Atlan - Minizyklus 03 Obsidian Nr. 6
Die Eisgruft von Hans Kneifel
Im März 1225 Neuer Galaktischer Zeitrechnung, das ...
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Atlan - Minizyklus 03 Obsidian Nr. 6
Die Eisgruft von Hans Kneifel
Im März 1225 Neuer Galaktischer Zeitrechnung, das dem Jahr 4812 alter Zeit entspricht, hält sich Atlan, der unsterbliche Arkonide, im Kugelsternhaufen Omega Centauri auf. Dieser Sternhaufen ist von den zentralen Schauplätzen der Milchstraße nicht weit entfernt, war aber über Jahrzehntausende von der »Außenwelt« aus nicht zugänglich. Deshalb konnte sich zwischen den Millionen von Centauri-Sternen eine Fülle eigenständiger Zivilisationen entwickeln. Und Geheimnisse, von denen die Menschen sowie die anderen Bewohner der Milchstraße nur träumen können … Nach vielen Abenteuern hält sich Atlan mit einigen Besatzungsmitgliedern des Raumschiffes TOSOMA auf der so genannten Stahlwelt auf. Als eine schwarze Quader-Plattform materialisiert, erinnert sich Atlan an die »Vergessene Positronik«, der er in seiner Jugend begegnete. Dieses Gebilde durchstreift seit Jahrtausenden die Milchstraße, ohne dass Aufgabe und Herkunft bekannt sind. Ein Transmittersprung geht schief – Atlan und einige seiner Begleiter landen auf der »Vergessenen Positronik«. Dort müssen sie sofort um ihr Leben kämpfen. Währenddessen versucht die Besatzung der TOSOMA, in das Geschehen einzugreifen. Doch es kommt zu einer nicht gewollten Transition. Sowohl Atlan als auch die TOSOMA-Besatzung kommen in einem merkwürdigen Gebiet des Universums heraus – eine Sonne sowie fünf Planeten, die sich auf gleicher Umlaufbahn befinden, umgeben von einer Wolke aus Obsidian. Einer der fünf Planeten wird darüber hinaus von einem Kristallmond umkreist. Das Raumschiff TOSOMA stürzt auf einen der fünf Planeten ab. Die Besatzung wird gerettet und von eigenartigen Robotern in ihre neuen Unterkünfte gebracht. Gemeinsam machen sich die Überlebenden auf die Suche nach dem unsterblichen Ar-
koniden. Der 2. Pilot der TOSOMA führt eine Expedition der TOSOMA-Besatzung zum Hauptkontinent Viina. Nachdem ihr Boot kentert, setzen die Gefährten ihren Weg ins Land der Silbersäulen mit einer Dampflokomotive fort. Atlan und den Archivar Jorge Javales verschlägt es auf Vinara Vier. Dort treffen sie auf Savannenreiter, mit deren Hilfe sie versuchen, zur Zivilisation zurückzufinden. Sie werden in Zwistigkeiten der Afalharo verwickelt und müssen in der Folge fliehen. Dabei geraten sie in die Fänge termitenähnlicher Tiere, die sie in Kokons spinnen. Atlan wird von seinem neuen Begleiter Tamiljon befreit. Zusammen erreichen sie das Obsidiantor, das sie nach Vinara Drei befördern soll. Tamiljon muss unter allen Umständen dorthin gelangen, da eine Mission von größter Bedeutung davon abhängt. Die beiden werden von Fremden verfolgt, die sie an der Passage hindern wollen … Lethem da Vokoban und seine Begleiter geraten bei der Erkundung der »Schwarzen Perle« in einen Hinterhalt und müssen sich dem Angriff der Perlenschleifer stellen. Zur gleichen Zeit befindet sich Atlan auf Vinara Drei in höchster Not. Der Arkonide ist in Begleitung Tamiljons und Vertretern des Litrak-Ordens unterwegs zur Casoreen-Gletscherregion. Als eine Explosion das Luftschiff erschüttert, droht die LITRAK abzustürzen.
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Hans Kneifel
Prolog Lakehurst! Das Echo der Warnung schwoll in meinem Verstand zu einem donnernden Brüllen an. Einige Herzschläge später begriff ich, was ich zu tun hatte, um nach dem Schrei des Extrasinns mein Leben zu retten. Ich handelte augenblicklich. Ich packte einen Handgriff und zog mich mit einem wilden Ruck in die Höhe. Der Boden der schwankenden Luftschiffsgondel bäumte sich auf, und während der Zeppelin den Bug hob, kletterte ich zwischen losgerissenen Gegenständen auf die Luke im vorderen Teil der Gondel zu. Schreie und Flüche hallten rings um mich. Blitzartige Erinnerungsschübe trafen mich wie Pfeilspitzen: Auf der Höhe des Leitwerks war Feuer ausgebrochen. Es fraß sich nach unten und, je mehr das Heck absackte, durch den riesigen Körper der LITRAK in die Richtung der Spitze. Wie damals, als der Zeppelin LZ 129 HINDENBURG in Lakehurst bei New York verbrannte. Sechsunddreißig Tote! Nimm das Tau und rette dich!, gellte abermals der Logiksektor. Rauch drang in die Kabine der Gondel. Er stank nach verbrennender Leinwand und Aluminiumfarbe. Meine Erinnerung verschaffte mir wertvolle Zeit. Ich wusste, wie es enden würde. Hinter mir kreischte eine Stimme in Todesangst. Als ich die Luke erreicht hatte, warf ich das aufgeschossene Tau hinaus und schlang das lose Ende in einem Marineknoten um eine Strebe. Ich packte das Tau und sprang, die Füße voraus, ins raucherfüllte Freie. Hand um Hand, so schnell ich konnte, hangelte ich mich am dicken Seil abwärts. Der Bug der LITRAK hob sich weiter. Flammen leckten durch den schwarzen Qualm. Heißer Wind heulte durch aufgerissene Kammern der Konstruktion. Das Feuer breitete sich rasend schnell aus. Ein harter Ruck ging durch das Luftschiff und ließ mich hilflos zwanzig Meter über dem Boden
pendeln. Noch sieben, acht Meter Tau. Ich sah den Boden und wusste, dass ich springen musste. Der Sprung war ein Sturz. Ich würde mir alle Knochen brechen. Wie jene Unglücklichen, damals … Erinnerungen und Empfindungen, Furcht und Hoffnung suchten mich in den nächsten Sekunden heim. Mein Griff lockerte sich; das Seil schnitt wie ein glühender Eisenstab in meine Handflächen. Vom Heck her flutete roter Feuerschein heran. Ein Körper fiel, mit allen Gliedmaßen schlenkernd, brennend an mir vorbei. Zwei Tragzellen des Luftschiffs waren in den Flammen geborsten, und der Rückstoß hatte den Zeppelin nach vorn getrieben. Einige Wasserbehälter rissen ab und fielen zu Boden. Die Hecklastigkeit bewirkte, dass die Nase im Rauch steil nach oben deutete. Die Motoren in den Gondeln heulten auf, die Propeller wirbelten den Rauch durcheinander. Ich erreichte das Ende des Seils. Weiß glühende Metallteile überschlugen sich langsam, als sie an mir vorbeitrudelten. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie sich das Heck dem Boden näherte. Mein Extrasinn schrie: Spring! Du hast keine andere Wahl! Die Wasserbehälter waren am Boden zerschellt, damals, in Lakehurst, und im oberen Teil des Zeppelins starben damals wie jetzt Lebewesen in Rauch und Flammen. Über mir kämpften die Insassen der LITRAK um ihr Leben. Das Luftschiff stand in einem Winkel von mehr als fünfzig Grad über mir, würde jeden Augenblick mit dem Heck aufschlagen, zerbrechen und mich unter glühenden Trümmern und brennenden Fetzen der Hülle erschlagen und ersticken. Der Rat des Extrasinns kam aus reiner Verzweiflung. Ich sah schemenhaft den Ankermast und die Spitzen der Zelte rund um die Mauer von Malenke. Die Bodenmannschaft rannte nach allen Seiten davon. Noch drei Handbreit Seil. Ich hing mit einer Hand am ausgefaserten Ende des schwingenden Taues, und als der Extrasinn wieder aufschrie, ließ ich los.
Die Eisgruft
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Ich fiel schräg nach unten, ungefähr neun Meter tief. Ich glaubte schon den Schmerz zu spüren, mit dem meine Knöchel, Schienbeine und Schenkelknochen brachen.
1. Vinara – Helmdor 16. April 1225 NGZ Ein riesiges Messer oder ein Schwert mit bizarr geformter Schneide schimmerte für einen Sekundenbruchteil über der Schulter eines Blues. Der tellerförmige Kopf neigte sich nach vorn. Lethem da Vokoban zählte fünf Angreifer mit kurzen Hellebarden, die sich ihnen am Ende eines finsteren Korridors entgegen warfen. Scaul Falk stolperte, wurde von einem Stoß getroffen und brach zusammen. Die Schwarze Perle, in deren Sockelgebäude sie eingebrochen waren, hatte sich als eine todbringende Falle entpuppt. Lethem sprang vorwärts. Kythara wehrte die schnellen, kräftigen Stöße eines Gegners ab, aber der tellerköpfige Perlenschleifer bahnte sich mit weiten Schritten einen Weg durch das Kampfgetümmel und holte mit dem Messer des Hellebardenkopfes aus. Lethems Gegenwehr kam zu spät; die breite Klinge schnitt durch die Luft und fauchte eine Handbreit vor Enaa von Amenonters Kinn vorbei. Die Akonin wich zurück, hob die Armbrust und schrie unterdrückt auf. Der Blue drehte die Waffe und schlug ein zweites Mal zu. Das Zwitschern und Zirpen in seiner Stimme irritierte die Eindringlinge und erzeugte seltsame Echos. Ein Bolzen aus Enaas Waffe schlug aus nächster Nähe in seinen schmalen Brustkorb. Der Blue traf Enaa und trennte mit einem gewaltigen Hieb ihren Kopf von den Schultern. Lethem sah voll Entsetzen zu, wie das Blut in harten Stößen austrat und der Kopf dumpf gegen die Korridorwand prallte. Lethem stieß einen kurzen Fluch aus und stürzte sich mit den Dolchen in den Händen auf ein Bluespaar. Klirrend klappten die Zusatzklingen auf. Noch immer halb gelähmt vor Entsetzen, sah er, wie Kythara einen Blue mit ei-
nem blitzschnellen Hieb des Streitkolbens niederstreckte und die doppelschneidige Axt des Springers waagrecht durch das Halbdunkel schnitt. Er duckte sich unter den Klingen der Perlenschleifer, rammte beide Arme in die Höhe und trieb die Spitzen der Dolche in die Körper der Angreifer. Ein harter Hieb, der seine Knochen gebrochen hätte, traf klirrend das Multifunktions-Armbandgerät an seinem Unterarm. Blutüberströmt brachen die beiden Blues, die von Ondaix' Streitaxt getroffen wurden, über Enaas Beinen und halb über Falks Schulter zusammen. Falk hatte einen Blue mit seiner provisorischen Waffe niedergeschlagen. Als Lethems Gegner zu Boden krachten, drehte sich Kythara um und erstach den Blue, gegen den Zanargun kämpfte, mit dem vorschwirrenden Dorn der eleganten Schlagwaffe. Sie schnellte sich mit einem Satz aus der Kampfzone. Lethem ließ die Dolche sinken und atmete mühsam. Schritt um Schritt zogen sich die Eindringlinge zurück. Die Gegner lagen besinnungslos oder tot am Fuß einer schmalen Treppe. Lethem war noch immer im Bann des Entsetzens und unfähig, die geringste Erleichterung zu empfinden. Enaa von Amenonter, die schöne Akonin mit den Mandelaugen, war tot; er fühlte sich an ihrem Tod schuldig. Kythara bückte sich und nahm Enaas unterarmlange Armbrust und das gefüllte Bolzenmagazin an sich. Fünfzehn Schritt jenseits der Korridormündung, in der die reglosen Körper einen wirren Haufen bildeten, sammelte sich Lethems Gruppe. Der Arkonide starrte den knabenhaften Körper der Toten mit der samtigen dunklen Haut an und fühlte die Hand Kytharas auf seiner Schulter. Er blickte in die Augen der mitfühlenden Varganin und sagte niedergeschlagen: »Ich gebe auf. Übernimm du die Führung, Kythara.« »Unsinn!«, stieß Scaul Falk hervor. »Wir dürfen nicht aufgeben!« Er reinigte sein Stichschwert und schob es in die Scheide.
6 Ondaix stützte sich auf seine mächtige Streitaxt. Der Springer blickte schweigend zwischen Kythara und Lethem hin und her. Dann warf er einen langen Blick auf den kopflosen Leichnam und zerrte verlegen an seinen Bartzöpfen. »Selbstzweifel, Arkonide?« Lethem starrte Kythara an und zuckte hilflos die Achseln. Sein Verstand war bis zum Bersten angefüllt mit den Erinnerungen an die Abenteuer und den Frustrationen der fehlgeschlagenen Versuche, seit das TOSOMA-Beiboot gewaltsam auf der Insel Viing gelandet worden war. Er nickte langsam und antwortete: »Es ist, als brächte ich uns alle durch meine Ungeschicklichkeit in tödliche Gefahr. Enaa ist tot. Ich bin hier völlig fremd. Das Einzige, was ich möchte, ist, zurück zu unserem Schiff und in eine wenn auch fragwürdige Sicherheit zu gelangen.« »Unsere Welt ist voller Gefahren, Lethem«, sagte Kythara beschwörend. »Wir haben sie viele Male besiegt und überlebt. Das hast du gewusst. Nur Mut, Arkonide! Überall lauert der Tod.« »Wir sollten die Schwarze Perle so schnell wie möglich verlassen«, murmelte er. Blicklos lag Enaa von Amenonters Kopf in einer wachsenden Blutlache, in der das Haar versank. Die charismatische, selbstbewusste Akonin würde nicht mehr lachen, nie wieder ihren Sarkasmus versprühen, würde niemanden mehr aus ihren Mandelaugen so ansehen, dass ihm die Knie weich wurden. Lethem war, als strömten aus Kytharas Hand auf seiner Schulter Hoffnung und Stärke. »Wir haben viel riskiert und einiges verloren. Enaa hat ihren Platz bei ihren verehrten Ahnen gefunden«, sagte die Varganin. Ihre rauchige Stimme vibrierte. »Nein. Wir suchen weiter. Es geht um viel mehr.« Es ging, das wusste er, um das Leben aller Bewohner Vinaras und der Spiegelwelten. Einige Atemzüge lang überwältigte ihn die kosmische Größe der Probleme, die möglicherweise nur durch seine Anstrengungen und die seines kleinen Teams gelöst werden
Hans Kneifel konnten. Er legte seine Finger auf Kytharas Hand und sagte, dankbar für ihren Zuspruch: »Ich bin noch halb benommen. Dass Enaa getötet wurde, ist grauenhaft. Ich werde damit nicht fertig. Übernimm bitte du die Führung, bis ich wieder ganz bei mir bin.« »Einverstanden«, antwortete Kythara. Sie lud und spannte die Armbrust, warf sie auf ihren Rücken und straffte den Trageriemen. Dann band die Varganin ihre goldfarbene Haarmähne, die sich ein wenig gelockert hatte, flüchtig zusammen. »Also gut. Folgt mir! Ich weiß, wo wir ungefähr suchen müssen.« Im Halbdunkel des Korridors, an dessen Decke ein schmales, glimmendes Band verlief, setzte sie sich an die Spitze der kleinen Gruppe. Lethem und seine Gefährten folgten ihr wortlos. Seine Gedanken wirbelten in fraktalen Mustern; er war gleichermaßen unsicher und verblüfft darüber, dass die Varganin tatsächlich große Hoffnung auf ihn und das gemeinsame Vorhaben setzte, das euphemistisch als »Expedition« bezeichnet wurde. Qualvoll langsam klärten sich seine Gedanken. »Geht in Ordnung«, sagte er und spürte eine seltsame Form von Erleichterung. »Bring uns dorthin, wo wir etwas finden, was uns weiterhilft.« Die Argumente – das Leben der Bewohner Vinaras und der Spiegelwelten stünde auf dem Spiel – überzeugten Lethem nicht völlig, aber sie genügten, um ihn weiterhin zu motivieren. Sie waren die einzigen, die einen Sinn ergaben. Kythara schien den Weg durch die Gewölbe, Korridore und Treppenfluchten des Sockelquaders zu kennen. Sie hastete geradeaus, nach rechts und links, über breite Treppen aufwärts, dabei schienen ihr die schwach schimmernden, schwer deutbaren Zeichen an manchen Wänden den Weg zu weisen. Eilig folgten Lethem und seine Gefährten der Varganin. »Du weißt offensichtlich«, keuchte er am oberen Ende einer Treppe aus schwarzen und weißen Steinstufen, »wo wir suchen
Die Eisgruft müssen. Warst du schon einmal in diesem Labyrinth?« Die bronzehäutige Maghalata von Viinghodor zuckte kaum wahrnehmbar die Achseln und lief weiter, ohne zu antworten. Auf dem Treppenabsatz wandte sie sich nach links. In tiefen Mauernischen, vor dem Hintergrund rätselhafter Basreliefs, standen Köpfe von unbekannten Wesen. Lethem glaubte, eine gewisse Ähnlichkeit mit den Lebewesen aus der Tiefe unbekannter Meere zu erkennen. Er folgte Kythara über eine steinerne Wendeltreppe, die in einem großen Saal mit niedriger Steindecke endete. »Hier werden wir finden, was wir suchen.« Die Steinwände schluckten den Klang ihrer Stimme. Zumindest die Schwarze Perle schien ein gewaltiger Steinkoloss mit wenigen Bewohnern zu sein; es gab keine Zeichen dafür, dass sich hier Lebewesen für lange Zeit aufhielten. Alles war kahl, sauber und leer. Echos wisperten wie redselige Geister zwischen den Mauern und Reliefs und unter den Steindecken. Ein Mosaik aus kleinen Kreisen und Vierecken in der Decke und ein Leuchtband, das an den Wänden umlief, tauchten den bedeutungsvoll wirkenden Raum in ein gelbliches Halbdunkel. Lethem duckte sich unwillkürlich; er fühlte sich von den Gesteinsmassen über ihm halb erdrückt. Zanargun machte einige Schritte auf die hölzernen Pulte und Schränke zu und sagte: »Du hast uns ohne große Umwege in eine Art Bibliothek geführt.« Kythara deutete mit knappen Gesten auf drei verschiedene Schränke, die ausnahmslos aus drei Finger dicken Holzplatten bestanden und uralt aussahen. Sie nahm die Armbrust vom Rücken und legte sie griffbereit neben sich. In Lethems Gedanken gewannen einige Gegenstände deutlichere Umrisse; offensichtlich wusste Kythara viel mehr, als er vermutete. Der Arkonide ahnte, wo er suchen musste. Wieder blieb sie eine Antwort schuldig und öffnete die schweren Türen eines
7 Schranks. Ondaix und Zanargun klappten mühelos wuchtige Truhendeckel hoch, und Scaul Falk zerrte an einer schweren Lade. »Der Foliant, glaube ich, wird uns weiterhelfen.« Kythara blätterte hastig in einem unterarmgroßen Buch, dessen Einband aus Reptilienleder zu sein schien. Lethem öffnete die Knoten von Schnüren, die pergamentene Kartenrollen zusammenhielten, und starrte die vielfarbig gezeichneten Karten an. Kytharas Stimme unterbrach seine hastige, aber gründliche Suche. »Ich hab's. Eine Wegbeschreibung. Vom Ograhan-Obsidian-Gebirge … ja! Mertras, Land der Silbersäulen.« Sie klappte den Folianten zu und wedelte den auf stiebenden Staub von ihrem Gesicht weg. »Was habt ihr gefunden?« »Eine Karte«, sagte Lethem. »Ich glaube, dass ich Grataar und ein Bild der Gebirgsbastion entdeckt habe. Hier. Stimmt's?« Kythara betrachtete die quadratmetergroße Karte, die auf dünnem, starrem Leder gemalt oder eingebrannt war. An den Stellen, an denen sie gefaltet war, fehlten einige Millimeter der Darstellungen. Einen Atemzug später sagte sie: »Nimm sie mit. Ein wertvoller Fund.« Lethem faltete und rollte die Karte zusammen. Dann schob er sie in den Gürtel. Der Foliant, die Karte und drei kleinere Gebinde, eine Mischung zwischen Karten und bebilderten Wegbeschreibungen, die Zanargun und Falk gefunden hatten, waren ihre erste Ausbeute. Die Varganin sagte laut und bestimmt: »Wenn wir es schaffen, dank der Beschreibungen die Gefahren der Taneran-Schlucht zu umgehen, wäre der Weg zum Uralten Sardaengar frei.« Sie blätterte die Fundstücke durch und nickte. Den Folianten hatte sie unter ihren breiten Gürtel geschoben, und die Waffe klemmte unter ihrem Arm. »Mehr brauchen wir nicht. Lasst uns zurück nach Helmdor gehen. Wir müssen damit rechnen, dass uns die Perlenschleifer verfolgen werden. Enaa müssen wir zurücklassen, so schwer es fällt.«
8 Lethem nickte und wandte sich zur Wendeltreppe. Enaa von Amenonter, Tasia Oduriam, Cisoph Tonk und Hurakin: gestorben auf dem beschwerlichen Weg nach Grataar. Die Gefahren und Rätsel schienen zu groß für ihn und die Gruppe, und ob Kythara das Vorhaben immer wieder würde retten können, war fraglich. Zanargun, der Umweltangepasste, nahm mit jedem Schritt mehrere Stufen und verließ die »Bibliothek« als Erster. Hinter Lethem ging Kythara. Sie zischte: »Seid vorsichtig! Lasst mich nach vorn – die Wachen dürfen uns nicht bemerken.« Ohne nachzudenken, schien Kythara im Gewirr des Sockels den richtigen Weg zu finden. Mit großen Schritten überholte sie Zanargun. Ihre knielangen Stiefel glänzten im Licht, das die Bodenplatten spiegelten. Etwa ein Drittel des Weges war derselbe wie beim Eindringen in die Schwarze Perle, dann tauchte Kythara in einen schmalen Gang ein, der auf einen Steg mündete. Die wuchtige, aber schmale Konstruktion aus Holz und Stein führte durch ein System aus Höhlen mit Kuppeldecken, in denen die Stimmen von Blues zirpten und fast jenseits der Hörgrenze zwitscherten. Von der Decke fielen dicke Tropfen einer sauren Flüssigkeit, die in den Augen und Nasen brannte. Jeder Schritt auf den Bohlen rief polternde Echos hervor; es war unmöglich, sich lautlos fortzubewegen. Die Gruppe hastete über den Steg durch feuchte Dunkelheit. In der Schwärze schienen unsichtbare Gefahren verborgen, aber nach einigen Minuten erreichten die fünf das Ende des Stegs und rannten auf glattem Stein über eine breite Rampe weiter. Kythara zeigte nach rechts und lief auf den beleuchteten Beginn einer Treppe zu. Hintereinander stoben die Eindringlinge die Stufen hinunter. Auf halbem Weg drückte sich Kythara an die Wand und rief scharf: »Ondaix! Hilf uns!« Im gleichen Augenblick sah der Springer über Kytharas Schulter hinweg die patrouil-
