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DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Pfeiffer, Hans Die eine Seite des Dreiecks
Kriminalro...
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DIE-Reihe, Kriminalromane Delikte, Indizien, Ermittlungen Pfeiffer, Hans Die eine Seite des Dreiecks
Kriminalroman
Auch nach dem zweiten unerklärlichen Todesfall in der chirurgischen Abteilung eines erzgebirgischen Kreiskrankenhauses ahnte noch niemand, daß weitere ebenso rätselhafte Todesfälle folgen sollten. Oberarzt Dr. Wittig, der Operateur, fragt sich verzweifelt, welchen Kunstfehler er begangen haben könnte. Dann stellt sich heraus, daß die Toten heimtückischen Mordanschlägen zum Opfer gefallen sind. Major Ellrodt und Leutnant Kant gelingt erst nach manchem Irrweg der Ermittlung die Aufklärung dieses Verbrechens.
Hans Pfeiffer
Die eine Seite des Dreiecks
Verlag Das Neue Berlin
VORBEMERKUNG DES AUTORS
Auch nach dem zweiten unerwarteten Todesfall in der chirurgischen Abteilung ahnte ich noch nicht, daß ich mich bereits inmitten eines mit tödlicher Präzision fortschreitenden Massakers befand. Ich war rein zufällig in die Geschehnisse geraten, wie ein Beobachter, der am Straßenrand den Amoklauf eines Mörders mit ansieht. Zufällig hätte ich auch eines seiner Opfer werden können, ebenso zufällig blieb ich verschont. Als Beobachter, genauer gesagt, als Patient in jener Klinik, die zum Schauplatz des Verbrechens geworden war, konnte ich damals die Ereignisse nicht in ihrem Zusammenhang übersehen. Niemand konnte das. Sonst hätte es nicht noch weitere Morde gegeben. Das Geschehen zeigte sich mir nur bruchstückhaft. Kriminalpolizisten liefen unter uns herum, die Ärzte zeigten sich besonders schweigsam, die Schwestern verstört, die Pfleger von übertriebener Sorglosigkeit. Je weniger wir von den Dingen wußten, desto mehr monströse Gerüchte gebar die Phantasie. Allerdings sollte sich später herausstellen, daß die Wirklichkeit unsere Vermutungen noch weit übertroffen hatte. Was ich in jenen Tagen als Gewirr unerklärlicher Vorgänge erlebte, versuche ich heute, ein Vierteljahrhundert später, zusammenhängend zu berichten. Bei dem folgenden Bericht halfen mir die Erinnerungen und Aufzeichnungen der Menschen, die mehr oder weniger eng in diesen Fall verwickelt waren. Sicher ist 6
ihr Gedächtnis nicht lückenlos, nicht jedes Geschehnis mehr mit letzter Genauigkeit nachvollziehbar, am wenigsten die Gefühle und Affekte, die sie damals bewegten. Wo sich Lücken ergaben, füllte meine Phantasie sie aus, ohne den Bereich des Wahrscheinlichen zu verlassen. Namen und Schauplatz sind aus begreiflichen Gründen verändert. Ich kann aber versichern, daß diese Dinge sich wirklich ereignet haben. Vielleicht löst es Bestürzung aus, daß sich ein solcher Kriminalfall in einer Klinik unseres Landes, wenn auch in der Mitte der 50er Jahre, zugetragen hat. Die Lebensumstände waren damals, ein Jahrzehnt nach dem Kriege, anders als heute. Man darf sie nicht außer acht lassen, wenn man das Geschehen verstehen will.
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Mittwoch, 1. Juni 1955, 21 Uhr 1 Wir könnten uns ganz geruhsam in die Szenerie hineinbegeben, wie eine Filmkamera, die zuerst den Ort des Geschehens in seiner Totale zeigt: den wolkenlosen Sommerhimmel, den der Abend schon ins Smaragdgrüne übergehen läßt. Die bewaldeten Berge, die dunkler und dunkler werden. Die Stadt Vorberg im Tal mit ihren tristen Schieferdächern. Dünne steile Rauchfäden, aus Schornsteinen steigend. Dann die Vogelbergstraße, die sich von der Stadt löst und die Hügel emporwindet. Und schließlich das Haus Vogelbergstraße Nr. 47. Wir könnten im Vorgarten verweilen, bei den Hortensiensträuchern und dem Gerank der Clematis, könnten dann eingehend die Villa beschreiben, mit ihren Säulen, Schnörkeln, Rosetten aus der Jugendzeit des Jahrhunderts, schwenkten dann hoch zu zwei Fenstern im ersten Stock und würden intimer Zeuge der Vorgänge hinter den Scheiben. Sparen wir uns lyrische Schwelgereien, bleiben wir so genau wie möglich. Wir befinden uns in der erzgebirgischen Stadt Vorberg, 18 400 Einwohner, 462 Meter ü. M. Die Stadt hat einen Namen durch ihre Teppichweberei. Es gibt ein Werk für Maschinenbau. Auch Skiausrüstungen werden hier hergestellt und Musikinstrumente. 8
Der Dom weist einen Flügelaltar aus dem 14. Jahrhundert auf. Das Heimatmuseum besitzt eine Stube, die das Leben aus der Zeit des Bauernkrieges darstellt, zwei weitere Räume zeigen die Entwicklung des Bergbaus, ein Zimmer ist der Arbeiterbewegung gewidmet. Unter einer Vitrine liegt die Fotokopie eines Briefes von Engels an die hier ansässigen Arbeiter. Am Rathaus befindet sich eine Gedenktafel für Wilhelm Liebknecht. Das Kopfsteinpflaster weicht immer mehr asphaltierten Straßen. Das Hotel auf dem Marktplatz läßt in verwitterten Goldbuchstaben noch den alten Namen erkennen: ‚Zur Deutschen Eiche‘. Es ist Mittwoch, der 1. Juni 1955. Hinter den zwei Fenstern im ersten Stock Vogelbergstraße 47 geht Alltägliches vor. Der Bewohner dieses Zimmers bereitet sich sein Abendessen. Womit wir bereits bei der Schlüsselfigur des Falles wären, bei Dr. Hans Wittig, Oberarzt in der Chirurgischen Abteilung des Kreiskrankenhauses Vorberg. Er schneidet einige Scheiben Brot, stellt die Butterdose auf den Tisch und holt aus dem Schrank die Kostbarkeit dieses Tages, eine hausschlachtene Leberwurst. Ein Neubauer, den Wittig von seinen Blasensteinen befreite, hat sie ihm verehrt. Dr. Wittig kratzt die Butter nur dünn aufs Brot, doch mit der Wurst geht er verschwenderisch um. Er kann es sich leisten, Patienten stecken ihm öfter etwas zu. Wollte er mit seinen Lebensmittelkarten haushalten, müßte die Wurst mindestens eine Woche reichen. Wittig gießt sich ein Glas Rotwein ein und setzt sich an den Tisch. Fast zärtlich streicht er die Wurstmasse aufs Brot. Seine scharf gebogene Nase – Erbe eines bayrischen Vorfahren – nimmt Witterung auf: Der Majoran erinnert an ländliche Sommertage, an die Schulferien bei den Großeltern. 9
Wittig zieht sich die Zeitung heran. Beim Umblättern überfliegt er die Traueranzeigen. Er entdeckt einen bekannten Namen: Bernhard Rothkegel. Er seufzt und liest die Anzeige Wort für Wort.
Unfaßbar! Nach kurzer Krankheit ist mein geliebter Mann, unser lieber, treusorgender Vati, der Ingenieur
Bernhard Rothkegel im Alter von 42 Jahren für immer von uns gegangen. In tiefer Trauer Erika Rothkegel Rolf Rothkegel Bernd Rothkegel Dr. Wittig schiebt den Teller, auf dem noch eine Wurstschnitte liegt, von sich. Er gießt Rotwein nach, trinkt einige Schlucke, blickt wieder auf die Todesanzeige, als könnten ihm die formelhaft erstarrten Worte das Rätsel dieses Todesfalls enthüllen, Rothkegel war vor fünf Tagen mit akuter Blinddarmentzündung auf die Chirurgische Station eingeliefert worden. Wittig hatte sofort operiert. Die Appendektomie erfolgte ohne Komplikation. Er hatte weder Anzeichen eines Durchbruchs noch einer Vereiterung feststellen können. Da die Entzündung noch nicht aufs Bauchfell übergegriffen hatte, verlief die Operation normal. Desto überraschender deshalb die rapide Verschlechterung im Allgemeinbefinden des Patienten 10
zwei Tage nach der Operation. Rothkegel klagte über immer heftigere Schmerzen im Bauch, erbrach in immer kürzeren Abständen; schließlich kamen Wadenkrämpfe dazu. Besonders irritierend war für Wittig, daß der Patient fieberfrei blieb. Einen Tag später war Rothkegel tot. Der Tod des Ingenieurs traf Wittig um so mehr, als ihm kaum zwei Wochen vorher ein ähnliches Mißgeschick passiert war. Bei einem Studenten, dem eine Wanderniere Beschwerden verursachte, war die konservative Behandlung ohne Erfolg geblieben. Der Internist hatte ihm den jungen Mann überwiesen. Wittig hatte sich zum operativen Eingriff entschlossen, der darin bestand, die Wanderniere an der zwölften Rippe zu befestigen – eine verhältnismäßig harmlose Operation. Trotzdem stellten sich Tage später unerwartete Komplikationen ein, vor allem Schmerzen im Unterbauch, die sich zur Kolik steigerten. Einige Tage später war der Patient verstorben. Man kann sich vorstellen, wie Wittig damals zumute gewesen war. Zwei Tote, das kann ein fataler Zufall sein. Und dann geht es vielleicht Monate gut. Aber das zählt nicht. Es zählt allein, daß ihm innerhalb von zwei Wochen zwei Frischoperierte verstorben sind. Den Tod des Studenten hatte Wittig noch als Mißgeschick betrachtet, das jeden Chirurgen treffen kann. Rothkegels Tod aber hatte ihn so bestürzt, daß er den Chef eindringlich bat, bei der Obduktion jeglichen Kunstfehler auszuschließen. Wittig war sich keines Verschuldens bewußt, jedoch von Schuldgefühlen nicht frei – gerade weil der Vorfall so unerklärlich war. Er brauchte die Bestätigung, daß er bei Rothkegels Operation nichts versehen hatte. Und hätte er einen Fehler gemacht, würde der Fehler wenigstens das scheinbar Unerklärliche erklären. Bei der Obduktion hatte der Chef das Operationsfeld nochmals freigelegt. Aber er konnte nur bestätigen, daß 11
die Operation ordnungsgemäß durchgeführt worden war. Zwar hatte der Chef eine Schädigung der Leber und Nieren und Anzeichen für eine allgemeine Sepsis gefunden, war dem aber nicht weiter nachgegangen. Er hatte sich damit zufriedengegeben, daß kein Kunstfehler vorlag. Der Chef stand unter Zeitdruck, es war kurz vor seinem Urlaub. Die Sache war für ihn erledigt. Vielleicht war das falsch, denkt Wittig. Vielleicht hätte der Chef eine Sektion im Gerichtsmedizinischen Institut beantragen müssen. Da das aber nicht geschehen war, blieb Wittig mit seinen düstern Gedanken allein. Er grübelte und grübelte und fand keine Erklärung. Schließlich kam er auf den Verdacht, es könnte eine Narkosevergiftung eingetreten sein. Das Chloräthyl, das zur Einleitung der Äthernarkose dient, kann Leberschäden hervorrufen. Er ließ deshalb künftig das Chloräthyl weg und ersetzte es durch Evipan. So blieb auch über diesem zweiten Todesfall ein Schleier von Ungewißheit. Noch immer liegt die Zeitung aufgeschlagen da. Wieder liest Wittig das Wort: Unfaßbar! Er erinnert sich, wie fassungslos Frau Rothkegel war, als er ihr den Tod des Mannes mitteilen mußte. Er denkt an die zwei Kinder. Er sieht sie an der Grube stehen, in die der Sarg hinabgelassen wird. Unfaßbar! Dieses Wort, denkt er bitter, könnte auch er ausrufen. Nicht nur im Hinblick auf die beiden Toten, sondern auch auf seine eigene Lage. Erst vor einem halben Jahr war er hierher ans Vorberger Kreiskrankenhaus gekommen. Und ehe er sich überhaupt richtig eingelebt hatte, mußten ihm zwei solche Pannen passieren! Ein günstiger Start war das nicht gerade für ihn. Auf einen Neuen richten sich alle Blicke besonders aufmerksam. Und daß diese Blicke nicht nur eine neutral abwartende Haltung ausdrücken, wußte er auch. Der Chefarzt der Chirurgischen Abteilung, zugleich auch 12
Ärztlicher Direktor der Klinik, hatte ihn schließlich als seinen Stellvertreter hierhergeholt und – das war für niemanden ein Geheimnis – als seinen Nachfolger. Oberarzt Dr. Kowalski, der schon viel länger an der Klinik arbeitete als Wittig, mußte sich mit Recht übergangen fühlen, zurückgesetzt, brüskiert. Aber was konnte schließlich Wittig dafür, daß der Chef auf ihn große Stücke hielt und Kowalski nicht ausstehen konnte? Eine Karriere hängt nun mal ganz selten nur von der Leistung ab. Da spielen so viele unausgesprochene und unaussprechbare Dinge eine Rolle, vom Haarschnitt bis zur Führung des Skalpells oder dem Eindruck der teuren Gattin auf den Chef. Wittigs Bekanntschaft mit seinem Chef reichte bis in den Krieg zurück. Sie hatten beide über ein Jahr im gleichen Feldlazarett gearbeitet, erst in barbarischer Kälte im Winter 42 zu 43 und dann bis in den fieberheißen Sommer hinein. Sie hielten beide den Hitlerkrieg nicht nur für eine verlorene, sondern auch eine kriminelle Sache. Solche gemeinsamen Ansichten in einer konträren Umwelt verbinden, man ahnt noch gar nicht, für wie lange. Noch etwas kam hinzu: der damalige Oberstabsarzt Dr. Frieders verdankte dem damaligen Unterarzt Dr. Wittig, daß er heute nicht im Rollstuhl sein Leben verbringen mußte. An jenem Sommertag hatten sie schon stundenlang operiert. Während einer Zigarettenpause war Frieders hinausgegangen, um sich die Füße zu vertreten. Eine Viertelstunde verging, eine halbe, Frieders kam nicht wieder. Wittig machte sich auf die Suche. Er fand den Oberstabsarzt am Rande eines riesigen Sonnenblumenfeldes, mit dem Gesicht nach unten auf einem schmalen Trampelpfad liegend. Durch eine Granatsplitterverletzung am Kopf war er anscheinend ohnmächtig geworden. Aber bald erkannte Wittig, daß etwas viel Schlimmeres geschehen sein mußte. Die Wirbelsäule war verletzt, Frieders’ Beine waren gelähmt. Wittig legte erste Hand an 13
und sorgte dafür, daß Frieders sofort in ein rückwärtiges Speziallazarett kam. Dann verloren sich beide aus den Augen. Vor einem halben Jahr hatten sie sich seitdem zum ersten Mal wiedergesehen. Frieders hatte in der Fachzeitschrift eine Oberarztstelle ausgeschrieben, Wittig hatte sich gemeldet und zu seiner Überraschung festgestellt, daß Dr. Frieders Direktor dieser Klinik war. Unter diesen Umständen hatte er sich nicht lange besonnen, nach Vorberg zu kommen. Jetzt erst erfuhr Wittig, was damals im Sonnenblumenfeld mit Dr. Frieders geschehen war. Ein Granatsplitter hatte ihn am Kopf getroffen. Er war bewußtlos zu Boden gestürzt und lag nun mit dem Leib quer zum Trampelpfad. Der Fahrer eines Kübelwagens, der seinen Weg auf dem Pfad mitten durch das Sonnenblumenfeld abkürzen wollte, hielt den Mann mit dem blutverschmierten Kopf für tot und fuhr einfach über ihn hinweg. Das führte zu einer Wirbelkörperverletzung, die glücklicherweise nicht mit einer Querschnittslähmung verbunden war. Nach einem Jahr intensiver Behandlung konnte Frieders wieder laufen. Niemand merkte ihm heute mehr jene schwere Verletzung an. Aber niemand wußte auch, daß er seine Operationen oft unter ärgsten Schmerzen durchstand. So wurde dem Sechzigjährigen die Arbeit immer mehr zur Qual. Klinikdirektor wollte er noch bleiben, aber die Chefarztstelle in der Chirurgischen wollte er in andere Hände geben, am liebsten natürlich in Wittigs. Dr. Kowalski weiß das. Und Kowalski täte besser, von hier wegzugehen, statt auf bessere Zeiten zu hoffen. Doch Kollegen Kowalski halten Frau und Villa an diesem Ort fest. Und Kowalski, darüber ist sich Wittig klar, empfindet jeden Fehler Wittigs als einen Akt ausgleichender Gerechtigkeit. Natürlich würde er sich seine Schadenfreude niemals anmerken lassen, im Gegenteil, 14
er würde jede Konfrontation vermeiden, schließlich ist Wittig vielleicht sein künftiger Chef. Im Ton höchsten Bedauerns würde er sagen: „Nein, mein Lieber, was Sie aber auch für ein Pech haben, das ist ja schon nicht mehr feierlich.“ Und diesem oder jenem Kollegen würde er, Untröstlichkeit in der Stimme, zuflüstern: „Also wirklich, der arme Wittig, in seiner Haut möchte ich nicht stecken.“ Auch bei den Patienten könnte Kowalski Stimmung gegen ihn machen, es gibt da so feine Möglichkeiten. Man sagt beispielsweise verwundert: „Das hat Ihnen Kollege Wittig verordnet? Aha. Na, das ist dann schon in Ordnung.“ Und der Patient wird mißtrauisch! Kurz: Wittig fürchtet ernstlich um seine Autorität. Aber noch mehr fürchtet er sich davor, daß sein Versagen Inges Liebe zu ihm gefährden könnte. Damit sind wir bei der zweiten Hauptfigur in diesem Drama, bei der fünfundzwanzigjährigen Stationsschwester Inge Mühlner. Inge ist ein zierliches dunkelhaariges Mädchen mit einem recht blassen Gesicht, schwermütigen braunen Augen und sehr langsamen Bewegungen – als stünde sie unter dem Einfluß eines Tranquillizers. Ich als Patient hielt sie damals wohl für ein wenig träge. Wittig versicherte mir, das sei ein ganz falscher Eindruck gewesen. Ihre bedächtige Haltung wäre eher Ausdruck ihrer inneren Ruhe. Inge sei ausgeglichen, aber nie langweilig, souverän in ihrer Tätigkeit, doch nicht überheblich, sehr anschmiegsam, aber nie unterwürfig, sogar charmant, jedoch niemals aufdringlich und stets bereit gewesen, seine Persönlichkeit anzuerkennen, wenn nicht sogar anzubeten. An diesem Juniabend jedenfalls, als Wittig über Rothkegels Tod nachdenkt, ist er fest davon überzeugt, daß er gerade eine solche Frau braucht, tüchtig in ihrer Arbeit, verläßlich, sensibel und anpassungsfähig. Und daß er, nach all seinen Liebschaften und einer gescheiterten Ehe, 15
nur mit Inge leben und glücklich werden kann. Er ahnt aber auch, er darf das Bild, das sie von ihm hat, nicht beschädigen lassen. Er muß der unbekümmert zupackende Mann, der erfolgreiche Chirurg bleiben, den sie bewundert. Oder sind ihre Anhänglichkeit und Hingabe so stark, daß keine Krise ihre Liebe gefährden kann? Er weiß es nicht. Er weiß nur das eine, daß er wieder heiraten und hier in Vorberg bleiben möchte. Mit vierzig wird es schließlich Zeit, seßhaft zu werden. Denn was bisher gewesen ist – sollte das etwa schon das Leben gewesen sein? Immer nur Lakai, Popanz, Marionette, als Student, als Famulus, als Militärarzt, als Assistenzarzt. Immer nur auf den untersten Sprossen der Hierarchie gestanden, die unerträglicher ist als jede militärische Rangordnung. Die erkennt man wenigstens noch äußerlich an den Rangabzeichen. Doch die weißen Kittel täuschen eine Gleichheit vor, die es nie geben wird. Die zivile Höflichkeit ist nur der Lack über lautlosen Kämpfen, die an die Rangordnungskriege der Paviane erinnern. Dieses Selbstgespräch Wittigs klingt fast rebellisch. Kritisiert er damit nicht die ehrwürdige hierarchische Ordnung der Klinik? Aber das tut man nur so lange, wie man selber noch nicht oben steht. Hat man erst mal die nächsten Stufen erklommen, findet man diese Ordnung schon ganz passabel und eines Tages schließlich sogar höchst notwendig, denn – so sagte mir Wittig heute, Chefarzt und Obermedizinalrat Dr. Wittig – im Klinikbetrieb ginge es nun einmal nicht ohne eine sozusagen paramilitärische Disziplin. Was soll man dieser Meinung entgegensetzen? Wahrscheinlich hatte Wittig damals recht, und er hat heute recht, der scheinbare Widerspruch erklärt sich aus den unterschiedlichen Positionen auf der Leiter der Hierarchie. Hier in Vorberg erhofft er das Ende der Wanderjahre und den Beginn der „Meisterjahre“. 16
Der Meisterjahre! denkt er, welche Ironie. Am Anfang liegen zwei Tote. Er steht auf, faltet die Zeitung zusammen und entzieht die Todesanzeige Rothkegel seinem Blick. Unten im Flur schlägt die Hausglocke zweimal an. Das ist für ihn. Er geht zum Fenster. Am Gartentor steht Inge.
Donnerstag, 2. Juni, 0 Uhr 20 2 Geduld! Eingangs sind schlimme Dinge angekündigt worden, eine Reihe von Morden. Worte sind gefallen wie Massaker und Amoklauf. Ich gebe zu, daß es mir lieber wäre, nach altbewährtem Muster mitten hinein in das Schrecknis dieser Verbrechen zu steigen und die Langmut des Lesers nicht übermäßig zu beanspruchen. Aber ich versichere – auch wenn es nicht so scheint –, daß wir trotzdem schon inmitten der Ereignisse sind und daß selbst die liebesseligen Stunden dieser Nacht den Keim des Todes in sich bergen. Da ich aber im Augenblick nicht mehr sagen möchte, als die zwei Hauptpersonen selber wissen, bitte ich noch um etwas Geduld. „Ich sollte jetzt aber wirklich gehen“, flüstert Inge. „Bleib doch!“ „Aber morgen früh würde mich Frau Lindemann bestimmt sehen!“ „Na wennschon. Einmal erfährt sie es ja doch.“ „Aber Hans, wir waren uns einig, daß wir es noch eine Weile für uns behalten wollen!“ Inge ist heute zum ersten Mal in Wittigs Zimmer und hofft, es ungesehen verlassen zu können, wie sie es betreten hatte. Es war lange nach neun gewesen, als sie klingelte, und schon ziemlich dunkel. Das schwache Licht des 17
zunehmenden Mondes ließ ihr Gesicht nicht erkennen, falls Frau Lindemann, neugierig gemacht durch ihr Klingeln, nach ihr gespäht haben sollte. Das Fenster ist weit geöffnet. Die laue Luft riecht nach Lindenblüten. Allmählich klingt die Erregung ab. Beide liegen auf der Couch. Wittigs linke Hand fährt sacht über ihren Körper. „Deine goldene Hand … Du bist eine Hand“, sagt sie und lacht. „Ich bin eine Hand? Wieso?“ „Na, wir haben es doch nicht mit Menschen zu tun, sondern mit Mägen, Gallen, Blasen, Würmern. Statt des ganzen Menschen nur ein Organ. Da kann ich dich doch einfach Hand nennen, die Hand ist das Wichtigste an dir.“ „Die Hand? – Na hör mal!“ Sie gibt ihm einen Klaps. „Anzüglichkeiten überhöre ich.“ „Du unterliegst einem Denkfehler, Liebes. Wir reduzieren den Menschen auf sein krankes Organ: Niere, Darm, Bauchfell. Aber meine Hand ist ja nun wirklich nicht …“ Er bricht plötzlich ab. Sie drängt. „Ist nicht …? Nun?“ Noch fällt ihr nichts auf in diesem Augenblick. „Deine Hand, Herr Oberarzt“, sagt sie, „ist wirklich eine goldene Hand, eine Künstlerhand, eine …“ „Schon gut“, murmelt er, „laß das doch.“ Sie richtet sich auf. Das Flackerlicht der Kerze wirft Schatten über sein Gesicht. „Was hast du denn auf einmal?“ fragt sie beunruhigt. „Nichts, Inge, gar nichts.“ Sie legt sich wieder. Wittig bleibt stumm. Die Stille wird bedrückend, sie ist so ungewohnt. Inge wartet und wartet. Das Schweigen bereitet ihr Unbehagen. 18
Draußen auf der Straße nähern sich Schritte, Lachen, Schwatzen. Leute gehen vorüber, ihre fröhliche Stimmung macht die Sache noch schlimmer. „Aber du hast doch etwas?“ sagt sie schließlich und ärgert sich zugleich über ihre unbeholfene Äußerung. „Ich habe nichts!“ erwidert er heftig. „Dann ist es ja gut“, flüstert sie ergeben, „dann ist es ja gut. Ich dachte …“ Sie läßt unausgesprochen, was sie gedacht hat. Und Wittig denkt: Was weiß sie schon. Er sieht Dinge, die nicht hierher gehören, nicht in diesen von Kerzengeknister, Liebesseufzern und Zärtlichkeit erfüllten Raum. Er sieht stumpfe Wundhaken ins Bauchfell greifen, sieht sich den Blinddarm hervorziehen, sieht die Tabaksbeutelnaht, über die sich Erbrochenes ergießt. Wo bin ich, ach hier, an ihren Körper gelehnt, sie weiß nichts, gar nichts, und ich kann es ihr auch nicht sagen. Sie will einen Mann, zu dem sie aufblicken kann, den sie anbetet, der ihr Verlangen nach Stärke und Sicherheit nicht enttäuscht. Er setzt sich auf, nimmt ihren Kopf in seine Hände und küßt sie und sagt: „Wenn du wüßtest, wie lieb ich dich habe! Wenn du ein einziges Mal nachfühlen könntest, wie glücklich du mich machst.“ Mehr kann er in diesem Augenblick nicht tun, und das ist in seiner Lage viel. Er hat bisher diesen Zustand nicht gekannt, den man Angst nennt, Angst, daß ihm vielleicht morgen schon ein drittes Mal ein solcher unbegreiflicher Fehler unterlaufen könnte. Sie aber hat nur diese Worte gehört, Liebe und Glück, das genügt ihr, sie dehnt sich wohlig und greift nach dem Glas, das auf dem Tischchen neben der Couch steht. Sie trinkt es leer, es ist voll öliger Süße, ein spanischer schwerer Wein, den es neuerdings gibt, Lacrimae Christi. Christi Tränen, Hans hat es ihr übersetzt. Sie spürt die Wärme des Weins sich ausbreiten in ihr, 19
und sie sagt: „Wenn ich nur niemals mehr weinen müßte!“ Betroffen fragt Wittig, warum sie gerade das jetzt sage. Nur so, erwidert sie, es sei ihr eben eingefallen. „Weißt du noch, wie es mit uns begann?“ „O ja, es begann mit Tränen.“ „Mit Tränen“, bestätigt sie glücklich, das liegt schon so weit zurück, mehr als ein Vierteljahr. Willig nutzt er die Gelegenheit, in die Vergangenheit zurückzukehren und sich in ihr wieder zu fangen. „Ich weiß es noch genau“, sagt er, „da war dieser Unfall. Der Motorradfahrer, der gegen den Baum geprallt war. Schädelfraktur, wir mußten bohren. Die Operation dauerte bis nachts um zehn. Ich war fertig, hatte nur einen Gedanken: heimgehen, schlafen. Kam am Schwesternzimmer vorüber und hörte Schluchzen. Die Tür war nur angelehnt, ich dachte, wie kann jemand bei offener Tür heulen! Ging hinein und sah dich am Tisch, den Kopf auf den Armen, und du weintest, weintest, hörtest mich nicht einmal näherkommen. Ich berührte deine Schulter, du fuhrst empor und sahst mich erschrocken an. Ich nahm mein Taschentuch und …“ Er lacht in der Erinnerung, er kann ja lachen, weil das schon so weit zurückliegt, er sagt sogar, jetzt komme ihm die Szene vor wie aus einem rührseligen Film. Jedenfalls hatte er ihr die Augen zu trocknen versucht, sie hatte es geschehen lassen, hatte plötzlich aufgehört zu weinen und gefragt: „Trinken Sie einen Kaffee mit mir, Herr Oberarzt?“ Das hatte ihn so düpiert, daß er nur genickt hatte und ihr zusah, wie sie den Kaffee auf Türkisch zubereitete. Seine Müdigkeit war verflogen. Er blieb, als sie ihm eine zweite Tasse anbot. Danach war Inge an den Spiegel getreten, um sich das 20
gerötete Gesicht mit einem nassen Handtuch abzutupfen, das sie immer wieder in kaltem Leitungswasser auswrang. Noch einmal schluchzte sie kurz auf, entschuldigte sich aber gleich darauf mit einem Anflug von Heiterkeit: „Schon fünfundzwanzig und noch so verheult!“ „Schon vierzig und noch so neugierig!“ „Neugierig, Herr Oberarzt? Worauf?“ „Warum haben Sie geweint?“ Sie hatte ihn lange angeblickt, aber nichts geantwortet. „Soll ich raten, Schwester Inge?“ Kopfschütteln, Abwehr. Er hatte trotzdem weitergeredet: „Wenn ein so hübsches, junges Mädchen weint, gibt es nur einen einzigen Grund, nämlich …“ „Depressionen!“ Ihr Einwurf war rasch und nachdrücklich erfolgt. „Depressionen?“ In seiner Stimme lagen Zweifel und Ironie. „Depressionen!“ Ihr Schweigen zeigte ihm, daß sein Zweifel berechtigt war. Er fühlte sich herausgefordert durch ihre Verschlossenheit. „Nun, für Depressionen ist ein Chirurg leider nicht zuständig.“ O ja, Inge hatte aus diesem Satz wohl herausgehört, was sie heraushören sollte, und zum ersten Mal gelächelt. „Soll ich mir extra den Arm brechen, damit Sie mich in Ihre Behandlung nehmen, Herr Oberarzt?“ Und auch er hatte sofort verstanden, daß das Gespräch nun einen anderen Ton erhielt. Er hatte ihn bestimmt, nun mußte er ihn durchhalten. „Einen Arm – wäre gar nicht schlecht.“ „Und wieso wäre das nicht schlecht?“ „Sie könnten sich dann nicht so wehren.“ Sie hatte das Handtuch ganz übers Gesicht gelegt, so 21
daß er ihre Augen nicht sehen konnte, als sie ihm spöttisch erwiderte: „Ich wußte natürlich nicht, daß Sie sich wehrlose Frauen wünschen.“ Verdammt, hatte er gedacht, eine Logik hat sie, da heißt es aufpassen. Und er hatte leichthin, fast beiläufig bemerkt: „Sie würden sich natürlich wehren.“ „Würde ich das?“ Ihr Ton ließ offen, ob sie es tun würde oder nicht. Das Spiel begann nun doch zu gefährlich zu werden, und Wittig entschloß sich, es zu beenden. Er war dann abrupt aufgestanden, hatte die Kaffeetasse auf den Tisch gestellt, sich bedankt, Schwester Inge eine gute Nacht (ohne Tränen) gewünscht und war gegangen. Aber in den nächsten Wochen hatte er genau Schwester Inges Dienstplan verfolgt und es immer wieder einzurichten verstanden, daß er nachts im Schwesternzimmer erscheinen und Inge um eine Tasse Kaffee bitten konnte. „Ja“, sagt Inge verträumt, „so hat es begonnen.“ „Aber bis heute weiß ich nicht, warum du damals so schrecklich geweint hast.“ Doch das ist nun ihr Geheimnis, und sie wird es nicht verraten. Was weiß er schon, er weiß gar nichts, und es ist besser, wenn er es nie erfährt. „Manchmal habe ich dich im Verdacht, du hast das alles nur inszeniert, um mich auf dich aufmerksam zu machen!“ „Abscheulicher Kerl! Das traust du mir zu?“ „Oder warst du vielleicht schon damals in mich verliebt? Und hast über deine vermeintlich hoffnungslose Liebe geweint?“ „Ja“, sagt sie leise, „das wird es wohl gewesen sein.“ Er blickt sie an. Meint sie das im Ernst? „Das einleuchtende Motiv für einen Mann, der so vergöttert wird wie du.“ 22
„Na, na, vergöttert –!“ Er hört das nur zu gern, seine Abwehr ist schwächlich. „Aber Hans, das weißt du doch selber am besten. Wie sie sich alle aufspielen vor dir. Die Rosi mit ihren siebzehn und die Gertrud mit ihren bald siebzig. Und Annemarie natürlich und …“ Sie bricht ab, verwünscht ihre eifersüchtige Nörgelei. Wie konnte sie nur Annemaries Namen nennen! Warum bin ich so eifersüchtig, denkt sie, sogar auf seine Vergangenheit. Weil ich Angst habe, ihn zu verlieren. Mein Gott, reiß dich doch zusammen! Du hast einen Mann, der dich liebt. Einen Mann, der etwas darstellt, der zehn andere an jedem Finger haben könnte. Einen solchen Mann in diesen Zeiten! Der ist kostbarer als hundertjähriger Wein, denn dieser Jahrgang ist ausgerottet sozusagen, es gibt ja fast nur noch Greise und Jüngelchen nach diesem verfluchten Krieg. Und ich bin so blöd, ihn noch mit der Nase darauf zu stoßen, wer alles von den Weibern hier in ihn verknallt ist! Sie greift nach dem Lacrimae Christi und gießt sein Glas voll und reicht es ihm. „Hans, denk doch nicht, ich bin eifersüchtig. Wirklich nicht! Und wenn du drei Dutzend Frauen gehabt hättest, das zählt nicht, das ist mir doch egal!“ „Das wäre dir nicht egal, das ist keiner Frau egal.“ „Und wie mir das egal ist!“ betont sie hartnäckig. „Ach!“ „Doch!“ „Glaub ich dir nicht.“ „Mach doch die Probe. Na los, probier’s doch!“ „Was soll ich probieren?“ Sie seufzt vernehmlich. „Ich weiß bloß das mit der Annemarie. Und daß du mit Renate fünf Jahre verheiratet warst. Und dazwischen? Und vorher? Erzähl endlich mal!“ „Was gibt’s da zu erzählen“, wendet er vorsichtig ein. „Na das. Wie sie waren. Ob sie besser waren als ich –“ 23
„Wie – besser?“ „Du weißt schon, was ich meine.“ Nun seufzt er, um zu zeigen, daß er sich unter Druck gesetzt fühlt. „Hans!“ Ihre Stimme klingt fast flehend. „Na los doch!“ „Sie waren nicht besser als du“, erwidert er. „Sonst wäre ich ja an einer hängengeblieben. Das Beste kommt zuletzt, das bist du.“ Er stellt das Glas hin und küßt sie auf die linke Brust. „Kann ich nicht glauben.“ „Aber ja!“ „Wann warst du zum ersten Mal verliebt?“ Noch sträubt er sich, er weiß nicht, wohin das führen soll. Er rettet sich in die Gegenfrage: „Und wann warst du zum ersten Mal verliebt?“ „Nein“, sagt sie, „das ist unfair. Ich habe dich zuerst gefragt, komm, erzähl schon!“ Er zögert. Ihre Gleichgültigkeit ist doch gespielt. Aber ihre Neugier schmeichelt ihm auch. Welcher Mann sonnt sich nicht gern in seinen Erfahrungen. „Nun?“ drängt sie. „Aber der Reihe nach!“ „Der Reihe nach!“ wiederholt er spöttisch. „Chronologische Vollständigkeit, wie? Du wirst enttäuscht sein.“ Er gibt sich nachdenklich. „Ich glaube, ich war vierzehn. Ich ging in die achte Klasse des Gymnasiums, Untertertia hieß das damals. Ich hatte einen Freund, und der hatte eine Schwester, die war schon sechzehn. Sechzehn! Mit so einem Alter war sie natürlich unerreichbar für mich. Manchmal machten wir bei meinem Freund zusammen Hausaufgaben, und manchmal hatte ich Glück, da kam sie durch das Zimmer, und ich beobachtete sie heimlich. Sie hatte eine schöne Brust, und ich stellte mir vor, wir gingen miteinander, und alle würden mich beneiden. Ich stellte mir auch vor, ich würde mit ihr schlafen, und wenn ich sie dann wieder sah, dachte ich, sie muß es doch wissen, was ich mir da alles aus24
denke, und ich war froh, wenn sie mich gar nicht beachtete, und zugleich furchtbar enttäuscht, daß sie keine Notiz von mir nahm. Einige Monate später erhielt mein Vater ein anderes Engagement, wir zogen weg. Ich weiß nicht einmal mehr, wie sie ausgesehen hat.“ „Und dann, danach? Wann hast du zum ersten Mal mit einer Frau richtig was gehabt?“ „Da war ich schon im vierten Semester. Die Tochter meiner Wirtin –“ „Ja? Erzähl doch!“ „Na, nichts weiter. Als wir mal allein in der Wohnung waren, haben wir’s eben versucht. Sie hatte furchtbare Angst.“ „Und –? Warum seid ihr nicht zusammengeblieben?“ „Als ich merkte, die Mutter hätte mich gern als Schwiegersohn gehabt, habe ich mir ein anderes Zimmer gesucht.“ „Und ein anderes Mädchen?“ „Als ich gerade mit dem Studium fertig war, begann der Krieg. Und im Krieg – weißt du, das ist eine Welt für sich, in der alles anders ist. Da gibt es das nicht mehr, was für den Menschen am wichtigsten ist: Zukunft. Die Zukunft ist sozusagen mit Brettern vernagelt. Du weißt ja nicht, ob du den nächsten Tag noch erlebst. Du weißt bloß eines genau, daß du in diesem Augenblick noch lebendig bist.“ Er blickte sie fragend an. „Ja“, sagt sie still, „sprich weiter, ich versuch es mir vorzustellen.“ „Du wirst gleichgültig, nichts hat mehr Wert. Andererseits bekommt jede Kleinigkeit große Bedeutung. Die Stunden, in denen du wirklich lebst, lebst du ganz intensiv. Ich weiß nicht, ob du verstehst, was ich meine, diesen Widerspruch eben zwischen Gleichgültigkeit und übersteigertem Lebensgefühl. Du schläfst mit einer Frau, so nebenbei, wie du eine Zigarette rauchst, hastig, nervös, bist eigentlich gar nicht bei der Sache. Oder es wird für 25
dich zu einem ungeheuren Ereignis, weil es vielleicht das letzte Mal ist. Was soll ich dir da erzählen? Da waren verschiedene Frauen, eine Krankenschwester im Feldlazarett, eine verheiratete Offiziersfrau, als ich mal auf Urlaub war, und dann noch …“ Er wischt mit einer Handbewegung die Erinnerungen weg, das sei heute alles unwirklich, er sei gar nicht richtig bei sich selbst gewesen, und auch, wenn er noch das eine oder andere erzählen würde, sie erführe doch nicht mehr über ihn. Dann kamen die Jahre der Kriegsgefangenschaft, drei Jahre hinterm Ural, darüber will er lieber gar nicht reden, es waren schlimme Jahre, auch wenn sie ihm einen andern Gewinn gebracht haben, einen Gewinn an Erkenntnis und Weltanschauung. „Ja“, sagt er, „wollen wir uns nicht mal was überziehen. Es wird kühl.“ Sie lehnt sich eng an ihn. Er solle doch dann die Fenster schließen. „Und diese Offiziersfrau …?“ beginnt Inge das Gespräch zögernd von neuem. „Es hat nicht länger als zehn Tage gedauert. Ich sagte doch, während eines Urlaubs. Wir haben nie wieder voneinander gehört.“ „Aber sie war doch verheiratet!“ Er lacht und drückt sie an sich. „Danach haben wir beide nicht gefragt. Ihr Mann war zu der Zeit in Italien. Sag mal, du willst mir doch jetzt nicht deswegen eine Moralpredigt halten?“ „Dir? Unsinn.“ „Aber dieser Frau?“ „Ich weiß nicht. – Aber du hast schon recht, es waren damals eben andere Verhältnisse. Trotzdem möchte ich gern mal wissen, was in so einem Menschen vorgeht. Sie hatte einen Mann und läßt sich einfach mit einem andern ein. Sie hat dir doch bestimmt auch gesagt, daß sie dich liebt?“ 26
„Ja, sicher.“ „Und? Hast du es geglaubt?“ „Natürlich nicht.“ „Natürlich nicht?“ wiederholt Inge nachdenklich. „Du meinst also, man dürfe nicht jedes Wort glauben. Und wer das trotzdem tut, der ist reichlich blöd.“ „Du brauchst es nicht zu glauben, du weißt es! Du weißt, daß wir für immer zusammenbleiben. Und wenn es nach mir ginge, könnten wir schon morgen heiraten.“ „Mir ist kalt“, sagt sie plötzlich. „Schließt du bitte die Fenster?“ Er steht auf. Sie verfolgt mit ihren Blicken seinen Gang zum Fenster, spürt neue Zärtlichkeit, freut sich darauf, daß er wieder neben ihr sitzen und seinen Arm um sie legen wird. Er schließt das Fenster und kommt zurück. Christi Tränen füllen für jeden noch ein halbes Glas. „Warum ist eigentlich deine Ehe kaputtgegangen?“ hört sie sich plötzlich fragen. Er stellt das Glas aufs Tischchen zurück, ohne zu trinken. „Ich weiß es nicht“, sagt er offen, „ich weiß es wirklich bis heute nicht.“ „Eine andere Frau war nicht im Spiel?“ „Nein. Und bei Renate auch kein anderer Mann.“ „Aber es muß doch einen Grund geben.“ „Sicher gibt es Ursachen. Äußere, innere, wie überall, wenn zwei auseinandergehen. Renate hätte nie Ärztin werden dürfen.“ „Warum das denn?“ „Es fehlte ihr einfach an Entschiedenheit und Durchsetzungskraft. Sie litt natürlich unter ihrer Passivität. Und drehte dann den Spieß herum und gab mir die Schuld daran. Ich wäre ein Tyrann und würde sie unterdrücken. Du lieber Himmel, wie hätte ich das wohl tun sollen? Wir sahen uns ja kaum. Sie war praktische Ärztin, ich Chirurg, wir hatten so oft verschiedene Dienst27
zeiten. Manchmal haben wir uns eine ganze Woche lang nur durch Zettel auf dem Frühstücks- oder Abendbrottisch verständigt. Renate fühlte sich durch diese Ehe betrogen und ich genauso. Streit, Aggressionen, Resignation. Renate zog dann den Schlußstrich, ich selber hätte es vielleicht nicht getan. Aber wenn Frauen enttäuscht sind, sind sie oft konsequenter in ihren Entschlüssen als Männer. Den letzten Anstoß gab ihr übrigens, daß ich Bezirkstagsabgeordneter wurde. Dafür also hast du auch noch Zeit, sagte sie, dann heirate doch lieber gleich deine Partei.“ Er fügt hinzu: „Und dabei hatte mich gar nicht die Partei nominiert, sondern der Kulturbund. Aber auf solche feinen Unterschiede legte Renate keinen Wert.“ „Und die Scheidung war vor zwei Jahren?“ „Vor anderthalb, ja.“ „Und danach?“ „Einige kleine Affären, nicht der Rede wert.“ „So wie mit Annemarie?“ „Ja, die Sache mit Annemarie würde ich auch dazu rechnen.“ Annemarie ist wie Inge Stationsschwester auf der Chirurgischen gewesen, hat sich aber in letzter Zeit zur OPSchwester qualifiziert. Daß Annemarie auf diese Weise ihren Hans täglich stundenlang in ihrer Nähe, ja direkt neben sich hat, ist für Inge keine angenehme Vorstellung. Wittig war erst wenige Wochen in Vorberg, als Schwester Annemarie ihn zu erobern versuchte. Das merkte ja schließlich jeder in der Abteilung, wie sie sich regelrecht an den Neuen heranschmiß. Inge hat die eine oder andere Episode nicht vergessen. Es fing damit an, daß Annemarie sich bereit erklärte, für den Oberarzt die Einkäufe zu erledigen. Dann bot sie ihm die Hälfte ihrer Fleischmarken an. Und bald rauchte Wittig LUCKY STRIKE, Annemaries Leibmarke, die sie von drüben geschickt bekam. „Und im Februar seid ihr dann zusammen verreist.“ 28
„Aber Inge, das weiß doch jeder.“ „Aber du weißt nicht, wie damals darüber gelästert wurde! Doktor Kowalski mokierte sich über dich, und die andern Schwestern waren neidisch. Ach Hans, wenn alle wüßten, wie es um uns beide steht – das Getuschel, der Klatsch und Tratsch! Ich habe es erlebt, wie es Annemarie erging.“ „Aber eines Tages werden es die Leute doch erfahren. Und was wäre dann anders?“ „Daß wir dann verheiratet sind ! Hans, mit dem Klatsch würde ich schon fertig werden. Aber wir beide auf derselben Station! Stell dir vor, du fragst bei der Visite, ob der Patient eine ruhige Nacht gehabt hat, und ich denke an unsere letzte Nacht, die gar nicht ruhig war, und hab’ Mühe, nicht loszuprusten. Und ich weiß, die andern beobachten mich, deshalb darf ich nicht mal den Mund verziehen.“ Wittig lacht. „Eine schreckliche Situation!“ „Außerdem denke ich auch an dich. Oberarzt Wittig, wird jeder sagen, das ist einer! Erst die Schwester Annemarie, jetzt die Inge! Das kannst du dir wirklich nicht leisten, in deiner Position.“ „Na gut“, sagt Wittig, „warten wir also noch ein wenig, ehe wir den andern etwas sagen.“ Sie lehnt sich zufrieden an ihn. Dann fragt sie plötzlich: „Hattest du mit Annemarie Schluß gemacht oder sie mit dir?“ „Du bist wirklich nicht eifersüchtig, nicht wahr?“ stellt er resigniert fest. „Ich möchte es aber wissen!“ „Dieser Name wird für diese Nacht aus dem Zimmer verbannt!“ ruft Wittig. „Und das ist eine dienstliche Weisung!“ „Dem muß ich mich wohl fügen“, sagt Inge. „Ich möchte ja auch nur noch wissen, ob du der Annemarie den Laufpaß gegeben hast.“ 29
„Aber was bedeutet denn das für dich?“ Ob es denn kein Unterschied sei, fragt sie, wer von beiden zuerst des andern überdrüssig geworden sei. „Nun, wenn du es durchaus wissen willst: ich. Ich mag keine Frauen, die sich mir an den Hals werfen. Ich nehme mir lieber selber, was mir gefällt.“ „Das kann ich nur bestätigen!“ lacht Inge. „Du bist ein richtiger alter Spinnerich, der in seinem Netz auf Beute lauert.“ „Die jungen Spinneriche sind wohl nicht so blutgierig, wie?“ „Ich hab’ mir nie was aus jungen Schnöseln gemacht.“ „Und aus wie vielen alten Herren dann?“ Er fühlt, wie sich ihr Körper plötzlich versteift. Sie schluckt heftig, atmet tief, setzt zum Sprechen an und bleibt dann doch stumm. „Entschuldige, Inge“, sagt er behutsam, „das war wirklich nur Spaß.“ „Schon gut, Hans, ist schon gut. Ich hatte, dir ja schon einmal gesagt, wenn man eine so tiefe Enttäuschung hinter sich hat, möchte man nur noch vergessen, alles vergessen.“ „Ich jedenfalls werde dich nicht enttäuschen Liebste, nie!“ Sie umschlingt seinen Kopf und küßt ihn, dann löst sie sich von ihm und steht auf. „Mein Gott, es ist ja gleich zwei!“ „Nirgends vergeht die Zeit so schnell wie beim Operieren und beim Lieben“, philosophiert er. „Wenn man so gründlich ist wie du!“ Rasch ist sie angekleidet. Er zieht sich nur einen Bademantel über. „Ich bringe dich hinunter.“ „Knarrt etwa die Treppe?“ „Darauf habe ich wirklich noch nicht geachtet. Wir gehen dicht am Geländer entlang!“ Leise öffnet er die Tür und geht voran. Wie in uralten 30
Zeiten, denkt er belustigt, diese Heimlichtuerei ist doch ganz romantisch.
