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Einband von Hildegard Hustnig 16.-25. Tausend ©Ensslin « Laiblin Verlag GmbH & Co. KG Reutlingen 1972. Sämtliche Rechte, auch die der Verfilmung, des Romans, der Rundfunk- und Fernsehübertragung, der Verbreitung durch Schallplatten sowie der fotomechanischen Wiedergabe, vorbehalten. Salz: ensslin-typodiensl. Schrift: IBM-Aldin Roman. Gesamtherstellung: Wüh. Rock, Weinsberg. Printed in Germany. ISBN 3-77090-318-8
Erika Ertl
Der verhexte Rückwärtssocken
Ensslin & Laiblin Verlag Reutlingen
Erstes Kapitel: In dem etwas über Ötzmichelstadt und die Ötzmichelburg zu lesen ist und von einer normalen Geisterstunde und ihrem schrecklichen Ende berichtet wird Man mußte es zugeben: Besonders modern war Ötzmichelstadt nicht. Es hatte kein einziges Hochhaus, kein Hallenschwimmbad und kein Theater. Sonderlich groß war es auch nicht, und obwohl sein Name auf »- Stadt« endete, zählte es nicht einmal achttausend Einwohner. Es lag weitab von der Autobahn, abseits der großen Fernstraßen, und wenn sich Fremde nach Ötzmichelstadt verirrten, so hatten sie sich meistens wirklich verirrt. »Es ist ein kleines, verschlafenes Nest«, sagte die Frau des Knopffabrikanten Benzinger seit zwanzig Jahren. Aber ihr nahm man das nicht weiter übel, weil sie aus Hamburg stammte, und einem Vergleich mit Hamburg konnte Ötzmichelstadt natürlich nicht standhalten. »Schade, daß wir bei unserem guten Klima kein Kinderheim haben«, meinte der Bürgermeister Daubrich, »Platz hätten wir genug. Wenn wir auch soviel Geld hätten ...« Ehrlich gesagt, die alteingesessenen Ötzmichelstädter legten keinen allzu großen Wert auf eine moderne Stadt. Und Herr Köchl, der das Stadtarchiv führte und auch sonst gut Bescheid wußte, fragte jedesmal, wenn von einer schönen Stadt gesprochen wurde, ganz vorwurfsvoll: »Ist unsere Stadt etwa nicht schön? « Er hatte recht, Ötzmichelstadt war schön. Es hatte eine bemerkenswerte Kirche, Sankt Martin, die breit wie eine brütende Henne am oberen Marktplatz lag und von der in diesem Buch noch öfter die Rede sein wird. Schräg gegenüber
war das Rathaus. Das wuchtigste Haus, von Kirche und Rathaus abgesehen, war der Gasthof »Zu den vier Mohren«. Links neben der großen Eingangstür war ein Bild der vier an die Hauswand gemalt. Der vorderste Mohr stand breitbeinig da, streckte den linken Arm samt Zeigefinger aus und machte die anderen auf etwas Wichtiges in der Ferne aufmerksam. Der zweite legte seine Hand der grellen Sonne wegen schützend an die Stirn, um das, was es zu sehen gab, besser beäugen zu können. Der dritte hielt seinen purpurfarbenen Mantel hochgerafft und starrte mit schmerzverzogenem Gesicht auf seine Füße. Da der vierte Mohr ihn hilfreich stützte, konnte man sich gut vorstellen, daß der Arme sich wahrscheinlich ein paar böse Blasen angelaufen hatte. Den Ötzmichelstädtern gefiel das Gemälde. Und mit dem, was der Maler darunter gepinselt hatte, waren sie ebenfalls einverstanden. Da stand nämlich: Auf ihrem Weg nach Pilsen und auch nach Prag sodann, hielten die vier Mohren in diesem Hause an. Zwar wußte längst kein Mensch mehr, wann das gewesen war, wie die Herren geheißen oder was sie in Prag und Pilsen zu tun gehabt hatten, aber die Ötzmichelstädter waren stolz darauf, daß sich einmal vier bedeutende Männer in ihrer Stadt aufgehalten und ein Zipfelchen der großen Welt hereingebracht hatten. Erwähnt werden muß natürlich auch der Nepomukbrunnen am unteren Marktplatz, den einst ein Graf Nepomuk von Ötzmichelburg hatte bauen lassen. Übrigens, seine Gemahlin, genannt Margarete die Mildtätige, hatte in ihrem Testament etwas bestimmt, das für den Verlauf unserer Geschichte von größter Wichtigkeit ist, doch davon später. Graf Nepomuk war es auch, der von seiner Burg eine breite
Lindenallee nach Ötzmichelstadt hinunter hatte anlegen lassen. Von oben gesehen, stand der letzte der groß und ausladend gewachsenen Bäume im Garten des Knopffabrikanten Benzinger. Und genau dort hörte auch die geteerte Straße auf, die von der Stadt zum Burgberg führte. Zur Ötzmichelburg selbst konnte man auf einem breiten, aber steinigen Weg gelangen. Falls man überhaupt hinauf wollte, denn die Burg war seit mehr als dreihundert Jahren zerstört. Ein Stück des Hauptturmes, den die Ötzmichelstädter den dicken Turm nannten, war erhalten geblieben. Viele der Steine, die einst seine stolze Höhe ausgemacht hatten, waren in ihn hineingefallen und hatten ihn zugestopft wie der Korken eine Flasche. Ganz oben wuchs, wie zum Trost, eine kleine Birke. Die Anlage war gut zu erkennen, und einige der Mauerreste waren noch über fünf Meter hoch. Ob die mächtige Fichte im äußeren Winkel des Burghofes auch vom Grafen Nepomuk gepflanzt worden war, wußte niemand. Sonst sah man nur noch von Gestrüpp überwachsene Steinhaufen, Schutt und Geröll. Damit wäre die Beschreibung eigentlich beendet, wenn es sich bei der Ötzmichelburg um eine normale Burgruine gehandelt hätte. Aber gerade das war sie nicht. Nein, das war sie ganz und gar nicht. Oder habt ihr schon einmal gehört, daß es in einer normalen Burgruine spukt? So etwas passiert doch höchstens in alten Schlössern oder uralten Häusern, in denen aber immer noch jemand wohnt. Sonst wüßte ja keiner von der Spukerei, nicht wahr? Tatsache war, in der Ötzmichelburg spukte es auch. Nicht sehr oft allerdings, nur alle fünfundzwanzig Jahre, und auch dann nur eine Woche lang. Die Ötzmichelstädter, die echten meine ich jetzt, wußten das natürlich, obwohl sie es wegen der langen Abstände meist vergaßen. Die Neuhinzugekommenen aber, wie beispielsweise Frau Benzinger, der Bürgermeister Daubrich und auch der Redakteur der Ötzmichelstädter Zeitung, Herr Krug, lachten bloß darüber und hielten alles für
blanken Unsinn. Dabei hätten sie sich leicht davon überzeugen können, ob es nun stimmte oder nicht, weil nämlich gerade wieder einmal fünfundzwanzig Jahre vorbei waren. Sie hätten sich lediglich die Mühe machen müssen, im Juli kurz vor Mitternacht zur Burgruine hinaufzugehen und die Geisterstunde abzuwarten. Irgendwann, meist in einer Vollmondnacht, waren sie dann da. Insgesamt waren es drei Gespenster: der Graf, die Gräfin und ihr kleiner Sohn. Es handelte sich aber nicht um den schon bekannten Grafen Nepomuk, sondern um dessen Sohn Hanno, der einst den wenig schmeichelhaften Beinamen »der Wüterich« erhalten hatte. Seine Frau, die Gräfin, hieß Hermine-Luitgart, und der kleine Graf war zu Lebzeiten auf die klangvollen Vornamen Bodo, Karl-Philipp, Franz, Traugott, Ludwig-Eberhard, Richard, Ottokar getauft worden. Klar, daß man diese Namen längst vergessen hatte. Und deshalb hießen die drei schon seit ich-weiß-nicht-wann bei den Ötzmichelstädtern einfach »der alte Ötzmichel«, »die Ötzmichlin« und »Ötzmicki«. Wenn also die Turmuhr von Sankt Martin zwölf schlug (immer vorausgesetzt, daß es an der Zeit war), kamen die drei aus dem dicken Turm heraus. Sie hatten so eine Art weißes Nachthemd an, das sich ständig bauschte, blähte und Falten warf, und ihr Gesicht, die Hände und Füße schimmerten und sahen irgendwie durchsichtig aus. Dem kleinen Ötzmicki saß der Kopf recht locker. Manchmal ließ er ihn durch die Luft sausen und kickte ihn sogar mit dem Fuß an, bis er in weitem Bogen davonflog, irgendwo hinten im Burghof aufprallte und erst nach einigen Hopsern liegenblieb. Aber einem Gespensterkopf machte das natürlich nicht das geringste aus. Blutende Nasen, abgeschürfte Wangen und ein blaues Auge gibt es ja nur bei festangewachsenen Köpfen. Der alte Ötzmichel prüfte jede Nacht das Gemäuer auf seine Festigkeit. Hatte er einen lockeren Stein gefunden, ließ er ihn
laut polternd in den Burghof fallen, und dabei schimpfte, knurrte und knötterte er, daß es nur so dröhnte. Anschließend hob er den Stein allerdings wieder auf, trug ihn an seinen alten Platz, spuckte kräftig in die Fugen - und schon saß er so fest wie damals, als er zum erstenmal gemauert worden war. Das tat der alte Ötzmichel aus gutem Grund, denn schließlich, wenn die Burg zu schnell verfiel, wo sollten er und seine Familie dann geistern? Die Ötzmichlin zählte als erstes die Fledermäuse, die ebenfalls im Turm wohnten und so schöne alte Fledermausnamen hatten. Zuerst rief sie die Älteste, das war Gunniguu, und dann kamen, immer streng dem Alter nach, Munniguu, Hunniguu, Fussa, Rabuen und Kaleidigunniguu, die Jüngste. Es sah unheimlich aus, wenn sie alle um die Ötzmichlin herumflatterten und ihr das Neueste vom Tage, beziehungsweise das Neueste der Nacht zuraunten. Möglich, daß sich die Ötzmichlin zu Lebzeiten nicht viel aus Fledermäusen gemacht hatte. Jetzt, als Gespenst, kam sie jedenfalls gut mit ihnen zurecht. Und wenn sie über das, was sie aus Fledermauskreisen erfuhr, lachen mußte, dann klang das so, als hätte jemand in einem hallenden Gewölbe einen lauten Schluckaufbekommen: »Ha - hick! Ha - hick!« Sie gluckste mit hohler Stimme und hörte erst auf, wenn der Graf an ihr vorbeirauschte und ihr ärgerlich etwas zuzischte. Schließlich ruhte sie sich auf einem Steinbrocken aus und besah sich aufmerksam in einer kleinen Pfütze, die vom letzten Regen übriggeblieben war. »Schöner bin ich auch nicht geworden in den letzten fünfundzwanzig Jahren«, klagte sie, bewegte ihren Kopf hin und her, seufzte tief und drehte sich kleine Schneckerllocken in ihr spinnwebartiges Gespensterhaar. Sie strich sich prüfend über die Wangen, befühlte ihr Doppelkinn, zog hier eine Hemdfalte in die richtige Form, glättete dort eine andere und benetzte schließlich ihre kreisrunden Augen ausgiebig mit Regenwasser. »Hanno, mein Teuerster«, fragte sie, »willst du es diesmal
tun?« »Nein!« »Ach, mein Gemahl! Nach so langer Zeit, gib es ihnen doch.« »Nein, nein und nochmals nein!« donnerte Hanno und war wieder einmal schrecklich wütend. »Merkst du denn nicht, wie sie meine Burg verkommen lassen? Jedesmal, wenn wir hier sind, muß ich entdecken, daß sie mir schon wieder mehrere Zentner Steine gestohlen haben. Da, schau hinunter auf die Stadt! Siehst du die vielen neuen Häuser? Die können sie nur mit den Steinen meiner Burg gebaut haben. Und siehst du auch die vielen Lichter? Feiern sie etwa jede Nacht ein Fest? Sogar mit beleuchteten Kutschen fahren sie herum als wären sie alle samt und sonders Grafen. Aber mich, ihren Herrn, haben sie vergessen! Bestrafen werde ich diese Treulosen. Ich, Graf Hanno von Ötzmichelburg, werde sie und die andere Sache vergessen und einfach weitergeistern.« »Sicher, sicher«, versuchte ihn die Ötzmichlin zu besänftigen, »du magst ja recht haben. Aber, mein Bester, vergiß nicht, daß du an unserer verfallenen Burg und an unserer jetzigen Lage nicht ganz unschuldig bist. Vielleicht haben sich die Menschen in der Zwischenzeit geändert und sind hilfsbereiter geworden? « »Schweig!« bollerte der Graf aufgebracht. »Die haben sich nicht geändert. Die Ötzmichelstädter und hilfsbereit? Nein, das hätten wir längst gemerkt. Wann haben wir zuletzt einen Menschen zu Gesicht bekommen? Das letztemal nicht und das vorletztemal auch nicht. Da war doch einer, der uns versprochen hatte, im Burghof etwas aufzuräumen. Erinnerst du dich? Und was ist daraus geworden? Nichts! Gar nichts! Eine Birke haben sie auf meinen Turm gepflanzt. Auf den Turm von dem einst die Fahne mit dem ruhmreichen Wappen derer von Ötzmichelburg herabwehte. Sie wollen mich
verhöhnen, verhöhnen!« »Bitte, beruhige dich doch. Der Mann, den du meinst, muß ja längst tot sein. Das ist schon fünfundsiebzig Jahre her.« »Einerlei, sage ich. Sie haben uns vergessen. Und jetzt will ich nichts mehr davon hören!« Die Ötzmichlin schwieg. Sie sah zu ihrem Sohn hinüber, der gerade dabei war, seine Pflichten zu erfüllen. Er mußte jede Nacht ein bißchen Unkraut zupfen, das auf einem flachen Hügel im Burghof wuchs. Dieser Hügel war aus einem bestimmten Grund für den alten Ötzmichel besonders wichtig. Und damit er die Stelle jederzeit wiederfinden konnte, mußte Ötzmicki darauf achten, daß sie nicht zu sehr vom Unkraut überwuchert wurde. Sobald er seine Arbeit getan hatte, durfte er spielen. Er setzte sich in die Fichte, genau über den Ast, auf dem sich die alte Eule manchmal auszuruhen pflegte. War sie dann etwas eingedöst, beugte er sich zu ihr hinunter und zirpte ihr ins Ohr: »Unten läuft ein feiner Mäusebraten, feiner Mäusebraten, feiner Mäusebraten.« Die arme Eule wußte schließlich nicht, hatte sie bloß geträumt, oder war da wirklich eine Maus gewesen? Sie schoß steil nach unten, suchte und suchte - und fand doch nichts. Und der kleine Ötzmicki lachte dann gellend hinter ihr her. »Ich weiß nicht«, sagte die Ötzmichlin bekümmert zum Grafen, »manchmal glaube ich, er wird nie ein ordentliches Gespenst. Noch nicht einmal richtig ,huhuuu' schreien kann er, und den Kopf hat er auch ständig woanders. Die nette Eule zu ärgern, sowas tut ein wohlerzogenes Gespenst einfach nicht.« »Du hast recht«, brummte der Graf, »wir müssen ihn etwas strenger halten. Bodo, Karl-Philipp undsoweiter! Ab heute wirst du mir helfen, das Mauerwerk in Ordnung zu halten, verstanden? « »Ja, Vater«, antwortete Ötzmicki, nicht gerade hocherfreut
über den Auftrag. »Ich höre wohl nicht recht«, polterte sein Vater, »wie heißt das? « »Ja, Herr Vater«, verbesserte sich Ötzmicki schnell. »Das will ich aber auch meinen! Hast du denn die einfachsten Dinge vergessen? Sag mir sofort, wie das erste Gesetz unserer Gespensterordnung heißt.« »Gespenster unserer Ordnung müssen ... müssen ...« »Na? Was müssen Gespenster unserer Ordnung? « »Gespenster unserer Ordnung müssen erstens immer - zweitens vor allem - drittens unbedingt - viertens auf jeden Fall fünftens absolut - sechstens unter allen Umständen pünktlich sein«, sprudelte Ötzmicki heraus. »Richtig. Ich lege größten Wert darauf, daß du dieses erste Gebot nie vergißt. Hörst du? Nie! Und wer setzt den Beginn und das Ende unserer Stunde fest? « »Die Uhr von Sankt Martin.« »Und wenn die Uhr kaputt ist? « »Wenn die Uhr kaputt ist? « Ötzmicki wunderte sich. »Sie war aber seit Gespenstergedenken noch nie kaputt, Herr Vater.« »Das weiß ich auch. Wenn die Uhr ausfällt, dürfen wir bleiben, bis der Mond blasser wird. Das steht im ersten Gesetz, Artikel neun, Absatz fünfzehn. Das hast du dir ebenfalls zu merken, verstanden? « »Gewiß, Herr Vater.« »So. Und wie lautet das zweite Gesetz? « »Gespenster unserer Ordnung müssen stets höflich sein. Wir dürfen die Menschen nicht unnötig erschrecken, ängstigen oder ihre Sachen beschädigen, es sei denn, wir wären durch einen Notfall dazu gezwungen.«
»Gut. Und wie sieht so ein Notfall aus? « »Ein Notfall? Ja, also ... ein Notfall ist, wenn ... ein Notfall ist dann, wenn ...« Ötzmicki wußte nicht weiter. »Ja, Schockschwerenot! Hermine-Luitgart, unser Sohn weiß nicht, was ein Notfall ist. Blitz, Donner, Sturm und Hagelkorn! Weißt du's oder weißt du's nicht? « »Hanno, bitte, bitte!« sagte die Ötzmichlin beschwörend. »Was sollen denn die Fledermäuse von uns denken!« »Das schert mich einen feuchten Kehricht, was die Fledermäuse über uns denken«, zeterte Hanno der Wüterich, mich bekümmert das, was mein Sohn weiß, und ganz besonders das, was er nicht weiß. Und jetzt höre mir genau zu: Ein Notfall ist beispielsweise, wenn - ähem, hm, hm, ja, also, um es kurz zu sagen, ein Notfall ist eben ein Notfall. Und damit basta!« Glücklicherweise schlug in diesem Augenblick die Uhr von Sankt Martin halb eins und beendete fürs erste die strenge Befragung. Der alte Ötzmichel wußte nämlich auch kein Beispiel für einen Notfall, denn in seinem gut dreihundertjährigen Gespensterdasein hatte er noch keinen einzigen Notfall erlebt. Deshalb räusperte er sich nur nachdrücklich und meinte dann etwas freundlicher: »Also los jetzt, an die Arbeit!« Ötzmicki ging folgsam zur Mauer und besah sich die alten, unregelmäßigen Steine. Endlich fand er einen, der nur noch ganz lose saß, und aus Freude darüber begann er zu pfeifen. Da aber so ein Gespensterpfeifen grundverschieden ist von einem Pfiff aus Menschenkehle, flog sogleich eine Menge Mörtel aus der Mauer, mindestens hundert Steine lösten sich und fielen krachend in den Burghof. Das schlimmste war, daß einige davon dem alten Ötzmichel auf die Zehen plumpsten. »Rippenbruch und Knochenfraß!« schimpfte er. »Bist du denn zu gar nichts zu gebrauchen, du dummes Gespenst? Jetzt
bringst du alle Steine wieder hinauf, hörst du? Und zwar schleunigst!« »Ja, Herr Vater.« Ötzmicki stöhnte, aber nur ganz leise. Der strenge Vater hätte ihm sonst womöglich noch zwei Nächte Turmarrest verordnet. Schnell ging ihm die Arbeit nicht von der Hand. Er trödelte gern ein bißchen, und so war es schon beinahe ein Uhr, als er fertig war. »Endlich!« sagte er aufatmend. »Nun will ich schnell noch probieren, ob ich den Eulenast diesmal besser treffe.« Weil er Linkshänder war, nahm er seinen Kopf in die linke Hand, holte weit aus und warf. Die alte Eule erschrak fürchterlich, als plötzlich etwas Gleißendes auf sie zugeschossen kam. Doch es war kein Grund zu großer Aufregung. Der Kopf flog hoch über ihren Lieblingsast hinweg und blieb weit oben mit den Haaren in einem Zweig hängen. Ötzmicki hastete zur Fichte - die Uhr hatte eben zu schlagen begonnen -, befreite seinen Kopf und raste in Windeseile zum Turm zurück. Er glaubte es gerade noch geschafft zu haben, aber leider befand sich beim letzten Schlag erst sein rechter, sein Vorwärtsfuß, im Turm. Der linke, der Rückwärtsfuß, war noch draußen, und nach den ewigen Gespenstergesetzen muß dann alles draußen bleiben, was draußen ist, zumindest bis zur nächsten Geisterstunde. Wie der alte Ötzmichel gewettert haben mag, als er feststellen mußte, daß Ötzmicki gegen das erste Gesetz verstoßen hatte, wagt man sich kaum vorzustellen. Außerdem, so ein Gespensterfuß einsam und allein im Burghof, das gehörte sich einfach nicht. Wie sah denn das aus, und was würden sich wohl die Fledermäuse denken? Ob das nicht ein Notfall war?
Zweites Kapitel: In dem Florians seltsamer Fund, seine plötzliche sonderbare Krankheit und die Schwierigkeiten mit dem Feuerwehrauto beschrieben werden Am Nachmittag des nächsten Tages kamen Florian, Thomas, Jochen und Heinzi (der hieß so, weil er der Kleinste war) den Burgberg heraufgestromert. Unterwegs kletterten sie auf einige der alten Linden und probierten, wer am besten »weich springen« konnte. Das bedeutete, daß man nach dem Abspringen geschickt wie eine Katze fallen mußte und nicht etwa auf den Rücken purzelte. Jochen konnte es am besten. »Du mußt beim Springen die Knie hochziehen und einen Buckel machen«, sagte er zu Florian, »genau wie die Fallschirmspringer. Guck mal, so!« Und dann sprang er locker vom untersten Ast, ging am Boden leicht in die Knie und stand wieder. »Probier's doch mal!« forderte er Florian auf. Florian saß unschlüssig auf seinem Ast und wußte nicht recht, ob er sollte. »Na, komm schon!« riefen die anderen. »Brauchst doch bloß die Beine anzuziehen. Ist gar nichts dabei!« Schließlich nahm er sich ein Herz und ließ sich hinunterfallen wie ein Kartoffelsack. Er plumpste recht unsanft auf seine Kehrseite und rollte ein Stück den Berg hinunter. »Grüß schön zu Hause«, schrie Jochen ihm nach, und Thomas frotzelte: »Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie sahen soeben Florian Jäger, den berühmten Erfinder der Plumpsrolle!« »Ihr mit eurer blöden Hopserei«, schimpfte Florian und klopfte sich den Schmutz aus der Hose. »Fallschirmspringen
will ich später sowieso nicht, bin doch nicht lebensmüde. Nee, ein richtiger Mann trainiert in Kraftsport, Boxen, Ringen, Gewichtheben, das ist was!« »Du und Gewichtheben? Ist mir ganz neu, daß man dafür Speck auf den Knochen haben muß«, spottete Thomas. »Besser Speck als gar nichts. Weißt du, woran du mich immer erinnerst? Wir haben daheim einen alten Lampenschirm, bei dem sich das Drahtgestell durchdrückt. Das sieht so aus wie Haut und Knochen, und da muß ich immer an dich denken.« »Haaaaaaaaaaaaaaa!« rief Thomas gellend und schlug sich dabei ständig leicht mit der Hand auf den Mund, so daß es wie »hawawawawawawawawa« klang. »Großer Häuptling Schmaler Fuß kämpft jetzt gegen den feigen Häuptling Fettes Knie!« Er hatte sich eine aufgelesene Vogelfeder ins Haar gesteckt und fuchtelte mit einem krummen Ast wie mit einem Tomahawk herum. »Jetzt kommt der Kriegstanz«, brüllte er angriffslustig und tanzte im Halbkreis um Florian herum: »Humbtata - hum, humbtata - hum, humbtata - hum -hum hum!« »Haaalt!« brummte Florian mit tiefer Stimme und streckte gebieterisch die Hand aus. »Häuptling Starker Arm kämpft nur gegen Männer. Kleine Bohnenstange ist noch ein Kind, ein schmächtiger, zurückgebliebener Knabe. Hugh, ich habe gesprochen!« »Ach, kommt doch endlich«, sagte Heinzi, »laßt uns lieber Räuber und Gendarm spielen.'' »Ja, spielen wir Räuber und Gendarm«, meinte auch Jochen, »ewig bloß Indianer ist ja langweilig!« »Meinetwegen«, sagte der Indianerhäuptling, der mal Kleine Bohnenstange und mal Schmaler Fuß hieß, und warf seinen Tomahawk weg. »Wollen wir sehen, wer zuerst am dicken
Turm ist? - Ferttig, los!« Und dann rannte er, daß die Steinchen nur so spritzten. »He, he«, zeterte Florian, »seit wann darf denn einer, der mitläuft, auch die Kommandos geben? Ich mache das jetzt. Also: Auf die Plätze - fertig - los!« Jochen, Thomas und Heinzi spurteten den steilen Weg hinauf. »Sucht schon mal ein schönes schattiges Plätzchen für mich«, rief Florian und trottete geruhsam hinter ihnen her. Eigentlich war es gar nicht erlaubt, im Burghof zu spielen. Wegen der Gräben und Löcher, die zum Teil unter Gebüsch verborgen lagen, und auch wegen der abbröckelnden Mauerreste war es ja nicht ungefährlich. Da es aber bisher immer gut gegangen war, hatten die Jungen das Verbot längst vergessen. »Dem alten Langweiler werden wir es zeigen«, sagte Thomas, der wie üblich als erster ans Ziel gekommen war. »Heinzi, du stellst dich links neben mich, und bei dir fange ich an. Jochen, du bleibst an meiner rechten Seite, kapiert? « »Mannomannomann«, rief Heinzi, als Florian endlich auftauchte, »wir wollten dich schon als vermißt melden!« »An deiner Stelle würde ich noch die Hände dazunehmen«, sagte Jochen, »vielleicht kannst du auf allen vieren schneller laufen als auf zweien? « »Jetzt wollen wir endlich anfangen«, entschied Thomas. Er tippte auf Heinzi und zählte aus: »Das La-ma und das Kro-ko-dil, die schwam-men durch den grü-nen Nil, das Kro-ko-dil, das grinst, und du ver-schwindst!« Florian war der letzte, auf den Thomas gedeutet hatte. Aber der merkte nicht, daß die anderen das vorher ausgetüftelt hatten, und war damit zufrieden, daß er der Räuber sein sollte, den die anderen, die Gendarmen, suchen, fangen und festnehmen mußten. Jochen, Thomas und Heinzi drehten ihm
den Rücken zu und zählten laut bis zwanzig. Florian lief gemächlich los, aber weder lange noch weit, und legte sich dann hinter einem dichten Haselnußstrauch flach auf den Boden. »So schnell werden sie mich hier nicht finden«, murmelte er, drückte mit den Ellbogen zwei bequeme Mulden für seine Arme zurecht und holte das letzte Stückchen Schokolade aus der Hosentasche. Nachdem er auch den letzten Krümel aus dem Silberpapier gepickt hatte, knüllte er es zusammen und warf es fort. An der Turmmauer, wohin das Papier gefallen war, sah er noch etwas anderes in der Sonne aufblitzen. Neugierig geworden, kroch er vorsichtig hin und fand - ja, was fand er eigentlich? Er drehte und wendete es, konnte sich aber nicht darüber klarwerden, was er da in der Hand hielt. Das seltsame Ding sah eigentlich wie ein Fuß aus, aber, Florian mußte kichern, einen Fuß konnte man schließlich nicht so einfach verlieren. Es war durchsichtig, aber nicht ganz, beinahe wie Glas, oder besser gesagt, wie Milchglas. Andererseits war es aber weder hart noch fest, sondern auf eine merkwürdige Art weich und fließend. Schließlich meinte er zu wissen, was er da gefunden hatte, einen komischen Strumpf, einen höchst seltsam aussehenden silbrigweißen Socken. Wer den wohl hier verloren haben mochte? Lange konnte es noch nicht her sein, weil er brandneu aussah. »Ulkig, sowas«, sagte Florian verwundert, »liegt da ein einzelner Socken herum! Sieht aus, als wäre das genau meine Größe, wollen doch mal probieren.« Er zog seinen linken Schuh und seinen Socken vom Fuß und streifte sich den gefundenen über. »Na, wer sagt's denn«, murmelte er und starrte bewundernd seinen Fuß an, »paßt wie für mich gehäkelt oder gestrickt, oder wie das gemacht sein mag.« Er legte sich auf den Rücken, streckte sein linkes Bein in die Luft und wackelte probeweise mit den Zehen. »Prima!« meinte er zufrieden, »drückt nicht, ziept nicht, kratzt nicht, einfach
Klasse, den nehme ich mit!« Er stopfte seinen eigenen Socken in die Hosentasche und wollte sich gerade den Schuh wieder anziehen, als plötzlich Heinzi vor ihm auftauchte. »Hier ist er! « brüllte der Kleinste. »Hier! Kommt hierher! « Florian sprang schnell auf. Noch hatten sie ihn nicht, und solange der Räuber nicht gefangen war, war auch das Spiel nicht aus. Er packte seinen Schuh und wich nach rückwärts aus. Im ersten Augenblick merkte er noch nichts. Aber dann, als er wegrennen wollte, spürte er es. Was war auf einmal los? Er konnte mit dem linken Fuß nicht mehr vorwärts laufen, keinen einzigen Schritt, so sehr er sich auch abmühte. Als er aber versuchte, mit dem linken Fuß einen Schritt rückwärts zu gehen, bekam er einen neuen Schrecken, denn der linke Fuß ging nicht nur rückwärts, er rannte rückwärts! Fast wäre Florian hingefallen. Natürlich kam der rechte Fuß bei diesem Tempo nicht mit, und deshalb zog er sein rechtes Bein hoch, hielt es am Knie fest und sah angestrengt über die Schulter nach hinten, um nicht irgendwo anzustoßen. Er hastete rückwärts an Thomas vorbei, ohne ihn richtig zu bemerken. »Was ist jetzt passiert?« fragte Thomas fassungslos, als er sah, daß Florian wie ein Akrobat auf dem Einrad im Burghof herumsauste. »Florian, soll das bloß eine Übung für den Kraftsport sein, oder hast du vielleicht einen Doppelknall? « rief Jochen. Dem Heinzi kam die Sache schon recht merkwürdig vor. »Seit wann kann der denn so rennen?« fragte er. »Und immer bloß rückwärts? Bleib doch mal stehen, Florian! Komm her, wir fangen dich auch nicht.« »Ach, Blödsinn«, sagte Jochen, »den komischen Räuber werden wir gleich haben. Kommt, wir kreisen ihn ein.« Sie versuchten ihn von vorn zu fangen und sie versuchten ihn von hinten zu fassen, aber es war einfach unmöglich. Florian rannte
wie ein Wiesel, schlug Haken wie ein Hase, und das alles rückwärts und auf nur einem Bein. »Was ist mit deinem rechten Bein los? « schrie Thomas, als Florian wieder einmal vorbeilief. »Hast du dich verletzt?« »Und warum rennst du ohne Schuh? « rief Jochen. »Warum rennst du überhaupt rückwärts? Warte doch, ich kann schon nicht mehr«, jammerte Heinzi. »Ich kann doch auch nicht mehr«, japste Florian und lief eine weitere Runde. »Ich muß mir den linken Fuß verknackst haben. Ich kann damit nicht mehr vorwärts laufen. Oh, ist das schrecklich, mein Hals tut mir so weh vom Rückwärtsschauen!« »So bleib doch endlich stehen, Kerl!« schimpfte Jochen. »Du machst einen ja ganz rammdösig mit der ewigen Rückwärtsrennerei.« Florian blieb schweratmend stehen und lehnte sich erschöpft an die Burgmauer. Er stand auf seinem rechten Bein und massierte sich den linken Knöchel. Thomas, Jochen und Heinzi sahen ihn mitleidig an. »Wenn ein Fuß verknackst ist, kann man damit überhaupt nicht laufen«, meinte Jochen, »weder vorwärts noch rückwärts.« »Sei still«, sagte Heinzi, »laß ihn erst einmal ausruhen. Dann geht es bestimmt wieder. Wirst schon sehen, Florian.« »Was ich überhaupt nicht kapiere«, meldete sich Jochen wieder, »ist, daß du mit dem verstauchten Fuß herumläufst und den gesunden festhältst. Eigentlich müßte es doch umgekehrt sein. Ich jedenfalls würde den verknacksten hochhalten und auf dem anderen hüpfen.« »Ich verstehe es auch nicht«, entgegnete Florian stöhnend. »In meinem ganzen Leben bin ich auf zwei Beinen noch nie so schnell rückwärts gelaufen wie eben auf nur einem. Es war fast
so - es war fast so, als ob das Bein auch ohne mich laufen könnte, als ob es gar nicht zu mir gehören würde. Das rechte kam nicht mit, und deshalb habe ich es hochgehalten ...« »Nun mach aber einen Punkt!« sagte Thomas. »Sowas gibt's doch nicht! Es könnte höchstens sein, daß du eben eine neue Sportart entdeckt hast: den Langstreckenlauf rückwärts. Du, an deiner Stelle würde ich mit dem Kraftsport gar nicht erst anfangen. Für den Langstreckenlauf rückwärts bist du nämlich ein Naturtalent. Mensch, wenn das bei der nächsten Olympiade als Disziplin zugelassen wird - Florian, im Ernst -, da kriegst du glatt eine Medaille. Komm, zeig's uns nochmal!« Florian lächelte schon wieder. »Meinst du wirklich? « fragte er fast ein bißchen geschmeichelt. »Na klar!« bestätigte Thomas. »Wer kann von uns am schnellsten laufen? « »Du«, sagte Heinzi. »Eben. Und ich bin vorhin gerannt wie nie und konnte dich trotzdem nicht einholen. Wodurch bewiesen ist, daß du rückwärts viel, viel schneller bist als ich vorwärts. Eigentlich komisch, daß wir das heute erst gemerkt haben, was? « »Ja, komisch«, meinte auch Jochen, »scheint doch nicht verknackst zu sein. Vielleicht ist nur eine Sehne etwas gezerrt? Und falls das stimmt und du trotzdem so schnell damit flitzen kannst, solltest du dir auch am anderen Fuß was verzerren, damit du den nicht ständig hochzuhalten brauchst. Dreh noch eine Runde!« Florian stützte sich von der Burgmauer ab, um seinen Freunden den Gefallen zu tun. Dabei berührte er mit dem linken Fuß die Mauer hinter sich, und da passierte es. Er lief rückwärts die Mauer hoch, so sicher und fest, als hätte er Saugnäpfe an den Füßen wie eine Fliege, und so schnell, daß er kaum dazu kam, Angst zu fühlen. Thomas und Jochen starrten mit offenem Mund zu ihm hoch, und Heinzi, der zwar der Kleinste, aber beileibe nicht der
Dümmste war, schrie ihm zu: »Mit dem rechten Fuß bremsen, Florian! Bremsen! Brems doch!« Heinzi hatte es erkannt. Hätte Florian wie vorher sein rechtes Bein festgehalten, er wäre womöglich bis in den Himmel hinaufgelaufen. So aber ließ er seinen rechten Fuß an der Mauer entlangschleifen und bremste damit, so gut er konnte. Ehe er sich recht besinnen konnte, saß er oben auf der Mauer und hätte nicht zu sagen gewußt, wie er da hinaufgeraten war. Als er seine Freunde so tief unter sich stehen sah, schloß er entsetzt die Augen und krallte sich an den Steinen fest. »Fall ja nicht!« rief Heinzi erschrocken. »Komm wieder runter!« »Ich kann nicht. Ich traue mich nicht!« »Wir müssen eine Leiter holen«, schrie Jochen aufgeregt, »oder einen Steinhaufen aufschichten!« »Nein, nein«, brüllte Thomas, »die Feuerwehr muß her! Ich renne zu Benzinger und rufe die Feuerwehr!« Im nächsten Moment war er bereits verschwunden. »Halte dich gut fest«, ermahnte Jochen seinen Freund, der rittlings oben auf der Mauer saß. »Schau lieber nicht herunter, sonst wird dir schwindlig«, rief Heinzi, der vor Angst am liebsten geheult hätte, »schau auf deine Hände oder auf die Steine vor dir!« »Es dauert bestimmt nicht lange«, tröstete Jochen und überlegte dabei verzweifelt, ob die Feuerwehr überhaupt den schlechten Weg bis zur Burg heraufkommen würde. Heinzi versuchte inzwischen Florian etwas abzulenken. »Weißt du, was mir gerade einfällt? Wenn du Olympiasieger im Langstreckenlauf rückwärts bist, könntest du in Ötzmichelstadt eine Sportschule gründen, oder vielleicht auch ein Trainingslager. Dann kämen die guten Läufer aus allen Ländern hierher, um bei dir zu lernen. Das wäre eine tolle Sache, was? Die ganze Welt würde von uns sprechen! Da kriegen wir sicher extra eine Autobahn, vielleicht sogar einen