Hans Kneifel lierenden Blues, zwängte sich an ihr vorbei und packte seine Streitaxt mit beiden Fäusten. Er sprang die Stufen hinunter und wurde immer schneller, stieß ein drohendes Brummen aus und hob die Waffe in Angriffshaltung. Die zwei Perlenschleifer erschraken und zögerten, blieben aber am Fuß der Treppe stehen und zielten mit ihren kurzen Hellebarden nach dem riesigen Körper, der auf sie zuschoss. Kythara nahm die Armbrust hoch und zielte auf den diskusförmigen Kopf eines Wächters. Sie löste den ersten Schuss und traf den Hals dicht unterhalb des flachen Kopfes. Der Bolzen zerfetzte die Nervenstränge und tötete den Blue auf der Stelle. Die Muster aus roten Linien und Flecken verblassten, als der schlanke Körper zusammenbrach. Der andere Perlenschleifer zischte und zwitscherte in heller Aufregung, wich aber nicht zur Seite. »Aus dem Weg, Tellerkopf!«, knurrte der Springer. Er riss die Axt hoch, bot den Blues seine ungeschützte Brust und krümmte sich einen winzigen Augenblick vor dem Zusammenstoß zu Boden. Kythara drehte das Handgerät, richtete die Armbrust aus, zielte und feuerte den Bolzen ab. Die federnden Schenkel schnappten hart, die Sehne schlug an. Die Stöße der blitzenden Waffen klirrten ins Leere; als Ondaix sich aufrichtete, zuckte seine Axt hin und her. Eine Klinge tötete den rechten, die andere warf den linken Wächter um, in dessen rötlichem Kopf der Bolzen steckte. Ondaix sprang über die zusammenbrechenden Körper, lief zehn Schritte weiter und sah sich mit wilden Blicken um. Die Zöpfe seines roten Vollbarts schaukelten wie wütende Lebewesen. »Niemand da«, stieß er hervor. »Weiter, Freunde!« Lethem und Kythara umgingen die Blutlachen, die sich, in der exotischen Beleuchtung grünlich schillernd, rasch ausbreiteten. Sie liefen weiter. Ein anderer Korridor, eine leere Halle, eine Luftströmung von oben. Kythara beschleunigte ihre Schritte und rief mit einem kurzen Lachen: »Wir haben es
Die Eisgruft fast geschafft. Gleich sind wir am Fuß des Sockels …« Nebeneinander rannten sie in einen breiten Gang hinein, an dessen Wände ein metallener Fries schimmerte. Am Ende des niedrigen Korridors leuchtete hinter Glasscheiben die Helligkeit des Tages. Lichtbalken spiegelten sich im Boden, der wie poliert war und auf dem die Sohlen der Rennenden deutliche Abdrücke hinterließen. Lethem war zuerst beim Portal und riss es auf. Er sah sich schmutzigen Mauern, einigen verwitterten Türen und einer schmalen Gasse gegenüber. Lethem winkte nach hinten. »Wieder zurück in Helmdor. Du musst uns helfen zu verschwinden, Kythara!« »Nichts anderes habe ich vor.« Nacheinander zwängten sie sich durch die schmale Öffnung. Sie sahen sich nicht um, als sie über das holprige Steinpflaster rannten, ein ruinenhaftes Tor passierten und sich in einer Quergasse, die entlang der dunklen Mauer eines anderen fensterlosen Gebäudesockels verlief, endgültig in Sicherheit brachten. Die Stadt der Perlenträger von Helmdor sah am späten Morgen vom Fenster der Herberge wie die Verkörperung einer mathematisch inspirierten Ansammlung aus weißen und perlmuttfarbenen Kugeln aus, die auf flachen, viereckigen Sockeln zur Ruhe gekommen waren. Kleine, rosafarbene Wolken bildeten sich um die Gipfel des OgrahanGebirges, der aufragenden Kulisse jenseits der Stadt. In einem leidlich sauberen Gasthaus hatten die Gefährten Unterschlupf gefunden. Es war die dritte Unterkunft, seit der dampfbetriebene Zug endgültig angehalten hatte. Die Herberge, in der sie vor dem Eindringen in die Schwarze Perle gehaust hatten, schien ihnen nicht mehr sicher genug. Auf dem Tisch lagen der Foliant und die Karten zwischen Bechern, Krügen und dem Essen eines reichhaltigen Frühstücks. »Hoffentlich bleibt Kythara unentdeckt und unbelästigt«, sagte Scaul Falk. Er studierte die aufgeschlagene und ausgerollte
9 Karte Lethems mit geradezu wissenschaftlicher Genauigkeit. Becher und zwei Dolche beschwerten die Ecken des Pergaments. »Ich sage euch, dass sie genau wusste, wo das Zeug hier zu finden war.« »Sie weiß sicherlich viel mehr, als sie jemals preisgeben wird«, brummte Zanargun. »Eine tolle Frau voller Geheimnisse. Und eine Schönheit!« Er seufzte. »Aber das sieht ja ein jeder.« »Nicht nur das«, erklärte Ondaix. »Sie wird auch weiterhin ein wichtiger Gefährte unserer verdammten Wanderung sein.« »Wenn nicht die wichtigste Gefährtin«, schloss Lethem. »Vielleicht überschätze ich sie, aber – sie hat bisher in jeder gefährlichen Situation so überzeugend gehandelt wie ein ausgebildeter Einzelkämpfer.« Kythara war, nachdem sie kurz die Beute untersucht hatte, im Gewirr der Gassen und Häuser der Vorstadt verschwunden. Sie trug über ihrem knielangen weißen Kleid einen dunklen Kapuzenmantel, der ihre Schönheit und die auffällige Bekleidung verbarg. Die Varganin musste in Helmdor – so hatte sie gesagt – einige Aufgaben erledigen, zu denen sie sich irgendwann zuvor als Maghalata verpflichtet fühlte. Lethems Fragen war sie ausgewichen. Überdies wollte sie sich um die Ausrüstung für die Reise kümmern; um fünf gute Reittiere und zwei Xarrans für das Gepäck. Sie würde leichter einen XarranHändler finden, der sie nicht betrog. Ein Treffpunkt in der Nähe der Herberge war ausgemacht worden. »Wir werden vorsichtig sein müssen«, meinte Lethem nach einer Weile. Er deutete zum offenen Fenster, dessen Glasscheiben mäßig geputzt und durchsichtig waren. »Bis morgen, bei Sonnenaufgang.« »Niemand darf uns folgen.« Zanargun schlug eines der kleineren Kartenwerke in dünnes, gewachstes Leder ein und verstaute es in einer Umhängetasche. »Denkt an die Ausrüstung.« »Die wir in ein paar Stunden zusammenkaufen werden.« Lethem da Vokoban und seine Gefährten kannten die Xarrans; grün-
10 braun geschuppte, drei Meter lange, domestizierte Echsen mit langen Läufen, die wegen ihrer Ausdauer und Schnelligkeit begehrt waren. Ihre Salamanderköpfe wirkten bedrohlich, aber die Xarrans verhielten sich außerhalb der Paarungszeit gutmütig und gehorsam. Die Tiere waren tagaktiv und blieben nachts träge und langsam. In dem bergigen Gebiet, das nach den Karten und Kytharas Aussage vor ihnen lag, würden 50 Kilometer eine beachtliche Tagesleistung sein. Scaul Rellum Falk versuchte, die Schwierigkeiten des ersten Tages zwischen Helmdor und der Taneran-Schlucht auf der Karte zu erkennen. Lethems Finger glitten über die tiefe Schramme seines Multifunktions-Armbandgeräts, die von der Waffe des Blues stammte. Zwar trug er das Armband, das nicht einsatzfähig war, nur, um es nicht zu verlieren, aber vielleicht … Er würde irgendwann erleben, ob es noch funktionierte. Der Arkonide dachte voller Bedauern an seine Kabine in der TOSOMA, hob den Lederbeutel mit den Lithras-Obsidianperlen hoch und ließ ihn zwischen die Teller fallen. »Wir schaffen die Ausrüstung zu dieser Karawanserei, die uns Kythara gezeigt hat«, sagte er. »Bringt das Essen zu Ende, Freunde. Wir werden die Ausrüstung noch vor Mittag gekauft haben. Ein paar Stunden Schlaf schinden wir auch noch heraus.« »Einverstanden«, pflichtete Ondaix Lethem bei und leerte den Becher, der in seiner Springerpranke klein und zerbrechlich wirkte. »Wenn wir Kythara nicht hätten!« Sie waren misstrauisch und ließen nichts in den Zimmern zurück. Als sie unterwegs zum Markt waren, tauchte zwischen den Dächern und den Kugeln der Großbauten der riesige Kristallmond Vodalon auf. Trotz der frühen Stunden war sein kaltes Glitzern und Funkeln schreckenerregend, und trotz der Sonnenhelligkeit sah man die Funken der Einschläge aufblitzen. Lethem unterdrückte ein Schaudern und kauerte sich unwillkürlich hinter Zanarguns breitem Rücken. Sie kauften auf einem Markt, in der Nähe
Hans Kneifel der Bahngleise, aber weit entfernt von dem charakteristischen Bahnhofsgebäude, getrocknetes Fleisch, harte Brotfladen und Wassersäcke, Decken, Feuerbesteck, einen Kompass, einige Bündel dünne Schnüre, dickere Kordeln und ein paar Rollen Seile, Fackeln und Zeltstoff, Schlafsäcke und Kochgeschirr, die einen sehr guten Eindruck machten, trockene Früchte und bohnenartige, nährstoffreiche Pilgerbeeren, Messer und Ersatzstiefel und anderes Überlebenswichtiges; Kytharas Obsidianperlen, die als Scheidemünzen dienten, würden auch für die Tiere reichen. Lethem erstand geräumige Satteltaschen mit handfesten Nähten und die gefüllte Tasche eines Wunderheilers. Mit einiger Mühe verpackten sie die Einkäufe in vierzehn gut erhaltenen Satteltaschen und Trageballen. Danach halfen sie einem Xarran-Führer, die Lasten zur Karawanserei zu schleppen. Zwischen frisch gekalkten Mauern lag der Hof, sauber gefegt und leer. Die nächste Karawane wurde erst nach Mittag erwartet. Das Wasser des steinernen Brunnens plätscherte aus dem Maul eines bronzenen Schlangenkopfes. Lethem band sein Haar mit einer der Lederschnüre im Nacken zusammen, setzte sich auf einen Heuballen und streckte ächzend die Beine von sich. Er gestand sich ein, die Lähmung abgeschüttelt zu haben; durch die Sorgfalt, mit der er als Zweiter Pilot der TOSAMA die hundert Kleinigkeiten des Gepäcks zusammengestellt hatte, glaubte er einen Teil seiner Frustrationen ausgelöscht zu haben. »Jetzt brauchen wir nur noch die Rennechsen«, sagte er ruhig und betrachtete die Lichteffekte auf der Rundung der Schwarzen Perle. »Und einen großen Humpen von etwas, das nach Bier oder Wein schmeckt.« Entlang der Mauer um den Hof der Karawanserei standen unter löchrigen Dächern, an Ringen in der Wand festgebunden, ungefähr zwei Dutzend ausgewachsene Xarrans. Zanargun kam aus der Wirtsstube, stieß einen schrillen Pfiff aus und winkte Falk
Die Eisgruft und Lethem. Der Umweltangepasste zeigte auf den Eingang des Hauses mit farbig angestrichenen Mauern, dann auf die Xarrans, drehte sich um und ging wieder hinein. Als die Männer vor dem Schanktisch standen, sagte der Luccianer, dessen Schultern sein Lederhemd zu sprengen drohten: »Der Wirt, Picyarna heißt er, hat im Auftrag von Kythara die sieben Bestien ausgesucht. Die besten, wie er sagt; er würde die überaus liebreizende Frau niemals betrügen.« »Und wir sollen Picyarna bezahlen, nicht wahr?«, fragte Lethem und sah zu, wie der Wirt, ein glatzköpfiger Akone mit schweren, offensichtlich goldenen Würfeln in den Ohrläppchen, aus einem Fass vier Humpen mit einem dünnen, schäumenden Gebräu füllte. »Vierzehnhundert Lithras, und das Bier oder so geht aufs Haus.« »Und du handelst den Preis aus«, polterte der Springer und stieß Lethem mit dem Ellbogen in die Rippen. Das angenehm kühle Getränk, das nach Malz und einem minzeähnlichen Gewürz roch, schmeckte tatsächlich wie ein terranisches Bier; Lethem sagte sich, dass dieser Morgen wahrscheinlich das letzte vergnügliche Erlebnis für sehr lange Zeit bleiben würde. In den letzten Stunden der Nacht, im schauerlich kristallenen Licht des Mondes und in den lautlosen Blitzen der Explosionen auf seiner Oberfläche, brachte ein schweigender Diener Kythara zur Karawanserei. Die Männer hatten sich auf den morgens gekauften Decken auf Strohballen ausgestreckt. Gähnend weckten sie sich gegenseitig, wuschen und erfrischten sich am Brunnen und machten sich an die Arbeit. Im Schein der Kerzen aus der Wirtsstube und einiger Öllampen sowie etlicher flackernder Scheinwerfer beluden und zäumten sie die dösenden Xarrans, knoteten und zurrten die Lasten auf den schuppigen Rücken der Echsen fest. Ächzend, kaum richtig wach, kletterten sie in die kleinen Sättel und verließen nacheinander den Hof. Durch leere, stille Gassen tappten die
11 Klauenfüße der nachtträgen Echsen. Falk hielt eine knisternde Fackel hoch über dem Kopf und ritt voraus; er schien die Wege aus einer der Karten nachzuvollziehen, die aus Helmdor, der Stadt der Perlenträger, nach Westen hinausführten. Die Reise ins Reich des Uralten Sardaengar, des Herrn der Welten, schien unbemerkt ihren Anfang zu nehmen. Niemand folgte ihnen. Als sich Lethem beim ersten grauen Tageslicht umdrehte, zwei oder drei Kilometer vom ausufernden Stadtrand entfernt, sah er hinter den schwarzen Baumwipfeln nur den Rauch früher Herdfeuer und die vielen Perlenkuppeln der Stadt. Die Sonne, die als fahle Scheibe hinter dem Nebel hochstieg, war durch das dunkle Band des Obsidianrings geteilt. Lethem ließ den Zügel los und schüttelte sich. Er überlegte kurz, rechnete und dachte daran, dass man irgendwo in einem weniger albtraumhaften Kosmos den 18. April 1225 NGZ schrieb.
2. Vinara – Atlan 19. April 1225 NGZ Der Boden kam mit beängstigender Schnelligkeit näher. Ich versuchte mich zusammenzukrümmen, um die schlimmsten Brüche zu verhindern. Wahrscheinlich ein völlig sinnloser Versuch. Die unsichtbare Faust eines Giganten griff nach mir und hielt meinen Sturz mit einem Ruck an. Mein Körper drehte sich weiter. Dann setzte mich die fremde Kraft unsanft ab. Ich prallte hart auf, rollte mich ab und kam ohne Brüche und aufgeschundene Haut auf die Beine. Neben mir krachte ein funkensprühendes Aluminiumteil zu Boden, und ohne nachzudenken, begann ich zu laufen. Weg vom Luftschiff! Es wird Feuer regnen!, rief der Logiksektor. Es blieb keine Zeit zu Überlegungen und dem Versuch, das Rätsel der Explosion und der überraschenden Rettung zu lösen; vielleicht verfügte Ta-
12 miljon wirklich über telekinetische Fähigkeiten. Nach einem oder zwei Dutzend Schritten in Rauch und brüllender Hitze drehte ich mich im Laufen um, stolperte und blieb stehen. Das Bild, an das ich mich aus unendlich weit zurückliegenden Berichten und Filmaufnahmen erinnerte, füllte mein gesamtes Sichtfeld aus. Mein Extrasinn verzichtete auf Kommentare und Warnungen. Die Bodenmannschaft, die zuerst in Panik geflohen war, kam zurück und versuchte zu retten, was zu retten war. Sie trugen schreiende Verletzte aus dem Bereich der Hitze und der herunterfallenden Trümmer heraus, schleppten von einem nahen Bach Wasser heran. Einige von ihnen hängten sich an die Fangtaue, die noch nicht brannten. Ich rannte zu einer Stelle, in der die Hitze weniger wütete als andernorts, packte das Tau und zog daran. Zwei Luftschiff-Passagiere kletterten und rutschten daran herunter, verloren den Halt und wurden aufgefangen. Schreiende Bündel rollten über den Boden, der von kleinen Bränden übersät war. Die LITRAK brannte ohne Explosionen, aber die Flammen hatten die Treibstoffleitungen erfasst. Nacheinander schwiegen die Motoren, die Luftwirbel hörten auf. Die Fässer mit dem Treibstoffvorrat von mehr als 80 Kubikmetern begannen zu brennen; dieser Brand konnte stundenlang dauern. Die LITRAK war verloren. Binnen kurzer Zeit, vielleicht weniger als eine Minute, war der Wasserstoff verbrannt. Der lang gestreckte Körper des Luftschiffs stand auf der gesamten Front, die ich sehen konnte, in Flammen, aber noch immer gelang es dem einen oder anderen Insassen, an einem Seil herunter zugleiten. Manche Körper brannten, und wir versuchten, die Flammen mit nassen Decken zu ersticken. Flüche, Geschrei, Schmerzgeheul und der tosende Lärm des gewaltigen Brandes, das Knacken, Bersten und Klirren der Metallteile vereinigten sich zu einem grauenhaften Geräusch, das bis zum Tempelzentrum des Litrak-Ordens hallte.
Hans Kneifel Als sich das glühende Gerüst, das zwischen Heck und Bug auseinander brach, langsam zu Boden senkte, war die Hitze unerträglich geworden. Eine riesige weiße, graue und schwarze Rauchwolke breitete sich aus und trieb schräg davon. Brennender Treibstoff floss aus den weiß glühenden Trümmern, tropfte und lief auseinander. Flammen und Hitze trieben die Überlebenden und Helfer aus dem Bereich des Trümmerhaufens fort; wir rannten um unser Leben. Jeder hatte eine furchtbare Explosion erwartet. Aber der Zeppelin löste sich in ein glühendes Gerippe auf, das langsam zusammenbrach und auf dem Boden in sich zusammensackte. In den Gruppen der Helfer, die sich zerstreuten und halb verbrannte Körper wegtrugen, sah ich Tamiljon. Er hatte sich also auch retten können. Deine perfekte Erinnerung hat dich gerettet, Arkonide, sagte der Extrasinn. Misstraue diesem Déjà-vu Erlebnis. Wer außer dir kannte das Ereignis, das auf Terra stattfand? Ich winkte Tamiljon und setzte mich in gebührender Entfernung von der Brandstelle auf einen Stein. Wir alle waren rußgeschwärzt, die Haut und die Kleidung voller Ascheflocken. Brandlöcher hatten den Stoff ruiniert; wir stanken nach dem ätzenden Rauch. Die Dieselvorräte des Luftschiffs würden wohl noch stundenlang brennen. Litrak-Wallfahrer und Pilger waren zwischen der Zeltstadt und dem Brand zusammengelaufen. Vom Ringwall um das Tempelzentrum her näherte sich eine Menschenmenge mit Fuhrwerken, dampfenden Fahrzeugen und Reittieren. Ich holte tief Luft und versuchte mich zu entspannen. Ich war dem hitzeglühenden Inferno so gut wie unversehrt entkommen. Einige Gedanken und Überlegungen, teilweise müßig und zum anderen Teil spekulativ, suchten mich mit drängender Plötzlichkeit heim. War es denkbar, dass jemand das tödliche Geschehen hier nachgestellt hatte, da er es aus der Geschichte Terras kannte? Etwa die-
Die Eisgruft ser Uralte Sardaengar, jene ominöse Legendengestalt, von der nur Erzählungen und Märchen berichteten? Wenn es so war, warum? Einige Folgerungen – zugegeben, es waren keine überzeugenden Stichworte – dieser Überlegung waren schwindelerregend. Ich wandte meine Blicke ab und richtete sie auf das Tempelzentrum. Die Kuppeln, Türmchen und Fassaden, die aus kristallinem Eis zu bestehen schienen, hatte ich bereits während des Anflugs bewundern können. Einige Minuten lang beobachtete ich Tamiljon, der mithalf, Verletzte zu versorgen und zusammen mit herbeigerannten Ordensleuten etwas Ordnung zu schaffen. Er kam zu mir herüber und sagte: »Wir gehen nachher zur Stadt. Ich habe noch bei den Brandopfern zu tun.« »Schon gut«, antwortete ich und streckte den Arm in Richtung der Stadt aus. Tamiljon atmete schwer und sah ebenso mitgenommen und rußgeschwärzt wie alle anderen aus. Seine schwarze Haut war voller Aschestreifen, in der Kleidung klafften Brandlöcher. »Ich warte auf die Verantwortlichen aus Malenke. Sie sind auf dem Weg zu uns. Ein schwerer Schlag für den LitrakOrden!«, stieß er hervor und eilte zurück zu den Opfern, die auf nassen Decken und Tragen lagen. Ich ahnte, dass viele Passagiere an Rauchvergiftung litten oder im giftigen Qualm erstickt waren. Das LITRAK-Wrack brannte an einigen Stellen noch immer lichterloh. Der größte Bereich schwelte und glühte aus, die Brände des Grases und der kleinen Büsche waren ausgetreten worden. Über dem Gebiet hing ein grauenhafter Gestank, der die Schleimhäute reizte und Übelkeit erzeugte. Trauer und Verzweiflung klangen aus den Hilferufen und den Schmerzenslauten der Opfer, deren Brandwunden versorgt wurden. Ich stand auf und ging den Ordensleuten entgegen. Ein plötzlicher Windstoß brachte nach hundert Schritten frische Luft und den Lärm der Näherkommenden.
13 Tamiljon löste sich aus dem Gewimmel und kam mit langen Schritten an meine Seite. »Gehen wir zur Stadt«, sagte er. »Die Expedition zum Casoreen-Gletscher und zu Litraks Eisgruft ist erst einmal verlustreich und gründlich gescheitert.« »Ein schwerer Schlag, nicht nur für den Orden«, antwortete ich. Aus der Menge löste sich eine Gestalt und rief: »Wartet auf mich. Ich weiß inzwischen mehr über die Katastrophe!« »Lelos Enhamor«, sagte Tamiljon ohne Überraschung. »Was weißt du, Großmeister?« Wir begrüßten uns. Enhamor, der Expeditionsleiter, ein vierzigjähriger Arkonidenabkömmling mit kurz geschnittenem weißem Haar, blinzelte. Über sein offenes Gesicht huschte ein Ausdruck der Verzweiflung. »Es hat an Bord nur eine Explosion gegeben«, sagte er leise. Wir gingen nebeneinander weiter, auf die Zeltstadt zu. »Ein unersetzlicher Verlust. Diese Explosion ist zweifellos das Werk eines Saboteurs, eines Verräters. Litrak strafe ihn! Alle, die ich befragt habe, waren ganz sicher: Ein Unfall ist mit allergrößter Wahrscheinlichkeit auszuschließen.« »Wer hätte das vermuten können, Großmeister«, sagte ich. »Du weißt, was das bedeutet?« »Ein Verräter war an Bord!«, schäumte der Großmeister. Seine dunkelroten Augen leuchteten zornig auf. »Ein verdammter Sardaengar-Knecht. Wahrscheinlich haben es die Perlenschleifer geschafft, den Orden zu unterwandern.« »Hoffentlich ist der Verbrecher in den Flammen umgekommen«, sagte Tamiljon. »Verachtungswürdig! Wenn er überlebt hat, ist er kaum zu fassen.« Sollte der Uralte Sardaengar den Lakehurst-Unfall nachgestellt haben, überlegte ich, dann erhob sich die große Frage, was hinter der Auseinandersetzung Sardaengars mit seinen Perlenschleifern auf der einen Seite stand und Litrak, dem der Litrak-Orden den Titel »Untoter Gott« gegeben hatte.
