Sheridan Hay
Die Antiquarin
s& 07/2008
Als Rosemary Savage mit achtzehn Jahren aus der australischen Provinz nach New...
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Sheridan Hay
Die Antiquarin
s& 07/2008
Als Rosemary Savage mit achtzehn Jahren aus der australischen Provinz nach New York kommt, hat sie auf der Welt nicht mehr als einen kleinen Koffer und ihre Liebe zu Büchern. Auf ihren Streifzügen durch die Stadt entdeckt sie das riesige Antiquariat «Arcade». Sie ist bezaubert von diesem Ort und eröffnet dem Inhaber, dass sie hier unbedingt arbeiten muss. Zu ihrem Erstaunen wird sie sofort eingestellt. Der Zufall führt Rosemary und ihren eigenwilligen Kollegen Oscar auf die Spur eines verlorengeglaubten Manuskripts von Herman Melville. Ein außergewöhnlicher Fund, den auch der rätselhafte Manager des «Arcade» mit allen Mitteln für sich gewinnen will … ISBN: 9783463405063 Original: The Secret of Lost Things Judith Schwaab Verlag: KINDLER Erscheinungsjahr: 2007
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
Buch Nach dem Tod ihrer Mutter ist die achtzehnjährige Rosemary Savage ganz allein auf der Welt. Eine mütterliche Freundin nimmt sich ihrer an und setzt sie kurzerhand ins nächste Flugzeug nach New York: Rosemary soll raus aus der engen Atmosphäre der australischen Provinz und etwas aus ihrem Leben machen. Auf ihren Streifzügen durch die Stadt entdeckt Rosemary das «Arcade», ein riesiges Antiquariat. Sie ist begeistert, und als sie dem Inhaber ohne zu zögern mitteilt, dass sie hier unbedingt arbeiten muss, wird sie zu ihrem Erstaunen sofort eingestellt. Sie taucht ein in ein Universum der Bücher, in dem sich zwischen Raritäten und Schnäppchen die wunderlichsten Gestalten bewegen. Und nach einer Weile ertappt sie sich dabei, dass sie an den eigenwilligen Oscar aus der Sachbuchabteilung, einen leidenschaftlichen Sammler entlegenen Wissens, ihr Herz verliert. Ein Brief führt Oscar und Rosemary auf eine unglaubliche Spur: Ein verlorengeglaubtes Romanmanuskript von Herman Melville ist wiederaufgetaucht. Dies ist der Anfang einer geheimen Jagd, denn auch der Vorgesetzte der beiden bibliophilen Schatzsucher, der rätselhafte Manager des «Arcade», hat seine Pläne mit dem kostbaren Fund …
Autorin
Sheridan Hay studierte Literatur und arbeitete danach lange im legendären New Yorker Antiquariat «The Strand». Auf die Idee zu ihrem Roman kam sie während ihrer wissenschaftlichen Forschungen zu Herman Melville. Heute lebt sie als Autorin und Lektorin in New York. «Die Antiquarin» ist ihr erster Roman.
Sheridan Hay
Die Antiquarin
ROMAN Deutsch von Judith Schwaab
KINDLER
l. Auflage März 2007 Copyright © 2007 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg «The Secret of Lost Things» Copyright © 2006 by Sheridan Hay Die Originalausgabe erschien 2007, unter dem Titel «The Secret of Lost Things» bei Doubleday (New York) Satz Aldus PostScript, InDesign, von Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin Druck und Bindung GGP Media GmbH, Pößneck Printed in Germany ISBN 978 3 463 40506 3
Für Michael, meinen eigenen Sturm
«… denn Erfahrung, die einzig wahre Wissenschaft …»
Herman Melville, Ein sehr vertrauenswürdiger Herr
TEIL EINS
9
Erstes Kapitel
I
ch wurde geboren, bevor diese Geschichte beginnt, bevor ich von einem Ort wie dem Arcade auch nur träumte; und auch dass es Männer wie Walter Geist außerhalb von Fabeln, von Märchenbüchern gab, hätte ich mir nicht vorstellen können. Meine Zeit im Arcade wäre völlig anders verlaufen, hätte es nicht ihn gegeben und wäre er nicht blind gewesen. Seine Augen hatten ihm fast schon den Dienst versagt, als ich ihm zum ersten Mal begegnete, und wäre es nicht so gewesen, hätte ich niemals von Herman Melvilles verschollenem Roman erfahren. Walter Geists Blindheit ist wichtig, doch werde ich meine eigene ihm gegenüber immer bedauern. Deshalb erzähle ich diese Geschichte. Und wenn ich vorne beginne, werden Sie verstehen, wie ich damals zum Arcade kam und warum es mir so viel bedeuten sollte. Ich wurde an einem fünfundzwanzigsten April geboren, das genaue Jahr spielt keine Rolle; so jung bin ich nicht mehr, dass ich ohne weiteres mein Alter nenne, aber auch nicht so alt, dass ich mich nicht mehr an das kleine Mädchen erinnern könnte, das ich einmal war. In anderer Hinsicht ist mein Geburtsdatum dennoch wichtig. Am fünfundzwanzigsten April ist Anzac Day, der wichtigste Gedenktag im Kalender jedes Australiers. Es ist der Tag, an dem sich die Australier Rosmarinzweige ans Revers stecken, um derjenigen zu gedenken, 10
die im Kriege gefallen sind, und an jene großen Verluste bei Gallipoli zu erinnern, an dessen Stränden wilder Rosmarin wächst. «Da ist Rosmarin, das ist für die Erinnerung», sagt Ophelia, nachdem der Kummer sie um den Verstand gebracht hat. «Ich bitte Euch, liebes Herz, gedenkt meiner.» Am fünfundzwanzigsten April, auf der Insel Tasmanien, sah meine Mutter überall die trockenen Rosmarinzweige am Revers der Menschen, als sie sich auf den Weg zum städtischen Krankenhaus machte, um mich zur Welt zu bringen, quer über den überfüllten Platz, wo sie der alljährlichen Lumpenparade von Veteranen und gaffenden Zuschauern ausweichen musste. Dieses robuste Kraut sollte ihr in Erinnerung bleiben, während sie viele Stunden in den Wehen lag, nicht als Symbol des Verlustes, denn sie bekam ja mich, sondern als Sinnbild des Erinnerns. Am Anzac Day entschied sie sich auch für meinen Namen – Rosemary. Und ihm entsprach die Aufgabe, der ich hier nachkomme: zu erinnern. Schließlich ist die Erinnerung eine Art Verpflichtung, vielleicht die letzte Pflicht, die man einem anderen Menschen gegenüber hat. Mein Nachname ist Savage. Und auch diesen Namen gab mir meine Mutter, meine Mutter allein. Wir wohnten in einer kleinen Wohnung über dem Laden, den sie gleich in der Nähe des großen Platzes im Städtchen gemietet hatte. Remarkable Hats, «Bemerkenswerte Hüte», war der einzige Laden seiner Art in ganz Tasmanien, und wir wohnten oberhalb des Ladens – meine Mutter und ich. Doch wie zwei Goldfische wurden wir 11
nur so groß, wie es das Glas erlaubte. Wir passten uns an, und doch lebten wir in einem Aquarium ganz für uns allein, mit einer durchsichtigen Wand, die uns vom Rest der Stadt trennte. Mutter kam vom Festland, sie war eine Außenseiterin, und jeder wusste, dass Mrs. Savage eine Anrede war, die eine ganz entscheidende Tatsache nicht zu verbergen vermochte: Es war weit und breit kein Ehemann in Sicht. Doch das Verbergen gehörte gewissermaßen zu Mutters Geschäft. Schließlich sind Hüte dazu in der Lage, einen großen Teil dessen, was man nicht zeigen will, zu bedecken. Und sie brachten einer Frau, die vom Festland gekommen war, um ein kleines, bescheidenes Geschäft aufzumachen – und die noch dazu schwanger und offenbar ohne Ehemann war –, ein gewisses Maß an Akzeptanz ein. «Die Hüte waren unsere Rettung», pflegte Mutter zu sagen. «Deshalb nenne ich sie auch bemerkenswert. Sie machten es selbst für ehrbare Leute unvermeidlich, mit mir zu sprechen.» Eigentlich war es eher die Phantasie, die uns rettete. Besonders ihre Phantasie. Und mir gefällt der Gedanke, dass ihre Phantasie auch ihr Geschenk an mich war. Remarkable Hats machte Mutter zu einer Art Richterin des guten Geschmacks in unserer Stadt, und auf ihr Können war sie zu Recht stolz. So brauchte sie einen Kunden nur kurz anzuschauen und wusste, welche Größe er benötigte. Die Maße ihrer Stammkunden lernte sie auswendig, und sie schloss vom Umfang des Kopfes auf bestimmte Charaktermerkmale der Leute. Wenn sie zum Beispiel unserem wohlhabenden und 12
ehrgeizigen Vermieter, Mr. Frank, auf dem Platz begegnete, sagte sie: «Dieser Mr. Frank, es ist kein Wunder, dass er neundreiviertel hat. Bei all den großen Ideen, die er im Kopf hat, braucht er den Platz.» Oder sie erwähnte, Mrs. Pym, die Floristin, habe Hüte anprobiert, weil sie einen für den Cup benötigte: «Natürlich hat ihr keiner, den ich ihr gezeigt habe, gepasst, Rosemary. Pym hat schließlich bloß fünfeinhalb. Praktisch ein Stecknadelkopf. Darin ist schlicht und ergreifend kein Platz für einen vernünftigen Gedanken, geschweige denn für eine Entscheidung.» Hüte waren Orakel, Wünschelruten für das Benehmen, doch obwohl Mutter mit ihrer Methode, ihre tasmanischen Kunden einzuschätzen, oft richtiglag, brachte es uns den Leuten kaum näher, wenn sie versuchte, der Kleinkariertheit dieser Stadt ihre eigene Art von Snobismus entgegenzusetzen. Natürlich hatte unsere Abgeschiedenheit Wirkung auf unsere Vorstellungskraft, auf unsere Einbildungen und vergrößerte die Kluft zu den anderen sogar noch. Bestenfalls grüßte man uns flüchtig von der Seite, doch in die Gemeinschaft aufgenommen wurden wir nie. Nach der Schule half ich im Laden aus. Freundschaftliche Gesten betrachteten wir mit Argwohn, wenn überhaupt einmal jemand Interesse oder, genauer, Neugier zeigte. Wir hatten uns selbst. «Schau, dass du gut in der Schule bist», riet Mutter. «Und lies viel.» Und dabei tippte sie sich bekräftigend an die Stirn. «Deine ganze Zukunft liegt hier unter deinem Hut.» Meinen Körper erwähnte sie nicht. Das tat sie nie, 13
höchstens auf sehr oberflächliche Weise, wenn es um biologische Funktionen ging. Körper brachten nur Schwierigkeiten, das hatte meine Mutter am eigenen Leib erfahren. Sie hatte eine enge Freundin, Esther Chapman, die Besitzerin von Chapmans Buchladen, der einzigen Buchhandlung am Ort. Miss Chapman (ich hatte sie immer nur Chaps genannt) nahm mich unter ihre Fittiche; sie half, mich zu erziehen, schleppte mich in jedes Theatergastspiel, das den Weg in unsere kleine Stadt fand, besonders zu den seltenen Auftritten der Shakespearetruppen, die das Schicksal gelegentlich nach Tasmanien verschlug. Chaps brachte mir das Lesen bei, noch bevor ich eingeschult wurde, indem sie alles, was ich tat, mit Zitaten aus ihren Lieblingsstücken kommentierte. Chaps war der Ansicht, dass Bücher unverzichtbar zum Leben gehörten, während Hüte nur eine flüchtige Randerscheinung seien, eine Marotte, die weder meiner Mutter noch mir jemals Sicherheit geben konnte. Sie machte sich Sorgen um uns. «Bücher sind keine Ansammlungen von Papier, sie sind menschlicher Geist auf Regalen», drängte Chaps meine Mutter oft. «Schließlich sind Hüte nicht wie Bücher – die Leute brauchen sie einfach nicht.» «Sag das mal einem Kahlköpfigen im Sommer», gab Mutter ihre Neckerei zurück. «Oder einer Frau mit nichtssagendem Gesicht.» Doch Chaps machte sich zu Recht Sorgen um uns. Als ich mit der Schule fertig war, war das Bemerkenswerteste an Remarkable Hats die Tatsache, dass es 14
den Laden überhaupt noch gab. Hüte waren längst nicht mehr in Mode, und sie waren auch nicht mehr das Tüpfelchen auf dem i, durch das sich anständige Menschen von schlampigen unterschieden. Hüte waren denselben Weg gegangen wie Handschuhe und Strümpfe. Irgendwann ließen sich auch die Stammkunden nur noch sporadisch bei uns blicken, weil sie weder gegen die Launen der Mode noch gegen die eigene Sterblichkeit ankamen. Die Stadt selbst war im Niedergang begriffen. Auch um Mutters Gesundheit stand es schon geraume Zeit nicht zum Besten, zumal ihre Schwäche mit dem Siechtum des Geschäfts unmittelbar in Zusammenhang stand. Sie, klein und dunkelhaarig, wurde vor Sorge immer dünner und blasser. Während ich heranwuchs, schwand Mutter einfach dahin. Oft, nach der Schule, ließ sie mich Hüte aufprobieren, wenn keine Kunden da waren. Ich hätte genau die richtige Körpergröße, sagte sie gern. Und das heiterte sie ein bisschen auf. Nachmittags sah ich oft, wie sie im Laden auf ihrem Hocker hinter dem Tresen saß und döste. Sie sagte, sie könne nur bei Tageslicht ruhen und fühle sich am wohlsten, wenn der Laden geöffnet sei, und dass sie oft die ganze Nacht wach liege und auf das Morgengrauen warte, um ihn endlich wieder öffnen zu können. Als ich schließlich erfuhr, wie tief wir in Schulden steckten, hatte ich auf der Stelle eine plausible Erklärung für Mutters Schlaflosigkeit. An einem späten Morgen im April, wenige Monate nachdem ich mit der Schule fertig war, kam ich die Hintertreppe herunter, die unsere kleine Wohnung mit dem 15
Laden verband, und fand Mutter leblos hinter dem Tresen. Sie atmete nicht mehr, und ihr Gesicht war blau angelaufen, als hätte jemand sie geschlagen. Einen Tag später starb Mutter, im selben Krankenhaus, in dem sie mich zur Welt gebracht hatte. Ein aberwitziger Zufall wollte es, dass die ganze Stadt und das Land, ja ganz Australien, an diesem Tag meines persönlichen Verlustes öffentlich gedachten. Es war der Tag, an dem ich achtzehn Jahre alt wurde. Anzac Day. Ich wäre nicht auf die Idee gekommen, die Rosmarinzweige, die sich die Leute überall ans Revers gesteckt hatten, als Mahnung zu begreifen. Vergessen würde ich sowieso nie. Mutters Begräbnis war eine kurze, schnörkellose Zeremonie, die in der Woche darauf stattfand. Ich stand ungläubig vor der Kupfertür der nachgemachten Gruft, einem unförmigen Gebäude im Art-déco-Stil, in dem sich, auf dem höchsten Hügel über der Stadt, das Krematorium befand. Ganze fünf Stammkunden hatten sich aufgerafft, ihr die letzte Ehre zu erweisen. Zwei der Männer drückten respektvoll ihre Hüte an die Brust, und auch die Damen hatten daran gedacht, allesamt in Remarkable Hats-Ware zu erscheinen. Ich und Chaps, die zu meinem inoffiziellen Vormund geworden war, dankten ihnen. Der Gottesdienst war unpersönlich. Mutter und ich hatten nie an etwas anderes geglaubt als an unsere Phantasie und die Tatsache, dass unser Leben eine Art Illusion war – eine Idee, die der Tod mit seiner grausamen Wirklichkeit nun zum Gespött gemacht hatte. 16
Nach der Trauerfeier standen wir verlegen auf dem Parkplatz vor dem Krematorium, bis die Stammkunden feierlich langsam davongefahren waren, einer nach dem anderen, die steile Straße hinab. Ich sah zu, wie sie immer kleiner wurden und ihre Wege sich an den Kreuzungen trennten. Die Stadt unter uns war nur eine Handvoll verstreuter Ziegeldächer, die sich wie durch Zufall auf den flachen grünen Hügeln verteilt hatten, ohne Regel oder Muster, einfach so. Es war ein kleines, hässliches Kaff auf einer Insel von gewaltiger Schönheit. Niemals war mir diese Stadt kleiner und weniger bemerkenswert erschienen. «Sie ist nicht mehr da, Chaps», war alles, was ich herausbrachte, weil ich das Gefühl hatte, keine Luft zu bekommen. Nach einer Weile trat der Direktor des Begräbnisinstituts zu uns und reichte mir Mutters Asche in einer versiegelten hölzernen Schachtel. «Sie haben gesagt, Sie möchten die einfachste, Miss Rosemary. Und das hier ist die einfachste. Sie ist aus einheimischem Holz, aus Huon-Kiefer. Kernholz aus Tasmanien. Sehr hart und beständig.» Er klopfte mit den Fingerknöcheln auf die Schachtel. Ich zuckte zusammen. Er war ein Bekannter von Chaps und, wie es ein günstiger Zufall wollte, nicht nur der am wenigsten salbungsvolle unter den Bestattern der Stadt, sondern auch der preisgünstigste. Doch für einen Mann seines Berufsstandes war er auch sonderbar ungeübt im Umgang mit der Trauer anderer. Er plauderte munter drauflos, ohne meinen Kummer zu bemerken, doch vielleicht machte meine Traurigkeit ihn auch nur 17
unsicher und er wollte mit allerlei Sachinformation darüber hinwegtäuschen. «Mein Lieferant hat mir einmal erzählt, dass HuonKiefern bis zu tausend Jahre alt werden können. Sozusagen eine Ewigkeit. Das ist doch ein Ding, oder?» Und er fuhr fort: «Das Holz hat einen ganz eigenen Duft, der fast zu … stark ist.» Er schnupperte. «Normalerweise findet man den Baum an der Westküste der Insel …» «Ja. Vielen Dank», schnitt Chaps ihm das Wort ab. Sie nahm mich am Ellbogen und wollte mich sanft zu ihrem Wagen führen. Doch ich konnte mich nicht von der Stelle rühren. Ich hielt die Schachtel aus Huon-Kiefer auf den flachen Händen und stand reglos da. Die Schachtel war warm und roch schwach nach Moder. Tränen traten mir in die Augen, und das Wasser, das mir übers Gesicht lief, verwirrte den nervösen Bestattungsunternehmer ebenso wie mich selbst. Schließlich schubste mich Chaps in ihr Auto und fuhr mich zu ihrem kleinen Haus. Da ich jedoch nicht in der Lage war, auszusteigen oder mich überhaupt zu bewegen, machten wir uns wieder auf den Weg und fuhren schweigend auf den tasmanischen Straßen in Richtung Küste. «Der Ozean», sagte Chaps zur Erläuterung, als die geteerte Straße irgendwann in Sand überging und sich vor uns das Meer erstreckte, weit und mit weißer Gischt bedeckt. Chaps kurbelte die Fenster herunter, damit ich das Salz roch und die Donnernden Vierziger spürte, jene Winde der Gegend, die auf dem Weg zur unteren Erd18
halbkugel, ja zum Ende der Welt waren. Es war die sauberste Luft, die es gibt, doch mir stockte der Atem, und ich versuchte die Luft anzuhalten. Als ich auf den Ozean hinausschaute, fühlte ich mich eingeschlossen und allein zugleich. Zwischen mir, hier auf der Insel Tasmanien, und der eisbedeckten Antarktis gab es nichts außer der leeren, offenen See, unbevölkert und unwissend. Ich beugte mich über die Huon-Schachtel, brachte aber kein einziges Wort heraus, bis schließlich die Nacht kam, die die Winde vom Südpolarmeer herbeitrug. «Was soll ich machen?», stieß ich schließlich hervor. Chaps, die sonst immer einen weisen Spruch zur Hand hatte, schwieg.
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Zweites Kapitel
F
ast jedes Jahr war Mutter mit mir aufs Festland nach Sydney gefahren, um Hüte und all die Materialien zu kaufen, die eine Putzmacherin für ihre Hüte braucht. So feierten wir meinen Geburtstag immer in der Stadt, weil der Tag ja ein Feiertag war. Zuerst stiegen wir in einer Pension in der Sophia Street in Surrey Hills ab. Die Wirtin, Merle, hatte meine Mutter schon gekannt, bevor sie nach Tasmanien gezogen war, als sie ein Leben führte, von dem ich nichts wusste. Ihr eigenes Leben, bevor meines begann. Merle war eine dicke, wütende Frau mit kleinen Augen und gefärbtem Haar. Sie sah aus wie eine Elster, ganz in Schwarz und Weiß und immer auf der Suche nach etwas zum Knabbern. Ihre Pension war billig, roch nach gekochtem Gemüse, und bevor ich fünf war und alt genug, Mutter auf ihren Besuchen bei den Lieferanten zu begleiten, blieb ich tagsüber immer bei Merle. Jene Stunden, die ich getrennt von meiner Mutter verbrachte, verbinde ich in meiner Erinnerung immer mit Luftnot. Eigentlich ist es nicht möglich, dass ich so lange den Atem angehalten habe, aber das Gefühl, keine Luft zu bekommen, ist mit Mutters Abwesenheit verbunden wie ein Souvenir. Da ich befürchtete, Mutter würde gar nicht mehr wiederkommen, wenn ich dieses eingebildete Gleichgewicht störte, verhielt ich mich in dem muffig riechenden Raum so ruhig wie möglich. 20
Ihre Rückkehr war dann jedes Mal tiefes Luftholen und Ausatmen, und es kam endlich wieder Leben in den kleinen Leichnam, zu dem ich geworden war. «Das ist das ruhigste Kind, das ich jemals erlebt habe, Mrs. Savage», sagte Merle dann, schnalzte mit der Zunge und schüttelte ihren großen, weichen Kopf. «Es ist nicht natürlich, so brav zu sein. Ich passe gern auf sie auf, sie macht keine Schwierigkeiten, aber man hat den Eindruck, sie lebt nur für Sie.» «Ich bin alles, was sie hat», sagte Mutter dann oft. «Nächstes Jahr kannst du mich auf meine Einkaufsrunden begleiten, Rosemary, mein Liebes», versprach Mutter. «Mir gefällt es ebenso wenig wie dir, wenn ich dich allein lassen muss.» Und so begannen meine alljährlichen Begegnungen mit Kurzwaren und Posamenten, mit Filzwerkstätten voller Kaninchenfelle und Biberpelze, mit polierten Holzköpfen und Perückenstöcken (aus deren Hälsen Schrauben ragten), mit Werkzeugen, auf denen Kronen geformt und Hüte modelliert wurden. Von draußen wirkten die Läden hell und kühl, doch in den Werkstätten dahinter war es fast schwül, die Luft darin feucht und dick wegen des Dampfes, mit dem man die Hüte in Form brachte und reinigte. Alle Lieferanten verwöhnten mich. Ich wurde abgelenkt und mit bunten Knöpfen und Seidenbändern bei Laune gehalten, während Mutter ihre Bestellungen aufgab und sich neue Modelle vorführen ließ. Wie einem Laubenvogel entging meinem Auge nichts, was glitzerte. Man servierte mir dreieckige Sandwiches, und dazu 21
trank ich mit einem gestreiften Strohhalm eisgekühlte Milch aus einem beschlagenen Glas. Ich war wie eine kleine Sultanin, und die Süßigkeiten waren mein Kronschatz. Foys belieferte alle großen Kaufhäuser mit Accessoires. Im Verkaufsraum für die Posamente bestand eine Wand nur aus unzähligen schmalen hölzernen Schubladen, die ein halbes Jahrhundert zuvor eingebaut worden waren und eine ganze Sammlung von Krimskrams beherbergten: Reißverschlüsse, Knöpfe, Fell- und Ledermuster, Seidenblumen, Pailletten, so durchscheinend wie Fischhaut, Glasperlen, Farbmuster, Federn von allen unvorstellbaren Vögeln, Konfekt und Früchte aus Wachs. Diese Schubladenwand enthielt Hunderte von leuchtend bunten Dingen, die man benötigte, um Hüte auszustaffieren und Revers, Schuhe oder Gürtel zu schmücken. Der Zierrat kam aus der ganzen Welt: Markasitsteine aus der Tschechoslowakei, glitzernd wie metallische Diamanten, und Strassanstecknadeln, direkt aus Frankreich, lagerten in den unteren Schubladen wie in der randvollen Beutetruhe eines Piratenschiffes. Mir gefiel der Gedanke, all die Dinge in ihrer endlosen Vielfalt lägen erst einen winzigen Moment, bevor ich am Knauf zog, in den Schubladen, als hätte nur mein Wunsch, sie zu sehen, sie dorthin gezaubert. Meinem kleinen Ich erschien es, diese Wand aus Schublädchen enthalte alles, was es nur gab, und natürlich waren die «Dinge» für mich damals die Summe der Welt. Die jungen Putzmacherinnen pflegten zu meiner Mutter zu sagen, eines Tages würde ich sehr hübsch sein, «allein mit diesem Haar», meinten sie. Meine Mutter sah 22
skeptisch aus. Mein Haar war dick und rot und schien gar nicht recht zu mir zu gehören. Offenbar geriet ich mehr nach meinem Vater und hatte von ihm auch die grünen Augen und die Sommersprossen geerbt. Mutter dagegen hatte dunkles Haar, und ihre Augen waren blau und unergründlich. Sie war zartknochig wie ein Vögelchen und kompakt, ihre Brust war hoch. Sie hatte eine makellose Haut, deren Farbe an Tee mit viel Milch erinnerte. Es war schwer zu glauben, dass ich tatsächlich ihr Kind war, so wenig ähnelten wir einander. Bei Foys und anderen Lieferanten wurde Kaninchenfell zu feinem Filz gepresst, aus dem man Melonen machte, weiche Filzhüte und die typischen australischen Arbeitshüte (die so altmodische Namen wie Drover oder Squatter hatten). Für den teuersten Filz wurde importiertes Biberfell verwendet, doch diese Hüte trug man eher zu besonderen Anlässen. Hinten an die Werkstatt von Foys grenzte ein schummriges Zimmer, in dem große Stapel von Pelzen lagerten, es roch intensiv nach Lauge, und ich hatte Angst, auch nur einen Fuß in den Raum zu setzen. Ich empfand ein seltsames Mitgefühl mit diesen leblosen Fellen, die darauf warteten, zu etwas Sinnvollem verarbeitet zu werden. So leer und atemlos wie diese gegerbten Häute hatte ich mich selbst gefühlt, wenn meine Mutter mich bei Merle gelassen hatte. Die Kehrseite der Glitzerwelt vorne war dieses düstere Grab aus Häuten. Der Schein trog. Trotzdem machte mich Sydney glücklich. Ich liebte die Stadt. Hier kannte uns niemand, und schon damals hat23
te ich das Gefühl, dass Städte nachgiebig waren: Sie rückten einfach beiseite und machten Platz. In der Stadt war ich kein Mädchen ohne Vater. Ich stand nicht abseits. Nicht einmal Rosemary war ich. In der Stadt gab es niemanden, der mir sagte, was er von mir denkt oder wer ich seiner Meinung nach sein soll. Einmal im Jahr waren wir vollkommen und etwas ganz Besonderes. Hier begann ich auch, Stadtszenen in meine Kladde zu skizzieren und dann mit Knöpfen und Bändern auszuschmücken, meiner Ausbeute des Tages, die ich sorgfältig auf die übergroßen Seiten klebte. In Sydney war damals überall ein bestimmtes Wort mit Kreide in riesigen Druckbuchstaben an die Hauswände geschrieben. Dafür war Sydney bekannt, für dieses Wort, wie ein Brief, der nur aus einem Wort bestand, an die Bewohner wie auch die Besucher der Stadt, an jeden Einzelnen in der Menge gerichtet. «Was heißt das?», fragte ich meine Mutter und zeigte auf das, was ich für Gekritzel hielt. Damals war ich gerade fünf geworden. Die Buchstaben sahen überhaupt nicht aus wie die in den Büchern, die Chaps mir gegeben hatte. «Es heißt Ewigkeit, Liebes», erwiderte Mutter und nahm mich an der Hand. «Es gibt da einen Mann, der seit dreißig Jahren immer dieses Wort mit Kreide an die Häuserwände schreibt. Mittlerweile ist er berühmt. Ich kann mich an die Zeit davor kaum erinnern.» Sie legte ihren Arm um mich. «Und was heißt das Wort?» «Das werden wir nie erfahren, Rosemary. Das Wort bedeutet, dass etwas immer weiter und weiter geht. Und 24
wie du weißt, gibt es nichts, bei dem das wirklich so ist. Jedenfalls nichts Menschliches. Alles hat irgendwann ein Ende. Das solltest du nie vergessen, mein Liebes.» Sie schaute gedankenverloren die belebte Straße hinunter, vorbei an meinem Gesicht, auf einen Punkt in der Ferne. «Denk daran, Rosemary», sagte sie. «Nichts ist für immer.» Nach Mutters Tod dauerte es eine Weile, bis ich wieder zur Ruhe kam, nachdem ich in den Tagen nach dem Begräbnis in manische Aktivität ausgebrochen war. Es war wie ein wahnsinniges Fieber gewesen. Ich schloss Remarkable Hats und verkaufte entweder die Ware oder gab sie an die Lieferanten zurück, um die Schulden auszugleichen. Dabei standen mir sowohl Chaps als auch Mr. Frank (der mit dem Neundreiviertel-Kopf) mit Rat und Tat zur Seite. Weitere Entscheidungen gab es nicht zu treffen. Es entspricht nicht der Wahrheit, dass derjenige, der stirbt, all seine Schulden begleicht: Ich konnte den Laden ebenso wenig halten, wie ich unser gemeinsames Leben zurückzuholen vermochte. Mutter und ich waren von einem komplizierten Geflecht aus Krediten und gestundeten Zahlungen abhängig gewesen, das sich nach ihrem Tod als gigantischer Wirrwarr der Zahlungsunfähigkeit herausstellte. Ich räumte die Wohnung, jene drei Zimmer, in denen ich mein gesamtes bisheriges Leben verbracht hatte. Ohne Mutter konnte ich den vielen Platz nicht ertragen, und auch alles, was sich darin befand, war ein Sinnbild ihrer Abwesenheit. Das einzige Foto, das ich von ihr 25
hatte, aus der Zeit, bevor ich geboren wurde, behielt ich. Danach war sie nur noch hinter der Kamera gewesen, um Fotos von mir zu machen. In jenen ersten Tagen wurde ich zur Schlafwandlerin, doch es war nicht so, als lebte man in einem Wachtraum oder gar einem Albtraum; das Gegenteil war der Fall. Mein ganzes Leben bis zu ihrem Tod war der Traum gewesen, und diese Wirklichkeit jetzt – eine Wirklichkeit ohne Mutter, in der jeder einzelne Gegenstand, den ich für mein Eigentum gehalten hatte, entweder verkauft oder zurückgegeben worden war, in der alles, was mir vertraut gewesen war, spurlos verschwand – hatte auf mich gewartet, verborgen hinter dem, was ich liebte. Die Zulieferer waren freundlich, aber geschäftsmäßig und nüchtern. Nur die Mädchen von Foys schickten mir eine Kondolenzkarte. Ich verkaufte die Möbel und alles andere, was in der Wohnung gewesen war, doch nachdem alle Rechnungen beglichen waren, blieb nur wenig Geld übrig. Chaps hatte ein ungenutztes Zimmer, in das sie mich aufnahm, damit ich erst einmal zur Ruhe kam. Langsam legte sich meine Nervosität, doch jetzt fühlte ich mich wie benommen. Chaps drängte mich, ihr in der Buchhandlung auszuhelfen, da ich schon in den Schulferien, meist während der Inventur, manchmal dort gearbeitet hatte. Chapmans Buchladen war ein gemütlicher, behaglicher Ort, und die kleinen Aufgaben, die wir hier zusammen erledigten, halfen mir, eine Welle schrecklicher Passivität abzufangen. «Niemand stirbt so arm, dass er rein gar nichts hinter26
lässt», sagte Chaps eines Nachmittags, als wir zusammen eine Kiste Bücher auspackten. «Deine Mutter hat dich hinterlassen, Rosemary. Und aus diesem Vermächtnis musst du das Beste machen. Ich traue es dir zu.» Jeden Tag hielt sie mir eine solche Rede. Ich hörte einfach nur zu. «Du musst den Tod deiner Mutter als ihre Art ansehen, wegzugehen. Zu entfliehen. Du musst jetzt dein eigenes Leben beginnen», drängte Chaps mich manchmal. Esther Chapman gab mir gerne Ratschläge. Sie war schon immer so etwas wie die unverheiratete Tante für mich gewesen, und ich liebte sie. Doch jetzt, nachdem ich mich in den vergangenen Wochen um so viel gekümmert hatte und so viel verloren hatte, war ich ganz matt vor Kummer. Vor Mutters Tod hatte ich gar keine Vorstellung von wirklicher Verzweiflung gehabt, auf die ich aber die ganzen Jahre zugerast war. Chaps war eisern, und das half. Sie selbst hatte ihre Mutter nach langer Krankheit verloren und lebte immer noch in ihrem Elternhaus. Ihr Vater – wie der Zufall es wollte, auch er ein Held des Anzac Day – war im Ersten Weltkrieg gefallen. Wenn man sie eine alte Jungfer nannte, pflegte Chaps zu sagen: «Und das ist auch besser so, und außerdem geht’s niemanden etwas an.» In der Stadt teilte sie Mutters Schicksal (das der Unsichtbarkeit), und genau diese Erkenntnis hatte die beiden damals zu Freundinnen gemacht. Sie galten als sonderbar, zwei Frauen, die am Rand der Gesellschaft lebten und nicht gänzlich respektiert wurden. Was Chaps anging, so war sie einfach zu belesen, um als wirklich an27
ständig zu gelten. Die Bücher hatten sie auf beunruhigende Weise unabhängig gemacht. Wenn man die Fotos in ihrem aufgeräumten Haus betrachtete, konnte man feststellen, dass Chaps mit zunehmendem Alter ihrer Mutter ähnelte. Beide hatten hühnerbrüstige Körper, kleine graue Köpfe und große helle Augen, die freimütig in die Welt blickten. Ich stellte mein einziges Foto von Mutter neben das von Chaps’ Mutter ins Wohnzimmer. Der silberne Rahmen war nicht besonders alt, doch an Mutters Foto war dennoch etwas Zeitloses. Es war ein Schwarzweißfoto, aufgenommen, als sie etwa achtzehn war – genau das Alter, in dem auch ich jetzt war; wer es gemacht hatte, würde ich nie erfahren. Ihr jugendliches Gesicht schaute mich an, erfüllt von den Geheimnissen ihrer Vergangenheit und ihrer Zukunft, und erschien mir lebhafter und lebendiger, als ich mich selbst in jenem formlosen Moment meines Lebens fühlte. Am Ende jenes ersten Monats, als mich wieder einmal der Kummer überwältigte, nahm ich die Schachtel aus Huon-Kiefer mit hinaus aus Chaps’ winzigem Häuschen und setzte mich damit in den kleinen Garten. Es war eine säuberlich gemähte quadratische Fläche, gesäumt von Blumen, die auf allen drei Seiten des Gartens nach demselben Muster gepflanzt waren und mit ihren munter nickenden orangefarbenen, roten und gelben Köpfen keine Melancholie zu kennen schienen. Ihre Knospen, die wie kleine grüne Zungen aussahen, schienen mich für meine Traurigkeit zu tadeln. Ich pflückte ein paar rote Blütenblätter – das war Mutters Lieblingsfarbe gewesen – und legte sie auf die Schachtel. 28
Ich kniete nieder, um mir eine der großen, offenen Blüten näher anzuschauen, die einen fast vollkommenen Kreis bildete. Ein silbriger Wassertropfen hing zitternd auf der Oberfläche, glänzend wie ein Tröpfchen Quecksilber. Ich pflückte die Blüte vorsichtig ab und wirbelte die Wasserperle in ihrer grünen Welt herum – eine winzige Kugel, eigenständig und allein. Als ich dem Tropfen zusah, wuchs in mir der Schmerz und ballte sich gleich neben meinem Herzen zu einer Kugel zusammen, ungefähr in der Größe des Wassertropfens. «Hilf mir», flehte ich den Wassertropfen an. «Ich will meine Mutter zurück. Ich will alles zurück. Ich will mein Leben wiederhaben.» An diesem Tag kam Chaps früher von der Arbeit nach Hause. Ich hörte, wie sie mit dem Wasserkessel herumfuhrwerkte, um Tee aufzugießen, und wie sie durch das kleine Haus lief. «Ich bin hier draußen, Chaps!», antwortete ich. «Ach, ich hab mich schon gefragt, wo du bist, Liebes», sagte sie und kam zu mir nach draußen. «Schön hier im Garten. Was liegst du denn da auf den Knien? Du siehst aus, als würdest du zu den Blumen beten.» «Ich fühle mich besser so», sagte ich verlegen. «Sie schauen so glücklich aus, mit ihren leuchtenden Gesichtern. Obwohl sie nach Ameisen riechen, diese Blumen …» «Das ist Kapuzinerkresse, und wie Ameisen riechen, weiß ich offen gestanden nicht.» Sie hob die Augenbrauen. «Aber du offenbar schon.» Der Teekessel pfiff, und sie ging kurz hinein, um ihn abzuschalten und den Tee aufzubrühen. 29
«Ich sehe, dass du deine Asche bei dir hast», sagte sie, als sie mit einem Tablett wieder herauskam. Vielleicht zog sie in Erwägung, mit mir ein Gespräch darüber zu führen, dass es rührselig sei, an einer Schachtel aus Huon-Kiefer zu hängen, aber offenbar verwarf sie ihren Plan wieder. Stattdessen nahm sie auf einem gusseisernen Stuhl Platz, nachdem sie das Tablett auf dem dazugehörigen Tisch abgestellt hatte. «Ich muss mit dir über etwas reden», sagte sie und setzte eine ernste Miene auf. «Ich weiß schon, was du sagen willst, Chaps.» «Du denkst nur, dass du es weißt», sagte sie und goss zwei Tassen ein. «Du willst mir wieder mal sagen, dass es fatal ist, wenn man in der Luft hängt», sagte ich, an das Blatt gerichtet. Solche Sachen sagte sie schon die ganze Woche über. «Du willst mir sagen, ich soll meinem Kummer einen Namen geben. Du willst mir sagen, ich soll eine Entscheidung treffen, meinen eigenen Weg finden. Du willst mir vorschlagen, diese Asche hier zu begraben …» «Nun, gewiss würde ich all diese Dinge sagen», unterbrach mich Chaps. «Und ich habe sie alle schon gesagt, aber das ist es nicht, was ich dir mitteilen wollte.» Sie setzte sich kerzengerade hin, um der bevorstehenden Überraschung mehr Gewicht zu verleihen. Einen Moment lang zögerte sie noch, dann holte sie tief Luft. «Ich habe dir ein Ticket gekauft. Ein Flugticket. Und ich will nichts hören – das Geld hatte ich gespart. Rat mal, wohin du fliegst!» 30
Unfähig zu antworten, starrte ich sie an. Wollte sie mich loswerden? Schickte sie mich einfach weg? «Du kommst also nicht drauf», sagte sie. «Ich dachte, es sei ganz leicht.» Ich schwieg. «Du liebst große Städte, aber die einzige, in der du je gewesen bist, ist Sydney. Also, auf diesem Kontinent ist die Stadt nicht, das kannst du schon mal ausschließen.» Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, was sie getan oder was ich verbrochen hatte, dass sie mich loswerden wollte. Für eine Ausbildung hatte ich kein Geld. Auch zum Reisen fehlten mir die Mittel. Soweit ich das überblickte, hatte ich nichts außer ihrer Zuneigung, einer Schachtel mit Asche und einem Schwarzweißfoto von jemandem, den ich mehr geliebt hatte als das Leben. «Jetzt komm schon, warum rätst du nicht?» Ich konnte nicht raten. Da war wieder dieses Sausen in mir, die Dinge rasten unaufhaltsam auf mich zu; wahrscheinlich fühlt es sich so an, wenn man plötzlich in ein Auto steigt, nachdem man sein Leben lang nur auf Schusters Rappen geritten ist. Ich hatte gedacht, ich würde einfach bei Chaps in Tasmanien bleiben und dass sie mir alles über den Buchhandel beibringen würde. Dass ich leben würde wie sie, ruhig und versunken in der Welt, die in meinem Kopf existierte. «Ich hab dir ein Ticket gekauft nach …» Sie machte, untypisch für sie, eine dramatische Kunstpause. «New York!» Ich ließ das Blatt fallen, sank zurück auf meine Fersen und brach nach einem kurzen Moment der Verwirrung in Tränen aus. 31
«Na komm schon, komm. Ich schmeiß dich doch nicht raus, Rosemary.» Chaps beugte sich herüber und klopfte mir sanft auf die Schulter und den Rücken. Wenn es darum ging, Zuneigung auszudrücken, war sie immer schon etwas unbeholfen gewesen. Ihre Stimme blieb jedoch fest. «Schluss mit den Tränen, jetzt werden Pläne geschmiedet!», sagte sie und reichte mir ihr Taschentuch, das sie immer gefaltet im Ärmel ihrer Strickjacke trug. Ich hatte nie eins dabei. Ich wischte mir über Augen und Nase. «Ist ja gut jetzt, Liebes. Wenn du mal wirklich drüber nachdenkst, wirst du einsehen, dass du reif bist für einen Tapetenwechsel. Das Beste liegt nicht in der Vergangenheit. Der Tod deiner Mutter ist ein Bruch in deinem Leben, aber dein Leben ist nicht zerbrochen. Du kannst es wieder richten, indem du es lebst, indem du ein anderes Leben lebst als das, was ihr, du oder deine Mutter, euch vorgestellt hattet.» «Aber genau das hatte ich mir ja vorgestellt, Chaps», sagte ich mit belegter Stimme. Das stimmte, aber Angst hatte ich auch. Mehr als je zuvor. «Ich möchte weggehen und reisen. Ich möchte Dinge entdecken, Dinge kennenlernen. Aber ich fürchte mich auch davor. Und jetzt hast du einfach alles für mich geregelt. Du hast mir die Ausrede weggenommen.» Ich putzte mir die Nase in ihr Taschentuch. «Ich habe nur für dich entschieden, wo du anfangen sollst, Rosemary. Und das war ganz leicht wegen deiner Kladde mit all diesen Bildern von New York, von großen Städten. Ich dachte, dass du immer schon dorthin 32
gehen wolltest, du hast ja fast einen Fetisch aus dieser Stadt gemacht, Zeitungsausschnitte und anderen Krimskrams gesammelt, und das, seit du ein Kind warst. Ich hab dir einfach nur einen kleinen Schubs gegeben. Ich bin mir sicher, deine Mutter hätte das Gleiche getan.» Jetzt wurde selbst Chaps ein bisschen rührselig. Aber sie war auch fest entschlossen. «Du musst hier weg, Rosemary. Du musst ins Ausland! Genau das hätte ich auch getan, wenn ich die Möglichkeit dazu gehabt hätte, auf der Stelle.» Sie blickte mir mit feuchten, grauen Augen fest ins Gesicht. Chaps konnte sehr hartnäckig sein. «Für mich ist sie nie gekommen, Rosemary – die Chance, einfach zu gehen und nicht zurückzuschauen. Du musst gehen! Du musst einen Anfang machen! Das hätte deine Mutter für dich gewollt, meine liebste Rosemary. Und ich will es auch für dich. Eine größere Welt. Jetzt weißt du, wo du anfangen wirst. Wir beide haben noch ein paar Wochen Zeit, um alles vorzubereiten.» New York war eine Phantasie. Es war Sydney hoch drei und damit alles, was ich mir von Tasmanien aus vorstellen konnte. Es stimmte, dass ich seit meiner Kinderzeit Bilder von Städten gesammelt und in ein Buch eingeklebt hatte und dass auf vielen New York zu sehen war, aber wichtiger war das Gefühl der Freiheit, das diese Bilder in mir weckten. Befreiung machte für mich diese Stadt aus – ein Goldfischglas, das niemals zu klein wurde, wie groß man selbst auch wurde. Ich besaß Postkarten mit 33
Fotos von hohen Gebäuden, die sich scharf vom Himmel abzeichneten, oder von prächtigen Bahnhöfen und Bibliotheken, die schräg einfallendes Licht hell erleuchtete. Zwischen die Bilder hatte ich Restchen von Bändern, Knöpfen und gefärbten Filzstücken geklebt. Solange meine Mutter noch gelebt hatte, hatte ich nie in Erwägung gezogen, nach New York zu reisen, auch in keine andere Stadt als Sydney. Doch Chaps hatte geahnt, was ich mir wirklich wünschte: Ich war davon überzeugt, dass mein Vater in einer großen Stadt lebte. Wo, wusste ich nicht. An einem Ort, der frei und anonym war, weit weg. Genau das Gegenteil von Mutter. Vater konnte nur ein Fremder sein. Unbekannt und rätselhaft. Mein Vater war eine Großstadt, und mit meiner Kladde hatte ich ihn Wirklichkeit werden lassen wollen. Da ich kein aktuelles Foto von ihm hatte, kam eigentlich jeder der gesichtslosen Männer auf den Postkarten oder Zeitungsausschnitten in Frage. Auf vielen Bildern waren Straßenszenen von früher zu sehen, und Mutter hatte oft gesagt: «Schau dir mal all die Männer an, die Hüte tragen! Das waren noch Zeiten für Hutmacher wie mich!» Sie war nie darauf gekommen, wofür ich mich eigentlich interessierte – ich hatte es ja selbst nicht gewusst. Mein Vater war in einer Großstadt, irgendeiner Großstadt, und ich sammelte Beweise seiner Existenz. Er hatte schon längst eine grundlegende Wandlung durchgemacht. Da meine Mutter keine brauchbaren Informationen über ihn herausrückte, anhand deren ich mir ein Bild 34
von ihm hätte machen können, wurde meine Vorstellung von ihm durch nichts widerlegt. Sie hatte ihn kaum gekannt, und was sie wusste, behielt sie für sich und würde es auch immer für sich behalten. Wie viel tat Esther Chapman für mich, indem sie mich gehen ließ! Als begeisterte Leserin von Mythen und Legenden musste sie erkannt haben, dass ich meine eigene Legende brauchte. Als Gegenmittel für die Katastrophe, die mich ereilt hatte. Meine Welt hatte keinen Inhalt mehr, und Chaps wusste, dass eine große Stadt genau die richtige Medizin war gegen den Verlust des kleinen Lebens, das ich geführt hatte. Doch jetzt musste ich mich selbst ins Leben rufen.
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Drittes Kapitel
A
ls ich in New York ankam, war es spät in der Nacht. Ich war überhaupt nicht vorbereitet und besaß nur eine vage Vorstellung von dem Leben, das mich hier erwartete. Wegen eines Gewitters hatten wir eine unsanfte Landung, und so kam es, dass ich mein Ziel niemals von oben sah, weil Wolken über der Stadt hingen und der Boden erst wenige Momente bevor die Flugzeugräder aufsetzten, sichtbar wurde. Ich hatte das Gefühl, äußerst hart gelandet zu sein, als hätte man mich auf die Erde zurückgeschleudert. In meinem Besitz befanden sich dreihundert Dollar. In meinem Koffer, unter meiner Kleidung, lagen meine Kladde und Mutters Foto. Am Flughafen hatte mir Chaps, mit Tränen in den Augen, zwei Geschenke in die Hand gedrückt: eine Halskette mit grünen Steinen (die Farbe meiner Augen), ein Talisman, wie sie mir versicherte, der mich vor weiterem Herzenskummer bewahren würde. Und ein kleines Büchlein, ihr Lieblingsbuch, behauptete sie, eingeschlagen in das blassblaue Papier ihres Buchladens. Ich brachte es nicht übers Herz, das Buch auszupacken, denn das Einwickelpapier von Chapmans Buchladen war mir so lieb und vertraut wie die Tapete in meinem Kinderzimmer. Ich sagte zu Chaps, ich würde das Päckchen nicht anrühren und mit dem Auspacken bis zu dem Tag warten, an dem ich das Gefühl hatte, dringend ein Geschenk zu brauchen. Dar36
an, dass dieser Tag kommen würde, hegte ich keinen Zweifel, und für den Moment war mir die Reise Geschenk genug. Die Halskette allerdings zog ich sofort an. Ein Schutz gegen Herzenskummer konnte nicht warten. Mutters Asche ruhte in der Schachtel, in einen orangeroten Schal gewickelt, ganz unten in einem Handköfferchen, das ich am liebsten gar nicht abgestellt hätte. Meine Ankunft stand unter keinen guten Vorzeichen. Regen überzog die Stadt mit einem Schleier, und als das Taxi, das ich mir am Flughafen genommen hatte, mich vor dem kleinen Hotel absetzen wollte, das Chaps für mich gebucht hatte, stellte sich heraus, dass es kein Hotel mehr war. Ohne es zu wissen, war ich im letzten Jahr eines Jahrzehnts nach New York gekommen, das für die Stadt sehr schwierig gewesen war. Nach Zeiten großer finanzieller Probleme kam das Leben hier langsam wieder in Schwung, und viele preisgünstige Hotels beherbergten Dauergäste, die auf Staatskosten dort wohnten. Bestürzt erklärte ich mich zu einem zusätzlichen Trinkgeld bereit, und der Fahrer brachte mich zu einem Hotel, das weiter im Süden der Stadt lag und, wie er sagte, billig und sicher sei. Das Martha Washington Hotel für Frauen lag an einer schäbigeren Adresse (an der 29sten bzw. 33sten Straße, je nachdem, welcher Eingang gemeint war), aber es war offen und hatte ein freies Zimmer zu einem guten Preis. Man sah, dass es sich einmal um ein eindrucksvolles, ja geradezu wohlhabendes Etablissement mit vielen Zimmern gehandelt hatte. Das Hotel war im Jahre 1902 erbaut worden und 37
wirkte fast neun Jahrzehnte später ziemlich heruntergekommen; die meisten Stockwerke waren geschlossen wegen Reparaturarbeiten, die vermutlich nie in Angriff genommen werden würden. Das Restaurant hatte vor dreißig Jahren den Betrieb eingestellt. Eine Frau saß hinter dem abgewetzten Tresen der Rezeption und schaute in einen winzigen Schwarzweißfernseher, mit dem sie durch zwei Ohrstöpsel verbunden war. Sie war eine auffallende Erscheinung, dunkel, etwa sechzig Jahre alt, und hatte edle Gesichtszüge. Nachdem ich sie auf mich aufmerksam gemacht hatte, erklärte sie mir in schwerem Akzent die Bedingungen des Hotels: Zahlung sieben Tage im Voraus, Wechsel der Bettwäsche einmal in der Woche, kein Besuch auf den Zimmern, Rauchen und Kochen verboten, kein Lärm. Ich hatte nicht die Absicht, irgendwelche Regeln zu brechen. Ich war gerade achtzehn Jahre alt, hatte meine Mutter verloren und meine Heimat verlassen, war klitschnass und fühlte mich so elend, dass ich in meinen feuchten Klamotten regelrecht in mich zusammengesunken war. Vermutlich sah ich sogar geschrumpft aus, wie ein Kind. Ich beglich meine Rechnung beim Taxifahrer, zählte ihr die Miete für eine Woche auf die Hand und taumelte in mein Zimmer, das am Ende eines schummrigen Korridors lag. Dort nahm ich als Erstes die Huon-Schachtel aus der Tasche und stellte sie neben mein Kissen. «Komm zurück», sagte ich laut zu meiner Mutter. Meine Stimme klang dünn und zittrig. «Komm zu mir zurück.» 38
Es dauerte Stunden, bis ich einschlief, wach gehalten durch meine Traurigkeit, meine Unruhe und durch die Autos auf der Avenue draußen, deren Scheinwerfer wie falsche Blitze durch mein Zimmer zuckten, während die Reifen durch die mit Regenwasser gefüllten Schlaglöcher platschten. Am folgenden Tag stand eine heiße Junisonne am Himmel, und die Luft war überraschend schwül. Jene Woche im Frühsommer verbrachte ich so weit wie möglich außerhalb des fahlbraunen Zimmers. Schon ab dem frühen Nachmittag wurde es darin muffig und stinkend. Gegenüber dem Bett war ein mit Gitterstäben verrammeltes Milchglasfenster. Doch dieses einzige Fenster musste ich geschlossen halten, wegen des Lärms von der Straße und weil dieser Flügel des Martha Washington im Dunstkreis eines indischen Restaurants im nächsten Block lag. Zunächst teilte ich mir ein Badezimmer mit zwei Frauen, die auf demselben Flur wohnten. Sie waren wie Gespenster; ständig hörte man sie mit den Türen schlagen und Schubladen zuknallen, aber man bekam sie niemals zu Gesicht – nur von hinten, auf dem Weg ins Zimmer. Bald darauf verschwanden sie ganz, ich befürchtete, dass dieses Schicksal allen Neuankömmlingen in der Stadt drohte. Wenn ich dann einmal während der heißen Stunden tagsüber in meinem Zimmer saß, hatte ich das Gefühl, in meinem Unglück wie eingesperrt zu sein, als säße ich in einer immer kleiner werdenden Schachtel und der Schlaf wäre mein einziger Ausweg. Ich wachte früh auf, um als Erste das Bad zu belegen, 39
und verließ dann sofort das Hotel. Mein Leben hing davon ab. Die dunkle Dame am Empfang wohnte offenbar selbst im Martha Washington. Einmal hörte ich sie mit einem ernsten Mann Spanisch sprechen, den ich für den Besitzer hielt. Ich grüßte sie jeden Tag, wenn ich zu meinen Streifzügen durch die Stadt aufbrach, aus Höflichkeit, aber auch, weil mir einfach danach war, etwas laut zu sagen. Als sie meinen Gruß jedoch mehrere Tage nicht erwidert hatte, hörte ich damit auf. Entweder war sie zu sehr mit dem Fernsehen beschäftigt, oder sie hörte schlecht. Oder es war ihr einfach egal. Draußen erwartete mich das Labyrinth der Stadt. Sie war mir immer ein Stück voraus. Ich wurde von ihr mit Haut und Haaren verschluckt, umgeben von einer Bevölkerung, die eilfertig und wuselnd ihren diversen Zielen zustrebte, zugleich Medizin für den Kummer und Ursache für neuen. Ich war mutterseelenallein und fand keine neue Ordnung, einfach weil ich zu erschüttert und überwältigt war, mir eine auszudenken. Nichts, was ich sah, erkannte ich wieder. Kein Gebäude war mir vertraut, außer den Ikonen Empire State Building und Chrysler-Gebäude (beides Motive aus meiner Kladde), doch selbst sie waren durch meine veränderte Perspektive vom Boden aus kaum wiederzuerkennen. Ich vergaß zu essen, und manchmal verging ein ganzer Tag, ehe ich laut etwas sagte. Und selbst dann war es meistens nur eine einfache Antwort auf ein Dankeschön oder eine simple Bitte. Könnte ich wohl etwas Milch in meinen Tee haben, bitte? Meine eigene Stimme war mir fremd geworden und klang sonderbar in meinen Ohren. 40
Niemand wollte etwas von mir, keiner kannte meinen Namen, und manchmal empfand ich angesichts dieser Anonymität reine Freude in der Brust, denn sie bedeutete absolute Freiheit, während mich in anderen Momenten eine geradezu lähmende Furcht überkam. Damals wusste ich noch nicht, dass tiefe Gefühlsregungen sich genau auf diese Art und Weise äußern; oft kommen sie auf einmal und aus verschiedenen Richtungen, wenn man am wenigsten damit rechnet und am weitesten von sich selbst entfernt ist. Ich empfand eine tiefe Entfremdung und musste mir ins Bewusstsein rufen, dass die junge Frau, die mir da aus den Schaufenstern entgegenblickte, ich selbst war. Sie hatte keine Familie. Niemand wartete zu Hause auf sie. Und doch existierte sie. Da war sie, ein Spiegelbild im Schaufenster, und ihr rotes Haar stand ihr vom Kopf ab, als sei sie zu Tode erschrocken. Ich brauchte Geld, und ich brauchte Arbeit. Ich musste wissen, was aus mir werden sollte. Ich ging und ging in einem weiten Bogen in den umliegenden Blocks umher, mit dem Martha Washington und der 29sten Straße als Fixpunkt meines Kompasses. Ich war auf der Suche nach etwas, das ich wiedererkennen würde – abgesehen von dem, was ich in meinem eigenen Gesicht sah –, nach einem Gefühl der Vertrautheit inmitten des Ungewohnten. Durch einen seltsamen Zufall war ich am südlichen Ende des New Yorker Garment District gelandet. Die Straßen rund um das Martha Washington waren bekannt für ihre kleinen Läden mit Accessoires, und überall boten winzige Ladenfronten mit vollgestopften 41
Schaufenstern Hüte und Mützen, Perücken und Handtaschen, glitzernde Applikationen und Krimskrams aller Art feil. Es war, als hätte meine Mutter selbst die Umgebung für meine erste Unterkunft ohne sie ausgewählt. Das Ganze wirkte wie ein Spiegel oder, besser, ein Umkehrspiegel: Mutter, ihr Hutsalon, die Werkstatt von Foys, das alles befand sich auf der anderen Seite der Dinge, und doch umgaben mich ihre Wahrzeichen. Langsam wagte ich mich ein Stück nach Süden vor, und so war ich sogar mehrfach schon am Arcade vorbeigegangen, ohne mir bewusst zu werden, worum es sich handelte – um das größte Antiquariat der ganzen Stadt. Ich hatte noch nichts davon gehört, dass das Arcade ein Hort der verlorenen Dinge ist: von Büchern, die man einmal besessen und verloren, oder von Büchern, die man nie besessen und nach denen man sich immer gesehnt hatte. Auch von Herman Melville hatte ich noch nicht gehört, außer seinem berühmten Namen (einem der Namen auf der eher bescheidenen Inventarliste in Chapmans Buchladen). Und ich hatte keinen blassen Schimmer vom Wert seltener Handschriften. Buchläden mochte ich einfach deshalb, weil sie mir vertraut waren; alle einander ähnlich, jeder auf seine Weise. Doch das Arcade gehörte einer ganz anderen Kategorie an, und weil ich mich – in jeder Hinsicht – verirrt hatte, übte es, kaum hatte ich einen Fuß hineingesetzt, eine unwiderstehliche Anziehung auf mich aus. Die Faszination des Arcade ist auf eine seltsame Art allgemeingültig, aber an jenem Tag war sie auch sehr persönlich. Als ich in den Laden kam, war ich mitten in ein Bild aus meiner Postkartensammlung gestolpert, in 42
ein Foto, das ich einst in meine Kladde geklebt hatte. Ich betrat einen Raum, von dem ich geglaubt hatte, er existiere nur in meiner Phantasie. So kam es mir vor, als hätte ich selbst mir das Arcade ausgedacht, als hätte ich es durch einen Zauber ins Leben gerufen, eine Bühne für uneingestandene Bedürfnisse. Von dem unscheinbaren Eingang aus betrachtet, erhebt sich die Decke in einem gewaltigen Bogen bis weit in den Laden hinein, ein wogender Raum, der das Auge des Betrachters auf der Suche nach einem weiteren Firmament nach oben lenkt. Natürlich ist keines mehr da, und die Decke ist nichts anderes als eine tiefe, staubige Kuppel wie das Innere eines Schädels. (Beide sind sie Gewölbe und beide Behältnisse von Wissen.) Wie konnte sich hinter einem so schmalen Eingang ein solch beeindruckender Raum verbergen? Irgendwie wurde ich den Verdacht nicht los, durch einen Trick hineingelotst worden zu sein. Drinnen ist das Arcade selbst wie eine große Stadt; wie eine Insel. Dass ein Buchladen ein solcher Ort sein kann, hat man sich immer erhofft, doch das Arcade ist wie der ursprüngliche Wunsch, der hinter solchen Hoffnungen steckt. Bei jenem ersten Besuch war es, als würde New York hier ganz real. Das Arcade stand für die Menschenmassen, es versinnbildlichte die Großstadt. Die Bücherstapel waren wie die wuselnden New Yorker, unsichtbar in ihren Gebäuden und doch spürbar, wie Bienen in ihrem Korb. Das Summen des Lebens, das von den Menschenmassen der Stadt ausging, wurde mir bereits langsam vertraut, doch im Arcade wurde dieses surrende Leben greifbar. Chaps hatte Mut43
ter und mir immer gesagt, Bücher seien menschlicher Geist auf Regalen. Das galt auch hier; die Bücher wirkten alles andere als unbelebt, und die Stapel, die sich vor mir auf den Tischen türmten, atmeten Leben. Ich ging auf einen der überladenen Tische zu, legte die Hand auf den ersten Stapel, an den ich heranreichte, lauschte, wartete. Ich kann mich ganz genau an jenen Moment erinnern. Es war wie ein Öffnen, ein Beginn. Ich muss hier arbeiten, dachte ich. Und ich werde hier arbeiten. Mein Gedanke hatte nichts mit Selbstvertrauen zu tun, er war purer Wille. Ich war von mir selbst überrascht. In dem weichen, dämmrigen Licht schaute ich mich um. Mich überraschte nichts: weder die schäbige Beliebigkeit des Arcade, in dem es nur kleine Inseln der Ordnung inmitten eines allgemeinen Chaos gab, noch die Schmuddeligkeit, die Stille, die nur ab und zu durch irgendeinen Lärm durchbrochen wurde. Auch die äußerst wackeligen Bücherstapel, die sich, allen Gesetzen der Schwerkraft zum Trotz, einem unsichtbaren Mittelpunkt entgegenzuneigen schienen, verwunderten mich nicht. Ich war zu Hause. Das Sonnenlicht, dem es gelang, durch die beiden schmutzigen Fenster einzudringen, war vom Staub getrübt. Riesige schummrige Lampen hingen an schweren Ketten über den Köpfen der Kunden, die sich konzentriert über Bücher beugten. Ich sah durch den schmalbrüstigen Eingang zurück auf die Straße, um mich zu überzeugen, dass es wirklich ein ganz gewöhnlicher sonniger Junitag war. Hier drinnen war es kühl, und die Zeit schien auf unerklärliche Weise stillzustehen. 44
Ich bahnte mir zwischen den Regalen einen Weg über die Trampelpfade, die nur zu begehen waren, wenn man einen Fuß vor den anderen setzte, immer nur wenige Zentimeter vorwärts, und versuchte, den Bücherstapeln auszuweichen, die in halsbrecherischer Höhe an den wackeligen Regalen lehnten. Schließlich blieb ich vor einer Art Podest stehen, das eine Balustrade aus Eichenholz säumte, eine Oase des freien Raumes inmitten des Chaos. Ein kleiner Mann stand dort und überragte selbst den größten Kunden. Er war dabei, alte Bücher mit Preisen zu versehen, doch mit seinen feierlichen Gesten erinnerte er mehr an einen Priester auf der Kanzel. Auf dem Messingnamensschild, das von seinem Eichenschreibtisch aus in Richtung Laden schaute, stand in schimmernden Buchstaben: George Pike, Inhaber. Seine Bewegungen wirkten geübt und rhythmisch. Ein Stapel Bücher türmte sich zu seiner Linken auf. Er nahm ein Buch von dem Stapel, runzelte die Stirn und ließ den Blick prüfend über die Bindung wandern, um eventuelle Risse oder Scharten aufzuspüren. Dann schlug er das Buch auf, blätterte mit raschen und eleganten Bewegungen zur Titelei, seine Augen überflogen das Copyright, während er den Daumen blitzschnell über den gesamten Schnitt des Buches wandern ließ. War er am Ende angelangt, klappte er das Buch zu und schlug es dann auf der ersten Seite wieder auf. Er zog einen Bleistift hinter seinem Ohr bevor, schrieb ganz fein etwas in die obere rechte Ecke und setzte noch einen schwungvollen Schnörkel darunter. Dann steckte er den Bleistift wieder hinter sein Ohr und rieb sich mit dem Zeigefinger unter der Nase. Er glättete seine Stirn, legte den Band rechts 45
von sich ab und griff sogleich nach dem nächsten Buch auf dem Stapel zu seiner Linken. All das verrichtete er wie mit einer einzigen und immer gleichen Handbewegung. Es war ein unbewusster Vorgang, wie magisch. Offensichtlich gab es keinen Raum für Überlegungen, für das Abwägen konkurrierender Möglichkeiten. Pike allein war Entscheidungsträger, das Herz des Unternehmens. Ich wollte unbedingt im Arcade anheuern, und Pike war offenbar der Kapitän dieses Schiffes. Ich sehnte mich danach, solcher Könnerschaft, solcher Selbstgewissheit nahe zu sein. Dieser Ort war wie eine Boje inmitten stürmischer See, und ich musste zugreifen. «Entschuldigen Sie bitte, Sir. Mein Name ist Rosemary Savage», sagte ich zu Pike, und mein Akzent klang selbst in meinen Ohren seltsam und näselnd. Offenbar war er es nicht gewohnt, unterbrochen zu werden. Ich fuhr hastig fort, erschrocken über meine Kühnheit und weil mir klar wurde, wie groß die Verzweiflung sein musste, die mich dazu brachte. «Ich habe schon in einer Buchhandlung gearbeitet, Mr. Pike. Und ich muss hier arbeiten.» Er blickte von seinem Tun auf und nahm meine Verwegenheit zur Kenntnis. In seinem eher nichtssagenden Gesicht waren die erhobenen Augenbrauen der einzige Hinweis darauf, dass er sich brüskiert fühlte. Er war eine anachronistische Gestalt. Seine gestreifte Weste, die Hemdsärmel, die mit Ärmelhaltern über die Ellbogen hochgeschoben waren, all das ließ auf einen Mann schließen, der seit Jahrzehnten seinen Kleidungsstil nicht mehr geändert hatte. Pike trug einen wächsern 46
aussehenden Schnurrbart, der eine Spur dunkler war als sein weißlich-graues Haar, er fuhr sich mit dem Finger darüber, bevor er die Augenbrauen wieder senkte und sich dem Buch auf dem Tisch vor ihm zuwandte. «Sie müssen hier arbeiten?», fragte er mit einer seltsamen, dünnen Stimme. Er sprach mehr zu dem Buch in seiner Hand als mit mir, als wollte er das ungezogene Ding fragen, ob es wirklich die Frechheit besaß, eine solche Behauptung aufzustellen. «Meinen Sie denn, das ist eine eher seltene Anfrage?», wollte er von dem Buch wissen. Mir fiel keine Antwort ein. Schon jetzt stand zu viel auf dem Spiel. Ich schaute zu ihm auf. Nach meinen Berechnungen war sein Podest gute sechzig Zentimeter höher als der Punkt, an dem ich stand. An einer Kante zog es sich bis zum Boden hinunter, sodass man die eigentliche Höhe nicht erkennen konnte, was mit Sicherheit beabsichtigt war. Es war nichts anderes als eine Bühne. Pike war einen guten Kopf kleiner als ich mit meinen ein Meter sechzig, doch auch diese Erkenntnis ließ seine Gestalt in meinen Augen nicht schrumpfen. Neben seinen Büchertürmen überragte er alles. Ich hatte Pike meine Zukunft anvertraut und fragte mich, ob auch er das erkannt hatte. Es trat eine lange Pause ein, während er wieder zu seiner Litanei an Gesten angesetzt hatte und ein weiteres Buch auspreiste. Seine Bewegungen entschieden über den Preis des Buches, als wäre Pike eine Aufziehpuppe, deren innerer Mechanismus dazu dient, den Wert eines Buches einzuschätzen. Er legte den Band zu seiner Linken ab. 47
Ich wartete. Er holte tief Luft. «Was wir hier wollen, ist die leise Langeweile der Ordnung. Versuchen Sie bloß nicht, sich interessant zu machen, Mädchen.» Er hatte mich ebenso schnell eingeschätzt wie das Buch, das er gerade abgelegt hatte. «Suchen Sie nach der Lyrikabteilung und fangen Sie an, die Bücher in die Regale zu räumen, die noch auf dem Boden liegen.» Er machte eine Handbewegung, als wollte er mich wegscheuchen. «Wahrscheinlich sind Sie reif für die Lyrik», fügte er leiser hinzu. Hatte er mich etwa eingestellt? «Ordnen Sie nach Dichtern. Nur nach Dichtern. Halten Sie sich bloß nicht mit irgendwelchen Herausgebern oder Übersetzern auf – alles Augenwischerei. Entweder Sie sortieren die Bücher nach Autoren ein, oder George Pike wird Sie nicht einstellen. Und alle Anthologien kommen raus! Einfach alphabetisch, das ist alles. Ein paar Dinge sollten noch vorhersehbar sein.» Ich hatte atemlos an seinen Lippen gehangen, obwohl er gar nicht mit mir zu reden schien. Hatte er «reif» gesagt? «Äh, ja, Sir. Mr. Pike, ja, alphabetisch natürlich.» «Gehen Sie zur Lyrik, und mein Geschäftsführer kommt dann zu Ihnen, um einzuschätzen, ob Sie geeignet sind.» Damit hob er den nächsten, noch nicht ausgezeichneten Band zu seiner Linken hoch. Ich begab mich eilig in die Tiefen des Arcade und fand die Lyrikabteilung ganz hinten in der Ecke in einem 48
hohen Regal, das sich in einem gefährlichen Winkel in Richtung Kundentoilette neigte. Rasch begann ich mit meiner bedeutsamen Arbeit, Bücher einzusortieren, die offenbar noch nie jemand in irgendeine Ordnung gebracht hatte. Die Abteilung begann etwa auf Augenhöhe. Daneben folgten die Bücher über okkulte Praktiken. Die Zuordnung war offenbar völlig willkürlich und rein alphabetisch, weil «Poesie» eben auf «Okkultes» folgt. Um an das Regal heranzukommen, musste ich mich über einen hohen Bücherstapel auf dem Boden beugen und die Bände mit steifen Armen darüber hinweg und darum herum heben. Ich beschloss, ganze Hände voll aus dem Regal zu nehmen, mich auf den Boden zu setzen und sie dort zu sortieren. Auch das erwies sich jedoch schnell als sinnlos, weil ich ständig wieder zu neuen Unterteilungen gelangte und so im Grunde kaum mehr als eine oberflächliche Ordnung hinbekam. Befand sich hier etwa meine Geduld auf dem Prüfstand? Sollte festgestellt werden, wie groß mein Interesse wirklich war, angesichts der ganz offensichtlich nicht zu bewältigenden Aufgabe, auch nur die geringste Ordnung in das Arcade zu bringen? Nach einer halben Stunde hatte ich gerade mal ein halbes Regalbrett geschafft. Ich stand mit dem Rücken zum Gang, um ein paar weitere Bände vom Regal zu wuchten, als ich plötzlich das Gefühl hatte, beobachtet zu werden. Ich hörte ein zischendes Wispern, drehte mich um und ließ prompt die Bücher zu Boden fallen. Höchstens sechzig Zentimeter von mir entfernt stand ein Albino unbestimmten Alters, dessen blasse Augen scheinbar ziellos hinter der Kneiferbrille hin und her 49
wanderten. Von Anfang an waren es diese Augen. Augen, die man nicht fassen konnte. Er trat einen Schritt zurück und stieß dabei mehrere Bücher um, die ich beiseitegelegt hatte. Ohne seiner Ungeschicklichkeit Beachtung zu schenken, musterte er mich und quittierte meine Überraschung mit geübter Nichtüberraschung. Jemandem wie ihm war ich noch nie begegnet, und auch ein Gesicht, in dem sich so deutlich Selbstschutz und Geringschätzung mischten, hatte ich noch nie gesehen. «Walter Geist, Geschäftsführer des Arcade», flüsterte er und drehte sich um. «Folgen Sie mir, Mädchen.» Ich hob die Bücher auf, die ich fallen gelassen hatte, stemmte sie auf das Regal hoch und schloss mit ihm auf, als er gerade um einen Bücherstapel bog. Während ich der wunderlichen Gestalt mit den gebeugten Schultern auf den Fersen blieb, kam mir flüchtig der Gedanke, dass jemand, der im Arcade geboren worden wäre und die beengten Räume niemals verlassen hätte, bestimmt genauso aussehen würde wie er. Die Körperpigmente wären einfach verschwunden, das Augenlicht würde durch die schwache Beleuchtung völlig ruiniert, bis man eines Tages einfach reglos liegen bliebe, wie eine Flunder auf dem Meeresboden. Und tatsächlich erinnerten mich Geists weiße Ohren, als ich hinter ihm herging, an eins dieser zarten Meereswesen, die plötzlich hoch ans Licht gehoben werden, verletzlich und nackt. Irgendwie schienen sie sich zusammenzuziehen, als wollten sie der Aufmerksamkeit anderer entkommen, wie bei einem Tier, das zurückweicht, um nicht entdeckt zu werden. Ich war in gleichem Maße fasziniert wie abgestoßen, ein Widerspruch, 50
der mich niemals wieder verlassen würde. Während ich ihm da in meiner Erinnerung folge, kann ich wieder seine Andersartigkeit spüren, jemand, der bezaubert und zugleich erschreckt. Er führte mich in ein kleines Büro ganz hinten im Laden, das wie ein Reff hoch oben in einer Ecke der Decke hing. Ich folgte ihm über eine schmale Treppe aus Holz, deren Geländer nicht richtig befestigt und teilweise zerbrochen war. «Warten Sie hier, Mädchen.» Er zeigte auf den Treppenabsatz vor dem Eingang zum Büro. «Mein Name ist Rosemary Savage, Mr. Geist. Rosemary Savage», sagte ich, weil mich seine anonyme Anrede nervte. Dabei streckte ich die Hand aus, wie ich es bei den Amerikanern gesehen hatte, weil ich es für angebracht, ja sogar tapfer hielt. Doch seine Hände blieben, wo sie waren, hinter dem Rücken verschränkt. Er ging in das Büro und kam mit mehreren Formularen wieder zurück. «Bitte füllen Sie die aus. Nur Druckbuchstaben.» Er reichte mir einen Füller und beobachtete im Stehen die Vorgänge auf dem Stockwerk unter uns. Von diesem hohen Treppenabsatz aus wurde das Chaos des Arcade in seinem ganzen Ausmaß sichtbar; nur Pikes Podest, auf dem der Mann sich hin und her bewegte wie in einer Choreographie, bildete eine Ausnahme, ein kleines Aufzucken konzentrierter Aktivität. Ich beugte mich über das Geländer, um Geists Blick zu folgen, weil ich sehen wollte, was seine Aufmerksamkeit erregte. Ein dicker Mann saß auf dem Boden, 51
umstellt von Bücherstapeln, die Beine vor sich ausgestreckt wie ein spielendes Kleinkind. Mit einer Hand schlug er die Seiten eines großen Fotobandes auf seinem Schoß um, während die andere unter den schweren Buchdeckeln verborgen war. Selbst von hier oben, vom Treppenabsatz aus, konnte ich mir denken, dass er sich Nacktfotos ansah. «Was schauen Sie denn?», fragte mich Geist. «Ach, ich habe nur dorthin gesehen, wo Sie hingeschaut haben», antwortete ich nervös. «Das meine ich nicht», erwiderte er. «Was sehen Sie?» Ich beschrieb den dicken Mann, der sich die Fotos anschaute. «Arthur!», rief Geist vom Treppenabsatz hinunter. «Sie sollen doch Regale einräumen!» «Ich mache mich nur mit dem Inventar vertraut, Walter», gab Arthur grinsend zurück. Er hatte einen deutlichen britischen Akzent. In diesem Moment schaute er zu mir hoch und bedeutete mir, zu schweigen, indem er den Finger an die Lippen legte. Hatte ich ihn verpetzt? Konnte Geist gar nicht selbst sehen, was ich ihm beschrieben hatte? Arthur wandte sich wieder seinen Nackten zu. Die Hand, die unter den Buchdeckeln nicht zu sehen war, bewegte sich rhythmisch. Geist stampfte ungeduldig mit seinem kleinen Fuß auf, und ich bemerkte, dass er elegante, gewienerte Schuhe trug, deren glatte schwarze Umrisse unter den Hosenbeinen hervorsahen wie die schimmernden Köpfe von Seehunden. 52
«Mr. Geist, gibt es irgendwo einen Tisch, wo ich diese Formulare ausfüllen kann?», fragte ich, weil ich es schwierig fand, ohne eine feste Unterlage einigermaßen leserlich zu schreiben, und weil ich sowohl ihn als auch mich selbst von Arthur ablenken wollte. «Nein», erwiderte er, seine wandernden Augen immer noch auf einen Punkt unterhalb des wackeligen Geländers gerichtet. Er nahm seine Brille ab, schob sie in seine Brusttasche und wartete, bis ich die Formulare ausgefüllt hatte. Sein Verhalten war mir ebenso unheimlich wie sein Aussehen. Jetzt, wo ich etwas näher bei ihm stand, konnte ich erkennen, dass Mr. Geist jünger war, als ich zuerst gedacht hatte; er war vielleicht zwanzig Jahre jünger als Pike, also Ende vierzig. Er wirkte wie eine unvollendete Version, eine armselige Kopie des meisterlichen Mr. Pike, und doch zugleich wie eine Kreatur aus einer anderen Zeit. Alles an ihm war bleich. Sein Haar war weich und flauschig, die natürliche Fortsetzung des weichen Gesichts, das entfernt an ein Schäfchen erinnerte. Seine Kleidung war nicht ganz so gepflegt wie seine Schuhe, die Hose war an den Taschen leicht abgerieben. Ich füllte die Papiere aus und reichte sie ihm zurück. «Morgen früh um neun fangen Sie an», wies er mich an, ohne sich direkt an mich zu wenden, eine Taktik, die er sich vielleicht von Pike abgeschaut hatte. «Um sechs sind Sie dann fertig. Vorerst werden Sie als Springerin eingesetzt. Das heißt, Sie gehören nicht zu einer bestimmten Abteilung, da Sie keine Vorkenntnisse haben; Sie werden verschiedene Aufgaben haben, 53
die man Ihnen zuteilt. Bemühen Sie sich nicht, der Kundschaft helfen zu wollen, Sie werden sie mit Ihrem Unwissen nur verärgern.» «Ich habe schon einmal in einem Buchladen gearbeitet, Mr. Geist», sagte ich zu meiner Rechtfertigung. Er setzte seine Brille wieder auf, indem er sie auf die faltige Stirn schob und mit einem Stirnrunzeln an ihrem Platz hielt. Vielleicht runzelte er aber auch die Stirn, weil er mich für dreist hielt. «Nicht in diesem hier, Miss Savage», sagte er barsch. «Bitte unterbrechen Sie mich nicht. Sie erhalten ein Gehalt von siebzig Dollar die Woche. Es gibt keinen Vorschuss. Haben Sie noch irgendwelche Fragen?» «Nein», sagte ich, weil ich Angst hatte, meine Chance zu vertun. «Gut. Es gibt noch eine weitere Bedingung.» Geists rosa Ohren wanderten ein winziges Stückchen nach hinten. «George Pike duldet weder den Diebstahl von Geld noch von Büchern. Der geringste Verdacht auf Diebstahl wird mit der sofortigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses geahndet.» Diese letzte Ermahnung wurde in einem dringlichen Flüstern geäußert. Später las ich diese Verlautbarung in großen Lettern auf einem Schild in der Damentoilette sowie an der Wand über der Stempeluhr, die alle Angestellten bedienten, wenn ihr Arbeitstag begann und endete. Ein anderes Schild war in Sichthöhe vor der Treppe angebracht, die in den höhlenartigen Keller hinunterführte. Diese Schilder waren jedes Mal wie ein Rüffel, doch paradoxerweise erinnerten sie sowohl die Kunden als 54
auch die Angestellten daran, dass Diebstahl in gewissem Sinne durchaus möglich war. George Pike persönlich rief mich zu sich, als ich, soeben angestellt, auf dem Weg nach draußen an seinem Podest vorbeikam. «George Pike duldet weder den Diebstahl von Geld noch von Büchern!», schrie er, wobei er bezeichnenderweise von sich selbst in der dritten Person sprach. Diebstahl war in der Tat ein Problem, wie ich schon bald entdecken sollte. Das Arcade wurde regelmäßig von Ladendieben heimgesucht, aber viel bedeutsamer war die Tatsache, dass es auch mehrere Skandale um aberwitzig überteuerte Bücher gegeben hatte, deren Herkunft gefälscht worden war, was, wie Pike es verteidigend zu nennen pflegte, zu einer phantasievollen Preisgebung geführt hatte. Doch Skandale erhöhten die Anzahl von Kunden, sowohl Verkäufern wie Käufern. Mit anderen Worten, Diebstahl gab es im Arcade in beide Richtungen. «Warum grüßen Sie mich nicht mehr?», fragte mich die dunkle Lady am Empfang laut, als ich ins Martha Washington zurückkehrte. Sie hatte die Kabel, durch die sie mit dem Fernseher verbunden war, aus den Ohren genommen, und ich konnte ein blechernes Quäken hören, die Stimmen von Comic-Figuren, die miteinander redeten. «Tut mir leid», sagte ich, weil ich nett sein wollte. «Aber ich habe aufgehört, Sie zu grüßen, weil Sie mich nie zurückgegrüßt haben. Ich hab’s einfach aufgegeben.» 55
«Geben Sie nicht auf!», sagte die Frau mit rätselhafter Miene. «Sie sind gerade erst hier angekommen. So was kann eben passieren in New York. Sie geben auf. Ich weiß. Ich kam aus Argentinien in dieses Land. Mein Bruder, ihm gehört dieses Hotel. Ich heiße Lillian. Lillian La Paco. Grüßen Sie einfach weiter, Miss. Sie sind die Einzige, die es tut.» «Na gut, Lillian», versprach ich. «Ich heiße Rosemary», und zum zweiten Mal an diesem Tag streckte ich die Hand aus, nur dass sie diesmal genommen wurde. «Rosemary Savage», sagte ich, als wir uns die Hand schüttelten. «Nett, Sie kennenzulernen, Lillian, und ich werde weiterhin grüßen. Ich gebe bestimmt nicht auf. Gerade habe ich einen Job bekommen. Meinen allerersten richtigen Job überhaupt.» «Aha», sagte Lillian schlau. «Dann fangen Sie also erst an!» «Ja», nickte ich, weil ich mich über ihre Bemerkung freute. «Ja, jetzt fängt alles an.» Ich ging auf mein Zimmer am Ende des Ganges und schloss die Tür ab. Bei einem Straßenhändler hatte ich mir, um meine Anstellung zu feiern, ein Pfund Kirschen gekauft. Ich setzte mich auf mein schmales Bett, um sie genüsslich zu verspeisen, und fühlte mich zuversichtlich; ich spürte, wie langsam wieder Leben in mein zerdrücktes Ich kam. Jetzt, wo ich Arbeit hatte, würde bestimmt jemand bemerken, wenn mich mit meinen achtzehn Jahren ein tragischer Tod ereilte, zum Beispiel, wenn ich an einem Kirschkern erstickte, den ich nicht ausgespuckt hatte. Ich konnte aufhören, mir die schrecklichen Dinge aus56
zumalen, die mir zustoßen könnten, und endlich nach Hause an Chaps schreiben, um sie zu beruhigen und mich selbst auch. Ich konnte aufhören, durch die Straßen zu wandern und auf ein Zeichen zu warten. Ich hatte schon jetzt mehr gefunden, als ich mir je hätte vorstellen können. Ich wickelte die Huon-Schachtel aus dem Seidenschal und erzählte ihr, was an diesem Tag alles geschehen war: wie seltsam Pike war und wie gewandt; wie bizarr Geist aussah und sich benahm, und dass ich mir jetzt schon sicher war, dass er mich nicht leiden konnte; und wie Arthur in der Kunstabteilung mit seinen Aktfotos dagesessen hatte wie ein großes, unanständiges Baby. Ich vermisste Mutter so sehr, dass es mir wehtat. Es war ein Schmerz, mit dem ich nur zurechtkam, indem ich von ihm abrückte. Es war, als betrachtete ich ihn aus dem Augenwinkel, wie er geduckt dahockte, irgendwo in der Nähe. Ich musste es nur schaffen, diesen Schmerz in etwas zu verpacken, dann würde er mich nicht überwältigen. Wenn ich nicht direkt in seine dunklen Weiten schaute, dann könnte ich es schaffen. Es half, mit ihr zu sprechen. Chaps hatte zu mir gesagt, ich solle meinen Kummer in Worte fassen. Ich drückte einen Kuss auf das glatte tasmanische Kernholz, stellte die Schachtel beiseite und aß, an die Kissen gelehnt, noch ein paar Kirschen. Einen Kern spuckte ich quer durchs Zimmer, wobei ich auf den metallenen Abfalleimer zielte, ich hörte ein zufriedenstellendes Klacken, als ich in den Eimer traf. «Das ist der Anfang», sagte ich zu Mutter. «Mach du dir keine Sorgen, dann mache ich mir auch keine.» 57
Ich hatte einen Job, dem ich nachgehen konnte, und wurde am nächsten Morgen um neun erwartet. Man würde Rosemary Savage dort kennen und merken, dass ich fehlte, sollte ich tatsächlich verlorengehen. Ich war Bewohnerin einer großen Stadt, vielleicht der größten. Und nicht nur das: Ich würde immer etwas zu lesen haben.
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Viertes Kapitel
D
ie Vorgänge im Arcade hatten eine ganz eigene Logik, sie folgten einer Reihe willkürlicher Regeln, die allesamt von George Pike erdacht und ausgesprochen worden waren. Taschenbücher kamen niemals ins Regal. Als die armen Verwandten der gebundenen Ausgaben wurden sie einfach wahllos auf den Tischen in der Nähe des Ladeneingangs gestapelt, wo sie zu einem Einheitspreis – ein Dollar fünfzig – verkauft wurden, ob es sich nun um einen Roman oder eine geschichtliche Abhandlung handelte, einen Wälzer von tausend Seiten oder ein schmales Bändchen von kaum mehr als einhundert. Neuerungen ließen Pike völlig unbeeindruckt. Jedes «neue» Buch (also eines, das innerhalb der letzten zwei Jahre erschienen war und einen harten Einband hatte) ging niemals über den Eichentisch, sondern landete direkt in dem weitläufigen Keller mit der niedrigen Decke, wo es von Walter Geist mit einem Preis versehen wurde. Diese Bücher bedeuteten Pike überhaupt nichts, obwohl er täglich eine Auflistung der Neuerwerbungen erhielt, die das Arcade zu einem Viertel des Listenpreises der Verlage erstand, sowie über deren Verkauf, bei dem das Arcade die Hälfte jenes Listenpreises verlangte. Wenn also ein Rezensent dem Antiquariat ein Buch anbot, das der Verlag mit sechzehn Dollar bezifferte, so bekam er von Geist dafür ein Viertel dieses Listenprei59
ses, also vier Dollar, und das Buch landete auf dem Regal im Keller zu einem Preis von acht Dollar. Jedes andere gebundene Buch im Arcade hatte Pike irgendwann einmal in der Hand gehabt, und er erinnerte sich an mehr Bücher, als man es einem menschlichen Wesen zugetraut hätte. Außer Geist beschäftigte Pike noch weitere exzentrische Individuen, und es blieb mir ein Rätsel, warum er mich angestellt hatte. Exzentrisch war nichts an mir, bis auf die Tatsache vielleicht, dass ich eine achtzehnjährige Waise aus Tasmanien war. Zudem hatten die meisten Angestellten des Arcade künstlerische Ambitionen. Unter ihnen waren auf unterschiedliche Weise gescheiterte Schriftsteller, Dichter, Musiker, Sänger, und sie alle trugen das Stigma der Enttäuschung, das so typisch für die Verkannten, die Unveröffentlichten ist. Die Tausende Bücher im Arcade verspotteten sie für ihre missglückten literarischen Bestrebungen. Dass die meisten Bände aus dem Bestand zudem noch vergriffen waren, galt nur als weiterer Beweis dafür, wie sinnlos der Traum von Veröffentlichung war. Das Arcade war ein Monument der Literatur, aber oft wirkte es mehr wie ein Grab. «Heute Vormittag arbeiten Sie bei Oscar Jarno in der Sachbuchabteilung», wies Geist mich an meinem ersten Morgen an. «Und Sie werden tun, was er sagt.» «Ist schon in Ordnung, Walter», sagte Oscar. Seine Stimme war weich und selbstbewusst. Er war fast lautlos zu uns getreten. Er lächelte und fasste mich, kaum wahrnehmbar, am Arm. Ich fand sein Auftreten beeindruckend, und seine Geste berührte 60
mich, da sich seit meiner Ankunft zum ersten Mal jemand freundlich zeigte. Oscars außergewöhnliche Augen hatten die Farbe von Messing und waren groß – warm wie die Sonne, die niemals bis in das Innere des Arcade vordrang. «Mach dir keine Gedanken wegen Walter», meinte Oscar leise und führte mich sanft in den hinteren Teil des Ladens, die Hand an meinem Ellbogen. Seine Berührung machte mich ein wenig atemlos; ich war begierig auf jedes Wort, das er sprach. «Für seine forsche Art kann er nichts», fuhr Oscar fort. «Walter ist es einfach wichtig, dass er für alle der Boss ist. Man muss ihm das nachsehen.» Oscar Jarno machte mich von Anfang an zu seiner Vertrauten. Als wir die Sachbuchabteilung erreicht hatten, ließ er meinen Ellbogen los, fuhr sich mit der Hand über die blasse Stirn und ließ sie an seiner Schläfe ruhen, als habe er leichtes Kopfweh. «Deine Bluse, Rosemary, ist aus einer Art poliertem Baumwollstoff gemacht, der in diesem Land nicht leicht zu bekommen ist. Mich würde interessieren, wie man ihn einfärbt.» Er befühlte sanft den Ärmel meiner Bluse, und in diesem Moment hatte ich das Gefühl, ich würde alles tun, um seine Aufmerksamkeit zu behalten. «Hübsch», sagte er und sah mir ins Gesicht. «Eine Art Ripsseide.» Oscar war etwas größer als ich und sah auf poetische Weise gut aus. Sein Kopf war wohlgeformt, wie von einem Bildhauer gemeißelt, und der Kontrast zwischen seinen goldenen Augen und der blassen Haut war dra61
matisch. Ansonsten war nur wenig Dramatisches an ihm – er sprach leise und deutlich, doch waren in seinem Gesicht scheinbar magnetische Kräfte am Werk: in den glatten Flächen seiner Wangenknochen und der breiten Stirn über den lebhaften Augen. Als ich ihm zum ersten Mal begegnete, war Oscar bereits seit fünf Jahren im Arcade. Da er ruhig und zuverlässig war, hatte Pike irgendwann akzeptiert, dass er nur in der Sachbuchabteilung arbeitete und alles, was Oscar in jener Trabantenstadt aus zwölf hohen Regalen tat, über die Bühne ging, ohne dass großes Aufhebens darum gemacht wurde. Es gab nicht wenige Kunden, die ihn regelrecht anbeteten. Den größten Teil des Tages verbrachte Oscar auf einem Hocker, wo er sich Notizen in ein schwarzes Büchlein machte; vom Ein- und Auspacken der schweren Bücherkisten war er befreit. Seinen besonderen Status stellte niemand in Frage. Oscar hatte ihn sich verdient. Er wusste eine ganze Menge über viele Themen, aber sein persönliches Interesse galt Stoffen. Seine Mutter war Schneiderin gewesen, sie hatte ihn in das Reich der Textilien eingeweiht und ihm die Namen und verschiedenen Eigenschaften beigebracht. Gelegentlich hatte Pike Verwendung für Oscars Kenntnisse, wenn er ihn bat, sich eine seltene Art der Buchbindung anzusehen und Vermutungen über ihre Herkunft oder mögliche Reparaturmethoden anzustellen. Oscar hatte sowohl in der Restaurierung als auch mit so obskuren Materialien wie Pergament einige Erfahrung gesammelt. Schon während der ersten Tage, als er mich einwies, wurde mir klar, wie wertvoll er für das 62
Arcade war. Einmal zum Beispiel rief Pike Oscar zu seinem Podest, und ich lief ihm hinterher, als er zu ihm eilte (es war die einzige Gelegenheit, bei der Oscar sich schnell bewegte). «Ah, Oscar», sagte Pike scharf und wies auf einen Kunden am Fuße des Podests, der einen alten Band in den Händen hatte. «Hier haben wir ein Buch über höfisches Leben im alten Frankreich; eigentlich sollte es auf dem Weg in den Raritätenraum zur Reparatur sein, aber dieser Kunde hier war einfach schneller. Auch auf die Gefahr hin, dass wir räuberische Praktiken unterstützen – schauen Sie es sich doch bitte mal an.» Die Kunden versuchten immer wieder, sich Bücher zu schnappen, bevor sie von Pike eingeschätzt worden waren und man ihnen einen Wert und einen Standort zugewiesen hatte. Zweifellos gefiel ihnen die Vorstellung, etwas Wertvolles zu entdecken, das Pike übersehen hätte. Ich sah Oscar zu, wie er das Buch vorsichtig in die Hand nahm, die brüchige Bindung betrachtete und sich langsam ein Lächeln auf seine Lippen stahl. Oscar war dünn, und seine Haut war so fein und trocken, dass sie zu knistern schien, wenn er sich auf typisch nervöse Weise über die Stirn fuhr. Sein dunkles Haar hatte bereits deutliche Geheimratsecken, die ich rasch zu lieben lernte, denn so war mehr von seinem bemerkenswerten Gesicht zu sehen. «Dieses Buch wurde in Chardonnet-Seide gebunden», sagte Oscar mit leiser, aber bestimmter Stimme. «Der Stoff ist nach dem französischen Chemiker benannt, der diese spezielle Herstellungsweise erfand.» 63
Pike kniff anerkennend die Augen zusammen, hocherfreut über die Möglichkeit, aufgrund von Oscars Bemerkungen ein ansonsten schäbiges Exemplar zu einem saftigen Preis anzubieten. «Danke, Oscar», sagte Pike und schickte ihn mit einer flüchtigen Handbewegung davon. Pike beugte sich von seinem Podest hinab und nahm den Band von dem Kunden entgegen. Es folgten seine üblichen rituellen wie unbewussten Gesten – er blätterte zur Titelei, überflog das Copyright, ließ den Daumen über den gesamten Schnitt wandern, schloss das Buch, schlug es erneut auf der ersten Seite auf, zog einen Bleistift hinter dem Ohr hervor – und schrieb einen geschätzten Preis hinein. Dann reichte er das Buch wieder dem Kunden. «Aber das ist eine Unverschämtheit, Pike!», rief der Mann empört. «Geldschneiderei, nichts anderes!» «Rosemary», flüsterte Oscar, als wir wieder bei den Sachbuchregalen waren. «Weißt du eigentlich, was der landläufige Name für Chardonnet-Seide ist?» «Nein», sagte ich vorsichtig. «Ich habe keine Ahnung.» «Kunstseide», sagte er und unterdrückte ein Kichern. «Wird aus gepresstem Zellstoff gemacht. Ist natürlich überhaupt keine Seide. Erinnere mich mal dran, dass ich dir die Geschichte der Seide erzähle.» Er legte seine zartgliedrige, lange Hand über den Mund, nahm auf seinem hohen Hocker Platz, zog sein schwarzes Notizbuch hervor und schrieb schnell etwas hinein. Oscars Gesicht sah so aus, als bestünde es aus mehre64
ren Schichten Pappmaché, wodurch es ausdruckslos wirkte, während er schrieb. Irgendwie erinnerte er an eine mannshohe Marionette, mit diesem ausladenden, wie modellierten Kopf auf dem weichen, schmalen Körper. Wenn Oscar mich anschaute, leuchteten seine Augen, als blickten sie in eine Lichtquelle, aber mit der Zeit begriff ich, dass das nur der Effekt ihrer besonderen Farbe war. Die Iris war wirklich goldfarben. Es war auch eine Art Trick, dass Oscar oft ein Gespräch begann, indem er sein Interesse für einen Stoff bekundete. Er war eher zurückhaltend und phlegmatisch, aber er wusste sehr wohl, dass sein Interesse an der Kleidung seines Gegenübers diesem schmeichelte. Ich kann mir vorstellen, dass seine Mutter, die Schneiderin, ihm das beigebracht hatte. Oscar wurde oft von Stammkunden konsultiert, wenn sie die Unterstützung eines Experten brauchten, der für sie nach Schnäppchen Ausschau hielt, ein Mitglied der Belegschaft, das bereit war, ihnen einen Gefallen zu tun, und von dem sie vertrauliche Informationen erhielten. Oscar tanzte sozusagen auf zwei Hochzeiten. Täglich kamen die Bibliophilen ins Arcade, um wie besessen nach neuen Schätzen zu forschen; sie waren hinter den Büchern her, die Pike bereits ausgepreist hatte und die nun in Stapeln darauf warteten, in die Regale zu kommen. Oscar wurde von zwei konkurrierenden Fans des amerikanischen Bürgerkrieges umworben, die sein Wohlwollen mit mitgebrachtem Kaffee und gelegentlich auch mit Einladungen zum Mittagessen zu gewinnen suchten. Ab und zu tauchten auch kleine, in Stoff gewickelte Päckchen auf (japanische 65
Mitbringsel) – Bestechungsgaben dafür, dass er Bücher zurückhielt, damit sie nicht in Umlauf kamen. Oscar interessierte sich gar nicht besonders für den Bürgerkrieg, außer für die Uniformen, aber er kannte sich mit den Büchern in seiner Abteilung aus und war durchaus in der Lage, mit Sammlern aus verschiedenen Bereichen – Geschichte, Biographien, Philosophie, Anthropologie, Wissenschaft – ausführlich zu diskutieren. Ich beschloss, ihn mir zum Vorbild zu nehmen. Oscar war flink und merkte sich das meiste, was er einmal gehört oder gelesen hatte. Er schrieb sich alles auf. Leicht zu beeindrucken, wie ich war, legte auch ich mir ein kleines Notizbuch zu, weil ich es mir zum Ziel gesetzt hatte, mir Oscars beobachtende Art anzueignen. Diesem Notizbuch ist es auch zu verdanken, dass ich mich an jene Tage, meine ersten Monate in der Stadt und meine Lehrzeit, so gut erinnere. Und so ist es mir gut im Gedächtnis geblieben, dieses Mädchen, das so unfertig und so begierig war, dass sie jedes Detail in sich aufsog, dass sie förmlich alles in sich aufnahm, worauf sie später vielleicht würde zurückgreifen müssen, um davon zu zehren wie von einem Proviant, sollte sie sich doch wieder auf den Weg machen müssen. Im Martha Washington schloss ich Freundschaft mit Lillian, doch es geschah in kleinen Schritten, denn sie war reizbar. «Was schaust du dir denn gerade an, Lillian?» «Ich schaue nicht, Rosemary», antwortete sie und wandte die Augen einen winzigen Moment lang vom Bildschirm. 66
«Sieht aber so aus, als würdest du schauen», wagte ich mich vor. «Nicht alles ist so, wie es aussieht. Besonders hier nicht. Ich schaue nicht, ich denke. Schauen hilft mir beim Denken, und manchmal auch beim Nichtdenken.» «Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie du mit diesen Dingern in den Ohren und bei dieser Lautstärke denken kannst.» «Ich brauche den Lärm. Ich höre nicht so gut. Aber denken tue ich trotzdem», sagte sie. «Und worüber denkst du nach, Lillian?», erkundigte ich mich, denn ich wollte sie kennenlernen, weil ich eine Freundin brauchte. Lillian war ein wenig älter als meine Mutter, aber jünger als Chaps. Sie war der einzige Mensch, den ich außerhalb des Arcade kannte, und überhaupt der allererste, den ich in New York getroffen hatte. Lillian stieß einen gewaltigen Seufzer aus und schloss die Augen, hinter denen Tränen hervorquollen. «Ich kann nicht sagen, worüber ich nachdenke», antwortete sie mit belegter Stimme. Ich begriff nicht, was ich mit meiner Frage in ihr ausgelöst hatte. Verwirrt und verlegen darüber, dass ich offenbar so rücksichtslos gewesen war, setzte ich gerade zu einer Entschuldigung an, aber Lillian schien sich gleich wieder zu fangen und konzentrierte sich erneut auf das Fernsehen. Ihr Gesichtsausdruck wandelte sich rasch zu einer geringschätzigen Miene. «Also», sagte sie schniefend. «Wenn man eins aus diesem Fernsehen hier schließen kann, dann, dass die Amerikaner blöd sind!» Sie wedelte mit der Hand in Richtung Bildschirm. 67
«Ich glaube nicht, dass die Amerikaner blöd sind», sagte ich und dachte an Pike, an Oscar. «Ich habe jetzt einen Job in einem riesigen Antiquariat, und das ist voll von blitzgescheiten Amerikanern. Alles Leser!» «Pah», sagte Lillian lächelnd. Offenbar hatte der Themenwechsel ihr gutgetan, und sie hatte zu ihrem Humor zurückgefunden. «Du glaubst bloß, dass sie blitzgescheit sind», erwiderte sie und äffte dabei meinen Akzent nach. «Weil du noch ein Kind bist.» «Lillian, ich bin achtzehn Jahre alt», rief ich empört. Sie nickte, als wollte sie sagen, genau, deshalb bist du ja ein Kind. «Haben sie spanische Bücher in dem Laden, wo du arbeitest?», wollte sie wissen. «Ich weiß nicht, aber ich schau für dich nach. Ich glaube, im Arcade kann man alles finden, was man nur will.» «Was ich suche, kannst du nicht finden», sagte sie düster. «Aber bring mir spanische Bücher, wenn sie welche haben. Ich bezahl sie dir. Vielleicht sollte ich es ja wirklich mal wieder mit Lesen probieren. Und diese Idioten da vergessen.» Bevor sie ihren Kopfhörer wieder einstöpselte und ihre Aufmerksamkeit erneut dem Fernseher zuwandte, reichte sie mir einen Brief. «Das da ist für dich gekommen», sagte sie. «Aus deiner Heimat.» «Danke, Lillian.» Der Brief war von Chaps. Ich lief rasch auf mein Zimmer, weil ich es kaum erwarten konnte, meinen ersten Brief in Amerika zu lesen. Er war allerdings enttäuschend kurz. 68
5. Juli Liebste Rosemary, danke für Deine Karte. In Tasmanien ist es schrecklich einsam ohne Dich, ohne Deine Mutter, aber ich sage immer, die Einsamkeit ist eine gute Übung für die Ewigkeit. Es hat mir neuen Mut gegeben, von Dir zu hören, und mit großer Begeisterung habe ich gelesen, dass Du sogar schon eine Anstellung gefunden hast – und auch noch in einem Buchladen! Eine bessere Beschäftigung könnte ich mir für Dich gar nicht denken, meine liebe Rosemary. Mein eigener kleiner Laden hat mir ein würdiges, gutes Leben ermöglicht und eine Arbeit, die ich für bedeutsam halte. Bücher zu verkaufen hat meinem Leben eine Form gegeben, und sie zu lesen, hat meinen Verstand auf einzigartige Weise beeinflusst. Dass Du eine Anstellung an einem so außergewöhnlichen Ort gefunden hast, macht mich glücklich. (Vielleicht habe ich Dich überhaupt erst darauf vorbereitet!) Wichtig ist aber, dass Du auch viele praktische Erfahrungen machen wirst und Dich nicht bloß in die Zeilen eines Buches vertiefst. Du wirst interessante Menschen kennenlernen, Du wirst lesen, Du wirst das Leben führen, das Du Dir wünschst. Natürlich habe ich schon vom Arcade gehört, aber ich hätte mir nie vorgestellt, Du könntest tatsächlich dorthin gelangen. Ich bin mir sicher, Deine Mutter ist immer bei Dir, aber manchmal wird ihre Abwesenheit unerträglich sein. Für mich ist das jedenfalls so. Hab keine Angst davor, zu lieben. Such danach. Ich möchte, dass Du das Leben lebst, das ich nicht hatte. Nimm es, meine liebe Rosemary.