Flugplatz. Und du, du kriegst ein Denkmal, mitten auf dem Marktplatz. Was könnte denn da draufstehen? Warte mal, also, beispielsweise ‚Florian Jäger, dem größten Sohn der Stadt von seinen dankbaren Mitbürgern‘. Ach nee, ist ja Quatsch, ,Dem schnellsten Sohn der Stadt' müßte es natürlich heißen! Und auf dem Denkmal müßtest du zu sehen sein, wie du gerade das rechte Knie hochhältst und nur auf dein linken Bein stehst. Na ja, und rückwärts schauen müßtest du dabei natürlich auch. Würde dir das gefallen, hm? Und weißt du, was ich machen würde? Ich würde an unserem Haus eine Gedenktafel anschrauben: ,Hier wohnt Karl-Heinz Busch, der dabei war, als Florian Jäger sein weltberühmtes Lauftalent entdeckte'. Und dann gibt es eines Tages todsicher mal eine Florian-JägerSchule, eine Florian-Jäger-Straße oder einen Florian-JägerPlatz. Und die Schulkinder müssen dann deinen Lebenslauf auswendig lernen. Junge, Junge, ich sehe schon, da kommt so einiges auf uns zu.« Heinzi schwätzte drauflos, und als ihm wirklich nichts mehr einfiel, hörten er, Florian und Jochen mit unendlicher Erleichterung das laute Heulen der Feuerwehrsirene. Es kam immer näher, und schließlich hielt das Auto mit quietschenden Bremsen im äußeren Burghof, wo noch genügend Platz zum Wenden und auch der Boden noch einigermaßen eben war. Man hörte Türenknallen und laute Rufe. Dann kamen die Feuerwehrleute mit ihrer großen Leiter angelaufen. Allen voraus liefen der Feuerwehrhauptmann Stuffer und Thomas. »Ja, der Donner«, brummte der Hauptmann verblüfft, »wie kommt der Florian auf die Mauer, he? « Dann gab er seine Kommandos. Die lange Leiter wurde aufgestellt und gesichert, und dann kletterten zwei Feuerwehrmänner hinauf. Einer setzte sich hinter Florian, der andere blieb auf der Leiter stehen. Sie banden ihm ein Seil um die Brust, redeten ihm gut zu, und schließlich begann Florian zaghaft und vorsichtig auf die Leiter zuzurutschen. »Nur langsam«, sagte der Feuerwehrmann hinter ihm, »hab keine
Angst, wir halten dich. So ist es gut! Nun drehst du dich um und steigst auf die erste Sprosse. Geht es? « Florian nickte. Sein Gesicht war weiß, und sein Herz klopfte wild. Noch immer wagte er nicht nach unten zu schauen. Der Feuerwehrmann auf der Leiter umfaßte ihn und wollte mit ihm hinuntersteigen. Doch da berührte Florian mit seinem linken Fuß die zweite Sprosse. Der Feuerwehrmann auf der Mauer stieß einen Schrei aus, als ihm das Seil aus den Händen schnellte, und der Feuerwehrmann auf der Leiter wäre um ein Haar hinuntergefallen. Alle glaubten, daß Florian stürze. Doch es war nur sein linker Fuß, der rückwärts die Leiter hinabraste, mit einer Geschwindigkeit, die allen den Atem verschlug. Unten angekommen, zwängte er sich durch die Umstehenden hindurch und begann erneut im Kreis herumzulaufen. ,,Ja, der Donner! Ja, der Donner!« sagte der Hauptmann, diesmal erschrocken. Und als Florian das nächstemal vorbeiwirbelte, trat er entschlossen hinter ihn und hielt ihn fest. Der lag wie leblos in seinen Armen. »Der arme Kerl ist ohnmächtig geworden«, meinte der Hauptmann, der Schreck war zu groß. Was ist nur los mit ihm? « »Irgend etwas ist heute nachmittag mit seinem linken Fuß passiert«, erzählte Jochen, »plötzlich konnte er damit nur noch rückwärts rennen. Sie haben es ja selbst gesehen.« Der Hauptmann sah erst Florian und dann die Jungen kopfschüttelnd an. »Donner - Donner!« murmelte er und trug Florian zum Feuerwehrauto. Unterwegs kam Florian wieder zu sich, öffnete die Augen und sah erstaunt in das freundliche Gesicht des Feuerwehrhauptmanns. »Wie geht es dir denn? « »Gut. Bloß noch ein bißchen schwindlig ...« »Das geht gleich vorbei. Wir bringen dich erst mal zum Arzt. Er ist schon verständigt.« Herr Stuffer setzte sich vorne neben den Fahrer und behielt
Florian auf seinen Knien. Die Feuerwehrleute befestigten ihre Leiter und nahmen Platz. Jochen, Thomas und Heinzi standen herum, guckten neugierig zum Fenster hinein und warteten, um das Auto abfahren zu sehen. »Tut dir was weh? « fragte der Hauptmann, als der Feuerwehrmann Kleib, der am Steuer saß, gerade abfahren wollte. »Nein, überhaupt nichts«, versicherte Florian und strahlte, weil er tatsächlich mit dem Feuerwehrauto fahren durfte. »Sie brauchen mich nicht mehr festzuhalten.« Er rutschte von Herrn Stuffers Knie herunter und setzte sich bequem neben ihm zurecht. Dabei trat er mit dem linken Fuß auf - und sofort machte das schwere Feuerwehrauto einen Satz nach rückwärts, daß die Feuerwehrleute aneinanderstießen und Herr Stuffer um ein Haar mit dem Kopf an die Windschutzscheibe geprallt wäre. »Wawawas war denn das? « stotterte der Feuerwehrmann Kleib, der mit aller Kraft auf die Bremse gestiegen war. »Ich hatte doch den Rückwärtsgang gar nicht drin!« Er versuchte nochmals mit dem ersten Gang loszufahren, und er versuchte es ein weiteres Mal, aber es war immer das gleiche, statt vorwärts fuhr der Wagen rückwärts. »Ja, zum Donnerwetter-Donner!« schimpfte der Hauptmann. »Lassen Sie mich mal ans Steuer!« »Bitte! Wenn Sie unbedingt meinen ...« sagte der Fahrer Kleib verärgert und stieg aus. Auch Herr Stuffer versuchte es dreimal, aber da war nichts zu machen. »Die Vorwärtsgänge müssen irgendwie blockiert sein«, meinte er ratlos. »Das ist ja ein schönes Theater! Dann werden wir eben im Rückwärtsgang den Berg hinunterfahren. Sind wenigstens die Bremsen in Ordnung?« »Ganz bestimmt.« »Also, dann fahren wir!« Frau Benzinger, die aus dem Fenster blickte, staunte nicht schlecht, als sie das
Feuerwehrauto rückwärts und so langsam, wie man es sonst von der Feuerwehr nicht gewöhnt ist, den Burgberg herunterkommen sah. Jochen, Thomas und Heinzi liefen und hüpften nebenher. Von unten kam ihnen der Arzt im Auto entgegen. Herr Stuffer stieg aus und erklärte ihm etwas. Der Arzt nickte und setzte sich neben Florian, der eben noch mit seinen Freunden herumgealbert hatte. »Na, schlecht scheint es dir aber nicht zu gehen, oder? « »Nein, mir geht's prima.« »Kannst du den Fuß bewegen? « »Klar, kann ich«, sagte Florian und schlenkerte seinen Fuß. »Das ist ja schön. Trotzdem möchte ich ihn mir noch genauer ansehen. Wenn dir sonst nichts weh tut, bringe ich dich jetzt erst mal heim.« Florian war alles andere als begeistert. »Kann ich nicht mit dem Feuerwehrauto fahren? « bat er. Der Arzt schmunzelte: »Ich verstehe schon, damit fährt man nicht alle Tage, was? Gut, ich fahre voraus.« So fuhr das Feuerwehrauto weiter langsam nach Ötzmichelstadt hinein, und die Leute blieben auf der Straße stehen und fragten sich, ob das wohl eine neue Feuerwehrübung sei. Frau Jäger erschrak natürlich, als sie ihren Jungen von der Feuerwehr gebracht bekam. »Um Himmels willen«, sagte sie, »was ist passiert? Florian, bist du verletzt? Was hast du gemacht? Bist du gestürzt? Hast du dich verbrannt? « »Nein, Mutti, ich bin bloß immer gelaufen.« »Gelaufen? Warum? Was ist los, Herr Doktor?« Der Arzt legte Florian auf das Sofa und zog ihm vorsichtig den Socken vom linken Fuß. Er drehte den Fuß im Gelenk, bewegte die Zehen und sah Florian dann zweifelnd an: »Steh bitte mal auf! Und jetzt geh ein paar Schritte!« Florian ging, so leicht, wie er
immer gegangen war. Bis er es dann merkte und wie festgenagelt stehen blieb. »Ich brauche ja gar nicht mehr rückwärts zu laufen!« schrie er und machte vor Freude einen großen Hopser, und noch einen und noch einen. »Wer so springen kann«, meinte der Arzt und lachte, »hat garantiert zwei gesunde Füße. Trotzdem, Frau Jäger, packen Sie ihn ins Bett. Ich lasse Ihnen ein Beruhigungsmittel für ihn da, damit er nach dieser Aufregung bald einschlafen kann. Ich schaue morgen wieder vorbei. Vielleicht erfahren wir dann, wie er auf die Mauer gekommen ist.« Der Arzt und der Feuerwehrhauptmann verabschiedeten sich. Draußen hatte inzwischen der Fahrer Kleib den Wagen gewendet und winkte: »Es geht wieder vorwärts, Chef!« ,Ja, der Donner«, brummte der Hauptmann zum x-ten Male an diesem Nachmittag, »so was Verrücktes!« »Jetzt will ich aber endlich wissen, was los war! « sagte Frau Jäger energisch zu ihrem Sohn und den Jungen, die noch dageblieben waren. Daraufhin erzählten sie ihr die merkwürdige Geschichte von Florians Rückwärtslaufen. Frau Jäger saß neben ihm auf dem Sofa und befühlte seine Stirn. »Das ist ja entsetzlich, du mußt ernsthaft krank sein! Tut dir wirklich nichts weh? Trink das aus, damit du bald einschlafen kannst. Bitte, geht jetzt, er muß Ruhe haben!« Die Jungen trollten sich schließlich. Florian ging in seinem Zimmer zu Bett, und seine Mutter deckte ihn fürsorglich bis unters Kinn zu. Sie räumte seine Kleider weg, stellte seufzend den rechten Schuh in den Schuhschrank und legte schließlich den vermeintlichen Socken, von dem immer noch keiner wußte, was es eigentlich war, auf einen Packen alter Kleider, den sie zum Abholen auf die Straße gestellt hatte. »Warum die Sachen noch nicht abgeholt sind? « fragte sie sich. »Vielleicht habe ich mich im Datum geirrt, und sie kommen erst morgen früh? Na, heute nacht gibt es bestimmt keinen Regen, da kann ich den Packen gleich hier liegen lassen.«
Drittes Kapitel: In dem von Fräulein Milich und angewachsenen Ohrläppchen, von der Rückwärtslauf-Olympiade und von Einbrechern die Rede ist Fräulein Luise Milich war dreiundsechzig Jahre alt und wohnte in einer stillen Nebenstraße, nicht weit von Jägers entfernt. Sie war Weißnäherin, und das bedeutete, daß sie feine Tisch- und Bettwäsche nähen und sie mit verschnörkelten Monogrammen verzieren konnte. Fräulein Milich war sehr groß, sehr dünn, und eigentlich war alles an ihr irgendwie gerade, spitz und eckig. Ihr Großvater war der letzte Nachtwächter von Ötzmichelstadt gewesen, und darauf war sie sehr stolz. Die Laterne, die er seinerzeit mit sich herumschleppen mußte, ein Ungetüm aus Holz und Eisen, stand auf ihrer Wohnzimmerkommode. Auf dem darüberhängenden Bild war ebenfalls ein Nachtwächter zu sehen, allerdings nicht Fräulein Milichs Großvater. Florian konnte sie nicht leiden. Einmal, er war damals sechs Jahre alt gewesen, hatte er zufällig gehört, wie sie zu seiner Mutter gesagt hatte: »Martha, mir fällt gerade auf, daß Florian angewachsene Ohrläppchen hat. Du weißt doch, was das bedeutet? « »Nein, was denn? « »Es heißt, daß Menschen mit angewachsenen Ohrläppchen meist schreckliche Lügner sind!« »Aber Luise«, hatte Frau Jäger lachend erwidert, »wer wird denn so einen Unsinn glauben! Florian ist ganz bestimmt kein schrecklicher Lügner. Schließlich werde ich als seine Mutter ihn ja kennen.« »Na, wie du meinst, Martha«, hatte Fräulein Milich spitz
gesagt und ein beleidigtes Gesicht aufgesetzt, »ich wüßte jedenfalls, worauf ich zu achten hätte. Mein Sohn wenn das wäre ...« »Warum kommt sie so oft zu uns? « hatte Florian danach seine Mutter gefragt. »Weil sie mit uns um ein paar Ecken verwandt ist und sonst niemanden hat.« Florian hatte daraufhin die Hausecken gezählt, die zwischen dem Haus seiner Eltern und dem von Fräulein Milich lagen, und hatte dreizehn herausgebracht. »Jetzt weiß ich es genau«, hatte er ihr tags darauf erklärt, »du bist um dreizehn Ecken mit uns verwandt!« Zunächst war Fräulein Milich sprachlos gewesen. »Un-glaub-lich!« hatte sie dann empört gezischt, war hinausgerauscht und hatte sich eine Woche lang nicht mehr blicken lassen. Erst später verstand Florian, daß sie entsetzlich abergläubisch war. Das Wort »dreizehn« sprach sie am liebsten überhaupt nicht aus, sie sagte »so um zwölf herum«, und auch die Zahl sieben nannte sie nicht gern und meinte statt dessen immer »zwischen sechs und acht«. Jeden Kaminkehrer, den sie traf, berührte sie kurz am Ärmel, weil ihr das Glück bringen sollte, und nie ließ sie zwischen Weihnachten und Neujahr Wäsche auf der Leine hängen, weil sie fest überzeugt war, daß dadurch Unheil über sie käme. Na, und mit dem linken Fuß zuerst aus dem Bett zu steigen, das wäre ihr nicht einmal im Traum eingefallen. Fräulein Milichs Haus war ein Häuschen, und das Schönste daran war die dunkelgrüne Haustür. Sie hatte in jeder Ecke eine dicke, geschnitzte Rosette, die innen gelb und außen weiß bemalt war und so aussah wie ein Spiegelei. Innen hatte die Tür ein großes, altmodisches Schloß, zu dem ein riesiger schwarzer Schlüssel gehörte, und außerdem hatte Fraulein Milich noch zusätzlich zwei schwere Riegel anbringen lassen. In der oberen Türhälfte befand sich ein kleines Türchen, und das war für Fräulein Milich das Allerwichtigste. Wenn jemand
bei ihr läutete - auch wenn sie genau wußte, daß das nur der angekündigte Besuch sein konnte -, öffnete sie zunächst bloß das kleine Türchen, steckte ihre spitze Nase hinaus, nickte, schloß das Türchen wieder, zog dann die beiden Riegel zurück, sperrte die Tür auf und öffnete sie gerade nur so weit, daß sich der Besuch mit Mühe hindurchzwängen konnte. Dann schob sie die Tür sofort wieder zu, verschloß und verriegelte sie, und dann erst nahm sie sich die Zeit, »Guten Tag« zu sagen. Wie alle abergläubischen Leute war Fräulein Milich überaus vorsichtig und ängstlich. Am allermeisten aber fürchtete sie sich vor Einbrechern. Wenn sie nur daran dachte - und sie dachte oft daran -, klopfte sie sofort dreimal auf Holz und glaubte dadurch die Einbrecher abhalten zu können, gerade bei ihr einzubrechen. Manchmal taten ihr am Abend die Fingerknöchel richtig weh von der ständigen Holzklopferei. Fräulein Milich lebte zwar allein, aber einsam fühlte sie sich nicht. Sie hatte nämlich einen Kater. Keinen schwarzen natürlich, das wäre für sie wirklich unzumutbar gewesen. Nein, ihr Kater war hellgrau mit dunkleren Streifen und hieß Jaromir. Das war sehr ungewöhnlich, denn alle anderen Ötzmichelstädter Katzen hießen Muschi, Pussi, Minzi, Mautz oder Muckel. Jaromir hatte es so gut, wie ein Kater es nur haben kann, und er war dabei so dick und rund geworden, daß er ständig aussah wie eine Katze, die bald Junge haben würde. Eines Tages, als sich Florian wieder einmal über Fraulein Milich geärgert hatte, verfaßte er ein Gedicht auf Jaromir, und nach der Melodie von »O Tannenbaum« sang er es lauthals zum offenen Fenster hinaus. »Der Jaromir, der Jaromir, der ist ein ganz besondres Tier. Ein Kater ist das nicht, o nein, dann eher schon ein Hängebauchschwein!«
Fräulein Milich, die im Garten mit seiner Mutter Kaffee getrunken hatte, ging daraufhin gekränkt nach Hause. Seine Mutter war sehr böse mit ihm gewesen. Besonders gut war das Gedicht ja nicht, und besonders höflich war das Ganze schon überhaupt nicht, Florian hatte es eingesehen. Aber seinen Freunden gefiel das Gedicht um so mehr. Sie konnten seitdem nie mehr an Fräulein Milichs Haus vorbeigehen, ohne nicht wenigstens die Weihnachtsmelodie zu pfeifen. Und wenn das zufällig an einem heißen Sommertag geschah, dann fanden sie das noch viel komischer. Auf ihren geliebten Jaromir ließ Fräulein Milich nichts kommen. Jeden Abend, sobald es dämmrig wurde, versuchte sie ihn spazieren zu führen, so wie es andere Leute mit ihrem Hund tun, wenn sie mit ihm »Gassi« gehen. Sie öffnete die Haustür und sagte mit zuckriger Stimme: »So, jetzt komm, mein Kleiner!« Und - flutsch - war Jaromir weg. Er dachte gar nicht daran, brav nebenher zu laufen, schließlich war er kein Hund! Fräulein Milich ging dann langsam weiter, drehte sich ab und zu um und rief ihn halblaut, aber nie war auch nur ein Schnurrbartendchen von ihm zu sehen. Bei einem solchen Abendspaziergang kam Fräulein Milich also in die Föhrnrieder Straße, die so hieß, weil sie geradewegs in die Nachbarstadt Föhrnried führte, und damit auch an Jägers Haus vorbei. Unterwegs hatte sie die zum Abholen bereitgestellten Altkleiderpacken gesehen und sich gefragt, was da wohl alles drin sein mochte. Bei dem Bündel, das Florians Mutter abgeben wollte, war sie ganz besonders neugierig. Sie sah sich zunächst einmal um, wobei sie so tat, als wollte sie nach Jaromir Ausschau halten, dann bückte sie sich, als ob sie ihren Schuh neu binden müßte, und dann kam sie schließlich wieder hoch. Da hatte etwas obenauf gelegen! Mit ihren komisch langen Schritten ging sie bis zur nächsten Straßenlaterne, um ihren Fund zunächst heimlich, dann aber immer interessierter und ohne Scheu zu betrachten. »Seit wann
hat der Florian solche Socken? « Sie schüttelte verwundert den Kopf, von feiner Wäsche verstand sie ja etwas. »In Ötzmichelstadt hat Martha das bestimmt nicht gekauft. Nach selbstgestrickt sieht es auch nicht aus, zumindest nicht von Martha. Wie weich und silbrig der ist, und vor allem, wie genau dem Fuß nachgebildet!« Sie ging noch einmal zurück, schob das Bündel etwas zur Seite und suchte vergebens den zweiten Socken. »Aha«, meinte sie, »jetzt kann ich mir schon denken, was passiert ist. Sicher hat Florian den anderen verloren. Geschieht Martha ganz recht, warum kauft sie dem Schlamper auch so teure Strümpfe. Bei mir bekäme er nur einfache, handgestrickte! Und so etwas Hübsches werfen sie einfach fort? Womöglich verliert der Bursche übermorgen wieder einen Socken, dann könnte er doch die beiden übriggebliebenen anziehen. Mein Sohn wenn das wäre ...« Sie nuschelte noch ein bißchen vor sich hin und steckte den Socken dann kurzerhand in ihre Schürzentasche. »Wenn sie ihn sowieso hergeben wollen, dann kann auch ich ihn mitnehmen!« Daraufhin kehrte sie um, lockte Jaromir, der überall war, nur nicht gerade dort, wo Fräulein Milich ihn vermutete, und ging heim. Als Jaromir schließlich an der Haustür kratzte und miaute, ließ sie ihn ein und versorgte anschließend ihr Haus für die Nacht. Sie hatte eben die Fensterläden in Küche und Wohnzimmer zugezogen und festgehakt, als es geschah. Plötzlich, und ohne daß vorher irgendein knirschendes Geräusch zu hören gewesen wäre, gab es ein lautes »Rrrrrums!«, und das Nachtwächterbild fiel samt Nagel auf die Laterne herunter. Fräulein Milich lehnte sekundenlang an der Tür und konnte sich vor Schreck nicht rühren. »Welch ein böses Zeichen«, flüsterte sie. »Wenn ein Bild von der Wand fällt, bringt das immer fürchterliches Unglück. Was mag das wohl zu bedeuten haben? Oh, oh, oh!«
Noch immer zitternd kehrte sie die vom Bilderrahmen abgesplitterten Gipsstückchen zusammen. Jeder, der sich den viel zu schwachen und krummen Nagel angesehen hätte, würde erkannt haben, daß das Bild früher oder später hätte herabfallen müssen, aber Fräulein Milich sah die Sache natürlich ganz anders. »Ich werde mich schon vorsehen«, versprach sie sich selbst und lehnte das Bild einstweilen an die Wand, »o ja, ich werde mich vorsehen!« Kurz darauf ging sie in ihr Schlafzimmer hinauf und sah erst einmal unter ihr Bett und hinter den Schrank. Nachdem sie sich vergewissert hatte, daß da wirklich keiner war, holte sie aus einem kleinen Dachverschlag ein braunes Holzkästchen heraus, in dem sie ihre gesamten Ersparnisse aufbewahrte. Die Hände wurden ihr feucht, und als sie sie an ihrer Schürze abwischte, zerrte sie dabei den gefundenen Socken aus der Tasche. Da kam ihr eine wundervolle Idee. »Natürlich, das ist genau das Richtige!« Glücklich über ihren Einfall füllte sie das Geld, meist waren es Fünfmarkstücke, in Ötzmickis Fuß und band ihn mit einer feuerroten Wollkordel zu. »Jetzt sollen sie nur kommen, die Einbrecher«, murmelte sie, »den Strumpf finden sie nie. Daß du dich ja nicht vom Fleck rührst, Jaromir, hörst du? Du bleibst ganz ruhig liegen und tust so, als wüßtest du von nichts. Versprichst du mir das? « Jaromir würdigte sie keines Blickes, sondern gähnte nur. Aber Fräulein Milich war auch damit zufrieden und strich sein rotkariertes Schlafkissen noch ein bißchen glatter, damit nur ja keiner auf den Gedanken käme, daß darunter ihr Sparstrumpf versteckt sei. Zu der Zeit, als Fräulein Milich nach all der Aufregung endlich doch noch eingeschlafen war, wurde es auch bei Jägers ruhig. Florians Mutter hatte noch mehrmals nach ihm gesehen. Er schien tief zu schlafen, und seine Stirn fühlte sich nicht ein bißchen heiß an. So waren die Eltern zu Bett gegangen, und
auch unterm Dach, wo Florians großer Bruder Klaus, der bei der Ötzmichelstädter Zeitung arbeitete, sein Zimmer hatte, war es bereits dunkel. In dieser Nacht hatte Florian einen sehr sonderbaren Traum: Auf der Mauer, wohin er am Nachmittag auf unerklärliche Weise geraten war, stand breitbeinig und in voller Uniform der Feuerwehrhauptmann Stuffer. Neben ihm saßen zwei Feuerwehrleute und hielten ihn am Knie fest. Der Burghof war schwarz von Menschen. »Alles mal herhören!« schrie der Hauptmann. »Wir erleben jetzt die erste Olympiade der Rückwärtsläufer, und zwar den Staffellauf. Angetreten sind die schnellsten Rückwärtsläufer der Welt, darunter auch die sieggewohnte Mannschaft aus Ötzmichelstadt mit Florian Jäger, Thomas Kellermann, Jochen Fleißer und Karl-Heinz Busch.« Florian sah sich verwundert um. Auf der linken Bahn neben ihm war eine Indianermannschaft in wüster Kriegsbemalung. Einer nickte ihm grimmig zu: »Diesmal werden meine weißen Brüder nicht gewinnen. Die Häuptlinge Starker Arm, Fettes Knie, Kleine Bohnenstange und Schmaler Fuß sind schneller als der Wind. Hugh!« Auf seiner rechten Seite stand die Mannschaft der vier Mohren bereit, die von der Hauswand des Gasthofes herabgestiegen waren. Sie hatten sich ihre bunten Flattergewänder fest in die weißen Pluderhosen gestopft, und Florian konnte hören, wie sie sich mit einem verstohlenen Seitenblick zu ihm herüber zuflüsterten: »Und diesmal werden wir nicht anhalten!« »Thomas, Jochen, Heinzi«, rief Florian den auf seiner Bahn stehenden Freunden erschrocken zu, »das geht nicht, ihr könnt doch gar nicht rückwärts laufen! Und ob es bei mir klappt, weiß ich auch nicht sicher.« »Sei bloß still und nimm dich zusammen«, schrie Heinzi,
»schließlich wollen wir einen Flugplatz haben, daß du uns ja keine Schande machst!« ,,Ja, aber ...« wollte Florian einwenden, als er plötzlich Fräulein Milich mit ihrem Jaromir auf der Schulter neben sich stehen sah. »Jetzt werden wir ja sehen, ob du wirklich ein echter Rückwärtsläufer bist«, sagte sie und stach ihn mit ihrem spitzen Zeigefinger in die Brust. »Wahrscheinlich hast du bloß wieder gelogen. Wenn einer so angewachsene Ohrläppchen hat wie du!« »Wie es den Regeln im die Rückwärtsläufer entspricht«, hörte Florian den Feuerwehrhauptmann von der Mauer herunterschreien, »hat jeder der Läufer zur Erhöhung der Schwierigkeit einen kleinen Gegenstand ans Bein gebunden bekommen, der ihn aber beim Laufen nicht übermäßig behindern wird « Florian bemerkte, daß die Indianer ihren Tomahawk und die Mohren ihren Turban am Knöchel befestigt hatten, und er beugte sich vor, um zu sehen, was er und seine Freunde mitzunehmen hätten. Als er erkannte, daß Thomas den alten Lampenschirm, bei dem sich das Gestänge durchdrückte, neben sich liegen hatte, mußte er lachen. Das war wirklich keine allzu schwere Last. Aber bei Heinzi lag etwas anderes. Das war kein Lampenschirm, sondern eine Gedenktafel mit der Inschrift: ,Hier wohnt Karl-Heinz Busch, der dabei war, als Florian Jäger sein weltberühmtes Lauftalent entdeckte.' Und um Jochens Bein - das durfte doch nicht wahr sein - um Jochens Bein war ein Abschleppseil gebunden, und daran hing das Feuerwehrauto! »Das ist unfair!« wollte er empört rufen. »Ein Feuerwehrauto ist kein kleiner Gegenstand!« Doch gegen die alles übertönende Stimme des Feuerwehrhauptmanns kam er nicht an. »Alles mal herhören«, brüllte der, »ich gebe jetzt die Kommandos. Donner - Donnerwetterdonner - Los!«
Die Startläufer der Indianer und der Mohren rasten los, und auch Heinzi fegte in einem irrsinnigen Tempo über die Bahn. Er selbst ahnte noch nicht einmal, was er mitzuziehen hatte. An seinem Knöchel befand sich zwar eine mittelstarke Kette, aber sie verlor sich zwischen den Zuschauermassen, so daß er nicht erkennen konnte, wie das andere Ende aussah. Um sein Anhängsel endlich aus den Zuschauern heraus und neben sich zu bekommen, schwang er sein Bein probeweise kräftig nach hinten. Aber es nützte nichts. Nur, daß es etwas Schweres sein mußte, das fühlte er. ,Es geht nicht, dachte er, ,es geht mit dem besten Willen nicht, jemand muß auf meiner Kette stehen.' Unterdessen kam Heinzi immer näher. Die Ötzmichelstädter schrien sich heiser: »Karl-Heinz Busch, rückwärts huschhusch-husch!« Heinzi fühlte sich so angefeuert, daß er das Letzte aus sich herausholte und deutlich an der Spitze lag. Er sah über die Schulter und streckte Florian das Staffelholz entgegen. Florian packte es und machte einen energischen Satz rückwärts. Im ersten Moment glaubte er, daß er sich das Bein ausgerissen hätte, doch dann gab es einen gewaltigen Ruck, die Zuschauer spritzten auseinander, und dann kam zwischen ihnen der dicke Turm zum Vorschein, den Florian mit seinem ersten Schritt herausgerissen hatte wie einen starken Wurzelstock aus der Erde. »Ich kann doch nicht mit dem dicken Turm laufen!« protestierte Florian. »Das kann niemand. Da mache ich nicht mit.« Doch die Zuschauer fanden das anscheinend ganz in Ordnung und riefen: »Florian Jäger ist der größte Feger!« Schon hatten die Indianer und Mohren Heinzis Vorsprung fast aufgeholt, wenn er nicht endlich loslief, würde die Ötzmichelstädter Mannschaft verlieren. »Florian, komm endlich!« schrie Thomas und hüpfte dabei aufgeregt von einem Bein aufs andere, so daß der Lampenschirm am Boden hin und her schoß. Florian winkte ihm verzweifelt zu: »Du mit deinem Lampenschirm hast leicht reden!« Aber dann versuchte er zu rennen. Der dicke Turm rutschte auf die Bahn, kam bei seinem
nächsten Rückwärtsschritt ins Schwanken und - und - und fiel direkt auf Florian drauf. Er fühlte noch, wie ihm die Zweige der Birke ins Gesicht peitschten, hörte die Zuschauer entsetzt kreischen, und dann war alles still, dunkel und vorbei. Als er aus seinem Traum erwachte, lag er neben seinem Bett, und auf seinem Gesicht saß sein allererstes Spielzeug, der kleine Plüschhund Wawa. Verschlafen sah Florian auf seinen Wecker, es war zehn Minuten nach Mitternacht. Der Vollmond schien hell durchs Fenster, und Florian brauchte eine Weile, bis ihm auffiel, daß etwas sonderbar war. Wie konnte Wawa ihm aufs Gesicht fallen? Der schlummerte doch schon seit einer Ewigkeit ganz unten in der Spielzeugtruhe mit dem Kleinkinderkram! Er stand auf, knipste das Licht an, und über das, was er dann sah, erschrak er so, daß er laut »Vater, Mutti, Klaus!« rief. »Vater, schnell!« Als seine Eltern und Klaus ins Zimmer gestürzt kamen, standen auch sie erst wie gelähmt da. Sämtliche Bücher waren aus den Regalen gezogen und lagen, vermischt mit Schlafanzügen, Fußballstiefeln, Unterwäsche, Pullovern, Socken, Pudelmützen und Handschuhen, auf dem Boden. Der Schrank war vollständig ausgeräumt, die elektrische Eisenbahn halbabgebaut, die Spielzeugtruhe umgekippt, der Teppich auf die Seite gezogen und die Vorhänge über die Schienen nach oben geschlagen. Es war ein einziges, wüstes Durcheinander. »Ja, aber Florian«, sagte Herr Jäger fassungslos, »was hast du bloß gemacht? Wie sieht es denn hier aus? « Seine Mutter blickte sich stumm und verwirrt um, genauso wie damals die Mutter vom Zappelphilipp. Dann nahm sie ihren Jungen fest in die Arme, drückte seinen Kopf an ihre Schulter und sagte leise: »Klaus, schnell das Fieberthermometer, die Medizin unten vom Wohnzimmerschrank und ein Glas Wasser!« Und ihrem Mann raunte sie zu: »Kurt, hol doch bitte mein Deckbett herüber. Er hat zwar keine heiße Stirn, aber vielleicht ist es ein inneres Fieber. Gab es denn in deiner Familie einen Schlafwandler? «
»Nicht daß ich wüßte«, sagte Herr Jäger, »und außerdem habe ich noch nie gehört, daß Schlafwandler so eine Unordnung anrichten.« Florian hatte sich inzwischen aus dem Arm seiner Mutter befreit. »Ich bin überhaupt nicht schlafgewandelt, Mutti. Ich habe geträumt, daß mir bei der Rückwärtslauf-Olympiade der dicke Turm aufs Gesicht gefallen ist. Und als ich aufwachte, lag ich neben dem Bett, und Wawa saß auf meiner Nase. Im Traum dachte ich, daß es die kleine Birke wäre.« »Siehst du, er phantasiert«, sagte Frau Jäger besorgt zu ihrem Mann, »Rückwärtslauf-Olympiade! Träume mit solchen Worten können einfach nicht normal sein. Bestimmt ist es ein inneres Fieber.« »Also, Moment mal«, mischte Klaus sich ein, »jetzt wollen wir der Sache doch mal auf den Grund gehen. Du hast gesagt, daß dir der Wawa auf der Nase saß. Von wo soll er heruntergefallen sein? Neben deinem Bett steht weder ein Regal noch ein Schrank. Oder hattest du ihn gestern abend auf die Oberkante vom Bettgestell gesetzt? « »Ach, Quatsch«, sagte Florian wütend, »ich hatte das Babydings schon längst vergessen. Der Wawa liegt seit Urzeiten ganz unten in der Spielzeugkiste. Stimmt's, Mutti?« »Ja, das stimmt«, bestätigte Frau Jäger. »Na bitte! Glaubst du wirklich, daß ich mein Lieblingsbuch so auf den Boden knallen würde, daß ausgerechnet das Bild vom Boxkampf ein Eselsohr kriegt? Die Eisenbahn abzubauen, wenn es nicht sein muß, das würde mir nicht einmal im Schlaf einfallen. Ich kann euch bloß sagen, daß ich den ganzen Zauber hier nicht gemacht habe.« Unterdessen war Herr Jäger nach unten gegangen und hatte alle Fenster und Türen nachgesehen. »Eine komische Geschichte«, meinte er. »Wenn das Einbrecher gewesen sind, so müssen sie durchs Schlüsselloch gekommen sein! Unten ist
alles in Ordnung. Fehlt etwas? « Florian schüttelte den Kopf. »Mir ist noch nichts aufgefallen.« »Ich kann mir nicht denken, was sie in Florians Zimmer suchen sollten«, sagte Klaus. »Wenn das Einbrecher waren, so muß etwas anderes dahinterstecken.« Herr Jäger nickte. »Ich kann mich nicht erinnern, daß in Ötzmichelstadt jemals eingebrochen wurde. Und warum gerade bei uns? « In diesem Augenblick fiel oben im Zimmer von Klaus etwas laut polternd zu Boden. »Was war das? « rief Frau Jäger ängstlich, während ihr Mann und Klaus bereits die Treppe hochstürmten. »Der Schaukelstuhl war umgefallen«, berichtete Klaus wenig später, »warum, weiß ich auch nicht. Ach ja, und der Wäscheschrank ist genauso leergeräumt wie der hier.« »Das ist ja unheimlich«, sagte Frau Jäger. »Kurt, ich fürchte mich. Bitte, ruf sofort die Polizei. Ich will mir bloß noch schnell etwas überziehen.« Sie ging in ihr Schlafzimmer hinüber und schrie auf: »Kurt! Kurt!« »Das ist doch !«sagte Herr Jäger ungläubig, als er den Inhalt des großen Kleider- und Wäscheschrankes auf dem Boden verstreut liegen sah. »Was soll das nur bedeuten? Du hast recht, Martha, das ist eine Sache für die Polizei!« Während er nach unten ging, um die Polizei zu verständigen, schwebte Ötzmicki niedergeschlagen und mutlos durch die Hauswand nach draußen. Die Fledermäuse hatten ihm verraten, wer seinen Fuß gefunden und mitgenommen hatte. Und natürlich hatte er die erste Geisterstunde dazu benützt, um seinen Fuß wiederzufinden. Aber soviel er auch gesucht und gekramt hatte, er hatte ihn im ganzen Haus nicht entdecken können. Es tat ihm ehrlich leid, als er an die Unordnung dachte, die er hinterlassen hatte. »Aber eine Stunde ist so kurz, wenn man nicht weiß, wo man suchen muß«, entschuldigte er sich
vor sich selber. »Was wird Vater sagen, wenn er sieht, daß ich ohne Fuß zurückkomme? « Er schniefte unglücklich vor sich hin.