14 »Was, denkt ihr, beabsichtigt der Verräter als Nächstes?«, fragte ich und hustete meine Lungen von den letzten Rauchspuren frei. Wir blieben auf einer kleinen Anhöhe stehen und drehten uns nach der Unfallstelle um. Auf einer Länge von fast 250 Metern erstreckte sich das zusammenbrechende Gitterwerk, an dem letzte Fetzen der Hülle brannten und haushohe Flammen aus den Treibstofffässern schlugen. Eine riesige Wolke Rauch, vermischt mit Asche und Rußflocken, trieb schräg davon. Die wertvolle Fracht und sämtliche Besitztümer der Insassen waren verloren. »Was weiß ich? Er wird wohl, glaube ich, weiterhin versuchen, dem Orden zu schaden. Das denken auch die anderen Großmeister und Kristallstabträger.« Ich bemühte mich, sachlich über diese Probleme zu urteilen, denn ich war hilflos ohne den Schutz und die Mitwirkung des Ordens. Ich konnte mir keine klaren Vorstellungen machen, und, zu meinem Ärger, ich vermochte nicht, zielgerichtet zu handeln. Bisher gab es zu viele Fragen und so gut wie keine stichhaltigen Antworten. »Im Tempelzentrum«, sagte Lelos Enhamor zu mir, »werden wir beraten. Zuerst müssen wir uns erholen und unsere Kleidung wechseln. Verlass dich darauf, dass der Orden das Ziel, das er einmal ins Auge gefasst hat, weiterhin mit Nachdruck verfolgt. Litrak wird uns gegen Sardaengar helfen.« »So sei es«, murmelte ich. Beim Graben und Wühlen in meinen Erinnerungen entsann ich mich jenes Nevus Mercova-Ban, in dessen Lebenserinnerungen wiederum ein Hoher Tamrat namens Sardaengar eine wichtige Rolle gespielt hatte. Während des ersten Transports hatten mich zahlreiche Visionen heimgesucht, die ich als vages Gefühl definierte und die möglicherweise ein Teil der Erinnerungen Mercova-Bans waren. Hinweis auf frühe Experimente mit dem Sonnendodekaeder? Oder mit der Bewusstseins-Transferanlage? Als fremde, zugleich seltsam vertraute Mächtige Persönlichkeit
Hans Kneifel hatte sich ein Wesen namens Sardaengar in dieser Vision manifestiert. Aber dies alles konnte ebenso eine flackernde Fehlfunktion sein; exotisch, geheimnisvoll – und völlig unbedeutend. In meinem Bewusstsein existierten viele Versionen kosmischer Bedrohungen, und seit kurzem zählte auch der Begriff Obsidian-Kluft dazu. Du solltest trotzdem darüber nachsinnen, Arkonide!, forderte der Extrasinn. Nun denn. War der Uralte, der seinen Beinamen zu Recht verdiente, ein Langlebiger, dem es gelungen war, für einige Zeit die Obsidian-Kluft zu verlassen? Hatte er womöglich zeitweise auf der Erde gelebt? Wurde er später mit dem Wissen, das er auf Terra erworben hatte, wieder hierher verschlagen? Angeblich war er mächtig genug, Völker und Stämme hier und auf den anderen Spiegelwelten mit der schieren Kraft seines Willens zu unterwerfen. Ein Suggestor? Auf diese Vermutungen wusste ich keine Antwort, ebenso wenig wie auf Fragen nach Tamiljons Besonderheiten. Fand ich jemanden, der mir eine Antwort geben konnte? Sehr schwer vorstellbar!, kommentierte der Extrasinn. Wir durchquerten auf einer sauberen Gasse den Ring der Zeltstadt, die Zehntausende Wallfahrer und Pilger beherbergen konnte. Jeder von ihnen leistete zu dem großen Vorhaben des Ordens einen winzigen Teilbetrag; durch Spenden, handwerkliche Arbeit oder hilfreiche Logistik. Das quirlende Durcheinander vieler Wesen, deren Glaube sie hier versammelt hatte, umgab uns mit allen Einzelheiten, die das Leben in einem solchen Lager ermöglichten: Kochstellen im Freien, kleine Versammlungen andächtiger Pilger, Latrinen, Brunnen, Feuer und Rauch und arbeitende Diener. Endlich standen wir vor dem eisglänzenden Ringwall und seinen vielen Toren und Türmen. Wir wurden ohne lästige Prozedur eingelassen und betraten das Tempelzentrum. Enhamor winkte mit seiner sehnigen Hand einen jungen Ordensangehörigen her-
Die Eisgruft bei, erteilte ihm einen Befehl und wandte sich an mich: »Er wird dich in ein bequemes Quartier bringen und dich mit allem versorgen, was du brauchst. Die Großmeister lassen dich später holen; es wird wohl Abend werden, bis ich und Tamiljon unsere Erlebnisse berichtet haben.« »Danke«, antwortete ich zufrieden. »Möge sich das schwere Dunkel, das unser Wissen bedeckt, bald gehoben haben. Es wird Zeit, vom Licht des Erkennens geblendet zu werden.« Lelos Enhamor warf mir einen nachdenklichen Blick zu. Ich verbeugte mich knapp und folgte dem Jungen. Wenige Minuten später hatte ich mich der Stiefel und Kleidung entledigt und ließ mich in das warme, angenehm duftende Wasser eines Badezubers gleiten, der im Boden eingelassen war. Vielleicht half die Entspannung, das Dunkel ein wenig zu lichten. An den Wänden und auf verschnörkelten Gestellen verbreiteten milchige Glaskugeln helles Licht; die Lampen schienen aus hochpoliertem Messing zu sein und glichen klassischen Petroleumlampen. Mit großen, weichen Tüchern trocknete ich mein Haar und meinen Körper. Auf einem niedrigen Tisch standen Pokale aus milchigem Glas, Krüge und Schalen; ich nahm einen Schluck bernsteinfarbenen, moussierenden Weins. Angenehm fühlte ich die Wirkung des Zellschwingungsaktivators, der meine Müdigkeit zu beseitigen begann. Der Einwurf des Logiksektors konnte meine Enttäuschung nicht beseitigen. Tamrat Nevus Mercova-Ban. Sardaengar? Untoter »Gott« Litrak? Der in der Gruft und die Kristallstabträger! Die Zeit vergeht, ohne dass du Erfolge hast, Arkonide! Entschließe dich, den Orden unter die Lupe deines Verstandes zu nehmen. »So bald und so gründlich wie möglich!«, knurrte ich und grinste. Man hatte nicht nur für eine bequeme Liege und ausreichend schmackhaftes Essen und trinkbaren Wein gesorgt, sondern auch für neue Kleidung. Sie war sauber, praktisch, passend und wär-
15 mend. Ich schlief tief und wahrscheinlich traumlos; für einige Stunden, in denen ich mich in dem gemütlichen kleinen Gästequartier wohl fühlte, schien die Zeit angehalten und die Probleme ausgesperrt zu sein. Als mich der junge Bote abholte, blieb ich auf dem Treppenabsatz stehen und betrachtete im Licht der sinkenden Sonne die Ansammlung filigraner Kuppeln – ich kannte solche zwiebelförmigen Turmaufsätze vom ländlichen frühen Terra – und der Türmchen, Mauern, Zinnen und Brücken, die aus milchigem Eis erbaut zu sein schienen. Kugel- und vasenförmige Beleuchtungskörper schalteten sich an Hunderten Stellen ein. Der Bote wartete, während rötliches Sonnenlicht die Anlage überschüttete, die etwa 2000 Meter Durchmesser hatte. »Ich komme schon«, sagte ich und folgte ihm über Stege, winzige Plätze in einen zierlichen Kreuzgang und auf einen runden Platz, durch einige schwere Türen in einen großen Saal, den der Geruch hohen Alters und ein majestätisches Halbdunkel erfüllten. Schlanke Steinsäulen stützten eine Decke aus schwarzen, rissigen Balken und weißen Steinfeldern. Es wurde langsam heller. Eine Kerze nach der anderen und viele Lampen wurden angezündet. Auf Bänken und Sesseln, an Tischen und auf einem niedrigen Podium erwarteten mich etwa fünfzehn Humanoide in bodenlanger Ordenskleidung; rubinrote, reich mit Ornamenten bestickte Kapuzenkutten. Stilisierte Messingfackeln, die Flammen halb armlanger Kerzen und Flammen aus den Schnäbeln geschmiedeter Fantasietiere schufen schließlich ausreichende Helligkeit. Unter der Decke schwirrten und flatterten Motten, Schwärmer, fast handgroße Schmetterlinge und umhersirrende, metallisch schimmernde Fliegen, groß wie ein Daumennagel. Es herrschte eine erwartungsvolle Stimmung. Einen Unterschied gab es zu dem, das ich kannte: Mehrere Ordensleute hielten Kristallstäbe in den Händen und trugen über dem Herzen ein handtellergroßes rundes
16 Emblem mit einem fünfzackigen Stern im weißgerandeten schwarzen Fünfeck. Lelos Enhamor machte eine einladende Bewegung, Tamiljon sagte höflich: »Nimm Platz, Atlan. Die Kristallstabträger wollen dich besser kennen lernen.« Ich setzte mich ans Kopfende eines ungewöhnlich langen Tisches, an dessen anderem Ende fünf Ordensmitglieder thronten. Wir befanden uns im rituellen Speisesaal, denn in kostbar geschnitzten Schränken an der Stirnwand stapelten sich Schalen, Becher, Krüge und anderes Geschirr, das nicht weniger wertvoll aussah. Ein weißbärtiger, sehr alter Arkonidenabkömmling, vor dem eine gut handgroße Truhe stand, richtete das Wort an mich. »Lelos Enhamor kennst du schon. Ich bin Acazar Cateireo, Großmeister und Erster des Inneren Zirkels, Kristallstabträger und Litraks Hüter. Meist bin ich der Sprecher des Ordens.« »Wer ich bin, das wisst ihr schon von Tamiljon und Lelos Enhamor«, antwortete ich und richtete meinen Blick auf das Zeichen, das über dem Herzen der Ordensoberen prunkte. Die Spitzen des Sterns und die Ecken des Fünfecks ragten über den schwarzen Kreis hinaus, und in einem bläulich weißen Kreis in der Mitte, der einen Kristall versinnbildlichen sollte, befand sich ein schlanker, kobaltblauer Zylinder in halb perspektivischer Darstellung. Während ich redete, rückten die Meister oder Großmeister des Ordens einige Handbreit näher heran. Von irgendwoher huschten im Zickzack phosphoreszierende Fledermauswesen unter der Decke hin und her und wichen den heißen Luftsäulen der Flammen in elegantem Flug aus. Niemand beachtete sie. »Ich bin fremd hier und habe an euch mehr Fragen als Antworten für euch. Auch wie ich hierher kam, wisst ihr bereits.« »Welch eine Aura!«, hörte ich jemanden murmeln. Ich zählte neun Kristallstäbe, einschließlich dessen, den Tamiljon trug. Die Kristallstäbe, knapp einen Meter lang und vier Zen-
Hans Kneifel timeter im Durchmesser, sahen aus wie Gusseisen, aber bestanden aus einem weitaus leichteren Material. Zwei schmale Silberbänder hielten einen runden Knauf aus Schneeflockenobsidian, unterhalb dessen war ein facettenreich geschliffener Kristall eingelassen; der polierte Knauf wies einen Durchmesser von etwa sechs Zentimetern auf. »Tamiljon hat sich nicht getäuscht«, sagte Cateireo in das leise Murmeln der anderen hinein. »Unser anfängliches Misstrauen ist nicht gerechtfertigt.« »Misstrauen mir gegenüber?«, fragte ich. Cateireo, der in seiner Jugend ein breitschultriger, bärenhafter Riese gewesen sein musste, war kaum jünger als 150 oder 160 Jahre. Er hob den Kristallstab ohne Mühe und redete weiter, nachdem er mit seinen Nachbarn lange Blicke getauscht hatte. »Deine Aura ist tatsächlich stärker und intensiver, als wir dachten. Sie ist weitaus deutlicher als die von Kythara, der Varganin, die bei den Viin auf der Insel Viinghodor auf Vinara als Mächtige Frau herrscht. Sag uns, kommst du wirklich von außen?« »So ist es«, bestätigte ich und duckte mich unter den huschenden Schwingen des Fledermauswesens. »In einem Raumschiff. Ich bin aus dem Weltall, das wir als Standarduniversum bezeichnen, unter sonderbaren Umständen hierher verschlagen worden.« »Das haben wir vermutet, denn vor kurzem ist auf der Ebene der Wracks eine große Kugel angekommen.« Was die Ordensmeister jedoch nicht wussten: Meine Begleiter und ich wollten ursprünglich von der Stahlwelt per Transmitter zur Kharba-Station gelangen. Dies war gründlich misslungen. Die Crew der TOSOMA, davon informiert, könnte der Transition der »Vergessenen Plattform« gefolgt sein. Das würde die »große Kugel« erklären. Mitten in meine hoffnungsvollen Überlegungen hinein schlug wie ein Blitz die Erinnerung an Erlebnisse aus meiner Jugend. Ishtar und unser Sohn Chapat! Die Große Kugel … etwa die TOSOMA? War es der TO-
Die Eisgruft SOMA tatsächlich gelungen, meiner Spur zu folgen? Mein Extrasinn warnte: Keine übereilten Hoffnungen. Offensichtlich sind im Lauf von Jahrtausenden immer wieder unterschiedliche Wesen in dieses Miniaturuniversum gelangt. »In die Obsidian-Kluft«, flüsterte ich mit rauer Stimme. Ich lehnte mich zurück. Zwei junge Ordensbrüder, die ihre Kapuzen zurückgeschlagen hatten, füllten kristallen aussehende Becher mit einer Flüssigkeit, die mich an stark duftenden Tee erinnerte. Von der Bohlendecke fielen, langsam kreiselnd, die farbensprühenden Flügel eines Schmetterlings herunter. Ich hatte mir gegenüber den Ordensmitgliedern eine Blöße gegeben. Aber die Folge war nicht Ablehnung, sondern begeisterte Zustimmung! »Die Kristallstäbe helfen uns, deinen wahren Kern zu erkennen«, sagte mit tiefer Stimme ein Großmeister würdevoll. »Ich bin Rusrala, Dritter des Inneren Zirkels.« Der mindestens 150 Jahre alte, sehnige und mittelgroße Arkonidenabkömmling hob seinen Stab. Ich nickte ihm zu und hob meinen Becher. Auch die Savannenreiter waren mir mit erkennbarer Ehrfurcht begegnet und hatten mich für einen Ordensangehörigen der Wächter der Eisgruft gehalten. War es die Ausstrahlung des Zellaktivators, die sie beeindruckte? Oder die Aura eines Ritters der Tiefe? Meine Verwirrung wuchs; ich ließ mir nichts anmerken. Was ich sah und »spürte«, waren normale Wesen ohne auffallende Aura, außer der altersbedingten Würde, die einige von ihnen verströmten. Achtung! Sie prüfen dich!, bemerkte der Logiksektor. Das wusste ich. Es war für mich vorstellbar, dass die Kristallstäbe ihnen zu tieferen Erkenntnissen verhalfen. Aber hier und jetzt hatte ich die bisher beste Gelegenheit, mehr über die Welt zu erfahren, auf der ich gestrandet war. Und ich würde vermutlich meine eigenen Vorstellungen überprüfen
17 können. »Der Orden weiß, was auf den Spiegelwelten vor sich geht?«, erkundigte ich mich vorsichtig. Zwei augenlose Fledermauswesen, deren schrilles, in Ultraschallbereiche übergehendes Pfeifen meine Ohren belästigte, erhaschten im Flug zahlreiche Goldfliegen. Inzwischen war ich fast sicher, die Symbolik des Ordensemblems erkannt zu haben: das Schwarz der Obsidian-Kluft, fünf Welten auf gemeinsamer Umlaufbahn – mir fielen die Welten des 30-Planeten-Walls ein! –, im Zentrum der Kristallmond. Aber was bedeutete der kobaltblaue schlanke Zylinder? Der Extrasinn vermochte mir nicht zu helfen; er schwieg. »Unsere Mitglieder sind auf den Spiegelwelten vertreten«, versicherte Rusrala und schien mich mit dolchspitzen Blicken seiner dunkelbraunen Augen durchbohren zu wollen. »Dort werden ihr Wirken und ihr Leben von den Perlenschleifern gefährdet.« »Von den Agenten Sardaengars«, fügte Cateireo hinzu. Seine sonore Stimme zitterte. »Sie sind unsere Gegenspieler.« »Aber keines unserer Mitglieder hat je von einem Wesen wie dir berichtet. Kennst du die Bedeutung von Ebene der Wracks?« Ich schüttelte den Kopf. »Ich bin Lualayn Varra«, sagte ein zartgliedriger Hundertjähriger mit olivfarbener Haut. »Auf dieser Ebene befinden sich alle Raumschiffe, welche in die Obsidian-Kluft verschlagen wurden. Ein Effekt, den niemand erklären kann, hemmt die Technik, so dass bisher noch kein Raumschiff wieder starten konnte. Und so stehen dort seit einer kleinen Ewigkeit die rostenden Schiffe all jener Sternenvölker. Aber wann ist eine Ewigkeit klein, wann groß?« Er hob die schmalen Schultern, und seine übergroßen Augen blickten traurig. »Die Nachkommen der Mannschaften bevölkern die Welten des Miniaturuniversums.« Wieder nickte ich; einige dieser Tatsachen hatte ich bereits geahnt. Vieles war völlig neu und fügte sich in ein grobes Raster geschichtlicher Wahrscheinlichkeiten
18 ein. »Der Litrak-Orden hat wenig Interesse am so genannten Draußen?«, wollte ich wissen und blickte von einem Gesicht zum anderen. Ich sah Akonen, einen Überschweren, Lemurer und Springer, zwei Blues; Mourlas und Tadyn. Ein Fledermauswesen landete am Rand eines Bechers, faltete die Vampirschwingen ein und begann am Wein zu nippen. Inzwischen hatten sich alle Anwesenden um unseren Tisch herum versammelt. Großmeister Cateireo legte die Greisenhand auf sein Kästchen und antwortete: »Es ist nicht unsere Welt. Die einzig erstrebenswerten Ziele unseres Ordens liegen in unserem Universum.« »Und darin, den Ewigen Litrak zu wecken?« »Zu wecken und ihn aus seiner Eisgruft zu befreien.« Der Großmeister winkte einem jungen Ordensbruder, der eine Truhe öffnete und eine dicke Ledermappe herausnahm, die er vor den Weißbart hinlegte. Cateireo knotete die Lederriemen auf und zog Fotografien daraus hervor. »Die Katastrophe droht, Atlan. Wir handeln unter erheblichem Zeitdruck. Der Brand des Luftschiffs hat uns weit zurückgeworfen.« Er nahm eine Fotografie in die Hand und zeigte sie mir. Es war eine Aufnahme wie aus der Frühzeit dieser Kunst. Schwarzweiß, nicht sonderlich scharf, aber aussagekräftig. Etwa 30 zu 40 Zentimeter groß. Ich betrachtete das erste Blatt und hörte Lelos Enhamor sagen: »Drohende, Angst machende Zeichen am Himmel, Fremder Atlan.« Das Foto zeigte die Sonne über einer unbekannten Planetenlandschaft. Die Aufnahme war durch starke Filter gemacht worden. Vor dem runden Gestirn, von Ost nach West über das gesamte Firmament, zog sich ein dunkles Band. Eine zweite Aufnahme: die Sonne hinter dichtem Nebel. Eine weiße Scheibe, fast genau in der Mitte durch einen dunklen Balken geteilt. »Ein Ring aus Staub und Meteoriten? Wie um die Saturn-Typ-Planeten«, murmelte ich.
Hans Kneifel Wieder schlug meine Erinnerung zu. Die Vision der dicken Schamanin!, rief der Logiksektor. Abermals verwirrende, drohende Zusammenhänge? Eine schwarze Schlange, die sich um die Sonne ringelt, will das Gestirn fressen. Aber sie wird sich an dem riesigen Bissen verschlucken und von der Sonne zerfetzt werden, hatte die fette AfalharoSchamanin Dendia mit dunkler Stimme prophezeit. Die Bruchstücke der Schlange werden auf die Welt herunterstürzen und Tod und Vernichtung über uns bringen! Ich leerte meinen Becher. Der Junge schenkte nach. Das Flattertier huschte zwischen Kerzenflammen hin und her und vertilgte schillernde Insekten, deren Reste zu Boden sanken wie farbige Schneekristalle. Ich hob die Hand und sagte: »Ich erinnere mich an die Worte einer Schamanin. Sie sprach mit mir und anderen. Als sie mir ein solches Bild der Angst mit ihren Worten zeigte, hatte ich das Gefühl einer Bedrohung. Ich konnte sie nicht deuten, aber in meinen Gedanken verband sie sich mit dem Begriff Obsidian-Kluft. Jetzt ahne ich, dass es Zusammenhänge geben kann.« »Ob eine Katastrophe eintritt, nur weil eine Schamanin darüber einen Klagegesang angestimmt hat?«, fragte Rusrala, der Arkonidennachkömmling, in die Runde. Sein schwarzes Haar klebte an der Stirn. »Ich bezweifle es.« Cateireo schob weitere Fotos über den Tisch. Ich erkannte einen Mond. Den Kristallmond – jenen Teil des Emblems des Ordens, von dessen Vorhandensein ich wusste, den ich aber noch nicht mit eigenen Augen gesehen hatte. Während ich ihn genauer betrachtete, stand mir gegenüber ein Ordensbruder auf und sprach mich an: »Aundar-Aundar, Siebter des Inneren Zirkels. Wiederholt sind auf Vinara Brocken vom Himmel gefallen und haben Schaden angerichtet.« Er tippte mit spitzzugefeilten Nägeln auf das Foto. Seine bernsteinfarbenen Augen hatten senkrechte Schlitzpupillen, wie die einer Katze.
Die Eisgruft Seine verlängerten Eckzähne schimmerten zwischen den Lippen. Ruckartig versenkte die Fledermaus ihren Kopf in den Becher und stieß fast unhörbare Lerchentriller aus. »Wir wissen von riesigen Kratern und Bewohnern, die zu Schaden gekommen sind.« Selbst auf dem einfachen Schwarzweißfoto glich der Mond einem Diamanten, der von einem wahnsinnigen Meister in unzählbar vielen Facetten geschliffen worden war. Riesenhaft schwebte er über dem Horizont einer Wüstengegend. Sein Glänzen und Funkeln rief auf Dünen leuchtende Reflexe hervor. Auf der kreisrunden Fläche erkannte ich einige Leuchterscheinungen. Sie stammten von Brocken, die aus dem Ring der Trümmer herausgerissen worden waren und auf der Mondoberfläche aufgeschlagen hatten; die Einschläge zeichneten sich als grelle Explosionen ab. »Die Einschläge werden höchstwahrscheinlich zahlreicher wenden«, sagte ich und hielt das Blatt in die Höhe. »Sowohl auf dem Kristallmond als auch auf Vinara. Das Leben auf Vinara ist ernsthaft bedroht … und höchstwahrscheinlich auch auf den Spiegelwelten.« Ich hielt inne und überlegte, ob ich den Großmeistern berichten sollte, was ich über Meteoriteneinschläge oder Kometentreffer wusste. Sowohl die Ordensleute als auch ich vibrierten innerlich vor Spannung, aber wir alle beherrschten uns. Es würde nicht helfen, wenn wir hektisch diskutierten und unsinnige Eile an den Tag legten. Der Insektenjäger stieg senkrecht in die Höhe und prallte klatschend gegen eines der leuchtenden Steinfelder. »Es kann den Untergang der gesamten Welt bedeuten«, sagte ich. »Ich weiß von massenhaftem Sterben aller Wesen, von Fauna und Flora. Nach besonders schweren Einschlägen gerät die Natur einer solchen Welt in Aufruhr.« »Wir glauben dir«, sagte Acazar Cateireo und senkte den Kopf. Ich zuckte die Achseln. »Wie kann Litrak
19 gegen diese Naturgewalten helfen?« »Litrak ist der Weltenschöpfer«, antwortete der Großmeister würdevoll. Ich hatte schon vermutet, dass der »Ewige Litrak« ein Synonym für den Kristallmond sein könnte. Nun war ich alles andere als sicher. »Wer ist Litrak überhaupt?« »Er hat alle Vinara-Welten geschaffen«, antwortete Cateireo. »Er ist der Größte, der Einzige.« »Wie wollt ihr ihn befreien?« »Wir müssen ihm helfen. Das alles wird sich erst zeigen, wenn wir vor seinem Kerker stehen.« »Also existiert er tatsächlich?«, fragte ich. In tiefer, gläubiger Überzeugung antwortete der uralte Großmeister: »Wie kann Zweifel bestehen an einem Mächtigen, der Welten zu erschaffen vermag?« Meine Fragen würden nicht oder nur ausweichend beantwortet werden. Viele Fragen würden die Großmeister einfach ignorieren. Ich feuchtete meine Lippen mit einem Schluck Wein an und dachte an Kristallstäbe, an die Gruft des Wächters Narmasar Tarmon und daran, dass mir Tamiljon versichert hatte, der Kristall an seinem Stab sei ein Teil aus Litraks Körper. Als ich nachdenklich in die fünfzehn Gesichter blickte, die Kristallstäbe sah und die »Mond«-Kristalle an deren Knauf enden, entsann ich mich wieder, wie Tamiljon mir erklärt hatte, dass möglichst viele dieser Mondsplitter zu Litraks Eisgruft gebracht werden mussten. Tarmons Initiation! Mit seinem Leib wurde ein Mondsplitter begraben. »Ihr weicht meinen Fragen aus«, sagte ich und schob die Fotografien zu einem Packen zusammen. Nachdenklich kämmte Ranin Rauva, der Überschwere, seinen langen roten Vollbart. »Was könnt ihr mir von Litrak berichten? Wesentliche Dinge. Keine Legenden. Denn wir alle wollten ja ursprünglich mit dem großen Luftschiff zur Eisgruft fliegen …« Cateireo, Enhamor, Rusrala und AundarAundar nickten einander zu und begannen gleichzeitig zu sprechen. Zuerst murmelten
20 sie nur, dann wurden ihre Stimmen ein wenig lauter und eindringlicher. Schließlich verwandelten sich ihre Worte in einen dumpfen Singsang, der in dem Steingewölbe wie Mönchsgesang in einer gotischen Kathedrale klang. Sie schilderten, umgeben von religiösen oder pseudoreligiösen Motiven und entsprechender Ausstattung, aus tiefem Glauben und unumstößlicher Überzeugung, was sie kraft des Glaubens wussten. Litrak schlief als Untoter Gott in seinem Kerker im Ewigen Eis des riesigen Casoreen-Gletschers. Nach einer Schlacht von wahrhaft kosmischen Dimensionen wurde er, der Verlierer, vom Sieger eingekerkert, vom Dunklen Sardaengar. Der Sieger durfte den Verlierer aber keinesfalls töten, weil sonst alle Vinara-Welten untergegangen wären. Seit Urzeiten versuchten die »Wächter« und die Mitglieder des Ordens, Litrak zu erwecken. Indes: Sämtliche Versuche waren bislang gescheitert. Ihr düsterer Gesang ließ mein Unbehagen steigen. Meine Härchen im Nacken und auf den Unterarmen richteten sich auf. Solche suggestiven Momente hatte ich schon häufig miterleben müssen, und kaum einer von ihnen war friedvoll und förderlich gewesen. Religiöser Fanatismus galt mir fast ausnahmslos als höchster Ausdruck der Unvernunft. Das Flattertier fiel herunter, fing sich zuckend ab und verschwand im dunklen Hintergrund des Säulensaals. Die Großmeister machten eine Pause in ihrem Sprechgesang, deuteten mit den Knäufen ihrer Stäbe auf mich und holten tief Luft. Die Zeit drängt. Eigentlich hätten wir schon auf dem Weg zum Gletscher sein sollen. Die verbrecherische Sabotage zwang uns, ohne die LITRAK, die nun verbrannt ist, zu improvisieren. Der fremde Atlan, dank seiner Aura ein großer Gewinn für die Belange des Ordens, ist ein wertvoller und mächtiger Mitstreiter. Die Gebete um den Erfolg würden erhört werden. Auch unter größten Opfern muss die Reise erfolgreich sein; zu viele aufwändige Expeditionen waren bisher gescheitert.