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Mit all meiner Liebe bleibe ich Deine Esther Chapman PS: Hast Du schon das Päckchen aufgemacht? Denk daran, ein Buch ist immer ein Geschenk.
George Pike war kein Mann der großen Gesten. Bei der Arbeit auf seinem Podest, eingeschlossen in seinen Tagtraum des Auspreisens, war sein Gebaren feierlich, wie in einem Ritual. Damit wollte er unnahbar wirken und zeigen, dass er über uns allen stand. Geist war seine Kontrastfigur und sein Handlanger. Pike liebte Bücher, doch betrieb er das Arcade keineswegs aus einem geistigen Bedürfnis. Seine Motivation war nur allzu deutlich: Pike liebte das Geld. In manchen ruhigen Momenten – wenn wir auf eine Lieferung warteten oder uns am Freitag in einer Reihe aufstellten, um von Geist unseren mageren Lohn entgegenzunehmen – raunte die Belegschaft sich Gerüchte über Pikes sagenhaften Reichtum zu, über seine Sparsamkeit, seinen Geiz. Jedes Buch ging durch seine schmalen Hände, weil er keinem außer sich selbst traute, wenn es darum ging, den Wert einer Ausgabe zu schätzen. Das konnte niemand sonst; denn der Preis entstand nicht nur nach aktuellen Marktgesetzen, sondern je nachdem, wie viel das Buch Pike persönlich einbringen würde. Er ging von dem Betrag aus, für den er es erworben hatte, und berechnete, wie viel beim Verkauf des Buches in seine eigene Tasche wandern würde. Preisspanne und Profit stellten sich in seinem Kopf automatisch als Tabelle dar, 70
das brachten Jahre obsessiver Kalkulationen so mit sich, als wäre in seinem Gehirn ein Abakus installiert, auf dem beständig die Perlen hin- und herklickten, während er blitzschnell seine Gleichungen löste. Dass Pike über alle Maßen rational veranlagt war, bedeutete nicht zwangsläufig, dass sein Verständnis von Wert nicht willkürlich gewesen wäre. Es war eigen, absolut und fast jungenhaft in seiner despotischen Beharrlichkeit. In den Pausen tagsüber und nach Ladenschluss nahm Pike den Platz von Pearl ein, der schillernden Kassiererin des Arcade, einer Transsexuellen vor der Operation, die an der einzigen Kasse saß. Pike nahm die größeren Geldscheine, die Schecks und die Kreditkartenbelege aus der Kasse und verschwand über die baufällige hölzerne Treppe oben in seinem Büro im hinteren Teil des Ladens, tauchte dann jedoch (wie durch einen Zaubertrick) nur wenige Sekunden später wieder auf seinem Podest auf, ein Buch in der Hand, einen Stift hinter dem linken Ohr, um mit seiner meditativen Auspreisung fortzufahren. Pike schrumpfte deutlich, wann immer er sein Podest verließ, nur um in dem Moment, wo er es wieder betrat, erneut seine beeindruckende Entschiedenheit an den Tag zu legen. Dass es nur eine einzige Kasse gab, war typisch für die antiquierte Geschäftsführung des Arcade und Hinweis auf Pikes besonderes Verhältnis zum Geld, das sich auch in seiner übertriebenen Furcht vor Ladendiebstählen ausdrückte. Gegensteuern, lautete das Motto, und auf Effizienz kam es überhaupt nicht an. Obwohl es im Arcade auch Flauten gab, bildete sich 71
während der Geschäftszeiten des Ladens immer eine Schlange von wartenden Kunden zwischen den Tischen mit den Taschenbüchern und daran vorbei. Manchmal machten die Angestellten es sich zum Sport, bereits wütende Kunden noch zu ärgern, die in der Schlange warteten, ein Spielchen, das mich zuerst schockierte, weil mir solche Formen der Unhöflichkeit nicht vertraut waren. Sowohl Mutter als auch Chaps hatten mir stets eingebläut, Kunden unterwürfig zu behandeln. «Jetzt stehe ich schon seit dreißig Minuten hier an!», beschwerte sich zum Beispiel ein aufgebrachter Kunde. «Dann haben Sie ja heute Ihren Glückstag!», gab Bruno Gurvich zurück, ein stämmiger Ukrainer, der an den vorderen Tischen Taschenbücher sortierte. «Pearl scheint heute richtig einen Zahn zugelegt zu haben. Gestern hätten Sie mindestens eine ganze Stunde warten müssen.» Bruno war Musiker, hatte das Temperament eines Anarchisten, und sein Atem erinnerte an die Ausdünstungen des Lappens, mit dem ein Barkeeper seinen Tresen abwischt. Chaps’ Ideal vom Buchhandel als einer edlen Tätigkeit strafte er Lügen. Bruno zwinkerte mir zu, als er mein Entsetzen angesichts dieses Wortwechsels bemerkte. «Schau nicht so geschockt, Mädel», sagte er und knallte Taschenbücher vor mir auf den Boden. «Pike ist es egal, wie wir mit den Stammkunden reden, solange sie was kaufen. Ich habe zwei Vorladungen vor Gericht, weil ich letztes Jahr vor Weihnachten, als hier richtig viel los war, Kunden angepöbelt habe. Das hier war nichts dagegen.» 72
Zweifelsohne versuchte er mich zu beeindrucken. «Damit würde ich allerdings nicht herumprahlen, Bruno, wenn ich meinen Job behalten wollte.» Geist war plötzlich hinter mir aufgetaucht. Er schlich immer irgendwo herum; beim Klang seiner zischelnden Stimme stellten sich mir die Nackenhaare auf. Seine weiße Erscheinung war wie ein sichtbar gewordener Tadel. «Das ist Pikes Problem, nicht Ihres», sagte Bruno verächtlich und stapfte davon. «Von dem da würde ich mich fernhalten», warnte Geist mich, der unangenehm nah neben mir stand. «Ddas ist ein schlimmer Finger», fügte er leicht stotternd hinzu. «Kommen Sie zu mir, wenn er Ihnen Schwierigkeiten macht.» Ich sah ihm hinterher, wie er auf dem Weg zurück in den Keller an einen Tisch stieß, und stellte mir vor, er sei ein Wesen aus dem Ozean, das zum Meeresboden zurückkehrte. Pearl Baird, die Kassiererin, war neben Geist das Mitglied der Hauptbelegschaft, dem Pike am meisten vertraute. Ich mochte sie sehr gerne. Den Namen Pearl hatte sie sich nach dem Gleichnis über die Perle aus der Bibel zugelegt, und tatsächlich tat sie ihr Möglichstes, um zu ihrem weiblichen Ich zu werden, zu Pearl. Wenn sie hinter der Kasse saß, die Lippen ihres ernsten Mundes in einem leuchtenden Zinnoberrot bemalt, schien die eintönige Natur ihrer Tätigkeit sie völlig kaltzulassen. Das Leben hatte sie Geduld gelehrt. Obwohl sie im Grunde einen freundlichen Charakter hatte, war Pearl verächtlich gegenüber ungeduldigen 73
Kunden, die oft vor Wut die Bücher zu Boden schleuderten, weil sie sie viel zu lange hatten halten müssen, ehe sie angriffslustig Bargeld oder Kreditkarten auf den Tresen knallen durften. Dann nahm sich Pearl viel Zeit, jedes einzelne Buch aufzuschlagen, den Preis nachzuschauen und ihn mit ausgestrecktem Finger, der in einem langen Nagel endete, in die Kasse einzutippen. (Sie war stolz auf ihre Nägel und wechselte oft zwischen verschiedenen, immer leuchtend bunten Nagellacken hin und her.) Waren die Typen besonders unangenehm, murmelte sie Dinge wie «Säue vor Pearl», aber ihre überhebliche Art war meistens Kommentar genug. «Wir sind die einzigen Mädels unter all diesen sonderbaren Männern», sagte Pearl am ersten Tag zu mir, sozusagen als Einleitung, als wir uns auf der Damentoilette trafen. Sie legte mit wild entschlossenen Strichen Lippenstift auf, während ich mir die Hände wusch. Unsere Blicke begegneten sich in dem Spiegel über dem Waschbecken, und wir lächelten gleichzeitig. «Wir Mädels müssen zusammenhalten, du und ich», sagte sie. «Wir sind jetzt schon Freundinnen, das merke ich.» Pearl war groß und hatte gewaltige Hände und Füße, ein schönes, längliches braunes Gesicht und eine melodiöse Stimme, die in der Toilette widerhallte wie eine dicke Glocke. Sie wollte Opernsängerin werden und verbrachte den größten Teil ihrer beiden fünfzehnminütigen Pausen damit, auf der abgewetzten Vinylcouch im Vorraum der Damentoilette zu sitzen, in einer großen Tasche mit Noten zu kramen oder in ein Tonband zu summen, das sie dann auf einem tragbaren Recorder 74
abspielte. Sie nahm das Proben sehr ernst und wiederholte schwierige Passagen wieder und wieder, um an ihrer Aussprache und den Tonlagen zu arbeiten. Nach Geschäftsschluss nahm sie bei einer professionellen Gesangslehrerin Unterricht, den ihr Freund, ein Italiener namens Mario, für sie bezahlte. Er war verrückt nach Pearl und hatte versprochen, auch für ihre Operation aufzukommen, wenn sie das obligatorische Probejahr in Frauenkleidern hinter sich gebracht hatte. Pikes etwas widerwilligen Respekt hatte Pearl sich mit ihrer Sorgfalt und Zuverlässigkeit verdient, und vor allem, weil sie einen Job ausübte, den ansonsten keiner länger aushielt als einen Tag. Pike oder Walter Geist nahmen Pearls Platz ein, wenn sie Pause hatte. Versuchte ein Kunde, etwas an Pikes hingekritzelten Preisen zu verändern, bemerkte sie es sofort, und auch, wenn sie jemanden des Ladendiebstahls verdächtigte, war sie gnadenlos. Auf ihr Kommando wurden Kunden dann von Bruno in hohem Bogen rausgeschmissen, wie Betrunkene aus einer Bar. Heute begreife ich, dass Pearls grimmige Ehrlichkeit zum Teil von ihrer unentschiedenen Sexualität herrührte. Die Wahrheit war für sie unabdingbar; sie wusste um ihre eigene Wahrhaftigkeit und hatte keine andere Wahl, als danach zu leben. Oscar kannte die bizarren Einzelheiten und traurigen Lebensgeschichten der meisten Mitarbeiter des Arcade. Er ermunterte die Leute dazu, sich ihm anzuvertrauen, hauptsächlich, weil er ein guter Zuhörer war, aber auch mit seinen Schmeicheleien. Da er die ganze Sachbuchabteilung zu seiner Verfügung hatte, konnte er Dinge 75
nachschlagen, die ihm halfen, die persönliche Geschichte des anderen zu verstehen. Als Meister der Recherche und mit einer Neugier gesegnet, die an Voyeurismus grenzte, pflegte Oscar oft zu sagen, letztlich existiere die ganze Welt in einem Buch, und das könne ebenso gut sein Notizbuch sein. Zum Beispiel erzählte er mir, es sei Pearls Traum, einmal die Rolle des Cherubino zu singen, des halbwüchsigen Knaben in Mozarts Figaros Hochzeit, eine Rolle, die normalerweise von einer Frau in Männerkleidung gesungen wurde; doch Pearl wisse, dass sie mit fünfunddreißig dafür möglicherweise zu alt war und die Hormone, die sie nahm, Verwüstungen an ihrer Stimme und ihrem Körper anrichteten. Oscar meinte, wenn Pearl tatsächlich glaube, sie habe eine Chance an der Oper, so sei es wohl eher ihr Kopf, der durch die Medikamente Schaden genommen hätte. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich begriffen hatte, dass Oscar durchaus auch boshaft sein konnte. Meine eigenen Schreibversuche erschienen mir armselig, und ich stellte mir vor, dass Oscars Notizbücher eine ganze Reihe unvollendeter Biographien von Leuten enthielten, die ihn faszinierten oder mit einer bestimmten Bemerkung sein Interesse an einer weiteren Untersuchung geweckt hatten. Heute frage ich mich, was wohl über mich darin stand. Unter Pearls Namen hatte er vermutlich in seiner winzigen Handschrift das Wort «Cherubino» geschrieben, gefolgt von einer kurzen Übersicht über Mozarts Leben, einer Inhaltsangabe der Oper und Details über geschlechtsumwandelnde Operationen. 76
Oscar wusste, dass Walter Geist an einer Form des Albinismus litt, die man «okulokutan» nennt, und dass Geists Augen wegen einer Erkrankung namens Nystagmus immer in Bewegung waren. Oscar wusste alles über Gallipoli und die Helden des Anzac Day, und natürlich hatte ich ihm selbst schon erzählt, warum man mir den Namen Rosemary gegeben hatte. Ihm war bekannt, dass der tasmanische Tiger ausgestorben war. Und er wusste, dass ich Sehnsucht nach meiner Mutter hatte; und dass ich oft einsam war. Oscar war mein Führer im Arcade, mein Übersetzer all dieser seltsamen Geschichten und Schicksale. In vieler Hinsicht beschäftigte der Laden ihn, das Geschäft war seine Methode, der Welt einen Sinn zu geben. Irgendwann erfuhr ich auch ein paar von Oscars Geheimnissen. Nachdem wir einen Monat lang in seiner Abteilung zusammengearbeitet hatten, erzählte er mir die Geschichte seiner frühen Faszination für Stoffe. Als Oscar noch ein Kind war, bewahrte er unter seinem Bett eine alte Hutschachtel auf, die ihm seine Mutter geschenkt hatte. In dieser Schachtel befanden sich die kleinen Stoffschnipsel, die sie von den Nähten und Säumen der Kleider abgeschnitten hatte, wenn sie sie schneiderte oder reparierte – Stoffe, die viel teurer und exotischer waren als alles, was sie sich jemals leisten konnten. Die Hutschachtel war Oscars Schatztruhe und sein Lieblingsspielzeug zugleich. Oft nahm er die Stoffreste – hauchdünnen Chiffon, glänzende Seide, dicken Samt – einfach nur heraus und strich sich damit über das Gesicht. Die Schachtel bedeutete ihm Trost und bereitete ihm Vergnügen, und ob77
wohl der erwachsene Oscar tagaus, tagein eine schwarze Hose und ein frischgestärktes weißes Hemd trug, hatte er nie seine Faszination für Stoffe verloren. Er kannte all ihre wohltönenden Namen und Eigenschaften – Organza, Tüll, Crêpe de Chine, Damast, Moiré, Zephir, Batist. Und er wusste, wie man sie herstellte, wie sie gefärbt, gewirkt, gewoben wurden. Stoffreste waren Oscars einziges Spielzeug gewesen. Als er älter wurde, wuchs sein Interesse an Büchern. Auch er war ohne Vater aufgewachsen und seiner Mutter tief ergeben, auch er hatte bis zu ihrem Tod niemals allein gelebt. Oscars Mutter war als Mädchen mit ihren Eltern aus Polen emigriert und hatte sich wegen Oscars Vater mit ihnen überworfen, der sie allerdings schon bald nach der Geburt seines Sohnes verlassen hatte. Obwohl er zehn Jahre älter war als ich, hatte ich das Gefühl, in Oscar mein Alter Ego gefunden zu haben, so sehr ähnelten sich die Umstände, in denen wir aufgewachsen waren; er war mein Gegenpart, durch Zufall in Amerika geboren. Ich fand, dass wir perfekt zueinanderpassten; seine ewigen Nachforschungen entsprachen meiner endlosen Neugier. Bei seiner Mutter hatte er alles Wichtige im Leben gelernt – wie man las, wie man ein ordentliches Leben führte und wie wichtig es ist, sich an so viel zu erinnern wie möglich. Deshalb hatte er auch angefangen, ein Notizbuch zu führen; auch seine Mutter hatte als Schneiderin ein solches Buch besessen, in das sie die Maße und Besonderheiten ihrer Kunden eintrug. Er hatte sie nachgeahmt, so wie ich nun ihn nachahmte, indem ich aus allerlei Bruchstücken ein Leben zusammenschrieb. 78
Wäre ich älter gewesen, oder überhaupt eine erwachsene Frau, hätten mich Oscars Leben, seine Geschichte, all die Ähnlichkeiten und Parallelen zwischen uns, vielleicht nicht so bewegt. Vielleicht hätte ich die Idee nicht gehütet wie ein heimlich getrocknetes Blatt, das aus dem Buch eines Geliebten gefallen war. Doch dann geschah es doch. Mein Herz kam mir abhanden.
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Fünftes Kapitel
G
eorge Pike hatte Robert Mitchell bereits vor vierzig Jahren eingestellt, aber auch diese lange Zusammenarbeit hatte das Verhältnis zwischen den beiden nicht verbessert, das im Grunde auf Gegensätzen beruhte. Dass Mr. Mitchell fünf Stockwerke über Pike arbeitete, machte ihr berufliches Miteinander überhaupt erst möglich. Pike selbst beschränkte den Kontakt auf zahlreiche Telefongespräche, häufig kleinliche Kabbeleien über Geld und besonders über die Kosten für die Restauration extrem alter Bände und loser Handschriften, deren Hinfälligkeit Mr. Mitchell sich leidenschaftlich widmete. In der Sorgfalt, mit der er sich um die beschädigten Bände kümmerte, setzte sich sein Interesse am Wohlergehen der kunterbunten Schar von Mitarbeitern fort, die immer gern den launischen Fahrstuhl hoch zu seinem kleinen Laden innerhalb des Ladens nahmen. Wir rissen uns regelrecht darum, wenn etwas zu ihm hochgebracht werden musste. Durch ihn herrschte im Raritätenraum eine Aura der Vornehmheit, die ich bis heute mit dem betörenden Duft von Pfeifenrauch verbinde. Mir gefiel es, die Kunden hinauf zum Raritätenraum im fünften Stock des Ladens zu begleiten. So hatte ich die Gelegenheit, mit Sammlern über ihre besonderen Vorlieben und Leidenschaften ins Gespräch zu kommen, und ich lernte aus jeder Begegnung etwas. Ein 80
Ausflug in den Raritätenraum bedeutete, dass ich Mr. Mitchell besuchen und den Vanilleduft seines Pfeifentabaks einatmen konnte. Ich betete ihn an. Als ich das erste Mal einen Kunden zum Raritätenraum hochbegleitete und mir, als wir oben ankamen, noch am Käfig des Fahrstuhls zu schaffen machte, stand Mr. Mitchell bereits da und wartete. Pike hatte angerufen, um den Kunden anzukündigen, den ich aus Sicherheitsgründen nach oben begleiten sollte. «Welch eine Freude, junge Dame. Sie müssen unser Neuankömmling vom anderen Ende der Welt sein, Rosmarin für die Erinnerung, wenn ich mich recht besinne. Ich bin Robert Mitchell», sagte er und streckte mit einer eleganten Bewegung die Hand aus. «Freut mich, Sie kennenzulernen.» Mitchell war Ende sechzig, hatte schneeweißes Haar, das in dicken Büscheln zu Berge stand, und den rötlichen Teint eines Mannes, der seinen Blutdruck nicht unter Kontrolle hatte. Er war groß und wirkte wie ein Professor, der nur in Jugendjahren einer körperlichen Betätigung nachgegangen war. Mit seinem langen Körper und dem ausladenden Bauch, der direkt am Brustbein ansetzte und in seiner hohen, mit Gürtel befestigten Hose verschwand, erinnerte er mich an einen liebenswürdigen Vogel. Durch einen seltsamen Zufall ähnelte er einem Kakadu, so wie ich mir lange Zeit einen als Haustier gewünscht hatte (meine Mutter hatte mein Bitten nicht erhört, weil diese Tiere viel Krach und Schmutz machen). Auch jener Vogel war groß, sein Gefieder war rosa und weiß, er stammte aus Australien und war nach einer historischen Persönlichkeit benannt, 81
einem Würdenträger aus den Anfängen des Landes, einem gewissen Major Mitchell. «Oscar hat mir schon gesagt, dass es eine Freude sein würde, Sie kennenzulernen», sagte ich zu ihm. Ich fühlte mich im Raritätenraum bedeutend wohler als unten im Laden. Der Kontrast zur Taschenbuchabteilung, in der Jack und Bruno ständig Streit suchten, hätte nicht größer sein können. «Dasselbe hat mir Oscar auch über Sie gesagt, meine Liebe. Und auch, dass Sie weit weg von Ihrer Heimat sind. Van Diemens Land, kein geringeres. Ein besonderes und schönes Plätzchen, habe ich gehört. Eine wilde Insel. Wir müssen dafür sorgen, dass Sie sich hier willkommen fühlen», sagte er und wiederholte dann: «Das müssen wir wirklich.» Die Herzlichkeit in seiner Stimme durchströmte mich wie die Melancholie, die ich Tag für Tag sorgfältig in Schach zu halten versuchte. Und vielleicht, weil ich an diesem Tag besonders Heimweh hatte oder weil in meiner Vorstellung selbst mein verschollener Vater nicht freundlicher zu mir hätte sein können, vielleicht aber auch einfach deshalb, weil unerwartete Freundlichkeit oft den Brunnen der Traurigkeit aufspürt, der in einem verborgen ist, brannten plötzlich Tränen in meinen Augenwinkeln. «Wirklich, Rosemary», sagte Mr. Mitchell noch einmal, als er merkte, wie aufgewühlt ich war. «Sie sind weit weg von zu Hause, aber hier sollen Sie sich willkommen fühlen. Und sicher.» Er nahm meine Hand und tätschelte sie liebevoll. Ich musste mich wegdrehen. 82
«Nun denn, wen haben Sie denn da in meinen Adlerhorst mitgebracht?», fragte er, plötzlich in geschäftsmäßigem Ton, um mir die Gelegenheit zu geben, meine Fassung wiederzuerlangen. «Wer ist gekommen, um die unendlichen Reichtümer in meinem kleinen Zimmerchen zu sehen?» Der Kunde, der schon ungeduldig darauf wartete, dass man sich um ihn kümmerte, räusperte sich. «Ach, Mr. Gosford! Ja, die Erstausgabe von Beckett, wenn ich mich nicht täusche? Ich habe schon darauf gewartet, dass Sie sie abholen.» Mr. Mitchell und der Sammler, Mr. Gosford, gingen vom Fahrstuhl in eines der ersten Zimmer, das mit Büchern und Folianten vollgestopft war. «Whoroscope, wo bist du?», rief Mitchell und griff in ein Regal rechts von seinem Schreibtisch. «Rosemary, haben Sie Interesse an einer kleinen Unterweisung?», erkundigte er sich. Das Buch hatte er immer noch nicht gefunden. Oscar hatte mich vorbereitet. Eine von Mr. Mitchells Lieblingsbeschäftigungen war das Unterweisen (Oscar nannte es Schwadronieren). Dabei wartete er jedoch nie das Einverständnis seines potenziellen Schülers ab, sondern plauderte einfach munter weiter. «Lassen Sie mich sehen, Whoroscope, Whoroscope. Sie haben großes Glück, Mr. Gosford», sagte er, als er das Buch schließlich gefunden hatte. «Nun, Rosemary, möglicherweise ist Ihnen das gar nicht bekannt», fuhr er eifrig fort. «Aber dieses erste veröffentlichte Gedicht von Beckett wurde in einer einzigen Nacht vollendet! Er wollte in einem Wettbewerb tausend Francs gewinnen, 83
bei dem nur Einsendungen mit nicht mehr als hundert Zeilen akzeptiert wurden. Ja, so ist es. Ein Gedicht über das Thema Zeit.» Er hielt nachdenklich inne. «Zeit, verstehen Sie. Bekanntermaßen hat er den Wettbewerb gewonnen. Ach, da ist es ja.» Er reichte Mr. Gosford das Buch, als hätte auch er einen Preis verdient, als Belohnung für seine Geduld. Das kleine Büchlein hatte einen Einband aus ziegelrotem Papier und eine weiße Bindung; eingedruckt war eine Bemerkung des Verlegers. Mir war es gleichgültig, dass es ein Buch von Beckett war, den ich nicht kannte. Ich stellte nur beeindruckt fest, dass es sich um ein schönes, kleines Bändchen handelte und es für beide Männer offenbar ein Objekt der Begierde war. «Eins von nur hundert handsignierten Büchern des Autors, Mr. Gosford. Ein bisschen staubig und etwas abgewetzt an der oberen Kante, aber ohne Wurmstich und ansonsten eine einwandfreie Ausgabe. 10000 sind dafür geschenkt. Ich habe mit Mr. Pike gesprochen, Ihre Kreditwürdigkeit steht außer Frage. Rechnung folgt.» Genau im richtigen Moment wandte Mr. Mitchell sich von Gosford ab, denn sein Kunde war blass geworden. «Rosemary, Sie brauchen nicht zu warten. Ich stehe für Mr. Gosford ein, seien Sie unbesorgt.» Ich ging nach unten, um den Abschluss des Handels zu vermelden. Eigentlich musste jeder Kunde, der sich etwas ausgesucht hatte und das Buch erwerben wollte, vom Raritätenraum hinunter in den Laden direkt zu Pearl begleitet werden. So sollte verhindert werden, dass etwas gestohlen wurde; im Falle besonders kostba84
rer Bände wurde oft im Voraus die Bestätigung gegeben. Kunden wie Mr. Gosford erhielten eine monatliche Rechnung, so häufig und umfangreich waren ihre Erwerbungen. Nach diesem ersten Besuch fuhr ich allein mit dem Fahrstuhl hinunter. Ich freute mich danach über jede Gelegenheit, Mr. Mitchell zu besuchen, um mich an seiner Zuneigung, seinem Wissen zu wärmen. Und um an meine Einsamkeit erinnert zu werden, denn sie zu akzeptieren tröstete mich. Andere Kunden musste ich in den Keller hinunterbegleiten. Dort arbeitete Walter Geist beim blendenden Licht einer einzigen Kugellampe, die von der niedrigen Decke herabhing und deren helle Glühbirne Schatten entlang der Falten seines Gesichts warf; die einzigen dunklen Stellen darin waren die Vertiefung um den Mund und die Nasenlöcher. Ich brachte mindestens zwei- bis dreimal am Tag neue Bücher zu Geist, wenn ich Buchrezensenten nach unten begleitete, die für die größeren Zeitungen und Zeitschriften der Stadt arbeiteten. Oft schauten sie sich dabei ängstlich und verstohlen um, weil sie nicht einem ihrer Kollegen über den Weg laufen wollten. Was sie taten, war ein wenig heikel: nicht gerade Diebstahl, aber auch nicht wirklich erlaubt. Die Bücher zu verkaufen, die einem kostenlos zugeschickt wurden, galt als eine Nebeneinkunft für Kritiker. So wurden sie die Bücherstapel wieder los, nachdem sie die Titel für eine Zeitung oder ein Magazin besprochen (oder auch nicht besprochen) hatten. Die Verlage wussten sehr wohl, dass diese Verkäufe zum Geschäft 85
des Arcade gehörten – sie wussten auch, dass dabei Geld in Pikes Taschen floss –, und unternahmen trotzdem nichts dagegen. Wenn Kunden auftauchten, die Begleitung brauchten, bellte Pike entweder «Rezensionsexemplare!» oder «Raritätenraum!», und wer auch immer zu diesem Zeitpunkt in der Nähe war, musste nach vorne eilen, um den wartenden Kunden abzuholen. Mir machte das nichts aus, ich ging lieber mit den Kunden mit, als dass ich Regale einräumte oder unmögliche Fragen zu beantworten versuchte. Oft plauderte ich mit den Rezensenten, die ich schon etwas besser kannte, fragte sie nach Empfehlungen oder ob sie die Bücher, die ich in den Keller trug, gut oder schlecht bewertet hatten. So kam ich mit einer ganzen Reihe von Literaturjournalisten und Verlagsleuten ins Gespräch. Mein Notizbuch aus jener Zeit ist voller Empfehlungen von Büchern, die ich mit Sicherheit nie gelesen habe. Aber die Sammler waren mir lieber als diejenigen, die Bücher loswerden wollten. Sammler hatten eine Leidenschaft; Opportunisten waren auch sie, aber auf andere Weise. Ihre Verbindung zu Büchern, dachte ich damals, hatte mehr mit Liebe zu tun als mit Geld. Und schließlich hatte das Sammeln auch einen erotischen Reiz. Nachdem Geist den Wert der Bücher zusammengerechnet hatte, die man ihm im Keller verkauft hatte, kritzelte er die Summe auf einen kleinen gelben Zettel, der Kunde kehrte nach oben in den Laden zurück und stellte sich an der Kasse an. Pearl nahm dann den gelben Zettel entgegen und zahlte ihm die genannte Summe bar auf die Hand. Gewisse Journalisten zogen sich da86
nach oft in eine der nahe gelegenen Kneipen zurück, um ihren unverdienten Erlös zu versaufen, jedes Glas davon mit einem Prosit auf Pikes finanzielle Gesundheit. Diese Wertschätzung beruhte nicht auf Gegenseitigkeit. Für Pike waren die Rezensenten nichts anderes als «Schieber», und er überließ den gesamten Handel mit neuen Büchern Walter Geist. Der Keller war Walter Geists Reich; Mr. Mitchell residierte im fünften Stock. Himmel und Hölle, witzelten wir. Wir selbst auf der Hauptetage bewegten uns in einer Art Vorhölle, die Pike mit seiner Allmacht von oben im Auge behielt. Wenn es darum ging, einen Kunden in den Raritätenraum zu begleiten, war Bruno mein stärkster Konkurrent (der oft über den deutlichen Vorteil verfügte, sich in der Nähe von Pearl aufzuhalten, da er sich um die Tische mit den Taschenbüchern kümmerte), zudem Jack, sein Kollege mit dem vernarbten Gesicht. Sie hörten Pearls energische Rufe immer als Erste, was dazu führte, dass sie öfter im Keller oder oben bei Mr. Mitchell zu finden waren als auf der Hauptetage. Jack Conway, ein Immigrant wie ich, war Musiker; er spielte die Fiedel und stammte aus Irland. Bei einer Kneipenschlägerei hatte ihm jemand die Nasenspitze abgebissen, weshalb sein Riechorgan in einer silbrigen Kante endete. Er war blass, und seine schimmernden Narben sahen aus wie Satzzeichen in seinem rötlichen Gesicht. Offenbar war es Jack egal, wie er aussah, und seine verkürzte Nase beeinträchtigte offenbar kaum seine Anziehungskraft auf Frauen. Er hatte eine französische Freundin namens Rowena, eine mürrische Lyri87
kerin, die ihn oft im Laden besuchte, doch gab es weitere Frauen, die im Laufe eines Tages auf einen Sprung bei ihm vorbeischauten. Mehr als einmal sah ich ihn, wie er in Begleitung einer Frau die einzige Kundentoilette des Ladens aufsuchte. Oft blieben die beiden gut zwanzig Minuten drinnen verschwunden, während bedürftige Kunden draußen an der Klinke rüttelten. Zu Jacks zerhacktem Äußeren passte auch seine Art. Er war ein roher Bursche und wurde mit seinem starken Akzent von den anderen Mitarbeitern, einschließlich Geist (trotz dessen Sprachgewandtheit), oft nicht verstanden. Ich konnte ihm dagegen sehr gut folgen, denn sein irischer Slang klang in meinen tasmanischen Ohren nicht ganz so rätselhaft. Die derben Flirtversuche, mit denen Jack sich oft an Pearl heranmachte, konnte ich allerdings nicht übersetzen. Pearl gestand mir irgendwann, sie finde sein unartikuliertes Raunen aufregend. Manches davon konnte ich einfach nicht verstehen, aber das war keine Frage des Akzents. Seine Spielchen waren kaum mehr als harmloses Geplänkel, doch Rowena brachten sie zur Weißglut – nicht weil Jack an Pearl wirklich interessiert gewesen wäre, sondern weil Pearls sinnliches Lachen auch mich mit einbezog. So missbilligte Rowena auch mich, quasi als Dritte im Bunde, denn offenbar hatte sie den Verdacht, Jacks gemurmelte Obszönitäten dienten nicht nur zu Pearls Vergnügen, sondern auch zu meinem. Ich ging ihm aus dem Weg. Behütet, wie ich bei meiner Mutter gewesen war, hatte ich nicht viel von der Sexbesessenheit unserer Zeit mitbekommen. Natürlich 88
hatte ich meine Leseratten-Phantasien, meine jugendlichen Schwärmereien. Doch zu diesem Zeitpunkt war an die Stelle von Dickens’ Sydney Carton bereits Oscar Jarno getreten, weil er mir gegenüber eine Zuneigung zeigte, die ich fälschlicherweise für mehr als nur platonisch hielt. Männer machten mich nervös, ebenso wie die unterschwellige Begierde, die im Arcade unter der Oberfläche brodelte. Nicht, dass ich etwa geglaubt hätte, jemand wolle wirklich etwas von mir; es war einfach die Tatsache, dass die Menschen hier überhaupt etwas wollten. Mit Männern hatte ich keinerlei Erfahrung, und so beschloss ich, all meine Gedanken mit romantischem Gehalt auf jemanden zu konzentrieren, der unerreichbar war – auf Oscar. Jeden Morgen außer Sonntag brachte der Briefträger die Post ins Arcade, ein eleganter Mann aus Trinidad, der schon seit vielen Jahren in New York lebte und trotz seiner Uniform eher aussah wie ein Diplomat als ein simpler Angestellter der Post. Chaps hätte ihm auf der Stelle die Rolle des Othello gegeben. Mercer und Pearl waren Freunde und hatten es sich zur Angewohnheit gemacht, quer durch den Laden Pike zuzubrüllen, dass die Post da sei. Im Arcade war die Post fast ebenso begehrt wie Bücher. Mit den Briefen trafen Anfragen nach seltenen Titeln ein, Angebote von Nachlassbibliotheken, Bitten und Nachrichten aus aller Welt. Oft kam Mr. Mitchell genau zu dem Zeitpunkt herunter, wenn Mercer auftauchte, und versuchte ihn dazu zu überreden, schnell einen Blick auf die Post werfen zu dürfen – ein törichtes An89
liegen, das seiner unwürdig war. Mercer bestand darauf, die Briefe immer zuerst Pike persönlich in die Hand zu drücken, als wäre er mehr ein Kurier als ein Briefträger. Und Pike hörte auf seinem Podest sogar mit dem Auspreisen auf, um Mercer zu begrüßen und offiziell das Bündel mit Sendschreiben zu empfangen. Mr. Mitchell machte sich derweil in der Nähe zu schaffen, nannte Mercer seinen «Postillon d’Amour» und lag auf der Lauer, bis Pike ihm sagte, er solle abhauen; alle Briefe, die für ihn bestimmt seien, würden ihm nach oben gebracht, sobald Pike sie durchgeschaut hatte. Es war eine Szenerie ohne Worte, die Mr. Mitchell richtig kindisch aussehen ließ – als wartete er nur darauf, dass Mercer ein Brief aus der Hand fiel, um sich schnell danach zu bücken und ihn zu lesen, ehe sein gestrenger Vorgesetzter die Gelegenheit dazu hätte. Ladendiebstahl war ein recht weit verbreitetes Hobby, und eines Morgens machte auch ich Bekanntschaft mit einem der berüchtigten Ladendiebe, als ich, einige Monate nach meinem Arbeitsantritt, Pearls Ruf «Rezensionsexemplare!» vernahm. Der Mann war groß, etwa fünfundzwanzig Jahre alt und hatte so leuchtend rotes Haar wie ich. Er wartete an der Kasse auf mich, gegen den Tresen gelehnt, die langen Beine, die in farbbespritzten Jeans steckten, gekreuzt. Mr. Mitchell hatte ihn Redburn getauft, obwohl ich das damals nicht wusste, so wie ich auch die nähere Bedeutung dieses Spitznamens nicht kannte. «Ich habe mich schon gefragt, wann du mich endlich 90
mal in die Hölle hinunterbegleiten würdest», sagte der Mann in schmeichelndem Ton. «Kenne ich Sie? Ich glaube nicht», konterte ich und nahm mehrere Hardcover von ihm entgegen, was ja Teil meiner Aufgabe war. «Wir sind uns noch nie begegnet, aber es liegt auf der Hand, was wir gemeinsam haben. Aus diesem Grund nennt man mich hier auch Redburn.» «Viele Leute haben rote Haare», erwiderte ich und stieg vor ihm die steile Treppe hinab. Pikes Worte auf dem Schild schrien mir regelrecht entgegen, als wir daran vorbeikamen: GEORGE PIKE DULDET WEDER DEN DIEBSTAHL VON GELD NOCH VON BÜCHERN! «Pike übertreibt’s ein bisschen mit dieser Warnung, findest du nicht?», sagte Redburn und zeigte auf das Schild. «Ziemlich bedrohlich.» «Nur, wenn man vorhat zu stehlen», entgegnete ich. Wir waren unten an der Treppe angekommen. «Manche sagen ja, es sei auch Diebstahl, Rezensionsexemplare zu kaufen», fuhr Redburn fort. «Könnte ja durchaus sein, dass die neuen Bücher in einem regulären Buchladen gestohlen wurden.» Er hob herausfordernd seine rötlichen Augenbrauen. Er war auf gewöhnliche Weise sehr gutaussehend und sich dessen durchaus bewusst. «Sind die hier denn gestohlen?», fragte ich ihn und blieb in dem Labyrinth aus Bücherstapeln stehen, die sich wie lange Bänder durch den Keller zogen. Die Regale reichten bis an die niedrige Decke, wodurch ein bedrückender Korridor entstand, der bis zu 91
Geists Räuberhöhle im hinteren Teil des Geschosses führte. «Was geht dich das an?», fragte er. Ich wusste keine Antwort, also ignorierte ich die Frage. Überhaupt hatte ich gerade beschlossen, Redburn lieber links liegenzulassen. «Ich schließe daraus, dass du Ladendiebstahl nicht gerade billigst, ist das richtig?», insistierte er, als wir Geists Tresen unter der grellen Lampe erreicht hatten, an dem allerdings niemand saß. «Nein, Stehlen finde ich nicht gut», erwiderte ich und stapelte die Bücher auf dem Tresen. Geist stand einige Meter entfernt, mit dem Rücken zu uns, und sah in ein Buch, das er sich ganz nah vors Gesicht hielt. «Dann gib mir mein Herz zurück», wisperte Redburn und beugte sich zu mir, die Hand in gespieltem Schmerz an die Brust gelegt. Ich konnte nicht anders, als laut loszuprusten. Geist fuhr herum, und ich fragte mich, ob er die Worte des jungen Mannes gehört hatte. «Prüfen Sie das Copyright, Rosemary, und lesen Sie mir dann die Listenpreise vor», sagte er barsch und trat geschäftig auf uns zu, seinen Kneifer fest auf der Nase. «Es würde mir im Traum nicht einfallen, Sie zu beschummeln, Geist», sagte Redburn scheinheilig. «Wenigstens heute nicht.» Ich schlug jedes Buch einzeln auf, bestätigte, dass sie alle erst kürzlich veröffentlicht worden waren, und las Geist die Listenpreise vor, der diese im Kopf durch vier teilte und ausrechnete, was Redburn bekommen würde. 92
Schließlich schrieb er die errechnete Summe auf einen gelben Zettel und schob ihn über den Tresen. «Wollen Sie mir verraten, woher Sie diese Bücher haben?», fragte Geist und hielt den Zettel mit dem Finger fest. «Nee», antwortete der Ladendieb und schnappte sich den Zettel. «Das dachte ich mir schon», sagte Geist. «Rosemary, in Zukunft begleiten Sie diesen Mann hier im Arcade nirgendwo mehr hin. Er hat ab jetzt Hausverbot.» Redburn lächelte mich spitzbübisch an und machte auf dem Absatz kehrt, um sich oben bei Pearl seine Quittung auszahlen zu lassen. Langsam begriff ich, dass die geschäftlichen Aktivitäten des Arcade oft auf Schwindel beruhten und nur selten danach gefragt wurde, woher die Bücher stammten. Ganze Bibliotheken wurden bei Nacht und Nebel in den Laden gekarrt, und wenn Pike sie erst einmal ausgezeichnet hatte, brachten schon einzelne Exemplare oft mehr ein, als das Arcade die ganze Lieferung gekostet hatte. Das war nicht gerade Betrug oder Diebstahl, aber es war ein gerissenes Geschäft mit der Begierde. Das Spiel mit der Lust an Dingen, deren Wert ganz von denjenigen abhing, in deren Besitz sie sich befanden. «Mr. Geist», erkundigte ich mich, bevor ich wieder nach oben ging. «Hat der Mann denn nun die Bücher gestohlen, die Sie gerade angekauft haben?» «Sehr wahrscheinlich», sagte er. «Aber das ist natürlich nicht Ihr Problem. Sagen Sie einfach Jack oder Bruno Bescheid, dass sie ihn rausschmeißen, wenn sie ihn hier nochmal sehen sollten.» 93
Später erzählte mir Oscar, den Spitznamen Redburn habe sich Mr. Mitchell nicht nur wegen der Haare ausgedacht, die so rot waren, als stünden sie in Flammen. Wellingborough Redburn war der Protagonist in einem Roman von Herman Melville, von dem Mr. Mitchell einmal eine Erstausgabe unter dem schmuddeligen Hemd des jungen Mannes entdeckt hatte, tief in den Taillenbund seiner Hose gesteckt. Die kostbare Ausgabe von Redburn war für den wunderlichsten Sammler, der im Arcade einkaufte, zurückgelegt worden, Julian Peabody, der noch nie einen Fuß in den Laden gesetzt hatte und der die größte Privatbibliothek des Landes besaß. Mr. Mitchell wartete darauf, dass Peabodys Bibliothekar Samuel Metcalf den Band von Pikes Podest abholen würde. Er und Walter Geist, der mit Metcalf schon lange befreundet war, wurden allerdings von Pike abgelenkt, der just in diesem Moment eine Preiserhöhung für diesen Band beschlossen hatte. Während das Hickhack noch im Gange war, wagte Redburn es, das Buch direkt von Pikes Tisch an sich zu bringen. Nur durch Zufall flog Redburn auf, als Bruno nämlich mit ihm auf dessen eiligem Weg nach draußen zusammenstieß. Peabody hatte das Buch erworben, um es seiner großen Sammlung von Autoren aus dem neunzehnten Jahrhundert beizufügen, der bedeutendsten privaten Einrichtung dieser Art überhaupt. Herman Melville war einer von Peabodys Lieblingsschriftstellern, und kurz nachdem ich von dieser Begebenheit erfahren hatte, wurde er auch meiner. 94
Sechstes Kapitel
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m Abend kehrte ich ins Martha Washington zurück, zu Lillian und zu meiner Schuhschachtel von Zimmer. Nach zwei Monaten war das Arcade mein eigentliches Zuhause geworden, und die Stadt, in der es sich befand, war die weite Welt, die Chaps sich immer für mich gewünscht hatte und von der auch ich, wie ich feststellte, immer geträumt hatte. Tasmanien war weit weg, eine Idealvorstellung von Heimat, die ich mit Mutter verband, mit ihrer Abwesenheit und, paradoxerweise, mit ihrer gelegentlichen Anwesenheit, die stets überwältigend war. Ihr junges Gesicht auf dem gerahmten Foto erwiderte meinen eigenen grünen Blick mit dunklen Augen und war so selbstbewusst wie ich noch lange nicht. Ich träumte so oft davon, sie sei noch am Leben, dass ich danach mit jener tiefen Sehnsucht erwachte, die die Erinnerung zum Sprechen bringt. Während ich schlief, hatte sie gelebt, und der Schmerz beim Aufwachen war so groß, weil ich nicht wusste, wo sie denn nun wirklich war, und weil ich über die klare Einsicht erschrak, dass mein eigenes Leben ohne sie weitergehen würde. Zu keiner Zeit sind wir uns derer, die wir verloren und von denen wir geträumt haben, so bewusst wie im Moment des Aufwachens. Ich hatte es mir angewöhnt, am frühen Abend, wenn ich mit der Arbeit fertig war, noch stundenlang spazie95
ren zu gehen, und mir dafür eine Art Zickzackmuster zurechtgelegt, immer einen Block hoch und einen Block quer, dass ich dann auf meiner Rückkehr in den Süden der Stadt umkehrte. Es war ein tröstlicher Vorgang, als erlernte ich eine praktische Tätigkeit, so wie man Buchstaben übt, um zu schreiben, oder Schritte, um zu tanzen. Damals war es noch stundenlang hell und heiß draußen. Das Rastermuster der Stadt brachte Ordnung in meine Gedanken. Ich ging, um dabei zu denken, und während ich mir die Stadt erwanderte, fühlte ich mich so fest und vernünftig wie die Schuhe, die ich anzog, bevor ich zu meinen Streifzügen aufbrach. Einem bestimmten Muster zu folgen, gab mir eine Sicherheit, die ich während meines Arbeitstages oft nicht empfand. Meine mangelnden Kenntnisse der riesigen Bestände im Arcade quälten mich, doch während meiner Spaziergänge fiel mir vieles wieder ein, ich machte mir Notizen und ließ die Ereignisse des Tages Revue passieren. Ich war entschlossen, mich in der Stadt nicht zu verirren, und während meiner Streifzüge entstand in mir eine innere Landkarte, auf der mehr als nur Örtlichkeiten und Bezugspunkte verzeichnet waren. Ich fand einen Weg, um zurechtzukommen. Ich ließ es zu, dass die Stadt ihre Wirkung auf mich, auf mein Inneres ausübte, und kam zu der Erkenntnis, dass ich die Freiheit wollte, die sie für mich bereithielt. Am Abend, wenn weniger Menschen auf den Straßen waren, gab es in der Geometrie der Leere, die in bestimmten Vierteln dann entstand, Raum für mich. Die vielseitige Architektur der Stadt lehrte mich einen Sinn für Proportionen, ja sogar einen widersprüchlichen 96
Sinn für Maßstäbe. Schon in Sydney hatte ich erfahren, dass es in Städten Platz gibt. Ja, ich war nur ein Stäubchen inmitten von New Yorks riesiger, wirbelnder Energie, aber ich war da. In der Dämmerung zeichnete sich sogar mein Umriss auf den Gebäuden ab, mit einem riesigen, oben schmal zulaufenden Schatten, der über die jahrhundertealten Fassaden glitt. Mit meinen Schritten im Zickzackmuster vermaß ich die Stadt, die Blocks, die Gebäude und Straßenlampen. Natürlich war ich überwältigt von diesem Moloch, aber gleichzeitig fühlte ich mich auch seltsam befreit, weil ich nicht das Gefühl hatte, handeln zu müssen. Obwohl mein Schatten rasch wieder verschwand, wenn die Dunkelheit hereinbrach, blieb mir der längliche Umriss noch im Gedächtnis, der sich auf den hohen Gebäuden abgezeichnet hatte: lebendig und frei. An einem heißen Julinachmittag ging ich eine leere Straße hinunter. Der würzige Geruch von Stadtregen stieg vom Bürgersteig auf. Ich musste niesen. Sekunden später fielen riesige schwere Tropfen auf meinen Kopf und den Rücken. Ich suchte Schutz unter einer Markise und schaute durch einen dichten Vorhang aus Wasser dem Gewitter zu. Zehn Minuten später hörte der Regen auf, so plötzlich, wie er begonnen hatte. Die Temperatur fiel um ein paar Grad, und ich spürte, wie dicht die Luft war und wie undurchdringlich diese große, gebaute Stadt. Die Stadt schien mir wie versiegelt und doch durchlässig zugleich, während ich zuschaute, wie das schmutzige Regenwasser in den U-Bahn-Rosten und den Gullys versickerte. Sie schluckte alles, so wie ich, die ich alles in mich aufnahm. 97
Ich verbrachte den August auf den Straßen. Bis auf einen Tag arbeitete ich täglich im Arcade, am Abend ging ich spazieren. Als langsam der Herbst kam, freute ich mich darauf wie auf eine nie gekannte Köstlichkeit, denn einen Jahreszeitenwechsel hatte ich hier noch nie erlebt. Schon Anfang September machte sich in mir eine ungekannte Vorfreude breit. Ein schmuddeliger Park auf meinem Weg ins Arcade, etwa bei der 23sten Straße, dessen saftig grüne Bäume bis hinaus über die Straße und die umgebenden Gebäude ragten, wurde zu meinem Bezugspunkt. Einige Leute wohnten ständig in diesem Park und saßen neben ihren Habseligkeiten. Ich kam nur zu Besuch. Stand ich unter diesen Bäumen, in ihrem Schatten, wurde mir wieder bewusst, dass für die Natur die Zeit verging, dass es zumindest für die Bäume Vorhersehbarkeit und Routine gab. Der Zyklus der Jahreszeiten war hier deutlicher als zu Hause und verlief in umgekehrter Richtung, die Bäume in meinem Park waren den Jahreszeiten ausgeliefert, und auch mir blieb nichts anderes übrig, als mich ihnen zu ergeben. Wenn ich von meinen Spaziergängen zurückkehrte, fragte mich Lillian, was ich gesehen oder entdeckt hatte. Unsere zaghafte Freundschaft wuchs, während sie mich als Sendbotin in die Großstadt hinausschickte. Sie selbst hatte keine Lust, irgendwohin zu gehen, außer (an bestimmten Tagen) zurück nach Argentinien. «Wo sind meine spanischen Bücher, Rosemary? Du hast gesagt, du würdest mir welche mitbringen.» 98
«Tut mir leid, Lillian, ich suche noch.» «Pah, mein Bruder sagt, dort, wo du arbeitest, kannst du sowieso nichts finden.» «Ich bin mir sicher, dass es etwas für dich gibt, Lillian, ich muss es nur finden. Was hast du denn gelesen, als du noch in Argentinien warst?» «Ich habe Borges gelesen. Jorge Luis Borges. Er glaubt, er ist zu gut für mich, aber ich liebe ihn», sagte sie. «Er war blind, aber er hat besser gesehen als alle anderen.» «Ich werde nachschauen», versprach ich. «Schreib mir mal seinen Namen auf.» «Du hast noch nie von ihm gehört?», spottete sie. «Was lest ihr denn da unten in Tasmanien?» «Wir lesen alles Mögliche, Lillian. Aber jeder hat seine Lücken.» Sie prustete los. Lillian hatte ein warmes, tiefes Lachen, und jetzt erschien es mir ganz samtig, vertraut und klug. «Dann such nach Borges für mich, aber vor allem für dich. Für deine Lücken. Er wird sie ausfüllen, das verspreche ich dir.» Walter Geist konnte die Tatsache, dass er Albino war, weder verbergen, noch konnte er etwas daran ändern, aber als wollte er das Leben für diese Kränkung bestrafen, hatte er einen ziemlich schwierigen Charakter. Eigentlich war er sowohl zu seinen Mitarbeitern als auch zu fast allen Kunden, bis auf ein paar Auserwählte, unausstehlich. Wenn es darum ging, sich freundlich und zuvorkommend zu zeigen, etwa, wenn er die Sammler traf, deren große Bibliotheksbestände Pike 99
aufkaufen wollte, legte er allerdings eine noch unangenehmere Unterwürfigkeit an den Tag. Mir gegenüber verhielt er sich völlig gleichgültig. Heute schäme ich mich, wenn ich daran zurückdenke, wie ich vor ihm und seiner weißen Erscheinung zurückgeschreckt war. Auch für meine Faszination schäme ich mich. Vielleicht sind es aber auch nur Schuldgefühle, weil ich mich immer danach gesehnt habe, ihn anstarren zu dürfen. Am Anfang schaute Geist mir nicht in die Augen und redete auf so seltsame Art mit mir, dass ich mich ganz auf seine Sprechweise und seine Lippen konzentrierte, die die zischenden Konsonanten formten. Zunächst sprach er überhaupt nur wenig mit mir, höchstens um mir Anweisungen zu geben, wenn es darum ging, Pikes mit Preisen versehene Stapel abzutragen, an der Hintertür eine Lieferung abzuwarten oder mir zu sagen, wohin ich die «neuen» Bücher stellen sollte, die ich ihm hinunter in den Keller brachte. Vermutlich war es für ihn nichts Ungewöhnliches, dass sein Äußeres mich faszinierte, und er begegnete mir mit nüchterner Gelassenheit. Traurigerweise war er offenbar daran gewöhnt, eingehend betrachtet zu werden. Walter Geists Eltern waren Flüchtlinge aus Deutschland gewesen; das hatte Oscar mir verraten, aber sehr viel mehr wusste auch er nicht über Geists persönliche Lebensumstände, zumindest sprach er nicht darüber. Folglich hatte Geist nicht, wie ich mir anfänglich manchmal ausmalte, unten im Keller des Arcade das Licht der Welt erblickt, sondern in Berlin, genauer im alten Teil von Kreuzberg. Aufgewachsen war er in 100
Pennsylvania, nachdem er in jungen Jahren zusammen mit seinen Eltern in die USA gekommen war. Walter Geist hatte nie geheiratet und führte ein äußerst zurückgezogenes Leben. Geists leichtes Lispeln war nicht etwa die Folge einer Sprachstörung, sondern vielmehr ein Hinweis auf das Palimpsest von Sprachen, die er beherrschte und die allesamt in seinem geflüsterten Englisch komprimiert und kaum wahrnehmbar vorhanden zu sein schienen. Es war kein Akzent wie meiner, der breit und flach und, wie ich fürchtete, ungebildet klang. Seine Diktion war auf ihre Weise fein und vornehm. Geist sprach laut Oscar fünf Sprachen fließend, sein Vater hatte als Linguist an der Universität gelehrt. Da Oscar so wenig über Walter Geists persönliche Geschichte wusste, betrieb er umso intensivere Recherchen zum Albinismus. Oscar beschäftigte sich immer eingehend mit irgendetwas, und auch Geist war kurzzeitig ein Thema gewesen, so wie er später eines für mich werden sollte. Im Arcade benutzte Geist gern einen Kneifer mit dicken Gläsern, der an einer Silberkette um seinen Hals befestigt war und in seiner Hemdtasche steckte. Häufiger jedoch saß das Brillchen, erstaunlicherweise unverrückbar, auf seinem Nasenrücken, zwischen mehreren Hautfalten, die durch ständiges Zusammenkneifen der Augen und Stirnrunzeln entstanden. Seine Augen waren von unbestimmbarer Farbe, doch manchmal, vor allem in hellem Sonnenlicht, wirkten sie violett. «Eigentlich, Rosemary», sagte Oscar zu mir, als ich diese sonderbare Tatsache ihm gegenüber erwähnte, «sind Walters Augen farblos. Ich habe es nachgeschla101
gen. Die violette Farbe, die du siehst, das sind die Blutgefäße in der Netzhaut. Du kannst das Blut sehen, weil seine Iris keine Farbe hat. Ich denke, man könnte sagen, Walters Augen sind transparent.» «Transparent», wiederholte ich fasziniert. Oscars goldfarbene Augen waren schön, aber undurchsichtig, und der Gedanke, Geists Augen seien tatsächlich transparent, war zu wunderlich, zu seltsam, um mich nicht zu fesseln. Es verwirrte mich, wenn Geists Augen unruhig hin und her wanderten, weil ich nie wusste, wo ich hinsehen sollte, um seinem Blick zu begegnen. Seine Augen schwammen. Das Zucken entstand durch die schwache Muskulatur, und weil die Augen in ständiger Bewegung waren, hätte man meinen können, dass Geist andauernd unkonzentriert war. Zu gern wäre ich seinem wandernden Blick gefolgt – um zu sehen, was er sah. «Ja, transparent. Interessant, nicht?» Oscar lächelte und zog sein Notizbuch heraus, um etwas aufzuschreiben, das ihm eingefallen war. «Ich habe übrigens einiges an Informationen über Walters Leiden zusammengetragen.» «Tatsächlich?», fragte ich neugierig. «Es kommt mir vor, als wolle Mr. Geist nicht, dass ich seine Augen anschaue. Sie bewegen sich immer weg. Aber ich will sie sehen. Als könnte ich ihm dann direkt ins Gehirn schauen.» «Meinst du? Wie sonderbar», sagte Oscar und schaute mich einen Moment lang nachdenklich an. «Ich stelle mir vor, dass vielleicht wenigstens seine Gedanken eine Farbe haben, wenn schon nicht seine Augen.» 102
Ich hätte hinzufügen können, dass ja sein ganzer Körper farblos war, aber das hätte doch zu grausam geklungen. Ich stellte mir Geists Gedanken als etwas im Verborgenen Schimmerndes vor, das direkt hinter der transparenten Plane seiner Netzhaut funkelte wie ein Schwarm exotischer Fische. «Gestern habe ich ihn gesehen, wie er draußen mein Haar angeschaut hat», sagte ich zu Oscar. «Wir haben auf die Lieferung dieses Bibliotheksbestandes gewartet. Als ich ihn fragte, was denn sei, räusperte er sich und tat so, als habe er gar nicht geschaut.» «Na ja, Rosemary», sagte Oscar beiläufig. «Vielleicht findet Walter dein Haar einfach schön.» Doch er schien das Interesse am Thema ebenso schnell zu verlieren, wie es aufgekommen war, und fuhr fort, in sein Notizbuch zu schreiben. «Oscar», wagte ich mich vor, und mein Herz brannte in meiner Brust. «Findest du das auch?» Doch er gab mir weder eine Antwort, noch ließ er erkennen, dass er meine Frage gehört hatte, so versunken war er ins Schreiben. Ich beobachtete ihn und fühlte mich regelrecht krank vor Sehnsucht. Sein wohlgeformter Kopf war tief über das Blatt gebeugt, sein Gesicht ausdruckslos. Ab und zu traf ich zwischen den Regalen von Oscars Abteilung auf Geist, ein Buch nah vor dem Gesicht, die weißen Finger um den Einband gelegt wie ausgebreitete Schwingen. Die Bände, die er sich an die Nasenspitze hielt, waren meist wuchtige Lehrbücher, und es schien, als krümmte er sich unter ihrem Gewicht. Walter Geist 103
war selbst im kleinen Universum des Arcade eine einsame Gestalt und verhielt sich, als Pikes erklärtes Alter Ego, den Mitarbeitern gegenüber distanziert. Immerhin gehörte er zum Management: Er war George Pikes bleicher Avatar, eine etwas andere Art von Schatten. Doch sicher hielt er sich auch abseits, weil er wusste, dass er von dem, was das Leben der anderen ausmachte, immer abgeschieden sein würde. In dieser Hinsicht war er sich, besser als jeder von uns, der Bedingungen seines Lebens bewusst, und wie jeder andere ging auch ich von der Annahme aus, er habe sich mit diesen Bedingungen abgefunden. Doch eigentlich interessierte ich mich nicht aus Mitleid für ihn. Es war Neugier. Meine Phantasie war schon häufiger mit mir durchgegangen, und so erhielt er in dem Märchen, das ich mir ausdachte, das ich lebte, eine Hauptrolle. Vielleicht lag es aber auch daran, dass ich einfach nicht mit ihm zurechtkam. Oft vertrieb sich die Belegschaft des Arcade die Zeit mit einem Spiel, das ungewollt immer dann entstand, wenn Kunden eine Frage stellten, die besonders schwer zu beantworten war. Das Spiel hieß «Wer weiß das schon?» und ließ einen langen Tag schneller vorbeigehen; außerdem diente es dazu, die Fähigkeiten zu schärfen, die man brauchte, um im Arcade zu arbeiten. Auch ein gewisser Sinn für Humor war im Übrigen nötig angesichts der Anforderungen, die hier an das Gedächtnis gestellt wurden. Handbücher gab es außer dem Verzeichnis Lieferbarer Bücher nicht (und hier waren eigentlich nie die Bücher aufgeführt, die die Kunden im Arcade suchten), 104
weshalb die einzig verlässliche Informationsquelle die Mitarbeiter und ihr kollektives Gedächtnis waren. Das Gedächtnis war der Maßstab des Könnens im Arcade, denn es entschied über den Wert, den man in Pikes Augen für den Laden hatte. Im Gedächtnis war der Bestand des Buchladens aufgelistet wie ein sich stetig ausweitendes Register, eine innere private Bibliothek, die durch eine fleischgewordene Variante auf dem DeweyDezimalsystem organisiert wurde. Es gab Kunden, die nur den Titel wussten, aber nicht den Autor, oder nur den Autor, aber nicht den Titel, und manche kannten sogar nur die Farbe des Einbands, aber weder Titel noch Autorennamen. Manchmal kamen Kunden, die mit den Händen die Größe des Buchs zeigten: «Es war ungefähr so groß.» Das Spiel war unser Umgang mit der Schwierigkeit, im Arcade etwas zu finden. Für die Mitarbeiter tat sich mit jeder Frage eine neue Sackgasse auf. Auf die Anfragen kam automatisch eine ebenso unsinnige Antwort, die Standard-Antwort im Arcade: «Wer weiß das schon?» Daher auch der Name des Spiels. Jack Conway, sein Freund Bruno und der dicke Art (der Legende nach hatte Pike ihn mit der gelehrten Anspielung L’art pour l’art für die Kunstabteilung angestellt) riefen die Parole manchmal richtig angriffslustig durch den Laden. Zuerst dachte ich, sie meinten es wirklich ernst und seien wütend, doch bald verstand ich, worum es ging. «Wer weiß das schon?», riefen sie sich über den Kopf des fragenden Kunden hinweg zu, und wenn dann kein Echo zurückkam, wiederholten sie die Frage lautstark: 105
«Wer zum Teufel weiß das schon?» Ich merkte, dass es sich eigentlich um eine Art Herausforderung handelte, einen Hilferuf, der sogar Oscar hinter seinen Regalreihen hervorlockte, wenn er nicht anderweitig beschäftigt war. Oscars Kenntnisse seiner Abteilung waren praktisch lückenlos, aber sobald das Buch nicht in die vage Kategorie des Sachbuchs fiel, mussten auch diejenigen gefragt werden, die über ein etwas weniger bemerkenswertes Gedächtnis verfügten. Selbst Pike nahm an dem Spiel vor allem teil, weil es durchaus zum Verkauf eines Buches führen konnte. Wo ist das Buch, das ich hier mal über die Geschichte und die Gestaltung von russischen Babuschka-Puppen gesehen habe? Können Sie mir sagen, wo ich eine Monographie über Franz Boaz’ Dissertation mit dem Titel «Beiträge zum Verständnis der Farbe von Wasser» finde? Haben Sie den klassischen Schwulenroman Der Puppenjunge von Sagitta auf Englisch? Ich brauche dringend William Davenants Gondibert, Sie wissen schon, das mit den fünfzehnhundert Strophen! Führen Sie Musterbücher zur Redwork-Stickerei? Ich weiß genau, dass Sie Poems Chiefly in the Scottish Dialect von Robert Burns haben, wo kann ich es finden? Kundenanfragen waren wie die Sprechblasen in Comics: Sie machten sichtbar, was den Leuten in der Stadt im Kopf herumging. Die Fragen waren so ungeordnet und subjektiv wie die Erfahrungen selbst, die ein Mensch macht, und unsere einzige Möglichkeit, gegen die Willkürlichkeit der Fragen anzukommen, war unser Spiel. Mit einer Runde «Wer weiß das schon?» fanden sich 106
die meisten der fraglichen Bücher, und nach einigen Monaten überraschte es selbst mich nicht mehr, wenn ein langjähriger Angestellter blitzschnell ein schmales Bändchen griff – sieben Regalbretter runter und neun Bücher quer –, um es dem verwirrten Kunden zu reichen, der Ewigkeiten danach gesucht hatte. Gelegentlich hatte ich ja Chaps bei der Arbeit in ihrem winzigen, ordentlichen Laden in Tasmanien zugesehen, doch hier war das Spiel ein ganz anderes, wie auch die Bandbreite der Interessen deutlich größer war. Im Arcade fand man die gesuchten Bücher, als führte man einen Taschenspielertrick aus, am besten mit unbewegter Miene, als sei die Heldentat des Gedächtnisses, die sich darin ausdrückte, gar nicht der Rede wert. Der Zaubertrick, im Fundus des Arcade etwas zu finden, noch dazu ein Buch, nach dem speziell gefragt wurde, war in der Tat etwas, worauf man stolz sein konnte. Es war wie das Kaninchen, das man aus einem Hut zieht: eine Varieténummer, mit der die Belegschaft des Arcade auftrat und die es mit Pikes geheimnisvollem Auspreisen aufnehmen konnte. «Das habe ich für dich gefunden, Lillian. Aber es ist auf Englisch.» Ich reichte ihr ein kleines Taschenbuch von Borges, Das Handbuch der phantastischen Zoologie. «Ach, das gefällt mir. Ich habe es vor langer Zeit gelesen. Du und ich, Rosemary, wir sind doch auch so etwas, oder? Phantastische Wesen, zumindest hier.» «Was meinst du?» «Als hätte uns jemand erfunden, wie diese Kreaturen 107
dadrin. Siehst du?» Sie schlug das Buch auf irgendeiner Seite auf. «Der Mondhase – das ist der Mann im Mond, siehst du? Die Mandragora, der Martichoras.» Sie lächelte. «Wir sind wie diese Wesen. Keiner weiß, dass wir existieren, außer ein paar Leuten. Und wenn wir verschwinden, gibt es keinen Borges, der eine kleine Geschichte aus uns macht, um an uns zu erinnern. Wer weiß denn, dass du hier bist? Keine Mutter, kein Vater. Und schau dir an, wie anders du schon bist. Du siehst nicht mehr so aus wie das Mädchen, das vor ein paar Wochen hierherkam. Ein Mädchen aus Tasmanien.» Sie kniff die Augen zusammen, um mich genauer zu betrachten. «Du siehst aus wie ein Löwe. Und wo ist jetzt das andere Mädchen? Jetzt ist sie ein phantastisches Wesen!» Ich hatte mich verändert. Groß und langgliedrig, wie ich war, hatte ich durch die Arbeit im Arcade Muskeln an Armen und Rücken bekommen, zum ersten Mal in meinem vorwiegend im Sitzen verbrachten Leben. Bei Remarkable Hats auszuhelfen hatte keine große körperliche Anstrengung erfordert, doch jetzt machte mich das Herumkarren der übervollen Bücherkisten kräftig, ebenso wie meine strammen Spaziergänge und die karge Ernährung, die hauptsächlich aus dem bestand, was billig und zum Verzehr auf meinem Zimmer im Martha Washington geeignet war. «Aber füreinander sind wir doch wirklich, Lillian», erwiderte ich. «Wir sind nicht phantastisch.» «Du weißt gar nichts über mich», sagte Lillian barsch, während sie das Taschenbuch durchblätterte. 108
«Nichts», fügte sie mit einer Endgültigkeit hinzu, die mich kränkte. «Vielleicht existiere ich ja überhaupt nicht.» «Na ja, es dauert eben eine Weile, bis man jemanden kennenlernt, Lillian, aber ich hoffe, wir werden Freundinnen.» «Tut mir leid, aber ich will das nicht auf Englisch lesen. Danke für das Buch», sagte sie abrupt und gab mir den Band zurück. Vielleicht sah sie mir an, wie gekränkt ich war, denn sie fügte hinzu: «Behalt du es doch. Lies es selbst. Füll deine Lücken. Ich brauche das nicht mehr.» Damit wandte sie sich ab und steckte sich wieder die Stöpsel ins Ohr. Ich ging in mein Zimmer und fühlte mich abgewiesen. Ich wünschte mir Freunde, auch weil ich zu Hause nie welche gehabt hatte. Mutter hatte Verbindungen mit anderen nie gebilligt, denn es war ihr wichtig, ein zurückgezogenes Leben zu führen, über das niemand etwas wusste. Obwohl ich das Arcade und New York liebte, hatte das Leben in einer pulsierenden Stadt auch einen großen Nachteil: eine erbarmungslose Abgeschiedenheit. Niemandem hier bedeutete ich etwas, niemand dachte etwas über mich, keiner erinnerte sich an mich. Die Leute waren kompliziert und seltsam – und manchmal würde ich mich in ihnen täuschen. Ich musste vorsichtig sein. Ich berührte das grüne Amulett an meinem Hals, das Chaps mir geschenkt hatte. Das Gespräch mit Lillian hatte mich daran erinnert, dass ich mir dringend eine andere Bleibe suchen musste, um mich endlich irgendwo richtig einzurichten. Obwohl 109
ich es mittlerweile schon seit Monaten in dem Hotel ausgehalten hatte, sehnte ich mich danach, an einem Ort zu leben, den ich nicht als Durchgangsstation empfinden würde. Der schmuddelige Park auf dem Weg zum Arcade zeigte deutlich genug, dass der Herbst vor der Tür stand, und ich wusste nur wenig über den richtigen Winter, der jetzt folgen würde. Ich wollte mein eigenes Badezimmer, in dem es keine Spuren von geisterhaft schlampigen Mitbewohnern gab, und einen Herd, um mir etwas zu kochen, ebenso wie ein Fenster, das ich öffnen konnte, ohne dass es mich zuerst mit den Düften von indischem Essen lockte und mich dann seiner überdrüssig machte, weil ich es mir gar nicht leisten konnte, obwohl es als das billigste der ganzen Stadt galt. Außerdem war es im Martha Washington geradezu lähmend still, bis in den späten Abend hinein. Dann begann das laute Rumpeln von Autos und Taxis, die das riesige Schlagloch direkt vor dem Eingang des Gebäudes übersahen. Dieses doppelte Aufsetzen von zuerst dem Bug und dann dem Heck der Wagen, deren Reifen kurzzeitig bis zu den Radkappen einsanken, war ebenso gleichförmig wie nervtötend. Weil ich nicht einschlafen konnte, knipste ich das Licht wieder an und holte mir den Borges, den ich für Lillian besorgt hatte. Warum war es bloß so schwer, mit Lillian Freundschaft zu schließen? Das kleine Bändchen heiterte mich auf. Lillian hatte recht gehabt, dass Borges meine Lücken füllte; er wusste alles über das träge Vergnügen an sinnlosem und ungenutztem Wissen und darüber, wie es sich vermehrte. Das Buch war alphabetisch aufgebaut, und so begann 110
ich bei Abtu und Anet, den ägyptischen riesigen heiligen Fischen, die vor dem Schiff des Sonnengottes einherschwammen, um Ausschau nach Gefahren zu halten. Sie befanden sich auf einer Reise in die Ewigkeit, und von Morgengrauen bis zur Abenddämmerung schwammen sie über den Himmel und bei Nacht unterirdisch und in entgegengesetzter Richtung. Neugierig las ich die kleinen Geschichten und verbrachte den größten Teil der Nacht damit, ohne noch einmal an meine Sorgen zu denken. Einige der Figuren kannte ich bereits, wie den Minotaurus, der halb Stier und halb Mensch war und aus der widernatürlichen Liebe Pasiphaes, der Königin von Kreta, zu einem reinen weißen Bullen entstanden war und ob seiner grauenhaften Gestalt in einem Labyrinth leben musste. Der letzte Eintrag im Buch galt dem Zarathan, einer Insel, die eigentlich ein Walfisch war und, «im Bösen gewitzigt», Seeleute ertränkte, sobald diese auf seinem Rücken ihr Lager aufschlugen. Schließlich schlief ich ein, das Buch auf meiner Brust und den Kopf voller Wale und weißer Stiere, voller Fischmänner und Löwenmädchen – eines ganzen Bestiariums von Träumen, deren Besetzung perfekt dazu geeignet war, meinen eigenen Hirngespinsten Gesellschaft zu leisten. Arthur Pick war ein Kapitel für sich. Auch er war Ausländer, er stammte aus England, er liebte seine Kunstabteilung und blätterte ständig in irgendwelchen Fotobänden, am liebsten in solchen mit Bildern von nackten 111
Männern, wie an jenem ersten Tag, als Geist mich angestellt hatte. Arthur liebte auch Gemälde, aber die Fotografie war seine große Leidenschaft. Er gab mir einen Spitznamen, den ich hasste, aber er verwendete ihn mit derselben Beharrlichkeit, mit der er darauf bestand, dass ich mir die Fotos anschaute, die er so gerne mochte. «Hallo, mein tasmanischer Teufel, springst du wieder durch die Gegend? Hast du was zu tun? Komm her und schau, schau dir diese Bilder an. Sind sie nicht schön?» «Äh, ja, sie sind sehr – beeindruckend, aber ich glaube, ich mag die Gemälde lieber, die du mir gezeigt hast.» «Ach wirklich? Ich kann mir gar nicht vorstellen, warum.» Arthur blätterte ein paar Seiten um, und ich wurde rot. So etwas wie diese Männer hatte ich noch nie gesehen. Nie in meinem Leben. «Begreifst du denn nicht, dass dieses Foto ihnen ihre Unschuld zurückgibt?», fragte Arthur. Diese Ansicht erstaunte mich. «Sie sind aufs Papier gebannt und wissen nicht, dass sie sich verändern und sterben werden, oder überhaupt, dass sie am Leben sind», fuhr er fort. «Unschuldig?» Ich hatte immer gedacht, Mutters Schwarzweißfoto, das sie abbildete, bevor ihr Leben sie überwältigte, sei unschuldig. Aber diese Männer hier waren wohl alles andere als unwissend, sie waren mitschuldig. «Die Unschuld ist ihr Reiz», erklärte mir Arthur. «Ihre Nacktheit ist nicht alles. Ich dachte, das würdest du sehen, mein tasmanischer Teufel, denn in gewisser Weise bist du auch so.» «Aber woher weißt du denn, dass ich unschuldig bin?», fragte ich ihn mit feuerrotem Kopf. 112
«Ach, jetzt machst du dich aber unglaubwürdig. Das sieht dir doch jeder hier an.» «Ich verstehe wirklich nicht, was du meinst, Arthur, und ich hab dir schon gesagt, hör auf, mich so zu nennen.» Ich wusste, dass er es ironisch meinte, wenn er mich Teufel nannte, aber damals konnte ich einfach nicht darüber lachen. Arthur blätterte weiter in den Seiten des großen Buches. «Es ist mein Blick, der die Nackten zum Leben erweckt. Sie leben in meinem Kopf, verstehst du? Ist das nicht wunderbar?» «Also, hörst du jetzt endlich auf, mich so zu nennen?» «Tasmanischer Teufel? Natürlich, wie du willst. Aber ist dann vielleicht TT gestattet, als Abkürzung?» «Doch nicht zu lange, hoffe ich», gab ich zurück und gab damit ein Zitat zum Besten, das ich kürzlich gelesen hatte. «Ah, der gute alte Darwin», erwiderte Arthur überrascht. «Jetzt regt sich langsam der Witz in dir! Köstlich! Vielleicht bist du ja doch kein hoffnungsloser Fall von Tasmanierin.» Eines Abends im September, als ich auf dem Heimweg zum Martha Washington war, wurde ich zum ersten Mal Zeugin eines amerikanischen Herbstrituals. Ich kam an meinem schmuddeligen Park vorbei und schaute eine Weile den Gartenarbeitern zu, die abgefallene Blätter zu Haufen zusammenrechten. Die Blätter waren herbstlich bunt und bildeten große braunorange Hügel, auch ein paar gelbe Kanten flatterten hie und da, wie die 113
kleinen Zettel, die man Pearl an der Kasse zeigte, um ausbezahlt zu werden. Die Zeit verging, wurde am Wegesrand mit einer Art Föhn zu einem großen Haufen zusammengepustet und zu Asche verbrannt. Mich schauderte. Als ich zu den Bäumen aufblickte, sah ich, dass an einem von ihnen in den oberen Ästen noch ein paar dunkle Blätter hingen. Während ich noch schaute, wurden diese Blätter zu einer Vogelschar, die plötzlich aufflatterte und mit einer letzten Schleife davonflog. Nur eine Plastiktüte blieb zurück, die sich in den nackten Zweigen verfangen hatte und teilnahmslos hin- und herschaukelte. Ich hatte es eilig, zurück ins Martha Washington zu kommen. «Heute möchte ich meine Rechnung für diese Woche gleich bezahlen», sagte ich zu Lillian, als ich dort ankam. «Aber ich will mir endlich eine Wohnung suchen. Ich glaube, es ist Zeit für mich, umzuziehen.» Ich hatte beschlossen, mich umzuschauen, obwohl mir eigentlich die Mittel für eine eigene Wohnung fehlten. «Warum bleibst du nicht hier wohnen?», fragte Lillian. «Hier habe ich ein Auge auf dich. Ich sehe dich kommen und gehen. Ich sorge dafür, dass du kein phantastisches Wesen bist», fügte sie scherzend hinzu. «Ich schaue, was nach dem Löwen aus dir wird.» Sie machte mit den Händen eine ausladende Bewegung um ihren Kopf herum, um auf meinen wilden Nachnamen «Savage» anzuspielen. Ich lächelte. 114
«Mir gefällt es ja hier, Lillian, aber ich möchte etwas Eigenes haben. Ich möchte kochen und das Gefühl haben, angekommen zu sein. Gäste kommen und gehen hier doch die ganze Zeit. Ich hätte einfach gern ein Zuhause. Das Wetter schlägt um. Es wird Zeit, dass ich sesshaft werde.» «Ich finde, du solltest nicht gehen. Noch nicht. Hier bist du in Sicherheit», sagte Lillian, ließ die Hände sinken und schaute mich verärgert an. «Leute verschwinden, weißt du», sagte sie. «Du hast ja keine Ahnung …» «Was redest du denn da, Lillian?», fragte ich. «Ich gehe nicht weg. Sich eine anständige Bude zu suchen ist die beste Voraussetzung dafür, heimisch zu werden. Ich werde schon nicht verschwinden.» Lillian schüttelte den Kopf, aber sie schien mir gar nicht widersprechen zu wollen. «Ich habe gehört, du suchst eine Wohnung», murmelte mir Jack ein paar Tage später zu, als ich vorne bei Pearl stand und mit ihr plauderte. «Ich würde gerne dienlich sein …» «Meinst du, du weißt etwas?» «Mein Kumpel hat gerade die Flatter gemacht, und ich glaube, es ist ziemlich billig.» «Es müsste wirklich billig sein, Jack, bei den Löhnen, die die hier zahlen», sagte ich. «Ist es weit weg von hier?» «Zu Fuß ein Klacks», antwortete er. «Wenn du gern zu Fuß gehst. Es ist östlich von hier.» Er fuchtelte mit dem Arm, ohne in eine bestimmte Richtung zu deuten. 115
Östlich des Arcade lag eine besonders trostlose Gegend der Stadt. Das Viertel war bekannt für seine Drogendealer, und in vielen Wohnungen gab es nur kaltes Wasser. In der Woche darauf begleiteten mich Jack und Rowena nach der Arbeit zur früheren Wohnung seines Kumpels. Sie führten mich einen Block mit mehreren verlassenen Gebäuden entlang, vorbei an einem mit Müll übersäten leeren Grundstück zu einer schäbigen Ladenfront, deren Fenster dick mit Farbe übertüncht und mit graffitiverzierten Holzbrettern vernagelt waren. Eine ramponiert aussehende Tür führte seitlich neben dem, was offenbar einmal ein Lebensmittelladen gewesen war, ins Gebäude. In dem feuchten Gang entgingen mir weder die benutzten Spritzen unter der Treppe noch die grauen Farbkringel, die sich von den Wänden schälten. Die Wohnung lag im zweiten Stock. Jack hatte den Schlüssel. Sein Freund, wie er ein Musiker, hatte das Apartment leer zurückgelassen, obwohl er Hauptmieter bleiben wollte und nur für sechs Monate einen Untermieter suchte. Wenn man die Tür öffnete, trat man in einen langen schmalen Raum, der an einen Eisenbahnwaggon erinnerte; zwei Fenster gingen auf die Straße hinaus. Ein Herd, ein Waschbecken und eine alte Badewanne mit Löwenfüßen standen seitlich an einer unverputzten Ziegelwand. Im hinteren Teil des Zimmers, hinter einem schmutzigen Vorhang, war eine Nische mit einem winzigen Schrank (und der Toilette). Überall auf den abgewetzten dunklen Bodendielen lagen die Spuren eines hastigen Aufbruchs verstreut: Papier, alte Klamotten und dicke Staubmäuse. Es war kalt im Zimmer. Das ganze Gebäude war nicht beheizt. 116
«Jetzt ist der Boiler natürlich aus», sagte Jack und rieb sich die Hände gegen die feuchte Kälte im Zimmer. «Mein Kumpel hat immer den Herd angemacht und die Tür offen gelassen, wenn es im Winter richtig kalt wurde. Nach ’ner Weile war es richtig kuschelig.» Er versuchte ein wenig überzeugendes Lächeln. «Da unter der Spüle gibt’s sogar ein paar Töpfe, in denen du dir Wasser heiß machen kannst, wenn du mal baden willst», warf Rowena ein. Nach meinen Wochen im Martha Washington konnte mich der trostlose Anblick des Zimmers kaum schrecken. Auf eine verdrehte Weise passte die Wohnung sogar in meine damals entstehende Vorstellung vom Leben als Bohemien, zu meiner Vorstellung von Abenteuer. Außerdem, so überlegte ich, hatte ich immer schon über einem Laden gewohnt, und obwohl Mutter über das Zimmer natürlich entsetzt gewesen wäre, erinnerte mich etwas daran durchaus an die Wohnung über Remarkable Hats. «Ich kassiere die Miete», sagte Jack. «Fünfzig pro Woche. Und ich brauche eine Kaution. Mit vierhundert bist du dabei. Da ist der erste Monat inklusive. Okay? Das schicke ich dann meinem Freund.» Ich würde mehr brauchen als die vierhundert Dollar, um einziehen zu können. Schließlich musste ich auf etwas schlafen und das Zimmer sauber machen. Dieses Geld hatte ich nicht. «Wenn du’s nicht hinkriegst, find ich gleich jemand anders», drohte Rowena, um den Handel perfekt zu machen. «Ich nehme es», sagte ich zu ihnen und wäre am 117
liebsten auf der Stelle eingezogen, um die Tür vor Jack und Rowena zumachen zu können. Dann könnte ich in Ruhe darüber nachdenken, dass die kleine Summe, die ich mir gespart hatte, nicht für das reichen würde, was Jack im Voraus wollte. «Kannst du mir ein paar Tage Zeit geben, damit ich das Geld auftreiben kann?», fragte ich. «Klar, Liebes», sagte Jack mit einem schiefen Grinsen. «Sagen wir übermorgen? Dann können wir gleich mit der Oktobermiete anfangen.» Chaps konnte ich nicht um Geld bitten. Abgesehen davon, dass es gar nicht mehr rechtzeitig ankommen würde, hatte sie auch schon viel zu viel für mich getan und würde sich nur Sorgen machen, wenn ich sie fragte. An dem Tag, nachdem ich die Wohnung besichtigt hatte, sprach ich mit Oscar über meine Geldnot. «Ich bin mir nicht sicher, ob du wirklich jemanden wie Jack als Vermieter haben möchtest», warnte er. «Woher weißt du, dass er ehrlich ist?» «Aber ich habe nichts anderes gefunden, und es ist wirklich perfekt für mich, Oscar. Ich mache es mir schön da. Ich muss nur irgendwie an Geld kommen.» «Ich sollte dir das nicht sagen, aber ich weiß, dass Walter Geist Pike schon dazu gebracht hat, einem Angestellten, der in Not war, einen Vorschuss auszuzahlen. Eine kleine Summe, weißt du, die mit dem Gehalt verrechnet wird. Du musst eine Vereinbarung unterzeichnen, und die Summe wird dann in kleinen Teilen auf wöchentlicher Basis abgezogen. Natürlich verlangt 118
Pike Zinsen. Zehn Prozent auf den geliehenen Betrag, so lange, bis die Summe abgezahlt ist.» Oscar war offenbar genauestens vertraut mit dem Vorgang, den er selbst als selten bezeichnet hatte. Ich vermutete, dass auch er bei Pike in der Kreide stand. «Ich kann Mr. Geist nicht bitten, mir etwas zu leihen», sagte ich, weil es mir widerstrebte, den Geschäftsführer des Ladens anzupumpen. Doch ohne die Anleihe würde ich das Martha Washington für weitere Monate nicht verlassen können, und dann hätte schon jemand anders die Wohnung genommen. An jenem Nachmittag hatte ich eine Begegnung mit Walter Geist, der in Oscars Abteilung stand und las. Er hielt sich das Buch ganz nah vors Gesicht. Bei näherer Betrachtung fand ich, dass sein Gebaren doch etwas Würdiges hatte. Seine miserable Sehfähigkeit ließ ihn einen Moment lang ganz verletzlich wirken, ein Blick aus schwimmenden Augen, der irgendwie auch anziehend war. Er musste gespürt haben, dass ihn jemand beobachtete, denn er klappte das Buch mit einem leisen Knall zu, sah sich nervös um und nahm wieder seine gewohnt missgünstige Haltung ein. Er hatte mich nicht gesehen, aber ich hatte einen flüchtigen Blick auf sein Gesicht werfen können. Er hatte geschaut wie ein Kind, das sich für eine Ohrfeige wappnet. Hatte Pike diesen Ausdruck auf Geists Antlitz geprägt, so wie ein launischer Vater eine Linie des Schmerzes auf das Gesicht seines Kindes zeichnet, so deutlich wie mit dem Bleistift gezogen? Die beiden pflegten eine intensive Beziehung, häufig flüs119
terten sie hektisch miteinander. Wie sie wirklich zueinander standen, hätte ich nicht sagen können, aber ich wusste, was sie zusammenhielt: tief empfundene Loyalität. Als ich Walter Geist unbemerkt beobachtet hatte, hatte auch ich seine schreckliche Schutzlosigkeit gesehen. Natürlich machte sein Albinismus ihn verletzlich. Seine Haut stieß gerade durch ihre Makellosigkeit ab, zugleich aber übte sie eine seltsame Anziehungskraft aus. Erst wenn andere ihn betrachteten, war er entstellt. Geringschätzung wird stärker, wenn man sie genau benennen kann, und Geists weiße Erscheinung diente denjenigen als Nexus, die das Absonderliche verachten. Meine eigene Erfahrung mit einem Leben am Rande der Gesellschaft reichte nicht aus, um zu begreifen, wie sehr Walter Geist litt. Ich war immerhin als freiwillige Immigrantin nach New York gekommen, ihn zwang sein Aussehen für immer ins Exil. Wie schon zuvor half mir die Fiktion, etwas von Geists Wahrheit zu begreifen. Und insbesondere Herman Melville schenkte mir einen tiefen Einblick in Geists entsetzliches Anderssein und in den Abscheu, das es hervorrief.
