Erich Fried
Die bunten Getüme
Siebzig Gedichte
Verlag Klaus Wagenbach
Berlin
Die Gedichte dieses Bandes entsta...
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Erich Fried
Die bunten Getüme
Siebzig Gedichte
Verlag Klaus Wagenbach
Berlin
Die Gedichte dieses Bandes entstanden zwischen
1971 und 1977
Wagenbachs Taschenbuch 447 Neuausgabe 2002
Gesamtauflage 24 000
© 1977 Verlag Klaus Wagenbach,
Emser Straße 40/41, 10719 Berlin
Umschlaggestaltung: Götz Gorissen unter Verwendung des
Bildes Les Agréments et l’utilité Von Max Ernst
© VG Bildkunst, Bonn.
Gedruckt und gebunden von Pustet, Regensburg.
Printed in Germany.
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN 3 8031 2447 6
Vom Ungestüm in unserer Welt, aber auch Ausblicke auf Freundlichkeit, Heiterkeit und auf die fast schon vergessenen zärtlichen bunten Getüme. Diese Gedichte zeigen die enorme Weite von Erich Frieds Lyrik: Betrachtungen aus dem Alltag wie das Küchentischgespräch; sprachspielerische Fabeln, zum Beispiel von dei Biberbüberei, Liebesgedichte und natürlich das große gesellschaftspolitische Engagement für mehr Menschlichkeit. Frieds Gedichte bleiben nie in ihren Umständen verfangen. Sie befragen kontinuierlich das eigene Gewissen und die Moral der bestehenden Verhältnisse. Erich Fried, geboren 1921 in Wien, floh 1938 nach London, wo er bis zu seinem Tod 1988 lebte. Wegen seines Gedichtbands und Vietnam und (1966) noch heftig umstritten, wurde er später mit den Liebesgedichten (1979) zum meistgelesenen deutschsprachigen Lyriker seit Bertolt Brecht. Das Gesamtwerk Erich Frieds erscheint im Verlag Klaus Wagenbach.
Bruchstücke
Nachzügler für Paul Celan
Nach: Nachgezogen Nachgezogen die Linie (Lebens- und Sterbens-) die Linie die keine Handlinie war die Linie derer die keine mächtigen Hände hatten die keine Hände mehr haben Linien zu ziehen Nachgezogen die Linie derer die in die Hand der Mächtigen fielen derer die aus der Hand der Mächtigen fielen Nachgezogen der Linie bis zu ihrem Fall Dort zog sie dich nach
Denn der Regen der regnet jeden Tag zu Brechts »Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit«
Stühle haben Sitzflächen und der Regen fällt von oben nach unten Das ist nicht unwahr Und der Dichter der sagt »Ein Stuhl ist ein Stuhl« und verkündet »Niemand kann etwas dagegen machen daß der Regen nach unten fällt« der spricht die Wahrheit Aber wenn er behauptet »Jetzt versinkt sichtbar vor aller Welt einer der großen zivilisierten Staaten nach dem andern in die äußerste Barbarei« so maßt er sich Werturteile an und führt willkürlich Zeitfragen ein und beleidigt dadurch die Dichtkunst und sagt auch gar nicht die Wahrheit weil doch noch immer Stühle Sitzflächen haben und der Regen nach unten fällt
Und sowohl die Sitzflächenhaftigkeit der Stühle wie auch das Gleichbleiben des Fallens des Regens falls es regnet sind Beweise für die Zeitlosigkeit der Dichtung
Aber falls einer unter uns ist der das bezweifelt der soll nicht so feige sein sondern vortreten und sich melden und so sicher wie der Regen von oben nach unten fällt wird man ihm hier bei uns die gebührende Antwort erteilen denn der Regen der regnet jeden Tag
An einen lyrischen Dichter
Fragen soll man nicht stellen denn sie könnten beantwortet werden aber ich frage mich manchmal: Wenn du einer wärest von denen die erstickt sind in Giftgas und Kot ob du auch dort bis zuletzt mit zufriedenem Lächeln die Schattierungen deiner Orgasmen verwandelt hättest in Beschreibungen einer Landschaft aus Meer und Palmen aus Ölbäumen alten Mauern und Wolkenspiegeln in die du blickst um deine Gedichte zu sehen die immer wieder den Sand die Mauern Felsen und Bäume deiner Abende feiern mit austauschbaren Geliebten bis ich zuletzt keinen Sand mehr sehen kann ohne daß du in ihm auftauchst als Spiegelbild deiner Gedichte in diesen Jahren in denen unsere Toten verfault sind und einige unserer Lebenden sich ihre Schlächter zum Vorbild genommen haben weil sich die Ohnmacht nach dem Untergang ihrer Mörder gerne für Macht hält und sich umsieht nach Schwächeren und sich in ihnen spiegeln will als Gewalt wie du dich in Klippen und Bäumen die du breittrittst von Zeile zu Zeile als könntest du so deine Angst vor der ungeschriebenen Wahrheit zertreten
Ein Frauenkenner
Da hat einer den Morgen genannt »die gelbe Hure, klein und doch erschreckend zäh.« Nun ja der Mann ist ein Dichter und denkt sich vielleicht nichts weiter wenn er eine Frau gebraucht zu solchen Vergleichen Aber ich hoffe wenn so ein Dichter vielleicht mal wieder einer Hure zu nahe kommt daß die ihm dann einen schönen guten Morgen wünscht oder bereitet der noch lange nachwirkt in ihm klein und doch erschreckend zäh