Hans Kneifel Denn vor langer Zeit, »khala-khala«, hatte Litrak Wächter um sich geschart. Es waren mächtige, schier unbesiegbare Krieger, die sein Wort und seine Gesetze verbreiten und durchsetzen sollten; kämpferische Titanen und Streiter für das Wahre und Gute, für Wissen und Wahrheit, für Recht und Ordnung und den rechten Glauben – sie trugen Namen von weltenmächtigem Klang: Hywalcir, Caryelin, Narmasar Tarmon und Milanta Vandor. Bis heute waren ihre Namen und Taten unvergessen, und nicht nur an Lagerfeuern oder in dunklen Krypten sang man von ihren unermesslichen Taten. Um sie gegenüber allen anderen Viin auszuzeichnen, wurde jedem der Heroen ein Teil von Litraks Körper eingepflanzt, ein Mondsplitter, wie er auch auf die Kristallstäbe aufgepfropft worden war. Und siehe, Atlan, selbst davon gibt es Bilder – wie sollten wir daran zweifeln dürfen? Die Echos des Sprechgesangs verhallten. Die Großmeister kamen im Flackern der vielen Flammen wieder zu sich. Das andere Tier kreiste zuckend und zitternd über Tamiljon und schnappte mit klickendem Schnabel mindestens zwei Dutzend Insekten. Ich wischte kalten Schweiß von meiner Stirn und ließ mir nachschenken. Auch ohne den Kommentar des Logiksektors stellte ich Folgendes fest: eine wirre Mischung aus Legenden, deren Kern einer gewissen Wahrheit entsprach, und den geschichtlich gewachsenen Zutaten. Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht! Cateireo zeigte mir ein weiteres Bild. Eine uralte, mit dickem Firnis fixierte Zeichnung, kein Foto: Ein Humanoide, offenbar ein Gigant, war zu sehen; eine »menschliche Kampfmaschine«, in eine Rüstung gekleidet, in der ich Bestandteile aus zehn Jahrtausenden selbst erlebter Abenteuer wieder erkannte: Helm, Panzerung, Beinschienen, atemberaubend kühne Waffen, auf eine Art gezeichnet und farblich ausgestattet, die »Unbesiegbarkeit« evozierten. Schimmernde Wehr. Kosmische Ritter. HighTech-Söldner. Kampfcyborgs oder …
Die Eisgruft … ein Roboter?, schaltete sich rhetorisch fragend der Extrasinn ein. Ich zuckte die Achseln und löste mich aus dem fantastischen Eindruck. Lauter als beabsichtigt fragte ich: »Wenn Litrak den Wächtern oder Kriegern Bruchstücke seines Körpers, also Kristalle, eingepflanzt hat, so müsste auch sein Körper aus Kristallen bestanden haben. Oder noch immer wäre Litrak ein Kristallwesen. Wie verhält es sich?« »Darauf weiß ich keine Antwort, Atlan«, sagte der älteste Großmeister und hob, als könne die verlegene Geste mehr erklären, als er wusste, seinen Kristallstab. »Von allen lebenden Ordensleuten hat noch nie einer die Eisgruft betreten oder gar den verehrungswürdigen Litrak selbst mit eigenem Auge erblickt. Alle Expeditionen der Ordensgeschichte sind letztlich fehlgeschlagen.« »Warum?«, fragte ich und erwartete keine brauchbare Antwort. »Nach der Niederlage Litraks wurden die Helden, die der gewaltigen Schlacht lebend entrannen, über alle Spiegelwelten zerstreut. Dies ist so lange her, dass keiner von ihnen mehr lebt.« Also keine echten Wächter mehr! Die Kristallstab-Großmeister sind bestenfalls zweite Wahl!, kommentierte mein zweites Ich. »Wann hat diese unglaubliche Schlacht stattgefunden?«, wollte ich wissen. Ich warf einen letzten Blick auf das titanisch-fantastische KristallStahl-Cyborg-Kampfwesen und reichte das Bild zurück. Leichte Verzweiflung packte mich. In all diesen Auskünften gab es sicherlich ein Körnchen Wahrheit, aber ich war nicht in der Lage, es zu finden. Ein fantastischer Wirbel wie die arkonidischen, altgriechischen oder nordischen Heldensagen, angereichert durch noch größere zeitliche Distanz. Ich schüttelte mich. »Vor Urzeiten. Wir wüssten es selbst gern genauer. Vor legendenhaften Zeitläufen.« Acazar Cateireo zog den Kopf zwischen die Schultern. »Aber bei unserem Vorhaben
21 spielen Jahrhunderte keine Rolle. Wir müssen rasch handeln.« Narmasar Tarmon war Haluter gewesen. Vor mehr als 60.000 Jahren gab es keine Haluter. Als die »Haluter« gegen die Lemurer kämpften, nannte der halbe Kosmos sie »die Bestien«. Mir schwirrte der Kopf. Ich stellte eine meiner letzten Fragen. »Um welche Besitztümer oder Macht haben vor vermutlich Jahrtausenden der Dunkle Sardaengar und Litrak samt seinen titanischen Heroen gegeneinander gekämpft?« »Eine Überlieferung sagt, dass es Sardaengar nach Vinara verschlagen hat.« Das fahlweiße Flatterwesen huschte zwischen einigen Kerzenflammen hindurch, schnappte zwei Schwärmer und einen Leuchtling und schwang sich in eine handbreite Spalte der Bohlendecke. Mehrere Flammen zuckten summend. Etliche Schmetterlinge verschmorten im Feuer. Aundar-Aundar sprach im Tonfall eines Predigers weiter. »Er hat versucht, die Macht an sich zu reißen. Er selbst war einer der größten vorstellbaren Krieger, einer, den man den Mann der tausend Gestalten nannte.« Es würde eine lange, erschöpfende Nacht werden. Erschöpfend nicht nur für mich, sondern für alle Wesen in dieser gruftigen Halle. Das Ganze war todernst. Nirgendwo würde ich mehr erfahren können. Ob es mir gelang, aus dem gewaltigen Durcheinander der Legenden brauchbare Informationen zu destillieren, blieb fraglich. Aber ich hatte keine andere Informationsquelle, auch wenn dieser legendenhafte Quell schäumte, Duftund Gerüchtewolken verbreitete und seit Jahrtausenden die klare Einsicht mit den wechselnden Farben des sprudelnden Rinnsals verschleierte. Die Ordensleute, sagte ich mir bedauernd, gingen mit der Zeit und der objektiven Wahrheit um wie Kinder, die mit Kieseln und Sand in der Brandung spielten. Ich stützte meinen Kopf in die Hände, setzte die Ellbogen auf die Tischplatte, starrte in die hellroten Augen Cateireos, der plötzlich so alt schien wie die Vorkommnisse, über die er sprach, und sagte so leise, als
22 ob ich eine Bitte äußerte: »Ob es Legenden sind oder nicht – erzähle mir, was in den Folianten eurer Ordensgeschichte geschrieben steht. Ich will alles hören und werde versuchen, Korn von Spelzen zu trennen.« Tamiljon nickte mir aufmunternd zu. Großmeister Cateireo, den sie als »Litraks Hüter« verehrten, deutete auf einen Mann, pechschwarz wie Tamiljon, mit einer Falkennase und großen schwarzen Augen. Er saß neben Ranin Rauva, einem 75-jährigen Überschweren mit feuerrotem, brustlangem Vollbart. »Du, Caraljon Imrey, bist Großmeister der Aufschreibungen. Lies vor oder schildere, was Atlan wissen möchte.« »Jawohl, Ehrwürdiger.« »Nur zu«, munterte ich ihn auf. »Kurzversion. Fürs Vorlesen von tausend Folianten ist keine Zeit. Ich lehne mich zurück und höre.« Er nickte. Ich lehnte mich also zurück, nippte am Wein und hörte zu. Inzwischen schienen Hunderte jener schimmernden Fliegen das Flattertier zu jagen; das Summen und Hochfrequenzzwitschern verlagerte sich in die Richtung auf den dunklen Eingang. Um die Kerzen und Lämpchen lagen Ringe toter Insekten. »Sardaengar konnte die Macht über viele Silbersäulen erringen. Vor allem verfügte er über die Säulen Mertras' auf Vinara. Und er gewann einige der fliegenden Technostädte.« Caraljon Imrey griff in die Mappe und gab mir drei Fotos. Ich sah mehrere Plattformen, deren Größe ich erst abschätzen konnte, als ich Gebäude und Bäume im unteren Viertel der Aufnahmen entdeckte. Die unregelmäßig geformten Plattformen hatten Durchmesser von drei oder mehr Kilometern und waren mehrere hundert Meter hoch. Einige der Städte schwebten nahe am Boden, andere in ungefähr einem halben Kilometer Höhe anscheinend schwerelos dahin. Die gesamte Oberfläche, auch die Seiten, war von Bauwerken aller Art übersät: Säulenreihen, Zwiebelkuppeln, Erkern und Kanzeln, Brücken und Arkaden, Viadukten und Türmen, Terrassen und jeder Art verschnör-
Hans Kneifel kelter Aufbauten, eine insgesamt wirre, dicht gedrängte Ansammlung bizarrer Stile und Formen. Alles schien aus Glas und Porzellan erbaut zu sein. Ich sah Büsche, Bäume und andere Gewächse; dichte Rankenvorhänge hingen an den Seiten herunter und quollen über die filigranen Mauern kleiner Gärten. »Erstaunlich«, murmelte ich und versenkte mich in den Anblick der kristallenen Stacheln und der Sphären, die um die Städte schwebten und tanzten. Es waren halb durchscheinende Blasen, mit Durchmessern bis zu etwa 30 Metern, die in den Technostädten landeten, wieder aufstiegen oder auf dem nächsten Foto einfach verschwunden waren. Lange Kristallstacheln ragten von den schwebenden Städten in alle Richtungen; Lichtbögen und Entladungen umzuckten sie. Ich hob die Ausschnittvergrößerungen ins Licht und sagte noch mehr verblüfft: »Das müssen Roboter sein!« Dieses Foto war koloriert oder ein echtes Farbfoto. Die Metallhaut des Robots war messingfarben. Die obere Kalotte sah aus wie ein in Facetten geschliffener Rubin. Die Sensoren daran blitzten, der Robot schwebte vermutlich auf Prallfeldern in deutlichem Bodenabstand. Oberhalb und unterhalb der Mittellinie waren jeweils zwölf unterarmdicke Tentakel angebracht, deren längster sich etwa drei Meter lang ausstreckte und wie alle anderen in achtgliedrigen Greifklauen oder anderen Waffen und Projektoren endete. Eine solche Maschine war an mir vorbeigeschwebt, ohne mich zu beachten, als ich bei den Savannenreitern Gamondio und die Schamanin Dendia auf der Stufenpyramide befreit hatte. »Mit der Hilfe, die Sardaengar von den Goldenen Technostädten erhielt, hat er für Litrak im Zentrum des Casoreen-Gletschers eine Falle errichtet. Was wir heute über die Eisgruft wissen«, dozierte Imrey und strich immer wieder über den scharfen Rücken seiner Habichtsnase, »wissen wir von den Wächtern, die überlebt haben. Sie waren im-
Die Eisgruft mer und ununterbrochen bemüht, den guten Ruf Litraks zu bewahren. Aber die Wächter und ihre Nachfolger, die Träger der Kristallstäbe, sind von Sardaengar und dessen Schergen bekämpft worden.« Seine erregte Stimme wurde schriller, die folgenden Worte sprach er hasserfüllt aus. »Die Kristallstabträger haben verhindert, dass er, der sich selbst ›Herr der Welten‹ nennt, im endgültigen Sieg triumphieren kann.« Als er vom »Mann der tausend Gestalten« geredet hatte, wurde ich an meine Visionen erinnert und erlebte sie ein zweites Mal. Der Eindruck, den ich von der mächtigen Persönlichkeit namens Sardaengar empfand, war durchaus konkret, vertraut und unendlich fremd zugleich; die Ahnung von Dutzenden unterschiedlicher Gesichter, die nur Sekundenbruchteile lang erkennbar blieben, und eine Reihe wechselnder Gestalten, die an meinem inneren Auge vorbeirasten. »Ich kann dir nicht mehr berichten«, sagte Acazar Cateireo bedauernd. »Das ist alles, was wir wissen. Aber ich weiß, wie wir Litrak erwecken können. Weil sein Körper nicht vollständig ist, schläft Litrak nur. Nur deswegen konnte Sardaengar mit seiner Falle Erfolg haben. Wäre Litrak vollständig gewesen, hätte ihm Sardaengar niemals etwas anhaben können.« Er hob beschwörend die Hände und legte die Rechte auf das Emblem seiner tiefroten Kutte. Mit lauter Stimme schloss er: »Deswegen hat der Orden im Lauf vieler Jahre zahlreiche Mondsplitter aus verschollenen Kristallstäben und den toten Körpern der Wächter gesammelt. Wenn es uns gelingt, die Splitter mit Litraks Körper zu vereinigen, können wir ihn erwecken und aus der Eisgruft befreien. Und du, Atlan, mit deiner starken Aura, sollst die Expedition selbstverständlich begleiten!« »Ich bin einverstanden«, antwortetet ich. Schon vor einer Stunde war ich dazu entschlossen gewesen. Ich hatte keine andere Wahl. »Aber ich will in die Planung eurer Expedition eingeweiht werden.« Acazar Cateireo nickte langsam und lä-
23 chelte auf eine Weise, als habe er nichts anderes erwartet. Allein auf einer fremden Welt, in einem bizarren Miniuniversum, ohne Hoffnung, ohne Hilfe zu Litrak vorzustoßen oder Sardaengar zu bekämpfen – ich hatte wirklich keine Alternative. Wahrscheinlich würde es nicht lange dauern, bis ich diesen Entschluss bereute. Als ich, Stunden später, die Halle verließ, lag auf der Torschwelle eines der weißen Flatterwesen. Die Fledermausflügel zuckten wie im Todeskampf.
3. Ordensburg Malenke – Atlan 21. April 1225 NGZ Ich gönnte mir einige Stunden Schlaf und half nach einem kräftigen Frühstück dem alten Großmeister und Tamiljon mit der Logistik der Expeditionsvorbereitungen. Lelos Enhamor und Acazar Cateireo, die beiden Arkonidenabkömmlinge, und sechs andere Würdenträger hatten Vorbereitungen getroffen. In aller Verschwiegenheit schafften die Großmeister und zehn ausgesuchte Ordensbrüder die Ausrüstung zum Obsidiantor Malenkes. Der uralte Großmeister schloss aus, dass einer der zwanzig Männer, mich eingeschlossen, der Verräter war, aber wir hatten Verrat zu fürchten, zweifellos. Im Zusammenstellen von Expeditionsausrüstungen hatte ich ein paar Jahrtausende Erfahrung. Auch darin, in Ewiges Eis vorzustoßen und sich dort zu bewegen. Die Ordensbrüder, zu Demut und Gehorsam verpflichtet, schufteten schweigend und trugen Nahrungsmittel, warme Kleidung und technisches Zubehör zusammen; Cateireo und ich waren sicher, dass sich unter ihnen kein Defraudant oder Perlenschleifer verbarg. Während ich Listen und Landkarten studierte, denen ich nicht zu trauen vermochte, und die Brauchbarkeit einzelner Gegenstände prüfte, dachte ich über die vergangene Nacht im »Refektorium« nach. Ich hatte tausend Legenden und Gerüchte gehört, deren Wahrheitsgehalt ich nicht überprüfen konn-
24 te. Aber je mehr ich mich dem Mittelpunkt des Gletschers näherte, desto klarer würde sich die Lage darstellen. Forsche in deinen Erinnerungen und ziehe nur solche Schlüsse, die du früher als richtig erkannt hast, mahnte der Extrasinn. Ich knurrte grimmig: »Nichts anderes versuche ich unausgesetzt!« Das Obsidiantor würde uns mit »einem Schritt« zum Basislager I bringen. Dass jene wuchtigen Steintore als Transmitter arbeiteten, war nichts Wunderbares. Mich faszinierte die technische und stilistische Mischzivilisation, in der so gut wie alle Gegenstände halb industriell und mit meisterhafter Handwerksarbeit hergestellt wurden, mit einem erstaunlichen Hang zu überquellender Formensprache. Die verpackte Ausrüstung, die in einer Halle nahe dem Obsidianstor gestapelt wurde, war schwerer als die Lasten, die von zwanzig Männern geschleppt werden konnten. Also würden wir auch das Basislager mit Nahrungsmitteln und Gebrauchsgütern versorgen. Die Vorbereitungen schienen unabhängig und weitgehend unbemerkt vom täglichen Leben in der Ordensburg abzulaufen. Als ich und Lelos Enhamor sämtliche Posten auf den Listen abgehakt hatten, kam Tamiljon in die Halle, begrüßte uns und sagte: »Morgen, kurz vor Tagesanbruch, wenn alles noch schläft, brechen wir auf. Insgesamt zwanzig tüchtige Männer.« Er trug ein neues Selbstbewusstsein zur Schau. Er, der Helfer eines Wächters, schien innerhalb des Ordens plötzlich mehr zu gelten. Tamiljon war mir noch immer nicht ganz geheuer; aber vielleicht vermutete ich zu Unrecht, dass er Telekinet war und überdies perfekt eine andere Rolle spielte. Ich würde ihn zu einem günstigen Zeitpunkt darauf ansprechen. »Einverstanden«, sagte ich. »Dieses Basislager – es ist zweifellos in einer kalten, womöglich stürmischen Gegend? Ich frage, weil ich mir ungern Finger und Zehen abfriere.«
Hans Kneifel »Am Rand eines Gletschers ist es erwartungsgemäß eisig«, antwortete Tamiljon, mit ein wenig herablassendem Grinsen. »Und das Lager steht in einer Ödnis. Noch weniger Annehmlichkeiten werden wir im Basislager Zwei finden. Ich rate dir – zieh dich warm an.« »Auch im übertragenen Sinn.« Ich lachte kurz. »Gibt es, bevor wir starten, noch besondere Hinweise oder Ratschläge?« Enhamor, Zweiter des Inneren Zirkels, war einstimmig wieder zum Leiter der Expedition bestimmt und bestätigt worden. Er deutete auf niedrige Tische, auf denen pelzgefütterte Kleidung und ebensolche hohe Stiefel lagen. »Ich werde dir alles während des Flugs in der LITRAKS RETTUNG erklären. Wir haben stundenlang Zeit dafür. Nicht, dass ich dir etwas verschweigen wollte …« Aus den Karten wusste ich, dass beide Lager voneinander etwa 275 Kilometer entfernt lagen. Also fünf bis sechs Stunden Flug, schätzte ich; wenn nicht gerade ein Sturm ausbrach. Ich sah nach der Länge der Schatten, nickte in die Richtung des Obsidiantors, das fünfzig Schritte vom Tor der Halle entfernt inmitten einer Kiesfläche auf einem freien Platz stand, und sagte: »Litraks Hüter Cateireo hat mich zu sich rufen lassen. Essen, ein Pokal Wein und Gespräche. Ich bin zwei Stunden vor Tagesanbruch hier.« »Alles wird bereit sein«, versprach der Arkonidenabkömmling und schenkte mir einen langen, ehrlichen Blick aus seinen dunkelroten Augen. Ich suchte einen Stapel passender Bekleidung aus, wickelte alles in einen fast bodenlangen roten Kapuzenmantel und fand den Weg zu meinem Quartier ohne fremde Hilfe. Die Ausrüstung war innerhalb der drei wuchtigen Steinpilaster des Obsidiantores gestapelt. Einige junge, fröstelnde Ordensangehörige hielten fauchende Handlampen und reichten sie an die Großmeister und Tamiljon weiter. Neun Männer und ich, alle ähnlich gekleidet, drängten sich zwischen
Die Eisgruft die Gepäckstücke. Wir fanden uns plötzlich in völliger Finsternis, im Winseln des Windes und in scharfer, trockener Kälte wieder. Ohne Verwunderung sah ich, dass zu uns die beiden älteren Blues gehörten; sie nannten mir ihre Namen: Mourlas und Caless Lilak Tadyn. Ich kannte die Namen schon von der nächtlichen Diskussion. Schweigend begannen wir, im Licht der wenigen Lampen die Ausrüstung aus dem Obsidiantor hinauszuwuchten und auf einem holprigen Pflaster aus flachen Felsstücken abzustellen. Einige Dutzend Atemzüge danach kamen weitere zehn Ordensbrüder aus dem Obsidiantor. Zugleich mit einem Eiseshauch liefen einige Männer aus einer dunklen Ansammlung langer, geduckter Gebäude auf uns zu, die ebenso wie das Tor in einer flachen Senke standen, die verwitterte Felsen und ein Erdwall säumten. »Hier sind wir!«, rief Cateireo. »Helft uns! Mehr Licht!« »Ist uns jemand gefolgt? Seid ihr beobachtet worden?«, fragte Tamiljon die letzten Ankömmlinge. Wir alle fürchteten aus bekannten Gründen die Tätigkeit eines Perlenschleifers oder eines Verräters. »Wir waren leise wie die Schlangen«, sagte einer der zehn Ordensbrüder. »Die Helfer haben bei Litrak geschworen, zu niemandem etwas vom kleinen Luftschiff und der Expedition zu sagen.« In den Häusern und davor erschienen einzelne Lichter. Ich schleppte vier Ballen an den Rand der gepflasterten Fläche und sah mich um. In der Dunkelheit erkannte ich nur einige Seile, die aus der Höhe herunterhingen. Binnen weniger Minuten kamen aus den Steinhütten dick vermummte Helfer und trugen die Ausrüstung auf einem Steinpfad zwischen die Felsen. Die meisten Packen und Ballen trug Rauva, der Überschwere mit dem grobschlächtigen Aussehen. Nach einigen Minuten brannten so viele Lampen, dass wir erkannten, wo der Mast stand, an dem der Bug eines Luftschiffs festgemacht war. Das kalte Halbdunkel zeigte schließlich den lang gestreckten, silberfarbenen Körper des
25 Zeppelins; ich schätzte die Länge auf 75 Meter. Mit vereinten Kräften wurde der Flugkörper näher zum Boden gezogen. Am Horizont erschien das erste Grau. Der Mann, der am Knotenseil in die Gondel geklettert war, ließ zwei Strickleitern mit breiten Holzsprossen herunterrollen. Nacheinander stiegen Enhamor, Tamiljon und drei Ordensbrüder hinauf und reichten die Lasten weiter; das starre Luftschiff hatte ein Kielgerüst unter der Hülle, in dem der Lastenraum und verschiedene Sitze aus Rohr und dickem Tuch abgeteilt waren. »Vergesst nichts!«, rief Cateireo neben mir. Jedes Gepäckstück, das nicht in der Basisstation blieb, war von Enhamor und mir gekennzeichnet worden. Nacheinander wanderten die Packen nach oben und wurden sorgfältig verstaut. Die Helligkeit der Dämmerung nahm zu; wir erkannten weitere Einzelheiten. Zwei Ordensbrüder, Shynar Tana und Eclanar, kletterten hinauf, und die länglichen Dieselmotoren wurden mit Gebläsen angewärmt. Zuletzt waren nur noch Cateireo und ich übrig. Ich hatte mitgezählt: Kein Stück fehlte. Der erste Diesel sprang heftig nagelnd an, der Propeller wirbelte, und ein heftiger Windstoß zerrte an uns und an den Helfern. Ich wartete, bis Acazar Cateireo, der seine kleine Truhe an einem Riemen um den Hals und offensichtlich mehrere Kristallstäbe in einer länglichen Ledertasche über dem Mantel trug, mit einiger Mühe die Strickleiter hinaufgeklettert war, dann folgte ich ihm und schloss die Einstiegsluke. Ein Blick aus den Fenstern zeigte mir das Basislager und dessen trostlose, einsame Umgebung. Die Geländesenke befand sich am Rand des Gletschers, weit nördlich von Malenke, umgeben von einer unfruchtbaren Geröllebene. In dem steinigen Talkessel wuchsen nur Ranken, dürre Büsche und stacheliges Gras. Die Langhäuser bestanden aus flachen Steinen und Steindächern, auf denen dicke Lehmschichten festgeklopft waren. Einige
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wuchtige Kamine ragten über die Firste, in Winkeln und Nischen lag schmutziger Schnee. Der Gletscher endete etwa einen Kilometer weit entfernt in einem zerklüfteten, meist senkrechten Abriss von mindestens 50 Metern Höhe. Fünfzehn Männer hielten die Zugseile, als ich hinaufgeklettert war und das Seil belegte, das die Leiter nach oben zusammengerollt hatte. Der zweite Diesel lief an, das Prallluftschiff stieß und zerrte am Haltemast. Tamiljon und ich schlossen die seitlichen Bodenklappen der Gondel und sicherten die Leitern, dann bewegten wir uns auf dem Holzboden der Gondel zu Lelos Enhamor, der den Heckmotor startete und das Steuerruder packte. Er setzte sich, schob langsam die Fahrthebel nach vorn und brüllte nach unten: »Leinen los! Bug ausklinken! Jetzt!« Die Motoren pumpten heiße Luft in die Ballonetts, die sich aufblähten und zusammen mit dem Wasserstoff die Hülle strafften. Klirrend löste sich der Fanghaken, die Ordensleute hinter uns zogen die Halteseile auf und sicherten den Anker. Ich blickte durch die geputzten Glasscheiben, bewunderte die akkurat angezogenen Schraubenköpfe und Muttern der Rahmen und vermochte im ersten Morgenlicht die Umgebung des Basislagers zu überblicken. Das Eis des Gletschers verschmolz mit dem Horizont. Als die ersten Sonnenstrahlen auf die Eisfläche trafen, wurden wir alle geblendet. Die LITRAKS RETTUNG stieg schräg aufwärts, die beiden seitlichen und der Heckmotor dröhnten auf, Enhamors Fingerspitzen klopften auf das Glas des Kompasses, und der Bug drehte sich langsam nach Nordwest. Wir schwebten über die Abbruchkante der zerklüfteten, verformten Eismasse und kletterten höher. Am 21. April 1225 NGZ traten wir die Fahrt zum Mittelpunkt des Gletschers an, zur Eisgruft des schlafenden Litrak.
