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Buch Riverside ist eine Stadt, in der sich der Adel und die ambitionierten Aufsteiger der Gesellschaft im Ringen um mehr Macht ständig bekämpfen. In den Ballsälen, Bordellen und Hinterzimmern schmieden sie Intrigen und hüten wertvolle Geheimnisse. In diese Welt voller Verrat und Feindschaft gerät Katherine, das wohlerzogene Mädchen vom Lande. Sie weiß, wie man sich in der feinen Gesellschaft verhält, sie kennt die Regeln und geht davon aus, dass die anderen das auch tun. Nur spielt man in Riverside ein anderes Spiel. Ihr Onkel, der berüchtigt verrückte Herzog von Tremontaine, hat sie zu sich eingeladen. Zuerst war sie darüber auch hocherfreut, denn endlich scheint sich ihr Wunsch zu erfüllen, in die feine Gesellschaft eingeführt zu werden. Und vielleicht trifft sie hier auch endlich einen Verehrer. Ihre verarmte Familie konnte ihr diese Möglichkeiten nicht bieten. Doch dann kommt alles anders. Ihr Onkel findet es amüsant, sie in der Fechtkunst unterweisen zu lassen. Er will aus ihr etwas machen, was die Stadt vorher noch nicht gesehen hat: eine Frau, die im Degenkampf ihren Mann stehen kann. Für Katherine bricht eine Welt zusammen. Soll sie sich wirklich damit zufrieden geben, ein Spielball der adeligen Gesellschaft zu sein? Katherine muss sich ihren eigenen Weg erkämpfen, um in dieser gefährlichen Welt zu bestehen. Aber wenn man einer Frau einen Degen in die Hand gibt, dann wird sie auch kämpfen: für ihre Ehre, ihre Familie und, wenn es sein muss, auch für ihre Liebe... Autorin Ellen Kushner arbeitete lange als Redakteurin und freie Mitarbeiterin für diverse New Yorker Verlagshäuser, bevor sie als Radiomoderatorin und Autorin erfolgreich wurde. Sie hat bereits mehrere Auszeichnungen für ihre Romane erhalten, darunter den »World Fantasy Award«. Sie reist viel, veranstaltet Lesungen und unterrichtet. Derzeit lebt sie in New York. Ein weiterer Roman der Autorin ist bei Goldmann in Vorbereitung. Mehr zur Autorin und ihren Romanen unter: www. ellenkushner. com
Ellen Kushner Die Dienerin des Schwertes Die Originalausgabe erschien 2006 unter dem Titel »The Privilege of the Sword
Dieses Buch ist für Delia und war es schon immer Geringe Macht das Wort besitzt und bietet uns nicht halb das Privileg des Schwertes. Anonymus, Die Vorherrschaft des Schwertes, 1658 Hätte nur der alte, fantastische Herzog, der Winkelkriecher, zuhause gesessen, er lebte noch! Der Herzog hätte gewiss, was im Dunkeln geschah, auch im Dunkeln gelassen. William Shakespeare, Maß für Maß, IV. Akt, 3. Szene; III. Akt, 2. Szene Jedenfalls hatte es damals keine Manieren, und es hat heute keine Manieren, und es wird nie Manieren haben.
Rudyard Kipling, Nur so Geschichten. Wie das Rhinozeros zu seiner Haut kam Welch grausame Art und Weise, seine Nichte zu behandeln. James Thurber, Die 13 Uhren
TEIL I
Tremontaine Kapitel 1
N
iemand lässt eine Nichte zu sich kommen, die er noch nie gesehen hat, nur um ihre
Familie zu ärgern und ihr Leben zu ruinieren. Zumindest hatte ich das geglaubt. Aber bis zu dem Zeitpunkt war ich auch noch nie in der Stadt gewesen. Ich hatte noch kein Duell hinter mich gebracht, hatte noch nie ein Schwert in der Hand gehalten. Geküsst hatte ich auch noch niemanden, hatte noch niemandem einen Grund gegeben, mich umzubringen, und ich hatte auch noch nie einen Samtumhang getragen. Und vor allem hatte ich meinen Onkel, den Irren Herzog, noch nicht kennen gelernt. Als ich ihn dann kennen lernte, erklärte sich das Meiste von selbst. Eines Tages erhielten wir einen Brief von meinem Onkel. Ich war gerade in der Speisekammer und zählte unsere Bestände an Silberbesteck. Als ich fertig war, nahm ich die Listen und ging zu meiner Mutter, die im sonnigen Wohnzimmer saß und Taschentücher säumte. Damals mussten wir das alles selber machen. Von draußen waren die Krähen zu hören, die irgendwo in den Hügeln krächzten, und die Schafe, die noch lauter zu blöken versuchten. Ich schaute die Listen an, nicht meine Mutter, und machte mir Gedanken über die Silberlöffel, die dringend poliert werden mussten, aber warum sollten wir uns darüber Sorgen machen, wenn wir sie vielleicht ohnehin verkaufen mussten? »Dreihundertdreizehn Löffel«, sagte ich mit einem Blick
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auf meine Liste. »Drei weniger als bei der letzten Zählung, Mama.« Sie gab keine Antwort. Ich blickte auf. Mutter starrte durchs Fenster und kaute an einer ihrer seidenen Haarsträhnen. Ich wünschte, ich hätte solches Haar — mein Haar ist gelockt, aber die Locken drehen sich immer in die falsche Richtung. »Meinst du nicht auch«, sagte sie schließlich, »dass wir den Baum endlich fällen lassen sollten?« »Wir machen Silberinventur, Mama!«, erwiderte ich streng. »Und es fehlen drei Löffel!« »Bist du sicher, dass du die richtige Liste vor dir hast? Wann haben wir zuletzt gezählt?« »Vor Gregorys Geburtstagsparty, als er volljährig wurde, glaube ich. Meine Hände stanken beim Essen nach Silberpolitur. Und das Schwein hat sich nicht mal bei mir bedankt.« »Ach, Katherine.« Meine Mutter hat eine Art, meinen Namen auszusprechen, als wäre es eine ganze Rede. In diesem Fall umfassten die Sätze Wann wirst du endlich und Wie dumm du doch und Was würde ich ohne dich nur und das alles gleichzeitig. Aber ich war nicht in der Stimmung, mir das anzuhören. Die Silberinventur muss zwar gemacht werden, und es hat auch keinen Zweck, die Sache aufzuschieben, aber sie gehört nicht zu meinen Lieblingsbeschäftigungen, obwohl sie in dieser Hinsicht besser abschneidet als beispielsweise Sticken oder Marmelade machen.
»Ich wette, Greg ist auch in der Stadt nicht beliebt, solange er nicht endlich lernt, netter zu den Leuten zu sein.« Sie ließ ihre Näharbeit mit einer abrupten Bewegung sinken, und ich wartete auf die Schelte. Die Stille wurde langsam unheimlich. Ich sah, dass sich ihre Hände um die Stickerei verkrampft hatten, ohne Rücksicht darauf, was sie dem zarten Leinen zufügte. Doch sie hielt den Kopf sehr hoch, was ein Fehler war, denn als ich in ihr Gesicht blickte, sah ich an 4 ihrem verkniffenen Mund und den aufgerissenen Augen, dass sie versuchte, nicht zu weinen. Leise legte ich meine Papiere weg, kniete neben ihr nieder und bettete den Kopf in ihren Schoß, wobei ich sanft über den Stoff strich. »Tut mir leid, Mama. Ich hab's nicht so gemeint.« Mutter wickelte eine meiner Locken um ihren Finger. »Katie...« Ein langer Seufzer. »Mein Bruder hat mir einen Brief geschickt.« Mir stockte der Atem. »O nein! Schon wieder der Prozess? Sind wir jetzt ruiniert?« »Ganz im Gegenteil.« Aber sie lächelte nicht. Die Sorgenfalte, die letztes Jahr auf ihrer Stirn entstanden war, schien noch tiefer geworden zu sein. »Nein, es ist eine Einladung. Nach Tremontaine.« Mein Onkel, der Irre Herzog, hatte uns noch nie eingeladen, ihn zu besuchen. Es hätte sich nicht gehört. Jeder wusste doch, wie der Mann lebte. Aber darum ging es auch gar nicht. Es ging darum, dass er seit meiner Geburt versuchte, uns in den Ruin zu treiben. Dabei war es ausgesprochen lächerlich: Er hatte damals gerade von Großmutter, der Herzogin von Tremontaine, die riesigen Besitztümer zusammen mit dem Titel geerbt, und schon fing er an, über das bisschen Land zu streiten, das meine Mutter von ihren Eltern als Mitgift bekommen hatte — oder vielmehr stritten seine Rechtsanwälte. Die Gründe waren dermaßen nebulös, dass sie nur die Anwälte selbst verstanden, und keiner der Juristen, die mein Vater verpflichtete, schaffte es, die Gegenseite zu übertrumpfen. Wir hatten zwar das Land selbst noch nicht verloren, aber wir mussten unseren Anwälten immer mehr Geld zur Verfügung stellen. Die Liegenschaften wurden in eine Treuhandschaft übertragen, über die wir nicht bestimmen durften, und das galt auch für die Einkünfte, die das Land abwarf, was es uns noch schwerer machte, die Anwälte zu bezahlen. Ich war noch klein, aber ich erinnere mich, wie furcht 4 bar es immer war, wenn die Briefe kamen, völlig überladen mit Furcht erregenden Siegeln. Danach herrschte im Haus eine Stunde entsetzliche Stille — und dann explodierte alles. Mein Vater warf meiner Mutter brüllend Vorwürfe über ihre verrückte Familie an den Kopf, warum sie sie nicht besser unter Kontrolle hatte, und überhaupt hätte er genauso gut irgendeine Gänseliesel heiraten können, das hätte ihm mehr eingebracht! Und Mutter schrie, sie sei schließlich nicht daran schuld, dass ihr Bruder verrückt sei, und warum hatte er damals ihre Eltern nicht gefragt, ob der Vertrag wirklich einwandfrei sei, statt auf ihr herumzutrampeln, und überhaupt — habe sie nicht immer ihre Pflichten ihm gegenüber getreulich erfüllt? Davon bekam ich immer alles mit, denn sobald das Geschrei losging, presste Mutter mich an sich, und wenn es dann vorbei war, schlichen wir beide uns oft in die Speisekammer und löffelten unter der Treppe einen Topf Marmelade leer. Und beim Abendessen fing Vater dann wieder an und stritt mit meinen Brüdern über die Kosten von Gregs Pferden oder Sebs Lehrern oder was auf der Brache am Südende unseres Landguts angepflanzt werden solle oder was man gegen die Pächter tun könne, die ständig Kaninchen wilderten. Ich war froh, noch so klein zu sein, dass er oftmals gar nicht auf mich achtete, aber manchmal nahm er doch mein Gesicht in seine großen Hände und schaute mich scharf an, als wollte er herausfinden, auf welcher Seite der Familie ich stand. »Du bist doch ein vernünftiges Mädchen«, sagte er dann hoffnungsvoll, »und bist für deine Mutter eine große Hilfe, nicht wahr?« Nun ja, ich gab mir Mühe. Vater starb plötzlich, als ich elf war. Danach wurde es stiller um das Grundstück. Und schlagartig hörten auch die Prozesse auf. Es war, als hätte der Irre Herzog von Tremontaine uns völlig vergessen. Doch vor einem Jahr, als wir allmählich aufgehört hatten, jeden einzelnen Kupferpenny zu zählen, kamen die Briefe
5 mit ihren schweren Siegeln erneut. Offenbar fing der Prozess wieder an. Mein Bruder Sebastian wollte in die Stadt gehen und an der Universität Rechtswissenschaft studieren, aber Seb wurde auf dem Gut gebraucht, denn seine Kenntnisse über Land-und Ackerbau waren unersetzlich. So kam es, dass Gregory, der jetzt ein Lord, Lord Talbert, war, in die Stadt ging, um neue Rechtsanwälte für uns zu gewinnen und um seinen Sitz im Rat der Lords einzunehmen. Ihn in der Stadt leben zu lassen, kam uns teuer zu stehen, und uns entgingen auch wieder die Einnahmen aus Mutters Teil unseres Besitzes. Wenn wir die Löffel nicht verkauften, mussten wir wohl einen Teil von Vaters Land verkaufen, und wie doch jeder weiß, ist man so gut wie erledigt, wenn man erst einmal anfängt, am eigenen Landbesitz zu knabbern. Und nun kam der Irre Herzog daher und lud uns als Gäste nach Tremontaine ein. Meiner Mutter schien das Sorgen zu bereiten, aber ich wusste, die Einladung konnte nur eins bedeuten: das Ende des Prozesses, der entsetzlichen Briefe. Bestimmt wäre dann alles vergeben und vergessen. Wir konnten in die Stadt gehen und endlich unseren standesgemäßen Platz unter den Adeligen einnehmen, mit Festen und Tanz und Musik und Juwelen und feinen Kleidern... Ich nahm Mutter in die Arme und drückte sie fest an mich. »Oh, Mama! Ich wusste doch, dass dir niemand lange Zeit böse sein kann. Ich freue mich so sehr für dich!« Aber sie schob mich von sich. »Freu dich nicht zu früh. Die ganze Sache ist absolut lächerlich. Kommt nicht infrage.« »Aber möchtest du denn nicht deinen Bruder wiedersehen? Wenn ich Greg oder Seb zwanzig Jahre lang nicht gesehen hätte, wäre ich zumindest neugierig.« »Ich weiß, wie Davey aussieht.« Sie zerknüllte das Taschentuch in der Hand. »Er hat sich nicht im Mindesten verändert. Mit meinen Eltern stritt er ständig...« Sie strich mir übers
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Haar. »Du weißt ja gar nicht, wie viel Glück du hast, Kätzchen, zu einer so liebevollen und netten Familie zu gehören! Ich weiß, Papa war manchmal vielleicht ein wenig hart, aber er hat sich stets um uns gekümmert. Und du und ich waren doch immer die besten Freundinnen, nicht wahr?« Ich nickte. »Bei Davey und mir war das genauso: Wir waren Freunde. Gute Freunde, wir gegen den Rest der Welt. Wir erfanden unsere eigenen Spiele und beschützten einander. Aber Kinder werden erwachsen, verstehst du? Man kann nicht ewig ein Kind bleiben. Als meine Eltern einen Ehemann für mich wählten, waren wir... Er war... Nun ja, Davey verstand einfach nicht, dass sich manche Dinge eben verändern.« »Er hasste Papa, nicht wahr?« »Er war damals ein Junge, was wusste er schon? Charles war ein Nachbar, nicht irgendein Fremder. Meine Eltern vertrauten ihm und wussten, dass er für mich sorgen würde. Natürlich vergoss ich ein paar Tränen, ich war noch jung und fürchtete mich davor, zum ersten Mal das Elternhaus zu verlassen. Aber mein Bruder... Nun, er konnte einfach nicht begreifen, dass man irgendwann gegenüber der Familie eine Pflicht zu erfüllen hat. Er hat es damals nicht begriffen, und er wird es auch niemals begreifen.« Sie würde das Taschentuch völlig ruinieren, aber ich wollte ihren Redefluss nicht unterbrechen. Offenbar waren in meiner Familie Dinge geschehen, von denen mir niemand jemals etwas erzählt hatte. »Und jetzt geht es wieder von vorne los!«, sagte sie weinend und zupfte am Saum des Taschentuchs, ohne sich dessen bewusst zu sein. »Gerade denken wir, dass es allmählich besser wird, und schon kommt er daher und macht alles wieder schlimmer, viel schlimmer, nur um seinen Spaß zu haben und uns zu schaden. Es ist immer dasselbe!« Sie begann, mit der Nadel heftig auf das Taschentuch ein-
5 zustechen. »Wieso?«, stieß ich hervor und hoffte, dass die Frage ihre Hände beruhigte, ohne ihren Wortfluss abzuwürgen. »Wieso ist es immer dasselbe?« »Die Herzogin«, antwortete meine Mutter schmallippig. Sie nahm mich nicht mehr wahr, das konnte ich erkennen, denn ihr Blick war in eine unbestimmte Vergangenheit vor meiner Geburt gerichtet, eine Zeit, in der alles schiefgelaufen war. »Unsere Großmutter, die edle Herzogin von Tremontaine. Die nicht einmal zu meiner Hochzeit kam und sich weigerte,
mit meiner Mutter auch nur ein Wort zu wechseln. Aber sie lud meinen Bruder in die Stadt ein, und er durfte bei ihr in Tremontaine House wohnen. Es war seine große Chance — unsere große Chance —, uns mit ihr wieder zu versöhnen und es selber zu etwas zu bringen. Und was machte er? Er lief davon.« »Wohin?« »Zur Universität.« Sie biss den Faden durch. »Mitten in der Stadt, direkt vor der edlen Nase der Herzogin. Mutter war außer sich. Gregory war gerade geboren, aber ich musste ihn hier allein zurücklassen und mit deinem Vater und ein paar Dienern in die Stadt reisen, um mich um sie zu kümmern. Du weißt doch noch, wie sie war.« Ich nickte; Großmutter Campion war wirklich ein Furcht erregender Drache gewesen. »Als wir dann wieder von ihm hörten, war er auch von der Universität weggelaufen. Angeblich wollte er irgendwo in ein heruntergekommenes Viertel ziehen. Wir waren überzeugt, dass er tot war. Aber er war nicht tot. Er brachte noch mehr Schande über uns, indem er sich mit einem notorischen Degenfechter einließ. Das kam alles erst heraus, als ihn die Herzogin endlich aufspürte. Ich glaube, er amüsierte sie, denn als sie ein paar Jahre später starb, hatte sie ihn zu ihrem Erben eingesetzt! Mutter schickte ihm damals einen langen Brief und auch ein paar Sachen, aber er schrieb nie zurück.« »Du solltest ihn besuchen«, drängte ich sie. »Wer weiß, vielleicht wird er weich und erinnert sich an seine Kindheit, als ihr beide die engsten Freunde wart!« »Katherine Samantha.« Ihr Blick kehrte aus der fernen Vergangenheit zurück und richtete sich direkt auf mein Gesicht. »Du hast nichts von dem verstanden, was ich dir sagen wollte. Er lädt nicht mich ein. Sondern dich.« »Mich? Aber... Aber... Warum?« Sie schüttelte den Kopf. »Ach, es ist zu lächerlich, um auch nur ein Wort darüber zu verlieren.« »Mutter.« Ich nahm ihre Hände in meine. »Du kannst nicht einfach so etwas sagen und dann erwarten, dass ich mit dem Löffelzählen weitermache, als wäre nichts geschehen. Unmöglich. Weshalb will er, dass ich ihn besuche?« »Er sagt, er will aus dir eine Degenfechterin machen.« Ich lachte. Nun ja, eigentlich war es eher ein Prusten Wenn ich etwas im Mund gehabt hätte, wäre es durchs ganze Zimmer gesprüht. Diese Art Lachen. »Wie auch immer«, fuhr Mutter fort. »Wenn du bei ihm lebst und dich im Degenfechten unterrichten lässt, wird er im Gegenzug nicht nur den Prozess einstellen, sondern auch unsere sämtlichen Schulden begleichen und — nun ja, er würde sich ganz allgemein ausgesprochen großzügig zeigen.« Ich begann zu verstehen, oder zumindest glaubte ich das. »Er will, dass ich in die Stadt ziehe. Dass ich in Tremontaine House wohne«, brachte ich atemlos hervor. »Um unser Glück zu machen.« »Aber das ist natürlich unmöglich.« »Aber Mama«, erwiderte ich, »was ist mit meiner Pflicht gegenüber meiner Familie?«
Kapitel 2
Ihr wisst doch mit Mädchen gar nichts anzufangen. Habt Ihr doch selbst gesagt.« In einem eleganten Zimmer im Haus des Irren Herzogs von Tremontaine lungerte eine dicke, unordentliche, junge Frau auf einer samtbezogenen Chaiselongue herum, eine Hand tief in einer Schale Sommererdbeeren. Auf der anderen Seite des Zimmers untersuchte der Irre Herzog die Rückseite des Kamins nach Rissen. »Völlig inkompetent, die Leute«, brummte er. »Würden nicht mal einen Holzwurm von einer Zecke im Arsch ihres Hundes unterscheiden können.« Sie Heß sich nicht vom Thema abbringen. »Mädchen könnten das auch nicht.« »Ich kann mit Mädchen tatsächlich nichts anfangen. Jedenfalls nicht so, und auf gar keinen Fall mit solchen, mit denen ich verwandt bin.« Er tauchte hinter dem Kamin auf, um kurz nach ihr zu schauen, aber als keine Reaktion kam, schob er den Kopf wieder in den Kaminschacht und fuhr fort: »Ihr solltet eigentlich dankbar sein. Als einzige respektable Frau in meiner Bekanntschaft seid Ihr auch die einzige Person, der ich meine Nichte anvertraue, damit Ihr sie zu Tanz und anderen Dingen begleiten könnt, wenn sie hier ist.«
Die unansehnliche Frau, die Flavia hieß, die aber von allen nur als Des Herzogs Hässliche Dame bezeichnet wurde, steckte eine große Erdbeere in den Mund, wischte ihre Finger am Samt der Chaiselongue ab und redete darum herum. »Jede adlige Frau, deren Mann Euch Geld schuldet, würde 7 höchst erfreut sein, Eure Nichte unter die Fittiche zu nehmen, und sei es nur, um Euch zu zeigen, wie man das richtig macht, und um Euch ein wenig Dankbarkeit einzuflößen.« Sie leckte sich den Saft von den Lippen. »Übrigens, was ich Euch noch fragen wollte: Warum redet Ihr eigentlich so viel, wenn die Hälfte davon doch nur Mist ist?« »Damit Eure Aufmerksamkeit nicht nachlässt«, antwortete er prompt. »Würde es Euch denn gefallen, wenn alles, was ich sage, plötzlich einen Sinn ergäbe? Das würde Euch doch nur verwirren.« Der Herzog wand seinen langen Körper aus dem Kamin heraus und hielt seiner fetten Freundin die Rüschenärmel unter die Nase. »Würdet Ihr die als schmutzig bezeichnen?« »Schmutzig ist nicht das Wort, das ich benutzen würde.« Sie starrte die spitzenbesetzten Ärmel an. »Das würde nämlich implizieren, dass unter dem Ruß so etwas wie weißes Leinen in seinem ursprünglichen Zustand existiert. Aber ich denke schon, dass hier eine alchemistische Umwandlung erfolgte.« »Endlich!« Er zupfte am Klingelzug. »Das werde ich dokumentieren müssen.« Seine Finger hinterließen schwarze Abdrücke auf dem bestickten Stoff. »Ihr werdet erstaunt sein zu hören, dass auch ich Fayerweather gelesen habe. Ihr habt wie immer sein Konzept des Originalzustands völlig missverstanden: Es hat nichts mit Alchemie zu tun.« »Habe ich denn Fayerweather zitiert?« »Nein. Ihr habt ihn ausgeweidet und seinen Kadaver den Schweinen vorgeworfen.« Die Klingel rief einen untersetzten Jungen herbei. Alles an ihm war mittelmäßig: Größe, Gewicht, Farbe und Lockenfall der Haare, Haut, Ohren, selbst seine Haltung, die irgendwo in der Mitte zwischen der Unbeholfenheit eines Jungen und der Kraft eines jungen Mannes lag. Seine Arme waren ein bisschen zu lang, aber das war auch alles. »Ist er nicht wunderbar?«, fragte der Herzog liebevoll. 7 Die Hässliche Dame warf dem Jungen eine Erdbeere zu, die er aber nicht auffangen konnte, der er aber auch nicht nachlief, um sie aufzuheben, als sie in eine Ecke des Raumes kullerte. »Mein Lieber«, sagte sie zum Herzog, »Ihr könntet Euch doch mit viel hübscherer Gesellschaft als der anwesenden Person umgeben.« »Das tu ich auch«, antwortete er. »Aber die neigen dazu, zu sehr von sich selbst überzeugt zu sein. Also jage ich sie davon. Immer und immer und immer wieder.« Er seufzte. »Marcus«, sagte er zu dem Jungen, »hol mir ein sauberes Hemd.« »Sofort, mein Lord.« Der Herzog zog das schmutzige Hemd über den Kopf. »Und lass das hier gleich mal untersuchen, ob an den Manschetten irgendeine alchemistische Umwandlung erfolgt ist.« »Sofort, mein...« Die Miene des Jungen veränderte sich, und er fing an zu lachen. »Meint Ihr das ernsthaft?« Der Herzog legte den Kopf schief. »Hm. Meine ich das ernsthaft? Bin nicht sicher. War ihr Einfall. Aber meine ich es?« Die Hässliche Dame rollte sich auf den Rücken und starrte die kunstvolle Stuckarbeit der Decke an, die sie wegen ihrer Kurzsichtigkeit allerdings nur verschwommen wahrnahm. »Ihr meint doch nie etwas.« Nachdem der Junge den Raum verlassen hatte, sagte sie billigend: »Er hat Verstand. Seltsam, dass Ihr das immer gleich erkennt.« »Gleich und Gleich gesellt sich gern.« Das war das Äußerste, was sich der Herzog als Kompliment abringen konnte, und sie war klug genug, es zu ignorieren. »Nun, Ihr habt ja schon daraufhin gewiesen, dass ich ihn wohl kaum wegen seiner Schönheit ausgewählt habe.« »Ich bin überrascht, dass Ihr ihn überhaupt ausgewählt habt. Ihm fehlt die Aura der Boshaftigkeit oder die der Unschuld. Und Ihr mögt doch die Extreme.« »In der Tat.« Der Herzog aß noch ein paar Erdbeeren, schließlich gehörten sie ihm. Er aß sie nacheinander, wie ein Mensch, der nicht an Überfluss gewohnt ist.