Sonnabend, 4. Juni, 8 Uhr 35 3 An diesem Sonnabendmorgen hält Oberarzt Dr. Wittig selbst die Visite ab. Er wird von Assistenzarzt Dr. Fünfstück, Oberpfleger Schultheiß und Inge begleitet. Mit Dr. Fünfstück arbeitet Wittig gern zusammen. Er brauchte einige Zeit, um zu erkennen, daß sich hinter seiner manchmal zynisch wirkenden Geschwätzigkeit menschliche Anteilnahme und berufliche Gewissenhaftigkeit verbergen. Und Oberpfleger Schultheiß, ein Mittvierziger, hat mehr als zwanzigjährige Berufserfahrung. Das macht den höflichen und zurückhaltenden Oberpfleger zu einem verläßlichen Mitarbeiter. Zimmer Nr. 3 ist ein Zweibettzimmer. Hier liegen Frischoperierte. Heute befinden sich in Zimmer 3 der Neubauer Albert Schrell und der Schulleiter Klaus Weber. Schrell ist der zweifellos schwerere Fall. Der Sechzigjährige war an einem Rektumkarzinom erkrankt. Chefarzt Dr. Frieders hatte Anfang der Woche, bevor er in Urlaub ging, selbst die Operation vorgenommen. Er hatte das Rektum hoch abgesetzt, bis in den absteigenden Teil des Dickdarms, und einen künstlichen After auf der Bauchseite angelegt. Wittig weiß, daß die Operation nicht das Schlimmste war. Schwieriger sind die psychischen Probleme, die ein solcher Eingriff mit sich bringt. Der Patient kann seinen Stuhlgang nicht mehr ohne weiteres beeinflussen, da er keinen Schließmuskel mehr besitzt. Als Wittig nach seinem Befinden fragt, klagt Schrell, das sei kein Leben mehr, das ihn nun erwarte. Wenn er nur 31
nicht in die Operation eingewilligt hätte! Lieber tot als so ein Leben! Wittig setzt sich auf den Bettrand: „Herr Schrell, wie Ihnen ergeht es jährlich Tausenden. Und sie alle sind nach einer solchen Operation zunächst verstört, verzweifelt. Das ist verständlich. Aber die meisten lernen, sich darauf einzustellen, mit unserer Hilfe. Geregelte Ernährung, ein bestimmtes Training – und wenn Sie unsere Ratschläge befolgen, werden Sie bald gut damit zurechtkommen. Und auch wieder arbeiten können. Hätten wir Sie nicht operiert, lägen Sie spätestens in einem halben Jahr unterm Rasen. Aber so haben Sie noch eine ganze Reihe von Jahren vor sich. Sie werden sich doch nicht um Ihre Rente bringen lassen, wie?“ „Ach, Herr Oberarzt, Sie machen Witze, und mir ist zum Heulen.“ „Na, dann heulen Sie sich erst mal richtig aus, danach geht es Ihnen viel besser. Wir bekommen Sie schon wieder auf die Beine. Und von Ihrem nächsten geschlachteten Schwein bringen Sie mir eine schöne Wellwurst mit, die vertilgen wir zusammen.“ „Du lieber Gott“, murmelt der Alte, „ob ich das noch mal erlebe …“ Wittig kontrolliert die Wunde und nickt zufrieden. Inge notiert den Diätplan für die nächste Woche. Dann wendet sich Wittig Klaus Weber zu. Er hatte Weber vorgestern operiert. Ein blutendes Magengeschwür hatte die Entfernung der unteren zwei Magendrittel erfordert – eine Operation, die oft schlagartig beträchtliche Besserung bringt. Weber blickt ihn aus tiefliegenden Augen an. Sein Gesicht, hager und scharf, zeigt die typischen Züge des Magenkranken. „Nun, Herr Weber, wie fühlen wir uns?“ Weber setzt ein schwaches Lächeln auf. „Wenn Sie mich meinen, Herr Oberarzt – gut. Sehr gut.“ „Da lassen Sie mal sehen.“ 32
Wittig ist mit dem Zustand der Operationswunde zufrieden. Er wendet sich zu Inge: „Heute noch Tee. Ab morgen Schleimdiät.“ „Und wann kann ich mir die erste Wellwurst wieder zu Gemüte führen, Herr Oberarzt?“ Die forsche Frage berührt Wittig unangenehm. „Halten Sie erst mal Ihren Diätplan durch!“ sagt er kurz angebunden. Weber scheint kein Gehör für diese Nuance zu haben. „Kann ich den nicht auch zu Hause abwickeln?“ Mit scheinbar freundlicher Ruhe fragt Wittig: „Wie meinen Sie das, Herr Weber?“ „Ich möchte gern wissen, wann ich entlassen werde.“ „Wenn wir das für richtig halten, Herr Weber.“ „Aber da gibt es doch einen Termin!“ „Den Termin bestimmt Ihr Magen! Setzen Sie ihm ein Ultimatum, nicht mir!“ „Entschuldigung, Herr Oberarzt.“ So aggressiv Webers Verhalten eben noch gewesen war, so kleinlaut zeigt er sich nun. Etwas versöhnlicher fügt Wittig hinzu: „Menschenskind, wir haben Ihnen zwei Drittel Ihres Magens entfernt. Da können Sie nicht in drei Tagen wieder nach Hause.“ „Aber der Juni ist unser schlimmster Monat, Herr Oberarzt“, erwidert der Schulleiter bedrückt. „Die Abschlußprüfungen, die Beurteilungen, Versetzungskonferenzen, Jahresbericht. Ich kann das doch nicht alles meinen Leuten überlassen.“ Diese verfluchte Selbstdisziplin, denkt Wittig. Er hat plötzlich Mitgefühl mit diesem Mann. Auf solchen beruht unser Staat, auf solchen Unentwegten, Besessenen, die heute noch Blut spucken und morgen schon wieder weiterleben wollen wie bisher! „Wissen Sie, woher Sie Ihr Magengeschwür haben? Von Ihrem Streß! Ihrem Ärger! Ihren Konflikten, Ihrer ganzen Lebensweise!“ sagt er hart. „Und wenn Sie in 33
Zukunft nicht etwas kürzer treten und Ihre sinnlose Hektik abbauen, sehen wir uns in einem Jahr wieder. Da ist der Rest fällig! So sieht das aus, Herr Weber!“ Und fügt noch hinzu: „Aber warten Sie dann wenigstens bis zu den großen Ferien, damit ja keine Schulstunde ausfällt und keine Konferenz! Guten Morgen, Herr Weber!“ Er wendet sich um und sieht Fünfstücks leicht amüsierten Blick. Er tritt nochmals an Webers Bett. „Herr Weber, manchmal pfeifen die Patienten auf unsere Ratschläge und werden trotzdem steinalt. Wenn sie so weiterleben, wie sie weiterleben müssen.“ „Danke, Herr Oberarzt.“ Weber nickt. „Ich bin froh, daß Sie mich verstehen.“ „Ja“, erwidert Wittig ironisch, „wir verstehen uns alle so wunderbar! Eine schöne Medizin!“
Sonnabend, 4. Juni, 14 Uhr 55 4 Verweilen wir noch etwas bei diesem Tage. Es ist einer der letzten Tage, genaugenommen der vorletzte, den Dr. Hans Wittig in verhältnismäßig wohlbehaltenem Zustand verbringt. Noch Jahrzehnte später erinnert er sich an diesen Sonnabendnachmittag, dessen schlimmstes Ereignis ein gerissener Keilriemen an seinem Wagen war. Ansonsten deutete an diesem Tage nichts darauf hin, daß Wittig bald in den katastrophalen Strudel der Ereignisse geraten sollte. Und ich kann allmählich die geruhsame Beschreibung beenden, die mit den beiden Hauptpersonen vertraut machte, und an Stelle von Reflexionen und Gefühlen nun nüchtern den Verlauf eines Kriminalfalles schildern. Wir aber, die Dr. Wittig die Vorahnung des Schlimmstmöglichen voraushaben, wollen ihn noch diesen Som34
mernachmittag mit Inge genießen lassen, das wird sich so bald nicht oder nie mehr wiederholen. Es ist fünf vor drei, als Wittig mit seinem F 9 bei der alten Linde am südlichen Ortsausgang von Vorberg hält. Inge steigt stets außerhalb des Ortes zu. Eine Kleinstadt hat tausend wachsame Augen. Inge eilt dem Wagen entgegen. Ihr weißes, mit blauen und roten Punkten übersätes Kleid fällt glockig und gibt ihren Bewegungen etwas Beschwingtes. Sie setzt sich, legt die Arme um Wittigs Hals und küßt ihn. Dann lehnt sie sich tief in den Sitz zurück. „Haben wir nicht wieder ein Glück? Dieses herrliche Wetter! Ich freu’ mich!“ Auch Wittig freut sich, daß die harte Woche so angenehm ausklingen wird. Die Fahrt geht zuerst durch das Flußtal. Die Uferstraße ist schmal. Manche Kurven, an denen Felsvorsprünge bis auf die Straße vorstoßen, sind so unübersichtlich, daß Wittig fast auf Schrittempo herunterschaltet. Nach etwa einer Viertelstunde biegt er links ab. Die bisher nur sacht ansteigende Straße wird rasch steiler. Felder und Wiesen gehen in hochstämmigen Fichtenwald über. Wieder nach einer Viertelstunde kommen sie an eine Kreuzung. Ein handgeschnitzter Wegweiser zeigt nach rechts, auf einen Seitenweg: Tannenbergsklause 4,5 km. Wittig schlägt vor, dort Kaffee zu trinken und dann eine kleine Wanderung zu unternehmen. Wenn nur der Weg nicht zu steinig ist, wendet Inge ein, sie trägt Schuhe mit hohen Absätzen. Bald lichtet sich der Wald, der Wagen fährt nun über eine fast baumlose Kammhöhe. Nochmals verweist eine Holztafel auf eine Abzweigung der Straße, die in eine Felsenschlucht mündet. Vor einem Hintergrund riesiger Fichten steht die aus Holzstämmen errichtete Tannenbergsklause. Auf dem Parkplatz stehen nur wenige Wagen. Trotz35
dem sind in der Gaststätte fast alle Plätze besetzt. Die Klause ist ein beliebtes Ziel für Wanderer. Wittig und Inge finden noch zwei Plätze. Wenig später wird ein Zweiertischchen in der Fensterecke frei. Inge überfliegt die Speisekarte: „Ungarische Salami!“ Das kostet 200 Gramm Fleischmarken, ist aber dafür eine ansehnliche Portion. Wittig zieht Kaffee und Streuselkuchen vor. Inge meint, sie spare mit ihrer kalten Platte das Abendessen ein. „Weißt du, ich esse gern mal in der Gaststätte“, erklärt sie. „Bald zehn Jahre habe ich für die Familie kochen müssen. Das bekommt man mal satt.“ „Sind ja schöne Aussichten!“ Wittig lacht. „Für dich werde ich gern kochen, Hans.“ „Aha!“ bemerkt er ironisch. „Doch, doch! Das mache ich ja dann freiwillig! Und nur für dich! Aber für vier Leute und dazu während des Krieges und in den Hungerjahren danach, das war manchmal eher eine Rätselaufgabe.“ Ihr Vater, erzählt Inge, besaß ein Tabakwarengeschäft. Als er Anfang des Krieges eingezogen wurde, versuchte die Mutter, das Geschäft weiterzuführen. Tagsüber stand sie im Laden, und abends klebte sie die Rauchermarken auf die vorgeschriebenen Formulare. Obwohl Tabakwaren streng rationiert waren, blieb ihr immer eine Möglichkeit, in einem gewissen Umfang damit Schwarzhandel zu betreiben. Das setzte sie auch noch Jahre nach dem Krieg fort, ging an Wochenenden übers Land und tauschte Zigaretten und Krüllschnitt gegen Fett und Mehl ein, gegen Kartoffeln und Zuckerrüben, die sie dann wieder nächtelang in der Waschküche zu Sirup verarbeitete. Da blieb kaum Zeit für die drei Kinder, und Inge, als die Älteste, hatte, wenn sie aus der Schule kam, den Haushalt zu führen, zu kochen, Strümpfe zu stopfen, zu waschen. „Ferien hatte ich nie. Oder gar mal eine Reise – dafür war keine Zeit. Du bist die Große, sagte die Mutter, du 36
hast an die Kleinen zu denken! Kann ich mir etwa eine Erholung leisten? Leben heißt Opfer bringen, merk dir das. Um so leichter fällt es dir später, wenn du mal eine eigene Familie hast!“ Sie belegt die zweite Brotscheibe dick mit Salami. „Die Mutter hatte immer solche Sprüche bereit, wenn ich mal aufmucken wollte. Erst kommen die andern, dann lange nichts, und dann erst du! Man muß sich nach der Decke strecken! Immer gute Miene zum bösen Spiel, das ist nun mal so! Der Frauen Los ist zu dienen! Besser eine Fliege in der Suppe als kein Fleisch zu Mittag!“ „Und dein Vater?“ „Ach der!“ Ihr Gesicht verdüstert sich. „Mit ihm standest du dich wohl auch nicht gerade zum besten?“ „Doch, doch. Vater war gut. Zu gut, weißt du, so ein Pflaumenmännel, du biegst den Arm herunter, der Arm bleibt unten, du drückst ihn nach hinten, er behält ihn hinten. So jedenfalls ist die Mutter mit ihm umgegangen. Und wenn sie gegen Vater loslegte, blickte er mich mit Verschwörermiene an, und wenn sie auf mich losfuhr, blinzelte ich Vater zu, und so überstanden wir eigentlich jedes Donnerwetter.“ „Aber da hattest du doch eigentlich ein gutes Verhältnis zu deinem Vater.“ „Ich war zehn, als er eingezogen wurde. Und zwölf, als wir erfuhren, daß er gefallen war. Da war nun niemand mehr, der mir zuzwinkern würde, wenn Mutter mich herumkommandierte. Außerdem …“ Sie seufzt, denkt nach, zieht verächtlich die Mundwinkel herab. „Außerdem wäre das wohl nicht mehr lange gut gegangen zwischen dem Vater und mir. Ich mag keine Männer, die den Kopf einziehen und die Arme hängenlassen, wenn so ein Weibsbild sie hin und her schubst. Eines Tages hätte ich bestimmt gedacht, warum läßt er sich 37
das alles gefallen, warum wehrt er sich nicht? Da wäre von unserem verschwörerischen Einverständnis nichts mehr übriggeblieben. Nur noch Mitleid. Oder vielleicht sogar Verachtung.“ „Soll ich das als Ermunterung auffassen, mir nie etwas von dir gefallen zu lassen?“ Sie blickt ihn ernst an. „Ich will kein Pflaumenmännel als Mann. Denn ich möchte nie wie meine Mutter sein.“ Dann lacht sie plötzlich, springt auf und schlägt vor, ein Stück spazierenzugehen. Hans zahlt, dann brechen sie auf. Der Weg führt an einem Bach entlang, an Himbeerhecken und Wiesen mit rotem Fingerhut vorbei, an einem verschilften Waldteich und moosüberwachsenen Felsen. Einmal versucht Wittig, auf einem umgestürzten Baum, dessen Krone sich im Wipfel eines andern verfangen hat, emporzuklettern, aber nach wenigen Metern rutscht er aus und kann sich nur durch einen kühnen Sprung vor dem Absturz retten. Der Weg wird immer steiniger, Inge stützt sich auf seinen Arm, mehrmals knickt ihr Fuß um, sie beschließen, zurückzugehen. Auf dem Parkplatz haben sich noch einige Wagen mehr eingefunden, ein blauer F 9, ein BMW, ein alter Adler und ein Omnibus. Jetzt ist die Gaststätte bestimmt überfüllt, sagt Wittig, er hätte gern noch einen Kaffee getrunken. So bleibt ihnen wohl nichts übrig, als wieder abzufahren. Es ist halb sechs. „Schade“, klagt Inge, „da sind wir nach sechs schon wieder daheim! Was fange ich bis zum Beginn des Nachtdienstes an?“ Aber eine Viertelstunde später zeigt sich, daß sie so zeitig wohl kaum zurück sein werden. Der Temperaturzeiger! „Da ist was nicht in Ordnung!“ sagt Wittig, hält an und steigt aus. Er öffnet die Motorhaube. Der Keilriemen ist gerissen. „Wir sitzen fest!“ ruft er. 38
Inge steigt aus. „Was ist denn?“ „Der Keilriemen ist gerissen!“ „Und was bedeutet das?“ „Keine Motorkühlung mehr.“ „Und wenn wir ganz langsam fahren?“ „Der Motor überhitzt sich sofort. Und ich habe keinen Ersatzriemen. Verdammter Mist.“ „Ja, was machen wir denn da, Hans?“ „Warten. Vielleicht hat der F 9, der auf dem Parkplatz stand, einen Keilriemen bei sich.“ „Muß es denn grade ein F 9 sein?“ „Die Keilriemen sind unterschiedlich groß.“ „Reg dich nicht auf, Hans. Rauchen wir erst mal eine.“ Sie steigen ein, Inge zieht eine Schachtel Yeu aus ihrer Tasche. Wittig gibt Feuer. Sie haben nur wenige Züge geraucht, als Wittig im Rückspiegel sieht, daß sich ein Wagen nähert. Es ist der alte Adler. „Vielleicht kann er wenigstens dich mitnehmen, ich halte ihn an!“ Er springt hinaus und winkt. Der Wagen fährt dicht an ihm vorbei, bremst und hält. Der Fahrer steigt aus. „Schultheiß!“ ruft Wittig ihm erfreut entgegen. „Na, das nenne ich Glück!“ Der Oberpfleger tritt heran. „Herr Oberarzt, was ist denn passiert? Eine Panne?“ Er blickt auf die emporgeklappte Motorhaube. Wittig teilt ihm mit, daß der Keilriemen gerissen ist. Ob Schultheiß ihm irgendwie helfen könne, vielleicht nach Vorberg zurückfahren und ihm aus Wiegands Werkstatt einen Ersatzriemen besorgen. „Aber das ist doch nicht nötig, Herr Oberarzt, da machen wir einen Behelfsriemen.“ „Wie denn das?“ „Ihre Begleiterin, falls sie einen Perlonstrumpf anhat …“ Er blickt durch die Windschutzscheibe. „Na, was seh’ ich denn, das ist ja Schwester Inge!“ Wittig ist etwas unbehaglich zumute. Nun hat Inges 39
Geheimniskrämerei vielleicht doch nichts genutzt. Aber das ist nicht zu ändern, und schließlich war er ja schon immer gegen dieses Versteckspielen. Er möchte jedoch Inge nicht verärgern. „Schwester Inge wollte eine Bekannte besuchen“, sagt er, „und da habe ich sie mitgenommen.“ „Na klar, man muß helfen, wo man kann, Herr Oberarzt.“ Er tritt ans offene Fenster. „Tragen Sie Perlonstrümpfe, Inge?“ „Ja“, erwidert sie, „natürlich.“ „Da ziehen Sie man einen aus, Inge, dem Herrn Oberarzt zuliebe.“ Wortlos streift Inge einen Strumpf ab und reicht ihn durchs Fenster hinaus. Schultheiß faßt ihn an beiden Enden und dehnt ihn kräftig. „Gute Ware“, sagt er, „der hält.“ Er legt den Strumpf um beide Riemenscheiben. „Und das soll halten?“ fragt Wittig erstaunt. „Alter Kraftfahrertrick, Herr Oberarzt.“ Schultheiß zieht den Strumpf straff. „Wieder etwas gelernt“, meint Wittig. Schultheiß lacht. „Immer eine Beifahrerin haben, die Perlonstrümpfe trägt, da kann nichts schiefgehen, Herr Oberarzt.“ „Da passen Sie nur auf, daß Ihnen der Keilriemen heute nicht reißt, Herr Schultheiß.“ Schultheiß’ Blick verdüstert sich. Er verknotet den Strumpf durch eine Doppelschlinge. „Solange meine Frau mitfuhr, hätte ich da keine Sorgen gehabt. Aber seit ein paar Wochen …“ Er bricht ab, prüft nochmals die Spannung des Strumpfes und schließt die Motorhaube. „Haben Sie Kummer?“ fragt Wittig. „Ach wissen Sie, Herr Oberarzt, wenn die eigene Frau sich einen andern Kerl anschafft, nach zwanzig Jahren …“ 40
Wittig ist betroffen. „Das tut mir leid, Herr Schultheiß.“ „Wenn man plötzlich merkt, man hat einen Konkurrenten, einen Nebenbuhler, was soll man da machen?“ „Abwarten, Herr Schultheiß“, erwidert Wittig tröstend, „das renkt sich alles wieder ein.“ „Na?“ meint Schultheiß zweifelnd. „Das ist gar nicht so sicher.“ Er tritt zum Fenster und blickt Inge an. „Wenn man eine Frau liebt, und die hat auf einmal einen andern, soll man da zusehen oder …“ Auch Inge weiß da keinen Rat. Sie bemüht sich zu lächeln und sagt schließlich: „Schicksal ist Schicksal, sagte meine Mutter immer.“ Ja, erwidert Schultheiß ergeben, das sei wohl wahr, aber abfinden könne er sich trotzdem nicht damit. Er verbeugt sich vor Wittig. „Wünsche Herrn Oberarzt eine gute Heimfahrt!“ Er geht gemächlich, aber mit federnden Schritten zu seinem Wagen. Ein Mann im Vollgefühl einer guten Tat, denkt Wittig. Wenig später startet auch er. „So ein Glück zu haben, was?“ ruft er fröhlich. Während der Fahrt durch den Hochwald blickt Inge in die dämmrige Tiefe der Bäume. Sie bleibt schweigsam. Wittig ahnt den Grund. „Ärgerst du dich, daß Schultheiß uns zusammen gesehen hat?“ „Ärgern? Ach der!“ Sie lacht auf. „Du meinst also, er hält den Mund?“ „Hans, wie soll ich das wissen?“ sagt sie gereizt. „Ich hoffe es, ja.“ „Ich habe nicht den Eindruck, daß er ein Wichtigtuer ist, ein Schwätzer. Und außerdem hat er jetzt wohl andere Sorgen.“ Er legt seine Hand auf Inges nacktes Knie. „Wußtest du das mit seiner Frau?“ Sie schüttelt den Kopf. 41
„Er tut mir leid“, sagt Wittig. „Trotzdem – wenn ich jetzt an sein Unglück denke, kann ich erst richtig sehen, wie glücklich ich selber bin!“ Ja, man kann wohl ohne Übertreibung feststellen, in dieser Stunde war Wittig wirklich noch glücklich.
Montag, 6. Juni, 6 Uhr 05 Nun sind wir endlich soweit. Der Fall beginnt – obwohl er schon lange begonnen hat. Noch liegt Dr. Wittig in tiefem Schlaf. Aber gleich wird der Wecker klingeln, fast zugleich, nur zwei, drei Glockenschläge früher, mit dem Telefon. Wittig wird aus dem Schlaf gerissen werden, in einen Tag hinein, der für ihn kein Ende zu nehmen scheint. Und so hellwach er auch alles wahrnehmen wird, wird ihm doch zumute sein, als schlafe er weiter. Beim Klingeln des Weckers überhört er im ersten Augenblick das fast gleichzeitig einsetzende Läuten des Telefons. Als er es bemerkt, springt er aus dem Bett, eilt zum Telefontischchen und nimmt den Hörer auf. „Ja. Wittig.“ „Hans?“ Inges Stimme ist fast nur ein Flüstern. Sicher ist sie nicht allein, denkt er flüchtig. „Sag mal, arbeitest du beim Weckdienst? Ich hab’ noch geschlafen.“ „Hans –“ Zum Teufel, was ist los, will er fragen. Aber Inges Stimme klingt so verändert, daß er die Frage unterläßt. „Hans, du mußt sofort in die Klinik kommen.“ „Ja, was ist denn los? Wo ist denn der Bereitschaftsdienst?“ „Komm sofort, Hans, verstehst du, sofort! Weber ist tot.“ 5
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Noch bevor er etwas erwidern kann, hat sie aufgelegt. Auch er legt auf, geht zurück, setzt sich auf den Bettrand. Durchs offene Fenster hört er, wie sich Frau Lindemann mit einer Frau am Gartentor unterhält. Dazwischen Vogelstimmen, die Klingel eines Radfahrers, Blätterflirren im Wind. Ich muß in die Klinik. Ich muß mich sofort anziehen. Er sitzt und tut nichts. Ganz langsam erst sickert es in sein Bewußtsein: der dritte! Mein dritter Toter! Aller guten Dinge sind drei. Der alberne Satz ergreift wie ein vielarmiger Polyp von seinem Denken Besitz. Aller – guten – Dinge – sind – drei! Aller guten Dinge sind drei. Der Satz verliert jeden Sinn, wird zur leeren Beschwörungsformel, die doch nichts mehr ungeschehen machen kann. Aller guten Dinge sind drei. Weber, die Magenresektion. Herr Oberarzt, wann werde ich wieder entlassen? Viel früher nun doch, viel früher in ein sehr enges Haus. Manchmal, Herr Weber, pfeifen die Patienten auf unsere Ratschläge und werden trotzdem steinalt. Und werden deshalb steinalt, hätte ich sagen sollen! Was ist passiert, was habe ich falsch gemacht? Wittig merkt den dumpfen Druck in der Herzgegend. Ruhig, sagt er sich, ganz ruhig, zuwenig Sauerstoff in den Kranzgefäßen, ruhig, tief durchatmen, es ist nur der Schreck. In diesem Augenblick, als er ans offene Fenster geht, läutet das Telefon erneut. Wittig zögert, den Hörer abzunehmen. Die gleichmäßigen Klingeltöne wirken wie höhnische Schreie. Er meldet sich. „Wittig!“ „Hier Drey.“ Dr. Drey, Chefarzt der Neurologischen, ist stellvertretender Ärztlicher Direktor der Klinik. Er vertritt Dr. Frieders, der in Urlaub ist. „Guten Morgen, Herr Kollege“, sagt Drey. Er spricht gesetzt, väterlich, wohlwollend – so wie er immer spricht, 43
als sei die ganze Menschheit sein Patient, und er könne sie mit bloßen Worten heilen. „Guten Morgen“, erwidert Wittig. Er versucht, seine Stimme ganz normal klingen zu lassen. „Entschuldigen Sie bitte die Störung, Herr Wittig. Aber da ist ein Vorfall auf Ihrer Station, ich hielt es für besser, Sie darüber zu informieren.“ Er bricht ab und läßt Wittig Zeit, sich vorzubereiten. Wittig braucht diese Zeit nicht mehr. Aber das weiß Drey nicht, und er dehnt die Denkpause weiter aus. Vielleicht ist das in seiner psychiatrischen Praxis angebracht, aber Wittig ist nervös und wütend. Wieso hat man Drey zuerst informiert und nicht ihn als stellvertretenden Chef der Chirurgischen? Und wer hat Drey den Vorfall hinterbracht? Das ist ein klarer Affront! „Also bitte, Herr Drey, ich höre.“ „Ja also, lieber Wittig, Sie wissen, Sie haben mein vollstes Vertrauen, und ich fürchte, das werden Sie auch brauchen. Kollege Kowalski hat mir soeben mitgeteilt, daß wieder einer Ihrer Frischoperierten verstorben ist. Weber heißt er wohl.“ Wieder bricht Drey ab, zu Recht, denn er muß eine Reaktion Wittigs erwarten. „Um Gottes willen“, murmelt Wittig, mit dem Versuch, bestürzt zu erscheinen, „Weber? Die Magenresektion!“ „Ich weiß noch keine Einzelheiten. Gestern abend soll sich der Allgemeinzustand des Patienten plötzlich verschlechtert haben, mit Durchfall und Erbrechen. Ja, wie gesagt, ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie so bald wie möglich herkämen. Und vor allem – machen Sie sich keine Sorgen.“ Keine Sorgen! Wittig lacht auf. Leider meint Drey das völlig ernst. Da er die Welt für besser hält, als sie ist, gibt es für ihn keine echten, sondern nur eingebildete Probleme. Und denen läßt sich mit Zureden zu Leibe gehen. Man muß den Leuten nur genügend eindringlich klar44
machen, daß es ihnen eigentlich gut geht und von Tag zu Tag besser. Während Wittig sich zu rasieren beginnt, versucht er, sich die Vorgänge in der letzten Nacht vorzustellen. Kowalski hatte Bereitschaftsdienst gehabt. Und als es mit Weber zu Ende ging, denkt Wittig, hat er mich nicht gerufen! Nutzt Kowalski die Abwesenheit des Chefs aus, um mich zu umgehen und mich bloßzustellen? Dem werde ich noch den Marsch blasen! Wittig vergegenwärtigt sich auch noch einmal die Operation Webers. In der Erinnerung vollzieht er die einzelnen Phasen des Eingriffs nach. Er überdenkt Dreys Mitteilung, es seien Durchfall und Erbrechen aufgetreten. Woher? Warum? Durchfall, Erbrechen – wie bei Rothkegel und dem Studenten! Dreimal: Durchfall, Erbrechen, unerklärlicher Tod. Dreimal die gleichen Symptome: bei einem Blinddarm, einer Niere, einem Magen. Das ist doch kein Zufall! Das ist auch kein Kunstfehler! Das ist überhaupt nicht seine Schuld! Er spürt einen kurzen Schmerz auf der Oberlippe. Gleich darauf tritt Blut aus der Schnittwunde und färbt den Rasierschaum rot. Er haßt nichts mehr als die fatalen Spuren seiner Nervosität. Als müßte alle Welt auf seine sonst so ruhige Hand blicken und sich über seine Ungeschicklichkeit belustigen! Er versucht, die Blutung mit Alaunstein zu stillen. Das Blut verschmiert sich. Er hält das Gesicht unters fließende kalte Wasser. Allmählich läßt die Blutung nach. Er richtet sich auf. Fast triumphierend wiederholt er sich das Ergebnis seiner Überlegungen: Der Tod der drei ist nicht mein Fehler! Hastig kleidet er sich an. Dreimal die gleichen Symptome bei unterschiedlichen Erkrankungen – das hat keine inneren, das hat äußere Ursachen! 45
Falsche Medikamente? Unsinn, Weber hat keine Medikamente nach der Operation erhalten, nur Tee. Fahrlässigkeit einer Schwester? Einmal, ja, einmal kann so etwas schon passieren, aber doch nicht dreimal! Er eilt hinunter, holt den Wagen aus der Garage, reißt das Tor auf und fährt ab, ohne es zu schließen. Frau Lindemann wird ihm zurückhaltende Vorwürfe machen. Nein, Inge hatte bestimmt nichts versehen. Es liegt überhaupt kein Versehen vor. Und als Rothkegel starb, hatte Inge gar keinen Nachtdienst gehabt. Also: unterschiedliche Krankheiten, verschiedenes Personal – und trotzdem die gleichen Symptome. Das schaltet jede Fahrlässigkeit aus. Das kann nur jemand mit Absicht getan haben! Das wäre dann – das wäre … Er schreckt vor der Schlußfolgerung zurück. Er wird sich bewußt, wie unaufmerksam er fährt. Der Promenadenring ist glücklicherweise noch wie ausgestorben. Seine Gedanken kehren wieder zu seinem ungeheuerlichen Verdacht zurück. Wer sollte kranke Menschen umbringen? Und warum? Aber heutzutage geschehen ja die tollsten Dinge. Spionage, Wirtschaftssabotage, davon liest man fast jeden Tag in der Zeitung. Wenn der Feind danach trachtet, unsere Industrie zu schädigen, warum sollte er seinen Angriff nicht auch gegen Krankenhäuser richten? Um zu beweisen, seht mal, so geht es dort zu, die Menschen sterben ihnen weg wie die Fliegen! Aber dann stockt sein Gedankenfluß. Alle drei Toten habe ich operiert! Das kann ein Zufall sein. Ein unwahrscheinlicher Zufall! Richtet sich der Angriff doch gegen mich? Vor einigen Wochen hatte Wittig den Genossen Paul Andersch, Sekretär für Agitation und Propaganda bei der Kreisleitung, auf Station gehabt. Andersch war von einigen besoffenen Kerlen zusammengeschlagen worden. Wenn nun jemand mich auch so treffen will, auf 46
etwas feinere Art, mich als Genossen? Jeder weiß, daß ich politisch engagiert bin. Er fährt in den Hof der Klinik, springt aus dem Wagen und eilt auf den Eingang zu. Auf der Treppe kommt ihm Inge entgegen. Sicher hat sie auf ihn gewartet und die scheinbar zufällige Begegnung arrangiert. Er bleibt stehen. Sie sind tatsächlich, für Augenblicke sicher nur, auf der Treppe allein. Inge sieht übernächtigt aus, blaß, ihr Blick ist starr. „Hans“, flüstert sie, „Hans, ich hab’ solche Angst.“ Angst! Das fehlte noch, daß Inge sich Sorgen macht! Sie hat doch gar keinen Grund. Oder hat sie etwas versehen? „Du hattest doch Nachtdienst?“ „Ja.“ „Warum hast du mich dann nicht gerufen?“ „Ich wollte ja. Aber Kowalski sagte –“ „Schon gut. Ich werde das überprüfen. Mach dir keine Sorgen!“ „Doch nicht um mich!“ „Auch nicht um mich. Es wird sich alles aufklären.“ Er nickt ihr zu und eilt die Treppe empor. Im Zimmer des Ärztlichen Direktors erwartet ihn Dr. Drey. Der etwas rundliche, ewig lächelnde Neurologe steht erstaunlich behende auf, kommt ihm entgegen und schüttelt ihm die Hand. „Nehmen Sie Platz, Herr Wittig, wir wollen die Angelegenheit in aller Ruhe besprechen.“ Er behandelt mich wie einen psychiatrischen Fall, denkt Wittig belustigt. Aber er nimmt Drey das nicht übel. Der ist ein Ästhet, ein behutsamer Mensch, der Mozart und Bach liebt und Thomas Manns „Dr. Faustus“, wie er zu betonen pflegt, mindestens dreimal gelesen hat. Nicht die Medizin, sondern die Literatur ist das gemeinsame Gesprächsthema der beiden Ärzte, wenn sie 47
manchmal bei einer Flasche Rotwein zu Hause in Dreys Arbeitszimmer zusammensitzen. „Herr Drey, ich bin wirklich ganz ruhig“, erwidert Wittig. „Aber wir wollen doch zuvor erst einmal die Zuständigkeit klären. Ich finde es unerhört, daß Kollege Kowalski mich nicht hinzugezogen hat. Und daß er darüber hinaus Sie mit dieser Angelegenheit belästigt!“ „Nun, von Belästigung kann gar keine Rede sein. Seinen Fauxpas mag Kowalski Ihnen gegenüber selbst rechtfertigen. Aber daß er mich informiert hat, finde ich schon in Ordnung. Es ist doch immerhin möglich, daß diese Geschichte – ich meine, dieser dritte plötzliche Todesfall, nun sagen wir, Weiterungen hat.“ „Wie soll ich das verstehen, Herr Drey?“ „Lieber Wittig“, sagt Drey ernst, „Sie wissen so gut wie ich, daß eine nicht angenehme Situation für Sie entstanden ist.“ Wittig schlägt, rascher, als er es bedauern kann, die flache Hand auf den Tisch. Drey blickt ihn mit großen Augen an. Er ist nicht indigniert, nein, gar nicht, er kennt die seltsamsten Reaktionen seiner Gesprächspartner. „Entschuldigung“, sagt Wittig. „Aber ich habe das Gefühl, Sie verschweigen mir etwas. Was alles hat Ihnen Kowalski über den Fall erzählt? Und über mich?“ „Nichts, gar nichts. Und Sie wissen auch, daß ich mich nicht in Probleme Ihrer Abteilung einmischen will. Kowalski hat lediglich eine Vermutung geäußert, deren Richtigkeit ich fachlich nicht beurteilen kann. Und ich habe es auch abgelehnt, mit ihm darüber zu sprechen.“ „Welche Vermutung, Herr Drey?“ Drey zögert. Dann sagt er leise: „Er hält eine Nahtdehiszenz für möglich.“ „Das hieße, ich hätte verschuldet, daß Darminhalt in die freie Bauchhöhle –“ Drey hebt abwehrend die Hände. „Das müßt ihr Chirurgen schon unter euch ausmachen!“ 48
„Das ist eine reine Verdachtsdiagnose von Kowalski! Und seine Schlußfolgerung eine Infamie!“ Wittigs Gelassenheit schlägt in Zorn, vielleicht auch einfach nur in Selbstmitleid um. Nun, da er es besser zu wissen glaubt, empört ihn Kowalskis Verdächtigung um so mehr. Und nicht nur Kowalski glaubt an einen Kunstfehler, auch Drey scheint Kowalskis Behauptung nicht für so absurd zu halten. Hätte er mich sonst hierherbestellt wie zu einem Verhör? „Sehr verehrter Herr Chefarzt, an Ihrer Stelle würde ich, was die Glaubwürdigkeit von Kowalskis Hypothese betrifft, nun doch ein wenig vorsichtiger sein.“ Ein Tiefschlag gegen die Amtshoheit des stellvertretenden Direktors. Drey nimmt ihn gelassen hin, ein Psychiater ist ganz andere Enttäuschungen gewöhnt, Gottvater in seiner allesverstehenden und allesverzeihenden Souveränität hat es nicht nötig, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. „Kollege Wittig“, erwidert er abgeklärt, „wenn Sie es genau wissen wollen, ich habe noch gar keine Meinung, die will ich mir erst bilden, deshalb habe ich Sie zu mir gebeten. Sie werden doch wohl verstehen, daß die Leitung sich Gedanken darüber macht, wenn Ihnen innerhalb von knapp drei Wochen drei Frischoperierte sterben.“ „Natürlich verstehe ich das. Schließlich mache ich mir selber die meisten Gedanken darüber!“ „Dann sind wir uns also einig. Darf ich nun das Ergebnis Ihrer Überlegungen hören?“ Wittig teilt ihm seine Schlußfolgerungen mit. „Das ist kein Kunstfehler meinerseits, keine Fahrlässigkeit des Personals und auch kein Unfall. Das ist vorsätzliche Tötung!“ „Mord?“ ruft Dr. Drey entgeistert aus. „Mord! Aber mein lieber Wittig, das ist ja – also das ist …“ Dafür fehlt sogar dem wortgewandten Dr. Drey der 49
Vergleich. Wittig glaubt auch das Motiv für die Morde zu kennen. „Es kann sich nur um Sabotage handeln oder konterrevolutionären Terror gegen mich. Sie müssen Kriminalpolizei und Staatsanwaltschaft informieren!“ Drey sitzt ganz still da. Er hat die Hände gefaltet und stellt ein Bild innerer Sammlung dar. In Wirklichkeit ärgert er sich heftig über Wittigs hemmungslose Phantasie. Dreys Höflichkeit gerät in Widerstreit mit dem Drang, den Kollegen zur Ordnung zu rufen. Mit solchen Spekulationen blamiert Wittig ja nicht nur sich selbst, sondern die ganze Innung! Es passiert viel in der Welt, zugegeben, sogar Mord allenthalben. Aber doch nicht in unserm Haus! In einem Krankenhaus. Wenn auch nur ein einziges Wort von Wittigs makabren Theorien nach außen dringt, wie stünden wir dann da! Kein Krankenhaus – ein Mordgrube! Vielleicht würde sogar ich noch verdächtigt, müßte ein Alibi erbringen, müßte – nein, nicht auszudenken! Es ist einfach verantwortungslos von Wittig, was ist bloß mit ihm geschehen? Vielleicht hat er durchgedreht nach diesen drei Todesfällen! Wäre ja verständlich. Trotzdem! Drey verschließt alle Gedanken tief in seinem Innern und überlegt rasch, wie er die Entscheidung, die Wittig von ihm fordert und die ihm so zuwider ist, hinausschieben kann. „Wir sollten uns, Kollege Wittig“, sagt er schließlich, „vor allen voreiligen Maßnahmen hüten. Wir wollen doch nicht gleich in Panik verfallen, nicht wahr?“ „Und was schlagen Sie dann vor?“ „Das Naheliegende natürlich. Zuerst müssen wir doch die wirkliche Todesursache feststellen. Wir werden zunächst einmal sehen, was die Sektion erbringt. Nachdem Sektionsergebnis wissen wir mehr. Einverstanden?“ „Entschuldigen Sie – nein! In den zwei andern Fällen hat die Sektion auch keine Vergiftung nachgewiesen!“ „Wenn keine Vergiftung vorlag, konnte sie auch nicht 50
nachgewiesen werden. Wissen Sie, lieber Wittig, allmählich gewinne ich den Eindruck, Sie seien geradezu versessen auf Ihren Mord!“ Er fügt hinzu: „In den beiden andern Todesfällen gingen wir doch davon aus, die Leute seien eines natürlichen Todes gestorben. Ihr Chef suchte also gar nicht nach dem Beweis eines unnatürlichen Todes!“ „Aber jetzt habe ich den Verdacht auf einen unnatürlichen Tod. Sie kennen die Gesetze. Nun dürfen wir die Sache nicht mehr in unsern vier Wänden belassen. Das ist jetzt eine Angelegenheit für die Kriminalpolizei.“ Dr. Drey lächelt gezwungen. „Auch wenn ich keine stichhaltigen Argumente habe – ich werde die Kripo informieren.“ Nun geht die Angelegenheit also ihren amtlichen Weg. Nun muß er alle Rücksichten beiseite schieben. Polizei in der Klinik! Untersuchungen, Gerüchte, Verhöre, Verdächtigungen, einer mißtraut dem andern. Und ich setze das alles in Gang, auf den Verdacht eines übernervösen Kollegen hin! Drey verflucht die Last seines Stellvertreteramtes. Und wie wird der Alte reagieren, wenn er aus dem Urlaub zurückkommt? Drey steht auf. Auch Wittig erhebt sich. Sosehr er Dr. Drey auch mag, jetzt empfindet er fast Schadenfreude. Drey hat sich immer auf feinsinnig-vornehme Art von allem politischen Dreck ferngehalten. Nun sieht sich der reine Mediziner Dr. Drey in einen politischen Kriminalfall verwickelt, da muß er ja zuerst mal völlig die Contenance verlieren. Nun wird er mit der Nase darauf gestoßen, daß es neben Schizophrenie, Radialislähmung und Sensibilitätsstörungen auch noch so etwas gibt wie Klassenkampf und Sabotage. Armer Drey! Aber dann sagt er versöhnlich: „Ich wollte Sie nicht erpressen, Herr Chefarzt, glauben Sie das bitte nicht. Aber wenn wir jetzt etwas versehen, müssen vielleicht noch mehr sterben. Das wollen wir doch beide nicht.“ 51
Drey nickt. „Ich werde jetzt einige Gespräche führen. Halten Sie sich dann bitte bereit.“ Wittig geht hinaus. Drey sucht die Telefonnummer des Ärztlichen Direktors heraus. Dr. Frieders befindet sich in Dresden. Drey gibt dem Fernamt die Nummer durch. Zehn Minuten später – es ist drei Viertel acht – ist der Anschluß hergestellt. Dr. Frieders zeigt sich ziemlich ungehalten über die Störung. „Was ist denn bei euch los!“ brummt er. „Kaum bin ich ein paar Tage weg, schon schreit ihr nach mir wie ein Säugling!“ „Entschuldigen Sie, aber ich stehe vor einer wichtigen Entscheidung.“ Möglichst knapp versucht Drey, den Chef über die Lage zu informieren. Als Drey geendet hat, murmelt der Chef: „Verfluchte Scheiße!“ „Sind Sie auch der Meinung, die Kripo zu benachrichtigen?“ „Tun Sie das, Drey, aber sofort! Ich treffe dann im Laufe des Vormittags ein.“ „Sie wollen Ihren Urlaub abbrechen?“ „Soll ich vielleicht aus der Ferne zusehen, wie meine Klinik entvölkert wird?“ Ein Knacken in der Leitung, Amtszeichen. Drey seufzt erleichtert. Besser konnte es gar nicht laufen. Der Direktor kommt zurück, nun bin ich aller Verantwortung enthoben. Jetzt habe ich nur noch eins zu tun: die Kripo anzurufen. Noch hält er den Hörer in der Hand. Aber er zögert, die Nummer zu wählen. Du lieber Himmel, was sage ich denen bloß? Ein Mord? Das klingt einfach lächerlich, kintopphaft. Je länger er nachdenkt, desto unsicherer wird er. Wittig wüßte bestimmt, was er sagen müßte. Ich lass’ es drauf ankommen, wie es die Situation ergibt. Er wählt. 52
„Volkspolizeikreisamt.“ „Bitte, die Kriminalpolizei.“ Pause. Knistern im Draht. Dann eine Stimme: „Ja?“ „Ich wollte die Kriminalpolizei.“ „Hier ist die Abteilung K.“ „Mit wem spreche ich bitte?“ Kurzes Schweigen, dann: „Leutnant Kant. Was wünschen Sie bitte?“ „Sind Sie der Leiter der Abteilung?“ „Der Leiter ist im Moment nicht erreichbar.“ Drey ist von der kühlen unverbindlichen Art des Leutnants irritiert. „Hier ist das Kreiskrankenhaus, der stellvertretende Ärztliche Direktor Dr. Drey.“ „Und was wünschen Sie, Herr Direktor?“ „Bei uns ist etwas passiert –“ Schweigen am andern Ende, schließlich das Wort: „Ja?“ Drey überlegt fieberhaft. Der andere wartet geduldig auf weitere Erklärungen. Drey setzt fort: „Wir vermuten, es könnte … es könnte sich um einen unnatürlichen Todesfall handeln.“ „Herr Doktor, ich bin in einer Viertelstunde bei Ihnen. Bis dann!“ Drey legt auf. Nun muß alles seinen Lauf nehmen. Ich habe die Sache nicht in Gang gebracht, hoffentlich klärt sich alles ganz harmlos auf.