Klage über die Doppeldeutung Weh unser guter Kaspar ist tot. wer trägt nun die brennende fahne im zopf. wer dreht die kaffeemühle. wer lockt das idyllische reh. auf dem meer verwirrte er die schiffe mit dem wörtchen parapluie und die winde nannte er bienenvater. weh weh weh unser guter kaspar ist tot. heiliger bimbam kaspar ist tot. die heufische klappern in den glocken wenn man seinen vornamen ausspricht darum seufze ich weiter kaspar kaspar kaspar. warum bist du ein stern geworden oder eine kette aus wasser an einem heißen Wirbelwind oder ein euter aus schwarzem licht oder ein durchsichtiger ziegel an der stöhnenden trommel des felsigen wesens. jetzt vertrocknen unsere scheitel und sohlen und die feen liegen halbverkohlt auf den Scheiterhaufen, jetzt donnert hinter der sonne die schwarze kegelbahn und keiner zieht mehr die kompasse und die räder der schiebkarren auf. wer ißt nun mit der ratte am einsamen tisch, wer verjagt den teufel wenn er die pferde verführen will, wer erklärt uns die monogramme in den Sternen, seine büste wird die kamine aller wahrhaft edlen menschen zieren doch das ist kein trost und Schnupftabak für einen totenkopf. HANS ARP
Woran unser guter Kaspar gestorben ist? Daran daß einer die Windeuter deuten wollte aber nicht anzitz eines Euters aus schwarzem Licht sondern anhand und anfuß einer einfachen D-Verdopplung die die Welt um keinen Deut besser gemacht hat indem er statt Windeuter Winddeuter las und so diesen dunkelnagelneuen Beruf schuf der sich zur Wetterkunde verhält wie
die Astrologie zur Astro- und Gastronomie Dabei hat er keinen Heufisch danach gefragt ob diese Durchbrechung des Müßigganges durch Deutung so einen Werdegang nicht ungangbar macht Zwar war der Schirokkoteufel gebannt durch den deutlichen Führspruch: »Ihr habt nichts zu verlieren als eure Ketten aus Wasser von denen der Ganges zum Übertritt gavialisiert wird und alle Ganglien zum Verknoten ihrer Lianen« Aber so eine Deutung durchhaut sogar den geschürztesten Knoten denn wenn sie nicht findig ist, ist sie windig; und daran, weh, an der Winddeuterei ist unser guter Kaspar gestorben!
Unzulänglicher Traum
Eine Stimme die sagte:
»Höre doch endlich auf
dich nur mit Großigkeiten abzugeben«
Ich erwachte und stellte erleichtert fest daß diese
Stimme in Prosa gesprochen hatte also belanglos sein
mußte für meine Gedichte
und zweitens daß sie sich selbst zu erkennen gegeben hatte
als sinnlos und unerwachsen
durch dieses kindische Wort
Guter Vorsatz
Ich habe es satt ich habe zuviel geschrieben Ich will nur noch schreiben was man nicht schreiben darf Aber es ist nicht genug wenn mir die Herrschenden sagen man darf das nicht schreiben denn die sagen zu oft man darf nicht Nein ich muß auch meine Genossen fragen diese und jene die miteinander gar nicht mehr sprechen Erst wenn auch die mir sagen man darf das nicht schreiben kann ich beginnen zu wissen daß ich es schreiben muß
Hölderlin an Prinzessin Auguste von Homburg ------------- dir aber gestehen den Wunsch,
Daß, wenn die Hoffnung stirbt, auch sterbe
Die Furcht, ihre schwächere Schwester. Dann müßte keiner
Zu lange bleiben, allein, am unerträglichen Tag.
Nämlich, wo beide ihm noch nahe sind, dort stützt sich
Der Geschlagene auf jede mit einer Hand,
Und gehalten von ihnen
Ertappt er blindlings den rettenden Weg.
Wenn aber hereinbricht die Zeit,
Wenn die berechnenden Knechte
Wieder den Sieg haben sollen über die,
Die schon zu selten sind im zerrissenen Land,
Die freigeborenen Menschen, –
So laßt, ihr Götter,
Wenn ihr euch schon nicht besser
Erbarmen könnt, doch auf einen Schlag mit der Hoffnung
Resten auch dahingehn die Sorgerin.
Dann hängt, der des Todes sein muß,
Nicht hoffnungslos noch an ihr eine bange Weile,
Sondern, als hätt’ ihn der Blitz
Getroffen, stürzt er, hinab aus dem Licht, verlassen
Sogar vom Schmerz, und fallt
In der Verratenen Schattenreich, wo lang schon
die Besten wohnen.
Mitglieder des subversiven Zirkels, dem Hölderlin und Prinzessin Auguste angehörten, nannten sich »Freigeborene«. Auch Hölderlins Freund Sinclair war in sogenannte Jakobinerverschwörungen verwickelt.
Hölderlin an Sinclair
Was ist geblieben?
Nichts mehr und alles. Nämlich,
Was war, das ist und wird sein,
Auch gegen sich selbst.
Zuviel aber ist umsonst,
Und was mir schien,
Scheint nicht länger.
Aber des Todes ist wenig.
Denn sind auch verheert
Die Brunnen im Land
Und abgeholzt an den Straßen
Die heiligen Bäume des Seins,
Es kann doch keinem
Auferlegt werden, alles
Mitanzusehen, daß er es ewig ertrage
Ohne Empörung, selbst um der Liebe willen.
Und ist erst entzündet
Der Mut, so wächst ihm auch Mitleid
Mit denen, die,
Gescheucht in den Schutz der Schatten,
Versäumen den eigenen Zorn.
Viel kann verstört sein,
Daß der suchende Blick es
Kaum noch erkennt.
Nicht alle Vögel, die singen,
Helfen dem Himmel. Doch wo
Gesang fehlt, dort erblindet
Der arme Gefangene.