Die Hässliche Dame überprüfte, ob ihre Finger sauber abgeleckt und trocken waren, bevor sie ein Buch von einem Stapel auf dem Kaminsims nahm. Sie setzte sich ans Fenster, um die mathematische Abhandlung zu lesen, und achtete nicht weiter auf den Herzog, der sein neues Hemd erhielt und überzog, einen Informanten empfing und befragte — dem er keine Erdbeeren anbot —, eine kleine, aber sehr hässliche Lampe geschenkt bekam, die als Bestechung gedacht war, sich darüber lustig machte und sich schließlich wieder seiner Erkundung des Kamins zuwandte. Erst dann hob sie wieder den Kopf und verkündete: »Ich habe alle erdenklichen nachvollziehbaren Gründe erwogen und verworfen, warum Ihr Eure Nichte herkommen lassen wollt. Daraus ziehe ich den Schluss, dass Eure Gründe nicht nachvollziehbar sind.« »Aber natürlich nicht für mich.« Sie wartete eine angemessene Zeit lang, bevor sie nachgab und fragte: »Dürfte man sie vielleicht erfahren?« »Ich habe vor, aus ihr eine Degenfechterin zu machen.« Die Hässliche Dame knallte das Buch zu. »Das wär's dann wohl. Absolut idiotisch. Wahrscheinlich das Dümmste, das ich je von Euch gehört habe.« »Aber nicht doch.« Der Herzog konnte recht elegant wirken, wenn er wollte. Und jetzt wollte er. Er lehnte sich in seinem Hemd mit den weiten Ärmeln an den verzierten Kaminsims. »Ich brauche Schutz. Jemand, dem ich vertrauen kann. Natürlich habe ich eine Menge Wachpersonal eingestellt, aber ich muss sie dafür bezahlen. Und ich mag auch nicht ständig von Fremden umgeben sein.« »Ihr könntet doch ein paar hübsche Wächter einstellen. Die würden dann nicht lange Fremde bleiben müssen.« 8 »Das finde ich nicht besonders reizvoll«, gab der Herzog affektiert von sich. »Und doch muss ich ständig gegen Gefahren wie einen plötzlichen Degenstoß oder eine unwiderrufliche Herausforderung gewappnet sein. Es gibt so viele Leute, die sich einbilden, ihr Leben würde sich sofort auf wundersame Weise verbessern, wenn sie mich beseitigten. Ergo, wer könnte mich besser bewachen als ein Familienmitglied?« »Aber sicherlich habt Ihr doch auch Neffen?« »Ganze Heerscharen von Neffen. Und?« Die Hässliche Dame hatte offenbar nicht die Gewohnheit, mit Büchern zu werfen, stattdessen boxte sie wütend in ihr Kissen. »>Und< ist gut gesprochen. Ihr seid wohl nicht mehr zufrieden damit, Missgeburten um Euch zu versammeln, jetzt müsst Ihr sie auch noch selber kreieren!« Der Herzog versuchte erst gar nicht, sein selbstzufriedenes Lächeln zu verbergen. »Ich mache die Regeln nicht«, entgegnete er heuchlerisch. »Das ärgert mich, deshalb finde ich Befriedigung darin, die Regeln zu verletzen. Das Mädchen ist das jüngste Kind meiner Lieblingsschwester, die zufällig auch meine einzige Schwester ist. Ich werde dafür sorgen, dass sie ein angesehenes, nützliches Gewerbe erlernt und ausübt, für den Fall, dass das Familienvermögen eines Tages schwindet. Oder falls die Aussicht auf eine gute Partie, die der Ehrgeiz jeder adligen Tochter ist, entfleucht oder sich als unbefriedigend erweist. Ein angesehenes, nützliches Gewerbe... Für die älteren Brüder ist es bedauerlicherweise zu spät, irgendetwas zu erlernen. Und außerdem denke ich, dass ein Degenfechter in der Familie ausreichen müsste, meint Ihr nicht auch?« »Unfug«, antwortete sie, »nichts als reiner Unfug. Ihr müsst Eure Schwester wirklich zutiefst hassen.« Schon immer war mir klar gewesen, dass ich eines Tages in die Stadt gehen müsste, denn heutzutage muss man in die Stadt gehen, wenn man sein Glück machen will. Die jungen Män 8 ner gehen in die Stadt, um ihren Sitz im Rat der Lords einzunehmen und einflussreiche Leute kennen zu lernen. Mädchen gehen in die Stadt, um eine brillante Partie mit einem Mann von Vermögen und aus bester Familie zu machen. Wir hatten mühsam die Mittel zusammengekratzt, um meinen ältesten Bruder in die Stadt ziehen zu lassen, aber abgesehen vom Schreiben gelegentlicher Briefe, in denen er sich über das Essen, die Straßen, das Wetter und die Stadtmenschen beschwerte, schien Gregory keine besonderen
Aktivitäten zu entfalten. Das überraschte mich nicht sonderlich. Greg hatte es schon immer an Schneid gefehlt. Ich hingegen bin zwar nicht ausgesprochen hübsch, sehe aber recht nett aus, wenn ich mich ordentlich kleide, und die Nachbarn haben sich bei festlichen Gelegenheiten auch schon bewundernd über mein tänzerisches Geschick geäußert. Ich beherrsche die Tanzschritte, trete niemandem auf die Zehen und stoße nie mit anderen zusammen. Bevor der Brief meines Onkels eintraf, hatte ich meine Mutter oft zu ermutigen versucht, mich doch in die Stadt zu schicken, damit ich dort mein Glück mit einer guten Partie versuchen könnte. Aber so sehr ich auch bettelte und argumentierte, es endete immer mit denselben Worten, »Kitty, du bist noch zu jung«, was natürlich absolut lächerlich war, denn schließlich hatte sie selbst schon mit fünfzehn geheiratet. Und wenn ich zu erklären versuchte, dass eine glitzernde Saison in der Stadt eben doch etwas ganz anderes sei als eine Heirat mit irgendeinem Landjunker, den die eigene Mutter unter ein paar Nachbarfamilien ausfindig gemacht hatte, sagte sie immer: »Nun gut, aber welcher Mann würde dich schon nehmen, solange deine gesamte Mitgift durch einen Gerichtsstreit eingefroren bleibt?« »Ein ganz reicher natürlich, dem es völlig egal ist, wie es um meinen armseligen Besitz steht! Ich werde ihn verzaubern. Er wird mich wegen meines gewinnenden Wesens lie 9 ben. Und wegen meiner Familienbeziehungen. Ich habe doch gute Familienbeziehungen, oder nicht? Dein Bruder ist immer noch ein Herzog, auch wenn er verrückt und liederlich ist. Das zählt trotzdem, hast du doch selbst immer gesagt.« »Aber denke doch nur, wie viel stärker dein gewinnendes Wesen sein wird, wenn du erst einmal voll ausgewachsen bist, wenn du gertenschlank und elegant daherkommst, gekleidet in lange Gewänder mit echten Spitzen...« »Und einer Schleppe! Ich will unbedingt eine Schleppe haben, schon wegen der Treppen, nicht wahr, das muss doch so sein, Mama? Und einen Fächer aus Pfauenfedern und Schuhe mit glitzernden Schnallen und einen Samtumhang...« Das alles, so viel war mir klar, würde nötig sein, um die Herzen der Männer zu brechen. Wenn ich nur ein einziges Mal auf einer Treppe in einem Samtumhang erscheinen dürfte, würde ich die begehrteste Frau der Welt sein. Und jetzt sollte ich also in eines der prächtigsten Häuser der ganzen Stadt ziehen, auf Einladung des Herzogs von Tremontaine höchstpersönlich. Der Prozess würde eingestellt, meine Mitgift würde in der ursprünglichen Höhe an uns zurückerstattet werden, wenn nicht sogar in doppelter Höhe. Ich war sicher, dass das Haus des Herzogs eine Treppe hatte. So saß ich denn mit hohen Erwartungen in der Kutsche und jagte auf die Stadt zu. In dem Brief waren alle möglichen bizarren Regeln festgelegt, an die ich mich strikt zu halten hatte, sobald ich ankam. Dazu gehörte, dass ich meiner Familie sechs Monate lang nicht schreiben und auch keine Briefe von ihr empfangen durfte, aber das war schließlich keine Ewigkeit. Ich hatte keinerlei Zweifel, dass ich das Richtige tat und dass alles gut ausgehen würde. Mein Onkel mochte sich mit dem Rest der Familie gestritten haben, aber mich kannte er noch gar nicht. Natürlich würde ich erst seine Achtung erringen müssen, deshalb hatte er diese Regeln aufgestellt. Ich sollte einer Reihe von Prüfungen unterworfen wer9 den — Mut, Ausdauer, Treue und andere Tugenden. Wenn ich mich dann als würdig erwiesen hatte, würde der Welt meine wahre Person offenbart, und ich würde den Lohn einheimsen können. Der Maskenball würde sich in eine Hochzeitsfeier verwandeln und der dumme Schwank in eine Romanze, in der ich die Heldin spielte. Erst Verkleidung, dann Enthüllung. So funktionierte die Sache eben. Wozu sollte die ganze Geschichte sonst gut sein? Das war zwar nicht unbedingt so, wie ich mir meine erste Fahrt in die Stadt vorgestellt hatte, aber wenigstens war ich jetzt auf dem Weg dorthin. Wenn mein irrer Onkel wollte, dass ich Degenfechten lernte, war das in Ordnung, solange ich dabei auch Bälle besuchen und heiratsfähige Männer kennen lernen konnte. Wichtig war nur eins: dass er mich einlud, mich seinem Haushalt anzuschließen. Der Herzog von Tremontaine wollte mich an seiner Seite sehen, und damit stand mir die Welt offen.
Kapítel 3
Ein Mädchen steigt aus einer Reisekutsche und betritt einen Hof, der bereits halb im Schatten liegt. Aber über ihr glitzern in den hohen Fenstern des Hauses die letzten goldenen Sonnenstrahlen. Sie trägt einen einfachen grauen Reisemantel aus Wolle. Als sie den Blick über die prächtige Fassade aus honigfarbenen Quadern und die vielen Fensterscheiben gleiten lässt, hebt sie einen Zipfel ihres Reisemantels wie ein Ballkleid an und dreht sich langsam um ihre eigene Achse. Mein Onkel, der Irre Herzog, betrachtete mich von oben bis unten. »Du bist nicht sehr groß«, bemerkte er. Hinter seinem Kopf konnte ich seinen Rücken sehen, der sich in dem konvexen Spiegel über dem Kaminsims spiegelte, sodass er den ganzen Raum zu schlucken schien. »Nein, Sir.« Es war ein herrliches Zimmer, gehalten in Weiß- und Blautönen mit kleinen Goldtupfern — sehr modern, sehr luftig, angefüllt mit Bildern an den Wänden und Kuriositäten, die auf kleinen Tischen lagen oder standen, Tische, die offenbar nur zu diesem Zweck aufgestellt worden waren. Hohe Glastüren führten in den Park, der sich am Fluss entlang erstreckte. Er sagte: »Das ist Tremontaine House. Es ist sehr elegant. Ich habe es von meiner Großmutter geerbt, der letzten Herzogin.« Doch als er sie erwähnte, verhärtete sich sein Gesicht und 10 zeigte Abscheu. Den Gesichtsausdruck kannte ich von vielen Abendessen meiner eigenen Familie. Uberhaupt kam mir das Gesicht meines Onkels sehr vertraut vor, als würde ich ihn schon mein ganzes Leben lang kennen. Eine Kopfneigung, eine Augenbewegung, die mir bekannt vorkam, und dann war es wieder verschwunden, und mir stand erneut der Furcht einflößende Fremde gegenüber. Er hatte das lange braune Haar meiner Mutter, das aber bei ihm sehr seltsam wirkte. Ich hatte gedacht, nur Studenten trügen ihr Haar lang. Er musste mal Student gewesen sein, aber das war doch sicherlich schon eine ganze Weile her. »Du brauchst dich nicht zum Abendessen umzuziehen«, sagte der Herzog. »Musst dich eigentlich überhaupt nur selten für irgendwas umziehen.« Seine Aufmerksamkeit schien zu verblassen, schien sich auf eine chinesische Porzellanstatue auf einem kleinen Tisch zu richten. Noch nie war ich so mühelos ignoriert worden; es war, als wäre ich plötzlich verschwunden, als könnte sich seine Aufmerksamkeit immer nur auf eine Sache richten. Er nahm das Porzellanstück in die Hand und hob es dicht vor die Augen, um die vergoldeten Schnörkel im Licht genau zu betrachten. »Ich habe aber hübsche Kleider mitgebracht«, erklärte ich. Der Mann hatte uns zwar fast zu Bettlern gemacht, aber er sollte nicht glauben, dass ich nicht ein ordentliches Kleid fürs Abendessen hätte. »Tatsächlich?«, fragte mein Onkel gleichgültig. »Warum?« »Warum«, echote ich. »Nun, um... um sie zu tragen.« Seine Aufmerksamkeit wandte sich wieder der Statue in seiner Hand zu. Der Herzog hatte sehr lange, feingliedrige Hände, genau die Art Hände, die ich mir immer gewünscht hatte, nur eben größer, und an den Fingern glitzerten edelsteinbesetzte Ringe: Jede seiner Hände trug ein Vermögen. Dieser gut gekleidete Mann mit dem schlechten Benehmen spielte in zahlreichen Familienlegenden das Ungeheuer, und er war 10 völlig anders als jeder andere Mensch, den ich je kennen gelernt hatte. Ich hatte keine Ahnung, was er als Nächstes tun würde, und ich musste mich ständig selbst daran erinnern, dass ich ihn nicht verärgern durfte. Der Wohlstand meiner Familie stand auf dem Spiel. Aber wie konnte ich ihn dazu bringen, mich zu mögen? Vielleicht sollte ich versuchen, bescheiden aufzutreten und meine mädchenhaften Tugenden herauszustellen. »Sie sind vielleicht nicht nach der neuesten Mode«, erklärte ich bescheiden, »aber ich könnte sie ein wenig auffrischen, wenn mir jemand zeigt, wie es gemacht wird. Ich kann nähen, aber Nähen ist nicht meine größte Stärke.« Endlich wandte er den Kopf in meine Richtung und schaute mich an. »Oh, darüber würde ich mir keine Sorgen machen. Kleider brauchst du hier ohnehin keine.« Na also!, dachte ich. Dann hatte ich mich doch nicht getäuscht: Der Herzog würde tief in seine Schatztruhen greifen und mir eine ganz neue Garderobe beschaffen. Ich erinnerte
mich, dass ich ein gut erzogenes Mädchen war, und sagte artig: »Danke. Das ist sehr großzügig von Euch.« Sein breiter Mund verzog sich zu einem halben Lächeln. »Wir werden sehen. Ich habe angeordnet, dass deine Ausbildung gleich morgen Früh beginnt. Du wirst eine Weile hier in Tremontaine House wohnen. Ich persönlich mag das Haus nicht. Deshalb wohne ich in Riverside House, wenn ich es mir nicht anders überlege. Ich habe für dich eine Kammerzofe eingestellt und einen Lehrer... und Bücher und anderes Zeug gibt es hier auch. Du wirst dich also nicht langweilen müssen.« Er brach ab und fügte dann kühl hinzu: »Und sollte dir jemand zu nahe treten, dann sagst du ihm einfach, dass ich das verboten hätte.« Und damit war ich für ihn wieder erledigt, das konnte ich seinem Gesicht ablesen. Er sank in seinen Sessel zurück. Wie konnte ich ihn mit meinem gewinnenden Wesen für 11 mich einnehmen, wenn er mich nicht einmal anschaute? Völlig nutzlos waren die hübschen kleinen Reden, die ich mir in der Kutsche Meile um Meile zurechtgelegt hatte. Ich starrte die elegante Gestalt an. Er wirkte nicht unbedingt unhöflich, denn in seinen Augen war ich einfach nicht anwesend. Der Herzog hatte elfenbeinfarbene Haut, langes braunes Haar, breite Augen mit schmalen Lidern und eine lange, ziemlich spitz zulaufende Nase. Und er war vollkommen real: Ich sah die feinen Fältchen an den Augen- und Mundwinkeln, hörte ihn atmen, fühlte sein Gewicht, wenn er sich bewegte. Und dennoch war er wie eine Traumgestalt. Mein Onkel — der Irre Herzog. Er blickte auf, offenbar überrascht, mich noch in dem Zimmer zu sehen. »Ich würde denken«, sagte er mit langsamer, affektierter Betonung, »dass du doch sicherlich jetzt in dein Gemach gehen möchtest...« Das war so ziemlich das Unerfreulichste, was ein Erwachsener jemals zu mir gesagt hatte, und spöttisch fuhr er fort: »... nach der langen Kutschenfahrt. Und nachdem du dich auch noch mit mir unterhalten musstest.« Ich riskierte ein Lächeln, für den Fall, dass er scherzte. Aber er lächelte nicht zurück. »Ich weiß nicht, wo es ist«, sagte ich schließlich. Er winkte nachlässig. »Ich auch nicht. Auf der Flussseite, denke ich. Riecht vielleicht ein bisschen im Sommer, aber die Aussicht ist schön.« Er streckte die Hand aus und fand tatsächlich den Klingelzug »Wie war doch noch gleich dein Name?« Wenn er nur einfach gleichgültig gewesen wäre, hätte ich spätestens jetzt die Beherrschung verloren. Dennoch sagte ich mit eisiger Stimme: »Campion. Wie Euer eigener. Mein voller Name lautet Katherine Samantha Campion Talbert.« Plötzlich sah er mich wieder an. Seine Augen waren grün, umrahmt von dunklen Wimpern. Zum ersten Mal zeigte sich 11 ein Anflug von Humor in seinem Gesicht. »Ich bin jetzt seit ungefähr fünfzehn Jahren der Herzog von Tremontaine«, sagte mein Onkel. »Weißt du, wie mein wirklicher Name lautet?« Es schien wichtig zu sein, dass ich das wusste. Als ob ich ihm damit beweisen könne, dass es mich wirklich gab. Wenn ich alle seine Namen richtig auf die Reihe kriegte, würde ich vielleicht einen Einblick in das gewinnen, was er wirklich wollte. Ich starrte ihn an und er mich, als hielten wir uns gegenseitig einen Spiegel vor. Ich fühlte plötzlich Neugierde, Furcht, Aufregung und wusste nicht, ob es meine eigenen oder seine Gefühle waren. »Ich kenne zwei Namen«, sagte ich. Meine Mutter hatte ihn immer nur Campion genannt. »Drei, wenn man Tremontaine dazuzählt. Ich kann meine Mutter nach dem Rest fragen.« »Nein, das kannst du nicht. Jedenfalls nicht in den nächsten sechs Monaten.« Der Herzog schwang sich im Sessel herum und hängte seine langen Beine über eine Armlehne, wie es Kinder tun, die sich mit einem Buch niederlassen. »Liest du denn deine Verträge nicht durch, bevor du sie unterschreibst?« »Ich durfte sie nicht unterschreiben. Ich bin noch nicht volljährig.« »Ach ja, natürlich. Deine Familie hat sich um all diese Dinge für dich gekümmert.« Er schwang sich wieder herum und schaute mich direkt an mit einem Gesichtsausdruck, der mir einen kalten Schauder über den Rücken jagte. »Hast du wenigstens die Bedingungen verstanden?«, wollte er wissen. »Hat sie sie dir überhaupt erklärt? Oder haben sie dich einfach wie ein Opferlamm hierher geschickt, um sich von mir freizukaufen?«