Montag, 6. Juni, gegen 9 Uhr 6 Vergeblich versuche ich mich zu erinnern, was ich selber wohl an jenem 6. Juni morgens gegen neun Uhr getan haben mochte. Ich habe meinen Terminkalender aus jenem Jahr zu Rate gezogen. Aber ich mußte feststellen, daß mein Krankenhausaufenthalt 53
darin nur als weißer Fleck erschien. Hätte ich doch damals Tagebuch geführt! Oder wenigstens das eine oder andere Ereignis mit dem entsprechenden Datum notiert! Doch wie sollte der damalige junge Geschichtslehrer wissen, daß er ein Vierteljahrhundert später diese Aufzeichnungen brauchen würde. Ich hatte, ähnlich wie Schulleiter Weber, nur den einen Wunsch, den chirurgischen Eingriff möglichst schnell hinter mich zu bringen und meine Abiturklasse in den letzten Wochen nicht allein zu lassen. Ich hatte auch alle Aussicht, bald wieder herauszukommen. Meine Operationswunde verheilte gut. Dr. Wittig hatte mir einen Granatsplitter entfernt. Jahrelang hatte mir der scharfkantige Fremdkörper keine Beschwerden verursacht. Ich dachte deshalb kaum noch an die Aprilnacht 1945, als ich bei einem Artillerieüberfall der Amerikaner das Ding in den Rücken bekam. Der Splitter war zwischen Wirbelsäule und rechter Niere eingedrungen. Die medizinische Versorgung war in jenen chaotischen Tagen des Zusammenbruchs so mangelhaft, daß der Splitter nicht herausgeholt wurde. Später hatte ich keine Beschwerden mehr, so daß man von einer Entfernung absah. Jedenfalls scheint der 6. Juni für mich ein ereignisloser Tag gewesen zu sein, als es ernst wurde für Dr. Wittig und sehr ernst für uns alle auf Station A. Möglicherweise durfte ich an diesem Tag schon aufstehen und im Zimmer oder Treppenhaus umhergehen. Wäre ich also an jenem Morgen tatsächlich im Flur auf und ab gegangen, hätte ich bestimmt nichts Aufregenderes bemerkt, als daß zwei sorgsam gekleidete Herren die Treppe heraufkamen, um sich in das Zimmer des Ärztlichen Direktors zu begeben. Vielleicht irre ich mich sogar darin, daß die beiden Herren sorgsam gekleidet waren. Ich habe den einen von ihnen, Oberst Harry Kant, zu fragen vergessen, was der Leutnant Kant da54
mals trug, ob weißes Hemd und Schlips zum dunklen Anzug, oder ob er sich den Luxus eines offenen Hemdkragens leisten konnte. Natürlich wäre mir bei dieser Begegnung auch verborgen geblieben, daß es sich bei diesen Herren um Leutnant Kant handelte – den nämlichen, den Dr. Drey soeben über einen vermutlich unnatürlichen Todesfall informiert hatte – und um Staatsanwalt Schuricht, der pflichtgemäß am Ort eines möglichen Verbrechens erschien. Harry Kant war damals 31 Jahre alt und wie Dr. Wittig erst kurze Zeit in Vorberg. Kant, gelernter Maschinenschlosser, war über die Arbeiter-und-BauernFakultät zum Philosophiestudium gekommen. Er hatte es aber nach fünf Semestern abbrechen müssen, weil ihn die Partei für eine Tätigkeit in der Volkspolizei brauchte. Nachdem er noch mehrere Lehrgänge besucht hatte, nahm er seinen Dienst in der K in Vorberg auf. Die Vorgänge im Kreiskrankenhaus sollten sein erster großer Fall werden. Die beiden Herren gehen also die Treppe empor: der kleine ausgemergelte Staatsanwalt Schuricht vornweg, weil er den Weg ins Sekretariat kennt, und der behäbige breitschlächtige Kant hinterher. Dr. Drey und Dr. Wittig erwarten Kant und Schuricht bereits. Kants erster Eindruck von Wittig: ein Mann von angemessener Kühle und Souveränität. Kants erster Eindruck von Dr. Drey allerdings täuscht. Er hält ihn für einen Schwätzer. Aber daran ist Drey selber nicht schuldlos. Er redet zuviel, um nichts sagen zu müssen: sarkastische Entschuldigungen über seinen vielleicht voreiligen Anruf. Beschwörende Bitten, alles Aufsehen zu vermeiden. Täppische Versuche, sich mit dem Hinweis, der Ärztliche Direktor werde bald eintreffen, aus der Affäre zu ziehen. Es folgen allgemeine Erörterungen über psychische Dämmerzustände, in denen ein Mensch Handlungen begeht, die … 55
„Später, ja, bitte, später, Herr Doktor“, sagt Schuricht beruhigend, „zu den Einzelheiten kommen wir noch. Uns interessiert zuallererst einmal, wie Dr. Wittig die Sache sieht.“ Kant überläßt Schuricht die Führung des Gesprächs. Schließlich schadet bei seiner geringen Erfahrung etwas Zurückhaltung nicht. Er beobachtet Oberarzt Wittig. Wittig ist bereits dabei, überlegt und konzentriert Vermutungen vorzutragen: drei unterschiedliche Operationen, aber die gleichen, durch den Eingriff nicht zu erklärenden Symptome. Die Symptome deuten auf eine Vergiftung hin, für die es keine natürliche Erklärung gibt. Wie es scheint, also vorsätzliche Tötung, wahrscheinlich aus politischen Gründen, Sabotage, um es ganz deutlich zu sagen. Dr. Drey legt die Fingerspitzen beider Hände wie zum Gebet aneinander und sagt verlegen, so als schäme er sich seines Kollegen Wittig: „Ja, meine Herren, in dieser Situation mußte ich wohl schlechterdings um Ihre Hilfe bitten.“ Schuricht wendet sich zu Kant: „Ihre Meinung, Genosse Leutnant?“ Kant überhört den etwas zu forschen Ton in Schurichts Frage. „Die Argumente von Herrn Oberarzt Wittig erscheinen durchaus logisch. Aber vorerst muß doch wohl festgestellt werden, ob es sich tatsächlich um eine Vergiftung handelt.“ Der Staatsanwalt nickt. „Herr Chefarzt, ich ordne eine gerichtliche Leichenschau an.“ „Eine gerichtliche Obduktion?“ Dr. Drey weiß, daß er die Frage rein rhetorisch stellt. Die Würfel sind gefallen. Die Kugel rollt – oder wie immer man auch den nun unabänderlichen Lauf der Dinge bezeichnen will. Die beiden Herren haben sich bereits, daran zweifelt Drey nicht mehr, Wittigs mehr als fragwürdige Beweisführung zu eigen gemacht. Keine einfache Sektion, sondern eine ge56
richtliche, in Anwesenheit des Staatsanwalts, das heißt: Mordverdacht! Drey blickt heimlich zur Uhr. Wenn doch der Chef endlich käme! Während Schuricht das Institut für Gerichtliche Medizin in der Bezirkshauptstadt anruft, um die Obduktion gleich hier, an Ort und Stelle vornehmen zu lassen, fragt Dr. Wittig den Leutnant, ob er noch gebraucht werde. „Nein, vorerst nicht.“ „Dann mache ich jetzt die Visite.“ „Gut, Herr Oberarzt. Ich weise Sie darauf hin, daß Sie zu niemandem etwas über diese Angelegenheit verlauten lassen.“ „Das ist doch selbstverständlich, Genosse Leutnant.“ Es muß (wenn ich meine Erinnerung mit den Angaben der Betroffenen vergleiche) dann am späten Vormittag gewesen sein, als eine unverkennbar neue Situation eintrat. (Oder nehme ich nur heute an, daß sich da atmosphärisch etwas verändert haben mußte?) Hastigere Schritte als sonst in den Gängen? Die abweisende Geschäftigkeit der Schwestern? Daß der Chef plötzlich erschien, obwohl wir wußten, er war in Urlaub? Fielen uns die fremden Gesichter auf? War es an jenem Tag, als uns befohlen wurde, die Zimmer nicht zu verlassen? Und die Tür des Schwesternzimmers, die sonst immer offenstand, auf einmal geschlossen war? Was wurde hinter verschlossenen Türen verhandelt? An jenem Vormittag bittet Dr. Frieders, Chef der Chirurgischen Abteilung, Ärztlicher Direktor des Krankenhauses, seinen Stellvertreter Dr. Drey, Staatsanwalt Schuricht und Leutnant Kant in sein Zimmer. Schuricht äußert teilnehmende Worte über den unterbrochenen Urlaub. Im erschlafften Gesicht des Chefs regt sich nichts. Nur die hellgrauen Augen scheinen sich etwas spöttisch zusammenzuziehen. 57
„Also, Herr Staatsanwalt, ich höre.“ Schuricht berichtet, Drey ergänzt, Kant schweigt. Frieders erwidert, er werde sich keine Meinung bilden, bevor das Sektionsergebnis von Weber vorliege. Seine Sekretärin bringt Kaffee. Gleichzeitig mit ihr erscheinen in der Tür Dr. Walthari und Dr. Moskopf vom Institut für Gerichtliche Medizin. Dr. Walthari, heute Professor und Institutsdirektor, spielt in diesem Fall zwar keine Hauptrolle, aber ohne seine Mitarbeit wäre der Fall nicht aufgeklärt worden. Bei meinen Recherchen habe ich deshalb auch ihn befragt. Ich muß gestehen, Professor Walthari gibt mir Rätsel auf, die ich nicht lösen kann. Es fällt mir schwer zu verstehen, wie ein so offenherziger, ja, ich möchte sagen, wie ein Mann in der ganzen Unschuld seiner Heiterkeit dieses für mich so gräßliche Geschäft Tag für Tag ausüben kann, ohne Schaden an seiner Persönlichkeit zu nehmen. Walthari hat bis heute, wie er nüchtern feststellte, mehrere tausend Sektionen vorgenommen. Er hat Dutzende von Katastrophenopfern, Verbrannte, Zerfetzte identifiziert, hat Erhängte, Erdrosselte, Erstochene auf dem Tisch liegen gehabt, gedunsene Wasserleichen und verstümmelte Kindskörper untersucht, Schußkanäle in Schädeln sondiert, Massengräber faschistischer Opfer geöffnet, Verkehrstote obduziert. Ich weiß nicht, wie man das aushalten kann, wie man abends heimkommt, nach so einem Tag, zur Frau, zu den Kindern, wie man ein normales Leben führen kann, mit Freunden plaudert, sein Steak zerteilt und einen Himmelschlüsselwiesenausflug am Sonntag macht. Er jedenfalls kann es, und ich bewundere ihn deshalb. Allerdings würde ich ihm das nicht verraten, denn ich riskiere dabei, ausgelacht zu werden. Vielleicht würde er auch sagen, ich rechnete Gewohnheit und Gewöhnung nicht ein, und vielleicht würde ich ihm dann sogar recht geben und zugestehen, seine Tätigkeit sei eine Arbeit wie jede andere auch. 58
Es erscheinen also die beiden Gerichtsmediziner Walthari und Moskopf zugleich mit dem Kaffee. Sie erhalten auch jeder eine Tasse, und währenddem informiert sie Schuricht über das Notwendigste, auch über Wittigs Vermutung, zwei vorangegangene unerklärliche Todesfälle könnten sich auf gleiche Weise erklären lassen. Dr. Walthari will die Sektion von Weber sofort durchführen. Außer Dr. Frieders nehmen natürlich Staatsanwalt Schuricht und Leutnant Kant daran teil. Auch die Anwesenheit von Dr. Wittig wird für erforderlich gehalten. Als letzter in dem kleinen Zug betritt Kant den winzigen weißgetünchten Kellerraum. Der Sektionsgehilfe zieht das Tuch von der Leiche. Kant bleibt stehen. Er verspürt Herzklopfen, es ist die erste Obduktion, die er miterlebt. Hoffentlich halte ich durch, denkt er, schlimmstenfalls sehe ich weg. Es wird so schrecklich nicht sein, schließlich habe ich damals, im Krieg, genug Tote gesehen … Zwei Stunden später finden sich Schuricht und Kant wieder im Zimmer von Dr. Frieders ein. Walthari, Wittig und Moskopf sitzen bereits am Konferenztisch und unterhalten sich mit gedämpften Stimmen. Dann steht Walthari auf und faßt das vorläufige Ergebnis der Leichenöffnung zusammen: „Wir haben bei dem Toten eine trübe Schwellung von Leber und Nieren festgestellt, ferner ein Lungenödem und Veränderungen am Herzmuskel. Im Darmtrakt fanden wir grünlichen, dünnflüssigen Kot. Eine Vergiftung ist möglich.“ „Möglich, Herr Doktor, oder wahrscheinlich?“ fragt Schuricht, der weiß, welche Bedeutung diese Nuancen der Wortwahl haben. „Wahrscheinlich, Herr Staatsanwalt“, erwidert Walthari und nimmt wieder Platz. „Mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit?“ bohrt Schuricht weiter. „Das, Herr Staatsanwalt, können wir erst nach der to59
xikologischen Untersuchung sagen. Wir haben die für die Giftanalyse notwendigen Organe sichergestellt. Wir nehmen die Analyse noch heute im Institut vor. Sie erhalten umgehend Bescheid.“ „Ich bitte darum“, bemerkt Schuricht unnötigerweise. Und fragt nochmals: „Liegt Ihrer Meinung nach ein Giftmord vor? Sie verstehen, wie wichtig das jetzt für uns ist.“ „Natürlich verstehen wir das. Ich würde sagen, führen Sie die Untersuchung so, als ob eine Vergiftung vorläge.“ „Der Herr Staatsanwalt spricht von Giftmord“, schaltet sich der Chef ein. „Aber eine Vergiftung muß doch noch kein Mord sein. Es kann doch auch – sagen wir, ein Unglücksfall vorliegen.“ „Gewiß, Herr Kollege.“ „Können Sie schon etwas über die Art des Giftes sagen?“ drängt Schuricht. „Warten Sie doch bitte die Analyse ab!“ Schuricht nickt resigniert. „Da ist noch etwas, Herr Staatsanwalt“, fährt Walthari fort. „Sie äußerten, möglicherweise seien bereits zwei ähnliche Todesfälle vorgekommen.“ „Ganz recht, Herr Doktor. Das vermutet jedenfalls Herr Doktor Wittig.“ Dr. Walthari wendet sich an den Direktor: „Könnten Sie mir die Sektionsprotokolle zur Einsicht geben? Vielleicht existieren auch Leberschnitte?“ Dr. Frieders wird blaß. „Wir haben leider keine Unterlagen“, sagt er stockend. „Wie?“ Walthari spricht nur dieses eine Wort. Aber wie er es ausspricht – schärfer hätte er keinen Ausdruck der Verwunderung und Mißbilligung formulieren können. Wittig wirft ein: „Der Herr Chefarzt befand sich damals unter Zeitdruck. Außerdem ging es hauptsächlich um den Nachweis, daß kein Kunstfehler begangen worden war –“ Walthari nimmt das Plädoyer Wittigs nicht zur Kennt60
nis. Er erhebt sich und sagt kühl: „Dann entschuldigen Sie uns jetzt wohl.“ Als die beiden Gerichtsmediziner das Zimmer verlassen haben, bittet Schuricht Dr. Frieders, ob er ihm und dem Leutnant ein Zimmer zur Verfügung stellen könne, er wolle mit ihm die nächsten Schritte der Untersuchung beraten. Der Chef überlegt, Zimmer seien knapp. „Würden Sie mit dem Archivraum vorliebnehmen?“ Er führt sie selbst hin. Zwischen Regalen und Karteischränken befindet sich ein langer roher Tisch mit mehreren ungefügen Holzstühlen. „Wir können ja die Stühle mit zwei Klubsesseln vertauschen.“ „Später“, meint Schuricht, „falls wir den Raum längere Zeit brauchen sollten.“ Nun sind die beiden allein. „Die Sache stinkt, wie?“ fragt Schuricht. Kant ist gleicher Meinung. „Wie lange ist Ihr Chef noch auf Lehrgang?“ „Noch zwei Wochen.“ Schuricht seufzt. Kant empfindet diesen unbeherrschten Laut als Beleidigung. Er sieht Schuricht die Anstrengung des Nachdenkens an. Schließlich sagt Schuricht entschlossen: „Ich informiere die Bezirksbehörde. Der Fall ist für Sie allein zu kompliziert.“ „Ja“, sagt Kant, „da können Sie recht haben, Genosse Staatsanwalt.“ Schuricht starrt den Leutnant an und erwidert kurz angebunden: „Ich habe recht.“ Ich versuche mir vorzustellen, in welchem Zustand sich Dr. Wittig in der nächsten Stunde befand. Die Obduktion hatte seine Vermutungen nicht widerlegt, sondern eher bestätigt. Welches Spiel wird hier gespielt, mußte er sich fragen, wer zieht die Drähte, wer sind die Puppen, und welche Rolle spiele ich selber? 61
Er möchte mit Inge sprechen, mit irgend jemandem muß er jetzt reden. Die Weisung des Leutnants, nichts verlauten zu lassen, bezieht sich nicht auf Inge, sie weiß sowieso Bescheid, er braucht jetzt einen Menschen, dem er sein Herz ausschütten kann. Aber es findet sich keine Gelegenheit, sie allein zu treffen. Als er ins Schwesternzimmer geht, befindet sich auch Schwester Annemarie darin. Und als er später Inge auf dem Gang begegnet und sie gerade ansprechen will, kommt Kowalski vorbei, bleibt stehen und fragt: „Können Sie mir vielleicht sagen, was hier eigentlich los ist?“ „Da müssen Sie schon den Chef fragen“, erwidert Wittig schroff. Kowalski lacht. „Hier weiß doch inzwischen jeder, was Sie da ins Rollen gebracht haben. Kennt man inzwischen die Todesursache von Weber?“ „Wir warten noch aufs Ergebnis.“ „Aha“, sagt Kowalski vieldeutig. Und fügt hinzu: „Na hoffentlich sind Sie mit dem Ergebnis zufrieden.“ „Hören Sie mal, Herr Kowalski, ich weiß sehr wohl, welche Verdächtigungen Sie überall gegen mich ausstreuen –“ „Überall? Wo zum Beispiel?“ „Verdachtsdiagnosen, Vermutungen, ohne den geringsten Beweis! Ich verbitte mir das ganz energisch!“ Kowalski setzt zu einem Grinsen an, lenkt dann aber plötzlich ein. „Schließlich suche ich auch nach einer Erklärung, Herr Wittig. Regen Sie sich doch nicht so auf. Mir ist auch schon mal eine Naht aufgegangen, das kann doch vorkommen.“ „Die Naht war in Ordnung!“ „Na, dann um so besser für Sie“, bemerkt Kowalski kühl. Etwas später – Wittig versucht sich durch die Niederschrift einiger Befunde etwas abzulenken – kommt der Chef, setzt sich, stopft sich umständlich die Pfeife und 62
sagt: „Vergiftung muß ja wirklich noch kein Mord sein. Das hat Walthari doch zugegeben. Ich werde vorsorglich alle Lebensmittel aus der Stationsküche, auch die Reste, im Labor untersuchen lassen.“ „Du denkst an eine Lebensmittelvergiftung?“ „Botulismus, ja. Wäre doch möglich.“ Gegen siebzehn Uhr übermittelt Dr. Walthari Staatsanwalt Schuricht den vorläufigen Befund der toxikologischen Untersuchung. Weber ist an einer Vergiftung gestorben, und zwar an Arsentrioxid, Arsenik genannt. Die Vergiftung ist mindestens zehn Stunden vor dem Tod erfolgt. Eine zufällige unbeabsichtigte Vergiftung hält Dr. Walthari unter den gegebenen Umständen für unwahrscheinlich. Man muß also ein Tötungsverbrechen annehmen. Kurz darauf kommt ein Anruf von der Bezirksbehörde der Volkspolizei. Schuricht und Kant erhalten die Mitteilung, daß Major Ellrodt die weitere Untersuchung leiten und noch heute abend in Vorberg eintreffen werde. Kant habe sich dem Genossen Major zur Verfügung zu halten. Schuricht legt den Hörer auf. „Ellrodt“, sagt er, und in seine gleichförmige Stimme tritt ein Goldton von Ehrfurcht. „Ellrodt! Der die Mordserie Schickedantz aufgeklärt hat, Sie wissen doch, 1948 an der Zonengrenze. Schickedantz gab sich als Lotse für Grenzgänger aus, erschlug die Leute und raubte sie aus und …“ „Ich kenne den Fall.“ „Ellrodt!“ wiederholt Schuricht und schüttelt den Kopf, als könne er sein Glück noch nicht fassen. Schuricht hält mich für eine Niete, denkt Kant. Er will sich nicht schon wieder über die erneute Taktlosigkeit des Staatsanwalts aufregen und spürt doch, wie seine Verstimmung zunimmt. Aber Schuricht merkt das nicht. „Wir sollten trotzdem 63
nicht auf den Genossen Ellrodt warten“, sagt er geschäftig, „sondern sofort mit der Arbeit beginnen.“ Wir – das heißt doch wohl, daß sich Kant nun in die Ermittlung einbezogen fühlen soll. Kant schlägt vor, als erstes nochmals mit Dr. Frieders und Dr. Wittig zu sprechen. „Wittig hat doch von zwei weiteren unerklärlichen Todesfällen auf seiner Station gesprochen, mit ähnlichen Symptomen. Und hat aus dieser möglichen Reihung von Todesfällen auf Sabotage geschlossen. Sollten wir nicht hier ansetzen, Genosse Staatsanwalt?“ „Ohne die Ärzte können wir das nicht beantworten!“ Das Gespräch mit Dr. Frieders und Dr. Wittig findet in Dr. Frieders’ Arbeitszimmer statt. „Meine Herren“, sagt Kant, „beginnen wir unsere Überlegungen nochmals von vorn. Bei Ihren beiden andern Toten, Herr Oberarzt, sollen ähnliche Symptome wie bei Weber aufgetreten sein. Herr Chefarzt, würden Sie daraus schließen, daß diese zwei dann auch einer Arsenikvergiftung zum Opfer gefallen sein könnten?“ Frieders antwortete nicht. Er gibt Wittig durch eine Geste zu verstehen, er solle sich äußern. „Eben von dieser Schlußfolgerung ging ich aus, Herr Leutnant.“ „Aber warum, Herr Direktor, haben Sie dann bei der Sektion keine Vergiftung festgestellt?“ „Nun, Herr Kant“, sagt Frieders behutsam, und man merkt, wie vorsichtig er jetzt jedes Wort wählt, „ich konnte sie nicht feststellen, weil ich nicht danach gesucht habe. Ich habe lediglich das Operationsgebiet überprüft. Wie ich nochmals betonen muß: hinsichtlich eines möglichen Kunstfehlers von Herrn Doktor Wittig. Einen Kunstfehler konnte ich in beiden Fällen absolut ausschließen.“ „Aber gerade dieses Ergebnis hätte doch Anlaß zu weiteren Untersuchungen sein müssen!“ Kant sieht ein müdes Lächeln auf dem Gesicht des Chefarztes. 64
„Also haben Sie sich mit einem unklaren Ergebnis zufriedengegeben“, stellt Kant nicht ohne Schärfe fest. Schuricht nickt zustimmend. Wittig blickt zu Boden. Der Chef hebt resigniert die Hände. „Aus der heutigen Sicht sieht es aus, als sei nachlässig gearbeitet worden. Aber unter den damaligen Umständen war nicht mehr zu tun.“ Kant fragt sich, ob der Chefarzt wirklich recht hat oder ob er eigene Fahrlässigkeit nur bagatellisiert. Er spürt den unmerklichen Widerstand des Arztes gegen die Erörterung dieses Themas. Das erleichtert nicht gerade eine rückhaltlose Verständigung. Er blickt zu Schuricht. Schuricht strafft seinen mageren Körper und setzt sich senkrecht. „Ihre Auskünfte, Herr Chefarzt, befriedigen mich ganz und gar nicht. Wir brauchen Gewißheit. Die beiden Toten müssen exhumiert werden.“ „Exhumiert.“ Tonlos wiederholt Frieders das Wort. Er nickt mechanisch und beginnt seine Pfeife zu stopfen. Armer Chef, lieber Freund, denkt Wittig. Drei Morde vielleicht, in deiner Klinik. Und von dir wird dafür die Verantwortung gefordert. Armer alter Mann, das steht am Ende alles Glanzes, aller Erfolge.