Das letzte aber ist Leben.
In seinem Turm »Ein freier Mann, der sich nix am Zeug flicken läßt.« ERNST ZIMMER ÜBER HÖLDERLIN
»Euer Hoheit, Euer Gnaden,
Euer Heiligkeit, Euer Majestät, der
Abstand, der uns trennt,
ist zu groß für ein Tete-a-tete.«
»Nicht doch, Signor Scardanelli,
aus dem Abstand erwüchse ja Haß!«
»Oui, monsieur,
Sie behaupten das«. »Mein guter Scardanelli, ich behaupte das angesichts…« »Sie sagen so, Sie behaupten so. Es geschieht mir nichts.« »Kommen Sie mit spazieren, daß ich mir die Zeit vertreibe.« »Sie wollen die Zeit nicht verlieren: Sie befehlen mir, daß ich hier bleibe.« »Scardanelli, nur keine Bange! Eine Reise läßt Sie genesen.« »Euer Ehrwürden sind wohl schon lange nicht mehr in Frankreich gewesen?« »Wo fängt die Freiheit an? Ziehts Hyperion nicht nach solchen Orten?« »Euer Majestät, das darf, das k a n n ich nicht beantworten.« »Mein lieber Hölderlin, wer wie Sie die Zustände so sah…« »Eure Heiligkeit sprechen mit Scaliger Rosa.«
Die Worte der Besucher Hölderlins (hier rechts eingerückt) sind nicht verbürgt. Hölderlins Worte sind nach Aufzeichnungen der Besucher zitiert. Hölderlin gab sich meist italienische Namen. Seinen wirklichen Namen lehnte er ab. Besuchern verlieh er hochtrabende Titel.
Fabeln
Kinder- und Hausmärchen von der Zusammenrottung
Märchenwort überlebt von seiner eigenen Feier Angstverbrämt: Keiner mehr feiert es mit In welches erleuchtete Fenster starrten die Stadtmusikanten zuletzt vor den Schüssen? Tierische Reste: ein Esel ein toter Hund einige blutige Federn und keine Beweise
Biberbüberei
Die Bibin Bib war vermählt mit Biber Sie hatt’ ihn lieb zwar doch er sie lieber Er fand sie weiblich er fand sie biblich er fand sie leiblich er fand sie lieblich Er fand sie heilig er fand sie keusch und er baute eilig mit viel Geräusch und nicht nackte Träume von seiner Dame Er nagte Bäume zum Wohnteichdamme Sein Unternehmen ging ganz aufs Ganze mit Tonen Lehmen am Kellenschwanze Doch hinterm Riedbruch wo Vögel piepsten beging sie Bibruch mit Bibstenliebsten
Da war dem Biber sein Haus verdorben er wäre lieber gleich ausgestorben
Der Mausefall
Die Krotts hatten eine entartete Maus
die machte sich aus Speck nichts draus.
Die Putzfrau ging fort und spie Gift und Galle:
»Das Biest läßt den Speck stehn und frißt nur die Falle«
Da fand Vater Krott es sei eine Katze
in so einem Fall zur Entmausung am Platze
Doch die Maus fing die Katze und fraß sie fast ganz
Vor dem Mauseloch fand man nur Krallen und Schwanz
Drum hat dann Frau Krott von Sorge gequält die Sache
befreundeten Nachbarn erzählt Die fanden daß so etwas
merkwürdig sei und verständigten heimlich die Polizei
Da wurden die Krotts polizeilich verhört
und man hielt sie natürlich für geistesgestört
So kamen sie alle ins Irrenhaus
In der Villa Krott wohnt jetzt nur noch die Maus
In der Fremde
Aufgewachsen unter den Ungetümen durchgeschlüpft zwischen Pranken und Klauen entronnen ihren Gebissen und ihren Flügelzangen und den Giftstachelkämmen der sich wälzenden Ungetümleiber kam ich zu den Getümen Ungewohnt ihrer Kleinheit der Zierlichkeit ihrer Pfoten und Hochzeitsfedern der Anmut ihrer Blättertänze und ihres Morgengeflatters fand ich die bunten Getüme nicht geheuer Ich zog mich zurück und nannte sie Ungeheuer
Große Bereinigung
Die Ursachen kämpfen jetzt gegen die Folgen daß sie keiner mehr für die Folgen verantwortlich machen darf denn auch das Verwantwortlichmachen gehört zu den Folgen und Folgen werden verboten und verfolgt von den Ursachen selbst Die wollen von solchen Folgen nichts mehr wissen Wer sieht wie eifrig sie hinter den Folgen her sind und immer noch sagt sie stehen in enger Verbindung mit ihnen der wird nur sich selbst die Folgen zuschreiben müssen
Beruflicher Vorgang
Unbescholtene Arme dürfen jetzt Vorgänger werden und die neuen Schuhe ihrer Brotgeber tragen Wenn dann die Schuhe bequem sind werden sie übergeben Dann erhalten die Vorgänger sofort wieder neues Schuhwerk Die besseren Brotgeber kümmern sich ständig um ihre Vorgänger – nicht nur um deren tägliches Fußbad Ein Familienvater ließ sich eigens ein Bein amputieren und ist nun Vorgänger eines einbeinigen Millionärs
Frau Welt
Ich bin zur Welt gekommen und bin nun endlich so weit laut zu fragen wie ich dazukomme zu ihr zu kommen Sie kommt und sagt leise: Du kommst nicht du bist schon im Gehen
Kinderspiel
Die Dürre ausschöpfen aber mit welchen Eimern? Mit dem löchrigen Topf der lieben Liese? Mit Danaidenfässern? Mit hohlen Händen? Die Dürre rinnt durch die Finger aber man kann sie auch ausstreuen daß sie Früchte trägt und sich vermehrt wie der Sand am Meer oder mischen den Sand mit Wasser und Kuchen backen
Brücken »London Bridge is falling down, I My fair Lady!« »Sur le pont d’Avignon / On y danse, on y danse.«