Ich wich seinem wütenden Blick nicht aus, obwohl es mir schwerfiel. »Ich kenne die Bedingungen«, gab ich zurück, »auch die Sache mit den sechs Monaten. Außerdem muss ich tun und lassen, was Ihr befiehlt, und die Kleider tragen, die Ihr 3i mir gebt. Natürlich haben sie mir alles erklärt. Ich bin schließlich keine dumme Ziege!« »Gut.« Zufrieden schwang er die Beine wieder über die Lehne. Ein sehr hübscher junger Mann mit kurzen blonden Locken und einer Stupsnase betrat den Raum. Er ging an mir vorbei, ohne mich eines Blickes zu würdigen, und beugte sich über den Sessel meines Onkels. Er neigte sich immer tiefer über ihn, und mein Onkel hob die Hand und legte sie ihm auf den Hinterkopf und zog ihn noch dichter zu sich herab. Es gab überhaupt keinen Zweifel, was dieser Kuss zu bedeuten hatte. Das war einer, wenn auch nur ein einziger der vielen Gründe, warum es sich nicht schickte, meinen Onkel, den Irren Herzog, zu kennen. Ich konnte den Blick nicht abwenden. Und ich sah den triumphierenden Blick, den mir der Junge zuwarf, als er den Kopf hob, um nach Luft zu schnappen. Er murmelte dem Herzog zu, sodass ich es hören musste: »Spielt Ihr zur Abwechslung mal mit einer Zofe herum?« Ich zupfte an meinem Kleid, um es zu glätten. Es war keineswegs aus sehr billigem Stoff genäht, auch wenn es recht schlicht sein mochte. Der Herzog schob sich im Sessel in eine halbwegs würdevolle Position. »Ich bin enttäuscht, Alcuin«, sagte er mit dieser unangenehm glatten Stimme, »dass dir die Ähnlichkeit nicht gleich aufgefallen ist. Das ist meine Nichte, das jüngste und liebste Kind meiner einzigen Schwester. Sie wird eine Weile hier wohnen, also solltest du besser einen höflichen Ton anschlagen, wenn du in ihrer Nähe bist, oder du wirst es bald nicht mehr sein.« »Ich bitte untertänigst um Vergebung«, sagte der schöne Alcuin. »Natürlich sehe ich es jetzt... eine gewisse, äh, grausame Linie um den Mund...« Ich musste mich zusammenreißen, um mir nicht über den
12 Mund zu wischen. Der Herzog sagte: »Alcuin, du bist wirklich nicht sehr helle. Du bist nur nett anzuschauen. Ich schlage vor, du zeigst dich von nun an nur von deiner besten Seite.« Der Schönling schlug die Augen wie eine Jungfrau nieder. »Gewiss, Sir, wie es Euch beliebt. Werdet Ihr auch beim Kartenspiel mein Meister sein wie bei anderen Dingen?« »Immer«, antwortete der Herzog trocken, »und damit tu ich dir einen Gefallen.« Und sie küssten sich erneut. Ich ging zur Wand und riss selber an dem Klingelzug. Wen immer die Klingel herbeirufen mochte, konnte jedenfalls nicht schlimmer sein als Alcuin. Wie ein Schatten glitt ein Junge in den Raum. Er nickte mir zu, wandte sich aber an den immer noch beschäftigten Herzog. »Mylord, Fleming bat mich, Euch daran zu erinnern, dass Eure Gäste in zwei Stunden eintreffen werden, und wollt Ihr wirklich den blauen Samt tragen, wenn es so warm ist?« Mein Onkel entflocht sich aus Alcuins Armen. »Gäste? Welche Gäste?« »Ich wusste, dass Euer Gnaden das fragen würde«, antwortete der Junge mit völligem Gleichmut. Ich hätte beinahe aufgelacht, und ich glaube, ihm ging es genau so. »Ihr habt den Dichter Almaviva eingeladen. Er soll heute Abend sein neuestes Werk vorlesen. Und Ihr habt eine Menge Leute eingeladen, die Poesie nicht ausstehen können, und ein paar, die Poesie mögen. Es dürfte kein sehr fairer Kampf werden.« »Oh.« Mein Onkel wandte sich zu mir um. »Mögt Ihr Poesie, Lady Katherine?« »Manche Gedichte«, brachte ich hervor. »Dann müsst Ihr die Reihen der Gläubigen verstärken. Könnt Ihr trinken?« »Wie bitte?« »Könnt Ihr ein gehöriges Quantum Wein vertragen, ohne sich wie eine Idiotin aufzuführen?« »Gewiss«, log ich. 12 »Gut. Nehmt jetzt ein Bad und so weiter. Ihr braucht Euch nicht zu beeilen. Es wird Stunden dauern, bis sie alle hier sind und wir endlich essen können.« Er wandte sich an den Jungen: »Marcus, hat sich Betty bereits blicken lassen?« »O ja. Sie ist in der Küche und übt den Hofknicks.«
»Den kann sie auch hier oben üben.« Zu mir sagte er: »Ich nehme an, Euer Gemach wird das Zimmer sein, in dem Euer Gepäck steht, wo auch immer das sein mag. Irgendjemand wird es schon wissen.« Betty übte den Hofknicks. Es war ein entsetzlicher Anblick. Sie brachte zwar die einzelnen Bewegungen in die richtige Abfolge, aber eine einzige, fließende Bewegung daraus zu machen, überstieg ihre Fähigkeiten. Sie hob auf beiden Seiten den Rock an. Beugte die Knie. Kam dabei dem Boden gefährlich nahe. Das Ganze noch mal. Und noch mal. Und noch mal, aber es wirkte nicht überzeugend. Sie war klein und dick und von mittlerem Alter, und im Augenblick war sie rot vor Verlegenheit und erinnerte an Himbeerwackelpudding, der jeden Moment in sich zusammenstürzen konnte. »Mylady«, stotterte sie, »vergebt mir... Es gibt dafür eine richtige Methode, das weiß ich genau, und ich werde sie schon noch lernen, wenn ich nur weiter übe, bis ich es so kann, wie es Euch gefällt...« »Danke«, sagte ich, wobei ich es vor Ungeduld kaum noch aushielt, »danke.« Aber sie redete einfach weiter: »Ihr werdet dieses Mal mit mir zufrieden sein, Mylady, und mit dem Master wird es keine Schwierigkeiten geben, nicht dieses Mal und nicht mit diesem Master, Gott segne seine Stiefel...« Ich gab auf und sagte einfach: »Bitte! Würdest du mich nun endlich zu meinem Zimmer führen?« »Natürlich«, keuchte sie, vor lauter Hofknicksen fast ohnmächtig, »dafür bin ich doch da, nicht wahr?« Ich gab ihr mei 13 nen Umhang, in der Hoffnung, dass sie sich ein wenig beruhigen würde. »Zu Diensten«, sagte sie, »zu Diensten, Mylady.« Sie machte nicht den Eindruck, als könnte sie mehr als nur den Reisemantel tragen. Ich trug meine anderen kleineren Gepäckstücke selbst. »Mein Zimmer!«, wiederholte ich. »Bitte!« »Ja, nun, das hier ist ein ziemlich großes Haus, nicht wahr? So viele Türen! Man weiß manchmal wirklich nicht, wo man ist... Ganz anders als Riverside House, obwohl das auch ein großes Haus ist, aber irgendwie anders. Hier sieht alles gleich aus...« Mich verließ fast der Mut, als ich ihr die breite Treppe hinauffolgte. Es war eigentlich genau meine Traumtreppe, aber ich war zu sehr mit Betty beschäftigt, um das zu bemerken. Die arme Frau, dachte ich, sie versucht ständig, einen guten Eindruck zu machen, und ist doch dafür überhaupt nicht ausgestattet! Ich empfand Mitgefühl mit ihr, besonders nach allem, was ich gerade selbst durchgemacht hatte. »Also, ich bin ziemlich sicher, dass es hier langgeht«, sagte sie erneut, als wir zum dritten Mal durch denselben Flur kamen. Endlich entdeckten wir eine offen stehende Tür, und sie führte in das richtige Zimmer. Meine Reisetruhen standen in einer Ecke, und in der ganzen Pracht, die mein Zimmer in Tremontaine House bot, sahen sie besonders schäbig aus. Es gab ein riesiges Bett mit hauchdünnen Vorhängen, genau richtig für diese Jahreszeit, ein bemalter Kleiderschrank, der sich perfekt von den blassgelben Wänden abhob, hübsch gerahmte Bilder, geschmackvolle Blumenvasen — und das Ganze spiegelte sich in einem mit goldenen Schnörkeln verzierten Spiegel, der über dem Marmorkaminsims hing. Betty schaute sich im Zimmer um, dann schaute sie mich an und unternahm einen weiteren Hofknicksversuch. Sie fiel auf den Hintern. Als ich mich niederbeugte, um ihr auf die Beine zu helfen, entdeckte ich, dass mein Mitgefühl unange
13 bracht gewesen war. Aus ihrem Mund kam eine Fahne wie von einem Kutscher am Zahltag. Das brachte das Fass zum Überlaufen. Mein steinreicher Onkel hatte eine Säuferin für mich angeheuert, eine Schlampe von was weiß ich woher - und sie sollte die erste Kammerzofe meines Lebens werden! Ich bückte in ihr rotes Gesicht, auf ihren plappernden Mund, schaute auf meine Truhen und Taschen, sah das alles im Spiegel - wo ich auch meinen eigenen erschrockenen Gesichtsausdruck und mein vom Fahrtwind zerzaustes Haar erblickte — und brach in Tränen aus.
»Aber nicht doch, Mylady.« Dieses Geschöpf legte tatsächlich die Arme um mich. »Es wird schon werden.« Ich wehrte mich nicht dagegen, sondern heulte mir an der warmen Brust der Säuferin das Herz aus dem Leib. Mein Zimmer blickte tatsächlich zum Fluss hinaus und auf die Hügel jenseits des Tales, wo gerade die Sonne unterging. Am Morgen war ich in einem fremden Gasthaus auf dem Weg in die Stadt aufgewacht, umgeben von Fremden. Wie lange dieser Tag doch gewesen war! Ich lehnte mich so weit wie möglich über die Balkonbalustrade — meine Balkonbalustrade! — und berauschte mich förmlich an der Aussicht. Mein Zimmer zuhause bot eine schönere Aussicht auf eine sanft gewellte, weite Hügellandschaft als dieses neue Gemach. In diesen Hügeln hier konnte sich wohl niemand verlaufen, und der Spaziergang am Fluss entlang würde niemanden ermüden. Und dennoch wirkte alles sehr aufregend. Unter mir erstreckte sich ein schattiger Garten, der Hecken und Statuen und Wege vermuten ließ, in dem man sich vielleicht tatsächlich verirren konnte. Ich genoss es zu beobachten, wie alles blau wurde und wie die Sterne aufleuchteten. Mein riesiges weißes Bett schien im eigenen Licht zu leuchten. Ich ließ mich in den daunenweichen Überfluss sinken, 14 nur für einen kurzen Augenblick - und wachte in völliger Dunkelheit wieder auf. Jemand hämmerte an meine Tür, und vom Flur waren Schritte und Gelächter zu hören. Inzwischen war ich hellwach. Ich zog ein Überkleid über mein zerknittertes Hemd und spähte in den Flur. In der Zugluft flatterte eine Kerze auf ihrem Halter. Ein Mann und eine Frau rannten flüsternd und lachend den Flur entlang auf das Kerzenlicht zu, und ihre tintenfarbenen Schatten folgten ihnen über den Flurteppich. Ich drehte den Kopf in die andere Richtung, zur Treppe hin, von wo der größte Lärm zu kommen schien. Gelächter und Rufe ertönten, und die Klänge von Saiteninstrumenten flössen bemerkenswert gelassen zwischen den Feiernden dahin. Das Fest war offenbar an seinem Höhepunkt angelangt. • Ich hatte keine Ahnung, wo Betty war oder wie ich sie dazu bringen konnte, mir beim Ankleiden zu helfen. Ich zündete eine Kerze an und wählte ein grünes Überkleid aus, das schon in der Vergangenheit gewisse Mängel hatte ausgleichen müssen. Dann band ich mein Haar auf, kämmte es und steckte es mit ein paar Nadeln zu einem Knoten hoch. Schließlich legte ich meine Korallenkette um den Hals. Meine taubenblauen Schuhe waren nirgends zu finden, also musste ich die apfelgrünen anziehen, obwohl sie nicht zur Farbe des Kleides passten. Aber ich hatte bereits festgestellt, dass in einer großen Menschenmenge niemand auf die Füße anderer Leute achtet. Mein Aufzug war in Ordnung, solange ich unbemerkt die Treppe hinuntergelangte. Ich blieb auf dem Treppenabsatz kurz stehen, um das Geschehen unten zu überblicken. Die Gäste waren über die große Halle verteilt; auf den schwarz-weiß karierten Marmorplatten wirkten sie wie schlecht arrangierte Spielfiguren. Die Menschen waren offenbar aus den überquellenden Empfangsräumen hinter den Doppeltüren hierher geflohen. Ich gab mein Bestes, unauffällig die Treppe hinunterzuglei 14 ten. Ich war entsetzlich hungrig; vielleicht gab es hinter den Türen irgendetwas zu essen. Die Gäste sahen stattlich aus — auffällig und geschmacklos, würde meine Mutter sagen. Sie waren in reiche Stoffe gekleidet, trugen Juwelen und Spitzen und Rüschen. Zwischen ihnen hüpfte eine gefärbte Straußenfeder, die sich elegant über einem schlanken, dunklen Kopf wölbte und fast wie ein kleiner Hut wirkte. Der Kopf wandte sich zu mir um, und plötzlich schaute ich einem Mädchen in meinem eigenen Alter direkt in die Augen. Sie stürzte sofort auf mich zu und griff nach meinen Händen. »Ist das hier nicht einfach himmlisch?«, sagte sie. Ihre Wangen waren rosig angehaucht, und die blauen Augen glitzerten. Sie trug ein sehr hübsches Paar Perlenohrringe. »Ich bin eben erst angekommen. Heute. Vom Land.« »Und schon wirst du zu sämtlichen verruchten Festen eingeladen! Aber ich habe sofort bemerkt, dass du ganz, ganz brav bist. Ich kann immer alle Leute sofort durchschauen. Aber hast du nicht ein klein wenig Angst, hier zu sein?« Sie schauderte ein wenig theatralisch. »Natürlich hatte die alte Herzogin einen exquisiten Geschmack, und das ist auch der Grund, warum ich unbedingt herkommen wollte. Ich musste einfach das Haus sehen, weißt du? Obwohl die Feste des Herzogs es allein schon wert sind, jedenfalls die in Tremontaine
House, nicht die im anderen Haus. Dorthin würden wir nämlich niemals gehen, auf keinen Fall.« Meine neue Freundin strahlte den ganzen Raum an. »Ist es nicht einfach himmlisch?« Ich konnte eigentlich nicht viel sehen, es waren zu viele Menschen im Raum. Aber ich bemerkte ein hübsches Paar diamantenbesetzter Schuhschnallen, die an den Füßen eines der Gäste aufblitzten. Vielleicht waren es auch nur Strasssteine, ich war mir nicht sicher. Jedenfalls wünschte ich, ich hätte selbst so ein Paar. »O ja!«, hauchte ich. Sie legte einen Arm um meine Taille. »Ich weiß schon jetzt, 15 dass wir die besten Freundinnen werden. Wo ist dein Begleiter? Ich bin mit meinem Bruder Robert hier, aber die Wahrheit ist«, sie zog mich ein wenig näher an sich heran, »dass ich ihn dazu gezwungen habe. Er wollte nicht mitkommen. Behauptete, das sei kein Haus für ein Mädchen wie mich. Aber ich sagte ihm, wenn er mich nicht hierher begleitete, würde ich meinen Eltern den wahren Grund verraten, warum er einen Vorschuss auf sein Taschengeld braucht. Er hatte ihnen nämlich erklärt, er habe einem armen Freund Geld geliehen, der es dringend gebraucht habe — sie ermuntern uns nämlich immer, großzügig zu sein —, aber ich weiß, dass er es vollständig für ein Duell brauchte, bei dem es um Lavinia Perry ging. Und das ist nun wirklich dumm, denn sie ist fast so etwas wie eine Cousine. Ich würde mich niemals in einen Cousin verlieben, du doch auch nicht, oder?« »O nein!« Ich war gerade mal ein paar Stunden in der Stadt, und schon hatte ich eine Freundin gefunden — ein Mädchen, deren Bruder Degenfechter anheuerte und das mich bewunderte, weil ich an gefährlichen Festen teilnahm. Ihr Arm lag immer noch um meine Taille, und ich fühlte mich sehr glücklich. Meine neue Freundin war kleiner als ich, sodass ihre Straußenfeder mich an der Wange kitzelte. »Und du kommst also direkt vom Land. Das muss dir doch sehr seltsam vorkommen, obwohl man es nicht bemerken würde, denn du hast eine natürliche Anmut. Und du wirst selbstverständlich zu allen Tänzen gehen. Ich weiß, dass ich dich dort wiedersehen werde. Wir werden viel Spaß haben, wenn wir zusammen unsere Verehrer aussuchen!« Währenddessen hatte sie mich aus dem Gedränge und in eine Ecke gezogen, wo wir uns in Ruhe unterhalten konnten. »Weißt du, ich habe bereits Blumen von einem Bewunderer bekommen.« Ich griff nach ihrem Arm. »Oh, von wem? Ist er hier?« 15 »Nein, er ist nicht hier, das hier gehört nicht zu den Häusern, in denen er sich blicken lassen würde. Er wird mich wahrscheinlich furchtbar ausschimpfen, wenn er es erfährt.« Sie warf den Kopf zurück, offenbar sehr zufrieden mit sich selbst. »Aber nächste Woche... Wirst du zum Ball der Godwins kommen?« »Ich... Ich weiß nicht. Ich glaube nicht, dass wir schon eingeladen wurden.« Meine elegante Freundin meinte: »Aber ich bin mir sicher, dass Lydia Godwin sofort für dich schwärmen würde, wenn sie dich nur so kennen würde wie ich! Ich werde mit ihr reden. Sie ist eine sehr gute Freundin. Vielleicht kommst du zu unserem Fest? Mit deinem Bruder? Oder war es dein Cousin?« »Cousin?« »Mit deinem Begleiter, der dich hierher geführt hat.« »Oh. Das ist... mein Onkel.« »Oh.« Sie runzelte kurz die Stirn, was sehr hübsch aussah. »Aber sicher nicht einer von diesen langweiligen alten Ehemännern, die nur auf Feierlichkeiten gehen, um Karten zu spielen?« »Nein, ich — ich glaube nicht, dass er verheiratet ist. Ah, ich meine, nein, er ist nicht verheiratet. Er ist sehr vornehm.« »Vielleicht kannst du mich mit ihm bekannt machen.« Sie schob sich ein wenig von mir weg und holte eine kleine bedruckte Karte aus ihrem perlenbesetzten Pompadour. »Du musst mich unbedingt morgen besuchen.« Sie lachte glücklich und wies auf die Gäste. »Aber natürlich nicht zu früh!« Ich hatte keine Ahnung, wie spät es war. Bestimmt schon kurz vor Mitternacht. Von den Feiernden würde sicherlich niemand früh aufstehen. Ich steckte die Karte ein. »Ich werde kommen, wenn es dir keine Umstände macht«, sagte ich schüchtern, wobei ich mir bereits die kleine Katastrophe vorstellte, sollte niemand zu
16 hause sein. Aber sie drückte nur meine Hand. »Ja, du musst unbedingt kommen! Dann lernst du meinen Bruder Robert in einer anständigen Umgebung kennen, und vielleicht kannst du ihm sogar den Kopf verdrehen, weg von dieser Perry!« War das alles, was nötig war, um einen Verehrer kennen zu lernen — einfach nur, indem man den Brüdern von Freundinnen begegnete? Die Sache würde leichter werden, als ich gedacht hatte! Ich sagte: »Ich habe noch keine Karte. Zuhause brauchen wir so etwas nicht, dort kennen sich alle. Aber vielleicht darf ich mich vorstellen...« »Nein, lass mich das tun. Das ist viel ehrbarer«, verkündete eine Stimme von oben. »Das ist meine Nichte, Lady Katherine Samantha Campion Talbert.« Meine Freundin erbleichte und starrte über meinen Kopf den groß gewachsenen Herzog an, der ganz in Schwarz gekleidet war. Neben ihm wirkten all die rosa, silbernen, himmelblauen und türkisfarbenen Kleider im Raum wie eine Packung Pralinen. Selbst die köstliche Feder meiner Freundin sah plötzlich verdorben aus. Der Herzog fuhr fort: »Und Ihr seid eine Fitz-Levi. Ich seh's an der Nase.« Sie sank in einen sehr lieblichen Hofknicks, wobei sie den Kopf tief senkte, um ihre brennenden Wangen zu verbergen. »Euer Gnaden.« Mein Onkel betrachtete die Feder von oben. »Fitz-Levi... hm... kann mich nicht erinnern, Euch eingeladen zu haben. Aber Marcus wird es schon wissen.« Er ließ den Blick durch den Raum schweifen, wahrscheinlich suchte er den Knaben Marcus. Nach allem, was ich am Nachmittag mitbekommen hatte, hatte sich der Herzog nicht einmal daran erinnern können, dass er überhaupt jemanden eingeladen hatte. Aber das konnte ich ihr im Moment nicht sagen. Sie warf mir einen gehetzten Blick zu, drückte noch ein Mal meine Hand und ergriff die Flucht. Als mein Onkel wieder nach unten blickte, war sie verschwunden. 4i Er schaute mich neugierig an, als hätte ich sie mit einem Zaubertrick verschwinden lassen. »Was ist passiert?« »Ihr habt sie verängstigt«, erklärte ich ihm. Er zuckte mit den Schultern. »Nun gut. Aber wenigstens seid Ihr noch hier. Holen wir uns etwas zu essen. Seid Ihr hungrig?« Ich war praktisch am Verhungern. »Ja, bitte. Aber warum habt Ihr das gesagt, das mit der Nase?« »Was ist mit ihrer Nase?« »Ihr habt gesagt, sie sei hässlich.« »Hab ich das gesagt?« Er überlegte einen Augenblick. »Dann werde ich es wohl gesagt haben. Und werde mich wohl entschuldigen müssen. Werde Marcus sagen, er soll ihr ein paar Blumen schicken.« »Bitte nicht!«, rief ich schnell. »Damit würdet Ihr sie in Schwierigkeiten bringen.« Er betrachtete mich mit sehr viel Neugierde. »Was würde Euch das ausmachen?« Währenddessen hatte er mich aus dem Saal in ein Nebenzimmer geführt, wo Tische voller Speisen und Getränke standen. »Übrigens«, bemerkte er geistesabwesend, »passen Eure Schuhe nicht zum Kleid.« Er reichte mir einen Teller, auf den er Erdbeeren, Bonbons, geräucherten Fisch und Spargel gehäuft hatte. »Ah!«, sagte er. »Endlich jemand, mit dem man sprechen kann.« Der Herzog schaute höchst erfreut einer großen, hässlichen Frau entgegen, die quer durch das Zimmer auf ihn zukam. Ihre Haut wirkte teigig, das Haar war so ungleichmäßig frisiert wie schlecht geschnittenes Stroh und hatte auch ungefähr dieselbe Farbe und Beschaffenheit. Ihr Alter war schwer zu schätzen — älter als ich und jünger als der Herzog, riet ich. 16 Unter dem formlosen Kleid war ein großer, dicker, konturloser Körper zu vermuten. Sie konnte kein Dienstmädchen sein. Jede Zofe würde sich mit ihrer Erscheinung mehr Mühe geben. Meine Freundin mit der hübschen Feder hatte er verschreckt; diese trollähnliche Gestalt lächelte er warmherzig an. Die Krähenfüße an seinen Augenwinkeln wurden sichtbar, und das ist ein Zeichen, an dem man erkennen kann, ob jemand wirklich lächelt oder nur die Lippen verzieht. Die hässliche Frau trampelte auf uns zu. »Ist sie das, die Nichte?«