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TEIL ZWEI
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Siebtes Kapitel
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ie sind schon ein besonderes Gespann, findest du nicht, Oscar?», fragte ich, nachdem ich Geist beobachtet und über ihn nachgegrübelt hatte. «Pike und Geist. Ein sonderbares Paar.» «Ach, Rosemary, findest du denn, dass sie seltsamer sind als irgendein anderer, der hier arbeitet? Und was ist überhaupt sonderbar?», fragte Oscar. Er fuhr fort, ohne eine Antwort abzuwarten. «Vielleicht kommt dir alles sonderbar vor, weil du eine Fremde bist, hier in New York, meine ich. Für manche Leute ist auch ein junges Mädchen mit roten Haaren ungewöhnlich, das aus Tasmanien kommt, keine Eltern hat und über einem Hutladen aufgewachsen ist.» «Vermutlich, ja», sagte ich. «Mir selber komme ich aber überhaupt nicht ungewöhnlich vor.» «Natürlich nicht. Jedenfalls nicht mehr, als ich mir seltsam vorkomme oder Walter sich selbst. Andererseits», gab Oscar zu, «ist Walter wohl wirklich ungewöhnlich.» «Ich habe ihn gerade in deiner Abteilung gesehen, wie er in einem Buch las und es sich nur ein paar Zentimeter vors Gesicht hielt», sagte ich. «Ich dachte, ich könnte ihn vielleicht, du weißt schon, wegen des Vorschusses fragen. Aber er schien so versunken und, na ja, so verletzlich, dass ich ihn einfach nicht stören wollte. Irgendwie hatte ich das Gefühl, er wolle allein gelassen werden.» 122
Ich verschwieg Oscar allerdings mein Gefühl, etwas an Geist habe sich mir in dem Moment offenbart, als hätte ich ihn nackt gesehen. «Er ist oft in meiner Abteilung», sagte Oscar. «Aber ich habe nicht die Bücher, die er sucht, zum Beispiel aktuelle Titel zur Hirnforschung oder Neurologie. Außerdem sucht er Bücher über Anthropologie, aber in einem Antiquariat wie dem Arcade gibt es eben kaum neuere Titel. Momentan habe ich etwas Faszinierendes über Phrenologie, aber das ist natürlich schon völlig veraltet, wenngleich nicht uninteressant …» Er verstummte, wohl weil er in Gedanken bereits eine weitere, interessantere Spur verfolgte. Dabei strich er sich über den Kopf, als wollte er etwas über sein eigenes Hinterhauptsbein erfahren. Vielleicht suchte er auch nach Anzeichen dafür, dass an seinem Schädel alles gut zusammenhielt. «Wie lange ist denn Mr. Geist schon hier, Oscar?», fragte ich, um ihn wieder auf das Thema zurückzubringen. Oscar wusste es nicht genau, aber da er bereits in jungen Jahren ständig mit Pike oder Mr. Mitchell korrespondiert hatte, immer auf der Suche nach Büchern zu bestimmten Themen, hatte Oscar eigentlich gedacht, Geist arbeite in dem Laden, seit Pike ihn vor etwa vierzig Jahren eröffnet hatte. Dabei war Geist kaum älter als vierzig, aber er wirkte so antiquiert wie jemand, der immer schon uralt gewesen war. «Übrigens», sagte Oscar. «Als ich mich einmal eingehend mit Albinos beschäftigt habe, habe ich herausgefunden, dass sie oft eine deutlich geringere Lebens123
erwartung haben. Folglich kann Walter gar nicht alt genug sein, um schon so viele Jahre hier zu arbeiten, wie betagt er auch aussieht. Albinos hat es übrigens immer schon gegeben, und zwar bei allen Rassen, Rosemary.» Dann drehte er sich um, überflog rasch eines der Regalbretter und griff nach einem großen, alten Band. Er zog das Buch heraus und öffnete es geschickt mit einer geübten Bewegung bei einem Foto von zwei Frauen aus viktorianischer Zeit. Die beiden waren AlbinoZwillinge, und ihr langes weißes Haar war so farblos, dass es aussah, als sei beim Belichten des Films ein Fehler passiert. Weil sie sich aneinanderlehnten, vermischte sich ihr Haar und ließ die wohlgeformten Silhouetten der beiden Frauen miteinander verschmelzen. Das weiße Haar fesselte den Blick; in weichen Wellen hing es bis weit über ihre geschnürten Taillen, so frei, dass der Kontrast zu den schwarzen, steifgestärkten Kleidern fast erschreckend wirkte. Die Gesichtszüge der beiden Frauen waren kaum zu erkennen, bis auf die dunkleren Schatten der Augen, der Nase und des Mundes, und am meisten verblüffte mich das üppige Haar, das unfrisiert und offenbar absichtlich zur Schau gestellt war. Es verblüffte mich auch deshalb, weil die Frauen schön waren und das Foto eindeutig auch etwas Erotisches hatte. Ich hatte das Gefühl, es gehe hier um die Darstellung unaussprechlicher Pracht, zugleich aber auch um eine Umkehrung des Schicklichen. Weil die Farbe fehlte, wirkte die Weiblichkeit des langen Haares wie ein Hohn, zumal deutlich zu erkennen war, dass die beiden kein Vergnügen dabei 124
empfunden hatten, abgelichtet zu werden. Irgendwie hatte man den Eindruck, als seien sie durch die Fotografie, oder den Fotografen, verraten worden. Oscar las mir den Text auf der gegenüberliegenden Seite vor. Seine goldfarbenen Augen bewegten sich wie hypnotisiert hin und her über die Zeilen. «Das Phänomen des Albinismus trat besonders häufig bei bestimmten Stämmen der amerikanischen Ureinwohner im Südwesten auf, die glaubten, Albinos seien Boten ihrer Gottheiten und das Töten eines Albino-Tieres ziehe einen Fluch nach sich. Albinos wurde stets mit größtem Argwohn begegnet; viele irrige Meinungen hielten sich hartnäckig, darunter auch die Annahme, das schlechte Sehvermögen, das mit der Krankheit einhergeht, deute auf niedrige Intelligenz hin oder, genau umgekehrt, sei Anzeichen dafür, dass Albinos über geheimnisvolle Fähigkeiten verfügten und zum Beispiel Gedanken lesen könnten. Früher wurden Albinos schon kurz nach ihrer Geburt in einer Anstalt untergebracht. Im Amerika des neunzehnten Jahrhunderts hielt man den Albinismus für eine so bizarre Erscheinung, dass man Menschen mit dieser Erkrankung in Zirkusshows ausstellte oder als menschliche Kuriositäten ablichtete.» Er hielt das Buch hoch, obwohl ich ihm bereits über die Schulter sah, um das Bild zu betrachten. «Schau dir mal diese Abbildung an», sagte er und zeigte auf das verstörende Foto der beiden Frauen. Ich beugte mich über ihn, aber in diesem Moment klappte er das Buch zu, aus dem eine kräftige Staubwolke aufstieg. Ich sprang vor Schreck auf. 125
«Eine ganz schöne Altlast, findest du nicht? Als menschliche Kuriosität betrachtet zu werden.» Sein Ton war beiläufig, und ich wunderte mich ein wenig über seinen Mangel an Mitgefühl – und über meinen eigenen. Sicher war Geist ein seltsamer Kauz, aber für Oscar war er nichts anderes als ein Studienobjekt wie viele andere. Mich hatte das, was Oscar vorgelesen hatte, zutiefst bewegt, und ich betrachtete mich selbst als herzlos, so über Geist gedacht zu haben, mit dieser Mischung aus Ekel und Faszination. Dabei waren meine Gedanken offenbar nicht ganz uneigennützig. Vermutlich dachte ich wie die Ureinwohner und betrachtete Geist als einen Boten, der geschickt wurde, um mich an meine eigene Unfähigkeit zu erinnern, an meinen Mangel an Mitgefühl. In diesem Moment fasste ich den Beschluss, ihm mit größerer Herzlichkeit zu begegnen, ob er mir das Geld nun leihen würde oder nicht. «Ich muss dir unbedingt ein Taschenbuch von Moby Dick besorgen», sagte Oscar plötzlich. «Warum?», fragte ich ahnungslos. Er stellte den Band ins Regal zurück. «Weil Melville eine ganze Menge über Albinos zu sagen hat und du dich offenbar besonders dafür interessierst. In dem Buch ist ein ganzes Kapitel über das Thema. Man muss seinen Interessen immer nachgehen. Und du bist jetzt in Amerika. Du solltest amerikanische Autoren lesen.» Mein Interesse für Walter Geist war allerdings erst durch Oscars Faszination entstanden, denn ich wollte alles mit ihm teilen, wenn er mir diese Gunst gewährte. 126
Was er mir empfahl, würde ich lesen, und neugierig war ich auch, denn da war er schon wieder aufgetaucht – der Name Melville. «Jetzt komm mal mit, mir fällt was ein. Bitten wir doch Jack und Bruno, sie sollen nach einem Taschenbuch für dich Ausschau halten. Peabody hat alles von Wert aufgekauft, aber ein altes Taschenbuch haben sie bestimmt.» Wir gingen in den vorderen Teil des Ladens, um auf den chaotischen Tischen nachzusehen. Mercer war gerade mit der Post gekommen und hielt ein Schwätzchen mit Pearl. Als Oscar den beiden ruppigen Taschenbuchleuten sagte, er suche nach Moby Dick für mich, lieferte er Jack damit unwissentlich das Stichwort für eine obszöne Prahlerei bezüglich dessen eigener (und angeblich spektakulärer) anatomischer Vorzüge. Auch Bruno machte unverblümt das Angebot, «dem Mädel mal seinen Moby Dick zu zeigen». Jedenfalls hatten sie keine Ausgabe da, versprachen aber, mir eine zurückzulegen, sobald eine hereinkam, was, wie sie mir versicherten, häufiger vorkam. Lillian saß nicht am Empfang, als ich an diesem Abend ins Martha Washington zurückkehrte. Das überraschte und enttäuschte mich; ich hatte vorgehabt, sie wegen des Apartments um Rat zu fragen. Und ausgerechnet sie machte sich Sorgen, ich könne verschwinden! «Wo ist Lillian?», fragte ich den kleinen Mann, der ihren Platz eingenommen hatte. Er war schon relativ alt und hatte faltige dunkle Haut, die an Stirn, Wangen und Kinn ein wenig glänzte. 127
«Sie ist heute nicht erschienen, Miss, deshalb hat man die Agentur angerufen und mich geholt. Weiß nicht, was mit ihr los ist. Vielleicht ist sie krank? Wie ich höre, ist sie sonst sehr zuverlässig. Ihr Bruder ist doch der Besitzer hier, stimmt’s? Er ist los, um nach ihr zu schauen. Haben Sie Ihren Schlüssel?» Ich ging auf mein Zimmer. Ich machte mir Sorgen um Lillian, dass sie vielleicht krank sein könnte. Doch wenn das der Fall war, wäre sie hier im Hotel und ihr Bruder müsste nicht nach ihr suchen. Ich zog meine Schuhe aus und streckte mich auf dem durchgelegenen Bett aus. «Wo ist sie?», fragte ich die Huon-Schachtel. Ich war gerade dabei, die Titel einzuräumen, die Pike nach dem Auszeichnen hinter seinem Podest aufgestapelt hatte, als ich meinte, Redburn gesehen zu haben. Plötzlich blitzte sein rotes Haar auf, und ich zuckte zusammen, als hätte ich mich selbst im Spiegel gesehen. Ich blieb ganz still stehen und wartete ab, ob es sich bei demjenigen, der sich da in der Kunstabteilung hinter einer Ecke versteckte, tatsächlich um den Ladendieb handelte. «Also, was haben Sie?», sagte Pike in den Hörer des alten Telefons. Er stand hinter seinem Tisch. «Der Mann will kaufen, er hat unbegrenzte finanzielle Mittel, und Sie haben nichts, das ihn interessieren könnte?» Offenbar hatte er Mr. Mitchell in der Mangel. Ich hob einen Stapel Bücher auf und behielt die Ecke, hinter der ich Redburn vermutete, im Auge, aber es bewegte sich nichts. 128
«Peabody möchte amerikanische Autoren. Das hat jedenfalls Metcalf gesagt. Aber was ist mit Melville? Erinnern Sie sich daran, dass die Bibliothek diese Papiere bekommen hat und Sie sie für das Arcade sichern sollten?» Jetzt streckte Redburn seinen leuchtenden Haarschopf um die Ecke des Regals. «Sie schon wieder», murmelte ich. Er hob den Finger an die Lippen, denn er lauschte Pikes Gardinenpredigt ebenso aufmerksam, wie ich es – zugegebenermaßen – tat. Eigentlich versuchte ich immer so viel wie möglich von dem mitzuhören, was Pike sagte – eine Ungezogenheit, die ich normalerweise damit rechtfertigen konnte, dass ich noch so viel zu lernen hatte und wie viel er mir beibringen könnte. Andererseits war da ein gewöhnlicher Ladendieb, der versuchte, sich Informationen anzueignen, die ich exklusiv haben wollte. Wie seltsam, dass es auch bei Pike um Melville ging! «Peabody hätte dafür alles gezahlt», fuhr George Pike fort. «Und jetzt sagt Ihnen Gosford, er könne sich nicht mal diesen mickrigen Mandelstam für 45000 leisten …» Ich wandte mich ab, um nach Bruno oder Jack zu suchen. Geist hatte mir gesagt, Redburn solle hinausgeworfen werden. Als ich mit Jack im Schlepptau zurückkam, war der Dieb allerdings verschwunden. «Keiner mehr da. Bist du sicher, dass du keine Halluzinationen hast, Liebes?», fragte Jack und beugte sich ganz nah zu mir herunter. «Das kommt schon mal vor, wenn man eine Weile hier ist. Wir sind alle ein bisschen gaga, weißt du?» 129
Er lachte und stapfte in den vorderen Teil des Arcade zurück. Es war ein Zufall gewesen, dass in Pikes Gespräch mit Mr. Mitchell der Name Melville gefallen war, aber manchmal treffen auch zu viele Zufälle aufeinander, als wollte die Vorsehung selbst einen auf etwas Bedeutendes aufmerksam machen. Dieser Eindruck prägte meine Erfahrungen in New York und insbesondere im Arcade – diese Idee von einem Zufall, der keiner war. Und obwohl ich heute einiges bedauere, kamen mir einige Zufälligkeiten durchaus gewollt vor und eben nicht wie Einbildungen meines noch ungeformten Charakters. Wir selbst sind das Schicksal, flüstert Melville diesem jüngeren Ich zu. Doch diese Rosemary hätte es nicht verstanden. Nachdem ich am nächsten Tag einen Kritiker hinunter in den Keller begleitet hatte, fragte ich Geist, ob ich am Abend nach der Arbeit mit ihm sprechen könne. Ich lächelte dabei und versuchte so viel Herzlichkeit in meine Worte zu legen, wie ich aufbringen konnte. Geist musterte mich, seine Augenmuskeln entspannten sich leicht, seine Brille glitt ihm vom Gesicht und baumelte an der Kette herunter. Ich stellte mir vor, wie ihm ein geheimnisvoller Gedanke durch den Kopf ging, dessen Bahn man durch seine transparenten Augen wie durch ein Fenster verfolgen konnte. Seine Hand wanderte zu seiner Hosentasche, wo sie hörbar mit etwas Kleingeld klimperte. «Gewiss, Rosemary, gewiss werde ich heute Abend mit Ihnen sprechen. Um sechs.» Er klang überrascht 130
und richtete sich etwas gerader auf. «Dann sehen wir uns oben in meinem Büro.» Jetzt lächelte er sogar leicht, und ich bemerkte zum ersten Mal seine kleinen, gleichmäßigen Zähne, die ebenso weiß waren wie alles andere an ihm. Um sechs Uhr stieg ich die wackelige Treppe zum hinteren Büro hoch und schaute mir den winzigen Schreibtisch an, auf dem sich Rechnungen und Post türmten, während ich wartete. Der Tisch wurde von einer Lampe aus leuchtend grünem Glas beleuchtet. Geist saß über ein großes, rundes Vergrößerungsglas gebeugt. Das Glas war mit einem Messingrahmen umrahmt, einer eleganten Vorrichtung, die extra für die dicke Linse angefertigt war und ihm die Hände frei hielt. Eine Art Lupe, wahrscheinlich eher für einen Uhrmacher, einen Silberschmied oder auch einen Kartenmaler gedacht. Irgendwie beschwor das Gerät ein früheres, langsameres Jahrhundert herauf, eine Zeit, als die Dinge noch einer genaueren Betrachtung bedurften; als es durch ein solches Werkzeug möglich wurde, das ganze Leben in einer Miniatur zu erfassen und abzubilden, sodass man es genauer beobachten konnte. Eine Sekunde lang sah ich Geists Gesicht, durch die Vergrößerung verwandelt, riesengroß und verzerrt; ein weißer Koloss, wie der Minotaurus in meinem kleinen Buch. Er tippte etwas mit einem seiner spitzen bleichen Finger in die Additionsmaschine, in schnellen, hackenden Bewegungen, als wollte er das Gerät tadeln. Als er den Kopf bewegte, war das beunruhigende Bild verschwunden. Es herrschte ein heilloses Durcheinander in dem Büro. Außerhalb des Lichtdreiecks, in dem 131
Geist saß, türmte sich eine wilde Mischung aus Papieren und Büchern, Zeitschriften und Briefen, die es durchaus mit dem Chaos unten im Laden aufnehmen konnte. Während ich in der Tür stand, schien Geist meine Anwesenheit gar nicht zu bemerken, deshalb klopfte ich an den hölzernen Rahmen der Tür, um seine Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen. Er blickte sofort auf und zuckte zusammen. Seine zarten Ohren rutschten nach hinten, die Brille fiel ihm auf die Brust. Ich fragte mich, ob nur ich diese Wirkung auf seine Sehhilfe hatte, ob irgendetwas an meinem Äußeren sie davon abhielt, auf seinem Nasenrücken sitzen zu bleiben. Er wusste ja, dass ich um sechs kommen würde. «Nehmen Sie Platz», sagte er und wies auf einen alten hölzernen Stuhl, der mit Zeitungen übersät war. Ich sah, dass seine Hände schön waren. «Legen Sie sie einfach da rüber», empfahl er mir, und ich machte ein Bündel aus den ungelesenen Zeitungen und legte sie auf einen anderen Stapel auf einem metallenen Aktenschrank. Rasch drückte Geist seine Brille wieder in die Falten seines Gesichts, schob die Lupe beiseite und beugte sich vor. «Ich war ziemlich überrascht, dass Sie mich um ein Gespräch gebeten haben. Ich treffe mich nur selten mit Angestellten. Was führt Sie zu mir?» Es machte mich ausgesprochen nervös, mit Geist allein zu sein, zumal ich mich konzentrieren musste, nicht angeekelt oder unangemessen fasziniert auszusehen. Ich hatte beschlossen, seinen farblosen Augen direkt zu begegnen, hatte mich regelrecht dafür gewapp132
net und es mit Oscar während einer Pause am Nachmittag geübt, als wir die Formulierung meiner Bitte noch einmal durchgingen. Aber während Oscars Augen regelrecht dazu aufforderten, dass man in sie hineinblickte, wie in einen goldenen Spiegel, wirkten Geists Augen in ihrem Versteck hinter den Gläsern undurchdringlich und wie hermetisch abgeschlossen. Ich sah wieder sein seltsam vergrößertes Gesicht vor mir und musste kurz an jene sonderbaren, entblößten Zwillingsschwestern zurückdenken, die wie Geister vor einer sepiabraunen Fotolandschaft gesessen hatten. Mir wurde ganz heiß im Gesicht. «Nun», begann ich, «Oscar erwähnte in einem Gespräch … das heißt, Oscar erwähnte mir gegenüber, dass es im Arcade bereits einen vergleichbaren Fall gegeben habe … na ja, dass es eine Möglichkeit gibt … nun, Oscar meinte, es sei durchaus möglich, einem Mitarbeiter ein kleines Darlehen zu gewähren, sozusagen als Vorschuss auf das Gehalt. Damit will ich sagen, Mr. Geist, ich würde mich für so ein kleines Darlehen interessieren. Das heißt, einen Vorschuss in bar.» Meine Worte klangen so falsch, wie ich mich selbst fühlte; ich hatte mich so sorgfältig auf das Treffen vorbereitet, dass in meinem Kopf nur noch Verwirrung herrschte, und fühlte mich deutlich unwohl. Wenn ich Oscars Namen erwähnte, könne das bei Geist wie eine Art Empfehlung wirken, hatte ich gedacht, doch ich hatte mich getäuscht. Er blickte mich mit seinen flackernden Augen an. Es trat eine längere Pause ein. Schließlich neigte er den Kopf. Der Zug um seinen Mund wurde streng und unangenehm, und ich stellte mir vor, dass 133
seine transparenten Augen sich langsam verhärteten, wie Wasser, das zu Eis gefriert. «Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie keine Staatsangehörige dieses Landes sind?», fragte er und setzte damit zu einer Befragung an, deren Sinn ich nicht recht verstand. «Das stimmt», gab ich verblüfft zu. «Und ich entnehme meinen Akten hier, dass Sie erst vor ein paar Monaten von Mr. Pike beim Arcade angestellt wurden?» Ich nickte zustimmend, mein Haar fiel nach vorne ins Licht. Etwas daran schien Geist zu irritieren. «Und Sie wohnen im Martha Washington Hotel für Frauen – einem, äh, Hotel für Durchreisende an der 29sten Straße Nummer neunundzwanzig?» Durch die Häufung von Zischlauten kam das Gesagte noch schneidender und grausamer herüber. «Ja», erwiderte ich verwirrt. Woher wusste er, wo ich wohnte? Hatte er auf meinem Bewerbungsbogen nachgeschaut? Er hielt inne. «Und meinen Sie, es lohnt sich, dieses Risiko mit Ihnen einzugehen? Sind Sie eine stabile Investition für Mr. Pike, Rosemary Savage? Haben Sie denn vor zu bleiben?» «Mr. Geist», erwiderte ich, «ich meine, eine vollkommen ergebene Mitarbeiterin des Arcade zu sein, ich liebe die Arbeit hier, und, äh, ich habe fest vor, hier und in dieser Stadt zu bleiben. Mr. Geist …» Ich zögerte, weil ich nicht wusste, was ich dem noch hinzufügen sollte. Wie konnte ich ihm bloß erklären, was das Arcade mir bedeutete? 134
Er schaute auf den Schreibtisch hinab und strich mit seiner blassen Hand über den Papierwust. Wieder fiel mir auf, wie schön seine Hände waren, die Finger, die sich ausbreiteten wie die gefächerten Schwingen eines kleinen Vogels, jedes Federchen für sich. Er bemerkte, wie ich seine Hand anschaute, beugte sich nach vorn und steckte sie in die Tasche. Dann schob er die Lupe noch ein Stück zur Seite. «Sie können aufhören, mich Mr. Geist zu nennen, Rosemary. Ich heiße Walter. Die meisten Angestellten nennen mich so.» Ich fasste dies als leichte Ermutigung auf, obwohl er es etwas ungehalten gesagt hatte. Solange ich ihn kannte, würde ich ihn kein einziges Mal Walter nennen. Die blauroten Gedanken huschten hinter seinen Augen hin und her, für mich ebenso unerklärlich wie der Verstand, dem sie entsprangen. Seine Stimme gebot höchste Aufmerksamkeit, während seine zischelnden Konsonanten den Zuhörer eher ablenkten; stets hatte man den Eindruck, er suche im Katalog seines Gehirns, zuerst nach dem richtigen Wort und dann nach der passenden Sprache. Doch da war auch etwas zutiefst Persönliches an seiner Stimme, etwas, das direkt zu mir sprach. «In der Tat scheinen Sie sich bei der Arbeit große Mühe zu geben, aber Mr. Pike ist kein großzügiger Mensch, Rosemary, wie Sie gewiss schon selbst gemerkt haben. Sicher wird er wissen wollen, warum wir Ihnen diesen Gefallen eigentlich erweisen sollen. Können Sie mir verraten, warum man Sie in dieser Hinsicht für ungewöhnlich oder außergewöhnlich genug halten 135
könnte, um eine Ausnahme zu machen? Warum sollte man ein Darlehen, über welche Summe auch immer, als gute Investition betrachten? Was bieten Sie denn als Gegenleistung?» Bei diesen Worten blickte er auf und schien mich mit seinem bleichen Wesen von Kopf bis Fuß zu mustern. Im Büro war es still bis auf ein leises Summen, das aus dem Arcade unter uns kam. Ich hatte seinen sorgfältig gewählten Worten gelauscht – die er würdevoll und gemessen vorgebracht hatte –, wonach ein Darlehen als Gefälligkeit betrachtet wurde und die Person, die sie erhielt, außergewöhnlich und ungewöhnlich zu sein hatte, eine «gute Investition». Seine Sprache und seine Worte waren immer sehr genau gewählt. Worauf genau wollte Walter Geist hinaus? Wollte er mich demütigen? Außerstande zu antworten, blinzelte ich nur und suchte in Gedanken nach etwas, das mich als Angestellte außergewöhnlich genug machen könnte, um mir George Pikes Vertrauen zu verdienen und ihn dazu zu bringen, mir das zu geben, was ihm im Leben am wichtigsten war – Geld. Beschämt saß ich da und schwieg. Langsam dämmerte mir, worauf er mit seiner Frage abzielte. «Ich bin nicht außergewöhnlich, Mr. …. Geist, wenn Sie mich das fragen.» «Aha.» Er lehnte sich zufrieden zurück. «In keinerlei Hinsicht außergewöhnlich?» Er machte eine Pause. Ich blinzelte. «Ich werde Ihre Bitte Mr. Pike vorlegen und Ihnen morgen seine Antwort mitteilen, Rosemary.» 136
Er bewegte seinen schmächtigen Körper im Bürostuhl und nahm die Hand aus der Hosentasche. Sein flauschiger Kopf war jetzt außerhalb des Lichtkegels der Lampe. Ein Moment verging. Er schob die Lupe über das Kassenbuch, das offen auf seinem Schreibtisch lag, und hackte wieder mit einem Finger auf die Tastatur seiner Additionsmaschine. Ich war entlassen. Oscar wartete unten an der baufälligen Treppe auf mich und fuhr sich unablässig über das Gesicht, das dunkle Haar vom vielen Streichen an seinen wohlgeformten Kopf geklatscht. Er kam mir vor wie ein Schauspieler, der hinter den Kulissen des Theaters steht und auf sein Stichwort wartet. Oscar war immer angespannt, als wäre er jederzeit bereit, seine Rolle aufzusagen. Seine Zurückhaltung war eine Form des Bereitseins. Er war immer in Habtachtstellung. Ein Außenstehender hätte denken können, es sei mehr zwischen Oscar und mir im Gange, als es jemals der Fall sein würde, denn schließlich wartete er auf den Ausgang meiner Unterredung wie jemand, der sich ganz eng mit den Interessen des anderen verbunden fühlt. Doch Oscar war nicht dazu in der Lage, mir etwas anderes zurückzugeben als die Spiegelung meiner eigenen Sehnsucht. Das hielt mich nicht davon ab, mehr zu wollen, aber ich würde irgendwann einsehen, dass es Oscar einfach an der Fähigkeit mangelte, mit anderen auf spürbare Weise eine Verbindung einzugehen. Stattdessen hatte er seine Nachforschungen. Und er hatte seine Notizbücher: das Sammelbecken seiner Sehnsüchte und die endlose Geschichte seines Verlusts. 137
Mir war immer noch ganz heiß im Gesicht, und ich war verwirrt. Gewiss war es ein schrecklicher Fehler gewesen, Geist um Hilfe zu bitten. «Und?», fragte Oscar, die Augen weit geöffnet. «Hast du es gekriegt?» Der Gedanke, aufs Spiel gesetzt zu haben, was mir so kostbar geworden war – die Welt des Arcade, ihre Bewohner, Oscar –, trieb mir die Tränen in die Augen. Ich wandte mich von ihm ab, und er folgte mir. Wir traten auf den Bürgersteig, und ich erzählte ihm zögernd, dass ich bis morgen nichts Näheres wissen würde, doch Geist sei meiner Bitte nicht besonders freundlich begegnet und habe angedeutet, ich sei nicht gerade eine gute Investition für George Pike. Auch gestand ich Oscar, ich hätte zugegeben, nicht außergewöhnlich zu sein. Oscar lächelte und versicherte mir, das sei eben Geists Methode, mich auf die Probe zu stellen, und dass Pike genau das von ihm erwarte. Ich fühlte mich gedemütigt und wusste, ohne den Grund zu begreifen, dass Demütigung genau das war, was Geist im Sinn gehabt hatte. Es war eine Provokation gewesen. Als wollte er mir meine Naivität vor Augen führen. Was hätte ich denn im Gegenzug zu bieten? Alles, was ich besaß, war mein mittelloses Ich. Hatte er damit gemeint, was ich geben könne? Einen Moment lang empfand ich für den Albino tiefen Ekel, der sich blitzartig in Scham verwandelte, was noch unangenehmer war. Es beunruhigte mich, dass ich überhaupt eine solche Bitte unterbreitet hatte, dabei hatte Oscar mich schließlich dazu ermutigt. Mir wurde aber bewusst, wie stolz ich auf meine Unabhängigkeit geworden war und 138
wie sicher ich mir war, für mich selbst sorgen zu können. «Ach, das hab ich für dich gefunden», sagte Oscar und reichte mir eine eselsohrige Ausgabe von Moby Dick. «Um dich ein bisschen aufzumuntern!» «Danke, Oscar», sagte ich, erfreut darüber, dass er mir etwas schenken wollte. «Aber ich glaube fast, für heute habe ich genug von Albinos.» «Folg deinen Interessen», sagte er, um mich an meine Faszination für das Thema zu erinnern. «Außerdem war Melville ein richtiger New Yorker. Betrachte es einfach als eine Art Reiseführer.» Ich ließ das Buch in meine Tasche gleiten. Draußen vor dem Arcade wölbte sich der dunkler werdende Himmel über der Stadt in einem unerklärlichen tiefen Blau, ganz vertraut und nah. Wir gingen bis zu der Straßenecke hinter dem Laden und überquerten die Avenue. Oscar berührte mich am Arm, was ich als aufmunternde Geste auffasste. Er sagte, ich solle mir keine Sorgen machen; er sei sich ziemlich sicher, Geist hätte mich gern, und das Darlehen würde ich bestimmt bekommen. «Er mag mich nicht, Oscar», beharrte ich. «Ich glaube sogar, er hasst mich. Er ist überhaupt so sonderbar und anders mir gegenüber. Er hat versucht, mich in Verlegenheit zu bringen.» Oscar verzog den Mund zu einem leichten Lächeln. Sein Puppenkopf war klar umrissen im Dämmerlicht, und der Ausdruck auf seinem Gesicht weckte Sehnsucht in mir. «Er ist komisch zu dir, weil er dich mag, Rosemary, 139
weil du hübsch und nett bist, und womöglich auch wegen deiner roten Haare. Und vielleicht, weil du so jung bist. Walter ist sehr einsam. Könnte sein, dass es für ihn einfach das Ende bedeuten würde, wenn er anfangen würde, freundlich zu sein. Begreifst du das nicht?» Mit diesen Worten drehte sich Oscar um, sagte mir noch über die Schulter hinweg, morgen würden wir mehr wissen, und ging zur U-Bahn-Station an der Ecke. Ich blieb zurück, erstaunt über das, was er gesagt hatte. Ich hätte gerne mit Pearl darüber gesprochen oder Lillian. Ich wünschte, Mutter könnte mir sagen, was ich von Oscar zu halten hatte, überhaupt, was ich von Männern halten sollte. Hatte mir Oscar etwa gerade gesagt, ich sei hübsch, oder bloß, dass Geist so dachte? Ich schaute seinem schmalen Umriss hinterher, wie er die Treppen zur U-Bahn hinunterstieg, bis sein weißes Hemd und seine schwarze Hose unter der Straße der Stadt verschwunden waren, und berührte die Stelle an meinem Arm, wohin er ganz kurz seine Hand gelegt hatte. «Oscar!», rief ich leise. Aber ich war allein auf der Avenue und schutzlos gegen die Nacht.
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Achtes Kapitel
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ch überquerte die Straße und ging Richtung Osten, um die Gegend zu erkunden, die hoffentlich meine neue Nachbarschaft werden würde. Wenn ich sie mir genauer anschaute, so könnte das, wie ich hoffte, meinem Pessimismus entgegenwirken, mich mit Hoffnung erfüllen und irgendwie die kleine Chance erhöhen, doch noch zu den finanziellen Mitteln zu kommen, die es mir ermöglichten, dorthin zu ziehen. Zu Fuß zu gehen hatte mir immer schon beim Nachdenken geholfen. Der Osten der Insel Manhattan, ganz an ihrem Ufer, war ebenso chaotisch wie das Arcade, doch traf man hier Gestalten an, die noch weiter am Rande der Gesellschaft lebten – Drogendealer, arme Immigranten, Hausbesetzer. Nur gelegentlich stellten eine Kunstgalerie oder ein kleines Café frühe Zeichen der Veränderung dar, die langsam jede Ecke der Stadt erfasste, einer Stadt der ewigen Verwandlung, der unendlichen Erneuerung. Mir gefiel das Viertel, denn es entsprach meinen neuen Ansprüchen und meiner beginnenden Vorliebe für die Boheme. Die Menschen hier schienen damit beschäftigt, aufs Trockene zu kommen, und waren doch am Ertrinken. Sie waren Waisen wie ich. Ich blieb vor dem heruntergekommenen Gebäude stehen, zu dem mich Jack und Rowena gebracht hatten, und schaute zum zweiten Stock hoch. Ich hatte keine Zuversicht mehr, und schließlich kehrte ich niederge141
schlagen ins Martha Washington zurück. Ich war mir sicher, den perfekten Platz gefunden zu haben, an dem ich leben wollte, und ebenso sicher, dass Walter Geist sich nicht für mich einsetzen würde. Ein Darlehen würde ich nicht bekommen. Lillian wurde immer noch vermisst; wieder saß der kleine Mann an der Rezeption und machte meine Sorgen nicht kleiner. Ich legte mich auf das schmale Bett, dachte über Oscar nach, über Geist und George Pike und das Arcade, und lauschte dabei dem monotonen Rumpeln der Autos, die eins nach dem anderen in das Schlagloch auf der Avenue fuhren. Wie konnte ich bloß dem Martha Washington entkommen? Mir fiel nur eine Möglichkeit ein – mit einem tiefen, schwindelerregenden Fall in ein Buch. «Es gibt keine bessere Medizin als ein Buch», sagte ich der Huon-Schachtel, die in ihren orangefarbenen Schal gehüllt war. Oscar würde mir mit Herman Melville Gesellschaft leisten. Offenbar waren alle an Melville interessiert, wenn man auf Pikes Telefongespräch etwas geben wollte. Manche Namen drängen sich einem förmlich auf. Ich stand auf, nahm die Ausgabe von Moby Dick aus meiner Tasche und hielt sie mir als Erstes unter die Nase, um festzustellen, ob sie etwas von Oscars typischem, sauberem Geruch angenommen hatte. Das Buch roch nach Sägespänen und nach Feuchtigkeit, aber ich wusste jetzt schon, dass ich Melville lieben würde, weil Oscar ihn mir gegeben hatte. Während ich ins Bett zurückkroch und den Schirm meiner Lampe verstellte, damit das Licht direkt auf die kleine Schrift fiel, überflog ich 142
das Inhaltsverzeichnis und wandte mich gleich dem Kapitel zu, das er erwähnt hatte. Kapitel 42: Das Weiß des Wales. Ich las der Schachtel aus Kernholz laut vor: Was ist es, das beim menschlichen Albino das Auge so eigentümlich abstößt und oftmals entsetzt, daß er bisweilen vom eigenen Fleisch und Blut verabscheut wird? Es ist jenes Weiß, das ihn prägt und in seinem Namen zum Ausdruck kommt. Der Albino ist so wohlgeformt wie andere Menschen auch – er ist durchaus nicht mißgestaltet –, und doch wirkt er durch seinen bloßen Anblick, sein alles durchdringendes Weiß, befremdlicher und scheußlicher als die häßlichste Mißgeburt. Wie mag das kommen?
«Ganz genau, so ist es. Aber warum?», fragte ich in den Raum. Ich fand Walter Geist weder befremdlich noch scheußlich, sondern nur seltsam. Und irgendwie dachte ich, dass das, was Melville sagte, nicht unbedingt so sein musste. Wo ich ihm allerdings zustimmen musste, war der Gedanke, das Weiße wirke wie Hexerei. Dann blätterte ich zum Beginn der Geschichte zurück und war rasch gefesselt von den Schilderungen des Waisen Ismael, einem Reisenden und einem Wanderer wie ich selbst in der Inselstadt der Manhattos. Nur dass Ismael von jener Insel zur südlichen Erdhalbkugel aufgebrochen war, zur wilden, fernen See, während ich die Reise in entgegengesetzter Richtung unternommen hatte. Ich war aus der wasserreichen Gegend der Welt hierhergekommen, in Ismaels nervöse Stadt. Ich hatte das Gefühl, sein Abenteuer sei meinem begegnet. In jener Nacht träumte ich von einem länglichen 143
Zimmer mit einer Badewanne in der Mitte. Das Zimmer endete in zwei Fenstern, sie blickten wie Augen mit harten Kanten hinaus auf einen Fluss, der sanft an der Unterkante der Fensterbretter leckte. Die Wanne war ein Boot aus Porzellan. Als ich hineinkletterte, konnte ich darin die Wand durchqueren und auf den Fluss hinausrudern. Mein einziges Gepäck war die Schachtel aus Huon-Holz, die ich mir unter den Arm geklemmt hatte. Im Traum wusste ich, dass ich Lillian finden würde, meine Mutter, meinen Vater – alles, was ich verloren hatte. Auf dieser Reise würde sich alles finden, was ich mir wünschte. Der Fluss mündete in ein Meer mit vielen kleinen leuchtenden Inselgrüppchen, Inseln aus Häusern, die aber bis zum höchsten Stockwerk im Wasser versanken. Ich ließ mich in der riesigen untergegangenen Stadt treiben, meine geschwungene Badewanne dümpelte in einer glitzernden See. Blinkende Leuchttürme standen an den Wasserstraßen und warnten mit ihren erleuchteten Fenstern vor den gefährlichen Stellen, die es zu umschiffen galt – verborgene Plätze mit wilden Strudeln, die den Unachtsamen verschlucken konnten. Mir ging durch den Kopf, dass die Inseln ja vielleicht gar keine Inseln waren, sondern die trügerischen Zarathans, von denen ich gelesen hatte, Wale, deren Geschäft die Täuschung ist. Ich paddelte heftig, doch die Wanne trieb weiter und weiter, wie aus der Ferne gelenkt, und es war mir unmöglich, ihren Kurs zu verändern. Mein Boot trieb Richtung Süden, während ich mich zurücklegte und in die hohe Wölbung des nächtlichen Firmaments schaute: ein Theaterhimmel, der in der 144
blauen Farbe der unergründlichen Augen meiner Mutter gestrichen war. Es war ein Himmel, in dem es spukte, voll dunkler, lebendiger Schatten, die die erleuchteten Gebäude der Stadt warfen; ein Himmel ohne Sterne, erhellt von zwei gleichen goldenen Monden, die ungerührt dabei zusahen, wie eine weiße Finne auf sie zutrieb, das dunkle Wasser durchstieß und immer wieder untertauchte. Am Tag darauf war Lillian immer noch verschwunden. Ich war im Arcade zu früh dran, weil ich nur wenig geschlafen hatte. Während ich auf der Straße stand und wartete, dass Pike den Laden aufschloss, zog ich meinen Moby Dick hervor. Das Buch fesselte mich so sehr, dass ich nicht mehr damit aufhören konnte, obwohl ich es eigentlich so langsam lesen wollte wie möglich. Ein paar Kunden trafen ein, und ich nickte einigen bekannten Gesichtern zu, die sich auf dem Bürgersteig versammelten. Ich fühlte mich ihnen mit einem Mal nahe, weil ich wusste, was das Arcade für sie bedeutete. Es waren ausschließlich Männer, diese zwanghaften Buchkäufer und Sammler, die erfüllt waren von der neurotischen Überzeugung, wenn sie es nur einen Tag versäumten, hierherzukommen, könne damit auch ein Buch verloren sein oder zumindest in den Händen eines anderen Käufers landen. Was für ein Leben führten sie? Das Arcade war für sie das erste Ziel des Tages, wo sie rasch vorbeischauten, um einen Blick auf die Neuzugänge zu werfen, die am Fuße von Pikes Plattform aufgestapelt lagen; eine obligatorische, tägliche Suche nach verborgenen Schätzen. Raffgier trieb sie an und Miss145
gunst – die beiden Ingredienzien einer jeden Passion, wie ich vermutete. Ich wünschte den Kunden, die ich kannte, einen guten Morgen und lehnte mich an das Schaufenster. Langsam wurde ich nervös, ich ließ meinen Moby Dick zurück in meine Tasche gleiten und legte meine Wange an das verschmierte Glas. Obwohl draußen die Oktobersonne am Himmel stand, war es dämmrig im Laden, und die dunklen Gänge zwischen den Regalen – diesen verstreuten Dörfern der Gattungen und hohen Städten der Themen – zogen mich so magisch an wie an jenem ersten Tag, als ich das Arcade entdeckt hatte. George Pike traf ein. Er zog ratternd das Sicherheitsrollo hoch. Als ich an ihm vorüberging, hatte ich den Eindruck, er sei noch herablassender zu mir als sonst, obwohl er mich bei den meisten Gelegenheiten eher gar nicht beachtete. Daraus konnte ich nur einen Schluss ziehen: dass ich wohl in absehbarer Zukunft nicht umziehen würde und dass ich ihn enttäuscht oder, schlimmer, verärgert hatte. Und dass ich so schnell gefeuert würde, wie ich damals angestellt worden war. Entsetzt von meiner eigenen Vermessenheit, ihn um Geld gebeten zu haben, müde vom langen Lesen und der unruhigen Nacht, ging ich direkt zur Damentoilette und schloss mich in die einzige Kabine ein. Kurz darauf kam Pearl herein, singend, schaute unter der Tür hindurch, und als sie meine Schuhe erkannte, bestand sie darauf, dass ich herauskam und ihr sagte, was denn los sei. Ich erzählte ihr, was passiert war. 146
Sie zog mich an sich, hielt mich in ihren gewaltigen Armen, meinen Kopf an ihre unwahrscheinlich feste Brust gepresst. Sie murmelte, sie würde mit Mario, ihrem italienischen Freund, sprechen, der haufenweise Geld habe und alles machen würde, worum sie ihn bat. Seit ich von zu Hause weggegangen war, hatte mich niemand mehr in den Armen gehalten, Chaps vielleicht, doch eher nüchtern, als wir uns am Flughafen verabschiedeten. Ich schluchzte laut auf. Von Pearl konnte ich mir kein Geld borgen – ihre Großzügigkeit, ihre Freundlichkeit machten alles nur noch schlimmer. Ich vermisste Mutter, Tasmanien, Chaps, mein gerade entstandenes Selbstvertrauen. Und wo war Lillian? Pearls Umarmung war köstlich und warm. Nach einer Weile legte sie Così fan tutte in ihren Recorder und bestand darauf, dass ich mich auf die Vinylcouch setzte und ein wenig zuhörte, bis ich mich besser fühlte. Dann hängte sie ihren Mantel in die Garderobe, überprüfte ihr Make-up und ging hinaus, um ihren Posten an der Kasse einzunehmen. Bemerkenswerterweise fühlte ich mich nach einer Weile tatsächlich besser. Zutiefst erleichtert, wusch ich mir das Gesicht, brachte meine Kleidung in Ordnung und verließ die Toilette, um nach Oscar zu suchen. Oscar war sich sicher, dass ich mir Pikes Gleichgültigkeit nur eingebildet hatte, zumindest sei sie sicher nicht größer gewesen als sonst. «Ich habe mit dem Buch angefangen, das du mir gegeben hast», erzählte ich ihm. «Es ist unglaublich.» «Ich vermute, du wirst dich in Ismael verlieben, wenn ich mir deine Geschichte anschaue», sagte er. 147
«Warum?» Er zuckte mit den Achseln, als seien alle meine Vernarrtheiten zwangsläufig und vorhersehbar. «Das ist was ganz anderes», erwiderte ich. Er blinzelte ausdruckslos. «Übrigens habe ich zuerst nach vorne geblättert und dieses schreckliche Kapitel über das Weiß des Wales gelesen.» «Seltsam, dass du es erwähnst», sagte Oscar mit gesenkter Stimme und wies mit dem Kopf in eine Richtung, in der jemand sich näherte. Geist kam in die Sachbuchabteilung. «Rosemary, würden Sie bitte hoch zu mir ins Büro kommen?», zischelte er leise. «Gleich.» Wieder folgte ich Geist, ich spürte, wie mir langsam das Herz in die Hose rutschte, und starrte auf seine nackten Meeresgetierohren, fragte mich, wie zart sie wohl waren. Nachdem mir die gestrige Demütigung noch gut in Erinnerung geblieben war, hätte ich mir durchaus vorstellen können, ihnen einen kräftigen Schlag zu versetzen, doch Melvilles Kapitel war nicht ohne Wirkung auf mich gewesen. Heute sehe ich, dass ich damals Folgendes in mein Notizbuch geschrieben hatte: Mag auch jedermann, wenn er in anderer Stimmung ist, im Weiß das Sinnbild alles Schönen und Erhabenen erblicken, so kann doch niemand leugnen, daß es in seinem tiefsten und vergeistigten Sinne die Seele mit einer eigentümlichen Erscheinung heimsucht.
Und eine eigentümliche Erscheinung war er in der Tat. 148
Geist setzte sich hinter den überladenen Metallschreibtisch. Sein Kneifer saß fest an seinem Platz. «Rosemary, ich habe Ihre Anfrage an Mr. Pike weitergeleitet. Er ist nicht geneigt, Ihnen ein Darlehen auf Ihren Lohn zu gewähren.» Mein Herz setzte einen Schlag aus. «Allerdings», fuhr er fort, «habe ich Mr. Pike nahegelegt, was für eine fleißige Angestellte Sie sind. Jemand, den bei uns zu behalten wir uns bemühen sollten. Den wir ausbilden sollten.» Geist räusperte sich, hielt inne und schaute mich bedeutungsvoll an. «Zu diesem Behufe möchte ich einen Kompromiss vorschlagen, der auch zum Inhalt hätte, dass wir Ihnen doch das Darlehen gewähren können.» «Ich bin mir nicht sicher, ob ich Ihnen folgen kann, Mr. Geist», sagte ich verwirrt. «Walter», erwiderte er. «Bitte.» «Sie sagten doch, Mr. Pike sei nicht geneigt, mir das Darlehen zu geben», wiederholte ich. «Wenn Sie mich bitte fortfahren lassen», sagte Geist. «Ich schlage einen Kompromiss vor. Einen Kompromiss, der Ihre Tätigkeit etwas verändern würde. Kurz gesagt, ich könnte eine Assistentin brauchen. Eine, die nur mir verantwortlich ist, meinen besonderen … Erfordernissen.» «Aber was hat das für Auswirkungen auf das Darlehen?», fragte ich. «Wenn Sie damit einverstanden sind, meine Assistentin zu werden, werde ich dafür sorgen, dass Sie das Darlehen bekommen.» 149
Jetzt musste ich besonders begriffsstutzig geschaut haben. «Aber was hat die Assistentinnenstelle mit dem Darlehen zu tun?» «Na, kommen Sie, Sie sind doch eine intelligente junge Frau. Entweder Sie sind einverstanden mit diesen Bedingungen oder nicht. Ich kann jetzt einfach einen gelben Zettel für Pearl schreiben, und Sie haben den Vorschuss. Alles, was ich verlange, ist, dass Sie damit einverstanden sind, direkt für mich zu arbeiten.» «Tut mir leid, Mr. Geist. Aber ich arbeite bereits für Sie. Sie geben mir Anweisungen, Sie sagen mir, in welcher Abteilung ich arbeiten soll. In welcher Weise würde sich das ändern?» «Es wird sich nichts ändern. Ich möchte einfach nur, dass Sie wissen, dass Sie meiner Autorität unterstehen, solange Sie hier arbeiten. Dass es meine Anweisungen sind, denen Sie Folge leisten. Dass Sie mir bei den Dingen assistieren, bei denen ich Sie brauche, dass Sie Sachen für mich anschauen. Das hier ist eine Art Beförderung, Rosemary. Langsam macht es mich etwas ungeduldig, dass Sie so lange zögern», sagte er und nahm einen Stift und einen gelben Zettel zur Hand, einen von denen, die auch die Kunden im Keller und im Raritätenraum erhielten, um ihn dann an der Kasse einzulösen. «Nun, auf welche Summe beläuft sich denn Ihre Bitte?» «Fünfhundert Dollar», sagte ich, peinlich berührt. «Gut. Aber einen solchen Betrag kann Pearl so früh am Morgen noch nicht auszahlen.» Er legte seinen Stift hin, öffnete eine Schublade unter seinem Schreibtisch, zog ein ledernes Täschchen mit Reißverschluss heraus 150
und zählte daraus fünfhundert Dollar auf den Tisch. Dann legte er sie auf ein bedrucktes Blatt Papier und schob beides über den Schreibtisch. «Was ist das?», fragte ich und überflog die blass ausgedruckten Zeilen. «Nur die Bedingungen für das Darlehen», sagte Geist, er lächelte jetzt. «Nichts Ungewöhnliches oder Außergewöhnliches.» Nichts Außergewöhnliches. Ich nahm das Geld entgegen – den Schlüssel zu meiner Befreiung aus dem Martha Washington. Er reichte mir mit seinen blassen Fingern einen Federhalter, und ich unterschrieb die Vereinbarung. Nachdem ich meine Unterschrift geleistet hatte, erhoben wir uns im selben Moment, wie auf Kommando. «Sie werden schon sehen», sagte er. «Das wird wunderbar klappen. In gewisser Weise habe ich Sie ja gerettet.» «Gerettet?», wiederholte ich mit einem unguten Gefühl. «Wovor?» «Nun, vor dem Springen», sagte er. «Ist doch nervtötend, finden Sie nicht, immer nur hin und her zu springen und nicht zu wissen, was von einem erwartet wird? So jedoch, unter meiner Anleitung, werden Sie lernen, wie man hier alles richtig macht.» Ich liebte es, im Arcade Springerin zu sein, und hatte eigentlich nie etwas anderes tun wollen. Aber ich sagte nichts, weil das unmöglich war. Vor allem war ich erleichtert, dass ich jetzt das Geld hatte, umzuziehen. Er folgte mir zur Tür des Büros. Auf der Schwelle zum Treppenabsatz legte Walter 151
Geist die Hand auf meinen Rücken und ließ sie dort einen Moment länger liegen, als es die Höflichkeit gebot. Ich spürte die Wärme seiner Hand auf meiner Haut, und das Gefühl überraschte mich. Ich hatte angenommen, seine Hand würde kalt sein, weil seine bleiche Haut auch eine Art Blutarmut vermuten ließ. Es war das erste Mal, dass er mich berührte, und wenn ich daran zurückdenke, erinnere ich mich auch an die Wärme der Berührung – seine warme Hand, die ich durch den dünnen Stoff meines T-Shirts spürte. «Rosemary», sagte er leise. Ich sagte nichts, sondern ging die Treppe hinunter, schob das Geld tief in meine Tasche und ließ Geist auf dem Treppenabsatz stehen. Lillian saß vor dem kleinen Fernseher und schaute mit ihren Ohrstöpseln fern, als wäre sie nicht gerade mehrere Tage verschwunden gewesen. Ich hatte für sie ein Buch aufgetrieben: spanische Lyrik, die ein Rezensent uns zum Verkauf angeboten hatte, eine zweisprachige Ausgabe von Garcia Lorca. «Wo bist du denn gewesen?», fragte ich sofort. «Ich hab mir solche Sorgen um dich gemacht!» «Ich war krank», sagte Lillian, ohne mich anzusehen. Sie sprach mit ungerührter, tonloser Stimme. «Ich habe versucht, wieder nach Hause zu fahren. Ich habe meinem Bruder gesagt, er soll es dir sagen.» «Was? Gar nichts hat er mir gesagt», erwiderte ich. «Du hast versucht, zurück nach Argentinien zu kommen? Warum? Sie haben einen anderen Mann hier auf deinen Posten gesetzt, und er wusste von nichts.» 152
Lillian erwiderte leidenschaftslos meinen Blick. Sie nahm ihre Ohrstöpsel heraus. «Da, ich habe dir noch was zum Lesen mitgebracht.» Ich reichte ihr das schwere Buch. «Es ist auf Spanisch und Englisch. Ich dachte, vielleicht gefällt es dir. Garcia Lorca – ich weiß nicht, ob es etwas ausmacht, dass er Spanier ist. Lillian, ist mit dir alles in Ordnung? Ich hab mir Sorgen um dich gemacht.» «Mach dir keine Sorgen um mich.» «Doch.» «Kümmer dich nicht um mich.» «Doch, Lillian. Ich kann gar nicht anders. Du, hör mal, ich muss dir was erzählen.» «Nein», sagte sie und schüttelte den Kopf. «Was?» «Erzähl es mir nicht, Rosemary. Ich möchte mich nicht kümmern.» «Ich versteh dich nicht, Lillian. Um was möchtest du dich nicht kümmern? Um mich?» Langsam ging mir Lillians schräge Sprechweise auf die Nerven. «Ist das ein Abschiedsgeschenk?», fragte Lillian, nahm das Buch, schlug es aber nicht auf. Sie sah mich scheu und argwöhnisch an, als rechnete sie mit einer Enttäuschung. «Du gibst auf? Gehst zurück? Dann will ich das hier nicht.» Sie schob mir das Buch wieder hin. «Nein, Lillian, ich gehe nicht nach Tasmanien zurück. Aber ich habe eine Bleibe gefunden und ziehe in ein paar Tagen dorthin um.» Ich schob das Buch wieder zurück über den Tresen. 153
«Nein!», rief sie plötzlich ganz lebhaft. «Ich seh dich nie wieder! Dann bist du auch verloren …» «Auch, Lillian? Wer ist denn noch verloren?» «No quiero acordarme», sagte sie. «Und das bedeutet, Lillian?» Sie gab keine Antwort. «Ich habe eine kleine Wohnung für mich gefunden. Du kannst mich besuchen kommen. Wenn ich erst ein paar Möbel habe, lade ich dich zum Essen ein. Und ich komme dich hier besuchen.» «Woher hast du das Geld, um dorthin zu ziehen? Gespart?» «Na ja, ein bisschen was hatte ich gespart, und dann … mach dir keine Sorgen, Lillian, ich hab’s hingekriegt.» «Du sollst hier nicht weg. Ich möchte, dass du bleibst. Bitte. Du musst es mir versprechen, bei deiner Ehre.» «Lillian, was ich dir verspreche, ist, dass ich dich weiter sehen werde.» Ich nahm ihre Hand und hielt sie über den Tisch hinweg fest. «Mach dir keine Sorgen. Es gibt keinen Grund.» Lillian schüttelte den Kopf, aber sie sagte nichts mehr. Eine Woche später bestellte ich mir eines der typischen New Yorker Taxis mit dem schwarzweißen Karo und zog in das kleine Apartment um. Lillian kam bis zu der schäbigen Markise des Martha Washington hinaus, um mir zuzusehen, wie ich den Kofferraum des Taxis belud, aber helfen wollte sie nicht. Ich bezahlte Jack, und mit 154
dem, was übrig war, kaufte ich mir bei einem FutonLaden ein paar Blocks weiter einen Lattenrost mit Matratze. Auch für Putzutensilien musste ich einiges anlegen. Brunos und Jacks Angebot, mir zu helfen, hatte ich abgelehnt, und so verbrachte ich zwei Abende mit Putzen. Allein für die Badewanne mit den Löwenfüßen brauchte ich fast einen ganzen Abend, bis sie vor der unverputzten Ziegelwand funkelte und glänzte. Ich würde in der kleinen Nische schlafen, Mutters Asche stellte ich ans Kopfende des Bettes. Ich sagte mir, dass sie stolz auf mich sein würde, was ich geschafft hatte, und machte mit ihrem Foto einen Rundgang, um ihr alles zu zeigen. Dann richtete ich mich ein. Das meiste hatte ich von der Straße gerettet, alte Möbel, die ich mit nach Hause genommen hatte. Ich wienerte und schrubbte sie und machte sie so zu meinem Besitz. Ein zerbrochenes Bücherregal aus dunklem, gebeiztem Holz reparierte ich und bestückte es mit den wenigen Büchern, die ich im Arcade erworben hatte. Meine Lieblingsbücher waren die Erziehung des Herzens, das in Chartreuse-Seide gebunden war (Oscar hatte die Bindung besonders bewundert); meine eselsohrige Ausgabe von Moby Dick; ein Taschenbuch über Mythologie, das ich von dem Tisch mit den Ein-Dollar-fünfzig-Büchern im Arcade gefischt hatte; einen Penguin-Classics-Band von Henry James’ Porträt einer Dame; und dazu der Borges, der laut Lillian meine Lücken füllen sollte. Meine Kladde der Großstädte, die ganz dick war von all den Zeitungsausschnitten und Basteleien, lag quer im unteren Regal und nahm fast das ganze Brett ein. Mutters Foto stand oben. 155
Auch Chaps’ geheimnisvolles Büchlein war noch da, immer noch eingewickelt in das blaue Ladenpapier. Doch ich wollte das Geschenk erst in einem wirklich verzweifelten Moment auspacken, und so, wie die Dinge lagen, konnte ich mir nicht vorstellen, dass ich es in der nächsten Zeit brauchen würde. Außerdem hatte ich das Päckchen, wie es war, liebgewonnen und fragte mich gar nicht mehr, was wohl darin war. Es war jetzt ein Objekt für sich, eingewickelt und namenlos, auf meinem reparierten Buchregal. Die Bücher, die wir auf unserem ersten Bücherregal als Erwachsene stehen haben, erzählen von unseren Vorhaben. Und wenn ich an meine wenigen Bände von damals zurückdenke, so lässt sich daran erkennen, wie eifrig der Autodidakt um seine Bildung rang, wie unvollständig Bildung doch immer bleibt. Und wie illusorisch der Gedanke, man könne Wissen überhaupt anhäufen. Ich schleppte einen fleckigen, gepolsterten Sessel von der Straße hoch, hievte ihn in kleinen Schritten die geflieste Treppe hoch und warf einen hellen Stoff aus einem Stoffladen darüber, den mir Oscar empfohlen hatte. Im selben Laden erstand ich auch ein paar Reststücke und nähte mir daraus mit der Hand Kissen in Rot, Orange und Blaugrün. Auch Vorhänge für die beiden Vorderfenster fertigte ich an und ersetzte den Trennvorhang durch eine Blende aus rosafarbener changierender Seide, den Überresten eines wesentlich größeren Stückes, aus dem man vielleicht einmal einen Sari hatte machen wollen. Ich strich das Waschbecken an der hinteren Wand 156
dunkelblau; kaufte eine Leselampe und einen grünen Wecker mit einem schlichten Zifferblatt, wie auf einer Kinderzeichnung, eine Uhr, die mit ihrem lauten Ticken keinen Zweifel daran ließ, dass die Zeit verging. Jacks Freund hatte einige kleine Töpfe zurückgelassen, ebenso etwas nicht zusammenpassendes Geschirr und Gläser, alle ein wenig schmutzig, in dem Schränkchen unter dem alten Porzellanwaschbecken. Da ich schon immer gerne Krimskrams und Nippes gesammelt hatte, breitete ich meine Schätze auf den beiden breiten Fensterbrettern aus. Auf dem müllübersäten Grundstück einen Block weiter hatte ich ein paar hübsche Steine und eine gebogene Scherbe aus kobaltblauem Glas gefunden. Auch ein großes braunes Blatt aus meinem Park hatte ich aufgehoben und in einem Trödelladen einen getrockneten Seestern und eine hübsche Emailleteekanne erstanden, die allerdings nur zum Anschauen war. (Ihre Tülle war nicht richtig angebracht und leckte.) Neben die Teekanne stellte ich einen kleinen Salzstreuer in Form eines kubistischen Hundes, der mir leidtat, weil er seinen Pfefferkameraden verloren hatte, und eine violettschimmernde Vase, die einen langen Riss hatte, doch in der Form an eine Anemone erinnerte. Sie war hässlich, aber schließlich gelten hässliche Objekte allgemein als die tapfersten. Jedenfalls machten all diese komischen Dinge mir Mut. Ich hatte Mutter äußerlich nie geähnelt, doch hatte ich etwas von ihrem besonderen Auge für Formen und Muster geerbt, und so ist das kleine Apartment von damals 157
mit all den kleinen Dingen, auch wenn es sich nur um Zusammengesuchtes und größtenteils Weggeworfenes handelte, ein Abbild von mir selbst. Besonders meines Optimismus. Ich hatte mir ein helles, farbiges Zuhause geschaffen, das offen und überraschend warm wirkte – obwohl ja ausgerechnet die Wärme darin fehlte. Schließlich hängte ich gegenüber dem Lehnstuhl einen großen, dunklen Spiegel mit abblätternder Silberbeschichtung auf, den ich im Trödelladen gefunden hatte. So konnte ich mir, wenn ich las, selber Gesellschaft leisten, mich von der Wand aus beobachten und meine eigene Existenz bestätigen. Der alte Spiegel wellte sich wie die Oberfläche eines Teichs. An einsamen Tagen, wenn ich mich morgens zurechtmachte, kam es mir manchmal so vor, als gäbe es noch eine andere Bewohnerin des Apartments, die immer vor mir zurückwich, sodass oft nur noch ein Schimmer ihres roten Haars über der abgewandten Schulter zu sehen war. Dieses andere Mädchen zog sich zurück. Sie ging weg, wollte nicht in die Stadt hinaus, die im Licht des Spätherbstes leuchtete, sondern zurück in den Spiegel, wo sie alleine sein konnte und es immer Nacht war. «Sag mal, Mädchen, du weißt doch, was für eine Art Mann Oscar ist, oder?» Pearl schaute mich besorgt an. Sie saß auf der abgeschabten Couch in der Damentoilette und sah mir dabei zu, wie ich mir die Haare bürstete. Ich hatte ihr erzählt, dass ich Oscar bitten wollte, in der Mittagspause ein Sandwich mit mir essen zu gehen. «Hast du mich gehört, Rosemary? Hast du meine Frage verstanden?» 158
«Du meinst, dass er nicht die Sorte Mann ist … nicht die Sorte Mann, die, die … Frauen lieben kann?», antwortete ich zögernd und wurde rot. «Genau das meine ich, ja.» Pearl lachte. «Überhaupt nicht die Sorte Mann!» Sie ahmte meinen Akzent nach. «Aber», zog ich sie auf, «du bist auch nicht die Sorte Mann!» Pearl warf die Arme hoch und brach in schallendes Gelächter aus. «Ich bin überhaupt keine Sorte Mann, Rosemary, mein Kind. Das hier ist keine Hosenrolle. Vergiss das nicht!», lachte sie und kickte neckisch mit ihrem Stiletto-Fuß in meine Richtung. Ich bewunderte ihr langes, braunes Bein. «Schau mal, Schatz», sagte sie. «Ich möchte einfach nicht, dass du denkst, Oscar könne dir in dieser Hinsicht etwas bieten. Und jeder sieht, dass du ganz schön in ihn verschossen bist. Und, na ja …» «Du wolltest einfach nur dafür sorgen, dass ich die Situation richtig einschätze», beendete ich den Satz für sie. Pearl war so lieb zu mir, so schwesterlich. «Ich weiß, Pearl, ich bin ja nicht blöd.» Sie sah nicht sehr überzeugt aus. «Aber was meinst du damit, jeder könne sehen, dass ich in Oscar verschossen bin?», wollte ich wissen. «Glaubst du, andere Leute haben das gemerkt?» Pearl kicherte wieder. «Die lassen dich doch alle nicht aus den Augen, Liebes. Die beobachten dich. Such dir einen aus, Rosemary, aber Oscar kannst du einfach nicht haben. Er ist nicht 159
dafür gemacht, zu lieben. Aber ich würde mal Walter Geist beobachten, wenn ich du wäre», sagte sie. «Geist hasst mich, Pearl» sagte ich. «Aber ich soll jetzt seine Assistentin werden, weil er mir das Geld geliehen hat, also werde ich mich wohl an ihn gewöhnen müssen.» «Mit Hass hat das bestimmt nichts zu tun, Rosemary, das kann ich dir sagen. Sei auf der Hut, Mädchen! Ich kann die Besessenheit förmlich riechen. Und was heißt eigentlich Assistentin? Was hat das mit der Kohle zu tun? War die Anleihe nicht von Pike?» «Geist möchte, dass ich ihm aushelfe, Pearl. Dass ich nur für ihn zuständig bin.» «Das hat er dir gesagt?» Sie zog ein Gesicht. «Was ist los, Pearl?» «Ich würde bloß gerne wissen, was dieser weiße Mann im Sinn hat.»
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Neuntes Kapitel
O
scar, altes Haus, man sieht Sie gar nicht mehr. Wie geht es denn so in der Sachbuchwelt, der Welt der Tatsachen, in der es keine Hirngespinste gibt?», fragte Mr. Mitchell. «Der richtigen Welt eben», fügte er kichernd hinzu. Oscar sah etwas gequält aus. Er und ich standen draußen auf der Straße. Ich wartete auf eine Lieferung, Oscar war auf dem Weg zu seinem Mittagessen – allein. Mr. Mitchell tippte zum Gruß an seinen Hut (dessen Bezeichnung mir sofort einfiel, auch wenn ich nicht die Größe einschätzen konnte). Er murmelte: «Mein Kind», und mir wehte ein Hauch Vanillepfeifenrauch und Rum entgegen. Ich liebte es, wenn man mich «mein Kind» nannte. «Gut, Mr. Mitchell», erwiderte Oscar. «Hab Ihren Ladendieb schon über einen Monat nicht mehr gesehen. Jetzt kann ich mich ein bisschen entspannen.» «Ich hab ihn auch nicht mehr gesehen», sagte ich und dachte an den Tag zurück, als Redburn und ich zusammen Pikes Gespräch mit angehört hatten. «Gut. Gut. In meinen Gefilden oben auch nicht, obwohl es da einen geheimnisvollen neuen Sammler gibt, den ich Ihnen gerne mal vorbeischicken würde … müsste heute wieder kommen. Haufenweise Geld und hervorragenden Geschmack. So ähnlich wie dieser Mr. Gosford, den wir uns schon die ganze Zeit teilen.» 161
«Gosford gibt sein Geld bei Ihnen aus und nicht bei mir», sagte Oscar lächelnd. «Ich glaube nicht, dass man sagen könnte, wir teilen ihn uns. Gerade letzte Woche erst hat er mir gesagt, er sammelte seltene Bücher, nicht bloß irgendwelche alten Schinken.» «Das hat er gesagt?», fragte Mr. Mitchell und ahmte dabei Oscars Ton nach. «Dann ist er doch eigentlich gar kein richtiger Sammler, oder? Wie kann man so was Albernes sagen! Bloß selten, und alt ist nicht gut genug?» «Wovon ist hier eigentlich die Rede?», mischte ich mich ein. «Warum ist er kein richtiger Sammler?» «Oscar hätte viel für Gosford, mein Kind. Aber der Mann sammelt nach Preis, nicht nach Wert. Nach Kosten, nicht nach Wert, wenn Sie verstehen, was ich meine. So, als beurteilte man einen Edelstein nur danach, wie schwierig es war, ihn zutage zu fördern.» «Irgendwie kann ich da nicht recht folgen», sagte ich. War das denn nicht genau die Methode, nach der der Wert eines Steins bestimmt wurde? Ich kannte den Sammler, Mr. Gosford, und erinnerte mich an den Beckett, den er damals für l0000 Dollar erstanden hatte – eine Summe, die mich damals erstaunt hatte, obwohl sie für etwas aus dem Raritätenraum eher gering war. Seither hatte ich ihn mehrere Male nach oben begleitet, wenn Bruno oder Jack bei Pearls Rufen nicht schneller gewesen waren als ich. Gosford war ein hochmütiger Mann, der im Fahrstuhl meistens schwieg. Offenbar war ich in seinen Augen keiner Beachtung wert. Oft stöberte er in Oscars Abteilung. Wie begierig musste jemand sein, um im Arcade die Bezeichnung «Sammler» zu erhalten? 162
«Für den wahren Sammler ist die Erwerbung eines alten Buches dessen Wiedergeburt», zitierte Oscar selbstbewusst und zugleich zerstreut. «Ein richtiger Sammler ist in gewisser Weise ein Verrückter», sagte Mr. Mitchell, an mich gewandt. Offenbar sah er die Gelegenheit für eine kleine Unterweisung gekommen. «Das soll nicht heißen, dass ich verrückt bin, oder Oscar oder Pike, um Himmels willen, nein. Wir sind Männer der Praxis. Und wir sind seriös.» Er lächelte. «Aber wir bedienen die Spinnereien der anderen, nicht wahr, Oscar?» «Ich denke, Sie meinen, Büchersammeln ist nur dann bedeutsam, wenn es einem persönlichen Verlangen entspringt», erläuterte Oscar. «Wenn dagegen nur das Geld und nicht die Sammlung vermehrt werden soll, dann ist es nicht richtig. Sammler versuchen sich selbst zu schützen. Sich von anderen fernzuhalten. Es ist eine Hierarchie. Und das ist es auch, was ich Gosford vorwerfe – in gewisser Weise ist mir Redburn lieber, der die Bücher stiehlt, denn da weiß ich wenigstens, dass sie ihm etwas bedeuten. Er geht ein Risiko ein, um das zu kriegen, was er will.» Ich erinnerte mich an Redburns Frage, ob es mir egal sei, wenn die Bücher, die er verkaufte, gestohlen seien. Aber Oscar konnte das doch nicht egal sein? Immerhin war ein Sammler kein Dieb. «Lassen Sie das bloß nicht Pike hören, alter Knabe! Er schilt mich immer noch gern wegen der Episode mit Redburn», sagte Mr. Mitchell. «Aber natürlich hat Pike seine eigenen Vorstellungen von Besitz.» 163
Er breitete kumpelhaft die Arme aus. «Aber das soll nicht eure Sorge sein, meine Lieben. Unsere Aufgabe ist es, ein Zuhause für die Bücher zu finden, in der Hoffnung, dass man sie dort so liebt, wie sie von uns geliebt wurden. Mir bricht es bei jedem Verkauf das Herz; aber es heilt schnell, wenn das Buch durch einen unerwarteten Neuzugang ersetzt wird. Ich muss einfach immer wieder neu lieben lernen, wie ich oft zu Mrs. Mitchell sage.» Er kicherte über sein eigenes Witzchen. «Nach immerhin fast fünfzig Jahren ist mir meine Beziehung zu Büchern immer noch schleierhaft, aber weil ich eine eigene Sammlung habe, weiß ich, dass Besitz die intimste Bindung ist, die wir mit einem Objekt eingehen können.» Er senkte die ausgebreiteten Arme wieder und kramte in seiner Jacke nach den Pfeifenutensilien. Oscar rollte mit den Augen, als Mr. Mitchell gerade nicht hinsah, und machte mit Daumen und Fingern eine sprechende Schere, um mir zu zeigen, was er von Mr. Mitchells kleiner Lektion hielt. Ich lachte, weil ich bei Oscars Geste wieder an den Kakadu denken musste, an den Mitchell mich erinnerte. «Alle Sammlungen, Rosemary, versuchen, der Zeit ein Schnippchen zu schlagen», fuhr der alte Kakadu fort, dem sein Thema immer besser zu gefallen schien. «Die Zeit anzuhalten. Sie unter Kontrolle zu bringen. Das kommt der Unsterblichkeit am nächsten, was natürlich die reine Ironie ist. Denn der Sammler ist physisch, will heißen, seine Existenz ist zeitlich begrenzt. Der Sammler, liebes Mädchen, ist eine Figur wie ein Kind, ein Gefangener der ewigen Gegenwart. Aber Sie 164
sind zu jung und zu klug, um die Bedeutung solcher Dinge zu verstehen. Und es sollte Ihnen auch egal sein.» Er lächelte. Mercer, der Postbote, kam in diesem Moment um die Ecke und wollte das Arcade durch die Vordertür betreten. Mr. Mitchell witterte eine Gelegenheit, tippte sich schnell an den Hut und ging rasch durch den Südeingang hinein. «Der findet auch kein Ende», spottete Oscar. «Ein Gefangener der ewigen Gegenwart!», äffte er ihn nach. «Was für ein Käse! Diese kleinen Vorträge sind dermaßen nervtötend! Du solltest dich wirklich nicht so von ihm bevormunden lassen, Rosemary.» «Ich glaube, er ist die erstaunlichste Person, die mir je begegnet ist», schwärmte ich. «Das liegt bloß daran, dass du so wenige Personen kennst.» Natürlich bevormundete mich Oscar selbst, aber das fiel mir damals offenbar noch nicht auf, und egal war es mir auch. Ich fand sie beide faszinierend und studierte sie wie eine neue Spezies, denn das waren sie für mich. Meinte Mr. Mitchell denn, ich hätte keine Ahnung von der Zeit? Oder vom Tod? Dachte ich nicht Tag für Tag an meine Mutter? Und ich hatte selbst meine wertvollen Dinge, meine eigene bescheidene Sammlung auf den Fensterbrettern. Offenbar wusste wirklich jeder im Arcade mehr als ich, was jede Runde «Wer weiß das schon?» bestätigte. «Mr. Mitchells Hut ist ein Trilby», sagte ich, um wenigstens in einem Bereich meine Kennerschaft unter Beweis zu stellen. 165
«Benannt nach dem Roman von Du Maurier, später zu einem Stück verarbeitet», sagte Oscar. «Du meinst Rebecca?» «Nein, Rosemary. George Du Mauriers Trilby. Nicht Daphne. Das war seine Enkelin. Trilby machte außerdem den Namen Svengali gebräuchlich. Du siehst, es geht immer um Macht, um Kontrolle …» Und er ließ sich wieder hinreißen, obwohl er wusste, dass ich ihm nicht würde folgen können. Dabei wollte ich ihm so gerne folgen, wohin auch immer er sich begab. «Gehst du jetzt Mittag essen?», unterbrach ich ihn. «Ja», sagte er, irritiert. «Und dann muss ich noch zum Schneider. Ich lasse mir meine Hemden anfertigen, weißt du. Das habe ich mir irgendwann angewöhnt. Früher hat meine Mutter sie mir immer geschneidert.» «Ich vermute, da bist du sehr eigen», sagte ich. «Ja, bin ich.» Er fuhr sich mit der Hand durch sein dunkles, dünner werdendes Haar. «Ich weiß ganz genau, was ich will.» «Und was ist das?», fragte ich neugierig. Seine Hemden waren schön, dabei waren sie immer einfach nur weiß. Wie viele Besonderheiten konnte es bei einem schlichten weißen Hemd geben? Denn nichts an Oscar war schlicht. «Wenn du es unbedingt wissen willst, Rosemary», seufzte er. «Meine Hemden werden aus hundert Prozent reiner ägyptischer Baumwolle gemacht, die eigentlich ganz leicht zu bekommen ist, aber ich möchte eine Fadenzahl von hundertsechsunddreißig pro Inch. Ich möchte extra lange Hemdschöße und einen zweiteili166
gen, handgewendeten Kragen.» Er fuhr sich mit der Hand unter den Kragen, wandte mir den Rücken zu und fuhr fort: «Die Schulterpartie muss doppelt genäht sein, und weil ich schlank bin, wird immer nach Maß geschneidert.» Er drehte sich wieder um und schaute mich an. «Ich bestehe auf Schweißbändern, damit der Saum glatt bleibt, und möchte, dass alles im Einnadelstich genäht wird. In der ganzen Stadt gibt es nur einen einzigen Schneider, der das ordentlich und zu erschwinglichen Preisen macht.» Meine Überraschung stand mir offenbar ins Gesicht geschrieben – nicht nur darüber, dass das alles nur ein einziger Schneider in der Stadt konnte, sondern auch über die ganzen Details. «Ja, überraschend, nicht wahr», sagte er, weil er meinen Gesichtsausdruck falsch interpretierte. «Man würde doch eigentlich denken, jeder sagt einfach genau, was er will, und es gebe Hunderte von Schneidern, die diese Anforderungen erfüllen. Aber die meisten Leute wissen nicht, was sie wollen, Rosemary. Während ich das ganz genau weiß.» «Komm her, du tasmanischer Teufel», rief Arthur aus der Festung seiner Kunstabteilung heraus. «Ich wünschte, du würdest mich nicht so nennen», sagte ich wohl zum hundertsten Mal. «Ich habe dir gesagt, am Anfang mag es noch ganz lustig gewesen sein, aber jetzt nicht mehr. Ich habe überhaupt nichts mit diesem Namen zu tun.» «Warum magst du ihn denn nicht?», fragte er. «Ich dachte, mit deinem vielen roten Haar müsstest du daran 167
gewöhnt sein, dass man dich als Teufelchen bezeichnet.» «Nicht alle denken so wie du, Arthur.» «Ach je, jetzt gibst du aber schnell klein bei», sagte er selbstgefällig. «Wenn in Australien jemand rote Haare hat, nennt man ihn Blue. Da wird eben alles auf den Kopf gestellt.» Auch sein Spott funktionierte so, denn er nannte mich «Teufel», weil er mich für anständig hielt. Aber ich mochte Arthur gern. Während wir plauderten, half ich ihm, überschüssige Exemplare eines großen Buches über einen Maler namens Soutine wegzupacken – alles voller Blut und Fleisch, immer aus umgedrehter Perspektive gemalt. «Rot ist gleich blau – das leuchtet mir ein», bemerkte Arthur. «Wie Alice im Wunderland. Im Allgemeinen mag ich Spitznamen. Na ja, einige. Weißt du, wie mich Mitchell hinter meinem Rücken nennt?» Er hielt inne und schaute mir ins Gesicht. Eine dünne Schweißschicht stand ihm auf der Stirn. Er sah aus wie ein überdimensionaler, aber gutwilliger Zwerg. «Alle denken sich hier ständig Namen aus, besonders Mr. Mitchell. Woher willst du wissen, wie er dich insgeheim nennt?» «Das hat mir dein herzallerliebster Oscar verraten. Manchmal plaudern wir ein bisschen miteinander, aber nicht so oft, wie ich es mir wünschen würde. Dieser schlaue alte Glatzkopf, Mitchell, trinkt gerne einen über den Durst, weißt du, und ein bisschen grausam ist er auch. Oscar hat mir gesteckt, dass er mich Ab-Art nennt.» 168
«Was? Ich bin mir sicher, dass das nicht stimmt!» Ich konnte nicht glauben, dass Oscar und Mr. Mitchell so reden würden. «Das stimmt, TT», lachte Arthur. «Du kannst es wohl kaum glauben, was?» «Ist es, weil du so … so korpulent bist?» «Fett, Rosemary. Ich bin abartig fett, nicht korpulent.» Er ahmte meine Betonung des Wortes «korpulent» nach. «Von meinen anderen Un- und Abarten ganz zu schweigen.» «Das ist nicht lustig», sagte ich. «Na ja, wenn’s um jemand anderen gehen würde, fände ich es vielleicht ganz witzig. Aber es geht um mich, und ich bin entsetzt darüber, wie unsensibel Mitchell sein kann. Obwohl es mich nicht überrascht.» «Es ist grausam, Arthur, und du darfst dir das nicht zu Herzen nehmen», sagte ich. Mit einem Mal ließ er sich auf einen Stapel Bildbände über Innenarchitektur fallen und rülpste hinter vorgehaltener Hand. Arthur plagten ständig Verdauungsstörungen. «Grausamkeiten bin ich gewohnt, Rosemary. Du hast sicherlich gemerkt, dass es eine ganze Reihe von Leuten hier im Arcade gibt, die Grausamkeit gewohnt sind.» Er rülpste noch einmal. «Ich meine, schau dir doch nur mal Geist an, und sogar den bewundernswert eigenwilligen Oscar. Und dann ist da Pearl – Mensch, Hermaphroditen gibt’s doch nur im Märchen! Diese Leute wissen alle, was es heißt, wenn man grausam zu ihnen ist.» «Aber sie sind selber nicht grausam», sagte ich über169
zeugt. «Das ist der Unterschied. Deshalb ist hier auch jeder sicher.» «Da würde ich mich nicht drauf verlassen. Grausamkeit kennt jeder, auf die eine oder andere Weise.» «Was meinst du?» «Schau mal, mein tasmanischer Teufel …» «Hör endlich auf damit!», rief ich. «Okay!» Er hob die Hände, als wollte er sich ergeben. «Aber du solltest nicht darauf bestehen, nur das zu sehen, was du sehen willst. Versuch diesen Ort hier als das zu betrachten, was er ist.» «Und was ist dieser Ort, Arthur?» «Na, ein Buchladen, aber auch ein Reliquienschrein für die Gebeine seltsamer Kreaturen. Meerjungfrauenschwänze, die Hörner von Einhörnern … diese Sachen eben. Hier hast du einen wunderbaren Einblick in die Naturgeschichte.» Er wandte seinen großen Kopf und sah sich um. «Die Bücher dienen dazu, das Normale auszufiltern. Das Wirkliche. Und wir haben uns in der Isolation weiterentwickelt, wie die Gattungen auf Galapagos. Wir sind Isolatos – Inseln auf einer Insel, wie die Insel, von der du kommst …» «Hör auf, Arthur, du bist schon komisch», sagte ich. Es machte mich ungeduldig, dass ich seiner Argumentation nicht mehr folgen konnte, seinen ewigen Abschweifungen. «Genau. Das wollte ich gerade sagen. Ich hab gar keine andere Wahl, als komisch zu sein.» Er hievte sich wieder hoch und schlenderte zu einem der Stammkunden, um ihn zu fragen, ob er Hilfe brauche. 170
«Oscar, komm doch mal bei mir vorbei, um dir meine Wohnung anzusehen. Ich könnte für uns kochen.» Wir saßen zusammen auf einer Bank in einer Ecke meines schmuddeligen Parks, ein paar Blocks nördlich des Arcade. Er hatte sich endlich dazu überreden lassen, in der Mittagspause mit mir ein Sandwich zu essen. Ich hatte ihn schon seit Wochen immer wieder gefragt. Mittlerweile war es eigentlich zu kalt, um draußen zu essen, aber offenbar war Oscar mein Park lieber als irgendetwas Wärmeres, Gemütlicheres. Wir saßen draußen, weil er darauf bestanden hatte, nachdem wir uns in einem Deli gegenüber Sandwiches geholt hatten. Graue Novembertage kannte ich noch nicht; in Tasmanien wäre es jetzt schon richtiger Sommer. In meinem Lieblingspark war es an jenem Tag ungewöhnlich still. Der Himmel, die Luft, alles wirkte farblos und müde. Die Gebäude ringsum sahen aus wie archäologische Stätten. Tauben pickten an Essensresten unter den Bänken und warteten darauf, dass Interessanteres für sie abfiel. Mir war ganz schwindelig von dem Gefühl, allein und außerhalb des Arcade mit Oscar zusammen zu sein. Er kaute sein Sandwich und antwortete nicht auf meine Frage nach dem Abendessen. Ich beobachtete die Kaubewegungen seines Kiefers. Er schluckte laut, blickte sich um. Wir saßen schweigend da, und nach einer Weile sah ich auf meine Schuhe hinab. Unter der Bank, neben meinem Schuh, lag ein benutztes Kondom. Hatte er es gesehen? Was ging bei Nacht hier vor? Ich sah ein Paar vor mir, ineinander verschlungen auf der Bank, ihre Münder, die sich wild 171
und gierig küssten. Ein Liebespaar, hier auf dieser Bank in meinem schmuddeligen Park! Mir wurde ganz heiß in der kalten Luft. Oscar kaute an seinem Sandwich. Ich schob das glitschige Ding ein Stück weit unter die Bank und schaute auf, um zu sehen, ob er es bemerkt hatte. Gibt es denn etwas Trostloseres? Als ich mich im Park umsah, waren da immer noch dieselben zerzausten Bäume und dieselben schmutzigen Plastiktüten, die in ihren Zweigen hingen, schlaff wie leblose Geister. Die bleichen Überreste schlechter Gedanken und einsamer Träume. Ich räusperte mich, holte Luft, doch da gab Oscar mir endlich eine Antwort. «Rosemary», sagte er langsam. «Ich, äh …» «Es ist wirklich keine große Sache, Oscar», beeilte ich mich zu versichern. «Ich dachte einfach nur, du würdest gern mal sehen, wo ich wohne. Meine Wohnung ist wirklich ganz nett.» Ich wusste noch nicht, dass man auch mit Schweigen Macht ausüben konnte, und plapperte weiter. «Ich habe mir ein paar Stoffreste gekauft, in dem Laden, von dem du mir erzählt hast», fuhr ich hastig fort. «Daraus habe ich mir Kissen gemacht. Und sogar einen Vorhang, aus einem Stück wunderschöner Seide.» «Ach, wirklich?», fragte Oscar erleichtert. «Weißt du, was für eine Art Seide?» «Was für eine Art? Nein, ich habe nicht gefragt, aber sie sieht ein bisschen indisch aus. Vielleicht war es sogar das Ende eines Saris», sagte ich. «Tatsächlich?» Er legte sein Sandwich beiseite. «Ich interessiere mich sehr für indische Seide. Diese Stoffe 172
haben die tollsten Namen – ich habe mir in meinem Notizbuch etwas über sie notiert. Große Namen – Kanjeevaram, Puttapakka, Baluchari. Sehr beliebte Seide kommt aus Benares, das ist eine heilige Stadt, weißt du. Und alt. Hat dein Seidenstück eine Borte?» «Ja, schon. In der Kante ist ein bisschen Gold eingewoben, aber teuer war das Stück nicht. Es war einfach ein Ende, das ich in einer Wühltonne gefunden habe.» «Das Ende eines Saris nennt man pallu.» Er griff wieder zu seinem Sandwich. «Die Enden sind oft reich verziert», sagte er mit vollem Mund. «Die Inder verstehen viel von Stoffen. Sie wissen sie zu schätzen, sie verstehen ihre Bedeutung. Natürlich ist auch die Geschichte der Seide sehr interessant, ebenso wie die kulturelle Bedeutung des Gewebes. In Madagaskar zum Beispiel glaubt man, dass erst der Stoff die Menschen macht, in dem Sinn, dass er ihnen ihre Identität gibt. Dass Menschen gewoben werden …» Ein kleiner Tropfen Mayonnaise stahl sich in Oscars Mundwinkel, während er sprach. Ich sehnte mich danach, ihn abzulecken, und musste aufpassen, nicht dabei ertappt zu werden, wie ich Oscar anstarrte. «Also», beharrte ich, bevor er auf die Idee kam, mir alles über Seide oder die Psychologie der Madagassen zu erzählen. «Kommst du nun zum Abendessen oder nicht? Oscar, du könntest dir die Seide anschauen. Kommst du?» «Nein, Rosemary», antwortete er. Sein Gesicht sah in dem seltsamen Licht aus wie bleiches Gebein, versteinert und trocken. Die seltene Farbe seiner Augen wirkte metallisch, glänzend und hart zugleich. 173
«Nein, ich werde nicht kommen. Ich gehe eigentlich nie aus. Wenn ich nach Hause komme, arbeite ich an meinen Notizbüchern. Oder ich gehe in die Bibliothek. Ich mache alle möglichen Recherchen. Ich bin einfach der Überzeugung, dass ich meine Zeit nicht besser verbringen kann. Es gibt so vieles, über das man Nachforschungen anstellen kann.» «Nachforschungen?», wiederholte ich, weil ich nicht wusste, was er meinte. Als Antwort zitierte er mir etwas aus dem Gedächtnis, das er einige Jahre zuvor einmal niedergeschrieben hatte. Er hatte das Zitat als Ratschlag verstanden, als eine Empfehlung, wie man am besten leben sollte. Die Worte beeindruckten mich zutiefst, nicht weil es sich um einen Ratschlag handelte, den zu befolgen ich selbst in Betracht ziehen könnte, sondern weil sie Oscar perfekt beschrieben. Ich habe sie mir später sogar notiert. «Sie können Ihre Zeit nicht besser anwenden, als wenn Sie sich gleich von allem losmachen und in der Einsamkeit Ihrer alten Wohnung in die Zauberlaterne dieser ungekannten Welt sehen.» Oscar beendete das Zitat mit einer für seine Verhältnisse schwungvollen Geste – einem leichten Winken seiner schmalen Hand. «Mir gefällt meine Einsamkeit», fuhr er fort. «Ich besuche nie jemanden. Weißt du, ich will einfach nicht, dass jemand etwas von mir erwartet. Du darfst nicht mehr von mir erwarten. Ich werde nicht zu dir zum Essen kommen», beendete er seine Rede. «Ich würde vorziehen, das nicht zu tun.» 174
Diesen letzten Satz ließ er ausklingen, weil er vermutlich davon ausging, ich würde die Anspielung auf Melvilles Bartleby sofort erkennen. Doch damals war ich dazu nicht in der Lage, ebenso wenig, wie ich ihm in seine Einsamkeit folgen konnte. Nach einer kurzen Weile schaute er zum bedeckten Himmel hinauf. Sein Gesichtsausdruck war verschlossen und unergründlich. «Könnte sein, dass es bald schneit», sagte er freundlich. Ich mochte nichts mehr essen. An der plötzlichen Hitze, die an meinem Haaransatz begann und sich bis in meinen Nacken hinunterzog, spürte ich, dass ich mich, obwohl ich immer mehr über die Welt wusste, trotz Pearls fürsorglicher Ratschläge und sogar trotz Oscars seltsamer, eigenbrötlerischer Art in ihn verliebt hatte. Ich wusste, dass es sinnlos war. Dass ich einfach beschlossen hatte, nicht zu hören, was er mir gerade sehr deutlich gesagt hatte. Ihn zu begehren bedeutete, mich nach etwas zu sehnen, was ich niemals haben würde. Doch in dieser Entscheidung lag auch eine Erkenntnis, die mir wirklich half. Denn ich stellte fest, dass es noch andere Arten von Kummer gab. Und Liebeskummer kann den anderen, ewigen Kummer durchaus lindern. Er verdrängte meine Trauer und verwandelte dieses Gefühl von endgültiger Abwesenheit in etwas anderes – in das Verlangen, das unserer Vorstellungskraft Nahrung gibt. Ich dachte, zur Liebe gehöre, dass sie nicht erwidert wird, und diese Überzeugung zwang mich, mir vorzustellen, was genau ich mir eigentlich wünschte. Und das war 175
eine schöpferische Leistung. Obwohl ich mir damals keinen Augenblick lang vorstellte, was Oscar eigentlich von mir wollte. «Ich habe noch nie Schnee gesehen», sagte ich und knöpfte meinen dünnen Mantel zu, obwohl mein Gesicht ganz heiß war. «Nun, vermutlich wird er dich enttäuschen», sagte er abwertend. «Schnee ist nutzlos», fuhr er fort. «Aber es ist trotzdem ungewöhnlich, etwas so Gewöhnliches noch nie gesehen zu haben.» Fast unmerklich hatte es tatsächlich begonnen zu schneien, winzige Flocken, die in schnurgeraden Linien aus den Wolken fielen, denn es war windstill. Ich legte den Kopf in den Nacken und schaute dem Schnee zu, wie er fiel, als würde er erst direkt über unseren Köpfen zu dem, was er war. Seine Schönheit war aufregend. Und der Schnee war real, er berührte Oscar, ohne sein Wissen und seine Genehmigung. Fast schien es, als sei er mein Komplize in dem, was ich mir wünschte. «Ich vermute, es ist ziemlich naiv, wenn man den Schnee magisch nennt», flüsterte ich gebannt. «Nicht, wenn du ihn so empfindest», räumte Oscar ein. Wir schauten dem Schnee zu, Partikeln aus Licht in der grauen Atmosphäre. «Es ist schon in Ordnung, Oscar, weißt du», kam ich ihm entgegen. «Ich kann zwar nicht sagen, dass ich verstünde, warum du nicht zu mir zum Abendessen kommen kannst, wenn wir doch hier zusammensitzen und ein Sandwich essen. Und uns dabei den Hintern abfrieren!» Ich lächelte. «Aber es ist in Ordnung.» 176
Ich war nicht auf der Suche nach Trost. Ich wollte vor allem fühlen, den Verlust ebenso spüren wie den Moment, wenn ich ihn verkraftet hätte, alles auf einmal, so wie der Schnee auf mich wirkte, weil ich ihn nie gesehen hatte. Wir standen auf, gingen durch die mit Flocken gefüllte Luft. Ich warf den Rest meines Sandwiches und Oscars leere Papiertüte in den Abfalleimer. Der schmuddelige Park war bereits mit einem dünnen weißen Tuch bedeckt, in dem dunkle Löcher waren. Ich hob eine winzige Menge Schnee auf und hielt ihn in der Hand. Meine Finger röteten sich. «Ich dachte, er sei kälter», sagte ich und warf den kleinen Klumpen weg, als wir die Straße überquerten. Ich wischte mir die Hand an der Hose ab. Oscar lächelte leicht und wandte seinen schönen Kopf zum Himmel. «Nichts ist genau so, wie man es sich vorgestellt hat, nicht wahr?», sagte er gedankenverloren. «Rosemary», rief Geist, er stand an der Treppe, die zu seinem Büro führte. «Sind Sie da? Sind Sie bei Oscar?» «Ja, ich bin da.» Ich legte die Bücher, die ich gerade einräumen wollte, auf den Boden neben das Regal. Geist rief mich mittlerweile oft zu sich. Ich half ihm stundenlang im Keller, indem ich ihm die Listenpreise der Rezensionsexemplare vorlas, damit er die entsprechenden Preise für das Arcade im Kopf ausrechnen konnte. Oder er ließ mich in seinem Büro Zahlenkolonnen vorlesen, während er sie eifrig in seine unschuldige Additionsmaschine hackte. Oft sehnte ich mich danach, 177
wieder als Springerin eingesetzt zu werden und mich ohne Verpflichtung im Laden zu bewegen, um Bücher einzuräumen oder Kunden zu beraten. Geist sah zerzaust aus. Man konnte Pike hören, der einem Kunden Anweisungen gab, und Geist schien aufmerksam zu lauschen, den Kopf in Pikes Richtung geneigt, wie der Hund in jener altbekannten Werbung mit dem Grammophon. «Brauchen Sie etwas?» «Kommen Sie mal hoch in mein Büro.» Ich stieg nach oben, er nahm mich am Treppenabsatz in Empfang. Als er sich umdrehte, um in sein Büro zurückzugehen, stolperte er fast auf der Türschwelle. «Alles in Ordnung?», fragte ich. Ohne meine Frage zu beachten, trat er hinter den Schreibtisch und ließ sich in den Stuhl fallen. Die Lupe lag auf einem Stapel loser Blätter und Quittungen. «Ich möchte, dass Sie mir etwas vorlesen», sagte Geist und zog eine Schublade auf. «Es ist bloß eine schriftliche Anfrage. Hier.» Er reichte mir einen Brief, der gefaltet in einem aufgerissenen Umschlag steckte. So etwas wie «bloß» eine schriftliche Anfrage gab es im Arcade nicht. Post war kostbar, denn sie bedeutete oft Geld. Ich hatte Geist noch nie Briefe vorgelesen. Die ganze Post landete zuerst auf Pikes Schreibtisch, wo unser diplomatischer Postbote Mercer sie Tag für Tag ablegte. «Natürlich, Mr. Geist», sagte ich. «Aber …» Er schnitt mir schroff das Wort ab. «Stellen Sie keine Fragen», sagte er. «Lesen Sie einfach laut vor, das ist alles, was ich verlange.» 178
«Ja, natürlich, Mr. Geist. Bitte entschuldigen Sie.» Ich nahm den Brief aus dem Kuvert. Er war auf schweres, dickes Papier geschrieben, seidige Qualität, von der ich wusste, dass sie teuer war. Die Schrift sah gestochen scharf aus; schöne, geschwungene Buchstaben. In den leichten Schattierungen von hell zu dunkel, winzigen Unregelmäßigkeiten beim Schreiben mit Füllfederhalter, offenbarte sich der Charakter des Schreibers, am mehr oder weniger starken Aufdrücken ließ sich sein Temperament ablesen. Die Handschrift weckte eine ganze Kette von Assoziationen in mir, die auf eine so deutliche Weise traurig und glücklich gleichzeitig waren, dass ich ganz atemlos war. Ich sah das Wort «Ewigkeit» in Kreideschrift auf jenem Bürgersteig in Sydney, ich dachte an Mutter, an ihr Leben. Ich holte tief Luft und zögerte einen Moment. Geist klopfte ungeduldig mit der Hand auf den Schreibtisch. Der Hauch von Mutters Anwesenheit war rasch verflogen und machte der harten Wirklichkeit ihres Todes Platz. Schweren Herzens, wie man so schön sagt, musste ich mich an die Widersprüche der Trauer gewöhnen – daran, dass sie wirklich war und doch wieder nicht. Ich zögerte, wartete, dass die Vision langsam überblendet wurde. «Also, fangen Sie an», verlangte Geist. «Tut mir leid», sagte ich mit wackeliger Stimme. Ich wischte mir über die Augen. «Mich hat nur diese Handschrift an etwas erinnert. Sie ist sehr, sehr schön.» «Und völlig unleserlich – jedenfalls für mich. Ich 179
kann gerade meinen Kneifer nicht finden, und von dieser verdammten Lupe kriege ich ein solches Kopfweh, dass ich manchmal denke, mir platzt der Schädel. Mir ist Maschinegeschriebenes lieber. Bitte lesen Sie.» Der Umschlag war unbeschriftet und nicht adressiert. Offensichtlich war er persönlich beim Arcade abgeliefert worden und nicht durch Mercer. Ich überflog den Brief. «Was ist denn?», wollte Geist wissen. Er hatte seine weiße Hand auf dem Tisch zur Faust geballt. «Es ist bloß – der Brief beginnt mit: ‹Sehr geehrter Mr. Pike›, und ich …» «Ich bin dazu befugt, alle Anfragen zu lesen, die an das Arcade gehen. Glauben Sie mir etwa nicht?», flüsterte er erbost. «Pike lässt mich immer den Schriftverkehr erledigen.» Das stimmte nicht. Selbst ich wusste, dass die Post im Arcade immer zuerst an Pike ging. Ich wusste auch, dass insbesondere Mr. Mitchell oft versuchte, die Post durchzuschauen, bevor Pike sie erhalten hatte. Es war Mercers Aufgabe, die Post auszuliefern. Woher kam dann dieser Brief? Und wie war es Geist gelungen, ihn an sich zu bringen? Hatte er Pikes Post genommen? War sie ihm anvertraut worden, damit er sie Pike persönlich überbrachte? Geist schien sich irgendwie unwohl zu fühlen, aber ich traute mich nicht, zu fragen, was los sei. «Sehr geehrter Mr. Pike», begann ich und räusperte mich. «In Anbetracht der jüngsten Beiträge des Arcade zu meiner Sammlung möchte ich Ihnen heute eine wichtige Mitteilung machen. Ich vertraue auf Ihre Diskretion. Anlass dieses Briefes ist ein verschollenes Ma180
nuskript des amerikanischen Schriftstellers Herman Melville. Das Manuskript befindet sich derzeit in meinem Besitz, doch da ich mich aus Gründen der Ehre außerstande sehe, zu offenbaren, wie es in meine Hände geraten ist, möchte ich Sie um Hilfe dabei ersuchen, Urheberschaft und Wert dieses überaus seltenen Fundes festzustellen und daraufhin entsprechend weiter damit zu verfahren. Mir sind mehrere Sammler bekannt, die Interesse hätten, doch würde ich gerne Sie bitten, in dieser Hinsicht aktiv zu werden …» «Das reicht!» Geist sprang auf und riss mir den Brief so heftig aus der Hand, dass er das schwere Papier durchtrennte und ich noch den anderen Teil in den Fingern hielt. «Sie haben ihn zerrissen», sagte ich, fassungslos über seine Reaktion. Ich schaute den Papierfetzen in meiner Hand einen Moment lang an und steckte ihn dann fast unbewusst in meine Tasche. «Bitte, Rosemary», stammelte Geist und faltete den zerrissenen Brief unachtsam zusammen wie einen Lumpen. «Tut mir leid, dass ich Sie belästigt habe. Bitte lassen Sie mich jetzt allein.» Er setzte sich wieder. Dann beugte er sich über dem Schreibtisch nach vorn, den Kopf gesenkt, den Arm über den Brief gelegt, wie ein Kind, das bei einer Klassenarbeit nicht will, dass die Nachbarn spicken.
