifle ich an: die übliche Lesart, wonach solche ech ten wissenschaftlichen Fortschritte eine einfache Übung im Faktensam meln durch genaue Beobachtung sind, in Verbindung mit der Vorstellung, dabei dienten objektive, als naturwissenschaftliche Methode bezeichnete Denkweisen als Richtlinie. Nach diesem altbekannten Bild erwuchs die Naivität eines Agricola und Gesner aus dem Mangel an genauen Kennt nissen, nicht aber aus geistigen Schwächen oder Barrieren. So betrachtet, wären die Gelehrten des 16. Jahrhunderts schlicht Miniaturausgaben heutiger Wissenschaftler, und ihre Verkleinerung ergibt sich aus alledem, was sie nicht wissen konnten und was wir seither gelernt haben, weil wir meh rere Jahrhunderte später leben und die Früchte des wissenschaftlichen Fortschritts genießen können. Aber wir sollten die beiden scharfsinnigen Männer und ihre interessante Zeit nicht auf diese Weise kleiner machen, als sie sind. Gesner und Agricola stehen nicht niedriger als wir; sie waren nur anders (wobei sie zweifellos gewiefter waren als die große Mehrheit
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von uns), weil sie die Welt aus einem völlig anderen Blickwinkel betrach teten, der uns, wenn wir ihn verstünden, faszinierend erscheinen würde. Mir gefällt Bacons Metapher von den Götzenbildern vor allem deshalb, weil wir mit diesem Hilfsmittel zu einer besseren Einschätzung für die Komplexität kreativen Denkens gelangen können; ebenso erkennen wir mit ihrer Hilfe besser die Ähnlichkeiten zwischen der Denkweise, die wir heute als Naturwissenschaft bezeichnen, und allen anderen Formen der Erkenntnisse und Entdeckungen (wobei ich natürlich anerkenne, dass die Naturwissenschaft in bestimmten Bereichen die Vorherrschaft hat und bestimmte Ziele verfolgt, indem sie den tatsächlichen Charakter einer »realen« Außenwelt verstehen will). Nach Bacons Argumentation müssen wir die Sinneseindrücke über unsere Welt mit geistigen Mechanismen fil tern, und diese inneren Mechanismen arbeiten immer unvollkommen, weil Götzenbilder ihre Tätigkeit beeinträchtigen. Entdeckungen erwachsen also aus der komplizierten Verflechtung zwischen solchen inneren und äußeren Bestandteilen, und nicht durch die Anhäufung eines Tatsa chen-Inputs aus der Außenwelt, der über Jahrhunderte hinweg durch den allgemein gültigen, unveränderlichen Apparat einer wissenschaftlichen Logik verarbeitet wird. Gesner legte bei seinen Entscheidungen nicht die gleichen Kriterien an wie wir heute, und deshalb kann man den Unterschied zwischen ihm und uns nicht darauf zurückführen, dass er über einen winzigen Maulwurfs hügel aus verlässlichen Tatsachen verfügte, während uns ein riesiger Berg zur Verfügung steht. Die Götzenbilder wirkten in ihm vielmehr zusam men (wie auch in uns, nur dass daraus bei uns andere Blockaden erwach sen) und ließen einen andersartigen Verarbeitungsapparat entstehen. Wissenschaft gedeiht nicht nur durch die Ansammlung neuer Tatsa cheninformationen, sondern ebenso auch durch die immer neue Feinab stimmung – oder die Zerstörung mit anschließendem Wiederaufbau – solcher geistigen Apparate. Das funktioniert nicht so, dass Wissenschaftler einfach eine ausreichende Zahl von Fossilien beobachten und klassifizieren, bis schließlich eines Tages die Stellung der Hysterolithen als Abdrücke von Armfüßern deutlich wird; vielmehr müssen unsere Theorien über das Wesen der Realität und die Bedeutung von Erklärungen zunächst auseinander genommen und wieder zusammengesetzt werden; erst dann können wir das geistige Haus bauen, das solche Informationen aufnimmt. Und ein gelungener Neubau erfordert vor allem, dass wir die Bacon’schen
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Götzenbilder in unserem eigenen Innenleben zur Kenntnis nehmen, überprüfen und in Frage stellen. Ich habe zu Anfang die Ansicht vertreten, dass man die Bacon’schen Götzenbilder nach ihrer Allgemeingültigkeit anordnen kann. Als ich die Entwicklung dieser inneren Aspekte während der Lösung der Hystero lithenfrage nachvollzog, fiel mir ein interessanter Ablauf bei der Lösung der Blockaden auf: Während die Paläontologen im Laufe von zwei Jahrhunderten der richtigen Antwort immer näher kamen, wurden die Göt zenbilder vom Umfassendsten bis zum Speziellsten entlarvt. Vielleicht müssen wir erst auf die richtige Goldader stoßen, bevor wir einen einzelnen Klumpen von großem Wert ausfindig machen können. 1. Götzenbilder des Stammes im 16. Jahrhundert. Gesner und Agricola ent decken Plinius und die drei Zweiteilungen wieder. Die Geschichte der Hysterolithen beginnt vor so langer Zeit, wie die schriftlich niedergelegte Geschichte der Paläontologie überhaupt zurückreicht, und sie geht so tief, wie man in das umfassendste und allgemeinste Stammes-Götzenbild vordringen kann: in unsere Neigung zu Zweiteilun gen. Der große römische Staatsmann und Naturhistoriker Plinius der Äl tere, der beim Ausbruch des Vesuv 79 n. Chr. eines gewaltsamen Todes starb, schrieb ein großes Werk über die Natur, das vor Gutenberg mehr als 1000 Jahre lang in Form unzähliger handgeschriebener Kopien von Mön chen und anderen Gelehrten überlebte, bevor es in den ersten Jahrzehnten nach Erfindung des Buchdrucks zu einem der am weitesten verbreite ten Bücher überhaupt wurde. (Bücher, die vor 1500 gedruckt wurden, bezeichnet man als Inkunabeln, das heißt »aus der Wiege«.) Agricola und Gesner, die sich als Renaissancegelehrte der Wiederent deckung antiker Weisheit gewidmet hatten, waren vor allem bestrebt, ihre Fundstücke (und deren umgangssprachliche Namen) den Formen und Kategorien zuzuordnen, die Plinus in seiner Naturgeschichte erwähnt. Das 37. und letzte Buch seiner großen Abhandlung enthält eine alphabetische Liste der Gesteine, Mineralien und Fossilien, und unter dem Buchstaben D schrieb Plinius eine bemerkenswerte Zeile: »Diphyes duplex, candida et nigra, mas acfemina« – mit den Eigenschaften beider Geschlechter, weiß und schwarz, männlich und weiblich. In Plinius’ Werk gibt es keine Bilder, und deshalb wissen wir nicht genau, was für einen Gegenstand er mit dieser spärlichen Beschreibung
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meinte. Aber vor dem Hintergrund der Götzenbilder des Stammes bin ich gefesselt von dem Gedanken, dass die erste mutmaßliche Erwähnung eines Hysterolithen zwei der allgemeinsten Hindernisse aus dieser Kate gorie enthält: unsere Neigung, die Natur in allen Größenordnungen unter dem Gesichtspunkt unmittelbar bekannter Gegenstände und insbe sondere des menschlichen Körpers zu deuten, und unser Bestreben, durch Zweiteilung zu klassifizieren. Plinius nennt in einer einzigen Zeile sogar zwei ganz grundlegende Zweiteilungen: männlich und weiblich, weiß und schwarz. (In späteren Kommentaren wurde die Vermutung geäußert, Pli nius habe mit diphyes Steine gemeint, die auf der einen Seite männlich und auf der anderen weiblich aussehen – so kam es zur Gleichsetzung mit den Hysterolithen.) Darüber hinaus sollten wir festhalten, dass Plinius’ Definition unaus gesprochen auch eine dritte große Zweiteilung enthält, nämlich die von oben und unten: Hysterolithen bestehen aus zwei unterschiedlichen, ge genüberliegenden Hälften, und damit sind sie in geometrischer Form ein verblüffender, buchstäblich in Stein gehauener Ausdruck unseres stärksten geistigen Götzenbildes. Außerdem haben alle drei Zweiteilungen großes emotionales Gewicht, einerseits wegen ihrer Stellung als Archety pus einer Ideologie, andererseits aber auch, weil sie die herkömmliche Rangordnung (nach Wert und moralischer Stellung) in einer hierarchi schen, fremdenfeindlichen Gesellschaft verkörpern: hier männlich, weiß und oben, da weiblich, schwarz und unten. Aus unserer heutigen Sicht, die wir unter dem Gesichtspunkt von Tatsachen und Ethik für weitaus besser begründet halten, können wir nur erschauern, wenn wir uns die Konse quenzen einer solchen mehrfachen Zweier-Einteilung in vollem Umfang vor Augen führen. In seinem 1546 erschienenen Werk De natura fossilium, der ersten paläontologischen Veröffentlichung überhaupt (der Begriff Fossil bezeichnete damals allerdings alle Gegenstände, die man im Boden fand – eine umfassende Bedeutung in Übereinstimmung mit seiner Stellung als Partizip Perfekt des lateinischen Verbs fodere, »ausgraben«; und deshalb behandelte das Werk neben den Überresten von Lebewesen, die man heute ausschließlich als Fossilien bezeichnet, auch sämtliche Formen von Gestein und Mineralien), grub Georgius Agricola wahrscheinlich zum ersten Mal seit der Antike wieder den Einzeiler von Plinius aus und wandte den Ausdruck diphyes auf einige Fossilien an, die man in der Nähe
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von Ehrenbreitstein gefunden hatte. Eine Generation später, in dem Buch De rerum fossilium (Über fossile Dinge), brachte Conrad Gesner sowohl den Namen Plinius als auch Agricolas Gegenstände erstmals mit den volkstümlichen Bezeichnungen und dem lateinischen Spitznamen Hyste rolith in Verbindung, mit denen man von nun an Fossilien dieses Typs bezeichnete, bis zweihundert Jahre später ihr Wesen als Abdrücke von Armfüßern deutlich wurde. Weiter kam die Paläontologie im 16. Jahrhundert mit den Hystero lithen nicht, aber wir sollten Agricolas und Gesners Leistungen unter dem Gesichtspunkt der von ihnen selbst formulierten Ziele nicht gering schät zen. Als typische Vertreter der Renaissance wollten sie moderne Beobach tungen und klassische Weisheit vereinen – und dass sie Plinius’ vergessenen, nicht näher begründeten Namen auf eine eindeutige Kategorie entsprechender Objekte anwandten, erschien ihnen als durchaus lobenswerte Errungenschaft. Wenn wir uns außerdem vor Augen führen, wo Gesner die Hystero lithen in seiner allgemeinen Taxonomie der Fossilien einordnete, erhalten wir einen Einblick in die ganz andersartige Geisteswelt des 16. Jahrhunderts, und wir können ungefähr einschätzen, welche allgemeinen Ver schiebungen des Weltbildes noch stattfinden mussten, bevor man in den Hysterolithen die Abdrücke von Armfüßern erkennen konnte. Gesner definierte – gestützt meist auf angebliche Ähnlichkeiten mit vertrauteren Teilen der Natur – fünfzehn Kategorien, wobei er eine Wertungsreihe vom Himmlischen, Regelmäßigen und Ätherischen bis hinab zum Gröbsten und Niedrigsten festlegte. In die erste Kategorie gehörten demnach geometrische Formen (beispielsweise kreis- oder kugelförmige Fossilien); die zweite umfasste alle Fossilien, die Himmelskörpern ähnelten (darunter auch die sternförmigen Elemente von Haarsternskeletten); in der dritten brachte er Steine unter, die angeblich vom Himmel gefallen waren. Am anderen Ende, in der Kategorie 15, standen insekten- und schlangenförmige Fossilien. Die Hysterolithen ordnete Gesner in die Kategorie 12 ein, nicht ganz am unteren Ende, aber erst recht nicht an der ehrenvollen Spitze, denn es seien »jene, die eine gewisse Ähnlichkeit zu Menschen oder vierbeinigen Tieren zeigen oder in ihnen zu finden sind«. Als erste Abbil dung für seine Kategorie 12 zeichnete Gesner ein Stück natürliches Silber, das wie ein Geflecht aus Menschenhaar aussieht.
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2. Götzenbilder des Theaters im 17. Jahrhundert. Tierisch oder mineralisch? Nützliches Symbol oder bedeutungsloser Zufall? Wenn die klassischen Götzenbilder des Stammes von grundlegender Bedeutung für Benennung und Definition der Hysterolithen waren – ihre Bezeichnung nach besonders ins Auge fallenden Teilen der weiblichen Anatomie und ihre Beschreibung durch Plinius mit Hilfe der drei grund legenden Zweiteilungen, die das Gerüst unserer geistigen Architektur bilden –, so liegen einige ebenso wichtige Götzenbilder des Theaters (das heißt Beschränkungen durch ältere, überlieferte Denkstrukturen) jener wichtigen Diskussion über Ursprung und Bedeutung der Hysterolithen zugrunde, die in der Paläontologie des 17. Jahrhunderts begann und sich dann über mehr als ein Jahrhundert hinzog: Was sind Fossilien eigentlich? Mit der Einstellung zu Mechanismen und Kausalität, die wir als moderne Naturwissenschaft bezeichnen, ist diese Frage eindeutig zu beant worten: Fossilien sehen in allen komplizierten Einzelheiten wie Lebewe sen aus, und das Gestein, in dem man sie findet, entstand in einer Umwelt, in der auch die heutigen Verwandten dieser Organismen leben. Demnach sind Fossilien die Überreste vorzeitlicher Lebewesen. Diese Ansicht ent springt dem gesunden Menschenverstand und hatte sich schon in der Antike entwickelt, behielt aber auch später stets die Stellung einer brauchbaren Hypothese. Aber die Gedankenwelt des 17. Jahrhunderts, die von Bacon in Frage gestellt und schließlich von der modernen Naturwissenschaft verdrängt wurde, sah auch andere Alternativen vor, die uns heute lächerlich erscheinen, im Rahmen einer andersartigen Konstruktion der natürlichen Realität aber höchst sinnvoll sind. Bacon bezeichnete diese anderen Weltbilder als Götzenbilder des Theaters und sah darin Hindernisse, aufgerichtet von unfruchtbaren Denk systemen. Keines der Theater-Götzenbilder des 17. Jahrhunderts genoss unter Fossilienfachleuten eine höhere Stellung als die neoplatonische Konstruktion der Natur als unveränderliches, ewiges System symbolischer Entsprechungen, in denen sich Weisheit und harmonische Ordnung der Schöpferkraft offenbaren und die der Mensch zum medizinischen und spirituellen Nutzen anwenden kann. Durch die drei großen Reiche der Natur – Tiere, Pflanzen und Mineralien – zog sich ein Geflecht formaler Zusammenhänge (keine direkten Kausalbeziehungen, sondern symbo lische Ähnlichkeiten in wesentlichen Eigenschaften), die jedes Element eines Reiches in einen sinnvollen Zusammenhang mit entsprechenden
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Elementen der beiden anderen stellten. Könnte man dieses Geflecht ergründen und verstehen, dann, so glaubte man, hielt man den Schlüssel zu Aufbau, Bedeutung und Nutzen der Natur in der Hand. Vor einem solchen neoplatonischen Hintergrund ist die starke Ähn lichkeit zwischen einem fossilen, im Gestein eingeschlossenen »Fisch« und einer schwimmenden Forelle im Bach kein Zeichen, dass das steinerne Gebilde früher ein echtes Lebewesen aus Fleisch und Blut war, son dern sie lässt vielmehr darauf schließen, dass formende Kräfte im Mineralreich die archetypische Gestalt im Gestein genauso hervorbringen können wie die belebten Kräfte eines anderen Reiches, die eine Forelle aus ihrem Ei heranwachsen lassen. Entsprechendes gilt, wenn Steine wie menschliche Körperteile aussehen: Dann kann man vielleicht die mineralischen Kräfte ergründen, die im größtmöglichen Einklang mit den Quellen unserer eigenen, belebten Existenz widerhallen. Auch nach einer medizinischen Theorie – sie erscheint uns heute verschroben und magie behaftet, war aber im neoplatonischen Rahmen höchst angesehen – konnte man Heilmittel finden, indem man im Pflanzen- und Mineralreich die Entsprechungen zu den Organen des Menschen fand. So konnte man dann unsere kranke tierische Version durch den geeigneten Zusammenklang mit den anderen Reichen stärken, denn jeder Teil im Mikro kosmos des menschlichen Organismus musste im Einklang mit einem so bezeichneten Gegenstück aus dem Makrokosmos der Erde schwingen, die das Zentralgestirn des Universums ist. Wenn das eingenommene Pulver eines zerstoßenen »Fußsteins« die Schmerzen der Gicht lindern konnte, waren Hysterolithen vielleicht auch gut gegen sexuelle Störungen. Diese völlig andere Sichtweise, die sich auf das Theater-Götzenbild des Neoplatonismus stützte, bildete im 17. Jahrhundert den wichtigsten Hin tergrund für Diskussionen über die Hysterolithen. Die Gelehrten konnten kaum fragen: »Welches Tier hinterlässt als Abdruck eine solche Form?«, wenn sie bei der logisch davor liegenden und viel wichtigeren Frage »Sind Hysterolithen die Überreste von Lebewesen oder Produkte des Mineralreiches?« nicht weiterkamen. Der gedankliche Rahmen legte ftir die Vertreter eines anorganischen Ursprungs der Hysterolithen eine ganz andere Ausgangsfrage nahe, die ebenfalls als Zweiteilung formuliert ist (und damit wieder einmal den Einfluss der Stammes-Götzenbilder deutlich macht): Wenn Vulvasteine im Mineralreich entstehen können, offenbart ihre Ähnlichkeit mit weiblichen Geschlechtsorganen dann eine
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tief greifende Harmonie der Natur, oder ist sie ein Zufallsprodukt, das keinerlei Bedeutung hat? Diese Entstehungsweise bezeichneten die Gelehrten jener Zeit als lusus naturae, als Spiel oder Laune der Natur. Für beide Ansichten möchte ich Beispiele aus einer uns nicht allzu ver trauten Zeit zitieren. Olaus Worm spricht im Kommentartext zu den ersten bildlichen Hysterolithen-Darstellungen von einer bedeutsamen Entsprechung – allerdings schreibt er die Meinung einem anderen zu, vielleicht um jeden Verdacht der Parteinahme zu zerstreuen: Diese Stücke wurden mir von dem höchst gelehrten Dr. J. D. Horst zugesandt, dem Archiater [Chefarzt] des erhabenen Landgrafen von Darmstadt... Dr. Horst behauptet über die Stärke dieser Objekte das Folgende: Die Steine sind zweifellos nützlich zur Behandlung aller Lockerungen und Einschnürungen des weiblichen Leibes. Insbeson dere angesichts der Form dieser Objekte [ich vermute, Dr. Horst meint hier die Hysterolithen, die auf der einen Seite den weiblichen und auf der anderen den männlichen Körperteilen ähneln] halte ich die Annahme nicht für töricht, dass sie, an einer Schnur um den Hals getra gen, jenen Menschen Stärke verleihen, die Probleme mit ihrer Lebens kraft haben, sei es durch Angst oder Schwäche, und dass sie deshalb die Interessen der Venus bei beiden Geschlechtern fördern (Venerem in utroque sexu promovere). Aber Worms Begeisterung stieß bei den Gelehrten, die den Ursprung der Hysterolithen ins Mineralreich verlegten, nicht auf allgemeine Zustim mung. Anselm de Boot schreibt in der 1644 erschienenen französischen Übersetzung seines beliebten Nachschlagewerkes über Fossilien (in dem weit gefassten Sinn »alles, was man unter der Erde findet«) ganz lakonisch: »Elles n’ont aucune usage queje sçache« (Sie haben keinen Nutzen, der mir bekannt wäre). Im Jahr 1737, als J.C. Kundmann – der im umgangssprachlichen Deutsch schrieb und in Bratislava relativ weit entfernt von den Zentren des europäischen Geisteslebens zu Hause war – die letzte ernst zu nehmende Verteidigung der anorganischen Fossilienentstehung verfasste, war das bequeme Ruhekissen des Neoplatonismus bereits dem Zahn der Zeit zum Opfer gefallen. (Die letzte große Verteidigung des Neoplatonismus in der Paläontologie, das Werk Mundus subterraneum – Unterirdische Welt
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des großen Jesuitengelehrten Athanasius Kircher, war bereits 1664 erschienen.) Kundmann hatte deshalb kaum noch argumentative Manövrier masse über die Behauptung hinaus, die Ähnlichkeit mit weiblichen Geschlechtsorganen könne nur Zufall sein – immerhin, so argumentierte er, könne ein Schlitz in einem runden Stein ja durch alle möglichen mecha nischen Einflüsse entstehen. Kundmann widmete den Hysterolithen ein langes Kapitel und räumte darin ein, solche Objekte könnten die inneren Abdrücke von Tiergehäusen sein; vielleicht seien einige von anderen Au toren beschriebene Hysterolithen sogar tatsächlich auf diese Weise entstanden. Was aber seine eigenen Stücke anging, vertrat er die Vorstellung von einer anorganischen Entstehung, weil er keine Spuren der umgebenden Gehäuse gefunden hatte. Dies, so meinte er, sei ein ausgezeichnetes Argument, dass diese Steine nichts mit Muschelschalen zu tun haben, son dern dass man sie als Lapides sui generis (von selbst entstandene geformte Steine) ansehen müsse – eine »Erkennungsphrase«, die von den Befür wortern eines anorganischen Ursprungs der Fossilien gern benutzt wurde. 3. Götzenbilder des Marktes im 18. Jahrhundert Neuordnung der Sprache bei der Klassifikation zur Hervorhebung der richtigen Antwort. Wie bereits erwähnt, kam der Theorie der anorganischen Entstehung Ende des 17. Jahrhunderts ihre beste potenzielle Begründung abhanden, als der Triumph der modernen naturwissenschaftlichen Denkweise (die von Newton ausgelöste geistige Strömung, die von Wissenschaftshistorikern als »die naturwissenschaftliche Revolution« bezeichnet wird) den Neoplatonismus als anerkanntes Erklärungsmuster zum Untergang ver dammte. In dem neuen Kontext des 18. Jahrhunderts, als die Theorie einer organischen Fossilentstehung ganz von selbst die Oberhand ge wann, hätte sich eigentlich ein offenkundiger Weg zur richtigen Deutung der Hysterolithen eröffnen müssen. Aber Bacon hatte mit seinem scharfsinnigsten Argument etwas Wichtiges erkannt: Selbst wenn man alte Theorien (Götzenbilder des Theaters) aufgegeben hat und wenn tief im menschlichen Wesen verwurzelte Vor urteile (Götzenbilder des Stammes) erkannt und verworfen wurden, behindern uns unter Umständen immer unsere Sprache und die Bilder, die wir zeichnen – Götzenbilder des Marktes, wo die Menschen zum Plaudern zusammenkommen. Tatsächlich bauten die allgemein übliche Beschreibungssprache und die traditionellen Klassifikationsschemata (die man
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häufig kritiklos aus dem neoplatonischen Erbe übernommen hatte, ohne die damit verbundenen Vorurteile zu erkennen) in der Paläontologie des 18. Jahrhunderts wichtige, endgültige Schranken auf, die eine Beantwortung der alten Frage nach dem Wesen der Hysterolithen verhinderten. Auf einer ganz grundlegenden Ebene hatte man die Überreste von Lebewesen nun endgültig als eigene Kategorie von anderen »Dingen im Stein« getrennt, die zufällig wie Elemente oder Produkte des Tier- oder Pflanzenreiches aussahen. Aber diese neue, enger gefasste Kategorie trug noch keinen eigenen Namen: Als Fossil bezeichnete man nach wie vor alles, was man unter der Erde fand (und so blieb es auch bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts). Die Gelehrten schlugen verschiedene Lösungen vor – so sollten die Reste der Lebewesen zum Beispiel als »äußere Fossilien« bezeichnet werden, weil sie aus anderen Domänen ins Mineralreich über gegangen waren; Gesteine und Mineralien nannte man entsprechend »in nere Fossilien« – aber im ganzen 18. Jahrhundert wurde darüber keine Einigkeit erzielt. Im Jahr 1804 erkannte der britische Amateurpaläontologe James Parkinson (der von Beruf Arzt war und zum Namenspatron für die Parkinson-Krankheit wurde) den großen Einfluss der Bacon’schen Götzenbilder des Marktes und klagte über das sprachliche Hindernis; nach seiner Ansicht konnte man namenlose Klassen nicht erklären und sich noch nicht einmal einen richtigen Begriff davon machen: Als man aber die Entdeckung machte, dass die meisten derartigen Figurensteine die Überreste von Gegenständen aus dem Tier- und Pflanzenreich sind, erwiesen sich diese Ausdrucksmöglichkeiten als unzureichend; und bei dem Vorhaben, angemessene Begriffe zu finden, trat eine beträchtliche Schwierigkeit auf; die Sprache besitzt kein Zei chen zur Wiedergabe dieser Idee, die sich der Geist des Menschen bisher noch nicht ausgedacht hatte. Eine noch größere sprachliche Einschränkung bedeutete die Tatsache, dass man für die Untergruppen der Fossilien alte Klassifikationskategorien beibehalten hatte. Solange manche Paläontologen sich noch allge meiner Kategorien wie lapides idiomorphoi (»Figurensteine«) bedienten, konnte man organische Überreste nie ordnungsgemäß von zufällig ähn lichen Gebilden unterscheiden (von einem Stein, der einem Eulenkopf ähnelte, oder einem Achat, der in seinem Streifenmuster ein ungefähres
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Hysterolithen und ein Stalaktit, der zufällig einem Penis ähnelt, auf einer Abbildung aus dem Jahr 1755.
Bild des Gekreuzigten zeigte, um zwei tatsächliche, unter den Gelehrten des 18. Jahrhunderts heftig umstrittene Fälle zu nennen). Warum sollte man ohne eine solche Trennung und ohne eindeutige Zuordnung der Hysterolithen zum Tierreich die Hypothese der Armfüßer-Abdrücke be vorzugen, wo doch schon der Name Vulvastein auf die Zugehörigkeit zum Bereich der Zufälligkeiten hindeutet? Schließlich hatte niemand jemals die Ansicht vertreten, Hysterolithen könnten tatsächlich versteinerte Überreste abgetrennter weiblicher Körperteile sein! Ein augenfälliges Beispiel ist die taxonomische Einordnung der Hyste rolithen in einer Abhandlung des französischen Naturhistorikers Dezallier d’Argenville aus dem Jahr 1755. Er zeichnet seinen echten Hysterolithen (Teil A der Abbildung oben) neben Schlitzen im Gestein, die aus anderen Gründen entstanden sind (B und 3), und – noch wichtiger – un terhalb eines Stalaktiten, der zufällig wie ein Penis mit den zugehörigen Hoden aussieht. Heute wissen wir, dass Stalaktiten in Höhlen durch trop fende Calcitlösung entstehen, und deshalb erkennen wir in der unge wöhnlichen Ähnlichkeit einen reinen Zufall. Aber angenommen, Hysterolithen gehören tatsächlich in die gleiche Kategorie: Warum sollen wir dann annehmen, dass sie aufgrundlegend andere Weise entstanden sind? Als diese Götzenbilder des Marktes endlich den Rückzug antraten und die Hysterolithen sich in einer eigenen Kategorie zu anderen Resten von Tieren und Pflanzen gesellten – und als auch der Name Hysterolith selbst als Überbleibsel einer anderen Sichtweise, die zufälliger Ähnlichkeit gegenüber der tatsächlichen Entstehungsweise den Vorzug gab, ungebräuch
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lieh wurde –, konnte man diese Objekte im richtigen, für eine korrekte Antwort geeigneten Licht sehen und beurteilen. Aber selbst jetzt setzte sich nicht sofort eine einhellige Meinung durch. Sie entwickelte sich erst allmählich und in mehreren Stadien, als die Wis senschaftler, die nun endlich auf der richtigen Spur waren, sich – wieder einmal im Rahmen von Zweiteilungen – der Beantwortung einer ganzen Reihe von Fragen näherten, bis sie schließlich durch schrittweise Einen gung und Annäherung zu der korrekten Lösung gelangten. Die erste Frage lautete: Sind Hysterolithen die Abdrücke ganzer Lebewesen oder verstei nerte Einzelteile eines Organismus? Manche Vorschläge aus der zweiten Kategorie erscheinen uns heute an den Haaren herbeigezogen – beispiels weise hielt Lang die Hysterolithen 1708 für fossile Seeanemonen aus dem Stamm der Korallen (hier wachsen die Kolonien mancher Arten mit einem großen Schlitz am oberen Ende heran), und für Barrere (1746) waren die eunnulites (wie er sie nannte – die Etymologie liegt auf der Hand und bedarf keiner weiteren Erklärung meinerseits) die Endstücke langer Knochen (Oberarm- und Oberschenkelknochen) junger Wirbeltiere, bei denen diese Skelettteile bekanntermaßen erst im Erwachsenenalter zusammenwachsen. Immerhin gingen die Paläontologen nun aber übereinstimmend davon aus, dass es sich bei den Hysterolithen um Über reste von Lebewesen handelt. Zweitens: Sind die Hysterolithen aus Pflanzen oder Tieren entstanden? Aus den beiden Reichen konkurrierten Nüsse und Muscheln, aber hier trugen die Tiere schnell einen eindeutigen Sieg davon. Und drittens schließlich: Sind die Hysterolithen innere Abdrücke von Muscheln oder Armfüßern? Dies lässt sich jetzt, am Ende unserer Geschichte, nahezu allein durch Beobachten entscheiden, nachdem man sich zuvor darauf geeinigt hatte, welche Fragen man stellen muss und wie die Antwort ausse hen könnte. Wenn man erst einmal eine ausreichende Zahl von Armfüßergehäusen untersucht hatte – was nicht so einfach ist, weil fast alle Fossilien dieser Gruppe nur die Außenseite des Gehäuses zeigen und weil man lebende Armfüßer nur selten beobachten kann (diese Tiere leben vorwiegend im tiefen Wasser oder in dunklen Felsspalten flacherer Meere) –, sollte die Antwort nicht lange auf sich warten lassen. Zum Schluss dieser heiteren Geschichte über Tugend (für beide Geschlechter) und Wissen können wir triumphierend die Worte zweier besonders berühmter Intellektueller aus dem 18. Jahrhundert zitieren. Elie
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Bertrand veröffentlichte 1773 eine Klassifikation der Fossilien, die kein Geringerer als Voltaire als Leitfaden zum Ordnen seiner Sammlungen in Auftrag gegeben hatte. Bertrands Vorwort richtet sich an den Philosophen und verteidigt das Kriterium der Entstehungsweise als Grundlage einer geeigneten Klassifikation – ein Musterbeispiel für das Hauptthema dieses Essays. Bertrand kommt ausdrücklich auf die Hysterolithen zu sprechen und rät seinem Gönner: Es gibt fast kein Gehäuse, welches nicht innere Abdrücke hervorbringt. Manchmal hüllt das Gehäuse noch den Abdruck ein, meist aber ist nur der Abdruck erhalten; dieser zeigt jedoch alle inneren Zeichen des Gehäuses, welches zerstört wurde. Auf eine solche Situation treffen wir zum Beispiel bei den Hysterolithen, über deren Ursprung so lange debattiert wurde. Sie sind die inneren Abdrücke von ... Terebratuliden [einer Gruppe der Armfüßer]. Manchmal sagt ein Bild mehr als tausend Worte. Betrachten wir also, welche elegante Aussage Linné selbst im Katalog der Sammlung des Grafen Tessin macht, den er 1753 herausbrachte. Die Hysterolithen (Abbildung 2, A bis D), hier dargestellt mit den Entsprechungen zu männlichen und weiblichen Teilen, stehen neben anderen Abdrücken von Armfüßern, die keine Ähnlichkeit mit menschlichen Geschlechtsorganen haben (Abbil dung 1, A und B) – womit die Gesamtkategorie nicht anhand äußerer Ähnlichkeit, sondern auf Grund der zoologischen Zusammengehörigkeit festgelegt ist. In den nachfolgenden Abbildungen 3 bis 7 unterstreicht Linné seine Aussage mit Zeichnungen fossiler Gehäuse verwandter Arm füßer. Zwei Bilder als Leitfaden und Nachweis eines Überganges – von der untergegangenen, überholten Welt eines Dezallier d’Argenville und seiner Theorie, wonach die zufällige Ähnlichkeit mit Gegenständen aus weit ent fernten Bereichen etwas zu bedeuten hat, zu Linnés moderner Klassifi kation auf Grund des tatsächlichen Ursprungs an Stelle oberflächlicher Übereinstimmung. Auf diesem schwierigen, gefährlichen Weg zu genauen Kenntnissen über die Tatsachen der Natur können Bacons Götzenbilder uns helfen oder hindern. Die Götzenbilder des Stammes mögen tief im Wesen des Menschen verwurzelt sein, aber dank unserer evolutionsbedingten Kon struktion besitzt unser Geist auch eine andere unausrottbare Eigenschaft,
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Linné erkannte 1753, dass Hysterolithen die Abdrücke von Armfüßergehäusen sind, und bildete sie zusammen mit anderen Armfüßern ab, die keine Ähnlichkeit mit weiblichen Geschlechtsteilen haben.
die uns arbeiten und forschen lässt, bis wir die einengenden Götzenbilder überwunden haben: unser Streben, zu fragen und zu wissen. Wir können nicht zum Himmel blicken, ohne uns zu fragen, warum er blau ist. Wir können nicht zusehen, wie der Blitz gute und schlechte Menschen glei chermaßen tötet, ohne wissen zu wollen warum. Auf die erste Frage gibt es eine Antwort; auf die zweite können wir keine geben, jedenfalls nicht in den Begriffen, die unseren Forscherdrang in Gang setzen. Aber das Fra gen können wir nicht sein lassen. Zum Schluss möchte ich die beiden Teile dieses Essays zusammenfügen und dazu eine Geschichte erzählen, die Bacon (der Dreh- und Angelpunkt
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des ersten Teils) mit Plinius (dem Protagonisten des zweiten) in Verbindung bringt, denn beide waren gleichermaßen diesem befreienden Drang zum Fragen und Wissen verfallen. Plinius kam ums Leben, weil er eine einzigar tige Gelegenheit, etwas über die Natur herauszufinden, nicht verstreichen lassen wollte – er wollte einen Vulkanausbruch aus der Nähe beobachten und begab sich zu nahe an die giftigen Dämpfe des Vesuv. Bacon starb weniger dramatisch, aber Motiv und Geschehen waren nicht weniger edel – er dachte sich an einem kalten Tag ein Experiment aus, um festzustellen, ob Schnee die Verwesung hinauszögern kann. Dazu ließ er seinen Wagen halten, kaufte bei einem Geflügelbauern ein Huhn und stopfte es mit Schnee aus. Das Experiment klappte, aber der Doktor (dieses Mal nicht der Patient – das Huhn hatte sein Leben schon ausgehaucht, bevor die Prozedur begann!) kam dabei um: Bacon zog sich eine Erkältung zu, die über Bronchitis und Lungenentzündung zum Tode führte. In seinem bewegenden letzten Brief äußert er seinen Wunsch nach einer ausdrücklichen Verbindung zu Plinius: »Ich werde wahrscheinlich das Schicksal von Caius Plinius dem Älteren erleiden, der sein Leben verlor, weil er ein Experiment mit dem brennenden Vulkan Vesuv machen wollte: denn auch ich war begierig, ein oder zwei Versuche auszuführen, welche sich mit der Umwandlung und Versteifung von Leichen befassten. Was das Experiment selbst betrifft, so gelang es hervorragend, aber...« Wir mögen von den Götzenbildern des Stammes umgeben sein, aber der versessen-hartnäckige Drang unseres Stammes, zu fragen und zu wis sen, kann uns darüber hinweghelfen, wenn wir Jesu Wort folgen, dass Wahrheit uns frei macht. Aber erinnern wir uns auch daran, dass Jesus es ablehnte, Pilatus’ Frage zu beantworten: »Was ist Wahrheit?« Vielleicht begriff er, dass die Götzenbilder in uns zusammenwirken und diese scheinbar einfache Frage zur schwierigsten von allen machen. Aber dann wusste Jesus auch aus seinem innersten Wesen heraus (nach der her kömmlichen christlichen Deutung), dass die menschliche Natur eine un trennbare Mischung aus irdischen Beschränkungen und (zumindest me taphorisch) himmlischen Möglichkeiten der Befreiung durch Wissen ist – ein Paradoxon, das sowohl die Faszination als auch die Frustration des menschlichen Daseins begründet. Zweihundert Jahre der Debatten und Entdeckungen waren nötig, damit aus einem Vulvastein ein Armfüßer wurde; der gleiche Ablauf hat aber unser Wissen auch bis zu entfernten Galaxien und zurück zum Urknall ausgeweitet.
Teil II Bei der Schöpfung gegenwärtig Wie die drei besten Wissenschaftler Frankreichs im Zeitalter der Revolution die Naturgeschichte begründeten
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4. Die Erfindung des naturgeschichtlichen Stils Buffon: Stil und Inhalt Ein durchschnittlicher Adliger im Frankreich des 18. Jahrhunderts reichte bei seiner Körpergröße selbst mit Perücke nicht an die eines heutigen Durchschnittsamerikaners heran. Aber Georges-Louis Leclerc, Comte de Buffon, war mit knapp 1,62 Meter auch nach den Maßstäben seiner Zeitgenossen von kleiner Statur. Dennoch überragt er seine Welt wie ein Riese. Als er 1788 mit achtzig Jahren starb, ergab die auf seinen eigenen frühe ren Auftrag hin vorgenommene Obduktion insgesamt 57 Blasensteine und ein Gehirn »von geringfügig größeren Ausmaßen als bei gewöhnlichen Menschen«. An der Spitze des Trauermarsches gingen vierzehn livrierte Pferde, neunzehn Diener, sechzig Geistliche und ein 36-stimmiger Chor. Der Mercure berichtete: Die Beisetzungsfeierlichkeiten waren von einer Pracht, wie sie auch der Macht, dem Reichtum und der Würde nur selten gewährt werden... So groß war die Wirkung des berühmten Namens, dass 20 000 Zuschauer auf den Straßen, in den Fenstern und fast sogar auf den Dächern die traurige Prozession erwarteten, und das mit einer Neugier, wie sie sonst den Prinzen vorbehalten ist. Buffon erlebte noch die ersten sechsunddreißig Bände seiner gewaltigen Histoire naturelle (die er zusammen mit mehreren Mitarbeitern, aber immer unter seiner gestrengen, peinlich genauen Anleitung verfasste); die restlichen acht erschienen nach seinem Tod. Kein anderer Biologe des 18. Jahrhunderts (vielleicht mit Ausnahme seines Erzrivalen Linné) erfreute sich eines ähnlich großen Leserkreises und eines solchen Einflusses.
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Dennoch ist Buffons Name heute außerhalb der Fachkreise kaum noch geläufig. Das einzige »Standardzitat«, das auf ihn zurückgeht – »le style c’est l’homme meme« (Wie der Stil, so der Mensch) –, stammt nicht aus seinen wissenschaftlichen Veröffentlichungen, sondern aus der Antrittsvorlesung, die er nach seiner Wahl zu einem der »vierzig Unsterblichen« der Academie Francaise hielt. (Näheres in dem bemerkenswerten Buch Buffon, un philosophe aujardin du roi von Jacques Roger.) Die Tatsache, dass ein Name nach langer Zeit in der Erinnerung verblasst, dürfen wir aber nicht mit dem Schwinden des Einflusses der betreffenden Person gleichsetzen. Damit würden wir wieder einmal einen der vielen Fehler begehen, die darauf zurückzuführen sind, dass unsere Generation häufig Berühmtheit mit Format verwechselt. Im Gegenteil: Wie ich darlegen werde, ist das Schwinden der persönlichen Anerkennung unter gewissen, genau bestimmbaren Umständen – die in Buffons Leben und Wirken alle beispielhaft verwirklicht sind – sogar ein Maß für die Ver breitung von Einfluss, weil Neuerungen so »selbstverständlich« und »au tomatisch« werden, dass wir uns an die Quelle nicht mehr erinnern und sie auf eine grundlegende, seit jeher bestehende Logik zurückführen. (Natürlich stelle ich damit nicht die Binsenwahrheit in Frage, dass ein wahrhaft vorübergehender Grund der Berühmtheit auch die Ursache des Verblassens von Erinnerungen ist; Linda Tripp und Tonya Harding fallen mir sofort ein, aber im Bewusstsein unserer Enkel werden sie kaum die sen Stellenwert haben.) Für intellektuellen Ruhm werden allgemein zwei Voraussetzungen ge nannt: die Gabe einer außergewöhnlichen Intelligenz und das Glück ungewöhnlicher Umstände (Zeit, soziale Stellung und so weiter). Dagegen wurde ein dritter Faktor – das Temperament – nach meiner Überzeugung nicht ausreichend gewürdigt. Zumindest nach meinen begrenzten Beob achtungen in unserer verarmten Welt scheint der Faktor des Temperaments den geringsten Schwankungen unterworfen zu sein. Die wenigen Menschen, die ich kennen gelernt habe und denen ich das Attribut »groß« beilegen würde, sind alle von der gleichen unhinterfragten, ungestümen Hingabe geprägt. Zweifel am Wert ihrer Tätigkeit sind ihnen völlig fremd (oder zumindest lässt ein innerer Impuls sie solche Ängste überwinden), und vor allem sind sie in jedem Augenblick an jedem Tag ihres Lebens zum Arbeiten in der Lage (oder zumindest geistig immer aufgeschlossen für neue Erkenntnisse). Ich habe andere Menschen mit der gleichen oder
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noch größerer intellektueller Begabung kennen gelernt, die aber see lischen Krankheiten, Selbstzweifeln oder der schlichten, altmodischen Faulheit erlegen sind. Diese begeisterte Zielstrebigkeit, dieses Kribbeln im Bauch, diese Haltung, die der wörtlichen Bedeutung von Enthusiasmus (»Aufnahme Gottes«) entspricht, ist das charakteristische Kennzeichen einer geringen Zahl von Menschen, die dem Klischee des »Überlebensgroßen« entspre chen – es ist, als lebten sie auf einer anderen Ebene als wir Winzlinge. Ihre Leidenschaft steht aber in keinem eindeutigen Zusammenhang mit jenem äußeren Ausdruck, den wir als Charisma bezeichnen. Manche Menschen aus dieser Kategorie reißen andere mit, weil sie ihre Besessenheit ausstrahlen; andere hüllen sich gegenüber ihrer Umgebung in mürrisches Schweigen oder geben sich geradezu abweisend. Ein solches Temperament schließt einen inneren Vertrag zwischen dem Menschen und seiner Muse. Buffon mit seinen 1,62 Metern war in diesem entscheidenden Sinn sicher überlebensgroß. Er machte sich als junger Erwachsener einen Arbeitsrhythmus zu Eigen, von dem er bis zu seiner kurzen letzten Krank heit nicht mehr abwich. Jedes Frühjahr reiste er auf sein Anwesen im burgundischen Montbard; dort schrieb er an seiner Histoire naturelle und führte das Leben eines harten, aber gerechten Herrn und unermüdlichen Unternehmers (er arbeitete zum Beispiel am Ausbau seiner landwirtschaftlichen Projekte und baute einen Schmelzofen, um das Eisenerz aus der Gegend einzuschmelzen). Im Herbst kehrte er dann jeweils nach Paris zurück, wo er mit seinen Umtrieben und Schmeicheleien dafür sorgte, dass sich der königliche botanische Garten unter seiner Leitung in das weltweit beste Museum für allgemeine Naturgeschichte verwandelte – ein Niveau, das spätestens in der nächsten Generation erreicht war (und, so kann man mit Fug und Recht behaupten, bis heute erhalten geblieben ist), als das Museum d’Histoire Naturelle, das aus Buffons Erweiterungsbestrebungen hervorging, die drei größten Naturforscher der Welt als Kura toren hatte: Jean-Baptiste Lamarck, Georges Cuvier und Etienne Geoffroy Saint-Hilaire. Buffon arbeitete jeden Tag mindestens vierzehn Stunden. (Er lehnte es ab, diesen Tagesablauf auch nur im Geringsten zu verändern, selbst noch in seinen letzten Jahren, als Blasensteine und verschiedene andere Alters krankheiten das Reisen zu einer schmerzhaften Angelegenheit machten.) Jacques Roger beschreibt die Plackerei so: »Wer mit ihm arbeitete und sei
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nem Befehl unterstand, musste sich auf seine Lebensweise einstellen. Überall galt die gleiche Regel: keine Zeit vergeuden!« In einem Absatz, der einen guten Eindruck vom Stil der Histoire naturelle (der dem Mann selbst gleicht!) vermittelt, greift Buffon die Stoiker an und präsentiert sein per sönliches Rezept für ein Leben der Genugtuung und Aktivität. Wenn wir uns die stoische Haltung zu Eigen machen, so Buffons Warnung, dann können wir sagen... dass es schöner ist zu vegetieren als zu leben, nichts zu wollen als die Befriedigung des eigenen Appetits, einen teil nahmslosen Schlaf zu schlafen statt die Augen zu öffnen und etwas wahrzunehmen; wir stimmen zu, unsere Seele in Taubheit und unseren Geist in Dunkelheit verfallen zu lassen, weder das eine noch das andere jemals zu nutzen, uns noch unter die Tiere zu stellen und schließlich zu einer Masse roher, an der Erde klebender Materie zu werden. Was die beiden anderen Voraussetzungen betrifft, so leuchtet uns Buffons Intelligenz aus seinem Werk entgegen und bedarf keiner weiteren Erläu terung. Aber die äußeren Umstände hätten seine Leistungen durchaus verhindern können, wäre er nicht mit Temperament und Scharfsinn dar über hinweggekommen. Als Sohn einer erfolgreichen burgundischen Bürgerfamilie war er nicht aus schlechtem Hause (den Titel des Grafen erhielt er später von König Ludwig XV. für seine eigenen Leistungen), aber Wissenschaft als Berufslaufbahn existierte zu jener Zeit praktisch nicht – und Pariser, die nicht dem Adel angehörten, hatten zu den wenigen Mög lichkeiten kaum Zugang. Buffon erhielt an einem lycee der lesuiten in Dijon eine gute Ausbildung und zeigte anfangs insbesondere eine Begabung auf einem ganz anderen Gebiet als dem seiner späteren Triumphe: in der Mathematik. Er schrieb eine wichtige Abhandlung über Wahrscheinlichkeiten, übersetzte Newtons Fluxions ins Französische (und zwar aus einer englischen Fassung des lateinischen Originals) und nutzte sei nen Zahlensinn auch für wichtige Untersuchungen über die Stärke des auf seinem Anwesen wachsenden Bauholzes. Nachdem er auf diesem Weg Zugang zur Botanik gefunden hatte, arbeitete er sich zum Direktor der königlichen Gärten in Paris hoch. Der Rest ist, wie man so sagt, (Natur-) Geschichte. Sechsunddreißig Bände der Naturgeschichte erschienen zu Buffons Leb zeiten und nennen ausdrücklich ihn als Autor. Sie ist eines der umfas
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sendsten, monumentalsten Werke der Wissenschaft und Literatur, die jemals von einem Einzelnen (wenn auch natürlich mit ein wenig Unter stützung seiner Freunde) geschaffen wurden. Er wollte damit das gesamte Spektrum der natürlichen Objekte in allen drei herkömmlichen Domänen abdecken, im Tier-, Pflanzen- und Mineralreich. Da er wie üblich ganz oben anfing und sich dann nach unten vorarbeitete, gelangte er in Wirklichkeit nie bis zu den Wirbellosen oder Pflanzen (oder vielmehr übersprang er diese »niederen« Ausdrucksformen des Organischen, um im höheren Alter mehrere Bände über »meine geliebten Mineralien« zu schreiben, wie er sie nannte). Auch mit seinen Arbeiten über die Wirbeltiere gelangte er trotz vieler Pläne und Skizzen nicht bis »unter« die Säu getiere und Vögel – erst sein Kollege Lacepede brachte nach Buffons Tod die acht Bände über Reptilien und Fische (einschließlich der Wale) her aus, sodass die vollständige erste Auflage vierundvierzig Bände umfasste. Buffon handelte alle großen Themen der Naturgeschichte in ihrem vollen Umfang ab – von der Geologie über die Entstehung des Lebens bis zu Embryologie, Physiologie, Biogeografie, funktioneller Anatomie und Systematik. Er hielt den Menschen für eine Tierart mit einzigartigen Eigenschaften und bezog deshalb auch den größten Teil von Anthropologie, Soziologie und Kulturgeschichte mit ein. Die allgemeinen und theoretischen Artikel seiner Naturgeschichte gaben Anlass zu endlosen, leiden schaftlichen Diskussionen – und machten ihn zu einer Ausnahmeerschei nung der Literaturgeschichte: zu einem Mann, der mit seiner Klugheit reich wurde. (Erbe und Schirmherren trugen ebenfalls dazu bei, aber Buf fons Werk war ein Bestseller.) Alle Bereiche des französischen Geistes lebens von den Enzyklopädisten bis zur theologischen Fakultät der Sorbonne griffen seine Themen begeistert auf, wobei sie manchem zustimmten und über anderes herzogen – Buffons Werk war so mannigfaltig und vielschichtig, dass niemand es rundheraus gutheißen oder ableh nen konnte. Er stritt und versöhnte sich mit Voltaire, Rousseau und fast allen anderen, die in den letzten Jahren des ancien regime eine Rolle spielten. Aber die allgemeinen Artikel bilden nicht das Kernstück der Naturgeschichte. Das besteht vielmehr aus über zwanzig Bänden mit wunderschön gestalteten, in ihren Beschreibungen detaillierten und mit leidenschaftlichen Stellungnahmen versehenen Abhandlungen über Säugetiere, Vögel und Mineralien, wobei jeder Art oder jedem Typ ein eigenes Kapitel ge
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widmet ist. Diese Aufsätze waren mit Stichen illustriert, die später – vor wiegend durch endlose Piraterie anderer Autoren, die sie für ihre Werke verwendeten – den »Standard« bildeten, und sind heute noch ebenso liebenswürdig (oder empörend) wie damals. Als Beispiel möchte ich Buffons zusammenfassende Bemerkungen über sein am wenigsten geliebtes Säu getier wiedergeben, das Faultier. (Ich kann mir gut ausmalen, dass Buffon mit der ihm eigenen, schnelllebigen Art diesen langsamen Lebewesen noch weniger Geduld entgegenbrachte als wir, die wir im Rhythmus normaler Menschen leben): Während die Natur uns bei der Schaffung der Affen lebendig, energie geladen und begeistert erscheint, so ist sie bei den Faultieren langsam, beschränkt und eingeengt. Und wir müssen eher von Erbärmlichkeit denn von Faulheit sprechen, mehr von Unterlassung, Mangel und Fehlerhaftigkeit in ihrer Konstitution: keine Schneide- oder Eckzähne, kleine, bedeckte Augen, ein dicker, schwerer Unterkiefer, flache Haare, die wie getrocknetes Gras aussehen ... die Beine zu kurz, schlecht gewendet und schlecht beendet... keine einzeln beweglichen Finger, nur zwei oder drei übermäßig lange Fingernägel... Aus dieser bizarren, ver nachlässigten Konstitution erwachsen Langsamkeit, Dummheit, Nachlässigkeit gegenüber dem eigenen Körper, ja sogar gewohnheitsmäßige Traurigkeit. Keine Waffen für Angriff oder Verteidigung; kein Werkzeug der Sicherheit; kein Mittel für eine sichere Flucht; beschränkt nicht auf ein Land, sondern auf ein winziges Fleckchen Erde – auf den Baum, un ter dem es geboren wurde; ein Gefangener inmitten großen Raumes... alles an ihnen kündet von ihrem Elend; sie sind unvollkommene Her vorbringungen der Natur, die, da sie überhaupt kaum die Fähigkeit zur Existenz besitzen, nur eine kurze Zeit erhalten bleiben können und dann von der Liste der Lebewesen ausradiert werden... Diese Faultiere sind in der Ordnung der Tiere aus Fleisch und Blut die niedrigste Ebene des Daseins; ein einziger weiterer Fehler würde ihre Existenz unmöglich machen. Ich kann hier nicht einmal ansatzweise den theoretischen Inhalt der His toire naturelle zusammenfassen, und zwar schon deshalb nicht, weil Buf fon nach Bacons Vorbild alle Kenntnisse (zumindest über die Natur) zu seiner Domäne erklärte und weil seine Ansichten weder innerhalb der
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einzelnen Abschnitte noch zwischen ihnen immer völlige Widerspruchsfreiheit wahren. Deshalb sollen nur kurze Anmerkungen zu drei zentralen Themen einen Eindruck von Buffons Lebenseinstellung und seinen wichtigsten Beiträgen zur späteren Forschung vermitteln: 1. Klassifikation. Carl von Linné, Buffons schwedischer Rivale und genauer Zeitgenosse (beide wurden 1707 geboren, Linné starb aber 1778, zehn Jahre vor Buffon), entwickelte das Nomenklatursystem, das wir bis heute benutzen. Linné setzte sich durch, weil die formalen Regeln seines Systems sich in der Praxis bewährten, und auch weil sein verschachteltes, hierarchisches Schema der kleinen Kategorien in größeren Kategorien (Arten wie der Hund in Familien wie den Hundeartigen in Ordnungen wie den Fleischfressern in Klassen wie den Säugetieren in Stämmen wie den Wirbeltieren) sich in die stammesgeschichtliche Deutung – den üppigen Stammbaum des Lebendigen mit zahlreichen Ästen und Zweigen – ummünzen ließ, die schon bald darauf durch die Entdeckung der Evolution jedem formellen Benennungssystem aufgezwungen werden würde. Buffon dagegen versuchte, die gesamte offenkundige Vielfalt der Lebewesen in ein nichthierarchisches System zu fassen, das für verschiedene Eigenschaften unterschiedliche Verwandtschaftsverhältnisse festlegte (Fledermäuse gleichen anatomisch eher den Säugetieren, in der Lebensweise eher den Vögeln). Aber dieses Alternativmodell eines Netzwerkes mit vielfältigen Verknüpfungen versagt (zugegebenermaßen im Rückblick und vor dem Hintergrund der Evolution), weil es die vordergründige Ähnlichkeit der Anpassung (Flügel bei Fledermäusen und Vögeln) nicht von den tiefer liegenden stammesgeschichtlichen Verbindungen der kontinuierlichen körperlichen Entwicklung im Laufe der Zeitalter trennt (Behaarung und Lebendgebären bei Fledermäusen und Bären). Buffons hochherzige Vision von der Gleichbehandlung aller Aspekte im Leben einer Spezies – wonach Ökologie, Funktion und Verhalten auf einer Ebene mit der traditionellen Anatomie stehen – gründete sich auf eine falsche Theorie über das Wesen der Verwandtschaftsbeziehungen. 2. Biogeografie. Frühere Naturforscher stellten sich – wenn sie sich überhaupt mit der Frage befassten – meist vor, es habe für alle Tiere ein einzi ges Zentrum der Schöpfung gegeben, und später hätten sie sich über den ganzen Erdball verteilt (eine Theorie, die natürlich mit der biblischen
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Sintflutgeschichte vereinbar ist, aber nicht unbedingt von ihr ausgeht oder unterstützt wird). Buffon dagegen erkannte, dass offensichtlich jede Spezies mit einzigartigen Eigenschaften an die jeweilige Region angepasst ist; deshalb vertrat er die Ansicht, die Lebewesen seien an geeigneten Orten auf der ganzen Erde entstanden und hätten nur sehr begrenzte Gelegenheiten zur Wanderung gehabt – eine fruchtbarere Idee, mit der er die mo derne Biogeografie begründete. Buffons Gedanke von der Anpassung an die örtlichen Umweltbedingungen gab den unmittelbaren Anlass zu einer wichtigen Forschungs richtung in der frühen amerikanischen Naturgeschichte. Er vertrat die Ansicht, amerikanische Säugetiere müssten kleiner sein als ihre Entspre chungen in der Alten Welt (Flusspferd, Giraffe und Tiger sind beispiels weise größer als Tapir, Lama und Jaguar), weil »die Wärme in diesem Teil der Welt allgemein viel geringer und die Feuchtigkeit viel größer war«. Amerikanische Naturforscher, unter ihnen insbesondere Thomas Jefferson, ärgerten sich über diesen Vorwurf eines geringeren Formats in der Neuen Welt und bemühten sich energisch darum, Buffon zu widerlegen. Dieses Motiv wurde zur Ursache für Jeffersons peinlichsten Fehler: Er ordnete die Klaue eines großen fossilen Faultiers (Ironie des Schicksals angesichts der Meinung Buffons über diese Spezies) einem Riesenlöwen zu, der alle seine europäischen Verwandten in den Ausmaßen übertroffen hätte. Georges Cuvier, der Jeffersons Irrtum später richtig stellte, gab der neuen Faultierart diplomatisch den Namen Megalonyx jeffersoni. 3. Evolution und Wesen der biologischen Arten. In den meisten älteren Sys temen versuchte man diese Grundeinheiten (für Gruppen von Lebewesen) anhand einzigartiger Merkmale des Körperbaues zu definieren, die bei allen Mitgliedern einer Art vorhanden sind und bei allen Mitglie dern einer anderen fehlen – ein Kriterium aus der Typenlehre, das in der wirklichen Welt mit ihren Nuancen und Ausnahmen zum Scheitern ver urteilt war. Buffon dagegen bemühte sich um eine Definition, die ihre Wurzeln in Stellung und Verhalten der Gruppen in der Natur hatte. Deshalb sollte nach seiner Ansicht die Fähigkeit, sich mit anderen Angehörigen derselben Art zu kreuzen und mit ihnen gesunde, fruchtbare Nachkommen hervorzubringen, zum Hauptkriterium für die Abgrenzung der natürlichen Gruppen werden. Damit legte er das Fundament für die mo derne Vorstellung, wonach eine Population untereinander in Wechselbe
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Ziehung stehender Lebewesen die Grundeinheit der Natur ist, und er ver warf die alte platonische Alternative, die Suche nach entscheidenden, de finierenden Merkmalen, durch die eine zufällige Anordnung tatsächlicher Materie (das heißt ein wirkliches Lebewesen) mit dem idealisierten eidos oder Archetypus seiner immergleichen Art in Verbindung steht. Die altehrwürdige (und gefährliche) Tradition, die Größe früherer Persönlichkeiten an ihrer angeblichen Vorwegnahme moderner Überzeu gungen zu messen, wurde für viele Autoren fälschlich zum Anlass, diese ökologische Artdefinition und die mit ihr zusammenhängende Ablehnung fester platonischer Archetypen zum Musterbeispiel einer Evoluti onstheorie zu erklären – womit sie Buffon zu einem würdigen Vorläufer Darwins auf einem geraden Weg zur Wahrheit machten. Aber solche einseitigen Rückgriffe vom heutigen Wissen auf in sich schlüssige, dabei jedoch grundlegend andersartige frühere Denksysteme machten jede Bemühung zunichte, die Ideengeschichte als faszinierendes Kaleidoskop veränderlicher Weltanschauungen zu begreifen, die jeweils in sich vollständig entwickelt waren und damit sowohl unseres Respekts als auch un seres Verständnisses wert sind, obwohl sie zwangsläufig (wenn Wissenschaft überhaupt einen Wert hat) später eine Neuformulierung erlebten, die uns den Wirkungsweisen und Ursachen der Natur näher brachte. Buffon war kein Evolutionsforscher im heutigen Sinn und konnte es auch nicht sein (auch wenn seine Histoire naturelle so ausführlich und vielfältig ist, dass man mit einem aus dem Zusammenhang gerissenen Zi tat nahezu jede Meinung begründen kann). Sein System ließ innerhalb der ursprünglichen biologischen Arten, die durch ihre Fähigkeit zur gegenseitigen Kreuzung definiert waren, Wandel in begrenztem Umfang zu. Buffon bezeichnete diese kleineren Veränderungen als »Degeneration«, die durch Klimaveränderungen ausgelöst werde. (Sein Begriff Degenera tion hatte nicht die heutige Nebenbedeutung von »Verfall« – die von ihm beschriebenen Veränderungen führten in der Regel sogar zu einer besse ren Anpassung einer Art an die örtliche Umgebung –, sondern er meint damit eine Abweichung von der »inneren Form« oder inneren Leitlinie für die Identität einer Spezies während ihrer Entwicklung.) Buffons komplizierte, verwirrende Vorstellung von der moule intérieur (oder »inneren Form«) bildete das Fundament für seine grundlegenden Theorien über die Embryologie und die langfristige Geschichte des Lebendigen. Er übernahm von Aristoteles die Unterscheidung zwischen der
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steuernden Form einer biologischen Art und der Materie, aus der das tatsächliche Lebewesen besteht. Piatons Begriff einer äußeren, ewigen Form lehnte er ab; stattdessen stellte er sich wie Aristoteles die Form als Attribut vor, das die unstete Materie von innen heraus gestaltet. Die moule intérieur war in Buffons Augen die Leitlinie für die Form und konnte des halb nicht so labil (oder überhaupt nur formbar) sein wie die Materie selbst, denn sonst müsste in der Natur jegliche allgemeine Ordnung ver schwinden (undenkbar für einen Rationalisten der Aufklärung wie Buf fon), und jedes Lebewesen wäre dann nur noch ein Klumpen Wachs, der seine Gestalt ausschließlich durch die Zufälligkeiten der unmittelbaren Umgebungsbedingungen erhält. Eine vollständige Evolutionstheorie hätte in Buffons Augen die zwar komplizierte, aber völlig rationale Ord nung zerstört, um deren Definition er sich in seinem unnachahmlichen Stil bemühte.
Buffons Ruf Wenn Buffon die Wissenschaft seiner Zeit so stark prägte, warum überlebte sein Name dann nicht ebenso nachdrücklich wie die Spur seiner Ideen? Dafür können wir mehrere Gründe nennen und unterscheiden; sie alle haben mit dem zentralen Thema zu tun, das ich zu Beginn dieses Es says umrissen habe: mit der Größe des Ruhmes und der Tatsache, dass dauerhafte Bekanntheit häufig nicht im Einklang mit dauerhaftem Ein fluss steht. Klangfetzen sind nicht nur eine Erfindung der modernen Medien in einer rastlosen Zeit, die ihre Geschichte völlig vergessen hat. Die Men schen brauchten immer einfache Etiketten, damit sie sich an Gründe und Bedeutung von Ereignissen erinnerten, die unsere Vergangenheit geformt haben. Kann man den Leistungen eines Menschen nicht eine solche cha rakteristische Kennzeichnung anheften, wird er vermutlich aus dem Blickfeld verschwinden. Alle bekannten Persönlichkeiten und Ikonen der Wissenschaftsgeschichte tragen (zumindest für die Erkennung durch die Allgemeinheit) solche Etiketten – bei Kopernikus ist es die Neuordnung des Sonnensystems, bei Newton die Gravitation, bei Darwin die Evolution und bei Einstein die Relativitätstheorie (deren Aussagen die meisten von uns noch nicht einmal zutreffend umreißen können). Das Prinzip gilt
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auch nicht nur für die Geistesgeschichte; jeder braucht einen solchen Aufhänger – Pandora ihre Büchse, Lady Godiva ihre Haare, Mark McGwire sein Schlagholz. Die allgemeine Gesetzmäßigkeit hat aber auch eine Kehrseite, wenn Personen trotz starker, stetiger Leistungen nur noch mit einem unvergesslichen, öffentlichen Augenblick höchsten Ärgers gleichgesetzt werden – der Baseballspieler Bill Buckner mit einem Ball, der zwischen seinen Beinen abprallte, und ein anderer Bill mit etwas anderem zwischen seinen Beinen.* Buffon hatte eine Leidenschaft für Ordnung, aber er entwickelte keine zentrale Theorie, die man an einer denkwürdigen Formulierung oder einem Konzept festmachen könnte. Er schrieb bändeweise unvergleichliche Prosa und vertrat zu allen wichtigen Themen der Naturgeschichte eigene, manchmal sehr radikale Ideen. Aber in seinem System gibt es keinen einzelnen roten Faden. Außerdem war Buffon vielleicht sogar ein wenig zu erdverbunden, einen Hauch zu praktisch, als dass er jemals eine umwäl zende Weltanschauung hätte entwickeln können, die (wie Darwins natür liche Selektion) so klar und einheitlich gewesen wäre, dass man sie sowohl eindeutig mit seiner Person in Verbindung bringen als auch als entschei dende Theorie der Naturwissenschaft erkennen konnte. In dieser unangenehmen Doppelrolle – einerseits überlebensgroß und andererseits tief im Leben seiner eigenen Gesellschaft verwurzelt – musste Buffon häufig jonglieren und täuschen, übertünchen und unterdrücken, damit seine Leser und die Machthabenden vom Priester über seinen Schutzherrn bis zu den Pariser Politikern ihn nicht wegen allzu starker Verletzung der Empfindlichkeiten seiner Umgebung fallen ließen. Buffon besaß eine radikale Ader, die halsstarrige Unabhängigkeit aller großen Denker. Mademoiselle Blesseau, seine Haushälterin und Vertraute, fasste Buffons Charakter in einem Brief zusammen, den sie kurz nach dem Tod des Meisters an seinen Mitarbeiter Faujas de Saint-Fond schickte: »Niemand konnte sich jemals das Verdienst erwerben, ihn unter Kontrolle zu bringen.« Jacques Roger meint dazu: Er lebte in einer hierarchischen Gesellschaft und wusste sich darin ohne übermäßige Skrupel oder entwürdigende Unterwürfigkeit einen Platz * Ich schreibe diesen Essay im Sommer 1998, in medio Monicae anni, unmittelbar vor einem Amtsenthebungsverfahren gegen einen Präsidenten.
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zu verschaffen. Er nutzte die vorgefundenen Institutionen und ver suchte nicht, sie zu verändern; das war nicht seine Angelegenheit, und er hatte kein großes Vertrauen in die Klugheit der Menschen. Buffon war viel zu sehr in alle möglichen Aufgaben verstrickt und konnte deshalb die geistige Welt nicht durch eine zusammenhängende Vision verändern – zu sehr beschäftigt mit seinen Rechten und seinem Vermögen als Grundbesitzer (als solcher war er gerecht, aber anspruchsvoll, bei Angrif fen streitlustig und nicht sonderlich freundlich) sowie mit den Umtrie ben, durch die er seinem Anwesen oder seinem (und des Volkes) Garten und Museum in Paris neue Ländereien hinzufügen wollte. Allzu eifrig verwaltete er nach dem frühen Tod seiner Frau den Haushalt, und er sorgte sich um seinen einzigen, missratenen Sohn, der unter dem Ruhm seines Vaters litt und den abschätzigen Spitznamen Buffonet trug. (Nach dem Tod seines Vaters endete Buffonet während der Schreckensherrschaft un ter der Guillotine.) Allzu sehr engagierte er sich in seiner langjährigen, zärtlichen und geflissentlich diskreten Beziehung zu Madame Necker, der Ehefrau des Finanzministers, die ihm auch während seiner letzten Krank heit und im Tod zur Seite stand. Bei so viel Wirrwarr blieb weder Zeit noch ausreichend ruhiger, längerer Freiraum, um eine widerspruchsfreie, radikale Neukonstruktion des Naturbegriffs zu entwickeln und zu vertreten. Am besten zeigt sich dieser charakteristische (und letztlich einschrän kende) Aspekt seines Charakters an Buffons Einstellung zur Religion und seiner Beziehung zum katholischen Klerus in Frankreich. Er war fast ohne jeden Zweifel im Innersten seiner Seele ein Materialist und in Bezug auf seinen eigenen Glauben zumindest ein Agnostiker. Ein Musterbeispiel für seinen öffentlich vertretenen Standpunkt und seine persönliche Haltung ist beispielsweise eine freimütige, private Bemerkung gegenüber Herault de Sechelles: »Ich habe dem Schöpfer immer einen Namen gegeben; aber wir brauchen natürlich dieses Wort nur wegzulassen und können die Macht der Natur an seine Stelle setzen.« In seinen Veröffentlichungen spielt Buffon mit der Religion ein langwieriges Katz-und-Maus-Spiel. Die Histoire naturelle enthält eine Fülle blumiger, konventioneller Lobeshymnen auf die allmächtige Gottheit, Schöpfer aller Dinge im Himmel wie auf Erden. Inhaltlich jedoch stellt Buffon an vielen Stellen die traditionellen Ansichten und biblischen Texte in Frage. Zu Beginn seiner Naturgeschichte, im (1749 erschienenen) Band 1
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über die »Theorie der Erde«, vertritt er sogar ganz offen die Ansicht, unser Planet habe einen unendlichen, historischen Kreislauf der allmählichen Erosion und Freilegung der Kontinente durchgemacht, der niemals durch eine Katastrophe unterbrochen wurde. (Buffon leugnete nicht ausdrück lich Noahs Sintflut, aber dass diese Folgerung sich daraus ergab, konnte niemand übersehen.) Am 15. Januar 1751 griff die theologische Fakultät der Sorbonne Buf fon mit einem scharfen Brief an und verlangte Widerruf oder Zensur. Buffon antwortete auf seine übliche, bodenständige Art mit einer kurzen Notiz, in der er sich scheinbar entschuldigte; darin behauptet er, er glaube »sehr fest an alles was [im Ersten Buch Mose] über die Schöpfung berichtet wird, sowohl was die zeitliche Reihenfolge als auch was die Umstände der Tatsachen angeht«, und seine Theorie habe er »nur als rein philoso phische Annahme« zur Diskussion gestellt. Anschließend, 1753, veröffentlichte er den Brief der Sorbonne und seine Erwiderung im vierten Band seiner Histoire naturelle und allen weiteren Auflagen. Als ich jünger war und mich von dem falschen Mythos betören ließ, der Krieg zwischen Wissenschaft und Religion sei der Weg des Fortschritts in der abendländischen Geschichte, hielt ich Buffons Widerruf für eine traurige Episode des Märtyrertums. Heute sehe ich die Sache ganz anders. Aus dem Vorfall ging Buffon mit Sicherheit als Sieger hervor. Er schloss mit seinen Feinden ein formales Abkommen, wehrte alle zukünftigen Angriffe ab, veröffentlichte eine bedeutungslose »Entschuldigung«, die niemand für ehrlich halten würde, und veränderte an seinem ursprünglichen Text kein einziges Wort. »Besser demütig als aufgehängt«, schrieb er im Zusammenhang mit der unangenehmen Episode an einen Kollegen; Paris vaut bien une messe. Als Buffon aber im Sterben lag, verlangte er dennoch mit einem letzten Körnchen Leidenschaft, das nun ergreifend ehrlich erscheint, nach der Letzten Ölung. Zuvor hatte er in seinem üblichen, ein wenig zynischen Ton zu Herault de Sechelles gesagt: »Wenn ich gefährlich krank werde und mein Ende nahen fühle, werde ich nicht zögern, nach den Sakramenten zu schicken. Man ist es dem öffentlichen Kult schuldig.« Jetzt aber, als es tatsächlich so weit war, bat er anscheinend nur noch für sich selbst. Madame Necker beschrieb seine letzten Augenblicke so: »Er sprach zu Vater Ignace und sagte zu ihm in sehr ängstlichem Ton: Jemand soll mir den lieben Gott geben! Schnell! Schnell!‹... Vater Ignace spendete ihm die
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Kommunion und M. de Buffon wiederholte während der ganzen Zeremonie: ›Gebt es doch! So gebt es doch!‹« Wie dieser komplizierte Wirrwarr aufzulösen ist, diese Mischung aus Pragmatismus und ehrlicher Überzeugung, weiß ich nicht. Vielleicht kommen wir nicht weiter als bis zu Jacques Rogers verständnisvoller Er kenntnis: Dass Buffon in allem eine Leidenschaft für Ordnung hatte – in seinem Tagesablauf, seinen Berichten, seinen Papieren und seinem Leben, aber nicht weniger auch in seinen Untersuchungen der Natur –, war ein so offenkundiger Aspekt seines Temperaments, dass sie auch seinen Zeit genossen auffiel. Er wollte Ordnung, aber nicht irgendeine; er strebte nach einer wahren, gerechtfertigten Ordnung. Buffon wünschte sich eine Ordnung in der Gesellschaft, und ... er legte einige Regeln fest, nach denen sich eine solche Ordnung richten sollte. Eine davon ist der Respekt vor der überlieferten Religion, und daran hielt er sich während seines ganzen Lebens. Wenn wir alle bisher genannten Gründe für das Verschwinden von Buffons Namen als vorwiegend »negativ« einstufen (weil er keine umwälzende, charakteristische neue Sichtweise für das Lebendige aufbaute und vertrat), müssen wir eine Reihe weiterer Faktoren als »positives« Schicksal aller großen Reformer betrachten, die ein so breites Interessenspektrum haben und eine so unmittelbare Wirkung ausüben. Zunächst einmal gehört zur Erdverbundenheit auch eine Kehrseite, die zur späteren Unsichtbarkeit beiträgt. Menschen, die Institutionen aufbauen (keine Träumer und Schaumschläger, sondern Leute der Tat), sich für Bildungsreformen ein setzen oder die Lehrbücher zur Anleitung ganzer Studentengenerationen verfassen, werden in ihrer eigenen Generation sehr bekannt, und sei es auch nur, weil sie von allen, die auf demselben Gebiet arbeiten wollen, ge ziemende Ehrerbietung verlangen. Wenn sie aber sterben und die Fäden der Macht nicht mehr in der Hand halten, verschwindet ihr Name sehr schnell aus dem Gedächtnis, obwohl ihre Institutionen und Bücher die Geschichte des Denkens vielleicht weiterhin tief greifend und in großem Umfang prägen. Wir können also festhalten, welche Ironie die Erdverbundenheit vor dem Hintergrund größerer Zeiträume birgt: Man erkauft unmittelbare
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Anerkennung im Leben mit dem seltsamen Status eines fortdauernden, aber anonymen Einflusses. Wie hätte sich die französische Biologie ohne das Muse’um und ohne die vierundvierzig Bände der Histoire naturelle entwickelt? Reicht eine große Entdeckung eines Einsiedlers jemals an die letztlich stillschweigenden Errungenschaften einer solchen Erdverbun denheit heran? T. H. Huxley dürfte mit seinen unermüdlichen Vorträgen, Ermahnungen, populären Büchern und politischen Aktivitäten sowie mit seiner Mitarbeit in Regierungskommissionen eine größere Wirkung in der britischen Gesellschaft hinterlassen haben als Darwin selbst. Dennoch bleibt Darwin, der in den letzten Jahrzehnten seines Lebens sein Haus auf dem Lande selbst für kurze Abstecher nach London kaum noch verließ, der Inbegriff unserer Entdeckungen und Ängste (nach meiner Überzeu gung zu Recht, aber das ist eine andere Geschichte) – während die Erinnerung an Huxley verblasst ist. Woran können wir demnach Buffons fortdauernde Gegenwart ermes sen? An dem neuen, ausgezeichneten Umbau der Grande Galerie seines Muse’um, die damit zu einer der schönsten modernen Ausstellungen über Evolution wurde? An der Histoire naturelle, einem Werk, das nie völlig vergriffen war und den Studenten auf der ganzen Welt mehr als ein Jahrhundert lang als grundlegendes Lehrbuch diente – oft in Raubdrucken, die den Namen Buffon nicht einmal erwähnten? (So wissen nach meiner Vermutung nur die wenigsten, dass der Dichter Oliver Goldsmith zum Broterwerb eine vielbändige History of the Barth and Animated Nature schrieb, die kaum mehr ist als ein mit wenigen Anmerkungen versehener Buffon. Zu meiner eigenen Sammlung populärwissenschaftlicher Bücher gehört ein Band, der in New York gegen Ende des 19. Jahrhunderts erschien und den Titel Buffons Natural History trägt – es ist ein Mischmasch kleiner Versatzstücke aus seiner Naturgeschichte, für den Buffons Nachkommen zweifellos keinen Pfennig an Tantiemen erhielten.) Schließlich aber gehört zu den positiven Gründen für den widersprüchlichen Zusammenhang zwischen späterer Anonymität und fortdauerndem Einfluss auch ein Faktor, den man als entscheidend betrachten sollte und der auch das Kernstück von Buffons größtem Beitrag zur Geistesgeschichte in sich zusammenfasst. Einige der großartigsten Hilfs mittel im Arsenal unseres Bewusstseins sind so umfassend und allgemein tätig, dass wir die Urheberschaft kaum einer einzigen Person zuschreiben können. (Man kann Darwin als Entdecker der natürlichen Selektion iden
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tifizieren und ihn sogar als denjenigen bezeichnen, der als Erster auf Grund handfester, aus allen Gebieten der Naturwissenschaft gewonnener Befunde die Idee der biologischen Evolution vertrat. Aber für die Ansicht, dass die Natur nichts Unveränderliches ist, sondern einer Entwicklung unterliegt, können wir keinen Entdecker benennen.) Buffon wurde zur zentralen Gestalt in einer der größten Umwälzungen des menschlichen Denkens – in der Entdeckung, dass Geschichte der Leit faden für die Organisation unserer Kenntnisse über die Natur ist, so auch über zahlreiche Aspekte der Vielfalt unserer eigenen Spezies (von der Sprache über die Kunst bis zu Gesellschaftssystemen). Als man das gewaltige Alter der Erde erkannte und als revolutionäre Ideologien in vielen Teilen Europas und Amerikas an die Stelle der Monarchien traten, lag eine solche Neugestaltung des Wissens »in der Luft«, und sie hätte sich auch abgespielt, wenn Buffon nie geboren worden wäre (siehe Paolo Rossi, The Dark Abyss of Time, University of Chicago Press, 1984). Aber mit seinem unvergleichlichen Prosastil – dem besten Medium zur Vermittlung einer solchen Umwälzung – in Verbindung mit einer großen, begeisterten Leserschaft wurde Buffon zu einem einflussreichen Brennpunkt der Umwälzung, und die Histoire naturelle war sein wichtigstes Hilfsmittel.
Buffons Entdeckung und Definition der Geschichte Ein wirklich historischer Bericht über die Natur muss sehr lange Zeiträume einbeziehen. Aber die Zeit liefert nur das Gerüst für den Ablauf der Ereignisse. Damit daraus Geschichte wird, muss man die Phä nomene in erzählender Form anordnen, das heißt, man muss eine zeitliche Abfolge herstellen, deren Richtung durch eine Folge komplizierter, nicht wiederholbarer Ereignisse vorgegeben ist, wobei sinnvoll begründete Übergänge die Verbindung von einem zum nächsten herstellen. Oder kurz gesagt: Damit eine solche Reihe zur Historie wird, muss sie eine echte Geschichte sein. Vor Buffon spielte Geschichte in der Naturwissenschaft so gut wie keine Rolle. Die Lebewesen waren angeblich in jungfräulicher Vollkommenheit auf einer jungen Erde erschaffen worden, und ausgestorben war keines von ihnen (außer beim einzigartigen Ereignis der Sintflut – und ein ein zigartiges Umwälzungsereignis ist keine Geschichte). Die Gesteine auf der
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Erde waren entweder ursprüngliche Schöpfungen oder Hinterlassenschaften der Sintflut. Selbst die einflussreichen kosmologischen Ideen Newtons und des jüngeren, höchst intelligenten Buffon-Kollegen Laplace leugneten ausdrücklich eine Historie und postulierten stattdessen genau wiederholte Zyklen einer »ewigen Wiederkehr« (vielleicht mit kleinen korrigierenden Abwandlungen) – genau das erkannte Darwin messerscharf, als er am Ende seiner Entstehung der Arten (1859) die historische Vielfalt der Evolution den sterilen, endlosen kosmologischen Kreisläufen gegenüberstellte: »... dass, während unser Planet den strengsten Gesetzen der Schwerkraft folgend sich im Kreise geschwungen, aus so einfachem Anfange sich eine endlose Reihe der schönsten und wundervollsten For men entwickelt hat und immer noch entwickelt.« Was Buffon betraf, so machten seine Ansichten zwischen dem Beginn der Naturgeschichte 1749 und dem Erscheinen des wichtigsten Bandes 1778 eine äußerst wichtige Wandlung durch, und er wurde zu einem Vertreter der historischen Denkweise. Wie bereits erwähnt, nahm er schon 1749 im ersten Band eine radikale Haltung ein, indem er für die Erde ein hohes, unbestimmtes Alter postulierte. Seine anfängliche Theorie der Erde enthielt bereits ein wichtiges historisches Element: die erste bedeutende Hypothese über die Entstehung der Planeten durch einen Kometeneinschlag auf der Sonne, deren weggeschleuderte Massen dann die Kugeln der Planeten bildeten. Aber nach diesem fulminanten Beginn machte die Erde in Buffons erstem Band keine weitere Geschichte mehr durch – in seinen Augen hatte die Geologie nur eine Reihe sich wiederholender Kreisläufe mit der Erosion und Freilegung der Kontinente entdeckt. Aber Buffon wurde zum lebenden Gegenbeweis für die Klischeevorstellung, Wissenschaftler kämen entweder in der Jugend oder überhaupt nicht auf gute Ideen: Er stellte seine ursprüngliche Überzeugung auf den Kopf und entwickelte eine zutiefst historische Theorie der Erde; das Ergebnis veröffentlichte er mit 71 Jahren in einem Band, der mit Ab stand zum beliebtesten, einflussreichsten und umstrittensten wurde: Des fyoques de la nature (Die Epochen der Natur), erstmals erschienen 1778 als Ergänzungsband 5 der Histoire naturelle. Diese Abhandlung wurde, was die Durchsetzung einer ganz und gar historischen Sichtweise für die Natur angeht, zum wichtigsten wissenschaftlichen Dokument aller Zei ten. (Da Buffons Einfluss im Wesentlichen auf seine Sprachbeherrschung zurückzuführen ist, führt Die Epochen der Natur uns auch das häufig un
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terschätzte Prinzip vor Augen, dass literarischer Stil für den Erfolg natur wissenschaftlicher Ideen möglicherweise nicht bedeutungslos ist.) Wie ich aber bereits dargelegt habe, warf dieser Übergang zum historischen Den ken so umfassende Fragen auf, für die so viele Objekte und Methoden eine Rolle spielten, dass er nicht in den Händen eines Einzelnen liegen konnte – und deshalb war Buffons Name nie untrennbar mit seiner wichtigsten geistigen Errungenschaft verbunden. Die Epochen der Natur erwuchs aus vielschichtigen Wurzeln in Buffons Psyche und Tätigkeit. Er dachte sich diesen wichtigen Wandel nicht ein fach am grünen Tisch aus. Seit er die Theorie der Planetenentstehung durch einen Kometeneinschlag entwickelt hatte, suchte Buffon immer nach Anhaltspunkten für den Zeitpunkt dieses Ereignisses und demnach auch für das Alter der Erde. (Mit »unbestimmter Länge« konnte sich ein Mann von seiner unermüdlichen Energie nicht zufrieden geben.) Nach dem er seine Eisen-Schmelzöfen gebaut hatte, kam er auf eine praktikable Idee. Wenn die Erde bei ihrer Entstehung ein Feuerball gewesen war, konnte er vermutlich die Zeit berechnen, die für eine ausreichende Abkühlung und die Entstehung einer festen Oberfläche erforderlich war – einer Oberfläche, die als Untergrund für geologische Schichten und das Leben selbst dienen konnte. Also begann Buffon mit Metallkugeln zu experimentieren, die er in sei nem Schmelzofen hergestellt hatte. Die Ergebnisse übertrug er mit theoretischen Hochrechnungen auf Eisenkugeln von der Größe der Erde und dann – realistischer – auf unterschiedlich zusammengesetzte Kugeln, die in ihrem Aufbau eher der Erde ähnelten. Solche Experimente und Berechnungen verfolgte Buffon mehrere Jahre lang weiter, und es machte ihm ganz offensichtlich Spaß, zu seinen mathematischen Wurzeln zurückzukehren. Mit den Ergebnissen füllte er mehrere Kapitel der His toire naturelle, und schließlich gelangte er zu dem Schluss, die Erde müsse mindestens 75 000 Jahre alt sein, vermutlich aber noch erheblich älter. Mit den Experimenten waren die langen Zeiträume quantitativ belegt, aber die Arbeiten setzten in Buffons Denken auch eine noch wichtigere Veränderung in Gang: Sie gaben ihm einen Schlüssel zur Historie in die Hand. Eine Erde, die sich ständig abkühlt, liefert einen Zeitpfeil, eine Grundrichtung für ihre Oberfläche und für das Lebendige. Da alle Lebewesen in vollkommener Anpassung an ihre Umwelt entstanden sein soll ten, und da diese Umwelt in einer eindeutigen zeitlichen Richtung immer
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kühler geworden war, musste sich auch die Zusammensetzung der Tierwelt ändern, denn manche Arten sterben aus, wenn das Klima ihre An passungsfähigkeit überfordert, und anschließend erscheinen neue, an die veränderten Umstände angepasste Lebensformen auf der Bildfläche. (Ein Beispiel, wie radikal Buffons historische Sichtweise war: Die Vor stellung vom Aussterben war für die traditionellen Naturforscher ein Schlag ins Kontor, denn sie waren nach wie vor überzeugt, die Erde sei von Anfang an in jeder Hinsicht vollkommen gewesen, und es sei deshalb eine völlig abwegige Idee, dass Arten wegen mangelnder Anpassung verschwinden. Buffons Rivale Thomas Jefferson konnte viele gute Gründe anführen, warum er Lewis und Clark auf ihre berühmte Expedition schickte, aber ein kleiner Aspekt war auch seine Hoffnung, die beiden Ent decker würden im noch unerforschten Westen lebende Mammuts entdecken und damit Buffons Behauptung erschüttern, dass Arten sterben können.) Buffon konstruierte eine reichhaltige Geschichte mit sieben aufeinander folgenden Epochen, die alle durch die ständige Abkühlung der Erde, ursprünglich eines Balls aus Sonnenfeuer, geprägt wurden: zunächst die Entstehung von Planeten und Erde durch einen Kometeneinschlag; zweitens die Bildung der festen Erde und ihrer Minerallagerstätten; drittens die Entstehung einer völlig von Wasser bedeckten Erdoberfläche einschließlich der Meereslebewesen; viertens der Rückzug des Wassers und der Aufstieg der Kontinente; fünftens das Auftauchen von Tieren an Land; sechstens die Zerstückelung der Kontinente und die Bildung der heutigen Oberfläche; und siebtens die Entstehung des Menschen und sein Aufstieg zur Macht. Interessanterweise folgt Buffon nicht dem traditionellen historischen Zeitpfeil – er behauptet nicht, das Lebendige sei immer komplexer geworden. Schon die ersten Meeresbewohner der Epoche Nummer drei (darunter Ammoniten und Fische) waren in seinen Augen höchst kom pliziert gebaut. Buffon war kein Evolutionsforscher, und sein Zeitpfeil war ein Pfeil der abnehmenden Wärme und nicht der zunehmenden Kom plexität der Lebewesen. Seine Überlegungen führten ihn zu einer pessimistischen Schlussfolgerung, die zur Triebkraft einer kosmischen Angst werden musste: Irgendwann wird die Erde völlig gefrieren, und alles Le ben wird ausgelöscht. Diese Vorstellung von einem »Kältetod« der Erde wurde zu einer der umstrittensten und interessantesten Ideen in der Geis
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teswelt des späten achtzehnten und frühen neunzehnten Jahrhunderts sowie zum Thema vieler Gedichte, Theaterstücke und Gemälde. Zu Buffons Geschichte gehört auch eine Reihe interessanter Konse quenzen, manche davon aus der Theorie selbst geboren, andere ausgelöst durch die Reaktionen der Leser. Ich möchte nur zwei erwähnen: ökoaktivisten könnten Buffon zum Buhmann erklären (und das sage ich mit einem Augenzwinkern); er kam nämlich auf die Idee, das Abbrennen der Wälder könne einen Treibhauseffekt verursachen, begrüßte dieses Anzei chen einer fortgeschrittenen Zivilisation aber ausdrücklich als Mittel, um den Kältetod der Erde hinauszuzögern. Buffon schrieb: »Reinigung, Rodung und die Bevölkerung eines Landes verschaffen ihm Wärme für mehrere tausend Jahre ... Paris und Quebec liegen ungefähr auf demselben Breitengrad; deshalb wäre es in Paris ebenso kalt wie in Quebec, wenn Frankreich und alle Regionen in seiner Umgebung ebenso arm an Menschen und von Wäldern bedeckt wären ... wie die benachbarten Land schaften Kanadas.« Und zweitens wurde Buffon zu seiner Überraschung zum Empfänger mehrerer üppiger Geschenke von Katharina I. von Russland (auch Katha rina die Große genannt) – er erhielt eine Pelzsammlung, alle Medaillen aus ihrer Regierungszeit (in Gold) und ihr Porträt auf einer goldenen, mit Diamanten besetzten Schnupftabaksdose. Katharina war begeistert von Buffons Ansicht, wegen der zunehmenden Abkühlung der Erde müssten neue biologische Arten in hohen Breiten entstehen und sich dann mit sin kender Temperatur bis in die Tropen verbreiten. Damit war Russland nicht mehr das eisige Zufluchtsgebiet, das die meisten anderen Autoren sich ausgemalt hatten, sondern eine Wiege des Lebens. Buffon, liebenswürdig wie immer, dankte der Zarin in einem überschwänglichen Brief, wünschte ihr viel Glück bei ihren Feldzügen gegen das ottomanische Reich (»diesen stagnierenden Teil Europas«) und verlieh seiner Hoffnung Ausdruck, »die wunderschöne Natur und die Künste ein zweites Mal unter dem Banner des kraftvollen Genies Ihrer Majestät vom Norden in den Süden herabsteigen zu sehen«. Außerdem schließlich wusste der ungeheuer ordnungsliebende Buffon genau, was er erreicht hatte. Er setzte sich ganz bewusst für die Geschichte als neues, richtungweisendes Thema der gesamten Natur ein. Dazu for mulierte er nicht nur eine Theorie über die Entstehung, den Zeitpfeil und sieben Epochen. Er wusste auch, dass der Triumph der Geschichte eine
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völlig neue Denkweise und eine ausdrücklich formulierte Vorgehensweise voraussetzte; beide waren den Wissenschaftlern seiner Zeit noch nicht vertraut, aber nur mit ihnen konnte man die ungeheuer lange, schlecht erhaltene Geschichte des Lebens auf der Erde rekonstruieren. Deshalb schlug er vor, die Naturwissenschaftler sollten sich an den Verfahrensweisen orientieren, die die Fachleute für Menschheitsgeschichte bereits aus gearbeitet hatten. Die Epochen der Natur beginnt mit dieser Forderung nach einem völlig neuen Denkansatz: In der Gesellschaftsgeschichte befragen wir Titel, wir untersuchen Orden, wir entziffern alte Inschriften, um die Zeitpunkte der mensch lichen Revolutionen zu ermitteln und die Daten der Ereignisse in ihrer vernünftigen Reihenfolge festzulegen. Ganz ähnlich ist es auch in der Naturgeschichte notwendig, die Archive der Welt auszugraben, alte Denkmäler aus dem Inneren der Erde zu ziehen, ihre Trümmer einzu sammeln und alle Anzeichen körperlicher Veränderungen, mit deren Hilfe wir in die verschiedenen Zeitalter der Natur zurückwandern können, zu einem einzigen Beweisgebäude zusammenzufügen. Dies ist der einzige Weg, um Punkte in der ungeheuren Weite des Raumes festzule gen und an der ewigen Straße der Zeit einige Meilensteine anzubringen. Kein anderer hätte vermutlich besseren Treibstoff für eine solche Umwälzung der menschlichen Geistesgeschichte liefern können als dieser Mann mit seiner unermüdlichen Energie; dieser Mann, der Schmelzöfen betrieb und sowohl die experimentellen als auch die mathematischen Mittel ent wickelte, um aus Eisenkugeln das Alter der Erde abzuleiten; der sechs unddreißig Bände der größten naturgeschichtlichen Abhandlung aller Zeiten verfasste und dazu dreißig Jahre lang jeden Tag vierzehn Stunden arbeitete. Und wenn alle diese Fähigkeiten und Eigenschaften keine Zei tenwende herbeiführen konnten, dann schrieb Buffon außerdem noch eine elegante Prosa, die ihm, der »nur« ein Naturforscher war, in seiner interessanten Zeit einen Platz unter den führenden Männern des Wortes sicherte. Buffon wusste sicher, wie man sich durchsetzt – denn wie der Stil, so der Mensch.
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5. Der Beweis von Lavoisiers Bildtafeln I. Randbemerkungen Vor vierzig Jahren hatte ich eine Lehrerin mit einer ganz besonderen Eigenart, die mich damals schrecklich ärgerte, aber heute – endlich, und Rache ist doch süß! – kann sie mir nützlich werden und als Symbol für den allgemeinen Prozess der menschlichen Kreativität dienen. Eine geizi gere Frau habe ich nie kennen gelernt, und obwohl sie Geschichte an einer Junior High School mitten in New York unterrichtete, hätte sie ohne wei teres eine genügsame Bäuerin aus Neuengland sein können, die eine Schachtel mit der Aufschrift »nicht mehr benutzbare Bindfäden« bei sich hatte. Wer Anfang der fünfziger Jahre in New York eine staatliche Schule besucht hat, erinnert sich sicher an jene kleinen gelben Zettel von höchs tens sieben mal fünfzehn Zentimetern, die zu allen möglichen Zwecken verwendet wurden, zum Aufschreiben von Quizfragen ebenso wie als »Leinwand« im Kunstunterricht. Einen solchen Zettel gab uns Mrs. Z. für jede Klassenarbeit – nur einen, ganz gleich, wie umfangreich die geforderten Antworten waren. Auf jede Frage, wie man sich am besten beschränkte oder ob man – Gott bewahre – noch einen zweiten Zettel be kommen könnte (was in ihrem Wertesystem ungefähr mit Oliver Twists Bitte um noch etwas Suppe vergleichbar war), reagierte sie mit einer strik ten Weigerung, gefolgt von der fröhlichen, mit ihrer seltsam trällernden Stimme vorgetragenen Anweisung: »... und wenn euch der Platz knapp wird, schreibt einfach auf den Rand!« Ränder spielen in der Geschichte der Gelehrsamkeit eine interessante Rolle, vor allem weil sie schizophrenerweise die Heimat für zwei besonders widersprüchliche Formen geistiger Tätigkeit darstellen. Spätere Kommentare zum gedruckten Text (auf die dann häufig mehrere Gene
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rationen von Kommentaren über Kommentare folgen) erhielten offiziell den Rang der »Marginalien«. Die Tatsache, dass solche Ausführungen in der Regel sekundär und trivial sind, weil mit jedem Wiederkäuen immer mehr über immer weniger gesagt wird, führt zu der Wörterbuchdefinition der Randbemerkungen als »nicht unbedingt notwendige Dinge« (Webster’s Third New International) und erinnert zwangsläufig an die berühmte und buchstäblich beißende Satire von Jonathan Swift: Denn jeder Floh, sagt der Zoolog, Dient kleinern Flöhn als Futtertrog, Und wieder kleinern dienen diese – Ad infinitum, die Devise. Genauso wird der Dichter dann Gebissen auch vom Hintermann. Aber Ränder dienen auch dem diametral entgegengesetzten Zweck: Sie nehmen die ersten Früchte und Fetzen neuer Erkenntnisse und radikalen Umdenkens auf. Wo sonst könnte kreativer Wandel beginnen, wenn an erkannte Weisheiten den gesamten Platz in der Mitte mit Beschlag belegen? Der Griesgram und Zyniker in mir hält Thoreaus Walden für den am übermäßigsten zitierten (und am wenigsten beeindruckenden) amerika nischen Klassiker, aber ich erliege mit Vergnügen zum ersten Mal der Versuchung, seinen Einzeiler über ein Leben sprühendes Dasein zu zitieren: »Ich lasse gern einen breiten Rand an meinem Leben.« Aber tatsächliche Ränder müssen schmal sein – und eine der größten Erkenntnisse in der Geistesgeschichte der Menschheit begann zwangsläufig unter derart empörend beengten Verhältnissen. Die berühmte Geschichte über Fermats letztes Theorem, so altvertraut sie auch sein mag, kann man in diesem Zusammenhang einfach nicht außen vor lassen: Als der große Mathematiker 1665 starb, fanden seine Henker in einem Exemplar der Arithmetica von Diophantes neben einer Erörterung der Be hauptung, es könne keine natürlichen Zahlen x, y und z geben, bei denen xn + yn = zn, wobei n eine natürliche Zahl größer als 2 ist, folgenden Kommentar: »Ich habe einen wirklich bemerkenswerten Beweis entdeckt, aber dieser Rand ist zu klein dafür.« Die Mathematiker konnten Fermats letztes Theorem erst vor wenigen Jahren beweisen, was mit Pauken und Trompeten bekannt gegeben wurde und eine Welle populärwissenschaft
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licher Bücher nach sich zog. Aber wir werden nie erfahren, ob Fermat wirklich den Besten unserer Zeit um dreihundert Jahre voraus war oder (was mir mein eigenes Gefühl sagt, zugegebenermaßen aber ohne gute Begründung) ob er eine vielversprechende Idee hatte und vor lauter Auf regung nicht ihren Schwachpunkt erkannte. Den vorliegenden Essay widme ich der fröhlicheren, genau umgekehrten Geschichte einer großen Erkenntnis: Hier gelang es (ganz knapp), sie auf einem engen Rand unterzubringen und zu entwickeln. Das Ganze ist aus Gründen, die ich nicht vollständig verstehe, sowohl bei Naturwissenschaftlern als auch bei Historikern praktisch völlig unbekannt (und in diesem frustrierenden Sinn vielleicht wirklich marginal), und das, obwohl der Protagonist zu dem halben Dutzend der größten Wissenschaftler in der gesamten Geschichte des Abendlandes gehört und obwohl das Thema zu seiner Zeit an der vordersten Front der Neuerungen stand. Jedenfalls kennzeichnet die Wandlung dieser Erkenntnis vom Status einer Rand bemerkung 1760 bis zu ihrer zentralen Stellung 1810 die Geburt der modernen Geologie. Außerdem verschafft sie uns die seltene, kostbare Gele genheit, einem herausragenden Denker über die Schulter zu schauen, der in der aufregendsten, lehrreichsten aller Epochen tätig war: am Ungewis sen Anfang der Kodifizierung eines wichtigen Teils unserer naturwissen schaftlichen Kenntnisse, zu einem einzigartigen Zeitpunkt in einer Landschaft, in der sich hundert Straßen kreuzen und doch alle in die richtige, allgemeine Richtung einer echten Wahrheit führten. Aber jede Straße mündet in ein etwas anderes Rom, und unsere endgültige Lesart für die Natur hängt entscheidend davon ab, welche Zufälle anfangs über den tatsächlich eingeschlagenen Weg bestimmen. Um 1700 glaubten alle abendländischen Gelehrten, die Erde sei erst vor wenigen tausend Jahren erschaffen worden. Um 1800 hatte sich fast bei allen die Erkenntnis durchgesetzt, dass sie ein sehr hohes, unbekanntes Alter besitzt und dass sich der Ablauf ihrer Geschichte in den Gesteinsschichten der Erdkruste widerspiegelt. Diese Schichtungen bilden, grob gesagt, einen senkrechten Stapel, in dem die ältesten Schichten unten und die jüngsten zuoberst liegen. An Stellen, wo diese Schichten an der Erd oberfläche zutage treten, kann man sie vermessen und daraus Rückschlüsse über die historischen Abläufe ziehen. Bis 1820 waren für Teile Englands und Frankreichs detaillierte geologische Karten erschienen, und man hatte für beide Länder allgemeine Gesetzmäßigkeiten nachgewiesen.
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Diese Entdeckung der »Tiefenzeit« und die nachfolgende Aufklärung historischer Vorgänge durch geologische Kartierung gehören zu den schönsten Triumphen der menschlichen Wissbegier. Nur die wenigsten Leser haben wahrscheinlich schon einmal etwas von Jean-Étienne Guettard (1715-1786) gehört, einem führenden Geologen und Botaniker seiner Zeit. Auf ihn geht der erste »offizielle« Versuch zurück, geologische Karten eines ganzen Landes herzustellen. Im Jahr 1746 präsentierte Guettard der Academie Royale des Sciences eine vorläufige »mineralogische Karte« Frankreichs, und in den folgenden Jahren veröffentlichte er ähnliche Karten für andere Gebiete, darunter auch Teile Nord amerikas. Deshalb erteilte der zuständige Minister für Bergbau Guettard 1766 den Auftrag, für ganz Frankreich eine geologische Übersichtsunter suchung durchzuführen und entsprechende Karten herauszubringen. Der geplante Atlas sollte 230 Karten enthalten, aber nach meiner Vermutung war allen Beteiligten klar, dass ein solches Unternehmen mit dem Bau einer mittelalterlichen Kathedrale vergleichbar war und dass kein Einzelner sie im Laufe seiner Karriere oder seines Lebens vollenden konnte. Die ersten sechzehn Karten veröffentlichte Guettard 1770. Anschließend wurde das Projekt zum Opfer politischer Intrigen und schließlich einer Revolution, die – um es vorsichtig auszudrücken – andere Interessen in den Vordergrund rückte. Von den geplanten 230 Karten erblickten nur 45 jemals in veröffentlichter Form das Licht der Welt, und die Leitung des Unternehmens war bis dahin schon völlig an Guettards Gegner übergegangen. Guettards Arbeiten sind nach heutigen Maßstäben keine geologischen Karten: Er gab sich keine Mühe, Schichtungen darzustellen oder sie als zeitlich aufeinander folgende Ablagerungen zu interpretieren – sie also nach den revolutionären Vorstellungen zu deuten, die einen Beleg für die großen Zeiträume darstellen und die geschichtliche Reihenfolge erkennen lassen. Als wichtigstes kartographisches Hilfsmittel führte Guettard viel mehr Symbole für verschiedenartige Mineralablagerungen, Gesteinsschichten und Fossilien ein, die er dann an den richtigen Stellen auf sei ner Karte einzeichnete. Wir können nicht einmal mit Sicherheit sagen, ob Guettard das Prinzip der Überlagerung verstand, das heißt die entschei dende Vorstellung, dass die Zeit sich in einer senkrechten Schichtung widerspiegelt, wobei jüngere Schichten über den älteren lagern. Guettard entwickelte eine Vorstellung von »bandes«, ungefähr konzentrischen Be reichen mit ähnlichem Gestein, und vermutlich wusste er, dass eine verti
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kale Schichtenfolge sich auf einer normalen geografischen Landkarte in Form solcher horizontaler Zonen darstellt. Ohnehin aber ließ er diese bandes auf seinen Karten absichtlich weg, angeblich weil er nur Tatsachen darstellen und Theorien vermeiden wollte. Diese Konzentration auf die Faktenbäume in Verbindung mit geflissentlicher Umgehung aller theoretischen Wälder aus allgemeinen Aussagen oder Erklärungen war das typische Kennzeichen für Guettards einge schränkte Vorstellung von Naturwissenschaft, und aus dem gleichen Grund genoss er später (wenn auch zu Unrecht) nur einen geringen Ruf – man konnte seinen Namen schlicht und einfach mit keinem Fortschritt der allgemeinen Erkenntnisse in Verbindung bringen. Die angesehene Wissenschaftshistorikerin Rhoda Rappoport vom Vassar College, eine weltweit führende Expertin für die französische Geologie im späten 18. Jahrhundert, schreibt (vor einem allgemeinen Hintergrund der Be wunderung und nicht der Geringschätzung) über Guettard: »Am offenkundigsten fehlte ihm die Begabung, zu verallgemeinern, die Folgerungen aus seinen eigenen Beobachtungen zu erkennen... Die meisten seiner Ar beiten zeigen ... dass er sich sehr um die Vermeidung des Gedankens bemühte, die Erde könne eine Geschichte haben.« Aber wenn es Guettard auch an dieser Form des geistigen Spürsinns mangelte, so ließ er andererseits sicher ein hervorragendes Urteilsvermögen erkennen, als er sich für seine geologischen Kartierungsarbeiten einen jüngeren Partner und Mitarbeiter suchte: Er teilte sich sein großes Projekt mit Antoine-Laurent Lavoisier (1742-1794), der zu Beginn ihrer Arbeiten 1766 noch ein vielversprechender Jüngling war und bis 1794, als die Guil lotine seine Laufbahn im wahrsten Sinne des Wortes abschnitt, zum größ ten Chemiker der Menschheitsgeschichte werden sollte. Guettard und Lavoisier unternahmen gemeinsam mehrere Freilandexpeditionen, darunter 1767 eine viermonatige Reise durch den Osten Frankreichs und Teile der Schweiz. Nachdem sie 1770 die ersten sechzehn Karten fertig gestellt hatten, verlagerte sich Lavoisiers Interesse von der Geologie zu den Ursachen seines dauerhaften Ruhmes – ein Wandel, der spätestens 1777 unwiderruflich wurde, als Antoine Monnet, der Generalinspekteur der Bergwerke und Lavoisiers Intimfeind, die Leitung der geo logischen Übersichtsuntersuchung übernahm. (In späteren Auflagen der Karten wird Lavoisiers Beitrag völlig übergangen, und häufig ist nicht ein mal sein Name genannt.)
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Trotz alledem blieb Lavoisiers Interesse an der Geologie bestehen, ver stärkt von Zeit zu Zeit durch die vorübergehende Hoffnung, man könne ihm wieder die Leitung der Übersichtsuntersuchung übertragen. Im Jahr 1789, als das Land an der Schwelle zur Revolution stand, brachte Lavoisier seine einzige wissenschaftliche Fachveröffentlichung über Geologie her aus, ein verblüffendes, bemerkenswertes Werk, das den Anlass zu dem vorliegenden Essay gab. Inmitten seiner neuen Aufgaben als regisseur des poudres (Direktor für das Schießpulver) und führender Kopf der Kom mission, die den Meter als neues Standardmaß erfand – und trotz der zunehmenden Schwierigkeiten, die schließlich zu seiner Verhaftung und Hinrichtung (wegen seiner früheren Funktion als Generalfarmer, das heißt als beauftragter Steuereintreiber) führten –, brachte Lavoisier wei terhin seine Absicht zum Ausdruck, neue geologische Untersuchungen in Angriff zu nehmen und seine alten Befunde zu veröffentlichen. Aber am 8. Mai 1794, noch nicht einmal drei Monate vor dem Sturz Robespierres und dem Ende der Schreckensherrschaft, machte die unwiderruflichste aller Veränderungen diese Pläne zunichte. Als der große Mathematiker Joseph-Louis Lagrange das tragische Schicksal seines geliebten Freundes beklagte, bediente er sich dazu des zentralen geologischen Themas der höchst unterschiedlichen Zeitmaßstäbe: »Sie haben nur einen Augenblick gebraucht, um ihm den Kopf abzuschlagen, aber es wird hundert Jahre dauern, bis Frankreich wieder einen solchen hervorbringt.« Das Duo Guettard/Lavoisier war ein Musterbeispiel für alle üblichen Kontraste: etablierter Konservativer und radikaler Anfänger; gereifter Profi und jugendlicher Enthusiast; pedantischer Zahlenfuchser und brillanter Theoretiker; ein Bäumezähler und ein Herr der Wälder. Lavoisier erkannte, dass man mit geologischen Karten weit mehr wiedergeben konnte als nur die Lage von Erzen und Steinbrüchen. Er spürte das Gären, das die Geburt einer neuen Wissenschaft begleitet, und er begriff, dass die Erde eine lange Geschichte hinter sich hatte, die sich in den Gesteinsschichten auf seinen Karten offenbarte. Im Jahr 1749 hatte Georges Buffon, der größte aller französischen Naturforscher, sein Monumentalwerk Histoire naturelle mit einer langen Abhandlung über Geschichte und Theorie der Erde eröffnet (siehe Kapitel 4). Als Lavoisier nach einem Weg suchte, um diese Geschichte mit Hilfe der Beobachtungen auf seinen Freilandexpeditionen zu begreifen, und als er sich damit herumschlug, die von anderen veröffentlichten Erkenntnisse
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mit seinen eigenen Befunden in Einklang zu bringen, erkannte er im Prin zip der Überlagerung den entscheidenden Schlüssel: Die vertikale Abfolge der übereinander liegenden Schichten muss sowohl die Zeiträume als auch die historische Reihenfolge widerspiegeln. Aber die vertikale Abfolge war von Ort zu Ort in allen nur vorstellbaren Eigenschaften unterschied lich – in Dicke, Gesteinstyp, Anordnung der Schichten. Wie konnte man aus diesem verwirrenden Durcheinander eine zusammenhängende Geschichte für ein großes Gebiet ableiten? Lavoisier wusste die Weisheit sei nes älteren Kollegen zu schätzen und erkannte, dass er zuerst eine Methode finden musste, um diese Unterschiede in ihrer tatsächlichen Form aufzuzeichnen und zusammenzustellen; erst dann konnte er darangehen, seine Befunde mit Hilfe einer allgemeinen Theorie zu ordnen. Deshalb schlug Lavoisier vor, man solle neben den herkömmlichen, mit Guettards Symbolen geschmückten Karten auch eine Zeichnung der ver tikalen Sedimentfolge hinzufügen. Aber wo konnte er die senkrechten Schnitte unterbringen? Natürlich an den Rändern; anderswo stand auf den fertigen Buchseiten kein Platz mehr zur Verfügung. Deshalb enthält jede Doppelseite des Atlas von Guettard und Lavoisier in der Mitte eine große Karte und an den Rändern zwei schmale Spalten: links eine Legende zu Guettards Symbolen, rechts Lavoisiers senkrechten Schnitt. Wenn ich
Eine geologische Karte von Guettard und Lavoisier. Am rechten Rand erkennt man Lavoisiers zeitliche Schichtenfolge.