»Das ist Lady Katherine. Sie ist nicht sehr groß, aber ich denke, sie wird schon noch wachsen.« »Wie geht es Ihnen?«, erkundigte ich mich höflich, ein Versuch, mir in dieser Situation meinen rechtmäßigen Platz zurückzuerobern. »Hallo«, antwortete sie. Dann nickte sie in Richtung des Saals. »Was haltet Ihr davon?« Das war keine Frage, die ich oder sonst jemand hätte beantworten können. Aber das schien ihr nicht klar zu sein. Ich ging auf Sicherheit und rettete mich mit einem Gemeinplatz. »Es ist sehr nett hier.« »Oh.« Die dicke Frau nickte, als hätte ich ihr damit schon alles über mich gesagt, was sie wissen wollte. Sie griff sich ein Bonbon von meinem Teller und biss es in zwei Hälften. »Igitt«, sagte sie angeekelt, »Pfefferminz.« Sie wollte die andere Hälfte schon auf meinen Teller fallen lassen, doch dann wurde ihr im letzten Augenblick die peinliche Situation klar, und sie schaute sich nach einer Gelegenheit um, das Bonbonstückchen loszuwerden. Mein Onkel beobachtete sie, offenbar völlig gebannt, aber er kam ihr nicht zu Hilfe. Mir wurde plötzlich bewusst, dass ich sie mit derselben Faszination beobachtete wie er. Das gehörte sich nicht. »Wie waren die Gedichte?«, fragte ich. »Brillant.« — »Grauenhaft«, sagten beide gleichzeitig. 17 »Hängt von der Perspektive des Zuhörers ab.« »Hängt von der Intelligenz des Zuhörers ab.« »Selbst der aufmerksamste Verstand hätte in dieser Plapperei nichts finden können, um sich daran festzuhalten.« »Wie? Interessiert Euch denn die Ausdruckskraft der Seele überhaupt nicht?« »In der Tat. Sie interessiert mich nicht.« Ich wünschte, ich hätte die Gedichte nicht verpasst. Seit ungefähr einem Jahr hatte ich ziemlich viel über meine Seele nachgedacht. »Man fragt sich dann aber«, sagte der Herzog zu ihr, »warum Ihr überhaupt hierher gekommen seid, da Ihr doch Poesie nicht mögt und auch nicht wisst, wie man sich für ein Fest kleidet.« »Ich komme natürlich nur wegen des Essens. Hier.« Sie hielt die offene Hand hoch, auf der immer noch die zerdrückte und klebrige Bonbonhälfte lag. Ich konnte deutlich sehen, dass er überlegte, ob er es ihr abnehmen sollte oder nicht. Schließlich zog er ein sauberes Taschentuch aus dem Ärmel, fasste die Bonbonhälfte damit an, wickelte sie in das Tuch und wandte sich an einen gerade vorbeikommenden Gentleman, der, als er die Hand des Herzogs am Arm spürte, mit erfreuter Miene stehen blieb. »Furnival«, sagte der Herzog mit einem gewinnenden Lächeln, »dürfte ich Euch bitten, Euch für mich um diese Sache zu kümmern?« Er schaute nicht einmal nach, was der Mann damit machte. »Habt Ihr Marcus gesehen?«, fragte er seine hässliche Freundin. »Ja, im violetten Salon. Er musste ein paar Leute davon abbringen, an den Vorhängen hochzuklettern.« »Warum?« »Sie waren keine geübten Vorhangkletterer.« »Ach so.« 17 Ich sah, dass mein Onkel, der Irre Herzog, den Spargel auf meinem Teller ins Auge fasste. Bevor die beiden weitere Schneisen durch mein Abendessen schlagen konnten, griff ich selber nach dem grünen Stück und aß es, so gut es ohne Gabel ging. Mir wurde plötzlich klar, dass jetzt gar keine Spargelsaison war. Ich aß noch einen Spargel und merkte, dass meine Nervosität teilweise dem Hunger zuzuschreiben war. Ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, wann ich zuletzt etwas gegessen hatte; vielleicht ein wenig Brot während der Reise. Eine Vision überkam mich: ein Haus ohne Regeln, ohne reguläre Mahlzeiten, das nur zum Leben erwachte, wenn es voller Gäste war, ein Haus, dessen Bewohner die Welt der Feierlichkeiten nur bevölkerten, um überhaupt an etwas Essbares zu gelangen. Unmöglich — oder jedenfalls hoffte ich das. Aber noch schwerer fiel es, mir das Alltägliche vorzustellen: Wie wir uns zum Abendessen versammelten und über die Ereignisse des Tages plauderten, welche Herde auf welcher Wiese grasen sollte, welcher Raum gelüftet werden und welche Bediensteten ermahnt werden mussten — und schon wurde ich von grausamem Heimweh überfallen. Als hätte ich
etwas Verdorbenes gegessen, hätte ich in diesem Augenblick dieses ganze neue Leben liebend gern hochgewürgt und ausgespuckt, um wieder in mein altes Leben zurückzukehren. Hör schon auf, sagte ich mir streng. Ich durfte nicht weinen. Nicht hier, nicht jetzt und überhaupt nicht. Das war schließlich die Welt, die ich mir erträumt hatte: die Stadt, die Bälle, das Glitzern, die Galanten, die feinen Kleider und die erlesene Gesellschaft. Am Morgen würde ich mich schon besser fühlen. Der Irre Herzog war davon geschlendert, um jemand anderes unglücklich zu machen. Die hässliche Frau war hinter ihm davongesegelt, wie eine Möwe hinter einem Schiff, um sich auf jeden Brocken Amüsement zu stürzen, den er fallen Heß. 18 Ich lud meinen Teller erneut voll, machte mich in den Falten eines großen Vorhangs klein, aß mit großer Entschlossenheit, musste aber dann feststellen, dass ich zu müde war, um noch länger hier zu bleiben. Ich machte mich auf den Rückweg, stieg die breit geschwungene, eindrucksvolle Treppe hinauf. Meine neue Freundin war nirgends zu sehen. Wahrscheinlich hatte sie sich von ihrem Bruder Robert nach Hause bringen lassen. Ich spürte die kleine rechteckige Karte in meiner Tasche, beruhigend wie ein Talisman. Wie durch ein Wunder fand ich die Tür zu meinem Zimmer wieder. Der Lärm des Festes begleitete mich wie ein wild tosendes Meer.
Kapitel 4
A m nächsten Morgen gab es Kakao. Betty hatte sich anscheinend von den gestrigen Ex-
zessen erholt, und sie konnte auch nicht bei dem Fest mitgeholfen haben, denn das Tablett klapperte kaum, als sie es neben meinem Bett absetzte. Ein reicher, himmlischer Duft breitete sich im Zimmer aus. Ich setzte mich sofort auf und beschäftigte mich mit der kleinen Kanne Kakao, zu der auch eine ganze kleine Kanne heiße Sahne gehörte, und ich durfte so viel Zucker hineintun, wie ich mochte, und, oh, da war auch noch eine allerliebste kleine Porzellantasse, um alles anzumischen! Ich wünschte nur, meine Mutter wäre hier, um das ebenfalls genießen zu können. Langsam goss ich die Sahne in die Kanne und schaute zu, wie sie sich spiralenförmig mit dem Kakaopulver mischte. Die heiße Schokolade war die Wirren und Herabsetzungen des gestrigen Abends fast wert. Noch besser fühlte ich mich, als Betty verkündete: »Eure neuen Kleider sind eingetroffen.« Die Schokolade schmeckte wunderbar, und ich schluckte sie, so schnell es ging, hinunter, während ich mir sagte, dass es morgen bestimmt noch mehr davon geben würde und übermorgen und überübermorgen. Ich konnte es kaum erwarten, mich auf die in braunes Papier eingewickelten Pakete zu stürzen, die am Fuß des Bettes lagen. Die Schnüre knüpfte ich eigenhändig auf und legte sie sorgfältig beiseite, damit sie wieder verwendet werden konnten. Feines weißes Leinen, ein bisschen schwereres Blau, ein wenig Spitze, gut... 18 weder Samt noch Seide, aber vielleicht würde man mir die Ballkleider später anpassen. Ich nahm das blaue Kleidungsstück heraus: eine kurze, enge Leinenjacke. Kein Modestil, den ich kannte, möglicherweise war es eine Reitjacke? Dazu passend ein Hemd, nein, es war eine Hose. Eine Hose, die sich auf beiden Seiten zuknöpfen ließ und vorne einen Hosenlatz hatte. Ich runzelte die Stirn. »Bist du sicher, dass die Kleider für mich bestimmt sind?« »O ja, Mylady. Der Herzog hat sie liefern lassen.« »Aber es ist Herrenkleidung. Ich kann das nicht anziehen.« »Ach, keine Sorge.« Sie kicherte. »Ich hab schon so manchem jungen Burschen in und wieder aus solchen Kleidern geholfen, da könnt Ihr sicher sein. Ich werde Euch helfen, die Kleider richtig anzulegen.« »Aber ich kann diese Kleider nicht tragen!« »Und warum nicht, Liebes?« »Sie sind nicht... Sie haben doch...« Sie rollte Strümpfe auseinander, weiße Halstücher, die noch gebügelt werden mussten, Westen und Jacken mit schweren Knöpfen und Hemden mit weiten Ärmeln.
»Seht doch! Sie wurden genau für Eure Maße geschneidert, die dem Schneider vorher gegeben worden waren, meine Liebe. Sie werden Euch wie angegossen passen.« Ich konnte es kaum ertragen, die Kleider auch nur anzufassen. Nicht dass ich nicht schon Männerkleider in den Händen gehalten hatte; ich hatte oft genug die Kleider meiner Brüder geflickt. Aber diese hier waren für mich bestimmt. Ich sollte etwas anziehen, was normalerweise Männer trugen. Strümpfe, Halstücher, Westen, Jacken mit schweren Knöpfen und weiten Ärmeln - das war alles völlig falsch. So ruhig ich konnte, erklärte ich: »Das sind sehr nette Sachen. Aber ich werde sie heute nicht anziehen. Bitte nehmt 19 mein Kleid mit den blauen Blumen heraus und den gelben Unterrock...« »O nein, Mylady. Ihr sollt diese Kleider hier sofort anziehen und dann zu Eurem Unterricht gehen.« »Unterricht?«, fragte ich scharf, wobei mir Dinge wie Zeichnen und Rechnen durch den Kopf gingen, all der Unterricht, den ich zuhause gehabt hatte, bevor wir meiner Gouvernante kündigen mussten, aber ich glaubte nicht, dass Betty das meinte. »Ja, Unterricht. Ein richtiger Degenlehrer reist den ganzen langen Weg nach Tremontaine House, nur um Euch Unterricht zu erteilen.« Ich spürte, dass ich jetzt die Rechnung für unseren Teil des Geschäfts vorgelegt bekam. Der Gedanke daran zwängte mich stärker ein als jedes Halstuch oder jede Jacke mit schweren Knöpfen. »Aber nicht heute. Bestimmt doch nicht schon heute, jetzt noch nicht...« Aber natürlich schon heute. Er hatte es mir selbst gesagt. Ich gehörte jetzt dem Herzog, und damit hatte ich mich schon vor Wochen einverstanden erklärt. »Ich werde sie nur hier im Haus tragen«, sagte ich, »damit er seine Freude hat. Und für den Unterricht.« Aber das, versicherte ich mir, würde auch alles sein. Und so ließ ich es zu, dass sie mir das Hemd über den Kopf zog — sauberes, knisterndes Leinen, aus dem man die schönste Bluse hätte machen können! — und stieg in die Hose. Die Knöpfe schlossen den Latz, und das war alles, was zwischen mir und der Welt lag, und es gab nichts, worunter ich meine Beine vor den Bücken anderer Menschen verstecken konnte, ausgenommen die ein wenig darüber hängende kurze Jacke und die groben Strümpfe, die alles enthüllten, was sie verhüllen sollten. Die Jacke wurde eng zugeknöpft; sie war gut geschnitten, drückte meine Brüste flach und 19 zwängte meine Arme ein. Die Männerkleidung zwickte mich an Stellen, an denen ich nicht gezwickt werden wollte, zeigte mehr von mir, als ich sehen lassen wollte, und ergriff von mir mit seltsamen Verknotungen und lockeren Stellen Besitz. Und da stand ich nun da und zitterte wie ein junges Pferd nach dem Einreiten, während Betty hurtig die letzten Verschlüsse zuknöpfte. Ich wagte nicht, in den Spiegel zu blicken. Ich konnte es nicht ertragen, mich in etwas verwandelt zu sehen, das weder Junge noch Mädchen war. War es das, was mein Onkel wollte? Ich hoffte, dass er jetzt wenigstens zufrieden war! Betty zog ein blaues Samtband aus der Tasche und lächelte verschwörerisch, als wäre es ein Stück Buttercremetorte. Es war für mein Haar bestimmt, das in einen Zopf zusammengebunden werden sollte. Ich ließ sie gewähren, denn auch offen getragenes Haar hätte mich nicht in mein altes Selbst zurückverwandelt. »Jetzt seid Ihr bereit für den Unterricht. Ich bringe Euch zum Übungsraum, und bis Ihr wieder zurückkehrt, werde ich all Eure netten Sachen aufräumen und verstauen.« Ich hatte das Kleid, das ich auf dem Fest getragen hatte, über einen Stuhl gelegt. Bevor sie es an sich nehmen konnte, griff ich schnell in die Tasche, nahm die Karte meiner Freundin heraus und steckte sie in meine Jacke, ein kleines bisschen Trost direkt an meiner Brust. Keine meiner Bewegungen wurden von schwingenden Röcken begleitet. Ich hatte den Schutz voller Röcke, die Stütze des Fischbeinkorsetts eingebüßt. Es gab nichts, worin ich meine Hände verstecken konnte. Beim Gehen spürte ich die Luft an meinen Beinen. Mein Körper war fast vollständig mit Stoff bedeckt, dennoch fühlte ich mich nackt und entblößt. Jeder konnte mich anschauen und konnte fast alles von mir sehen! 19
Ein dunkelviolettes Cape lugte aus dem Packpapier hervor. Verzweifelt riss ich es heraus und warf es um die Schultern. Wenigstens bedeckte es meine Knie. »Nein, nein, Mylady, Ihr werdet nicht aus dem Haus gehen müssen. Seine Gnaden haben extra einen Raum umbauen lassen, nur als Übungszimmer für Euch!« Aber ich hielt das Cape fest um mich gewickelt. Und so machten wir uns auf den Weg durch die Flure von Tremontaine House, Betty wie immer unsicher, wohin wir gingen, während ich mir größte Mühe gab, in keinen Spiegel zu blicken. Das war nicht einfach. In den goldverzierten Korridoren hingen viele Rahmen, sie überraschten mich an den Wänden oder hinter den Ecken. Manchmal enthielten sie Gemälde, manchmal auch Glasscheiben, in denen sich Fenster, Treppen oder mein eigenes bleiches Gesicht spiegelten. Doch selbst wenn ich nicht hinsah, wusste ich: Ich war wie ein Mann gekleidet. Ich trug Männerkleidung. Die Reflektionen waren wie Männeraugen, wie Männerblicke, die mich berührten. Das Cape ging mir bis knapp unter die Knie, und wenn ich es losgelassen hätte, so wäre es sehr hübsch um meine Schultern geschwungen, denn es war gut und voll geschnitten. Aber ich hielt es eng geschlossen, wie eine Decke, die mich gegen die Kälte schützen sollte. Betty unterbrach ihr hektisches Geplapper keinen einzigen Augenblick, aber ich achtete kaum darauf: Wie dankbar sie dem Herzog doch sei, wie wenig sie ihre neue Stellung verdient habe und dass sie doch das eine oder andere über Damen wisse und sich nie mit ihren Männern einlassen würde, jetzt nicht mehr, o nein, nicht mal, wenn sie mit dem Schwert dazu gezwungen würde ... Endlich brach sie ab. »Dort ist es, die Flügeltür mit den nassen Kaninchen drauf.« Das war eine recht passende Beschreibung der kunstvoll ausgeführten Waldszene nach einem Sturm. Bevor sie die Tür aufmachen konnte, klopfte ich an. 5i »Ja!«, brüllte eine Männerstimme. »Beeilung!« Er stand mitten in dem riesigen, von der Sonne bestrahlten Raum. Ein kräftiger, muskulöser Mann, nur halb bekleidet, denn er trug nur eine Hose und ein Hemd mit weit geöffnetem Kragen. Er hatte einen schwarzen Vollbart mit einem struppigen Schnauzer. Ich hatte noch nie etwas Derartiges gesehen. »Wie? Wie?«, bellte er. »Ist dir kalt? Du trägst deine Bettdecke?« Mein Griff an den Umhangfalten lockerte sich. Ich ließ das Cape zu Boden fallen. Der Mann nickte mir knapp zu und dann in Richtung eines Gestells, in dem Degen steckten. »Nimm dir einen. Und dann zeige ich dir, wie du es falsch machst.« Die Stimme war fremdartig, und die Wörter klangen komisch, so wie er sie trillerte und in höchst unerwarteter Melodie hoch und tief ausstieß. »Komm! Los! Ich möchte nicht, dass man mich lässt warten! Ich habe viele Schüler, die um meinen Unterricht betteln! Ich muss ihnen sagen: >Nein, nein,Venturus ist nicht für dich, sondern nur für den Irren Herzog da. Sein kleiner Knabe weiß nicht, wie man einen Degen hält.«< »Ich bin kein Knabe«, sagte ich. Er schoss mir einen Blick zu. »Nein? Bist du ein Kaninchen? Hast du Fellpfoten? Nein? Dann nimm endlich einen Degen!« Ich zog den nächstbesten Degen aus dem Ständer. Er stand seitwärts von mir, eine Hand in die Hüfte gestützt. »Gut.« Er nickte. »O ja, sehr gut.« Das Lob wärmte mich ein wenig. »Sehr gut - wenn du Hähnchen schlachten willst!«, donnerte er. »Wie willst du dich denn verteidigen, wenn du deine Stellung ändern musst, ha?« Ich hatte keinen blassen Schimmer, wovon er redete. Und ich hatte zu große Angst, um ihm zu erklären, dass man ein 20 Messer niemals so halten würde, um ein Hähnchen zu schlachten. »Haltung, Standbein wechseln, neue Linie — veränderte Stellung der Spitze aus dem Handgelenk heraus!« Ich versuchte es, aber das Gewicht des Degens drückte auf die Hand, bis ich den Griff drehte. Nun konnte ich meine Finger besser bewegen und die Degenspitze besser ausrichten. Aber das würde ihm natürlich nicht gefallen. Ich starrte die Degenspitze an und weigerte mich, ihm ins Gesicht zu schauen.