Viertes Kapitel: In dem Fräulein Milich einen Entschluß faßt, eine merkwürdige Inschrift entdeckt wird und Florian und Heinzi etwas zu ahnen beginnen Der Rest der Nacht war für die Familie Jäger ruhig und ohne weitere Überraschungen verlaufen. Wachtmeister Valentin, der nach Herrn Jägers Anruf gekommen war, hatte ebenfalls nur ratlos den Kopf geschüttelt. Zwar hatte er alles sorgfältig in sein Notizbuch geschrieben, aber schließlich war er wieder gegangen, ohne eine glaubhafte Erklärung gefunden zu haben. »Vielleicht war es ein Erdbeben?« meinte Florian beim Frühstück. Dabei biß er in seine Semmel, die er so dick mit Erdbeermarmelade bestrichen hatte, daß es auf beiden Seiten heruntertropfte. »So ein Unsinn«, sagte Klaus. »Ein Erdbeben in Ötzmichelstadt! Das wäre das seltsamste Beben gewesen, das die Welt je erlebt hat.« »Wieso? « »Weil es nur Schränke zum Wackeln gebracht hat. Genauer gesagt, nur Kleiderschränke. Oder ist in der Küche etwas zu Bruch gegangen, Mutter? « »Nein«, antwortete Frau Jäger, »in der Küche ist nicht das geringste passiert.« »Na, dann steht vielleicht unser Haus teilweise auf einem Vulkan«, bohrte Florian weiter, »so etwas wäre doch möglich? Der Ätna auf Sizilien spuckt auch nur ab und zu, und keiner kann im voraus sagen, wann es bei ihm wieder losgeht. Es könnte doch gut sein, daß unter unserem Haus ...« »Florian«, sagte seine Mutter streng, »wenn du nicht sofort mit diesen schauerlichen Dingen aufhörst, bestehe ich darauf, daß du die Kraftbrühe und den Haferschleim nimmst, den ich
extra für dich gekocht habe!« Florian war sofort still. Das einzige, was ihm wirklich nicht schmeckte, war der Haferschleim, den seine Mutter immer bereithielt, wenn sich einer aus der Familie nicht wohl fühlte. »Dir geht's schon wieder gut, hm? « fragte ihn sein Vater lächelnd. Florian nickte und mampfte schweigend. »Ich meine, du kannst ihn unbesorgt wieder an die frische Luft lassen, Martha. Das war eben seine dritte Semmel! Sein Appetit ist völlig normal - und seine Art zu laufen auch. Ich werde nachher mit dem Arzt sprechen.« Frau Jäger sah ihrem Sohn prüfend ins Gesicht: »Aber ein paar Löffel Kraftbrühe muß er essen. Nach diesen Aufregungen gibt es nichts Besseres als Kraftbrühe.« Als sein Vater und Klaus das Haus verlassen hatten, seine Mutter mit dem Aufräumen beschäftigt war und er sein Zimmer wieder einigermaßen in Ordnung gebracht hatte, wartete Florian auf die passende Gelegenheit, endlich zu seinen Freunden laufen zu können. Und diese Gelegenheit kam, als Fräulein Milich an der Tür schellte. »Martha«, sagte sie atemlos, »Martha! Also, du kannst dir nicht denken, was mir gestern abend passiert ist. Stell dir vor: Gestern abend, es war genau zwanzig nach neun und ich hatte gerade die Tür hinter Jaromir zugemacht, da gab es einen Schlag, so entsetzlich wie eine Explosion!« »Was? Eine Explosion? « fragte Frau Jäger. »Das wäre vielleicht eine Erklärung ... aber das war nicht um zwanzig nach neun, sondern erst nach Mitternacht. Und was ist eigentlich explodiert? « »Nein, nein Martha, du mußt mir zuhören! Es gab einen Schlag so laut wie eine Explosion. Und es war nicht nach Mitternacht, sondern genau um zwanzig nach neun. Und weißt du, was geschehen ist? Setz dich lieber erst hin, bevor du vor Schreck umfällst. Also: Bei dem Schlag um zwanzig nach neun
fiel mein Nachtwächterbild von der Wand! Was sagst du jetzt, Martha? « Frau Jäger sah sie verständnislos an: »Ist das alles, Luise? Darüber, daß ein Bild von der Wand gefallen ist, regst du dich so auf? « »Aber Martha!« sagte Fräulein Milich schrill. »Verstehst du denn nicht? In meinem ganzen Leben - in meinem ganzen Leben - ist mir noch nie ein Bild von der Wand gefallen. Martha, ich sage dir, das ist ein Zeichen, das man ernst nehmen muß. Du wirst schon sehen, in allernächster Zeit werden entweder sehr schreckliche oder aber sehr sonderbare Dinge passieren.« Frau Jäger stand auf, holte zwei Kaffeetassen und schenkte Fräulein Milich und sich selbst ein. »Luise, du weißt ja, daß ich auf solche Vorzeichen nicht viel gebe. Aber heute nacht ist tatsächlich etwas Sonderbares geschehen. Ich glaube, es waren Einbrecher hier.« »Martha!« Fräulein Milich stellte ihre Tasse so ruckartig ab, daß die Hälfte des Kaffees überschwappte, und hielt erschrocken die Hand an den Mund: »Du meinst wirklich Einbrecher? « Frau Jäger zuckte mit den Schultern. »Wir wissen nicht, was es sonst gewesen sein könnte. Es war nämlich so ...« Als sie geendet hatte, saß Fräulein Milich mit aufgerissenen Augen da und sagte eine ganze Weile kein einziges Wort, was bei ihr sehr selten vorkam. Dann klopfte sie zunächst dreimal energisch von unten gegen Jägers Küchentisch. »Martha, sag mir, wo hebt ihr eigentlich euer Geld auf? « »Unser Geld? Einen gewissen Betrag haben wir natürlich im Haus, aber unsere Ersparnisse bringen wir zur Sparkasse. Warum fragst du? « »Ach, nur so. Und ihr habt keine Angst, daß dort etwas mit
dem Geld passieren könnte? « »Aber nein, Luise! Selbst wenn es dort gestohlen werden sollte, wird es ersetzt.« »So? Ist das wahr? « »Ganz bestimmt. Möchtest du noch eine Tasse Kaffee? « »Nein, vielen Dank«, sagte Fräulein Milich, ebenfalls gegen ihre sonstige Gewohnheit, und stand auf: »Mir ist richtig schwach in den Knien. Seid um Himmels willen vorsichtig, vielleicht kommen die Kerle noch einmal! Soll ich euch Jaromir zum Schutz dalassen? « »Das wird nicht nötig sein, warum sollten sie noch einmal kommen? Sie haben doch das, was sie suchen, bei uns nicht gefunden. Trotzdem schönen Dank für das Angebot.« Fräulein Milich lief nach Hause, so schnell, wie es ihre Würde zuließ. Sie zerrte den unwillig fauchenden Jaromir von seinem Kissen, holte Ötzmickis Fuß hervor und wickelte ihn in das älteste Stück Packpapier, das sie im Hause hatte. »So«, murmelte sie zufrieden, »jetzt sieht es so unscheinbar aus, daß man höchstens ein Stück schimmlig gewordenes Brot darin vermutet. Genau richtig!« Wenn sie sich einmal zu etwas durchgerungen hatte, so führte sie das auch aus, und sie ging dabei so unbeirrbar auf ihr Ziel los wie eine Planierraupe. Kurze Zeit später marschierte sie mit ihrem schäbigen Päckchen unter dem Arm zur Sparkasse und schob es am Schalter einer Angestellten zu. »Ich möchte, daß Sie das für mich aufheben«, sagte Fräulein Milich halblaut und sah sich dabei argwöhnisch nach allen Seiten um. »Natürlich, gerne. Möchten Sie ein Schließfach mieten? « »Jjjja, jaja«, sagte Fräulein Milich und fühlte sich ausgesprochen unsicher. Wenn nur erst das Päckchen in Sicherheit wäre! Wohl oder übel mußte sie angeben und zeigen, was sie da aufzuheben wünschte. ,Du meine Güte', dachte die Angestellte belustigt, als Fräulein Milich gegangen
war, ein Sparstrumpf! Daß es das heute noch gibt! Und dann verschloß sie Ötzmickis Fuß und vergaß das Ganze, weil sie am nächsten Tag in die Ferien fahren wollte und sowieso an anderes zu denken hatte. Florian war derzeit längst mit Thomas, Jochen und Heinz! zusammengetroffen. Sie kamen ihm schon entgegengelaufen, kaum daß er zwei Häuser weit gegangen war. »Gehst du jetzt wieder richtig vorwärts, oder bloß ab und zu? « fragten sie ihn. Und als Florian ihnen versicherte, daß alles wieder in Ordnung sei, war Thomas fast ein bißchen enttäuscht. »Beinahe schade, du warst einfach große Klasse!« »Na hör mal«, meinte Heinzi empört, »das ist bestimmt kein Spaß, rückwärts laufen zu müssen, wenn man gar nicht will!« »Und als er oben auf der Mauer saß, fand ich das auch nicht gerade komisch«, stimmte Jochen ihm zu, »da ist sogar der Stuffer erschrocken!« Als Florian den Namen Stuffer hörte, fiel ihm sein Traum wieder ein. Jochen wollte sich kuglig lachen bei der Vorstellung, mit einem Feuerwehrauto am Bein rückwärts laufen zu müssen. »Ist es denn auch wieder rückwärts gezuckelt, so wie gestern nachmittag? « erkundigte er sich. »Wer hat denn den Staffellauf am Ende gewonnen? « fragte Thomas. »Das habe ich nicht mehr mitgekriegt, weil mir doch der Wawa ... ach so, das wißt ihr ja auch noch nicht. Da war nämlich heute nacht noch so eine komische Geschichte ...« »Menschenskind«, seufzte Jochen hingerissen, als Florian alles berichtet hatte, »soviel Tolles hintereinander habe ich noch nie erlebt! Wißt ihr was? Wir gehen zur Burg hoch und sehen uns alles noch einmal genau an.« »Muß das sein? « Florian war wenig begeistert. »Klar, du mußt uns doch zeigen, wo die Bahnen für den Staffellauf
abgesteckt waren«, sagte Thomas. »Also, meinetwegen. Aber dann müßt ihr mir auch helfen, meinen Schuh wiederzufinden, den ich dort irgendwo verloren habe.« »Machen wir, Florian«, versprach Heinzi hilfsbereit. Sie stiegen den Weg zur Burg hoch, und als Florian die Mauer wiedersah, mußte er schlucken, weil er an die Angst dachte, die er da oben ausgestanden hatte. »Hör mal«, sagte Jochen, »du hast uns noch nicht erzählt, was vorher war. Ich meine, bevor du rückwärts laufen konntest. War dir da schlecht, oder hattest du einen Krampf im Bein oder sowas? « »Nö. Ich lag da hinten - kommt mit, ich zeig's euch.« Sie gingen hinter den Haselnußstrauch, und Florian deutete auf die Stelle: »Da war es. Ich lag hier, habe meine Schokolade gefuttert und dann das Papier dort rübergeworfen.« »Zum dicken Turm? « »Ja. Und dann blitzte etwas in der Sonne, ich kroch hin und hob es auf. Es war ein Socken.« »Ein Socken? « Jochen wunderte sich. »Ich verstehe immer Socken!« »Ja doch, ein Socken war es! Ein ulkiges Ding. Er hatte nicht nur eine komische Farbe, so silbrig irgendwie, er fühlte sich auch ganz anders an als normal. Ich hatte ihn gerade an, als Heinzi mich entdeckte. Ich versuchte wegzurennen - das übrige wißt ihr ja.« »Hm«, meinte Jochen, »und du hattest wirklich vorher keinen Krampf im Bein? « »Nicht die Bohne«, versicherte Florian. »Warum hast du denn nur einen angezogen? « »Weil nur einer da war!« Thomas, der etwas abseits gestanden hatte, rief ihnen
plötzlich zu: »He, kommt mal alle her! Schaut euch das an!« Die Jungen liefen zu ihm hinüber. Irgend jemand hatte etwas auf den dicken Turm geschrieben. Die Farbe war stellenweise nach unten getropft, die Buchstaben waren verschieden groß geraten, und überhaupt sah das Ganze so aus, als hätte es einer verfaßt, der im Buchstabenmalen keine große Übung hatte. Heinzi entzifferte es mühsam: Pite, wo is main Fuhs? Um schnelste Rückbringunk pitet Bodo, Karl-Philipp, Franz, Traugott, Ludwig-Eberhard, Richard, Ottokar, Graf von Ötzmichelburg »Hm«, machte Thomas verdutzt, »was soll denn das für ein Blödsinn sein? « »Was ist hier nur los? « fragte auch Jochen. »Erst verliert einer seinen Socken, und dann vermißt ein anderer seinen Fuß? Wenn ich mich nicht irre, dann haben wir heute den fünfzehnten Juli und nicht den ersten April!« »Sage ich doch, da wollte einer besonders witzig sein«, meinte Thomas, »alles nur Quatsch! Und jetzt möchte ich endlich sehen, wo die Bahnen für die erste Ötzmichelstädter Olympiade waren. Komm, Florian!« »Moment mal, so wartet doch.« Heinzi hatte krampfhaft über etwas nachgedacht, und jetzt, als die Freunde weglaufen wollten, rückte er damit heraus. »Könnt ihr euch noch an die Heimatkunde erinnern? « begann er. »Ich meine an die Geschichte der Ötzmichelburg? « »Ja«, Florian nickte und sah ihn aufmerksam an, »und? « »Das ist es eben. Der letzte Graf hieß Bodo. Ob er allerdings auch noch Karl-Philipp, Franz, Traugott, Ludwig-Eberhard, Richard und Ottokar hieß, darauf kann ich mich nicht mehr besinnen.« Thomas sah ihn stirnrunzelnd an. »Und so was ist Klassenbester! Also hör mal, du glaubst doch wohl nicht im Ernst, daß der selige Graf Bodo aus seinem Grab unter der
Martinskirche herausgekrabbelt ist und das an die Turmmauer gekritzelt hat, oder? « »Der Graf Bodo ist nicht in der Martinskirche begraben«, verbesserte ihn Florian, »das weiß ich zufällig. Mit dem war irgend etwas anderes los.« »Na schön, na schön, dann ist er also nicht in der Martinskirche begraben, ist ja auch wurscht. Aber was soll das mit dem Fuß? Hatte Graf Bodo vielleicht einen Holzfuß, den ihm mal einer geklaut hat, hm? Wir hätten das Geschreibsel doch schon früher sehen müssen. Das muß ja mindestens mindestens dreihundert Jahre alt sein!« »Stimmt fast«, sagte Heinzi, »Graf Bodo muß vor ungefähr dreihundertundvierzig Jahren gestorben sein, irgendwann im Dreißigjährigen Krieg. Aber am letzten Dienstag stand hier noch nichts, das weiß ich hundertprozentig!« »Und seht euch bloß diese Farbe an!« Jochen hatte einen kleinen Stein aufgehoben und kratzte damit am O von Ottokar herum. »Geht überhaupt nichts ab! Ist das weißer Lack oder sowas ähnliches? « »Mir kommt da eine Idee ...«, sagte Heinzi stockend, »ich meine - egal, wer das geschrieben haben mag -, könnte der Socken, den Florian gefunden hat, nicht gleichzeitig der Fuß sein, der hier gesucht wird? « Seine Freunde sahen ihn verblüfft an. »Also Heinzi, ehrlich, ich glaube du spinnst«, sagte Thomas in schöner Offenheit. »Der Florian wird ja wohl einen Socken von einem dreihundertjährigen Fuß unterscheiden können. Igitt, wenn ich mir das vorstelle, da können doch nur noch Knochen übrig sein!« Er grinste, stellte sich hinter den Haselstrauch, formte mit seinen Händen ein Sprachrohr und rief mit hohler Stimme: »Flo-ri-an, Flo-ri-an, hast du mein linkes Füßchen an?
Bring's schnell zurück, ich rat' dir gut, sonst hau' ich dir eins auf die Schnut!« Florian war bei diesem albernen Spaß blaß geworden, und auch Heinzi fand ihn nicht besonders lustig. Aber Jochen hielt sich den Bauch vor Lachen. »Hast du mein linkes Füßchen an? « wiederholte er prustend, »Füßchen!« Er stolperte, rutschte in einen Graben, und als er wieder stand, schwenkte er Florians verlorenen Schuh. »Ist das vielleicht ein Schuh fürs Füßchen? « schrie er lachend. »Der paßt eher an einen Elefantenfuß!« Florian nahm ihm den Schuh wortlos aus der Hand. »Hier bin ich nicht gewesen«, sagte er halblaut zu Heinzi, »wie kommt mein Schuh hierher? Langsam kommt mir die Geschichte richtig unheimlich vor.« Heinzi nickte ihm zu. »Weißt du, ich habe noch eine Idee, aber die verrate ich dir erst, wenn Jochen und Thomas weg sind. Laß uns jetzt gehen.« Am frühen Nachmittag war Heinzi wieder bei Florian. Sie setzten sich in den Garten hinter Jägers Haus und steckten die Köpfe zusammen. »Ich habe mein Heimatkundeheft nicht mehr gefunden«, sagte Heinzi, »hast du deins noch? « Florian schüttelte den Kopf: »Bestimmt nicht, warum? « »Weil ich die Sache mit dem Grafen Bodo nochmal nachlesen wollte. Überlege doch, wenn sich da einer einen Jux ausgedacht hat, wie Thomas meint, würde er dann mit Bodo, Karl-Philipp, Franz, Traugott, Ludwig-Eberhard, Richard, Ottokar unterschreiben? Die Namen kennt doch praktisch niemand. Und falls der Graf wirklich so geheißen hat, dann kann es bloß jemand geschrieben haben, der sich in Heimatkunde besonders gut auskennt.«
»Ach so! Jetzt verstehe ich, es gibt nicht allzu viele Leute, die in Heimatkunde Bescheid wissen, was? « »Ja, genau! Wen könnten wir nach den Namen fragen? « »Ja, wen? ... Augenblick! Klaus hat neulich von einem Vortrag erzählt ... einem Vortrag über das Rathaus und die Martinskirche ... ich werde gleich nachsehen!« »Hier steht es«, sagte er fünf Minuten später und schwenkte die Zeitung.»Hör zu: ,Im gutbesetzten Rathaussaal hielt gestern abend der Ötzmichelstädter Heimatpfleger Adam Köchl einen bemerkenswerten Vortrag. Köchl, der als derzeit bester Kenner der Ötzmichelstädter Geschichte gilt, gab einen Überblick über Entstehung und nachträgliche Veränderungen an den beiden bedeutendsten Ötzmichelstädter Baudenkmälern, der Martinskirche und dem Rathaus ... Mensch! Hast du gehört? Bester Kenner der Ötzmichelstädter Geschichte - den müssen wir fragen.« »Schau im Telefonbuch nach, wo er wohnt.« »Gute Idee!« Florian rannte ins Haus und sah nach. »Gerbergasse 19, nichts wie hin! Aber was sagen wir? « »Tja - jedenfalls müssen wir es geschickt anstellen. Schließlich ist er auch einer von denen, die in Heimatkunde besonders gut Bescheid wissen, verstehst du? « »Du meinst doch nicht etwa, daß er -? « »Ich meine gar nichts! Mir wird schon was Passendes einfallen. Wenn du dich nicht zu reden traust, dann rede eben ich.« »Da bin ich aber gespannt.« Florian freute sich jetzt schon. »Und nun mach endlich, sonst schickt mich noch meine Mutter mit einer Besorgung weg.« Die Jungen liefen ins Stadtzentrum, läuteten an der Tür von Gerbergasse Nummer 19, und es war Herr Köchl selbst, der ihnen öffnete.