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die Geburt der modernen Geologie in einen einzigen Satz fassen wollte (wobei sie allerdings, wie immer bei solchen Versuchen, übermäßig ver einfacht würde), müsste ich die – begriffliche wie auch geometrische – Wanderung von Lavoisiers Ansichten über die Erdgeschichte, die sich in Abfolgen von Gesteinsschichten offenbart, vom schmalen Rand ins Zen trum der Aufmerksamkeit nennen. Viele grundlegende Elemente unserer gemeinsamen Begriffswelt erscheinen uns nur deshalb offenkundig und unbestreitbar, weil wir sie (so zusagen) schon mit der Muttermilch eingesogen haben und nie auf die Idee gekommen sind, es könne auch Alternativen geben. Oft halten wir solche Vorstellungen – darunter die vom hohen Alter der Erde, der Auffaltung der Gebirge und der Ablagerung von Sedimenten – schlicht für beobachtete Tatsachen, die für sehende Menschen auf der Hand liegen; jede andere Lesart kann demnach nur aus den Domänen von Schurken oder Dummköpfen stammen. Aber viele dieser »offenkundigen« Grund kenntnisse entstanden ursprünglich als schwierige, anfangs widersprüch liche Schlussfolgerungen aus langwierigen Bemühungen, auf neue Weise zu denken und zu sehen. Wenn wir vorübergehend unsere heutige, gerechtfertigte Sicherheit außer Acht lassen, um noch einmal in die verwirrende Welt unserer geistigen Vorfahren mit ihren verwirrenden Übergängen einzutreten und auf diese Weise zu erfassen, wie aufregend solche neuen Erkenntnisse waren, dann begreifen wir auf einmal, warum jede grundlegende wissenschaft liche Neuerung neue Wege des Denkens mit einer besseren Sichtweise vermählen muss. Weder abstraktes Theoretisieren noch pedantisches Beob achten allein können einen Wandel in dieser Größenordnung auslösen. Und wenn es uns – wie in dieser Geschichte von Lavoisier und der Geburt der geologischen Kartierung – gelingt, eine der größten begrifflichen Ver änderungen der Wissenschaftsgeschichte mit einem der scharfsinnigsten Männer in Verbindung zu bringen, die jemals diesen Beruf beehrten, kön nen wir uns über die erweiterten Kenntnisse, die ein solches seltenes Zusammentreffen mit sich bringt, einfach nur freuen. Die meisten Menschen können mit ganz geringer Vorbildung ohne weiteres lernen, die geologische Geschichte eines Gebietes zu lesen; dazu brauchen sie nur die Verteilung der Gesteinsschichten auf einer ganz normalen geografischen Karte zu studieren und diese Informationen in Beziehung zu Längsschnitten zu setzen, in denen die Abfolge der Schichten
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wiedergegeben ist, wie man sie mit einem tiefen, an einer Stelle gegrabenen Loch freilegen würde. Aber bedenken wir einmal einen Augenblick lang, welche geistige Anstrengung dazu erforderlich wäre und welche Schwierigkeiten ein solcher Versuch mit sich bringen würde, wenn wir nicht bereits verstanden hätten, dass Berge aufsteigen und erodieren, dass das Meer kommt und geht, und das in jeder beliebigen Gegend unserer uralten Erde. Eine Landkarte ist eine zweidimensionale Abbildung einer Oberfläche; ein Längsschnitt stellt eine eindimensionale Reihe entlang einer Linie dar, die im rechten Winkel zu dieser Oberfläche ins Erdinnere verläuft. Um die Geschichte eines Gebietes zu verstehen, müssen wir beide Schemata im Geist zu einem dreidimensionalen Bild mit Zeit (die sich in der senkrechten Abfolge der Schichtungen ausdrückt) und Raum (wiedergegeben als horizontale Aufschlüsse der gleichen Schichtungen an der Erdoberfläche) zusammenfügen. Eine solche Zunahme der Dimensionszahlen gehört zu den schwierigsten intellektuellen Aufgaben. (Das begreift man sofort, wenn man den aufschlussreichsten Science-Fiction-Roman aller Zeiten liest: Flächenland von E. A. Abbott, erstmals erschienen 1884 und noch heute im Druck. In dieser »Romanze« – so die Bezeichnung des Autors – geht es um die Schwierigkeiten von Wesen, die in einer zweidimensiona len Welt leben, wenn eine Kugel in die Ebene ihres Daseins eindringt und sie zur Auseinandersetzung mit der dritten Dimension zwingt.) Was den zweiten Bestandteil unserer Verbindung betrifft, so kann ich nur eine persönliche Erfahrung anbieten. Ich besitze bestenfalls bruchstückhafte Kenntnisse über Chemie und kann deshalb nicht behaupten, ich hätte Lavoisiers größte Errungenschaften in diesem Fach gründlich verstanden. Aber ich habe mehrere Werke von ihm gelesen, und dabei blieb nie eines der seltensten Erlebnisse aus meiner eigenen Gefühlswelt aus: schiere Ehrfurcht, begleitet von kalten Schauern im Rücken. Durch Lavoisiers Schriften zieht sich eine geradezu unheimliche, durchsichtige Klarheit (und die führt dazu, dass ich mich wegen der Weitschweifigkeit in diesen Essays einfach nur schäme). Vielleicht – nein, eigentlich sogar mit Sicherheit – konnten auch einige andere Wissenschaftler ähnliche Intelligenz mit vergleichbaren Leistungen verbinden, aber wenn es darum geht, mit dem Licht der Logik noch die hintersten Winkel alter begrifflicher Gefängnisse und die undurch dringlichsten Massen verwirrender Beobachtungen auszuleuchten, um
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daraus neue Wahrheiten zu destillieren, die als lineare Gedankengänge jedermann zugänglich sind, reicht niemand an Lavoisier heran. Als Bei spiel für die Methodik des naturwissenschaftlichen Experimentierens (einschließlich des Doppelblindversuches als Grundprinzip) hat nie jemand etwas Besseres geliefert als das Dokument, das Lavoisier 1784 als Vorsitzender einer königlichen Kommission verfasste (zu der auch der da mals in Paris lebende Benjamin Franklin sowie – Ironie des Schicksals – Dr. Guillotin gehörte, dessen »humane« Erfindung Lavoisiers Leben ein Ende bereitete). Es ging um die Untersuchung – und, wie die Ergebnisse bewiesen, Widerlegung – der Behauptung des Dr. Mesmer, man könne Patienten in Trance versetzen (mesmerisieren) und dann durch tierischen Magnetismus ihre Krankheiten heilen. Lavoisier verfasste seine geologische Abhandlung erst 1789, aber wie Rhoda Rappoport nachweisen konnte, stützte er sich dabei auf Erkenntnisse, die er durch das Kartierungsprojekt mit Guettard gewonnen hatte. Lavoisier erfand das Konzept der Längsschnitte nicht, und er war auch nicht der Urheber der Idee, dass Schichtenfolgen auf einer sehr alten Erde die Vergangenheit einer Region widerspiegeln. Vielmehr beantwortete er eine Frage, die vergleichsweise unbedeutend erscheinen mag, in Wirklichkeit aber eine Grundvoraussetzung für jede funktionierende geologische Wissenschaft darstellt: Er wies nach, wie man die geologische Vergangenheit eines Gebietes aus den lokalen Unterschieden der Ge steinsschichten ablesen kann – oder mit anderen Worten, wie der größte aller wissenschaftlichen Apparate, der menschliche Geist, eine Reihe eindimensionaler Listen von Gesteinsschichten an einzelnen Orten zu drei dimensionalen Erkenntnissen über die Geschichte des geologischen Wan dels in einer ganzen Region zusammenfügen kann. (Ich habe meine Zweifel, ob Lavoisiers Arbeiten tatsächlich großen Einfluss hatten, denn er veröffentlichte nur einen einzigen Aufsatz über das Thema und lebte nicht lange genug, um seine umfangreicheren Vorhaben zu realisieren. Bald darauf gelangten andere Wissenschaftler zu ähnlichen Schlussfolgerungen, denn die Wissenschaft der Geologie wurde zur aktu ellsten Disziplin in der Naturwissenschaft des späten 18. Jahrhunderts. Deshalb geriet Lavoisiers Abhandlung trotz vereinzelter Bemühungen verschiedener Wissenschaftshistoriker im Laufe der Jahre in Vergessenheit, und der vorliegende Essay ist der bisher letzte Versuch, den einzigartigen Charakter von Lavoisiers Visionen und Leistung zu belegen.)
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In den 25 Jahren, seit ich diese Essays schreibe, habe ich eine umfangreiche Korrespondenz mit den Laien unter meinen Lesern geführt, und dabei habe ich begriffen, welches grundlegende Missverständnis im Zusammenhang mit der Naturwissenschaft bei jenen besteht, die das Fach gebiet lieben. (Von den verschiedenen Irrtümern, welche die Wissenschaftsgegner begehen, rede ich nicht.) Die Befürworter gehen davon aus, Größe und Bedeutung eines Werkes stünden in unmittelbarem Zusammenhang mit der angeblichen Breite der betreffenden Errungenschaften: Kleine Aufsätze beantworten eng begrenzte Fragen, große Werke beschäf tigen sich mit der generellen, allgemeinen Natur der Dinge. In Wirklichkeit aber spürt jeder praktizierende Wissenschaftler in seinem Innersten ganz genau, dass erfolgreiches Forschen strenge Selbstbeschränkung erfordert: Man muss eine Fragestellung formulieren, zu der es eine zugäng liche Lösung gibt, und dann eine so einfache Situation finden, dass die verfügbaren Tatsachen eine eindeutige Schlussfolgerung möglich ma chen. Größe erwächst dann möglicherweise aus einer Lawine von Konse quenzen, die sich in Richtung überprüfbarer, allgemeiner Aussagen bewegt. Zu einer allgemeinen Aussage gelangt man nicht, wenn man sie ohne geeignete Hilfsmittel anzugehen versucht. Ebenso könnte man davon träumen, den Mount Everest mit T-Shirt, Tennisschuhen und nichts als einem Apfel und einer Flasche Wasser im Rucksack zu besteigen.
II. Eroberung der Mitte Als Lavoisier 1766 bei Guettard mit seinen geologischen Arbeiten begann, machte er sich das damals übliche Szenario der Erdgeschichte zu Eigen, das sich im Gestein zeigte: Man stellte sich einen einfachen, gerichteten Ablauf vor, in dem alte Landmassen (die heute durch das kristalline Gestein der Gebirge repräsentiert sind) in einem Ozean versanken, während alle späteren Sedimente sich in diesem unveränderlichen Meer in einem einzigen Zeitalter der Ablagerung bildeten (mehr zu diesem Thema in Rhoda Rappoports wichtigem Artikel »Lavoisier’s Theory of the Earth«, British Journal for the History of Sciencey 1973). Da die Geologen damals noch nicht über Methoden verfügten, um die verzerrten Massen älteren Kristallingesteins zu analysieren, widmeten sie sich mit ihren Untersu chungen den späteren Schichtablagerungen und versuchten daraus eine
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Geschichte der einfachen, linearen Entwicklung abzulesen. (In dem älte ren Kristallingestein hatte man keine Fossilien gefunden, und deshalb nahm man in der Frühzeit der Geologie an, die gesamte Geschichte des Lebendigen sei in den jüngeren, schichtweise abgelagerten Felsen eingeschlossen.) Lavoisiers entscheidende Erkenntnis veranlasste ihn, diese einfache Sichtweise (wonach ein ständig vorhandenes Meer eine einzige Phase der Sedimentbildung durchmachte) aufzugeben und die gegenteilige Ansicht zu vertreten: Danach schwankte der Meeresspiegel in langen Zeiträumen, und deshalb hatten sich auch die Ozeane in einer Region mehrmals aus gebreitet und wieder zurückgezogen – eine Vorstellung, die heute so zum Allgemeinplatz geworden ist, dass jeder Geologe das Mantra der Erdgeschichte anstimmen kann: »Das Meer, das kommt, das Meer, das geht.« Lavoisier gelangte zu dieser radikalen Schlussfolgerung, indem er neue Ideen von Autoren wie Buffon und De Maillet mit seinen eigenen Beob achtungen an der sich wiederholenden Sedimentverteilung in Längs schnitten verband. Seinen Aufsatz von 1789 versah Lavoisier mit einem üppigen Titel, wie er für eine Zeit typisch war, die nicht zwischen Literatur und Naturwissenschaft unterschied: Observations generales sur les couches modernes horizontales qui ont ete deposeespar la mery et sur les consequences qu’on peut tirer de leurs dispositions relativement ä Vancienneti du globe terrestre (Allgemeine Beobachtungen über die neuen horizontalen Schichten, die vom Meer abgelagert wurden, und über die Folgerungen, die man aus ihrer Anordnung auf das hohe Alter der Erde ziehen kann). Lavoisiers Titel mag prunkvoll, allgemein und umfassend klingen, aber der Inhalt war präzise, lokal begrenzt und gezielt – jedenfalls am Anfang! Zu Beginn seiner Abhandlung unterscheidet Lavoisier zwischen den Eigenschaften von Sedi menten, die im offenen Meer und entlang der Küste abgelagert wurden –, und nach der gleichen Methode führt er dann die Daten für seine zentrale Behauptung auf, dass die Meere sich in jeder Region zyklisch ausbreiten und wieder zurückziehen. Nach zwei kurzen einleitenden Absätzen dringt Lavoisier sofort zum Kern der Sache vor: Er drückt sein Erstaunen darüber aus, dass zwei derart unterschiedliche Gesteinstypen sich in einem einzigen Längsschnitt so häufig abwechseln und zahlreiche Zyklen bilden. Für einen davon lassen Fossilien und Sedimente auf eine ruhige, sanfte Ablagerung schließen:
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»Hier findet man Mengen von Muschelschalen, die meisten dünn und zerbrechlich und doch zeigen sie keine Anzeichen von Abnutzung oder Abschaben ... Alle Eigenschaften [des Gesteins], das diese Schalen um gibt, weisen auf eine vollständig ruhige Umwelt hin.« Dagegen zeugt das unmittelbar darüber abgelagerte Gestein von ganz anderen Umständen bei seiner Entstehung: »Wenige Fuß über dem Ort, wo ich diese Beobach tungen machte, stellte ich die vollständig entgegengesetzte Situation fest. Hier sieht man nun keine Spur lebender Geschöpfe, sondern man findet abgerundete Kiesel, deren Kanten durch ständiges, lang anhaltendes Tau meln abgeschliffen wurden. Dies ist das Bild eines bewegten Meeres, wel ches sich an der Küste bricht und eine große Menge von Kieseln mit Gewalt durcheinander wirft.« Anschließend stellt Lavoisier die entscheidende Frage, der er zuvor bereits durch seine Beobachtungen rhetorischen Charakter verliehen hat: Wie können wir solche gegensätzlichen Beobachtungen vereinbaren? Wie können derart unterschiedliche Wirkungen aus derselben Ursache erwachsen? Wie können Bewegungen, die Quarz, Kristallgestein und die härtesten Felsen zu runden Kieseln geschliffen haben, die leichten, zerbrechlichen Muschelschalen unversehrt lassen? Die einfache Antwort auf diese gezielte, eingeschränkte Frage führt dann zu wichtigen allgemeinen Aussagen über die Wissenschaft der Geologie und auch zu Kriterien, mit denen man die Erdgeschichte im Einzelnen offen legen kann: Auf den ersten Blick erschien mir dieser Kontrast aus Unruhe und Bewegung, aus Organisation und Unordnung, aus Trennung und Ver mischung unerklärlich; nachdem ich aber immer und immer wieder zu verschiedenen Zeiten und an verschiedenen Orten die gleichen Phä nomene gesehen hatte, und nachdem ich diese Tatsachen und Beobachtungen in Verbindung brachte, scheint es mir, dass man die ver blüffenden Beobachtungen auf eine ganz einfache, natürliche Weise erklären kann, welche dann die grundlegenden Gesetze offenbart, de nen die Natur bei der Entstehung horizontaler Schichtungen unter liegt.
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Anschließend beschreibt Lavoisier als offenkundige Lösung des Rätsels sein idealisiertes Modell eines Zyklus mit zwei Phasen: Es muss im Mineralreich zwei Arten sehr unterschiedlicher Schichtungen geben: Die einen, welche sich im offenen Meer gebildet haben ... nenne ich pelagische Schichtungen; die anderen haben sich an der Küste gebildet, und ich bezeichne sie als litorale Schichtungen. Pelagische Schichtungen entstehen durch Aufbau, weil »Muschelschalen und andere Organismen aus dem Meer sich im Laufe einer ungeheuren Spanne der Jahre und Jahrhunderte langsam und friedlich ansammeln«. Die litoralen Schichtungen dagegen bilden sich durch »Zerstörung und Aufruhr ... als parasitische Ablagerungen, welche auf Kosten der Küste entstehen«. Dann bedient Lavoisier sich eines großartigen rhetorischen und argumentativen Kunstgriffs: Er baut seine gesamte Abhandlung als Reihe von Folgerungen aus diesem einfachen Modell der zwei abwechselnden Sedimenttypen auf, in denen sich der Kreislauf des steigenden und fallenden Meeres widerspiegelt. Dieser einfache Gedanke, so seine Behauptung, ist der Schlüssel zu dem großen begrifflichen Problem, von der eindimensionalen Beobachtung senkrechter Abfolgen an mehreren Orten zu einer dreidimensionalen Rekonstruktion der Vergangenheit zu gelangen. (Ich bezeichne die Lösung als dreidimensional, weil sie ganz buchstäblich genau das ist – auf den Grund habe ich bereits zuvor in diesem Essay im Zusammenhang mit den geologischen Karten hingewiesen: Die beiden horizontalen Dimensionen geben die geografischen Unterschiede auf der Erdoberfläche wieder, die vertikale entspricht dem zeitlichen Ablauf in einer Schichtenfolge.) Die Unterscheidung zwischen den beiden Typen von Schichtungen ... löste plötzlich das Chaos auf, das ich erlebte, als ich zum ersten Mal Gelände aus horizontalen Schichtungen untersuchte. Die gleiche Unterscheidung führte mich dann zu einer Reihe von Folgerungen, welche ich dem Leser nacheinander zu vermitteln versuche. Der Rest von Lavoisiers Abhandlung verbindet auf höchst scharfsinnige Weise allgemeine methodische Aussagen mit gezielten Schlussfolgerun
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gen, und diese Kombination macht das Werk zu einem großartigen Mus terbeispiel für die wissenschaftliche Vorgehensweise. In den methodischen Passagen stehen zwei Themen im Vordergrund: das Wesen von Be weisen in der Naturgeschichte und das richtige Wechselspiel zwischen Theorie und Beobachtung. Bei dem ersten Thema geht Lavoisier von dem Widerspruch aus, den ich zuvor beschrieben habe: von der Notwendig keit, zunächst zu vereinfachen, damit man später verallgemeinern kann. Wissenschaft erfordert Wiederholungen, damit Beobachtungen ord nungsgemäß überprüft werden – wie sonst könnten wir feststellen, dass die gleichen Voraussetzungen zuverlässig immer zu den gleichen Ergeb nissen führen? Zu Lavoisiers Zeit stand die herkömmliche Geologie die sem Ziel im Wege – eine einzige Phase der Ablagerung in einem einzigen, unveränderlichen Meer bietet keine Gelegenheit, Aussagen durch Wie derholung zu testen. Lavoisiers Modell der abwechselnden pelagischen und litoralen Schichtungen dagegen bildete ein natürliches Experiment, das sich in jedem Zyklus wiederholte. Aber die Natur ist komplex und befriedigt nicht den Bedarf der Laborwissenschaft nach einfachen, genau kontrollierten Situationen, in denen man Vorgänge unter identischen, durch wenige Variablen festgelegten Be dingungen wiederholen kann. Deshalb, so Lavoisiers Behauptung, müs sen wir danach streben, auch der Außenwelt ähnliche Einschränkungen aufzuerlegen, indem wir nach »natürlichen Experimenten« suchen, in denen einfache, von uns selbst konstruierte Modelle auch unter natürlichen Bedingungen funktionieren, die wir wegen ihrer ungewöhnlichen Transparenz und einer möglichst geringen Zahl von Einflussfaktoren ausgewählt haben. Betrachten wir einmal drei Prinzipien, deren Lavoisier sich in seinem Aufsatz bediente, um in der wahrhaft Schwindel erregenden Komplexität der Natur die erforderliche Einfachheit zu finden oder sie ihr aufzuzwingen. 1. Entwickle ein einfaches, überprüfbares Modell. Lavoisier konstruierte den einfachsten denkbaren Ablauf: Das Meer bewegt sich auf und ab, und dabei lagert es nur zwei grundlegende (und höchst unterschiedliche) Sedimenttypen ab. Er wusste ganz genau, dass Schichtungen sich in Wirklichkeit nicht in geordneten Stapeln von genau wiederholten Paaren anordnen, und er wies auch auf zwei Hauptgründe hin, warum die Natur in
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Wahrheit wesentlich komplexer ist: Erstens steigt und fällt das Meer nicht gleichmäßig, sondern es bewegt sich in kleinen Schwankungen hin und her, die jedem allgemeinen Trend überlagert sind; und zweitens hängt der Aufbau jedes einzelnen litoralen Sediments entscheidend davon ab, wel cher Gesteinstyp an der fraglichen Küste abgetragen wird. Aber Lavoisier erkannte auch, dass er zunächst die Stichhaltigkeit seines allgemeinen Vorhabens – der dreidimensionalen Rekonstruktion der Erdgeschichte – nachweisen musste, und dazu musste er ein Modell entwickeln, das man durch Wiederholung überprüfen konnte. Das Vergnügen, einzigartige Details zu klären, musste er auf einen späteren Zeitpunkt verschieben. Er schrieb: Schichtungen, die sich entlang der Küste eines steigenden Meeres bilden, werden unter den verschiedenen Umständen jeweils einzigartige Eigenschaften haben. Nur wenn man alle Fälle einzeln untersucht, um sie dann im Vergleich zueinander zu erörtern und zu erklären, wird man das gesamte Spektrum der Phänomene begreifen können ... ich werde sie [diese Details] deshalb in einer eigenen Denkschrift behan deln. 2. Wähle ein einfaches, aufschlussreiches Umfeld. Die der Natur innewohnende Komplexität, in der jeder Gegenstand von nicht reduzierbarer Einzigartigkeit ist, muss in handhabbaren wissenschaftlichen Grenzen ge halten werden, und dazu müssen wir eine intelligente Auswahl von Daten mit ungewöhnlicher, sich wiederholender Einfachheit treffen. Hier hatte Lavoisier eine Glückssträhne. Ihm war aufgefallen, welche verwirrenden Schwankungen man in litoralen Sedimenten findet, weil die Erosion an den verschiedenen Küsten unterschiedliches Gestein betrifft. In dem von ihm untersuchten Gebiet bei Paris jedoch waren die alten Klippen, die ihm als Quelle für litorale Sedimente dienten, glücklicherweise fast wie »nach Maß« für eine solche Studie gemacht. Sie hatten sich in einer umfangreichen Ablagerung gebildet, die in der Kreidezeit entstanden war und auf Französisch La Craie hieß (aus den gleichen »Kreidefelsen« bestehen auch die weißen Klippen von Dover). Die Kreide besteht vorwiegend aus feinen, weißen Teilchen, die während der Erosion der Klippen schnell ins Meer gespült werden. Sie enthält aber auch eingestreute Schichten aus harten Flintsteinknollen, deren Größe meist zwischen der
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eines Golf- und eines Tennisballs liegt. Diese Knollen sind (wegen ihrer einheitlichen Zusammensetzung und ihres begrenzten Größenspektrums) ein nahezu ideales Experimentiermaterial, an dem man die Aus wirkungen der Erosion an Küsten untersuchen kann. Insbesondere stellte Lavoisier fest (seine Stiche werde ich später in diesem Essay noch präsentieren), dass Größe und Rundung der Knollen die Entfernung zwischen dem Ort ihrer Ablagerung und der Küste anzeigen – wenn Kiesel an der Küste begraben werden, bevor sie viel Abnutzung und Erosion durchge macht haben, sollten sie groß und eckig sein, wenn sie aber weit von der Küste entfernt vor der Ablagerung eine umfassende Erosion hinter sich haben, müssten sie viel kleiner und runder werden. 3. Stelle eine einfache Frage, die sich beantworten lässt. Du musst (und kannst) nicht mit jeder (oder überhaupt irgendeiner) einzelnen Untersu chung das tiefste Wesen der gesamten Realität entdecken. Besser stellt man einfachere Fragen, die sich aber eindeutig beantworten lassen und deren Folgerungen dann nach außen auf ein größeres Ziel zustreben. Lavoisier hatte ein einfaches und potenziell höchst nützliches Modell des schwankenden Meeresspiegels entwickelt, um damit eine grundlegende Frage zu beantworten: Wie schließt man aus den von Ort zu Ort unterschiedlichen Längsschnitten – den Schnitten, die er auf den Rändern seiner mit Guet tard angefertigten Karten unterbrachte – auf die geologische Vergangen heit einer Region? Aber ein solches Modell musste – insbesondere für einen Mann von Lavoisiers Wissbegier und Intelligenz – fast zwangsläufig eine grundsätzlichere Frage aufwerfen, die vielleicht sogar den Schlüssel zu noch größeren Themen der Physik und Astronomie bildet: Warum steigen und fallen die Ozeane in einem sich ständig wiederholenden Kreislauf? Lavoisier bemerkte die Herausforderung, nahm sie aber klu gerweise nicht an; ihm war klar, dass er bereits genug damit zu tun hatte, seine schmackhaften, ansehnlichen Fische zu braten, und diesen Genuss konnte er zumindest vorerst nicht aufgeben, um Moby Dick nachzujagen. Also lobte er seine derzeitigen Arbeiten und war dann so höflich, die astronomische Frage anderen zu überlassen (wobei er allerdings nicht der Versuchung widerstehen konnte, eine kleine Bemerkung fallen zu lassen, die seinen Kollegen in ihren zukünftigen Labors vielleicht weiterhelfen würde):
5. Der Beweis von Lavoisiers Bildtafeln 137
Nach einer solch vollkommenen Übereinstimmung zwischen Theorie und Beobachtung – einer Übereinstimmung, die in jedem Schritt durch Beweise gestützt wird, welche an den vom Meer abgelagerten Schichten gewonnen wurden – wäre es schwierig zu behaupten, das Steigen und Fallen des Meeres [im Laufe der Zeit] sei nur eine Hypothese und nicht eine nachgewiesene Tatsache, welche als unmittelbare Folge aus Beobachtungen abgeleitet wurde. Nun liegt es an den Geometern, die in verschiedenen Bereichen der physikalischen Astronomie so große Klugheit und Begabung gezeigt haben, uns über die Ursachen dieser Schwankungen [des Meeres] aufzuklären und uns mitzuteilen, ob sie noch stattfinden oder ob es möglich ist, dass die Erde nach einer solch langen Folge von Jahrhunderten heute einen Zustand des Gleichgewichts erreicht hat. Schon eine kleine Veränderung in der Lage der Rotationsachse der Erde und die daraus folgende Verschiebung der Position des Äquators würde ausreichen, um all diese Phänomene zu erklären. Aber diese große Frage gehört in die Domäne der physikalischen Astronomie und obliegt nicht mir. Was den zweiten methodischen Aspekt der Wechselbeziehungen zwischen Beobachtung und naturwissenschaftlicher Theorie angeht, so erinnerte sich Lavoisier an die negative Lehre, die er aus den Fehlschlägen seines Lehrers Guettard gezogen hatte. Ein großer und gefährlicher Mythos der Naturwissenschaft – der seine Wurzeln in einer falschen Interpretation des höchst ehrenwerten Prinzips der Objektivität hat – besagt, ein For scher solle in der ersten Phase einer Untersuchung ausschließlich Tatsachen sammeln und es streng vermeiden, zu spekulieren oder Theorien zu entwickeln. Aus den Daten werde sich am Ende ohnehin die richtige Erklärung herauskristallisieren. Auf diese Weise, so der Mythos weiter, vermeiden wir den Fallstrick, unseren Hoffnungen oder Erwartungen zu erliegen und vom Pfad der strengen Objektivität abzuweichen, indem wir nur das »sehen«, was unsere geliebte Theorie für richtig hält. Mir ist durchaus klar, welche Überlegungen hinter einer solchen Emp fehlung stehen, aber das Ideal der reinen, neutralen Beobachtung ist nach meiner Einschätzung nicht nur unmöglich zu erreichen, sondern für die Wissenschaft sogar in zweierlei Weise schädlich. Erstens kann niemand eine Beobachtung anstellen, ohne eine Frage und eine Vermutung über die Ergebnisse im Kopf zu haben. Die Natur bietet uns unendlich viele
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potenzielle Beobachtungen an; woher sollen wir wissen, welche davon nützlich oder wichtig sind, wenn wir nicht eine Antwort auf ein ganz bestimmtes Rätsel suchen? Solange man nicht die leiseste Ahnung von den möglichen Ergebnissen einer Untersuchung hat, verschwendet man sicher beängstigend viel Zeit. Und zweitens lässt sich die Wissbegier des Geistes nicht unterdrücken. (Warum sollte sich überhaupt jemand mit einer Frage beschäftigen, wenn er nicht dieses beste, am eindeutigsten ausschließlich menschliche Hilfs mittel besäße?) Deshalb hat man immer Vermutungen und Vorlieben, ob man sie sich nun eingesteht oder nicht. Wenn man wirklich glaubt, man mache völlig objektive Beobachtungen, gerät man leicht in Schwierig keiten, denn dann ist man sich wahrscheinlich nicht über die eigenen, unvermeidlichen Vorurteile im Klaren. Erkennt man aber den Zusam menhang an, indem man ausdrücklich ganz bestimmte Fragen der Überprüfung unterwirft (und, ja, indem man zwangsläufig nach einem bevor zugten Ergebnis strebt), kann man auch die Beobachtungen benennen, welche die eigenen Vorlieben widerlegen – und ehrlich danach suchen, so sehr man sich vielleicht auch wünscht, sie nicht zu finden. Objektivität darf nicht mit geistiger Leere gleichgesetzt werden; sie besteht vielmehr darin, dass man die eigenen Vorlieben erkennt und sie dann einer beson ders strengen Überprüfung unterwirft – und auch in der Bereitschaft, die eigenen Theorien zu revidieren oder aufzugeben, wenn die Überprüfung fehlschlägt, was in der Regel der Fall ist. Lavoisier hatte jahrelang zugesehen, wie Guettard seine Zeit damit vertrödelte, eine unvollständige Sammlung höchst unterschiedlicher Infor mationsbruchstücke anzulegen, ohne dass eine zusammenhängende Theorie als Leitfaden für seine Bemühungen gedient und sie koordiniert hätte. Deshalb nahm Lavoisier sich vor, genau umgekehrt vorzugehen, und dabei räumte er ein, dass der Mythos der Objektivität seine Strate gie sowohl verdächtig als auch unpopulär machte. Dennoch entwickelte er ein einfaches, genau definiertes Modell, und dann stellte er mit konzentrierten Bemühungen die Beobachtungen an, mit denen er seine Überlegungen überprüfen konnte. (Natürlich stehen Theorie und Beobachtung in vielschichtigen Wechselbeziehungen und unterstützen sich gegenseitig. Lavoisier baute sein Modell auf Grund vorläufiger Beobach tungen auf und ging dann wieder ins Freiland, um eine umfassende, systematische Prüfung vorzunehmen.) Er stellte naive Empirie und die
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Überprüfung von Hypothesen als wissenschaftliche Vorgehensweisen nebeneinander und machte keinen Hehl aus seiner Vorliebe für die zweite Methode: Es gibt zwei Wege, um die Gegenstände und Themen der Wissenschaft darzustellen. Der erste besteht darin, Beobachtungen anzustellen und sie zu den Ursachen zurückzuverfolgen, die sie hervorgebracht haben. Bei dem zweiten stellt man eine Hypothese über eine Ursache auf, und dann sieht man nach, ob die beobachteten Phänomene die Hypothese bestätigen können. Dieses zweite Verfahren wird auf der Suche nach neuen Wahrheiten selten angewandt, aber es ist in der Lehre häufig nützlich, erspart es doch den Studenten Schwierigkeiten und Lange weile. Es ist auch die Methode, zu deren Anwendung ich mich in der Reihe geologischer Denkschriften entschlossen habe, die ich der Akademie der Wissenschaften vorlegen werde. Lavoisier begab sich also mit einem definierten Modell in die französische Landschaft und wollte es überprüfen: Das Meer fällt und steigt in einer geografischen Region, sodass sich ein Kreislauf mit Ausbreitung und Rückzug des Wassers ergibt. Diese Schwankungen lassen, wie bereits er wähnt, zweierlei Schichtungen entstehen: pelagische Sedimente im tiefe ren Wasser und litorale Ablagerungen, die sich in der Nähe der Küste aus deren erodiertem Gestein bilden. Am Sedimenttyp ist also zu erkennen, in welcher Umgebung die Ablagerung stattfand und wie ihre geografische Lage im Verhältnis zur Küstenlinie der jeweiligen Zeit aussah: pelagische Sedimente lassen immer auf einen großen Abstand von der Küste schließen. Bei den küstennäheren litoralen Sedimenten liefert der Aufbau einer bestimmten Schicht Anhaltspunkte für die Entfernung zum Ufer. Besteht eine litorale Schicht vorwiegend aus Flintknollen, die aus Kreide entstanden sind, war die Küste umso näher, je größer und kantiger die Knollen sind. Mit Hilfe dieser einfachen Gesetzmäßigkeiten, die sich alle als Konse quenzen aus den Schwankungen des Meeresspiegels ergeben, sollte man eigentlich anhand der von Ort zu Ort unterschiedlichen vertikalen Sedi mentfolgen die dreidimensionale Geschichte einer ganzen Region rekon struieren können. (Enthält beispielsweise eine ununterbrochene Schicht, die ein einziges Zeitalter repräsentiert, am Ort A große, kantige Flintknol
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len, während am Ort B in der gleichen Schicht kleinere, runde Knollen zu finden sind, lag A zur Zeit der Ablagerung näher an der Küste als B.) Den größten Teil seines Aufsatzes und insbesondere alle sieben wunderschön gezeichneten Abbildungen widmet Lavoisier der Überprüfung dieses Modells, aber das Kernstück seiner Abhandlung kann ich in drei Bildern und auf wenigen Textseiten zusammenfassen, denn das Modell macht ganz klare, eindeutige Voraussagen – die die Natur entweder bestätigen oder widerlegen muss. Lavoisiers erste sechs Abbildungen – die in vielerlei Hinsicht das Verblüffendste und Neuartigste an seiner ganzen Arbeit sind – zeigen die geografische Verteilung der Sedimente, die man nach seinem Modell erwartet. Auf der ersten Bildtafel erkennt man beispielsweise die voraussichtliche geografische Schwankung in einem litoralen Sediment, das bei steigendem Meeresspiegel abgelagert wurde. Das Meer hebt sich von einem Aus gangspunkt (der als »ligne de niveau de la hasse mer« – Linie des niedrigen Meeresspiegels – bezeichnet wird und durch die Obergrenze des darge stellten Wassers gekennzeichnet ist) bis zu einem Höchststand mit der Kennzeichnung »ligne de niveau de la haute mer« (Linie des hohen Mee resspiegels). Das steigende Wasser schlägt an eine Klippe, die ganz links dargestellt und mit »falaise de Craye avec cailloux« (Kreideklippe mit Kie seln) beschriftet ist. Interessant dabei: Wie bereits erwähnt, enthält dieses Kreidesediment mehrere Schichten aus Flintsteinknollen, die hier als schmale, horizontale Streifen mit dunklen Kieseln wiedergegeben sind. Das steigende Meer trägt die Klippe ab und lässt unter dem Wasser spiegel unterhalb der erodierten Kreide eine litorale Sedimentschicht ent stehen. Lavoisier beschriftet diese Schicht mit der Buchstabenfolge BDFGHILMN und zeigt, wie der Charakter des Sediments sich mit dem Abstand von der Küste stetig verändert. Bei B, D und F, in der Nähe der Küste, ist die Schichtung voller großer, kantiger Kiesel (»cailloux roulis«, gerollte Kiesel), die sich aus den abgetragenen Flintknollen gebildet haben. Die Größe dieser Brocken nimmt dann mit zunehmender Küstenentfernung kontinuierlich ab, weil die Kiesel zerbrechen und erodieren (wobei sie sich von »sable grossier« – grobem Sand – über »säble fin« – feinen Sand – bis zu »sable tresfin ou argille« – sehr feinem Sand bis Lehm – verändern). Gleichzeitig entsteht weit weg von der Küste (rechts im Bild bei der Markierung KK) ein pelagisches Sediment (beschriftet mit »commencement des bancs calcaires«, Beginn von Kalkschichten).
5. Der Beweis von Lavoisiers Bildtafeln 141
Auf Grund dieses Modells muss Lavoisier dann voraussagen, dass ein Längsschnitt beispielsweise bei G zuerst (das heißt als oberste Schicht) ein litorales Sediment aus großen, kantigen Kieseln enthält, während in einem Längsschnitt bei M ein pelagisches Sediment über einem litoralen liegt, wobei das litorale Sediment jetzt aus feinem Sand und Lehm besteht. Die beiden litoralen Sedimente bei G und M repräsentieren den gleichen Zeitraum, und in ihrer jeweiligen Zusammensetzung spiegeln sich die un terschiedlichen Entfernungen zur Küste wider. Dieses einfache Prinzip, Unterschiede in Schichtungen gleichen Alters auf unterschiedliche Umweltbedingungen bei der Ablagerung zurückzuführen, mag nahe liegend erscheinen, aber erst in unserem Jahrhundert entwickelten die Geologen eine wirklich brauchbare, widerspruchsfreie Theorie über derartige »Fa zies«, wie man solche Abweichungen in der Fachsprache nennt. Vor die sem Hintergrund erscheint Lavoisiers klares Bild aus dem Jahr 1789 umso bemerkenswerter, auch wenn er mit seinem Beispiel sicher übermäßig vereinfachte. Anschließend zeigt Lavoisier eine Reihe ähnlicher Diagramme, die immer komplizierter werden und in der hier ebenfalls wiedergegebenen Tafel 6 ihren Höhepunkt finden. Diese letzte Abbildung zeigt das Ergebnis
Lavoisiers erste Bildtafel mit den räumlichen Unterschieden der im steigenden Meer abgelagerten Sedimente.
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eines vollständigen Zyklus – das Meer, das bis zu seiner größten Höhe an gestiegen war, hat sich bereits wieder zum Ausgangspunkt zurückgezogen. Die Kalkklippe ist vollständig abgetragen und findet sich nur noch als Schicht am Boden wieder. (Sie ist an den charakteristischen Streifen aus Flintknollen wiederzuerkennen. Auf die unterste, hier als »ancienne terre« oder »alte Erde« gekennzeichnete Schicht werde ich später noch genauer zu sprechen kommen.) Über dem erodierten Kalk liegt eine tiefere litorale Schicht (beschriftet mit HLMN und »bancs littoraux inférieurs formés à la mer montante«, tiefere, durch das steigende Meer entstandene litorale Schichten), und unmittelbar darüber befindet sich ein pelagisches Sediment (»bancs pelagiens calcaires horizontaux supérieurs«, oberes, kalkhaltiges, pelagisches Sediment), das mit KKK gekennzeichnet ist (für einen zufälligen, späteren amerikanischen Anachronismus sollte man Lavoisier nicht verantwortlich machen!). Man beachte, wie die pelagische Schicht zur Küste hin ausläuft, weil derartige Sedimente nur in tiefem Wasser abgelagert werden. Die pelagische Schicht bildet sich, wenn das Wasser seinen Höchststand erreicht. Sinkt der Meeresspiegel später wie der, wird in dem immer flacheren Wasser über der pelagischen Schichtung ein weiteres litorales Sediment abgelagert (hier beschriftet mit HIGG und »bancs littoraux supérieurs formés à la mer descendante«, obere litorale Schicht, entstanden durch das sinkende Meer). Auch hieraus zieht Lavoisier scharfsinnige, detaillierte Erkenntnisse – und aus seinem Modell lassen sich mehrere sehr gezielte Voraussagen ab leiten. So vereinigen sich beispielsweise die obere und untere litorale Schicht in der Nähe der Küste, weil die zwischen ihnen liegende pelagische Schicht nicht so weit ins Landesinnere reichte. In Küstennähe findet man also in einem Längsschnitt eine einzige, dicke litorale Schicht aus großen, kantigen Kieseln. Weiter von der Küste entfernt dagegen enthält der Längsschnitt die ganze Abfolge abwechselnder Schichten, die den gesamten Zyklus widerspiegeln: Von oben nach unten (angezeigt durch die senkrechte, mit 12345 beschriftete Linie knapp links von der Bildmitte) folgen die obere litorale Schicht (1, sinkender Meeresspiegel), die pelagische Zwischenschicht (2), die untere litorale Schicht (3, steigender Mee resspiegel), die Unterlage aus Kalk (4) und schließlich das Fundament der ancienne terre (5). Lavoisiers Modell macht also eine eindeutige Voraussage darüber, wie die in einem Zyklus des steigenden und fallenden Meeresspiegels abgela
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gerten Sedimente sich in den Längsschnitten widerspiegeln, mit denen er einst die Ränder seiner mit Guettard erstellten Karten verziert hatte, und damit leistete er einen charakteristischen, ureigenen Beitrag zur entste henden Wissenschaft der Geologie. Außerdem erlaubte das Modell nicht nur Voraussagen über die senkrechten Schichtenfolgen an einzelnen Or ten, sondern auch über geografische Schwankungen in den Längsschnit ten. Deshalb zeigt Lavoisier in seiner letzten Abbildung einige tatsächliche Längsschnitte, die er im Freiland beobachtet hatte. Das hier wiedergegebene Beispiel entspricht genau der Voraussage für die Schnittebene 12345 in seinem idealisierten Modell. Sein »Coupe des Montagnes des environ de St. Gobain« (Schnitt durch die Berge in der Nähe von St. Gobain) stimmt vollständig mit seinem Modell überein (außer dass der wirkliche Längs schnitt nicht bis unter den Kalk in das alte Muttergestein reicht). In dem tatsächlichen Längsschnitt erkennt man vier Schichten: »oberes Litoral«, »pelagische Schichten«, »unteres Litoral« und »Kalk« (man beachte die Schichten aus Flintknollen in dem unteren Kalksediment). Lavoisier wollte noch mehrere weitere geologische Abhandlungen schreiben und darin sein Modell mit ähnlichen empirischen Details überprüfen. Diese erste Studie zeigt deshalb nur wenige tatsächliche Schnitte, die allerdings
Auf Lavoisiers letzter Tafel erkennt man die zeitlich und räumlich komplex angeordneten Sedimente nach einem vollständigen Zyklus des steigenden und sinkenden Meeresspiegels.
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im Hinblick auf die weitere Bestätigung sehr vielversprechend aussehen. Damit war Lavoisier eine wissenschaftliche Neuerung der schönsten, unbezweifelbarsten Form gelungen: Er hatte unsere naturgeschichtlichen Kenntnisse ganz buchstäblich um eine neue Dimen sion erweitert. Als wäre das noch nicht genug, be schließt er seine Abhandlung mit zwei Seiten voller – zugegeben – hypothetischer Überlegungen, die mit der zweiten großen Frage der Erforschung von Zeit und Vergan genheit zusammenhängen. Sein Modell des schwankenden Meeres spiegels steht völlig in der Newton’schen Tradition einer völligen, unhistorischen Verallgemeinerung. Lavoisiers Meereszyklen laufen zwar über eine Zeit hinweg ab, aber sie sind nicht Ausdruck einer Geschichte, denn Ereignisketten treten nie in einer charakteristischen, unumkehrbaren Richtung auf, und kein Einzelereignis kennzeichnet einen einzigartigen, definierbaren Augenblick. Die Zyklen unterliegen einem zeitlosen Naturgesetz und spielen sich immer auf die gleiche Weise ab, unabhängig davon, wann es geschieht. Zyklus Nummer 100 liefert die gleichen Ergebnisse wie Zyklus Nummer 1; und ihre Spuren im Gestein sagen nichts darüber aus, wo wir im Fluss der Geschichte
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stehen. In allen Abweichungen spiegeln sich entweder allgemeine Um weltbedingungen (hoher oder niedriger Meeresspiegel) oder lokale Umstände (Gesteinstyp in der erodierten Klippe) wider, aber sie sind keine charakteristischen Spuren eines einzigartigen, abgegrenzten historischen Ereignisses. Mit anderen Worten: Lavoisier hatte hervorragend mit dem unent behrlichen Konzept des »Zeitzyklus« gearbeitet, das für alle wissenschaftlichen Untersuchungen der Vergangenheit von entscheidender Bedeu tung ist, weil wir allgemeine Gesetze zur Erklärung sich wiederholender physikalischer Ereignisse brauchen. Aber in der Geologie kann man die Vergangenheit der Erde nicht vollständig rekonstruieren, wenn man nicht auch auf den grundsätzlich anderen, aber eng damit verbundenen und ebenso notwendigen Begriff des »Zeitpfeils« zurückgreift; er ist so unent behrlich, weil zur Geologie auch Geschichte gehört – und historische Rekonstruktionen bestehen aus Geschichten, die durch eine gerichtete Abfolge einzigartiger Ereignisse definiert sind. Damit Geschichte interessant und bedeutungsvoll wird, braucht sie ein umfangreiches zeitliches Gerüst – und das lieferte Lavoisier bereits, indem er sein Modell des schwankenden Meeresspiegels mit empirischen Belegen für mehrere Zyklen in den Längsschnitten in Verbindung brachte. Wenn jeder Zyklus einen beträchtlichen Zeitraum in Anspruch nimmt (insbesondere wegen der Bildung der pelagischen Schichten, die sich aus den Überresten von Lebewesen sehr langsam entwickeln), lassen die Indizien für mehrere Zyklen auch auf ein hohes Alter der Erde schließen. Ent gegen einer verbreiteten Legende glaubten 1789 nur noch die wenigsten Wissenschaftler an den biblischen Zeitrahmen, wonach die Erdgeschichte nur ein paar tausend Jahre umfasst. Aber das wirkliche, ungeheure Aus maß der erdgeschichtlichen Zeiträume stellte viele Forscher vor große begriffliche Schwierigkeiten, und in Lavoisiers ehrlichen Behauptungen spiegelten sich die weitaus berühmteren, erst ein Jahr zuvor (nämlich 1788) veröffentlichten Zeilen des »Vaters« der modernen Geologie wider; der Schotte James Hutton hatte geschrieben: »Zeit ist für die Natur endlos und wie nichts.« Lavoisier formulierte seine Version der langen Zeiträume gezielter im Licht seines eigenen Modells: Die gerade erörterten Einzelheiten haben kein anderes Ziel, als diese Aussage zu beweisen: Wenn wir unterstellen, dass das Meer eine sehr
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langsame, schwankende Bewegung durchmacht, eine Art Fluss und Rückfluss, dass diese Bewegungen sich über einen Zeitraum von Hunderten oder Tausenden von Jahren abspielen, und dass diese Bewegungen bereits mehrmals stattgefunden haben, und wenn wir dann einen Längsschnitt durch das zwischen Meer und Hochgebirge abgelagerte Gestein machen, so muss dieser Längsschnitt aus abwechselnden lito ralen und pelagischen Schichten zusammengesetzt sein. Vor diesem Hintergrund der langen Zeiträume bekommt der Begriff einer wahrhaft historischen Wissenschaft eine ganz neue Bedeutung, und es eröffnen sich neue Aussichten. Am Ende seiner Abhandlung schneidet Lavoisier das Thema in der ihm eigenen, empirischen Weise an: Er kehrt zu der untersten Schicht unter den nach seinem Modell abgelagerten Sedimenten zurück, zu einer Gesteinsformation, die er zunächst mit der einfachen Kennzeichnung ancienne terre (alte Erde) übergangen hat. Dieses Fundament, so erklärt er jetzt, betrachte er keineswegs als Teil der ursprünglichen, seit ihrer Entstehung vorhandenen Erde, sondern wie derum als mutmaßliche Sedimentfolge, viel älter als die Kreide, aber ebenfalls als Reihe litoraler und pelagischer Sedimente (die man heute aller dings kaum noch erkennen kann, weil die charakteristischen Kennzeichen solcher Ablagerungen im Laufe der Zeit verschwunden sind): Man wird zweifellos etwas über das Gestein wissen wollen, welches sich unterhalb der Kreide befindet und das ich mit dem Ausdruck Vancienne terre bezeichnet habe ... Dies ist mit ziemlich großer Sicherheit nicht die ursprüngliche Erde; im Gegenteil: Anscheinend ist das, was ich an cienne terre nenne, selbst aus litoralen Schichten zusammengesetzt, welche viel älter sind als jene, die in den Abbildungen wiedergegeben wurden. Anschließend kommt Lavoisier in einer bemerkenswerten Passage auf ein Thema zu sprechen, das später zur Quintessenz für die Gegenüberstellung des Yin der Geschichte (des Zeitpfeils) und des Yang der bleibenden, durch unveränderliche Gesetze entstandenen Eigenschaften (des Zeitzyklus) werden sollte – erst beide gemeinsam machen die vollständige Wissenschaft der Geologie aus. Lavoisier erörtert die eindeutig gerichtete Geschichte des Lebendigen, den wichtigsten Aspekt in der großartigen Ver
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gangenheit der Erde. (Nebenbei: Im Einzelnen erwiesen sich Lavoisiers Behauptungen fast ausnahmslos als falsch, aber diese Beobachtung ist für das, was ich hier aussagen möchte, völlig bedeutungslos. Im Jahr 1789 wusste niemand sonderlich viel über paläontologische Details. Mir geht es vielmehr um Lavoisiers scharfsinnigen, richtigen Gedanken, dass das Leben die wichtigste Ursache einer gerichteten Geschichte und damit des Zeitpfeils ist.) Seine Behauptung, dass es eine Geschichte gibt, stützt Lavoisier auf ein kluges Argument. Nach seiner Ansicht enthält das Gestein der ancienne terre keine Fossilien. Liegt aber (wie er kurz zuvor behauptet hat) auch in diesem Gestein der gleiche Wechsel zwischen pelagischen und litoralen Sedimenten vor wie in jüngeren Formationen, sollten wir wegen der un veränderlichen physikalischen Gesetze des Zeitzyklus auch in diesen Schichtungen mit Fossilien rechnen – denn sie haben sich in einem Um feld gebildet, in dem es heute von Lebewesen nur so wimmelt. Die Erklärung für den Widerspruch muss also im Zeitpfeil der gerichteten Geschichte liegen. Die ancienne terre muss unter den gleichen physikalischen Bedingungen entstanden sein wie jüngere Sedimente, und wenn dieses ansonsten gleichartige Gestein keine Fossilien enthält, kann die Erde damals noch keine Lebewesen beherbergt haben. Anschließend erörtert Lavoisier die Sedimente, die man gelegentlich unter der Kreide (dem ältesten Gestein mit Fossilien von Meeresbewohnern), aber über der ancienne terre findet: Sie enthalten vielfach Fossilien von Pflanzen. Deshalb malt er sich eine dreigeteilte, gerichtete Geschichte des Lebendigen aus: eine ursprüngliche Erde ohne Lebewesen, gefolgt von der Entstehung der Pflanzenwelt an Land, und schließlich der Höhepunkt mit dem Ursprung der Tierwelt sowohl in den Meeren als auch auf dem Trockenen: Es ist sehr bemerkenswert, dass die Kreide in der Regel das jüngste Ge stein ist, welches Muschelschalen und Überreste anderer Meereslebewesen enthält. Die Schieferschichten, die wir manchmal unter der Kreide finden, beherbergen häufig die Überbleibsel von schwimmenden Körpern, Holz und anderen pflanzlichen Materialien, die an den Küsten angespült wurden ... Wenn wir uns erlauben, eine Vermutung über diesen seltsamen Befund zu wagen, so können wir nach meiner Überzeugung den Schluss ziehen, den Monsieur Monge [der bedeu
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tende französische Mathematiker Gaspard Monge, der mit Lavoisier in dem Revolutionskomitee an der Entwicklung des metrischen Systems arbeitete] bereits vorgeschlagen hat: dass die Erde nicht immer lebende Geschöpfe beherbergt hat, sondern dass sie lange Zeit eine unbelebte Wüste war, in der nichts lebte; und dass die Existenz der Pflanzen jener der meisten Tiere vorausging, oder dass die Erde zumindest von Bäumen und Pflanzen bedeckt war, bevor Schalentiere die Meere bevölker ten. Diese kleine, spekulative Anmerkung hängt Lavoisier hastig ganz am Ende an seinen Aufsatz an, der nur als vorläufige Studie gedacht war, als Einführung eines Modells, das mit umfangreichen Daten aus der Feldforschung belegt und ausgefüllt werden sollte. Nach meiner Vermutung will er uns damit zeigen, dass er begriffen hatte, welches breite geistige Spektrum die Geologie umfasst, und dass ihm außerdem klar geworden war, welche Möglichkeiten aus der Kombination einer genauen Kenntnis zeit loser, unveränderlicher Gesetze und einer zuverlässigen Wiedergabe der reichhaltigen, gerichteten Geschichte einer sehr alten Erde erwachsen. Aus seiner letzten Seite spricht überschäumende Begeisterung für zukünftige Pläne, welche die ganze Erde betreffen – ein Vorhaben, dem auf die schrecklichste Weise ein Ende gemacht werden sollte. Man betrachte nur einmal den prägnanten Absatz gleich im Anschluss an seine Spekulationen über die Geschichte des Lebens: Im nächsten Aufsatz werde ich diese Ansichten, die wirklich eher Monsieur Monge als mir gehören, in allen großartigen Einzelheiten erörtern. Es ist aber unabdingbar, dass ich zuerst auf solide Weise die Beobachtungen darlege, auf die sie sich stützen. Warum Lavoisiers Hinrichtung mich so tiefbewegt, weiß ich nicht genau. Wir können nicht mit Sicherheit behaupten, er habe seine geologischen Vorhaben zu Ende geführt, wenn er am Leben geblieben wäre (alle kreativen Karrieren sind gespickt mit nicht verwirklichten Plänen); und wir wissen, das er seinem Ende mit einem würdigen Gleichmut entgegensah, der uns noch nach Jahrhunderten zum Trost gereicht. In einem seiner letzten Briefe schrieb er:
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Ich hatte ein langes, vor allem aber glückliches Leben, und ich denke, man wird sich mit einem gewissen Bedauern an mich erinnern, ja viel leicht bleibt sogar ein guter Ruf zurück. Was will ich mehr? Die Ereignisse, in die ich verwickelt bin, werden mich wahrscheinlich vor den Misslichkeiten des hohen Alters bewahren. Ich sterbe im Vollbesitz mei ner Kräfte. Lavoisier muss nicht gerettet werden, weder von mir noch von einem an deren Autor unserer Tage. Aber wenn ich für mich selbst spreche (ein Pri vileg aller Essayisten, seit Montaigne das Genre zweihundert Jahre vor La voisiers Zeit ausdrücklich zu diesem Zweck erfand), so sehne ich mich nach einem tiefen Gefühl der Verbundenheit mit diesem Mann, der in meiner privaten Ruhmeshalle der geistigen Helden gleich neben Darwin steht. Er starb durch die Grausamkeit der Menschen, und das viel zu jung. Seine Werke leben natürlich weiter – und mehr braucht er nicht. Aber – und ich habe keine Ahnung, warum – wir sehnen uns auch nach dem, was ich gerade als tiefe Verbundenheit bezeichnet habe, nach einer Art physischer Kontinuität, einem Zeichen der tatsächlichen Gegenwart, das über die Jahrhunderte weitergegeben wird, sodass wir den Menschen hinter den glorreichen Ideen nicht vergessen. (Vielleicht ist mein Streben nach einer solchen materiellen Kontinuität nur eine persönliche Eigenart von mir – aber ich glaube, das Gefühl ist nicht selten, und sicher kommt es gehäuft bei jenen vor, die sich die Paläontologie als Beruf gewählt haben und demnach ein Faible für die objektiven Belege der kontinuierlichen Geschichte des Lebens besitzen.) Ich möchte also mit einem persönlichen Geständnis schließen. Ich hatte das unglaubliche Glück, dass ein seltsamer Zufall im richtigen Augenblick mit einem unfassbar niedrigen Preis zusammentraf, und so konnte ich vor einiger Zeit auf einer Auktion etwas Bemerkenswertes erstehen: die von Lavoisier einzeln unterzeichneten Original-Korrekturab züge der sieben Abbildungen (darunter auch die drei hier wiedergegebenen) zu seinem einzigen geologischen Aufsatz von 1789. Jede Platte ist von zwei Personen unterschrieben: zuerst in dicker, prägnanter Handschrift von Gabriel de Bory, dem Vizesekretär der Akademie der Wissenschaften (der mit »Bory Vice-Secretaire« unterschrieb), und dann, viel zarter und mit drei Schnörkeln rund um die Buchstaben seines Nachnamens, von Antoine-Laurent Lavoisier.
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Lavoisiers Unterschrift (links) auf einer seiner geologischen Abbildungen.
Lavoisiers Schnörkel verstärken den schönen Anblick der Tafeln, in de nen der intellektuelle Glanz seines einzigen Streifzuges in die Geologie zum Ausdruck kommt – alle sind im Jahr der Revolution unterzeichnet, die er mit so großen Hoffnungen begrüßte (und für deren Ideale er auch zu arbeiten bereit war); einer Revolution, die ihm seine Hingabe am Ende auf die entsetzlichste denkbare Weise heimzahlte. Ich aber besitze jetzt ein kleines Stückchen – eigentlich nur ein Symbol – für Lavoisiers fortdau ernde Gegenwart in meiner Berufswelt. Der Strang der menschlichen Kontinuität wird über die Jahrhunderte hinweg oftmals sehr dünn (gewissermaßen zu dem sprichwörtlichen sei denen Faden), aber wenn ich die Tinte von Lavoisiers eigenhändig ge schriebenem Namen berühren kann, dann schließt sich der Kreis. Eine leuchtende Kerze, genährt von seiner größten Entdeckung, dem Sauer stoff, brennt niemals herunter, wenn wir das geistige Erbe einer solchen, über die Jahrhunderte reichenden Abstammungslinie zu schätzen wissen. Vielleicht denken wir dabei auch an den tatsächlichen, physischen Faden der Nukleinsäure, an unsere Verbindung zu dem gemeinsamen, bakterienartigen Vorfahren aller Lebewesen, der auf Lavoisiers ancienne terre vor über 3,5 Milliarden Jahren geboren wurde – eine Kette, die seitdem nie mehr unterbrochen wurde, nicht einen Augenblick lang, nicht für eine Generation. Ein solches Vermächtnis ist es wert, dass wir es vor allen Guillotinen unserer eigenen Torheit bewahren.
6. Es wächst ein Baum in Paris 151
6. Es wächst ein Baum in Paris:
Lamarcks Unterteilung der Würmer und
der Umbau der Natur
I. Schaffung und Zerstörung eines Rufes Am 21. des Glück verheißenden Monats Floréal (der Blühende) im Früh ling des Jahres 8 nach dem französischen Revolutionskalender (für das restliche Abendland das Jahr 1800) hielt der frühere Chevalier und jetzige citoyen Lamarck am Museum d’Histoire Naturelle in Paris den Ein führungsvortrag seines alljährlichen Zoologieseminars – und dabei ver änderte er die Wissenschaft der Biologie für immer: Zum ersten Mal erläuterte er öffentlich seine Evolutionstheorie. Die kurze Vorlesung veröffentlichte er dann 1801 als ersten Teil seiner Abhandlung über wir bellose Tiere (Systeme des animaux sans vertèbres). Jean-Baptiste Lamarck (1744-1829) hatte eine respektable Berufslaufbahn als Botaniker hinter sich und wurde kurz vor seinem fünfzigsten Geburtstag zum Professor für Insekten und Würmer am Museum d’Histoire Naturelle ernannt, das die Revolutionsregierung 1793 neu gegründet hatte. Später prägte er für seine Schützlinge den Begriff Invertebraten. (Auch das Wort Biologie für das gesamte Fachgebiet führte er 1802 ein.) Mit seinem ursprünglichen Titel folgte er aber Linné, der alle wirbellosen Tiere entweder den Insekten oder den Würmern zugeordnet hatte, ein Prokrustesbett, das Lamarck wenig später aufbrechen sollte. Lamarck hatte eifrig Schneckenhäuser gesammelt und Weichtiere erforscht (die man damals zu Linnés großer, vielgestaltiger Kategorie der Vermes oder Würmer zählte); damit galt er als ausreichend qualifiziert für den Wechsel des Fachgebietes. Das Vertrauen, das man damit in ihn gesetzt hatte, rechtfertigte Lamarck voll und ganz: Er brachte während seiner restlichen Laufbahn meh rere angesehene Werke über Wirbellose heraus, und den Höhepunkt bil
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deten schließlich die sieben Bände seiner umfassenden Histoire naturelle des animaux sans vert`sbres (Naturgeschichte der wirbellosen Tiere), die zwischen 1815 und 1822 erschienen. Parallel dazu verfeinerte und erwei terte er seine Gedanken über die Evolution, und seinen Einführungsvortrag von 1800 baute er bis 1802 zunächst zu einem Buch aus (den Recherches sur l’organisation des corps vivants, Forschungen über die Or ganisation der Lebewesen), aus dem dann bis 1809 sein berühmtes Hauptwerk wurde, die zweibändige Philosophie zoologique (Zoologische Philosophie); und schließlich ließ er seine Gedanken in den langen Eröff nungsabschnitt seiner 1815 erschienenen großen Abhandlung über die Wirbellosen einfließen. Schon diese kurze Skizze seiner Karriere legt die Vermutung nahe, dass sein Ansehen ständig wuchs, von einem ersten Aufblühen bis zur Stellung als gefeierter Altmeister. Aber Lamarcks Ruhm brach schon zu seinen Lebzeiten auf spektakuläre Weise zusammen, und als er starb, war er einsam, blind und mittellos. Die vielfältigen Gründe für den Sturz liegen in dem üblichen Kaleidoskop aus wechselnden Moden, mächtigen Feinden und selbst verursachten Wunden, die auf Charakterschwächen zurückgehen. In seinem Fall war es vor allem ein überschäumendes Selbstbewusstsein mit der Folge, dass er sowohl die Schwächen in einigen seiner eigenen Argumente als auch die Fähigkeiten seiner Gegner nicht zur Kenntnis nahm oder unterschätzte. Vor allem aber wurde seine bevorzugte Art der wis senschaftlichen Arbeit – die Konstruktion großartiger, umfassender Theorien nach einem Verfahren, das die Franzosen als Vesprit de Systeme (Geist des Systems) bezeichnen – immer unbeliebter, weil sich in Geologie und Naturforschung Anfang des 19. Jahrhunderts ein streng empirisch geprägtes Ethos durchsetzte. Es gehört zu den großen Ungerechtigkeiten unserer historischen Überlieferung, dass Lamarcks schlechter Ruf sich bis in unsere Zeit erhalten hat; in der Regel kennen wir ihn nur als Hintergrund zu Darwins großen Leistungen – als den Mann, der eine alberne Theorie erfand: Giraffen recken den Hals, um die Blätter an hohen Bäumen zu erreichen, und geben die Früchte ihrer Bemühungen dann durch »Vererbung erworbener Merkmale« an ihre Nachkommen weiter, eine Hypothese, die auch unter der Bezeichnung »Gebrauch und Nichtgebrauch« bekannt ist und im Ge gensatz zu Darwins richtiger Theorie mit natürlicher Selektion und dem Überleben des Geeignetsten steht.
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Tatsächlich fand der meist geniale Darwin für seinen französischen Vorläufer kaum ein freundliches Wort. In Briefen an seine Freunde tut er Lamarck als eitlen Phrasendrescher ab, der eine unsinnige Theorie vertrat. Im Jahr 1844 (also bevor er seine Gedanken über natürliche Selektion veröffentlichte) schrieb Darwin an den Botaniker J.D. Hooker über den Mangel an evolutionsorientiertem Denken: »Was Bücher über das Thema betrifft, so kenne ich keine systematischen Werke mit Ausnahme dessen von Lamarck, und das ist richtiger Mist.« Und seinem Guru, dem Geologen Charles Lyell (der Lamarcks System im 1832 erschienenen zweiten Band seiner Principles of Geology den englischen Lesern zutreffend erläu tert hatte), schrieb er 1859, kurz nach der Veröffentlichung seiner Entstehung der Arten: »Sie spielen häufig auf Lamarcks Arbeiten an; ich weiß nicht, was Sie darüber denken, aber mir erscheinen sie äußerst armselig; ich habe daraus keine Tatsache und keine Idee erfahren.« Aber diese späten privaten Bemerkungen bedeuteten für Lamarck kei nen praktischen Nachteil. Weitaus schädlicher war sein berühmter Kol lege und jüngerer, evolutionsfeindlicher Nachfolger am Museum, der aus gezeichnete Biologe, kluge Staatsmann und angesehene Literat Georges Cuvier, der für alle Zukunft ein geradezu »offizielles« Urteil fällte. Cuvier nutzte seine Funktion als Autor von éloges (Nachrufen) für verstorbene Kollegen, um im Genre »Verdammung durch schwaches Lob« ein grausames Meisterwerk zu verfassen – ein Schriftstück, das Lamarcks Ruf festklopfte und zerstörte. Cuvier hebt mit übertriebenem Lob an und stellt seine Kritik dann als traurige Notwendigkeit dar: Indem wir das Leben eines unserer meistgefeierten Naturforscher skiz zieren, empfinden wir es als unsere Pflicht, ihm das verdiente Lob für die großen, nützlichen Werke zuteil werden zu lassen, welche die Wis senschaft ihm verdankt, ebenso aber auch jenen seiner Hervorbringungen unsere Aufmerksamkeit zu schenken, bei denen zu starkes Schwelgen in einer lebhaften Phantasie zu fragwürdigeren Ergebnissen geführt hat, um dabei so weit wie möglich die Ursachen oder, wenn man es so ausdrücken kann, die Stammesgeschichte seiner Abschwei fungen deutlich zu machen. Im weiteren Verlauf spielt Cuvier dann Lamarcks bedeutende Beiträge zu Anatomie und biologischer Systematik herunter, und gleichzeitig greift er
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den älteren Kollegen wegen seiner albernen Spekulationen über das umfassende Wesen der Realität heftig an. Insbesondere zieht er Lamarcks Ideen über die Evolution ins Lächerliche, indem er eine Karikatur von dessen Theorie einer nüchtern-empirischen Vorgehensweise gegenüber stellt: Diese Prinzipien [der Evolution] vorausgesetzt, erkennt man leicht, dass nichts anderes fehlt als Zeit und Umstände, damit ein Einzeller oder Polyp sich allmählich und unterschiedslos in einen Frosch, einen Storch oder einen Elefanten verwandelt... Ein auf solche Fundamente gebautes System mag die Phantasie eines Poeten erfreuen; ein Metaphysiker mag daraus eine ganz neue Reihe von Systemen ableiten; aber es kann keinen Augenblick lang der Prüfung durch jemanden stand halten, der schon einmal eine Hand ... oder auch nur eine Vogelfeder seziert hat. Cuviers éloge strotzt von Übertreibungen und ungerechtem Spott, insbe sondere angesichts der Tatsache, dass dem angegriffenen Kollegen das Recht auf Erwiderung ein für alle Mal versagt bleibt – was eigentlich der Grund für unser ehrenwertes Motto de mortuis nil nisi bonum (»über Tote soll man nur Gutes sagen«) ist. Aber Cuviers Abscheu erwuchs aus einem berechtigten Nährboden, denn Lamarck ließ in seinen Schriften mit ihren umfassenden Behauptungen sicher einen Hang zur Schwülstigkeit erken nen, und gleichzeitig weigerte er sich in vielen Fällen, andere, empirisch gut belegte Ansichten anzuerkennen oder auch nur zur Kenntnis zu nehmen. L’esprit du systéme, die Neigung, auf der Grundlage allgemeiner, aus nahmslos gültiger Prinzipien vollständige, übergreifende Erklärungen zu konstruieren, mag sich für manche Winkel der Realität eignen, aber in der Welt der Naturforschung mit ihrer größtmöglichen Vielschichtigkeit funktioniert sie besonders schlecht. Lamarck hatte ein Faible für diese Art der Systemkonstruktion und ließ keinerlei Eifer erkennen, Ausnahmen anzuerkennen oder seine Leitlinien zu ändern. Dennoch kann man in Cuviers Karikatur eines starren, dogmatischen Lamarck nur eine große Ungerechtigkeit erkennen, denn das Objekt des Spotts wahrte sich in Wirklichkeit durchaus eine angemessene Flexibilität gegenüber der Vielfalt der Natur, und er änderte am Ende auch die zentrale Aussage seiner
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Theorie, als er seine ursprünglichen Ansichten angesichts seiner eigenen Untersuchungen an der Anatomie der Wirbellosen nicht mehr aufrechterhalten konnte. Dieser grundlegende Wandel – von einem linearen zu einem verzweigten Klassifikationssystem für die großen Gruppen (Stämme) des Tierrei ches – ist in den Standardwerken der modernen Lamarck-Forschung ausreichend belegt (insbesondere in Richard W. Burkhardt, Jr., The Spirit of the System: Lamarck and Evolutionary Biology, Harvard University Press, 1977, und in Pietro Corsi, The Age of Lamarcky University of California Press, 1988). Aber Lamarcks Lebensgeschichte ist nach wie vor unvollständig, denn in den Aufzeichnungen fehlen sowohl der Auslöser als auch die abschließende Aussage: Seine erste Erkenntnis notierte Lamarck nur als handschriftliche und bisher unveröffentlichte Anmerkung in seinem Exemplar der ersten gedruckten Äußerung über Evolution (dem Vortrag aus dem Floréal 1800, den er als Vorwort für sein 1801 erschienenes Buch über die Anatomie der Wirbellosen wiederverwendete), und das Ende ist nicht vorhanden, weil sein letztes Buch aus dem Jahr 1820 mit dem Titel Systeme analytique des connaissances positives d’homme (Analytisches Sys tem der positiven Kenntnisse über den Menschen) immer nur als rätselhafter Schwanengesang über Psychologie galt, als seltenes Buch, das noch seltener zu Rate gezogen wird (und das trotz eines faszinierenden Ab schnitts, in dem Lamarcks sich ständig wandelnde Ansichten über die Klassifizierung der Tiere eine neue, entscheidende Wendung nehmen). Geschichten, in denen sowohl der Anfang als auch das Ende abgeschnitten wurde, können unser Bedürfnis nach Vollständigkeit oder Vervoll ständigung nicht befriedigen – und ich bin dankbar für diese Gelegenheit, die beiden letzten Anker zu liefern.
II. Lamarcks Theorie und unsere falsche Lesart Lamarcks ursprüngliches Evolutionssystem – jenes logische, reine, ausnahmslos gültige Schema, das er wegen der hartnäckigen Vielschichtigkeit der Natur später aufgeben musste – teilte die Ursachen in zwei unabhängige Gruppen ein, von denen die eine für Fortschritt und die andere für Vielfalt verantwortlich war. (Ein solches Modell bezeichnen die Fachleute allgemein als »Zwei-Faktor-Theorie«.) Einerseits führt eine »Kraft, welche
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unaufhörlich zu komplizierterer Organisation neigt« (la force qui tend sans cesse à composer l’organisation) die Evolution in gerader Linie aufwärts: Sie beginnt mit der spontanen Entstehung von »Infusorien« (Einzellern) aus chemischen Vorstufen und reicht bis zur Intelligenz der Menschen. Lamarck erkannte aber auch, dass man die überbordende Vielfalt der Lebewesen nicht in eine ordentliche, einfache Abfolge des geradlinigen Fortschritts einordnen konnte – denn was käme dann nach solchen Wun dern der Anpassung wie der Giraffe mit ihrem langen Hals, dem blinden Maulwurf, den Plattfischen mit beiden Augen auf einer Körperseite, den Schlangen mit ihrer gegabelten Zunge oder den Vögeln mit Schwimm häuten an den Füßen? Deshalb postulierte Lamarck die Geradlinigkeit nur für die »Hauptmassen«, das heißt für die großen anatomischen Bau pläne in den grundlegenden Stämmen der Lebewesen. Er malte also das Bild von einer ununterbrochenen Abfolge, die in völlig regelmäßigem Fortschritt von den Infusorien über Quallen, Würmer und Insekten bis zu Weichtieren und Menschen aufsteigt. Die besonderen Anpassungen in nerhalb der einzelnen Gruppen stellte er sich dann als seitliche Abzweigungen von dieser Hauptachse vor. Danach sollten die besonderen Anpassungen auf Ursachen einer zwei ten Kategorie zurückgehen, die Lamarck als »Einfluss der Umstände« (l’influence des circonstances) bezeichnete. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass ausschließlich diese zweite (und eigentlich untergeordnete) Kategorie später zum »Lamarckismus« der heutigen Lehrbücher und Darwin-feindlichen Bilderstürmer wurde (während die wichtigere erste Gruppe der geradlinigen Kräfte in Vergessenheit geraten ist). Nur die zweite Gruppe – Verhaltensänderung als Auslöser der Anpassung unter neuen Umweltbedingungen – beschwört die altbekannte (und falsche) Lehre herauf, die wir heute als »Lamarckismus« bezeichnen: die »Verer bung erworbener Merkmale« und das Prinzip des »Gebrauchs und Nichtgebrauchs«. Als Lamarck sich auf diese Prinzipien der Vererbung berief, erfand er nichts Neues: Beide Lehren stellten die »Volksweisheit« seiner Zeit dar (auch wenn sie später, in der neuen Welt von Darwin und Mendel, widerlegt wurden). Die Giraffe reckt den Hals während ihres ganzen Lebens nach immer höheren Blättern an den Akazien, und der Küstenvogel streckt die Beine, um oberhalb des steigenden Wassers zu bleiben. Solche
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fortgesetzten Anstrengungen führen zu einem längeren Hals oder länge ren Beinen – und dieser Lohn für harte Arbeit wird in Form veränderter Erbeigenschaften an die Nachkommen weitergegeben (durch Vererbung erworbener Merkmale, die entweder wie in diesen Fällen durch Gebrauch verstärkt werden oder wie bei den augenlosen, in Höhlen lebenden Maul würfen und Blindfischen durch Nichtgebrauch verloren gehen). Einer anderen Ironie und Ungerechtigkeit der Geschichte leistete Lamarck allerdings selbst durch seine unklaren Äußerungen Vorschub: Im Mittelpunkt des Spotts, der seine Theorie seit Cuviers eloge und Darwins Missbilligung umgab, stand immer der Vorwurf, seine Ansichten seien ein Rückfall in den mystischen Vitalismus der schlechten alten Zeit, bevor die moderne Wissenschaft überprüfbare mechanistische Vorgänge als geeignetes Erklärungsmuster festschrieb. Welche echten Erkenntnisse, so die Kritiker, kann man aus Behauptungen über unklare, unsichtbare innere Kräfte des Lebens gewinnen, die angeblich alle Lebewesen entweder immer komplexer werden lassen (dies erinnert an Molieres Parodie der vitalistischen Medizin, die sich in der Aussage verkörpert, Morphium verursache den Schlaf, »quia est in eo virtus dormativa« – weil es die Schlaftugend enthält) oder sie mittels eines erhabenen »Willens« dazu treiben, durch ausschließlich organische Anstrengungen oder Bestrebungen seitlich einen Zweig der Anpassung zu bilden? Als Darwin 1844 in einem berühmten Brief an seinen engsten Vertrau ten J. D. Hooker erstmals seine Ansichten über die Evolution eingestand, stellte er seiner mechanistischen Erklärung eine Karikatur von Lamarcks Theorie gegenüber: »Ich bin fast überzeugt, ... dass biologische Arten nicht (es ist fast, als gestünde man einen Mord) unveränderlich sind. Der Himmel bewahre mich vor Lamarck’schem Unsinn einer ›Neigung zum Fortschritt‹ einer ›Anpassung aus dem langsamen Willen der Tiere her aus‹, etc.! Aber die Schlussfolgerungen, zu denen ich gelange, sind von sei nen nicht allzu weit entfernt; die Mittel der Veränderung sind es aller dings.« Und Cuvier machte sich in aller Öffentlichkeit in dem gleichen geringschätzigen Ton über die zweite Kategorie der Anpassungskräfte lustig: »Bestrebungen und Wünsche, hervorgebracht durch die Umstände, führen zu anderen Bemühungen, welche andere Organe entstehen lassen ... Der Wunsch und der Versuch zu schwimmen bringt die Schwimmhäute an den Füßen der Wasservögel hervor. Das Waten im Wasser ... hat die Beine jener verlängert, die das Flussufer bevölkern.«
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Lamarck schadete seiner Sache auch selbst mit unbedachten Äußerun gen, die dann auf diese Weise fehlinterpretiert wurden. So sprach er von einer »inneren Empfindung« (sentiment intérieur), die hinter der aufwärts gerichteten Kraft stehen sollte, oder von »gefühlten Bedürfnissen« (besoins in seiner Terminologie), denen die Lebewesen angeblich folgten und die die seitlichen Äste der Anpassung entstehen ließen. Das alles führte zu dem Verdacht, er glaube an geheimnisvolle, unbeweisbare vitalistische Kräfte. In Wirklichkeit blieb Lamarck zeit seines Lebens ein überzeugter, energischer Materialist – dieses Bekenntnis ist sicher die unveränderlichste, beharrlichste Aussage in seinen Schriften. Für beide Kategorien, die geradlinigen wie die seitwärts gerichteten Kräfte, versuchte er ständig materialistische Erklärungen zu finden, die sich auf die physikalischen und chemischen Eigenschaften bewegter Materie gründeten. Ich be haupte nicht, seine Bemühungen seien von durchschlagendem Erfolg gekrönt gewesen, insbesondere was seine spekulativen Versuche betrifft, die geradlinige Abfolge der Tierstämme mit einem immer heftigeren, ver zweigten Strömen von Flüssigkeiten zu erklären, die in immer komplizierteren Körpern den Platz für die Organe und die Blutbahnen freiwaschen sollten. Aber seine unverbrüchliche Überzeugung ist nicht zu leugnen. La vie... n’est autre chose qu’un phénomène physique (das Leben ist nichts anderes als ein physikalisches Phänomen), schrieb er 1820 in seinem letzten Buch. Dazu meint der bedeutende Wissenschaftshistoriker C. C. Gillespie in einem Artikel, mit dem er Lamarck 1959 bei der DarwinJahrhundertfeier (für Die Entstehung der Arten) rehabilitieren wollte: »Das Leben ist bei Lamarck ein ausschließlich physikalisches Phänomen, und nur weil die Wissenschaft (ganz zu Recht) diese Vorstellung des Phy sikalischen hinter sich gelassen hat, wurde er systematisch missverstanden und einer theistischen oder vitalistischen Tradition zugeordnet, die er in Wirklichkeit verabscheute.« Lamarck beschreibt seine beiden Gruppen von Evolutionskräften als eindeutig getrennte Kategorien, die unterschiedlichen Zwecken dienen. Die Schönheit seiner Theorie – die Verkörperung des esprit de système – liegt in diesem sauberen Kontrast der Geometrie wie auch des Mechanis mus. Die Kräfte der ersten Kategorie sind aufwärts gerichtet und sorgen für Fortschritt in einer streng linearen Abfolge anatomischer Grundbaupläne (Stämme); dazu bedienen sie sich eines Mechanismus, der im Wesen belebter Materie liegt. Die zweite Gruppe wirkt in seitlicher Richtung
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und sendet Äste (Arten und Gattungen) aus; diese reagieren durch genaue Anpassung an bestimmte Umweltbedingungen auf äußere Umstände. (Man kann sich die Seitenäste als rechtwinklige Abzweigungen vorstellen, die von dem Hauptstamm des Fortschritts ausgehen. Rechtwinklige Vek toren bezeichnet man als orthogonal, und sie sind mathematisch unabhängig voneinander, das heißt nicht verwandt.) Lamarck verdeutlicht den Unterschied mit der Behauptung, die Tiere würden nur eine einzige Linie des Fortschritts bilden, wenn die Anpas sung an die Umwelt nicht den aufwärts gerichteten Strom unter besonde ren Umständen unterbrechen, behindern und ablenken würde: Würde der Faktor, der unablässig in Richtung immer komplizierterer Organisation wirksam ist, als einziger die Gestaltung und Organe der Tiere beeinflussen, gäbe es überall eine sehr regelmäßig wachsende Komplexität des Körperbaues. Aber so ist es nicht; die Natur ist gezwungen, ihre Hervorbringungen dem Einfluss der Umwelt zu unter werfen ... Das ist der besondere Faktor, der gelegentlich ... die oftmals seltsamen Abweichungen erzeugt, die man in der Abfolge beobachten kann. (1809, Philosophie zoologique.) Die komplizierte Ordnung der Lebewesen erwächst also aus dem Wechselspiel zweier widerstreitender Kräfte: Der Fortschritt treibt die Abstammungslinien auf der Leiter nach oben, und die Anpassung drängt sie seit wärts in Kanäle, die durch die Besonderheiten der jeweiligen Umwelt vorgegeben sind: Der Zustand, in dem wir ein Tier vorfinden, ist einerseits die Folge der zunehmend komplexen Organisation, die zur Bildung einer regel mäßigen Abstufung neigt, und andererseits das Ergebnis des Einflusses zahlreicher höchst vielfältiger Umstände, die stets bestrebt sind, die Re gelmäßigkeit in der Abstufung der zunehmenden Komplexität der Le bewesen zu zerstören. (1809, Philosophie zoologique.) Und schließlich bezeichnet Lamarck die erste Kategorie der geradlinigen Kräfte in allen seinen Schriften über Evolution, die 1815 mit seinem vielbändigen Werk über die Anatomie der Wirbellosen ihren Höhepunkt fan den, als vorrangig; die zweite ist in seinen Augen der ersten untergeordnet
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und widerspricht ihr – wie in der folgenden berühmten Feststellung, in der er den seitlichen Zug der Anpassung als fremd, zufällig, störend und anormal bezeichnet: Der Plan, dem die Natur bei der Hervorbringung der Wirbeltiere folgt, enthält eindeutig eine vorherrschende erste Ursache. Sie stattet das tie rische Leben mit der Fähigkeit aus, die Organisation allmählich immer komplexer zu gestalten ... Gelegentlich hat eine fremde, zufällige und deshalb vielgestaltige Ursache die Ausführung des Planes beeinträchtigt, ohne ihn aber zunichte zu machen. Das hat zu Lücken in der Reihe geführt, entweder in Form endgültiger Zweige, die an mehreren Stellen von der Reihe ausgehen und ihre Einfachheit verändern, oder als Anomalien, die man an ganz bestimmten Apparaten verschiedener Lebe wesen beobachten kann. (1815, Histoire naturelle des animaux sans vertebres).
III. Der Wert veränderlicher Theorien Charles Darwin begann den letzten Absatz seiner Entstehung der Arten mit einem Hinweis darauf, wie reizvoll die Evolution als Erklärung ist: »Es ist eine wahrlich großartige Ansicht ...« Kein denkender oder fühlender Mensch kann leugnen, dass die Natur großartig ist und dass eine große Tiefe und Würde in unserer Entdeckung der Evolution liegt, die alle Lebewesen verbindet. Aber in unserer Welt der vielfältigen Leidenschaften und psychischen Strukturen gibt es unter den Fachleuten für Naturge schichte höchst unterschiedliche Definitionen (und instinktive Gefühle) für das, was man als großartig bezeichnet. Darwin wies auf die üppige Vielfalt mit all ihrer vibrierenden, atemberaubenden Formenfülle hin – im letzten Satz seines Schlussabsatzes stellt er die »stumpfsinnige«, sich ständig wiederholende Kreisbewegung der Planeten in Gegensatz zur endlosen Erweiterung und Erneuerung der Evolutionsprozesse: »... dass, während unser Planet den strengsten Gesetzen der Schwerkraft folgend sich im Kreise geschwungen, aus so einfachem Anfange sich eine endlose Reihe der schönsten und wundervollsten Formen entwickelt hat und noch immer entwickelt.« Ich habe allerdings den Verdacht, dass Lamarck auf Grund seiner Er
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ziehung in der strengen Tradition des aufgeklärten französischen Ratio nalismus die Definition des Großartigen ganz anders interpretierte. Als Anhänger des esprit de système hielt er sicher die Fähigkeit des menschlichen Geistes (in diesem Fall seines eigenen, denn bescheiden war er nicht), das wahre, vollständige System der rationalen natürlichen Ord nung zu erfassen, für das wichtigste Kriterium (wobei die Entstehung der tatsächlichen, üppigen Vielfalt eine Folge ist, die zwar eine taxonomische Einordnung erforderlich macht, die aber nur ein Produkt der weniger wichtigen seitlichen, fortschrittshemmenden Kräfte darstellt). Die klare Logik seiner Zwei-Faktor-Theorie – mit einer ersten Ursache, die für einen geradlinigen, rationalen Fortschritt sorgt, und einer entgegengesetzten, untergeordneten Ursache, die einen eher chaotischen Wald der angepassten Vielfalt erzeugt – muss für Lamarck der Bestandteil gewesen sein, der die Großartigkeit der Natur und die Kraft der Evolution aus macht. In unserem Verständnis der Natur spiegelt sich immer ein raffiniertes Wechselspiel wider: Da ist einerseits das, was wir über die echten Phänomene »da draußen« in der wirklichen Welt erfahren, und andererseits die notwendige Filterung dieser Daten durch alle Schrullen und Ord nungsinstrumente, die dem menschlichen Geist und seiner in der Evolu tion entstandenen Arbeitsweise eigen sind (siehe Kapitel 2). Die Komplexität der Natur – insbesondere bei so umfassenden Themen wie der Evolution und dem systematischen Aufbau der Lebensvielfalt – können wir nur dann begreifen, wenn wir dem offenkundigen Chaos, das auf un sere Sinne trifft, unsere mentalen Ordnungstheorien überstülpen. Die verschiedenen Wege, auf denen Wissenschaftler diese beiden verflochtenen (und einander teilweise widersprechenden) Ursachen von Ordnung auszubalancieren und zu vereinbaren versuchen, machen letztlich die reichhaltige Methodenvielfalt eines Berufsstandes aus, der nur allzu oft fälschlich als monolithische Branche gilt, weil sie angeblich auf eine Reihe festgelegter, als »die wissenschaftliche Methode« bezeichneter Vorgehensweisen fixiert ist. Eine Überbetonung ist auf beiden Seiten mit Gefahren und Möglich keiten verbunden. Wer zu streng systematisiert, deutet natürliche Gesetz mäßigkeiten oftmals falsch, weil er die Beobachtungen allzu starr in vor gefasste Erklärungsmuster presst. Die Kollegen dagegen, die sich der Natur nach ihrem eigenen Gusto nähern und keine Lieblingshypothesen
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überprüfen wollen, laufen Gefahr, entweder in einer Flut verwirrender Informationen unterzugehen oder zum Opfer von Vorurteilen zu werden, die unbewusst (das heißt unerkannt) bleiben und sich deshalb nur umso stärker auswirken. In diesem Spektrum der nützlichen Vorgehensweisen gehört Lamarck sicher zu den Wissenschaftlern, denen die logische Schönheit einer vollständig widerspruchsfreien Theorie wichtiger war als das Durcheinander der unvermeidlichen Nuancen und Ausnahmen in der Natur. Vor diesem Hintergrund wundere ich mich umso mehr über Lamarcks spätere geisti gen Streifzüge, die in so eindeutigem Gegensatz zu seinen eigenen Nei gungen stehen und ihre Ursache (jedenfalls zu einem großen Teil) darin haben, dass er neue Entdeckungen in der Anatomie der Wirbellosen nicht in den strengen Grenzen seines schönen Systems unterbringen konnte. Nichts anderes in der Wissenschaftsgeschichte ist so interessant und aufschlussreich wie der intellektuell so dramatische Wandel grundlegender Ansichten über das Leben – vom ersten Erkennen eines Problems über den Versuch, es innerhalb eines bevorzugten Systems zu lösen, bis zu ver schiedenen Graden der Aufgeschlossenheit gegenüber einer möglichen Veränderung und manchmal, wenn jemand besonders flexibel und mutig ist, bis hin zu einem völligen Sinneswandel. Besonders gern befasse ich mich mit den äußeren und inneren Faktoren, die zu einem solchen Wandel beitragen: Neue Daten stellen Ansichten von außen in Frage, gleich zeitig ist man innerlich bereit, die Logik eines alten Systems bis zu seinem Versagen weiter zu verfolgen, und schließlich konstruiert man eine neue Theorie, die einer veränderten Welt eine neue Art der Widerspruchsfreiheit aufzwingt. Chance und Risiko gehen dabei Hand in Hand, denn radikale Versuche des Umdenkens schlagen in den meisten Fällen fehl, aber auf die wenigen Sieger in diesem riskanten, schwierigen geistigen Abenteuer warten die süßesten Früchte. Wenn wir uns des Privilegs erfreuen können, einen wirklich großen Geist während einer besonders interessanten Phase der Wissenschaftsge schichte mit dem wichtigsten Konzept der Biologie kämpfen zu sehen, er gibt sich aus allen Faktoren gemeinsam eine hervorragende Geschichte, die auch Einblicke in die Funktionsweise der Wissenschaft vermittelt. Ha ben wir dann außerdem noch das Glück, einen zuvor fehlenden Puzzle stein ausfindig zu machen – in diesem Fall das erste Dokument einer Umgestaltung, die später eine zentrale Theorie im Kern verändern sollte, auch
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wenn Lamarck am Anfang sicher keine Ahnung hatte, wie gewaltig ein so kleiner Same heranwachsen kann –, wird uns darüber hinaus der Segen zuteil, dass eine fesselnde Einzelheit (der Nährboden aller guten Plaudereien) auf eine umfassende, definierende Aussage aufgepfropft wird. Die Vorstellung, unbemerkter Zeuge zu werden – das »Mäuschen« der üblichen Metapher zu spielen –, hat unsere Fantasie immer beflügelt. Und die Gelegenheit, zu einem zuvor nicht belegten Anfang vorzudringen – oder, nach einer anderen Beschreibung, »bei der Schöpfung zugegen zu sein« –, enthält ein zusätzliches Maß an Faszination. In diesem Fall gehen wir von etwas fast unvorstellbar Bescheidenem – der Klassifikation der Würmer – aus, und am Ende steht eine neue Geometrie für die Tierwelt sowie eine neue Sichtweise für die Evolution als Ganzes.
IV. Lamarck bessert seine erste Abhandlung
über Evolution nach
Früher, in einer längst vergangenen Zeit vor der elektronischen Revolu tion und sogar vor der Erfindung der Schreibmaschine, lieferten die Autoren ihren Verlegern wirkliche Manuskripte (von lateinisch »mit der Hand geschrieben«). Überarbeitete ein Gelehrter sein Werk für eine zweite Auflage, arbeitete er häufig mit einem speziell hergestellten Exemplar, das nach jeder bedruckten Seite ein leeres Blatt enthielt. Auf diese leeren Seiten wurden dann Korrekturen und Ergänzungen geschrieben, sodass der Verlag anhand des zusammenhängenden, gebundenen Dokuments (und nicht nach einer verwirrenden Masse loser oder eingeflickter Texte) die neue Auflage setzen konnte. Lamarck besaß ein solches mit Zwischenblättern versehenes Exemplar seiner Abhandlung über Evolution, des 1801 erschienenen Systeme des animaux sans vertèbres. Eine zweite Auflage brachte er zwar nie heraus, aber er schrieb Kommentare auf die leeren Seiten und nahm manche die ser Anmerkungen später in andere Werke auf, insbesondere in die Philo sophie zoologique von 1809. Dieses Exemplar, das mich vielleicht zu einer Art faustischem Pakt mit Mephistopheles verleitet hätte, wurde kürzlich bei einer Auktion versteigert – für einen Betrag, den selbst ein einiger maßen wohlhabender Professor nicht einmal im Traum ausgeben kann. In den wenigen Tagen der Vorbesichtigung konnte ich aber die übliche
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Voyeurrolle des Intellektuellen spielen – und in einer entscheidenden Anmerkung von Lamarcks Hand erkannte ich eine Bedeutung, die früheren Beobachtern entgangen war. Der endgültige Käufer drückte mir anonym wegen der gesteigerten Bedeutung des Stückes seine Dankbarkeit aus und bot mir – über den Buchhändler, der als sein Agent aufgetreten war – freundlicherweise an, mir den Band für einige Tage zu leihen. Außerdem gestattete er mir, die entscheidende Anmerkung an dieser Stelle zu veröf fentlichen. Während dieser großartigen Tage, als ich das in der Hand hielt, was in meinem Beruf dem heiligen Gral am nächsten kommt, schwebte ich auf Wolke sieben. Lamarcks Anmerkungen sind nicht üppig, aber mehrere Notizen ermöglichen wichtige Einblicke, und aus ihrem allgemeinen Tenor können wir über die relative Gewichtung seiner Bedenken etwas Wichtiges lernen. Die ersten 48 Seiten des gebundenen Buches enthalten den Vortrag aus dem Floréal. Die letzten 350 Seiten sind eine systematische Klassifikation der wirbellosen Tiere mit einer Erörterung über allgemeine Gesetzmäßigkeiten sowie einer Liste und Beschreibung aller von ihm unter schiedenen Gattungen, die Stamm für Stamm abgehandelt werden. Von Lamarcks 37 handschriftlichen Einträgen auf den leeren Seiten bestehen 29 nur aus einem oder zwei Wörtern; in ihnen spiegelt sich die üb liche Tätigkeit, kleine Fehler zu korrigieren, neue Informationen hinzu zufügen oder Formulierungen zu verbessern. Fünfzehn Kommentare betreffen die Anatomie; diese finden sich vor allem in dem Kapitel über die Gattungen der Weichtiere, die Gruppe, die er am besten kannte. Weitere neun befassen sich mit Fragen der Benennung (der lateinischen Bezeichnung wird der umgangssprachliche Name hinzugefügt, ein Name oder die Zuordnung zu einer Gattung wird geändert); in zwei Fällen han delt es sich um neue bibliografische Angaben; und mit den drei letzten be seitigt er ungeschickte sprachliche Formulierungen. Insgesamt betrachtet, korrigieren diese Kommentare nach meiner Überzeugung den falschen Eindruck, Lamarck- der damals seine Karriere weitgehend hinter sich hatte – habe sich nur für allgemeine Theorien und nicht für empirische Details interessiert. Er kümmerte sich ganz eindeutig auch weiterhin um das Kleinklein der ursprünglichen Informationen und wollte mit seinem Wissen auf dem Laufenden bleiben – die wichtigs ten Indizien für ein aktives Wissenschaftlerleben. Von den acht längeren Kommentaren beziehen sich vier als Ergänzun
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gen auf den Floréal-Vortrag. Sie liefern aufschlussreiche Erkenntnisse über Lamarcks Charakter und Interessen, denn sie erfüllen eine »konser vative« Funktion: Sie verdeutlichen und erläutern mit hypothetischen Beispielen die zentrale Aussage seiner Evolutionstheorie, die scharfe Tren nung zwischen »aufwärts« gerichtetem Fortschritt und den »seitwärts« verlaufenden Anpassungen an örtliche Gegebenheiten. In den beiden Kommentaren (unter diesen vier), die bei Kaufinteres senten die meiste Aufmerksamkeit erregten, nennt Lamarck Beispiele für die Anpassung an lokale Bedingungen durch Vererbung erworbener Merkmale (in beiden geht es um die evolutionsbedingte Neuanordnung der Augen): erstens die Plattfische, die im seichten Wasser schwimmen – ihr Körper wird flacher, und dann wandern beide Augen auf die Oberseite des Kopfes; und zweitens bestimmte Schlangen, deren Augen ebenfalls auf die Kopfoberseite wandern, weil sie so nahe am Erdboden leben und Ge fahren über sich wahrnehmen müssen – und bei denen sich dann eine lange, empfindliche Zunge entwickelt, weil sie mögliche Gefahren vor sich mit den Augen nun nicht mehr sehen können. Mit diesen Beispielen erweitert Lamarck seine Berichte auf Lebewesen verschiedener Gruppen und verallgemeinert so seine Aussage über die zweite Kategorie der Kräfte – in dem Vortrag im Floréal war es ausschließlich um Verhalten und Ana tomie der Vögel gegangen. (Wegen des rein spekulativen Charakters die ser Fälle verstehen wir auch besser, warum nüchternere Empiriker wie Darwin und Cuvier von Lamarcks angeblichen Befunden über die Evolu tion so wenig hielten.) Jedenfalls veröffentlichte Lamarck beide Fälle auch fast mit genau den gleichen Worten 1809 in seiner Philosophie zoologique. Ein dritter Kommentar soll die These von der anderen, vorrangigen Kategorie der geradlinigen Kräfte stützen: Lamarck argumentiert, das kürzlich in Australien entdeckte Schnabeltier sei ein Verbindungsglied zwi schen den an zweitoberster Stelle stehenden Vögeln und der höchsten Gruppe, den Säugetieren. In dem vierten Kommentar schließlich versucht er, den Mechanismus des Gebrauchs und Nichtgebrauchs mit den unter schiedlich durch den Körper strömenden Flüssigkeiten zu erklären. Die andere Gruppe von vier längeren Kommentaren ziert den zweiten Teil des Buches, in dem es um die systematische Einordnung der wirbellosen Tiere geht. In einem Einschub äußert er die Ansicht, man solle ein kleines, rätselhaftes, eiförmiges Fossil in den Stamm der Korallen und Quallen einordnen. In einer zweiten, für mich besonders interessanten
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Lamarcks ursprüngliche Zeichnung zur Entdeckung des tintenfischähnlichen Tieres, das die als Spirula bezeichnete Schale produziert.
Aussage revidiert Lamarck seine Beschreibung der Muschelgattung Trigonia. Mit ihrer charakteristischen Form galt sie schon lange als wichtiges Fossil in Gestein aus dem Mesozoikum, aber Fossilien aus dem Tertiär oder lebende Exemplare hatte man nie gefunden; deshalb nahmen die Na turforscher an, die Gattung sei ausgestorben. Dann aber fanden zwei fran zösische Wissenschaftler in australischen Gewässern eine lebende Trigonia-Art, und Lamarck selbst veröffentlichte 1803 die Erstbeschreibung dieser triumphalen Entdeckung. (Als Studienanfänger unternahm ich un ter Anleitung von Norman D. Newell am New Yorker Museum of Natural History erste anatomische Forschungsarbeiten, und ich schrieb dort auch meine erste Fachveröffentlichung. Newell gab mir ein halbes Dutzend der auch heute noch seltenen und kostbaren Trigonia-Exemplare aus Australien. Ich schluckte und gestand, ich sei im Sezieren noch unerfahren und hätte Angst, einen so wertvollen Schatz sinnlos zu zerschnippeln; darauf erwiderte er in seiner charakteristischen, kurz angebundenen Art, die für zielstrebige Studenten höchst anregend, für ängstliche aber entsetzlich war: »Gehen Sie runter zum Fischmarkt und kaufen Sie ein paar QuahogMuscheln. An denen üben Sie erst mal.« Ich war eher entsetzt denn ange tan, aber Ende gut, alles gut.) Die beiden letzten Kommentare bereiten mir ganz instinktiv das größte Vergnügen von allen, denn hier fügte Lamarck neben seinen Worten auch Zeichnungen hinzu, die ich mit freundlicher Genehmigung des neuen Eigentümers wiedergebe. Die erste Skizze bestätigt Lamarcks fortdauernde Liebe zum Detail und zu neuen Entdeckungen, die er weiterverfolgt und aufzeichnet. An den Stränden auf der ganzen Welt werden häufig kleine, weiße, raffiniert gewundene Gehäuse eines Kopffüßers angespült (zu dieser Weichtiergruppe gehören Kraken und Tintenfische), den Lamarck 1799 auf den Namen Spirula getauft hatte. Das Tier, das solche Gehäuse
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Zeichnung und Text von Lamarck mit seiner ersten, entscheidenden Erkenntnis, dass Ringelwürmer und parasitisch lebende innere Würmer zwei ganz unterschied liche Tiergruppen darstellen.
herstellt, hatte man aber nie gefunden. Was besonders rätselhaft war: Niemand wusste, ob das Tier im Inneren des Gehäuses lebte (wie der heutige Nautilus mit seinen vielen Gehäusekammern) oder ob die Schale im Kör perinneren des Tieres heranwuchs (wie der »Fischknochen« der Tintenfi sche). Da das ganze Gebilde sehr empfindlich war, tippte man eher auf eine Lage im Körper, aber die Frage blieb offen. Kurz nachdem Lamarcks Buch erschienen war, entdeckten Naturforscher das Spirula-Tier und be stätigten, dass es die Schale innen trug – ein glückliches Ende, das Lamarck den Anlass zu einer seltenen Episode künstlerischer Tätigkeit gab. Der letzte – und, wie ich hier darlegen werde, bei weitem wichtigste – Kommentar steht auf dem leeren Blatt nach Seite 330, auf der zwei bemerkenswert unterschiedliche Gattungen von »Würmern« beschrieben werden: der medizinische Blutegel Hirudo und der Süßwasserwurm PlanaricLy den jeder Teilnehmer eines Biologie-Anfängerpraktikums kennen lernt. Lamarck zeichnete an dieser Stelle eine einfache Skizze des Kreislaufs von Ringelwürmern und schrieb dazu die folgenden ungeheuer lichen Worte:
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Observation sur l’orgon des vers. dans les vers anneles et qui ont des organs externes, le sang est rouge et circule dans des vaissaux arteriels et veineux. leur Organisation les place avant les insectes. les vers intestines doivent seuls se trouver après les insectes. ils nont qu’un fluide blanc, libre, non contenue dans des vaissaux. Cuvier. extrait d’un mem. lu a l’institut le 11 nivôse an 10. (Beobachtung über den Aufbau der Würmer. Bei Ringelwürmern, die äußere Organe besitzen, ist das Blut rot und kreist in arteriellen und venösen Gefäßen. Ihr Aufbau stellt sie vor die Insekten. Nur die inne ren Würmer kommen nach den Insekten. Sie haben nur eine weiße Flüssigkeit, die frei und nicht in Gefäße eingeschlossen ist. Cuvier. Aus zug aus einer Denkschrift, gelesen im Institut am 11. Tag des [Monats] Nivôse im Jahr 10.) Lamarck erkennt also eindeutig eine entscheidende Unterteilung der Gruppen, die er zuvor zusammen in die allgemeine Kategorie der »Wür mer« eingeordnet hatte. Die eine Gruppe – die Ringelwürmer, zu denen Regenwürmer, Blutegel und die im Meer lebenden Borstenwürmer gehören – hält er für hoch entwickelt, höher sogar als die Insekten. Eine andere Gruppe dagegen, die inneren Würmer*, stehen auf der Leiter viel tiefer, nämlich noch unter den Insekten (das heißt, sie sind anatomisch einfacher gebaut). Diese beiden Gruppen, die zuvor zusammengefasst waren, rückten nun in der systematischen Ordnung der Lebewesen weit auseinander. Es ist eine Ironie des Schicksals, dass Lamarck ausgerechnet seinen Kollegen Cuvier (der sich später gegen ihn wenden und seinen Ruf zerstören sollte) als Quelle der entscheidenden Erkenntnis zitiert, die ihn zum Umschwenken veranlasste. In Cuviers Bericht (der auf einer Tagung im Winter 1801/02, kurz nach Erscheinen von Lamarcks Buch, der Öffentlichkeit vorgestellt wurde) ist davon die Rede, dass Ringelwürmer einen komplizierten Kreislauf mit rotem Blut sowie Arterien und Venen besitzen, während die inneren Würmer keine abgegrenzten Blutgefäße haben, sondern nur eine weiße Flüssigkeit, die sich frei durch ihre Kör perhöhle bewegt. * In der Literatur wurde Lamarcks Ausdruck vielfach fälschlich mit »Darmwür mer« übersetzt. Diese Parasiten leben aber nicht nur im Darm, sondern in mehreren Organen und Körperteilen der Wirbeltiere. Das französische Wort intestin bedeutet in einem umfassenderen Sinn »innen« oder »innerlich«.
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Offensichtlich hielt Lamarck diese neue Erkenntnis für besonders wichtig: Keine andere anatomische Bemerkung nimmt in seinen Ergän zungen auch nur annähernd eine so auffällige Stellung ein, und nur eine einzige weitere Beobachtung (eine einfache neue Information ohne nennenswerte theoretische Bedeutung) wird ebenfalls einer Zeichnung für wert befunden. Aber warum maß Lamarck der Unterteilung der Würmer eine so große Bedeutung bei? Und wie konnte eine scheinbar langweilige, rein fachliche Entscheidung über die Benennung zum Dreh- und Angel punkt für eine neue Ansicht über das Leben werden?
V. Eine Odyssee der Würmer Ich fand es immer seltsam (und es roch für mich stark nach Arroganz oder Engstirnigkeit), wenn eine kleine Minderheit die Welt in zwei höchst unausgewogene Kategorien namens »wir« und »die anderen« einteilt – und dann die große Kategorie über das Fehlen der kleinen definiert, so wie meine Großmutter es mit ihrer Taxonomie für den Homo sapiens tat: Juden und Nichtjuden. Aber unsere herkömmliche Klassifikation der Tiere folgt dem gleichen Schema: Wir treffen eine grundlegende Unter scheidung zwischen Wirbeltieren und Wirbellosen – und das, obwohl nur rund 40 000 der insgesamt über eine Million Arten zur relativ kleinen Ab stammungslinie der Wirbeltiere gehören. Nach dem altehrwürdigen Prinzip, dass auch eine schlimme Situation immer noch schlimmer werden kann, können wir uns ein wenig mit dem noch größeren Ungleichgewicht trösten, das Carl von Linné herstellte, der Begründer der modernen biologischen Systematik. Wenigstens sehen wir in den Wirbeltieren heute nur einen Teil eines einzigen Stammes, während die meisten modernen Klassifikationsschemata bei den Wirbellosen etwa zwanzig bis dreißig verschiedene Stämme unterscheiden. Linné dagegen grenzte in seinem Systema naturae, das 1758 erschien und zur Grundlage der modernen zoologischen Nomenklatur wurde, nur sechs große Tiergruppen ab, davon vier bei den Wirbeltieren (Säugetiere, Vögel, Reptilien und Fische) und zwei für die gesamte Domäne der Wirbellosen (Insecta für die Insekten und ihre Verwandten, sowie die Vermes, was buchstäblich »Würmer« bedeutet, für praktisch alles andere). Als Lamarck 1793 am Museum zum Professor für Wirbellose ernannt
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wurde (wobei der offizielle Titel, Professor für Insekten und Würmer, in der Linnéschen Zwangsjacke steckte), hatte er bereits erkannt, dass man für jede Reform Linnés »Mülleimer« der Vermes oder Würmer auseinander nehmen musste. (»Mülleimer« ist übrigens bei professionellen biologischen Systematikern fast ein offizieller Begriff für zusammengewürfelte Gruppen, in die man alle möglichen, von den meisten Fachleuten über sehenen Lebewesen hineinpackt – wie die »primitiven«, zweiseitig-sym metrischen Tiere, die eine Kategorie der »Würmer« bildeten und von den Wirbeltierspezialisten weitgehend übersehen wurden.) In seinem Buch aus dem Jahr 1801 bezeichnet Lamarck das Durchein ander von Linnés Vermes als größtes Hindernis der Zoologie: Der gefeierte Linné und bis heute auch nahezu alle anderen Naturforscher haben die gesamte Reihe der wirbellosen Tiere in nur zwei Klassen eingeteilt: Insekten und Würmer. Deshalb muss alles, was man nicht als Insekt bezeichnen kann, ausnahmslos in die Klasse der Wür mer gehören. Als Lamarck 1809 sein berühmtes Buch schrieb, hatte seine Frustration noch zugenommen: Jetzt bezeichnete er Linnés Klasse der Würmer als »une espèce de chaos dans lequel les objets très-disparates se trouvent rèunis« (eine Art Chaos, in dem ganz verschiedene Gegenstände vereinigt wur den). Für diesen traurigen Zustand macht er den großen Forscher selbst verantwortlich: »Die Autorität dieses Wissenschaftlers hatte unter Natur forschern so großes Gewicht, dass niemand es wagte, an der monströsen Klasse der Würmer eine Veränderung vorzunehmen.« (Als Lamarck »cette classe monstrueuse« beschrieb, wollte er nach meiner festen Überzeugung ausschließlich die Größe angreifen, die sich an der Zahl der Gattungen be misst, nicht aber die Wertigkeit von Linnés Vermes.) Deshalb begann Lamarck mit seinem Reformfeldzug: Er machte sich über die Vermes her und fügte die herausgenommenen Gruppen nach und nach als neue Stämme in seine ebenfalls neu benannte Kategorie der Wirbellosen ein. In seinem ersten Seminar 1793 hatte er die Linné’sche Zweiteilung bereits in einer Leiter des Fortschritts mit fünf Sprossen – Weichtiere, Insekten, Würmer, Stachelhäuter und Polypen (Korallen und Quallen) – verwandelt und damit drei neue Stämme aus dem Mülleimer der Vermes befreit.