Montag, 6. Juni, 18 Uhr 40 7 Der sagenhafte Ellrodt entpuppt sich als Zwillingsbruder Schurichts, wenigstens äußerlich. Die in einem dunkelblauen Anzug steckende magere Gestalt unterscheidet sich von Schuricht nur durch die Hornbrille, die auf den hageren Wangen nicht aufliegt und ständig nach unten rutscht. Um sie wieder in die richtige Lage zu befördern, hat sich Ellrodt eine zuckende Bewegung der rechten Wange angewöhnt. Deshalb wirkt er ständig nervös. 65
Ich wartete förmlich auf den nächsten Reflex und wurde selber ganz nervös dabei, erzählte mir Kant, und habe es deshalb möglichst vermieden, Ellrodt anzublicken. Ellrodt hat das natürlich bald gemerkt und mich wahrscheinlich für unsicher und befangen gehalten. Schuricht und Ellrodt jedenfalls waren von der ersten Minute an ein Herz und eine Seele, sie kannten sich seit Jahren und wußten um Wert und Vorzüge des anderen. Ich hatte damals den Eindruck, Ellrodt nimmt mich als notwendiges Übel eben so mit in Kauf. Ellrodt hat sich aber nicht etwa arrogant verhalten, nein, er nahm einfach keine Notiz von mir. Er betrachtete Schuricht als seinen einzigen wirklichen Partner. So sitzt Kant also auf seinem Holzstuhl am Archivtisch, am unteren Ende, und hört unbeteiligt zu, wie Ellrodt und Schuricht erst einmal eine halbe Stunde lang Erinnerungen austauschen. „Weißt du noch, damals“, und „Jaja, als wir noch im Komitee waren“ und „Der Fall war doch von Anfang an klar wie Kloßbrühe“ und was sonst noch dergleichen in einer solchen Situation gesagt wird. „Was nun den Täter betrifft, Karl“, bemerkt der Staatsanwalt, „so sollten wir Doktor Wittigs Verdacht durchaus ernst nehmen. Hier könnte sich wieder einmal die geniale These des Genossen Stalin bewahrheiten, daß sich mit der Festigung der sozialistischen Gesellschaft der Klassenkampf im Innern verschärft.“ Ellrodt kneift die Augen zusammen und blickt seinen Freund wortlos an. „Die Verbrechen“, fährt der Staatsanwalt fort, „nehmen zu, die unsere Arbeiter-und-Bauern-Macht schädigen sollen. Der Feind schleust immer mehr Terroristen, Agenten und Saboteure ein oder kauft sich solche Subjekte. Warum nicht auch in Vorberg?“ „Du hast wohl den Fall bereits gelöst“, bemerkt Ellrodt nicht ohne Sarkasmus. 66
Schuricht stutzt einen Moment. „Auch Oberarzt Wittig geht von dieser Erfahrung aus“, sagt er dann. „Sicherlich dachte er an die Havarie im MAB. An den Überfall auf unsern Genossen Andersch, der auf seiner Station lag. Und an den Einsturz der neuen Auenthal-Brücke. Und fragte sich, warum sollten diese Diversanten nicht auch einmal ganz woanders ansetzen und auf einem neuen Frontabschnitt aktiv werden?“ „Das hat schon etwas für sich, Paul. Nur eines ist mir nicht ganz klar dabei. Der Klassenfeind will uns hauptsächlich materiell treffen. Aber wo liegt hier die materielle Schädigung?“ „Hör mal, Karl, nun sei doch kein Dogmatiker. Natürlich steht die materielle Schädigung unserer Volkswirtschaft im Vordergrund. Aber das schließt doch nicht aus, daß der Feind … nun?“ „Du willst auf die ideologische Diversion hinaus, wie? Psychologische Kriegführung.“ „Genau. Stell dir doch mal vor, wenn dieser Fall publik wird. Und dann noch gehörig ausgeschlachtet von drüben! Drei Morde im Krankenhaus! In einer sozialistischen Klinik! Die Auswirkung kannst du dir auch ohne Pinsel und Tusche ausmalen!“ „Ja, Paul, das hab’ ich richtig im Ohr. ‚Schönes sozialistisches Gesundheitswesen!‘ ‚Lieber zu Hause krepieren als im Krankenhaus durch Rattengift!‘ “ „Deshalb müssen wir so schnell wie möglich das Rattennest ausräuchern.“ „Du suchst also den Täter im Hause, Paul?“ „Ja, ich halte es für höchstwahrscheinlich, daß er hier zu finden ist.“ „Also müssen wir zuerst einmal das gesamte Personal überprüfen. Wer hat Verbindungen nach Westdeutschland, Verwandte, Freunde, wer hat noch Kontakt zu Republikflüchtigen. Jeden unter die Lupe nehmen!“ 67
„Vom Chefarzt bis zur Küchenhilfe“, ergänzt Schuricht entschlossen. „Gestatten Sie, Genossen, noch eine Frage“, meldet sich Kant vom unteren Ende des Tisches. Sie blicken überrascht zu ihm hin. „Ja, mein Junge?“ ermuntert ihn Ellrodt. „Wir müßten aber doch auch gleichzeitig feststellen, wie man hier in der Klinik an Arsenik kommen kann. Wer vom Personal die Möglichkeit hat, es den Patienten zu verabreichen. Ich meine, der Chefarzt beispielsweise kommt dafür bestimmt nicht in Frage. Und eine Stationsköchin? Weiß die denn überhaupt, welcher Patient nun gerade den vergifteten Pudding bekommt?“ Schuricht erwidert ärgerlich: „Lieber Freund, da sind Sie aber im Irrtum! Die Diät wird individuell angefertigt! Und außerdem – woher wollen Sie wissen, ob eine ganz bestimmte Person vergiftet werden sollte? Und nicht völlig wahllos irgendein Patient?“ „Fest steht, daß es nur Patienten betraf, die Doktor Wittig operiert hatte. Es liegt doch also wohl eine gezielte Vergiftung vor.“ Kant sagte mir, er erinnere sich noch genau an dieses Wortduell, aber er wußte nicht mehr, warum er sich so despektierlich verhielt. Wahrscheinlich hat mich, erklärte er, die selbstherrliche Sicherheit der beiden Genossen geärgert, die Eilfertigkeit, mit der sie ohne Kenntnis von Tatsachen gleich eine Theorie bei der Hand hatten. Vielleicht war ich einfach auch wütend, weil sie mir anscheinend eine völlig bedeutungslose Rolle zugedacht hatten. Jedenfalls bewirkte mein respektloses Verhalten, daß Ellrodt mich fragte, welche Probleme der Genosse außerdem sehe. „Das einzige, was bisher feststeht, Genosse Major, ist die eben erwähnte Tatsache, daß alle drei Toten von Doktor Wittig operiert worden sind. Also muß das Verbrechen irgendwie mit Wittigs Person zusammenhängen.“ „Das ist doch klar!“ ruft Schuricht. 68
„Nun, wenn das so klar ist, Genosse Staatsanwalt, müssen wir die Sabotagetheorie von einer ganz anderen Seite her sehen!“ „Da bin ich aber neugierig, Genosse Leutnant.“ „Ein Täter, der das Vertrauen der Bevölkerung in unser Gesundheitswesen untergraben will, würde blindlings irgendwelche Patienten umbringen. Warum aber ausgerechnet Patienten Doktor Wittigs?“ „Vielleicht soll Wittigs Ruf untergraben werden?“ mutmaßt Ellrodt. „Er sagte mir, weil er Genosse ist.“ „Man kennt die politische Situation an mancher Klinik“, bestätigt Schuricht. „Die wenigen Genossen Ärzte werden geschnitten, nach der Devise: ‚Wir halten unser Haus stubenrein!‘ Vielleicht will man tatsächlich Wittig auf diese Weise fertigmachen.“ Schuricht spinnt den Gedanken weiter. „Mürbe klopfen. Eine neue Variante der Abwerbung unserer Spezialisten. Das wollten Sie wohl damit ausdrücken, Genosse Leutnant?“ „Ich wollte lediglich sagen, daß Doktor Wittig die Schlüsselfigur dieses Falles sein könnte.“ Das akzeptieren die beiden wohl, denn sie halten Kants Argumenten nichts mehr entgegen. Schuricht erhebt sich plötzlich. „Der Fall liegt ja nun in guten Händen“, sagt er und schüttelt Ellrodt lange und nachdrücklich die Hand, nickt Kant zu und verläßt das Zimmer. Der sagenhafte Ellrodt versinkt in Schweigen. Kant achtet die Besinnungspause – die hoffentlich auch eine Besinnung auf seine Anwesenheit ist –, beobachtet den Wangenreflex und beschließt, lieber nicht mehr hinzuschauen. Er betrachtet die Maserung des Tisches und wartet. „Also, mein Junge, wie lange bist du schon beim Bau?“ läßt sich Ellrodt plötzlich vernehmen. „Ein halbes Jahr.“ 69
„Und vorher?“ „Schule, Genosse Major.“ „Jaja. Und davor?“ „Universität. Fünf Semester.“ „Fünf Semester. Und was?“ „Philosophie.“ „Aha. Philosophie. Was denkst du jetzt? Der Alte wird grinsen? Ich grinse nicht, siehst du das?“ „Ich sehe es, Genosse Major.“ „Hätte so was auch gemacht, verdammt gerne. War nicht drin. Na, muß eben der Klasseninstinkt ausreichen. Und vor dem Philosophiestudium?“ „ABF.“ „Und davor?“ „Maschinenschlosser, Genosse Major.“ „Großartig!“ Er steht auf, geht zum unteren Ende des Tisches und setzt sich neben Kant. „Also da paß mal schön auf. Damit du was mitbekommst für deine Praxis. Du hast vorhin bestimmt gedacht, du hättest Schuricht mit deiner frechen Bemerkung so richtig aufs Kreuz gelegt. Ist dir ja auch gelungen. Mich kriegst du damit nicht. Im Gegensatz zu Schuricht habe ich Selbstbewußtsein.“ Er kichert vor sich hin. „Du willst also schlau sein, mein Junge, Na denn. Was schlägst du vor?“ „Ich schlage dir vor, Genosse Major, daß wir zuerst …“ „Halt mal, halt mal die Luft an. Wann hätte ich dir erlaubt, mich zu duzen, he?“ „Entschuldigung, Genosse Major.“ Ellrodt winkt souverän ab. „Also was nun?“ „Wir sollten zuerst einen Arbeitsplan machen, Genosse Major.“ „Erstens, zweitens, drittens, schön numeriert, die Tippeltappeltour. Wie auf der Schule gehabt, was?“ „Wir haben tatsächlich gelernt, daß der Kriminalist planvoll und systematisch arbeiten muß, und …“ 70
„Geschenkt! Habe ich auch gelernt. Auf Kurzlehrgang. Und wieder vergessen.“ „Und wie, Genosse Major, haben Sie dann den Schickedantz-Fall gelöst? Durch Intuition?“ „Also wie sieht denn dein prachtvoller Plan nun aus?“ „Ich müßte vorher noch auf eine Besonderheit des Falles hinweisen.“ „Nämlich?“ „Er wird nicht leicht aufzuklären sein.“ Wieder antwortet ihm ein dünnes Lachen. „Kennst du einen Fall, mein Junge, der leicht aufzuklären wäre? Ich habe nur einen einzigen erlebt. Als der Mörder bei der Tat seinen Personalausweis verlor. Wir fanden ihn unter seinem Opfer. Aber das erlebe ich kein zweites Mal.“ „Ich meine, der Fall ist deshalb besonders schwierig, weil …“ „Wieviel Mordfälle hast du schon gehabt, mein Junge?“ „Noch keinen.“ Da Ellrodt aber nicht die Absicht erkennen läßt, sich darüber lustig zu machen, fügt Kant hinzu: „Bei dem Mord an Weber gibt es keinerlei Spuren mehr. Außer dem Gift in seinem Körper. Die beiden vorangegangenen Morde – wenn es Morde waren – wurden nicht als Morde erkannt. Das zeigt, wie einfach es für den Mörder gewesen sein muß. Um so schwerer wird es für uns.“ „Aber einer hat das Gift verabreicht. Oder eine. Und diese Person werden wir finden. Und was du vorhin gesagt hast, Leutnant, der Chef ist zu groß und die Köchin zu klein dafür – schlag dir solche Albernheiten mal schnell aus dem Kopf. Wir nehmen uns jeden vor, hörst du, jeden!“ „Jawohl, Genosse Major.“ „Und dein Plan? Was ist nun mit deinem Plan? Hast du auch Karteiblätter angelegt? Erstens Tatbestandsaufnahme, zweitens Ermittlung Verdächtiger, drittens Prü71
fung der Verdächtigen, viertens Überführung der Beschuldigten? Wenn wir bis dahin gelangen, mein Junge, bis Nummer vier, und wir werden dorthin kommen, mit Gottes und meiner Hilfe und deinem bescheidenen Anteil, spendierst du mir eine Flasche Wodka, aber den echten, den Moskowskaja, kapiert?“ „Jawohl, Genosse Major!“ „Sag mal, warst du schon einmal krank?“ „Vor vier Jahren. Lebensmittelvergiftung. Ich lag drei Wochen in der Klinik.“ „Na, dann hast du ja Erfahrung mit diesem Betrieb.“ „Ich lag auf Isolierstation. Abseits, in einer Baracke.“ „Na, großartig, ist also für uns beide Neuland. Scheißklinik. Mondstation. Mit eignen Gesetzen. Die durchschaust du nicht so schnell, laß dir das gesagt sein.“ Ellrodt nimmt die Brille ab und fährt sich mit zwei Fingern über die Nase. Seine Augen sind gerötet. Chronische Bindehautentzündung, denkt Kant, warum tut er nichts dagegen? „Was hast du eigentlich bei den Philosophen profitiert?“ Die zusammenhanglosen Fragen Ellrodts irritieren Kant. Aber vielleicht ist das System. Um Zeit zum Nachdenken zu finden, wiederholt er die Frage. „Was ich dort profitiert habe?“ Die Antwort ist schwierig. Es kann nur eine Antwort im Telegrammstil sein. Denn Ellrodt hat doch nicht im Ernst vor, jetzt über Philosophie zu philosophieren? „Nun streng mal dein schlaues Köpfchen an, mein Junge.“ „Ach“, erwidert Kant, „ich stand ja erst ganz am Anfang. In der Geschichte der Philosophie sind wir nur bis zur Renaissance gekommen.“ Er blickt Ellrodt zweifelnd an. Was weiß der über die Renaissance! „Die Renaissance erzeugt Riesen an Denkkraft und Leidenschaft. Engels.“ 72
Kant hat plötzlich das Gefühl von Nähe und Vertrautheit. Vielleicht ist es dieser Satz, den er auch einmal gelesen hat und im Seminar interpretieren mußte. Er verbindet ihn mit diesem Genossen, der sich sein bruchstückhaftes Wissen sicher unter viel größeren Mühen aneignen mußte als er. Er schluckt und sagt: „Ja, Riesen an Denkkraft und Leidenschaft. Bacon zum Beispiel – auch von Bacon habe ich profitiert, Genosse Major. Nämlich, daß man sich nicht von Idolen täuschen lassen soll.“ „Haha, Idole“, bemerkt Ellrodt sarkastisch, „dein Idol bin ich, mein Lieber, die Erfahrung, sonst nichts.“ „Mit den Idolen meint Bacon allerdings etwas anderes, Genosse Major.“ „Jetzt kommt eine Vorlesung, wie?“ „Bacon meint damit vorgefaßte Meinungen. Idola Theatri beispielsweise –“ Kant bricht ab, erwartet eine Frage, einen verwunderten Einwurf, sieht sich hierin getäuscht und fährt fort: „Damit meint Bacon Irrtümer, die zur öffentlichen Meinung geworden sind und nun als Wahrheit gelten. Statt sie zu überprüfen, unterwerfen wir uns diesen vorgefaßten Meinungen. Geraten unter die Herrschaft von Dogmen, Lehrsätzen und …“ „Und die Dialektik? Von der habt ihr wohl nie was gehört, wie?“ „Natürlich, Genosse Major.“ „Ist ja ein Trost. Also nun paß mal genau auf. Ich werde jetzt noch ein Plauderstündchen halten mit dem Chef. Ich brauche Einsicht in die Kaderunterlagen des Personals. Inzwischen schaust du dich mal ein bißchen im Gelände um. Wie der Betrieb hier so läuft. Läßt nichts aus, läßt dir alles zeigen. Der Direktor hat zugestimmt. Oberarzt Wittig wird dich beim Rundgang begleiten. Siehst dir alles an, Operationssaal, Küche und Krankenräume, Ärzte- und Schwesternzimmer. Und machst 73
dich mit Dienstplan und Tagesablauf auf der Station vertraut, kapiert?“ „Jawohl, Genosse Major.“ „Zum Beispiel müssen wir feststellen, wie man den Leuten das Gift verabreichen könnte. Im Pudding, hast du vorhin gesagt, ich hab’s nicht vergessen. Also nun die realen Möglichkeiten! Und wo bekommt einer das Arsenik her? Und so weiter, du hast dir ja die Fragen selber schon zurechtgelegt. Punkt eins in deinem Plan, Tatbestandsaufnahme, das ist doch nach deinem Geschmack. Halt, halt, wo willst du denn hin?“ Kant war schon aufgestanden, nun bleibt er stehen. „Entschuldigen Sie, ich wollte nur meine Frau anrufen, daß es später wird heute abend.“ „Aha. Eine Frau hat er auch. Heißt –?“ „Chris. Christa. Sie ist Lehrerin für Kunsterziehung.“ „Vorbildlicher Ehemann. Wir werden langsam solide. Also dann ruf sie an und geh an die Arbeit.“
Montag, 6. Juni, 19 Uhr 15 8 Während sich Dr. Frieders mit Major Ellrodt zusammensetzt, erscheint Oberarzt Wittig mit Oberpfleger Schultheiß bei Kant. „Ich sollte Sie durch die Klinik führen, Genosse Leutnant. Leider ist mir ein Unfall dazwischengekommen, ich muß in den OP. Der Oberpfleger wird sich Ihrer annehmen und Ihnen alles zeigen, was Sie sehen möchten.“ „In Ordnung, Herr Oberarzt, danke.“ „Nun, Herr Leutnant“, fragt Schultheiß, „was wollen Sie zuerst sehen?“ „Zuerst einmal alle Räume, die zur Station gehören.“ Schultheiß schließt die Tür des Chefzimmers hinter sich und bleibt stehen. „Darf ich zuvor etwas fragen, 74
Herr Leutnant? Wenn ich wüßte, was Sie genau suchen, könnte ich Ihnen vielleicht besser behilflich sein.“ „Nun, Herr Schultheiß, Sie werden ja inzwischen wissen, was geschehen ist. Der Patient Weber ist vergiftet worden. Wie könnte ihm das Gift beigebracht worden sein? Und wie – daß heißt zugleich: Wo? Was ist Ihre Meinung?“ „Ja, das läßt sich so leicht nicht beantworten, Herr Kant“, erwidert der Oberpfleger nachdenklich. „Eigentlich würde ich sagen, das ist überhaupt unmöglich. Wie soll man denn hier einem Patienten Gift geben? Und wer soll das tun? Und warum?“ „Nicht so viele Fragen auf einmal! Wenn jemand operiert worden ist, was geschieht dann mit ihm?“ Schultheiß lächelt. „Er wird aus dem OP-Raum ins Krankenzimmer zurückgefahren.“ „Von wem?“ „Vom Kollegen Wuttke. Das ist unser Krankenpfleger. Aber beim Rücktransport, Herr Leutnant, da spielt sich bestimmt nichts ab. Da ist der Patient noch unter Narkosewirkung. Und außerdem …“ Schultheiß schüttelt den Kopf. „Und außerdem?“ „Für Wuttke lege ich die Hand ins Feuer. Das ist ein alter Mann, eine Seele von Mensch, nee, Herr Leutnant, also das wäre wirklich absurd!“ „Bleiben wir mal bei Weber. Ist Weber noch bewußtlos gewesen, als er aus dem OP-Raum zurückgebracht wurde?“ „Nach einer Magenresektion? Natürlich! Das wird Ihnen auch der Oberarzt bestätigen.“ „Ist Weber dann später nochmals transportiert worden? In andere Räume, zu irgendwelchen Untersuchungen?“ „Nicht, daß ich wüßte. Nein, bestimmt nicht, wozu auch? Aber das müßten Sie ebenfalls Doktor Wittig fragen.“ 75
„Dann zeigen Sie mir doch mal das Zimmer, in dem Weber zuletzt gelegen hat.“ „Das ist Zimmer drei. Kommen Sie bitte, Herr Leutnant.“ Vor dem Zimmer bleibt Schultheiß unschlüssig stehen. „Wir wurden doch angehalten, nicht über die Sache zu sprechen. Die Patienten werden sich natürlich wundern, daß da jetzt abends noch jemand kommt und Fragen stellt.“ „Lassen Sie mich das mal machen, Herr Schultheiß.“ Der Oberpfleger öffnet die Tür, und Kant tritt ein. Er blickt auf zwei Betten. Die beiden Männer wenden ihm ihre Gesichter zu, es sind zwei alte Männer. „Guten Abend“, sagt Kant und wartet, bis Schultheiß eingetreten ist und die Tür schließt. „Entschuldigen Sie, daß ich Sie störe –“ „Sie stören uns nicht“, erwidert der eine mit dem dunklen, wettergegerbten Gesicht, „jede Störung, wissen Sie, ist für uns eine angenehme Abwechslung.“ „Da bin ich beruhigt.“ Kant lächelt und schiebt den Stuhl, der neben dem Waschbecken steht, in die Mitte des Zimmers. Während er sich setzt, sagt er: „Ich bin Leutnant Kant von der Kriminalpolizei. Ich möchte Ihnen gern einige Fragen stellen.“ „Mein Name ist Schrell. Ich bin Neubauer“, entgegnet der Alte und grinst. „Wir haben schon gehört, daß die Kripo im Hause sein soll, aber wir haben ein gutes Gewissen, Herr Leutnant.“ „Das will ich Ihnen gern glauben. Es handelt sich um Herrn Weber.“ „Der arme Weber“, murmelt Schrell. Er deutet mit einer Bewegung des Kopfes zum Nachbarbett. „Dort hat er gelegen. Wollte zu schnell wieder hinaus. Und dann ging’s noch viel schneller. Ja –“ Er seufzt und fragt: „Da war wohl was nicht in Ordnung bei ihm, beim Herrn Weber?“ 76
„Was soll denn da nicht in Ordnung gewesen sein?“ „Hören Sie mal, Herr Schrell“, mischt sich der Oberpfleger ein, „stellen Sie doch nicht so neugierige Fragen. Schließlich will der Herr Leutnant heute auch noch seinen Feierabend haben.“ „Na wieso denn neugierig, Herr Schultheiß!“ wendet Schrell gekränkt ein. „Weil doch niemand etwas Genaues weiß“, erklärt Schultheiß und blickt Kant fragend an, ob er sich auch richtig verhalte in dieser heiklen Angelegenheit. Kant macht eine beschwichtigende Handbewegung und wendet sich wieder an die Patienten. „Ist Ihnen etwas Besonderes aufgefallen an Herrn Weber?“ Der andere Alte, der bisher noch kein Wort gesprochen hat, meldet sich schüchtern. „Ich weiß gar nichts, ich bin doch erst heute vormittag in dieses Zimmer gelegt worden. Prostataoperation. Das ist schon schlimm genug und jetzt noch solche Fragen!“ „Herr Schrell“, fragt Kant, „nach der Operation von Herrn Weber, das war am …?“ „Ja, wann war denn das?“ grübelt Schrell. „Am Donnerstag, Herr Leutnant“, bemerkt der Oberpfleger. „Hatte Weber nach der Operation Besuch?“ Nach einigem Hin und Her stellt sich heraus, daß Webers Frau zweimal ihren Mann besucht hatte, einmal am Abend des Operationstages und dann am Sonntagnachmittag zur üblichen Besuchszeit. „Hat Frau Weber ihrem Mann etwas zu essen mitgebracht? Oder Getränke? Süßigkeiten? Kompott?“ „Ein Frischoperierter, Herr Leutnant!“ flüstert ihm Schultheiß zu. Natürlich, daran hat Kant nicht gedacht. „Er bekam noch Schleimdiät“, fügt Schultheiß hinzu. „Getränke, Kompott?“ fragt Schrell, dem das kurze Zwiegespräch entgangen ist. „Kann ich nicht sagen. Wissen Sie, ich hatte selber Besuch, die ganze Bagage stand 77
ums Bett herum, also von Kompott oder so hab’ ich da nichts gesehen.“ „Und sonst?“ fragt Kant mutlos. „Sonst ist Ihnen also nichts aufgefallen? Hat Herr Weber selber irgend etwas gesagt, ehe es so schlimm mit ihm wurde? Oder als es ihm schon so schlecht ging? Warum er solche Schmerzen hatte? Hat er darüber irgend etwas geäußert?“ „Er hat bloß gesagt, ich dachte, ich kann bald ’raus, und nun kommt wieder so ein Rückfall. Das hat er gesagt.“ Kant steht auf und bringt den Stuhl wieder zum Waschbecken zurück. „Sie gehen wohl schon?“ fragt Schrell enttäuscht. „Ja, vielen Dank auch, Herr Schrell, für Ihre Auskünfte, und gute Besserung. Ihnen auch!“ sagt er zum Prostatamann und verläßt das Zimmer. Draußen fragt er Schultheiß, wer am Sonntagnachmittag Dienst gehabt habe. „Schwester Annemarie, Herr Leutnant.“ „Hat sie jetzt Dienst?“ „Nein.“ Nun müßte Kant eigentlich fragen, in welchen Zimmern die beiden anderen Verstorbenen lagen, Ingenieur Rothkegel und der Student. Aber bevor die Exhumierung nicht stattgefunden hat, wäre das nur eine zusätzliche Komplikation. Kant hat das ziemlich sichere Gefühl, eine Befragung der Zimmerinsassen würde kaum mehr erbringen – falls überhaupt noch Patienten da wären, die mit den beiden zusammengelegen haben. „Wohin nun, Herr Leutnant?“ unterbricht Schultheiß Kants Überlegungen. „In den OP-Raum? Ins Schwesternzimmer? In die Stationsküche?“ „In die Krankenhausapotheke, Herr Schultheiß.“ „In meine Apotheke? Gern. Aber da müssen wir hinüber in den andern Trakt.“ Während sie über den Gang zur Treppe gehen und 78
den Hof überqueren, fragt Kant, weshalb Herr Schultheiß die Krankenhausapotheke führe und nicht ein Apotheker. „Personalmangel, Herr Kant. Ich bin schon über zwanzig Jahre im Dienst, da hat man seine Erfahrung. Deshalb hat der Chef die Leitung der Apotheke mir übertragen. Das ist nicht außergewöhnlich, das gibt es in anderen Kliniken auch noch.“ „Belastet Sie das nicht zu sehr? Oberpfleger und Apothekenverwalter?“ „Ach wissen Sie, wenn der Betrieb eingespielt ist, ist das schon zu schaffen. Die Zeiten, wo ich Medikamente ausgebe, sind festgelegt. Meine Frau allerdings, die sagt immer, übernimm dich nicht, du kümmerst dich zuwenig um die Familie. Irgendwie hat sie natürlich recht, die Klinik ist ja meine zweite Familie.“ „Das kann man aber wohl nicht von jedem sagen, nicht wahr?“ „Nee!“ erwidert Schultheiß spontan. „Weiß Gott nicht. Vor allem der Nachwuchs, die jungen Leute, die Mädchen, die haben alles mögliche im Kopf, bloß nicht ihre Arbeit, den Dienst am Menschen. Na ja, bei der Bezahlung – kann man ihnen nicht mal verdenken. Pflichtbewußtsein, das finden Sie bloß noch bei uns Dummen, den Alten.“ „Na na, so alt sind Sie ja nun noch nicht gerade.“ „An Dienstjahren schon, Herr Leutnant.“ Schultheiß zieht den Schlüsselbund aus der Tasche, steckt einen Sicherheitsschlüssel ins Schloß und schließt auf. Kant hat einen viel größeren Raum erwartet. In dem schmalen, schlauchartigen Gemach stehen an beiden Längswänden und in der Mitte Regale, mit Wattepaketen, Zellstoffballen, Geräten. Alles macht einen wohlgeordneten Eindruck. Nicht ohne Stolz weist der Oberpfleger auf sein kleines Reich. 79
„Worin besteht nun Ihre Arbeit, Herr Schultheiß?“ „Die Stationen bestellen ihre Medikamente und Materialien bei mir. Ich fertige dementsprechend Bestellisten für die Stadtapotheke an, bekomme die Sachen geliefert und gebe sie aus. Das ist eigentlich alles.“ Kant tritt einige Schritte in den Raum hinein. „Darf ich?“ „Immer zu, Herr Leutnant.“ Kant geht an den Regalen entlang, liest Etiketten, vertraute und unbekannte Namen, Vigantol und Rivanol, Bromural und Chininum hydrochloricum, Aminophenazin und Chloräthyl, Unguentum Zinci und Spiritus camphoratus und Novokain. „Und wo befindet sich der Giftschrank?“ Schultheiß weist auf einen an der Wand hängenden Kasten aus Stahlblech. Auch er ist mit einem Sicherheitsschloß versehen. Schultheiß öffnet und dreht die Tür bis zum Anschlag zurück. Auf mattgläsernen Scheiben stehen Fläschchen, liegen gestapelt Ampullenpackungen. Kant nimmt Flasche um Flasche, Schachtel um Schachtel in die Hand, liest wieder bekannte und unbekannte Namen, Morphium hydrochloricum, Opiumtinktur, Pervitin. Aber kein Arsenik. Er legt die Medikamente enttäuscht zurück. „Sie führen doch auch ein Giftkontrollbuch?“ „Natürlich, Herr Leutnant.“ Schultheiß reicht Kant das in schwarze Folie gebundene Heft und schlägt es auf. „Hier sind die Eingänge verzeichnet und da die Ausgänge. Sie werden vom Empfänger unterschriftlich bestätigt. Von Zeit zu Zeit findet eine Revision der Bestände und auch eine Kontrolle des Giftbuches durch den Chef statt.“ Aber auch im Giftbuch kann Kant keinen Vermerk über Arsenik entdecken, obwohl er die Eintragungen über zwei Jahre zurückverfolgt. Er klappt das Heft zu und gibt es Schultheiß zurück. 80
„Führen Sie in Ihren Beständen auch Arsenik?“ „Nein, keinerlei Arsenpräparate.“ „Ich fragte nur nach Arsenik.“ „Wir haben hier keine Abteilung für Hautkrankheiten und brauchen deshalb kein Arsenik.“ „Arsenik wird bei Hautkrankheiten verwendet?“ „Früher. Bei Lichen ruber z. B. und chronischen Ekzemen. Aber wie gesagt, es ist aus der Mode gekommen.“ „So daß um so eher noch alte Bestände dasein könnten.“ „Herr Leutnant, wir dürfen gar keine alten Bestände haben.“ „Wer außer Ihnen besitzt noch Schlüssel für die Apotheke und den Giftschrank?“ „Die Ersatzschlüssel sind beim Ärztlichen Direktor deponiert.“ „Und wer übernimmt Ihre Tätigkeit, wenn Sie mal verhindert sind oder krank?“ Schultheiß lacht. „Krank? Das ist, seit ich hier bin, noch nicht vorgekommen.“ „Eine beneidenswerte Gesundheit“, sagt Kant. „Ich habe allerdings auch noch nie im Krankenhaus gelegen.“ „Ach“, seufzt Schultheiß, „das geht manchmal schneller, als man denkt, leider.“ Kant geht zur Tür. Er läßt sich nicht anmerken, wie unzufrieden er ist. Das negative Ergebnis dieser Untersuchung läßt sich nicht anzweifeln. Der Bezug von Arsenik wäre mit Sicherheit im Giftbuch vermerkt worden. Hier gibt es kein Arsenik. Also ist hier auch nicht die Herkunft des Giftes zu suchen. Und das bedeutet, daß sich der Kreis anderer Möglichkeiten ins Unendliche ausdehnt, daß der Weg des Giftes aus der Klinik hinausführt in völlig ungewisse Richtungen. Der erste Schritt endet in einer Sackgasse.
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Montag, 6. Juni, 20 Uhr 55 9 Ellrodt zeigt sich nicht sonderlich enttäuscht, als Kant ihm die Ergebnislosigkeit seiner Nachforschungen mitteilt. Im Gegenteil. Er scheint sogar zufrieden zu sein. Für ihn gibt es nämlich eine andere Fährte. Im Gespräch mit Dr. Frieders und bei der ersten flüchtigen Durchsicht der Personalunterlagen ist Ellrodt bei Schwester Annemarie auf einige dunkle Punkte in der Vergangenheit gestoßen. Sie ist vor mehreren Jahren aus der Bundesrepublik zugezogen, hat noch Kontakte nach drüben und auch mehrere Reisen dahin unternommen. Schwester Annemarie hatte am vergangenen Sonntagnachmittag und -abend Dienst, zu jener Zeit also, da nach Meinung der Gerichtsmediziner die Vergiftung Webers erfolgt sein mußte. Ellrodt will Schwester Annemarie noch heute abend vernehmen. So spät noch? möchte Kant fragen. Aber schließlich geht es hier nicht um einen Ladendiebstahl, sondern um vielleicht drei Morde. Kant ahnt hinter Ellrodts Geschäftigkeit beginnendes Jagdfieber. Denn Ellrodt hat sich sogar zwei Befragungen vorgenommen. Er will außerdem mit Dr. Wittig sprechen, mit ihm zuerst. Auf dem Holztisch im Archivraum steht eine große Kanne heißer Kaffee. Ellrodt spielt den Gastgeber, er gießt Kant und sich ein, dann stellt er eine Schreibmaschine ans andere Ende des Tisches. „Schreibst du Maschine, mein Junge?“ „Ganz leidlich, Genosse Major.“ „Das befähigt dich zum Schreiben des Protokolls!“ Ellrodt geht zum Telefon und ruft Wittig an, er möchte jetzt ins Archiv kommen. Er trinkt gerade den letzten Schluck Kaffee, als Wittig erscheint. Ellrodt bittet ihn, Platz zu nehmen. „Es tut mir wirklich leid, Sie noch beanspruchen zu 82
müssen, Herr Oberarzt. Das war für Sie heut nicht nur ein langer Arbeitstag, auch ein aufregender.“ „Chirurgen haben Stehvermögen“, erwidert Wittig. „Darf ich rauchen?“ „Natürlich. Was ist denn Ihre Marke?“ „Chinesische“, sagt Wittig verlegen. Es ist eine der teuersten Zigaretten. Er hält Ellrodt die Packung entgegen. Ellrodt winkt ab. „Ich bleibe bei meiner Salem.“ Er gibt Wittig Feuer. „Ist alles ein und dasselbe Kraut, und auch der Krebs ist derselbe. Stellen Sie sich vor, es gäbe einen spezifischen Salem- und China-Krebs!“ Er beugt sich vor. „Wie sehen Sie denn nun eigentlich diese ganze scheußliche Geschichte, Herr Oberarzt?“ „Ich weiß noch immer keine Erklärung dafür.“ „Sie sprachen heut früh von Sabotage.“ „Was sollte es sonst sein?“ „Es betrifft alles Leute, die von Ihnen operiert worden sind.“ „Dann will man eben mich fertigmachen.“ „Vielleicht –?“ „Aber das kann dann doch nur politische Motive haben!“ „Der Klassenkampf spitzt sich zu.“ Wittig nickt resigniert. „Allerdings“, setzt Ellrodt fort, „kann man auch die Version nicht völlig außer acht lassen, daß jemand Sie beruflich kompromittieren will, als künftigen Chefarzt ausschalten.“ Kowalski! denkt Wittig. „Hätten Sie da einen bestimmten Verdacht, Herr Oberarzt?“ „Nein, nein. Das – – wäre undenkbar.“ „Es scheint aber mit Ihrer Person zusammenzuhängen. Und deshalb müssen wir auch etwas mehr über Sie wissen, Herr Oberarzt. Vielleicht stoßen wir dann auf ein Ereignis oder einen Zusammenhang und bekommen den Schlüssel für alles geliefert.“ 83
Ich wiederhole hier nicht, was wir schon über Wittig wissen aus seinen Gesprächen mit Inge. Er hat Inge bestimmt nicht alles erzählt, was er erlebt hat. Und was er ihr berichtet hat, erfährt noch lange nicht alles Major Ellrodt. Aber offensichtlich interessiert Ellrodt auch etwas ganz anderes, als Inge interessierte. Zum Beispiel Wittigs Eltern. Sie wohnen ihn Düsseldorf. Der Vater ist Schauspieler und hat dort ein Engagement. Wittig hat die Eltern in den letzten Jahren mehrmals gesehen, sie haben ihn besucht, er war in Düsseldorf. Legal? Natürlich. Und Freunde drüben? Zwei Schulfreunde. Wittig steht mit ihnen noch in Verbindung, wenn auch nur brieflich. Wo sie arbeiten, möchte Ellrodt wissen. Der eine ist Großhandelsvertreter bei Bols, einer holländischen Spirituosenfabrik, der andere Chemiker bei Merck in Darmstadt. „Merck? Ist das nicht ein Arzneimittelkonzern?“ „Ganz recht.“ „Und dieser Schulfreund, der bei Merck arbeitet – wie lange wohnt er schon in Westdeutschland?“ „Dommatzsch wohnt dort seit neunzehnhundertfünfzig.“ „Illegal nach drüben?“ „Ja.“ „Nun, und in den Briefen – worüber tauscht man denn da seine Gedanken aus, Herr Oberarzt?“ „Gedankenaustausch kann man das wirklich nicht nennen, Genosse Major. Man schreibt sich zum Geburtstag oder zu Neujahr. Teilt sich mit, was in der Zwischenzeit passiert ist, Familiäres, Berufliches. Und das Schicksal gemeinsamer Bekannter.“ „Berufliches, sagten Sie. Sie erzählen ihm von Ihrer Arbeit.“ „Ab und an, ja.“ „Und Dommatzsch berichtet von seiner Arbeit. Welch großartigen Job er hat?“ 84
„So ungefähr.“ „Und daß man natürlich noch Leute brauche, Leute wie Sie, clever und begabt, und daß Sie da alle Chancen hätten und ob Sie nicht doch auch lieber rüberkommen wollten, statt hier in einer Kleinstadt zu versauern.“ „Nein, Genosse Major, ein solches Angebot hat er mir nicht gemacht.“ „Aber Arzneimittelfirmen brauchen doch Ärzte, vor allem in den Versuchsabteilungen, nicht wahr?“ „Gewiß. Doch Dommatzsch kennt mich gut genug und weiß, solche Liebeswerbung wäre bei mir vergeblich.“ Ellrodt springt plötzlich auf und fragt, ob Wittig vielleicht einen Kaffee wollte. Ellrodt spielt wieder den Mundschenk. Wittig sagt währenddem: „Glauben Sie mir, Genosse Major, Dommatzsch würde niemals versuchen …“ Ellrodt legt den Zeigefinger an den Mund, was wohl heißen soll, jetzt sei die heilige Kaffeeminute, die man durch Reden nicht entweihen dürfe. Er trinkt die kalte Lorke langsam und genießerisch, stellt die Tasse hart auf den Teller und sagt: „Dommatzsch kennt also Ihre politische Einstellung. Aha. Nun, vielleicht erzählen Sie uns etwas über Ihre politische Entwicklung.“ Wittig berichtet von seiner Tätigkeit als Truppenarzt während des Krieges, den Jahren der Kriegsgefangenschaft in der Sowjetunion und den politischen Erkenntnissen, die er dabei gewonnen hat. Nach Rückkehr aus der Gefangenschaft hat er sich deshalb entschieden, nicht zu seinen Eltern nach Westdeutschland zurückzukehren, sondern hier zu bleiben. „Nun etwas ganz anderes, Herr Oberarzt. Wir haben weder in der Krankenhausapotheke noch auf Station arsenhaltige Präparate gefunden. Wie erklären Sie sich das?“ „Das ist doch ganz natürlich, Genosse Major. Arsenik wurde früher vielfältig verwendet. Beispielsweise als Ro85
borans. Also als Stärkungsmittel nach Operationen. Das waren arsenhaltige Fertigpräparate, mit Vitaminen und Leberextrakt kombiniert. Es wurde auch bei der Behandlung verschiedener Hautkrankheiten benutzt. Aber das alles ist heute kaum noch üblich. Wir haben andere, bessere Präparate. Außerdem gibt es hier keine spezielle Abteilung für Hautkrankheiten. Sie werden also kaum noch arsenhaltige Mittel finden.“ „Ja, das sagte uns auch schon Oberpfleger Schultheiß. Woher stammt aber dann Ihrer Meinung nach das Gift?“ Wittig zuckt die Schultern. „Muß es denn aus der Klinik stammen? Das herauszufinden, verzeihen Sie, ist doch eigentlich Ihr Metier.“ Ellrodt lächelt verzeihend. „Da haben Sie schon recht. Nun sagen Sie mir bitte, die Magenresektion bei Weber – die ist doch ordentlich verlaufen?“ „Ja, natürlich. Wieso bezweifeln Sie das, Genosse Major? Bei den beiden andern Toten wurde ja ebenfalls festgestellt, daß kein Kunstfehler vorlag!“ „Das Wörtchen ebenfalls ist nicht ganz am Platze, Herr Oberarzt. Weber ist nicht nur auf einen Kunstfehler hin obduziert worden!“ Wittig erwidert erregt: „Genosse Major, das ist wirklich – das ist eine ziemlich hinterhältige Art, entschuldigen Sie!“ „Ich weiß, Doktor, ich bin hinterhältig. Beruhigen Sie sich.“ „Genosse Major, worauf wollen Sie eigentlich hinaus? Weber ist vergiftet worden!“ „Ich bezweifle es nicht. Wie könnte man ihm eigentlich das Gift beigebracht haben?“ „In einer Speise oder einem Getränk. Arsenik ist geschmacklos, geruchlos, löst sich leicht auf.“ „Und wer verabreicht Speisen und Getränke?“ „In der Regel die diensttuende Schwester. Manchmal hilft auch jemand vom Küchenpersonal.“ 86
„Die Vergiftung ist mit ziemlicher Sicherheit am Sonntagnachmittag erfolgt. Da hatte Schwester Annemarie Dienst. Was können Sie uns über sie sagen?“ „Sie ist sehr zuverlässig. Soviel ich weiß, arbeitet sie schon mehrere Jahre auf unserer Station. Der Chef kann Ihnen da sicher bessere Auskunft über sie geben.“ „Aber Sie müssen doch einen Eindruck von ihr haben!“ „Nun, Schwester Annemarie ist kontaktfreudig und immer hilfsbereit. Manchmal etwas impulsiv und …“ Er denkt krampfhaft nach und gibt schließlich mit einem um Entschuldigung bittenden Lächeln zu verstehen, daß er nicht mehr über Schwester Annemarie sagen könne. Ellrodt verwundert das. Wittig ist doch ein guter Beobachter und wortgewandt dazu. Und dann eine so magere Auskunft über Schwester Annemarie? „Sie sind unverheiratet, Herr Oberarzt?“ „Geschieden.“ „Haben Sie persönliche Beziehungen zu Schwester Annemarie? Ich meine Beziehungen, die über die beruflichen hinausgehen?“ „Aber nein.“ „Und Schwester Annemarie? Hat sie – hier in der Klinik, meine ich, irgendwelche Bindungen?“ „Nicht daß ich wüßte, Herr Major.“ „Na gut, Herr Oberarzt. Das war ein harter Tag für Sie, machen wir Schluß für heute.“ „Haben Sie schon einen Anhaltspunkt?“ „Dazu ist es noch zu früh.“ Wittig steht auf, reicht Ellrodt die Hand. „Sie haben jetzt hoffentlich auch Feierabend.“ „Da ist noch eine Zeugin zu befragen. Schwester Annemarie!“ Er beobachtet Wittig, aber Wittig nickt gleichgültig. „Also dann gute Nacht, Genosse Major.“ 87
„Gute Nacht, Herr Oberarzt.“ Wittig winkt auch Kant zu und verläßt das Archiv. Ellrodt gießt Kaffee nach. „Nun, mein Junge?“ „Nichts, Genosse Major. Gar nichts. Es sei denn, dieser Schulfreund Dommatzsch …“ „Na, wunderbar! Genau! Ein Satz von Wittig war bemerkenswert. Dommatzsch kenne Wittigs politische Haltung, er würde also niemals versuchen, ihn abzuwerben. Aber wenn nun gerade deshalb eine andere Methode gewählt wurde? Nämlich Wittig unter Druck zu setzen, bis er die Nerven verliert und abhaut –?“ Ellrodt blickt Kant triumphierend an. „Das leuchtet ein, Genosse Major. Aber ist denn Doktor Wittig tatsächlich eine solche Kapazität, daß er für die Leute drüben interessant wäre?“ „Ein begabter Chirurg ist er schon. Denk nur an die jahrelange Arbeit in den Kriegslazaretten. Diese Chirurgengeneration hat ihre Erfahrung. Natürlich, eine Kapazität ist er nicht, noch nicht. Aber bestimmt ein guter Spezialist. Und denen da drüben kommt es nicht so sehr darauf an, daß sie selber gute Fachleute erhalten. Wir sollen sie verlieren ! Vielleicht erproben sie einen neuen Modellfall in diesem Bereich: Abwerbung durch psychischen Terror und Panikmache!“ Ellrodt geht zum Telefon und ruft Schwester Annemarie zur Vernehmung. Gleich darauf klopft es. Schwester Annemarie tritt ein und geht nach der Begrüßung mit energischem Schritt auf ihren Stuhl zu, läßt sich gewichtig darauffallen, schlägt die Beine übereinander und blickt Ellrodt an, als sei er nichts weiter als ein interessanter, aber ihr völlig ausgelieferter Patient. Annemarie hat die langen Wimpern sicherlich etwas nachgedunkelt, um den Augen Glanz zu geben, denkt Kant. Ein üppiger dianahafter Typ, der – wie Schritt und Stimme verraten – viel Energie besitzen dürfte. 88
Schwester Annemarie, 36 Jahre alt, hat ihren Mann im Krieg verloren. Noch während des Krieges suchte sie sich eine Arbeit als Hilfsschwester, hat dann ihre Fachprüfung abgelegt und ist seitdem ununterbrochen im Krankenpflegedienst tätig. In Vorberg arbeitet sie seit vier Jahren. „Und vorher, Schwester Annemarie?“ „In Karl-Marx-Stadt.“ „Und davor?“ „In Darmstadt und Köln.“ „In dieser Reihenfolge?“ „Zuerst in Köln und dann in Darmstadt.“ „Aha. Na gut. Hier geboren, dann drüben gearbeitet, dann wieder hierher zurück. Wie kam es denn nun eigentlich zu diesem Hin und Her zwischen Ost und West?“ „Ganz einfach, Herr Major. Noch während des Krieges bin ich als Hilfsschwester in einem Heimatlazarett in Köln eingesetzt worden. Nach dem Kriege habe ich dann eine Schwesternschule besucht, meine Prüfung abgelegt und eine Stelle in einer Darmstädter Privatklinik erhalten. Dann ist meine Mutter, die in Karl-Marx-Stadt lebte, schwer erkrankt. Ich bin zu ihr zurückgekehrt, um sie zu pflegen. Ein Jahr später starb sie. Ich blieb dann noch bis zum Jahresende in der Poliklinik, in der ich seit meiner Rückkehr gearbeitet hatte, und bin dann nach Vorberg gekommen.“ „Warum gerade nach Vorberg?“ „Warum?“ Schwester Annemarie denkt nach, lächelt. „Die Großstadt gefiel mir nicht. Überhaupt dieser ganze unpersönliche Betrieb in einer Poliklinik! Hier ist alles übersichtlicher, familiärer, wenn Sie verstehen, was ich meine. Eine bessere Arbeitsatmosphäre eben.“ „In der sich nun plötzlich ein Mord ereignet hat! War es tatsächlich eine so gute Arbeitsatmosphäre?“ Schwester Annemarie beißt sich auf die Lippen und verstummt. 89
„Ist es wirklich Mord?“ fragt sie schließlich. „Sie wissen es so gut wie wir, Schwester.“ „Natürlich schnappt man hier und da ein Wort auf. Aber wissen – nein, gewußt habe ich es bisher nicht!“ „Erinnern Sie sich an den letzten Lebenstag Webers?“ „Da hatte ich Spätdienst.“ „Während dieser Zeit wurde Weber vergiftet.“ Schwester Annemarie erhebt in Abwehr eine Hand, läßt sie aber gleich wieder aufs Knie sinken. Ihr herrischer Blick verliert an Schärfe, wird unbestimmt, weicht Ellrodts Blick plötzlich aus. „Also während ich Dienst hatte!“ wiederholt sie laut, zu laut. Sie kann nicht mehr verbergen, daß sie krampfhaft versucht, ihrer Stimme Entschiedenheit zu geben. „Sie hatten während der vermutlichen Tatzeit Dienst. Haben Sie dabei vielleicht etwas beobachtet, was uns weiterhelfen könnte?“ Ellrodt läßt Schwester Annemarie Zeit. Sie blickt zu Boden und schweigt. Das Schweigen wird drückend. Schließlich hebt sie den Kopf und sagt leise: „Ich kann Ihnen nichts sagen. Ich habe meinen Dienst gemacht wie immer. Mir ist nichts Besonderes aufgefallen.“ Und mit erneuter Heftigkeit fügt sie hinzu: „Überhaupt, wer soll denn einen Patienten vergiften! Und warum, um Himmels willen, warum denn!“ „Das ist eine interessante Frage, Schwester Annemarie. Warum wohl bringt jemand einen Frischoperierten um? Einen Patienten, der von Doktor Wittig operiert wurde?“ „Ihre Frage verstehe ich überhaupt nicht, Herr Major. Was hat denn Webers Tod mit Doktor Wittig zu tun?“ Ellrodt läßt ihr wiederum Zeit, nachzudenken. Annemaries Augen verengen sich. „Ist mit dem Oberarzt etwas nicht in Ordnung?“ Ellrodt kommt es vor, als schwinge ein leiser Triumph in ihrer Frage mit. Er erinnert sich an Wittigs Unlust, 90