»Ja«, sagte Venturus. »Jetzt hast du es gesehen. Du siehst, aber du merkst nichts!« Mit seinem eigenen Degen hieb er so hart gegen meine Klinge, dass mir der Schmerz durch den Arm zuckte. Mein Degen wirbelte durch die Luft. »Ha!«, schrie er triumphierend. Ich konnte nicht sehen, warum es für ihn einen Triumph bedeutete, einen Anfänger zu entwaffnen. »Du packst den Griff nicht so hart an wie die Brust von deiner Mama! Ganz sanft halten, sanft. Wie du einen Säugling hältst oder einen Hund, der beißt.« Ich gab mir Mühe, über den Vergleich nicht zu lachen. Als ich den Degen lockerer hielt, wurde er plötzlich in meiner Hand beweglich. »Ja-a-a«, zischte er zufrieden. »Siehst du?« Ich lächelte. Ich kam mir nicht mehr so töricht vor. Ich warf mich in die Pose eines Degenfechters. Venturus schrie auf, als hätte ich ihn getroffen. »Wa-a-as glaubst du, machst du mit deinen Beinen? Deinen Armen? Habe ich dir die Erlaubnis gegeben, so etwas zu tun? Ich nicht! Niemals! Kein Schüler von Venturus hat jemals so ausgesehen!« Er ahmte meine Pose nach, und es sah aus wie eine Lumpenpuppe an Drähten. Leise und verlegen sagte ich: »Tut mir leid.« Ich hasse es, wenn man sich über mich lustig macht. »Soll dir auch leid tun! Dummer Herzog-Knabe! Jetzt übst du, den Degen zu halten, nichts als halten! Du möchtest jetzt 21 jemanden töten, vielleicht möchtest du mich töten. Ja! Aber zuerst übst du, den Degen zu halten! Ha!« Der seltsame Fremdling warf sich einen Mantel über die Schultern. »Wohin geht Ihr?«, fragte ich. »Ich gehe zu einem anderen Schüler, einem, der mir zuhört. Vielleicht zeige ich dir morgen, wie du nicht stehen darfst. Ha!« Und mit wirbelndem Umgang verschwand er. Ich hielt den Degen. Selbst nachdem sich die Tür geschlossen hatte, war ich nicht sicher, ob Meister Venturus nicht plötzlich wieder erscheinen würde. Der Degen in meiner Hand sah solide und wie ein Handwerkszeug aus, wie ein Wellholz oder der Stiel einer Gartenharke. Doch dann ließ ich den Blick darüber gleiten und sah, wie schmal die Klinge war, wie sie glänzte. Sie hatte keinen anderen Zweck als Abwehr, Angriff und Tod. Ich fragte mich, was meine Mutter dazu sagen würde, aber ich fand keine Antwort. Zum ersten Mal im Leben wünschte ich mir, eine Nähnadel in der Hand zu halten statt eines Degens. Plötzlich erschien mir das winzige Folterinstrument so beruhigend und harmlos. Mein Arm schmerzte, egal wie ich den Degen drehte. Ich beschloss, die Waffe wegzustellen, in mein Zimmer zurückzukehren und mich wieder in jene Art von Mädchen zu verwandeln, das vielleicht gelegentlich die Haushälterin fragte, ob sie Hilfe beim Stopfen brauchte. Im Kleiderschrank hingen meine neuen Kleider sauber nebeneinander oder lagen sorgfältig gefaltet in den Schubladen. Ich suchte nach meinen alten Kleidern, fand sie aber nicht. Nicht in den Truhen. Nicht draußen zum Auslüften. Nichts war mir geblieben von all meinen Röcken, Miedern, Unterröcken und Strümpfen, die vor ein paar Tagen so sorgfältig ausgewählt, ausgebessert und eingepackt worden waren. Ich versuchte erst gar nicht, Betty zu finden. Ich wusste, 21 was geschehen war. Ich wusste es, und ich würde es nicht hinnehmen. Das war ein Wettstreit, den der Irre Herzog nicht gewinnen würde. Auf der Karte in meiner Tasche stand: ARTEMISIA FITZ-LEVI, BLACKBURN HOTJSE. Auf den Straßen würde ich mich in diesem lächerlichen Männeraufzug nur ein einziges Mal blicken lassen. Grimmig wickelte ich mich in meinen Mantel und verließ Tremontaine House, um meine Freundin zu besuchen. Es dauerte nicht lange, bis Lady Artemisia Fitz-Levi genug vom seltsamen Benehmen ihres neuen Schoßtiers hatte. Der Papagei war einfach ein bisschen zu gescheit. Sie hatte eher eine Art farbige, sprechende Puppe erwartet, nicht ein Wesen, das seinen eigenen Kopf hatte. Der Papagei bevorzugte Früchte statt Kuchen, Ohrläppchen statt Finger und bestand auf Samt als Bodenbelag des Käfigs. Außerdem mochte er Frauen lieber als Männer, und als
ihr Cousin Lucius Perry sie besuchen kam, griff er ihn an, und sie musste nach ihrer Zofe rufen, um den Vogel nach unten bringen zu lassen, wo er zweifellos das Hauspersonal mehr amüsierte als sie, obwohl man ihn nicht für diesen Zweck angeschafft hatte. »Du siehst schmuck aus«, sagte sie billigend zu ihrem Cousin Lucius. Artemisia war der Meinung, dass erst die richtige Menge an Spitze das Erscheinungsbild eines Mannes entscheidend vervollständigte. Aber natürlich hatte Lucius mit seiner schlanken Gestalt, dem dunklen Haar und den blauen Augen eine hervorragende Ausgangsbasis. »Und du siehst erschöpft aus.« Lord Lucius Perry hatte sich auf ihrem Fenstersitzplatz bequem ausgestreckt und blickte sehnsüchtig auf die zerbrechlichen Zimtwaffeln, die gerade noch in seiner Reichweite auf einem gleichermaßen zerbrechlich wirkenden, bemalten Tisch lagen. »Warst wohl aus und hast deine Schuhe zertanzt? Welcher Galant hat dieses Mal dein Auge gebannt?« 22 Sie konnte es kaum erwarten, ihm unter strengster Verschwiegenheit alles über das Fest des Herzogs gestern Abend zu erzählen, aber er wartete ihre Antwort nicht ab, sondern fuhr fort: »Und wo ist dein lasterhafter Bruder? Robert hat mir für heute einen kleinen Schlagabtausch beim Tennis versprochen. Ist er außer Haus, um seine Eroberungen der letzten Nacht zu hofieren, oder schläft er noch aus?« Artemisia lächelte ihn geduldig an. Er war ihr Cousin, also nicht sonderlich viel wert, und außerdem auch noch ein jüngerer Sohn. »Sehe ich wirklich so furchtbar aus, Lucius? Habe ich Ringe unter den Augen? Ich habe sie in Gurkenwasser gebadet, aber ich bin nicht sicher, ob das viel genützt hat. Vor allem möchte ich nicht, dass Mama erfährt, was ich gemacht habe«, deutete sie ganz allgemein an. Lucius tat nicht einmal so, als wäre er interessiert. »Aber doch nichts Furchtbares, hoffe ich. Du willst sicher nicht, dass man über dich zu reden anfängt, Artemisia, besonders jetzt nicht, da deine Aussichten dieses Jahr so gut sind.« »Natürlich nichts Furchtbares! Wofür hältst du mich denn? Du bist mir der Richtige, der mir eine Lektion erteilen könnte, Lucius, ausgerechnet du! Soweit ich weiß, hast du früher allen möglichen Unfug angestellt, wovon mir Mama nicht einmal erzählen will.« »Das war damals«, sagte er gedehnt. »Inzwischen habe ich mich gebessert.« »Nun gut, aber seither bist du ungewöhnlich langweilig geworden.« »Meinst du wirklich?« Er lächelte nur ganz leicht. Seine Augenlider flatterten, während er lässig einen Finger in Richtung Keksteller streckte, aber seine Cousine war unempfänglich für diese Form einer versteckten Anspielung. »Ehrlich, Lucius, du bist der faulste Mensch, den ich je kennen gelernt habe! Beug dich gefälligst vor und nimm dir selbst einen Keks, erwarte bloß nicht, dass ich aufstehe
22 und dir den Teller reiche, solange du so nahe an dem Tisch sitzt!« Doch stattdessen lehnte sich Lucius Perry zurück und badete sein fein gegliedertes Gesicht in dem schräg hereinfallenden Sonnenlicht. Durch die Augenlider konnte er nur sattes, beruhigendes Rot sehen; wenn seine Cousine auch nur eine Minute lang zu reden aufhörte, würde er wohl einschlafen. Nein, würde er nicht: Ein Klopfen an der Haustür und aufgeregte Stimmen von unten verkündeten die Ankunft eines weiteren Besuchers. »Artemisia«, sagte er, ohne sich die Mühe zu machen, die Augen zu öffnen, »du solltest wirklich vorsichtig sein. Du bist hübsch, kommst aus guter Familie, dein Vater ist großzügig, und du hast eine hübsche Stimme. Würde mich nicht überraschen, wenn jemand noch in diesem Jahr um dich anhält. Aber versuche nicht, dich mit Roberts Wagemut zu messen: Ballsäle in der Stadt sind etwas anderes, als zuhause auf Bäume zu klettern oder vom Heuspeicher zu springen.« Sie richtete sich stolz auf. »Danke für den Ratschlag, Cousin. Als ob ich nicht wüsste, wie man sich in der Stadt zu benehmen hat! Ich mag es hier, es ist sehr viel besser als auf dem Land. Soweit ich betroffen bin, würde ich hier gerne für den Rest meines Lebens mein Zuhause haben, und ich hoffe einen Mann zu heiraten, der das Gleiche denkt: jemand mit Stil und ein bisschen Elan wie Robert, nicht ein so Langeweiler wie du, für den ein Tag mit Tennis und einem Besuch bei einer Verwandten ein aufregender Tag ist und für den ein aufregender Abend darin besteht, zuhause zu sitzen und ein Buch zu lesen. Oder was auch
immer du sonst tust, wenn du allein bist. Ach, übrigens habe ich dich gestern Abend in Tremontaine House nicht gesehen!« »Tremontaine House?« Lucius Perry gab seine lässige Haltung auf. »Mit den Leuten willst du aber wirklich nichts zu tun haben, Cousine.« 23 Sie warf den Kopf zurück; die Korkenzieherlocken hüpften. »Und warum nicht, bitte sehr? Ich bin nicht das Landei, für das du mich hältst, Cousin. Ich weiß, wie ich mich in der Gesellschaft zu benehmen habe.« »Weißt du das wirklich?« Er hatte sich vorgebeugt und schaute sie mit seinen blauen Augen ein wenig düster an. Sie verdrängte die Erinnerung daran, wie sie von ihrem Gastgeber zur Flucht getrieben worden war. »Ganz gewiss. Es gibt nichts Entsetzliches in Tremontaine House« — sie lachte hell auf — »mit Ausnahme des Irren Herzogs natürlich. Er hat ziemlich schlechte Manieren, nicht wahr? Ich verstehe eigentlich gar nicht, was die Leute in ihm sehen.« »Nein, das kannst du auch nicht verstehen. Deshalb ist er ja so gefährlich.« Lucius' Lächeln war absolut reizend. »Natürlich weißt du, wie man sich in der Gesellschaft zu benehmen hat, du bist schließlich eines ihrer strahlendsten Schmuckstücke. Aber der Herzog von Tremontaine steht außerhalb der Gesellschaft. Selbst er behauptet, dass das für ihn der richtige Ort ist. Und er ermuntert andere - natürlich solltest du dich nicht von ihm ermuntern lassen! —.jedenfalls die Leute, mit denen er sich umgibt, dass sie, äh, diese Außenseiterposition ebenfalls erkunden sollten.« »Na ja, alle kamen mir vollkommen normal vor, die übliche Ansammlung von Salonlöwen und Ballhasen, nur eben alle in einem Haus versammelt, aber das war's dann auch schon. Aber das kann man doch kaum...« Ihre Locken flogen auf, als sie den Kopf ruckartig zur Tür drehte. Von unten war beträchtlicher Lärm zu hören, Stiefelschritte im marmorgefliesten Treppenhaus, ein schriller Aufschrei. »Vielleicht ist es Robert«, meinte Lucius, »mit seiner neuesten Flamme.« Jemand kam die Treppe heraufgerannt — oder zwei Jemands. Der Erste war ein Bediensteter, der die Tür zum Salon gerade 23 weit genug öffnete, um atemlos einen Besucher anzukündigen. »Eine ... weibliche Person, Mylady, möchte Euch besuchen, sagt sie, obwohl ich ...« »Von dem Fest«, übertönte ihn eine schrille Mädchenstimme. »Sagen Sie ihr, Katherine, Lady Katherine Talbert — nur hab ich eben keine Karte — von Tremontaine House.« Lucius warf seiner Cousine einen vorwurfsvollen Blick zu. Der Lakai öffnete die Tür ganz. »Lady Katherine«, verkündete er. Und nun trat die seltsamste Gestalt ein, die Lady Artemisia jemals außerhalb einer Theaterbühne gesehen hatte; eigentlich sogar schlimmer als im Theater, weil Schauspielerinnen, die Männerrollen spielen mussten, wenigstens einen Versuch unternahmen, ihr Haar zu kürzen, ihre weiblichen Rundungen zu verbergen und männliches Verhalten einzuüben. Das hier war jedoch eindeutig ein Mädchen, klein und weiblich gerundet, mit langem Haar, das in unordentlichen Strähnen unter einem Haarband hervorquoll. Lediglich ihre Kleidung war eine perfekte Nachahmung von Männerkleidung. Artemisia Fitz-Levi hob die Hand vor den Mund. Sie wusste, dass es schlechtestes Benehmen war, aber sie konnte einfach nichts dagegen tun: Das Lachen ließ sich nicht zurückhalten. Das Mädchen starrte sie an. Sein Gesicht wurde blass, dann flammend rot. »Von Tremontaine House«, bemerkte Lucius selbstgefällig. »Nun siehst du wohl, was ich meine.« Katherine Talbert wirbelte auf dem Absatz ihrer lächerlichen Stiefel herum und rannte klappernd durch den Flur die Treppe hinunter. Wahrscheinlich hätte niemand auf den Jungen geachtet, wenn er nicht so verzweifelt durch einen sehr gesetzten Teil der Stadt gelaufen wäre, wo eine schnell laufende Person gewöhnlich nichts als irgendeine Untat bedeuten konnte. 23 »Hallo, du!« Eine Hand schoss plötzlich hervor und brachte die Gestalt schleudernd zum Stillstand. Philibert, Lord Davenant, gehörte nicht zu den aufmerksamsten Männern: Er sah
ein Knabengesicht, weil er ein Knabengesicht erwartete, und der ehrenwerte Lord Davenant gehörte zu den Menschen, die eine Welt aus Ordnung und Anstand schätzten. Das lange Haar dieses Knaben konnte daher nur Universität bedeuten, und auf dem Hügel wohnten nur wenige Gelehrte. Ferner hatte der Junge wohl geweint und schien geradezu verängstigt, dass man ihn erwischt hatte. »Aha!«, erklärte Lord Davenant. »Wohin so eilig? Vielleicht versteckst du da etwas in der Tasche, wie?« Und schon schob er dem Jungen eine Hand in die Hosentasche, während er ihn mit der anderen Hand am Arm festhielt. »Hilfe!«, schrie der Junge mit schriller Stimme. »Lasst mich los!« Er versuchte, sich aus Davenants Griff zu winden. »Wie könnt Ihr es wagen!« »He, du kleine Ratte!« Halb belustigt, betrachtete Davenant ihn genauer. »Soll ich nun die Wache rufen oder dich gleich selbst verprügeln?« Der Junge wischte sich mit dem freien Arm die Nase ab. »Wenn Ihr ein echter Gentleman wärt«, sagte er plötzlich, »würdet Ihr mich nach Tremontaine House zurückgeleiten.« »Ach so!« Davenant ließ sofort den Arm des Jungen los, als fürchtete er, sich anzustecken. »Zu dieser Sorte gehörst du also!« »Was meint Ihr damit?« »Geh schon, hau ab.« Davenants Meinung über Tremontaine House war im Rat wohl bekannt. Das Letzte, was er wollte, war, in aller Öffentlichkeit im Gemenge mit einem der Lustknaben des Irren Herzogs gesehen zu werden. »Da geht's lang. Und nun verschwinde.« Der Junge riss sich zusammen und ging mit unsicheren Schritten davon. 24 Ich konnte mich nicht an den Weg erinnern und hatte auch nur eine sehr unbestimmte Vorstellung davon, wie Tremontaine House von der Straße aus aussah. Die Mauern aller großen Häuser sahen irgendwie gleich aus, und alle hatten Tore aus schwarzem Eisen mit goldenen Spitzen. Ich gab mir Mühe, so zu gehen, als würde ich den Weg genau kennen. »Hallo, Lady Katherine.« Vor mir tauchte ein Junge in ungefähr meinem Alter auf. Er war einfach gekleidet und hatte ein offenes, gewöhnliches Gesicht. Ich brauchte einen Augenblick, um in ihm den Diener des Herzogs zu erkennen, den unersetzlichen Marcus, den Jungen, der immer über alles Bescheid wusste. Er sagte: »Ich bin auf dem Weg nach Tremontaine House, wenn Ihr mit mir kommen möchtet.« Ich folgte ihm schweigend. Er hatte sich mir noch nicht vorgestellt, und auch jetzt machte er keine Anstalten dazu, redete nur einfach mit mir, als hätten wir uns schon immer gekannt. »Schöner Tag heute, nicht wahr? Betty dachte, Ihr seid durchgebrannt, aber ich vermutete, dass Ihr nur einfach spazieren gegangen wart. Ihr würdet sie doch nicht in Schwierigkeiten bringen, indem Ihr einfach weglauft, oder? Ihr solltet mal den Schlosspark erkunden«, plapperte er munter weiter, »sehr interessant. Wege, Statuen, Brunnen und solches Zeug, obwohl ich glaube, dass sie die Brunnen in dieser Jahreszeit bereits abgestellt haben. Die Gärtner graben dauernd irgendwelche Blumenzwiebeln aus und pflanzen neue. Die lassen sie zuerst in einem großen Glashaus wachsen. Macht ziemlich viel Arbeit, das Ganze. Ihr könnt Euch Blumen ins Zimmer stellen lassen, wenn Ihr möchtet. Soll ich welche für Euch bestellen?« Die Empfangshalle von Tremontaine House war kühl und weiß und vollkommen leer. Verschwunden waren das geschäftige Treiben und das Kommen und Gehen, das am Abend zu 24 vor geherrscht hatte; an seine Stelle war eine gespenstische, angenehme Feierlichkeit getreten. »Wo ist der Herzog?«, erkundigte ich mich. »Weg. Alle sind weg, sie sind nach Riverside House gezogen.« »Alle? Aber ich...« »Oh, Ihr natürlich nicht. Ihr bleibt hier.« »Allein?« In meiner Panik wurde meine Stimme schrill. »Eigentlich nicht. Eine Menge Bedienstete leben hier. Er kommt und geht, müsst Ihr wissen. Und er will, dass auch hier immer alles für ihn bereit ist. Sie werden sich schon um Euch kümmern. Sagt Betty einfach, was Ihr braucht.«