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Die Reform beschleunigte sich 1795, als Georges Cuvier auf der Bildfläche erschien und sich ebenfalls mit den Wirbellosen befasste. Anfangs arbeiteten die beiden freundschaftlich zusammen – und bei dem ent scheidenden Thema, der Zerlegung der Vermes, waren sie sicher völlig ei ner Meinung. Lamarck fügte in fast jeder seiner jährlichen Vorlesungsreihen neue Stämme hinzu; die meisten neuen Gruppen nahm er aus den Vermes heraus, manche aber auch aus Linnés aufgeblähter Kategorie der Insecta. Im Jahr 7 (1799) definierte er die Krebstiere oder Crustacea (im Meer lebende Gliederfüßer, darunter Krebse, Krabben und Hummer), und im Jahr 8 (1800) folgten die Spinnentiere oder Arachnida (Spinnen und Skorpione). Seine Klassifikation der Wirbellosen aus dem Jahr 1801 enthielt also wiederum eine längere Fortschrittsleiter, dieses Mal mit sie ben Sprossen. In seinem berühmtesten Werk, der 1809 erschienenen Philosophie zoologique, präsentierte er zum letzten Mal eine ausschließlich geradlinige Abfolge des Fortschritts. Seine große, starre Leiter hatte nun 14 Sprossen, denn er hatte die vier traditionellen Gruppen der Wirbeltiere oben an eine Liste der Stämme der Wirbellosen angefügt, die gerade eben zweistellig geworden war (siehe das Schema, das unmittelbar aus der Aus gabe von 1809 reproduziert wurde). Bis hierher hatte Lamarck keinen Beitrag zu einer Neubewertung sei ner Ansichten über die Evolution geleistet, die er in seinem Vortrag vom
Lamarcks letzte eindimensionale Anordnung der Natur. Aus der 1809 erschienenen Philosophie zoologique.
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Floréal 1800 zum ersten Mal formuliert hatte. In diesem Sinn war seine Reform ganz und gar konventionell, denn sie verlieh seinen ursprünglichen Ansichten mehr Gewicht und Stärke. In seiner Beschreibung aus dem Floréal hatte er eine geradlinige Kraft, die in den großen Gruppen zum Fortschritt führt, in Gegensatz zu einer seitwärts gerichteten Kraft gestellt, die in bestimmten Abstammungslinien für lokale Anpassung sorgt. Lamarcks Leiter enthielt in dem Floréal-Vortrag erst sieben Gruppen. Bis 1809 war sie doppelt so lang geworden, sie hatte aber immer noch die gleiche streng lineare Form; damit verstärkte sie seine entscheidende Aussage vom Kontrast zwischen zwei Kräften, weil sie dem geradlinigen Impuls größeren Spielraum für seine notwendigerweise ausnahmslose Wirkung verschaffte. Aber wenn Lamarcks erste Linné-Reform – die Verteilung der Gruppen auf eine längere, ununterbrochene Reihe – seine ursprüngliche Vorstellung von der Evolution gestützt und gestärkt hatte, so machte er sich nun an eine zweite Reform, die dazu bestimmt war, die umgekehrte Wirkung zu entfalten und eine grundlegende Änderung in seinen Ansichten über das Leben zu erzwingen (wovon er allerdings sicher am Anfang keine Ah nung hatte). Zuvor hatte er nur falsch eingeordnete Gruppen aus Linnés ursprünglicher Kategorie der Vermes herausgenommen. Jetzt musste er sich mit dem Kern der Vermes selbst befassen – und feststellen, ob auch das Fundament von Müll durchsetzt war. »Würmer« sind nach unserem umgangssprachlichen Verständnis sowohl breit definiert als auch negativ besetzt (zwei unglückliche Kriterien, mit denen im weiteren Verlauf die Schwierigkeiten zwangsläufig vorpro grammiert sind): zweiseitig-symmetrische Tiere mit weichem Körper, die ungefähr zylinderförmig sind und weder Extremitäten noch auffällige Sinnesorgane besitzen. Diese Kriterien treffen sowohl auf Regenwürmer als auch auf Bandwürmer zu, und nahezu zehn Jahre lang stellte Lamarck die Kerndefinition nicht in Frage. Auf Dauer konnte er aber nicht das drängende Problem übersehen, das die Naturforscher bereits kannten, gewöhnlich aber unter den Teppich kehrten: Die umfassende, umgangssprachliche Kategorie der Würmer enthält anscheinend mindestens zwei Typen von Lebewesen, die über eine oberflächliche, offensichtliche Ähnlichkeit der äußeren Form hinaus kaum Anzeichen einer Verwandtschaft zeigen. Da war einerseits eine auffällige Gruppe von Tieren, die in Freiheit lebten – die Regenwürmer und
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ihre Verwandten; ihr Körper besteht aus Ringen oder Segmenten, und sie besitzen auch innere Organe von beträchtlicher Komplexität, darunter Nervenbahnen, Blutgefäße und einen Verdauungstrakt. Eine andere Ansammlung von Lebewesen dagegen, die Bandwürmer und ähnliche, leben weitgehend als Parasiten, entwickeln praktisch überhaupt keine erkenn baren inneren Organe und schienen deshalb nach jeder Vorstellung einer Leiter von zunehmend komplexen Lebewesen viel »tiefer« zu stehen als die Regenwürmer und ihre Vettern. Musste man demnach auch das Kern stück der Vermes auseinander nehmen? Dieses Problem hatte Lamarck bereits Sorgen bereitet, als er 1801 in seinem Werk über die Anatomie der Wirbellosen den Vortrag aus dem Floréal veröffentlichte, aber damals war er noch nicht bereit, zwischen den beiden grundlegenden Gruppen der »Würmer« eine formelle Trennung vorzunehmen. Beide Definitionsstandards – Unterschiede in der Anato mie oder unterschiedliches Umfeld – waren allein kein ausreichender Anlass, sich Gedanken über eine systematische Trennung zu machen. Bei den verbliebenen Vermes wirkten beide Kriterien aber hervorragend zusammen: Die Gruppe der Regenwürmer besaß eine komplizierte Anatomie und lebte frei in der Außenwelt; die Bandwürmer waren so einfach, wie bewegliche Tiere es überhaupt sein können, und waren fast ausschließlich im Körper anderer Lebewesen zu Hause. Deshalb entschied sich Lamarck für eine Zwischenlösung. Er wollte die Vermes noch nicht völlig auseinander nehmen, unterschied aber inner halb der Klasse zwei Untergruppen: Die Regenwürmer und ihre Verwandten bezeichnete er als vers externes (äußere Würmer), die Bandwürmer und ähnliche wurden zu vers intestines (inneren Würmern). Er wies auf die einfache Anatomie der Parasiten hin und verteidigte ihren neuen Namen als Anreiz für weitere Untersuchungen; gleichzeitig vertrat er die Ansicht, das Wissen sei für eine weiter gehende Trennung noch zu unvollständig: Es ist sehr wichtig, sie [die inneren Würmer] genauer kennen zu lernen, und dieser Name wird ihre Untersuchung erleichtern. Aber von diesem Motiv abgesehen, glaube ich auch, dass eine solche Einteilung die natürlichste ist... denn die inneren Würmer sind viel unvollkomme ner und einfacher aufgebaut als die anderen Würmer. Aber wir wissen so wenig über ihren Ursprung, dass wir sie noch nicht zu einer ge trennten Ordnung machen können.
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An dieser Stelle ereignete sich der entscheidende Vorfall, der Lamarck zu einer unwiderruflichen, folgenschweren Neubewertung seiner Ansichten über die Evolution veranlasste. Im Winter 1801/02 (dem Jahr 10 des Revolutionskalenders) besuchte er Cuviers Vorlesung und gelangte dort auf Grund der eleganten Befunde seines Kollegen über die Anatomie der äußeren Würmer zu der Überzeugung, dass die umfassenden anatomi schen Unterschiede zwischen seinen zwei Untergruppen es nicht mehr zu ließen, beide in die gleiche Klasse einzuordnen. Nun musste er doch den Kern der Vermes unterteilen. In seiner nächsten Vorlesungsreihe im Frühjahr 1802 definierte Lamarck deshalb offiziell die Klasse der Ringelwür mer oder Annelida für die äußeren Würmer (während er die Bezeichnung Vermes ausschließlich für die inneren Würmer beibehielt), und dann rückte er die beiden Klassen weit auseinander, indem er seine neuen Ringelwürmer in der Komplexitätsreihe oberhalb der Insekten einordnete, während die inneren Würmer weit hinter den Insekten nahe am unteren Ende der Leiter standen. Als Lamarck für seine 1809 erschienene Philosophie zoologique die Geschichte seiner aufeinander folgenden Veränderungen in der Klassifika tion der Wirbellosen niederschrieb, erwähnte er ausdrücklich die Anregung durch Cuvier: Monsieur Cuvier entdeckte die arteriellen und venösen Gefäße bei verschiedenen Tieren, die man mit weiteren, ganz anders aufgebauten Tie ren unter der Bezeichnung »Würmer« zusammengefasst hatte. Bald darauf benutzte ich diese neue Erkenntnis, um meine Klassifikation zu vervollkommnen; deshalb definierte ich in meiner Vorlesungsreihe für das Jahr 10 (1802) die Klasse der Ringelwürmer. Die handgeschriebene Bemerkung und die Zeichnung in Lamarcks Buch von 1801, die ich zuvor bereits erörtert und wiedergegeben habe, erzählen im Wesentlichen die gleiche Geschichte – aber welch ein Unterschied sowohl im intellektuellen als auch im emotionalen Reiz besteht doch zwi schen einer nüchternen Anmerkung, die lange nach der Inspiration nie dergeschrieben wurde, und der bruchstückhaften Ahnung im Augenblick der Erleuchtung! Die ganze Geschichte müsste jetzt aber eigentlich eine große Frage auf geworfen haben. Warum mache ich ein solches Trara um diese spezielle
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taxonomische Veränderung – um die endgültige Aufteilung der Vermes in eine höher angesiedelte Gruppe der Ringelwürmer und eine primitive Klasse der inneren Würmer? In welcher Hinsicht unterscheidet sich diese Abwandlung von anderen, die zuvor beschrieben wurden? In allen Fällen unterteilte Lamarck die Linné’sche Klasse der Vermes und definierte neue Stämme innerhalb seiner geliebten, geradlinigen Folge – womit er seiner Ansicht Nachdruck verlieh, die Evolution setze sich aus den gegensätz lichen Kräften des linearen Fortschritts und der seitwärts gerichteten Anpassung zusammen. Wandte er jetzt nicht einfach das gleiche Verfahren an, als er die Ringelwürmer herausnahm und auf eine neue Stufe seiner Leiter stellte? Das mag so scheinen – jedenfalls auf den ersten Blick. Aber Lamarck war zu schlau und zu ehrlich, als dass er eine logische Schwierigkeit übergangen hätte, die sich direkt und zwangsläufig gerade aus die ser Unterteilung der Würmer ergab – und die richtige Lösung zerstörte sein System. Anfangs behandelte Lamarck die Abgrenzung der Ringelwürmer genauso wie jede andere Ergänzung seiner ständig verbesserten linearen Abfolge. Im Laufe der Jahre machte ihm jedoch mehr und mehr ein aku tes Problem zu schaffen, das aus einem unvermeidlichen Konflikt zwi schen dieser besonderen taxonomischen Entscheidung und der präzisen Logik seines übergeordneten Systems erwuchs. Lamarck hatte den Stamm der Vermes, zu dem jetzt nur noch die inneren Würmer gehör ten, unmittelbar über einer als radiaires bezeichneten Gruppe eingeordnet, die in Wirklichkeit (nach unserer heutigen Kenntnis) ein falscher Mischmasch von Quallen aus dem Stamm der Hohltiere (Coelenterata) sowie den Seeigeln und ihren Verwandten aus dem Stamm der Stachel häuter (Echinodermata) ist. Die Würmer mussten über den Radiärtieren stehen, weil die zweiseitige Symmetrie und gerichtete Bewegung höher einzustufen waren als Radialsymmetrie und eine sesshafte (oder nur geringfügig bewegliche) Lebensweise. Zumindest entsprach dies der her kömmlichen Ansicht über die Fortschrittsleiter (in der letztlich natürlich der bewegliche, zweiseitig symmetrische Mensch als Maßstab diente). Aber den parasitischen inneren Würmern fehlten auch die beiden wichtigsten Organsysteme – Nervenganglien und -stränge sowie die Gefäße des Kreislaufsystems –, die nach der herkömmlichen Leiter ein Kriterium für Komplexität sind. Die Stachelhäuter dagegen in dem »tiefer« stehen den Stamm der Radiärtiere besitzen sowohl Nerven als auch einen Kreis
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lauf. (In diesen Lebewesen kreist nicht Blut, sondern Meerwasser, aber es strömt durch Röhren.) Wie konnte eine so widersprüchliche Situation entstehen, wenn die ur sprüngliche »Kraft, welche den Körperbau unaufhörlich komplizierter zu machen strebt«, tatsächlich allgemein und ohne Ausnahme wirksam war? Wenn es sich um eine allgemeine Kraft handelte, musste jede einzelne Gruppe mit allen ihren Eigenschaften höher oder tiefer stehen als eine andere. Eine Gruppe kann nicht in manchen Merkmalen weiter und in anderen weniger weit entwickelt sein. Die Fachleute für biologische Systematik können sich nicht einzelne Eigenschaften heraussuchen. Entweder, oder. Solange die Ringelwürmer in der Klasse der Würmer blieben, stellte sich dieses Problem nicht. Schließlich hatte Lamarck nie die Ansicht geäußert, jede Gattung einer höheren Gruppe müsse in allen Körpertei len über sämtlichen Angehörigen einer niedrigeren Gruppe stehen. Er be hauptete nur, die »Hauptmassen« in der Konstruktion der Lebewesen müssten eine geradlinige, unverzweigte Reihe bilden. Einzelne Gattungen konnten degenerieren oder sich mit verschiedenen Körperteilen an eine weniger komplizierte Umwelt anpassen – solange nur manche Gattungen in allen Merkmalen den höher entwickelten Körperbau zeigten, behielt die ganze Gruppe ihre Stellung. Wenn also die Ringelwürmer in der Gruppe blieben, waren manche Würmer mit Organsystemen ausgestat tet, die komplizierter waren als alle vergleichbaren Teile einer niedrigeren Gruppe – und damit konnte die gesamte Klasse der Würmer ihre eindeutige Stellung über den Radiärtieren und anderen primitiven Formen behalten. Nach der Aufteilung der Würmer und der Abtrennung der kom pliziert gebauten Ringelwürmer stand Lamarck nun vor dem logischen Dilemma, dass eine zusammenhängende Gruppe (die nur noch die inneren, parasitischen Würmer umfasste) in einigen entscheidenden Merkmalen höher stand als die Radiärtiere, in anderen jedoch niedriger. Der reine Fortschrittstrend der Natur – der in Lamarcks Systemen den Grundstein bildete – lag in Trümmern. Mit diesem Problem schlug Lamarck sich mehrere Jahre lang herum. Er blieb 1802 bei der Fortschrittsleiter, und dann noch einmal – zum letzten Mal, und in einer besonders kompromisslosen Weise, die im Rückblick ein letztes Aufbäumen vor dem Sturz darstellen muss – im ersten Band seines 1809 erschienenen Hauptwerkes Philosophie zoologique. Aber
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schließlich siegte die Ehrlichkeit über die Hoffnung. Unmittelbar bevor der Band 2 der Philosophie zoologique herauskam, fügte Lamarck ein kurzes Kapitel mit »Ergänzungen« an. Darin sprach er sich – wenn auch nur vorläufig – für ein neues Schema aus, das sein Problem mit den Würmern lösen würde, gleichzeitig aber auch sein geliebtes, geradliniges System ins Wanken brachte. Lamarck hatte lange die Ansicht vertreten, das Leben habe mit der Spontanzeugung der »Infusorien« (einzelliger Tiere) in kleinen Gewässern begonnen. Was wäre aber, wenn die Spontanzeugung zweimal in zwei unterschiedlichen Umgebungen stattgefunden hätte – einmal in der äußeren Welt mit einer Abstammungslinie, die bei den Infusorien beginnt, und ein zweites Mal im Körper anderer Tiere, sodass die betreffende Abstammungslinie von den inneren Würmern ausgeht? Deshalb schrieb Lamarck: »Die Würmer scheinen auf der Leiter der Tiere eine Ausgangslinie zu bilden, genau wie offensichtlich die Infusorien zu dem anderen Zweig wurden.« Nun stand er aber vor dem Problem, die übergeordneten Gruppen zuzuordnen. Zu welcher der beiden großen Linien gehörten sie jeweils? Seine vorläufigen Gedanken stellte er in einem Schema dar – vielleicht dem ersten Diagramm eines verzweigten Evolutionsstammbaumes in der gesamten Geschichte der Biologie –, das seinem früheren Bild von einer einzigen Leiter unmittelbar widersprach. (Man braucht nur diese Abbildung mit der zuvor wiedergegebenen Version zu vergleichen, die aus dem Bandl des gleichen, 1809 erschienenen Werkes stammt.) Lamarck beginnt (entgegen der heutigen Konvention ganz oben) mit zwei Linien, die mit »Infusoires« (einzellige Tiere) und »vers« (Würmer) beschriftet sind. Mit kleinen Punkten kennzeichnet er dann mögliche Zuordnungen der höheren Stämme zu den beiden Abstammungslinien. Damit war das logische Problem, das sein bisheriges System zerstört hatte, gelöst – die radiaires (Radiärtiere), die in einigen Merkmalen unter den Würmern und in anderen über ihnen standen, wurden jetzt in eine völlig andere Reihe eingeordnet und befanden sich unmittelbar unter ihrem Ausgangs punkt, den Infusorien. Wenn ein geistiges Schleusentor erst einmal geöffnet ist, fegt die Flutwelle der Reform auch über anderes hinweg. Nachdem Lamarck sich mit Verzweigung und Trennung abgefunden hatte, konnte er kaum der Ver suchung widerstehen, sein neues Schema auch auf andere alte, ungelöste
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Fragen anzuwenden. Also äußerte er die Vermutung, es könne auch am Ende seiner Anordnung eine erhebliche Verzweigung vorhanden sein. Mit dem herkömmlichen Gipfel – von den Reptilien über die Vögel zu den Säugetieren – war er nie ganz zufrieden gewesen, denn die Vögel wirkten im Vergleich zu den Säugetieren nicht unterlegen, sondern einfach nur ganz anders. Deshalb äußerte Lamarck den Gedanken (und zeichnete es in seinem revolutionären Schema auch ein), die Reptilien könnten sich am Ende der Reihe abgespalten haben, sodass eine Linie von den Schild kröten über die Vögel (oiseaux) zu den monotremes (den Schnabeltieren, die Lamarck für eine von den Säugetieren getrennte Gruppe hielt) verlief, die andere aber von den Krokodilen über die Meeressäuger (m. amphibies) zu den landlebenden Säugetieren. Und schließlich postulierte er, noch ganz von seiner neuen Idee fasziniert, eine dreifache Verzweigung im Übergang zu den landlebenden Säugetieren; darin führen dann getrennte Linien zu den Walen (m. cetaces), den Huftieren (m. ongules) und den Säugetieren mit Fingernägeln (m. onguicules), zu denen Fleischfresser, Nage tiere und Primaten (einschließlich des Menschen) gehören. Am Ende schließlich stellte Lamarck ausdrücklich eine Verbindung zwischen den beiden Reformen her: zwischen der Zulassung von zwei Prozessen der Spontanzeugung ganz unten und der Verzweigung bei den höheren Wirbeltieren ganz oben: »Die Leiter der Tiere beginnt mit min destens zwei Zweigen; im Verlauf ihrer Ausdehnung enden mehrere Zweige anscheinend an unterschiedlichen Orten.« Nach der 1809 erschienenen Philosophie zoologique schrieb Lamarck noch ein weiteres wichtiges Buch über die Evolution: den Einführungs band zu seiner Histoire naturelle des animaux sans vertebres, erschienen 1815. Darin lässt er den vorläufigen Charakter seiner Revision von 1809 hinter sich und gibt bekannt, er sei nun von der Verzweigung als Grundmuster der Evolution überzeugt. In diametralem Gegensatz zu dem geradlinigen Modell, das alle seine bisherigen Arbeiten geprägt hatte, stellt Lamarck lakonisch und ohne jede Zweideutigkeit fest: Dans sa production des differents animaux, la nature n’a pas executé une série unique et simple. [Bei der Hervorbringung der verschiedenen Tiere hat die Natur keine einzelne, einfache Reihe gestaltet.]
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Lamarcks erste Darstellung von Verzweigungen in der Geschichte des Lebendigen. Aus dem Anhang zu der 1809 erschienenen Philoso phie zoologique.
Anschließend weist er auf die verzweigte Form seines neuen Modells hin und erklärt, wie die durch Cuviers Beobachtungen angeregte Aufteilung der Würmer das bisherige System über den Haufen geworfen und seine Revision erzwungen hat: Die Ordnung ist alles andere als einfach; sie ist verzweigt [rameux] und scheint sogar aus mehreren verschiedenen Reihen zu bestehen ... Die Tiere, die zur Klasse der Würmer gehörten, zeigen eine große Unter schiedlichkeit im Körperbau ... Die unvollkommensten dieser Tiere entstehen durch Spontanzeugung, und die Würmer [womit jetzt, nach der Abtrennung der Ringelwürmer, nur noch die vers intestins gemeint
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sind] bilden tatsächlich eine eigene Reihe, welche einen späteren Ursprung hat als jene, die mit den Infusorien begann. Lamarcks drittes und letztes Schema (das hier aus dem Buch von 1815 entnommen wurde) zeigt, wie weit er sowohl mit seinem eigenen Selbstvertrauen als auch mit der üppigen Verzweigung seines neuen Lebensstammbaumes bereits gekommen ist. Dem Diagramm gibt er den Titel »mutmaßliche Reihenfolge in der Entstehung der Tiere, welche zwei getrennte, weiter verzweigte Reihen erkennen lässt«. Interessant ist dabei, wie eindeutig die beiden Hauptlinien der getrennten Spontanzeugung – die eine ausgehend von den Infusorien, die andere von den inneren Wür mern – jetzt gekennzeichnet und getrennt sind. Bemerkenswert ist auch, wie sich jede der beiden Reihen wiederum aufspaltet, sodass die Verzwei gung in allen Teilen des Systems zum entscheidenden Merkmal wird. Die Linie der Infusorien spaltet sich auf der Ebene der Polypen (Korallen und Quallen) in eine Linie der Radiärtiere und eine zweite, die bei den Weichtieren endet. Auch die zweite Linie der Würmer macht eine Zweiteilung durch, sodass sie auf der einen Seite zu den Ringelwürmern führt, auf der anderen zu den Insekten. Die Linie der Insekten teilt sich dann aber er neut (eine Aufspaltung dritter Ordnung) in eine Linie der Krebstiere und Rankenfußkrebse (cirrhipedes) und eine zweite mit den Spinnentieren (Spinnen und Skorpione). Schließlich müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass diese wichtigen Veränderungen nicht nur die offenkundige Geometrie im Aufbau des Tier reiches betreffen. Noch wichtiger ist vielleicht, dass der Übergang vom geradlinigen zum verzweigten Schema einen tief greifenden Wandel in Lamarcks grundlegendem Naturverständnis kennzeichnet. Sein ursprüngliches System, das er bis 1809 ausdrücklich und lautstark verteidigte, stützte sich auf eine grundlegende Trennung zweier unabhängig wirkender Kräfte – einer primären Ursache, die in einer ununterbroche nen Linie des Fortschritts die Körper-Grundbaupläne entstehen lässt, und einer untergeordneten, seitwärts gerichteten Kraft, die einzelne Abstammungslinien aus der Hauptrichtung in Nebenwege der unmittelbaren Anpassung an eine örtliche Umgebung hineinzieht. Aus diesem Modell ergibt sich eine ganze Reihe philosophischer Folgerungen: Das vorhersehbare, gesetzmäßige Wesen der Evolution liegt danach offenkundig in der primären Kraft und ihrer bis zum Menschen reichenden Fortschritts
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Lamarcks endgültiger verzweigter Stammbaum (1815).
leiter, während man historische Zufälle (die zu örtlicher Anpassung führen) als sekundäre, von der übergeordneten Reihenfolge wirklich unabhängige Vorgänge abtun kann. Dieses ordentliche, beruhigende Schema wird durch das verzweigte System zerstört. Zunächst einmal werden die beiden Kräfte durch die Ver zweigung als solche vermischt und verflochten. Wir können jetzt nicht mehr zwischen zwei unabhängigen, im rechten Winkel zueinander wir kenden Impulsen unterscheiden. Fortschritt kann sich zwar in jedem Ast abspielen, aber schon der Teilungsvorgang selbst lässt auf einen umweltbedingten Impuls schließen, der die Hauptlinie spaltet – und Lamarck hatte sich immer für eine vollständige, prinzipielle Trennung zwischen einer einzigen, unaufhaltsamen Hauptlinie und den zahlreichen kleineren
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Abweichungen ausgesprochen; diese, so meinte er, können zwar eine Gi raffe mit langem Hals oder einen Maulwurf ohne Augen hervorbringen, aber niemals die Hauptbaupläne der Tiere auflösen oder aufspalten. Nach dem neuen Modell dagegen greift die Umwelt schon beim ersten Aufbau einer grundlegenden Ordnung ein – nämlich wenn eine Gruppe spontan in Gewässern entsteht, die zweite im Körper anderer Lebewesen! Außerdem verzweigt sich jede der so entstandenen Linien später auf nicht vorhersehbare Weise weiter, und zwar auf Grund von Impulsen aus der Umwelt, die angeblich ja die Fortschrittskraft bei den großen Gruppen nicht aus dem Gleis werfen können – beispielsweise wenn die Insekten sich in eine Linie landlebender Spinnentiere und eine zweite mit den im Meer lebenden Krebstieren und Rankenfußkrebsen aufspalten. Und zweitens haben damit die Kräfte der Geschichte und der natür lichen Komplexität über das wissenschaftliche Ideal eines vorhersehbaren, gesetzmäßigen Systems gesiegt. In der systematischen Stellung der Tiere konnte sich jetzt kein übergeordneter Plan des Fortschritts mehr verkörpern, der die grundlegende Ordnung, Harmonie und vorhersehbare gute Bedeutung der Natur (oder sogar die offenkundige Fürsorge einer liebenden Gottheit, deren Pläne wir vielleicht verstehen, weil sie so denkt wie wir) widerspiegeln könnte. Stattdessen herrschen die verwirrenden, unterschiedlichen, lokalen und nicht vorhersehbaren Kräfte einer komplexen Umwelt, und die sind jederzeit bereit, jeder beliebigen Tiergruppe eine Abweichung aufzuzwingen, sobald diese so vermessen ist und annimmt, ihr unvermeidlicher Fortschritt lasse sich mit Emersons Worten beschreiben: Und durch die Spirale der Formen und Erden, Windet der Wurm sich, zum Menschen zu werden.
VI. Lamarcks Epilog – und meiner Nach seiner letzten und größten Abhandlung über die Anatomie der wir bellosen Tiere veröffentlichte Lamarck nur noch ein wichtiges Buch: das 1820 erschienene Système analytique des connaissances positives de l’homme (Analytisches System der positiven Kenntnisse über den Men schen). Dieses seltene Werk wurde von früheren Historikern, die sich mit der Entwicklung von Lamarcks Ansichten über die Klassifikation der
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Tiere beschäftigten, nicht konsultiert. In der Regel hören die Untersu chungen bei Lamarcks Revision im Jahr 1815 auf, bei der er die grund legende Unterscheidung zwischen zwei getrennten, spontan entstandenen Abstammungslinien vornahm. Deshalb blieb der Eindruck bestehen, Lamarck habe sich nie ganz das Modell der Verzweigung zu Eigen gemacht, das von Darwin später zum Bild vom »Stammbaum des Lebens« weiterentwickelt wurde – mit einem gemeinsamen Stamm, der den Ursprung aller Lebewesen darstellt, und keiner anderen späteren Hauptlinie des Wachstums. Lamarck hatte seine ursprüngliche Fortschrittsleiter auf gegeben und sich für zwei getrennte Ursprünge ausgesprochen, aber in jeder der dabei entstandenen Reihen legte er das Schwergewicht weiterhin auf die lineare Abfolge. Sein Buch von 1820 ist zwar in erster Linie eine psychologische Abhandlung, es enthält aber auch ein Kapitel über die Klassifikation der Tiere – und beim Lesen dieser Seiten stellte ich fest, dass Lamarck den Weg seiner Revision weiterverfolgt hatte, bis er schließlich bei einem wirklich verzweigten Modell eines Lebensstammbaumes angekommen war. Darüber hinaus erkennt er in einem bemerkenswerten Abschnitt auch die philosophischen Folgerungen aus seiner Kehrtwendung: Er räumt ein, dass seine Rangordnung der natürlichen Kräfte damit auf den Kopf gestellt wird; das ist eine der interessantesten (und ehrenwertesten) intellektuellen Bekehrungen, von denen ich jemals gelesen habe. Zwar spricht Lamarck immer noch von Fortschritts- und Verzweigungskräften, und er vertritt auch die Ansicht, der Fortschritt gehe in jedem einzelnen Zweig weiter. Aber das beherrschende, übergeordnete Prinzip ist die Verzweigung, und in diesen Rahmen stellt Lamarck nun seine gesamte Erörterung über die Systematik der Tiere – er legt das Schwergewicht auf die aufeinander folgenden Aufspaltungspunkte. Ein gutes Beispiel ist der folgende zusammenfassende Abschnitt über die Evolution der Wirbeltiere: Die Reptilien folgen zwangsläufig auf die Fische. Sie bilden eine ver zweigte Abfolge, wobei ein Zweig von den Schildkröten über die Schna beltiere zur vielgestaltigen Gruppe der Vögel führt, während der andere sich über die Echsen zu den Säugetieren hinzuziehen scheint. Die Vögel bilden dann ... eine vielfach verzweigte Folge, deren einer Zweig bei den Raubvögeln endet.
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(In früheren Modellen hatte Lamarck die Raubvögel als oberste Sprosse einer einzigen Leiter der Vögel bezeichnet.) Noch radikaler ist etwas anderes: Das Modell aus dem Jahr 1815, das von zwei spontan gezeugten Abstammungslinien ausging, ist völlig ver schwunden. Stattdessen vertritt Lamarck nun denselben Stammbaum des Lebens, der später durch den Einfluss Darwins und anderer früher Evolutionsforscher zum allgemein üblichen Bild wurde. Auch Lamarck spricht von einem einzigen gemeinsamen Vorfahren aller Tiere, den er als Monade bezeichnet. Aus diesem Anfang haben sich demnach die Infusorien entwickelt, gefolgt von den Polypen, die »unmittelbar und fast ohne Lücke« daraus entstehen. Aber die Polypen spalten sich dann auf und werden zum Ausgangspunkt für den übrigen Stammbaum: »Statt sich als eine einzige Reihe fortzusetzen, scheinen die Polypen sich in drei Zweige zu spalten« – die Radiärtiere, die ein Ende ohne weitere Entwicklung dar stellen; die Würmer, die sich weiter aufspalten und durch jeweils eigene Verzweigungsereignisse alle Stämme der segmentierten Tiere bilden, darunter Ringelwürmer, Insekten, Spinnentiere, Krebstiere und Rankenfuß krebse; und schließlich die Manteltiere oder Tunicata (Meeresbewohner, die heute als enge Verwandte der Wirbeltiere gelten), die sich später in mehrere Abstammungslinien der Weichtiere und Wirbeltiere aufspalten. Anschließend gesteht Lamarck ein, dass ein verzweigtes Modell für die grundlegende Ordnung der Natur ein tief greifendes philosophisches Umdenken erforderlich macht. Er hatte die geradlinige Fortschrittskraft immer als vorrangig betrachtet. Noch 1815, als er sein Modell verändert hatte und sowohl zahlreiche Verzweigungen als auch zwei von der Umwelt veranlasste, spontan entstandene Linien zuließ, legte er das Schwergewicht noch auf die primäre, geradlinige Kraft und verglich sie mit den störenden, anormalen Ausnahmen, die durch seitwärts gerichtete, umweltbedingte Ursachen entstehen und die er als Vinfluence des circon stances bezeichnete. Um noch einmal die in diesem Essay bereits zitierte, entscheidende Passage zu wiederholen: Der Plan, dem die Natur bei der Hervorbringung der Wirbeltiere folgt, enthält eindeutig eine vorherrschende erste Ursache. Sie stattet das tie rische Leben mit der Fähigkeit aus, die Organisation allmählich immer komplexer zu gestalten ... Gelegentlich hat eine fremde, zufällige und deshalb vielgestaltige Ursache die Ausführung des Planes beeinträch
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tigt, ohne ihn aber zunichte zu machen. Das hat zu Lücken in der Reihe geführt, entweder in Form endgültiger Zweige, die an mehreren Stellen von der Reihe ausgehen und ihre Einfachheit verändern. Aber fünf Jahre später, in seinem 1820 erschienenen Buch, gibt Lamarck dieses Konzept auf, das seine gesamte Berufslaufbahn geprägt hatte, und macht sich die umgekehrte Erkenntnis zu Eigen. Der Einfluss der Um stände (der zu einem verzweigten Modell der biologischen Systematik führt) bestimmt über den Verlauf der Evolution. Alle allgemeinen Ge setze, ob sie den Fortschritt oder etwas anderes betreffen, müssen sich den unmittelbaren Einzelelementen von Umwelt und Geschichte unterord nen. Der Einfluss der Umstände ist vom störenden, nebensächlichen Hofnarren zum wahren Herrscher des Ganzen aufgestiegen (womit ein ganzes Königreich den Bach hinuntergeht): Betrachten wir einmal die einflussreichste Ursache von allem, was die Natur tut, die einzige Ursache, die zu einem Verständnis für alle Her vorbringungen der Natur führen kann ... Dies ist in Wirklichkeit eine Ursache, deren Macht absolut und sogar der Natur überlegen ist, denn sie steuert alle Handlungen der Natur, eine Ursache, deren Herrschaftsgebiet alle Teile im Reich der Natur umfasst... Diese Ursache liegt in dem Einfluss, den die Umstände haben, sodass sie alle Vorgänge der Natur abwandeln können, sodass sie die Natur zwingen, ständig die Gesetze zu verändern, denen sie ohne die Einwirkung dieser Umstände folgen würde, und dass sie über das Wesen jedes ihrer Produkte bestimmen. Auch die gewaltige Vielfalt der Hervorbringungen der Natur muss man auf diese Ursache zurückführen. Lamarcks langer intellektueller Weg begann mit einem öffentlichen Vor trag über Evolution, gehalten im Jahr 1800 und in einem Monat, den die Revolutionsregierung aus nahe liegenden Gründen Floréal – den Blühen den – genannt hatte. Dann entwickelte er die erste umfassende Evolu tionstheorie der modernen Naturwissenschaft – eine Leistung, die ihm einen Platz in der wissenschaftlichen Ruhmeshalle oder auf der Liste der Unsterblichen sicherte, trotz aller Wechselfälle, denen sein Ruf schon zu seinen Lebzeiten und unmittelbar danach ausgesetzt war. Aber Lamarcks ursprüngliches System war falsch – und zwar nicht aus
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den Gründen, die wir heute im Rückblick gewöhnlich irrtümlich nennen (den Triumph der Mendel-Genetik über Lamarcks unzutreffenden Glau ben an die Vererbung erworbener Merkmale), sondern auf Grund von Widersprüchen in der zentralen Logik seines Systems, die sich durch neue Erkenntnisse schon zu seinen Lebzeiten ergaben. Was die Auflösung von Lamarcks ursprünglicher Theorie angeht, so ist ein Dreh- und Angelpunkt zu erkennen, ein entscheidender Augenblick: Cuviers Vortrag über die Anatomie der Ringelwürmer; dort erkannte Lamarck, dass er seine systematische Klasse der Würmer in zwei Gruppen aufteilen musste. Diese Einsicht – die Lamarck voller Aufregung (und mit einer originellen Zeichnung) als handgeschriebene Ergänzung zu seinem ersten veröffent lichten Buch über Evolution hinzufügte – trat eine Lawine von Folgerungen los, die 1820, als sein letztes Buch erschien, die ursprüngliche Theorie der Fortschrittsleiter mit untergeordneten seitlichen Abweichungen völ lig zerstört hatte und ihn veranlasste, das gegenteilige Modell (sowohl was die geometrische Darstellung der Klassifikation des Tierreiches als auch die grundlegenden Ansichten über die Natur betraf) eines verzweigten Lebensstammbaumes anzuerkennen. Nach der üblichen Interpretation ist das eine ungeheuer traurige oder sogar tragische Geschichte, die sicher als bemerkenswertes Symbol für ein ironisches literarisches Ende taugt. Lamarck stürzte sich im Frühlingsmonat des Aufblühens in sein Abenteuer. Dann hörte er Cuviers Vortrag, und am 11. Tag des Nivôise – des winterlichen Schneemonats – brach sein System in sich zusammen. Wie passend – ein freudiger, vielversprechender Anfang im Frühling, und ein Ende in der Kälte und Dunkelheit des Winters. Sehr passend in einem gewissen, verdrehten Sinn – aber auch sehr, sehr falsch. Ich möchte Lamarcks persönliche Niedergeschlagenheit nicht leugnen oder klein reden, aber wie können wir in seiner allmählichen An erkennung eines logischen Irrtums und in seiner Bereitschaft, eine ganz neue, gegensätzliche Erklärung aufzubauen, etwas anderes als eine Hel dentat sehen, die unsere größte Bewunderung verdient und Lamarck zu einem der größten Geister in der Geschichte der Biologie macht (dem Fachgebiet, dessen Namen er erfand). Dass ich Lamarcks intellektuelle Irrfahrt in einem so ungeheuer positiven Licht sehe, hat vor allem zwei Gründe. Erstens gibt es in der Naturwissenschaft nichts Heilsameres als eine Flexibilität, die es einem Menschen erlaubt, es sich anders zu überle
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gen – und das nicht nur bei einer untergeordneten Aussage und unter dem Zwang unwiderleglicher Daten, sondern bei einem grundlegenden gedanklichen Konzept, das zum Fundament für eine Philosophie der Natur geworden ist und das nun neu überdacht und auf den Kopf gestellt wird. Und zweitens möchte ich behaupten, dass wir aus Lamarcks Entwicklung etwas Wichtiges über das Wechselspiel zwischen der Natur und unseren Versuchen, ihr Wesen zu verstehen, lernen können. Die Fehler und Schwächen des menschlichen Denkens führen systematisch und vorhersehbar zu Problemen, wenn wir versuchen, unsere Realität in ihrer ganzen Komplexität zu begreifen. Eine dieser Schwächen sind unsere ständigen Versuche, Systeme von abstrakter Schönheit, logischer Unfehlbarkeit und umfassender Vereinfachung aufzubauen – sie führen uns stets in die Irre. Lamarck neigte weit mehr als die meisten seiner Kollegen zu dieser gefährlichen Art des Theoretisierens – zum esprit de système –, und deshalb stürzte er tiefer und schwerer, weil er gleichzeitig auch die Ehrlichkeit und geistige Größe besaß, seinen Fehlern auf den Grund zu gehen. Die Natur, um ein modernes Sprichwort zu zitieren, hat immer das letzte Wort. Sie unterwirft sich nicht unseren einfachen Hoffnungen oder geistigen Schwächen, und doch bleibt sie immer ungeheuer verständlich. Evolution folgt dem ungleichmäßigen Trommelrhythmus einer kompli zierten, von Zufällen bestimmten Geschichte, der geprägt wird durch die Unwägbarkeiten und einzigartigen Eigenschaften von Raum, Zeit und Umwelt. Einfache Gesetze mit vorhersagbaren Folgerungen können den Ablauf und die Wege des Lebendigen nicht in vollem Umfang beschrei ben. Eine geradlinige Parade des Fortschritts muss als Modell für die Evolution versagen, aber ein wirklich verzweigter Baum drückt tatsächlich die grundlegende Geometrie der Geschichte aus. Als Lamarck den Sieg aus dem drohenden Rachen seiner Niederlage riss (indem er seine geliebte Leiter des Lebendigen aufgab und sich den Baum zu Eigen machte), stand er in gerechtfertigter Demut vor der Komplexität der Natur – eine Lektion, aus der wir alle etwas lernen können. Aber er machte nicht einfach nur einen Kotau und erkannte ihre Überlegenheit an, sondern er bemühte sich darum, die Wirkungsweise der Natur zu ver stehen und sie sich sogar Untertan zu machen. Nur die heldenhaftesten Menschen können dem großen Beispiel von Hiob folgen und den Irrtum anerkennen, während sie gleichzeitig trotzig rufen: »Hier bin ich.« Lamarck begrüßte die Natur (die traditionell als weiblich gilt) mit Hiobs
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nicht zu überbietender Herausforderung an Gott (der nach einer ebenso zweifelhaften Tradition männlich sein soll): »Er mag mich töten, ich harre auf ihn; doch meine Wege verteidige ich vor ihm.« (Hiob 13,15) Ich bin deshalb der Ansicht, wir sollten die symbolische Bedeutung von Lamarcks Widerruf im Monat Nivôise neu interpretieren. Cuviers Anre gung setzte nicht Zerstörung und bittere Niederlage in Gang, sondern eine Lawine von Entdeckungen und Reformen. Und mit Schnee verbinden sich nicht nur Metaphern von Frost, Dunkelheit und Zerstörung, son dern auch solche von Weichheit, Unbeflecktheit und Läuterung. In viel freundlicherem Ton als gegenüber dem armen Hiob versprach Gott sei nem Volk im ersten Kapitel des Buches Jesaja: »Wären eure Sünden auch rot wie Scharlach, sie sollen weiß werden wie Schnee. Wären sie rot wie Purpur, sie sollen weiß werden wie Wolle.« Außerdem sollten wir daran denken, dass dieser Bibelvers mit einer noch berühmteren Aufforderung beginnt – mit einem Motto für das Geistesleben und einem Zeugnis für Lamarcks Scharfsinn und Aufgeschlossenheit: »Kommt her, wir wollen sehen, wer von uns Recht hat.«
Teil III Darwins Jahrhundert – und unseres Was wir von den vier größten Naturforschern des viktorianischen Großbritannien lernen können
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7. Lyells Säulen der Weisheit I. Das Feuer des Vesuv unter Kontrolle bringen Die beiden klassischen Szenarien für die Katastrophe am Weltenende – Zerstörung durch Hitze und Feuer oder durch Kälte und Dunkelheit – lassen wenig Raum für ausgedehnte Diskussionen darüber, was einem lieber ist – eine Erkenntnis, die sich mit der Würze größtmöglicher Kürze in dem 1923 erschienenen Gedicht »Feuer und Eis« von Robert Frost widerspiegelt: Manch einer meint, die Welt würd untergehn durch Feuer, Manch einer setzt auf Eis. Nach allem, was ich vom Verlangen weiß, Glaub ich, dass sie mit Feuer richtig liegen. Doch gab es zweifach den Garaus, Mein ich genug zu wissen über Hass, Zu sagen: auf eine Heimsuchung durch Eis War auch Verlass Und würd genügen. Unter allen Naturphänomenen, die von Dichtern und Gelehrten als Zeichen oder Vorboten des Weltunterganges gedeutet wurden, nehmen Vulkanausbrüche einen Ehrenplatz ein. Der Vesuv ist vielleicht nur ein kleines Licht im Vergleich mit Tambora und Krakatau, die 1815 bezie hungsweise 1883 in Indonesien ausbrachen, aber mit seiner bevorzugten Lage am Golf von Neapel und zahlreichen Eruptionen zu interessanten Zeitpunkten wurde dieser relativ kleine Vulkan zu einem der bekanntes ten Symbole für den Schrecken der Natur.
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Angesichts unserer traditionellen Polarisierung bei der Art des unangenehmen Endes stelle ich mit einer gewissen Belustigung fest, dass die beiden berühmtesten Begegnungen angesehener Wissenschaftler mit die sem Vulkan – eine in jedem Jahrtausend der modernen Menschheitsge schichte – zu ganz gegensätzlichen Vergleichen zwischen dem Ausbruch des Vesuv und dem Ende der Zeiten geführt haben: »Licht aus« im einen Fall, »von Flammen verzehrt« im anderen. Plinius der Ältere (23-79 n. Chr.) verfasste die Naturgeschichte, ein gewaltiges Nachschlagewerk in 37 libri (Büchern); darin werden alle Tatsa chen und Legenden im Zusammenhang mit den Themen behandelt, die wir heute unter der Rubrik »Naturwissenschaft« zusammenfassen. Pli nius’ Enzyklopädie hatte auf die abendländische Geistesgeschichte gewaltigen Einfluss, insbesondere in der Renaissance, als die Wiederentdeckung des antiken Wissens zum wichtigsten Ziel der Gelehrten wurde (siehe Kapitel 3). In den ersten Jahrzehnten nach der Erfindung des Buchdrucks und der Veröffentlichung der Gutenberg-Bibel 1455 erschienen mehrere Auflagen des großen Werkes aus der Antike. Im August des Jahres 79 n. Chr., als Plinius in der Bucht von Neapel als Flottenkommandeur Dienst tat, bemerkte er eine große Wolke, die vom Vesuv aufstieg. Von einer unvergleichlichen Mischung aus wissenschaftlicher Neugier und militärischem Pflichtbewusstsein getrieben, segelte er zum Vulkan, um ihn aus der Nähe zu beobachten und Hilfe zu leisten. Er ging bei der Villa eines Freundes an Land und traf dann die schicksalsschwere Entscheidung, sich aus den schwankenden Häusern aufs offene Feld zu begeben; dort erstickte er unter der Asche desselben Vulkanausbruches, die auch die Städte Pompeji und Herculaneum unter sich begrub. Plinius der Jüngere, sein Neffe und Adoptivsohn, blieb in der Villa ein paar Meilen westlich des Vulkans, wo er (seinen eigenen Angaben zufolge) sein Studium der historischen Schriften von Livius fortsetzte. Nach die sem Ereignis schrieb er zwei berühmte Briefe an den Historiker Tacitus. Darin schilderte er, was er über das Schicksal seines Onkels gehört und selbst erlebt hatte. Plinius der Jüngere berichtet von dem Entsetzen über schwankende Häuser, herabstürzende Felsbrocken und giftige Dämpfe; besonders eindringlich beschreibt er aber die tiefe Dunkelheit, die von der Aschewolke verursacht wurde und die er nur mit einem Leichentuch im Szenario für das Ende der Zeiten vergleichen konnte.
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Da wurde es Nacht, aber nicht wie bei mondlosem, wolkenverhangenem Himmel, sondern wie in einem geschlossenen Raum, wenn man das Licht gelöscht hat. Man hörte Weiber heulen, Kinder jammern, Männer schreien ... manche flehten aus Angst vor dem Tode um Tod, viele beteten zu den Göttern, andre wieder erklärten, es gebe nirgends noch Götter, die letzte, ewige Nacht sei über die Welt hereingebrochen. Der deutsche Jesuit Athanasius Kircher (1602-1680), der in Rom lebte und beim Vatikan die Funktion eines inoffiziellen »Chefwissenschaftlers« ausübte, kann heute nicht gerade als allgemein bekannte historische Gestalt gelten (obwohl er als Leitfigur und Anregung für Umberto Ecos Roman Die Insel des vorigen Tages diente). Dennoch gehört Kircher zu den beachtlichsten Geistesgrößen des 17. Jahrhunderts. Er schrieb beispiels weise die berühmtesten Werke seiner Zeit über Magnetismus, Musik, China (wo der Jesuitenorden bereits in größerem Umfang präsent war) und die Deutung der ägyptischen Hieroglyphen (sein System erwies sich letztlich als falsch, aber es lieferte späteren Experten wichtige Anhaltspunkte und Anregungen). In die Rumpelkammer der Geistesgeschichte wanderte Kircher vor allem deshalb, weil seine neoplatonische Weltanschauung völlig in den Schatten jenes anderen Kausalitätsbegriffs geriet, den wir als modern und naturwissenschaftlich bezeichnen – eine Reform, die Galilei (an dessen Stelle als führender Wissenschaftler Kircher in den Augen des Vatikans getreten war) gerade eine Generation zuvor losgetreten hatte und die Newton in der folgenden zu ihrem endgültigen Triumph führen sollte. Kirchers Meisterstück erschien 1664: ein gewaltiges, verblüffendes Werk mit dem Titel Mundus subterraneus (Unterirdische Welt). Es handelt von allen Aspekten aller Dinge, die im Erdinneren leben oder vor kommen – von Höhlenechsen über Fossilien im Gestein bis zu Gebirgsquellen, Erdbeben und Vulkanen. Die Anregung zu seinem Werk hatte Kircher 1637/38 erhalten, als er Zeuge der großen Eruptionen von Ätna und Stromboli wurde. Auch der Vesuv war 1631 nach jahrhundertelanger Ruhe ausgebrochen, und Kircher wartete ungeduldig auf die Gelegenheit, auf der Rückreise nach Rom diesen berühmtesten aller Vulkane aufzu suchen. Er kletterte nachts auf den Berg, wobei er sich an den Flammen aus dem immer noch aktiven Krater orientierte, und stieg am nächsten Morgen so
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weit, wie er es wagte, in den rauchenden, blubbernden Schlund hinab. Als er 25 Jahre später seine große Abhandlung herausbrachte, war die Erinnerung an Furcht und Staunen immer noch so frisch, dass er dem ganzen Bericht eine lebhafte persönliche Schilderung seiner Begegnung mit einem wichtigen Symbol für das Ende der Zeiten voranstellte. Aber Kir cher bevorzugte das zweite Feuer-Szenario: Mitten in der Nacht kletterte ich unter großen Schwierigkeiten auf den Berg. Auf steilen, zerklüfteten Pfaden bewegte ich mich aufwärts zum Krater, welchen ich – entsetzlich zu sagen – vor mir liegen sah, ganz von Feuer und glühendem Pech erleuchtet, und eingehüllt von giftigen Schwefeldämpfen ... Oh ungeheuerliche himmlische Kraft und göttliche Weisheit! Wie unbegreiflich sind deine Wege! Wenn nach deiner Macht nun solche Furcht erregenden Wunder der Natur die Falschheit und Hinterlist der Menschen bestrafen, wie wird es dann an den letz ten Tagen sein, wenn die Erde unter deinem göttlichen Zorn von der Hitze in ihre Elemente aufgelöst wird. Ich stelle mir gern vor, dass der größte geistliche Wissenschaftler beim Verfassen dieser Zeilen mit gedämpfter Stimme den unheimlichen grego rianischen Gesang des Dies Irae summte, jenes berühmteste aller Gebete über das Jüngste Gericht: Dies irae, dies illa Solvet saeclum in favilla
[An jenem Tag des Zorns
wird die Welt zu Asche zerfallen]
Der Vesuv ragt über dem modernen Neapel noch unheilvoller empor als der Mount Rainier über Seattle – der italienische Berg liegt viel näher am Stadtzentrum und kann eine Geschichte mit weit häufigeren Aktivitäten aus jüngerer Zeit vorweisen –, allerdings würden beide Städte von der Kommission für geologisch sichere Ortswahl sicher keine Goldmedaille bekommen. Vor dem Hintergrund der historischen Aufzeichnungen in Verbindung mit einem fortdauernden, bleibenden Eindruck bei jedem heutigen Besucher muss man am Vesuv zu der gleichen geologischen Er kenntnis gelangen, die Plinius und Kircher veranlasste, von einem toben
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den lokalen Vulkan auf das katastrophale Ende von Welt und Zeit zu schließen: Die Geschichte unseres Planeten wird ganz offensichtlich von plötzlichen Katastrophen beherrscht, die ruhige Episoden unterbrechen und das Heraufdämmern einer neuen Ordnung ankündigen. Aber die berühmteste geologische Erwähnung des Vulkanismus am Golf von Neapel, verbunden mit der bekanntesten bildlichen Darstellung in der gesamten Geschichte des Fachgebietes, lenkte die wissenschaftlichen Ansichten über die Erde genau in die entgegengesetzte Richtung: zu einer Theorie, wonach die heute sichtbaren Vorgänge, die mit einer charakteristischen, allmählichen Geschwindigkeit ablaufen, als Erklärung für das gesamte Spektrum der Erdgeschichte taugen, ohne dass man sich auf Episoden globaler Katastrophen oder eine Frühzeit des turbulenten, planetenweiten Wandels berufen müsste, die erst später von einer ruhigen Reifezeit abgelöst wurde. Der Haupturheber dieses so genannten »Uniformitarianismus« war Charles Lyell (1797-1875), die berühmteste Gestalt in der gesamten eng lischsprachigen Geologie. Auf seiner »grand tour« durch die Kulturzentren Europas, die fast jeder Brite aus gutem Hause im Rahmen seiner Erziehung zum Gentleman unternahm, kam er auch nach Neapel. Dort legte er die üblichen Zwischenstationen ein, von den dampfenden Schloten und blubbernden Tümpeln der Phlegräischen Felder über die ersten Ausgrabungen in Pompeji bis zur obligatorischen Besteigung des Vesuv (der immer noch ein sehenswertes Schauspiel bot, nachdem er Ende des 18. Jahrhunderts während der langen Amtszeit des britischen Diplomaten und Vulkanfanatikers Sir William Hamilton immer wieder ausgebrochen war – eine heiß glühende Aktivität, an die nur noch die heftige und ziem lich öffentliche Affäre zwischen Hamiltons Frau Emma und Lord Nelson heranreichte). Wie konnte Lyell nun aber Neapel als Beleg für seine Theorie heranziehen, die der traditionellen Interpretation und der vordergründigen Bedeutung der wichtigsten lokalen Sehenswürdigkeit so diametral zuwider lief? Diese Frage beschäftigte mich im Vorfeld meiner ersten Reise in die süditalienische Stadt. Wenn ich an dieses Mekka der Geologie dachte, konnte ich es kaum noch erwarten, die greifbaren Zeichen für Plinius’ Un glück (die Ausgrabungen von Pompeji und Herculaneum) zu sehen und Kircher auf seinem Weg zu ihrer unmittelbaren Quelle zu folgen. Vor al lem aber wollte ich am Platz von Lyells Erleuchtung stehen, am Motiv für
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die Titelseite seiner Principles of Geology (erschienen 1830-1833), dem vielleicht bedeutendsten naturwissenschaftlichen Lehrbuch aller Zeiten und wichtigsten Symbol für die Verwandlung der Vesuvlandschaft vom Hintergrund der Katastrophenlehre zum paradoxen Beweis für den Triumph des Gradualismus: bei den drei römischen Säulen des so genannten Serapistempels (der eigentlich ein Marktplatz ist) in Pozzuoli. (Im zweiten Teil dieses Essays werde ich darlegen, wie Lyell die drei Säulen als eine Art »Gezeitenpegel« benutzte und mit ihrer Hilfe umfangreiche, allmähliche Veränderungen von Land- und Meereshöhe während der letzten zweitausend Jahre nachwies – als uniformitarianistisches Gegengift zu dem Bild vom Vesuv als Symbol für ein katastrophales Weltenende.) Die Klischees der Reiseliteratur verlangen nun nach einer anstrengen den, mit Geschichten von Abenteuer und Gefahren garnierten Fahrt. Es ist mir aber nie gelungen, mich mit dieser Stilkonvention anzufreunden, und im Innersten bleibe ich ein Großstadtkind. Um die Wahrheit zu sagen: Ich war nicht auf dem Vesuv. Zu meinem Mietwagen gehörten keine Schneeketten, und die Straße war wegen des Januar-Glatteises gesperrt. Was Pozzuoli angeht, so würde ich ebenso wenig von Abenteuer sprechen wie bei einem Besuch im Freizeitpark. Pozzuoli ist die Endstation der U-Bahn von Neapel. Aber warum muss intellektueller Gehalt immer etwas mit körperlich schwierigem Zugang zu tun haben – eine verbreitete Annahme, die eigentlich zu den verrücktesten romantischen Mythen zählt? Einige der größten Entdeckungen der Wissenschaftsgeschichte spielten sich in Bibliotheken ab oder lagen jahrzehntelang unbeachtet in den Schubladen von Museen. Wenn es nicht anders geht, sollte man in jedem Fall mit dem Hundeschlitten durch die eisige Einöde fahren, aber wenn die U-BahnLinie A zum gleichen Ziel führt, kann man sich doch auch für den einfacheren Weg entscheiden, oder? Um auf einer literarischen Reise zu den Besonderheiten von Pozzuoli zu gelangen, müssen wir uns auf den Weg von Lyells allgemeiner Theorie begeben. Lyell, von Beruf Rechtsanwalt, wollte die Wissenschaft der Geo logie sowohl aus inhaltlichen als auch aus methodischen Gründen refor mieren. Er stützte sein System – man könnte auch sagen: sein Plädoyer – auf zwei Grundvoraussetzungen. Die erste ist die Lehre des Gradualismus: Mit Ursachen, die wir heute beobachten können und die mit ihrer Geschwindigkeit immer der Beobachtung zugänglich sind, lässt sich die ge
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samte Erdgeschichte erklären. Scheinbar umfassende oder katastrophale Ereignisse entstehen in Wirklichkeit durch die Anhäufung kleiner Veränderungen in den ungeheuer langen erdgeschichtlichen Zeiträumen – die tiefe Schlucht wird Körnchen für Körnchen gegraben, der hohe Berg steigt durch Erdbeben und Eruptionen in vielen kleinen Schritten im Laufe der Jahrmillionen empor. Und zweitens postulierte er eine ungerichtete, im Fließgleichgewicht befindliche Erde. Die normalen geologischen Ursachen (Erosion, Sedimentbildung, Auffaltung und so weiter) unterliegen im Laufe der Zeit keinem Trend zu einer zu- oder abnehmenden Intensität. Selbst der physikalische Zustand der Erde (Temperaturverhältnisse, Lage der Klima zonen, Anteile von Land und Meer) bleibt in der Regel ungefähr gleich oder macht immer wieder die gleichen Zyklen durch. Der Wandel verlangsamt sich nicht und hört nie auf. Berge steigen zwar hoch und wer den abgetragen, das Meer kommt und geht; aber der durchschnittliche Zustand der Erde unterliegt keinem nachhaltigen Trend, der in eine bestimmte Richtung weist. Anfangs glaubte Lyell sogar, die durchschnitt liche Komplexität der Lebewesen sei stets gleich geblieben, aber das über legte er sich nach 1850 anders, als er zu der Erkenntnis gelangt war, dass in den ältesten Gesteinsschichten keine Säugetiere zu finden sind. Zwar war ihm klar, dass alte biologische Arten aussterben und neue entstehen (durch Schöpfung oder einen noch unbekannten natürlichen Mechanis mus). Aber Muscheln, so glaubte er, bleiben Muscheln, und Säugetiere bleiben Säugetiere, und das von den Anfängen der Geschichte des Leben digen bis heute. Wenn ein Wissenschaftler ein derart umfassendes System postuliert, verschafft man sich die besten Einblicke in Quellen und gedanklichen Hintergrund seiner Reformen, indem man sich mit den Ansichten seiner Gegner auseinander setzt. Nur in den seltensten Fällen stößt eine neue Theorie in völliges geistiges Vakuum vor; meist entsteht sie als mutmaß liche Verbesserung oder Ersatz für früher allgemein anerkannte Lehren. In diesem Fall vertraten Lyells vermeintliche Widersacher ein geologisches Gedankengebäude, das häufig als Katastrophentheorie oder Direktionalismus bezeichnet wurde (im Gegensatz zu Lyells wichtigster Lehre eines gradualistischen Wandels auf einer Erde im Fließgleichgewicht). Die Vertreter der Katastrophentheorie vertraten die Ansicht, dass geo logische Veränderungen sich meist in seltenen Episoden großer weltwei
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ter Umwälzungen abspielen, die durch die »üblichen Verdächtigen« ge kennzeichnet sind: Vulkanismus, Auffaltung von Gebirgen, Erdbeben, Überschwemmungen und Ähnliches. In ihrer Mehrzahl behaupteten die Katastrophentheoretiker auch, Häufigkeit und Heftigkeit solcher Episoden hätten im Laufe der Zeit deutlich abgenommen; damit schufen sie einen Gegensatz zwischen einer ungestümen jungen Erde und dem heu tigen, viel ruhigeren Planeten in seinem ausgereiften Zustand. In den Augen der meisten Katastrophentheoretiker ergaben sich diese beiden entscheidenden Postulate logisch aus einer einzigen Theorie über die Erdgeschichte, wonach der Planet als geschmolzener Feuerball von der Sonne weggeschleudert wurde (so die Hypothese, zu der Kant und Laplace damals neigten) und später allmählich abkühlte. Im Laufe der Abkühlung wurde die äußere Kruste fest, und das geschmolzene Innere zog sich kontinuierlich zusammen. Die dadurch entstehende Instabilität – deren Ursache fast buchstäblich eine immer größere Lücke zwischen der festen Kruste und dem schrumpfenden, geschmolzenen Inneren sein sollte – führte schließlich zu einer plötzlichen weltweiten Umwälzung, weil die Kruste barst und über dem kleineren geschmolzenen Kern zusammenbrach. Der Direktionalismus, der von einer ständigen Abkühlung ausging, verband also die Katastrophentheorie und ihre gelegentlichen Umwälzungen durch Zusammenbruch der Erdkruste mit der Hypothese eines stetigen »Zeitpfeils«, der von einem feurigen Anfang voller häufiger, heftiger Katastrophen zu unserer heutigen Ära mit relativer Ruhe und selteneren Ausbrüchen führt. Nebenbei bemerkt: Wenn man die Katastrophentheorie auf diese Weise als echte, interessante wissenschaftliche Alternative zur LyeH’schen Einheitlichkeit darstellt, widerlegt man eine verbreitete falsche Behauptung, die Lyell und seinen Parteigängern anfangs nur als rhetorisches Mittel diente, später aber unkritisch als anerkannte Lehrmeinung des Berufsstandes übernommen wurde. Nach dieser schwarzweiß gemalten Behauptung war die Katastrophentheorie die letzte Zuflucht für die Feinde der modernen Naturwissenschaft, jene geologisch angehauchten Dogma tiker, die sowohl am zeitlichen Ablauf der Schöpfungsgeschichte als auch an der Hand Gottes als unbewegtem Beweger im wörtlichen Sinn festhal ten wollten und dazu eine Lehre von globalen Katastrophen erfanden, um die ganze Vielfalt des erdgeschichtlichen Wandels in ein paar tausend Jah ren unterzubringen. In Wirklichkeit hatten um 1830 alle Naturwissen
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schaftler, ob sie nun Anhänger der Katastrophentheorie oder Uniformita rianisten waren, die ungeheuer lange Dauer der Erdgeschichte als zentrale, nachgewiesene Tatsache ihres entstehenden Berufsfeldes anerkannt (siehe Kapitel 5). Die Katastrophentheoretiker vertraten eine andere Theorie des Wandels auf einer ebenso alten Erde – und ihre Ansichten kann man nicht als weniger »wissenschaftlich« oder stärker theologisch beeinflusst beurteilen als alles, was Lyell und seine Schule verkündeten. Die persönlichen, gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Gründe, die Lyell zu seiner Entscheidung veranlassten, sind ein vielschichtiges, faszinierendes Thema, das weit über den Rahmen dieses Essays hinausgeht. Wir können aber zumindest festhalten, welcher offenkundigen Strategie sich dieser Meister der überzeugenden Rhetorik, dieser Winkeladvokat bediente, um seine uniformitarianistische Lehre als Kernstück seines Lehrbuches Principles of Geology durchzusetzen. Unter anderem wählte er eine materialistische Argumentation: Die Welt, wie sie sich in geologi schen Befunden darstellt, funktioniere nun einmal durch allmählichen, ungerichteten Wandel. Den Vorrang räumte Lyell aber einer methodi schen Behauptung ein: Er beharrte darauf, nur seine uniformitarianistische Sicht könne die entstehende Wissenschaft der Geologie von früheren Fesseln und fantasievollen, unbegründeten Spekulationen befreien. Wenn globale Katastrophen die Geschichte zum größten Teil prägen, so Lyell, wie sollen wir dann jemals eine funktionierende geologische Wis senschaft entwickeln – wir sind in dem zugegebenermaßen beschränkten Zeitraum der Menschheitsgeschichte nicht Zeuge solcher Ereignisse geworden und können deshalb keine empirischen Studien auf der Grund lage von Beobachtungen betreiben. Und wenn eine turbulente Vergangenheit so anders aussah als die ruhige Gegenwart, wie können wir dann auf Grund der heutigen Vorgänge – den einzigen, die unmittelbaren Beobachtungen und Experimenten zugänglich sind – Schlüsse über die Ver gangenheit ziehen? Auf einer Erde im Fließgleichgewicht dagegen, in der ständig die heutigen Ursachen mit ihrer heutigen Intensität wirksam sind, wird die Gegenwart wie in dem alten pädagogischen Sprichwort zum »Schlüssel zur Vergangenheit«, und die gesamte Erdgeschichte steht der wissenschaftlichen Untersuchung offen. In einem berühmten Appell verurteilt Lyell deshalb die Katastrophentheorie als eine aus Verzweiflung ge borene Lehre, und seine uniformitarianistische Reform preist er als Weg zur wissenschaftlichen Rettung:
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Nie war eine Lehre mehr darauf berechnet, der Trägheit Vorschub zu leisten und die scharfe Schneide der Neugier stumpf zu machen, als diese Annahme einer Diskrepanz zwischen früheren und heutigen Ur sachen des Wandels. Sie führte zu einem Geisteszustand, welcher im höchsten vorstellbaren Maße ungünstig ist für die aufmerksame Wahr nehmung jener kleinen, aber unaufhörlichen Veränderungen, welche jeder Teil der Erdoberfläche durchmacht ... Der Forscher wird nicht durch die Hoffnung ermutigt, die Rätsel deuten zu können, welche ihm der Aufbau der Erde bietet – und er wird nicht veranlasst, langwierige Untersuchungen ... der heute wirksamen Ursachen vorzunehmen, sondern es wurde ihm beigebracht, von Anfang an zu verzagen. Die Geologie, so wurde behauptet, könne nie in den Rang einer exakten Wissenschaft aufsteigen – die Mehrzahl der Phänomene müsse für alle Zeiten unerklärlich bleiben ... In unserem Versuch, diese schwierigen Fragen zu lösen, werden wir einen anderen Weg einschlagen und uns auf die bekannten oder möglichen Wirkungen vorhandener Ursachen beschränken ... An diesem Plan werden wir festhalten ... weil ... die Geschichte uns lehrt, dass diese Methode die Geologen immer auf den Weg zur Wahrheit geführt hat – denn sie legt Ansichten nahe, welche zuerst zwar unvollkommen erscheinen, sich aber als verbesserungsfähig erwiesen haben, bis sie schließlich in allgemeiner Übereinstimmung anerkannt wurden. (Aus dem Einleitungskapitel zum dritten und letzten Band von Lyells Principles, 1833.) Große intellektuelle Streitigkeiten gewinnt man nicht durch Erfolge in einfachen, bruchstückhaften Scharmützeln. Man muss die Gegner auch in ihrer eigenen Domäne schlagen, wo überlegenes Wissen und große Fähig keiten sie eigentlich unbesiegbar machen. Eine neue Theorie muss auch die schwierigsten, ihr scheinbar widersprechenden Fälle bei den Hörnern packen und sich diese zum Inhalt machen. Lyell war sich dieses Prinzips bewusst und erkannte, dass er auch den Vesuv eines Plinius und Kircher sowie Pompeji und das Feuer der Lady Hamilton seinem uniformitaria nistischen Lager einverleiben musste – und zwar nicht als Gefangene, son dern als stolze Musterbeispiele. Keinem anderen Ort oder Thema widmet er in den drei Bänden seiner Principles of Geology auch nur halb so viel Aufmerksamkeit.
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Lyell baut seine uniformitarianistische Erklärung für Neapel und den Vesuv rund um zwei methodische Themen auf, in denen sich seine ganze logische und literarische Brillanz als größter Meister der Argumentation in der gesamten Geologie verkörpert. Zunächst beruft er sich auf das geologische Grundprinzip des richtigen Maßstabes: Ein Ausbruch des Vesuv, daraufweist er hin, ist zwar für den Bäcker oder Schmied von Pompeji die größtmögliche Katastrophe, er verursacht aber nicht nur selbst im Augenblick seiner größten Intensität keine globale Störung, sondern er versinkt später sogar in der Bedeutungslosigkeit, wenn die Erinnerung daran in mehreren hundert Jahren der Ruhe aus dem allgemeinen Bewusstsein verschwindet, während die Erosion gleichzeitig seine Spuren aus der Landschaft tilgt. Warum also soll eine solche lokal begrenzte Katastrophe dann unhin terfragt als Modell dienen, von dem man auf den Weltuntergang hochrechnet? Vielleicht sollte man ja aus demselben Ereignis genau die ent gegengesetzte Lehre ziehen: Lokal heißt lokal – und genau wie die Schlucht Sandkorn um Sandkorn tiefer wird, so erhebt sich auch ein Ge birge ganz allmählich, Ausbruch für Ausbruch und über lange Zeit hinweg. Vor allem lehrt uns der Vesuv, dass die gradualistischen Stufen nach menschlichen Maßstäben vielleicht groß sind – Lavafelder im Vergleich zum erodierten Sandkorn –, nach dem Standard der Erdgeschichte aber immer noch sehr klein. Im Jahr 1830 fasste Lyell ein langes Kapitel mit dem Titel »History of the volcanic eruptions in the district around Naples« (Geschichte der Vulkanausbrüche in der Gegend um Neapel) folgendermaßen zusammen: Das riesige Ausmaß und die Heftigkeit der Vulkanausbrüche in Kampanien während der Antike war das Thema von leerem Gerede ... An statt auf Grund der Analogie zu schließen, dass ... jeder Kegel allmählich hoch gestiegen ist – und dass nach jeder Eruption viele Jahre und oft sogar Jahrhunderte der Ruhe folgten –, vermuteten die Geologen anscheinend, die ganze Gruppe sei auf einmal aus dem Boden geschos sen wie die Soldaten des Cadmus, nachdem er die Drachenzähne gesät hatte. Außerdem, so fährt Lyell am Ende des ersten Bandes seiner 10. Auflage (1867) fort, haben Naturkatastrophen selbst nach rein lokalen Maßstäben
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in der Regel nur einen sehr vorübergehenden Einfluss auf die Geschichte. Für die meisten Menschen ist Kampanien ein Land der angenehmen Ruhe. Und was den Vesuv selbst angeht, so kommt selbst die schlimmste natürliche Verwerfung in ihrer Zerstörungskraft nicht an Gewalt und Hinterhältigkeit der Menschen heran. In einem verblüffend literarischen Absatz erinnert uns Lyell daran, dass der Vesuv für das Römische Reich nicht 79 n. Chr. am gefährlichsten wurde, als Lava und giftige Gase daraus hervorströmten, sondern 73 v. Chr.: In diesem lahr brachte Spartacus die Soldaten seines Sklavenaufstandes im ruhenden Krater des Vulkans unter. Aber welcher Zustand herrschte in Kampanien wirklich während jener Jahre der größten Verwerfungen? »Ein Klima«, sagt Forsyth, »in dem der Atem des Himmels süß und lieblich riecht – eine lebendige, üppige Natur, die in ihren Hervorbringungen nicht ihresgleichen hat – eine Küste, welche einst das Märchenland der Dichter und die bevorzugte Zuflucht großer Geister war.« ... die Bewohner waren tatsächlich nicht gegen das Unheil gefeit, welches das Los der Menschheit ist; aber die größten Übel, an denen sie gelitten haben, muss man nicht physikali schen, sondern moralischen Ursachen zuschreiben – katastrophalen Ereignissen, über die der Mensch die Kontrolle hätte ausüben können, nicht aber unvermeidlichen Katastrophen, welche von unterirdischer Tätigkeit herrühren. Als Spartacus seine Armee von zehntausend Gla diatoren in dem alten, erloschenen Krater des Vesuv lagern ließ, war der Vulkan für Kampanien mit viel größerem Grund ein Gegenstand des Schreckens, als er es seit dem Wiederaufflammen seines Feuers jemals sein konnte. Im Zusammenhang mit seinem zweiten Thema wies Lyell daraufhin, wie wichtig es ist, Belege kritisch, aber nicht unbedingt wörtlich zu interpretieren. Was von der Erdgeschichte übrig geblieben ist, besteht wie die meisten Archive der Menschheitsgeschichte mehr aus Lücken denn aus Dokumenten. (In einer berühmten Metapher, die Darwin später für ein entscheidendes Argument in der Entstehung der Arten übernahm, ver gleicht Lyell die geologischen Funde mit einem Buch, in dem nur sehr we nige Seiten erhalten sind, auf diesen Seiten wenige Zeilen, in den Zeilen wenige Wörter und in den Wörtern wenige Buchstaben.) Außerdem handelt es sich häufig um heimtückische Unvollkommenheiten: Informatio
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nen verschwinden nicht nach dem Zufallsprinzip, sondern sehr ungleichmäßig – und das verleitet uns zu der Annahme, manche Ursachen seien beherrschend, weil die Belege für ihre Wirkung sich erhalten haben, während die Spuren anderer, wichtigerer Faktoren bevorzugt von der Bildfläche verschwunden sind. Lyell erkannte, dass Katastrophen gewöhnlich ihre Spuren hinterlassen: Umfangreiche Lavaströme oder ausgedehnte, durch Erdbeben erzeugte Brüche der Gesteinsschichten werden in der Erdgeschichte nicht ohne weiteres ausradiert. Aber die Zeit hat auf den fehlenden Seiten des geologischen Buches auch häufig ebenso wichtige Anhaltspunkte für allmählichen Wandel abgedruckt – die wenige Zentimeter dicken Sedimente, die sich im Laufe von Jahrmillionen in einem klaren, ruhigen Meer ablagern, oder die stetige Erosion eines Flussbettes, das Sandkorn für Sandkorn abgetragen wird. Durch dieses Ungleichgewicht wird nicht nur die Bedeu tung der Katastrophen im Allgemeinen zu stark hervorgehoben, sondern es kann auch den falschen Eindruck erwecken, die Heftigkeit des geologi schen Wandels habe sich im Laufe der Zeit abgeschwächt: Wenn die Fol gen von Katastrophen über lange Zeit hinweg besser erhalten bleiben, während die Gegenwart uns eher ausgewogene Belege für alle Formen des Wandels zeigt, kann eine wörtliche, unkritische Deutung geologischer Indizien zu falschen Vermutungen über eine turbulentere Vergangenheit führen. Lyell fasste diese entscheidenden Erkenntnisse über die ungleich mäßige Erhaltung in einer großartigen Metapher für den Vesuv zusam men; er schrieb: »Angenommen, wir hätten am Fuß des Vesuv zwei aus gebrannte Städte entdeckt, die unmittelbar übereinander liegen, genau wie Portici und Resina sich genau über Herculaneum befinden würden, wenn sie heute mit Asche bedeckt wären.« (Als Lyell die Gegend im Jahr 1828 besuchte, waren die Ausgrabungen in Herculaneum schon weiter vorangeschritten als die in Pompeji – deshalb nennt er an erster Stelle die Stadt, die heute als Denkmal für die Zerstörungskraft der Vesuv-Aus brüche den zweiten Rang einnimmt.) Deutet man eine solche Abfolge im Wortsinn, müsste man auf plötzliche, katastrophale Veränderungen als prägende Kräfte der Geschichte schließen. Dann würden die Überreste ei ner italienischen Stadt mit verstreutem, modernem Unrat wie Bierdosen und Fahrrädern über den Schichten einer römischen Siedlung voller Am phorenscherben und Streitwagen liegen – und zwischen ihnen würde
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Das Titelblatt zu Lyells Principks of Geology. Die Spuren an den drei Säulen von Pozzuoli zeigen, dass der Meeresspiegel in historischer Zeit beträchtlich gestiegen und gefallen ist.
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man nur eine Schicht aus Vulkangestein finden. Dann könnte man zu dem Schluss gelangen, eine plötzliche Katastrophe habe zur unmittelbaren Verwandlung des Römischen ins Italienische und von Wagenrädern zu Autoreifen geführt (denn die rechten Verwandtschaftsbeziehungen würden wir feststellen, während alle Zwischenstufen fehlen) – einfach weil die Belege für nahezu 2000 Jahre des allmählichen Überganges nicht in eine historische Abfolge eingegangen sind, in der sich mit starkem Übergewicht nur die Spuren katastrophaler Ereignisse erhalten haben. Damit ein Feldzug für eine bedeutende Reform des Denkens gelingt, sind nicht nur Argumente (soweit man sie bereits kennt) zur Widerlegung der bisherigen Interpretation erforderlich, sondern man braucht ein neues, positiv besetztes Symbol oder Sinnbild. Zu dem Feuer speienden Vesuv, dem Symbol eines Plinius oder Kircher, musste ein Gegengewicht geschaffen werden – ein Bild von Neapel, das ebenfalls durch den Vesuv entstanden war, gleichzeitig aber deutlich machte, wie wirksam die neu postulierten Ursachen sind und welche umfangreichen Folgen durch eine Fülle kleiner, allmählicher Veränderungen im Laufe langer Zeiträume ge schaffen werden. Zu diesem Zweck wählte Lyell die römischen Säulen von Pozzuoli, ein Bild, das ihm für alle Auflagen seiner Principles ofGeology als Titelblatt diente und spätere Auflagen auch als goldenes Prägebild auf dem Umschlag zierte. Als die Säulen von Pozzuoli diese Stellung als Titel bild des berühmtesten geologischen Werkes aller Zeiten erlangten, wurden sie zum Symbol par excellence für die Geowissenschaften. Soweit ich mich erinnere, ist mir nie ein modernes Lehrbuch begegnet, in dem nicht Lyells Deutung dieser drei Säulen erörtert würde, und unweigerlich findet sich dabei auch eine Reproduktion von Lyells ursprünglicher Abbildung oder ein Schnappschuss, den der Autor auf seiner eigenen Pilgerreise ge macht hat.
II. Aufstieg (und Fall) der Säulen von Pozzuoli Als Lyell das Feuer des Vesuv als neapolitanisches Symbol für das Wesen des erdgeschichtlichen Wandels gegen die Säulen von Pozzuoli aus tauschte, traf er eine ausgezeichnete Wahl, und er nahm eine legitime In terpretation vor. Die drei schlanken Säulen, die ursprünglich als Tempel des Serapis (einer ägyptischen, auch von den Römern geschätzten Gott
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heit) gedeutet wurden, nach heutiger Kenntnis aber in Wirklichkeit den Eingang zu einem Marktplatz bildeten, wurden später von Sedimenten verschüttet und 1750 wieder ausgegraben. Die rund zwölf Meter hohen Marmorsäulen sind »glatt und bis zu einer Höhe von zwölf Fuß über ihrem Sockel völlig unversehrt«. Anschließend nennt Lyell seine entschei dende Beobachtung, die man auch auf dem Titelblatt deutlich erkennt: »Darüber befindet sich ein Bereich von etwa neun Fuß Höhe, wo der Mar mor durch eine Spezies meeresbewohnender Bohrmuscheln durchlöchert wurde« – durch Lithodomus. Aus dieser einfachen Anordnung ergibt sich eine Vielzahl von Folge rungen; sie alle stimmen mit Lyells Theorie des Uniformitarianismus überein, und alle gehen auf dieselben geologischen Einflüsse zurück, die auch das zuvor beherrschende Symbol des Feuer speienden Vesuv geformt hatten. Die Säulen wurden im ersten oder zweiten Jahrhundert n. Chr. er richtet, und zwar natürlich über dem Meeresspiegel. Dann wurde das ganze Gebäude teilweise unter Vulkanschutt begraben, und später war es bis zu einer Höhe von sechs Metern über der Säulenbasis von Meerwasser bedeckt. Die neun Fuß (rund 2,70 Meter) mit Muschel-Bohrlöchern (erzeugt von denselben Tieren, die fälschlich auch »Schiffsbohrwürmer« genannt werden und sich überall auf der Welt in Bootsstege, Kaianlagen und Schiffsrümpfe fressen) beweisen, dass die Säulen bis zu dieser Höhe unter Wasser standen – denn über der Niedrigwasserlinie können solche Muscheln nicht leben, und das Mittelmeer hat ohnehin nur geringe Gezei tenunterschiede. Aus den neun Fuß mit Muschellöchern und den unver sehrten zwölf Fuß (ca. 3,60 Meter) darunter kann man schließen, dass der untere Teil der Säulen durch Vulkanablagerungen geschützt war – solche Muscheln leben nur im offenen Wasser. Heute jedoch stehen die Säulenbasen auf Meereshöhe – der Vorgang, durch den sie sechs Meter tief eintauchten, muss sich also später dadurch umgekehrt haben, dass das Land bis fast auf die Höhe zur Zeit ihrer Erbauung anstieg. In einem erdgeschichtlichen Augenblick von noch nicht einmal zweitausend Jahren erlebte der »Serapistempel« demnach mindestens zwei größere Bewegungen der umgebenden Landschaft (und das, ohne dass die Säulen dabei umgefallen wären) – zuerst über sechs Meter abwärts, gefolgt von einem Anstieg in ähnlicher Größenordnung. Wenn eine derart starke geologische Tätigkeit sich in so kurzer Zeit abspielen kann, wie konnte man dann noch leugnen, dass heute wirksame Ursachen
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in den vielen hundert Millionen Jahren, die zur Verfügung stehen, das ganze Spektrum der erdgeschichtlichen Phänomene zuwege gebracht haben? Und wie konnte man noch behaupten, die Erde befinde sich nach einer stürmischen Jugend heute in einem Ruhezustand, wo wir doch in dem erdgeschichtlichen Augenblick der Menschheitsgeschichte Zeugen einer so starken Bewegung geworden sind? Lyell präsentierte die Säulen von Pozzuoli als triumphales Symbol für beide Schlüsselaussagen seines uniformitarianistischen Systems: Die heutigen Ursachen sind die einzigen, und ihre Stärke ist über die Erdgeschichte hinweg relativ gleich geblieben. Die Vorstellung von einem Geologen, der Neapel besichtigt und das nahe gelegene Pozzuoli auslässt, ist ungefähr ebenso plausibel wie die Ge schichte von einem Pilger, der die Altstadt von Mekka besucht und die Kaaba links liegen lässt. Nun bewundere ich Lyell zwar als großen Denker und Schriftsteller, aber ich war nie ein Anhänger seiner uniformitarianis tischen Ansichten. (In meinem allerersten, 1965 erschienenen Fachaufsatz hatte ich einen logischen Widerspruch zwischen Lyells verschiedenen Definitionen der Uniformität nachgewiesen.) Aber meine eigenen Beobach tungen an den Säulen von Pozzuoli, so schien mir, konnten seine Er kenntnisse über Ausmaß und allmählichen Ablauf der geologischen Veränderungen in historischer Zeit nur unterstreichen und erweitern. Ich hatte nur die erste Auflage (1830-33) von Lyells Principles mit nach Neapel genommen. In diesem ursprünglichen Text führte Lyell (wenn auch nur vorläufig) alle Höhenveränderungen auf nur zwei abgegrenzte, schnelle Vorgänge zurück. Das anfängliche Absinken auf ein Niveau, auf dem Meeresmuscheln sich in die Marmorsäulen bohren konnten, begründete er mit »Erdbeben, welche dem Ausbruch des Solfatara voraus gingen« (die Eruption in diesem Vulkangebiet am Rand von Pozzuoli fand 1198 statt). »Bimsstein und anderes Material, das aus diesem Vulkan her ausgeschleudert wurde, dürfte in dichten Schauern ins Meer gestürzt sein, sodass es den unteren Teil der Säulen sofort einhüllte.« Die spätere Hebung der Säulen führte Lyell auf ein allgemeines Anschwellen und Ansteigen der Landschaft zurück, das seinen Höhepunkt in der Entstehung des Monte Nuovo fand, eines Vulkankegels vor den Toren von Pozzuoli, der sich 1538 bildete. Als ich mich selbst vor Ort befand, stellte ich aber mit einer gewissen Verwunderung fest, dass die Indizien für eine wechselnde Geländehöhe weitaus umfangreicher und vielschichtiger waren. Den Teil mit den Mu
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schelbohrlöchern oben an den Säulen sah ich sehr wohl, aber noch offenkundiger und augenfälliger fand ich andere, von Lyell nicht erwähnte An haltspunkte für ein weiteres Vordringen des Meeres, und ich fragte mich, warum ich über dieses Ereignis nie etwas gelesen hatte. Nicht nur an den drei Hauptsäulen, sondern an allen Teilen des Gebäudekomplexes – den kleinen Säulen an den Ecken des viereckigen Marktplatzes, der Reihe noch kleinerer Säulen, die kreisförmig um den mittleren Teil des Marktes angeordnet sind, ja selbst an den Ziegelmauern und Gebäudewänden rund um das Viereck – fiel mir ein Bereich auf, der vom marmornen Bodenpflaster bis in eine Höhe von sechzig bis neunzig Zentimetern reicht und oben mit einer scharfen Grenzlinie endet. Innerhalb dieser Zone kleben Seepocken und Austernschalen an den Ziegeln und Säulen – die deutlich erkennbare obere Begrenzung muss also eine alte Hochwasserlinie sein. Demnach markiert der höher gelegene Abschnitt mit den Muschel-Bohrlöchern nicht die einzige Überflutung, sondern die untere, auffälligere Zone muss durch ein späteres Absinken des Landes entstanden sein. Aber wann? Lyells ursprüngliches Titelblatt (die Nachzeichnung eines italienischen Werkes von 1820) zeigt die Sockel der großen Säulen, aber keine Anzei chen für die von mir beschriebene Zone. Hatte er die Seepocken und Aus tern einfach nicht gesehen, oder fällt die Überflutung in die Zeit nach 1830? Ich stöberte in Neapel in einigen Buchantiquariaten und fand (nicht in wissenschaftlichen Publikationen, sondern in Reiseberichten über Landschaft und antike Stätten) mehrere Stiche aus dem frühen 19. Jahrhundert, auf denen die Säulen zu sehen waren. Keiner davon zeigte die untere Zone mit Seepocken und Austern. Aber durch diese Drucke er fuhr ich etwas Interessantes. Nirgendwo waren die kleinen Säulen abgebildet, die heute in dem kreisförmigen Bereich in der Mitte und auch an den Rändern des Vierecks stehen – und das, obwohl diese Stellen auf einigen Bildern als glatte Flächen mit verstreuten antiken Trümmern zu sehen sind. Auf einer späteren Abbildung von 1848 dagegen ist der runde Bereich in der Mitte dargestellt. Ich muss also davon ausgehen, dass die kleineren Säulen des Vierecks und der Ring im Zentrum irgendwann Mitte des 19. Jahrhunderts im Zuge der Ausgrabungsarbeiten wieder aufgestellt wurden – von Lyells drei großen Säulen dagegen wissen wir, dass sie seit ihrer Entdeckung im Jahr 1749 immer aufrecht standen. (Eine vierte große Säule liegt noch heute in mehreren Stücken auf dem Mar morpflaster des Komplexes.)
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Alle diese Tatsachen legen übereinstimmend die gleiche Schlussfolgerung nahe. Die kleineren Säulen des zentralen Ringes und der Ränder ent sprechen der niedrigen Zone mit Seepocken und Austern. Sie wurden erst Mitte des 19. Jahrhunderts wieder aufgebaut. Lyells Titelblatt und andere Drucke aus dem frühen 19. Jahrhundert zeigen die drei großen Säulen ohne die Seepocken- und Austernkruste am unteren Ende. Dieses spätere Absinken der Landschaft (oder ein Anstieg des Meeresspiegels um knapp einen Meter über das heutige Niveau) muss seinen Höhepunkt irgend wann nach 1850 erreicht haben – ein weiterer Beleg für Lyells Behaup tung, dass nennenswerte, komplizierte Bewegungen der Erdoberfläche auch innerhalb des erdgeschichtlichen Augenblickes der historischen Zeit stattfinden können. Ein paar Tage lang glaubte ich, ich hätte in Pozzuoli zumindest eine kleine Entdeckung gemacht; aber dann kehrte ich nach Hause (und in die Realität) zurück, und dort schlug ich in einigen späteren Auflagen von Lyells Principles nach. Das Buch war für ihn zu einem Kind geworden, das heranwuchs und sich veränderte (und ihm zeitlebens ein gutes Einkommen sicherte), sodass es bei seinem Tod die zwölfte Auflage erreicht hatte. Tatsächliche belegte Lyell mit zwei wichtigen Stationen, wie die zuneh menden Kenntnisse über die Säulen von Pozzuoli seine uniformitarianis tischen Ansichten bereichert hatten – von einer anfänglichen Hypothese, die von zwei schnellen, abgegrenzten Veränderungen sprach, zu einem Szenario mit einem allmählichen, häufigeren Wechsel der Bodenhöhe. 1. Anfang der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts nahm Lyells Kollege Charles Babbage, einer der interessantesten Intellektuellen im viktorianischen Großbritannien (später mehr über ihn), eine umfangreiche Untersuchung der Säulen von Pozzuoli in Angriff; dabei gelangte er zu dem Schluss, dass sowohl das starke Absinken des Landes (bis auf die Höhe der Muschel-Bohrlöcher) als auch die anschließende Hebung sich auf komplizierte, langwierige Weise über mehrere Einzelstadien hingezogen hat ten und nicht auf einmal erfolgt waren, wie Lyell ursprünglich geglaubt hatte. In der sechsten, 1840 erschienenen Auflage schrieb Lyell: Mr. Babbage ist nach eingehender Untersuchung mehrerer Verkrustungen ... sowie der deutlich erkennbaren Spuren früherer Wasserlinien, welche oberhalb der Zone mit Lithophagenperforationen [Bohr
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löchern von Muscheln] zu dem Schluss gelangt und hat nach meiner Überzeugung bewiesen, dass das Absinken des Gebäudes nicht plötzlich oder nur in einer Periode erfolgt ist, sondern allmählich und durch aufeinander folgende Bewegungen. Und was die spätere Hebung des abgesunkenen Teils betrifft, so könnte auch sie sich in verschiedenen Phasen ereignet haben. 2. Als Lyell 1828 zum ersten Mal nach Pozzuoli kam, lag die Hochwasserlinie praktisch auf dem Niveau des Marmorpflasters. (Die meisten älteren Drucke, auch Lyells Titelblatt, zeigen in dem Gebäudekomplex kleinere Pfützen und Tümpel. Spätere Abbildungen, darunter eine Version von Babbage aus dem Jahr 1836, die Lyell in späteren Auflagen der Principles als Ersatz für sein ursprüngliches Titelblatt übernahm, lassen in der Regel tieferes Wasser erkennen.) Im Jahr 1838 las Lyell einen genauen Bericht über diese moderne Episode des erneuten Absinkens – und in den folgenden Auflagen seines Werkes zeichnete er jeweils die letzten Veränderungen nach. Nach Feststellungen von Niccolini, »eines gelernten Archi tekten, der die Ruinen häufig aufsuchte, um Zeichnungen anzufertigen«, war der Komplex seit seinen ersten Beobachtungen im Jahr 1807 um rund 60 Zentimeter abgesunken, und 1838 »wurden jeden Tag Fische über jenem Teil des Pflasters gefangen, wo sich 1807 bei ruhigem Wetter nie auch nur ein Tropfen Wasser befand«. Lyell hielt sich weiterhin über das neuerliche Absinken auf dem Laufenden – 1847 befragte er einen britischen Kollegen namens Smith, 1852 einen Italiener namens Scacchi, und auf einer letzten Reise stellte er 1858 wiederum eigene Beobachtungen an. Dabei stellte er fest, dass das Gelände in letzter Zeit um nahezu einen Meter abgesunken war, und er entschloss sich, dafür das alte Symbol verantwortlich zu machen: den Vesuv! Der Vulkan war zu jener Zeit – nach mehreren Jahrhunderten der Ruhe – seit nahezu hundert Jahren aktiv und hatte allein während Hamiltons Amtszeit als britischer Botschafter mehrere Aufsehen erregende Ausbrüche hinter sich. Lyell nahm an, bei dem neuerlichen Absinken des umgebenden Geländes müsse es sich um eine Anpassung handeln, weil durch den Vulkankrater so viel unterirdisches Material verloren gegangen war. Er schrieb: »Der Vesuv ist wieder einmal zu einem aktiven Schlot geworden und es seitdem immer geblieben; seit der gleichen Zeit sinkt auch der Tempel ab, soweit wir etwas über seine Vergangenheit wissen.«
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So oder so gehe ich davon aus, dass die auffälligen Verkrustungen durch Seepocken und Austern, die von Lyell nicht erwähnt werden und in allen meinen Quellen aus dem frühen 19. Jahrhundert nicht vorkommen – die aber (zumindest in meinen Augen) heute in Pozzuoli das augenfälligste Anzeichen früherer geologischer Tätigkeit sind und in einem rein visuellen Sinn weit mehr Eindruck machen als die höher gelegene Zone der Muschel-Bohrlöcher –, sich erst in einer späteren Episode mit hohem Meeresspiegel gebildet haben. Wiederum können wir Lyells Überzeu gung, dass die heutigen geologischen Vorgänge weiterhin stetig wirken, nur bestätigen. Wäre dieser Essay eine der üblichen Heiligengeschichten, müsste er hier zu Ende sein: Lyell triumphiert noch über das Grab und seine eigenen Be obachtungen hinaus. Aber die strenge Uniformität kann ebenso wenig wie ihre Alternative, der kompromisslose Katastrophenglaube, die ganze Komplexität einer üppigen, vielfältigen Welt einfangen, die den Menschen zumindest teilweise Recht gibt, wenn sie Systeme mit stichhaltig begründeten Extremen konstruieren. Die Uniformität war eine wichtige Alternative und Korrektur zur strengen Katastrophentheorie, aber auch sie sagt über unsere komplexe Erde nicht die ganze Wahrheit. In großen Teilen funktioniert die Natur tatsächlich auf Lyells langsame, ungerichtete Weise, aber die Geschichte unseres Planeten wurde auch durch echte, globale Katastrophen geprägt. Diese Idee kam plötzlich wieder in Mode, nachdem so gut wie bewiesen war, dass das Massenaussterben am Ende der Kreidezeit – ein Ereignis, das neben den Dinosauriern auch 50 Prozent aller Arten von Meeres bewohnern hinwegfegte – durch den Einschlag eines Himmelskörpers ausgelöst wurde. Unsere Stadt der intellektuellen Möglichkeiten besteht aus vielen Häusern, und wenn wir uns auf ein großes Gebäude beschränken, schotten wir uns zu einem großen Teil von den Wahrheiten der Natur ab. Mit einem letzten Beispiel wollen wir deshalb noch einmal auf Lyells faszinierenden Kollegen Charles Babbage (1792-1871) zurückkommen, Mathematikprofessor in Cambridge und Erfinder einiger der ersten Rechenmaschinen, die den heutigen Computern weit vorausgingen. In der Encyclopaedia Britannica endet der Artikel über dieses vielseitige Genie mit den Worten: »Er half, in England das moderne Postsystem einzurich ten, und erstellte die ersten zuverlässigen Tabellen zur Versicherungssta
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tistik. Außerdem erfand er einen Typ von Geschwindigkeitsmessern und den Kuhfänger für Lokomotiven.« Warum also nicht auch Geologie? Babbage trug seine Untersuchungen aus Pozzuoli 1834 in London bei der Geological Society vor, veröffentlichte die Ergebnisse aber erst 1847; den Grund nennt er in einem Vorwort, das in der dritten Person verfasst ist: »Andere Verpflichtungen nötigten ihn, sie beiseite zu legen« – vor allem doch zweifellos der Kuhfänger! Er hatte die Studie in Angriff genommen, um Lyells uniformitarianistische Kernaussage zu bestätigen, und das machte er auch im ausführlichen Untertitel seines Aufsatzes deutlich: »Be obachtungen am Serapistempel in Pozzuoli bei Neapel, mit einem Ver such, die Ursachen des häufigen Aufsteigens und Absinkens großer Teile der Erdoberfläche in früheren Epochen zu erklären, und zu beweisen, dass diese Ursachen auch in der Gegenwart weiterhin tätig sind.« Nachdem Babbage die Veröffentlichung bis 1847 hinausgezögert hatte, musste er einen Anhang hinzufügen und das neuerliche Absinken be schreiben, von dem auch Lyell in den späteren Auflagen seiner Principles of Geology spricht. Babbage befasst sich mit den Beobachtungen von Niccolini und insbesondere von Smith, wie sie vor der Londoner Geological Society berichtet wurden: »Mr. Smith fand den Boden des Tempels bei hohem Wasserstand im Jahr 1819 trocken vor, während 1845 dort 18 Inch [rund 45 Zentimeter] Wasser standen.« Dann jedoch stellt Babbage diese neuen Befunde in Zusammenhang mit seinen früheren Beobachtungen über Veränderungen in historischer Zeit und gelangte zu seiner allgemei nen, uniformitarianistischen Schlussfolgerung: Die gemeinsame Wirkung gewisser vorhandener und anerkannter Ur sachen muss zwangsläufig auf der Erdoberfläche eine ständige, meist aber langsame Veränderung in den Höhenverhältnissen von Land und Wasser herbeiführen. Große Teile ihrer Oberfläche müssen über die Zeitalter hinweg langsam absinken, während andere sich unregelmäßig und mit unterschiedlicher Geschwindigkeit erheben. Um diese Erkenntnis aus Neapel zu verallgemeinern, zitiert Babbage anschließend die laufenden Arbeiten eines jungen Naturforschers, der sich auf der entgegengesetzten Seite der Welt mit ganz anderen Phä nomenen beschäftigte: mit den Korallenatollen im tropischen Pazifik. Dieser junge Mann war noch nicht zu dem Charles Darwin geworden, den
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wir heute verehren. (Die Veröffentlichung der Entstehung der Arten lag noch um zwölf Jahre in der Zukunft, und Darwin hatte seine Vermutun gen über die Evolution nur wenigen engen Vertrauten eröffnet, zu denen Babbage nicht gehörte.) Deshalb kannten der Mathematiker und die gesamte Wissenschaftlergemeinde Großbritanniens den jungen Darwin nur als vielversprechenden Naturforscher, der sich auf einer fünfjährigen Weltreise befand, ein liebenswürdiges Buch über seine Abenteuer sowie drei wissenschaftliche Bände über die Geologie Südamerikas und die Ent stehung der Korallenatolle herausgebracht hatte, und der jetzt mitten in der Arbeit an einer umfassenden Abhandlung über die Systematik der Rankenfußkrebse steckte, die am Ende vier dicke Bände umfassen sollte. Darwins Theorie über die Entstehung der Korallenatolle war in den Augen seiner Kollegen sicher die wichtigste und originellste seiner frühen Arbeiten. Nach Ansicht des jungen Wissenschaftlers, der seine Erklärung als »Senkungstheorie« der Korallenriffe bezeichnete, entstand die Kreisform der Atolle durch das Absinken des umgebenden Meeresbodens. Die Riffe wachsen danach zunächst am Rand ozeanischer Inseln heran. Sinkt eine solche Insel später ab, wachsen die Korallen weiter nach oben, und wenn die Insel in der Mitte schließlich endgültig in den Wogen versunken ist, bilden sie einen Ring. Aus dieser scharfsinnigen – und im Wesentlichen richtigen – Erklärung ergaben sich zwei Folgerungen, die für Lyell und seine Anhänger besonders nützlich waren; deshalb nahmen sie den jüngeren Kollegen auch gern in ihre Reihen auf. Erstens war die Senkungstheorie ein hervorragendes Beispiel für die Wirksamkeit und Kontinuität des allmählichen Wandels – Korallen können nur dann nach oben wachsen, wenn die zentrale Insel langsam nach unten sinkt. (Riffkorallen sind voller symbiontischer Algen, die Photosynthese betreiben; deshalb können sie im Wasser der Meere nur in Tiefen leben, in die das Sonnenlicht noch vordringt – bei zu schnellem Absinken würde das lebende Riff zugrunde gehen.) Zweitens – und das ist für die Arbeiten von Babbage und Lyell in Pozzuoli noch entscheidender – ist die weite geografische Verbreitung der Atolle ein Beweis, dass große Abschnitte der Erdkruste absinken, und daraus kann man auch schließen, dass andere Regionen mit vergleichbarem Umfang gleichzeitig nach oben steigen müssen. Die Schwankungen, die auf den Säulen von Pozzuoli ihre Spuren hinterlassen haben, spiegeln also nicht unbedingt nur ein lokales Phänomen wider, sondern sie verdeut
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liehen ein Grundprinzip der gradualistischen, ungerichteten und uniformitarianistischen Mechanik für das Verhalten unseres Planeten. Darwin hatte sogar noch vor allen anderen Folgerungen nachdrücklich auf seine Entdeckung hingewiesen, dass Korallenatolle sich nicht in Gebieten mit aktiven Vulkanen bilden – wo Vulkane ausbrechen und in die Höhe steigen, gibt es sie nicht. Diese Ausschließlichkeit weist daraufhin, dass nicht nur einzelne Punkte, sondern große Teile der Erdkruste gemeinsam absinken oder in die Höhe steigen müssen – wobei die Atolle der wichtigste Ausdruck des Absinkens sind, während Vulkane die Hebung signalisieren. Babbage lobte in seinen Schriften den jungen Darwin, versicherte aber auch, er sei selbst durch seine eigenen Untersuchungen in Pozzuoli zu den gleichen uniformitarianistischen Erkenntnissen gelangt: Mr. Darwin, dessen Reisen von 1826 bis 1836 dauerten [sie; die Reise auf der Beagle fand von 1831 bis 1836 statt], sammelte und ordnete eine riesige Menge von Tatsachen, welche im Zusammenhang mit der Bildung von Korallen- und Laguneninseln stehen, aber auch mit den Veränderungen der Höhe von Land und Wasser. 1838 veröffentlichte Mr. Darwin seine Ansichten über diese Themen, woraus sich neben anderen sehr wichtigen Schlussfolgerungen ergibt, dass er auf Grund der vielen von ihm angeführten Befunde zu genau der gleichen Erkenntnis gelangt ist, die auch das wichtigste Thema des vorliegenden Aufsatzes bildet: Die Erklärung liegt in bekannten, heute vorhandenen Ursachen. So weit, so gut – und so ehrlich, so gerecht. Im weiteren Verlauf versteigt sich Babbage aber zu einer Hypothese, die in ihrer Überinterpretation eine der lächerlichsten unter dem Etikett des Uniformitarianismus ist. Er fügte seiner Veröffentlichung von 1847 über die Säulen von Pozzuoli ein »Supplement« hinzu, das den Titel »Vermutungen über die physikalische Beschaffenheit der Mondoberfläche« trug. Zu Babbages Zeit führte man die Mondkrater meist auf vulkanische Ursachen zurück – eine katastro phentheoretische Erklärung, die Babbage in Frage stellen wollte. Er stellte fest, eine Region mit Mondkratern sehe doch ganz ähnlich aus wie eine Gegend mit Korallenatollen auf der Erde, die auf dem Boden eines ausge trockneten Meeres stehen:
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Nach sorgfältiger Durchsicht von Mr. Darwins Erklärung für die Bildung von Korallenriffen und Laguneninseln fühle ich mich veranlasst, diese Inseln mit jenen konischen, kraterförmigen Bergen zu verglei chen, welche die Mondoberfläche bedecken; und es scheint mir, als könne man keinen geeigneteren Ort für meine folgenden Vermutungen finden als den Abschluss eines Aufsatzes, in welchem ich zu zeigen ver sucht habe, dass bekannte, heute existierende Ursachen zwangsläufig zu Ergebnissen führen, die denen, welche Mr. Darwin so gut beobachtet und aufgezeichnet hat, analog sind ... Wenn wir uns ein Meer vorstellen, das eine Vielzahl solcher Laguneninseln enthält und dann trocken fällt, würde sich seine äußere Erscheinung für einen Betrachter auf dem Mond ganz ähnlich darstellen wie die eines Landes, welches dicht von Vulkanen mit Kratern unter schiedlicher Größen besetzt ist. Dürfte demnach nicht vieles von dem scheinbar vulkanischen Erscheinungsbild des Mondes auf eine Ursache zurückgehen, welche den Boden eines früheren Ozeans auf seiner Oberfläche hat austrocknen lassen? Am Ende seiner Ausführungen wird Babbage immer kühner: Er fragt ausdrücklich, »ob diese Krater tatsächlich die Überreste von Koralleninseln mit Lagunen sind«. Gerechterweise muss man anerkennen, dass Babbage sich der höchst spekulativen Natur seiner Hypothese bewusst war: Die vorstehenden Bemerkungen sind ausschließlich als Spekulationen zu verstehen. Sie sollen zeigen, dass es uns nicht völlig an Prinzipien mangelt, mit denen wir Überlegungen über den physikalischen Aufbau des Mondes anstellen können, und dass die Vulkantheorie nicht die einzige ist, mit der sich die Phänomene erklären lassen. Aber spätere Entdeckungen unterstreichen nur den ironischen Charakter der vielleicht größten Überstrapazierung uniformitarianistischer Vorstellungen, die jemals von einem bedeutenden Wissenschaftler formuliert wurde. Babbage äußerte die Vermutung, die Mondkrater könnten Korallenatolle sein, weil er die katastrophentheoretische Interpretation, es handele sich um vulkanische Krater und Berge, widerlegen wollte. In Wirklichkeit sind Mondkrater tatsächlich keine Vulkane. Sie entstehen durch noch plötzlichere, katastrophalere Ereignisse: durch Meteoriteneinschläge.
