Manfred Frank
Der unendliche Mangel an Sein Schellings Hegelkritik und die Anfänge der Marxschen Dialektik
2., stark e...
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Manfred Frank
Der unendliche Mangel an Sein Schellings Hegelkritik und die Anfänge der Marxschen Dialektik
2., stark erweiterte und überarbeitete Auflage 1992
Wilhelm Fink Verlag • München
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Frank, Manfred: Der unendliche Mangel an Sein: Schellings Hegelkritik und die Anfänge der Marxschen Dialektik / Manfred Frank. 2., stark erw. und überarb. Aufl. - München: Fink, 1992 ISBN 3-7705-2746-1
2. Auflage 1992 ISBN 3-7705-2746-1 O 1992 Wilhelm Fink Verlag, München Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH, Paderborn
Inhalt
Statt eines Vorwortes Einleitung
9 93
I Die philosophische Einsicht Hölderlins und ihr Einfluß auf Hegel und Schelling
103
II Die Reduktion des Seins auf Reflexion in Hegels Logik Unmittelbarkeit des Seins, Scheins und Wesens Vorausgesetzte und gesetzte Unmittelbarkeit Reflexion als Selbstbestimmung im Anderen Die Uneinholbarkeit der >Voraussetzung< Eine Denkfigur Schellings - Vorform oder Alternative?
116 121 127 13 j 137 144
III Die wechselseitigen Systemkritiken Hegels und Schellings Hegels Kritik an Schelling in der Vorrede zur Phänomenologie Schellings Erwiderung - der »Cirkel der Reflexion« Voraussetzen und intellektuelles Anschauen Bewährung der Schellingschen Kritik an Beispielen IV Schellings Suche nach positiver Unmittelbarkeit Die Problematik der Identitätsformel Der Schritt über die Grenzlinie des Bewußtseins Der ontologische Beweis der Reflexion Der Seinsgedanke der Identitätsphilosophie und Hegels »bestimmende Reflexion« in Konkurrenz V Schellings Lösung - Die Abhängigkeit der Idee vom Sein Sein, Identität und Erkennen Die Frage nach dem Grund des Wissens - der >ordo inversus< der Reflexion Die Frage nach dem Grund des Seins Die Kritik an der Seinsthese von Hegels Logik Die Unmöglichkeit eines logischen Übergangs zur Wirklichkeit Der immanente »Umsturz der Vernunft*
151 15 3 159 164 169 187 187 193 197 205 206 208 216 110 227 232 5
Die absolute Priorität des Seins vor dem Wesen Die absolute Priorität der Identität und das Scheitern der Selbsterkenntnis des Geistes Dialektische Umkehr oder Umkehrung der Dialektik? VI Ludwig Feuerbach - Vom Primat des Unmittelbaren Zur Kritik der Hegeischen Philosophie (1839) Die Kritik der Schellingschen Naturphilosophie Das Verhältnis zu Schelling in Feuerbachs Selbsteinschätzung Systematische Verwandtschaften zwischen Schellings und Feuerbachs Hegelkritik Zusammenfassung VII Karl Marx - Geschichte als Selbstverhältnis der Natur Kritik der Hegeischen Dialektik und Philosophie überhaupt (1844) Wirklichkeit und Geschichte - Grundlagen des historischen Materialismus VIII Materialismus und Geschichtsdialektik (Schelling - Marx - Hegel) Die ontologische Differenz von Wesen und Wirklichkeit Schellings Theorie der Zeit als Archetyp einer material begründeten Dialektik Geschichtlichkeit als Sündenfall und Entfremdung Die Unaufhebbarkeit der Zeit Schelling oder Hegel? - Eine geschichtsphilosophische Perspektive Anhang Heine und Schelling
6
235 240 246 255 256 264 267 273 289 293 293 303 319
322 331 341 346 361 361
»Unser Ausgangspunkt ist der Satz: Gott ist das Seyende selbst. Bedenken Sie ( . . . ) wohl diesen Begriff, von dem man sagen kann, er sey aller Begriffe Begriff ( . . . ) Erkennen Sie ( . . . ) vor allem ( . . . ) , daß er noch kein wirkliches Seyn in sich schließt ( . . . ) . Jenes Seyn aber, das in ihm damit schon gesetzt ist, daß wir es als das Seyende selbst denken, ist eben das bloße Seyn im Begriff, und Sie sehen ( . . . ) daraus, daß das Seyende selbst, da es kein Seyn außer dem Begriff hat, selbst nur als Begriff existirt; * dass (es) unmittelbar nur Wesen und also gänzlicher Mangel des Seins ist. Der unendliche Mangel an Seyn in dem einen kann nur durch den unendlichen Überfluß von Seyn in dem anderen begnügt und erster es eben dadurch im Können erhalten werden. Sie sehen ( . . . ) , wie dürftig, wie eng dieser Begriff ist. ( . . . ) Das Interesse der Philosophie ist es keineswegs, in dieser Enge zu bleiben, und das wäre eine traurige und höchst beengte Philosophie, welche von Gott nur wüßte, inwiefern in ihm das Seyn mit dem Wesen eines oder selbst das Wesen ist.« Schelling (« WW II, 2, 29-32, 49 und * Pos. Phil. 32/II, 135; vgl. II, 1, 294 und I, 7, 465£f. [466/7])
7
Statt eines Vorworts Die folgenden drei Abschnitte werden dem Leser/der Leserin sehr disparat erscheinen. Im I. sage ich etwas über die Genese des Buchs selbst, das ja keine Premiere feiert, sondern als N e u druck erscheint. Ein solcher ist immer zu begründen. Ich rede davon, wie es aufgenommen wurde, an welchen Stellen meine Ansichten sich von der ursprünglichen Anlage inzwischen fortentwickelt haben, was ich der Kritik zu entgegnen habe. Der II. Abschnitt bietet einen Abriß der ganzen Abhandlung (sozusagen ein Abstract in Vortragsform) - für eilige Leserinnen). Im III. Abschnitt mache ich einige theoretische Voraussetzungen explizit, mit denen meine Schelling-Interpretation durchgängig arbeitet. Sie sind von Sartre beeinflußt. I.
Als ich diese Abhandlung schrieb (1973/74), war ich Assistent für neuere deutsche Literaturwissenschaft in Düsseldorf. Ich erwähne das in der Hoffnung, daß man es dem Text vielleicht nicht anmerkt. Damals freilich wurde in Philosophischen Fakultäten - unzerstückelt und Fachbereichsgrenzen übergreifend, wie sie konstruiert waren - mehr an Interdisziplinarität gewagt als bald danach und noch heute, da die Kompartementalisierung der Fachbereiche auch in die Köpfe eingezogen ist und es für Bewerber(innen) ungünstig macht, mehr als eine Kompetenz nachzuweisen. Der Keimgedanke war mir während der Arbeit an meiner Dis-
sertation gekommen. Sie war dem Problem >Zeit< in der deutschen Romantik gewidmet 1 und hätte ein umfangreiches Kapitel über Schellings Beitrag zur Zeit-Theorie enthalten sollen. Da
1 und
1972
beim
Winkler
Verlag
Schöningh, München-Paderborn-Wien
erschienen.