Auskünfte über Schwester Annemarie zu geben. „Warum sollte mit Doktor Wittig etwas nicht in Ordnung sein? Sie denken wohl an die andern zwei unerklärlichen Todesfälle?“ „Ja“, erwidert sie fest. Aber Ellrodt läßt das Thema fallen und stellt ihr eine andere Frage. „Nach Ansicht der Gerichtsmediziner wurde dem Patienten Weber in der zweiten Tageshälfte das Gift verabreicht. Erinnern Sie sich noch, wie es Weber gegen Mittag ging?“ „Ganz normal, Herr Major.“ „Was hatte Weber seit Mittag zu sich genommen?“ „Bis mittags hing er noch am Tropf.“ „Wo wird die Infusionslösung aufbewahrt?“ „Im Kühlschrank des Schwesternzimmers.“ „So daß außer Ihnen auch andere Schwestern und Ärzte Zugang dazu hatten?“ Kant steht auf und tritt zu Ellrodt. Er flüstert ihm zu: „Entschuldigung, Genosse Major, soweit ich verstanden habe, hat Weber das Gift durch den Mund aufgenommen.“ Daran hatte Ellrodt nicht gedacht. „Sie sagten, bis mittags hing er am Tropf. Und dann?“ „Zu Mittag bekam er zum ersten Mal Schleimdiät.“ „Wo wird sie zubereitet?“ „In der Stationsküche.“ „Von wem?“ „Von Frau Sommer. Sie ist unsere Diätköchin.“ „Bekamen mehrere Patienten Schleimdiät?“ „Natürlich.“ „So daß Frau Sommer nicht weiß, welcher Patient welche Portion erhält?“ „Ich sagte doch, Schleimdiät bekommen mehrere Patienten.“ „Und wer brachte den Patienten das Essen?“ „Sie wollen doch sicher wissen, wer es Weber brachte. Ich!“ 91
Kant blickt auf. Annemaries Haltung ist gespannt, sie sitzt sehr aufrecht und wachsam. „Und später, Schwester? Erhielt Weber dann noch irgend etwas?“ „Nach der Besuchszeit eine Tasse Tee.“ „Nur er?“ „Nein.“ „Wer hat den Tee zubereitet?“ „Ich.“ „Und überbracht?“ „Auch ich.“ „Wann traten bei Weber die ersten Vergiftungssymptome auf?“ Schwester Annemarie weiß es nicht. „An eine Vergiftung hatte ja niemand gedacht. Ich hatte die Schmerzen im Bauch zuerst für eine natürliche Folge der Operation gehalten. Erst als sie immer heftiger wurden und Weber mehrmals zu erbrechen versuchte, wollte ich den Dienstarzt verständigen. Aber er war gerade nicht erreichbar. Ich glaube, da war etwas mit einer Knochenfraktur, jedenfalls sagte er, er käme gleich. Dann habe ich Weber nochmals eine Tasse Tee gegeben. Er erbrach wieder. Und sagte, die Füße wären ganz taub und die Kolik würde immer schlimmer. Endlich kam Doktor Kowalski.“ Sie spricht nicht weiter, scheint nachzudenken. „Und was hat Doktor Kowalski veranlaßt? Nun reden Sie doch schon!“ „Nachdem er Weber untersucht hatte, sagte er –“ Sie blickt Ellrodt unsicher an. „Nun sprechen Sie schon, Schwester. Wir werden auch noch mit Doktor Kowalski reden.“ „Doktor Kowalski drückte sich nicht klar aus. Aber seinen Bemerkungen mußte ich entnehmen, daß er – er sagte es nicht wörtlich, aber anscheinend war er der Meinung …“ 92
Sie zögert erneut und blickt hilfesuchend zu Kant, dem so schweigsamen Dritten in diesem stillen Raum. „Lassen Sie alle Rücksichten beiseite!“ fordert Ellrodt. „Also was meinte Doktor Kowalski?“ „Daß sich Webers Zustand so rapide verschlechtere, sei wohl eine Folge der Operation. Er murmelte, möglicherweise liege eine Nahtdehiszenz vor.“ „Eine – was?“ „Ein Fehler beim Anlegen der Operationsnaht kann zum Platzen der Naht führen. Das erfordert sofort eine Zweitoperation.“ „Die aber Doktor Kowalski nicht durchgeführt hat“, sagt Ellrodt. Er starrt Kant nachdenklich an. Kant glaubt, Ellrodts Gedanken nachvollziehen zu können. Wenn Kowalski tatsächlich ehrlich davon überzeugt gewesen wäre, daß Wittig eine Nahtdehiszenz verschuldet hatte, hätte er sofort eine Zweitoperation vornehmen, vor allem aber Wittig benachrichtigen müssen. Warum hat er das nicht getan? Entweder wollte er Wittig hereinlegen, also Wittigs Fehler bis zur letzten tödlichen Konsequenz offenbar werden lassen – oder er glaubte selbst nicht an eine Nahtdehiszenz und nahm deshalb keine Operation vor. Es gibt natürlich noch eine dritte Möglichkeit, überlegt Kant. Kowalski ist der Mörder. Dann hätte er ebenfalls auf keinen Fall operiert, sondern sein Opfer ruhig sterben lassen. Dann war es für immer stumm und konnte ihn nicht mehr belasten. Ellrodt scheint tatsächlich zu ähnlichen Überlegungen gekommen zu sein, denn er sagt leise zu Kant: „Wir vernehmen Kowalski morgen in dieser Sache.“ Wieder zu Schwester Annemarie gewandt, fragt Ellrodt: „Wie verhielten Sie sich bei jener Bemerkung Doktor Kowalskis, möglicherweise liege eine Nahtdehiszens vor?“ „Er, hatte es ja nicht mit Bestimmtheit geäußert. Außerdem – ich konnte mir einfach nicht vorstellen, daß 93
Doktor Wittig einen solchen Fehler gemacht haben sollte.“ „Sind Sie davon so überzeugt?“ Fast trotzig erwidert Annemarie, Wittig sei ein hervorragender Chirurg. „Wann verließen Sie an jenem Abend die Klinik?“ „Kurz nach zweiundzwanzig Uhr.“ „Und wie ging es Weber zu dieser Zeit?“ „Noch schlechter. Doktor Kowalskis Maßnahmen waren völlig wirkungslos geblieben.“ „Wer übernahm dann Ihren Dienst?“ „Schwester Gertrud.“ „Ja“, sagt Ellrodt und blickt seitwärts zu Kant. „Das wär’s wohl?“ Kant reagiert nicht, er ist zum Protokollschreiben abkommandiert, Ellrodts Frage ist rein rhetorisch. Schwester Annemarie fragt hoffnungsvoll, ob sie dann jetzt wohl gehen könne. Ellrodt denkt nach. Er denkt lange nach. Annemaries Hoffnung schwindet. Dann sagt Ellrodt: „Bevor Sie in die DDR zurückkehrten, waren Sie doch in Darmstadt tätig?“ „Ja, in der Privatklinik von Professor Hühnemann.“ „Darmstadt.“ Er denkt wieder lange nach. „Dort befindet sich doch auch das Arzneimittelwerk Merck?“ „Ja.“ Ellrodt nickt Annemarie freundlich zu. „Jetzt sind Sie wirklich entlassen, Schwester Annemarie. Gute Nacht.“ Sie erhebt sich zögernd, murmelt einen Gruß und geht fast eilend hinaus. Ellrodt gießt Kant und sich Kaffee nach. Kant schiebt die Protokollblätter in die Mitte des Tisches. Es ist halb elf. Ellrodt steckt sich eine Salem an. Er fragt heiter: „Hast du alles mitgekriegt, mein Junge? Wittigs Schulfreund Dommatzsch: Merck-Konzern, Darmstadt. Schwester Annemarie: Privatklinik in Darmstadt. Das könnte die Verbindung 94
sein. Außerdem: Schwester Annemarie ist die einzige Person, die Suppe und Tee vergiften konnte.“ „Und das Motiv, Genosse Major?“ „Aber Junge, das kennen wir doch bereits! Uns einen guten Spezialisten zu rauben! Das ist doch sonnenklar!“ „Und Sie halten Schwester Annemarie für die Giftmischerin?“ Ellrodt sagt vorsichtig: „Vergiß nicht die klassische Erfahrung der Kriminalistik: Gift ist die Mordwaffe der Frauen.“ „Ich dachte, Sie hielten nichts von der bürgerlichen Kriminalwissenschaft“, entgegnet Kant, „und ihren Dogmen.“ Ellrodt grinst. „Du wirst es nicht glauben. Aber es gibt Dogmen, die sind wahr.“ Er blickt auf die Uhr. „Es wird Zeit, daß du zu deiner Mutti kommst. Ich penne hier. Morgen früh um sieben sehen wir uns wieder. Gute Nacht, mein Junge.“ „Gute Nacht, Genosse Major.“ In diesem Augenblick wird die Tür aufgerissen. Ein Rundkopf mit Igelfrisur erscheint in der Öffnung, ruft: Hallo, was ist denn hier los?, tritt ein, mondgesichtig lächelnd und doch eine Art fürchterlicher Autorität mimend. Was denn hier los sei, fragt er nochmals drohend, stemmt einen Arm in die Hüfte und kommt wie sprungbereit näher. Der weiße Arztkittel spannt sich um den muskulösen Körper. Der sagenhafte Ellrodt verzieht keine Miene. „Kriminalpolizei“, sagt er und deutet auf den Stuhl. „Nehmen Sie Platz.“ Den Mann scheint all seine Forschheit plötzlich zu verlassen. Er setzt sich gehorsam, springt wieder auf, verbeugt sich und sagt: „Doktor Fünfstück. Assistenzarzt allhier.“ „Major Ellrodt, Leutnant Kant. Nun, Herr Doktor, Sie wollten vernommen werden?“ 95
Fünfstück reißt den Mund auf. „Verzeihung, ich konnte ja nicht wissen, daß die Herren hier – daß Sie noch – Verzeihung.“ „Schon gut, Herr Doktor.“ Ellrodt geht zu einem Regal, wühlt in einem Aktenbündel, blickt zu Fünfstück zurück, der ergeben auf seinem Stuhl hockt, lächelt befriedigt und setzt sich wieder Fünfstück gegenüber, „Herr Doktor Fünfstück, Sie haben Oberarzt Wittig bei der Operation Webers assistiert.“ „Als erste Hand.“ Er sieht Ellrodts fragenden Blick. „Ja, ich habe assistiert.“ „Ist die Operation ordnungsgemäß verlaufen?“ „Völlig.“ „Oberarzt Doktor Kowalski hat angedeutet, Doktor Wittig habe eine unzureichende Naht angelegt.“ „Kowalski akzeptiert nur einen einzigen Chirurgen. Und das ist er selber. Am liebsten wäre er noch seine eigne erste Hand.“ „Nehmen wir an, Doktor Kowalski hätte Webers Vergiftung rechtzeitig erkannt. Wäre Weber dann noch zu retten gewesen?“ Der Mond rötete sich etwas. „Möglicherweise. Aber ich habe keine Erfahrung in Giftmord. Wer denkt in unserer lieblichen Welt schon an schwarzen Humor.“ „Wenn ich Sie richtig verstehe, halten Sie den Mord also für einen schlechten Scherz?“ „Sie mißverstehen mich völlig, Herr Major. Wir sind einfach nicht gerüstet, in unserm Leben einen Mord einzukalkulieren. Denn er stört das idyllische Bild, das sich unsere Gesellschaft von sich selbst macht. Deshalb hat sie ihn sozusagen offiziell abgeschafft, aus dem Bewußtsein verdrängt. Wer sollte da noch in der Lage sein, sich darüber Gedanken zu machen. Außer Ihnen natürlich –“ Er lächelt Ellrodt charmant zu. „Herr Doktor Fünfstück“, erwidert Ellrodt geduldig, 96
„ich frage Sie direkt: Wer könnte Ihrer Meinung nach Interesse an einem solchen Verbrechen haben?“ „Mehrere Leute, Herr Major.“ „Wir sind sehr gespannt, Herr Doktor.“ „Ich gehe davon aus, daß Arsenik das klassische Gift der Frauen ist.“ Ellrodt wechselt einen raschen Blick mit Kant. „Sie schaffen sich damit einen Mann vom Halse – entweder um sich an ihm zu rächen oder sich an seinem Tod zu bereichern. Also suchen Sie nach dieser Frau in Webers Leben!“ Merkwürdig, denkt Kant. An diese Möglichkeit, den Fall vom Opfer her aufzurollen, hat noch niemand gedacht. Wie wird Ellrodt darauf reagieren? Er reagiert ironisch, wie zu erwarten war. „Wir sind Ihnen sehr verbunden für Ihren sachdienlichen Hinweis, Herr Doktor.“ Ellrodt kann seinen Ärger kaum noch verbergen. „Wir wollen Sie nicht länger von Ihrem Dienst abhalten.“ „Oh, das macht fast gar nichts, Herr Major. Es war eine Abwechslung.“ Er steht auf, verbeugt sich und schwebt leichtfüßig hinaus. „Ein widerlicher Schwätzer!“ sagt Ellrodt. Kant legt seine Blätter zusammen. „Also dann gehe ich jetzt, Genosse Major.“ Ellrodt sieht auf die Uhr. Es ist kurz vor elf. Wirklich Zeit, hier Feierabend zu machen. „Wir wollen uns noch abmelden“, sagt er. Sie gehen durch den schwacherhellten Flur der Station zum Schwesternzimmer. Die Tür ist weit geöffnet. Eine kleine zierliche Schwester steht am Tisch. Sie kehrt ihnen den Rücken zu. Ellrodt tritt auf die Schwelle. „Guten Abend, Schwester!“ Sie wendet sich um. Es ist eine alte Frau. Ihr dunkles Haar, das unter der Haube hervorsieht, ist zweifellos gefärbt. 97
„Guten Abend“, erwidert sie, „Sie sind wohl die Herren von der Polizei?“ „Major Ellrodt. Mein Mitarbeiter Leutnant Kant.“ „Schwester Gertrud. So lange haben Sie gearbeitet? Wollen Sie noch eine Tasse Kaffee mittrinken?“ Um Himmels willen, denkt Kant, noch mehr von dieser dünnen Brühe! Er blickt mißtrauisch zu Ellrodt, der bestimmt nicht ablehnen wird. Ellrodt ahnt Kants Abscheu und grinst ihn an. Schwester Gertrud deutet Ellrodts Verhalten richtig. Sie erklärt, das sei kein Krankenhauskaffee, sondern eigener, selbstgebrauter, echter. Sie holt zwei Tassen, öffnet eine riesige Thermosflasche und gießt ein. Der Duft verrät, daß der Kaffee heiß und kräftig ist. Schwester Gertrud schiebt zwei Stühle zurecht. Ellrodt trinkt einen Schluck und seufzt wohlig. Sein Lob kommt ehrlichen Herzens. Schwester Gertrud lächelt zufrieden. Mit einer fast koketten Bewegung nimmt sie ihre Hornbrille ab, blickt mit jungen glänzenden Augen den schweigsamen Kant an und sagt, sie hoffe, auch in den nächsten Nächten noch das Vergnügen zu haben, mit den Herren ein Täßchen zu trinken, sie habe nämlich die ganze Woche Nachtdienst. Nach und nach erfahren die beiden, daß Schwester Gertrud schon vierundsechzig ist, aber noch immer aushilfsweise arbeitet, vornehmlich Nachtdienst, wenn nämlich ihr Mann ebenfalls Nachtschicht in der Gießerei hat. Sie ist schon lange an der Klinik und will gern noch einige Jährchen aushelfen. „Wer mal Blut geleckt hat!“ fügt sie hinzu und erwartet verständnisvolle Zustimmung. „Ja“, pflichtet ihr Ellrodt bei, „das kann ich Ihnen nachfühlen, Schwester Gertrud. Das ist Ihre Welt, hier sind Sie zu Hause, da kennen Sie sich aus, nicht wahr?“ „Und ob ich mich hier auskenne!“ bestätigt sie selbstgefällig. „Ich kenne jeden hier, seine Launen, sein Hobby, seinen Ärger. Ich weiß, welche Kognakmarke der Chef 98
liebt, welche Zigarrensorte der Oberpfleger und daß der Oberarzt meinen Kaffee mag.“ „Da haben Sie wohl nachts öfter mal Besuch?“ „Na klar, Herr Major. Nachtdienst ist langweilig. Und wer sich langweilt, kommt gern auf ein Schwätzchen herein.“ „Kann ich mir vorstellen, Schwester Gertrud. Wir fühlen uns ja auch wohl bei Ihnen.“ „Na“, sagt sie und lächelt verschmitzt, „soll ich das wirklich glauben? Vielleicht, wenn eine junge Schwester hier säße, blieben Sie noch lieber, stimmt’s?“ „Das müssen Sie schon meinen Mitarbeiter fragen, Schwester. Wir Alten unter uns, das ist doch auch nicht zu verachten, wie?“ Er lacht. Ellrodt lacht! Das ist für Kant eine ganz neue Erfahrung. Gespannt verfolgt Kant das Gespräch. Ist die Alte schon senil? Oder nur geschwätzig? Will sie sich wichtig machen? Hat sie nur Langeweile? Und warum klebt Ellrodt förmlich auf dem Stuhl fest? Schwester Gertrud hat mit einem anzüglichen Lachen geantwortet. „Mit den jungen Dingern ist es aber auch gefährlicher. Vor allem für den Herrn Leutnant!“ Sie blickt Kant herausfordernd an. Er versucht ein Lächeln. „Einmal kam ich dazu, wie eine Schwester einem Assistenzarzt eine kräftige Ohrfeige langte – nachdem sie ihm Abend für Abend Kaffee gekocht hatte.“ „Das war wohl Herr Doktor Fünfstück?“ „Was, den kennen Sie auch schon?“ „Und die Schwester, war das Schwester Annemarie?“ „Annemarie? Nee! Schwester Inge. Schwester Annemarie wollte höher hinaus.“ „Tatsächlich?“ 99
„Nee, nee, mit einem Assistenzarzt wäre die Annemarie nicht zufrieden, das können Sie einer alten Frau glauben.“ „Und wer war denn dann der Glückliche?“ „Na, wer soll mit der Annemarie glücklich werden! Mit der käme nicht mal mein Alter aus, und der ist schon ein geduldiger Mensch. Und dann erst ein Mann wie der Herr Oberarzt Wittig, nee, das konnte nicht gut gehen mit den beiden.“ Kants Herz macht einige rasche Schläge. Das kommt bestimmt nicht vom Kaffee. Ein Verhältnis zwischen Wittig und Schwester Annemarie? „Es ging also wieder auseinander?“ wirft er ein. „Es mußte auseinandergehen!“ bemerkt die Alte weltklug. „Die Annemarie ist doch viel zu resolut für ihn. Das hätte doch Mord und Totschlag gegeben! Unser Herr Oberarzt braucht eine zartfühlende Frau, die seine Überlegenheit anerkennt. Aber Annemarie, lieber Gott, Herr Leutnant! Nee, nee, wenn unser Herr Oberarzt so kommt und sagt, na, Gertrud, altes Haus, und er lacht einen an, als ob man noch jung und hübsch wäre, und er legt einem den Arm um die Schulter – also Herr Leutnant, der verdient eine bessere Frau, wirklich!“ „Seit wann ist es denn aus mit Schwester Annemarie?“ fragt Ellrodt vorsichtig. „Na, das ist schon eine Zeit her, so paar Monate schon. Kurz zuvor sind sie noch zusammen verreist, und wir dachten, die kommen bestimmt verheiratet zurück. Aber nichts war, zum Glück, die sind dann gleich auseinander.“ „Und seitdem?“ „Was soll seitdem sein, die Annemarie ist natürlich sauer.“ „Und der Herr Oberarzt?“ „Der wartet noch auf das richtige Glück.“ Eine Glocke läutet, ein Lämpchen glüht auf. 100
„Zimmer sechs“, sagt Schwester Gertrud und steht auf. „Leider“, sagt sie bedauernd. „Auch wir müssen jetzt leider gehen, Schwester.“ Gertrud reicht ihnen die Hand. Sie verlassen das Zimmer. Draußen vor dem Portal bleibt Ellrodt stehen. Die Luft riecht nach Lindenblüten, Heu und Bergwind. „Na?“ fragt Ellrodt mit unüberhörbarem Triumph. Nun? möchte Kant ebenfalls triumphierend antworten, wie sieht die Sache nun aus, Genosse Major? Wie steht es denn mit Ihrer Hypothese von Klassenkampf und Sabotage? „Das Gespräch war sehr interessant, Genosse Major. Oberarzt Wittig hatte also ein Verhältnis mit Annemarie, Das ist ein ganz neuer Gesichtspunkt!“ „Das Verhältnis der beiden ist kaputt.“ „Auch ein kaputtes Verhältnis kann weiterwirken. Es ist die erste brauchbare Spur.“ „Junge, du willst partout aus einem politischen Fall einen privaten machen, gib’s zu!“ „Wittig hat sich von Annemarie getrennt. Sie will sich an ihm rächen, indem sie …“ „Na weiter, weiter!“ „Sie bringt Patienten um, weil sie dadurch seinen Ruf als Arzt untergraben will.“ „Deswegen soll jemand Menschen töten? Das ist doch absurd!“ Kant fällt ein, was Dr. Fünfstück vorhin gesagt hatte. Absurd nennen wir, was wir uns nicht erklären können, was nicht in unser idyllisches Gesellschaftsbild paßt. „Warum, Genosse Major, soll ein Mensch, der enttäuscht und verzweifelt ist, nicht auf eine so barbarische Weise reagieren? Schließlich haben wir in zehn Jahren einer neuen Gesellschaft noch nicht den neuen Menschen fabriziert!“ Ellrodt gähnt plötzlich laut. „Na, da spinn mal weiter, ich bin müde.“ 101
Er wendet sich und geht. Kant blickt ihm nach. Er hat Ellrodt von seiner Hypothese nicht überzeugt. Aber warum, denkt er verwirrt, hat ihn Ellrodt vorhin so triumphierend angesehen? Als hätte ihm das Gespräch mit Gertrud bereits das Geheimnis dieses Falles enthüllt?
Mittwoch, 8. Juni, 6 Uhr 45 10 Major Ellrodt und Staatsanwalt Schuricht befinden sich an diesem Morgen nicht in Vorberg. Sie nehmen an der Exhumierung der beiden Toten teil, des Ingenieurs Rothkegel und des Studenten Teichmann. Als sich Kant wiederum in die Klinik begibt, durchdenkt er den gestrigen Tag. Seine Besorgnis, die Lösung des Falles könnte noch in weiter Ferne liegen, scheint sich bestätigt zu haben. Ellrodt hat Ärzte und Schwestern der Station vernommen, die Diätköchin, die Küchenhilfe, die Reinigungskräfte. Aber es ergab sich nicht die geringste Spur eines Verdachts. Ellrodt verhörte auch Schwester Annemarie nochmals, vor allem, was ihr Verhältnis zu Oberarzt Wittig betraf. Annemarie gab zu, sie hätte für kurze Zeit Liebesbeziehungen zu Wittig gehabt. Aber sie seien in beiderseitigem Einverständnis wieder auseinandergegangen. Als Grund gab sie an, die Charaktere wären zu unterschiedlich gewesen. Dr. Wittig sagte ähnlich aus. Das deckte sich also mit Schwester Gertruds Angaben. Von Feindschaft zwischen Wittig und Annemarie, gar von Rachegelüsten Annemaries konnte nun wohl kaum noch die Rede sein. Kant begann an seiner eignen Vermutung zu zweifeln, das Verbrechen könne „endogene“, also durch zwischenmenschliche Konflikte bedingte Ursachen haben. 102
Ellrodt hatte von Wittig auch wissen wollen, warum er nicht bereits bei der ersten Vernehmung sein früheres Verhältnis zu Annemarie erwähnt hätte. „Ich kann mich nicht daran erinnern, danach gefragt worden zu sein, Genosse Major.“ „Ich habe Ihnen aber eine solche Frage gestellt!“ erwiderte Ellrodt nachdrücklich. Allerdings ergab dann das Protokoll, daß Ellrodt gefragt hatte, ob Wittig intime Beziehungen zu Annemarie habe, ob sie also noch zum gegenwärtigen Zeitpunkt bestünden. Und das hatte Wittig guten Gewissens verneint. „Eine sehr spitzfindige Erklärung!“ hatte Ellrodt gebrummt, aber Wittig widersprach: „Ich habe auf eine klare Frage eine klare Antwort gegeben.“ Die Vernehmung Oberarzt Kowalskis, warum er Weber in jener Nacht nicht operiert habe, obwohl er eine Nahtdehiszenz für möglich hielt, hatte auch dieses Problem geklärt. Kowalski gab zu, er habe einen solchen Kunstfehler Wittigs nicht ernsthaft erwogen. Wäre er tatsächlich davon überzeugt gewesen, hätte er natürlich sofort operiert. „Wie können Sie dann gegenüber Schwester Annemarie eine solche Vermutung äußern?“ hatte Ellrodt gereizt gefragt. „Da muß mich Schwester Annemarie falsch verstanden haben.“ Mit dieser windigen Erklärung glaubte sich Kowalski aus der Affäre gezogen zu haben. Und da weitere Nachforschungen auch nicht den geringsten Hinweis für eine mögliche Täterschaft Kowalskis ergaben, mußte sich Ellrodt damit zufriedengeben. So hatte also auch der gestrige Tag nichts Greifbares für die Lösung des Falles erbracht. Um sieben Uhr betritt Kant den Archivraum. Er soll bis zur Rückkehr Ellrodts von der Exhumierung nochmals die Protokolle durcharbeiten. 103
Die beiden Oberärzte Dr. Kowalski und Dr. Wittig, gefolgt von Oberpfleger Schultheiß und einer Schwester, kommen ihm entgegen. Kant grüßt. Aber die Ärzte erwidern den Gruß nicht und eilen an ihm vorbei. Oberpfleger Schultheiß bleibt einen Augenblick stehen. „Eine Komplikation. Bei einer Frischoperierten!“ Dann folgt er den Ärzten. Inzwischen sind Wittig und Kowalski in Zimmer 5 der Station B getreten. Das ist Kowalskis Station. Hier in Zimmer 5 liegt Frau Schütz. Sie ist 32 Jahre, verheiratet, hat drei Kinder, von Beruf Postangestellte, zuletzt als Briefträgerin. Frau Schütz war vorgestern nacht mit akuter Blinddarmentzündung eingeliefert worden. Während des Nachtdienstes hatte ihr Oberarzt Wittig den Blinddarm entfernt. In der vergangenen Nacht hatte sich nach Aussage Schwester Gertruds das Befinden der Patientin unerwartet verschlechtert. Leibschmerzen waren aufgetreten, Erbrechen. Oberpfleger Schultheiß hatte sich daraufhin gegen sechs Uhr morgens die Patientin angesehen und sofort Stationsarzt Dr. Kowalski informiert. Kowalski hatte Wittig benachrichtigt, der eine halbe Stunde später eintraf. „Was ist denn nun eigentlich mit Frau Schütz, Herr Kowalski?“ hatte Wittig bei seinem Eintreffen gefragt. „Die Operation war doch völlig normal verlaufen!“ „Sehen Sie lieber selbst, Herr Wittig.“ So tritt nun Wittig an das Bett der Frau Schütz, schlägt die Bettdecke zurück, schiebt das Hemd empor und sieht auf den ersten Blick, daß der Unterleib stark aufgebläht ist. Die Bauchdecke fühlt sich bretthart an. Wittig richtet sich auf, tritt zu Kowalski zurück und sagt fast unhörbar: „Peritonitis.“ Kowalski antwortet mit einer vagen Handbewegung. 104
„Hier müssen wir noch einmal aufmachen, sofort.“ „Es könnte bereits ein paralytischer Ileus sein, Herr Kollege“, gibt Kowalski zu bedenken. „Möglich. Lassen Sie sofort die Operation vorbereiten.“ Kowalski nickt und geht hinaus. Wittig wendet sich nochmals der Patientin zu, als Schwester Gertrud eintritt. Obwohl ihr Dienst heute früh zu Ende war, ist sie noch dageblieben. „Brauchen Sie mich noch, Herr Oberarzt?“ Sie tritt ans Bett. „Wieso? Nein“, sagt Wittig abwesend. „Ich hätte da noch etwas zu ergänzen, Herr Oberarzt.“ Wittig überprüft gerade den Bauchdeckenreflex von Frau Schütz. Schwester Gertrud wartet geduldig, bis die Untersuchung beendet ist. Dann beginnt sie erneut: „Herr Oberarzt, ich hatte noch zu sagen vergessen, daß Frau Schütz über Brennen im Mund klagte. Und über starken Durst.“ „Ist gut, Schwester Gertrud, Sie können jetzt gehen.“ „Ich dachte erst, das käme vom Fieber. Aber sie hatte ja kaum Temperatur. Ich sah mir dann den Mund an, er kam mir gerötet vor.“ Wittig starrt die Schwester an. „Und das sagen Sie erst jetzt!“ „Entschuldigung, Herr Oberarzt, aber …“ „Sofort eine Taschenlampe!“ Als Gertrud mit der Taschenlampe zurückkommt, reißt Wittig sie ihr fast aus der Hand. Mit Hilfe der Schwester richtet er die völlig apathische Patientin auf. Während Gertrud sie stützt, untersucht Wittig die Mundhöhle der Frau. Die Rachenschleimhaut ist gerötet. Schwester Gertrud, mit sichtlich schlechtem Gewissen, verfolgt jede Reaktion Wittigs. Aber nichts an ihm verrät, was in ihm vorgeht. Ängstlich beginnt sie erneut: „Entschuldigen Sie, Herr Oberarzt –“ In diesem Augenblick betritt der Oberpfleger das Zimmer. 105
„Was ist denn nun schon wieder!“ herrscht Wittig ihn an. Betroffen erwidert der Oberpfleger, Frau Schütz sollte doch zur Zweitoperation vorbereitet werden. „Nein!“ sagt Wittig. „Sie wird nicht operiert!“ Und eilt hinaus. „Eine Wirtschaft ist das wieder mal!“ beklagt sich Schultheiß. „Was ist denn bloß passiert, Gertrud? So kenne ich den Oberarzt gar nicht. Dabei hat er doch Doktor Kowalski die Anordnung gegeben, den Relaps vorzubereiten.“ „Wenn nicht operiert werden soll, wird eben nicht operiert“, äußert Gertrud. Sie ist froh, daß der Oberpfleger ihre Verwirrung nicht bemerkt hat. „Also mein Dienst ist zu Ende“, sagt sie und verläßt Zimmer 5. Inzwischen hat Wittig Kowalski zu sich gebeten. „Wir operieren nicht, Herr Kowalski. Das ist keine postoperative Komplikation. Das ist ein neuer Mordanschlag!“ Kowalski lacht hart auf. „Entschuldigen Sie, aber das wird ja hier allmählich zu einer Zwangsvorstellung!“ „Die Symptome stimmen genau!“ „Aber Herr Wittig“, erwidert Kowalski gelassen, „die Symptome! Die sind eben nicht eindeutig! Wie oft schon sind infektiöse Prozesse im Magen-Darm-Bereich mit einer Arsenikvergiftung verwechselt worden!“ „Gewöhnlich ist es genau umgekehrt! Wenn man eine Arsenikvergiftung als solche nicht erkennt, wird sie mit einer Magen- oder Darminfektion verwechselt!“ „Nun, Herr Wittig, diese theoretischen Erörterungen bringen uns nicht weiter. Es geht jetzt einzig und allein um die sofortige Hilfe für Frau Schütz.“ „Um die bestmögliche Hilfe. Eine Operation wäre sinnlos. Bei der Vergiftung kommt nur eine konservative Behandlung in Frage. Wenn es dafür nicht schon zu spät ist.“ „Herr Kollege, nicht operieren – das ist eine sehr schwere Entscheidung.“ 106
„Das weiß ich auch.“ „Wenn es keine Vergiftung ist und wir operieren nicht, stirbt uns die Frau.“ „Wir operieren nicht.“ „Na schön. Sie haben zu entscheiden.“ Wittig zögert nur einen Augenblick, dann sagt er entschlossen: „Der Chef muß her. Bis dahin – konservative Behandlung! Veranlassen Sie alles Nötige!“ Kowalski verläßt das Zimmer. Wittig ruft Dr. Frieders an und teilt ihm seinen Verdacht mit. Frieders verspricht sofort zu kommen. Die Operation von Frau Schütz sei sofort vorzubereiten. Jawohl, sagt Wittig, ohne einen Einwand zu erheben. Er sucht Kowalski auf und teilt ihm die Anordnung des Chefs mit. Kowalski nimmt sie unbewegt zur Kenntnis. Während Wittig auf den Chef wartet, denkt er noch einmal über seine Diagnose nach. Er leide anscheinend an einer Zwangsvorstellung, hatte ihm dieser Kowalski vorhin vorgeworfen. Haben mich diese furchtbaren Ereignisse schon so programmiert, daß ich überall Mordanschläge sehe? Wenn nun Kowalski doch recht hätte? Auch der Chef scheint sich Kowalskis Meinung anzuschließen. Nein, sie irren sich. Die Symptome sind eindeutig! Wittig fällt ein, daß er irgendwo im Bücherregal den Hansen stehen hat. Er findet auch sofort das schmale blaue Buch über Gerichtliche Medizin, überfliegt das Inhaltsverzeichnis und schlägt Seite 143 auf: „Arsen ist das klassische Mordgift … die Ausarbeitung sicherer Nachweismethoden hat die Verwendung als Mordmittel wesentlich eingeschränkt … Das klinische Bild der Vergiftung ist ein buntes und vielseitiges. Wir können akute und chronische Formen, eine gastro-intestinale und eine zerebro-spinale Form unterscheiden, die sich häufig kombinieren. Große Giftmengen töten schon nach weni107
gen Stunden … Schwere Krämpfe, Kollaps, allgemeine und Atemlähmung …“ Das trifft nicht zu, denkt Wittig betroffen. Und liest weiter: „Bei der gastro-intestinalen Form handelt es sich um tödliche Vergiftungen mit vorwiegenden Erscheinungen seitens des Magen-Darm-Kanals … Schwere Koliken, Erbrechen, quälender Durst … Die Verwechslung mit andern gewöhnlichen Erkrankungen ist leicht möglich …“ Nun ist sich Wittig doch seiner Diagnose sicher. Als Dr. Frieders erscheint, stellt sich heraus, daß er Frau, Schütz bereits untersucht hat. „Wir machen sie auf“, sagt er entschlossen. Wittig verweist auf die Symptome einer gastro-intestinalen Arsenikvergiftung. „Und wenn es keine Vergiftung ist?“ hält ihm Frieders entgegen. „Und wenn es doch eine ist?“ „Ist sie vergiftet worden, stirbt sie sowieso. Ist es aber keine Vergiftung, hat sie noch eine Chance. Die Operation ist auf jeden Fall das kleinere Übel.“ Zwei Stunden später erscheint Oberpfleger Schultheiß bei Kant und bittet ihn zum Chef. Als Kant eintritt, erwarten ihn Dr. Frieders, sein Stellvertreter Dr. Drey und Oberarzt Wittig. Die drei Ärzte sitzen in feierlicher Stummheit da. „Herr Kant“, beginnt der Chefarzt, „da Major Ellrodt noch nicht zurück ist, möchte ich Sie über eine Angelegenheit informieren, die …“ Er sucht nach dem richtigen Wort und findet es nicht und sagt statt dessen: „Wir müssen leider damit rechnen, daß ein neuer Mordversuch begangen worden ist.“ „Nein!“ ruft Kant spontan aus. „Es handelt sich bei dem Opfer um eine gewisse Frau Schütz. Herr Wittig hatte sie vorgestern nacht operiert – Blinddarmentzündung, eine harmlose Operation. Dann 108
traten Komplikationen auf. Wir operierten erneut, weil wir eine Peritonitis vermuteten. Aber wir fanden alle Anzeichen für eine Arsenikvergiftung. Wir haben etwas Darminhalt abpunktiert und ans Gerichtsmedizinische Institut bringen lassen. Das ist die Situation.“ „Vorgestern, sagten Sie, wurde Frau Schütz operiert? Als ich schon hier in der Klinik arbeitete?“ „So ist es.“ „Ein neuer Mordanschlag, sozusagen unter meinen Augen.“ „Nun, Herr Kant, das hieße auch unter meinen Augen. Solange wir noch völlig im dunkeln tappen – wie, bitte, hätten wir oder Sie das verhindern sollen?“ Kant sieht plötzlich ein Bild vor sich. Es könnte einem Gruselfilm entstammen. Eine weiße Gestalt schleicht durch die Nacht, mit einer Art triumphierender Bewegung. Ihr Lachen hallt hundertfach durch die Gänge. Nein, das Bild stimmt nicht! Er ist ja nicht nur Zuschauer, sondern Mitspieler in dieser makabren Szenerie! Kant atmet tief aus. „Wann ist Frau Schütz verstorben?“ „Sie ist noch nicht tot.“ „Aber dann kann ich sie doch gleich vernehmen!“ sagt Kant erleichtert. „Eine Vernehmung ist jetzt nicht möglich.“ „Und wann voraussichtlich?“ „Wir haben unter der Operation eine Magen-DarmSpülung versucht. Aber das ganze Gewebe war bereits zundrig. Und kreislaufmäßig sieht es auch nicht gerade günstig aus. Es läßt sich also im Augenblick nichts voraussehen. Ehrlich gesagt, Herr Kant, kann ich uns nur sehr wenig Hoffnung machen.“ Dr. Frieders blickt seine zwei Kollegen an, aber sie haben nichts hinzuzufügen. „Gut, Herr Direktor“, sagt Kant, „ich werde versuchen, Genossen Ellrodt zu informieren. Bis ich weitere Weisungen bekomme, möchte ich mich gern noch einmal mit 109
Herrn Oberarzt Wittig unterhalten. Ist das unter diesen Umständen jetzt möglich?“ „Selbstverständlich. Wir können jetzt sowieso nichts weiter tun.“ Wittig hat sich erhoben und geht mit Kant ins Archivzimmer. „Ich komme mir langsam wie der Todesengel der Chirurgischen vor“, sagt er, um das Schweigen nicht zu drückend werden zu lassen. Kant erwidert, das könne er verstehen. Dann sitzen sich beide gegenüber. „Herr Oberarzt, ich möchte einfach noch einmal überprüfen, ob wir bisher auch nichts übersehen haben. Während unserer Anwesenheit ist ein weiterer Mordanschlag verübt worden. Das zeigt, wie sicher sich der Täter fühlen muß. Und wir sind so hilflos, weil wir noch immer nicht das Motiv der Morde kennen. Das Motiv ist sehr wichtig, solange uns materielle Indizien fehlen.“ „Das Motiv hängt mit meiner Person zusammen, davon bin ich nun endgültig überzeugt.“ „Ich auch, Herr Oberarzt. Gehen wir doch noch einmal ganz sachlich durch, wer ein Interesse daran haben könnte, Ihren Ruf so zu untergraben – und wozu.“ „Genosse Leutnant, ich habe es mir hin und her überlegt, glauben Sie, ich kann schon an gar nichts anderes mehr denken. Aber ich weiß keine Antwort. Der Chef selber – wäre Nonsens. Er hat mich als seinen Nachfolger hierhergeholt. Doktor Kowalski? Zugegeben, ich habe mehrmals an ihn gedacht. Er wäre glücklich, wenn ich hier scheitern würde, schließlich hat er sich schon als Nachfolger des Chefs gesehen.“ „Aber –?“ „Er schießt gern seine kleinen Giftpfeile ab, wie man so sagt. Aber ein Giftmörder? Nein, ein solches Risiko ginge er nicht ein. Doktor Fünfstück? Dem bin ich nicht im Wege. Und Doktor Drey? Ein Humanist aus Überzeugung. Nein, nein, das führt uns nicht weiter.“ 110
„Ja, suchen Sie denn dann auch den Täter außerhalb der Klinik?“ „Der Angriff muß von draußen kommen, ja.“ „Aber jemand von draußen hätte gar keine Gelegenheit zu seiner Tat, überlegen Sie doch! Er muß mit dem Ort, mit dem Arbeitsrhythmus auf Station, mit all den Bedingungen des Klinikbetriebes vertraut sein!“ „Dann hat er eben einen Helfershelfer hier.“ „Wer sollte denn wem zuliebe ein solches Risiko auf sich nehmen?“ Wittig gibt zu, daß das schwer vorstellbar ist. „Herr Oberarzt, ich muß noch einmal auf Schwester Annemarie zu sprechen kommen. Winken Sie bitte nicht ab!“ „Aber Sie wissen doch alles über unsere frühere Beziehung.“ „Wirklich, Herr Oberarzt? Sie müssen mir schon gestatten, daß ich da etwas skeptisch bin.“ Das Telefon läutet. Kant nimmt ab. Ellrodt ruft aus dem Gerichtsmedizinischen Institut an. Er teilt das Ergebnis der Exhumierung mit. Der Student mit der Wanderniere ist durch Arsenik vergiftet worden. In der Leichenasche des Ingenieurs Rothkegel hat sich Arsenik gefunden. Die Darmprobe und das Erbrochene von Frau Schütz enthalten Arsenik. Kant nimmt die Mitteilung schweigend zur Kenntnis. „Hast du das mitgekriegt, mein Junge?“ „Jawohl, Genosse Major.“ „Das sind vier Tote, das reicht wohl, wie?“ „Drei, Genosse Major. Aber es reicht trotzdem.“ „Noch eine Leiche, und wir können uns begraben lassen. Hast du das kapiert?“ „Jawohl, Genosse Major.“ „Ich will hier noch einiges wegen Darmstadt recherchieren. Gegen Abend bin ich wieder zurück. Ende.“ Kant legt auf, geht zum Tisch zurück. Wittig scheint 111
gemerkt zu haben, daß Nachrichten von Bedeutung eingetroffen sind. Er blickt Kant erwartungsvoll an. Kant sagt brutal: „Drei Giftmorde bestätigt, Herr Oberarzt, möglicherweise vier, falls Frau Schütz …“ Wittig sitzt regungslos. „Schwester Annemarie“, sagt Kant, „ist die einzige, die Weber das Gift geben konnte.“ „Weber!“ ruft Wittig. „Und den andern? Das geht einfach nicht auf!“ „Herr Oberarzt, haben Sie, was Ihre Beziehung zu Schwester Annemarie betrifft, noch irgend etwas hinzuzufügen?“ Wittig blickt zum Fenster hinaus. „Schwester Annemarie wollte, daß ich sie heirate. Und mit ihr nach drüben gehe. Ich habe das abgelehnt. Deshalb sind wir auseinander.“ Er versucht ein Lächeln, macht eine entschuldigende Geste. Kant zieht einige Bogen Papier heran. „Erzählen Sie der Reihe nach.“ Wittig berichtet, bald nachdem er nach Vorberg gekommen sei, habe sich Schwester Annemarie ihm zu nähern versucht. Er habe anfangs nichts dagegen gehabt, gebunden sei er nicht gewesen, und wenn ihn Annemaries Aktivität auch etwas abstieß, habe er ihren Eifer, sich ihm unentbehrlich zu machen, auch wieder ganz angenehm empfunden. An eine Heirat habe er jedoch nie gedacht, das habe auch Annemarie von Anfang an gewußt. „Aber sie hat wohl die Hoffnung nicht aufgegeben, ihr Ziel doch noch zu erreichen. Im Februar verbrachten wir dann einige Tage Urlaub in Berlin. Dort rückte sie mit ihrer Absicht heraus, mit mir nach Westdeutschland zu gehen. Sie hätte drüben Verbindungen von früher, in Köln und Darmstadt, und ein so erfahrener Chirurg finde doch sicher eine gute Position. Wir könnten uns zusammen eine neue Existenz aufbauen. Ich habe ihr gesagt, da sei sie an den Falschen geraten. 112
Meine Zukunft sei hier. Aber sie hat nicht lockergelassen, und da habe ich meinen Koffer genommen und bin zurückgefahren. Zwei Tage später traf Annemarie auch wieder hier ein. Aber zwischen uns war es aus. Wir haben nicht einmal mehr eine Aussprache gehabt. Es gab einige Wochen Gerede, wie Sie sich denken können. Man rätselte herum, was uns wohl auseinandergebracht hat.“ „Und warum rücken Sie erst jetzt mit dieser Geschichte heraus, Herr Oberarzt?“ „Weil ich sie für unerheblich hielt. Annemarie hat in ihrer Verliebtheit einen verrückten Plan ausgeheckt. Ich bin wieder hier, sie ist wieder hier. Warum sollte ich davon erzählen? Und sie vielleicht in Schwierigkeiten bringen?“ „Und warum erzählen Sie mir die Geschichte nun doch? Weil Sie sie nun nicht mehr für so harmlos halten?“ „Sie sind doch der Meinung, Annemarie könnte in diese Sache verwickelt sein.“ „Und Sie, Herr Oberarzt, haben als erster auf die politische Seite des Verbrechens hingewiesen! Und nun wundern Sie sich, daß auch wir den Fall politisch sehen!“ „Entschuldigen Sie“, murmelt Wittig. „Aber ich habe doch nicht im Traum gedacht, Schwester Annemarie könnte damit etwas zu tun haben.“ „Daß in einem solchen Fall Westverbindungen von Wichtigkeit sind, dürfte Ihnen sogar im Traum vorstellbar sein, Herr Oberarzt!“ sagt Kant, den die tatsächliche oder gespielte Naivität Wittigs zu ärgern beginnt. Er fragt Wittig, ob Schwester Annemarie heute Dienst habe. Wittig bejaht. Er kann jetzt gehen. Als Schwester Annemarie erscheint, sagt Kant ihr auf den Kopf zu, sie habe Wittig seinerzeit zur Republikflucht verleiten wollen. 113
In diesem Augenblick wird Annemarie klar, daß Kant diese Information nur von Dr. Wittig selbst haben kann. „Wittig ist ein Schwein!“ sagt sie verächtlich. „Er spricht allerdings in diesem Falle die Wahrheit. Ja, ich hatte vor, mit ihm nach drüben zu gehen. Glücklicherweise wollte er nicht.“ „Was meinen Sie mit glücklicherweise? Bedauern Sie Ihren Plan?“ „Mit glücklicherweise meine ich, daß ich mich glücklicherweise nicht an diesen Kerl gebunden habe.“ In diesem Augenblick klopft es, und Wittig tritt ein. Er meidet Annemaries Blick und teilt Kant mit, Frau Schütz sei soeben verstorben. Dann schließt er lautlos die Tür hinter sich. „Haben Sie mal eine Zigarette, Herr Leutnant?“ fragt Annemarie. Kant reicht ihr seine Schachtel und gibt ihr Feuer. „Frau Schütz“, sagt Annemarie und hustet verschluckten Rauch aus. „Wir haben also vier Giftmorde jetzt, Schwester. Alle vier Ermordeten wurden von Doktor Wittig operiert. Ihr Tod sollte als Kunstfehler Wittigs erscheinen und ihn rettungslos kompromittieren. Ihn reif machen für eine Flucht. Freiwillig wollte er nicht mit Ihnen nach drüben gehen. Also versuchten Sie, auf diesem Weg zu Ihrem Ziel zu kommen.“ „Nein“, sagte sie, „das gibt es doch nicht! Das wollen Sie mir anhängen?“ Plötzlich reißt sich ihr ohnehin großer Mund zu glucksendem Lachen auf. Sie starrt Kant an. „Wer hat sich denn das ausgeheckt, wie? Der Major? So blöd kann doch nicht mal der Major sein!“ Sie verschluckt sich erneut, wischt sich mit dem Handrücken die Tränen ab. Die getuschten Wimpern hinterlassen Schmierspuren. „Die letzten Tage habe ich abgefeiert, Herr Kant, da war ich nicht im Dienst, nicht in der Klinik, außer zum Ver114
hör, und als der Rothkegel starb, in der Woche hatte ich Urlaub. Das prüfen Sie erst mal nach, und dann kommen Sie wieder.“ Sie setzt sich, schlägt ein Bein über das andere, legt die Hände in den Schoß und blickt Kant herausfordernd an. Eine Viertelstunde später hat Kant die Wahrheit ihrer Behauptungen überprüft. Während zweier Mordanschläge war sie nicht im Haus gewesen. Also ein Alibi? Es ist schon so manches Alibi durchlöchert worden, denkt Kant. Aber vorerst ist es eins. Sein Versuch, Ellrodt bei seiner Rückkehr den Täter zu liefern, ist gescheitert. Sollte Annemarie doch der Täter sein, habe ich sie gewarnt. Ist sie es nicht, bin ich ein Blödmann. Was mache ich nun mit ihr? Zur Festnahme habe ich keinen Auftrag, und dazu reicht es jetzt auch nicht mehr. „Sie können gehen, Schwester Annemarie. Halten Sie sich zu unserer Verfügung!“ „Schon gut, Herr Leutnant“, sagt sie. Sie hat plötzlich ganz kleine Augen, wie eine Katze vor dem Einschlafen.