Eine Brücke herauf aus dem Wasser zu einer älteren Brücke die zu den Stufen hinunter ins Wasser führt Wir dürfen noch nicht ertrinken denn ohne uns müßte die ältere Brücke ins Wasser fallen Und ohne die ältere Brücke könnten die nach uns kommen nicht mehr den Weg finden aus dem Wasser ins Wasser Darum stark sein und die ältere Brücke tragen die getragen sein muß von Menschen wie alle Brücken der Welt
Das verlorene Paradies
Als ich meine erste Heimat
verloren hatte und als ich
in meiner zweiten Heimat
und in meiner Zuflucht
und in meiner dritten Heimat
und in meiner zweiten Zuflucht
alles verloren hatte
da machte ich mich auf den Weg
um mir ein Land zu suchen
das durch keine Erinnerung
an unersetzbare Verluste
vergiftet war
So kam ich ins Paradies
Dort fand ich Frieden
Alles war ganz und war neu
Nichts fehlte mir
Da sagte ein Wächter
mit einem brennenden Schwert:
»Fort mit dir
Hier hast du nichts verloren«
Fortritt
Bei günstigem Wind galoppiert Paradiesgeruch uns entgegen Dann können wir Atem holen schon lang vor dem Ziel Wenn aber der Wind im Rücken steht weht Leichengestank uns nach und beschlägt mit Tau oder Reif den Scheinheiligenschein unsrer Reiter
Seifenblasen
Ich klammerte mich an einen Strohhalm und blies Politiker Generäle und Polizisten Sie schillerten aufgeblasen in allen Farben aber sie platzten sowie man sie berührte Ein Polizist dem ich das sagte ohne ihn zu berühren berührte mich mit einem Schlagstock so daß ich platzte
Freier Wettbewerb
Die Revolutionäre sitzen am Rand und angeln nach dem versunkenen Licht tief unten Rechts und links von ihnen fischen Reaktionäre aus dem selben Wasser die Finsternis Die Revolutionäre fischen viel tiefer die Reaktionäre haben die teureren Angeln Die Reaktionäre ziehen wie alle Tage immer wieder ihre schwarzen Nachrichten hoch die Revolutionäre nur alle heiligen Zeiten einen einzigen kleinen glimmenden Funken * Manchmal fangen sie weder Dunkel noch Licht nur Fische Die Reaktionäre fangen die großen Fische Die Revolutionäre fangen die kleinen Fische Die Reaktionäre sind die besseren Fischer Sie fischen erbarmungsloser Sie fangen mehr Also wird das Dunkel aussterben vor dem Licht
Dann werden die kleinen Fische die großen fressen
Der Reingewaschene
Ich kannte einen dem hätte ich gern verziehen daß seine Hände nicht rein waren aber er bestand darauf sich öffentlich reinzuwaschen von Kopf bis Fuß und dann mit dem mühsam rosig gebürsteten Finger zu zeigen auf andere Da konnte ich nichts mehr sehen als die von lauter Waschen rissig und spröde gewordenen Stellen an ihm
Navigare necesse est, vivere non est necesse Treiben auf diesem Schiff in die Zone der Zorne Der Zorne wessen und der Zorne von wem? Der zu Unwesen gemachten der zu Gespenstern gemachten für die ich nie genug Schalen mit Milch hinstellen könnte um sie zu besänftigen weil es nicht Milch genug gibt In die Zone der Zorne vielleicht der Zorne auf mich weil ich treibe auf ihrer Flut und kaum noch versuche dieses Schiff dieses läutende Wrack zu steuern
Verlorene Sicherheit
Mein Tod ist krank Er klagt sooft ich ihn sehe daß er sich klapprig und schwach und halbtot fühlt Wie kann ich ihm helfen? An wem soll ich sterben wenn ihm den ich lange schon kenne wenn meinem zarten leidenden schmächtigen Tod etwas zustößt?
Beobachtungen
Regsamkeit
Weil viel geschehen kann wenn einmal nichts geschieht muß immer etwas geschehen damit nicht alles geschieht Drum Lärm geschlagen daß er das Schweigen verschweige daß die unstillbare Stille uns nicht das Lautere zeige Das letzte was man tut ist das Nichtstun verhüllen Wenn die Unruhe ruht kann das Leere alles erfüllen
Schlechte Zeiten
1 Erhörung Ich habe es deutlich gesagt und sie haben sich deutlich ihre deutlichen Ohren zugehalten Der mir gestern noch zuhörte hat von Amts wegen zugehört Er hat es festgehalten Er hält es mir unter die Nase Ich soll es ihm heut unterschreiben Morgen soll er vielleicht auch mich festhalten Mein einziger deutlicher Hörer 2 Angst Meine Angst ist so groß geworden daß sie vor nichts mehr Angst hat Meine Angst ist so groß geworden daß alles Angst hat vor ihr In Wirklichkeit ist meine Angst klein geblieben und kleinlich
Auch mich macht sie klein und kleiner Nur dadurch kommt sie mir groß vor
Drei Anpassungen
1 Der Harmlose Ich habe gelacht wie man lacht und die Achseln gezuckt wie man die Achseln zuckt und geredet und geschwiegen wie man redet und schweigt und habe nicht geweint wie man nicht weint Warum soll ich jetzt nicht leben wie man lebt? 2 Sachverständige Es gibt Zeiten da schelten sogar die Opportunisten den Opportunismus Glaub ihnen denn sie wissen am besten wovon sie sprechen Trau ihnen nicht denn sie schelten den Opportunismus aus Opportunismus
3 Zwei Aussagen Der eine sagt rein gar nichts der andere schmutzig alles
List der Vernunft
Wir wissen daß sie die List der Vernunft ist Aber weiß sie das? Macht dieses Wissen uns listiger oder vernünftiger als sie selbst? Übertreffen wir sie an Vernunft oder hat sie uns überlistet?