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Zehntes Kapitel
T
hanksgiving hatte ich noch nie gefeiert und Lillian natürlich auch nicht. Ganz sicher war ich mir nicht, welche Rituale nun genau dazugehörten, aber ich wusste, es war eine Gelegenheit, um sie zum Essen einzuladen. Lillians Bruder war schließlich damit einverstanden, sie für den Abend von ihrer Rezeptionstätigkeit im Martha Washington zu befreien. Ich verfiel in einen Kaufrausch und erwarb nicht nur einen kleinen Truthahn, sondern füllte ihn auch, als besonderen Leckerbissen, mit Lamm, weil mir Oscar erzählt hatte, in Argentinien esse man große Mengen Fleisch. Mit der Hitze des Ofens wurde es wärmer in meiner Wohnung, aber nicht so warm, dass es nötig gewesen wäre, meinen Mantel auszuziehen. Es war Ende November, und oft schlief ich sogar darin. «Warum ist es so kalt hier?», beklagte sich Lillian, als ich sie hereinließ. «Momentan gibt es hier keine Heizung, aber Jack hat gesagt, nächste Woche würde der Vermieter sie reparieren.» Das sagte er allerdings schon seit Monaten. «Wie lange lebst du schon so?» «Ein paar Monate. Seit ich eingezogen bin. Es ist nicht so schlimm, Lillian. Diese Wohnung kann ich mir leisten, und das alles hier gehört mir.» «Bald wird es sogar noch kälter. Heute Nacht gibt es vielleicht Schnee. Du und ich, wir sind nicht so belast182
bar. Wir kommen von der warmen Seite der Erde. Unser Blut ist dünn.» «Mach dir keine Sorgen um mich, Lillian.» «Ich mache mir immer Sorgen.» «Ich weiß.» «Ich bin am Leben, weil ich mir Sorgen mache. Wenn ich aufhöre, dann sterbe ich.» «Das ist ein bisschen melodramatisch, findest du nicht?» «Nein», sagte sie tonlos. «Du weißt gar nichts darüber.» «Na ja, du musst es mir einfach erzählen. Aber jetzt bitte, ich freu mich so, dass du da bist, setz dich doch. Du bist mein allererster Gast hier. Der erste Gast, für den ich in meinem ganzen Leben gekocht habe, also sei jetzt bitte kein Spielverderber.» Ich lachte, und Lillian lächelte schwach. Ich führte sie in der Wohnung herum, zeigte ihr die Schlafnische und die Toilette hinten. «Es ist sehr klein», sagte Lillian und steckte den Kopf durch den Seidenvorhang. «Aber die Zimmer im Martha Washington sind das auch. Mir gefallen die Farben.» Sie kehrte ins vordere Zimmer zurück und schüttelte die Kissen auf dem alten Armsessel auf. «Dieses Bad hier drin ist wie ein kleines Boot, mit dem man wegsegeln kann. Ein Schiffchen, das dich nach Hause bringt.» Sie lachte leise, klopfte mir auf den Rücken. «Du hast es schön gemacht, Rosemary. Farbenfroh. So wie du.» «Danke, Lillian. Ich freue mich so, dass du gekommen bist. Ich hoffe, du kommst öfter.» 183
«Oh, ich habe dir was mitgebracht», sagte Lillian, sprang auf und holte ihre große Ledertasche. Sie zog eine Flasche Wein heraus. «Aus Mendoza», sagte sie. «In Argentinien. Mein Bruder, er hat viele Flaschen. Unser Vater war aus Mendoza, und er hatte immer Wein zu Hause, als wir klein waren. Jetzt ist er tot. Wie deiner, oder?» Ich nahm die Weinflasche. «Ich habe dir doch gesagt, dass ich meinen Vater nicht gekannt habe, Lillian», erwiderte ich. «Vielleicht ist er gar nicht tot. Ich meine, natürlich muss ich einen Vater gehabt haben, aber meine Mutter hat nie geheiratet und den Namen des Mannes nie erwähnt, von dem sie dann ein Kind bekam. Ich hatte nur einfach irgendwie die Vorstellung, dass er von weit weg war. Hinweise gab es darauf eigentlich nicht, nur in meiner Phantasie.» Ich stellte die Flasche auf den kleinen Tisch neben dem Stuhl. «Oft habe ich geträumt, ich würde in eine Stadt kommen und jemanden sehen, der eindeutig er wäre – der so aussähe wie ich, aber ein Mann und älter. Rotes Haar, weißt du? Und sommersprossig wie ich. Und groß. Es ist lächerlich, besonders jetzt, wo ich hier bin, aber so habe ich eben gedacht.» Ich nahm zwei Gläser von dem Regal über dem Herd. Einen Korkenzieher besaß ich nicht. In meinem ganzen Leben hatte ich nie mehr als ein paar Schlückchen Wein auf einmal getrunken, aber das würde ich Lillian gegenüber nicht zugeben, die mich sowieso immer gern daran erinnerte, dass ich noch ein Kind sei. 184
«Das habe ich auch immer gedacht.» Sie setzte sich verlegen in ihrem Sessel zurecht. «Mein Sergio, mein Sohn – ich denke, ich sehe seinen Hinterkopf, auf der Straße in Buenos Aires oder jetzt in New York. Ich denke, mein Sohn lebt. Und dann flieht er.» Sie brach ab. «Ich glaube, ich sehe ihn. Vier Jahre sind das schon.» Lillian räusperte sich. Jetzt schien sie entschlossen, zu sprechen. «Aber ich kenne ihn, ich liebe ihn, also ist es anders als bei dir und deinem Vater. Er hat existiert. Mein Mann und ich, wir haben ihn aufgezogen. Es gibt ihn.» Sie berührte die Weinflasche auf dem Tisch und schaute zu mir herüber. «Dein Vater ist nur in deinem Kopf.» «Ja, vermutlich», sagte ich, weil ich ihr nicht widersprechen wollte. Und ich fragte mich, warum sie so verlegen war. Es war das erste Mal, dass Lillian Sergio erwähnt hatte. Und sie hatte es nicht beiläufig getan, sondern mit großer Sorgfalt. «Ich weiß, das ist ein großer Unterschied.» Ich gab es auf. Lillian zog ein Taschenmesser aus der Tasche, an dem auch ein Korkenzieher war. Gewandt öffnete sie die Flasche, goss zwei Gläser ein, wir stießen an, und ich nahm einen großen Schluck. Der Wein stieg mir sofort in den Kopf, und ich mochte zwar den Geschmack nicht, mir gefiel aber die Wirkung. «Lillian, zusammen weihen wir meine Wohnung ein.» Ich schob einen kleinen Beistelltisch neben den Sessel. Der Sessel war meine einzige Sitzgelegenheit, deshalb musste der Koffer, den mir Chaps geschenkt hatte, 185
herhalten. Der Name Sergio hatte den jungen Mann im Zimmer erscheinen lassen, als wäre er wirklich anwesend, und wir verstummten. Ich stand auf, goss das Gemüse im Waschbecken ab und sah nach einem langen Schweigen zu Lillian hinüber, die aus dem Fenster schaute. Sie spähte in die tiefe Nacht hinaus, und ihr Spiegelbild starrte mir mit leeren Augen entgegen. «Worüber denkst du nach, Lillian?» «Das hast du mich schon mal gefragt. Es ist immer dasselbe», sagte sie mit schrecklicher Traurigkeit in der Stimme. Sie stürzte ihr Glas hinunter. «Was ist denn mit Sergio passiert, Lillian? Wirst du es mir sagen?», fragte ich, so sanft ich konnte. Ich rückte meinen Koffer näher an sie heran, setzte mich und berührte sie am Knie. Es trat eine lange Pause ein. Lillian lehnte sich im Sessel zurück und schaute in den alten Spiegel an der gegenüberliegenden Wand. «Wo hast du den Spiegel her?», fragte sie. «Immer wechselst du das Thema», bemerkte ich. «Ich habe ihn beim Trödler gekauft. So kann ich mir wenigstens sicher sein, dass ich hier bin.» «Ich habe in alle Spiegel der Welt geschaut, aber in keinem war ich zu sehen. Das ist von Borges, erinnerst du dich, das Buch, das du mir geschenkt hast und das ich dir zurückgegeben habe?» «Ja, es steht da oben auf dem Regal. Aber was heißt das – in keinem war ich zu sehen?» «Ich weiß es nicht, aber ich muss immer daran denken, dass es auch keinen Spiegel auf der Welt gibt, in dem mein Sohn zu sehen ist. Er ist einfach hindurchge186
fallen.» Sie stand auf und setzte sich sofort wieder. Schließlich schaute sie mich mit trüber Gewissheit an. «Ich werde dir die Geschichte von meinem Sergio erzählen, Rosemary. Ich möchte sie nicht erzählen, aber ich muss sie immer erzählen. Sonst werde ich nochmal verrückt. Von meiner Familie bin nur noch ich übrig – von meiner eigenen Familie, meinem Ehemann Emilio und unserem einzigen Sohn Sergio.» Sie schaute mir direkt ins Gesicht. «Aber zuerst möchte ich noch Wein.» «Weißt du, was desaparecidos heißt?», flüsterte Lillian. «Und was guerra sucia heißt?» Der heiße Ofen klickte laut im Zimmer, noch aufdringlicher als das regelmäßige, leisere Ticken des grünen Weckers. Unten machte jemand die Eingangstür auf und ließ sie laut ins Schloss fallen, Schritte hallten über den gefliesten Flur und verstummten mit einem weiteren Türenknallen. Lillian wartete, bis es still war. Ich wusste nicht, wovon sie sprach. «Er ist einer von den desaparecidos, von den Verschwundenen», sagte sie mit einer Endgültigkeit im Ton, als erübrigten sich damit alle Fragen. Sie sah die Verwirrung in meinen Augen. «Du weißt nicht, was das bedeutet? Kannst du es verstehen? Du bist ein junges Mädchen aus einem jungen Land. Ist ein sicherer Platz, glaube ich, dein Tasmanien. Du weißt es nicht. Sie haben Sergio mitgenommen. Aus seinem Haus, mitten in der Nacht. Er war damals fünfundzwanzig, älter als du. Mitgenommen. Verstehst du? 187
Jetzt wäre er neunundzwanzig. Letzten Monat war sein Geburtstag. Erinnerst du dich, als ich nicht zur Arbeit gekommen bin?» Sie nestelte an ihrem Blusenkragen, ihre Hand lag an ihrer Kehle. «Wir haben ihn auf eine gute Schule geschickt. Er hat einen Universitätsabschluss. Er wollte seine Freundin heiraten. Er wollte Lehrer werden …» Lillians Stimme erstarb. Sie griff sich an den Hals und schaute zur Decke. Sie seufzte. «Wie soll ich dir den Unterschied erklären zwischen dem Tod und dem Verschwinden?» Einen Moment lang war sie so wütend, dass sie plötzlich Spanisch sprach, mit belegter, leidenschaftlicher Stimme, vielleicht weil sie sich über die eigene Unzulänglichkeit im Englischen ärgerte. Sie verstummte. Nach einer Weile sagte sie: «Du möchtest es wissen, Rosemary, aber du bist ein Kind. Du kannst es nicht wissen. Das hat mich auch fast umgebracht, aber ich muss leben, obwohl mein Sohn nicht zurückgekommen ist. Ich warte immer noch auf ihn. Ich warte, um es herauszufinden.» «Du meinst, er wurde entführt, Lillian?», fragte ich, verzweifelt bemüht, aus ihren Worten schlau zu werden. «Und von wem?» «Die Armee, die Polizei. In Argentinien ist das die Regierung. Ich bin katholisch, verstehst du? Die Kirche hat mir nicht geholfen. Die Priester tun nichts. Vielleicht stecken sie sogar mit denen unter einer Decke. Mein Bruder ist weggegangen, bevor alles anfing. Er ist nach New York und hat das Hotel gekauft. Er sagt, bald 188
werden die Leute wissen, was passiert ist, aber ich glaube, sie wissen es schon, aber sie drehen den Kopf weg. Gott dreht den Kopf weg.» Sie starrte in den Spiegel, und ich begegnete ihren Augen dort, in ihrer dunkleren Welt. «Vor vier Jahren ist er verschwunden», sagte Lillian entschieden. Ihr Kopf fiel in den Nacken, sie sprach zur Decke. «Ich habe keine Übung mehr darin, die Geschichte von Sergio zu erzählen. Es macht mich müde. Ich fange an zu vielen Stellen an. Es ist gut, dass du mich dazu bringst, sie zu erzählen, weil er das Geheimnis von seinem Ende mit sich genommen hat. Es ist gut, zu erzählen. Mein Bruder, er ist es leid, zuzuhören. Er hat mir geholfen, aber er hat genug davon.» Lillian bekreuzigte sich nachdenklich. «Es gibt so viele Fälle wie diesen. Auch heute noch. Und jeden Tag werden es mehr. Aber ich erzähle dir die Geschichte von Anfang an, damit du sie begreifst.» Lillian stand auf und ging im Zimmer auf und ab. «Es war alles geplant. Um elf Uhr abends fing es an, ich weiß es, weil sie am selben Abend auch sechs Freunde von Sergio, die an derselben Universität waren, geholt haben. Um elf fangen sie an bei einem Haus. Um ein Uhr beim nächsten, um drei dann bei meinem Sohn. Er hatte eine kleine Wohnung gegenüber vom Park. Der Portier ist der einzige Zeuge. Der Portier sagt, sie ziehen ihn hinter seinem Tresen hervor, sie befehlen ihm, die Tür aufzumachen, und dann schreien sie ihn an, er soll abhauen, aber der Portier, er bleibt da, versteckt sich hinter der Treppe und hört alles.» 189
«Wer hat das getan, Lillian?» «Der Portier sagt, ein paar Männer, einer in Uniform. Wir haben es nie erfahren. Sie haben die Wohnung auf den Kopf gestellt, und nach einer Weile sieht der Portier, wie sie Sergio herunterbringen, schon gefesselt. Sie bringen ihn zu einem Lastwagen und fahren weg. Das ist alles, was ich weiß.» Draußen auf der Straße fuhr ein Krankenwagen oder Polizeiauto vorbei, das Jaulen der Sirene wurde leiser. Bei dem Geräusch zuckte Lillian zusammen. Sie fuhr sich übers Gesicht. «Seit sie ihn mitgenommen haben, schlafe ich nicht mehr. Ich dachte, ich bin blind geworden, bis Emilio mich zu einem Arzt brachte, und der hat mir gesagt, dass ich weinen muss. Wegen der Tränen kann ich nicht sehen. Dieser Doktor hat mich zu einer besonderen Frau Doktor geschickt – du weißt schon, welche Art von Doktor.» Sie tippte sich mit dem Finger an die Schläfe. «Sie hilft mir dabei, zu weinen, und dann kann ich nicht mehr aufhören. Aber ich kann sehen. Nach einer Weile habe ich versucht, wieder zu lesen, aber es ist einfach weg, alle Freude ist weg aus meinem Leben.» Lillian wies auf die wenigen Bücher, die auf meinem reparierten Regal lagen. Sie knetete ihre Hände, die Knöchel schimmerten weiß unter ihrer dunklen Haut. Sie hob ihr Glas, und ich goss ihr noch einmal ein. «Emilio und ich, wir haben ein Gesuch eingereicht. Verstehst du?» Ich schüttelte den Kopf. «Wir finden einen Anwalt, der uns hilft. Wo ist seine Leiche, verstehst du? Man hat uns gesagt, dass wir das 190
tun sollen. Unsere Nachbarn, ihre Tochter ist verschwunden, sie kennen einen Anwalt. Dann verschwindet auch der Anwalt. Wir wollen eine Antwort von der Regierung. Ich bin Mutter. Ich muss es wissen. Ich lerne die Mütter kennen, die auf der Plaza protestieren. Ich gehe hin, wir treffen uns mit Politikern – alles Lügner. Nichts. Wir schreiben Briefe. Wir schreiben alles auf. Jetzt sind es vier Jahre. Mein Sergio. Desaparecido. Und es werden immer mehr. Alle müssen wissen, was in meinem Land passiert. Aber keiner will es wissen. Versteh das doch, Rosemary – mein Sohn, unsere Kinder, sie sind das Beste, was wir haben. Eine Generation, die denkt, die die Dinge anders sieht. Sergio hat Soziologie studiert, um den Armen zu helfen. Um Dinge zu verändern. Sie alle sind verschwunden. Sie haben sie mitgenommen. Ich weiß nicht, wo mein Sohn ist. Ist er tot?» Lillian schaute sich in meiner kleinen Wohnung um, ließ den Blick über all die kleinen Dinge schweifen, die ich angesammelt hatte. Den grünen Wecker mit seinem unablässigen Ticken. Die Weinflasche, die halbleer war. «Lillian», sagte ich sanft. Sie schaute mich direkt an. In ihren Augen war etwas wie Erkenntnis, und sie sprach weiter. Ihre Stimme war ernst, ihr Akzent stärker. «Ich schaue fern. Ich gehe nicht aus. Vielleicht kommt er ja heim, ich weiß es nicht. Vielleicht bin ich verrückt? Emilio ist tot, und mein Bruder, er hat mich hierhergebracht, damit ich eine Petition an die Regierung mache. Emilio war ein gebrochener Mann, als er starb, verstehst du? Wenn dein Kind nicht da ist, dann bist du auch nicht da. Kannst du das verstehen, Rosemary?» 191
«Nein, Lillian. Das kann ich nicht. Ich kann es nur versuchen.» Ich nahm ihre Hand, und wir sahen uns in die Augen, bis ich den Blick abwenden musste, so wenig fühlte ich mich ihrem Leid gewachsen. «Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Aber ich verstehe, dass dein Schmerz so groß ist, dass du das Gefühl hast, selbst verschwunden zu sein. Das kann ich, glaube ich, verstehen.» Ich spürte, wie mir die Tränen in die Augen traten, aber ich unterdrückte sie, weil ich mich schämte. Worum hatte ich schon zu weinen? Rasch stand ich auf. Ich versuchte mich mit dem Essen zu beschäftigen, nahm den Truthahn aus dem Rohr, ließ wegen der Wärme die Ofentür offen stehen. Ich schmeckte das Gemüse mit Butter ab und richtete das verkochte Essen auf den Tellern an, die nicht zueinanderpassten. Schließlich schaute ich unauffällig zu Lillian, um zu sehen, wie es ihr ging. Ich hatte keine Ahnung, warum ich immer versuchte, einem anderen seinen Schmerz abzunehmen, ich wusste nur, dass ich es tat. Mit meinen achtzehn Jahren glaubte ich, mit allem irgendwie in Verbindung zu stehen, und ich dachte, ich hätte Lillians Geschichte deshalb gehört, weil ich in irgendeiner Weise in der Lage sei, ihren Schmerz zu lindern. Den Gedanken, dass ihr Leid bedeutungslos sein könnte, ertrug ich einfach nicht. Und gab es überhaupt jemanden, der ihn ertrug? Lillian weinte nicht. Ihre Augen blickten suchend in der Wohnung umher, als könnte Sergio irgendwo auftauchen. Sie starrte auf die klauenfüßige Badewanne, die an der Wand stand, als wäre es keine Überraschung für sie gewesen, wenn er sich plötzlich daraus erhoben 192
hätte, wie ein Ertrunkener, der wieder auftaucht. Ihre Lippen bewegten sich, sie murmelte etwas auf Spanisch, ihre Stimme klang zärtlich. Leise sprach sie weiter, und dabei lächelte sie und schien sich sogar etwas zu entspannen. Vielleicht sah sie ihn ja wirklich dort, wie er in der Wanne lag. Aber es bereitete mir keine Angst, dass Lillian vor sich hin sprach. Schließlich verging kein Tag, an dem ich selber nicht mit Mutter redete. So armselig die Sprache auch sein mochte, immerhin schuf sie eine Verbindung. Ich stellte die Teller auf den kleinen Tisch. Lillian lehnte sich in den Sessel zurück. Sie verschränkte die Arme über der Brust, als sei sie jetzt wieder bereit, sich mit mir zu beschäftigen und Englisch zu sprechen. «Diese Freude ist mir auch genommen worden, weißt du, mein Kind. Tränen. Mein Bruder sagte, ich könne hierher in die USA kommen, und man würde mir helfen. Es gibt keine Hilfe. Ich mache nichts außer Fernsehen. Ich arbeite für ihn. Ich warte. Wer kann helfen? Niemand.» Ich kaute mechanisch ohne Appetit an einem Stück Truthahn. Lillian beachtete das Essen gar nicht. «Was ist mit deinem Mann passiert?» «Emilio ist gestorben. Er war sehr deprimiert, verstehst du? Er hat nicht mehr gesprochen. Es gibt ein paar Filme. Sie zeigen sie, um Druck zu machen. Ich weiß von ein paar Müttern, dass Geheimnisse preisgegeben werden. Aber ich habe nichts herausgefunden, nichts mehr über Sergio. Und dann sahen wir sie im Fernsehen. Sie haben Massengräber geöffnet – Gräber 193
ohne Namen. Viele Leichen. Sie heben sie heraus mit Bulldozern. Emilio, er klebt vor dem Bildschirm wie ich jetzt, er sieht. Wie können sie das machen? Danach ist er gestorben. An einem Herzanfall. Mein Bruder sagt, ich soll hierherkommen. New York, sagt er, hier fängst du wieder ein Leben an. Geh weg von dort. Geh weg, sagt er. Fliehe. Sergio ist bestimmt tot, sagt er. Ich gehe weg, weil ich nichts machen kann. Ich habe niemanden. Viele Leute sagen, ich habe Glück gehabt, weil ich wegkonnte.» Lillian hob ihr leeres Glas hoch und schaute hindurch, wie durch ein Fernglas, ein Periskop. Aus meiner Perspektive wurde ihr Gesicht kleiner, während meines von ihr aus wahrscheinlich größer und näher wirkte. «Aber ich möchte mein Land nicht auch verlieren», sagte sie, fast beiläufig. «Wie du.» Nachdem Lillian gegangen war, konnte ich nicht schlafen. Ich machte sauber und räumte auf, bis mir vor Anstrengung und wegen der vielen Gefühle ganz heiß war. Im Bett, die Huon-Schachtel auf dem orangeroten Schal neben meinem Kissen, erzählte ich Mutter von Sergio und döste dabei ein, fuhr aber immer wieder hoch. «Wie?», fragte ich sie. «Wie kann das passieren?» Am frühen Morgen wachte ich auf. In der Wohnung war es eisig kalt und unerklärlich hell. Ich wickelte meine Beine aus den Laken, in denen immer noch die Albträume hingen wie schwere Gewichte, stand auf und hüllte mich in eine Decke. Ich stellte ein paar Töpfe mit Wasser auf und trat ans Vorderfenster. Die Straße unter mir war nicht wiederzuerkennen. Über Nacht war 194
Schnee gefallen und hatte die Stadt verwandelt. Draußen war es still und blendend weiß. Die parkenden Autos waren zugeschneit und sahen aus wie kleine Hügel, Grabhügel. Der Schnee war diesmal schwer, ganz anders als der weiße, zarte Hauch von jenem ersten Mal – dieses federleichte Puder, das im Park auf Oscar und mich gerieselt war. Ich zog die Decke enger um meinen Körper, lehnte die Stirn an die klirrend kalte Fensterscheibe und dachte an Lillian, an ihren Sohn. Ich wusste, dass man einen Menschen nicht verlor wie einen Gegenstand, dass es für einen Menschen nie einen Ersatz geben konnte. Mein Atem erschien schwach vor meinem Gesicht, ein sichtbarer Atemstoß, der mir doch keinen Mut machen konnte. Ich dachte daran zurück, wie mir Chaps vom Winter erzählt hatte. Ein Bild in einem Buch hatte sie dazu gebracht. «In Sommers Dürre netz ich dich mit Tropfen», lautete der Vers. «Im Winter schmilzt der Schnee den heißen Tau.» «Mädel, du siehst aus, als hättest du ein Gespenst gesehen», sagte Pearl später an diesem Morgen in der Damentoilette des Arcade. «Was ist passiert? Ist alles in Ordnung mit dir?» «Mir geht’s gut, Pearl. Es ist bloß – ich habe etwas sehr Beunruhigendes erfahren.» «Es hat mit diesem verdammten Geist zu tun, stimmt’s? Vielleicht hast du ja wirklich einen Geist gesehen! Was hat er mit dir angestellt?» «Was? Nein», sagte ich verwirrt. Einen Moment lang dachte ich, ich hätte ihr vielleicht erzählt, wie er mir 195
seine Hand auf den Rücken gelegt hatte, oder von dem Brief an Pike. «Nein, Pearl. Mit ihm hat es nichts zu tun.» «Was ist denn passiert?», wollte sie wissen. «Komm, setz dich und erzähl es mir.» Wir nahmen zusammen auf dem zerfetzten Sofa in der Damentoilette Platz. Pearl schloss ihre großen, trockenen Pranken um meine Hände. Ich versuchte, Lillians Geschichte zu erzählen, aber irgendwie kam sie mir plötzlich vor wie eine nächtliche Einbildung, wie der Schnee die Stadt unter sich begraben hatte. Doch Pearl hatte Geduld mit mir. «Du kennst doch meine Freundin Lillian? Die ich kennengelernt habe, als ich noch im Martha Washington gewohnt habe?» «Du hast von ihr erzählt, aber getroffen habe ich sie noch nicht. Du suchst für sie doch immer nach spanischen Büchern, stimmt’s?» «Genau. Sie ist allerdings nicht aus Spanien, sondern aus Argentinien.» «Okay», sagte Pearl, als wollte sie mich ermutigen, weiterzusprechen. «Ich habe immer wieder versucht, sie zu mir nach Hause zum Essen einzuladen. Sie war eigentlich meine erste Freundin hier, und ich mag sie sehr gern. Sie ist etwa so alt wie meine Mutter, weißt du, und …» «Ich verstehe», sagte Pearl. «Na, und gestern Abend ist sie dann zu mir gekommen, zu Thanksgiving, und ich habe gekocht, und sie hat eine Flasche Wein mitgebracht.» «Und was ist dabei?» 196
«Na ja, ich weiß nicht, wie viel du darüber schon gehört hast, aber Lillian sagt, ihr Sohn wurde von der argentinischen Regierung ermordet. Dass er einer von denen ist, die sie ‹Verschwundene› nennt, und dass ihr Mann sozusagen an Kummer gestorben ist. Und dann hat ihr Bruder sie nach New York geholt, weil er dachte, es würde ihr helfen, wenn sie da wegkommt, aber die ganze Zeit über denkt sie nur daran, ob ihr Sohn vielleicht doch noch lebt oder ob er gefoltert wurde oder …» Ich unterbrach mich, meine Augen füllten sich mit Tränen. Aber was sollte das bringen? «Ich kann nichts tun, Pearl», fuhr ich fort. «Ich war einfach nicht darauf gefasst, so eine Geschichte zu hören. Was kann ich denn für sie tun? Weißt du, in Tasmanien ist es sehr ruhig, und nichts wirklich Schlimmes passiert. Ich meine, Leute sterben, und das ist schlimm, aber das ist schon so ziemlich das Übelste, was passiert und …» «Willkommen in der Welt, Rosemary, mein Mädchen», sagte Pearl, ohne Strenge oder Sarkasmus, und ihre Stimme klang ganz tief und ungewohnt ernst. «Lest ihr eigentlich keine Zeitung da unten in Tasmanien? Vor ein paar Jahren hat es in Argentinien einen Putsch gegeben, und die Regierung hat alle Oppositionellen festgenommen.» «Ich bin mir sicher, dass Lillians Sohn kein Oppositioneller war. Er hat Soziologie studiert.» «Sie nennen es den ‹Schmutzigen Krieg›, Rosemary. Schau es mal nach. Offenbar wurden Tausende von Leuten umgebracht. Es gibt Geschichten über Opfer, die 197
mit Drogen vollgepumpt und aus Flugzeugen ins Meer gestoßen wurden. Man nennt sie ‹die Verschwundenen›, weil keiner weiß, was mit ihnen passiert ist, aber es ist nicht schwer, es zu erraten. Sie wurden ermordet.» «Aber wie konnte es passieren? Was hätte Lillian tun können? Warum kann niemand sie daran hindern?» «Ach, Rosemary», sagte Pearl müde. «Die Welt, die du kennenlernen möchtest, ist schlimmer als jeder Albtraum, den du haben könntest. Glaub bloß nicht, du könntest dich hier im Arcade verstecken wie wir alle und nicht ab und zu mit der Hässlichkeit draußen konfrontiert werden. Von Büchern wird die Welt nicht schöner.» «Ich bin einfach nur so schockiert, Pearl. Lillian bedeutet mir etwas. Ich mache mir Sorgen um sie, weil sie von all dem Kummer und der Trauer ein bisschen instabil ist. Und das schon seit Jahren. Ich dachte immer schon, sie sei ein bisschen seltsam, aber das sind alle, die ich bisher hier kennengelernt habe. Ich hatte keine Ahnung … Ich möchte ihr helfen, weiß aber nicht wie.» Pearl sah nachdenklich aus. «Mario ist Anwalt, weißt du, und ich glaube, er kennt ein paar Leute, die im Bereich Menschenrechte arbeiten», sagte Pearl. «Vielleicht kann ich für sie ja den Kontakt zu einer Organisation hier herstellen. Ich bin mir sicher, sie hat alles versucht, aber man weiß nie. Mario kennt eine Menge Italiener, vielleicht auch welche in Argentinien. Heute Abend frage ich ihn.» «Das alles kommt einem fast unmöglich vor, Pearl. Dass jemand mit solch schrecklichen Erlebnissen leben 198
kann. Und dass solche Dinge geschehen – Folter, Mord. Es kommt einem kaum real vor.» «Die Realität ist so dünn wie Papier, mein Mädchen», sagte Pearl und schüttelte den Kopf. «Ich dachte, das wüsstest du – jemand mit deiner Phantasie. So dünn wie Papier, und ebenso leicht zu zerreißen.» «Rosemary», sagte Oscar. «Alles in Ordnung mit dir?» «Ja, wieso?» «Geist hat nach dir gesucht.» «Wirklich?» In Sorge um Lillian hatte ich den Brief, den ich Geist vorgelesen hatte, völlig vergessen. Ich hatte den abgerissenen Fetzen immer noch in der Tasche und tastete danach – eine Schneeflocke aus Papier. Ich musste Oscar davon erzählen. «Was ist denn los?», fragte er interessiert. «Hast du irgendwelche Schwierigkeiten?» Ich schaute ihm ins Gesicht. Er blinzelte. Es war, als ginge mit jedem Blinzeln ein Lichtstrahl von seinen goldenen Augen aus, als durchdränge ihr Licht meine Haut, wärmte mich, brächte mich zum Schmelzen. «Schwierigkeiten? Was meinst du damit?» «Hat dich jemand, äh, belästigt oder so?», fragte Oscar und senkte die Stimme. «Mich belästigt? Wovon redest du eigentlich, Oscar?» «Du weißt schon, Rosemary.» Er sagte es ein wenig ungeduldig. «Ich bin in solchen Dingen nicht besonders gut …» «Was denn für … Ach so!» Dachte er, jemand habe mich angegriffen? Sprach er von Sex? 199
«Nein, Oscar. Um Himmels willen, mir geht einfach nur viel im Kopf herum. Ich muss dir etwas Seltsames erzählen, das passiert ist …» Oscar fummelte an seinem Notizbuch herum. «Na, dann sag schon. Was will Geist? Ist es das, was dir im Kopf herumgeht? Du verbringst eine Menge Zeit mit ihm.» Er nahm auf seinem hohen Hocker Platz und lehnte sich gegen das Regal. Er war jetzt etwas weniger verlegen. «Ich weiß ja, dass du keinen Rat von mir willst, aber du solltest dich vor ihm in Acht nehmen, Rosemary. Er ist ziemlich angetan von dir.» «Geist?», fragte ich verwirrt. «Nein, meine Freundin Lillian hat mir eine schreckliche Geschichte erzählt. Du wirst es kaum glauben. Geist wollte vorgestern bloß, dass ich ihm einen Brief vorlese, und vielleicht soll ich das heute wieder. Das ist alles.» «Einen Brief vorlesen? Von wem bekommt der denn Briefe?» «Es ist alles sehr seltsam, ich …» Pearl brüllte von der Kasse, es werde eine Begleitperson für den Raritätenraum gesucht. Ich wartete. Sie brüllte noch einmal. «Dann geh ich wohl lieber mal. Jack und Bruno kommen morgens immer zu spät. Ich bin in einer Minute wieder zurück.» Ich lief zum Eingangstresen, verpasste den Kunden jedoch. Bruno war gekommen und war wieder einmal schneller gewesen als ich. Es wartete allerdings noch ein weiterer Kunde, von einem Verlag, er plauderte mit 200
Pearl, die aufgestanden war und einen spitzen grünen Fingernagel mit der Feile bearbeitete. Russell – damals wusste ich noch nicht, ob er mit Vor- oder mit Nachnamen so hieß – war Stammkunde des Arcade. Er war mittleren Alters und ein freundlicher Zeitgenosse; sein Gesicht war von tiefen Aknenarben gezeichnet. Ich hatte ihn schon mehrfach begleitet, und er freute sich sichtlich, als er mich entdeckte. Eigentlich riss ich mich nicht um die Aufgabe, weil ich lieber wieder zurück zu Oscar wollte. Doch sobald mich Russell gesehen hatte, blieb mir keine andere Wahl. Ich musste ihn nach unten begleiten und vermutete, dass im Keller Walter Geist auf ihn wartete. «Sie arbeiten also immer noch hier, Rosemary», sagte Russell und drückte mir eine Tüte voller neuer Bücher in die Hand. «Natürlich», sagte ich. «Warum sollte ich nicht mehr da sein?» «Nur so. Ich dachte, vielleicht hätten Sie gern einen anderen Job?», fragte er, als wir die Treppe hinunterstiegen. «Mir gefällt der, den ich habe», sagte ich. «Viel kriegen Sie hier bestimmt nicht.» «Mir reicht es. Außerdem habe ich so mit Büchern zu tun.» «Es gibt auch andere Jobs, wo man mit Büchern zu tun hat», sagte er. «Ich habe zum Beispiel einen, ich bin Lektor.» «Ich liebe das Arcade», sagte ich. «Ich weiß gar nicht, warum», antwortete Russell. «Eine junge Frau wie Sie …» 201
«Es ist eine ganz eigene Welt hier drinnen …» Wir standen einen Moment lang am Fuß der Treppe, und er musterte mich. «Draußen ist auch eine ganz eigene Welt», sagte er lächelnd. «Haben Sie Moby Dick gelesen?», fragte ich ihn. Er nickte. «Das Arcade ist wie das Schiff für mich. Sie wissen schon, Leute von überall her, unterwegs zu einem großen Abenteuer.» «Haben Sie das Buch denn fertig gelesen?» «Nein. Ich lese es absichtlich ganz langsam.» «Na ja, ich möchte es Ihnen ja nicht verderben, aber Ihr Schiff sinkt. Vielleicht sollten Sie sich ja doch eine andere Metapher suchen, oder wenigstens einen anderen Job.» «Das Arcade geht nicht unter», sagte ich. «Und danke, dass Sie es mir kaputt machen.» Er lachte. «Es gibt noch so viele andere Abenteuer, wissen Sie. Wie alt sind Sie, Rosemary?» «Achtzehn.» «Sie sind gescheit. Sie sollten auf die Uni gehen.» «Aber hier lerne ich viel mehr», sagte ich. «Ach, hören Sie doch auf damit – von wegen, das Arcade ist Ihr Harvard und Ihr Yale!» Russell rollte amüsiert mit den Augen. «Na ja, hier werde ich dafür bezahlt, dass ich lerne. Ich werde sogar dafür bezahlt, dass ich lese, wenn Mr. Pike mich nicht dabei erwischt!» «Sehen Sie, wenn Sie doch einen anderen Job wollen 202
– zum Beispiel Bücher zu machen statt sie zu verkaufen –, lassen Sie es mich wissen.» Er reichte mir eine Visitenkarte mit seinem Namen: Thomas Russell. Das Emblem des Verlages – ein Federkiel – war auch im Rücken der Bücher eingedruckt, die ich in der Hand hielt. «Warum verkaufen Sie Bücher Ihres eigenen Verlages?», wollte ich wissen, denn ich fragte mich, ob er sie vielleicht gestohlen hatte. «Es sind Werbeexemplare», sagte er geringschätzig. «Die sind übrig, wenn Sie so wollen. Und ich habe ein paar schlechte Angewohnheiten, die finanziert werden wollen.» Fast hätte ich ihn gefragt, was für Angewohnheiten das seien, aber wir waren an Geists Tresen angekommen. Diesmal stand Arthur dahinter, was für mich eine angenehme Überraschung war. «Wo ist denn Mr. Geist, Arthur, und warum bist du nicht bei der Kunst?», fragte ich. «Sieht so aus, als wäre ich befördert worden», sagte er ironisch. «Nein, ich bin nur eingesprungen, TT. Geist sagte, er müsse kurz hoch in sein Büro.» «Oscar meinte, er habe nach mir gesucht», sagte ich zu ihm. Er zuckte mit den Achseln. Arthur nahm die Bücher von Russell entgegen und reichte ihm, nachdem er den Umschlag eines jeden aufgeklappt, verschiedene Beträge notiert und sie addiert hatte, einen gelben Zettel, den er bei Pearl an der Kasse einlösen konnte. 203
«Danke, Art», sagte Thomas Russell. «Kommt gerade recht.» «Zweifellos», gab Arthur zurück. «Lassen Sie es mich wissen, wenn Sie bei uns anheuern wollen», sagte Russell in meine Richtung, als er ging. Ich lächelte nur, schüttelte den Kopf und kehrte zu Arthur zurück. «Was hat er denn?», fragte ich ihn. «Wer?», fragte er und zog dabei ein großes Buch unter dem Tresen hervor, um sich, bis der nächste Kunde kam, die Zeit zu vertreiben. «Walter Geist natürlich.» «Ich habe keine Ahnung. Ich muss aber sagen, er sah ziemlich mitgenommen aus. Stolperte ständig über irgendwelche Dinge. Vielleicht hatte er bloß schlecht geschlafen.» Arthur grinste durchtrieben. «Ich für mein Teil hatte eine richtig gute Nacht, TT.» «Ich möchte es wirklich nicht hören, Arthur.» «Nein, das kann ich mir schon denken.» Er gluckste. «Jedenfalls war’s mal wieder so richtig schön ab-artig.» Ich beachtete ihn nicht. «Ich hoffe, mit ihm ist alles in Ordnung», sagte ich. «Mr. Geist war in letzter Zeit nicht er selbst.» «Und was sollte das für ein Selbst sein? Es überrascht mich, dass dich das überhaupt interessiert. Du verbringst ganz schön viel Zeit mit ihm.» «Ich soll ja so eine Art Assistentin oder so für ihn sein», sagte ich vage. «Oder so», machte Arthur mich nach. 204
«Was soll das denn wieder heißen, Arthur?» «Rosemary, Arglosigkeit ist nur bei Kindern und Tieren charmant. Geist ist zwar der außergewöhnlichste Mann, dem du je begegnet bist, aber er ist immer noch ein Mann. Begehren existiert, ob du nun beschließt, es wahrzunehmen, oder nicht. Und an diesem Ort hier gibt es viel Begehren.» Arthur klappte seinen Fotoband auf, wie immer mit Aktfotos. Mir war übel. «Zum Beispiel», sagte er und zeigte auf ein Foto. «Arthur, ich mache mir einfach nur Sorgen, dass es ihm nicht gutgeht, ich finde, er verhält sich seltsam.» «Na ja, Krankheit macht einen Menschen empfindlich, wie eine Fotoplatte. Zweifellos wurde Geist mit einer Krankheit geboren, die wir gar nicht richtig begreifen können. Vielleicht wird es einfach nur schlimmer, das ist alles.» Er blätterte langsam weiter, schaute sich genüsslich jedes Foto an. «Vielleicht verblasst er ja einfach, wie ein altes Foto», überlegte er verträumt. «Manche Bilder lösen sich auf und sind für immer verloren. Es sind chemische Prozesse.» Er drehte das Buch zu mir um. Darin war das Foto eines nackten Mannes abgebildet, dessen Gesicht vom Schatten einer anderen Person außerhalb des Bildes verdunkelt wurde. Der Mann hatte den Kopf weit in den Nacken geworfen, ob vor Lust oder Schmerz, konnte ich nicht erkennen. Als ich nach oben zurückkehrte, war Oscar bereits in eine frühe Mittagspause gegangen, und bei Pearl stand eine lange Schlange Kunden an der Kasse. Ich versuch205
te, ein paar Kunden zu helfen, doch als ich die riesigen Bücherstapel sah, die neben Pikes Podest lagen, um einsortiert zu werden, wurde mir klar, was ich brauchte. Ich musste einfach hoch in den Raritätenraum, ich musste hier raus. Irgendwann würde Geist mich suchen kommen, doch ich wollte unbedingt Mr. Mitchell sehen. Ich brauchte Trost. Lillian, meine Albträume, die der Schnee begraben hatte, sinkende Schiffe, all das lag mir schwer im Magen. Im Raritätenraum fühlte ich mich sicherer als unten im Arcade, geradezu himmlisch. Ich hatte Mr. Mitchell noch nie ohne den Vorwand besucht, einen Kunden zu begleiten, aber seine väterliche Art war genau das, was ich momentan brauchte. Und gewiss brach ich damit doch keine Regeln?
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Elftes Kapitel
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r. Mitchell», rief ich, nachdem ich die Tür des launischen Fahrstuhlkäfigs mit einem lauten Knall zugeworfen hatte. «Hier drüben, liebes Kind. Hier drüben.» Er stand auf den unteren Stufen einer hohen Leiter vor einem großen Regal. «Ich suche gerade etwas, Rosemary, aber da mein alter Kopf in diesen Tagen alles vergisst, ist mir doch tatsächlich entfallen, was es war. Ich habe diese wundervolle Ausgabe des Orlando Furioso aufgetrieben, und das hat mich wiederum zu einigen Überlegungen über die Liebe und den Wahnsinn gebracht. Aber warum ich jetzt hier oben stehe, entzieht sich momentan meiner Kenntnis. Vielleicht, wenn ich einfach damit aufhöre, mich zu erinnern zu versuchen …» Mit diesen Worten stieg er die Leiter hinunter. «Ich werde einfach ein Päuschen mit meiner Pfeife machen, dann fällt es mir schon wieder ein.» «Ah», sagte er, als er hinter seinem kleinen Schreibtisch Platz nahm. «Was auch immer es war, es ist vergessen, aber jetzt sind Sie ja da. Mein Rosmarin, für die Erinnerung, stimmt’s?» Ich lächelte. «Sie werden mir dabei helfen, mich daran zu erinnern, was ich da oben auf dieser verfluchten Leiter zu suchen hatte.» 207
«Zweifellos ein Buch», sagte ich und trat zu ihm an seinen winzigen, übervollen Schreibtisch. «Aber um zu diesem Schluss zu kommen, braucht man kein Detektiv zu sein.» Er zog ein Beutelchen mit Pfeifentabak aus der Tasche seiner Jacke, die über der Stuhllehne hing. «Aber lassen wir Verlorenes verloren sein, und Sie sagen mir, was Sie zu mir führt – nicht in Begleitung eines Kunden, wie ich sehe. Ein seltenes Vergnügen, meine Liebe. Sehr selten.» Ich errötete bis an die Haarwurzeln. «Auch für mich ist es ein Vergnügen, Mr. Mitchell. Es ist so gemütlich und warm hier oben. Ich habe so gefroren, und der Schnee …» Ich beendete den Satz nicht. «Auf der anderen Erdhalbkugel hat man Sie einfach nicht darauf vorbereitet», sagte er, offenbar auf das Wetter bezogen. Dann saßen wir einfach nur da und genossen die Stille. Mr. Mitchell hob mit den Fingerspitzen eine Prise Tabak aus dem Beutel und stopfte damit seine Pfeife. Ich schaute mich in dem Zimmer um. Es kam mir vor, als säßen wir in einer Zauberlampe. Überall waren Bücher, und ein ledriger Duft mit einem Hauch Vanille lag in der Luft. Die Einbände der alten Bücher schienen einer bestimmten farblichen Ordnung zu folgen – von einem fahlen Gelbton über Braun und staubiges Rot bis zu mattem Blau und Grün. Die Anordnung erinnerte mich an ein Gewebe, ein Auf und Ab von schmalen Graten und Kerben wie bei Cord. Ich fragte mich, ob das Oscar jemals aufgefallen war. Diese feine Art von Ge208
wirk fand auch in Mr. Mitchells Kleidung eine Entsprechung, der Tweed- und Cordstoffe in denselben Farben trug, als wollte er mit seinem Raritätenraum vollends verschmelzen. Sein weißes Haar stand nach oben wie die Seiten eines offenen Buches oder wie Pergamentblätter in einer Lederhülle, so wie sie da in einer Ecke auf dem Boden gestapelt lagen. Kein Zweifel, ich hatte den Raritätenraum auch deshalb so gern, weil er mir irgendwie vertraut war. Er war eine Art Ableger der Hutwerkstatt bei Foys in Sydney, die ich in meiner Kindheit oft besucht hatte. Zwar gab es keine gestapelten Felle und auch keine wandhohen Schubladen mit allerlei Krimskrams, aber jedes alte Buch hier war in gewisser Weise dennoch etwas Ähnliches. Ein Buch war wie eine Schublade, man öffnet es, und Gedanken purzeln heraus. Eigentlich hatte ich Mr. Mitchell von Lillian erzählen wollen, aber ich überlegte es mir anders. Stattdessen fragte ich mich, ob ich wohl den Brief an Pike erwähnen sollte. In dem Brief war ein Manuskript von Melville erwähnt worden, und ich erinnerte mich daran, wie Pike Mr. Mitchell gefragt hatte, ob er etwas für Peabody habe. Doch ich hatte wie Redburn, der Ladendieb, dem Gespräch heimlich gelauscht, und das konnte ich schlecht zugeben. Ich wollte Mr. Mitchell seinen Glauben an das Gute in mir nicht nehmen. Ich hätte ihn gern in so vielen Dingen um Rat gefragt, beschloss jedoch, lieber die Ruhe auf mich wirken zu lassen, die er ausstrahlte. Er zündete seine Pfeife an, und in dem Zimmer aus Papier und Leder flammte der Kopf des Zündholzes auf wie ein Gedanke. Das winzige 209
Licht des Pfeifenkopfes ließ den Raum noch schummriger erscheinen, und alles schien wie mit einer hauchdünnen Ascheschicht überzogen, weich gezeichnet wie eine Erinnerung. «Sie haben doch etwas auf dem Herzen, mein liebes Kind», meinte Mr. Mitchell und unterbrach mich in meinen Gedanken. «Na ja, es geht mir eine ganze Menge im Kopf herum, aber ich möchte Sie nicht damit belästigen.» «Sie belästigen mich nicht, Rosemary, kein bisschen. Ich kann mir schon vorstellen, dass es manchmal ganz schön einsam ist, wenn man zu einem solchen Abenteuer aufgebrochen ist wie Sie.» «Was meinen Sie mit Abenteuer?» «Das Leben, wissen Sie. Erwachsen werden. Die Welt sehen, wie sie ist.» «Manchmal erinnern Sie mich an eine Freundin, die ich in Tasmanien hatte. Esther Chapman. Sie hat auch einen Buchladen, bloß einen kleinen, ganz niedlichen.» «Ganz anders als hier, oder, liebes Kind?» «Ja, aber sie ist so freundlich zu mir wie Sie.» «Das liegt vielleicht an Ihnen, Rosemary, dass man Ihnen mit Freundlichkeit begegnet. Was Miss Chapman und ich gemein haben, das sind vielleicht gar nicht die Bücher, sondern eher unsere Zuneigung zu Ihnen.» Hinter seinem Kopf stand eine Art-déco-Vase mit ein paar müde aussehenden Pfauenfedern darin. Die Federn waren alt, aber mit ihrem lila und türkisfarbenen Kern setzten sie leuchtend bunte Akzente zwischen den verblichenen Buchrücken. «Argusaugen», sagte Mr. Mitchell, der meinem Blick 210
gefolgt war. «Sie beobachten, doch sie sind wohlwollend. Sie fällen kein Urteil», fügte er wie zur Ermutigung hinzu. «Ich wollte Sie etwas fragen. Bezüglich Walter Geist. Ich vermute, ich mache mir einfach zu viele Sorgen, aber …» «Das Arcade braucht ein Gedächtnis, liebes Kind, kein Gewissen. Sie sollten sich über das alte Gespenst nicht zu viele Gedanken machen.» «Aber ich mache mir Sorgen. Da ist etwas Seltsames mit ihm im Gange, er …» «Ha!», gluckste Mr. Mitchell. «Der Mann ist der Inbegriff des Seltsamen.» «Nein, das meine ich nicht. Da ist noch etwas anderes.» Ich wusste nicht, wo ich anfangen sollte. Sollte ich ihm erzählen, dass ich einmal geglaubt hatte, Geist könne mich nicht ausstehen? Oder dass er mir Geld geliehen hatte, vermutlich ohne Mr. Pikes Erlaubnis? Oder dass er mir mittlerweile fast immer zu nah kam und dass er mir die Hand auf den Rücken gelegt hatte? Könnte ich Mr. Mitchell erzählen, dass ich Geist früher für ein Wesen gehalten habe, das ganz allein im Arcade lebte, dass ich mich manchmal irgendwie zu ihm hingezogen fühlte und eine Verbindung zu ihm spürte, die nicht zu benennen war? Was war eigentlich Vorstellung und was Wirklichkeit? Meine Phantasie war immer sehr rege gewesen, und diese Neigung hatte sich durch das Arcade noch verstärkt. Was sollte ich bloß mit Lillian machen? Wusste auch Mr. Mitchell, dass ich in Oscar verliebt war? Und konnte er mir einen Ratschlag geben? 211
«Ja, Rosemary?», fragte er. Ich hatte lange nichts gesagt. «Ach», seufzte ich. «Also, ich wollte Sie fragen, ob Sie glauben, dass Mr. Geist krank ist, Sie wissen schon, dass irgendetwas nicht mit ihm in Ordnung ist.» «Der Mann ist nicht mein Thema, liebes Kind, aber Sie wissen ja, sehr widerstandsfähig ist er nicht.» «Ist Ihnen denn in letzter Zeit aufgefallen, dass es ihm schlechter geht?» «In welcher Weise schlechter? Könnten Sie das erläutern?» «Ich frage mich, ob Ihnen etwas an seinen Augen aufgefallen ist … ob Sie denken, er könnte … Na ja, ob Sie meinen, dass er bald sein Augenlicht verliert.» Mr. Mitchell hörte auf zu lächeln und schaute mich mit aufrichtigem Ernst an. «Nun, Sie wissen ja, dass seine Augen sehr schwach sind, Rosemary. Seine Sehfähigkeit war immer schwach. Er braucht ständig diese sonderbare Brille und hat für die Buchführung eine spezielle Apparatur. Mir ist der Knabe ziemlich schnuppe, das kann ich Ihnen ja ruhig sagen, aber wie kommen Sie denn eigentlich darauf, mein liebes Kind?» «Er sieht in letzter Zeit ein bisschen unordentlich aus, dabei ist er sonst so etepetete. Und», fuhr ich fort, obwohl ich spürte, dass sich etwas in mir dagegen sträubte und mir eine innere Stimme zur Vorsicht riet, «er lässt sich von mir vorlesen. Sie wissen schon, ich soll ihm unten im Keller Preise vorlesen, und jetzt sogar einen Brief, und ich glaube, das liegt daran, dass er selber nicht mehr lesen kann. Ich glaube, er kann sich im 212
Laden bewegen und macht alles nur, weil er die Wege auswendig kennt.» «Einen Brief!», rief Mitchell aus. Er konnte sich kaum auf seinem Platz halten, und sein Gesichtsausdruck war so entflammt wie das Streichholz, mit dem er seine Pfeife angezündet hatte. Was hatte ich da gesagt? Wie hatte ich ihn so komplett aus der Fassung gebracht? Mr. Mitchell versuchte, wieder ruhig zu werden. Er nahm seine Pfeife aus dem Mund, steckte sie aber sofort wieder zwischen die Lippen und sog in kurzen, scharfen Zügen daran, nahm sie wieder heraus und legte den Pfeifenkopf in seine große Hand, während der Rauch ihn einhüllte. Die mythologischen Augen hinter seinem Kopf schauten mich an, träge und hinterlistig zugleich. Pfauenfedern sind dekadent, dachte ich, während sie mich durch die rauchgeschwängerte Luft hindurch anstarrten. Mr. Mitchell räusperte sich scharf. «Haben Sie das mit den Briefen jemand anderem gegenüber erwähnt?», fragte er schließlich, mit hochrotem Gesicht. «Nein», log ich. Ich hatte es bereits Oscar erzählt. Warum sagte ich nicht die Wahrheit? Und ausgerechnet Mr. Mitchell gegenüber? «Die Briefe, die Sie ihm vorlesen, von wem stammen die?», fragte er weit nach vorn gebeugt. Dabei versuchte er seinen Ton ganz sachlich zu halten. «Ach, wissen Sie, Anfragen, Bücher, die zum Verkauf angeboten werden.» Ich versuchte, so harmlos zu klingen wie möglich. «Den größten Teil der Buchhaltung hat er sowieso an Pearl abgegeben», fügte ich sinnloserweise hinzu. 213
«Und diese Briefe sind nicht an ihn adressiert, oder?», schrie er und sprang auf. Ich schüttelte den Kopf. Er machte mir Angst. «Die Briefe müssten an mich gehen! Seltene Bücher gehören nicht zu Geists Bereich!», zischte Mr. Mitchell. Wohl um sich zu beruhigen, biss er auf dem Stiel seiner Pfeife herum und zog sie dann schnell aus dem Mund. Er war erbost, man sah deutlich seinen Ärger. Ich war verwirrt. Schlimmer noch, ich war enttäuscht. Anscheinend dachte er nur an sich. «In den Briefen wird um bestimmte Informationen gebeten, Sie wissen schon, solche Sachen …», sagte ich ausweichend um der Schadensbegrenzung willen. «Nun, vielleicht sieht das für Sie so aus, aber Anfragen sind das Lebenselixier des Raritätenraums», sagte er heftig. «Wissen Sie eigentlich, was hier auf dem Spiel steht? Sie müssen mir sagen, ob Sie Geist Briefe vorgelesen haben, in denen der Verkauf von Büchern oder Handschriften angeboten wird. Sie müssen sich daran erinnern, von wem sie stammen, und es mir sagen. Geist gegenüber brauchen Sie das nicht zu erwähnen. Er weiß letztlich sehr wenig über meine Arbeit hier. Seltene Bücher gehen ihn nichts an. Übrigens auch Pike nicht, solange ich damit Geld ins Haus bringe. Ich brauche diese Briefe. Sie sind nicht für die unkundigen Augen derjenigen bestimmt, die gar nicht den Wert erkennen. Sie enthalten Informationen, auf die ich nicht verzichten kann.» Seine Pfeife glühte wie ein kleiner Himmelskörper in seiner Hand, und ich fürchtete, er nehme vielleicht an, dass ich bereits etwas über Dokumente wüsste, die zum 214
Verkauf standen. Misstrauen ist eine Saat, die beim Schuldigen immer auf fruchtbaren Boden trifft, hatte mir Chaps oft gesagt, wenn sie mich als Kind beim Flunkern erwischte. «Es ist wirklich nichts, Mr. Mitchell», sagte ich und stand ebenfalls auf, denn ich wollte gehen, bevor er mir auch noch den letzten Hauch meiner Vater-Illusion raubte. «Ganz gewöhnliche Briefe», fuhr ich hastig fort. «Sogar eher langweilig. Da war wirklich nichts dabei, das Sie interessieren könnte …» Meinen Fehler bemerkte ich zu spät. «Verzeihen Sie, Rosemary», sagte er trocken. Mir stieg das Blut ins Gesicht. «Aber ich glaube kaum, dass Sie in der Lage sind, zu bestimmen, was mich interessieren könnte und was nicht.» Obwohl die Zeit im Arcade unbemerkt verstrich, waren die Momente hier markiert, als schlüge jemand lautlos den Takt. George Pike hielt auf seinem Podest die Stellung und ging mit einer Regelmäßigkeit seiner magischen Auspreisungsarbeit nach, dass er damit einem Metronom Konkurrenz gemacht hätte. Ich sah ihn als das stille Herz des Arcade, das der Zeit eine Struktur gab, ohne einzugreifen, wie der stete Rhythmus eines Lebens, das sich seiner selbst nicht bewusst ist. Ich hatte selten Gelegenheit, mit Pike zu sprechen, ihn auf mich aufmerksam zu machen, und das war mir auch lieber so. Eingemauert in seiner Einsamkeit stand Pike auf seiner Bühne, und die Bücherwand hinter ihm 215
war so wohlgeordnet wie die Zeilen in einem Kassenbuch. Stellte man sich Pike als Buch vor, so wäre er eine Auflistung von Summen, gezahlt und erhalten, und niemand außer Geist hatte die Erlaubnis, die Seiten jener Bestandsliste zu lesen. «Rosemary», rief Pike, als ich, den Tränen nahe, auf meinem Weg von Mr. Mitchell in Oscars Abteilung an ihm vorbeikam. «Ja, Mr. Pike.» «Wohin gehen Sie gerade?» Er sprach mehr zu dem Buch in seiner Hand als zu mir. «Ich, äh, werde heute Morgen Oscar helfen. Jack und Bruno sind vorne, Pearl ist an der Kasse, und ich weiß, dass Oscar noch die Bücher aus der Handbuchbibliothek einsortieren muss, die letzte Woche hereingekommen ist.» «Hat Mr. Geist Sie dorthin beordert?», fragte Pike und schaute mich endlich an. Sein Ton war gleichmütig. «Nein, Mr. Pike.» «Haben Sie Mr. Geist heute schon gesehen?» Er klang sogar fast freundlich. «Nein, Mr. Pike.» «Dann wird er Ihnen auch noch nicht mitgeteilt haben, was heute am späten Nachmittag Ihre Aufgabe sein wird.» War George Pike wirklich in angenehmer Laune? Was ging da vor? Alles hatte sich umgekehrt: Mr. Mitchell war ekelhaft, und George Pike war freundlich. Ich hatte versucht, Geist aus dem Weg zu gehen, und fürchtete jetzt, Pike würde mich auf der Stelle zu ihm schicken. 216
«Nein, Mr. Pike.» «Sie werden Walter Geist bei einem wichtigen Besuch begleiten. Er hat den Vorschlag gemacht, Sie sollten ihm dabei helfen.» «Ich?», fragte ich ungläubig. «Ein ungewöhnliches Privileg, das versichere ich Ihnen, Rosemary. Aber Walter hat darauf bestanden, und George Pike ist heute in großzügiger Laune. Es scheint, der Besuch ist von pädagogischem Nutzen.» Mein erster Gedanke war, dass Pike vielleicht eine große Akquisition gemacht oder einen teuren Band verkauft hatte, wenn er so zuvorkommend zu mir war. «Sie werden Walter zu Julian Peabodys Bibliothek begleiten. Seien Sie ihm eine Hilfe und sehen Sie sich dort um. Mr. Peabody ist unser liebster Kunde.» Womit Pike meinte, er sei der reichste. «Entschuldigen Sie, Mr. Pike, aber könnten Oscar oder Mr. Mitchell nicht viel eher behilflich sein?» «Sie fangen an, herumzudiskutieren?» Er spähte auf mich herab. «Natürlich wären sie eine größere Hilfe. Sie sind beide mit bestimmten Aspekten von Peabodys Sammlung vertraut. Aber George Pike schickt Sie. Die beiden werden hier dringender gebraucht. Geben Sie gut acht, verhalten Sie sich ruhig und machen Sie das, was Walter Ihnen sagt. Möchten Sie denn nichts lernen?» «Natürlich, Mr. Pike, aber ich …» «Gut. Achten Sie darauf, dass Sie saubere Fingernägel haben. Und blamieren Sie weder sich selbst noch George Pike. Am besten sagen Sie gar nichts.» Er wandte sich wieder dem Buch zu, das er in Hän217
den hielt, zog den Bleistift hinter seinem Ohr hervor und kratzte seinen charakteristischen Schnörkel in die Ecke. Wie konnte er nach so kurzer Überlegung wissen, wie viel es wert war? «Sie wollten mich sehen, Mr. Geist? Ich bin’s, Rosemary.» «Ich weiß immer, wenn Sie es sind, Rosemary. Sie brauchen sich nicht anzukündigen.» Er saß hinter seinem Schreibtisch. Tiefe Furchen der Erschöpfung zogen sich wie Schatten durch seine weiße Haut. Die silberne Kette an seinem Kneifer schlängelte sich um seinen Hals und verschwand in seiner Brusttasche, die Brille war also verstaut. Ich war ihm den ganzen Tag aus dem Weg gegangen, jetzt war es fast drei Uhr. «Ich muss mich für mein rüdes Benehmen letztens entschuldigen.» Ich sagte nichts, denn ich litt immer noch unter Mr. Mitchells Reaktion auf meine Offenbarung. «Sie sollen heute mit mir zu einem Treffen mit einem Sammler kommen.» «Ja, ich weiß. Mr. Pike hat es mir gesagt.» «Holen Sie Ihren Mantel. Wir treffen uns am Südeingang.» «Mr. Geist, warum soll gerade ich mitkommen? Ich weiß doch überhaupt nichts über …» «Sie sollen eben dazulernen, Rosemary», schnitt er mir das Wort ab. «Es ist ein besonderes Privileg. Und Sie haben ja auch ganz recht. Sie wissen gar nichts, aber ich würde Ihnen gerne etwas beibringen.» 218
Ich verließ das Büro, um meinen Mantel aus der Damengarderobe zu holen. Kurz suchte ich Oscar bei seinen Regalen, konnte ihn aber nicht finden, obwohl er schon längst wieder aus der Mittagspause zurück sein musste. Geist würde draußen im Schnee auf mich warten. Ich wollte, dass Oscar wusste, wo ich war; ich wollte ihm von dem Brief erzählen, von dem Zufall, dass Melvilles Name immer wieder auftauchte, von Mr. Mitchells heftiger Reaktion. Von Lillian. Ich wollte einfach keine Geheimnisse vor Oscar haben. Ich ging zum Südeingang und betrachtete Geist einen Moment lang durch das vereiste Fenster. Er stand da und wartete, die einzige Person auf dem freigeschaufelten Pfad, das Gesicht zu Boden gerichtet, und trat nach dem Eis auf dem Boden. Geist trug einen dunklen Mantel aus irgendeinem undefinierbaren dicken Stoff, mit einem Kragen aus mottenzerfressenem Persianer. Weil der Mantel schlaff herunterhing, wirkte seine Silhouette vor dem verschneiten Hintergrund besonders mitleiderregend. Ein verbeulter Hut aus dem gleichen abgewetzten Pelz wie der Kragen saß in einem lächerlichen Winkel auf seinem wolligen Haar. Seine glatten Stiefel waren apart, Spuren eines Interesses an Äußerlichkeiten, doch dieses einzelne Zeichen der Sorgfalt ließ seine Gestalt insgesamt nur noch trauriger wirken. Er bückte sich ein wenig, um die Spitze seines Stiefels abzuwischen, und rieb sich dann die Hand am Mantel trocken. Während ich ihn betrachtete, stellte ich mir vor, wie 219
er sich in seinem alten, ausgebeulten Mantel und Hut langsam auflöste und diese einfach auf der verschneiten Straße zurückließ wie ein Häufchen Holzkohle. Mir kam wieder Arthurs Bemerkung über alte Fotos in den Sinn: Sie verblassten. Es war ein chemischer Prozess. Geist schien nie in die Wirklichkeit zu passen, wie eine Chimäre. Ein Passant starrte in Geists zerstreutes Gesicht und drehte dann sogar noch einmal den Kopf, als er meinte, niemand sehe ihn. Schau mal, ein Albino! Walter Geist war ein Maßstab; an seiner Sonderlichkeit ließ sich ermessen, was auf der Welt sonderlich war. Doch ich war nicht so gnädig, Mitleid mit ihm zu haben. Genauso gut hätte er Mitleid mit mir haben können. Schließlich war ich nichts anderes als eine leere Seite, auf der zu wenig stand, um irgendjemanden zu beeindrucken. Ich öffnete die Tür. Beim Klang meiner Schritte drehte er sich um. «Rosemary», sagte er leise. «Hier bin ich, Mr. Geist.» «Wir müssen die U-Bahn bis zur 86sten Straße East nehmen. Peabody wohnt nicht weit von dort.» «Dann lassen Sie uns hier entlanggehen», sagte ich. Geist legte ein strammes Tempo vor, und ich musste mich anstrengen, um mit ihm mitzuhalten, weil ich in den Schnee einsank und auf dem Eis rutschte. Nur wenige Bürgersteige waren geräumt. Er kannte offenbar die Entfernungen genau, von Bordstein zu Bordstein, von Straße zu Ecke. Ich war fast fünfzehn Zentimeter größer als er. Amüsiert stellte ich mir vor, was für ein ungleiches Paar wir wahrscheinlich abgaben – er klein, farblos, mittleren 220
Alters und ich groß, jung, voller Leben. Der blanke Schnee hob den Unterschied zwischen uns nur noch hervor, wie eine Leinwand, auf der ich mich deutlich abhob, während er mehr und mehr in den Hintergrund trat. Wir warteten auf dem Bahnsteig, gewiss ein seltsames Gespann, wie ein bizarres Pfeffer-und-Salz-Set, aber kaum saßen wir in der U-Bahn, lächelte Geist ein wenig. Als wäre er zufrieden mit sich selbst. Uns gegenüber saß ein Paar und betrachtete Walter Geist wenig wohlwollend. Er bekam es gar nicht mit. Wurde er überall angestarrt, wohin er auch ging? «Können Sie mir etwas über Julian Peabody erzählen?», fragte ich. «Ich könnte Ihnen eine ganze Menge erzählen», sagte Geist. «Aber ich werde es nicht tun. Diese Informationen brauchen Sie heute nicht. Sie werden ihn nicht kennenlernen, wahrscheinlich werden Sie ihn nie kennenlernen. Ich selbst bin ihm in diesen zwanzig Jahren meiner Tätigkeit nur zweimal begegnet.» «Ist seine Sammlung groß?» «Eine der eindrucksvollsten im ganzen Land.» «Und ist er sehr wohlhabend?» «Ganz schrecklich wohlhabend.» Ich wünschte, ich hätte einen besseren Mantel oder auch einen Rock, oder dass ich wenigstens eine meiner guten Blusen angezogen hätte. Die, die Oscar so gut gefiel, die grüne. Er hatte mir erzählt, wie man den Stoff nannte, ein Wort, das ich noch nie gehört hatte. Oscar wusste so etwas natürlich. Meine Haare standen, wie elektrisiert von der Kälte, 221
nach allen Seiten ab, ich hätte sie gerne gebürstet und mit einem Gummiband gebändigt. Jack hatte gescherzt, dass ich so farouche sei. Noch so ein Wort, das ich noch nie gehört hatte, aber als ich es in einem von Oscars Wörterbüchern nachgeschaut hatte, war ich recht erfreut über die Definition gewesen. Ungezähmt. Ich selbst sah mich gern als eine Mischung aus scheu und wild, wie Arthurs tasmanischer Teufel, ein harmloses Geschöpf, solange man es nicht reizte. Aber ich wollte nicht wie jemand aussehen, der draußen lebte und den man von der Straße geholt hatte. Ich strich mir das Haar mit der Hand glatt. «Wir werden uns mit Peabodys Bibliothekar treffen. Samuel Metcalf. Er ist ein alter Freund.» «Ein alter Freund?», fragte ich und betrachtete dabei mein und Geists Spiegelbild in der Fensterscheibe der U-Bahn. «Finden Sie das so unglaublich? Dass ich einen alten Freund haben könnte?» «Nein, es ist nur, dass ich …» «Ich habe durchaus ein Leben außerhalb des Arcade, Rosemary», beharrte er. «Es mag ein etwas einsames Dasein sein, aber es ist ein Leben. Das Buchgeschäft hat es mir ermöglicht.» «Natürlich, ich meinte gar nicht, dass …» «Es ist unbedeutend, was Sie gemeint haben.» Es schien ihm in die Wiege gelegt worden zu sein, sich ständig zu verteidigen. «Wieso ist es unbedeutend, was ich meine?» «Weil das, was Sie über mich denken, nicht von Bedeutung ist», sagte er tonlos und nahm seinen jämmer222
lichen Hut ab. Seine Behauptung ließ vermuten, dass genau das Gegenteil der Fall war und es sogar sehr viel ausmachte. Ich beschloss, nicht klein beizugeben. Das andere Paar im U-Bahn-Wagen fing an zu tuscheln. Der Zug ratterte weiter. «Mr. Geist», sagte ich. «Gerade die Tatsache, dass Sie sagen, was ich über Sie denke, habe keine Bedeutung, heißt, dass es Sie sehr wohl interessiert. Zumindest hat es eine gewisse Bedeutung.» «Was – es?», fragte er. «Was ich über Sie denke.» Er schloss einen Moment lang die Augen, und die Augäpfel rollten hinter den weißen Lidern hin und her. Standen sie eigentlich jemals still? «Damit wollte ich nur sagen, Rosemary, dass Sie wahrscheinlich überhaupt nicht über mich nachdenken», sagte er und öffnete die Augen. «Das stimmt nicht. Ich habe sogar ziemlich ausgiebig über Sie nachgedacht.» Und ich lächelte. Das stimmte ja schließlich. Er drehte den Kopf zu mir, seine Augen wanderten, geplagt von muskulären Zuckungen, und sein Mund verzog sich zum Hauch eines Lächelns. Er schlug die Beine übereinander. Wir fuhren eine Weile schweigend weiter, bis eine gedämpfte Stimme über den Lautsprecher zu hören war. «Bei der übernächsten müssen wir raus», sagte Geist, nahm seinen Hut und setzte ihn sich auf den Kopf. «Meine Mutter hatte einen Hutladen in Tasmanien», sagte ich, beugte mich zu ihm hinüber und rückte das unvorteilhafte Ding auf seinem Kopf gerade. Der Pelz 223
fühlte sich fettig an. Er schrak angesichts meiner Kühnheit nicht zurück, sondern setzte sich sogar etwas gerader hin, während ich mir an seiner Kopfbedeckung zu schaffen machte. «Der Laden hieß Remarkable Hats», sagte ich. «Ein Hutladen in Tasmanien, das klingt wirklich sehr unwahrscheinlich», sagte Geist. Das Paar stand auf und begab sich ans andere Ende des Wagens. Der Zug ruckelte heftig und brachte die beiden ins Wanken. «Gerade unwahrscheinliche Dinge sind oft wahr», sagte ich. «Zum Beispiel ja auch die Tatsache, dass ich hier in New York bin. Wir haben über dem Laden gewohnt. Ich habe ihr mein ganzes Leben lang im Laden geholfen. Bis sie starb.» «Ach», sagte er. «Das tut mir leid. Aber dann kennen Sie sich wenigstens mit Hüten aus», schloss er. Wenigstens? «Das stimmt. Und dieser hier ist zu klein für Sie.» Ich drückte ihm den Hut noch tiefer in die Stirn, doch jetzt saß er erst recht nicht, als fände er das wollige Haar unappetitlich. «Ich habe ihn geerbt», sagte er. «Er gehörte meinem Vater.» «Dann hatte er offenbar einen kleineren Kopf als Sie.» «Wir waren in jeder Hinsicht verschieden», sagte Walter Geist. «Er war Deutscher, wissen Sie, und sehr streng. Mein Vater», fügte er ohne sichtliche Regung hinzu, «war nicht sehr zufrieden mit mir.» Wenigstens hatten Sie einen, dachte ich, aber ich sagte es nicht. Mein Selbstmitleid erschien mir in die224
sem Moment unangebracht, und schließlich hatte Geist mir gerade ein außergewöhnliches Geständnis gemacht. «Nicht sehr zufrieden» war eine recht seltsame Umschreibung. Der Zug wurde langsamer, stoppte schließlich, und die Türen öffneten sich. Geist hielt sich einen Moment lang an der Chromstange in der Mitte des Abteils fest, bevor er ausstieg, und ich sah, wie das Paar, die einzigen weiteren Fahrgäste im Zug, ihm mit unverhohlener Neugier hinterherstarrte. Schau mal, ein Albino! Und ehe ich ausstieg, einen Schritt hinter Walter Geists ungewöhnlicher Gestalt, streckte ich ihnen die Zunge heraus.
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Zwölftes Kapitel
H
allo, Metcalf. Lassen Sie uns rein?» Geist sprach in eine Sprechanlage aus poliertem Messing, die in eine Sandsteinwand eingelassen war. Trotz des Schnees und der Kälte war er sehr guter Laune. Mit Geist außerhalb des Arcade zu sein, war ganz anders, als ich mir es vorgestellt hatte. Er wollte mir Dinge zeigen. Die Straße war auf groteske Weise beeindruckend. Sie ging von der Park Avenue ab, und jedes Haus schien mit seinen opulenten Details (Messing, Stein, poliertes Holz) das Nachbarhaus noch übertrumpfen zu wollen. Selbst auf meinen wenigen, lange zurückliegenden Streifzügen durch die Stadt war ich selten so weit nach Norden gekommen, und wenn, dann meistens zu Spaziergängen im Central Park; auf die Idee, mir die imposanten Fassaden reicher Viertel in der Upper East Side anzuschauen, war ich nicht gekommen. Ich kannte meine Grenzen. Ich war ein Eindringling in ein Reich, in dem eine andere Spezies lebte – die Verfeinerten, die Erlesenen. Peabodys Sammlung war in der Mitte des Blocks untergebracht, in einem riesigen Sandsteingebäude, das so breit war wie zwei Brownstone-Häuser zusammengenommen. Während wir warteten, betrachteten wir die dunkle, schwere Holztür hinter dem makellos polierten Metallgitter. Mit einem Summen öffnete sich die Tür – ganz langsam, ihrem Gewicht und ihrer Größe angemessen. Ein großer Mann streckte den Kopf um die Tür. 226
«Walter. Schön, Sie zu sehen», sagte er, schloss das Gitter auf und öffnete es schwungvoll. Sie schüttelten sich die Hand. Samuel Metcalf war so dünn, dass er fast ausgemergelt wirkte, doch seine Bewegungen waren so lebhaft, als flatterten seine Gliedmaßen im Wind. Wie ein architektonisches Detail gab eine schwere, modische Brille seinem glatten Gesicht Struktur, als wollte sie bei dem Gezappel wenigstens seinen Kopf still halten. Und der ganze Mann schimmerte. Offenbar benutzte er eine ganze Reihe von Pflegeprodukten; sein dünnes Haar, das er mit Gel aus der Stirn gestrichen hatte, lag makellos gekämmt am Kopf, seine Haut war eingecremt, sodass sie wächsern schimmerte, und bei jeder seiner Bewegungen stieg mir der Duft nach Eisenkraut in die Nase. Metcalf war vermutlich etwa in Geists Alter, sah aber sehr viel jünger aus. Ein Rollkragenpullover aus Kaschmir schmiegte sich an seinen drahtigen Körper, und da er ganz in Schwarz gekleidet war, wäre es ein Leichtes gewesen, ihn mit seinem eigenen Schatten zu verwechseln. «Nett von Ihnen, dass Sie es so kurzfristig einrichten konnten», sagte Geist. Sein Selbstvertrauen schwand dahin, sobald wir das Haus betraten. Der Kontrast zwischen den beiden Gestalten war fast so groß wie der zwischen Geist und mir. Metcalf war fahrig und entschlossen zugleich, während Walter Geist neben ihm wie ein Gespenst wirkte. «Ja, ja», sagte Metcalf und sah mich zum ersten Mal. «Putzen Sie doch bitte Ihre Füße ab, der Schnee, wissen Sie. Peabody ist sehr eigen, und die Teppiche sind mehr 227
wert als mein Leben.» An Geist gewandt, fügte er hinzu: «Ich hatte eigentlich gedacht, Pike würde persönlich kommen, Walter, wo es sich doch um etwas so Außergewöhnliches handelt.» «Sie wissen ja, Sam, ich bin der Geschäftsführer. Er hat es ganz meinem Urteil überlassen. Er möchte sich nicht damit befassen, bevor nicht alles unter Dach und Fach ist.» «Wenn wir die Echtheit feststellen können, verstehen Sie, ist es eine große Sache, Walter», sagte er leise. «Sehr groß.» «Das habe ich mir schon gedacht», murmelte Geist, während wir unsere Füße an einer borstigen Matte abstreiften, die direkt hinter der Tür lag. Als die schwere Tür ins Schloss gefallen war, wandte sich Metcalf nach mir um und musterte mich. «Ach ja, Sam», sagte Geist. «Ich möchte Ihnen eine Angestellte des Arcade vorstellen, die mich heute begleitet. Meine Assistentin.» «Sie haben keine junge Dame erwähnt.» Metcalf schenkte mir ein blitzendes falsches Lachen, das seine großen, eckigen Zähne entblößte, und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, die, im Kontrast zu seinem mageren Körper, eher voll waren. «Darüber können wir oben sprechen», sagte er leise zu Geist. «Rosemary Savage, aus Australien», stellte Geist mich vor, als wir in der hohen Eingangshalle standen. Eine herrliche Treppe führte mit einem dramatischen Schwung nach oben. Überall waren schöne Dinge zu sehen, Skulpturen, Gemälde, ein Spiegel mit geschliffe228
nen Rändern, der sich aus Hunderten kleinerer Spiegel zusammensetzte. Solchen zur Schau gestellten Reichtum, solche Überladenheit hatte ich noch nie gesehen. Nicht einmal im Museum, wo die Schätze ja oft über viele Räume verteilt sind, vor weißen Wänden ausgestellt, damit auch ja niemand davon überwältigt wird. Das hier war ein Museum und ein Zuhause zugleich, hier buhlten die Dinge um Aufmerksamkeit, man konnte sie berühren und möglicherweise sogar benutzen; sie waren zugänglich und wirkten in ihrer Anziehungskraft, ihrer Vielfalt fast sinnlich. «Wirklich?», sagte Metcalf mit gewissem Interesse, an mich gerichtet, während ich das herrliche Innere des Hauses betrachtete. Er räusperte sich. «Australien. Jenes große Amerika auf der anderen Seite des Globus haben die Walfänger der aufgeklärten Welt zum Geschenk gemacht! Ganz schön weiter Weg, nur um im muffigen alten Arcade zu arbeiten.» «Eigentlich sogar noch weiter», antwortete ich, da ich nicht wusste, dass er Melville zitiert hatte. «Ich bin aus Tasmanien.» «Ich muss sagen, das ist ziemlich exotisch», bemerkte Metcalf grinsend. Und tatsächlich klang es wie ein Witz, dass ausgerechnet ich, hier in der Eingangshalle mit den vielen kostbaren Gegenständen, in Gesellschaft dieses manikürten Mannes, als exotisch gelten sollte. Als ich mich selber in dem venezianischen Spiegel erblickte, mit meinen wildzerzausten Haaren, wurde mein Spiegelbild hundertfach gebrochen. Einen Moment lang war ich in einem schrecklichen Kaleidoskop gefangen, das mich 229
unendlich vervielfältigte, wie eine Schar identischer Waisenkinder aus einem Roman von Dickens, rötlich von Kopf bis Fuß und mager. Geist, auch er ein eher glückloser Exot, nahm seinen geerbten Hut und seinen schäbigen Mantel ab. «Nun», sagte Metcalf, während er unsere Mäntel in einem Garderobenschrank verstaute, dessen Tür sich über einen Knopf in der Wand öffnen ließ. «Das hier ist gewiss ein Ort für Kuriositäten.» «Wie bitte?», fragte ich empört, weil ich dachte, er habe mich gemeint. «Kuriositäten, Rosemary», sagte Geist, an mich gewandt. «Peabody sammelt nicht nur seltene Bücher, er beherbergt hier auch eine große Sammlung von Kuriositäten. Kunstschrank nennt man das», sagte er in geziertem Deutsch. «Oder auch Wunderkabinett. Ihn fasziniert die seit dem späten Mittelalter gängige Praxis, wunderliche Dinge zu sammeln. Solche Sammlungen haben Tradition seit – dem sechzehnten Jahrhundert, stimmt’s, Sam?» «Genau. Junge Dame, vielleicht haben Sie Lust, sich einige der Ausstellungsräume anzusehen, während Mr. Geist und ich uns in die Bibliothek im oberen Stockwerk begeben?» Er versuchte mich loszuwerden. Es war offensichtlich, dass Geist mich besser nicht hierher mitgebracht hätte. Dass er einen Fehler gemacht hatte. Geist wandte sich mir zu. «Ja. Vielleicht ist es das Beste», flüsterte er. «Wir haben verschiedene Dinge zu besprechen.» Ich stand da, verwirrt und peinlich berührt. Anscheinend sollte ich ihm nicht assistieren, auf welche Weise 230
auch immer er sich das vorgestellt hatte. Ich war mir sicher, dass Geist gekommen war, um über den Brief zu sprechen, den ich ihm vorgelesen hatte. Weil ich Pike belauscht hatte, wusste ich ja, dass Peabody besonders an amerikanischen Schriftstellern des neunzehnten Jahrhunderts interessiert war. Melville verfolgte mich, er blieb mir überall auf den Fersen. Hatte Metcalf nicht Wale erwähnt? Er räusperte sich wieder. «Lassen Sie mich nach unserer zweiten Kuratorin, Miss Kircher, rufen. Die Ausstellung ist nicht mein Fachgebiet, wissen Sie. Ich bin oben in der Bibliothek.» Er drückte auf einen Knopf, der in eine kunstvoll verzierte Fassung aus Marmor und Gold eingelassen war. Irgendwo war eine Glocke zu hören, elegant, aber auch beharrlich, während wir in unbeholfenem Schweigen warteten. Eine mürrisch dreinblickende Frau erschien. Sie war Ende zwanzig, trug aber teure Kleidung, die besser zu einer doppelt so alten Frau gepasst hätte. Das Haar hatte sie zu einem strengen Knoten zusammengefasst, und sie war rundlich, ohne dabei kräftig zu wirken. Ihre Kleidung saß ein wenig zu eng, wodurch sie plump und steif zugleich aussah. «Was gibt’s, Mr. Metcalf?», fragte sie knapp. «Ich habe mich gefragt, Miss Kircher, ob Sie vielleicht ein Auge auf unsere junge Freundin hier haben könnten, während Mr. Geist und ich oben über geschäftliche Dinge und Bücher sprechen.» «Wie geht es Ihnen, Mr. Geist?», sagte sie mit einem herablassenden Ton. Er nickte in ihre Richtung. Offensichtlich kannten sie sich. 231
«Ich habe zu tun», sagte Miss Kircher zu Metcalf, nachdem sie mich kurz von Kopf bis Fuß gemustert hatte. «Außerdem möchte ich um fünf gehen.» Keiner hatte Lust, sich um mich zu kümmern, und ich stand da wie das arme Mädchen mit den Schwefelhölzern: Es war in eine Szene gefallen, die es von draußen durch ein Fenster beobachtet hatte, aus der verschneiten Kälte eingelassen in eine warme, behagliche Welt. Hier war etwas schiefgelaufen. Metcalf schaute Miss Kircher finster an und wandte sich dann zur Treppe, die Hand auf Geists Schulter, um ihn wegzuführen. «Fassen Sie einfach nichts an», flüsterte mir Geist zu, bevor er Metcalf die prächtige Treppe hochfolgte, die Hand fest am breiten polierten Geländer, um sich beim Hochsteigen abzustützen. Miss Kircher schnalzte ungehalten mit der Zunge. «Ich gebe Ihnen eine Broschüre», sagte sie. «Es ist üblich, vorher einen Termin für eine Führung auszumachen. Das hier ist höchst ungewöhnlich», fügte sie hinzu. «Tut mir leid», erwiderte ich eingeschüchtert. «Das wusste ich nicht.» «Offenbar nicht, nein», sagte sie. Miss Kircher reichte mir eine Reihe bedruckter Blätter und Prospekte, die als Informationsmaterial für die Besucher der Sammlung gedacht waren. Über der offen stehenden Doppeltür zu den Ausstellungsräumen war ein Aphorismus in Latein direkt an die Wand gemalt: Quanta rariora tanta meliora. «Entschuldigen Sie bitte, was bedeutet das da oben?», 232
fragte ich Miss Kircher, die sich bereits zum Gehen wandte. Ich zeigte auf die Inschrift über unseren Köpfen und zückte mein Notizbuch, um den Spruch aufzuschreiben. «Je seltener, desto besser», sagte sie trocken. «Mr. Peabodys Motto. Wunderkammern» – sie sagte das Wort auf Deutsch – «zelebrieren den Kult des Außergewöhnlichen. Das steht alles in der Broschüre.» Sie starrte mich an, während ich dastand, und ich fühlte mich seltsam gedemütigt. Miss Kircher hielt sich offenbar für außergewöhnlich, obwohl sie mir überhaupt nicht danach aussah. Vielleicht war das alles eine Frage des Selbstbewusstseins. Selbstgefälligkeit hatte nie zu meinen Eigenschaften gehört, aber es war durchaus eindrucksvoll, sie an anderen zu beobachten. «Fassen Sie nichts von den Objekten an», warnte sie. «Die Räume werden ausnahmslos von Kameras überwacht.» Mit diesen Worten drehte sie sich auf dem Absatz um und ließ mich in dem prächtigen Foyer stehen. Unter Peabodys Motto hindurch betrat ich den ersten einer ganzen Reihe riesiger Räume, von denen jeder in einer anderen Farbe gestrichen war. Der erste, der Salon, zugleich das größte Zimmer, war grün. Hoch oben an der Wand war ein Schild gemalt: Naturalia. Glasvitrinen standen an den Wänden und einige, die nur ein einzelnes Objekt enthielten, auch in der Mitte des Raumes. Ich hatte das deutliche Gefühl, beobachtet zu werden. Blicke folgten mir; aus den Glasaugen der Tiere (einem ausgestopften Bären, Geschöpfen, die aussahen 233
wie Rehe) ebenso wie aus den braunen, pupillenlosen Augen der strengen Bronzestatuen. Auch die seltsam farblosen Augen eines unheimlichen Porträts schienen mich zu verfolgen; das Bild zeigte einen verkrüppelten Zwerg, der bis auf eine üppige Halskrause und einen spitzen Hut auf dem Kopf nackt war. Sein dargebotener Körper war halb Fisch, halb Mensch. Mich schauderte. Kameras waren nirgendwo zu sehen. Ich setzte mich einen Moment lang in einen gedrechselten Stuhl, um in den Broschüren zu lesen und mich zu sammeln. Aus der Lehne des Stuhls wuchsen geschwungene Hörner, eigentlich ein gewöhnliches Objekt, das in der Verwandlung vom Stuhl zum mythischen Ungeheuer stehengeblieben war. Ein Mischwesen. Ich empfand eine tiefe Unruhe, war aber zugleich auch fasziniert. Zum ersten Mal wurde mir bewusst, dass Unbehagen ein Teil der Neugier ist. In der Broschüre wurde geschildert, welche Absicht sich hinter mittelalterlichen Wunderkabinetten verbarg, nämlich das Seltene und Einzigartige zu definieren, zu entdecken und seiner habhaft zu werden. Die Objekte wurden dann in einer besonderen Umgebung ausgestellt, wodurch sie eine weitere Bedeutung erhielten – indem sie anderen Dingen gegenübergestellt wurden oder sogar einfach durch die leeren Räume zwischen den Objekten. Nicht dass Peabody viel Raum zur Verfügung gehabt hätte. Durch diese vielen ungewöhnlichen Dinge fühlte man sich fast ein wenig bedrängt. Peabody, so hieß es in der Broschüre, interessiere sich leidenschaftlich für Analogien, denn diese seien, wie ich mir sogleich notierte, Grundgedanke der Magie 234
einer jeden Sammlung und schließlich jeder ästhetischen Theorie. Ich stellte mir Peabody als jemanden vor, der selbst etwas von einer Kuriosität haben musste, und auch ich kam zu einer Analogie: George Pike, der Magier des Arcade, war Julian Peabody für Arme. Der Begriff Naturalia stand einfach für Dinge aus der Natur. Ich ging von Vitrine zu Vitrine und las die Beschriftungen. Fossilien, Straußeneier, schöne Muscheln, die Hörner von Einhörnern (in Wirklichkeit die Stoßzähne von Narwalen), ausgestopfte Vögel, versteinertes Holz, riesige Samenhülsen, getrocknete und gepresste Flora, gigantische Kokosnüsse von den Seychellen. Das alles erinnerte an das Sammelsurium eines ehrgeizigen Kindes, eines Kindes, das die Manie hat, alles aufzuheben, was ihm vor die Füße fällt; ein Kind, das Vogelnester plündert. Auf den Etiketten stand zu lesen, früher habe man die riesigen durchscheinenden Bergkristalle für die versteinerten Tränen alter Götter gehalten, für «ewiges Eis», das die Kraft habe zu heilen. Rote Korallenzweige galten als Aphrodisiakum. Und als ich ein grünes Stück Quarz von der Größe meines Kopfes sah, zog ich Chaps’ Amulett, meinen Talisman gegen Herzeleid, aus der Tasche und verglich die Farben. Es war der gleiche Stein. Hier wurde er als Plasma bezeichnet, ein Edelstein, der angeblich die Sehkraft stärkte und Schmerzen linderte. Ein ebenso großer polierter Opal schimmerte dunkel, wie mit kleinen Blitzen von innen beleuchtet – ein Planet, ein schwarzer Mond. Im nächsten Raum, er war gelb gestrichen, befanden sich die Artificialia. In seltsamen Mischformen trafen 235
hier vom Menschen geschaffene Kreationen auf die Natur. Es waren zwanzig oder mehr bizarre Gefäße und Flaschen zu sehen, in denen ausladende Gold- und Silberskulpturen ausgestellt waren, Glucken, Hähne, Straußen, Papageien, Meerjungfrauen, Seepferdchen, mit Muscheln geschmückt, und sogar ein kauernder Satyr war dabei, der mich mit rubinroten Augen lüstern anstarrte. Eine große Nautilusmuschel, die den perlmuttenen Bauch eines silbernen Seepferdchens bildete, war in Wirklichkeit eine Tasse, die sich, einem geheimen Mechanismus folgend, über einen Tisch bewegte, wenn ein obskures Trinkspiel im Gange war. Rote Korallenzweige sprossen aus dem Kopf eines eindrucksvollen goldenen Mannes: Jupiter, dem Göttervater. Er stand breitbeinig auf einer aufwendigen Schreibkommode mit Hunderten von Unterteilungen und Geheimfächern und hielt einen weiteren Korallenzweig in der Hand: laut der Erläuterung neben der Kommode ein Blitz, Symbol für Inspiration. Hohe Elfenbeintürme, erstaunlich fein geschnitzt und gedrechselt, und so dünn, dass sie fast durchscheinend waren, enthüllten geometrische Formen innerhalb der Formen, Meisterstücke der Perspektive und der Schnitzkunst, die kaum zu begreifen waren. Diese Elfenbeinschnitzereien schienen das Sichtbare an seine Grenzen zu führen – eine winzige Fregatte, hinter einer Lupe aufgebaut, ähnlich der, die Geist im Arcade benutzte, schien die Unendlichkeit in sich selbst zu beinhalten. Miniaturporträts waren in Kirschkerne geschnitzt, Dutzende davon, in einem verwirrenden Spiel 236
mit Maßstäben. Und in der Tat war die ganze Übung – die Darbietung des ungewöhnlich Großen neben dem ungewöhnlich Kleinen – etwas Sonderbares. Die Übertreibung selbst verursachte Unbehagen. All diese hybriden Schätze, Verschönerungen der Natur, stammten aus einer Periode zwischen dem späten sechzehnten und dem frühen siebzehnten Jahrhundert und hatten ursprünglich zu den Sammlungen europäischer Fürstenhäuser gehört. Offenbar hielt sich Peabody selbst für eine Art Fürst, oder er tat so, als wäre er einer. Die Broschüre brüstete sich damit, die Praxis des Sammelns sei im Adel entstanden und in der Renaissance so weit institutionalisiert worden, dass daraus das Museum der Neuzeit entstanden war. Ein Adliger konnte alles kaufen. Wissen war Macht, und mit Sammlungen hielt man das Wissen unter Kontrolle. Nur der Adel hatte Zugang zu den Kunstkammern, ebenso wie heutzutage nur wenige Menschen Peabodys Sammlung bewundern durften. Ich durchschritt einen weiteren gelben Raum und ruhte mich eine Weile auf einer niedrigen Lederbank aus, die vor einem furchterregenden Automaten in Gestalt eines grotesken Teufels mit dem Körper einer griechischen Statue stand. Sein Kopf schwenkte in meine Richtung, als ich mich hinsetzte. Vielleicht war ein geheimer Mechanismus in den Boden eingelassen, der auf Druck reagierte. Bis ins Mark erschrocken, kehrte ich ihm den Rücken zu, spürte aber seinen Blick, der sich in meine Schultern bohrte. Rasch stand ich wieder auf. Vor mir standen eine Reihe von Uhren, Armillarsphären und astronomischen Instrumenten. Auf Schil237
dern, die an der Wand hingen, las ich, dass das Mechanische, der Automat, Kunst und Natur verbinde und die Natur neu erschaffe. Leben im Leblosen, sogar ein Versuch, das Leben über den Tod hinaus zu behaupten. Viele Objekte waren in gewisser Weise auch ein Memento mori, Dinge, die des Todes gemahnten, und der Zweck von Sammlungen bestand auch immer darin, verlorene oder letzte Dinge zu zelebrieren. Ich fragte mich, ob Peabody wohl ein Mensch sei, der zu Melancholie neigte, weil er die Dinge von Menschen in seinen Besitz brachte, die längst tot waren. Aber war das denn etwas anderes, als wenn man gebrauchte Bücher kaufte und verkaufte? Ich schrieb an jenem Tag viel von dem auf, was ich sah, doch verstand ich mit meinen achtzehn Jahren kaum etwas, ich nahm nur die sonderbare Schönheit und die verblüffende Eigenart dieses Kabinetts wahr. Am meisten beeindruckte mich der Reichtum. Jetzt, Jahre später, denke ich an jene bedeutsamen Analogien zurück, an diese rätselhaften Übereinstimmungen, die Sammler immer herzustellen versuchen. Ich selbst hatte eine solche Übereinstimmung entdeckt, als mein eigener ärmlicher Krimskrams in meinem Zimmer mich an jene Schubladenwand bei Foys erinnert hatte. Kleinkram wird bedeutsam, zum Beispiel eine Kladde mit allerlei Überbleibseln. Und auch eine Huon-Schachtel, die ich bewahrte, obwohl ich wusste, dass Mutter von mir gegangen war. Peabodys Kabinettszimmer jedoch waren nicht sehr persönlich gestaltet. Schließlich hatte er sie – so die kühne Überschrift in der Broschüre – «Theater der Welt» getauft. 238
Miss Kircher tauchte auf, als ich mir gerade eine astronomische Uhr anschaute. Ich spürte ihre Anwesenheit, als sie neben dem Teufelsautomaten stehen blieb, drehte mich aber nicht um. Wahrscheinlich hatte sie mich die ganze Zeit über auf einem geheimen Bildschirm beobachtet. Sie konnte warten. Ich studierte eine eingravierte Inschrift auf Deutsch, eingelassen in einen Mahagonisockel, auf dem der komplizierte Zeitmesser ruhte. Vier Zifferblätter zeigten die Stunden, Viertelstunden, den Breitengrad sowie die Stellung der Planeten an jedem Tag. Ich sah, dass Jupiter im Aufsteigen begriffen war, Mars im Fallen, und dass die Uhr auf fast acht Uhr stand, der Zeit also, an der sie aufgehört hatte, die Zeit anzuzeigen, zumindest in diesem Jahrhundert. Auf dem Schildchen an der Wand stand zu lesen, die Uhr sei im Jahre 1572 gebaut worden, doch wenn man sich die vier Zifferblätter anschaute, mit einem gemalten Universum als Hintergrund, so hatte es den Anschein, als zeige sie die Ewigkeit an und ihr Schöpfer sei unsterblich. «Schön, nicht wahr?», bemerkte Miss Kircher. Sie hatte offenbar versucht, mich zu überraschen, vielleicht weil sie hoffte, sie würde mich erwischen, wie ich ihre Regel übertrat, indem ich etwas anfasste. «Alles hier ist schön», sagte ich, wobei ich sie natürlich nicht mit einbezog. «Und was nicht auf Anhieb schön erscheint, hat trotzdem seinen ganz eigenen Reiz.» «Ich freue mich, dass Ihnen das nicht entgangen ist», sagte sie sauertöpfisch. «Sie können sich durchaus glücklich schätzen, einige dieser Objekte sehen zu dür239
fen. Natürlich setzt sich die Sammlung noch in mehreren weiteren Räumen fort, doch mir wäre es lieber, wenn Sie im Foyer auf Mr. Geist warteten. Es ist fast fünf, und ich habe sie eben die Bibliothek verlassen hören.» Die Bibliothek! Während ich durch die Räume des Kabinetts gewandert war, hatte ich völlig vergessen, dass Peabody vor allem Bücher sammelte. Schließlich war ich ja eigentlich hierhergekommen, um mir die Bibliothek anzusehen. «Können Sie mir noch sagen, was da auf der Uhr steht?», fragte ich und machte Miss Kircher noch einmal zu meiner widerwilligen Übersetzerin. Ich hielt es für mein Recht, etwas zu lernen, und wollte so viel Information wie möglich in mich aufnehmen. «Vor mir war keine Zeit, nach mir wird keine seyn. Mit mir gebiert sie sich, mit mir geht sie auch ein», zitierte sie in übertrieben gutturalem Deutsch. Die Kuratorin gab mir deutlich zu verstehen, dass sie nicht vorhatte, mir das zu übersetzen, sondern ihr Wissen lieber für sich behielt. Doch während sie sprach, waren Geist und Metcalf in der Tür erschienen. Sie warteten, dass Miss Kircher den Satz übersetzen würde, doch weil sie schwieg, übernahm Walter Geist diese Aufgabe. Er war zu mir getreten und sprach ganz leise. Seine Stimme klang ganz sanft in diesem gelben Raum mit den tickenden Uhren. Er fasste mich am Ellbogen. Miss Kircher schniefte. «Nun denn», sagte Metcalf und räusperte sich, als wollte er absichtlich den Zauber brechen. Dieses Räus240
pern war wirklich eine ärgerliche Angewohnheit. «Zweifellos haben Sie recht, Walter. Wir sind alle miteinander Uhren! Keine Zeit zu verlieren, und es ist wohl besser, wir machen hier erst einmal Schluss für heute!» Er räusperte sich wieder. «Ich bringe Sie dann hinaus.» «Danke schön, Miss Kircher», sagte ich höflich, Geist an meiner Seite. «Guten Abend, Mr. Geist», sagte sie, ohne mich zu beachten. Ich führte ihn zum Eingang zurück. Er hatte seine Hand immer noch an meinem Ellbogen. Metcalf half ihm in den Mantel und gab ihm seinen Hut, und schon standen wir wieder draußen auf der verschneiten Straße, die schwere Tür und das Metallgitter fielen ins Schloss, und die Kunstkammer war nur noch ein Traum, ein Hirngespinst. Draußen war es dunkel und kalt. Der Mond stand, wie eine Spiegelscheibe, glänzend und silbrig, direkt über den Dächern am Ende von Peabodys Straße. Das Licht, das er warf, wirkte sonderbar unecht, künstlich. Ich wusste nicht, warum mich Geist zu Peabody mitgenommen hatte. Mir fiel wieder der Brief ein, in dem der Name Melville erwähnt worden war, und ich wusste, dass ich das alles mit Oscar besprechen musste, wenn ich daraus schlau werden wollte. Außerdem war ich am Verhungern, weil ich mein Mittagessen hatte ausfallen lassen. «Ich fahre jetzt weiter in Richtung Uptown, Rosemary», sagte Geist. Er tätschelte mir den Arm – eine selt241
same Geste, die eindeutig zu vertraut war. Sollte ich ihn etwa nach Hause bringen? War das die Hilfe, die er brauchte? Ich wusste nicht, wo er wohnte, und ich fragte mich, wie er sich wohl im Dunkeln zurechtfand. Er wartete, aber ich wusste nicht, worauf. «Danke, Mr. Geist», sagte ich, weil ich dachte, er erwarte vielleicht Dankbarkeit von mir. Doch die empfand ich auch wirklich. Auch nur einen Teil von Peabodys Sammlung sehen zu dürfen, war ein Geschenk gewesen. «Danke, dass Sie mich zu Peabody mitgenommen haben. Ich werde immer daran zurückdenken. Immer.» «Ich dachte mir schon, dass Sie es interessant finden würden», antwortete er nervös, aber erfreut. «Ich wollte, dass Sie Sam Metcalf kennenlernen, aber das war heute vielleicht nicht gerade die …», er hielt inne und suchte nach dem richtigen Wort, «… optimale Gelegenheit. Vielleicht ein andermal, es gibt verschiedene Dinge, die ich Ihnen gerne zeigen würde. Oben in der Bibliothek.» Ich hätte ihn wohl fragen sollen, warum heute nicht die optimale Gelegenheit gewesen war, was er überhaupt als optimal empfand, aber auf einmal wollte ich ihn nur noch loswerden. Auch mein Pflichtgefühl ihm gegenüber war mir unangenehm. Ich war mir nicht sicher, ob ich unbedingt sehen wollte, was er mir zu zeigen hatte, obwohl mich die Vorstellung, Peabodys Bibliothek zu besuchen, reizte. Vielleicht würde mich Pike ja eines Tages mit Oscar hinschicken? Oder mit Mr. Mitchell? Walter Geist drückte seine herabhängenden Schultern durch. 242
«Er fand Sie übrigens attraktiv, Rosemary», stieß er hervor. «Sam sagte, er finde, Sie sehen sehr ungewöhnlich aus.» Mir schienen sich diese beiden Aussagen zu widersprechen, und ich konnte mir auch keine Situation vorstellen, in der mein Aussehen zwischen den beiden zur Sprache gekommen sein könnte. Der Gedanke, dass die beiden Männer sich über mein Äußeres austauschten, war mir jedenfalls sehr unangenehm. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Unser Schweigen legte eine Vertrautheit zwischen uns nahe, die gar nicht bestand. Er schien noch etwas sagen zu wollen, tat es dann aber nicht. Da ich der Situation so schnell wie möglich entkommen wollte, wünschte ich ihm abrupt eine gute Nacht und ließ ihn einfach dort an der Straßenecke stehen, schwankend und zögerlich, im verzerrenden Lichtschein des schiefen Mondes. In jener teuren Gegend waren die Straßen alle gesäubert und geräumt. Weiter südlich, wenige Avenuen entfernt, ließ ein Straßenarbeiter in einem kleinen Schneepflug die weiße Pracht in einem hohen, fedrigen Bogen über den Bürgersteig durch die Luft fliegen. Die Stadt bei Nacht war wie verwandelt, als hätte sie jemand neu erfunden. Ich durchquerte die Stadt, dachte nach, wobei ich, ohne mir dessen bewusst zu sein, meinem alten Muster folgte, runter und rüber, runter und rüber, und mir noch einmal den Inhalt von Peabodys Räumen ins Gedächtnis rief. Ich griff nach meinem Amulett von Chaps und dachte an die gefrorene Träne aus Quarz, an furchterregende mechanische Menschen, verstörende 243
Zwerge und an Jupiter, der einen Blitz aus roter Koralle warf. Warf er ihn, um einem Schreibenden einen Gedankenblitz zu schenken, oder weil die Koralle ein Aphrodisiakum war? Sah ich wirklich ungewöhnlich aus? Attraktiv? In jener Nacht, nach meinem Besuch in Peabodys Kabinett, kam mir die Stadt ganz surreal vor. Die Straßen wirkten wie ein Trugbild, als vermehrten sie sich ständig – gespiegelte Straßen, verdoppelt, erfunden. Der Stadtplan, den ich im Kopf hatte, schien nur bei Tageslicht zu funktionieren. In jener Nacht war die Stadt eine Fiktion. Ich ging und ging, vergaß völlig, wohin und warum. Verloren in meinen Vorstellungen, bemühte ich mich, wieder Ordnung in meine Gedankenfäden zu bringen. Wo genau lag eigentlich Peabodys Haus? Auf einer Karte ist es jedenfalls nicht verzeichnet; wahre Orte sind das nie, flüsterte mir Melville ins Ohr, der mir immer noch auf Schritt und Tritt folgte. Ich konnte es kaum erwarten, Oscar zu sehen und ihm zu erzählen, was ich erlebt hatte, und ich griff hastig in meine Tasche, um nachzusehen, ob ich die Broschüren auch mitgenommen hatte, die mir Miss Kircher gegeben hatte. Sie waren wie die Blume in Coleridges Gedicht, die aus einem anderen Reich zurückgebracht wird. Die Broschüren waren ein Beweis dafür, dass Peabodys Haus wirklich existierte und dass ich tatsächlich im «Theater der Welt» gewesen war.