Mittwoch, 8. Juni, 17 Uhr 10 11 Es ist kurz nach fünf Uhr nachmittags, als Inge am gewohnten Treffpunkt in Wittigs Wagen steigt. Seit Tagen sind sie zum ersten Mal wieder allein. Unter anderen Umständen hätte sich Inge bei geöffnetem Wagenfenster hintenübergelehnt, den warmen Sommerwind eingeatmet und sich zufrieden gefühlt. Heute ist sie unsäglich müde, mit einem dumpfen Druck in der Brust. „Geht es dir auch so, Hans?“ fragt sie. „Als wenn ich einen Kater hätte, so kaputt bin ich.“ 115
„Kein Wunder, Inge. Mir ist zumute, als hätte ich auch noch Frau Schütz umgebracht.“ „Red nicht solchen Unsinn.“ Inge legt ihre Hand auf seinen Arm. „Du mußt dich endlich von diesen Selbstvorwürfen befreien.“ „Und dann komme ich mir wieder vor, wie das nächste Opfer.“ „Aber das ist doch grauenhaft, Hans!“ „Kennst du auch diesen Traum, wo jemand hinter dir her ist und du rennst und rennst durch endlose Gänge, und alle Fenster sind zu, an denen du rüttelst, und alle Türen?“ Sie streicht ihm schweigend übers Haar. „Ich glaube, er belauert mich. Er beobachtet jeden Schritt.“ Wittig stoppt den Wagen, steigt aus und blickt die Waldstraße hinunter, die er soeben emporgefahren ist. „Niemand ist uns gefolgt, na siehst du!“ sagt sie erleichtert. Aber Wittigs skeptische Handbewegung zeigt, daß er sich dessen durchaus nicht sicher ist. Seine Unruhe überträgt sich auf Inge. Einen Augenblick empfindet sie sogar Angst vor seiner Angst. Dann sagt sie: „Wenn er – oder wenn sie – es auf dich abgesehen hätte, wäre doch längst schon etwas passiert.“ „Jaja“, murmelt er abwesend, blickt sich nochmals um, bevor er wieder einsteigt und anfährt. „Jedenfalls sind beide Kriminalisten der Meinung, daß die Morde mit meiner Person zusammenhängen. Glaub mir, das ist kein angenehmes Gefühl.“ „Das verstehe ich schon, Hans. Aber das ist erst mal nur eine Meinung. Jeder spinnt sich etwas anderes zusammen.“ „Du auch?“ „Manchmal denke ich, daß ein Wahnsinniger unter uns ist …“ „Dem ich ausgeliefert bin.“ 116
„Ach Hans!“ Ein schmerzvoller Ausruf aus der Tiefe des Herzens. Aber mehr läßt sich wohl nicht sagen in diesem Augenblick. Der Wagen nähert sich der Kammstraße und durchfährt gerade die Kurve, in der Wittig vergangenen Samstag die Panne mit dem Keilriemen hatte. „Und der Keilriemen?“ fragt Inge, „ich hatte es schon wieder vergessen.“ „Der Keilriemen? O ja. Ich habe Wiegand angerufen, gleich am Montag, und er hat es sofort wieder in Ordnung gebracht. Bei dieser Gelegenheit hat er mir gesagt, sein Leistenbruch mache ihm ziemlich zu schaffen.“ „Ah, deshalb hast du ihn so plötzlich auf Station eingewiesen.“ „Ich hab’ ihm geraten, die Operation nicht länger hinauszuschieben. Da sagte er, dann lieber gleich – wenn ich ihm verspreche, daß ich ihn selber operiere.“ Nun biegt der Wagen auf die Kammstraße ein. Nach wenigen Kilometern führt ein Pfad nach links in dichtes Tannengehölz. Die tiefen Fahrtrinnen sind mit brackigem Wasser gefüllt. Wittig muß aufpassen, daß der Wagenboden nicht auf der erhöhten Wegmitte aufsitzt. Einige hundert Meter weiter, auf einer Lichtung, wird gleich ein kleiner See in Sicht kommen. Auf dem flachen Grund des Wassers sieht man bei Sonnenschein Bergmolche. Die Männchen haben einen Kamm auf dem Rücken und einen orangeroten Bauch. Hier haben Wittig und Inge schon manchen Nachmittag gesessen. Einmal war es Wittig gelungen, einen Molch zu fangen. Inge hatte den glitschig-kalten Körper des Tieres in die Höhlung ihrer Hände gelegt und zu wärmen versucht. Er braucht keine Wärme, hatte Wittig gesagt. Aber er ist doch so kalt! hatte Inge erwidert, und als Wittig ihr erklärte, es sei ein wechselwarmes Tier, das sich auch in kaltem Wasser wohl fühle, hatte sie den Molch enttäuscht wieder ins Wasser gesetzt. 117
Aber als der Wagen auf die Lichtung kommt, hat sich der Ort romantischer Erinnerungen verändert. Die hohen Fichten sind umgehauen, die Stämme entästet und abgeschält. Zwischen verdorrenden Zweigen und zusammengerollter Rinde liegen die Stämme wie Knochen eines vorweltlichen Ungeheuers. Es riecht nach Harz und Trauer. Der Weg ist von Traktorenketten zerwühlt. „Laß uns woandershin fahren“, bittet Inge verstört. Aber Wittig sagt, hier sollten wir bleiben, das ist genau die richtige Umgebung für unsern Zustand. Er nimmt eine Decke aus dem Gepäckraum, breitet sie aus, legt sich hin und blickt in den Himmel. Inge setzt sich zögernd, zieht die Beine an und legt den Kopf auf die Knie. „Die haben mich auch über Annemarie ausgefragt“, sagt Wittig plötzlich. Inge hebt den Kopf. „Über Annemarie? Wieso?“ „Ich weiß nicht. Ich habe das Gefühl, sie haben Annemarie irgendwie in Verdacht.“ „Und was hast du ihnen gesagt?“ „Was mit Annemarie war.“ „Da wissen sie wohl jetzt anscheinend mehr als ich!“ „Wie meinst du denn das schon wieder?“ „Mir jedenfalls hast du nicht viel über deine große Liebe erzählt.“ „Aber Inge, hör mal, große Liebe, hör doch mal zu –“ „Ich höre sehr genau zu, Hans!“ Er setzt sich auf. Ihre eifersüchtige Erregtheit belustigt ihn. Wo ist ihre anschmiegsame Sanftheit geblieben? Wieso soll er sich dergestalt über Vergangenes rechtfertigen? „Nun, ich habe ihnen erzählt, daß wir zusammen Urlaub gemacht haben, daß sie mich partout heiraten wollte, daß mich ihre Besitzgier abgestoßen hat und ich mich wieder von ihr getrennt habe.“ „Haben sie dich auch gefragt, ob ihr miteinander geschlafen habt?“ 118
„Das haben sie wohl als selbstverständlich angenommen.“ Inge schlägt ihm ihre kleinen Fäuste auf die Knie, es sieht possierlich aus. Er hält ihre Hände fest. „Das hast du doch gewußt, Inge, bitte beruhige dich wieder.“ „Ich möchte heim“, sagt sie. Er blickt sie an, ihre Entschlossenheit ist unübersehbar. „Natürlich fahren wir heim, wenn du willst. Aber eins muß ich dir doch sagen. Seit Tagen habe ich das Gefühl, als hätte man mich in eine tosende Brandung geworfen. Ich weiß nicht, wie ich da wieder rauskomme. An irgend etwas muß ich mich klammern. Ich dachte, das wärst du. Aber wenn ich mich jetzt nicht einmal mehr auf dich verlassen kann …“ Inge legt beide Arme um seinen Hals. Sie sagt kein Wort. Er hört sie schluchzen. Ihr Schrecken und ihre Zuneigung versöhnen ihn, er küßt sie und sagt: „Weine doch nicht. Wenn wir zwei uns haben, wird alles gut.“
Mittwoch, 8. Juni, 19 Uhr 45 12 Als Kant das Klinikgebäude verläßt, schlägt ihm schwüle Sommerabendluft entgegen. Jetzt an einem Waldsee liegen! Die Vorstellung von kühlem Wasser kann einen melancholisch machen. Kant kommt heute zeitiger heim, als zu erwarten war. Ellrodt hatte angerufen und mitgeteilt, er werde erst im Laufe der Nacht zurück sein. Kant wagte nicht, am Telefon über sein Fiasko mit Schwester Annemarie zu berichten. Ellrodt zeigte auch kein sonderliches Interesse an der Situation in der Klinik, er schien immer noch seiner Theorie nachzujagen. 119
Chris hat ihn noch nicht erwartet und sieht gerade Schülerzeichnungen durch. Das Kind liegt schon im Bett. Chris steht auf, um ihrem Mann etwas zu essen zu machen. Er setzt sich in die Küche, beobachtet, wie sie Salzkartoffeln in Scheiben schneidet, eine Zwiebel zerteilt und etwas Öl in die Pfanne gießt. „Du siehst ziemlich zerknittert aus“, bemerkt Chris und wirft die Zwiebelringe ins siedende Öl. „Bin ich auch, Chris.“ „Nicht vorangekommen?“ „Wie man’s nimmt. Zu schnell. Und haarscharf am Ziel vorbei.“ Die Zwiebelringe krümmen und bräunen sich. Der Rauch zieht durchs offene Fenster ab. „Da ist heute eine Patientin gestorben, mit zweiunddreißig Jahren. Drei Kinder. War mit akuter Blinddarmentzündung in die Klinik gekommen und operiert worden.“ Chris schüttet die Kartoffelscheiben in die Pfanne. „Als sie eingeliefert wurde, hat sie bestimmt gedacht, ein Blinddarm, was ist das schon, das macht jeder Assistenzarzt, reine Routine, in vier, fünf Tagen bist du wieder draußen. Zwei Tage später war sie tot.“ Die Kartoffeln zischen und verfärben sich, Chris wendet sie vorsichtig. „Vergiftet. Wieder mit Arsenik.“ Chris weiß, ihr Mann erwartet keine Antworten auf seine Monologe. Er erwartet nichts weiter, als daß sie zuhört. „Der vierte Giftmord. Und das Allerschlimmste, Chris, er fand statt in meiner Gegenwart. Hätten wir den Täter entdeckt, lebte die Frau noch.“ Chris hat noch zwei Eier da, die wollte sie als Überraschung den Bratkartoffeln zusetzen, aber aus der Überraschung würde jetzt wohl nichts mehr, erfahrungsge120
mäß bemerkte Harry in diesem Zustand die kulinarische Verfeinerung nicht. So holt sie wortlos die Eier aus der Kammer und schlägt sie zwischen die Bratkartoffeln, und Kant sieht zu und sieht es nicht. „Vielleicht habe ich meinen Beruf verfehlt. Vielleicht wäre ich ein ganz brauchbarer Dozent für Dia-Mat oder für formale Logik geworden. Im realen Leben scheint mir logisches Denken abhanden gekommen zu sein.“ Chris schüttet die Bratkartoffeln auf den Teller, legt eine Gabel dazu und stellt eine Flasche Bier daneben. „Wo hast du denn die Eier her?“ fragt er plötzlich. „Von Frau Hübel.“ Er gießt sich Bier ins Glas, trinkt, beginnt zu essen. Chris holt sich auch ein Glas und setzt sich neben ihn. Er lächelt und nickt ihr zu, als erwarte er, daß sie seine Zweifel bestätigt. „Was soll ich dir darauf sagen, Harry? Soll ich dein Berufsethos bemühen?“ „Unsinn!“ „Optimismus der liebenden Frau mimen?“ „Optimismus habe ich mehr als genug, bei Ellrodt“, murmelt Kant verdrossen. „Mensch, ihr beide werdet doch diesen Kerl schaffen“, sagt sie, „sonst laßt euch doch gleich begraben!“ „Diesen Satz habe ich heute schon einmal gehört, also wird er wohl stimmen. Die Bratkartoffeln waren gut, vielen Dank. Ich habe noch zu arbeiten.“ Er steht auf, wischt sich den Mund, gibt Chris einen flüchtigen Kuß und geht hinaus. In seinem Zimmer öffnet er weit die Fenster. Die Silhouette der Berge verschwimmt blaugrau, der Himmel verliert allmählich sein Smaragdgrün und verdunkelt sich. Man müßte diesen Fall noch einmal ganz neu beginnen, ganz von vorn. Das ist der einzige Ausweg, wenn man sich festgefahren hat: zurück und nochmals anfah121
ren. Warum sind wir denn aber festgefahren? Wo haben wir etwas falsch gemacht? Kant steht auf und nimmt das soeben erschienene Lehrbuch für Kriminalisten aus dem Regal. Tatbefundsaufnahme: Ist geschehen, nach allen Regeln. Ermittlung Verdächtiger: Was haben wir denn bisher anderes getan, als aus dem Kreise potentieller Täter einen wirklich Verdächtigen zu eliminieren? Nämlich Schwester Annemarie? Gegenwärtig, so liest er, verändere sich in der DDR der Inhalt der Verbrechen. An die Stelle von Delikten zur persönlichen Bereicherung träten immer mehr Anschläge von Agenten und Terroristen auf unsere Staatsordnung. Genau das ist Schurichts und Ellrodts Hypothese: Dieses Verbrechen fügt unserm Gesundheitswesen Schaden zu. Also wurde es begangen, um ihm Schaden zuzufügen. Kant wiederholt verwirrt diesen Satz. Wenn es regnet, wird die Straße naß. Stimmt. Wenn die Straße naß ist, hat es geregnet. Das stimmt nicht. Man kann von der Ursache auf die Folge schließen, aber nicht umgekehrt von der Folge eindeutig auf die Ursache. Die Straße muß nicht vom Regen naß sein, vielleicht ist der VEB Straßenreinigung darübergefahren. Das ist Ellrodts Fehler! Er hat von der Folge auf eine einzig mögliche Ursache geschlossen. Der Tod der vier Patienten kann eine Folge eines terroristischen Anschlags sein, er muß es aber nicht. Unser Fall könnte auch ein privates Motiv haben! Das aber hätte für unsere Arbeit einige Konsequenzen! Wenn Schwester Annemarie die Täterin wäre, könnte sie die Tat auch aus rein persönlichen Motiven begangen haben. Aber es ist auch möglich, daß ein ganz anderer Mensch der Täter ist, und auch er könnte persönliche Gründe haben. Noch einmal: Wittig ist die Schlüsselfigur. Um Wittig zu kompromittieren, mordet Annemarie aus politischen 122
oder privaten Motiven. Oder ein anderer Mann, der Annemarie liebt und auf Wittig eifersüchtig ist. Oder mordet eine Frau, die den Wittig liebt und auf Annemarie eifersüchtig ist? Unsinn! Die Beziehung zwischen Wittig und Annemarie ist doch, wie jeder weiß, kaputt! Oder ist sie es nicht? Spielen die beiden uns nur eine Komödie vor? Kant wird es bei all diesen Gedanken unheimlich. Materielle Beweise gibt es nicht, was Wunder, wenn die Spekulation üppig ins Kraut schießt!
Donnerstag, 9. Juni, 7 Uhr 55 13 An diesen Vormittag werden sich alle Beteiligten immer erinnern. In einem Theaterstück würde man die Ereignisse dieses Tages als Höhepunkt bezeichnen. Der Gipfel der Handlung wird erreicht, danach fällt sie steil ab und jagt der Katastrophe entgegen. Aber das Kunstwerk steuert dem Höhepunkt allmählich, in kleinen Schritten, zu. In unserem Fall geschieht es sozusagen in zwei raschen Sprüngen. Hauptfigur der ersten Höhepunktszene ist eine nicht mehr anwesende Person, nämlich Schwester Annemarie. Als Ellrodt heute früh in der Klinik eintraf, teilte ihm Kant mit, was er gestern bei der Vernehmung von Wittig und Schwester Annemarie erfahren hatte. Ellrodt war über diese Information erfreut, widersprach sie doch nicht seiner Hypothese, Annemarie habe den Auftrag gehabt, Wittig nach drüben abzuwerben. „Ich habe gestern erfahren, daß die Darmstädter Privatklinik, in der Annemarie jahrelang tätig war, aufs engste mit dem Arzneimittelwerk Merck zusammenarbeitet“, erklärte Ellrodt. Kant wagte einen Einwand. Annemarie habe für zwei 123
der Morde ein Alibi. Alibi! sagte Ellrodt verächtlich. Er werde ihr Alibi schon noch zerpflücken! Ellrodt hatte sich dann ans Telefon gehängt, um von Staatsanwalt Schuricht einen Hausdurchsuchungsbefehl und einen Haftbefehl für Schwester Annemarie zu erwirken. Gegen Viertel neun fahren Ellrodt, Kant und ein Oberwachtmeister vom VPKA zur Wohnung der Schwester Annemarie. Auf ihr Klingeln öffnet niemand. Von einer Flurnachbarin erfahren sie, Schwester Annemarie sei gestern abend verreist. „Sie ist mit zwei Koffern gegangen. Und dann ist sie in einen Wagen gestiegen, der hat auf sie gewartet.“ „Hat sie gesagt, wohin sie fahren wollte?“ „Nein.“ „Können Sie den Wagen beschreiben?“ „Von Autos verstehe ich gar nichts.“ „Haben Sie wenigstens den Fahrer gesehen?“ „Nein. Aber es war ein altes Auto.“ „Wann ist Schwester Annemarie weggefahren?“ „So gegen sieben.“ Ellrodt blickt auf seine Uhr. Also vor fast vierzehn Stunden. Eine Fahndung ist wahrscheinlich sinnlos, die Frau ist längst über die Grenze. „Wer zum Teufel hat sie weggebracht“, fragt Ellrodt Kant. „Hatte sie doch einen Komplicen?“ Wenig später stellt sich heraus, daß der ominöse Wagen ein gewöhnliches Taxi war. Herr Koch, der Taxibesitzer aus Vorberg, sagt aus, daß sich Schwester Annemarie zum Hauptbahnhof nach Karl-Marx-Stadt fahren ließ. Wohin sie dann weiter wollte, weiß er nicht. Kant erwartet schwere Vorwürfe vom Major, daß er gestern abend Annemarie laufenließ. Aber es kommt keine Kritik. Das ist ihm unverständlich und beunruhigt ihn noch mehr. 124
Ins Arbeitszimmer in der Klinik zurückgekehrt, läßt sich Ellrodt zuerst einmal eine Riesenkanne Kaffee bringen. Während er Kant und sich eingießt, fragt er: „Was meinst du, warum ist sie abgehauen, nachdem du sie vernommen hattest? Hast du sie hart angepackt?“ „Ich habe ihr vorgehalten, daß sie Wittig unter Druck gesetzt hat, damit er mit ihr nach drüben ginge.“ „Und wie hat sie darauf reagiert?“ „Sie hat gesagt: Die vier Morde wollen Sie mir anhängen?“ „Wie hat sie das gesagt?“ „Sie wurde ziemlich hysterisch dabei.“ „Hm.“ Ellrodt denkt nach. „Warum ist sie fort? Weil sie sich entlarvt sah oder …?“ Kant blickt Ellrodt erstaunt an. Ellrodt zieht noch einen andern Grund in Betracht? „Oder war es einfach eine Angstreaktion? Angst, wegen ihrer Fluchtpläne zur Verantwortung gezogen zu werden?“ „Das wäre möglich, Genosse Major. Aber dann – hätten Sie ja doch Zweifel an Annemaries Täterschaft.“ „Die Morde sind eiskalt ausgeführt worden. Und nun dieses hysterische Frauenzimmer – ich weiß nicht!“ Kant wundert sich immer mehr. Er zeigt es jedoch nicht. So nickt er nur zustimmend. „Aber der Hauptzweifel, mein Junge, kommt aus einer andern Ecke. Frau Schütz befand sich auf Station B. Die drei andern Opfer lagen auf Station A. Der Mord springt also auf eine andere Station über!“ „Beide Stationen liegen doch auf dem gleichen Flur!“ „Natürlich sind sie nicht hermetisch voneinander getrennt. Trotzdem wäre es doch sicherlich aufgefallen, wenn sich Schwester Annemarie plötzlich auf Station B zu schaffen gemacht hätte. Wir müssen also auch Station B in unsere Untersuchung einbeziehen. Wir sitzen ganz schön in der Scheiße, wie?“ Du lieber Himmel, denkt Kant, der Lack blättert ab 125
vom sagenhaften Ellrodt. Für dieses Eingeständnis ist Kant bereit, dem Major alles nachzusehen, sogar die zeitweilige Degradierung zum Protokollführen. „Wir werden auch wieder herauskommen, Genosse Major.“ „Meinst du? Na wunderbar. Das will ich hoffen, mein Junge, das will ich verdammt hoffen.“ Vorläufig sieht es aber nicht so aus. Die zweite Szene, die zum direkten Höhepunkt führt, kündigt sich schon an. Ihre Hauptfigur ist nun wieder Dr. Wittig. Selbst wenn er heute über diese Stunden spricht, kommt noch etwas Unkontrollierbares in seine Stimme, ein Anflug von Schrecken und Panik. An diesem Vormittag stehen drei Operationen auf Wittigs Plan: eine Galle, ein Magen und ein Leistenbruch. Wittig betrachtet gerade die Röntgenbilder, als Oberpfleger Schultheiß eintritt und ihm mitteilt, die Galle verweigere die Operation. „Morgenthin weigert sich? Was soll das heißen?“ „Daß er wahrscheinlich Angst hat, Herr Oberarzt!“ „Aber er hatte doch in die Operation eingewilligt.“ „Als ich ihm die Spritze geben wollte, sagte er: Mit mir nicht! Wörtlich, Herr Oberarzt, mit mir nicht! Vielleicht wäre es besser, wenn Herr Oberarzt selber mit dem Morgenthin sprechen würden.“ Aus Zimmer 9 dringt lautes Stimmengewirr. Schultheiß öffnet die Tür. Als Wittig ins Zimmer tritt, wird es still. Wittig spürt, da liegt etwas in der Luft. Die sechs Männer starren ihn aufgeregt an. Hier sollte ich vielleicht einschalten, daß auch ich damals in diesem Zimmer lag und die Dinge aus umgekehrter Optik sah als Dr. Wittig. Irgendwann an diesem Morgen mußte trotz des Schweigegebots für das Personal, das sich im Interesse seiner Autorität natürlich daran zu halten versuchte, etwas durchgesickert sein. Heute läßt sich nicht mehr 126
feststellen, von wem Morgenthin etwas von den Vorgängen auf der Station erfahren hatte. Daß die Kripo seit Tagen im Haus war, Patienten ausfragte, Ärzte vernahm, in der Küche herumschnupperte, wußten wir alle. Aber wir wußten nicht, warum. Eine Küchenhilfe vielleicht, vielleicht eine Schwester, wer auch immer – irgend jemand, möglicherweise sogar der Täter selbst, mußte etwas ausgeplaudert haben. Morgenthin sah ohnehin seiner Gallenoperation mit Angst entgegen. Und nun erfuhr dieser Mann, dem Arzt, der ihn operieren sollte, sind in letzter Zeit vier Leute unterm Messer geblieben. Und daß deshalb die Kripo ermittelte. Noch nicht einmal von Giftmord war die Rede, ich glaube, das wußte damals noch niemand von uns. Es hieß nur, wer von Wittig operiert wird, der stirbt. Nun war also Morgenthin an der Reihe. Und als der Oberpfleger erschien, um ihm die Beruhigungsspritze vor der Narkose zu geben, rannte er aus dem Bett und rief, er ließe sich nicht auch umbringen, eher würde er im Hemd aus dem Fenster springen. Der Oberpfleger ließ sich erst gar nicht auf eine Debatte ein und sagte mit aller Ruhe, Morgenthin solle sich nicht aufregen, er werde den Herrn Oberarzt bitten, selber zu kommen. Als der Oberpfleger hinausgegangen war, gab es einen regelrechten Tumult. Morgenthin sprang im Nachthemd aufs Fensterbrett, riß das Fenster auf und rief: „Ich bin schon auf dem Sprung in die Freiheit!“ Trotz des Ernstes der Situation hörte sich das ziemlich komisch an. Einige Zimmerinsassen gaben Morgenthin lautstark recht. Andere, wie der alte Wiegand, hielten zu Dr. Wittig und machten sich über Morgenthins Ängste lustig. Das also war die Lage, als der Oberarzt eintrat. Morgenthin umklammert wie ein Gibbon das Fensterkreuz. Einige Patienten blicken Wittig feindselig, die andern verschüchtert an. „Nun, Herr Morgenthin“, sagt Wittig behutsam und 127
geht auf das Fenster zu, „was machen Sie denn für Geschichten. Sie waren doch gestern abend noch bereit zur Operation.“ Morgenthin hängt ein Bein zum Fenster hinaus. „Aber heute will ich nicht mehr“, murmelt er verbissen. „Kommen Sie nicht näher!“ Er hängt auch noch das andere Bein nach draußen. In diesem Augenblick, bevor Morgenthin reagieren kann, springt der Oberpfleger zum Fenster, packt ihn, zerrt ihn herunter und befördert ihn ins Bett. Wittig setzt sich auf den Bettrand. „Nun sagen Sie mal, Herr Morgenthin, warum haben Sie plötzlich solche Angst vor der Operation?“ „Da soll einer keine Angst haben!“ ruft Morgenthin mit einer Mischung von Hohn und Weinerlichkeit. Wittig legt beruhigend seine Hand auf Morgenthins Arm. Aber der stößt die Hand zurück und verkriecht sich zusammengerollt am Kopfende des Bettes. Wittig spürt, daß hier Stärkeres im Spiel ist als die übliche Angst – ein psychotischer Zustand … Er blickt die andern an. „Was ist denn eigentlich passiert?“ Düsteres Schweigen antwortet ihm. Dann sagt schließlich der alte Wiegand, der heute ebenfalls unters Messer soll: „Herr Oberarzt, der Morgenthin will sich nicht operieren lassen, weil …“ Aber auch Wiegand verläßt nun wohl der Mut, die Wahrheit zu sagen. „Herr Wiegand“, drängt Wittig, „nun mal ’raus mit der Sprache! So gut, wie wir uns kennen! Sprechen Sie! Auch im Interesse Morgenthins, der ja nun doch einmal operiert werden muß!“ „Aber nicht von Ihnen!“ ruft es unter dem Kopfkissen hervor. Und jetzt begreift Wittig. Jetzt also, denkt er, ist es soweit! Sie haben Angst vor mir, Todesangst! Er blickt von Bett zu Bett, keiner schaut ihn mehr an, ihre Augen sind an die Decke gerichtet, an die Wand, nach innen. 128
Nur der alte Wiegand, der ihm vor ein paar Tagen noch den Keilriemen eingesetzt hat, setzt sich auf und sagt: „Herr Oberarzt, ich habe Ihnen immer den Wagen repariert. Und jetzt reparieren Sie mich. Vertrauen gegen Vertrauen. Also Herr Oberarzt, dann fangen Sie halt mit mir an.“ „Ich operiere Sie nicht!“ schreit Wittig den alten Herrn an. „Ich operiere überhaupt nicht mehr!“ Und wendet sich um und schlägt krachend die Tür hinter sich zu. Die Stille ist lähmend. Wiegand sitzt noch immer aufrecht da und murmelt Unverständliches. „Ihr seid mir vielleicht ein Volk!“ sagt der Oberpfleger vorwurfsvoll. „Den Herrn Oberarzt dermaßen vor den Kopf zu stoßen! Rausschmeißen müßte man euch, im hohen Bogen! Pfui Teufel noch mal!“ Er tritt zu Morgenthin, schüttelt ihn derb und herrscht ihn an, er solle sich ordentlich ins Bett legen. Morgenthin gehorcht. Dann verläßt auch Schultheiß das Zimmer. Es muß dann, wie mir Wittig weiter erzählte, zu einer nicht weniger turbulenten Szene im Zimmer des Direktors gekommen sein. Wittig hatte Dr. Frieders um sofortige Beurlaubung gebeten, bis der Fall aufgeklärt sei. Unter solchen Umständen könne er nicht weiterarbeiten, er komme sich wie ein Geächteter vor. Aber Frieders ist nicht dieser Meinung. Er betont, er habe volles Vertrauen zu Wittig und sei von seiner Integrität überzeugt. „Aber nicht die Patienten!“ entgegnet ihm Wittig. „Die müssen ja in Panik geraten. Und wir können nun mal keine Patientenvollversammlung einberufen und erklären: Die Todesfälle kommen aufs Konto eines noch unbekannten Giftmörders!“ „Ich wünschte, wir könnten den Leuten endlich die Wahrheit sagen“, seufzt Frieders. „Wir wissen sie selber nicht!“ „Du hast schon recht, Hans. Trotzdem – überleg dir 129
noch einmal deinen Entschluß. Entschlüsse im Affekt sind Selbstschüsse. Es hilft niemandem, wenn du jetzt kapitulierst.“ „Vielleicht helfe ich damit doch einigen Menschen. Nämlich denen, die sonst als nächste umgebracht würden.“ „Du hast eine makabre Logik!“ „Aber es ist die Logik der augenblicklichen Situation.“ „Ja, rechnest du wirklich noch mit weiteren – – Anschlägen?“ „Deshalb will ich ja von der Bühne!“ Aber Frieders hat noch ein Gegenargument. „Vielleicht würden wir den Herren von der Kripo die Arbeit erleichtern, wenn alles so weiterliefe wie bisher?“ „Auf Kosten weiterer Menschenleben?“ „Natürlich nicht. Aber Ellrodt und Kant sind durch den neuerlichen Mord sicher noch mehr gefordert, die Aufklärung voranzutreiben!“ „Sie arbeiten doch Tag und Nacht daran! Und konnten trotzdem den Tod von Frau Schütz nicht verhindern. Ich bleibe dabei. Du mußt mich beurlauben.“ „Nun gut, ich akzeptiere deinen Wunsch, vor allem im Interesse der Patienten. Es wäre dann nur noch die Vertretung zu regeln. Übergib bitte an Herrn Kowalski.“ „Kowalski? Na schön.“ Frieders läßt Kowalski rufen und erklärt ihm die Situation. Kowalski stimmt sofort zu: „Herrn Wittig ist in seiner jetzigen Verfassung tatsächlich keine Operation zuzumuten.“ Wittig schluckt. Er glaubt, aus Kowalskis Feststellung einen mitleidig-ironischen Unterton herauszuhören. Ich versage, denkt er, und Kowalski rettet die Lage! Darauf hat Kowalski doch nur gewartet! Kowalski erbittet die Röntgenbilder. Wittig stellt sich vor, wie enttäuscht Wiegand sein wird. Er hatte sich ausbedungen, daß Wittig selbst ihn operiere. 130
Wiegand hatte ihn als einziger vor den andern Patienten verteidigt. Vertrauen gegen Vertrauen. „Ich ziehe meinen Antrag auf Beurlaubung zurück!“ erklärt Wittig. „Aha!“ sagt Kowalski, weiter nichts. „Lieber Wittig“, wirft Frieders ein, „bisher hielt ich Sie für einen Mann mit Prinzipien!“ Wittig sieht den strafenden Blick des Chefs, das spöttische Lächeln Kowalskis. „Es ist eine Frage der Selbstachtung, Herr Chefarzt“, sagt er leise. „Wenn ich jetzt aufgebe – ich fürchte, dann werde ich nie mehr …“ Er bricht ab und fügt hilflos hinzu: „Können Sie das nicht verstehen?“ Er verstehe nun bald überhaupt nichts mehr, brummt Frieders, aber er sei bereit, Wittig eine Chance zu geben. „Allerdings möchte ich Morgenthin nicht operieren. Das wäre in seinem Zustand auch nicht zu verantworten.“ „Auf einen oder zwei Tage kommt es bei Morgenthin auch nicht an“, meint der Chefarzt. „Dann stünden also heute nur eine Galle und ein Leistenbruch auf dem Programm.“ Wittig wendet sich an Kowalski: „Ich würde mich freuen, wenn Sie mir assistierten.“ Kowalski blickt ihn überrascht an. „Ich? Sie scherzen wohl!“ „Ich wäre Ihnen wirklich sehr verbunden, Herr Kowalski“, wiederholt Wittig. „Und warum, wenn ich fragen darf?“ „Damit Sie sich überzeugen, daß alles in Ordnung geht.“ „Seien Sie nicht störrisch, Kowalski“, sagt Frieders. „Es wäre in unser aller Interesse.“ „Einverstanden.“ Kowalski nickt. Mit mehr als einer Stunde Verspätung erhält Wiegand seine Dolantininjektion. Er scheint überhaupt nicht aufgeregt zu sein. Aber der Oberpfleger hat einen Blick da131
für, was unter der Oberfläche vor sich geht. Er versucht Wiegand abzulenken, aufzumuntern. „Haben Sie dem Oberarzt schon einen neuen Keilriemen eingesetzt?“ „Ja“, erwidert Wiegand, „er hatte sich mit einem Perlonstrumpf ausgeholfen.“ „War auch mein Tip, Herr Wiegand.“ „Was Sie nicht sagen, Herr Schultheiß.“ „Jaja, man muß nur die passende Dame neben sich haben, Herr Wiegand.“ „Sagen Sie mal, ist das eigentlich schon die Spritze für die Narkose?“ „Aber nein, nur zur Beruhigung. Die Narkose erfolgt erst im OP-Saal. Und jetzt bleiben Sie schön ruhig, denken Sie an Kraftstoffpumpen, Perlonstrümpfe und Stoßdämpfer, da vergeht die Zeit!“ Um 9 Uhr 45 ist Wiegands Bruchoperation beendet. Wittig geht daran, die Bruchpforte zu verschließen. Die Spannung, die bei Beginn der Operation über allen Beteiligten gelegen hatte, läßt allmählich nach. Die Routine des Ablaufs, der eingespielte Mechanismus, mit dem jeder seine Rolle erfüllt, hat alles wieder ins Gewohnte gerückt. Wittig scheint sicher wie eh und je. Aber dann sieht Kowalski, daß Wittig die Bassinischen Nähte zu locker anlegt. Wittigs Blick wirkt starr und abwesend. Kowalski registriert kühl: Endlich organisiert sich Wittig seinen Kunstfehler. Die Bruchpforte wird unvollständig geschlossen, der Bruch kommt wieder. Dann kann er sich eine andere Autowerkstatt suchen, der Herr Chefarzt in spe. „Herr Kollege!“ sagt Kowalski halblaut. Wittig hebt den Kopf. „Herr Kollege, soll ich weitermachen?“ Wittig antwortet nicht. „Vielleicht täusche ich mich, Kollege Wittig, aber die Nähte müßten vielleicht etwas fester …“ 132
Wittig blickt auf die Nähte, atmet tief ein und aus. „Machen Sie bitte weiter. Auch die nächste Operation!“ Dann stürzt er hinaus.
