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Die Welt steht ihnen offen, sie sind behütet aufgewachsen, gesund ernährt und bestens ausgebildet, mobil, mehrsprachig, ideologisch unverdorben und informationstechnisch auf dem neuesten Stand - sie sind bereit und bestens gerüstet, das Leben in die eigenen Hände zu nehmen. Erwachsen zu werden. Sie sind Meister der Anpassung an eine Gegenwart, die außer dem Wandel nichts Stetiges mehr kennt. Sie sind flexibel durch und durch, erfinden sich täglich neu. Sie sind professionelle Lebenspraktikanten mit mehreren Visitenkarten. Sie leben auf Probe. Vermutlich für immer. Nikola Richter, geboren 1976 in Bremen. Lebt in Berlin. Studium der Germanistik, Anglistik und Komparatistik in Tübingen, Norwich und Berlin. Danach Stipendien, Praktika und Jobmarathon. Konzeption und Leitung des Online-Literaturmagazins www.schriftstelle.de. Gründerin der Berliner Lesebühne visch & ferse. Arbeitet jetzt für die »Zeitschrift für KulturAustauschFood-LabelsBridget Jones< für diese Schoko-Muffins? Oder >Haben Sie Möhrchen?< für diesen Karottenkuchen mit Mandelspitzen? Oder >Grüezi-Grütze< für das Birchermüsli? Ich kann mich selbst einbringen, ich kann jeden Tag experimentieren.« Je mehr Nahrungsmittel Nils vor sich auftürmt, desto mehr freut sich Linn für Nils. Sie ist sich sicher, dass aus dem jungen Mann etwas wird, wenn er weiterhin so emsig seine schlummernden Talente weckt. Er bewährt sich auf den unterschiedlichsten Gebieten. Sie probiert ein Stück Kürbisbrot. Leider ist es ein wenig trocken. »Vielleicht hier noch ein bisschen Frischkäse zu den Kräutern?«, hustet sie. »Mmh«, Nils kann nicht antworten, er kaut auf herausgefallenen Mandelspitzen herum. »Ich habe nach diesen drei Input-Wochen übrigens endlich Zeit, meine Fotos zu bearbeiten«, sagt er, als er mit Tee nachgespült hat. »Ich fahre dieses Jahr an Weihnachten nicht nach Hause. Mit dem, was ich dadurch spare, und mit den Geldgeschenken kann ich mir endlich einen guten Scan10
ner kaufen. Ein Bekannter von mir, der eine Ausstellung plant, richtig groß, in San Francisco, hat mir seine Profibildbearbeitungsprogramme gebrannt. Der Rhythmus, weißt du? Der existenzielle Rhythmus! Es gibt einen Autor, der hat seine Schrift immer weiter verkleinert. Genau darum geht es mir auch, um die Reduzierung auf das Notwendige.« Dieser Nils kommt Linn wieder etwas bekannter vor. Er wedelt mit seinen großen Händen in der Luft herum, hält mit der rechten Hand inne, um ein Wort zu betonen, zieht mit der linken einen Kreis über seinem Kopf und schaut in die Ferne, durch die Wände hindurch. Nie fällt ihm dabei die Zigarettenasche auf seine schwarze Kleidung. Auf diese Farbe ist er seit seinem sechzehnten Geburtstag eingeschworen. Er hasste seine Mitschüler dafür, jedem noch so bunten Trend zu folgen, ihm taten die Augen von so viel Farbe weh. Er ist stolz darauf, vor seinem Kleiderschrank schnelle Entscheidungen treffen zu können, weil alles zu allem passt. Er begeistert sich für klare Linien und Umrisse und bleibt dabei elegant, Linn ist von außen betrachtet ein Gegenstück zu Nils, sie mag es bunt und künstlich, aber sie steht ihm innerlich sehr nah, Seit sie ihn in einer Vorlesung zu »Konzeptionen des Anderen« angesprochen hat, weil er mit seinen Zeichnungen aus Langeweile bis auf ihren Block vorgedrungen war und quer über ihre Notizen Ranken, Blätter und botanische Ornamente gemalt hatte, seit sie eine zweisame Lerngruppe gegründet haben, in der sie sich aus einschlägigen Texten bei Wodka mit Brausepulver vorlasen, und seitdem man sie zunächst für ein Paar, manchmal auch für Geschwister gehalten hat, sie dann aber dieses Missverständnis für sich selbst und die anderen aufgeklärt haben, verfolgen sie mit Leidenschaft ihre gegenseitigen Entschlüsse und Vorhaben. Was sie verbindet, sind ähnliche Lebensverhältnisse. Man würde nicht denken, dass der schmucke, eloquente Nils auch in einer Kältezone lebt, weil er nicht genug Geld verdient, um seine Wohnung zu heizen. Dass er lieber gar nicht heizt - oder, 11
wenn es hochkommt, mit dem Gasherd in der Küche. Er lässt die Klappe des Ofens offen, sodass die feucht-warme Gasluft den Raum füllt. Man würde ebenfalls nicht denken, dass er, der so sparsam ist, manchmal Monate lang seine Miete nicht zahlen kann. Dass er, um seinen Umzug zu finanzieren, seine Plattensammlung verkauft hat. Er zog sich die Alben aus dem Internet auf seinen Rechner. »Nicht traurig sein, mein Lieber. Das Leben ist kein Zuckerschlecken«, tröstete ihn damals sein Vater, der befand, sein Sohn müsse sich durchbeißen, er müsse mal auf eigenen Füßen stehen, er müsse endlich erwachsen werden. Dabei war Nils schon längst erwachsen. Der Vater hat Nils natürlich noch nie in seiner Wohnung besucht. Der Vater besucht lieber seine neue, zwanzig Jahre jüngere Freundin, fährt mit ihr in den Urlaub, kauft ihr eine Wohnung, damit sie bei ihrem Mann ausziehen kann, und nimmt seinen Ehering ab. Scheiden lassen will er sich noch nicht, das könnte nämlich recht teuer werden. Nils' Mutter hat jedenfalls schon die Scheidung eingereicht, ihr Anwalt sieht dem Verfahren positiv entgegen, aber das dauert und dauert. Auf den Vater zählt Nils also eher nicht. »Wenn der hier anruft, dann nur, weil er wieder irgendeine Information über meine Versicherung braucht oder weil er für die Tochter seiner neuen Trulla eine Übernachtungsmöglichkeit sucht. Als ob ich ihm da helfen würde.« Linn ist immer überrascht, wie gut gelaunt Nils trotz allem ist. »Deine Eltern haben dir zumindest eine große Portion Lebensfreude mitgegeben«, sagt sie dann. »Rede nicht wie ein Leserbrief aus einer Frauenzeitung, ja? Du liest wirklich zu viel Schrott. Mir geht es gut. Ich brauche nicht viel, um glücklich zu sein.« Von Nils kann Linn einiges lernen. Da sage noch einer, es fehle heute an Einsatzbereitschaft und Durchhaltevermögen. Nils verfolgt zielstrebig seinen besonderen Weg und glaubt an sich. Vor allem glaubt er, dass es darum geht, wieder einen Zusammenhang herzustellen. Der Mensch, der heute so oft ein vereinzelter ist, auch wenn er in Paaren herumläuft, braucht 12
in Nils' Augen mehr Gemeinschaftserlebnisse und Gemeinschaftsorte. Linn ist meist etwas skeptisch, wenn Nils diese Ideen ausführt. »Das klingt ein wenig nach Gleichschaltung, mein Guter.« Aber Nils stellt die gemeinsame Erfahrung und gegenseitige Verantwortung, nicht die gemeinsame Organisation in den Vordergrund. Dass jeder das tut, was er gut kann, nicht nur für sich, auch für die anderen, und nicht gleich den Fernseher anstellt, wenn er nach Hause kommt, wäre ein Anfang, meint Nils. Dass doch diese Ego-Religion - dass jeder das Beste für sich wolle - zu einer Gruppenvision werden könnte. Dass sich doch verschiedene, verantwortungsvolle, neugierige Menschen verbünden müssten, um mit wenig Geld zum Beispiel ihre so genannten Traumhäuser zu bauen, in denen sich alle treffen und miteinander leben könnten. Schließlich bedeute »gutes Bauen« oder »gute Architektur« nicht »teures Bauen« oder »teure Architektur«. Auch Linn malte Nils ihre Zukunftsentwürfe aus, als er an einem dieser frühen Morgen nach einer langen Nacht vorbeikam, aber ihm fielen, weil er Spätdienst in einem Taxi-Call-Service gehabt hatte, schon nach ihren ersten beiden Sätzen die Augen zu. Linn holte weit aus, um die Perspektiven ihrer Eltern mit ihren eigenen zu vergleichen, als da wären »ein Haus, zwei Kinder, ein Garten, ein Hund, ein Auto« gegen »genug Geld für den nächsten Monat verdienen«. Sie führte lebhaft aus, wie sie den Lebensstandard ihrer Eltern mit ihrer jetzigen Lebensweise nicht erreichen würde. Ihre Eltern erzählten zwar immer, wie sie sich als Studenten zu zweit ein Bier in einer Kneipe geteilt hatten, wie sie in ihren ungeheizten Zimmern mit Mütze schlafen mussten, wie sie nur einmal in der Woche bei der Vermieterin duschen durften, wie sie als arme junge Leute begannen, sich durch emsigen Fleiß und Pfennigfuchserei ein besseres Lebensniveau zu erarbeiten. Wie sie mit einem Glas Marmelade und einer Portion Schmelzkäse ihr Frühstück und 13
Abendbrot bestritten. Wenn ihre Eltern in diesen Anekdotenstil verfallen, dann schaltet und winkt Linn nicht ab, sondern nickt verständnisvoll. Und stellt in ihrer anschließenden Erzählung einen weiteren Negativ-Rekord für die Familienchronik auf. Der große Unterschied und eine größere Herausforderung ist, so erläutert Linn dann ihren Eltern, dass wir heute unsere Leben wochenweise organisieren müssen. Wenn eine Sache klappt, können wir uns nicht darüber freuen und kurz durchatmen, sondern müssen schon die nächste planen. Wir sorgen uns darüber, was morgen ist. Wir strampeln uns ab und müssen mit dieser Existenzangst leben. Ihr konntet wenigstens sparen, ihr hattet ein Ziel und habt es erreicht!, ruft sie neidisch. Am Ende jedes Monats, am Ende jeder Woche bleibt bei uns leider nichts für Anschaffungen oder als Ruhekissen übrig. Sparen würde bedeuten, in die Zukunft denken zu können. Sie aber kann höchstens Auskünfte über das Heute geben. Die Eltern hatten damals wenigstens die Aussicht auf längerfristige Anstellungen und ein regelmäßiges Einkommen. »Aussichten wären schön, oder?«, hat Linn damals Nils zum Abschluss ihrer Erläuterungen gefragt und sein lautes Atmen als Zustimmung interpretiert. »Wenn man eine Aussicht hat, dann erscheint alles um einen herum überschaubar und freundlich. Aber ohne Aussicht wirkt alles bedrohlich, riesengroß und problematisch.« Weil er ihr nicht widersprach, fuhr sie fort: »Wir müssen uns heute mehr als dreimal überlegen, ob wir zu diesem Superkonzert unserer derzeitigen Lieblingsband gehen, weil wir vom Eintrittsgeld auch eine Woche lang unser Essen bezahlen könnten. Wenn wir Glück haben, dann stehen wir auf der Gästeliste - weil wir einmal im Monat für eine regionale Zeitung einen Artikel schreiben dürfen, dessen Honorar uns erst ein Jahr später überwiesen wird. Zudem gelten wir, obwohl uns meist weniger Geld als Studenten zur Verfügung steht, nicht mehr als solche. Überall müssen wir die vollen Eintrittspreise zahlen. Von einer Krankenversicherung mal ganz zu schweigen. 14
Weil die privaten Versicherungen zu teuer sind, versichern wir uns lieber gar nicht. Wir sind NICHTS«, klagte Linn, »weder Studenten noch Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger oder Berufsanfänger.« Sie wollte Nils erzählen, dass sie sehr gerne auf ein Auto oder eine Eigentumswohnung sparen würde, das fände sie überhaupt nicht spießig. Was sie und die Freunde für tolle Unternehmungen machen könnten! Stattdessen radelten alle auch noch im Winter von Stadtbezirk zu Stadtbezirk, um sich die Fahrkarten für den öffentlichen Nahverkehr zu sparen. Falls sie Urlaub machten, besuchten sie Freunde in den Städten, die mit Billigfliegern erreichbar waren, schliefen dort eine Woche auf einer Luftmatratze und schrieben keine Postkarten. Zu teuer. Zu Hause kauften sie die Freizeitgetränke am liebsten im Supermarkt. Im Winter kredenzten sie in kalten Küchen Glühwein. Und im Sommer saßen alle mit Bier auf irgendwelchen Hundekackewiesen. Niemand spielte Tennis, Hockey oder Golf. Die Jungs schauten Fußball in einer Kneipe. Die Mädels manchmal auch. Geht überhaupt noch jemand frühstücken?, wollte Linn Nils fragen. Aber sie war in ihren Gedankensümpfen stecken geblieben. Hatte sie über Fußball reden wollen? Nils hatte derweil friedlich weitergeschnarcht. Linns Gejammer interessiert ihn nicht. »Es ist eben so, wie es ist«, sagt er immer. Auch jetzt. »Wir kommen schon irgendwie durch.« Draußen wird es heute überhaupt nicht hell.
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Das Letzte Linn und Anika suchen das nächste Praktikum, und diesmal soll es das letzte sein. Dieses letzte Praktikum ist sehr begehrt. Manchmal heißt es »Assistenz« oder »Mitarbeit« oder »Young Associate«, und manchmal taucht der eigene N a m e in der Programmschrift, einem Abspann oder der Teamliste auf, wird also nach außen getragen. Der Praktikant freut sich, als vollwertiger Mitarbeiter dazustehen, vielleicht verdient er sogar ein paar hundert Euro. Aber wenn er die Rechte eines vollwertigen Mitarbeiters einfordert - Lohnfortzahlung im Krankheitsfall, Feiertagsvergütung, bezahlten Urlaub und nicht zuletzt Sozialversicherung -, wird er nur müde angeschaut: »Wenn Sie das nicht zu unseren Bedingungen machen wollen, dann lassen Sie es doch. Wir finden ohne Schwierigkeiten einen anderen. Und der macht es bestimmt auch für weniger oder gar kein Honorar.« Denn jeden Tag gehen bei den Arbeitgebern unzählige Bewerbungen ein, die Auswahl an engagierten, gut ausgebildeten und dazu billigen Mitarbeitern ist riesig. Die Personalabteilungen in den Unternehmen zeigen sich leicht entnervt über den Ansturm von Mappen und Anschreiben und bitten um Entschuldigung, dass sie »bei der Menge an Bewerbungen« die Antwort vertagen müssen. »Haben Sie herzlichen Dank. Mit so vielen Interessenten haben wir nicht gerechnet. Wir bitten um Geduld und Verständnis, dass wir Ihre Einsendung nicht persönlich beantworten können. Wir werden unsere Auswahl in spätestens drei Monaten abgeschlossen haben. Wenn Sie dann nichts von uns hö16
ren, sagt dies nichts über Ihre Fähigkeiten aus. Wir wünschen Ihnen weiterhin viel Erfolg bei Ihrer Arbeitssuche.« Wenn Linn und Anika sich treffen, dann stecken sie, wie alle Freundinnen, die Köpfe zusammen und besprechen die allgemeine und persönliche Weltlage. Heute darf Anika die Hauptredezeit in Anspruch nehmen. Sie ist im Moment ziemlich frustriert, weil sie auf zwanzig Bewerbungen zehn Absagen erhalten hat, weil sie sich nicht traut, die zehn anderen Institutionen und Unternehmen, deren Reaktionen noch ausstehen, anzurufen und nachzufragen, weil sie nicht aufdringlich sein will, weil manche Bewerbungsmappen erfahrungsgemäß nie zurückgeschickt werden, auch wenn jede Mappe einen materiellen Wert und Besitzer hat, weil sie meint, dass ihr viele Qualifikationen fehlen, vor allem Berufserfahrung, weil sie langsam nicht mehr daran glaubt, den so genannten Einstieg zu schaffen. »Ich kenne mich nicht aus«, sagt sie. Linn schüttelt den Kopf. Dann breiten sie Briefe vor sich aus, zücken Stift und Textmarker und verfallen in konzentriertes Schweigen. Sie lektorieren gegenseitig ihre Lebensläufe und Anschreiben. »Hier würde ich nicht so dick auftragen, das glaubt dir keiner«, sagt Linn zu Anika. »Du musst alles mit Beispielen belegen«, fordert sie weiter. »Sehr geehrte Damen und Herren. Das geht gar nicht. Hast du keinen konkreten Ansprechpartner herausgefunden?« Linn hat im Laufe der Zeit einiges dazugelernt. Bei ihrer allerersten Bewerbung glaubte sie als Bewerbungsküken noch, eine mit Füller geschriebene Anfrage sei das Persönlichste und Erfolg versprechendste - gegen die Ratschläge ihrer Freunde. Nachdem sie auf mehrere solcher handschriftlichen Dokumente nur eine einzige Antwort erhielt, von einer Sekretärin, die den gleichen Nachnamen wie Linn trug und sich somit wohl Linn gegenüber zu Ehrlichkeit und Aufklärung verpflichtet fühlte und sie darauf hinwies, in Zukunft besser einen Computer zu nutzen, unterschreiben könne sie trotzdem mit