Erweiterte
Neuauflage
bei
1990.
9
das Buch lange schwankte, ob es eine germanistische oder eine philosophische Doktorarbeit werden wollte, dann aber umständehalber für das erste sich entschied, ließ ich das abgeschlossene Kapitel in einem Ordner liegen, hoffend, es eines Tages in eine Schelling-Studie einfügen zu können. Aber niemand ist ganz Herr über die Bewegung seiner Gedanken. In mir arbeiteten unversehen kräftig die Nach wehen der 68 er Zeit, die aus verschiedenen (auch äußeren) Gründen in meine Dissertation keinen sehr sichtbaren Einzug gefunden hatten. So begann ich mich zu fragen, ob die - in all ihrer Pluralität doch recht eingleisig angelegte - Vorgeschichte, die der offiziöse und der >undogmatische< Marxismus in seltsamer Eintracht den Anfängen des Marxschen Grundgedanken vorausgehen ließ, korrekt rekonstruiert war. Gewiß, man konnte sich auf Marxens eigene Hinweise berufen: Die zeigten, außer auf die Büsten Rousseaus, der französischen Materialisten und natürlich die der britischen politischen Ökonomen, auf das alles überragende Standbild Hegels, dessen Felsenmelodie den jungen Marx verzaubert und zeit seines Lebens in Bann gehalten hat. Noch nach der Niederschrift des Kapital wollte er das viel umrätselte Verhältnis seiner Waren-Analyse zur Hegeischen Logik (vermutlich vor allem zu der der Reflexion) in einer eigenen Schrift aufdecken. Das haben inzwischen andere für ihn versucht. 2 Von Schelling war jedenfalls kaum die Rede, auch wenn ihm Marx seinen »aufrichtigen Jugendgedanken«, die Naturphilosophie, wenn auch nicht unironisch, gutschrieb. In der Dissertation empfiehlt er dem inzwischen (angeblich) reaktionär gewordenen Schelling,3 »seiner ersten Schriften sich wie2 Vgl. a. M.
besonders
Rüdiger
Bubner,
Dialektik
und
Wissenschaft,
Frankfurt
1973.
3 Wie weit dies Urteil berechtigt ist, erfährt man am besten aus Hans-Jörg Sandkühlers Kommentar zu seiner (zusammen mit Alexander v. Pechmann und Martin
Schraven
besorgten)
Edition
des
Tagebuchfs]
1848,
Hamburg:
Philosophische Bibliothek 367, 1990, bes. X X I I I ff. Vgl. auch die Einleitungen zum und den Text des von Walter E. Ehrhardt edierten Briefwechsels zwischen
Maximilian II. von Bayern und Schelling: Schelling Leonbergensis
10
und
Maximi-
der zu besinnen«. Geistig und moralisch unselbständig, wie der offiziöse Marxismus sich zeigte, hatten Marxens Selbstäußerungen erdrückendes Gewicht. Wer hätte genauer hinzuschauen, wer sie zu interpretieren gewagt, wer gar sine ira et studio zu zeigen unternommen, daß es gerade des reaktionären Schellings Spätwerk war, das über Feuerbachs Vermittlung, aber auch in direkter Lektüre Marx zur Ausbildung seines entscheidenden Gedankens verholfen hat: dem einer Real-Dialektik, einer Dialektik nicht als bloßer Gedankenbewegung, sondern fundiert auf ein »unvordenkliches Seinunendlich< der Hegeischen Logiky so lautete Marxens Diagnose in den Fußstapfen und unter wörtlichem Bezug auf die Schellingsche. W o verläuft das Band zur Zeit-Problematik? Man kann im zweiten Abschnitt des V I I I . Kapitels des vorliegenden Buchs nachlesen, was aus dem aus meiner Diss. ausgelagerten und nun stark zusammengestrichenen Schelling-Zeit-Teil geworden ist. Dies war der übergangstiftende Gedanke: Schelling hat nach Hölderlins Verstummen als einziger die frühromantische Keimidee gegen den (inzwischen durch Hegel repräsentierten) Stamm des deutschen Idealismus rein bewahrt und auf die Nachwelt gebracht (freilich drangen zu seinen Lebzeiten nur wenige Fragmente an die Öffentlichkeit außerhalb seiner Hörsäle). Er war die, daß Selbstbewußtsein eine Beziehung bildet, die schon darum nicht für ein Un-bedingtes gelten darf (ein Relat ist bedingt/bestimmt durch sein anderes; soll aber eines absolut heißen, so darf es sein Sein nicht einer Bedingung verdanken, die außerhalb seiner läge: Jacobis Grundgedanke, der die Tübinger ebenso wie die Jenaer auf den Weg brachte 4 ). Wählian von Bayern. Lehrstunden der Philosophie, Stuttgart 1989. Vgl. auch L. Trost und Fr. Leist (Hgg.), König Maximilian II. von Bayern und Schelling, Briefwechsel, Stuttgart
1890.
4 Diesen Grundgedanken hat Dieter Henrich in drei eindringlichen Publikationen
freigelegt: Philosophisch-Theologische Problemlagen im Tübinger Stift zur Studienzeit Hegels, Hölderlins und Schellings, in: Hölderlin-Jahrbuch 1986/ 87, 60-92, bes. 85 ff.; Die Anfänge der Theorie des Subjekts (1789), in: 11
rend Schellings Schrift Vom Ich (mit dem Jacobischen Untertitel Über das Unbedingte im menschlichen Wissen), die im März 1795 in Druck ging, noch ganz Fichteanisch die >Ichheit< für das unbedingte Prinzip der Philosophie annimmt, ist sein Stiftskamerad Hölderlin, der indes bei Fichte studiert hat, schon auf anderen Wegen. Früher und klarer als Schelling, nämlich spätestens im Mai 1795, hatte er die Umrisse der prägenden Einsicht skizziert: Das Unbedingte kann nicht reines Handeln sein (da wäre es mit dem Gegensatz zum Denken belastet); es kann auch nicht als Identitäts-Relation gedeutet werden, denn da bliebe es immer noch auf ein >Ur-teil< gegründet. Nur ein prä-reflexives, prä-judikatorisches und aller Relation überlegenes >Seyn< könnte sein Grund sein; und den kann das Bewußtsein gerade noch bezeugen, aber nicht aus sich erzeugen. Ich habe zu zeigen versucht, daß Schellings Spätwerk, nach anfänglichem Schwanken zwischen der Hölderlinschen und der durch Fichte erfahrenen Anregung, den ersten Gedanken seines Tübinger Freundes gegen Hegel verteidigen wird. In diesem Gedanken lag, wie gesagt, daß die Selbstverwiesenheit des Subjekts auf dem Grunde eines Seins ruht, über das es nicht verfügt. Dies >Präveniertsein< durchs Sein (wie der späte Schelling gern sagt) wird vom Bewußtsein schematisiert als Überholtsein der Gegenwart von der Vergangenheit. Und den Wunsch nach Wiedereinholung der verlorenen Einheit trägt die >Sehnsucht< aus, die in die Zukunft strebt. So wird die Zeit, die ein ontisches, und nicht nur ein ideelles Fundament hat, zum »Archetyp einer material begründeten Dialektik«, wie ich 1975 formuliert hatte. (Ich hätte besser sagen sollen: >einer ontologisch fundierten Dialektikwirklich< hat offenbar eine Zwischenbetrachtungen.