»Und du? Bleibst du auch hier?« Ich hasste mich selbst, weil ich von ihm eine bestimmte Antwort hören wollte, aber er war wenigstens halbwegs freundlich zu mir. »Nein. Ich gehe dahin, wo er ist.« »Und wann kommst du — wann kommt er — zurück?« »Wenn ihm der Sinn danach steht. Riverside House ist im Winter wärmer; dieses Haus dagegen ist im Sommer angenehmer. Und in den Zeiten dazwischen...« Marcus zuckte mit den Schultern. »Ist es weit draußen, auf dem Land?« »Ist was weit draußen?« »Riverside.« Der Junge lachte, als hätte ich ihm einen Witz erzählt. Dann schüttelte er den Kopf. »Riverside? Es ist direkt hier, in der Stadt. Am anderen Ende der Stadt, ein alter Kasten in der Nähe der Hafenanlagen. Riverside ist eine Insel im Fluss. Eigentlich nichts Besonderes. Ich würde da nicht wohnen wollen. Aber er mag es eben.« »Ist es ein schönes Schloss?« »Es ist ein altes Schloss.« Wieder das Schulterzucken. »Aber er mag es eben.« »Na gut«, sagte ich, und dann kam mir ein Gedanke. 25 »Während er weg ist, bin ich also die Hausherrin hier?« »Wieso?« Ich hatte noch nie mit einem derart ungehörigen Bengel von Diener zu tun gehabt. Aber das hier war auch kein gewöhnlicher Haushalt. Sorgfältig erklärte ich ihm: »Nun, die meisten Schlösser haben einen Schlossherrn oder eine Schlossherrin. Ist der Lord unverheiratet, dann ist es meistens eine Schwester oder eine Tochter, die diese Pflicht wahrnimmt. Also ist es doch nur logisch, dass ich...« Marcus hatte mir währenddessen mit großer Geduld zugehört und wartete offenbar darauf, dass ich irgendwann etwas Vernünftiges sagte. Er brachte mich richtig aus dem Konzept. »Also ist es doch nur logisch, dass ich als Nichte des Herzogs, nun, dass ich... In seiner Abwesenheit wäre ich also ...« »Er hat keine diesbezüglichen Anweisungen hinterlassen«, erklärte mir Marcus mit tiefem Ernst. »Ich könnte natürlich seine Aufmerksamkeit darauf lenken, aber...« Er brauchte den Gedanken gar nicht weiter auszuführen. Ich hatte schon genug Aufmerksamkeiten des Herzogs erlebt. »Na gut«, sagte ich hochmütig und blickte mich in der riesigen Empfangshalle um, »wenn ich schon keine Pflichten habe, dann werde ich eben die feine Dame geben.« »Wie es Euch beliebt«, sagte er. »Ich muss mich jetzt wieder auf den Rückweg machen.« Marcus verbeugte sich nicht, als er ging. Erst als er weg war, wurde mir klar, dass ihm offenbar meine seltsame Bekleidung nicht aufgefallen war - und dass ich sie, während ich mit ihm zusammen war, selbst völlig vergessen hatte. In meinem wunderbaren Zimmer zur Flussseite setzte ich mich in einen der zierlichen Sessel und überließ mich meinem Unglück. Mein Besuch bei Artemisia war eine einzige Enttäuschung gewesen. Aber wahrscheinlich hatte sie mich ohne weibliche Kleidung nicht erkannt und dieser furchtbare Mann, 25 der bei ihr war, hatte eine widerliche Bemerkung gemacht, bevor ich auch nur zu einer Erklärung hatte ansetzen können. Ich musste einfach abwarten, bis ich eine neue Gelegenheit fand. Artemisia hatte gestern Abend von ewiger Freundschaft gesprochen. Sicherlich würde meine neue Freundin mir helfen, wenn sie nur erst erfuhr, was mir mein Onkel angetan hatte. Sie würde mir anständige Kleider beschaffen und dafür sorgen, dass ich mich mit anständigen Leuten traf. Natürlich konnte ich Tremontaine House nicht völlig entkommen; ich musste tun, was der Herzog von mir verlangte, um ihm zu gefallen, schließlich hing das Wohlergehen meiner Familie davon ab. Aber das konnte doch sicherlich nicht bedeuten, dass ich hier als Gefangene gehalten wurde! Ich holte tief Luft und beruhigte mich, indem ich eine Schatulle öffnete, in der sich schöne gebügelte Taschentücher befanden. Das war doch alles gar nicht so schlecht, nicht wahr? Ich lebte allein in einem der schönsten Häuser der Stadt, und kein Irrer Herzog sprang hinter den Türen hervor, um mich zu quälen. Keine lästigen Pflichten, keine Hausarbeiten zu erledigen, jedenfalls soweit ich sehen konnte. Nur ein paar dumme Kleider und nutzloser Unterricht. Aber MeisterVenturus hatte nicht erwähnt, dass ich lernen musste, Leute
umzubringen; er schien nur Wert darauf zu legen, dass ich mit dem Degen in der Hand hübsch und adrett aussah. So ähnlich wie Tanzunterricht — das würde ich schon schaffen. Ich suchte in der Schublade des reizenden goldverzierten Sekretärs nach Briefpapier. Nichts zu finden. Ich würde Betty bitten müssen, mir ein wenig Briefpapier zu besorgen, damit ich an Artemisia schreiben konnte und an meine Mutter. Nein, warte mal, auch das gehörte zur Abmachung: Sechs Monate lang keine Briefe an die Familie, und ich durfte auch keine Besuche von ihr empfangen. Mein Bruder Gregory wohnte irgendwo in der Stadt, aber er durfte nicht in meine Nähe kommen. Das war mir eigentlich egal. Gregory ist ein 26 sehr ernsthafter junger Mann, genau wie unser Vater es gewesen war, und obwohl er schon seit mehreren Monaten in der Stadt lebte, hatte ihn der Irre Herzog noch nie eingeladen. Jetzt wurde mir klar, warum. Gregory hielt sich prinzipiell an jede Regel; er würde wahrscheinlich nicht versuchen, mit mir heimlich Kontakt aufzunehmen, obwohl meine Mutter das vermutlich wünschte. Ich könnte ihr natürlich trotzdem schreiben, aber ich fand den Gedanken bedrückend, wochenlang Briefe aufzuhäufen, die niemand zu lesen bekam. Doch ich machte mir Sorgen, wie sie wohl ohne mich zurecht kam. Wahrscheinlich machte sie alles falsch, obwohl ich ihr eine Liste der Dinge hinterlassen hatte, die sie nicht vergessen durfte: die Winterbettwäsche auslüften, die Tische mit Wachs polieren, die Küchenmädchen von ihren Zänkereien um die Gunst des Stalljungen abzuhalten. Und wer kämmte ihr jetzt das Haar aus, ohne ihr Schmerzen zuzufügen, wer achtete darauf, dass ihre spitzenbesetzten Seidenkleider zueinanderpassten, wer erinnerte sie daran, regelmäßig ihr Stärkungsmittel zu nehmen? Das Haus würde in meiner Abwesenheit buchstäblich auseinanderfallen, während ich hier nutzlos herumsaß und dazu gezwungen wurde, etwas zu erlernen, worin ich nicht gut war und nie sein würde! Und alles nur, um den irren Launen meines irren Onkels zu folgen, der sich nicht einmal die Mühe machte, sich von mir zu verabschieden, wenn er mich in einem fremden Haus allein zurückließ. Meine Stiefel klapperten beruhigend laut über die Fliesen, als ich die Treppe hinunterstapfte, um in der Bibliothek nach Papier zu suchen. Oder vielleicht konnte ich bei der Gelegenheit auch nach einem Adelsstammbuch Ausschau halten, in dem ich die geheimnisvollen Namen meines dummen Onkels nachschlagen konnte, um ihn ordentlich zu beeindrucken, falls er sich hier wieder blicken lassen sollte. Und endlich fand ich die Bibliothek - ein großer Raum, vom Bo26 den bis zur Decke gefüllt mit Büchern, mehr Bücher, als ich je im Leben zu sehen bekommen hatte. Und sie schienen alle ziemlich langweilig zu sein: Vom Sinn der Natur, Dialog mit dem Tyrannen, diese Art von Schmökern. Die meisten Einbände waren aus Leder und mit Gold bedruckt, sodass ihre äußere Erscheinung sehr viel ansprechender wirkte als ihre Inhalte. Ich verlor mich rasch in der Welt der Bücher und fand ein reich ausgestattetes Buch mit dem Titel Geographische Exotica. Damit setzte ich mich an einen Fensterplatz und betrachtete die Bilder und las die Beschreibungen von weit entfernten Orten, wobei ich nur halb überzeugt war, dass es sie überhaupt gab. Am Rand eines Textes, der sich mit der Insel Kyros befasste, hatte jemand handschriftlich angemerkt: Woher der Honig kommt! In dem Buch stand, die Insel sei völlig von Thymian überwuchert, in dem die Bienen den ganzen Tag lang summten.
Kapitel 5
n einem warmen und reichhaltig möblierten Zimmer in Riverside wob der Duft von Kerzen und Essen und Körpern und Wein ein Netz der Geborgenheit um eine Männergruppe, die normalerweise mit sehr viel weniger angenehmer Umgebung zufrieden war. Sie waren so glücklich, wie sie nur sein konnten. Sie waren fast gesättigt, und niemand zog ihrer Unterhaltung Grenzen. »Reiche Soliman das Fleisch«, befahl der Herzog von Tremontaine. »Er kann schließlich nicht über die tierische Natur von uns Menschen reden, solange er sich nicht mit ihr vereint!« Als der Teller des Philosophen wieder gefüllt war, fuhr er mit seiner Argumentation fort. »Ich behaupte lediglich, wenn Dorimund es mir gestattet, dass Bildung die Antithese der
Natur ist. Es muss so sein. Wenn das Vermeiden dessen natürlich wäre, was wir als Laster bezeichnen, wie das Meiden von Kälte wegen möglicher Erfrierungen oder das Meiden von Feuer wegen möglicher Verbrennungen, dann müsste man uns nicht erst eigens davon abraten!« Ein älterer, bärtiger Mann hob das Glas an die Lippen, dann sagte er: »Ich merke, du hast keine Kinder, Sol. Dann müsstest du nämlich ihre Hände hunderte Mal vom Feuer wegziehen, wenn du nicht willst, dass sie den Flammen zum Opfer fallen.« »Erfahrung«, bestätigte ein anderer. »Erfahrung ist der Lehrmeister. >Ein gebranntes Kind scheut Feuer und so weiter. 27 Es gibt einen Unterschied zwischen Erfahrung und Ausbildung.« »Wir reden hier aber von abstraktem Denken. Die Früchte des Lasters werden nicht sofort sichtbar, aber ein Verbrennungsschmerz schon.« Der Herzog beugte sich über den Tisch. Wie die Gelehrten war auch er ganz in Schwarz gekleidet, nur war seine Kleidung mit dunkler Stickerei besetzt. »Die >Früchte des Lasters< stehen zur Debatte«, sagte er. »Sie sind empirisch nicht belegbar wie ein verbrannter Finger. Sie mögen abstrakt sein, Dorimund, aber...« Er brach ab, als der Knabe Marcus an seiner Seite erschien. »Ja, was ist?« »Eine Frau«, murmelte Marcus. »Sie steht am Westportal.« »Zur Hölle mit ihr«, zischte der Herzog. »Lass sie warten.« Sein Diener zeigte ihm einen Ring. »Sie sagte, das hätte sie von Euch bekommen.« Die Augen des Herzogs weiteten sich für einen kurzen Moment. »Und das hat sie auch. Ich hätte nur nicht gedacht, dass sie ihn noch einmal zeigen würde. Dann werde ich doch mal...« Er rappelte sich hoch und verbeugte sich knapp vor seinen Gästen. »Gentlemen. Ich werde mir den Rest der Debatte später erläutern lassen, oder vielleicht veröffentlicht Soliman seine kontroversen Theorien zum Entsetzen aller vernünftig denkenden Menschen, ein Unterfangen, das ich mit großem Vergnügen finanzieren würde. Sol, hör auf zu essen, sonst siehst du bald zu rosig und harmlos aus. Die Leute pfeifen nicht gern jemanden auf der Straße aus, der wie eine Wiegenpuppe aussieht.« Unter dem Gelächter der Gäste verließ er den Tisch, wand sich zwischen den schweren Vorhängen durch und folgte Marcus. Sie verließen den Raum durch eine bogenförmige Tür, stiegen zwei kleine Treppen hinunter, die unterschiedlich breit waren und deren erste sich nach links und deren zweite sich nach rechts wandte. 27 Die Frau mit dem Kapuzenmantel schrak auf, als der Herzog eintrat. Sie hatte keine Tür hinter der Wandverkleidung vermutet. Der Herzog zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Es ist der schnellere Weg. Ich wollte Euch nicht warten lassen. Hatte Angst, dass Ihr die Nerven verlieren würdet.« Ihr Stimme klang nur ein klein wenig atemlos. »Die sind ziemlich gestählt, danke trotzdem.« Abrupt griff er nach ihrer Hand. »Aber Euch ist kalt.« »Nur kühl. Das ist bei mir vor einem Auftritt häufig der Fall.« »Ich bin kein anspruchsvolles Publikum.« »Da hab ich schon anderes gehört.« Er lächelte sein zögerndes, seltsam charmantes Lächeln. »Und Ihr seid die berühmte Schwarze Rose. Nun, ich fühle mich geehrt.« »Die Ehre ist ganz meinerseits, Mylord Tremontaine.« Sie zog eine Strähne seines langen Haares an ihre Lippen. Der Herzog schloss einen Moment lang die Augen. Dann nahm er ihr Handgelenk zwischen Daumen und Zeigefinger. »Noch nicht«, sagte er. »Erst müssen wir uns mit der Angelegenheit Ihres interessanten Freundes befassen.« Sie schien zu erstarren. »Er ist nicht sehr interessant.« »Scheint mir aber so.« »Deshalb müsst Ihr nicht gleich mit ihm schlafen.« »Ihr auch nicht, aber dennoch tut Ihr es.« Sie holte Luft, um etwas zu erwidern, aber er legte ihr sanft die Finger auf die Lippen. »Lord Davenant wird allmählich ein wichtiger Mann, und er ist dem neuen Kanzler des Großen Kreises eng verbunden. Prestige, Geld,
Abenteuer. Das ist Euer Spiel, und ich brauche Euch nicht zu sagen, wie Ihr es spielen sollt. Aber ich freue mich, dass Ihr es auch mit mir spielen wollt.« Mit einer Hand strich sie ihm leicht über die Finger, die immer noch auf ihren Lippen lagen. Jäh wandte er sich ab und sagte in einem geschäftsmäßigen Tonfall: »Ich habe Euch 28 gebeten, mir Beweise für sein neuestes gerissenes Vorhaben zu liefern. Nun, lasst mich sehen, was Ihr habt. Selbst wenn ich flach auf dem Rücken liege — oder auf Eurem Rücken —, so kann ich immer noch zwischen einem echten und einem gefälschten Dokument unterscheiden.« Die Schauspielerin griff in die Falten ihres Umhangs. Er trat sofort einen Schritt zurück, denn es könnte immer ein Dolch hervorkommen. Aber sie zog nur ein Dokument heraus, an dem Siegel und Siegelband hingen und das sehr offiziell aussah. »Hübsch«, meinte der Herzog, als er es näher betrachtete. »Sehr hübsch. Das ist mehr als genug. Marcus.« Ohne sich umzusehen, reichte er seinem Diener das Dokument. »Arthur weiß, was er damit zu machen hat. Sag ihm, er soll zwei Kopien anfertigen und dann das Original zurückbringen.« Er schaute der Frau tief in die Augen. »Wie bald braucht Ihr es zurück, was meint Ihr?« »Sehr bald. Man wird nach mir fragen, wenn ich heute Abend nicht zurückkehre.« »Könntet Ihr ihm nicht sagen, dass die Proben länger gedauert hätten?« »Das hab ich ihm schon gesagt.« Die Schauspielerin zitterte. Der Herzog legte ihr den Arm um die Schultern und schob ihr seinen Ring auf den Finger. »Behaltet ihn.« »Ich werde ihn wahrscheinlich verkaufen.« »Das macht nichts.« Er zog sie an sich. »Wenn ich etwas verschenke, kümmert es mich nicht, was später daraus wird.« Die Schwarze Rose wandte sich in seinen Armen, eine große Frau, aber sie ging ihm dennoch nur bis zum Kinn. Ihr Mund suchte nach der Haut oberhalb des gestickten Hemdkragens. »Ihr seid sehr großzügig.« »Bin ich das? Ihr müsst trotzdem nicht mit mir schlafen, aber wenn es...« 28 »Prestige«, murmelte sie an seinem Hals, »Geld, Abenteuer.« »... wenn es die Sache leichter macht, gebe ich Euch...« Sie küsste ihn, und er verstummte. Sie verschwanden durch die Tür, durch die er gekommen war. Wie ein junger Mann, der eine Debütantin zwischen den Tischen eines überfüllten Ballsaals geleitet, führte der Irre Herzog die Frau durch die irren Flure seines Schlosses, von dem Geheimzimmer bis zu einem Schlafzimmer mit roten Vorhängen, das bereits von einem Kaminfeuer vorgewärmt war. Aber dort fand ihn Marcus zwei Stunden später nicht mehr vor — mehr als zwei Stunden später, denn er brauchte geraume Zeit, bis er seinen Herrn fand, nachdem die Frau zur Tür begleitet worden war. Der Herzog von Tremontaine saß allein in einem Raum, in dem sich keinerlei Möbel befanden. Er kauerte zusammengekrümmt vor einem sterbenden Papierfeuer, das in einem kunstvoll verzierten Kamin züngelte. Sein offenes Haar hing in die Asche. Der Raum war kalt und dunkel. Marcus wusste, welche Dielen knarrten. »Ich brauche mehr Holz«, knurrte der Herzog, ohne sich umzudrehen. »Ich friere.« »In Eurem Schlafzimmer brennt ein kräftiges Feuer.« Ein Schauder lief über Tremontaines Körper. »Nein. Ich gehe nicht mehr dorthin zurück.« »Soll ich ein paar Decken holen?« »Ja. Nein. In diesem Raum kann ich nicht schlafen. Hier nicht.« »Lasst mich ein Bett herbeischaffen oder wenigstens eine Liege.« Tremontaine trug nichts als einen Samtumhang, der sich um seine langen Glieder wand, als er sich zu seinem Diener 7i umdrehte. »Nein, Marcus. In diesem Raum wird nie mehr ein Bett stehen.« »In Ordnung. Soll ich den Kamin in der Bibliothek anfeuern? Ich könnte Euch ein paar Decken bringen, dann könntet Ihr den ganzen Rest der Nacht lesen.« »Wo sind meine Gäste, meine Gelehrten?«
»Sie sind alle schon zu Bett gegangen oder nach Hause. Soll ich einen von ihnen für Euch aufwecken?« Der Herzog schüttelte den Kopf. Erst jetzt bemerkte er sein offenes Haar. Er stopfte es in den Kragen. »Nein. Du gehst jetzt zu Bett. Ich werde ... Ich komme schon zurecht.« »Ich denke, die Bibliothek wird Euch gefallen«, lockte Marcus beharrlich. »Dort gibt es Kissen und Decken und nette schwere Vorhänge. Und jede Menge Bücher.« »Ich weiß, was es in der Bibliothek gibt«, zischte der Herzog, und er klang fast wieder wie er selbst. Marcus streckte ihm beide Hände hin, der große Mann ergriff sie, und mit einer gemeinsamen Anstrengung kam er wieder auf die Füße.