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preußisch blauer Tinte, ja, kleiner Tipp, sie müsse sogar unterschreiben, und - großer Tipp - wir suchen eine Praktikantin ab übernächsten Herbst, melden Sie sich nächstes Mal mindestens sechs Monate vor Ihrem gewünschten Praktikumsdatum, wir brauchen Vorlauf, weil Linn also belehrt wurde, optimierte sie Schritt für Schritt ihre Bewerbungstechnik, wurde kreativer in ihren Anschreiben, umfassender in ihrem Lebenslauf. Sie steigerte sich von Praktikum zu Praktikum. Arbeitete sie zunächst vier Wochen bei einem Autoschraubenlieferanten in der Anzeigenabteilung des Mitarbeiterblättchens und tippte Geburtstagsgrüße ab, suchte sie danach vier Wochen bei einer Lokalzeitung für den Veranstaltungskalender Termine heraus und bildete sich anschließend sechs Monate lang zwei Tage die Woche im Veranstaltungsmanagement bei einer lokalen Kulturinstitution weiter, um zuletzt bei der Projektassistentin einer Industriewerbeshow für eine Autozulieferermesse drei Monate ohne Honorar Tag und Nacht zu hospitieren. Da schloss sich der Kreis. Es ging ja überall um technischen Fortschritt und Fortbewegung. Linn stellte sich kleine achteckige Schrauben vor, die sich zwar nicht von selbst drehten, die aber mit dem richtig gewählten Werkzeug passgenau und wie geschmiert in den vorgebohrten Löchern verschwanden. Natürlich glaubte Linn nicht daran, dass eine solche Drehbewegung das S c h l ü s selmoment ihrer Berufsperspektive sei, aber so etwas Ähnliches, denn sie wollte zu einem Schluss kommen. Sie hatte die ersten Praktika durchlaufen um herauszufinden, was ihr Spaß machte und was nicht. Sie war meistens froh gewesen, nach ein paar Wochen wieder zu gehen, um sich mit dem zusätzlichen Zeugnis bei der nächsten Bewerbung um eine interessantere Arbeitsstelle bessere Chancen ausrechnen zu können. N u n will sie sich ein letztes Mal bewerben, ein allerallerletztes Mal, um den Einstieg zu schaffen, die kleine, noch fehlende Schraube hineinzudrehen, um dem Chef oder der Chefin aufzufallen und mit ihren Ideen und ihrem Enthusiasmus so unersetzbar 18
zu werden, dass sie nach drei Monaten unbezahlter Aushilfstätigkeit zu einer bezahlten Hilfskraft wird. Sie nimmt sich vor, dort jede ihr aufgetragene Arbeit schnell, zügig und kompetent zu erledigen, wenn nötig auch am Wochenende zu arbeiten und immer als Letzte zu gehen. »Nur wer lange bleibt, qualifiziert sich für die guten Jobs«, ist ihr Credo. Anika bewegt sich, um keine Möglichkeit verstreichen zu lassen, sogar zum »Career-Center« an der Universität, um ihre Bewerbung überprüfen zu lassen. Sie lebt von einem wissenschaftlichen Stipendium, das ihr ein minimales Grundeinkommen sichert und das sie nicht versteuern muss. Ihre Eltern finanzieren den Rest, der so anfällt. Es ist ihr unangenehm, immer noch auf ihre Eltern angewiesen zu sein, aber diese sind begeisterte Unterstützer ihrer wissenschaftliche Karriere, weil sie denken, dieser Einsatz wird sich lohnen und ihre Tochter kommt irgendwann an der Uni groß raus. Sie glauben an die Frauenquote im öffentlichen Dienst. Anika ist etwas skeptischer. Und möchte deshalb neben ihrer Archivarbeit Einblicke in das Berufsleben gewinnen. Sie lässt sich einen Termin bei einer persönlichen Karriereberaterin an der Uni geben und besucht zwei Wochen später guten Mutes die Sprechstunde. Auf dem Gang ist nichts los, im so genannten Bibliothekszimmer ist der runde, mittige Tisch leer geräumt, hier scheint nie jemand zu lesen oder etwas nachzuschlagen. Hinter irgendeiner T ü r klingelt ein Telefon, hinter einer anderen summt eine Kaffeemaschine. Anika wird von Frau Düse, die eine Bluse mit einem sehr dynamischen Muster trägt, in ein Besprechungszimmer gebeten. Das Zimmer ist hell und freundlich, mit gesunden Grünpflanzen auf den Fensterbänken. Anika wird nett begrüßt und höflich behandelt, darüber kann sie sich nicht beschweren. Aber als sie Frau Düse ihre Bewerbung und die dazugehörige Stellenanzeige reicht und fragt: »Was können Sie mir raten, damit meine Bewerbung Erfolg hat? Sollte ich eine Formulierung ändern? Oder welche 19
anderen Tätigkeiten kämen bei meinem Profil, Ihrer Meinung nach, infrage?«, da runzelt Frau Düse nur die Stirn, blättert angestrengt in Anikas Unterlagen, um danach sofort verbindlich zu lächeln. »Ihre Bewerbung ist wunderbar. Da kann ich Ihnen nicht weiter helfen. Machen Sie weiter so. Sieht doch alles gut aus.« Anika schickt ihre Bewerbung unverändert ab. Einen Monat später findet sie eine weitere Absage in ihrem Briefkasten. Danach ist sich Anika sicher, dass sie nie wieder überhaupt nur im Geringsten darauf hoffen wird, dass ihr in einer Hilfsinstitution geholfen wird. »Die haben doch keine Ahnung«, sagt sie. Als sie Linn davon erzählt, seufzt die nur und sagt: »Das, was Frau Düse den ganzen Tag macht, könnten wir in zwei Stunden erledigen. Und von ihrem Gehalt könnten wir beide ganz gut klarkommen.« Linn reckt ihr Kinn nach vorne, es ist rund wie eine Faust, und schaut Anika verschwörerisch an. »Wenn ich an der Macht bin, werde ich dafür sorgen, dass solche Leute nicht auch noch eine dicke Rente beziehen. Dafür wird es nämlich gar kein Geld mehr geben. Wie sollen denn Arbeitslose die Rentenkassen füllen?« Anika muss über diesen Sparwitz lachen und schiebt ihr Kinn ebenso nach vorne in Richtung Zukunft und Modernisierung. Im Jazz-Cafe, wo sie für sieben Euro die Stunde jobbt, hat sie angefangen, kopierte Artikel über die Illusion der Vollbeschäftigung und die Lügen der Politiker zu verteilen. Wenn ihr hinter der T h e k e langweilig ist, faltet sie aus den Berichten und Interviews Origami-Figuren: Kraniche, Schwäne und Trinkbecher. Das Origami-Prinzip erscheint ihr vorbildlich, um aus wenig etwas Schönes zu schaffen und sich an die Schönheit des »Weniger« zu gewöhnen. »Ich könnte das nicht so gut zusammenfassen«, murmelt sie, wenn sie die kunstvollen Papierstücke zu den bestellten Milchkaffees legt. Linn jobbt nicht, sie steckt, seitdem sie keine Prüfungen mehr vor sich und ein Diplom in der Tasche hat, alle Energie ins Be20
Werbungsgeschäft. »Ich fahre mindestens siebengleisig«, sagt Linn, »und je mehr Bewerbungen ich schreibe, desto klarer wird mir, was ich zu bieten habe. Ich würde mich eigentlich immer sofort einstellen.« Je nach Bewerbung passt sie ihren Lebenslauf an, damit er gradlinig wirkt, stellt etwas um, kürzt hier und da und betont andere Schwerpunkte, höchstens ein bis zwei. Mehr würden ihre Ansprechpartner nur irritieren. Sie möchte zielstrebig wirken und kann sich für sehr unterschiedliche Profile zurechtstutzen oder auch erweitern. Ihre Taktik ist: sich bloß nicht festlegen, vielseitig anschlussfähig sein - wie ein Joker. Immer so tun, als sei sie diejenige, die gerade gesucht wird, die genau hineinpasst. Sie ist flexibel, mobil und formbar. Sie muss sich anpreisen, darf aber nie verzweifelt wirken. Im Gegensatz zu Anika, die ehrlich ist und alles angibt, was sie bisher gemacht hat, und damit oft nicht das Stellenprofil punktgenau erfüllt, gehört Linn zu denen, die immer wieder in die engere Wahl kommen und zu Auswahlgesprächen eingeladen werden. Sie weiß inzwischen, wie sie sich hinsetzen, wie sie schauen, wie lang oder kurz sie reden muss. Und wann sie etwas fragen muss und darf. Auch wenn sie die Stelle gar nicht wirklich will, kann sie den Eindruck erwecken, dass nur diese Stelle für sie infrage kommt. Das hat Vorteile. Wenn sie zum Beispiel eine Absage erhält, ist sie nicht traurig, weil sie sich einreden kann, dass sie die Stelle ohnehin nicht wollte. Bekommt sie hingegen eine Zusage, kann sie sich freuen, aber immer noch absagen. Skrupel hat sie dabei nicht. Sie spielt nur das Bewerbungsspiel mit. Sie testet ihre Fähigkeiten. Für wie viele Richtungen kann sie überzeugend eintreten? Sie vertritt sich als Fraktal. Sie beobachtet sich in ihren Zersplitterungen. Wenn zum Beispiel die Personalfrau fragt, wieso sich Linn denn für einen Kinderbuchverlag beworben habe, obwohl sie noch nie mit Kinderbüchern zu tun hatte, entgegnet Linn, dass sie genau deshalb die Richtige für Kinderbücher sei, denn sie habe noch einen unvoreingenommenen Blick, außerdem könne sie ihre Erfahrungen aus
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anderen Arbeitsbereichen, in denen sie sich mit kurzen Texten befasst habe, einbringen. Und sie hielte Kinderbücher für etwas so Sinnvolles, ja, sie wolle endlich etwas machen, das ihr wichtig sei. Sie habe früher als Schülerin die Kinder der Nachbarn gehütet. Kinder seien phänomenal, kreativ und spannend. Und sie wolle ja etwas Kreatives und Spannendes machen. Sie habe alle ihre Zeichnungen aus der Grundschule in einer Mappe gesammelt, und diese Dokumente würden ihr die Sicht der Kinder wieder aufschließen, um mit Wordsworth zu sprechen: »Thou best philosopher who yet dost keep/Thy heritage; thou eye among the blind/That, deaf and silent, read'st the eternal deep,/Haunted forever by the eternal mind;/Mighty prophet! Seer blessed!« - die berühmte Ode an die Unsterblichkeit, in der das Kind zum Visionär ausgerufen wird - oder mit Schiller, der Mensch sei ja nur da ganz Mensch, wo er spiele, also, die Kindheit sei die wahre Wiege der Menschheit, und wenn man etwas in den Köpfen verändern wolle, müsse man dort beginnen. Die Personalfrau nickt zufrieden. Sie hat über das aufgeklärte und verklärte Kindheitsmotiv in der englischen und deutschen Romantik promoviert. Und Linn glaubt sich selbst kein Wort, denn sie hat überhaupt keine Lust auf Kinderbücher, aber der Job wäre für zwei Jahre und bezahlt. Vor einem Bewerbungsgespräch recherchiert Linn immer so intensiv, als bereite sie sich auf eine Prüfung vor. Sie informiert sich über die Firma, über aktuelle politische Themen und eventuelle Skandale, über Punkte, die sie besser nicht ansprechen sollte, denkt über eigene Stärken und Schwächen nach, findet Kosten und Dauer des Anfahrtsweges mit Nah- und Fernverkehrsmitteln heraus und erfragt im Vorfeld die Namen der Gesprächsteilnehmer, um deren Lebensläufe und Karrieren zu erforschen. Dann kann sie nichts aus der Ruhe bringen. Sie übt diese Gespräche mit ihrem Freund Viktor: »Stellen Sie sich vor, dass Sie mit einem Kunden verhandeln. Er möchte etwas durchsetzen, das wir in unserer Zielvorgabe ausgeschlos22
sen haben. Was tun Sie?« »Ich bleibe stur.« »Der Kunde bleibt auch stur.« »Ich bleibe weiterhin stur, denn ich streite gerne. Ich argumentiere gerne. Ich werde alle Argumente vorbringen, um ihn zu überzeugen, dass wir es gut mit ihm meinen, aber dass dieser Punkt nicht diskutabel ist.« »Der Kunde bleibt weiter stur.« Linn ist am Ende ihrer Weisheit, und nun kommt Viktor ins Spiel. »An dieser Stelle musst du sagen, dass du mit deinem Vorgesetzten Rücksprache hältst. Du selbst triffst natürlich keine eigenmächtige Entscheidung. Du willst den Kunden nicht vergraulen und vertagst deine Antwort, bis du das Problem deinem Chef geschildert hast. Und er wird dich für sehr loyal halten, denn du hast gezeigt, dass du die Hierarchien kennst und nicht hinter seinem Rücken verhandelst.« Viktor ist kompetent, weil er selbst genügend Gespräche hinter sich hat. Eines, bei dem der Arbeitgeber barfuß herumlief. Eines, bei dem Viktor irgendwie vom Thema abkam und nur noch von seinen Eltern erzählte. Eines, bei dem er sich nicht hinsetzen, sondern die leeren Regale im Raum anschauen und kommentieren sollte. Und eines, bei dem seine Gesprächspartner ständig in Lachen ausbrachen, weil sie Insider-Witze rissen. Er weiß, dass die Arbeitgeber höchste Professionalität von ihren Bewerbern verlangen, obwohl sie sich selbst einiges durchgehen lassen - vielleicht, um die Bewerber zu irritieren, oder weil sie eigentlich unprofessioneller als die jungen Arbeitssuchenden sind. Anika kennt sich dagegen mit dem Scheitern aus. Ihre Nerven zittern, wenn sie den Raum betritt, in dem Kekse und Kaffee bereitstehen. Weil sie ständig Absagen bekommt, kann sie nicht mehr richtig schlafen. Ihr Rücken ist verkrampft. Falls sie doch einmal eingeladen wird, ist die Anspannung so groß, dass sie Beruhigungsmittel nehmen muss. Die Angst, wieder zu versagen, ist trotzdem da. Und diese Angst schlägt ihr auf das vegetative Nervensystem, verursacht Magendrücken und Durchfall, sodass sie unkonzentriert ist und schnell das Falsche sagt. Sie 23
schaut den Leuten ungern ins Gesicht, das empfindet sie als unhöflich, und dadurch wirkt sie unsicher. Sie hasst es, dick aufzutragen. Sie sagt »ich weiß nicht, ob ich das kann« anstelle von »ich habe das noch nie gemacht, aber würde es gerne lernen«. Als einmal der Chef zu spät zum Gespräch kam, musste sie eine Viertelstunde mit dem Abteilungsleiter warten. Dieser sprach ständig ihren Namen falsch aus. Sollte sie ihn korrigieren? Testete er durch das falsche Aussprechen ihr Selbstbewusstsein? Dann müsste sie ihn darauf hinweisen, um als durchsetzungsfähig zu gelten. Sprach er ihn aus Versehen falsch aus? In dem Fall könnte er beleidigt sein, wenn sie ihn verbesserte. Sie entschied sich dafür, nichts zu sagen, sie redete sowieso nicht so gerne und vermutete, sie selbst habe wahrscheinlich ihren Namen falsch geschrieben. Doch im Verlauf der Kommunikation stellte sich heraus, dass niemand ihre Unterlagen genau gelesen hatte. »Was haben Sie studiert?«, fragte der endlich eingetroffene Chef. »Japanologie. Ach so. Gut, dann stellen Sie sich bitte kurz vor.« Anika erzählte von ihrer Arbeit an der Uni und ihren Seminaren und dass sie später gerne im Bereich der Wirtschaftsberatung arbeiten würde. Kurz darauf unterbrach der Chef ihre Ausführungen: »Das ist ja alles schön und gut. Aber sind Sie sich im Klaren darüber, dass wir unsere Geschäftsgespräche auf Japanisch führen?« Anika war verwundert. »Natürlich. Ich habe Japanologie studiert und ein Jahr in Japan gearbeitet.« »Ach so. Gut. Prima.« Dann klingelte das Handy des Abteilungsleiters. Nachdem er sein Telefonat in Ruhe beendet und der Chef die Zeit genutzt hatte, um kurz zu verschwinden, kam das Bewerbungsgespräch nicht mehr in Schwung. »Vielen Dank«, sagte der Chef. »Wir melden uns bei Ihnen. Hier, schauen Sie sich doch mal unsere Firmenbroschüre an. Und machen Sie Werbung für uns bei Ihren Kommilitonen.« Anika fuhr unglücklich nach Hause. Sie konnte sich noch so gut vorbereiten, sie schaffte es nicht, eine Maske aufzusetzen. Sie mochte sich nicht ständig anpreisen. Eigentlich fiel ihr auch nichts mehr ein, was sie 24
betonen und herausschreien könnte. Und weil es so oft schief lief, war sie beim nächsten Mal noch nervöser. Linn dagegen hat eine Einladung zum Vorstellungsgespräch bekommen, das allerdings in der Firmenkantine stattfinden soll. Der Personalchef hat wenig Zeit, wie die Sekretärin am Telefon sagte, und so könnten sie einfach gemeinsam etwas essen. Linn übt also wieder mit Viktor. Die so genannte Kaffeesituation bewältigt sie schon anstandslos: Sie nimmt den angebotenen Kaffee an, auch wenn sie eigentlich wach genug ist, denn eine Ablehnung würde unhöflich wirken, und tut so, als trinke sie ihn schwarz, damit sie nicht beim Hantieren Milch und Zucker verschüttet. Sie lässt ihn kalt werden, nippt erst nach zehn Minuten kurz und vorsichtig daran, damit der Blickkontakt mit den Gesprächspartnern nicht vom Tassenrand verstellt wird. Und weil Linn die Kaffeesituation wirklich perfekt beherrscht, übt Viktor nun mit ihr die verschärfte Variante: das Bewerbungsgespräch beim Edel-Italiener - sein Geburtstagsgeschenk für sie. Nun sitzen sie sich bei Kerzenlicht gegenüber. Linn muss elegant die Riesengarnelen pulen und die Sepia-Spaghetti tropf frei aufzwirbeln und dabei über ihre Arbeitserfahrungen sprechen. Das Essen soll wie nebenbei geschehen - denn es sei ja eigentlich ein Vorstellungsgespräch, und sie solle sich nur eine kleine Portion bestellen. Je länger sie spreche, rät Viktor, desto mehr könne ihr Gegenüber essen, und je weniger Hunger er habe, desto genauer könne er zuhören. Sie müsse allerdings unbedingt eine Zwischenfrage stellen, damit auch sie zum Essen käme und das Gegenüber auch etwas über sich erzählen könne. Und wenn die Gesprächspartner nur noch von sich redeten, sei das Gespräch, so Viktor, als ein gelungenes anzusehen. Denn die Arbeitgeber wollten nun auch einmal zeigen, was sie so drauf hätten. Sie würden damit die Bewerberin als jemanden anerkennen, vor dem es sich lohne anzugeben. Im Gespräch müsse sie daran denken, alle Beteiligten anzuschauen, nicht nur denjenigen, 25