»Entschuldigen Sie bitte«, begann Heinzi, »sind Sie Herr Köchl? « Der nickte. »Wir haben in der Zeitung gelesen, daß Sie der beste Kenner der Ötzmichelstädter Geschichte sind, und - und da wollten wir Sie etwas fragen.« »Bitte sehr«, sagte Herr Köchl freundlich, »hoffentlich weiß ich es auch. Worum geht es? « »Wir, das heißt mein Freund Florian und ich, haben einen Streit. Er sagt, daß der letzte Graf von Ötzmichelburg Bodo Kuno-Leberecht geheißen hat und in Frankreich gestorben ist, und ich glaube, daß er Bodo und Georg hieß und in der Martinskirche begraben liegt. Was ist nun richtig? « Heinzi hatte das alles schnell und mit rotem Kopf herausgesprudelt. »Um den letzten Grafen von Ötzmichelburg handelt es sich? Ja, das ist eine sehr lange Geschichte, die kann man unmöglich so zwischen Tür und Angel erzählen. Kommt mal mit in den Garten, ihr zwei.« Florian sah Heinzi triumphierend an: »Du, ich wette, es gibt nichts, was der von Graf Bodo nicht weiß«, flüsterte er, als sie hinter Herrn Köchl her in den schattigen Garten gingen. »Setzt euch. Mögt ihr ein Glas Johannisbeersaft? Wie heißt ihr übrigens? « »Ich heiße Florian Jäger, und mein Freund heißt Heinzi - ich meine, er heißt Karl-Heinz Busch«, sagte Florian, und diesmal war er es, der rötlich anlief. »Schön. Also, paßt auf. Keiner von euch hat recht. Der letzte Graf von Ötzmichelburg war Hanno. Anscheinend war er ein ziemlich unangenehmer Kerl, denn die Ötzmichelstädter haben ihn Hanno der Wüterich genannt. Verheiratet war er mit Hermine-Luitgart, und sein Sohn, der muß bei seinem Tod etwa so alt gewesen sein wie ihr jetzt, sein Sohn hieß Bodo, Karl-Philipp, Franz, Traugott, Ludwig-Eberhard, Richard, Ottokar. Warum guckt ihr so, schmeckt euch der Saft nicht? « »Doch, doch«, beeilte sich Heinzi zu versichern, »es ... es ist
nur der Name ...« »Ja«, sagte Herr Köchl lachend, »die Fürsten hatten damals kilometerlange Namen. Die Ötzmichelstädter, die dem Grafen seinerzeit Untertan waren, fanden die Namen auch viel zu lang. Und nachdem die gräfliche Familie tot war, nannte man sie ziemlich respektlos ,den alten Ötzmichel', ,die Ötzmichlin' und ,Ötzmicki'.« »Ob es wohl heute noch viele Leute gibt, die sich an den vollständigen Namen von Ötzmicki erinnern können? « fragte Heinzi so ganz nebenbei. »Sicher nicht. Soviel ich weiß, wird er auch im Heimatkundeunterricht bloß Bodo genannt. Wie seid ihr übrigens auf Leberecht gekommen? « »Äh - wir hatten da irgendwo was gelesen«, druckste Heinzi herum. »Ist der Ötzmicki eigentlich an einer Fußkrankheit gestorben, oder hatte er bei einem Unfall einen Fuß verloren? « platzte Florian heraus, und Heinzi trat ihm wegen dieser plumpen Frage so kräftig auf die Zehen, daß Florian unterdrückt stöhnte. Herr Köchl sah ihn verwundert an. »Wieso? Nein, an einer Fußkrankheit starb er nicht. Ich werde euch die Geschichte von Anfang an erzählen. Die Eltern von Hanno dem Wüterich, nämlich Graf Nepomuk und seine Frau Margarete, hatten für Ötzmichelstadt viel Gutes getan. Der Graf hat den Nepomukbrunnen am unteren Markt gestiftet, und dort, wo heute die Brauerei ist, war damals eine weitberühmte Lateinschule, die er gegründet hatte. Die Gräfin Margarete wurde wegen ihrer Güte Margarete die Mildtätige genannt. Sie richtete eine Nähschule für die Mädchen ein und kümmerte sich um die Armen und Kranken in der Stadt. Vor ihrem Tod ihr Mann war einige Zeit früher gestorben - bestimmte sie in ihrem Testament, daß der gesamte Inhalt ihrer Schatztruhe zu
gleichen Teilen an die Ötzmichelstädter verteilt werden sollte. Alle wußten das, und als Margarete gestorben war, erwartete man natürlich, daß Graf Hanno den Wunsch seiner Mutter erfüllen würde. Aber Hanno dachte gar nicht daran. Seine Mutter wäre in ihren letzten Tagen nicht mehr richtig im Kopf gewesen, ließ er den Ötzmichelstädtern ausrichten, ihre Schatztruhe wäre so leer, wie sie überhaupt nur sein könnte, und das wäre auch kein Wunder, wenn man überlegte, wieviel Geld sie in den letzten Jahren den Ötzmichelstädtern für völlig nutzlose Dinge zugeschoben hätte. Die Leute in unserer Stadt waren empört. Und als sich noch herumsprach, daß ein Diener gesehen hätte, wie Graf Hanno in einer Gewitternacht etwas im Burghof vergrub, waren alle überzeugt, daß der Graf gelogen hatte, um den Schatz für sich selbst zu behalten.« »Ja, aber der Diener«, warf Florian ein, »der kannte doch die Stelle, hätte man nicht einfach mal nachsehen können, was da vergraben war? « »Nein, einfach wäre das sicher nicht gewesen. Ein Fürst hatte damals unglaubliche Macht. Glaubst du, der hätte zugelassen, daß einer in seinem Burghof herumwühlt? Und wenn er es selbst nicht gesehen hätte, so würde es ihm wahrscheinlich ein anderer verraten haben. Aber die Geschichte ist noch nicht aus. Kurze Zeit später - es war ja im Dreißigjährigen Krieg - griffen die Schweden die Ötzmichelburg an. Die Ötzmichelstädter, die für Graf Nepomuk und Margarete die Mildtätige durchs Feuer gegangen wären, waren viel zu wütend, um Hanno zu helfen. Sie rührten keinen Finger. Schließlich nahmen die Schweden die Burg ein und zerstörten sie. Alle Bewohner wurden getötet. Der Diener, von dem ich vorhin sprach, konnte schwerverwundet nach Ötzmichelstadt entkommen. Bevor er starb, berichtete er, daß sich Graf Hanno mit Frau und Sohn in einen unterirdischen Gang gerettet hätte. Wahrscheinlich ist dieser Gang, als die
Burg geschleift wurde und tagelang brannte, eingestürzt. Man hat die drei Toten nie gefunden.« Die beiden Jungen hatten gebannt zugehört. »Schrecklich«, sagte Florian leise, als Herr Köchl geendet hatte. »Ja, es war eine furchtbare Zeit«, stimmte der ihm zu, »und vielleicht gerade deshalb, weil die Geschichte ein so grausames Ende hat, haben sich die Ötzmichelstädter im Laufe der Jahrhunderte noch etwas Nettes dazu ausgedacht, eine hübsche Legende. Kennt ihr sie? Nein? Man erzählt sich, daß die Ötzmichels zur Strafe in ihrer Burgruine geistern müssen, weil damals das Vermächtnis der Gräfin Margarete nicht erfüllt wurde. Alle fünfundzwanzig Jahre sollen sie für ein paar Nächte aus dem unterirdischen Gang herauskommen. Wenn ich mich nicht irre, müßte es sogar in diesem Jahr wieder soweit sein. Das Ulkige ist, daß meine Großmutter mir immer erzählt hat, daß Großvater die Ötzmichels einmal wirklich und wahrhaftig gesehen haben soll. Er habe ihnen sogar versprochen, den Burghof etwas aufzuräumen. Komisch, nicht? Was macht ihr bloß für Gesichter, Jungs? Ihr werdet euch doch nicht etwa vor erfundenen Gespenstern fürchten? Also, wie gesagt, meiner Meinung nach haben sich die Ötzmichelstädter diese Geistergeschichte nur ausgedacht, weil ihnen ihr schlechtes Gewissen zu schaffen machte. Denn helfen hätten sie den Ötzmichels müssen, das steht fest.« »Und in den letzten Jahren hat man von den geisternden Ötzmichels nichts gesehen und gehört? « fragte Heinzi. »Soviel mir bekannt ist, nein.« »Und was hat Ihr Großvater erzählt, wie sahen die Gespenster aus? « wollte Florian wissen. »Das weiß ich heute natürlich auch nicht mehr so genau. Milchigsilbern sollen sie gewesen sein, so wie flattriges Mondlicht, falls ihr versteht, was ich meine. Ach, jetzt fällt mir noch etwas Lustiges ein. Mein Großvater behauptete felsenfest, gesehen zu haben, daß sie auf dem rechten Fuß vorwärts und
auf dem linken Fuß rückwärts gelaufen wären. Wenn man sich das vorstellt ... oh, oh, was ist denn? Ist dir schlecht geworden?« Florian hatte sein Glas umgestoßen, und der rote Johannisbeersaft versickerte auf dem Kiesweg. »Entschuldigen Sie bitte«, krächzte er, »ich fühle mich nicht gut. Ich glaube, ich muß jetzt gehen.« Heinzi war ebenfalls aufgestanden. »Erst gestern war der Arzt bei ihm«, erklärte er, und das war nicht einmal geflunkert. »Ich bringe ihn am besten gleich heim. Und vielen Dank, daß Sie uns alles so ausführlich erzählt haben!« »Bitte. Ich freue mich immer, wenn sich jemand für die Geschichte unserer Stadt interessiert. Und laßt es mich wissen, falls ihr den Ötzmichels begegnet!« Die Jungen gingen erst langsam um die Ecke, und dann, als sie von Herrn Köchl nicht mehr gesehen werden konnten, spurteten sie die Gerbergasse hinunter, bogen in den Stadtpark ein und ließen sich japsend auf eine Bank fallen. »Wenn das stimmt, Florian«, keuchte Heinzi, »Mensch, wenn das stimmt dann bist du gestern tatsächlich mit Ötzmickis Rückwärtsfuß herumgelaufen. Also, ich freß einen Besen!«
Fünftes Kapitel: In dem es sich herausstellt, daß die meisten Leute nicht an Gespenster glauben, daß sogar Thomas die Lust am Frotzeln vergehen kann und eigentlich immer noch nichts bewiesen ist Nachdem Florian zu Hause angekommen war, stürzte er sofort in die Küche. »Mutti, gestern, als mich das Feuerwehrauto gebracht hat, da hatte ich am linken Fuß einen Socken. Hast du den gesehen? « »Natürlich habe ich das komische Ding gesehen. Wo hattest du den eigentlich her? « »Ich hatte ihn gefunden.« »Ge-fun-den? « echote Frau Jäger. »Also Florian! Du bist doch kein kleiner Junge mehr, der alles aufhebt, was er auf der Straße liegen sieht. Und dann ziehst du ihn auch noch an! Wer weiß, was damit vorher schon alles passiert war, es ist nicht zu glauben!« »Du hast ihn doch nicht etwa gewaschen? « fragte Florian erschrocken. »Natürlich nicht. Warum sollte ich einen einzelnen Socken, den du irgendwo aufgelesen hast, auch noch waschen? « »Ja, aber wo ist er jetzt? « »Ich habe ihn weggeworfen.« »Was? Weggeworfen? « »Ja, ich habe ihn weggeworfen. Woher hätte ich wissen sollen, daß er dir so wichtig ist? Das hättest du mir gleich gestern sagen müssen.« »Ich möchte doch nur wissen, wo du ihn hingetan hast«, bat Florian. »Auf den Altkleiderpacken habe ich ihn gelegt. Gestern
sollte eine Sammlung stattfinden, aber das Auto ist bis jetzt nicht gekommen. Nun habe ich den Packen einstweilen auf die Kellertreppe gestellt.« Florian ging zur Kellertreppe und zerrte das Bündel in den Flur, wo das Licht besser war. »Hast du ihn obendrauf gelegt, oder hast du ihn unter die Verschnürung geschoben? « fragte er. »Nur obendrauf«, antwortete seine Mutter, »hast du ihn? « »Nein, er ist weg!« Florian riß den Packen auf, wühlte alles durcheinander, sah auf jeder Kellerstufe nach und rannte auf die Straße, in der Hoffnung, der Fuß könnte sich vielleicht in einem Grasbüschel verfangen haben. Doch alles Suchen war umsonst, der Fuß war nicht mehr da. »Ich verstehe einfach nicht, weshalb dir das alte Ding so am Herzen liegt«, sagte Frau Jäger ärgerlich. »Das ganze Bündel hast du auseinandergerissen. Alles liegt so herum wie letzte Nacht, als unsere Schränke ausgeräumt waren. Nichts als aufräumen muß ich den ganzen Tag ...« Florian starrte seine Mutter an, plötzlich war ihm alles klargeworden. »Weißt du, wer das heute nacht gemacht hat? « flüsterte er. »Wer denn? Florian, du bist ja ganz grün im Gesicht! Wer war es? « »Der Ötzmicki war es! Der hat seinen Fuß gesucht ... der Socken, den ich anhatte, das war sein Rückwärtsfuß, verstehst du? Deshalb waren auch alle Türen und Fenster verschlossen Gespenster können sicher durch die Wand gehen. Und darum waren auch bloß die Schränke ausgeräumt. Wahrscheinlich hat er sich gedacht, daß ich den Socken in einem Schrank aufheben würde. Klar, klar, klar, der Ötzmicki war es!« Frau Jäger sah ihren Sohn besorgt an. »Florian«, sagte sie unsicher, »phantasierst du wieder? Komm, leg dich etwas hin, ja? Hätte ich dich nur im Bett behalten!«
»Mutti, mir fehlt wirklich nichts«, versicherte Florian. »Du mußt doch auch schon von den Ötzmichels gehört haben, und daß sie alle fünfundzwanzig Jahre in der Burgruine herumgeistern sollen.« »Natürlich habe ich von den Ötzmichels gehört. Aber das ist ja nur eine Sage. Es gibt keine Gespenster - weder auf der Ötzmichelburg noch anderswo. Wer hat dir diese Schauergeschichten erzählt? Und was für eine Vorstellung, daß der Ötzmicki ausgerechnet bei uns spuken soll! Das könntest du höchstens Luise erzählen, aber doch nicht mir. Ach, Florian, was du dir alles zusammenreimst!« »Und ich sage dir, es war der Ötzmicki!« behauptete Florian eigensinnig. »Wenn uns in den nächsten Tagen noch weitere komische Dinge passieren, dann glaubst du mir vielleicht.« Frau Jäger sah ihm verwirrt nach. Das war bereits das zweitemal an diesem Tag, daß ihr seltsame Ereignisse angekündigt wurden. ,Er wird doch nicht etwa eine Gehirnerschütterung haben? Überlegte sie kummervoll. Florian holte unterdessen Thomas und Jochen ab und erzählte ihnen vom Besuch bei Herrn Köchl. »Na, ich weiß nicht ...« Thomas kratzte sich hinten am Hals, wie immer, wenn er mit etwas nicht ganz einverstanden war, »ich weiß nicht, sowas gibt's doch nur in Gespensterbüchern. Ich kann mir nicht vorstellen, daß ein vernünftiger Mensch das glaubt.« »Aber daß Florian rückwärts eine fünf Meter hohe Mauer hinaufgelaufen ist, das kann ein vernünftiger Mensch schon glauben, was? « sagte Jochen streitlustig. »Schon, schon«, gab Thomas widerwillig zu, »aber deshalb gleich Gespenster dafür verantwortlich zu machen? Also, ich weiß nicht ... Was willst du jetzt tun? « fragte er Florian. Der zuckte die Achseln. Während sie noch herumstanden, mit den Fußspitzen Linien in den Straßenstaub zogen und nicht recht wußten, was sie nun beginnen sollten, kam Heinzi, der in der Zwischenzeit daheim gewesen war. »Hast du es ihnen schon erzählt? «
»Ja«, sagte Florian einsilbig. »Thomas meint, daß kein vernünftiger Mensch so etwas glauben wird. Und außerdem, der Socken ist weg.« »Was? « »Weg? « »Wieso? « riefen die Freunde durcheinander. »Er ist verschwunden. Weg. Futschikato!« Florian berichtete von der vergeblichen Suche und daß es sich seiner felsenfesten Meinung nach bei dem rätselhaften Mitternachtsbesuch um Ötzmicki persönlich gehandelt haben müsse. »Und jetzt haben wir keinen Beweis mehr«, stellte Jochen düster fest. »Wir müssen irgend etwas machen«, meinte Heinzi unternehmungslustig. »Jaaaa jaaa«, Jochen gähnte übertrieben laut, »so weit sind wir auch schon gekommen.« »Aber ich weiß auch was! Ich schlage vor, wir gehen zur Ötzmichelstädter Zeitung und erzählen dort unsere Geschichte. Wetten, daß die auf so etwas fliegen? Das ist eine echte Sensation! Was meint ihr? « »Hm«, sagte Thomas gedehnt, »hm ... meinetwegen, wenn dir nichts Besseres einfällt.« In der Redaktion der Ötzmichelstädter Zeitung winkte Florian seinen Bruder heraus. »Klaus, hast du mal ein paar Minuten Zeit? « »Dafür gibt's eine prima Sensation!« versprach Heinzi und verdrehte genießerisch die Augen. Klaus lachte. »Für eine prima Sensation würde ich notfalls sogar eine Stunde opfern! Ich spendiere euch pro Mann und Nase ein Fünfzigpfennigeis. Geht schon einstweilen in die Eisdiele hinüber, ich komme gleich nach.« »Also«, sagte er, nachdem er sich später zu den Jungen gesetzt hatte, »was ist das für ein Knüller, den ihr anzubieten
habt? « Zuerst stockend, dann aber immer flüssiger und aufgeregter erzählten die Jungen ihre Erlebnisse. Klaus hörte aufmerksam zu und rührte immer nachdenklicher in seiner Kaffeetasse. »Und nun wollt ihr, daß die Zeitung einen riesengroßen Artikel darüber bringt, stimmt's? « »Klar! Die Zeitung wird von vielen Menschen gelesen, vielleicht erinnert sich jemand, daß er den Socken, äh, den Fuß, wollte ich sagen, irgendwo gesehen hat!« Heinzi war voll ansteckender Begeisterung. »Nun mal langsam«, dämpfte ihn Klaus, »ich gebe zu, einiges spricht für eure Idee, daß die Ötzmichels dahinterstecken. Nur, ihr müßt verstehen, eine Zeitung will von ihren Lesern auch ernst genommen werden. Möglicherweise würden sich viele Leute durch diese Geschichte einfach veralbert vorkommen und sich sagen: .Bevor ich mir das nächstemal die Ötzmichelstädter Zeitung kaufe, hole ich mir lieber gleich ein Märchenbuch. Seid mal ehrlich, wenn euch vorgestern jemand ernsthaft versichert hätte, daß es Gespenster gibt, dann hättet ihr ihn laut ausgelacht!« »Na bitte!« sagte Thomas schadenfroh, »was habe ich gesagt? « »Aber«, fuhr Klaus fort, »die Geschichte ist einfach zu hübsch, um sie unter den Tisch fallen zu lassen. Ich werde sie nachher meinem Chef erzählen, einverstanden?« Eine Stunde später saß Klaus dem Redakteur Krug gegenüber und erzählte von den Ötzmichels, von Herrn Köchls Großvater, vom Rückwärtsfuß und von Florian. Herr Krug, der wie gesagt, kein echter Ötzmichelstädter war, lächelte, schmunzelte und lachte schließlich. »Großartig, Klaus! Wirklich, fabelhaft! Wenn wir nächsten Monat wieder die Heimatseite mit alten Ötzmichelstädter Geschichten bringen, dann setzen wir das mit dazu!«
Klaus mußte enttäuscht ausgesehen haben, denn Herr Krug sagte belustigt: »Was gucken Sie denn so trübe? Glauben Sie das etwa? « »Ich weiß, daß es verrückt klingt. Aber daß Florian rückwärts auf die hohe Mauer gelaufen sein soll, gibt mir doch zu denken. Er ist alles andere als sportlich. Und dann, als er den Socken ausgezogen hatte, lief er auf einmal wieder normal...« »Ach Klaus, ich bitte Sie! Wie alt sind Sie? Daran, was Jungen so alles erzählen, müssen Sie sich doch noch besser erinnern können als ich. Schön, er saß auf der Mauer, aber daß er rückwärts und nur auf einem Bein hinaufgelaufen sein soll, dafür gibt es nur die Aussagen der Jungen. Gesehen hat es sonst niemand. Ich weiß noch, daß ich mich in diesem Alter einmal nachts mit einer Wäscheleine auf ein Garagendach abgeseilt habe. Vom dritten Stock aus, wohlgemerkt! Ich wollte damals Bergsteiger werden und das Abseilen beizeiten üben. Die Leine riß, ich fiel aufs Garagendach und verknackste mir den Fuß. Mein Bruder zog oben am Fenster die Leine ein, versteckte sie unterm Bett, und ich warf das Stückchen, das um meinen Bauch geknotet war, in den Nachbargarten. Den Eltern erzählten wir, daß ich wahrscheinlich im Schlaf gewandelt wäre, und soweit ich mich erinnere, haben sie das auch geglaubt. Wer weiß, was die Bengel angestellt haben! Sicher war es etwas Gefährliches oder Verbotenes, und deshalb mußten sie notgedrungenerweise eine phantastische Geschichte dazu erfinden. Aber bitte sehr, falls die Ötzmichels hier in meinem Büro erscheinen und mich um Hilfe bitten, werde ich es gern tun. Sonst noch was? Haben Sie den Bericht über das Wasserwerk fertig? Wo ist der Zettel mit den geänderten Zeiten für die Müllabfuhr? Den brauchen wir für morgen!« Als Klaus heimkam, saßen die Jungen in Florians Zimmer und sahen ihn
erwartungsvoll an. »Leider«, sagte Klaus, »der Chef findet eure Geschichte zwar prima, aber er glaubt kein Wort. Nächsten Monat, wenn wieder unsere Seite ‚Damals in Ötzmichelstadt' erscheint, ihr wißt doch, da wird immer über ulkige Leute von anno tobak berichtet, da will er die Ötzmichelgeschichte mit 'reinnehmen. Er meint, da paßt sie hin.« Thomas räusperte sich übertrieben laut. Obwohl er keinen Ton sagte, wußten die anderen nur zu gut, was er damit ausdrücken wollte. »Er glaubt es also auch nicht«, sagte Florian überflüssigerweise. »So was Verbohrtes!« ereiferte sich Heinzi. »Soll er doch zur Burg hochgehen und sich die Inschrift ansehen!« »Ach ja, diese Schrift!« bemerkte Klaus und sah die Freunde mit einem merkwürdigen Blick an. »Ich war vorhin mit der Kamera oben und wollte sie fotografieren. Sie ist nicht da. Nirgends! Und der Turm sieht auch nicht so aus, als ob jemals etwas draufgestanden hätte.« »Pah! Das gibt's doch nicht! Du glaubst wohl, daß wir alle spinnen, was? « Florian war wütend geworden. »Thomas, hast du es gesehen? Ja oder nein? « »Ich habe die Schrift gesehen«, bestätigte Thomas. »Also! Du wirst die richtige Stelle nicht gefunden haben. Ich sagte dir, wenn man vom Burghof kommt und rechts halb um den Turm herumgeht, da ist es.« »Ich erinnere mich sehr gut. Ich bin mehr als nur einmal um den ganzen Turm herumgegangen. Und da war nichts, überhaupt nichts!« »Das ist ja ein tolles Ding«, sagte Jochen in die nachfolgende ungläubige Stille hinein. »Langsam glaube ich, daß wir uns alles nur eingebildet haben. Oder geträumt, so wie
Florian seine Rückwärtslauf-Olympiade.« »Auf jeden Fall würde ich euch raten, zerbrecht euch nicht weiter eure kostbaren Köpfe über die Ötzmichels. Könnte ja sein, daß der Ötzmicki in der Zwischenzeit seinen Fuß wiedergefunden hat, nicht? Wartet erst mal in Ruhe ab!« »Und wenn es sonst auch keiner glaubt«, sagte Heinzi störrisch, nachdem Klaus hinausgegangen war, »ich weiß, was ich gesehen habe. Und daß Florians Socken Ötzmickis Rückwärtsfuß ist, das ist für mich so klar wie Kloßbrühe!« Eine Weile starrten sie mißmutig vor sich hin. »Wenn ihr so erpicht darauf seid, das Ganze zu beweisen«, sagte Thomas plötzlich, »so laßt uns einfach heute nacht zur Geisterstunde auf den Burgberg gehen. Was haltet ihr davon? « »Zur Geisterstunde? Mitten in der Nacht? « Heinzi machte ein zweifelndes Gesicht. »Was soll ich denn da meinen Eltern sagen? « »Du lieber Himmel!« stöhnte Thomas. »Manchmal bist du schwer von Begriff. ,Was soll ich meinen Eltern sagen? Nichts sollst du sagen, du Döskopp. Glaubst du denn, meine lassen mich fort und geben mir noch ein Freßpaket mit auf den Weg? Natürlich sagst du vorher keinen Piep und steigst um halb zwölf aus dem Fenster, kapiert? Bei Jochen und Florian wird es etwas schwieriger sein, weil sie ihre Zimmer nicht im Erdgeschoß haben, aber es müßte sich machen lassen. Zehn Minuten nach halb treffen wir uns dann hinter Benzingers Garage, klar? Und jetzt muß ich schleunigst abzischen. Den ganzen Nachmittag nicht zu Hause, da ist mal wieder eine Predigt fällig. Also, bis später, ihr Tapferen. Wenn die Fledermäuse zwitschern, sehen wir uns wieder!« »Der Doofmann!« sagte Heinzi abfällig, als Thomas weg war, »Fledermäuse zwitschern überhaupt nicht. Aber gut, lassen wir es dabei, zwanzig vor zwölf hinter Benzingers Garage!«
»Um zwanzig vor zwölf!« bekräftigte auch Jochen, und dann trennten sie sich mit ernsten Blicken, wie Leute, die nichts Gutes vorhaben. Das Aus-dem-Haus-Schleichen war viel leichter, als Florian befürchtet hatte. Beim Abendbrot hatte er erzählt, daß er sich ziemlich müde fühle, und die Mutter schickte ihn daraufhin bald ins Bett. Sie war noch zwei- oder dreimal zu ihm hineingegangen, aber da er anscheinend jedesmal tief und ruhig schlief, gingen seine Eltern zur gewohnten Zeit schlafen. Auch Klaus, der kurz vorher heimgekommen war, verzog sich in sein Zimmer. Florian hatte die Taschenlampe eingesteckt und war dann unbemerkt aus dem Haus geschlüpft. Einen Augenblick blieb er noch mit klopfendem Herzen und angehaltenem Atem vor der Haustür stehen und lauschte, ob oben das Licht angehen oder seine Mutter nach ihm rufen würde. Als alles still und dunkel blieb, machte er sich auf den Weg. Auch bei Benzingers waren schon alle Lichter ausgeknipst. Lediglich die Straßenlaterne gegenüber der Garage brannte. »Anscheinend bin ich der erste«, murmelte Florian, »wäre ja ein Witz, wenn ich auch der einzige wäre!« Er hatte sich gerade mit der Schulter an die Garagenwand gelehnt, als ihn jemand von hinten antippte. Das kam so plötzlich und unerwartet, daß er fast aufgeschrien hätte. Aber dann erkannte er Thomas, der ihn boshaft anfeixte. »Du bist mir ein mutiger Gespensterjäger! Du zappelst ja direkt vor lauter Bammel!« Florian brauchte vorerst nicht darauf zu antworten, weil Jochen angeschlichen kam. »Ich weiß nicht«, flüsterte er voller Unbehagen, »ich glaube, ich werde verfolgt!« »Das hast du dir sicher nur eingebildet«, beruhigte ihn Florian, »wer sollte dich denn verfolgen? « »Na, der alte Ötzmichel zum Beispiel«, neckte Thomas, »ihr
wißt schon, Hanno der Wüterich!« »Wo Heinzi nur bleibt?« flüsterte Florian, »es ist bereits Viertel vor zwölf. Wenn er in den nächsten zwei Minuten nicht kommt, müssen wir ohne ihn los.« Doch Heinzi kam. Er rannte mitten auf der Straße, ohne Rücksicht darauf, ob ihn jemand sehen würde oder nicht. »Gut, daß ihr da seid«, rief er - von Flüstern konnte wirklich keine Rede sein -, »ich glaube, ich werde verfolgt!« »Schschschschsch! Mann, willst du unbedingt die Benzingers aufwecken? « Florian zog ihn energisch tiefer in den Schatten hinein. »In seinem Fall wird's wohl die Ötzmichlin gewesen sein«, vermutete Thomas, »garantiert haben sie extra wegen euch die Geisterstunde vorverlegt, um dich und Jochen mal so richtig schön verfolgen zu können!« »Was, dich auch, Jochen? Wer kann das nur sein? « »Jetzt hört endlich auf mit eurem Verfolgungswahn«, schalt Florian, »mittlerweile ist es zwölf vor zwölf. Wenn wir uns nicht beeilen, verpassen wir noch das Beste!« So gingen sie hintereinander den Burgberg hoch. Thomas bildete die Spitze, dann kamen Florian und Jochen, und Heinzi war das Schlußlicht. Jedesmal, wenn der Nachtwind die dichtbelaubten Lindenäste rauschen ließ oder ein dürrer Zweig unter seinen Füßen knackte, schrak er zusammen. ,Ich wollte, es wäre schon morgen früh', dachte er sehnsüchtig, ,dann hätten wir alles hinter uns, und ich wüßte, wie es ausgegangen ist. Im Burghof angekommen, blieb Thomas stehen. Er hielt seine Leuchtzifferuhr gegen das Mondlicht und sagte in forschem Kommandoton: »Uhrenvergleich bitte! Es ist jetzt genau - dreieinhalb Minuten vor zwölf. Meine Herren, in dreieinhalb Minuten kommt der Moment, wo der Frosch ins Wasser springt!« »Sei still! Du wirst uns noch alles vermasseln!« fuhr Jochen
ihn an. »Einmal möchte ich erleben, daß dir die Spucke wegbleibt. Wo sollen wir uns hinstellen, Florian? « Florian sah sich um. Auch ohne Gespenster sah der Burghof nachts unheimlich aus. Die Mauern schienen im sanften Mondlicht noch höher zu sein als bei Tage, und wenn sich die große Fichte im Wind schaukelte, lief ihr Schatten unruhig am Boden hin und her. »Ich weiß auch nicht«, meinte er zögernd, »vielleicht sollten wir zum dicken Turm rübergehen? « In diesem Augenblick begann die Turmuhr von Sankt Martin zu schlagen. Tief und dumpf klang es herauf, und die Jungen blieben verschreckt stehen. Zwar waren sie noch ein ganzes Stück vom Turm entfernt und die Sicht war wegen einiger dichter Sträucher nicht besonders gut, aber beim letzten Schlag war es ihnen, als ob sich drei silbrigweiße Nebelschwaden vom dicken Turm gelöst hätten. »Da! Da!« brachte Heinzi mit halberstickter Stimme heraus. »Da sind sie!« Und dann zog er sich seine Jacke halb übers Gesicht, um den Anblick nicht länger ertragen zu müssen. Florian hätte es ihm am liebsten nachgemacht. Am hellichten Tag über Gespenster zu reden das wußte er jetzt - war etwas ganz anderes, als ihnen nachts zu begegnen. Jochen mußte etwas Ähnliches gefühlt haben, denn er war in wilder Flucht bereits ein paar Schritte zurückgerast, bevor ihn Thomas am Ärmel zu fassen bekam. »Du bleibst hier, verstanden? « zischte er. »Kneifen gibt es nicht!« Und dann packte er ihn am Handgelenk und zog ihn mit Gewalt zurück. »Was habt ihr gesehen? « fragte er Florian. »Sie haben sich zum Burghof hin bewegt!« »Dann kommt«, drängte Thomas, »laßt uns nachsehen!« Er ging wieder voran, und die anderen folgten ihm noch zögernder als vorher. Natürlich waren die grauen Nebelschwaden die drei Ötzmichels. Sie schwebten zum Burghof hinüber, und Hanno
raunzte seinen Sohn gehörig an. »Dumm wie Bohnenstroh bist du! Eine Schande für unser ruhmreiches Geschlecht! Dabei haben es die Männer unserer Familie immer besonders gut verstanden, scheinbar Unmögliches zu vollbringen. Einen unserer Urahnen, er hieß Roland, wollten die Leute von Jericho nicht in die Stadt lassen. Warum weiß ich nicht mehr, jedenfalls er wollte und sie wollten nicht. Da hat er sich einfach an die Stadtmauer gestellt, einmal kräftig in sein Jagdhorn geblasen, und schon bautzundplumps - stürzte die Mauer ein! Und ein anderer aus unserem Geschlecht hat ein noch größeres Kunststück fertiggebracht. In irgendeinem Krieg kam er mit seinen Soldaten in so große Bedrängnis, daß er bloß noch die Wahl hatte, entweder im Roten Meer hinter sich zu ertrinken, oder aber vom Feind vor sich besiegt zu werden. Was tut ein echter Ötzmichel, der nie aufgibt, in so einer Situation? Er hob seinen Säbel hoch - und sofort teilte sich das Meer, so daß er mit seinen Soldaten ganz gemütlich davongehen konnte. Wahrscheinlich kriegten sie nicht einmal nasse Füße dabei!« »Hanno«, mahnte die Ötzmichlin nachsichtig, »verwechselst du da nicht etwas? « »Hermine-Luitgart«, bellte Hanno, »ich muß sehr bitten! Schließlich waren das Männer aus meiner Familie, nicht aus deiner. Da werde ich ja wohl besser Bescheid wissen! Aber du -«, brummte er weiter und sah Ötzmicki finster an, »du hast nicht ein Quentchen vom Mut und der Tapferkeit unserer edlen Vorfahren geerbt, nicht mal ein Quentchen von einem Quentchen! Rrrrrch - potz!« Er spie kraftvoll auf einen Stein. »Mir kommt direkt die Gespenstergalle hoch! Mein Urgroßvater hat sein linkes Auge verloren, in der großen Schlacht von ... von ... Dingsbums, glaube ich. Mein Großvater seinen linken Arm im Gefecht bei ... na ja, bei einem sehr wichtigen Gefecht jedenfalls, und du, der letzte aus unserem Geschlecht, verlierst deinen linken Fuß durch Trödelei! Und
dann bist du auch noch unfähig, ihn wieder herbeizuschaffen! Hörst du mir überhaupt zu? « »Ja, Herr Vater«, sagte Ötzmicki eingeschüchtert und hielt den Kopf in seinen Händen etwas schräg, damit seine Augen den Vater brav anblicken konnten. »Jetzt werde ich wohl die Sache selbst in die Hand nehmen müssen«, grollte Hanno. »Wäre die Zeit nicht so kurz, ich würde dich kräftig übers Knie legen. Damit du es gleich weißt, sobald dein Fuß wieder da ist, werde ich das nachholen, und wenn es in der letzten Sekunde dieser Geisterwoche ist. Hast du mich verstanden? « Ötzmicki klapperte gehorsam mit den Augenlidern und flüsterte: »Ja, Herr Vater.« Die Freunde waren unterdessen im Burghof angelangt und spähten neugierig und ängstlich zugleich zur Fichte hinüber, neben der sich die drei undeutlichen Schatten versammelt hatten. Sie vermeinten etwas zu hören, das wie plop - plop klang, so, als würde jemand ununterbrochen feucht gewordene Platzpatronen abfeuern. Oder fielen vielleicht nur irgendwo ein paar Steine herunter? Mit einemmal waren zwei der Schatten plötzlich verschwunden. »Ich sehe bloß mehr ein Gespenst«, flüsterte Heinzi, der seine Angst überwunden hatte. »Ich auch«, sagte Thomas und blickte angestrengt zur Fichte hin, »zwei sind weg. Wir müssen näher ran. Traut ihr euch? « Er legte sich kurzentschlossen auf den Bauch und begann nach guter alter Indianerart näher an die Fichte heranzurobben. Die Jungen hatten richtig gesehen. Der alte Ötzmichel war mit seinem Sohn losgezogen, um »die Sache selbst in die Hand zu nehmen«. Die Ötzmichlin blieb allein zurück, und wie es der Sitte der feinen Damen ihrer Zeit entsprach, wenn die Männer in den Krieg zogen oder sonst was Unangenehmes vorhatten, blieb sie zu Hause und rang die Hände. Während sie so dasaß,
ihre knochigen Finger kunstvoll verschränkte und an ihren Gewandfalten herumzupfte, hörte sie etwas. Als sie bemerkte, daß etwas Dunkles durch das Gras auf sie zugekrochen kam, schrie sie erschrocken »Huuu! Hu - huuu!«, wie es Gespenster eben tun, wenn sie sich erschrecken, was natürlich nur höchst selten vorkommt. Fast im gleichen Moment stieß die alte Eule einen schauerlichschönen Klageruf aus, und die Fledermäuse schossen so ziellos um die Ötzmichlin herum, als wären sie alle nachtblind geworden. Alles war so unheimlich, daß sogar Thomas die Lust zum Frotzeln verging. Und dann war der Spuk wie weggeblasen. Die Fledermäuse waren verschwunden, und auch der eine Schatten, den sie zu sehen geglaubt hatten, hatte sich in Nichts aufgelöst. Es herrschte eine vollkommene, beängstigende Stille. »Weg! Nichts wie weg!« krächzte Heinzi, und dann rannten sie, auch Thomas, in entgegengesetzter Richtung davon. Sie waren kaum zum Burghof hinaus, als sie ein neuer Schrecken erwartete: Mitten auf dem Weg stand ein Mann! Es war Klaus. »Was ist denn los? « fragte er. »Komm, Klaus, komm!« Florian riß ihn ohne weitere Erklärung mit. Erst als sie halb den Burgberg hinabgerast waren, hielten sie an. »Wo kommst du eigentlich her? « fragte Florian mißtrauisch und außer Atem. »Ich habe gehört, wie du aus dem Haus geschlichen bist. Etwas Ähnliches hatte ich schon erwartet. Ich bin dir nach, und als ich dann auch noch Jochen und Heinzi sah, wußte ich natürlich, was ihr vorhattet.« »Dann warst du es, der hinter mir herging? « fragte Heinzi ungnädig. »Ja«, gab Klaus vergnügt zu, »hast du es gemerkt? « »Und ob! Ein Nashorn hätte es nicht auffälliger machen können.«
»Was du nicht sagst! Und darf ich jetzt vielleicht erfahren, was euch so in die Knochen gefahren ist? Habt ihr etwa mit den Ötzmichels Blindekuh gespielt? Oder Topfschlagen? So redet doch endlich!« Florian sah trotzig an seinem Bruder vorbei. Thomas stierte höchst interessiert zum Mond hinauf. Jochen hielt angelegentlich seine Uhr ans Ohr, und Heinzi leerte seinen Schuh aus. Keiner wollte als erster etwas sagen. »Also wißt ihr, gestern, in der Eisdiele, wart ihr viel gesprächiger. Was ist denn? Thomas, habt ihr die Ötzmichels gesehen oder nicht? « Thomas zog vielsagend die Schulter hoch: »Vielleicht, vielleicht auch nicht.« »Was soll das nun wieder heißen? Jetzt mal raus mit der Sprache, was war los? « Florian erzählte schließlich. »Schlag zwölf sahen wir so etwas wie drei Nebel.« »Zwei große und einen kleinen«, fügte Heinzi hinzu. »Aber wir waren zu weit weg, um genau sehen zu können«, erklärte Jochen, und Thomas konnte es sich nicht verkneifen zu sagen: »Ja, du warst besonders weit weg!« »Und dann sah es so aus, als würden sie zum Burghof hinüberwaten«, fuhr Florian fort, »so richtig gelaufen sind sie nämlich nicht, verstehst du? Wir sind ihnen nach, aber unter der Fichte war dann bloß mehr ein Gesp ..., ein Nebel, meine ich. Thomas meinte, wir sollten robben. Und dann hörten wir ein ,Hu-huu', eine Eule schrie, und schrecklich viele Fledermäuse flogen - es müssen Hunderte gewesen sein, die da wie irrsinnig herumgeflattert sind. Plötzlich war Schluß alles weg. Und da sind wir abgehauen.« »Und das war wirklich alles? « »Alles ... alles ...«, murrte Florian. »Wenn du das erlebt hättest, wärst du auch gerannt. Hinterher ist es leicht, ein Held zu sein.«
»Schon möglich«, sagte Klaus ungerührt. »Tatsache ist, daß ihr eine Eule gehört und viele Fledermäuse gesehen habt. Ich halte es für durchaus wahrscheinlich, daß es wirklich nur Nebelschwaden waren. Ihr habt euch mit der Ötzmichelgeschichte schon so verrückt gemacht, daß ihr nicht mehr klar und vernünftig denken könnt. Und jetzt ist es meiner bescheidenen Meinung nach das beste, wenn ihr euch möglichst still und leise nach Hause verdrückt. Kommst du gleich mit, Florian? «
Sechstes Kapitel: In dem etwas Ungewöhnliches in der Zeitung steht, zwei Gedichte auf Jaromir verfaßt werden und die Jungen einen Brief schreiben Für die Familie Jäger begann der Tag, an dem sich die Ötzmichelstädter so oft wundern sollten, ganz normal und friedlich. Beim Frühstück vermied es Florian, seinen Bruder anzusehen. Aber das war ganz unnötig, denn anscheinend dachte Klaus gar nicht daran, etwas von der vergangenen Nacht zu erzählen. »Holst du mir bitte die Zeitung? « fragte Herr Jäger, und Florian ging wie jeden Morgen zum Gartenzaun hinaus, um die Ötzmichelstädter Zeitung aus dem Briefkasten zu ziehen. Herr Jäger las die erste Seite und blätterte dann zum Lokalteil weiter. »Nanu!« sagte er plötzlich, nahm seine Brille ab, putzte sie gründlich, setzte sie wieder auf und las dann kopfschüttelnd weiter. »Steht was Besonderes drin? « fragte Frau Jäger. »Hm? Nein, meine Brille hat nur etwas gespiegelt«, meinte Herr Jäger. Aber schon nach wenigen Sekunden nahm er seine Brille erneut ab und rieb sich die Augen: »Also, ich weiß nicht...«, murmelte er und starrte in die Zeitung. »Ob ihr's glaubt oder nicht, ich hatte eben den Artikel über unser Wasserwerk gelesen, und auf einmal war alles weg. Plötzlich stand da etwas von einem Fuß.« »Was? « riefen Klaus und Florian wie aus einem Mund und rissen ihrem überraschten Vater die Zeitung aus der Hand. Klaus überflog die Seite, konnte aber nichts Außergewöhnliches entdecken. Der Bericht über das Wasserwerk stand in der Mitte oben, in der linken Spalte waren
die geänderten Zeiten der Müllabfuhr zu lesen, weiter unten war ein Artikel über die geplante Krankenhauserweiterung, und dann folgten noch ein paar Vereinsnachrichten. Auch Florian konnte nichts entdecken, obwohl er scharf auf die Zeilenzwischenräume blickte. »Na, ich sehe nichts«, sagte Klaus. »Wo war es denn? « »Da, mitten im Bericht über das Wasserwerk.« Herr Jäger deutete mit dem Zeigefinger - und im selben Augenblick erschien es. Die ganze Zeitungsseite wirkte plötzlich wie unbedruckt, nur in der Mitte stand fettgedruckt in der Größe einer Riesenüberschrift : Pite, wo is main Fuhs? Um schnelste Rückbringunk pitet Bodo, Karl-Philipp, Franz, Traugott, Ludwig-Eberhard, Richard, Ottokar, Graf von Ötzmichelburg Es war beinahe ein Blinken. Man konnte es kurze Zeit sehen, gerade lange genug, um es lesen zu können, dann war es wieder weg, und die Seite sah so aus, wie man es von einer Zeitungsseite erwartete. Als es zum zweitenmal erschien, las Klaus laut vor. »Versteht ihr das? « fragte Herr Jäger. »Ob das ein besonderer Spaß sein soll? Ehrlich gesagt, ich finde es nicht sehr komisch. Mir scheint, irgend jemand wird ein gehöriges Donnerwetter zu erwarten haben.« »Und das mit Recht«, meinte Frau Jäger. »So ein Unsinn! Und warum einer von den Ötzmichels? Gespenster sind groß in Mode, was, Florian? « Florian brachte keinen Ton heraus. ,Also doch! Also doch!' dachte er ununterbrochen. »Ich muß in die Redaktion«, entschuldigte sich Klaus und eilte hinaus. Obwohl er sich wie auf heißen Kohlen fühlte, gelang es
Florian nicht sogleich, sich aus dem Staub zu machen. »Kelleraufräumen ist eine ideale Ferienbeschäftigung«, hatte seine Mutter schon vor Wochen festgestellt - und ausgerechnet an diesem Vormittag mußte das sein! »Was war denn los bei euch? « fragte Herr Jäger, als Klaus zum Mittagessen heimkam. »Der Chef hat allen Anrufern am Telefon erklärt, daß leider eine technische Panne passiert sei, und er hat sich mindestens hundertfünfzigmal entschuldigt. Es gab eine Menge Ärger. »Das kann ich mir denken«, sagte Frau Jäger. »Und weiß man, wer diesen groben Unfug angerichtet hat? « »Nein, keine Ahnung. Die Setzer verstehen es nicht niemand hat eine Erklärung. Es ist wie hineingehext. Ganz Ötzmichelstadt summt wie ein Bienenkorb. Was sagt denn beispielsweise Luise dazu? « »Luise? Luise liest doch keine Zeitung. Hoffentlich erfährt sie nichts davon, sonst kann ich mich vor ihren schrecklichen Prophezeiungen nicht mehr retten.« Endlich, nach dem Mittagessen, war Florian frei. Er holte Heinzi ab, und dann trafen sie Thomas und Jochen. Sie setzten sich in Fleißers Garten, mitten ins Gras, und natürlich sprachen sie von nichts anderem als von den Ötzmichels. »Wenn ich es mir heute so überlege«, sagte Thomas, »muß ich zugeben, daß wir gestern zu früh davongelaufen sind. Wenn wir bis zum Ende der Geisterstunde gewartet hätten, wüßten wir jetzt besser Bescheid.« »Ja, das sagst du heute«, spottete Jochen, »gestern bist du auch mitgerannt.« »Stimmt. Aber nicht als erster, oder? « gab Thomas anzüglich zurück. »Ich meine, wir hätten mit ihnen sprechen oder ihnen irgendwie sagen müssen, daß wir helfen wollen.« »Hättest du dich wirklich getraut? « fragte Florian zweifelnd.