Ermüdung
1 Gelassen Ich lasse mich lachen und ich lasse mich weinen Ich lasse mich zornig sein und liebevoll oder müde ein lose gewordener Milchzahn im Mund des Lebens eine kleine Wunde die morgen verheilt sein wird
2 Drauf pfeifen Das Loch das die Welt nicht haben wird ohne mich ist jetzt das letzte Loch auf dem ich pfeife
Philosophie in Oxford
1 Nichtintervention »Die Philosophie läßt alles so wie es ist« Dann hängt davon wie es ist die Schwere ihres Verbrechens ab es so wie es ist zu lassen 2 »Importance is not important, truth is.« J. L. AUSTIN
Seine Unwichtigtuerei mit der Wichtigkeit macht in Wahrheit auch seine Wahrheit unwahr Denn wie kann Wahrheit ihm wichtig sein ohne daß sie Wichtigkeit hätte Aber Wichtigkeit ist ihm nicht wichtig
3 Zur Aussage vom Besen in der Ecke »Mein Besen steht in der Ecke«
Und was wird aus mir
und dem Zimmer
und woher ist der Staub gekommen
und ist es wirklich nur Staub?
Und könnte der Besen
sogar wenn er nicht nur dort
in der Ecke stünde
noch Kehraus machen?
Wohin?
»Mein Besen steht in der Ecke«
Gewiß
Aber wo
steht der Besen dessen
der die Welt von mir reinfegen will?
Steht er noch?
Kommt er nicht näher?
Aus welcher Ecke?
Ist es nur einer
und ist es nur ein Besen?
Und soll der Besen
in der Ecke
sein Besen bleiben
wenn er ihn nicht benutzt
um Unrat zu fegen?
Der Oxforder Philosoph spricht nur von dem was er weiß Er antwortet ruhig: »Mein Besen steht in der Ecke«
Rückblick
Ich wollte meiner Zeit Flamme sein oder Teil ihrer Flamme Ich war ihr Schatten oder ein Teil ihres Schattens Meine Zeit war die Zeit der Wut: Schatten der Wut Meine Zeit war die Zeit der Ohnmacht: Schatten der Ohnmacht die Zeit der Tyrannei: Schatten der Tyrannei Ich wollte meiner Zeit Fahne sein oder ein Fetzen der Fahne
Fahne der Flamme der Wut der Ohnmacht der Tyrannei oder ihr Fetzen oder ein Teil seines Schattens
Lächelei
Zwischengedanken
Weil es menschliche Beziehungen gab mußte es Menschen geben Nun gibt es zwischenmenschliche Beziehungen Die lassen auf das Dasein von Zwischenmenschen schließen Es muß aber auch Zwischenunmenschen geben die dafür sorgen daß die zwischenmenschlichen Beziehungen so unmenschlich sind.
Ballade von der Himmelfahrt des treuen Dieners
Der Caesar sprach zum Priester: »Nimm Sklaven oder Biester« Der Haruspex sprach: »Nein, das tu allein! Lies du dir selber Zeichen aus Vieh- und Sklavenleichen! Der Himmel ists der winkt – Dein Opfer stinkt.« »Doch die Uns kritisieren« sprach Caesar »die krepieren.« Der Priester schnitt sich drauf das Bauchfell auf Der Greis war zu beneiden in seinen Eingeweiden begann er ohne Grauen sich selbst zu schauen Ob dieser seltnen Chance geriet er gleich in Trance in der er sich verhieß das Paradies Das lohnt schon manche Schmerzen Er griff sich nach dem Herzen Er fands am rechten Fleck – dann war er weg
Sein Caesar gab die Leiche den Fischlein in dem Teiche doch blickt er aufwärts oft und hofft und hofft
Die Eigenschaften
Die eigentlichen und die -schaftlichen die wesentlichen und die -haftlichen die göldlichen und die rötlichen die leblichen und die tödlichen die verbindlichen und die verblutlichen die ängstlichen und die vermutlichen die erwachsentlichen und die kindlichen die versehentlichen und die blindlichen die reichlichen und die ärmlichen die unerbittlichen und die erbärmlichen die unab-lichen und die wendlichen die anfänglichen und die endlichen
Alle die Eigenschaften waren versammelt aber zum Glück war meine Türe verrammelt
Herbstmorgen in Holland
Die Nebelkuh am Nebelmeer muht nebel mei nem Bahngleis her nicht neben, denn wo Nebel fällt, wird auch das n zum l entstellt
Herbstmorgel il Hollald
Lul weiter il die Lebelwelt, so bil ich eidlich kolsequelt uld sage licht mehr Nebel lur Lebel
Für Peter-Paul Zahl
Aus einem historischen Briefwechsel »Sie sprechen mit H. E. Rosetti« – HÖLDERLIN
Dante Gabriel Risotto
schrieb an Fürst Bismarck: »Mein teures Otto!
Noch vor die Geburt von das Sacco-Vanzetti
nennt euer Holderlein sich Rosetti!
Er nennt sich auch Scardanelli. –
Aren’t Italian pseudonyms smelly?
Schreit’ bitte obrigkeitiglichst ein,
aber nicht ungefrühstückt!