Im Prozeß der Aufklarung,
hg. von Axel Honneth et
aliis, Frankfurt a. M., 1989, 1 0 6 - 1 7 0 , bes. 123 ff. und 159 ff.; schließlich in einer größeren
Monographie
Schelling-Interpretation
Der
Grund
im
Bewußtsein
(im
Druck).
hat die Kenntnis von Jacobis überragendem
zuerst fruchtbar gemacht die Doktorarbeit von Birgit Sandkaulen-Bock,
vom Unbedingten. 1990, bes.
12
Für
die
Einfluß Ausgang
Über den Anfang in der Philosophie Schellings, Göttingen
13 ff., 71 ff., 176 ff.
weitere Ausdehnung als der von >material/physisch die Existenz, sondern >das gesellschaftliche SeinGedankending< ist (wie er gern mit Schelling sagt), sondern auf dem Sockel einer Wirklichkeit aufruht, die nicht in Gedanken aufzuheben ist. Mit anderen Worten: Marxens Gedanke setzt die Wahrheit des Schellingschen als ein tragendes Moment voraus. Das gleiche gilt von seiner Konzeption einer Realdialektik, die ihrerseits eine ontisch fundierte Zeit zur Voraussetzung hat, auch wenn sie erst in der konkreten Geschichte der Menschheit, die zunächst in Klassenkämpfe verstrickt ist, und nicht schon in einem Heideggerschen Transzendental (oder >ExistentialGeschichtlichkeitFichtes ursprünglicher Einsicht< (Dieter Henrich) vergleichsweise recht; und das gilt auch für die intersubjektivistischen Konsequenzen, die er - vor Hegel, und 5a In diesem Sinne kann Thomas Nagel sagen, daß einiges Materielle (z. B. Hirne) »nicht-physische Eigenschaften« haben, nämlich subjektive Erlebnisse ( T h e View from
Nowherey
O x f o r d University Press 1986, 30,4). Vgl. 26: »Reality
is not just objective reality, and any objective conception of reality must include an acknowledgment of its own
incompleteness.«
5b oder der frühe Sartre, dessen ontische Fundierung der Dialektik Schelling-Marx-Interpretation
Pate stand (siehe hier den III.
meiner
Abschnitt).
13
auf viel überzeugendere Weise als dieser - daraus gezogen hatte (vgl. das 3. Beispiel im dritten Abschnitt des III. Kapitels). 6 Hegels triumphale Polemik in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes könnte in diesem Punkte völlig unbegründet sein. Wir glauben zwar heute nicht mehr an die Möglichkeit einer >intellektualen Anschauungs mit der meine Schelling-Verteidigung (aber schon nicht mehr Feuerbach und Marx) reichlich textimmanent arbeitet - wie ich mir überhaupt die zu große Idealismus-Immanenz meiner Problem-Behandlung und meiner Terminologie vorwerfen muß. Aber die Einsicht, für die damals dieser Ausdruck stand, ist noch immer kräftig genug, um Hegels Kritik am Einsatz der Philosophie >wie aus der Pistole geschossen< gegenstandslos zu machen.7 Denn am Ende seines 6 Ich habe Schellings Grundgedanken seither gegen die ganze neuere, auf Hegel und Mead sich berufende Tradition des Intersubjektivismus bei Habermas - verteidigt in meinem Essay Subjektivität
in: Selbstbewußtsein der
Subjektivität,
7 Das
hat
Aufhebung
und Selbsterkenntnis. Stuttgart: Reclam,
Michael
Theunissen
des Idealismus
sophisches Jahrbuch
Intersubjektivität,
Essays zur analytischen
1991,
Philosophie
410-477.
eingeräumt
in der
und
insbesondere
in
seinem
Spätphilosophie
Aufsatz
Schellings,
über
in:
Die
Philo-
8j (1976), 1 - 2 9 , bes. 13 ff. Vgl. S. 16: »Manfred Frank hat
jüngst darauf hingewiesen, daß Hegel das Denken, mit dem er das Sein am Anfang gleichsetzt, nicht nur im Kontext als das »reine, leere Anschauen« bezeichnet, das vom intellektuellen noch zu unterscheiden wäre, sondern im Schlußkapitel der Logik darüber hinaus, nun mit deutlicher Bezugnahme auf Schelling, als ein solches begreift, »das man wegen seiner Unmittelbarkeit auch ein übersinnliches, innerliches nahme
eines
Anschauen
innerlichen
nennen kann« (L II 488). Die Inanspruch-
Anschauens
entspricht
der
nachträglichen
interpretation, derzufolge der Anfang »an sich* bereits die »konkrete
SelbstTotalität*
ist, die am Ende gesetzt ist (L II 489). Denn das innerliche Anschauen benötigt Hegel, ganz in Übereinstimmung mit Schellings Rekonstruktion seines Ansatzes, als das Organ der Antizipation, ohne welche die konkrete Totalität des Endes am Anfang nicht an sich schon anwesend sein könnte. Indessen taucht die Rede von ihm im Schlußkapitel der Logik keineswegs, wie Frank annimmt, in der Form eines »verschämt eingeflochtenen Zugeständnisses« auf. Denn schon die Einleitung in die Seinslogik (L I 6 1 ) billigt der intellektuellen Anschauung eine konstitutive Bedeutung für den Anfang zu, und zwar paradoxerweise gerade durch die Art, wie Hegel die in der Vorrede zur Phänomenologie gegen sie gestarteten Angriffe scheinbar bloß wiederholt. Gegen eine Theorie, die wie das »System
14
des
transzendentalen
Idealismus«
[vgl.