Freitag, 10. Juni, 13 Uhr 05 14 Ellrodt ist zum Rapport beim Bezirk. Man wird dem sagenhaften Ellrodt ganz schön den Kopf waschen. Die Untersuchung scheint völlig festgefahren. Als er sich heute morgen von Kant verabschiedete, rechnete er mit seiner Ablösung. „Wenn der Fall solche Ausmaße annimmt und zu einem öffentlichen Ärgernis wird, mein Junge, hilft dir kein Ruhm und kein Gott mehr.“ „Und welche Aufträge erteilen Sie mir, Genosse Major?“ „Weiter wie bisher. Routine. Immer dieselben Fragen an die gleichen Leute. Bis du auf eine Kleinigkeit stößt.“ Kant hatte sich auf Vernehmungen in Station B konzentriert, allerdings ohne Ergebnis. Das einzige, was man nun wohl völlig ausschließen kann: daß ein Außenstehender der Täter ist. Niemand vermochte sich vorzustellen, daß sich ein Fremder frei auf zwei Stationen bewegen und vier Menschen umbringen konnte. Ein Arzt von Station B sagte, der Täter sei wie ein Phantom, das mit Geisterhänden Arsenik verteilt. Nach dem Mittagessen überprüft Kant noch einmal die Aussagen, die er heute vormittag auf Station B erhalten hat. Da klopft es. Es ist Dr. Frieders. Er sieht verfallen aus. Immer neue Schwierigkeiten treten auf. Der rebellische Patient Morgenthin sollte morgen von Dr. Kowalski operiert werden. Aber Morgenthin will sich nun auch nicht mehr von Kowalski operieren lassen. 133
Anscheinend hat er völlig die Nerven verloren und steckt mit seiner Angst die anderen Patienten an. Er ist in ein Einzelzimmer verlegt worden, aber auch das fördert nur neue Gerüchte. „Wie lange“, fragt Dr. Frieders energisch, „kann das noch gut gehen? Noch weiß keiner der Patienten von den Giftmorden. Aber lassen Sie mal irgend jemanden vom Personal auch nur die geringste unvorsichtige Äußerung machen – dann bricht eine Panik aus! Was gedenken Sie zu tun, Herr Leutnant, um die Möglichkeit einer so katastrophalen Wendung auszuschließen?“ „Diese Möglichkeit ist im Moment nicht auszuschließen; wir sehen die Situation genauso ernst wie Sie, Herr Direktor. Deshalb ist Major Ellrodt beim Bezirk. Eine geringe Hoffnung gibt es allerdings: daß nach Schwester Annemaries Flucht die Morde aufhören.“ „Vorausgesetzt, sie war die Täterin!“ „Oder eine mit ihr in Verbindung stehende dritte Person.“ „Eine dritte Person? Wie kommen Sie denn darauf?“ „Nehmen wir an, ein Mann, der wegen Annemarie auf Doktor Wittig eifersüchtig war.“ „Halt, halt!“ ruft Frieders. „Das ist mir ja etwas ganz Neues! Bisher hielt ich unsern Fall für eine hochpolitische Angelegenheit. Und nun kommen Sie mit einer simplen Dreieckstheorie. Was um Himmels willen hat Sie denn darauf gebracht?“ „Die Verzweiflung“, sagt Kant still, „die Logik der Verzweiflung. Sie zwingt mich, alle Möglichkeiten durchzuspielen, auch die absurdesten.“ „Manchmal erscheint allerdings das Einfachste als das Absurde“, räumt Frieders ein. „Eine Krankheit hat exogene oder endogene Ursachen, äußere oder innere. Wenden wir das auf unsern Fall an! Für Ursachen, die von außen kommen – Terroranschläge, Sabotage, Abwerbung – haben wir noch im134
mer keine überzeugenden Beweise. Also müssen wir doch zumindest auch endogene Ursachen in Betracht ziehen.“ „Und was wären in Ihrem Fall endogene Ursachen?“ fragt Frieders, mit jenem etwas belustigten Ton, den Ärzte medizinischen Laien gegenüber manchmal anschlagen. „Endogene Ursachen kommen aus dem Innern des Organismus selbst. Auf unsern Fall übertragen: aus zerstörten zwischenmenschlichen Beziehungen. Aus Affektreaktionen auf solche Störung: Angst, Haß, Vernichtungswut. Ja, deshalb auch die Hypothese von einem Mann, der Annemarie liebt und auf Wittig eifersüchtig ist. Nur steht diese Hypothese auf sehr schwachen Füßen. Erstens: Die Beziehung zwischen Wittig und Annemarie ist zu Ende. Zweitens: Es ist mir nicht bekannt, daß ein solcher Mann existiert. Und drittens: Nach Annemaries Flucht werden wir wohl nichts mehr erfahren.“ „Das wäre also auch das Ende Ihrer Dreieckstheorie, Herr Leutnant …“ „Nein, Herr Direktor, das ist es nicht. Wie etwa heißt doch der geometrische Satz? Sind zwei Seiten eines rechtwinkligen Dreiecks bekannt, ist es auch die dritte. Nun läßt sich ja ein Kriminalfall nicht mathematisch lösen. Aber trotzdem! Wir sind bei der Suche nach einer dritten Seite nur von der einen Seite ausgegangen, von Annemarie. Wir haben noch eine zweite, nämlich Doktor Wittig. Es gäbe also die Chance, die dritte Seite von Wittig her zu finden. Hat Doktor Wittig eine Geliebte?“ Kant scheint es, als habe er einen Stein in einen tiefen Brunnen geworfen. Aber es kommt kein Echo herauf. Nach langem Schweigen sagt Frieders, mit deutlichem Unbehagen: „Sie wollen mich also über Wittigs Intimsphäre ausfragen?“ „Sagten Sie nicht vorhin selbst, Herr Direktor, Ihnen sei alles recht, was eine Fortsetzung der Morde verhindert?“ 135
Dr. Frieders seufzt. „Nun, was das Verhältnis zwischen Wittig und mir betrifft – Sie haben recht, unsere Kontakte gehen über das Beruflich-Kollegiale hinaus. Wir sind, fast möchte ich sagen, befreundet. Ich sehe ihn als meinen Nachfolger an – mit der Schwäche eines alten Mannes für einen erfolgreichen jungen Mann. Wir haben schon manche Stunde miteinander verplaudert. Aber was die andere Sache betrifft, Frauengeschichten, darüber reden wir natürlich nicht. Ich bin ein ausgesprochener Familienmensch, und was Wittig für Liebschaften hat, geht mich nichts an. Ehrlich gesagt, es wäre mir sogar peinlich, wenn er mit mir darüber spräche.“ Eigentlich hat Kant nichts anderes erwartet. Also wieder Fehlanzeige! „Wissen Sie, Herr Leutnant, ich kann Ihnen da nur einen Tip geben. Fragen Sie doch Kollegen Wittig selbst! Oder vielleicht müßte man … nein. Das ist natürlich Unsinn. Ja, es tut mir schrecklich leid, daß ich Ihnen da nicht weiterhelfen konnte.“ Kant sitzt wieder vor seinen Protokollen. Ein Satz von Frieders geht ihm nicht aus dem Sinn. „Vielleicht müßte man – nein, das ist natürlich Unsinn.“ Was hat er damit gemeint? Vielleicht müßte man –? Müßte man noch jemand andern befragen? Wollte Frieders mir einen Hinweis geben, wen ich noch befragen könnte? Aber wen? Warum hat er das nicht ausgesprochen? Meinte er vielleicht jemanden vom Personal? Das sähe ihm schon ähnlich, das Personal nicht über die Intimitäten des Herrn Kollegen ausfragen zu lassen! Deshalb hat er seinen Vorschlag sofort wieder abgebremst. Mit wem könnte ich darüber sprechen? Vielleicht mit dem Oberpfleger? Das ist ein sachlicher, seriöser Mann. Und mit Schwester Gertrud? Die ist neugierig und deshalb immer gut informiert. 136
Also versuchen wir es! Aber der Oberpfleger hat, wie Kant aus dem Dienstplan ersieht, heute dienstfrei und Schwester Gertrud erst wieder Nachtdienst. Kant läßt sich die Adressen der beiden Angestellten geben. Als er die Station verlassen will, begegnet er Dr. Wittig. „Wie geht es Ihrem Patienten Wiegand, Herr Oberarzt?“ fragt Kant im Vorbeigehen. „Bestens, Herr Leutnant. Er wollte sich gerade auf dem Klo eine Zigarre anstecken.“ Kant kann Oberpfleger Schultheiß auch zu Hause nicht sprechen. Seine Frau sagt, er sei nach Karl-MarxStadt gefahren. Und Schwester Gertrud ist einkaufen, wie ihr Mann erklärt. Kant möchte auf ihre Rückkehr warten. Mißtrauisch rückt der Mann in der guten Stube einen Stuhl zurecht, stellt sich ans Fenster und blickt hinaus. Eine Viertelstunde später kommt Schwester Gertrud mit ihrem Einkaufsbeutel zurück. Sie ist erstaunt über Kants Besuch. Sie schickt ihren Mann in die Küche. Er geht nur widerstrebend. Nun sitzen Kant und die alte Frau sich am Tisch mit der Spitzendecke gegenüber. Es ist eine ganz andere Situation als an jenem Abend im Schwesternzimmer. Da ergab sich die Begegnung überraschend und ungezwungen. Jetzt fehlt auch die gemütliche gelbe Thermosflasche. Oder ist Gertrud verändert? Sie wirkt gespannt, sitzt steif da und redet kaum ein Wort. Kant versucht über Umwege zum Thema zu kommen. Als er Schwester Annemarie erwähnt, verschließt sich Gertrud ganz. Kant fragt: „Warum sind Sie so verschlossen, Schwester Gertrud?“ „Ich ärgere mich, daß ich Ihnen von Doktor Wittig und Schwester Annemarie erzählt habe.“ „Wirft Ihnen das jemand vor?“ „Nicht direkt. Aber es gibt da Bemerkungen, Sticheleien –“ 137
„Aber Schwester Gertrud, Sie haben doch nur Ihre Pflicht getan!“ „Pflicht hin, Pflicht her. Hätte ich nicht so dumm rumgequatscht, wäre die Annemarie vielleicht noch da. Und jetzt wollen Sie mich schon wieder aushorchen, kommen sogar schon in meine Wohnung!“ „Wenn es Ihnen nicht gefällt, daß ich hierherkomme, Schwester Gertrud, kann ich Sie auch zur Vernehmung aufs Amt bestellen!“ entgegnete Kant hart. „Sie vergessen, daß vier Morde geschehen sind!“ Gertrud lenkt ein, so habe sie es nicht gemeint, aber sie möchte schließlich keine Scherereien riskieren. „Ich habe zwei Fragen, Schwester Gertrud, die Sie mir bitte beantworten wollen. Erstens: Hatte Schwester Annemarie vor oder nach ihrer Affäre mit Doktor Wittig einen andern Freund?“ „Davon weiß ich nichts. Nein, bestimmt nicht.“ „Und Doktor Wittig? Hatte er vorher oder nachher eine Freundin?“ „Weiß ich auch nicht, und ich will auch nichts wissen, weil ich nichts weiß.“ „Was heißt denn das schon wieder, Schwester Gertrud: Ich will auch nichts wissen! Also wissen Sie doch etwas?“ „Ich weiß nichts, und über den Herrn Oberarzt kann ich nur sagen, das ist ein feiner Mann, und sein Unglück ist schon groß genug. Und wenn Sie keine Fragen mehr haben, Herr Leutnant, ich hab’ heute noch Nachtdienst und mein Mann Nachtschicht, und ich muß vorher noch das Abendessen kochen. Haben Sie noch Fragen, Herr Leutnant?“
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Freitag, 10. Juni, 20 Uhr 10 15 Noch zwei Stunden, dann ist Inges Dienst zu Ende. Nein, nicht einmal mehr so lange. Gertrud hat Nachtdienst und wird sie ablösen. Und Gertrud kommt oft schon eine halbe Stunde früher, aus Diensteifer oder aus Langeweile. Inge mag Gertrud gern, weil sie nicht an sich selber denkt und nie nein sagt, wenn man sie braucht. Allerdings muß sie sich vor Gertrud vorsehen, die hört die Mücken husten. Neulich hat sie Inge angeblinzelt und gefragt, hast dir wohl was Besseres geangelt, Mädchen? Inge war so erschrocken gewesen, daß sie nur geantwortet hatte, sie würde nicht angeln, sondern höchstens geangelt werden. Dann laß dir dabei nur nicht die Kiemen zerreißen, hatte Gertrud lachend erwidert. Gott sei Dank ist morgen Wochenende, denkt Inge. Morgen habe ich frei, da kann ich mit Hans wegfahren. Bloß mal für ein paar Stunden ’raus aus dem Bau, man bekommt ja richtig Zustände hier! Viertel neun. Die Zeit schleicht. Das Alleinsein ist scheußlich. Da ist man allen Ängsten preisgegeben. Vielleicht hätte ich doch mit Hans darüber sprechen sollen. Aber wenn alles nur Einbildung ist, würde ich mich selber in eine ganz dumme Lage bringen. Warum weiß Gertrud nichts, die die Mücken husten hört? Hat sie keine Ahnung, was hier vor sich geht? Und wer diese schrecklichen Dinge tut? Fünfstück hat gesagt, Gift sei die Mordwaffe der Weiber. Wenn er doch recht hätte! Die Stille wird unerträglich. Ich sollte einen Rundgang durch die Krankenzimmer machen. Da vergeht die Zeit. Vielleicht begegne ich dem Phantom! In Zimmer 3 liegt der gestern operierte Wiegand. „Nun Herr Wiegand, alles wieder in Ordnung?“ fragt Inge und tritt an sein Bett. Wiegand hatte mittags noch 139
gesunden Appetit gehabt, aber das Abendessen kaum angerührt. Er hatte plötzlich starke Bauchschmerzen bekommen. Wiegand schüttelt nur stumm den Kopf und stöhnt leise. „Herr Wiegand!“ sagt Inge bestürzt. „Herr Wiegand, was ist denn? Noch immer solche Schmerzen?“ Wiegands Hände kriechen über der Bettdecke hin und her. Sie kommen Inge geschwollen vor. „Die Schmerzen sind wohl noch schlimmer geworden, Schwester“, erklärt Neubauer Schrell, der neben Wiegand liegt. „Ich wollte schon nach Ihnen klingeln. Aber Wiegand wollte nicht. Brauchst dich doch nicht zu genieren, hab’ ich gesagt, wenn du solches Wanstrammeln hast.“ „Mir ist so schlecht“, flüstert Wiegand, „ich glaube, ich muß brechen.“ Erbrechen! Inge möchte sich vor Schreck hinsetzen, sie kann sich kaum auf den Beinen halten. Sie bückt sich, zieht den Schieber unter dem Bett hervor und stellt ihn auf einen Schemel neben dem Bett. „Falls Sie brechen müssen, Herr Wiegand“, sagt sie ruhig. Sie lächelt ihn an. „Aber so schlimm wird’s wohl nicht werden.“ „Schwester“, murmelt Wiegand, „Schwester …“ „Ja, Herr Wiegand?“ „Mir ist so elend –“ „Na, nun machen Sie sich mal keine Gedanken, Herr Wiegand. Ich werde den Doktor holen. Und morgen wachen Sie auf, und alles ist gut!“ Inge eilt hinaus, ins Schwesternzimmer zurück. Aber statt den Dienstarzt Dr. Fünfstück zu rufen, zündet sie sich eine Zigarette an. Nur einige Züge, denkt sie, dann hole ich Fünfstück. Sie raucht hastig und tief und sitzt ganz still. Eigentlich müßte ich Hans sofort benachrichtigen. Aber das hieße, ich bin mir sicher, Wiegand ist der 140
fünfte. Leibschmerzen, Erbrechen, das sind doch vieldeutige Symptome! Das muß keine Vergiftung sein. Aber für die Vergiftung sind sie eindeutig! Hätte ich sonst sofort an eine Vergiftung gedacht? Ich habe sie doch erwartet! Ich hab’ sie erwartet, auch wenn ich sie nicht erwarten wollte. Nun weiß ich es also. Er hat es wieder gewagt. Aber so verrückt kann nicht einmal er sein! Das ist doch völlig sinnlos, das ist reiner Wahnsinn! Nein, das kann nicht sein. Und dann diese blöden Polizisten! Diese Versager! Diese hirnlosen Kerle, die sind doch schuld, daß das hier kein Ende nimmt! Sie drückt die Zigarette aus und geht ins Bereitschaftszimmer. Fünfstück liegt auf der Couch und liest. „Holde Schwester?“ fragt er und richtet sich auf. „Wiegand auf der Drei geht es schlecht. Heftige Leibschmerzen und Brechreiz.“ „Na, das wird ja mal wieder eine Nacht!“ nörgelt Fünfstück, steht auf und zieht sich den weißen Kittel über. Als Fünfstück und Inge an Wiegands Bett treten, hat Wiegand bereits erbrochen. Aber die Schmerzen sind nicht geringer geworden. Fünfstück schlägt die Bettdecke zurück, zieht das Hemd hoch. Der Wundverband ist in Ordnung. Der Unterbauch scheint aufgebläht. Fünfstück tastet ihn ab. „Nun ja“, sagt Fünfstück beruhigend, „alles halb so schlimm, Herr Wiegand, das kriegen wir schon wieder hin!“ Draußen sagt er zu Inge: „Sieht schlimm aus, Darmverschluß!“ „Herr Doktor“, erwidert Inge, „entschuldigen Sie bitte, aber ich möchte gern …“ Fünfstück läßt sie nicht ausreden. „Was du willst“, sagt er und legt seinen Arm um ihre Hüfte. „Was hast du denn auf dem Herzen, Süße?“ Inge schiebt seine Hand weg. „Entschuldigen Sie bitte, aber ist es wirklich ein Darmverschluß?“ 141
„Na was denn sonst, Schätzchen?“ Er spricht belehrend wie zu einem kleinen Mädchen: „Folge einer Darmstrangulation durch den Leistenbruch. Was dachtest du denn, Frau Doktor?“ Inge hat nicht mehr den Mut, ihre Gedanken auszusprechen. „Wir müssen sofort operieren“, sagt Fünfstück, „hoffentlich erreiche ich den Oberarzt.“ Eine Viertelstunde später ruft die Klingel Inge erneut in die Drei. Wiegands Gesicht ist naß vor Schweiß. „Er hat die Scheißerei“, sagt Schrell lakonisch. Inge zieht den Schieber unter Wiegand hervor und blickt hinein. Dann legt sie den Deckel auf und nimmt den Schieber mit in ihr Zimmer. Sie läßt die Tür weit offen. Als sie Wittig vorbeikommen sieht, ruft sie leise: „Hans!“ Wittig tritt auf die Schwelle. „Ich habe ein ganz komisches Gefühl, Hans. Das ist kein Darmverschluß!“ Sie läßt ihn in den Schieber sehen. „Schau dir mal den Stuhl an!“ „Du könntest recht haben“, murmelt Wittig und blickt sie starr an. Er geht hinaus. Inge steckt sich wieder eine Zigarette an. Sie sieht Wittig und Fünfstück zur Drei eilen. Sie sieht sie zurückkommen. „Schwester Inge“, sagt Wittig, „bereiten Sie sofort eine Magenspülung vor. Außerdem brauchen wir Aktivkohle.“ Da Fünfstück inzwischen weitergegangen ist, fragt Inge: „Also kein Darmverschluß?“ Wittig schüttelt den Kopf. „Der fünfte, Inge!“ „Wird er durchkommen?“ hört sie sich ganz kühl fragen. Wittig zuckt die Schultern. „Rufe bitte sofort Kant an. Hier ist seine Privatnummer. Vielleicht bekommt er noch etwas heraus.“ Als Kant eintrifft, ist Wiegand schon nicht mehr bei klarem Bewußtsein. Eine Stunde später ist Kraftfahrzeugmeister Wiegand tot.
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Freitag, 10. Juni, 22 Uhr 35 16 „Und Sie sind sicher, Herr Oberarzt, daß es sich wieder um eine Arsenikvergiftung handelt?“ „Nach der gerichtsmedizinischen Obduktion werden wir es genau wissen. Aber ich bin mir ziemlich sicher, Herr Leutnant.“ „Und kein Fehler bei der Operation vorgekommen?“ Wittig zögert einen Augenblick. Er denkt an die zu lockeren Bassinischen Nähte. „Es wäre beinahe eine Panne passiert. Ich war völlig fertig, Sie wissen ja. Und hatte die Nähte zu locker angelegt. Kowalski hat es bemerkt und in Ordnung gebracht.“ „Hat er es wirklich in Ordnung gebracht?“ „Herrgott, ja, ich muß es annehmen, schließlich hat er es doch bemerkt!“ „Schreien Sie mich bitte nicht an, Herr Oberarzt, oder glauben Sie, nur Sie allein wären mit den Nerven fertig?“ „Entschuldigen Sie bitte.“ „Unter den Augen der Kripo. Der zweite Mord. Vielleicht können Sie sich vorstellen, was das für den Genossen Major bedeutet!“ „Ich kann es mir vorstellen.“ „Na wunderbar!“ Kant ärgert sich im selben Augenblick, daß er Ellrodt kopiert. „Wann also könnte Wiegand das Gift erhalten haben, Herr Oberarzt?“ „Irgendwann nachmittags, aber genau kann ich das natürlich nicht sagen.“ „Wer hatte da Dienst?“ „Schwester Inge. Sie ist übrigens noch da.“ Inges Aussage bringt nichts, was weiterhelfen könnte. Kant hat auch gar nichts anderes erwartet. Alles wiederholt sich, was schon in den andern Fällen erfragt worden war: Essenausgabe, Tee, Medikamente. Kant versiegelt Lebensmittel, Milch, Speisereste. Er verspricht sich nichts 143
davon, es ist reine Routine. Und es ist nützlich für Ellrodt. Ellrodt kann nachweisen, wir haben das Menschenmögliche getan. Falls Ellrodt überhaupt noch einmal zurückkommt. Der einzige Gewinn an Erkenntnis ist: Unser Verdacht gegen Schwester Annemarie war ein Irrtum. Ellrodt mit seiner Klassenkampftheorie war auf dem Holzweg und ich mit meiner Dreieckshypothese. Vom Dreieck ist mir nur eine Seite übriggeblieben, Wittig. Nun konstruiere mal aus einer Seite ein Dreieck! Im Schwesternzimmer befinden sich Wittig, Fünfstück, Gertrud und Inge. Es ist wie nach einer Katastrophe. Die Überlebenden sitzen da und reden, reden, reden und versuchen eine Erklärung zu finden. „Herr Oberarzt, ich hätte Sie gern noch einmal gesprochen!“ Wittig folgt Kant ins Archivzimmer. „Haben Sie denn noch die geringste Hoffnung, Herr Leutnant?“ „Ich habe nur eine einzige Frage, Herr Oberarzt. Sie hatten über Ihr Verhältnis zu Schwester Annemarie berichtet.“ „Jaja“, sagt Wittig ungeduldig, „ich habe Ihnen alles gesagt.“ „Haben Sie jetzt zu einer andern Frau intime Beziehungen?“ Wittig ist von dieser Frage, man sieht es ihm an, düpiert. Unwillig entgegnet er, er wisse mit dieser Frage nichts anzufangen. „Ich habe doch klar genug gefragt, Herr Oberarzt. Haben Sie eine Geliebte?“ „Mein Privatleben ist doch wohl meine ganz persönliche Angelegenheit, Genosse Leutnant!“ „In unserm Fall gibt es kein privates Reservat, Herr Oberarzt.“ „Was alles haben Sie sich von der Aufdeckung meiner früheren Beziehung zu Schwester Annemarie versprochen! Und was ist geworden? Ihr habt sie durch eure 144
Verdächtigungen aus dem Lande getrieben! Fünf Morde! Und dann wollen Sie wissen, mit wem ich ins Bett gehe!“ Kant fühlt sich erleichtert durch diesen Ausbruch. Ein Mann, der sich durch eine solche Frage so aus dem Gleichgewicht bringen läßt, ist ein sehr verwundbarer Mann. „Herr Oberarzt, ich will Ihnen auch sagen, warum ich diese Frage gestellt habe.“ Kant entwickelt seine Dreieckstheorie. Hast du zwei Seiten, hast du die dritte. Und daß er jetzt nur eine einzige habe und die zweite suche. Dann könnte man vielleicht, aber wirklich nur vielleicht, wenn es nicht eine ganz und gar abstruse Vermutung sei, die dritte finden. „Aber Herr Leutnant, Ihre Theorie ist doch unlogisch! Sie glauben an die Existenz einer ‚dritten Seite‘, die sich an mir rächen will, indem sie meine Autorität untergräbt. Gut. Nehmen wir an, es gäbe einen solchen Menschen. Er hätte doch dann aber nur so lange eine Erfolgschance, solange man den Tod der Patienten auf mein Versagen zurückführen konnte. Aber dann wurden die Todesfälle als Mord erkannt. Und trotzdem wird lustig weitergemordet! Das ist doch unlogisch, absurd!“ „Sie denken wie ein normaler Mensch, Herr Oberarzt. Aber diese Mordserie – hier verbeißt sich jemand wie eine verwundete Ratte. Das alles ist tatsächlich so irrational, daß man ihm rational überhaupt nicht mehr beikommen kann. Und deshalb, Herr Oberarzt, wiederhole ich meine Frage: Haben Sie zur Zeit mit einer Frau intime Beziehungen?“ Wittig steht auf, geht ans Fenster, blickt in die Nacht hinaus, schweigt. Dann sagt er, ohne Kant anzublicken. „Sie wollen mir unbedingt die Selbstachtung nehmen. Mich erneut zum Verräter machen, wie schon einmal an Annemarie!“ „Herr Oberarzt, ich finde dieses Wort in unserer Situation fehl am Platz. Das ist doch hohles Pathos!“ 145
„Wenn Sie mir versprechen, daß niemand etwas erfährt –“ „Was soll ich Ihnen versprechen? Alles hängt von den Umständen ab. Natürlich hat niemand ein Interesse, Sie bloßzustellen.“ „Es ist Schwester Inge. Wir – – lieben uns sehr. Und werden heiraten.“ „Und warum sagen Sie mir das erst jetzt?“ fragt Kant, und er fühlt sich auf einmal unendlich müde. „Ich bin bisher nicht danach gefragt worden. Und das sage ich ohne jede Ironie.“ „Ja“, nickt Kant, „Sie haben recht, es war unser Fehler.“ Wittig kommt vom Fenster zurück, nimmt eine Zigarette, eine von den starken chinesischen, bietet auch Kant eine an, der sie annimmt und Feuer gibt. Sie rauchen schweigend einige Züge. „Wir haben unsere Liebe für uns behalten“, beginnt Wittig ruhig, „denn es ist nicht gut, wenn ein Arzt und eine Schwester in einer Klinik ein Verhältnis haben. Das stört die Arbeitsatmosphäre, macht den Arzt verletzlich und beeinträchtigt die Autorität. Und die Sache mit Annemarie hatte schon genug Anlaß zu Tratsch gegeben. Noch einmal konnte ich mir das nicht leisten. Auch Inge wollte es so. Sie ist sehr sensibel. Ja –“ Wittig versinkt wieder in Schweigen. Kant fällt eine Bemerkung von Schwester Gertrud ein, die er damals nicht wichtig genommen hatte. „Hat denn Schwester Inge vorher Beziehungen zu einem andern Mann an der Klinik gehabt?“ „Ihre dritte Seite des Dreiecks?“ fragt Wittig und lächelt souverän. „Nein, das hätte sie mir erzählt. Wir haben in dieser Hinsicht keine Geheimnisse voreinander. Sie weiß ja auch von Annemarie –“ „Ich hörte, Schwester Inge habe Doktor Fünfstück geohrfeigt.“ 146
Wittig lacht laut auf. „Fünfstück! Dieses Stückchen Angeber! Sie hat ihm eine runtergehauen, als er zudringlich wurde. Ihre dritte Seite, Herr Kant, bleibt anscheinend doch nur eine Hypothese.“ „Oh, eine Variante gibt es noch, Herr Oberarzt!“ Wittig denkt nach. Dann verdüstert sich sein Blick. „Sie meinen, ich hätte außer Inge vielleicht noch eine Freundin? Tatsächlich habe ich noch eine! Schwester Gertrud! Fragen Sie sie mal, ob sie mich liebt! Sie wird es Ihnen mit glänzenden Augen bestätigen!“ „Für Ihre Ironie lasse ich nur eine Entschuldigung gelten, Herr Oberarzt. Daß Sie ein reines Gewissen haben!“ Die Gegenwart ist ein Punkt. Alle ihre Geheimnisse liegen in der Vergangenheit. Die dritte Seite. Bleibt nur, von Inge aus die dritte Seite zu suchen. Ob Wittig wirklich Inges Vergangenheit kennt, wie er behauptet? „Herr Oberarzt, wer in der Klinik weiß von Ihrer Liebesbeziehung zu Schwester Inge?“ „Niemand!“ „Denken Sie nach. Wer könnte es wissen?“ „Bestimmt niemand. Vielleicht hat irgendwann jemand einen Blick zwischen uns aufgefangen. Ah ja, Schwester Gertrud! Sie hat Inge mal mit einer Bemerkung erschreckt. Aber das war wohl mehr so ein Schuß in den Busch. Oder Inge hat etwas herausgehört, was gar nicht gesagt worden war. Wir haben uns ja immer sehr vorgesehen, nie zusammen gezeigt. Wenn wir weggefahren sind, ist Inge außerhalb des Ortes zugestiegen. Oberpfleger Schultheiß hat uns einmal miteinander gesehen, aber Inge hat ihm dafür eine harmlose Erklärung gegeben. Ja und sonst? Nein, nein, da weiß niemand etwas.“ „Wann hatte Schultheiß Sie gesehen?“ „Wann? Kürzlich erst. Warten Sie mal. Ja, am Sonntag vor einer Woche. Wenn jemand etwas über uns wüßte, das hätten Sie doch bei Ihren Recherchen erfahren!“ 147
Kant denkt an sein letztes Gespräch mit Schwester Gertrud. An ihr störrisches Schweigen. Er steht auf. „Ich möchte noch mal ins Schwesternzimmer.“ Aber Inge ist inzwischen heimgegangen. Kant blickt auf die Uhr. Es ist gleich halb zwölf. Morgen früh ist, hoffentlich, Ellrodt wieder zurück. Da soll er sich Inge selber vornehmen. „Brauchen Sie mich noch, Herr Leutnant?“ „Nein, Herr Oberarzt.“ „Dann gute Nacht.“ Wittig geht, aufrecht und massig, ein Ritter, der verbergen möchte, daß ihm eine Speerspitze im Rücken steckt. Auch Kant ist hundemüde. Er läßt sich aber noch von Fünfstück den Dienstplan des heutigen Tages geben. Ab Mittag, in der möglichen Tatzeit also, waren in der Station anwesend: die Diätköchin, eine Küchenhilfe, Schwester Inge, die Schwesternschülerin Ines, der Pfleger Wuttke, Dr. Fünfstück, Dr. Wittig. Und nun ziehe Inges Verbindung zu diesen Leuten! Alle Frauen sind zuerst einmal mit ziemlicher Sicherheit von der Liste zu streichen. Sind sie das wirklich? denkt Kant. Wäre eine Frau die Täterin, müßte sie Wittig lieben. Dann hätte sie ihre Anschläge nicht gegen Wittig, sondern gegen Inge gerichtet. Oder schickt man auch den zur Hölle, den man liebt? Trotzdem. Ich streiche die Frauen aus. Da bleibt nur eine magere Liste übrig: Wuttke, Dr. Fünfstück. – Der sechzigjährige wabblige Wuttke, der beim Sprechen Kautabaksaft durch seine Zahnlücken spritzt? Lächerlich! Bleibt Fünfstück. Inge hat ihn geohrfeigt. War das eine Eifersuchtsszene? Sie hat ihm eine runtergehauen, nicht er ihr! Aber Fünfstücks falsche Diagnose bei Wiegand, der angebliche Darmverschluß? Wollte er Wiegands Zustand vertuschen? Doch warum dann hätte er Wittig hinzugerufen? Vielleicht wußte er schon, daß Wittig 148
sowieso zu spät kommen würde? Immerhin, ein Verdacht bleibt. Und Oberpfleger Schultheiß? Der hatte heute dienstfrei und war nicht in der Klinik. Aber Schultheiß hatte Wittig und Inge einmal zusammen gesehen! Im Wald, als Wittig die Panne mit dem Keilriemen hatte. Doch zu jener Zeit waren ja schon zwei Morde geschehen. Spekulationen, nichts als Spekulationen, die Gedanken drehn sich im Kreis … Zu jener Stunde schlief wohl keiner der Patienten auf unserer Station. Wir alle wußten, was mit Wiegand geschehen war. Und dazu noch mit Wiegand! Immer wieder stand mir jene Szene vor Augen, als Morgenthin vor Angst aufs Fensterbrett geklettert war und der alte Wiegand zu Wittig gesagt hatte, operieren Sie mich ruhig, Herr Oberarzt, Vertrauen gegen Vertrauen. Und nun war er tot. Ich selber schätzte mich glücklich, den Eingriff hinter mir zu haben. Und sagte mir doch im selben Augenblick, daß das gar nichts zu bedeuten hatte. Die Leute waren ja nicht während, sondern erst nach der Operation gestorben. Gut, Niere, Blinddarm, Magen, das waren Operationen, die immer irgendwelche Komplikationen nach sich ziehen konnten, soviel wußte ich. Bei meinem Schnitt war da wohl nichts mehr zu erwarten. Und trotzdem – die Unruhe, die Angst steckten an und ließen in jener Nacht keinen von uns ruhig einschlafen. Wir lagen im Dunkel und debattierten flüsternd unsere verschiedenen Ansichten über die Ursache der Unglücksserie. So etwa gegen 23 Uhr verließ ich mein Bett, um zur Toilette zu gehen. Als ich aus dem Zimmer trat, sah ich wenige Schritte vor mir den Leutnant. Er hatte seine Aktentasche in der Hand und wollte wahrscheinlich ge149
rade nach Hause gehen. Ein sehr später Feierabend, dachte ich noch, und vielleicht doch zu früh. Dicht hinter ihm ging ich durch die Windfangtür. Da trat der alte Schrell aus der Toilette. Er blieb ehrfürchtig stehen. „Gute Nacht, Herr Leutnant.“ „Gute Nacht, Herr Schrell.“ Ich öffnete die Tür zur Toilette und hörte, wie Schrell sich beklagte: „Ich dachte, wir würden Sie heute noch mal zu Gesicht bekommen, Herr Leutnant.“ „Morgen früh, mein Lieber, morgen früh geht’s weiter.“ Ich wollte gerade die Tür hinter mir schließen, als Schrell sagte, er verstünde nicht, was eigentlich die Polizei im Hause suche. Wenn der Herr Oberarzt Wittig Fehler gemacht hätte, könnte das doch nicht die Polizei feststellen. Das war eine Frage, die auch wir vorhin schon erörtert hatten. Ich selbst hatte sie in die Debatte geworfen. Wenn ein Arzt einen oder gar eine Reihe von Kunstfehlern gemacht hat, sind doch für die Untersuchung zuerst einmal medizinische Fachleute zuständig! Mein Bettnachbar hatte gemeint, bei Todesfolge müßte auch die Kripo in die Ermittlung einbezogen werden. Ich war also gespannt auf die Antwort des Leutnants und blieb hinter der nicht ganz geschlossenen Tür stehen. „Nun, Herr Schrell, Ihre Frage ist schon berechtigt. Aber ich kann Ihnen darauf wirklich keine Antwort geben, die Untersuchung ist noch nicht abgeschlossen. Das müssen Sie schon verstehen.“ „Versteh’ schon, Herr Leutnant. Sie wissen also auch noch nichts. Gar nichts, wie?“ „Wir sind schon ein Stück weitergekommen, Herr Schrell. Und nun gehen Sie bitte schlafen. Gute Nacht.“ „Haben Sie nicht mal ein Stäbchen für mich, Herr Leutnant, mir ist so danach zumute.“ 150
„Sie wollen doch jetzt nicht etwa noch eine rauchen? Na gut, kommen Sie dann wenigstens solange auf mein Zimmer.“ „Oje, da muß ich bei Schwester Gertrud vorbei. Was denken Sie, was die mit mir anstellt, wenn sie mich sieht!“ „Nun, dann eben nicht“, antwortete Kant erleichtert. „Wissen Sie was? Sie lenken die Gertrud ab, und ich schleiche mich vorbei.“ Ich hörte Kant seufzen. Und während er sich anscheinend von Gertrud einen Becher „echten“ eingießen ließ, ist wohl Schrell vorbeigehuscht, bis zu Kants Zimmer. Und ich schloß endlich die Toilettentür hinter mir. Als wir bei meinen Recherchen auf diese Episode zu sprechen kamen, sagte Kant, er sei zuerst unwillig über Schrells Aufdringlichkeit gewesen. Aber später habe er die nächtliche Begegnung mit Schrell zu jenen Glücksfällen gerechnet, die auch ein Kriminalist manchmal braucht. In Kants Zimmer also erhält Schrell seine Zigarette. Er sitzt und genießt sichtlich Zigarette und privilegierte Situation. Nach einigen Zügen sagt er: „Ich dachte, Sie hätten noch Fragen, Herr Kommissar?“ „Leutnant, bitte. Der Titel Kommissar ist abgeschafft.“ „Leutnant. Na so was. Also was wollen Sie denn wissen, Herr Leutnant?“ „Alles was mit Wiegand zu tun hatte.“ „Ja, was soll das Besonderes gewesen sein? Seine Frau war nachmittags mal kurz da.“ „Aha. In der Besuchszeit?“ „Besuchszeit war an dem Tag doch nicht. Sie hatte die Genehmigung vom Herrn Oberpfleger, weil sie mal sehen wollte, wie die Operation verlaufen war.“ „Aber der Oberpfleger hatte doch heute dienstfrei!“ „Das weiß ich nun nicht, ob der Herr Schultheiß dienst151
frei hatte, aber daß er da war, das weiß ich. Der hat doch dem Wiegand ein Bruchband angemessen, der Herr Schultheiß. Wiegand hat noch gesagt, jetzt schon? Na, er braucht es ja nun nicht mehr.“ „Jetzt schon – wie meinte er das?“ „Na, einen Tag nach der Operation! Ist ’n bissel früh, hat Wiegand gesagt. Ich denke mir, schließlich muß das doch erst angefertigt werden, so’n Bruchband, nach Maß, und da muß man eben Maß nehmen, nicht wahr? Aber Wiegand sagte, es wäre zu früh. Und es war ja wirklich zu früh, sehn Sie, die Arbeit hätte sich der Oberpfleger sparen können! Aber dann war Herr Wiegand auch wieder ganz froh, daß das so schnell gehen sollte mit dem Bruchband, und hat dem Herrn Schultheiß sogar noch eine Zigarre geschenkt.“ „Ja und weiter?“ „Was weiter, Herr Leutnant?“ „Das war alles, daß der Oberpfleger Herrn Wiegand ein Bruchband angemessen hatte?“ „Und daß Wiegand da schon Bauchschmerzen hatte.“ Auch das noch, denkt Kant enttäuscht. Auch diese Spur eine Sackgasse. Für einen Augenblick hatte er gehofft, Schultheiß könnte vielleicht der Täter sein. Aber da Wiegand schon Schmerzen hatte, als ihm Schultheiß das Bruchband vermaß, war doch die Vergiftung schon früher erfolgt. „Herr Schrell, wissen Sie ganz genau, daß Wiegand, als ihm das Bruchband vermessen wurde, schon Bauchschmerzen hatte?“ „Ei ja, er hat’s ja dem Herrn Oberpfleger noch erzählt.“ Das war’s also. Man wird morgen weiter sehen. Schrell drückt die Kippe aus. Kant steht auf, das ist auch für Schrell das Zeichen, sich zu erheben. „Und der Tee hat ihm auch nicht mehr geholfen“, sagt Schrell, „na ja, was soll Pfefferminztee da auch helfen.“ „Tee? Was meinen Sie damit?“ 152
„Na, daß ihm der Oberpfleger eine Tasse Pfefferminztee gebracht hat gegen die Bauchschmerzen. Aber die sind immer schlimmer geworden. Ja, da will ich mich mal zurückschleichen. Wenn Sie mir Begleitschutz geben täten, Herr Leutnant?“ Während des Heimwegs beschäftigt Kant das Gespräch mit Schrell noch weiter. Wenn nun die anfänglichen Bauchschmerzen ganz natürlich gewesen waren? Und nicht die Folge einer schon früher erfolgten Vergiftung? Und das Gift sich erst im Pfefferminztee befunden hätte? Das würde auch die plötzliche Verschlimmerung in Wiegands Befinden erklären! Schultheiß! Ist das eine heiße Spur? Er hatte dienstfrei und war doch in der Klinik. Jedenfalls hat Kant dem Genossen Ellrodt morgen – falls der sagenhafte Ellrodt überhaupt noch erscheint – zwei Spuren anzubieten: die zweite Seite des Dreiecks, Inge. Und Schultheiß. Könnte der Oberpfleger die dritte Seite des Dreiecks sein?
Freitag, 10. Juni, 23 Uhr 45 17 Für unsere Hauptpersonen, Hans Wittig und seine Geliebte Inge, ist diese unselige Nacht noch lange nicht zu Ende. Dr. Wittig war, nachdem Kant ihn entlassen hatte, in den Wagen gestiegen, unschlüssig, ob er Inge noch aufsuchen sollte, um ihr alles zu berichten. Er war auch zu ihrer Wohnung gefahren, hatte aber kein Licht mehr in ihrem Fenster gesehen und sich deshalb nach Hause begeben. Da es schon sehr spät war, wollte er Frau Lindemann nicht mehr stören und ließ deshalb den Wagen auf der Straße stehen. Nun öffnet er das Gartentor, da hört er halblaut seinen Namen rufen. 153
Inge tritt hinter einem Strauch hervor. „Ich muß dich sprechen, Hans.“ Er erwidert, auch er habe zu ihr gewollt. Leise gehen sie zu seinem Zimmer empor. Am liebsten würde er sagen, die Vorsicht ist nicht mehr nötig, Inge, bald wissen alle über uns Bescheid. Aber so etwas kann man nicht zwischen zwei Treppenstufen sagen. Im Zimmer angekommen, schaltet er die Schreibtischlampe ein, er mag kein Deckenlicht, und jetzt schon gar nicht. Er sucht Zigaretten und Aschenbecher und setzt sich neben Inge auf das altväterliche Plüschsofa. Der Rauch der schweren Zigaretten erfüllt das Zimmer mit vertrautem Geruch. „Der Leutnant wollte dich noch mal sprechen“, beginnt Wittig, „aber du warst schon fort.“ „Noch einmal? Aber er hatte mich doch schon befragt.“ „Er hatte eine noch ganz andere Frage, Inge.“ Und Wittig erzählt von seinem Gespräch mit Kant, berichtet es so, wie er es in seiner Lage erlebt hat und sehen muß, verschärft noch ein wenig Kants Neugier, übertreibt die Zudringlichkeit seiner Fragen, stellt seine eigne zornige Reaktion ins rechte Licht und betont, wie er Inge gegen Kant verteidigt habe. So kommt er auch auf Kants Dreieckstheorie zu sprechen, die er als bizarre Phantasterei verspottet. Inge hört schweigend zu. Sie befindet sich in einem Zustand gespaltener Bewußtheit. Einerseits nimmt sie bruchstückhaft auf, was Hans erzählt, andererseits jagen ihre Gedanken weiter wie ein Uhrwerk, dessen Hemmung zerbrochen ist. Sie hat diesen Augenblick befürchtet, seit Tagen schon. Sie hat auch gehofft, diese Stunde würde nie kommen. Soll das nun das Ende sein? denkt sie verzweifelt. Soll ich nun auch diesen Mann wieder verlieren, soll gar nichts mehr bleiben, soll ich nur immer benutzt werden von andern, ausgenutzt, und nie 154
mein eigenes Leben führen dürfen? Wird alles so enden wie bei Hunderttausenden, wie bei Annemarie, die mit vierzig allein in ihrer Bude hockt? Ich höre schon, wie sie lachen: Zwei Männer sind der dummen Gans weggelaufen! „Aber ich habe dem Leutnant gesagt, das sind alles Hirngespinste, wir haben keine Geheimnisse voreinander. Und daß es für mich niemanden gibt als dich und für dich niemanden als mich.“ „Hans“, hört sie sich sagen, „aber es gab einen, vor dir, kurz vor dir.“ „Inge!“ Sie sieht das Ausrufezeichen förmlich vor sich. „Als du mit deiner Annemarie liiert warst, hatte ich auch einen Freund. Schon jahrelang, Hans.“ Sie nimmt eine Zigarette. „Hast du denn gar nichts zu trinken da?“ fragt sie still. Er geht schweigend und kommt mit einem Rest Weinbrand zurück, gießt ein, trinkt sein Glas in einem Zug leer. Sie nippt nur. „Warum seid ihr Männer so entsetzt, wenn eure Frauen auch ihre Geschichte haben?“ „Ich brauche dich nur an deine eifersüchtigen Ausfälle gegen Annemarie zu erinnern.“ Sie nickt. „Einverstanden, daran habe ich jetzt gar nicht mehr gedacht. Er ist so alt wie du. Ich mag nun mal keine jungen Männer. Vielleicht, weil ich nie einen Vater gehabt habe, vielleicht, weil ich meinen Vater so gern mochte, ich weiß nicht. Ich muß mich ja auch nicht entschuldigen dafür, nicht wahr, schließlich hast du davon profitiert.“ „Das ist ein scheußliches Wort“, sagt Wittig vorwurfsvoll, „ich liebe dich.“ Wieder nickt sie. Man wird sehen, ob das ausreicht. „Natürlich wirst du noch mehr außer dir sein, wenn du hörst, der Mann ist verheiratet. Er hat zwei erwachsene Kinder. Und hat mir vorgejammert, daß seine Ehe kaputt sei, die ganze übliche einfallslose Litanei. Aber glaub nur 155
nicht, ich hätte es anfangs nicht ernst genommen. Ich habe es verdammt ernst genommen, hab’ Mitleid mit ihm gehabt, hab’ gedacht, du wirst ihm das Glück geben, das er bei seiner Frau so vermißt, das ist deine Aufgabe.“ „Deine berühmte Opferhaltung!“ Inge trinkt einen Schluck, Wittig gießt ihr nach. „Ja spotte nur! Ich habe ihm auch geglaubt, als er sagte, er würde sich scheiden lassen. Wir würden heiraten, und er könnte dann noch einmal ein neues Leben mit mir beginnen.“ „Aber er hat dich hingehalten, wie?“ „Drei Jahre lang.“ „Und du hast das mitgemacht –!“ Sie lacht trocken auf. „Ich war froh, daß ich überhaupt einen Mann hatte! Ich – war – froh! Nach diesem verfluchten Krieg haben nämlich Millionen Frauen keinen Mann mehr! Und werden auch nie wieder einen haben, die Millionen Männer verfaulen zwischen Wolga und Atlantik!“ „Ich weiß“, murmelt er. „Ach, was weißt du! Du bist ein Mann. Ein kostbares Stück heutzutage!“ „Laß doch diesen Zynismus, Inge!“ „Gut, ich lass’ ihn. Dir zuliebe, Hans. Dieser Mann also …“ „Kenn ich ihn –?“ „Dieser Mann also hat mich, wie du schon festgestellt hast, hingehalten. Einmal schob er die Kinder vor. Dann war es die Herzkrankheit seiner Frau. Dann eine neue Stelle, die er suchen wollte. Und so weiter. Bis ich’s genug bekam und ihm den Laufpaß gab.“ „Wann war das?“ „Das war genau eine Woche, nachdem ein gewisser Oberarzt Doktor Wittig mir nachts die Tränen getrocknet hatte.“ „Ich war also eine Art Katalysator –“ 156
„Ich hatte endlich einen Anstoß, mit ihm Schluß zu machen. Sonst hätte ich mich wohl noch immer nicht durchgerungen.“ „Jetzt oder nie! So war das also. Und nachdem du mit ihm Schluß gemacht hattest?“ „Schluß gemacht. Das hört sich so leicht an. Aber er ist nicht der Mann, der so einfach mit sich Schluß machen läßt, das ist er wirklich nicht. Ich verteidige meinen Besitz mit Klauen und Zähnen! sagte er, genau so! Und ich würde es schon noch bereuen!“ „Wußte er denn, daß du – ich meine, wußte er von mir?“ „Anfangs nahm er wohl an, ich hätte seine Hinhaltetechnik satt. So jedenfalls hatte ich es ihm erklärt. Das war natürlich das Blödeste, was ich tun konnte. Er hielt dadurch alles für eine Laune und hoffte wohl, er könnte mich halten, wenn er mich nur zähe genug festhielt. Was für Szenen hat er mir gemacht! Einmal hat er mich sogar geschlagen. Und selbst wenn ich Nachtdienst hatte, kam er herein und …“ Wittig stockt das Herz. Nun ist es gesagt. Selbst in der Klinik! „Wer also ist es?“ „Karl Schultheiß.“ Sie sieht ihm den Schrecken an, aber es hilft nichts, er muß damit fertig werden. Noch ist nicht alles gesagt, es kommt noch Schlimmeres. „Und wie ging es weiter?“ fragt er matt, nur um überhaupt etwas zu sagen. „Wie es weiterging? Es ging Wochen so weiter. Bis ich dann eines Tages sagte, wenn du mich nicht endlich in Ruhe läßt, spreche ich mit deiner Frau.“ „Aber Schultheiß sagte doch, seine Frau hätte einen andern!“ „Alles Lüge. Von da an hatte ich Ruhe, so glaubte ich jedenfalls. Vielleicht ahnte er, daß ein anderer Mann im 157
Spiel war. Er spionierte mir nach. Verstehst du nun, warum ich unter allen Umständen unsere Liebe geheimhalten wollte? Aber eines Tages muß er dann doch entdeckt haben, du bist dieser andere Mann. Ich spürte, wie sein Haß wuchs. Wo er mich sah, grinste er mich höhnisch an. Schließlich folgte er uns sogar. Als wir in der Tannenbergsklause waren und dir auf der Heimfahrt der Keilriemen riß – es war kein Zufall, daß Schultheiß plötzlich auftauchte. Was meinst du, was ich ausgestanden habe, als er durchs Wagenfenster sah und fragte, ob ich einen Perlonstrumpf hätte. Und als er sagte, man müßte für solche Fälle eben immer die richtige Dame dabei haben!“ „Arme Inge“, sagt Wittig und streichelt ihr Haar. „Ja, arme Inge“, sagt sie und ist dankbar für das erste Zeichen von Mitgefühl. „Und dann die Toten“, fährt sie fort. „Als an jenem Montag feststand, daß Weber vergiftet worden war – ich war wie von Sinnen. Und als dann immer deutlicher wurde, daß die Morde mit dir zusammenhingen, daß jemand dir schaden wollte, da mußte ich mich doch fragen, war es vielleicht Schultheiß?“ „Aber um Himmels willen, Inge, warum hast du das nur für dich behalten? Warum hast du nicht ein einziges Wort … Wenigstens zu mir!“ „Ach, Hans“, sagt sie, „ein so schrecklicher Verdacht! Wenn du dir sagen mußt, vielleicht bin ich es, die das alles ausgelöst hat – kannst du denn ernstlich so etwas glauben? Von einem Mann, den du doch immerhin einmal geliebt hast! Immer wieder habe ich mir gesagt, das tut doch kein Mensch, nur weil eine Liebe zu Ende ist! Ich glaube es auch jetzt noch nicht richtig. Aber ich fürchte es. Und dann hatte ich ja immer noch ein Argument dagegen: Die ersten Morde waren passiert, ehe er uns zusammen gesehen hatte.“ „Aber du hast doch gesagt, er muß es schon früher gemerkt haben.“ 158
„Ich weiß. Ich weiß es nicht. Ich weiß gar nichts. Sag mir, was soll ich bloß tun?“ Nun ist alles gesagt, sie ist am Ende, im doppelten Sinn, sie weint, klammert sich an ihn, sie will ihn doch nicht verlieren. Wittig erinnerte sich, als er mir diese Nacht schilderte, daß er von einem zwiespältigen Gefühl hin und her gerissen wurde. Es drängte ihn, sie zu trösten. Seine Liebe zu Inge ließ eine Welle von Mitleid und Verständnis in ihm aufsteigen. Aber zugleich hatte sich sein Bild von dem Mädchen völlig verschoben. Er sah sie plötzlich auf eine neue, unvorteilhafte Weise, fühlte sich getäuscht und verraten. Falls ihr Verdacht wirklich zutraf, hatte sie durch ihr Schweigen eine furchtbare Schuld auf sich geladen! Aber dann redete er sich wieder ein, die Kraft seiner Liebe würde ausreichen, über alles hinwegzukommen. So scheint dieses Nachtgespräch für beide einen ungewissen Ausgang genommen zu haben. Aber soviel steht fest, daß Wittig Inge überredet hat, Major Ellrodt morgen alles zu erzählen.