der das Gespräch führt. Denn auch der anwesende Betriebsratsvertreter, der nichts sagt, werde am Ende seine Stimme pro oder contra Linn geben. Linn hat unterdessen mit Weißbrot die ölige Soße aufgewischt, ihren Mund abgetupft und einen Schluck Rotwein genommen. Unter dem Tisch krabbelt Viktor mit seinen professionellen Fingern an ihren rasierten Beinen hoch und malt ein unsichtbares »Auguri auguri« - Viel Glück! - auf ihre Haut. Weil Linn sich also gut wappnet, läuft bei ihr eigentlich immer alles glatt. Als die Sekretärin am Telefon den Weg erklären will, winkt Linn ab: »Das finde ich schon, ich habe ja einen Stadtplan.« Dumm bin ich nicht, meine liebe Dame, denkt sie, genervt von der Überheblichkeit und Besserwisserei der Telefonistin. Als Linn aus dem Zug steigt, hat sie noch so viel Zeit, dass sie in einem Kosmetik-Laden ihr Make-up überprüfen und schnell die Hände eincremen will. Doch auf manche Malheurs kann sich auch der Bewerbungsprofi Linn nicht vorbereiten. Denn leider erwischt sie die falsche Tube, ein Peeling mit Natursand statt der kamillensanften Lotion. Es klebt und stinkt und lässt sich mit den von der Verkäuferin gereichten Tüchern nicht abwischen. Linn bleiben noch zwanzig Minuten, um eine öffentliche Toilette und die Firma zu finden, und sie wird etwas unruhig. In einer Shoppingmall hat sie Glück. Das Klo ist hoch technisiert, und man muss um hineinzugelangen 80 Cent in 20 Cent-Münzen an eine Drehtürmaschine entlohnen. Diesen Preis hält Linn für etwas übertrieben. Also fragt sie die beschürzte Reinigungskraft, die den Eingang bewacht und Wechselgeld für den Automaten herausgibt, ob sie ausnahmsweise umsonst ans Waschbecken gehen dürfe? Sie habe gleich ein Vorstellungsgespräch und sich aus Versehen die Hände mit einem Peeling eingecremt, das sie nun dringend entfernen müsse. Die Frau scheint ihr kein Wort zu glauben und hält ihr als Revanche für diese dämliche Ausrede einen nassen Lappen hin. Im Reflex nimmt Linn ihn entgegen: »Ist das Wasser?« 26
Die Frau antwortet vorwurfsvoll, vielleicht aber auch etwas hinterhältig: »Was denn sonst?« Danach fühlt sich Linn doppelt eklig. Diese Hände, belegt mit einer Paste aus Steinkrümeln und Wischfeuchte, möchte sie niemandem geben und kramt 80 Cent zusammen, um das Zeug abzuspülen. Beim Waschen lässt sie sich Zeit, denn wenn sie schon dafür bezahlt, dann soll es sich wenigstens lohnen. Fünf Minuten lässt sie das angenehm lauwarme Wasser über ihre Finger laufen. Und dann wird die Zeit knapp. Weil sie sich die entsprechenden Quadrate des Stadtplans ausgedruckt hat, findet sie zum Glück sofort die richtige Straße. Aber die Hausnummer, nach der sie sucht, ist unauffindbar. Sie hat den großen Fehler gemacht, die Telefonnummer der Sekretärin nicht mitzunehmen. Hier in der Gegend kennt sie niemanden, der ihr irgendwie helfen könnte. Die Straßen sind leer. Noch zehn Minuten bis zum Termin. Linn hat sich, damit sie nicht mit großen Flecken unter den Achseln erscheint und den ersten Eindruck beschmuddelt, der ja bekanntlich der wichtigste ist, während der Anfahrt Taschentücher unter die Achseln gestopft. Sie sind schon völlig durchgeweicht. Linn tauscht die Tücher gegen eine letzte Ersatzportion Klopapier aus. Manchmal vergisst sie, das Aufsaugmaterial vor dem Treffen zu entfernen, und muss aufpassen, dass die weichen Klumpen nicht nach vorne oder nach hinten rutschen und merkwürdige Beulen entstehen lassen. Sie beeilt sich und rennt weiter, um den Block, weil das Haus vielleicht von einem anderen Straßenzug aus zugänglich sein könnte, sozusagen von hinten. Es bilden sich Schweißringe auf ihrer Bluse, aber das ist ihr jetzt auch egal. Sie begibt sich in die Hauseingänge der nächstliegenden Hausnummern und studiert die Schilder sehr genau. Dann den Hof. Sie inspiziert jede nur mögliche Treppe. Sie kommt sich vor wie bei einer Schnitzeljagd. Schließlich findet sie eine Feuerleiter, die sich an der Hauswand bis zu einem Balkon kurz unterhalb des Daches rankt. Von hier aus kann sie zwischen den beiden Häusern zu 27
einer Tür gelangen. Nachdem Linn durch das Trial-and-ErrorSystem alle anderen Eingänge in der näheren Umgebung als Zielorte ausgeschlossen hat, geht sie nun diesen letzten absurden Weg. Mit erhitztem Kopf und feuchten Händen erreicht sie ein Büro, neben dessen Klingel wirklich die gewünschte Hausnummer zu lesen ist. Nachdem der Türöffner gebrummt und sie hineingelassen hat, nachdem sie der Sekretärin »Guten Tag« gesagt und ihre Jacke wegen der nassen Stellen nicht ausgezogen hat, kann sie sich nicht verkneifen zu bemerken: »Ich hätte Sie fast nicht gefunden.« »Das ist unsere Absicht«, entgegnet die Sekretärin höflich. »Aber nun sind Sie ja hier. Viel Erfolg bei Ihrem Gespräch. Sie sind die Erste, die nur fünf Minuten Verspätung hat. Und für heute die Letzte.«
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Drei Dinge »Es ist ja wohl klar«, sagt Jasmin, »dass ich für den Job auch nach Castrop-Rauxel oder nach Timbuktu gehen würde. Ich muss klein anfangen und mich hocharbeiten. In zehn Jahren kann ich mich dann in den großen Städten bewerben.« Sie hat gerade ihre Magisterarbeit abgegeben, sich Tage und Nächte mit ihrem BilligDrucker um die Ohren geschlagen, weil er für das Drucken einer Seite fünf Minuten brauchte, seinen Tintenstrahlseufzern und Seiteneinzugkratzern gelauscht, ist monatelang nicht mehr ans Telefon gegangen und hat, weil sie nur noch auf ihrem Bürostuhl saß, zehn Kilo zugenommen. Deshalb pflegt Jasmin jetzt wieder ihr sehr genügsames Hobby: Wenn sie Hunger hat, liest sie sich Rezepte durch. Ihr Motto lautet »sparsam genießen«. Ihr Ziel ist, die Zutaten für die Gerichte immer weiter zu verringern und trotzdem vollwertige Speisen zuzubereiten. Regelmäßig kocht sie für ihre Freunde ihre Lieblingsreduktionen. »Jetzt trete ich endlich in eine neue Phase meines Lebens«, sagt sie optimistisch. »Jetzt mache ich etwas Sinnvolles.« Ihren Freunden gefällt die Energie, die ihnen da entgegenspringt. Trotz überfüllter Seminare, unmotivierter Dozenten, einer lückenhaften Bibliothek, asbestverseuchter Arbeitsräume und fehlender Praxis hat Jasmins positive Grundeinstellung und ihr Glaube an das Kommende-Bessere nicht nachgelassen. Das ist an sich schon bewundernswert. Zusätzlich fühlt sie sich vom akademischen Druck befreit, von Leselisten und Lernplänen, vom Gefühl, in jeder freien 29
Minute weiter studieren, mehr lernen, in die Tiefe gehen zu müssen, alles zu hinterfragen. Sie fühlt eine »neue Leichtigkeit«, wie sie es nennt. Und wenn sie singen könnte, würde sie singen und nicht sagen: »Jetzt weiß ich endlich, was ein Flow ist. Ich brauche keine Aufputschmittel mehr.« Sie unternimmt wochenlang nichts außer »einfach mal eine Straße hinunterlaufen, einfach mal ohne schlechtes Gewissen ins Leere starren, endlich mal wieder tanzen gehen«. Und dann will sie endlich den Start ins Berufsleben anpacken. Sie schreibt angriffslustig Bewerbungen, spart nicht an Kopiergeld und Portokosten, verschickt ihre gesammelten Werke in die weite Welt, denn sie ist offen für alles. Jasmin hat Glück und findet Arbeit in einem deutsch-polnischen Altersheim. Sie freut sich über diese Chance, eigene Erfahrungen zu machen, Verantwortung zu tragen, interkulturelle Kompetenz zu üben, eigenständig Initiative zu ergreifen und Flexibilität am Arbeitsplatz zu lernen. Sie glaubt, dass sie mit diesen Stichworten, die sie geschickt in ihr Anschreiben eingebaut hat, als modern und motiviert aufgefallen sein muss. Sie lernt in einem Schnellkurs zehn Sätze der weichen slawischen Sprache, packt zwei Koffer und bucht ein Ticket für einen intereuropäischen Zug. Vor ihrer endgültigen Abfahrt und dem »jobbedingten Ortswechsel« veranstaltet sie eine Abschiedsparty, küsst einen Freund in der Küche vor dem Kühlschrank, weiß, dass der Beginn dieser Affäre schon der Schlussstein ist. Dieses Mal ist allerdings nicht nur das Essen, sondern auch die Stimmung minimalistisch - passend zu den Leerstellen in ihrer Küche. »Alles Gute bei deinem neuen Start da unten«, sagt Nils. »Gute Reise!«, wünscht Linn. »Melde dich«, sagt Anika. Die Regale sind ausgeräumt. Der Kühlschrank kippelt und ruckelt die letzten drei Joghurts kalt. Passend zur Traurigkeit des Anlasses gibt es ein Vierer-Essen, für jede anwesende Person eine Zutat. Schnell ist alles aufgegessen. »Wenn du das nächste Mal für uns 30
kochst, dann bitte nur ein Dreierlei«, hofft Nils. »Es muss doch irgendwie vorangehen.« Er schenkt ihr einen Block: »Für die flotten Dreier.« Weil der Witz so schlecht ist, grinst er etwas schräg. Vor der Abfahrt am Bahnhof weint sie, warum weiß sie gar nicht so genau. Nils' Block legt sie als Platzhalter auf ihren Sitz und während der Reise als Tablett auf ihre Beine, während sie die geschmierten Proviantbrote verzehrt. Eigentlich müsste Jasmin zufrieden sein. Sie müsste sich wohl fühlen. Ihr neuer Arbeitgeber bezahlt ihr eine große, helle Wohnung mit zwei Zimmern, einem rosa gekachelten Bad, einer Waschmaschine und einer Einbauküche. Der Balkon geht in Richtung Süden, allerdings mit Blick auf Plattenbauten, auf die von Tauben bevölkerten Fenstervorsprünge, auf Häkelgardinen und Ehepaare mit dicken Bäuchen. Es sind durchaus heimelige Plattenbauten, sonst wären die Tauben nicht so anhänglich, denkt sie. Ein bisschen störend ist, dass die Plattenbaubewohner genau in ihr Zimmer sehen können. Wenn sie sich auf das Gebirge stellen würde, das hinter der Stadt beginnt, könnte sie bis ans Mittelmeer schauen. Hier und da hängen rustikale Tonteller an der Wand, bemalt mit fröhlichen Mädchen, denen beim Volkstanz die Bänder im Haar wehen. In der Küche findet sie nur ein Geschirrhandtuch, aber in einer weiteren Schublade zehn Tischdecken. Die Flammen des Gasherdes pfeifen und sausen wie verrückt, wenn sie für ihren Vier-Uhr-Tee nach Ostfriesenart - Tee, Kluntje, Sahne - die vierte Zutat Wasser erhitzt. Nachts zirpen irgendwelche Tiere in den Wasserrohren so laut, dass sie nicht schlafen kann, sodass sie mitten in der Nacht Müsli einweicht und alte Rezepte liest. Ansonsten keine Geräusche, keine Gespräche. Sie ist so neu hier. Sie wünscht sich neue Rezepte. Jasmin schickt Nachrichten nach Hause: »Die Wohnung ist schön, hell und groß. Ich fühle mich mediterran.« Aber die Wohnung ist zu groß. Sie nimmt sich vor, nur das eine Zimmer 31
zu bewohnen, das zweite Zimmer als Gästezimmer leer stehen zu lassen. Denn diese mittelgroße Stadt liegt in einem ehemaligen Industriegebiet und lockt mit einer Kunstavantgarde, die die leer stehenden Fördertürme besetzt und mit Elektropop beschallt. Sie ist ein attraktives Reiseziel abseits der bekannten Routen, wie diverse Touristenbroschüren bestätigen. Der Salzabbau gilt als traditionelles und international renommiertes Gewerbe. Der größte Salzkristall der Welt stammt von hier. Schon im Mittelalter führten wichtige Handelsstraßen durch diese Region, vor allem die Bernsteinstraße von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer, die seitdem die städtischen Straßen und ihre Bürgerhäuser mit den südlicheren Landschaften verbindet. Die Bergleute fehlen ihr. Die Händler fehlen ihr auch. Die Elektropopper kennt sie noch nicht. »Ich fühle mich einsam«, sagt Jasmin laut in die sehr leere und sehr große Wohnung hinein, in der Hoffnung auf Zuspruch durch die eigene Stimme. Sie mag ihre Stimme. Am liebsten würde sie jetzt irgendwo anrufen und ihre eigene Stimme ganz spontan reden lassen. Aber sie hat noch keinen Festnetzanschluss, Handytelefonate sind zu teuer, auch Radio oder Kabelfernsehen als Ersatz sind nicht vorhanden. Sie kann niemandem etwas mitteilen, und ihr kann nichts mitgeteilt werden. Der Fernseher zeigt eine schwarz-weiße Rieselschau und auf Kanal 546 einen Privatsender ohne Ton, natürlich auch in Schwarz-Weiß. Es dauert sehr lange, bis sie das durch das schrittweise Hochsetzen der Programmnummern herausgefunden hat. Sie setzt sich davor, schaut die verzerrten Bilder an und denkt sich die Sätze dazu. »Vielleicht fördere ich meine kreative Seite durch diese zwanghaft einseitige Kommunikation«, redet sie sich ein und streicht über die noch leeren Seiten in Nils' Geschenkblock. Zum Glück hat sie ihren neuen Laptop mitgenommen. Sie fährt das Gerät hoch, hört die Begrüßungsmelodie und probiert alle Programme aus. Leider versteht sie die Anleitungen für die Spiele nicht, der Taschenrechner bringt nichts, wenn man 32
nichts auszurechnen hat, einfach so herumzurechnen, macht ihr schon nach fünf Minuten keinen Spaß mehr. Netterweise haben die Programmierer der Grundausstattung daran gedacht, für die Audio-Bibliothek einen Probesong einzuspeichern. »Ich brauche Geräusche, mehr Geräusche in dieser Wohnung.« Sie spielt den einprogrammierten Song ab. Er ist schrecklich, irgendein Rocksong eines amerikanischen Halbstars, aus dem eine bekannte Kochtopffirma ihr Werbejingle gebaut hat. Sie hört sich den Song zehnmal an, weil es eben der einzige ist, und probt dazu ein paar Tanzschritte durch die Wohnung. Um die Koordination etwas zu erschweren, wirft sie pantomimisch aus einer imaginären Pfanne ein Omelette in die Luft. Im Takt, versteht sich. Alles erscheint plötzlich einfacher. Alles ist plötzlich irgendwie erfüllt. Welche Gefühle Musik hervorrufen kann, denkt Jasmin begeistert, sogar schreckliche Kochtopfmusik erzeugt glückliche Schwingungen. Toll ist das! In den nächsten Tagen geht sie in der Wohnung auf und ab, packt die Koffer aus. Einiges fehlt. Also muss sie ein paar Sachen einkaufen, den Kühlschrank füllen, eine Grundausstattung besorgen. Viel braucht sie ja nicht, und viel will sie nicht - sie hat Nils' Aufgabe im Hinterkopf. Zurück zu den drei wichtigen Dingen. Nach dem Gang zum Supermarkt stellt sie fest, dass sie sich verrechnet hat. »Die Zahl drei ist mir noch sehr fremd«, bemerkt sie. Fremd sind ihr auch die örtlichen Lebensmittelverpackungen. Statt Salz hat sie Knoblauchgranulat gekauft, statt Milch Molke, statt Pfeffer Kümmel und statt Margarine Hefe. »Selbst ein Scheitern bei der Warenauswahl kann zu weiterer Kreativität führen und verführen«, doziert sie mit Kümmelgeruch in der Nase. »Ich werde Überraschungen kochen und mit Pfiff essen.« Am Abend kommt ihre neue Kollegin vorbei. Tatjana ist auch gerade erst an diesem Ort eingetroffen und neu hier. Jasmin hat sie bei den Vorstellungsgesprächen im Hauptbüro der 33
Organisation, bei der sie beide arbeiten werden, kennen gelernt. Tatjanas laute Stimme war durch den gesamten Flur gehallt, als sie in ihrem Gespräch gefragt wurde, ob sie sich für durchsetzungsstark und zielorientiert halte. Tatjana hat heute statt Salz Zucker gekauft, statt Quark Butter und statt Gries Mehl. Jasmin sagt so laut, wie sie nur kann: »Butterkeks.« Tatjana versteht sofort und stößt mit ihr an. Sie trinken Bier mit dem schönen Namen »Der Falke im Dunkeln verfliegt sich nie« und reden über die neuen Wohnungen. »Meine Vermieterin hat in der Wohnung handgewebte Teppiche verteilt«, erzählt Tatjana, »florale Muster, wo ich hinschaue. Die Frage, die mich zurzeit sehr stark beschäftigt, ist: Wie setze ich am geschicktesten Pflanzen und Reißzwecken ein?« Tatjana scheint ebenfalls ein introvertiertes Hobby auszuüben, es muss irgendwie mit Einrichtung zu tun haben. Jasmin findet es schön, dass die Kollegin einfach nur da ist, dass sie zentrale Fragen laut stellt und dass sie zum Abschluss eine Geschichte erzählt, in der in jedem Satz »Men in Black zwei« vorkommt. Die Wohnung wird erfüllt von »Men in Black zwei«. Jasmin beruhigt das sehr. Nachdem Tatjana gegangen ist, erstellt Jasmin eine Liste mit den in ihren beiden Haushalten vorhandenen Zutaten, um einen Überblick über mögliche Rezepturen zu erhalten. Fett unterstreicht sie Tatjanas Butterkekselemente. So ein Butterkeks ist doch was Praktisches, der passt immer. Er ist banal und alltäglich, aber auch handfest und heimatlich in kleinen runden Stücken. Sie entscheidet sich, dem Butterkeks die erste Seite ihrer Speisesammlung zu widmen. Als Tatjana sie das nächste Mal besucht, hat Jasmin das neue Rezept ausprobiert. Karamellduft zieht durch die Tür in das Treppenhaus. Karamellduft hängt in ihren Haaren. Jasmins Hände sind weich und rosig vom Kneten des Butterteigs. Auf dem Boden und unter ihren Hausschuhen kleben glänzende Mehlplacken. Auch auf ihrer Hose sind feine Mehlspuren zu 34
sehen. Tatjana ist zu dritt. Sie bringt zwei ihrer Kollegen und Tassen, Teller, Bestecke in doppelter Ausführung mit. In Jasmins Wohnung fehlt eben noch manches. Aber endlich muss sie nicht mehr das Kochtopflied singen. Endlich wird geredet und gelacht und gekrümelt, und Jasmin denkt an Nils. Er wäre sicherlich sehr zufrieden mit ihr und würde sagen: »Du bist richtig repräsentativ geworden.« »Trotz des Mehlstaubs?« »Gerade deswegen. Das wirkt einladend.« Nachdem die Gäste gegangen sind, setzt sich Jasmin auf den Fußboden im leeren Gästezimmer und schreibt Nils einen Brief über »drei wichtige Dinge«. Drei Seiten.