4. LITRAKS RETTUNG – Atlan
21. April 1225 NGZ Außerhalb der Senke, deren windgeduckte Bauwerke hinter uns zurückblieben und mit der schotterbedeckten, felsigen Talschüssel verschmolzen, erstreckte sich karge Tundra. Wir näherten uns mit seitlichem Wind der schier endlosen Landschaft des Gletschers. Wasser sammelte sich unter dem mächtigen Eispanzer, bildete zahllose Rinnsale und glänzte in der Sonne, die von Steuerbord achtern in die Gondel strahlte und alle Metallteile in gleißendes Gold verwandelte. Die Wasseradern vereinigten sich zu schmalen Bächen, und diese mündeten in ein Flüsschen mit milchigem Wasser, das rasch aus dem Bild glitt. Ordensbruder Tarra Paarn wickelte eine metallene Kanne aus breiten Binden voller Luftkammern und füllte dünne Holzbecher, die Eclanar ausgepackt hatte. »Heißer Tee, süß und voll von Stoffen, die uns helfen«, rief Tamiljon, als habe er eine lebensrettende Medizin erfunden. »Trinkt, Brüder, denn bald lässt uns der Untote Litrak frieren.« Ich setzte mich auf einen der breiten Tuchstreifen, zog die Handschuhe aus und ergriff einen Becher. »Du scheinst innerlich gewachsen zu sein«, sagte ich zu Tamiljon. »Du trittst befehlsgewohnt auf, mit unübersehbarer Autorität. Hat man dich etwa zum Mitglied des Innersten Zirkels gemacht?« Ich lachte kurz. »Oder hast du eigenhändig das Luftschiff gebaut?« »Es scheint nur dir, dass ich mehr Einfluss habe«, antwortete er. »Ich bin derselbe wie früher. Ehrfurchtsbezeigungen erübrigen sich, Atlan.« »Es waren keine geplant. Du weichst mir aus«, sagte ich leichthin. Er blieb eine geheimnisumwitterte Gestalt und fühlte sich in dieser Rolle sichtlich wohl. »Aber jeder Orden kann einen tapferen Streiter wie dich dringend brauchen.« Er zuckte die Achseln, zog den Kapuzen-
Die Eisgruft kragen hoch, wandte den Blick ab und schlürfte an dem Tee. Das Getränk rann die Speiseröhre hinunter wie flüssiges Feuer, das bis in die Zehenspitzen wärmte. Unter uns lagen die Spalten, Klüfte und Risse, die vom Sturm plan geschliffenen Flächen und einige Monolithen, die das Eis von irgendwoher mitgeschleppt hatte. Mit ungefähr 50 Stundenkilometern, hundert Meter oder mehr über der Gletscheroberfläche, fuhren wir auf das zweite, kleinere Basislager zu. Nach einer Weile setzte sich Ordensbruder Ilvin Mouna neben mich, ein Arkonidenabkömmling in mittleren Jahren. Er trug eine dicke Wollkappe über dem schulterlangen silbrig weißen Haar. Es war still geworden; niemand sprach. Alle Ordensbrüder, die ich von meinem Platz aus sehen konnte, hielten einander an den Händen, hatten die Köpfe gesenkt und schienen in Trance gefallen zu sein. Ich sah keine Kristallstäbe; wahrscheinlich steckten sie in Cateireos Ledertasche. Die auffallenden, gleichen Vorgänge hatte ich schon an Bord der großen LITRAK auf der Fahrt nach Malenke beobachtet. Mouna flüsterte: »Hat man dir gesagt, dass das zweite Lager ungefähr hundert Kilometer von der Gruft entfernt ist?« »Nein«, antwortete ich ebenso leise. »Aber das sind nur zwei oder drei Stunden Fahrt mehr. Was tun deine Brüder? Und warum tun sie's?« Er grinste mitleidig. »Sie versetzen sich in Trance. Vergiss das Luftschiff. Wir müssen mit Schlitten weiter.« »Schlitten? Warum? Was ist der Grund?« »Im Gebiet des Gletschers leiden wir unter einem merkwürdigen psychischen Druck. Zweifellos eine Hinterlassenschaft von Sardaengar. Sie soll Fremde von Litraks Gefängnis fern halten – mit der Trance kämpfen wir dagegen an.« »Und? Hilft es?« »Meist. Nicht immer.« Mouna schüttelte den hageren Schädel. »Einmal mehr, einmal weniger. Die Schlitten benötigen wir wegen der Grenze – der unsichtbaren Mauern.«
27 »Mauern?«, fragte ich. »Im Gletschereis?« Er versuchte es mir zu erklären, so gut er es selbst verstand. Ich hörte schweigend zu und dachte an Traktorstrahlen oder ein Prallfeld oder an unsichtbare Abwehrschirme. Trotz der Blockade allgemeiner Technik hatte ich Beweise gesehen, dass eine andere Art Technik funktionierte: goldene Technostädte oder Silbersäulen oder Obsidiantore. Ich war nie der Illusion erlegen, dass unsere Expedition ein Spaziergang werden würde – doch je länger sie dauerte, desto mehr Schwierigkeiten waren zu überwinden. »Ich verstehe«, sagte ich nach einer halben Stunde. Die Ordensbrüder lösten sich wieder aus der Trance, an der Enhamor, soweit ich es hatte erkennen können, nicht teilgenommen hatte. »Wo beginnt dieser rätselhafte, angeblich undurchdringliche Wall?« »Dreihundert, vierhundert Schritte jenseits der Grenze«, sagte der Expeditionsleiter und setzte die Drehzahl des Heckmotors herauf. »Für uns ist die Grenze definiert durch den Standort der zweiten Station.« Die Oberfläche des Gletschers begann sich zu verändern, je weiter wir nach Nordwest und zu seinem Mittelpunkt vordrangen. Der Wind blies Schneekristalle über weiße Dünen, und die Spalten und Schrunde verbargen sich unter dicken weißen Schichten. Im Dröhnen der Motoren und in den Wirbeln der Kristalle und Flocken, die bisweilen im Sog der Luftschrauben tanzten und hinter den Propellern am Rumpf des Zeppelins entlanggetrieben wurden, ging es Stunde um Stunde über der leuchtenden Einöde dahin; ein Becher Tee aus einer anderen Kanne vertrieb die Müdigkeit, die uns im monotonen Geräusch zu überwältigen drohte. Cateireo schien zu schlafen und umklammerte die kleine Truhe, die zwischen den Säumen seines Mantels hing. Er dachte nicht daran, sie zu öffnen, aber ich glaubte zu wissen, was er darin so eifersüchtig hütete. Die Sonne beschrieb hier, hoch im Norden, eine flache Bahn am Himmel. Die Reflexe ihres Lichts zwischen einzelnen Schneeschauern
28 waren so grell, dass selbst ich die Augen schließen musste. Lelos Enhamor trug eine riesige Brille mit Messingrahmen, Nieten und dunklen Gläsern, die ihn wie eine weißhaarige Eule aussehen ließ. Später hörte ich, wie sich Tamiljon, Enhamor und der alte Cateireo unterhielten; sie redeten über möglichen Verrat und wer wohl der Verräter sein könne. Cateireo erwähnte den Angriff auf das Geheimversteck in Aroc. War der Verräter möglicherweise einer von uns zwanzig, an Bord der LITRAKS RETTUNG? Du hättest es merken müssen!, bemerkte der Logiksektor. Seit wir die Ausrüstung zusammengestellt hatten, beobachtete ich jeden in meiner Nähe, und seit dem Start des Luftschiffs hatte sich meine Aufmerksamkeit verdoppelt. Es gab keine Anzeichen für Verrat oder Sabotage. Als die Ordensbrüder sich wieder in Trance versetzten, beobachtete ich eine Zeit lang Enhamor am Steuer und an den Gashebeln, dann schloss ich geblendet die Augen und legte den dicken Fellhandschuh darüber. Wir erreichten das Basislager II nach einer Fahrt von fast sechs Stunden. Der Zeppelin drehte zwei Runden und ging ständig tiefer, das Geräusch der Motoren veränderte sich kontinuierlich. Ich starrte durch die Scheiben und sah eine Ansammlung einfacher Hütten, die zwischen nackten grauen Felsmonolithen auf Stelzen standen. Wie schroffe Steine ragten die Bauten aus dem Eis. Shynar Tana begann an der Kurbel einer Sirene zu drehen. Ein markerschütterndes Heulen durchschnitt die morgendliche Ruhe. Der Bug des Luftschiffs stemmte sich gegen einen Sturmwirbel und schob sich, Handbreit um Handbreit, dem kurzen Haltemast entgegen. Cateireo wandte sich an mich und rief durch das Sirenenjaulen und das Motorendröhnen: »Wir hatten gehofft, mit dem großen, starken Zeppelin die unsichtbare Mauer zu überwinden, die unseren Verstand und die Körper lähmt. Nun – unser Plan ist
Hans Kneifel durch die Zerstörung des stolzen Schiffes jedenfalls hinfällig.« Im Heck fielen die Taue zum Boden. Der Anker klirrte auf eine Eisplatte. Ich nickte dem alten Großmeister zu und antwortete: »Diesen rätselhaften Einfluss werden wir gemeinsam irgendwie neutralisieren, Kristallstabträger.« Ich sah pelzvermummte Männer die Treppen der Stelzenhütten herunterhasten und zu den Tauenden rennen. Ein leichter Ruck ging durch das Stützgerüst; der Anker hatte gegriffen. »Wir werden die Grenze durchbrechen und das Grabgefängnis finden.« Cateireo nickte traurig. Seine Stimme klang brüchig. »So unendlich viele Jahre hat es gedauert. So viele Ordensbrüder sind verschollen, wahnsinnig geworden und gestorben. Unsere Mühe war unvorstellbar groß. Dieses Mal, mit der Hilfe deiner Aura, müssen wir es schaffen.« »Ich will tun, was ich kann. Mein Äußerstes eben«, sagte ich. Ich meinte es ehrlich. »Bringen wir unsere Ausrüstung hinunter und gehen los. Zu Fuß und mit Schlitten.« Die Strickleitern rollten sich rasselnd und klappernd aus und knallten aufs Eis. Einer nach dem anderen kletterten wir hinunter und halfen uns gegenseitig mit den vielen schweren Gepäckstücken. Das Luftschiff wurde festgemacht und gesichert, die Enden der Seile an mit Steinen gefüllte Säcke und um Felsnadeln befestigt. Der Schneeschauer verwehte. Die Station lag unter dem gleißenden Licht der Sonne und den Spiegelungen auf dem Eis. Auf einem Treppenabsatz blieb ich stehen und sah mich um. Aus meinem Gepäck hatte ich eine überdimensionale Schneebrille hervorgekramt, deren Gläser die Sicht kaum verschlechterten. Zwischen den Hütten und einem wuchtigen, eisverkrusteten Felsen verliefen Pfade durch den Schnee, die mit schwarzen Stäben markiert waren. Ich sah die große Öffnung einer Höhle und, einige hundert Meter entfernt, eine Silbersäule. Sie ragte ungefähr 30 Meter aus einer Schnee-
Die Eisgruft wehe hervor. Einst hatte das Material eine hochglänzende Oberfläche besessen, jetzt war es stumpf und angelaufen. Noch niemals war es Ordensmitgliedern gelungen, in diesen Zylinder mit 25 Metern Durchmesser einzudringen. Ich prägte mir das Aussehen und die voraussichtlichen Schwierigkeiten der Umgebung ein, sah einige Sekunden lang zu, wie das Luftschiff gesichert wurde, und bückte mich dann unter dem Türsturz der Hütte. Das Innere war dunkel und warm. Ich setzte mich und musterte die karge Einrichtung. Von dem psychischen Druck, unter dem die Ordensmitglieder litten, merkte ich noch immer nichts. Die Tür ging knarrend auf. Tamiljon und Cateireo kamen herein. Der Großmeister stellte den Lederbehälter an die Wand und ließ sich schwer auf einen Hocker fallen. »Wir werden noch heute aufbrechen, Atlan«, sagte Tamiljon und entzündete einige Lampen. »Noch sieben Stunden Tageslicht. Die Leute hier sagen, dass es einige Tage lang keinen Schneesturm geben wird.« »Unnötige Hast hat schon viele Vorhaben scheitern lassen«, antwortete ich. »Zuerst will ich zur Kristallsäule. Und danach zu den Fossilien, von denen du mir erzählt hast.« Tamiljon zerrte die Handschuhe von den Fingern. Die dicken Steinmauern und eine Schicht brauner Schaumverputz sperrten jedes Geräusch aus dem Lager aus. Er setzte sich auf die zerwühlten Felle eines Lagers und wandte sich mir zu. »Bis die Schlitten bereit sind, ist noch Zeit. Brauchst du jemanden, der dich begleitet?« »Nicht auf dem Weg zur Silbersäule«, antwortete ich. Ich nickte dem Großmeister zu und packte einen Stock mit Eisenspitze und Dorn, der zwischen den Vorräten stand. »Aber jemand muss mir erklären, was es mit den Fossilien auf sich hat.« »Ich sorge dafür«, versprach Tamiljon. Wir alle standen unter Anspannung. Nur noch weniger als hundert Kilometer trennten die wichtigsten Männer des Ordens und
29 mich von Litraks Gruft und vom Zentrum vieler Geheimnisse und möglicher Erkenntnisse. Ich tastete mich über die tückisch glatten Stufen hinunter und folgte den eingetretenen Spuren, die mich zur Kristallsäule führten. Die Spitze des Eisstocks verschwand zwei Handbreit tief im Schnee und bohrte sich in den harten Untergrund. Zwischen zwei Schneewehen, die wie gefrorene Brandungswellen aussahen und den beißenden Wind ablenkten, kam ich bis unmittelbar an die Silbersäule heran. Aus einer Armlänge Entfernung starrte ich die gekrümmte Oberfläche der Säule an. Sie schien aus massivem Metall zu bestehen, vielleicht sogar aus reinem Silber. Die Glätte war erhalten geblieben, es zeigten sich keinerlei auffällige Erosionserscheinungen. Aber die Oberfläche sah aus wie Silber, das angelaufen und lange Zeit nicht geputzt worden war. Langsam zog ich den Handschuh aus, streckte den Arm aus und wollte mit den Fingerspitzen das Metall berühren. Im letzten Moment zuckte ich zurück, weil ich nicht riskieren wollte, mit der Haut an der eisigen Säule festzufrieren. Sie ist nicht kälter als die Umgebung, erklärte der Extrasinn. Ich tippte zuerst mit dem Fingernagel ans Silber, dann überwand ich mich, mit der Hand über die Fläche zu streichen. »Verdammt!« Meine Hand drang in das Metall ein wie in Wasser oder ein Hologramm. Ich spürte weder Kälte, Wärme noch Widerstand. Bis zum Handgelenk verschwand mein Arm im scheinbar massiven Metall. Halb erschreckt, halb überrascht zog ich meinen Arm schnell wieder zurück und musterte meine Finger. Nichts zu sehen. Ich drehte die Hand hin und her und wusste nicht, was ich von diesem Effekt zu halten hatte. Nur dir ist es geglückt, keinem anderen, sagte der Logiksektor. Versuche, tiefer einzudringen! Nichts hatte sich verändert. Langsam fühlte ich die Kälte an meinen Fingern. Ich näherte die Hand wieder dem Metall, be-
30 rührte es, und … es ging nicht weiter. Meine Finger lagen auf hartem, eiskaltem Silbermetall. Ein zweiter Versuch endete mit dem gleichen Ergebnis. Ich zuckte kopfschüttelnd die Achseln und blieb ratlos. Als der dritte Versuch ebenso vergeblich war wie die vorhergegangenen, drehte ich mich um. Mir war klar, dass ich keine anderen Möglichkeiten hatte, um diesem seltsamen Artefakt das Geheimnis zu entreißen. Nur mir hatte die Silbersäule ein winziges Stück ihrer Eigentümlichkeit gezeigt. Dies mochte dieselben Gründe haben wie der Umstand, dass ich noch nicht an den Folgen der psychischen Grenzstrahlung litt. Oder bewirkte mein Zellaktivatorchip, meine Aura oder das unwirkliche Erbe des Ritters der Tiefe diesen einmaligen Prozess? Ich fand, während ich den Spuren bis zu dem Pfad folgte, keine Erklärung. Und ich würde sie vermutlich auch in den Höhlen nicht finden. Die Höhle im linken Felsen, der näher am Lager aus dem Gletscher herausragte, war höchstwahrscheinlich der Stall der Zugtiere und der Ort, an dem die Schlitten aufbewahrt wurden. Das erste Gespann wurde, als ich auf den anderen Monolithen zustapfte, aus dem Höhleneingang geführt; acht paarweise eingeschirrte Wesen, die eine Mischung zwischen kleinwüchsigen, stämmigen Elchen mit nur handgroßen Geweihschaufeln und grauem Eisbärenfell und Riesenwieseln mit Haarbüscheln über den winzigen Ohren, Augen und den Krallenfüßen darstellten. Der Schlitten bot fünf Männern und einigem Gepäck Platz. Auf jedem rechten Zugtier des vordersten Paares sah ich einen hochlehnigen Sattel aus geflochtenem Schilf oder Rohr. Das Gespann trabte in Schlangenlinien hinunter zum Lager. Tamiljon rief mir von der Treppe eines der letzten Häuser zu. Ich winkte und wartete, bis er neben mir stand. Der Pfad zur Fossilienhöhle war dick mit Herdasche bestreut. Ich beschloss, niemandem von dem erstaunlichen Erlebnis an der Silbersäule zu
Hans Kneifel berichten. »Mit Enhamors und Cateireos Erlaubnis«, sagte Tamiljon und packte mich am Oberarm. »Die Höhle war lange Zeit verschüttet. Wie lange, das weiß niemand. Frühere Expeditionen haben die beiden Höhlen entdeckt und mit viel Mühe freigeschaufelt.« »Wo leben unsere Zugtiere normalerweise?«, fragte ich. »Draußen, auf der Savanne?« »Wir haben sie gefangen und zusammengetrieben. Jetzt sind sie halb zahm.« Tamiljon redete, als habe er sie eigenhändig domestiziert. Wir kamen auf der knirschenden Asche schnell vorwärts. »Sie fressen Pflanzen und Fleisch, das wir für sie trocknen und mahlen.« »Gut zu wissen«, sagte ich und blickte, als wir vor dem Höhleneingang standen, zum Lager am Fuß eines flachen Hanges. Der Zeppelin und die Stelzenhütten drängten und duckten sich, von einem niedrigen Felsriegel gegen westliche Stürme geschützt, um einen kleinen Platz. Pfade, teilweise hinter Windschirmen, waren durch Ascheschichten markiert. Ungefähr zwei Dutzend Ordensmitglieder und die pelzgekleideten Männer des Basislagers schleppten Ausrüstung zum Schlitten, standen in kleinen Gruppen zusammen oder warteten auf das zweite Gespann. Die Station und alles andere wirkten, verglichen mit der immensen Größe des Gletschers, erbarmungswürdig unbedeutend. »Komm!«, forderte Tamiljon mich auf und hob einen kopfgroßen Scheinwerfer vom Höhlenboden auf. »Wir haben nicht ewig Zeit.« Wir gingen in die Höhle hinein. Der Boden bestand aus zermalmtem grauem und schwarzem Gestein. Dreißig Schritte weiter öffnete sich inmitten von altem Eis und frischen Schneeverwehungen eine weitere, geräumige Höhle, deren Wände und Decke gewisse Ähnlichkeit mit erstarrter Lava hatten. Im Halbkreis einer vorspringenden Wand brannten einige Lampen, Tamiljon zündete etwa ein Dutzend zusätzlicher Scheinwerfer an, deren Aggregate zischten und fauchten.
Die Eisgruft An einigen Stellen der Wände und am Boden glänzten massive Eisplatten, auf Schrägen und Brettern lagen verschiedene Werkzeuge. »Das hier haben wir gefunden, zum Teil mühsam herausgemeißelt und ausgegraben. Es war schwierig, wie du dir denken kannst.« Ich stand einen Augenblick lang starr vor Verwunderung. Das Bild, das sich mir im Licht der vielen Lampen zeigte, war einzigartig. Um zu erkennen, dass fünf unförmige Lebewesen halb im Fels eingeschlossen waren, brauchte ich einige Zeit. Die »vordere« Hälfte lag frei; zwei gleiche Wesen waren vollständig freigelegt worden und lagen halb ausgestreckt, die Tentakel herunterhängend, auf etwa vier Meter langen Felsblöcken. Sieben uralte Wesen. Entsinne dich!, mahnte der Logiksektor. Die Fossilien erinnerten an Riesenkraken, die in einer Masse eingeschlossen waren. Einst musste sie flüssig gewesen sein. Der bleiche, bräunliche Körper annähernd birnenförmig, hatte etwa eineinhalb Meter Durchmesser und einen Papageienschnabel. Handtellergroße, menschlich wirkende Augen starrten ins Leere. Ich zählte acht Tentakelarme, von denen der längste vier Meter maß. Die sieben Wesen waren so tot wie der Fels, in den sie eingeschlossen waren. Ich glaubte mich an mehrere Gruppen von sieben bedeutungsvollen Lebewesen zu erinnern. Zuerst trat ich an den Felsen heran und betrachtete die fünf halb im Felsen haftenden, halb herausgemeißelten Wesen, dann wandte ich mich den beiden frei präparierten Wesen zu. Ich hob eines der Skalpelle hoch. Tamiljon fragte: »Was hast du vor, Atlan?« »Ich sehe nach, was unter der Haut dieser uralten Fundstücke steckt. Und du wirst mir helfen«, antwortete ich. »Aus welchem Grund? Sie sind tot, seit Urzeiten.« »Die Erkenntnis wird uns wahrscheinlich helfen, wenn wir die Gruft betreten.« »Ich weiß zwar nicht, was das soll, aber
31 …« Die Scheinwerfer verbreiteten eine höllische Hitze, die von Minute zu Minute zunahm. Das Eis an den Wänden begann tropfend zu schmelzen. Die Kreaturen, deren Haut sich ebenfalls erwärmte, begannen zu stinken. Ich wusste, dass solche Wesen im Dienst der Kosmokraten gestanden hatten. Meine Finger zitterten nicht, als ich mit einem tiefen Schnitt, der den Körper aufklaffen ließ, eine Hautschicht seitlich einschnitt und abzutrennen begann; der Gestank verstärkte sich. Fartuloon, der Bauchaufschneider, mein arkonidischer Lehrmeister, hätte wohl den Kopf geschüttelt, aber ich hatte genügend Erfahrung. Kaum war das fleischige, lederartige Gewebe vom Körper abgehoben, schien es weich und weicher zu werden und zu zerfließen. Ich blickte genauer hin, so gut es die Helligkeit zuließ, und glaubte, winzige Bestandteile zu entdecken. Kaum sichtbare Staubteilchen, die nichts mit dem Hautgewebe zu tun hatten. Glaubst du etwa, mit bloßem Auge Nanotechnologie erkennen zu können?, fragte hämisch der Logiksektor. Das Gewebe löste sich weiter auf, zu schwer tropfendem Schleim, während der Gestank unbeschreiblich wurde und uns den Atem nahm. Das Wesen zwischen uns begann schwach zu zittern und lag dann wieder still. Ein Teil des Körpers schien noch gefroren zu sein. Ich hatte das Wesen getötet, ohne es zu wollen. Tamiljon erstarrte, und das Messer fiel aus seinen Fingern. »Was passiert hier? Was haben wir da angefangen …?« Er starrte fassungslos den lang gestreckten Körper an, der zu zerfallen und zu zerfließen begann. Der missfarbene Schleim breitete sich über den Lavablock aus und lief an den Seitenwänden herunter. Im gleichen Augenblick richtete sich das andere, freigelegte Wesen auf, indem es mit Hilfe der Tentakel den Rumpfsack hochstemmte. Verborgene Muskeln zogen sich
32 zusammen, der Körper blähte sich auf, und aus dem mächtigen Hakenschnabel drangen gutturale, kaum verständliche Laute. »Das ist ein Wunder! Entsetzlich …«, rief Tamiljon unterdrückt und wich Schritt um Schritt zurück. Ich hörte dieses blubbernde Krächzen und war sicher, einige Silben wieder zu erkennen. Eines der Worte wurde mehrmals wiederholt. »Das muss«, murmelte ich gleichermaßen entsetzt und verwundert, »eine Sprache sein, die vor der Sprache der Mächtigen entstanden ist.« Zutreffend!, stimmte mein zweites Ich mir zu. »… Srakenduurn … Srakenduurn …«, verstand ich deutlich. Also doch! Diese Wesen hatten vor einer kleinen Ewigkeit im Dienst der mächtigen Kosmokraten gestanden! Abermals richtig! Was bedeutete dieser Begriff? Ich zermarterte mein fotografisches Gedächtnis und sah zu, wie die Spannung alle Teile des aufgeblähten Körpers und die Tentakel verließ. Haut, Fleisch und Knorpel begannen sich aufzulösen, ohne dass Tamiljon oder ich dieses Wesen berührt hatten. Es dauerte ungefähr fünf Minuten, bis sich beide Körper in zellulären Brei aufgelöst hatten. Wir glaubten, ersticken zu müssen, und zogen uns langsam zum Höhlenausgang zurück. Dort angekommen, schnappten wir nach Luft. Nach drei Schritten wichen wir zur Seite aus, hielten unsere Gesichter in den Wind und holten erneut tief Luft. Eine Woge aus infernalischem Gestank wehte an uns vorbei aus der Höhle. Meine Gedanken wirbelten wie die Flocken eines Schneesturms. Mein fotografisches Gedächtnis half mir, mich korrekt zu erinnern: Der Begriff Srakenduurn war am besten mit »Sammelplatz« zu übersetzen, wie der Extrasinn bestätigte. Die Sprache der Mächtigen wies auf die Kosmokraten oder auch auf deren Beauftragte hin. Ich versuchte, die Aktivitäten der Kosmokraten und
Hans Kneifel das Entstehen des Virenimperiums mit den Materiequellen und den Sporenschiffen in Verbindung zu bringen, und scheinbar ohne Zusammenhang fielen mir Samkars, des Roboters und Dieners der Kosmokraten, prophetische Worte ein. »Du wirst noch gebraucht!« Ein Gespann trabte an uns vorbei, auf die Basisstation zu. Ranin Rauva, der klobige Überschwere, schien die acht Tiere hinter sich herzuziehen. Ich sagte in einem Versuch der Erklärung zu Tamiljon: »Diese sieben Wesen in der Höhle stammen aus einer Zeit, die sehr weit in der Vergangenheit liegt. Für mich steht fest, dass sie auf eine unbekannte Weise konserviert worden sind.« »Ich werde alles dem Hüter Litraks berichten. Warum musstest erst du kommen, ehe dieses … Ding zu Scheinleben erwachte?« Er schüttelte verwirrt den Kopf. »Ich glaube, sie warten bereits auf uns.« Wir gingen hintereinander, jeder tief in seine Gedanken versunken, zur Station. In meinem Verstand formierte sich ein langer Fragenkatalog, während der fünfte Schlitten beladen und das Gepäck festgezurrt wurde. Die Zugtiere drängten sich zusammen und warteten geduldig, bis wir hastig einen kalten Imbiss hinuntergeschlungen hatten. Es wurde Mittag, bevor wir aufbrechen konnten; die Sonne hatte ihren höchsten Stand erreicht. Trotzdem, schien mir, waren die Schatten nicht kürzer geworden, ebenso wie die Schatten aus tiefer Vergangenheit, die nach mir griffen. Der Arkonidenabkömmling Enhamor hatte die Expedition sehr gut vorbereitet. Fünf Ordensbrüder aus Malenke, keine Männer aus dem Basislager II, banden ihre roten Mützen fest und kletterten in die Sättel der vordersten Zugtiere. Ich saß mit Acazar Cateireo, Tamiljon und Majaan Orvin, einem kleinwüchsigen Akonennachkommen, im zweiten Gefährt, zwischen den Stangen und Planen eines Zeltes, einigen Säcken Tierfutter und zusammengerollten Decken.
Die Eisgruft Unser »Reiter« war der grazile Blue Mourlas. Ohne viel Lärm und Aufregung verließen die Gespanne das Lager und fuhren hinaus auf die riesige Fläche aus Eis und Schnee. Es gab kaum etwas anderes zu sehen als eine mäßig abwechslungsreiche Umgebung, die sich in unterschiedlichen Schattierungen von Weiß zeigte: Dünen, Ebenen, etliche schwarze Felsnadeln, aufgetürmte Schollen und Flächen, die unerträglich grell das Sonnenlicht spiegelten. Solange die Sonne am diesigen Himmel stand, war die Kälte erträglich. Ich hatte, nachdem wir an der Silbersäule vorbeigefahren waren, genügend Muße, um meine Gedanken zu ordnen. Die ferne Vergangenheit hat dich wieder einmal eingeholt, Arkonide, bemerkte mein Extrasinn. »Und da ich die Vorgänge oft nicht selbst miterlebt habe«, flüsterte ich in die Pelzkapuze hinein, »wird es schwer für mich, ein klares Bild zusammenzufügen.« Die Ereignisse und deren mögliche oder wahrscheinliche Bedeutung summierten sich zu einer legendenhaften Auslegung. Jene Sieben Mächtigen hatten damals im Auftrag der Hohen Mächte, die jenseits der Materiequellen hausten, mit den kugelförmigen Sporenschiffen, jenen Giganten mit 1126 Kilometern Durchmesser, für den Grundstock des Lebens gesorgt. In der so genannten Phase Eins entstand in verschiedenen Regionen des Universums durch die Aussaat und die Verbreitung von Biophoren jenes Leben, das den Grundstock organischer Intelligenz bildete. Durch die Schwärme, die in der Phase Zwei aufgebaut worden waren, wurde das intelligente Leben aktiviert und gefördert. Dies waren Vorgänge, die innerhalb langer kosmischer Zeitspannen abliefen und zu Recht als »Schöpfung« bezeichnet wurden; zahlreiche Schöpfungsmythen hatten ihren Ursprung in diesen Jahrtausenden. War die Obsidian-Kluft etwa Teil dieser Mythen? Mehr, als ich bisher vermutet hatte? Hatte vielleicht Samkar wieder etwas damit zu tun? »Du wirst noch gebraucht?«
33 Oder wirkten andere Beauftragte der Kosmokraten in diesem bizarren Winkel des Alls? Alle Vorstellungen blieben letztlich Spekulation, und ändern konnte ich nichts. Dennoch gefiel mir keine dieser Überlegungen, die sich zwangsläufig aufdrängten. Srakenduurn, dachte ich. Für mich verbanden sich damit das Entstehen des Virenimperiums und mannigfache Aktivitäten der Kosmokraten. Die Schlittenkufen rauschten durch den Schnee und rumpelten über Eisschwellen. Das Geräusch der 32 Krallentatzen der Zugtiere, die nach ranzigem Talg und sehr altem Fisch stanken, war wie ein leiser, einschläfernder Trommelwirbel, der unsere Fahrt zur Eisgruft begleiten würde; vier Tage und Nächte lang. So war es geplant. Meine Erfahrung sagte mir, dass unsere Planung nicht lange Bestand haben würde.