»Thomas hat recht«, stimmte Heinzi zu. »Die einzigen, die dem Ötzmicki helfen können, sind wir. Ihr habt doch gesehen, daß keiner an ihn glaubt. Die Leute lachen entweder, oder sie schimpfen. Und sogar Herr Köchl, der so viel über die Ötzmichels weiß, hält sie für erfundene Gespenster. So hat er sich ausgedrückt, nicht wahr? « Florian nickte. »Vielleicht ist er heute anderer Ansicht? « »Na, selbst wenn; glaubst du, daß dem Ötzmicki dadurch geholfen ist? Was meint ihr, könnten wir den Ötzmichels nicht einen Brief schreiben? Das wäre doch auch eine Möglichkeit, ihnen etwas zu sagen.« »Phhh, einen Brief!« Jochen hielt die Idee für völlig unsinnig. »Willst du vielleicht eine Marke draufkleben, ,Graf Bodo im dicken Turm' draufschreiben und den Brief dann in den Kasten werfen, hm? « »Ach, Quark, natürlich nicht! Aber wir könnten den Brief zum dicken Turm bringen und ihn mit Heftpflaster an die Stelle kleben, wo wir die Schrift zum erstenmal gesehen haben. Dort wird ihn Ötzmicki bestimmt finden.« »Ich bin gar nicht so sicher, ob er überhaupt verstehen kann, was wir wollen«, sagte Jochen, der von Heinzis Plan noch immer nicht überzeugt war. »Wenn du natürlich meinst, daß möglichst viele Schreibfehler hinein müßten, damit er ihn kapiert, dann mußt du den Brief schreiben«, stichelte Heinzi. »Na gut. Und was soll in dem Brief drinstehen? « fragte Florian. »Das können wir uns gemeinsam überlegen. Ich dachte, wir schreiben, daß wir vier uns um seinen verlorenen Fuß kümmern wollen. Schließlich haben wir ihn ja auch mitgenommen. Und außerdem haben wir für die Suche auch viel mehr Zeit als er.« »Ich weiß nicht«, meinte Thomas, »diesen Wirbel, den er heute veranstaltet hat, den hätten wir vier zusammen in zehn
Jahren nicht geschafft.« »Mag sein, aber was hat er damit erreicht? Die Leute kennen zwar jetzt seinen vollständigen Namen, aber das ist auch alles. Im übrigen sind sie verärgert.« Florian nickte zustimmend. »Klaus sagt auch immer, wenn man bei den Leuten etwas erreichen will, muß man sie erst einmal interessieren. Sie zu verärgern ist sicher nicht der richtige Weg. Man müßte dem Ötzmicki klarmachen, daß es besser wäre, mit diesem Schriftzauber aufzuhören.« »Und du glaubst, das tut er? « fragte Thomas. »Stell dir doch vor, du wärst an seiner Stelle! Wenn es stimmt, daß sie immer bloß eine Woche Zeit haben, dann brauchst du nur nachzurechnen. Nehmen wir mal an, daß er seinen Fuß gleich in der ersten Nacht verloren hat. In der zweiten Nacht war er bei euch, die dritte war gestern - und nach dem, was heute passiert ist, dürfte ja klar sein, daß er seinen Fuß noch immer nicht hat. Bleiben ihm bestenfalls noch einmal drei oder vier Tage. Und wenn du bloß alle fünfundzwanzig Jahre ein paar Stunden Zeit hättest, um so etwas Wichtiges wie deinen Fuß wiederzukriegen, dann würdest du wahrscheinlich auch alles Mögliche versuchen.« »Hm, wenn man es so betrachtet ...« Florian rollte nachdenklich einen Grashalm um seinen Zeigefinger. »Ich möchte bloß wissen, wo der Fuß geblieben ist. Der einzige Ort, wo er bestimmt nicht ist, das ist unser Haus. Er muß irgendwann in der Nacht, als er auf dem Packen lag, verschwunden sein. Vielleicht hat ihn ein Hund fortgezogen? « »Oder vielleicht sogar der dicke Jaromir? « Jochen lachte schallend. »Wenn der dauernd rückwärts laufen müßte, wäre er in kürzester Zeit schlank. Florian, dann müßtest du sofort ein neues Gedicht machen. Hmmmm, ungefähr so: Der Jaromir, der Jaromir, der ist ein ganz besondres Tier.
Statt vorwärts läuft er jetzt zurück, das ist für jede Maus ein Glück! Wie findet ihr das? « »Florians Gedicht war besser«, kritisierte Thomas. »Soso! Dann mach du doch mal eins. Nörgeln kann schließlich jeder. Na los doch, dichte du mal!« Thomas überlegte. »Es geht nach der Melodie von ,Das Wandern ist des Müllers Lust' «, verkündete er. Und dann fing er an zu singen: »Das ist der Kater Jaromir, drei Beine hat er bloß zur Zier, der Ja - ro - mir. Das vierte ist sein schneller Rückwärtsfuß, auf dem er ständig rückwärts rennen muß, er rennt wie irr im Kreis herum und fällt nicht um. Der Ja-haha-hahaha-ro-mir, der Ja-haha-hahaha-ro-mir, der Jaaa-ro-mir, der Jaaa-ro-mir, das dik-ke Tier!« Die Jungen wieherten vor Lachen. »Prima«, gab Jochen neidlos zu, »einfach Klasse!« Und dann probierten sie noch mehrmals das Ja-haha-hahaha-ro-mir, weil es so schön war. »Und was ist jetzt mit dem Brief? « fragte Heinzi. »Sollen wir oder sollen wir nicht? « »Also, schreiben wir«, meinte Jochen, »wenn es nichts nützt, so wird es auch nichts schaden.« »Es könnte höchstens sein, daß dich in der kommenden Nacht die gesamte Familie Ötzmichel aufsucht, um dich
höchstpersönlich zu fragen, wie du dir diese Hilfe denkst«, unkte Thomas. »Was? Glaubst du wirklich? Neee! Hört mal, dann müssen wir in den Brief das hineinschreiben, was manchmal bei den Todesanzeigen steht, wenn man nicht möchte, daß allzu viele Leute ins Haus kommen. Wie heißt das doch gleich? « »Von persönlichen Besuchen bitten wir Abstand zu nehmen«, erklärte Heinzi. »Ja, genau das ist es! Das müßten wir extra betonen oder unterstreichen. Meinst du nicht auch, Florian? « Florian lachte. »Ich finde das nicht so wichtig, bei mir waren sie ja schon. Heinzi, wie könnten wir denn überhaupt helfen? Hast du eine Idee? « Heinzi nickte stolz. »Klar, habe ich! Wir machen eine Sammelaktion.« »Eine was? « fragte Jochen verdutzt. »Eine Sammelaktion. Hört zu: Wir sammeln in ganz Ötzmichelstadt alle einzelnen Socken, Strümpfe und Schuhe ein. Es wäre doch gelacht, wenn Ötzmickis Fuß dabei nicht zum Vorschein käme!« »Wieso willst du denn auch Schuhe sammeln? « sagte Florian verwundert. »Socken und Strümpfe verstehe ich ja, aber Schuhe? « »Weißt du denn, wie ein Gespensterfuß aussieht, nachdem er eine halbe Nacht im Freien herumgelegen oder nachdem vielleicht ein Auto drübergefahren ist? Möglicherweise sieht er dann einem Schuh ähnlicher als einem Socken. Ich finde, die Aussichten, den Fuß wiederzukriegen, sind größer, wenn wir auch die Schuhe mitnehmen.« »Das leuchtet mir alles ein«, sagte Thomas, »aber wie soll es dann weitergehen? Willst du die Schuhe und Socken auf einen Haufen kippen? Am Marktplatz vielleicht? «
»Mensch, das wäre eine Wucht!« schrie Jochen. »Ich kann mir das schon genau vorstellen. Auf dem Marktplatz liegt also der Riesenhaufen, oder besser zwei, einer mit Socken und Strümpfen und einer mit Schuhen. Punkt zwölf kommen dann die Ötzmichels vom Burgberg heruntergestiefelt und werfen alles durcheinander. Der alte Ötzmichel sucht bei den Schuhen und Ötzmicki bei den Socken. Und die Gräfin singt dazu: ,Den echten ans Bein, die ändern laßt sein!' Und am nächsten Morgen müssen alle Leute ihre übriggebliebenen Schuhe und Socken zusammensuchen und wieder mit heimnehmen bis zum nächstenmal, wenn wieder ein Fuß benötigt wird. Ob das die Polizei erlaubt? « Er gluckste vor Vergnügen. »Du redest vielleicht ein Blech, wenn der Tag lang ist«, knurrte Heinzi. »Ist doch klar, daß wir die Sachen zur Burg bringen müssen. Drei Gespenster, die Schuhe und Strümpfe durcheinanderwerfen, und ganz Ötzmichelstadt steht herum und schaut zu - meine Zeit, was für ein Blödsinn!« »Du, Florian«, sagte Jochen plötzlich, »da drüben geht Klaus. Ruf ihn doch! Wetten, daß sein Chef heute über die Ötzmichels ganz anders denkt als gestern? « »Nö, ich rufe ihn nicht. Soll sein Chef doch sehen, wie er mit seinen technischen Pannen fertig wird. Überhaupt, meiner Meinung nach wäre es am besten, wenn wir das allein und ohne die Erwachsenen machen würden.« »Dann laßt uns endlich mit dem Briefschreiben anfangen, sonst wird es zu spät«, mahnte Thomas. »Kommt ihr mit zu mir? « In seinem Zimmer kramte Thomas einen schwarzen Plakatkarton und einen weißen Filzschreiber heraus. »Das dürfte das Richtige sein, nicht? « fragte er. »Oder habt ihr an Briefpapier gedacht? « »Klar!« Jochen grinste. »Briefpapier mit lila Seidenfutter im Umschlag und einem Tropfen Parfüm, so wie es meine
Schwester hat, wenn sie ihrem Freund schreibt.« Thomas hatte mittlerweile einen Zettel und einen Kugelschreiber herbeigeschafft und sah Heinzi erwartungsvoll an. »So, großer Meister, schieß los, ich höre. Und wenn du keinen allzu großen Unsinn verzapfst, dann schreibe ich es sogar auf.« »Hm - hm«, Heinzi räusperte sich erst einmal nachdrücklich, um Zeit zum Nachdenken zu gewinnen, »als Anrede schreibst du einfach ,Lieber Ötzmicki'!« »Hör mal, das geht nicht«, protestierte Jochen, »schließlich hat er sich selbst immer Graf von Ötzmichelburg genannt. Da müssen wir ihn auch als Durchlaucht oder mit Euer Gnaden und so anreden. Vielleicht kennt er seinen Spitznamen gar nicht? « »Warum soll der Brief eigentlich nur an Ötzmicki gerichtet sein? « meinte Florian. »Warum nicht an die ganze Familie? Wenn von uns einer größeren Blödsinn anstellt, werden ja auch die Eltern benachrichtigt.« »Dann schreiben wir eben ,Sehr geehrter Graf Hanno, sehr geehrte Gräfin Hermine-Luitgart und lieber Ötzmicki, hm? Ist es recht? « fragte Thomas. Die Jungen waren einverstanden. Fast eine Stunde lang feilten sie an dem wichtigen Brief herum. Endlich war er fertig, und Thomas malte den Text sorgfältig auf den dicken schwarzen Plakatkarton. Schließlich setzte noch jeder seinen Namen unter das Dokument. »Wir wollen morgen eine Sammelaktion starten und um alle einzelnen Socken und Schuhe bitten«, berichtete Florian. Klaus pfiff durch die Zähne. »Nicht übel! Hat Thomas sich das ausgedacht? « »Nein, Heinzi.« »Ist ein kluges Kerlchen, euer Kleiner! Wann, sagtest du, wollt ihr das machen? « »Morgen früh treffen wir uns um halb neun am Nepomukbrunnen, und dann fangen wir an.«
»So aus dem Handgelenk? Das muß man doch erst etwas organisieren! Wenn die Leute nicht darauf vorbereitet sind, dann gucken sie erst dumm, schütteln den Kopf und sagen dann garantiert, daß sie überhaupt nichts hätten. Wenn ihr so einfach aus dem Stand loszieht, wird das nichts. Laß mich das mal machen.« »Nein, du machst gar nichts!« sagte Florian bockig. »Wir haben beschlossen, daß das unsere eigene Sache sein soll.« »In Ordnung, in Ordnung! Ich tu bestimmt nichts, was euch nicht in den Kram paßt. Ich verspreche es mit großem Ehrenwort.« Klaus kehrte um und ging nochmals in die Redaktion zurück. »Na gut«, sagte Herr Krug seufzend, als Klaus ihm von dem Einfall der Jungen erzählt hatte, »aber nur eine kurze Mitteilung, daß diese Sammlung stattfindet! Kein Hinweis auf die vertrackten Ötzmichels, verstanden? Das bitte ich mir aus!«
Siebtes Kapitel: In dem Graf Hanno die Sache immer noch selbst in der Hand hat, Herr Köchl einen Augenblick lang doch an Gespenster glaubt und die Jungen eifrig sammeln Die Jungen hatten recht, die Sache mit der Schrift in der Zeitung war bestimmt nicht der beste Weg, um sich beliebt zu machen. Aber wer wußte schon, daß Hanno sich diese Dummheit ausgedacht hatte und nicht etwa Ötzmicki, obwohl sein Name überall genannt wurde? Hanno war es nach wie vor völlig egal, ob er beliebt war oder nicht. »Ich weiß schließlich noch sehr gut, wie man mit den Ötzmichelstädtern umzugehen hat«, hatte er Ötzmicki angefaucht, als der es gewagt hatte, ihn schüchtern an das zweite Gespenstergesetz zu erinnern. »Du hast es gerade nötig, mich an das zweite Gesetz zu erinnern, ha, ha! Hättest du das erste Gesetz besser beachtet, dann hätten wir jetzt nicht diesen Zinnober am Hals, sondern könnten in Ruhe und Frieden herumgeistern! Glaubst du vielleicht, mir macht das Spaß? « »Ja, Herr Vater«, sagte Ötzmicki aus alter Gewohnheit, und bei dem Brüller, den der alte Ötzmichel bei dieser unpassenden Antwort ausstieß, ließ Ötzmicki vor Schreck seinen Kopf in den Graben kollern. »Hermine-Luitgart!« Hanno der Wüterich war außer sich, und sein Kopf raste in entsetzlich anzusehendem Zickzack über seinem Hals auf und ab. »Hermine-Luitgart! Jetzt hat er auch noch seinen Kopf verloren! Demnächst wird sein Bauch allein durch die Gegend wackeln! Dieser ständige Ärger zernagt mir das Gerippe!«
Er warf sich bäuchlings auf den Boden, trommelte mit den Fäusten und schlug mit den Zehenspitzen so heftig auf die Erde, daß sie nach hinten wegflog, als hätte sie ein eifrig scharrender Hund aufgeworfen. Ötzmicki hatte inzwischen seinen Kopf wieder aufgehoben und ihn ausnahmsweise richtig aufgesetzt. »Vater wird sich schon wieder beruhigen«, flüsterte ihm die Gräfin zu und tupfte ihm zwei milchige Gespenstertränen aus den Augen. »Weine nicht, Bodochen. Komm, wir machen einen kleinen Spaziergang. Soll ich dir das Märchen vom Hirtenjungen Wunnibolt und der schönen Prinzessin Bellisa von Maienweh erzählen? Das hast du früher immer so gerne gehört.« Ötzmicki nickte. Und während sie langsam und sonderbar leichtfüßig durch den Burghof glitten, begann die Ötzmichlin ihrem Sohn die traurige Geschichte der schönen Bellisa von Maienweh zu erzählen: »In einem riesigen schwarzdunklen Wald, hoch oben im Norden, stand vor Zeiten ein graues, finsteres und einsames Schloß. Die Tage dort waren immer ohne Sonne, die Nächte hatten weder Mond noch Sterne, und im Schloß war das Lachen nicht erlaubt ...« .,Hermine-Luitgart«, hörten sie plötzlich Hanno rufen, »Hermine-Luitgart! Bodo, Karl-Philipp undsoweiter, kommt sogleich hierher!« Die Gräfin und Ötzmicki beeilten sich, um Hanno nicht noch weiter zu erbosen, und fanden ihn vor dem dicken Turm. »Was soll das bedeuten? « fragte er und zeigte auf den schwarzen Plakatkarton. Die Gräfin, die ziemlich kurzsichtig war, beugte sich dicht darüber und las es vor. »Hanno, Bodo!« rief sie begeistert. »Ist das nicht herrlich? Man will uns helfen. Bodochen, jetzt wird alles wieder gut, ich fühle es. Vier Menschen wollen uns tatsächlich helfen, ach, es ist wunderbar!« »Schluß jetzt mit dem albernen Gekreisch!« sagte Hanno ungehalten. »Dieser Florian Jäger, dessen Name hier steht, ist
das der Junge, der deinen Fuß mitgenommen hat? « »Ja, Herr Vater«, antwortete Ötzmicki. »Du hast ihn gesehen, als du in seinem Haus warst? « »Ja, Herr Vater.« »Ja, Herr Vater! Jaherrvater! Jaherrvater! Hast du vielleicht auch noch die Sprache verloren? « »J - nein, Herr Vater!« »Dann laß dir nicht jedes Wort einzeln herausziehen! Was ist das für ein Mensch? « »E - er sieht sehr freundlich aus«, berichtete Ötzmicki stockend. »Er ist ungefähr so alt wie ich ... wie ich als Mensch, meine ich, und er hat wunderhübsche Dinge in seiner Kammer. In seiner Truhe habe ich einen kleinen Bären gefunden. Weich war der! Am liebsten hätte ich ihn mitgenommen. Aber dann ist er mir aus der Hand gerutscht, auf Florians Gesicht gefallen, und - und - und dann bin ich doch lieber gleich weg ...« »Hast du das gehört, Hermine-Luitgart? Es ist zum Ausdem-Hemd-fahren! Er vertrödelt die Zeit mit einem Spielzeugbär, anstatt nach seinem Fuß zu suchen. Wenn die vier auch noch so kindisch sind wie du, dann werden sie uns eine große Hilfe sein! Wäre ja auch das erstemal, daß die Ötzmichelstädter etwas Gescheites täten. Die sind die alten geblieben, wie vor dreihundertundvierzig Jahren! Nein, nein, wir machen so weiter, wie wir es besprochen haben. Hast du mich verstanden? « »Ja. Herr Vater. Aber - bedanken darf ich mich doch wenigstens? « »Bedanken? Dafür, daß sie deinen Fuß mitgeschleppt und verschludert haben? « »Hanno«, sagte die Ötzmichlin müde, »sie wußten ja nicht, daß es Bodos Fuß war. Hier steht doch, daß sie ihn für einen Socken gehalten haben. Wenn sie uns ihre Hilfe anbieten,
sollten wir uns auch bedanken. Sie müßten uns ja sonst für sehr unhöflich halten.« »Ach, papperlapapp, Geschwätz und Flausen«, brabbelte Hanno, »macht, was ihr wollt. Und jetzt komm endlich! Grundgütiger Himmel, mein Sohn ein Einfuß! Ausgerechnet mein Sohn! Ich wollte, ich hätte noch all meine Haare, damit ich mir sie raufen könnte.« Von diesem Augenblick an begannen in Ötzmichelstadt alle Telefone zu läuten. Die meisten Ötzmichelstädter nahmen aufgeschreckt den Hörer ab, meldeten sich mit Grobschmid, Müller oder Kannengießer, wie sie eben hießen, und rissen dann erstaunt ihre schlafverklebten Augen auf, als ihnen eine barsche Stimme ins Ohr hämmerte: »Hier spricht Graf Hanno von Ötzmichelburg! Wo ist der Fuß von Graf Bodo? Gebt ihn freiwillig und sofort heraus, sonst werdet ihr eures Lebens nicht mehr froh!« Darauf war es eine Sekunde lang still, und dann hörte man die Stimme eines Jungen, der hastig hinzufügte: »Florian Jäger, Thomas Kellermann, Karl-Heinz Busch und Jochen Fleißer! Vielen Dank, wir sind einverstanden!« Auch bei Herrn Köchl läutete das Telefon. Als Graf Hanno seine Drohung herausgeblubbert hatte, war Herr Köchl noch so schlaftrunken, daß er einen Moment lang wirklich glaubte, mit dem alten Ötzmichel verbunden zu sein. »Hallo, Durchlaucht!« schrie er aufgeregt. »Hallo, Graf Hanno! Hier spricht Adam Köchl, der Heimatpfleger von Ötzmichelstadt, Ich weiß fast alles über Sie, Ihre Familie und Ihr Schloß. Nur ein paar kleine Fragen sind noch offen. Würden Sie die Güte haben, mir diese Fragen im Interesse der Heimatforschung zu beantworten? Hallo? Mit meinem Großvater haben Sie doch auch gesprochen! So sprechen Sie doch! Sind Sie noch da, Durchlaucht? « Doch die Leitung blieb tot und stumm. »So was!« sagte Herr Köchl ärgerlich und rieb sich die Augen. »Manche Leute haben einen seltsamen Humor. Wer mag dieser nächtliche Witzbold
gewesen sein? Fast, fast hätte ich es auch geglaubt, so was!« Am nächsten Morgen riefen der Bürgermeister und der Wachtmeister Valentin bei den Eltern der Jungen an und baten alle ins Rathaus. »Wie kommt es, daß heute nacht eure Namen genannt worden sind? « fragte der Wachtmeister und sah die Freunde mißtrauisch an. »Wofür wird euch gedankt, und womit sind die Anrufer einverstanden? « Nun mußte alles noch einmal gründlich und von Anfang an erzählt werden. Insbesondere die Eltern von Thomas, Jochen und Heinzi schüttelten fassungslos den Kopf. Bürgermeister Daubrich strich sich ein ums andere Mal mit der Hand übers Kinn, und der Wachtmeister ließ den Kugelschreiber über die Seiten seines Notizbuches sausen. Als die Jungen mit ihrem Bericht fertig waren, sahen sich die Erwachsenen ratlos an. »Eins möchte ich jedenfalls jetzt schon klarstellen«, sagte der Wachtmeister und klappte sein Notizbuch geräuschvoll zu, »Gespenstern gegenüber habe ich keine Polizeigewalt.« »Glauben Sie vielleicht, die unterstehen der Gemeindeordnung? « fragte Herr Daubrich verärgert, »damit ist doch keinem gedient, wenn jeder sagt, daß er für Gespenster nicht zuständig ist. Ungewöhnlichen Ereignissen muß man eben mit ungewöhnlichen Mitteln begegnen!« »Und was verstehen Sie unter ungewöhnlichen Mitteln? Soll ich vielleicht in ganz Ötzmichelstadt Hausdurchsuchungen nach dem Gespensterfuß vornehmen?« Herr Valentin schnappte wie ein gereizter Hund. »Darüber werden wir noch sprechen müssen«, sagte der Bürgermeister. »Zunächst scheint mir diese Sammelaktion wirklich das Vernünftigste und Dringlichste zu sein. Ich darf doch wohl annehmen, daß Sie die Sache bei strikter Geheimhaltung unterstützen werden? « Der Wachtmeister blickte ausgesprochen grimmig: »Mir ist
schon beinahe alles recht, wenn nur dieser Unsinn bald aufhört!« »Und in der kommenden Nacht wollt ihr dann die gesammelten Schuhe und Socken zur Burg hinauftragen? « fragte der Bürgermeister. »Wäre es euch nicht lieber, wenn Erwachsene das täten, oder zumindest mit euch hinaufgingen?« Heinzi schüttelte den Kopf: »Wir glauben, daß wir mit den Ötzmichels besser zurechtkommen. Und außerdem hat uns Ötzmicki ja ausdrücklich bestätigt, daß sie mit unserem Vorschlag einverstanden sind.« »Mir wäre es aber wirklich lieber ...« begann Frau Busch ängstlich, und Heinzi, der sich gut denken konnte, was jetzt folgen sollte, sagte schnell: »Vielleicht hat Klaus Lust, uns zu begleiten? « Damit waren sowohl die Jungen als auch die Eltern einverstanden. Die Ötzmichelstädter hatten unterdessen die Notiz in der Zeitung gelesen und sich verwundert gefragt, für wen wohl die einzelnen Socken und Schuhe bestimmt sein mochten. »Daß ihr mir ja nichts von den Ötzmichels sagt«, hatte der Wachtmeister den Jungen eingeschärft, »kein Sterbenswörtchen! Und auch nichts darüber, daß wir eigentlich den Fuß suchen! Sonst sind um Mitternacht so viele Neugierige auf den Beinen, daß ihr garantiert nicht einmal bis zum Burgberg durchkommt, geschweige denn zur Burg, und die Ötzmichels würden sich bei dem Auflauf wahrscheinlich auch nicht blicken lassen!« Daran dachten sie, als die Leute sie auszufragen versuchten und unbedingt von ihnen wissen wollten, wer und was sich hinter der ungewöhnlichen Sammelei verberge. Doch sonst gab jeder, der etwas hatte. Meistens waren es einzelne Kinderschuhe, ab und zu auch ein übriggebliebener Gummistiefel oder ein abgetretener Arbeitsschuh. Bei den Socken war die Anzahl natürlich wesentlich größer. Die