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Jasmin-Update Jedes Mal, wenn Jasmin nach Deutschland zurückkommt, bringt sie einen Rucksack voller Essen mit und wirkt ausgelassen, fröhlich, erwachsener. Sie erlebt dort im fernen Ausland so viel! Wo soll sie anfangen zu erzählen? Sie trägt dicke Wollpullis und ausladende Röcke, weil sie weiblicher wirken will, wie sie sagt. Im Gepäck befinden sich polnischer Käse, polnische Wurst, polnischer Wodka, polnische Salzstangen. Sie bricht unter dem Essen fast zusammen. Aber diese Schlepperei muss sein, denn schließlich möchte sie in der kurzen Zeit, in der sie in Deutschland ist, für alle Freunde kochen und von den Abenteuerlichkeiten aus dem zweisprachigen Altersheim berichten. Wie der alte Piotr weinte, als sie ihm etwas vorlesen wollte. Wie die alte Magda fast aus dem Fenster fiel, weil sie es für eine Tür hielt. Wie die alte Dorota das Kunststück »Ich verschlucke einen Bügel« vormachte. Es scheint sehr aufregend zu sein, dort im Ausland. Natürlich ist es nicht aufregender als in jedem anderen Altersheim. Aber es ist eben Jasmins erster Job, und der ist immer aufregend. Jasmin weiß, sie wird nur ein Jahr dort bleiben, denn dann wird sie sich ja hocharbeiten und wieder in die Nähe der großen Städte ziehen. Und dort dann die große Karriere starten. Auf jeden Fall soll alles ganz GROSS werden. Jasmin glaubt an natürliches Wachstum. Sie wohnt nun im polnischen Mobilfunkgebiet - auch die deutschen Handys wählen sich automatisch in 36
die polnischen Netze ein. Sie kauft sich ein polnisches Gerät, schreibt ab und zu eine SMS, weil das billiger ist, als aus dem Festnetz nach Deutschland zu telefonieren. Von Polen aus gibt es keine Billigvorwahlen. Einmal im Monat besucht sie ihre alten Freunde in Deutschland, um nicht den Anschluss zu verlieren, um nicht vergessen zu werden und um so zu tun, als ob sie immer noch da wäre. Bei ihren monatlichen Großstadtbesuchen muss sie innerhalb kürzester Zeit, meist an einem Wochenende, alle Menschen treffen, die für sie privat und beruflich wichtig sind, um dann hoffentlich nach ihrer Rückkehr nahtlos an ihr altes Leben anknüpfen zu können. In diesen Tagen muss sie es schaffen, »alle« zu sehen und von »allen« gesehen zu werden. »Ich muss mich zeigen«, nennt sie das. Sie muss sich für einen Moment in ihr altes Leben so einfügen, als sei sie nie weg gewesen. Das ist anstrengend, denn eigentlich ist sie ja weg und lebt ihr eigenes, den anderen recht fremdes Leben. Um dieses detailliert mitzuteilen, reicht die Zeit kaum. Alles, was sie erzählt, bleibt in Andeutungen stecken. Diese Unklarheiten haben einen positiven Effekt, denn sie steigern Jasmins Charme in gewisser Hinsicht. Ihre polnische Existenz erscheint von Mal zu Mal geheimnisvoller und undurchschaubarer. Manche Freunde denken, sie promoviere in Polen über Misshandlungen durch Pflegepersonal, absolviere eine Kochausbildung in einem Gutshaus auf dem Lande oder gehe einer leidenschaftlichen Liebschaft mit einem schlesischen Bauern nach. Und weil sie sich von allen alten Bekannten entfernt hat, damit sie irgendwann aufsteigen kann, muss sie nun ganz allein regelmäßig den Abstand zu den Dagebliebenen verringern. Aus ihrem alten Leben erhält sie seltene E-Mails. Nicht alle Bekannten und Freunde schreiben gerne oder regelmäßig. Und die Nachrichten, die sie erhält, sind bruchstückhaft. E-Mails sind oftmals schnelle Texte, mal eben zwischendurch, nach dem Kaffee, vor dem Bier. Sie erfährt nur von einigen einiges und nicht von allen alles. Diese Wissenslücken müssen also an 37
einem Wochenende geschlossen werden. Dass sich derweil andere Leben auch weiterentwickeln, dass nicht alle Lücken, die Jasmin als Lücken wahrnimmt, welche sind, dass Lücken nicht nur eine Wissens-, sondern auch eine Wahrnehmungssache sind, kommt Jasmin selten in den Sinn. Sie denkt, es genügt, ein paar Tage mit den alten Freunden in die alte Welt einzutauchen, ein paar Tage lang ihr Gedächtnis aufzufrischen, um zu erfahren, wie es daheim so läuft. Und kaum ist sie wieder nach Polen abgereist, fällt ihr ein, was sie alles noch fragen wollte, und sie beginnt mit der Planung ihrer nächsten Stippvisite. Wenn die polnischen Kolleginnen am Feierabend zusammensitzen, hängt Jasmin noch stundenlang vor ihrem Computer, informiert sich auf der Homepage des heimischen Stadtmagazins über die Veranstaltungen, die sie zwar in diesem Moment verpasst, an denen sie aber bald wieder teilnehmen wird. Sie lebt weder richtig in Polen noch richtig in Deutschland, sondern in einem unbestimmbaren Kommunikationstransit. Linn probiert probehalber ab und zu Jasmins deutsche Nummer aus, denn wenn Jasmin in Deutschland ist, benutzt sie wieder ihre deutsche SIM-Karte. Aber meistens ist the person you are Galling not available at present Ach ja, denkt Linn dann immer, sie steckt da irgendwo zwischen Apfelbäumen und Maisfeldern und bastelt tolle Korbgeflechte mit begeisterten Altpolen. Das meiste muss Linn sich also selbst ausmalen. Denn in Jasmins Mails geht es vor allem um die nächsten Heimattreffen: »Hi, Volker kann leider doch nicht am Donnerstag, geht es bei dir vielleicht schon einen Tag eher? Das wäre super, Bussi, Jasmin.« Linn richtet sich immer nach ihr, denn sie freut sich, die alte Freundin zu sehen. Wenn Jasmin wieder da ist, will Linn endlich loswerden, wie sie neulich in der U-Bahn diesen gut aussehenden und wortgewandten Mediziner kennen gelernt hat, weil er einfach ihr Buch mitlas und die Szenen laut kom38
mentierte. Dass sie allerdings wieder von ihm Abstand nahm, weil er nicht nur Bücher, sondern auch Mitmenschen laut kommentierte und Shirts mit Aufdrucken verschiedener internationaler Biermarken trug. Das alles kann sie Jasmin nicht erzählen, weil sie über die Begrüßung und den Austausch von Freundschaftsgesten nicht hinauskommt. Wenn Linn Jasmin in ihrem Lieblingscafé aufsucht, sitzt diese meistens stumm grübelnd vor ihrem Kalender und teilt die kommenden Tage in Halbe-Stunden-Abschnitte für Rendezvous und anderes Miteinander. Dabei darf sie nicht gestört werden. Das erfordert höchste Konzentration. Linn setzt sich still daneben, bestellt auch einen Kaffee, in dem sie dann so lange rührt, bis sich jedes Zuckerkörnchen aufgelöst hat. Irgendwann sagt sie: »Hallo, Jasmin!« Die Angesprochene schreckt hoch und referiert sofort ihre Termine. »Ich freue mich so, dich zu sehen. Ich bin total aufgeregt, Mensch. Ich habe nicht viel Zeit, weißt du, ich muss gleich diesen Fotografen treffen, der diese abgefahrenen Fotos von Alzheimerpatienten mächt. Vielleicht kann ich irgendwann mit ihm ein Projekt auf die Beine stellen - ich plane doch ein professionelles Archiv mit Fotos für Seniorenzeitschriften, wenn ich wieder da bin. Heute Morgen war ich mit einer Freundin frühstücken, die jetzt bei so einer Zeitschrift jobbt, sie stellt den Terminüberblick zusammen und meinte, da fehlen oft aussagekräftige Bilder.« »Klingt spannend«, bestätigt Linn, »aber wie ist das mit der technischen Seite?« »Genau das habe ich mich auch schon gefragt, deshalb habe ich mich eben mit dem Geschäftsführer des Vereins >Liebe Omi Wirrwarr < und Pirogi ruskie. Hat mir meine Kollegin beigebracht. Sie sucht übrigens noch ein Zimmer für ein halbes Jahr, weil sie ein Stipendium bewilligt bekommen hat. Kennst du jemanden, der sie ab Herbst aufnehmen würde?« Linn will fragen, was denn bitteschön Bigos 40
sei, Flüssig- oder Fest-Essen, mit oder ohne Fleisch, denn sie macht gerade eine Diät, bei der sie nur fettige Speisen essen darf. Auch würde sie gerne mehr über die polnische Kollegin erfahren. Aber wenn diese mit Jasmin bekannt ist, muss sie nett sein. Wieso soll Linn da noch nachfragen? Alten Freunden muss man vertrauen, sonst bricht alles zusammen. Abends versammeln sich all diese alten Freunde in irgendeiner Wohnküche, in der Jasmin gerade ihr Lager aufgeschlagen hat. Jeden Monat wohnt sie für ein paar Tage bei einem von ihnen. Der Bäumchen-wechsel-dich-Sport, den sie früher im Garten ihrer Großmutter mit ihren Cousinen und Cousins ausgeübt hat und bei dem sie auf Zuruf so schnell wie möglich von Baumstamm zu Baumstamm laufen musste, bekommt durch ihre kurzfristigen Aufenthalte eine ganz neue Bedeutung. Denn nun wechselt sie anstelle der Bäumchen die Schlafstätten, die Klappbetten und provisorischen Isomattenlager und wartet nicht mehr auf einen Zuruf, sondern verlässt sich auf ihre eigene Intuition der Höflichkeit. Denn mehr als ein paar Tage kann sie nirgendwo bleiben, das würde die Nerven der Gastgeber zu sehr strapazieren. Das Essen dampft in den Töpfen, Jasmins Gesicht glüht, und sie schneidet sich vor lauter Stress in den Finger. »Ach, macht nichts«, lacht sie, »dann erinnere ich mich noch länger an diesen schönen Abend.« Linn hat zum Abendessen zwei Bekannte mitgebracht, die sie Jasmin endlich einmal vorstellen will. Weil sie sich am Nachmittag so kurz gesehen haben, hat Linn Jasmin ihre Begleiter nicht ankündigen können. Sie dachte, dass Jasmin sich freuen würde, dass sie, weil sie ja so ein spontanes Leben führt, auch spontane Gäste verkraften kann. Aber Jasmin begrüßt die Ungeladenen mit einem mürrischen Kopfnicken, nuschelt ein »Herein, herein« und rennt sofort wieder in die Küche. Dort zischt sie Linn vor dem Kühlschrank zu, dass sie etwas überrumpelt sei, dass sie, obwohl sie auf Besuch und sozusagen im Urlaub sei, ständig 41
von Menschen umgeben sei, an die sie sich wieder gewöhnen müsse, und dass sie jetzt, abends, nach einem anstrengenden Tag, sich nicht gerne »ganz neu gewöhnen« möchte. Sie stellt lieblos und laut zwei weitere Teller auf den Tisch. Linn findet das übertrieben. Zwei Teller, denkt sie, es sind ja nur zwei Teller. Jasmin überspielt dann doch ihre Unwilligkeit und glänzt im Smalltalk. Mehr bleibt ihr allerdings auch nicht übrig. Durch die Anwesenheit zweier Unbekannter wird die Entfremdung zwischen den ehemaligen Freunden noch offensichtlicher. »Ach, du bist also der Matt. Du kommst aus Schottland?«, fragt Jasmin. »Genau. Und du bist gerade in Polen?« »Genau.« Die Gespräche bewegen sich wie der Bigos, diese Sauerkrautsuppe mit Fleischstückchen, zwischen fest und flüssig. An einem Abend ist die Zeit nicht aufzuholen. Das wird in dieser Situation anschaulicher als in jeder noch so ausgetüftelten Grafik. Z u m Glück dauern das Essen und die mühsame Unterhaltung nur eine Viertelstunde. Weil Jasmin den gesamten Tag herumgerannt ist, hat sie einen Riesenhunger und verschlingt ihre Portion in einer Millisekunde. Danach reißt sie ihren Gästen die Teller unter den Löffeln weg, als ob sie eine Wette gewinnen will. Danach möchte sie noch zu der Party irgendeiner Bekannten gehen, zu der sie schon vor drei Monaten eingeladen wurde. Dort gibt es sicherlich auch etwas zu essen, also kommen diejenigen, die noch Appetit haben, einfach mit. Und dort, unter lauter Menschen, die sich noch nie gesehen haben, kann Jasmin endlich einmal entspannen. Kann, ohne Hintergedanken, dumme Fragen stellen, erste Fragen und letzte Fragen. Sie muss keine perfekte Besucherin spielen, sondern darf ein üblicher Feiergast sein. Sie tanzt, sie schlenkert mit den Armen, grölt bei bekannten Schlagern mit, lässt sich von einem dunkelhaarigen Hüfttänzer durch die Gegend wirbeln, hört sich seine ziemlich direkten Komplimente an, lacht trotzdem und gestattet ihm, sie an den Getränketisch zu führen. Linn sieht, wie er einen dunklen Rotwein entkorkt und Jas42
min ein Glas davon einschenkt. Er stößt mit ihr an, sagt etwas, Jasmin streicht mit einer Hand durch ihr Haar, er legt seine Hand etwas zu lang auf ihren Arm. Dann verliert Linn Jasmin aus den Augen. Sie sieht sie Stunden später mit demselben Typen auf dem Sofa sitzen, während er ihr eine Reflexzonenmassage verpasst. Er heißt César, hat Jasmin unterdessen in Erfahrung gebracht. Und er interessiert sich für heilpraktische Methoden. Den gesamten Abend hält er Vorträge, nur für Jasmin, über Aromatherapie, vor allem darüber, welches Öl bei welchen Krankheitssymptomen angewendet werden kann: Mandarine bei Müdigkeit, Lavendel bei Nervosität, Teebaumöl bei Erkältungen, Lemongrass bei Kopfschmerzen. Über Hospize und kollektives Wohnen im Alter schweigt Jasmin geflissentlich. Nachdem ihre Gedanken weicher und nachgiebiger geworden sind, lehnt sie sich an Césars feste und durchtrainierte Schulter. Sie denkt kurz darüber nach, ob das jetzt nicht ein sehr sozialpädagogisches Verhalten sei, aber verwirft diesen Gedanken schnell. So bequem hier. Keine weiteren Fragen. Linns letztes Treffen mit Jasmin kurz vor ihrer erneuten Abfahrt endet mit einem Eklat. Jasmins Augen liegen tief und grau in ihren Augenhöhlen. Sie ist vom vielen Reden heiser, hat ihr gesamtes Geld in Caf6s und Kneipen ausgegeben, kaum geschlafen, sondern ihr Sexleben auf Vordermann gebracht und sagt stupide vor sich hin: »Ich bin ein Steh-auf-Männchen, das, sobald es sich irgendwo hingesetzt hat, sofort wieder aufspringt und zum nächsten Termin rennt. Manche nennen das Sozialstress, ich aber nenne es Berufsfeldorientierung. Ich muss das so machen.« Linn beugt sich zu ihr und will sie in den Arm nehmen, doch da läuft sie schon zur Haustür, wirft ihren Mantel über, schreit »czesc«, was auf Polnisch praktischerweise »Hallo« und »Tschüss« zugleich bedeutet, und rennt zu ihrem Bummelzug, der in wenigen Minuten abfährt. In Linns Wohnung schwebt ein leichter Lavendelgeruch.
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Die nächste Jasmin-Meldung, die Linn erreicht, ist eher deprimierend: »Hey there! N u n bin ich wieder auf die unendlichen Weiten des Internets angewiesen. Ich bin gestern Abend hier angekommen, und es ist halb so schlimm, wie ich befürchtet habe. Allerdings habe ich bisher kaum mein Schwesternheim verlassen. Mir ging es nicht besonders gut, als wir uns das letzte Mal gesehen haben. Ich war etwas neben der Spur, wie du vielleicht bemerkt hast. Mein Wunderheiler César war ein bisschen zu viel Gefühlsachterbahn. Ich merke richtig, wie ich mich hier einigele. Habe schon eine SMS von einem meiner doofen Freunde vor Ort bekommen, ob ich wieder da sei und ob ich mit ins Kino gehen will, aber was soll ich denn in einem isländischen Kinofilm mit polnischen Untertiteln? Ich habe jetzt erst mal nicht reagiert. Ich muss erst noch ein bisschen vereinsamen, bis der Druck so groß wird, dass ich doch zum Telefonhörer greife. Na ja. Morgen habe ich einen Polnischtest, und ich habe echt keine Lust zu lernen. Bin immer noch C-besessen. Das nervt. Ich kann mich kaum konzentrieren und checke ständig die Zugzeiten ins Nachbarland. Es hat wirklich gut getan, dich zu sehen.« Linn verlässt etwas durcheinander das E-Mail-Programm. Sie wusste bisher nicht, dass Jasmin in einem Schwesternheim wohnt, wer die doofen Freunde sind und dass sie einen Polnischkurs belegt hat. Aber Linn ist sicher, dass sie es, wenn es wichtig ist, bei Jasmins nächstem Besuch erfahren wird. Auf jeden Fall will sie nachfragen.
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Beziehungssprünge
Wo fängt eine Beziehung an, und wo hört eine Affäre auf? Und was, wenn sich Zeiträume des Nichtsehens dazwischenschieben? Jasmin fährt zu César, den sie vor sechs Monaten kennen gelernt hat und dem sie seitdem SMS schreibt: »Was machst du? Ich vermisse dich.« »Ich will dich jetzt.« »Aha. Ich will, dass du mich willst. Und jetzt?« Er hatte eine ganze Packung Streichhölzer angezündet, in den Aschenbecher gelegt, »Feuer« gesagt und ihr dabei in die Augen geschaut. Seitdem spürt sie auch eine Art von Wärme für ihn, selbst wenn sie ein paar Wochen nichts von ihm hört. Sie weiß nicht, wie sie das einschätzen soll. Ist er unterwegs und hat sein Telefon ausgestellt? Hat er eine neue Nummer? Ist sie ihm so unwichtig? Aber warum schreibt er dann überhaupt? Manchmal nimmt sie sich vor, den Kontakt abzubrechen, aber sie freut sich sehr, wenn er antwortet, sodass sie jedes Mal sofort zurückschreibt, oft auch mitten in der Nacht. Das Telefon piept und erleuchtet die Wände, es liegt immer neben ihrem Bett. Jasmin arbeitet viel und oft bis spät in den Abend. Sie bleibt fremd am neuen Arbeitsort und braucht das Gefühl, das jemand an sie denkt, sie kennt. Und César schreibt so direkt, so fordernd: »Mein Leben ist zurzeit sehr falsch und schwierig. Ich will dich und Frieden. Ich bitte dich, komm. Ich zahle das Ticket. Komm, nur für ein paar Tage.« Das gefällt ihr. Weil sie in der Provinz wohnt, ist sie von den Billigfluglinien dieser Welt abgeschnitten und muss, um ihre Freunde oder die Partybekanntschaft zu besuchen, den 45
Zug oder einen Überlandbus nehmen. Sie hat deshalb auf ihren zahlreichen Nachtzug- und Nachtbusfahrten zwei raffinierte Techniken entwickelt, um wenigstens so zu tun, als ob sie in ein privates Bett steigen, als ob sie sich in eine vertraute Schlafkoje kuscheln würde. Um das Umziehen im widerlichen Klo zu vermeiden, löst sie auf der Zugliege kauernd in ausgeklügelten Verrenkungen unauffällig den BH, damit er nicht durch das zum Nachtkleid umfunktionierte Hemd in ihre Träume piekt, und stopft ihn in ihre Tasche, die sie als Kopfkissen nutzt. Um eine Art Privatsphäre zu schaffen, nimmt sie auf dem Bussitz eine schützende Embryonalhaltung ein und hüllt sich gegen die Kälte aus den Belüftungsdüsen in ihren Mantel, den sie in den Polsterritzen festklemmt. Wirklich gemütlich ist das nicht, eher beklemmend, aber es wärmt. Als sie sich zu César auf den Weg macht, ist sie vor allem noch etwas bedrückt von den letzten Nächten. Bis vor ein paar Tagen hatte sie Besuch von Nils. Ihre Wohnung war auf einmal von Männersocken und After-Shave-Wolken bevölkert. Auf einmal benutzte jemand ihre Lieblingstasse, und sie musste sich selbst ermahnen, bei einem schrägen Blick auf die neuerdings auf dem Tisch herumliegenden abgeleckten Löffel nichts zu sagen. Sie wusste nicht, dass sie so eigenbrötlerisch geworden war, Dabei müsste sie eigentlich viel Verständnis für Nils haben. Nils fährt eigentlich auch am liebsten Bus, um billig durch die Gegend zu kommen: im Winter über das Riesengebirge auf den vereisten Straßen zwischen LKW-Trossen, die mit ihren Schneeketten knirschen, an Gartenzwergarmeen vor kleinen Tankstellen und beleuchteten Bars mit beleuchteter Frauenhaut vorbei. »Das Verkehrsmittel Bus ist nicht nur günstig«, schwärmt er, »sondern es erhält mir eine maximale Spontaneität in dieser durchstrukturierten Welt, Wenn ich morgen losfahren möchte, fahre ich. Und ich treffe die schrägsten Persönlichkeiten.« Wenn Jasmin ihn daran erinnert, dass die Busfahrten dafür 46