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Umfassende Weltanschauungen wie Uniformitarianismus oder Katastrophentheorie bereiten ihren wissenschaftlichen Parteigängern sowohl Freude als auch Sorgen: Sie sind nützlich als Leitfaden für Überlegungen und Beobachtungen, als Leuchtfeuer im Urwald der komplizierten, bruchstückhaften historischen Belege der Natur; aber sie verbinden sich zwangsläufig auch mit der unvermeidlichen, allgegenwärtigen Gefahr einer falschen Sicherheit, die uns blind macht für widersprüchliche Phä nomene, selbst wenn diese sich direkt vor unseren Augen abspielen. Auf diesen entscheidenden Punkt wies Lyell in seinem charakteristischen, li terarischen Stil selbst hin. Im letzten Absatz seiner Erörterung der Säulen von Pozzuoli schreibt er – in diesem Fall zur Bekämpfung des Vorurteils, Landmassen müssten felsenfest gefügt sein, und Höhenveränderungen könne man nur dem Meer zuschreiben: Eine falsche, wohl bekannte Theorie macht uns unter Umständen blind für Tatsachen, die unseren Voreingenommenheiten zuwiderlaufen, oder sie verbirgt uns ihre wahre Bedeutung, wenn wir sie betrachten. Es ist an der Zeit, dass die Geologen zu einem gewissen Grade jene ersten, natürlichen Eindrücke überwinden, welche die Dichter früherer Zeiten veranlassten, den Fels zum Sinnbild der Festigkeit zu erklären – und das Meer zum Bild für die Unbeständigkeit. Wir wissen aber auch, dass keine gute Tat ohne Folgen bleibt und dass jedes schöne Prinzip sich gegen uns wenden und uns in den Allerwertes ten beißen kann. Lyell berief sich auf seinen Grundsatz über die Macht falscher Theorien, weil er deutlich machen wollte, dass die herkömmliche Vorliebe für die Katastrophentheorie fälschlich durch die unterschiedlich gute Erhaltung der fraglichen Belege in unseren unvollständigen geolo gischen Befunden genährt wurde. Georges Cuvier dagegen, Lyells französischer Kollege und führender Vertreter der Katastrophentheorie, der vielleicht als einziger Zeitgenosse in literarischen Fähigkeiten und Überzeugungskraft an Lyell heranreichte, hatte in einem entscheidenden Abschnitt der berühmtesten Verteidigungsschrift für Katastrophen in der Erdgeschichte – seinem 1812 erschienenen Discours préliminaire – den endgültigen Schlag ausgeteilt. In dieser Streitschrift geht Cuvier von demselben stichhaltigen Argument von der Fesselungswirkung gewöhnlicher Vorurteile aus, gelangt
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dann aber genau zu der umgekehrten Schlussfolgerung. Lyell hatte die Ansicht vertreten, wir würden durch die bevorzugte Erhaltung der Spu ren von Katastrophen in die Irre geführt. Cuvier meinte nun: ganz im Gegenteil, wir werden ebenso blind durch die Eintönigkeit unserer alltäglichen Erfahrungen. In den meisten Augenblicken, so Cuvier, gibt es an einem Ort weder Kriege noch Tote und erst recht keine globalen Katastrophen. Deshalb wissen wir diese potenziellen Kräfte als gestaltende Faktoren der Geschichte nicht ausreichend zu würdigen, obwohl weltweite Umwälzungen, die sich nur alle paar Millionen Jahre ereignen (und deshalb zu Lebzeiten eines Menschen kaum einmal zu beobachten sind), den weiteren Verlauf des Lebens auf der Erde durchaus beeinflussen können. Cuvier schreibt: Wenn der Reisende durch fruchtbare Ebenen geht und über ruhige Ge wässer fährt, die in ihrem Lauf von üppiger Vegetation gesäumt sind, und wenn das von vielen Menschen bewohnte Land mit blühenden Dörfern und reichen Städten voller stolzer Denkmäler ist, macht er sich niemals Sorgen um die Verheerungen der Kriege oder die Unter drückung durch mächtige Menschen. Deshalb ist er nicht versucht zu glauben, dass auch die Natur ihre inneren Kriege hat und dass die Oberfläche der Erdkugel durch aufeinander folgende Umwälzungen und vielfältige Katastrophen aufgewühlt wurde. Jetzt muss ich diese beiden großen Gladiatoren der Geologie, die beide mit den Waffen der gleichen, hervorragenden Überlegung kämpften, mit ihrem Streit um ihre Theorien über das Verhalten der Erde allein lassen. Ich kehre zu den Säulen von Pozzuoli zurück, ganz in die Nähe des dritt größten erhaltenen Amphitheaters der römischen Welt (in das wir die Krieger für das Schlussbild stellen könnten). Als ich 1999, im Jahr vor der Jahrtausendwende, dorthin kam, fiel mir an einem Ende des Komplexes von Pozzuoli ein kleines modernes Denkmal auf, eine abgebröckelte, un auffällige Marmorplatte, auf der Graffiti über eine Inschrift ohne Autorenangabe gesprüht waren. Dennoch schrieb ich den Text ab; er ist eine gute Zusammenfassung, weniger literarisch zwar als die kriegerischen Er güsse von Lyell und Cuvier, aber ebenso beredt in seiner Unterstützung ihres gemeinsamen Grundprinzips – ein guter Leitfaden für Wissen schaftler und für jeden, der die große Gabe einer unabhängigen mensch
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liehen Vernunft gegen die Vorurteile einsetzen will, die uns an die Säulen religiöser oder nationaler Sicherheiten fesseln, aber auch an die Berge der kulturellen Sturheit: Cio chepiu importa e che ipopolo, gli uomini tutti, perdano gli istinti e le abitudini pecorili ehe la millenaria schiavitu ha loro ispirato ed apprendano apensare ed agire liberamente. [Am wichtigsten ist, dass das Volk, dass alle Menschen die Instinkte und Gewohnheiten ihrer Herde verlieren, die Jahrtausende der Sklaverei ihnen eingepflanzt haben, und dass sie lernen, in Freiheit zu denken und zu handeln.]
8. Ein Langweiler namens Darwin 219
8. Ein Langweiler namens Darwin: die vielen Facetten eines Genies I. Die meisten jungen Männer seiner Zeit konnten nur davon träumen; Charles Darwin jedoch erlebte die dramatische Episode der Persönlichkeitsentwicklung, die wir heute als »Mündigwerden« bezeichnen, auf eine für sein Jahrhundert charakteristische Weise: durch eine fünfjährige Weltumrundung voller Abenteuer (und einer Menge Wissenschaft) auf der H.M.S. Beagle. Als er mit siebenundzwanzig wieder in England war, wurde Darwin ein sehr häuslicher Mensch: Er verließ sein Heimatland nie wieder und kam nicht einmal bis auf die andere Seite des Ärmelkanals. Dafür spielten sich in seinem späteren Leben zwei innere Dramen ab, die weit heftiger, folgenschwerer und (für jemanden, der über die Gleichsetzung von Säbelrasseln und Erregung hinaus ist) spannender waren als alles, was er als Globetrotter erlebt hatte: zuerst das intellektuelle Drama, sowohl die Tatsache als auch den Mechanismus der Evolution zu ent decken, und dann das emotionale Drama zu erkennen (und zu genießen), dass seine Theorie der natürlichen Selektion umwälzende Folgen haben musste, während er gleichzeitig merkte, welchen Schmerz diese Offenba rung sowohl seinen engsten Angehörigen als auch der ganzen Gesellschaft bereiten würde. Was konnte spannender sein als diese Geschichte, die 1837 in London ihren Anfang nahm. Ein paar Monate zuvor hatte die Beagle hier festgemacht, und Darwin wohnte jetzt in der Stadt, wo er die richtigen Kontakte geknüpft und an der Auswertung seiner Funde gearbeitet hatte. Er stellte fest, dass seine kleinen Vögel von den Galapagosinseln ausnahmslos Finken waren und nicht zu verschiedenen Gruppen gehörten, wie er anfangs geglaubt hatte. Mit diesem Ergebnis hatte er nicht gerechnet, und deshalb
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hatte er auch nicht schriftlich festgehalten, auf welchen Inseln er die Vögel im Einzelnen eingefangen hatte. (Die Theorie hat immer Einfluss darauf, wie wir die Fakten sammeln. Während der Reise war Darwin noch Kreationist, und deshalb kam er nicht auf die Idee, die Vögel könnten auf einen gemeinsamen Ursprung zurückgehen und sich dann an den ver schiedenen Orten auseinander entwickelt haben. Nach der kreationistischen Vorstellung sind alle biologischen Arten »für« die Galapagosinseln erschaffen worden, und deshalb ist es ohne Bedeutung, aufweicher davon man sie findet. Nach der evolutionstheoretischen Lesart dagegen ist die genaue örtliche Zuordnung gerade angesichts der engen Verwandtschaft zwischen den Vögeln äußerst wichtig.) Deshalb versuchte er, die Daten aus dem Gedächtnis zu rekonstruieren. Angesichts des späteren tiefen Zerwürfnisses wegen der Evolution war es eine Ironie des Schicksals, dass er gerade an den Beagle-Kapitän FitzRoy schrieb, um sich Vögel zu beschaffen, die sein ehemaliger Chef gesammelt hatte – der hatte sie nämlich genauer beschriftet! Am 14. März wies sein ornithologischer Berater John Gould (keine Verwandtschaft!) in einem Aufsatz für die Zoologische Gesellschaft nach, dass der Kleine Nandu, ein großer, flugunfähiger Vogel, den Darwin in Patagonien gefunden hatte, eine neue Spezies darstellt und nicht nur eine geografische Variante, wie Darwin geglaubt hatte. Gould taufte den Vogel auf den Namen Rhea darwinii und steigerte Darwins Interesse damit gewaltig. Janet Browne schreibt in ihrer ausgezeichneten Darwin-Bio grafie*: Dieser Augenblick in Darwins Leben verdient es mehr denn jeder andere, dass man ihn als Wendepunkt bezeichnet. Von den Ergebnissen dieser Woche war Darwin fasziniert. Warum sollten zwei sehr ähnliche Nandus sich darauf einigen, das Land unter sich aufzuteilen? Warum waren ganz ähnliche Inseln von unterschiedlichen Finken bewohnt? Auch die Galapagosechsen, so erfuhr er von Thomas Bell, verteilten sich in ganz ähnlicher Weise auf die Inseln, und auch die stämmig gebauten Schildkröten mit ihren individuell unterschiedlichen Panzern fielen ihm wieder ein. * Dieser Essay erschien ursprünglich als Rezension über Voyaging von Janet Browne im New York Review of Books.
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Jetzt stellte Darwin eine entscheidende Analogie her. (Wurde eine wirklich scharfsinnige Einsicht jemals durch reine Deduktion gewonnen und nicht durch Metapher oder Analogie?) Er erkannte, dass die verschiedenen Finken- und Nanduarten jeweils ein ganz bestimmtes Gebiet be wohnten, das den Revieren der anderen Arten benachbart war. Wenn Fin ken und Nandus sich geografisch verdrängten, müsste es dann nicht auch eine ununterbrochene zeitliche Aufeinanderfolge geben – müssten sie also nicht durch Evolution entstehen statt nacheinander erschaffen zu werden? Darwin hatte wichtige, ganz neuartige Fossilien großer Säugetiere gesammelt. Er war überzeugt – und sein fachkundiger Berater Richard Owen hatte es bestätigt –, dass die Fossilien eines Tieres, das Owen später als Macrauchenia bezeichnete, dem heutigen Guanako nahe stehen, einem südamerikanischen Säugetier, das eng mit dem Lama verwandt ist. Jetzt durchfuhr die Erkenntnis Darwin wie ein Blitz; er schrieb in sein privates Notizbuch: »Die gleiche Verwandtschaft wie der Gemeine Strauß [Nandu] und der Petisse [die neue Art Rhea darwinii] haben auch der aus gestorbene und der heutige Guanako; im ersten Fall Ort, im zweiten Zeit.« Darwin war während der Reise auf der Beagle noch nicht zum Evolu tionsanhänger geworden, aber er stand im Bann der Idee von einer all mählichen, einheitlichen Entwicklung der Erde, die man in der Regel mit seinem geistigen Vorbild in Verbindung bringt, dem Geologen Lyell (siehe das vorhergehende Kapitel). Darwin arbeitete in dieser Phase seiner Lauf bahn vorwiegend nicht als Biologe, sondern als Geologe. Durch seine Reise auf der Beagle inspiriert, schrieb er drei Bücher über geologische Themen – über Korallenriffe, Vulkaninseln und die Geologie Südamerikas –, aber kein einziges ausschließlich über Zoologie. Lyell, der über Darwins Gedanken und Errungenschaften bestens im Bilde war, jubelte zunächst über die Aussicht auf einen naturwissen schaftlich gebildeten Schüler. »Wie sehne ich mich nach Darwins Rückkehr!«, schrieb er an Adam Sedgwick, den alten Geologiedozenten des Weltreisenden in Cambridge. Darwin und Lyell wurden sehr schnell un zertrennlich – teilweise als Lehrer und Schüler, teilweise auch einfach als Freunde. Janet Browne schreibt über Lyell: Darwin bediente sich als erster Naturforscher höchst effizient seiner Principles: Er war Lyells erster und in vielerlei Hinsicht einziger vollkommen überzeugter Schüler. »Die Vorstellung, dass die Pampas sich
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mit einem Inch pro Jahrhundert heben, während die Westküste und die Anden viele Fuß emporsteigen, ist ein alter Traum von mir«, schrieb Lyell ihm im Oktober voller Begeisterung. »Was für ein Gebiet haben Sie da, über das Sie schreiben können! Wenn Sie zum Mittagessen nicht hier sein können, müssen Sie möglichst zur Abendgesell schaft kommen.« Mit anderen Worten: In den Wochen nach der Rückkehr der Beagle war Darwin auf dem Weg über eine doppelte Analogie zur Evolution gelangt: geografische und zeitliche Variation, geologischer und biologischer Gradualismus. Jetzt füllte er ein Notizbuch nach dem anderen mit einer Lawine von Folgerungen. Er nummerierte seine privaten Aufzeichnungen, beginnend mit A für eher tatsachenorientierte zoologische Themen; eine zweite Gruppe namens M und N dagegen war, wie er selbst es for mulierte, »voller Metaphysik über Moral und Spekulationen über die Aus prägung«. Auf einer Seite zeichnete er einen Stammbaum des Lebendigen, und dann, in einem Anfall von Vorsicht, schrieb er im Anklang an die Zeit auf der Beagle: »Der Himmel weiß, ob das alles mit der Natur übereinstimmt – Cuidado [aufgepasst].« Dass ich diese Geschichte so ausführlich erzähle, hat zwei Gründe: Einerseits ist sie von sich aus spannend, zum anderen möchte ich aber auch einen interessanten kleinen Aspekt darstellen, der den Historikern bisher entgangen ist, den professionelle Paläontologen aber kennen und schätzen lernen sollten – und insbesondere lege ich ihn den Anhängern des Mythos ans Herz, hinter jeder guten Theorie stünden ausschließlich Tat sachen: Darwin wählte im Augenblick seiner entscheidenden Erkenntnis – als er die Analogie zwischen Geografie, Zeit und Evolution herstellte – zur Verdeutlichung seines richtigen Prinzips ein völlig falsches Beispiel! Macrauchenia ist nämlich kein Vorfahre (und auch kein enger Verwand ter) der Guanakos, sondern er gehört zu einer einzigartigen, heute ausge storbenen Gruppe südamerikanischer Säugetiere, den Litopterna. Süd amerika war früher ganz und gar von Wasser umgeben – eine Art »Superaustralien«, dessen Tierwelt sogar noch reichhaltiger und bizarrer war als die in Australien. Erst vor wenigen Jahrmillionen stieg die Meerenge von Panama aus dem Meer und verband den Kontinent mit Nordamerika. Zuvor hatten sich mehrere Ordnungen großer Säugetiere entwickelt, die später ausstarben, unter ihnen die Litopterna, deren Ab
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Stammungslinien durch unabhängige Anpassung den Pferden und Kamelen anderer Kontinente immer ähnlicher wurden. Man muss nicht so ungeniert werden wie Charles’ Bruder Erasmus, der Die Entstehung der Arten für »das interessanteste Buch« hielt, das er jemals gelesen hatte, und der dann über eventuell abweichende Tatsachen schrieb: »Die a-priori-Überlegung erscheint mir so völlig überzeugend, dass ich das Gefühl habe, wenn Tatsachen nicht dazu passen, ist es Pech für die Tatsachen.« Aber tatsächlich lässt sich eine schöne (und einflussreiche) Theorie in den seltensten Fällen durch »eine schmutzige kleine Tatsache« (so die berühmte Formulierung von T. H. Huxley) zum Einsturz bringen – und großartige Ideen sollten in einer widerspenstigen Welt, in der angeb liche »Tatsachen« sich nur allzu oft als falsch erweisen, auch nicht auf diesem Weg zerstört werden. Fakten und Theorie wirken auf erstaunlich komplizierte Weise zusammen, und oftmals verstärken sie sich gegensei tig. Theorien, die nicht durch Tatsachen gestützt werden, sind meist hohl (und wenn sie sich prinzipiell nicht unterstützen lassen, für die Wissen schaft bedeutungslos), aber wenn wir keine Theorie zu überprüfen haben, wissen wir nicht einmal, wo wir suchen sollen. Oder, wie Darwin in mei nem Lieblingszitat schrieb: »Wie kann irgendjemand nicht begreifen, dass jede Beobachtung für oder gegen eine Ansicht sprechen muss, wenn sie überhaupt von Nutzen sein soll.« Bei allem historischen Interesse an dieser Geschichte und trotz der Ironie der Situation schmälern wir weder Dar wins Leistung noch die echte Durchschlagskraft seiner Evolutionstheorie, wenn wir feststellen, dass seine entscheidende Analogie in diesem Augen blick der Erkenntnis auf einem faktischen Fehler beruhte. Das Thema der Wechselbeziehungen zwischen Tatsachen und Theorie bringt uns zum faszinierenden Kern von Darwins Biografie. Er war ein unvergleichlicher Faktensammler – einerseits, weil er die richtige Theorie gefunden hatte und deshalb wusste, wo er suchen musste, zum anderen aber auch, weil er von einer besessenen Gründlichkeit war und weil er sowohl über persönliches Vermögen als auch über gute Beziehungen verfügte. Aber er entwickelte mit der Idee der natürlichen Selektion auch eines der folgenschwersten und umfassendsten theoretischen Gedankengebäude der abendländischen Geschichte, das mit Sicherheit wie kein anderes die traditionellen Vorstellungen vom Sinn des Lebens durcheinan der brachte. Wie konnte Darwin so viel erreichen? Eigentlich scheint er absolut nicht der richtige Kandidat dafür zu sein.
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II. Neben dem allgemeinen Nutzen, den Wohlstand und der Zugang zu einflussreichen Kreisen mit sich bringen, erfreute Darwin sich auch beson derer Vorteile, die ihn zur idealen Hebamme für die Evolutionstheorie machten. Sein Großvater Erasmus war ein berühmter Schriftsteller, Arzt und Freidenker gewesen. (Im ersten Satz seines Vorworts zu Mary Shelleys Frankenstein spielte P. B. Shelley zur Rechtfertigung von Dr. Frankensteins Experiment auf die von Erasmus Darwin erwähnte Möglich keit an, Materie durch Elektrizität zum Leben zu erwecken.) Erasmus starb, bevor Charles geboren wurde, aber der Enkel las eifrig die Schriften seines Großvaters und bewunderte sie sehr – und Erasmus war ein kompromissloser Anhänger der Evolution gewesen. Charles studierte Medizin in Edinburgh und kam dort in engen Kontakt mit seinem Leh rer Robert Grant, einem überzeugten Vertreter der Lamarck’schen Evolutionstheorie, der entzückt darüber war, Erasmus’ Enkel als Studenten zu haben. Insbesondere aber kam Darwin natürlich in den besonderen Genuss, dass er fünf Jahre an Bord der Beagle die Vielfalt der Natur stu dieren konnte. Dennoch war er 1836 bei seiner Rückkehr nach London immer noch ein Kreationist, bei dem sich allerdings die ersten Zweifel regten. Bei manchen Menschen zeigt sich die Begabung schon in jungen Jah ren – Mill lernte klassische Sprachen, fast bevor er gehen konnte, und Mozart schrieb im gleichen Alter schon Symphonien. Wenn solche Gestalten zu »Genies« werden, wundern wir uns nicht; im Gegenteil: Wir rechnen damit, es sei denn, Krankheit oder persönliche Eigenarten machen das angeborene Talent zunichte. Auf Grund der Beschreibungen über Darwins Jugend jedoch hätte man eigentlich nur ein achtbares, aber unauffälliges Leben vorausgesagt. In keinem Schriftstück weist auch nur das Geringste auf die üblichen Begleiterscheinungen einer hervorragen den Intelligenz hin. Seine auffälligsten, charakteristischen Merkmale sind Freundlichkeit und Schwäche. Janet Browne schreibt: »Er war so still, dass seine Angehörigen kaum etwas über seinen Charakter sagen konnten, außer dass sie sein ausgesprochen ruhiges Temperament mit einem zustimmenden Nicken bedachten. Darwins Schulkameraden erinnerten sich vor allem an seine Freundlichkeit: an die humorvolle Nachgiebigkeit
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eines in sich gekehrten Jungen, den es kaum zu kümmern schien, was im Leben geschieht... Manche konnten sich kaum an Darwin erinnern, als man sie am Ende seines Lebens nach Anekdoten fragte.« Allerdings entwickelte Darwin eine Leidenschaft für die Naturge schichte, die am auffälligsten in seiner Käfersammlung zutage trat – aber einem solchen Hobby widmen sich viele Kinder während eines kurzen Augenblicks in ihrem Leben, das schließlich in eine ganz andere Richtung führt. Auf Grund einer Insektensammlung aus der Kindheit hätte niemand die Entstehung der Arten prophezeien können. Ebenso unauffällig war Darwin auch als Student in allen Phasen seiner Ausbildung. Da ihm beim Anblick von Blut übel wurde, gab er das Medizinstudium in Edinburgh auf. Sein Vater war darüber so enttäuscht, dass er seinen Sohn ermahnte: »Du kümmerst dich um nichts außer Schießen, Hunde und Rattenfang. Du wirst zur Schande für dich selbst und deine ganze Familie.« Diese Episode erzählt Charles in seiner Autobiografie, die er im hohen Alter mit typisch viktorianischer Distanz und emotionaler Selbstbeschränkung schrieb: »Er wandte sich ganz zu Recht dagegen, dass ich zum eitlen Sportsmann wurde, was damals meine Bestimmung zu sein schien.« Also schickte Robert Waring Darwin seinen so wenig vielversprechenden Sohn nach Cambridge, wo er die übliche Laufbahn schlichter, spät geborener Söhne einschlagen und sich auf den Ruheposten eines Gemein degeistlichen vorbereiten konnte. Für die Religion zeigte Charles das gleiche Interesse wie bisher für alle anderen akademischen Fächer mit Ausnahme der Naturgeschichte – nämlich überhaupt keines. Aber in Er mangelung eines Besseren fügte er sich auf seine übliche freundliche, schwächliche Weise. Er bekam eine Note, die in viktorianischer Zeit dem »gerade noch ausreichend« entsprach, und verbrachte seine Zeit größtenteils mit seinen Kameraden aus der Oberschicht bei Spielen, Trinken und der Jagd. Noch während der gesamten Reise mit der Beagle hatte er vor, Geistlicher zu werden – allerdings bin ich ganz sicher, dass seine Gedan ken sich dabei ausschließlich um die Frage drehten, welche Möglichkeiten zu einer Liebhaberbeschäftigung mit Naturgeschichte ein solcher Beruf bot, und dass er sich weder für die Erlösung der Seelen noch auch nur für wöchentliche Predigten interessierte. Die Beagle wirkte sich in vielerlei Weise auf sein Innenleben aus, am meisten vielleicht auf Grund der schlichten Tatsache, dass fünf Jahre im
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Alter zwischen zwanzig und dreißig eine lange Zeit sind, die in der Regel den Übergang zur gereiften Persönlichkeit kennzeichnen. Robert Waring Darwin, den seine Wissenschaftlerkollegen auf die bemerkenswerten Sammlungen und Erkenntnisse seines Sohnes hingewiesen hatten, fügte sich schließlich in den unvermeidlichen Wechsel von der Religion zur Wissenschaft. Als die Beagle die Heimat anlief, schrieb Charles’ Schwester Susan: »Papa und wir alle denken oft darüber nach, was du nach einer Rückkehr tun willst, denn ich fürchte, es besteht nur eine geringe Hoff nung, dass du dich in die Kirche begibst – ich glaube, du musst Professor in Cambridge werden.« Dennoch bleibt das Rätsel. Warum gerade Darwin? Für dumm hielt ihn niemand, aber ebenso wenig bezeichnete ihn irgendjemand als hochintel ligent. Und niemand erkannte in ihm jene ursprüngliche emotionale Ent sprechung zur geistigen Größe, die wir heute als »Feuer im Bauch« bezeichnen. Thomas Carlyle, der ein gutes Urteilsvermögen besaß und die Brüder Charles und Erasmus gut kannte, hielt Erasmus für den weitaus Intelligenteren. Nach meiner Überzeugung muss jede Lösung für dieses entscheidende Rätsel in Darwins Biografie bei einer richtigen Deutung des Begriffs »Intelligenz« ansetzen – bei einer Interpretation, die Charles Spearmans alte Vorstellung von einem einzigen, quantitativen Maßstab (g oder »allgemeine Intelligenz« genannt) für die gesamte geistige Leistungsfähigkeit aufgibt (eine Vorstellung, die von Murray und Herrnstein in dem kürzlich erschienenen, betrügerisch plausiblen Buch Die Beil-Kurve wiederbelebt wurde und dort den entscheidenden Fehler darstellt – siehe die zweite Auflage meines Buches Der falsch vermessene Mensch). Stattdessen müs sen wir Intelligenz als eine recht umfangreiche Ausstattung mit größtenteils unabhängigen Eigenschaften definieren. Diese wichtigste Alternative zu g hat eine eigene lange, vielschichtige Geschichte, vom extremen Missbrauch durch die alten Phrenologen bis hin zu modernen, vertretbaren Versionen, die auf Louis L. Thurstone und J. P. Guilford zurückgehen und heute am besten in den Arbeiten von Howard Gardner repräsentiert sind. Ich weiß nicht, welchen g-Wert ein moderner Spearman-Jünger Dar win zugeschrieben hätte. Eines aber ist mir klar: Wir müssen uns an die Alternative einer unabhängigen Vielfalt halten, wenn wir Darwins Tri umph vor dem Hintergrund eines so wenig vielversprechenden Anfangs begreifen wollen (wenig vielversprechend in dem scheinbar hoffhungs
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losen Sinn, dass wenig Talent mit größtmöglichen Gelegenheiten gepaart war, und nicht als die nach Horatio Alger* eher überwindbare Kombina tion aus großer Begabung und schwierigen Lebensverhältnissen). Außerdem ergeben sich aus der Theorie der vielfachen Begabungen wichtige historische und philosophische Folgerungen, wenn man die Leistungen der Menschen verstehen will. Hätte Spearman Recht gehabt – könnte man Intelligenz also als eine einzige, angeborene und im Wesent lichen unveränderliche Größe deuten, die sich mit einer einzigen geraden Linie darstellen lässt –, dann könnten wir für die Leistungen der Menschheit ein vorhersagbares, im Wesentlichen biologisches Modell entwickeln, das seine Wurzeln vor allem in der Vererbung und seinen Nährboden in der Entwicklung der Nerven hat. Die Theorie der mehrfachen Begabun gen dagegen erfordert völlig andersartige biografische Analysen, die aus Einzelfallberichten ein Ganzes aufbauen. Wenn die Gesamtleistung eines Menschen aus einer raffinierten Kom bination unterschiedlicher Eigenschaften besteht, die jeweils auf wunder bar vielfältige Weise durch komplizierte äußere Umstände sowie durch das Wechselspiel von Psyche und Gesellschaft beeinflusst werden, kann man nicht einfach eine erbliche geistige Rangfolge aufstellen und daraus Voraussagen über bestimmte Leistungen ableiten. Hervorragende Leistungen ergeben sich dann vielmehr aus (1) einer glücklichen Kombination von Stärken in mehreren unabhängigen Eigenschaften, in Verbindung mit (2) einer ebenso glücklichen Kombination äußerer (persönlicher, familiärer, gesellschaftlicher und historischer) Umstände, und dieses einzigartige mentale Zusammentreffen führt dann (3) zu geistigen und per sönlichen Eigenschaften, welche die Beantwortung einer wichtigen Frage nach dem Aufbau der natürlichen Realität ermöglichen. Zu solchen Erklärungen gelangt man nur auf dem Weg über ausführliche Berichte. Abkürzungen gibt es nicht; die Antwort liegt in einer ganz bestimmten Ver kettung von Einzelheiten – und diese Einzelheiten muss man deskriptiv beleuchten und in Verbindung bringen. Früher glaubte ich, der letzte Abschnitt von Darwins Autobiografie (über die »geistigen Qualitäten«) sei kaum mehr als eine Lüge, die durch die übliche öffentliche Bescheidenheit in der viktorianischen Zeit erzwun* Der Schriftsteller Horatio Alger (1832-1899) beschrieb in über 100 Büchern die klassische amerikanische Legende des Aufstiegs vom Tellerwäscher zum Millionär (Anm.d. Übers.).
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gen wurde – Darwin konnte einfach nicht offen über seine Stärken spre chen. Die allerletzte Zeile kann man tatsächlich als ein ganz klein wenig unaufrichtig betrachten: »Bei so bescheidenen Fähigkeiten, wie ich sie besitze, ist es wahrhaft überraschend, dass ich die Überzeugungen von Män nern der Wissenschaft in einigen wichtigen Punkten in beträchtlichem Maße beeinflusst haben soll.« Als ich diesen Essay schrieb und dabei den genannten Abschnitt noch einmal las, kam mir eine andere Erkenntnis. Heute halte ich Darwins Einschätzung seiner Stärken und Schwächen für recht zutreffend, nur stellte er sie in einen falschen Zusammenhang, weil er selbst an eine ganz ähnliche Definition von Intelligenz glaubte wie Spearman. Er hatte sich die recht stereotype Vorstellung von höchster wissenschaftlicher Intelligenz zu Eigen gemacht (die sich im Wesentlichen auf mathematische Fähigkeiten und die Fähigkeit zu blitzschnellen Rückschlüssen stützte), und dann erkannte er, dass diese Gebiete nicht gerade seine Stärke waren. Er wusste, was er gut konnte, hielt diese Fähigkeiten aber in ihrer Bedeutung für zweitrangig. Hätte Darwin sich unter Intelligenz eine Fülle weitgehend unabhängiger Eigenschaften vorgestellt, und hätte er darüber hinaus erkannt, dass große Leistungen (wie bei der Evolution der Lebewesen) auch eine glückliche Verkettung unkontrollierbarer äußerer Umstände erfor dern, wäre er vielleicht von seinem eigenen Erfolg nicht so überrascht gewesen. Darwin leitet den letzten Abschnitt seiner Autobiografie mit tiefem Be dauern für seine negativen Eigenschaften ein: Ich verfüge nicht über die schnelle Auffassungsgabe oder Intelligenz, die an manchen klugen Männern wie beispielsweise Huxley so bemer kenswert ist... Meine Fähigkeit, einen langen, rein abstrakten Gedan kengang zu verfolgen, ist sehr begrenzt; deshalb hätte ich mit Metaphysik oder Mathematik niemals Erfolg haben können. Anschließend entschuldigt er sich fast für seine viel bescheideneren positiven Qualitäten: Einige meiner Kritiker haben gesagt: »Ach, er ist ein guter Beobachter, aber er kann nicht vernünftig nachdenken!« Ich glaube nicht, dass dies stimmen kann, denn die »Entstehung der Arten« ist von Anfang bis
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Ende ein langes Argument, und das hat nicht wenige kompetente Männer überzeugt. Ohne eine gewisse Fähigkeit zum Nachdenken hätte niemand es schreiben können. Ich glaube, ich bin der gewöhnlichen Sorte der Menschen darin überlegen, dass ich Dinge bemerke, die leicht der Aufmerksamkeit entgehen, und dass ich diese sorgfältig beobachte. Mein Fleiß beim Beobachten und Sammeln von Tatsachen war so groß, wie er größer fast nicht sein könnte. Noch wichtiger aber ist, dass meine Liebe zur Naturforschung stetig und innig war... Von frühester Jugend an hatte ich das stärkste Bestreben, alles zu verstehen oder zu erklären, was ich beobachtete ... Gemeinsam haben diese Ursachen mir die Geduld verliehen, eine Reihe von Jahren lang über jede unerklärte Frage nachzudenken oder zu grübeln. Zu Beginn des letzten Absatzes fasst er sehr schön das Argument zusammen, das auch ich hier vertrete: Großartige Leistungen entstehen dadurch, dass ganz unterschiedliche geistige Eigenschaften in einem günstigen gesellschaftlichen und historischen Augenblick eine einzigartige, synergistische Verbindung eingehen. Darwin macht sich diese Definition jedoch nicht zu Eigen und sieht deshalb in seiner eigenen Leistung – die er nicht leugnet, war er doch zumindest in seinem Inneren kein bescheidener Mann – so etwas wie ein Rätsel: Deshalb wurde mein Erfolg als Mann der Wissenschaft, was dies auch bedeuten mag und soweit ich es beurteilen kann, durch komplizierte, vielfältige geistige Qualitäten und Zustände bestimmt. Als Janet Browne ihr Buch schrieb, hatte sie nicht ausdrücklich eine sol che Theorie für Intelligenz und Leistungen im Sinn, aber ihre DarwinBiografle erklärt diese Leistungen besser als alle früheren Werke, weil sie die dazu notwendige, umfassende Beschreibung für zweierlei liefert: für die verschiedenen geistigen Qualitäten (mehrfachen Intelligenzen), die Darwin zu seiner Arbeit motivierten und die Triebkraft seiner Schlussfolgerungen bildeten, und für die Verbindung zahlreicher äußerer Faktoren, die seinem Triumph die Nahrung boten. Darwins mehrfache Intelligenzen: Die Menschen der viktorianischen Zeit waren die größten Verschleierer der Neuzeit, und sie verbargen nicht nur ihre sexuellen Gewohnheiten. Sie versteckten vielmehr ganz allge
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mein die meisten Ausdrucksformen beliebiger Leidenschaften. Da Lei denschaft die gemeinsame Grundlage für Darwins vielfältige Stärken gewesen sein dürfte, und da er so sorgfältig eine äußere Fassade der lei denschaftslosen Freundlichkeit aufbaute, kann man die Quelle seiner geistigen Größe leicht übersehen. Aber in der reinen mengenmäßigen Dichte von Brownes Dokumentation tritt sie schließlich hervor. Zunächst einmal wird Darwins gewaltige Energie deutlich – ob offen und körperlich während seiner aktiven Jugend auf der Beagle, oder geistig im höheren Alter, als er meist kränklich war. (Manche Menschen leben anscheinend auf einer höheren Intensitätsebene, und auf sie müssen die meisten von uns ähnlich wirken wie die träge Welt der Faultiere auf uns – siehe Kapitel 4 über Buffon.) Bei Darwin übersieht man dieses Phänomen leicht, weil er als Erwachsener ein so ruhiges Leben führte und über so lange Zeit hinweg durch Krankheit entkräftet war. Aber ich spreche hier natürlich von einem inneren Antrieb. Unser Geist ist meist leer oder un produktiv (das heißt mit so viel Joyce’schem Durcheinander angefüllt, dass wir kein nützliches Thema herausnltern können). Darwin dachte anscheinend immer, selbst auf dem Krankenbett, auf eine nützlich-konzen trierte Weise. Ich begreife nicht ganz, wie diese ungeheure Energie zu sei nem ruhigen Temperament passt (das sich schon in frühester Jugend so stark ausdrückte), zu der Freundlichkeit, die ihn unter allen Genies der Geschichte so besonders liebenswert macht – sind diese doch sonst meist sehr viel launischer. Vielleicht hielt er die launischen Teile einfach unter Verschluss, weil er so stark viktorianisch geprägt war. Vielleicht (nach meiner Überzeugung die wahrscheinlichere Alternative) stellen aber ein ruhiges Wesen und das Niveau der inneren Energie einfach ganz unterschiedliche, trennbare Aspekte des menschlichen Charakters dar. Jedenfalls war diese »Energie« – die sich als Leidenschaft, Vielseitigkeit, Gründlichkeit, Eifer und manchmal sogar Rücksichtslosigkeit bemerkbar machte – die Triebkraft für Darwins Leistungen. Am augenfälligsten drückte er sie aus, als er durch Südamerika streifte – wo er wochenlang durch Gebirge und Wüsten wanderte, weil er ein Gerücht über fossile Knochen auf der anderen Seite gehört hatte –, und als er dann ebenso ruhelos immer und immer wieder über seine Ergebnisse nachdachte, bis er sie in eine weit gefasste theoretische Konzeption einfügen konnte. (So entwickelte Darwin beispielsweise seine zutreffende Theorie für die Ent stehung der Korallenriffe, indem er las und grübelte, bevor er überhaupt
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auf den Atollen im Pazifik eintraf und sie mit eigenen Augen beobachten konnte.) Wieder in London, zog Darwin tagsüber praktisch völlig in den Athe neum Club um. Die dortige, ausgezeichnete Bibliothek war für ihn eine Art privates Refugium, wo er die besten Bücher über alle möglichen The men von vorn bis hinten durchlas. Janet Browne schreibt: Ein wenig von Darwins Feuer wird auch daran deutlich, wie er sich ein lebenslanges Programm der Lektüre in Gebieten vornahm, die zuvor nur eine geringe Anziehungskraft besessen hatten. Nacheinander nahm er sich David Hume, Adam Smith und John Locke vor; zwischen Gib bon und Walter Scott kamen Herbert Mayos Philosophy of Living (1837), Sir Thomas Brownes Religio Mediä und die Inquiries Concerning the Intellectual Powers and the Investigation of Truth von John Aber crombie (1838). Während Darwin sich durch Lesen auf allen Gebieten von Theorie und Philosophie weiterbildete, begann er fast wie besessen die unterschiedlichsten Personen über naturgeschichtliche Themen zu befragen und die Antworten aufzuzeichnen: Er fragte Mark, Dr. Darwins [seines Vaters] Kutscher, nach seiner Mei nung über Hunde, und Thomas Eyton nach seinen Ansichten über Eulen und Schweine. Er sorgte dafür, dass Fox [sein Vetter] sich mit einer Flut von allen möglichen Fragen über Bauernhöfe herumschlagen musste. Mit seinem Onkel Jos trat er in einen Briefwechsel über die Würmer von Staffordshire ... Darwin verfeinerte seine Methode, sich in einem der charakteristischsten Aspekte seines Lebenswerkes voran zuarbeiten. Wenn er Informationen über ein neues Thema gewinnen wollte, ging er jetzt geradewegs zu Züchtern und Gärtnern, zu Zoowärtern, schottischen Schäfern und den Taubenfreunden des viktorianischen Großbritannien. Sie alle verfügten über große praktische Er fahrungen und hatten, wie Darwin sich nur allzu gern vorstellte, kein Interesse an langwierigen theoretischen Erklärungen ... Wichtig war, dass er sich wie ein Gentleman benahm – dass er seine gesellschaftliche Stellung nutzte, um sich Material von Menschen zu beschaffen, die selbst nur in den seltensten Fällen als wissenschaftliche Autoritäten gel
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ten konnten. Seine Notizbücher quollen über von Einzelheiten, die er systematisch aus einer Welt der praktischen Erfahrungen zusammen getragen hatte – einer Welt, die normalerweise von der erhabenen Wis senschaft getrennt war. Immer und immer wieder kämpfte sich Darwin während seiner beruflichen Laufbahn durch diesen Kreislauf aus Lesen, Nachdenken, Notizenmachen, Fragen, Korrespondieren und Experimentieren. So ging er vor, als er Ende der vierziger und Mitte der fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts vier Bände über die Taxonomie der Rankenfußkrebse schrieb, als er in den fünfziger Jahren Experimente zur Biogeografie schwimmender Samen machte, als er nach 1860 die Befruchtung der Orchideen durch Insekten untersuchte, und als er Tauben züchtete, Insekten fressende und kletternde Pflanzen erforschte, oder die Geschwindigkeit der Bodenbildung durch Würmer maß. Zur Koordination der vielen Intelligenzen, die Informationen suchen, beschaffen und ordnen konnten, diente ihm seine große Waffe, die bis zur Veröffentlichung der Entstehung der Arten im Jahr 1859 für alle mit Ausnahme eines kleinen Kreises von Vertrauten ein Geheimnis blieb: das Wis sen über den wahren Ablauf der Evolution, den er mit dem Mechanismus der natürlichen Selektion erklärte. Ohne einen solchen Generalschlüssel hätte er nach meiner Überzeugung nicht in so vielem einen Sinn sehen und mit derartiger Konzentration und Intensität ans Werk gehen können. Eine weitere außergewöhnliche Intelligenz muss ihm dazu gedient haben, der Natur diese große Wahrheit abzuringen. Aber dabei konnte er dann in einer Frage, die in Umfang und Auswirkungen nicht ihresgleichen hatte, seine anderen geistigen Qualitäten entfalten und alle Kenntnisse über die Natur, von der Physiologie der Bakterien bis zur Psychologie der Menschen, neu formulieren: als historische Folge der physischen Kontinuität, als »Abstammung mit Abwandlung«, wie er es formulierte. Hatte er nicht mit gerechtfertigter jugendlicher Anmaßung in einem seiner ersten Notizbücher vermerkt: »Wer den Pavian versteht, tut mehr für die Metaphy sik als Locke«? Darwins glückliche Umstände. Alle Intelligenz der Welt und alle innere Energie können keine Wirkungen von historischem Ausmaß erzielen, wenn es nicht auch zu einem glücklichen Zusammentreffen äußerer Faktoren kommt, die sich nicht vollständig steuern lassen: Gesundheit und
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Frieden, sodass man bis ins Erwachsenenalter am Leben bleibt, gesellschaftliche Anerkennung, damit man sich Gehör verschaffen kann, und ein Leben in einem Jahrhundert, in dem man verstanden wird (auch wenn die Umwelt es zumindest am Anfang vielleicht nicht glaubt). George Eliot schreibt im Vorwort zu Middlemarch über die Qualen begabter Frauen, denen die Möglichkeiten fehlen: Da und dort wächst auf braunem Teich inmitten der Entengeschwister unruhig eine Jungschwänin heran, die nie dazu kommt, sich mit den eigenen Artgenossinnen im lebendigen Strom zu tummeln. Da und dort wird eine heilige Therese – Begründerin von gar nichts – geboren, deren mitfühlende Herzschläge verklingen und deren Seufzer nach einem unerreichbaren Guten von der Wand der Hemmnisse zurück prallen, statt in eine Tat einzugehen, die noch lange aus den Zeiten herüberleuchtet. Darwin hatte das Glück, dass er zu einer heute politisch nicht korrekten, aber stets begünstigten Gruppe gehörte: zu den männlichen Weißen aus der Oberschicht, die über beträchtlichen Wohlstand und größtmögliche Gelegenheiten verfügten. Dieses Standardthema neuerer Darwin-Biogra fien wurde besonders gut von Adrian Desmond und James Moore in der Biografie Darwin (List Verlag, 1992) beleuchtet. Obwohl mir das Thema mittlerweile vertraut ist, staune ich immer wieder darüber, wie umfassend, lautlos und scheinbar reibungslos (womit ich nicht das Fehlen von Gefühlen, sondern die ungestörte Tätigkeit meine) die Welt eines viktorianischen Gentleman funktionierte – mit Clubs, Bekanntenkreisen, gegenseitigen Gefälligkeiten, dem Ausschluss bestimmter Personen, ohne dass jemals ein Wort darüber verloren wird. Darwin geriet einfach in diese Welt hinein und blieb dort hängen. Er nutzte seinen Reichtum, seine Krankheiten, seinen Wohnort auf dem Land und seine beschützende Frau für einen übergeordneten Zweck: um sich selbst gegen die üblichen Auf gaben abzuschirmen und sich kostbare Zeit für geistige Arbeit zu ver schaffen. Er wusste genau, was er tat, und schrieb in seiner Autobiografie: »Ich hatte viel Freizeit, weil ich nicht selbst mein Brot verdienen musste. Selbst die schlechte Gesundheit, die allerdings mehrere Jahre meines Lebens vernichtet hat, schützte mich vor den Ablenkungen durch Gesell schaft und Vergnügen.«
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Janet Browne – und das ist ihr größtes Verdienst – legt besonderes Gewicht auf ein Thema, das immer bekannt war, seltsamerweise aber nie zum wichtigen Brennpunkt einer Darwin-Biografie wurde: auf die Dyna mik des engsten Familienkreises. Mir war beispielsweise nie klar, wie wohlhabend und einflussreich Darwins Vater war. Ich wusste zwar, dass er ein berühmter Arzt war, aber seine Rolle als bekanntester Geldverleiher der ganzen Grafschaft hatte ich nie richtig gewürdigt. Er war ein gerechter, geduldiger Mann, aber fast jeder, der etwas auf sich hielt, schuldete ihm etwas. Noch stärker fühle ich mich aufgeklärt über die warmherzige und Kraft spendende Beziehung zwischen Charles und seiner bemer kenswerten Frau Emma, deren ungeschriebene Biografie nach meiner Überzeugung eine der merkwürdigsten Lücken in unserem Wissen über das Leben des 19. Jahrhunderts darstellt. (Es gibt über sie so viele Quellen, dass sie für mehr als nur ein paar Doktorarbeiten reichen. Wir kennen sogar die gesamten Ergebnisse der in dreißig Jahren gespielten nächtlichen Backgammonpartien zwischen Charles und Emma; wie ich bereits er wähnt habe, war Charles stets eifrig um das Aufzeichnen von Einzelheiten bemüht!) Mehr wurde über Emma und andere Angehörige als Ursache für Charles’ zögerliches, vorsichtiges Verhalten geschrieben (und ich halte auch im Wesentlichen das alte Klischee für wahr, wonach Charles die Ver öffentlichung hinauszögerte, weil er die Auswirkungen seiner freimütigen Gedanken auf die Seele seiner frommen Frau fürchtete). Aber wir müssen Darwins Angehörigen als Förderer seiner erstaunlichen Errungenschaft mehr Aufmerksamkeit und Forschungsanstrengungen widmen. Sollte ich die Widersprüche in Darwins vielschichtigem Charakter mit einem einzigen Satz zusammenfassen, so würde ich sagen: Er war philo sophisch und wissenschaftlich ein Radikaler, politisch ein Liberaler und gesellschaftlich ein Konservativer (nicht was seine Überzeugungen, aber was seine Lebensweise betraf) – und in allen drei widersprüchlichen Nei gungen war er gleichermaßen leidenschaftlich. Viele Biographen haben die Ansicht vertreten, man müsse den intellektuellen Radikalen als den »eigentlichen« Darwin betrachten, und der gesellschaftlich Konservative sei ein oberflächlicher Charakterzug, der ihm dazu diente, sein Innenleben und seine Absichten zu verbergen. Eine solche heldenhaft-platonische Sichtweise kann ich nur als Unsinn bezeichnen. Wenn ein Serienmörder die Liebe im Herzen trägt, ist er dann nicht dennoch ein Mörder? Und wenn ein Mensch mit bösen Gedanken stets zum Wohl seiner Mit
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menschen arbeitet, ehren wir dann nicht zu Recht seine offenkundigen Handlungen? Alle Darwins sind Teile eines vielschichtigen Ganzen; alle sind gleichermaßen er. Wenn wir einen Menschen verstehen wollen, müssen wir alle Facetten zur Kenntnis nehmen, und wir dürfen nicht versuchen, Schichten zu entfernen, um zu einem angeblich vorhandenen archetypischen Kern vorzudringen. Darwin verbarg viele seiner Ichs mit höchster Geschicklichkeit, und wir müssen sie ausgraben, wenn wir begreifen wollen. Ich für mein Teil bin darüber nicht beunruhigt. Paläontologen kennen sich mit dem Graben aus.
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Dinosaurier-Ironie
Starke, erhabene Worte verlieren häufig ihre prägnante Bedeutung, weil sie in die umgangssprachliche Niedlichkeit oder Geschmacklosigkeit abgleiten. Julia Ward Howe wird Historiker vielleicht nicht zu Lobeshymnen hinreißen, aber die aufrührenden ersten Zeilen ihrer »Battle Hymn« wer den immer Schmerz und Größe der entscheidenden Stunde Amerikas symbolisieren: Mine eyes have seen the glory of the Coming of the Lord; He is trampling out the vintage where the grapes of wrath are stored; He hath loosed the fateful lightning of his terrible, swift sword; His truth is marching on. Die zweite Zeile, eine Anspielung auf Jesaja 63,3, lieferte John Steinbeck den Titel für die literarische Verarbeitung einer anderen sorgenreichen Phase der amerikanischen Geschichte. Aber die dritte hat heute keine Durchschlagskraft mehr, denn terrible [schrecklich] bedeutet heute so etwas wie »blöd gelaufen« oder »bisschen traurig« – zum Beispiel wenn man sagt: »Schrecklich, deine Mannschaft hat ja heute verloren.« Für Ms. Howe und ihr ernsthafteres Zeitalter verkörperte sich in terrible genau das Gegenteil von schwächlichem Jammer. Terrible – eines der schroffsten Worte, die einem Autor in viktorianischer Zeit zu Gebote standen – beschwor die schlimmste Form der Angst herauf, den Schrecken oder »Terror«, und noch heute nennt Webster’s Dictionary als erste Definition »äußerste Un ruhe erregend« oder »von überwältigender Tragik«. Rudyard Kipling war vermutlich ein großer Dichter, aber seine Ballade »Recessional« dürfte wegen der in ihr unterstellten britischen Überlegen heit aus dem Bildungskanon verschwinden:
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God of our fathers, known of old, Lord of our far-flung battle line, Beneath whose awful Hand we hold Dominion over palm and pine. [Gott unsrer Väter, altbekannt, Herr unsrer überdehnten Schlachtreihen, unter dessen furchtbarer Hand wir ausüben Herrschaft über Palme und Kiefer –] Die »awful Hand« lässt für Kipling ein kraftvolles Bild von Furcht erregender Größe entstehen, eine Erhabenheit, die nur Ehrfurcht oder ver wundertes Staunen wecken kann. Heute ist eine »awful hand« einfach nur unangenehm, zum Beispiel wenn man sagt: »Keep your awful hand off me« [lass deine dreckigen Finger von mir] – oder sie macht arm, wenn man nur zwei Asse hat, und der andere hat drei Damen.* Leider machen auch die berühmtesten aller Fossilien eine solche Her abstufung der Bedeutung durch. Eigentlich weiß jeder Eingeweihte, dass Dinosaurier »schreckliche Echse« bedeutet – den Namen wandte der große britische Anatom Richard Owen 1842 zum ersten Mal auf diese Musterbilder prähistorischer Machtentfaltung an. In unserer Kultur dienen Reptilien als Symbol für das Schleimig-Böse, für das Schuppige, Doppelzüngige, Glupschäugig-Eklige – von der Schlange, die Eva im Garten Eden verführte, bis zu den Drachen, die vom heiligen Georg oder Siegfried getötet wurden. Deshalb unterstellen wir, dass Owen mit der Kombination aus dem griechischen deinos (schrecklich) und sauros (Echse) die angebliche Ekligkeit und Hässlichkeit einer abstoßenden, zu gewaltigen Di mensionen angewachsenen Lebensform kennzeichnen wollte. Die heutige Degradierung des Wortes »schrecklich« von »wahrhaft Furcht erregend« zu »bisschen blöd« verstärkt nur das negative Image, das schon in Owens ursprünglicher Namenswahl zum Ausdruck kommt. In Wirklichkeit prägte Owen die berühmte Bezeichnung genau aus dem umgekehrten Grund. Er wollte auf die Ehrfurcht gebietende, Furcht ein flößende Erhabenheit dieser erstaunlich großen und doch so raffiniert ge* »hand« ist im Englischen auch das Blatt, das man beim Kartenspiel in der Hand hat (Anm. d. Übers.).
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bauten, gut angepassten Lebewesen hinweisen, die vor so langer Zeit existierten. Deshalb entschied er sich für ein Wort, das größtmögliche Ehr furcht und Respekt weckte – schrecklich gebraucht in genau der gleichen Bedeutung wie in Julia Ward Howes »terrible swift sword«, der kriegerischen Pracht des Herrn. (Übrigens stelle ich mit dieser ungewöhnlichen Behauptung keine wilden Vermutungen auf; ich berichte nur, was Owen selbst in seiner etymologischen Erklärung zu den Dinosauriern sagte. )* Owen (1804-1892), damals Professor am Royal College of Surgeons und später Gründungsdirektor der neuen, unabhängigen naturgeschicht lichen Abteilung des Britischen Museums, stand bereits als bester verglei chender Anatom Englands in hohem Ansehen. (Unter anderem hatte er die fossilen Säugetiere benannt und beschrieben, die Darwin auf der Reise mit der Beagle gesammelt hatte.) Owen war ein vielschichtiger, launischer Charakter – die Mächtigen mochten ihn wegen seiner Klugheit und Lie benswürdigkeit, aber wegen seiner angeblichen Heuchelei und einer unbegrenzten Fähigkeit zur Scheinheiligkeit verachtete ihn eine aufstre bende Generation junger Naturforscher, die sich hinter Darwin stellten und Owen praktisch aus der Geschichte tilgten, als sie selbst an der Macht waren. In jüngerer Zeit stellte eine Biografie von Nicolaas A. Rupke (Rich ard Owen: Victorian Naturalist, Yale University Press, 1994) das Gleichgewicht wieder her und verschaffte Owen seinen gerechten historischen Platz als Mann von hervorragenden Fähigkeiten (sowohl in Anatomie als auch in Diplomatie), der allerdings nicht immer an der vordersten Front geistiger Neuerungen stand. Owen hatte von der British Association for the Advancement of Science den recht gut bezahlten Auftrag erhalten, einen Bericht über fossile Rep tilien aus Großbritannien zu verfassen und zu veröffentlichen. (Die Gesellschaft hatte zuvor bereits den Schweizer Wissenschaftler Louis Agassiz mit einem Bericht über fossile Fische beauftragt und war über das Ergeb nis sehr erfreut. Und besondere Genugtuung empfand man offenbar, weil * Ein langjähriger Expertenstreit um das Wo und Warum von Owens Namenswahl wurde kürzlich von meinem Kollegen Hugh Torrens beigelegt; der Geologe und Wis senschaftshistoriker der Universität Keele in England schrieb dazu zwei Artikel: »Where did the dinosaur get its name?«, New Scientist, Band 134, 4. April 1992, Seite 40-44; und »Politics and Paleontology: Richard Owen and the invention of dinosaurs«, in: J. O. Farlow und M. K. Brett-Surman (Hrsg.), The Complete Dinosaur, Indiana University Press, 1997, Seite 175-190.
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man für die Bearbeitung dieser »höheren« Lebewesen ein ausreichend qualifiziertes Landeskind gefunden hatte.) Owen brachte 1839 den ersten Band seines Werkes über die Reptilien heraus. Im Sommer 1841 gab er dann bei der Jahrestagung der Gesellschaft in Plymouth eine mündliche Zusammenfassung des zweiten Bandes. Dieser erschien dann im April 1842; auf Seite 103 prägt Owen offiziell den Begriff Dinosaurier: Die Kombination solcher Eigenschaften... die alle bei Lebewesen in Er scheinung treten, welche die größten lebenden Reptilien in ihren Aus maßen bei weitem übertreffen, dürfte, so wird unterstellt, Grund genug sein, einen eigenen Tribus oder eine Unterordnung der Saurierreptilien zu begründen, für die ich den Namen Dinosauria vorschlage. (Aus: Richard Owen, Report on British Fossil Reptiles, Part II, London, Richard and John Taylor, erschienen als Report of the British Association for the Advancement of Science for 1841, Seite 60-204.) Viele Historiker gingen davon aus, Owen habe den Namen 1841 in seinem mündlichen Vortrag geprägt, und nannten entsprechend dieses Da tum für seine Entstehung. Wie Torrens jedoch anhand der umfangreichen Presseberichte über Owens Vortrag nachweisen konnte, handelte er damals alle Dinosauriergattungen im Zusammenhang mit den übrigen Echsen ab; er hatte sich also noch nicht entschlossen, sie als eigene Gruppe abzutrennen oder ihnen einen besonderen Namen zu geben. (Mythen über ein »goldenes Zeitalter« stimmen in der Regel nicht, aber ich sehne mich wirklich nach einer Zeit, als Lofca/zeitungen – und Torrens bezog seine Belege nicht aus den großen Londoner Blättern, sondern aus Ent sprechungen zur Plymouth Gazette oder dem Penzance Peeper – so aus führlich über wissenschaftliche Vorträge berichteten, dass man mit ihrer Hilfe historische Fragen wie diese beantworten kann!) Owen muss den berühmten Namen also erfunden haben, als er den Vortrag zum Druck aufbereitete – und mit der dann folgenden Veröffentlichung im Jahr 1842 erschien der Name Dinosaurier zum ersten Mal auf der Bildfläche. Ein zusätzliches Problem ist die Tatsache, dass eine kleine Teilauflage der Veröffentlichung, die für Owens persönlichen Gebrauch bestimmt war und von ihm verteilt wurde, die falsche Jahreszahl 1841 trägt (vielleicht eine Ver wechslung mit dem Jahr der Tagung selbst, vielleicht auch als »Rückda tierung«, weil der Name bei eventuellen späteren Prioritätsdiskussionen
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William Bucklands persön liches Exemplar des Berichtes über die Dinosaurier von Richard Owen. Auffällig sind Bucklands Unterschrift auf der Titelseite (links) und eine Bemerkung (rechts), die auf seine Beschäftigung mit der Evolution (»Transmutation«) schließen lässt.
geschützt werden sollte, vielleicht als einfacher Irrtum ohne listige Hintergedanken), was noch mehr zur Verwirrung beiträgt. Jedenfalls fügte Owen der gerade zitierten Definition eine etymologische Fußnote an – und die beweist, dass er das Dino als Zeichen von Ehrfurcht und Respekt verstanden wissen wollte, nicht aber als etwas Lächerliches, Angst Einflößendes oder Negatives. Owen schrieb: »Gr. [griechisch] deinos [er selbst verwendet hier griechische Buchstaben], Furcht erregend, großartig; sauros, Echse.« Mit anderen Worten: Die Di nosaurier sind Ehrfurcht gebietend groß (»Angst einflößend großartig«) und erregen deshalb Bewunderung und Respekt, aber sie sind nicht schrecklich im Sinne von Ekel oder Ablehnung. Ich habe eine Schwäche für historische Details, aber ich bin nicht so selbstverliebt, dass ich meinen Lesern einen ganzen Essay aufzwingen würde, nur um eine kleine historisch-etymologische Frage aufzuklären –
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selbst wenn es dabei um die berühmtesten Wesen aus der Vorzeit geht. Im Gegenteil: Hinter Owens bewusster, ausdrücklicher Entscheidung, die neue Gruppe mit einem höchst positiven Namen zu versehen, der ihre Pracht und Majestät deutlich macht, steckt eine tief greifende, wichtige Geschichte – und diese Geschichte kann man nicht mit der herkömm lichen Sichtweise begreifen, wonach die Dinosaurier ihren Namen angeblich negativen Eigenschaften verdanken. Owen wählte seine sehr positive Kennzeichnung aus einem stichhaltigen Grund, der heute als höchste Ironie gelten muss, wo wir die Dinosaurier als wichtigstes Beispiel für den erstaunlichen Wandel und die Vielfalt anführen, die sich in der Lebenswelt unseres Planeten durch die Evolution abgespielt haben. Kurz gesagt, wollte Owen mit seiner Namensgebung dafür sorgen, dass er die Dinosaurier als entscheidendes Argument gegen die in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts beliebteste Version der Evolutionstheorie verwenden konnte. Seine Ablehnung des Evolutionsge dankens – für die er die neu getauften Dinosaurier als Paradebeispiel benutzte – bildet den Dreh- und Angelpunkt im letzten Abschnitt seines zweibändigen Werkes über die fossilen Reptilien Großbritanniens (der den Titel »Summary« – Zusammenfassung – trägt und in der Ausgabe von 1842 die Seiten 191 bis 204 einnimmt). Diese paradoxe Geschichte – der Begriff »Dinosaurier« entstand als Waffe gegen den Evolutionsgedanken – ist schon wegen der darin auftre tenden Gestalten (zu denen gleichermaßen die wichtigsten Wissenschaft ler jener Zeit als auch die in den Augen der Nachwelt faszinierendsten Fossilien gehörten) von hinreichendem Interesse; noch bedeutsamer aber wird sie, weil sie ganz allgemein ein Grundprinzip der Wissenschaftsge schichte deutlich macht. Alle wichtigen Entdeckungen leiden unter über mäßig vereinfachten »Schöpfungsmythen« oder »Heureka-Geschichten« – das heißt unter dem Märchen vom plötzlichen, leuchtenden Geistesblitz eines großen Denkers. Solche Geschichten bilden die Triebkraft für eine der ältesten Legenden unserer Kultur – die vom einsamen, verfolgten Hel den, der mit dem Schwert der Wahrheit ausgerüstet ist und am Ende trotz scheinbar unüberwindlicher Schwierigkeiten die Oberhand behält. Sol che Legenden entstehen wahrscheinlich deshalb (und bleiben trotz ge genteiliger Beweise hartnäckig bestehen), weil wir uns so sehnlich wünschen, dass sie stimmen mögen. Plötzliche Bekehrung und Schuppen, die von den Augen fallen – das
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mag bei religiösen Offenbarungserlebnissen funktionieren wie in der sprichwörtlichen Geschichte des Saulus von Tarsus, der auf der Straße nach Damaskus zum Apostel Paulus wurde: »Unterwegs aber, als er sich bereits Damaskus näherte, geschah es, dass ihn plötzlich ein Licht vom Himmel umstrahlte. Er stürzte zu Boden und hörte, wie eine Stimme zu ihm sagte: Saul, Saul, warum verfolgst du mich? ... Sofort fiel es wie Schuppen von seinen Augen und er sah wieder; er stand auf und ließ sich taufen.« (Apostelgeschichte 9, 3-4, 18). Wissenschaftliche Entdeckungen dagegen sind tief greifend, schwierig und vielschichtig. Sie setzen voraus, dass man eine Sichtweise für die Realität ablegt (was weder begrifflich noch psychologisch eine einfache Aufgabe ist) und sich dann eine radikal neue Ordnung zu Eigen macht, aus der sich eine Fülle von Folgerungen für alles ergibt, was man lieb gewonnen hat. Das lieb gewordene Fundament einer ganzen Lebensgeschichte gibt man nicht leicht oder plötzlich auf. Und selbst wenn ein Denker ein gefühlsmäßig umwälzendes AhaErlebnis hat, muss er die zugehörige, verwickelte Argumentation ausar beiten und umfangreiche empirische Daten sammeln, um eine Gemeinde von Kollegen zu überzeugen, die oftmals starrsinnig an der entgegengesetzten Ansicht festhalten. Letztlich ist Wissenschaft nicht nur ein intel lektuelles Abenteuer, sondern auch ein gesellschaftliches Phänomen. Einem bekannten Heureka-Mythos dieses Typs zufolge erfand Charles Darwin die Evolutionstheorie in der Einsamkeit seines genialen Geistes und begünstigt durch seine eigenen Beobachtungen, die er auf der Weltreise mit einem winzigen Schiff anstellte. Dann, so die Legende weiter, ließ er 1859 seine Theorie vor einer verblüfften, schockierten Welt wie eine Bombe platzen. Darwin ist bis heute mein großes Vorbild, und Die Ent stehung der Arten wird immer mein Lieblingsbuch sein – aber Darwin er fand die Evolutionstheorie nicht und hätte niemals eine ganze Intellektu ellengemeinde überzeugen können, wenn nicht Generationen früherer Evolutionsforscher (unter ihnen sein eigener Großvater) beträchtliche Vorarbeit geleistet hätten. Diese Vorläufer bereiteten den Boden, konnten aber nie einen plausiblen Mechanismus benennen (was Darwin mit dem Prinzip der natürlichen Selektion gelang), und sie zeichneten auch nie ausreichende Belege auf, ja sie hätten noch nicht einmal gewusst, wie man solche Belege erkennt. Gegen Heureka-Mythen wie den von Darwins Offenbarung können wir ganz allgemeine Argumente anführen, aber solche Aussagen bleiben
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ohne historische Gegenbeispiele unglaubwürdig. Wenn wir nachweisen können, dass die Evolution schon lange vor Darwins Buch der Gegen stand beträchtlicher Diskussionen unter den Biologen war, haben wir einen wichtigen Beleg für die interessante, umfassende und komplexe Anatomie dieser geistigen Revolution. Die Historiker haben viele solche Beispiele beschrieben (und die prädarwinistische Evolutionsforschung ist seit langem bei den Fachleuten ein beliebtes Thema), aber der HeurekaMythos bleibt dennoch bestehen, weil wir so sehr danach streben, ent scheidende Episoden unserer Geschichte mit einem Namen und einem Datum in Verbindung zu bringen. Dafür kenne ich kein besseres Beispiel – auch wenn es kaum bekannt und schlecht belegt ist – als die Tatsache, dass Owen den Namen Dinosaurier in einer hitzigen öffentlichen Debatte über das Für und Wider der Evolution ausdrücklich als Waffe benutzen wollte – und zwar nach unserer heutigen, dafür unbedeutenden Einschät zung ironischerweise für die falsche Seite. Die Frühgeschichte der Paläontologie ist durch vereinzelte Beobach tungen an Dinosaurierknochen geprägt, die man in der Regel fälschlich als Überreste riesiger Menschen deutete; erst relativ kurze Zeit bevor Owen den Namen prägte, hatte man zum ersten Mal erkannt, dass in fer ner Vergangenheit, vor dem Zeitalter der Säugetierherrschaft, riesige Rep tilien das Festland bevölkert hatten (die im Meer lebenden Ichthyosaurier und Plesiosaurier hatte man einige Jahre früher definiert). Im Jahr 1824 benannte der Reverend William Buckland – dem Titel nach anglikani scher Geistlicher, nach seiner täglichen Praxis und Fachkenntnis jedoch ein führender Geologe – die erste Gattung, die Owen später in die Kategorie der Dinosaurier einordnen sollte: den Fleischfresser Megalosaurus. Buckland widmete sich während seines gesamten Lebens mit gleicher Hingabe der Förderung von Paläontologie und Religion. Er wurde als Erster von der Universität Oxford offiziell zum Geologen ernannt und hielt seine Antrittsvorlesung 1819 unter dem Titel »Vindicae geologicae; oder eine Erklärung zu den Verbindungen zwischen Geologie und Religion.« Später, im Jahr 1836, verfasste er eine der acht Bridgewater Treatises – diese Serie von Abhandlungen, die der Earl von Bridgewater bis zu sei nem Tod 1829 großzügig finanziell unterstützte, widmete sich »der Macht, Weisheit und Güte Gottes, wie sie sich in der Schöpfung ausdrücken«. Die Bücher, die der Kreis um Darwin als »bilgewater treatises« (»BilgenwasserAbhandlungen«) bezeichnete, waren das letzte große Aufbäumen der alt
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ehrwürdigen, aber dahinsterbenden Lehre der »Naturtheologie«, die sich auf das so genannte »Gestaltungsargument« stützte – auf die Vorstellung, man könne die Existenz Gottes sowie seine Eigenschaften der Güte und Vollkommenheit sowohl aus der guten Gestaltung materieller Gegenstände als auch aus dem harmonischen Wechselspiel zwischen den ver schiedenen Teilen der Natur ableiten (biologisch gesprochen also aus der ausgezeichneten Anpassung der Lebewesen und der Harmonie der Ökosysteme, die sich im »natürlichen Gleichgewicht« ausdrückt). Buckland (1784-1856) übernahm die Schirmherrschaft für mehrere entscheidende Phasen in Owens Laufbahn, und Owen, geschickter Diplo mat und scharfsinniger Bildungspolitiker, wusste die Quelle dieser Begünstigung sicher zu schätzen. Als er 1842 den Dinosauriern ihren Namen gab, waren die theoretischen Ansichten der beiden einander so ähnlich, dass man sie mit einer beliebigen Lieblingsmetapher für Übereinstimmung beschreiben kann, sei es nun Töpfchen und Deckelchen oder Tweedledum und Tweedledee. Später wurde Owen zu einem Anhänger der Evolution, machte sich aber nie Darwins Theorie der natürlichen Selektion zu Eigen. Man könnte zynisch sein und Owens geistige Wandlung mit dem Tod Bucklands und anderer Mitglieder der alten Garde in Verbindung bringen, aber Owen war so intelligent (und zumindest auch hin reichend ehrlich), dass eine derart einfache Interpretation sich verbietet, zumal seine späteren Ansichten über die Evolution beträchtlichen Tiefgang und Originalität erkennen lassen. Dennoch – und das ist für diesen Essay entscheidend – blieb Owen 1842, als er den Dinosauriern ihren Na men gab, in einem Punkt ein unverbrüchlicher Buckland’scher Kreationist, der die funktionsorientierte Denkweise des Gestaltungsarguments vertrat. Im Jahr 1825 benannte der britische Chirurg Gideon Mantell, einer der qualifiziertesten und einflussreichsten Amateur-Naturforscher Europas, eine zweite Gattung, die Owen später den Dinosauriern zuordnen sollte: das Pflanzen fressende Iguanodon. Später, nämlich 1833, benannte Mantell auch den Hylaeosaurus, der heute als gepanzerter, Pflanzen fressender Dinosaurier den Ankylosauriern zugeordnet wird. Owen fasste diese drei Gattungen 1842 als erste Mitglieder seiner Ordnung Dinosauria zusammen. Aber warum stellte er eine Verbindung zwi schen so unterschiedlichen Tieren her – zwischen einem Fleischfresser und zwei Pflanzenfressern, von denen einer nach heutiger Kenntnis groß
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war und auf zwei Beinen ging, während es sich bei dem anderen um einen gedrungenen, vierbeinigen, gepanzerten Ankylosaurier handelte? Einer seits konnte Owen das Ausmaß der Unterschiede nicht richtig einschät zen (allerdings betrachten wir die Dinosaurier auch heute als eigenständige entwicklungsgeschichtliche Gruppe, womit wir seine grundlegende Erkenntnis bestätigen). So erkannte er beispielsweise nicht, dass manche Dinosaurier auf zwei Beinen gingen; in seiner Rekonstruktion waren alle drei Gattungen Vierbeiner. Owen führte drei Hauptgründe an, warum er die neue Gruppe einführte. Erstens ist den drei Gattungen ein offenkundiges Merkmal gemeinsam, jene Ursache für die ursprüngliche Faszination, die Dinosaurier auf uns ausüben: die gewaltige Größe. Er wusste aber auch ganz genau, dass ähnliche Ausmaße wenig oder gar nichts über eine Zusammen gehörigkeit in der biologischen Systematik aussagen. Mehrere im Meer lebende Reptilien aus dem gleichen Zeitalter waren ebenso groß oder sogar noch größer, und doch nahm Owen sie nicht in die Gruppe der Dinosau rier auf (und wir tun es heute auch nicht). Außerdem hatten Owens anatomische Untersuchungen zu einer stark verminderten Größenschätzung für die Dinosaurier geführt (auch wenn diese Geschöpfe immer noch beeindruckende Dimensionen hatten). Mantell hatte Iguanodon auf eine Länge von bis zu dreißig Metern geschätzt, eine Zahl, die Owen auf rund acht Meter verringerte. Mantell ka pitulierte in einer Auflage seiner Medals of Creation, die 1844 erschien (nur zwei Jahre nach Owens geringerer Schätzung, was auf ein starkes öffentliches Interesse schließen lässt), und entschuldigte sich im demütigen Passiv für seine früheren, übertriebenen Angaben: In meinen ersten Anmerkungen über das Iguanodon ... wurde der Versuch unternommen, die wahrscheinliche Größenordnung des Ori ginals durch einen Vergleich zwischen den fossilen Knochen und jenen des Iguana abzuschätzen. Aber der moderne Iguana hat kurze, seitlich abstehende Beine und einen langen Schwanz. Bei dem mit ihm überhaupt nicht verwandten Dinosau rier Iguanodon dagegen waren die Beine vergleichsweise lang (denn wie wir heute wissen, ging dieses Tier aufrecht), der Schwanz dagegen relativ kurz. Als Mantell die Länge des Iguanodon auf Grund sehr unvollständi
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ger Funde – vorwiegend Beinknochen und Zähne – abschätzte, irrte er sich deshalb, weil er das gleiche Verhältnis von Bein- und Körperlänge zu grunde legte wie bei den modernen Iguanas und weil er dann einen unbekannten, übermäßig langen Schwanz hinzufügte. Zweitens – und das ist am wichtigsten – erkannte Owen, dass alle drei Gattungen eine Reihe charakteristischer Merkmale gemeinsam haben, die man bei keinem anderen fossilen Reptil findet. Er führte viele Einzelheiten an, konzentrierte sich aber insbesondere auf mehrere verschmolzene Lendenwirbel, die ein ungewöhnlich kräftiges Becken bildeten – eine ausgezeichnete Anpassung an das Leben an Land und ein Merkmal, das man von Megalosaurus schon lange kannte, während es sich bei Iguanodon erst kurz zuvor bestätigt hatte und nun auf die Verwandtschaft schließen ließ. In dem Satz, mit dem Owen die Definition in seinem Abschnitt über Dinosaurier einleitet (Seite 102-103 seines Berichts von 1842), weist er auf dieses gemeinsame Merkmal hin: »Diese Gruppe, zu der mindestens drei gut dokumentierte Echsengattungen gehören, ist durch ein großes Kreuz bein gekennzeichnet, das aus fünf ankylosierten [verschmolzenen], ungewöhnlich aufgebauten Wirbeln besteht.« Und drittens stellte Owen auf Grund allerdings begrenzter Anhalts punkte fest, die Dinosaurier könnten allein eine vollständige, an Land beheimatete Lebensgemeinschaft sein und nicht nur ein paar seltsame Ge schöpfe, die in den Winkeln und Hinterhöfen der Ökosysteme zu Hause waren. Zu den drei bekannten Gattungen gehörten ein wilder Fleischfres ser, ein beweglicher Pflanzenfresser und ein stämmiger, gepanzerter Pflanzenfresser – bei einer so kleinen Stichprobe sicher das größtmögliche Spektrum von Vielfalt und ökologischen Ansprüchen. Deshalb meinte Owen, das Mesozoikum könne ein Zeitalter der Dinosaurier gewesen sein (oder vielmehr umfassender ein Zeitalter der Reptilien, mit Dinosauriern an Land, Pterodactyla in der Luft sowie Ichthyosauriern, Plesiosauriern und Mosasauriern im Meer). In diesem Bild wurden die Dinosaurier zum landlebenden Teil einer früheren Welt, in der Reptilien die Vorherrschaft hatten. Anschließend nahm Owen alle seine Argumente zusammen und cha rakterisierte die Dinosaurier auf besonders schmeichelhafte Weise, die seine etymologische Entscheidung für das »Furcht erregend Große« rechtfertigte. Kurz gesagt, zeichnete er die Dinosaurier nicht als primitive, anatomisch unfähige Bewohner einer grauen Vorzeit, sondern als einzig
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artig geschmeidige, kräftige und gut konstruierte Lebewesen – als schlanke Kampf- und Fressmaschinen aus einer eigenartigen, großartigen Welt der Vergangenheit. Diese Aussage betonte Owen mit einem verblüf fenden rhetorischen Hilfsmittel, das unter Garantie sowohl Aufmerksam keit als auch Widerspruch wecken würde: Er verglich Rekonstruktion und Leistungsfähigkeit der Dinosaurier nicht mit den glitschigen, einfachen Reptilien einer vergangenen oder heutigen Welt, sondern mit den moder nen (das heißt angeblich überlegenen) Säugetieren. Diese Argumentation vertritt Owen schon von Anfang an, nämlich am Ende seines (in diesem Essay bereits zitierten) Einleitungsabschnitts über die Definition der Dinosaurier: Die Extremitätenknochen sind in ihren Proportionen für Saurier sehr groß ... Sie ähneln mehr oder weniger denen der großen, dickhäutigen Säugetiere und bezeugen ... dass diese Arten auf dem Trockenen leb ten. Dieses Thema der Ähnlichkeiten von Struktur und Funktion (aber nicht der Abstammung) mit den hoch entwickelten Säugetieren verfolgt Owen dann in seinem ganzen Bericht weiter – beispielsweise wenn er Mantells Schätzung für die Körpergröße der Dinosaurier zurückschraubt: Zu die sem Zweck vergleicht er ihre Beinknochen nicht mit den schwachen Extremitäten der Reptilien, die seitlich abstehen und zu einem seltsamen Watschelgang führen, sondern mit den kräftigen Gliedmaßen der Säuge tiere, die unterhalb des Körpers angebracht sind und eine möglichst effiziente Fortbewegung erlauben. Owen schreibt: Die gleichen Beobachtungen über die allgemeine Form und Proportionen des Tieres [Iguanodon] und seine in dieser Hinsicht bestehende Nähe zu den Säugetieren, insbesondere zu den großen, ausgestorbenen Megatheroiden [Riesenfaultieren] oder den Arten der Pachydermata [Elefanten] gelten für den Megalosaurus ebenso wie für das Iguanodon. Diesen Vergleich greift Owen auch in den letzten Absätzen seines Berichts wieder auf (und zwar zu einem ganz bestimmten theoretischen Zweck, der auch das Thema des vorliegenden Essays bildet). Er spricht dort von »der Ordnung der Dinosaurier, von der wir wissen, dass der reptilienar
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tige Körperbau sich hier am stärksten dem der Säugetiere angenähert hat«. In einer abschließenden Fußnote (und den allerletzten Worten sei ner Veröffentlichung) spekuliert er sogar – womit er eine noch heute bestehende, hitzig ausgetragene Kontroverse vorwegnimmt –, die große physiologische Leistungsfähigkeit der Dinosaurier lege eher einen Ver gleich mit den warmblütigen Säugetieren als mit den sonstigen, kaltblüti gen Reptilien unserer Zeit nahe: Da der Brustkorb der Dinosaurier genauso gebaut ist wie bei den Krokodilen, kann man den Schluss ziehen, dass sie ebenfalls ein Herz mit vier Kammern besaßen; und auf Grund ihrer hervorragenden Anpassung an das Leben an Land kann man schließen, dass sie sich der Funktion eines so hoch entwickelten Kreislaufzentrums in einem Ausmaß erfreuten, das an jenes der heutigen, warmblütigen Wirbeltiere heranreicht. Stellt man künstlerische Rekonstruktionen aus der Zeit vor und nach Owens Bericht nebeneinander, so erkennt man sofort, welch gewaltigen Schritt nach oben die Dinosaurier getan haben: von unbeholfenen, trä gen, urtümlichen Reptilienbestien zu leistungsfähigen, gut angepassten Tieren, die eher den heutigen Säugetieren gleichen. Wie groß diese Veränderung war, können wir abschätzen, wenn wir bildliche Darstellungen von Iguanodon und Megalosaurus aus der Zeit vor und nach Owens Bericht vergleichen. George Richardsons Iguanodon von 1838 ist ein gedrungenes, längliches Wesen, das sich auf kurzen, seitlich abstehenden Beinen fortbewegte und demnach vermutlich zu einem schleppenden Watschelgang verdammt war (was an Gottes Fluch über die Schlange nach der folgenschweren Begegnung mit Eva erinnert: »Auf dem Bauch sollst du kriechen und Staub fressen alle Tage deines Lebens.«) Owen dagegen deutete zwar fälschlich alle Dinosaurier als Vierbeiner, rekonstruierte sie aber als gute, leistungsfähige Läufer, deren Beine nach Art der Säugetiere unterhalb des Körpers angebracht waren. Man braucht nur Richardsons schwerfalligen Dinosaurier von 1838 mit dem Bild eines Kampfes zwi schen Megalosaurus und Iguanodon zu vergleichen, das 1867 im größten populärwissenschaftlichen Werk jenes Jahrzehnts erschien, dem Buch The World Before the Deluge von Louis Figuier. Owen erlebte auch eine großartige Gelegenheit, seine Ideen ganz buch stäblich in konkrete Formen zu fassen: Er führte die Aufsicht, als Water
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Zwei Rekonstruktionen von Dinosauriern aus den Jahren 1838 (oben) und 1867 (unten); man erkennt, wie Owens Bild von lebhaften, aktiven Tieren sich durchgesetzt hatte.
house Hawkins die ersten lebensgroßen, dreidimensionalen Dinosaurier modelle baute – sie sollten den Kristallpalast von Sydenham schmücken, der Anfang der fünfziger Jahre des 19. Jahrhunderts wiedereröffnet wurde. (Die großartige Ausstellungshalle ist schon vor langer Zeit abgebrannt, aber Hawkins’ Dinosaurier, die kürzlich neu bemalt wurden, kann man noch heute in ihrer ganzen Pracht besichtigen – und das noch nicht ein mal eine Zugstunde vom Londoner Zentrum entfernt.) Ein berühmter Vorfall in der Geschichte der Paläontologie war die Neujahrsfeier am 31. Dezember 1853, die Owen innerhalb des teilweise fertig gestellten Modells eines Iguanodon ausrichtete. Owen saß im Kopf des Tieres am obe ren Ende des Tisches; elf Kollegen erhielten die begehrten Plätze bei ihm im Inneren des Modells, weitere zehn Gäste saßen an einem zweiten Tisch, der sich außerhalb der hübschen Konstruktion befand.
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Ich habe keine Zweifel, dass Owen von ganzem Herzen an seine Lieblingsinterpretation der Dinosaurier glaubte und seine Schlussfolgerungen für die beste Lesart der damals verfügbaren Indizien hielt. (Auch unsere heutigen Kenntnisse lassen seine Argumente für komplexen Körperbau und Fähigkeiten der Dinosaurier in recht günstigem Licht erscheinen.) Aber wissenschaftliche Folgerungen – insbesondere wenn es sich nicht nur um die einfache Wiedergabe offenkundiger Tatsachen handelt, sondern auch um komplizierte Rückschlüsse auf allgemeine Gesetzmäßigkeiten – gründen sich immer auf weit kompliziertere, verwickeitere Motive als nur auf das Diktat einer strengen Logik und genauer Beobachtungen. Wenn wir verstehen wollen, warum Owen sich entschloss, die Dinosaurier als Furcht erregend großartig zu bezeichnen, müssen wir auch gesellschaftliche und politische Fragen stellen: Wer waren seine Feinde, und welche Ansichten hielt er nicht nur rein wissenschaftlich, sondern auch in einem umfassenderen Sinn für schädlich oder sogar gefährlich? Treiben wir unsere Nachforschungen in dieser Richtung weiter, rückt als Grundprinzip für Owens tiefere Motive die ironische Antwort in den Vordergrund, die den Anlass zu dem vorliegenden Essay gab: Er freute sich über die Leistungsfähigkeit und den komplizierten Körperbau der Dinosaurier – und traf die Entscheidung, diese Erkenntnisse in einem majes tätischen Namen einzufangen –, weil die großen Fähigkeiten der Dinosaurier ihm ein schlagendes Argument gegen die wichtigste Evolutionstheorie seiner Zeit lieferten, eine Lehre, der er sich damals mit der gesamten Kraft seiner wissenschaftlichen Prinzipien, seinen konservativen politischen Überzeugungen und seinem hervorragenden Gespür für die pragmatischen Wege des beruflichen Fortkommens widersetzte. Ich spreche hier nicht von der Beschreibung der Evolution, die später den Namen »Darwinismus« erhielt (und sich ganz und gar mit Owens Beobachtungen an den Dinosauriern vertragen hätte), sondern über eine ganz andere, frühere Version der »Transmutationstheorie« (diesen Begriff wandte man damals allgemein auf Theorien der stammesgeschichtlichen Herkunft an), die man am besten als »Fortschrittsglauben« bezeichnet. Die fortschrittsgläubigen Evolutionsforscher der vierziger Jahre des 19. Jahrhunderts, deren Überzeugungen in einer pseudo-lamarckistischen Vorstellung von einem inneren Streben aller Lebewesen nach Vollkom menheit wurzelten, sahen in den Fossilfunden einen Beleg für den unun terbrochenen Fortschritt innerhalb jeder durchgehenden Abstammungs
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linie von Lebewesen. Owen dagegen hielt den komplizierten Körperbau der Dinosaurier für einen schlagenden Beweis, mit dem er eine derart un sinnige, übermäßig vereinfachte Sichtweise zunichte machen konnte. Dass Owen sich gegen den Fortschrittsglauben in der Evolution wandte, hatte vielschichtige Gründe. Erstens sicherte ihm diese Meinung das Wohlwollen seiner Schirmherren, sodass er gegen Feinde wirksamer vorgehen konnte. William Buckland, Owens wichtigster Unterstützer, hatte 1836 in seiner Bridgewater Treatise gegen den Fortschrittsglauben das Argument angeführt, dass die Tiere der Vorzeit, die auf Grund ihres hohen Alters grob und primitiv sein sollten, in Wirklichkeit ausgezeichnet konstruiert waren. Zur Unterstützung dieser Argumentation berief Buckland sich sowohl auf Megalosaurus als auch auf Iguanodon (obwohl beide Gattungen damals noch nicht als Dinosaurier bezeichnet wurden). Im Vorwort gab Buckland seine Absicht bekannt: Er wolle zeigen, dass »die Phänomene der Geologie entschieden dagegen sprechen, dass die vorhandenen Systeme des organischen Lebens ... durch allmähliche Transmutation einer Art in eine andere entstanden sind«. Anschließend argumentierte er, die ausgezeichnete Gestaltung früherer Lebewesen lasse nicht auf einen natürlichen Fortschritt von anfänglicher Unbeholfenheit bis zur heutigen Komplexität schließen, sondern auf die ständige Aufsicht durch eine liebende Gottheit. Nach Bucklands Ansicht zeigte die überlegene Gestaltung der riesigen Reptilien aus dem Mesozoikum, »dass selbst in jenen weit zurückliegenden Epochen die gleiche Sorge des gemeinsamen Schöpfers, deren Zeuge wir in den Mechanismen unseres eigenen Körpers werden ... sich auch auf den Bau von Geschöpfen erstreckte, die auf den ersten Blick nur aus Monstrositäten zu bestehen scheinen.« Danach schließt er aus der Beobachtung, dass die Zähne von Iguanodon aus gezeichnet an eine Lebensweise als Pflanzenfresser angepasst sind, auf Gottes direkten, wohlwollenden Einfluss: Wir können »solche Beispiele für mechanischen Erfindungsreichtum in Verbindung mit einer solchen Wirtschaftlichkeit des Aufwandes nicht betrachten ... ohne die tiefste Überzeugung zu verspüren, dass alle diese Anpassungen die Folge einer gezielten Konstruktion und hoher Intelligenz sind«. In seinem Bericht von 1842 zitiert Owen pflichtschuldigst alle diese entscheidenden Aussagen über die hervorragenden Leistungen der Dinosaurier als Beweis für Gottes offenkundige Liebe und Weisheit, und gleichzeitig nennt und lobt er Buckland immer wieder als Quelle seiner Erkenntnisse.
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Mit dieser Verteidigung der Naturtheologie und seinen Angriffen auf den Fortschrittsglauben in der Evolution brachte Owen sich gegenüber seinen Feinden in eine vorteilhafte Position. Er verachtete den Amateur und Landbewohner Mantell ebenso stark, wie er seinen beruflichen Schirmherren und Stadtbürger Buckland verehrte, aber eigentlich ging es in diesem unbedeutenden Streit nicht um ideologische, sondern um gesellschaftliche Fragen. In London musste Owen sich in der Frühzeit seiner Laufbahn, als der Aufstieg zur beherrschenden Stellung noch am meisten gefährdet war, vor allem mit einem Gegner auseinander setzen: mit Robert E. Grant, dem kurz zuvor ernannten Professor für Zoologie am University College London. Grant (1793-1874) starb aus Gründen, die bis heute ungeklärt und durchaus rätselhaft sind, in Schmach und Armut.* Ende der dreißiger Jahre des 19. Jahrhunderts jedoch erfreute sich Grant (der kurz zuvor aus Edinburgh nach Süden gezogen war) einer herausragenden Stellung als neue Führungsgestalt in Londoner Zoologenkreisen. Außerdem wurde er Owens einziger ernst zu nehmender Rivale um die Vorherrschaft. Grant war der Autor einer ausgezeichneten, sehr angesehenen Reihe von Aufsätzen über Biologie und Klassifikation der »niederen« wirbellosen Tiere und hatte gegenüber Owen den Vorteil höheren Alters und größerer Er fahrung. Aber Grant war politisch ein Radikaler, ein Mann von schlechten Um gangsformen und – was noch bedeutsamer war – der bekannteste britische Vertreter des Fortschrittsglaubens in der Evolution. (Eine großartige Geschichte, die ich bei einer anderen Gelegenheit erzählen werde, verdeut licht sehr augenfällig das soziologische Prinzip der sechs Grade der Tren nung und die allgemeine Erkenntnis »What goes around comes around«: Bevor Charles Darwin sich in Cambridge einschrieb, hatte er in Edinburgh ein unangenehmes Studienjahr hinter sich gebracht. Der einzige Licht blick in dieser düsteren Zeit war seine enge Beziehung zu Grant, der als sein * Hervorragende Forschungs- und Detektivarbeit zu dieser faszinierenden Frage hat der Historiker Adrian Desmond geleistet. Ich selbst erhielt die Anregung zu dem vorliegenden Essay durch eine Einladung des University College, einen Vortrag zur Wiedereröffnung von Grants zoologischem Museum zu halten. Als ich mich in die Literatur über Grant vertiefte und dabei beträchtliches Mitleid wegen seines Schick sals entwickelte, dehnte ich meine Nachforschungen natürlich auch auf seinen Feind Owen und die Dinosaurier aus; das Ergebnis ist dieser Essay.
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erster wichtiger wissenschaftlicher Mentor gelten muss. Natürlich wusste Darwin aus der allgemeinen Literatur – unter anderem aus den Werken seines Großvaters Erasmus, den Grant ebenfalls sehr bewunderte – über die Evolution Bescheid, und Grants Lamarckismus stand in diametralem Gegensatz zu dem Prinzip der natürlichen Selektion, das Darwin später entwickeln würde. Aber es bleibt die Tatsache, dass Darwin seine ersten formal-akademischen Erfahrungen mit der Evolution durch Grant machte. Das Rätsel um Grant wird noch größer, wenn wir erfahren, dass der ungeheuer großherzige, geniale Darwin später mit seinem alten Lehrer so kurzen Prozess machte. Nachdem Darwin von der Reise mit der Beagle zurückgekehrt war, besuchte er seinen früheren Mentor offensichtlich nie, obwohl die beiden in London buchstäblich nur einen Steinwurf voneinan der entfernt wohnten. Auch Darwins Autobiografie, die er im hohen Alter verfasste, enthält nur einen kurzen, unwirschen Absatz über Grant; er gipfelt in einer einzigen Aussage über Grants Evolutionstheorie: »Eines Tages, als wir zusammen spazieren gingen, platzte er mit höchster Bewunderung für Lamarck und seine Ansichten über die Evolution heraus. Ich hörte mit schweigendem Erstaunen zu und soweit ich es beurteilen kann, ohne dass es Auswirkungen auf meinen Geist gehabt hätte.«) Im Jahr 1842 stellte Grant einen Machtfaktor und eine Gefahr dar, und gegen diesen Erzrivalen setzte Owen seine auf die Dinosaurier gestützte Argumentation gegen die Evolution als Waffe ein. In dem bösartigsten Absatz seines Berichts über die fossilen Reptilien geht er durchaus nicht zimperlich mit Grants Ansichten über die Evolution ins Gericht: Liefert die Hypothese von der Transmutation der Arten durch einen Ablauf der fortschreitenden Entwicklung, welche zu einem aufsteigen den Fortschritt in der Reihe der Lebewesen führt, irgendeine Erklärung für diese überraschenden Phänomene? ... ein oberflächlicher Überblick über die Reste von Lebewesen könnte in der Tat durchaus für eine solche Ansicht über den Ursprung der belebten Arten zu sprechen scheinen; aber in keiner Disziplin der Wissenschaft ist es notwendiger als in der Paläontologie, tief einzutauchen, damit man die Quelle der Weisheit schmeckt. Um die angebliche Oberflächlichkeit und Unkenntnis hinter einer solchen falschen Begründung der Evolution offen zu legen, zitiert Owen
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dann einen 1835 erschienenen Aufsatz von Grant, womit er das Ziel seiner Sticheleien eindeutig benennt. Und wie könnte man eine verächt lichere, boshaftere Aussage über einen Kollegen machen als Owen, der Grant mit Hilfe von Popes berühmtem Kriterium (dem Thema von Kapitel 11) widerspricht: Ein wenig Lernen, das ist ein gefährlich Ding, Tief tauche ein, willst du den Quell Pieriens schmecken. In seinem Schlussabsatz führt Owen mehrere Argumente an, mit denen er seine Gegnerschaft zur Transmutationstheorie noch einmal begründen will – aber im Mittelpunkt stehen die Dinosaurier als Kronzeugen. Ent sprechend den üblichen Begriffen seiner Generation, die aber nicht mit einer einzigartigen Erkenntnis oder eigentümlichen Anordnung zu tun haben, unterscheidet Owen zunächst zwischen dem evolutionsorientierten Fortschrittsglauben, wonach jede Abstammungslinie sich allmählich und zwangsläufig immer in der gleichen Richtung größerer Komplexität und besserer Konstruktion bewegt, und dem kreationistischen Fortschrittsglauben eines Buckland und anderer Naturtheologen, nach deren Ansicht Gott für jedes neue erdgeschichtliche Zeitalter kompliziertere Lebewesen erschaffen hatte, ohne dass sich aber die höchsten Formen einer Phase zu den beherrschenden Arten der nächsten weiterentwickeln. (Zur Widerlegung des nahe liegenden Einwandes, man könne Gott dann als Stümper bezeichnen, der nicht von Anfang an alles richtig gemacht habe und deshalb die gesamte Erdgeschichte für seine Praxistests brauchte, vertraten Buckland und Konsorten – so auch Owen in den letz ten Absätzen seines Berichts von 1842 – die Ansicht, Gott habe stets Lebe wesen mit der bestmöglichen Anpassung an die Umwelt der jeweiligen erdgeschichtlichen Epochen erschaffen. Da die Bedingungen in dieser Umwelt sich aber immer in derselben Richtung veränderten, erforderten sie auch einen stetigen Fortschritt im Aufbau der Lebewesen, damit das richtige Anpassungsniveau erhalten blieb. Insbesondere, so Buckland, habe sich das Klima im Laufe der Zeit immer mehr verschlechtert, weil die ursprünglich geschmolzene Erde sich nach und nach abkühlte. Träge, kaltblütige Lebewesen eigneten sich deshalb am besten für eine heiße, primitive Erde, nachdem diese aber kühler und unwirtlicher wurde, mussten warmblütige Nachfolger erschaffen werden.)
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Buckland und Owen waren der Ansicht, die Fossilfunde könnten in die ser zentralen zoologischen Auseinandersetzung den Ausschlag geben; beide glaubten sogar, die Paläontologie könne in der Wissenschaft eine überragende Bedeutung erlangen, weil sie in der Lage sei, die Entscheidung zwischen der evolutionsorientierten und der kreationistischen Version des Fortschrittsglaubens herbeizuführen. Die beiden Theorien machten in einem entscheidenden Punkt völlig unterschiedliche Voraussagen: Nach der Transmutationstheorie sollte jede einzelne Abstammungslinie im Laufe der Zeit einen allmählichen, kontinuierlichen Fortschritt erleben, und die beherrschende Form jedes erdgeschichtlichen Zeitalters sollte unmittelbar von den Herrschern der vorangegangenen Epoche abstammen. Für fortschrittsgläubige Kreationisten dagegen sollte sich in den Fossilfunden genau das umgekehrte Prinzip zeigen: In einzel nen Linien sollte keine eindeutige, zeitabhängige Gesetzmäßigkeit zu erkennen sein, sondern sie könnten sogar einen Rückschritt erleben; die be herrschende Form jedes Zeitalters sollte durch besondere Schöpfung entstehen, ohne Vorfahren und ohne Verwandtschaftsbeziehungen zu den Herrschern vorangegangener Zeiten. Vor diesem Hintergrund begreifen wir nun, von welch zentraler Be deutung Owens Entscheidung war, die Dinosaurier als Tiere von einzigartiger Komplexität zu zeichnen, die in ihrer hervorragenden Gestaltung eher mit den späteren (und weiter fortgeschrittenen) Säugetieren zu ver gleichen sind als mit den niederen Reptilien ihrer eigenen Abstammungslinie. Eine solche hervorragende Konstruktion der Dinosaurier widerlegte in beiden entscheidenden Punkten die Vorstellung von der Transmutation und sprach für einen kreationistischen Fortschrittsglauben. Erstens war die hohe Entwicklungsstufe der Dinosaurier ein Beweis, dass die Reptilien im Laufe der Zeit degeneriert waren: Die ältesten und besten Formen – der großartige Megalosaurus und das prachtvolle Iguanodon – hatten spä ter den niederen Schlangen, Schildkröten und Echsen Platz gemacht. Und zweitens entwickelten sich diese am höchsten stehenden Reptilien nicht zu der nächsten beherrschenden Gruppe, den Säugetieren, denn in Gestein aus dem Mesozoikum, das auch die Reste von Dinosauriern beher bergte, hatte man bereits kleine, primitive Säugetiere entdeckt. Owen schwelgte ganz offensichtlich in der Furcht erregenden Größe seiner neu benannten Dinosaurier, die das wichtigste Argument gegen die verteufelte Lehre der fortschrittsorientierten Transmutationstheorie dar
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stellten (und gleichzeitig dankte er seinem Schirmherrn Buckland für die Unterstützung). In den Schlussabsätzen seines Berichts von 1842 schreibt er: Wären die gegenwärtigen Tierarten das Ergebnis einer fortschreitenden Entwicklung und Transmutation früherer Arten, müsste heute jede Klasse ihre typischen Eigenschaften nach den höchsten bekannten Organisationsbedingungen zeigen: Aber die Untersuchung der Merkmale fossiler Reptilien, welche in dem vorliegenden Bericht unternommen wurde, ist der Beweis, dass dies nicht der Fall ist. Heute existiert kein Reptil, das in sich eine komplizierte... Bezahnung mit proportional so großen, kräftigen Gliedmaßen vereinigt und... ein so langes, kompliziertes Kreuzbein hat wie die Ordnung der Dinosauria. Die Megalosaurier und Iguanodons, die sich dieser zweifellos vollkommensten Abwandlungen des Reptilientypus erfreuten, erreichten die größten Ausmaße und müssen mit ihren jeweiligen Eigenschaften als Tier- und Pflanzenfresser die herausragende Rolle gespielt haben, deren Zeuge diese Erde bei ovi paren [Eier legenden], kaltblütigen Lebewesen jeweils geworden ist. Zum Abschluss seiner Argumentation und des gesamten Abschnitts sei nes Berichtes benutzt Owen die Dinosaurier dann auch, um sein zweites Gegenargument gegen die Transmutationstheorie zu begründen: Die Dinosaurier zeigen nicht nur, dass es in den Abstämmungslinien der Repti lien keinen Fortschritt gegeben hat, sondern sie sind auch der Beweis, dass die höheren Säugetiere sich nicht aus den beherrschenden Reptilien ent wickelt haben können: Demnach kann man zwar einen allgemeinen Fortschritt erkennen, die Unterbrechungen und Brüche, um einen geologischen Begriff zu ver wenden, widerlegen aber die Vorstellung, der Fortschritt sei die Folge einer sich selbst entwickelnden Energie, die zur Umwandlung bestimmter Merkmale führt; sie sprechen im Gegenteil für die Schluss folgerung, dass die Abwandlungen des Knochenbaues, welche die aus gestorbenen Reptilien kennzeichnen, ihnen von Anfang an bei ihrer Schöpfung mitgegeben wurden und weder der Verbesserung eines niederen Typus entspringen, noch durch die fortschrittliche Entwicklung zu einem höheren Typus verloren gehen.
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Als abschließende Ergänzung und kleine (aber hübsche) Fußnote zu dieser Argumentation aus dem veröffentlichten Bericht kann ich noch eine bisher unbekannte Bestätigung anfügen, dass die Widerlegung des Evolu tionsgedankens für Owen das zentrale Motiv darstellte, die Dinosaurier als »Furcht erregend groß« zu bezeichnen. Indem er so auf die große Bedeutung der Dinosaurier abhob, vermittelte er sicher seine gegen die Transmutationstheorie gerichtete Auffassung. Aber woher wissen wir, dass diese Theorie zu Owens Zeit in der Zoologie der Gegenstand einer lebhaften, allgemeinen Auseinandersetzung war und nicht nur ein hüb sches kleines Nebenthema, das den Floh in Owens ganz persönlichem Ohr darstellte? Die Veröffentlichungen sprechen dafür, dass das Thema All gemeingut war. So wurde beispielsweise die erste in englischer Sprache verfasste, umfassende Verteidigung der Evolution, das anonym herausgegebene Werk Vestiges of the Natural History of Creation (von dem schotti schen Verleger Rober Chambers), zur literarischen Sensation und dem be gehrtesten Druckwerk des Jahres 1844. Ich kann aber einen kleinen Bericht aus einer privaten Quelle anfügen. Vor einigen Jahren hatte ich das große Glück, dass ich Bucklands persön liches Exemplar von Owens 1842 erschienenem Bericht erwerben konnte – damals noch für einen mäßigen Betrag, bevor die Jurassic-Park-Hyste rie die Preise für alles, was mit Dinosauriern zusammenhing, explodieren ließ. (Das Exemplar, das Owen seinem Mentor widmete und das an zwei Stellen von Buckland unterschrieben ist, trägt die falsche Jahreszahl 1841; es muss also eine der ersten 25 Kopien sein, die zu Owens privater Ver wendung gedruckt wurden.) Buckland las die Schrift offenbar recht sorg fältig, denn er unterstrich viele Stellen und brachte mehrere Randbemer kungen an. Diese Bemerkungen lassen eine eindeutige Gesetzmäßigkeit erkennen: Buckland hob nur Tatsachenbehauptungen hervor; zu theore tischen oder umstrittenen Themen gab er keine Kommentare ab. So schrieb er zum Beispiel in dem Abschnitt über die Dinosaurier das Wort »Sacrum« neben Owens Beschriftung der verbundenen Kreuzbeinwirbel, die das charakteristische Merkmal der Dinosaurier darstellen. Und an der Stelle, wo Owen sich für die geringere Größe von Iguanodon ausspricht, vermerkte er »28 Fuß«. Nur einmal wich Buckland von diesem Prinzip ab: Er kennzeichnete und unterstrich die Stelle, an der Owen die Dinosaurier als Argument gegen die Transmutation der Arten benutzt. Dort, auf Seite 196, schrieb
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Buckland das Wort »Transmutation« an den Rand – in dem ganzen Be richt seine einzige Bemerkung zu einer theoretischen Frage. Außerdem tat er etwas, das ich in unserer heutigen, mit Klebeband und gelben Zetteln gesegneten Zeit nur liebenswert finden kann: Er schnitt ein weißes Papierquadrat aus und befestigte es mit einem einzigen Leimtropfen am Rand, sodass Owens Abschnitt über die Evolution durch das leicht über die Seite herausragende Papierstück gekennzeichnet ist, wenn das Buch geschlossen auf dem Tisch liegt. Und schließlich schrieb er noch einmal nur das Wort »Transmutation« auf einen losen, rechteckigen Papierstreifen, den er offenbar als Lesezeichen in Owens Bericht gelegt hatte. Buck land, einer der führenden englischen Geologen seiner Zeit, hielt Owens Erörterung der Evolution anscheinend für das wichtigste theoretische Thema im Zusammenhang mit den riesigen Reptilien, deren Entdeckung sein Verdienst war und denen Owen kurz zuvor den Namen »Dinosaurier« gegeben hatte. Die Vorstellung von einer Evolution muss ein wahrhaft widerlicher, schrecklicher Gedanke gewesen sein, wenn Owen die Furcht erregend größten aller fossilen Lebewesen zu einem letztlich vergeblichen Versuch benutzen musste, dieses zentrale Prinzip der Geschichte des Lebendigen zu widerlegen, diese Ursache aller Lebensvielfalt von Megalosaurus bis Moses, von Iguanodon bis zu den »niederen« Infusorien im Inneren jener zoologischen Kuriositäten, die gelernt haben, Dinosaurier zu benennen, und die nach einem Verständnis für das große »Ich bin« streben.
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10. Spekulationen über die Zukunft Von anonymen Vizepräsidenten bis zu namenlosen Viertplatzierten unterliegen alle, die hinter den Siegern durchs Ziel gehen, einer ganz besonderen Schmach – knapp daneben ist auch vorbei, wie das alte Sprich wort sagt. In einer Bar im Staat New York traf ich einmal »Two Ton Tony« Galento – als alter Mann eine bemitleidenswerte Gestalt, aber immer noch gaben andere ihm einen aus, wenn er die wahre Geschichte über den Augenblick seines Triumphes erzählte: als er Joe Louis zu Boden schlug, bevor er selbst den Kampf um die Schwergewichtsweltmeister schaft verlor. Und man braucht sich bloß das Klischee des alten, dicken, törichten, unterwürfigen Kumpanen anzusehen – von Gabby Hayes und Andy Devine in dem Musterbeispiel eines Epos aus der zeitgenössischen Popkultur bis zu Leporello oder Sancho Pansa in der Welt der Literatur. (Starke, edle Gefährten wie Tonto bekommen die Rolle des »Eingeborenen« zugewiesen und werden so auf einem anderen Weg für zweitrangig erklärt, einem Weg, der glücklicherweise – so steht zumindest zu hoffen – aus dem kollektiven Bewusstsein des weißen Amerikas allmählich ver schwindet.) Zweiter im sportlichen Wettkampf zu sein ist nicht besser, als eine zweitrangige Stellung zu bekleiden. Anfangs wunderte ich mich über eine Behauptung, die mir dann aber, nachdem ich den scheinbaren Wider spruch aufgelöst hatte, völlig sinnvoll erschien. Ein befreundeter Komponist erzählte mir, er könne sich ohne weiteres die Finanzmittel für jede Uraufführung eines neuen Werkes beschaffen – als Sonderzuwendung und Sponsoring für einen hehren Zweck. Aber, so erklärte er mir, nur ein ech ter Musikliebhaber und Mäzen würde ihn bei der am wenigsten gewinn bringenden und unmodernsten aller Tätigkeiten unterstützen: bei der zweiten Aufführung neuer Stücke.