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TEIL DREI
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Dreizehntes Kapitel
W
o bist du gewesen?», fragte Oscar ungläubig. «Bei Julian Peabody. Gestern, mit Mr. Geist. Warst du schon mal da? Kennst du ihn? Ach, Oscar, das war der erstaunlichste Ort, an dem ich je gewesen bin. Wie ein Museum. Aber zugleich auch ein Haus. Ich wusste nicht, dass jemand so reich sein kann. All die Sachen da, Oscar!» «Das ist ein ziemliches Privileg für jemanden, der erst seit ein paar Monaten im Arcade arbeitet», sagte er beleidigt. «Ja, ich weiß. Mr. Pike meinte, ich habe ein Riesenglück. Aber Oscar, das war so toll. Mr. Peabodys Bibliothekar war auch da, obwohl er nicht besonders nett zu mir war. Und die Frau, die da arbeitet, auch nicht. Aber das war mir egal. Natürlich habe ich Peabody nicht persönlich kennengelernt …» «Was hatte Geist denn dort zu tun?», unterbrach er mich. «Na ja, ich bin mir nicht ganz sicher. Sie sind nach oben gegangen und haben mich allein gelassen. Da sind Zimmer, die sind ganz voll mit Steinen und Eiern und Knochen und Elfenbein. Mit polierten Steinen. Auch ganz erstaunlichen Uhren und Skulpturen. Und einen Teufelsautomaten gibt es. Phantastisch. Solche Sachen habe ich noch nie gesehen. Noch nie in meinem ganzen Leben. Nirgendwo. Bist du schon mal dort gewesen? Es 246
war auch ein riesengroßer grüner Stein dabei, genau wie der hier.» Ich zog den tropfenförmigen grünen Quarz aus der Tasche, den Chaps mir am Flughafen gegeben hatte. «Ach, so einer», sagte Oscar und stimmte seinen enzyklopädischen Ton an. «Das ist ein Chrysopras. Ist eigentlich praktisch wertlos. Wird auch Plasma genannt. Früher hat man geglaubt, er könnte das Sehvermögen verbessern und seelische Schmerzen lindern.» «Bist du sicher? Ich dachte, er heilt gebrochene Herzen», sagte ich und betrachtete enttäuscht den undurchsichtigen Stein. Deshalb hatte mir Chaps ihn doch gegeben. Und Peabody betrachtete ihn eindeutig als wertvoll. «Seelische Schmerzen, gebrochene Herzen – ist doch dasselbe», sagte Oscar abfällig. «Erinnert dich diese Farbe an irgendwas?», fragte ich in dem naiven Glauben, Oscar könne bemerkt haben, dass der Stein dieselbe Farbe hatte wie meine Augen. «Was?», fragte er gereizt. «Grün. Er ist einfach grün. Du hast mir immer noch nicht gesagt, warum Geist dich mitgenommen hat.» «Weil er möchte, dass ich etwas lerne, damit ich ihm helfen kann. Oscar, der ganze Nachmittag war wie ein Traum.» «Ja, richtig», sagte er sarkastisch. «Der Stoff, aus dem die Träume sind, nichts weiter.» Sein Ton wurde wütend. «Ich durfte nicht zu Peabody, bis ich fast vier Jahre hier gearbeitet hatte, und selbst da war es nur deshalb, weil meine Fachkenntnisse gefragt waren. Und die Sammlung durfte ich auch nicht sehen, nur die Bib247
liothek. Peabody hat einige seltene Inkunabeln, die auf Pergament gedruckt sind. Ich kenne mich mit Pergament recht gut aus, für mich ist es wie ein Stoff. Ich habe mich damit eingehend befasst, als ich in einer Bibliothek gearbeitet habe, bevor ich hierherkam.» «Ich wusste gar nicht, dass du mal in einer Bibliothek gearbeitet hast», sagte ich. Oscar zuckte die Achseln, als wollte er andeuten, wie wenig ich überhaupt über ihn wusste. Er war eifersüchtig, aber ich konnte es nicht zulassen, dass er seine tiefschürfenden Erkenntnisse für sich behielt, wie Miss Kircher. Ich brauchte dieses Wissen. «Was sind denn Inkunabeln?», platzte ich heraus. «Genau das meine ich. Wieso nimmt man dich zu Peabody mit?» Er seufzte und begann mit tonloser Stimme zu dozieren: «Inkunabeln sind Bücher, die vor 1501 gedruckt wurden, und zwar mit beweglichen Lettern. Sehr wertvoll. Peabody sammelt sie. Wie alles Seltene, das er in die Finger kriegen kann. Aber es ist irgendwie auch bezeichnend, dass du danach fragst», fuhr Oscar mit listigem Grinsen fort. «Eine Inkunabel bezeichnet immer den Beginn von etwas, das frühe, allererste Stadium einer Sache …» Er machte eine dramatische Pause. «So wie deine Ausbildung.» «Du brauchst nicht gleich gemein zu werden. Ich hab nach dir gesucht, um dir zu sagen, dass ich unterwegs bin, aber du warst nicht in deiner Abteilung. Mr. Geist hat draußen gewartet. Ich hatte nicht viel Zeit.» «Ich war früh Mittag essen. Ich habe zu tun, wie du weißt. Und dann musste ich diesen faulen Arthur unten 248
im Keller ablösen, weil Geist ja offenbar mit dir weggegangen war. Ich hasse es, unten im Keller zu arbeiten. Ich muss in meiner Abteilung bleiben. Ich kann es einfach nicht ausstehen, unter der Erde zu hocken, und ich hasse diese ganzen neuen Rezensionsexemplare – diese glänzenden Plastikhüllen, in die sie eingeschweißt sind.» «Tut mir leid, Oscar», sagte ich unsicher und wunderte mich, dass ich das Bedürfnis verspürte, mich zu rechtfertigen. Irgendwie (und nicht in der Weise, die ich mir erträumte) wollte Oscar mich für sich allein. Er wollte mich in seiner Welt, aber nicht als Gegnerin. Er wollte mich unter Kontrolle haben, mich auf das beschränken, was ich war – das Mädchen, das er in seinen Notizbüchern beschrieb. Vielleicht war es sein eigenes Spiegelbild, das er liebte? Vielleicht liebte er den Oscar, den ich sah? Jedenfalls hing ich gebannt an seinen Lippen, auch wenn er mir offenbar wenig Freiheit ließ, wie einem Gegenstand in der geschlossenen Faust, zwischen Buchseiten. «Dann hast du also Samuel Metcalf kennengelernt, den Bibliothekar?», fragte er betont beiläufig. Er richtete sich auf seinem hohen Hocker auf. «Er ist ziemlich bekannt, weißt du. Er macht ganz schön einen auf wichtig. Schrecklich eitel, wenngleich nicht ohne gewisse Fachkenntnisse. Er behauptet, entfernt mit Herman Melville verwandt zu sein. Wahrscheinlich hat Peabody ihn deshalb überhaupt eingestellt. Hat Geist dir das erzählt?» «Nein», sagte ich, verblüfft, dass der Name Melville schon wieder auftauchte. Wie kam es nur, dass sich 249
manche Gedanken einfach im Kopf festsetzten – einen regelrecht verfolgten? Wann immer ich auf etwas stieß, das mich interessierte, fragte ich mich, ob ich es entdeckt hatte oder ob es umgekehrt gewesen war. «Es ist sehr seltsam, dass Melville hier ins Spiel kommt», sagte ich zu Oscar. «Fast so, als würde er mich verfolgen. Es überrascht mich, dass Geist die angebliche Verwandtschaft nicht erwähnt hat.» «Was ist daran komisch?», schnauzte Oscar mich an. «Bloß weil du Moby Dick liest? Bloß weil du deinen eigenen Redburn getroffen hast? Du hältst wohl jeden halbwegs plausiblen Zufall für seltsam.» «Nein, ich meine bloß wegen des Briefes. Na ja, ich muss mal von Anfang an erzählen. Eigentlich wollte ich das gestern schon, aber ich war aufgeregt wegen Lillian. Das von Lillian muss ich dir auch noch erzählen.» «Fang bei Melville an, wenn es dir nichts ausmacht», sagte Oscar ungeduldig. «Ein Brief also?» «Mr. Geist hat mich einen Brief vorlesen lassen, der allerdings an Mr. Pike adressiert war. Ich konnte nicht herausfinden, von wem er stammte, weil Geist mir den Brief aus der Hand gerissen hat, bevor ich ihn zu Ende gelesen hatte. Es stand etwas von einem Manuskript darin. Ein Manuskript, an dem das Arcade interessiert sein könnte und dessen Echtheit man hier feststellen soll. Ein seltenes Manuskript von Herman Melville.» «Was? Bist du verrückt?» Oscar war von seinem Stuhl aufgesprungen und hatte mich am Arm gepackt. Er führte mich wie ein kleines Kind in eine kleine Nische zwischen Regalen und Bücherstapeln auf dem Boden. Mir war schon aufgefallen, 250
dass im Arcade immer wieder neue Formationen entstanden, wenn wir nach Feierabend unseren Arbeitsplatz verließen. «Das ist wirklich wichtig, oder?», fragte ich. Er schaute sich verstohlen um. «Rosemary, denk doch mal nach! Es gibt keine Manuskripte von Melville, die unentdeckt geblieben sind», flüsterte er aufgeregt. «Sag mir ganz genau, was passiert ist und was in dem Brief stand.» Ich berichtete ihm, so genau ich konnte, das wenige, an das ich mich noch erinnerte, und genoss dabei Oscars Aufmerksamkeit. Endlich wollte er etwas von mir wissen. Besonders betonte ich die Worte aus Gründen der Ehre außerstande. Ich wünschte mir von ganzem Herzen, ihm etwas geben zu können, und das hier war nun endlich eine kleine heimliche Gabe. Vor allem wollte ich ihm etwas von dem zurückgeben, was ich von ihm bekommen hatte. Der Gedanke, dass ich etwas Unbezahlbares zu bieten hatte, kam mir allerdings nicht. «Ich hab den Brief nicht einmal fertig gelesen», sagte ich und erzählte, wie Geist mir den Brief aus der Hand gerissen hatte. «Aber ich gehe davon aus, dass der Absender des Briefes, wer auch immer es ist, Diebesgut anbietet.» «Das ist kaum zu glauben, Rosemary.» Oscars asketisches Gesicht hatte sich gewandelt. Er sah aus wie vom Donner gerührt, wie er dasaß, seinen schönen Kopf zur Seite gelegt, die Hand an der Stirn. «Ich brauche mehr Informationen», sagte er mehr zu sich selbst als zu mir. 251
«Es gibt so viele seltene Dokumente oben bei Mr. Mitchell», sagte ich, etwas verblüfft über Oscars heftige Reaktion. «Ist dieses hier wirklich so viel bedeutsamer? Liegt es daran, dass es vielleicht gestohlen wurde?» «Du musst mir ab jetzt alles sagen, was Geist sich von dir vorlesen lässt und ob er mit Samuel Metcalf korrespondiert oder sich mit ihm trifft. Metcalfs Vater ist Antiquitätenhändler im Ruhestand. Er hatte früher einen Laden in Saratoga Springs, in Upstate New York. Metcalf kennt sich mit Handschriftenanalysen und mit der exakten Datierung von Schriftstücken aus. Sein Vater hat ihm das beigebracht, und das ist auch teilweise der Grund, warum Metcalf ihn angestellt hat. Seine Fähigkeiten sind ziemlich außergewöhnlich.» «Glaubst du, Metcalfs Vater hat irgendwie das Manuskript in die Finger bekommen?», fragte ich verwirrt. «Das bezweifle ich. Er würde direkt zu Metcalf gehen, statt das Arcade einzuschalten. Peabody ist der größte private Sammler von Melville-Texten.» Das hatte ich auch schon mitbekommen. «Außer, wenn die Herkunft des Textes aus Gründen der Ehre nicht offengelegt werden kann», erinnerte ich ihn. «Vielleicht ist das Arcade hier ja in der Lage, der Transaktion ein Mäntelchen der Ehrbarkeit umzulegen.» Bei dieser Bemerkung schnaubte Oscar verächtlich. «Pikes Geschäfte sind wohl kaum über jeden Tadel erhaben, Rosemary», betonte er. Er zückte sein Notizbuch und schrieb etwas auf. «Wie lange waren Geist und Metcalf oben bei Peabody? Wie lange warst du allein?» 252
«Eine Stunde, oder fast zwei. Es war schon dunkel, als wir gingen.» «Geist führt da was im Schilde», sagte er. «Er möchte an das Manuskript kommen, und dazu benötigt er Metcalf. Und er will es geheim halten. Offensichtlich sogar vor dir.» «Aber Mr. Mitchell kann die Echtheit von Dokumenten feststellen. Wozu braucht Mr. Geist dann Metcalf?» Es war so, als wäre ich gar nicht da. Was ich Oscar erzählte, hatte ihn auf eine Weise gepackt, ihn mit Leben erfüllt, dass ich ihn gar nicht wiedererkannte. Ich wollte meinen trägen Gefährten wiederhaben, der mich an faszinierenden Dingen teilhaben ließ. Faszinierend, weil er sie mir erzählte. Jedes Quäntchen Wissen, das Oscar mir zukommen ließ, hütete ich wie einen Talisman. Wenn ich nur genügend von diesen Bruchstücken aufbewahrte, würde ich irgendwann in der Lage sein, mir meinen wahren Oscar zusammenzusetzen; einen Oscar, der aus einem Material gemacht war, das man anfassen und das man behalten konnte. Mir war klar gewesen, dass es bedeutsam war, Geist jenen Brief vorzulesen, doch damals hatte ich nicht ahnen können, wie viel damit ins Rollen kommen würde. Damals war ich im Grunde weniger an Herman Melville oder an Manuskripten interessiert; mir kam es nur darauf an, Oscars Aufmerksamkeit zu erregen. «Weißt du», sagte ich, «wenn Mr. Geist nicht dieses Problem hätte, dann hätte ich ihm gar nicht diesen Brief vorgelesen. Darüber wollte ich mit dir reden. Ich glaube, er wird blind. Ich glaube, er ist …» 253
«Er ist jetzt schon praktisch blind», schnitt Oscar mir das Wort ab, in Gedanken war er bereits bei ganz anderen Dingen. «Das ist bei Albinos nichts Ungewöhnliches. In den letzten Jahren hat er nach und nach sein Augenlicht verloren. Er verbirgt es gut, aber in letzter Zeit ist es schlimmer geworden.» «Du wusstest es also schon?» «Mein Gott, Rosemary, wem könnte das denn entgehen? Wir haben uns alle daran mitschuldig gemacht, indem wir es ignorieren. Es überrascht mich, dass du so lange für diese Erkenntnis gebraucht hast, wo du sonst doch so eine gute Beobachterin bist.» Eine gute Beobachterin? War das ein Kompliment? «Pike ist es egal, solange die Bücher ordentlich geführt sind und das Arcade Gewinn macht. Und solange nicht gestohlen wird, außer er selbst hätte etwas davon. Mitchell interessiert sich nur für sich selbst – indem er seinen Kunden Honig um den Bart schmiert und seinen Raritätenraum blühen und gedeihen lässt. Und der Rest der Belegschaft verachtet Geist so sehr, dass man ihm vermutlich noch ganz andere Schicksale an den Hals wünscht als nur Blindheit.» «Hast du mal mit ihm darüber gesprochen? Glaubst du, wir können ihm irgendwie helfen?» «Ich will ihm gar nicht helfen. Warum sollte ich? Ich habe meine eigenen Sorgen. Außerdem ist das Geists Privatsache. Wenn er zurechtkommt, was macht es dann, wenn er blind ist?» «Oscar, er arbeitet in einer Buchhandlung!» «Sei nicht so doof, Rosemary. Es gibt alle möglichen Arten zu leben. Streng mal deine Phantasie an.» 254
«Ich kann mir nicht vorstellen, wie es ist, wenn man nichts sieht», sagte ich. Doof, ich war nicht doof! Nur in Oscars Nähe wurde ich so schwerfällig und langsam. «Das meine ich nicht. Jedenfalls muss ich mehr über diese Melville-Geschichte herausbekommen.» Er schaute auf seine Uhr. «Während der Mittagspause werde ich telefonieren. Vielleicht kann ich heute Abend in die Bibliothek.» Er wandte sich zum Gehen. Jetzt war meine Chance gekommen. Er musste mich einfach mitnehmen. «Kann ich mitkommen?», fragte ich atemlos. «In die Bibliothek?» «Warum?» «Weil ich auch alles über diese Sache wissen will. Du hast mir Moby Dick gegeben, und jetzt bin ich neugierig geworden. Und ich möchte etwas über Melville erfahren. Komm schon, Oscar, wenn ich dir das alles nicht gesagt hätte, dann wüsstest du gar nichts davon.» «Und?» «Ich meine, ich habe dir die Information gegeben, wieso kann ich dir dann nicht dabei helfen, mehr herauszufinden? Bitte!» «Könnte durchaus sein, dass ich gar nicht mehr erfahren möchte, als ich jetzt schon weiß.» Er zögerte, seine Augen weiteten sich. «Aber wenn ich recht darüber nachdenke, gibt es vielleicht wirklich Dinge, die du herausfinden kannst und ich nicht.» «Was hast du denn vor, Mädchen, dass du dich so aufdonnerst?», neckte mich Pearl, während ich vor dem Spiegel im Bad stand. 255
Ich ging mit Oscar in die Bibliothek. Ich würde allein mit ihm sein. Ich würde ihm dabei zusehen, wie er nachdachte, wie er sich das dunkle Haar an seinem wohlgeformten Kopf glatt strich. «Ach, nichts», sagte ich. «Na, vielen Dank auch», sagte Pearl, ein wenig beleidigt. «Ich gehe hin und finde eine Adresse für deine Freundin heraus, und du willst deine Angelegenheiten nicht mit mir teilen.» «Du hast was für Lillian, Pearl? Schon?» «Ich habe keine Zeit zu verlieren, und ich habe ja gemerkt, dass es wichtig ist.» «Das ist es. Es ist wichtig. Ach, ich danke dir.» «Na ja, dank mir noch nicht. Ich habe nur den Namen und die Nummer von jemandem, der bei einer Hilfsorganisation arbeitet. Ich weiß nicht, ob die etwas ausrichten können, aber einen Versuch ist es wert. Mario ruft selbst heute an. Um sie vorab zu informieren. Hier.» Pearl nahm einen gefalteten Zettel aus ihrer riesigen Tasche, die mit Notenblättern gefüllt war. Ich überflog das Papier und steckte es ein. «Pearl, ich kann dir gar nicht genug dafür danken. Morgen nach der Arbeit besuche ich Lillian und gebe es ihr. Vielleicht kann ja ihr Bruder dort anrufen.» «Warum gehst du denn nicht heute hin?», fragte Pearl listig. «Oder bist du beschäftigt?» Sie lächelte. «Na gut», sagte ich und beschloss, ihr die Neuigkeit zu verkünden. «Ich gehe mit Oscar wohin.» «Doch nicht etwa ein Rendezvous!», kreischte Pearl. Sie schlug sich die Hand vor den Mund, und ihre 256
schwarzlackierten Nägel lagen wie eine Reihe von sonderbaren Satzzeichen auf ihrer Wange. «Nein, natürlich nicht», sagte ich hastig. «Kein Rendezvous. Wir machen einfach nur was zusammen.» «Was könnt ihr denn schon zusammen machen?», fragte sie. «Denk dran, was ich dir gesagt habe, Mädchen. Das ist kein Mann, der Frauen liebt. Jetzt hör mir mal zu. Ich mache keine Scherze. Diese Tränen von vorgestern sind immer noch nicht getrocknet an meiner Brust, und ich will nicht noch weitere fließen sehen.» «Ich weiß. Ich habe dich verstanden. Wir wollen nur, äh, wir wollen nur …» «Nur was?» Wie viel durfte Pearl wissen? Oscar hatte aus der Sache ein solches Geheimnis gemacht, außerdem wusste ich selbst kaum etwas. Geheimnisse entzweien Menschen. Plötzlich verfügte ich über Kenntnisse – die ich jemandem anvertrauen oder vorenthalten konnte. «Schau mal, Pearl, wir gehen nur zusammen in die Bibliothek. Ich hab ihn was gefragt, was ich nicht wusste, und er will mir dabei helfen, es nachzuschlagen.» «Die Bibliothek!» Pearl brach in raues Gelächter aus. «Jetzt weiß ich, dass du mir die Wahrheit sagst! Auf so eine Idee könnte auch nur Oscar kommen. Ein Besuch in der Bibliothek – das stellt er sich unter einem netten Abend vor!» Ich lachte mit Pearl, und obwohl es unwahrscheinlich erschien, hatte ich doch die Vorstellung, ein Abend mit Oscar in der Bibliothek könne etwas zu bedeuten haben. Wir hatten ein gemeinsames Interesse – und zwar ausgerechnet Herman Melville. Ich konnte mir lebhaft vor257
stellen, wie Oscars goldener Blick sich auf meiner Haut anfühlen würde – wie wärmende Sonnenstrahlen. Ich sah uns vor mir, wie wir zusammen in einer Bibliothek saßen, ein offenes Buch zwischen uns: zwei gute Freunde, die einem Geheimnis auf der Spur waren. Langsam beruhigte sich Pearl wieder. «Großer Gott», sagte sie ernst. «Ich freue mich jedenfalls, dich nach vorgestern endlich wieder lachen zu sehen.» Sie nahm ihre Handtasche und überprüfte im Spiegel ihr Make-up. «Halt mich auf dem Laufenden, was Lillian betrifft. Wenn du meinst, es könnte helfen, treffe ich mich auch mit ihr.» Pearl hob ihren langen Finger, dessen schwarzer Nagel gebogen war wie ein Komma. «Ich habe heute ein Vorsingen. Für eine richtige Oper! Ich wäre die perfekte Besetzung. Eine Koloratur. Wünsch mir Glück, Rosemary. Und erzähl mir, wie es in der Bibliothek war. Wir Mädels müssen zusammenhalten.» Pearl zog ihren Mantel an und gab mir einen Kuss auf die Wange. «Es ist schön, wenn man seine Träume hat, Mädchen, aber sei realistisch. Dieser Oscar kann dir nichts geben.» «Aber er hat mir schon so viel gegeben, Pearl. Ich weiß, darauf kommt es nicht an, aber er weiß einfach alles.» «Niemand weiß alles. Du kannst sicher sein, dass es ein ganzes Universum von Dingen gibt, die er nicht weiß. Über Frauen zum Beispiel. Sei dir einfach nur klar 258
darüber, was du willst, Rosemary. Es wäre mir schrecklich, wenn man dir das Herz brechen würde, aber, weiß Gott, es wird wohl geschehen.» «Mach dir um mich keine Sorgen, Pearl. Du musst Lillian unbedingt mal kennenlernen, die macht sich auch die ganze Zeit Sorgen.» «Sie hat aber auch allen Anlass dazu. Sie soll unbedingt dort anrufen, okay? Mario und ich, wir werden versuchen, ihr zu helfen.» «Viel Glück!», rief ich ihr hinterher. Sie lachte. «Dir auch!» Das große Hauptgebäude der New York Public Library war an diesem Abend nach der Arbeit nicht geöffnet, aber Oscar besuchte ohnehin meist eine andere Filiale weiter im Norden der Stadt, in einem großen modernen Haus. Als wir aus der U-Bahn in den kalten Abend hinaustraten, ging ich absichtlich nahe bei ihm und wärmte mich an der Vorstellung, ein unbeteiligter Beobachter könne uns für ein Liebespaar halten. Schmutzige Schneehaufen türmten sich an den Straßenecken, und die Bürgersteige waren teilweise dick vereist. Nach einem kurzen Marsch um den Block erreichten wir die kleinere Bibliothek. Sie war sauber und ordentlich, und der Bau selbst – aus Beton, Glas und Stahl – luftig und geräumig. Drinnen brannten helle Lichter; diese Bibliothek war in jeder Hinsicht das Gegenstück zum Arcade. Dort lagen Bücher gerne in unordentlichen Haufen übereinander oder türmten sich zu waghalsigen Stapeln auf, doch hier schienen sie ihre Angewohnheit abgelegt zu haben, den 259
Menschen den Weg zu versperren oder konspirative Grüppchen zu bilden. In der Bibliothek zeigten die Bücher Benehmen. Oscar kannte den Bibliothekar, der hier abends arbeitete, schon seit vielen Jahren; es war einer der Bürgerkriegsfans, die regelmäßig in Oscars Regalen im Arcade stöberten. Weil Oscar seinen Besuch in der Bibliothek angekündigt hatte, waren die Bücher, die er einsehen wollte, bereits aus den Regalen geholt und säuberlich hinter dem Rückgabetisch gestapelt worden. Der Bibliothekar hatte auch einige Fotokopien von Artikeln zusammengetragen, um Oscar Zeit zu sparen. Er wusste, es war eine Gefälligkeit, an die Oscar sich erinnern und für die er sich zu bedanken wüsste. Der Bibliothekar investierte sozusagen in die eigene Sammlung. Die Bibliothek war praktisch menschenleer. Wir nahmen die Bücher und Kopien zu einem der Tische mit, die im hinteren Teil der Bibliothek lagen. Dort gab ein Fenster, das vom Boden bis zur Decke reichte, den Blick auf den Broadway mit den Lichtern von Midtown frei. Ich hatte zwar noch nie ein sogenanntes date, ein Rendezvous, gehabt, aber dieses Treffen mit Oscar, hier an dem Bibliothekstisch, schien mir eines zu sein. Für mich war es ein Rendezvous, wie auch immer Oscar darüber dachte. Das hatte ich mir so lange eingeredet, dass ich ganz verzückt war. Oscar machte sich an die Arbeit. Mit einer feierlichen Bewegung zückte er einen Bleistift und legte eins seiner Notizbücher auf den Arbeitstisch. Völlig versunken begann er in Inhaltsverzeichnissen zu blättern, fuhr mit den Fingern Spalten hinab. 260
Ich fühlte mich ein wenig schwindelig. Wenn ich rechts an Oscar vorbeischaute, konnte ich all die wohlerzogenen Bücher betrachten, die säuberlich auf die Regale sortiert waren und hier offenbar unter einem strengen Regiment standen. Verglichen mit dieser zivilisierten Einförmigkeit wirkte die leise Langeweile der alphabetischen Ordnung bei George Pike geradezu charmant. Melville hatte einmal gesagt, es gebe durchaus Einrichtungen, bei denen eine sorgfältig kontrollierte Unordentlichkeit die einzig richtige Methode sei, und er hatte quasi sein Leben in Bibliotheken verbracht. Ich dachte an Peabodys Bibliothek und daran, dass sie auf einem ganz anderen Standpunkt beharrte, einem Standpunkt, der mir sympathisch war, weil dort eine andere Ästhetik wirkte. Meine eigene Ästhetik hatte das Arcade und die Angestellten geprägt, und mit dieser Bibliothek hier, die so anders war, gewann sie erst Kontur. Im Arcade und auch in Peabodys Bibliothek hatte ich verstanden: Es ist Leben in den Dingen und damit auch in Büchern. Man musste nur den Blick haben, die wahre Bedeutung der Dinge zu erkennen. Pike bewies tagtäglich, dass Bücher einen Zauber bargen, eine offenkundige und zugleich unsichtbare Bedeutung. Ich betrachtete die Buchrücken mehrerer MelvilleBiographien und fragte mich, wie ich denn nun meinen Beitrag zu den Nachforschungen leisten könnte. Oscar war schon bald so tief in die Lektüre versunken, dass er, als ich ein paar Minuten später zu ihm hinüberschaute, aussah, als wäre er eine Statue. Einziges Anzeichen, dass er lebte, war die Bewegung seiner Augen. 261
«Oscar», flüsterte ich, und er schreckte auf. Er hatte völlig vergessen, dass ich da war. «Was denn?» «Kann ich helfen? Wonach soll ich suchen? Meinst du, ich soll einfach anfangen, eines von denen da zu lesen?» Ich zeigte auf die schweren Bücher auf dem Schreibtisch und konnte meinen Widerwillen nur schwer verbergen. Doch ich wollte auf jeden Fall helfen. Ich wollte, dass wir gemeinsam suchten, dass wir ein geteiltes Interesse hätten. Ich wusste nur nicht, wonach ich eigentlich suchen sollte. Oscar seufzte. «Warum fängst du nicht mit diesen Artikeln hier an? Oder lies diesen Band mit Briefen und schau, ob darin etwas über irgendwelche Romane von Melville steht, von denen du noch nie etwas gehört hast.» Der einzige Roman, von dem ich jemals gehört hatte, war Moby Dick. Offenbar gab es auch noch diesen Redburn, aber damals wusste ich nur, dass Mr. Mitchell einen Ladendieb so nannte. «Wir suchen nach einem verschollenen Manuskript», sagte er. «Ein Buch, das verlorengegangen ist.» «Wenn es verlorengegangen ist und niemand weiß, dass es verloren ist, wie soll ich dann suchen?» «Da, lies diesen Band mit Briefen. Lies ihn einfach und erzähl mir, wenn du was Interessantes findest. Das nennt man Forschung. Der Grundgedanke ist, dass du nicht weißt, was du suchst, bis du es gefunden hast», fügte er gereizt hinzu. Ich begann zu lesen, und nach einer Weile machte es mir Spaß. Ungefähr eine Stunde verging. Ich las die 262
Einleitung, die Melvilles Biographie zusammenfasste. Der frühe Tod seines Vaters; die Anstellung in einem Hutsalon und dann als Lehrer; dass er zur See gefahren war, um dem zu entkommen, und schließlich die Rückkehr mit Anfang zwanzig. Schlüpfrige Abenteuerromane brachten ihm frühen Erfolg als Schriftsteller, und als er endlich schrieb, was er wollte, zum Beispiel Moby Dick, war es mit seiner Beliebtheit schnell wieder vorbei. Er stand vor dem finanziellen Ruin und führte ein zurückgezogenes Leben in New York City. Fast zwanzig Jahre lang arbeitete er sechs Tage die Woche als Zollinspektor und schrieb bei Nacht Gedichte. Ab und zu kritzelte Oscar etwas in sein Notizbuch. Es lenkte mich ab, dass er neben mir saß. Er roch so unglaublich sauber, und ich liebte es, seiner Hand zuzuschauen, wie sie über das dunkle, dünne Haar strich, damit es am Kopf anlag. Doch bald fesselte die Lektüre mich. In dem Band mit den Briefen las ich auch mehrere Schreiben von Melville an Nathaniel Hawthorne, und obwohl ich über beide Schriftsteller nur wenig wusste, fand ich es interessant, wie begeisterungsfähig Melville war, wie er sich offenbar danach sehnte, mit jemandem zu kommunizieren, den er bewunderte, ja liebte. Er hatte Moby Dick, wie ich mich erinnerte, Hawthorne gewidmet – Zum Zeichen meiner Bewunderung für sein Genie. Und ich erfuhr, dass Melville in einem Wirtshaus in Lenox in Massachusetts, wo sie beide wohnten, ein Zimmer angemietet hatte, um die Veröffentlichung des Romans zu feiern. Hawthorne war sein einziger Gast. Ich wusste bereits, dass Melville im Moby Dick oft 263
einen ekstatischen Ton anschlug, aber im Vergleich zu diesen Briefen war sein Stil im Roman eher warmherzig und innig. In seinen Briefen an Hawthorne klang Melville leidenschaftlich und mitreißend. In einer Antwort auf einen Brief von Hawthorne, in dem dieser Moby Dick gelobt hatte, schreibt er: Jedenfalls empfand ich ganz pantheistisch – Ihr Herz schlug in meiner Brust und meins in Ihrer, und beide in der Brust Gottes.
Ich bewunderte diese dramatische Erklärung und wünschte mir, selbst derartige Offenbarungen von mir zu geben. Auch ich wollte, zusammen mit Melville, pantheistisch sein. Und ich wollte das Herz eines anderen in meiner Brust schlagen spüren – Oscars nämlich. Ich war achtzehn Jahre alt und bereit, überall nur Sehnsucht zu sehen. Als ich Folgendes las, wurde ich sogar rot: Hawthorne, woher kommen Sie? Mit welchem Recht trinken Sie aus meinem Krug des Lebens? Und setz ich ihn an meine Lippen – siehe, da sind’s Ihre, nicht meine.
In meinem Alter wusste ich nicht genau, was Melville meinte, als ich jedenfalls meine Hand an meine Lippen legte (während ich weiterlas), wünschte ich mir, Oscars Lippen zu berühren. Wenn ich mein Herz pochen spürte und mir über die Brust strich, stellte ich mir vor, Oscars Hand berührte mich und nicht meine eigene. Aber gewiss hatte Melville das nicht so gemeint. Ich wusste 264
nicht genau, was er wirklich im Sinn gehabt hatte, aber was auch immer es war, ich fand es aufregend. Ich fühl’s: die Gottheit ist zerbrochen wie das Brot beim Abendmahl; wir sind die Stücke.
Damals kannte ich die Leidenschaft noch nicht, und Melvilles Briefe weckten das Verlangen in mir, leidenschaftlich zu sein; freigebig und grenzenlos, was meine Gefühle betraf. Und doch war auch die Einsamkeit ein Gefühl, das ich kannte, und Melvilles Einsamkeit war poetisch, ja heroisch. Er wollte einfach glauben, Hawthorne kenne ihn wie keinen anderen. Er empfand für ihn ein grenzenloses Gefühl der Brüderlichkeit. Grenzenlos! Sie zu kennen, überzeugt mich mehr als die Bibel von unserer Unsterblichkeit.
Er schrieb an Hawthorne: Sie waren Erzengel genug, den unvollkommenen Leib zu verschmähen und die Seele zu umarmen. Einmal schlossen Sie den häßlichen Sokrates in die Arme, denn Sie sahen die Flamme in seinem Munde, und hörten das Brausen des Dämons – das vertraute – und erkannten das Geräusch wieder; denn Sie haben es oft in Ihrer eigenen Einsamkeit vernommen.
Ich schaute sehnsüchtig zu Oscar hinüber. Die Seele zu umarmen. 265
Melville schrieb an Hawthorne, mit ihm als Gefährten sei er zufrieden und könne glücklich sein. Wenn ich an Oscar dachte, glaubte ich zu wissen, was Melville damit meinte. Und doch musste Melville auch gemerkt haben, dass Hawthorne ihn möglicherweise für leicht verrückt hielt, oder zumindest für etwas überdreht, denn in demselben Brief schrieb er: Glauben Sie mir … ich rase nicht! Aber die Wahrheit ist immer wirr & bruchstückhaft, und wenn die großen Herzen aneinanderschlagen, ist die Erschütterung ziemlich stark.
Auch Oscar und ich haben ein großes Herz, dachte ich. Mir war sogar ein wenig schwindelig. Als ich weiterlas, fiel mein Blick auf einen Brief, der am Tag des Geburtstages meiner Mutter, dem 13. August, verfasst worden war, im Jahr 1852, hundertsiebenunddreißig Jahre vor dem Moment, in dem ich ihn jetzt las. Ich hätte Oscar so gern erzählt, dass ich einen Brief gefunden hatte, der am Geburtstag meiner Mutter geschrieben worden war. Wusste er denn, wie sehr sie mir fehlte? Ich wollte ihm berichten, dass ich etwas gefunden hatte, das verschollen gewesen war – ihren Geburtstag, der mir durch den Brief eines anderen Menschen zurückgegeben wurde. Vermisste Oscar seine Mutter so sehr wie ich meine? Er saß kaum eine Armlänge von mir entfernt. Wusste er eigentlich, wie viel wir gemeinsam hatten? Wenn ich den Arm ausstreckte, hätte ich ihn berühren können. 266
Ich habe etwas gefunden, das verlorengegangen war, wollte ich flüstern. Liebe! Er liebte seinen Freund! Da ist so viel Liebe in diesen Briefen, zwischen den Zeilen, Oscar. Aber Oscar war ganz in seinem Element, völlig versunken in seinen Nachforschungen. Was meinte Melville mit Unsterblichkeit? Ein Herz, das in der Brust eines anderen schlug. Herzen, die zusammen schlugen? Vertauschte Lippen, an den Krug des Lebens gepresst? Oscar, wollte ich flüstern. Ich wünschte, ich hätte das Gefühl nicht so sehr geliebt, seinen Namen mit meinen Lippen zu formen, in meinem Mund zu haben. Ich habe etwas gefunden, wollte ich sagen. Ich habe herausgefunden, wen Melville wirklich geliebt hat. Oscars Umriss hob sich gegen die Dunkelheit der Nacht ab. Hinter den wandhohen Fenstern lag diese riesengroße Stadt, kalt und schneebedeckt. Erst vor ein paar Wochen hatte ich die ersten Schneeflocken meines Lebens gesehen. Mit Oscar. Ich wollte alle Entdeckungen meines Lebens mit ihm teilen, nur mit ihm. Ich wünschte, Oscar hätte mich zu Peabody gebracht und nicht Walter Geist. Dass es Oscar gewesen wäre, der mir die Hand auf den Rücken legte, der zu nahe bei mir stand, der meine Hilfe brauchte, und nicht Geist. Doch schon damals wusste ich, dass er die obskuren Dinge, denen er auf der Spur war, lieber ohne mich entdecken wollte. Informationen zu sammeln war seine Hauptbeschäftigung; meine würde das Erinnern sein. Ich wusste kaum, wonach ich eigentlich suchte. Was für Spuren konnte es denn geben von etwas, das verloren war? 267
Ich hatte nach einer Lücke gesucht und hatte diesen Brief hier gefunden: voller drängender Gefühle. Unsterblichkeit! Als hätte er Hawthorne nicht genug anvertraut, schwärmte Melville in einem Postskriptum: Ich kann noch nicht aufhören. Ich will Ihnen sagen, was ich tun würde, wenn es nur Magier gäbe auf dieser Welt. Ich würde mir am einen Ende des Hauses eine Papiermühle einrichten, so daß ein endloser Streifen Foliopapier über den Schreibtisch dahinwogen würde; und auf diesen endlosen Streifen würde ich tausend – eine Million – Milliarden von Gedanken schreiben, alle in Form eines Briefes an Sie. Der göttliche Magnet wirkt in Ihnen, und mein Magnet spricht darauf an. Welcher ist der größte? Eine dumme Frage – Sie sind Eins.
Ich wünschte mir, ich könnte den Band mit Briefen aus der Bibliothek mit nach Hause nehmen, um sie dort zu lassen, allein und privat. Alle in Form eines Briefes an Sie, hauchte ich lautlos.
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Vierzehntes Kapitel
W
as Nathaniel Hawthorne betrifft, so erinnerte er sich in einem Tagebucheintrag an einen Besuch seines leidenschaftlichen Freundes in seinem kleinen roten Haus in den Berkshires: Melville und ich hatten ein langes Gespräch – über Zeit und Ewigkeit, die Dinge dieser Welt und die der nächsten, über Bücher und Verleger und alle möglichen und unmöglichen Dinge – das bis ziemlich tief in die Nacht dauerte.
Also hatten die beiden dasselbe gefühlt, wenngleich Hawthornes Empfindungen in gemessenem, zurückhaltendem Ton geäußert wurden, während Melville in seiner überschäumenden Begeisterung kaum zu bremsen war. Ich las den Brief aus dem Jahr 1852, verfasst am 13. August, dem Geburtsdatum meiner Mutter: Mein lieber Hawthorne, - Als ich vor gut vier Wochen auf Nantucket weilte, machte ich die Bekanntschaft eines Gentleman aus New Bedford, einem Anwalt, der mir in einigen Angelegenheiten, auf die ich neugierig war, beträchtliche Aufschlüsse geben konnte. – Eines Abends sprachen wir, glaube ich, über die große Geduld & Ausdauer & Gefaßtheit der Frauen dieser Insel, die sich so klaglos in die lange, lange Abwesenheit ihrer seefah269
renden Ehemänner fügen, da teilte mir dieser Anwalt beiläufig eine Anekdote aus seiner beruflichen Erfahrung mit. Seine Erinnerung war, was einige Punkte der Geschichte angeht, zwar ein wenig durcheinandergeraten, doch was er mir erzählte, reichte aus, um mein lebhaftestes Interesse zu wecken; und ich bat ihn, er möge mir, sobald er nach Hause käme, unbedingt eine ausführlichere Darstellung zusenden – denn er hatte mir zuvor erzählt, daß er damals, als die Geschichte sich abspielte, einen schriftlichen Bericht darüber angefertigt habe. – Ich hörte dann nichts mehr von ihm, bis ich, einige Tage nach meiner Rückkehr hierher nach Pittsfield, mit der Post das beiliegende Schriftstück erhielt. – Aus dem Brief des Herrn an mich können Sie ersehen, daß er glaubte, ich wollte diese Geschichte literarisch nutzen; dabei hatte ich ihm gegenüber nichts dergleichen geäußert, & mein erstes spontanes Interesse daran rührte von ganz anderen Erwägungen her. Ich muß freilich gestehen, daß ich inzwischen ein wenig darüber nachgedacht habe, wie man aus diesen erstaunlichen Begebenheiten eine regelrechte Erzählung machen könnte. Bei genauerer Betrachtung schien mir diese Sache aber in einer Sphäre zu liegen, mit welcher Sie besonders gut vertraut sind. Um es geradeheraus zu sagen – ich denke, daß Sie in dieser Angelegenheit etwas Besseres zustande bringen würden, als ich es könnte. – Im übrigen strebt, wie mir scheint, die ganze Sache Ihnen sozusagen naturgemäß zu …
Hier wurde der Brief unvollständig; offenbar waren einige Worte unleserlich. Ich fand es ungewöhnlich, dass ein Schriftsteller dem anderen die Idee für einen Roman abtrat. Doch abgese270
hen von dem Datum, an dem das Schreiben verfasst worden war, fand ich ihn wesentlich weniger interessant als andere, die Melville an Hawthorne geschrieben hatte, weniger erstaunlich als jene anderen, gefühlvollen Briefe. Oscar hatte sich die ganze Zeit kaum bewegt. Ich schaute mich in der leeren Bibliothek um, die mir ganz still und behaglich vorkam. In der Winternacht vor den hohen Fenstern waren allerlei Lichter zu sehen – Spiegelungen des Lichtes auf dem Schnee. Eine Stimmung wie im Traum, ich verlor ein wenig die Orientierung, und ich fühlte mich paradoxerweise benommen und hellwach zugleich, als wollte ich mir auch die winzigste Wendung nicht entgehen lassen. Ich nahm das Buch wieder zur Hand und las weiter: Die Gemütsbewegung des Mannes, der mir diese Geschichte erzählte – eine völlig ungekünstelte Anteilnahme, obwohl es doch um eine für ihn längst abgeschlossene Angelegenheit ging – steigerte das ohnehin schon überaus große Interesse, mit welchem ich ihm zuhörte, nur noch mehr. – Vielleicht jedoch ergab sich dieses mein starkes Interesse auch aus noch anderen, zufälligen Umständen; so daß die Geschichte Ihnen womöglich gar nicht soviel Pathos & Tiefe zu besitzen scheint. Aber Sie werden ja sehen.
Es war deutlich zu erkennen, dass Melville sich wünschte, Hawthorne möge das Thema aufnehmen. Dass er ihm das Potenzial des Ganzen vermitteln wollte. Worum ging es eigentlich in der Geschichte? Ich blätterte weiter vor und las die Tagebucheintragung des Rechts271
anwaltes, die Melvilles Brief beigelegt war. Eigentlich handelte es sich um eine eher gewöhnliche Geschichte. Melville wollte, dass Hawthorne über eine Frau namens Agatha Robinson schrieb (oder Robertson, wie sie im Tagebuch des Anwalts, eines Mr. Clifford, hieß). Agathas Geschichte war die einer großen Sehnsucht; sie handelte vom Verlassenwerden und, wie Melville vorschlug, auch von der Reue. Laut Cliffords Eintragungen stellte sich die Geschichte wie folgt dar: Robertson hatte an der Küste von Pembroke Schiffbruch erlitten, wo ein Mädchen lebte, das damals noch Miss Agatha Hatch hieß – er wurde gastfreundlich von ihr aufgenommen und gepflegt, und heiratete sie ein Jahr später nach den rechtlichen Vorschriften. Dann unternahm er zwei kurze Seereisen. Etwa zwei Jahre nach der Eheschließung verließ er seine schwangere Frau, um sich eine Arbeit zu suchen, und von da an mußte sie siebzehn Jahre lang warten, ehe sie wieder etwas von ihm hörte – bis dahin kein Wort, weder direkt noch indirekt. Aufgrund ihrer Armut mußte sie ihr tägliches Brot als Amme verdienen; dennoch brachte sie es mit ihren geringen Einkünften zuwege, ihrer Tochter eine erstklassige Erziehung angedeihen zu lassen. Sie hatte Verbindung mit den Quäkern aufgenommen und konnte das Kind auf eine ihrer berühmtesten Pensionsanstalten schicken. Als ich sie kennenlernte, konnte ich feststellen, daß sie diesen Vorteil besser genutzt hatte als die meisten Frauenzimmer. Unterdessen war Robertson nach Alexandria D.C. gegangen, hatte dort ein erfolgreiches und einträgliches Geschäft eröffnet und ein zweites Mal geheiratet. Am Ende dieser langen Zeit von 17 Jahren, welche für die arme, verlassene Frau, die au272
ßer Haus hatte arbeiten müssen, beschwerlich genug vergangen war, kam ihr Vater in einem Einspänner vorgefahren und teilte ihr mit, daß ihr Mann zurückgekehrt sei und sie und ihr Kind zu sehen wünsche – falls aber sie ihn nicht sehen wolle, wolle er auf alle Fälle das Kind sehen. Sie fuhren gemeinsam zurück und begegneten ihm auf der Straße, wo er ihnen vom Haus ihres Vaters aus etwa eine halbe Meile entgegengegangen war. Diese Begegnung ist mir von Mutter und Tochter beschrieben worden – jede Einzelheit schien den beiden unauslöschlich ins Gedächtnis eingebrannt. Er rechtfertigte sich so gut er konnte für sein langes Ausbleiben und Schweigen, gab sich sehr freundlich, weigerte sich aber, ihnen seinen Wohnort zu verraten, und beredete sie, keine Nachforschungen anzustellen, gab ihnen eine stattliche Summe Geldes, versprach für immer zurückzukommen und reiste am nächsten Tag ab. – Etwa ein Jahr später tauchte er am Vorabend der Hochzeit seiner Tochter wieder auf & überreichte ihr ein Brautgeschenk. Wenig später starb seine Frau in Alexandria – worauf er seinem Schwiegersohne schrieb und ihn bat, ihn aufzusuchen – was dieser tat – 2 Tage blieb und mit einer goldenen Uhr und drei schönen Schals zurückkehrte, welch letztere ehedem von einer gewissen Person getragen worden waren. – Sie alle gaben zu, bereits Verdacht geschöpft & aus diesem Umstande geschlossen zu haben, daß er ein zweites Mal geheiratet hatte. Kurze Zeit danach erschien er wiederum in Falmouth, & wie sich herausstellen sollte, zum letzten Mal. – Er äußerte die Absicht, wieder nach Missouri zu gehen, & drängte die Familie, ihn dorthin zu begleiten, und versprach seinem Schwiegersohne Geld, Land und andere Unterstützung. Das Angebot wurde ausgeschlagen. Worauf er unter Tränen von 273
ihnen Abschied nahm. – Von seiner Rückkehr nach Missouri bis zu seinem Tode fand ein regelmäßiger Briefwechsel statt, er schickte ihnen jährlich Geld und berichtete von seiner Hochzeit mit Mrs. Irvin – Kinder hatte er von keiner seiner letzten beiden Frauen. Mr. Janney – (der Verwalter des Vermögens von Mr. Robertson und Ehemann von Mrs. Irvins Tochter aus erster Ehe, der nach Robertsons Tod die Klärung der Erbansprüche durch beide Familien unternimmt; Anm. der Übersetzerin) – hatte sich, was das Beweismaterial und den Charakter der Anspruchsteller anging, vollständig getäuscht. Er hatte die letzteren ursprünglich für Komplizen bei dem Betruge gehalten, der an Mrs. Irvin und ihren Kindern verübt werden sollte. Ich aber war überzeugt, und er wohl auch, daß die Motive für ihr Schweigen edel und lauter waren und der echten Mrs. Robertson alle Ehre machten. Sie trug ihre Sache mit einer ungekünstelten Leidenschaft vor, welche mir diese Überzeugung unwiderstehlich aufdrängte. Robertsons Entlarvung hätte lediglich den Vorteil (?) gehabt, ihn zu vertreiben und für immer in Schande zu stürzen, & Mrs. Irvin und ihre Kinder für den Rest ihres Lebens unglücklich zu machen. – «Ich hegte nie den Wunsch», sagte die Ehefrau, «die beiden unglücklich zu machen, trotz allem, was ich seinetwegen durchlitten habe» – für mich war das ein höchst bemerkenswertes Beispiel für die lang anhaltende und klaglose Ergebung in Unrecht und Leid, welche diese Frau in meinen Augen zu einer wahren Heldin machte.
Agathas Geschichte berührte mich zutiefst. Ich dachte an Mutter, die mich allein großgezogen hatte; an meinen abwesenden Vater. Ich dachte daran, wie ich darauf 274
wartete, dass jemand zurückkehrte. An Lillian, die wartete. Tot oder verschwunden? Jahre des Wartens, die sich in einem Moment der Rückkehr komprimierten, und die Unmöglichkeit der Versöhnung. «Ich hegte nie den Wunsch», sagte die Ehefrau, «die beiden unglücklich zu machen, trotz allem, was ich seinetwegen durchlitten habe.» Agatha war eine Heldin. Aber warum hatte ihre Geschichte Melville so beeindruckt? Warum wollte er Hawthorne die Geschichte von der Sehnsucht einfach überlassen? Warum schrieb er sie nicht selbst? Während ich weiterlas, war es allerdings fast so, als schriebe er Agathas Geschichte tatsächlich selbst, wenigstens in Stichpunkten. Weil er dem Freund die Geschichte schmackhaft machen wollte, beschrieb Melville Hawthorne in Einzelheiten, wie sich die Geschichte aufbauen könne: Angenommen, die Erzählung beginnt mit dem Schiffbruch – dann muß es einen Sturm geben; & es wäre gut, wenn ein schwacher Schatten der vorhergehenden Windstille das Ganze einleiten würde. – Nun stellen Sie sich unten die See und oben eine hohe, überhängende Klippe vor, an deren oberem Rande Schafe weiden; ein Stück weiter – höher gelegen – ein Leuchtturm, wo der Vater der künftigen Mrs. Robinson der Ersten wohnt. Es ist ein milder & warmer Nachmittag. Mit bedächtigem Ernst, mit bedächtiger Sorgfalt wälzt sich die See feierlich auf den Strand. In der Luft hängt das dumpfe Dröhnen langer Brandungswellen. Der Klippe gegenüber liegt kein Land, außer Europa & den Westindischen Inseln.
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Angenommen? Machten Schriftsteller so einander Vorschläge? Nehmen wir an, du schreibst das? Für mich? Oscar würde sich auf solche Dinge verstehen. Ich würde ihn fragen. Er würde es mir sagen. Ich schaute zu ihm hinüber. Er saß tief über sein Buch gebeugt, den großen Kopf ganz nah über der Seite, als schaute er in einen Abgrund, der ihn hinabzöge. Ich zögerte. «Oscar?», fragte ich leise. «Moment bitte, ich gehe da gerade einer Sache nach», sagte er ungeduldig und schrieb wieder etwas in sein Notizbuch. «Ich mach das kurz fertig, wenn’s recht ist», fügte er barsch hinzu. «Tut mir leid. Ist nicht so wichtig», murmelte ich. Ich war ihm keine Hilfe. Er rechnete gar nicht damit, dass ich etwas finden würde. Ich nahm mir wieder den Brief vor und las Melvilles Postskriptum: P. S. Es würde sich gut machen, wenn Agatha, aus ihrer Kenntnis der großen Nöte, in welche die Ehefrauen von Seefahrern geraten, in ihrer Jugend den Entschluß gefaßt hätte, niemals einen Seemann zu heiraten; welcher Entschluß dann aber später von der Allmacht der Liebe zunichte gemacht wird.
Der Allmacht der Liebe? Glaubte Melville denn, die Liebe könne alle Missgeschicke und Hindernisse des Lebens überwinden? Oder war das nur in Büchern so? Entstanden nur durch Bücher solche Gedanken? Agatha verliebt sich – und das wird sie ins Unglück stürzen. Die See hatte ihr einen Ehemann geschenkt und, so dachte 276
sie zumindest, wieder genommen. Aber er war gar nicht auf See verschollen. Er hatte sie im Stich gelassen. Melville fügte noch ein weiteres Postskriptum an: P. S. No. 2. Agatha sollte während des Schiffsbruchs tätige Hilfe leisten & auf irgendeine Weise zur Retterin des jungen Robinson gemacht werden. Er müßte der einzige Überlebende sein. Er müßte während der Krankheit, die seine beim Schiffbruch erlittenen Verletzungen nach sich ziehen, von Agatha im Hause gepflegt werden. – Also, das gescheiterte Schiff ist über die Untiefen & dann auf den Strand getrieben worden, wo es, bis auf den Steven, in Stücke geht. Letzterer wird im Laufe der Zeit vom Sande zugedeckt – nach einigen Jahren ragt nur noch der stämmige Vordersteven (oder Bugknochen) bei Ebbe zwei Fuß hoch heraus. Alles übrige ist vom Sande verschüttet & begraben. – So daß die betrübte Agatha, nach dem Verschwinden ihres Mannes, täglich dieses traurige Denkmal vor Augen hat, mit all seinen Erinnerungen.
Agatha war Robinsons Retterin. Der Vordersteven, der im Sand steckte, war wie ein Mahnmal. Agatha wird den Steven des Schiffswracks begraben sehen, der sie an ihre versunkene Liebe gemahnen wird. Arme Agatha. Aber was sollte Hawthorne Melvilles Ansicht nach mit seinen Ideen anfangen? Rollte Hawthorne etwa schon mit den Augen, als er beim zweiten Postskriptum angelangt war? Was soll ein anderer mit dem anfangen, was man sich selbst ausdenkt? Es sich überstülpen wie einen schlechtsitzenden Hut? Ich las das Ende des Briefes. Auch das zweite Postskriptum erging sich weiter in Beschreibungen und schloss mit den Worten: 277
Ich bilde mir daher, mein lieber Hawthorne, keineswegs ein, daß Sie mich für so dumm halten werden, ich könnte mir damit schmeicheln, Ihnen etwas zu überlassen, das mein ist. Ich gebe Ihnen bloß Ihr Eigentum zurück – das Sie schnell genug als solches erkannt hätten – wenn Sie zufällig an meiner Statt dort gewesen wären.
Er gibt Hawthorne sein Eigentum zurück? Daraus wurde ich nicht schlau. Auf die letzte Seite folgte noch ein weiteres Postskriptum. Mehr Einzelheiten, mehr Vorschläge für die Geschichte, dazu Melvilles Versicherung: «Und wenn ich glaubte, ich könnte dies so gut wie Sie, nun, so würde ich es Ihnen nicht überlassen.» Wenn Hawthorne Agathas Geschichte nicht schrieb, wäre Melville kaum etwas anderes übriggeblieben, als es selbst zu tun, so bedeutend war sie ihm erschienen. Ich schaute zu Oscar hinüber. Er war immer noch in seine Lektüre versunken, die Hand lag an seinem Kopf, als hätte er Schmerzen dort, als könnte er mit dieser Geste der Konzentration sein wohlgeformtes Haupt von den Schultern heben. Oscar?, wollte ich ihm ins Ohr flüstern. Ich habe etwas gefunden. Heute denke ich, dass Melville Hawthorne an sich binden wollte, indem er ihm die Geschichte schenkte, er hoffte, ihm so noch näher zu kommen. Eine Geschichte der Sehnsucht und des Verlustes zu erzählen, war eine Möglichkeit, dem berühmten Freund etwas über sich mitzuteilen. Ich dachte, ich könne Oscar schenken, was ich gerade gelesen hatte. Die Geschichte einer obskuren Suche würde er bestimmt als Geschenk akzeptieren. «Oscar?», sagte ich wieder und legte das Buch mit 278
den Briefen auf den Tisch. Ich streckte die Hand aus und zupfte ihn am Ärmel, endgültig entschlossen, ihn zu unterbrechen. «Was ist denn?», antwortete er entnervt. «Haben Herman Melville oder Nathaniel Hawthorne jemals einen Roman über eine Frau und einen Schiffbrüchigen geschrieben? Über eine Frau, die viele Jahre allein bleibt und auf einen Mann wartet? Eine Frau, die von ihrem Ehemann verlassen wird? Eine Frau namens Agatha?» «Hast du gesagt -Agatha?», fragte Oscar. Seine goldenen Augen waren ganz rund vor Erstaunen. Er legte seinen Bleistift hin. «Ja, ich habe Briefe gefunden, in denen eine Frau namens Agatha Robertson erwähnt wird, und zwar mit vielen Einzelheiten, wie man sie in Romanen verwendet. All diese szenischen Details, aus denen sich dann langsam eine Geschichte entwickelt …» «Na ja, was weißt du schon?», sprach Oscar in die Luft. «Alles ist durch geheime Knoten miteinander verbunden.»
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Fünfzehntes Kapitel
W
as hast du denn gefunden?», wollte Oscar wissen. «Ich bin mir nicht sicher», erwiderte ich. «Aber ich habe Melvilles Briefe an Nathaniel Hawthorne durchgeschaut, und da gibt es einen besonders langen, in dem er Hawthorne die Idee zu einem Roman aufdrängt. Ich habe aber den Eindruck, als hätte in Wirklichkeit Melville den Roman schreiben wollen.» «Über eine Frau namens Agatha?» «Ja, aber das war ihr richtiger Name, er hätte ihn sicher geändert. Die Geschichte hatte er von einem Anwalt gehört, den er kennenlernte, einem gewissen Mr. Clifford. Und Clifford sandte ihm eine Tagebuchseite mit Bemerkungen über die Familie. Kennst du denn einen Roman von Melville über das Verlassen werden? Über Frauen, die sich in ihr Schicksal ergeben?» «Hier im Register dieser Biographie ist etwas aufgeführt als ‹Die Geschichte von Agatha›, und ich hab mir auch eine Notiz gemacht.» Er nahm sein Büchlein und studierte seine eigene, säuberliche Druckschrift. «Da ist es. Ich dachte, vielleicht bezieht er sich auf eine Kurzgeschichte. Und dann ist da noch ein Bezug in einem Briefwechsel zwischen Melvilles Schwestern auf ein Werk, das The Isle of the Cross, Die Insel des Kreuzes, genannt wird. Wovon ich noch nie gehört habe. Aus dem Jahr – Moment, lass mich schauen, 1853.» 280
Er fuhr sich mit der Hand über den Kopf. «Wussten denn seine Schwestern über sein Werk Bescheid?», fragte ich. «Sie lebten damals bei Melville und seiner Frau. Die Mutter auch. Beide Schwestern, vor allem Augusta, waren seine Kopistinnen. Damals war es üblich, sich saubere Abschriften von einem Text machen zu lassen, also musste das Ganze per Hand nochmal abgeschrieben werden. Außerdem hatte Melville keine besonders schöne Schrift, und er machte viele Rechtschreibfehler. Seit einer Scharlacherkrankung in der Kindheit sah er sehr schlecht. Er hat sie mit seiner Schriftstellerei alle unterstützt, also war seine Arbeit auch die seiner Schwester.» Geists Brief war in einer sehr schönen Schrift verfasst gewesen. Wessen Schrift? Ich dachte an die schön geschwungenen, gestochen scharfen Lettern, an Melvilles Schwestern, die eifrig Seite um Seite eines Manuskripts abschrieben. Die Geduld und das Durchhaltevermögen von Frauen. Agatha, die an dem Strand mit dem versunkenen Schiffssteven spazieren ging, verlassen und in ihr Schicksal ergeben. «Hast du gesagt, 1853? Dieser Brief an Hawthorne ist aus dem Jahr davor.» Ich reichte ihm das Buch, das auf der Seite aufgeschlagen war. Oscar sah in seinen Notizen nach. «In einem der Postskripta schreibt er an Hawthorne, Agatha solle am Strand entlangwandern und an ihren Ehemann denken, der verschwunden ist», sagte ich. «Und dass der alte Steven dieses Schiffswracks im Sand steckt. Vielleicht eher wie ein Kreuz?» 281
«Zeig mir mal die Stelle», sagte er. Ich betrachtete sein Gesicht, während er las. Sein Kopf war so nah bei mir, dass ich mir später sicher war, seine Nähe nur geträumt zu haben. Nach einer Minute ließ er sich in seinen Stuhl zurückfallen. Und dann sagte er, mit leiser, aufgeregter Stimme, in unbestimmte Richtung: «In dieser Biographie hier steht, etwas an Melvilles Entwicklung sei unerklärlich. Er hatte eigentlich keinen Erfolg mehr, nachdem er in frühen Jahren großen Ruhm erlangt hatte. Moby Dick verkaufte sich nicht, und kurz darauf schrieb er ein Buch, das zum öffentlichen Skandal wurde. Pierre von 1852, aus dem Jahr also, als dieser Brief geschrieben wurde. Die Kritiker bezeichneten Melville damals als wahnsinnig.» Er war nicht wahnsinnig, dachte ich mir. Intensive Gefühle werden oft missverstanden. Glauben Sie mir … ich rase nicht! Aber die Wahrheit ist immer wirr & bruchstückhaft, und wenn die großen Herzen aneinanderschlagen, ist die Erschütterung ziemlich stark.
«Er war verschuldet», fuhr Oscar fort. «Nach Pierre schrieb er eine Weile nichts, dann, mehr als ein Jahr später, erschienen in Zeitschriften einzelne Kurzgeschichten, die in einem ganz anderen, man könnte sagen, resignierten Stil geschrieben waren. Etwas hatte ihn verändert.» Ich musste ihn ratlos angeschaut haben, denn Oscar setzte sofort zu einer Erklärung an. «Denk doch an Bartleby! Du musst doch Bartleby kennen! Den Schreiber, um Himmels willen! Der entscheidende Punkt ist 282
aber, dass Melville sich mit jedem Buch etwas Neues beibringen wollte. Es ist durchaus plausibel, dass es ein Buch dazwischen gegeben hat.» «Also, dann ist das hier möglicherweise ein Romanentwurf. Jedenfalls war er eindeutig an der Geschichte interessiert.» Ich zeigte auf den Band mit Briefen in seiner Hand. «Eine Frau wird von ihrem Ehemann verlassen, den sie als Schiffbrüchigen einst gesund gepflegt hat. Melville sagt, er interessiere sich für die Motive Geduld und Ausdauer, Durchhaltevermögen und Reue. Der Steven im Sand ist fast wie ein Grab. Ich leihe das Buch aus und lese alle Briefe durch.» «Damals muss Melville das Gefühl gehabt haben, selbst ein Liedchen über Geduld singen zu können», bemerkte Oscar wie zu sich selbst. Wir saßen eine ganze Minute schweigend da. «Es kann doch nicht sein, dass Walter Geist über ein Exemplar der Insel des Kreuzes gestolpert ist?», fragte Oscar sein Spiegelbild, das ihn aus der Schwärze des Bibliotheksfensters anstarrte. «Oder doch?» Wir sahen auch noch andere Briefwechsel durch; Oscar bestellte eine Biographie von Nathaniel Hawthorne, die uns prompt an den Platz gebracht wurde. Die Bibliothek schloss um zehn, und wir mussten uns beeilen – der drohende Zapfenstreich ließ unsere Arbeit geradezu fieberhaft werden. Ich wollte das Buch mit den Briefen auch ausleihen, um die Briefe allein in meinem Bett zu lesen. Wir hatten viel herausgefunden, und obwohl mir 283
bei manchem nicht recht klar war, was es bedeutete, reizte mich der numinose Aspekt unserer Suche und die Tatsache, dass es unser gemeinsames Projekt war. Hawthorne, so wurde in der Biographie erwähnt, habe kurzfristig an einem Text gearbeitet, der, nach einer Inselgruppe vor New Hampshire, The Isle of Shoals benannt werden sollte, und eine Weile hatte Melville sogar vorgehabt, diesen Titel für die Geschichte über Agatha zu verwenden. Offensichtlich verwarf er diese Idee jedoch, zumindest gefielen ihm die «Shoals» offenbar nicht mehr. Ich durchforstete den Band mit Briefen, den ich mir ausgeliehen hatte, und stieß später auf einen recht nüchternen Brief von Melville, ein paar Monate nach jenen leidenschaftlichen Schreiben verfasst, die mich so beeindruckt hatten. Unerklärlicherweise hatte sich zwischen den Freunden etwas verändert: Mein lieber Hawthorne, – Neulich, in Concord, äußerten Sie Zweifel, ob Sie es auf sich nehmen sollten, die Geschichte Agathas zu schreiben, und drängten schließlich mich, dies zu tun. Ich habe mich dazu entschlossen, und werde gleich nach meiner Heimkehr damit beginnen; und soweit es an mir liegt, werde ich mir alle Mühe geben, einer so interessanten Geschichte aus dem wirklichen Leben Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
Nun hatte also Melville beschlossen, den Roman doch anstelle von Hawthorne zu schreiben, weil Hawthorne ihn offenbar dazu gedrängt hatte. Das Geschenk war sozusagen an den Schenkenden zurückgegangen. Doch wenigstens bestand jetzt kein Zweifel mehr, dass Her284
man Melville einen weiteren Roman geschrieben hatte, der verlorengegangen war: Die Insel des Kreuzes. «Was, glaubst du, hat das alles zu bedeuten?», fragte ich Oscar, als wir in Richtung U-Bahn gingen. Es war nach zehn, und wir waren fast vier Stunden zusammen gewesen. Oscar war schweigsam. «Warum reden wir nicht einfach mit Mr. Geist über das, was wir rausgefunden haben?», schlug ich vor. «Und schauen, ob wir dem Arcade dabei helfen können, das Manuskript zu kriegen?» Er blieb abrupt stehen und drehte sich zu mir. «Ist dir eigentlich schon mal der Gedanke gekommen, dass Geist das unbezahlbare Manuskript nicht für das Arcade erwerben will? Ein Manuskript, das sehr wohl bestimmte Sichtweisen eines großen amerikanischen Schriftstellers verändern könnte? Das sehr wahrscheinlich gestohlen ist? Dass Geist vielleicht etwas ganz anderes damit im Sinn hat? Und dass er eigentlich nicht einmal davon wissen dürfte, weil der Brief ja an George Pike adressiert war?» Ich wusste nicht, was ich antworten sollte. Es fiel mir schwer, nachzudenken, wenn ich so aufgeregt war, und es schien, selbst Oscar war auf seine Art in bester Laune; wie betrunken von den Ergebnissen seiner Nachforschungen und aufgeputscht durch all die mysteriösen Begebenheiten. «Ich sterbe vor Hunger», sagte er unvermittelt. Oscar war immer für eine Überraschung gut. «Ich geh jetzt hier rein.» Oscar trat wie ferngesteuert über die Schwelle eines 285
Diners, in dessen Fenster ein neonfarbenes Schild mit der Aufschrift OFFEN hing. Was er gesagt hatte, war wohl eine Einladung gewesen. Ich folgte ihm. Wir setzten uns an einen Tisch mit rotgepolsterten Bänken. (Zusammen! In einem Restaurant!) Eine ältliche Kellnerin mit schwarzgeschminkten Augen tauchte auf. «Kaffee?», fragte sie mit kratziger Stimme. «Rühreier. Kein Toast. Tee», sagte Oscar geistesabwesend, mit den Gedanken eindeutig ganz woanders, er grübelte wahrscheinlich über irgendetwas, das nur in seinem Kopf existierte. Die Kellnerin wandte sich mir zu und schob den Träger ihres BHs unter der Uniform hoch, während sie mit ausdrucksloser Miene wartete. «Für mich dann das Gleiche», sagte ich, weil ich mir einfach nicht vorstellen konnte, worauf ich Appetit hatte. «Ich möchte Milch in meinen Tee. Bitte.» «Steht auf dem Tisch», sagte sie mechanisch. Ich befürchtete, den Zauber zu brechen, den ich selbst ausgesprochen hatte. Zwei Gläser mit Wasser wurden vor uns auf den Tisch geknallt. Die Eiswürfel darin klirrten. «Was meintest du eigentlich damit, Mr. Geist habe seine Gründe, wenn er das Manuskript geheim halten wolle?» «Ich halte es nur für vernünftig, ihm gegenüber misstrauisch zu sein», sagte er und nahm einen Schluck Wasser. «Er hat dir den Brief aus der Hand gerissen, richtig? Und kurz darauf arrangiert er ein Treffen mit Samuel Metcalf bei Peabody. Und er hat dich weder in die Diskussion einbezogen, noch jemals wieder den Brief erwähnt.» 286
Das abgerissene Stück Papier war immer noch in meiner Tasche. Ich befühlte es, als sei es das fehlende Teil in einem schwierigen Puzzle, das ich nicht zusammensetzen konnte. «Was hat es eigentlich mit Metcalfs Behauptung auf sich, er sei mit Melville verwandt?» «Als Beweis führt er die Tatsache an, dass er aus einem kleinen Ort in Upstate New York stammt, in dem auch Melvilles Mutter kurz gelebt hat.» «Aus Lansingburgh?» Dieses Detail hatte ich eines Abends irgendwo gelesen. Maria Melville hatte ein Haus in Lansingburgh in der Nähe von Albany gemietet, als die Familie knapp bei Kasse war. «Genau! Siehst du, du hast dir etwas ganz Spezielles gemerkt, noch bevor du wusstest, was du damit anfangen kannst. Nur eines von Melvilles vier Kindern hat geheiratet, Frances, und sie hatte ein Kind, das einen Metcalf geheiratet hat. Aber es gibt keinen Grund zur Annahme, der gleiche Name könne mehr sein als ein purer Zufall.» «Auf dem Umschlag hatte keine Adresse gestanden, also muss der Brief persönlich im Arcade abgegeben worden sein. Aber wüssten wir es nicht, wenn Metcalf im …» «Julian Peabody ist einer der wenigen Menschen, mit denen Geist überhaupt Kontakt hat und die über die entsprechenden Mittel verfügen, um den Preis für eine solche Kostbarkeit zu zahlen. Vorausgesetzt, der Text ist authentisch. Und Metcalf ist zu beidem der Schlüssel. Peabodys Sammelwut ist eine Art von Manie. Doch wenn das, was in dem Brief angedeutet wird, wirklich 287
stimmt, wenn wir all dem Glauben schenken sollen, dann sollte ein solches Manuskript in einer öffentlichen Institution untergebracht werden, einer Universität oder großen Bibliothek, wo Wissenschaftler es studieren können.» «Aber das Arcade könnte es doch ebenso gut an Peabody wie an eine Institution verkaufen.» «Ja, aber dann gäbe es keine Provision für Geist und Metcalf, und man müsste die ‹ehrenwerte› Herkunft nachweisen. Keine Universität oder Bibliothek ist an Diebesgut interessiert, das auch noch von Bedeutung für die Öffentlichkeit ist. Und Peabody könnte das Manuskript so lange wegschließen, wie er will. Außerdem gibt es Dinge, die einen so hohen Preis haben, dass sie niemals verkauft werden können.» Das Rührei kam. Oscar fiel darüber her, als wäre er am Verhungern. «Du meinst, wenn Geist das Manuskript ohne Peabodys Wissen verkauft, könnte er einen Anteil für sich bekommen?» «Könnte sein, dass er und Metcalf halbe-halbe machen. Aber damit würden sie natürlich nicht nur Pike übers Ohr hauen, sondern auch Peabody, und sozusagen beide Arbeitgeber bestehlen.» «Aber der Brief war doch an Pike gerichtet. Wofür braucht Mr. Geist überhaupt dieses ganze Geld? Sicher wird doch der Briefschreiber Pike kontaktieren oder es ihm gegenüber erwähnen. Warum sagen wir es eigentlich nicht Mr. Pike?» «Wir werden nichts dergleichen tun! Schau mal, Rosemary, ich habe das alles ja noch gar nicht richtig ver288
standen. Ihr schlaft und schnarchet sorgenfrei, weil mörderische Verräterei zu euerm Unglück wacht … Gib mir ein paar Tage Bedenkzeit.» «Tut mir leid.» Ich sah ihm beim Essen zu, wie seine Lippen sich öffneten und wieder schlossen. «Ich werde das Buch mit den Briefen lesen, und dann weiß ich mehr.» Sein Kinn bewegte sich unter der papierdünnen Haut. «Es ist ein seltsames Detail, dass Metcalf vielleicht erst durch Geist von dem Manuskript erfahren hat», sagte er mit vollem Mund. «Dann kann der Briefschreiber jedenfalls nicht Metcalfs Vater sein.» Ich schilderte Oscar alles, was ich von meinem Besuch bei Peabody noch in Erinnerung hatte. Er lauschte mir gebannt, was ich wiederum aufregend fand. Ich erzählte ihm, Metcalf habe es überrascht, dass ich Geist begleitete, und er habe mich in das Kuriositätenkabinett geschickt, um mich zu beschäftigen. Er hatte gesagt, sie hätten eine große Sache miteinander zu besprechen, folglich wusste er schon, dass Geist etwas anbieten wollte, an dem Peabody sicher Interesse haben würde. Oscar hatte aufgegessen, bevor ich meinen Teller auch nur angerührt hatte, so begierig war ich gewesen, ihm zu berichten, woran ich mich erinnern konnte. Er saß da und schaute zerstreut aus dem Fenster in die Nacht hinein, während ich mein lauwarmes Rührei schweigend verzehrte. Dann bat er um die Rechnung und zählte seinen Anteil peinlich genau ab. Ich hatte gar nicht gewusst, dass Oscar ein Geizhals war. «Dein Anteil beträgt zwei Dollar siebenundneunzig», 289
sagte er. Offenbar hatte er es jetzt eilig, zu gehen. «Einschließlich Trinkgeld.» Ich trank meinen Tee aus und spürte, wie der Abend sich dem Ende zuneigte. Am liebsten hätte ich ihn gepackt und festgehalten. Wir verließen das Diner, blieben kurz stehen, bevor wir die Straße überquerten. «Ich habe eine Menge nachzudenken», sagte Oscar zu sich selbst. Er ging vorneweg und drehte sich ungeduldig um, weil es ihm offenbar zu langsam ging. Doch ich hatte lange gewartet, und für mich sah es folgendermaßen aus: Der Abend war einem bestimmten Muster gefolgt, und dabei hatte der Wille durchaus eine Rolle gespielt. Allein weil ich es wollte, würde ich Oscar haben, der jetzt am Eingang zum U-Bahn-Schacht vor mir stand. Ich lehnte mich kaum spürbar an ihn. Er schien es nicht zu bemerken, oder bemerken zu wollen, und kramte in seiner Tasche nach Münzen für die U-Bahn. Sehnsucht zog sich durch die kalte Abendluft wie ein dünner Draht. Ein leichter Wind fuhr mir ins Haar. Autos hupten schrill, und Oscar sah sich nach ihnen um. Wieder lehnte ich mich an ihn, als müsste ich Gesetzen folgen, die ich selbst gar nicht kannte. Ich war nur wenige Zentimeter von seinem großen Gesicht entfernt, von seiner Wange, die aussah wie aus Gips, und mein Mund öffnete sich ein wenig, als ich mich an seinen Mund erinnerte, wie er das Rührei verschlungen hatte. An seinen Kiefer, wie er sich an jenem Tag in meinem schmuddeligen Park bewegt hatte, als ich mit dem Fuß ein Kondom unter die Bank schob. An sein Gesicht, so zum 290
Greifen nahe eben in der Bibliothek. Seine Lippen, mit denen er seinen Tee trank. Und setz ich ihn an meine Lippen – siehe, da sind’s Ihre, nicht meine. Mein ganzes Wesen lehnte sich an ihn. Ich würde ihn küssen. «Halt! Hör auf damit!», stieß Oscar entsetzt zwischen den Zähnen hervor. Seine goldenen Augen waren vor Schreck weit aufgerissen. «Halt!» Er wich vor mir zurück. «Hör auf!» Jetzt schubste er mich sogar an der Schulter weg, stieß mich von sich. «Was ist denn los mit dir? Was machst du denn? Es ist nicht so, wie du denkst, Rosemary! Hast du verstanden?» Seine Stimme klang bitter und schrill. «Rosemary!» Jetzt klang er auch wütend. «Habe ich mich klar ausgedrückt? Ja oder nein? Jetzt kapier es endlich. Ich bin nicht interessiert … an niemandem bin ich … in dieser Weise interessiert. Ich bin nicht … Das ist doch albern!» Er sprach zu mir, als wäre ich nicht zurechnungsfähig. Auch ein Hauch Mitgefühl lag in seiner Stimme, aber am deutlichsten war sein Ekel zu hören. Er war vor mir zurückgezuckt, als hätte ich ihn gestochen. Als hätte ich ihn enttäuscht. Warme Tränen rannen mir über mein kaltes Gesicht und holten mich wie eine Ohrfeige aus meiner Benommenheit. Ich stieß aus Versehen gegen einen Schneehaufen, rutschte aus und stürzte auf den vereisten Bürgersteig. Meine Tasche fiel mir von der Schulter. Ohne ein weiteres Wort stieg Oscar die U-BahnTreppe hinunter. 291
Die Wucht der Demütigung hatte mich zu Fall gebracht. Ich tastete nach meiner Tasche, hob das Buch aus der Bibliothek auf, meine Brieftasche, meine Schlüssel. Ich war dumm gewesen, das wurde mir sofort bewusst, und gierig. Mit einem Ärmel meines Mantels wischte ich mir das Gesicht ab, stand da und spürte, wie sich an meiner Hüfte langsam ein blauer Fleck bildete. Ich hatte es verdient, zu fallen, dachte ich, ich hatte es verdient, dass ich mir wehtat. Ich war verzweifelt. Ich beschloss, zu Fuß nach Hause zu gehen. Elend und mit Schmerzen würde ich den ganzen Weg nach Süden durch die Stadt gehen, bis zu meiner Wohnung. Eine Buße, die mich daran erinnern würde, dass ich gedankenlos gewesen war. Ich hatte kein Recht darauf gehabt. Und keinen Grund, es einzufordern. Oscar. Ich hatte nichts von Pearls Warnungen wissen wollen, denn ich hatte mich selbst aufs Glatteis geführt. Es war meine eigene Schuld. Die Schuld eines Mädchens, das Männer wie Pip, Darcy, Knightly oder Mr. Rochester liebte (eben die üblichen Verdächtigen), ohne sich bewusst zu machen, dass sie eines gemeinsam hatten: Es waren Romanfiguren. Auch der Oscar, in den ich mich verliebt hatte, war erfunden. Die Nachforschungen zu Melville hatten mich in einen Rausch versetzt. Seine leidenschaftlichen Briefe, die fabelhaften Metaphern – Magnete, austauschbare Herzen in der Brust. Oscar war überhaupt nicht wie Herman Melville. Und Ismael war er auch nicht. Und er war eben kein Subjekt meiner Vorstellungskraft. Obwohl es doch eindeutig gewesen war, dass er sich nicht für mich interessierte, hatte ich mich ihm aufgedrängt. 292
Damals glaubte ich wirklich, dass ich bekommen hatte, was ich verdiente. Ich fühlte mich fremd, als ich durch die Stadt ging, und eine Erkenntnis verfolgte mich: wie wenig ich wusste, wie wenig ich begriff. Und doch leitete mich, anders als an dem Abend nach dem Besuch bei Peabody, eine hohle Gewissheit wie ein Kompass auf meinem langen Weg durch die glitzernde Großstadt. Ich bewegte mich mit der Sicherheit einer Schlafwandlerin, ohne nachzudenken, manchmal zwischen Grüppchen von Menschen hindurch, dann wieder verlassene Blocks entlang. Jetzt war ich wach, die Benommenheit war weg. In Midtown strömten Theaterbesucher in einer schläfrigen Prozession auf die Straße hinaus, verstopften den Times Square, strandeten kurzfristig auf den Verkehrsinseln aus Beton und ließen sich in dieser ozeanischen Stadt eine Weile treiben. Ich ging immer weiter, hielt mir die schmerzende Hüfte, ging durch zweifelhafte Viertel ebenso wie durch ruhige Wohngegenden. Schnee bedeckte das zerzauste Gestrüpp vor den Wohnhäusern aus der Zeit vor dem Krieg. Meine Füße fühlten sich taub an in den billigen Stiefeln. Als ich die Dreißiger-Straßen erreichte, humpelte ich, aber es lagen noch viele Blocks vor mir bis zu meinem kalten Apartment. Chaps hatte mir einmal gesagt, frei zu sein bedeute oft, einsam zu sein – hatte sie genau das gemeint? Plötzlich kamen mir die Gebäude vertraut vor, und als ich den Halbschatten einer zerschlissenen, schlechtbeleuchteten Markise sah, wusste ich, dass das Martha Washington nicht mehr weit war. 293
Ich würde vorbeischauen und sehen, ob Lillian noch wach war. Es gab Dinge, die wichtiger waren als das, was mir geschehen war. Mir fiel der Zettel in meiner Tasche ein, den mir Pearl gegeben hatte. Es war wichtig, mit Lillian zu sprechen. Sie saß hinter der Rezeption und schlief, auf einem Stuhl zusammengesunken. Der Fernseher blinkte ohne Ton. Die Ohrstöpsel waren ihr auf die Brust gefallen. Ich berührte sie sanft, und sie schreckte hoch. «Vive Dios!», kreischte sie. «Lillian, ich bin’s.» «Was machst du hier?» Verschlafen, wie sie war, und weil sie sich so erschrocken hatte, war sie völlig verwirrt. «Du jagst mir Angst ein. Du darfst mich nicht so überraschen.» Sie setzte sich auf und rückte ihre Kleidung zurecht, strich sich über das dicke Haar. Dann schaltete sie den Fernseher ab. «Du bist zurückgekommen, Rosemary? Du willst wieder hier wohnen?» «Nein. Nein. Ich bin nur draußen spazieren gewesen und dachte, ich gucke, ob du da bist.» «Ich bin immer hier. Wo soll ich sonst sein?» Sie rieb sich die Augen, um wach zu werden. «Es ist komisch, als würde ich träumen. Ich glaube, es ist so wie an dem Abend, als du ankamst. Mitten im Sommergewitter. Dieses Mädchen aus Tasmanien, das so anders war. Weißt du noch? Das jünger war.» «Ich bin diejenige, die geträumt hat», murmelte ich. 294
Lillian schaute mich prüfend an. «Was ist los?», wollte sie wissen. «Nichts», log ich. «Ich wollte einfach nicht allein sein. Ich war aus und gerade auf dem Weg nach Hause.» «Bist du mit einem Mann aus gewesen?», fragte sie. «Ja, aber es war nicht so, wie du denkst.» Das waren Oscars Worte gewesen. «Überhaupt nicht so. Ich bin mit einem Freund in der Bibliothek gewesen, um etwas nachzuschlagen.» «Und warum siehst du dann so traurig aus? Du hast geweint. Warum ist dir so kalt?» Sie berührte mein Gesicht. «Du musst mehr Sachen anziehen.» Lillian stand auf, um mich genauer zu betrachten. «Da an der Seite bist du nass. Bist du hingefallen, im Schnee? Du musst aufpassen, weißt du. Wir sind dieses Wetter nicht gewöhnt. Unser Blut ist dünner, das habe ich dir doch gesagt. Setz dich hierher.» Sie gab mir ihren Stuhl hinter dem Tresen, schubste mich förmlich hin. «Es geht dir nicht gut. Das sehe ich. Sag mir, was geschehen ist. Hat dir jemand wehgetan? Sag es mir.» «Nein. Ich bin nicht verletzt», sagte ich, meine Augen füllten sich mit Tränen und liefen über. Lillian schob eilig ein kleines Heizgerät heran. «Zieh die Stiefel aus. Die sind ganz nass. Du bist ja ganz am Ende», sagte sie und half mir aus den Stiefeln. «Du bleibst, glaube ich, lieber hier. Ist deine Wohnung immer noch so kalt? Du wirst dich erkälten. Du musst schlafen.» Ich blickte in ihr besorgtes Gesicht hoch und schämte mich, dass ausgerechnet sie mit ihrem großen Kummer 295
sich um mich sorgte. Obwohl mein eigener durchaus auch real war. Ich kam mir wie eine Idiotin vor. «Du bleibst hier», bestimmte Lillian. «Ich mach ein Zimmer für dich zurecht. Umsonst. Du musst nicht zahlen. Ich sage es meinem Bruder. Du kannst dort schlafen.» Irgendwie wusste ich mir in diesem Moment gar nicht mehr zu helfen. «Ich habe ja geschlafen», stieß ich hervor, meine Stimme brach. «Ich habe geschlafen. Und habe von jemandem geträumt, das ist alles.» Wieder die heißen Tränen; ein peinliches Aufschluchzen. «Alles nur ein blöder Traum», stammelte ich. «Und ich bin gerade aufgewacht. Gerade eben. Heute Abend.» «Und du möchtest gerne zu deinem Traum zurück», sagte Lillian und streichelte mir übers Haar. Sie kniete sich neben den Stuhl, nahm mich in den Arm und lehnte ihren Kopf an meine Stirn. «Ich kenne das», sagte sie. «Das will ich auch immer.» Ich blieb die Nacht im Martha Washington. Lillian lieh mir ein Nachthemd und steckte mich ins Bett. Ich erinnerte mich, wie meine Mutter mich immer zu Bett gebracht hatte, und es brach mir fast das Herz, ich hatte schon Jahre nicht mehr daran gedacht, selbst als sie noch gelebt hatte. Als mir Lillian die Decke bis zum Kinn hochzog, summte sie ein trauriges Lied, und ich fragte mich, ob sie sich auch an etwas erinnerte, daran, wie sie ihren Sergio damals als kleinen Jungen zu Bett gebracht hatte. 296
Meine Hüfte tat mir weh. Lillian saß bei mir, bis ich schlief, tief und traumlos. Ich wachte früh auf und war allein. Ich wusch mich in dem schmuddeligen Bad auf dem Flur. Während meiner Abwesenheit hatte man im Martha Washington immer noch nicht mit den Renovierungsarbeiten begonnen. Das ganze Haus war still, als wäre die Zeit stehengeblieben. In weniger als einem Monat würde ein neues Jahrzehnt beginnen, die Stadt war im Wandel begriffen, sie erneuerte sich, aber nicht hier, nicht in der 29sten Straße Nummer 29. Lillian hatte erwähnt, dass ihr Bruder Schwierigkeiten habe, an sein Geld in Argentinien heranzukommen, und dass die Situation in der Heimat sich nicht gebessert habe. Bevor sie sich wieder hinter ihren Tresen setzte, gab ich ihr Pearls Zettel mit dem Namen und der Telefonnummer und sagte ihr, ich würde mich später am Tag noch einmal bei ihr melden. Lillian klopfte mir auf die Schulter, als schickte sie mich auf den Schulweg. Und so schlug ich, leicht humpelnd, meinen altvertrauten Weg vom Martha Washington zum Arcade ein. Doch die Gewohnheit war nicht spurlos an mir vorübergegangen, die kurze Strecke hielt keine Überraschungen mehr bereit, und die Stadt schien bei Tageslicht ihre frische Unverwechselbarkeit verloren zu haben. Wenn man erst einmal den Weg kennt, stellt sich diese Freude, etwas zu entdecken, einfach nicht mehr ein; jenes vollkommen unbekannte New York war unauffindbar. Jetzt sah ich meinen Schmuddelpark, unter der Schneedecke kaum von den Gebäuden ringsum 297
zu unterscheiden, als wäre er einfach Teil der Landschaft geworden, nicht mehr als eine schwache Erinnerung daran, dass er mir einmal als eine Art natürliche Uhr gedient hatte, die den Lauf der Jahreszeiten anzeigte. Ich holte tief Luft. Ich musste ins Arcade, zur Arbeit. Ich würde Oscar sehen. Ich musste mich entschuldigen. Ich musste erwachsen werden und meine Phantasien für mich behalten. Der Winter war härter, als ich ihn mir vorgestellt hatte.
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Sechzehntes Kapitel
W
alter Geist war die erste Person, die ich sah, als ich das Arcade betrat. Er und Pike kamen fast immer früher, während Mr. Mitchell meistens zu spät war. Ich sah Geist zu, wie er gegen den Bücherstapel stieß, der unterhalb von Pikes Podest darauf wartete, einsortiert zu werden. Geist schaute sich blitzschnell um, ob ihn jemand gesehen hatte. Irgendwie wusste er, dass ich da war, obwohl ich kein Wort gesagt hatte. «Ich möchte Sie in meinem Büro sprechen», sagte er. «Bitte kommen Sie nach oben, Rosemary, sobald Sie abgelegt haben.» Er sah krank und nervös aus, wie ein Krustentier, das außerhalb seiner Schale vertrocknete. Jetzt, wo ich da war, fühlte auch ich mich ein wenig so, wie er aussah: verhungert. Ich hatte meinen Mantel bereits ausgezogen und hielt ihn in der Hand. Ich trug dieselben Kleider wie am Tag zuvor, ein weißlicher Salzfleck prangte an meiner Seite, aber Pearl war die Einzige hier, der ein solches Detail aufgefallen wäre. Unter meiner schwarzen Hose war eine große schmerzhafte Prellung entstanden. So viel zu Chaps’ grünem Amulett – innere Schmerzen, gebrochene Herzen, alles dasselbe, hatte Oscar gesagt. Geist stieg in sein Büro hoch. 299
Pike stand auf dem Podest und telefonierte; dabei fuhr er mit der freien Hand in abgehackten Bewegungen durch die Luft, als wollte er sie in Quadrate zerschneiden. Der Hörer, den er in der anderen Hand hielt, sah überdimensional groß aus, wie in einem Comic; selbst das Telefon war im Arcade ein Anachronismus. Die meisten der antiquierten technischen Anlagen hier funktionierten nicht mehr, doch das Telefon ging noch. Pike wollte in dem Jahrhundert, in dem er sich befand, einfach keinen Fuß fassen, besonders wenn das bedeutete, Dinge zu ersetzen, die ihm noch gute Dienste leisteten. Ich fragte mich, ob er auch Geist dazu zählte. Es war einfach nicht vorstellbar, dass er noch besonders gut funktionierte. «Sie sind auf dem Holzweg, Mitchell», sagte Pike energisch. «Völlig. Wie immer. Ich werde ihn darauf ansprechen, aber ich bin mir sicher, Sie täuschen sich. Die gesamte Korrespondenz wird registriert. Ersparen Sie dem Arcade Ihre Ränkespiele! Und zu spät sind Sie auch schon wieder!» Er knallte den schweren Bakelithörer auf die Gabel. Dann fiel sein Blick auf mich. «Belauschen Sie nicht George Pikes Telefongespräche, Miss Savage. Für gewöhnlich nennt man das nämlich Lauschen. Und seien Sie bitte nicht gewöhnlich.» Wusste er, dass ich ihn schon einmal belauscht hatte? Ich errötete. «Oh, tut mir leid, Mr. Pike. Ich war nur gerade auf dem Weg, äh, ins Büro. Tut mir leid.» «Geht es Ihnen gut?», fragte er, scheinbar mehr aus Neugier denn aus wirklicher Sorge. «Ja, mir geht es gut, Mr. Pike. Alles okay.» 300
«Gut. Heute kein Springen. Wenn Sie bei Mr. Geist gewesen sind, bleiben Sie für den Rest des Tages in Oscars Abteilung.» «Beim Sachbuch?» Die Aussicht, Oscar schon so bald gegenübertreten zu müssen, warf mich aus der Bahn. Ich hatte keine Ahnung, wie ich es anpacken sollte. Was sollte ich sagen? Würde er überhaupt mit mir sprechen? Ich muss erschrocken ausgesehen haben. «George Pike schickt Sie ins Sachbuch. Irgendein Problem damit?» «Nein, Sir. Ich …» «Oscar ist heute nicht da», sagte er. Ich atmete auf. «Sie müssen versuchen, so gut wie möglich allein mit den Stammkunden zurechtzukommen. Das Geschäft zieht an! Weihnachten steht vor der Tür!» Er sprach diese Verlautbarungen in die Luft und neigte dann den Kopf leicht in meine Richtung. «George Pike rät zu erhöhter Vorsicht, was Ladendiebe betrifft. Diebe lieben diese Zeit des Jahres. Sie sehen in allem ein Geschenk, auch wenn es gar keins ist. Käufe, keine Geschenke. Augen auf!» Er wies auf sein eigenes Gesicht und riss die Augen so weit auf, dass es lustig aussah. War Redburn wieder aufgetaucht? Wie viele andere seiner Art gab es eigentlich? Sicher mutmaßte Pike in seiner Paranoia ganze Legionen von Ladendieben, die im Arcade aufmarschieren würden. «Ja, Mr. Pike.» Ich würde versuchen müssen, mit Oscar zu sprechen, aber heute nicht. 301
Ich hängte meinen Mantel in die Garderobe, wo mir das Schild mit der Aufschrift GEORGE PIKE DULDET WEDER DEN DIEBSTAHL VON GELD NOCH VON BÜCHERN! entgegenschrie. Ich stieg langsam die Treppe zu Mr. Geists Büro nach oben, denn meine Hüfte schmerzte, und das klapprige Geländer war mir keine Hilfe. «Sie wollten mich sprechen, Mr. Geist?», sagte ich, nachdem ich einen Moment lang an der Tür gewartet hatte. Geist hatte ein Blatt Papier in der Hand und hielt es sich drei Zentimeter vors Gesicht. Mir schien es unmöglich, dass er aus dieser Nähe überhaupt etwas lesen konnte. «Ach», rief er und warf das Blatt auf den überfüllten Schreibtisch. Ich fragte mich, warum er nicht seine Lupe verwendete und die Kneiferbrille an der Kette noch in seiner Tasche steckte. Vielleicht hatte er es aufgegeben. «Kommen Sie rein, Rosemary», sagte er, rutschte mit seinem kleinen Körper im Stuhl herum und beugte sich nach vorn. «Ich brauche Ihre Hilfe.» «Ja, Mr. Geist», sagte ich, nicht gerade begeistert. Jetzt, wo ich ihn im Verdacht hatte, gegen Pike und gegen das Arcade ein Komplott zu schmieden, wusste ich nicht, wie ich mich ihm gegenüber verhalten sollte. Konnte es wirklich stimmen? Wollte er mich in die Sache hineinziehen? «Mr. Pike möchte eine kleine Weihnachtsfeier veranstalten. Nichts Großes. Oder Teures. Wein und Käse. Nur die Belegschaft, eine Stunde vor Ladenschluss.» Er wedelte mit seiner zarten Hand durch die Luft, als 302
könnte sie sich in solchen Dingen besser ausdrücken als er. «Haben Sie denn ein bestimmtes Datum ins Auge gefasst?», fragte ich, erleichtert darüber, dass er momentan offenbar nur in dieser Sache Hilfe von mir brauchte. «Am ersten Feiertag haben wir geschlossen, wie wäre es dann mit Heiligabend?» «Heute in zwei Wochen also?» «Ach, wirklich?» Er schien verwirrt und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. «Stimmt das tatsächlich?» Er rieb sich mit beiden Händen übers Gesicht und ließ sie einen Moment lang dort liegen, hielt seinen Kopf in den Händen. «Die Zeit läuft davon, Rosemary», sagte er rätselhaft. Er ließ die Hände sinken. «Die Zeit läuft davon?», fragte ich und ging auf den Schreibtisch zu. Es ging ihm offenbar wirklich nicht gut. «Mr. Geist, was ist denn los?» «Was los ist?», wiederholte er. «Alles läuft uns davon, Rosemary. Die Zeit ist eine Bürde, finden Sie nicht? Wie eine Uhr, hat Metcalf gesagt. Erinnern Sie sich? Bei Peabody? Aber setzen Sie sich doch bitte.» «Aber Mr. Geist, ich soll doch bei Oscar aushelfen. Er ist heute nicht da.» Ich setzte mich trotzdem. «Ich weiß», sagte er. «Er fehlt zum ersten Mal. Der zuverlässigste Mitarbeiter überhaupt. Wirklich bemerkenswert, dass er in fünf Jahren kein einziges Mal krank war.» Ich hatte in diesem Moment ein schlechtes Gewissen, 303
weil ich mir törichterweise dachte, Oscar fehle wegen meines Benehmens. Geist war offensichtlich sehr erschöpft und verfiel in Schweigen. Seine zuckenden Augen waren rastlos, drehten sich auf ihre typische Weise hierhin und dorthin, und es war unmöglich, mit ihm Blickkontakt aufzunehmen. Er sank in sich zusammen. «Schlafen Sie nicht gut?», fragte ich, weil es mich nervös machte, mit ihm herumzusitzen, ohne zu reden. Und ich machte mir Sorgen. Irgendwie fand ich ihn rührend, ganz gleichgültig, was für geheime Pläne oder sonderbare Wünsche er hatte. Mir wurde bewusst, dass ich es einfach nicht glauben konnte, wie dieser hinfällige Mann ein Dieb sein sollte – allein die Vorstellung kam mir völlig absurd vor. «Ich leide an Schlaflosigkeit, Rosemary, wenn Sie denn so freundlich sind, danach zu fragen. Ein Kreuz, das melancholische Männer häufig zu tragen haben, wie jemand einmal gesagt hat», erwiderte er seufzend. Ein Kreuz? Schlaflosigkeit? Plötzlich musste ich wieder an Agatha denken, an den Steven des Wracks, der im Sand steckte. Vielleicht wollte er mit der Insel des Kreuzes Schulden bezahlen? Ich habe jedenfalls nie vergessen, wie Mutter wegen der Schulden nicht mehr geschlafen und wie sie so ihre Gesundheit zugrunde gerichtet hatte. «Sind Sie denn schon bei einem Arzt gewesen?», war alles, was mir dazu einfiel. Er hob beide Arme – eine schöne Geste, er sah aus wie ein Vogel, der die Schwingen ausbreitet – und ließ sie dann auf die unordentliche Oberfläche des Schreibtisches fallen. 304
«Meine Loyalitäten sind nun andere», sagte er kryptisch nach einer Weile. «Ich möchte nicht mehr Untertan sein, ein Speichellecker und Feigling.» Er wandte das Gesicht von mir ab. «Ich kann mich einfach nicht mit meiner Position hier abfinden, wissen Sie? Auf jeden neidisch, und heimlich verliebt noch dazu. Ich möchte etwas, das mir gehört.» Ich konnte ihm nicht folgen und beugte mich vor, um seine zischelnden Worte besser zu verstehen. Jetzt galt es, auf der Hut zu sein, sagte ich mir. Ich musste aufpassen wie ein Schießhund. Bestimmt würde Oscar wissen wollen, was Mr. Geist gesagt hatte. Ich musste mir alles einprägen, was er von sich gab. Was genau stimmte eigentlich nicht mit ihm? «Ich bin immer ein Fremder, Rosemary», fuhr er ruhig fort. «Was nicht zu übersehen ist, nehme ich an. Anomalien gibt es immer, und ich bin eine davon.» Vermutlich meinte er, dass er immer ein Außenstehender, eine Kuriosität sein würde, aber das galt in gewisser Weise auch für mich. «Das könnte ich über mich auch sagen, wissen Sie, Mr. Geist. Oft habe ich das Gefühl, mich im Exil zu befinden. Wie ein Fisch auf dem Trockenen.» Bei meinen Worten, bei der Vorstellung, dass ich mich möglicherweise wirklich in einer ähnlichen Lage sah wie er – ebenso fehl am Platze –, hellte sich seine Miene auf. Einst hatte er mich dazu bringen wollen, dass ich meine Gewöhnlichkeit eingestehe, doch da saß ich nun und versuchte ihn der Ähnlichkeiten zwischen uns zu vergewissern. 305
«Rosemary, ich möchte auch noch über etwas anderes mit Ihnen sprechen, das nicht meine eigene Person betrifft», er beugte sich vor. «Sie können viel für mich tun. Letzte Woche, als wir zu Peabody gegangen sind, als wir uns mit Samuel Metcalf getroffen haben …» Jack Conway erschien in der Tür und klopfte ungeduldig an den Türrahmen. «Tut mir leid, wenn ich störe», sagte er, doch mit seinem starken irischen Akzent klang er unverschämt und überhaupt nicht, als täte ihm irgendetwas leid. Er betrachtete uns neugierig. «Was gibt’s?», fragte Geist erbost. «Pike will was von Ihnen, Geist. Er hat mich hochgeschickt, damit ich Sie hole. Probleme mit einem Kunden. Im Keller.» Er wies mit beiden Zeigefingern nach unten. «Okay», sagte Geist barsch. «Rosemary, ich …» «Ist schon okay, Mr. Geist. Ich muss sowieso los.» Jack wartete in der Tür, bis ich aufgestanden war und auf den Treppenabsatz hinausging. «Na, habt ihr nett geplaudert, ihr zwei Hübschen?», raunte er. «Wenn du Gesellschaft brauchst, musst du dich aber nicht mit dem alten, bekloppten Mr. Geist abgeben.» Er hob anzüglich die Augenbrauen. «Was soll das?» «Immer zu Diensten, wenn’s um ein einsames junges Mädel geht», sagte Jack und rüttelte an dem zerbrochenen Geländer. Ich ging ihm voraus. «Ich würd’s an deiner Stelle ja mal probieren, weißt du», flüsterte er von hinten, ganz nah in mein Haar. 306
«Brauchst nur was zu sagen, Rosemary. Komm schon, du weißt schon, was ich meine, oder?» Seine Hand schoss nach vorn und griff mir so fest an den Hintern, dass ich stolperte. «Hoppala, Vorsicht! Aber ich fang dich schon auf, wenn du fällst!», lachte er. Ich sprang die beiden letzten Treppenstufen hinunter auf die Hauptetage. Meine Hüfte schmerzte wieder. «Kein Interesse, Jack», gab ich scharf zurück. Mein Gesicht glühte, so zuwider war er mir. «Machst wohl lieber auf ‹Die Schöne und das Biest›, was?», sagte er, kaum hörbar. «Oder führt da mehr der Blinde den Lahmen, hä? Ein bisschen Spaß muss sein, findest du nicht?» Er hob herablassend den Kopf, und seine schimmernde Narbe kam mir vor wie eine weitere Beleidigung. Wer war er eigentlich, dass er jemanden ein Biest nennen durfte? Walter Geist kam direkt hinter uns die Treppe hinunter und schnauzte Jack an, er solle sich zu den Taschenbuchtischen im vorderen Teil des Ladens aufmachen. Ich bezweifle, dass er Jacks Unverschämtheiten gehört hatte, aber mich hatten sie bis ins Mark getroffen, zumal mir, zu meiner Bestürzung, der Verdacht kam, dass er nicht der Einzige war, der so dachte. Ich wusste, dass Geist sich danach sehnte, sich mir anzuvertrauen, und es wäre mir lieber gewesen, wenn er es nicht täte. Alles, worüber er mit mir sprach, musste ich Oscar berichten. Mittlerweile würde ich Oscar alles geben, wenn er mir nur verzieh, um alles wiedergutzumachen. 307
Wenigstens in dieser Hinsicht hatte ich einen Tag Aufschub. Ich wanderte durch Oscars Abteilung, und er fehlte mir. Dachte er über Die Insel des Kreuzes nach, über Melville und seine Geschichte von Reue, oder über mich? Meine Gefühle verwirrten und demütigten mich ebenso wie Jacks Anzüglichkeiten und Geists Geständnisse. Ich strich mit der Hand über die Regalbretter von Oscars Psychologieabteilung, war aber zu matt, um in einen der Bände hineinzuschauen. Vielleicht gab es ja etwas Geradlinigeres als die Vorgänge im Kopf eines Menschen. Wie wär’s mit der Seele? Die Seele umarmen. Ich wanderte zur Philosophieabteilung weiter, obwohl ich mich überhaupt nicht philosophisch fühlte, und griff wahllos nach einem Buch, das auf Augenhöhe im Regal stand. Rasch las ich etwas Unverständliches darüber, dass die Zeit der Intelligenz Gestalt verleihe, eine dünne Linie, die uns die Dinge nur einzeln präsentiere. Ich schloss den Band mit einem kleinen Knall. Was für ein Unsinn! In diesem Moment sah ich Mr. Gosford, den Sammler mit den schier unerschöpflichen finanziellen Mitteln, aus dem Augenwinkel und versteckte mich schnell hinter einem Regal. Ich war nicht dazu aufgelegt, irgendwelche Fragen zu beantworten. Die Nische zwischen Regalen und Bücherstapeln, in die Oscar und ich uns vor ein paar Tagen zurückgezogen hatten, konnte ich nicht mehr finden. Als ich sah, wie Gosford direkt vor meinem Versteck um die Ecke bog, duckte ich mich hinter den Biographien und ging an der Abteilung «Militärgeschichte» vorbei, bis ich exakt an der Stelle herauskam, an der Oscar normalerweise saß, um auf Kun308
den zu warten oder sich in seinem Büchlein Notizen zu machen. Die Sachbuchabteilung war für mich immer noch ein unergründliches Labyrinth. Immerhin hatte ich Gosford für den Moment abgeschüttelt und konnte jetzt für mich so tun, als sei ich Oscar. Auf seinem Hocker lag ein schmaler Gedichtband. Ich nahm ihn und setzte mich, um meine schmerzende Hüfte zu entlasten. Auf dem Hocker hatte ich noch nie gesessen; soviel ich wusste, überhaupt noch niemand außer Oscar. Es war sein Thron, aber besonders bequem war er nicht. Ich schlug das Buch an der Stelle auf, wo jemand eine der Umschlagklappen zwischen die Seiten geschoben hatte. Auf der Seite waren mehrere Zeilen mit Bleistift angestrichen. Ich schaute mich um. Hatte ein Kunde das Buch liegengelassen? War es für mich bestimmt? Oder für Oscar? Wer weiß nun, was Magie ist: die Fähigkeit zu verzaubern, geboren aus der Ernüchterung. Und eines steht geschrieben: Die meisten Wünsche finden ein Ende in stinkenden Tümpeln …
Eine weitere Zeile, die scharf unterstrichen war, fast ganz unten auf der Seite, schien sogar noch deutlicher an mich gerichtet zu sein. Wenigstens verstand ich sie so. Wenn man auf ein Gedicht stößt, wirkt es nie wie ein Zufall. Alles, was wir nicht sind, starrt das an, was wir sind. Wie sollte ich aus alldem schlau werden? Sicher war es Absicht gewesen, einen Lyrikband in der Sachbuch309
abteilung liegenzulassen, und auch noch ausgerechnet auf Oscars Hocker. Ich drehte das Buch um und beschloss, es an seinen richtigen Platz zurückzubringen, das Regal, das ich an jenem Tag vor sechs Monaten, als ich das Arcade zum ersten Mal betreten hatte, begonnen hatte aufzuräumen. Ich ließ mich von Oscars Hocker gleiten und ging zur Lyrik. Ich dachte an meine erste Begegnung mit George Pike, mit Walter Geist zurück. Alles war mir damals so unvermeidlich erschienen, und meine Zukunft war wie ein offenes Buch, das ich schon immer hatte lesen wollen. Dass Pike mich anstellte, war mir wie Zauberei vorgekommen. An jenem Tag erschien mir das Arcade wie etwas, das erschaffen worden war, um genau meine Bedürfnisse zu erfüllen. Erst jetzt war klar geworden, dass diese Art zu denken sich als falsch erwiesen hatte. Sosehr mich die Arbeit im Arcade auch befriedigte, soviel ich hier auch gelernt hatte, war für mich doch kein Wunsch in Erfüllung gegangen. Das Leben ist einfach komplizierter, denn es wird durch Leid geprägt, das weder gelindert, noch begriffen werden kann. Eher unwahrscheinlich, dass dieses Leid sich gleichmäßig im Leben verteilt wie auf einem Vektor – ein dichtes Gewirr aus Schicksalsschlägen, die alle auf einmal über einen hereinbrechen, das kommt der Wahrheit viel näher. Bevor ich das Büchlein einräumte, dort, wo das Lyrikregal begann, zupfte ich mir ein einzelnes Haar aus und legte es dorthin, wo das Buch aufgeschlagen gewesen war. Ich markierte eine Stelle mit etwas, das mir gehörte, wie eine rostrote Spalte, die sich durch die 310
Buchseite zog. Es sollte eine private Botschaft sein an denjenigen, der das Buch auf Oscars Hocker gelassen hatte. Das Haar wand sich über die weiße Seite wie ein Kupferdraht, ein einzelner Faden, der Bände sprach. Ich hatte die Botschaft gelesen, auch wenn ich sie nicht entziffern konnte. Und da war ich selbst, in einem Buch, das ich an die Stelle zurückgestellt hatte, wo ich einst angefangen hatte, selbst kryptisch wie ein Gedicht. Dass Oscar mich zurückgewiesen hatte, zeigte mir, was ich nicht war, was ich für ihn nicht sein konnte. Ich las noch einmal die Zeilen des Gedichts. Gab es wirklich Bücher, in denen behauptet wurde, dass die meisten Wünsche in stinkenden Tümpeln enden? Nicht in den Büchern, die ich gelesen hatte. Sie waren der Ursprung meiner Sehnsucht gewesen. Aber vielleicht ging es ja genau darum.