SW
I/3,
370]
intellektuelle
Weges könnte der absolute Geist als sich nur erkennen, was ihm zuvor schon bewußt war. Und dieses Bewußtsein - als infallibel - konnte kein >Wissen< sein. Wohl aber mußte Wissen auf Gewißheit gegründet werden, die epistemisch auch zugänglich war (sonst trüge sie den Titel der >Gewißheit< zu Unrecht). Ganze Schulen zeitgenössischen analytischer Geist-Philosophen haben sich dieser Konsequenz - auch ohne Kenntnis ihrer V o r zeichnung durch Fichte und, weniger deutlich: durch Schelling - angeschlossen. Hegel scheint aber wirklich geglaubt zu haben, daß Selbstbewußtsein nur ein Spezialfall des GegenstandsBewußtseins sei, so, daß an die Stelle des Gegenstandes hier eben das Subjekt selbst rückt. Von Objekten ist aber nicht zu lernen, was wir subjektives Erleben nennen. Grundsätzlicher: ich verfehle die Dimension der Subjektivität gleich im Ansatz, wenn ich sie von der Gegenstands-Seite der Vorstellung her aufschließen will. A n dieser Ausgangslage wird auch nichts verAnschauung bloß als »subjektives Postulat« einführt, macht Hegel die Forderung geltend, ihre Herkunft aus einem Prozeß darzustellen, der als die »Fortbewegung des konkreten Ichs vom unmittelbaren Bewußtsein zum reinen Wissen« nichts anderes ist als der G a n g der »Phänomenologie des Geistes«. In diesem Prozeß erblickt er aber die Voraussetzung der Logik, so daß aus seiner Argumentation folgt: Das Resultat, »auch als die
intellektuelle
Anschauung
bestimmt«, geht
in den Anfang der Logik mit ein.« Anerkennt freilich Hegel die Notwendigkeit, daß der Antizipation entsprechen
muß
des Endes auch ein epistemischer Modus zu Anfang
(eben
das,
was
Schelling
in
seiner Jugend
»intellektuale
Anschauung« nannte), dann entfällt der Anlaß seiner Polemik gegen Schelling, welches auch immer die kosmetischen Abweichungen seiner Position gegenüber der Schellingschen gewesen sein mögen. Viel spricht dafür, daß Hegel Fichtes »ursprüngliche Einsicht«, wonach Selbstbewußtsein eben nicht als epistemische Relation eines Subjekts auf sich als Objekt beschrieben werden darf, nie verstanden hat und so gar unter dem völlig abwegigen Titel der »Reflexionsphilosophie« geißeln konnte. Die Selbstbewußtseins-Theorien der Nachwelt haben sich klar zugunsten Fichtes und Schellings und gegen Hegel erklärt. Theunissen spricht klar von einer »Vorzeichnung der Marxschen Dialektik in der Spätphilosophie Schellings« (I.e., 17), die freilich schon Walter Schulz in seinem wegweisenden Werk Die philosophie
Schellingy
Vollendung
des deutschen
Idealismus
in der
Spät-
Stuttgart-Köln 1955 (Neudruck: Pfullingen 1975) betont
hatte.
IS
bessert, wenn man mit Hegel annimmt, Subjektivität werde sich in interaktiven Zusammenhängen zuerst gegenständlich (und das heißt für Hegel zugleich: ursprünglich bekannt). Wie aber sollte mir ein fremdes Subjekt als fremdes Subjekt einleuchten, wenn ich nicht, aller Vergegenständlichung vorweg, mit der Dimension subjektiven Erlebens vertraut war? Ich glaube, meine Arbeit hat die tatsächliche Abhängigkeit Beuerbachs und Marxens von Schelling und die StrukturHomologie zwischen ihrer Hegel-Kritik nachweisen können. Gesehen wurde sie früh; aber man begnügte sich allgemein mit dem Aufweis vager Parallelen. Es fehlte sowohl die philologische Präzision, die Liebe zum Detail als auch die Einbettung dieser Parallelen in die Systematik der Werke dieser drei sehr verschiedenen Denker. 8a Abzusehen war, daß mir die Phalanx der fremdgesteuerter (oder eher in selbstverschuldeter Unmündigkeit verharrender) >Marxisten< dafür nicht danken oder mit den Worten Xavier Tilliettes attestieren würde: «L'essai de Manfred Frank est symptomatique des preoccupations d'une nouvelle generation, qui aborde Schelling sans prejuges et munie de questions fraiches, tandis que les routiniers, surmenes par cette periode jubliaire, sentent flechir leur elan«8b (mein Buch war zum 200. Geburtsjahr Schellings erschienen)*. Während Inge Schiewek meiner (ganz unpolitischen) Dissertation das ungerechtfertigte »Verdienst« zuschreibt, > romantische Poetologie und poetische Praxis [von den] geschichtlichen Erfahrungen der Romantiker und den objektiven sozial-ökonomischen Determinanten her aufgeschlossen zu haben,9 behandelt R.
8a Die Quellen, auf die ich mich dabei stütze, sind ausgebreitet im Anhang meiner Ausgabe der Paulus-Nachschrift von Schellings erstem Berliner Kolleg:
F. W. J. Schelling, Philosophie
der Offenbarung
1841/42,
Frankfurt a. Main
1977. (Eine um die Kierkegaard-Nachschrift erweiterte Neuauflage ist in der Reihe stw 181
in Vorbereitung.)
8b L'annee Schelling, in: Archives de Philosophie, Janvier-mars 1976, tome 39, Cahier
1, 91 ff., hier:
9 In: Deutsche 188 f.
16
109.
Literatur,
Akademie der Wissenschaften der D D R , Heft 2/74,
Biedermann 10 (von der Friedrich-Schiller-Universität Jena) meinen Versuch als arglistige westlich-idealistische >Entstellung< und >Verfälschung< der wahren »theoretischen Quellen der marxistischen Dialektik«. Solcher Betrug sei mir nur möglich geworden durch »Unterstellungen, Verdrehungen und direkte Fälschungen Hegelscher, Feuerbachscher und auch Marxscher Anschauungen«. 11 Leider wird an keinem Detail gezeigt, worin diese bestehen. Und Wilhelm Raimund Beyer 1 2 , wohl wissend, daß »Schellings Philosophie nicht zum wertvollen »Philosophischen Erbe< genommen werden [kann], das der MarxismusLeninismus zu pflegen die geschichtliche Aufgabe übernommen hat«, wehrt sich vehement gegen meine »>StrategieStrategie< nur eine einseitige Interpretation der angeblichen Lehre des angezielten Philosophen.« Mein Buch, eine mutwillige Schelling- und Marx-Fälschung, »scheitert« an der gar zu offenkundigen ideologischen Befangenheit seines Verfassers. Seine Inspiration ist >existentialistischdie bisher schamloseste Marx-Fälschung des Westens seit Habermas< 13 . Als mein Nahen unübersehbar 10 Der Name ist so passend für den Tenor der »Rezension«, daß ich ihn gern für ein Pseudonym halten möchte.
1 1 In: Referatblatt Philosophie. Zentralstelle für die philosophische formation und Dokumentation, (588) Ag 228/76/443.