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Kürzlich hatte ich das Glück, dass ich mich mit Larry Doby unterhalten konnte, einem der hartnäckigsten, mutigsten und bewundernswer testen Männer, die mir jemals begegnet sind. Aber wie viele Leser kennen seinen Namen? Uns allen ist Jackie Robinson ein Begriff, der als Erster kam; Larry Doby war der zweite farbige Spieler in der Major League des Baseball (und der erste in der American League). Wir alle kennen das Thema, bei dem Rodolfo in Puccinis La Boheme, die 1896 uraufgeführt wurde, nach Mimis kalter Hand greift. Aber wer weiß schon, dass Leoncavallo (der 1892 mit Der Bajazzo einen Hit gelandet hatte) im Jahr 1897 ebenfalls eine Oper mit dem gleichen Titel (und der gleichen Handlung) schrieb? Mir fällt nur ein einziger Fall ein, in dem jemand als Zweiter ins Ziel kam und dennoch (zumindest im englischsprachigen Raum) berühmter wurde als der Sieger – und auch das nur wegen der besonderen Umstände seines heldenhaften Todes, gemischt mit einem gerüttelt Maß an übertriebenem britischen Patriotismus: Robert Scott, der am 18. Januar 1912 den Südpol erreichte, nur um dort festzustellen, dass Roald Amundsen ihm um einen ganzen Monat zuvorgekommen war. Durch einen Schneesturm in seinem Zelt gefangen und nur knapp zwanzig Kilometer von sei nem Vorratslager entfernt, erfror Scott; sein letzter Tagebucheintrag hat in den gesamten Annalen des britischen Understatements nicht seinesgleichen, und ich muss gestehen, dass er mir noch heute die Tränen in die Augen treibt: »Es scheint bedauerlich, aber ich glaube, ich kann nicht wei terschreiben.« In meiner eigenen Domäne geht die zweifelhafte (und zugegebener maßen ein wenig umstrittene) Stellung als berühmtester Zweiter konkurrenzlos an Alfred Russel Wallace. Er entwickelte 1858, als er auf der indo nesischen Insel Ternate an einem Malariaanfall litt, praktisch die gleiche Theorie der natürlichen Selektion, zu der Darwin 1838 gelangt war (ohne sie aber zu veröffentlichen). Was weiter geschah, ist allgemein bekannt: Wallace schickte seinen kurzen Aufsatz an Darwin, den er als Naturforscher sehr bewunderte und der sich, wie Wallace wusste, stark für »die Artenfrage« interessierte. (Allerdings hatte Wallace keine Ahnung von Dar wins Theorie, die mit seiner nahezu identisch war, ja ihm war vermutlich noch nicht einmal klar, dass Darwin überhaupt eine Theorie im Kopf hatte.) Darwin, der nun verständlicherweise in Panik geriet, fragte seine besten Freunde Charles Lyell und Joseph Hooker um Rat. Die Lösung
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wurde in der Geschichte später als »heikles Arrangement« bekannt: Dar wins Freunde stellten im Juli 1858 beide Theorien gemeinsam der Londoner Linnaean Society vor. Bei dieser Tagung verlasen sie sowohl Walla ces Aufsatz als auch mehrere unveröffentlichte Briefe und Manuskripte von Darwin, aus denen hervorging, dass er bereits früher auf die gleiche Idee gekommen war. Verschwörungstheoretiker stehen immer in den Startlöchern, und ge rade auf diese Episode haben sie sich mehrmals eingeschossen, nach meiner Überzeugung aber vergeblich und ohne stichhaltige Begründung. Ja, Wallace wurde nie gefragt (er war nahezu unerreichbar auf der anderen Seite des Globus, und die Zeit drängte). Ja, Darwin war reich und angesehen, Wallace dagegen ein armer junger Mann, der um seinen Lebens unterhalt und Ruf kämpfen musste. (Warum gestand man ihm dann aber mit Darwin eine gemeinsame Präsentation unveröffentlichter Ergebnisse zu?) Nein, nach meiner Überzeugung trifft hier die übliche, langweilige Erklärung zu: Es herrschte der ganz normale Anstand (was natürlich einer spannenden Geschichte nicht gerade dienlich ist). »Heikles Arrangement« ist eine zutreffende Bezeichnung: Es war die faire Lösung für ein schwieriges Problem. Darwin konnte zu Recht die Pri orität geltend machen, und er hatte nicht gezögert oder sich auf alten An sprüchen und Lorbeeren ausgeruht. Er hatte sorgfältig an seinen Ansich ten über die Evolution gearbeitet, und als er Wallaces Aufsatz erhielt, hatte er bereits fast die Hälfte eines viel längeren Buches über natürliche Selek tion fertig gestellt, das er später (angetrieben zweifellos durch die Angst, auch andere könnten ihm zuvorkommen) aufgab, um die viel kürzere »Zusammenfassung« zu verfassen, die 1859 unter dem Titel Die Entstehung der Arten erschien (und immer noch ein recht umfangreiches Werk von 490 Seiten ist). Wallace selbst beklagte sich jedenfalls nie, sondern er fühlte sich offen sichtlich geehrt, dass seine Arbeit eines einzigen Abends auf diese Weise mit Darwins sehr viel längeren Bemühungen in Verbindung gebracht wurde. (Mit dieser Behauptung stütze ich mich natürlich nicht auf Wal laces öffentliche Äußerungen, denn hier hätte seine Stellung hinter Dar win jeden offenen Ausdruck der Verbitterung verboten. Aber auch in sei nen wirklich umfangreichen privaten Notizen, Briefen und Gesprächen ließ Wallace nie etwas anderes als Freude darüber erkennen, dass Darwin bereit war, ihm zumindest einen Teil des Verdienstes zuzugestehen.)
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Die Abbildungen in diesem Kapitel erschienen Ende des 19. Jahrhunderts in Frankreich und stellen vorausgesagte Errungenschaften des 20. Jahrhunderts dar.
Ich habe aber auch nichts gegen die übliche Einschätzung, wonach Wallace durch unglückliche äußere Umstände behindert wurde und ganz einfach großes Pech hatte. Er verbrachte in seiner Jugend mehrere Jahre auf schwierigen, gefährlichen Expeditionen im Amazonasgebiet, und dann verlor er alle seine Funde bei einem Schiffbruch, durch den er auch selbst fast ums Leben gekommen wäre. Dennoch verzweifelte er nicht, sondern er stach kurz darauf in der anderen Richtung in See und betrieb dann mehrere Jahre lang ganz ähnliche Arbeiten im malaiischen Archipel, wo er bei der größten biologischen Entdeckung aller Zeiten den zweiten Platz erreichte. Er wuchs in armen Verhältnissen auf (nämlich in einer Familie, die von ihrer gesellschaftlichen Stellung her zwar zur Mittelklasse gehörte, finanziell aber viel schlechter gestellt war), und als Erwachsener führte er zwar ein recht gesichertes Leben, hatte aber nie genügend Mittel, um sein eigentliches Ziel zu erreichen: ungehindert Wissenschaft zu betreiben ohne die Notwendigkeit, sich seinen Lebensunterhalt selbst mit Büchern und Vorträgen zu verdienen. (Eine staatliche Pension, die Darwin und seine Freunde für Wallace durchsetzten – teilweise vielleicht um ein gewisses Schuldgefühl zu beschwichtigen –, war ihm sicher nicht unangenehm, konnte ihm aber auch die finanzielle Unabhängigkeit nicht si chern.)
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Da Wallace lange lebte (1823-1913), zum Broterwerb wie auch aus Überzeugung ein fruchtbarer Schriftsteller war und außerdem leidenschaftlich verschiedene drollige Ansichten vertrat, hinterließ er uns ein umfangreiches, in Inhalt und Qualität sehr vielgestaltiges Vermächtnis. Er kämpfte nach seinen eigenen, sehr persönlichen Maßstäben leidenschaft lich für Recht und Gerechtigkeit, und er setzte sich nachdrücklich für eine Reihe von Überzeugungen ein, die schon zu seiner Zeit als »verrückt« galten und auch heute so wirken, unter anderem für Phrenologie und Spiri tualismus (wobei er mit Skeptikern wie Darwin und Huxley fast handgreiflich wurde); andererseits kämpfte er gegen die Impfung, die er als »einen der schändlichsten Flecken auf der Zivilisation des 19. Jahrhunderts« bezeichnete. Seine politischen Ansichten entziehen sich einer ein fachen Beschreibung, allgemein kann man ihn aber dem Lager eines unentschlossenen demokratischen Sozialismus zuordnen, angereichert jedoch durch die völlige Begeisterung für wenige Lieblingsziele, die bei den meisten Menschen auf der Liste unverzichtbarer Reformen nicht gerade obenan standen. Ich habe für die Essays in diesen Büchern schon häufig aus Wallaces umfangreichen Arbeiten geschöpft, sowohl wegen seiner Klugheit (mit der er beispielsweise die Ideen von Percival Lowell über Kanalbauer auf dem Mars entlarvte) als auch wegen seiner Schrulligkeit (wenn er behauptete, er habe eigentlich bewiesen, dass im ganzen Universum kein an derer Planet als die Erde intelligentes Leben beherbergen könne). Jetzt aber berufe ich mich zum ersten Mal vorsorglich auf Wallace, und das, nachdem ich beträchtliche Geduld aufgebracht und auf den richtigen Au genblick gewartet habe. Der Versuchung, eine solche Erklärung abzugeben, kann sich wohl kaum ein engagierter Autor entziehen, der sich auf dem Höhepunkt sei ner angeblichen Klugheit und Reife einem Wendepunkt der öffentlichen Meinung nähert. Die Übergänge zwischen unseren Jahrhunderten stehen wohl in keinerlei Beziehung zu irgendwelchen natürlichen Kreisläufen im Kosmos. (Solche Übergänge bezeichne ich im Untertitel meines Buches Der Jahrhundert-Zahlenzauber als »Scheinwelt numerischer Ordnungen«.) Dennoch sehen wir in einer solchen künstlichen Trennlinie die Gelegenheit, Bestandsaufnahme zu machen, insbesondere wenn es sich um eine Jahrhundertwende handelt, in deren Zusammenhang es sogar einen eigenen Begriff für die regelmäßig wiederkehrende Angst gibt: Fin-de
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Siècle-Phänomen. (Die bevorstehende Jahrtausendwende dürfte den Anlass zu einem noch größeren Angstausbruch geben, aber hier fehlt uns die Erfahrung für eine Voraussage. Zumindest was die beiden belegten Übergänge angeht, bin ich belustigt über die schwindende Qualität der Furcht: Das letzte Mal befürchtete man in Europa alle schrecklichen Prophezei ungen des Jüngsten Gerichts, wie sie im Kapitel 20 der Offenbarung beschrieben werden. Bei diesem zweiten Erlebnis in der abendländischen Geschichte konzentrieren sich unsere Sorgen auf die Frage, was wohl geschieht, wenn Computer den großen Übergang als Rückkehr ins Jahr 1900 interpretieren.)* Auch Alfred Russel Wallace konnte also das 19. Jahrhundert nicht en den lassen, ohne der Welt seine eigene Zusammenfassung, sein Urteil und seine Voraussagen zu präsentieren. Er brachte 1898 das Buch The Won derful Century: Its Successes and Failures heraus, und ich warte schon seit mehreren Jahren darauf, dass ich gegen Ende unseres Jahrtausends den hundertsten Geburtstag dieses Werkes feiern kann. Ich habe mir meine Anmerkungen für dieses Forum der Essays über Evolution aufgespart, ei nerseits weil Wallace gerade auf dieser Bühne eine bedeutende Rolle spielt, und andererseits weil das Genre der Zusammenfassungen zur Jahrhundertwende zwei miteinander verbundene, aber eigenständige Themen umfasst, die mir als Aufhänger für diesen Essay dienen: die Beziehung zwischen Wissenschaft und Gesellschaft (zwangsläufig ein Kernstück, wenn man das 19. Jahrhundert mit seiner technologisch inspirierten industriellen und kolonialen Expansion richtig einschätzen will), und die Unvor hersagbarkeit der Zukunft von Evolution und Gesellschaft (ironischer weise das Thema, das letztlich dieses ganze Genre – Zusammenfassung der Vergangenheit in der Hoffnung, daraus eine bessere Zukunft abzuleiten – sinnlos macht). Als Grundlage für seine Zusammenfassung des 19. Jahrhunderts bietet uns Wallace eine einfache These an – eine gebräuchliche Ansicht über den Zusammenhang zwischen Wissenschaft und Gesellschaft, formuliert vor dem Hintergrund einer bestimmten Epoche. Wissenschaft, so Wallace, hat zu beispiellosen Errungenschaften geführt, die sich (zumindest was ihre Auswirkungen auf das Alltagsleben angeht) vor allem im technischen Fortschritt äußern, aber dieser Fortschritt wurde behindert oder sogar ins * Dieser Essay erschien erstmals im Jahr 1998.
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Gegenteil verkehrt, weil wir keine ethischen Fortschritte gemacht haben, die sich insbesondere in der Linderung gesellschaftlicher Ungleichheit ausdrücken würden. Deshalb habe der wissenschaftliche Fortschritt bei allem Potenzial für gesellschaftliche Verbesserungen ironischerweise in Wirklichkeit dazu geführt, dass das Elend der Menschen insgesamt größer wurde. Das Buch beginnt mit einer Formulierung von Wallaces These: Das vorliegende Werk ist in keinem wie auch immer gearteten Sinn und auch nicht in einem noch so begrenzten Umfang historisch. Man kann es vielleicht als Urteil über das Jahrhundert bezeichnen – über das, was es geleistet und was es ungetan gelassen hat... eine vergleichende Abschätzung der Zahl und Bedeutung dieser [materiellen und geistigen] Errungenschaften führt zu der Schlussfolgerung, dass unser Jahrhundert nicht nur allen früheren überlegen ist, sondern dass man es am besten mit der gesamten vorangegangenen historischen Epoche ver gleicht. Es muss deshalb als Beginn einer neuen Ära im Fortschritt der Menschen gelten. Aber das ist nur die eine Seite der Medaille. Zusammen mit diesen erstaunlichen Erfolgen – vielleicht auch als ihre Folge – gab es ebenso auffällige Fehlschläge, manche davon geistiger Natur, die meisten aber ethisch und gesellschaftlich. Keine unparteiische Einschätzung unseres Jahrhunderts kann darauf verzichten, sie zu benennen; und es ist durchaus nicht unwahrscheinlich, dass sie den Histori kern der Zukunft als sein auffälligstes Merkmal erscheinen werden. In seinem ersten, kürzeren Abschnitt über den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt versucht Wallace sogar, den relativen Wert der Er rungenschaften des 19. Jahrhunderts quantitativ zu fassen; dabei gelangt er zu der Schlussfolgerung, dieses eine Jahrhundert habe, was die Summe seiner Fortschritte angeht, die gesamte vorherige Menschheitsgeschichte übertroffen: Um die Bedeutung und Herrlichkeit [des 19. Jahrhunderts] in vollem Umfang einschätzen zu können – insbesondere wenn man die größere Macht des Menschen über die Natur und die Nutzung dieser Macht für die Bedürfnisse seines heutigen Lebens sowie die unbegrenzten zukünftigen Möglichkeiten betrachtet –, müssen wir es nicht nur mit
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einem beliebigen früheren Jahrhundert oder auch mit dem letzten Jahrtausend vergleichen, sondern mit der gesamten historischen Periode – vielleicht sogar mit dem gesamten Zeitraum, der seit der Steinzeit vergangen ist. In den Kapiteln seines ersten Teils beschreibt er dann die wichtigsten, durch wissenschaftliche Fortschritte angeregten Erfindungen, die für das Leben im 19. Jahrhundert so große potenzielle Verbesserungen mit sich brachten: die Kontrolle über das Feuer (mit weit reichenden Folgerungen von der Dampfmaschine bis zum Kraftwerk), die Arbeit erleichternde Maschinen, Verkehrsmittel, Kommunikationswege und Beleuchtung (mit dem Höhepunkt der Glühbirne). Seine Beispiele verbinden dabei häufig Charme mit tieferer Erkenntnis (ganz ähnlich wie wir, die wir noch einmal ein Jahrhundert weiter sind, wenn wir an das ganz andersartige Le ben unserer gar nicht so weit entfernten Vorfahren erinnern). Über seine eigene Kindheit beispielsweise schreibt Wallace: Die jüngere Generation, die im Zeitalter von Eisenbahn und Ozean dampfer aufgewachsen ist, macht sich kaum klar, welch gewaltige Veränderung wir Älteren miterlebt haben ... Noch in meiner eigenen Kindheit waren der Rollwagen für die Armen, die Postkutsche für die Mittelschicht und die privaten Kutschen für die Wohlhabenden die all gemeinen Fortbewegungsmittel, denn es gab damals nur zwei kurze Ei senbahnstrecken ... Hunderte von vierspännigen Wagen und Postkutschen, deren Kutscher auf Hörnern oder Trompeten spielten, wenn sie durch eine Stadt oder ein Dorf fuhren, verliehen dem Landleben eine Lebhaftigkeit und idyllische Schönheit, die heute fast völlig in Vergessenheit geraten ist. Ich muss gestehen, dass ich einen persönlichen Grund habe, warum Wal laces bestes Beispiel für seine Ansicht, das 19. Jahrhundert übertreffe die gesamte frühere Geschichte in der Größe seiner technischen Fortschritte, mich so besonders fasziniert: Die Reise von London nach York nahm nach seinen Angaben während der römischen Besetzung weniger Zeit in Anspruch als im Jahr 1800, kurz bevor es die ersten Eisenbahnen gab – denn die Römer bauten bessere Straßen und hielten sie besser instand, Pferde dagegen kamen 1800 nicht schneller voran als 300 n. Chr. (Mich belustigt
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dabei auch die analoge Beobachtung, dass die Bahnfahrt auf meiner Hausstrecke zwischen New York und Boston während des letzten Jahrhunderts langsamer geworden ist. Eine Dampflok legte die Strecke im 19. Jahrhundert schneller zurück als heute der schnellste Zug von Amtrak, der von New York bis New Haven elektrisch fährt, dann aber erheblich Zeit verliert, weil für die nicht elektrifizierte Strecke von New Haven nach Boston eine Diesellok vorgespannt werden muss. Man erzählt uns zwar, die vollständige Elektrifizierung und damit eine gewaltige Verbesserung stünden unmittelbar bevor. Aber wie lange schon, mein Gott, wie lange schon!) Als ich Wallaces Beispiele las, wurde ich zu meiner Freude auch an vielen Stellen an das entscheidende Prinzip erinnert, dass alle wahrhaft kreativen Erfindungen vorläufig und flexibel sein müssen, weil viele funk tionierende, elegante Ideen schnell veralten – wie bei diesem vorüberge henden Triumph der Nachrichtenübermittlung über das kurz zuvor erfundene Telefon: Nur den wenigsten ist bekannt, dass eine ähnliche Anwendung für das Telefon bereits in Buda Pesth [sic, gemeint ist Budapest, das damals gerade aus zwei Nachbarstädten mit den von Wallace genannten Namen entstanden war] in Form einer Telefonzeitung existiert. Zu bestimmten, festgelegten Zeiten während des Tages wird ein guter Vorleser zu dem Zweck beschäftigt, anzurufen und ganz bestimmte Kategorien von Nachrichten in die Häuser und Büros der Abonnenten zu übermitteln, sodass jeder die gewünschten Neuigkeiten hören kann, ohne dass sich durch den Druck und die Verbreitung in aufeinander folgenden Ausgaben der Zeitung eine Verzögerung ergibt. Es wird behauptet, die Nachrichten würden den Abonnenten auf diesem Weg für wenig mehr als die Kosten einer Tageszeitung zugestellt, und das ist ein großartiger Erfolg. Aber in seinem zweiten, längeren Abschnitt führt Wallace dann detailliert die Fehlschläge des 19. Jahrhunderts auf; Grundlage ist dabei stets die An nahme, ethischer Stillstand habe zu missbräuchlicher Anwendung des beispiellosen wissenschaftlichen Fortschritts geführt: Wir Menschen des 19. Jahrhunderts waren moralisch und gesellschaft lich nicht in der Lage, die gewaltige Macht zu beherrschen und zum
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Guten oder Bösen zu benutzen, die der schnelle Fortschritt der wissenschaftlichen Entdeckungen uns verliehen hat. Unsere hoch gerühmte Zivilisation war in vielerlei Hinsicht nur eine oberflächliche Tünche; und unsere Regierungsmethoden stehen weder mit dem Christentum noch mit der Zivilisation im Einklang. Bestärkt wird diese Ansicht durch die Überlegung, dass alle europäischen Kriege des Jahrhunderts auf Streitigkeiten zwischen Herrscherhäusern zurückzuführen waren oder dem nationalen Aufstieg dienten; nie wurden sie ge führt, um Sklaven zu befreien oder die Unterdrückten zu schützen, ohne dass dahinter letztlich egoistische Zwecke gestanden hätten. Anschließend wendet Wallace sich seinem eigenen Land zu und erhebt den vernichtenden Vorwurf, unser kapitalistisches System habe sich des durch technischen Fortschritt erzielten Wohlstandes bemächtigt und ihn an wenige Eigentümer der Produktionsmittel verteilt, während gleichzeitig die absolute und relative Armut der normalen, arbeitenden Menschen zugenommen habe. Kurz gesagt, werden nach seiner Überzeugung die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer: Eines der auffälligsten Merkmale unseres Jahrhunderts war die gewal tige, stetige Zunahme des Reichtums, ohne dass das Wohlergehen des gesamten Volkes entsprechend gewachsen wäre; vielmehr zeigt eine
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Fülle von Belegen, dass die Zahl der sehr Armen – jener, die mit einem Mindestmaß der lebensnotwendigen Dinge auskommen müssen – ungeheuer zugenommen hat, und viele Anzeichen sprechen dafür, dass sie heute einen größeren Anteil der Gesamtbevölkerung darstellen als in der ersten Hälfte des Jahrhunderts oder in jeder früheren historischen Epoche. An den schönsten Stellen schreibt Wallace voller Leidenschaft und Ent rüstung, so beispielsweise in diesem Abschnitt über die vermeidbare Ver giftung von Industriearbeitern: Lasst uns jeden Todesfall, der eindeutig auf gefährliche Arbeiten zurückzuführen ist, zum Mord erklären, für den die Eigentümer... mit Gefängnis zu bestrafen sind... so wird man bald Wege finden, die gif tigen Gase abzuleiten oder zu nutzen, und man wird die automatischen Apparate zur Verfügung stellen, die das tödliche weiße Blei und das Bleichpulver transportieren und verpacken; das Gleiche würde sicherlich geschehen, wenn einzig die Angehörigen der Eigentümer oder Per sonen gleicher Lebensstellung als Arbeiter zur Verfügung stünden. Noch entsetzlicher als die Vergiftung mit weißem Blei ist jene durch Phosphor in den Streichholzfabriken. Phosphor ist zur Streichholzherstellung nicht notwendig, aber er ist ein klein wenig billiger und lässt sich ein klein wenig leichter anzünden (weswegen er auch gefährlicher ist), und deshalb wird er immer noch in großem Umfang verwendet; auf die Arbeiter hat er eine entsetzliche Wirkung, denn er zerfrisst die Kiefer mit den qualvollen Schmerzen einer Krebserkrankung, auf die der Tod folgt. Wird man in zukünftigen Epochen glauben, dass dieses furchtbare, unnötige Herstellungsverfahren, dessen Übel gründlich be kannt sind, noch bis zum Ende dieses Jahrhunderts gestattet war, eines Jahrhunderts, das so viele großartige, nützliche Entdeckungen für sich beansprucht und stolz auf die Höhe seiner Zivilisation ist? Wallace macht kaum gezielte Vorschläge für eine neue Gesellschaftsord nung, formuliert aber ein allgemeines Prinzip: Die Klasse der Kapitalisten ist ungeheuer viel reicher geworden... Und so muss es auch bleiben, bis die Arbeiter lernen, was sie als Einziges ret
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ten wird, um dann die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Die Kapitalisten werden sich mit nichts als ein paar kleinen Linderungen ein verstanden erklären, welche die Bedingungen für ausgewählte Klassen der Arbeiter verbessern, aber die große Masse werden sie dort lassen, wo sie heute ist. Ich bezweifle, dass Wallace irgendwelche groben, kriegerischen Fantasien von einem gewaltsamen Umsturz hatte, der durch die Straßen Londons fegt und von den Aposteln einer neuen, besseren Welt einschließlich sei ner selbst mit dem Gewehr in der Hand angeführt wird. Er war ein viel zu sanftmütiger Mensch, als dass eine solche Art der Erneuerung ihm überhaupt in den Sinn gekommen wäre. Allerhöchstens hätte er sich um eine Wahlrechtsreform bemüht und die Organisation in Gewerkschaften als ein Mittel angesehen, mit dem Arbeiter »die Sache selbst in die Hand neh men« konnten. Sein letztes Kapitel mit dem Titel »Das fehlende Heilmit tel« geht kaum über den naiven Vorschlag hinaus, alle kostenlos und nach ihren Bedürfnissen mit Brot zu versorgen, und dies durch eine freiwillige (allerdings stark moralisch verpflichtende) staatliche Steuer der Bürger mit den höchsten Einkommen zu finanzieren. Wallaces Zusammenfassung des 19. Jahrhunderts – eine Geschichte des stetigen, unausweichlichen technischen Fortschritts, der zu Fall gebracht wird, weil unser ethisches und gesellschaftliches Empfinden mit ihm nicht Schritt hält – macht das zweite Thema des vorliegenden Essays deutlich, das ebenfalls mit Evolution zu tun hat und das gesamte Genre der Jahrhundertwende- (oder Jahrtausendwende-) Zusammenfassungen in Frage stellt: Die Zukunft der Menschen lässt sich nicht vorhersagen, und der Ge danke, man könne auf Grund früherer Trends eine Aussage über die Prin zipien der Zukunft machen, ist sinnlos. Die technologische Entwicklung dürfte zwar gewisse Vorhersagemöglichkeiten bieten – die Wissenschaft bewegt sich durch ein Geflecht von Folgerungen, und jede Entdeckung legt eine Fülle weiterer Schritte nahe. (Aber selbst in der Geschichte der »reinen« Wissenschaft kommen unvorhergesehene Erkenntnisse vor, und wir müssen uns auch mit der hartnäckigen Neigung der Natur abfinden, unsere Erwartungen zu enttäuschen. Beides sind Faktoren, die jede Kristallkugel verdunkeln müssen.) Außerdem muss jede Voraussage über die Zukunft die aufreizende Instabilität in Rechnung stellen, die durch die Wechselbeziehungen zwischen technologischem Wandel und den seltsa
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men individuellen wie auch sozialen Verhaltensweisen der Menschen entsteht. Wie sollen demnach die Zufälligkeiten, die unsere Vergangenheit gestaltet haben, sinnvolle Erkenntnisse über das nächste Jahrtausend möglich machen? Nach meiner Überzeugung liefert die Vergangenheit sogar noch schlechtere Aussichten für eine Voraussage, als es nach Wallaces Geschichtsmodell den Anschein hat, denn neben seiner Behauptung, dass technischer und moralischer Wandel nicht im Einklang stehen, müssen wir noch einen weiteren destabilisierenden Faktor in Rechnung stellen. Wallace übersah eine allgemeine, wichtige Gesetzmäßigkeit in der Natur, weil er völlig dem Lyell’schen (und Darwinschen) Gradualismus als Grundprinzip für das Leben auf der Erde verhaftet war. In seinem Buch widmet er ein ganzes Kapitel (in dem ersten Abschnitt über den wissenschaftlichen Fortschritt) der Behauptung, die Verdrängung der Katastrophentheorie durch die uniformitarianistische Geologie – die Vorstellung, dass die wichtigen Merkmale in Geschichte und Topografie der Erde »fast ausschließlich auf die langsame Wirkung altvertrauter, alltäglicher Ursachen zurückzuführen sind« und dass man sie deshalb nicht »fast immer mit Umwälzungen in der Natur erklären sollte« – stelle »einen der größten philosophischen Wendepunkte des 19. Jahrhunderts dar«. Wallace wusste, dass das Auseinanderklaffen von technischem und ethischem Wandel zu katastrophalen Brüchen in der Menschheitsge schichte führen kann, aber diese Tatsache betrachtet er in der Funktionsweise der Natur als Ausnahme, die sich nicht verallgemeinern lässt. Heute, wo wir mit unserem modernen Empfinden in Katastrophen auch für die Natur wieder eine wichtige Möglichkeit (allerdings kein ausschließliches Prinzip) sehen, gewinnt dieses Thema auch als stichhaltiges Argument gegen eine Vorhersagbarkeit an Bedeutung. Dass die Vergangenheit keine Aussagen über die Zukunft in sich trägt, ist keine Besonderheit der Menschheitsgeschichte, sondern auch ein charakteristisches Kennzeichen der Natur: Nur allzu oft stört eine Gesetzmäßigkeit, die der Struktur von Materie und Naturgesetzen innewohnt – in meiner Terminologie »die große Asymmetrie« –, eine ansonsten vorhersagbare Entfaltung histori scher Abläufe. Jedes komplexe System muss langsam und der Reihe nach aufgebaut werden, wobei jedes Mal nur ein Schritt (oder einige wenige) vollzogen und dabei ständig koordiniert werden. Sind solche komplexen Systeme
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aber einmal vorhanden, können sie in einem winzigen Bruchteil ihrer notwendigen Entstehungszeit – häufig in wahrhaft katastrophalen Augenblicken – zerstört werden; das macht die große Asymmetrie zwischen Aufbau und Vernichtung aus. Das Feuer eines einzigen Tages zerstörte in der Bibliothek von Alexandria das gesammelte Wissen eines Jahrtausends und in London die Bauwerke aus Jahrhunderten. Der letzte Blaubock in Südafrika und der letzte neuseeländische Moa gingen durch einen kurzen Schlag oder Schuss von Menschenhand unter, aber ihre Evolution nahm Jahrmillionen in Anspruch. Die Kluft zwischen technischem und ethischem Fortschritt trägt als destabilisierender Faktor zur großen Asymmetrie bei und verhindert, dass wir Trends aus der Vergangenheit in die Zukunft fortschreiben können – denn wir wissen nie, wann und wie die Axt der großen Asymmetrie zuschlägt, wobei sie manchmal die alte Welt reinigt und durch Umwälzungen eine bessere neue schafft, häufiger aber (so fürchte ich) einfach eine Schneise der Zerstörung schlägt, sodass eine echte Wiedergeburt aus der Asche der alten Systeme notwendig wird (wie es in der Geschichte des Lebendigen nach Episoden des Massenaussterbens so häufig auf wunder same, unvorhersehbare Weise geschehen ist). Deshalb bin ich, was Möglichkeiten für Zukunftsprophezeiungen angeht, sogar noch weniger enthusiastisch als Wallace – obwohl ich andererseits glaube, dass er in einer wichtigen Beziehung zu weit ging. Anders als Wallace bin ich nicht ganz der Ansicht, dass die Technik große Fortschritte gemacht hat, während die Moral stagnierte. Ich habe vielmehr den Eindruck, dass auch das allgemeine ethische Niveau zumindest in den letzten tausend Jahren der abendländischen Geschichte beträchtlich angestiegen ist – auch wenn ich nicht erkennen kann, wie eine solche Be hauptung sich quantitativ untermauern ließe. Wir halten heute in den meisten Teilen der Welt keine Sklaven mehr, sperren Frauen nicht mehr de facto ein, machen uns nicht über geistig Behinderte lustig, verbrennen keine Hexen, metzeln Konkurrenten nicht mit fröhlicher Rücksichtslosig keit oder unhinterfragtem Gerechtigkeitsgefühl nieder. Die besondere Tragödie unserer modernen Zeit – und unsere daraus erwachsende Unfähigkeit, die Zukunft vorauszusagen – liegt vielmehr im Wesentlichen in der großen Asymmetrie und der daraus erwachsenden, unbeabsichtigten Macht der Wissenschaft, die Wirkungen dieses Prinzips zu verstärken. Ich vermute, dass vor tausend Jahren zwanzig Hitlers über kleine Gruppen
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der europäischen Bevölkerung herrschten. Aber was konnten solche Mini-Ungeheuer schon ausrichten – mit Pfeil und Bogen, Rammböcken und einer kleinen Mannschaft von Henkern? Heute kann ein böser Mensch in wenigen Monaten den Mord an Millionen ins Werk setzen. Und schließlich macht ein faszinierender Maßstabseffekt alle verblei benden Hoffnungen auf sinnvolle Voraussagen zunichte. Ja, wenn man aus ganz, ganz großem Abstand die Geschichte unserer Technik überblickt, erkennt man nach meiner Vermutung eine ganz allgemeine Form sinnvoller Ordnung, die gewisse Erkenntnisse über zukünftige Möglich keiten eröffnet. Die Erfindung der Landwirtschaft hatte tatsächlich Bevölkerungswachstum und den Bau von Dörfern zur Folge; nach der Erfindung des Schießpulvers bestand Kriegsführung nicht mehr in der Belagerung ummauerter Städte; und der Computer muss Auswirkungen auf die gedruckten Medien haben. Solange die große Asymmetrie nicht Tabula rasa macht (und die Erde vielleicht sogar ganz von unserer Gegenwart befreit), sollte man hinter den nicht vorhersehbaren Launen jedes einzelnen Augenblicks einige umfassende Gesetzmäßigkeiten des technischen Fortschritts erkennen können. Das schon, aber nahezu immer konzentrieren sich unsere quälenden Fragen nach der Zukunft nicht auf die weit gefassten, in viel größerem Maßstab wirksamen Prinzipien, sondern auf die Einzelheiten. Wir wollen wissen, ob unsere Kinder in Frieden und Wohlstand leben werden, ob die
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Freiheitsstatue auch unsere Enkelkinder noch auf ihren Schulausflügen faszinieren (oder langweilen) wird und ob sie noch zur Begrüßung einer weiteren Einwandererwelle bereitsteht. Meist stellen wir unbestimmte, allgemeine Fragen über eine nicht allzu weit entfernte Zukunft, die sich eigentlich nicht sonderlich von dem unterscheidet, was wir bereits kennen oder vermuten. Man braucht nur einmal die am häufigsten diskutierte Gesetzmäßigkeit in der Menschheitsgeschichte seit der Erfindung der Schrift zu betrachten: Aufstieg, Verbreitung und beherrschende Stellung der europäi schen Geisteswelt, zurückzuführen im Wesentlichen auf die Technologie von Schießpulver und Navigation. Die abendländische Erklärung dafür, die größtenteils natürlich ihren eigenen Zwecken diente, konzentrierte sich traditionell auf zwei aufeinander folgende Ursachen – auf zwei zwar verblüffend unterschiedliche Behauptungen, die aber auf seltsam einheit liche Weise die europäische Vorherrschaft als etwas Vorhersagbares oder sogar Vorherbestimmtes betrachten. Die erste ist so alt wie unsere beklagenswerte Selbstüberschätzung: Es wird einfach verkündet, die europäische Bevölkerung sei von sich aus überlegen – eine Behauptung, die in den letzten Jahrhunderten noch häss licher wurde, weil man der altmodischen Fremdenfeindlichkeit die falsche Doktrin des wissenschaftlichen Rassismus aufpfropfte. Nach der zweiten – die vor allem aus dem Wunsch erwächst, den falschen, ethisch üblen Rassismus zu überwinden und Geschichte dennoch als etwas Vorhersag bar-Sinnvolles zu betrachten – sind die Menschen zwar auf der ganzen Welt mehr oder weniger gleich, aber bestimmte Klima-, Boden- und Umweltbedingungen müssten den technischen Fortschritt anregen, und die Europäer hätten nun einmal zufällig am richtigen Ort gelebt. Dieses zweite Argument hat viel für sich und ist auf einer Erklärungsebene, die mit viel Distanz die großen Prinzipien betrachtet, vielleicht stichhaltig. Wenn man deterministisch denkt, erscheint keine andere Begründung sinnvoll, insbesondere wenn man die vielen genetischen Stu dien aus neuerer Zeit in Rechnung stellt, wonach zwischen allen Gruppen der Menschen nur geringfügige Unterschiede bestehen, während die gemeinsamen Merkmale gewaltiges Gewicht haben und es auch innerhalb jeder Gruppe eine beträchtliche Variabilität gibt. Aber noch einmal möchte ich die meisten Leser dieses Essays (der ursprünglich in einem Land der westlichen Hemisphäre und seiner Sprache
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erschien und anfangs vorwiegend von Menschen europäischer Abstam mung gelesen wurde) bitten, in sich hineinzuhorchen und nach den Motiven ihrer Fragen zu forschen: Wollen Sie wirklich etwas über die zugegebenermaßen zwangsläufige, weit gefasste Entwicklung wissen, die sich aus Bodenbeschaffenheit und geografischer Breite ergibt, oder fragen Sie nach einer Petitesse, die im Bereich des Unvorhersehbaren liegt? Nach meiner Vermutung geht es uns tatsächlich meist um diese kleinen Dinge, aber wir legen bei unseren Fragen den falschen Maßstab an und reden von Vorhersagbarkeit. Ja, eine komplexe Technologie musste wahrscheinlich bei Menschen in mittleren Breiten entstehen, deren Länder sich für eine Landwirtschaft eigneten – nicht bei den Inuit oder Samen in eisigen Regionen mit begrenzten Ressourcen, und nicht in den heißesten Gebieten der Tropen, deren Vegetation sich nicht roden ließ und die unerträglich mit Krank heiten belastet waren. Aber bei welchen Völkern der mittleren Breiten? Oder, um ehrlicher zu sein (und das Gleiche gilt für die Mehrzahl der eng lischsprachigen Leser, die diesen Essay in seiner ursprünglichen Form vor sich haben): Warum bei Menschen meiner Gruppe und nicht bei deinen? Wenn ich ganz ehrlich in mich gehe, habe ich den Verdacht, dass die meisten Leser europäischer Abstammung die Ausbreitung der europäi schen Vorherrschaft als sinnvollen, vorhersehbaren Vorgang betrachten, der auch ein zweites Mal ablaufen würde, wenn wir das Band der Zeit bei
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spielsweise bis zur Geburt Jesu zurückspulen könnten, sodass die Mensch heitsgeschichte sich noch ein zweites Mal unabhängig abspielt. Aber ich würde weder den Schild eines Hopliten noch die Muskete eines Franzosen darauf verwetten, dass es dabei wiederum zur europäischen Vorherr schaft käme. Die kleinen Launen von Millionen »Hätte-sein-können« sind es, die Geschichte machen, nicht die vorhersagbaren Folgen weniger, abstrakter Prinzipien, die weit von unseren Interessen entfernt in einem weit gefassten, nebelhaften Hintergrund liegen. Können wir wirklich behaupten, Kolumbus’ Karavellen hätten die un ausweichliche Verbreitung einer ganz bestimmten Art von Menschen eingeleitet? Sicher nicht: Der große chinesische Admiral Zheng He (in einem früher üblichen Transliterationssystem als Cheng Ho bezeichnet) leitete zwischen 1405 und 1433 mit Hilfe eines von seinem Volk erfundenen Kompasses sieben Schiffsexpeditionen bis zu den Küsten Ostafrikas. Einige seiner Schiffe waren fünfmal so groß wie eine europäische Karavelle, und eine Expedition dürfte aus bis zu 62 Schiffen mit 28 000 Mann Besatzung bestanden haben. Sicher, Zheng He reiste im Auftrag des Kaisers Yung-lo, der als einziger Herrscher der Ming-Dynastie solche Expansionsbestrebungen unter stützte. Seine Nachfolger unterdrückten die Seefahrt und machten sich eine strenge Isolationspolitik zu Eigen. (Obwohl ich für mich keine Fach kenntnis in chinesischer Geschichte in Anspruch nehme, ist mir auch klar,
10. Spekulationen über die Zukunft 277
dass man Zhengs Reisen eher als nebensächliche Expeditionen zur Ver herrlichung des Kaisers betrachten muss und nicht als Vorboten imperia listischer Expansion nach westlichem Vorbild. Nebenbei bemerkt – und das ist ein weiterer Beleg dafür, wie stark wir von Unterschieden fasziniert sind –, habe ich nie ein Schriftstück über Zheng He gelesen, in dem nicht schon im ersten Absatz berichtet würde, dass der große Admiral sowohl Moslem als auch Eunuch war. Mir wurde nie ganz klar, warum das von Bedeutung sein sollte, denn schließlich findet ein Kapitän die Richtung nicht mit den Eiern; andererseits wissen wir aber, dass Eunuchen am Kai serhof während der gesamten Geschichte des chinesischen Reiches eine große Rolle spielten.) Aber nun einmal angenommen, die chinesische Geschichte hätte sich ein wenig anders entwickelt? Angenommen, die Nachfolger des Kaisers Yung-lo hätten seine Expansionspolitik nicht aufgegeben, sondern wei terverfolgt? Angenommen, spätere Admiräle hätten neben ihren beispiel losen Schifffahrts- und Navigationsfähigkeiten auch eine andere chine sische Erfindung – das Schießpulver – genutzt, um fremde Länder zu unterwerfen und zu besetzen? Müssen wir dann nicht annehmen, dass das europäische Abendland zu einer rückständigen Kolonie geworden wäre? Auch in der Geschichte des Abendlandes selbst müssen wir dramatische (und ganz und gar plausible) Alternativen berücksichtigen. Kam irgend eine von Menschen ausgehende Kraft jemals der Energie gleich, mit der der Islam sich im sechsten Jahrhundert n. Chr. vom Ort seiner Entstehung aus verbreitete? Der bekannte Reisende Ibn Battuta verschaffte sich Mitte des 14. Jahrhunderts innerhalb von drei Jahrzehnten einen Überblick über die gesamte islamische Welt. Hätte irgendjemand in dieser histori schen Epoche angesichts des Islam noch einen Pfifferling auf das Christentum gegeben? (Und wie stehen die Wetten heute trotz des vorübergehenden Erfolges der europäischen Lehren?) Die Encyclopaedia Britannica meint dazu: »Thomas von Aquin (ca. 1224-1274) wurde wohl von Spa nien bis nach Ungarn und von Sizilien bis nach Norwegen gelesen; aber Ibn al-’Arabi (1165-1240) fand seine Leser von Spanien bis nach Sumatra und von der Swahili-Küste bis nach Kazan an der Wolga.« Der Islam hätte Europa mehrmals beinahe unterworfen, und in einigen Fällen hätte das Ergebnis durchaus auch anders aussehen können. Vielleicht hatten die Mauren der iberischen Halbinsel es nie auf ganz Europa abgesehen, trotz der vordergründigen Geschichte, die wir früher in unse
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rem konventionell-abendländischen Geschichtsunterricht gelernt haben – dass nämlich der Islam seinen Höhepunkt erreicht hatte und einen unausweichlichen Niedergang erlebte, nachdem Karl Martell die Mauren 732 bei Poitiers geschlagen hatte. Dazu bemerkt die Britannica: »Die an dalusischen Moslems hatten nie ernsthafte Ambitionen auf die Gebiete jenseits der Pyrenäen. Karl Martell traf 732 nicht auf eine islamische Armee, sondern auf einen Haufen Freibeuter.« Dennoch blieb fast tausend Jahre lang eine echte Bedrohung bestehen. Hätte der große Timur (auch Tamerlan genannt), der türkische Eroberer von Samarkand, den Blick nicht nach China gerichtet, und wäre er nicht 1405 vor seinem Zug nach Osten gestorben, hätte Europa auch seiner Form des Islam verfallen können. Die ottomanischen Sultane nahmen 1443 mit ihrer gut ausgebildeten, leistungsfähigen Armee das alte Konstantinopel (heute Istanbul) ein und lagen noch 1683 vor den Toren Wiens – ein letzter Fehlschlag, dem wir als bis heute lebendiges Erbe das Croissant verdanken, das Frühstückshörnchen, das die Wiener Bäcker nach dem Vorbild des Halbmondes formten, um den Sieg zu feiern. (Eine kleine Fußnote: Man beachte, dass ich nicht einmal Attila, Dschingis Khan und mehrere andere ernsthafte Gefahren für die europäische Vorherr schaft erwähnt habe.) Unsere Geschichte hätte auf Millionen verschiedenen, gleichermaßen plausiblen Wegen ablaufen können, und wir haben kein hinreichendes Gespür dafür, in welche Richtung es weitergeht. Aber ein guter moralischer Kompass in Verbindung mit der intelligenten Nutzung wissenschaftlicher Errungenschaften kann uns noch für lange Zeit (jedenfalls nach unseren Maßstäben, so mickrig sie in erdgeschichtlicher Perspektive auch erscheinen mögen) das Überleben und sogar den Wohlstand sichern. Die Ressourcen sind vorhanden, aber werden wir sowohl den Wil len als auch das Urteilsvermögen aufbringen, um weiter den ersten Platz in einem Spiel zu belegen, das nur Möglichkeiten, aber niemals Garantien bietet – einem Spiel, das jene mit Vergessenheit straft, die zwar die Gelegenheit haben, den Augenblick aber nicht beim Schöpfe packen, sondern sich stattdessen in die große Asymmetrie der üblichen historischen Folgen vertiefen?
Teil IV Sechs kleine Aufsätze zu Bedeutung und Ort des Ausgezeichneten
11. Tieftaucher im Quell der Weisheit 281
Nährboden und Leistung
11. Tieftaucher im Quell der Weisheit Die meisten berühmten Zitate sind Fälschungen. Wer bekommt schon unter maximalem Stress in der Schlacht oder kurz vor dem Tod eine scharfsinnige Formulierung auf die Reihe? Ein Militärbefehlshaber sagt doch wohl eher ganz profan »Scheiße, jetzt kommen sie« und versteigt sich nicht zu »Feuert erst, wenn ihr das Weiße in ihren Augen seht«. Ebenso kennen wir viele Zeilen aus der Literatur eher als gängige falsche Zitate und nicht in ihrer ursprünglichen Form. Bogart sagte nie »Play it again, Sam«, und Jesus verkündete nicht: »Wer durch das Schwert lebt, soll durch das Schwert umkommen.« Ironie des Schicksals: Das berühmteste aller Zitate über das Hauptthema unseres geistigen Lebens – das Lernen – verpfuscht die ganze Zeile und stellt »Wissen« an die Stelle des Originals. Setzen wir also in Alexander Popes »Essay on Criticism« wieder das richtige Wort ein: A little learning is a dangerous thing; Drink deep, or taste not the Pierian Spring; There shallow draughts intoxicate the brain, And drinking largely sobers us again. [Ein wenig Lernen, das ist ein gefährlich Ding, Tief tauche ein, willst du den Quell Pieriens schmecken, Die kleinen Schlucke, sie vernebeln dir den Sinn, Mit tiefen Zügen nur wirst du die Nüchternheit entdecken.] Zu der Frage, warum die Stelle ständig mit »a little knowlegde is a dange rous thing« [ein wenig Wissen, das ist ein gefährlich Ding] falsch zitiert wird, habe ich eine Theorie, eine Vermutung, die ich mit einer peinlichen
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persönlichen Erfahrung untermauern kann. Nach meiner Überzeugung haben die meisten Autoren etwas gegen eine vollständige, richtige Wie dergabe, weil sie nicht wissen, was die entscheidende zweite Zeile bedeu tet. Was um alles in der Welt ist eine »Pierian Spring«, und wie erklärt man das Zitat, wenn man das nicht weiß? Also kramen sie nur die erste Zeile falsch aus dem Gedächtnis, und das »Lernen« ist verschwunden. Zu Beginn dieses kurzen Essays über das Lernen in der Wissenschaft habe ich mir geschworen, die Pierian Spring so zu erklären, dass ich den ganzen Vierzeiler zitieren kann – was ich bisher nie getan habe, weil ich fürchtete, jemand könne mich danach fragen. Und wie sich herausstellte, ist die Antwort erfreulich schnell zu finden – nachdem ich in einer Enzyklopädie zwei Minuten lang eine falsche Spur verfolgt und zwei hierfür bedeutungslose Artikel über Künstler namens Piero gelesen hatte, fand ich, was ich suchte, im Oxford English Dictionary. Pieria, so belehrt uns dieses altehrwürdige Nachschlagewerk, ist »eine Region im Norden Thes saliens, der Sage nach die Heimat der Musen«. Pierian wird also zum »Attribut der Musen; Anspielung im Zusammenhang mit Dichtung und Lernen«. Nun grübelte ich also über das Lernen nach. Ist meine kleine Geschichte nicht ein Beispiel für ein allgemeines Prinzip? Wir wollen etwas lernen, fürchten aber, es werde zu schwierig sein und wir würden es nie begreifen. Wenn wir es dann aber ausprobieren, kommen wir ganz leicht auf die Antwort – und genießen die Erkenntnis, denn keine Freude ist größer als die über die endgültige Lösung eines kleinen Rätsels. Einfach ist es jedenfalls, solange wir über die notwendigen Hilfsmittel verfügen (nicht jedem steht das Oxford English Dictionary zur Verfügung; und, was noch betrüblicher ist: Die meisten Menschen haben nie gelernt, dieses große Nachschlagewerk zu benutzen, ja sie wissen noch nicht einmal, dass es existiert.) Lernen ist oftmals einfach, weil der menschliche Geist wie ein Schwamm von erstaunlichem Aufnahmevermögen und großer Saugkraft funktioniert – jedenfalls dann, wenn seine Poren durch richtige Ausbildung und Motivation offen gehalten wurden. Nach einem Allgemeinplatz unserer Kultur, den auch die Klagen der Lehrer immer wieder verstärken, ist Naturwissenschaft am schwierigsten zu lernen und deshalb das sprödeste, unzugänglichste aller Fachgebiete. Sie mag im Mittelpunkt unseres praktischen Lebens stehen, aber ihre Inhalte bleiben fast allen Amerikanern verschlossen, sodass sie ihren Nutzen
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entweder vertrauensvoll annehmen müssen (man lässt das Auto an oder schaltet den Computer ein und hofft, dass das blöde Ding funktioniert) oder ihre fremdartige Macht fürchten (wird mein Klon mir die Individu alität rauben?). Wir gehen davon aus, dass die Öffentlichkeit nur über sehr oberflächliche naturwissenschaftliche Kenntnisse verfügt, weil nur die wenigsten Interesse oder Vertrautheit mit dem Thema erkennen lassen (vor allem weil sie fürchten, man werde sie für völlig unfähig halten) und weil jene, die ihr Unvermögen eingestehen, tatsächlich nur sehr unzurei chende Kenntnisse besitzen. Um also noch einmal Popes chaotische Metapher zu gebrauchen: Die Amerikaner scheuen die »tiefen Züge«, die man für eine nüchterne Betrachtung braucht, und erfahren nur beängsti gend wenig über Naturwissenschaft. Allerdings habe ich den starken Verdacht, dass diese unter Lehrern jeg licher Couleur weit verbreitete und fast gebetsmühlenhaft wiederholte Meinung einen tief greifenden und (so könnte man angesichts der zen tralen Bedeutung und Krisenanfälligkeit der Bildung sagen) gefährlichen Fehler darstellt; ich halte sie für die Folge eines verbreiteten Irrtums in den naturhistorischen Wissenschaften – zu denen ich in diesem Fall auch die Gesellschaftswissenschaft rechne: Die Begriffe stimmen nicht. Nach mei ner Überzeugung ist Naturwissenschaft herrlich einfach zu verstehen, die meisten Menschen sind daran sehr interessiert, und der allgemeine Kenntnisstand ist recht hoch – allerdings im Rahmen einer allgemein antiintellektuellen Kultur. Wir haben nur den Fehler begangen, die Gebiete, in denen die Öffentlichkeit am meisten lernt, nicht in das Spektrum der Naturwissenschaft einzubeziehen. (Und wie Pope unterscheide ich zwi schen dem Lernen, das heißt dem tief greifenden Verstehen durch lange Bemühungen und Erfahrung, und dem bloßen Wissen, das man mecha nisch aus einem Buch abschreiben kann.) Natürlich behaupte ich nicht, die meisten Menschen hätten sich die weit reichende fachliche Qualifikation angeeignet, die man für eine berufliche Beschäftigung mit Naturwissenschaften braucht. Aber diese Aus sage gilt für alle Fachgebiete und Tätigkeiten, selbst in den am wenigsten abgehobenen und überhaupt nicht mathematischen Disziplinen von Kunst und Geisteswissenschaft. Die wenigsten Amerikaner könnten in einem Symphonieorchester die Violine spielen, aber fast jeder kann lernen, Musik auf ernsthaft intellektuelle Weise zu schätzen. Die wenigsten können Altgriechisch oder mittelalterliches Italienisch lesen, aber jeder
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kann in einer neuen Übersetzung von Homer oder Dante schwelgen. Und entsprechend können auch nur die wenigsten die mathematischen Berechnungen eines Teilchenphysikers nachvollziehen, aber jeder kann begreifen, welche zentralen Themen hinter den tief greifendsten Fragen nach dem letzten Wesen der Dinge stehen, und sogar den Unterschied zwischen einem Charm-Quark und einem Top-Quark erkennen. Was das falsche System angeht: Wir gestehen nicht nur Berufsmusikern angemessene Kenntnisse über Musik zu; warum also sollen naturwissen schaftliche Kenntnisse nur bei jenen vorhanden sein, die in Labors zu Hause sind, mit Messinstrumenten hantieren und Fachaufsätze schrei ben? Systeme sind Theorien des Wissens, nicht objektive Schlupflöcher, Hutablagen oder Briefmarkenalben mit vorbestimmten Plätzen. Ein falsches System, das sich auf eine unsinnige Theorie des Wissens stützt, kann uns gewaltig in die Irre führen. Als Guillaume Rondelet 1555 in sei nem klassischen Werk über das System der Fische die Liste seiner Kategorien mit »flache, platt gedrückte Fische«, »Fische, die zwischen Felsen wohnen«, »kleine Fische« (pisciculi), »Echsengattungen« und »nahezu runde Fische« einleitete, verhinderte er fast völlig jeden Einblick in die wirkliche, stammesgeschichtliche Grundlage ihrer historischen Reihenfolge. Millionen Amerikaner lieben die Naturwissenschaft und kennen das schöne Gefühl, echte Fachkenntnisse in einer selbst gewählten Ausdrucksform zu besitzen. Aber diesen Ausdrucksformen lassen wir nicht die Ehre zuteil werden, sie als Kategorien im Bereich der Wissenschaft zu betrachten; das sollten wir aber tun, denn sie entsprechen den Hauptkriterien: detailliertes Wissen über die Natur und kritisches Nachdenken auf der Grundlage von Logik und Erfahrung. Betrachten wir einmal die fol gende kleine Liste, die alle Alters- und Gesellschaftsgruppen einschließt und einen beträchtlichen Anteil der Gesamtbevölkerung umfasst. Wür den alle genannten Personen ihr Engagement als aktive Wissenschaft begreifen, könnten Demokratie und Gelehrsamkeit sich die Hände reichen, und wir könnten lernen, eine tief gehende, weit verbreitete Begeisterung im Sinne einer breiteren Bildung zu nutzen. (Ich danke Philip Morrison, einem der klügsten Wissenschaftler und Humanisten Amerikas, dass er mich vor vielen Jahren mit dieser Argumentation bekannt machte und mein Denken damit ins richtige Gleis lenkte.) 1. Hoch entwickelte Kenntnis über Gewässerökologie bei Aquarianern;
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diese, meist Männer aus der Arbeiterklasse, werden von Intellektuellen, die vorwiegend aus anderen sozialen Gruppen stammen, nicht zur Kennt nis genommen. 2. Gartenbauerfahrungen bei den vielen Millionen Mitgliedern von Kleingärtnervereinen, bei denen es sich vielfach um ältere Frauen aus der Mittelschicht handelt. 3. Der Hang der wohlhabenden Schichten zu Vogelbeobachtung, Safarireisen und Ökotourismus. 4. Genaue naturhistorische Kenntnisse bei Millionen Jägern und Ang lern. 5. Astronomische Kenntnisse (und Erfahrungen von der Praxis des Lin senschleifens bis zur theoretischen Optik) bei den Teleskopliebhabern mit ihren Vereinen und Zeitschriften. 6. Technisches Verständnis bei Autobastlern, Modellbauern und Hob byseglern. 7. Statistische Kenntnisse bei guten Pokerspielern und Pferdewetten zockern. (Das menschliche Gehirn kann über Wahrscheinlichkeiten besonders schlecht nachdenken – ein größeres Hindernis für echte naturwissenschaftliche Überlegungen kenne ich nicht. Aber viele Amerikaner haben auf dem Weg über die Brieftasche gelernt, Wahrscheinlichkeitsüberlegungen zu begreifen.) 8. Mein schlagendes Lieblingsbeispiel: die von Amerikas Kindern so in nig geliebten Dinosaurier. Ich würde mir wünschen, wir könnten quan titativ die gewaltige geistige Leistung aller amerikanischen Fünfjährigen erfassen, die ungeheuer komplizierte Dinosauriernamen richtig buchsta bieren. Dann könnten wir wirklich Berge versetzen. Die allgemeine Meinung aber ist ganz und gar rückwärts gewandt. Wir halten Naturwissenschaft für schwierig, mühevoll und kompliziert, und die Lehrer können das notwendige Wissen angeblich nur durch Drohun gen und Ermahnungen einer kleinen Minderheit einbläuen, die dazu eine angeborene Begabung besitzt. Nein. Die meisten Menschen hegen zu Be ginn ihrer Ausbildung eine angeborene Liebe zur Naturwissenschaft (denn die ist letztlich nur eine Methode, um Tatsachen und Prinzipien der Welt um uns herum kennen zu lernen, und wer könnte bei einem so nahe liegenden Thema gleichgültig bleiben?). Diese Liebe muss uns ausgetrieben werden, wenn wir später abspringen und perverserweise behaupten, das Gebiet sei uns verhasst oder bedrohlich. Aber die gleiche Liebe zieht
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sich auch durch das ganze Leben der vielen Millionen Menschen, die Amateure in dem kostbaren, ursprünglichen Sinn des Wortes bleiben (»Liebende«) und ein naturwissenschaftliches »Hobby« betreiben, das wir fälschlich nicht im Kategoriengerüst des Fachgebietes unterbringen. Deshalb fällt die Aufgabe des Nährens und Rettens jenen zu, deren Berufsbezeichnung ich häufig als das edelste Wort unserer Sprache bezeich net habe: den Lehrern. (An zweiter Stelle auf meiner Liste stehen die Eltern; aber die Lehrer rangieren noch vor ihnen, denn Eltern haben nach ihrer anfänglichen Entscheidung später keine Wahl mehr.) Kämpfen wir mit Wut (und Verstand) gegen den Tod der leuchtenden, kindlichen Fas zination. Und dann machen wir es dem ersten Lehrer in der englischen Literatur nach, dem Schreiber Oxenford in Chaucers Canterbury Tales, der beides, Verstand und Herz, für jene öffnete, »welche glücklich lernen, und welche glücklich lehren«.
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12. Ewiges Requiem* Im Jahr 1764 prüfte der englische Gelehrte Daines Barrington ein musi kalisches Wunderkind, das gerade zu Besuch war, auf seine Fähigkeiten von Gedächtnis, Auftreten, Komposition und Improvisation. Der verblüffte Zuhörer äußerte starke Zweifel an dem angeblichen Alter des Prüflings – acht Jahre – und fragte sich, ob Vater Leopold nicht einen gut trai nierten, kleinwüchsigen Mann als seinen Sohn ausgab. Deshalb hielt Barrington sein Zeugnis sechs Jahre lang zurück, bis ihm der Beweis in Form einer Geburtsurkunde vorlag; sie lautete auf den Namen Johannes Chrysostomus Wolfgangus Theophilus Mozart (was der Komponist selbst später zu Wolfgang Amadeus verkürzte) und stammte aus einer untadeligen Quelle: nach Barringtons Beschreibung von »Seiner Exzellenz, dem Grafen Haslang, außerordentlicher Gesandter und bevollmächtigter Mi nister der Kurfürsten von Bayern und der Pfalz«. Barrington merkte an, viele frühreife Genies würden schon in jungen Jahren sterben, und schloss seinen Aufsatz mit dem inständigen Wunsch, Mozart möge so lange leben wie Großbritanniens berühmtester deutscher Import Georg Friedrich Händel, der fünf Jahre zuvor mit 74 Jahren gestorben war. Barrington schrieb: »Es steht zu hoffen, dass der kleine Mozart im Gegensatz zu der verbreiteten Beobachtung, dass solche ingenia precocia allgemein ein kurzes Leben haben, das gleiche vorgerückte Alter erreichen möge wie Händel.« Nun, Mozart lebte immerhin so lange, dass er zu Mozart wurde, aber er wurde noch nicht einmal halb so alt wie Händel. Als er 1791 mit 35 Jah ren starb, hinterließ er sein letztes und großartigstes Werk, das Requiem, * Dieser Artikel wurde ursprünglich für das Booklet einer CD mit Mozarts Re quiem verfasst.
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unvollendet. Die letzte Note seines Lebens schrieb er zu dem schmerzlich gut passenden Text Lacrimosa dies illa – jener Tag voller Tränen. Kein Musikwerk hat jemals mehr Menschen zu Tränen gerührt und den Anlass zu mehr mythologischem Unsinn gegeben, bis hin zu Geschichten von dem Maskierten, der das Stück heimlich in Auftrag gab, oder von dem rätselhaften Giftmörder, der die Gelegenheit nutzte, einen Konkurrenten ums Leben zu bringen. (Natürlich verwob Peter Shaffer alle diese Fanta siegebilde zu einer raffinierten Handlung voller psychologischer Wahrheiten: Amadeus.) Ich war während meines gesamten bewussten Lebens begeisterter Chorsänger und liebe das Requiem von ganzem Herzen. Ich habe es mindestens ein Dutzend Mal gesungen – in einer Zeitspanne, die länger war als Mozarts Leben (von einer ersten Studentenaufruhrung mit neunzehn Jahren bis zu einer letzten Anstrengung mit fünfundfünfzig). Ich mag mir nicht einmal ausmalen, um wie viel ärmer unser Leben ohne solche Musik wäre. Wie jedes wahrhaft große Werk eines Genies (so habe ich bei spielsweise auch Darwins Entstehung der Arten alle zehn Jahre einmal ge lesen, und jedes Mal war es ein ganz neues, anderes Buch), so verfehlt auch das Requiem nie seine Wirkung, uns zu belehren und zu inspirieren. Oder, wie Shakespeare über Kleopatra sagte: »Nicht kann sie Alter hinwelken, täglich Sehn an ihr nicht stumpfen die immerneue Reizung.«* Nicht gesetzmäßige Ordnung, sondern unvorhersehbare Zufälle bestimmen über den Lauf der Geschichte. Ein kleiner Zweig des Stamm baumes, Homo sapiens genannt, bewohnt diese Erde, weil er bei ungeheuer geringer Wahrscheinlichkeit großes Glück gehabt hat. Sehnen wir uns nicht alle nach der Macht, an solchen Wahrscheinlichkeiten ein win zig kleines bisschen zu drehen – das Tonband der Geschichte noch einmal ablaufen zu lassen und dabei eine scheinbar belanglose Änderung vorzu nehmen, die später lawinenartig riesige Konsequenzen nach sich zieht? Machen wir einmal das unrealisierbare große Gedankenexperiment und nehmen wir an, bis 1791 habe sich nichts geändert, aber Mozart habe bis 1830 gelebt und sei demnach so alt wie Händel geworden. Können wir auch nur erahnen, welchen Genuss, gemessen in Freudenquanten für Mil liarden Menschen, weitere vierzig Symphonien uns verschafft hätten, * Aus: Antonius und Kleopatra, II. Akt, 2. Szene; Übersetzung von Wolf Graf Bau dissin.
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dazu ein Dutzend Opern, vielleicht zu so erhabenen Texten wie Hamlet, Faust oder König Lear7. Können wir uns ausmalen, wie anders die Geschichte der Musik und ganz allgemein der menschlichen Kreativität un ter so geringfügig veränderten Umständen verlaufen wäre? Ich denke, wir sollten uns stattdessen auf die Segnungen besinnen, die wir haben. Klagen wir nicht über einen frühen Tod im noch nicht einmal halben HändePschen Alter. Freuen wir uns lieber, dass Pocken, Typhus und rheumatisches Fieber (an allen litt er als Kind) Barringtons Wunderkind nicht dahinrafften, bevor es heranwachsen und zu Mozart werden konnte. Wäre er nach Mitridate gestorben (einer Jugendoper von zweifelhaftem Rang), Mozart wäre, was die Klagen angeht, eine Fußnote geblieben. Stattdessen besitzen wir den erhabensten Schwanengesang, der je mals komponiert wurde: dieses Requiem. Sein Schlusstext könnte durchaus ein Dankgebet sein für das majestätische Geschenk, das Mozart der Menschheit aller Zeiten mit seiner Musik gemacht hat: lux aeterna, ewiges Licht.
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13. Ein Hoch auf ihn! Im Jahr 1927, als mein Vater zwölf wurde, eröffnete Al Johnson mit The Jazz Singer das Zeitalter des Tonfilms. Am Broadway hatte Show Boat von Jerome Kern und Oscar Hammer stein Premiere, Charles Lindbergh flog mit der Spirit of St. Louis über den Atlantik nonstop nach Paris, der Staat Massachusetts ließ Sacco und Vanzetti hinrichten, und Babe Ruth schaffte in einer einzigen Saison sechzig Home-Runs. Roger Maris übertraf 1961, im Sommer meines 19. Geburtstages, den Rekord von Babe mit 61, und sein Teamkollege Mickey Mantle, der unmit telbar nach ihm am Schlag war, kam in einer der beiden größten HomeRun-Schlachten der Baseballgeschichte auf 54. Diesen Sommer wird Mark McGwire die 61 mit Sicherheit übertreffen und es vielleicht sogar auf sieb zig bringen* (wobei Sosa in dem größten Wettlauf aller Zeiten unmittelbar dahinter oder vielleicht auch knapp vor ihm liegen wird). Meine Söhne, beide auf unterschiedliche Weise ebenfalls Fans, werden 29 und 25. Dass wir auf diese magische Zahl, die wichtigste im amerikanischen Sport, so versessen sind, hat mindestens drei stichhaltige Gründe. Erstens hat sich im Baseball seit hundert Jahren keine wichtige Spielregel verän dert, und deshalb können wir in echter Kontinuität über mehrere Generationen hinweg forschen und vergleichen. In unserem Leben folgt zwangsläufig eine Saison auf die andere. Mein Vater sah bei Ruth zu, ich * Diesen Essay schrieb ich ursprünglich für das Wall Street Journal zur Feier von McGwires sechzigstem Home-Run mit der sicheren Erkenntnis, dass er Maris’ alten Rekord von 61 brechen würde. Da sich fast alle Prophezeiungen, die ich in meinem Leben gemacht habe, später als geradezu lächerlich unzutreffend erwiesen haben, bin ich nicht wenig stolz auf den einen Fall, in dem eine meiner Voraussagen aus reinem Glück voll und ganz eingetroffen ist. McGwire beendete die Saison mit genau 70 und Sosa mit 66.
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bei Maris, und meine Söhne sitzen bei McGwire. Aber das Spiel macht auch immer den gleichen glorreichen Kreislauf durch – auf jeden Winter der Entbehrung folgt der Frühling der Saisoneröffnung. Zweitens haben Rekorde im Baseball eine klare Bedeutung als persönliche Leistungen, in den meisten anderen Mannschaftssportarten dagegen kann man sie nur als seltsames Gemenge bezeichnen. Wilt Chamberlain erreichte einmal in einer einzigen Basketballpartie hundert Punkte, aber nur weil seine Teamkameraden sich an diesem Tag auf die seltsame Strategie verlegt hatten, ihm praktisch jeden Ball zuzuspielen. Home-Runs sind Mano a mano, Schlagmann gegen Werfer. Drittens – und wie soll ich es sonst ausdrücken – ist Baseball einfach ein wahnsinnig tolles Spiel, das im amerikanischen Sport schon längst zum Dreh- und Angelpunkt für Mythen und Traditionen geworden ist – und der Home-Run ist mit seiner Kraft und Eindeutigkeit das größte Symbol von allen. Man kann die Ansicht vertreten, es habe Babe Ruth an ökumenischem Bewusstsein gemangelt, als er 1947 in seiner großen, bewegenden Rede im Yankee-Stadion, wo sich die gesamte Baseballelite zu Ehren ihres sterbenden Helden versammelt hatte, sagte: »Ich glaube, das einzig wahre Spiel der Welt ist Baseball... Man muss ganz klein anfangen... wenn man sechs oder sieben ist... und man muss mit ihm zusammen wachsen.« Aber wer wollte leugnen, dass Babes Gefühle von Herzen kamen? Als alter Hase, der sich mit dem Wettrennen des Jahres 1962 zwischen Mantle und Maris eingehend beschäftigt hat, bin ich von den engen Paral lelen zu McGwire/Sousa fasziniert. Die beiden Yankees von 1961 verkör perten unterschiedliche urtümliche Mythen über Spitzenleistungen: Mantle, der verdiente Held, der sein ganzes Leben auf das Jahr seiner Be stimmung hingearbeitet hatte; und Maris, der begabte Überflieger, der jene süße Phase im Leben eines Menschen genoss, in der sich alles auf wundersame Weise zusammenfügte. (Maris schaffte in keiner anderen Saison mehr als 39.) Damals gewann der Wundersportler (und Schande über alle Lästerer!). Glück oder Bestimmung, das spielt keine Rolle; Roger Maris schaffte es. Der Mantle dieses Jahres ist Mark McGwire. Seit Ruth war niemand so entschlossen, niemand arbeitete so hart und zielstrebig darauf hin, die eigenen Begabungen auszuschöpfen. Er ist der wahre Könner, und dieses ist sein Jahr. Niemand, nicht einmal Ruth, schaffte in drei aufeinander fol genden Jahren jeweils mehr als fünfzig Home-Runs – und das ist McGwire
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jetzt gelungen. (Aber wird irgendwann einmal jemand Ruths zweite große Leistung übertreffen? Er hatte von 1920 bis 1932 jedes Jahr über vierzig Home-Runs vorzuweisen, außer in zwei Jahren, in denen er verletzungs bedingt in mehr als 40 Spielen pausieren musste. Andererseits spielte Hank Aaron 23 Jahre lang – ein Musterbeispiel der Beständigkeit. Er schaffte aber in keinem Jahr mehr als 47, und nur einmal kam er in zwei aufeinander folgenden Jahren auf über vierzig Home-Runs.) Sammy Sosa ist dieses Jahr der Maris, der von wer-weiß-wo kommt und den Vertreter der Entschlossenheit herausfordert. Ein Hoch auf beide! Aber im Mittelpunkt unserer Aufmerksamkeit steht zu Recht McGwire wegen der geradezu unheimlichen, Ehrfurcht gebietenden Qualität seiner Leistungen. Die meisten großen Rekorde werden durch kleine und kleins te Vorsprünge gebrochen, und keine Einzelgestalt steht um Klassen über den normalen Sterblichen: Maris mit 61, Ruth mit 60, noch einmal Ruth mit 59, Foxx, Greenberg und McGwire (letzte Saison) mit 58, Wilson und Griffey (ebenfalls letzte Saison) mit 56. Aber einige wenige Champions stehen so weit über dem Zweitplatzier ten, dass wir uns fast fragen müssen, ob solche Personen wirklich der Spe zies Homo sapiens angehören. Denken wir nur an DiMaggios Serie von 56 Treffern im Jahr 1941 (die bei den meisten Sportstatistikern einschließlich meiner selbst als unwahrscheinlichste Leistung des gesamten amerikani schen Leistungssports gilt)* im Vergleich zu den Zweitplatzierten Keeler und Rose, die mit jeweils 44 weit abgeschlagen sind; oder Jim Thorpes einsame Siege im Fünf- und Zehnkampf bei den Olympischen Spielen 1912; oder, als Zeichen, wie ein Einzelner die Kunst des Home-Run erfand, den ersten hohen Wert von Babe Ruth mit 54 im Jahr 1920 – mit dieser Zahl übertraf er ganz allein die Summe jeder anderen vollständigen Mannschaft in der American League! Zur handverlesenen Gruppe derer, die zu übermenschlichen Leistungen in der Lage sind, gehört auch McGwire. Er könnte die siebzig errei chen und damit den gleichen Abstand hinter sich legen, der auch DiMag gio und Thorpe von ihren nächsten Rivalen trennt. Außerdem sind seine Schläge auch von ihrem Charakter her fast unglaublich. Ein Home-Run von 400 Fuß ist zwar nicht selten, verdient aber Beachtung und ist ein Grund, stolz zu sein. In der Major League liegen die Home-Runs in ihrer * Einzelheiten und Belege für diese Behauptung in Kapitel 15.
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Mehrzahl zwischen 300 und 400 Fuß. Nun ja, von McGwires ersten sech zig erreichten nur 18 die 400 nicht, und einige maßen über 500 – eine Zahl, die zuvor nur alle paar Jahre einmal von allen Spielern zusammen erreicht wurde. Angesichts solcher außergewöhnlicher Leistungen würden wir gern be sondere Ursachen finden. Aber nach meiner Überzeugung offenbart diese Suche eine tief verwurzelte Schwäche des menschlichen Denkens. Wir brauchen nach keinem besonderen Grund zu fragen, abgesehen vom Glück bei vielen, im Wesentlichen zufälligen Ereignissen vor dem Hintergrund der garantierten Leistungen eines der größten Home-Run-Schlä ger der Baseballgeschichte. Es interessiert mich nicht, ob die dünne Luft von Colorado Home-Runs begünstigt. Es interessiert mich nicht, ob der Ball beweglicher oder die Schlagzone kleiner ist. Und erst recht interessiert es mich nicht, ob McGwire im Training mit frei verkäuflichen Substanzen nachhilft, die im Major League Baseball erlaubt sind.* (Was für ein Unsinn, McGwire für etwas verantwortlich zu machen, was völlig außerhalb seines Aufgabenbereichs liegt und ausschließlich in die Domäne der Baseballfunktionäre fällt – und alles nur, weil wir fürchten, unsere Kinder könnten ihn nachäffen! Lassen wir nicht zu, dass solche Heuchelei den größten Augenblick unseres sportlichen Lebens verdunkelt!) Mark McGwire konnte sich durchsetzen, weil er in seiner Person die beiden großen Naturkräfte vereinigt: Glück und entschlossene Anstren gung, das Geschenk eines außergewöhnlichen Körpers und eine so hartnäckige Hingabe an Training und Mühen, dass sie nur mit der buchstäb lichen Bedeutung eines großartigen Wortes richtig beschrieben ist: Enthusiasmus – »Aufnahme Gottes«. * Ich will hier nicht von der Unlogik und Heuchelei anfangen, die sich in der Ein stellung der Öffentlichkeit zu Drogen offenbart – einem echten, tragischen Problem, bei dem es nicht hilft, sondern nur schadet, wenn falsche Begrifflichkeit und morali sierende Hysterie fruchtbare Gedanken unterdrücken und lähmen. McGwire (und viele andere Baseballspieler) nimmt Androstendion, das heute ganz legal und rezept frei in Drugstores zu haben ist (und das offen beworben wird, anders als Kondome, die man in meiner Jugend nur unter dem Ladentisch und auf Nachfrage erhielt). An genommen, die Verbände entschließen sich eines Tages zu einem Verbot, weil es den Testosteronspiegel steigen lässt: Sollen wir dann im Rückblick McGwire verunglimp fen, weil er nach den Gesetzen seiner Zeit gehandelt hat? Erklären wir die Errungenschaften aller Künstler, Intellektuellen, Politiker und Schauspieler für nichtig, die glaubten, Rauchen beruhige die Nerven und steigere deshalb die Leistungsfähigkeit?
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De Mortuis nur wahrhaft Bonum
14. Ein leuchtender Stern unter Milliarden* Mit dem gleichen Neid wie Saul, der tausend Jubelrufe erhielt und deshalb David seine zehntausend missgönnte, stempeln auch Wissenschaftler häufig die gute, für alle nützliche Arbeit von Kollegen ab. Wir leben in einem Land der Philister mit vielen Goliaths, und wir wissen, dass Wis senschaft sich aus staatlichen Geldtöpfen speist. Deshalb betonen wir alle ständig mit Lippenbekenntnissen, wie wichtig eine klare, allgemein verständliche Darstellung unserer Arbeit ist. Aber warum setzen wir dann den Ruf von Kollegen herab, denen es gelingt, Kraft und Schönheit der Wissenschaft dem Herz und Verstand einer faszinierten, meist aber unwissenden Öffentlichkeit zu vermitteln? Dieser engstirnige Fehler – unser eigenes Philistertum – erwächst zum Teil daraus, dass wir nichts über die lange, ehrbare Tradition einer populären Wissenschaftsdarstellung wissen und deshalb allgemein ver ständliche Darstellungen fälschlich für etwas Triviales, Billiges, Ungenaues halten. Große Wissenschaftler haben immer die großartigsten populären Schriften verfasst, ohne damit die Ehrenhaftigkeit von Thema oder Autor zu beeinträchtigen. Im siebzehnten Jahrhundert schrieb Gali lei seine beiden wichtigsten Bücher als Dialoge auf Italienisch, sodass jeder Lesekundige sie verstehen konnte, und nicht als lateinische Ab handlungen ausschließlich für Gelehrte. Im achtzehnten Jahrhundert verfasste der Schweizer Forscher J. J. Scheuchzer die wunderschöne illus trierte achtbändige Physica sacra, auf deren 750 ganzseitigen Kupfersti chen die naturgeschichtlichen Hintergründe aller biblischen Ereignisse * Dieser Aufsatz war ursprünglich ein Editorial für Science, das führende Fachblatt unserer Branche – deshalb wendet er sich mehr an Berufswissenschaftler und weni ger an das allgemeine Publikum.
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abgebildet waren. Im neunzehnten Jahrhundert schrieb Charles Darwin die Entstehung der Arten, das wichtigste und revolutionärste wissenschaftliche Werk aller Zeiten, für ein allgemeines Lesepublikum. (Meine Studenten fragen mich oft, warum sie das Fachbuch nicht finden können, das als Vorlage für Darwins allgemein verständliches Werk diente; dann erkläre ich ihnen, dass die Entstehung der Arten beide Funktionen erfüllt und dass diese sich nicht widersprechen, ganz im Gegenteil.) Mit Carl Sagan haben wir sowohl einen hervorragenden Wissenschaftler als auch den größten populären Autor des zwanzigsten Jahrhunderts oder vielleicht aller Zeiten verloren. In seinen vielen Büchern und insbesondere in der monumentalen Fernsehserie Unser Kosmos – in unserem Jahrhundert die Entsprechung zu Scheuchzers Physica sacra und die am weitesten verbreitete Darstellung unseres Arbeitsgebiets in der gesamten Menschheitsgeschichte – erklärte Carl der allgemeinen Öffentlichkeit die Methoden und Inhalte unserer Tätigkeit. Die Spannung bei Entdeckun gen vermittelte er mit einer unvergleichlichen Mischung aus persönlicher Begeisterung und glasklarer Präsentation, wie sie kein Vorgänger jemals erreichte. Ich trauere um ihn vor allem deshalb, weil ich einen lieben Freund verloren habe, aber ich bin auch betrübt, dass viele Wissenschaft ler niemals richtig einschätzen konnten, wie großartig und wichtig er für uns alle war; einige der besten lehnten ihn (bei einem beschämenden Vor fall an der National Academy of Sciences) unübersehbar ab. (Carl war ein ausgesprochen heiterer Mensch, aber ich weiß, dass dieses Ereignis ihn tief verletzte.) Zu viele von uns haben nie begriffen, welch historischen Dienst er der Naturwissenschaft erwiesen hat. Ich möchte Carl Sagans Scharfsinn und Ehrlichkeit in drei kurze Aus sagen fassen. Erstens bewegte er sich in einem Zeitalter, das durch die Verschmelzung hoher und volkstümlicher Kultur gekennzeichnet ist, mühelos durch das gesamte Spektrum, ohne jemals den wissenschaftlichen Inhalt zu schmälern. Er konnte mit Johnny Carson Witze reißen, eine Kolumne für Parade schreiben und einen Science-Fiction-Roman verfas sen, während er gleichzeitig ein reges Institut leitete und Fachaufsätze veröffentlichte. Er hatte jede Menge Schwächen; haben wir die nicht alle? Wir machten uns darüber lustig, wie begeistert er das Wort »Milliarden« aus sprach, und mein kleiner Sohn bezeichnete Unser Kosmos (zu Carls großem Vergnügen) als »Guck-in-die-Luft-Sendung«, weil Carl immer so verträumt den Blick zum Himmel hob. Aber das Publikum sah zu, war be
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geistert und lernte etwas. Zweitens kämpfte Carl trotz allem Rummel und Charisma immer für die echte Wissenschaft und gegen die Fülle irratio naler Ideen, die uns umgeben. Seine Kernaussage war jedes Mal die gleiche: Echte Wissenschaft ist so wahnsinnig spannend, so umwälzend und dann auch noch beweisbar; warum also sollte man den nicht belegbaren Unsinn der Astrologie bevorzugen, der Entführungen durch Außerirdi sche und so weiter? Und drittens überbrückte er die Kluft zwischen den verschiedenen Kulturen, indem er die private, menschliche, künstlerische Seite unserer naturwissenschaftlichen Tätigkeit zeigte. Ich werde bei spielsweise nie vergessen, wie er Hypatia beschrieb, eine großartige Frau, Philosophin und Mathematikerin, die 415 n. Chr. in Alexandria den Märtyrertod starb. Dein Leben war großartig, Carl, aber es war auch viel zu kurz. Du wirst immer bei uns sein, vor allem wenn unser Berufsstand von dir lernen kann, wie der Kontakt mit der Allgemeinheit die Wissenschaft bereichert und gleichzeitig eine alte Tradition fortsetzt, die ein Kernstück des abend ländischen Humanismus darstellt – und dass daraus (wenn man es rich tig macht) eben keine journalistische Perversion nach Art des »Klangfet zenzeitalters« werden muss. Oder mit den Worten, die John Dryden über einen anderen großen Künstler schrieb, den Komponisten Henry Purcell, der 1695 sogar noch jünger starb: »Schon vorher hatte er die misstönenden Sphären gestimmt und unter ihnen keine Hölle mehr gelassen.«
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15. Der Glanz seiner und unserer Zeit Trauer – dazu gehört in unseren Legenden auch ein Gefühl des Trostes, wenn der Held nicht jung und vorzeitig auf dem Schlachtfeld stirbt, sondern reich an Jahren und Ehrungen. Dennoch erweckt der Tod von John DiMaggio in mir eine urtümliche Empfindung der Trauer um etwas Kost bares, das sich nicht ersetzen lässt – nicht nur um einen Menschen, son dern auch um das glänzende Image, das er repräsentierte. Ich sah DiMaggio zum ersten Mal 1950 spielen, als seine Karriere dem Ende entgegenging. Ich war damals acht, und es war seine letzte große Saison, mit einem Trefferdurchschnitt von 0,301, 32 Home-Runs und 122 Runs-Batted-In. Er wurde zu meinem persönlichen Helden, meinem Vor bild, meinem Mentor – alles vereinigt in einem außergewöhnlichen Men schen. (Ich sehnte mich danach, im Center Field sein Nachfolger zu wer den, aber dann kam ein Bursche namens Mantle und nahm mir den Job weg.) DiMaggio war für mich bis zu seinem Tod ein Idol, trotz aller Schicksalsschläge mit Mrs. Monroe, Mr. Coffee und Mrs. Robinson. Schon mit meinen unbedarften Kinderaugen fiel mir auf, dass DiMag gios Spiel etwas ganz Besonderes war. Ich kannte noch nicht einmal die richtigen Worte, aber instinktiv begriff ich seine Eleganz, und ich wusste, dass alles, was er tat, von einer Aura des Majestätischen umgeben war. Er spielte Baseball in allen seinen Facetten mit der Schönheit flüssiger, mini maler Bewegungen, mit einer schlichten Anmut, die selbst seine schwungvollsten Strikeouts schön aussehen ließ (übrigens kamen sie selten vor; kein anderer führender Home-Run-Hitter hatte während seines Lebens mehr als doppelt so viele Walks wie Strikeouts vorzuweisen, oder, noch verblüffender, fast ebenso viele Home-Runs wie Strikeouts – 361 zu 369. Man vergleiche das einmal mit seinen beiden großen Yankee-Kameraden: Ruth mit 714 Home-Runs und 1330 Strikeouts, Mantle mit 536 zu 1710). Seine Standfestigkeit, sein Lauf bei den Home-Runs, die langen Flyouts
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in der Tiefe des linken Center Space im Yankee Stadium, seine scheinbar mühelose Beweglichkeit – wobei er durchaus kein kleines Männlein war –, mit der er genau am richtigen Ort zur richtigen Zeit unter jedem Flugball stand und ein schnelles Out erzwang. Wenn das Sportlerklischee von der »Poesie der Bewegung« überhaupt eine Bedeutung hat, war DiMaggio ein Musterbeispiel dafür. Das Wesentliche an DiMaggios Spitzenleistungen lässt sich nicht an den herzlosen Zahlen der Statistik ablesen. Er spielte nicht so lange, dass er in irgendeiner Kategorie Rekordwerte aufhäufen konnte: Es war zwischen 1936 und 1951 nur 13 Mal eine volle Saison – die sechs besten Jahre gingen ihm durch den Krieg verloren, und mit seinem energischen Stolz setzte er sich in dem Augenblick zur Ruhe, als seine Kräfte nachzulassen begannen. Andere Rekorde opferte DiMaggio den Sitten seiner Zeit. Er kam 1939 mit 0,381 auf den höchsten Trefferdurchschnitt seiner Laufbahn, wahrscheinlich hätte er aber auch die 0,400 erreicht, hätte sein Manager Joe McCarthy nicht darauf bestanden, dass er in den bedeutungslosen letzten Wochen der Saison jeden Tag spielte, obwohl die Yankees den Meistertitel schon in der Tasche hatten. DiMaggio erreichte am 8. September die 0,408, erkrankte aber dann so schwer an den Nebenhöhlen, dass er auf einem Auge nichts mehr sehen konnte; durch den damit verbundenen Verlust des räumlichen Sehvermögens rutschte er in der Folge im Trefferdurchschnitt um dreißig Punkte nach unten. Damals war eben alles anders: Wer noch laufen konnte, musste spielen. DiMaggios einziger überragender Zahlenrekord – seine Trefferserie von 56 Spielen im Jahr 1941 – verdient trotz Mark McGwire die übliche Lobeshymne als bemerkenswertestes Sportereignis des Jahrhunderts. Vor ein paar Jahren nahm ich einmal eine vergnügliche statistische Analyse der Daten über Versager und Glückssträhnen vor, und dabei stellte sich heraus, dass nur DiMaggios Serie sich eigentlich nie hätte ereignen dür fen. Alle anderen Trefferserien liegen innerhalb dessen, was man auf Grund der statistischen Wahrscheinlichkeit für die Häufigkeit großer Er eignisse erwartet, genau wie bei einer Münze, die nur selten zehnmal hin tereinander Kopf zeigt. Aber in 56 Spielen hintereinander hätte eigentlich niemals jemand treffen dürfen. An zweiter Stelle stehen, weit abgeschlagen, Pete Rose und Wee Willie Keeler mit jeweils 44. Deshalb verkörpert DiMaggios größter Rekord nicht das selten erwar tete Glück, sondern er kommt ganz und gar von Herzen. Wir müssen auch
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bedenken, dass Ken Keltner ihm am dritten Base im 57. Spiel zwei Schläge stahl, und dass er dann danach noch einmal in sechzehn Spielen hinter einander traf. Eine weitere Serie von 61 Spielen landete DiMaggio, als er in der unteren Pacific Coast League bei den San Francisco Seals spielte. Eines Nachmittags im Jahr 1950 saß ich neben meinem Vater nicht weit von der Linie am dritten Base im Yankee Stadium. DiMaggio schlug einen Ball in unsere Richtung ins Aus, und mein Vater fing ihn. Wir schickten die kostbare Reliquie per Post an den Star, und tatsächlich kam er signiert zurück. Dieser Ball ist bis heute mein stolzer Besitz. Vierzig Jahre später, während der erfolgreichen Behandlung meiner angeblich unheilbaren Krebserkrankung, brachte mir die Post ein kleines, würfelförmiges Päckchen. Es stammte von einem Freund und Verleger in San Francisco, der mit DiMaggio Golf spielte. Ich fand darin einen weiteren, von DiMag gio (auf Anregung meines Freundes) signierten Ball und beste Genesungs wünsche. Welch aufregendes Privileg – Anfang und Mitte meines Lebens, verknüpft durch freundliche Wünsche dieser großen Persönlichkeit. Ted Williams ist – wie könnte es anderes sein – weder ein bescheidener noch ein wortkarger Mensch. Als er kürzlich gefragt wurde, wie er sich selbst im Vergleich mit seinem Konkurrenten und Zeitgenossen DiMag gio einschätzte, sagte der größte Batter aller Zeiten ganz einfach: »Ich konnte besser schlagen, er konnte besser spielen.« Simon and Garfunkel fingen das Wesen dieses großen Mannes in ihrem berühmten Text über Bedeutung und Verlust wahren Formats ein: »Where have you gone, Joe DiMaggio? A nation turns its lonely eyes to you.«* Er war der Glanzpunkt einer Zeit, die nicht wiederkommen wird. * DiMaggio, der so viel Wert auf Ehrlichkeit und Niveau legte, war auch ein handfester Mann der knappen Worte. In einem Nachruf in der New York Times erzählte Paul Simon eine großartige Geschichte über den Baseballstar und »Mrs. Robinson«: Ein paar Jahre nachdem »Mrs. Robinson« zur Nummer 1 der Popcharts geworden war, befand ich mich zum Abendessen in einem italienischen Restaurant. Am Nebentisch saß DiMaggio mit ein paar Bekannten. Ich hatte gehört, er habe sich über das Lied geärgert; deshalb zitterten mir ein wenig die Knie, als ich hinüber ging und mich als Komponist des Songs vorstellte. Er war aber sehr herzlich und lud mich ein, ich solle Platz nehmen. Anschließend unterhielten wir uns über un ser einziges gemeinsames Thema. »Nur eines verstehe ich nicht«, sagte er. »Warum fragen Sie mich, wo ich abge blieben bin? Ich habe gerade einen Werbespot für Mr. Coffee gedreht, ich bin Sprecher der Bowery Savings Bank, und ich bin nirgendwo abgeblieben.«
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16. Dies war ein Mann! Als die »Stimme der Yankees« Mel Allen letzte Woche starb*, verlor ich den Mann, der, was meine Aufmerksamkeit in der Kindheit anging, gleich an zweiter Stelle hinter meinem Vater stand. (Mein Dad war übrigens Dodger-Fan und ein großer Verehrer von Red Barber.) Ich dachte darüber nach, warum ich so erstaunlich tiefe Trauer empfand, und schließlich wurde mir der Grund klar: Ich beklage nicht nur den Verlust eines groß artigen Menschen, sondern auch den Untergang einer Philosophie – und ich habe den Eindruck, dass Mel Aliens größte Stärke in den meisten mit fühlenden Presseberichten übersehen wurde. Die Nachrufe drehten sich um drei Kernsätze: Seine immer gleiche Eröffnungsformel »Hello there, everybody«, seine immer wiederkehrende erstaunte Redewendung »How about that« und sein unvermeidliches Mantra bei jedem Home-Run: »It’s going... going ... gone.« Im Gegensatz dazu möchte ich seine ungeheure Anziehungskraft mit zwei Einzelaussagen kennzeichnen, mit zwei einmaligen Äußerungen, die ich in kurzen Augenblicken meiner weit zurückliegenden Kindheit hörte. Beide haben mich ein ganzes Leben lang begleitet – im einen Fall geht es um Aufrichtigkeit, im anderen um schrulligen Humor. Die erste ist ein Musterbeispiel für Hochherzigkeit, die zweite öffnet bei aller Liebenswür digkeit einen Abgrund. Die beiden Äußerungen könnten unterschied licher nicht sein, und doch verkörpern sie zusammengenommen etwas Kostbares, etwas Zerbrechliches und etwas, das leider verloren geht, wenn Institutionen so groß werden, dass stumpfsinnige, rein kommerzielle Größe jede Spontaneität und Originalität abwürgt. Es handelt sich dabei übrigens um ein ganz allgemeines Phänomen unseres modernen Lebens, * Der Artikel erschien ursprünglich am 26. Juni 1996 in der New York Times.