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Siebzehntes Kapitel
A
rt kam von der Kunstabteilung herübergeschlendert und riss mich aus meinen Tagträumen. Er schaute sich den Einband des Gedichtbändchens an. «Ach, bist du jetzt bei Auden, mein tasmanischer Teufel? Die See und der Spiegel. Sag bloß nicht, dass du der nächste Dichter hier im Arcade werden willst! Hast du dich etwa auch mit dieser besonderen Krankheit der Gehörgänge infiziert – den Versen?» «Ach, fang lieber gar nicht erst an, Arthur», sagte ich, weil ich weder Interesse an einem Geplänkel hatte noch die Kraft dafür. Ich war es zufrieden gewesen, meine Gedanken ein wenig treiben zu lassen. «Sieht dir gar nicht ähnlich, TT, schon so früh am Tage kurz angebunden zu sein», sagte er in gespielter Gekränktheit. Er zeigte auf das Buch. «Das da ist sogar einer meiner großen Helden. Es ist seine Antwort auf den Sturm.» Bei der Erwähnung von Chaps’ Lieblingsstück musste ich wieder an sie denken. Ich vermisste sie, vermisste das Gefühl, von jemandem geliebt zu werden, ohne große Worte. Jemandem, der absolut sicher wusste, wer ich war, und der an meiner Entwicklung maßgeblich beteiligt gewesen war. Arthur trat von einem Fuß auf den anderen und beobachtete mich. Sein Atem roch säuerlich und ging mühsam; sein plumper Körper wirkte in meinen Augen wie 312
eine Zwangsjacke über einem geheimen, schlankeren Ich. Darin steckte ein anderer Arthur, und seine Augen schienen das zu bestätigen, als er mir zulächelte. «Ich freue mich immer über ein Schwätzchen, TT – wenn du möchtest», bot er an. «Du weißt ja, dass du mein Liebling hier bist, und davon hab ich einfach nicht viele … zumindest nicht hier.» Er wirkte bemüht, auch wenn ich nie ganz von seiner Aufrichtigkeit überzeugt war. Ich hatte Heimweh, Chaps fehlte mir, am liebsten hätte ich Mr. Mitchell besucht. Doch seit der letzten Begegnung wollte ich mich auch ihm nicht mehr anvertrauen, zumindest konnte ich mir nicht vorstellen, dass er mir den Trost spendete, nach dem ich mich so sehnte. «Ich soll in Oscars Abteilung arbeiten», erzählte ich Arthur. «Er ist nicht da. Dann fand ich dieses Buch da auf seinem Hocker und dachte, ich bringe es an seinen Platz zurück.» «Ach, die ewige Wiederkehr!», witzelte Arthur über meinem Kopf. «Oscar hat noch nie gefehlt», sagte er dann und rieb sich nachdenklich seinen dicken Bauch. «Ganz zu schweigen davon, einen Auden herumliegen zu lassen.» «Ich glaube nicht, dass er ihn liegengelassen hat.» «Wahrscheinlich nicht», sagte er. Sein Bauch machte ein glucksendes Geräusch. «Oscar hat für Poesie nicht viel übrig, außer sie ist in Seide oder Pergament gebunden.» «Warum ist Auden dein Held?», fragte ich und versuchte mit einigem Nachdruck das Bändchen an seinen Platz zwischen den anderen Büchern zurückzustellen, 313
die dicht an dicht im Regal standen. Es war, als wollte man Musik in ein Akkordeon zurückquetschen. Schließlich gab ich auf und legte es quer über die anderen Bücher. «Ach, in der Kunst geht es immer um das Anderssein. Du weißt schon, Stichwort Ab-Art, hähä. Ich zitiere nur», sagte Arthur. «Bloß bin ich kein Dichter, und die einzige Kunst, die ich derzeit zustande bringe, ist die Kochkunst, mit der ich meine Mahlzeiten zubereite. Ach, und natürlich die Kunst zwischen den Buchdeckeln, die ich verkaufe.» Er gab sich locker, klang aber eigentlich eher resigniert. «Was bedeutet das denn, Arthur – dass Kunst immer Anderssein bedeutet?» «Nur so ein Gedanke.» Er winkte mit seiner dicken Hand ab. «Ich glaube, Auden meinte, wann immer da eine Gabe ist, steckt Schuld und ein Geheimnis dahinter, wie ein Dorn im Fleische. Beide Dinge erhält man auf einmal, und das Wesen des einen hängt ab von dem des anderen. Ich habe mich mit ihm beschäftigt, weißt du. Als ich jung und verwirrt war und mich meiner geschämt habe. Als ich noch dachte, ich könne schreiben.» Er lächelte traurig. «Das war lange, bevor ich hierherkam, TT.» Audens Gedanke kam mir auf eine geheimnisvolle Weise tiefgründig vor. Anderssein und Kunst – Schuld und ein Geheimnis. Ich dachte an Oscar und den vergangenen Abend. Melvilles Briefe an Hawthorne und Agathas Geschichte. Vielleicht war ja Sehnsucht nur ein anderes Wort für Anderssein? Und Anderssein ein anderes 314
Wort dafür, dass man versuchte, mit dem Leben zurechtzukommen, ihm einen Sinn zu geben. Was weniger mit Sex zu tun hatte als mit einer Geisteshaltung. Während ich noch darüber nachdachte, berührte mich Arthur an der Schulter und brachte mich in die Wirklichkeit zurück. «Was ist denn los, tasmanischer Teufel?» «Was glaubst du denn, hat Oscar für eine Gabe?» «Oscar?» Arthur seufzte. «Schwer zu sagen. Er ist so verschwiegen. Ich habe mit ihm über die Jahre hinweg lange Gespräche geführt, nur um dann festzustellen, dass es Monologe gewesen sind. Er hat einfach nur zugehört. Das ist eine Gabe, nehme ich an. Er ist sehr clever. Aber diese Gabe hat nichts mit Liebe zu tun, wenn du das wissen willst. Er kann niemanden lieben, das versichere ich dir. Weder Frauen noch Männer.» «Wirklich? Niemanden? Das klingt furchtbar traurig.» «Nur wenn du willst, dass er deine Gefühle erwidert», sagte Arthur und verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. «Und das ist weniger sein Problem als deins. Oder auch», er machte ein bekümmertes Gesicht, «meins.» Er wies auf Oscars Regale. «Oscar hat seine Sachbücher. Seine Stoffe. Seine kostbaren Notizbücher. Ich glaube, Rosemary, du bist ein sehr romantisches Mädchen.» «Das glaube ich auch.» «Für so zerbrechliche Typen wie Oscar sind romantische Gefühle Luxus. Ein Anspruch, den er nicht erfüllen kann.» 315
Er tätschelte mein zerzaustes Haar. «Aber jetzt haben wir genug geplaudert. Hilfst du mir, ein bisschen Ware umzusortieren? Ich habe eine Kiste Goya-Monographien, das glaubst du kaum. Ich zeige sie dir. Kunst öffnet sogar das trübste Auge, weißt du. Phantastische Sachen. Aber vielleicht kennst du Goya schon? Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer? Oder Saturn frisst seine Kinder?» «Nein», sagte ich mit einem Achselzucken. Auch Arthur wollte mir etwas beibringen. «Das klingt jedenfalls nicht sehr fröhlich.» «Was das Leid angeht, haben sie sich nie getäuscht, die alten Meister.» Er legte mir einen schweren Arm um die Schultern. Ich roch seinen Schweiß. «Komm, und ich zeig dir Goya, und dann bringen wir ihn nach vorne. Pike glaubt, das sei was für Weihnachten – ausgerechnet!» Er drückte meinen Arm. «Du bist eine große, starke Australierin», sagte er. «Und dein Kreuz kann viel mehr aushalten als meins.» Arthurs Magen knurrte hörbar, und er legte seine Hand darauf. «Wo wir gerade vom Fressen reden. Mein Gott! Ich sterbe vor Hunger!» «Ich bin auch hungrig. Ich lauf schnell über die Straße und hol uns ein Sandwich.» Ich hatte seit meinem Abendessen mit Oscar in dem Diner nichts mehr zu mir genommen. Ich sah ihn wieder mir gegenüber auf der roten Bank sitzen, wie er akribisch genau die Kosten für seine Rühreier abgerechnet hatte, gedankenverloren und aufgeregt wegen Melville, 316
und wegen der Möglichkeit, dass Die Insel des Kreuzes tatsächlich existierte. Ich war am Verhungern. «Der Magen ist ein Tyrann», sagte Arthur, dessen Laune sich bei der Aussicht auf Essen deutlich gehoben hatte. Er reichte mir einen zerknitterten, feuchten Zehn-Dollar-Schein, den er aus seiner Hosentasche gekramt hatte. «Meiner verlangt unbedingte Treue, Rosemary. Die Rechnung geht auf mich, also beeil dich!» Als ich mit den Sandwiches zurückkam, stieg Mr. Mitchell gerade die Treppe zu Geists Büro hoch. Seit ich ihn damals allein besucht und ihm die folgenschwere Eröffnung gemacht hatte, Geist einen Brief vorgelesen zu haben, hatten wir uns nicht mehr gesprochen. Jetzt war mir unbehaglich in seiner Gegenwart, weil ich nicht mehr so recht an seine Gutmütigkeit glauben mochte. «Mr. Mitchell. Hallo. Sie sehe ich aber nicht oft außerhalb Ihres Raritätenraums.» «Jetzt sehen Sie mich, liebes Kind, aber ich habe auch nach Ihnen gesucht. Ich dachte, vielleicht sind Sie oben im Büro.» «Wie kommen Sie darauf?», fragte ich. «Ich dachte, Geist sei da oben und Sie, äh, assistierten ihm. Sie verbringen ja viel Zeit damit, ihm zu assistieren.» «Er ist im Keller. Ich habe nur für Arthur und mich schnell etwas zu essen geholt. Heute muss ich in Oscars Abteilung arbeiten. Er ist nicht da.» 317
«In der Tat, und das ist sehr ungewöhnlich. Gosford hat es mir gerade erst gesagt. Er stöberte hier herum, auf der Suche nach etwas über Nietzsche. Kann mir gar nicht vorstellen, warum. Ich habe eine Erstausgabe», fuhr er geistesabwesend fort, «aber die war für seinen Geschmack zu kostspielig, und ich wollte im Preis nicht runtergehen, zumindest heute nicht …» «Nun, wie auch immer», sagte ich und wandte mich zum Gehen, aber Mr. Mitchell hielt mich zurück. «Was ist, Mr. Mitchell? Ich muss Arthur sein Sandwich bringen, er wartet sehnsüchtig darauf.» «Eigentlich bin ich gekommen, um mich für meinen kürzlichen Wutausbruch zu entschuldigen. Darüber, dass Geist Sie vorlesen lässt. Es tut mir leid, Rosemary. Das war unsensibel und egoistisch von mir.» Ich hatte ihm schon im selben Moment verziehen, weil ich eigentlich gehofft hatte, er würde mir verzeihen, obwohl ich gar nichts getan hatte. Bei allem, was seither geschehen war, wünschte ich mir einfach nur, dass er freundlich war. Ich zählte auf seine Liebenswürdigkeit, und so wie für Oscar würde ich alles für Mr. Mitchell tun, damit er nicht mehr wütend auf mich wäre. Aber von der Insel des Kreuzes konnte ich ihm nichts erzählen. Dieses Geheimnis teilte ich allein mit Oscar. Mr. Mitchell flüsterte mit einer gewissen Dringlichkeit: «Halten Sie trotzdem ein Auge offen, ja, liebes Kind?» Er kniff ein Auge zu und deutete auf das geöffnete, als blickte er durch ein Vergrößerungsglas. Er sah aus wie ein Pirat, der in die Jahre gekommen war. 318
«Und wenden Sie sich ruhig an mich, wann immer Sie Fragen zu Briefen haben, ja? Sie müssen gar nicht warten, bis Sie einen Kunden zu begleiten haben, kommen Sie einfach hoch und besuchen Sie mich. Ich meine, wenn es noch weitere Briefe gibt. Alles, wovon Sie Kenntnis erhalten.» Und er fügte grollend hinzu: «Alles, was Geist in die Finger bekommt.» «Ja, natürlich, Mr. Mitchell», versicherte ich. «Natürlich. Sie müssen sich nicht entschuldigen, ich weiß ja, wie viel Ihnen der Raritätenraum bedeutet.» «Ach, es ist mein Leben!» Er schaute sich mit dramatischem Gesichtsausdruck um, als wollte er Sympathie heischen. «Aber wie ich sehr gut weiß und wie mich Mrs. Mitchell auch immer ermahnt: Habent sua fata libelli.» Weil mir mein Unverständnis deutlich ins Gesicht geschrieben stand, lieferte er auch gleich eine Erklärung. «Das ist Latein, liebes Kind. Mein Motto: Bücher haben ihr eigenes Schicksal! Da bin ich mir sicher. Ich glaube daran. Und ich soll nicht gierig sein auf das, was mir so über den Weg läuft. Es tut mir leid. Also, Sie verzeihen mir?» Er nahm meine Hand und tätschelte sie. Sein rötliches Gesicht kam näher. Als hätten wir uns miteinander verschworen; aber solange ich Teil der Verschwörung war, war es mir egal. Mir fiel wieder ein, wie Pike ihm am Telefon gesagt hatte, er sei auf dem Holzweg. In welcher Hinsicht konnte Robert Mitchell denn auf dem Holzweg sein? «Natürlich», sagte ich. «Es gibt nichts zu verzeihen.» 319
«Und Sie werden an mich denken, ja? Bezüglich eventueller Briefe? Eventueller Informationen?» Ich nickte zerstreut, weil ich momentan eigentlich nur mein Sandwich essen wollte. «So ist es recht, liebes Kind», sagte er, nahm seine kalte Pfeife aus der Tasche und kaute an dem Stiel herum. «Hast du gestern nicht dieselben Klamotten angehabt wie heute?», fragte Pearl listig, als ich am späten Nachmittag in die Damentoilette kam, unserem üblichen Treffpunkt. «Sag bloß, du bist gestern Abend gar nicht nach Hause gekommen! Sag, dass das nicht wahr ist!» «Doch, es ist wahr, Pearl. Aber frag bitte nicht, ja?» «Na gut», sagte sie. «Ich werde dich nicht fragen, was gestern passiert ist, wenn du mich nicht nach meinem Vorsingen fragst.» «Ach, tut mir leid, Pearl.» Ich hatte es völlig vergessen. «Tut mir leid, dass ich nicht danach gefragt habe. Aber wirklich, wie ist es denn gegangen?» «Es war ein Desaster, meine Liebe.» Pearl ließ sich auf das zerschlissene Sofa im Badezimmer fallen. «Ich hatte einen kleinen Part vorbereitet, aus Händels Orlando. Weißt du, ich kann den Countertenor als Mezzosopran singen. Manchmal werden Frauen als Orlando besetzt, die Hauptrolle. Es ist eine Travestierolle, und wenn ich mich in einer Sache auskenne, dann damit. Jedenfalls dachte ich, es könne nicht schaden, mal ein bisschen was anderes zu probieren. Aber ich hab’s versaut. Ich hatte einen Frosch im Hals. Jetzt muss ich den Dingen wohl ins Auge sehen. Ich kann nicht alles haben.» 320
«Was ist denn genau passiert?» «Es ist meine Stimme, Rosemary. All die Sachen, die ich eingenommen habe. Die Hormone. Alles verändert sich, wie im Märchen. Mutabor! Ich bin Pearl.» Sie machte mit dem Arm eine Bewegung, als zauberte sie, machte dabei aber ein verzweifeltes Gesicht. «Ich möchte mich verändern, darin lasse ich mich nicht beirren. Aber ich habe nicht damit gerechnet, meine Stimme zu verlieren. Offenbar muss man immer eine Sache verlieren, wenn man eine andere bekommen will.» Sie zeigte zwischen ihre Beine, was mir etwas peinlich war. «Und ich rede nicht davon», fügte sie hinzu. «Du meinst, du kannst nicht singen? Aber Pearl, ich höre dich doch immer hier drinnen. Deine Stimme ist so schön.» «Na ja, für manche Sachen ist sie ganz gut, aber für die Oper reicht es nicht. Nicht mehr jedenfalls. Nicht, wenn man etwas von Stimmen versteht.» Pearl schlug die Beine übereinander und inspizierte ihre orangeroten Nägel. Sie seufzte. «Weißt du, diese Rolle wurde für einen Kastraten geschrieben. Passt ja perfekt», sagte sie sarkastisch. «Ich hab jetzt bloß noch ein paar Monate bis zur Operation. Ich werde mich nur noch darauf konzentrieren.» Sie blickte zu mir hoch. «Nach dem Eingriff gibt es noch mehr Medikamente.» «Lässt du es in New York machen, Pearl?», fragte ich. «Kann ich dich besuchen kommen?» «Natürlich kannst du mich besuchen, mein Liebes. 321
Ich zähle fest darauf. Aber nicht in New York. Am Johns Hopkins in Baltimore. Erstklassiges Krankenhaus dort. Ich war schon zu ein paar Vorgesprächen dort. Mario bezahlt alles, weißt du, sogar die Therapie, die ich seit letztem Jahr habe.» «Du meinst, bei einem Psychologen?» Pearl war von allen hier in New York die Person mit der gesündesten Seele. «Hilft das denn?» «Na ja, bei manchen Sachen hat es schon geholfen», antwortete sie ausweichend. «Zum Beispiel?» «Na ja, zum Beispiel damit zurechtzukommen, dass ich jetzt eine Waise bin, so wie du. Bloß dass in meiner Familie noch alle leben – und ich diejenige bin, die tot ist!» Sie lächelte bitter. «Aber Zweifel habe ich nie gehabt. So ist es einfach immer für mich gewesen, Rosemary. Ich hätte niemals etwas anderes sein sollen als dieses alte Pearl-Mädchen hier.» Sie griff sich liebevoll an die Brüste, und ich wünschte mir, ich selber könnte auch so vertraut mit meinem Körper sein, mich in ihm so wohlfühlen. «Natürlich nicht», etwas anderes fiel mir nicht ein. «Der Körper muss einfach passen.» Sie tippte sich an die Schläfe. «Es muss alles passen, und es muss richtig meins sein», fügte sie hinzu. «Schau mal, ich bin ja nicht schwul wie Arthur, weißt du. Ich bin genauso eine Frau wie du. Bloß dass da etwas schiefgelaufen ist, und dieser Fehler musste behoben werden.» «Natürlich», sagte ich wieder. Ich begriff es nicht ganz, aber ich glaubte Pearl, und ich glaubte auch, was sie über sich selbst sagte. In ge322
wisser Weise beneidete ich sie. Sie war sich so sicher, sie war so engagiert, was ihre eigene Entwicklung anbelangte. Für sie war alles ganz konkret, wie ein rein pragmatisches Problem. Ihretwegen dachte ich wieder über meinen eigenen Körper nach, und darüber, ob ich ihn so annehmen würde, wie Pearl ihre Weiblichkeit akzeptierte. «Geist und Mr. Pike müssen an der Kasse allein zurechtkommen, wenn ich weg bin. Ich nehme mir ein paar Wochen Auszeit, um mich zu erholen, außerdem will ich in der Zeit auch noch ein paar andere Sachen machen lassen.» Sie lachte, zeigte auf ihre schöne lange Nase und machte mit ihren zinnoberroten Lippen einen Schmollmund. «Ach, tu’s nicht, Pearl!» Sie lachte. «Mr. Pike ist in der Hinsicht von Anfang an ganz wunderbar zu mir gewesen. Ich kann wirklich sehr dankbar sein, Rosemary. Und dann ist da Mario, mein Märchenprinz. Und das Arcade war immer eine Zuflucht für mich.» «Was wird Mr. Pike denn machen, was denkst du?», fragte ich. «Ich meine, wenn du weg bist.» «Wer weiß?», fragte sie grinsend. «Mit all diesen sonderbaren Männern hier? Vielleicht setzen sie dich ja nach vorne», mutmaßte sie. «Die Kunden würden es toll finden!» Und sie lachte wieder. «Keine garstige Pearl mehr.» «Aber ich kann nicht gut mit Geld umgehen», sagte ich beunruhigt. «Ich komme kaum mit meinem eigenen 323
zurecht. Und du bist doch eigentlich viel geduldiger mit den Kunden als ich. Außerdem gefällt mir mein Springerjob. Ich möchte bei den Büchern sein.» «Bei Oscar, meinst du wohl», sagte Pearl, meinen Akzent imitierend, und faltete die Hände wie zum flehentlichen Gebet vor der Brust. «Pearl.» Ich setzte mich neben sie und senkte die Stimme. «Kann ich mal mit dir reden? Ich muss dir was sagen. Gestern Abend habe ich versucht, ihn zu küssen, Pearl.» «O nein!», rief sie. «Nach all dem, was ich dir gesagt habe!» «Ich hab’s getan, Pearl. Irgendwie hab ich mich hinreißen lassen und hab versucht, ihn zu küssen.» Ich sah wieder sein Gesicht vor mir, vor Ekel verzerrt. «Und er hat’s mit der Angst zu tun gekriegt und ist weggelaufen. Und heute ist er zum ersten Mal überhaupt nicht hier erschienen.» Sie versuchte nicht zu lächeln, und ich versuchte nicht zu weinen. Sie legte den Arm um meine Schultern und schnalzte tröstend mit der Zunge. Mein Problem entsprach nicht gerade Pearls Idealvorstellung von Tragik. «Also, Rosemary, Mädchen, diese Sachen können sehr kompliziert sein. Davon kann ich ein Lied singen, haha.» Sie beugte sich nach vorne. «Schau mal», sagte sie, griff meine Schultern und zwang mich, ihr ins Gesicht zu sehen. «Ich bin mir nicht sicher, wo Oscars Problem ist, aber mach es nicht zu deinem Problem. Mädchen, du bist noch so jung, 324
siehst toll aus und musst einfach nur noch einen Mann finden, der Frauen liebt. Meine Güte, hier kommen jeden Tag Hunderte von Männern rein. Es schwimmen so viele Fische in der See.» Unwillkürlich kam mir wieder das Porträt des deformierten Fischmannes aus Peabodys Sammlung in den Sinn, und bei der Erinnerung schauderte es mich. Eines war jedenfalls sicher: Die Männer, die in das Arcade kamen, waren nicht auf der Suche nach Frauen – ihre Begierde galt Büchern. «Die wollen doch keine Frauen, Pearl. Das ist doch hier drin wie in Asperns Nachlass.» «Mein Gott!», sagte Pearl ungeduldig. «Dann geh eben ein bisschen raus und schau dich draußen um. So schwer ist das nicht! Schau doch mich an und das, was ich mache. Damit hatte ich noch nie Probleme.» Sie setzte sich gerade hin und streckte prahlend ihre wohlgeformten Brüste heraus. Wir lachten zusammen. Pearl schob mir mit einer schwesterlichen Geste eine Haarsträhne hinters Ohr. «Pass auf, wir Mädels gehen heute Abend einen trinken. Um auf andere Gedanken zu kommen. Nur wir Frauen vom Arcade, draußen in der Stadt. Ich kenne da eine Bar.» «Na ja, ich muss nach der Arbeit bei Lillian vorbeischauen. Ich habe es ihr versprochen. Kommst du mit? Ich möchte, dass du sie kennenlernst.» «Klar, mach ich, Mädchen. Hast du ihr die Nummer gegeben?» Ich nickte. «Sie sagte, sie würde anrufen. Ich habe gestern Nacht dort geschlafen, Pearl. Nachdem Oscar 325
abgehauen war. Ich brauchte einfach Gesellschaft, und Lillian ist, na ja, meine älteste Freundin hier.» «Du hast mir noch gar nicht gesagt, warum du überhaupt mit Oscar in der Bibliothek warst, Rosemary.» In diesem Moment stand Pearl auf und prüfte ihr Makeup im Spiegel. «Hat ja nur Ärger gebracht», fügte sie hinzu. «Wonach habt ihr denn nun gesucht?» «Ach, das ist doch jetzt egal. Heute kommt es mir überhaupt nicht mehr wichtig vor.» Pearl sah skeptisch aus. Unsere Blicke begegneten sich im Spiegel. «Na ja, ist ja deine Sache, was du erzählen willst und was nicht», sagte sie. «Aber dann beklag dich nicht, dass du einsam bist.»
326
Achtzehntes Kapitel
L
illian saß wie immer an ihrem Platz hinter der Rezeption und schaute aufmerksam in das Fernsehgerät, die Drähte der Kopfhörer hingen ihr aus den Ohren. Pearl und ich standen eine ganze Minute da und lächelten ihr Profil an, bevor sie sich umdrehte und zusammenzuckte, als wären wir in diesem Moment aus dem Nichts aufgetaucht. «Rosemary!», rief sie laut, weil sie vergessen hatte, dass ihre Ohren verstopft waren. «Lillian.» Ich lehnte mich über den Tresen und nahm ihr die Stöpsel aus den Ohren. «Das ist meine Freundin Pearl. Aus dem Arcade. Du erinnerst dich doch, ich habe dir von ihr erzählt. Sie hat dir diese Nummer besorgt.» «Ja», sagte sie. «Freut mich. Lillian La Paco.» Sie gaben sich die Hand. «Sind Sie wirklich Pearl?», fragte Lillian taktlos und musterte Pearls Hand, ihre bemalten Fingernägel. «Aber Sie sind doch ein Mann?» «Das ist das Problem mit den Menschen», sagte Pearl zu mir. «Beurteilen eine Dame immer nach ihren Mängeln.» «Lillian, bitte», sagte ich und beugte mich über den Tresen. «Das geht dich doch gar nichts an.» «Wollte Sie nicht beleidigen.» Lillian zuckte mit den Achseln, als könnte sie sich gar nicht vorstellen, dass 327
Pearl überhaupt beleidigt sein könnte. «Ich habe es ja nur festgestellt, das ist alles. Ich muss Ihnen danken, Pearl», sagte sie und stand auf. «Ich habe heute angerufen und mit dem Mann gesprochen, dessen Nummer Sie mir gegeben haben. In der Woche nach Weihnachten gehe ich hin und rede mit ein paar Leuten. Sie sprechen Spanisch da, und ich erzähle ihnen von Sergio. Sie wissen bereits alles über Argentinien. Sie haben Leute, die dort arbeiten, sagen sie. Ich danke Ihnen dafür, Pearl. Ich werde dorthin gehen. Ich habe es schon meinem Bruder gesagt, aber Hoffnung habe ich keine.» «Sie brauchen mir nicht zu danken», sagte Pearl. «Aber versuchen Sie, optimistisch zu sein. Vielleicht können sie doch helfen. Es ist schwer, ohne Hoffnung zu leben.» «Das ist wahr», sagte Lillian schlicht. «Aber hier bin ich – am Leben. Sie müssen wissen, dass ich schon vorher solche Leute angerufen habe, wie Sie sie mir empfohlen haben, sehr oft. Ich habe mich mit ihnen getroffen, habe Briefe geschickt, bin mit den Müttern auf der Plaza marschiert. Ich protestiere, verstehen Sie? Ich versuche schon seit Jahren, Sergio zu finden. Ich bin dankbar für Ihre Hilfe, aber Hoffnung habe ich keine.» Den letzten Satz hatte Lillian ganz beiläufig gesagt. In ihren aristokratischen Zügen zeigten sich deutlich die Spuren all dessen, was sie nicht erzählt, was sie nicht geschildert hatte. Chaps hatte mir einmal gesagt, das Altern sei ein Prozess, bei dem man Erkenntnis gegen Hoffnung eintausche, und mir schien, Lillian hatte damit viel zu früh begonnen. Es war deutlich zu sehen, wie sehr Pearl sie bewunderte. Die beiden mochten sich, 328
auch wenn der Anfang etwas holprig gewesen war. Ich spürte, wie mein kleiner Kreis sich vergrößerte, wenn auch nur ein wenig. Wir alle lächelten, weil wir eigentlich gern das Thema gewechselt hätten, aber noch zögerten. Mich hatten diese beiden Frauen sehr bewegt, denn so verschieden sie waren, ähnelten sie sich auch, auf eine Art, die nur schwer festzumachen war. Vielleicht weil sie beide so geduldig oder sogar resigniert waren. Vielleicht verband sie aber auch die Liebe, die ich für beide empfand und die ich jetzt, wo ich mit beiden zusammenstand, so deutlich spürte. «Wie geht es dir?», fragte Lillian und wandte sich an mich. «Mir geht’s ganz gut», sagte ich, etwas verlegen. «Okay. Das mit letzter Nacht ist mir ein bisschen peinlich. Aber danke dir, dass ich hier übernachten konnte. Es hat mir wirklich gutgetan.» «Du bist eine junge Frau, und manche Dinge existieren nur in deinem Kopf. Sie sind nicht wirklich. Das ist nicht immer schlecht, Rosemary. Es ist ganz normal. Aber manchmal wird es dir wehtun, hier.» Sie wies auf ihr Herz und streckte dann die Hand über den Tresen aus, um mein Gesicht zu berühren. «Und peinlich braucht es dir bestimmt nicht zu sein», sagte sie. Pearl sah Lillian gerührt an. «Pearl und ich gehen einen trinken, Lillian. Um uns aufzumuntern», sagte ich. «Können Sie auch mitkommen?», fragte Pearl. «Oder müssen Sie hierbleiben?» «Ich kann nicht weg», sagte Lillian. «Aber danke, 329
dass ihr gefragt habt. Mein Bruder will, dass ich immer hierbleibe. Vielleicht kommt heute Abend ja ein Gast und will einchecken. Mein Bruder hat zu viel anderes zu tun.» «Wie wär’s, wenn wir was zu trinken kaufen und dann wieder hierherkommen?», schlug Pearl vor. «Wir leisten Ihnen Gesellschaft.» «Aber ich habe Wein hier!», rief Lillian, sprang auf und verschwand durch eine Tür, den Seiteneingang zu dem alten, längst geschlossenen Restaurant, durch das es früher in der Eingangshalle des Martha Washington wahrscheinlich viel lebhafter zugegangen war. Zumindest hatte man diesen Eindruck, wenn man sich die wenigen verblichenen Schwarzweißfotos hinter Lillians Tisch anschaute. Offenbar hatten während der Dreißigerjahre Männer das Restaurant besuchen dürfen, obwohl sie als Gäste im Hotel nicht zugelassen waren. Einige hatten auf den Fotos den Arm um Frauen gelegt und lächelten in die Kamera. Lillian kam mit einer verstaubten Flasche Wein und drei Gläsern zurück. Ich nahm die Gläser und spülte sie in dem Waschbecken auf dem Gang. Als ich zurückkehrte, war die Flasche bereits geöffnet, und Pearl und Lillian waren in ein Gespräch vertieft, das sie halb auf Englisch und halb auf Spanisch führten. «Ich habe von meinem Freund vor Mario ein bisschen Spanisch aufgeschnappt», erklärte Pearl, als ich die drei Gläser auf den Tresen stellte. «Hauptsächlich Schimpfwörter, fürchte ich.» «Also dann, einen Drink, okay», sagte Lillian. «Sonst wird mein Bruder böse.» 330
«Wie soll er es denn überhaupt erfahren?», fragte Pearl. «Ist er hier, Lillian?», fragte ich. Ich erinnerte mich, ihn nur wenige Male überhaupt hier gesehen zu haben. «Nein. Er ist aus, kommt aber später zurück, und wenn er mich betrunken und schlafend vorfindet …» «Wenn du betrunken bist und schläfst, kann es dir doch auch egal sein, a maldecir!», beendete Pearl die Diskussion. «Oder du wirst es gar nicht mehr merken.» «Salud!», rief Lillian, hob ihr Glas und lachte. «Ich trinke darauf, dass es mir egal ist. No me importa un comino. Darauf, dass man nichts mehr merkt!» Wir alle prosteten uns auf diesen zwar vernünftigen, aber nicht sehr realistischen Gedanken zu, unsere Gläser klirrten. Dann tranken wir auf die Weihnachtstage, auf Pearls bevorstehende Operation, auf Lillians Treffen mit dem Menschenrechtsanwalt und schließlich darauf, dass ich den passenden Mann finden würde. Nicht zu alt, da waren sich beide einig, und bestimmt nicht Oscar, wie Pearl einwarf. «Du willst Sex», erklärte Pearl, und Lillian musste hinter vorgehaltener Hand lachen. «Sex, Sex und nochmal Sex.» Als wir mit den Toasts auf mich fertig waren, war die Flasche leer. Lillian wollte mehr Wein holen, aber ich spürte plötzlich, wie müde ich war. Mir war leicht schwindelig, und ich folgte schon eine Weile nicht mehr dem spanisch-englischen Kauderwelsch. Ich sollte mich wohl lieber auf den Heimweg machen. «Ladys!», unterbrach ich. «Wenn es euch nichts 331
ausmacht, werde ich jetzt nach Hause gehen. Ich bin furchtbar müde und war seit gestern Morgen nicht mehr in meiner Wohnung.» Mir kam es so vor, als wäre es eine ganze Woche her. «Willst du nicht noch ein bisschen Wein?», fragte Pearl. «Ich habe genug», sagte ich erschöpft. «Aber treffen wir uns doch ein andermal wieder.» «Natürlich.» «Wie wär’s an Weihnachten?», schlug ich vor. «Bei mir. Wir müssen nicht arbeiten, Pearl. Das Arcade ist geschlossen. Es wird das erste Weihnachten ohne meine Mutter sein. Ich könnte schon ein bisschen Gesellschaft brauchen.» Wir einigten uns, dass Lillian ihren Bruder fragen würde und Pearl Mario. Mir fiel wieder auf, dass ich niemanden fragen musste – was mich zugleich erleichterte wie untröstlich machte. Sie gaben mir einen Kuss, bevor ich sie zusammen am Tresen des Martha Washington zurückließ, wo die zwei Klatschbasen weiterschnatterten. Wir alle waren ein wenig beschwipst und einander zugetan, und ich dachte, dass Lillian und Pearl, abgesehen davon, dass sie beide meine Freundinnen waren, eines gemeinsam hatten: ihre unvorstellbaren Erfahrungen. Erfahrungen, die so schmerzlich waren, dass man sie im Gesicht des anderen erkannte, wenn man sich begegnete. Als ich nach Hause kam, lehnte ein Päckchen von Chaps an der Tür; eine Reihe bunter australischer Briefmarken zierte die rechte obere Ecke. Ein Weihnachtsgeschenk! 332
Ich hatte immer noch das andere kleine Päckchen zu öffnen, und jetzt hatte sie mir ein weiteres geschickt. Mit dem hier würde ich allerdings nicht warten. Und noch ein Geschenk wartete drinnen auf mich: In der Wohnung war es auf wundersame Weise warm. Der Heizkörper gab ein beruhigendes Zischen von sich, das wie das Murmeln einer vertrauten Person klang. Die Wärme war fast tropisch, und weil Australien mir plötzlich fehlte, nahm ich das Weihnachtsgeschenk von Chaps und riss es an einer Ecke auf. Drinnen lag, in Seidenpapier gewickelt, eine schöne rote Bluse aus dünnem Stoff, einem für die Jahreszeit herrlich unpraktischen Material. Vielleicht hatte Chaps vergessen, dass es in New York Winter war? Eine Weihnachtskarte lag dabei sowie ein Brief mit vielen Fragen. Warum hatte sie nicht von mir gehört? Was las ich gerade? Hatte ich jemanden kennengelernt, den ich mochte? Hatte ich mir überlegt, ob ich Mutters Asche bestatten oder, noch besser, Chaps nach Hause schicken wollte? Und wie war es im Arcade? Ich zog die Bluse gleich an. Seit meiner Ankunft hier hatte ich mir nichts zum Anziehen gekauft; es blieb kein Geld übrig, wenn ich Jack die Miete bezahlt und meine Lebensmittel eingekauft hatte. Mein kleines Gehalt beim Arcade hatte sich noch reduziert, da ich Geist das Geld zurückzahlen musste, das er mir geliehen hatte. Zu Beginn des Winters war ich gezwungen gewesen, mir Stiefel und einen Mantel anzuschaffen, aber ich hatte das Billigste nehmen müssen, das ich kriegen konnte. Deshalb umgab Chaps’ Geschenk ein Hauch von Luxus. Der Stoff war fast durchsichtig, und es überraschte 333
mich ein wenig, dass Chaps mir ein so, nun ja, freizügiges Geschenk gemacht hatte. Ein stechender Schmerz durchzuckte mich, als mir bewusst wurde, wie gerne ich Oscar gefragt hätte, aus welchem Stoff die Bluse gemacht war. Dass ich mir gewünscht hätte, er würde mich darin betrachten, den Stoff befühlen und mir nach kurzer Überlegung mitteilen, woher das Material stammte. Als ich mich in dem alten, ovalen Spiegel anschaute, blickte mir eine junge Frau in einer leuchtenden Bluse entgegen, eine wilde Haarmähne auf dem Kopf. Es wäre nicht schlecht gewesen, wenn sie sich mehr um ihr Äußeres kümmern würde, aber sie war hübsch, wenn auch einen Hauch zu leidenschaftlich, zu intensiv in ihrem Blick. Von allem ein wenig zu viel, wie man so schön sagte. Am liebsten hätte ich dem Mädchen gesagt, es solle fröhlicher dreinblicken. Ich zog die Bluse wieder aus. Ich lief im BH in der Wohnung umher, in der es zum ersten Mal seit meinem Einzug gemütlich warm war, und stellte zerstreut zwei große Töpfe mit Wasser zum Kochen auf den Herd, weil ich vergessen hatte, dass ich wahrscheinlich auch heißes Wasser hatte, wenn geheizt wurde. Erwartungsvoll drehte ich den Hahn an der Badewanne auf, und dampfendes, rostfarbenes Wasser schoss nach einem lauten Fauchen heraus. Ich ließ ein frisches Stück Seife in das bräunliche Wasser fallen, milchige Schlieren breiteten sich in der rostfarbenen Brühe aus. Als die Wanne voll war, sah sie aus wie eine riesige Tasse Tee mit Milch. Ich zog mich ganz aus und schaute mir meine Prel334
lung an, die in der Mitte ganz braun und an den zerfransten Rändern gelb war, ein unregelmäßiger Farbfleck auf meiner sommersprossigen Haut, wie ein Herbstblatt, das jemand mir auf die Hüfte geklebt hatte. Ein Mal der Demütigung. Ich ließ mich in das warme, milchige Wasser gleiten, und mein bleicher Körper hob sich ein wenig an die Oberfläche, als ich mich langsam entspannte. In dem erdbeerblonden Dreieck zwischen meinen Beinen sammelte sich Seifenlauge, eine kleine Insel auf dem rostigen Wasser. Was würde Pearl alles über sich ergehen lassen, um einen Körper zu bekommen wie meinen! Meine Brustwarzen schwammen rosa auf dem Wasser, und ich kniff sie sanft, spürte, wie sie steif wurden. Sex, das war es, was ich wollte. Pearl hatte recht. Nur durch Erfahrung würde ich meinen Körper kennenlernen. Ich sehnte mich danach. Ich wünschte mir jemanden, der mich liebte. Mich begehrte. Und ich wollte nicht mehr warten. Meine Hände strichen über meinen Körper, und ich versuchte, mir vorzustellen, es seien die von jemand anderem. Oscars Hände. Die Hände eines Mannes. Ihr Herz schlug in meiner Brust und meins in Ihrer. Meine Hand wanderte zwischen meine Beine. Ich sah vor mir, wie Oscars Mund sich bewegte, und tauchte ganz unter, den Kopf in den Nacken gelegt wie Arthurs Nackte, verloren in einer Landschaft aus Haut. Goldfarbene Augen blitzten auf. Mit einer Hand streichelte ich meine Brustwarzen, und ganz allmählich, verstohlen und unbemerkt, schlich sich eine Vision von Geists federleichten Fingern in meine Vorstellung. 335
Ich setzte mich erschrocken auf. Woher war das denn jetzt gekommen? Ich wollte nicht, dass Walter Geist in irgendeiner meiner Phantasien vorkam, und der Gedanke an seine weißen Hände auf mir war mehr als beunruhigend. Ich ahnte ja seine Absichten, aber mich schockierte meine eigene Vorstellungskraft. Ich wusch mich gesittet und stieg gleich darauf aus der Wanne. Als ich später in meinem überhitzten Alkoven lag, nahm ich nochmals das Buch mit Melvilles Briefen zur Hand, das ich mir aus Oscars Bibliothek geborgt hatte. Ich wollte noch einmal lesen, wie leidenschaftlich er an Hawthorne geschrieben hatte. Der göttliche Magnet wirkt in Ihnen, und mein Magnet spricht darauf an. Heute hatten die Briefe für mich einen anderen Klang als an dem Abend, an dem ich sie entdeckt hatte. Vielleicht war es Oscars Abwesenheit, aber mir kamen die Briefe ein wenig verrückt vor, so wie es mir auch bei Teilen des Moby Dick ergangen war. Herman Melville hatte anscheinend eine Einsamkeit gekannt, furchterregender, als ich sie mir auch nur vorstellen konnte. Diese Art von tiefer Verzweiflung, wie ich sie kurz auch schon an Lillian erlebt hatte; eine verstörte Melancholie, die ich spürte, wenn ich Walter Geist gegenübersaß. Ich hatte gelesen, dass Melvilles Vater aus Verzweiflung über seinen Bankrott gestorben war. War das dieselbe Hoffnungslosigkeit, die Mutter in den Tod getrieben hatte? In dem Buch aus der Bibliothek befand sich ein Brief von Melville an seinen Lektor und Freund Evert Duykinck aus dem Jahre 1849. Darin erwähnte er auch den 336
Niedergang eines gemeinsamen Freundes, des Dichters Charles Fenno Hoffman, der «wahnsinnig» geworden sei. Armer Hoffman – ich weiß noch, mit welcher Bestürzung ich zuerst die Nachricht von seinem Wahnsinn aufnahm. – Dabei war er genau der Mann, der verrückt werden musste – phantasievoll, zu Ausschweifungen neigend, arm, ohne Arbeit, im Wettrennen des Lebens von weit Schwächeren überflügelt, unverheiratet, – im ganzen Universum ohne Hafen oder Ankerplatz, auf den er zusteuern könnte.
Die Beschreibung traf auf eine ganze Menge Leute zu, denen ich in New York begegnet war. Sie galt sogar für mich selbst, mit der Einschränkung natürlich, dass ich durchaus eine Anstellung hatte und damit glücklich war. Wenn ein Bekannter oder Freund wahnsinnig wird, ist jeder Mensch in seinem Innersten zutiefst getroffen, der seine Seele noch in sich spürt, – was freilich nur für wenige zutrifft. Denn in allen von uns steckt der gleiche Brennstoff, der das gleiche Feuer entfachen kann. Und wer noch nie, und sei’s nur zeitweise, gespürt hat, was Wahnsinn ist, kann bloß das Hirn eines Spatzen haben.
Auf unerklärliche Weise beunruhigt, legte ich das Buch beiseite. In dem überhitzten Apartment zischte und knisterte es, eine Menge unvertrauter Geräusche. Ich war ruhelos. Gern hätte ich mit Mutter gesprochen, wie ich es oft tat, aber irgendetwas hielt mich davon ab. 337
Vom gestrigen Abend hatte ich der Huon-Schachtel nichts erzählt, ich hatte auch nicht erwähnt, warum ich die ganze Nacht nicht nach Hause gekommen war. Ich hatte ein schlechtes Gewissen und dachte, es sei dreist, Mutter nicht einmal eine Kurzversion der Ereignisse zu liefern. Die Schachtel mit der Asche stand still da, bedeckt mit dem orangeroten Schal, auf dem Boden am anderen Ende des Zimmers. Ich warf die Decke von mir und lag in der flirrenden Hitze nackt da. Irgendwann schlief ich ein und träumte von einem dunklen, namenlosen Liebhaber, den die Begierde an den Rand des Wahnsinns trieb. Seine Augen brannten und schimmerten wie große Vollmonde, als er sich über mich beugte. Oscar saß auf seinem Hocker, als ich auf ihn zukam, und schrieb in sein Notizbuch. Mein Magen schmerzte beim Anblick seines wohlgeformten Kopfes, der tief über die Seiten gebeugt war. Er blickte nicht auf, bis ich ganz nah war, und dann begegnete er gleichmütig meinem Blick. «Oscar», sagte ich mit rauer Stimme. «Hallo, Rosemary.» Sein Ton war so ausdruckslos wie sein Blick, ohne auch nur einen Hauch von Versöhnlichkeit. «Wegen vorgestern Abend», fing ich stockend an. «Ich denke, ich habe mich klar ausgedrückt. Ich möchte lieber nicht mehr drüber reden.» «Tut mir leid, Oscar …» «Ich wünsche keine Entschuldigung, Rosemary», unterbrach er mich und bekräftigte seine Worte mit einer 338
erhobenen Hand. «Es wird nicht wieder vorkommen. Das musst du mir garantieren. Du darfst dich mir nicht wieder auf diese Weise aufdrängen.» Jetzt gab es nichts mehr misszuverstehen, und in meiner Phantasie durfte es keinen Platz mehr für ihn geben. Ich schüttelte den Kopf. «Nein, Oscar», sagte ich. «Und es tut mir leid. Wirklich. Als du dann gestern nicht da warst, dachte ich …» «Bild dir bloß nicht ein, dass das was mit dir zu tun hatte», sagte er schroff. Jegliche Illusion, dass ich ihn mit meinem Kuss verstört hatte und er deshalb nicht zur Arbeit gekommen war, konnte jetzt nicht mehr sein als eine hübsche Einbildung. «Ich bin gestern ein ziemlich großes Risiko eingegangen», sagte er entschlossen. Ich hatte gedacht, ich sei diejenige gewesen, die etwas riskiert hatte. «Was meinst du damit?», fragte ich. Er schaute mich gleichmütig an. «Ich habe Samuel Metcalf bei Julian Peabody einen Besuch abgestattet.» In diesem Moment stand er mit einer übertriebenen Heftigkeit auf, die gebieterisch wirkte, und ich folgte ihm nach hinten zu seinen Regalen, zu jener Nische zwischen den Büchern, die ich nicht hatte finden können, als ich allein in seiner Abteilung gewesen war und den Kunden aus dem Weg hatte gehen wollen. Hier baute er sich etwas theatralisch auf, den einen Arm ans Regal gestützt, das Notizbuch in der anderen Hand. Ich 339
hatte das deutliche Gefühl, dass Oscar die Dramatik dieser Schnitzeljagd regelrecht genoss und dass er mich als Zeugin seiner Gewitztheit benötigte. Ich war sein Publikum, seine einzige Verehrerin. «Es erübrigt sich wohl zu sagen, Rosemary, dass Metcalf mehr als überrascht war, mich zu sehen.» Oscar hatte sich den Tag freigenommen, um noch mehr über Melville herauszufinden. Mein Benehmen war für ihn kaum mehr gewesen als eine lästige Episode, die er zwar sicher inakzeptabel gefunden hatte, doch war er offenbar bereit, meine abstoßenden Avancen zu vergessen. Ich begriff sofort, wie absurd und lächerlich es gewesen war, etwas anderes zu mutmaßen. «Ich sage dir, was ich herausgefunden habe, aber du musst diskret sein.» Er starrte mich herausfordernd an. Offenbar meinte er, ich solle zurückhaltender sein, als ich es ihm gegenüber gewesen war. «Das bedeutet auch, dass du es weder Pearl noch Mitchell erzählst.» Ich nickte. «Geist darf nicht wissen, dass wir über Die Insel des Kreuzes Nachforschungen angestellt haben», fuhr er fort. «Metcalf wird es ihm nicht sagen, weil ich ihm gedroht habe, es sonst Pike zu verraten. Dich ziehe ich ins Vertrauen, weil ich dein Wort haben möchte, dass das, was wir entdeckt haben, ein Geheimnis bleibt. Ich habe den Verdacht, dass Mitchell etwas ahnt. Ich weiß zwar nicht, warum, aber er hat heute Morgen in meiner Abteilung herumgeschnüffelt, unter dem Vorwand, mir etwas über Ladendiebe sagen zu wollen, obwohl wir 340
durchaus wissen, dass dieser Redburn sich schon seit Wochen nicht mehr hat blicken lassen.» Ich verriet ihm an dieser Stelle nicht, dass ich Mr. Mitchell von dem Brief erzählt hatte, den ich Geist vorgelesen hatte, obwohl ich es ihm wahrscheinlich hätte sagen sollen. Doch das wollte ich nicht, da ich jetzt mit beiden, mit Mitchell und mit Oscar, ins Reine gekommen war. Zudem dachte ich, es sei nicht so wichtig, und schließlich hatte ich Mr. Mitchell nichts über den Inhalt des Briefes verraten. «Metcalf hat zugegeben, mit Geist eine Vereinbarung getroffen zu haben, nachdem ich so getan hatte, als wüsste ich alles darüber. Ich habe einfach geblufft, damit er es zugab.» Oscar wiegte leicht den Kopf, offensichtlich zufrieden mit seiner eigenen Intelligenz. «Er hat sich erst mal setzen müssen, als ich Die Insel des Kreuzes erwähnt habe. Das Manuskript hat er noch nicht gesehen, aber Geist hat ihm versichert, dass dies bald der Fall wäre. Allerdings denkt er offenbar, das Manuskript sei nicht in Melvilles Handschrift verfasst. Wie wir aus unseren Recherchen wissen, liegt das wahrscheinlich daran, dass Melvilles Schwester Augusta für den Verlag eine saubere Abschrift angefertigt hat. Das überprüfe ich aber noch in der Hauptbibliothek. Dort haben sie Kopien von Augustas Briefen. Ich habe ihre Handschrift schon gesehen.» Oscar hielt inne, um sich über den Kopf zu fahren und das dunkle, schüttere Haar glatt zu streichen. «Übrigens hat sie eine ziemlich schöne Schrift», fügte er hinzu. 341
Gestochen scharf, stellte ich mir vor, eine schöne, geschwungene Handschrift. Oscar dachte eigentlich eher laut nach, als sich mit mir zu unterhalten, aber ich konnte nicht genug kriegen von seinen Worten, von seinem lebendigen Interesse und dem Kitzel, den es mir verursachte, das alles mit ihm zu teilen. Selbst Melvilles Briefe schienen mittlerweile zu einem ganz vertrauten Thema zwischen uns geworden zu sein. Es war, als sei Oscar irgendwie zum Thema der Briefe geworden. Melville hatte an Hawthorne geschrieben: Es ist ein seltsames Gefühl – keine Zuversicht ist darin, keine Verzweiflung. Zufriedenheit – das ist es; und Verantwortungslosigkeit, doch ohne liederliche Neigungen. Ich rede jetzt von meinem innersten Daseinsgefühl …
«Ich habe immer noch keine Ahnung, wer den Brief an Pike geschrieben hat», führte Oscar weiter aus. «Und wenn ich ihm Glauben schenken darf, weiß auch Metcalf das nicht. Aber es wird extrem schwierig sein, die Information geheim zu halten, je mehr Leute davon wissen. Du hast ja selbst gesehen, wie leicht es für uns war, festzustellen, dass es einen verschollenen Roman gibt und dass er Die Insel des Kreuzes hieß. Jeder, der die Zeit und das Interesse hat, könnte das herausfinden.» «Ich habe noch ein bisschen in dem Briefband weitergelesen», sagte ich. «Sicher hat Peabody eine Ausgabe der Briefe in seiner Bibliothek. Bestimmt weiß er alles über Agatha.» Mich störte der Gedanke, dass Metcalf, oder über342
haupt irgendjemand, diese Briefe las. Es war lächerlich, aber irgendwie hatte ich das Gefühl, sie gehörten mir. «Aber was mich immer noch verwirrt, Oscar: Warum sollte Metcalf Peabody hintergehen wollen? Oder Mr. Geist Mr. Pike übers Ohr hauen?», fragte ich. «Meinst du nicht, Geld reicht als Motiv?» «Aber die verlieren beide ihren Job, wenn das auffliegt. Einen Job, den sie lieben, der ihr Leben ist.» «Wahrscheinlich würde eines dieser Psychologiebücher irgendwelchen theoretischen Blödsinn über Väter oder gescheiterte Adoptionen verzapfen.» Er winkte abfällig in Richtung Regale. «Aber ich habe festgestellt, dass Geld oft einen sehr deutlichen Reiz ausübt. Ebenso wie die ganzen Geschichten von Verschwörungen und Intrigen. Sammler – und denk daran, sie sind beide Sammler – lieben diese Geheimnistuerei. Umgekehrt hat aber möglicherweise auch der Wunsch nach Ruhm etwas damit zu tun, zumindest bei Metcalf. Wer auch immer diesen Fund der Öffentlichkeit mitteilt, wird berühmt werden. Natürlich müssen sie sich beide erst noch ein Mittel ausdenken, wie der Text ‹entdeckt› wurde.» Er starrte nachdenklich an mir vorbei. «Wer hat ihn, Oscar?», fragte ich. «Interessant ist, dass Metcalfs Vater vor einigen Jahren tatsächlich einige Originaldokumente von Melville entdeckt hat. Sie befanden sich in einer Truhe auf dem Dachboden. In einem Haus in Lansingburgh. Du weißt schon, Lansingburgh?» Er schenkte mir ein halbherziges Lächeln, denn der Name der Stadt war eine dieser nutzlosen Informationen gewesen, die ich gesammelt hatte und die jetzt wie343
der von Bedeutung waren. Sein Lächeln tröstete mich. Ich hatte das Gefühl, ich könne wenigstens diesen Oscar haben – den Oscar, der mir etwas beibringen wollte, der mich wenigstens ein bisschen in seine Gedanken mit einbezog, als geheimen Mitwisser. Ich musste nur meine Hände bei mir behalten. «Kaum zu glauben, dass das immer noch vorkommt, ich weiß, aber es passiert jeden Monat, dass Leute hier Bücher anschleppen, die in irgendeiner Truhe oder einer Schublade gefunden wurden. Meine eigene Theorie lautet folgendermaßen: Wenn Die Insel des Kreuzes in Augustas Handschrift verfasst ist, dann handelt es sich um die Kopie, die Melville den Harper Brothers überlassen hat und die sie abgelehnt, aber nicht zurückgeschickt haben. Ich bin gerade dabei, dem nachzugehen.» «Ich möchte wirklich nicht glauben, dass Mr. Geist ein Dieb ist, Oscar. Ich kann es einfach nicht. Vielleicht plant er ja, Pike mit der Akquisition zu überraschen. Damit das Arcade einen richtigen Coup damit landen kann.» «Sei nicht kindisch, Rosemary. Denk doch mal nach. Geist hat nicht mehr viel Zeit. Er kann nicht ewig hier weiterarbeiten. Er kann kaum noch sehen; und er ist krank. Sein Benehmen ist ebenso seltsam geworden wie sein Aussehen.» «Er hat mir gesagt, er könne nicht schlafen», sagte ich vage. Und dass die Zeit verrinne. Mir fiel wieder Geists Erschöpfung ein, und wie er gemurmelt hatte, er sei neidisch auf alle und heimlich verliebt. Motivation genug, so schien es mir jetzt, sich selbst noch schnell eine 344
Scheibe vom Kuchen abzuschneiden, etwas von Wert zu ergattern, das ihm bislang verwehrt gewesen war. «Schlaflosigkeit ist noch das Harmloseste», sagte Oscar. «Albinos werden von allen möglichen Beschwerden geplagt, weil ihr Immunsystem nicht stark ist.» Natürlich wusste er so etwas, weil Albinos zu seinen Forschungsthemen gehörten. Mir tat Walter Geist schrecklich leid. Es war alles so kompliziert und unklar. Was würde er denn tun, wenn er nicht mehr im Arcade arbeiten konnte? Wer würde sich um ihn kümmern, wenn er wirklich krank war? Stand ihm George Pike nahe genug, um sich ihm gegenüber familiär verpflichtet zu fühlen? «Da ist noch etwas, das du wissen solltest, Rosemary. Zumal es dich direkt betrifft.» Oscar strich sich über sein dunkles Haar. «Ja», sagte ich. «Was ist denn?» «Metcalf hat gesagt, er habe den Eindruck gehabt, Geist habe dich auch zu Peabody mitgenommen, um … mit dir zu prahlen», sagte er hastig. «Was willst du damit sagen, mit mir zu prahlen?», fragte ich. Meinte er, ich habe vorgeführt werden sollen, wie eines von den sonderbaren Dingen in den Vitrinen? Metcalf hatte gesagt, ich sähe ungewöhnlich aus. Attraktiv. «Offensichtlich hat Geist etwas angedeutet, eine Art …», er schaute auf sein Notizbuch hinab, als suchte er dort nach der Bestätigung, «… Beziehung zwischen euch beiden.» War das gerade eine Frage gewesen? Hatte mir Oscar wirklich diese Frage gestellt? Er schaute mir ins Gesicht. 345
«Ich glaube das eigentlich gar nicht», sagte er schnell. «Aber ich erwähne es, weil man darüber nachdenken sollte. Man sollte sich überlegen, was das bedeutet. Du könntest bei Geists Beweggründen eine Rolle spielen. Vielleicht möchte er dich in seinen Handel mit Metcalf einbeziehen. Mir fiel wieder ein, dass er dir Geld geliehen hat. Als du damals Geist um einen Vorschuss auf deinen Lohn gebeten hast, hat er doch darauf bestanden, dass er dir das Geld geliehen hat und nicht Pike. Vielleicht denkt Geist ja, wenn er erst mal einen Haufen Geld hat, wenn er sein gestohlenes Manuskript verkaufen kann, dann hat er was zu bieten.» Ich wusste, was er als Nächstes sagen würde. «Dann hat er dir etwas zu bieten, Rosemary», beendete er seinen Satz. «Mir etwas zu bieten – um was zu bekommen?», fragte ich, wobei ich fürchtete, die Antwort bereits zu kennen, kaum hatte ich die Frage gestellt. «Nun», sagte Oscar angeekelt. «Männer wollen Dinge von jungen Frauen. Aber ich will damit vor allem sagen, Rosemary, dass du herausfinden kannst, was für Pläne Geist hat. Du kannst … ihn ein bisschen ermutigen. Und dann kannst du mir sagen, was er bereits weiß und ob er das Manuskript in seinem Besitz hat.» «Du meinst, ich soll ihm sagen, dass ich von der Insel des Kreuzes weiß?» «Natürlich nicht», sagte er. «Aber du hast ihm den Brief vorgelesen und kannst folglich noch mehr tun. Du kannst mehr in Erfahrung bringen. Lock ihn aus der Reserve. Bestimmt kannst du ihm doch irgendwie zeigen, dass du ihm helfen willst.» 346
«Und wenn ich das mache, dann helfe ich dir?», fragte ich ihn. Oscar legte mir eine Hand auf den Arm, eine Geste, die wohl bedeutete, dass er mich einbezog. Seine seltsamen Augen schauten mich an, ohne zu blinzeln. Ich spürte seinen Blick auf meiner Haut. So standen wir einen langen Moment da. Er hatte mir verziehen. «Rosemary», sagte Oscar. «Ich verlasse mich darauf, dass du mir alles mitteilst, was du herausfindest.»
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Neunzehntes Kapitel
W
ie Oscar es vorgeschlagen hatte, stieg ich eine Woche später allein in den Keller hinab, um Walter Geist aufzusuchen. Mehr Informationen über Melville – das brauchten wir. Und wir mussten herausfinden, wie viel Geist wirklich über die Insel des Kreuzes wusste. Ich sah ihn unter der leuchtenden nackten Kugellampe sitzen, den Kopf in die Hände gestützt. «Mr. Geist, geht es Ihnen gut?», fragte ich und trat auf ihn zu. «Sind Sie allein, Rosemary?», sagte er, hob den Kopf und beugte sich nach vorn. «Ja. Ich dachte einfach, ich komme runter und schau mal, ob Sie etwas brauchen.» Da mir wieder einfiel, was Oscar vermutet hatte, fügte ich hinzu: «Ob Sie mich brauchen.» «Das ist sehr nett von Ihnen», sagte er und sah etwas verblüfft aus. «Ich würde eigentlich gerne das Gespräch zu Ende führen, das wir neulich im Büro hatten, bevor wir von Conway unterbrochen wurden.» «Ja», sagte ich schlicht. «Das würde ich auch gerne.» «Sie sollten vorsichtig sein, Rosemary. Vor Jack Conway sollte man sich in Acht nehmen.» Mir fiel auf, dass jeder im Arcade mich vor irgendjemand anderem warnen wollte, und ich fragte mich, ob 348
Geist wohl Jacks eindeutige Angebote neulich auf der Treppe mit angehört hatte. «Ich gebe mich nicht mit ihm ab, Mr. Geist», versicherte ich. «Gut.» Ich beugte mich ein wenig über den Empfangstisch hinüber zu ihm, und wir schwiegen einen Moment. Im Labyrinth der Regale waren leise Schritte zu hören, offenbar Kunden auf der Suche nach Beutegut. Bei den niedrigen Decken, an die die hohen Regale stießen, zog ich immer unwillkürlich den Kopf ein. Es schien, als bestünde der Kellerraum darauf, dass die Gäste Geists Körperhaltung einnahmen. «Haben Sie Pläne für heute Abend nach der Arbeit?», fragte er unvermittelt, und ich fuhr ob dieser Sprunghaftigkeit zusammen. Seine Hand verschwand in seiner Tasche und klimperte mit ein paar Münzen. «Heute Abend?», wiederholte ich. Sollte das eine richtige Verabredung sein? Würde Oscar wollen, dass ich mit Geist ausging und als seine Spionin agierte? «Heute Abend? Äh, nein, Mr. Geist, ich habe keine Pläne. Na ja, ich muss mich noch um den Wein für die Party kümmern, die ich organisiere, aber das kann bis morgen warten.» «Großartig», sagte er und richtete sich etwas auf. «Dann können wir unser Gespräch bei einer Tasse Kaffee fortsetzen.» Er lächelte vor sich hin. «Großartig», wiederholte er. «Dann treffen wir uns am Südeingang. Um sechs.» «Um sechs? Können Sie da schon weg?», fragte ich ihn. «Bleiben Sie sonst nicht länger?» 349
«Heute Abend gehe ich um sechs», sagte er mit einigem Nachdruck. «Ich bin kein Lehrjunge hier, wissen Sie. Ich bin nicht Pikes Eigentum. Immerhin bin ich der Geschäftsführer des Arcade.» Ich kehrte nach oben zu Oscar zurück, der in der Sachbuchabteilung auf seinem Hocker thronte. «Hast du Geist gesehen?», fragte er. «Ich treffe mich draußen mit ihm, um sechs», antwortete ich. «Er möchte mit mir das Gespräch fortsetzen, das wir im Büro begonnen haben, bevor Jack uns unterbrochen hat. Ich weiß, dass es um Peabody geht. Er hatte mir gerade erzählen wollen, warum wir dorthin gegangen waren.» «Gut. Erwähne auf keinen Fall unsere Recherchen in der Bibliothek», ordnete Oscar an. Seine Begeisterung stimmte mich ganz betrübt. «Er soll dir verraten, was er herausgefunden hat. Hör einfach nur zu.» «Okay, Oscar», antwortete ich. «Ich weiß.» «Nimm dein Notizbuch mit», sagte er. «Und schreib dir alles auf, was du wieder vergessen könntest.» «Ich kann mich doch nicht da hinsetzen und mir Notizen machen!» «Ich meine natürlich, sobald du die Möglichkeit dazu hast. Sofort danach. Alles, woran du dich erinnerst.» «Du wärst überrascht, woran ich mich alles erinnern kann, Oscar.» «Gut», sagte er ermutigend. «Dann überrasch mich.» Um Punkt sechs stand ich draußen an der Straßenecke, betrachtete den schmutzigen Schnee und dachte darüber 350
nach, wie die Szenerie sich einfach umgekehrt hatte. An dem Tag, als Geist mich zu Peabody mitgenommen hatte, hatte er draußen gewartet, während ich ihn durch die Glasscheibe beobachtete. Und noch etwas anderes hatte sich umgekehrt, aber das wusste ich damals noch nicht. In diesem Moment kam Walter Geist in seinem lächerlichen Wintermantel und Hut durch die Tür, und ich rief nach ihm. Er kam zu mir herüber, er schlug ein Café im nächsten Block vor. Während wir uns die Avenue entlang auf den Weg machten, ging er ganz dicht an meinem Arm, Mantelärmel an Mantelärmel. Die Tischanweiserin setzte uns an einen Tisch, der nicht am Fenster lag, und wir hängten unsere Mäntel an die Haken eines dünnen Garderobenständers neben den Stühlen. Geist ließ sich auf die Bank gleiten und legte seinen albernen Hut neben sich. Als ich ihm gegenüber Platz nahm, konnte ich nicht umhin, wieder an den Abend mit Oscar zurückzudenken. Da saß ich, in einem anderen Diner, einem anderen Mann gegenüber, nur wenige Tage nach jenem Augenblick der Demütigung, doch jetzt war ich nicht annähernd so aufgeregt. Aber ich musste das hier für Oscar tun. «Rosemary», kam Walter Geist sofort zur Sache. «Wissen Sie, wer Herman Melville war?» Ich zuckte zusammen. «Ja, natürlich, Mr. Geist. Ich lese zurzeit Moby Dick. Oscar hat mir eine alte Taschenbuchausgabe geschenkt.» «Wirklich?», fragte er. Aus seinem Ton war schwerlich etwas zu schließen. «Das Buch mag ich nicht besonders.» «Ach, nein?», erwiderte ich. «Ich bin ganz begeistert.» 351
Sein Kopf zuckte zurück, als hätte ich ihn geschlagen. Das war, wie ich erst jetzt weiß, unsensibel von mir gewesen. Nachdem ich das Kapitel über das Weiß des Wales gelesen hatte, brauchte ich Walter Geist eigentlich nicht zu fragen, warum er Moby Dick hasste. Melville hatte die Farbe Weiß gleichgesetzt mit etwas Befremdlichem, Scheußlichem. «Vielleicht erinnern Sie sich an den Brief, den ich Sie mir vorlesen ließ», fuhr Geist fort. «Darin wurde doch Melville erwähnt. Von einer Person, die ihr Interesse daran bekundete, ein Manuskript zu verkaufen.» Ich wurde puterrot bis zu den Haarwurzeln. «Natürlich erinnere ich mich», erwiderte ich. Die abgerissene Ecke des Briefes steckte immer noch in meiner Tasche, selbst etwas Gestohlenes. «Sie haben mir den Brief weggerissen, bevor ich ihn fertig lesen konnte.» «Das stimmt. Ich habe einfach nicht nachgedacht, Rosemary. Dafür möchte ich mich entschuldigen, aber ich brauchte Zeit, um darüber nachzudenken, was der Anbieter eigentlich in petto hat. Zum damaligen Zeitpunkt schien es mir undenkbar. Dann bin ich mit Ihnen zu Peabody gegangen, um die Sache mit Sam Metcalf, meinem Freund, zu besprechen. Er kennt sich bei den amerikanischen Schriftstellern des neunzehnten Jahrhunderts sehr gut aus. Sie sind auch für seinen Arbeitgeber von besonderem Interesse.» Walter Geist zog ein Kuvert aus seiner Manteltasche. «Das hat mir Sam gestern geschickt.» Er schob das Kuvert über den Tisch. «Machen Sie es auf. Sam meinte, dieser Zeitungsartikel könnte mich interessieren. Da 352
er aber von Mikrofiche kopiert wurde, ist er sehr klein gedruckt.» Der Umschlag enthielt ein mehrfach gefaltetes Dokument. Eine komplette Zeitungsseite war auf dem steifen Fotopapier abgebildet. In der Tat handelte es sich um eine besonders kleine Schrifttype, die sogar an manchen Stellen verschwommen war, aber die Schlagzeilen waren recht gut zu lesen. Ich wunderte mich, wie viel Text die New York Daily News im Jahre 1855 auf eine Zeitungsseite quetschte. «Ich möchte, dass Sie mir das vorlesen.» «Natürlich, Mr. Geist, aber das hätte ich auch im Arcade gekonnt.» «Finden Sie es denn so unangenehm, mit mir in einem Café zu sitzen?», fragte er prompt. Diese permanente Abwehrhaltung war typisch für seine Krankheit, und es war bestürzend leicht, ihn aus der Reserve zu locken. «Nein, Mr. Geist, überhaupt nicht.» «Nun denn.» Seine sonderbaren Augen waren nie ruhig. Sie sahen entzündet aus, als schmerzten sie. Es trat eine bedrückende Stille ein, während seine feingliedrigen Finger nervös zuckten, unablässige kleine Bewegungen, die deutlich machten, wie sehr er sich quälte. «Es tut mir leid, Rosemary», fing er erneut an. «Diese ganze Sache beunruhigt mich. Es ist einfach so, dass ich keine Erfahrung mit … solchen Dingen habe.» Eigentlich wollte ich ihn fragen, was für Dinge er meinte, schließlich war ich ja kein Ding, aber dann fielen mir wieder Oscars Worte ein, dass ich so viel wie möglich 353
herausfinden sollte. Einfach zuhören. Möglicherweise hatte er ja auch keine Erfahrung in der Täuschung. «Da steht eine ganze Menge. Was genau soll ich Ihnen denn vorlesen?» «Verstehen Sie, Rosemary, das hier muss unter uns bleiben. Sie müssen mir Ihr Wort geben. Dies ist eine höchst ungewöhnliche Situation, aber ich muss Sie bitten, dass alles, was Sie mir vorlesen, unter uns bleibt.» Das war wieder eine Anspielung auf Oscar. «Wieso denn, Mr. Geist?» «Das werden Sie gleich verstehen. Ich muss Ihnen vertrauen können. Ich vertraue Ihnen bereits, aber Sie müssen mir auch vertrauen. Sie sollen wissen, wie wichtig das hier für mich ist. Der Brief, den Sie mir vorgelesen haben, ist der Schlüssel zu etwas, auf das ich lange gewartet habe.» Er hatte mir bereits sein Vertrauen geschenkt, und ich war erschrocken, wie leichtfertig er das getan hatte. Mir kam wieder ein Satz in den Sinn, den ich als Kind Chaps hatte sagen hören, und es erschütterte mich, dass ich offenbar bereit war, ihn ohne weiteres in den Wind zu schlagen. Liebe alle, vertraue wenigen und schade niemandem, pflegte sie zu sagen. Alle konnte ich nicht lieben, antwortete ich ihr insgeheim. Wem ich vertraute, war mir nicht klar, aber dass ich einen im Besonderen liebte, das wusste ich. Unten auf der Zeitungsseite befand sich eine Themenrubrik mit der Überschrift «Ambrotypie». Herman Melville war das Thema des Artikels. «Hier steht etwas über Melville in einer gesonderten Rubrik. Was ist Ambrotypie?», fragte ich. 354
«In diesem Fall ist es wohl der Titel eines autobiographischen Abrisses», antwortete er. «Aber das Wort selbst bezieht sich auf eine Art Fotografie. Das würde bedeuten, dass es eine ganze Serie von kleinen Biographien war.» «Der Name des Reporters ist Thomas Powell.» «Aha», sagte Geist. «Das ist interessant. Ich erinnere mich, dass Powell ein ziemlicher Schlawiner war. Er hatte Jobs bei verschiedenen Zeitungen wegen seiner angeblich guten Beziehungen zu berühmten Schriftstellern. Dickens war, glaube ich, einer davon, ein Lieblingsautor von mir … Ach, da kommt ja die Bedienung. Kaffee?» «Ich hätte lieber Tee», antwortete ich und betrachtete die Fotokopie. «Natürlich, einen Tee und einen Kaffee. Für mich schwarz, bitte», sagte er. Ich nahm die Kopie wieder zur Hand und begann den Artikel vorzulesen. Powell erwähnte, nur wenige Autoren seien, wie er es formulierte, «noch plötzlicher bekannt geworden als Herman Melville». Später würde ich mir ein paar Einzelheiten des Artikels für Oscar in mein Büchlein schreiben. Ich nahm mir vor, für mein eigenes Interesse Arthur nach der Ambrotypie zu fragen. Noch vor zehn Jahren war Melville der Öffentlichkeit völlig unbekannt; heute zählt er zu unseren erfolgreichsten Schriftstellern, obwohl sein Ruf beträchtlichen Schaden gelitten hat durch seinen unglücklichen Versuch, seine anmutigen Geschichten mit metaphysischen Spekulationen zu überladen. 355
Ich schwieg einen Moment, als die Kellnerin an unseren Tisch kam, und nachdem ich etwas Milch in meinen Tee gegeben hatte, nahm ich einen Schluck. Der Tee rann warm durch meine Kehle, und als ich getrunken hatte, lächelte ich. Walter Geist saß mit seinen schwimmenden Augen mir gegenüber und wandte den Blick nicht von mir ab. Ich hörte ihn atmen. Mir wurde klar, dass ich ja genau wusste, wie er sich fühlte. Mit jemandem auszugehen, mit dem man zusammen sein wollte, mit ihm in der Nische eines Diners zu sitzen … Wenn man bedenkt, was wir hier gemeinsam hatten – unerwiderte Zuneigung zu jemandem, der im Grunde überhaupt nicht zu einem passte und, ganz abgesehen davon, unseren romantischen Phantasien völlig gleichgültig gegenüberstand. «Wenn Sie dann bereit sind, Rosemary», sagte er. «Fahren Sie doch bitte fort, ich höre so gern zu, wenn Sie vorlesen.» «Danke schön, Mr. Geist», sagte ich. Langsam war mir das Vorlesen nicht mehr unangenehm und seine Gesellschaft auch nicht. Ich sah ihn mit anderen Augen. Ich wusste, wie es sich anfühlte, wenn man gedemütigt wird; die Prellung an meiner Hüfte war Beweis genug – eine Erfahrung, die ich ihm nicht gewünscht hätte. Die Erinnerung an meinen Abend mit Oscar war noch frisch, nicht nur wegen der offenkundigen Parallelen, sondern auch, weil die Stimmung irgendwie ähnlich vertraut war. In dem Zeitungsartikel beschrieb Powell Melvilles Erscheinung, und ich war neugierig, zu erfahren, wie dieser leidenschaftliche Mann, der so sehr vernarrt in 356
Nathaniel Hawthorne gewesen war, wohl ausgesehen hatte. Er ist ein gut aussehender Gentleman. Sehr freundlich und zuvorkommend, und ein überaus angenehmer Zeitgenosse noch dazu, dem mehr die Lässigkeit des Reisenden eignet als der Dogmatismus des Schriftstellers. Ansonsten ist er etwas mehr als mittelgroß und stets sehr sorgfältig gekleidet.
Wie Oscar, dachte ich, mit seinen sauberen schwarzen Hosen und den handgenähten weißen Hemden. Ein gutaussehender Gentleman. Oscar hatte mich auf Herman Melville gebracht, und in meinen Gedanken wurden beide langsam zu einer Person. «Rosemary», unterbrach Geist mich. «Was ich aus diesem Artikel erfahren möchte, betrifft Melvilles Arbeit, nicht sein Erscheinungsbild. Wie er aussah, ist von keinerlei Interesse für mich.» Ich las den Rest der Ambrotypie laut vor, den Kopf weit nach vorne gebeugt. Er lauschte mir, über den Tisch gelehnt, mit verzückter Aufmerksamkeit. Es mag unsachlich erscheinen, Überlegungen zu den unentwickelten Fähigkeiten eines Schriftstellers anzustellen, doch wir fürchten, er hat die strahlendsten seiner Begabungen vor den Fußschemel jenes großen Tyrannen – der Welt – gelegt, der in seiner Unersättlichkeit nach immer mehr und nach besserer Qualität verlangt. So beschließen wir nun unsere grobe, wenngleich hoffentlich erleuchtende Ambrotypie mit der Erwähnung, dass er uns gegenüber einmal den Plan zu einem weiteren Werke erwähnte, den er jedoch noch nicht 357
zur Ausführung gebracht hat. Jenes Werk sollte zur Illustration des Gedankens der Reue dienen und zeigen, dass bei moralisch respektablen Menschen oft weniger wirkliche Tugend anzutreffen ist als im Verbrechen wider Willen. Manche Männer retten ihren konventionellen Ruf, indem sie bis zu gewissem Grade in legalisiertem Laster leben, ein Leben führen, das immer am Sieden ist, aber nie überkocht, während andere ihr ganzes Leben lang tugendhaft ohne Fehl und Tadel und ehrlich bleiben, bis irgendein plötzlicher und unkontrollierter Impuls sie mit verheerender Plötzlichkeit dazu veranlasst, eine Grenze zu überschreiten, und sie zu ewiger Verdammnis verurteilt bleiben.
«Aha», sagte Walter Geist nachdenklich. «Das ist es natürlich. Das Werk über die Reue.» «Reue?», wiederholte ich, aber er gab keine Antwort. Das Thema der Insel des Kreuzes. Dann war also auch Geist bereits darauf gestoßen. Ich vermutete, Metcalf hatte ihm davon erzählt, als die beiden oben in Peabodys Bibliothek gewesen waren, wahrscheinlich hatte er ihm die Briefe vorgelesen, in denen Melville Hawthorne von Agatha erzählt. Doch warum hatte Metcalf ihm dann diesen Artikel geschickt? Irgendwie schien er eine versteckte Warnung zu enthalten. Denn was wirklich neu war, und was ich kaum erwarten konnte, Oscar zu erzählen, war Melvilles Idee, ein unkontrollierbarer Impuls könne auch einen tugendhaften, ehrlichen Menschen ins Verbrechen treiben. Das heißt, wenn man dem Schlawiner Powell überhaupt glauben durfte, dass er den Schriftsteller tatsächlich gesprochen hatte. Hatte Melville gemeint, ebendas sei Robinson widerfahren, als 358
er seine Agatha siebzehn Jahre lang im Stich ließ? Und passierte nicht genau das auch gerade mit Geist? Heimlich ein Manuskript für sich zu behalten, George Pike zu hintergehen – das war seine Art, Grenzen zu überschreiten. Bloß dass das hier gar kein Geheimnis mehr war. Er teilte es mit mir. Und vertraute darauf, dass ich es für mich behalten würde. «Sehen Sie, Rosemary», fuhr Geist fort. «Ich habe von Sam erfahren, dass ein Roman zu diesem Thema existiert, der heute verschollen ist. Ich möchte, dass Sie mir helfen, so viel wie möglich darüber herauszufinden. Dann kann ich …», er hielt inne, um nach dem passenden Wort zu suchen, «… den Wert der Handschrift richtig einschätzen.» «Damit Sie sie für das Arcade kaufen können?», fragte ich und stellte fest, dass selbst meine gespielte Naivität ihn faszinierte. «Was ich damit vorhabe, muss unter uns bleiben», sagte er bedeutungsvoll. «Vorerst hoffe ich, dass es sich einfach um ein faszinierendes Puzzle handelt und dass Sie mein Geheimnis für sich behalten.» Er streckte die Hand über den Tisch aus, um meine zu ergreifen, kam dabei jedoch an seine Kaffeetasse und schüttete sich die heiße Flüssigkeit über sein Hemd, wo sich auf Höhe der Brust sogleich ein brauner Fleck ausbreitete. «Ach!», rief er entsetzt, und ich versuchte rasch, das Verschüttete mit ein paar Servietten aufzuwischen, die in einem verchromten Spender neben den üblichen Salz- und Pfefferstreuern standen. «Ach herrje!», wiederholte er, noch nervöser als zu359
vor. «Ich bin einfach schrecklich! Ein solcher Tollpatsch! Wie können Sie es auch nur eine Minute lang mit mir aushalten!» «Ist schon in Ordnung, Mr. Geist», sagte ich und war erstaunt über seine heftige Reaktion, während sich die Servietten in meinen Händen vollsogen. «Ist doch nur ein kleines Missgeschick. Ein Missgeschick.» In diesem Moment griff er nach meinen Händen und zog meine rechte Hand gewaltsam an seinen Mund. Ich spürte seine Zähne, die sich durch die Lippen in meine Handfläche drückten. «Mr. Geist …», stammelte ich und entwand ihm entsetzt meine Hand. Ich hatte sie so blitzschnell zurückgezogen, wie er mir damals den Brief in seinem Büro aus den Händen gerissen hatte. Er verzog das Gesicht, als hätte ich ihm eine Ohrfeige verpasst. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie die Kellnerin näher kam, aber abrupt wieder kehrtmachte, als sie sah, was für eine unbeholfene Szene sich an unserem Tisch abspielte. Meine Hand war nass, und ich wischte sie an meiner Hose ab. «Ich muss jetzt gehen, Mr. Geist.» Ich stand hastig auf, nahm meinen Mantel vom Haken und befleißigte mich eines freundlichen, ungerührten Tons, obwohl ich mich überhaupt nicht danach fühlte. «Danke. Danke für den Tee.» Ich wollte nicht daran denken, dass ich versprochen hatte, ihm bei seiner Melville-Suche zu helfen, und dass ich Oscar versprochen hatte, für ihn zu spionieren. 360
Walter Geist meinte es viel zu ernst. Das hier war schließlich kein Spiel mehr, wie unser «Wer weiß das schon?», das wir im Arcade so gerne spielten. «Vielen Dank, und ich sehe Sie dann morgen. Okay? Wir sehen uns im Laden. Bis dann.» Er schwieg. Ich ließ ihn da sitzen, mit dem braunen Kaffeefleck auf seiner Brust wie ein Mal der Schmach. Natürlich erzählte ich Oscar alles, bis auf die Tatsache, dass Walter Geist leidenschaftlich meine Hand geküsst hatte. Ich erzählte ihm von Powells Ambrotypie und dass das unbetitelte Werk, das in dem Artikel erwähnt wurde, offenbar den Gedanken der Reue zum Thema hatte – ironischerweise einen Gedanken, der mich selbst momentan auch beschäftigte. «Nun», sagte Oscar. «Das war jetzt nicht so schwer herauszufinden.» «Nein», sagte ich. «Mr. Geist möchte mich ins Vertrauen ziehen.» «Ich habe keinen Zweifel daran, dass er dich sehr anziehend findet», sagte er trocken, denn ihm war durchaus bewusst, was Geist in Wirklichkeit wollte. «Dann werde ich dir jetzt mal erzählen, was ich in der Zwischenzeit herausgefunden habe. Es ist sehr interessant und geht wie in dem Zeitungsartikel eben um jenes legalisierte Laster.» Oscar fasste kurz zusammen, wie zu Zeiten von Melvilles Ruhm das Verlagswesen funktioniert hatte. Offenbar finanzierte ein Autor damals seine Werke oft selbst, besonders Herman Melville nach dem spektakulären Misserfolg seines psychologischen Romans Pierre 361
– dem Buch, das manche Rezensenten dazu veranlasst hatte, die geistige Gesundheit des Schriftstellers in Frage zu stellen. Ursprünglich hatte der Verlag, Harper Brothers, sich die Gewinne nach Abzug der Kosten zur Hälfte mit Melville geteilt, und jegliche Vorschüsse waren auf jene zu erwartende Hälfte des Profits angerechnet worden. Doch hatten die Harpers tatsächlich auf jene Vorschüsse von ihren Autoren Zinsen verlangt, und obwohl sie sowohl mit Typee als auch mit Omoo Geld eingenommen hatten, stand Melville mit einer nicht unbeträchtlichen Summe bei seinem Verlag in der Kreide, sobald die Verkäufe erlahmten. Da Moby Dick ein kommerzieller Misserfolg war, wurden die Harper Brothers langsam nervös, was Melville anging, und betrachteten ihn nicht mehr als gewinnbringend für den Verlag. Bei Pierre verlangten die Brüder einen schier unmöglichen Vertrag, in der Hoffnung, Melville würde ablehnen. Doch Melville akzeptierte, zu der Bedingung, dass er ein Fünftel erhalten würde anstelle der Hälfte nach Kosten wie zuvor, was bedeutete, dass Pierre sich zweieinhalbmal so oft verkaufen musste, bis er den gleichen Anteil erhalten würde, einen Anteil also, der ohnehin schon unangemessen gewesen war. Auch Pierre wurde ein finanzielles Desaster. «Die Verlage waren zu Melvilles Zeiten also richtige Diebe», bemerkte ich. «Genauso, wie manche Leute meinen, Mr. Pike sei durchtrieben. Aber was sagt uns das bezüglich der Insel des Kreuzes?» «Ich komme gleich dazu, Rosemary», erwiderte Oscar. «Weißt du, Melville schrieb dann an die Harpers 362
und bot ihnen ein neues Buch an. Warte, ich lese es dir genau vor.» Er zückte sein Notizbuch und blätterte wie wild darin, die Seiten waren, wie ich sehen konnte, eng mit seiner obsessiven Handschrift beschrieben. «Da ist es. Zusätzlich zu dem Werk, welches ich im letzten Frühjahr nach New York brachte, das in Druck zu geben ich jedoch damals gehindert wurde, habe ich jetzt ein weiteres Buch … in Arbeit.» Oscar schaute mich an, als sei es offensichtlich, was er meinte. «Was heißt das?» «Er sagt zusätzlich, woraus sich schließen lässt, dass er die Handschrift der Insel des Kreuzes nicht zerstört hat, die er ihnen im Frühjahr übergeben hatte. Er hatte es noch, aber etwas hatte ihn davon abgehalten, es zu veröffentlichen.» «Was denn?» «Keine Ahnung. Vielleicht betrachtete man es als ehrenrührerisch, weil Agatha und Robinson reale Gestalten waren. Aber die Gründe spielen auch eigentlich keine Rolle. Wichtig ist, dass er den Harper Brothers mitteilte, dass er es immer noch hatte. Damals verhandelte er mit ihnen auf Basis der halben Profitrate, die er noch vor Pierre erhalten hatte.» «Du glaubst also nicht, bei dem Manuskript könnte es sich um die Abschrift handeln, die die Harper Brothers behalten hatten? Du glaubst, es ist Melvilles Original?» «Genau. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass es sich um die Abschrift handelt, die den Harpers geschickt wurde.» 363
Oscar war so beschäftigt mit den Details rund um die Insel des Kreuzes, dass er sich gebärdete, als ginge es um sein Eigentum. Seine Faszination für das verschollene Manuskript trug deutliche Züge einer Verliebtheit, und ich registrierte mit einem gewissen Neid, dass diese längst vergangenen Ereignisse ihn auf eine Weise fesselten, wie es eine reale Person der Gegenwart niemals vermocht hätte. «Ich habe herausgefunden», fuhr er fort, «dass die Büros der Harper Brothers im Dezember 1853 bis auf die Grundmauern abgebrannt sind. Ganze sechs Gebäude wurden durch das Feuer dem Erdboden gleichgemacht.» Als er das sagte, sah er mich regelrecht triumphierend an. «Melville dachte, damit sei sein Ende gekommen, und die meisten seiner Bücher und ungebundenen Fahnensätze waren den Flammen zum Opfer gefallen. Für ihn war es ein schrecklicher Verlust, ein finanzielles Desaster – und dann auch noch sein ruinierter Ruf wegen Pierre. Schon jetzt steckte er tief in Schulden. Die Harper Brothers waren gnadenlos und verlangten zusätzliche Zahlungen von ihm. Als wäre der Brand seine Schuld gewesen! In der Tat verlangten sie sogar die gleiche Summe zweimal, weil die Produktionskosten bereits von den gedruckten Exemplaren abgezogen worden waren, die den Flammen zum Opfer gefallen waren.» Oscar schien richtig empört, wobei er selbst doch Tag für Tag antiquarische Bücher verkaufte, deren Urheber niemals auch nur einen Cent von dem sahen, was Pike 364
dafür einstrich. Auch die neuen Rezensionsexemplare, die Walter Geist im Keller entgegennahm, brachten den Autoren keinen Gewinn, denn die Bücher wurden aus Werbezwecken den Journalisten und Kritikern kostenlos zur Verfügung gestellt, die sie dann aber dem Arcade verkauften und dafür ein Viertel des Ladenpreises einsteckten. Dass es also eigentlich heuchlerisch von Oscar war, sich dermaßen über das Verhalten der Harper Brothers zu echauffieren, machte ihn allerdings nicht weniger attraktiv für mich. Aber ich dachte wieder einmal über George Pikes gewaltige Bestände nach, und darüber, wie wenig sie eigentlich zur Entstehung von Literatur beitrugen. Gewiss, das Arcade diente Sammlern wie Lesern, doch nicht denen, die töricht genug waren, Schriftsteller zu sein. «Oscar», fragte ich ihn ernst. «Was würdest du denn mit der Insel des Kreuzes machen?» «Das habe ich doch schon gesagt. Der Roman gehört in eine Bibliothek oder in die Sammlung einer Universität – vielleicht in die Houghton Library in Harvard, zu anderen Dokumenten von Melville. Oder in die Berg Collection der Public Library hier, zu seinen Briefen.» Sein Ton wurde leidenschaftlicher, als er fortfuhr: «Natürlich würde ich den Roman dorthin geben! Kostenlos. Ein verschollenes Werk ist doch nichts, womit man Handel treiben kann, Rosemary. Begreifst du denn nicht, wie sehr Melville während seiner ganzen Karriere zum Opfer des Kommerzes wurde? Jedenfalls würde ich alles tun, damit Peabody es nicht in die Finger kriegt. Da kann man es gleich in eine Kiste packen 365
und auf dem Meeresboden versenken. Mich ärgert dieses endlose Geschachere. Der Mensch ist ein Herrscher über die Dinge.» Das klang seltsam aus dem Munde eines Mannes, der tagtäglich die Bedürfnisse von Sammlern befriedigte. «Ich verstehe wirklich nicht, wieso es ein solcher Unterschied ist, wer es hat», sagte ich. «In jedem Fall wird es veröffentlicht. Die Leute werden es lesen können.» «Dafür gibt es keine Garantie», erwiderte Oscar barsch. «Peabody ist eigensinnig genug, es zusammen mit seinen Kuriositäten zu horten und sogar zu leugnen, es überhaupt zu besitzen.» «Wie kommst du darauf?» «Ich kenne die Sammler, Rosemary. Wesentlich besser als du. Solche Leute wie Peabody wollen Exklusivität. Du bist aus Tasmanien», stieß er hervor. «Von der Rangordnung der Dinge verstehst du nichts.» Aber er! Er kannte diese Hierarchien ganz genau und wusste, dass sie ihn ausschlossen. Die Insel des Kreuzes ermöglichte es ihm, den anderen, die ihn nie hatten mitmachen lassen, das Spiel zu verderben. Er hatte gar kein finanzielles Interesse. Er wusste genau, was ihm immer vorenthalten wurde, denn er verzeichnete es akribisch in seinen Notizbüchern. In diesem Sinne waren diese Büchlein auch Dokumente seiner Rache, Kassenbücher des Verlusts. Doch indem er jetzt zum Gegenschlag ausholte, traf er nur sich selbst – Julian Peabody war genau der gleiche Typ des abstrusen Individualisten wie Oscar Jarno. Der grundsätzliche Unterschied zwischen ihnen bestand darin, dass Oscar mittellos war, zumindest in finanzieller Hinsicht. Seine Wäh366
rung war das Wissen, und so hatte er schon immer versucht, zu kompensieren, was er nicht besaß. «Arthur», rief ich in die Kunstabteilung und wäre fast über meinen Kollegen gestolpert, denn er saß mit ausgestreckten Beinen in einer Ecke, ein großes Buch auf dem Schoß. Der überdimensionale Kopf war im Schlaf in den Nacken gekippt. Ein dünner Speichelfaden zog sich von der oberen Zahnreihe zur unteren, vibrierte und zerriss schließlich, als er flach ausatmete. «Arthur!» Ich rüttelte ihn an der Schulter. «Was?» Sein Kopf zuckte nach oben, und er schlug sich selbst auf die fleischigen Wangen. «Was ist denn, TT? Oh, ich war ganz schön weg. Ziemlich bewusstlos. Geträumt habe ich – einen wunderbaren Traum. Gefällt mir gar nicht, dass er jetzt zu Ende ist. Oh», er runzelte die Stirn, während er versuchte, sich zu erinnern. «Ich habe geträumt, der Laden sei ein Museum und ich das einzige Lebewesen, das sich noch darin bewegt …» «Das tut nichts zur Sache, Arthur. Wenn dich Mr. Pike oder Mr. Geist erwischen, bist du deinen Job los. Mitten am Nachmittag einfach zu dösen!» «War doch nur ein Nickerchen!» Er rappelte sich hoch und bedeutete mir mit seiner dicken Hand, ich solle ihm helfen. «Betrachte es als Mittel der Kontemplation», schnaufte er, als ich ihm hochhalf. «Das mach ich jedenfalls», sagte er und stand endlich, völlig außer Atem. Er strich sich sein zerknittertes Hemd über dem Bauch glatt. «Ich wollte dich was fragen», sagte ich, bückte mich, 367
um das Buch aufzuheben, das er auf dem Boden hatte liegenlassen, und reichte es ihm. Er stellte es ins Regal zurück. «Immer stellst du Fragen», sagte er schmollend. «Warum erzählst du im Ausgleich nicht mal selber was?» «Ich? Ich habe nichts zu erzählen», murmelte ich. «Stimmt das?», lächelte er und hob vorwurfsvoll den Zeigefinger. «Du hast nichts zu erzählen? Du bist gesehen worden, weißt du das?» «Gesehen?» Ich lief rot an. «Von wem?» «Meinst du nicht eher, mit wem?» «Ich …» Ich wusste nicht, was ich sagen sollte; außerdem hatte ich Angst, etwas zu verraten. «Mit Walter Geist natürlich. In einem Café, und du hast ihm etwas vorgelesen!», triumphierte Arthur. «Wer hat mich gesehen?» «Das ist nicht wichtig, TT. Du hast Verehrer. Ich muss allerdings sagen, dass du eine etwas seltsame Wahl getroffen hast.» «Ich habe überhaupt keine Wahl getroffen!» «Na ja, sei jedenfalls vorsichtig, oder wenigstens nicht böse. Walter ist … na ja, sagen wir, an einem melancholischen Ort ist er der Melancholischste. Führ ihn nicht an der Nase herum», fuhr er fort. «Sei nicht zu teuflisch …» «Hör auf, Arthur!», sagte ich, peinlich berührt. «Ich helfe ihm einfach nur manchmal. Und hör auf, Klatsch über mich zu verbreiten.» Er legte in gespielter Empörung die Hand an die Brust. «Ich wollte dich etwas über Fotografie fragen», sagte 368
ich schnell, um das Thema zu wechseln. «Das ist doch dein Fachgebiet, oder?» «Unter anderem, ja.» Er grinste. «Weißt du, was Ambrotypien sind?» «Natürlich. In der Entwicklungsgeschichte der Fotografie kamen sie nach der Daguerreotypie. Kurzzeitig waren sie noch beliebter, weil sie billiger waren. Ich kann dir eine Reproduktion zeigen, da bin ich sicher. Interesse?» «Klar.» Arthur schlenderte zu seinem Lieblingsplatz hinüber und zog ein Buch über die Geschichte der Fotografie aus dem Regal. Dabei schnatterte er die ganze Zeit weiter. «Eine Ambrotypie war weniger kostspielig, weil das Bild auf Glas reproduziert wurde statt auf Kupfer. Bei beiden verwendete man eine Silbernitratlösung, aber man sieht sofort den Unterschied zwischen einer Ambrotypie und einer Daguerreotypie, und sogar später der Ferrotypie, weil die Ambrotypie eine dreidimensionale Anmutung hat. Das kommt vom Glas. Und sie sind auch ziemlich blass, fast weißlich.» Er schlug den großen Fotoband auf und zeigte, nach einem Blick ins Register, auf das eher gespenstische Porträt eines Soldaten aus dem Bürgerkrieg. «Im Bürgerkrieg wurden sie sehr beliebt, das kannst du dir vorstellen, weil auch einfache Leute sich so ein Bild von ihren Liebsten leisten konnten.» Er blickte aufmerksam auf das Konterfei des Soldaten. «Schnuckeliges Kerlchen», bemerkte er. «Das Bild ist ein Unikat, ohne Negativ, und scheint mir spiegelverkehrt zu sein.» 369
Ich schaute mir das unglaublich junge Gesicht des Soldaten aus den Nordstaaten an. Er war etwa in meinem Alter, und auf der verblichenen, etwas unscharfen Ambrotypie sah er aus, als wäre er schon im Verschwinden begriffen. Arthur beugte sich über das Bild. «Armer Bursche», sagte er. «Wahrscheinlich musste er ins Gras beißen, kurz nachdem das Bild hier gemacht wurde.» Er klappte das Buch zu und stellte es ins Regal zurück. «Um 1860 waren Ambrotypien dann nicht mehr gefragt», sagte er. «Natürlich waren sie zu zerbrechlich; Glas geht leicht zu Bruch. Danach kam die Ferrotypie und schließlich allerorten das Papier.» Er wedelte mit seiner dicklichen Hand in Richtung der Papierberge, die uns überall im Arcade umgaben. «Papier», wiederholte er und gähnte herzhaft. «Der Stoff, aus dem all unsere Träume sind.» «Wie kommst du mit diesem Briefeband vorwärts? Weitere Informationen über Agatha?» Oscar löcherte mich schon den ganzen Tag, jetzt suchte er mich ständig auf, nicht mehr umgekehrt, was mir ganz gut gefiel. Weil ich über Informationen verfügte, die er wollte, hatte ich jetzt das Gefühl, so zu sein wie er, und ich fühlte mich plötzlich reifer, fast so, als sei ich endlich in die geheimnisvolle Bruderschaft des Arcade aufgenommen. Wir standen im Gang «Geschichte» in Oscars Abteilung, und ich reichte ihm mein Notizbuch, das ich dort aufgeschlagen hatte, wo ich meine Beobachtungen zum Fall Melville notierte. 370
«Diesen hier habe ich gestern Abend abgeschrieben», berichtete ich. «Melville hat ihn nach dem langen Brief mit all den Details zu der Geschichte verfasst.» Oscar nahm das Notizbuch entgegen, und ich sah seine goldenen Augen über die Seite huschen, während er las. Montag Vormittag 25. Oktober 185 Pittsfield Mein lieber Hawthorne – Sollten Sie es für lohnend halten, die Geschichte von Agatha zu schreiben, und sollten Sie bereits damit angefangen haben, so fällt mir dazu noch eine Kleinigkeit ein, die, mag sie auch noch so nebensächlich sein, nicht ganz unangebracht sein könnte. Aber vielleicht ist Ihnen die Idee ja auch schon gekommen. – Die scheinbare Unbekümmertheit, mit der er zunächst seine Frau verläßt & dann eine andere heiratet, könnte möglicherweise den besonders freisinnigen Ansichten zuzuschreiben sein, welche die meisten Seeleute im Hinblick auf solche zärtlichen Bande hegen. In seinem früheren Seemannsleben hatte Robinson in jedem Hafen eine Frau gefunden (für eine Nacht). Für die Bande, die ihm sein Ehegelöbnis mit Agatha auferlegte, hatte er anfangs gar kein Gespür. Das kam erst, nachdem er etliche Jahre an Land gelebt hatte; erst da entwickelte sich sein moralisches Gefühl in dieser Sache. Daher sein späteres Verhalten – Reue & c. Denken Sie darüber nach & überlegen Sie, ob das stimmt. Wenn nicht – machen Sie es selbst stimmig.