In-
12 Das Schelling-] ubiläumsjahr 197J, in: Wissenschaftliche Friedrich-Schiller-Universität 5, 1977, 627 ff., bes. 639 f.
der
1 3 Jürgen
Habermas
(Das Absolute Denken,
und
hat Schelling
die Geschichte.
nicht
Zeitschrift
nur seine Doktorarbeit
Von der
Zwiespältigkeit
in
gewidmet
Schellings
Diss. Bonn 1954, bes. 323 ff.), sondern auch einen in der D D R ungern
gesehenen bedeutenden Aufsatz Dialektischer Idealismus im Übergang Materialismus - Geschichtsphilosophische Folgerungen aus Schellings
zum Idee
17
wurde, disponierte der Chefideologe gewandt und gefällig um, mich fragend, warum ich >den unendlichen Mangel an Sein< zum Titel erkoren hätte, und nicht den anderen: >Der unendliche Mangel an Geists an dem hapere es doch mehr. Ich antwortete, hier herrsche eher Mangel an Sein, anderswo sei der Geist teuer. Hans-Martin Lohmann, damals Lektor im Wissenschaftlichen Programm bei Suhrkamp, gefiel eine Wendung aus Schellings (von Marx aufgegriffener) Kritik an Hegels Erklärung des »Entschlusses der Idee zur Natur< so gut, daß er das Buch auf Schellings (und Marxens) Spott taufen wollte: »Die »unendliche Langeweile< des bloß logischen Seins« (ich bewahre noch einen Probe-Druck des Covers). Ich fürchtete mit gutem Grund, die Leser(innen) würden vielleicht nicht so sehr Langeweile am logischen Sein empfinden als am Buch selbst - so rückte ein anderer (wieder von Marx übernommener) Schelling-Spott in den Titel, der seinen Grundgedanken angemessener ausdrückt. Ich sehe gut, wo ich Thesen, die ich in diesem Buch vertreten habe, besser zu stützen, aus der Textimmanenz zu befreien, analytischer auszuführen hätte, nicht aber, wo ich sie grundsätzlich zurücknehmen müßte. 14 Wo ich seither Akzente vereiner
Contraction
philosophische
Gottes
Studien,
verfaßt, in: J . H . ,
Theorie
Frankfurt am Main 1 9 7 1 ,
und
Praxis.
Sozial-
172-227.
14 A m ehesten bestünde dazu Anlaß im Zusammenhang mit der Kritik, die Wilhelm G . Jacobs an meiner These über »Hölderlins Anregung« geäußert hat (Manfred Allgemeine
Frank.
Eine
Zeitschrift
Einführung für
Philosophie,
in
Schellings
Philosophie.
[. . ./,
in:
Heft 1 / 1 9 8 8 , 77-80). Ich hatte diese
These, die Schellings Abhängigkeit von Hölderlin behauptet, ja schon im I. Kapitel des vorliegenden Buches vertreten (als Hartmut Buchners Kommentar zur Ich-Schrift
im Band 1,2 der »Historisch-kritischen Edition«, Stuttgart 1980, noch
nicht erschienen war). Gestützt auf Briefe Schellings an Hegel (vom 6. Januar 1795 und vom 2. Februar 1795) rekonstruiert er »eine Arbeit, aus deren weitergestecktem
Rahmen dann offenbar »Vom Ich [ . . . ] «
als eine Art
Vorstufe
hervorgegangen ist« ( A A 1,2, 19). Spätestens im ersten Quartal 1795 sei diese konzipiert und wohl auch ausgearbeitet gewesen. Der zweite Brief an Hegel enthalte schon
das voll entfaltete Programm
derselben.
Für
einen
Einfluß
Hölderlins komme also nur die Zeitspanne zwischen den beiden Briefen an Hegel in Frage; und von Hölderlin ist aus dieser Zeit kein Brief nach Tübingen erhalten.
18
schoben oder über Schelling anders zu denken gelernt habe, wird am leichtesten sichtbar aus dem Vergleich mit anderen Publikationen, die ich ihm seither gewidmet habe. Über seine politische Haltung und seine Rolle an der neugegründeten Uni-
»Die Übereinstimmung zwischen Hölderlins und Schellings Gedanken, die sie beide zur gleichen Zeit entwickelten, läßt sich durch die Beschäftigung mit denselben Gegenständen,
besonders durch die gemeinsame
Spinoza-Kenntnis
hinreichend erklären. Diese Übereinstimmung gibt keinen Anlaß, Schelling die Originalität abzusprechen« (Jacobs, I.e., 79). Meine These bezieht sich indes gar nicht vorrangig auf Schellings /c/;-Schrift, sondern rekonstruiert ein nur in wenigen Dokumenten überliefertes Gespräch zwischen den Freunden, deren einer (Schelling) noch unmittelbar nach dem Abschluß der Ich-Schrift
dem anderen gegenüber klagt, »wie weit er noch in der
Philosophie zurück sei«. Dieser (Hölderlin) gibt ihm dem zweideutigen Trost: »Sei du nur ruhig, du bist grad' so weit als Fichte, ich habe ihn ja gehört.« In eben dieser Zeit war Hölderlin unterwegs zu einem Gedanken, der deutlich über Fichte hinausschreitet (und dessen Form wir aus Urtheil
und Seyn vom Mai 1795
kennen); wenn er also Schelling, dessen /c^-Schrift er gekannt haben wird, >grad' so weit [gekommen] als Fichte« einstuft, so hält er ihn damit für noch nicht so avanciert wie sich selbst. Im übrigen glaubte sich Hölderlin längst vor Schellings /cA-Schrift - nämlich im Herbst 1794 - im Besitz eines Gedankens, durch den ein
Schritt
ȟber
die
Kantische
Gränzlinie«
möglich
werde
(an
Neuffer,
10. 10. 1794). Und worin der bestanden haben könnte, ist uns inzwischen bestens erschlossen durch die akribischen Recherchen Dieter Henrichs über den Einfluß, den Hölderlin erfuhr durch Jacobi, Reinhold, Niethammer und den Gesprächzusammenhang, der unter den Jenaer Reinhold-Schüler vor Fichtes Berufung sich gebildet hatte. Ein relativ spätes Zeugnis für diese Gesprächslage besetzen wir in Niethammers Einleitungsaufsatz zum Philosophischen
Journal
(»Von den Ansprüchen
des
gemeinen Menschenverstandes an die Philosophie«), den Hölderlin - verwandt und eng vertraut mit Niethammer - vor seiner Veröffentlichung im Mai 95 kennenlernen konnte. Darin wird eine von Reinhold nachweisbar seit 1792 im Freundes- und Schülerkreis verbreitete Überzeugung erstmals an die Öffentlichkeit getragen, nämlich die »Überzeugung der Entbehrlichkeit eines höchsten und Einzigen Grundsatzes aller Philosophie« und die andere, »daß ein Satz was immer für einer es sei - schwerlich jemals ein (. . .) Fundament für das ganze Gebäude <der Philosophie»
abgeben würde« (Bericht eines
Reinhold-
Vertrauten, eines Kärtner Industriellen, dessen Nachricht wegen »jacobinischer Tendenzen« von der Polizei konfisziert wurde und so erhalten blieb).
Die
Begründung: ein Satz ist ein Urteil; ein Urteil könnte falsch sein. Nicht so eine höchste Evidenz, wie es die intellektuale Anschauung ist, die mithin kein Satz
»9
versität München 1827/8 (natürlich vor allem über sein Verhältnis zu Heinrich Heine, der sich, wie so viele, von einem Verehrer in einen Gegner verwandelte) berichtet mein Aufsatz (von 1972) über Heine und Schelling, im Anhang dieses Bandes.