Hausfrauen brachten verschnürte Bündel an die Tür, und einige sagten: »Ich habe auch noch einen warmen Pullover dazugepackt. Wer nichts für die Füße hat, wird auch etwas für die Arme brauchen können.« »Ich hätte nie gedacht, daß es in Ötzmichelstadt so viele einzelne Socken und Schuhe gibt«, meinte Florian, als er mittags mit seinem hochbepackten Karren zurückkam. »Du meine Zeit«, rief Frau Jäger erstaunt, »das könnt ihr unmöglich selbst zur Burg hochtragen. Klaus muß sich von der Zeitung den Kombi ausleihen.« Nach und nach trafen Heinzi, Jochen und Thomas mit ihren vollbeladenen Handwagen bei Jägers ein und stapelten die prallgefüllten Plastikbeutel, Papiertüten und Kartons in Jägers Garage auf. »Die reinste Müllabfuhr«, stellte Jochen fest. »Wenn es nur nicht umsonst war«, unkte Thomas. »Wißt ihr, was ich mir denken könnte? Ich könnte mir vorstellen, daß jemand, der den Fuß gefunden hat, ihn so hübsch findet, daß er ihn gar nicht mehr hergeben will. Und was dann? « »Hör bloß auf!« sagte Heinzi. »Du kannst einen ganz schwach machen mit deinem ewigen Wenn und Aber. Ich bin sicher, daß Ötzmickis Fuß in einem der Bündel steckt. Er muß dabei sein! Von jedem Haus habe ich etwas bekommen - nein, das heißt, von Fräulein Milich habe ich nichts gekriegt. Als ich klingelte, guckte sie durch ihr oberes Türchen, schwenkte ihre spitze Nase einmal nach rechts, einmal nach links - und schwupp - war sie wieder weg.« »Klar, daß die nichts hatte.« Florian lachte. »Oder glaubst du, daß die einen Gespensterfuß im Haus behalten würde? Die bestimmt nicht!« »Und wer geht heute nachmittag mit ins Bad? « fragte Thomas. »Heute ist schon der vierte Ferientag, und ich war noch keinmal im Bad. Wenn ich ans letzte Jahr denke!« »Ja, gehen wir schwimmen«, stimmte Jochen zu. »Im
Wasser haben wir überhaupt noch nicht nachgesehen. Vielleicht schwimmt der Fuß dort mutterseelenallein herum und wartet nur darauf, herausgefischt zu werden? Zur Sicherheit bringe ich noch meine Taucherbrille mit. Ist ja möglich, daß ein Gespensterfuß gar nicht oben schwimmt ...«
Achtes Kapitel: In dem ein Sparkassendirektor sich überreden läßt, ein gewisser Herr Bär gar nicht Bär heißt und ein dreister Einbruch geschieht Am Mittag dieses warmen Tages waren im Gasthof »Zu den vier Mohren« zwei recht unterschiedlich aussehende Herren abgestiegen. Der eine, ziemlich groß und dünn, hatte ein blasses Gesicht, dafür aber einen roten, struppigen Schnauzbart. Der andere war eher klein, hatte breite Schultern, auffallend krumme Beine und trug eine schwarze Hornbrille. Ins Gästebuch schrieben sie sich ein als Wilhelm Bär, Mechaniker, und Eduard Meisenbruch, Prokurist der Firma Schmidt und Sohn, Apparatebau und Alarmanlagen, Hannover. Gleich nach dem Essen fuhren sie mit ihrem Auto in die Frühlingsstraße und hielten auf dem kleinen Parkplatz vor der Sparkasse. Herr Meisenbruch, der jetzt einen dunklen Anzug, einen steifen schwarzen Hut und eine vornehme Aktentasche trug, ging hinein und reichte einer Angestellten seine Visitenkarte: »Würden Sie mich bitte dem Direktor melden? « sagte er höflich. Herr Schäfer, der Sparkassendirektor, bat seinen Besucher herein. »Herr Schäfer, ich bin seit einem Jahr Prokurist unserer Firma und komme in einer besonderen Angelegenheit«, sagte Herr Meisenbruch, nachdem er Platz genommen hatte. »Wie Sie wissen, hat unsere Firma Ihrer Sparkasse vor zehn Jahren die Alarmanlage geliefert. Waren Sie damit zufrieden? « Der Direktor nickte: »Wir waren damit zufrieden und sind es noch, Herr Meisenbruch. Warum fragen Sie, wollen Sie mir etwa eine neue verkaufen? « Herr Meisenbruch hüstelte und rückte seine Brille zurecht: »Das wäre in der Tat zu überlegen. Sehen Sie, die Anlage ist mittlerweile völlig veraltet. Vom heutigen Stand der Technik
aus ist sie sozusagen noch aus der Steinzeit. Gerade in den letzten Jahren hat die Entwicklung der Alarm- und Signalanlagen ungeheure Fortschritte gemacht. Außerdem, bedenken Sie bitte, auch die Einbrecher haben in den vergangenen Jahren einiges dazugelernt!« »So? Na ja, Sie können uns einmal ein ausführliches Angebot über eine moderne Alarmanlage zuschicken, Herr Meisenbruch. Nachdem wir zehn Jahre lang mit der alten zurechtgekommen sind, werden ein paar Wochen keine Rolle spielen, oder? « »Leider doch, Herr Schäfer«, sagte Herr Meisenbruch und begann nervös an seiner Hornbrille herumzuputzen, »leider doch!« »Wieso? Was meinen Sie damit? « »Die Angelegenheit ist für unsere Firma höchst peinlich, Herr Schäfer ... Also, um es kurz zu machen: Wir beschäftigten vor mehreren Jahren einen gewissen Felix Klöppel, einen Spezialisten für Alarmanlagen. Ihre Anlage hier hat er seinerzeit auch eingebaut. Eines Tages - für uns alle unfaßbar brach er in eine kleine Bankfiliale ein, nachdem er einige Zeit zuvor dort ebenfalls eine unserer Anlagen installiert hatte. Er wußte eben am besten, wie er sie auszuschalten hatte, verstehen Sie? Man faßte ihn bald darauf, und er bekam mehrere Jahre Gefängnis. Und nun kommt der Grund, weshalb ich heute bei Ihnen bin. Wegen guter Führung hat man ihn ein Jahr früher entlassen, genauer gesagt, vor acht Tagen. Wir bekamen das mitgeteilt, aber durch ein Versehen im Posteingang unseres Hauses erhielt ich diese Nachricht erst heute morgen. Ich habe mehrmals versucht, Sie anzurufen, kam aber mit meinem Gespräch nie durch.« »Und Sie glauben, daß dieser ... wie hieß er doch gleich? « »Klöppel. Herr Schäfer, ich will Sie keinesfalls beunruhigen. Es ist ja möglich, daß er dieses eine Jahr, das man ihm an
Strafe erlassen hat, wirklich verdient und daß er nie mehr einen Einbruch begehen wird. Aber wer kann das wissen? Tatsache ist - ich habe mir noch vor meiner Abreise die alten Akten heraussuchen lassen - daß Ihre Sparkasse die einzige ist, die noch das alte Alarmsystem hat. Sie werden zugeben müssen, daß das, jetzt, nachdem Klöppel frei ist, möglicherweise für Ihre Firma ein Sicherheitsrisiko bedeutet. Um eine neue Anlage einzubauen, brauchte man mehr Zeit, als wir sie vielleicht noch haben. Ich möchte Ihnen deshalb einen Vorschlag machen. Lassen Sie in Ihre Anlage jetzt, heute noch, ein paar zusätzliche Sicherheiten einbauen. Ich denke an Sicherungen der neusten Art, die Klöppel noch nicht kennt und mit denen er nicht so ohne weiteres fertig werden kann.« »Hm ... und wie lange dauert dieser Einbau? « »Höchstens zwei Stunden, ich habe einen unserer fähigsten Leute mitgebracht.« Er sah auf die Uhr. »Es ist jetzt kurz nach zwei, schätzungsweise gegen vier müßte er fertig sein.« »Hoffentlich ist er nicht auch so tüchtig wie der andere«, meinte Herr Schäfer trocken. »Aber ich bitte Sie! Für unseren Herrn Bär lege ich jederzeit beide Hände ins Feuer. In Ihrem eigenen Interesse möchte ich Ihnen dringend empfehlen, sich so bald wie möglich für eine moderne Anlage zu entschließen.« Er klopfte leicht an seine elegante Tasche. »Wenn ich Ihnen einige Prospekte und Beschreibungen zeigen darf? « Der Direktor winkte ab: »Nein, vielen Dank. Ich könnte das im Moment weder prüfen noch entscheiden. Verbleiben wir so, daß Sie uns in den nächsten Tagen ein ausführliches Angebot zugehen lassen. Für den Augenblick hoffe ich, daß diese zusätzlichen Maßnahmen genügen werden.« Schließlich wurde auch Herr Bär hereingeholt. Er schleppte eine große Werkzeugkiste, sah sich um, stellte Fragen, studierte den Kasten für die Alarmanlage und mehrere Pläne
und begann dann zielstrebig mit seiner Arbeit. Herr Meisenbruch, der höfliche und zuvorkommende Prokurist der Firma Schmidt und Sohn, verabschiedete sich, und um Punkt vier Uhr, als die Sparkasse geschlossen wurde, war auch Herr Bär fertig. Der Direktor Schäfer wäre wahrscheinlich von einem Entsetzen ins andere gefallen, wenn er gehört hätte, was sich die beiden Herren später im Hotel erzählten. »Na, wie ist es gelaufen, Felix? « fragte Herr Meisenbruch. »Alles okay? « »Selbstredend. Ich dachte, mich laust der Affe, als ich den alten Kasten wiedersah. Die ganze Alarmanlage noch haargenau so, wie ich sie vor zehn Jahren eingebaut habe. Das Ding juckt vielleicht!« Mit einer einzigen raschen Bewegung riß er sich den roten Schnauzbart von der Oberlippe. »Hmmmm, das brennt fürchterlich!« »Kleb dir sofort den Bart wieder an«, befahl Meisenbruch barsch, »wenn dich einer erkennt!« »Keine Sorge. Der Kassierer hat mich auch nicht erkannt, dabei haben wir vor zehn Jahren öfters mal ein Bier zusammen getrunken. Denen habe ich was vorgeflunkert! Von Unterbrecherkontakten, Relais und automatischem Tritratrallala. In der Theorie stimmt es beinahe, und dafür, daß es bei ihnen nicht stimmt, habe ich gesorgt. Sogar an den alten Tresor haben sie mich rangelassen, den sollte ich auch noch sicherer machen. Ich sage dir, der ist jetzt so leicht zu öffnen wie eine Sparbüchse mit Schlüssel. Und wie war es bei dir? « »Ich war ein Direktor, wie er im Buch steht«, prahlte Meisenbruch, »und mit der Fangfrage ging es ebenfalls prima.« »Welche Fangfrage? « »Als ich ihn fragte, ob er mit unserer Anlage zufrieden gewesen sei. Als er darauf sagte: ,Wir waren es und sind es noch', wußte ich, daß sie das alte System noch haben. Planung ist eben alles! Und wenn du damals deinen Einbruch besser
geplant hättest, wärst du nicht erwischt worden.« »Wird mir auch nicht mehr passieren«, sagte Felix Klöppel, denn so hieß der angebliche Wilhelm Bär in Wirklichkeit, und klebte seinen Bart wieder fest. »Diesmal bin ich vorsichtiger und außerdem bist du ja dabei, Reitergeneral. Was hast du eigentlich früher gemacht? « »Ganz früher war ich mal Handelsvertreter in Herrensocken«, sagte Meisenbruch, »aber das ist schon eine Ewigkeit her. Wenn wir später zum Abendessen runtergehen, so vergiß nicht, mich mit Herr Direktor anzusprechen, kapiert? Solche Kleinigkeiten sind wichtig. Wie gesagt, Planung ist alles!« In Ötzmichelstadt war es normalerweise nach halb elf Uhr abends, nachdem die Kinobesucher heimgegangen waren, ruhig und still. Es war genau zwanzig vor elf, als die Herren Klöppel und Meisenbruch durch die Webergasse, eine Parallelstraße der Frühlingsstraße, fuhren. Abgesehen von ein paar parkenden Autos war die Straße leer. Sie hielten vor dem großen Tor der Weberschule, genau gegenüber dem Hinterausgang der Sparkasse. Während Meisenbruch noch sitzen blieb, stieg Klöppel aus. Er hatte einen Koffer in der Hand und ging eilig, wie jemand, der seinen Zug noch erreichen muß, erst einmal ein Stück die Webergasse hinunter. Schließlich überquerte er die Gasse, kam zurück und machte sich im Schatten des Eingangs zur Sparkasse zu schaffen. Es dauerte nicht lange, bis eine Taschenlampe kurz aufblitzte, worauf auch Meisenbruch ausstieg und auf dem gleichen Weg wie Klöppel hinter der Tür verschwand. Keiner, der einen Augenblick später durch die Webergasse gekommen wäre, hätte irgend etwas Auffälliges bemerkt. »Punkt eins wäre erledigt«, sagte Meisenbruch leise. »Los, los! Möglicherweise wird die Hintertür von einem Wachmann kontrolliert.«
Klöppel öffnete den großen Koffer und zog einen etwas kleineren Leinenkoffer heraus. »Was soll der dünne Koffer? « fuhr Meisenbruch ihn an. »Habe ich dir nicht ausdrücklich gesagt, du sollst einen stabilen Koffer nehmen? « »Ja, ja, aber warum sollte ich einen neuen kaufen, wenn ich diesen habe? « »Hör mal zu«, sagte Meisenbruch, und seine Stimme klang gefährlich ruhig, »die Planung habe ich, verstanden? Weißt du nicht mehr, wie schwer Geld sein kann? Von diesem Einkaufstäschchen reißt doch sofort der Griff ab.« »Aber, aber ...« »Halt's Maul!« Und so geschah der erste Sparkasseneinbruch in der Geschichte Ötzmichelstadts. Klöppel hatte recht behalten. Die Alarmanlage, die er eigentlich hatte sicherer machen sollen, war außer Betrieb, und den altmodischen Tresor und die Schließfächer zu öffnen war für ihn kein großes Hindernis. Nichts entging ihnen, und die beiden Koffer wurden immer schwerer. »Punkt zwei wäre auch geschafft«, brummte Meisenbruch zufrieden. »Zwanzig nach elf? Tadellose Arbeit! Bist du fertig? « »Moment, da hinten steckt noch etwas«, sagte Klöppel, langte in ein Schließfach hinein und zog Ötzmickis Fuß heraus. »Ein Sparstrumpf! Donnerwetter, da ist was drin! Probier mal, wie schwer der ist.« »Wirf ihn oben drauf und mach den Koffer zu«, befahl der Reitergeneral. »Raus jetzt!« Als sie wieder an der hinteren Sparkassentür standen, spähte Meisenbruch vorsichtig hinaus. »Das verschlafenste Nest, das man sich denken kann«, grunzte er. »Und wie praktisch, daß genau gegenüber eine Schule ist, in
der nachts kein Mensch was zu tun hat«, ergänzte Klöppel. »Überhaupt, es war ein Einbruch wie aus dem Bilderbuch. Was schätzt du, wieviel haben wir? « »Gerade genug bis zum nächstenmal«, sagte Meisenbruch, zog die Tür auf und ging zum Auto hinüber. Klöppel folgte ihm kurz danach. Als er ebenfalls einsteigen wollte, stutzte er. »He, Reitergeneral! Was ist das? Dahat doch einer ...!« »Steig endlich ein!« zischte Meisenbruch. Doch Klöppel hatte etwas Merkwürdiges entdeckt. Quer über die Beifahrertür stand in weißer Schrift: »Fite wo is -« und dann, so als ob dem Schreiber die Hand ausgerutscht wäre, ging es auf dem Bürgersteig weiter: »main Fuhs? Um schnelste Rückbringunk pitet Bodo, Karl-Philipp, Franz, Traugott, Ludwig-Eberhard, Richard, Ottokar, Graf von Ötzmichelburg.« »Jetzt ist es wieder weg - Ede, so komm doch raus!« Meisenbruch war leise fluchend ausgestiegen, um Klöppel, der nun anscheinend die Nerven verlor, mit Gewalt ins Auto zu zerren. Doch dann sah er es auch. Es blinkte auf, verschwand und war nach einer Weile wieder zu sehen. »Den Idioten wenn ich erwische, dem zerdrücke ich sämtliche Knochen!« sagte Meisenbruch zornig. »Laß uns zu Fuß abhauen«, drängte Klöppel. »Das Auto ist zu auffällig, da könnten wir ebensogut gleich mit einer Sirene losfahren. Und wer weiß, ob nicht noch mehr Späßchen zum Vorschein kommen!« »Mit den vollen Koffern abhauen!« höhnte Meisenbruch. »Wie weit willst du damit kommen? Nachts, zu Fuß und so schwer beladen. Schau mal bei dem Auto da vorn nach.« Klöppel ging zu einem der parkenden Wagen hin. »Genau das gleiche«, berichtete er, »da steht derselbe Schmarren drauf.« »Steig ein, auf alle Fälle müssen wir weg. Irgendwo werden wir schon einen anderen Schlitten finden, der nicht beschmiert ist. Dann laden wir um und lassen den hier stehen. Ist ja
sowieso bloß geklaut.« Sie fuhren los und kamen aus dem Staunen nicht heraus. Alle abgestellten Autos waren mit Ötzmickis Bitte bemalt. Manche auf der rechten Seite, manche auf der linken und einige sogar auf dem Dach. »So was hab' ich auch noch nicht erlebt.« Klöppel war baff. »Das kann doch kaum einer allein gemacht haben. Was soll das nur bedeuten? « »Und was mir überhaupt nicht gefällt«, brummte Meisenbruch, »ist, daß sich keiner aufregt. Ein paar Leute müßten es doch schon gemerkt haben und Krach schlagen. Das ist nicht normal, irgendwas ist oberfaul an dieser Sache! Wohin soll ich jetzt fahren, rechts oder links? « »Ist egal. Mann, es wird doch wohl noch irgendwo eine saubere Kiste zu finden sein. Du, da vorne fährt ein Lieferwagen, überhole ihn! Hast du gesehen? Ein Firmenwagen ohne diese blödsinnige Namenslitanei. Er wird langsamer, fahr noch einmal um den Block herum. Vielleicht wird er abgestellt, und wir können ihn dann nehmen.« Meisenbruch fuhr noch eine Runde. Wenn er geahnt hätte, was ihnen mit diesem Lieferwagen noch alles passieren würde, hätte er sicher Vollgas gegeben und wäre schleunigst an ihm vorbeigerauscht.
Neuntes Kapitel: In dem Herr Valentin etwas gründlich mißversteht, Ötzmicki sich fürs Fußballspielen interessiert und Graf Hanno von seinen tollen Rechenkünsten erzählt Der Lieferwagen war das Auto der Ötzmichelstädter Zeitung, das Klaus sich ausgeliehen hatte, um die Jungen und ihre Bündel zur Burgruine hochfahren zu können. Als Klöppel ihn gesichtet hatte, war Klaus gerade wieder auf der Fahrt zum Haus seiner Eltern, nachdem er vorher Heinzi. Jochen und Thomas abgeholt hatte. »Hoffentlich ist Florian schon wach«, sagte Klaus, »kommt mit rein und helft mir das Murmeltier aus dem Bett scheuchen!« Als sie ausstiegen, bemerkten sie den unermüdlichen Wachtmeister Valentin. »Guten Abend«, grüßte Klaus. »Bisher alles ruhig, nicht wahr? Keine Neugierigen, die abgewimmelt werden müssen? « »Zum Glück nicht. Wenn die Ötzmichelstädter einmal schlafen, dann schlafen sie. Wollen hoffen, daß auch keiner mehr kommt. Wo sind die Sachen? « »Hinten in der Garage. Wir holen nur noch meinen Bruder, dann fahren wir.« »Gut.« Der Wachtmeister ging zu der etwas zurückliegenden Garage. Er war noch nicht ganz dort, als er hörte, wie ein Motor abgestellt wurde. Abwartend blieb er im Dunkeln stehen und sah einen Mann, der auf den Lieferwagen zuging und ihn von allen Seiten betrachtete. »Hat also doch einer von der Sache Wind bekommen«, brummte der Wachtmeister. »Das werden wir gleich haben!« Als Klöppel, der den Lieferwagen stehlen wollte, plötzlich einen Polizisten neben sich auftauchen sah, wäre er am liebsten
Hals über Kopf davon gestürzt. Er faßte sich noch im allerletzten Moment und grinste den Wachtmeister unsicher an. »Guten Abend«, sagte Herr Valentin, »kann ich Ihnen helfen? « Fürs erste war Klöppel erleichtert. ,Wenn er so höflich ist', dachte er sich, ,kann er von dem Einbruch noch nichts wissen.' Aber eine rasche Antwort, die den Wachtmeister schnell hätte zufriedenstellen können, wußte er nicht. »Es - es - es ist wegen der komischen Schrift«, stotterte er, weil ihm beim besten Willen nichts anderes einfiel. Der Wachtmeister, der natürlich an die Schrift in der Zeitung dachte, nickte befriedigt: »Das habe ich mir schon gedacht. Übrigens, darf ich fragen, woher Sie kommen? Sie sind doch kein Ötzmichelstädter? « »Nein, nein. Wir ...«, am liebsten hätte er sich jetzt die Zunge abgebissen. »Wir? « Herr Valentin hatte es selbstverständlich sofort gehört. »Ja, mein Kollege und ich. Wir kommen aus Föhrnried. Mein Kollege sitzt noch drüben im Auto. Ja, ja - wir sind gewissermaßen Vertreter in Herrensocken ... gewissermaßen ... verstehen Sie? « Klöppel wünschte sich auf den Südpol oder auch auf den Himalaja, auf jeden Fall möglichst weit weg von diesem schrecklichen Wachtmeister. Wenn ihm nur eine einleuchtende Erklärung einfallen würde! Er sah auf seine Uhr und sagte hastig: »Oh, schon kurz vor zwölf! Entschuldigen Sie mich bitte, wir haben gleich noch einen dringenden Termin!« Er hatte sich schon umgedreht, als ihn Herr Valentin zurückrief. »Moment mal!« sagte er, »jetzt geht mir ein Licht auf. Sie sind in der Ötzmichelsache hier, stimmt's? « Klöppel nickte schwach. »Vertreter in Herrensocken! Hahaha, das finde ich gut!« Der Wachtmeister lachte dröhnend. »Das hätten Sie mir doch gleich sagen können. Aber ich verstehe schon«, setzte er
vertraulich hinzu, »es fällt einem verflixt schwer, jemandem einzugestehen, daß man an Gespenster glaubt, nicht wahr? « »So ist es«, murmelte Klöppel. »Da haben Sie wohl auch eine Sammlung im Wagen? « »Stimmt, stimmt genau«, sagte Klöppel mit halberstickter Stimme. »Das finde ich hochanständig von Ihnen«, lobte Herr Valentin. Klöppel glaubte nicht recht gehört zu haben. Er war doch nicht etwa im Schlaraffenland, wo man von der Polizei für einen Einbruch auch noch gelobt wurde? Klaus und die Jungen hatten inzwischen alles im Lieferwagen verstaut. »Wartet«, rief der Wachtmeister, »hier ist Verstärkung aus Föhrnried. Kommt, faßt mit an!« Und zum völlig verblüfften Klöppel sagte er: »Steigen Sie in den Lieferwagen ein, damit Sie ihre Autoreifen schonen. Der Weg ist stellenweise sehr schlecht. Das wäre ja noch schöner, wenn Sie Ihre Hilfsbereitschaft mit einem Achsenbruch vergolten bekämen. Also los, Jungs, das ist Herr ...? « »Klöppel - Bär«, sagte Klöppel, der sich immer mehr verhedderte, »Felix Klöppel-Bär. Aber ich weiß nicht, ob -« »Aber natürlich, Herr Klöppel-Bär«, meinte Klaus zuvorkommend, »fahren Sie mit uns. Wir müssen uns aber beeilen!« Meisenbruch hatte währenddessen im Auto gesessen und fassungslos mitangesehen, daß Klöppel vom Wachtmeister nicht mehr loskam. »Und jetzt kommen sie auch noch her! Was sollen denn die Jungs dabei? Nur ruhig Blut«, ermahnte er sich selbst, »nur ruhig Blut, noch ist nichts verloren.« Er kurbelte das Fenster herunter. »Wachtmeister Valentin«, stellte der Polizist sich vor. »Ich darf Ihnen bereits jetzt im Namen der Stadt für Ihre Hilfsbereitschaft danken. Würden Sie jetzt bitte ausladen? «
Dem Reitergeneral blieb buchstäblich der Mund offen. »Wir fahren mit dem Lieferwagen«, erklärte Klöppel hastig und stieß ihn grob in die Rippen, »da können wir unsere Autoreifen schonen, weil wir doch Vertreter in Herrensocken sind, verstehst du? « Meisenbruch verstand natürlich kein Wort, und als Klaus nach einem der Koffer griff, schob er ihn unsanft beiseite. »Das mache ich selbst!« Er fühlte sich wie ein überheizter Dampfkessel kurz vor der Explosion. Endlich war alles im Wagen. Klöppel und Meisenbruch saßen auf der hintersten Bank und hatten ihre wertvollen Koffer zwischen die Knie geklemmt. »Viel Erfolg!« wünschte der Wachtmeister zum Abschied. »Und versucht ihnen den Blödsinn auszureden, den sie mit der Zeitung und dem Telefon gemacht haben. Das war ja schon kriminell!« Klöppel und Meisenbruch waren bei diesem letzten Wort empfindlich zusammengezuckt. Das war ein Ton, den sie von einem Polizisten eher gewöhnt waren. »Was soll das alles, du hirnverbrannter Idiot? « zischte der Reitergeneral. »Woher soll ich das wissen? Es war die einzige Möglichkeit, von dem Polizisten wegzukommen«, flüsterte Klöppel. Dann wandte er sich an Thomas, der vor ihm saß, und fragte vorsichtig: »Was glaubt ihr, wie lange wird es dauern? « »Na ja, normalerweise dauert die Geisterstunde von zwölf bis eins. Ich weiß nicht, ob sie es bis dahin schaffen, aber vielleicht können sie auch mal eine Ausnahme machen. Hoffentlich treffen wir sie gleich.« »Haben Sie mehr Socken oder mehr Schuhe? « erkundigte sich Heinzi. »Oh... beides. Meinst du nicht auch, Reiterge-, ähem, Eduard? « Der Reitergeneral kochte vor Wut und schwieg hartnäckig.