recht zeitaufwändig sind, winkt er ab. »So erlebe ich mehr, als wenn ich die Jobbörsen rauf- und runterfahre«, sagt er. Vor einer Woche hatte er mal wieder zu viel von allem. Jasmin hatte zu ihrem Geburtstag einen Rundbrief verschickt und Freunde und Freundinnen zu einem Kurzurlaub nach Polen eingeladen - wenn viele gekommen wären, hätte es eine große Party gegeben. Eine Sause!, dachte sie. Dass nur einer zusagte, überraschte sie nicht. Die anderen waren ja auch wirklich eingespannt in ihre Minijobs und Praktika. N u r Nils hatte das Nötigste in seine Fahrradtaschen gepackt und war innerhalb einiger Tage zu ihr geradelt. Das war noch besser für sein leeres Portemonnaie, denn so sparte er sogar ein Ticket. »Waren wunderschöne Fahrten«, sagte er, »und ich war an der frischen Luft, hab mich bewegt Kann ich vielleicht mal was in deine Waschmaschine werfen - alles ist jetzt tierisch durchgeschwitzt.« Unterwegs hatte er in verschiedenen Schuppen genächtigt. »Mehr brauche ich nicht.« Als Nils in seinem letzten sauberen Hemd mit verschränkten Radlerarmen auf die letzte Schleuderdrehung der Waschmaschine wartete, entschloss sich Jasmin, ihren Gast nicht auf dem harten Flurfußboden nächtigen zu lassen und erlaubte ihm, das Bett zu benutzen. Im Nachhinein ärgert sie sich darüber, denn er sah das als Aufforderung an, nicht nur ihre unbeleuchtete Haut, sondern alles andere so zu benutzen, als wäre es sein Eigentum. Näherkommen bedeutet doch nicht gleich teilen, dachte sie. In der Nacht piepte mal wieder ihr Telefon sehr wild, woraufhin Nils es, weil er sich angewöhnt hatte, dicht neben ihr zu liegen, dreist ausstellte. »Untersteh dich«, zischte Jasmin und tippte schnell eine Antwort. Am nächsten Morgen setzte er sich, ohne zu fragen, einige Stunden an ihren Computer, um seine Rückreisemitfahrgelegenheiten zu organisieren. Sie hatte auf ein gemeinsames Frühstück gehofft, Kaffee gekocht, der dann auf dem Küchentisch stand und kalt wurde. Anschließend holte er frischen Fisch vom Markt, den er aber alleine aß. »Du magst 47
doch sowieso keine Meerestiere, oder?« Nachdem er die Pfanne eingeweicht hatte, telefonierte er die recherchierten Angebote durch. »Wundere dich nicht, wenn du auf deiner Telefonrechnung ein paar ausländische Nummern findest - das war ich -, ich dachte, vielleicht geht es schneller, wenn ich über Tschechien fahre«, teilte er ihr kurz vor seiner Abreise mit. »Mein Fahrrad habe ich verkauft, es war sowieso alt, morgen kommt einer und holt es ab. Du müsstest dann zu Hause sein.« Dass er ihr zum Abschied ein Alpenveilchen schenkte, hob ihre Stimmung ein bisschen. Sie war froh, dass sie ihre Wohnung wieder für sich hatte - ein Blümchen mehr, ein wenig Sauerstoff mehr. Das Ehepaar, das jetzt mit ihr im Abteil sitzt, ist nach zwanzig Jahren Ehe immer noch verliebt und ein eingespieltes Team. Sie teilen alles. Sie benutzen alles zusammen. Sie legen ihre Hände auf gemeinsame Koffer und Taschen und Süßigkeiten. Jasmin nimmt immer die oberste Liege, dort zieht es weniger durch die undichten Fenster, das Hin- und Hergeschaukel auf den Gleisen ist stärker, und sie fühlt sich geborgen wie in einer Wiege. Dort schläft sie ein paar Stunden zu viel. Sie hat ja niemanden, mit dem sie jetzt Süßigkeiten teilen könnte. Cesar holt sie vom Bahnhof ab und will sie schon gleich im Taxi küssen. Jasmin ist etwas verwirrt, sie will ihn zunächst nur anschauen. Sie kennt ihn ja nur von der Party in einem Pulli und hell bestrahlt von 38 Sicherheitszündhölzern. An diesen anderen Pulli muss sie sich erst einmal ein wenig anlehnen und die verschiedenen Muster beschnüffeln. Sie stehen ihm sehr gut, stellt sie dann recht schnell fest. Zusammen kaufen sie Frühstücksutensilien. Das wäre sehr pärchenhaft, wenn sie es jedes Wochenende so machen würden, wenn sie wüssten, César nimmt immer drei helle Brötchen, Jasmin steht eher auf Kürbiskern und Kirschjoghurt, aber jetzt hat es etwas Pragmatisches. Jasmin denkt: Provianteinkauf für die nächsten 48 Stunden. D e n n in 48 Stunden muss sie wieder abfahren. Muss sie wie48
der Richtung Arbeitsstelle in ihre neue kleine, ferne Heimat. Sie picknicken auf Césars Balkon und gehen danach gleich ins Bett, wo sie auch die nächsten Stunden vor der gestreiften Wand auf einer flauschigen Wolldecke verbringen. Die Decke verliert stündlich an Flauschigkeit, weil sie beide feste darauf herumrutschen, rückwärts, vorwärts, seitlich, stopp. »Wir müssen aufpassen«, sagt Jasmin, »oder willst du ein Kind machen?« »Nein, bloß kein Kind«, antwortet er und bekreuzigt sich. Die T ü r zur Terrasse steht offen, die Sonne scheint und ein Nussbaum winkt herein. So idyllisch, aber alles ohne Zukunft. Cesar sagt: »Cesar liebt Jasmin.« Jasmin fragt: »Wirklich?« »Ja, wirklich, es gibt keine außer dir.« Jasmin glaubt ihm nicht, auch wenn es so schön wäre. »Ich schicke dir doch schon sechs Monate lang SMS, und du antwortest nur selten. Was denkst du, warum ich das mache?« »Das finde ich goldig«, sagt er und küsst sie. Das ist ihr eigentlich zu wenig, aber die Zeit ist so kurz, wieso sollte sie jetzt anfangen, mit ihm zu diskutieren. »Komm, wir schauen zusammen ein Video.« Dann müssen wir nicht reden, oder wie, denkt Jasmin. Aber sie findet das alles sehr süß, denn er sucht einen Film heraus, von dem sie ihm bei ihrem Kennenlernen erzählt hat, dass sie ihn schon immer einmal sehen wollte. Zumindest erinnert er sich an solche Kleinigkeiten, denkt sie. Ein gutes Zeichen. Während der Film läuft, während jemand die Welt zerstören und beherrschen und ein anderer die Welt retten will, klingelt andauernd sein Handy. César rennt nach unten, dort, wo sein Geschäftspartner arbeitet, dort, wo sein Büro ist. Sie weiß nicht, mit wem er redet, was er redet. Eigentlich weiß sie gar nichts über ihn. Woher auch. Anstatt zu reden, küssen sie sich lieber. Aus der Ferne kann man kein Leben teilen. Als César nach acht Stunden los muss, weil er irgendeine Besprechung hat, gibt er ihr einen Haustürschlüssel und erklärt die öffentlichen Verkehrsmittel. »Wir können uns ja später in der Stadt treffen«, sagt er. Sie bleibt noch ein bisschen liegen, dann steht 49
sie auch auf und schaut sich in seiner Wohnung um. Sie findet Männermagazine und ein Buch, das sie ihm geschenkt hat. Sie schreibt eine Widmung hinein: »goldige zeiten«. Die soll er finden, wenn sie nicht mehr da ist. Sie riecht an seinen Hemden und stellt sich vor seine Anzüge, die an Karabinerhaken an der Wand hängen. Sie denkt, wie das wohl aussehen würde, er in den Anzügen und sie in ihrem gepunkteten Lieblingskleid - wenn sie heute Abend so ausgehen würden. Und dann nicht nur einen Abend, sondern auch übermorgen und überübermorgen, nächste Woche und immer mal wieder. Der Anzug hängt und glänzt traurig. Als sie nach unten geht, in die Büroküche, weil oben nur der Bettenbereich ist, um sich ein Fertiggericht aufzutauen, grüßt der Geschäftspartner nicht. Er ignoriert sie. Warum sollte er sich auch Zeit für sie nehmen, wenn die Zeit so begrenzt ist? César nennt sie vor anderen Menschen »kleines Mädchen«. »Könntest du kurz Platz machen am Computer für das kleine Mädchen? Sie muss mal ins Internet.« Jasmin hat im Zug die Büroartikel-Bestellliste angefertigt und muss diese kurz zu ihrer Kollegin Tatjana mailen. Sie hat keinen Urlaub. Sie hat nur das Wochenende. Noch vierzig Stunden. Sie weiß, worauf sie sich eingelassen hat. Auf das Duschen mit Männerduschgel und ohne eigenes Handtuch. Auf Blicke und Zärtlichkeiten auf Zeit, die so schnell wieder storniert sind, wie der Zug abgefahren ist. Später läuft sie in der Stadt herum und wartet auf Césars Anruf. Weil er sich nicht meldet, geht sie ins Kino. Als sie wieder im Foyer steht, hat sie drei verpasste Anrufe auf ihrem Display und eine SMS: »Wo bist du, kleines Mädchen?« »Und du, wo? Hunger.« »Habe schon gegessen«, schreibt er zurück, »heute Abend Theaterpremiere und danach Termin mit Fotografin für anderes Projekt. Kommst du mit?« Klar, kommt sie, was soll sie sonst machen? Sie ist ja nicht gekommen, um ihn nicht zu sehen. Sondern um ihn zu sehen. Vor Seinen Kumpels stellt er 50
sie als seine Freundin vor, was auch immer das heißen mag. Die Kumpels können sich ihren Namen nicht merken. Aus Rache merkt sie sich nicht die Namen der Kumpels. Während César mit der Fotografin Abzüge durchblättert, sitzt Jasmin daneben und überlegt. Sie hat eine neue Wohnung, einen neuen Job und eine neue Affäre. Die letzte mit Nils ist gerade erst eine Woche her. Eigentlich lebt sie in emotionaler Gleichzeitigkeit. Weil keiner der Männer, die sie mag, vor Ort ist, weil keiner sich wirklich zu ihr bekennt, weil sie selbst nicht vor Ort ihrer Männer ist, muss sie die Beziehungen zu ihnen auf kleiner Flamme weiterköcheln lassen. Die Gefühle werden nie hochgekocht, sondern parallel gedünstet. So bleiben die Vitamine und der Schwung erhalten. Das Springen von Beziehung zu Beziehung - die Beziehungen so oft wie die Orte und Wohnungen zu wechseln - erschien ihr noch vor einiger Zeit als Ausweg. Sie erinnert sich an Igor, den sie immer nur im Flughafenbistro treffen konnte, wenn er auf der Durchreise war. »Hatte wieder mal zu wenig Zeit. Aber du weißt ja, wie das ist. Ich muss morgen schon zurück nach N e w York.« »Wann bist du denn wieder hier?« »Ich komme gegen Weihnachten zurück und habe vier Stunden Aufenthalt in Amsterdam auf dem Rückflug, am 5. Januar.« »Echt? Da bin ich auch grad in Amsterdam auf einer Fortbildung.« »So ein Zufall.« »Ich melde mich, dann können wir wenigstens einen Kaffee -.« Sie hatte oft das Gefühl, dass er für verschiedene Flughafenbistros dieser Welt verschiedene Mädchen organisieren konnte, je nachdem, wo er gerade war. Irgendwann meldete er sich nicht mehr - oder die Flugrouten und Zwischenstopps hatten sich geändert. César blättert immer noch durch irgendwelche industriellen Detailaufnahmen: Kabel, Gerüste, Leitungen und Mischpulte. Die Techniken hinter den Lebensweisen. Er bestellt ihr etwas zu trinken und lächelt ihr zu, bevor er sich wieder seinen Unterlagen zuwendet. So kommen wir nicht zusammen, denkt Jas51
min. Ihr wird ein bisschen langweilig. So dicht dran an der Liebe, aber viel zu kurz. Ein Fotograf muss für eine Nahaufnahme das Objektiv scharf stellen, er kann nicht einfach losknipsen. Jasmin kann sich nicht annähern, wenn sie den Zeitaspekt ignoriert, die Bedeutung von Dauer und Wiederholung. So bleibt nur ein verwackelter Schnappschuss. Sie weiß, dass sie eine Nicht-Beziehung führt, die zu nichts führt, von der sie nichts erwarten kann - außer unregelmäßigen Spaß und regelmäßiges Leiden. Diese Beziehung wird sich, wie andere vorher auch, nicht entwickeln, sondern in der Anfangsattraktion stecken bleiben. Heute Morgen war sie frisch verliebt. Jetzt ist alles schon wieder matt. Hat sie ihren gesamten Elan durch die lange Anreise und das lange Warten auf ein Wiedersehen verloren? Vielleicht sollte Jasmin es so machen wie Anika und Chris. Die Doktorandin trifft sich ein paar Mal im Jahr mit ihrem Freund. Beide hangeln sich von Stipendium zu Stipendium, von studentischer Mitarbeit zu wissenschaftlicher Projektassistenz, benutzen mal diese Rara-Sammlung in Windhoek, dann wieder jenes Handschriften-Archiv in Wien. Sie haben zusammen studiert, sind seit ihrer Zwischenprüfung zusammen. N u n promovieren sie - nicht zusammen. Immerhin fahren sie einmal im Jahr gemeinsam in den Urlaub. Für einige Wochen sind sie ein wirkliches Paar. Danach trennen sie sich wieder. Sie trennen sich, weil es so abgemacht ist. Denn beide haben, außer ihrer Arbeit, kein festes Zentrum im Leben. Um voranzukommen, um sich weiterzuentwickeln, müssen sie alle Optionen annehmen, auch diejenigen, die sie immer wieder losreißen von ihrem Vielleicht-Mittelpunkt. Die Umwelt findet das sogar noch richtig. »Mensch, eine Dozentur in Australien für ein Semester - das ist doch ein echter Karrieresprung«, jubeln die Eltern. Aber dieser Sprung ist im Grunde genommen für beide ein totaler Beziehungsknick und Beziehungsabsturz. Weil alles in ihrem Leben sich ständig ändert: der Blick aus dem Fenster, der Bäcker, die Versicherung, das 52
Lieblingskino, die Vorwahl, um nach Hause zu telefonieren, die Arbeitskollegen, muss sich eigentlich auch die Beziehung ständig verändern. Doch weil Chris und Anika nie wirklich ankommen, weil sie beide unterwegs sind, bleibt das, was zwischen ihnen ist, irgendwie länger haltbar, wie in einer Vakuumverpackung. Sie halten sich aneinander fest, weil alles andere nicht fest genug ist. Sie halten die Entfernung aus. Sie telefonieren, zunächst noch jeden Tag, dann nur noch einmal in der Woche. Das reicht ihnen. Die Stunden verstreichen und versickern. Jasmin steht unter Césars Dusche. Sie hat sich ein Shampoo gekauft, eines mit blumigem Duft. Sie lässt das Shampoo auf der Ablage stehen, als kleines Signal, vielleicht auch als ein Versuch der schwarzen Magie. Wenn César öfter Frauen hier duschen lässt, sehen sie am Frauenshampoo, dass sie nicht die ersten sind, und gehen dann vielleicht schneller. Lassen sich durch diesen Trick vertreiben und machen Platz für mehr Jasmin und noch mehr Jasmin. Denn eigentlich hofft Jasmin, dass sie bald wiederkommt und dass sie etwas kleines Eigenes vorfindet, ein bisschen Shampoo-Heimat. Im Zug wünscht sie sich von ihm »Mehr Küsse!«, er schickt »Küsseküsseküsseküsseküsse!« Ihre beiden Mitfahrerinnen sind Opernpendlerinnen. Sie fahren zwischen zwei großen Städten und den jeweiligen Premieren hin und her. »Vielleicht sollte ich meine Reise-Motive von Menschen auf Ereignisse verlegen?«, fragt sich Jasmin. Die beiden Frauen reden und reden, Turandot, Rätseleien, Don Giovanni, Champagner, das Telefon piept nicht mehr. Die Informationen aus dem César-Leben werden danach immer spärlicher, so spärlich, dass Jasmin sie sich selbst zusammenklauben muss. Über eine Internetsuchmaschine kommt sie sogar Césars nächster Frauengeschichte auf die Schliche. Er hat ein Fotoalbum im Netz angelegt. Sie hat die Webseite gespei53
chert, das Passwort erschlichen, als er es einmal vor ihren Augen eingegeben hat, und kann sein Leben als regelmäßige Diashow verfolgen: seine Reisen, seine Partys und seine Arbeitsprojekte. Sie kann sogar die Spaßtattoos auf seiner Haut lesen, weil einige Nahaufnahmen dabei sind: Marshall Wire, steht da, und ein Herz ist gemalt, und in dem Herzen steht irgendein Name, der mit J- anfängt. Sie zoomt das Bild groß, und da steht nicht »Jasmin« sondern »Jolanta«. Eigentlich ist sie noch mitten in seinem Leben. Ohne dass er es weiß, teilt er noch alles mit ihr. Leider eben auch sein neues Betthäschen. Als sie ein paar Wochen später das Bild »Gummibärchen« sieht, auf dem er ein blondes Mädchen küsst, wird sie fuchsteufelswild. Aber warum eigentlich? Er kann ja tun und lassen, was er will. Sie ist machtlos, die Technik dagegen mächtiger als liebe Worte. Sie löscht alle seine SMS. Nur seine Telefonnummer, die behält sie - falls sie mal wieder in seiner Stadt sein sollte. Sie weiß ja nicht, wohin es sie demnächst verschlägt.
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Wutzettel
Viele Menschen gehen einmal die Woche informell zum Ausgleich in die Sauna oder zu einem Stammtisch. Linn geht mindestens einmal die Woche sehr formell und unausgeglichen zu offiziellen Treffen. Als Ehemalige universitärer Fachbereiche und verschiedener Stipendienprogramme bekommt sie regelmäßig per Mail oder per Post Einladungen zu Jubiläumsveranstaltungen, Mitgliederversammlungen, Netzwerkkampagnen, Neujahrsempfängen und Festvorträgen von Prof. H . T . MacBrookley, jahrelanger Berater für kulturpolitische Fragen im Bundesministerium, oder von Politikerin Ursula Beinander, Gremiumsmitglied im Forum »Zukunft von Bildung und Forschung«. Manchmal werden Workshops zu; acht verschiedenen gesellschaftlich relevanten T h e m e n angeboten. Meist endet alles mit einem Sektempfang und kleinem Büffet. »Wir freuen uns, Sie bei unserem dritten Alumnitreffen begrüßen zu dürfen«, betont der Generalsekretär der Stiftung, in deren Pressestelle Linn als Praktikantin arbeitet. Sie hat drei Tage lang nichts anderes getan, als Einladungen zu falten und in Briefumschläge zu stecken. Ob sie für solch eine Tätigkeit wirklich studieren musste, ob es dafür nicht irgendwelche Maschinen gibt, fragt sie sich. Maschinell begegnet ihr zunächst der Generalsekretär. Weil der Computer seine Unterschrift eingespeichert hat und automatisch ausdruckt, unterschreibt er nicht einmal mehr selbst, auch wenn er »persönlich« zum Empfang bittet. Anfangs hat Linn 55
die Briefe noch umgedreht, um zu testen, ob nicht auf der Rückseite ein Durchdruck des Kugelschreibers auf eine echte Unterschrift hinweisen würde. Vielleicht war sie ein bisschen naiv, aber sie hätte es einfach sehr schön gefunden, wenn das formale Wörtchen wörtlich genommen worden wäre. Aber da dies nie der Fall war, hat sie das Hin- und Herwenden aufgegeben. Stattdessen kündigt sie mit Hilfe eines abzuhakenden Kästchens ihr Kommen an. Weil Viktor auf einer Recherchereise für eine Umfrage zu europäischen Stereotypen unterwegs ist, kreuzt sie an: »Ich nehme teil. Alleine«. Es ist sowieso besser, wenn sie unbegleitet zu diesen Treffen geht. Ähnlich wie eine Single-Reisende ist sie als Single-Geherin sehr viel kontaktfreudiger und kontaktbewusster. Sie weiß nie genau, wem sie abends begegnen, wer mit ihr am HäppchenTisch anstehen, mit wem sie im Workshop sitzen wird. Wichtig ist vor allem die Vorbereitung. Ihr so genanntes Praktikumentgelt wird zusammen mit ihrem Ersparten in ein tadelloses Outfit investiert. Sie will gut und, wie nebenbei, locker-dynamisch aussehen. Das Kein-Geld-Haben darf nicht durchscheinen. Das hartnäckige Job-Suchen darf nicht abfärben. Bei der Kleiderwahl kommt es darauf an, möglichst wohlhabend, aber dennoch bewerbend, also eher aspirativ-wohlhabend auszusehen, also wie jemand, der weiß, wie man sich in bestimmten Kreisen anzieht, und der also weiß, wie man sich in diesen Kreisen verhält und wie man in diesen Kreisen arbeitet. Nur, wer nicht vergisst, gut auszusehen, wird überhaupt wahrgenommen, weiß sie. Lockere, gut gekleidete, fröhliche Menschen werden eher empfohlen als verkrampfte, schlecht gekleidete, miesepetrige Menschen. Auch ein guter Haarschnitt sowie polierte Schuhe spielen dabei eine Rolle. Erstaunlicherweise passen die Pumps, die sie zum Abiball getragen hat, noch perfekt. Ihre Mutter hatte sie damals gut beraten, etwas »Zeitloses« zu wählen. Nach vorne denken, sagt sich Linn, das nehme ich von zu Hause mit - ebenso wie die Schuhe. 56