(sei er selbst ein Grundsatz) sein könnte. Sollte die Philosophie (was Jacobi bestritt, was Reinhold ab 1791 und Niethammer seitdem aber annahmen) aus Sätzen (»Urteilen«) bestehen, so ist es widersinnig, einen unter ihnen für ein irrtumsimmunes Prinzip der Philosophie zu halten. (Diese Überzeugung,
die
auch die intellektuale Anschauung als epistemischen Ort der Gewißheit oberster Grundsätze aufgibt, findet sich am ausgeprägtesten bei einem anderen Jacobiund Niethammer-Vertrauten,
bei Friedrich Schlegel, samt der Idee der
Un-
vermeidlichkeit eines unendlichen Progressus der Philosophie, die ihren Gegenstand, das Absolute, aus prinzipiellen Gründen nicht in Satz-Form wird darstellen können: Philosophie als »Sehnsucht nach dem Unendlichen«, nicht als •absolutes Wissen«.) Henrich schreibt (Der Grund
im
Bewußtseiny
. . .):
»In den beiden Jahren zwischen der Krise von Reinholds Elementarphilosophie und dem Eintreffen Fichtes waren in Jena Überlegungen ausgebildet worden, an die Hölderlin durch Niethammer Anschluß gewann. Und von daher können wir erklären, wieso Hölderlin in einer Zeit, die ihrer Kürze wegen erstaunen macht, zu einer Konzeption gelangte, von der eine neue und von Fichtes Grundsatzphilosophie wegführende Verzweigung der klassischen deutschen
Philosophie
nach Kant ihren Ausgang nahm.« So kann auch Schelling im Rückblick des Oktobers
1796 seine »Ich«-Schrift
charakterisieren als Versuch, »die Philosophie von der Erlahmung zu befreien, in welche sie durch die unglücklichen Untersuchungen über einen ersten Grundsatz (. . .) unausbleiblich fallen mußte«. Schon im Sommer 95 hatte Schelling gesagt, die Philosophie sei nicht auf »Sätze«, sondern auf »Forderungen« begründet, und so tauge auch der Grundsatz »Ich bin«, als Ausdruck der Freiheit, nicht als oberste Prämisse für theoretische Ableitungen (wie es Reinholds und Fichtes Elementar-Philosophie vorsahen). Es scheint, als habe Hölderlin diese (durch ihn mit herbeigeführte) Wendung Schellings im Sinn gehabt, als er am 24. 2. 96 an Niethammer schreibt, Schelling sei mit seinen Überzeugungen
inzwischen
»einen besseren Weg gegangen«, bevor er noch auf dem »schlechteren« zum Ziel gekommen sei. (Das kann natürlich, wie ich 1975 und 1985 vermutet hatte, auch ironisch gemeint gewesen sein, da Hölderlin Differenzen zu Schelling signalisiert, der vergleichsweise immer noch der Fichte-freundlichere von beiden Freunden war und lange geblieben ist, ja sein Prinzip bis 1800 »Ich« nannte; demgegenüber könnte Hölderlin meinen: er selbst sei über den Gedanken, die Philosophie aus einem Grundsatz, -
z. B. dem des »Ich • Ich« zu fundieren, weit hinausgeschritten
wobei der dunkle Jacobische Ausdruck »Sein« zunächst mal nur für einen
begründeten Überwindungswillen steht, noch nicht für eine ausweisbare Entität
20
Politische Aspekte dominieren ferner weitgehend die von Gerhard Kurz und mir verfaßte Einleitung in die Materialien zu Schellings philosophischen Anfängen, Frankfurt a. M. (stw 139) und spielen eine erhebliche Rolle auch in der Einleitung zur Neuedition der Paulus-Nachschrift von Schellings erstem Berliner Kolleg: Schelling. Philosophie der Offenbarung 1841/ 42, Frankfurt a. M. 1977 (stw 181, erweiterte Neuauflage im Druck), deren Wortlaut ja sehr stark von der Vorlesungs-Edi-
oder gar Struktur. Der Gedanke ist: der Einheitssinn der Theorie ist aus einem Prinzip zu verstehen, das allem Bewußtsein - und Urteil - vorausliegt, obwohl es sich als Unbedingtes im Bewußtsein, aber doch nur über eine Trennung, zugleich auch manifestiert.) Schelling, der am Jenaer Gespräch keinen Anteil hatte, konnten solche Gedanken nur durch Hölderlin bekannt geworden sein, der seinerseits die
Ich-Schrift
kannte. Sie bildet aber den Gegenstand seiner impliziten Kritik (in Urtheil Seyn)
und
und liefert gerade nicht die philosophische Semantik, mit der er selbst
arbeitet. Denn Schelling, welche Formulierungen seiner Schrift auch immer denen Hölderlins ähneln mögen, hielt darin ja gerade »das Ich« für ein »Prinzip«, wie schon der Titel ankündigt. Und wenn es in der vagen Argumentations-Skizze Hölderlins irgendeine erkennbare Polemik gibt, so gilt sie dieser Auffassung. Was die Rede vom »Seyn in allem Daseyn« betrifft, so folgt Jacobi nicht nur Kants Unterscheidung von absoluter (existentieller) und relativer (kopulativer) Setzung, die bei Hölderlin wiederauftaucht als Idee, der judikative Seins-Sinn gründe
in einem
»absoluten«.
Er
begründet sie mit einem
unkantianischen
Argument, daß wir vom absoluten Sein, als dem Fundament unseres relativen Daseins, »eine noch größere Gewißheit [haben], als wir von unserem eigenen bedingten
Daseyn
haben« (Spinoza-Büchlein,
Zweitauflage, S. 423 f.).
Diese
Gewißheit war nur noch auf den Ausdruck »intellektuale Anschauung« zu taufen (wozu abermals Spinoza Handhaben bot), und man ist mitten in den fragmentarischen Spekulationen von Sinclairs »Raisonnements« und »Urteil und Sein«. Ich brauche im vorliegenden Buch den Hinweis auf Hölderlins philosophische Priorität und auch Superiorität in den Jahren 1794/95 zur Konstruktion der folgenden Hypothese: Schelling wurde zuerst durch Jacobi-Lektüre, dann durch den Einfluß Hölderlins auf den Gedanken eines transreflexiven Seins gebracht (und muß jetzt, im Lichte der neuesten Forschungen Henrichs, meine Emphase eher etwas zurücknehmen: Schelling war 1795 nicht so weit wie Hölderlin). Dann aber »ging er einen besseren Weg«: fort von der Grundsatz- und Ich-Philosophie, der er sich zwischen 1796 und 1800 aber wieder annäherte. Der späte Schritt zurück zur Anerkennung der Priorität des Seins vor der Reflexion wäre dann der Schritt zurück zu »Hölderlins
Anregung«.