5. Vinara – Lethem und Kythara 21. April 1225 NGZ Weit nach Mitternacht wachte Lethem auf. Er hatte die erste Wache gehabt. Jetzt sah er als Silhouette gegen die rote Glut des Feuerchens und, zur Hälfte vom Glanz des Kristallmondes übergossen, Kythara. Ondaix und Zanargun schnarchten, die Echsen lagen mit ausgestreckten Gliedmaßen und Schwänzen im Kreis um das Lager. Sie hatten ihre Köpfe zum Feuer gewandt. Die Nacht war von Vodalon beherrscht und voller lastender Gerüche; der Rauch der Glut stank. Ohne sich zu bewegen oder ihn anzusehen, sagte Kythara: »Du bist wach, Lethem.« »Ich bin mühsam aufgewacht«, murmelte Lethem und griff nach dem Wassersack. Er nahm einige tiefe Schlucke. Gegen Mittag hatten sie an einem Teich gerastet, einige Schlangenwesen vertrieben und sich mit frischem Wasser versorgt. Auch die Echsen hatten sich satt getrunken. »Gibt es irgendwelche morgendlichen Über-
34 raschungen?« »Ich habe nichts bemerkt. Außer den Blitzen auf dem Mond.« Falk stieß einige stöhnende Laute aus. Ein Albtraum schien ihn heimzusuchen. Lethem stand auf, lockerte ächzend seine Muskeln und drehte sich einmal im Kreis. Das kalte Mondlicht zeigte ihm, dass jenseits des Ringes aus Tierkörpern sich kein Halm bewegte. Jedenfalls gab es keine Bewegung, die er, als sich seine Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, zu erkennen vermochte. Er blieb neben Kythara stehen und fragte: »Was passiert dann, wenn wir morgen die Schlucht erreichen?« »Wir reiten einen Serpentinenpfad hinunter, quer durch die Schlucht und auf der anderen Seite wieder hinauf. Wenn ich auch nur von einer Schwierigkeit oder gar einer Gefahr wüsste, hätte ich euch alle – uns alle – längst darauf vorbereitet.« »Wir vier Fremden«, antwortete Lethem leise, »sind davon überzeugt, dass du jede Handbreit Vinaras und aller Spiegelwelten besser kennst als jedes andere Wesen.« Sie lachte leise und streckte ihm die Hand entgegen. Er griff zu, und sie ließ sich hochziehen. »Das höre ich gern. Aber es stimmt nicht.« »Enttäusche uns nicht.« »Ich kenne und weiß vieles. Aber längst nicht alles«, sagte sie und legte die Hände auf seine Schultern. »Es kann so vieles geschehen, bis wir am Ziel sind. Niemals würde ich euch etwas verschweigen.« »Also reiten wir weiter und halten die Augen offen?« Kythara strich über seine stoppelige Wange. Trotz des wenigen Lichts sah er, dass sie lächelte. »So wie bisher. Mit euch tapferen Kriegern werde ich jeden Angreifer zurückschlagen und jede Gefahr besiegen.« Lethem genoß die Geste wie ein Versprechen auf leidenschaftliche Stunden und Tage. Er bedauerte, dass Kythara die Hände von seinen Schulten nahm und in ihr Haar griff. »Wir sind um Mittag herum an der
Hans Kneifel Schlucht?« »Ich bin sicher, dass wir es ohne Mühe schaffen.« Bisher war er bei solchen Äußerungen skeptisch geblieben. Jetzt, während der ersten Ahnung des Morgengrauens, glaubte er Kythara jedes Wort. Fast jedes Wort. Am späten Morgen des fünften Reisetages schien sich alles zu ändern. Lethem spürte, dass sich Verzweiflung über ihn legte wie das Netz eines furchtbaren Fängers. Nach einem Ritt von ungefähr 250 Kilometern durch unbewohntes Land hatten die fünf die Taneran-Schlucht am Rand Mertras' erreicht, des Landes der Silbersäulen. Die Reittiere waren staubbedeckt, aber kaum geschwächt, die Ausrüstung und die Vorräte hatten sich als gut ausgesucht und ausreichend erwiesen. Trotzdem war die Reise für jeden eine Strapaze gewesen. Kythara drehte sich im Sattel herum und deutete mit ausgestrecktem Arm nach vorn. Auf ihrem Kleid zeigten sich die verschiedenen Schmutzspuren des Rittes und der Nachtlager inmitten der Wildnis. »In einer Stunde sind wir am Rand der Schlucht!«, rief sie. Die Echsen hatten nun, zwischen Morgen und Mittag, ihre nächtliche Lethargie abgelegt und trabten in ihrem eigentümlichen Gang über den kargen Boden. Lethem hatte lange genug Zeit gehabt, sich auf diesen Augenblick vorzubereiten. In seinem Magen bildete sich ein harter, schmerzender Knoten. »In einer Stunde sind wir gescheitert!«, gab er laut zurück. »Ich habe die Karten ebenso studiert wie du, Maghalata.« Ihre goldgelockte Mähne, durch ein Lederband mühsam gebändigt, leuchtete in der Sonne. Sie zügelte die Reitechse, bis Lethem, der ein Packtier am langen Zügel hinter sich herzog, zu ihr aufgeschlossen hatte. Aus den Augenwinkeln und den hornigen Mäulern der Tiere liefen dünne Flüssigkeitsspuren und zeichneten schwarze Rillen in die Staubschicht. »Bisher haben wir alle Schwierigkeiten besiegt, Arkonide«, sagte sie mit zuversicht-
Die Eisgruft lichem Lächeln. Lethem liebte dieses Lächeln, denn es half, seine Verzweiflung zu mindern. »Wo ein Wille ist, gibt es auch einen Weg.« »Und am Willen soll's nicht fehlen!«, brüllte Ondaix und winkte. Längst war Lethem klar geworden, warum Kythara darauf gedrängt hatte, die Karten und den Folianten aus der Schwarzen Perle mitzunehmen. Während jeder nächtlichen Lagerung, im Schauspiel der Lichtbahnen, hatten sie in den erbeuteten Karten und dem Inhalt des Folianten nachgesehen und jeden Kilometer ihres Ritts vorher begutachtet. In allen Nächten sahen sie die Erscheinungen des Sternschnuppenfalls, der deutlich häufiger geworden war. Der riesige Kristallmond, der sich drohend über den Horizont schob und seine schreckenerregende Bahn über das Firmament zog, begleitete sie bis in ihre Albträume hinein. Mitunter wehten farbige Schleier wie Polarlichter über das dunkle Firmament und erinnerten die Mitglieder der TOSAMA-Besatzung an die Obsidiantrümmer aus dem Ring um Vinara. Die größten Schwierigkeiten des Geländes hatten sie daher umgehen können. Und: Trotz aller Wachsamkeit hatten sie niemanden entdecken können, der ihnen folgte! Nicht ein einziges Mal trafen sie auf Bewohner dieser Zone. Nur große Flugwesen, eine vierflügelige Kreuzung zwischen Harpyie und Flugsaurier, begleiteten die Reiter, hoch über ihnen kreisend. In unregelmäßigen Abständen waren auch tagsüber die Bahnen stürzender Kristallmeteoriten zu sehen gewesen; dreimal hatten Boliden außerhalb der Sicht, aber in der Nähe der kleinen Karawane eingeschlagen. Dann hatte der Boden gebebt, und pilzförmige Staubsäulen waren hinter den Hügeln aufgestiegen. »Ich weiß nicht, wie unsere Entschlusskraft reichen sollte, eine Schlucht zu überwinden, die bis zu fünfzig Kilometer breit ist«, bemerkte Lethem grimmig. »Und einen halben Kilometer tief. Oder noch tiefer.«
35 »Denk an die Serpentinen, Lethem«, antwortete Kythara. »In einer Stunde sehen wir mehr.« Dann werden wir das Scheitern unserer Expedition erkennen müssen, dachte Lethem und zuckte die Achseln. »Weiter!« Fünfzig Kilometer an jedem Intervall zwischen Sonnenauf- und -untergang: Selbst Kythara, die sich am besten gehalten hatte, sagte, sie fühle sich wie gerädert, und zeigte, dass sie erschöpft war. Die Echsenreiter trabten langsam geradeaus weiter. Jeden Atemzug kamen die diesseitige Kante der Schlucht und, undeutlich in großer Entfernung, der jenseitige Absturz deutlicher in Sicht. Mitunter, wenn sich morgendliche Nebelbänke oder Wolken vor die Sonne schoben, zeigte sich deutlich das dunkle Band, von dem das gleißende Gestirn durchschnitten wurde und das sich quer über den gesamten Himmel spannte. Das Gelände, durch das sie seit dem Morgen ritten, war eine leicht wellige Ebene, mit hohem Gras, kugeligen Büschen und windschiefen Bäumen bewachsen. Unmengen lästiger Insekten plagten die Reiter. Im Grasland und im Unterholz raschelten und pfiffen unsichtbare kleine Tiere. Der warme Westwind, der den fünf meist entgegenwehte, trug ein wahres Gestöber staubtrockener Pflanzenteile mit sich. Es juckte in den Augen, verstopfte die Nasen und machte die Reittiere störrisch. Je mehr sich die fünf der Kante näherten, desto weniger Erdreich dämpfte die Tritte der Echsen. Immer öfter traten Geröll und abblätternder Fels hervor. Schließlich stieß Kythara den Arm senkrecht in die Höhe und rief: »Halt! Wir sind da!« Nacheinander erreichten Ondaix, Zanargun, Lethem und Scaul Falk den Rand der Schlucht, die von einem unregelmäßigen Saum aus verschieden großen Steinen in allen Stadien der Verwitterung wie von einem ruinenhaften Geländer gesäumt war. In Bodenvertiefungen war vor Zeiten Erde zusam-
36 mengetragen worden, in der dichtes Gestrüpp und kleinwüchsige Bäume wuchsen; ihre Blätter waren ungewöhnlich grün und saftig. Solche Vegetationsinseln säumten den Riss Vinaras von einem Horizont bis zum anderen. Steifbeinig und ächzend stiegen die Reiter aus den Sätteln; die Echsen ließen sich zu Boden sinken, streckten Hälse und Läufe aus und genossen grunzend die Hitze des Steins. Lethem und Kythara gingen bis zum Rand des Absturzes und blickten schweigend hinunter. Die Felswände, die sich in schroffem Zickzack kilometerweit nach rechts und links erstreckten, waren voller Risse, Kanzeln und Simse, die aus teils bröckeligem, teils glattem Gestein in sämtlichen Braunund Schwarztönen bestanden. In Sekundenabständen hallten die Geräusche kleiner Steinlawinen oder einzeln abgesprengter Felsplatten mit zahlreichen Echos herauf, die sich in der Mittagshitze lösten und Hunderte Meter in die Tiefe prasselten. Die Welt Vinara war von einer riesigen Spalte förmlich zweigeteilt. »Dort hinunter«, meinte Lethem und sah auf der Sohle eine schmale Wasserspur und eine Reihe kleiner Tümpel, die das Wasser des Flüsschens Taneran verband. »Und zu Fuß quer durch die Sohle der Schlucht? Das wird ein Teufelsritt!« »Wir haben den Serpentinenweg in den Karten des Folianten gefunden«, antwortete Kythara. Scaul Falk und Zanargun zogen aus den Packtaschen die Bestandteile für einen Imbiss. »Wir müssen ihn nur noch finden.« »Nach der Rast«, rief Ondaix und scheuchte einen Schwarm winziger Flugwesen aus dem Gebüsch. Kythara ging zu ihrer Reitechse, hob ein Seilbündel vom Sattel und zerrte den Folianten hervor. Ondaix dehnte stöhnend seine Muskeln und trank geräuschvoll aus dem Wassersack. »Wir sehen nach.« Kythara setzte sich auf einen Steinbrocken. Lethem rollte einen zweiten herbei und beugte sich über die auf-
Hans Kneifel geschlagenen Seiten. Sie hatten den Serpentinenweg auf der Karte längst entdeckt. Er führte hinunter, in Schlangenlinien quer durch die Schlucht. Dabei verlief er durch eine Furt und auf der gegenüberliegenden Seite wieder hinauf. Er schien breit genug für die Reitechsen zu sein, und es gab – zumindest auf der Karte – keine Unterbrechung. Aber es wurde nicht klar, an welcher Stelle der Pfad begann. »Wo ist der verdammte Zugang?«, brummte Lethem und fluchte innerlich. Das Vordringen nach Grataar und die Rückkehr in die TOSAMA erreichten einen immer höheren Stand der Unerreichbarkeit. »Wir haben doch immer wieder verglichen … Er müsste genau auf diesem Abschnitt anfangen. Doch von hier oben ist nichts zu sehen.« Lethem zuckte die Achseln. Er stieß mit der Stiefelspitze an die Seilschlingen. »Versuchen wir es trotzdem.« Aus der Tiefe drangen die gellenden Schreie jagender Vögel herauf. Sie hatten die Größe kleiner Adler, braunweißes Gefieder und strichen dicht am Felshang entlang, zwischen Fels und kümmerlichem Gebüsch. Zanargun und Falk hatten aus herumliegendem Holz ein Feuer gemacht und bereiteten Tee im rußigen Kessel. Friedlich fraßen die Echsen ihr trockenes Mischfutter und blinzelten in der Sonne. Die fünf hatten sich einige Male beraten und versucht, einen Umweg zu finden. Aber es gab keinen; die Länge der TaneranSchlucht hätte eine vielleicht jahrelange Tortur erzwungen. Die Karte zeigte, weiter südlich, einen zweiten Namen für die Schlucht oder für einen Teil davon: Canyon der Visionen. Sonst nichts, keine Erklärung oder Beschreibung. Lethem ging an den Rand heran und blickte, die Augen abschirmend, nach Süden. Wenn das Beiwort »Visionen« eine Bedeutung hatte – und damit musste er rechnen –, so zeigten sich keine Besonderheiten. Keine verhüllenden Nebel, keine Rauchsäulen, keine Änderung im Aussehen der Felswände. Das Flüsschen war nicht breiter,
Die Eisgruft Lethem sah keinen See und nicht einmal Vogelschwärme. Er ging an einer der Buschinseln vorbei, zurück zu den Gefährten. »Wir versuchen es«, sagte Kythara, nachdem sie dreimal jeweils 150 Schritte nach beiden Richtungen die Kante abgeschritten und sich weit vorgebeugt hatte, um den Pfad entdecken zu können. Einige Male legte sie sich auf den Boden und schob den Oberkörper über die Kante. Die anderen Reiter versuchten das Gleiche. Immer wieder schüttelte Kythara den Kopf. Dann drehte sie sich auf den Rücken und rief: »Die Kante hängt über. Ich habe ein kleines Stück vom Pfad gesehen!« »An dieser Klippe«, murmelte der Springer, »hängen unsere Hoffnungen. Wollt ihr etwa …?« »Wir müssen!«, sagte Lethem und half Kythara auf die Beine. »Sonst können wir hier ein Dauerlager aufschlagen und Flugversuche unternehmen.« Zanargun knotete ein weiteres Seil von der Traglast einer Echse, rollte es halb aus und sah sich fragend um. »Hierher, Zanargun«, sagte Lethem. »Bergsteigen war schon immer mein Hobby.« Er schnallte den Gurt mit den Dolchscheiden ab, ließ sich von Zanargun helfen, das Seil um Oberschenkel und Oberkörper zu befestigen und sicher zu verknoten. Kythara wurde auf die gleiche Art gesichert und ging langsam auf den Felsabsturz zu. Ondaix hob die Seile auf, legte sie in Schlingen und wickelte die anderen Enden um einen Felsblock. Der Block, doppelt mannsdick, bewegte sich nicht einen Millimeter als Ondaix die Enden verknotete und sich mit aller Kraft dagegen stemmte. »Wir helfen euch und lassen euch langsam hinunter«, sagte Falk und winkte Zanargun. »Seid vorsichtig. Kein Risiko, Kommandant!« »Schon gut«, antwortete Lethem und drehte sich um. Kythara nickte ihm kurz zu, ihr Seil spannte sich, und als es straff war, stemmte sie ihre Sohlen gegen die Kante.
37 Sie ließ sich langsam nach hinten fallen. Ondaix beobachtete sie, bis sie außer Sicht geklettert war; Zanargun und Falk ließen sie Handbreit um Handbreit weiter hinunter. »Jetzt du. Ich halte dich, keine Angst«, sagte Ondaix zu Lethem und spannte das Seil. Lethem spürte, wie sich die kreuzweise gespannten Seilabschnitte strafften, kippte langsam nach hinten und vermied, in den Abgrund zu blicken. Fünfhundert Meter! Er machte winzige Schritte rückwärts, tappte tiefer und sah nichts als rissigen Fels. Unter den Sohlen lösten sich kleine Felsbrocken und fielen, von Klippe zu Klippe, mit hellem Klicken ins Bodenlose. Als Lethem seinen Blick vom Felsen löste und das Seil kontrollierte, merkte er, dass Ondaix aus seinem Blickfeld verschwunden war. Das Seil rutschte ganz langsam über die Kante. Sieben, acht Meter neben ihm und fünf Meter tiefer seilte sich Kythara scheinbar ohne viel Mühe ab. In ihren früheren Jahren schien sie diesen Sport mit größter Fertigkeit betrieben zu haben. Sie zeigte nicht die geringste Unsicherheit und rief zu ihm herüber: »Ich sehe nur Fels, keinen Pfad.« »Mir geht es genauso«, erwiderte er gepresst. Der Überhang endete, das Seil wurde länger. Zwischen Kythara und Lethem schob sich ein schmaler, ebenso zerklüfteter Vorsprung, der die Sicht zusätzlich versperrte. Von oben brüllte jemand: »Alles in Ordnung bei euch?« »Wir haben noch nichts gefunden«, schrie Lethem und wartete vergebens auf ein Echo. Nur die gellenden Vogelschreie waren in seinen Ohren, als er weiter abwärts tappte. Schließlich, nach einer kleinen Ewigkeit, hing das Seil straff und senkrecht. Lethem blickte nach links; Fels in allen Arten Oberfläche, aber nicht einmal ein Sims. Er blickte an sich hinunter. Zwischen seinen Beinen sah er die gleichen Felsstrukturen. Lethem wandte den Kopf nach rechts. Eine braune Barriere aus rissigem Gestein versperrte den Blick zu Kythara. Er drehte sich halb herum und spähte nach unten. Der
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Blick kostete ihn Überwindung, aber er glaubte circa hundert Meter unter sich die enge Kehre eines Pfades, Absatzes oder Simses zu erkennen, die aus der Senkrechten hinausragte. Die Wand zwischen Kythara und ihm verhinderte, dass er mehr vom Sims erkennen konnte. Er machte, den Körper fast waagrecht, einige Schritte nach links und stieß sich dann kurz ab. In flachem Bogen schwang er nach rechts. Das Seil scharrte über die Felskante. Am weitesten Punkt des Bogens sah er, dass Kythara die gleiche Technik anwandte. Er zwang sich zu einem trotzigen Lächeln, fühlte den Schweiß in seinen Augen brennen und schwang wieder zurück. Beim zweiten Mal nahm er mehr Schwung, erreichte fast die senkrechte Barriere und starrte nach unten. Nichts. Kytharas Körper traf wieder auf die Wand; sie federte den Stoß mühelos ab und wiederholte die Pendelbewegung. Noch zweimal schwang Lethem hin und her, dann war er sicher, dass es einen Serpentinenpfad gab. Doch dieser Pfad lag nicht in seinem Blickfeld. Er holte Atem, um seinen Gefährten zuzuschreien, sie sollten ihn hochziehen, als er einen kurzen, aber harten Ruck im Seil spürte. Sein Seil scheuerte an der Felskante, faserte und riss schließlich. Noch bevor er an die unheilvolle Möglichkeit gedacht hatte, spürten seine Finger weitere Stöße. Als Lethem wusste, dass das Seil riss und er sterben musste, schwang er wieder auf die Felsnase zu seiner Rechten zu. Er hörte sich schreien und sah schemenhaft Kythara weit neben sich. Dann stürzte er rückwärts und schrie.
6. Vinara III, Casoreen-Gletscher – Atlan 22. April 1225 NGZ Erst am Abend des zweiten Tages, als die Elchtiere anhielten und ihre Lenker todmüde
aus den Sätteln in den Schnee rutschten, begann ich den Druck in meinem Kopf zu spüren. Er glich starkem Kopfschmerz oder Migräne, unter der ich so gut wie niemals gelitten hatte, auf keinem der unzähligen Planeten, an die ich mich erinnerte. Meine Mentalstabilisierung und der Monoschirm verhinderten, dass mich solcherlei unsichtbare Angriffe allzu sehr belästigten oder schädigten. Paranormale Beeinflussung! Du wirst erkennen, dass ich Recht habe, erklärte sachlich der Extrasinn. Seit der Abfahrt vom Basislager hatten Acazar Cateireo und besonders Lelos Enhamor unentwegt zur Eile gemahnt und gedrängt. Es hatte nur Stunden gedauert, bis der Bereich der Eisflächen in eine kristallweiße Ebene übergegangen war. Eine festgebackene Schneeschicht lag über einer gigantischen Eisplatte, einem Hochplateau, auf dem es keine Schatten gab. Es gab auch keine Schneeverwehungen, keine Eisschollen und kein lebendes Wesen außer den Gespannen und den Ordensbrüdern. Ich vermochte auch kein Bauwerk, keinen Hügel oder Sendemast zu entdecken, von denen diese paranormale Strahlung ausging. Dich schützt zudem dein Monoschirm!, beruhigte mich, überflüssigerweise, mein Extrasinn. Mach das Beste daraus. Im Gegensatz zu den zwanzig Expeditionsteilnehmern war ich, trotz Schnee und Kälte, absolut handlungsfähig. Auch Tamiljon, der seine Energie aus scheinbar unerschöpflichen Quellen zu beziehen schien, litt weniger als unsere Gefährten an den Strapazen. Ich sah zu, wie sich die Großmeister und die zehn Ordensbrüder taumelnd und erschöpft zu einer Gruppe zusammenfanden und sich in Trance versetzten. Der Zustand schien ihnen ebenso rasch zu helfen wie vor kurzem im Luftschiff. Ich zuckte die Achseln, führte die Zugtiere zu einem Kreisring zusammen und hob zwei Säcke voll Futter von den Schlitten. Der Atem der Tiere war gefroren. Er bildete
Die Eisgruft am Gehörn und im langen, verfilzten Fell kleine Eisklumpen. Kraftlos und kahl, wie eine Scheibe glimmte die Sonne dicht über dem Horizont. Der Wind war vorübergehend eingeschlafen. Trotz aller verständlichen Eile brauchten wir alle einige Stunden Schlaf und ein kräftiges Essen. Also begann ich, Zeltstangen und Leinwand abzuladen, und trieb einige Anker in den eisigen Boden. Als der vierte Pfahl saß, lösten sich der Überschwere, die Großmeister und Brüder aus der Starre und halfen mir. Wir schafften es, drei Zelte aufzustellen und hinter einem Windschirm den brennstoffbetriebenen Ofen in Betrieb zu nehmen. Eine Stunde später schliefen wir dicht gedrängt in den Unterkünften, deren Stoff der Wind knattern ließ. Am nächsten Morgen, im Licht der Fackeln und fauchenden Handscheinwerfer, überprüften ich, Tamiljon und Enhamor peinlich genau das Zuggeschirr, die Schlitten und jeden Packen der Ladung. Wir fanden kein Anzeichen für einen geplanten Akt der Sabotage. Am Nachmittag des zweiten Tages wurde das Gelände schwieriger. Wir näherten uns der Kernregion des Gletschers. Die Kälte nahm zu; scheinbar mit jedem Meter, um den der Anstieg auf einen flachen Berg weiterging. Bisher waren wir schnell und gut vorangekommen, jetzt wurde es Stunde um Stunde schwieriger. Lelos Enhamor hatte wieder die Führung übernommen und lenkte die lange Gespannkarawane in weiten Schlangenlinien zwischen den Hindernissen den weißen Hang aufwärts. So weit mein Auge reichte, sah ich große Dünen aus Schnee, bizarre Türme aus Eis oder seltsame weiße Buckel. Als die Sonne höher stand und die Sicht frei war, konnten wir im Licht des Gestirns Teile des Ograhan-Gebirges weit in der Ferne erkennen. Die erloschenen Vulkankegel zeigten sich uns als hohe, eisbedeckte stumpfe Kegel. Ich kannte die Namen, die für mich keine Bedeutung hatten, aus den Karten: der Gollason, höher als 9000 Meter,
39 und der Gebval, 500 Meter niedriger. Links von den Gipfeln, vielleicht war es auch nur eine Illusion, glaubte ich die Riesen Asaret und Belehan zu sehen, beide höher als 9000 Meter. Wir hatten, laut unseren Karten, ziemlich genau 90 Kilometer Luftlinie zurückgelegt; die tatsächliche Wegstrecke war beträchtlich länger. Die Pausen, nach denen die Zugtiere angehalten wurden und die Ordensbrüder in Trance fielen, wurden kürzer. Der letzte Teil der Expedition wuchs sich zu einer Strapaze aus. Ich war ebenso erschöpft wie alle anderen. Cateireo – erst spät hatte ich erfahren, dass er 163 Jahre zählte! – hielt sich staunenswert gut; es war, als schöpfe er aus dem geheimnisvollen Inhalt seiner kleinen Truhe ungeahnte Kräfte. Mein Zellaktivatorchip half mir über die schlimmsten Anfälle der Erschöpfung hinweg. Die Ordensbrüder hatten keine solche Hilfe; ihr Zustand verschlimmerte sich, je näher wir dem Ziel kamen. Es wurde wenig geredet, aber unter dem Druck der unsichtbaren Mauer in den Köpfen half die Trance immer weniger, und ich hörte Flüche und Rufe, die von sofortiger Umkehr sprachen. Selbst ich begann den Druck zu spüren. In der Nacht vom 24. zum 25. April 1225 NGZ wandte ich mich in einer Schlafpause, mit abnehmenden Kopfschmerzen, an Lelos Enhamor, rüttelte ihn an der Schulter und sagte: »Wir werden morgen oder bei Tageslicht die strahlende Kuppel der Eisgruft erreichen. Vorausgesetzt, es gibt eine Kuppel, und es handelt sich auch um die Eisgruft im Mittelpunkt jener so genannten Stadt. Glaubst du, dass deine Brüder durchhalten? Zehn Stunden ungefähr?« Er gähnte, rieb sich die Augen und gab leise zurück: »Einer flucht, der andere hat die Hoffnung verloren, der eine oder andere wird aggressiv, und du selbst hast mir geholfen, die Apathischen wieder aufzumuntern.« Er langte im Halbdunkel des Zelts, im Gestank von einem Dutzend Männern, die seit fünf Tagen ihre Kleidung nicht gewechselt und sich nur das Gesicht mit Schnee
40 »gewaschen« hatten, nach der thermoversiegelten Kanne. Nachdem er einen Schluck genommen hatte redete er weiter. Lauter, um das Schnarchen und Husten der anderen zu übertönen, sagte er: »Wir schaffen es. Weil wir es schaffen müssen. Wir sind die Einzigen, die jemals so weit vorgestoßen sind.« »Immerhin sind wir von tagelangen Schneestürmen und aufbrechenden Gletscherspalten verschont geblieben«, sagte ich. »Hoffentlich bin ich nicht der Einzige, der diesem Druck auf Gehirn und Körper widersteht.« »Ich werde sie, wenn es sein muss, einzeln zur Kuppel tragen«, versicherte Enhamor glaubwürdig. »Zwei Männer von der einzigen Expedition, die diesen Punkt je erreicht hat, sind lebend zurückgekommen.« »Morgen wirst du mir alles darüber erzählen«, verlangte ich. »Das meiste kenne ich wahrscheinlich schon.« Er reichte mir die Kanne, und ich trank tiefe Schlucke vom warmen Tee. Danach verschloss ich die Kanne sorgfältig, wickelte sie wieder in die Luftblasenfolie ein und hörte, wie er abschließend sagte: »Einer der beiden lebte nicht mehr lange. Der andere verfiel dem Wahnsinn und starb, Phantastisches lallend.« »Schöne Aussichten«, murmelte ich und drehte mein Gesicht zur Zeltleinwand. Der Hang, den wir endlich überwunden hatten, ging wieder in eine ebene Fläche über. Ungefähr drei Kilometer vor uns wölbte sich aus dem Schnee und Eis eine glatte Kuppel, etwa hundert Meter hoch. Das Eis unter den Kufen knisterte ununterbrochen. Winzige Luftblasen platzten unter den Pranken der Zugtiere und den Schlitten. Einige der wulstigen Eisskulpturen, die sich an der Wandung der Kuppel stauten, waren blau: Es war altes Eis, in dem sich die Schneekristalle unter Druck zu kugelförmigen Gebilden umgeformt hatten. Durch die Umlenkung der Lichtwellen waren sie scheinbar blau geworden, inmitten der weißen, durchscheinenden und milchigen Anhäufungen ihrer Umgebung.