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«Er hat einen ganz schönen Humor, findest du nicht?», kommentierte Oscar. «Äh, ja», stimmte ich ihm zu. «Was meinst du genau?» «Na, diese besonders freisinnigen Ansichten. Ich denke, Melville war selber ziemlich freisinnig, nachdem auch er zur See gefahren war.» «Ich glaube nicht, dass er deshalb Robinsons Verhalten gebilligt hat, wenn du das meinst, also Agatha sitzenzulassen und so.» Oscar gab mir mein Notizbuch mit einem gereizten Blick zurück. «Ist dir eigentlich nie der Gedanke gekommen, Melville könne die Partei des getürmten Ehemannes ergriffen haben? Und dass vielleicht der Reiz des Abhauens ein Thema war, das ihn interessiert hat?», wollte er wissen. «Also, eigentlich nicht …» «Nein? Vielleicht wollte er ja selber die Flatter machen, zurück zur See gehen. Er hat keine sehr glückliche Ehe geführt, weißt du. Und Verpflichtungen jeglicher Art machten ihn wahnsinnig. Vielleicht hoffte er, auch Hawthorne würde sich darin wiedererkennen. Und dass es auch ihn reizen könnte, wegzulaufen.» Mir fiel auf, mit welcher Gewissheit Oscar diese Behauptungen aufstellte. «Wie alt warst du eigentlich, als sich dein Vater abgesetzt hat, Oscar?», fragte ich ihn freiheraus. «Lass mich bitte hier raus», erwiderte er und schnalzte ungeduldig mit der Zunge. «Ich denke, da geht mal wieder deine Phantasie mit dir durch. Es ist 372
banal, Rosemary, immer nur ein Motiv beim anderen zu sehen. Nicht immer ist alles der Schlüssel für alles andere!» «Ich war noch nicht geboren, als meiner abgehauen ist», erzählte ich. «Wie bei Agathas Tochter. Und die war fast in meinem Alter, als sie ihn endlich kennenlernte.» Darauf sagte Oscar nichts, er schaute mich nur genervt an. Er rückte ein paar Bücher in dem Regal hinter meinem Kopf gerade. «Die Leute betrügen einander, Rosemary», sagte er betont geduldig. «Manchmal sogar, ohne es zu wollen. Was wie böser Wille aussieht, ist vielleicht in Wirklichkeit nur Schwäche. Vielleicht geht es genau darum in der Insel des Kreuzes.» «Na ja, wir können nicht sicher sein», erwiderte ich, weil ich merkte, dass ich ihm langsam auf die Nerven ging. «Aber ich glaube, es ist eine Geschichte über Frauen und das, was sie erdulden.» «Ach, und wie sie erdulden», sagte Oscar abschätzig. «Als wäre Erdulden eine Leistung, in der sie unübertroffen sind.» «Wieso, ist es denn keine Leistung?» Er verwirrte mich. Hatte nicht seine eigene Mutter ausgeharrt und ihn, manchen Unbilden zum Trotz, aufgezogen? Und war es nicht auch für meine Mutter so gewesen? War das denn gar nichts wert? Und was war mit Lillians Geschichte? «Was genau ist eine Leistung? Zu leben? Sagen wir es mal so», fuhr Oscar fort. «Was ist denn nicht vergänglich? Wer erleidet denn keinen Verlust, auf irgen373
deine Weise?» Er schaute mich aufmerksam an. «Die Dinge erdulden, nicht die Menschen, Rosemary. Das hat mich mein Umgang mit den Sammlern gelehrt.» Aus der Erinnerung sprach Mutters Stimme zu mir, und auch sie sagte mir, dass nichts für immer sei; dass die Ewigkeit nicht einmal etwas Menschliches sei. Natürlich hatte sie für mich erduldet, so wie Oscars Mutter es für ihn getan hatte, aber damals hatte ich nicht die Stimme für solche Äußerungen gehabt. Als ich Oscar zusah, begriff ich endlich, dass er zur Grausamkeit fähig war. Die Zurückhaltung, die mich an ihm faszinierte, war in Wirklichkeit eine Art von Unfähigkeit. Ich hatte mir seine Zurückgezogenheit als ein Gegengewicht zu meiner eigenen Intensität vorgestellt, aber da war ein Verlangen in ihm, eine Dringlichkeit, die ich erst jetzt langsam erkannte. «Lass einfach mal die Motive aus der Geschichte heraus», fasste er zusammen. «Sie ist Zufall, davon müssen wir ausgehen. Hast du Geist irgendwo gesehen? Hat er dir noch mehr gesagt?» «Ich habe ihm geholfen, aber gesagt hat er nichts. Nichts Neues.» «Und du hast dies alles niemandem gegenüber erwähnt?» «Nein.» «Gut. Ich gehe heute Abend wieder in die Public Library. Ich verfolge gerade ein paar Spuren, sodass wir am Ende hoffentlich wissen, wer das Manuskript hat.» Ich wusste, dass ich ihn nicht begleiten durfte. Nicht einmal fragen konnte ich. «Also halte ich mich einfach weiter an die Briefe, 374
oder?», sagte ich, weil ich eine Anweisung von ihm haben wollte. Weil ich wollte, dass er mir sagte, was ich tun sollte, für ihn tun sollte. Meine eigenen Interessen taten hier nichts zur Sache. Meine Faszination für die Geschichte um Agatha war inzwischen so groß wie mein Wunsch, Oscar zu geben, was er wollte. «Ja», bekräftigte er. «Halt du dich an die Briefe, aber schau zu, was Geist noch berichtet. Ich würde gerne wissen, wie die Vereinbarung zwischen ihm und Metcalf aussieht. Das wäre hilfreich. Schließlich ist das Thema des Romans weniger wichtig als die Tatsache, dass es ihn gibt. Ich muss unbedingt wissen, wer ihn hat.» Ein Kunde kam auf uns zu und begrüßte Oscar in schmeichelndem Ton. Der antwortete ebenso freundlich; ein Schauspieler, der sein Stichwort erhalten hat. Er drehte sich um und sagte noch, über die Schulter hinweg und wieder in seiner normalen Stimme: «Vielleicht betrachtest du das Ganze ja mal aus männlicher Perspektive. Unser eigener Standpunkt, Rosemary, ist unweigerlich begrenzt.» An jenem Abend saß ich bei Brot und Butter in meinem Sperrmüllsessel und überlegte, ob hinter den AgathaBriefen nicht möglicherweise noch mehr steckte, als ich angenommen hatte. Zuerst hatten sie mich wegen des leidenschaftlichen Stils interessiert, in dem Melville an Hawthorne geschrieben hatte, aber jetzt hatte ich den Verdacht, Melville wolle mir eine Geschichte erzählen, die meiner eigenen ähnelte, und dass er mir tatsächlich etwas über mich selbst zu sagen hatte. Sein Einfluss 375
fühlte sich fast väterlich an. In meinem eigenen Leben hatte ich es als bewussten, ja böswilligen Akt begriffen, dass mich jemand verlassen hatte. Aber vielleicht hatte Oscar hier ja recht, und man musste die Dinge anders betrachten. Gab es eine andere Version? Und war das die von Melville? Vielleicht hatte ich nie wahrhaben wollen, was für ein vielschichtiges Motiv Schwäche sein konnte. Vielleicht verdankte ich ja mein Leben einer Art Schwäche. Ich machte mir einen Tee, setzte mich wieder in meinen Sessel zurück und nahm nochmal das Buch aus der Bibliothek zur Hand. Ich las wieder den langen Brief, den Melville am Geburtsdatum meiner Mutter, dem 13. August, an Hawthorne geschrieben hatte, dem auch der Bericht oder das «Tagebuch» des Rechtsanwalts beigelegen hatte: Bei der Beurteilung von Robinsons Charakter sollte man großzügig Nachsicht üben. Anstoß nehme ich an der Stelle im Tagebuch, wo es heißt, daß «er einen Teil seiner Strafe in diesem Leben empfangen haben muß» – womit auf eine weitere, zukünftige Züchtigung angespielt wird. – Ich denke ganz und gar nicht, dass er regelrecht geplant hatte, seine Frau zu verlassen. Wäre dem so gewesen, hätte er doch wohl seinen Namen geändert, nachdem er sie verlassen hatte. – Nein: er war ein schwacher Mann, & seine Anfechtungen (obgleich wir wenig davon wissen) waren stark. Die ganze Sünde hat sich unmerklich an ihn herangeschlichen – so daß es ihm schwergefallen sein dürfte, den genauen Zeitpunkt anzugeben, an dem er bei sich sagen konnte: «Jetzt habe ich meine Frau verlassen» … 376
Nun, dachte ich, vielleicht wäre ja der Tag, an dem er eine andere Frau heiratete, ein günstiger Zeitpunkt dafür gewesen, sich einzugestehen, dass er ein Ehebrecher war! Aber ich musste tatsächlich die Möglichkeit in Betracht ziehen, dass es sich hier weniger um einen bewussten Akt als um eine Schwäche handelte, und rief mir wieder den Brief ins Gedächtnis, den ich Oscar gezeigt hatte. Melville hatte darin angedeutet, Robinsons Gefühl der Verpflichtung Agatha gegenüber sei zunächst bestenfalls das eines Seemanns gewesen. Und doch war in ihm ein moralisches Gefühl gewachsen, das sich schließlich in Reue verwandelt hatte etc. So wachsen wir alle und lernen von anderen, wie wir uns richtig verhalten. Doch kann Reue denn überhaupt die Wucht einer solchen Gedankenlosigkeit auffangen? Dass Agatha gelitten hatte, war eine Tatsache, an der sich auch durch Bedauern nichts ändern ließ. Ich las weiter. Herman Melville hatte eine ganze Menge zu sagen über eine Geschichte, die er ursprünglich an Hawthorne hatte weitergeben wollen, und die Beharrlichkeit, mit der er dieses ganz besondere Geschenk immer wieder ansprach, war mehr als sonderbar. Wenn Agathas Umstände zu der damaligen Zeit wirklich gang und gäbe gewesen waren, warum hatten sie dann in Melville ein so lebhaftes Interesse geweckt? Jedenfalls enthielt der Brief an Hawthorne genügend Einzelheiten, um auf ein tiefschürfendes Interesse an der Geschichte schließen zu lassen. Oder wollte Melville einfach nur sein Geschenk anpreisen, indem er jedes Detail als reizvoll präsentierte? So schrieb Melville in seinem Brief: 377
Es könnte noch manches mehr zur Sprache gebracht werden; doch ich enthalte mich; Sie werden den Beziehungsreichtum schon selber erkennen; & vielleicht besser, wenn ich mich nicht einmische.
Und doch konnte er nicht anders und schrieb, wenig später: Die junge Agatha (Sie müssen ihr freilich einen anderen Namen geben) wandert an der Klippe entlang. Sie bemerkt, wie der ständige Ansturm der See dieselbe unterhöhlt hat; so daß die Zäune umfallen & weiter & weiter ins Land hinein gesetzt werden müssen. Die See hat auch jenen Teil des Landes angefressen, auf welchem, unweit des Leuchtturms, ihr Wohnhaus steht. – Tief in Gedanken versunken liegt sie am Rande der Klippe & blickt hinaus auf See. Sie sieht eine Handvoll Wolken am Horizont; die kündigen einen Sturm an, obwohl noch tiefe Stille herrscht. (Da sie einer Seefahrerfamilie angehört & immer an der Küste gelebt hat, ist sie in solchen Dingen kundig.) Auch dies gibt ihren Gedanken Nahrung. Plötzlich gewahrt sie auf dem Strande, 100 Fuß unter sich, den langgezogenen Schatten der Klippe; und dann sieht sie einen Schatten, der sich an jenem Schatten entlangbewegt. Er wird von einem Schaf auf der Weide geworfen. Es ist an den äußersten Rand der Klippe getreten, & sendet einen milden, unschuldigen Blick weit hinaus aufs Wasser. Dies ergibt einen seltsamen & schönen Gegensatz: die Unschuld des Landes, friedlich versunken im Anblick der Arglist der See. (Das alles verweist poetisch auf Agatha & ihren seefahrenden Geliebten, der mit dem Sturme herbeikommt: der Sturm bringt ihr den Geliebten; bevor sie die 378
Klippe verlässt, erblickt sie in der Ferne, undeutlich, sein Schiff.)
Was, wenn Hawthorne die Geschichte gar nicht so beginnen lassen wollte? Wenn in Hawthornes eigener Phantasie eine gänzlich entgegengesetzte Version von Agathas Leidensgeschichte existierte? Eine andere Interpretation derselben Fakten, so wie auch Oscars Version sich von meiner unterschied? Doch Melville belässt es nicht bei der reinen Darstellung des Schauplatzes – er wartet auch mit einem ersten Abriss der Figuren auf: Agathas Vater muss ein alter Witwer sein – ein Mann der See, den jedoch wiederholte Katastrophen aufs Land getrieben haben. Er führt seither ein eingezogenes & stilles & kluges Leben. Und betreibt jetzt einen Leuchtturm, um die Menschen vor ebenjenen Gefahren zu warnen, welche ihm selbst soviel Leid gebracht haben.
Ich verstand durchaus, warum die Geschichte Melvilles Phantasie gefesselt hatte, konnte mich aber immer noch nicht mit dem Gedanken abfinden, dass er all das mit solcher Sorgfalt zusammentrug, um sein Wissen dann an Hawthorne abzutreten. Und doch: Ebenso, wie ich die Suche nach der Insel des Kreuzes mit Oscar teilen wollte, und Geist sie mit mir, wollte Melville vielleicht einfach, dass Hawthorne die Geschichte mit ihm zusammen schrieb – damit sie etwas gemeinsam erschufen. Er machte sogar Vorschläge, was bezüglich einiger Details zu tun sei: 379
Nachdem genügend Zeit vergangen ist – Agatha ist inzwischen beunruhigt, weil ihr junger Gatte so lange ausbleibt, & erwartet fieberhaft einen Brief von ihm – müssen wir den Post-Pfosten einführen – nein, dieser Ausdruck taugt nichts, aber hier kommt, was ich meine. – Weil der Leuchtturm so weit von jeder Siedlung entfernt liegt, kommt dort kein regulärer Postbote hin. Doch etwa eine Meile entfernt gibt es eine Straße, die zwei Post-Orte miteinander verbindet. Und an der Kreuzung zwischen dem, was wir die LeuchtturmStraße nennen wollen, und dieser Poststraße steht ein Pfosten, auf den ein kleiner grober Holzkasten mit Deckel & Lederscharnier genagelt ist. In diesen Kasten steckt der Postbote alle Briefe für die Bewohner des Leuchtturms & die in dieser Gegend wohnenden Fischer. Zu diesem Pfosten müssen sie kommen, um ihre Post abzuholen. Und selbstverständlich geht die junge Agatha täglich dorthin – siebzehn Jahre lang geht sie täglich dorthin. Und ebenso, wie nach und nach ihre Hoffnung verfällt, verfallen auch der Pfosten & der kleine Kasten. Schließlich setzt der Pfosten im Boden Fäulnis an. Da er nur selten gebraucht wird – so gut wie gar nicht gebraucht wird –, wuchert üppiges Gras um ihn. Zuletzt nistet ein kleiner Vogel darin. Dann fällt der Pfosten um.
Es kommen keine Briefe für Agatha. Der Heizkörper tickte, weil er sich durch die Hitze ausdehnte, und machte meinem grünen Wecker Konkurrenz. Ich hatte das Gefühl, dass auch ich auf etwas wartete, während ich da in meiner kleinen Wohnung saß. Nichts Bestimmtes, es war nur eine Vorahnung. Doch dieses Gefühl entstand auch durch den Zeitsprung 380
– der Augenblick, in dem Melville seine Briefe geschrieben hatte, und dieser Moment jetzt, da ich in meinem Sessel seine Briefe las. Im November 1852 bat Melville Hawthorne, ihm die komplette Korrespondenz zur Agatha-Geschichte zurückzuschicken, einschließlich der Tagebuchseiten des Anwalts, die er seinem ersten Brief beigelegt hatte. Er hoffte, sein Freund würde ihm alles Gute wünschen: Ich rufe Ihren Segen auf meine Mühen herab; und schicken Sie mir günstigen Wind.
Schließlich würde er Agathas Geschichte selbst schreiben.
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TEIL VIER
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Zwanzigstes Kapitel
N
a gut, liebes Kind», sagte Mr. Mitchell mit gespieltem Ernst. «Hier stehe ich nun, Ihr ergebener Diener, ein armer Invalide, ein schwacher und verachteter alter Mann. Zu Ihren Diensten!» Er war der Erste auf der Weihnachtsfeier für die Mitarbeiter des Arcade, die ich organisieren sollte. Mit seiner roten Weste über dem mächtigen Oberkörper, den wuscheligen weißen Haaren und der purpurroten Nase wäre er durchaus als etwas derangierter Weihnachtsmann in Straßenkleidung durchgegangen. Ich reichte Mr. Mitchell ein paar von den Plastikbechern, damit er Pearl und mir half, sie auf dem Tresen zu verteilen, den wir zuvor mit einem Wachstuch abgedeckt hatten. Prompt warf Mr. Mitchell die Becher um, und sie fielen zu Boden. Er machte Anstalten, sie aufzuheben, konnte sich aber gar nicht bücken. Als er es versuchte, wurde er dunkelrot im Gesicht, und sein Atem ging schneller. «Ach», sagte er schnaufend. «Zu viel Mittagessen heute, liebes Kind. Jetzt hat Arthur mich auch noch mit seinen Verstopfungen angesteckt.» Er rieb sich die Brust mit seiner großen, geröteten Hand. «Machen Sie sich keine Gedanken, Mr. Mitchell, Pearl und ich haben alles unter Kontrolle», sagte ich und hob die Becher auf. 383
Pearl richtete den Käse auf einem Kunststofftablett an, wobei sie gelegentlich einen Würfel mit einem ihrer langen Nägel aufspießte (heute leuchteten sie passend zum Anlass rot und grün) und sich in den Mund beförderte. Die Cracker hatte sie in Kreisform daneben arrangiert. «Sie sehen, dass ich außerhalb meines Raritätenraums vollkommen nutzlos bin», fuhr er fort. «Eine Tatsache, auf die auch Mrs. Mitchell gerne hinweist. Ich kann nicht mal eine Glühbirne auswechseln, liebes Kind.» Offenbar war er stolz auf seine Ungeschicklichkeit. «Dann lassen Sie mich Ihnen doch etwas Wein einschenken», bot ich an. «Während wir warten, bis die letzten Kunden draußen sind.» Ein paar Kunden ließen sich noch Zeit, obwohl Jack und Bruno ihr Bestes taten, sie hinauszuekeln. Pearl hatte um Punkt sechs demonstrativ die Kasse geschlossen, aber es gab immer ein paar Nachzügler. «Ach, Marke Pennerglück, sehe ich», sagte Mr. Mitchell und las das Etikett, während ich einschenkte. «Genau das, was ich jetzt brauche. Pike lässt sich heute Abend wirklich nicht lumpen.» Er nahm einen großen Schluck Wein. «Grauenvoll», sagte er, schmatzte mit den Lippen und hielt den undurchsichtigen Plastikbecher gegen das Licht. «Oder vielleicht ist auch ‹abscheulich› die bessere Umschreibung. Am besten fragt man einen richtigen Weinkenner. Da kommt ja einer.» Er packte Bruno am Hemd, der eine Einkaufstüte auf den Tresen wuchtete. 384
«Noch mehr Fusel», sagte Bruno. Die Flaschen klirrten in der Tasche. «Der wurde gerade geliefert. Wo möchtest du ihn hinhaben?» «Da steht er genau richtig. Ich habe mich schon gewundert, dass sie weniger geschickt haben, als ich bestellt hatte», sagte ich und nahm die Flaschen heraus. Vermutlich hatte die Weinhandlung das Versehen noch rechtzeitig bemerkt. Weil Pike uns nur einen winzigen Etat für die Party bewilligt hatte, hatte ich die billigste Sorte nehmen müssen. Außerdem kannte ich den Unterschied sowieso nicht. «Kommen Sie her, mein slawischer Genosse. Ich werde Ihnen etwas von diesem herrlichen Tröpfchen eingießen. Ich war schon früher da, weil der Raritätenraum bereits um fünf gähnend leer war. Keine Sammler, die sich noch angekündigt hätten.» «Wenn es Ihnen nichts ausmacht, übernehme ich das», sagte Bruno, goss sich einen Becher bis zum Rand mit Rotwein ein und prostete Mr. Mitchell zu. «Auf die Literatur», sagte Bruno. Sein Blick war ironisch. «In der Tat», sagte Mr. Mitchell etwas kurzatmig. Sie leerten ihre Becher. Offenbar hatten beide beschlossen, schnell betrunken zu werden, und jeder wollte der Erste sein. «Ich habe mich bezüglich dieses Gesöffs für den Ausdruck ‹abscheulich› entschlossen, aber da sind sicher Sie der Experte», sagte Mr. Mitchell. «Ich finde, ‹widerlich› trifft es am besten», erwiderte Bruno und gab einen lauten Rülpser von sich. «Ich beuge mich Ihrem Urteil», sagte Mr. Mitchell, 385
schon leicht schwankend. «Einigen wir uns doch auf ‹unsäglich›.» Sie füllten erneut ihre Gläser und stießen auf das Unsägliche an. Sie tranken den Wein, als wäre es Wasser. «Jetzt aber mal langsam mit den jungen Pferden, Mr. Mitchell», sagte ich. «Sie sollen doch noch heil nach Hause kommen. Außerdem ist Bruno Ihnen um einiges voraus, der fängt nämlich meistens schon morgens an.» «So jung und schon so unverschämt», sagte Mr. Mitchell und fasste mich am Kinn. «He, Süße, komm und trink einen mit uns», sagte Bruno mit lüsternem Blick und fasste mich am Ärmel. «Schöne Bluse, sehr sexy», kommentierte er und stupste Mr. Mitchell an, der sich eingehend mit dem Käse beschäftigte. «Dampf ab, Bruno», sagte Pearl von der anderen Seite des Tresens aus. «Rosemary sieht heute Abend wirklich bezaubernd aus», sagte Mr. Mitchell. «Diese Bluse steht Ihnen, meine Liebe.» «Danke schön», erwiderte ich und errötete. «Ein Geschenk einer Freundin aus Tasmanien, Miss Chapman.» «Offensichtlich eine Dame mit Geschmack», sagte Mr. Mitchell und warf sich schwungvoll einen Käsewürfel in den Mund. Ich füllte zwei Becher zur Hälfte und reichte einen davon Pearl. In diesem Moment tauchte Jack auf und goss sich etwas Wein ein. «Was, kein Bier?», fragte er. «Na, dann muss ich hiermit vorliebnehmen», sagte 386
er, stürzte den Wein runter und nahm sich gleich einen weiteren Becher, nachdem er Bruno und Mr. Mitchell nachgegossen hatte. Seine Freundin Rowena klopfte ans Fenster und winkte ihm von der Straße aus durch die geschlossenen Glasfenster zu. Offenbar wollte sie hereingelassen werden. Jack schloss die Tür auf. Sie küssten sich geräuschvoll und wild auf der Schwelle. «Eigentlich doch nur Mitarbeiter», flüsterte Pearl. «Ich kann diesen französischen Pudel nicht ausstehen.» In diesem Moment tauchte Pike auf, er lächelte reserviert, aber gütig. «George Pike wünscht allen schöne Weihnachten», sagte er mit seiner seltsamen hohen Stimme. Er hatte ein Jackett angezogen, rückte jetzt seine Krawatte zurecht und wirkte fast adrett. «Möchten Sie etwas Wein, Mr. Pike?», fragte ich. «Rühre das Zeug nicht einmal an. George Pike ist Abstinenzler.» «Im Gegensatz zu allen anderen hier», sagte Mr. Mitchell, etwas zu laut. «Man sollte immer auf seine Gesundheit achten», sagte Pike zu Pearl, wobei er demonstrativ an Mr. Mitchell vorbeischaute, auf den die Bemerkung eigentlich gemünzt war. «Und auf sein Benehmen.» «In manchen Fällen ist Alkohol die beste Medizin», brummte Mr. Mitchell sarkastisch. «Sorgen sind der Feind des Lebens.» «Das Leben ist kurz, aber lang währt die Kunst», witzelte Art, der aus seiner Kunstabteilung herübergewatschelt kam und sich zu uns gesellte. «Zeit, was zu trinken!» 387
Er hatte sich einen Stechpalmenzweig hinters linke Ohr gesteckt und wirkte ungewöhnlich aufgeräumt. «Diese Seite bedeutet, dass ich noch zu haben bin», teilte er Pearl und mir mit und zeigte auf das Zweiglein. «Eine Weihnachtsspezialität, wie Plumpudding.» Auch Arthurs Kopf sah mit dem Festtagsschmuck aus wie ein Plumpudding. Einen Moment später tauchte Oscar auf, das Haar sorgfältig gekämmt, aber ansonsten ohne weitere Zugeständnisse an den Anlass, wie immer in seinem gestärkten weißen Hemd und der schwarzen Hose. «Du siehst heute aber besonders teuflisch aus in dieser roten Bluse, TT», bemerkte Arthur. Er beugte sich über den Tresen und begutachtete sie genauer. «Mensch, der Fummel ist ja fast durchsichtig, du freches Ding, du. Und auch noch scharlachrot!» «Das ist eine Art Batist», sagte Oscar und blickte kaum vom Käseteller auf. «Soll wahrscheinlich wirken wie Organza. Das Material kostet weniger, aber es ist ungewöhnlich, Batist in einem so dunklen Farbton einzufärben. Muss das Ergebnis eines Vorganges sein, den man kalamkari nennt – wiederholtes Färben.» Arthur schaute mich an und zuckte mit den Achseln, als wollte er andeuten, Oscar sei eben ein hoffnungsloser Fall und ich solle ihn einfach ignorieren. «Der Punkt ist», sagte Pearl, die mich immer in Schutz nahm, «dass du großartig aussiehst, mein Liebes. Sehr weihnachtsmäßig.» Mir war das Ganze peinlich. «Wo ist eigentlich Mr. Geist?», fragte ich, um das Thema zu wechseln. 388
«Warum fragst du?», grinste Arthur. «Walter ist in seinem Büro und zählt die heutigen Einnahmen», sagte Pike. «Er wird gleich hier sein.» «Hoffen wir mal, dass es nur das ist», sagte Mr. Mitchell mit leiser, boshafter Stimme. Sein Becher war schon wieder leer, und Jack füllte ihn prompt auf sowie auch seinen eigenen. Doch mit seiner Bemerkung hatte Mr. Mitchell Oscars Aufmerksamkeit geweckt. Er schaute Mitchell fragend an. «Robert», sagte Pike scharf. «Das ist weder der Anlass noch der richtige Zeitpunkt für Ihre Paranoia.» «Ich habe Ihnen gesagt, was er im Schilde führt», murmelte Mr. Mitchell angriffslustig. «Ein bitter’ Herz, das auf den rechten Zeitpunkt wartet, bis es Rache nimmt. Sie werden sehen.» Er war mittlerweile betrunken und puterrot im Gesicht. «Robert!» Pike nahm Mitchell den Becher aus der Hand und reichte ihn Pearl, damit sie ihn entsorgte. «Wahrscheinlich sitzt er da oben und liest mit seiner komischen Lupe meine und Ihre Post», warf Mr. Mitchell ein, ein kleines Pfeifen war in seiner gedämpften Stimme zu hören. «Und verkauft Ihnen den Laden unter dem Hintern weg!» «Es reicht», sagte Pike und drehte ihm den Rücken zu. Nicht alle hatten den kleinen Disput gehört, aber Oscar war kein Wort davon entgangen. Er warf mir einen bohrenden Blick zu. Geist liest Pikes Post? Wer weiß das eigentlich noch alles, schienen seine Augen zu fragen. Wem hast du es noch gesagt? Was für ein Spiel spielst du eigentlich? 389
Ich schüttelte betroffen den Kopf und versuchte Oscar klarzumachen, dass er ganz beruhigt sein könne, ich hätte Mr. Mitchell nichts erzählt. Er weiß nichts von der Insel des Kreuzes, wollte mein flehender Blick ihm sagen. Oscar sah mich verächtlich an. Er war sich sicher, dass ich ihn hinterging. Schließlich tauchte Walter Geist auf. Er wirkte ziemlich mitgenommen, und Pike wandte sich mit falscher Jovialität an ihn. «Walter! Da sind Sie ja – wer zuletzt lacht, lacht bekanntlich am besten! Sind denn die Einnahmen des Tages dieser Feierlichkeit würdig?» «Kein schlechter Tag», murmelte Geist und blickte zu Boden. «Großartig!», schrie Pike, und seine dünne Stimme klang hohl im leeren Arcade, hallte blechern von der hohen kuppelartigen Decke wider. Mittlerweile drängten sich alle Mitarbeiter um den Tresen, und alle außer Pike und Oscar tranken und plauderten. Mr. Mitchell, der leicht schwankte, starrte Geist feindselig an. Oscar trat zu ihm, nahm ihn am Arm und führte ihn von unserem Grüppchen weg. Ich sah, wie er Mr. Mitchell aufgeregt etwas ins Ohr flüsterte. Ich nippte an meinem Wein, ohne auf die Gespräche ringsum zu achten, denn ich war ganz auf Oscar konzentriert, auf seinen stillen Vorwurf. Es stimmt nicht!, hätte ich ihm am liebsten über die Köpfe der Mitarbeiter hinweg zugerufen. Er weiß nichts davon. Ich habe ihm nichts gesagt. Er weiß nichts über 390
den Melville-Roman. Nichts. Es ist unser Geheimnis. Unseres. Aber plötzlich passierte etwas. Ich sah erstaunt, wie Mr. Mitchell langsam wie in Zeitlupe nach hinten umkippte, die Hand an die Brust gedrückt. Er kam hart auf, mit seinem gewaltigen Gewicht, steif wie ein Baum. Oscar machte ein verstörtes Gesicht, er wurde bleich, versuchte noch, ihn aufzufangen, aber Mr. Mitchell war zu schwer für ihn. Die anderen drehten sich erst um, als sie den Aufprall gehört hatten, und dann liefen wir alle zu Mr. Mitchell, der keuchend am Boden des Arcade lag. Oscar nahm dem alten Mann rasch die Krawatte ab und knöpfte ihm Weste und Hemd auf, während George Pike alle zurückdrängte. «Er braucht Luft, frische Luft», schrie er gellend. Einen kurzen Moment lang wirkte er wirklich verzweifelt. Pearl sprang mit einem flinken Satz über den Tresen und legte ihr Ohr an Mr. Mitchells schwitzende Brust. Er versuchte vergeblich, etwas zu sagen. «Ruf einen Krankenwagen», schnauzte Pearl Oscar an. Er lief zu Pikes Podest und gab kurz darauf der Notrufzentrale am Telefon ruhig die Adresse des Arcade durch. Als ich Mr. Mitchell einen Becher mit Wasser an die Lippen hielt, erholte er sich anscheinend ein wenig. Er hauchte etwas Unhörbares, vielleicht «liebes Kind». In den beängstigenden Minuten, die folgten, gingen mir alle möglichen irrationalen Gedanken durch den Kopf. Wenn Mr. Mitchell starb, würde ich nach Tasma391
nien zurückkehren müssen. Das würde ich nicht ertragen. Das war alles nur wegen meines Misstrauens, wegen meines armseligen Charakters passiert. Irgendwie hatte ich ihn getötet. Ihn ermordet. Ich hatte mit meiner Anwesenheit das Gleichgewicht des Arcade zerstört. Geheimnisse bedeuteten Unglück, und ich wollte das nicht; ich konnte offenbar sowieso nichts für mich behalten. Bestimmt hatte Oscar ihm zugeflüstert, dass man mir nicht trauen könne, dass ich hinterlistig und falsch sei. Ein Polizist klopfte laut an das Glasfenster, und draußen auf der Straße blinkte das rote Licht des Krankenwagens. Jack lief zur Tür, um sie weit aufzumachen, und eine Krankenliege auf Rädern wurde hereingeschoben. Bruno und Jack nahmen Mr. Mitchell an den Füßen, während die beiden Sanitäter seine Schultern packten. Er war bei Bewusstsein, obwohl er ganz offensichtlich Schmerzen hatte, und bevor eine Sauerstoffmaske über sein Gesicht gestülpt wurde, winkte er schwach und versuchte zu sprechen. Pike war an seiner Seite und nahm seine Hand. Er ging neben der Liege her und kletterte mit hinein in den Krankenwagen. Passanten hatten sich versammelt, um zu gaffen. Wir alle gingen kurz nach draußen und standen erschüttert in der kalten Nacht. Zwischen eisigen Regentropfen fiel leichter Schnee, der taute, sobald er auf dem mit Salz gestreuten Gehweg aufkam. «Walter! Walter, kümmern Sie sich um alles», rief George Pike, bevor die Türen des Krankenwagens zufielen und die Sirene aufheulte. 392
Wir kehrten ins Arcade zurück. Um die Menschenmenge fernzuhalten, schloss Bruno die Türen ab – nur einen Augenblick nachdem Oscar seinen Mantel angezogen und zugeknöpft hatte und eilig hinausgeschlüpft war. Er verschwand, bevor irgendjemand gemerkt hatte, dass er weg war. Außer mir. «Mr. Mitchell kommt wieder auf die Beine», versicherte Walter Geist allen und sprach ein bisschen lauter als sonst. «Er hat schon mal solche Anfälle gehabt und sich immer wieder erholt.» Ich nahm einen großen Schluck Wein, um meine Nerven zu beruhigen. Pearl tat dasselbe. Bruno, Jack und Rowena standen dicht aneinandergedrängt und hatten Plastikbecher in beiden Händen. Lachend tuschelten sie miteinander; offensichtlich hatte das Geschehene sie nicht sehr beunruhigt, aber vielleicht waren sie auch zu betrunken, um die Lage zu begreifen. Arthur hockte sich auf einen Stapel mit Restposten am Ende des Tresens, der Stechpalmenzweig war ihm vom Ohr gefallen. Pearl tätschelte ihm den breiten Rücken. «Ach, mir geht’s gut», sagte er, den Mund voll mit übrig gebliebenen Käsewürfeln. «Ich habe bloß schrecklichen Kohldampf.» Als ich mich umschaute, hatte ich den Eindruck, dass mich der Vorfall als Einzige in Aufregung versetzt hatte. Ich hatte schreckliche Angst, dass Mr. Mitchell sterben würde, und fand es verabscheuenswürdig, dass Oscar sich davongestohlen hatte. Und feige war es auch von ihm, dass er mir nicht einmal die Chance gegeben hatte, ihm alles zu erklären. Was hatte er Mr. Mitchell zugeflüstert? Wohin war er gegangen? 393
«Rosemary», rief Geist. Er stand einige Meter von mir entfernt und winkte mit der Hand. «Pass auf», sagte Jack, als ich an ihm vorbeikam. «Das Biest ruft.» Bruno und Rowena kicherten, offensichtlich über ein gemeinsames Witzchen auf meine oder Geists Kosten. Ich fragte mich, ob Jack uns in dem Diner zusammen gesehen hatte. «Der Geist der Weihnachtsgeschenke ruft, und du rennst», lallte Bruno in mein Haar. Sein Atem roch faulig. «Was gibt’s, Mr. Geist?», fragte ich errötend. Mein Kopf dröhnte von dem billigen Wein. Ich fühlte mich träge und war so durcheinander, dass ich mich nicht konzentrieren konnte. War Oscar so plötzlich gegangen, weil er sauer auf mich war? «Wenn Mitchell nicht da ist, muss der Raritätenraum abgeschlossen werden. Die Lichter gehören ausgeschaltet, und man muss seine Mappe und die Hausschlüssel seiner Frau zurückgeben.» «Ich kann mich doch nicht um den Raritätenraum kümmern!», platzte ich heraus, schockiert allein bei der Vorstellung. «Darum habe ich Sie auch nicht gebeten», sagte er, wirkte aber nicht ungeduldig. Geist kam mir überhaupt unglaublich gefasst vor, doch vielleicht war er auch nur erschöpft. «Ich bitte Sie nur darum, dass Sie mich da hochbegleiten, wenn nachher alle weg sind. Sie müssen mir helfen. Bitte fangen Sie jetzt an, hier für Ordnung zu sorgen. Ich brauche Sie.» Er zögerte. «Ich möchte, dass Sie dafür sorgen, 394
dass ich nichts vergesse, und anschließend geben Sie bitte Mitchells Brieftasche bei ihm zu Hause ab. Seine Frau wird dann im Krankenhaus sein. Ich rufe sie jetzt an.» «Natürlich», sagte ich. Seine klaren Anweisungen beruhigten mich. Ich sammelte die Plastikbecher, Teller und Servietten in einer großen Mülltüte, umarmte Pearl und wünschte ihr eine gute Nacht. «Ich bin mit Mario verabredet, sonst würde ich noch bleiben und helfen», sagte sie, während sie ihren Mantel anzog. «Ist schon okay», versicherte ich. «Ich schließe hier noch mit Mr. Geist ab und bringe dann Mr. Mitchells Sachen zu ihm nach Hause. Das ist das mindeste, was ich tun kann. Wir sehen uns morgen, ja? Lillian kommt etwa um vier.» «Prima», sagte Pearl und gab mir einen Kuss. «Ich werde da sein. Mach dir keine Sorgen, er schafft das schon. Ich bin mir ganz sicher.» Die anderen zogen murrend von dannen, die wenigen übrig gebliebenen Flaschen unter den Arm geklemmt, weil sie beschlossen hatten, anderswo weiterzutrinken. Arthur warf mir eine Kusshand zu, nachdem er sich in seinen Mantel gezwängt hatte. Ich schloss die Vordertür ab, schob den Riegel vor und ließ das Sicherheitsrollo herunter. Als ich zurück zu Pikes Podest ging, hörte ich, wie Walter Geist am Telefon ruhig mit Mrs. Mitchell redete, ihr sagte, was geschehen war, und ihr die Adresse des Krankenhauses gab. Seine Stimme war freundlich. 395
Und während ich da unten am Podest stand und hörte, wie sanft seine Stimme klang, kam mir der Gedanke, dass sein Benehmen mir gegenüber völlig widersprüchlich war: wie er die Inschrift an der Uhr bei Peabody übersetzt hatte; seine rätselhafte Bemerkung über seine Schlaflosigkeit; und wie er meine Hand gepackt und an seine Lippen geführt hatte. Ich hatte ihn in Verlegenheit gebracht, indem ich diese dringliche Geste ignorierte, ich schämte mich und fühlte mich unreif, weil ich nicht daran gedacht hatte, wie viel Überwindung sie ihn gekostet haben musste. Er legte den schweren Hörer auf, offenbar sehr gefasst, stolperte dann aber über die beiden Treppenstufen, die zu Pikes Podest hochführten. Er fing sich jedoch wieder und griff nach meinem Arm statt nach dem Geländer, als er nach unten ging. Ich stützte ihn. «Danke», sagte er. Einen Moment lang hielten wir einander fest. Er hatte das Gesicht abgewandt. «Immer so hilfsbereit, Rosemary Savage», sagte er und sah zu Boden. «Was würde ich bloß ohne Sie machen?» «Sie würden zurechtkommen, Mr. Geist», sagte ich leichthin. «Nein. Ich schaffe es nicht mehr. Nicht ohne Sie», erklärte er würdevoll. Wir gingen zusammen zum Aufzug in der Nähe des Eingangs, und mir kam der Gedanke, dass ich mich über seine Gesellschaft freute – männliche Gesellschaft immerhin. Oscar war weggelaufen, ohne mir die Gelegen396
heit zu geben, ihm alles zu erklären, ohne auch nur zu wollen, dass ich mich erklärte. Und wenn Mr. Mitchell starb? Das würde ich nicht ertragen. Geist stützte sich ein wenig auf meinem Arm ab, aber ich empfand keinen Widerwillen. Der Albino ist so wohlgeformt wie andere Menschen auch … das gab sogar Melville zu. Wir fuhren schweigend hoch in den Raritätenraum. Der launische Fahrstuhlkäfig klemmte, als ich ihn zu öffnen versuchte, und wir mussten uns durch einen Spalt quetschen, der gerade breit genug war, um uns hintereinander durchzulassen. «Schauen Sie, ob Sie Mr. Mitchells Mappe finden können», sagte Geist, während er nach dem Lichtschalter tastete und das Licht in der ersten Zimmerflucht ausknipste, die zu Robert Mitchells Reich gehörte. «Und auch ein großes Schlüsselbund.» «Okay», antwortete ich. «Aber lassen Sie bitte die Lichter an, sonst finde ich gar nichts.» Ich begab mich zum Hauptzimmer und atmete tief den Vanilleduft des Pfeifenrauchs ein, der noch im Raum hing. Der Geruch war, ebenso wie die weiche Staubschicht, die alles in dem Zimmer überzog, eine Bestätigung, dass es Mr. Mitchell noch gab. Sein Schreibtisch stand in einer Ecke, hinter der überladenen Oberfläche ragten Regale empor. Die Pfauenfedern starrten mich an, als ich auf dem Schreibtisch nach der Mappe suchte. Ein Schlüsselbund hing an einem langen roten Band von Mitchells Stuhl. Dann fand ich auch die Mappe und steckte die Schlüssel ein. 397
Erst da, immer noch über den Schreibtisch gebeugt, spürte ich seine Präsenz. Walter Geist trat von hinten auf mich zu. Doch ich erschrak nicht, als sich seine Hand leicht auf meinen Rücken legte. Immerhin hatte er mich schon öfters berührt. Ich richtete mich auf und drehte mich zu ihm um. Er machte einen Schritt von mir weg und stand an die Regale mit den besonders hinfälligen Büchern gelehnt, die Mr. Mitchell am liebsten ganz nah bei seinem Schreibtisch hatte. Geist wich zurück, um Raum zwischen uns zu schaffen, um zu zeigen, dass er mich nicht bedrohen wollte. Um zu sehen, ob ich ihn wieder so grob zurückweisen würde, wie ich es in dem Diner getan hatte. Er überließ die Entscheidung mir. Es war eine ganz subtile Bewegung, die so typisch für ihn war, und ich wusste sofort, dass das, was gleich passieren würde, unvermeidlich war. «Ich befreie Sie von Ihrer Schuld», sagte er eher förmlich. «Von meiner Schuld?» «Das Geld, das Sie geborgt haben. Ist gelöscht. Wir sind quitt. Es wird keine Abzüge von Ihrem Lohn mehr geben.» «Sie meinen, ich habe das Geld abbezahlt? Jetzt schon?» «Ich meine, Rosemary, dass Sie keine Schulden mehr haben. Sie sind frei und aller Verpflichtungen ledig.» «Danke schön, Mr. Geist», sagte ich. Ich trat einen Schritt auf ihn zu. Ich weiß noch genau, dass ich diesen Schritt tat. Es kann gar nicht anders gewesen sein. Erklären kann ich es nicht. 398
Geist hob den Arm und berührte mein Gesicht, die Fingerspitzen neben meinen Augen, seine Handfläche auf meiner Wange. Ich sah seine schönen Finger. In diesem Moment war das Sonderbare an ihm nichts anderes als seine Männlichkeit. Die Augen auf den Pfauenfedern schauten uns zu, klug und dekadent, Mr. Mitchells Spione. Doch sie fällen kein Urteil, hatte Mr. Mitchell mir selbst gesagt. «Mr. Geist …» Ich wollte mit ihm sprechen. Nicht, um zu protestieren, sondern um ihn zu fragen, was er dachte. Seine schwimmenden Augen, transparent und undurchdringlich zugleich, richteten sich zu Boden. «Psst», sagte er, weil er dachte, ich würde ihn zurückweisen. Er erwartete nichts anderes. «Ich weiß», sagte er. «Ich weiß, dass ich hässlich bin, und Sie, Rosemary, sind schön, und um diesen Unterschied tut es mir leid. Es tut mir so leid.» Er hatte geflüstert, erschütternd zart, als wollte er ein verängstigtes Tierchen beruhigen. Aber ich war nicht verängstigt. Diese große Nähe zu ihm war beunruhigend, aber ich wollte sie auch, und ich war mehr neugierig als bestürzt. «Alt bin ich auch, aber ich kann Ihnen etwas geben, Rosemary. Etwas, das sonst niemand Ihnen geben kann.» «Und was? Ich möchte nichts von Ihnen», sagte ich. Das war eine Lüge, aber irgendwie klang es wahr. Ich legte meine Hand über seine. Unsere beiden Hände lagen nun auf meinem Gesicht. «Ich weiß, dass Sie nichts von mir wollen», flüsterte er. «Deswegen kann ich es Ihnen ja geben.» 399
Ich wollte, dass er weitersprach, dass er nicht aufhörte, mit seiner leisen, belegten Stimme zu mir zu sprechen. Es hatte eine hypnotische Wirkung, wenn jemand so mit einem spricht, mit einer Stimme, die ganz erfüllt von Gefühl ist. «Ich weiß nicht, wie ich es benennen soll. Dieses Gefühl, dass wir uns ähnlich sind und doch so verschieden. Ich möchte dir so gerne viele Dinge sagen, alles, aber ich weiß nicht, wie ich mit dir sprechen soll. Ich habe …» Er zögerte. «Ich habe nur wenig Erfahrung mit Frauen. Damit, über meine Gefühle zu sprechen», murmelte er weiter, und dann wurde er immer schneller, und seine Worte reihten sich aneinander, zärtlich und schnell. Mir war ein wenig schwindelig. «Das ist so ein Moment», sagte er. «Ja, vielleicht ist das ein Moment, in dem die Poesie gefragt ist …» «Poesie?», fragte ich verwirrt. Der Wein, meine Sorgen um Mr. Mitchell, die Intensität dieses Moments mit ihm, von alldem drehte sich mir der Kopf. Was meinte er? Den Lyrikband, der in Oscars Abteilung gelegen hatte? Hatte er ihn dort hingelegt? Er zog mich an sich. «Lass mich dir eines sagen, Rosemary», flüsterte er mir ins Ohr, und seine Hand lag in meinem Nacken. Seine andere Hand drückte gegen meinen Rücken, mit weitgespreizten Fingern, so wie sie sich damals über den Bücherrücken ausgebreitet hatten, als ich ihn in Oscars Abteilung beobachtet hatte, als ich einen flüchtigen Moment lang seine Würde gesehen hatte und ihn fast attraktiv gefunden hatte. «Lass mich dir eines sagen, Rosemary Savage.» Sein 400
Atem war weich, und die Hand hinter meinem Ohr zog meinen Kopf zu seinen Lippen hin. «Nur weil ich bin, wie ich bin, kann ich dich lieben, wie du bist.» Seine seltsame Wortwahl war bewusst und präzise. «Verstehst du?» «Nein. Ich … Mr. Geist.» Meine Stimme klang wie aus weiter Ferne. Seine Hand bewegte sich von meinem Hals langsam nach unten. Dann ließ er sie auf meiner Brust ruhen, und ein leises Geräusch entrang sich seiner Kehle. Hitze stieg in meinem Körper auf, und er zog mich mit dem anderen Arm an sich. Ich war größer als er, und einen seltsamen Moment lang lag sein flauschiger Kopf unter meinem Kinn, das Gesicht ruhte an meinem Hals. Ich fragte mich, ob ich etwas tun, ihn berühren sollte, ich wollte alles mit mir geschehen lassen. Ich wollte es wissen. Und ich wollte, dass diese ungekannte Hitze in mir blieb. «Ich höre dein Herz schlagen», sagte er. «Du bist voller Leben.» «Mr. Geist, ich …» Er hob den Kopf und zog mein Gesicht zu sich herab, um mich zu küssen. Ich schob ihn nicht weg. Er rührte mich. Er erregte mich. Und ich mochte seine Nähe, diese Stille. Ich spürte, wie etwas in mir schmolz. Ich sehnte mich nach Zärtlichkeit, spürte, wie das Verlangen in meinen Körper sickerte. Ich wollte es mit Oscar erleben und sah ihn vor mir, in meiner Phantasie, umgeben von Büchern, und er stand genau da, wo jetzt Geist stand. Es war Oscar, der da mit mir stand. Er presste seine Lippen auf meinen Mund, und ich 401
spürte seine geraden Zähne durch meine Lippen. Er konnte nicht küssen, ebenso wenig wie ich es konnte. Er hielt einfach sein Gesicht an meines, seinen Mund an meinen Mund. Er holte tief Luft, wie verzückt, als hielte er Blumen oder Blätter in seinen Händen, um ihren Duft einzuatmen, mich einzuatmen. Seine Hände tasteten nach meinem Haar, zogen sie an sein Gesicht. Er atmete und atmete, als wäre ich aus Luft gemacht, und ich spürte, wie ich tatsächlich Luft wurde – ganz leicht, wie eine Essenz. «Versteh doch, Rosemary», sagte er drängend. «Weil ich so bin, wie ich bin, hässlich, unbeholfen …» «Psst», machte jetzt ich, um ihn zu beruhigen. Ich wollte von seinem Schmerz nichts wissen. «Versteh doch, wegen all dieser Dinge bin ich frei», fuhr er fort. «Frei, zu lieben. Das wird dir niemals wieder begegnen. Es ist wahr, ich weiß es.» Das hatte er mit einer solchen Gewissheit gesagt, dass es nichts mehr zu erwidern gab. Und ich spürte, dass es wahr war, obwohl es nur wenig mit mir zu tun hatte. Er will das Leben, dachte ich, aber das will ich auch. Seines schwand dahin. Das spürte ich. Denn bei all der glühenden Leidenschaft konnte ich es riechen: Er war fast schon ein Greis. Und ihm schien mein Duft, meine Nähe, wichtiger zu sein als eine Vereinigung. Es schien ihm wichtiger zu sein, mich zu spüren, als mich zu sehen, und folglich war er auch weniger auf mich aus als auf das Leben, auf die Lebendigkeit in meinem Körper. Er knöpfte meine Bluse auf und schob meinen BH auf die Taille hinab. Seine leichten Hände strichen von meinen nackten 402
Schultern zu meinen Brüsten, sanft erkundeten sie mich. Die Hände eines Mannes auf meinem Körper, danach hatte ich mich gesehnt. Seine Berührung war köstlich und sanft, sein Gesicht wie versunken in einem Ausdruck der Verwunderung, und die Augen sahen keine andere Wirklichkeit. Aber er sah mich, davon war ich überzeugt. Er sah mich, ohne zu schauen. Dann lehnte Walter Geist seinen schmächtigen Körper an meinen Schenkel, und ich spürte durch den Stoff sein hartes Geschlecht. Rasch löste er seinen Gürtel, knöpfte seine Hose auf und nahm meine Hand, so wie er sie in jenem Diner genommen hatte, und drückte sie an sich. In dem Moment, als sich meine Hand um ihn schloss, durchfuhr ein Schauder seinen Körper, und er schrie auf, wie im Schmerz, taumelte weg von mir, gegen das Regal, das hinter ihm stand. Mehrere Bücher auf einmal fielen herunter; ein einzelner Band hielt sich eine Sekunde lang auf der Kante des Regals, dann fiel auch er. Mit einem Mal war meine Benommenheit verschwunden, als hätte mich jemand wach gerüttelt. Ich rückte von ihm ab. In meiner Handfläche war eine winzige Menge milchiger Flüssigkeit, wie ein kleiner See, weiß wie Geists Körper. Ich starrte staunend auf meine hohle Hand. Meine Träumerei hatte ein abruptes Ende gefunden, als hätte jemand ein Buch zugeschlagen. «Rosemary», wisperte Geist und wandte sein Gesicht zum Regal. Noch ein Buch fiel herunter. «Rosemary.» 403
Ich starrte auf meine Hand, dieses Geheimnis, um das sie sich schloss, angewidert durch die Konsistenz. Mir war schlecht. Weil ich kein Taschentuch hatte, steckte ich die Hand in die Hosentasche und wischte das Zeug am Futter ab. Ich hob meine rote Bluse auf, richtete meinen BH und zog mich rasch wieder an. Meine Hosentasche fühlte sich nass auf der Haut an und wurde schnell kalt. Ich nahm einen Zipfel meiner Bluse und stopfte ihn in die Hose, damit noch eine Stoffschicht dazwischen war. Dabei fiel mir der Papierfetzen ein, die abgerissene Ecke jenes Briefes, die jetzt bestimmt ruiniert war. Ich hatte sie behalten wollen, wie den Schlüssel zu einem Rätsel, das ich immer noch nicht gelöst hatte. Oscar hatte zu mir gesagt, Geist sei ein Dieb, aber ich hatte die Traurigkeit dieses Mannes endlich begriffen. Und sie überwältigte mich. Geist machte sich an seiner Hose zu schaffen, er wandte mir den Rücken zu. Er schien in irgendeiner Sprache vor sich hin zu murmeln – Deutsch, aber möglicherweise auch irgendein Kauderwelsch. «Mr. Geist», sagte ich mit unsicherer Stimme. «Ist alles in Ordnung?» Er drehte sich um. Seine Hose war zugeknöpft, sein Gürtel geschlossen. «Ja, ja», sagte er. Und fügte dann in ungewohnt vertrautem Ton hinzu: «Die richtige Frage wäre, Rosemary, wie geht es Ihnen?» «Mir geht es gut», sagte ich, dabei spürte ich, wie mir die Galle bitter in der Kehle hochstieg. Ich bückte mich, um die Bücher aufzuheben, die um seine Füße verstreut lagen. Meine Hände zitterten. 404
«Aber», fragte er zart. «Unbefriedigt?» «Mir geht’s gut», antwortete ich und sammelte die Bücher ein. Meine Knie zitterten, als ich mich wieder aufrichtete. Mr. Mitchell würde es merken, wenn die Bände nicht an den richtigen Platz zurückgestellt wurden. Er würde merken, dass jemand sie vom Regal geworfen hatte. Das Futter meiner Hosentasche, der Zipfel meiner Bluse klebten mir an der Haut. Wenn ich mich nicht schämte für das, was zwischen Geist und mir vorgefallen war, warum kümmerte es mich dann noch, was Mr. Mitchell dachte? Ich musste die Bücher aufheben. Bücherraritäten, die auf den Boden gefallen waren! Geist dachte, er würde mir etwas geben, aber er wollte mich mit einem Geschenk an sich binden. Er stellte sich vor, dass wir das Geheimnis um das Melville-Manuskript teilten, und jetzt hatten wir noch diese geheime Intimität, aber ich wollte nichts davon wissen. Ich wollte nichts mit seiner Einsamkeit zu tun haben, und das, was ich davon gesehen hatte, reichte mir, um zu verzweifeln. Er wurde immer hektischer. «Halt. Kümmern Sie sich nicht um die», sagte er, als er gemerkt hatte, dass ich die Bände aufheben und sorgfältig an ihren Platz zurückstellen wollte. Die Bücher waren empfindlich, die alten Einbände aus abgegriffenem Leder porös und schartig. Sie waren wunderschön, Dinge mit der Aura des Uralten. Aus einem fiel ein hauchdünnes, sprödes Blatt und segelte zu Boden. Ich steckte es vorsichtig wieder hinein, ganz entsetzt über den Schaden, der möglicherweise entstanden war. «Aber Mr. Mitchell wird es doch merken», rief ich 405
mit erstickter Stimme. Was, wenn er stirbt! «Ich weiß, er wird es merken, und er wird sich aufregen. Aber ich will nicht, dass er sich aufregt!» «Jetzt lassen Sie doch!», befahl Geist mir ungeduldig. Sein Zorn ließ mich erstarren. «Ich kann sie doch nicht einfach liegen lassen», sagte ich. «Warum denn nicht?», schrie er verzweifelt. Seine Wut schien aus heiterem Himmel gekommen zu sein, ich wusste nicht, woher. Er fuhr wild herum, als wäre er sich nicht sicher, wo ich stand. «Ach! Die verdammten Bücher! Es sind doch nur Bücher, Rosemary. Dinge! Sie leben nicht, sie atmen nicht! Ach!» Er holte aus, um noch mehr Bücher vom Regal zu fegen, verpasste sie aber, fiel fast hin, und ich fing ihn wieder einmal auf. Er wirkte vollkommen aufgelöst. Er fuchtelte wild in der Luft herum, eine hoffnungslose Geste. Seine Schultern sackten nach unten. «Ich kann sie nicht sehen», sagte er schließlich, an mich gelehnt. «Wissen Sie denn nicht, dass ich sie nicht sehen kann?» «Doch», erwiderte ich und wich ein Stück zurück. Ich stellte die letzten Bände in dem Bücherschrank hinter ihm gerade. Ich musste ihn unbedingt hier herausbekommen, bevor er noch mehr Schaden anrichtete. «Doch», sagte ich noch einmal. «Ich weiß, dass Sie sie nicht sehen.» «Ich bin blind», zischte er. «Ich weiß», sagte ich. «Alle wissen es.» 406
Einundzwanzigstes Kapitel
I
rgendwo habe ich gelesen, dass der Verlust des Augenlichts für manche fast eine Erleichterung ist, aber für Walter Geist hatte die Blindheit nichts Erlösendes. Er wollte sich nicht von der Welt ausruhen, vom Wissen. Für ihn bedeutete die Blindheit das Ende. An jenem Abend verließen wir den Raritätenraum schweigend. Ich half ihm, abzuschließen, brachte ihm seinen schäbigen Mantel und den schlechtsitzenden Hut und ging dann meine Sachen holen. Als ich zum Büro zurückkehrte, nahm er gerade einen dicken Umschlag aus einer Schublade in seinem Schreibtisch und verstaute ihn sorgfältig in einer Ledertasche, deren Reißverschluss er zuzog und die er dann in seine Manteltasche gleiten ließ. Seine Hand ruhte auf meiner Schulter, als wir die Treppe hinabgingen. Er gab mir die Schlüssel, und ich schloss den Südeingang ab, nachdem ich mit der Geheimzahl, die er mir zugeflüstert hatte, den Alarm aktiviert hatte. Wir standen draußen auf der Straße, es graupelte, und er hielt meinen Arm fest, als könnte ich ihm jeden Moment entwischen. Was ich eigentlich auch wollte. «Rosemary, ich muss heute Abend noch etwas Wichtiges erledigen. Es ist sehr wichtig für mich», sagte er. «Und für Sie hoffentlich auch.» Ich erwiderte nichts. Ich wollte nicht, dass er mir sagte, was er vorhatte. Von seinen Geheimnissen hatte ich 407
genug, und ich wusste, ich konnte sie nicht für mich behalten, denn ich war verpflichtet, Oscar alles zu erzählen, was ich über die Insel des Kreuzes in Erfahrung brachte. «Ich habe eine Vereinbarung mit diesem Verkäufer getroffen», fuhr er fort. «Eine Vereinbarung, die den Erwerb des Manuskripts von Herman Melville betrifft. Es geht um eine Menge Geld. Allerdings ist höchste Diskretion vonnöten. Ich habe nicht viel Zeit …» «Bitte, Mr. Geist, all das hat wirklich nichts mit mir zu tun.» «Hören Sie mir einfach zu. Ich kann hier nicht mehr weiterreden, es ist auch besser so, wenn ich nichts mehr sage. Heute Abend sollte ich ihn hier ganz in der Nähe treffen, aber jetzt bin ich natürlich sehr spät dran, wegen, äh, wegen Mr. Mitchells Anfall. Aber ich möchte Ihnen sagen, dass ich bald das Arcade verlassen werde.» «Damit habe ich nichts zu tun, Mr. Geist, ich …» «Aber es ist doch von Bedeutung für Sie. Das werden Sie verstehen, wenn ich es Ihnen erzähle. Ich bin doch auch für Sie von Bedeutung, oder?» Ich gab ihm keine Antwort. Graupelkörner fielen mir ins Gesicht. Ich hielt mir Mr. Mitchells Aktenmappe vor die Brust wie einen Schild. Mir war kalt, und der steife Stoff meiner Hosentasche und des Blusenzipfels juckten mich am Schenkel. Ich wollte nach Hause, ich wollte ein Bad nehmen und vergessen, was zwischen uns vorgefallen war. Aber ich wusste, ich würde es nicht vergessen und er auch nicht. «Rosemary, darf ich später noch zu Ihnen kommen? Ich besuche Sie. Dann erzähle ich Ihnen alles.» «Nein», sagte ich tonlos. «Nein. Auf keinen Fall.» 408
«Dann werde ich Ihnen alles erklären, ganz bestimmt. Ich komme später zu Ihnen, ins Martha Washington.» Er hörte mir überhaupt nicht zu. «Nein, ich …» Während ich noch den Kopf schüttelte, beugte er sich zu mir herüber und küsste mich, verfehlte jedoch meine Lippen und gab mir einen unbeholfenen Schmatzer aufs Kinn. Ich war entsetzt – dass er mich jetzt hatte küssen wollen, war fast ebenso intim wie unsere Begegnung im Raritätenraum, denn er schien davon auszugehen, dass unsere Intimität sich fortsetzen würde. Ohne meine Antwort abzuwarten, machte er auf dem Absatz kehrt und ging hinunter zur Straßenecke, in Richtung Downtown, um zielstrebig die Avenue zu überqueren. «Nein», rief ich schwach, aber er hörte mich nicht. Der eisige Graupel rieselte wie Sand und knisterte, wenn er auf dem Boden aufkam. Geist ging schnell, seine Silhouette war verzerrt, eine Erscheinung, die in den Lichtkegeln entlang der dunklen Straße auftauchte und wieder verschwand. «Nein», rief ich noch einmal vergeblich. «Mr. Geist! Da wohne ich doch gar nicht mehr! Hören Sie doch!» Aber er war fort. Ich hatte das bittere Gefühl, dass er mir etwas abgenommen hatte, dass ich den Boden unter den Füßen verloren hatte, dass mein tiefstes Inneres gestört worden war, meine Eigenständigkeit als Mensch. Er hatte gesagt, dass er mir etwas geben wolle, aber stattdessen fühlte ich mich beraubt. Indem er mir etwas hatte geben wollen, hatte er mich doch nur daran erinnert, dass ich ihm gegenüber verpflichtet war. 409
Mir kam Mutter in den Sinn, als wäre sie Zeugin der Begebenheit geworden, aber ich schob den Gedanken an sie schnell weg. Was hätte Chaps von alldem gehalten? Wo war Oscar? Ich ging mit schleppenden Schritten zur U-Bahn. Unter der Erde war es hell, trocken und warm, und es war eine Erleichterung für mich, Menschen um mich herum zu haben. Mein Kopf tat mir weh, aber pflichtbewusst, wie ich war, wollte ich unbedingt noch meinen Auftrag erledigen und Mr. Mitchells Aktentasche bei ihm zu Hause abgeben. Ich wollte etwas Bedachtes und Anständiges tun. Mr. Mitchell seine Sachen zurückzugeben, schien mir Mr. Mitchells Wohlergehen zu dienen, seiner Gesundheit. Sie bedeutete, dass er nicht sterben würde. Die Mitchells wohnten in der Upper West Side, und obwohl jetzt niemand zu Hause sein würde, wollte Mr. Mitchell doch irgendwann seine Papiere und Schlüssel wiederhaben, und sicher würde er auch wissen wollen, dass der Raritätenraum sorgfältig abgeschlossen war und auf seine Rückkehr wartete. Ich machte mir Sorgen um die verschlissenen Bände, die auf den Boden gefallen waren. Er würde Geist die Schuld geben; er hasste ihn aus Gründen, die mir nicht ganz klar waren. In welcher Hinsicht – abgesehen von George Pikes Wohlwollen – waren sie eigentlich Rivalen? In der U-Bahn ließ ich die Szene im Raritätenraum Revue passieren. Meine Haut brannte, wenn ich an Geists Hände dachte, die darübergestrichen hatten – es war die Hitze einer ganz neuen Empfindung, des erregenden Gefühls, von jemand anderem berührt zu werden. Wei410
ße, federleichte Hände hatten meine Haut erkundet. Zärtlichkeiten, die wie ein Versprechen waren und von denen ich mehr wollte. Doch Walter Geist war mit mir zusammen gewesen, nicht Oscar Jarno. Ich schämte mich, auch weil es eben Geist gewesen war, der mein Ohr an seinen Mund gehalten und geflüstert hatte: Poesie! Ich erinnerte mich an das Buch, das ich kürzlich ins Regal sortiert hatte, an eine Zeile darin: Alles, was wir nicht sind, starrt das an, was wir sind. Poesie – nun war sie das geheime Symbol einer eingebildeten Nähe. Die U-Bahn ratterte weiter. Vielleicht hatte mein Gefühl der Leere damit zu tun, dass ich mir keine Fragen mehr stellte. Ich grübelte nicht mehr über Geists Verhalten mir gegenüber, seine Beweggründe. Er war real geworden und aus dem Raritätenschränkchen ausgebrochen, in das ich ihn gesperrt hatte. Schließlich war er ein Mann und keine Kuriosität. Er hatte bestimmte Vorstellungen. Er blieb ein Mensch, man würde ihn nie ganz erfassen können, wie Oscar es mit seinen Nachforschungen versucht hatte. Der Gedanke, dass er mir alles erzählen würde, was Oscar über die Insel des Kreuzes wissen wollte, machte mich krank. Er würde mir sein Wissen geben, wenn ich ihn darum bat. Aber was würde ich ihm dafür schulden? Das Stückchen Papier in meiner Tasche klebte am Innenfutter und zerfiel, als ich versuchte, es aus dem Stoff zu lösen. Ich zog die einzelnen Papierfetzen heraus und sammelte sie in meiner Handfläche. Dann ließ ich sie fallen und schaute zu, wie sie langsam auf den schmutzigen Boden flatterten. Auch nicht mehr als ein paar Papierfetzen, unbeschrieben und bedeutungslos. 411
Ich würde nie erfahren, wer den Brief geschickt hatte. Als ich aus dem U-Bahn-Schacht stieg, stellte ich fest, dass ich mich ganz in der Nähe der Bibliothek befand, in der Oscar und ich jenen Abend verbracht hatten, dort, wo ich auf den Gehweg gestürzt war. Meine Hüfte tat nicht mehr weh, aber den Schmerz spürte ich immer noch. Hatte ich mich auf Geist eingelassen, weil Oscar mich zurückgewiesen hatte? Während ich Richtung Fluss ging und der Graupel langsam in Schnee überging, dachte ich elend an die Nacht zurück, in der ich zum ersten Mal von der Insel des Kreuzes gehört hatte, von Agatha, die verlassen und betrogen worden war. Und von dem leidenschaftlichen Herman Melville; ich erinnerte mich, dass auch ich mir an jenem Abend gewünscht hatte, leidenschaftlich zu sein; und pantheistisch. Ich erinnerte mich an Oscars Gesicht an jenem Abend, angewidert und verächtlich. Das Haus, in dem die Mitchells wohnten, lag an der Ecke zum Riverside Drive. Ein uniformierter Portier saß drinnen in der warmen Lobby. Er war etwa so alt wie Mr. Mitchell, er war adrett gekleidet, in einem maßgeschneiderten Jackett mit Messingknöpfen und Epauletten. Nachdem ich mich vorgestellt hatte, reichte ich ihm die feucht gewordene Aktentasche. «Das ist sehr freundlich von Ihnen, Miss», sagte er. «Mrs. Mitchell ist hier vor etwa zwei Stunden rausgestürmt, sie war völlig außer sich. Hab ihr ein Taxi gerufen. Er ist in Downtown, im Beth Israel.» «Ja.» Das wusste ich bereits. «Hoffentlich kommt er wieder auf die Beine», fügte ich hinzu und zwang mich, optimistisch zu klingen. 412
Und wenn er stirbt? «Er kümmert sich einfach nicht genug um sich selbst», teilte der Portier mir mit. Offensichtlich konnte er es nicht erwarten, das wenige, was er in seiner Lobby von Mitchells Privatleben mitbekommen hatte, mit mir zu teilen. «Die wohnen jetzt schon dreißig Jahre hier, und nur sie geht spazieren. Er kommt hier rein und hat sogar beim Gehen noch die Nase in einem Buch! Er erkennt mich nicht einmal! So ein kräftiger Mann wie er, liest die ganze Zeit; er müsste sich mehr bewegen.» «Meinen Sie?», sagte ich, mir waren seine Ausführungen über Mr. Mitchell etwas unangenehm. Ich fragte mich, ob er auch wusste, dass Mitchell trank. Bitte, sterben Sie nicht, Mr. Mitchell – diese Worte kehrten in meinem Kopf wieder und wieder, wie eine Beschwörung. «Man kann auch zu viel denken.» Der Portier tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn. Er war ein Dummkopf, aber er hatte mich aufgerüttelt und, indem er den Namen des Krankenhauses erwähnt hatte, auf eine Idee gebracht. «Na, dann gute Nacht», sagte ich und ging zur Tür. «Gute Nacht, Miss. Und nochmals vielen Dank hierfür.» Er tätschelte liebevoll die Aktentasche, als gehörte sie ihm und wäre nun endlich wieder in seinen Besitz zurückgekehrt. Ich hatte das beunruhigende Gefühl, dass der Portier, sobald ich außer Sicht war, in Mr. Mitchells Papieren herumschnüffeln würde, nicht aus böser Absicht, sondern aus reiner Neugier. Dass Menschen auf das Leben anderer neugierig waren, war oft genug zu beobachten, 413
sogar täglich, aber ob sie dabei auch etwas erfuhren, konnte man nie genau wissen. Die Stadt ließ die Menschen näher aneinanderrücken, aber das bedeutete nicht, dass man einander auch deutlicher sah. Am liebsten hätte ich ihm die Mappe wieder abgenommen, mir aufgeschrieben, was sie enthielt, und alles Private oder Wertvolle herausgenommen. Ich nahm noch einmal die U-Bahn, die Beschwörungsformel die ganze Zeit im Kopf, und als der Zug an der 14ten Straße hielt, folgte ich einem Impuls und stieg aus. Ich wusste, das Krankenhaus war ein paar Blocks entfernt, ich war auf meinen Spaziergängen oft daran vorbeigekommen. Wenn Mr. Mitchell tot war, musste ich es wissen. Ich hatte das Gefühl, dann würde sich alles für mich entscheiden. War Mr. Mitchell dagegen noch am Leben, dann würde ich mich selbst von diesem Bann lösen, unter dem ich offenbar stand. Wenn er von der Insel des Kreuzes wusste, wenn Oscar es ihm gesagt hatte, dann konnte ich ihm meinen Verrat gestehen, und vielleicht würde er die Güte aufbringen, mir zu verzeihen. Ich fand den Eingang des Krankenhauses auf der First Avenue und ging zur Notaufnahme, die in gleißendes fluoreszierendes Licht getaucht war und nach Desinfektionsmitteln roch. Eine Frau saß hinter einem geschwungenen Empfangstresen. Ein Computerbildschirm warf ein bläuliches Licht auf ihr braunes Gesicht. «Kann ich Ihnen helfen?», fragte sie, als ich vor ihr stand. 414
Einen Moment lang schwieg ich, überwältigt von meinen Gefühlen, von all dem, was an diesem Abend geschehen war. «Zu wem möchten Sie?» Sie war ein wenig ungeduldig. «Mein Vater», stieß ich heiser hervor. «Wie heißt er?», antwortete sie mechanisch. «Robert Mitchell», sagte ich und versuchte, mich zu fassen. «Er hat heute am frühen Abend einen Herzanfall gehabt.» «Ich seh mal nach», sagte sie und tippte in die Tastatur vor ihr. «Er ist immer noch auf der Notaufnahme», sagte sie. «Kann ich ihn sehen?» «Sie müssen bei der Schwester nachfragen, da durch die Doppeltür.» Sie zeigte auf die gegenüberliegende Tür. In der Empfangshalle warteten viele Leute, einige waren auf ihren Stühlen zusammengesunken. «Kann ich Ihnen helfen?», fragte eine Schwester, die ich im Flur antraf, nachdem ich durch die Tür gegangen war. «Ich bin auf der Suche nach Robert Mitchell», sagte ich. «Die Dame an der Rezeption meinte, er sei noch in der Notaufnahme.» «Sind Sie eine Verwandte?» Mir kullerten die Tränen über die Wangen, so sehr wünschte ich mir, es wäre wahr, was ich behauptete: «Er ist mein Vater.» «Natürlich», sagte sie. «Sie haben gerade Ihre Mutter verpasst.» «Meine Mutter?», fragte ich verwirrt. Sie drehte sich 415
um und zeigte den Gang runter auf eine Nische hinter Vorhängen. «Nur zehn Minuten, dann müssen Sie gehen. Es wird schon wieder», sagte sie. «Wahrscheinlich wird er morgen nach ein paar Untersuchungen wieder entlassen.» Als sie mein von Kummer verzerrtes Gesicht sah, beugte sie sich zu mir vor. «Angina», sagte sie, als würde ich die Symptome genau kennen. «Kein Herzanfall.» Mr. Mitchell schlief. Als ich seine Hand berührte, öffnete er die Augen. «Liebes Kind!», sagte er blinzelnd. «Was machen Sie denn hier?» «Ich habe mir solche Sorgen gemacht, Mr. Mitchell. Ich konnte einfach nicht warten und wollte wissen, was geschehen ist.» «Aha, Sie sind immer so stürmisch, wenn es ums Wissen geht, Rosemary Savage. Wenigstens bleiben Sie sich treu.» «Die Schwester hat gesagt, Ihre Frau sei gerade gegangen.» «Ich habe sie nach Hause geschickt, dass sie schläft.» Er gähnte mit offenem Mund. «Morgen früh soll ich meinen Kardiologen aufsuchen, zu dem ich immer gehe. Hat wenig Sinn, wenn jetzt alle aufbleiben.» Er betrachtete mich verwundert; sicher fragte er sich, was ich hier wollte. In dem Krankenhaushemd sah er uralt aus; die Haut an seinem Hals hing in gelblichen Falten herunter, seine Pupillen in den milchigen Augäpfeln waren geweitet. «Ich dachte, Sie würden sterben», flüsterte ich. 416
Er schloss die Augen und lächelte matt. «Diesmal nicht, liebes Kind, diesmal nicht.» Als er die Augen wieder öffnete, funkelten sie. «Aber irgendwann, so viel ist sicher.» Er seufzte schwer, und ich nahm einen winzigen Hauch Vanilleduft wahr, an dessen Stelle jedoch sofort wieder der Ammoniakgeruch von Urin trat. «Ich habe hier gelegen und aus irgendeinem Grund an Rilke gedacht», fuhr er mit müder Stimme fort. «Seltsam, was einem bei solchen Gelegenheiten so durch den Kopf geht. Ich habe eine wunderbare Erstlingsausgabe der Duineser Elegien in meinem kleinen Raum und ging gerade im Geiste noch einmal die Details durch – 1923, lachsfarbener Einband, Schutzumschlag …» Das weiße Haar stand ihm in Büscheln vom Kopf ab wie eine Haube aus weichen Federn. «Ich denke, eine Minute können Sie sich setzen», sagte er und winkte mich zu sich. «Danke schön.» Ich setzte mich auf einen Stuhl neben das hohe Bett. «Es ist nett, dass Sie gekommen sind», sagte er matt. «Diese Erstausgabe … Gerade hatte ich mich mit der Zeile amüsiert: Wer saß nicht bang vor seines Herzens Vorhang? Der schlug sich auf …» Er kicherte, ein tiefes Glucksen in seiner Brust, und hustete ein bisschen. «In meinem Fall dachte ich eigentlich, der Vorhang senke sich über meinem Herzen.» Er lächelte. «Doch wer wagte darum schon zu sein, Rosemary? Sind Sie tapfer genug für das Leben?» 417
Das einzig Farbige in seinem bleichen Gesicht waren die Blutadern, die wie ein Netz seine große Nase überzogen. «Halten Sie sich denn für tapfer, Mr. Mitchell?», fragte ich zurück. «Es gibt keinerlei Hinweis darauf, nein», erwiderte er schlicht. «Sind Sie es denn, liebes Kind?» «Nein», sagte ich. «Ich bin nicht tapfer.» Ich dachte an Walter Geist, und ich wusste, es wäre tapferer gewesen, seine Annäherungsversuche abzuwehren und auf den flüchtigen Genuss, den es mir bereitet hatte, jemandem so nahe zu sein, zu verzichten. Ihm zu sagen, was ich bereits wusste. Doch ich war nicht ehrlich genug, um tapfer zu sein, und Mitgefühl hatte nichts mit Mut zu tun. Am liebsten hätte ich Mr. Mitchell die ganze Melville-Geschichte gestanden und wie verlogen wir uns alle verhalten hatten. «Ich bin gar nicht tapfer», wiederholte ich beschämt. «Gerade eben habe ich der Schwester gesagt, ich sei Ihre Tochter.» «Das ist aber schon eine ziemlich tapfere Behauptung», erwiderte er und lächelte schwach. «Ich wünschte, ich wäre tatsächlich Ihre Tochter», sagte ich. «Aber so ist es nicht, mein liebes Kind. Ich habe meine einzigen Kinder dort im Raritätenraum gelassen, und ein kluger Vater kennt seinen Nachwuchs genau … Ich vermisse es so sehr, dieses wunderschöne kleine Bändchen …» Ich zuckte zusammen und setzte mich aufrecht hin. Mr. Mitchell würde sofort merken, welche Bücher heruntergefallen waren. 418
«Machen Sie sich keine Sorgen, Rosemary», sagte er und sah mich an, weil er meine Erschrockenheit falsch interpretiert hatte. «Mit mir kommt alles in Ordnung, und morgen werde ich entlassen.» Er tätschelte meine Hand. «Ja», erwiderte ich. «Ich bin sehr froh.» «So sehen Sie aber nicht aus, wenn ich das sagen darf.» «Das heute Abend war ein Schock, wissen Sie. Ich habe mir solche Sorgen um Sie gemacht», redete ich schnell weiter. «Ich habe Ihnen Ihre Aktentasche nach Hause gebracht, bevor ich hierherkam. Es ist schrecklich draußen, es graupelt. Und es ist Heiligabend, mein erster ohne meine Mutter. Ich bin einfach nur müde.» «Dann sollten Sie jetzt gehen.» «Einen Augenblick noch, ja.» «Das war sehr aufmerksam von Ihnen, meine Sachen mitzunehmen. Es ist gut zu wissen, dass alles in Sicherheit ist. Wer hat denn das Arcade abgeschlossen? Pike, der Schlawiner, der sich den Spaß gemacht hat, mit mir hierherzufahren? Selbst nach vierzig Jahren ist der Mann immer noch unberechenbar. Immer noch ein Geheimnis.» «Mr. Geist und ich …», stammelte ich. «Ich habe ihm geholfen, abzuschließen.» «Ach, natürlich», sagte er ruhig. «Ohne Sie wäre Geist verloren.» «Was meinen Sie damit, verloren?» «Der Mann ist völlig vernarrt in Sie. Sie sind die Blinde hier, wenn Sie das nicht sehen.» «Jetzt begreife ich es langsam, ja.» 419
«Jetzt?» Mr. Mitchells Vogelgesicht starrte mich fragend an. «Ich weiß, dass er mich gern hat», sagte ich. «Ein kleiner Rat von einem sehr alten Mann, Rosemary, und dann müssen Sie gehen und mich ruhen lassen.» Als er sich in die aufgetürmten Kissen sinken ließ, zuckte er stöhnend zusammen. «Bleiben Sie immer auf der sonnigen Seite, liebes Kind. Lassen Sie sich nicht vom Abartigen verführen. Das passt nicht zu Ihnen. Auch wenn Sie sich denn zu etwas Unpassendem hingezogen fühlen sollten, würde ich mir etwas, na ja, sagen wir Konventionelleres für Sie wünschen. Werden Sie nicht zur Märtyrerin Ihrer Vorstellungskraft.» Einen Moment lang wusste ich nicht, ob er von Geist sprach oder von Oscar, aber ich wollte ihn nicht bedrängen, deutlicher zu werden. Jedenfalls passte seine Bemerkung auf beide. «Mit dem Mann stimmt etwas nicht», fuhr er fort. «Er ist durchaus zum Verrat imstande. Ich weiß, dass er etwas im Schilde führt, und ich möchte auf gar keinen Fall, dass Sie da hineingezogen werden …» Seine Stimme verlor an Kraft, er verstummte. «Ich halte mich selbst nicht für abartig, Mr. Mitchell», sagte ich vage. «Ich auch nicht. Aber vielleicht ist niemand frei von der Anziehungskraft, die die Abartigkeit ausübt.» «Ich kann Ihnen wirklich nicht folgen.» «Na gut, dann vergessen wir’s. Ich bin erschöpft und hasse Ratschläge, egal von wem sie kommen, aber am 420
meisten meine eigenen. Wir alle brauchen unsere mächtigen Geheimnisse, oder nicht?» «Geheimnisse?», fragte ich schuldbewusst. «Ich will sie gar nicht enthüllen, ich nehme bloß zur Kenntnis, dass es sie gibt.» So vornehm wie er war ich nicht; ich musste ihn fragen. Ich musste wissen, woran ich mit den beiden war. Ich lehnte mich vor. «Was hat Oscar Ihnen zugeflüstert, bevor Sie den Anfall hatten?» «Aha, sehen Sie? Geheimnisse. Um die Wahrheit zu sagen, ich erinnere mich nicht, liebes Kind, und für den Moment ist es mir auch egal. Etwas ist mir von der Seele genommen worden, und jetzt fühle ich mich leichter.» «Was meinen Sie?» Ich berührte wieder seine Hand, die trocken und spröde war wie ein alter Buchrücken. «Mehr als je fallen die Dinge dahin, die erlebbaren, denn was sie verdrängend ersetzt, ist ein Tun ohne Bild, sagt Rilke. Können wir überleben ohne die Dinge dieser Welt? Das ist die Frage.» «Und was würden Sie antworten?» «Ach je, das kann ich nicht beantworten», lächelte er. «Es gibt nur diese Welt. Für die Ewigkeit bin ich nicht gemacht.»
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Zweiundzwanzigstes Kapitel
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ls ich es schließlich zurück in meine Wohnung schaffte, war es nach zwei Uhr nachts. Ich schloss auf und ließ mir sofort ein Bad ein, öffnete mir eine Dosensuppe, machte sie warm und setzte mich in meinen alten Armsessel, während die Wanne volllief. Jetzt, wo ich Mr. Mitchell gesehen hatte und wusste, dass er nicht sterben würde, war ich hellwach. Seit ich ihn gesehen hatte, fühlte ich mich selbst wieder lebendig. Und vielleicht war ja auch etwas von meiner Seele abgefallen. Meine Unreife, oder doch wenigstens eine gewisse Arglosigkeit. In dem ovalen Spiegel gegenüber versuchte ich festzustellen, ob ich anders aussah; ob es mich optisch verändert hatte, dass Geist mich geküsst, dass seine Hände über meinen Körper gestrichen hatten. Dasselbe feurige Mädchen schaute mich an, einen Schatten über seinen grünen Augen. Ich fasste nach dem Amulett an meinem Hals, das mir Chaps gegeben hatte. Was hatte Geist gesehen, als er mich berührte? Wen begehrte er? Ich dachte daran, wie er in die Nacht davongestapft war. Wohin war er gegangen? Um Die Insel des Kreuzes zu kaufen, mit Geld, das ihm nicht gehörte? Um Samuel Metcalf zu treffen? Was hatte er unter seinem Mantel verborgen? Er sagte, er wolle mir etwas geben, aber ich wollte nichts mehr von ihm. Er hatte später zu mir kommen wollen, aber ich schuldete ihm 422
nichts mehr. Ich hatte Geist nie erzählt, dass das Geld, das er mir geliehen hatte, für meinen Umzug gewesen war, aber hatte er wirklich angenommen, ich hätte in all diesen Monaten immer noch im Martha Washington gewohnt? Ich hatte mir ein eigenes Leben aufgebaut, und das Mädchen, das mir aus dem Spiegel entgegenblickte, hatte ein Gesicht, das von diesem Leben erzählte. Doch war ich nicht immer noch eine Ansammlung von Krimskrams wie die jüngere Rosemary, die im vergangenen Sommer aus Tasmanien hierhergekommen war? Ich holte die Huon-Schachtel aus dem Alkoven, lehnte mich in meinem Armsessel zurück und stellte die Schachtel auf meinen Schoß. Es war an der Zeit, dachte ich, Mutter mitzuteilen, was geschehen war. Doch als ich mit der Hand über das glatte Kernholz strich, war ich nicht in der Lage, laut zu sprechen, ich konnte einfach nichts sagen. Sie war zu weit von mir weg, sie war unwiederbringlich verschwunden. Aus irgendeinem Grund war ich verstummt. Ich musste die Schachtel als das betrachten, was sie war – eine Erinnerung, ein Objekt, das sich dem Vergessen entzog –, und ich musste auch begreifen, dass ich, indem ich früher mit ihr gesprochen hatte, Mutters Tod hatte leugnen wollen. Vielleicht sollte ich ja doch endlich die Asche nach Hause zu Chaps schicken und es zulassen, dass Mutter begraben und zur Ruhe gebettet wurde. Ich stellte die Schachtel beiseite und nahm ihr Foto vom Regal. Das Schwarzweißporträt bestätigte, wie weit weg sie von mir war. Sie war in meinem Alter gewesen, als es aufgenommen wurde, und es bildete ein Leben ab, von dem ich nichts wusste und in dem ich nicht vorge423
kommen war. Wir waren uns nie ähnlich gewesen, aber irgendwo dadrinnen in diesem Bild war ich doch verborgen gewesen und hatte auf die Zukunft gewartet. Irgendwo dadrinnen war ich. Wäre Mutter nicht gestorben, wäre ich niemals nach New York gereist, ich würde nicht in dem kleinen Apartment wohnen, das ich zu meinem eigenen gemacht hatte, würde nicht an Heiligabend in diesem Stuhl sitzen und mich in meinem alten Spiegel betrachten. Das Arcade – mein Leben, so wie ich es mir geschaffen hatte –, all das war untrennbar mit Mutters Fortgehen verbunden. Ihr Tod hatte mich gleichsam aufgerufen. Ich würde Mutter bis ans Ende meiner Tage vermissen, aber irgendwie wusste ich in jener Nacht, an jenem ersten Weihnachten ohne sie, dass ich lernen musste, der großen Gunst gerecht zu werden, die ihr Tod mir gebracht hatte. Es war eine Gabe, die mit Verpflichtungen einherging – nämlich so anständig zu leben wie möglich und mich zu erinnern. Doch die Erkenntnis, dass ihr Tod mir Freiheit geschenkt hatte, dass dies das Vermächtnis des Todes an die Lebenden war, erschreckte mich. Ich hatte nicht mehr auf die Wanne geachtet, und sie war vollgelaufen und das Wasser über die Ränder getreten. Auf dem Boden sammelten sich bereits kleine Rinnsale zwischen den hölzernen Bohlen. Ich sprang auf und drehte den Hahn ab, wischte mir die feuchten Augen am Ärmel ab und griff nach einem Handtuch, das sich rasch vollsog, als ich es über dem Boden ausbreitete. Ich zog mir die Hose, die rote Bluse, die Un424
terwäsche aus und benutzte die zerknüllten Kleidungsstücke, um den Rest aufzusaugen. Alles Wasser musste weggewischt werden. Schließlich stieg ich in die Wanne und streckte mich aus, umgeben vom warmen Wasser wie von einer Umarmung. «Frohe Weihnachten!», sagte ich zu Lillian und fiel ihr an der Tür um den Hals. Sie war am Weihnachtstag die erste meiner beiden Gäste und traf statt zu der vereinbarten Zeit um vier Uhr bereits kurz nach zwei ein. Ich hatte nur ein paar Stunden geschlafen und ein paar Lebensmittel in dem kleinen Lädchen eingekauft, ein paar Blocks entfernt, dem einzigen geöffneten Geschäft in der Nachbarschaft. Ich hatte versucht, etwas halbwegs Festliches zustande zu bringen, und nun brutzelte ein Hühnchen im Ofen, Gemüse war geputzt und mit Wasser aufgesetzt, und als Nachtisch hatte ich einen schon etwas trockenen Pfundkuchen mit einer Dose Himbeeren und etwas Eiscreme aufbereitet. Für all das hatte ich mein gesamtes Essensbudget für zwei Wochen verbraucht. Lillian stand an der Tür und winkte mit einer Einkaufstüte. Sie sah bekümmert aus. «Ich freue mich so, hier bei dir zu sein. Aber ich muss dir gleich erzählen, dass gestern Abend ein seltsamer Mann im Martha Washington war und nach dir gefragt hat.» Ohne sich groß mit Höflichkeitsfloskeln aufzuhalten, drückte sie mir die Tüte in die Hand, zog ihren Mantel aus und warf ihn schwungvoll in den Armsessel. 425
«Ich hatte schon befürchtet, dass das passieren könnte», sagte ich. «Es war sehr spät, nach Mitternacht, und das Hotel war schon zu. Er klingelte und klingelte an der Nachtglocke. Er wollte zu dir.» «Das war Walter Geist, der Geschäftsführer des Arcade.» «Ja, das hat er auch gesagt. Er ist ein Albino», fügte sie unnötigerweise hinzu. «Sehr sonderbar. Er kann auch nicht gut sehen, oder?» «Er ist krank, Lillian. Es tut mir so leid, dass er dich gestört hat. Ich habe ihm nicht gesagt, dass ich umgezogen bin.» «Das ist gut, dass du es ihm nicht gesagt hast. Er hat sich verrückt verhalten und war sehr böse. Besser, er weckt mich auf, als dass er hierherkommt und dich belästigt. Zuerst wollte er mir nicht glauben, dass du nicht mehr dort wohnst. Was will er denn von dir?» «Ich bin mir nicht ganz sicher, Lillian.» «Na ja, denk doch mal nach, wenn er dich um Mitternacht sehen will!», sagte sie, ungehalten über meine ausweichende Antwort. «Er ist in etwas verwickelt, das nicht ganz legal ist. Und ich weiß einiges über die Sache und über ihn, was ich allerdings lieber nicht wüsste.» Lillian nahm ihren Mantel vom Sessel und setzte sich. «Jetzt rede mal Klartext, Rosemary. Lüg mich nicht an, indem du hier drum herumredest. Ein Mann will mitten in der Nacht zu einer jungen Frau und führt sich auf, wenn sie nicht da ist. Jetzt sag du mir mal, was da vorgeht.» 426
«Ich bin mir nicht sicher, ob ich dir das in diesem Moment sagen kann», erwiderte ich aufgewühlt. «Ist das der Mann, mit dem du in der Bibliothek warst? Als du bei mir übernachtet hast und so aufgeregt warst?» «Nein. Das war Oscar. Oscar ist mein Freund.» «Der Freund, der dich zum Weinen gebracht hat? Dieser Mann, Geist, war ganz verzweifelt, als er zu dir wollte. Ich sagte ihm, ich wüsste nicht, wo du wohnst. Ich habe ihn angelogen, dabei mag ich das gar nicht, lügen. Aber dieser Mann hat mir Angst eingejagt. Ist er in dich verliebt?» «Ich weiß es nicht.» «Hast du eine Ahnung?», wollte Lillian wissen. «Er braucht meine Hilfe. Er kann sonst im Arcade nicht weitermachen und braucht deshalb meine Hilfe.» «Hilfe wobei?», fragte sie. «Lass dich da nicht reinziehen, Rosemary! Du bist ein Kind, und dieser Mann ist ein extrano, misterioso … ich weiß das englische Wort nicht.» «Ich glaube nicht, dass er noch lange im Arcade bleiben wird, Lillian. Er hat jetzt schon große Probleme mit den Augen. Alle haben so getan, als wäre nichts, aber es ist schlimmer geworden, und er hat auch kaum Freunde da, außer Mr. Pike. Ich bin die Einzige, die ihm hilft.» «Bild dir bloß nicht ein, ihm helfen zu können. Das sage ich dir jetzt, weil ich es weiß. Du musst dich um dich selbst kümmern. Entweder er kommt zurecht oder nicht – das ist nicht deine Sache. Jedenfalls können auch blinde Männer sich mit Büchern beschäftigen. Du erinnerst dich, mein Borges, er war blind, als er Direktor der 427
Biblioteca Nacional wurde. Und dabei war er nicht mal der erste blinde Direktor! Dieser Geist kommt auch ohne dich klar.» «Mein Freund Oscar hat mir gesagt, wenn Geist damit klarkommt, dann geht das niemanden etwas an. Und dass es alle möglichen Arten zu leben gibt.» «Na, das stimmt jedenfalls. Blindheit hat ihre Vorteile, und man sollte Blinde nicht bemitleiden. Aber das hier ist etwas anderes. Dieser Mann ist verletzt. Hast du ihm irgendwie den Eindruck vermittelt, dass du ihn magst? Will er Sex von dir? Hast du Angst, nein zu sagen? Wenn er denkt, er liebt dich, dann könnte er …» «Ich habe keine Angst, Lillian!», rief ich und schnitt ihr das Wort ab. Ich wollte einfach nicht, dass sie über Geists sexuelles Interesse an mir Spekulationen anstellte. Es war sowieso schon deutlich genug. Und ich hatte auch keine Angst vor ihm, sondern war nur verwirrt und unsicher. Ich dachte, wenn mir erst einmal klar war, was er eigentlich vorhatte, würde ich wissen, wie ich mich zu verhalten hatte. Und wenn ich die Dinge mit Oscar geklärt hätte. «Geht es um Geld? Stiehlt er? Du könntest mit hineingezogen werden», fuhr sie fort. «Du bist keine amerikanische Staatsbürgerin. Du hast keine Arbeitserlaubnis. Du kommst in Schwierigkeiten.» «Ich habe nichts gemacht!» «Ich weiß, aber halt dich von ihm fern. Er ist verrückt. Ich fürchte mich, selbst hier in Amerika. Du weißt nicht, was passieren kann. Ich habe dir gesagt, was passieren kann!» «Lillian, nichts wird mit mir passieren.» 428
Es klopfte an der Tür. Lillian sprang erschrocken auf. «Das wird Pearl sein», sagte ich. «Jetzt beruhig dich, und sag nichts von Geist, wenn sie da ist. Ich möchte das lieber alleine regeln.» «Nein. Du brauchst Ratschläge, wie man mit seltsamen Männern umgeht», sagte sie entschlossen. «Pearl kennt ihn, oder? Frag sie nach ihm!» Es klopfte wieder. «Ah, ich sehe sein Gesicht vor mir!», sagte sie aufgeregt. «Embrujada, wie ein Gespenst. Pearl wird wissen, ob er eine Gefahr für dich ist.» «Lillian, ich bin alt genug, um selber auf mich aufzupassen», sagte ich. «Du bist ein Kind! Und du vergisst, dass ich eine Mutter bin.» Sie hob mahnend den Finger. «Vergiss das nicht.» «Ich habe das überhaupt nicht vergessen», sagte ich, legte ihr den Arm um die Schultern und küsste sie auf die Schläfe. Pearl klopfte lauter an die Metalltür. «Na gut!» Lillian winkte ungeduldig mit der Hand. Sie hielt mich halb fest und schob mich halb von sich weg. «Wir sprechen später darüber. Lass sie rein!» Ich machte die Tür auf, und da stand Pearl, an den Türrahmen gelehnt und von Kopf bis Fuß in einen flauschigen weißen Pelzmantel gehüllt, auf dem Kopf den passenden Hut. «Frohe Weihnachten!», rief sie und drehte sich um die eigene Achse, so schwungvoll, als befände sie sich 429
auf dem Laufsteg. «Ich dachte schon, ich würde meinen kleinen Auftritt gar nicht mehr bekommen!» «Draußen ist es aber nicht so kalt, oder?», neckte ich sie. «Ist der nicht märchenhaft? Ein Geschenk von Mario. Er ist heute mit seiner Exfrau und seinen Kindern zusammen, deshalb hatten wir schon gestern unsere kleine Feier.» «Er ist wunderschön, Pearl», sagte ich. «Obwohl ich eigentlich nicht für Pelze bin, weißt du.» Seit ich in meiner Kindheit im Hinterzimmer von Foys (jener düsteren Gruft) diese leblosen Häute aufgetürmt gesehen hatte, überkam mich ein seltsames Mitgefühl, wenn ich einen Pelz sah. Man brauchte etwa vierzig Kaninchenfelle, um einen guten Filzhut anzufertigen – wie viele brauchte man dann für einen Mantel? «Du siehst aus wie eine Schneekönigin», sagte Lillian mit gerunzelter Stirn. «Oder vielleicht eher wie ein Eisbär!» «Vielen lieben Dank auch euch beiden! Ist Offenheit eigentlich eine typische Charaktereigenschaft bei euch auf der Südhalbkugel? Aber da ist noch etwas …» Pearl streckte ihre große braune Hand mit den roten und grünen Nägeln aus. An einem der Finger steckte ein Ring, ein dunkler Opal mit zwei winzigen Diamanten auf beiden Seiten. «Ein Ring!», riefen Lillian und ich gleichzeitig. Wir betrachteten Pearls Hand aus der Nähe, Lillian stand sogar auf, um besser sehen zu können. «Ist das ein Verlobungsring?», fragte ich. «Na ja, nicht ganz», sagte Pearl, sichtlich gerührt. 430
«Aber er bedeutet mir eine Menge. Zuerst muss ich die Operation überstehen, und dann schauen wir weiter. Eins nach dem anderen.» «Nun, der ist wirklich schön, Pearl. Herzlichen Glückwunsch. Mario kann sich glücklich schätzen.» «Ich bin diejenige, die glücklich ist», lächelte Pearl. «Sehr hübsch», sagte Lillian und kniff die Augen zusammen, um sich den Ring noch näher anzuschauen. «Und diese kleinen Steine da sind Diamanten?» «Der große ist ein Opal», sagte Pearl und bewunderte den Ring, indem sie den Arm ausstreckte. «Opale bringen doch Unglück, oder?», fragte Lillian. «Ich muss schon sehr bitten», sagte Pearl und ließ die Hand sinken. «Das ist mein Geburtsstein, Lillian – für den Oktober.» Lillian zuckte mit den Achseln und ließ sich wieder in den Sessel sinken. «Das ist doch nur Geschwätz, wisst ihr, das man sich in England im letzten Jahrhundert erzählt hat, als in Australien die Opale entdeckt wurden», erklärte ich. Meine Mutter hatte das einmal erwähnt, auf einer unserer Einkaufstouren nach Sydney. Sie hatte mir erklären wollen, dass Wert nie aus einer Sache selbst entsteht, sondern zugeteilt wird. «Opale wurden sehr beliebt, deshalb haben die Diamantenhändler das Gerücht in die Welt gesetzt, Opale seien mit einem Fluch behaftet und brächten Unglück. Dabei wollten die Händler einfach nicht, dass Opale den Diamanten Konkurrenz machten und eventuell die Preise verderben würden. Ich glaube, die Idee hatten sie aus einem Buch von Sir Walter Scott.» 431
«Interessant», sagte Lillian. «Also ist das mit dem Unglück nur eine Lüge?» «Das stimmt – nur ein Gerücht, um den Preis der Diamanten nicht zu verderben. In Julian Peabodys Sammlung habe ich einen riesigen schwarzen Opal gesehen, der aussah wie die Weltkugel. Shakespeare nannte den Stein sogar die Königin der Edelsteine.» «Na, das ist angemessen», bemerkte Pearl. «Und bist du nicht ein wahrer Quell der Information geworden?», fuhr sie fort und drehte den Ring nachdenklich an ihrem Finger. «Man könnte dich fast mit Oscar Jarno verwechseln.» «Wirklich? Findest du?» Ich wollte immer noch unbedingt wie Oscar klingen. Sein wie Oscar. «Ich weiß eigentlich nur sehr wenig», sagte ich ein wenig kokett. Die beiden Frauen warfen sich über meinen Kopf hinweg einen Blick zu. «Weißt du denn, was du deinen Gästen vorsetzt?», fragte Pearl und warf ihren Pelzmantel nebst Hut in den Alkoven. «Und wie wär’s mit einem Weihnachtstrunk? Du hast es dir in dieser Wohnung richtig gemütlich gemacht, meine Liebe. Toll, all die Farben und diese vielen kleinen Sachen.» «Danke, Pearl. Ich freue mich so, dass ihr gekommen seid.» Ich war in der Tat froh über ihre Gesellschaft und erleichtert darüber, nicht allein zu sein. Mit meinen Freundinnen fühlte ich mich sicher und erstaunlicherweise geborgen. Ich breitete eine Decke auf dem Boden 432
aus und forderte sie auf, sich zu setzen, da ich weder Tisch noch Stühle besaß. «Ein Weihnachtspicknick!», rief Pearl begeistert, setzte sich und schlug die Beine übereinander. Lillian war schweigsam, offenbar war sie immer noch beunruhigt wegen der Sache mit Geist – dass er an Heiligabend nach Mitternacht im Martha Washington aufgekreuzt war. Aber sie zog eine Flasche Wein aus einer ihrer Einkaufstüten und öffnete sie gekonnt mit ihrem Taschenmesser. Ich holte drei nicht zueinanderpassende Gläser aus dem Schrank, stellte sie auf die Decke und zündete alle Votivkerzen an, die ich überall in der Wohnung verteilt hatte. Lillian hatte auch Käse und Nüsse mitgebracht, und argentinische Pralinen zum Dessert. Ich selbst war so sehr mit meinen eigenen Sorgen beschäftigt gewesen, dass ich keiner von ihnen ein Geschenk besorgt hatte. Ich hatte sowieso kein Geld für Geschenke. Als ich mich setzte, entschuldigte ich mich dafür. «Du gibst uns zu essen», sagte Lillian. «Das ist das Geschenk.» «Außerdem», meinte Pearl. «Niemand hat nach gestern Abend erwartet, dass du Geschenke einkaufen gehst!» «Was meinst du?», fragte Lillian sofort. «Hat Rosemary es dir nicht erzählt?», fragte Pearl. «Was erzählt?» «Mr. Mitchell, der Herr, der im Arcade den Raritätenraum betreut, hatte einen Herzanfall.» «Es geht ihm gut, Pearl! Ich habe ihn gestern Nacht noch im Krankenhaus besucht.» 433
Beide Frauen sahen mich überrascht an. «Ich weiß, dass es ihm gutgeht», sagte Pearl, die es offensichtlich überraschte, dass ich mir die Mühe gemacht hatte, Mitchell einen Besuch abzustatten. «Bevor ich hierherkam, habe ich Mr. Pike angerufen. Bist du wirklich ins Krankenhaus gegangen?» «Ja», sagte ich. «Und hast du wirklich Pikes private Telefonnummer?» «Natürlich», sagte Pearl, nicht ohne einen gewissen Stolz. «Er lässt mich dieser Tage die Bankgeschäfte erledigen. Er will immer wissen, wie es ums Geld steht.» «Aber Mr. Mitchell hatte gar keinen Herzanfall», sagte ich. «Er hat eine Angina, und letzte Nacht hatte es sich ernsthaft verschlimmert.» «Aber er wird wieder gesund», bestätigte Pearl. «Mein Mann Emilio», sagte Lillian leise. «Bei ihm war es auch das Herz, an dem er gestorben ist.» «Das tut mir leid», sagte Pearl. «Er hatte nie Probleme, bevor sie unseren Sohn mitgenommen haben», fügte Lillian traurig hinzu. Ihre Stimmung hatte sich mit einem Mal gewandelt. «Weihnachten ist nicht so gut für mich.» Plötzlich stand Lillian auf und ging in den Alkoven. Pearl und ich schauten uns an. «Vielleicht war das doch keine so gute Idee», sagte ich leise. «Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn Lillian bei ihrem Bruder geblieben wäre.» «Überhaupt nicht, meine Liebe», sagte Pearl. «Es ist schon richtig, dass wir hier alle zusammen sind. Wir brauchen einander. Erinnerst du dich: Wir Mädels halten zusammen!» 434
Das hatte Pearl damals gesagt, als wir uns zum ersten Mal auf der Toilette im Arcade getroffen hatten. Sie tätschelte meine Hand. Wir saßen schweigend da und versuchten, nicht auf Lillians unterdrücktes Weinen zu achten, das hinter dem Vorhang aus indischer Seide hervordrang. «Was war denn gestern Abend mit Oscar los?», erkundigte sich Pearl und nippte an ihrem Wein. «Er ist abgehauen, sobald der Krankenwagen da war», sagte ich. Und wo war er hingeeilt, fragte ich mich? Was machte Oscar eigentlich an Weihnachten? Zweifellos war er, wie an jedem anderen Tag, mit Nachforschungen beschäftigt. «Gab’s irgendwelche Probleme gestern, als Geist und du den Laden abgeschlossen habt?», fragte Pearl betont lässig. «Schwierigkeiten? Nein», log ich. Doch sie hatte meiner Stimme etwas angemerkt und sah mich neugierig an. Lillian kam aus dem Alkoven zurück und nahm wieder auf der Decke Platz. Ihre Augen schimmerten feucht im Kerzenlicht. «Es geht mir besser», sagte sie. Wir lächelten uns zu und nippten an unserem Wein. Dann servierte ich das Abendessen, und wir aßen in geselligem Schweigen. «Ich habe ein kleines Geschenk für dich, Rosemary», sagte Lillian, als sie mit dem Essen fertig war. Sie stand auf und brachte ihren Teller zum Waschbecken. Aus einer der Tüten zog sie ein kleines Päckchen und reichte es mir. Ich dankte ihr und riss das Papier auf. 435
Eine Dose mit Lavendelbadesalz war darin und eine kleine lederne Geldbörse aus Argentinien. «Das Badesalz ist wunderbar, Lillian. Seit hier geheizt wird, hocke ich ständig in der Badewanne.» «Ich habe mich an deine Wanne erinnert», sagte sie, «weil sie Füße hat!» Sie zeigte auf die Klauenfüße der Wanne und dachte womöglich an den Abend zurück, als sie mir von Sergio erzählt hatte, von der Vorstellung, er würde sich plötzlich aus der Wanne erheben, ins Leben zurückgerufen, während sie auf Spanisch mit ihm sprach. «Jemandem einen Geldbeutel zu schenken, bringt Glück», sagte sie und zeigte mir die verschiedenen Fächer in dem weichen Leder. «Bald wird sie mit Geld dick gefüllt sein.» «Wollen wir’s hoffen», sagte ich und dankte ihr noch einmal. «Das könnte ich gut gebrauchen.» Geist hatte mir etwas über Geld sagen wollen, darüber, wie man reich wurde, und ihm hatte ich es zu verdanken, dass ich in dieser gemütlichen Wohnung wohnte. Vielleicht sollte die Geldbörse ja besser leer bleiben. Geld bedeutete nur Schwierigkeiten, das Verlangen danach allerdings auch. Ich räumte die Teller weg und schenkte Wein nach. Auch Pearl hatte ein Geschenk für mich. Ich sah sofort, dass es ein Buch war. Ein Buch ist immer ein Geschenk, hätte Chaps gesagt, wäre sie da gewesen. Ich hatte immer noch ihr kleines eingewickeltes Päckchen, aber Pearls Geschenk öffnete ich sofort. Ich entfernte das Geschenkpapier – eine Ausgabe von Ovids Metamorphosen. Pearl hatte sie auf einem der vorderen Ti436
sche im Arcade gefunden, und der Titel war so etwas wie ein Insiderwitz zwischen uns. «Eigentlich sollte ich das dir schenken, Pearl», sagte ich und gab ihr einen Kuss. «Danke schön.» «Nun, wir verändern uns beide», sagte Pearl. «Du hast recht», stimmte ich zu. «Wir verändern uns beide.» «Alles verändert sich», sagte Lillian und schlug elegant die Beine übereinander. «Alles ist ständig im Wandel.» Pearl und ich sahen uns an. «Nur der Kummer bleibt der gleiche», fügte Lillian hinzu. «Nur der Kummer.» Unsere Festlaune war dahin. Lillian starrte ins Leere, an die Ziegelwand, wo der abblätternde Spiegel hing, und das flackernde Licht der Votivkerzen beleuchtete ihr edles Profil. Sie war mit ihren Gedanken weit weg, und ich spürte, wie sie sich innerlich verabschiedete und wegging, obwohl sie immer noch mit uns auf der Decke saß. Sie würde nach Argentinien zurückkehren und endlich ihren Sohn begraben, das wusste ich in diesem Moment. Ich dachte an Mutter, daran, ob ich die HuonSchachtel an Chaps zurückschicken sollte, die uns beide so vermisste, und ich wusste, ich würde es tun. Ich würde Mutters Asche nach Tasmanien zurückkehren lassen, so wie Lillian in ihre Heimat zurückkehren würde. «Meine Mutter hat immer gesagt, dass nichts bleibt», sagte ich, weil ich wie Lillian ganz melancholisch wurde und mich an dieses Gefühl klammerte, als wäre es mein Talisman. 437
«Die Traurigkeit bleibt», sagte Lillian. «Sie kommt und füllt jeden freien Raum.» Ihre Hand legte sich an ihr Herz. «Also kommt, Mädels», sagte Pearl abrupt. «Jetzt wollen wir aber nicht rührselig werden, nur weil wir ein Gläschen Wein getrunken haben.» Sie nahm Lillians Hand in ihre große Pranke. Der dunkle Opal schimmerte an ihrem Finger. «Ich habe auch ein Geschenk für dich, Lillian. Es ist bloß nicht eingepackt.» Sie sah mich an. «Das ist aus dieser Arie, die ich einstudiert hatte, erinnerst du dich? Aus dem Orlando? Er wird durch die Liebe von seinem Wahnsinn geheilt. Es ist ein Lamento.» Damit stand Pearl auf und fing, nachdem sie sich wie ein Profi geräuspert hatte, mit einer süßen, bebenden Stimme zu singen an. Der Klang erfüllte mein kleines Apartment mit seiner ganzen Erhabenheit, die Lillians Behauptung über die Traurigkeit ebenso widerlegte wie bestätigte. Pearls Lied war traurig, aber ihre herrliche Stimme drang in jeden freien Raum. Der Klang war ganz und lebendig und gab der Melancholie eine Gestalt. Vor unseren Augen wurde sie zu etwas unvorstellbar Schönem – etwas, das wir nie vergessen würden.