21
tion durch Schellings Sohn abweicht (im vorliegenden Buch zitiere ich aus der Paulus-Nachschrift nach der Originalpaginierung; es gibt aber am Schluß meiner Edition - S. 504-6 - eine Seiten-Konkordanz, die diese Angaben leicht übertragbar macht). Meine Einleitung zu dieser Ausgabe resümiert Grundthesen meines Buchs, berichtet über den Aufbau der späten Schellingschen Vorlesungen (von dem keine derzeit publizierte Ausgabe einen auch nur annähernd treffenden Eindruck vermittelt), situiert den Auftritt des alten Schelling im Horizont von Erwartungen und Polemiken der Hegeischen Linken. Der Band bietet schließlich einige weitere Vorlesungsnachschriften oder Auszüge daraus (die von Friedrich Engels, von Arnold Rüge, von Schopenhauers Adlatus Julius Frauenstädt und von Soren Kierkegaard) und versammelt Zeugnisse von Zeitgenossen und Hörern (besonders solchen der Linken: Michail Bakunins Briefwechsel mit der Familie über Schellings Kolleg ist erstmals übersetzt, ebenso Texte von Pierre Leroux, deren einer - sich aufs Berliner Kolleg beziehend - sich schon im Anhang zum Materialienband fand). Ich habe später (1985), von Siegfried Unseld dazu aufgefordert, eine Studienausgabe von Schellings Ausgewählte[n] Schriften besorgt (stw 521-526), die die nach meiner Auffassung wesentlichen Texte versammelt, und diese Edition wird durch eine kleine Einführung in Schellings Philosophie y Frankfurt a. M. 1985 (stw 520), begleitet. Sie bildet gleichsam das Komplement der hier vorliegenden Arbeit, indem sie nicht den späten Schelling behandelt, sondern dessen Anfänge bis hin zur Identitätsphilosophie rekonstruiert (etwa bis zum Würzburger System von 1804, mit dessen Diskussion die vorliegende Arbeit chronologisch einsetzt: siehe den SchlußAbschnitt des II. Kapitels). Der im engeren Sinne logischen Bedeutung der Identitäts-Formel, die ja Schellings System eine Zeitlang den Namen gab, sowie dem Interesse seiner Philosophie für moderne Theorien der Leib-Seele-Identität bin ich nachgegangen in einem größeren Essay über Identität und Subjektivität, in: Selbstbewußtsein und Selbsterkenntnis. Essays zur analytischen Philosophie der Subjektivität, Stuttgart: 22
Reclam, 1991, Nr. 8689 [6], 79-157). Und die in früheren Arbeiten weitgehend übergangenen ästhetischen Aspekte der frühen und identitätsphilosophischen Schriften Schelling kommen zur Darstellung und werden gewürdigt in meiner Einführung in die frühromantische Ästhetik, Frankfurt a. M. 1989 (es 1563), besonders in der Vorlesung 9 - 1 3 (S. 137-230). Damit hat ein(e) Leser(in), der/die sich für meine übrigen Arbeiten zu Schelling interessiert, eine ziemlich vollständige Bibliographie. 15 Als die Auflage des im Wissenschaftlichen Hauptprogramm des Suhrkamp Verlags 1975 erschienenen Buchs Der unendliche Mangel an Sein erschöpft war, wurde ich gelegentlich nach ihm gefragt. Der Verlag zögerte mit der Neuauflage, und so nahm ich dankbar das freundschaftliche Angebot von Raimar Zons an, das Werk, hie und da korrigiert und mit diesem Vorwort versehen, bei Fink neuaufzulegen. Sollte der Leser/die Leserin eilig sein oder die Lektüre des ganzen nachfolgenden Buchs zu mühsam oder zu schwierig finden, so kann ich ihm/ihr die Lektüre des nachfolgenden Vortrags vorschlagen. Ich wurde nach Erscheinen des Buchs gelegentlich eingeladen, seine Grundthesen bündig zusammenzufassen und in Vortragsform zu bringen. Daraus ist das folgende entstanden. Es ist klar, daß es aus einem von den Zeitereignissen rasant überholten Kontext spricht, der noch stark an den Gedanken und Sorgen der 68er Generation trägt. Das gilt für das Buch selbst ebenso. Aber schließlich entkommt kein Werk seinem Kontext. Würde sein Autor es beständig umschreiben, so fügte er es nur in neue, ebenso unbeständige Zusammen15 Obwohl ich, glaube ich, überhaupt kein Buch geschrieben habe, in dem Schelling nicht mehr oder minder starke Auftritte hätte. Besonders gilt das natürlich für den ersten Teil meiner »Vorlesungen über die Neue Mythologie«: Der kommende
Gott,
Frankfurt a. M. 1982 (es 1 1 4 2 ) , vor allem die 6. und 7.
sowie 9 . - 1 1 . Vorlesung. Dort wird Schelling wichtig im Zusammenhang des »Ältesten Systemprogramms«, aber auch der Dionysos-Idee (und ihrer Identifikation mit Christus) in seinen Münchener und Berliner Vorlesungen zur Philosophie der Mythologie und der Offenbarung.
23
hänge, in denen sich der ursprüngliche Gedanke am Ende weniger gut entfaltet. Ist doch jede Rede Funktion bestimmender Kontexte, mit deren Wandel sich auch ihre Bedeutung wandelt. Oder mit Schellings Worten: Alles ist nur Werk der Zeit und wir kennen nicht das schlechthin
Wahre,
sondern blos was die Zeit erlaubt in die wir eingeengt sind. Wir fangen an zu begreifen, daß die ewigen Wahrheiten eigentlich nichts anderes sind, als vom gegenwärtigen
Zustand abstrahirte Sätze. Es giebt im Grunde keine ewigen
Wahrheiten in dem Sinne, den wir hiemit bezeichnen wollen.
II. Die Geschichte der abendländischen Philosophie bietet immer wieder Gelegenheit zur Bewährung einer allgemeinen Erfahrung: Theoretische Innovationen sind unmittelbar nur insoweit erfolgreich, wie sie die Integrationsfähigkeit der zeitgenössischen Weltansicht nicht überfordern. Drängen sie voreilig und ohne sichtbare Anknüpfung an die Sinnerwartungen ihrer Epoche ans Licht, so ächten nicht nur die Götter und - ich ergänze - die Zeitgenossen ihr »unzeitiges Wachstum« (das läßt sich begreifen); auch die Nachwelt versieht sie oft noch mit dem Index eines Tabu. Als ein besonders auffälliges Beispiel ist mir immer der verspätete, aber eminente Nachruhm Nietzsches vorgekommen, insofern man ihn als den Entdecker jener vorbewußten Lebenstriebkraft nennt, die den Intellekt in ihren Maja-Netzen ködert und wähnen macht, er selbst entscheide über die Ökonomie der Werte, die der machthungrige Wille entwirft. Diese Auszeichnung Nietzsches geht häufig Hand in Hand mit heftigen Ausfällen gegen Schopenhauer, dem nicht nur abgesprochen wird, die eigentliche paradigmatische Revolution in der Willensmetaphysik der nachidealistischen Epoche eingeleitet (oder doch zum Durchbruch getragen) zu haben, sondern der auch für alle Impräzisionen und Erschleichungen 1 6 Schelling, System
der
Weltalter. Münchener Vorlesung
1827/28 in einer
Nachschrift von Ernst von Lasaulx, hg. von Siegbert Peetz, Frankfurt a. M. 1990,
24
16.