Linn trinkt zur Einstimmung, bevor sie sich in Schale wirft, einen Schluck Wein, der noch vom gestrigen Herumsitzen mit Nils in ihrer Küche übrig ist. Dieser Weinrest beschwingt sie so, dass sie sich heute für eine dunkle Hose und eine weiß-rot gestreifte Bluse entscheidet, die sie mit einem pinken Pullover aus feiner Baumwolle kombiniert. Farbe fällt in der Anzugdominierten Stiftungswelt auf jeden Fall auf, davon ist sie überzeugt. Ihre Laune ist gut. Ihre Laune muss heute besonders gut sein, denn der Generalsekretär der Stiftung ist angekündigt. Sie möchte ihn mit einem dynamischen Lächeln als ideale Nachwuchskraft des Pressereferats überzeugen. Dafür hat sie sich zu weiteren Investitionen entschieden. »Du brauchst unbedingt Visitenkarten«, hatte ihr Viktor geraten, als er das letzte Mal angerufen hatte. »Es macht überhaupt nichts, wenn du keinen Job hast. Aber wenn du keine Visitenkarte hast, dann kannst du dich nicht weitervermitteln.« Also will sie sich an einem Automaten ganz fix hundert Karten drucken lassen. Die Formate sind vorgegeben und neben den Adress-, Telefon- und E-Mail-Feldern muss auch ein »Berufsfeld« ausgefüllt werden. Welche Bezeichnung trage ich denn ein, fragt sich Linn, wenn ich keinen Beruf habe? Lasse ich es weg, wirke ich nicht wirklich seriös und bin für andere nicht einzuordnen. Trage ich etwas ein, das heute passt, müsste ich mir morgen für ein anderes Bewerbungs- oder Vernetzungsgespräch schon wieder neue Karten drucken lassen. Der Automat blinkt freundlich - diese ausweglose Situation ignorierend. Doch Linn ist eine Frau der Tat. Sie entscheidet sich für alle möglichen Varianten. Sie gestaltet sieben verschiedene Karten: mit ihrem Studienabschiuss, mit ihrem derzeitigen Praktikumsgeber, mit ihrem letzten Praktikumsgeber, mit ihrem Traumjob, mit ihrem realistischen Berufsziel, mit ihrem StipendiatenStatus, mit ihrem Alumni-Status. In ihre Handtasche steckt sie jeweils fünf Ausführungen der siebenteiligen Visitenkartenpalette. Eine Sammlung steckt sie in einen Briefumschlag für 57
Viktor. Als Absender notiert sie: »Ich bin auf die Eventualitäten des Lebens vorbereitet.« Zu Hause fächert sie nun die Karten wie ein Kartenspiel auf und wedelt sich Luft zu. Der Wein steigt ihr etwas zu Kopf. Je nach Anlass und Ansprechpartner wird sie heute Abend ihre Karten ausspielen. Das war jetzt zwar ein bisschen teuer, aber schließlich tue ich etwas für meine Zukunft, sagt sich Linn. Wie zum Ausgleich wird sie der heutige Abend nichts kosten: Wein umsonst, Schnittchen umsonst, Kontakte umsonst. Manchmal braucht sie unter der Woche keine Lebensmittel einzukaufen, weil sie sich durch warme und kalte Speiseangebote der lokalen Caterer auf diversen Veranstaltungen ernähren lässt. Mittlerweile kann sie sich als Expertin für die Zusammenarbeit der jeweiligen Küchenchefs und Organisatoren bezeichnen und anhand des Absenders einer Einladung die geschmackliche Richtung des Büffets voraussagen: So tischt die chinesische Botschaft opulente Gerichte aus blauen Kartoffeln auf, gefolgt von süßen Reisbällchen und Fruchtsalaten in Mini-Schokoladen-Töpfen. Bei den Osteuropa-Netzwerklern gibt es Mettbrötchen. Bei Modeschauen Currywurst. Bei akademischen Dinners italienische Fleisch- und Nudelvariationen. Die russische Föderation serviert Wasser in Gläsern, die einen halben Liter Flüssigkeit fassen. Bei linken Podiumsgesprächen wird als Snack geschnittenes Obst gereicht. Sie weiß, dass nicht alle ihre Freunde das Genießergefühl auf Stiftungs- und Alumniversammlungen erleben dürfen. Deshalb nimmt sie gerne jemanden mit - vor allem, wenn die kulinarische Versorgung ein hohes Niveau verspricht. Der beste Mitgeher ist Nils, der Linn an Gourmet-Expertise in nichts nachsteht. Er erfasst mit einem Blick die Qualität der Gerichte und der alkoholischen Getränke und somit die Bedeutsamkeit, die der Gastgeber diesem Treffen beimisst. Er kommt immer erst, wenn der offizielle Teil des Programms beendet ist. »Dieses Gelaber und diese Selbstdarstellungen muss ich mir nicht antun«, sagt er. 58
So ist es auch heute. Während sie in ihren sechzehnten Smalltalk, dieses Mal mit einem Stipendiatenbetreuer, verwickelt ist, der ihr gerade erzählt, welche neuen Auszeichnungen die Stiftung in Zukunft vergibt, welche hochkarätigen Festredner zur Auftaktsveranstaltung antreten werden und wie viele Überstunden er zurzeit macht, er käme nie vor zehn Uhr abends nach Hause, beschwert er sich, sein Chef dagegen treffe immer erst gegen Mittag ein und verschwinde am frühen Abend wegen wichtiger Termine, zufälligerweise hole ihn seine Frau oft zu diesen Terminen ab, und über den Zusammenhang von Gehaltshöhe und Arbeitsstunden wolle er jetzt lieber nichts sagen, schweift ihr Blick durch den Festsaal, und sie sieht Nils, wie er sich Ros6 einschenken lässt. Er nippt anschließend vorsichtig am Glas, spreizt dabei affig seinen kleinen Finger ab, kaut den Wein von Backe zu Backe und verzieht sein Gesicht, als sie ihm von weitem zunickt. Er ist wirklich schon zum Weintkenner geworden, schmunzelt sie» Sie windet sich aus dem ausgezeichneten Gespräch los - »Entschuldigen Sie, ich muss nochmal eben kurz jemanden begrüßen« - und schlängelt sich durch die Steh-und-Sprech-Gruppen an Steh-und-Sprech-Tischen zu ihm durch. »Und wie läuft's?«, fragt Nils. »Haste schon dem Chef das gepflegte Händchen gedrückt?« »Bisher war keine Gelegenheit. Die Leute stehen Schlange. Ich habe erst drei Visitenkarten verteilt.« »Ganz schlechter Schnitt«, meckert Nils. Linn sieht, wie der Generalsekretär sich zum Ausgang wendet. Seinen Mantel hat er schon über den Arm geworfen. Sie lässt Nils einfach stehen und rennt los, so schnell und elegant wie es auf hohen Absätzen geht. Nils ist das gewohnt. Er hat seinen Wein-Job. Sie hat ihren Kontakt-Job. Und diesen hat sie heute noch nicht wirklich erledigt. Linn schiebt sich zum Generalsekretär durch und überlegt, was sie ihm sagen k ö n n e . Meistens wirkt der Standardspruch »Ihre Rede hat mir wirklich gut gefallen« am besten, mit dem sie dann auf ein paar inhaltliche Punkte zu sprechen kommen 59
und ihr eigenes Wissen einbringen kann. Doch die Rede heute war so schlecht verstärkt, dass Linn kaum ein Wort verstanden hat. Linn steuert auf den Sekretär zu und gibt ihm einfach die Hand: »Guten Abend. Ich bin Linn, ich würde mich gerne kurz vorstellen. Ich bin die neue Praktikantin.« »Ach, schon wieder eine neue Praktikantin? Heißen Sie auch Julia? Dann wären Sie Julia 10. Ha, ha. Oder 11? Wir könnten auf unserem Server eine Standardadresse für die Julia-Praktikanten einrichten.« Sie will ihren Namen freundlich wiederholen und den Generalsekretär korrigieren, da redet er einfach weiter: »Ich gebe Ihnen einen guten Tipp. Denken Sie daran, für Ihren letzten Praktikumstag einen Kuchen zu backen und Sekt mitzubringen. Aber bitte keinen billigen, sondern ein Qualitätsprodukt, denn wir können uns Kopfschmerzen nicht leisten, wir Arbeitnehmer. Vielleicht komme ich dann mal kurz vorbei. Ich wünsche Ihnen noch eine informative Zeit bei uns.« »Danke«, sagt Linn. Mehr fällt ihr jetzt nicht ein. Sie ist durstig und schluckt etwas Spucke den trockenen Hals hinunter. Dafür, dass sie kostenlos ihre Arbeits-, Denk- und Faltkompetenzen in das Büro des Generalsekretärs einbringt, hätte sie ein wenig mehr Höflichkeit erwartet. Aber vielleicht weiß er gar nicht, was seine Praktikanten tagtäglich leisten. Vielleicht denkt er, sie säßen herum, schauten den bezahlten Arbeitskräften über die Schulter und seien als Berufsanfänger eher eine Blockade als eine Hilfe. Im nächsten Moment beobachtet Linn sich dabei, wie sie ihm freundlich die Hand schüttelt. Sie nimmt seinen unerfreulichen Angriff auf sich, denn ihr Einstieg war wirklich ungeschickt, wirklich einfallslos. Die Visitenkarte in ihrer linken Hand, die sie vorsorglich herausgeholt hatte, presst sie vor Wut zusammen. Das ist nicht so einfach, denn die Karte ist aus Pappe und lässt sich nur biegen. Sie ärgert sich über ihre Unprofessionalität - dass sie nun noch nicht einmal etwas richtig kaputtdrücken kann! Früher hatte sie in ihrem Zimmer einen Haken angebracht, an dem »Wutzettel« hingen, beschriftet
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mit »bei Bedarf zerknüllen und an die Wand schmeißen«. So einen könnte sie jetzt eher brauchen als eine widerborstige Visitenkarte. Vor allem ist sie erbost, weil sie ihre rhetorische Gewandtheit in sechzehn sinnlosen Gesprächen vergeudet und sich nicht richtig auf das einzig wichtige Gespräch vorbereitet hat. Sie hätte nicht so lange warten und den Boss gleich nach der Rede abfangen sollen. Sie hätte, nachdem er aufgestanden und auf das Klo verschwunden war, ihn direkt vor der Herrentoilette abfangen sollen, weil sie zufälligerweise im selben Moment aus der Damentoilette gekommen wäre, hätte mit ihm die Treppe aus dem Sanitärtrakt hochsteigen und herumplänkeln sollen, über die Hotelurkunden hinter den Vitrinen, die Exzellenz, die sich durchsetze, wie er ja auch so schön in seinem Vortrag betont hätte: Der Ton mache die Musik. Sie hätte die Stiftungshymne gesummt, ganz jovial und bestens aufgelegt. Und er wäre darauf eingestiegen, hätte gefragt, ob sie sich für zeitgenössische Komponisten interessiere, denn es würde jetzt ein neues Stiftungsprogramm zur Förderung von mono-instrumentalen Kurzstücken mit, mindestens sechsfacher Besetzung ausgeschrieben. Und sie hätte gesagt: Ja. Und es wäre ein gutes Gespräch geworden. Nils ist unterdessen in eine Monothematik verwickelt mit einem Gast in Nadelstreifen und hellen Schuhen, der überzeugt ist, ihn schon einmal gesehen zu haben: »Machen Sie nicht irgendwas im Bundestag?« »Nein, mache ich nicht.« »Ach so. Aber Sie waren doch letzte Woche bei dieser Schiffstaufe.« »Nein, tut mir Leid.« »Wirklich nicht? Wenn ich Sie anschaue, meine ich, Sie zu kennen. Denken Sie doch noch einmal nach, bitte.« Nils muss sich zusammenreißen, um nicht laut zu werden. »Tut mir wirklich Leid.« »Ja, mir auch. Na dann.« »Ja. Dann.« Linn holt sich zur Aufmunterung einen weiteren Wein. Er schmeckt ihr von Glas zu Glas besser, den Generalsekretär nennt sie nur noch »Billiggeneral 10«. Schnell wird ihre Stimmung auch wieder etwas besser. 61
Auf dem Weg nach Hause schenkt sie Nils eine Visitenkartenmischung. Als sie ihm von den pubertären Wutzetteln erzählt, stempelt er anstelle der U-Bahn-Tickets alle Karten im Entwerter ab. Jetzt macht sich die Pappe wirklich bezahlt.
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Netzwerke
Wenn Viktor nach seinen Stärken und Schwächen gefragt wird, antwortet er ohne zu zögern: »Zielstrebigkeit«. Weil er dieses Wort knallend mit harten Konsonanten in den Raum stellt und sein Blick offen und ohne zu blinzeln den Fragenden fixiert, fällt selten auf, dass er anscheinend nur eine Stärke hat oder dass er diese Stärke gleichzeitig als Schwäche bezeichnet oder dass er glaubt, keine Schwächen zu haben. Einzig, dass er darauf hinweisen wollen könnte, nur eine Schwäche und keine Stärken zu haben, wird jedem Fragesteller, der Viktors Lebenslauf kennt, unglaubwürdig erscheinen. Jemand wie Viktor, der schon als Hospitant bei der Europäischen Kommission, am Fließband einer Teppichfirma, als Weihnachtsengel im Kaufhaus und als Freiwilliger für eine Suppenküche gearbeitet hat, muss Stärken haben. Das ist klar. Nils dagegen würde auf eine solche Frage nicht einmal antworten. Falls er sich herablassen würde, überhaupt etwas zu formulieren, würde er eine direkte Antwort vermeiden und sich über die Definition der »flexiblen Identität« eine Diskussionsgrundlage erarbeiten. Er würde einen situativen Begriff entwerfen, der beschreibe, wie es jeder Person möglich sei, je nach Ausgangslage schwach oder stark zu erscheinen. Belegen würde er diesen Ansatz mit der Zunahme an transnationalen Identitäten: Menschen mit mehreren Staatsbürgerschaften, die in mehreren Ländern gleichzeitig lebten, liebten und arbeiteten, die nicht nur eine Wurzel hätten, sondern verschiedene, die sich 63
sozusagen als netzartige Lebewesen verstehen müssten, als in die Breite gehende Flachwurzler, nicht als Tiefwurzler. Zum Abschluss seiner Ausführungen würde er eine weiter reichende Lektüre empfehlen, getreu seinem Motto »wer viel spricht, denkt viel«. Im Gegensatz zu Viktor würde man Nils eine »Antistrebsamkeit« zuschreiben können, also eine Eigenschaft desjenigen, der nicht zum Punkt kommen will, der lieber am Rande stöbert und trödelt, als in der Mitte zu verweilen. Im Aufstöbern von zu Unrecht vergessenen, zu Unrecht nicht mehr geliebten Dingen ist Nils der Oberstreber. Er kennt die originellen Flohmärkte und die exklusiven Kleiderhändler. Er weiß, wo sich zwischen Altglasschrott und angeschlagenen Sammeltassen im hintersten Regal wertvolle Vasen stapeln, wo günstige Sofas herumstehen und wo der Händler mit sich handeln lässt. Denn Nils muss sein Geld zusammenhalten. Er findet wenig ihm zusagende Arbeit, weil er sich in seinem kurzen Leben nicht mit Banalitäten herumschlagen will. Er hat lieber wenig Geld auf seinem Konto und dafür viel Zeit. »Sparen hat Zukunft«, sagt er. Er lebt in einer Einzimmerwohnung ohne Zentralheizung, ohne Sonne, aber mit Außenklo, auch wenn sich Viktor immer wieder fragt, wie Nils diese paar hundert Euro für die Miete überhaupt aufbringen kann als jemand, der sich weigert, von irgendjemandem Geld anzunehmen, der keine Freundin hat, die ihn aushalten könnte, der ablehnt, zum Job-Center zu gehen, weil er in seinem Leben zentralistische Anordnungen zu vermeiden sucht, weil er meint, er brauche keine Krankenkasse, weil er nie krank sei, da er sich ständig an der frischen Luft bewege, der lieber privat nicht vorsorgt, wie er das nennt, weil er nichts in irgendeine Renten- und Pflegekasse einzahlen will, aus der man dann, wenn man alt und krank sei, sowieso nichts herausbekomme, und weil er immer irgendwie einen kleinen Job findet, bei dem es Geld bar auf die Hand gibt. Einmal hat Viktor Nils gegenüber eine Bemerkung über eine Promotionsförderung fallen 64
lassen. Seitdem hat Viktor ihn zwar in öffentlichen Bibliotheken angetroffen, aber meistens vor den Bildschirmen kostenlos benutzbarer Computer hängend und nicht über Manuskripte und Bücher gebeugt, nicht in Zettelkästen wühlend oder an einem Laptop tippend. Dabei unterzieht Nils die Konsumwelt komplexen Analysen und hinterfragt jede Investition. Er muss, bevor er am Warenaustausch teilnimmt, genau hinschauen, er muss die Gegenstände in ihren Einzelheiten schätzen lernen und akribisch wie ein Wissenschaftler Wertzunahmen und -abnahmen recherchieren, um dann Wege zu finden, auf denen er ohne große Ausgaben zum Ziel kommt. Seinen Lieblingsspruch »the more you consume, the less you think« hat er sich mit Edding auf sein Portemonnaie geschrieben, ein Erbstück aus echtem Büffelleder. So geht er beispielsweise, obwohl er sich für Kunst interessiert, selten in Ausstellungen, wenn sie Eintritt kosten, sondern betritt nur das Foyer und den Museumsshop. Dort schlägt er in aller Ruhe den Katalog zur Ausstellung auf, blättert durch die Werkliste und studiert den einführenden Essay. Dieser Umweg ermöglicht es ihm, sogar besser informiert zu sein als jemand, der sich zwar die Originalwerke anschaut, aber nur die Kurztexte auf den Informationstafeln liest. Wenn es also eines gibt, das der Zielstreber Viktor vom Antistreber Nils lernen kann, dann ist es das Ausschauhalten nach Sonderangeboten. Viktor bittet Nils des Öfteren, ob dieser ihn nicht zum Einkaufen begleiten und sein Schnäppchentalent zur Verfügung stellen könne. Nils schlägt seinem alten Freund Viktor nie einen Gefallen ab, auch wenn er Viktor für viel zu karrierebewusst hält und ihm, wenn Viktor mal wieder einige Monate auf einem Projektjob verschwindet, selbst gezeichnete Postkarten schickt, auf denen ein Männchen sagt: »Suche neuen Freund. Weil du nicht da bist.« Wehn schon wegfahren, dann richtig, denkt Nils» auswandern, für immer Abschied nehmen, aber nicht dieses Mal-hier-mal-da-Sein. 65
Gerade ist Viktor allerdings da und wühlt sich mit Nils durch einen Trödelladen mit Original-Fünfzigerjahre-Einrichtungsobjekten. »Da waren wir wer«, sagt Nils. »Da wurden wir was. Da glaubten wir noch, es würde immer weiter vorangehen, wenn man nur die Ärmel hochkrempelt. Wenn du so eine Lampe als Gastgeschenk mitbringst, dann hellst du deine Umgebung nicht nur mit deinem Trendbewusstsein, sondern auch durch deine politische Aussage auf. Wer ist denn dein DemnächstGastgeber?« Viktor erzählt, dass er gestern einen Anruf von einer Sibille Truhn bekommen habe, ob er nicht für sechs Monate einspringen könne, im Büro, weil da jetzt eine der Mitarbeiterinnen auf Mutterschaftsurlaub sei. Alles ginge seitdem drunter und drüber. Zunächst hatte Viktor Frau Truhn nicht einordnen können, aber dann war ihm eingefallen, dass er sie in Brüssel auf einer EU-Party kennen gelernt hatte, oder war es in Genf gewesen, oder in Straßburg, egal, sie hatte ihm seitdem E-Mails mit Jobausschreibungen geschickt, weil er ihr von seiner ständigen Jobsuche erzählt hatte. Nun war sie in einer Kleinstadt gelandet und beantragte dort in einem universitären Büro EU Fördermittel. »Na, dann ist die Sache doch klar«, sagt Nils und greift nach einem Original-Fünfzigerjahre-Plastik-Zuckertopf. »Sie hat bestimmt eine Leidenschaft für Töpfe.« L
Bevor er das Geschenk in seinen Kleinstadtkoffer packt, muss sich Viktor noch eine Unterkunft besorgen. Auch diese sollte möglichst günstig oder sogar kostenfrei ausfallen. Für diese Fälle hat Viktor eine Kostenersparnistechnik entwickelt, die er Nils wärmstens ans Herz legt. Viktor pflegt alle seine Bekanntschaften mit größter Sorgfalt, am besten täglich. Morgens verbringt er drei Stunden damit, seine Korrespondenz zu erledigen. Er versendet regelmäßig Informationen über seinen aktuellen Standort, beantwortet immer spätestens nach drei Tagen jede Mail, berichtet telefonisch aus seinem Leben, erfragt das Wohlergehen der fernen Bekannten und Freunde, schickt In66