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Dreiundzwanzigstes Kapitel
G
uten Morgen, mein tasmanischer Teufel», sagte Arthur und kam aus der Kunstabteilung gewatschelt. «Wir hätten eigentlich wissen sollen, dass wir hier am zweiten Weihnachtsfeiertag nicht zu erscheinen haben. So, wie es aussieht, sind wir die Einzigen!» «Mr. Pike muss hier irgendwo sein, Arthur, ich habe gesehen, wie er aufgeschlossen hat», antwortete ich und ging mit ihm zusammen in seine Abteilung zurück. Ich war sogar schon früher gekommen und hatte gegenüber auf der Straße gewartet, bis ich Pike sah. Ich hielt Ausschau nach Walter Geist und nach Oscar, denn ich wollte den Verlauf unserer ersten Begegnung selbst bestimmen, aber weder der eine noch der andere war bislang aufgetaucht. Ich mochte diese Heimlichtuerei nicht. Aber irgendwie stand ich zwischen Geist und Oscar und fürchtete, fast mehr noch als Oscars Vorwürfe, dass mein doppeltes Spiel entdeckt wurde. «Wie geht’s, Arthur?», fragte ich und schaute mich nervös um. Irgendwie wollte ich nicht, dass dieser neue Arbeitstag im Arcade begann. Ich hatte meinen Mantel noch nicht ausgezogen, und zum ersten Mal hätte ich mich am liebsten auf dem Absatz umgedreht und wäre nach Hause gegangen. «Alles paletti», sagte Arthur. «Ist immer gut, mal einen Tag freizuhaben. Obwohl ich eigentlich auch froh bin, wieder in meine Kunstabteilung zurückzukönnen. 439
Hab mich richtig auf all meine Freunde gefreut, die zwischen den Buchdeckeln auf mich warten.» Er tätschelte mit seiner dicklichen Hand einen hohen Stapel mit Monographien auf dem Boden. Ich stellte fest, dass keiner der Goyas sich vor Weihnachten verkauft hatte. «Ich habe Mr. Mitchell im Krankenhaus besucht, Arthur. Er kommt wieder auf die Beine. Hat sich herausgestellt, dass er Angina hat.» «Dann war es also nur die giftige Boshaftigkeit seines schwellenden Herzens?», fragte Arthur und knipste das Licht an. «Nichts Ernstes oder Ungewöhnliches.» «Das ist nicht lustig, Arthur. Mach keine Witze darüber», erwiderte ich verärgert. «Ich dachte, er würde sterben.» «Um einen alten Vogel wie den von der Stange zu hauen, braucht es mehr als ein paar Drinks zu viel», sagte Arthur. Ihm war Mr. Mitchell gleichgültig, aber da ich beide mochte, ließ ich es mit dem Thema bewenden. «Ich wollte dich etwas fragen, Arthur.» «Noch mehr Fragen! Worum geht es denn heute – wieder um Fotografie oder um Oscar?», erkundigte er sich und hob eine Augenbraue, sodass sich seine breite, flache Stirn in Falten legte. «Über ersteres Gebiet bin ich nämlich gern zu Diensten, während ich es ablehnen muss, das Geheimnis des Letzteren mit dir zu erforschen.» «Nein», sagte ich, etwas verlegen. «Es geht nicht um Oscar.» «Gut. Da gehen mir nämlich langsam die Antworten aus.» 440
«Kennst du eine Zeile aus einem Gedicht, die lautet: Nur weil ich bin, wie ich bin, kann ich dich lieben, wie du bist.» «Ha! Die Tatsache, dass du fragst, zeigt mir, dass du die Antwort bereits kennst», sagte er lächelnd. «Du meinst, es ist Auden?» «Natürlich», sagte er. «Aus dem Buch, in dem du vorgestern gelesen hast.» «Ich habe es eigentlich gar nicht gelesen», sagte ich. Ich hatte gehofft, die Zeile stamme nicht daraus. «Für mich sah es schon so aus, als hättest du darin gelesen.» Er zuckte mit den Achseln. «Ach, nur ein paar Stellen», gab ich zu. «Dies ist aber eine bemerkenswerte Stelle», sagte Arthur. «Vielleicht habe ich sie mir deshalb auch gemerkt.» Geist hatte sie mir ins Ohr gemurmelt, seine Hand in meinem Nacken, in meinem Haar. Ich hatte ein einzelnes Haar in jenes Buch gelegt, um die Stelle zu markieren. Für wen, das hatte ich nicht gewusst. Ich wollte einfach nicht glauben, dass Walter Geist mir das Buch hingelegt hatte. Vielleicht war er schon auf der Suche nach Gedichten gewesen, die er mir rezitieren könnte. Sicher konnte er aber doch nicht gut genug sehen, um die Zeilen zu unterstreichen? Das war außerdem nicht gerade romantisch. Und warum sollte er den Gedichtband auf Oscars Hocker liegenlassen? In der Sachbuchabteilung? «Bestimmt erinnerst du dich an diese Zeile», fuhr Arthur fort. «Ja, wahrscheinlich verfolgt sie dich regelrecht, weil sie eben sehr schön ist. Schönheit mag zu441
fällig und flüchtig sein, aber sie ist auch unvergesslich.» «Sie verfolgt mich nicht, Arthur …», setzte ich an, während ich meinen Mantel aufknöpfte. «Sie verfolgt mich kein bisschen.» In diesem Moment brüllte George Pike nach Pearl; was recht ungewöhnlich war, denn Pike brüllte selten. «Ach herrje, der Tag fängt ja gut an», seufzte Arthur. «Wenn er schlechte Laune hat, kann das nichts Gutes für uns heißen, das kann ich dir sagen. Ein Ladendieb kann es jedenfalls nicht sein, es ist noch schrecklich früh und sehr ruhig …» Pearl war noch nicht da, also eilte ich zu Pikes Plattform, um zu schauen, ob ich ihm behilflich sein konnte. «Pearl ist noch nicht da, Mr. Pike. Brauchen Sie etwas?», fragte ich. «Was? Noch nicht da?» Er schien ganz aufgebracht zu sein. «Die Bank hat gerade angerufen.» Er sprach über meinen Kopf hinweg in den Raum. «Haben Sie mich gerufen, Mr. Pike? Hier bin ich, Mr. Pike», rief Pearl atemlos, während sie zum Podest gelaufen kam. In ihrem neuen Mantel und dem passenden Hut sah sie aus wie mit einer flauschigen Schneeschicht bedeckt. Sie hauchte mir ein «Danke» dafür zu, dass ich mich um Pike gekümmert hatte. «Pearl Baird, wieso deckt sich unser Kontostand nicht mit meinen Berechnungen? Und auch nicht mit Ihrer letzten Abrechnung?», zischte George Pike. «Was wissen Sie über eine Geldabhebung, eine Überweisung von unserem allgemeinen Konto?» «Nichts, Mr. Pike. Ich habe an Heiligabend wie üb442
lich die Einzahlung gemacht. Walter Geist hat mir höchstpersönlich die Geldtasche gegeben.» «Das habe ich nicht gefragt!», sagte er schroff. «Ich versuche ja, Ihre Frage zu verstehen», sagte Pearl geduldig. «Miss Savage», sagte Pike, als er bemerkte, dass ich immer noch unten an seinem Podest stand und zuhörte. «Sie lauschen ja schon wieder. Das ist keine sehr zuträgliche Angewohnheit. Abtreten!» «Oh», sagte ich und schrumpfte unter seinem Blick förmlich zusammen. Ich war mir sicher, das Problem hatte etwas mit der Reißverschlusstasche zu tun, die Geist mitgenommen hatte, bevor er in die Nacht davongeeilt war. «Tut mir leid. Ich wollte gerade meinen Mantel aufhängen gehen», stammelte ich als Entschuldigung. Pike stieg von seinem Podest und bedeutete Pearl, mit ihm in sein Büro zu kommen. Sie reichte mir rasch ihren Mantel und den Hut. «Sei so lieb und häng das für mich auf», bat sie und gab mir die flauschigen Kleidungsstücke in den Arm. «So habe ich ihn ja noch nie erlebt.» Sie folgte Pike die wackelige Treppe hoch zu dem Treppenabsatz vor dem Büro, das aussah wie ein Reff, wie es da direkt unter der Decke hing. Sie verschwanden im Büro. War Walter Geist da oben? Versteckte er sich? War er ein Dieb? «Rosemary.» Ich zuckte zusammen und fuhr herum. Oscar. Seine goldenen Augen blickten kühl und distanziert. 443
«Ich muss mit dir reden», sagte er streng. «Sofort.» «Na gut», erwiderte ich und nahm meinen ganzen Mut zusammen. «Ich wollte auch mit dir reden, über verschiedene Dinge. Vorgestern Abend hast du dich getäuscht, weißt du, denn ich habe Mr. Mitchell kein Wort gesagt. Ich schwöre es, Oscar.» Er hörte mir ungerührt zu. Ich hatte immer noch Pearls flauschigen Mantel über dem Arm, und meinen eigenen Mantel musste ich auch noch ausziehen. «Du, ich muss das schnell für Pearl aufhängen. Wir treffen uns gleich in deiner Abteilung. Ich komme zu dir.» «Ich warte bei meinem Hocker», sagte er, nickte kurz, und ich sah seine gerade Gestalt in dem Gang «Literaturkritik» verschwinden. Ich würde ihm von Geist erzählen, und von dem, was an Heiligabend passiert war. Nicht alles natürlich, aber dass ich den Verdacht hätte, Geist habe Geld veruntreut, um damit Die Insel des Kreuzes zu kaufen. Dann würde er mir glauben, dass ich Mr. Mitchell nichts verraten hatte. Dann würde er glauben, dass er mir vertrauen konnte. Ich stellte mir vor, wie Oscar all das in sein Notizbuch schreiben würde. Für mich war es lebensnotwendig, ihm zu sagen, dass ich sein Vertrauen nicht missbraucht hatte, auch wenn das bedeutete, Geist zu verraten. Ich betrat die Damentoilette und öffnete Pearls Spind gegenüber der verschlissenen Vinylcouch. Ich hängte ihren Mantel auf, strich einen Moment lang über den weichen Pelz und stellte mir vor, wie viele Kaninchen wohl dafür ihr Leben hatten lassen müssen. 444
«Arme Tierchen», sagte ich laut. «Rosemary.» Walter Geist saß zusammengesunken auf dem Sofa. Ich hatte ihn gar nicht bemerkt. Er sah furchtbar aus. «Mr. Geist, was machen Sie denn hier drin!», schrie ich, trat zu ihm und ging neben ihm in die Hocke. Er trug seinen uralten Mantel, als wollte er jeden Moment wieder gehen. Sein absurder, geerbter Hut lag neben ihm. «Gewartet habe ich», sagte er mit ersterbender Stimme. «Gewartet?» «Auf Sie gewartet.» «Meine Freundin Lillian hat mir gesagt, dass Sie an Heiligabend ins Martha Washington gekommen sind.» «Sie wohnen gar nicht mehr dort», stieß er hervor. «Ich wollte doch später noch zu Ihnen kommen! Das habe ich Ihnen doch gesagt!» «Mr. Geist, Sie haben mir nicht zugehört», sagte ich, obwohl es mir an dem Abend durchaus möglich gewesen wäre, ihn auf mich aufmerksam zu machen. «Sie sind einfach weggelaufen.» Ich hätte es ihm sagen können, aber ich hatte es nicht wirklich versucht, und das wussten wir beide. Er sah grauenvoll aus, offenbar hatte er nicht geschlafen oder seine Kleidung gewechselt, seit ich ihn am Heiligabend das letzte Mal gesehen hatte. Er hatte sich anscheinend eine ganze Weile irgendwo versteckt. «Ich helfe Ihnen, Mr. Geist, Sie sollten nicht hier auf der Damentoilette sein.» Ich machte einen Schritt auf ihn zu, aber er packte 445
mich plötzlich an den Armen und zog mich auf die Couch hinunter. Ich verlor den Halt und fiel neben ihm auf das Sofa; er hielt mich fest. «Hören Sie mir zu», krächzte er. Sein Atem roch schal und bitter, und sein Gesichtsausdruck war hitzig. Die Augen wanderten endlos zuckend hin und her. «Ich möchte jetzt keine Missverständnisse mehr, Rosemary. Hören Sie mir gut zu.» Seine Hände schlossen sich fester um meine Arme. «Ich habe den verschollenen Roman an mich gebracht. Ich habe ihn von einem Mann erhalten, der ihn nicht zum tatsächlichen Preis verkaufen kann, weil er ihn gestohlen hat. Und ich werde ihn für achthunderttausend Dollar an Julian Peabody verkaufen. Sam wird die Echtheit feststellen, obwohl ich bereits sicher bin, dass er tatsächlich von Melville ist. Ich weiß es. Dafür erhält Sam dreihunderttausend Dollar vom Geld seines Arbeitgebers. Verstehen Sie, Rosemary? Der Rest gehört mir. Können Sie mir folgen? Ich habe das Arcade verlassen. Ich werde nicht länger in Pikes Schatten stehen. Jetzt bin ich selbst jemand.» Er sprach hastig, wie im Fieber. Er wirkte aufgebracht, und ich spürte den festen Griff seiner Finger durch die Ärmel meines Mantels. «Mr. Geist, bitte hören Sie auf …» Ich versuchte meine Arme loszumachen. «Beruhigen Sie sich doch.» Er war verzweifelt, und ich bekam plötzlich eine Heidenangst. «Wo waren Sie?», fragte er. «Sie hätten dort sein sollen. Ich wollte später zu Ihnen kommen …» Er hielt sein Gesicht ganz nah an meins, und ich wich mit dem Kopf zurück. Sein Griff wurde fester. 446
«Ich möchte, dass Sie bei mir bleiben, Rosemary. Ich werde Sie dafür bezahlen … verstehen Sie nicht? Ich gebe Ihnen alles, was Sie wollen, damit Sie bei mir bleiben. Hören Sie mir jetzt endlich zu?» Er schüttelte mich, er war erschreckend stark. «Mr. Geist. Hören Sie auf! Ich schreie!» Ich musste aus dieser Toilette raus. Ich musste ihn loswerden. Ich befreite mich, sprang auf und eilte in die andere Ecke des Raumes. Er saß da und keuchte vor Anstrengung. Sein Gesichtsausdruck war furchterregend. Er haute seinen Kopf mit voller Wucht gegen die Wand. «Rosemary», flüsterte er dann mit erloschener Stimme. «Es tut mir leid.» Entsetzt beugte ich mich über ihn. Er war in einem erbarmungswürdigen Zustand, und ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ich musste nachdenken. Ich wollte ihm helfen – und ich wollte weg hier. Ich musste Oscar sagen, was Geist getan hatte, aber in gewisser Weise fühlte ich mich auch verantwortlich. In jener Nacht im Raritätenraum war ich auf ihn zugegangen. Ich war seine Komplizin, und das bedeutete, dass ich irgendwie auch verantwortlich für diese Situation war. «Mr. Geist», sagte ich so ruhig wie möglich. «Sie müssen aufstehen. Sie müssen zu Mr. Pike gehen und mit ihm sprechen.» «Haben Sie nicht gehört, was ich gesagt habe? Begreifen Sie es denn nicht?», fragte er und wandte den Kopf mit den flauschigen Haaren um. Sein Hals sah dünn und unglaublich weiß aus, fast zu zart, um den Kopf zu tragen. «Ich verstehe Sie ja», sagte ich vorsichtig. «Ich ver447
stehe Sie ja sehr gut. Besser, als Sie denken. Ich habe gehört, was Sie gesagt haben, und ich weiß über die Insel des Kreuzes Bescheid.» «Sie wissen es?», fragte er erstaunt und setzte sich ein wenig auf. «Wie? Woher denn?» «Ich habe Recherchen angestellt, nachdem ich Ihnen diesen Brief vorgelesen hatte.» Ich ließ ihm den Glauben, nur ich allein wüsste davon. «Nachdem ich den Zeitungsartikel gelesen hatte, wusste ich, worüber Melville schreiben wollte. Und ich habe einen Band mit Briefen gefunden. Ich habe die Agatha-Briefe an Nathaniel Hawthorne gelesen.» «Dann wissen Sie auch, dass er den Roman vollendet hat und dass er verlorenging!» Er flüsterte leidenschaftlich und nickte dabei, als wollte er sich selbst etwas bestätigen. «Sie sind schlau, Rosemary», sagte er. «Ich habe immer schon gewusst, dass Sie schlau sind. Nun, und jetzt ist der Roman gefunden worden! Wissen Sie, was es bedeutet, ihn entdeckt zu haben?» Seine Augen leuchteten wild auf. «Ich weiß genug darüber, um zu wissen, dass man für den Roman keinen Preis festsetzen kann.» «Nun, ich kenne den genauen Preis. Was der Roman mir einbringen wird, ist keineswegs beliebig. Der Preis ist der, den ich Ihnen genannt habe. Und was Peabody angeht – er wird bezahlen, und dann hat sich die Sache für mich erledigt. Er wird damit machen, was er will, und möge er verdammt dafür sein …», murmelte er vor sich hin. 448
Ich wollte ihm sagen, dass Oscar der Meinung sei, der Text gehöre in den Besitz einer öffentlichen Institution, einer Bibliothek, wo Wissenschaftler Zugang dazu hätten. Er durfte nicht eingesperrt werden, einfach nur als weiteres Objekt in Peabodys Kabinett. Doch Geist sprach weiter leise vor sich hin; offenbar war es für ihn am wichtigsten, den Roman in seinen Besitz zu bringen, um so etwas wie Freiheit zu erlangen. Hatte er mir nicht gerade gesagt, er sei jetzt selbst jemand? «Ein ganz schöner Deal, finden Sie nicht?», fuhr er fort. «Das hätte Pike selbst nicht besser hingekriegt. Der Verkäufer wollte das Geld nur bar auf die Hand. Und er wollte anonym bleiben. Weiß immer noch nicht seinen Namen. Aber das ist auch besser so. Er hat keine Ahnung, was das Ding überhaupt wert ist …» «Sie meinen, Sie wissen nicht einmal, wer es hat?», wiederholte ich ungläubig. «Sie wissen nicht, wer den Brief geschrieben hat?» Er beachtete mich gar nicht. «Mr. Geist», begann ich freundlich, eher um mich selbst als um ihn zu beruhigen. «Wer hat das Manuskript? Hat Metcalf es jetzt? Haben Sie es gesehen?» «Sie wissen, dass ich das nicht kann, Rosemary», sagte er mit einem seltsamen Lächeln, denn auch das Geständnis, dass er blind war, bedeutete eine Art Intimität zwischen uns. Ich erschauderte. Er beugte sich hinunter zum Boden. «Es ist hier», sagte er schlicht und griff unter das Sofa. Walter Geist holte ein dickes, in braunes Packpapier gewickeltes Bündel unter der Couch hervor, das mit einem scharlachroten Band verschnürt war, und lehnte 449
sich zurück. Er drückte sich das Paket mit beiden Armen fest gegen die Brust. «Ich habe es hier, Rosemary.» Er war zu einer Art Parodie seines früheren Geschäftsführer-Gehabes übergegangen und schlug einen salbungsvollen Ton an, wie ich ihn manchmal an ihm gehört hatte, wenn er mit Sammlern sprach, aber jetzt schien er es ehrlich zu meinen. «Ich habe es hier», sagte er. «Für Sie.» Ich hätte weinen mögen, als ich ihn so sah, so grenzenlos verletzlich und so voller Hoffnung. «Bringen Sie es zu Metcalf», fuhr er fort. «Ich habe auf Sie gewartet. Wir vergessen einfach, dass wir uns verpasst haben. Es ist immer noch Zeit. Ich möchte, dass Sie das Geld abholen.» Er wiegte sich ein wenig vor und zurück, das Paket bildete gleichsam den Drehpunkt seiner Bewegungen oder das Zentrum seines Gleichgewichts. Es war einfach nicht möglich. Er würde nicht einmal versuchen, zu begreifen. «Mr. Geist», sagte ich. Ich sprach ganz langsam und bedacht, denn mir wurde bewusst, wie verstört er war – obwohl ich zu diesem Zeitpunkt selbst noch nicht ganz begriffen hatte, was er plante. «Wie haben Sie den Verkäufer bezahlt? Wer hat das Manuskript gefunden?», fragte ich ruhig. Er lächelte, ohne mich anzusehen. Immer noch saß er zusammengesunken im Sofa, die Arme fest um das Paket geschlungen. «Ich habe Geld vom Konto des Arcade genommen», sagte er, fast beiläufig. «Nur Pikes Unterschrift und 450
meine werden für eine Abhebung akzeptiert. Pearl hat den Rest ausgeglichen, als sie mir das Bargeld übergeben hat.» «Wie viel haben Sie genommen?» «Nur hunderttausend Dollar», sagte er und wiegte sich beim Sprechen wieder hin und her, seine Errungenschaft fest an die Brust gedrückt. «Begreifen Sie denn nicht, wie ich es angestellt habe? Aber Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Pike auch nicht. Ich habe mir das Geld nur von ihm geliehen. Ich habe alles geplant. Ich bin kein Dieb, wissen Sie. Ich werde ihm das Geld zurückzahlen und trotzdem etwas eingenommen haben. Eine ganze Menge sogar. Vierhunderttausend, um genau zu sein. Ich werde Sie bezahlen, Rosemary. Sie brauchen hier auch nicht mehr zu arbeiten. Ich kann Ihnen geben, was Sie wollen. Und Sie werden mir aufwarten …» Seine Stimme erstarb. «Ihnen aufwarten?», fragte ich, verblüfft über seine Wortwahl. «Ich habe nicht die Illusion, dass Sie mich lieben könnten, Rosemary Savage», sagte er. «Aber ich kann Ihnen etwas geben.» Ob er nun krank war oder wahnsinnig, ich konnte meinen Ärger jetzt kaum mehr verbergen. «Ich habe es Ihnen schon einmal gesagt, Mr. Geist: Ich möchte nichts von Ihnen», sagte ich und ging Richtung Tür. «Es geht Ihnen nicht gut.» Ich versuchte, nicht zu verärgert zu klingen. «Ich werde Ihnen helfen, so wie ich es bereits getan habe. Es ist noch nicht zu spät, um Mr. Pike zu sagen, was geschehen ist. Sagen Sie ihm einfach, dass Sie in seinem Namen gehandelt 451
haben und dass Sie in Metcalf einen bereiten Käufer gefunden haben, für Peabodys Bibliothek.» Ich wusste, dass das der reine Wahnsinn war. Pike würde sich niemals auf einen Deal einlassen, den er nicht selbst ausgehandelt hatte, ganz zu schweigen von der Tatsache, dass er von seinem vertrautesten Mitarbeiter bestohlen worden war. Geist war ein Narr gewesen. Mit seinem Augenlicht war ihm offenbar auch der Verstand abhandengekommen. Doch auch Oscar und ich hatten uns zum Narren gemacht. Begierig hatten wir uns verlocken lassen, wir hatten die Kontrolle verloren und nicht einmal geahnt, wohin das alles führen könnte. Meine Lektüre von Melville hätte es mich eigentlich lehren sollen: Wir alle jagen einem Phantom hinterher. Walter Geist jedenfalls saß da und hatte seines in den Armen. «Nehmen Sie’s», sagte er plötzlich und meinte das Paket, das er immer noch umklammert hielt. «Bringen Sie es in Sicherheit, Rosemary. Bringen Sie es Metcalf, und ich warte hier auf Sie. Geben Sie es niemandem außer ihm. Er erwartet Sie. Und dann kommen Sie zurück und helfen mir.» «Ihnen helfen, Mr. Geist?» Ich überlegte verzweifelt, was ich tun sollte. Wenn ich ihm das Paket entriss, könnte ich es Oscar geben, der in der Sachbuchabteilung auf mich wartete. Dann würde er mir endlich glauben, dass ich kein Sterbenswörtchen zu Mr. Mitchell gesagt hatte. Aber das würde bedeuten, dass ich Geist endgültig im Stich ließe. «Helfen Sie mir, Rosemary», sagte er. Er streckte 452
blind seine bleiche Hand nach mir aus. «Rosemary, Sie können bei mir bleiben.» Wenn ich in diesem Moment einfach nach dem Paket griff, wäre ich ihn los. «Warum haben Sie mich nie bei meinem Vornamen genannt?», fuhr er fort. «Warum? Können Sie nicht meinen Namen sagen? Ich weiß, Sie können mich nicht lieben, ich bitte Sie auch nicht darum, aber Sie können mir helfen, so wie Sie es hier getan haben, seit Sie ins Arcade gekommen sind. Alles hat sich verändert, seit Sie hier sind.» Er zog sich langsam hoch und stand vor mir, das Paket unter dem Arm. Wenn ich ihm einen Schubs gab oder einen richtigen Stoß, wäre es ein Leichtes, das Paket an mich zu bringen. «Ich brauche Sie», sagte er und streckte flehentlich einen Arm in meine Richtung aus. Ich drückte mich mit dem Rücken gegen die Wand, unfähig, irgendetwas zu tun. In diesem Moment kam Pearl durch die Tür. «Rosemary, ich suche überall nach dir!», sagte sie. «Mr. Pike hat mich zur Bank geschickt, dann soll ich bei Geist zu Hause vorbeigehen. Er nimmt das Telefon nicht ab. Was ist denn los?» Ihr Blick wanderte von meinem Gesicht zu der anderen Gestalt im Toilettenvorraum. «Heiliger Strohsack!», kreischte sie. «Was machen Sie denn hier?» Sie drehte sich zu mir um, dass ich ihr eine Antwort gab, während Geist schwankend vor ihr stand. 453
«Er war die ganze Zeit hier», sagte ich ruhig. «Aber Pearl …» «Sie müssen mit mir mitkommen, Walter», sagte sie barsch. «Mr. Pike will Sie sehen.» Sie machte einen Schritt auf ihn zu. «Was auch immer geschehen ist, kann wieder eingerenkt werden.» «Nein!», stieß er hervor und zog sich in die Ecke zwischen dem Sofa und der abgewetzten Wand zurück. «Bitte, Mr. Geist», sagte ich. «Ich gehe mit Ihnen.» Er hielt das braune Paket umklammert. «Hören Sie auf», sagte er mit einem rauen Krächzen. «Ich habe Ihnen gesagt, was Sie tun sollen. Sie haben eine Verpflichtung.» Pearl schaute mich verblüfft an. «Rosemary?», fragte sie. Endlich löste ich mich aus meiner Erstarrung. «Pearl, vielleicht gehst du zu Mr. Pike und sagst ihm, dass wir hier sind, das wäre besser.» Verwirrt schüttelte sie den Kopf. «Ist schon in Ordnung, Pearl, wir warten hier. Geh bitte Mr. Pike holen.» Wir sahen uns an, und sie begriff, dass sie auf der Stelle den Inhaber des Arcade hierherbringen sollte. «Und hol auch Oscar», flüsterte ich. Sie ging hinaus. «Nun kommen Sie, Mr. Geist», sagte ich und ging langsam auf ihn zu. Ich wusste, dass ich ihm das Paket abnehmen musste. Er hatte die Grenze überschritten. Schließlich war das Manuskript gestohlen, und er hatte es mit gestohlenem Geld an sich gebracht. Er hatte recht, wenn er mich an meine Pflichten erinnerte. Al454
lerdings hatte ich nicht ihm gegenüber Pflichten. Es war nur gerechtfertigt, wenn ich ihm Die Insel des Kreuzes abnahm. Oscar sollte entscheiden, was mit dem Manuskript geschehen sollte. Doch ich brauchte es ihm gar nicht abzunehmen. Er gab es mir von selbst. «Hier», sagte er und drückte mir das Paket in die Hand. «Ich habe begriffen, was Sie vorhaben. Gehen Sie schnell, bevor Pearl und Mr. Pike es merken. Geben Sie Metcalf das Manuskript. Sagen Sie ihm, dass es von mir ist, und lassen Sie sich das Geld geben. Es gehört uns, Rosemary. Dieses Geld ist für uns.» Ich nahm das Paket und ging langsam zur Tür. «Ich will das Geld nicht, Mr. Geist», sagte ich. Jetzt, da ich das Manuskript in Händen hielt, kannte ich meine Pflicht. «Ich will nichts davon. Ich bin nicht so, wie Sie es wollen. Das alles tut mir leid. Was zwischen uns geschehen ist, tut mir leid. Es war unbedacht, wissen Sie. Ein Fehler.» «Ein Fehler?», wiederholte er. «Es war kein Fehler.»
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Vierundzwanzigstes Kapitel
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ind Sie dadrin, Walter?», schrie Pike wütend und schlug so heftig die Tür auf, dass sie hinten gegen die Wand knallte. «Gehen Sie!», rief Geist. «Was in Gottes Namen soll das alles hier?», rief Pike wütend. Er war auf der Schwelle stehen geblieben, weil ihn ein in dem Moment etwas unangemessenes Gefühl für Anstand davon abhielt, die Damentoilette zu betreten. «Kommen Sie auf der Stelle hier raus! George Pike wird nicht hier stehen und warten! Das ist doch absurd! Kommen Sie sofort raus!» Er war dunkelrot angelaufen und versuchte nicht einmal, seine Wut im Zaum zu halten. Oscar stand hinter Pike, daneben Pearl. Oscars Augen waren starr auf das Paket in meinen Händen gerichtet. «Walter, was machen Sie da?», fragte Pike und betrat vorsichtig den Raum. Geist schrumpfte in seine Ecke gedrängt förmlich in sich zusammen. Pike schüttelte den Kopf, entsetzt über den Zustand seines Geschäftsführers. Er war jetzt weniger wütend als einfach ungeduldig. «Ich habe nicht den Wunsch, mit Ihnen zu sprechen», murmelte Geist mit gesenktem Kopf. «Und ich bin nicht Ihr Untertan», fügte er bitter hinzu. «Mr. Pike», mischte ich mich ein. «Mr. Geist geht es nicht gut.» 456
«Das ist wohl nicht zu übersehen, Miss Savage», sagte Pike boshaft. Er machte einen Schritt auf Geist zu und packte ihn grob am Arm. «Wir gehen jetzt hoch ins Büro.» «Rosemary!», schrie Geist. «Bitte gehen Sie! Jetzt!» «Sie geht nirgendwohin, Walter. Miss Savage, kommen Sie mit», befahl Pike und blickte mich finster an. «Ja, natürlich», sagte ich. Pike beförderte Geist aus der Toilette, und ich folgte ihnen, das Manuskript unter den Arm geklemmt. Oscar zog mich beiseite, als ich mit dem seltsamen Paar an ihm vorbeikam. «Ist es das? Hast du es?», flüsterte er mir aufgeregt ins Ohr. Pearl sah mich forschend an, damit ich ihr endlich erklärte, was diese bizarren Vorgänge zu bedeuten hatten. Walter Geist blickte sich suchend nach mir um. «Gehen Sie!», rief er zur hohen, kuppelartigen Decke des Arcade hoch, von wo seine Worte gespenstisch widerhallten. Ich schwieg. «Was zum Teufel geht hier vor?», wollte Pearl wissen. «Was ist denn los mit ihm?» «Rosemary!» Oscar stand hinter ihr und legte einen Finger an die Lippen. Wir wandten uns um und sahen zu, wie Pike und Geist die Treppe zum Büro hochstiegen. Der Inhaber des Arcade hatte seine Hand fest auf den Rücken seines Geschäftsführers gelegt und schimpfte unablässig auf ihn ein; ein unversöhnlicher Vater, der einen aufsässigen Sohn schilt. «Sag schon», beharrte Pearl. «Was geht hier vor, Ro457
semary? Von Pike habe ich erfahren, dass auf unserem Konto hunderttausend Dollar fehlen. Die kann doch nicht Geist genommen haben, oder? Er würde doch Pike niemals beklauen.» «Doch, Pearl», sagte ich müde. Ich sah Oscar an. «Geist hat das Geld gestohlen, um Die Insel des Kreuzes zu kaufen», erklärte ich. «Dafür hat er hunderttausend gezahlt.» Seine goldenen Augen starrten weiter auf das Paket. «Geist hat mir gesagt, ich soll Metcalf das Manuskript bringen. Er hat vom Konto des Arcade abgehoben, um den Verkäufer bar bezahlen zu können; eine weitere Bedingung des Verkäufers war die, dass er anonym bleiben würde. Geist hat gesagt, Peabody sei bereit, achthunderttausend dafür zu zahlen, von denen Metcalf dreihunderttausend einstreicht. Geist hatte vor, Pike das Geld zurückzuzahlen und den Rest zu behalten; er hat geglaubt, man würde die Sache nicht bemerken, bis er das Geld zurückgezahlt hätte. Aber etwas ist schiefgegangen mit seinem Plan.» «Und was war das, Rosemary? Was ist schiefgegangen?», fragte Oscar und blickte mir aufmerksam ins Gesicht. Ich konnte ihm nicht antworten. Und wenn ich in jener Nacht, als Geist mich gesucht hatte, im Martha Washington gewesen wäre? Aber ich war nicht da gewesen, und Geist hatte nicht gewusst, wo ich war. Aber tatsächlich war mir nicht klar, warum sein Plan nicht aufgegangen war. Wahrscheinlich war die ganze Sache von Anfang an zum Scheitern verurteilt gewesen, denn 458
Geist war nie darauf aus gewesen, Die Insel des Kreuzes in seinen Besitz zu bringen, ihm war es um Freiheit gegangen. Und vielleicht um seine Sehnsucht nach mir. «Hat Geist dir dieses Päckchen hier gegeben?», fragte Pearl. «Ist das das Geld? Hat er es für dich gestohlen?» «Nein, das ist nicht das Geld. Das ist das Manuskript. Obwohl Geist es natürlich gar nicht gesehen hat. Er ist ja blind.» Oscar fuhr sich mit der Hand über sein dunkles Haar. Er sah skeptisch aus. «Von wem hat er es denn gekauft?» «Ich glaube, das weiß nicht einmal er», erwiderte ich. «Wie kann er das nicht wissen? Meinst du, der Verkäufer hat das Manuskript gestohlen, von irgendeinem anderen Sammler?» Oscar schüttelte ungläubig den Kopf. «Er hat es gestohlen und dann Geist anonym weiterverkauft?» «Das sagt zumindest Geist, ja.» «Ich habe keine Ahnung, wovon ihr beiden da redet», unterbrach uns Pearl. «Was ist Die Insel des Kreuzes? Rosemary, rück schon raus mit der Sprache. Warum hat Geist gesagt, du hättest eine Verpflichtung ihm gegenüber?» «Jetzt nicht», sagte ich. «Was für eine Verpflichtung?», wollte auch Oscar wissen. «Hier», sagte ich, wie Walter Geist zuvor. Ich reichte Oscar das Paket, wie Geist es mir gereicht hatte. Oscar stand wie angewurzelt da und hielt es mit beiden Händen fest. «Es ist für dich», sagte ich. 459
«Wird mir jetzt einer von euch beiden sagen, was in diesem Paket ist?», fragte Pearl, der es langsam lästig wurde, dass sie nichts verstand. Sie hatte der seltsamen Übergabe stumm zugesehen. Oscar begab sich feierlichen Schritts zu seinem Hocker in der Sachbuchabteilung, Pearl und ich folgten ihm wie die Jünger dem Herrn. Er legte das Paket auf den Hocker und schnürte vorsichtig das rote Band auf. «Seltsam», sagte er zu sich selbst. «Das ist ein Baumwollband, wie es Rechtsanwälte verwenden. Das sprichwörtliche rote Band.» Das braune Papier war dick und ließ sich gleich öffnen, als das Band gelöst war. Oscar klappte es behutsam auf und starrte auf den Inhalt des Päckchens. «Und?», fragte Pearl. «Ist es das, was du dachtest?» Es war unmöglich, Oscars Miene zu deuten. Sein Gesicht wirkte wie eine Maske. Ich schaute ihn von der Seite an, so wie ich es an jenem Abend in der Bibliothek getan hatte, als wir so viel über Die Insel des Kreuzes erfahren hatten. Sein wundervoller Kopf war nach vorne gestreckt, als spähte er über einen Felsvorsprung. Er griff in das geöffnete Paket und nahm einen dicken Papierstapel heraus. «Das war doch ein Bluff, oder?», fragte Pearl. «Das ist doch nicht das, was ihr gedacht habt, oder?» Das Papier war leer und leuchtend weiß. Oscar hielt den Papierstapel in der Hand, und langsam wandte er seine goldenen Augen von dem Papierstapel ab und sah mich an. «Wo ist es, Rosemary?», fragte er drohend. 460
«Er ist getäuscht worden», stotterte ich. «Ist es eine Fälschung? Ist es nicht da?» «Die Insel des Kreuzes ist keine Fälschung, Rosemary», fauchte Oscar. «Aber das Versteckspiel, das du mit mir treibst, ist mehr als falsch, das kann ich dir sagen.» «Wovon redest du?» «Wo ist das richtige Manuskript?» «Oscar – ich weiß nicht mehr als du!» «Oscar», sagte Pearl. «Geist hat ihr dieses Paket gegeben. Er hatte es auf der Damentoilette dabei.» «Wo ist es, Rosemary?», wiederholte Oscar. «Ich weiß es nicht, ich schwöre es dir. Ich hatte Geist das letzte Mal an Heiligabend gesehen. Ich schwöre es.» «Und was ist mit Mitchell?» «Naja, ich bin ins Krankenhaus gegangen, um zu schauen, wie es ihm geht.» «Und hast du ihm von der Insel des Kreuzes erzählt? Hast du es ihm gegeben?» «Nein, Oscar», flehte ich ihn an, damit er mir endlich glaubte. «Ich schwöre es bei der Asche meiner Mutter, ich schwöre, dass ich keiner Menschenseele davon erzählt habe.» Er kam auf mich zu, und ich wich vor ihm zurück. Mit diesem schrecklich drohenden Gesichtsausdruck machte er mir Angst. «Ich verschwende meine Zeit mit dir!», zischte er. «Du blödes, unwissendes Ding!» Damit drehte er sich um, schleuderte mit einer heftigen Handbewegung die leeren Blätter in die Luft und stapfte wütend in Richtung Sachbuchabteilung im hinteren Teil des Ladens. 461
Die Blätter segelten langsam auf den schmutzigen Boden des Arcade hinunter und blieben in einem wilden Durcheinander liegen. Pearl legte mir einen Arm um die Schultern. «Wo bist du da nur reingeraten, meine Liebe?», fragte sie sanft. In meiner Verzweiflung wollte ich Oscar folgen, aber Pearl hielt mich zurück. Er verschwand hinter einigen Bücherstapeln, aber einen Moment später sahen wir ihn die Treppe zum Büro hochstürmen. Er ging hinein, und kurz darauf kam von drinnen lautes Geschrei, ein hitziger Wortwechsel war zu hören, der einige Minuten andauerte. Ich riss mich von Pearl los und versuchte unten von der wackeligen Treppe aus zu verstehen, was da geschrien wurde. Walter Geist sagte gar nichts; gerade er, der sich ständig verteidigte, hatte jetzt offenbar nichts mehr zu seiner Rechtfertigung zu sagen. «Ich weiß nicht, was du mit alldem zu tun hast, Rosemary, aber ich würde mich raushalten», sagte Pearl, die hinter mir stand und die Hände auf meine Schultern legte. Sie war mir gefolgt und zog mich weg von der Treppe. Sie führte mich sanft zu Pikes Podest, wir standen zusammen auf der erhöhten Plattform und blickten gebannt nach oben zum Büro. Eine Minute später waren George Pike und Oscar Jarno oben auf dem Treppenabsatz zu sehen. Pike hielt Oscar am Arm, offenbar hatte er ihn aus dem Büro gezerrt. Ihr Schlagabtausch hallte im ganzen weiten Raum von der hohen Decke des Arcade wider. 462
«Das geht Sie nichts an!», herrschte Pike Oscar mit seiner seltsamen hohen Stimme an. «Er ist nicht bei Sinnen. Er hat das Gesetz gebrochen, aber Sie sind nicht …» «Jetzt lassen Sie mich doch ausreden! Ich werde es Ihnen erklären!», schrie Oscar zurück. «Oder ich bringe ihn dazu, dass er es Ihnen sagt!» Geist erschien mit gebeugten Schultern auf dem Treppenabsatz, er sah verwirrt aus. Oscar stürzte auf ihn zu und brüllte ihn an. Er beschimpfte ihn als Idiot. Und dass er und ich die ganze Zeit gewusst hätten, was Geist im Schilde geführt habe. Dass er sich nicht täuschen lassen würde. Und wo das richtige Manuskript sei? Wo hatte er es versteckt? Wer hatte den Brief geschrieben? Wo war der Roman? «Sie haben ihn ihr gegeben, stimmt’s? Sie haben den Roman Rosemary gegeben!» Walter Geist schien nicht darauf zu achten, dass Oscar ihn anbrüllte, bis mein Name erwähnt wurde. Er hielt den Kopf gesenkt, offenbar hatte er es aufgegeben, sich zu wehren, und dann umspielte ein kleines Lächeln seine Mundwinkel. Während Pearl und ich auf Pikes Podest standen und uns gegenseitig festhielten, hatten sich auch einige Kunden versammelt und schauten nach oben, völlig gebannt, denn eine solche Darbietung hatte es im Arcade noch nicht gegeben. Oscar machte Geists Lächeln offenbar noch wütender, er versetzte ihm einen harten Stoß gegen die Brust. Das lockere Geländer brach, als Geist dagegen taumelte, und er stürzte hinab und prallte mit einem wi463
derlichen dumpfen Geräusch auf dem Boden auf, wo er reglos verkrümmt neben den verstreuten leeren Blättern liegen blieb. Pearl und ich eilten zu ihm. George Pike war schon da. «Nicht bewegen!», kreischte Pearl. Doch Pike hielt bereits seinen Kopf in den Händen. Walter Geists Augen standen offen und still.
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Fünfundzwanzigstes Kapitel
N
och Monate später sah ich wieder und wieder, wie Walter fiel, eine männliche Lumpenpuppe, die über ein zerbrochenes Geländer geschleudert wurde. Arthur hatte mir einmal ein Gemälde von Goya gezeigt: Vier Mädchen hielten jeweils die Zipfel einer Decke und warfen einen Strohmann damit in die Luft; seine Arme standen in einem eigenartigen Verhältnis zum schlaffen Körper, der grotesk verzerrt war. Wieder und wieder sah ich ihn vor dem Gewölbe der Decke, wie er herabfiel, der schäbige Mantel flatterte, ein letztes Lächeln auf dem Gesicht, kurz bevor er aufkam. Wieder und wieder prallte er auf den Boden, der mit leeren Blättern übersät war. Monatelang suchten diese Bilder mich heim, eine lauernde Vision, die mich ganz plötzlich und unerwartet überfiel. Er verfolgte mich. Sein lächerlicher Hut, den sein Vater ihm hinterlassen hatte, blieb auf dem zerschlissenen Sofa im Vorraum zur Damentoilette liegen, bis ich ihn mit zu mir nach Hause nahm. Chaps hatte zu Mutter und mir immer gesagt, ein Hut sei nicht wie ein Buch, denn die Menschen bräuchten Hüte nicht unbedingt. Trotzdem behielt ich die Kopfbedeckung und fügte sie meiner kunterbunten Sammlung hinzu. In all den Jahren habe ich ihn sogar manchmal aufgesetzt. Mir passt er perfekt. George Pike schloss das Arcade einen einzigen Tag zum Gedenken an seinen verstorbenen Geschäftsführer, 465
aber in den folgenden Wochen sprach niemand über das Geschehene. Die Polizei ging von einem Unfall aus, zu dem es gekommen sei, als Pike seinen Geschäftsführer mit dem Vorwurf der Veruntreuung konfrontierte. Die Polizei ermahnte Pike, dass er sie gleich hätte anrufen sollen, als der Verdacht aufkam, Geist könne ein Dieb oder überhaupt ein unzuverlässiger Mitarbeiter sein. Doch wenn George Pike überhaupt Reue empfand, so ließ er sich nichts anmerken, und weil er so unergründlich war wie die Stadt selbst, weiß ich auch nicht, wie er persönlich mit diesem Verlust umgegangen ist. Jedoch ziehe ich es vor zu glauben, dass er ihn nie vergessen hat. Und dass Pike ihn, auf seine Weise, in ehrenvollem Gedenken hielt. Und natürlich veränderte sich alles. Wie Geist verschwand auch Oscar Jarno endgültig aus meinem Leben und aus dem Arcade. Er verschwand an dem Tag, als Walter zu Tode stürzte, indem er sich in dem Chaos, das folgte, unbemerkt davonmachte. Danach stellte ich selbst Nachforschungen an. Ich fand seine Adresse in der von Geist schlechtgepflegten Mitarbeiterkartei. Doch das Gebäude an der 125. Straße West, das Oscar in seinem Bewerbungsformular als Wohnsitz angegeben hatte, war längst nicht mehr bewohnt. Ich versuchte auch seinen Schneider ausfindig zu machen, konnte jedoch niemanden finden, der die speziellen Anforderungen erfüllt hätte, auf denen Oscar bestand. Kein Schneider, mit dem ich sprach, erinnerte sich an einen so anspruchsvollen Kunden. Auf dem alten Bewerbungsbogen stand eine Postfachadresse, an die ich mehrere lange Briefe schickte, in 466
denen ich ihm schrieb, was ich mich nie getraut hatte zu sagen. Ich lese diese Briefe heute wieder und sehe, dass ich ihm darin versicherte, niemand mache ihn für das, was geschehen war, verantwortlich. Doch manche Briefe schreibt man eigentlich mehr an sich selbst, und das sind die Briefe, die immer ihren Adressaten erreichen. Meine Briefe an Oscar kleben mittlerweile in meiner Kladde, und auf die Umschläge hat die Post in dicken roten Großbuchstaben UNZUSTELLBAR gestempelt, bevor sie an mich zurückgegangen waren. Die Tage, die auf Walters Tod und Oscars Verschwinden folgten, sind in meinem Gedächtnis gelöscht, doch als ich am Silvesterabend allein in meiner Wohnung saß, weiß ich, dass ich kurz in Erwägung zog, Chaps’ kleines Geschenk zu öffnen, das noch immer neben meiner Kladde im Regal lag. Ich nahm es sogar in die Hand und strich zärtlich über das vertraute blaue Papier. Das waren doch nun meine schlimmsten Momente, oder? Doch etwas hielt mich davon ab. Vielleicht wollte ich, dass ihr Geschenk noch auf mich wartete, dass es eine Überraschung blieb. Ich legte das Päckchen wieder hin und nahm stattdessen einige fast durchsichtige Blatt Luftpostpapier zur Hand. Und ich schrieb an Chaps. Ich schrieb alles auf. Und dann ging ich zum Alkoven hinüber, stieg ins Bett und zog mir die Decke über den Kopf. Bevor das neue Jahr – und das neue Jahrzehnt – begann, war ich eingeschlafen. Als Chaps mir zurückschrieb, prompt, wie ich es nicht anders erwartet hatte, gab sie mir einen schlichten 467
Rat. Trauer kann nur derjenige meistern, der sie erlebt, sagte sie in Bezug auf Walter Geists Tod. Ich war mir nicht sicher, ob sie seine Trauer meinte oder meine. Ich wusste, dass ich mit Trauer nicht umgehen konnte, ich wollte es auch gar nicht versuchen, aber ich wollte lernen, damit zu leben. Immerhin verdankte ich der Trauer etwas. Die Trauer gehörte zu jenem Jahr und zu mir selbst, sie war so dicht damit verwoben wie ein Faden in einem von Oscars kostbaren Stoffen. Danach hörte ich auf, mir Notizen in mein Büchlein zu machen. Der Text hört einfach auf. Ich hatte nicht mehr den Mut, Oscars Beispiel zu folgen. Wenn ich ihn wirklich nachahmen sollte, dann würde ich selber auch verschwinden müssen, vermutete ich. Ungefähr einen Monat nach Walters Tod begann George Pike eines Tages, wie es sonst nie der Fall war, eine Runde «Wer weiß das schon». Er hatte mehrere neue Mitarbeiter angestellt. Als ich ihn rufen hörte, dachte ich, Pike wolle sie mit dem kleinen Zeitvertreib bekannt machen, der den Angestellten helfen sollte, sich bei der Suche in den rätselhaften Abgründen des Arcade besser zurechtzufinden. Dass sowohl Oscar als auch Walter Geist nicht mehr da waren, hatte zu einer deutlichen Verarmung im kollektiven Gedächtnis des Arcade geführt. «Wie lautet der Titel?», fragte ich Bruno, weil ich es nicht richtig gehört hatte. Ich hatte einen Kunden in den Keller begleitet, wo der neue Geschäftsführer, ein gewisser Mr. Angelo, unter der hellleuchtenden Kugellampe rasch die Rezensionsexemplare abfertigte, ohne dabei meine Hilfe zu benötigen. 468
«Wer zum Teufel weiß das schon?», sagte Bruno bereits etwas undeutlich, obwohl erst früher Nachmittag war. «Pike hat damit angefangen», murmelte Jack. «Hab den Titel nicht mitbekommen.» Sie hatten das Interesse am Wettstreit und an dem Spiel verloren, zumal es nur wenig zu gewinnen gab, wenn man den Bestand der einzelnen Abteilungen genau kannte. Außerdem waren Pikes Taschenbuchleute nie besonders interessiert daran gewesen, Kunden behilflich zu sein. Arthur war nirgendwo zu sehen, deshalb begab ich mich zu George Pikes Podest – ich erstarrte, als ich sah, wer da vor ihm stand, mit dem Inhaber des Arcade ins Gespräch vertieft. «Ah, Miss Savage», rief Pike mich. «Wir suchen nach einem Buch. Vielleicht können Sie uns helfen?» «Ich werde es versuchen», sagte ich. «Wie war der Titel nochmal?», fragte Pike den dünnen Mann, der sich zu mir umdrehte, ein Hauch von Eisenkrautduft stieg mir in die Nase. «Die Insel des Kreuzes», sagte Samuel Metcalf. «Von Herman Melville.» «Dieses Buch gibt es nicht», teilte ich tonlos mit. «Wie Sie eigentlich wissen.» «Ich weiß gar nichts», erwiderte Metcalf vorwurfsvoll. «Sind Sie vertraut mit dem Titel?» Pike lehnte sich über das Geländer, das rund um sein Podest verlief, und richtete zum ersten Mal, seit ich im Arcade arbeitete, seine ganze Aufmerksamkeit auf mich. «Was wissen Sie darüber, Miss Savage?» 469
«Ein verschollenes Werk von Herman Melville», sagte ich an Pike gerichtet, ohne auf Metcalf zu achten. «Begonnen im Herbst 1852 und fertig gestellt im darauffolgenden Frühjahr. Der Roman basiert auf einer authentischen Geschichte. Die Hauptthemen sind Verlust, Resignation und Reue. Melville legte das Werk seinem Verlag vor, aus unbekannten Gründen wurde es jedoch nicht veröffentlicht. Die einzige Kopie des Textes wurde möglicherweise bei einem Brand in den Büroräumen der Harper Brothers Ende 1853 zerstört. Der Roman ist nicht erhalten, Mr. Pike, und das weiß Mr. Metcalf auch. Es ist eine Schande, dass er hierherkommt, um danach zu fragen. Fragen Sie ihn, was er damit bezwecken will, wenn er so tut, als wüsste er nicht, dass der Roman verschollen ist.» «Wie können Sie es wagen? Pike, Sie lassen es doch nicht zu, dass dieses Gör hier so mit mir spricht?», schimpfte Metcalf und fuchtelte wild mit seinen dünnen Gliedmaßen. Dann wandte er sich an mich: «Ich glaube, Sie wissen, wo der Roman ist, und ich komme hierher ins Arcade, weil ich ihn haben will. Er steht mir zu.» «Der Roman ist nicht hier», sagte ich ungerührt. Metcalf bluffte nur, er versuchte mich aufs Glatteis zu führen. «Und Ihnen steht gar nichts zu.» «Sind Sie sich sicher, Miss Savage?», wollte Pike wissen. «Wir haben den Roman hier nicht?» «Ja, Mr. Pike. Absolut sicher.» «Ihre Kenntnisse sind beeindruckend. Sie sind eine gute Antiquarin geworden», sagte er. Sein Kompliment, Pikes erstes und letztes Kompliment an mich, erstaunte mich. «Sie haben dem nichts mehr hinzuzufügen?» 470
«Nein, Mr. Pike.» «Danke», erwiderte er, und ich war entlassen. Ich entfernte mich, doch Metcalf kam mir nach, frustriert darüber, dass Pike die schlichte Wahrheit einfach so akzeptiert hatte. Er packte mich am Arm und riss mich herum. «Ich dachte, er habe Ihnen etwas bedeutet», sagte er hinterhältig. «Er würde es wollen, dass Sie mir den Roman geben. Er wollte, dass Peabody ihn bekommt.» «Sie wissen nicht, was er wollte.» «Ich weiß, dass Sie seine Geliebte waren, Miss Savage. Sie wissen doch, was er mit dem Manuskript getan hat.» Erschüttert wich ich zurück. «Ich war nicht seine Geliebte», flüsterte ich. «Sie sprechen nicht gerade sehr überzeugend», bemerkte Metcalf. «Wie auch immer – wo ist das Manuskript?» «Ich habe keine Ahnung.» «Oscar ist verschwunden, und Sie sind die einzige Person, die die Einzelheiten des Falls kennt.» «Es gibt kein Manuskript», sagte ich. «Es war Betrug. Mr. Geist wurde getäuscht.» «Natürlich – und zwar von Ihnen!», zischte er. Ich fühlte mich benommen – als hätte Walter Geist selbst mich bezichtigt. «Er hat es Ihnen gegeben, oder?» «Es war ein Bluff», wiederholte ich. «Das ganze Ding war ein Täuschungsmanöver.» «Ein Bluff zum Preis von achthunderttausend Dollar», sagte er. «Und wer hat dann das Geld?» «Pleite sind Sie bestimmt nicht, Mr. Metcalf. Und 471
noch etwas», sagte ich und schüttelte seine Hand ab. «Gekostet hat es wahrlich mehr!» «Ich will dieses Manuskript!», forderte er. «Ich werde alles tun, um es zu kriegen! Und als Allererstes werde ich dafür sorgen, dass Sie gefeuert werden.» Ich drehte mich um und verließ das Arcade. Ich konnte diesen Menschen nicht ertragen. Der Sammler in ihm machte mich krank. Draußen auf der Straße, ohne Mantel, versuchte ich die Luft anzuhalten. Mir schien, dass mir mit jedem Atemzug etwas abhandenkam. Ich lehnte mich an die Schaufenster des Arcade. «Alles in Ordnung mit Ihnen?» Ein Mann kam auf mich zu, eingepackt in einen fahlbraunen Mantel, den Kragen über den narbigen Wangen hochgeschlagen. Es war Russell – Thomas Russell, wie ich mich entsann –, der mir einmal seine Karte überreicht und einen Job angeboten hatte, wenn ich jemals Lust haben sollte, bei ihm anzuheuern. «Rosemary, nicht wahr?», fragte er freundlich. «Ist Ihnen nicht gut?» «Doch, doch», sagte ich. «Ich bin nur gerade ein bisschen erschrocken.» Geliebte? Waren Walter Geist und ich ein Paar gewesen? «Gibt es Probleme?», fragte er. «Ich habe von dem tragischen Tod des Geschäftsführers gehört. Waren Sie denn näher mit ihm bekannt?» «Ja», sagte ich, und meine Augen füllten sich mit Tränen. «Wir waren Freunde.» 472
«Das muss sehr schwer für Sie sein», sagte Russell schlicht. Wir schwiegen, und ich bemerkte, dass ich wieder gleichmäßig ausatmete. Ich blinzelte in das helle Sonnenlicht und war froh, nicht drinnen im Arcade zu sein. «Erinnern Sie sich noch, dass Sie mir mal einen Job angeboten haben, Mr. Russell?» Es überraschte mich selbst, dass ich ihm diese Frage stellte. «Einen Job, der mit Büchermachen zu tun hat?» «Ja», lächelte er, und um die tiefen Aknenarben in seinem Gesicht bildeten sich Falten. Ich fand sein zerstörtes Gesicht auf einmal seltsam beruhigend. «Mittlerweile müssten Sie den Moby Dick fertig haben», sagte er. «Ja», antwortete ich. «Sie haben ihn mir nicht madig machen können.» «Nein?» «Nun, wie Sie wissen, überlebt einer den Schiffbruch.» Er betrachtete mich neugierig. «Haben Sie denn noch meine Karte?» «Ja», erwiderte ich. «Sind Sie immer noch Lektor?» «Das bin ich, ja», sagte er. «Rufen Sie mich an, Rosemary. Ich sehe, was ich tun kann.» Obwohl New York noch eine Winterwelt war, erinnerte ich mich wieder daran, dass sich die Jahreszeiten ändern, und langsam schickte der Frühling seine Sendboten aus. Jeder Tag war ein wenig länger, und so nahm ich auch meine Spaziergänge wieder auf. Knospen hingen wie winzige braune Nüsse an den Zweigen der Sträucher in 473
meinem Schmuddelpark. Die Plastiktüten, die sich überall in der Stadt in den Baumkronen verfangen hatten, füllten sich mit wärmerer Luft und wirkten längst nicht mehr so traurig wie vorher. Vielleicht hatte auch ich mich verändert, trotz allem, was geschehen war, oder gerade deswegen. Oft besuchte ich Lillian, und wir sprachen über ruhige, belanglose Dinge. Wir leisteten einander Gesellschaft. Ich erzählte ihr nie von dem Brief, den sich Geist von mir hatte vorlesen lassen, oder von der Insel des Kreuzes. Pearl wusste natürlich davon. Es blieb ein Rätsel, wer Geist Melvilles Roman angeboten hatte, ich kann es bis heute nicht erklären. Immer noch wünschte ich manchmal, mir wäre die abgerissene Ecke geblieben, die papierene Schneeflocke. Wenigstens hätte ich dann einen Beweis, dass der Brief wirklich existiert und Walter Geist ihn nicht erfunden hatte, dass etwas Greifbareres als menschliches Verlangen die tragische Entwicklung in Gang gesetzt hatte. Dann schließlich, an einem Abend im März, schlug ich auf einem meiner Streifzüge den Weg Richtung 26ste Straße East ein und bereitete mich auf eine Begegnung vor, die ich lange vor mir hergeschoben hatte. Die Adresse hatte ich aus dem Briefband, den ich nicht in die Bibliothek zurückgebracht hatte. Ich hielt es für überaus bemerkenswert, dass mein Weg mich so nah am Martha Washington vorbeiführte. Natürlich hatte ich es mir anders vorgestellt, aber man stellt sich die Dinge vorher ja immer anders vor. Es hätte mich eigentlich nicht überraschen dürfen, 474
dass Herman Melvilles Haus nicht mehr da war, verschwunden im Zuge der ewigen Wandlungen der Stadt. Doch war ich enttäuscht, dass nur noch ein kleines Gedenkschild an ihn erinnerte, denn wie sehr hatte ich mir gewünscht, einmal in dieselben Fenster zu schauen, aus denen er einst geblickt hatte. Ich wartete eine Weile, als könnte er jeden Moment um die Ecke biegen, auf dem Heimweg vom Zollhaus, wie ganze neunzehn Jahre lang. Oder wartete ich auf sein Ebenbild – im makellos weißen Hemd, das sich in der Dämmerung selbst aus der Ferne scharf von der Umgebung abzeichnen würde? Als ich da an jenem Abend auf der 26sten Straße stand, sah ich einen schmalen Mond, der sich wie ein gebogener Fingernagel im blauen Zwielicht erhob, kaum mehr als eine blasse Muschel. Der Mond war zunehmend, fiel mir ein; er wurde wieder ganz, als sollte man seinem Beispiel folgen. Pearl nahm wegen ihrer Operation eine Auszeit, weshalb Pike seine ältliche Schwester für die Hauptkasse angeheuert hatte. Mit ihrem anachronistischen Äußeren war sie wie seine Doppelgängerin (ohne Schnurrbart), und sie war, wie er, viktorianisch reserviert. Doch im Gegensatz zu ihrem meisterlichen Bruder war Ethel Pike völlig inkompetent. Pearl arbeitete sie zwei Wochen lang ein und war sichtlich entnervt. George Pike schien das egal zu sein; er verfolgte weiter seine rätselhafte Auspreisungstätigkeit. Wenn Pearl erst einmal weg sein würde, blieben nur noch Arthur Pick und Mr. Mitchell, um mir Gesellschaft zu leisten und meine Ausbildung zur Antiquarin zu betreuen. 475
Ich rief Thomas Russell an, und nach mehreren Bewerbungsgesprächen wurde mir eine Stelle als Praktikantin in seinem Verlag angeboten, für dreißig Dollar mehr die Woche als im Arcade. Ich würde einhundert Dollar in der Woche verdienen! «Du bist auf dem richtigen Weg, Mädchen», sagte Pearl, als ich ihr davon erzählte. Ich veranstaltete mit Pearl und Lillian ein kleines Abschiedsessen für Pearl bei mir, damit wir ihr Glück für die bevorstehende Operation wünschen konnten. Lillian hatte sich verspätet. «Ich weiß nicht, Pearl. Ich glaube, hauptsächlich soll ich dort kopieren und solche Sachen. Vielleicht noch Kaffee kochen.» «Na ja, jedenfalls kommst du raus aus dem Arcade und kannst dich ein bisschen in der großen, weiten Welt umsehen.» «Ich werde das Arcade vermissen, Pearl. Irgendwie sieht es so aus, als müsste ich immer weiterziehen», sagte ich. «Und du wirst mir schrecklich fehlen.» «Ich bin ja in ein paar Wochen wieder da.» Sie tat meine Bemerkung mit einem Winken ab. «Außerdem hast du gesagt, du würdest mich im Krankenhaus besuchen!» «Das mache ich auch», versicherte ich. «Ich nehme den Zug.» «Das möchte ich dir auch geraten haben», sagte sie lächelnd. «Wir Mädels müssen doch zusammenhalten.» Ich erwiderte ihr Lächeln und schaute auf meinen grünen Wecker. Wo steckte eigentlich Lillian? «Mr. Pike zahlt mir die Hälfte meines Lohnes weiter, 476
solange ich weg bin», erzählte Pearl. «Ist das nicht erstaunlich?» Es war ganz sicher erstaunlich: dass Pike auf Geld verzichtete, damit Pearl wieder zurückkam. «Weißt du, was Mr. Pike gesagt hat, als ich ihm meine Kündigung überreicht habe?», fragte ich und zuckte beim Gedanken daran wieder zusammen. «Was denn?» «Er sagte, es sei nie seine Gewohnheit gewesen, junge Frauen anzustellen, und ich sei der personifizierte Grund dafür, warum er es auch nicht mehr tun würde.» «Naja», meinte Pearl, die Pike schon immer gemocht hatte. «Ist schon verständlich, dass er sich jetzt ein bisschen selbst leidtut.» «Mir tut es ja auch leid, Pearl. Weil ich ihn enttäuscht habe.» Während wir auf Lillian warteten, sprachen wir darüber, was Pearl nun bevorstand. Auf sie kam eine folgenschwere Veränderung zu, und wir schwiegen eine Weile nachdenklich. In die Stille hinein klopfte Lillian an die Metalltür meiner Wohnung. Wir fuhren zusammen. «Ich bin’s, Lillian», hörten wir ihre Stimme gedämpft durch die Tür. «Ich weiß doch, dass du es bist», sagte ich, als ich die Tür öffnete, und gab ihr zur Begrüßung einen Kuss. «Nur du und Pearl wissen in dieser ganzen wuselnden Stadt, wo ich wohne!» «Tut mir leid, dass ich so spät bin», entschuldigte sie sich und stürmte herein, in der Hand, wie üblich, eine Tüte mit Geschenken. Sie wirkte fahrig und aufgewühlt. 477
«Ich habe mit meinem Bruder gestritten», verkündete sie. «Er ist sehr böse auf mich. Er sagt, ich soll bleiben.» Pearl erhob sich von der einzigen Sitzgelegenheit im Zimmer und schubste Lillian sanft auf den Armsessel, nachdem sie ihr aus dem Mantel geholfen hatte. «Was ist denn passiert?», fragte sie. Es trat eine gespannte Pause ein, während wir darauf warteten, dass Lillian erzählte, was passiert war. Sie knetete ihre Hände. «Ich habe Wein mitgebracht», sagte sie beiläufig. «Was ist passiert?», wiederholte ich Pearls Frage. «Rosemary», sagte sie rasch. «Ich gehe. Ich gehe zurück. Nach Argentinien. Nächste Woche.» Pearl machte instinktiv einen Schritt auf mich zu, und ohne ein weiteres Wort zu sagen, brach ich in Tränen aus. Und während ich weinte, stellte ich fest, dass meine Tränen frei über mein Gesicht rannen und ich nicht schluchzte; ich verspürte nicht jenen inneren Widerstand, der das Weinen so schmerzhaft macht. «Dann ist das also wirklich ein Abschiedsessen …», sagte Pearl. «Ich vermute», fuhr sie fort, «du hast wieder mal eine Flasche von diesem köstlichen MendozaGesöff mitgebracht, oder?» Lillian zog eine Flasche aus ihrer großen Ledertasche und gab sie Pearl. Ich ging neben dem Armsessel in die Hocke und lehnte mich an Lillian. Sie legte die Arme um mich, und ich konnte wieder ein bisschen lächeln. Ich glaube, wir erinnerten uns beide an jene Nacht, als ich damals im Martha Washington erschienen war, verfroren und niedergeschlagen und um Oscar weinend. Die Nacht, in der sie mich zu Bett gebracht hatte. 478
«Weißt du», sagte Lillian, und ihr Mund war ganz nah an meinem Ohr, «weißt du, warum ich zurückgehe? Ich hätte überhaupt nicht von dort weggehen sollen, Rosemary. Es war falsch, wegzugehen. Es war meine Pflicht, zu bleiben. Deshalb gehe ich jetzt zurück, um Sergio zu Grabe zu tragen. Du weißt, dass das richtig ist, Kind.» Ich nickte an ihrer Schulter. Pearl ließ uns ein wenig allein und machte sich am Spülbecken vor der Ziegelwand mit der Flasche und den Gläsern zu schaffen. Ich nahm meine grüne Halskette ab und legte sie Lillian um den Hals. Gegen ein gebrochenes Herz würde die Kette Lillian nicht beschützen können, wie sie auch mich nicht davor bewahrt hatte, aber ich wollte ihr etwas schenken, etwas, das ich liebte. Wir saßen zusammen auf der Decke am Boden und sprachen über Bücher und Musik, und darüber, wann ich endlich jemand kennenlernen würde, der zu mir passte. Schmerzliche Themen sparten wir aus. Und als mir allmählich klar wurde, dass all meine Mütter mich verlassen würden, wusste ich, dass diesmal etwas anders war. Ich würde bleiben. Ich schickte Mutters Asche zurück zu Chaps, festverpackt in einer Dose und gutgepolstert mit einer Menge Papier. Auf dem Postamt ließ mich der Beamte das Wort «Tasmanien» zweimal buchstabieren, weil er argwöhnte, ich hätte mir den Bestimmungsort des Päckchens ausgedacht. Er dachte, es sei ein erfundener Ort, den ich aus einem Märchenbuch hatte, bis ich es ihm auf einer Weltkarte zeigte, die hinter ihm an der Wand 479
hing. Die Insel Tasmanien liegt wie ein Papierschnipsel, der aus dem großen Kontinent herausgerissen ist, vor der Küste Australiens. Der Postbeamte schnalzte mit der Zunge. «Das muss man sich mal vorstellen», sagte er und schüttelte den Kopf, «dass jemand von so weit herkommt.» «Ja», sagte ich. «Das muss man sich mal vorstellen.» Ich betrachtete es höchstens als eine Notlüge, als ich die Zollerklärung unterschrieb, in der stand, die Schachtel enthalte nur ein Geschenk für die Empfängerin (ich konnte schließlich schlecht erklären, dass sich darin die Asche meiner Mutter befand). In die Rubrik, wo es um den Schätzwert ging, trug der Beamte eine Null ein. Geschenke seien wertlos, belehrte er mich, es sei denn, ich wolle die Sendung versichern. Das wollte ich nicht. Als ich das Postamt verließ, hatte ich das Gefühl, ich sei schon viel länger hier als nur ein Jahr. Etwas dergleichen hatte ich auch in dem Brief an Chaps geschrieben, den ich der Huon-Schachtel beigelegt hatte. Ich hatte ihr meinen Entschluss mitgeteilt, das Arcade wegen eines besserbezahlten Jobs zu verlassen, und dass ich Mutters Asche zurückschickte, weil Chaps wissen würde, was damit zu tun sei, und weil es mir nicht mehr richtig erschien, sie bei mir zu behalten. Ich lebte in New York, und Mutter war nur zu Besuch gewesen. Mein letzter Tag im Arcade war der fünfundzwanzigste April. Nur Pearl wusste, dass das auch mein Geburtstag war, und sie war in Baltimore und erholte sich von ihrer Operation. Dass auch Anzac Day war, oder gar die Be480
deutung dieses Feiertages, wusste erst recht kein einziger Mensch, den ich in New York kannte. Außer natürlich, wenn Oscar irgendwo in der Stadt war. Am Nachmittag hatte mich Mr. Mitchell nach oben in den Raritätenraum eingeladen. Als ich mit dem launischen Fahrstuhlkäfig kämpfte, wurde mir das Herz schwer, weil ich an Walter Geist und an den Heiligabend denken musste, als wir zusammen neben Robert Mitchells Schreibtisch gestanden hatten. Ich zögerte kurz am Fahrstuhl, weil ich hörte, dass Mr. Mitchell drinnen gerade ein Geschäft abschloss. «Die Ausgabe ist in außergewöhnlich gutem Zustand, abgesehen von einer kleineren Reparatur in der Ecke des letzten Blatts. Hier oben ist der Schnitt etwas knapp, was einige Buchstaben in der Kopfzeile beeinträchtigt. Aber ich bin mit dem Preis runtergegangen, weil ich weiß, dass dieser George Herbert genau das ist, was Sie haben wollen. Sie müssen endlich mal von John Donne weg, um Ihre Sammlung zu erweitern. Schauen Sie hier, den Leinenschuber mit Etikett aus Saffianleder», gurrte Mr. Mitchell. «The Temple ist einer der Meilensteine der englischen Lyrik. Schauen Sie, hier sind ‹Redemption›, ‹Affliction›, ‹Vertue› – einige der am meisten in Anthologien vertretenen Gedichte in englischer Sprache. Zwiegespräche der Seele, wirklich, aus dem Jahre 1633!» «Sind Sie sicher, dass Sie 40000 dafür wollen? Könnten Sie nicht mal Pike fragen?», wollte der Kunde wissen, aber ich hörte schon seiner Stimme an, dass er entschlossen war, das Buch zu nehmen. «Ich lasse Sie einen Moment lang mit George Her481
bert allein», sagte Mr. Mitchell, dessen Timing unübertroffen war. «Gerade ist eine Freundin eingetroffen, um die ich mich kurz kümmern muss.» Er kam durch die Zimmerflucht auf mich zu. «Rosemary», sagte er, und der Vanillegeruch, der ihn einhüllte, war ebenso tröstlich wie der Arm, den er mir um die Schulter legte. «Er nimmt es», sagte ich leise zu ihm. «Ja, natürlich, liebes Kind», flüsterte er. «Ich hab ihn an der Angel.» «Wie können Sie sich das alles bloß merken?», fragte ich ihn. «Was es alles in Anthologien gibt und was alle wollen …» «Sich erinnern ist nicht mehr, als etwas zu zitieren, natürlich. Aber ich bin gerade mittendrin in den Verhandlungen, Rosemary. Ich werde wohl um sechs runterkommen müssen und Sie anständig verabschieden.» «Ist nicht nötig, Mr. Mitchell», sagte ich. Jetzt, wo Pearl weg war, wollte ich mich eigentlich gar nicht richtig verabschieden, außer von Mr. Mitchell. «Es ist nicht so, dass ich Sie nicht sehen will. Ich komme zurück, und zwar bald.» «Ich bin gleich bei Ihnen!», rief Mr. Mitchell durch die Tür, er versuchte, sich gleichzeitig um seinen Sammler und um mich zu kümmern. Seine Prioritäten waren allerdings eindeutig. «Sie werden doch einen alten Mann wie mich nicht vergessen, oder, Rosemary?» Er beugte sich hinab, um mir einen Kuss zu geben, und ich legte die Arme um ihn und drückte mich an ihn; an den Vater, den ich immer noch nicht gefunden hatte. 482
«Nächsten Freitag gehe ich mit Arthur zum Mittagessen, nach meiner ersten Arbeitswoche. Dann komme ich schnell hoch.» «Seien Sie auf der Hut bei diesen Verlagsleuten», sagte er lächelnd und neigte den Kopf etwas zur Seite. «Eine Bande von Dieben, das sind sie.» Ich ließ ihn mit seinem Kunden und mit Herberts The Temple allein, und er ging zurück durch seine Zimmerflucht. «Rosmarin, das ist für die Erinnerung», rief er noch über die Schulter, während ich den Fahrstuhlkäfig zuzog. «Wir sehen uns nächste Woche.» Es war noch hell, als ich mit einer Tüte teurer Kirschen, die ich mir in einem Feinkostgeschäft gekauft hatte, nach Hause kam. Zwar war nicht die Jahreszeit für Kirschen, aber an meinem neunzehnten Geburtstag, an Mutters Todestag, hatte ich mir welche gewünscht. In meiner Wohnung war die Heizung abgestellt, lange bevor die Tage mild wurden, aber das machte nichts. Ich ließ einfach den Mantel an, wenn drinnen noch winterliche Temperaturen herrschten, obwohl ich das Murmeln des Heizkörpers vermisste, ganz zu schweigen von einem heißen Bad. Ich nahm den kleinen Band mit Audens Gedichten aus meiner Tasche – ein Abschiedsgeschenk von Arthur – und stellte ihn zu den anderen Büchern auf mein Regal. Der arme Arthur konnte nicht wissen, wie zwiespältig die Gefühle waren, die dieses Geschenk in mir weckte, und ich fragte mich, ob mein Haar wohl aus den Seiten gefallen war, als irgendein Kunde das Buch durchgeblättert hatte. Vielleicht war es ja überhaupt Zufall gewesen, 483
dass Walter Geist eine Zeile genau aus diesem Buch geflüstert hatte. Und es hatte nichts weiter bedeutet, dass ausgerechnet dieses Buch in den weitläufigen Räumen des Arcade auf Oscars Hocker gelandet war. Wo war er?, fragte ich mich wohl zum tausendsten Mal. Ich lehnte den Auden an meinen eselsohrigen Moby Dick. Die Sammlung auf meinem Regal war größer geworden, und das würde auch so weitergehen. Mein Blick schweifte über meine wenigen eigenen Erwerbungen aus dem Arcade und blieb an dem kleinen bläulichen Päckchen hängen, das immer noch ungeöffnet auf dem unteren Regalbrett lag. Es war an der Zeit. Das Päckchen, das Chaps mir vor vielen Monaten am Flughafen in die Hand gedrückt hatte, lag hier und wartete auf mich; jetzt war es mein Geburtstagsgeschenk. Ich hatte mir das Päckchen für einen Moment der Verzweiflung aufgehoben, doch bislang war ich ganz gut zurechtgekommen. Jetzt, wo ich Mutters Asche an Chaps geschickt hatte, schien es mir, als würde ihr kleines Paket jenen unwiderruflichen Verlust wenigstens ein bisschen aufwiegen. Kaum mehr als einen Moment sah ich Walter Geist vor mir, wie die Schöße seines Mantels hinter ihm flatterten. Ich würde das kleine Paket öffnen. Ein Buch ist immer ein Geschenk, hatte Chaps gesagt. Ich brauchte sie. Ich brauchte den Glauben an Esther Chapman, daran, dass sie lebte und immer für mich da sein würde. Chaps, die mich liebte. Die sich um Mutters Asche kümmern würde, so wie es sich gehörte, voller Ehrfurcht. Esther 484
Chapman, die mich nach New York geschickt hatte. Würde ihr Geschenk mir sagen, warum? Ich ließ mich in meinen alten Armsessel fallen und hielt das Päckchen lange Zeit in der Hand. Eingewickelt war es so rätselhaft wie eines der Objekte in Julian Peabodys Kabinett. Draußen summte die Großstadt, ein leises, stetes Surren, das für mich inzwischen Stille bedeutete. Mit dem Fingernagel pulte ich sorgfältig ein Stück von dem Klebeband ab, mit dem das vertraute Einwickelpapier zusammengehalten wurde, und versuchte, es nicht zu zerreißen. Schon allein die Farbe war wie ein Bild von Chaps, und ich stellte mir vor, wie sie in ihrem winzigen, ordentlichen Laden stand und es einpackte. Später würde ich das Papier in meine Kladde kleben, damit es nicht verlorenging. Als ich ein weiteres Stückchen Klebeband entfernte und endlich sah, was sich unter dem Papier versteckte, hatte ich mit einem Mal eine gewaltige Halluzination. Ich schaute auf das blassblaue Päckchen in meinem Schoß hinab, mein Blick verschwamm, und ich schloss die Augen für einen Moment. Ich saß in meinem Armsessel vom Sperrmüll, hellwach, und sah doch vor mir, wie Chaps mir an jenem Tag am Flughafen, als ich Tasmanien verließ, eine Kopie von der Insel des Kreuzes schenkte, die jetzt, ins Papier eingewickelt, auf meinem Schoß lag und ausgepackt werden wollte. Ich hatte mich auf eine Reise nach New York gemacht und war jetzt an meinem Ziel angelangt. Wenn ich das Buch auspackte, würde ich entdecken, was ich schon die ganze Zeit über besessen hatte. Ich hatte die 485
Gabe, die ich mitgebracht hatte, von Walter Geist empfangen und an Oscar weitergegeben. Alles ergab auf absurde Weise einen Sinn, wie eine Flugbahn, die Ordnung in alle Ereignisse brachte, indem sie sie in das Papier von Chapmans Buchladen packte. Da lag es auf meinem Schoß, und es sagte mir, dass manche Dinge niemals verlorengehen, sondern einfach durch andere ersetzt werden. Ich schlug das Buch auf. Gegenüber der Titelei war ein elegantes Frontispiz mit einer verzauberten Insel zu sehen. Das hätte auch meine Insel sein können. Die dicken, grobbeschnittenen Seiten der Insel des Kreuzes drehten sich unter meiner Hand. Ein Epigramm von Shakespeare war Melvilles Motto: Oh, wie hab ich mit diesen Unglücklichen gelitten, die ich leiden sah! Ein schönes Schiff (ohne Zweifel hatte es einige edle Geschöpfe in sich), ganz in Stücke zerschmettert. Oh, das Geschrei schlug recht gegen mein Herz an!
Miranda war ganz offensichtlich das Vorbild für Agatha gewesen, aber Melvilles Kunst – und nicht Prosperos – hatte den Sturm heraufbeschworen. Über die See des Raumes und der Zeit hinweg hatte er die wilden Wasser in Aufruhr versetzt. Der Sturm erhob sich, Donner und Blitz fuhren auf Agathas Insel hernieder, ließen das Schiff zu Bruch gehen und brachten ihr eine treulose Liebe. Nur ihre eigene Liebe konnte ihn retten, ihn ins Leben zurückrufen. Doch er verlässt sie und ihr Kind. Sie wartet. Sie geht an der Küste auf und ab und wartet darauf, dass die See ihn ihr zurückgibt. 486
Ich las weiter und weiter, die Worte wurden dichter und schneller, wie ein einziger, strömender Satz. Ich hielt alle verlorenen Dinge in der Hand, die ich zwischen den Deckeln dieses Buches wiedergefunden hatte. Ich wusste, was Melville sagen wollte, über Mitleid, über Sehnsucht, über die Allmacht der Liebe. Und worin unsere Verpflichtung liegt – eines jeden gegenüber dem anderen. Die Insel des Kreuzes, die ich in Händen hielt, war kein Lobgesang auf die Reue, sondern eine Befreiung davon. Es war Melvilles zweites Meisterwerk, und ich erkannte die Absolutheit und den Wert darin. Einen kurzen, flüchtigen Moment lang konnte ich ins Innere seiner Seele blicken. Es war, als hätte man mir den Ozean geschenkt. Die Vision löste sich auf in den Tränen, die mir aus den Augen rannen, und sie verschwand so plötzlich, wie sie erschienen war, eine vollkommene Form. Oscar hatte mir einmal gesagt, die Welt existiere, um in einem Buch wiederzukehren, und dieses, Die Insel des Kreuzes, war wieder in der flirrenden Luft verschwunden. Ganz allein in meiner kleinen Wohnung, saß ich benommen auf meinem Sperrmüllsessel. Die Großstadt surrte. Aus dem Wasserhahn tropfte es in die Klauenfußwanne. Ich erkannte mich selbst in dem Bild, das mir aus dem ovalen Spiegel entgegenblickte, mein rotes Haar bauschte sich wild um mein Gesicht, als hätte ich einen Schreck bekommen, und ich zog erschaudernd meinen Mantel enger um die Schultern. Es war Anzac Day – mein Geburtstag. Ein Tag des Gedenkens und der Trauer. Der erste Tag meines zwanzigsten Lebensjahres. 487
Das Päckchen lag immer noch auf meinem Schoß. In dem geliebten blauen Papier lag Chaps’ Geschenk, das sie mir so liebevoll in die Hand gedrückt hatte, genau vor zehn Monaten. Jetzt war das Papier schnell aufgeschlagen, und darin lag eine kleine, ledergebundene Ausgabe des Sturm, ihres Lieblingsstückes. Als ich ein Kind gewesen war, das über dem Hutsalon Remarkable Hats wohnte, behauptete Chaps manchmal, als sie mich lesen lehrte, habe sie alles, was ich tat, mit Worten beschrieben. Doch es gab keine Worte für das, was ich empfand. Ich strich das Papier glatt, nahm das Bändchen in die Hand und berührte mit den Lippen den scharlachroten Ledereinband. Ich hielt es ans Licht hoch, und der Goldschnitt schimmerte verheißungsvoll. Auf die Innenseite des Buchdeckels hatte Chaps in ihrer säuberlichen, sanft geschwungenen Handschrift geschrieben: Für meine liebe Rosemary, am Tag ihres Anfangs: Ich werde Dich vermissen, Aber Du sollst die Freiheit haben.
Das war mein Geschenk. Und ich würde es behalten.
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Nachbemerkung der Autorin «Sie mästen ihre mageren Büchlein mit dem Speck von anderen Werken» – das gilt ganz gewiss auch für mich. So zahlreich sind die Anklänge an Shakespeare in dem, was Esther Chapman von sich gibt, in Robert Mitchells Aussagen sowie in Rosemarys Beobachtungen, dass ich hier nicht alle aufführen kann. Melvilles «Agatha-Briefe» an Nathaniel Hawthorne stammen aus dem transkribierten Text in The Letters of Herman Melville, hrsg. von Merrell R. Davis und William H. Gilman, Yale University Press 1960, einem Buch, das zurzeit vergriffen ist. (Die deutschen Zitate der Briefe sind aus: Herman Melville, Ein Leben. Briefe und Tagebücher, aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz und Daniel Göske, herausgegeben von Daniel Göske, Carl Hanser Verlag, München/Wien 2004.) Die Original-Briefe befinden sich in der Melville Collection an der Harvard College Library. Weitere Erkenntnisse zu dieser Korrespondenz sowie biographische Informationen bekam ich durch: Hershel Parker, Herman Melville. A Biography (zwei Bände), einem Werk von erstklassiger wissenschaftlicher Qualität, erschienen 1996 bzw. 2002 an der Johns Hopkins. Hilfreich war auch ein Artikel, den Hershel Parker unter dem Titel Herman Melville’s «The Isle of the Cross». A Survey and a Chronology, in American Literature, Band 62, 489
Nr. 1, März 1990 veröffentlichte. Ebenfalls nützlich waren: Newton Arvin, Herman Melville. A Critical Biography, The Viking Press (vergriffen); Laurie Robertson-Lorant, Melville. A Biography, University of Massachusetts Press; und Brenda Wineapple, Hawthorne. A Life, Random House. Bei einer letzten Durchsicht war auch Andrew Delbancos bemerkenswertes Buch Herman Melville. His World and Work, erschienen 2005 bei Alfred Knopf, eine Bereicherung. Die Zitate aus Moby Dick stammen aus der Everyman-TaschenbuchAusgabe, die auf dem Text der Northwestern University Press beruht, inspiriert haben mich auch Whitejacket, The Confidence Man und Redburn. (Die deutschen Zitate folgen den Ausgaben Moby Dick oder Der Wal, aus dem Amerikanischen von Matthias Jendis, herausgegeben von Daniel Göske, Carl Hanser Verlag, München/Wien 2001, sowie Ein sehr vertrauenswürdiger Herr, Claassen Verlag, Hamburg 1958.) In der englischen Ausgabe wurden Passagen aus W. A. Audens Gedicht The Sea and the Mirror zitiert mit freundlicher Genehmigung von Edward Mendelson, William Meredith und Monroe K. Spears, Vertretern des Estate of W. H. Auden, sowie des Verlages Random House Inc. (Für diese Ausgabe ins Deutsche übertragen von Judith Schwaab.) Die Einleitung und Anmerkungen von Arthur Kirsch zu diesem Gedicht, veröffentlicht 2003, fand ich besonders inspirierend. Die Zitate aus dem Sturm stammen aus der Pelican Shakespeare Edition, hrsg. von Peter Holland 1999. (Die deutschen Zitate aus dem Sturm folgen der Übersetzung von Christoph Martin Wieland.) 490
Robert Mitchell und Oscar Jarno zitieren in Kapitel 9 bzw. 17 aus Walter Benjamins Aufsatz Unpacking My Library aus Illuminations, veröffentlicht 1969 bei Schocken Books. (Der deutsche Text folgt der Ausgabe Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Band IV. 1, aus dem Jahr 1980, erschienen bei Suhrkamp.) Oscars längeres Zitat, ebenfalls in Kapitel 9, stammt aus Wilhelm Meisters Lehrjahre, Drittes Buch, achtes Kapitel. Mitchell zitiert in Kapitel 20 (bezogen auf Walter Geist) aus einem Gedicht Robert Brownings, Caliban upon Setebos. Über Albinismus habe ich mich bei der National Organization of Albinism and Hypopigmentation (NOAH) informiert. Lillian La Pacos Geschichte ist die fiktive Verarbeitung von Menschenrechtsverletzungen, die während des sogenannten «Schmutzigen Krieges» in Argentinien von 1976 bis 1983 tatsächlich stattfanden. Was die Anzahl der «Verschwundenen» betrifft, gehen die Schätzungen auseinander, doch bewegen sie sich zwischen 10000 und 30000 Menschen. Ich stütze mich dabei auf Aussagen der Mütter der Plaza de Mayo, zusammengetragen von Matilde Mellibovsky (einem Gründungsmitglied) in Circle of Love Over Death, Curbstone Press 1997. Neben The Book of Imaginary Beings von Jorge Luis Borges (erschienen bei Penguin Twentieth Century Classics; für die deutsche Ausgabe: Einhorn, Sphinx und Salamander. Ein Handbuch der phantastischen Zoologie, Carl Hanser Verlag, München 1964), erwähnt in Kapitel 6, haben mich noch weitere Texte aus Borges’ Werk inspiriert. Verschiedene Überlegungen über das Wesen der Zeit stammen aus The Total Library, Pen491
guin Classics (UK), hrsg. von Eliot Weinberger. Insbesondere nehme ich dabei Bezug auf die Aufsätze On the Cult of Books und A New Refutation of Time; letzterem ist als Epigraph jenes altdeutsche Zitat vorangestellt, das Geist in Kapitel 12 auf der Uhr in Peabodys Kuriositätenkabinett liest. Außerdem finden sich einige Anklänge an Borges’ Kurzgeschichte Shakespeares Gedächtnis, aus: Collected Fictions, ins Englische übertragen von Andrew Hurley, Viking 1998. (Für die deutsche Ausgabe: Spiegel und Maske, Erzählungen 1970-83, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 1997.) Mitchells Rilke-Zitate in Kapitel 21 stammen aus den Duineser Elegien, englische Übersetzung von Gay Miranda, erschienen 1981 bei Azul Editions. Allgemeine Informationen über Kuriositätenkabinette ebenso wie die Beschreibung bestimmter Bilder und Objekte finden sich in dem Band Cabinet of Curiosities von Patrick Mauries, erschienen 2002 bei Thames & Hudson. Verschiedene Beschreibungen seltener und kostbarer Bücher entnahm ich einem Katalog, der bei Lame Duck Books, 55 Temple Place, Boston, erschienen ist. In einem Gespräch mit Isaac Gerwirtz, dem Kurator der Berg Collection an der New York Public Library, über Manuskripte und dunkle Geschäfte mit Büchern gewann ich unschätzbare Informationen; ich danke ihm sehr für seine Zeit. Das Goya-Gemälde mit der Strohpuppe, das Arthur Rosemary zeigt, trägt den Titel El Pelele, es entstand 1791/92 und hängt im Prado in Madrid. Letztlich aber bestimmen nicht Bücher, sondern Menschen das Leben. Dieses Buch ist Michael Jakobs ge492
widmet, der mein Leben als Autorin – und überhaupt mein Leben – möglich, sinnvoll und aufregend gemacht hat. Dafür danke ich ihm; meine Liebe gehört ihm und unseren Kindern Matthew und Emma. Allen dreien bin ich für ihre Geduld und Nachsicht zutiefst dankbar. Danken möchte ich auch den Bennington Writing Seminars, besonders Askold Melnychek, Douglas Bauer, Martha Cooley und Alice Mattison. Sheila Kohler war mir bei der Durchschau der ersten Fahnensätze eine große Hilfe, wofür ich ihr sehr dankbar bin. Liam Rector und Priscilla Hodgkins habe ich zu verdanken, dass mein Kontakt zu den Seminaren immer noch besteht. In Bennington bin ich auch Joanna Meyer und Judy Rowley begegnet – liebe Freundinnen und Schriftstellerkolleginnen, die mir immer geholfen haben. Ich danke ihnen für ihren Scharfsinn und ihre Feinfühligkeit, ihr gutes Herz und ihre andauernde Zuneigung. Ich danke meiner Agentin Elaine Koster für ihre frühe und unablässige Unterstützung, für ihre Professionalität und ihre Freundlichkeit. Großer Dank geht auch an meine Lektorin Deb Futter von Doubleday; die Zusammenarbeit mit ihr war vom ersten bis zum letzten Tag ein Vergnügen, und ihr Instinkt ist unübertroffen. Besondere Dankbarkeit gebührt Nuala O’Faolain, die kennenzulernen mir große Freude bereitet hat, und Mark Stafford für seine Freundschaft und Unterstützung. Dank geht auch an: Jane Otto, Daniele Menache, Brenda Marsh, Guillemette Bowler, Douglas Glover, Julia Dorff, William Vandegrift, Lillian Ferrari und meine Schwester, Jai Simmons. Und natürlich an Jack. 493
Personen und Handlung dieser Geschichte sind fiktiv. Namen, Figuren, Unternehmen, Organisationen, Orte und Ereignisse sind frei erfunden oder fiktionalisiert. Jede Ähnlichkeit mit lebenden oder verstorbenen Personen, mit Namen und Orten ist unbeabsichtigt und rein zufällig. Der Abdruck aus Moby Dick oder Der Wal erfolgt aus Herman Melville, Moby Dick oder Der Wal, aus dem Amerikanischen von Matthias Jendis, herausgegeben von Daniel Göske, © 2001 Carl Hanser Verlag, München/Wien. Der Abdruck aus Melvilles Briefen erfolgt aus Herman Melville, Ein Leben. Briefe und Tagebücher, aus dem Amerikanischen von Werner Schmitz und Daniel Göske, herausgegeben von Daniel Göske, © 2004 Carl Hanser Verlag, München/Wien. Der Verlag hat sich bemüht, die Inhaber aller Urheberrechte der verwendeten Texte ausfindig zu machen. Sollte dies in einzelnen Fällen nicht ausreichend gelungen sein oder sollten uns Fehler unterlaufen sein, bitten wir die Rechteinhaber, uns zu verständigen, damit wir berechtigten Forderungen unverzüglich nachkommen können. Unser Dank ist ihnen sicher.
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