– Dein…«
Diese Verse sind Peter-Paul Zahl gewidmet, der die Wichtigkeit der Frankfurter Hölderlinausgabe verteidigt hat. Der italienisch-englische Maler und Dichter Dante Gabriel Rossetti kannte in Wirklichkeit weder Bismarck noch Hölderlin. Die Verkürzung »ungefrühstückt« war eine Stileigentümlichkeit Bismarcks. Sacco und Vanzetti fielen mir wahrscheinlich ein, weil sie Justizopfer waren, ebenso wie Peter-Paul Zahl.
Verstandsaufnahme
Der Befassungschutz verschützt die Versitzenden vor denen die den Verhörden als bestockte Beschwörer verkannt sind weil sie eine Beänderung der Lebensverdingungen wollen durch Bewandlung der Produktonsbehältnisse Ein wohlverstallter Veramtenapparat leistet Bezieht auf eigenes kritisches Denken die Herrschenden aber halten Verratungen ab wie sie die Verherrschten davon abhalten können sich verdrückt und um ihr Leben vertrogen zu fühlen Ein Heer von Bedummern will sie zur Selbstverherrschung erziehen und verarbeitet zu diesem Zweck die Normalbebraucher mit Verschwichtigungen und mit Betröstungen Aber seht die Behafteten und ihre verwaffneten Verwacher und was die Gerichte bezapfen vor die man sie stellt Seht euch diese Verweisbefahren an die Haftverfehle und Bestöße gegen das Grundrecht die Bedrehungen und ausweichenden Verscheide dann die Hauptbehandlungen und die begnügten Verrichterstatter
und zuletzt die Beurteilten und die vergnadigten Kronzeugen Wieviel Bestellung wieviel heimliches Einbenehmen wieviel Bekommenheit angeblich beläßlicher Menschen die verstochen sind von ihren betauschbaren Rollen von Verförderungsbesprechungen oder auch nur von der Verrufung auf ihre Treue als Diener des Staates Steht die Bemarktung der menschlichen Arbeitskraft die Bezahnung der Staatsorgane in immer neuen Verreichen seht die Verleidigung der Würde des Menschen und fragt eucht dann ob ihr das verjahen wollt oder beneint
Der Unge Not
Hei wies die Heiten mit den Ismen trieben! Dem Ge gefiel das nicht das Ver verging vor Scham und nur ein Un ist unberührt geblieben als man vom Ei den Schrei »Barbarei!« vernahm Doch ein entsetztes Ent von einem Be begleitet sprach auf sie ein: »Wir alle sind bedroht Bedenkt was ihr entfesselt wenn ihr streitet: Mord und Rache! Denkt an der Unge Not«
Weiterungen
Sie suchten das Weite Aber von solchen Suchern wollte das Weite sich nicht finden lassen So lag es nahe daß auch das Weite nun das Weite suchte Das Weitere fand sich von selbst
Überlebensregeln
Tu keinem was Vielleicht tun sie dir dann auch nichts Tu für keinen was Seine Feinde werden sonst deine Feinde Das könntest du noch überleben Aber seine Freunde werden sonst deine Freunde Dann bist du verloren
Empörungen
Das Tor zum Gesetz Lasciate ogni speranza
Hier wird nicht gefoltert hier wird kein Beruf verboten hier wird nicht gemordet hier wird nicht diskriminiert Denn wer das sagt der macht sich der üblen Nachrede schuldig und der Beleidigung derer die all das nicht tun
Programm
Das Gewissen kann künstlich hergestellt werden Ein Elektronengehirn kennt schon die Formel Das bedeutet den Sieg des Guten und Schönen Die Abschaffung des Menschen kann endlich beginnen
Verdammungsurteil für Ulrike Meinhof
1 Sie wurde zum politischen Wahnsinn getrieben von den politisch Normalen und deren Normen 2 Wenn sie noch schreiben könnte sie selbst müßte ihn schreiben den endgültigen Bericht über ihren Tod und die Selbstmordbeweise sichten und einzeln erwägen und sagen wer diesen Selbstmord begangen hat
Deutsche Sprachübung
Lies einen Satz der beginnt »Wir verfolgen aufmerksam und bereit…« mit den Augen der aufmerksam und bereits Verfolgten
Wie du werden sollst
Die Verleumder sollen dich nennen Verleumder Die Verräter sollen dich nennen Verräter Die Feiglinge sollen dich einen Feigling nennen Die Hinterlistigen sollen dir nachsagen Hinterlist Die Bundesgenossen von Mördern sollen dich einen Bundesgenossen von Mördern nennen Und alle für die das Denken eine Gefahr ist sollen alle warnen vor deinem gefährlichen Denken Die Machthaber sollen die Ohnmächtigen warnen vor deiner Ohnmacht oder vor deiner Machtgier Die Käuflichen sollen dich laut käuflich nennen und leise einander fragen warum du es noch nicht bist Die Unwissenden sollen dich unwissend nennen Die Verbohrten sollen klagen daß du verbohrt bist Die Dummen sollen plappern von deiner Dummheit Die ungestraften Lügner sollen dich Lügen strafen Die Ungerechten sollen dich ungerecht nennen Die Verfolgten sollen wissen du wirst verfolgt
Vor einer Versöhnung
Der große Wettkampf der unser Land erfaßt hat zwischen Gemeinheit und Kleinheit geht weiter Die Gemeinheit kann ihre Opfer schneller vernichten Die Kleinlichkeit wirkt nicht so rasch aber sicher und unauffällig Beide sind gleich beliebt und haben gleichviel Erfahrung Es heißt ihre gütliche Einigung steht vor der Tür
Abzeichnungen
Die Leiden