Kapitel 6
Tagsüber war es mehr oder weniger in Ordnung. Aber wenn ich nachts bis auf mein Jungenhemd entkleidet in dem riesigen Bett lag, in diesem leeren Haus und in dieser Stadt voller Fremder, dann sehnte ich mich nach meiner Mutter. Wir hatten immer allen Kummer geteilt und versucht, einander zu helfen. Ich wünschte, sie würde erfahren, wie tapfer ich war, aber ich hatte keine Möglichkeit, ihr irgendetwas zu erzählen, und was hätte sie auch schon tun können? Also weinte ich leise in mein Kissen, weil ich mich nicht weinen hören wollte. Am Morgen ließ ich mich von der heißen Schokolade trösten, während Betty mit ihren geschickten Händen meine Kleider herrichtete. Sie hatte heute keine Alkoholfahne — noch nicht. Ich ließ die Hälfte des Kakaos für sie übrig. Heute fiel es mir nicht mehr so schwer, mich in den neuen Kleidern zu bewegen. Sie kamen mir ein wenig weiter und freundlicher vor und zwängten mich nicht mehr so stark ein. Degenmeister Venturus wartete bereits auf mich im Zimmer der nassen Kaninchen. Er lieferte sich ein hitziges Übungsgefecht mit seinem Schatten an der Wand und schien mich nicht zu hören, als ich hereintrat. »Guten Morgen!«, grüßte ich, nur um ihm zu zeigen, dass ich dieses Mal keine Angst mehr hatte. »Oui«, sagte er, ohne sein Wegducken und Vorstoßen mit dem Degen in der Hand zu unterbrechen. »Warum übst du nicht?« 29 »Ich fange gleich damit an, wenn es Euch beliebt.« »Du musst immer üben, nachdem du aufgestanden bist, nachdem du gegessen hast und bevor du wieder ins Bett gehst.« Er drehte sich endlich zu mir um. »Sonst hat das alles keinen Zweck. Sinnlos.« Nun betrachtete er mich von oben bis unten. »Keine Decke heute? Nicht mehr so kalt? Sehr gut. Jetzt zeig ich dir, wie du den Degen hältst.« Ich hielt den Degen. Dann nahm ich die Grundhaltung ein — natürlich zuerst völlig falsch, aber dann richtig, und zwar so vollkommen richtig, wie mir gesagt wurde, dass ich mich nicht bewegen durfte, und ich bewegte mich nicht, obwohl ich dachte, dass mich der Schmerz im Degenarm und in den Beinen umbringen würde, wenn ich die Stellung noch lange aushalten musste. Es waren Schmerzen, die ganz sanft begannen und sich allmählich zu richtigen Höllenqualen auswuchsen. »Ausfall!«, brüllte Venturus plötzlich. Ich sprang vor, ohne auf Stil und Eleganz zu achten, einfach nur, um die Schmerzen loszuwerden, und stolperte fast zu Boden. Mein Degen fiel klappernd auf den Boden. »Nicht so gut.« Mein Lehrmeister zeigte übertrieben viel Mitgefühl, das aber seine Schadenfreude nicht völlig überdecken konnte. »Nicht so gut. Du musst üben, üben, üben, dann kennst du keine Schmerzen, wenn du wie eine Schlange angreifst. Ha! Jetzt nimm den Degen wieder auf.« Plötzlich zischte er: »Tsss! Nicht den Daumen auf die Klinge! Dumm, dumm! Rost! Dreck! Fettfleck! Du musst die Klinge pokeren!« Es war weit schlimmer, als Silberbesteck zu polieren. Das schimmernde Metall der Klinge wurde dunkel, sobald ich es berührte. Und die Schneiden konnten sehr scharf sein, auch wenn die Spitze abgestumpft worden war. Venturus gab mir Kalziumpuder, Ol und ein weiches Ledertuch. Und zum ersten Mal war ich froh, Hosen zu tragen, denn in einem Kleid wäre mir die Arbeit sehr viel schwerer gefallen. 29
Venturus wartete, bis ich fertig war. Dann sagte er: »Ich gehe nun. Was machst du jetzt?« Ich warf einen Blick durch das Fenster in den Garten. Es regnete. »Ich übe«, erklärte ich. »Gut.« Zu meiner Überraschung fugte er hinzu: »Aber nicht zu lange. Dann steigst du in ein Bad, bleibst dort liegen in — tsss, wie heißt es, Duftsalz? —, und dann trinkst du etwas Wein. Danach.« Bei der Tür blieb er stehen und wirbelte zu mir herum. »Keinen Wein und Degen!« »Wie bitte?« »Du darfst keinen Wein trinken, wenn Du mit dem Degen übst! Das Trinken ruiniert den Degen! Ha!« Mit fliegendem Umhang wirbelte er herum und verschwand. Je länger ich in Tremontaine House wohnte, desto schöner fand ich es. Ich konnte nicht begreifen, warum sich mein Onkel, der Irre Herzog, hier nicht gern aufhielt. Vielleicht war ihm klar, dass das Schloss einfach zu gut für ihn war. In diesem Haus war alles perfekt: Die Farben waren mit Bedacht ausgewählt, Stil und Größe der Möbel waren jedem Zimmer angepasst, und selbst die Aussicht aus den Fenstern wirkte so lieblich wie gemalt. Ich ertappte mich häufig dabei, dass ich nur einfach zur Decke hinaufschaute, wo sich die oberen Stuckleisten der Wände mit der Decke trafen. Oft waren die Übergänge als Blätter geformt, verziert mit feinen Goldlinien, zwischen denen manchmal kleine Gesichter hervorschauten; in anderen Räumen waren die Leisten als Zickzacklinien geformt, die mitunter fast wie Buchstaben aussahen, aber falls sie Wörter bildeten, ließen sie sich nicht erraten. Jedes Zimmer barg seine eigenen Schätze. Ich erfand ein eigenes Spiel: Was würde ich aus jedem Zimmer retten, wenn ich jeweils nur einen einzigen Gegenstand mitnehmen dürfte? In einem Zimmer war es eine winzige Elfenbeinschnitzerei, die aus ineinandergesetzten Kugeln bestand, die 30 sich frei bewegten, aber niemals berührten. In einem anderen Raum fiel es mir sehr schwer, mich zwischen einem bemalten Fächer und einem kleinen Porzellankalb mit besonders herzigem Gesichtsausdruck zu entscheiden. Überrascht stellte ich fest, dass viele der Dinge, die ich entdeckte, einer Dame gehört haben mussten. Mir fiel wieder ein, was der Herzog mit einiger Abscheu gesagt hatte: »Es ist sehr elegant. Ich habe es von meiner Großmutter geerbt.« Seine Großmutter war seine Vorgängerin im Herzogstitel gewesen, so viel war mir klar. Vielleicht war es sogar ihr eigener Armsessel, der in meinem Zimmer stand und in dem ich am liebsten saß, die Beine hochgezogen, während ich das ständig wechselnde Farbenspiel über den Hügeln verfolgte. Besonders gern spazierte ich in dem langen Speisesaal mit seinen hohen, breiten Fenstern und den riesigen Spiegeln umher, obwohl ich dort nie aß. Mitten auf dem enormen Esstisch stand eine große Etagere, so groß wie eine Wiege, aus reinstem Silber gefertigt. Zweige und Äste wanden sich darum und endeten in flach herausragenden Eichenblättern, dem Aufsatz für die Süßspeisen. Der mittlere Teil bestand aus einem großen runden Teller, der von hübschen silbernen Rehen getragen wurde, die entweder grasten oder über den Tellerrand blickten, dazwischen waren Walnüsse aus Silber zu sehen, die die richtige Größe hatten, aber fast halb so groß wie die Rehe waren. Manchmal tätschelte oder streichelte ich die Rehe, obwohl mir natürlich klar war, dass dadurch das Silber schneller anlaufen würde. Aber es war ohnehin töricht, das Silber einfach an der Luft stehen zu lassen. Ein Mal wöchentlich wurde das Silber von einem der Hausmädchen poliert; ich traf auf sie eines Tages zufällig bei ihrer Arbeit und bot ihr meine sachkundige Hilfe an, aber sie lehnte ab. Gut möglich, dass mich die Bediensteten ein wenig seltsam fanden, jedenfalls sagte sie nichts. Alle waren immer sehr höflich und nannten mich Lady Katherine. Natürlich waren sie an Verhal 30 tensweisen gewohnt, die noch viel seltsamer waren als meine. Und man konnte ja auch nicht wissen, wo sie selber herkamen — obwohl es, wie mich meine Mutter immer ermahnt hatte, der Gipfel des schlechten Benehmens sein würde, einen Bediensteten danach zu fragen. Auf dem Land ist es eben anders, dort kennt ohnehin jeder jeden im Umkreis von vielen Meilen. jedenfalls schien es mir reine Zeitverschwendung, das Silberding auf dem Tisch jede Woche aufs Neue zu polieren, aber offenbar war man an meinen Ratschlägen in puncto guter Haushaltsführung nicht interessiert. Allmählich wurde mir klar, über wie viel
Geld mein Onkel, der Herzog, verfügen musste, und es faszinierte mich zu beobachten, wofür er es ausgab und wofür nicht. Und ich fragte mich, ob Riverside House genauso reich ausgestattet war wie dieses Haus — oder vielleicht sogar noch reicher? Abgesehen davon fragte ich mich auch, was sich hier in Tremontaine House wohl in den Privatgemächern meines Onkels befinden würde. Ich wusste, wo sie lagen: am anderen Ende des Hauses, von meinem Zimmer aus gesehen. Sie bildeten eine große Zimmerflucht, von der aus man sowohl den Park als auch den Innenhof überblicken konnte. Er konnte also den Sonnenuntergang beobachten, aber auch sehen, wer zu Besuch kam. Einmal stand ich vor der Tür und überlegte, ob sie verschlossen sein mochte und was ich tun würde, falls sie es nicht war. Er würde es doch nie erfahren, wenn ich einen Blick hineinwarf, oder? Aber was würde ich zu sehen bekommen? Nächstes Mal, schwor ich mir, wenn er mich wirklich wütend macht, würde ich mich hineinschleichen und alles genau anschauen, egal was dann geschehen würde. Hinter mir hing das Porträt einer traurig aussehenden jungen Dame an der Wand, die mich so traurig anschaute, als wollte sie mich warnen, wie gefährlich mein Eindringen in die Gemächer sein könnte. Überhaupt hingen eine Menge Porträts an den Wänden 31 von Tremontaine House: kleine und große, viereckige und runde, dunkle und helle. In unserem Haus auf dem Land hingen auch eine Menge Porträts herum, aber sie zeigten nur unsere Vorfahren der väterlichen Seite. Das hier war die Familie meiner Mutter. Ich versuchte herauszufinden, welche der porträtierten Menschen vertraut aussahen und wer mit wem nahe verwandt sein mochte. Was ich nicht erraten konnte, erfand ich einfach. Der junge Mann mit dem säuerlichen Gesichtsausdruck im Reitanzug, der im schmalen Flur im oberen Stockwerk hing, verzehrte sich offenbar nach der steifhalsigen jungen Frau mit der Rose in der Hand, die im kleinen Salon untergebracht war. Sie war allerdings schon gleich nach ihrer Geburt dem ältlichen rotgesichtigen Mann mit dem Weinkelch im Schlafzimmer versprochen worden. Mir war völlig klar, dass die beiden niemals miteinander glücklich werden konnten. Ich spielte vorübergehend mit dem Gedanken, den jungen Mann sich bei einem Reitunfall das Genick brechen zu lassen, damit wirklich alle richtig schön unglücklich sein konnten. Für die junge Lady schrieb ich sogar ein Gedicht, das mit der viel versprechenden Zeile begann: Ach, niemals werd' ich mehr dein holdes Antlitz schau'n, doch alles, was mir für die nächste Zeile einfiel, war: Und niemals wird mein Herz dem alten Knaben trau'n. Obwohl es sich hervorragend reimte, wusste ich, dass es dem Gedicht an echter Poesie mangelte. Die Porträts beunruhigten mich jedoch auch: Wann immer ich sie längere Zeit betrachtete, fragte ich mich, wer diese Leute gewesen waren und in welcher Reihenfolge sie gelebt hatten. War der alte rotgesichtige Mann am Ende gar nicht der Ehemann des hübschen jungen Mädchens, sondern ihr Sohn oder ihr Vater? Oder war er schon lange tot gewesen, bevor sie geboren wurde? Meine porträtierten Vorfahren konnten mir auf meine Fragen keine Antwort geben, und niemand in Tremontaine House wusste, wer sie gewesen waren. Im Spiegelsalon hing ein Porträt, das ich immer gern be 31 trachtete. Es war in lebhaften, hellen Farben gemalt, nicht so düster wie die übrigen Gemälde: eine junge Frau in einem hübschen Kleid mit so hellblonden Locken, dass sie fast silbrig wirkten. Es war wirklich ein wunderbares, lebendiges Bild. Sie blickte knapp über meine Schulter hinweg, als würde gerade jemand hinter mir den Raum betreten, mit dem sie eine scherzhafte Bemerkung austauschte und dabei lachte, als ob sie sich nur allzu gern ein kleines Geheimnis entlocken lassen wollte. In ihren Augen lag ein lustiges Funkeln, und auch die hellgraue Seide ihres Kleides glitzerte; selbst ihr Schmuck wirkte echt, bis man ihn ganz aus der Nähe betrachtete und erkannte, dass er nur aus kleinen Farbtupfern bestand — kleine weiße Pinselstriche auf dunkelrosa Grund bis hin zu leuchtendem Rot und so weiter. Hinter ihr glaubte ich fast mit Sicherheit den Rasen im Park von Tremontaine House zu erkennen, der sich bis zum Fluss erstreckte. Ein paar Leute standen auf dem Rasen herum wie Flamingos am Ufer. Ich war der Meinung, dass das Mädchen und ich fast dieselbe Nase hatten. Und ich fragte mich, ob ich mich, wenn ich nur das richtige Kleid bekommen könnte, vom selben Maler porträtieren lassen könnte und ob ich dann vielleicht mindestens halb so hübsch aussehen würde wie die Dame in Grau.
Lady Fitz-Levi hielt nicht viel von Artemisias Auswahl an Kleidern für den festlichen Anlass am Abend und gab sich große Mühe, ihrer Tochter das auch klarzumachen. »Ein Dinner, mein Liebes, ist kein Ball!«, erklärte sie. »Selbst wenn nach dem Essen getanzt wird, solltest du doch ein Kleid tragen, das etwas... nun, zurückhaltender ist.« »Aber Mama«, widersprach Artemisia, »das grüne Seidenkleid hat doch der Herzog von Hartsholt auf der Gesellschaft bei den Hetleys ganz besonders bewundert! Und du hast doch selbst gesagt, sein Geschmack sei untadelig!« »Das stimmt auch, mein Liebes, aber glaube bloß nicht, dass 32 es ihm nicht auffallen würde, wenn du es jetzt schon wieder trägst! Soll es denn so wirken, als wolltest du ihn umschmeicheln? Und Hartsholt ist außerdem verheiratet. Nein, nein, das kommt nicht infrage.« Artemisia schmollte. »Mach dich nicht lächerlich, Mama. Niemand würde auf diese Idee kommen. Außerdem wollte ich die Turmaline tragen, die Papa mir geschenkt hat. Sie passen perfekt dazu.« »Auch das ist richtig, mein Liebes, und du sollst sie auch bei der nächsten Gelegenheit tragen. Aber nicht das grüne Kleid, nicht so bald, nachdem du es zuletzt getragen hast. Sollen die Leute denn denken, du hättest nicht genügend Kleider?« Dieses Argument überzeugte endlich, nachdem alle anderen versagt hatten. »Und was ist mit dem gelben Kleid?«, fragte Artemisia hoffnungsvoll. Das gelbe Kleid war das Ergebnis einer Auseinandersetzung, die ihre Mutter verloren hatte, weil das Mieder bis zum Äußersten ausgeschnitten war und weil es genug Volants hatte, um damit eine dreistöckige Hochzeitstorte zu schmücken. »Aber glaubst du nicht auch, dass Lydia beleidigt sein könnte, da es doch ihr Fest ist und sie in Gelb immer so kränklich aussieht?« »Mama, du bist ein Engel, so voller Verständnis!« Artemisia warf ihrer Mutter die Arme um den Hals. »Wie konnte ich nur so gefühllos sein? Ich weiß, ich werde gleich mal an meine liebe Lydia schreiben.« Artemisia setzte sich in ihrem rüschenbesetzten Morgenkleid an ihren Sekretär. »Ich werde sie fragen, was sie trägt. Wenn sie ein weißes oder cremefarbenes oder naturfarbenes Kleid trägt, werde auch ich meine Farbe tragen.« Und Lady Fitz-Levi verließ das Zimmer, um ihrerseits eine Nachricht an Lydias Mutter zu schreiben, sodass Dorrie beide Briefe zusammen ausliefern und die sehnlichst erwartete Antwort sofort zurückbringen konnte. 32 Lehrmeister Venturus kam weiterhin täglich ins Schloss; jeden Tag legte mir Betty meine robusten Übungskleider bereit, und jeden Tag zog ich sie pflichtschuldig an und ging zum Übungsraum, wo Venturus mich immer bereits erwartete. Und wenn die Übungsstunde zu Ende und er gegangen war, übte ich noch eine Stunde oder länger weiter. Was sonst hätte ich mit meiner Zeit anfangen sollen? Ich konnte jetzt den Degen mit ausgestrecktem Arm eine ganze Zeit lang halten, und auch meine Beine zitterten dabei nicht mehr, jedenfalls nicht, solange Venturus noch im Raum war. Ich lernte, wie ich den Degen zu halten hatte, wie ich zu stehen hatte, wie ich Stöße ausführen musste — wenn man bei Stichen in die Luft überhaupt von Stößen sprechen konnte. Sich zum Degenfechter ausbilden zu lassen, war eigentlich eine recht langweilige Angelegenheit. Venturus redete, ich wiederholte seine kleinen Übungen, er redete weiter, und endlich ging er, und ich führte die Übungen weiter durch, immer und immer wieder, bis es Zeit war, ins Bad zu steigen. Es fiel mir nicht einmal auf, als ich eines Morgens ohne jeden Muskelkater aufwachte. Aber Betty bemerkte es; ich sei heute recht munter, verkündete sie, und ich ging zum Unterricht, sehr zufrieden mit mir selbst, dass ich jetzt munter statt schwerfällig und träge war. Venturus zahlte es mir sofort mit einer ganzen Reihe neuer Bewegungsabläufe heim, die ich zu lernen hatte: Parade und Riposte, in denen ich keinen besonderen Zweck erkennen konnte, außer dass ich mein Handgelenk auf seltsame Weise drehen musste, sodass ich mir erneut wie eine nutzlose Vollidiotin vorkam. Kein einziges Mal zeigte er mir, wie diese Übungen richtig auszuführen waren; er redete und redete und redete so lange, bis ich sie richtig hinbekam, wenn auch nur, wie es schien, um ihn endlich zum Schweigen zu bringen. Allmählich fragte ich mich, ob er überhaupt vorhatte, mir jemals ernsthaftes Kämpfen beizubringen.
33 Deshalb war ich völlig verblüfft, als er mich eines Tages nur in Hose und Hemd erwartete, einen sehr kräftigen Degen mit kunstvoll gefertigtem Korb in der Hand. Das war kein Übungsdegen. Er hatte eine scharfe Klinge. Das Ding war echt. Ich holte tief Luft. En garde, Finte, Parade, Riposte - das alles beherrschte ich schon. Und musste es auch, um mir diese bösartige Klinge vom Leib zu halten .Venturus hatte seine Jacke über den Ständer mit den Übungsdegen geworfen. Er roch nach Schweiß, als hätte er schon einen strengen Drill hinter sich. Aber als ich einen Degen holen wollte, hielt er mich zurück. »Nein. Du brauchst keinen Degen. Du stellst dich dorthin.« Die scharfe Stahlspitze dirigierte mich zur Mitte des Raums. Dort ging ich sofort in die Anfangsstellung, en garde, wobei ich so tat, als hielte ich einen Degen in der Hand. »Kein en garde!«, verbesserte mich mein seltsamer Lehrmeister. »Du stehst einfach nur da!« Also ließ ich die Arme an den Seiten herabhängen und stand einfach nur da. Sein Degen zuckte in einer blitzschnellen Bewegung durch die Luft, und ich zuckte zurück. »Stillgestanden!« Besorgt sagte ich: »Ich denke, dass Ihr mich verletzen werdet. Ich kann nicht einfach nur dastehen und nichts...« »Gut. Gut, dass du denkst. Kein lächerlicher Degen. Ein lächerlicher Degen ist ein toter Degen.« Er lächelte, wobei er seine großen gelben Zähne entblößte. »Aber ich werde dich nicht verletzen, wenn du stillstehst und dich nicht bewegst. Nicht bewegen!« Also bewegte ich mich nicht. Langsam, aber vollkommen gleichmäßig schwang der Degen in großem Bogen auf mich zu. Ich sah ihn näher kommen. Ich konzentrierte mich auf den Gedanken, wie viel Übung es Venturus wohl gekostet haben musste, den Degen so gleichmäßig zu schwingen, ohne die geringste Unsicherheit. 33 Die Degenspitze stoppte direkt am Stoff meines Hemdärmels. »Keine Bewegung!.« Ich rührte mich nicht. Plötzlich zuckte der Degen zu meinem Knie, und ich wäre bestimmt zurückgesprungen, wenn ich nicht hätte befürchten müssen, dass er mich dann zufällig doch getroffen hätte. Venturus trat einen Schritt zurück. »Gut.« So blitzschnell, dass ich nicht einmal die Zeit fand, Angst zu bekommen, hatte ich die Degenspitze am Hals. Venturus brauchte offenbar nicht mal die Stellung zu ändern; er dehnte nur einfach seine Muskeln ein winziges, aber entscheidendes Stückchen weiter, und schon drückte die scharfe Spitze in meine Haut. Ich spürte, dass sie nicht in die Haut eindrang; trotzdem fühlte ich einen nicht vorhandenen Schmerz, der sich bis in das unterste Ende meines Rückgrats fortsetzte. Ich wagte nicht zu schlucken, bis er die Klinge zurückzog. »Jaaa«, sagte er befriedigt. Er wirkte nicht ein bisschen außer Atem. »Siehst du!« »Was sehe ich?«, wollte ich aufgebracht wissen. Wenn ich schon einmal die Beherrschung verliere, dann ist sie wirklich weg, fürchte ich. »Ich sehe, dass Ihr der größte Angeber auf der ganzen Welt seid! Und ich sehe, dass ich jetzt vor lauter Schreck ein Jahr lang nicht mehr wachsen werde!« Er senkte den Degen und ließ ihn in einem angeberischen Wirbel an seiner Seite rotieren. »Hm«, erklärte er der Zimmerdecke, »der kleine Herzogsknabe wird wütend.« »Ja, ich werde wütend, wenn Ihr mir solche Angst einjagt! Was erwartet Ihr denn, dass ich in Tränen ausbreche?« »Wut«, verkündete Venturus, »ist der Feind des Fechters. Viele wütende Männer sind vom Degen getötet worden.« »Tatsächlich? Was Ihr nicht sagt!« Venturus spazierte einmal um den Raum, wobei er den Degen in jeder nur möglichen Angriffsart herumwirbeln ließ, 33 sodass ich mich so fern wie möglich von ihm hielt. »Angst«, erklärte er der Stuckdecke weiter, »ist auch ein Feind des Fechters. Zugleich ist die Angst ein Freund des Fechters. Verstehst du das?« »Nein.«
»Nein? Warum nicht? Du hast Augen im Kopf, aber du siehst nichts! Ich lehre dich, aber du lernst nichts! Warum lernst du nicht, du dummer Herzogsknabe?« Ich holte tief Luft. »Ich sehe nur eins«, erklärte ich. »Und das ist, dass ich in dieser Sache niemals gut sein werde. Und wisst Ihr was? Es ist mir völlig egal! Weil es nämlich gar nicht meine Idee war, erinnert Ihr Euch noch? Also, warum geht Ihr nicht einfach zu meinem Onkel und erklärt ihm, dass ich zu jähzornig bin und zu viel Angst habe und einfach zu dumm bin, um jemals ein ordentlicher Fechter zu werden, und dann können wir endlich alle nach Hause gehen!« Er drehte sich zu mir um, und in seinem Blick lag echte Härte. Der Degen hing locker an seiner Seite, trotzdem fürchtete ich mich zum ersten Mal wirklich vor diesem Mann. »Du redest nicht in diesem Tön mit mir«, bellte er wütend. »Du erteilst mir keine Befehle wie einem Lakai!« Seine Nasenflügel bebten, als er tiefein- und ausatmete. »Ich gehe jetzt! Das ist kein Tag für einen Degen!« Ich stand wie erstarrt, während er Hemd und Jacke anzog, den Degengürtel und seine Waffe ergriff und stolz aus dem Zimmer stakste. »Nehmt Ihr eigentlich nie ein Bad?«, schrie ich ihm nach, aber erst, als sich die Tür hinter ihm geschlossen hatte.