Hans Kneifel »Auch wenn es schwer fällt! Weiter!«, schrie Enhamor. Die Karawane schleppte sich geradeaus weiter, die Tiere waren ebenso entkräftet wie die Mehrzahl von uns. »Da ist sie! Die Eisgruft!«, rief Cateireo nach einer halben Stunde aus dem zweiten Schlitten. Schutzschirm einer noch unbekannten Technik!, versuchte der Extrasinn zu erklären. Ohne dass jemand einen Befehl gebrüllt hatte, wurden alle Gespanne gleichzeitig langsamer. Die Ordensbrüder stierten hohläugig auf die riesige Wölbung. Ich dachte, dass ich ein Zwischenziel erreicht hatte, an dem auf welche Weise auch immer tausend meiner offenen Fragen beantwortet werden würden. Die dunkle Greisenstimme Cateireos drang erschreckend laut bis zum letzten Gespann durch das Pfeifen des Höhenwindes: »Weiter! Wir, o ihr Brüder in Litrak, sind nur ein paar Schritte vor dem Ziel. Los! Peitscht die Tiere!« Die Pseudoelche schienen bisher von der abwehrenden Strahlung nichts gespürt zu haben. Wieder begannen sie schneller zu traben, und in weniger als einer halben Stunde erreichten wir das unmittelbare Weichbild der Kuppel. Sie ragte, undurchsichtig und strahlend weiß, übergangslos aus dem zerklüfteten Eisgeschiebe hervor. Die Mittagssonne schuf viele gerundete Leuchtfelder auf der Kuppel, die am Boden nach meiner Schätzung einen Durchmesser von ungefähr 650 Metern besaß und am unteren Rand hinter einem Wall aus Brocken, Splittern, Schollen, Tafeln und gebrochenem Eisgeschiebe verschwand. Sämtliche Kanten waren durch Schneeverwehungen und kühn geschwungene Wächten gerundet und gebrochen. Die Gespanne, von Enhamor angeführt, bogen nach rechts ab und steuerten auf einen Punkt zu, den offenbar nur der Expeditionsleiter kannte. Ich hob mich von meinem Sitz und versuchte mir ein aussagekräftiges Bild
Die Eisgruft zu verschaffen. Die Kuppel war höchstwahrscheinlich ein kugelig oder halbkugelig projizierter Schutzschirm. Wo sich Gletschereis und Schirm trafen, rangen tief im Eispanzer gewaltige Kräfte miteinander: die langsame, unaufhaltsame Kraft des Gletschers gegen die unbekannte Technologie. Wo der Druck unerträglich groß wurde, reagierte der Schirm – durch das Eis im weiten Umkreis hörten wir lautes, unheilvolles Knistern, Knacken und Bersten; knallende Geräusche, die das Eis unter uns erschütterten und die eisverkrusteten Halbelche ebenso erschreckten wie die rot gekleideten Ordensbrüder. Ihre Kleiderund Kapuzensäume, einstmals weiß, waren völlig verdreckt und oftmals ausgerissen. Ich sah im Eis den Widerschein mächtiger Funken und lichtbogenartiger Erscheinungen, deren dumpf knirschende Entladungen mir bewiesen, dass die Kuppel und der Gletscher seit langem gegeneinander kämpften. Klüfte und Risse umgehend und umfahrend, lenkte uns Enhamor geschickt und behutsam etwa um ein Drittel des Umfangs herum zu einer Stelle zwischen wuchtigen Eismauern in phantastischen Formen. Was sich unter dem Kuppelschirm verbarg, war tatsächlich so groß wie eine Stadt. »Das ist der letzte und beste Lagerplatz!«, rief er. »Vor uns ist das Eislabyrinth! Schirrt die Tiere aus!« Wir begannen schweigend, wie schon so oft, die Schlitten zu entladen und das Lager einzurichten; so gut, wie es möglich war. Ich wagte nicht, daran zu denken, den gesamten Rückweg bis zum zweiten Basislager zu riskieren. Es würde die meisten von uns umbringen. Wir konnten keine Reste oder Zeugnisse der einzigen Expedition finden, die bis hierher vorgedrungen war. Das Eis hatte alles geschluckt, jede Einzelheit gefressen. Ich zog die Kapuze dicht um mein Gesicht, hockte mich auf einen Schlitten. Während ich den erschreckenden Geräuschen lauschte, das immer währende leichte Beben spürte und die »Strahlende Kuppel der Litrak-
41 Eisgruft« betrachtete, kontrollierte ich, was ich dazu seit vielen Tagen in Erfahrung gebracht hatte. Aus dem Bericht der Überlebenden ging unzweifelhaft hervor, dass sich unter der Kuppel die Eisgruft Litraks verbarg. Die Gruft, so hieß es übereinstimmend, hatte Aussehen und Ausdehnung einer kleinen Stadt. Man konnte die Stadt unter der Kuppel nur durch das Eislabyrinth betreten. Betreten? Mühsam eindringen entsprach wohl der kalten, rutschigen Wirklichkeit. Das Areal, das Sardaengar vor Urzeiten als Falle errichtet hatte, war längst völlig denaturiert. Energie und Eis, mächtige Druckund Schiebekräfte, unzählige Jahrzehnte und Jahrhunderte und natürliche Verfallprozesse hatten alles, was vor uns lag, verändert. Der Fuß der Kuppel war für mich ohne jeden Zweifel tief im Gletscher versunken. Durch die energetischen Entladungen der Kuppel war im Eis, das von allen Seiten nachdrückte, ein chaotischer Kreisring der schmelzenden und erstarrenden Verformungen entstanden. Vielleicht hatte sich das Gletschereis an vielen Stellen auch dort, wo die Kuppel einst auf Fels oder tief im Fels gründete, nach innen geschoben. Geschmolzen oder nicht, verformt, gepresst und gewaltigen Drücken ausgesetzt, würden wir den gleichen Naturkräften ausgesetzt sein. Jedenfalls, falls es uns gelang, durch das Labyrinth vorzudringen. Nach einer Weile winkte ich Tamiljon, deutete auf die Elchtiere und sagte: »Rechnest du damit, dass wir wieder lebend aus der Gruft herauskommen?« Er zuckte fatalistisch die Achseln. »Möglich. Warum fragst du?« »Weil«, sagte ich, »wenn wir dieses Abenteuer überleben, wir zum zweiten Basislager zurückkehren müssen. Etwa zu Fuß? Für wie viele Tage können wir Proviant und Tee mit uns schleppen?« Er sah mich an, als habe er bisher nicht an die Möglichkeit des Überlebens gedacht. Dann ging sein Blick zu den vierzig Kleinelchen, zu den Schlitten und zu den Zelten.
42 »Für sechs, vielleicht zehn Tage. Viel mehr Vorräte haben wir nicht mehr.« Ich nickte und grinste ihn kurz an. »Für die Tiere haben wir ungefähr … fünf Tage Futter. Wasser ist für sie kein Problem; sie lecken am Eis. Aber sie werden elend verrecken, wenn wir sie im Geschirr hier zurücklassen. Wenn das Futter aufgefressen ist, sollen sie sich losreißen können. Glaubst du, sie finden den Weg in ihre Tundra auch ohne uns?« »Nicht alle.« Tamiljon nickte schwer. Er hatte verstanden. Ich stand auf und bat: »Hilf mir. Das Viehzeug hat nichts zu tun mit euren Glaubensproblemen.« Wir luden, einige Schritte abseits der Zelte, das gesamte Futter ab und warfen es auf einen Haufen. Dann schirrten wir die fünf Gespanne aus, nahmen den Tieren die metallenen Trensen aus den Mäulern und banden die geduldigen Elchwesen mit den Zugseilen so locker an einige Zeltpflöcke, dass sie sich leicht losreißen konnten. »Wenn wir in drei, vier Tagen zurückkommen würden«, meinte Tamiljon und fing an, unsere Arbeit zu kontrollieren. Wir hatten getan, was möglich war. Schon jetzt drängten sich die Zugtiere in Gruppen aneinander, die sich gegen Kälte und Schneesturm schützen konnten. »Du hast ein großes Herz für die Kreaturen, Atlan«, sagte Tamiljon und schlug die Kapuze hoch. »Mitunter«, erwiderte ich, ohne zu grinsen, »habe ich sogar Mitleid mit mir selbst.« Wir verkrochen uns in das erste aufgebaute Zelt, und es gelang mir, einige Stunden im Knattern der Zeltleinwand zu schlafen. Am Morgen des nächsten Tages führte uns Enhamor zum Eingang des Eislabyrinths. Der lange, eisige Albtraum begann. Wir hatten die Sohlen unserer Stiefel mit einem zähen Leim bestrichen und waren in eine Schüssel voll Korund getreten. Anschließend trockneten und härteten wir den Kleber am Expeditionsofen. Enhamor und Tamiljon suchten die Ausrüstungsgegenstände zusammen und achteten darauf, dass
Hans Kneifel ihre Brüder nichts vergaßen. »Der Eingang war damals offen«, sagte Enhamor zu mir. »Inzwischen hat sich das Eis bewegt. Die Eisgruft aber ist unverändert unterhalb der Kuppel.« Ich nickte und dachte an die Skizzen und Beschreibungen, die wir nachts im Zelt genau angeschaut hatten. Woran sich die Überlebenden damals erinnert hatten, war von den Ordensbrüdern interpretiert und analysiert worden. Aber wie Enhamor richtig vermutet hatte, konnten wir uns auf keine Einzelheiten verlassen. »Die Gruft soll die Gestalt einer modernen Stadt haben«, meinte ich. »Sie kann nicht sehr groß und nicht hoch sein. Aber das ist für uns jetzt unwichtig. Gehen wir los?« »Ich führe euch, so gut ich kann.« Er setzte sich an die Spitze und ging auf einen senkrechten Riss im Eis zu. Zunächst passierten wir hintereinander die zwei Meter breite Öffnung. Über eine Treppe aus Eisschollen, deren Stufen abenteuerlich verkantet waren, gelangten wir um etwa zwanzig Meter in einer halben Spirale tiefer. Wir betraten ein Reich aus milchigem Eis, das schwach leuchtete. In dem Eispanzer konnten wir die gegeneinander wirkenden Kräfte spüren und hören. Der Spalt verengte sich zu einer Röhre, die sich bog und krümmte; irgendwann von der Hitze geschmolzen, verformt und geglättet. Der natürliche Korridor verengte sich, erweiterte sich zu kleinen Eisdomen und schloss sich wieder zu engen Spalten, durch die wir uns gerade noch zwängen konnten. Dabei änderte dieser Eisschlauch alle zwei Dutzend Schritte seine Richtung und führte abwärts. Plötzlich riss er ab, und wir mussten durch eine Gletscherspalte hinunterklettern. Zehn Schritte nach dem Eingang hatten die Geräusche und der Druck auf unser Bewusstsein angefangen. Ununterbrochen hallten Geräusche durch die Eismasse, die alles andere als kompakt war: ein bedrohliches Knistern, polterndes Krachen, knarrende und
Die Eisgruft schleifende Geräusche, die von Bewegungen zeugten, die uns einschließen und zerquetschen konnten. Dann wieder schien vor oder hinter uns ein riesiges Wesen in höchster Not zu kreischen und zu wimmern. Dazu kam die paranormale Beeinflussung. An manchen Eiswänden sahen wir die verblassten Reste von Farbmarkierungen. Pfeile wiesen uns den Weg. Die Brüder drängten sich aneinander und verfielen in Trance. Die Pausen zwischen diesen Unterbrechungen wurden kürzer, je tiefer wir uns durch dieses Labyrinth quälten. Selbst mein Monoschirm vermochte nur einen Teil des Drucks in meinem Schädel abzubauen oder zu neutralisieren. Und der Rauch, der von den Fackelflammen aufstieg, wurde betäubend wie ein seltenes Narkotikum. Wir verloren jegliches Zeitgefühl. Nach einer kleinen Ewigkeit stellte Enhamor seinen zischenden Handscheinwerfer auf einer abgeplatteten Eissäule ab und setzte sich daneben. »Ich brauche eine Pause«, sagte er. »Ich bin völlig außer Atem.« »Dir geht es wie uns allen«, sagte Acazar Cateireo, dessen Zähigkeit mir von Tag zu Tag mehr Bewunderung abnötigte. Er nahm umständlich Platz neben mir und ergänzte in ehrfürchtigem Ton, mit Pausen der Erschöpfung zwischen den Worten: »Sieh dir das Wunder an! Wie mag es erst in der Gruft sein?« Inzwischen wusste ich, dass in seinem Lederbehälter, den er seit Verlassen der Ordensburg Malenke mit sich schleppte, eine unbestimmte Zahl Kristallstäbe steckte. Wir hatten eine Eishöhle betreten, deren zerklüftete Decke kaum weniger als vierzig Meter weit entfernt war. Von den Rändern wild gezackter Spalten hingen weiße Stalaktiten in allen Größen und Formen. Der Boden war ebenso unregelmäßig von Stalagmiten bedeckt, die auf Stufen, Säulen, Simsen und Absätzen gewachsen waren. Das milchige Schimmern des Eises, die tanzenden Strahlen und Lichter der Eindringlinge schufen
43 albtraumhafte Scheinbewegungen in der Naturhalle. Die Wände verschluckten jeden Laut. Niemand sprach es aus, aber alle verhielten sich so, als lauere tödliches Grauen hinter jeder Wand und Säule. Majaan Orvin, der Akone, winkte Tamiljon, der hinter einer wellenförmigen Eiswand hervorkam und seinen Eispickel hob. »Hinter dem Eiszapfenzaun ist eine Lücke«, rief er. »Wollen wir weiter?« »Ja«, sagte Tamiljon entschlossen. »Wenn wir die Gruft erreicht haben, ist alles etwas leichter. Auf! Weiter, Brüder!« Für unbestimmte Zeit – wahrscheinlich dauerte die Unterbrechung nur ein paar Minuten – versiegte der Druck der Parastrahlung. Wir rafften uns auf und folgten Tamiljon und Enhamor, die zwischen den Zäunen und Zackenmauern der Stalagmiten hindurch zum gegenüberliegenden Ende der Halle gingen. Als ich mich etwa in der Mitte des Eisdoms befand und umschaute, verstärkte sich das Knarren, das durch die Eismasse fuhr, und der Boden begann zu zittern. Achtung! Stalaktiten, schrillte der Extrasinn. Ich riss den Kopf in die Höhe und sah, dass einige große Stalaktiten vibrierten, hin und her schwankten und sich von der Decke lösten. Ich stieß Rusrala vor mir in den Rücken, versuchte über die spitze Barriere zu springen und sah über den Boden einen blauen Schimmer auf mich zurasen. Im selben Augenblick wurde ich zur Seite und nach vorn gerissen. Der Hagel aus Eisdolchen und riesigen Spitzen klirrte zu Boden und zerfetzte Majaan Orvin, bevor er den Akonen unter einem Berg blutiger Splitter und Zacken begrub. Sein Kristallstab wirbelte durch die Luft; jemand fing ihn auf. Die Ordensbrüder flüchteten schreiend und taumelnd nach allen Seiten. Rusrala und ich erreichten den Spalt in der Wand, wo Tamiljon stand und um sich blickte. Das Eisbeben verebbte mit lautem Klirren von der Decke; einige kleine Eisdolche lösten sich und fielen zwischen die Stalagmiten.
44 Hatte mir Tamiljon geholfen und sich als Telekinet gezeigt? Ich verneinte innerlich, denn er hatte mit dem Rücken zu mir gestanden, und dieser blaue Schimmer gehörte auch nicht zum telekinetischen Eingreifen. »Das erste Opfer der Gruft«, sagte Cateireo zitternd. »Wir graben ihn aus, wenn wir zurückgehen.« »Wenn wir zurückkommen«, murmelte Ranin Rauva. Der Überschwere raufte Eisstückchen aus seinem Bart. »Wenn …« Aber je tiefer wir eindrangen, je mehr wir uns auf abenteuerlichen Klettereien und weiterhin durch den Eispanzer vorwärts und abwärts bewegten, desto mehr wuchs unsere Überzeugung, dass hier etwas Mächtiges, unendlich Fremdes auf jeden Eindringling wartete. War dies alles Teil der Falle Sardaengars? Oder gehörte es zur Ausstrahlung Litraks? Reiß dich zusammen! Du bist fast am Ziel!, drängte der Extrasinn. Mir war, als ströme Kraft wie ein heißes Rinnsal aus meinem Körper. Ich sog eisige, trockene Luft in die Lungen und sah mich um. Zwischen wulstigen, hausgroßen Eiseinschüssen, die mehrfach geschmolzen und wieder gefroren zu sein schienen, stolperten und rutschten wir nacheinander in eine Höhle hinein, deren Decke und Wände aussahen wie geplatzte Blasen. Wir rissen unsere Haut an messerscharfen Eisgraten auf, an denen das Blut augenblicklich gefror. Hinter dicken Schichten halb transparenten Eises konnte man riesige schwarze Zacken ahnen, die wie Pfeiler für die Kuppel oder Ausleger für einen unbekannten Zweck wirkten. Wir waren tief in den Gletscher hinabgestiegen. Ich schätzte, mehr als 500 Meter. Die schwache Helligkeit genügte nicht, um unsere Handlampen und Fackeln zu ersetzen. Sie drang auch aus dem Bereich des Eises, das dick und wellenförmig den Boden bedeckte. Wir schienen den Sockel erreicht zu haben, also die Basis des strahlenden Kuppelfeldes, das knapp einen Kilometer Durchmesser aufwies. Fünf Dutzend zöger-
Hans Kneifel liche Schritte in der Phantasiewelt weiter konnten wir die eisfreie »Innenkuppel« sehen. Wir sahen in Wirklichkeit nur einen Teil davon; der Rest verschwand im Halbdunkel und würde keinen anderen Eindruck vermitteln. Die Stimme Cateireos verlor sich in der Weite der monströsen Halle. »Jetzt kennen wir die Wahrheit, Ordensbrüder! Wir sind in der Kuppel der Gruft. Endlich sind alle Prophezeiungen zur Wahrheit geworden!« Vor uns, teilweise dick von Eis überzogen, ragten Türme oder Säulen auf, mehr als hundert Meter hoch. Grausige Geräusche und hallende Stimmen, die unverständliche Worte oder Flüche raunten, erfüllten die Kuppel. Wir gingen weiter; vor uns war die Fläche ohne größere Hindernisse. Wir erkannten im Knistern und Knacken des Eises und in dessen klirrendem Widerhall vier Kugeln, deren Durchmesser etwa dreißig Meter betrug, übereinander geschichtet wie mächtige Geschosse vor uns. Sie waren ebenfalls dick eisverkrustet, aber als wir uns näher heranwagten, sahen wir, dass sie an einigen Stellen von dunkelbraunen Flecken überzogen waren wie von Moos oder krebsartigen Wucherungen. Wir duckten uns unter den Lauten und Stimmen, die wir nicht deuten konnten. Sie erfüllten die Ordensbrüder und selbst mich mit Furcht. Nichts regte sich, niemand außer uns war zu sehen, die Schallquellen blieben versteckt. Abermals, nach einigen Dutzend mühsamen Schritten, stieg der eisbedeckte Boden an. Enhamor führte uns über den messingfarbenen Belag auf einen Turm zu, der sich ungefähr in der Mitte erhob, unter dem Scheitelpunkt der Kuppel. Die Parastrahlung erzeugte stechende Schmerzen in den Schläfen und hinter der Stirn. Mit zitternder Stimme, den Ausdruck innerer Qualen im Gesicht, sagte Enhamor zu uns: »Wir denken und glauben, dass die Gruft tief in der Mitte der Strahlenden Kuppel liegt.« Wir quälten uns weiter und bestaunten trotz der Schmerzen und der Angst einflö-
Die Eisgruft ßenden Einflüsse die vier zwiebelförmigen Kuppeln, die aus dem Eispanzer aufragten, im Viereck angeordnet und jeweils ungefähr hundert Meter dick. Sie schienen aus einem porzellanartigen Material zu bestehen und waren ebenfalls von dicken Wucherungen überzogen. Die messingfarbene Schicht schien eine Art Schwamm zu sein, der sich trotz der Kälte in dieser unfassbaren Umgebung ausgebreitet hatte. Wieder wallte eine Woge des Gedanken mordenden Einflusses über uns herein; schlagartig verfielen die Ordensbrüder in Starre und Trance. Jeder umklammerte seinen Nachbarn. Als ich die Kuppel vor mir halb umrundet hatte, blendete mich ein blauweißes Licht. Ich wandte mich taumelnd um und wartete auf meine Gefährten. Zwei von ihnen wälzten sich zuckend auf dem Eis. Im Zentrum der Anlage erhob sich bis etwa zur Hälfte der Kuppelhöhe ein vieleckiger Turm. Auf ihm thronte eine Kuppel aus filigranen Glaselementen, hinter denen ein unbedeutender roter Lichtschein brannte wie ein erkaltendes Feuer. Das kalte, bleiche Licht brandete vor uns am Boden auf. Eine Silbersäule lehnte an dem Turm, zwei dieser Säulen sah ich in einiger Entfernung; wahrscheinlich bildeten ihre Positionen ein gleichschenkliges Dreieck. In dessen Zentrum befand sich allem Anschein nach die kraftvolle, irregulär strahlende Lichtquelle. Hinter mir rafften sich die Brüder auf. Sie dachten sicherlich das Gleiche wie ich: eine leere stadtähnliche Anlage, verlassen, erfüllt von geheimnisvoll drohenden Relikten, die sich auf immaterielle Art gegen jeden Eindringling wandten. Die Ordensbrüder drangen nicht mehr hintereinander in die Untereisstadt ein. Seit wir im Bereich des Lichts waren, hatten wir uns verteilt und untersuchten, auf den Mittelpunkt zukletternd, die Anlage. Die Gestalten der Gefährten warfen Schatten in alle Richtungen; Licht blitzte auf Eisflächen oder wurde von dem rostartigen Bläschen-Belag verschluckt. Die Kopfschmerzen hämmerten in wildem Takt, der vom Puls unab-
45 hängig war. So weit war noch keine Expedition vorgestoßen. Als ich nicht mehr klar denken konnte, setzte ich mich auf einen riesigen Eissplitter und wartete darauf, dass mein Aktivatorchip mich wiederherstellte. Wir streiften durch die gut erhaltenen Ruinen einer versunkenen Kultur. Ohne recht zu begreifen, was ich sah, glitten meine Blicke über den bläulichen Schimmer der Eisflächen und den messingmetallischen Glanz, an manchen Gebäuden, über die Wucherungen aus einer möglicherweise organischen Substanz, die wie eine kriechende Seuche Litraks Grabmal zu erobern schienen. Am Ende meiner Kräfte, murmelte ich vor mich hin: »Dieses Zeug … es wird die Stadt … verändern, zerfressen … irgendwann zerstört haben …« Die silbernen Säulen glänzten, die Bilder verschwammen vor den Augen. Wieder brach ein Ordensbruder zusammen. Ein Expeditionsbericht hatte als letzten Eindruck eines Sterbenden das Licht erwähnt, das – angeblich – Litraks Grabmal kennzeichnete. Der psychische Druck ließ nach, ich konnte wieder einigermaßen klar denken und war fast sicher, dass nur ein schneller Rückzug uns das Leben retten konnte. Der Logiksektor rief mich zur Ordnung: Jetzt darfst du nicht mehr aufgeben, Dagorista! Millimeter vor dem Ziel! Der Wahnsinn hatte mich noch verschont. Die Ausstrahlung der Wesenheit, die uns töten wollte, ließ nach. Plötzlich dachte ich daran, dass jenseits einer bestimmten Grenze – die wir nicht kannten – die Parastrahlung aufhören würde. Zumindest würde sie uns nichts mehr anhaben können. Ich holte Luft und rief: »Es geht wieder. Weiter, Brüder! Wir dringen zum Licht vor!« Wir sammelten uns. Das Klügste war wohl, den Vorstoß zu unterbrechen. Wir mussten schlafen, essen und trinken. Vielleicht würde uns dieses Vorgehen das Leben retten; einen Toten hatte die Bruderschaft schon zu beklagen. Meine innere Uhr sagte mir, dass außerhalb dieser kalten Hölle tiefe
46 Nacht oder sehr früher Morgen herrschte. »Oder sollen wir besser rasten?«, fragte Cateireo. Er wirkte wie ein wandelnder Sterbender. Enhamor musterte die Gefährten. Rusrala stützte sich schwer auf seinen Kristallstab und murmelte: »Ich kann nicht mehr weiter.« Selbst Lebriina, der relativ junge Springerabkömmling, wirkte zu Tode erschöpft, ebenso wie der Überschwere Rauva. Lualayn Varra stieß mich an und knurrte: »Hilf ihnen bei der Entscheidung, Atlan.« »Also«, sagte ich. »Wir rasten ein paar Stunden. Im Augenblick hat sich die Strahlung abgeschwächt. Nutzen wir die Gelegenheit.« Die kalte, bläuliche Lichtquelle, angeblich das Ziel aller Strapazen, war ungefähr fünfhundert große Schritte entfernt. Wir bildeten einen Kreis, ließen die Ausrüstung auf das dünne Eis nahe dem achteckigen Zentrumsturm fallen und unterbrachen unser Vordringen. Einige Gefährten schliefen ein, wo sie zusammengebrochen waren; andere besaßen noch so viel Kraft, um Vorräte auszupacken und den kleinen Expeditionsofen in Tätigkeit zu setzen. Wasser in Form von geschmolzenem Eis hatten wir in unübersehbar großen Mengen zur Verfügung. Einige Stunden schlief auch ich. Ich erinnerte mich nicht, jemals unter solchen oder ähnlichen Albträumen gelitten zu haben, trotz meines fotografischen Gedächtnisses. Die Kapuzenmäntel, die wir immerhin ein paar Mal ausgezogen hatten, stanken nach feuchtem Schweiß. Ihre Säume waren ausgefranst, an vielen Stellen war der Stoff zerrissen. Stiefel und Kleidung, hundertmal bis auf die Haut durchnässt und ebenso oft mühsam getrocknet, begannen sich stellenweise aufzulösen. Der Stoff zeigte Flecken aller Größen und in einigen unappetitlichen Farben. Erschöpfung zeichnete die Gesichter der Männer. Ihre Augen flackerten in tiefen Höhlen; ausnahmslos, bei jedem, selbst dem Überschweren und den Blues. Ich hatte den Eindruck, dass sie nur noch der Glaube an
Hans Kneifel einen unmittelbar bevorstehenden Erfolg aufrecht hielt. Es gab kaum Klagen. Meist hörte ich Sätze, die ich nur als Teile inbrünstiger Gebete deuten konnte. In dieser Verfassung waren wir, ich nicht ausgenommen, als wir mühsam aufwachten und uns an den Bechern mit heißem Tee festklammerten. Der letzte Akt schien unmittelbar bevorzustehen.