»Wurden Sie auch immerzu gefragt, wozu die einzelnen Socken und Schuhe verwendet werden sollen? « wollte Florian wissen. »Ja. Wir haben aber kaum etwas gesagt.« »Klar«, meinte Florian, »versteht sich. Ich möchte nur wissen, wie er seinen Fuß verlieren konnte. Ich meine, dreihundertvierzig Jahre geht es gut, und dann auf einmal, in diesem Sommer, verliert er ihn! Können Sie sich denken, was da gewesen sein könnte? « »Nein, wirklich nicht.« Klöppel trocknete sich die feuchtgewordene Stirne. »Wir sind mit ein paar Irren unterwegs«, ächzte er leise, und Meisenbruch schnarrte halblaut zurück: »Da paßt du prima dazu!« »Wieso gerade dreihundertvierzig? « fragte er dann so freundlich, wie es ihm in seiner Wut gerade noch möglich war. »Ach so, Sie sind ja nicht aus Ötzmichelstadt«, erinnerte sich Heinzi. »Vor dreihundertvierzig Jahren sind die Ötzmichels gestorben. Und seitdem spuken sie alle fünfundzwanzig Jahre...« »Phhhh«, schnaubte der Reitergeneral verächtlich, »phhh!« Bevor er sich noch weiter abfällig äußern konnte, hielt Klaus mitten im Burghof. »Bim-bam, bim-bam, bim-bam, bim-bam, bumm, bumm, bumm, bumm, bumm, bumtn, bumm, bumm, bumm, bumm, bumm, bummmmmmmmmm«, die Turmuhr von Sankt Martin schlug Mitternacht, und der letzte Ton lag langanhaltend in der Luft. Klaus stieg aus. »Graf Hanno!« rief er. »Wo soll denn hier mitten in der Nacht ein Graf herkommen? « nörgelte Meisenbruch. »Er meint natürlich den alten Ötzmichel«, erklärte Heinzi. »Steigt bitte aus und laßt uns zusammen rufen«, sagte Klaus, »vielleicht ist er schwerhörig? « Die Jungen verließen das Auto, auch Klöppel und
Meisenbruch bequemten sich. Selbstverständlich hielten sie ihre Koffer fest. »Felix«, flüsterte Meisenbruch, »los, wieder rein! Er hat den Schlüssel stecken lassen!« »Was? « fragte Klöppel, der nicht richtig zugehört hatte, und drehte sich zu Meisenbruch um. Und dann fielen ihm fast die Augen aus dem Kopf. Hinter dem Reitergeneral, der davon noch nichts ahnte, stand, groß und drohend aufgerichtet, der alte Ötzmichel. »Wer getraut sich, mich zu rufen? « grollte er, und der Reitergeneral wirbelte herum, als hätte ihn eine Wespe in den Rücken gestochen. »Wa - wa - was? « würgte er hervor. Er wankte rückwärts, und der alte Ötzmichel folgte ihm unerbittlich. Auch die Jungen waren erschrocken herumgefahren, weil sie die Ötzmichels nicht aus dieser Richtung erwartet hatten. »Graf Hanno? « fragte Klaus, und Florians Bewunderung für seinen Bruder war in diesem Augenblick grenzenlos. Er und seine Freunde hatten sich dicht aneinandergedrängt. Meisenbruch stand so steif da, als hätte er ein Lineal verschluckt, und Klöppel hielt die Augen geschlossen, preßte beide Zeigefinger in die Ohren und wiederholte unablässig: »Wir sind zwei Handelsvertreter, nur zwei Handelsvertreter. Wir haben mit der ganzen Sache nichts zu tun ...« Keiner beachtete ihn. Anstatt Klaus eine Antwort zu geben, fuhr Hanno der Wüterich ihn an: »Wer seid ihr und was wollt ihr? « »Ich heiße Klaus Jäger«, sagte Klaus unerschrocken. »Diese beiden Herren kommen aus Föhrnried, und die Jungen hier sind mein Bruder Florian und seine Freunde Karl-Heinz Busch, Thomas Kellermann und Jochen Fleißer. Sie hatten Ihnen einen Brief geschrieben und ihn an den Turm geklebt. Sie erinnern sich doch? « »Und ...? « bellte der alte Ötzmichel unfreundlich. »Nichts
und ...« Klaus begann sich allmählich zu ärgern. »Die Jungen haben einen Tag lang alle einzelnen Schuhe und Socken in Ötzmichelstadt gesammelt, in der Hoffnung, dadurch den Fuß Ihres Sohnes wiederzufinden. Wir haben alles mitgebracht, die beiden Herren haben ebenfalls zwei Koffer voll. Sie können jetzt alles durchsehen.« Einen Augenblick lang herrschte gespannte Stille. »Hermine-Luitgart!« rief Hanno. »Bodo, Karl-Philipp undsoweiter!« Es klang so laut wie das Tuten eines Nebelhorns und drang sogar Klöppel in die verstopften Ohren. Als er die Augen öffnete und zwei weitere Gespenster vor sich sah, begann er zu zittern. »Ede«, stammelte er kraftlos, »das ist schlimmer als hundert Polizisten. Ich halte es nicht länger aus. Ich will gern alles gestehen.« »Hör auf zu plärren wie ein altes Waschweib!« sagte Meisenbruch schroff. »Zieh lieber deine Schuhe aus. Los doch, die Socken auch!« Die Gräfin Hermine-Luitgart schwebte auf die verängstigten Jungen zu. Um sie nicht noch mehr zu erschrecken, hielt sie ein paar Schritte vor ihnen an. Florian zwang sich, ihr ins Gesicht zu sehen. ,Gott sei Dank, einen Totenschädel hat sie nicht', dachte er erleichtert. So genau konnte man das Gesicht sowieso nicht erkennen, es war ständig leicht verschwommen. Aber Augen, Nase und Mund waren vollständig vorhanden, wenn auch die Augen tief in den Höhlen zu liegen schienen, die Nase etwas spitz hervortrat und der Mund merkwürdig eingefallen wirkte. Und natürlich war das Gesicht geisterbleich. Immerhin, irgendwie sah die Gräfin gutmütig aus, und das, was sie sagte, war ganz bestimmt weder böse noch furchteinflößend. »Bitte, habt keine Angst«, sagte sie langsam und deutlich. Ihre Stimme hatte zwar den Klang einer weit entfernten schrillen Kreissäge, aber die Jungen spürten, daß es durchaus freundlich gemeint war. »Vielen, vielen Dank, daß ihr euch solche Mühe um Graf Bodos Fuß gemacht habt. Es ist eine entsetzliche Geschichte, und natürlich ist Graf Hanno sehr
erzürnt, weil unser Sohn gegen das erste Gesetz verstoßen hat. Bodo, Karl-Philipp, Franz, Traugott, Ludwig-Eberhard, Richard, Ottokar, komm her und bedanke dich!« Ötzmicki kam, und den Freunden wurde es zum erstenmal etwas leichter ums Herz. Mit einem Jungen konnte man eben eher so von Mann zu Mann reden, auch dann, wenn es sich um ein Gespenst handelte. Ötzmicki deutete so etwas wie eine Verbeugung an, und als ihm der Kopf dabei herabfiel, fing er ihn gekonnt mit der linken Hand auf. »Vielen Dank«, sagte der Kopf artig, »vielen Dank!« Und dann fügte er nach einem raschen Seitenblick auf seinen Vater leise hinzu: »Was hat man in Ötzmichelstadt zu meinem ,Pite wo is main Fuhs' gesagt? War das gut? « »Eigentlich nicht«, sagte Thomas, der sich als erster den Mund aufzumachen traute, »manche haben sich furchtbar geärgert.« »Und der Wachtmeister Valentin läßt euch bestellen, daß ihr unbedingt damit aufhören müßt. Es wäre schon fast kriminell«, sagte Jochen. Ötzmickis Kopf nickte bekümmert. »Das dachte ich mir. Ich wollte das alles nicht, aber mein Herr Vater ... es ist eben ein Notfall! Ich muß doch meinen Fuß wiederhaben! Schon allein deshalb, damit Vater nicht mehr so böse ist. Ich habe gehört, daß du mit meinem Fuß auf die Mauer gelaufen bist«, sagte er zu Florian. »Hat dir das Spaß gemacht? « »Es ging«, meinte Florian gedehnt. »Schade. Mit meinem Vorwärtsfuß hätte es dir vielleicht besser gefallen. Was spielt ihr so? Reitet ihr? Oder macht ihr Ritterkämpfe? « »Ritterkämpfe? « Florian staunte. »Nö, wir spielen Indianer und Cowboys, Räuber und Gendarm oder Fußball.« »Laßt ihr mich mitspielen? Was braucht man als Räuber? Messer, Keulen oder ein Schwert? Zeigt ihr mir, wie man
Fußball spielt? « »Wir können es ja probieren«, sagte Thomas, »so wie du gebaut bist, bist du garantiert der beste Fußballer der Welt, im Sturm genauso wie im Tor!« »Glaubst du? « fragte Ötzmicki erwartungsvoll. »Thomas, wir haben doch gar keinen Ball«, erinnerte Heinzi. »Ach, stimmt ja. Vielleicht liegt irgendwo eine Konservenbüchse? « »Wie groß muß der Ball denn sein? « fragte Ötzmicki, und Florian deutete die Größe mit den Händen an. »Wenn es sonst nichts ist«, meinte Ötzmicki, »wie wäre es mit dem da? « Und dann warf er seinen Kopf in die Höhe, ließ ihn auf der linken Schulter aufprallen, stieß ihn erneut hoch, fing ihn mit der rechten Schulter ab, ließ ihn den Arm entlangrollen und auf der Zeigefingerspitze auf und ab tippen. Dabei rollte er seine kreisrunden Augen, als wären sie kleine Kreisel, verzog die Nase, blähte die Backen, mal lachte er, und ab und zu zog er eine schaurige Grimasse. Es war eine Galavorstellung. »Spitze!« sagte Thomas begeistert, und Ötzmicki ließ seinen Kopf immer übermütiger herumtanzen. Einmal griff er aber doch daneben, der Kopf entwischte ihm und rollte dem trübsinnig dasitzenden Klöppel direkt vor die Füße. Ötzmicki hatte sein Gesicht gerade zu einer gruseligen Fratze verzogen, und Klöppel kreischte entsetzt auf, als ein einzelner Kopf mit verdrehten Augen, aufgestülpter Nase und weit heraushängender Zunge an seinen nackten Fuß stieß. Wer weiß, wie lange das noch so weitergegangen wäre, wenn sich der alte Ötzmichel nicht wieder einmal genötigt gesehen hätte, Dampf hinter die Sache zu machen. »Bodo, Karl-Philipp undsoweiter«, tadelte er streng, »jetzt ist Schluß! HermineLuitgart, ich verstehe dich nicht, kannst du deinen Sohn nicht besser beaufsichtigen? Schließlich haben wir weit wichtigere Dinge zu tun, oder? « »Gewiß, mein Gemahl«, beeilte sich die Gräfin ihm
zuzustimmen, »gewiß!« »Also! Wo ist das Bündel mit den Socken, kann ich es sehen? « »Natürlich«, sagte Klaus, »kommt, Jungs, wir laden aus!« Er ging zum Wagen zurück, bemerkte, daß er vorhin vergessen hatte, den Schlüssel abzuziehen, und zog ihn jetzt heraus. Ötzmicki hatte sich auf das Dach des Lieferwagens gesetzt, baumelte mit seinem Vorwärtsfuß und zählte laut: »Eins - zwei - drei...« Graf Hanno und die Gräfin standen etwas abseits neben Klöppel und Meisenbruch, die noch immer nicht wußten, wie sie sich Gespenstern gegenüber zu verhalten hätten. »Was kommt nach neununddreißig, Mutter? « fragte Ötzmicki, und das war für Hanno wieder ein Grund, sich mächtig aufzuregen. »So etwas Unbegabtes!« schimpfte er. »Hermine-Luitgart, ich muß es leider noch einmal sagen, von mir und meiner Familie hat er das nicht! Weißt du, was ich in seinem Alter schon ausrechnen konnte? « »Nein, mein Teurer«, sagte die Gräfin geduldig, »aber du wirst es mir gleich verraten.« »Allerdings! Ich konnte im Alter unseres Sohnes ohne Schwierigkeiten errechnen, daß die Entfernung vom äußeren Burghof bis an die Ötzmichelstädter Rathaustür genau 3333 lange Bratpfannenstiele beträgt, beziehungsweise 5714 kurze Bratpfannenstiele.« »Nein, wirklich? Wie hast du das herausbekommen? « »Da wunderst du dich, was? Ja, ich habe einfach vom äußeren Burghof aus einen Bratpfannenstiel an den anderen gelegt, bis hinunter zur Rathaustür - und hinterher hat sie mein Hauslehrer zusammengezählt.« »Großartig!« sagte die Ötzmichlin beeindruckt. »Wärst du länger am Leben geblieben, sicher hätte man dich eines Tages
zu den berühmtesten Gelehrten der Welt gezählt.« »Das hätte gut sein können«, meinte Hanno bescheiden, wie er nun einmal war. »Um so bedauerlicher, daß mein einziger Sohn nichts davon geerbt zu haben scheint. Was kommt denn nun nach neununddreißig, sechzig oder siebzig? « »Vierzig, mein Gemahl.« »Bist du sicher? Das kommt mir so wenig vor.« »Es ist bestimmt vierzig.« »Bodo, Karl-Philipp undsoweiter«, rief Hanno zu seinem Sohn hinüber, »nach neununddreißig kommt vierzig!« »Ich weiß, Herr Vater, wir sind jetzt schon bei siebenundachtzig.« »Bei was? « »Ja, Herr Vater, und jetzt bei achtundachtzig.« Graf Hanno, der über der Schilderung seiner mathematischen Wunderkünste die Jungen ganz vergessen hatte, starrte sprachlos auf die ausgeräumten Packen und Bündel. »Achtundachtzig? « wiederholte er dann ungläubig. »Ja, Graf Hanno«, bestätigte Klaus, »und mit den beiden Koffern sind es neunzig.« »Und da sollen lauter Socken und Schuhe drin sein? Und die Jungen haben das alles allein gesammelt? « Klaus nickte. »Warum? Ich frage warrrrrrum? « Der alte Ötzmichel rollte die »rrr«s, daß es klang, als würde der Wind eines der kleinen Plastikwindräder zum Schnarren bringen. »Warrum haben sie sich diese Mühe gemacht? Was erwarrrten sie dafür? « »Ich verstehe Sie nicht«, sagte Klaus. »Ich habe Ihnen vorhin schon erklärt, daß die Jungen Ihrem Sohn helfen wollten. Nach Ihrer Antwort waren wir natürlich der Meinung, daß Sie mit der Hilfe einverstanden wären.« »So. Hm-hm. Rrrrrrch — potz!« Hanno war sichtlich verlegen, und weil das für ihn selbst höchst ungewohnt war, spuckte er erst einmal kräftig über Meisenbruch und Klöppel
hinweg auf den Boden. »Ihr wolltet also wirklich bloß meinem Sohn helfen? « fragte er noch immer voller Mißtrauen. »Ihr habt es nicht etwa wegen einer Belohnung getan, wiiiiiiie? « »Nein, nein, bestimmt nicht«, murmelten die Jungen, denen es bei diesen bohrenden Fragen immer unbehaglicher wurde. »Hm. Ts - ts - ts! Die Ötzmichelstädter helfen mir! Ihr seid doch echte Ötzmichelstädter, oder? « fragte er drohend. Die Jungen nickten verschüchtert. »Hermine-Luitgart, was sagst du dazu? Die Ötzmichelstädter helfen - und noch dazu völlig freiwillig! Das ist so selten wie ein Weltuntergang. Ich weiß gar nicht, was ich dazu sagen soll.« »Bedanke dich einfach«, riet ihm die Ötzmichlin leise. »Ach, Hanno, das ist der glücklichste Tag in meinem ganzen Gespensterleben! Du hast dich geirrt, siehst du es jetzt ein? Diese Menschen wollen uns helfen. Hanno, das muß dir doch zu Herzen gehen. Bitte Hanno, tu es! Bitte!« »Du meinst doch nicht etwa, ich soll den Schatz ...? « »Doch Hanno, das meine ich.« »Oh, nur nicht so hastig! Was über dreihundert Jahre geruht hat, hat keine Eile. Obwohl ich sagen muß, ts - ts, so etwas ...!« Klaus und die Jungen hatten begonnen, die Verschnürungen zu lösen. Ötzmicki und die Gräfin machten es nun doch so ähnlich, wie Jochen sich das vorgestellt hatte. Sie warfen die einzelnen Schuhe und Socken wild durcheinander. Aber in dem Augenblick, als die Dinge zu Boden fielen, ordneten sie sich wunderbarerweise von selbst wieder in die einzelnen Bündel hinein. Der Ötzmichlin machte es besonderen Spaß. »Hanno«, rief sie begeistert und hielt einen Pullover hoch, »sieh doch nur, welche reizenden Strickmuster es heutzutage gibt! Zwei rechts, zwei links, eine verschränkt abgehoben, zwei zusammengestrickt, oder doch nicht? Von euch kann nicht
zufällig einer stricken? « fragte sie hoffnungsvoll. Und als die Jungen bedauernd den Kopf schüttelten, sah sie sich das Gestrick noch einmal genauer an und zählte: »Zwei rechts, zwei links, eine verschränkt abgehoben, zwei zusammengestrickt ...«
Zehntes Kapitel: In dem Wachtmeister Valentin seinen Spürsinn beweist, der alte Ötzmichel einen Entschluß fast und Klöppel sich nach dem Gefängnis sehnt Nachdem die Jungen und die beiden unerwarteten »Helfer« abgefahren waren, zog Wachtmeister Valentin Jägers Garagentor ordentlich zu. »Hat gut geklappt«, murmelte er zufrieden und sah auf seine Uhr: »Zwei Minuten vor zwölf. Hoffentlich ist der vertrackte Gespensterfuß auch dabei! Am besten, ich warte, bis sie zurückkommen. Die Polizei muß schließlich informiert sein.« Er schlenderte zum Auto der beiden Föhrnrieder Herren hinüber. »Das ist ja gar keine Föhrnrieder Nummer«, stellte er verwundert fest, »sondern eine aus Hannover!« Er ging um das Auto herum, und als er auf der rechten Seite stand, blinkte ihm Ötzmickis »Pite, wo is« entgegen. »Das ist ja ganz was Neues!« entfuhr es dem Wachtmeister. »Die können gar nicht aus Föhrnried gekommen sein, diese Fußgeschichte gibt es nur bei uns in Ötzmichelstadt. Und wieso steht nur die Hälfte drauf? Ob der Rest vielleicht irgendwo auf der Straße weitergeschrieben worden ist? Und wenn das so ist, dann hat dieses Auto längere Zeit in Ötzmichelstadt gestanden - oder ich will nicht mehr Valentin heißen!« Herrn Valentin überkam ein unbehagliches Gefühl. »Sollte mir dieser Klöppel-Bär einen Bären aufgebunden haben? « grübelte er, als er mit schnellen Schritten stadteinwärts lief. Natürlich sah er an allen geparkten Autos Ötzmickis Bitte, aber überall war sie vollständig. Wie es der Zufall wollte, kam er ziemlich bald in die Webergasse, und da entdeckte er das fehlende »main Fuhs? Um schnelste Rückbringunk pitet: Bodo, Karl-Philipp, Franz, Traugott, Ludwig-Eberhard, Richard, Ottokar, Graf von Ötzmichelburg« auf dem Bürgersteig vor der Weberschule.
»Aha«, sagte Herr Valentin, »hier waren sie also. Aber warum? Was wollten die denn nachts vor einer leeren Schule? « Er sah sich um. Links war das kleine Schreibwarengeschäft, das seit einer Woche geschlossen war, und rechts lag ein Lagerschuppen. .Unwahrscheinlich, daß sie hier etwas zu tun hatten, überlegte der Wachtmeister, und sonst? Mit einemmal fiel sein Blick auf die Hintertür der Sparkasse, und nun überkam ihn nicht nur ein unbehagliches, sondern ein ausgesprochen böses Gefühl. Er hastete über die Straße, leuchtete mit der Taschenlampe das Schloß ab und wußte Bescheid. »Diese elenden Halunken!« knirschte er und überschüttete sich selbst mit Vorwürfen. »Vertreter in Herrensocken mit einem wichtigen Termin um Mitternacht! Und das habe ich ihnen glatt abgenommen! Ist ja kein Wunder, nach diesem Geisterzirkus hält man einfach alles für möglich. Sogar gedankt habe ich ihnen. Ich könnte mir ein Monogramm in den Bauch beißen!« Er stürzte ans Telefon, rief nacheinander seine Kollegen auf der Polizeiwache, die Station in Föhrnried und den Direktor Schäfer an. Es dauerte nicht lange, bis es in der Webergasse sehr laut wurde. Wagen kamen angebraust, Türen wurden zugeschlagen, Rufe tönten über die Straße. Wachtmeister Valentin drängte sich schließlich in ein Auto, in dem bereits drei Polizisten aus Föhrnried saßen. »In den Burghof, rasch!« sagte er. »In welchen Burghof? « »Zur Ötzmichelburg, zur Ruine! Ja, ja, oben in der Ruine sind sie«, erklärte er ungeduldig. »Ich weiß, es klingt verrückt, aber sie treffen sich dort mit drei Gespenstern!« Oben im Burghof hatte Meisenbruch sich dazu durchgerungen, etwas zu unternehmen. »Reiß dich zusammen!« murmelte er Klöppel zu. »Vielleicht haben wir
noch eine Chance. Nimm einen Socken und komm!« Sie trotteten ein Stück zum alten Ötzmichel hinüber. »Können Sie damit etwas anfangen, Herr Graf? « fragte Meisenbruch mit untertänigster Stimme und hielt ihm seinen rechten Schuh hin. Der alte Ötzmichel beäugte ihn aufmerksam. »Sieht ganz anders aus als die Socken zu meiner Zeit«, meinte er verwundert. »Verzeihung, Herr Graf. Das ist kein Socken, es ist ein Schuh. Einer der vielen, die wir in Föhrnried für Ihren Sohn gesammelt haben. Völlig uneigennützig natürlich.« »Scheinen sich auch geändert zu haben, die Föhrnrieder«, brummte Hanno. »Zu meinen Lebzeiten hatten es einmal zwei Föhrnrieder Bauern gewagt, mir ein Pferd zu stehlen. Man denke, mir, dem Grafen von Ötzmichelburg, hatten sie ein Pferd gestohlen! Ich habe sie sofort in den Turm werfen lassen - und wenn ich werfen sage, dann meine ich auch werfen. Dort sind sie dann verhungert. So und nicht anders muß man mit elenden Dieben umgehen, ich würde es heute nicht anders machen.« »Jjja, ja - ja, gewiß!« Meisenbruchs Gesicht war bleich geworden, und Klöppel krümmte sich, als hätte er schreckliche Leibschmerzen. »Nein, das ist nicht Graf Bodos Fuß«, stellte Hanno fest, und Meisenbruch war froh, daß er sich verdrücken konnte. »Vielleicht ist das der Fuß? « Klöppel zeigte angstbebend seinen eigenen Socken vor. »Nein«, sagte Hanno, »das ist er auch nicht.« So liefen die beiden insgesamt achtmal hin und her und hielten dem alten Ötzmichel ihre eigenen Socken und Schuhe hin. Natürlich war Ötzmickis Fuß nicht dabei, wie sollte er auch, aber das »Nein« von Graf Hanno tönte angesichts ihres Eifers immer milder.
Als Hanno auch noch sah, mit welcher Freude HermineLuitgart und Ötzmicki in den Bündeln wühlten und kramten, faßte er einen Entschluß. »Hermine-Luitgart, bitte! Bodo, KarlPhilipp, Franz, Traugott, Ludwig-Eberhard, Richard, Ottokar!« rief er. Als die Ötzmichlin sein »Bitte« und Ötzmicki seinen vollen Namen hörte, fühlten sie beide, daß nunmehr ein großer Augenblick in der Geschichte derer von Ötzmichelburg gekommen war, und glitten an seine Seite. »Gräfin HermineLuitgart, Graf Bodo, liebe Ötzmichelstädter, werte Herren aus Föhrnried!« begann der alte Ötzmichel seine bedeutungsvolle Rede. »Gerührt von der uns bewiesenen freiwilligen Hilfsbereitschaft, gebe ich hiermit bekannt und zu wissen, daß ich nunmehr entschlossen bin, den Schatz meiner Mutter, der seligen Gräfin Margarete, herauszugeben. Damit soll von jetzt an und für alle Zeiten der alte Zank und Hader begraben und vergessen sein, und eitel Friede soll herrschen zwischen uns und den Ötzmichelstädtern!« »Bravo, Papi!« schrie Ötzmicki begeistert und flog seinem Vater so heftig an den Hals, daß der mit beiden Händen seinen ins Wackeln geratenen Kopf festhalten mußte und dabei völlig überhörte, daß ihn sein Sohn nicht mit »Herr Vater« angesprochen hatte. Auch die Gräfin war von dieser Rede sehr angetan. »Hanno, mein teurer Gemahl«, sagte sie mit Andacht in der Stimme, »du bist fürwahr das edelste Gespenst, das der Vollmond je beschienen hat!« Klaus, die Jungen und auch Klöppel und Meisenbruch hatten gespannt zugehört. »Das ist sehr großzügig, Graf Hanno«, sagte Klaus, der sich als erster faßte, »aber ich weiß nicht, ob wir berechtigt sind -« »Ihr und nur ihr seid berechtigt, den Schatz entgegenzunehmen«, trompetete Hanno, »weil ihr mich überzeugt habt. Komm, mein Sohn, wir gehen jetzt zu dem Hügel, auf dem du immer das Unkraut herauszupfen mußtest. Grafin, meine
Herren, darf ich bitten? « Und Ötzmicki schritt voran wie ein Tambourmajor, nur daß er anstatt eines Stabes seinen Kopf in die Luft pfefferte, und dazu grölte er ein Lied, das ihm seine Mutter bereits vor dreihundertvierzig Jahren zu singen verboten hatte: »Die Schweden sind gekommen, haben alles mitgenommen. Haben Fenster eingeschlagen und das Blei davongetragen. Haben Kugeln draus gegossen und den Kaiser totgeschossen, buhull buhull - buhull!« »Das ist ein prima Kumpel!« rief Jochen begeistert, und Heinzi meinte schwärmerisch: »Den hätte ich gerne zum Freund gehabt. Schade, daß wir ihn erst als Gespenst kennengelernt haben!« Ötzmicki war zielstrebig bis zu dem kleinen Hügel vorangegangen. »An die Arbeit, mein Sohn«, dröhnte Hanno, »es ist nicht tief. Soweit ich mich erinnere, höchstens eine Pferdeschwanzlänge!« Dann begannen sie beide die Erde aufzubuddeln. Es ging so flink und leicht, daß sie schon nach wenigen Augenblicken ein Loch von über einem Meter Tiefe ausgehoben hatten. »Noch immer nichts? « Hannos Stirn verfinsterte sich. »Vielleicht war es ein besonders langer Pferdeschwanz, Herr Vater«, gab Ötzmicki zu bedenken. »Vielleicht«, nuschelte Hanno, »wollen sehen.« Und dann buddelten sie sich auf zwei Meter Tiefe hinunter. »Bodo, Karl-Philipp undsoweiter, solltest du dreihundertvierzig Jahre lang das falsche Unkraut gezupft haben? « »Ich - ich weiß nicht, Herr Vater«, sagte Ötzmicki unsicher. »Hanno«, mischte die Gräfin sich ein, »ich weiß bestimmt, daß dies der Hügel ist, den du ihm gezeigt hattest. Vielleicht hast du dich geirrt? «
»Ge - irrt? Damit du es nur weißt, Hermine-Luitgart, in meiner Familie ist Irren nicht üblich! Dann wird es eben dieser Hügel hier gewesen sein. Er muß es sein!« »Klöppel«, sagte der Reitergeneral leise, »jetzt ist es soweit, komm ...« »Bist du verrückt? « zischelte Klöppel. »Jetzt, wo wir an einem Schatz beteiligt werden sollen? « »Wenn du nicht kommst, gehe ich allein. Die spinnen doch, die finden nie etwas! Aber was wir haben, haben wir! Also, kommst du? « Die Gelegenheit war wirklich so günstig wie nie zuvor. Klaus und die Jungen standen um den alten Ötzmichel und seinen Sohn herum. Die Ötzmichlin hielt sich einen Pullover an die Wange und besah sich verträumt in ihrer Lieblingspfütze, um herauszufinden, ob ihr die Farbe gut zu Gesicht stünde oder nicht. Niemand merkte, daß sich die beiden zu ihren Koffern schlichen. Klöppel nahm seinen Leinenkoffer, und dann verzogen sie sich, barfuß, wie sie waren, nach hinten. »Doch nicht hier!« raunzte Meisenbruch, als Klöppel zum Burgtor hinauswollte. »Seitwärts und querfeldein, weiter hinten wird man auch noch irgendwo hinaus können.« Klöppel kam gehorsam zurück und ging Meisenbruch nach. Sie waren bereits ein gutes Stück vorangekommen, als Klöppel in eines der tückischen kleinen Löcher rutschte, die oben völlig mit Gras zugewachsen waren. »Au! Oh! Aauauauauau!« wimmerte Klöppel. »Was ist los? Schrei doch nicht so!« Meisenbruch blickte sich besorgt um, ob jemand auf dieses Wehgeschrei hin angerannt käme. »Ede, aua! Mein Fuß muß gebrochen sein.« »Zeig mal her! Mit dir hab' ich mir was Ordentliches auf den Hals geladen! Erst läßt du dich von dem dämlichen Polizisten beschwatzen, und dann kriegen wir es auch noch mit Gespenstern zu tun.« Er drehte den Fuß leicht hin und her.
»Autsch!« stöhnte Klöppel wehleidig. »Meinst du, daß er gebrochen ist? « »Quatsch, verrenkt vielleicht, aber nicht gebrochen. Und jetzt mach kein Theater, wir müssen weg!« Klöppel versuchte sich auf sein linkes Bein zu stellen und zuckte zusammen. »Es geht nicht«, sagte er verzagt und rieb sich den Schmutz vom Fuß. »Ede, du mußt mich tragen.« »Waaas? Du hältst mich wohl für ein Kamel? Mensch, meine Großmutter hätte sich nicht halb so zimperlich angestellt wie du, Los, binde dir was um den Fuß, mach schon!« »Ich habe aber doch nur noch den Pullover und die Hose«, jammerte Klöppel. »Schlimm genug, daß ich barfuß gehen muß, wenn ich jetzt, mitten in der Nacht, auch noch ohne Pullover laufen muß, erkälte ich mich.« Als Meisenbruch daraufhin eine Reihe schrecklicher Schimpfworte ausstieß, zog er sich schnell den Pullover aus, um seinen Komplizen nicht noch mehr zu reizen. »Das ist auch nicht das Richtige«, klagte er, »der Pullover ist zu dick. Genau unter der Fußsohle habe ich einen großen Knubbel. Damit könntest du auch nicht laufen. Ede, sag mir doch, was ich tun soll!« »Dann geh zurück und such dir was Passendes aus«, fauchte der Reitergeneral, »die haben doch genug.« »Nie! Niemals!« Klöppel schüttelte sich. Dann kam ihm eine Idee. »He, war da nicht ein Sparstrumpf? Warte mal, warte mal...« Er nestelte an seinem Koffer herum, fand Ötzmickis Fuß, leerte ihn aus und zog ihn sich über. »Sitzt! Damit probiere ich es. Ich will nur noch schnell meinen Pullover wieder anziehen - so.« Er schloß seinen Koffer sorgfältig zu und stand vorsichtig auf. »Ede, ich kann wieder stehen«, rief er erfreut. »Halt keine großen Reden, komm endlich!« Klöppel machte einen bedächtigen Schritt und wollte Meisenbruch nachgehen. Als er
jedoch seinen linken Fuß aufsetzte, riß es ihn rückwärts. »Ede«,rief er zunächst erstaunt und dann immer entsetzter, »Ede - Ede!« Er warf sich mit aller Kraft nach vorn, doch gegen Ötzmickis Rückwärtsfuß war er völlig machtlos. »Halt mich fest, Ede! Haaalt! Stop!« schrie er und war dabei schon mindestens zehn Meter von Meisenbruch entfernt. Der Reitergeneral war entgeistert stehengeblieben, als er sah, daß Klöppel wie von einer Schnur gezogen immer weiter rückwärts lief. Im ersten Schrecken glaubte er, daß der alte Ötzmichel ihn am Wickel habe, doch da war weder der Graf noch sonst jemand. .Jetzt ist er endgültig übergeschnappt«, murmelte er, »der Kerl ist ja noch viel blöder, als ich gedacht habe. Der bringt es fertig und rennt zur Polizei!« Voller Zorn sprang er Klöppel nach: »Bleib stehen! Laß mit dir reden, Klöppel! So warte doch!« Aber Felix Klöppel rannte, stolperte, verhedderte sich in einer Hecke, befreite sich und rannte weiter. Er stieß mit seinem Koffer an einen Mauervorsprung, man hörte ein kurzes »Krrrch«, und auf einmal hatte er bloß noch den Koffergriff in der Hand. Der Koffer selbst überschlug sich und knallte auf den Boden, wobei der Deckel aufsprang und einige Geldscheinbündel herausflogen. »Ede«, kreischte Klöppel verzweifelt, »mein Geld - heb mein Geld auf!« »Worauf du dich verlassen kannst!« knurrte Meisenbruch wütend. »Jetzt reicht es mir! Ich habe es ihm ja gleich gesagt, daß der Koffer nichts taugt. Soll er selbst sehen, wo er bleibt, der Spinner!« Damit stopfte er die herausgefallenen Geldscheine in den Koffer hinein und schob ihn tief ins Gebüsch. Und ohne sich weiter um Klöppel zu kümmern, ging er mit seinem eigenen Koffer in entgegengesetzter Richtung weiter. Klöppel war unterdessen rückwärts zum Burghof
hinausgewirbelt, genau zum Tor hinaus, wovor Meisenbruch ihn gewarnt hatte, und begann den Weg hinunterzulaufen. Auch er sah ständig über die Schulter zurück, und ihn packte ein neuer Schrecken, als von unten ein Auto heraufkam. »Achtung, Ede - Deckung!« rief er, aber der Reitergeneral war schon längst verschwunden und brauchte sich vor dem Polizeiauto nicht zu verstecken. »Was war das«, fragte einer der Föhrnrieder Polizisten, als Klöppel an ihnen vorbeigehuscht war, »ein Reh? « Wachtmeister Valentin blickte durch das Rückfenster: »Für ein Reh war das zu groß. Halten Sie an!« Im Lichtschein der Laterne vor Benzingers Garage sahen sie einen Augenblick lang deutlich die Gestalt eines Mannes. »Das war einer der Kerle, oder ich will nicht mehr Valentin heißen!« schnaubte der Wachtmeister. »Am besten, wir teilen uns!« Und während die beiden Föhrnrieder Polizisten in den Burghof fuhren, hasteten Wachtmeister Valentin und sein dritter Kollege wieder den Burgberg hinunter. Klöppel, der nicht wußte, wie ihm geschah, lief in der Zwischenzeit die Föhrnrieder Straße entlang und konnte nicht stehenbleiben. »Haaaalt!« keuchte er, und seine Verzweiflung ging so weit, daß er lauthals »Haltet den Dieb!« schrie. Aber, wie der Wachtmeister schon sagte, wenn die Ötzmichelstädter einmal schliefen, so schliefen sie - und so kam niemand, um ihn aufzuhalten, als er durch die Maximilian-Kunkel-Straße, den Fuhrmannsgraben, die Alte Postgasse und einmal halb um das Rathaus herumlief. »Irgend jemand oder irgend etwas muß mich doch bremsen können«, stammelte Klöppel. »Hilfe! Hiiilfe! Ede!« Doch kein Mensch war zu sehen, schon gar nicht der Reitergeneral, und der Wachtmeister Valentin und sein Kollege suchten ihn erst in der Böttchergasse, durch die er nicht gelaufen war. Vielleicht könnte Wasser mich aufhalten? überlegte Klöppel. Wo war der große Brunnen? Ja, am unteren Markt, da werfe ich mich
hinein! Er hielt sich mit beiden Händen seinen schmerzenden Hals, der vom ständigen Rückwärtsdrehen steif geworden war, und rieb ihn. Für einen kurzen Moment schloß er erschöpft die Augen, und dadurch passierte es. Ohne es zu bemerken, war er rückwärts an den Turm der Sankt Martinskirche gestoßen - und was jetzt geschah, war für ihn völlig unfaßbar. Ohne daß er sich dagegen wehren konnte, lief Ötzmickis Fuß mit ihm die Turmmauer hoch. Er zappelte und wand sich, aber es half alles nichts, und der Fuß lief höher und höher. Klöppel erinnerte sich plötzlich, gehört zu haben, der Kirchturm sei über sechzig Meter hoch, und nun brüllte er sich heiser. Die beiden Polizisten, die ihn jetzt in der Alten Postgasse suchten, hörten es. »Haben Sie das gehört? « Der Föhrnrieder Polizist war kurz stehengeblieben. »Das klang beinahe so, als würde einer aus dem Dachfenster schreien.« »Unsinn«, erklärte Herr Valentin schnaufend, »die Ötzmichelstädter schreien nachts nicht aus Dachfenstern. Die Föhrnrieder vielleicht, aber nicht die Ötzmichelstädter!« Und dann liefen sie weiter in Richtung Marktplatz. Klöppel näherte sich immer mehr der Kirchturmspitze. Gleich wird es aus sein, dachte er entsetzt, in fünf Minuten liege ich unten und habe mir sämtliche Knochen gebrochen. Ach, was würde ich darum geben, wenn ich jetzt im Gefängnis sitzen könnte! Meinetwegen nur bei Wasser und Brot. Ein ganz guter Mensch würde ich werden, und nie mehr, nie mehr in meinem Leben würde ich steh. Er stolperte - und plötzlich stand er still. Sein Herz klopfte wie rasend. »Was ist jetzt? « fragte er sich. Er blickte an sich herab und erkannte, daß er mit dem linken Fuß, über den er den vermeintlichen Sparstrumpf gezogen hatte, am Minutenzeiger der Kirchturmuhr hängengeblieben war. Und dieser Zeiger, an dem sich der Socken festgehakt hatte, stand auf einer Minute vor ein Uhr. Mit zittrigen Händen wischte er sich den Schweiß von der
Stirn. Ticken Kirchturmuhren eigentlich auch? schoß es ihm durch den Kopf. Wenn der Zeiger noch ein Stückchen weiterrückt und mein Fuß dadurch freikommt, werde ich entweder hinabfallen oder bis zur Spitze hinauflaufen müssen. Er lauschte mit angehaltenem Atem, doch er hörte kein Ticken, und auch, als seiner Meinung nach eine Minute längst vorbei war, hatte sich der Zeiger noch immer nicht von der Stelle gerührt. Die Uhr ist stehengeblieben. Wenn nur der Strumpf nicht reißt, vielleicht geht es noch gut aus! In diesem Augenblick sah er zwei Männer auf den Marktplatz kommen. »Hallo! Hilfe! Hilfe!« schrie er aus Leibeskräften. Der Wachtmeister blickte sich um. Er entdeckte niemanden, und alle Dachfenster waren dunkel und verschlossen. »Hier oben bin ich, auf der Kirchturmuhr! Hilfe!« Klöppel schwenkte sein Taschentuch. »Da! Da oben ist einer!« Der Föhrnrieder Polizist packte Herrn Valentin am Arm und zeigte aufgeregt zum Kirchturm hinauf. Von unten sah der senkrecht zur Wand stehende Klöppel aus wie ein herausragender Balken, den die Zimmerleute abzusägen vergessen hatten. »Wie kommt der die glatte Wand hoch? « Wachtmeister Valentin pfiff durch die Zähne: »So! Jetzt haben wir ihn. Endlich! « sagte er. »Wieso? « meinte sein Kollege. »Wir haben ihn doch noch nicht! Oder können Sie etwa auch hochsteigen und ihn dort oben festnehmen? « »Ach was, ich meine doch gar nicht den Kerl, sondern den Gespensterfuß! Jetzt brauchen wir die Feuerwehr, Krankenwagen und so weiter. Rufen Sie an, dalli - dalli!« Während sein Kollege davoneilte, legte Herr Valentin die Hände an den Mund und schrie zu Klöppel hinauf: »Bleiben Sie ruhig. Gleich kommt Hilfe. Haben Sie verstanden? « Klöppel erkannte den Wachtmeister, und wenn er gekonnt hätte, wäre er ihm vor lauter Freude um den Hals gefallen. So
wedelte er nur einmal kurz mit seinem Taschentuch zum Zeichen, daß er verstanden hatte. »Ich möchte bloß wissen, wie der zu Ötzmickis Fuß gekommen ist«, fragte sich der Wachtmeister. »Ob er den etwa auch geklaut hat? Ganz Ötzmichelstadt sucht ihn wie die Nadel im Heuhaufen, und der geht damit spazieren! Schade, daß es keine besonders harte Strafe für das Stehlen von Gespensterfüßen gibt.« Kurz darauf heulte die Feuerwehrsirene durch das nächtliche Ötzmichelstadt. Ein Krankenwagen mit Martinshorn und Blaulicht und mehrere Autos und Motorräder der Polizei hielten an der Sankt-Martins-Kirche. Nun wurden die Ötzmichelstädter doch noch wach. Rolläden wurden hochgezogen, Fensterläden aufgestoßen, überall erschienen Menschen in Türen, Fenstern und auf den Balkonen. Natürlich war auch Feuerwehrhauptmann Stuffer zur Stelle. »Zum Donner! Schon wieder einer auf der Mauer? Haben wir in Ötzmichelstadt etwa eine ansteckende Mauerkletterkrankheit?« fragte er. Der Wachtmeister sah ihn vielsagend an: »Es hängt mit dem verschwundenen Fuß zusammen«, antwortete er leise, »Sie wissen doch, Graf Bodo ...« »Soll das heißen, daß Graf Bodo dort oben herumturnt und seinen Fuß auf der Kirchturmuhr sucht? « »Aber nein! Der da oben ist wahrscheinlich ein Einbrecher, der heute nacht unsere Sparkasse ausgeraubt hat. Und wenn mich nicht alles täuscht, hat er den Fuß von Graf Bodo an.« »Hören Sie mal, zum Donner«, sagte der Hauptmann gereizt, »Ihre komischen Witzchen können Sie mir ein andermal erzählen. Hier ist ein Mensch in äußerster Lebensgefahr, und Sie machen sich über ihn lustig. Also wissen Sie ...!« Er brüllte seine Kommandos über den Marktplatz, und Wachtmeister Valentin, der es achselzuckend aufgab, ihm die Sache
klarzumachen, sorgte dafür, daß die Feuerwehr ungehindert arbeiten konnte. Mehrere Feuerwehrleute entrollten ein riesiges Sprungtuch, stellten sich am Kirchturm auf und hielten es straff gespannt. Einige Polizisten kletterten auf das Rathausdach gegenüber und stellten einen starken Scheinwerfer auf, dessen Lichtstrahl Klöppel erfaßte und ihn für alle sichtbar machte. Hauptmann Stuffer stieg mit zweien seiner Leute die insgesamt 286 Stufen im Inneren des Kirchturmes hoch, bis zum letzten Fenster schräg unterhalb der Uhr, und beugte sich hinaus. »Hier ist der Feuerwehrhauptmann Stuffer«, sagte er mit ruhiger, freundlicher Stimme, »hören Sie mich? « »Ja, ja, ich höre Sie. Bitte, helfen Sie mir!« »Können Sie auf dem gleichen Weg, auf dem Sie hinaufgekommen sind, wieder herunter? « »Nein!« jammerte Klöppel. »Ich kann weder vorwärts noch rückwärts. Ich bin mit dem Strumpf am Minutenzeiger hängengeblieben. So helfen Sie mir doch!« »Ich werfe Ihnen jetzt ein Seil hinauf. Binden Sie es sich fest um den Bauch«, sagte der Hauptmann. »Bleiben Sie ganz ruhig. Wir versuchen alles, um Ihnen zu helfen.« Klöppel erwischte das Seil, schlang es sich um den Leib und machte einen Knoten, von dem er annahm, daß er bis in alle Ewigkeit halten würde. »Geben Sie mir bitte eine Schere«, bat er, »damit ich den Strumpf aufschneiden kann.« Einer der Feuerwehrleute holte aus den ,Vier Mohren' eine ganze Scherensammlung. »Wachtmeister Valentin läßt Ihnen sagen, daß Sie den Socken auf keinen Fall ausziehen dürfen«, rief er zu Klöppel hinauf. Die Feuerwehrleute banden die Scheren an ein Seil und warfen sie Klöppel zu. Er versuchte es mit einer Haushaltsschere, einer Schneiderschere, einer Nagelschere, einer Hautschere, einer Knopflochschere und einer großen Papierschere. Doch es war umsonst, Ötzmickis Fuß war damit
nicht beizukommen. »Achtung«, rief Herr Stuffer, »ich werfe Ihnen eine Säge zu, versuchen Sie den Zeiger abzusägen!« »Und Wachtmeister Valentin läßt Ihnen sagen, daß Sie sich dabei unbedingt mit dem Rücken nach unten drehen sollen«, fügte der andere Feuerwehrmann hinzu. Der Hauptmann ärgerte sich, weil er die seltsamen Ratschläge nicht verstand. »Will sich bloß wichtig machen«, murrte er. Klöppel verstand sie zwar auch nicht, aber er drehte sich um, so daß er die Kirchturmspitze vor sich und das Ötzmichelstädter Marktplatzpflaster weit unter sich im Rücken hatte. Ötzmickis Fuß wurde dabei ganz schön verzogen. Dann setzte er die Säge an. »Klappt es? « wollte der Hauptmann wissen. »Es sieht fast so aus«, antwortete Klöppel, »einen Moment noch!« Die Menschen auf dem Marktplatz warteten schweigend. Die Feuerwehrleute, die das Sprungtuch gefaßt hielten, packten noch ein bißchen fester zu. Nur der Wachtmeister Valentin knirschte: »Komm nur runter! Und wenn du später wieder mal Lust bekommst, auf einen Kirchturm zu klettern, dann wirst du es auf deinen eigenen zwei Füßen tun müssen, dafür werde ich sorgen!« Plötzlich war Klöppel durch. »Klack!« machte die Säge, als sie mit der Spitze auf das Zifferblatt stieß. »Ich hab's!« schrie Klöppel glücklich, »was soll ich jetzt - ? « Ganz egal, was der Hauptmann gesagt hätte, jede Anordnung wäre zu spät gekommen, weil die Ereignisse sich überstürzten. Ötzmickis Fuß, der nun zwar mit einer Kirchturmuhrzeigerspitze verziert, sonst aber endlich frei war, raste natürlich prompt wieder rückwärts los, und Klöppel raste notgedrungen mit. Die Ötzmichelstädter schrien auf, die beiden Sanitäter hoben ihre Tragbahre hoch, und der Feuerwehrhauptmann Stuffer krampfte seine Hände um das Seil, das sich Klöppel
umgebunden hatte. Es mochte ja sein, daß er etwas von Alarmanlagen verstand - vom Seilknoten, das zeigte sich nun, verstand er jedenfalls nichts. Der Knoten, von dem er gemeint hatte, daß er für Zeit und Ewigkeit halten würde, löste sich einfach auf, und Klöppel rannte mit verstärkter Geschwindigkeit dem Marktplatz zu. »Ich hab's geahnt«, sagte Herr Valentin, »ach was, ich hab's gewußt! Her mit dem Fuß!« schrie er und eilte zum Sprungtuch hinüber. Doch Klöppel, der auch gar nicht verstanden hätte, was der Wachtmeister eigentlich meinte, stieg mit einem Satz von der Kirchturmwand auf das Sprungtuch, prallte ein paarmal hoch wie auf einem Trampolin und sprang dann mit einem Riesenhopser über die Köpfe der Feuerwehrleute hinweg auf die Straße. »Stehenbleiben«, tobte der Wachtmeister, »stehenbleiben!« Aber das war leichter gesagt als getan. Schließlich konnte keiner, der einen Gespensterfuß anhatte, einfach und so mir nichts, dir nichts stehenbleiben, nicht einmal auf polizeilichen Befehl. Und so begann die Rückwärtslauferei erneut. Klöppel starrte wieder über seine hochgezogene Schulter nach hinten. »Bloß nicht mehr irgendwo anstoßen«, wimmerte er, »noch einmal auf eine Mauer, das überlebe ich nicht!« Und dann bog er in die Alte Postgasse ein, von dort in den Fuhrmannsgraben, in die Maximilian-Kunkel-Straße und in die Föhrnrieder Straße. Als er Benzingers Haus sah, wußte er wieder, wo er war. Dort war der Weg zur Burg, und dort oben wartete sicher auch der Reitergeneral mit dem vielen Geld. ,Das hatte ich schon total vergessen', dachte er. »Ede!« rief er, als er den Weg hinaufkeuchte, »Ede, wo bist du? « Er gab sich nicht die geringste Mühe, leise zu sein, sondern lief geradewegs in den Burghof hinein.