Kapitel 7
n Godwin House wurden die Vorhänge zugezogen, um die Nachtkälte und die Nebelschwaden vom Fluss draußenzuhalten. Der wolkenlose Himmel über dem Fluss hatte sich längst von hellstem Blau in graue, später in grünliche Töne verwandelt, bis er schließlich in ein tiefes Dunkelblau überging, vor dem sich der Abendstern prächtig in Szene setzen konnte. Im Musikzimmer wurden Duftkerzen entzündet, die mit warmem, dunstigem, träumerischem Licht durch ihre eigenen Rauchschwaden schimmerten und von Vasen voller Blumen umgeben waren. Parfümierte Männer und Frauen in knisternden Satinkleidern waren in Gespräche vertieft. Die junge Lady Lydia Godwin hatte ihre Freunde zum Dinner geladen — oder vielmehr hatte ihre Mutter die Anwesenden aus Lydias eigener, etwas längerer Liste ausgewählt. Seit ihrem ersten Ball war es Lydia gestattet, von Zeit zu Zeit kleinere Abendgesellschaften zu geben, allerdings nur unter den gestrengen Augen diverser Anstandsdamen. Nach dem Dinner, das aus elf Gerichten bestand und von unzähligen Sticheleien und anzüglichen Bemerkungen begleitet wurde, hatte Lydia nur noch den Wunsch, sich mit ihren engsten Freundinnen in eine Ecke zurückzuziehen und die bei Tisch gehörten Andeutungen bis in die kleinsten Einzelheiten durchzusprechen: Aussehen und Bemerkungen, Kleider und Schmuckstücke, Scherze und Komplimente. Doch stattdessen musste sie weiter die Gastgeberin spielen 34 und sich auf einen gelegentlichen, aber viel sagenden Blick quer durch den Raum zu ihrer Freundin Artemisia Fitz-Levi beschränken, wenn etwas ihre besondere Aufmerksamkeit erregte. Es war allerdings nicht ganz leicht, Artemisias Blick einzufangen. Deren Aufmerksamkeit wurde nämlich voll und ganz von einem Edelmann, der in Maulbeerseide gekleidet war, beansprucht, der ständig in ernstem Ton auf sie einzureden schien. Artemisia war sich nicht ganz sicher, ob Lord Terence Monteith nun ein Langeweiler war oder nicht. Er trug sehr schöne Kleidung und guten Schmuck und hatte ein recht angenehmes Gesicht. Die Godwins hatten ihn eingeladen, und er war ledig, also kam er eindeutig als Kandidat infrage. Leider fand sie absolut nichts von dem, was er sagte, auch nur im Geringsten interessant. Und das war seltsam, denn im Gegensatz zu den meisten anderen Männern verlangte er nicht von ihr, dass sie ihm nur aufmerksam zuhörte. Nein — er bat sie tatsächlich um ihre eigene Meinung über diese Dinge und schien ihr jedes Wort von den Lippen zu saugen. Das Problem war nur, dass sie zu diesen Dingen, von denen er redete, überhaupt keine eigene Meinung hatte. Sie hatte eigentlich noch nicht viel Zeit daran verschwendet, darüber nachzudenken, ob Straßenmusikanten nicht eine Lizenz erwerben müssten oder ob das Vieh, bevor es durch die Stadt getrieben wurde, auf ansteckende Krankheiten untersucht werden sollte. Natürlich schmeichelte es ihr, dass er ihre Meinung erfahren wollte. »Wirklich?«, sagte er immer wieder. »Meinen Sie wirklich? Und was ist
mit...?«, bis sie sich schließlich gezwungen sah zu intervenieren. Tatsächlich kam ihr die Unterhaltung allmählich wie eine Unterrichtsstunde vor, auf die sie sich nicht vorbereitet hatte. Das ärgerte sie. Schließlich saß sie hier nicht im Unterricht. Artemisia warf den Kopf zurück, sodass ihre Korkenzieherlocken um ihr Gesicht wirbelten. »Lord Terence«, 35 sagte sie, »wie reizend es doch ist, sich mit einem Mann zu unterhalten, der glaubt, eine Frau kenne noch andere Themen außer Mode und Poesie!«, und hoffte, dass er sich damit vielleicht auf diese beiden Gebiete locken lassen würde. Sein Blick wich keine Sekunde von ihrem Gesicht. »Was für perfekte Zähne Ihr doch habt!«, bemerkte Lord Terence und bestätigte damit ihr Vorurteil, dass er letztlich doch ein entsetzlicher Langweiler sei, dem es überhaupt nicht darum ging, ein tiefsinniges Gespräch mit ihr zu führen, sondern der sie nur deshalb ständig um ihre Meinung bat, um sie desto ungestörter anstarren zu können. Lydias Eltern kamen mit einigen ihrer eigenen Freunde herein; sie hatten auswärts gespeist. Artemisia musste sich beherrschen, um nicht in einen Schulmädchenknicks vor Michael Lord Godwin und Lady Godwin zu versinken, schließlich war sie jetzt selbst eine junge Lady. Das Eintreffen der Neuankömmlinge hätte eigentlich ausreichen müssen, um Lord Terence abzulenken, aber der junge Edelmann hatte ein ausgesprochen beharrliches Wesen. Sicherlich würde er sie jeden Augenblick fragen, ob er sie besuchen dürfe, und sie würde ja sagen müssen, denn sonst würde sie einiges von ihrer Mutter zu hören bekommen. Verzweifelt blickte sie sich nach Lydia um, die ihr zu Hilfe kommen sollte, aber ihre Freundin musste gerade ihren Pflichten als Tochter des Hauses nachkommen: Sie unterhielt sich mit einem der Gäste, einem groß gewachsenen, dunkelhaarigen Mann von distinguiertem Aussehen. »Alte Leute«, flüsterte Artemisia kess Lord Terence zu, da es ihr inzwischen völlig gleichgültig war, was er von ihr hielt, »warum müssen sie sich immer einmischen und jedes Fest verderben?« Sie hätte fast vorhersagen können, dass ihr Verehrer geschockt zurückzucken würde. »Aber das ist Lord Ferris«, sagte er leicht empört, »der neue Kanzler des Großen Kreises per 35 sönlich! Wirklich, ich muss mich doch sehr wundern, dass Lady Godwin ihn eingeladen hat, nachdem er ihren Mann als Vorsitzenden des Rates der Lords verdrängt hat. Aber vermutlich sind sie längst an dieses Auf und Ab in der Politik gewöhnt. Ich habe natürlich meinen Sitz im Rat bereits eingenommen, obwohl ich erst ein- oder zweimal sprechen durfte, und dann auch nur über eher nebensächliche Angelegenheiten ...« »Über Vieh zum Beispiel?«, fragte sie in pikiertem Ton, »oder war es Fischfang?« Die Ironie entging Lord Terence vollkommen, und er setzte gerade dazu an, ihr ausführlich zu erklären, zu welchen wichtigen Themen er eine Rede gehalten hatte, als Artemisia den Fehler beging, Lydias Blick aufzufangen, und ein lautes Auflachen nicht unterdrücken konnte. Lord Ferris drehte sich zu ihr um. Sein linkes Auge war mit einer schwarzen Samtklappe bedeckt. »Hm«, sagte er zu Lydia, »das ist möglicherweise die erste Person, die Terence Monteith jemals amüsant fand. Bitte stellt mich Eurer Freundin vor.« »Meint Ihr etwa Artemisia?« Lydia hätte sich am liebsten auf die Zunge gebissen, weil sie wie ein Schulmädchen klang. Aber der Kreiskanzler lächelte sie charmant an, als wollte er ihr sagen, dass er genau wisse, wie schwierig es für eine junge Frau sei, bei ihrem Dinner die Gastgeberin zu spielen. In der Tat gab er ihr in diesem Augenblick sogar das Gefühl, dass er keinen großen Unterschied darin sehe, eine Gesellschaft für junge Menschen im heiratsfähigen Alter zu veranstalten oder eine Sitzung des Hohen Rates der Lords zu leiten. »Mit dem größten Vergnügen«, erklärte Lydia formvollendet. Lord Ferris musste zwar älter als ihr eigener Vater sein, aber im Gegensatz zu diesem gab sich der Kanzler wenigstens Mühe, ein junges Mädchen wie eine richtige Lady zu behandeln und nicht wie ein Kind, das mit seinem kleinen Bruder 35 ins Kinderzimmer verbannt wurde, sobald eine Abendgesellschaft angesagt war. Ferris' Haar war immer noch rabenschwarz und wurde nur von einzelnen Silberfaden durchzogen, und seine Hände waren feingliedrig und mit schweren, aber geschmackvollen Goldringen
geschmückt. Die Augenklappe verlieh ihm sogar eine gewisse geheimnisvolle Aura. Sie fühlte sich schrecklich erwachsen, als er ihr den Arm reichte und sie quer durch den Raum dorthin führte, wo Artemisia Fitz-Levi stand - mit einem dem Kanzler verblüfft entgegenstarrenden Lord Terence Monteith neben ihr. Lord Ferris war Witwer, und wenn Lord Terence Monteith von der Natur mit der Fähigkeit ausgestattet worden wäre, seine Umwelt genauer zu beobachten, so hätte er zweifellos erkennen müssen, mit welcher Absicht Lady Godwin den Kreiskanzler eingeladen hatte, bei dem Dinner ihrer Tochter vorbeizuschauen. Da ich nun einmal beschlossen hatte, nicht mehr zu weinen, war es für mich Ehrensache, nicht mehr zu weinen. Doch nachdem Venturus den Raum verlassen hatte, war ich nahe daran, entweder zu weinen oder mich zu übergeben. Ich schlurfte zur Bibliothek. Der Raum hatte etwas Beruhigendes, so still und wohl proportioniert wie er war, mit den gemütlichen Sesseln und der hervorragenden Aussicht. Zu meiner Verärgerung war der Bibliothekar des Herzogs anwesend - ein verträumt wirkender Mann, der kaum zu existieren schien und dem es gewöhnlich auch gar nicht auffiel, dass ich existierte. Er katalogisierte und ordnete die Bücher ein und verzog ständig das Gesicht über irgendwelche Dinge, die sonst niemand bemerkte, wie Eselsohren, Schmutzflecken auf den Einbänden oder Randbemerkungen in den Büchern. Doch dieses Mal sah er mich eintreten und sagte: »Guten Tag, Lady Katherine. Kann ich Euch bei Euren Studien behilflich sein? Oder sucht Ihr nach etwas anderem, nach einer, äh, eher 36 femininen Ablenkung?« Bis zum heutigen Tag bin ich davon überzeugt, dass er es nie bemerkte, dass ich kein Kleid trug. »Genau das«, entgegnete ich boshaft, »was habt Ihr denn an femininer Ablenkung hier?« Ein ungemein besorgter Ausdruck trat in das Gesicht des Bibliothekars, als müsste er sich auf der Stelle umbringen, wenn er nichts Feminines anzubieten hatte. »Ah, Natur?«, schlug er nervös vor. »Das, denke ich, ist für junge Damen sehr geeignet. Die verblichene Herzogin hatte viele seltene Bücher über Pflanzen und Tiere, und obwohl die Doktoren Milton und Melrose immer noch darüber disputieren, ob Vögel als Tiere zu klassifizieren seien, habe ich doch die Vogelbücher dort drüben bei der Tierliteratur eingeordnet.« Ich machte es mir in einer der mit Kissen gepolsterten Erkernischen mit einem großen, bebilderten Buch auf dem Schoß bequem. Die Bilder waren größer, als die Vögel im wirklichen Leben sind, und man konnte jedes Detail erkennen. Aber nach meinem Streit mit Venturus fiel es mir schwer, mich zu konzentrieren, auch deshalb, weil der Bibliothekar ständig vor sich hin murmelte. Ich blickte auf und sah, dass er vor einem Regal stand und ein kleines, zerfleddertes Lederbändchen mit einiger Mühe zwischen zwei riesigen Wälzern hervorzog. Er schlug es auf und warf es dann auf einen der Tische, als hätte es eine ansteckende Krankheit, wobei er ständig missbilligende Laute von sich gab. Als er endlich ging, um sich die Hände zu waschen, stürzte ich mich sofort auf das kleine Buch. »Der Degenfechter, Der Nicht Tod Hieß —Von einer Dame von Stand.« Der Titelseite gegenüber war ein Holzschnitt abgedruckt. Er zeigte einen altmodisch gekleideten Herrn, der sich vor einer Dame verneigte, eine Hand auf den Degen an seiner Seite gelegt. Ich schlug die erste Seite auf. Stunden später, als die Sonne längst untergegangen war und ich die Wörter nicht mehr ent 36 ziffern konnte, war ich erst bei der Stelle angekommen, an der Lady Stella herausfindet, dass sie schwanger ist, und zu ihrem Vetter auf dem Lande flieht, damit Fabian nicht erfährt, dass es sein Kind ist, denn das würde seine Konzentration bei der Vorbereitung auf das Duell gegen seinen größten Feind im Glockenturm der Universität nur unnötig beeinträchtigen. Obwohl ich schon da ziemlich sicher war, dass er siegreich aus dem Duell hervorgehen und dass auch Mangrove irgendwie entkommen würde, und wie sich später dann herausstellte, gelang ihm das dann ja auch. Ich wickelte das Buch in mein Taschentuch und entführte es in mein Zimmer. Genau genommen war es kein Diebstahl, denn schließlich befand sich das Buch des Herzogs immer noch im Haus des Herzogs, und außerdem hatte ich den Eindruck gehabt, dass es der Bibliothekar des Herzogs ohnehin hatte wegwerfen wollen.
Ich war nicht ganz sicher, wie Fabian zu so einem großartigen Degenfechter werden konnte, da er offenbar nie zu üben schien, aber ich bewunderte sein Geschick, die Treppen rauf- und runterfechten zu können, und wie er sich an den Ehrenkodex der Fechter hielt, aber trotzdem so gescheit war, Lady Stella nicht zu töten, obwohl er das doch eigentlich hätte tun sollen. Er nahm zwar Geld für seine Arbeit, aber niemand konnte ihn zu etwas zwingen, das er verabscheute, oder einem unschuldigen Menschen Schaden zuzufügen. Seine Ehre war sein Wort und sein Degen, und das wussten alle, und dafür wurde er von allen geachtet, selbst von Mangrove, obwohl der ihn hasste. Ich schob das Buch unter mein Kopfkissen, fest entschlossen, es vor dem nächsten Morgen nicht mehr zu öffnen. Aber nach dem Abendessen steckte ich eine neue Kerze in den Ständer und machte es mir bequem, um herauszufinden, wer denn nun das Gefecht im Glockenturm gewinnen und was aus Stellas Baby werden würde. Ich musste so sehr wei 9i nen, dass ich gezwungen war, aufzustehen und mir ein neues Taschentuch zu holen. Und selbst nachdem ich die Kerze ausgeblasen hatte, lag ich noch lange mit offenen Augen im Bett, und alle meine Gedanken kreisten um Degenfechter mit dunklen Umhängen, perfekter Fechthaltung, fester Degenhand und klarem, unbeirrbarem Blick. Am nächsten Morgen las ich das Buch zu Ende und begann, es sofort wieder von vorne zu lesen. Als der Bibliothekar erschien, fragte ich ihn, ob es noch mehr Bücher über Degenfechter gebe. Er suchte den Band Leben der großen Degenkämpfer für mich heraus, worin allerdings weder Fabian noch Mangrove erwähnt waren, aber immerhin enthielt das Buch andere interessante Gestalten, wie Mark von Ariston, auch Der Schwarze Mark genannt, der nach seinem größten Kampf nur noch einarmig fechten konnte, und Harling Ober, der nie eine Herausforderung ablehnte und den Degen sogar bei der Hochzeit meiner Urgroßmutter Diane, der Herzogin von Tremontaine, getragen hatte. Ober hatte übrigens seine Kunst dadurch erlernt, dass er sich über die Dächer schlich, um von oben den großen Degenfechter Rampiere bei der Übungsarbeit zu beobachten, nachdem sich dieser geweigert hatte, Obers Lehrmeister zu werden. So betrachtet konnte ich vermutlich von Glück reden, dass ich Meister Venturus hatte. Allerdings ließ sich mein Lehrmeister bei der nächsten Unterrichtsstunde nicht blicken. Vielleicht war er beleidigt und hatte gekündigt. Oder vielleicht blieb er mir nur fern, um mir eine Lektion in Sachen Respekt zu erteilen. Oder er bereitete wieder einen seiner Scherze vor, mit denen er sich über einen kleinen Herzogsknaben lustig machte, der furchtbar Angst hatte und niemals das Fechten lernen würde. Aber ich hatte mich für die Übungsstunde angezogen, also übte ich allein. Ich fragte mich, wie ich mich wohl schlagen würde, wenn mir die Musketiere des Königs auf den Leib rückten — wenn wir noch einen König gehabt 37 hätten — oder wenn ich mit einem Fuß im Fluss und mit dem anderen auf dem Ufer kämpfen müsste. Dann kam mir der Gedanke, dass mir ein nachtschwarzer Umhang eigentlich ganz gut stehen würde sowie eine dazu passende juwelenbesetzte Haarnadel, um mein Haar hochzustecken.
Kapitel 8
Der Herzog von Tremontaine war bester Laune: Am Vormittag hatte er im Rat der Lords Zwietracht gesät, und nun, am Nachmittag, sollte er einen neuen Mantel angepasst bekommen. Er stand mitten in einem der sonnendurchfluteten Räume von Riverside House und erlaubte einem seiner Sekretäre, ihm die neu eingegangenen Briefe vorzulesen, während er gleichzeitig Antwortschreiben diktierte und sich bemühte, für den Schneider stillzuhalten und nebenher noch mit einem Freund ein Gespräch zu führen. Der herzogliche Obersekretär, ein vorzeitig kahl werdender junger Mann namens Arthur Ghent, streifte das Band von der nächsten Papierrolle und zog sie auseinander. »Hier sind die Schreiben, die an den >Herzog von Riverside< adressiert sind«, erklärte er. »Die Bettelbriefe habe ich bereits an Teddy weitergeleitet. Er wird nach Eurer Liste vorgehen, die Summe in seiner Monatsabrechnung aufführen und Euch zur Genehmigung vorlegen. Übrig sind jetzt nur noch Briefe von Leuten, von denen ich noch nie gehört habe, deren Namen aber Euch vielleicht ein Begriff sein mögen: Es handelt sich um die übliche Litanei von
Beschwerden und Vorschlägen.« Er breitete die Papiere auf dem Tisch aus. Sie waren auf allen möglichen Materialien geschrieben, auf denen ein Satz Platz hatte, von der Rückseite alter Wirtshausrechnungen bis hin zu Blättern, die aus Büchern herausgerissen worden waren. »Hm...« Ghent ging einen Brief nach dem anderen durch. »Selbe Schrift, selbe Schrift, selbe Schrift... 38 ein sehr beschäftigter Schreiber. Ich frage mich, wer das wohl sein mag?« »Lass mal sehen.« Der Herzog streckte die Hand nach den Papieren aus, wobei er eine der Nähte wieder aufriss, die der Schneider gerade sorgfältig mit Nadeln festgesteckt hatte. »Ja, den kenne ich. Noch einer von der Universität — genau wie du, Arthur, aber nicht in deiner glücklichen Lage, sich einen wichtigen Sekretärsposten ergattert zu haben. Versuchte es erst mit Lyrik, dann mit Drama, dann mit Alkohol, und das brachte ihn nun dazu, sich als Briefeschreiber für die weniger glücklichen Einwohner von Riverside durchschlagen zu müssen. Also, schauen wir mal: Was haben die weniger glücklichen Einwohner von Riverside denn nun so auf dem Herzen?« Der Herzog überflog ein paar Zeilen eines Briefes, dann eines weiteren. »Sie wollen nicht, dass die Ruinen abgerissen werden. Pech gehabt. Die neuen Abwasserkanäle gefallen ihnen. Das will ich doch hoffen. Sam Bonner ist in einen der Kanäle gefallen und hat sich den Fuß verstaucht und will Schmerzensgeld. Bonner? Lebt der denn noch? Der war doch schon scheintot, als ich noch ein Junge war.« Er reichte den Brief seinem Sekretär zurück. »Kein Schmerzensgeld, sonst wird ein Präzedenzfall daraus. Nein, warte mal, von wo schreibt er eigentlich?« Der Herzog las die Absenderangabe am Fuß des Blattes. »>Alt-Margarethen, Nähe Parmeter Street.< Großer Gott, er lebt praktisch in einem Kellerloch. Schick ihm irgendwas, schick ihm ein wenig Wein. Aber kein Geld.« Ghent notierte die Anweisung auf der Rückseite von Bonners Brief. »Das ist doch ein Witz«, bemerkte die Hässliche Dame, die in einer Ecke saß und gespannt verfolgte, wie sich die Sonnenstrahlen über den gemusterten Teppich bewegten. »Die ganze Sache mit dem >Herzog von Riverside