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das sich keineswegs nur auf den Bereich von Rundfunk und Fernsehen beschränkt. Aus genau dem gleichen Grund sind auch die Lehrbücher in meinem Bereich, der Wissenschaft, immer länger und langweiliger geworden, sodass sie mittlerweile völlig austauschbar sind. Werke mit individuellem Charakter verkaufen sich nicht, denn die Lehrpläne wurden vereinheitlicht (zum Teil weil die Lehrbücher alle gleich sind), und Ori ginalität bietet die Gewähr, in Vergessenheit zu geraten. Die Autoren sind zu Rädchen in einem teuren Getriebe geworden, zu dem unter anderem auch Fotoredakteure, Bildhersteller, die Redakteure des Dozentenbegleitmaterials und die Verleger gehören. Die großen Bücher vergangener Zei ten definierten auf Generationen hinaus ganze Fachgebiete, weil sie die eigenwilligen Ansichten hervorragender Autoren verbreiteten – Lyells Geologie oder Marshalls Wirtschaftsforschung. Heutige Autoren dagegen sind gesichtslose Sklaven eines kommerziellen Apparats, der alles Einzigartige vermeidet. Als Mickey Mantle 1952, ein Jahr nach Joe DiMaggios Rücktritt, eines Tages im Center Field zu kämpfen hatte, buhten viele Fans, nachdem er den Ball zum zweiten Mal hintereinander ins Aus geschlagen hatte. Dar aufhin lehnte sich Mel Allen mitten in seiner Reportage wütend aus der Presseloge und schrie einem besonders ungehaltenen Fan zu: »Warum buhen Sie ihn aus?« »Weil er nicht so gut ist wie DiMaggio«, gab der Fan schlagfertig zurück. Daraufhin platzte Mel Allen der Kragen: Er hielt dem Fan eine geharnischte Strafpredigt, weil er so unverschämt war und über einen ungeheuer talentierten, aber noch unausgereiften Zwanzigjährigen herzog, der den größten Spieler der Epoche nicht ersetzen konnte. Zu jener Zeit wurden die Yankees von der Brauerei Ballantine und der Zigarrenfirma White Owl gesponsert – und Mel ließ nie die Gelegenheit aus, dies zusätzlich zu vermerken. Home-Runs wurden beispielsweise zu »Ballantine-Hämmern« oder »White-Owl-Knallern«, je nachdem, wer gerade das Geld für den Inning gegeben hatte. Ging ein potenzieller HomeRun auf die falsche Seite des Markierungspfostens, rief Allen: »Der Ball war um die Breite einer Ballantine-Flasche im Aus.« Eines Tages schlug Mickey Mantle einen, der alle Aussichten auf Erfolg hatte, und Allen hob mit seinem Mantra an: »It’s going ... going ...« Dann hielt er inne, weil der Ball um wenige Zentimeter ins Aus ging. Daraufhin meinte ein erstaunter Allen: »Hm, ein so knappes Aus habe ich noch nie gesehen. Der Ball war höchstens um eine Flasche Ball... –« Er brach mitten im Satz ab,
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dachte einen Sekundenbruchteil lang nach und verbesserte sich dann: »Nein, der Ball war höchstens um die Asche einer White-Owl-Zigarre im Aus!« Ein Mann von Eleganz und Ehrlichkeit; ein schamloser Marktschreier von liebenswürdiger Originalität. Vor allem aber ein Mensch, der nur auf seine wunderbar einfache Weise er selbst sein konnte – Mel Allen, die ein zigartige, furchtlose, menschliche Stimme der Yankees. Nehmen wir also meine beiden Geschichten, vermischen wir sie zur bestmöglichen Charakterisierung verlorener Individualität, und schließen wir uns Shake speares Urteil in Julius Cäsar an: »So mischten sich/ die Element in ihm, dass die Natur/Aufstehen durfte und der Welt verkünden: ›Dies war ein Mann!‹«
Teil V Wissenschaft in der Gesellschaft
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17. Eine Geschichte von zwei Arbeitsplätzen Christopher Wren, der führende Architekt beim Wiederaufbau Londons nach dem großen Brand von 1666, liegt unter dem Fußboden seines berühmtesten Bauwerks begraben, der St. Paul’s Cathedral. Kein reich ver zierter Sarkophag schmückt den Ort. Wir finden nur die berühmte Inschrift, die von seinem Sohn niedergeschrieben wurde und heute in den Boden eingemeißelt ist: si monumentum requiris, circumspice – wenn du sein Denkmal suchst, sieh dich um. Ein ganz klein wenig vermessen, mag sein, aber ich habe nie ein schöneres Bekenntnis zu der zentralen Bedeu tung- man könnte sogar sagen: Heiligkeit – tatsächlicher Orte gelesen, im Gegensatz zu Kopien, Symbolen oder anderen Formen der nachempfundenen Ähnlichkeit. Dass meine Gedanken sich auf diese berühmte Grabinschrift richteten, lag an einem seltsamen Zusammentreffen in meinem Berufsleben: Zum zweiten Mal wurde mir ein Büro an einem geschichtsträchtigen Ort zugewiesen, wo noch der Geist einer Vergangenheit spürbar war, die sowohl in unserer gemeinsamen Kultur einen zentralen Platz einnimmt als auch für mein eigenes Leben und meine Entscheidungen besondere Bedeutung hat. Im Jahr 1971 arbeitete ich ein Semester lang als Gastwissenschaftler an der Universität Oxford. Als Arbeitsplatz gab man mir eine Büroecke in der oberen Etage des universitätseigenen Museums. Als ich mich dort mit Büchern, fossilen Schnecken und meinem Mikroskop einrichtete, fiel mir an der Wand eine metallene Gedenktafel auf; ihr konnte ich entnehmen, dass dieser umgebaute Raum voller Regale und winziger Büros einst der Schauplatz der berühmtesten öffentlichen Auseinandersetzung in der Frühzeit des Darwinismus gewesen war. Im Jahr 1860, nur wenige Monate nachdem Darwins Entstehung der Arten erschienen war, hatte T. H. Huxley
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genau an dieser Stelle sein rhetorisches Schwert gezogen und den aalglat ten, aber oberflächlichen Vorreiter des Kreationismus, den Bischof »Soapy Sam« Wilberforce, mit Pauken und Trompeten aufgespießt. (Wie bei den meisten Legenden, so ist auch hier die übliche Version nur ein Versatzstück, hinter dem sich eine kompliziertere, vielschichtige Wahrheit verbirgt. Wilberforce und Huxley boten tatsächlich eine glänzende und im Wesentlichen spontane Show – aber aus dem Scharmützel ging keiner von beiden als klarer Sieger hervor; Joseph Hooker, Darwins zweiter Fürsprecher, gab dem Bischof eine viel wirkungsvollere Antwort, die aber in Vergessenheit geraten ist. Mein Essay zu dem Thema – er trägt den Titel »Weltlichkeit und Geistlichkeit« – erschien in Bravo Brontosaurus, einem früheren Band aus dieser Reihe.) Ich kann nicht behaupten, dass die spürbare Gegenwart der viktoriani schen Geistesgrößen meine Entschlossenheit gesteigert oder die Qualität meiner Arbeit verbessert hätte, aber mir gefiel das Gefühl der Kontinuität, das mir durch diesen glücklichen Umstand zuteil wurde. Sogar der sprachliche Zusammenhang mit dem Umstand gefiel mir – ich »stand herum«, und zwar vielleicht genau an der Stelle, wo Huxley zumindest der Legende nach gesagt hatte, ihm sei ein ehrlicher Affe unter seinen Vorfahren lieber als ein Bischof, der um eines rhetorischen Vorteils willen eine allgemein bekannte Wahrheit auf den Kopf stellt. Vor nicht allzu langer Zeit erhielt ich eine Teilzeitstelle als Gastprofes sor für Biologie an der New York University. Dieses Mal lag das Büro, das man mir zuteilte, im zehnten Stockwerk des Brown Building am Washington Place, einem gesichtslosen Gebäude vom Anfang des 20. Jahrhunderts, in dem heute Labors und andere wissenschaftliche Arbeits plätze untergebracht sind. Als der Dekan mit mir eine zwanglose Führung durch mein neues Quartier veranstaltete, machte er eine beiläufige Bemerkung, die eigentlich nur »Fremdenführertratsch« sein sollte, seinen neuen Untergebenen aber elektrisierte. Ob ich denn wüsste, dass dieses Bauwerk 1911 der Schauplatz des berühmten Feuers von Triangle Shirt waist gewesen sei und dass mein Labor in einer Ecke eines der betroffenen Stockwerke liege? Wie ich später feststellte, sogar genau neben dem Fluchtweg, über den viele Arbeiter sich auf das darüber liegende Dach ge rettet hatten. Wie der Dekan mir außerdem erklärte, hält die Textilarbeitergewerkschaft noch heute jedes Jahr am 25. März, dem Jahrestag des Brandes, an der Stelle eine Gedenkveranstaltung ab und legt Kränze zur
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Erinnerung an die 146 Arbeiter nieder, die bei der Katastrophe ums Leben kamen. Wenn die Diskussion zwischen Huxley und Wilberforce eine der größ ten Legenden meines Berufsstandes darstellt, dann nimmt das Feuer bei der Firma Triangle Shirtwaist einen noch wichtigeren Platz in meiner Ge samteinstellung zum Leben ein. Ich bin in einer Familie jüdischer, einge wanderter Textilarbeiter aufgewachsen, und dieser Holocaust (in dem wörtlichen Sinn, dass zahlreiche Menschen durch Feuer ums Leben kamen) hatte ihre Ansichten geprägt und eine wichtige Rolle für ihre Zu kunftsplanung gespielt. Das shirtwaist – eine mit Kragen versehene Bluse, die nach dem Vorbild eines Herrenhemdes entworfen wurde und über dem eigentlichen Hemd getragen wird – war zum Modesymbol für selbständige Frauen geworden. Die Triangle Shirtwaist Company, in New York der größte Hersteller solcher Kleidungsstücke, war in drei Stockwerken (dem achten bis zehnten) des Asch Building untergebracht, das später von der New York University erworben und in Brown Building umbenannt wurde, unter anderem um die unangenehme Verbindung mit dem Brand vergessen zu machen. Bei dem Unternehmen waren rund 500 Arbeitskräfte beschäftigt, fast ausschließlich junge Frauen, die erst kurz zuvor als jüdische Einwanderer aus Osteuropa oder als Katholiken aus Italien zugezogen waren. Als Ausgänge aus dem Gebäude gab es neben den Aufzügen nur zwei kleine Treppen häuser und eine Feuertreppe von absurder Unzulänglichkeit. Dennoch hatten die Eigentümer keine Vorschriften missachtet: Einerseits waren die allgemeinen gesetzlichen Vorschriften damals sehr lasch, und andererseits war das Gebäude angeblich feuersicher – wie sich herausstellte, galt dies für das Gerippe tatsächlich (denn das Gebäude einschließlich meines Büros steht noch heute), aber unbrennbare Wände und Decken konnten in den Stockwerken, die mit Textilien und Stoffabfällen voll gestopft waren, eine Feuersbrunst nicht verhindern. Die Triangle Company war eigentlich eine Todesfalle – der Druck in den Feuerwehrschläuchen reichte nicht höher als bis in die sechste Etage, und Netze oder Decken konnten die Wucht eines Menschen, der aus größerer Höhe heruntersprang, nicht auffangen. Das Feuer brach gegen Feierabend aus. Die meisten Arbeiterinnen ent kamen mit den Aufzügen, durch das eine der beiden Treppenhäuser (von dem anderen wird später noch die Rede sein) oder indem sie nach oben
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aufs Dach liefen. Aber 146 Angestellte, fast ausnahmslos junge Frauen, wurden von den Flammen eingeschlossen. Etwa fünfzig von ihnen kamen auf entsetzliche, Aufsehen erregende Weise ums Leben, weil sie in ihrer Angst aus den Fenstern des neunten Stockwerks sprangen, als die Feuerwand von hinten näher kam. Feuerwehrleute und Zuschauer schrien ihnen zu, sie sollten nicht springen, und dann hielten sie improvisierte Sprungtücher aus Bettlaken und Decken bereit. Aber weder professionelle Brandbekämpfer noch hilfsbereite Laien konnten den Stoff gegen die Wucht des Sturzes festhalten, sodass viele Opfer durch die dünnen Tücher auf das Straßenpflaster fielen oder sogar den »hohlen Bürgersteig« aus halb durchsichtigen gläsernen Kreisen durchschlugen, durch den das Tageslicht in die tiefer liegenden Geschosse gelangen sollte – bis heute ein wichtiges (und attraktives) Merkmal meines Stadtviertels in SoHo. (Große Schilder auf diesen Bürgersteigen warnen Lieferfahrzeuge vor dem Befahren.) Von denen, die sprangen, überlebte niemand, und die Erinnerung an diese Todessprünge ist bis heute ein Symbol für die Tragödie typischer amerikanischer Ausbeutungsbetriebe. Zu jedem Ereignis von historischer Bedeutung entwickelt sich als offizielle Version eine vereinfachte Legende – nach meiner Vermutung vor allem deshalb, weil wir solche Ereignisse für eilfertige moralische Belehrungen benutzen und weil das komplizierte Durcheinander des tatsächlichen Ab laufs der Klarheit solcher kerniger Sinnsprüche immer abträglich ist. Deshalb musste Huxley, der Vertreter einer rechtmäßigen wissenschaftlichen Objektivität, den Drachen des alten, gedankenlosen Dogmas erlegen. Nach der ebenso übermäßig vereinfachten Legende über das Feuer bei Triangle wurden die Arbeiterinnen eingeschlossen, weil die Firmenleitung alle Ausgänge verschlossen hatte, um Diebstähle, unplanmäßige Pausen oder den Kontakt mit Gewerkschaftsfunktionären zu unterbinden, sodass als einziger Fluchtweg die Feuertreppe blieb. Alle fünf New-York-Reiseführer, die ich besitze, erzählen diese »offizielle« Version. In meinem bevorzugten Führer heißt es beispielsweise: »Das Gebäude war zwar mit Feuertreppen ausgestattet, die verängstigten Arbeiterinnen mussten aber zu ihrem Entsetzen feststellen, dass die Aufseher im neunten Stockwerk alle Türen abgeschlossen hatten. Eine einzige Feuertreppe war für die Menge der panisch erschrockenen Angestellten völlig unzureichend.« Solche überlieferten (und eigentlich sogar »offiziellen«) Legenden übertreiben vielleicht um der moralischen Wirkung willen, aber eine der
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artige Interpretation erwächst aus weit weniger eindeutigen Tatsachen – und diese Realität verkörpert, wie wir am Beispiel von Triangle noch se hen werden, häufig eine tiefer gehende, wichtigere Lehre. Immerhin diskutierte Huxley tatsächlich mit Wilberforce, auch wenn er sich keinen ein deutigen Sieg sichern konnte, und Huxley vertrat auch die Partei der Engel – der wahren Engel von Licht und Gerechtigkeit. Und obgleich bei Tri angle viele Arbeiterinnen mit Aufzügen und über ein Treppenhaus entkamen, war eine zweite Treppe (über die sich auch fast alle anderen hätten retten können) mit ziemlicher Sicherheit tatsächlich verschlossen. Hätten Wilberforce und seine Günstlinge den Sieg davongetragen, wäre ich heute vielleicht Arbeiter, Sprachforscher oder Rechtsanwalt. Doch das Feuer bei Triangle hätte fast meine Existenz verhindern können. Meine Großmutter kam 1910 nach Amerika. An jenem verhängnisvollen Tag im März 1911 arbeitete sie als sechzehnjährige Näherin in einer Fabrik – aber Gott sei Dank nicht bei der Triangle Shirtwaist Company. In noch einer anderen, nicht weit davon entfernten Firma schnitt mein Großvater zur gleichen Zeit Stoffe zu. Diese beiden ganz und gar unterschiedlichen Geschichten – zwischen ihnen liegen sowohl ein halbes Jahrhundert als auch ein Ozean, und sie bilden einen Kontrast zwischen Tragödie und akademischer Diskussion, wie er größer nicht sein könnte – verkörpern auf den ersten Blick zwei Dinge, die sich überhaupt nicht vergleichen lassen: Äpfel und Birnen. Dennoch sind beide Geschichten nach meinem Eindruck durch ein enges Band verknüpft, weil sie die entgegengesetzten Pole bei einer zentralen Frage in der Geschichte der Evolutionstheorie hervortreten lassen: Inwie weit lässt sich das darwinistische Denken auf Leben und Verhältnisse un serer problematischen Spezies anwenden? Ich behaupte nicht, die zufäl lige Lage meiner beiden Büros an derart historischen Orten habe mehr als persönliche Bedeutung – oder sei sogar ein Motiv, andere zu langweilen. Aber das Gefühl der persönlichen Betroffenheit tritt häufig an die Stelle eines allgemeinen Themas, das mitzuteilen durchaus lohnt. Mit der Anwendung der Evolutionstheorie auf den Homo sapiens hatte die abendländische Kultur immer große Probleme – nicht aus Gründen, die man als wissenschaftlich bezeichnen könnte (Menschen sind biolo gische Gebilde und müssen deshalb mit allen anderen Lebewesen einen Platz im Stammbaum des Lebendigen einnehmen), sondern wegen ural ter Vorurteile über die Sonderstellung des Menschen und seine haushohe
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Überlegenheit. Selbst Darwin drückte sich ein wenig um das Thema, als er 1859 Die Entstehung der Arten schrieb (später allerdings, 1871, packte er es mit der Veröffentlichung seines Werkes Die Abstammung des Men schen bei den Hörnern). Die erste Auflage der Entstehung der Arten sagt über den Homo sapiens kaum etwas aus, abgesehen von der geheimnis vollen Prophezeiung, es werde »noch Licht auf den Ursprung des Menschen und seine Geschichte geworfen werden«. (In späteren Auflagen wurde Darwin ein wenig kühner und wagte die Ergänzung, es werde »noch viel Licht...«.) Derart schwierige Fragen finden ihre unspektakuläre Antwort häufig in einer kleinen Weisheit, die sich durch unsere gesamte Überlieferung zieht, von ehrwürdigen Quellen wie Aristoteles mit seiner aurea mediocritas (der »goldenen Mitte«) bis zur Volksweisheit mit Goldilocks sinnvoller Entscheidung, die Extreme zu trennen und die Lösung »genau in der Mitte« zu finden. Entsprechend kann man auch den Darwinismus zu viel oder zu wenig bemühen, wenn man »den Ursprung des Menschen und seine Geschichte« verstehen will. Eine angemessene Lösung liegt wie üblich in der mittleren Position des »viel, aber nicht alles«. Die seltsame, aber sinnvolle Verbindung zwischen Soapy Sam Wilberforce und dem Feuer bei Triangle Shirtwaist erwächst aus ihrer Funktion als Beispiele für die beiden Extreme, die es zu vermeiden gilt – Wilberforce leugnete die Evo lution völlig und vorbehaltlos, während die wichtigste Gesellschaftstheorie, die Reformen in der Industrie behinderte (und Bedingungen zuließ, die zu Katastrophen wie dem Feuer bei Triangle Shirtwaist führten), eine übermäßig erweiterte Anwendung der biologischen Evolutionstheorie auf die Gesetzmäßigkeiten der Menschheitsgeschichte darstellte – ich meine die Theorie des »Sozialdarwinismus«. Wenn wir die Fehler in Wilberfor ces ablehnender Haltung und die völlig unkritische Übertragung beim Sozialdarwinismus verstehen, finden wir vielleicht in der Mitte das rich tige Gleichgewicht. Man nannte ihn nicht ohne Grund »Soapy Sam«. Der lautstarke Bi schof von Oxford hob sich seine beste Beschimpfung für Darwins Versuch auf, seine Ketzerei auf die Entstehung des Menschen anzuwenden. In einer Rezension der Entstehung der Arten (die 1860 im Quarterly Review erschien, der führenden englischen Literaturzeitschrift), beklagte Wilberforce vor allem eines: »Zunächst also erklärt er ganz unverhohlen, dass er seine Gedanken über die Wirkung des Prinzips der natürlichen Selektion
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auf den Menschen selbst ebenso anwendet wie auf die Tiere um ihn herum.« Anschließend wartet Wilberforce mit einem leidenschaftlichen Argument für die Einzigartigkeit des Menschen auf, die ihm nur von Gott verliehen sein könne: Die Vorherrschaft, welche der Mensch über die Erde erlangt hat; die Fähigkeit des Menschen zu einer artikulierten Sprache; die menschliche Begabung der Vernunft; der freie Wille und die Verantwortung des Menschen; der Fall des Menschen und die Erlösung des Menschen; die Fleischwerdung des Gottessohnes; die Beseelung mit dem Heiligen Geist – das alles ist gleichermaßen völlig unvereinbar mit der erniedri genden Vorstellung eines tierischen Ursprunges dessen, der nach Gottes Ebenbild erschaffen und durch Gottes Sohn erlöst wurde. Aber der Strom der Geschichte spülte den guten Bischof schnell hinweg. Als Wilberforce 1873 an einer Kopfverletzung starb, die er sich bei einem Sturz vom Pferd zugezogen hatte, bemerkte Huxley bissig, nun sei das Gehirn des Bischofs endlich einmal in Kontakt mit der Realität gekommen – und das mit tödlichen Folgen. Darwins Lehre wurde zur beherrschenden geistigen Neuentwicklung des späten 19. Jahrhunderts. Der potenzielle Geltungsbereich der natürlichen Selektion, die Darwins wichtigstes Erklärungsprinzip darstellte, erschien seinen Anhängern nahezu unendlich groß zu sein (dem Meister selbst aber interessanterweise nicht – Darwin blieb, was die Erweiterung über den Bereich der biologischen Evolution hinaus anging, zeit seines Lebens vorsichtig). Wenn ein »Kampf ums Dasein« für die Evolution der Lebewesen sorgte, könnte man dann nicht auch die Geschichte aller anderen Dinge mit einem ähnlichen Prinzip er klären – von der Entwicklung des Universums bis zu Sprachen, Wirtschaft, Technologie und Kulturgeschichte verschiedener Menschengrup pen? Selbst die größten Wahrheiten können durch übereifrige, unkritische Jünger über Gebühr strapaziert werden. Die natürliche Selektion ist sicher eine der einflussreichsten Ideen, die in der Naturwissenschaft jemals ent wickelt wurden, aber ein solcher Vorgang kann nur Systeme eines ganz bestimmten Typs steuern, und man kann mit Darwins Prinzip nicht alle natürlichen Abläufe erklären, die sich historisch entwickeln. So kann man beispielsweise zwar von der »Evolution« eines Sternes sprechen, der in den
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Jahrmilliarden von seiner Entstehung bis zur Explosion eine Reihe vor hersagbarer Stadien durchmacht, aber die Entwicklung eines Sternes kann ihre Ursache nicht in der natürlichen Selektion haben, einem Pro zess, der durch den unterschiedlichen Überlebens- und Fortpflanzungserfolg einiger Individuen einer vielgestaltigen Population vorangetrieben wird. Stattdessen müssen wir nach den physikalischen und chemischen Eigenschaften der leichten Elemente in der großen Masse eines Sternes fragen. Entsprechend kann man zwar mit dem Darwinismus sicher manche allgemein gültigen Merkmale von Körperbau und Verhalten der Menschen erklären, aber wir können die natürliche Selektion nicht als ent scheidende Ursache für den kulturellen Wandel seit dem Beginn der Landwirtschaft heranziehen – und sei es auch nur, weil die begrenzte Zeit von wenigen zehntausend Jahren kaum Gelegenheiten für eine allgemeine biologische Evolution bietet. Außerdem – und das ist am wichtigsten – funktioniert der kulturelle Wandel unter den Menschen nach Prinzipien, die eine prägende Rolle der natürlichen Selektion völlig ausschließen. Ich möchte nur die beiden offenkundigsten Unterschiede erwähnen: Erstens besteht biologische Evolution in der ständigen Aufspaltung von Arten in unabhängige Abstammungslinien, die von nun an im Stammbaum des Lebendigen immer getrennte Zweige bilden. Kultureller Wandel läuft genau umgekehrt ab, durch Weitergabe und Verschmelzung. Ein eingehender Blick auf das Rad oder das Alphabet aus einer anderen Kultur, und eine Zivilisation verändert sich unter Umständen für alle Zeiten. Wenn wir eine biologische Parallele zum kulturellen Wandel finden wollen, eig net sich die Infektion nach meiner Vermutung viel besser als die Evolu tion. Und zweitens funktioniert der kulturelle Wandel unter den Menschen nach dem sehr wirksamen Mechanismus der Lamarck’schen Vererbung erworbener Merkmale. Alle nützlichen (oder leider auch zerstörerischen) Erfindungen unserer Generation geben wir durch Erziehung unmittelbar an unsere Nachkommen weiter. Solche schnellen, lamarckistischen Ver änderungen gewinnen sehr leicht die Oberhand über den viel langsameren Prozess der darwinistischen natürlichen Selektion, und außerdem erfordert dieser auch eine Mendel’sche Form der Vererbung mit kleinen, ungerichteten Variationen, die dann durch einen Kampf ums Dasein gefiltert und ausgewählt werden. Genetische Variationen folgen den Men
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del’schen Prinzipien, und deshalb ist der Darwinismus das beherrschende Element der biologischen Evolution. Kulturelle Abweichungen dagegen sind lamarckistischer Natur, sodass die natürliche Selektion sich auf die neuere Geschichte unserer technologisch orientierten Gesellschaft nicht nennenswert auswirkt. Dennoch wurde die erste Welle der Begeisterung schon in viktorianischer Zeit zum Anlass, den Darwinismus zumindest auf dem Wege der Analogie auf andere Gebiete zu übertragen. Manche dieser Versuche erwiesen sich als ausgesprochen fruchtbar, so beispielsweise die Entscheidung von James Murray, Herausgeber des Oxford English Dictionary (des sen erster Band 1884 erschien, nachdem man zuvor aber bereits zwanzig Jahre daran gearbeitet hatte), ausschließlich nach historischen Prinzipien vorzugehen und für den Wandel der Wortbedeutungen nicht die zeitgenössischen Vorlieben zugrunde zu legen (wie in einem Wörterbuch, das wirklich eine Norm darstellen soll), sondern die Chronologie und ver zweigte Evolution der schriftlich belegten Bedeutungen (sodass der Text mehr einer Enzyklopädie über die Geschichte der Wörter als einem ech ten Wörterbuch ähnelt). Andere Übertragungen dagegen erwiesen sich in der Theorie als unbe gründet und auch in der Anwendung als schädlich oder sogar tragisch (so jedenfalls würden wir es mit unseren heutigen ethischen Empfindlichkeiten einschätzen). Als größtes Übel in dieser Kategorie müssen wir eine sehr einflussreiche Theorie nennen, der man den unzutreffenden Namen »Sozialdarwinismus« beilegte. (Nach den Feststellungen zahlreicher His toriker sollte man diese Theorie eigentlich als »Sozialspencerismus« bezeichnen, denn Herbert Spencer, in viktodänischer Zeit der führende Experte für nahezu alles, formulierte ihre grundlegenden Postulate bereits 1850, nahezu zehn Jahre bevor Darwins Entstehung der Arten erschien, in seinem Werk Social Staues. Durch den Darwinismus kam der Mechanis mus der natürlichen Selektion als härtere Form des Kampfes ums Dasein hinzu, den Spencer schon lange zuvor erkannt hatte. Außerdem nahm Darwin selbst gegenüber der geistigen Strömung, die seinen Namen übernommen hatte, eine sehr zwiespältige Haltung ein. Einerseits verspürte er den Stolz jedes schöpferischen Menschen über nützliche Erweiterungen seiner Theorie – und er hoffte, man könne den Ursprung der Menschen und historische Gesetzmäßigkeiten mit der Evolution erklären. Andererseits begriff er aber auch nur allzu gut, warum sich der Mechanismus der
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natürlichen Selektion nur so schlecht auf die Ursachen gesellschaftlichen Wandels anwenden lässt.) Der Sozialdarwinismus dient häufig als Schlagwort für alle möglichen genetischen oder biologischen Behauptungen über die Unvermeidlichkeit (oder zumindest die »Natürlichkeit«) sozialer Ungleichheit zwischen Ge sellschaftsklassen oder Geschlechtern, oder für die militärische Überlegenheit einer Gruppe gegenüber einer anderen. Aber mit einer derart breit gefassten Definition wird man der Geschichte dieses wichtigen Themas nicht gerecht – auch wenn lange versucht wurde, alle diese Sünden mit lautstark und nachdrücklich vorgetragenen, pseudo-darwinistischen Argumenten zu rechtfertigen. Der klassische Sozialdarwinismus war eine wesentlich enger gefasste Theorie über Wesen und Entstehung der sozia len Klassen in der modernen Industriegesellschaft. Der Artikel über das Thema in der Encyclopaedia Britannica stellt zu Recht diese Einschrän kung in den Vordergrund und nennt dazu zunächst eine weit gefasste potenzielle Bedeutung, die dann auf die richtige Verwendung eingeengt wird: Sozialdarwinismus: Theorie, wonach Personen, Gruppen und Rassen den gleichen Gesetzen der natürlichen Selektion unterliegen, die Charles Darwin in der Natur bei Pflanzen und Tieren bemerkt hatte ... Die Theorie wurde benutzt, um einen ungezügelten Kapitalismus und politischen Konservativismus zu unterstützen. Die Einteilung der Gesellschaft in verschiedene Schichten wurde mit der »natürlichen« Ungleichheit der Individuen gerechtfertigt, denn die Verfügungsgewalt über Eigentum sollte demnach im Zusammenhang mit überlegenen, angeborenen moralischen Eigenschaften wie Fleiß, Mäßigung und Sparsamkeit stehen. Versuche, die Gesellschaft durch staatliche Eingriffe oder mit anderen Mitteln zu reformieren, würden demnach natürliche Vorgänge beeinträchtigen; uneingeschränkte Konkurrenz und die Verteidigung des Status quo stehen demnach im Einklang mit der biologischen Selektion. Danach sind die Armen »weniger geeignet«, und deshalb sollte man sie nicht unterstützen; im Kampf ums Dasein ist Reichtum ein Anzeichen des Erfolges. Nach Spencers Ansicht sollte man solche Härten zulassen und begrüßen, um jene fortschrittliche Entwicklung in Gang zu setzen, die alle Systeme
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während ihrer »Evolution« durchmachen, wenn man sie ungehindert ihren natürlichen Weg gehen lässt. Er hielt es für ein zentrales Prinzip seines Systems, dass Fortschritt – den er als Übergang von einer einfachen, undifferenzierten Homogenität wie bei Bakterien oder in einer »primitiven« menschlichen Gesellschaft ohne Klassenstruktur zur komplizierten, strukturierten Heterogenität der »höheren« Lebewesen oder Industriegesellschaften definierte – sich nicht zwangsläufig als Eigenschaft bewegter Materie einstellt, sondern nur durch die Wechselwirkungen zwischen den Systemen, die eine Evolution durchmachen, und ihrer Umwelt. Deshalb, so seine Ansicht, dürfe man diese Wechselwirkungen nicht behindern. Der Zusammenhang zwischen Spencers allgemeinen Ansichten und Darwins spezieller Theorie wurde häufig falsch gedeutet oder überbetont. Wie bereits erwähnt, hatte Spencer sein System in den Umrissen (und den meisten Einzelheiten) bereits nahezu zehn Jahre vor der Veröffentlichung von Darwins Evolutionstheorie publiziert. Das Prinzip der natürlichen Selektion nahm Spencer sicher dankbar auf, weil es ein noch erbar mungsloserer und wirksamerer Antriebsmechanismus für die Evolution ist. (Ironischerweise stammt das Wort Evolution als Beschreibung für die Stammesgeschichte des Lebendigen nicht von Darwin, sondern es gelangte durch Spencers Drängen in unsere Sprache. Spencer bevorzugte den Begriff, weil er in der englischen Umgangssprache »Fortschritt« bedeutet, und zwar in dem ursprünglichen lateinischen Sinn von evolutio oder »Entfaltung«. Darwin dagegen mochte ihn anfangs nicht: Er be zeichnete den von ihm entdeckten Vorgang ursprünglich als »Abstam mung mit Abwandlung« (descent with modification), weil seine Theorie keinen Mechanismus oder irgendeine Begründung für einen allgemeinen Fortschritt in der Geschichte des Lebendigen umfasste. Aber Spencer setzte sich durch, nicht zuletzt deshalb, weil keine andere Gesellschaft den Fortschritt so stark als zentralen Begriff oder Ziel in den Mittelpunkt stellte wie das viktorianische Großbritannien auf dem Höhepunkt seiner kolonialen und industriellen Expansion.) Mit Sicherheit benutzte Spencer Darwins Mechanismus der natür lichen Selektion, um sein System zu untermauern. Auch eine weitere Ironie der Geschichte ist nur den wenigsten bekannt: Nicht Darwin, sondern Spencer prägte den Begriff »Überleben des Geeignetsten« (survival of the fittest), der heute das übliche Schlagwort für Darwins Mechanismus ist. Erst in späteren Auflagen der Entstehung der Arten zollte Darwin ihm mit
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einer Ergänzung den angemessenen Tribut: »Ich habe dieses Prinzip, wodurch jede solche geringe, wenn nur nützliche, Abänderung erhalten wird, mit dem Namen »natürliche Zuchtwahl« belegt... Doch ist der von Her bert Spencer oft gebrauchte Ausdruck ›Überleben des Geeignetsten‹ zutreffender und zuweilen gleich bequem.« Was den Mechanismus anging, der seine allgemeine »Evolution« (der Sterne, biologischen Arten, Sprachen, Wirtschaft, Technik und nahezu al les andere) in Richtung des Fortschritts vorantrieb, bevorzugte Spencer das unmittelbare, mechanistische »Wurzeln schlagen, sich durchsetzen oder sterben« (wie William Graham Sumner, der führende amerikanische Sozialdarwinist, den Vorgang zusammenfasste) gegenüber dem unschärferen, im Wesentlichen lamarckistischen Streben der Lebewesen nach Selbstverbesserung, das er ursprünglich für die eigentliche Ursache gehal ten hatte. (Sumner bediente sich mit seinem farbigen Bild einer typisch amerikanischen Metapher für die Selbständigkeit, die mein Wörterbuch der Redensarten auf eine Rede von Davy Crockett im Jahr 1834 zurückführt.) In einer nach Darwin erschienenen Auflage seiner Social Statics schrieb Spencer: Das Dritteljahrhundert seit Erscheinen dieser Passagen hat mir keinen Anlass gegeben, von der darin vertretenen Haltung zurückzuweichen. Im Gegenteil: Es erbrachte eine Riesenmenge von Belegen, welche diese Position stärken. Die nützlichen Folgen des Überlebens des Geeignets ten erweisen sich als unendlich viel größer [als ich zuvor erkannt hatte]. Der Prozess der »natürlichen Selektion«, wie Mr. Darwin ihn nennt... hat sich als wichtigste Ursache ... jener Evolution erwiesen, durch die alle Lebewesen, beginnend mit den niederen Formen und sich im Laufe ihrer Entwicklung immer und immer wieder verzweigend, ihr derzeiti ges Maß an Organisation und Anpassung an ihre Lebensweise erreicht haben. Aber auch wenn man die Frage nach Darwins besonderem Einfluss beiseite lässt, bleibt die wichtigere, tiefer liegende Aussage unverändert bestehen: Die Theorie des Sozialdarwinismus (oder Sozialspencerismus) gründet sich auf eine Reihe von Analogien zwischen den Ursachen für Veränderung und Stabilität in biologischen und sozialen Systemen – und auf die Behauptung, man könne die biologischen Prinzipien unmittelbar
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auf den gesellschaftlichen Bereich anwenden. In seiner grundlegenden Schrift, der 1850 erschienenen Social Statics, stützt Spencer seine Aussage auf zwei ausgefeilte Analogien zu biologischen Systemen. 1. Der Kampf ums Dasein als Reinigung in Biologie und Gesellschaft. Dar win sah im »Kampf ums Dasein« eine prägnante Metapher für jede Stra tegie, die zu einer Steigerung des Fortpflanzungserfolges führt, sei es durch richtigen Kampf, durch Kooperation oder schlicht durch Kopulationsfähigkeit nach dem alten Prinzip »möglichst früh und möglichst oft«. Viele seiner Zeitgenossen jedoch, unter ihnen auch Spencer, interpretierten das »Überleben des Geeignetsten« ausschließlich als offenen Kampf bis zum letzten Blutstropfen – eine Denkweise, die T. H. Huxley später als »Gladiatorenschule« oder als Verkörperung von Hobbes’ bellum omnium contra omnes (Krieg aller gegen alle) verächtlich machte. Diese einseitige, eingeschränkte Sichtweise für die Natur vertritt Spencer in seiner Social Statics: Überall in der Natur erkennen wir das Wirken einer strengen Disziplin, und es mag ein wenig grausam erscheinen, dass sie so nützlich ist. Dieser Zustand des allgemeinen Krieges, der zur Verwunderung zahlreicher ehrenwerter Menschen überall in der niederen Schöpfung herrscht, ist das Fundament der barmherzigsten Vorkehrungen, welche die Umstände gestatten ... Man beachte, dass Fleisch fressende Feinde aus den Herden der Pflanzenfresser nicht nur jene Individuen entfer nen, die ihre beste Zeit hinter sich haben, sondern auch Kranke, Miss gebildete und die am wenigsten Flinken und Kräftigen. Durch diesen Reinigungsprozess ... wird verhindert, dass die Rasse durch die Ver mehrung ihrer unterlegenen Vertreter einen Niedergang erlebt; gleich zeitig wird sichergestellt, dass ein Körperbau erhalten bleibt, der völlig an die Bedingungen der Umgebung angepasst ist und deshalb das größte Glück hervorbringt. Anschließend verstärkt Spencer diesen Fehler, indem er die gleiche Argu mentation auf die Gesellschaftsgeschichte der Menschen anwendet, ohne jemals die Frage zu stellen, ob ein solcher Analogieschluss zulässig ist. Mit scharfen Worten wendet er sich gegen alle Programme des sozialen Aus gleichs – gegen staatlich finanzierte Bildung, Postdienst, Vorschriften über
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Wohnbedingungen und sogar den Bau von Kanalisationssystemen mit öffentlichen Mitteln; solche Bemühungen, so Spencer, würden zwar mit guten Absichten unternommen, sie müssten aber üble Folgen haben, weil sie die Überlebensaussichten des gesellschaftlichen Bodensatzes verbessern, der zum Wohl der Allgemeinheit lieber zugrunde gehen sollte. (An dererseits beharrte Spencer aber darauf, dass er nichts gegen private Almosen habe, insbesondere weil solche Gaben eine heilsame Wirkung auf die moralische Entwicklung der Spender ausübten. Erinnert uns diese Haltung nicht an Argumente, die »moderne« Ultrakonservative heute als umwälzende, brandneue Ideen verkaufen wollen? Sollten wir nicht Nut zen aus Santayanas berühmtem Ausspruch ziehen, dass jene, die nichts über Geschichte wissen, zu ihrer Wiederholung verdammt sind?) In dem Kapitel der Social Statics› das schlechten Gesetzen gewidmet ist (gegen die er sich natürlich wendet), schreibt Spencer: Wir müssen all jene als falsche Menschenfreunde bezeichnen, die zukünftigen Generationen noch größeres Unheil aufbürden, um heu tiges Elend zu vermeiden. Lässt man dieses Übel zu, wird es zu einem großen Ansporn für die Faulen und zu einem Hemmnis für die Tüchtigen, aber die Freunde der Armen würden dies leugnen, weil es hier und da zu Wehklagen führt. Sie sind blind gegenüber der Tatsache, dass die Gesellschaft nach der natürlichen Ordnung der Dinge ständig ihre ungesunden, unfähigen, langsamen, unzuverlässigen Mitglieder aus scheidet, und deshalb befürworten diese zwar wohlmeinenden, aber gedankenlosen Menschen einen störenden Eingriff, der nicht nur den Reinigungsprozess zum Stillstand bringt, sondern den Niedergang so gar verstärkt – weil sie die Vermehrung der Rücksichtslosen und Unfähigen begünstigen, indem sie ihnen unerschöpfliche Versorgung bie ten ... In ihrem Eifer, das heilsame Leiden in unserer Umgebung zu verhindern, vermachen diese ach so klugen und doch entsetzlich törichten Menschen der Nachwelt einen immer größer werdenden Fluch. 2. Stabiler Körper und stabile Gesellschaft. Im Laufe der allgemeinen, auf Fortschritt ausgerichteten »Evolution« aller Systeme entsteht durch die Arbeitsteilung zwischen einer wachsenden Zahl unterschiedlich ausge prägter Teile eine immer kompliziertere Organisation. Alle Teile müssen
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»ihren Platz kennen« und die ihnen zugewiesene Funktion erfüllen, denn sonst bricht das ganze System zusammen. Ein primitiver Polyp, der aus einfachen »Allzweckmodulen« zusammengesetzt ist, kann jeden verlore nen Körperteil nachwachsen lassen, aber ein Mensch bekommt von der Natur nur einen Kopf und nur eine Chance. Spencer erkannte den grund legenden Widerspruch bei seinem Versuch, gesellschaftliche Stabilität mit der Analogie zu den zusammengehörigen Bedürfnissen eines einzigen lebenden Organismus zu begründen – denn ihm war klar, dass hinter bei den Systemen gegensätzliche Ziele stehen: Die Teile eines Körpers dienen dem Ganzen, das gesellschaftliche Ganze (der Staat) dagegen existiert an geblich nur, um seinen Teilen (den einzelnen Menschen) zu dienen. Aber wenn Spencer einer so hübschen Verallgemeinerung auf der Spur war, ließ er sich nie durch logische oder empirische Probleme aus der Bahn werfen. (Als Huxley seine berühmte Bemerkung über »eine schöne Theorie, die durch eine kleine, hässliche Tatsache zu Fall gebracht wird« machte, spielte er auf Spencers Neigung an, hochtrabende Systeme zu konstruieren.) Also lavierte Spencer durch die zahlreichen Absurditäten eines solchen Vergleichs und behauptete sogar, er habe in den Unterschieden etwas Gutes gefunden. In seinem berühmten, 1860 erschienenen Artikel »The Social Organism« vergleicht er einen menschlichen Körper und eine menschliche Gesellschaft: »Das also sind die Punkte der Analogie und die Punkte des Unterschieds. Man kann wohl sagen, dass die Punkte der Un terschiede dazu dienen, die Punkte der Analogie deutlicher ans Licht zu bringen.« Anschließend führt Spencer nacheinander die Punkte auf, in denen der Vergleich angeblich stichhaltig ist, darunter hergeholte Parallelen wie die zwischen der historischen Entstehung einer Mittelschicht und der Ent wicklung des Mesoderms – der dritten Gewebeschicht zwischen Ektoderm und Entoderm – bei komplizierter gebauten Tieren; das Ektoderm vergleicht er mit der Oberschicht, denn die Sinnesorgane, von denen ein Tier sich lenken lässt, haben in dieser Schicht ihren Ursprung, während die produzierenden Organe, die beispielsweise der Verteilung von Nahrung dienen, aus der unteren Schicht hervorgehen, dem Entoderm; wei ter vergleicht er Blut mit Geld, die parallel verlaufenden Nerven und Blut gefäße der höheren Tiere mit nebeneinander erbauten Eisenbahnlinien und Telegrafenleitungen, und schließlich – ein Vergleich, den selbst Spen cer als mühsam bezeichnet – die primitive, absolute Monarchie mit einem
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einfachen Nervenknoten, das hoch entwickelte parlamentarische System dagegen mit einem komplizierten, aus mehreren Lappen zusammengesetzten Gehirn. Spencer schreibt: »Es mag als seltsame Behauptung erscheinen, aber unser Parlament entlässt seine Produkte in die Sozialöko nomie, eine Funktion, die in mehrfacher Hinsicht vergleichbar ist mit den Entladungen der Gehirnmasse bei einem Wirbeltier.« Spencer zog seine Vergleiche sicher an den Haaren herbei, aber seine Aussage über die Gesellschaft könnte eindeutiger nicht sein: Eine stabile Gesellschaft setzt voraus, dass alle Rollen verteilt sind und alle Funktionen gut ausgeführt werden – und der Staat darf den natürlichen Vorgang des Aussortierens und der Verteilung geeigneter Belohnungen nicht beein trächtigen. Ein einfacher Arbeiter muss schuften und bleibt wahrscheinlich zeit seines Lebens arm, aber die fleißigen Armen sind als Organe des Gesellschaftskörpers unverzichtbar: Lasst die Fabrikarbeiter kürzer arbeiten, und sofort sind die Märkte für Kolonialwaren in London und Liverpool geschwächt. Der Ladeninhaber ist beschäftigt oder auch nicht, je nach der Menge der Weizenernte. Und der Kartoffelmehltau kann Händler von Schuldpapieren ruinieren ... Diese Vereinigung vieler Menschen zu einer Gemeinschaft – diese zunehmende gegenseitige Abhängigkeit von Einheiten, die ursprüng lich selbständig waren – diese allmähliche Aufteilung der Bürger in ver schiedene Körperschaften, die sich gegenseitig mit ihren Funktionen nutzen – diese Entstehung eines Ganzen aus ungleichen Teilen – dieses Wachstum eines Organismus, bei dem kein einzelner Teil verletzt wer den kann, ohne dass auch alle Übrigen es spüren – all das lässt sich unter dem Gesetz der Individuation verallgemeinern. Der Sozialdarwinismus wuchs zu einer wichtigen geistigen Strömung heran, die von Politikern, Akademikern und Journalisten aus den ver schiedensten Motiven heraus verteidigt wurde. Aber wie der Historiker Richard Hofstadter in dem berühmtesten Buch zu dem Thema feststellt – sein Social Darwinism in American Thought erschien erstmals 1944, ist auch heute noch lieferbar und bietet trotz einiger unvermeidlicher Alter tümlichkeiten nach wie vor eine Fülle von Erkenntnissen –, bestand die wichtigste Auswirkung dieser Lehre darin, dass sie konservative politische Anschauungen förderte, insbesondere mit ihrer zentralen (und höchst
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wirksamen) Argumentation, die sich gegen die staatliche Finanzierung sozialer Dienstleistungen und gesetzliche Vorschriften für Industrie und Wohnungsbau richtet: Man könnte wie William Graham Sumner die pessimistische Ansicht vertreten und zu dem Schluss gelangen, der Darwinismus sorge ausschließlich dafür, dass die Menschen der natürlichen Mühsal des Daseinskampfes ins Gesicht sehen; oder aber man verspricht wie Herbert Spencer, dass Evolution allen unmittelbaren Entbehrungen für einen großen Teil der Menschheit zum Trotz letztlich Fortschritt bedeutet; dann ist sichergestellt, dass das Leben insgesamt einem zwar weit entfernten, dafür aber umso prachtvolleren Höhepunkt entgegenstrebt. In beiden Fällen ergeben sich aus dem Darwinismus aber zunächst sehr konservative Schlussfolgerungen. Sie legen die Vermutung nahe, alle sozialen Reformen könnten nur ein Versuch sein, das Unheilbare zu heilen, und sie durchkreuzten die Weisheit der Natur, sodass sie nur zum Niedergang führen können. Die Industriekapitäne aus Amerikas goldenem Zeitalter (oder die »Räuberbarone«, so ein Begriff, den viele bevorzugten) schätzten diese Überle gung und benutzten sie als Argument gegen staatliche Vorschriften; natürlich hatten sie dafür egoistische Motive, sooft sie auch ihre Ansichten über die Grausamkeit der Natur mit der üblichen christlichen Frömmigkeit vermischten. John D. Rockefeiler erklärte einmal in einer Sonntagsrede: Das Wachstum der großen Unternehmen ist schlicht ein Überleben des Geeignetsten ... Die Rosensorte American Beauty kann nur dadurch mit all ihrer Pracht und ihren Düften heranwachsen und den Betrach ter erfreuen, dass sie frühzeitig die Knospen opfert, die um sie herum sprießen. Das ist auch im Geschäftsleben nichts Schlimmes. Es ist nur die Verwirklichung eines Naturgesetzes und eines Gesetzes Gottes. Auch Andrew Carnegie, der zutiefst betrübt über das offenkundige Versa gen der christlichen Werte war, fand Trost in Spencers Schriften; anschlie ßend trug er dem englischen Philosophen seine Freundschaft an und gewährte ihm beträchtliche Zuwendungen. Über den Augenblick, als er
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Spencers Arbeiten entdeckte, schrieb Carnegie: »Ich weiß noch, wie eine Flut des Lichtes über mich kam, und alles war klar. Ich war nicht nur die Theologie und das Übernatürliche losgeworden, sondern ich hatte auch die Wahrheit der Evolution gefunden. Das ›alles ist gut, denn alles wird besser‹ wurde zu meinem Motto, zu einer wahren Quelle des Trostes.« Carnegies Spenden, mit denen er vor allem Bibliotheken und Universitäten bedachte, gehören zu den großen gemeinnützigen Taten der amerika nischen Geschichte, aber wir sollten nicht vergessen, wie erbarmungslos er sich allen Reformen für die Arbeiter in seinem Stahlimperium widersetzte (und wie er insbesondere den Streik von Homestead 1892 gewalt sam beendete). Diese Härte begründete er mit der üblichen Spencer’schen Argumentation, jede staatliche Vorschrift müsse einen unausweichlichen natürlichen Prozess beeinträchtigen, der letztlich zum Fortschritt für die Allgemeinheit führt. In seinem berühmtesten Essay (er trug den Titel Wealth – Wohlstand – und erschien 1889 im North American Review) stellt Carnegie fest: Das Gesetz mag für den Einzelnen manchmal hart sein, aber es ist das Beste für die Rasse, weil es in allen Bereichen für das Überleben des Geeignetsten sorgt. Deshalb akzeptieren und begrüßen wir als Bedingungen, auf die wir uns einstellen müssen, eine große Ungleichheit der Umwelt sowie die Konzentration von Wohlstand, Geschäft, Industrie und Handel in den Händen weniger Personen sowie das Gesetz der Konkurrenz zwischen diesen, da es nicht nur nützlich, sondern für den zukünftigen Fortschritt der Rasse unentbehrlich ist. Ich möchte hier keine töricht übersteigerte Ansicht über den gesellschaftlichen und politischen Einfluss wissenschaftlicher Argumente vertreten – und ebenso möchte ich den üblichen Fehler vermeiden, aus einem Zusammenhang eine Kausalbeziehung abzuleiten. Natürlich glaube ich nicht, die Aussagen des Sozialdarwinismus seien die unmittelbare Ursache für die Schattenseiten des uneingeschränkten industriellen Kapitalismus und für die Unterdrückung der Rechte von Arbeitern gewesen. Ich weiß, dass Spencers Gedankengänge zum größten Teil nur als Verbrämung für bereits vorhandene gesellschaftliche Kräfte dienten, die durch wissenschaftliche Argumente ohnehin praktisch nicht zu verändern waren. Andererseits sollte man wissenschaftliche Argumente aber nicht für
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völlig unwirksam halten – warum sonst würden die Machthaber sich so nachdrücklich auf derartige Behauptungen berufen? Der allgemeine Impuls des gesellschaftlichen Wandels entfaltete sich auf seine eigene, komplizierte Weise, ohne dass rein intellektuelle Überlegungen darauf großen Einfluss gehabt hätten, aber viele Einzelfragen – insbesondere die tatsächliche Geschwindigkeit und der Stil von Veränderungen, die sich irgendwann ohnehin ereignet hätten – können durch akademische Diskussionen erheblich beeinflusst werden. Wenn eine Reform sich im Gesetzgebungsverfahren um Jahre verzögert, um dann durch juristische Auseinandersetzungen und Kompromisse verwässert zu werden, leiden Millionen Menschen. Die sozialdarwinistische Argumentation der Superreichen und Ultrakonservativen bremste und schwächte die Welle der so zialen Erleichterungen, insbesondere wenn es um die Rechte der Arbeiter ging. Nach übereinstimmender Ansicht der meisten Historiker lag die wirk samste Aussage des Sozialdarwinismus in dem Kernstück, das Spencer selbst formuliert hatte: in seinem Widerspruch gegen staatlich durchge setzte Standards für Industrie, Bildung, Medizin, Wohnungsbau, Kanalisation und so weiter. Die meisten Amerikaner und selbst die Räuberbarone würden kaum so weit gehen, aber das Spencer’sche Dogma wurde zu einem wirksamen Knüppel gegen Vorschriften, die den Arbeitern in der Industrie bessere Bedingungen für ihre Tätigkeit sichern sollen. Gerade in diesem Punkt – bei der zentralen Empfehlung, die Spencers System von Anfang an beinhaltete – kann man durchaus die Ansicht vertreten, dass wissenschaftliche Schriften sich erheblich auf den tatsächlichen Verlauf der Geschichte ausgewirkt haben. Vor diesem Hintergrund können wir nun zu dem Feuer bei Triangle Shirtwaist, dem Tod von 146 jungen Arbeiterinnen und dem spürbaren Einfluss einer Doktrin zurückkehren, die eine falsche Version des Darwi nismus zu stark auf die Menschheitsgeschichte anwandte. Der Kampf um mehr Sicherheit am Arbeitsplatz und um eine gesündere Arbeitsumge bung wurde mehrere Jahrzehnte lang mit großer Heftigkeit geführt. Die Gewerkschaftsbewegung räumte solchen Themen eine hohe Priorität ein, und wenn Firmenleitungen mit Unnachgiebigkeit oder sogar Gewalt reagierten, führten sie häufig die Spencer’sche Begründung für die Fortset zung der offenkundigen Grausamkeit an. Staatliche Vorschriften für die Industrie waren zu einem wichtigen Reizthema im politischen Leben
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Amerikas geworden – und die Frage der staatlichen Fürsorge und Aufsicht war von Shermans Anti Trust Act im Jahr 1890 bis zu den zahlreichen, lei denschaftlichen Reformen während der Präsidentschaft von Theodore Roosevelt (1901-1909) vorangekommen. Als 1911 das Feuer bei Triangle ausbrach, waren die Gesundheits- und Sicherheitsvorschriften für Arbeitsplätze so schwach und durch einen winzigen, unterbezahlten Perso nalbestand so wenig durchzusetzen, dass die Manager der Firma – die sich in ihrem Brandfallen-Gebäude zynischerweise formal an den Buchstaben des Gesetzes gehalten hatten – sich praktisch alles erlauben konnten, was die schwache, erst im Entstehen begriffene Gewerkschaftsbewegung nicht verhinderte. Würde die übliche Legende stimmen – wären die Arbeiterinnen von Triangle also ums Leben gekommen, weil die grausamen Firmeninhaber alle Türen verschlossen hatten –, würde diese herzzerreißende Geschichte vielleicht keine moralische Lehre enthalten, die über die persönliche Schuld der Manager hinausgeht. Und ich habe keinen Zweifel, dass der entscheidende Impuls des Sozialdarwinismus – das Argument, staatliche Vorschriften könnten einen notwendigen, natürlichen Prozess nur auf halten – stark bremsend auf die Verabschiedung von Gesetzen wirkte, die heute nahezu jeder, selbst unsere Erzkonservativen, als nützlich und human ansehen würde. Auch ich bin der Ansicht, dass diese Vorschriften irgendwann in Kraft getreten wären, selbst wenn es Spencer nie gegeben hätte – aber Leben und Tod der Arbeiterinnen bei Triangle hingen von einem »Detail« ab: Das freie Spiel der Kräfte, gestützt durch Spencers Kernaussage, verhinderte die Umsetzung mancher Vorschriften bis in die zwanziger Jahre – anderenfalls hätte man den gerechtfertigten Forderun gen der Gewerkschaften und Sozialressorts vielleicht schon 1910 Rechnung getragen. Bei Triangle war eines der beiden Treppenhäuser mit ziemlich großer Sicherheit an jenem verhängnisvollen Tag verschlossen – aber die Anwälte des Unternehmens konnten in dieser Frage einen Freispruch erwirken, vor allem indem sie die jungen Zeuginnen, die das Englische nur schlecht beherrschten, mit juristischen Winkelzügen verwirrten, einschüchterten und zu widersprüchlichen Aussagen trieben. Zwei Jahre zuvor hatte bei der Firma Triangle ein wichtiger Streik begonnen, der sich dann auf shirtwaist-Hersteller in der ganzen Stadt ausweitete. Die Gewerkschaft siegte in den meisten Fabriken, aber – Ironie des Schicksals – nicht bei Triangle:
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Dort hielt die Firmenleitung durch und erzwang die Rückkehr der Arbei ter, ohne dass sie irgendetwas erreicht hätten. Auch 1911 gab es in dem Unternehmen noch starke Spannungen, und insbesondere was Diebstähle anging, herrschte bei der Firmenleitung ein Misstrauen, das fast an Verfolgungswahn grenzte. Deshalb hatten die Manager bei Feierabend (als das Feuer ausbrach, und gegen die kaum durchgesetzten Vorschriften, wonach mehrere Ausgänge zur Verfügung stehen mussten) eine Tür ver schlossen, damit alle Frauen das Gebäude an der Greene Street verlassen mussten, wo ein Aufseher jede Handtasche nach gestohlenen Hemden durchsuchte. Aber auch wenn die Bosse in diesem Fall ein schwaches, nicht durch setzbares Gesetz übertraten, kann man alle anderen Todesfälle darauf zurückführen, dass das Management die absurd unzureichenden Vorschriften einhielt – und dass sie so schwach waren, lag am aktiven politischen Widerstand gegen gesetzliche Vorschriften für Arbeitsplätze, der mit den Argumenten des Sozialdarwinismus untermauert wurde. Der Wasserdruck in den Feuerwehrschläuchen reichte nur bis in den sechsten Stock, aber kein Gesetz verhinderte, dass die höher gelegenen Etagen mit Arbeitskräften voll gestopft wurden. Keine Vorschrift verlangte Probealarme oder sonstige Rettungsübungen. In anderen Fällen waren die laschen Vorschriften geradezu lächerlich unzureichend und leicht zu umgehen; und durchgesetzt wurden sie ohnehin grundsätzlich nicht. So stehen nach dem Gesetz beispielsweise jedem Arbeiter 250 Kubikfuß (rund 7 Kubikmeter) umbauter Raum zu – eine gute Regel, mit der man die Überfüllung von Arbeitsplätzen verhindern kann. Aber den Firmen war es gelungen, diese Vorschrift zu umgehen und die bisherige, gefährliche Dichte der Arbeitskräfte beizubehalten: Sie zogen in Gebäude mit großen Hallen und hohen Decken, sodass sie dieses beträchtliche, für den eigentlichen Zweck aber bedeutungslose Volumen in die Berechnung des Minimums von 250 Kubikfuß einbeziehen konnten. Als das Asch Building im Jahr 1900 eröffnet wurde, erklärte ein Beam ter der Baubehörde dem Architekten, es müsse ein drittes Treppenhaus gebaut werden. Aber der Architekt legte Widerspruch ein und hatte damit auch Erfolg – er argumentierte, die einzige Feuerleiter könne als Treppenhaus gezählt werden, das dem Gesetz zufolge bei Gebäuden mit mehr als tausend Quadratfuß Geschossfläche vorgeschrieben war. Außerdem führte die einzige Feuertreppe – die sich während des Brandes verbog und
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abstürzte, weil sie schlecht gewartet war und weil zu viele Arbeiterinnen zu fliehen versuchten – nur auf ein Oberlicht in einem geschlossenen Innenhof. Auch diese Anordnung hatte der Bauaufseher beanstandet, und der Architekt hatte zugesagt, die notwendigen Veränderungen vorzuneh men. Das war aber nicht geschehen, und als die Feuertreppe zusammen brach, stürzten die Arbeiterinnen durch das Oberlicht, was weitere Todesopfer forderte. Noch mit zwei letzten Zitaten möchte ich belegen, dass unzureichender gesetzlicher Schutz der Hauptgrund war, warum der Brand bei Triangle Shirtwaist so unglaublich viele Todesopfer forderte. (Als wichtigste Quelle für Informationen über dieses Ereignis diente mir das hervorragende Buch The Triangle Fire von Leon Stein, erschienen 1962 bei J. B. Lippincott.) Rose Safran, die sich 1909 dem Streik angeschlossen hatte und den Brand überlebte, sagte: »Hätte die Gewerkschaft gesiegt, wären wir unversehrt geblieben. Zwei unserer Forderungen betrafen ausreichende Feuertreppen und offene Türen von den Fabriken auf die Straße. Aber die Bosse behielten die Oberhand, und wir bekamen weder die offenen Türen noch die besseren Feuertreppen. Deshalb sind unsere Freunde heute tot.« Ein Beamter der Baubehörde, der sogar einige Monate zuvor an die Fir menleitung von Triangle geschrieben und um einen Termin gebeten hatte, um die Durchführung von Rettungsübungen zu erörtern, meinte nach der Feuersbrunst: »Es gibt in der ganzen Stadt nur zwei oder drei Fabriken, bei denen Rettungsübungen üblich sind. In einigen anderen, wo ich das System selbst aufgebaut habe, schafften die Eigentümer es wieder ab. Die Achtlosigkeit der Fabrikbesitzer im Zusammenhang mit der Sicherheit ihrer Angestellten ist kriminell. Ein Mann, dem ich den Rat gab, Ret tungsübungen abzuhalten, erwiderte: ›Lass sie doch brennen. Die sind ohnehin eine Rinderherden« Der Brand bei Triangle wühlte die Arbeiterbewegung mehr auf als jedes andere Ereignis zuvor. Eine schlagkräftigere und nun unaufhaltsame Allianz aus Gewerkschaftsfunktionären, Sozialreformern und liberalen Politikern drängte unter dem Motto »Nie wieder« auf strengere Vorschriften. Die unmittelbare Folge dieser verspäteten Aktivität waren Hunderte von neuen Gesetzen. Aber sie alle konnten die Bürgersteige New Yorks nicht von dem Blut der 146 Arbeiterinnen reinigen. Diese Geschichte von zwei Arbeitsplätzen – einem Schreibtisch an der Stelle, wo Huxley mit Wilberforce diskutierte, und ein Büro in einer Etage,
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die durch das Feuer bei Triangle Shirtwaist ausbrannte – hat kein Ende. Sie verdeutlicht einen Aspekt unseres Geisteslebens, der uns immer begleiten wird, sosehr wir auch von einer offenkundigen, unumstrittenen Lösung überzeugt sind. Extreme müssen in der Regel als unhaltbare und sogar gefährliche Orte in einem komplizierten, vielschichtigen Konti nuum gelten. Was die Anwendung der darwinistischen Theorie auf die Menschheitsgeschichte angeht, kennzeichnet Wilberforces »niemals« einen ebenso großen Fehler wie das »alles« eines extremen Sozialdarwi nismus. In einem umfassenderen Sinn sollte uns die Evolution einer Spezies wie Homo sapiens mit Stolz wegen unserer seltsamen geistigen Einzigartigkeit erfüllen, gleichzeitig aber auch mit tiefer Demut wegen unserer Stellung als winziger, zufälliger Zweig an einem so kräftigen, üppig verzweigten Lebensbaum. Stolz und Demut! Da wir keines der beiden Gefühle zu Gunsten eines einzigen Standpunktes in der Mitte aufgeben können, sorgen wir am besten dafür, dass beide Haltungen immer paral lel laufen, dass sie Hand in Hand gehen und so die Weisheit von Ruths Ver sprechen an Naomi erfüllen: »Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; und wo du wohnst, da will ich auch wohnen.«
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18. Das innere Brandmal des scharlachroten W Als Kulisse für den ersten Willkommensgruß in einer neuen Heimat verblasst die internationale Ankunftshalle des Kennedy Airport gegenüber der Weite, der frischen Luft und dem Symbol der Verbundenheit im Ha fen von New York. Aber die Gedenktafel, die in unserer Zeit die per Flugzeug anreisenden Einwanderer begrüßt, hat etwas mit der großen Dame gemeinsam, die für so viele ihrer Vorgänger auf dem Seeweg ein erster Eindruck war, so auch für meine Großeltern in ihrer Kindheit. Die Tafeln auf dem Kennedy Airport und am Fuß der Freiheitsstatue tragen dieselbe Inschrift: das Gedicht »The New Colossus« von Emma Lazarus – aller dings mit einem entscheidenden Unterschied. Die Version auf dem Flug hafen lautet: Give me your tired, your poor, Your huddled masses yearning to breathe free ... Send these, the homeless, tempest-tossed to me: I lift my lamp beside the golden door. [Kommt zu mir, ihr müden und armen Gedrängten Massen, die ihr nach freiem Atmen euch sehnt... Schickt sie zu mir, die Heimatlosen, Sturmverwehten: Ich hebe meine Fackel am goldenen Tor.] Nun könnte man entschuldigend annehmen, die drei Punkte stünden für eine große, notwendige Auslassung, durch die man das Wesentliche des Gedichts auf einer kleinen Tafel unterbringen wollte. In Wirklichkeit wurde nur eine Zeile unterschlagen, für die ohne weiteres noch Platz gewesen wäre – und sie fehlt aus einem Grund, den man nur als gedanken
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lose (im Gegensatz zu bösartiger) Zensur deuten kann, sodass sie nach einer doppelten Verurteilung wegen der beiden unabhängigen Anklagen der Dummheit und Feigheit verlangt. (Ich gehöre zur letzten Schüler generation, in deren Lehrplan noch das erzwungene Auswendiglernen eines heiligen historischen Kanons seinen Platz hatte, unter anderem mit der Gettysburg Address, der Präambel zur Verfassung, Mr. Emerson auf der Brücke über dem Strom und Ms. Lazarus auf der großen Dame mit der Fackel. Deshalb fiel mir die Auslassung sofort auf, und ich war darüber so verärgert, dass ich vor ein paar Jahren in der New York Times einen Autorenbeitrag darüber schrieb. Anscheinend nagt die Sache immer noch an mir, aber heute empfinde ich wenigstens das perverse Vergnügen, dass ich die Geschichte als Einleitung zu diesem Essay nutzen kann.) Ich trage also die fehlende Zeile nach (die auch Reim und Syntax von Emma Lazarus wiederherstellt): The wretched refuse of your teeming shore [Den elenden Abschaum eurer wimmelnden Gestade] Offensichtlich macht der flüchtige Wind der politischen Korrektheit eine Formulierung wie »elender Abschaum« unmöglich – ein Besucher könnte die Zeile ja wörtlich nehmen oder sich persönlich angegriffen fühlen. Haben die Beamten unserer Flughafenbehörde schon einmal etwas von Metaphern und ihrer großen Bedeutung in der Dichtkunst gehört? Sind sie jemals auf die Idee gekommen, Ms. Lazarus könne die Abscheu der Ober schicht anderer Länder gegenüber den Einwanderern gemeint haben, die wir freundlich begrüßten, versorgten und schätzten? In dieser Geschichte steckt eine doppelte Ironie, und die war für mich der Anlass, sie noch einmal zu erzählen. Wir unterschlagen heute Emma Lazarus’ Zeile, weil wir ihre wahre Bedeutung nicht verstehen und weil unsere zeitgenössische Kultur unpassende Worte so häufig mit hässlichen Taten verwechselt (oder sogar gleichsetzt). Die Behörden einer früheren Generation dagegen bedienten sich der falschen, wörtlichen Bedeutung – der Gleichsetzung der meisten Einwanderer mit elenden Abschaum –, um nicht Worte, sondern Personen auszuschließen. Die angebliche genetische Minderwertigkeit der meisten Flüchtlinge (ein angeborenes Elend, das auch die unbegrenzten Möglichkeiten Amerikas nicht wettmachen konn ten) wurde zum wirksamen Schlagwort einer geistigen Strömung, der es
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seit den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts tatsächlich gelang, starke Beschränkungen der Einwanderung durchzusetzen. Diese Gesetze wur den trotz aller Appelle, zu gegebener Zeit Ausnahmen zuzulassen, streng durchgesetzt und führten zur Inhaftierung vieler tausend Europäer, die durch Hitlers Rassengesetze zum Tod verurteilt waren und deshalb Asyl suchten, während unsere nationalen Einwanderungsquoten den weiteren Zuzug dieser Menschen verboten. Diese beiden Geschichten – früher Ab weisung, heute ein verstümmelter Willkommensgruß – sind ein gutes Bei spiel für die bekannte historische Erkenntnis, dass bedeutende Ereignisse sich häufig zweimal abspielen – das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce. Im Jahr 1925 schrieb Charles B. Davenport, einer der führenden ame rikanischen Genetiker, an seinen Freund Madison Grant, den Autor des Bestsellers The Passing of the Great Race, über die Verwässerung des alten amerikanischen Blutes (womit nicht die Indianer, sondern die Nordeuropäer gemeint waren) durch die Einwanderung der jüngsten Zeit: »Unsere Vorfahren trieben die Baptisten von der Massachusetts Bay nach Rhode Island, aber wir haben keinen Ort, an den wir die Juden treiben könnten.« Davenport stand vor einem Dilemma. Er suchte nach geneti schen Argumenten für seine Behauptung, die Juden seien auf Grund ihrer Geburt unerwünscht, aber die sonst übliche Behauptung, sie seien von einer angeborenen Dummheit, konnte man in ihrem Fall nach den gän gigen Klischeevorstellungen nicht aufstellen. Also entschied sich Daven port nicht für geistige, sondern für moralische Schwäche. In seinem 1911 erschienenen Buch Heredity in Relation to Eugenics – das übrigens keine politische Streitschrift, sondern das führende Lehrbuch seiner Generation über die entstehende Wissenschaft der Genetik war – schrieb er: Was die Fähigkeit zum Geldverdienen angeht, nehmen sowohl männliche als auch weibliche hebräische Einwanderer einen hohen Rang ein, und auch ihre Lesefähigkeit liegt über dem Durchschnitt aller Immigranten ... Andererseits findet man bei ihnen den größten Anteil von Verstößen gegen die Keuschheit und in Verbindung mit der Prostitution ... Die Judenhorden, die jetzt aus Russland und dem äußersten Südosten Europas zu uns kommen, stellen mit ihrem ausgeprägten In dividualismus und ihrem Ideal des Verdienens auf Kosten aller anderen Interessen das extreme Gegenteil zu den früheren englischen und spä
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ter skandinavischen Einwanderern dar, deren Ideale das Gemeinschaftsleben in einem offenen Land, Fortschritt im Schweiße des Ange sichts und die Gründung von Familien in der Furcht vor Gott und der Liebe zum Vaterland waren. Die moderne Wissenschaft der Genetik begann im Jahr 1900 mit der Wie derentdeckung und Veröffentlichung der Mendel’schen Gesetze. Frühere Vererbungstheorien waren davon ausgegangen, dass es bei der Kreuzung mit anders veranlagten Partnern zu einer gleichmäßigen Vermischung und Verdünnung der Eigenschaften kommt; Mendels Lehre dagegen be stand in einer Theorie der »unterteilten« Vererbung: Merkmale werden von getrennten, unveränderlichen Genen festgelegt, die sich zwar nicht bei allen Nachkommen ausprägen müssen (insbesondere wenn ein »re zessives« Gen der »dominanten« Form auf dem zweiten Chromosom eines Paares gegenübersteht), die aber dennoch unabhängig und unver dünnt in den Erbanlagen erhalten bleiben und nur daraufwarten, dass sie in einer zukünftigen Generation ihre Wirkung wieder entfalten können. In ihrer durchaus verständlichen anfänglichen Begeisterung für diese große Entdeckung begingen die Genetiker in der Frühzeit immer wieder den gleichen Fehler: Sie versuchten einzelne Gene als Ursache für nahezu alle Eigenschaften der Menschen zu identifizieren, von anatomischen Ein zelheiten bis zu vielschichtigen Facetten des Charakters. Die Suche nach einer solchen genetischen Einzelveranlagung war vernünftig (und man konnte sie durch Stammbaumanalyse überprüfen), wenn es um einfache, abgegrenzte, nicht ineinander übergehende Merkmale und Gegensätze ging (beispielsweise um blaue und braune Augen). Aber die Vorstellung, auch komplizierte Verhaltensweisen und Charaktereigenschaften könnten ihre Wurzeln auf ähnliche Weise in der einfachen Vererbung einzelner Gene haben, war nie besonders sinnvoll, und zwar vor allem aus zwei Gründen: Erstens gibt es in ihrer Ausprägung ein Kontinuum, das jede einfache Definition der angeblich untersuchten Eigenschaften unmöglich macht (blaue Augen erkenne ich vielleicht, wenn ich sie sehe, aber wo liegt die Grenze zwischen einem fröhlichen und einem melancholischen Cha rakter?), und zweitens kann man praktisch mit Sicherheit davon ausge hen, dass die Umwelt entscheidend zur Entstehung solcher Charakter eigenschaften beiträgt, ganz gleich, welche genetischen Einflüsse ihnen zugrunde liegen mögen (meine Augen werden blau, da kann ich essen,
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was ich will, aber mein ererbtes gutes Gehirn sitzt möglicherweise am Ende dennoch in einem dummen Erwachsenen, wenn ich in meiner frühen Jugend unter Mangelernährung gelitten habe und mir aus bitterer Armut eine anständige Schulbildung versagt blieb). Dennoch suchten die meisten frühen Humangenetiker voller Hingabe nach »Einheitsmerkmalen«, angeblichen Eigenschaften, die man als Pro dukte einzelner Mendel’scher Faktoren interpretieren konnte – selbst wenn es um komplizierte, kontinuierliche, umweltabhängige und praktisch nicht definierbare Merkmale von Persönlichkeit oder Lebensleistung ging. (In jener Frühzeit bestanden die Analysen praktisch ausschließlich in der Untersuchung von Stammbäumen. Wenn es um die Augenfarbe in einer Familie geht, kann ich mir genaue Daten und zuverlässige Ergeb nisse sehr gut vorstellen, aber wie will man das angebliche Gen für »Op timismus«, »leichte Behinderung« oder »Wanderlust« verfolgen, ganz zu schweigen von vorwiegend situationsabhängigen Phänomenen wie »Armut« oder »Gemeinsinn«? War Großonkel George ein jovialer Schulter klopfer oder ein mürrischer Einsiedler?) Die Begründung für derart überzogene Versuche, komplizierte Verhal tensweisen der Menschen auf einzelne Gene zurückzuführen, mochte noch so zweifelhaft sein, in jedem Fall kam diese Strategie den Zielen und Zwecken der einflussreichsten gesellschaftlichen Strömung im frühen 20. Jahrhundert entgegen, weil sie ihr eine scheinbar wissenschaftliche Be gründung lieferte: der Eugenikbewegung mit ihrem ausdrücklich formu lierten Ziel, den amerikanischen Vorrat an Erbanlagen zu »verbessern«, indem man die Fortpflanzung der angeblich Ungeeigneten verhinderte (»negative Eugenik«) und dafür Paarungen zwischen jenen, die man we gen ihrer Abstammung für überlegen hielt, zu fördern (»positive Euge nik«). Der Missbrauch solcher Vorstellungen wurde in zahlreichen her vorragenden Büchern ausführlich dokumentiert; dabei geht es um Themen wie Erblichkeit der Leistungen in Intelligenztests, Gesetze über Zwangssterilisation und die Beschränkung der Einwanderung aus Ländern, deren Genbestand als minderwertig galt. In dieser Frühzeit spielten viele Genetiker in der Eugenikbewegung eine aktive Rolle, aber keiner von ihnen war so eifrig wie der bereits erwähnte Charles Benedict Davenport (1866-1944). Er promovierte 1892 an der Harvard University in Zoologie, lehrte an der University of Chi cago und wurde dann Leiter der von der Carnegie Institution betriebe
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nen Station für Experimentelle Evolution in Cold Spring Harbor bei New York, wo er seit 1910 auch das Eugenics Record Office einrichtete und leitete. Diese Behörde hatte die Doppelaufgabe, angeblich wissenschaftliche Dokumentationen zu erstellen und gleichzeitig offen bestimmte politische Ansichten zu vertreten. Sie existierte vor allem deshalb, weil man detaillierte Stammbäume erstellen wollte, um mit ihrer Hilfe die erblichen Grundlagen menschlicher Eigenschaften zu identifizieren. Der übereifrige Davenport sicherte sich die Finanzierung durch mehrere führende Familien der Vereinigten Staaten (die nach eigener Einschätzung dem nach eugenisch bevorzugt waren), insbesondere durch Mrs.E. H. Harriman, die als Schutzengel und wichtigster Goldesel der gesamten Bewegung fungierte. In seinem 1911 erschienenen Lehrbuch – es ist Mrs. Harriman »in Anerkennung ihrer großzügigen Unterstützung für die eugenische For schung« gewidmet – betonte Davenport ausdrücklich, eine Voraussetzung für wirksame Eugenik sei die neue Mendel’sche »Erkenntnis«, dass kom plizierte Verhaltensmerkmale ihre Ursache in einzelnen Genen haben können. Über die 5000 Einwanderer, die jeden Tag durch Ellis Island ge schleust wurden, schrieb er: Jeder dieser ungeordneten Menschen, jedes Element aus diesem »Pöbel« Europas, wie man ihn manchmal achtlos nennt, wird, wenn er fruchtbar ist, in der zukünftigen Geschichte dieser Nation eine Rolle zum Besseren oder Schlechteren spielen. Früher, als wir noch glaubten, die Faktoren würden sich vermischen, schien ein Merkmal im Keimplasma eines einzigen von mehreren tausend Individuen keiner nähe ren Betrachtung wert: Man dachte, es werde im großen Schmelztiegel bald untergehen. Aber heute wissen wir, dass Einheitsmerkmale sich nicht vermischen; dass ein bestimmtes Merkmal auch nach vielen Generationen wieder auftauchen kann, ohne dass die wiederholten Paarungen es beeinflusst hätten ... Und so rückt das Individuum als Träger eines potenziell unsterblichen Keimplasmas mit unzähligen Eigenschaften in den Mittelpunkt des Interesses. – das heißt, in den Mittelpunkt »unseres Interesses«, durch Prüfungen und Einwanderungsbeschränkungen Ausgrenzung zu betreiben, damit das amerikanische Erbmaterial nicht durch eine Welle dauerhafter
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schlechter Gene aus dem elenden Abschaum anderer Länder überschwemmt wird. Um Davenports charakteristische Argumentationsweise deutlich zu machen und zu zeigen, wie mühelos er zwischen angeblich wissenschaftlicher Dokumentation und offener politischer Agitation hin und her wechselte, können wir uns sein einflussreiches, 1915 erschienenes Buch mit dem Titel The Feebly Inherited [»Die erblich Schwachen«] (Veröffent lichung Nr. 236 seiner Geldgeber, der Washingtoner Carnegie Institution) ansehen, und dort insbesondere den ersten Teil über »Nomadenturn, oder den Wanderimpuls, unter besonderer Berücksichtigung der Erblichkeit«. Das Vorwort verheimlicht weder Finanzquellen noch Zielrichtung. Nach dem drei der reichsten und konservativsten amerikanischen Familien mit im Boot saßen, kann man kaum mit leidenschaftsloser Neutralität gegenüber dem gesamten Spektrum möglicher Ergebnisse rechnen. Die Carnegies hatten das ganze Unternehmen finanziert, aber Davenport erwies auch einzelnen Schirmherren die Ehre: »Die Kosten für die Ausbildung der Feldforscher wurden von Mrs. E. H. Harriman getragen, der Begründerin und wichtigsten Schirmherrin des Eugenics Record Office, sowie von Mr. John D. Rockefeller, der auch die Gehälter vieler Feldforscher bezahlte.« Bereitwillig gibt Davenport in seinem Vorwort auch seine politischen Einstellungen und Ziele zu erkennen. Er möchte die »Hemmungsschwäche« als Temperamentskategorie einführen, die zu minderwertiger Moral führt. Eine solche Formulierung lieferte ein Doppelkriterium für die Identifizierung der eugenisch Ungeeigneten: schlechter Geist und schlechte Moral. Nach Davenports Ansichten waren die genetischen Grundlagen der Intelligenz bereits durch zahlreiche Studien an geistesschwachen Menschen belegt. Jetzt aber musste die Eugenik den zweiten Hauptgrund formulieren, warum man Einwanderer abweisen und den im Land lebenden Ungeeigneten das Recht auf Fortpflanzung verweigern sollte: den schlechten moralischen Charakter (genau wie in seinem zuvor bereits erwähnten Argument, das er als Rettungsanker zur Einschränkung der jüdischen Immigration benutzte, nachdem er hier den üblichen Vor wurf der intellektuellen Unterlegenheit nicht erheben konnte). Davenport schreibt: Man sollte ein paar Worte über den Begriff »hemmungsschwach« sa gen, der in diesen Untersuchungen verwendet wird. Er wurde als geeig
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neter Begriff gewählt, weil er eine Parallele zu dem Ausdruck »geistesschwach« darstellt; er ist das Ergebnis der Überzeugung, dass die Phä nomene, die er bezeichnet, getrennt von jener der Geistesschwäche untersucht werden sollten. Um jeden Zweifel an seinen Motiven auszuräumen, schließt Davenport dann ganz offen seine politische Aussage an. Die Hemmungsschwäche, die zur Unmoral führt, ist unter Umständen gefährlicher als die Geistes schwäche, die Dummheit zur Folge hat: Nach meiner Überzeugung ist es hilfreich, wenn man die erblichen Grundlagen von Intellekt und Gefühlen getrennt betrachtet. Aus dieser Haltung heraus werden die vorliegenden Untersuchungen zur nachdenklichen Betrachtung empfohlen. Immerhin besteht das Hauptproblem bei der Verwaltung einer Gesellschaft im ungeordneten Verhalten; Verhalten wird aber von Gefühlen gesteuert, und die Qualität der Gefühle wird stark durch die erbliche Veranlagung gefärbt. Anschließend wählt Davenport das »Nomadentum« als wichtigstes Bei spiel für ein angeblich einfach mendelndes Merkmal – das heißt das Pro dukt eines einzigen Gens –, das auf »Hemmungsschwäche« beruht und fast zwangsläufig zu unmoralischem Verhalten führt. Dabei stößt er schon ganz zu Beginn seines Werks auf ein Definitionsproblem; dieses äußert sich in einem Einleitungssatz, der als einer der am wenigsten tiefsinnigen in der gesamten Wissenschaftsgeschichte gelten muss! »Eine Neigung zum Wandern ist bis zu einem gewissen Grade ein normales Merkmal des Menschen wie auch der meisten Tiere, ganz im Gegensatz zu den meisten Pflanzen.« Wie soll man demnach die »schlechte« Form der Wanderlust, die als zwanghaftes Flüchten vor Verantwortung definiert ist, von dem verdienstvollen Streben nach Tapferkeit und Abenteuer unterscheiden, das zur »guten« Wanderlust führt und unsere ersten (vorwiegend nordeuropäischen) Einwanderer dazu motivierte, den neuen Kontinent zu besie deln und sich Untertan zu machen? Diese »gute« Form hatte Davenport in seinem Buch von 1911 in den höchsten Tönen gelobt: Sie sei »die un ternehmungslustige Rastlosigkeit der ersten Siedler ... die ehrgeizige Suche nach besseren Lebensbedingungen. Die aufgegebenen Farmen
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Neuenglands zeugen von dem Merkmal in unserem Blut, das uns dazu an regt, weiterzuziehen und an einem anderen Ort nach möglichen Vorteilen zu streben.« In einem schwachen Versuch, einzelnen Abschnitten eines vielschichti gen Kontinuums falsche Etiketten anzuheften, bezeichnete Davenport die »schlechte« Form als »Nomadentum« und definierte sie als Unfähigkeit, sich einem Drang zu widersetzen, den jeder Mensch von Zeit zu Zeit empfindet: dem Bedürfnis, vor unseren Pflichten davonzulaufen, das Menschen mit normaler, anständiger Moral unterdrücken. Nomaden sind demnach die Ausgestoßenen der Gesellschaft, die Schnorrer, Landstreicher und Zigeuner – »jene, die zwar zu stetiger, effektiver Arbeit in der Lage sind, aber mehr oder weniger regelmäßig von dem Ort weglaufen, an dem ihre Pflichten liegen, und dann beträchtliche Entfernungen zurück legen«. Nachdem Davenport auf diese Weise seine Opfer definiert hat (wenn auch auf höchst subjektive Weise), muss er zwei weitere Argumente an führen, um die gewünschte Verbindung zwischen einer »schlechten« Ei genschaft (die ihre Wurzeln in der Hemmungsschwäche hat und zu unmoralischem Verhalten führt) und einem einzigen Gen herzustellen, dessen Ausrottung die Eugenik anstreben kann: Er muss die erbliche Grundlage nachweisen und dann das »Gen« für das Nomadentum finden. Seine Argumente für eine genetische Grundlage waren selbst nach den Maßstäben seiner eigenen Generation erstaunlich schwach (und das trotz des guten Rufes seiner Arbeit, den sie, wie wir im Rückblick unterstellen müssen, eher ihrer Übereinstimmung mit den vorgefassten Meinungen der meisten Leser verdankte als der Qualität von Davenports Logik oder Daten). Auf vier zweifelhafte Analogien gestützt, vertrat er einfach die Ansicht, die dem Nomadentum entsprechenden Eigenschaften entstünden immer dann, wenn die äußere Situation sich der »rohen« Natur annähert (in der die Genetik herrschen muss) und sich von der verfeinerten Umwelt der modernen Gesellschaft entfernt. Nomadentum, so Davenport, müsse genetische Ursachen haben, weil analoge Merkmale auch »als Wanderinstinkt bei Menschenaffen«, »bei primitiven Völkern«, bei Kindern (die damals vor dem Hintergrund der falschen Ansicht, die Ontogenie sei eine Wiederholung der Phylogenie, als Entsprechung zu primitiven Men schen galten) sowie bei Jugendlichen (wo der grobe Instinkt während der Sturm-und-Drang-Zeit des Erwachsenwerdens vorübergehend die sozia
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len Hemmungen überwindet) auftreten. Besonders schwach erscheint das Argument mit den »primitiven« Menschen, denn eine Neigung zum Wan dern passt unter Umständen gut zu einer Lebensweise, deren Grundlage die Jagd auf schnell bewegliche Tiere ist, und deshalb kann sie nicht als Kennzeichen einer unzureichenden genetischen Veranlagung (oder überhaupt einer genetischen Veranlagung) gelten. Aber Davenport dreht den mutmaßlichen Weg von der Ursache zur Wirkung einfach um und stößt durch alle Schwierigkeiten zu seiner gewünschten Schlussfolgerung vor: Wenn wir in Feuerländern, Australiern, Buschleuten und Hottentotten die primitiven Menschen sehen, können wir sagen, dass der primitive Mensch ein Nomade ist... Häufig wird angenommen, sie seien Nomaden, weil sie auf die Jagd gehen, aber wahrscheinlicher ist, dass der Nomadeninstinkt sie zur Jagd zwingt, sodass sie ihren Lebensunterhalt nicht durch Landwirtschaft bestreiten. Seine zweite Behauptung, Nomadentum sei das Produkt eines einzigen Gens, verfolgt Davenport anschließend mit Hilfe von Stammbäumen aus seinem Eugenics Record Office weiter. Nach dem subjektiven Kriterium des Eindrucks, den seine Feldforscher aufgezeichnet hatten, oder nach schriftlichen Berichten von Laien (meist Personen, die auf einen allge meinen Aufruf hin ihren eigenen Stammbaum eingeschickt hatten), kennzeichnete Davenport alle Nomaden in seiner Tabelle mit einem knallroten W (für »Wanderlust« – das deutsche Wort war auch in die eng lische Fachsprache eingegangen). Dann untersuchte er die Verteilung der Ws in den Familien und Generationen und gelangte so zu einer der seltsamsten, unwahrscheinlichsten Schlussfolgerungen, die jemals auf Grund einer berühmten Studie vertreten wurde: Das Nomadentum wird nach seiner Argumentation von einem einzigen Gen verursacht, das ge schlechtsgekoppelt-rezessiv ist und auf dem später als solchem identifizierten weiblichen Chromosom liegen soll. Diese Aussage begründete Davenport mit dem Argument, das Nomadentum trete in Familien in der gleichen Verteilung auf wie Hämophilie, Farbenblindheit und andere Merkmale, die tatsächlich geschlechtsgekoppelt und rezessiv sind. Eine solche Stellung kann man aus bestimmten Vererbungsmustern ableiten: Väter, die das Merkmal besitzen, geben es beispielsweise nicht an ihre Söhne weiter (weil das fragliche Gen auf dem
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X-Chromosom liegt und Männer ihren Söhnen nur ein Y-Chromosom vererben). Mütter mit dem Merkmal dagegen übertragen es an alle Söhne, aber nicht an die Töchter, sofern dem Vater das Merkmal fehlt. (Da das Merkmal rezessiv ist, muss die Mutter das Gen auf beiden X-Chromosomen tragen. An ihren Sohn gibt sie aber nur eines davon weiter, sodass das Merkmal sich ausprägt, weil kein zweites X-Chromosom vorhanden ist. Eine Tochter dagegen erhält nur ein betroffenes X-Chromosom von der Mutter und ein normales X-Chromosom vom Vater; bei ihr prägt sich das Merkmal nicht aus, weil die normale Genkopie des Vaters dominant ist.) Diese Regeln kannte Davenport, sodass seine Studie in dieser Hinsicht nicht falsch war. Aber seine Kriterien für »Nomadentum« als »Ding«, das sich abgrenzen und quantitativ erfassen lässt, waren so subjektiv und so durch seine genetischen Unterstellungen vorbelastet, dass man seine Stammbaumanalysen nur als wertlos bezeichnen kann. In seiner Zusammenfassung predigt Davenport das Credo der Eugenik: »Der Wanderinstinkt«, so stellt er fest, »ist ein grundlegender Instinkt der Menschen, der aber bei den intelligenten Erwachsenen in zivilisierten Völkern normalerweise unterdrückt wird.« Leider aber sind Menschen, die das schlechte Gen W (den scharlachroten Anfangsbuchstaben der Wanderlust) ausprägen, zu dieser gesunden Hemmung nicht in der Lage: Sie werden zu unfähigen Nomaden, die sich ihrer Verantwortung buch stäblich durch Flucht entziehen. Das Merkmal ist genetisch bedingt, rassenspezifisch und unerwünscht. Einwanderer, die durch das W gekennzeichnet sind, sollten abgewiesen werden (und viele Einwanderer waren sicher keine tapferen Abenteurer, sondern unbeholfene, heimatlose Men schen), und Nomaden, die bereits im Land lebten, sollten nachdrücklich ermahnt oder sogar gezwungen werden, auf Fortpflanzung zu verzichten. Davenport schließt mit den Worten: Unsere Untersuchungen haben zu der folgenden neuen Erkenntnis geführt: Der Nomadenimpuls ist in allen Fällen ein und dasselbe Ein heitsmerkmal. Nomaden aller Arten besitzen ein bestimmtes, rassisch bedingtes Merkmal – sie sind im wahrsten Sinne des Wortes Angehörige der Nomadenrasse. Dieses Merkmal besteht im Fehlen des an geborenen Mechanismus, der für Sesshaftigkeit, Stabilität und Häuslichkeit sorgt.
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Heute würde natürlich niemand mehr Davenports extreme Ansicht ver treten, einzelne Gene seien für fast alle komplizierten Verhaltensweisen der Menschen verantwortlich. Schon im Laufe seiner eigenen weiteren Berufslaufbahn lehnten die meisten Kollegen schließlich seine Theorien ab, insbesondere gegen Ende seines Lebens: Davenport lebte noch bis in die vierziger Jahre, als die erste Welle der Mendel-Begeisterung längst abgeflaut war und die heutige Erkenntnis Fuß gefasst hatte, dass sich in kom plizierten Merkmalen meist die Wirkung vieler Gene widerspiegelt, von denen jedes einen kleinen Beitrag zum Gesamteffekt leistet (von dem star ken, häufig überwiegenden Einfluss eines nicht genetischen, umweltbe dingten Zusammenhanges von Wachstum und Genausprägung gar nicht zu reden). Ein einziges Gen für Wut, Fröhlichkeit, Nachdenklichkeit oder Wanderlust – das erscheint heute ebenso absurd wie die Behauptung, die Kugel eines einzigen Attentäters und sonst nichts habe den Ersten Weltkrieg ausgelöst, oder Darwin habe die Evolution ganz allein entdeckt und ohne ihn wären wir alle noch heute Kreationisten. Aber auch in unserer heutigen Zeit, wo wir erneut zu genetischen Erklärungen neigen (ein gut begründeter, nützlicher Trend, wenn man es richtig macht), kommen fast jeden Tag Fehler ans Licht, die in ihrer allgemeinen Machart denen von Davenport gleichen; sie haben heute zwar eine subtilere Form, feiern aber ebenso fröhliche Urständ wie sein angebliches Gen – ja, er definierte tatsächlich eines – für halsstarriges Verhalten. Kein vernünftiger Kritiker des biologischen Determinismus würde leugnen, dass Gene das Verhalten beeinflussen; natürlich tun sie das. Und kein ehrlicher Skeptiker würde die Ansicht vertreten, man solle genetische Erklärungen ablehnen, weil sie mit negativen politischen, sozialen oder ethischen Hintergedanken verbunden seien – ein Vorwurf, der vor allem aus zwei Gründen zurückzuweisen ist. Erstens stehen die Tatsachen der Natur unserer ethisch begründeten Nutzung neutral gegenüber. Natürlich haben wir auf der Grundlage falscher genetischer Behauptungen häufig zweifelhafte oder sogar tragische Entscheidungen getroffen. Aber in anderem Zusammenhang können stichhaltige Argumente über die angeborene, genetische Basis menschlicher Eigenschaften auch zutiefst befreiend sein. Man denke nur daran, welche Last von liebevollen Eltern genommen wird, die ein schönes, vielversprechendes Kind zwanzig Jahre lang großziehen, um es dann durch die wachsenden Zerstörungen der Schizophre nie zu »verlieren« – einer Geisteskrankheit, die mit ziemlich großer Si
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cherheit genetische Ursachen hat, genau wie viele angeborene Krankheiten anderer Körperorgane, die ebenfalls erst im dritten Lebensjahrzehnt oder sogar noch später ausbrechen. Generationen von Psychologen machten den Eltern unterschwellig den Vorwurf, sie hätten die Krankheit, die damals als ausschließlich »umweltbedingt« galt, unabsichtlich verur sacht. Was könnte grausamer sein als ein solcher falscher Vorwurf, der zu der ohnehin nicht zu überbietenden Tragödie noch hinzukommt? Und zweitens werden wir weder in unseren ethischen Entscheidungen noch mit wissenschaftlichen Untersuchungen sehr weit kommen, wenn wir echte Tatsachen außer Acht lassen, weil uns die Folgerungen nicht gefallen. Nehmen wir nur den nahe liegendsten Fall: Ich kann mir keine unerfreulichere Tatsache vorstellen als den unvermeidlichen körperlichen Tod jedes Menschen, aber kein geistig gesunder Mensch würde auf die dauer hafte Stabilität einer Gesellschaft setzen, die sich auf die Voraussetzung gründet, dass König Prospero in Fleisch und Blut für alle Zeiten regiert. Aber wenn wir häufig fehlerhaften, tief verwurzelten Denkweisen nach geben und dann zu falschen Schlussfolgerungen über die Rolle der Vererbung für das Verhalten der Menschen gelangen, sollten wir diese Denk weisen offen legen und korrigieren – und das umso energischer, wenn solche Argumente zu Handlungsempfehlungen führen, die in den Augen der meisten Menschen ethisch falsch sind (beispielsweise die Zwangssterilisation für geistig Behinderte). Nach meiner Überzeugung befinden wir uns heute in einer solchen Situation, und die genetischen Fehlschlüsse, die hinter dem Missbrauch stecken, haben in Stil und Logik eine verblüffende Ähnlichkeit mit Davenports Fehlern, soviel wir auch an argumentativer Raffinesse und Genauigkeit der Tatsachenbeschreibung hinzugewonnen haben. In der gesamten Geschichte der Genetik hatte politischer Missbrauch seine Ursachen am häufigsten in Behauptungen über einen »biologischen Determinismus« – es wurde argumentiert, ein bestimmtes Verhalten oder eine gesellschaftliche Situation lasse sich nicht ändern, weil die Menschen auf Grund ihrer Gene »so gebaut« seien. Wenn wir etwas, das uns nicht gefällt, auf die »Gene« schieben, nutzen wir dies entweder als Ausrede, oder wir bemühen uns weniger nachdrücklich um Veränderung. Ich möchte nur das offenkundigste, empörendste und hartnäckigste Beispiel nennen: Auch heute noch wird vielfach die Ansicht vertreten, man solle bestimmten Gruppen (die meist durch Rasse oder gesellschaftliche
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Schicht definiert sind) eine angemessene Bildung oder Sozialleistungen verweigern, weil man sie fälschlich als im Durchschnitt genetisch unterlegen betrachtet, weil Armut und Elend angeblich in ihren eigenen Erbanlagen liegen und weil man sie deshalb durch soziale Maßnahmen nicht nennenswert verbessern könne. In der Geschichte erkennt man immer wieder die gleiche Verbindung zwischen genetischen Behauptungen, die diesem Muster folgen, und konservativen politischen Argumenten für die Beibehaltung eines ungerechten Status quo, der den Machthabern großen Nutzen bringt. Natürlich würde heute kein seriöser Experte für Genetik oder Politik dieses Argument nach Davenports Vorbild mit der Behauptung »ein Gen, eine komplizierte Verhaltensweise« vertreten. Oder anders ausgedrückt: Heute redet niemand über das Gen für Dummheit, Promiskuität oder fehlenden Ehrgeiz. Aber eine Abfolge von drei komplizierteren – und sehr weit verbreiteten – Fehlern führt nur allzu oft zu eugenischen Schlussfolgerungen des gleichen Typs. Irgendwie sind wir immer noch fasziniert von der Idee, man könne komplizierte gesellschaftliche Verhaltensweisen zumindest zu einem großen Teil mit ererbten »Atomen« von Verhaltens dispositionen erklären, die tief in jedem einzelnen Menschen verwurzelt sind. Es erscheint uns viel befriedigender, viel spannender, wenn wir be haupten, ein einzelnes Gen und nicht eine komplizierte, unentwirrbare Mischung aus Vererbung und gesellschaftlichen Umständen verursache ein bestimmtes Phänomen. Wir haben den Eindruck, wir seien einer ech ten, wesentlichen Ursache viel näher gekommen, wenn wir als Grund einer rätselhaften Verhaltensweise nicht die sozialen Verhältnisse identifiziert haben, die sich aus vielen Bestandteilen zusammensetzen, sondern einen Baustein im einzelnen Menschen selbst. Gierig verschlingen wir die Schlagzeile »Gen für Homosexualität entdeckt«, aber die Zeitungen ma chen sich nicht einmal die Mühe, eine ebenso gut dokumentierte Nachricht über andere Bestandteile der homosexuellen Neigung zu veröffent lichen, deren wichtigste Wurzeln gesellschaftlicher Natur sind und in keiner Beziehung zu genetischen Unterschieden stehen. Die gemeinsame Ursache solcher Fehler liegt viel tiefer als die vorder gründige Verbindung zu einer politischen Nützlichkeit, die den meisten von uns nicht einmal deutlich wird und von der wir abrücken würden, wenn sie uns auffiele. Die Quelle des Irrtums ist nach meiner Überzeugung eine allgemeine Ansicht über Kausalität, die uns entweder durch
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falsche Vorstellungen über Wissenschaft und die Natur eingebläut wurde oder vielleicht sogar eine unglückselige Schwäche in der durch Evolution entstandenen Funktionsweise unseres Gehirns widerspiegelt. Wir bevorzugen einfache Erklärungsmuster, die immer in der gleichen Richtung von kleinen, unabhängigen Bausteinen des Daseins zu komplizierten, ver wirrenden Wechselwirkungen zwischen großen Körperschaften oder Or ganisationen fortschreiten. Oder, um den Fachausdruck zu benutzen: Wir sind mit unseren Kausalerklärungen lieber »Reduktionisten« – wir begründen das physikalische Verhalten großer Objekte mit den Bewegungen von Atomen, und ebenso begründen wir das Sozialverhalten großer Tiere auf dem Weg über die biologischen Atome, die man als Gene bezeichnet. Aber die Welt entspricht nur in seltenen Fällen unseren Hoffnungen auf Einfachheit, und die Methoden des Reduktionismus, so leistungsfähig sie häufig sind, lassen sich nicht immer anwenden. Das Ganze kann tatsäch lich mehr sein als die Summe seiner Teile, und die Wechselbeziehungen zwischen Objekten lassen sich nicht immer in Regeln zerlegen, denen jedes Objekt bei unabhängiger Betrachtung unterliegt. Gesetze und Zufälligkeit einzelner Situationen muss man häufig aus der direkten, ausdrücklichen Untersuchung großer Objekte und ihrer Wechselbeziehun gen ableiten, weil sie sich bei der Reduktion auf die einzelnen »Atome« und ihre elementaren Eigenschaften nicht erschließen. Die drei häufigsten Fehler genetischer Erklärungen sind mit der gleichen grundlegenden Schwäche reduktionistischer Annahmen behaftet. 1. Wir halten uns für raffiniert, wenn wir anerkennen, dass sowohl die Gene als auch die Umwelt zu einem bestimmten Ergebnis beitragen, aber wir nehmen irrtümlich an, man könne dieses richtige Prinzip am besten dadurch ausdrücken, dass man Prozentzahlen verteilt und beispielsweise behauptet, das Verhalten A sei »zu 40 Prozent genetisch und zu 60 Prozent durch die Umwelt bedingt«. Solche reduktionistischen Aussagen gehen über die Ebene einfacher Irrtümer hinaus und gehören in den noch ne gativeren Bereich völlig bedeutungsloser Behauptungen. Genetik und Umwelt wirken zusammen und lassen ein Ganzes entstehen, das stimmt, aber wir müssen begreifen, warum sich das Ganze nicht zerlegen und auf Einzelbestandteile reduzieren lässt. Wasser lässt sich nicht als Mischung von zwei Dritteln der Eigenschaften von Wasserstoffgas und einem Drittel der davon unabhängigen Merkmale des Sauerstoffs erklären – und
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ebenso lässt Wanderlust sich nicht in 30 Prozent des Gens für Hem mungsschwäche und 70 Prozent gesellschaftliche Motivation für die Sehnsucht nach der Straße zerlegen. 2. Wir glauben, wir hätten eine Art höherer Genauigkeit erreicht, wenn wir sagen, dass nicht nur eine Davenport’sche Einheit, sondern viele Gene die genetische Grundlage für komplizierte Verhaltensweisen bilden. Aber dann nehmen wir diese richtige Aussage und begehen wieder den reduk tionistischen Irrtum: Wir behaupten, zehn Gene würden das Verhalten A beeinflussen, und wenn die Ursachen von A angeblich zu 50 Prozent genetischer Natur sind (der erste Fehler), muss jedes Gen ungefähr fünf Pro zent zum Gesamtverhalten beitragen. Aber komplexe Wechselwirkungen kann man nicht als Summe der getrennt betrachteten Einzelteile berechnen. Ich bin nicht als jeweils ein Achtel von jedem meiner Urgroßeltern zu verstehen (auch wenn meine genetische Zusammensetzung ungefähr so aussieht); ich bin das einzigartige Produkt meiner eigenen Wechselbeziehungen von sozialem Umfeld, genetischer Zusammensetzung und allen Irrungen und Wirrungen eines individuellen, empörend natürlichen Schicksals. 3. Wir gehen davon aus, wir hätten bei unseren Aussagen über »Gene für« bestimmte Merkmale genügend Vorsicht walten lassen, wenn wir einräumen, dass sie zu einer durch Wechselwirkungen bestimmten Gesamtheit nur einen partiellen, häufig sogar recht kleinen Beitrag leisten. Wir stellen uns also vor, wir könnten zu Recht von einem »Gen für Sexualität« spre chen, solange wir die Einschränkung hinzufügen, dass diese Ursache sich nur in 15 Prozent der sexuellen Vorliebe äußert. In Wirklichkeit müssen wir begreifen, warum solche Aussagen keinen Sinn haben und deshalb (wie zuvor bei dem ersten Fehler) noch schlimmer als nur falsch sind. Viele Gene beeinflussen im Zusammenwirken mit mehreren anderen Faktoren die sexuellen Vorlieben, aber ein einzelnes, davon abtrennbares »Homosexualitätsgen« gibt es nicht. Wenn wir von einem »Gen für« zehn Prozent des Verhaltens A sprechen, begehen wir den alten Davenport’ schen Fehler analog zu der Aussage, jemand sei »ein bisschen schwanger«. Ein konkretes Beispiel, wie eine gute, wichtige Untersuchung in der öffentlichen Berichterstattung (und auch durch nicht ganz sorgfältig abge
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wogene Aussagen beteiligter Wissenschaftler) mit allen diesen Fehlern belastet werden kann, bot die New York Times am 2. Januar 1996. An diesem Tag lautete eine Schlagzeile auf der Titelseite: »Verbindungen zwischen einer Genvariante und der Neigung zum Nervenkitzel.« Der Artikel be richtete über zwei Studien, die in der Januarausgabe 1996 des Fachblattes Nature Genetics erschienen waren. Zwei unabhängige Forschungsteams – das eine hatte mit 124 Aschkenasi- und sephardischen Juden aus Israel gearbeitet, das andere mit einer vorwiegend männlichen Gruppe von 315 ethnisch unterschiedlichen Amerikanern – hatten übereinstimmend einen zwar schwachen, aber signifikanten Zusammenhang zwischen ei nem »Neuigkeitsstreben« im Verhalten (das man mit Standard-Frage bögen nachgewiesen hatte) und einer bestimmten Variante des Gens für den so genannten D4-Dopaminrezeptor nachgewiesen, das auf dem Chromosom Nr. 11 liegt; das zugehörige Protein ist einer von mindestens fünf Rezeptoren, die bekanntermaßen die Reaktion des Gehirns auf Dopamin regulieren. Dieses Gen kommt in mehreren Formen vor, die sich in ihrer Länge un terscheiden, weil ein bestimmter DNA-Unterabschnitt in unterschiedlich vielen (zwei bis zehn) Kopien vorliegt. Wer eine größere Zahl solcher Wie derholungseinheiten besitzt (sodass das Gen länger ist), zeigt tendenziell ein stärkeres »Neuigkeitsstreben« – vielleicht weil die längere Form des Gens auf irgendeine Weise für eine verstärkte Reaktion des Gehirns auf Dopamin sorgt. So weit, so gut – und hochinteressant. Es gibt kaum einen Zweifel, dass die Vererbung weit gefasste, grundlegende Aspekte des Temperaments be einflusst – das ist eine Binsenweisheit aus der Kategorie »was alle Eltern mit mehr als einem Kind wissen«. Niemand sollte sich durch die offenkundige Tatsache angegriffen oder bedroht fühlen, dass wir nicht alle völlig unbeleckt oder ganz und gar gleich sind, wenn es um die Mischung der allgemeinen Verhaltenstrends geht, die wir als »Temperament« bezeich nen. Manche Gene beeinflussen ganz offensichtlich einzelne chemische Vorgänge im Gehirn; und die chemischen Vorgänge im Gehirn wirken sich mit Sicherheit auf Stimmungslage und Verhalten aus. Wir wissen, dass verbreitete, höchst wirksame Neurotransmitter wie Dopamin starken Einfluss auf unsere Stimmungen und Gefühle haben (Dopamin sorgt insbesondere für freudige Empfindungen). Unterschiedliche Formen eines Gens, die für unterschiedliche Reaktionen des Gehirns auf Dopamin
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sorgen, können unser Verhalten beeinflussen – und eine Form, die diese Reaktion verstärkt, kann bei dem betreffenden Menschen durchaus das Streben nach Neuem zu einer stärkeren Neigung machen. Aber damit wird die lange Form des D4-Rezeptors nicht zu dem (oder auch nur einem) »Gen für Neuigkeitsstreben«, und in den Untersuchungen wurde auch nicht nachgewiesen, dass man das Streben nach Neuem quantitativ erfassen oder zu einem bestimmten Prozentsatz auf »gene tische Ursachen« zurückführen könnte – auch wenn derartige Aussagen in den allgemein verständlichen Berichten über diese Entdeckungen vor herrschten. Selbst die Originalquellen – die beiden ursprünglichen Berichte in Nature Genetics und das zugehörige Editorial mit dem Titel »Kartierung der Gene für den Charakter des Menschen« – und auch der hervorragende Bericht in der New York Times (der beste in der seriösen Tagespresse) schaffte es trotz einer im Allgemeinen gewissenhaften, zu treffenden Berichterstattung, alle drei zuvor genannten Fehler zu begehen. Der Journalist der Times beging den ersten Fehler: Er ging von unter schiedlichen Prozentsätzen aus und schrieb, »dass ungefähr die Hälfte des Neuigkeitsstrebens auf Gene zurückzuführen ist, die andere Hälfte dage gen auf bisher schlecht definierte Umwelteinflüsse«. Dr. R. P. Ebstein, Hauptautor eines der beiden Berichte, unterlag dem zweiten Irrtum und addierte Wirkungen, ohne Wechselwirkungen zu berücksichtigen: Er erklärte, die lange Form des D4-Gens sei für ungefähr zehn Prozent des Neuigkeitsstrebens verantwortlich. Wenn also – der erste Fehler – das Neuigkeitsstreben zu fünfzig Prozent als genetisch bedingt gelten kann, und wenn D4 für zehn Prozent der Gesamtheit verantwortlich ist, können wir daraus schließen, dass noch ungefähr vier weitere Gene beteiligt sein müssen (von denen jedes seine zehn Prozent zu den insgesamt fünfzig Prozent genetischem Einfluss beiträgt). Ebstein erklärte dem Journalisten der New York Times: »Wenn wir davon ausgehen, dass es noch andere Gene gibt, nach denen wir bisher nicht gesucht haben, und dass jedes die ser Gene mehr oder weniger den gleichen Einfluss ausübt wie der D4-Re zeptor, dann können wir damit rechnen, dass vielleicht vier oder fünf Gene an dem Merkmal beteiligt sind.« Aber die bedeutsamsten Fehler gehören wie immer in die dritte Kategorie: Man spricht fälschlicherweise von »Genen für« bestimmte Verhal tensweisen – so auch in dem Fachaufsatz aus Nature Genetics, dessen Ti
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tel »Kartierung von Genen für den Charakter des Menschen« bereits zi tiert wurde. (Wenn schon unsere Fachzeitschriften sich derart in Fehlern verrennen, kann man sich leicht vorstellen, was die Tagespresse aus »Homosexualitätsgenen«, »Nervenkitzelgenen«, »Dummheitsgenen« und so weiter macht.) Zunächst einmal übt das D4-Gen allein höchstens einen schwachen Einfluss auf das Neuigkeitsstreben aus. Wie kann man ein Gen, das nur für zehn Prozent der Unterschiede bei einem Merkmal verantwortlich ist, als »Gen für« dieses Merkmal bezeichnen? Wenn ich zu dem Schluss gelangt bin, dass zehn Prozent meines Körpergewichts aus den Kalorien im Tofu stammen (weil ich das Zeug liebe und kiloweise esse), wird dieses Lebensmittel, das allgemein als sehr gesund gilt, dadurch nicht zum »Dickmacher«. Und was noch wichtiger ist: Gene sorgen für die Produktion von Enzymen, und Enzyme steuern die Geschwindigkeit chemischer Vorgänge. Gene produzieren weder ein »Neuigkeitsstreben« noch irgendeine andere vielschichtige, offenkundige Verhaltensweise. Die Disposition zu einer langen Kette komplizierter chemischer Reaktionen, die sich in einer noch komplizierteren Reihe von Lebensumständen abspielen, bedeutet nicht Übereinstimmung oder gar Kausalzusammenhang. Im äußersten Fall setzt die lange Form von D4 eine chemische Reaktion in Gang, die neben anderen möglichen Wirkungen eine Stimmungslage erzeugt, welche manche Menschen zu größerer Aufgeschlossenheit gegenüber Verhaltensweisen veranlasst, die in manchen Fragebögen als »Neuigkeitsstreben« be zeichnet werden. Sehr augenfällig wurde dieser Fehler in einer weiteren, 1997 erschiene nen Studie, die dieselbe lange Form von D4 mit einer stärkeren Veranlagung zur Heroinsucht in Verbindung brachte. Der ursprüngliche TimesBericht von 1996 hatte sich begeistert über »den ersten Nachweis einer Verbindung zwischen einem einzelnen Gen und einem bestimmten, nor malen Persönlichkeitsmerkmal« geäußert. Aber nun sollte dasselbe Gen – möglicherweise sogar über den gleichen Weg einer verstärkten Reaktion auf Dopamin – bei anderen Persönlichkeitsmerkmalen im Zusammenhang mit einem schweren Krankheitszustand stehen. Sollen wir D4 nun also bei normalen Menschen als »Gen für Neuigkeitsstreben« und bei an deren, die Probleme haben, als »Suchtgen« bezeichnen? Besser ändern wir sowohl unsere Terminologie als auch unsere Vorstellungen. Die lange Form von D4 setzt eine chemische Reaktion in Gang. Diese Reaktion kann
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bei Menschen mit höchst unterschiedlicher Biografie und genetischer Konstitution im Zusammenhang mit vielen verschiedenen sichtbaren Verhaltensweisen stehen. Der tief greifendste Fehler in dieser dritten Kategorie liegt in der reduktionistischen und eigentlich sogar ziemlich verrückten Vorstellung, man könne in dem vielschichtigen Kontinuum der menschlichen Verhal tensweisen gezielt einzelne Merkmale abgrenzen und abtrennen. Schon bei den viel eindeutigeren, einfacheren anatomischen Merkmalen des Menschen stoßen wir auf große Schwierigkeiten, wenn wir Eigenschaften mit eindeutigen Verbindungen zu bestimmten Genen identifizieren wol len. Ich kann vielleicht Gene »für« die Augenfarbe erkennen, nicht aber solche für Beinlänge oder Übergewicht. Wie soll ich dann die ineinander übergehenden und zwangsläufig subjektiven Kategorien einer labilen Persönlichkeit auseinander dividieren? Ist »Neuigkeitsstreben« überhaupt ein »Ding«? Kann man überhaupt sinnvoll über »Gene für« solche ne bulösen Kategorien sprechen? Fallen wir da nicht in Davenports alten Fehler zurück, der nach dem roten Buchstaben W für die Wanderlust suchte? Endgültig wurde mir klar, was mich an den Berichten über »Gene für« Verhaltensweisen immer so gestört hatte, als ich in der New York Times den Bericht über die Persönlichkeitstheorie von C. R. Cloninger las (Cloninger war der Hauptautor des Editoriais von Nature Genetics): Neuigkeitsstreben ist einer von vier Aspekten, die nach Ansicht von Dr. Cloninger und vielen anderen Psychologen die Grundbausteine eines normalen Temperaments bilden – die drei anderen sind Schadensver meidung, Belohnungsabhängigkeit und Hartnäckigkeit. Alle vier Gemütsarten dürften sich zu einem großen Teil auf die genetische Aus stattung zurückführen lassen. Bei dem letzten Satz nahm mein ungutes Gefühl plötzlich eine feste Form an: »alle vier Gemütsarten« – mit dem emotionalen Freudensprung, den man vollzieht, wenn die zuvor unzusammenhängenden Puzzlesteine einer Argumentation ihre richtigen Verbindungen finden, wurde mir auf einmal klar, warum der pfiffige Journalist (oder auch der Wissenschaftler selbst) dieses altmodische Wort verwendet hatte. Betrachten wir die Theorie einmal in ihren Umrissen: vier unabhängige Bestandteile des
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Temperaments, die bei »normalen Menschen« im Gleichgewicht stehen, bei jedem Einzelnen aber in etwas unterschiedlichen Anteilen vorliegen, sodass sich jeweils ein individuelles Temperament und eine einzigartige Persönlichkeit ergibt. Produziert unser Körper von einem davon zu viel oder zu wenig, entsteht eine Krankheit. Aber warum vier, und warum gerade diese vier? Warum nicht fünf, sechs oder hundert? Warum überhaupt eine festgelegte Zahl? Warum ver suchen wir, solche kontinuierlichen Spektren in abgegrenzte, unabhängige »Dinge« zu zerlegen? Ich verstehe zwar die mathematischen Theorien und Verfahren, die zu einer solchen Benennung führen (siehe mein Buch Der falsch vermessene Mensch), aber ich halte den ganzen Versuch für einen großen philosophischen Fehler unserer Zeit (dagegen sind die mathematischen Methoden, die ich bei meinen eigenen Forschungsarbeiten in großem Umfang benutze, bei richtiger Anwendung äußerst wertvoll). Zahlenmäßige Häufungen sind nicht gleichbedeutend mit physischer Realität. Ein Modell mit vier Temperamentsbestandteilen kann ein nützliches methodisches Hilfsmittel sein, aber ich glaube nicht eine Sekunde daran, dass vier kleine Menschlein namens Neuigkeitsstreben, Schadens vermeidung, Belohnungsabhängigkeit und Hartnäckigkeit in meinem Gehirn wohnen und sich entweder um die Vorherrschaft streiten oder aus gewogen zusammenarbeiten. Die Logik einer solchen Theorie hat ihre gespenstische Parallele in einer sehr alten und ehrwürdigen, dabei aber ganz und gar falschen Theorie der Medizingeschichte – deshalb wählte der Autor des Zeitungsberichts im englischen Original klugerweise das Wort humors, das sowohl Stimmungszustände als auch die alten vier Körpersäfte bezeichnet. Über tau send Jahre lang, von Galen bis zum Heraufdämmern der modernen Medizin, hielt man die Persönlichkeit eines Menschen für einen Gleichgewichtszustand zwischen diesen vier Körpersäften: Blut (sanguis), Schleim (phlegma), gelbe Galle (chole) und schwarze Galle (melancholia). Alle vier – auf Lateinisch bezeichnete man sie als humores (Flüssigkeiten) – bildeten angeblich die chyle, die verdaute Nahrung im Darm, die dann in den Organismus gelangt und ihn ernährte. Da sich die chyle einerseits durch die jeweils aufgenommenen Lebensmittel und andererseits durch veranlagungsbedingte Unterschiede bei der Verdauung in dem jeweiligen Organismus bildete, spiegelten sich in ihr insgesamt sowohl angeborene als auch äußere Faktoren wider – eine genaue Entsprechung zu der heu
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tigen Behauptung, unser Verhalten werde sowohl durch Gene als auch durch die Umwelt beeinflusst. Die vier Körpersäfte in der chyle entsprechen den vier möglichen Kategorien in einer doppelten Zweiteilung – das heißt den beiden Achsen einer Trennung zwischen warm und kalt beziehungsweise feucht und trocken. Der warme, feuchte Saft ist das Blut; durch die Kombination aus kalt und feucht entsteht der Schleim; warm und trocken führt zur gelben Galle, kalt und trocken zur schwarzen Galle. Ich halte dieses logisch-abstrakte Schema für ein ganz ähnliches heuristisches Hilfsmittel wie Cloningers Vierteilung der Persönlichkeit. Wenn wir aber ein solches Schema in eine Behauptung über tatsächliche, getrennte Gebilde in unserem Organismus ummünzen, begehen wir einen großen Fehler. Nach der medizinischen Theorie der Körpersäfte erwächst Gesundheit aus dem richtigen Gleichgewicht zwischen allen vier Bestandteilen, und verschiedene Charaktere sind die Folge unterschiedlicher Anteile innerhalb der normalen Schwankungsbreite. Dagegen führt eine übergroße Menge eines Saftes zu anormalen oder krankhaften Eigenschaften. Ein faszinierendes sprachliches Überbleibsel sind die Namen der vier Säfte, die wir heute für Charaktertypen verwenden: Einen fröhlichen Menschen bezeichnen wir als Sanguiniker (hier überwiegt der heiß-feuchte Saft des Blutes), der gleichmütige Phlegmatiker wird von dem kalt-feuchten Schleim beherrscht, bei dem jähzornigen Choleriker ist zu viel von der heiß-trockenen gelben Galle vorhanden, und der traurige Melancholiker steht unter dem Einfluss der schwarzen Galle, des kalt-trockenen Körpersaftes. Unterscheidet sich die moderne Theorie einer viergeteilten Per sönlichkeit irgendwo nennenswert von dieser älteren Ansicht mit ihrer grundlegenden Vorstellung von Zahl, Gleichgewicht und Ursache normaler oder pathologischer Persönlichkeiten? Als Abschluss können wir uns zwei mögliche Ursachen für diese geradezu gespenstische Ähnlichkeit zwischen einer modernen Theorie der vier Temperamentsbestandteile und der alten medizinischen Theorie der Körpersäfte ausmalen. Vielleicht stimmen beide deshalb so gut überein, weil man in der Antike bereits eine großartige, richtige Entdeckung gemacht hatte; dann stellt die moderne Version eine wichtige Weiterent wicklung einer zentralen Erkenntnis dar, von der unsere Vorfahren sich nur eine dunkle Ahnung verschaffen konnten. Andererseits aber – und das ist nach meinem Urteil viel wahrscheinlicher – kommt es zu der verblüf
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fenden Ähnlichkeit, weil der Geist des Menschen über die historischen Zeiträume hinweg trotz zunehmender Erkenntnisse und turbulenter Umwälzungen in der abendländischen Kultur letztlich gleich geblieben ist. Deshalb begehen wir nach wie vor nur allzu leicht die gleichen Denk fehler. Nach meiner Vermutung haben wir uns früher für vier Körpersäfte und heute für vier Temperamentselemente entschieden, weil eine tief verwur zelte Eigenschaft unseres Geistes dazu führt, dass wir den in Wirklichkeit höchst vielschichtigen, kontinuierlichen Spektren der Natur einfache Kategorienschemata überstülpen wollen. Der Zahl Vier bedienten sich unsere Vorfahren nicht nur bei den Körpersäften. Auch viele andere Phä nomene wurden in viergeteilte Schemata gepresst – vier Himmelsrichtungen, vier Lebensalter und die vier klassischen Elemente Luft, Erde, Feuer und Wasser. Sind diese Ähnlichkeiten bei der Einordnung ein Zufall, oder begünstigt die Funktionsweise des menschlichen Gehirns solche künstlichen Unterteilungen? C. G. Jung hatte – allerdings aus Gründen, die ich nicht in vollem Umfang anerkenne – den starken Eindruck, dass die Einteilung in vier Elemente eine tief verwurzelte, archetypische Nei gung der Menschen darstellt. Nach seiner Ansicht halten wir eine Dreitei lung von unserem Wesen her für unvollständig und ergänzungsbedürftig (weil eines der drei Elemente nach einem kontrastierenden Gegenstück verlangt), während eine Vierteilung in unseren Augen optimale Harmo nie und inneres Gleichgewicht repräsentiert. Er schrieb einmal, zwischen der Drei und der Vier stehe das wichtige Gegenüber von Männlich und Weiblich, und vier Elemente seien ein Symbol der Vollständigkeit, drei aber nicht. Nach meiner Überzeugung erkannte Jung richtig, dass unser Geist von Vierteilungen angezogen wird, aber ich habe den Verdacht, dass die Grundlage dieser Neigung in Wirklichkeit in unserer eindeutigen (und vermutlich allgemein verbreiteten) Vorliebe für Zweiteilungen liegt. Die Vierteilung dürfte eine so weit wie möglich getriebene, vollständige Zweiteilung darstellen – nämlich die Zweiteilung der Zweiteilungen: zwei Achsen (jede mit zwei Endpunkten), die zueinander einen rechten Winkel bil den. Die Vier wirkt für uns möglicherweise wie die höchste Form des Gleichgewichts, weil ein solches Schema unseren geistigen Raum mit zwei bevorzugten Zweiteilungen füllt, die einander in vollkommener Koordination gegenüberstehen.
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Wie dem auch sei: Wenn dieser zweite Punkt die Erklärung ist, warum wir so unglaublich ähnliche Theorien über die vier Körpersäfte und die vier Temperamentselemente erfunden haben, spiegelt sich in einer derar tigen Vierteilung eine durch die Organisation unseres Geistes vorgege bene Voreingenommenheit wider, nicht aber ein »echtes Ding« in unserer physischen Umwelt. Über »Gene für« die Bestandteile einer derart künst lichen, von Vorurteilen geprägten Zergliederung einer wesentlich kom plexeren Realität können wir kaum sprechen. Interessanterweise erkannte schon der englische Theologe und Gelehrte Robert Burton, der Anfang des 17. Jahrhunderts mit seiner Anatomy of Melancholy das größte litera rische Werk aller Zeiten über die Theorie der Körpersäfte verfasste, in den vier Säften zu Recht nur eine Ausdrucksform unserer umfassenderen Nei gung, Dinge in vier Teile zu zerlegen. Dieser große Schriftsteller, der seine eigene lebenslange Depression mit dem Balsam der Literatur linderte, schrieb über seinen Zustand: »Die Melancholie, kalt und trocken, dick, schwarz und schmerzhaft... ist ein Hemmschuh für die beiden anderen heißen Säfte, das Blut und die gelbe Galle, die im Blut bleiben und die Knochen nähren: Diese vier Säfte besitzen eine gewisse Analogie mit den vier Elementen und den vier Altern des Menschen.« Deshalb möchte ich mit einigen klugen Worten von Montaigne schließen, der im 16. Jahrhundert den Essay als literarisches Genre begründete – und welchen passenderen Höhepunkt könnte man als Essayist finden? Vielleicht sollten wir unsere falsch angelegten, trügerischen Bemühungen aufgeben, in einer ganz bestimmten, angeborenen Sequenz des genetischen Codes nach einer Neigung zum Wandern oder nach dem Neuigkeitsstreben (das vielleicht einen Anreiz zum Wandern bietet) zu suchen. Vielleicht sollten wir stattdessen den erstaunlichen Wanderungen unseres Geistes mehr Aufmerksamkeit schenken. Denn erst wenn wir die Vorurteile und Vorlieben unseres eigenen Denkens erkennen, werden wir unsere eigenen Säfte durchdringen und zur Funktionsweise der Natur vorstoßen. Montaigne schrieb: Es ist ein dorniges Unterfangen – und zwar mehr, als es den Anschein hat –, einer so weiten Wanderung wie der unseres Geistes zu folgen, die undurchsichtigen Tiefen seiner innersten Winkel zu durchdringen, die unzähligen Aufregungen zu finden und festzuhalten, die ihn bewegen.