7. Litraks Grabmal – Atlan 27. April 1225 NGZ Es wäre unglaubhaft, wenn ich mich nicht an ähnliche Situationen, gleichartige Gruppierungen und ebensolche Zwangssituationen erinnern würde. Die Kristallstabträger und Litraks Hüter, die Großmeister und Angehörigen des Inneren Zirkels und jene »gewöhnlichen« Ordensbrüder waren zu bewundern. Vom Objekt ihres Glaubens waren sie bis in die Haarwurzeln überzeugt. Ihr Glaube ersetzte jeden anderen Lebenssinn und speiste ihre Ausdauer auf wundermäßige Weise. Der Älteste schien der Zäheste zu sein. Alle, die ich bisher kennen gelernt hatte, waren kaum weniger diszipliniert als arkonidische Elite-Raumsoldaten, trotz der höchst unterschiedlichen kosmischen Herkunft. Humanoide, Überschwere, Arkoniden und Akonen – selbst Blues unterzogen sich unvorstellbaren Strapazen. Mir schien sogar, dass die Lösung von Litraks Geheimnissen weniger wichtig schien als die gesamte Verantwortung für ihre Welt. Darüber hinaus waren sie hoch begabte Techniker, Naturwissenschaftler und Handwerker. Ich war seit kurzer Zeit einer der Ihren und fühlte mich keineswegs hervorgehoben. Trotz meiner eigenen, überlebenswichtigen Ziele. Solcherlei Überlegungen schossen mir durch den Sinn, als ich erschöpft aus dem Schlaf aufwachte und schweigend, mit verklebten Augen, den gewohnt heißen Expeditionstee trank, dessen vielfältige Inhaltsstof-
Die Eisgruft fe ein ausreichendes Sättigkeitsgefühl vermittelten. Wir hoben die wichtigsten Ausrüstungsteile auf, sprachen uns gegenseitig Mut zu und gingen auf das grelle Licht im Zentrum der Anlage zu. Zufällig hämmerte die Parastrahlung in dieser Stunde nicht auf unsere Hirne ein. Das zuckende bläulich weiße Licht, fast ähnlich der Cerenkov-Strahlung, machte den Gebrauch von Fackeln überflüssig … Es kam aus einer runden Ruine, einem zwanzig Meter hohen Kegelstumpf am Fuß des zentralen Turms, der, wie ich jetzt sah, achteckig war und tatsächlich den Mittelpunkt jenes Silbersäulen-Dreiecks bildete. Die leuchtende Öffnung, an die vierzig Meter im Durchmesser, ähnelte derjenigen eines exotischen vulkanischen Kraters. Der zerfurchte Kegelstumpf und die Wände seiner Lücken waren derart von den braunen, harten Schaumfladen überwuchert, dass wir glaubten, er bestünde zur Gänze daraus. Wir näherten uns dem runden Ding von allen Seiten; am hoch liegenden Rand des Kraters wogte und flackerte das Licht hin und her, berührte die Wucherungen, ohne sie zu versengen. Ich sah, dass die braune Kriechpest auf amöbenartige Weise versuchte, über die Kante ins Innere des Kraters zu kriechen, aber offensichtlich von dem Leuchten zurückgetrieben wurde. Es blieb gleichmäßig kalt. Das grelle Licht verströmte, was ich erwartet hatte, keine Hitze, nicht einmal fühlbare Wärme. Ich drehte mich um, erkannte unter der verklebten Kapuze Großmeister Sanfei Zianil, den Humanoiden, und sagte: »Gib mir deine Axt, Bruder im Eise.« Er zerrte sie zwischen den gekreuzten Brustgurten hervor. Ich packte den Stiel mit beiden Händen, holte weit aus und drosch in einer schmalen Lücke des halb eisbedeckten Kegelstumpfs auf die braunen Wucherungen ein. Sie zerbarsten, als bestünden sie aus Hartschaum oder Pappe. Brocken, Fetzen und krümelige Teile flogen nach allen Seiten. Nach einem
47 Dutzend Hieben stellte ich fest, dass die Wucherung bis tief in den Boden reichte. Er bestand aus Metall. Ich schlug zu, stocherte und scharrte; der Metallboden war weich und spröde. Er schien von der braunen Schaummaterie angegriffen, aufgeweicht und in den Zerfallszustand der Kruste umgewandelt worden zu sein. Ich erweiterte mit zwei Dutzend Hieben den Spalt und trat dann zurück. »Ihr müsst weitermachen«, sagte ich. »Aber berührt dieses braune Zeug nicht.« Drei Brüder vergrößerten im Lauf von einer halben Stunde den Spalt zu einer Öffnung, die so breit war, dass wir paarweise durchschreiten konnten. Trotz der scheinbaren Dicke und Stabilität zerbarst der Kegelstumpf an beiden Schnittkanten. Durch die Öffnung drang mehr und mehr Licht und beleuchtete unsere Tätigkeit. Die Brüder wechselten sich ab und schlugen gebührend breite Öffnungen in die Wandung. Wut und Erleichterung lagen in den Hieben. Plötzlich löste sich ein wuchtiger Block, krachte herunter und erschlug den Blue Limmor Revoon. Das Gewicht zermalmte ihn. Wir stürzten auf ihn zu, aber Eclanars kreischender Schrei warnte uns und ließ uns zurückschrecken. Er bückte sich blitzschnell und brachte Revoons Kristallstab in Sicherheit. »Nein! Nicht! Es zerfrisst ihn …!« Entsetzt mussten wir zusahen, wie Teile der braunen Schwammpilzpest von allen Seiten auf seine Überreste zukrochen, als wären sie selbständig und von rasendem Hunger gepeinigt. Seine zuckenden Finger wurden von dem Zeug überwuchert und zu brodelnd-schäumenden Plasmafladen umgewandelt. Bei einem der nächsten Axthiebe wirbelte ein doppelt handgroßes Stück durch die Luft, fiel auf meinen Handrücken und blieb liegen. Es zuckte in die Höhe und sprang von meiner Haut fort. Ritteraura oder Zellaktivator?, rätselte der Extrasinn. Ich beendete die Bewegung, als es schon zu spät war. Nicht ein Körnchen dieser Masse haftete an der Haut meiner Hand.
48 Die meisten der Gefährten, die sich zwischen krachenden Axthieben aufmunternde Worte zuriefen, hatten nichts bemerkt, denn die beiden Breschen waren inzwischen so breit, dass wir in den von zitterndem blauweißem Licht erfüllten Rundbezirk eindringen konnten. Ich war einer der beiden Waghalsigsten. »Hindurch und hinunter«, knurrte ich wütend. Tamiljon und ich schoben uns durch die Lücke und schlossen geblendet die Augen. Als wir mehr von der Umgebung erkennen konnten, war ich zunächst enttäuscht. Ich hatte mehr erwartet oder jedenfalls etwas anderes. »Kristallschauer!«, stellte Tamiljon fest. »Ist das tatsächlich die Gruft?« Hinter uns drängten sich die Weggefährten aufgeregt ins Innere des Kegelstumpfes. Die schreckenerregenden Geräusche und die unübersetzbaren Worte und Schreie fremder Stimmen erschienen hier stark gedämpft. Vor mir sah ich eine Ansammlung winziger Kristalle, die sich wie ein Schneesturm bewegten und durcheinander wirbelten; eine lautlose Wolke von etwa zehn Metern Durchmesser, deren Form sich ständig veränderte. »Ich sage euch, das ist Litraks Gruft!«, rief Cateireo. »Tretet zur Seite!« Im kalten Licht flirrten, blitzten und funkelten die unzähligen Kristalle. Ich ging näher heran und streckte meinen Arm aus. Noch ein paar Handbreit, und ich würde die Kristallwolke berühren können. Außer Kristallen vermochte ich nichts anderes zu erkennen, allerdings hatten sie nichts mit Eis oder Schnee zu tun. Tamiljon legte seine Hand auf meine Schulter. Er sagte beschwörend: »Geh zur Seite, Atlan. Gefährde unser Ritual nicht.« »Wartet noch«, bat ich. »Das kann nicht alles sein …« Tamiljon warf mir einen verblüfften Blick zu und winkte dann kurz seinen Ordensbrüdern. Vier Männer packten meine Arme und zogen mich einige Schritte weit zurück.
Hans Kneifel Ich wehrte mich nicht, trotzdem hielten sie mich fest. Acazar Cateireo schlug seine Kapuze zurück und rief: »Vier Dutzend Expeditionen unseres Ordens sind im Lauf der Zeiten gescheitert!« Ich runzelte die Stirn; zum ersten Mal erfuhr ich die genaue Anzahl der Versuche. Ich sah, dass Cateireo den länglichen Lederbehälter nicht mehr trug. Alle anderen Brüder, die sich in die Nähe des Kristallwirbels drängten, hoben die Arme. Cateireo, der sein Kästchen umklammert hielt, blickte mir lange in die Augen. Seine Stimme bewies, dass er keinen Widerspruch duldete. »Wir haben dem Druck in unseren Köpfen widerstanden. Viele Brüder sind schon daran gestorben, bevor wir überhaupt den Casoreen-Gletscher betreten konnten. Furchtbare Wildnis des Eises haben wir bezwungen. In der Kälte, in Schneestürmen und weißen Blizzards gingen viele Ordensbrüder zugrunde.« Enhamor schob sich an seine Seite und zog die Handschuhe aus. Er begann, am Knauf seines Kristallstabs zu drehen und zu nesteln. Cateireos Stimme wurde schriller und durchdringender. »Wir haben jenes Unheimliche, Tödliche besiegt, das hier in der Eisgruft lebt und schließlich Hunderte von Opfern gefordert hat. Endlich sind wir am Ziel – und deshalb, Atlan, darfst du unser Ritual nicht gefährden. Denn es wird alles entscheiden!« »Nur zu«, sagte ich, ging einige Schritte rückwärts und entspannte meine Muskeln. Die Brüder ließen mich schließlich los. Cateireo und Enhamor begaben sich zu Tamiljon. Ihre Gesichter waren aschgrau. Die Männer stimmten laute Sprechgesänge an. Beschwörungen und Lobpreisungen. Nach und nach fielen die anderen Brüder in den Gesang ein, und schließlich, einige Atemzüge später, ertönten laute Klänge, die vom »Untoten Gott« sprachen. Die lautlosen Wirbel der Kristallwolke verschluckten die liturgischen Anrufungen ebenso unbeein-
Die Eisgruft druckt, wie sie die ersten Kristallstäbe aufsogen, die von den Brüdern mitgeschleppt worden waren. Nach und nach warfen sie Kristalle in den Wirbel; ihre eigenen Stäbe und die Splitter eines anderen, der aus dem Stab eines Toten stammte. Auch jene Kristalle, die aus den Stäben herausgeschraubt oder -gebrochen worden waren, und die aus Malenke. Die Brüder hatten freiwillig darauf verzichtet. Cateireo hob, während er sang und den Kopf wiegte, seine Truhe und öffnete sie. Wie ich vermutet hatte, befanden sich darin viele »Mondsplitter«, also die kleinen zylindrischen Kristallstücke zahlreicher Stäbe von den Leichen der Wächter. Während die Sprechgesänge den Gott beschworen, warf Cateireo auch diese Stücke in den Wirbel. Schließlich verschluckte der Wirbel das letzte Kristallstückchen. Die Ordensleute und ich warteten; der Gesang brach ab zu einem unwesentlichen Murmeln. Doch nichts geschah – keine Reaktion. Der Wirbel veränderte sich nicht. Keines der Teile in der Umgebung änderte sein Aussehen. Ich konnte mich nicht beherrschen. Ich wollte mich auch nicht beherrschen. Schallend begann ich zu lachen. Alle Ordensbrüder, besonders Tamiljon, Enhamor und Cateireo, standen in schweigender, tiefer Betroffenheit da und starrten den Kristallwirbel an. Abwechselnd musterten sie mich, als hätte ich sie gerade mit einer unheilbaren Krankheit angesteckt. Ich lachte zwar, war aber ebenso enttäuscht, denn der gesamte Aufwand schien vergeblich gewesen zu sein. Unzählige Jahre der aufwendigen Planung waren umsonst gewesen, eine große Zahl der bedingungslos gläubigen Brüder war elend umgekommen. Sollte das alles vergeblich gewesen sein? Alle Hoffnung des Ordens war angesichts dieser Vorgänge vergeblich, zu Staub zerfallen. Ich konnte die bodenlose Enttäuschung
49 und die Verzweiflung der Ordensleute gut nachvollziehen. Auch nach Minuten des Wartens geschah nichts. Ich entschloss mich, den Grund für diesen gigantischen Misserfolg herauszufinden. Niemand hielt mich fest; ich ging zwischen Tamiljon und Enhamor hindurch zur Kristallwolke. Als ich dicht davor stand und mich einzelne Kristalle berührten, konnte ich innerhalb des blauweiß strahlenden Wirbels einen Schatten erkennen. Ein Schatten? Er sah aus wie das Symbol des Litrak-Ordens; ein schlanker zylindrischer Körper. Dann, nur für einige Augenblicke, war ich mir sicher, einen kleinen Kristallmond zu erkennen. Den Kristallmond. Und mir zuckten abermals Samkars Worte »Du wirst noch gebraucht!« durch die Gedanken; damals, als meine geliebte Li da Zoltral sterben musste. Ich wagte, halb unbewusst, einen weiteren Schritt in das wirbelnde Außenfeld der Erscheinung hinein. In der Kristallerscheinung bildete sich eine andere, spiralförmige Bewegung. Für mein Empfinden bedeutete dies, dass plötzlich ein irgendwie geartetes Leben in den Wirbel eingegriffen hatte. Mir wurde bewusst, dass ich allein nicht diese Bewegung ausgelöst haben konnte. Aber auch nicht die zusätzlichen Kristalle. Wahrscheinlich beides! Ich in Verbindung mit den vielen »Mondsplittern«. Die Kristalle und ich, mit meiner so genannten Aura! Noch während ich die enger werdende Spirale bestaunte, die sich immer schneller drehte, begannen die glitzernden Nebel und die Millionen der offensichtlich fremdgesteuerten Kristallwinzlinge eine dritte Form zu bilden. Die Ordensbrüder stöhnten vor Überraschung. Ein Lebewesen fügte sich zusammen – oder ein dreidimensionales Bildnis. Es war so perfekt naturalistisch wie ein Hochtechnik-Hologramm und so groß wie ein junger Elefant. Es schien aus Teilen vieler bekannter und unbekannter Tiere zusammengesetzt, zu denen sich Bestandteile exotischer Besucher aus fernen Bezirken des
50 Alls gesellten. Dieses Ding bewegte sich. Greifrüssel und Stoßzähne pendelten hin und her und schienen mich angreifen zu wollen. Unter einer Haut aus kristallglänzenden Schuppen bewegten sich mächtige Muskeln. Binnen weniger Sekunden zerfloss die Gestalt, und augenblicklich gruppierten sich die furchterregenden Bestandteile dieses Wesens um. Eine neue Form entstand, eine zweite Gestalt, die ich im Wechsel neu entstehender Gliedmaßen beobachtete und deren Körper ich dennoch nicht kannte. Undeutlich vernahm ich die Stimme des Logiksektors: Aus den Erinnerungen Litraks? Ich vergaß die Umgebung. Eine dritte Form kondensierte: ein schreckliches Monster mit Hauern, einem Kamm aus langen Zacken, ein Wesen, das tödliche Klugheit und Aggressivität ausstrahlte. Die Doppelreihe der Mönche stand um mich und den wuchernden, wechselnden Kristallwirbel herum. Es existierte kein Druck irgendeiner Parastrahlung mehr, die Stimmen und Geräusche schwiegen. Nur ab und zu hallte das Knisteren und Knacken des Eises durch den Kuppelraum. Die vierte Gestalt, die sich in Kristallwirbeln bildete, zerfloss nicht. Ihre Form, das Aussehen, sie waren mir nur allzu vertraut. Ich brauchte nicht in meinen Erinnerungen zu wühlen. Mein fotografisches Gedächtnis zeigte mir die Bedeutung dessen, was ich sah: einen zweieinhalb Meter großen, überschlanken Humanoiden. Die Gestalt war wohlgeformt, der Kopf glich einer kurzen Birne; ein kleines Kinn und eine rund wuchernde Schädelhülle mit zwei faustgroßen, eisig funkelnden Kristallaugen. Ein Roboter der Kosmokraten! Ein Roboter, wie Samkar einer ist. Wieder einmal Samkar, dessen Charisma selbst mich überwältigt hatte, obwohl er kein lebendiges Wesen war. Samkar mit der königlichen Gestalt und der Metallhaut aus bräunlich schimmerndem, weichem Material. Perfekt bis auf das schielende linke Auge, an
Hans Kneifel dem ich ihn unter unzähligen seiner Artgenossen erkannt hätte. Beauftragter der Kosmokraten, ausgestattet mit buchstäblich unvorstellbarer Macht. Einst Igsorian von Veylt, in der Kosmokratischen Fabrik von Erranternohre in einen Roboter umgewandelt … Ich war nicht einmal sonderlich überrascht und suchte unwillkürlich den Blick der Kristallaugen. In der allgemeinen Starre fasste mein Extrasinn zusammen, was wir soeben erlebt hatten: Die närrischen Mönche wollten, in bester Absicht, mit ihren Kristallen Litrak erwecken. Auch du allein konntest es nicht. Aber mit deiner Ritteraura, den Impulsen deines Aktivatorchips oder allem zusammen habt ihr Litrak nun erweckt. Der Samkar-Roboter stand unbeweglich da. Es gab keinen Kristallwirbel mehr, das kalte Licht blieb jedoch. Es strahlte von der Innenwand des Kegelstumpfes und von dessen Boden aus. Und in dem Augenblick, in dem ich mich fragte, was hier eigentlich vorging, flirrte die vertraute Gestalt auseinander. Wie ein Blitz zogen sich die Kristalle wieder zusammen. Der nächste Blitz blendete mich. Als ich wieder sehen konnte, stand ein riesenhafter, filigraner Körper vor mir. Er zeigte ein blau schimmerndes, fast durchsichtiges Kristallskelett und ähnelte stark einer großen Mantis, einer Gottesanbeterin. Fast viereinviertel Meter hoch, mit einem kleinen, dreieckig gerundeten Kopf, der sich jetzt drehte und mich aus großen Facettenaugen anstarrte. Die Augen des Wesens schienen alles um mich herum gleichzeitig aufzunehmen. Der auffallend lange Oberkörper und die gestreckte Vorderbrust waren scharf wie ein Schiffsbug. Langsam öffnete sich das kräftige Maul mit seinen Greif- und Beißwerkzeugen. Die Mandibeln bewegten sich in lautloser Gier. Zwei Atemzüge später … Der Körper, aus Kristallschauern entstanden, veränderte sich nicht mehr. Er blieb stabil und begann sich langsam zu bewegen, als
Die Eisgruft
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ob er eine Beute packen wollte. Es gab nur eine Beute: mich! Das obere Beinpaar war zu kräftigen Fanggliedmaßen ausgebildet, länger als bei jeder Gottesanbeterin, die ich je gesehen hatte, und an den Chitinkanten starrten lange Dornen und Zähne. Vier dünne, aber sehnige Hinterbeine mit knotigen Gelenken wuchsen aus dem stabförmigen Körper hervor. Die Hinterbeine hoben in zwei ruckhaften Bewegungen den Körper in die Höhe. Jetzt sah ich auch, dass die Flügelpaare das Hinterleibsende überragten. Sie waren unterschiedlich groß; in Ruhestellung verdeckte das vordere Paar die hinteren Flügel. Wie die wirklichen, fingerlangen Mantiden war wohl auch diese Inkarnation Litraks flugunfähig. Dennoch war der Körper weder aus Knochen, Chitin, Fleisch und Blut, sondern noch immer ein Gebilde aus Kristallstrukturen. Der Rachen öffnete sich weiter und drohender, und das Geschöpf brüllte auf. Ich brachte mich mit einem Sprung seitwärts in Sicherheit. Aus diesem Rachen hätte ich ein Zirpen oder Zischen erwartet, aber kein Gebrüll. Beide Vorderbeine zuckten so schnell, dass die Bewegung nicht nachvollziehbar war, auf die Ordensbrüder zu, wurden ebenso blitzschnell zurückgerissen, stießen ein zweites Mal zu. Die Greifklauen und einige Dornen drangen in die Körper dreier Ordensbrüder ein. Ich sah, als ich mich abrollte und hochsprang, wie Shynar Tana und Eclanar starben. Die Greifklauen und die Sägezähne rissen tiefe Wunden, aus denen zwischen Gewandfetzen das Blut hervorschoss, in die Hälse und Brustkörbe der Männer. Tarra Paarn, durch dessen Brustkorb die Klauen stießen, stand noch einige Herzschläge lang aufrecht da. Alle drei Körper waren blutüberströmt. Dann brach Eclanar mit einem unterdrückten Schrei zusammen.
Ein Dorn oder ein Kristallsplitter flog, schnell wie ein abgeschnittener Lichtstrahl, durch die Luft und schlug seitlich in Tamiljons Hals ein. Tamiljon brüllte wütend und schmerzerfüllt auf, griff sich an den Hals und schlug zu Boden. Blut lief über seine Schulter und das Schlüsselbein. »Ich lebe!«, schrie das Wesen. Die Worte stammten aus jener Vorläufersprache der Mächtigen. Der stabförmige Körper schwankte zuckend auf und nieder, als sich das Wesen halb herumdrehte und mit angewinkelten blutigen Vordergliedern auf mich zustapfte. Diesmal bewegte sich ein Arm langsam aufwärts und holte zu einem Schlag oder Hieb aus. Das Wesen wollte mich töten! Ich sah mich nach einem Werkzeug um und wusste, dass hier in Litraks Gruft die Dinge völlig falsch gelaufen waren. Litrak war wahnsinnig geworden. In der Gruft begannen die überlebenden Brüder des Ordens zu beten. Einige versuchten den Bannkreis zu verlassen. Die reglosen Körper auf dem strahlenden Boden der Gruft verströmten ihr Blut. Ich glaubte mein Abbild in jeder einzelnen Facette der riesigen Augen zu sehen; eine tausendfache Spiegelung. Der Vorderarm Litraks begann unter der Muskelanspannung zu zittern. Die Bewegung der Riesenmantis, die mich umbringen wollte, würde zu schnell für unsere Augen sein. Aussichtslos. Das Ende!, kreischte der Extrasinn. Es war zu spät. Meine Dagor-Reflexe schafften es nicht. Es war zu spät, um dem tödlichen Hieb auszuweichen …
ENDE
Ob Atlan, der unsterbliche Arkonide, diesen Angriff überleben wird, schildert Michael
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Hans Kneifel
Marcus Thurner in seinem Roman SARDAENGARS BOTSCHAFT Band sieben dieser zwölfbändigen Miniserie erscheint in zwei Wochen überall im Zeitschriftenhandel.