Der leidet an seinem Reichtum und der an seiner Macht Ich leide an meinem Mitansehn wie der Tag an der Nacht Der leidet an seiner Liebe und der an seiner Not Ich leide an meinem Drandenkenmüssen wie das Leben am Tod Der leidet an seiner Habsucht und der an seiner Lust Ich leide an meinem Nichthelfenkönnen wie das Herz an der Brust
Ungenau
Als Kind konnte ich nie das Wort Ungestüm lesen Für mich hießt es Ungestürm und so laß ich es auch Das hatte mit Stürmen zu tun mit Unwettern die vielleicht so wild waren wie das Tier das Ungeheuer das sich auf mein Ungestürm reimte und das ein Untier sein mußte getürmt aus riesigen Massen von Fleisch und Krallen und drachiger Schuppenhaut und das daher Ungetürm hieß
Altes Bild
Das offene Buch in meiner Hand ist gewichtig aber der einsame Sperling auf meinem Kopf und der Knebel in meinen Mund sind es auch Die gerechte Waage der Ungerechtigkeit wird zeigen daß der Sperling gepaart mit dem Knebel dem Buch das Gleichgewicht hält Meine schwarze Galligkeit wird keinen Ausschlag geben auf dieser Waage Ihr Zünglein wird nicht einspringen für meine geknebelte Zunge Die Melancholie läßt immer noch unermüdlich alles Neue das sie erforscht beim alten bleiben
Vorabend
Zerbrochene Kiesel der Tage unter den Bäumen der Nacht Aber die Tiere des Abends irren und rufen Arme Tiere meines längerwerdenden Abends Ich will sie streicheln aber sie sind scheu Tod und Leben schaukeln auf gleichen Schalen Das Älterwerden ist ein Wind an der Waage eine müde Fliege die summt durch die Netze des Südens: »Zieh deine Summe Nutze die nutzlose Zeit Benetze die Zunge die dir im Mund verdorrt Geh drei Schritt zurück und warte auf des Züngleins Wort« Nur die unnützen Fliegen summen und schwirren nur die Tiere des Abends rufen und irren unter den Bäumen der Nacht bei den Kieseln der Tage auf der Waage zwischen Leben und Tod
Beengung
Voll von Gegenständen die Welt die gemacht ist aus Gegenständen: Auf dem Schrank der Koffer und über dem Koffer die Wand und über der Wand die Zimmerdecke mit ihrem Wasserfleck und mit ihren Spinnenfäden und neben dem Schrank die Bücher und über den Büchern das Bild und über dem Bild ein zweites Bild und auf dem Rahmen der Staub und darüber die Stelle an der zu Weihnachten noch an einem Reißnagel die bunte Papierkette hing Ein rundes schwarzes Reißnagelloch in der Wand aber zu klein um Tote zu begraben Die Gegenstände umringen mich und werden wirklich Gegenstände die mir entgegenstehen von allen Seiten und die mir nirgends mehr Zwischenraum lassen Der Raum wird kleiner seitdem sich die Gegenstände zusammenzuschließen beginnen aber der Abstand
zwischen dem Mund der das sagen will und den Ohren die das nicht hören wollen ist größer geworden Vielleicht entsteht so ein Loch anders als das in der Wand
Drehorgellied
Ihr auf die ich vor dreißig Jahren hoffte –Aber der rote Wind wird am Abend blau oder grün – seid auch ihr gehässig geworden und kleinlich wie viele Beamte? –Und das Heidekraut auf dem gesprengten Bunker wird blühn Seid auch ihr nur zu sehen bereit was euch in den Kram paßt –Und Kinder werden singen und weder von mir noch von euch habt auch ihr verlernt auszuatmen und zu staunen und euch zu freuen? –Aber der Abendwind schaukelt die Spinnweben im Gesträuch Könnt auch ihr von der Krankheit die ihr bekämpft euch nicht heilen –Aber der Abendwind ist am Morgen schon lange verweht bringt auch ihr nur das Mißtrauen mit um es gerecht zu verteilen? –Und rostig kreischen die Räder von spielenden Kindern gedreht Werdet auch ihr so kalt und gerissen sein wie die andern –Und das Heidekraut wird zwischen Betontrümmern blühn – ihr auf die ich vor dreißig Jahren hoffte? –Aber der Wind wird singen und der Abend wird rot sein und grün
Gebrauchskunst
Mein alter Büchsenöffner Gußeisen schwarz lackiert gekauft auf dem Flohmarkt in Church Street weil er so häßlich war hat die Umrisse einer Kuh keines Stiers vielleicht eines Kalbes Sein Griff ist der Rücken abgeschlossen von einem im Jugendstil wieder vorwärtsgeschwenkten Schwanz Der Oberkiefer trägt das keilförmige Messer als hätte die Kuh einen einzigen Haifischzahn Die Messerschraube ist verborgen hinter der Auge um die Wirkung des Kunstwerks nicht zu zerstören Dieses Rinderbildnis diente also dazu zum Genuß des Büchsenfleisches zu kommen * Meine Liebesgedichte zeigen mehr oder minder stilisiert die Umrisse meiner Liebe Ohne Schraube Haifischzahnmesser und täuschendes Auge ohne Jugendstilschwanz
und natürlich nicht schwarz lackiert und nicht nur um zum Genuß des Fleisches zu kommen doch auch sie vielleicht später einmal zu kaufen auf einem Flohmarkt
Ein kalter Hinweg »A cold Coming we had of it…
With the voices singing in our ears, saying
That this was all folly.«
T. S. ELIOT Journey of theMagi