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19. Dolly-Mode und der Tod eines Königs Nichts ist so flüchtig und launenhaft wie die Mode. Was also soll ein Naturwissenschaftler, der dem objektiven Beschreiben und Analysieren verpflichtet ist, mit einem so unberechenbaren, wankelmütigen Objekt an fangen? Die Antwort: Er könnte ein klassisches Verfahren anwenden und analog zu dem üblichen Motto, wenn man die Ausbreitung eines schlimmen Erregers verhindern will (»Töte es, bevor es sich vermehrt«), auch sagen: »Fasse es quantitativ, bevor es verschwindet.« Francis Galton, Darwins liebenswert-exzentrischer, hochintelligenter Vetter und Begründer der wissenschaftlichen Statistik, nahm sich diesen Ratschlag sicher zu Herzen. Er fasste einmal den Entschluss, die geome trischen Gesetzmäßigkeiten der weiblichen Schönheit zu untersuchen. Dazu heftete er ein Stück Papier an ein kleines Holzkreuz, das er unbemerkt in der Tasche bei sich tragen konnte. Das eine Ende des Kreuzes hielt er in der Handfläche fest, und mit einer zwischen Daumen und Zei gefinger eingeklemmten Stecknadel brachte er kleine Stiche an den drei übrigen Vorsprüngen an (den beiden Enden des Kreuzbalkens und dem oberen Ende). Nun stufte er jede junge Frau, die er auf der Straße sah, in eine von drei Kategorien ein: schön, durchschnittlich oder (nach seinem zugegebenermaßen subjektiven Maßstab) unter dem Durchschnitt. Ent sprechend machte er jeweils an der dafür vorgesehenen Stelle seines Kreuzes eine Markierung. Nachdem das harte Tagewerk getan war, zählte er die Stiche und stellte eine Tabelle mit Prozentsätzen auf. Dabei gelangte er zur Bestürzung aller Schotten zu der Erkenntnis, dass es in der Schönheit ein einfaches Gefälle von Süden nach Norden gab: Den höchsten Anteil hässlicher Frauen fand er in Aberdeen, die meisten Schönheiten dagegen begegneten ihm in London. Manche Modeerscheinungen (vielleicht das Körperpiercing?) blühen
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einmal auf und verschwinden dann wieder – hoffentlich für immer. An dere sind immer wieder einmal in Mode, als wären sie am Ende eines Pendels befestigt. Solche Schwankungen werden durch zwei Schwächen im Leben der Menschen begünstigt. Erstens bringt unser Bedürfnis, in einer komplexen Welt ein wenig Ordnung zu schaffen, unsere schlimmste geistige Gewohnheit zum Tragen: den Hang zu Zweiteilungen (siehe Kapitel 3), unsere Neigung, eine wirklich komplizierte Masse feinster Abstufungen auf die Wahl zwischen zwei diametral entgegengesetzten Alternativen zu reduzieren (die beide moralisches Gewicht haben und sich deshalb für Schwülstigkeit und Predigten, ja häufig sogar für regelrechte Kriege eignen): Religion contra Naturwissenschaft, liberal contra konservativ, einfach contra raffiniert, »Roll Over Beethoven« contra »Mondscheinsonate«. Und zweitens gibt es auf viele Fragen nach unse rer Liebe und unserem Leben, aber auch nach dem Schicksal ganzer Nationen tatsächlich keine Antwort – und deshalb wechseln wir immer wie der zwischen den angeblichen Alternativen, die wir durch unsere Zweiteilung geschaffen haben, in der ständigen Hoffnung, wir würden dieses Mal den nicht existierenden Schlüssel zu einer schwer fassbaren Lösung finden. Unter den wechselnden Moden, die vorwiegend durch die Ausschläge unseres gesellschaftlichen Pendels hervorgebracht werden, hat kein Thema größere Bedeutung für die Entwicklungsbiologie und umfassendere Konsequenzen für ein breites Spektrum politischer Fragen als die Frage nach genetischen und umweltbedingten Ursachen für Fähigkeiten und Verhalten der Menschen. Diese Frage wird schon seit so vielen Jahrhunderten fälschlich der Zweiteilung unterworfen, dass das Englische für die angeblichen Alternativen einen wunderhübschen sprachlichen Kon trast bereithält: nature contra nurture. Jedem denkenden Menschen dürfte klar sein, dass die Formulierung dieses Themas als Entweder-oder-Frage an schieren Unsinn grenzt. Sowohl Vererbung als auch Erziehung sind von entscheidender Bedeutung. Außerdem kann man einen erwachsenen Menschen, der im Wechselspiel dieser (und anderer) Faktoren herangewachsen ist, nicht in Einzelbestandteile mit angehefteten Prozentzahlen zerlegen (ausführlichere Argumente zu dieser zentralen Frage habe ich in Kapitel 18 angeführt). Den noch ist immer abwechselnd eine Vorliebe für Genetik oder Umwelt in Mode, je nachdem, woher der politische Wind gerade weht und welche
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wissenschaftlichen Entdeckungen dem einen oder anderen Aspekt aus einer Vielzahl wichtiger Einflüsse gerade die größte Bekanntheit sichern. In den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg zum Beispiel führte eine Kombination aus politischen und wissenschaftlichen Ursachen dazu, dass man das Schwergewicht auf die Umwelt legte: Man begriff, dass die Nazis ihre Gräueltaten durch eine pseudo-genetische Theorie über minderwertige Rassen mit einer rationalen Begründung ausgestattet hatten, und gleichzeitig feierte der Behaviorismus in der Psychologie Wiederauferstehung. Heute sind genetische Erklärungen wieder en vogue, und unterstützt wer den sie durch eine ähnliche Mischung aus gesellschaftlichen und wissenschaftlichen Einflüssen: einen Ausschlag des politischen Pendels nach rechts (mit dem zynischen »man kann sie nicht ändern, sie sind eben so« als Scheinargument für die Kürzung staatlicher Sozialprogramme) und die übermäßige Übertragung wirklich spannender Entdeckungen beim Nachweis der genetischen Grundlagen körperlicher und seelischer Krank heiten auf alle Verhaltensvarianten. Leider begehen wir aber inmitten der ganzen unmittelbaren Begeisterung häufig den Fehler, eine vorübergehende Mode mit dauerhafter Erkenntnis zu verwechseln. Deshalb herrscht heute vielfach die Ansicht, der derzeit beliebte genetische Determinismus sei eine ewige Wahrheit, die man endlich den Klauen der unwissenden Umweltanhänger früherer Ge nerationen entrissen habe. Aber die Geschichte lehrt uns, dass das Pen del bald wieder in die andere Richtung schwingen wird. Da wir sowohl von der Genetik als auch von der Umwelt so vieles lernen können – und da die Gesamtheit unserer Verhaltens- und Denkweisen eine so komplexe, untrennbare Kombination dieser und anderer Faktoren darstellt –, wird die derzeitige Vorliebe für die Genetik in Zukunft sicher wieder zu einer Begeisterung für die Umwelt führen; wieder einmal werden wir uns auf unserem Weg nach oben von einer Seite zur anderen bewegen, im mer in dem Bestreben, die alte sokratische Forderung zu erfüllen: Erkenne dich selbst. In meinem Galton’schen Bemühen, das Ausmaß der derzeitigen Fas zination genetischer Erklärungen zu messen (bevor diese Mode wie der passe ist und mir die Gelegenheit entgeht), muss ich eilig zwei aktuelle Themen mit höchstem Neuigkeitswert ansprechen. Zwischen den Themen – dem Klonschaf Dolly und dem Buch von Frank Sulloway über die Wirkung der Geburtsreihenfolge auf das Verhalten der Men
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schen* – mag auf den ersten Blick kein Zusammenhang bestehen, aber beide haben das gemeinsame Merkmal, dass sie verblüffende Einblicke in das derzeitige Ausmaß der Genetik-Vorliebe ermöglichen. Kurz gesagt, wurden beide Geschichten fast ausschließlich unter genetischen Gesichtspunkten wiedergegeben, aber beide schreien (zumindest in meinen Augen) nach einer radikal anderen Lesart als Beweis für starke Umwelt einflüsse. Dennoch hat offenbar niemand diesen ins Auge springenden Schluss gezogen (oder ihn auch nur erwähnt). Ich kann mir nicht vor stellen, dass das rätselhafte Schweigen anders zu erklären ist als mit der derzeitigen Mode der genetischen Argumentation. Hätte man genau die gleichen Informationen vor zwanzig Jahren präsentiert, als das Klima umweltorientierte Erklärungen begünstigte, wäre man nach meiner Überzeugung zu einer völlig anderen Interpretation gelangt. Unsere Welt, die von Unwissen und Boshaftigkeit der Menschen durchsetzt ist, enthält schon genügend Dunkelheit. Sollten wir nicht beide Leuchtfeuer ständig strahlen lassen?
* Wie man leicht erkennt, ist dieser Essay meine Reaktion auf die weltweite Welle von Nachrichten und ethischen Überlegungen, die auf den veröffentlichten Bericht über Dolly folgten, das erste Säugetier, das Anfang 1997 aus einer ausgewachsenen Zelle geklont wurde. Wenn ich Essays aus mehreren Jahren zu einem Buch dieser Se rie zusammenstelle, übergehe ich in der Regel die wenigen Artikel, die sich auf »ak tuelle Ereignisse« beziehen – aus dem nahe liegenden Grund, dass auch für sie der alte Spruch gilt: »In die Zeitung von gestern wird heute der Müll eingewickelt.« Als ich aber den vorliegenden Essay noch einmal las, hielt ich ihn aus zwei Gründen ei nes Nachdrucks für würdig: Erstens glaube ich nicht, dass er schon völlig bedeu tungslos geworden ist (auch Dolly selbst ist im Gedächtnis der Öffentlichkeit noch sehr präsent), und zweitens bilde ich mir ein, ich hätte etwas Allgemeines, Originel les zu sagen, indem ich zwischen Dolly und Sulloways Buch eine Verbindung herstelle und die beiden so unterschiedlichen Vorgänge mit einem Thema verknüpfe, das mir immer rätselhaft erschien, weil es so offenkundig auf der Hand liegt und doch von der Tages- und Fachpresse völlig übergangen wird. Wie schon König Lear betrübt feststellte, kann das Fehlen einer erwarteten Äußerung viel mehr aussagen als eine vorhergesehene, lautstarke Ankündigung. Da zwischen Entstehen und Veröffent lichung dieser Essays eine »Vorlaufzeit« von drei Monaten liegt, muss ich aktuelle Ereignisse immer in einen allgemeinen Zusammenhang stellen, der die spätere Veröf fentlichung rechtfertigt – eine brandheiße Nachricht kann nach diesen endlosen neunzig Tagen nur noch kalt und abgestanden wirken.
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Schafe schaffen Dolly ist mit Sicherheit das berühmteste Schaf, seit Johannes der Täufer Jesus in einer Metapher als »Lamm Gottes, das du trägst die Sund’ der Welt« bezeichnete (Johannes 1,29). Als derzeit bekanntestes Säugetier hat sie mit Sicherheit den Papst, den Präsidenten der Vereinigten Staaten, Madonna und Michael Jordan hinter sich gelassen. Und das ganze Trara wegen eines Durchschlages, einer Fotokopie! Damit möchte ich keinen Eimer kaltes Wasser über das arme kleine Lamm ausgießen, das aus einer Brustzelle seiner ausgewachsenen Mutter geklont wurde, aber ich bin mir nicht ganz sicher, ob es die ganze Aufregung und Angst wert ist, die es durch seine unkonventionelle Geburt aufgewühlt hat. Liest man an Stelle der überschäumenden, hektischen Berichte der Publikumspresse einmal den Fachartikel über Dollys Entstehung (I. Wilmut, A.E. Schnieke, J. McWhir, A.J. Kind und K.H.S. Campbell, »Viable offspring derived from fetal and adult mammalian cells«, Nature, 27. Februar 1997, Seite 810-813), so ist man fast ein wenig enttäuscht, und am Ende fragt man sich, ob Dollys Geschichte vielleicht doch weniger aussagt, als es den Anschein hat. Ich möchte damit nicht die ethischen Fragen in Misskredit bringen oder herunterspielen, die durch Dollys Geburt aufgeworfen wurden (und ich werde in Kürze auf das Thema zurückkommen), aber uns steht keine Armee geklönter wahnsinniger Diktatoren ins Haus, und noch nicht ein mal im Kentucky Derby werden genetisch völlig gleichartige Konkurren ten gegeneinander antreten (was eine echte Prüfung für die Fähigkeiten von Jockeys und Trainern wäre!). Zunächst einmal liefert Dolly der Bio logie keine neuen theoretischen Erkenntnisse: Im Prinzip wissen wir schon seit zwanzig Jahren, wie man Zellen klont, wir hatten nur keine Methoden, um das genetische Potenzial einer differenzierten, ausgewachsenen Zelle wieder in vollem Umfang auszuschöpfen. (Allerdings, das gebe ich zu, kann auch eine methodische Neuerung ebenso viel praktische und ethische Auswirkungen haben wie ein theoretischer Durchbruch. Ich nehme an, man kann durchaus die Ansicht vertreten, dass auch die erste Atombombe nur die Verwirklichung einer schon länger bekannten Mög lichkeit darstellte.) Zweitens können meine Kollegen schon seit mehreren Jahren Tiere aus
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embryonalen Zellen klonen; Dolly ist also nicht das erste geklonte Säugetier, sondern das erste Tier, das aus einer erwachsenen Zelle geklont wurde. Ian Wilmut und seine Mitarbeiter klonten auch Schafe aus den Zellen eines neun Tage alten Embryos und eines Fetus von 26 Tagen – mit viel größerem Erfolg. Mit der embryonalen Zelllinie konnten sie bei 32 »Empfängerinnen« (das sind Ersatzmütter für die eingepflanzten Zellen) fünfzehn Schwangerschaften herbeiführen (die allerdings nicht alle zur Geburt führten), und mit der fetalen Zelllinie gelang es bei fünf von 16 Empfängertieren. Dagegen war Dolly bei 13 Versuchen mit der ausge wachsenen Zelllinie der einzige, der zum Erfolg führte. Dieses Experiment schreit geradezu nach einer Wiederholung, die es bestätigen könnte. (Ich räume allerdings ein, dass man die derzeitigen Schwierigkeiten sicherlich überwinden wird, und wenn das Klonen aus erwachsenen Zellen über haupt möglich ist, wird es zweifellos mit verbesserten Methoden und wachsender Erfahrung immer mehr zur Routine werden.)* Drittens – und dieser Zweifel ist ernster – bin ich bisher nicht überzeugt, dass wir Dollys Ausgangszelle überhaupt als ausgewachsen in der üblichen Bedeutung des Begriffs bezeichnen können. Sie entstand aus einer Zelle aus der »Brustdrüse eines sechs Jahre alten Mutterschafes im letzten Drittel der Schwangerschaft« (so das Zitat aus dem Fachartikel von Wilmut et al.). Da die Brustdrüsen sich bei den Säugetieren im Spätsta dium der Schwangerschaft beträchtlich vergrößern, bleiben wahrschein lich manche der dort angesiedelten Zellen, die man formal als ausge wachsen bezeichnen muss, ungewöhnlich labil oder sogar »embryoartig«, sodass sie sich im richtigen Schwangerschaftsstadium schnell vermehren und neues Brustgewebe erzeugen können. Demnach kann man vielleicht nur ungewöhnliche ausgewachsene Zellen klonen, die vielleicht noch ein ähnliches Potenzial wie die des Embryos besitzen, nicht aber beispiels weise eine einfache Zelle aus der Wange, einem Haarbalg oder einem * Wissenschaft schreitet schnell voran, insbesondere wenn sie durch ein gewalti ges Interesse der Öffentlichkeit und finanzielle Möglichkeiten angetrieben wird. In den drei Jahren zwischen dem ersten Erscheinen dieses Essays und dem vorliegenden Nachdruck wurden viele dieser Schwierigkeiten bereits vermindert oder völlig über wunden. Das Klonen aus erwachsenen Zellen ist zwar noch keineswegs Routine, aber man hat bei mehreren Säugetierarten aus solchen Zellen zweifelsfrei Klone herge stellt. Auch die anfänglichen Zweifel im Zusammenhang mit Dolly selbst (die ich in diesem Essay erwähnte) wurden im Wesentlichen zerstreut; ihre Stellung als Klon aus einer ausgewachsenen Zelle erscheint heute gesichert.
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Blutstropfen, der zufällig einem kopierwütigen Menschen in die Hände fällt. Wilmut und Kollegen räumen diese Möglichkeit in einem Satz ein, der mit der ganzen Stumpfheit wissenschaftlicher Prosa formuliert ist und deshalb von Journalisten fast immer übersehen wurde: »Wir können nicht die Möglichkeit ausschließen, dass es einen kleinen Anteil relativ undiffe renzierter Stammzellen gibt, die während der Schwangerschaft die Regeneration der Brustdrüse unterstützen.« Aber wenn ich auch von dem bisher Erreichten relativ wenig beeindruckt bin, so verkenne ich doch nicht die gewaltigen ethischen Fragen, die durch die Möglichkeit, Klone aus ausgewachsenen Zellen herzustellen, aufgeworfen werden. Es stimmt, wir klonen schon seit Jahrzehnten unsere Obstbäume durch den ganz normalen Vorgangs des Pfropfens – und das, ohne dass jemand ethischen Alarm geschlagen hätte. Es stimmt auch, dass wir uns nicht mit den Gefahren auseinander setzen, welche die genetische Einheitlichkeit von Nutzpflanzen und Nutzvieh für die Evolution bedeu tet, aber ich bin zuversichtlich, dass Pflanzen- und Tierzüchter nicht so dumm sein werden, alle Genotypen außer einem einzigen aus einer Spe zies auszumerzen; sie werden vielmehr immer (wie die Pflanzenzüchter es schon heute tun) einen aktiven Vorrat an genetischer Vielfalt in Reserve halten. (Dann allerdings sollten wir auch niemals das potenzielle Ausmaß der Dummheit von Menschen unterschätzen – Reserven, die sich an einem Ort befinden, können durch eine Katastrophe zerstört werden, während genetische Vielfalt, die sich über eine ganze Spezies verteilt, die größtmögliche entwicklungsgeschichtliche Widerstandsfähigkeit bietet.) Aber wenn ich auch viele allgemein geäußerte Befürchtungen für übertrieben halte, mache ich mir doch große Sorgen wegen des potenziellen Missbrauchs beim Klonen von Menschen, und ich befürworte dringend eine offene, gründliche Diskussion über solche Themen. Jeder von uns kann sich ein persönliches Szenario für den schlimmsten aller denkbaren Fälle ausmalen. Mein eigenes dreht sich nicht um das Gespenst eines zukünftigen Hitler, der sich eine Armee aus zehn Millionen genau gleichen, roboterhaften Mördern herstellt – denn wenn unsere Gesellschaft jemals einen Zustand erreichen sollte, in dem irgendein Machthaber tatsächlich so etwas verwirklichen könnte, wären wir vermutlich ohnehin bereits zum Untergang verdammt. In meinen Gedanken kommt eher ein begrenzter ethischer Morast vor, mit dem wir uns vermutlich tatsächlich in den nächsten Jahren auseinander setzen müssen, eine biotechnologi
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sehe Parallele zu den Winkeladvokaten, die den Krankenwagen hinterherfahren: eine rührige Firma, die in den Todesanzeigen nach frühzeitig gestorbenen Kindern sucht und dann den trauernden Eltern ein Angebot macht: »Herzliches Beileid! Haben Sie vielleicht noch eine Haarprobe? Für nur fünfzig Mille machen wir Ihnen ein neues.« Aber wenden wir uns nun meiner wichtigsten Aussage über die derzeit unterschätzte Bedeutung umweltbedingter Ursachen des menschlichen Verhaltens zu – wobei wir das Gebiet schwieriger ethischer Fragen kei neswegs verlassen: Ich bin tatsächlich der Ansicht, dass die meisten grel len Angstszenarien und die meisten wütenden ethischen Diskussionen in Fernsehtalkshows sich um ein Problem drehen, das in Wirklichkeit gar nicht existiert, weil alle Kulturkreise es bereits vor lahrtausenden gelöst haben. Wir fragen: Ist ein Klon ein Individuum? Kann ein Klon eine Seele haben? Würde ein Klon, der aus einer meiner Zellen hergestellt wurde, meine einzigartige Persönlichkeit zunichte machen? Ich möchte vorsichtig darauf hinweisen, dass diese endlosen Fragen – alles Variationen des Themas, wonach Klone unseren herkömmlichen Begriff von Individualität in Frage stellen – bereits empirisch beantwortet wurden, auch wenn die öffentlichen Diskussionen um Dolly diese offenkundige Tatsache fröhlich übergehen. Menschliche Klone kennen wir, seit wir denken können. Wir nennen sie eineiige Zwillinge – und sie sind weitaus bessere Klone als Dolly und ihre Mutter.* Dolly hat mit ihrer geneti* Meine große Verblüffung darüber, dass diese offensichtliche Tatsache in der Öffentlichkeit so große Überraschung auslöste und dass die Medien das Argument nicht sofort aufgriffen und in den Mittelpunkt stellten, ist seit der Entstehung dieses Essays weiter gewachsen. (Soweit mir bekannt ist, war ich wirklich der Erste, der – in Ge sprächen mit Journalisten schon vor Erscheinen dieses Artikels – die eineiigen Zwil linge, die ja Klone sind, als uralte, schlüssige Widerlegung der wichtigsten durch Dolly ausgelösten ethischen Bedenken anführte. Ein so grundlegendes, offenkundi ges Argument sollte eigentlich nicht von einem Essayisten in einer Zeitschrift mit ei ner Vorlaufzeit von mehreren Monaten in die Diskussion geworfen werden, sondern am nächsten Tag von einem Journalisten oder in der nächsten Minute von irgendje mandem im Internet.) Ich kann daraus nur den Schluss ziehen, dass die Unkenntnis der Öffentlichkeit über die Auswirkungen der Umwelt auf Charakter, Gefühle und Einzigartigkeit der Menschen weitaus tiefer geht, als sogar mir klar war; die Schranken, die eine Erkenntnis dieser nahe liegenden Wahrheit verhindern, sind noch höher, als ich angesichts der derzeit modernen genetischen Erklärungen angenom men hatte.
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schen Erzeugerin nur die DNA im Zellkern gemeinsam – denn nur der Kern aus der Brustzelle ihrer Mutter wurde in eine embryonale Stamm zelle einer Ersatzmutter eingefügt (nachdem man deren eigenen Kern zu vor entfernt hatte). Im Bauch dieser Ersatzmutter wuchs Dolly dann heran. Eineiige Zwillinge haben dagegen mindestens vier weitere gemeinsame (und wichtige) Merkmale, die bei Dolly und ihrer Mutter unterschiedlich sind. Erstens tragen eineiige Zwillinge auch die gleichen Mitochondriengene. (Mitochondrien, die »Kraftwerke« der Zellen, enthalten eine geringe Zahl eigener Gene. Wir beziehen unsere Mitochondrien nicht aus dem Zellkern, der durch die Vereinigung von Samen- und Eizelle entstanden ist, sondern aus dem Zytoplasma der Zelle, aus der wir hervorgegangen sind. Bei Dolly stammte der Zellkern von der Mutter, das Zytoplasma der Eizelle und damit auch die Mitochondrien jedoch kamen von der Ersatz mutter.) Zweitens haben eineiige Zwillinge die gleichen mütterlichen Genprodukte in der Eizelle. Die Gene lassen nicht allein einen Embryo heranwachsen. Jede Eizelle enthält auch Produkte mütterlicher Gene, die für die Steuerung der frühen Entwicklungsstadien eine wichtige Rolle spielen. Dollys Embryo wuchs mit den Genen aus dem Zellkern ihrer Mutter heran, aber im Zytoplasma der Zelle, aus der sie hervorging, befanden sich die Genprodukte der Ersatzmutter. Drittens – und jetzt sind wir bei den ausschließlich umweltbedingten Faktoren – wachsen eineiige Zwillinge in demselben Mutterleib heran. Dolly und ihre Mutter dagegen entwickelten sich an verschiedenen Orten. Viertens werden eineiige Zwillinge zur gleichen Zeit und in derselben Kultur groß (selbst wenn sie zu der kleinen, von Wissenschaftlern so gelieb ten Kategorie der Zwillinge gehören, die nach der Geburt getrennt wur den und weit voneinander entfernt in Familien aus unterschiedlichen Gesellschaftsschichten aufwuchsen, ohne etwas voneinander zu wissen). Der Klon einer ausgewachsenen Zelle reift in einer ganz anderen Welt heran. Würde irgendjemand ernsthaft annehmen, dass ein BeethovenKlon, der heute groß wird, sich eines schönen Tages hinsetzt und eine zehnte Symphonie im Stil seines Vorgängers aus dem frühen 19. Jahrhundert schreibt? Eineiige Zwillinge sind also wahrhaft gespenstische Klone – sie gleichen einander in jeder Beziehung weit stärker als Dolly und ihre Mutter. Und wir wissen auch, dass eineiige Zwillinge tatsächlich große Ähnlichkeiten
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besitzen, nicht nur im Aussehen, sondern auch in ihren allgemeinen Nei gungen und einzelnen Charaktereigenschaften. Und dennoch: Haben wir jemals daran gezweifelt, dass jeder der beiden eineiigen Zwillinge eine eigene Persönlichkeit ist? Natürlich nicht. Wir wissen, dass eineiige Zwil linge verschiedene Individuen sind, wenn auch solche mit erstaunlichen, umfangreichen Ähnlichkeiten. Wir geben ihnen verschiedene Namen. Sie machen unterschiedliche Erfahrungen und durchleben ein unterschiedliches Schicksal. Ihr Leben verläuft auf unterschiedlichen Wegen durch die vielschichtigen Unwägbarkeiten der Welt. Sie wachsen als getrennte, von niemandem in Frage gestellte Individuen heran, und doch sind sie nach allen Kriterien weit bessere Klone als Dolly und ihre Mutter. Warum haben wir diese zentrale Aussage bei unseren ganzen Ängsten um Dolly übersehen? Eineiige Zwillinge sind ein handfester Beweis, dass die unvermeidlichen umweltbedingten Unterschiede unter Garantie für die Individualität und eigenständige Persönlichkeit jedes Menschenklons sorgen. Und da jede zukünftige Dolly in Menschengestalt sich (sowohl in Mitochondrien und mütterlichen Genprodukten als auch in der Umwelt unterschiedlicher Gebärmütter und kultureller Bedingungen) von ihrem Ausgangsorganismus weitaus stärker unterscheiden muss als jeder ein eiige Zwilling von seinem Gegenstück, erübrigt sich wohl die Frage, ob Dolly eine Seele oder ein eigenständiges Leben hat – an der selbständigen Persönlichkeit oder Individualität der weitaus ähnlicheren eineiigen Zwillinge haben wir nie gezweifelt! In der Literatur ist dieses Prinzip seit jeher bekannt. Die Nazi-Anhänger, die in The Boys from Brazil Hitler klonen wollen, wissen ganz genau, dass sie auch die Umwelt so ähnlich wie möglich gestalten müssen. Also lassen sie ihre kleinen Hitler-Babys in Familien heranwachsen, die mög lichst stark Adolfs zerrütteter Sippe gleichen – und dennoch wird keines von ihnen auch nur annähernd auf die gleiche Weise groß wie das schlimmste Ungeheuer der Geschichte. Auch in der Realität hat sich dieses Prinzip immer wieder bestätigt. Eng und Chang, die sich als ursprünglich siamesische Zwillinge im wahrsten Sinne des Wortes so nahe waren, wie es nur möglich ist, entwickelten getrennte, unterschiedliche Persönlichkeiten. Der eine wurde ein mürrischer Alkoholiker, der andere blieb ein angenehmer, fröhlicher Mensch. Schafen schreiben wir im All gemeinen nicht besonders viel Individualität zu – nicht umsonst bilden sie unser Symbol für blinden Gehorsam und die gleiche Form, wenn sie
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in dem geistigen Bild der Schlaflosen über Zäune springen –, aber Dolly wird so einzigartig und normal aufwachsen, wie es einem Schaf überhaupt möglich ist.
Königsmord Mein Freund Frank Sulloway brachte kürzlich ein Buch heraus, das er über zwanzig Jahre lang über viele Höhen und Tiefen hinweg liebevoll auf seinem Weg zur Veröffentlichung begleitet hatte. Über seine These diskutiere ich mit ihm, seit er mit der Arbeit begann. Ich war der Ansicht (und schlug es ihm auch vor), er hätte seine Befunde schon vor zwanzig Jahren veröffentlichen sollen. Diese Meinung vertrete ich immer noch – zwar bewundere ich sein Buch, und mir ist auch klar, dass er in so langer Zeit seine Aussage durch Vermehrung und Verfeinerung seiner Daten erheblich besser untermauern konnte, aber ich glaube auch, dass er zu sehr an seiner zentralen These hängen geblieben ist und seine Erklärungen über ein zu breites Spektrum ausweiten wollte, sodass seine Argumente manchmal hergeholt erscheinen und die Logik arg strapazieren. Der Rebell der Familie belegt, dass die Reihenfolge der Geburt entschei denden Einfluss auf die Persönlichkeit der Menschen hat. Den Erstgeborenen, die bis zur Geburt weiterer Kinder die alleinigen Empfänger elterlicher Fürsorge sind und an Alter und Größe auch später den Geschwistern überlegen bleiben, werden in der Regel besonders viel elterliche Autorität und die Vorteile einer erlebten Stärke zuteil. Sie wachsen meist als fähige, selbstbewusste Menschen heran, sind aber oft auch kon servativ und neigen nicht zu Launen oder Neuerungen. Warum soll man eine vorhandene Struktur in Frage stellen, die immer deutliche Vorteile gegenüber den Geschwistern geboten hat? Die jüngeren Kinder dagegen sind, wie schon Sulloways Titel erkennen lässt, die geborenen Rebellen. Sie müssen aus einer schwächeren Position heraus um die Aufmerksamkeit der Eltern konkurrieren, die sich lange auf anderes konzentriert haben. Sie müssen strampeln und kämpfen, und sie müssen lernen, für sich selbst zu sorgen. Deshalb sind spät Geborene häufig flexibel, innovativ und allen Veränderungen gegenüber aufgeschlossen. Führungspersönlichkeiten in Politik und Wirtschaft stabiler Staaten sind in der Regel Erstgeborene; die Revolutionäre dagegen, die unsere Kultur durcheinander gebracht und
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unserem Wissen eine neue Struktur gegeben haben, hatten häufig ältere Geschwister. Sulloway stützt seine These mit statistischen Daten über den Zusam menhang zwischen Geburtsreihenfolge und beruflichen Leistungen in der modernen Gesellschaft, und er interpretiert auch historische Gesetzmäßigkeiten unter dem Gesichtspunkt, dass sie stark durch charakteristi sche Verhaltensunterschiede zwischen Erst- und Spätergeborenen beeinflusst wurden. Ich finde manche seiner historischen Gedankengänge faszinierend und überzeugend, wenn man sie auf eine große Zahl von Menschen anwendet. (Wenn er allerdings die Einzelheiten einzelner Lebensläufe erklären will, beispielsweise die Auswirkungen der Geburts reihenfolge auf den unterschiedlichen Erfolg, mit dem die verschiedenen Ehefrauen Heinrichs VIII. seinen grausamen Launen begegneten, erscheint mir dies als wenig überzeugende Überinterpretation.) Ein faszinierendes Beispiel ist Sulloways Bericht über eine durchgängige Verschiebung der Prozentsätze von Erstgeborenen in den verschiedenen Gruppen, die während der Französischen Revolution nacheinander an die Macht kamen. Bei den gemäßigten Kräften, die anfangs die Führung übernahmen, handelte es sich meist um Erstgeborene. Als die Revolution immer radikaler wurde, aber noch idealistisch war und Neuerungen sowie freimütige Diskussionen begünstigte, hatten später Geborene ein starkes Übergewicht. Als dann aber kompromisslose Hardliner an die Macht kamen und die Schreckensherrschaft errichteten, waren wiederum Erstgeborene in der Mehrheit. Ein Geniestreich ist Sulloways Tabelle mit der Geburtsreihenfolge mehrerer hundert Delegierter, die in der Nationalversammlung über das Schicksal Ludwigs XVI. entschieden. Die Hardliner, die für die Guillotine stimmten, waren zu 73 Prozent Erst geborene; dagegen sprachen sich 62 Prozent der später Geborenen für den Kompromiss einer Verurteilung mit Begnadigung aus. Da eine Mehrheit von einer einzigen Stimme Ludwig den Kopf kostete, hätte schon eine ge ringfügig andere Mischung der Geburtsstellung unter den Delegierten den Lauf der Geschichte verändern können. Da ich mit Frank gut befreundet bin (auch wenn ich seiner These nicht in allen Einzelheiten zustimme), und da ich seit zwei Jahrzehnten zumindest manchmal als Hebamme an seinem Projekt beteiligt war, nahm ich an der verspäteten Geburt von Rebell der Familie ungewöhnlich starken Anteil. Ich las sowohl das Buch als auch alle wichtigen Rezensionen, die in
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zahlreichen Zeitungen und Zeitschriften erschienen. Dabei war ich erstaunt – auch verblüfft wäre kein zu starkes Wort –, dass nirgendwo die einfachste und offenkundigste Schlussfolgerung aus Franks Daten erwähnt wurde, jene Aussage, die einem geradezu ins Gesicht springt und auf die angesichts der langen Geschichte von Fragen, die durch solche Informationen aufgeworfen werden, eigentlich jeder hätte hinweisen müs sen. Sulloway stützt nahezu alle seine Interpretationen auf eine umfassende Analogie (die nach meinem Urteil im Wesentlichen zutrifft, als ausschließliches Hilfsmittel aber überstrapaziert wird) zwischen der Geburts reihenfolge in Familien und der ökologischen Stellung in einer Welt der darwinistischen Konkurrenz. Kinder wetteifern um die begrenzten elter lichen Ressourcen, genau wie Individuen in der Natur ums Dasein (und letztlich um den Fortpflanzungserfolg) kämpfen. Durch die Geburts reihenfolge besetzen die Kinder unterschiedliche »Nischen«, in denen sie sich auf ganz unterschiedliche Weise um den größtmöglichen Erfolg bemühen müssen. Während die Erstgeborenen schon auf Grund ihrer Stellung einen Vorteil haben, müssen die jüngeren Geschwister sich mit allen schlauen Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen, durchschlagen und zur Wehr setzen – und das führt zu den unterschiedlichen Charakte ren von Bewahrern und Umstürzlern. In der negativen Rezension, die mir am besten gefiel (The New Republic, 23. Dezember 1996) schrieb Alan Wolfe (und auf die gleichen Themen weist auch Jared Diamond in mei ner positiven Lieblingsrezension hin, die am 14. November 1996 im New York Review of Books erschien): »Da Erstgeborene bereits ihre Nischen besetzt haben, müssen die jüngeren Geschwister unbesetzte Nischen finden, damit man sie zur Kenntnis nimmt. Gelingt ihnen das, werden sie durch Investitionen der Eltern belohnt.« Wie gesagt: Bis zu einem bestimmten Punkt stimme ich dieser Argumentation zu. Ich muss aber auch feststellen, dass die Beschränkung der Kommentare auf die darwinistische Metapher die Aufmerksamkeit von der wichtigsten Erkenntnis abgelenkt hat: Es hat sich gezeigt, welch große Auswirkungen die Geburtsreihenfolge auf das Verhalten der Menschen hat. Die darwinistische Metapher riecht nach Biologie; wir neigen aber auch (allerdings fälschlich) dazu, biologische Erklärungen automatisch für genetische Erklärungen zu halten. Nach meiner Vermutung führt diese verbreitete, fehlerhafte Argumentation dazu, dass wir Sulloways Thesen
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für eine wie auch immer geartete Lehre über die »Gene« halten (wozu wir in unserer Zeit der vorübergehenden, modischen Vorliebe für genetische Ursachen ohnehin neigen), weil wir das Verhalten der Menschen ohnehin fälschlich im Spannungsfeld zwischen Genen und Umwelt zu erklären versuchen. Aber überlegen wir einmal, was die Auswirkungen der Geburtsreihenfolge für die Frage der Umwelteinflüsse bedeutet, so unmodern sie derzeit auch sein mag. Geschwister unterscheiden sich natürlich in ihren Genen, aber kein Aspekt dieser genetischen Abweichungen steht in irgendeinem systematischen Zusammenhang mit der Geburtsreihenfolge. Ob zuerst oder später geboren, alle Geschwister in einer Familie unterliegen der glei chen genetischen Durchmischung. Demnach kann man systematische Verhaltensunterschiede zwischen Erst- und später Geborenen nicht auf genetische Ursachen zurückführen. (Andere biologische Effekte könnten mit der Geburtsreihenfolge zusammenhängen – beispielsweise wenn die Umwelt im Mutterleib sich mit der Zahl der Schwangerschaften systema tisch ändert –, aber solche mutmaßlichen Einflüsse stehen in keinerlei Be ziehung zu den genetischen Unterschieden zwischen den Geschwistern.) Der von Sulloway nachgewiesene deutliche Effekt der Geburtsreihenfolge ist deshalb unser bester, unwiderleglicher Nachweis für die Umwelteinflüsse. Wenn die Geburtsreihenfolge derart große Auswirkungen auf den Verlauf der Geschichte und die Berufswahl der Menschen hat, kann man der Umwelt eine starke, gestaltende Rolle für unsere geistige und verhaltensmäßige Vielfalt nicht absprechen. Sicher, häufig sehen wir etwas nicht, obwohl wir es direkt vor Augen haben; aber wie kann der Wind der Mode eine so nahe liegende Aussage hinwegwehen, die für unsere tiefgreifends ten, hartnäckigsten Fragen nach uns selbst von so großer Bedeutung ist? In diesem Fall erstaunt mich besonders die Ironie, die im Gewand der Mode daherkommt. Wie bereits erwähnt, drängte ich Sulloway schon vor zwanzig Jahren, seine Daten zu veröffentlichen – damals hätte er (jedenfalls nach meiner Auffassung) seine Aussagen noch nachdrücklicher prä sentieren können, denn den starken, allgemeinen Einfluss der Geburts reihenfolge auf die Persönlichkeit hatte er bereits belegt, aber er hatte sich noch nicht auf den gefährlichen Weg begeben, allzu viele Einzelheiten mit hergeholten Argumenten zu erklären, die ihn manchmal an den Rand der Selbstparodie führen. Hätte Sulloway sein Buch Mitte der siebziger Jahre herausgebracht, als das Pendel der Mode in einem politisch liberaleren
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Zeitalter (das vermutlich von später Geborenen beherrscht wurde!) zu Gunsten der Umwelt ausschlug, hätte sein nahe liegendes Argument über die Auswirkung der Geburtsreihenfolge als Beweis für die Kraft der Umwelteinflüsse nach meiner Überzeugung die größte Aufmerksamkeit auf sich gezogen, statt unter einem Mantel des Schweigens zu verschwinden. Kaum etwas im Geistesleben kann heilsamer sein als die Trennung von Mode und Tatsachen. Der Mode sollte man immer misstrauen (insbesondere wenn das, was derzeit im Schwange ist, zu den eigenen Vorlieben passt); Tatsachen sollte man immer hoch schätzen (wobei man daran den ken muss, dass ein scheinbares Juwel der reinen, objektiven Information möglicherweise nur die voreingenommene Sichtweise einer vorüberge henden Mode widerspiegelt). Ich habe mich hier mit zwei Themen befasst, die aktueller nicht sein könnten, die man aber nicht richtig versteht, weil ein Schleier der genetischen Mode das beherrschende Thema der Umwelteinflüsse zu Unsichtbarkeit verdammt und so die reichhaltige, vollständige Erklärung verbirgt. Deshalb machen wir uns Sorgen, ob das erste geklonte Schaf überhaupt ein echtes Individuum darstellt, und gleichzeitig vergessen wir, dass wir niemals an einer Individualität gezweifelt haben, die durch unterschiedliche Umwelteinflüsse entstanden ist – und das, obwohl die betreffenden Klone einander von Natur aus viel ähnlicher sind als Dolly und ihre Mutter: die eineiigen Zwillinge. Ebenso versuchen wir die starken Auswirkungen der Geburtsreihenfolge ausschließlich mit einer darwinistischen Analogie zwischen der Stellung in der Familie und ökologischen Nischen zu erklären, und dabei vergessen wir, dass diese systematischen Effekte nicht auf genetischen Unterschieden beruhen können und demnach ausschließlich die vorhersehbare Macht der Umwelteinflüsse belegen. Tut mir Leid, Ludwig. Du hast durch die Wirkung der Umwelt in vielköpfigen Familien den Kopf verloren. Und hello, Dolly. Mögen wir für die Methoden deiner Herstellung strenge Vorschriften erlassen, zumindest wenn es um Menschen geht. Aber möge auch die genetische Mode nie die unendliche Vielfalt verblassen lassen, die durch ein langes Leben in der Umwelt unserer vielschichtigen Natur gewährleistet ist – diesem Tal der Tränen, der Freude und der endlosen Wunder.
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20. Vor allein keinen Schaden anrichten Lange, aufreibende, kostspielige Kriege beginnen meist mit idealistischer Begeisterung und enden in zynischem Elend. Unser eigener Bürgerkrieg forderte entsetzlichen Blutzoll und hinterließ in unserem Nationalbewusstsein ein Brandmal, das im Laufe der Zeit nur immer tiefer geworden ist. Die Armee der Union sang 1862 voller Freude das Lieblingslied jenes Jahres: Yes we’ll rally round the flag, boys, we’ll rally once again,
Shouting the battle cry of Freedom,
We will rally from the hillside, we’ll gather from the piain,
Shouting the battle cry of Freedom ...
So we’re springing to the call from the East and from the West
And we’ll hurl the rebel crew friom the land we love the best.
[Ja, um die Fahne, Jungs, da scharen wir uns wieder,
Das Kampfgeschrei nach Freiheit auf den Lippen,
Von Berg und Tal, da kommen wir hernieder,
Das Kampfgeschrei nach Freiheit auf den Lippen ...
Dem Ruf, dem folgen wir von Osten und von Westen,
Zu jagen die Rebellen aus dem Land, dem besten.]
Bis 1864 war dann »Tenting on the Old Camp Ground« von Walter Kittredge auf beiden Seiten zum Lieblingslied geworden. Der Refrain mit sei ner naiven, aber eingängigen Melodie fängt den gemeinsamen Leidens weg ein:
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Many the hearts are weary tonight,
Wishing for the war to cease;
Many are the hearts looking for the right
To see the dawn of peace.
[Viele Herzen sind müde heut’ Nacht
Und wünschen, der Krieg möge enden;
Viele Herzen sind aufs Recht bedacht
Und wollen zum Frieden es wenden.]
Aber nichts von alledem kommt den Schrecken des Ersten Weltkrieges gleich, jenes Konflikts, der in Frankreich noch heute la grande guerre (der große Krieg) heißt und den wir als »Krieg zur Beendigung aller Kriege« be zeichneten. Die Vereinigten Staaten traten erst spät in den Konflikt ein und hatten relativ wenige Opfer zu beklagen – deshalb machen wir uns kaum einmal klar, was für ein Gemetzel unter den Soldaten angerichtet wurde oder mit welcher fast völligen Sicherheit sie mit dem Tod oder schweren Ver wundungen rechnen mussten, wenn sie in den Schützengräben saßen, wo die Männer Monat um Monat kämpften, nur um ein paar Meter Gelände zu gewinnen und später wieder zu verlieren. Mir läuft es kalt den Rücken herunter, wenn ich an die »Schreckensliste« denke, die am Dorfanger oder Marktplatz jedes kleinen Ortes in England und Frankreich aufgehängt wurde. Vor allem fällt mir auf, dass die Listen für 1914-18 viel länger sind (und häufig der fast völligen Ausrottung einer ganzen Männergeneration gleichkommen) als die für 1941-45. Rupert Brooke konnte seine berühm ten Gedichte voller Resignation und Patriotismus nur deshalb schreiben, weil er 1915 noch während der ersten Welle der Begeisterung starb: If I should die, think only this of me:
That there’s some corner of a foreign field
That is for ever England. There shall be
In that rich earth a richer dust concealed.
[Wenn ich sterbe, denkt nur dies von mir:
Dass irgendwo, auf einem fremdem Feld
Ein Winkel ewig England ist und dass
In reicher Erde sich reicherer Staub verbirgt.]
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Sein Dichterkollege Siegfried Sassoon, der den Krieg überlebte und Pazifist wurde (ein Zustand, der zuerst mit dem Schock nach einem Granateneinschlag begründet wurde und zu seiner zeitweiligen Einweisung in eine Nervenheilanstalt führte), fing die spätere, realistischere Strömung ein: And when the war is done and youth stone dead
I’ll toddle safely home and die – in bed.
[Ist dann der Krieg zu Ende und die Jugend mausetot,
Trotte ich einfach heimwärts – um im Bett zu sterben.]
Sassoon lernte Wilfried Owen, den dritten der berühmten britischen Kriegsdichter, im Sanatorium kennen. Aber Owen musste wieder an die Front – und fiel genau eine Woche vor dem Waffenstillstand. Sassoon ver öffentlichte posthum den einzigen dünnen Gedichtband seines Freundes, in dem auch die berühmtesten und bittersten Zeilen von allen stehen: What passing-bells for those who died as cattle?
Only the monstrous anger of the guns.
Only the stuttering rifles’ rapid rattle
Can patter out their hasty orisons.
Ein Gasangriff im Ersten Weltkrieg.
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[Welch’ Totenglocke läutet denen, die als Rindvieh fallen?
Nur hässlicher Kanonendonner wird vernommen.
Nur stotternder Gewehre schnelles Knallen
Lässt hastiges Gebet zu Ende kommen.]
Wenn wir an die Schrecken des Ersten Weltkrieges denken, fällt uns nicht nur das Blutbad ein, das durch den Schützengrabenkrieg mit Granaten und Gewehrkugeln angerichtet wurde, sondern auch der erste wirksame, große Einsatz der neu entwickelten chemischen und biologischen Waffen – den Anfang machte am 22. April 1915 ein deutscher Angriff mit Chlor gas an einer sechs Kilometer langen französischen Frontlinie bei Ypern, und am Ende hatten beide Seiten rund 100 000 Tonnen der verschiedensten chemischen Wirkstoffe eingesetzt. Das Genfer Protokoll, das von den meisten wichtigen Staaten 1925 (von den Vereinigten Staaten allerdings erst viel später) unterzeichnet wurde, verbot im Kampf sowohl chemische als auch biologische Waffen – und an diese Vorschrift hielten sich im Zweiten Weltkrieg tatsächlich alle Seiten, obwohl ansonsten einige der grausamsten Taten der Menschheitsgeschichte begangen wurden, ein schließlich – das wollen wir nie vergessen – des Entsetzlichsten, was je mit Giftgas angerichtet wurde: die »Endlösung« des Holocaust in den Ver nichtungslagern der Nazis. (In regionalen Kriegen wurde das Verbot ei nige Male verletzt, beispielsweise 1935/36 durch die italienische Armee in Äthiopien und in jüngerer Zeit während der Kämpfe zwischen Iran und Irak.) Nach dem Genfer Protokoll ist es untersagt, »erstickende, giftige oder gleichartige Gase sowie ähnliche Flüssigkeiten, Stoffe oder Verfahrensarten im Kriege zu verwenden«. Kürzlich erinnerte ein Beitrag in der führenden britischen Wissenschaftszeitschrift Nature (25. Juni 1998) an diese Episode in der Geschichte des 20. Jahrhunderts; der Leserbrief trug die Überschrift »Tödliches Überbleibsel des Großen Krieges«. Im Einleitungsabsatz heißt es: Der Kurator eines Polizeimuseums im norwegischen Trondheim ent deckte in seiner Sammlung kürzlich eine Glasflasche mit zwei unregel mäßig geformten Zuckerklumpen. In beide Klumpen hatte man jeweils ein kleines Loch gebohrt, und in einem davon steckte ein dünnes, am Ende verschlossenes Glasröhrchen. Die an dem Ausstellungsstück be festigte Notiz lautete: »Ein Stück Zucker mit Milzbrandbakterien, ge
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funden im Gepäck des Barons Otto Karl von Rosen, als er im Januar 1917 in Karasjok unter dem Verdacht der Spionage und Sabotage fest genommen wurde.« Moderne Wissenschaft als Hilfsmittel, sogar zur Ausführung eines verrückten Planes, der an einem kleinen, vergessenen Außenposten eines großen Krieges zunichte gemacht worden war – geradezu die Definition des zwar Spannenden, aber inmitten großer Umwälzungen doch histo risch Nebensächlichen. Die Verfasser des Briefes entnahmen das Röhrchen und schütteten den Inhalt (»eine braune Flüssigkeit«) auf eine Petrischale. Anschließend wurde in zwei Spalten ganz normaler wissenschaftlicher Prosa detailliert das weitere Vorgehen beschrieben, mit der üblichen Exaktheit langer chemischer Bezeichnungen und präziser Mengenangaben: »Nach der Inkubation wurden 200 μl dieser Kulturen auf Agar mit 7 % Pferdeblut und L-Agarmedium (das mit L-Broth identisch ist, aber durch Zusatz von 2 % Difco-Agar verfestigt wurde) ausplattiert.« Das Ergebnis kann man prägnanter zusammenfassen: Die Autoren züch teten in ihren Kulturen tatsächlich Milzbrandbakterien und bewiesen durch PCR (die Polymerasekettenreaktion zur Vervielfältigung kleiner DNA-Proben bis zu einer Menge, die man analysieren kann), dass die DNA dieser Organismen in ihrer Probe enthalten war. Sie schrieben: »Wir konnten also die Gegenwart von B. anthracis [der wissenschaftliche Name der Milzbrandbakterien] sowohl in der Kultur als auch durch PCR bestätigen. Es erwies sich als möglich, einige Erreger kurz vor dem Ausster ben wiederzubeleben, nachdem sie ohne besondere Vorsichtsmaßnah men achtzig Jahre lang gelagert hatten.« Aber was hatte der gute Baron, ein Aristokrat mit deutschen, schwedischen und finnischen Vorfahren, mitten im Winter in dieser verlassenen Gegend im Nordosten Norwegens zu suchen? Er führte sicher nichts Gutes im Schilde, aber was genau? Die Autoren fahren fort: Als der Polizeioffizier von Kautokeino, der bei der Festnahme der Gruppe zugegen war, spöttisch den Vorschlag machte, sie sollten sich aus dem Inhalt der Konservendosen mit der Beschriftung »Svea kott« (Schwedisches Fleisch) eine Suppe zubereiten, fühlte der Baron sich zu dem Geständnis veranlasst, dass jede davon in Wirklichkeit zwei bis vier Kilogramm Dynamit enthielt.
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Weiter fand man im Gepäck des Barons mehrere Flaschen mit dem Pfeil gift Curare, verschiedene Kulturen von Mikroorganismen und 19 Zucker würfel mit Milzbrandbakterien. Die beiden Exemplare in Trondheim sind offensichtlich die einzigen, die übrig geblieben sind. Der Baron behaup tete, er sei nur ein ehrbarer Aktivist der finnischen Unabhängigkeits bewegung, und er solle die Nachschublinien der russisch kontrollierten Gebiete zerstören. (Finnland stand damals unter der Herrschaft des rus sischen Zaren und wurde nach der bolschewistischen Revolution unabhängig.) Die meisten Historiker gehen jedoch davon aus, dass er in Wirk lichkeit im Namen und auf Rechnung der Deutschen nach Norwegen gereist war, um Pferde und Rentiere mit Milzbrand zu infizieren und so den Transport britischer Waffen (auf Schlitten, die von diesen Tieren ge zogen wurden) durch Nordnorwegen zu verhindern. Der Baron, der nach einer Haft von wenigen Wochen abgeschoben wurde, führte seinen hirnrissigen Plan nie aus. Was seine Absichten angeht, äußern Caroline Redmond, Martin J. Pearce, Richard J. Manchee und Björn P. Berdal, die Autoren des Briefes in Nature, eine Vermutung: Wären der Zucker und das eingesetzte Glasröhrchen zwischen den Backenzähnen von Pferden zermahlen worden, so wäre vermutlich eine tödliche Infektion die Folge gewesen: Die Milzbrandsporen wären in den Organismus eingedrungen, erleichtert möglicherweise durch die kleinen Verletzungen, die das zerbrochene Glas in der Wand des Verdauungstraktes hervorgerufen hätte. Ob Rentiere die Zuckerklumpen fraßen, ist nicht bekannt, aber vermutlich hatte der Baron keine Gelegenheit, diesen Teil seiner Forschungsarbeiten auszuführen. Da der Milzbrand nicht unmittelbar von einem Tier zum nächsten übertragen werden kann, hätte der Plan vermutlich nur mit einer großen Zahl von Zuckerwürfeln und einer großen Vorliebe der vorgesehenen Opfer für Süßigkeiten funktioniert. Die Autoren erwähnen aber eine potenzielle Gefahr für andere Beteiligte: »Wäre jedoch das Fleisch eines sterbenden Tieres ohne ausreichendes Erhitzen verzehrt worden, wären wahrscheinlich Todesfälle bei Menschen durch Darmmilzbrand die Folge gewesen.« Am Ende des Briefes gestehen die Verfasser freimütig:
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Diese kleine, aber relativ wichtige Episode in der Geschichte der biologischen Kriegsführung ist einer der wenigen Fälle, in denen man noch achtzig Jahre später bestätigen kann, dass ein tödlicher Mikroorganis men tatsächlich als Waffe verwendet werden sollte. Sie hatte jedoch auf den Verlauf des Großen Krieges keine nennenswerten Auswirkungen. In dem Bericht über dieses vereitelte Experiment in biologischer Kriegsführung könnten wir nun einen kleinen Lichtblick in dunkler Zeit sehen, aber die größten Übel beginnen häufig mit tragikomischen, scheinbar harmlosen Eskapaden, und gleichzeitig bezeichnet ein altes Sprichwort die Wachsamkeit als den Preis der Freiheit. Wäre Hitler in aller Stille hin gerichtet worden, nachdem seine zusammengewürfelte Bande es 1923 nicht geschafft hatte, in München mit dem »Marsch auf die Feldherrnhalle« die Macht zu übernehmen, hätte die Geschichte in unserem Jahrhundert einen ganz anderen und mit ziemlicher Sicherheit glücklicheren Verlauf genommen. Stattdessen saß Hitler aber nur neun Monate im Ge fängnis; in dieser Zeit schrieb er Mein Kampf und dachte sich seine grau sigen Pläne aus. Wir Menschen mögen das Klügste sein, was in der Geschichte des Le bendigen jemals das Licht der Welt erblickt hat, aber in bestimmten Fragen sind wir immer noch außerordentlich dumm, insbesondere wenn emotionale Arroganz und intellektuelle Ignoranz an einem Strang ziehen. Unsere Unfähigkeit, die Zukunft vorherzusagen, liegt vor allem in dieser Unzulänglichkeit begründet – die in diesem Fall keine Beschränktheit unseres Gehirns ist, sondern eher eine grundsätzliche Folge der echten Kom plexität und Unbestimmtheit unserer Welt (ausführlicher erörterte ich unsere Unfähigkeit, zukünftige Ereignisse und Gesetzmäßigkeiten vorauszusehen, in Kapitel 10). Mit dieser Überforderung könnten wir zurechtkommen, aber dann kommt uns die eigene Arroganz in die Quere und verleitet uns dazu, unsere aus Unwissenheit geborene Intuition in eine felsenfeste Voraussage über Zukünftiges umzumünzen. Gegen die große Gefahr, die aus dieser explosiven Mischung von Arro ganz und Unwissen erwächst, kenne ich nur ein einziges Gegengift. Da wir die Zukunft nicht voraussagen können und da es uns insbesondere häufig nicht gelingt, die späteren, üblen Folgen von Phänomenen zu prophezeien, die bei ihren ersten, unsicheren Schritten noch schwächlich oder so gar lächerlich erscheinen (heute ein paar Rentiere mit Milzbrand, morgen
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eine ganze menschliche Bevölkerung mit der Seuche), ist ethisch begründete Selbstbeschränkung wahrscheinlich die einzige sichere Rettung. Die Klugheit des Genfer Protokolls liegt in der Erkenntnis, dass einige relativ wenig wirksame Neuentwicklungen des Jahres 1925 in einer gar nicht so weit entfernten Zukunft zum größten aller Schrecken werden könnten. Wenn man solche Neuentwicklungen im Keim ihrer anfänglichen Wir kungslosigkeit ersticken kann, bleiben wir vielleicht verschont. Wir brau chen uns nur an die Sage von Pandora zu erinnern, dann erkennen wir, dass man manche Büchsen nie wieder verschließen kann, nachdem man sie einmal geöffnet hat. Am ernsthaftesten und wirksamsten wird der tiefe Sinn dieser lebenswichtigen Form ethisch begründeter Selbstbeschränkung von Wissenschaftlern in Frage gestellt, die im Bereich einer neu entstehenden Technologie an der vordersten Front stehen und sich deshalb einbilden, sie könnten zukünftige Entwicklungen unter Kontrolle halten oder zumin dest genau vorhersagen. Auch ich bin im Lager der Wissenschaftler zu Hause, aber ich möchte deutlich machen, wie wertvoll Selbstbeschränkung als Gegengewicht zu gefährlichen Entwicklungen ist, die entweder durch Selbstzufriedenheit oder aktive Initiative angeregt werden und ihre Nahrung aus falscher Zuversicht über die Vorhersage der Zukunft erhalten. Ich habe die Geschichte von einem Aristokraten erzählt, der im Ersten Weltkrieg mit unwirksamen biologischen Waffen Schindluder trieb – aber wir wären heute möglicherweise ganz schön in der Klemme, wenn wir an genommen hätten, die Technologie könne nie über diese anfängliche Dummheit hinauskommen, und wenn wir uns deshalb nicht energisch um internationale Beschränkungen bemüht hätten. Eine viel weiter reichende Lehre vermittelt uns aber die zweite neue–und wesentlich wirksamere – Technologie, die später ebenfalls durch das Genfer Protokoll verboten wurde: die chemischen Waffen des Ersten Weltkrieges. Der Mann, der in diesem Zusammenhang die wichtigste Rolle spielt, wurde zu einem der Begründer meines eigenen Fachgebietes, der modernen Evolutionsbiologie: J.B.S. Haldane (1892-1964), nach den Worten von Sir Peter Medawar »der klügste Mann, den ich jemals kennen gelernt habe« – und Medawar war sicher der klügste Mann, den ich jemals kennen gelernt habe. Haldane verband in seiner Person so viele scheinbar widersprüchliche Eigenschaften, dass ein Wort in allen Beschreibungen, die ich über ihn
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gelesen habe, immer wieder vorkommt: rätselhaft. Er konnte schüchtern und freundlich sein, aber auch aufbrausend und arro gant, elitär (und heimtückisch herablassend gegenüber weniger Begabten, die eine Aufgabe schlecht meisterten) oder solidarisch. (Haldane war in Großbritannien auch ein bekanntes Mitglied der kommunistischen Partei und schrieb für deren Organ, den Daily Worker, bändeweise allgemein verständliche Essays. Nach Aussagen seiner Freunde, die seine politischen Ansichten auf ein tief sitzendes persönliches Bedürfnis nach Auflehnung und Oppositionsverhalten zurückführten, wäre er in der Sowjetunion sicher zu einem Monar chisten geworden.) Einen offiziellen Abschluss in einem naturwissen schaftlichen Fach hatte Haldane nicht, aber er tat sich vor allem mit seiner großartigen mathematischen Begabung auf mehreren Gebieten hervor. Am berühmtesten wurde er zusammen mit R. A. Fisher und Sewall Wright als einer der drei Begründer der modernen populationsgenetischen Theo rie, insbesondere weil er die zuvor im Konflikt stehenden Konzepte der Mendel’schen Vererbungsgesetze und der darwinistischen natürlichen Se lektion in Einklang brachte. Dass Haldane zum Mittelpunkt des vorliegenden Essays wurde, liegt aber an einem ganz anderen Widerspruch. Obwohl er ein Mann des Friedens und Mitgefühls war, bewunderte er den Krieg – oder zumindest seine eigene Rolle an der Front im Ersten Weltkrieg, wo er zweimal verwundet wurde (und zwar beide Male schwer) und großes Glück hatte, dass er überhaupt lebend nach Hause kam. Manche Beobachter schrieben ihm eine Furchtlosigkeit und einen Mut zu, die weit über jede Pflichterfüllung hinausgingen; andere, die vielleicht ein wenig zynischer (nach meiner Vermutung aber auch realistischer) waren, hielten ihn für einen zu spät ge
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borenen Parzival – für einen völligen Narren, der in Augenblicken der Gefahr (die er in der Regel durch seine eigene gespielte Tapferkeit und empörende Unachtsamkeit selbst herbeiführte) durch überlegene Intelli genz in Verbindung mit mehr Glück, als ein Mensch eigentlich haben kann, überlebte. Jedenfalls genoss J. B. S. Haldane den Krieg – und zwar jeden einzelnen Augenblick. Besonders gefiel ihm eine Episode des Grabenkrieges gegen türkische Truppen in der Nähe des Flusses Tigris. Dort, weit weg von der Haupt front in Europa und unbelastet durch törichte Befehle von leitenden Offizieren ohne Erfahrung mit der Umgebung, konnte man Mann gegen Mann (oder zumindest Gewehr gegen Gewehr) kämpfen. Haldane schrieb: »Hier stand man einzelnen Feinden mit ähnlichen Waffen ge genüber, mit Granatwerfern oder Gewehren mit Zielfernrohr, und jeder hatte eine kleine Hilfsmannschaft. Das war Krieg, wie die großen Poeten ihn besungen haben. Ich bin froh, dass ich ihn erlebt habe.« Anschließend verfasste Haldane eine allgemeinere Lobeshymne auf eine derart männliche Beschäftigung: »Ich genoss die Kriegskameradschaft. Männer lieben den Krieg, weil er die einzige zwischenmenschliche Beschäftigung ist, an der sie jemals teilgenommen haben. Der Soldat arbeitet mit seinen Kameraden für ein großes Ziel (oder glaubt das zumindest). In Friedenszeiten arbeitet er für seinen eigenen Gewinn oder für den eines anderen.« Haldanes Erfahrungen mit der chemischen Kriegsführung begannen mit einer großen Enttäuschung. Nach dem ersten deutschen Gasangriff bei Ypern entsandte das britische Heeresministerium auf unmittelbaren Befehl von Lord Kitchener den Vater unseres Helden, den bekannten Phy siologen John Scott Haldane, nach Frankreich. Es war der verzweifelte Versuch, der neuen Gefahr etwas entgegenzusetzen. Haldane der Ältere, der ein Fachmann für die Atmungsorgane war und gemeinsam mit sei nem Sohn seit vielen Jahren physiologische Experimente gemacht hatte, schätzte sowohl die mathematischen Kenntnisse von J. B. S. als auch seine Bereitschaft, sich als Versuchskaninchen zur Verfügung zu stellen (eine alte Tradition bei Biologen und eine Lieblingsmethode des älteren Hal dane – er bat seinen Sohn allerdings nie um etwas, das er nicht auch selbst mit sich hätte machen lassen). Also musste J. B. S., anfangs sehr zu seinem Missvergnügen, die geliebte Front verlassen und sich mit seinem Vater ins Labor begeben. J. B. S. wusste bereits eine Menge über giftige Gase, insbesondere weil er
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seinen Vater so häufig bei Selbstversuchen unterstützt hatte. Über einige der ersten gemeinsamen Arbeiten, die sich mit dem Grubengas Methan in Bergwerken beschäftigten, berichtet er: Um nachzuweisen, wie eingeatmetes Grubengas wirkt, ließ mein Vater mich aufstehen und die Rede des Marcus Antonius aus Shakespeares Julius Cäsar rezitieren, die mit »Freunde, Römer, Mitbürger« beginnt. Ich musste schon bald nach Luft schnappen, und irgendwo beim »eh renwerten Brutus« gaben meine Beine nach. Ich brach zusammen und fiel auf den Fußboden, wo die Luft natürlich in Ordnung war. Auf diese Weise lernte ich, dass Grubengas leichter als Luft und beim Einatmen nicht gefährlich ist. (Hat man jemals einen Bericht gelesen, der stärker der Klischeevorstellung von der intellektuellen Verschrobenheit der britischen Oberschicht entspricht?) Die Haldanes, pere et fils, leiteten ein Freiwilligenteam von Wissenschaftlern, die lebenswichtige Untersuchungen über Giftwirkungen und Gasmaskentechnik anstellten (womit sie zweifellos viele tausend Menschenleben retteten). Wie gewöhnlich nahmen sie die unangenehmsten und gefährlichsten Versuche an sich selbst vor. J. B. S. berichtete: Wir mussten die Wirkung auf uns selbst mit und ohne Atemgerät über prüfen. Es reizte die Augen und erzeugte beim Einatmen das Bedürfnis zu keuchen und zu husten ... Wenn das Gas bei einem von uns eine echte Reizbarkeit der Lunge verursacht hatte, nahm ein anderer seinen Platz ein. Niemand wurde durch das Gas wirklich geschädigt oder gefährdet, denn wir wussten, wann wir aufhören mussten. Der eine oder andere musste aber ein paar Tage ins Bett; ich selbst litt an starker Kurz atmigkeit und konnte etwa einen Monat lang nicht schnell laufen. Wir können also nicht leugnen, dass Haldane im Zusammenhang mit der chemischen Kriegsführung über umfassende Kenntnisse und größtmögliche Erfahrung verfügte. Damit wird er zu einem interessanten Prüfstein für die These, dass solches Fachwissen eine besonders gute Fähigkeit zu Voraussagen verschafft – und dass man deshalb den fachlichen Kenntnis sen solcher Menschen vertrauen kann, wenn sie sich entgegen den War
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J. B. S. Haldane bei einem physiologischen Selbstversuch zur Wirkung verschiedener Gase.
nungen, dem Pessimismus und sogar Defätismus anderer, die aus Angst vor unvorhergesehenen Wendungen und Folgen eine ethisch begründete Beschränkung des zukünftigen technologischen Fortschritts fordern, für energische weitere Entwicklungen einsetzen. Im Jahr 1925, als die Staaten überall auf der Welt das Genfer Protokoll zum Verbot chemischer und biologischer Kriegsführung unterzeichneten, brachte J. B. S. Haldane das umstrittenste seiner unorthodoxen Bücher heraus: einen schmalen Band von 84 Seiten mit dem Titel Callinicus: A Defense of Chemical Warfare. Seine Grundlage war ein Vortrag, den er 1924 gehalten hatte. (Der jüdische Flüchtling Callinicus, der im siebten Jahrhundert in Konstantinopel lebte, erfand das »Griechische Feuer«, eine brennbare Flüssigkeit, die man aus Spritzen auf feindliche Schiffe oder Soldaten abschießen konnte. Das dabei entstehende Feuer war fast nicht zu löschen und half dem byzantinischen Reich mehrere Jahrhunderte
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lang, der islamischen Eroberung zu entgehen. Das Rezept kannten nur der Kaiser und Callinicus’ Familie, die auch das alleinige Recht zur Herstellung besaß; es blieb Staatsgeheimnis und ist bei Kriegshistorikern auch heute noch ein Anlass zu Kontroversen.) Haldanes Argumentation lässt sich einfach umreißen. Er fasste alle Daten inklusive der Zahl der Todesopfer und Verletzten von den Gasangriffen im Ersten Weltkrieg zusammen und behauptete dann, das Ergebnis sei humaner als bei der Kriegsführung mit konventionellen Waffen. Man kann den Einsatz von Gas als Waffe aus humanitären Gründen befürworten; Grundlage ist der sehr kleine Anteil der Todesopfer im Ver gleich zu den Verwundeten durch Gas während des Krieges und insbe sondere in seinem letzten Jahr [als bessere Gasmasken zur Verfügung standen und allgemein im Einsatz waren]. Haldane stützte seine Schlussfolgerung auf zwei Argumente. Erstens zählte er die im Krieg verwendeten chemischen Wirkstoffe auf und be zeichnete die meisten von ihnen als ungefährlich, weil sie angeblich nur vorübergehende Wirkungen hatten (wobei er unterstellte, dass man vorübergehend betäubte Soldaten übergehen oder auf humane Weise gefangen nehmen, aber nicht töten würde). Die wenigen Chemikalien, die dauerhafte Schäden anrichteten – insbesondere das Senfgas –, hielt er für schwer kontrollierbar, und er glaubte, sie seien mit geeigneter Ausrüstung relativ einfach abzuwehren. Und zweitens erklärte er vor dem Hintergrund seiner eigenen häufigen Erfahrungen mit Giftgasen, diese Wirk stoffe seien ihm wesentlich lieber als die Gewehrkugeln, mit denen er ebenfalls Bekanntschaft gemacht hatte: Ich wurde nicht nur verwundet, sondern auch lebendig begraben, und zu Friedenszeiten litt ich mehrmals bis zur Bewusstlosigkeit an Luftmangel. Schmerzen und Unannehmlichkeiten bei den anderen Erfah rungen waren nicht nennenswert im Vergleich zu jenen, die durch eine verschmutzte Splitterverletzung entstehen. Deshalb sprach Haldane sich dafür aus, Gasangriffe als wichtigste militärische Taktik einzusetzen und weiterzuentwickeln; Gas, so meint er, sei als Waffe wirksam und gleichzeitig relativ human, weil es im Vergleich zur
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Zahl der vorübergehenden Beeinträchtigungen nur relativ wenige Todes fälle verursache: Ich teile sicher ihre [der Pazifisten] Einwände gegen den Krieg, aber ich habe meine Zweifel, ob sie ihn mit solchen Einwänden in Zukunft vermeiden können, so erhaben unsere Beweggründe und so selbstlos unsere Verhaltensweisen auch sein mögen ... Wenn es weitere Kriege ge ben sollte, würde ich es bevorzugen, dass mein Land auf der Seite der Sieger steht... Wenn es gerecht ist, dass ich meinen Feind mit einem Schwert bekämpfe, ist es auch gerecht, wenn ich ihn mit Senfgas bekämpfe; ist das eine falsch, so ist es auch das andere. Vor dieser letzten Aussage aus dem Bereich der größtmöglichen Realpoli tik schrecke ich nicht zurück. Den wichtigsten Einwand gegen die These in Haldanes Callinicus bringe ich nicht nur heute in abstrakter Form vor, sondern er wurde schon 1925 von Haldanes vielen Kritikern erhoben: Ganz gleich, welche Wirkungen das Giftgas in der Frühzeit seiner Ent wicklung während des Ersten Weltkrieges hatte (und da stelle ich Hal danes Einschätzung nicht in Frage), der uneingeschränkte Einsatz dieser Technologie konnte zu einer Wirksamkeit und einer Zahl von Todes-
Schutzausrüstung für Giftgasangriffe im Ersten Weltkrieg.
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opfern führen, wie man sie sich in früheren Kriegen nicht hätte träumen lassen. Lieber den Teufel, den man schon kennt, als einen anderen, der als kraftloses Baby neu in unsere Mitte kommt. Wenn wir diesen Säugling jetzt durch Einschränkungen und internationale Abkommen unschädlich machen können, sollten wir es tun, bevor er zu einem großen, nicht mehr beherrschbaren Erwachsenen heranreift, der dann möglicherweise mehr Unheil anrichtet als alles andere zuvor. (Hier muss ich allerdings einen Vorbehalt anbringen: Wenn ich mich mit diesem allgemeinen Argument für eine ethisch motivierte Einschränkung ausspreche, dann meine ich damit nur offenkundig böse, zerstörerische Technologie ohne nennenswerte Bedeutung für Bereiche, die man in der Regel mit dem Wohl der Menschheit in Verbindung bringt, wie Hei lung von Kranken, Steigerung landwirtschaftlicher Erträge und so weiter. Ich spreche hier nicht von der schwierigeren, häufiger auftauchenden Frage der neuen Technologien – als derzeit interessantestes Thema fällt mir dabei das Klonen ein [siehe Kapitel 19] –, mit denen man sehr gute Absichten verfolgt, die aber auch das Potenzial für entsetzlichen Missbrauch in sich tragen, wenn sie in die falschen Hände geraten oder sich in den Händen ehrlicher Menschen befinden, die aber nicht über die unbeabsichtigten Folgen guter Taten nachgedacht haben. Für solche Technologien muss es Vorschriften geben, man sollte sie aber sicher nicht ver bieten.) In Haldanes Antwort auf diesen nahe liegenden Einwand spiegelt sich die ganze Arroganz wider, von der im ersten Teil dieses Essays die Rede war: Ich habe die besseren wissenschaftlichen Kenntnisse über dieses Thema, und deshalb kann man mir zutrauen, dass ich zukünftige Möglichkeiten und Gefahren vorhersehen kann; nach allem, was ich über Che mie weiß und was ich aus den Befunden über den Ersten Weltkrieg gelernt habe, werden chemische Waffen auch weiterhin wirksam und relativ hu man sein, und deshalb sollte man sie weiterentwickeln. Oder, kurz gesagt: Vertraut mir einfach. Einwände gegen die Wissenschaft werden unter anderem aus dem Grund erhoben, dass die Wissenschaft für Schrecken wie die des letzten Krieges verantwortlich sind. Man sagt uns: »Ihr Männer der Wissenschaft denkt nie über die möglichen Anwendungen eurer Entdeckun gen nach. Es kümmert euch nicht, ob sie zum Töten oder zum Heilen
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eingesetzt werden. Eure Denkweise ist zweifellos befriedigend, wenn ihr mit Molekülen und Atomen zu tun habt, aber sie macht euch gleichgültig gegenüber dem Unterschied zwischen Richtig und Falsch.« ... Der Einwand gegen wissenschaftlich begründete Waffen wie die Gase des letzten Krieges und ähnliche neue Hilfsmittel, die vielleicht im nächsten verwendet werden, ist eigentlich ein Einwand gegen das Un bekannte. Beim Kampf mit Lanzen oder Gewehren kann man die eigenen Chancen ausrechnen, oder man glaubt es zumindest. Mit Gas oder Strahlen oder Mikroorganismen sieht die Sache ganz anders aus. ... Was ich über Senfgas gesagt habe, kann man mutatis mutandis auch über die meisten anderen Anwendungen der Wissenschaft auf das Leben der Menschen behaupten. Ich glaube, alles kann missbraucht werden, aber vielleicht es ist nicht immer nur böse; und vieles, so auch das Senfgas, erweist sich insgesamt betrachtet als gut, wenn wir erst ein mal unsere ersten, nicht sonderlich rationalen Einwände hinter uns gelassen haben. Eigentlich gesteht Haldane ethischen Argumenten – oder ethisch begründeten Einschränkungen – keinerlei Bedeutung für die Kriegsverhütung zu. Mit der gleichen engstirnigen, arroganten Haltung, die auch heute un ter Wissenschaftlern nur allzu verbreitet ist, behauptet er, Krieg könne nur durch rationale, wissenschaftliche Forschung beendet werden: »Krieg wird nur durch die wissenschaftliche Untersuchung seiner Ursachen ver hindert werden, wie sie ganz ähnlich auch die meisten epidemischen Krankheiten verhindert hat.« Ich bin kein Philosoph und möchte Haldanes Argumentation hier nicht auf der theoretischen Ebene widersprechen. Sehen wir uns stattdessen lieber die empirischen Belege an, die Haldane in seinem Callinicus unwissentlich selbst präsentiert. Ich schlage deshalb folgenden Versuch vor: Wenn Haldanes Argumentation stichhaltig ist und wenn man wissen schaftlichen Empfehlungen trauen kann, weil Wissenschaftler in ihren Fachgebieten zu Voraussagen über die Zukunft in der Lage sind, wird der Erfolg von Haldanes eigenen Prophezeiungen seine Vorgehensweise rechtfertigen. Nach meiner Ansicht stehen einer erfolgreichen Voraussage in der Regel zwei große Hindernisse im Weg: erstens unsere prinzipielle Unfähig keit, nennenswerte Aussagen über eine komplizierte Zukunft zu machen,
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die auf den vom Zufall bestimmten, nicht deterministischen Wegen der Geschichte abläuft; und zweitens unsere eigene Überheblichkeit, die uns denken lässt, wir handelten rein abstrakt und rational, obwohl unsere Ansichten in Wirklichkeit aus unerkannten gesellschaftlichen und persön lichen Vorurteilen erwachsen. Für beide Fehler enthält der Callinicus ein ausgezeichnetes Beispiel, und auf beide möchte ich hier meine Begründung für eine moralisch motivierte Einschränkung stützen. Haldane geht tatsächlich auf das Argument ein, die weitere Entwicklung chemischer und biologischer Waffen könne zum Anlass für Forschungsarbeiten werden, die noch wirksamere Massenvernichtungsmittel zum Ziel haben – insbesondere zur Entfesselung der Atomkraft. Aber diese Befürchtung tut er mit dem Argument ab, so etwas könne aus wissenschaftlichen Gründen nicht eintreten: Natürlich: Könnten wir die Kräfte nutzen, von denen wir wissen, dass sie im Inneren der Atome liegen, besäßen wir eine solche Fähigkeit zur Zerstörung, dass ich außer göttlichen Eingriffen kein Mittel kenne, welches die Menschheit vor der vollständigen, endgültigen Vernichtung bewahren könnte ... [Aber] wir können die subatomaren Phänomene nicht nutzen ... Wir können keine Apparate bauen, die so klein sind, dass sie Atomkerne spalten oder verschmelzen könnten... Wir können sie nur mit Teilchen beschießen, von denen vielleicht eines unter einer Million trifft, und das ist ungefähr so, als würde man die Tür eines Tresors aus einer Meile Entfernung mit Schlüsseln aus einem Maschinen gewehr beschießen, um sie zu öffnen... Wir wissen sehr wenig über den Aufbau der Atome und fast nichts darüber, wie wir ihn verändern können. Die Aussicht, einen solchen Apparat zu konstruieren, scheint mir so fern zu liegen, dass es selbst dann, wenn einer meiner Nachfolger sei nen Vortrag vor einer Feriengesellschaft auf dem Mond hält, ein ungelöstes (allerdings nach meiner Meinung letztlich nicht unlösbares) Problem sein wird. Worauf wir heute nur antworten müssen: Hiroshima 1945; Mr. Arm strong auf dem Mond 1969. Und dank ethisch begründeter und politischer Beschränkungen leben wir immer noch – wenn auch zugegebener maßen in einer heiklen, atomaren Welt. Aber die noch größere Gefahr arroganter, »rationaler« Vorhersagen, die
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sich in Wirklichkeit auf unerkannte Vorurteile stützen, veranlasste Hai dane zu der verrücktesten Aussage seiner gesamten Laufbahn – wir könnten sie für gesellschaftlich äußerst heimtückisch halten, würde das Geläch ter uns nicht in eine großzügigere Stimmung versetzen. Haldane versucht zu prophezeien, wie das Senfgas zukünftigen Konflikten eine ganz neue Art der Kriegsführung aufzwingen wird. Er behauptet, manche Menschen besäßen eine natürliche Immunität, die in den Rassengruppen unter schiedlich verteilt sei. Danach kann das Gas zwanzig Prozent der Weißen und achtzig Prozent der Schwarzen nichts anhaben. Anschließend konstruiert er ein wahrhaft irrwitziges Szenario für den Gaskrieg der Zukunft: Stoßtrupps aus Schwarzen leiten den Angriff ein; die deutschen Streitkräfte, die auf diesen Aspekt der Menschenvielfalt weitgehend verzichten müssen, sind vielleicht ein wenig im Nachteil, machen dies aber mit ihren überlegenen chemischen Kenntnissen wett, sodass das Kräftegleichgewicht erhalten bleibt: Es scheint also, als würde das Senfgas einer Armee Geländegewinne ermöglichen, wobei auf beiden Seiten weit weniger Menschen ums Leben kommen als mit den Methoden, die im letzten Krieg eingesetzt wurden, und es würde sich ein Bewegungskrieg ergeben, der wie bei den Feldzügen der Vergangenheit recht schnell zu einer Entscheidung führt. Das derzeitige Kräftegleichgewicht würde nicht durcheinander gebracht, weil die französischen Negersoldaten ein Gegengewicht zur deutschen chemischen Industrie bilden. Die Inder [die den britischen Streitkräften zur Verfügung stehen] dürften allen Erwartungen zufolge fast ebenso immun sein wie die Neger. Dann erkennt Haldane in seiner Argumentation einen Schwachpunkt. Er tritt einen Schritt zurück, atmet tief durch und findet eine Lösung. Gott sei Dank sind ja auch zwanzig Prozent der Weißen immun! Die amerikanischen Armeebehörden untersuchten systematisch die Empfindlichkeit einer großen Zahl von Rekruten. Dabei stellten sie fest, dass es eine sehr widerstandsfähige Klasse gibt, zu der 20 % der überprüften weißen Männer gehören, aber nicht weniger als 80% der Neger. Das ist auch verständlich, denn die Symptome von Senfgasver brennungen und Sonnenbrand sind sich sehr ähnlich, und Neger sind
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gegen Sonnenbrand recht gut geschützt. Es scheint also, als sollte es nach einer kurzen Voruntersuchung möglich sein, farbige Truppen zusammenzustellen, die gegen Senfgas in Konzentrationen, welche die meisten weißen Männer schädigen, immun sind. Als Offiziere stehen ausreichend widerstandsfähige Weiße zur Verfügung. Ich bin schlicht und einfach erstaunt (und auch verwirrt): Wie konnte dieser hochintelligente Mann, der mehr als fünfzig Jahre lang in zahlrei chen Schriften die Gleichheit aller Menschen predigte, so im Sumpf der konventionellen Rassenvorurteile stecken und so an den darauf gestütz ten, üblichen militärischen Vorgehensweisen der europäischen und ame rikanischen Streitkräfte kleben, dass in seinem Weltbild nicht einmal fähige schwarze Offiziere vorkamen – sodass er erleichtert aufatmen musste, als er erkannte, dass sich unter den wenigen resistenten Weißen ein paar qualifizierte Männer befinden. Wenn Haldane nicht einmal diese geringfügige Weiterentwicklung der Beziehungen und Möglichkeiten zwischen den Menschen voraussehen konnte, wie sollen wir uns in der weit schwierigeren Frage nach dem Wesen zukünftiger Kriege dann auf sein Urteil verlassen? (Die gleiche Lehre sollten wir aus diesem Vorfall auch für zukünftige Diskussionen ziehen, in denen es um den zu geringen Anteil von Minderheiten als Manager von Baseballmannschaften oder Football-Quarterbacks geht. Mir fällt dazu auch eine berühmte, ganz ähnliche Episode aus der Geschichte des biologischen Determinismus ein, bei der eine ähnlich lächerliche Voraussage gemacht wurde: Anfang des Jahrhunderts schätzte ein großer europäischer Autohersteller, sein Geschäft werde zwar Gewinn abwerfen, aber recht beschränkt bleiben. Der europäische Markt, so seine selbstbewusste Voraussage, werde nie mehr als eine Million Autos auf nehmen können, weil dies die Zahl der Männer aus den unteren Schichten sei, die so viel angeborene geistige Fähigkeiten besäßen, dass sie als Chauffeure arbeiten könnten! Ist es nicht hübsch, das dreifache, unerkannte Vorurteil in dieser Aussage: dass Arme nur selten eine hohe, gene tisch festgelegte Intelligenz besitzen und dass weder Frauen noch reiche Menschen jemals selbst ein Auto fahren werden?) Aus meiner allgemeinen Argumentation ergibt sich als logische Folge ein wahrhaft bescheidener Vorschlag. Würden wir nicht alle gern die Welt mit einem einzigen großen Geniestreich in Ordnung bringen? Natürlich
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dürfen wir nie aufhören, zu träumen und genau das zu versuchen. Wir müssen aber unseren Eifer auch dämpfen und uns eine gewisse Beschei denheit zu Eigen machen – und zwar aus der Erkenntnis heraus, dass wir die Zukunft nicht vorhersehen können und dass auch die schönsten Pläne über Mäuse und Menschen häufig in eine tiefe Fallgrube führen, die unvorhergesehene Folgen für uns gegraben haben. In diesem Zusammenhang sollten wir eine Art »negative Ethik« der Selbstbeschränkung und Nachdenklichkeit beachten, ein Prinzip, das kluge Menschen immer begriffen (und in der goldenen Regel der Moral festgeschrieben) haben, während Träumer es immer ablehnten, manchmal zum Wohle der Menschen, manchmal aber auch mit üblen Folgen, wenn Demagogen und Ei ferer der gesamten Menschheit ohne Rücksicht auf Verluste ihre »wahren Überzeugungen« aufzwingen wollten. Der hippokratische Eid, der häufig als großartiges Dokument über all gemeine ethische Prinzipien in der Medizin missverstanden wird, war eigentlich ein Manifest für den Schutz des geheimen Wissens einer Gilde und für die Weitergabe der Kenntnisse an sorgfältig ausgewählte Einge weihte. Die Formel enthält aber auch an herausragender Stelle eine Aussage, die später zu einem lateinischen Wahlspruch für Ärzte umgemünzt wurde und (nach meinem Urteil) neben dem sokratischen Wort »Erkenne dich selbst« zu den beiden größten Ratschlägen aus der Antike gehört. Ich kann mir keine erhabenere ethische Regel vorstellen als diesen einfachen Ausspruch, den sich jeder Mensch in Herz und Geist einprägen sollte: primum non nocere – vor allem keinen Schaden anrichten.
Teil VI Evolution in allen Größenordnungen
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21. Von Embryonen und Vorfahren »Jeden Tag geht es mir in allem immer ein bisschen besser.« Dieser berühmte Satz war in meinen Augen immer ein Musterbeispiel für die geistige Leere, die in unserem Zeitalter der sorgenfreien New-Age-Glück seligkeit so häufig als tiefgründig gilt – für ein Gegenstück zu Smileys und »schönen Tag noch«. Als ich den Satz dann aber eingemeißelt im Giebel eines französischen Krankenhauses entdeckte, das zu Beginn unseres Jahrhunderts erbaut worden war, wurde mir auf einmal klar, dass er eine längere, interessantere Vergangenheit haben muss, die mir bisher entgangen war. Wie ich dann herausfand, wurde diese Formel für das Wohlbefinden 1920 von Emile Coue (1857-1926) erfunden, einem französischen Apotheker, der in den volkspsychologischen Kreisen seiner Zeit mit einer Theorie der Selbstheilung durch häufige Wiederholung dieses Spruches ziemliches Aufsehen erregte. Die Methode wurde sogar als Coueismus bezeichnet. (Der Satz ist übrigens auch einer der seltenen Fälle, in denen eine Übersetzung zur Verbesserung führt: Auf Englisch – »Every day, in every way, Fm getting better and better« – klingt er zumindest in meinen Ohren mit Reim und Versmaß viel besser als das französische »Tous les jours, ä tous les points de vue, je vais de mieux en mieux«.) Ich habe keinen Zweifel, dass Coues Mantra wirkt: Man sollte den »Placeboeffekt« (seinen einzigen denkbaren Wirkungsmechanismus) keines wegs als Täuschung abtun, sondern in manchen Fällen als nützliches Hei lungsverfahren schätzen – er ist ein wichtiges Beispiel dafür, welchen Einfluss die geistige Haltung auf unser körperliches Wohlbefinden aus üben kann. Als allgemeine Beschreibung für Art und Geschwindigkeit, mit der es Menschen besser geht, halte ich jedoch die ständigen, stetigen Steigerungen in Coues Motto – eine moderne Version der uralten Behauptung, die sich in dem Siegesschrei »langsam, aber sicher« von Äsops
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Schildkröte verkörpert – für kaum verwendbar. Mit Sicherheit ist dies nicht die übliche Art, wie Menschen emotional oder intellektuell erleuchtet werden: Das geschieht meist nicht durch ein allgemeines, zentimeterweises Vorwärtskriechen, sondern in Schüben und Wellen, oftmals nachdem ein Hindernis beseitigt wurde oder nachdem man ein ideologisches oder technisches Hilfsmittel entdeckt hat, welches die Sache erleichtert. Solche Schübe der Innovation sind das Großartige an der Wissenschaft. Jahrhundertelange, leere Spekulationen lösten sich in nichts auf, als Galilei sein Teleskop, das mit seinem Auflösungsvermögen das ganze Spektrum der kosmischen Entfernungen erfassen konnte, auf Mond und Milchstraße richtete (siehe Kapitel 2). Etwa 350 Jahre später schmolzen die jahrhundertelangen Vermutungen und indirekten Befunde über die Zusammensetzung des Mondgesteins vor wenigen Kilo des tatsächlichen Materials dahin, das die Apollo-Mission nach Mr. Armstrongs kleinem Schritt in eine neue Welt nach Hause gebracht hatte. In der Physik folgen solche Wellen der Entdeckungen meist auf die Erfindung eines Hilfsmittels, mit dem man zum ersten Mal in einen zuvor unzugänglichen Bereich eindringen kann – in das »zu weit Entfernte« mit dem Teleskop, in das »zu Kleine« mit dem Mikroskop, in das nicht Sicht bare mit den Röntgenstrahlen, in das Unerreichbare mit den Raumschiffen. In der bescheideneren Welt der Naturforschung spielen sich Episoden von ähnlichem Gewicht und Impuls häufig nach einem Aha-Erlebnis ab, das nicht durch teure, neu entwickelte physikalische Gerätschaften ausgelöst wurde, sondern durch ständig verfügbare geistige Hilfsmittel. Mit anderen Worten: Große Entdeckungen erfordern häufig einen Lageplan für die Mine mit den Edelsteinen, die man dann mit herkömmlichen Werkzeugen ohne weiteres ans Licht holen kann, und nicht eine spektakuläre neue Maschine des Weltraumzeitalters, mit der man in zuvor unzugängliche Welten eindringt. Die Aufklärung der Frühgeschichte des Lebendigen wurde von mehre ren solchen Lawinen der Entdeckungen geprägt, und jede davon folgte auf eine entscheidende Erkenntnis über die Stelle, wo man suchen muss. Ich möchte hier die großartige Geschichte aus diesem Jahr vorstellen, aber dazu berichte ich zunächst über ein bemerkenswert ähnliches Ereignis aus der letzten Generation unserer Wissenschaft – wobei »Generation« wörtlich zu nehmen ist, denn der Entdecker aus diesem Jahr schrieb seine Doktorarbeit unter der Anleitung des ersten Neuerers.
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Als ich mich in den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts in meiner Ju gend zum ersten Mal für Paläontologie und Evolution begeisterte, besagte die übliche Lehre, die Entstehung des Lebens sei von ihrem Wesen her ein sehr unwahrscheinliches Ereignis, das sich auf unserem Planeten nur deshalb ereignet habe, weil das nahezu Unmögliche in den ungeheuren Zeiträumen der Erdgeschichte zu etwas praktisch Sicherem geworden sei. (Wenn die Zahl der Versuche nicht begrenzt ist, fällt auch eine ehrliche Münze irgendwann fünfzigmal hintereinander mit dem Kopf nach oben.) Als Beleg für die Behauptung, Leben sei angesichts der riesigen Wahrscheinlichkeit, die dagegen spreche, etwas ganz Besonderes, führten die Standardwerke das Fehlen jeglicher Fossilien aus der ersten Hälfte der Erdgeschichte an – einem Zeitraum von mehr als zwei Milliarden Jahren, der auf älteren geologischen Diagrammen häufig als »Azoikum« (»unbelebtes Zeitalter«) bezeichnet wird. In der Naturwissenschaft ist man sich zwar darüber im Klaren, welche Grenzen solche »negativen Belege« haben (immerhin kann der erste Fall eines bisher nicht beobachteten Phänomens schon morgen auftreten), aber die Tatsache, dass man aus den ers ten zwei Milliarden Jahren der geologischen Vergangenheit keinerlei Fossilien gefunden hatte, erschien recht überzeugend. Seit mehr als hundert Jahren hatten die Paläontologen emsig danach gesucht, und doch waren sie nur auf zweideutige Splitter und Klumpen gestoßen. Negative Ergeb nisse trotz derart lang anhaltender, über viele Jahre fortgesetzter Bemühungen wecken nach und nach ein gewisses Zutrauen. Aber dann, in den fünfziger Jahren, war der tote Punkt überwunden: Elso Barghoorn und Stanley Tyler berichteten über Fossilien einzelliger Lebewesen in Gestein, das mehr als zwei Milliarden Jahre alt war. Die Paläontologen hatten – um eine lange, komplizierte Geschichte mit vielen spannenden Wendungen und herausragenden Gestalten kurz zusam menzufassen – an der falschen Stelle gesucht: in konventionellen Sedi menten, in denen die Überreste einzelliger, bakterienähnlicher Organis men ohne harte Körperteile kaum einmal erhalten bleiben. Man hatte sich nicht klar gemacht, dass das Leben über lange Zeit hinweg so einfach geblieben war und dass Orte, die sonst gute Fossilfundstätten waren, nicht die Voraussetzungen für die Erhaltung solcher Lebewesen boten. Barghoorn und seine Kollegen beendeten ein Jahrhundert der Enttäuschungen, indem sie an einer anderen Stelle suchten, wo die Überreste von Bakterienzellen überleben konnten: in Schichten aus Kieselgestein. Dieses
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Gestein hat (bei anderer Molekülanordnung) die gleiche chemische Formel wie Quarz: Siliziumdioxid. Paläontologen kommen kaum einmal auf die Idee, in Silikatgestein nach Fossilien zu suchen – und zwar aus dem stichhaltigen, völlig einleuchtenden Grund, dass Silikate sich durch Abkühlung von Vulkanmagma bilden und deshalb keine organischen Reste enthalten können. (Schließlich gedeihen Lebewesen nicht in kochender Lava, und alles, was hineinfällt, verbrennt zu ein wenig Asche.) Aber Kieselgestein kann auch bei niedrigeren Temperaturen entstehen und wird dann in den Ozeanen zwischen ganz normalen Sedimentschichten abge lagert. Werden Bakterienzellen in der glasähnlichen Substanz einge schlossen, können sie als Fossilien erhalten bleiben. Diese grundlegende Einsicht – dass wir fälschlich in den normalen (und leeren) Sedimenten statt in dem gehaltvollen Kieselgestein gesucht hatten – ließ ein ganz neues Forschungsgebiet entstehen: das Sammeln von Daten für ungefähr die ersten zwei Drittel der gesamten Geschichte des Lebendigen! Vierzig Jahre später können wir staunend auf eine Flut neuer Errungenschaften und eine völlige Umwälzung der Lehrmeinung zurückblicken. Heute besitzen wir reichhaltige Fossilfunde aus der Frühzeit des Lebens, die bis zu den ältesten potenziellen Indizien für Zellen zurückreichen. (Tatsächlich enthalten auch die ältesten Gesteine auf der Erde, die solche Gebilde überhaupt aufnehmen können, eine Fülle von Fossilien bakterienähnlicher Lebewesen. In diesen 3,5 bis 3,6 Milliarden Jahre alten Felsen aus Australien und Südafrika liegen die weltweit ältesten Schichten, die später nicht durch Wärme und Druck so verändert wurden, dass alle anatomischen Spuren von Lebewesen verschwanden.) Solche allgegenwärtigen, reichhaltigen Funde machten eine Revision der alten Ansichten notwendig. Dass Leben auf der Stufe einfachster Bakterien entstand, erscheint heute nicht mehr unwahrscheinlich, sondern unvermeidlich. Als Merkspruch schlage ich vor: »Das Leben auf der Erde ist so alt, wie es nur sein kann.« Natürlich ist mir klar, dass das frühestmögliche Auftauchen noch kein Beweis der Zwangsläufigkeit ist. Auch ein sehr unwahrscheinliches Ereignis kann mit viel Glück in der Reihe der Versuche bereits sehr früh eintreten. (Vielleicht fällt die Münze schon bei der zehnten Wurfserie fünfzigmal hintereinander mit dem Kopf nach oben – aber man sollte nicht damit rechnen oder darauf wetten!) Den noch müssen wir uns angesichts der heutigen Kenntnisse – wonach das Leben auf der Bildfläche erschien, sobald die Umweltbedingungen es zu
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ließen, und dann in der gesamten Folgezeit erhalten blieb – mit der Vor stellung von einer nahezu unausweichlichen Zwangsläufigkeit anfreunden. Auf einem Planeten mit der Größe, Sonnenentfernung und Zusam mensetzung der Erde entstehen Lebewesen der einfachsten Form vermutlich mit ziemlicher Sicherheit, einfach weil die Prinzipien der organischen Chemie und die physikalischen Gesetze selbstorganisierender Systeme es erfordern. Aber auch wenn die Entstehung des Lebens vorhersehbar war, können die weiteren Evolutionswege in höchst seltsame Richtungen verlaufen sein, zumindest im Vergleich zu unseren verbreiteten Hoffnungen und Vorurteilen. Der allgemeine Ablauf scheint unsere übliche Sichtweise zu bestätigen, wonach die Komplexität zunahm, was schließlich sinnvoller weise zum Bewusstsein der Menschen führte: Immerhin hatte die Erde in ihrer Frühzeit nur Bakterien vorzuweisen, heute dagegen ist sie mit Men schen, Ameisenvölkern und Eichenbäumen ausgestattet. Das stimmt schon, aber eine genauere Untersuchung des allgemeinen zeitlichen Ablaufs und einzelner Details bestärkt kaum den Glauben an eine stetige Gesetzmäßigkeit. Wenn Größe und Komplexität ein so großer darwinistischer Segen sind, warum brauchte das Leben dann so lange, um »vom Fleck zu kommen«, und warum spielten sich die meisten mutmaßlichen Schritte dabei so launenhaft und schnell ab? Betrachten wir einmal die folgende Zusammenfassung der wichtigsten Ereignisse: Fossilien tauchen, wie bereits erwähnt wurde, zum frühestmöglichen Zeitpunkt in den geologischen Schichtungen auf. Aber dann verharrt das Leben während der Hälfte seiner weiteren Geschichte ausschließlich im einfachsten Zustand der so genannten Prokaryonten (Einzeller ohne in nere Organellen, das heißt ohne Zellkern, Chromosomen, Mitochondrien und so weiter). Die ersten Einzeller mit dem komplizierteren Bauplan der Eukaryonten (mit den Organellen, die wir aus den Abbildungen von Amö ben oder Pantoffeltierchen in unseren Schulbüchern kennen) tauchen erst vor rund zwei Milliarden Jahren in den Fossilfunden auf. Aus solchen einzelligen Eukaryonten entstanden später die drei großen Reiche der Vielzeller: Pflanzen, Pilze und Tiere (wobei es, zumindest was die Algen im Pflanzenreich betrifft, mehrere unabhängige Entstehungsereignisse gab). Fossilien einfacher, vielzelliger Algen reichen aller Wahrscheinlichkeit nach bis in die Zeit vor einer Milliarde Jahren zurück, manchen Vermu tungen zufolge sogar bis in eine Epoche vor 1,8 Milliarden Jahren.
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Das eigentliche Rätsel jedoch – zumindest vor dem Hintergrund unserer engstirnigen Gedanken über die zwangsläufige Entstehung unserer eigenen Abstammungslinie – umgibt die Entstehung und Frühgeschichte der Tiere. Wenn das Leben immer danach strebte, im Tierreich den Höhepunkt seiner Ausdrucksformen zu finden, dann hatte es offenbar keine Eile damit, diese letzte und höchste Phase in Gang zu setzen. Etwa fünf Sechstel der gesamten Geschichte des Lebendigen waren bereits vergangen, als die Tiere vor rund 600 Millionen Jahren zum ersten Mal ihre Spu ren in den Fossilfunden hinterließen. Außerdem bestand die älteste Tier gesellschaft, die von ihrem ersten Auftreten vor rund 600 Millionen Jahren bis zum Beginn des Kambriums vor 543 Milliarden fast die Alleinherrschaft auf der Erde hatte, aus rätselhaften Arten ohne klare Verwandtschaftsbeziehungen zu den heutigen Formen. Diese so genannten Ediacara-Tiere (der Name erinnert an den Ort in Australien, wo man sie zum ersten Mal entdeckte, aber heute kennt man sie von allen Kontinenten) konnten recht groß werden (ungefähr bis zu einem Meter), besaßen aber offenbar weder komplizierte innere Organe noch erkennbare Körperöffnungen wie Mund oder Darmausgang. Viele Ediacara-Tiere waren flach wie ein Pfannkuchen (bei unterschiedlicher Form und Größe) und aus zahlreichen röhrenähnlichen Abschnitten zusammengesetzt, die mit ihren komplizierten Verbindungen einen einzi gen Körper bildeten. Unter den Theorien über die verwandtschaftliche Zugehörigkeit der Ediacara-Tiere findet man das ganze Spektrum: Die einen halten sie ganz konventionell für einfache Vorfahren mehrerer heu tiger Tierstämme, andere deuten sie höchst radikal als völlig eigenständi ges (und letztlich gescheitertes) Experiment des vielzelligen tierischen Lebens. Heute setzt sich immer stärker eine mittlere Position durch, aber auch das sollte uns nicht zu Prophezeiungen über das Endergebnis dieser vielschichtigen Debatte verleiten: Danach sind die Ediacara-Tiere der vielfältige Ausdruck der Möglichkeiten, die sich für Diploblasten (aus zwei Gewebeschichten zusammengesetzte Tiere) bieten, eine Gruppe, deren Vielfalt heute so stark reduziert ist (sie ist nur noch durch Korallen, Quallen und ihre Verwandten repräsentiert), dass ihre lebenden Vertreter kaum Aufschlüsse über ihr gesamtes Potenzial liefern. Alle heutigen Tiere mit Ausnahme der Schwämme, Korallen und eini ger anderer kleiner Gruppen sind Triploblasten, das heißt, sie bestehen aus drei Körperschichten: dem Ektoderm, aus dem das Nervengewebe
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und andere Organe hervorgehen, dem Mesoderm, das unter anderem die Fortpflanzungsorgane bildet, und dem Entoderm, das sich zum Darm und anderen inneren Organen weiterentwickelt. (In der traditionellen Liste der Tierstämme, die wir im Schulunterricht kennen gelernt haben, sind alle Gruppen »oberhalb« der Plattwürmer, darunter sämtliche »gro ßen« Stämme wie Ringelwürmer, Gliederfüßer, Weichtiere, Stachelhäuter und Wirbeltiere, Triploblasten.) Der Aufbau aus drei Körperschichten war offenbar eine Voraussetzung für die Entstehung der allgemein bekannten, kompliziert gebauten, beweglichen und zweiseitig-symmetrischen Organismen mit Körperhöhlen, Extremitäten, Sinnesorganen und allen ande ren Merkmalen, die nach unserer üblichen Vorstellung zu einem »richti gen« Tier gehören. Deshalb neigen wir mit unserer unsinnig engstirnigen Art (und unter Missachtung wirklich wichtiger Gruppen wie Korallen und Schwämme) dazu, die Frage nach dem Ursprung der heutigen Tiere mit der nach der Entstehung der Triploblasten gleichzusetzen. Wenn die Ediacara-Tiere ausnahmslos (oder vorwiegend) Diploblasten waren oder sich stammesgeschichtlich sogar noch stärker von den Triploblasten un terschieden, ist das Problem der Entstehung der Tiere (in unserer üblichen, begrenzten Bedeutung der Triploblasten) mit der Entdeckung dieser ersten Tierwelt nicht gelöst. Im weiteren Verlauf wird die Geschichte der heutigen Tiere noch selt samer. Der Beginn des Kambriums vor 543 Millionen Jahren ist durch das – möglicherweise sehr schnelle – Aussterben der Ediacara-Fauna gekenn zeichnet, und von nun an findet man eine Fülle von Tieren mit Kalkske letten, die als Fossilien gut erhalten bleiben. Aber aus der ersten Phase des Kambriums, die Manakayum genannt wird und die Zeit vor 543 bis 530 Millionen Jahren umfasst, kennt man vor allem eine verwirrende Vielfalt von Stacheln, Platten und anderen kleinen Funden, die selbst in der Fachliteratur nur als »kleine Gehäusefossilien« bezeichnet werden. (Ver mutlich handelt es sich um einzelne Skelettbruchstücke, die sich noch nicht zu einem großen Gerüst für das gesamte Lebewesen entwickelt hatten.) In den nächsten beiden Phasen des Kambriums (Tommotium und Ardabanium, vor 530 bis 520 Millionen Jahren) spielte sich die seltsamste, wichtigste und faszinierendste Episode der gesamten Fossilgeschichte von Tieren ab – in diesem kurzen Zeitraum, der als »kambrische Explosion« bezeichnet wird, findet man die ersten Fossilien aller Tierstämme, bei
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Zeitskala mit den wichtigsten Ereignissen in der Geschichte des Lebendigen (links) sowie die Einzelheiten während der kambrischen Explosion und anderer Vorgänge bei der Entstehung der vielzelligen Tiere (rechts).
denen ein Skelett ohne weiteres die Erhaltung in versteinerter Form ermöglicht. (Die einzige Ausnahme sind die Moostierchen oder Bryozoa, eine Gruppe koloniebildender Meeresbewohner, die erst zu Beginn der nächsten Periode, des Ordoviziums, auf der Bildfläche erscheinen. Danach gab es zwar noch viele verblüffende Neuentwicklungen, so unter an derem das Bewusstsein des Menschen und die Tanzsprache der Bienen, aber neue Stämme, das heißt Tiere mit stark abweichendem Körperbau plan, entstanden nicht mehr.) Die kambrische Explosion ist in der Entstehungsgeschichte der Tiere eine so auffällige Phase, dass wir die Vergangenheit des gesamten Organismenreiches wohl nicht begreifen können, solange wir nicht genauer
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Haeckels Zeichnung theoretischer urzeitlicher Tiere (links) und Fossilien eines Embryos aus dem Präkambrium (rechts).