Sonnabend, 11. Juni, 7 Uhr 10 18 Die Parallelen schneiden sich bereits im Endlichen, das heißt am 11. Juni früh nach sieben Uhr. Um sieben ist Major Ellrodt zu Kants ausgesprochener Erleichterung wieder eingetroffen. „Sie haben mir noch achtundvierzig Stunden gegeben, mein Junge, sonst setzen sie eine Sonderkommission ein. Achtundvierzig Stunden!“ So lange werde es sicher nicht mehr dauern, meint Kant. Noch als er über seinen Verdacht Schultheiß gegenüber berichtet, bittet Dr. Wittig um ein Gespräch. Er 159
teilt mit, daß Schwester Inge ein Liebesverhältnis mit Oberpfleger Schultheiß gehabt habe. Schultheiß habe sie nach Lösung ihrer Beziehung bedroht. So schneiden sich also die Parallelen: Kants Entdeckung und Inges Geständnis. Nun also doch vor dem Ziel! In wenigen Stunden! Aber Ellrodt dämpft Kants Erregung. „Jetzt haben wir zwar einen Verdächtigen, aber noch keine hieb- und stichfesten Beweise.“ „Also keine Festnahme, Genosse Major?“ „Erst die Beweise!“ Ellrodt setzt sich mit Staatsanwalt Schuricht und dem VPKA in Verbindung und sorgt dafür, daß sich Schultheiß nicht noch im letzten Augenblick davonmachen kann. Ellrodt wird jetzt Schwester Inge ins Verhör nehmen. Kant soll nach der Herkunft des Giftes forschen. „Aber das war doch völlig ergebnislos, Genosse Major!“ „Geh nochmals alles durch. Am besten, du setzt dich mit der Stadtapotheke ins Einvernehmen, die die Krankenhausapotheke beliefert.“ Kant ruft den Besitzer der Stadtapotheke an. Dr. Ohrenschall verspricht, sich bereit zu halten. Eine Viertelstunde später trifft Kant in der Apotheke ein. Er weist sich aus. Dr. Ohrenschall, ein großer, vornübergeneigter Herr mit Scheitelglatze und Doppelkinn, zeigt sich sehr beflissen, dem Herrn von der Kriminalpolizei behilflich zu sein. „Es handelt sich um die Krankenhausapotheke, Herr Doktor.“ „Jederzeit jede Auskunft, Herr Leutnant.“ Kant fragt den eifrigen Herrn Ohrenschall, ob er über die Lieferungen an die Krankenhausapotheke Auskunft geben könne. Ohrenschall kann. Es gebe ja Bestell- und Lieferscheine. 160
„Über welchen Zeitraum führen Sie Buch?“ „Nun, über drei bis vier Jahre, ich bin da sehr eigen, und man sieht ja nun, wozu das gut sein kann, nicht wahr?“ Kant interessiert nur eins: ob in letzter Zeit Arsenik an die Krankenhausapotheke geliefert worden sei. „Wenn ich mich recht erinnere, so habe ich vor einiger Zeit Arsenik geliefert.“ Kant stockt der Atem. Er hatte doch das Giftbuch genau kontrolliert! „Geduld, Herr Leutnant, ein bißchen Geduld, wir werden es gleich haben!“ Ebenso hastig wie zielgerichtet durchblättert Ohrenschall seine Ordner. Jetzt hebt er triumphierend den Finger. „Hier, im März vergangenen Jahres! Da erhielt die Krankenhausapotheke zehn Gramm Arsenik zur Rattenbekämpfung. Sie sehen, es ist alles bestens vermerkt!“ „Dann ist mir unverständlich, Herr Doktor Ohrenschall, daß im Giftbuch der Krankenhausapotheke der Eingang des Giftes nicht vermerkt worden ist!“ „Kann er ja auch nicht, mein Herr, kann er doch gar nicht! In das Giftbuch werden nur Sucht- und Betäubungsmittel eingetragen. Opiumderivate, Pervitin und so weiter. Über Arsenik braucht dort nicht Buch geführt zu werden, nein! Wünschen der Herr Leutnant noch weitere Auskünfte?“ „Danke. Ich brauche allerdings die Lieferscheine.“ Dr. Ohrenschall zögert. Er fürchtet sich vor dem Loch in der Vollständigkeit seiner Welt. Aber gegen Quittung rückt er die Scheine dann doch heraus. Kant fährt in die Klinik zurück. Er empfindet Zorn und Scham, daß er sich damals von Schultheiß so aufs Kreuz legen ließ. Jeder normale Mensch glaubt doch, Gift sei Gift, und wenn ein Giftbuch geführt wird, dann wird auch Arsenik eingetragen. Schultheiß wird sich ganz schön ins Fäustchen gelacht haben! 161
Und noch ein zweiter Fehler wird Kant bewußt. Er hatte sich die Krankenhausapotheke zeigen, das Giftbuch vorweisen lassen. Aber sonst? Ärzte, Schwestern, Patienten waren immer und immer wieder verhört worden. Warum nicht auch wieder der Oberpfleger? Warum mußten noch zwei Menschen sterben, bis wir endlich der Wahrheit auf die Spur kamen? denkt Kant bitter. Scheißberuf. Als Philosophiedozent hätte ich weniger Unheil angerichtet, Langeweile höchstens, aber die ist nicht tödlich. Kant kommt mitten in die Vernehmung von Schwester Inge. Die junge Frau sitzt Ellrodt bleich und verkrampft gegenüber. Kant verständigt Ellrodt über das Ergebnis seiner Recherchen. Ellrodt ist erfreut. Er hat bereits eine Revision der Krankenhausapotheke angeordnet, Kant soll doch gleich mal hinübergehen. Kant geht über den Hof zur Krankenhausapotheke. Gleich wird er Schultheiß gegenübertreten, einem vermutlich fünffachen hundeschnauzekalten Mörder. „Guten Morgen“, sagt Kant, als er den Raum betritt. „Guten Morgen“, erwidert Schultheiß fröhlich, „na, Sie sind mir vielleicht wieder früh auf den Beinen.“ Chefarzt Dr. Drey und der Vertreter des Bezirksapothekers sitzen an einem Tisch und fassen gerade ihr Protokoll ab. Nach der Begrüßung fragt Kant, ob in den Beständen Arsenik gefunden worden sei. Es ist keins gefunden worden. Als Kant den Raum wieder verlassen will, sagt Schultheiß im Ton freundlicher Neckerei: „Sie immer mit Ihrem Arsenik!“ Kant bleibt stehen. „Schließlich sind fünf Leute mit Arsenik vergiftet worden, Herr Schultheiß.“ „Mit Arsenik?“ fragt Schultheiß verblüfft. „Wie denn das? Das ist doch kein Gift!“ „Kein Gift, Herr Schultheiß?“ wiederholt Kant. Er glaubt sich verhört zu haben. 162
„Wieso soll denn Arsenik Gift sein? Das wird doch als Medikament benutzt. Ich selber hab’ schon Arsenik gegessen, voriges Jahr, als es mir so elend ging. Was denken Sie, wie mich das wieder auf die Strümpfe gebracht hat!“ Arsenik kein Gift! Das sagt ein Oberpfleger und Krankenhausapotheker! Der Arsenik zur Rattenvertilgung bezogen hat! Mein lieber Mann, denkt Kant verwirrt und beglückt, jetzt hast du deinen entscheidenden Fehler gemacht! „Ach nein“, sagt er interessiert, „Sie haben wirklich Arsenik gegessen?“ „Na klar!“ Schultheiß strahlt. „Hab’ ich im Kriege gelernt. Die Tiroler haben da ihre Erfahrung, die Bergsteiger und so, die, ertragen die Strapazen weit besser, wenn sie regelmäßig Arsenik essen.“ „Wirklich interessant, Herr Schultheiß. Aber wo hatten Sie denn das Arsenik her? Sie sagten doch, in der Krankenhausapotheke sei keins vorhanden.“ Schultheiß stutzt, aber er fängt sich schnell. „Das war doch voriges Jahr. Sie fragten, ob jetzt Bestände da wären. Jetzt ist nichts mehr da.“ „Na ja, dann will ich nicht weiter stören“, sagt Kant und verläßt den Raum. Als er zu Ellrodt ins Archivzimmer zurückkehrt, sieht er den Oberwachtmeister neben Inge sitzen. Der Major fragt Inge gerade, warum sie nicht schon eher mit Dr. Wittig über Schultheiß gesprochen habe. „Ich hatte Angst, ihn zu verlieren. Ein Oberarzt auf derselben Station mit dem früheren Freund seiner Geliebten! Einem Pfleger. Das wollte ich Doktor Wittig nicht antun.“ „Und sich selbst auch nicht, wie?“ Inge schweigt. „Seit wann, Schwester Inge, hatten Sie gegen Schultheiß Verdacht gefaßt?“ „So genau kann ich das nicht sagen.“ 163
„Aber Sie geben zu, daß Sie Schultheiß in Verdacht hatten?“ „Ja, aber Sie werden doch verstehen, daß ich …“ „Ich hoffe, Sie verstehen, daß Sie dafür strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden können.“ Inge blickt ihn fassungslos an und beginnt zu weinen. „Genosse Oberwachtmeister!“ sagt Ellrodt. Der Oberwachtmeister steht auf. „Schwester Inge, wir müssen Sie festnehmen.“ Ihr Körper sinkt schlaff auf dem Stuhl zusammen. Der Oberwachtmeister ist ihr beim Aufstehen behilflich.
Sonnabend, 11. Juni, 16 Uhr 40 19 An diesem Sonnabendnachmittag geht unsere Dreiecksgeschichte zu Ende. Nicht mit Pauken und Trompeten, sondern leise und unauffällig. Der Tatverdächtige ist endlich gefunden, in Untersuchungshaft genommen und in einer Zelle des Volkspolizeikreisamtes untergebracht worden. In den nächsten Stunden hatten Ellrodt und Kant aus den Vernehmungsprotokollen und Kaderunterlagen alle Fragen herausgezogen, über die Schultheiß vernommen werden soll. Es ist wie bei einem Kreuzworträtsel. Einzelne Zeilen sind schon ausgefüllt, andere noch offen. Eine neue Antwort enthält die Elemente anderer Antworten. Das Kreuz und Quer der Fragen, anfänglich planlos erscheinend, hin und her springend, verdichtet sich zur zusammenhängenden Lösung des Rätsels. Das Ziel, alles zu enträtseln, wird nicht immer erreicht, und auch Kant und Ellrodt werden am Schluß feststellen, daß einige Felder leer geblieben sind. Aber so weit sind wir noch nicht. Ich versuche jetzt, 164
das letzte Stadium des Falles zu beschreiben, so wie es Oberst Kant aus der Erinnerung rekonstruiert hat. Ellrodt und Kant hatten sich auf folgenden Vernehmungsplan festgelegt: Erkenntnisse zur Person des Täters, über seine Beziehungen zu Inge, sein Verhalten nach der Trennung von Inge, sein Verhältnis zu Dr. Wittig, über den Besitz des Giftes, die Art und Weise der Giftanschläge selbst. Und durchgängig natürlich die Frage, welche Ziele verfolgte der Täter subjektiv, und wie wirkte sich seine Tat objektiv aus. Kant holt einen Stapel weiße Blätter und legt ihn vor sich auf den Tisch. „Daraus wird nichts, mein Junge“, sagt Ellrodt. „Heute führst du kein Protokoll, dazu bist du mir nicht flink genug. Die Genossin Hanschmann wird das machen. Und du führst dafür die Vernehmung.“ „Ich?“ fragt Kant, und seine Überraschung ist ungeheuer. „Aber Genosse Major, das verstößt gegen die Regel.“ „Ich muß soviel Mist verantworten, den wir produziert haben, warum nicht noch das. Wenn es nötig ist, greife ich ein. Du hast unsern Vernehmungsplan. Bist du soweit?“ Nein, möchte Kant sagen, ich bin doch darauf überhaupt nicht eingestellt, ich muß mir doch wenigstens die ersten Fragen zurechtlegen! Aber er nickt bejahend. Ellrodt gibt Anordnung, den Untersuchungshäftling Schultheiß vorzuführen. Inzwischen erscheint auch Genossin Hanschmann, Gerichtsstenografin, die ein As in Stenografie sein soll. Gleich darauf bringt der Oberwachtmeister den Oberpfleger Schultheiß, nimmt ihm die Handschellen ab und weist ihm seinen Platz gegenüber Ellrodt und Kant an. Während Schultheiß sich setzt, ruft er emphatisch, er müsse gegen seine Festnahme protestieren. Kant gebietet ihm zu schweigen. 165
„Herr Schultheiß, Sie stehen unter dem Verdacht mehrfachen Mordes. Es wird ein Ermittlungsverfahren gegen Sie eingeleitet, das mit dieser Vernehmung beginnt.“ Erneut versucht Schultheiß, Einspruch zu erheben. Mord, das sei geradezu lächerlich! Er habe gedacht, es ginge vielleicht um Unstimmigkeiten bei der Revision der Krankenhausapotheke! Mord! Das sei absurd! Er habe immer gewissenhaft seine Pflicht erfüllt! Ellrodt räuspert sich. Ein Zeichen für Kant, Schultheiß’ Beteuerungen ein Ende zu machen. Kant vergleicht den Personalausweis mit den Angaben zur Person, stellt Fragen zu Schultheiß’ Lebenslauf und beruflicher Entwicklung. Schultheiß ist am 2. April 1914 in Beuthen in Oberschlesien geboren. Sein Vater war Bergmann, er selbst hat Bäcker gelernt, an diesem Beruf aber wenig Interesse gefunden. Er hat dann als Hilfspfleger in einem Krankenhaus begonnen und sich später zum Pfleger qualifiziert. Er ist jetzt 23 Jahre ununterbrochen in der Krankenpflege tätig. Während des Krieges war er als Sanitäter eingesetzt, in Feldlazaretten an der Ostfront, in einem Heimatlazarett und im Krankenrevier eines Infanteriebataillons, zuletzt im Rang eines Sanitätsoberfeldwebels. In dieser Zeit hat er, bedingt durch die Kriegsverhältnisse, oft sehr selbständig gearbeitet. Beim Rückzug der Naziwehrmacht aus Schlesien im Februar 1945 gelangte das Bataillon nach Sachsen. Hier geriet Schultheiß in amerikanische Gefangenschaft, wurde kurz vor dem Einzug der Roten Armee entlassen und fand sofort Arbeit als Krankenpfleger, zuerst in Weißenfels, dann in Glauchau und schließlich in Vorberg. Seine Kenntnisse, seine Zuverlässigkeit, sein zuvorkommendes Wesen gegenüber den Ärzten wurden durch seine Einstufung zum Oberpfleger belohnt. Zugleich übertrug ihm Dr. Frieders die Leitung der Krankenhausapotheke. 166
Diese Einschätzung von Schultheiß’ Charakter entnimmt Kant verschiedenen Beurteilungen seiner Vorgesetzten. Sie stammen aus den letzten Jahren. Es liegt auch eine Begründung für die Verleihung mit der „Medaille für ausgezeichnete Leistungen“ vor, in der die stete Einsatzbereitschaft des Oberpflegers hervorgehoben wird. Kant wendet sich dem nächsten Thema zu. „Ihr Familienstand, Herr Schultheiß?“ „Verheiratet.“ „Seit?“ „Seit neunzehnhundertsechsunddreißig.“ Schultheiß’ Frau ist Büroangestellte. Sie arbeitet in der Abteilung Gebäudewirtschaft beim Rat des Kreises. Es gibt zwei Kinder, Lilo ist 18, Gerd 17 Jahre alt. „Sie wollten sich von Ihrer Frau scheiden lassen? Warum?“ „Na ja, das hängt irgendwie mit meinem Beruf zusammen. Meine Frau hat ihre feste Arbeitszeit. Aber ich – sie hat immer wieder herumgenörgelt, wir würden immer älter und hätten nichts voneinander, und da wollte sie lieber noch mal ganz von vorn anfangen. Ich hatte diese ewige Quengelei einfach satt.“ „Aber Sie haben die Scheidung niemals eingereicht.“ „Ich habe es immer wieder hinausgeschoben. Dachte, vielleicht renkt sich’s wieder ein.“ „Und wann nahmen Sie Ihre Beziehung zu Schwester Inge auf?“ „Zu Schwester Inge?“ Mit dieser dümmlichen Frage versucht Schultheiß Zeit zu gewinnen, sich zu fangen, denkt Kant. Nun beginnt Schultheiß wohl zu ahnen, in welche Richtung die Sache geht. „Ich meine Ihr intimes Verhältnis zu Schwester Inge.“ „Die Inge, ja – –“ Schultheiß sucht krampfhaft nach einer Formulierung. „Also mit der Inge, ja, wir waren da mal eine Zeitlang befreundet.“ 167
„Wie lange?“ „Ja, so genau kann ich das nicht sagen.“ „Drei Jahre. Stimmt das?“ „Nee, so lange bestimmt nicht!“ „Sie nennen es Freundschaft. In Wahrheit war es doch ein Liebesverhältnis.“ Schultheiß grinst. „Wenn Sie so wollen. Dann eben ein Liebesverhältnis.“ „Wußte Ihre Frau davon?“ „Natürlich nicht.“ „Aber Sie hatten doch Inge versprochen, sie zu heiraten!“ „Ich? Nicht die Bohne, Herr Leutnant. Das spinnt sich die Inge bloß zusammen!“ „Schließlich ist das Verhältnis dann beendet worden. Warum?“ „Ganz einfach. Sehen Sie, die Inge war rein verrückt nach mir. Ich bin ja nun auch kein Kind von Traurigkeit, und wenn ich merke, da ist eine hinter mir her, warum soll ich das nicht mitnehmen? Aber wenn man dann sieht, wie sich so ein Mädel Flausen in den Kopf setzt, da muß man eben bremsen, dazu ist man schon moralisch verpflichtet. Mädel, hab’ ich gesagt, wenn du heiraten willst, also das ist nicht drin, laß uns lieber in Frieden auseinandergehen!“ „Schwester Inge erklärt, die Trennung sei von ihr ausgegangen, weil Sie die Scheidung immer wieder hinausgezögert haben.“ „Ist eine glatte Lüge, Herr Leutnant.“ „Es kam dann zu Auseinandersetzungen mit Inge.“ „Weil sie sich wie eine Klette an mich hängte.“ Kant blickt auf seinen Vernehmungsplan. Es wird Zeit, die Frage nach Schultheiß’ Verhältnis zu Dr. Wittig zu stellen. Aber bevor er noch seine Frage formulieren kann, greift Ellrodt ein. Er schiebt Schultheiß die Bestellung für Arsenik zu. 168
„Ist das Ihre Bestellung?“ fragt Ellrodt. Schultheiß hält den Schein dicht vor seine Augen. Dann legt er ihn wortlos auf den Tisch zurück. „Ja, meine Bestellung. Für die Rattenbekämpfung.“ „Wie geht das vor sich, Schultheiß? Streuen Sie den Ratten das Arsenik auf die Schwänze oder wie?“ „Ich weiß nicht, was Sie damit sagen wollen, Herr Major.“ „Na, was heißt denn Rattenbekämpfung mit Arsenik? Sie meinen doch Vergiftung!“ stellt Ellrodt fest. „Aber mir erklärten Sie heute vormittag, Sie wüßten gar nicht, daß Arsenik ein Gift sei!“ hält Kant Schultheiß entgegen. „Ich habe Arsenik gegessen, mir hat es gut getan, Herr Leutnant.“ „Sie hatten gestern dienstfrei. Trotzdem waren Sie in der Klinik.“ „Das kommt öfter vor, wenn was Wichtiges vorliegt.“ „Und was war gestern so wichtig?“ „Ich mußte Herrn Wiegand ein Bruchband anmessen.“ „Nach Auskunft der Ärzte ist es nicht üblich, einem Patienten einen Tag nach der Operation ein Bruchband anzumessen. Also warum, Herr Schultheiß, und dann noch an einem dienstfreien Tag?“ Schultheiß schweigt. „Dann will ich Ihnen sagen, warum. Sie hofften, wir würden denken, wer dienstfrei ist, hat ein Alibi. – Sie haben Wiegand Tee gebracht.“ „Er hatte solche Leibschmerzen.“ „Die sich danach verschlimmerten. Sieben Stunden später war er tot. Nachweislich hatte Wiegand seit Mittag nichts weiter zu sich genommen als Ihre Tasse Tee.“ Schultheiß weiß sich das nicht zu erklären. Er habe sich nie etwas zuschulden kommen lassen. Die Patienten hatten ihn gern, und Wiegand habe ihm sogar noch eine Zigarre geschenkt. 169
Wieder greift Ellrodt ein und springt auf ein anderes Thema. „Herr Schultheiß, was halten Sie von Doktor Wittig?“ Kant versteht. Wir brauchen nicht bloß Indizien, wir benötigen sein Geständnis. Ellrodt will Schultheiß affektiv herauslocken, seine dummdreiste Scheinheiligkeit zu Fall bringen. Schultheiß zögert. Er zögert zu lange. Dann erwidert er mit freundlichem Lächeln: „Der Oberarzt? Das ist ein verdammt guter Chirurg, bis auf seine letzten Pannen.“ „Seine letzten Pannen! Hören Sie auf mit diesem Geschwätz!“ ruft Ellrodt. „Seit Webers Obduktion mußten Sie wissen, daß die Leute mit Arsenik vergiftet worden sind!“ „Das muß ich gar nicht wissen. Das ist uns nie offiziell mitgeteilt worden.“ „Wie schätzen Sie Doktor Wittig als Mann ein?“ „Wie – als Mann?“ „Zum Beispiel, wie er auf Frauen wirkt.“ „Weiß ich nicht. Ich kenne sein Privatleben nicht.“ „Bleiben wir mal in der Klinik. Wittig ist unverheiratet. In Ihrer Abteilung gibt es junge Schwestern.“ „Daß der Oberarzt was mit Schwester Annemarie hatte, wissen Sie doch selbst …“ „Und mit Schwester Inge?“ Bei dieser Frage zögert Schultheiß nicht mit der Antwort. Er erwidert gelassen: „Da müssen Sie schon die Inge selber fragen!“ „Aber von Ihnen möchten wir wissen, warum Inge Ihnen den Laufpaß gegeben hat und den Oberarzt Ihnen vorzog.“ Nun hat wohl Ellrodt endlich das Zentrum der Eigenliebe getroffen. Die Veränderung in Schultheiß’ Verhalten ist verblüffend. Seine Selbstbeherrschung schlägt in heftige Erregung um. „Warum?“ ruft er mit überkippender Stimme. „Warum? Weil er ein Studierter 170
ist, deshalb! Ein Herr Doktooor! Herr Oberarzt! Und bald Chef hier!“ „Sie wissen also, was sonst niemand weiß – daß Inge Doktor Wittig liebt. Seit wann wissen Sie das?“ stößt Kant nach. „Sie haben es mir doch gerade mitgeteilt“, kontert Schultheiß. Kant blickt Ellrodt an. Was geht jetzt in Schultheiß vor, heißt seine stumme Frage. Was ist stärker, seine Angst vor einem Geständnis oder sein gedemütigter Stolz? Wann mochte Schultheiß begriffen haben, daß er nicht mit einem Mann konkurrieren konnte, der in der Klinikhierarchie hoch über ihm stand? Und daß es deshalb aussichtslos war, seinen Besitz, Inge, „mit Zähnen und Klauen“ zu verteidigen? Kant ahnt, in welch angespannter psychischer Situation sich der Oberpfleger befunden haben mochte. Er sollte die Frau, die ihm in ihrer passiven Ergebenheit ganz gehört hatte, ausgerechnet einem Oberarzt überlassen, der erst wenige Wochen zuvor eine Affäre mit Annemarie gehabt hatte! Für den Inges Liebe vielleicht nur ein Spiel, ein Abenteuer war! So war Schultheiß’ untergeordnete Rolle eine ständige Quelle von neuem, sich steigerndem Haß. Und wie lebendig dieser Haß ist, davon haben wir ja soeben eine Probe erhalten! „Ich kann mir natürlich vorstellen“, sagt Kant bedächtig und blättert in irgendwelchen Papieren, „daß Oberarzt Wittig auf Frauen wirkt. Eine Persönlichkeit wie er …“ Er überläßt es der Phantasie des Oberpflegers, sich die Wirkung dieser Persönlichkeit auf Inge auszumalen. Schultheiß schweigt verbissen. „Da ist es schon denkbar, daß eine junge Frau die Ehe mit einem solchen Mann dem ewig unklaren Verhältnis mit Ihnen vorzog.“ „Mit einem Pfleger, sagen Sie es doch gleich!“ ruft Schultheiß erbittert. 171
„Natürlich hat sie da zugegriffen, die Schwester Inge, das ist doch verständlich.“ „Frau Chefarzt!“ murmelt Schultheiß mit zusammengebissenen Zähnen. „Das gibt noch ein böses Erwachen!“ „Haben Sie ihr gesagt?“ „Ich habe sie gewarnt!“ erklärt er düster. „Was heißt das, Herr Schultheiß, sie gewarnt?“ Er zögert mit der Antwort. Er sieht das Gestrüpp, in dem er sich allmählich verfängt. „Sie haben ihr vermutlich gesagt, wenn du nicht zu mir zurückkommst, dann kannst du was erleben. So oder ähnlich haben Sie zu ihr gesprochen, nicht wahr?“ Schultheiß richtet sich auf. Ein böses Lächeln erscheint auf seinem Gesicht. „Genau so, Herr Leutnant. Ich habe gesagt, wenn du von dem Kerl nicht läßt, werdet ihr das noch bereuen! Den mach’ ich fertig.“ Und nun geschieht das Unerwartete, zumindest für Kant, vielleicht nicht für den sagenhaften Ellrodt. Der Mann vor ihnen fängt an zu schluchzen. Es ist jene tränenlose Erschütterung des ganzen Körpers, die schlimmer anzusehen ist, als der stille Fluß der Tränen. Ohne Zweifel, Schultheiß scheint zu einem Geständnis bereit zu sein. „Den mach’ ich fertig!“ – Das war seine Vorwarnung an Inge, die er dann in die Tat umgesetzt hatte. Kant formuliert jetzt sehr vorsichtig: „Und das ist ja dann auch geschehen. Sie haben Wittig fertigzumachen versucht, indem Sie seinen Ruf als Chirurg untergruben und fünf Menschen töteten!“ „Ich wollte seine Operationsstatistik verschlechtern.“ Das also wäre das Geständnis. Aber Kant empfindet keinen Triumph. Es kommt für zwei Menschen zu spät. Sie könnten noch leben, wären wir klüger gewesen. „Da ist aber noch eine Frage offen“, durchbricht Ellrodt das Schweigen. „Schwester Inge kannte Ihre Drohung. Spätestens seit Webers Tod mußte sie also wissen, Sie waren der Täter! Hat Inge Sie da nicht zur Rede gestellt?“ 172
Schultheiß schüttelt den Kopf. „Schwester Inge hat uns etwas ganz anderes erzählt. Sie hat erklärt, daß sie von Ihrer Täterschaft nichts gewußt hat. Dann können Sie ihr gegenüber also jene Drohungen nicht ausgestoßen haben!“ „Die Inge wird sich doch nicht selber belasten!“ sagt Schultheiß höhnisch. „Oberwachtmeister!“, sagt Ellrodt, „führen Sie Schwester Inge vor!“ Der Oberwachtmeister geht hinaus. Schultheiß starrt ins Leere. Mit nervösem Zucken befördert Ellrodt seine Brille nach oben. Kant verspürt Appetit auf eine Zigarette. Genossin Hanschmann numeriert Protokollblätter. Die Junisonne drückt an die geschlossenen Fensterscheiben. Der Oberwachtmeister erscheint mit Inge. Schultheiß blickt ihr entgegen. Inge schaut zu Boden. Es wird nicht die letzte Begegnung mit diesem Mann sein. Sie muß neben ihm Platz nehmen. Ellrodt hält ihr Schultheiß’ Aussage vor. „Schultheiß will Ihnen gesagt haben, wenn Sie nicht von Doktor Wittig lassen, dann passiert etwas, dann macht er ihn fertig. Trifft diese Aussage zu?“ „So etwas hat Herr Schultheiß nie zu mir gesagt.“ „Das hab’ ich dir klipp and klar gesagt!“ ruft Schultheiß. „Das stimmt nicht.“ Schultheiß packt wütend ihren Arm. „Du willst dich wohl jetzt aus allem heraushalten, wie!“ „Hände weg!“ herrscht Ellrodt den Mann an. „Schwester Inge, denken Sie nach!“ „Ich weiß es nicht mehr, was Herr Schultheiß damals in seiner Wut alles gesagt hat! Wie soll ich das jetzt noch wissen!“ „Du hattest Nachtdienst, und ich kam ins Schwesternzimmer und habe gesagt …“ 173
„Nachtdienst!“ unterbricht sie ihn. „Du bist oft gekommen und hast ein Zeug geredet.“ Sie wendet sich hilfesuchend an Ellrodt. „Das habe ich doch nicht ernst genommen, was der da in seiner Wut alles gesagt hat!“ Und mehr ist nun aus Inge nicht herauszubekommen. Sie ist mit ihren Nerven am Ende, für sie ist alles zusammengebrochen. Sie hat Schultheiß zwar widersprochen, aber selbst in ihrer Aussage bleibt die Möglichkeit offen, daß Schultheiß diese Drohung tatsächlich ausgestoßen hatte. Es sieht nicht gut für das Mädchen aus. Oder ist Schultheiß’ Behauptung tatsächlich nur eine verspätete Rache? „Nun wieder zu Ihnen“, setzt Kant die Vernehmung fort. „Sie hofften also, durch eine Reihe von Morden Doktor Wittig und Inge auseinanderzubringen?“ „Was blieb mir denn anderes übrig.“ „Ein Gespräch mit Doktor Wittig zum Beispiel. Ein Gespräch zwischen Männern!“ Schultheiß lacht lautlos in sich hinein. „Ein Gespräch! Der Pfleger mit dem Herrn Oberarzt! Buckelnd, mit devoter Verbeugung! Geruhen Herr Oberarzt, mir meine Freundin nicht ausspannen zu wollen! Wo leben Sie denn, Herr Leutnant, in welcher Welt! Ich bin lange genug Pfleger, ich weiß, was an einer Klinik gespielt wird, die Spielregeln kenne ich zur Genüge! Was sind wir denn gegenüber den Ärzten! Ein Dreck. Die sind die Götter! Bloß die Inge war so blöde, die hat sich Illusionen gemacht! Klar, das gibt’s schon, daß sich eine Schwester mal einen Arzt angelt, das möchten sie alle, und manchmal gelingt’s auch einer. Aber in wie vielen Fällen geht das schon gut. Der Doktor ist jung, das Mädchen ist jung, er sucht eine Bleibe, eine Bratkartoffelstelle, da wird von Liebe geredet, sie sieht sich schon als Arztfrau mit Wagen und Villa. Und dann? Dann qualifiziert er sich, dann steigt er auf, wird Facharzt, Oberarzt, Chef. Na, dann ge174
nügt ihm doch das Mädchen nicht mehr, die ist ihm ein Klotz am Bein, da sieht er sich nach seinesgleichen um, nach einer, die besser zu ihm paßt.“ „Das sind veraltete Vorstellungen, die Sie da zu Ihrer Rechtfertigung vorbringen. Für unsere Gesellschaft trifft das nicht mehr zu!“ entgegnet ihm Kant. „Entschuldigen Sie, daß ich da lache. Unsere Gesellschaft! Die Klinik ist eine Gesellschaft für sich – in der Gesellschaft! Daran werden auch Sie nichts ändern!“ Ellrodt greift ein. „Lassen wir das. Das ist rein hypothetisch.“ „Für mich ist das keine Hypothese. Ich habe Jahrzehnte an der Klinik gearbeitet. Nie haben die Ärzte meine Arbeit anerkannt, nie!“ „Sie sind Oberpfleger geworden.“ „Das stand mir zu, auf Grund meiner Leistung!“ „Kommen wir zur Sache zurück!“ sagt Ellrodt streng. „Nach Ihrem dritten Mord – an Schulleiter Weber – wußten Sie, die mysteriösen Todesfälle, die Doktor Wittigs Autorität untergraben sollten, waren als Giftmord erkannt worden. Warum haben Sie auch dann noch weiter getötet?“ „Ich hatte damit angefangen. Und dann mußte ich weitermachen.“ Fast hilflos blickt Ellrodt zu Kant. Stehen wir hier wirklich vor einer rational nicht mehr faßbaren Raserei, einem Amoklauf, nur über Wochen verteilt? „Frau Schütz“, sagt Schultheiß plötzlich in das Schweigen hinein, „die Frau Schütz habe ich getötet, weil sie auf einer anderen Station lag. Um abzulenken. Ich dachte, du brauchst ein Alibi. Es muß jemand sterben, wenn ich dienstfrei habe. Ich kann Ihnen nur sagen, gern habe ich’s nicht gemacht, die Leute haben mir leid getan.“ „Ihr Zynismus ist nicht mehr zu überbieten!“ schreit Ellrodt und schlägt mit der Faust auf den Tisch. Er vergißt sogar, seine Brille emporzuschieben. 175
„Den alten Wiegand mochte ich gern. Der hat mir meinen Wagen immer ganz gut in Schuß gehalten. Und an dem Nachmittag, wo ich ihm den Tee brachte – da hat er mir sogar noch eine Zigarre geschenkt, eine echte Havanna. Ich hab’s nicht fertiggebracht, sie zu rauchen.“ Kant schaudert es bei dieser Bekundung von Zartgefühl. „Wie haben Sie Ihren Opfern das Gift beigebracht?“ fragt Ellrodt. Schultheiß gibt bereitwillig Auskunft, sogar mit einem gewissen Stolz über seine Findigkeit. „Dem Wiegand, wie Sie wissen, nach dem Bruchbandvermessen. Dabei kam mir zugute, daß er schon Leibschmerzen hatte. Da konnte ich sagen, ein Tee würde ihm helfen, mit einem Magenpulver darin. Und Weber? Ah ja, am Sonntagnachmittag, während der Besuchszeit. Da war das Zimmer voll Leute, Schrells Großfamilie saß und stand da herum, redete und lachte, da fiel es niemandem auf, daß ich Weber eine Tasse Tee brachte.“ „Und Frau Schütz?“ „Der Frau Schütz habe ich den Tee gegeben, bevor Wuttke sie in den OP-Raum brachte.“ „Vor der Operation?“ fragt Ellrodt verblüfft. „Soviel ich weiß, erhält man vor der Operation nichts zu trinken.“ „Aber das wußte Frau Schütz nicht. Sie hatte Durst, weil ihr vom Atropin die Zunge so trocken war. Ich gab ihr nur wenig zu trinken. Aber das reichte schon aus.“ „Und Ihre ersten zwei Opfer?“ „Als die ihren Tee bekamen, ahnte ja noch niemand etwas. Das war also die einfachste Sache der Welt.“ Das wäre es wohl vorerst. Es reicht nach Ellrodts Meinung für die Erhebung der Anklage. Aber Kant hat noch eine Frage. „Haben Sie wirklich ernstlich geglaubt, Sie könnten auf diese Weise Inges Liebe zurückgewinnen?“ Schultheiß blickt zu Inge. „Sie hat mir gehört. Und was mir gehört, kriegt kein anderer.“ 176
Ellrodt läßt Schultheiß und Inge abführen. Genossin Hanschmann geht ins Nebenzimmer, um das Protokoll in Maschine zu schreiben. Kant tritt ans Fenster und öffnet es weit. Es sieht nach Gewitter aus. Ellrodt stellt sich neben ihn. „Nun, mein Junge, wird die Flasche Wodka doch noch fällig.“ „Bei mir zu Hause, Genosse Major? Meine Frau würde sich freuen, den sagenhaften Ellrodt kennenzulernen.“ „Sagenhaft?“ erwidert Ellrodt und zuckt mit der rechten Wange. „Sage das bloß nicht zu laut. Beinahe hätten wir sagenhaft versagt.“
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NACHBEMERKUNG
Soweit mein Versuch, diesen Fall nachzuzeichnen. Als ich mich zu dem Bericht entschloß, wußte ich nicht, vor welche Schwierigkeiten er mich noch stellen würde. Die Ereignisse liegen ein Vierteljahrhundert zurück. Ich hatte sie nur von außen, als Zuschauer, in wenigen zufälligen Szenen miterlebt. Die Hauptbeteiligten mußten erst aufgefunden und befragt werden. Verständlicherweise waren sie nicht sofort bereit, mein Vorhaben zu unterstützen. Ich mußte schon nach guten Gründen suchen, damit sie mir schließlich die Vorgänge ohne Beschönigung erzählten. Ich, der ich mit jener Ausnahme vor 25 Jahren nie in einer Klinik gelegen hatte, mußte mich erst mit dem inneren Leben in diesem Zauberberg und mit mir völlig fremden medizinischen Fragen vertraut machen. Zudem wuchsen im Verlauf meiner Arbeit auch meine Bedenken, ob ich diesen Fall überhaupt erzählen sollte. Ob ich die Spannung, die über diesem Fall liegt, nicht um den Preis der Seelenruhe erkaufte, die ein Kranker nun einmal braucht, wenn er sich in die Hände des Arztes begibt. Aber ich hielt dann doch an meinem Vorhaben fest, weil ich glaube, daß ein so extremer Sonderfall das notwendige Vertrauen in ärztliche Hilfe nicht erschüttern kann. So möchte ich diesen Bericht nun endlich abschließen. 178
Zum letzten Mal saß ich mit Obermedizinalrat Dr. Wittig zusammen. „Was ist nun eigentlich aus den drei Seiten des Dreiecks geworden, Herr Obermedizinalrat?“ „Oberpfleger Schultheiß wurde zum Tode verurteilt und hingerichtet. Er hatte um seiner persönlichen Rache willen unschuldige Menschen geopfert, die seiner Obhut anvertraut gewesen waren. Und hatte skrupellos das Vertrauen in unser Gesundheitswesen untergraben.“ Nach kurzem Schweigen fuhr er fort: „Und was mich selbst betrifft – nach Beendigung des Prozesses habe ich Vorberg verlassen. Direktor Doktor Frieders ging in den Ruhestand, die Chefarztstelle wäre für mich frei geworden. Aber Sie werden sicher verstehen, daß ich dort nicht bleiben wollte. Ich habe dann später eine Kollegin geheiratet, wurde Chefarzt an dieser Universitätsklinik und – nun, Ende dieses Jahres trete auch ich in den Ruhestand.“ Ich blickte ihn verblüfft an. Er lachte. „Immerhin bin ich jetzt fünfundsechzig!“ „Und Inge, Herr Obermedizinalrat?“ „Inge –“ Sein Gesicht wurde wieder ernst. „Inge war wohl die eigentlich tragische Figur dieses Falles. Auch sie wurde unter Anklage gestellt.“ „Doch unter Anklage?“ Wittig seufzte. „Unschuld und Schuld – die vermochte das Gericht in diesem Fall wohl nicht so scharf voneinander zu trennen. Subjektiv, darauf wies auch der Verteidiger hin, war ihr Verhalten verständlich, sie hatte ja ihre Ahnungen immer wieder verdrängt, um sich zu behaupten und mich nicht zu verlieren. Aber objektiv hatte ihr Schweigen dem Mörder die Möglichkeit zu weiteren Verbrechen gegeben. Sie erhielt eine mehrjährige Freiheitsstrafe. Sie ist danach nicht nach Vorberg zurückgekehrt und soll einen gehbehinderten älteren Herrn geheiratet haben.“ 179
Wittig stand auf, trat zum Fenster und blickte hinaus. „Wir haben uns nie wiedergesehen.“ Wir haben uns nie wiedergesehen – mit dieser lapidaren Bemerkung zog Obermedizinalrat Dr. Wittig den Schlußstrich unter seine einstige Liebe. Seine Beweggründe für die Trennung nannte er nicht.
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2. Auflage © Verlag Das Neue Berlin, Berlin • 1982 (1980) Lizenz-Nr.: 409-160/158/82 • LSV 7004 Umschlagentwurf: Erhard Grüttner Printed in the German Democratic Republic Gesamtherstellung: Grafischer Großbetrieb Völkerfreundschaft Dresden III/9/1 Scan & Ebook by *MM* 622 431 7 DDR 2,– M