Was man im Sinn hat das soll man auch in den Sinnen haben Was man nicht im Sinn hat das muß man im Unsinn haben Ich habe rechts an mir vorbeigeschrieben Ich habe links an mir vorbeigeschrieben Muß ich anders schreiben bevor es mit mir vorbei ist? Auf dem Rückweg zu meinen Sinnen holt mich der Unsinn ein Der Unsinn geht voran auf meinem Umweg zum Sinn Sich besinnen und sich entsinnen Ist sich behaupten dasselbe wie sich enthaupten? Was ist besser eine Lüge um der brennenden Wahrheit willen
aus grauer Asche soll ein und dasselbe sein oder eine Wahrheit die kalt bleibt? Und dich kann ich überhaupt nicht belügen und nichts für dich dichten was nicht die Wahrheit ist Und die Wahrheit ist: Mir ist kalt Keine Glut der Sinne sondern ich friere Ein kalter Hinweg Und das Singen der Stimmen im Ohr die behaupten das alles sei Unsinn
Küchentischgespräch
Zwischen Besteck und Geschirr Reste von Unterhaltung Umschreibungen Gähnen Geplänkel geflügelte Worte Aber sie fliegen nicht Nichts schwingt sich auf und davon Der Vogel hüpft fort von mir und kauert unter dem Ausguß Wenn ich tot wäre wollte ich hämmern an deine verriegelte Welt Wenn ich wieder geboren wäre dich finden und zu dir sprechen Aber ich lebe und meine Worte reichen nicht bis zu dir und fallen unter den Tisch
Liebesgedicht für die Freiheit und Freiheitsgedicht für die Liebe Mit der Freiheit ist das so ähnlich wie mit der Liebe Wenn dann das sogenannte Glück mich nach Jahren wieder herausholt aus dem verschlossenen Schrank und sagt: »Nun darfst du wieder! Nun zeig was du kannst!« Werde ich dann einatmen und meine Arme ausbreiten und wieder jung sein und voller Lebensmut oder werde ich dann nach Mottenkugeln riechen und mit den Knochen klappern im Takt eines fremden Herzschlags? Mit der Freiheit ist das so ähnlich wie mit der Liebe und mit der Liebe ist das so ähnlich wie mit der Freiheit
Fast nichts
Um Recht bitten um Liebe bitten um alles bitten aber lieblos aber unerbittlich aber erbittert Bitten müssen bitter sein müssen aufs Ganze gehen müssen Auf alles kommen müssen auf nichts kommen um alles kommen Im Recht sein im Recht sein wollen im Recht sein müssen recht behalten müssen lieben wollen lieben müssen Alles wollen alles müssen Nichts mehr Nicht mehr im Recht sein müssen nichts mehr behalten müssen fast nichts mehr müssen Bitten lieben nicht rechten
Halten
Halten das heißt Nicht weiter – nicht näher – nicht einen Schritt oder heißt Schritthalten ein Versprechen – mein Wort oder Rückschau Halten dich mich zurück – den Atem an – mich an dich dich fest aber nicht dir etwas vorenthalten Halten dich in den Armen in Gedanken – im Traum – im Wachen Dich hochhalten gegen das Dunkel des Abends – der Zeit – der Angst Halten dein Haar mit zwei Fingern deine Schultern – dein Knie – deinen Fuß Sonst nichts mehr halten keinen Trumpf – keine Reden keinen Stecken und Stab und keine Münze im Mund
Gedankenfreiheit
Wenn ich an deinen Mund denke wie du mir etwas erzählst dann denke ich an deine Worte und an deine Gedanken und an den Ausdruck deiner Augen beim Sprechen Aber wenn ich an deinen Mund denke wie er an meinem Mund liegt dann denke ich an deinen Mund und an deinen Mund und an deinen Mund und an deinen Schoß und an deine Augen
Geld oder Leben
Geld kaufen gegangen
Leben kaufen gegangen
zu den Roßtäuschern
zu den Mann-
und Roß-
und Wagentäuschern
Geld kaufte ich für Leben
Leben für Geld
Geldmittel
Lebensmittel
von den Vermittlern
zu teuer
Bin ich zu Geld gekommen?
Bin ich ums Leben gekommen?
Bin ich getäuscht worden
und gekauft
und verkauft
und enttäuscht?
Nachtgebet
Vorbild in uns oder Nachbild das uns noch etwas bedeutet hilf uns daß wir nicht vorbeten oder nachbeten die falschen Lehren der Elektronengehirne und ihrer Herren und Knechte Wo das Unrecht größer wird als wir wo das Unrecht schneller wird als wir wo das Unrecht kräftiger wird als wir hilf uns nicht zu ermüden Wo das Unrecht uns übertrifft an Kenntnissen und an Mitteln wo das Unrecht uns übertrifft an Ausdauer und an Erfolgen wo das Unrecht so groß wird daß wir klein werden bei seinem Anblick hilf uns nicht zu verzagen Wo das Unrecht eindringt in uns in unsere Tage und Nächte in unser Aufschrecken und in unsere Träume in unsere Hoffnungen und in unsere Flüche hilf uns uns nicht zu vergessen
Wo das Unrecht spricht mit den Stimmen des Rechtes und der Macht wo das Unrecht spricht mit den Stimmen des Wohlwollens und der Vernunft wo das Unrecht spricht mit den Stimmen der Mäßigung und der Erfahrung hilf uns nicht bitter zu werden Und wenn wir doch verzagen hilf uns erkennen daß wir verzagen und wenn wir doch bitter werden hilf uns erkennen daß wir bitter werden und wenn wir uns krümmen vor Angst hilf uns wissen daß es die Angst ist das Verzagen und die Bitterkeit und die Angst Damit wir nicht verfallen dem Irrtum wir hätten eine neue Erleuchtung erfahren und den großen Ausweg gefunden oder den Weg nach innen und nur der hätte uns so verwandelt