über die Voraussetzungen und den Ablauf dieses entscheidenden erdge schichtlichen Augenblickes Bescheid wissen. Deshalb war die ganze Paläontologengemeinde begeistert über eine wichtige Entdeckung, die im Februar 1998 bekannt gegeben wurde und ebenfalls dadurch zustande kam, dass man gelernt hatte, an zuvor übersehenen Orten zu suchen. Sie eröffnet die Aussicht, die bisher unbekannte Geschichte der Triploblasten vor der kambrischen Explosion aufzuklären. Ist die kambrische Explosion wegen ihrer Datenfülle – zu viel, zu ver wirrend und zu schnell – ein Anlass zur Frustration, so bereitet uns die Geschichte der Triploblasten im Präkambrium wegen des Mangels an Erkenntnissen noch größeren Kummer. Die bei der Explosion entstandenen, kompliziert gebauten Tiere, die man so eindeutig den heutigen Stämmen zuordnen kann, sind natürlich zu der Zeit, da sie die ersten Fossilien bildeten, nicht aus dem Nichts entstanden; aber wer (und wo) waren ihre Vorläufer im Präkambrium? Was taten die Vorfahren der heutigen Tiere während der vorausgegangenen fünfzig Millionen Jahre, als die Diploblasten von Ediacara (oder noch seltsamere Lebewesen) die Tierwelt beherrschten? Über diese Frage wurde bis vor kurzem zwar viel spekuliert, wir besaßen aber nur einen winzigen Hauch echter Befunde. Die EdiacaraSchichtungen enthalten auch Spuren und Nahrungsreste, die vermutlich
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von Triploblasten heutigen Zuschnitts hinterlassen wurden (denn die fla chen, meist unbeweglichen Ediacara-Tiere konnten nicht kriechen, gra ben oder auf eine Weise fressen, wie es für die heute ausschließlich auf Tri ploblasten beschränkten Tätigkeiten so charakteristisch ist). Es gibt also Anhaltspunkte für die Existenz und sogar für die Aktivität der Vorläufer heutiger Tiere vor der kambrischen Explosion, aber wir wissen absolut nichts über Anatomie und äußeres Erscheinungsbild – eine ganz ähnlich frustrierende Situation, als wenn wir den Gesang eines Vogels hören, ohne das Tier jemals zu Gesicht zu bekommen. Kürzlich fand man jedoch eine potenzielle Lösung – oder zumindest eine erste zuverlässige Quelle für anatomische Befunde. Es war eine Entdeckung nach dem altehrwürdigen Motto (das Menschen mit unter durchschnittlicher Körpergröße, darunter auch der Verfasser dieses Bei trages, so lieben): Gutes kommt häufig in kleinen Portionen, oder, um Micha (5, 1) zu zitieren, dessen Aussage von den Evangelisten später als Prophezeiung zukünftiger Ereignisse gedeutet wurde: »Aber du, Betle hem-Efrata, so klein unter den Gauen Judas, aus dir wird mir einer her vorgehen, der über Israel herrschen soll.« Kurz gesagt, hatten die Paläontologen nach herkömmlichen Fossilien im üblichen (und sichtbaren) Größenspektrum ausgewachsener Lebewe sen gesucht – im Bereich von Millimetern bis wenigen Zentimetern. Die Antwort lag aber in kleineren Lebewesen, die (jedenfalls im Prinzip) mit bloßem Auge gerade noch sichtbar sind, mit den herkömmlichen Metho den aber nicht nachgewiesen werden: bei den Embryonen. Wer hätte jemals geglaubt, dass empfindliche Embryonen als Fossilien erhalten bleiben können, wenn schon die vermutlich widerstandsfähigeren ausge wachsenen Tiere keine Spuren hinterließen? Die Geschichte ist eine faszi nierende Lektion über die Funktionsweise der Wissenschaft. Sie erstreckt sich über mehr als zehn Jahre, aber erst kürzlich wurde ihr die Frage nach den Tieren aus dem Präkambrium hinzugefügt. Fossilien entstehen auf vielerlei Weise – ursprünglich harte Körperteile bleiben in den umgebenden Sedimenten erhalten, und es bilden sich sekundäre Abdrücke von Knochen und Gehäusen, die sich später mit Sedimenten füllen, sodass ein Abguss entsteht. Manchmal wird aber auch ursprünglich organisches Material durch einsickernde Mineralstoffe ersetzt – hier findet also ganz buchstäblich eine »Versteinerung« statt; in sei ner vielleicht bekanntesten Form ist dieses Phänomen in den großartigen
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Funden aus dem Petrified Forest in Arizona bekannt, wo mehrfarbiger Achat (eine andere Form von Siliziumdioxid) so exakt an die Stelle des ur sprünglichen Kohlenstoffs getreten ist, dass man noch die Zellstruktur des Holzes erkennen kann. (Die Versteinerung ist so bekannt, dass sie vielfach als entscheidende Definition für Fossilien gilt. Als Fossilien bezeichnet man aber alle vorzeitlichen Organismen, unabhängig davon, auf welche Weise sie erhalten geblieben sind. Wer beruflich damit zu tun hat, arbeitet in fast allen Fällen lieber mit unveränderten harten Teilen als mit ihrem versteinerten Ersatz.) Jedenfalls führt eine nur schlecht untersuchte Form der Versteinerung dazu, dass weiches Gewebe durch Calciumphosphat ersetzt wird. Dieser Vorgang kann sich innerhalb weniger Tage nach dem Tod des Lebewesens abspielen und führt deshalb zu dem seltenen, wertvollen Phänomen, dass das Tier versteinert, bevor die weichen Körperteile verwesen. Die Phosphateinlagerung könnte sich als äußerst nützliches Hilfsmittel für die Paläontologie erweisen, weil sie die Erhaltung aller weichen Gewebe jeder Größe und in jedem Sediment ermöglicht. In der Praxis funktioniert der Vorgang aber nur bei winzigen Gegenständen von ungefähr zwei Millimetern Länge (wir reden hier also über kaum sichtbare Pünktchen, die noch nicht einmal als Ungeziefer durchgehen würden, wenn wir sie auf unserem Essteller oder im Bett finden). Aber nach dem alten Prinzip, dass man einem geschenkten Gaul (oder einer unerwarteten Entdeckung) nicht ins Maul schaut (indem man sich über die Unmöglichkeit eines noch besseren Fundes beklagt), sollten wir uns über die völlig unvorhergesehene Aussicht freuen, dass winzige Lebe wesen – die immerhin in der Natur in großer Fülle vorhanden sind, auch wenn sie unserer hochnäsigen Aufmerksamkeit im Allgemeinen entgehen – mit so vielen Einzelheiten ihres Körperbaues versteinern können, dass Borsten, Haare und sogar die Zellstruktur erhalten bleiben. Die Erkennt nis, dass die Phosphateinlagerung uns Zugang zu einer ganzen Welt winziger Lebewesen verschafft, bei denen man eine Fossilbildung zuvor überhaupt nicht für möglich gehalten hatte, könnte die größte Welle paläontologischer Forschungen in Gang setzen, seit man entdeckte, dass präkambrisches Leben aus zwei Milliarden Jahren im Kieselgestein begra ben liegt. Erste Anhaltspunkte, dass die Phosphateinlagerung in winzige Lebewesen entscheidende Fragen nach der frühen Evolution der Tiere beant
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Worten könnte, gehen auf eine Entdeckung zurück, die man Mitte der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts machte. Veröffentlicht wurden die Forschungsarbeiten damals in einer leider völlig unterschätzten Serie von Aufsätzen, die eine der elegantesten in der Geschichte der Paläontologie darstellt: in den Arbeiten der beiden deutschen Wissenschaftler Klaus J. Müller und Dieter Walossek über die Tierwelt in den Orsten-Schichtungen, einer auffälligen Gesteinsschicht aus dem Kambrium in Schweden. In diesen Kalksteinschichten waren winzige Gliederfüßer (in ihrer Mehrheit Krebslarven) durch Phosphateinlagerung in allen Einzelheiten dreidimensional erhalten geblieben. Die Fotos und Zeichnungen von Walossek und Müller haben in Deutlichkeit und ästhetischer Qualität kaum ihresgleichen, und ihre Aufsätze sind sowohl beim Lesen als auch beim Betrachten der Bilder gleichermaßen ein Genuss. (Eine der ersten guten Zusammenfassungen ist K. J. Müller und D. Walossek, »A remarkable arthropod fauna from the Upper Cambrium ›Orsten‹ of Sweden«, Transac tions ofthe Royal Society of Edinburgh, 1985, Band 76, Seite 161-172; ein neuerer Übersichtsartikel findet sich bei Walossek und Müller, »Cambrian ›Orsten‹-tvpe arthropods and the phylogeny of Crustacea«, in: R. A. Fortey und R. H. Thomas [Hrsg.], Arthropod Relationships, London: Chapman and Hall, 1997.) Walossek und Müller lösten den Kalkstein mit Essigsäure auf und konnten so die winzigen, durch Phosphateinlagerung konservierten Gliederfüßer unversehrt herauspräparieren. Mit diesem Verfahren sammelten sie mehr als 100000 Exemplare; ihre Befunde fassten sie 1997 in einem Aufsatz zusammen: Die gepanzerte Oberfläche dieser Gliederfüßer ist noch in allen Einzelheiten erhalten; man erkennt Augen und Extremitäten, Haare und winzige Borsten ... Drüsenöffnungen und sogar die Zellstruktur sowie die Vertiefungen der darunter liegenden Muskel-Ansatzstellen ... Die Größe der auf diese Weise erhalten gebliebenen Fundstücke geht nicht über zwei Millimeter hinaus. Von diesem Ausgangspunkt arbeiteten sich andere Paläontologen weiter in die Vergangenheit vor, und was die Größe der Fundstücke angeht, ge langten sie von Larven zu frühen Embryonalstadien aus wenigen Zellen. Xi-guang Zhang und Brian R. Pratt fanden 1994 Kugeln aus vermutlich
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embryonalen Zellen mit einem Durchmesser von 0,3 bis 0,35 Millime tern, vielleicht die ersten Frühstadien ausgewachsener Trilobiten, die in den gleichen Schichten aus dem mittleren Kambrium ebenfalls vorkom men (Zhang und Pratt, »Middle Cambrian arthropod embryos with blastomeres«, Science, 1994, Band 266, Seite 637-638). Im Jahr 1997 berichteten Stefan Bengtson und Yue Zhao dann über sogar noch ältere, durch Phosphateinlagerung konservierte Embryonen aus tieferen kam brischen Schichten in China und Sibirien. Einen spannenden Beitrag zu dieser wachsenden Fachliteratur lieferten die gleichen Autoren auch mit einer mutmaßlichen Wachstumsreihe vom Embryo bis zu winzigen, nahezu ausgewachsenen Tieren zweier völlig unterschiedlicher Arten: Die eine gehörte zu den Conulariiden, einer rätselhaften, ausgestorbenen Gruppe, die andere zu einem vermutlich segmentierten Wurm (Bengtson und Zhao, »Fossilized metazoan embryos from the earliest Cambrian«, Science, 1997, Band277, Seite 1645-1648). Wenn man solche neuen Methoden zum ersten Mal auf Material aus ei ner unbekannten oder unerwarteten Welt anwendet, ergeben sich vielfach wahrhaft revolutionäre neue Erkenntnisse. Vor kurzem veröffentlichten Shuhai Xiao, der als Postdoc an unserem paläontologischen Forschungsprogramm teilnimmt, sowie Yin Zhang von der Universität Beijing und mein Kollege Andrew H. Knoll (Shuhai Xiaos Chef) eine Entdeckung, die spätere Historiker vielleicht als wichtigste in der Paläontologie des ausgehenden 20. Jahrhunderts bezeichnen werden: Sie fanden in Gestein aus Südchina, dessen Alter auf 570 Millionen Jahre geschätzt wird, die ältesten Triploblasten in Form von Embryonen mit eingelagertem Phosphat – die Funde sind älter als die am besten erhaltenen Ediacara-Tiere, die man in rund zehn Millionen Jahre jüngeren Schichtungen fand (siehe Xiao, Zhang und Knoll, »Three-dimensional preservation of algae and animal embryos in a Neoproterozoic phosphorite«, Nature 1998, Band 391, Seite 553-558). Bei den Fossilien handelt es sich um eine üppige Formen vielfalt vielzelliger Algen, und die Autoren meinen dazu: »Zu der Zeit, als große Tiere erstmals in den Fossilfunden auftauchten, hatten sich die drei Hauptgruppen der vielzelligen Algen nicht nur aus einem Bestand von Protisten [Einzellern] auseinander entwickelt, sondern es war auch bereits in überraschendem Ausmaß die morphologische Komplexität entstanden, die man bei heute lebenden Algen findet.« Aber angesichts unseres verständlichen, größeren Interesses am Tier
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reich, zu dem wir auch selbst gehören, richtet sich die größte Aufmerk samkeit auf die kleineren, selteneren, kugelförmigen Fossilien mit einer durchschnittlichen Länge von einem halben Millimeter, die man in denselben Schichtungen fand: Sie bilden eine ausgezeichnete Reihe früher Embryonalstadien, angefangen bei einer einzigen, befruchteten Eizelle und dann über das Zwei-, Vier-, Acht- und Sechzehn-Zell-Stadium bis hin zu kleinen Zellkugeln, die etwas spätere Stadien der Embryonalentwicklung darstellen. Diese Embryonen kann man keiner bestimmten Tiergruppe zuordnen (weil man die späteren Stadien mit ihren charakteristi schen Formen noch nicht gefunden hat), aber die Identifizierung als Frühstadien von Triploblasten erscheint gesichert: Einerseits zeigen sie charakteristische Merkmale (insbesondere die gleich bleibende Gesamtgröße des Embryos während der gesamten Frühphase – die durchschnittliche Zellgröße nimmt ab, sodass in dem gleichen Volumen mehr Zellen Platz haben), und andererseits ähneln sie in bestimmten Merkmalen geradezu gespenstisch den heutigen Gruppen. (Mehrere Entdeckungsbiologen erklärten Knoll und Kollegen, sie hätten die Exemplare als Embryonen heute lebender Krebse eingeordnet, wenn sie nichts über ihr wahrhaft großes Alter gewusst hätten!) Elso Barghoorn, Knolls Doktorvater, eröffnete mit seiner Entdeckung, dass Bakterien in Kieselgestein erhalten bleiben können, die Welt der ältesten Lebensformen. Heute, eine ganze Generation später, drangen Knoll und Kollegen in die Domäne der ältesten Tiere mit modernem Körperbau vor, indem sie den Zugang zu einem neuen Bereich ermöglichten, in dem die Phosphateinlagerung winzig kleine Embryonen haltbar macht; bis heute kennt man aber keinen Fossilbildungsprozess, durch den größere Exemplare zuverlässig erhalten bleiben. Wenn ich daran denke, welche Lawine neuer Erkenntnisse auf Barghoorns ersten Bericht über Bakterien aus dem Präkambrium folgte – was dazu führte, dass wir heute über die drei Milliarden Jahre des Präkambriums und Hunderte neuer Lebensfor men Bescheid wissen –, so kann ich nur den Schluss ziehen, dass die Ent deckung von Xiao, Zhang und Knoll uns das Tor zu einer ebenso vielver sprechenden Rekonstruktion der Frühgeschichte unserer heutigen Tiere öffnet, einer Zeit, bevor sie in dem Evolutionsschub der kambrischen Ex plosion zu größeren Ausmaßen und einer gewaltigen anatomischen Vielfalt heranwuchsen. Wenn wir auf diese Weise neue Antworten auf die große ungelöste Frage nach der frühen Evolutionsphase der Tiere gewin
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nen – nach den Ursachen der anatomischen Vielfalt wie auch nach dem späteren Verschwinden der entwicklungsgeschichtlichen Fruchtbarkeit bei der Entstehung neuer Stämme –, werden Paläontologie und Evolu tionsforschung sich die Hände reichen, weil ihnen das schönste Zusam menspiel von Fachkenntnissen gelungen ist, mit dem jemals ein histori sches Rätsel gelöst wurde. Eine letzte, allgemeinere Bemerkung möge dazu beitragen, auf der Schwelle zu diesen neuen Forschungen einen Hintergrund der Demut und Spannung herzustellen. Erstens wird es wahrscheinlich möglich sein, die unmittelbaren Befunde an den Fossilien mit einer potenziell sehr leistungsfähigen, indirekten Methode zu verknüpfen, mit der man Zeit, Ent stehung und Verzweigung der wichtigsten Tiergruppen beurteilen kann: mit der Messung der genetischen Ähnlichkeit zwischen heutigen Vertretern der einzelnen Tierstämme. Solche Messungen kann man mit großer Genauigkeit an riesigen Datenmengen vornehmen, aber sie liefern nicht immer zuverlässige Schlussfolgerungen, denn verschiedene Gene ent wickeln sich in der Evolution mit sehr unterschiedlicher Geschwindigkeit weiter, und diese Geschwindigkeit bleibt über lange Zeiträume hinweg auch nicht immer gleich; außerdem gehen die meisten bisher angewandten Verfahren von vereinfachten (und vermutlich nicht gerechtfertigten) Annahmen über eine relativ gleichmäßig laufende molekulare Uhr aus. Ein Beispiel ist ein Aufsatz, der bei seinem Erscheinen im Jahr 1996 große Aufmerksamkeit erregte. Darin leiteten G. A. Wray, J. S. Levinton und L. H. Shapiro aus Unterschieden in sieben molekularen Gensequenzen von lebenden Vertretern wichtiger Tierstämme Schätzungen für die Trennung dieser Gruppen in der Evolution ab: Die Chordatiere (der Stamm, zu dem auch wir gehören) hätten sich demnach vor rund 1,2 Milliarden Jahren von den drei großen Gruppen im anderen Hauptzweig des Stammbaumes der Tiere (Gliederfüßer, Ringelwürmer und Weichtiere) getrennt, und vor 1,0 Milliarden Jahren hätte die Aufspaltung zwischen Chordatieren und dem eng mit ihnen verwandten Stamm der Stachel häuter stattgefunden (Wray, Levinton und Shapiro, »Molecular Evidence for deep Precambrian divergences among metazoan phyla«, Science, 1996, Band274, Seite 568-573). Der Artikel sorgte für viel unnötige Verwirrung: Mehrere Zeitungsberichte, die auf mangelndes Verständnis schließen ließen, und einige unbedachte Äußerungen der Autoren leisteten erneut der alten, irrigen An
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sieht Vorschub, ein derart früher Verzweigungszeitpunkt spreche gegen die Tatsache der kambrischen Explosion, weil damit bewiesen sei, dass die scheinbar plötzliche Zunahme der Formenvielfalt nur eine Folge unvollständiger Fossilfunde ist (in denen sich dann vielleicht nur die Erfindung harter Körperteile widerspiegelt, nicht aber eine beschleunigte Entwick lung anatomischer Neuerungen). Wray et al. schreiben zum Beispiel: »Un sere Befunde lassen Zweifel an der verbreiteten Vorstellung aufkommen, dass die Tierstämme sich im Kambrium oder im späten Wendium [der Zeit der Ediacara-Tiere] explosionsartig auseinander entwickelt hätten; stattdessen legen sie die Vermutung nahe, dass es eine längere Phase der Auseinanderentwicklung gab ... die vor rund einer Milliarde Jahren begann.« Solche Aussagen stiften Verwirrung bei einer Entscheidung, die für Evolutionstheorie und die praktischen Befunde gleichermaßen unentbehrlich ist: Auf der einen Seite stehen die Zeitpunkte der anfänglichen Verzweigung, auf der anderen die Geschwindigkeit der nachfolgenden anatomischen Neuentwicklung oder des entwicklungsgeschichtlichen Wandels im Allgemeinen. Selbst die überzeugtesten Fürsprecher einer echten kambrischen Explosion hatten nie behauptet, diese Phase der schnellen anatomischen Auseinanderentwicklung sei gleichbedeutend mit dem Zeitpunkt, an dem die Tierstämme entstanden seien – und sei es auch nur, weil alle auch vor der jüngsten Entdeckung der Embryonen die bereits gefundenen Spuren von Triploblasten aus dem Präkambrium richtig einschätzten. Und ebenso wenig waren diese Befürworter der Ansicht, nur eine einzige wurmähnliche Spezies sei über die große Trennlinie ins Kambrium gekrochen und habe dann als unmittelbarer gemeinsamer Vorfahre für alle heutigen Tier stamme gedient. Ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, warum jemand sich (als Beleg für die Realität der Explosion – im Zusammenhang mit anderen Evolutionsthemen ist es natürlich von großer Bedeutung) dafür interessieren sollte, ob eine einzige wurmähnliche Art als Vorläufer aller späteren Tiere diente oder ob zehn ähnliche wurmähnliche Arten, die bereits die Abstammungslinien von zehn späteren Stämmen repräsentierten, die große Grenzlinie aus der früheren, präkambrischen Geschichte überwanden. Die kambrische Explosion war den Behauptungen zufolge ein schneller Schub anatomischer Neuentwicklungen im Tierreich, aber das hat nichts mit den Zeitpunkten der stam mesgeschichtlichen Trennung zu tun.
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Der grundlegende Unterschied zwischen dem Zeitpunkt der stammes geschichtlichen Aufspaltung und der Geschwindigkeit der Veränderung wird an dem folgenden Beispiel deutlich. Sowohl die Nashörner als auch die Pferde dürften aus der Gattung Hyracotherium (früher Eohippus genannt) hervorgegangen sein. Würden wir die Erde im Eozän vor rund fünfzig Millionen Jahren besuchen, so würden wir wahrscheinlich feststellen, dass die grundlegende Aufspaltung bereits stattgefunden hat. Wir könnten eine Art von Hyracotherium identifizieren, die den Vorfahren aller späteren Pferde darstellt, und eine andere Art derselben Gattung ist der Urahn aller späteren Nashörner. Aber man würde uns zu Recht auslachen, wenn wir in dieser Phase behaupten würden, die spätere Auseinanderentwicklung zwischen Pferden und Nashörnern müsse eine Illusion sein, nur weil die beiden Linien sich bereits getrennt hatten. Immerhin sehen die beiden Arten im Eozän wie enge Verwandte aus (weshalb sie auch in dieselbe Gattung eingeordnet werden); ihre spätere Stellung als Vorläufer sehr unterschiedlicher Abstammungslinien erhalten sie erst durch die weitere Geschichte, über die man zum Zeitpunkt der Trennung überhaupt noch nichts wissen kann. Ähnlich verhält es sich auch, wenn zehn nahezu gleichartige, wurmähnliche Formen (die in unserem Ver gleich den beiden Arten von Hyracotherium entsprechen) die Grenze zum Kambrium überwunden hätten, während die anatomischen Unterschiede der großen Stämme erst während der nachfolgenden Explosion entstan den wären: Die Explosion bleibt auch dann eine Realität und hat für die weitere Geschichte des Lebendigen die große Bedeutung, die ihre Für sprecher ihr immer zugeschrieben haben. Diesen entscheidenden Unterschied erkannten auch die meisten, die sich zu den Arbeiten von Wray et al. äußerten. Geerat J. Vermeij schrieb in einem direkten Kommentar (Science, 1996, Seite 526): »Diese neue Arbeit verringert in keiner Weise die Bedeutung der wendisch-kambrischen Ex plosion.« Fortey, Briggs und Wills (BioEssays, 1997, Seite 433) fügten hinzu, es gebe »natürlich keinen zwingenden Zusammenhang zwischen Morphologie und Genomveränderung«. Und in einem späteren Aufsatz schließlich (Proceedings of the National Academy of Sciences, 1998, Band 95, Seite 606-611) liefern Ayala, Rzhetsky und Ayala eine stichhaltige Widerlegung einzelner Schlussfolgerungen von Wray et al. Durch Korrektur statistischer Fehler und ungerechtfertigter Annahmen sowie mit neuen Daten für zwölf weitere Gene gelangen diese Autoren zu einer
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Haeckels theoretisches Urzeittier (links) und ein fossiler Embryo aus dem Präkambrium (rechts).
ganz anderen Schätzung für die erste Aufspaltung im späten Präkambrium: Danach trennten sich die Chordatiere vor rund 670 Millionen Jah ren von der Linie der Gliederfüßer, Ringelwürmer und Weichtiere; und die spätere Aufspaltung von Chordatieren und Stachelhäutern fand vor 600 Millionen Jahren statt. Damit bleibt natürlich ein entscheidendes Rätsel (neben vielen anderen): Wo »verstecken« sich die ausgewachsenen Triploblasten aus dem Präkambrium, nachdem wir jetzt ihre Embryonen entdeckt haben? Nach einer alten Vermutung, die erstmals in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts in den umfangreichen, häufig aber sehr spekulativen Arbeiten des deutschen Biologen Ernst Haeckel (der aber dennoch viel häufiger Recht hatte, als es bei reinen Vermutungen möglich wäre) vertreten wurde, hatten sich die Tiere im Präkambrium ausschließlich zu winzigen Formen entwickelt, die nicht viel größer waren als heutige Embryonen und sich auch nicht stark von ihnen unterschieden, sodass sie als Fossilien sehr schwer zu finden sind. (Die von Haeckel postulierten Vorfahren sind den tatsächlichen Embryonen von Xiao, Zhang und Knoll fast gespens tisch ähnlich, wie man auf den Abbildungen gut erkennen kann.) Außerdem vertraten auch E.H. Davidson, K.J. Peterson und R.A. Cameron (Science, 1995, Band 270, Seite 1319-1325) auf Grund genetischer und entwicklungsbiologischer Argumente nachdrücklich die Ansicht, im Prä kambrium seien nur winzig kleine Tiere entstanden, und erst in der nach
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folgenden kambrischen Explosion hätten sich dann neue embryologische Mechanismen entwickelt, die eine Zunahme von Zellzahl und Körpergröße möglich machten, was mit einem größeren Potenzial für anatomi sche Neuerungen verbunden war. Wenn Haeckels alte, von Davidsons neuen Vorstellungen und Daten gestützte Argumentation stimmt, eröff net sie echte Hoffnungen und sogar die realistische Erwartung, dass man bald ausgewachsene Triploblasten aus dem Präkambrium entdecken wird, denn dann sind diese Tiere so klein, dass sie durch Phosphateinla gerung konserviert werden können. Noch eine letzte Bemerkung: Dieses neue Szenario für die Frühgeschichte der Tiere sollte Bescheidenheit und Respekt vor der Vielschichtigkeit der Evolutionswege wecken. Man kann eine nahe liegende Parallele ziehen: Früher hielten wir den Triumph der »überlegenen« Säugetiere über die »urzeitlichen« Dinosaurier für die zwangsläufige Folge einer fort schrittsorientierten Evolution. Heute wissen wir, dass die Säugetiere zur gleichen Zeit entstanden wie die Dinosaurier und dann hundert Millionen Jahre lang als untergeordnete, kleine Geschöpfe in den Ecken und Winkeln einer Dinosaurierwelt lebten. Sie hätten sich nie zu den Beherrschern der Ökosysteme an Land entwickelt (und auch die Menschen wären mit Sicherheit nie entstanden), wenn sie nicht das (für uns) große Glück gehabt hätten, dass ein katastrophaler Einschlag eines Himmels körpers stattfand, der aus unbekannten Gründen die Dinosaurier aus löschte und den Säugetieren beispiellos gute Entwicklungsmöglichkeiten verschaffte. Ist es in der hier erzählten Geschichte aus einer früheren Zeit – in der es um die »primitiven« Ediacara-Arten und die zur gleichen Zeit lebenden präkambrischen Vorfahren der heutigen Tiere geht – in irgendeiner entscheidenden Hinsicht anders? Mittlerweile wissen wir (durch die Untersuchungen von Xiao, Zhang und Knoll an den Embryonen), dass Tiere mit der heutigen Konstruktion bereits entstanden waren, bevor die Edia cara-Fauna ihre Blütezeit erlebte. Und doch beherrschten die »primitiven« Ediacara-Formen das tierische Leben hundert Millionen Jahre lang, während die modernen Triploblasten – vielleicht als winzige Formen mit der Größe von Embryonen – in den sprichwörtlichen Kulissen warteten, in den Ecken und Winkeln, welche die viel größeren, beherrschenden Ediacara-Tiere übrig ließen. Erst ein Massenaussterben mit unbekannter Ursache, eine große Zerstörung, die vor 543 Millionen Jahren die Edia
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cara-Fauna hinwegfegte und den Übergang zum Kambrium in Gang setzte, verschaffte den modernen Triploblasten die Gelegenheit zur Fortentwicklung – und die haben sie genutzt. In der Evolution ist es wie in der Politik: Eine einmal erreichte Stellung verschafft ihrem Inhaber so große Vorteile, dass selbst eine möglicher weise fähigere Gruppe lange Zeit zum Warten und Zusehen verdammt ist, wobei sie immer hofft, ein von außen kommender glücklicher Zufall könne ihr die Gelegenheit zur Machtergreifung verschaffen. Ist das Schicksal den neuen Herrschern dann weiterhin hold, gewinnen sie spä ter unter Umständen so an Selbstvertrauen, dass sie einen tröstlichen, eindrucksvollen Mythos über ihren unausweichlichen, zwangsläufigen Aufstieg zur Macht erfinden, der mit ihrer ständigen Verbesserung begründet wird – jeden Tag und in jeder Hinsicht.
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22. Das Paradox des sichtlich Irrelevanten Wortverdreher jeglicher Couleur, von liebenswürdigen Anreißern wie Barnum bis zu üblen Demagogen wie Goebbels, kennen und nutzen seit jeher eine seltsame Eigenart der menschlichen Psyche: Noch die verrück teste Lüge wird glaubhaft, wenn man sie nur oft genug wiederholt. Im Sprachgebrauch des heutigen Amerika gehören solche unablässig wieder gekäuten »Wahrheiten« zur faszinierenden Kategorie der urban legends oder »modernen Märchen«. Mein Lieblings-Unsinn dieses Typs wird mir jeden Tag in großen Let tern vor Augen geführt; dies verdanke ich der zurzeit laufenden Plakatak tion eines Unternehmens, das hier namenlos bleiben soll. Die neueste Version lautet: »Wissenschaftler: Wir nutzen zehn Prozent unseres Gehirns. Das ist viel zu viel.« Die »Wahrheit« dieser Behauptung dürfte jedem als offenkundig und unbestreitbar erscheinen, auch wenn man gut eine Stammtischdiskussion über die Frage führen kann, ob die richtige Zahl zehn, fünfzehn oder zwanzig Prozent lauten muss. (Alle drei habe ich schon gehört, und alle drei wurden mit dem gleichen Selbstvertrauen in den Raum gestellt.) Aber gerade dieses moderne Märchen müssen wir nicht nur als falsch einstufen, sondern es ist sogar noch schlimmer: Die Behauptung ist wirklich inhaltsleer und sinnlos. Was meinen wir mit »zu neunzig Prozent unbenutzt«? Was macht das ganze überflüssige Gewebe? Jedenfalls kann die Aussage erst dann einen Sinn haben, wenn wir eine an gemessene Theorie über die Funktionsweise des Gehirns entwickeln. Bis her verfügen wir nicht einmal über eine zufrieden stellende Erklärung für die neurologischen Grundlagen der Erinnerung und ihrer Speicherung – und die ist sicher eine unabdingbare Voraussetzung, wenn wir irgendeine sinnvolle Aussage über den ungenutzten Anteil der Gehirnmasse formu lieren wollen! (Nach meiner Überzeugung entstand die Legende, weil wir
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zu Recht das Gefühl haben, dass wir weit mehr Intelligenz in unser Verhalten legen sollten, als wir es gewöhnlich tun – und die pseudo-quantitative Aussage des modernen Märchens dient dann als scheinbar exakt formulierte Version dieses gerechtfertigten, aber sehr vagen Eindrucks.) In meinem eigenen Fachgebiet, der Evolutionsbiologie, besagt das be kannteste moderne Märchen – es ist ebenfalls eine »Wahrheit«, die »jeder kennt« –, die Evolution sei zwar sicher das Funktionsprinzip der Welt, aber man müsse sich diese Vorstellung mit einem Schuss blinden Ver trauens zu Eigen machen, weil der ganze Vorgang so langsam ablaufe, dass er während eines Menschenlebens keine sichtbaren Ergebnisse liefert. Deshalb, so heißt es, können wir die Evolution zwar mit Fossilfunden be legen und anhand der Verwandtschaftsbeziehungen zwischen heutigen biologischen Arten auf entsprechende Prozesse schließen, aber wir kön nen die Evolution nicht in einem menschengerechten Zeitmaßstab »in freier Wildbahn« beobachten. Gerechterweise müssen wir Profis selbst eine gewisse Verantwortung für den völlig falschen Eindruck auf uns nehmen, die Evolution sei im Hier und Jetzt unseres Alltagslebens nicht zu sehen. Darwin selbst – der in Wirklichkeit viele Fälle von beträchtlichen Veränderungen während eines Menschenlebens kannte und beschrieb (darunter die Entwicklung neuer Rassen seiner geliebten Tauben) – beschwor häufig sehr beredt die unausweichliche, stetige Langsamkeit der natürlichen Evolution. In einer berühmten Passage seiner Entstehung der Arten entwickelte er sogar eine eindrucksvolle Metapher über Uhren, um auf die Unsichtbarkeit des Vor ganges hinzuweisen: Man kann figürlich sagen, die natürliche Zuchtwahl sei täglich und stündlich durch die ganze Welt beschäftigt, eine jede, auch die geringste Abänderung zu prüfen, sie zu verwerfen, wenn sie schlecht, und sie zu erhalten und zu vermehren, wenn sie gut ist... Wir sehen nichts von die sen langsam fortschreitenden Veränderungen, bis der Zeiger der Zeit auf eine abgelaufene Weltperiode hindeutet... Dennoch muss man die Behauptung, Evolution sei so langsam, dass man sie nicht sehen könne, als modernes Märchen einstufen – das in diesem Fall allerdings nicht völlig harmlos ist, denn unsere kreationistischen Widersacher nutzen diese falsche Vorstellung als Argument gegen alle For
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men der Evolution, und wie viele Leute nehmen das ernst, weil sie einfach »wissen«, dass man Evolution im unmittelbaren Hier und Jetzt niemals beobachten kann. In Wirklichkeit trifft meist genau das Umgekehrte zu: Biologen konnten in einer beträchtlichen Zahl von Fällen belegen, dass eine schnelle, deutlich messbare Evolution im Zeitrahmen von Jahren oder Jahrzehnten abläuft. Aber diese Fülle von Nachweisen – die zwar selbst wichtig sind und sicher als allgemeine Bestätigung für die Behauptung taugen, dass Lebewesen eine Evolution durchmachen – besagt relativ wenig über Ge schwindigkeit und Gesetzmäßigkeiten der Evolution in den erdgeschichtlichen Zeiträumen, aus denen sich die Geschichte und der systematische Aufbau des Lebendigen zusammensetzen. Es ist eine herrlich paradoxe Situation, und ich habe versucht, den Widerspruch im Titel dieses Aufsatzes einzufangen. Dem modernen Märchen zufolge läuft Evolution so langsam ab, dass sie während der Lebenszeit eines Menschen nicht greifbar wird. Umgekehrt wurden in Wirklichkeit unzählige Fälle von messbarer Evolution in diesem winzig kleinen Zeitmaßstab nachgewiesen – aber damit Evolution in einem derart kurzen Zeitraum sichtbar wird, muss sie viel zu schnell (und vorübergehend) sein, als dass sie zur Grundlage für größere Wandlungen in erdgeschichtlichen Zeiträumen werden könnte. Deshalb spreche ich vom »Paradox des sichtbar Irrelevanten« – oder man könnte auch sagen: »Wenn man es überhaupt sieht, geht es viel zu schnell, als dass es auf lange Sicht eine Rolle spielen könnte!« Die besten und zahlreichsten Fälle sind bei den Lebewesen belegt, die unseren Planeten beherrschen und in der Evolution am aktivsten sind: bei Bakterien. Das eindrucksvollste Beispiel aus jüngster Zeit lieferten Richard E. Lenski und Michael Travisano (Proceedings of the National Academy of Sciences, 1994, Band 91, Seite 6808-6814): Sie beobachteten bei zwölf Laborpopulationen des allgemein verbreiteten menschlichen Darmbakteriums Escherichia coli während 10 000 Generationen den entwicklungsgeschichtlichen Wandel. Da alle zwölf Populationen unter den gleichen Umweltbedingungen gehalten wurden, konnte man die Evolution unter idealen experimentellen Vermehrungsbedingungen verfolgen – was bei den komplizierten, einzigartigen Ereignissen der Evolution in der Natur eine Seltenheit ist. Die Ergebnisse waren faszinierend: Reaktionen und Veränderungen sahen in jeder Population anders aus, obwohl die Umweltbedingungen so identisch waren, wie es sich nach menschlichem
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Ermessen überhaupt nur einrichten ließ. Aber bei aller Vielfalt erkannten Lenski und Travisano auch einige wichtige Gesetzmäßigkeiten, die sich stets wiederholten. So nahm beispielsweise die durchschnittliche Zellgröße in allen Populationen während der ersten rund 2000 Generationen zu, um dann während der letzten 5000 Generationen nahezu gleich zu bleiben. Nun könnte ein Zyniker immer noch erwidern: Na gut, ich gestehe Ihnen zu, dass in der hektischen kleinen Welt der Bakterien eine be trächtliche Evolution zu beobachten ist, weil man dort bei riesigen Popu lationen und einer Generationszeit von einer Stunde in einer vernünftigen Zeit 10000 Episoden der natürlichen Selektion überwachen kann. Aber bei vielzelligen Lebewesen, deren Generationszeiten sich nicht nach Minuten oder Stunden, sondern in Jahren und Jahrzehnten bemessen, würde ein ähnliches »Experiment« viele tausend Jahre in Anspruch nehmen. Also können wir immer noch behaupten, Evolution lasse sich bei den großen, dicken, behaarten Lebewesen, die sich sexuell fortpflanzen und im Bewusstsein der normalen Menschen das Musterbeispiel für »Le ben« darstellen, nicht beobachten. (Worauf ein Zyniker der Gegenseite umgekehrt erwidern könnte: In Wirklichkeit sind Bakterien die beherrschende Lebensform, und die Wirbeltiere stellen nur ein spät hinzugekommenes Nebenthema der Evolutionsgeschichte dar, auch wenn wir sie mit unserer eigenen beschränkten Sichtweise fälschlich aufgewertet und ihnen eine zentrale Stellung zugewiesen haben. Aber dieses weiter gehende Thema zu erörtern, muss einer anderen Gelegenheit vorbehalten bleiben.) Ich widme diesen Essay der Aufgabe, den Irrtum unseres Zynikers of fen zu legen. Bakterien liefern zwar aus nahe liegenden Gründen die bes ten und überzeugendsten Belege, aber messbare (und nennenswerte) Evolution wurde auch häufig bei Wirbeltieren und anderen komplexen, vielzelligen Lebewesen nachgewiesen. In den klassischen Fällen wurde das Licht eigentlich nicht unter den Scheffel gestellt, und deshalb wundert es mich, dass das moderne Märchen von der Unsichtbarkeit der Evolution auch heute noch so stark im Umlauf ist. Die vielleicht eindeutigsten und elegantesten Beispiele betreffen eine Gruppe von Lebewesen, deren Name an unseren Fahnenträger selbst erinnert: die Darwin-Finken auf den Galapagosinseln. Dort verwendeten meine Kollegen Peter und Rosemary Grant viele Jahre darauf, in allen Einzelheiten die Evolution wichtiger An
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passungsmerkmale zu dokumentieren, beispielsweise Größe und Kraft des Schnabels (die für die Mechanik des Fressens entscheidend sind) in Abhängigkeit von schnellen Klimaveränderungen, die einen Wechsel bei den bevorzugten Nahrungsmitteln deutlich machten. Diese Arbeiten wurden zur Grundlage für das ausgezeichnete Buch Der Schnabel des Fin ken von Jonathan Weiner – über die Geschichte wurde also sowohl in der Fachpresse als auch in allgemein verständlicher Form ausführlich und an herausragender Stelle berichtet. Dennoch ziehen auch weitere neue Fälle einer solch kurzfristigen Evolution mit gewaltiger Kraft die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit an – wie wir noch sehen werden aus interessanten und aufschlussreichen, aber völlig sinnlosen Gründen. Thema des vorliegenden Essays sind die drei bekanntesten Veröffentlichungen aus jüngerer Zeit, die auch in der allgemeinen Presse große Beachtung fanden. (Eine davon ging aus meinen eigenen Forschungsarbeiten hervor, man kann mir also zumindest nicht vorwerfen, ich würde bei der anschließenden Entlarvung nach sauren Trauben greifen – aber ich traue meinen Lesern ohnehin zu, dass sie die höchst positive Pointe begreifen, die ich meiner Kritik am Ende geben werde.) Ich möchte die Fälle zunächst kurz beschreiben; anschließend nenne ich meine beiden allgemeinen Kritikpunkte im Zusammenhang mit der umfassenden Berichterstattung der Tagespresse, und am Ende werde ich erläutern, warum solche Fälle so wenig über die Evolution im großen Maßstab aussagen und warum sie dennoch für sich betrachtet und in ihrem eigenen, legitimen Maßstab so wichtig sind. 1. Guppys in Trinidad. Auf der Insel Trinidad leben in den Teichen vieler Gewässersysteme verschiedene Populationen von Guppys, von denen sich mehrere andere Fischarten ernähren. »Manche dieser Arten jagen bevorzugt große, ausgereifte Klassen von Guppys.« (Alle Zitate stammen aus dem ursprünglichen Fachartikel, der den Anlass für die späteren Presseberichte gab: »Evaluation of the rate of evolution in natural populations of guppys [Poecilia reticulata]«, von D.N. Reznik, F. H. Shaw, F. H. Rodd und R.G. Shaw, erschienen in Science, 1977, Band 275, Seite 1934-1937.) Andere Populationen derselben Spezies leben in »weiter aufwärts gelege nen Teilen der Gewässersysteme«, wo »natürliche Feinde durch Strom schnellen oder Wasserfälle fern gehalten werden, sodass Lebensgemeinschaften mit geringem Verfolgungsdruck entstehen«.
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Reznik und Kollegen untersuchten Populationen beider Typen. Wie sich dabei herausstellte, »herrscht unter den Guppys mit hohem Verfolgungsdruck eine größere Sterblichkeit als da, wo der Verfolgungsdruck geringer ist«. Als die Wissenschaftler anschließend beide Gruppen unter den gleichen Bedingungen im Labor hielten, beobachteten sie bei den Guppys aus stromabwärts gelegenen Gewässern mit vielen natürlichen Feinden eine schnellere Reifung und eine geringere Größe. »Außerdem wenden sie für jeden Wurf mehr Ressourcen auf, sie bringen in jedem Wurf eine größere Zahl kleinerer Nachkommen hervor, und die Abstände zwischen den Würfen sind kürzer als bei Guppys aus Lebensräumen mit geringem Verfolgungsdruck.« Zusammengenommen lassen diese Beobachtungen aus Freiland und Labor zwei wichtige Rückschlüsse zu. Erstens sind die Unterschiede im Hinblick auf die Anpassung sinnvoll: Guppys, die stärkerer Verfolgung ausgesetzt sind, kommen weitaus besser zurecht, wenn sie schnell erwachsen werden und rasch eine große Zahl von Nachkommen hervorbringen, bevor sie dem Tod ins Auge sehen. Besteht für die Fische dagegen nur geringe Gefahr, geht es ihnen unter Umständen besser, wenn sie sich Zeit lassen, um groß und stark zu werden, bevor sie sich in den Fortpflanzungswettbewerb mit ihren Artgenossen begeben. Und zweitens bleiben die Unterschiede auch dann erhalten, wenn man beide Gruppen unter den gleichen Bedingungen im Labor heranwachsen lässt; die Abweichungen müssen also eine genetische Grundlage haben und das erbliche Ergebnis unterschiedlicher Evolution bei den Populationen dar stellen. Im Jahr 1981 brachte Reznik einige Guppys aus den stromabwärts gelegenen Teichen voller natürlicher Feinde in weiter stromaufwärts gele gene Gewässer, wo bis dahin keine Guppys gelebt hatten und wo auch nur geringer Verfolgungsdruck herrschte. Diese verpflanzten Populationen übernahmen in schneller Evolution die Fortpflanzungsstrategie, die auch die ursprünglichen Bewohner benachbarter höherer Gewässerabschnitte bevorzugten: verzögerte Geschlechtsreife bei größeren Ausmaßen und längerer Lebensdauer. Außerdem machten Reznik und Kollegen die inter essante Beobachtung, dass Männchen sich wesentlich schneller in dieser bevorzugten Richtung entwickelten. In einem Experiment hatten die männlichen Fische die Veränderung nach vier Jahren vollständig hinter sich, die Weibchen dagegen befanden sich auch nach elf Jahren noch im
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Wandel. Da sich an den Laborpopulationen gezeigt hatte, dass die betref fenden Merkmale bei Männchen stärker erblich sind als bei Weibchen, er scheinen diese Befunde durchaus sinnvoll. (Erblichkeit kann man grob definieren als das Verhältnis zwischen Merkmalen bei Eltern und Nachkommen, die durch genetische Unterschiede bestimmt werden. Je größer die erblichen Grundlagen eines Merkmals sind, desto schneller kann die ses Merkmal sich durch natürliche Selektion weiterentwickeln.) Diese günstigen Umstände – schnelle Evolution in einer vorhersagbaren, vermutlich anpassungsorientierten Richtung auf der Grundlage von Merkmalen, die bekanntermaßen stark erblich sind – ermöglichen eine »wasserdichte« Aussage über gut belegte (und plausible) Evolution in einem Maßstab, der innerhalb der Beobachtungsmöglichkeiten eines Menschen liegt – in diesem Fall war es nur ein Jahrzehnt. Die Überschrift des Nachrichtenartikels über den Aufsatz in dem Fachblatt Science (28. März 1997) lautete: »Guppys machen ohne Verfolger einen Evolutionssprung.« 2. Echsen von den Exuma Cays auf den Bahamas. Während des größten Teils meiner beruflichen Laufbahn drehten sich die Freilandarbeiten um Biologie und Paläontologie der Landschnecke Cerion auf den Bahamas. Auf diesen Reisen traf ich häufig mit Biologenkollegen zusammen, die sich dort mit anderen Tieren beschäftigten. In einem größeren For schungsprogramm untersuchte der Biologieprofessor Tom Schoener von der University of California in Davis zusammen mit zahlreichen Studenten und Kollegen die Biogeografie und Evolution der allgegenwärtigen kleinen Echse Anolis – für mich war sie nur ein flüchtiger Schatten, der über den von Schnecken besetzten Boden huschte, für sie jedoch der Brennpunkt höchster Faszination (während meine geliebten Schnecken für sie wahrscheinlich im unbeweglichen Hintergrund untergingen). In den Jahren 1977 und 1981 verpflanzten Schoener und Kollegen jeweils fünf bis zehn Echsen vom Staniel Cay in der Exuma-Inselkette auf vierzehn kleine Nachbarinseln, wo bis dahin keine Echsen gelebt hatten. 1991 stellten sie dann fest, dass die Echsen auf den meisten dieser Inseln gut gediehen (oder zumindest überlebt und sich vermehrt hatten), und nun sammelten sie von jeder an dem Experiment beteiligten Insel, auf der sich eine ausreichende Population befand, eine Reihe ausgewachsener Männchen ein. Außerdem sammelten sie eine größere Anzahl von Männ
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chen aus den Gebieten auf Staniel Cay, die 1977 und 1981 als Ausgangspunkt der Verpflanzung gedient hatten. Für diese Untersuchung nutzten sie die allgemeinen Prinzipien, die sich durch die umfangreiche Erforschung der zahlreichen Anolis-Arten auf den gesamten Bahamas herauskristallisiert hatten. Insbesondere machen relativ lange Gliedmaßen eine höhere Laufgeschwindigkeit möglich, was einen beträchtlichen Vorteil darstellt – vorausgesetzt, die Lieblings-Ruhe plätze sind für Echsen mit langen Beinen groß genug. Deshalb begünstigen Bäume und andere »dicke« Sitzplätze die Evolution langer Beine. Auf Staniel Cay gibt es ein größeres Waldgebiet, und die dort ansässigen Anolis-Echsen haben meist recht lange Extremitäten. Müssen die Tiere dage gen in Buschlandschaften auf grünen Zweigen sitzen, tritt die durch kür zere Beine ermöglichte Beweglichkeit (auf einem derart schwankenden Sitzplatz) gegenüber dem Geschwindigkeitsvorteil, den die langen Beine verschaffen, in den Vordergrund. Deshalb sind die Beine von Echsen, die auf dünnen Zweigen leben, meist kürzer. Die kleinen Inseln, auf denen die vierzehn verpflanzten Populationen ausgesetzt wurden, sind kaum oder gar nicht mit Bäumen bewachsen, sondern tragen in der Regel nur Busch werk. Auf Grund dieser allgemeinen Erkenntnisse formulierte J. B. Losos, der Hauptautor der neuen Untersuchung, eine nahe liegende Voraussage. Man hatte die Populationen aus Wäldern mit breiten Sitzplätzen auf Buschinseln mit dünnen Zweigen verpflanzt. »Wegen der Art der Vegeta tion auf den neuen Inseln rechneten wir damit, dass sich bei den Echsen kürzere Hintergliedmaßen entwickeln würden«, schrieb Losos. Die später veröffentlichte Studie bestätigt diese Erwartung: In weniger als zwanzig Jahren hatte sich eine eindeutige, messbare Veränderung eingestellt, und zwar in der vorhergesagten, der Anpassung dienenden Richtung. (Einzelheiten bei J. B. Losos, K. I. Warheit und T. W. Schoener, »Adaptive differentiation following experimental island colonization in Anolis lizards«, Nature, 1997, Band 387, Seite 70-73). Ein Bericht dazu erschien am 2. Mai 1997 in der Zeitschrift Science unter dem Titel »Echsen, dingfest gemacht während des Anpassungsprozesses«. In dieser Untersuchung fehlt ein wichtiges Beweisstück, das die Guppys von Trinidad lieferten; der Mangel fiel freundlichen Kritikern sofort auf und wurde auch von den Autoren selbst freimütig eingestanden. Losos und Kollegen hatten nicht untersucht, ob die Beinlänge bei Anolis sagrei
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erblich ist, und deshalb konnten sie nicht mit Sicherheit behaupten, dass sich in ihren Befunden ein genetischer Prozess des entwicklungsgeschichtlichen Wandels widerspiegelte. Möglicherweise schwankt die Beinlänge beim Wachstum dieser Echsen ohnehin stark, sodass die gleichen Gene längere Gliedmaßen entstehen lassen, wenn die Echsen auf Bäumen wohnen, und kürzere, wenn sie sich ständig im Buschwerk tummeln (ge nau wie die gleichen Gene je nach den persönlichen Ernährungs- und Be wegungsgewohnheiten einen dicken oder dünnen Menschen hervorbrin gen können). Auf jeden Fall war aber innerhalb von zwanzig Jahren auf mehreren Inseln eine sinnvolle, der Anpassung dienende Veränderung der Beinlänge eingetreten, was auch die Ursache der Abwandlung sein mochte. 3. Schnecken von Great Inagua, Bahamas. In weiten Gebieten von Great Inagua, der zweitgrößten Bahamainsel (an erster Stelle steht Andros) lebt C. rubicundum, eine große gerippte Schneckenart der Gattung Cerion. In Fossillagerstätten geringen Alters kommt diese Art überhaupt nicht vor; stattdessen findet sich dort eine ausgestorbene Form namens Cerion ex celsior, die größte aller Orion-Spezies. Vor einigen Jahren sammelten Da vid Woodruff von der University of California in San Diego und ich in einem Wattgebiet an der Südostecke von Great Inagua eine bemerkenswerte Reihe von Schneckenhäusern, die offensichtlich das gesamte For menspektrum von der ausgestorbenen C. excelsior bis zur heutigen C. rubicundum praktisch bruchlos abdeckte. Außerdem schienen die Gehäuse umso stärker der ausgestorbenen C. excelsior zu ähneln, je erodierter und »älter« sie aussahen. Diese Beobachtungen ließen für das fragliche Gebiet auf einen ent wicklungsgeschichtlichen Übergang durch Hybridbildung schließen: Of fensichtlich hatte sich C. rubicundum, die von außen auf die Insel gelangt war, mit C. excelsior gekreuzt. Als C. excelsior dann dem Aussterben ent gegenging, während C. rubicundum weiterhin gedieh, wandelte sich die durchschnittliche Anatomie der Population langsam und stetig in Richtung der modernen Form. Diese Hypothese klang gut und plausibel, aber wir konnten uns keine Methode ausdenken, um sie zu überprüfen – alle Gehäuse stammten aus einem einzigen Wattgebiet (vergleichbar einem einzigen Bett in einer geologischen Schichtung), sodass wir ihre Altersverhältnisse nicht klären konnten. Die reinrassigen C.-excelsior-Gehäuse
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»wirkten« älter, aber ein solcher persönlicher Eindruck ist in der Wissenschaft völlig bedeutungslos (denn er unterliegt den Vorurteilen des Wissenschaftlers). Wir saßen also fest und steckten unsere Funde in eine Schublade. Mehrere Jahre später tat ich mich mit dem Paläontologen und Geochemiker Glenn A. Goodfriend von der Carnegie Institution in Washington zusammen. Er hatte eine Methode zur Altersbestimmung weiterent wickelt, die sich auf die zeitliche Veränderung in der Aminosäurezusammensetzung der Gehäuse stützte. Wenn wir diese Aminosäureveränderungen mit der Radiokarbondatierung einiger Gehäuse in Zusammenhang brachten, konnten wir das Alter der einzelnen Schneckenhäuser abschät zen. Als wir in einem Diagramm das Alter der Gehäuse gegen die Lage auf einer anatomischen Skala zwischen der ausgestorbenen C. excelsior und der modernen C. rubicundum auftrugen, ergab sich ein wunderschöner Zusammenhang zwischen Alter und Anatomie: Je jünger ein Exemplar war, desto näher stand es der heutigen Konstruktion. Dieser Übergang durch Hybridbildung, der sich im Laufe von zehn- bis zwanzigtausend Jahren vollzog, dauerte um drei Zehnerpotenzen (das heißt um den Faktor 1000) länger als die Veränderungen in den Studien von Trinidad und Exuma, aber auch 10 000 Jahre sind im Vergleich zur Gesamtdauer der Evolution nur ein Augenblick – und doch handelte es sich bei unseren Schnecken nicht nur um so etwas wie eine kleine Abnahme der Beinlänge oder eine Veränderung der Paarungszeit innerhalb einer einzigen Art, sondern um den vollständigen Übergang von einer Spezies zu einer anderen. (Einzelheiten bei G.A. Goodfriend und S.J. Gould, »Paleontology and chronology of two evolutionary transitions by hybridization in the Bahamian land snail Cerion«, Science, 1996, Band 274, Seite 1894-1897). Die Pressemitteilung der Harvard University (zu der ich nicht beigetragen hatte) trug die Überschrift »Schnecken bei der Evolution erwischt«. Man kann die evolutionsbiologische Fachliteratur eines beliebigen Jahres durchsehen, immer findet man zahlreiche gut belegte Fälle von solchen messbaren, kleinen entwicklungsgeschichtlichen Veränderungen – womit das moderne Märchen widerlegt ist, Evolution müsse immer so langsam ablaufen, dass man sie in der erdgeschichtlichen Mikrosekunde eines menschlichen Lebens nicht beobachten kann. Die drei genannten Studien, die alle ungewöhnlich vollständig dokumentiert sind und eine
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Fülle von Einzelheiten enthalten, sind eigentlich keine »Nachrichten« in dem journalistischen Sinn, dass sie etwas Neues oder zutiefst Überraschendes enthalten. Dennoch wurden alle drei Untersuchungen zum Thema für Berichte auf der ersten Seite der New York Times oder des Boston Globe. Man möge mich aber bitte nicht falsch verstehen. Ich gehöre nicht zu jenen abgehobenen Akademikern, die bei jedem journalistischen Bericht über Naturwissenschaft in Deckung gehen, weil sie fürchten, die beschriebenen Arbeiten könnten dadurch in den Geruch des Populären ge raten. Und in einem rein »politischen« Sinn habe ich sicher keine Einwände, wenn große Zeitungen einen Befund aus meinem Fachgebiet zum Thema ihrer Titelgeschichte machen, insbesondere – und hier werde ich einen Augenblick lang selbstzufrieden – wenn ein solcher Bericht von meiner eigenen Arbeit handelt! Dennoch erfüllt mich diese öffentliche Aufmerksamkeit für alltägliche Befunde aus meinem Fachgebiet (so ele gant sie auch gewonnen wurden) mit einer seltsamen Belustigung – und sei es auch nur aus dem allgemeinen Grund, dass wir meist ein gewisses Amüsement verspüren, wenn wir ein starkes Ungleichgewicht zwischen öffentlicher Aufmerksamkeit und dem wirklichen Neuigkeitswert oder der Bedeutung eines Ereignisses bemerken, beispielsweise wenn es den Meinungsmachern aus Hollywood gelingt, die neunte Hochzeit ihres Schützlings als weltweit ersten Fall von echter, siegreicher und dauerhaf ter Liebe zu verkaufen. Natürlich freue ich mich, dass einige ganz gewöhnliche, allerdings besonders gut ausgeführte Untersuchungen kleiner Evolutionsvorgänge den Journalisten eine Schlagzeile wert waren. Aber ich bin versucht zu fragen: Warum fesselten gerade diese Studien die Fantasie der Journalisten? Warum erregten gerade sie so viel Aufmerksamkeit – und nicht hundert andere von gleicher Sorgfalt und Bedeutung, die jeden Monat in unserer Fachliteratur veröffentlicht werden? Wenn ich über diese Frage nachdenke, kann ich mir nur zwei Gründe vorstellen – und hinter beiden ste hen tief greifende, interessante Denkfehler, die zu benennen und zu erörtern durchaus lohnt. So betrachtet, kann uns die fälschliche Erhebung alltäglicher, guter Arbeiten in den Rang einer überraschenden Neuigkeit wichtige Aufschlüsse über die Haltung der Öffentlichkeit gegenüber der Evolution und der Naturwissenschaft im Allgemeinen liefern. Nach meiner Einschätzung können wir beide Denkfehler offen legen, wenn wir die
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angebliche Bedeutung der Untersuchungen, von der in den Berichten der Tagespresse die Rede ist, in Gegensatz zur Einschätzung solcher Arbeiten durch die Experten des Fachgebietes setzen. 1. Der Denkfehler des entscheidenden Experiments Eine großartig vereinfachte Version des wissenschaftlichen Fortschritts, die wir alle im Physikunterricht kennen gelernt haben, geht von einer Voraussetzung aus, die zwar manchmal, aber keineswegs immer zutrifft: Da nach gibt es ein experimentum crucis, ein einziges Experiment, das alles entscheidet. Newton oder Einstein? Ptolemäus oder Kopernikus? Schöpfung oder Darwin? Um das herauszufinden, macht man ein einziges Experiment, dessen eindeutig messbares Ergebnis die Entscheidung über Ja oder Nein bringt. In dieser falschen Vorstellung wurzelt offenbar auch der Entschluss, einen eng begrenzten Einzelfall als schlagzeilenträchtige Nachricht zu prä sentieren. Die Journalisten stellen sich anscheinend vor, man könne die Evolution durch einen entscheidenden Einzelfall beweisen, und deshalb sei jede dieser Geschichten eine unentbehrliche Bestätigung für Darwins Erkenntnis – was eine gewisse Bedeutung hat angesichts des modernen Märchens, Evolution müsse selbst dann, wenn sie tatsächlich stattfindet, im Zeitmaßstab der Menschen unsichtbar sein. Aber diese Voraussetzung wird durch zwei Gegenargumente zunichte gemacht. Erstens ist es kaum notwendig, die Evolution als wissenschaftliches oder intellektuelles Thema durch die Entdeckung neuer, eleganter Fälle zu »beweisen«. Schließlich erwarten wir auch auf der Seite eins un serer Zeitung keinen Artikel mit der Überschrift »Bestätigung für Galilei: Neues Experiment beweist, dass die Erde um die Sonne kreist und nicht umgekehrt«. Ebenso gut ist auch die Tatsache der Evolution seit über einem Jahrhundert belegt. Zweitens – und das ist ein allgemeineres Prinzip – werden große naturwissenschaftliche Fragen nur in den seltensten Fällen durch ein »ent scheidendes« Experiment bewiesen – insbesondere in der Naturge schichte, wo man in fast allen Theorien auf Daten über »relative Häufigkeiten« (oder Prozentanteile des Vorkommens) angewiesen ist und nicht mit reinrassigen Einzelfällen arbeiten kann. Wenn man natürlich glaubt, dass sich überhaupt keine Evolution abspielt, kann ein guter Ein zelfall gewaltige Durchschlagskraft haben – aber diese Grundfrage wurde
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in der Wissenschaft schon vor über hundert Jahren beantwortet. Nahezu jede interessante Frage in der Evolutionstheorie beginnt mit »Wie oft?« oder »Wie beherrschend im Gesamtzusammenhang des Lebendigen?« – und nicht mit »Läuft dieses oder jenes überhaupt ab?«. Wenn es bei spielsweise um die wichtigste Frage überhaupt geht – um die Bedeutung von Darwins Lieblingsmechanismus der natürlichen Selektion –, bringen Einzelbeispiele über die Wirksamkeit der Selektion eine Diskussion kaum weiter. Dass natürliche Selektion in der Natur wirken kann und wirkt, wissen wir bereits auf Grund einer Fülle von Belegen und strenger theoreti scher Überlegungen. Es geht vielmehr um die relative Stärke von Darwins Mechanismus im Vergleich zu mehreren anderen Formen des entwick lungsgeschichtlichen Wandels – und Einzelfälle, so elegant sie auch sein mögen, sagen nichts über relative Häufigkeiten aus. Auch Fachleute begehen diesen verbreiteten Fehler, gut dokumentierte Einzelfälle mit Aussagen über die relativen Anteile plausibler Alternativen zu verwechseln. So wüssten wir zum Beispiel gerne, wie häufig kleine, isolierte Populationen im Verlauf ihrer Evolution mit unterschiedlicher An passung (also vermutlich durch Darwins Mechanismus der natürlichen Selektion) auf die örtlichen Gegebenheiten reagieren und wie oft solche Veränderungen durch einen Zufallsprozess eintreten, den man als »Gen drift« bezeichnet und der in kleinen Populationen möglicherweise ein wichtiges Phänomen darstellt (genau wie sich bei einer kleinen Zahl von Münzwürfen starke Abweichungen von dem Verhältnis von fünfzig zu fünfzig für Kopf und Zahl ergeben können, während man sich bei einer Million Würfen mit einer ehrlichen Münze nicht allzu weit von diesem Ideal entfernen wird). Losos’ Studie an den Echsen liefert eine Stimme für die Selektion (vorausgesetzt, es stellt sich heraus, dass die Veränderung genetische Ursachen hat), weil die Beinlänge sich so verändert hat, wie man es im Sinne einer besseren Anpassung an,die örtlichen Gegebenheiten erwartet. Aber auch ein derart plausibler Fall ist kein Beweis, dass die natürliche Selektion im Allgemeinen vorherrscht. Losos wies die Wirk samkeit des darwinistischen Prozesses nur in einem Einzelfall nach. Dennoch beging der Journalist der Zeitschrift Science diesen bedrückend häu figen Fehler und schrieb am Ende: »Wenn sie [die Veränderung der Beinlänge] ihre Wurzeln in den Genen hat, ist diese Untersuchung ein starkes Indiz, dass isolierte Populationen sich durch natürliche Selektion auseinander entwickeln und nicht durch Gendrift, wie manche Theoreti
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ker behauptet haben.« Ja, das ist ein starkes Indiz bei diesen Echsen auf dieser Insel in diesen Jahren – aber kein Beweis für das allgemeine Über gewicht der Selektion gegenüber der Gendrift. Solange Alternativen theo retisch plausibel bleiben, können Einzelfälle keine allgemeinen Gesetzmäßigkeiten belegen. 2. Das Paradox des sichtbar Irrelevanten Damit sind wir bei dem zweiten Grund, warum solche Fälle in unserem allgemeinen Bild von der Evolution eine übermäßig zentrale Stellung ein nehmen. Viele Kommentatoren (und auch Wissenschaftler in der Forschung selbst) machen sich allzu oft eine der ältesten (und häufig fehlerhaften) Traditionen des abendländischen Denkens zu Eigen: den Reduktionismus, das heißt die Annahme, man könne mit den Gesetzmäßigkeiten und mechanischen Prinzipien der kleinsten Bestandteile die Gegenstände und Vorgänge aller Größenordnungen zu allen Zeiten erklären. Wenn wir also das Verhalten eines großen Gebildes (beispielsweise eines Tieres oder einer Pflanze) als Folge der Bewegungen seiner Atome und Moleküle erklären, entsteht in uns der Eindruck, wir hätten eine »tief greifendere« oder »grundlegendere« Erkenntnis gewonnen, als wenn unsere Erklärungsprinzipien sich nur mit den großen Gegenständen selbst und nicht mit ihren Einzelteilen beschäftigen. Reduktionisten unterstellen, man müsse die Evolution nur im kleinsten Maßstab weniger Jahre und Generationen dokumentieren, um ein allge meines Erklärungsmodell für Ereignisse aller räumlichen und zeitlichen Größenordnungen zu entwickeln. Auf diese Weise werden solche Fälle zum Standard für das ganze Fachgebiet, und daher rührt ihre Stellung als schlagzeilenträchtige Nachricht. Die Autoren der beiden Untersuchungen über Evolution in einem Jahrzehnt geben solchen Hoffnungen sicher neue Nahrung. Reznik und Kollegen beenden ihre Veröffentlichung über die Guppys von Trinidad mit den Worten: »Sie [die Untersuchung] gehört zu einer wachsenden Zahl von Indizien, dass Geschwindigkeit und Gesetzmäßigkeiten des Wandels, der durch natürliche Selektion bewerkstelligt werden kann, zur Erklärung der bei den Fossilfunden beobachteten Ver teilung ausreichen.« Losos und Kollegen sagen im Wesentlichen das Glei che über ihre Echsen: »Makroevolution dürfte nichts anderes als eine vergrößerte Mikroevolution sein – und deshalb kann die Untersuchung der letzteren auch Aufschluss über die erste liefern.«
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Von solchen angenehmen Gefühlen der Vereinheitlichung lassen wir uns leicht täuschen (denn die Naturwissenschaft sucht zu Recht nach ein heitlichen, allgemeinen Erklärungen). Aber funktioniert die Vereinheit lichung durch Reduktion aller Maßstäbe auf Geschwindigkeit und Mechanismen der kleinsten Bestandteile auch bei der Evolution – und halten wir eine Vereinheitlichung dieser Art für das Ziel aller wissenschaftlichen Arbeit? Ich glaube nicht, und ich halte unsere beste allgemeine Begründung für Skepsis gerade bei diesem Thema für schlüssig – auch wenn sie selten gewürdigt wird, obwohl sie nicht zu übersehen ist. Solche Untersuchungen kürzester Zeiträume sind schlüssig und wichtig, aber sie repräsentieren mit Sicherheit nicht den allgemeinen Weg, auf dem in der Geschichte des Lebendigen neue Konstruktionen entstehen. Der Grund, warum sie sich nicht auf große Maßstäbe übertragen lassen, erscheint meist zutiefst paradox und sogar ganz lustig – aber das Argument ist eigentlich nicht zu leugnen. Die bei Guppys und Echsen gemes sene Evolutionsgeschwindigkeit ist bei weitem zu groß, als dass sie die all gemeine Form jenes Wandels darstellen könnte, der in erdgeschichtlichen Zeiträumen die Geschichte des Lebendigen prägt. Wie kann ich so etwas behaupten? Ist diese Behauptung nicht von vorn herein lächerlich? Wie können solche winzigen, kaum nennenswerten Veränderungen – ein etwas kürzeres Bein, geringfügig größere Ausmaße – in irgendeiner Form »zu viel« sein? Liegt die Schönheit dieser Untersuchun gen nicht gerade in ihrem Minimalismus? Man hat uns immer beigebracht, Evolution sei eine erstaunlich langsame Anhäufung von Verände rungen – ein Sandkorn-für-Sandkorn-Vorgang, jeden Tag ein Cent bis zum Vermögen von Bill Gates. Wird nicht in jeder derartigen Untersu chung ein Sandkorn dokumentiert? Haben meine Kollegen und ich nicht das »Atom« der entwicklungsgeschichtlichen Steigerung gefunden? Nach meiner Ansicht hat man mit diesen Untersuchungen tatsächlich etwas Wichtiges gefunden, aber ein allgemeines Atom wurde nicht ent deckt. Die Veränderungen, die im Laufe weniger Jahre oder Jahrzehnte gemessen wurden, sind um mehrere Zehnerpotenzen zu schnell abgelaufen, als dass sie durch einfache Anhäufung die Geschichte des Lebendigen bil den könnten. Die Evolutionsgeschwindigkeit von Rezniks Guppys liegt zwischen 3700 und 45 000 Darwin (eine übliche Maßeinheit für die Evo lution, ausgedrückt als Veränderung in Einheiten der Standardabweichung – die ein Maß für die Variation um den Mittelwert für ein Merk
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mal in einer Population darstellt -je Million Jahre). Dagegen liegt die Geschwindigkeit für die meisten großen Entwicklungen in den Fossilfunden zwischen 0,1 und 1,0 Darwin. Reznik selbst meint dazu: »Die geschätzten Geschwindigkeiten [für die Guppys] liegen ... um vier bis sieben Zehnerpotenzen über denen, die bei den Fossilfunden beobachtet wurden« (das heißt, sie verläuft zehntausend bis zehn Millionen Mal schneller). Außerdem können wir die ganz allgemeine Aussage machen – die das »Paradox des sichtbar Irrelevanten« meines Titels darstellt –, dass jede Veränderung, die überhaupt in den wenigen Jahren einer normalen wis senschaftlichen Untersuchung messbar ist, viel zu schnell abläuft, als dass sie die normale Evolutionsgeschwindigkeit bei den Fossilien widerspie geln könnte. Dass wir darin ein Paradox sehen, liegt wie so häufig an den riesigen Zeiträumen (eine Vorstellung, die wir zwar »mit dem Kopf« begreifen können, die aber offenbar nicht in unsere gefühlsmäßige Intuition eingeht). Das entscheidende Prinzip erfordert aber gerade ein solches instinktives Verständnis für die erdgeschichtlichen Zeiträume: Wenn die Evolution in einem Fall so schnell abläuft, dass wir sie in wenigen Jahren mit unseren Instrumenten nachweisen können – das heißt, wenn die Veränderung so groß wird, dass sie sich als echter, gerichteter Effekt von den zufälligen, gleichmäßigen Schwankungen in der Natur und von den unvermeidlichen Fehlern unserer Messungen abhebt –, sind wir Zeugen von etwas so Großem geworden, dass es sich nicht um das Atom der stetigen Steigerung paläontologischer Trends handeln kann. Um also das Paradox noch einmal zu formulieren: Wenn wir es überhaupt (in wenigen Jahren) messen können, wirkt es zu stark, als dass es der Stoff sein könnte, aus dem die Geschichte des Lebendigen ist. Entstünde Evolution im großen Maßstab nur dadurch, dass Verände rungen mit der gleichen Geschwindigkeit wie bei den Guppys von Tri nidad übereinander gehäuft werden, wäre jeder entwicklungsgeschicht liche Trend in einem Augenblick der Erdgeschichte an seinem Ende angelangt, und nicht erst nach vielen Millionen Jahren, wie man es tatsächlich beobachtet. »Unser Gesicht vom Fisch bis zum Menschen«, um den Titel eines berühmten alten Vortrages über die Evolution für ein Laienpublikum zu zitieren – eine solche Entwicklung würde sich nicht über mehr als 400 Millionen Jahre erstrecken, wie wir es an den Fossil funden ablesen können, sondern sie würde in einer einzigen geologischen Formation vollständig ablaufen.
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Die Evolutionstheorie muss nicht herausfinden, wie man solche gemessenen Wandlungsgeschwindigkeiten beschleunigt, sondern wie man sie verlangsamt! In Wirklichkeit sind die meisten Abstammungslinien na hezu während ihres gesamten Vorkommens in den Fossilfunden stabil (das heißt, sie verändern sich nicht). Findet bei Abstammungslinien eine Veränderung statt, dann geschieht das, geologisch betrachtet, in einem »Augenblick« – die Veränderung beschränkt sich auf eine einzige Schich tungsebene –, und es kommt in der Regel durch Aufspaltung zur Entstehung einer neuen biologischen Art. In solchen Augenblicken könnte die Evolutionsgeschwindigkeit an die der Guppys von Trinidad oder der Echsen von den Bahamas heranreichen – denn die meisten Schichtungs ebenen repräsentieren einige tausend lahre. Aber während der Lebensdauer einer typischen Spezies häufen sich keine Veränderungen an, und wir müssen verstehen, warum das so ist. Die Ursachen der Stasis sind mitt lerweile für die Evolutionstheorie ebenso wichtig wie die Ursachen des Wandels. (Ich möchte einmal deutlich machen, wie schlecht wir diese zentrale Aussage über die ungeheuren Zeiträume begreifen: Als der Artikel über Cerion erschienen war, den ich gemeinsam mit Glenn Goodfriend verfasst hatte, rief mich ein Journalist des Magazins Science an. Er wollte einen erläuternden Bericht darüber schreiben, dass ich eine Ausnahme zu meiner eigenen Theorie des unterbrochenen Gleichgewichts gefunden hätte – eine unmerklich langsame Veränderung über zehn- bis zwanzigtausend Jahre hinweg. Ich erklärte ihm, es gebe zwar zahlreiche Ausnahmen, aber dieser Fall gehöre nicht dazu, sondern er sei in Wirklichkeit eine stichhaltige Bestätigung für das Prinzip des unterbrochenen Gleichgewichts! Wir hatten Schnecken aus vollen 20 000 Jahren in einer einzigen Schlamm schicht gefunden – das heißt in Material, das später einmal zu einer ein zigen geologischen Schichtungsebene werden würde. Unser gesamter Übergang hatte sich in einem erdgeschichtlichen Augenblick vollzogen und stellte keine allmähliche Fossilfolge dar, sondern eine Unterbrechung. In diesem ungewöhnlichen Fall konnten wir die Unterbrechung analysie ren, weil wir das Alter der einzelnen Schneckenhäuser feststellen konnten – das machte den Wert unserer Veröffentlichung aus. Man muss dem Journalisten zugute halten, dass er daraufhin seine ursprüngliche Planung völlig über den Haufen warf und einen ausgezeichneten Bericht verfasste.)
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Letztlich habe ich den Verdacht, dass Fälle wie die Guppys von Trinidad und die Echsen von den Bahamas keine Atome der umfangreichen, stetig angehäuften Evolutionstrends darstellen, sondern vorübergehende, kurzfristige Drehungen und Wendungen, die der reichhaltigen Geschichte der Abstammungslinien während der Stasis eine zusätzliche Komponente verleihen. Stasis ist ein dynamisches Phänomen. Kleine, örtlich begrenzte Populationen und Teile von Abstammungslinien können kurze, vorüber gehende Ausflüge in andere Formen der Anpassung unternehmen, aber diese winzigen Gruppen sterben fast immer aus oder werden wieder in die Hauptmasse der Spezies integriert. (Auch Losos selbst betrachtet die neuen Echsenpopulationen auf den Inseln genau in diesem Sinn als vorübergehendes Evolutionsphänomen – denn solche winzigen Kolonien werden fast immer auf lange Sicht durch Wirbelstürme ausgelöscht. Wie sollen derartige Populationen dann zu Atomen eines großen Evolu tionstrends werden? Der Bericht in Science endet mit den Worten: »Ob die Echsen aber eine weitere Evolution erleben werden, hängt nach Losos’ Worten vor allem vom Wind des Schicksals ab. Über die kleinen Inseln fegen immer wieder Hurrikane hinweg, die jede Spur einer Evolution von Anolis ausradieren können.«) Aber vorübergehende Drehungen und Wendungen sind nicht weniger wichtig als die großen Trends im umfassenden »Plan aller Dinge«. In bei den Fällen arbeitet die Evolution in einem normalen, für den jeweiligen Größen- und Zeitmaßstab geeigneten Umfang – in Trinidad lokal und in einem kurzen Augenblick, bei der Wandlung des Gesichtes vom Fisch zum Menschen im größten, globalen Rahmen. Ein Maßstab lässt sich nicht auf den anderen übertragen. Wir dürfen keinen einzelnen Maßstab für wich tiger halten als einen anderen; und keiner kann als Vorbild für alle anderen dienen. In jedem Maßstab können wir etwas Wertvolles, Einzigartiges lernen; keiner ist als überlegen oder vorrangig zu bezeichnen. (Guppys und Echsen legen Details offen und vermitteln uns damit über den Mechanismus von Anpassung, natürlicher Selektion und genetischem Wan del neue Erkenntnisse, die wir uns in größerem Maßstab nicht verschaffen können.) Ein gutes Musterbeispiel für dieses Prinzip ist die übliche Metapher für die Wissenschaft der Fraktale – Mandelbrots bekannte Behauptung, die Küste von Maine habe keine absolute Länge, sondern diese hänge vom Maßstab der Messung ab (siehe Kapitel 23). Wenn wir die Guppys in
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einem Teich auf Trinidad untersuchen, bewegen wir uns in einem ähn lichen Maßstab, als wenn wir die Schnur zur Messung der Küstenlinie um jeden Felsblock auf jeder Landspitze des Acadia National Park legen. Betrachten wir dagegen die Größenzunahme des menschlichen Gehirns von Lucy (vor rund vier Millionen Jahren) bis zu Lincoln, messen wir die Küstenlinie, wie sie auf der Karte von Maine in meinem Exemplar des Hammond’s Atlas abgebildet ist. Beide Maßstäbe eignen sich genau für die jeweilige Fragestellung. Nur ein Narr würde den ganzen Sommer damit zubringen, die Felsblöcke in einer Bucht des Acadia-Parks zu vermessen, wenn er nur für seinen nächsten Wochenend-Autoausflug die Entfernung von Portland nach Machiasport wissen will. Für mich haben solche fraktalen Modelle einen besonderen intellektuellen Reiz, denn sie bedienen sich einer Einbettungshierarchie (die ein zelne Bucht, eingebettet im Acadia-Park, der im Staat Maine eingebettet ist) und leugnen Hierarchien von Wert, Wichtigkeit, Verdienst oder Bedeutung. Wenn man ein Sandkorn untersucht, kann man Maine außer Acht lassen, und umgekehrt vergisst man zu Recht das Sandkorn, wenn man die Karte von Maine auf der Atlasseite studiert. Dennoch kann man beide Maßstäbe gleichzeitig schätzen und daraus etwas lernen. Die Evolution liegt ebenso wenig offenkundig in einem klaren Teich auf Trinidad, wie das Universum (ohne dass ich Mr. Blake zu nahe treten will) sich in einem Sandkorn zeigt. Aber wie ärmlich wären unsere Kenntnisse, wie öde und eingeschränkt unser Horizont, wenn wir nicht die Rokoko-Details zu schätzen wüssten, die unser unmittelbares Blickfeld ausfüllen, während sie in einem anderen Maßstab nur unbedeutende, unsichtbare Schnörkel in den majestätischen Zeiträumen der Erdgeschichte darstellen.
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23. Eigener Freiraum Golgatha, der Ort, an dem Jesus gekreuzigt wurde, erscheint auf Gemäl den meist als ansehnlicher Hügel in ländlicher Umgebung, weit weg von den Stadtmauern Jerusalems, die man im Hintergrund in der Ferne er kennt. In Wirklichkeit ist Golgatha – wenn der überlieferte Platz richtig identifiziert wurde – eine winzige Erhebung unmittelbar außerhalb der alten Stadtgrenze, und es liegt innerhalb der Mauern, die Suleiman der Prächtige Anfang des 16. Jahrhunderts errichten ließ. Diese Mauern erweiterten das Stadtgebiet von Jerusalem, und die Altstadt ist heute eine kleine »Perle« inmitten einer viel größeren, modernen Metropole. Golgatha ist so klein und niedrig, dass es innerhalb der Grabeskirche Platz hat, die ihrerseits innerhalb von Suleimans Stadtmauern liegt. Der Besucher gelangt in der Kirche durch ein Treppenhaus in die zweite Etage, wo sich der Gipfel des Kreuzigungshügels befindet. (Was die Herkunft des Namens betrifft, gibt es mehrere Konkurrenztheorien. Golgatha heißt auf Aramäisch »Schädel«, und die gleiche Bedeutung hat auch die lateinische Alternative »calvarium«. Nach Ansicht der meisten Fachleute spielt der Name nicht auf die sterblichen Überreste der Hingerichteten an, sondern auf die Form des kleinen Hügels.) Die Grabeskirche ist eine der heiligsten Stätten der Welt, und deshalb sollte man annehmen, dass sie Würde, Gelassenheit und eine Atmosphäre der Erhabenheit über rein irdische Sorgen ausstrahlt. In Wirklichkeit aber – der Kontrast könnte größer nicht sein und wirkt fast pervers – ist die Kirche Gegenstand ständiger Streitigkeiten und Abgrenzungen. Etymolo gisch mag »Religion« etwas mit »Verbundenheit« zu tun haben, aber an gesichts der Neigungen des Homo sapiens, der wankelmütigsten und kleinlichsten Spezies auf Erden, gewinnen in der Realität häufig Abgrenzung und Verteufelung die Oberhand. Der kostbare Raum ist »Gemein
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gut« (in diesem Fall ein Euphemismus für »Zankapfel«) von sechs alten christlichen Gruppen: griechisch-orthodox, römisch-katholisch, armenisch, syrisch, koptisch und abessinisch. (Die verschiedenen protestantischen Konfessionen kamen ein paar Jahrhunderte zu spät und erhielten keinen einzigen Kirchenstuhl mehr.) Bevor ich vor ein paar Jahren die Kirche besichtigte, kannte ich den la teinischen Ausdruck Status quo nur als allgemeine Bezeichnung für das Prinzip, alles beim Alten zu belassen. Nun aber lernte ich, dass man ihn auch als richtiges Substantiv benutzen kann – großes S, kleines Q. Im Jahr 1852, nach mehreren Jahrhunderten voller ernsthafter Streitigkeiten, un terzeichneten die sechs Gruppen ein Abkommen, das als der Status quo bezeichnet wurde und jede Bewegung auf jedem Quadratzentimeter der Kirche regelte. An dieser Stelle möchte ich aus meinem Baedeker-Reiseführer für Jerusalem zitieren, einem Werk, das in der Regel für nüchterne, schwerfällige Prosa bekannt ist, in diesem Fall aber ganz untypisch sarkastisch wird: Keine Lampe, kein Bild, absolut nichts kann bewegt werden, ohne dass es zu Beschwerden kommt. Die Regeln, wann und wo die einzelnen Ge meinschaften ihre Messen feiern dürfen, sind ebenso minuziös festge legt wie die Zeitpunkte, zu denen die Lampen angezündet und die Fenster geöffnet werden. Alles muss in Übereinstimmung mit den ursprünglich vereinbarten Regeln geschehen, d. h. in Übereinstimmung mit dem »Status quo« ... Veränderungen werden immer wieder ver sucht und immer wieder zurückgewiesen – sie tauchen sogar in den Verhandlungen zum Friedensvertrag von Versailles und im Völkerbund auf... Wer hofft, hier Harmonie und stille Andacht zu finden, wird enttäuscht sein – die Sekten stehen miteinander auf Kriegsfuß. Selbst das Hintergrundgeräusch kann man als psychologische Kriegsführung deuten – der Lärm der Hämmer und Meißel, die ständig mit Ausbesserungsarbeiten beschäftigt sind, mischt sich mit griechischen Gesängen, dem Donnern der franziskanischen Orgel und dem unaufhörlichen Bimmeln armenischer Glöckchen. Und damit nun nicht irgendjemand meint, zwischen den sechs Gruppen könne Gleichberechtigung herrschen, beeile ich mich, darauf hinzuweisen, dass der Status quo 65 Prozent der Kirche den griechisch-orthodoxen
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Christen zugestand, während die Abessinier – die einzige schwarzafrikanische Gruppe – nur das Grab des Joseph von Arimathia erhielt (»einen winzigen Hohlraum, der ausschließlich über das koptische Territorium zu erreichen ist«, um noch einmal den Baedecker zu zitieren). Als weitere Verschärfung der Ungerechtigkeit dürfen die Abessinier sich nicht einmal innerhalb der Kirche niederlassen, sondern nur in winzigen Zellen auf dem Dach! (Und ich kann Ihnen sagen, als ich die Kirche besuchte, war es da oben richtig heiß!) Aber kommen wir von einer lächerlichen Geschichte über einen heili gen Ort zu den Lächerlichkeiten, die uns überall umgeben. Die Idee zu diesem Essay kam mir durch den Bericht einer englischen Zeitung vom 9. Juli 1997. Die Überschrift: »Schlagabtausch zwischen Konkurrenzbrauereien um die Zukunft eines historischen Gasthauses«. Die Punch Tavern in der Fleet Street ist einer der interessantesten Pubs Londons. In dem Namen spiegelt sich seine frühere Bedeutung als Tränke für die An gestellten des berühmten Satiremagazins »Punch« wider. Diese Geister der Vergangenheit hätten aus der jetzigen Situation sicher eine gute Story gemacht. Zwei Drittel des Anwesens, darunter auch die einzige Toilette, sind Eigentum der landesweit tätigen Brauerei Bass. Das übrige Drittel jedoch, zu dem auch die Einfahrt zur Lieferung des Bieres an den BassTeil gehört, erwarb das kleinere, regionale Unternehmen Samuel Smith. Zwischen beiden Firmen gab es ständig Streit und Spannungen, jetzt aber entschieden sie sich für eine strikte Trennung, die an das Heilige Grab er innert. Mitten in dem Pub steht eine neue Wand, und Bass baute »eine neue Kellerluke, sodass die Beschäftigten das Bier anliefern können, ohne die Einfahrt von Samuel Smith zu benutzen«. Wir müssen davon ausge hen, dass Smith nun auch neue Toiletten baut, denn wie jeder weiß, steht diese Einrichtung in derartigen Etablissements als notwendige Ergänzung gleich an zweiter Stelle hinter der, die dem Einfüllen am anderen Ende dient. Mit einer letzten Begebenheit – ebenfalls lächerlich, dieses Mal aber persönlich – kommen wir zur allgemeinen Bedeutung des Themas. Mein Bruder und ich teilten uns während unserer gesamten Kindheit ein kleines Zimmer. In der Regel kamen wir einigermaßen miteinander aus, aber von Zeit zu Zeit gab es auch kleine Kämpfe. Eines Tages, kurz nach unse rem schlimmsten Zusammenstoß, meinte Peter, wir müssten doch das Zimmer nur genau in der Mitte teilen, und jeder solle versprechen, nie
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wieder auch nur eine Zehenspitze auf das Territorium des anderen zu set zen. Anschließend sammelte er alle seine Habseligkeiten ein und schaffte sie auf seine Seite. Ich dagegen lag nur auf meinem Bett und lachte – während er über meinen unbeschwerten Umgang mit der ernsten Situa tion immer mehr in Rage geriet. Als er mit dem ganzen Schieben und Räu men fertig war, fuhr er mich wütend an: »Worüber lachst du die ganze Zeit?« Ich sagte nichts, sondern hob nur den Finger und zeigte auf die ein zige Tür des Zimmers – die auf meiner Seite lag. Nun musste Peter zum Glück ebenfalls lachen; wir versöhnten uns und warfen unsere Sachen wieder durcheinander. Wenn wenige Menschen – Vertreter einer Spezies, die mit mehreren Milliarden Exemplaren über unseren gesamten Planeten verbreitet ist – sich über die Aufteilung von Räumen so in die Haare geraten können, muss man fragen: Was soll die Natur erst sagen, mit vielen Millionen Ar ten, unzähligen Individuen und keinerlei Fähigkeit oder Macht, einen Sta tus quo auszuhandeln oder auch nur zu verstehen? In der theoretischen Ökologie dreht sich die Diskussion zu einem großen Teil um Konzepte, die häufig anders formuliert werden, aber immer wieder Varianten dieser grundsätzlichen Frage darstellen. Betrachten wir nur einmal zwei Beispiele, die in jedem ökologischen Anfängerseminar die Runde machen. Wenn es um die grundlegende Frage geht, wie viele biologische Arten nebeneinander in einem einzigen Lebensraum existieren können (ein Thema, das natürlich zunehmend wichtig wird, weil die natürlichen Freiräume durch menschliche Zer störungswut immer stärker schrumpfen und viele Arten unmittelbar vom Aussterben bedroht sind), hören die Studenten stets etwas vom »Konkurrenzausschlussprinzip« und von der Vorstellung, dass zwei Arten nicht gleichzeitig dieselbe »Nische« besetzen können. Diese Schlussfolgerung ergibt sich eher als logische Konsequenz aus der natürlichen Selektion und weniger aus der unmittelbaren Beobachtung der Natur. Wenn zwei Arten wirklich unter genau den gleichen Umweltbedingungen leben, wo bei sie sich Platz und Ressourcen vollständig teilen, besitzt eine davon mit Sicherheit einen – vielleicht nur geringfügigen -Vorteil, und den nutzt die erbarmungslose Wirkung der natürlichen Selektion über unzählige Generationen hinweg aus, bis die betreffende Art im Konkurrenzkampf ums Dasein den alleinigen Sieg davonträgt. Aber dieses Prinzip sagt in Wirklichkeit vermutlich weniger aus, als es
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nach den gewichtigen Worten den Anschein hat, denn Nischen existieren nicht unabhängig von den Arten, von denen sie besetzt sind. Ökologische Nischen sind nicht mit den Häusern in einer Wohnsiedlung zu verglei chen, die »von der Stange« gebaut und mit allen Einrichtungen bis hin zum Mobiliar ausgestattet werden, bevor man sie streng nach der Regel »jeder Familie eine Parzelle« verkauft. Nischen entstehen vielmehr durch die Lebewesen, die mit ihrer Umwelt in vielschichtige Wechselbeziehun gen treten – und wie sollen zwei verschiedene Arten eine Umwelt in allen Einzelheiten genau auf die gleiche Weise nutzen? Ein ähnliches Prinzip (und mein zweites Beispiel), »Begrenzung der Ähnlichkeit« genannt, versucht diese Gesetzmäßigkeit in vernünftigerer, überprüfbarer Form zu formulieren. Wenn zwei Arten sich in Aussehen, Verhalten und der Nutzung ihrer Umwelt nicht genau gleichen können, wie ähnlich können sie sich dann werden? Wo liegen die Grenzen der Ähnlichkeit? Wie viele Käferarten können auf einem tropischen Baum leben? Und wie viele Fischarten in einem Teich der gemäßigten Breiten? Solche Fragen können wir zumindest stellen, ohne auf logische Wider sprüche zu stoßen, und bestimmte Annahmen über Mindestunterschiede in Körpergröße, Ernährungsgewohnheiten und Ähnliches lassen sich überprüfen. Zu derartigen Themen hat man viele nützliche Untersuchungen angestellt, aber eine allgemeine Antwort kristallisiert sich noch nicht heraus. Vielleicht gibt es sie auch gar nicht (jedenfalls nicht in einfacher Form wie »der Unterschied der durchschnittlichen Körpergröße muss mindestens zehn Prozent betragen«), denn jede Art und jede Gruppe von Lebewesen ist auf eine nicht reduzierbare Weise einzigartig. Regeln, die für Käfer gelten, werden bei Fischen aller Wahrscheinlichkeit nach nicht zutreffen, von der weitaus vielgestaltigeren Welt der Bakterien ganz zu schweigen. Aber wenn wir auch keine quantitativen Gesetze über die Artenzahl an einem bestimmten Ort aufstellen können, so sind doch zumindest einige allgemeine Prinzipien zu erkennen. Einen guten Ausgangspunkt bildet dabei die Regel, die hinter dem Status quo in Jerusalem steht, so fragwürdig sie im ethischen System des Homo sapiens auch sein mag: Eine große Artenzahl lässt sich nur dann in einem gemeinsamen Revier unterbringen, wenn jede Art über einen gewissen eigenen Freiraum verfügt und nicht ständig in erbarmungsloser Konkurrenz zu einer Form mit größt möglicher Ähnlichkeit steht.
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Für die Beschaffung dieser notwendigen »Luft zum Atmen« – eines kleinen Stückchens eigenen Raumes, um das keine andere Art auf genau die gleiche Weise konkurriert – kann man zwei allgemeine Strategien an führen, wobei die zweite weitaus interessanter ist als die erste. Einerseits kann man gewissermaßen die »Grabeskirchenlösung« wählen: Zwei Arten betrachten die Umwelt im Wesentlichen auf die gleiche Weise und müs sen das Gebiet deshalb aufteilen, um einander aus dem Weg gehen zu kön nen. Dabei kann es sich um eine ausschließlich räumliche Teilung handeln wie in unserem brüderlichen Streit um das gemeinsame Zimmer. Lebewesen können aber auch die zweite Hauptdimension der Natur nutzen und eine zeitliche Trennung vornehmen. Der Status quo teilt den Raum in der Grabeskirche, aber das Übereinkommen bestimmt auch darüber, wann die Akustik den verschiedenen Gruppen, ihren Musikinstrumenten und Gesangsstimmen gehört. Hier kann ich eine hässliche Analogie zu einer grausamen gesellschaft lichen Praxis ziehen, die heute glücklicherweise aufgegeben wurde, vor nicht allzu langer Zeit aber noch Realität war. Der räumlichen und zeit lichen Trennung begegnete ich, als ich Ende der fünfziger Jahre des 20. Jahrhunderts im Südwesten von Ohio mit meinem Collegestudium begann. Im Kino der Stadt mussten Weiße im Parkett und Farbige auf den Rängen sitzen, Eislauf- und Bowlinghallen veranstalteten getrennte Abende für »Weiße« und »Neger«. (Während meiner Studienzeit kämpften Studenten und Bürgerinitiativen unter dem Eindruck der entstehenden Bürgerrechtsbewegung gegen solche Grausamkeiten und setzten schließlich ihre Abschaffung durch. Noch heute erinnere ich mich mit Stolz daran, wie ich mich aus voller Überzeugung, aber auch – rückblickend betrachtet – auf recht inkonsequente Weise daran beteiligte.) In der Evolution erwächst ein aufschlussreiches Beispiel für diese erste Strategie aus einer klassischen Überlegung über die Artbildung, durch die neue biologische Arten durch Abspaltung aus einer Vorläuferpopulation hervorgehen. Eine solche Verzweigung kann einsetzen, wenn eine Gruppe von Lebewesen von der Ausgangspopulation isoliert wird und sich in einer anderen Umwelt fortpflanzt, in der die Evolution neuer Merkmale von der natürlichen Selektion begünstigt wird. (Wenn die Mitglieder der abgetrennten Gruppe jedoch weiterhin mit Individuen der Ausgangspopulation in Kontakt kommen und sich mit ihnen kreuzen, gehen die vorteilhaften neuen Eigenschaften durch Verdünnung und Diffusion ver
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loren; dann vermischen sich die beiden Gruppen in der Regel wieder, sodass die Entstehung einer neuen Art verhindert wird.) Nach der herkömmlichen Theorie der so genannten »allopatrischen« (»an einem anderen Ort stattfindenden«) Artbildung erlangt eine Popu lation das Potenzial zur Bildung einer neuen Art nur dann, wenn sie geografisch von der Ausgangspopulation isoliert ist, weil nur strenge räumliche Trennung die notwendige Unterbrechung des Kontaktes mit der Ausgangspopulation gewährleistet. Viele Forschungsarbeiten haben sich im Zusammenhang mit der Artbildung auf die Frage konzentriert, wie es zu einer solchen geografischen Trennung kommen kann – durch neue In seln, die im Meer aufsteigen, durch die Trennung der Kontinente, durch Flüsse, die ihren Lauf verändern, und so weiter. Eine andere Vorstellung besagt, dass neue Gruppen sich auch dann zu Arten weiterentwickeln können, wenn sie weiterhin das gleiche geografi sche Gebiet besiedeln wie die Ausgangspopulation – in diesem Fall spricht man von sympatrischer (»am gleichen Ort stattfindender«) Artbildung. Die Vertreter der sympatrischen Artbildung müssen sich mit einem klassischen Widerspruch auseinander setzen, und viele Forschungsarbeiten haben sich der Suche nach Lösungen gewidmet: Wenn die Isolation von der ursprünglichen Population für die Bildung neuer Arten so entscheidend ist, wie können dann neue Arten im geografischen Verbreitungsgebiet der Ausgangsform entstehen? Diese alte Frage der Evolutionstheorie ist auch heute noch bei weitem nicht beantwortet, aber wir sollten im Zusammenhang des vorliegenden Essays festhalten, dass die vorgeschlagenen Mechanismen sich in der Regel am Grabeskirchenprinzip orientieren: Sie gestehen der neuen Gruppe einen eigenen Platz innerhalb des räumlichen Verbreitungsgebietes der Ausgangsart zu – und eine solche »innere Isolation« wird entweder durch räumliche oder durch zeitliche Trennung bewerkstelligt. Die am besten belegten Fälle von räumlicher Trennung beinhalten einen Vorgang, den man mit dem Fachausdruck als Wirtsspezifität bezeichnet – eine Population beschränkt sich innerhalb eines größeren Gebietes auf eine ganz bestimmte Stelle. Ein aktueller (allerdings noch umstrittener) Fall betrifft Fliegen der Gattung Rhagoletis: Sie bewohnen in der Regel nur Bäume einer einzigen Spezies, die sie als ausschließlichen Ort für Paarung und Nahrungssuche nutzen. Angenommen, einige Individuen einer Spezies, die auf Apfelbäumen zu Hause ist, entwickelt durch eine Mutation eine
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Vorliebe für Weißdorn. Dann entsteht eine neue Population, die aus schließlich an den Weißdorn gebunden ist und sich sehr schnell zu einer neuen Art weiterentwickelt. Die Weißdornfliegen leben in demselben geografischen Gebiet wie die Apfelbaumfliegen, aber die Angehörigen der beiden Gruppen paaren sich nicht, weil sie jeweils einen anderen Teil des Gesamtgebietes als ihre Heimat betrachten – genau wie die sechs Religionsgemeinschaften, die in der Grabeskirche nie das Territorium der jeweils anderen betreten. Das gleiche Prinzip funktioniert auch in der zeitlichen Variante. Ange nommen, in und um denselben Teich leben zwei eng verwandte Froscharten, die sich dort auch fortpflanzen, aber bei der einen dienen die länger werdenden Tage im Frühjahr als Auslöser der Paarung, die andere wartet dagegen auf das herbstliche Signal der geringeren Tageslänge. Beide Populationen teilen sich den gleichen Raum und können sich auch (metaphorisch gesprochen) das ganze Jahr über die Hände reichen, aber sie paaren sich nie und bleiben deshalb getrennte Arten. Die zweite Strategie, um sich den notwendigen Freiraum zu sichern, ist philosophisch weitaus interessanter: Arten können sich die gleiche Region teilen, ohne dass die natürliche Entsprechung zum Status quo notwendig wäre, weil sie einander überhaupt nicht wahrnehmen und sich deshalb auch nicht gegenseitig stören oder in Konkurrenz treten könnten – se gensreiches Unwissen tritt an die Stelle einer künstlich ausgehandelten Trennung. Diese faszinierende Form der gegenseitigen Nichtbeachtung, die ebenfalls sowohl auf räumlichem als auch auf zeitlichem Weg zu erreichen ist, wirft eine der aufschlussreichsten Fragen nach Geistesleben und Konstruktion der Natur auf: Es geht um die Maßstäbe oder um die ganz unterschiedliche Wahrnehmung der Welt aus den unterschiedlichen Blickwinkeln der Größe oder Lebensdauer eines Beobachters, ohne dass einer dieser Wege allgemein »normal« oder »besser« als irgendein anderer wäre. Ich möchte mit einer persönlichen Geschichte beginnen. Mein Büro an der Harvard University teile ich mit ungefähr hunderttausend Trilobiten – Fossilien, die mindestens 250 Millionen Jahre alt sind und die ich an den Wänden meines Zimmers in Schränken untergebracht habe. Meist leben wir in vollständiger Harmonie zusammen. Sie kümmern sich sehr wenig um den kurzen Augenblick meiner vierzigjährigen Karriere, und ich betrachte sie zwar sicher mit Liebe und Respekt, aber sie sind für mich auch
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teilnahmslose, unbewegliche Steinbrocken. Sie verursachen mir keine Schwierigkeiten, denn wenn ein anderer Paläontologe zu Besuch kommt und diese oder jene Gattung untersuchen möchte, trage ich die entspre chenden Schubladen einfach ins Nachbarzimmer. Aber vor ungefähr zehn Jahren wollten in einer Woche zwei britische Besucher alle Trilobiten aus dem Ordovizium sehen, ein Ansinnen, das Erklärungen und den Zugang zu allen Schubladen erforderte. Mir blieb nichts anderes übrig, als mein Büro mehrere Tage lang zu verlassen; noch schlimmer wurde die Situation durch die stereotype Höflichkeit meiner Besucher, die sich fast stündlich entschuldigten: »Ach, ich hoffe, wir stören Sie nicht allzu sehr.« Am liebs ten hätte ich geantwortet: »Doch, das tun Sie allerdings, aber ich kann es nicht ändern« – aber ich hielt stattdessen einfach den Mund. Ruhiger wurde ich erst, als mir endlich der größere Zusammenhang klar wurde. Meine Besucher waren natürlich absichtlich von den Trilobiten geschickt worden, die mir damit eine Lektion über die Maßstäbe erteilen wollten: Wir überlassen dir für einen winzigen Augenblick unseres Daseins dieses Büro; das macht uns überhaupt nichts aus, aber ungefähr alle zehn Jahre müssen wir dich daran erinnern, wem das Zimmer in Wirklichkeit gehört, einfach damit du nicht übermütig wirst. Auch biologische Arten können eine Umwelt ohne Konflikte teilen, wenn jede von ihnen in einem so unterschiedlichen zeitlichen Maßstab lebt, dass es nie zu Wechselwirkungen im Sinne einer Konkurrenz kommt. Der Lebenszyklus einer Bakterienzelle dauert eine halbe Stunde und entgeht sowohl meiner Aufmerksamkeit als auch meinem Verständnis, es sei denn, ihre Population wird so groß, dass sie meinesgleichen vergiftet und für mich eine Bedeutung gewinnt. Und wie kann eine Tau fliege in mir jemals einen wachsenden, wandelbaren Organismus erken nen, wenn ich während ihres gesamten Lebenszyklus von ungefähr zwei Wochen eine solche Stabilität an den Tag lege? Der prädarwinistische schottische Evolutionsforscher Robert Chambers entwickelte in diesem Zusammenhang eine eindringliche Metapher: Er fragte sich, ob eine erwachsene Eintagsfliege während des einen Tages ihres irdischen Daseins die aktive Umwandlung einer Kaulquappe in einen Frosch wohl als Be weis für die Unveränderlichkeit der Arten ansehen würde, da sich doch während ihrer gesamten Lebensdauer keine sichtbare Veränderung abspielt. (Deshalb, so Chambers’ Übertragung der Argumentation, entgeht vielleicht auch uns die Tatsache der Evolution, weil der ganze Vorgang so
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langsam abläuft, dass wir während der gesamten Zeit, in der Menschen etwas beobachten konnten, keine Veränderung feststellen.) Chambers schrieb 1844: Angenommen, eine Eintagsfliege, die während ihres einzigen Lebens tages im April über einem Teich schwebt, könnte die Froschbrut in dem Wasser unter sich beobachten. Nachdem sie auch am Nachmittag, im hohen Alter, noch keine Veränderung gesehen hat, wird sie sich kaum vorstellen können, dass die äußeren Kiemen dieser Geschöpfe zerfallen werden, dass eine Lunge im Körperinneren an ihre Stelle tritt, dass sich Füße entwickeln werden, dass der Schwanz verschwindet und dass das Tier schließlich zu einem Landbewohner wird. Da die Lebewesen ein so gewaltiges Größenspektrum umfassen, vom un sichtbaren Bakterium bis zum riesigen Blauwal (oder dem Pilz, der unter großen Teilen von Michigan liegt), gewinnt besonders die zweite, räumliche Strategie der gegenseitigen Nichtwahrnehmung in der Natur erheb lich an Bedeutung. Am deutlichsten wird dieses Konzept an einem Bei spiel, das im Geistesleben der letzten zehn Jahre (durch gerechtfertigte, ständige Wiederholung) fast zu einem Klischee geworden ist. Um seinen Begriff der »Fraktale« verständlich zu machen, mathematischer Kurven, die sich in immer gleicher Anordnung in immer größerem und kleinerem Maßstab unendlich wiederholen, stellte der Mathematiker Benoit Mandelbrot eine entwaffnend einfache Frage, für die es auf eine wunderbar subtile Weise keine Antwort gibt: Wie lang ist die Küstenlinie von Maine? Die Aufgabe hört sich einfach an, aber sie ist nicht eindeutig zu lösen; die Antwort hängt vom Maßstab ab, und kein einzelner Maßstab kann eine bevorzugte Stellung beanspruchen. (In dieser Hinsicht erinnert das Thema an die klassische Anekdote, die auch über die Menschen »da hinten im Osten« – in Maine – erzählt wird. Eine Frau fragt ihre Nachbarin: »Wie geht es Ihrem Mann?« – Worauf die andere erwidert: »Im Ver gleich wozu?«) Wenn ich einen Atlas vor mir habe, auf dem der Staat Maine eine Seite einnimmt, kann ich die Länge der Küstenlinie mit der Auflösung feststellen, die meine Informationsquelle zulässt. Benutze ich dagegen eine Karte, auf der jede Landzunge des Acadia-Nationalparks eingetragen ist, wird die gleiche Küstenlinie viel länger. Und wenn ich darangehe, die Länge
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rund um alle Felsblöcke in sämtlichen Buchten des Nationalparks zu mes sen, erhalte ich eine noch größere Länge (die aber immer bedeutungsloser wird, weil die Gezeiten wechseln und die Felsblöcke sich bewegen). Eine einzige, »richtige« Küstenlinie von Maine gibt es nicht; die Antwort hängt immer davon ab, welchen Maßstab man anlegt. Ähnliches gilt auch für die Lebewesen. Der Mensch ist eines der größten Tiere auf der Erde, und wir sehen unseren Platz ungefähr so, als wür den wir Maine auf einer einzigen Atlasseite betrachten. Ein winziges Lebewesen, dessen gesamte Welt von einem Felsblock in einer Bucht begrenzt wird, wäre in unserem Maßstab völlig unsichtbar. Aber weder wir noch dieses Lebewesen sehen »die Welt« besser oder deutlicher. Der Atlas definiert die Welt, die für mich angemessen ist, und der Felsblock begrenzt den Raum einer Diatomee oder eines Rädertierchens (und das Rädertierchen bildet dann seinerseits das gesamte Universum für ein in seinem Inneren lebendes Bakterium). Um uns den Raum mit einem Bakterium zu teilen, brauchen wir kei nen Status quo: Wir leben trotz des gemeinsamen Reviers in ganz unter schiedlichen Welten – jedenfalls so lange, bis wir eingreifen oder einen Weg zum Eindringen finden: das Bakterium, indem es eine so große Po pulation hervorbringt, dass es unsere Aufmerksamkeit erregt und uns Schaden zufügen kann; der Homo sapiensy indem er das Mikroskop erfin det und damit in die Welt der Landzunge vordringt, die auf einer Karte der ganzen Erde nicht zu sehen ist. Ehrlich gesagt, haben wir auf Grund unserer ästhetischen Neigungen gar nicht immer den Wunsch, diese kleinere Welt in unserem Lebensum feld wahrzunehmen. Etwa vierzig Prozent aller Menschen beherbergen Milben in den Augenbrauen; ohne dass wir sie bemerken, leben sie in den Haarbälgen über unseren Augen. Nach normalen menschlichen Maßstä ben und auf die Ausmaße eines Menschen vergrößert, wirken diese Milben außerordentlich hässlich und Furcht erregend. So lange sie mir den Gefallen tun und sich nicht bemerkbar machen, würde ich sie lieber in Ruhe lassen. Und wollen wir wirklich in allen Einzelheiten über den erbarmungslosen Kampf zwischen unseren Antikörpern und eingedrungenen Bakterien Bescheid wissen – einen Vorgang, der uns schon mit seiner makroskopischen Folge, dem Eiter, ekelhaft genug erscheint? (Damit ich nicht falsch verstanden werde: Als engagierter Wissenschaftler bin ich ein Anhänger des Grundprinzips, dass wir stets intellektuell neugierig sein
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sollten, um unsere Umwelt besser zu verstehen und uns zu schützen. Ich bin mir nur nicht ganz sicher, ob wir immer nach der gefühlsmäßigen Wahrnehmung von Phänomenen streben sollten, die sich ohnehin nicht in unseren Größenmaßstäben abspielen.) Und schließlich erwächst aus diesem Prinzip des gegenseitig unsichtbaren Lebens in ganz unterschiedlichen Maßstäben eine wichtige Folge rung für den »Krieg der Kulturen«, der heute angeblich an unseren Uni versitäten und ganz allgemein im Geistesleben tobt (der aber nach meiner Einschätzung aus Gründen der angeblichen Pressewirksamkeit übermäßig vereinfacht und stark übertrieben dargestellt wurde). Auf der einen Seite dieser falschen Zweiteilung stehen die postmodernen Relativisten, nach deren Ansicht alle kulturell bedingten Arten der Wahrnehmung gleichermaßen stichhaltig sind, sodass es in Wirklichkeit keine in Tatsachen begründete Wahrheit gibt. Die andere besteht aus den geistig umnachteten, altmodischen Realisten, die darauf bestehen, dass Fliegen tatsächlich zwei Flügel haben und dass Shakespeare tatsächlich das meinte, was er zu sagen glaubte. Eine Lösung für die falschen Bestandteile dieser törichten Gegenüberstellung bietet das Prinzip der unterschiedlichen Maßstäbe. Tatsachen sind Tatsachen, und kein vernünftiger Mensch kann sie leugnen. (Oft ist es allerdings nicht einfach, Tatsachen festzustellen oder zu be schreiben – aber das ist ein anderes Thema für einen anderen Zeitpunkt). Tatsachen sind aber auch häufig vom Maßstab abhängig – und die Wahrnehmung einer Welt hat unter Umständen in einer anderen weder Gül tigkeit noch Ausdrucksmöglichkeiten. Auf der einen Seite mit der Karte von Maine sind die einzelnen Felsbrocken nicht zu sehen, und doch sind beide gleichermaßen zutreffende Darstellungen der tatsächlichen Küstenlinie. Warum sollten wir einem Maßstab gegenüber einem anderen den Vorrang einräumen, insbesondere wo eine fraktale Welt die gleiche Form in jedem beliebigen Maßstab ausprägen kann? Ist mein Haarbalg für eine Augenbrauenmilbe weniger ein Universum als unsere ganze Erde für den Herrn der Heerscharen (der vielleicht als lokaler Gott so winzig ist wie eine Milbe im Vergleich zum großen Gott des ganzen Universums – der dann wiederum der Milbe in meiner Augenbraue absolut nichts bedeu tet)? Und dennoch kann jeder Bewohner eines Maßstabes ein ihm gemäßes Universum mit unübertrefflicher, aber lokal begrenzter Tatsa chengenauigkeit wahrnehmen.
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Wir müssen nicht alle Lebewesen, für die andere Maßstäbe gelten, lie ben oder auch nur kennen (allerdings können wir viel dabei lernen, wenn wir unseren Geist anstrengen, damit er – wenn vielleicht auch nur vage und wie durch ein dunkles Glas – ihre ebenso gültigen Universen einschließt). Aber es ist gut und erfreulich, wenn Brüder einträchtig nebeneinander wohnen – jeder mit seinem eigenen Freiraum.