fopostkarten, Geburtstags-SMS und digitale Weihnachts- und Ostergrüße. Heute schreibt er eine Rundmail, in der er seine Wohnung zur Untermiete anbietet und sein eigenes Wohnungsgesuch aufgibt. Er weiß, dass, wenn er seine Bekanntschaften gut pflegt, diese sich brav und konstant verhalten, dass sie sich zu einem feinmaschigen Netz aufspannen, das ihn auffängt, egal in welche Richtung er fallen sollte. Um den Überblick über die Reichweite seines Netzes zu behalten, hat er sich schon einmal überlegt, ob es sinnvoll wäre, eine Karte aufzuhängen und kleine Wimpel zur Kennzeichnung der besetzten Plätze hineinzupieksen. Aber das kam ihm dann doch sehr militärisch vor. Er hätte sich dann zu sehr als Eroberer gefühlt, der seine Stellungen überprüft, die Frontverläufe beobachtet und die gefallenen Trutzburgen im Blick hat. Dabei geht es ihm überhaupt nicht um Kriegszustände, sondern um die friedliche Kontaktaufnahme und das freundschaftliche Betreutsein in Städten» in denen er sonst nicht heimisch ist. Dieses Netzknüpfen hat neben den emotionalen auch sehr praktische Aspekte. Nachdem Viktor den Projektjob spontan angenommen hat, schaut er in sein Adressbuch, Wer wohnt zumindest in der Nähe der Kleinstadt? Das doppelte Mietezahlen kann er sich nicht leisten. Seine Basiswohnung muss er halten, denn in Kürze wird er wieder dort sein, mit hoffentlich ein bisschen mehr Geld auf dem Konto, und wieder nach Arbeit in seiner Stützpunkstadt suchen. Denn eigentlich will Viktor in der Nähe von Linn sein. Auch sie ist sein Stützpunkt. Und auch sie will ihn als Stützpunkt. Deshalb will Viktor eigentlich gar nicht ständig mit Koffer in der einen und Laptop in der anderen Hand umherziehen. Er möchte sehr gerne an einem Ort bleiben und einen Ort mit Linn teilen. Schließlich fällt ihm ein, dass einer seiner Schulkollegen in diese Kleinstadt gegangen ist. Sie waren zwar nicht die dicksten Freunde, aber immerhin, sie haben zusammen in der Mathe-Lerngruppe für das Abi Vektor-Rechnung und Differentialgleichung wie67
derholt. Als Viktor den Schulkollegen anruft, erinnert der sich und macht den blöden Scherz vom Vektor-Viktor. Viktor lacht höflich und denkt: »Dass der immer noch die gleiche Nummer hat.« Er habe zwar keinen Platz, sagt der Kollege, aber einen Freund, der gerade in einem Waisenhaus in der Slowakei sein medizinisches Praktikum absolviere. Dessen WG-Zimmer sei frei, sagt er und gibt Viktor eine E-Mail-Adresse. Viktor müsse sich schon ein wenig an der Miete beteiligen, kommt sofort eine E-Mail zurück, aber sonst sei alles kein Problem. Einer der beiden Mitbewohner, übrigens alle zwei sehr hübsch, werde den Schlüssel unter dem Stein vor der Haustür deponieren. Viktor könne kommen und gehen, wann er wolle. Obwohl von einer überall abrufbaren E-Mail-Adresse dieser Welt versendet, freut sich Viktor über die slowakische Werbezeile unter der Antwort: »Flirt bez vyslovenia jediného slova« - ein Zertifizierungsmerkmal für einen festen Ort; dafür, dass die Mail wirklich aus der Slowakei kommt, oder zumindest dafür, dass die Absenderadresse in der Slowakei angemeldet ist. Es gibt noch Dinge, die fest zuzuordnen sind, sagt sich Viktor. Er mag diese kleinen nationalen Unterschiede und das binationale Herumschäkern ohne viele Worte. Er nimmt sich vor, mit Frau Truhn wenigstens über eine Fahrtkostenerstattung nachzuverhandeln. Denn sonst wäre nach dem halben Jahr auf seinem Konto gar keine Verbesserung festzustellen. Zunächst muss sich Viktor an den Einrichtungsstil seiner neuen, temporären Unterkunft gewöhnen. Er stellt den Koffer im Zimmer ab. Ein lebensgroßer Waschbärkopf und ein ausgeblichenes Poster einer Meeresidylle grüßen von den Wänden, vom Türrahmen baumelt eine Federboa, die Viktor den Kopf streichelt, wenn er unter ihr durchgeht. Er hat keine Zeit, sich noch länger umzuschauen und berühren zu lassen, sondern muss mit seinen Mitbewohnern einen probiotischen Kennenlern-Shake trinken. Die beiden sind nett und erklären ihm, 68
welches Geschirr er benutzen darf und welchen Schrank. Denn diese WG folgt dem Prinzip der Gütertrennung. »Wir sind ja weder verwandt«, sagt der eine, »noch verheiratet«, sagt der andere. Das will Viktor alles gar nicht wissen, aber er schaut freundlich, lacht ein bisschen und macht dann beim Kofferauspacken die Tür zu. Am nächsten Morgen begrüßt ihn der Waschbärkopf, der direkt über dem Bett hängt, mit einem Zähnefletschen, aber das beeinträchtigt nicht Viktors gute Laune. Er begibt sich direkt zu seiner neuen Arbeitsstelle. Frau Truhn holt ihn an der Pforte ab. Sie ist etwas dicker geworden. Vielleicht ist sie die Geliebte ihres neuen Chefs und weiß nicht, dass sie ein Kind bekommt, spekuliert Viktor, weil sie so viel arbeitet, dass sie keine Zeit hat, sich länger als nötig mit ihrem Körper zu beschäftigen. Und in Phasen von Arbeitsstress setzt die Periode ja sowieso mal aus und dann wieder ein. Das läuft dann alles eben auch mal außerplanmäßig. In einer kurzen Pause, in einer ruhigen Minute meldet sich Viktor bei Linn, die aber nicht besonders gesprächig ist, weil sie gestern lange auf einem Empfang herumgehangen hat, und dann fährt er sein Handy-Adressbuch auf und ab, ob nicht doch irgendeine alte Bekanntschaft in der Nähe sein könnte. Er hat keine Lust, mit Frau Truhns Bauch und den Geschirr-Besitzansprüchen seiner Mitbewohner sehr viel intimer zu werden. Es bleibt nur der alte Schulkollege, dem er die Standard-SMS schreibt. Viktor hat sie als Formatvorlage auf seinem Handy gespeichert: »Hallo! Bin in der Gegend. Lust auf Bier/Kaffee? LG, Viktor.« Der Kollege schlägt für das abendliche Standard-Bier ein. Die Unsicherheit, die sich bei Begegnungen mit Menschen einstellt, die man länger nicht gesehen hat, überspielt Viktor damit, dass er über den neuen Job und frühere gemeinsame Erlebnisse spricht. »Weißt du noch, wie wir alle in die wunderschöne Dana verknallt waren?« »Sie hat jetzt ein Essproblem. Ich habe sie letzte Woche zufällig auf der Straße getroffen. Sie 69
ist ein Skelett.« »Aber sie hatte schöne Augen.« »Sie hat immer noch diese schönen Augen.« »Leider gehörten wir nicht zu der coolen Gang, deshalb hat Dana uns nie mit ihren schönen Augen angesehen.« »Ich fand uns eigentlich immer recht cool.« »Aber es gab eben noch die sehr coole Gang. Wir waren nur alternativ-cool.« »Ich finde alternativ-cool viel cooler als sehr cool.« Der alternativ-coole Kollege arbeitet bei einer Bank und wundert sich über die ständigen Ungewissheiten, von denen Viktor berichtet. »Wir sind alle sofort untergekommen«, berichtet er, »aber auch wir wechseln alle paar Jahre den Arbeitsplatz. Qualifizierte Mitarbeiter sind rar geworden. Ich werde zum Beispiel im Moment zwei- bis dreimal in der Woche von Personalfirmen angerufen, die mich abwerben wollen. In diesen Zeiten werden vor allem ältere und gering Qualifizierte entlassen - und junge Qualifizierte«, zu denen sich der Kollege Scheinbar zählt, »sind selten geworden.« »Ja, was will man machen«, ergänzt Viktor, »die einen werden haufenweise rausgeschmissen, die anderen kommen nicht rein. Wer kann sich denn da noch qualifizieren?« Nach eineinhalb Stunden höchstqualifizierter Dialoge muss der Kollege weiter, eine wichtige Telefonkonferenz ruft. »Hat Spaß gemacht, dich wiederzusehen. Nicht den Mut verlieren«, sagt er zum Abschluss, »schließlich kannst du mit Pfeilen umgehen, die unter anderem Richtung und Angriffspunkt festlegen. Wir können uns ja mal mittags zum Businesslunch treffen.« Viktor schreibt sich die Durchwahl des Kollegen, dieser schreibt sich Viktors auf. Viktor weiß jetzt schon, dass sie sich nicht noch einmal sehen werden, denn die Mittagspausen in dem Aushilfsjob werden höchstens dafür ausreichen, um sich mal eben beim Bäcker ein Brötchen zu holen. Solche freundschaftlichen Aushilfstreffen dauern gewöhnlich nicht länger als neunzig Minuten: Es sind Kaffee- oder Biertrinktreffen. Als Viktor durch die Stadt zu seiner Unterkunft schlendert, sagt er sich »Dass der immer noch 70
hier ist. Dass er es hier aushält. Der redet auch schon so komisch. Aber gut, dass ich überall jemanden kenne.« Hinterher schreibt Viktor dem Kollegen eine weitere SMS: »Schön war's. Bis bald.« Diese SMS vergisst er nie. Er weiß, wie wichtig gute Manieren sind. Vielleicht muss er bald wieder auf das hiesige Netzwerk zurückgreifen oder braucht eine Bankverbindung. Da sollte der Kollege ihn in guter Erinnerung haben. Als Viktor abends dem Waschbären eine gute Nacht auf die Nase stupst und in seinen Camping-Schlafsack schlüpft, weil er das vorhandene Bettzeug nicht benutzen darf, hört er Nils' Stimme, die ihm einen Camping-Witz zuflüstert. Viktor würde jetzt gerne mit Nils in der Eckkneipe über seinen ersten Arbeitstag plaudern und später unter Linns Decke kriechen, die er nämlich benutzen darf. Er würde mit ihnen über feste Jobs und freie Projekte reden. Über stabile emotionale Beziehungen und flüchtige Bekanntschaften. Und Nils würde sagen: »Du nutzt diese flüchtigen Bekanntschaften doch nur aus. Du spielst diese Intimität doch nur. Du machst dir doch etwas vor. In Wirklichkeit bist du doch überall fremd und alleine. Schau doch mal genau hin. Schau doch mal ein bisschen länger als zwei Wochen hin.« Viktor würde eutgegnen, dass ihm wenigstens sein Konto nicht fremd sei, weil es von ihm regelmäßig betreut werde. Und dann Wörde er mit seiner eigenen Personalpolitik beginnen: »In zehn Jahren, wenn ich ein Entscheider bin, wenn ich eine Entscheidungsposition erreicht habe, kann ich auf meine Netzwerke zurückgreifen. Jetzt sind wir alle noch kleine Fische, die durch die Maschen schlüpfen, aber wir sind der Nachwuchs. In zehn Jahren sind wir die Profis. Und dann ist unsere Zeit gekommen. Dann wird es sich auszahlen, dass wir uns kennen, dass wir unsere Nummern und Positionsangaben haben.« Und er würde die Zähne fletschen wie der lebensgroße Waschbärkopf.
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Spargelessen
Organisation ist alles, sagt Linn gerne. Auf ihrer Schreibtischablage stapeln sich Berge von bedruckten Papieren: Rechercheergebnisse aus Stellenmärken, ausgeschnippelte Zeitungsannoncen für Honorarverträge, Werbeflyer mit den Bedingungen zur Teilnahme an Innovationswettbewerben von. Beraterfirmen, selten mal eine passende Ausschreibung oder ein Ausbildungsplatz, aber alles hübsch gestapelt und mit knalligen Textmarkern bearbeitet. Linn gibt die Datenmengen säuberlich in Tabellen ein, um die Bewerbungsschlüsse auf einen Blick chronologisch parat zu haben. Sie ist gut organisiert. Sie sagt sich: »Die Jobsuche verbessert mein Organisationstalent. So, wird wiederum meine Jobsuche effizienter, zugleich erweitern sich meine Qualifikationen. Ich drehe mich im Kreis, aber nicht in einem Teufels-, sondern in einem Engelskreis. Ich fliege immer höher, immer schneller.« Linn ist also gut organisiert und dadurch gut informiert. Sie will kein Angebot verpassen. Leider ist fast nie etwas für sie dabei, und auf die wenigen Premiumangebote, solche, die länger als sechs Monate dauern und so bezahlt sind, dass man davon leben könnte, bewerben sich mindestens 500 Konkurrenten. Nur zehn kommen in die Endrunde, für die anderen geht alles wieder von vorne los. Linn wird deshalb auch, je tabellarischer ihr Schreibtisch aussieht, umso realistischer. Während sich ihre Freundin Anika unermüdlich bewirbt, selbst wenn sie nur halb oder kaum in das gesuchte Profil passt, die teuersten Bewerbungsmappen 72
kauft, einen Profifotografen mit Profibewerbungsporträts beauftragt, zu jedem Vorstellungsgespräch kreuz und quer durch das gesamte Land reist und die Kosten immer selbst trägt, möchte Linn nun eine neue Taktik entwickeln. Als sie in einer Ordnungsattacke beim Aufräumen ihres Zimmers auf sämtliche Telefonlisten ihrer bisherigen Praktikumsstellen stößt, weiß sie, wie der Strategiewechsel aussehen muss: Sie löscht alle Tabellen aus ihrem Rechner und wirft die hübsch gemarkerten Stellenanzeigen in den Papierkorb. Von nun an will sie ihre alten persönlichen Rontakte ausbauen sowie neue einbauen. Mit den Telefonlisten ist ein Anfang gemacht. Sie sind ihre geheime Notration-Notation. Falls sie einen Kontakt aufleben lassen will, sind die richtige Durchwahl und der richtige Ansprechpartner gleich zur Hand. Schließlich hatten ihr alle Praktikumsgeber zum Abschied immer nachdrücklich versichert, sie solle sich doch gerne melden, sie solle anrufen, sie müsse sich in Erinnerung bringen, sie solle bloß keine Scheu haben, sie nerve nicht, nein, man würde gerne wissen, wie es bei ihr weitergehe, ja, sie müsse sogar nerven, nur dann würde man sich an sie erinnern können, nur dann würde man wissen wollen, wer denn da so nerve, und man würde sie weiterempfehlen, weil man sich wieder an sie erinnere. Natürlich hatte Linn nie nachträglich irgendwo angerufen, und die Listen waren in irgendwelchen Kartons verschwunden. Warum hätte sie sich melden sollen? Sie wollte nicht erzählen, dass sie noch immer Praktika absolvierte, dass sie ihre Arbeitskraft vor allem bei der Arbeitssuche vergeudete. Für nix und wieder nix. Das Einzige, was anstieg, war ihre Telefonrechnung durch das ständige Online-Sein. Sie wollte nicht um Aufmerksamkeit und Mitleid betteln gehen. Nur einmal hatte sie sich bei einer netten Redakteurin gemeldet, weil sie für ihre Patentante, die einen Verein für Minenopfer leitete und ein Benefizkonzert veranstaltete, einen Hinweis schreiben wollte. Die Redakteurin war zwar sehr freundlich, hörte zu, wiegelte dann die Anfrage ab, aber erkundigte sich nach 73
ihr. Mehr aus Pflichtgefühl, hatte Linn damals den Eindruck, als aus wahrem Interesse am Schicksal einer ehemaligen Arbeitskraft. »Ja, dass es für euch so schwierig ist, hätte ich nicht gedacht. Vor ein paar Jahren war es noch nicht so. Ich bin wohl grad noch hier reingerutscht.« Linn hörte förmlich, wie erleichtert sie war, dass sie grad noch so reingerutscht war, als ob alles ein Spiel wäre oder eine Suche nach Spielplätzen mit extraschnellen Rutschen. »Was würdest du denn gerne machen?« »Ich würde alles machen«, sagte Linn, ich müsste nur irgendwann mal anfangen, irgendetwas zu machen, dachte sie weiter, ich müsste mal irgendwo anfangen, ein bisschen Verantwortung zu übernehmen, einen Schreibtisch zu haben, auf dem ich meine Mappen und Tabellen liegen lassen kann, eine Durchwahl zu haben, die ich Gesprächspartnern mitteilen kann, nicht immer umziehen müssen, von Zimmer zu Zimmer, Woche für Woche, weil die Praktikantin per se ja nicht als anwesend eingestuft wird, sondern als beobachtend, als jemand, die sich dazwischenschiebt, dazwischenschieben muss, wenn irgendwer mal im Urlaub ist und seinen Arbeitsplatz nicht braucht, der dann aber natürlich wiederkommt, die Praktikantin begrüßt und sagt: »Im Zimmer 312 ist jetzt was frei, ich geh kurz meine Post holen, du kannst ja dein Zeug rüberräumen«, und dabei immer lächeln, nett bleiben, das Beste aus der Sache machen, immer lächeln und weiterlächeln, auch wenn man den letzten langweiligen Müll entsorgen muss, selbst das ständige Lächelnmüssen als Chance für das Erlernen einer positiven Ausstrahlung begreifen. »Na, dann viel Glück. Und melde dich!«, sagte die nette Redakteurin. Linn legte auf. Man kann ja nie wissen, sagte sich Linn, vielleicht weiß sie was. Ich hab wenigstens alles gesagt. Die Redakteurin wusste nichts. Und sie meldete sich nicht. Aber nun will Linn einen neuen Anlauf nehmen. Sie kauft sich einen Visitenkarten-Ordner, sodass sie die auf Empfängen eingesammelten Kontakte ordentlich einstecken und immer wie74
der in Guckfenstern sichten kann. Sie will die Ergebnisse ihrer Bemühungen greifbar vor sich haben. Sie professionalisiert sich - trotz aller Rückschläge. Auch wenn Viktor immer sagt, wenn er die Berge von Papier sieht, die seine Freundin um sich hortet: »Mensch, Linn, du bist so chaotisch«, lässt sie sich nicht entmutigen. Sie entgegnet dann: »Mann, Viktor, aus dem Chaos entsteht die Welt, das kannst du bei Ovid nachlesen.« Sie liest als Erstes die Listen genau durch. Vergleicht die Namen auf den Listen mit den Namen der Vortragenden der örtlichen Bildungseinrichtungen auf der Suche nach denen, die sich in beiden Listen doppeln. Sie muss nicht lange lesen und vergleichen. Einer ihrer ehemaligen Chefs, Herr Dr. Schrobele, hält in ein paar Wochen eine Vorlesung, in einer Konferenzvilla im Stadtrandgebiet, in der einst Ludwig Erhard gerne tagte, natürlich im Grünen, mit Terrasse zum See und Wintergarten voller Ledersessel, mit guter Anbindung an die Autobahn, aber mit schlechter Anbindung an die öffentlichen Verkehrsmittel. Das Thema des Vortrags »Gewissen und Fortschritt« knüpft an eine Rede an, die Linn damals für ihn abtippen und 200-mal kopieren musste. Das damalige Kopiergerät besaß keine Sortierfunktion. Linn blockierte stundenlang die Maschine und alle Ablageflächen auf dem Flur, erntete von einigen Mitarbeitern deshalb böse Blicke, andere brachten einen solidarischen Kakao, den sie nicht trinken konnte, weil sie ja sortieren musste, und da Trinken und Sortieren nicht gleichzeitig machbar war, wurde der Kakao kalt. Linn hat manchmal noch ein schlechtes Gewissen ihren freundlichen Kollegen von damals gegenüber. Auch Herrn Dr. Schrobele hat sie eigentlich in guter Erinnerung. Er war der einzige Praktikumschef, der ihr eigenhändig das Zeugnis schrieb, der sich die Mühe machte, eigene Formulierungen zu finden, mit ihr über ihre Tätigkeiten sprach, über das, was sie sich erhoffte, was sie kritisierte, und das, was sie später gerne machen wollte. Das Zeugnis aus der Feder von Herrn Dr. Schrobele war 75