Elftes Kapitel: In dem Graf Hanno zwar nicht den alten, dafür aber einen neuen Schatz findet, die Gräfin in einen Pulloverärmel schluchzt und Ötzmicki seinen Fuß wiederbekommt Gehen wir noch einmal zurück bis zu dem Zeitpunkt, da der Wachtmeister Valentin mit seinem Kollegen hinter Klöppel herrannte und das Polizeiauto mit aufheulendem Motor in den Burghof fuhr. Als der Wagen hielt, schmiegte sich Ötzmicki eng an seine Mutter. »Aber, aber Bodochen«, tadelte sie ihn liebevoll, »du darfst nicht so hasenherzig sein. Vater würde das nicht gerne sehen!« Graf Hanno war natürlich in keinster Weise verängstigt, eher im Gegenteil. Er bekam einen mittleren Wutanfall. »Keinen Schritt weiter!« herrschte er die beiden Polizisten an, die ihn wortlos anstarrten und genau das Gesicht machten, das man eben macht, wenn man einen Geist erblickt. »Keinen Schritt weiter! Wer hat Euch erlaubt, mit dieser stinkenden Kutsche in meinen Burghof zu fahren? Hier bin immer noch ich der Herr! Ich, Graf Hanno von Ötzmichelburg! Soll ich Euch verraten, was ich früher mit ungebetenen Gästen gemacht habe? Naaa? « »Verzeihung, Graf Hanno«, sagte Klaus schnell, bevor der alte Ötzmichel wieder eine ellenlange Beschreibung seiner früheren Heldentaten vom Stapel lassen konnte. »Diese beiden Herren sind von der Polizei und haben sicher einen Grund hierherzukommen. Polizei, verstehen Sie? Sie sorgen dafür, daß Recht und Ordnung herrschen, Verbrecher festgenommen werden und so weiter. Bitte, warten Sie einen Augenblick!« Er zog die beiden rasch zur Seite. »Was ist los? « »Wachtmeister Melzer und Wachtmeister Schneider aus Föhrnried«, sagte der eine. »Heute nacht wurde die
Ötzmichelstädter Sparkasse ausgeraubt. Der Kollege Valentin vermutet, daß es die beiden Männer waren, die er zu Ihnen ins Auto gesetzt hat. Einer lief vorhin zur Stadt hinunter und wird bereits verfolgt. Der andere ist möglicherweise noch hier in der Nähe. Haben Sie ihn gesehen? « »Einbrecher? Die zwei sollen Einbrecher sein? Das ist doch nicht zu fassen!« Klaus war wie vor den Kopf geschlagen. Zum Grafen sagte er: »Die beiden Männer aus Föhrnried, die mit uns waren, sollen Diebe sein ...« »Haaaa!« Hannos Kopf schoß hoch wie der Korken einer geschüttelten Sektflasche. »Haaa! Das ist für mich nichts Neues! Die Föhrnrieder waren schon immer Diebe. Gemeines, unehrliches Gesindel!« »Erlauben Sie mal«, sagte Wachtmeister Schneider mutig, »das ist eine sehr unsachliche und ungerechte Behauptung. Das ist geradezu eine Verleumdung, wir sind schließlich auch aus Föhrnried.« Wäre die Gräfin jetzt nicht gewesen, sicher wäre nach diesem unbedachten Geständnis mit dem alten Ötzmichel etwas Furchtbares passiert. Vielleicht hätte er sich in der Luft zerfetzt oder wäre in seiner Wut, wie seinerzeit Rumpelstilzchen, kerzengerade in den Boden gefahren. So aber trat sie, die den alten Wüterich immerhin schon seit gut dreihundertfünfundfünfzig Jahren kannte, schnell hinter ihn, faßte zart an seine Ohren und hielt seinen Kopf fest. »Bitte, Hanno, mäßige dich! Gib unserem Sohn kein schlechtes Beispiel. Denke lieber an deinen Großonkel väterlicherseits, an Wenzel den Gutartigen. Sein ganzes Leben lang hat er sich kein einziges Mal ereifert!« »Hermine-Luitgart, laß sofort meine Ohren los!« fauchte Hanno. »Merke dir endlich, daß dieser Urahn nicht Wenzel hieß, sondern Ladislaus. Und außerdem war er gar nicht gutartig, sondern ziemlich ekelhaft. Seine liebe Gemahlin hat
er oft und oft verhauen, weil sie ihn ständig an den Ohren gezogen hat!« »Was steht ihr noch herum und gafft? « fuhr er dann die Polizisten an. »Sucht die Diebe, verschwindet! Geht mir aus den Augen! Seht - seht - seht!« Das taten sie dann auch, nachdem Klaus ihnen eine genaue Beschreibung der beiden Herren gegeben hatte. »Weit können sie noch nicht sein«, meinte er. Dem alten Ötzmichel fiel plötzlich etwas auf. »Wie spät ist es? « fragte er. »Nach meinem Gefühl müßte es schon ein Uhr sein.« Klaus sah auf seine Uhr. »Drei Minuten nach eins!« sagte er verblüfft. »Ich dachte, die Geisterstunde dauert nur bis eins? « »Allerdings«, bestätigte Hanno. »Die Uhr von Sankt Martin hat nicht geschlagen. Bodo, Karl-Philipp undsoweiter, was steht im ersten Gesetz, Artikel neun, Absatz fünfzehn? « »Erstes Gesetz, Artikel neun, Absatz fünfzehn? « Ötzmicki überlegte. »Ach, wenn die Uhr von Sankt Martin kaputt ist, dürfen wir bleiben, bis der Mond blasser wird. Stimmt's? « »Gut, mein Sohn«, sagte der alte Ötzmichel befriedigt. »Die Uhr ist aus mir bisher unbekannten Gründen ausgefallen. Wir können daher unsere Suche in aller Ruhe fortsetzen.« »Juhuuu!« Ötzmicki freute sich. »Dann können wir vielleicht doch noch Fußball spielen!« Auch die Gräfin war mit der verlängerten Geisterstunde durchaus einverstanden. »Wie angenehm«, säuselte sie, »dann habe ich ja Zeit genug, um all diese entzückenden Strickmuster genau zu studieren.« »Aber Hermine-Luitgart, ich bitte dich!« rügte sie der Graf. »Das ist doch wirklich völlig nebensächlich. Zuerst und zuallererst kommt die Pflicht! Wir wollen nun endlich mit der Suche fortfahren!« Er war von dem Gedanken, den Schatz seiner Mutter zu
finden, so besessen, daß er gar nicht mehr an Ötzmickis Fuß zu denken schien. Ein Teil des Burghofes sah bald so aus wie ein riesiger Schweizer Käse. »Seit damals hat sich viel verändert«, tröstete ihn die Gräfin, »vielleicht versuchst du es im äußeren Burghof? « Hanno knurrte etwas, machte einen betont großen Bogen um das Polizeiauto und begab sich in den äußeren Burghof, um dort seine pferdeschwanztiefen Löcher zu bohren. »Schrecklich, wie verkommen alles ist!« murrte er verdrossen. »HermineLuitgart, weißt du noch, was hier war? « »Natürlich, mein Lieber. Hier befand sich unser Gemüsegarten. Hier wuchs der Kohl, den du immer so gerne gegessen hast. Erinnerst du dich? Kohl mit Schweinebauch, das war dein Lieblingsgericht.« »Schöner Kohl!« schimpfte Hanno ergrimmt und riß einen kräftigen Schlehenbusch mitsamt den Wurzeln aus. »Was wächst denn da? « brummte er verwundert und zog etwas heraus, das unter dem Busch gelegen hatte. »Ein Koffer!« riefen die Jungen. »Klar, das ist einer der Koffer, den die zwei Männer mithatten«, sagte Thomas aufgeregt, »sie haben ihn unter dem Strauch versteckt.« Klaus zog den Koffer ganz heraus. »Der Griff ist abgerissen«, stellte er fest, »er ist überhaupt nicht zu!« Er klappte den Deckel zurück. »Du meine Güte!« »Geld! Ein ganzer Koffer voll Geld!« stieß Jochen erschrocken hervor. »Das müssen Zigtausende sein«, schätzte Heinzi, »baaaaaah!« Der alte Ötzmichel verstand überhaupt nichts. »Was sind das für Papierschnitzel? « fragte er. »Ist das ein Kinderspiel? « »Nein«, erklärte Klaus, »das ist Geld. Ich weiß, in Ihrem Jahrhundert gab es noch kein Papiergeld. Aber das hier -«, er deutete auf den Koffer, »das ist auch ein kleiner Schatz.« »Ph«, machte der alte Ützmichel geringschätzig, »bei uns
sahen Schätze anders aus. Taler hatten wir, groß wie Ochsenaugen! Da hatte man was im Beutel! Und wenn einer reich war und sein Geld im Gürtel mit sich herumtrug, dann zogen die schweren Taler den Beutel bis in die Kniekehlen. Wenn ich nur endlich den Schatz meiner seligen Mutter wiederfinden würde, dann könnte ich euch zeigen, wie ein richtiger Schatz auszusehen hat. Auch der stärkste Kerl könnte den nicht vom Tisch pusten. Aber das da - ph - soll ich hineinblasen? « »Nein, nein, bitte nicht!« Klaus schloß schnell den Deckel. »Wir müssen ihn den beiden Polizisten übergeben.« »Ich verstehe nicht, warum die Diebe ohne den Koffer weggelaufen sind«, sagte Florian. »Vielleicht ist der andere Koffer auch noch irgendwo«, meinte Thomas, »wir sollten suchen.« »Davon rede ich ja die ganze Zeit«, brummte Hanno ungehalten, »suchen müssen wir! Bodo, Karl-Philipp undsoweiter, komm und hilf mir. Ich jäte und du gräbst.« Hanno der Wüterich verlegte sich ab sofort auf das Sträucherausreißen. Er faßte mit jeder Hand zwei Büsche, und ruck-zuck war die Stelle kahlgerupft und Ötzmicki konnte ein weiteres Loch buddeln. Sie waren beide unerhört fleißig und so schnell, daß die Jungen kaum mit dem Zählen der Suchlöcher nachkamen. Aber gefunden wurde nichts. Der zweite Koffer nicht und auch nicht der Schatz der Gräfin Margarete. »Hermine-Luitgart«, sagte der alte Ötzmichel ratlos, »langsam weiß ich nicht mehr, wo ich noch nachschauen soll. Im Burghof ist nichts, dort, wo die Rosenbeete waren, ist nichts, und unter den Stallungen ist auch nichts. Es ist wie verhext! Ich hätte schwören können, daß er im Burghof ist... Ha! Hahaaa! Natürlich! Die beiden Diebe, die beiden Diebe haben mir meinen Schatz gestohlen! Begreifst du? Sie haben meinen echten Schatz gefunden und dafür diesen wertlosen Papierplunder liegengelassen. Krötenbiß und Bluterguß, da
könnte ich ja bis zum Sankt-Nimmerleins-Tag suchen! Wenn ich diese Spitzbuben erwische, werfe ich sie eigenhändig in den Turm. Das soll endgültig das allerletzte Mal sein, daß Föhrnrieder es wagen, sich an meinem Eigentum zu vergreifen!« Hanno der Wüterich raste, bebte vor Zorn und war seiner Sache völlig sicher. »Bodo, Karl-Philipp undsoweiter«, rief er Ötzmicki zu, »jetzt suchen wir zunächst einmal die Diebe. Sei tapfer, mein Sohn, das ist eine Sache für Männer! Und meine Rache wird furchtbar sein!« Heinzi wurde es himmelangst. Zwar empfand er für Diebe keine besondere Zuneigung, aber war es denn schon hundertprozentig erwiesen, daß sie wirklich das Geld gestohlen hatten? Und der Graf schien in seinem Zorn zu allem fähig zu sein. »Ötzmicki«, flüsterte er hastig, »Ötzmicki, kannst du pfeifen? « »Wie pfeifen? Meinst du auf zwei Fingern, auf drei oder ohne?« »Egal, ganz egal. Aber pfeife! Bitte, so laut du nur kannst!« Ötzmicki ließ sich nicht bitten. Er pfiff, lang, anhaltend und sehr schaurig. Sicher war er der beste Gespensterpfeifer der Welt. Wieder fielen Steine in den Burghof, und die Mauer wurde wieder etwas niedriger. »Laß jetzt den Unsinn!« herrschte sein Vater ihn an. »Benimm dich endlich wie ein Mann, genauer gesagt, wie ein echter Ötzmichel!« Doch das, was Heinzi sich erhofft hatte, trat ein. Die beiden Polizisten hörten den Pfiff und kamen herbeigeeilt. Klaus hatte ihnen gerade den Koffer übergeben, als Hanno, der die letzten Schritte in der Luft watend zurückgelegt hatte, etwas entdeckte. Mit einem heiseren Schrei und wie ein ausgehungerter Habicht, der endlich Beute gesichtet hat, stieß er auf ein Gebüsch hinab und zerrte den sich heftig sträubenden Meisenbruch am Kragen heraus. »Du elender Dieb!« brüllte Hanno und schüttelte ihn wie einen Pflaumenbaum zur Erntezeit. »Wo ist der Schatz der
Gräfin Margarete? Sprich, sonst tauche ich dich eigenhändig in siedendes Pech!« Jetzt wurde es sogar Meisenbruch zuviel. »Hilfe!« rief er, »Hilfe, Polizei!« Und die war zu seinem Glück schon da. »Moment mal!« sagte Wachtmeister Schneider kurz entschlossen und riß Meisenbruch vom rasenden Ötzmichel fort. Aber so schnell gibt ein echter Ötzmichel natürlich nicht auf. Meisenbruch schien plötzlich von einem gewaltigen Sturm erfaßt zu werden, der ihn unbarmherzig durchbeutelte. Seine Jacken- und Hosentaschen stülpten sich von selbst nach außen, die Haare standen ihm zu Berge, und sein Kopf flog von einer Seite zur anderen, als würde eine unsichtbare Hand Ohrfeigen austeilen. Die beiden Polizisten hielten den schwankenden Meisenbruch fest. »Schluß«, sagten sie, »sofort aufhören!« und sahen Graf Hanno dabei mißbilligend an. Doch Hanno stand nur da, hielt seine Hände auf dem Rücken verschränkt und schien mit dem Ganzen nicht das geringste zu tun zu haben. »Hanno«, wisperte die Gräfin und zupfte ihn am Ärmel, »hör' auf damit. Du siehst doch, daß er nichts hat. Bitte, Hanno!« »Das sehe ich auch, daß er in den Taschen nichts hat. Aber vielleicht ist dort in seinem Schlupfwinkel etwas zurückgeblieben? « Er schoß noch einmal auf das Gebüsch zu, und Wachtmeister Melzer beeilte sich, hinter ihm herzulaufen. »Und was ist das hier? « schrie Hanno fuchsteufelswild und zeigte triumphierend Meisenbruchs Koffer. Er schmiß ihn dem Reitergeneral vor die Füße: »Aufmachen! Los, los!« Meisenbruch schlotterte am ganzen Leib. Er bückte sich und schloß seinen Koffer auf. Als wäre ein Wirbelwind hineingefahren, flogen ihm die Geldscheine um den Kopf, so lange, bis der Koffer völlig leer war und jeder sehen konnte, daß er nichts anderes enthielt.
»Jetzt ist aber endgültig Schluß!« sagte Wachtmeister Schneider aufgebracht. »Graf Hanno, so geht das nicht! Herr Jäger, erklären Sie ihm, daß man mit Geld anders umzugehen hat.« Die Ötzmichlin war anscheinend auch dieser Meinung, und die Polizisten sahen verwundert, daß sich die Geldscheine von selbst wieder in den Koffer ordneten und der Deckel - wie von Geisterhand geschlossen - zuklappte. Für Meisenbruch war das das letzte, was er sah. »Ohhhh«, stöhnte er, und dann sank er ohnmächtig zu Boden. »Hanno«, rief die Gräfin mitleidig, »du warst zu grob mit ihm. Er hat den Schatz ja gar nicht. Weißt du, ob wir noch Riechsalz haben? « Hanno schnaufte vor Erregung und gab keine Antwort. In der nachfolgenden Stille hörte man zweierlei. Das eine war das kurze »Klack«, das entstand, als Wachtmeister Schneider dem Reitergeneral Handschellen anlegte, und das andere war ein noch undeutlich zu vernehmendes Rufen, das rasch näher kam. »Ede! Ede, wo bist du? « »Alles zurücktreten«, ordnete Wachtmeister Melzer an, »schnell hinter das Gebüsch und absolute Stille!« Klaus und die Jungen liefen hinter die Sträucher, und die gräfliche Familie nahm in der Fichte Platz. Natürlich war das Polizeiauto in der Eile nicht mehr wegzuschaffen, da aber der Mond gerade dabei war, sich hinter eine dicke Wolke zu verziehen, würde es Klöppel nicht gleich entdecken können. Es war unheimlich ruhig, als er in den Burghof rannte. »Ede, halt mich an«, keuchte er, »Ede, ich kann nicht mehr!« In diesem Moment kam der Mond wieder zum Vorschein, und sein Licht erhellte den Burghof. Als die Jungen den rückwärts laufenden Klöppel sahen, tobten sie wie die Wilden. Und bevor noch die Polizisten es hätten verhindern können, stürzten sie aus ihrem Versteck heraus. »Der Fuß!« - »Der Fuß!« - »Der Rückwärtsfuß!« Von der anderen Seite des Burghofs erscholl ein noch größeres Gebrüll. Wie Blitze schossen der alte Ötzmichel und Ötzmicki aus der Fichte auf den geplagten
Klöppel zu und drückten ihn zu Boden. Als der sich plötzlich von den beiden Gespenstern bedrängt sah und glaubte, daß er nun für seinen Diebstahl in den dicken Turm geworfen werden sollte, stieß er einen abgrundtiefen Seufzer aus und fiel ebenfalls in Ohnmacht. »Na, so was!« sagte Wachtmeister Melzer kopfschüttelnd und legte auch Klöppel Handschellen an. »Gespenster als Hilfspolizisten wären gar nicht so übel.« Ötzmicki hatte Klöppel im Handumdrehen seinen Fuß abgenommen. Er juchzte vor Freude, und Florian und seine Freunde strahlten über das ganze Gesicht. Selbst dem alten Ötzmichel schien ein Stein vom Herzen gefallen zu sein. »Sehr erfreulich«, sagte er immer wieder, »sehr erfreulich, in der Tat!« Und Hermine-Luitgart, die sich einen giftgrünen Pullover um die Schultern drapiert hatte, schluchzte so laut und ungeniert in einen der Ärmel hinein, daß Hanno sich veranlaßt sah, sie an die unvergleichlichen Vorfahren zu erinnern: »Hermine-Luitgart, die Frauen meiner Familie heulen nicht so laut! Was sollen sich denn die Fledermäuse denken!« »Wollen wir jetzt endlich Fußball spielen? « fragte Ötzmicki, der noch immer mit seinem Rückwärtsfuß herumjonglierte. »Willst du denn nicht erst probieren, ob er noch in Ordnung ist? « fragte Heinzi. »Kann ich machen.« Ötzmicki bückte sich und schob seinen Fuß unter das lang herabfallende Hemd. »Na? Lauf doch mal!« forderte Thomas ihn auf. Und Ötzmicki lief. Er lief wie ein Schlittschuhläufer. Mal streckte er sein rechtes Bein waagrecht nach hinten, mal nach vorn, und die Jungen sahen ihm hingerissen zu. Um ein Haar hätte er den Wachtmeister Valentin, Bürgermeister Daubrich, Herrn Krug, den Feuerwehrhauptmann Stuffer, Herrn Köchl und all die anderen Ötzmichelstädter umgefahren, die Klöppel nachgerannt waren und jetzt unaufhaltsam in den Burghof drängten. Mit ungläubigem Staunen starrten sie auf die Ötzmichels.
Doch Ötzmicki hatte sich inzwischen schon wieder an die Menschen gewöhnt, und er zog weiterhin seine eleganten Schleifen und engen Kreise um das Polizeiauto herum. Als die Gräfin den massenhaften Besuch bemerkte, hörte sie selbstverständlich sofort auf zu weinen. Es war, als hätte sie den Tränenhahn zugedreht. Dann drückte sie ihre zerzausten Schneckerllocken fest und nahm eine anmutige Haltung ein. Auch der alte Ötzmichel nickte wohlwollend und grüßte recht huldvoll mit leicht erhobener Hand. »Jetzt bin ich genug gelaufen«, rief Ötzmicki, »jetzt möchte ich zur Abwechslung auch mal fahren!« Er stieg einfach in die Luft, winkte den Freunden zu und ließ sich dann fallen — genau durch das Dach hindurch ins Polizeiauto. Alle erwarteten, daß er sich nun wie ein echter Junge ans Steuer setzen oder auf die Pedale treten würde, doch es geschah etwas ganz anderes. Wahrscheinlich hatte er sich in seinem Übermut zu schnell fallen lassen, denn er sank auch noch durch den Autoboden durch und blieb bis zur Hüfte in der Erde stecken. Lediglich sein schimmrigweißer Haarschopf war noch durch das Fenster zu sehen. Im nächsten Augenblick schoß er wieder heraus und ruderte aufgeregt mit den Armen. »Herr Vater! Herr Vater, der Hügel!« »Was? « rief Hanno. »Wo? « »Hier! Genau hier!« Ötzmicki deutete auf das Polizeiauto. »Da? Donnerblitz und Feuersbrunst!« Der alte Ötzmichel machte eine ungeduldige Handbewegung, als wollte er eine lästige Fliege verscheuchen, und schon rollte das Auto einige Meter weiter. »Was um alles in der Welt machen sie da? « fragte der Bürgermeister den neben ihm stehenden Herrn Köchl, als er sah, daß der alte Ötzmichel und sein Sohn den Boden aufwühlten. »Keine Ahnung«, antwortete der Ötzmichelstädter Heimatpfleger. »Herr Bürgermeister, Sie müssen mir helfen, damit ich nachher ein paar Minuten mit dem Grafen sprechen
kann. Es ist so ungemein wichtig!« »Wir haben ihn!« schmetterte Hanno, und den Ötzmichelstädtern, die an seine Lautstärke noch nicht gewöhnt waren, ging es durch Mark und Bein. »Wir haben ihn! Juhuuuu! Bu-hull! Bu-hull!« Ötzmicki war vor Freude außer Rand und Band, als sein Vater den dunklen Kasten aus der Erde hob. Der alte Ötzmichel setzte die Schatztruhe behutsam ab, richtete sich zu seiner vollen Größe auf und wartete dann, bis sich alles Gemurmel gelegt hatte. »Bürger von Ötzmichelstadt!« sagte er feierlich. »Wir haben den Fuß meines Sohnes wieder. Aus Dankbarkeit für die freiwillige Hilfe dieser vier Jungen und als Zeichen der Versöhnung gebe ich euch nunmehr den Schatz meiner Mutter. Nur diese vier Jungen - und ich rufe alle Anwesenden zu Zeugen auf - nur diese vier Jungen sollen bestimmen, was mit dem Schatz geschehen ...« Hanno der Wüterich brachte seinen Satz nicht mehr zu Ende. Ötzmicki erfuhr nichts mehr vom Fußballspielen, und Herr Köchl konnte keine einzige seiner wichtigen Fragen stellen. Urplötzlich, von einem Moment zum anderen, waren die Ötzmichels verschwunden. Nur dort, wo die Gräfin gesessen war, lag noch der giftgrüne Pullover mit dem naßgeweinten Ärmel. Die Jungen blickten zum Himmel. Der Mond war durchsichtig blaß geworden, und am Horizont zog der neue Tag herauf. Während alle anderen noch laut durcheinanderriefen und sich fragten, was geschehen sei, sahen sich die Freunde stumm und traurig an. Noch nie - noch nie war ihnen ein Abschied so schwer geworden. Die Ötzmichelstädter, und ganz besonders Florian und seine Freunde, brauchten einige Wochen, um über alle Aufregungen hinwegzukommen. Der Schatz der Gräfin Margarete wurde für eine beträchtliche Summe an ein großes Museum verkauft.
Die Jungen berieten tagelang, was mit dem Geld am besten anzufangen wäre. Zuerst dachten sie an Dinge wie beispielsweise ein Hallenbad, ein Eislaufstadion oder eine elektrische Eisenbahn für jeden Jungen in Ötzmichelstadt. Aber nie waren alle vier mit einem Plan einverstanden. Erst am Schluß der Ferien wurden sie sich einig, und sie gingen zum Bürgermeister, um ihm ihren Entschluß mitzuteilen. »Wir haben uns gedacht, daß es am schönsten wäre, wenn aus der Ötzmichelburg ein Kinderheim gemacht werden könnte«, sagte Florian, »mit tollen Spielplätzen, mit Bolzplätzen und und und ...« Und so soll es geschehen. Der dicke Turm wird auch wiederaufgebaut. Allerdings ohne Tür und Fenster, weil die Ötzmichels ja weder Tür noch Fenster brauchen. Sie werden staunen, wenn sie in fünfundzwanzig Jahren wiederkommen. Oder sollten sie sich jetzt, nachdem das alte Versprechen endlich erfüllt worden ist, am Ende überhaupt nicht mehr blicken lassen? Das wäre schade, findet ihr nicht auch?
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