ihr Lieblingszeugnis, weil es ehrlich klang, professionell und glaubwürdig. Weil es wirklich etwas über sie sagte, was sie selbst so nicht hätte formulieren können. Denn sonst hatte Linn jedes Zeugnis selbst verfasst und es von der Sekretärin unterschreiben lassen. Sie macht den Schrobele-Vortrag zu ihrem Probelauf. Mal vorbeischauen, dem Herrn die Hand schütteln, über Gewissensdinge plaudern, die Arbeitslosigkeit erwähnen, noch mehr Gewissensdinge bereden und eine Karte einsammeln, eine verteilen: den Fortschritt aktiv selbst gestalten, so denkt sie sich das. Zusätzlichen Ansporn gibt ihr die Trainerin Doro, bei der Linn an einer Fortbildung zum Thema »Work-Life-Planning« teilnimmt, um ihre neue Strategie zu unterfüttern. Der Aushang am schwarzen Brett bei ihrem Bäcker um die Ecke, dem Nougat-Kalle, hat Linn direkt angesprochen: »Es ist nicht deine Schuld. Es ist die Schuld des Arbeitsmarktes. Lass dich nicht von deinem Ziel abbringen. Du bist gut«, sagt Doro auf dem Plakat, und eine riesige, dominante Sprechblase quillt aus ihrem Mund. Doro sagt gerne Mutmacher-Sätze, die sie sich »halb« über ihren Schreibtisch hängen würde, wie sie betont, die sie aber nicht hinhängt, weil sie halbe Sachen nicht mag. Wie viele mag sie die Riesen-Nougat-Croissants von NougatKalle und nutzt den regen Betrieb des Ladens, um auf ihre Kurse aufmerksam zu machen. Linn sitzt also zwei ganze Tage in einem stickigen Raum mit fünfzehn hoch qualifizierten Jobsuchenden, um eine Strategie zu entwickeln, um Leben und Arbeit miteinander zu verbinden. »Das ist eine ganz persönliche Sache«, sagt Doro, »aber es gibt Tricks.« Natürlich kennt Doro viele Karriere-Kniffe, die die Gruppe als Trockenübungen ausprobiert. Linn fragt sich allerdings, was die anderen Teilnehmer eigentlich noch lernen wollen. Sie sprechen zusammen zwanzig unterschiedliche Sprachen, davon jeder zwei europäische fließend, alle waren insgesamt dreißigmal im Ausland, sind sehr motiviert und besitzen 76
diverse Computerkenntnisse, sowieso, das erwähnt man ja gar nicht mehr. Zunächst spricht deshalb Doro, die Seminarleiterin: Sie entwickelt anhand der Spieltheorie aus den Sozialwissenschaften ein Szenario für den Arbeitsmarkt. Auf der einen Seite stehen die Arbeitgeber, die bezahlte Jobs und unbezahlte Praktika anbieten. Die Arbeitgeber stellen lieber unbezahlte Praktikanten als bezahlte Arbeitnehmer ein, wenn sie es sich aussuchen können. Denn natürlich wollen sie sparen. Auf der anderen Seite stehen die Bewerber, die einen Job oder ein Praktikum suchen. Wenn genug Bewerber mit einem unbezahlten Praktikum zufrieden sind und immer weniger bezahlte Jobs oder gar Festanstellungen angeboten werden, entsteht ein Koordinationsproblem. Dann kann kein Praktikumssuchender auf die Seite der offenen Stellen hinüberwechseln - wohingegen ein Jobsuchender auch auf die Seite der Praktikumsplätze wechseln kann, weil es ja zu wenige Jobangebote gibt. Dieses Dilemma lässt sich nur lösen, wenn sich die Praktikanten und Jobsuchenden anders verhalten: wenn sie zum Beispiel unbezahlte Praktika nicht annehmen, wenn sie sich nicht auf die klassische Art und Weise bewerben, wenn sie sich untereinander vernetzen und absprechen würden. »Also zurück in die Praxis«, sagt Doro. »Da es eben fast nur noch unbezahlte Praktika und zu wenig Ausschreibungen für bezahlte Stellen gibt, müssen wir andere Wege finden, um einen Arbeitgeber zu überzeugen. Nur zwanzig Prozent der offenen Stellen werden heutzutage über Anzeigen vergeben.« Die Teilnehmer schreiben artig mit, auch das Flipchart, auf das Doro mit peppigen Stiften herummalt, wird immer voller. Schließlich verrät sie ihren besten Trick: »Eure Taktik muss sein: reden, reden reden. Linn stellt sich vor, dass ihr Herr Dr. Schrobele gegenübersteht. Doros Haare werden dünner, fallen ihr aus, eine kleine Glatze bildet sich, ihre Stimme wird rauer, ihre Leinenbluse verwandelt sich in ein Kordjackett, ihre Sandalen in edle Budapester Lederschuhe. »Ich suche Arbeit 77
- in jedem Satz müsst ihr diese Tatsache, wenn schon nicht sagen, so aber mitschwingen lassen. Ich würde gerne dieses oder jenes machen. Konkret sein. Nah rangehen.« Doro und Herr Dr. Schrobele setzen sich zu Linn an den Tisch. Am nächsten Tag ist die Kandidatin Linn also bestens und strategisch auf die Begegnung mit dem Herrn Doktor vorbereitet. Sie musste am Vortag noch ihren Lebenslauf mit möglichst vielen Verben erläutern, die dann wiederum von den anderen Teilnehmern notiert und analysiert wurden. Es fiel auf, dass Linn vor allem beobachtende und analysierende Verben verwendete. Sie müsse ihre aktive Seite ausbauen, riet Doro. Aber das wusste Linn sowieso schon. Nach dem Vortrag geht sie direkt auf Herrn Schrobele zu. Er steht neben dem Rednerpult, umrundet von einigen Anzug tragenden Herren und einer Dame im Kostüm mit hochgesteckten Haaren und in Riemchensandalen. Auch andere warten, um ihm die Hand zu schütteln, weniger, um ihn zu begrüßen, sondern um sich von ihm begrüßen zu lassen und um kurz seine Aufmerksamkeit zu gewinnen, sei es nur in einer Handschüttelgeste. Linn reiht sich in die Bittsteller ein. Sie konzentriert sich auf den Moment der Begegnung. Herr Schrobele hat sie schon bemerkt Linn sieht, wie er nachdenkt, wer sie sein könnte, woher er sie kennt, aber da kommt sie ihm schon zuvor: »Guten Abend, ich bin Linn, eine ehemalige Praktikantin.« Herr Schrobele hat nicht unbegründet einen Doktor der Psychologie: Er erinnert sich. Sie plaudern ein wenig über den Ort, diese hochherrschaftliche Villa, den Blick über den See und können sich darauf einigen, dass das Schweifen des Blicks entlang der Ufergebäude als Metapher für ein unbestimmtes Dasein stehen könnte. Und weil es schon um Existenzen geht, setzt Linn gleich hinterher, dass sie gerne Listen anfertige, dass sie eine Expertin für Tabellen und Ordnungssysteme sei, die den jeweiligen Datenbedingungen auf den Leib geschnitten werden könnten. Herr Schrobele sagt: »Na, das 78
passt ja bestens. Hätten Sie eventuell morgen Zeit?« Linn hat natürlich immer Zeit und nickt einsatzbereit. »Wenn Sie mögen, nehme ich Sie zu einer Planungssitzung mit. Denn leider hat unser Protokollant gerade abgesagt. Haben Sie schon einmal Protokoll geführt?« Linn muss zwar wieder einspringen, eine Lücke ausfüllen, für ein paar Stunden, und dann wieder auf Lückensuche gehen, aber mit Herrn Schrobele scheint alles irgendwie einfach zu sein. »Das mache ich sehr gerne.« Sie vergisst, nach der Vergütung zu fragen, weil sie sich so freut, dass Doros Tipps und Tricks anschlagen. Sie motiviert sich: »Das ist doch eine Chance! Diese wichtigen Planungsleute kennen zu lernen ist sozusagen mein Gehalt. Der Lohn.« Linn ist sehr dankbar. Eigentlich für gar nichts. Aber man kann ja auch mal für nichts dankbar sein. Sie weiß um die ungeahnten Möglichkeiten, die sich bei offiziellen Anlässen, bei der Verabschiedung der langjährigen Sekretärin, dem Adventsabend der Firma, der Eröffnung einer neuen Zentrale ergeben können. Linn weiß, dass das bloße Dabeisein, ihre Anwesenheit bei solchen Veranstaltungen wichtiger ist als gute Noten, originelle Studienfächer oder Auslandserfahrungen. Diese Veranstaltungen sind eine Bühne für Bewerbungsgespräche, auf der sie mehr Eindruck hinterlassen kann als mit jeder noch so flott gestalteten Bewerbungsmappe. Man sollte viel öfter dankbar sein, denkt sich Linn. Bis das friedvolle Gespräch von Herrn Schrobeles ehrgeiziger Assistentin Henni unterbrochen wird. Sie steht schon ein paar Minuten bei Linn und Herrn Schrobele, hat sich immer näher heranbewegt, interessiert, aber herablassend geschaut und ihren Angriff vorbereitet. Schon damals während Linns Praktikum hielt sie die Nachwuchskraft mit einem langen Arm der Macht von besseren Aufgaben fern, erklärte ihr absichtlich bestimmte Dinge nicht damit Linn Fehler unterliefen oder sie diese Aufgaben gar nicht erst ausführen und somit keine Konkurrenz für Henni werden konnte. Einmal rief sie Linn mit wichtiger Miene zu sich und fragte, ob sie gerade ein wenig 79
Zeit hätte. Linn wollte schon ihr negatives Bild von Henni in ein positives umbauen, sie glaubte für einen kurzen Moment, jetzt würde eine neue Herausforderung, ein selbständig zu entwickelndes Projekt auf sie zukommen, aber Henni blieb ohne Abschläge die gute, alte Zicken-Henni: »Du weißt, dass die Praktikanten dazu angehalten sind, einmal in der Woche den Boden zu wischen? Vergiss das bitte nicht«, und dabei lächelte sie unverschämt. Jetzt steht Henni also wieder da und lächelt. »Sie haben es sicher nicht leicht auf dem Arbeitsmarkt als Ethnologin«, sagt Herr Schrobele gerade. »Ach, sie ist Ethnologin?«, freut sich Henni, »dann könnte sie doch mal unseren Adressverteiler alphabethisch ordnen. Zicke, denkt Linn wieder, verabschiedet sich von Herrn Schrobele, nachdem er ihr schnell seine private Handynummer aufgeschrieben hat - wegen des Treffens am nächsten Tag. Mit dem Nachtbus braucht sie drei Stunden, bis sie aus dem Standrandgebiet wieder zu Hause angekommen ist. Herr Schrobele liegt bestimmt schon längst im Bett, er hat sicherlich ein Taxi genommen. Und Henni hat auf der Rückbank gesessen und ihre Zickenpapiere sortiert. Wichtig ist, dass Linn aus allen Demütigungen neue Energien ziehen kann. Sie ist eine zuversichtliche Person, die sich nicht entmutigen lässt. Sie erledigt am folgenden Tag die Protokoltantenaufgabe mit Einsatz und Bravour: Anwesenheitsliste herumgeben, Abwesenheiten notieren, Top 1, Top 2, Top 3, nachgereichte Anträge beschließen, Beschlussfähigkeit prüfen, Abstimmungen, auszählen, Enthaltungen vermerken und Sonstiges. Sie weiß, dass »Top« »Tagesordnungspunkt« bedeutet. Sie hält ihren Stift nah am Notizblock, schreibt fleißig mit, schaut aber auch viel in die Runde, denkt mit, nickt mit, lacht mit. Sie will nicht nur schreibend anwesend sein, sondern auch intellektuell, als jemand, der versteht, worum es geht. Das Thema der Sitzung ist spannend. Es geht um neue Integrationsmo80
delle, um Qualitätskriterien für eine erfolgreiche kommunale Integrationspolitik. Zentraler Punkt ist die Zusammenarbeit, Programmentwicklung und -durchführung mit den Organisationen, die die Migranten vertreten, mit der Basis sozusagen. Linn malt schnell ein Modell auf ihren Block, das sie an Doro schicken wird. Vielleicht lässt sich mit diesem Ansatz auch das Dilemma auf dem Praktikantenmarkt lösen. Im Sitzungssaal herrscht nun Aufbruchstirnmung. Die Damen und Herren packen ihre Unterlagen zusammen, trinken die letzten Schlucke aus ihren Wassergläsern und reden in Kleingruppen miteinander. Herr Schrobele ist sehr zufrieden mit den Ergebnissen und sagt: »Ich möchte Sie gerne alle zum Spargelessen einladen. Hier unten ist ein sehr gutes italienisches Restaurant. Natürlich sollen Sie sich auch integrieren, Frau Linn. Sie kommen doch mit, oder?« Im Fahrstuhl steht Linn neben Herrn Schrobele, und sie führen ihr Gespräch über Existenzen weiter, das gestern von Henni unterbrochen worden war. »Wissen Sie, Frau Linn, ich muss ehrlich zu Ihnen sein. Ich kann mich nicht an alle Praktikanten und Praktikantinnen erinnern. Ich gebe mir Mühe, ja, aber das reicht nicht. Mein Blick schweift über so viele verschiedene Gewässer. Wir brauchen junge Menschen wie Sie, und wir rechnen damit, dass Sie bei uns produktiv arbeiten. Aber einige denken, sie könnten schon alles. Das Einzige, was sie können, ist posieren. Das nervt. Andere sind einfach dumm. Man muss ihnen alles sagen. Sie denken nicht mit, denken nicht nach, sind sehr unselbständig. Das nervt auch.« »Na ja«, sagt Linn, »aber man kann ja nicht alles vorher wissen. Wo welche Datei abgespeichert, ist, wie man Telefonate durchstellt, wie die Standard-Absage per Mail aussieht. Von alleine kann man nicht selbständig sein.« Herr Schrobele nickt: »Wir haben einfach zu viele Praktikanten. Aber es bewerben sich so viele. Wir wollen gerne allen die Gelegenheit geben, bei uns hineinzuschauen. Das führt dann zu einem solchen Durchlauf, dass 81
man sich kaum die Gesichter merken kann. Jede Woche gibt es drei neue. Das Büro ist unruhig, überall laufen junge, verwirrte Menschen herum, die ich nicht kenne. Wie in einer Bibliothek. Wie am Flughafen.« Inzwischen sind sie im Restaurant angekommen, und der zugewandte Herr bietet Linn einen Platz neben sich an. Die öffentliche Lokalität wird für Linn zu einem offiziellen Arbeitsraum, wo sie bei Gemüse und Weinschorle ihren Chef besser kennen lernen kann - und er sie auch. Sie gibt sich Mühe, nicht jung und verwirrt zu erscheinen. In der nächsten Woche tippt sie im Büro von Herrn Schrobele das Protokoll ab, führt eine ordentliche Liste über ihre Arbeitsstunden, das muss bei ihm jeder machen. So korrekt ist selten mal einer, denkt Linn. Natürlich rennt Henni ständig an ihr vorbei. Sie will stören, macht das Radio laut an, brüllt ins Telefon, druckt endlos lange Texte aus. Linn kann sich bei dem Lärm schlecht konzentrieren. Um sich zu bedanken, schreibt sie an Herrn Schrobele eine persönliche Karte: »Dass Sie sich so viel Zeit genommen haben ...«, eine sehr persönliche Karte, ein Blick auf das Wasser eines Gartenteichs, im Hintergrund das Uferpanorama aus Bambusbüscheln und Schilfrohr. Diese legt sie Herrn Schrobele auf den Schreibtisch. Vielleicht hängt er sie sich an die Wand, und falls ein Arbeitsplatz frei wird, fällt sein Blick vielleicht auf die witzige, traurige, absurde, aber eben sehr persönliche Karte, auf der natürlich ganz dick Linns Adresse und Telefonnummern stehen, und er leitet das Jobangebot weiter. Weil Linn nicht hochschaut sondern nachdenkt und für ein paar Minuten nicht in die Tastatur hämmert, stellt sich Henni neben sie und fragt laut: »Hast du Zeit? Dann könntest du die Regale und Schubladen aufräumen. Das gehört auch zu deinem Job.« Linn öffnet ein neues Dokument, legt eine Tabelle an und sagt ebenso laut und bestimmt: »Nein, ich habe gerade überhaupt keine Zeit.«
Kleine
feste
Orte
Viktor schaut nicht gerne in den Spiegel. Weil er nicht mehr frühstückt, weil er zu wenig schläft, weil er tags und nachts vom Computerbildschirm bestrahlt wird und weil seine Augen so müde sind, dass sie abgese¬ hen von Word- und Excel-Tabellen nichts mehr scharf stellen können. Er bereitet eine Konferenz vor, organisiert die Festredner, schickt Einladungen heraus, blicht Hotelzimmer und Restauranttische, arbeitet rund um die Uhr. Abends geht er in der kleinen Wohnung, in der er für sechs Monate mit seinem Koffer lebt, am reflektierenden Fensterglas vorbei und sägt mechanisch: »Mensch, du siehst fertig aus.« Nur, wenn er seinen Koffer bei Linn in die Ecke schiebt, wenn Linn in ihrem Schrank ein bisschen Platz für seine Sachen freiräumt und seine Unterhosen neben ihren auf dem Wäschegestell hängen, erholt er sich. »Bei dir kann mein richtiges Zuhause sein«, sagt er dann zu Linn und setzt sich eine ihrer Unterhosen auf den Kopf. »Meine Verdauung funktioniert, die Stinketau¬ ben auf dem Fenstersims erkenne ich an ihren fehlen¬ den Krallen, die Luft auch, besonders morgens, denn sie riecht immer auch ein bisschen nach dir. Ich weiß, wo die Kaffeetassen in der Küche stehen, wo die Teller und die Schüsseln. Dein Bett ist mir ein bisschen zu hart, aber dafür habe ich mein großes Kissen. Ich schlafe sehr gut und wache nicht zerknautscht und alle paar Stunden verwirrt auf, sondern zu meiner perfek¬ ten Zeit, ganz entspannt, um halb neun. Und was das Wichtigste ist, ich kenne Menschen in dieser Stadt.« 83
»Und einen Menschen besonders gut«, sagt Linn, und ihr ist dieses Detail sehr wichtig. Linn ruft Viktor regelmäßig an, wenn er wieder einmal unterwegs ist, und plaudert mit ihm über Entfernungen und Erfahrungen. Viktor meldet sich dagegen selten bei ihr, weil er so viel zu tun hat, wie er sagt. Weil er den ganzen Tag kommuniziert und dann abends nicht noch mehr kommunizieren will: »Schade, dass ich dich durch das Telefon nicht küssen kann, dann hättest du vor mir keine Ruhe.« Linn hat ihn seit drei Monaten nicht geküsst und seit ein paar Wochen nichts von ihm gehört. N u n ist er am Apparat und sagt einfach nur: »Hallo«. Sie sagt ziemlich unwillig: »Hallo, Viktor, wie geht es dir?« Viktor freut sich, dass er etwas Persönliches gefragt wird, aber er bleibt seiner Minimalkommunikation treu: »Gut, und dir?« Linn erzählt, sie sei in der letzten Woche auf einer Städtetour gewesen, und bald fahre sie mit Anika in den Urlaub nach Italien, für einen Monat, zu deren Eltern. Dann bin ich eben auch mal weg, denkt sie. »Wir helfen auf dem Weingut.« »Und wann kommst du wieder?«, fragt Viktor. »Im Oktober.« Das sind dann doch zwei Monate, denkt Viktor. »Ja«, sagt Linn, »ich wollte dir das nur sagen. Ich habe momentan sehr viel zu erledigen, deshalb kann ich mich jetzt nicht mehr so oft melden. Ich habe außerdem eine Telefonblockade entwickelt.« »Was bedeutet denn das schon wieder? Hattest du nicht letztes Mal eine EMail-Blockade?« »Ich will nicht immer alles begründen«, sagt Linn. Eigentlich kommt diese Blockade-Idee nämlich von Nils, den sie in der letzten Zeit fast täglich sieht und der zur Kostenreduzierung, aber auch zur so genannten Humanitätsmaximierung, mehrere Monate lang auf jegliche modernen Kommunikationsmedien verzichten möchte. Wenn er die menschliche Nähe sucht, muss er bei seinen Freunden klingeln. Oder Briefe schreiben. »Du bist so weit weg. Du kannst eben nicht mehr alles verstehen.« »Ach so.« Viktor weiß gar nicht, was er sagen 84
soll. Diese Linn hat er noch nicht erlebt. »Willst du mich ärgern?« »Ich muss darüber nachdenken, ob ich aus Italien überhaupt zurückkommen soll, ich könnte ja auch dort bleiben, auf dem Weingut, mit einem lustigen Italiener. Und deshalb wollte ich etwas von dir wissen.« »Ja«, sagt Viktor, »frag mich, warte nicht.« »Das reimt sich. Du kommst doch wieder, du Poet, oder?« Und Viktor antwortet: »Ich denke schon.« Seine Chefin hatte ihm zwar gestern gesagt, dass sie dringend einen Assistenten brauche, dass sie gerade Personalgelder beantragt habe, dass sie die Stelle für Viktor freihalten werde, er könne sich das in Ruhe überlegen, denn sie könne sich vorstellen, dass Viktor sehr gut in das Team passen und dass er jetzt ja auch schon alle Arbeitsabläufe kennen würde - da habe er seinen Mitbewerbern einiges voraus. Und ganz eigentlich wolle sie die Stelle sowieso nicht ausschreiben. Sie habe einfach keine Zeit, 500 Bewerbungen durchzusehen. Deshalb wäre es doch wunderbar, wenn Viktor im Team bleiben würde. Viktor hatte sich geehrt gefühlt, aber er hatte sich im selben Moment daran erinnert, dass er ja unterwegs war, dass Linn zwar auch manchmal unterwegs war, aber leider nicht mit ihm zusammen, und dass das ein Argument gegen diesen aussichtsreichen Ein-Jahres-Vertrag war. »Wie >du denkst