geradestehen muß, die das Werk seines Nachfolgers in so viel höherem Maße auszeichnen als das seine. Es sieht so aus, als müsse die offizielle Ideographie erst einen Namen aus ihrem Kanon streichen, bevor sie sich dazu versteht, einen anderen Namen - der Konsequenzen aus der getilgten Lehre gezogen hat - nicht nur zu dulden, sondern auch zu rühmen: Jaspers' und Heideggers Nietzscheinterpretationen sind klassische Beispiele für jenes Ritual, das den Akt der Rehabilitation an das Schlachtopfer eines Ahnherrn bindet. Etwas Vergleichbares - scheint mir - hat sich mit Schellings Nachruhm abgespielt. In dem Maße, wie der Gedanke seines Werks eine gleichsam subkutane Wirkung tat, verfolgte man seinen Namen. Ich rede nicht davon, daß in den Seminaren eine Zeitlang schon seine Nennung neben Fichte oder gar Hegel entweder für eine Obszönität oder für eine unfreiwillige Selbstentlarvung galt und daß das hastige Übersetzen von Fichte zu Hegel in der Chronik der Geistesgeschichte eine Laküne der Verlegenheit überbrücken mußte. Auch davon nicht, daß der Kniefall von Hegels >Tiefsinn< - einer semantisch höchst fragwürdigen Kategorie - uns viele Aufführungen des Stücks von des Kaisers neuen Kleidern beschert hat, während Schellings logische Erschleichungen (vor allem die des Identitätssystems von 1801) - für Paradebeispiele eines unseriösen und genialischen, von Opium und Romantik umgetriebenen Gedankentaumels geltend - der Selbstprofilierung von philosophischen Kärrnern dienten. Ich meine vielmehr, daß in Schellings Werk ein Gedanke zur Sprache drängte (und sie oft genug nicht erreichte), der - im Blochschen Sinne - übergleichzeitig zu seiner Epoche sich verhielt: er war nicht eigentlich innovativ, sondern weithin antizipativ. In einem Vortrag darf man - um der Zuspitzung willen - dann und wann übertreiben. Indem ich - mit Ihrer Zustimmung von dieser Lizenz Gebrauch mache, behaupte ich, daß Schellings »ursprüngliche Einsicht< ein Gedanke gewesen ist, der sich im diskursiven Korsett der idealistischen Grammatik nur unangemessen artikulieren konnte. Wer darauf - und mit 2
5
gewissen Recht - den Akzent legt, bezieht gegenüber den argumentativen Schwächen des Schelling von 1801 die idealistische Position - z. B. der Hegeischen Phänomenologie. Gewiß, die Wirkungsgeschichte dieses Werks - der Phänomenologie sollte sich als außerordentlich erweisen: zunächst als das Dokument jenes Durchbruchs, mit dem der reife Idealismus sein Publikum gewann - sodann, und zum Teil noch in unseren Tagen, als ein bedeutendes Korrektiv oder Pharmakon gegen die Skläroseanfälligkeit eines immer dogmatischer und subhumaner argumentierenden Materialismus. - Ich füge gleich eine weitere Übertreibung an: am Anfang und am Ende jener Bewegung, die als der dialektische Materialismus registriert ist, stand und steht Hegel. Kein Denken war - neben dem Marxschen vergleichbar erfolgreich für das Selbstverständnis nicht nur des Materialismus, sondern der Moderne überhaupt. Aber in der Zwischenzeit - und sie hat gut ein Jahrhundert gewährt und erhebliche Transformationen im institutionellen Gefüge unserer gedanklichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit hervorgebracht - gab der Weltgeist - über Hegels eigenes Vermächtnis sich hinwegsetzend (wie es seine Art ist) - als Parole die Überwindung des Idealismus aus. Von ihr her war es, daß auch Hegels Werk aufs neue studiert wurde (z. B. vom jungen und vom reifen Marx - und von der Studentenbewegung bis hinein in die Heidelberger Seminare) - aber das war eben eine Lektüre, die den Index einer Dekonstruktion trug und die - wenn überhaupt - nur an solche Traditionen anknüpfen mochte, die wenn schon häretisch sich verhaltend zum Idealismus Hegels den Standards seines Argumentierens nicht unterbieten. Sie merken, worauf ich hinauswill: die einzige in der Stunde Null der materialistischen Idealismuskritik zuhandene Philosophie, in der eine Kritik an Hegels idealistischer Dialektik von wirklich grundstürzender Tragweite formuliert war, lag eben vor in Schellings - weitgehend unpubliziertem - Spätwerk, also in studentischen Nachschriften seiner Erlangener, Münchener und Berliner Kollegs, von denen man weiß, daß sie - unter der Hand und zum Kummer ihres Autors - zu hohen Preisen und 26
bis nach Frankreich und Rußland hinein gehandelt wurden, wo sie lebhaftes Interesse bei jenen adeligen Intellektuellen erregten, die mit solcher Lektüre so etwas wie ihre spekulative Feuerprobe zu bestehen hofften (wie Pavlov, Cadaev, Herzen, Bakunin, Belinskij oder Turgenev), aber auch bei den Schülern St.-Simons (z. B. Prosper Enfantin) und bei Vertretern des sog. religiösen Sozialismus (z. B. Lamennais und Leroux). 1 7 Marx hatte von diesen Zusammenhängen und auch vom Wortlaut wenigstens zweier Schriften des alten Schelling recht gute Kenntnis; und das kann nur den verwundern, der entweder %
keine Vorstellung von der unerhörter Publizität hat, die Schellings Berliner Auftritt im WS 1841/2 umbrandete, oder der sich das Aufblühen eines Gedankens, der die Welt bewegt, sehr unmarxistisch als den Akt einer Urzeugung vorstellt. Friedrich Engels, Schellings Hörer, beginnt seine Polemik gegen diesen Auftritt mit den pathetischen Worten: Wenn
ihr
jetzt
hier
in
Berlin
irgendeinen
Menschen,
der
auch
nur
eine
Ahnung von der Macht des Geistes über die Welt hat, nach dem Kampfplatze fraget, auf dem um die Herrschaft über die öffentliche Meinung Deutschlands in Politik und Religion, also über Deutschland selbst, gestritten wird, so wird er euch antworten, dieser Kampfplatz sei in der Universität, und zwar das Auditorium
Nr.
6,
wo
Schelling
seine Vorlesungen
über
Philosophie
der
Offenbarung hält. Denn für den Augenblick sind alle einzelnen Gegensätze, die der Hegeischen Philosophie jene Herrschaft streitig machen, gegen die
eine
Opposition Schellings verdunkelt ( . . . ) . ^
Tatsächlich spielt Schellings Spätwerk - über das frühere hört man freundlichere Töne, denn es ist ja eine Stufe, die in den Hegeischen Tempel hinaufführt - offiziell keine Rolle für die Genesis der Marxschen Dialektik. Wie könnte das auch anders sein, da dieser Autor - der zwar u. a. wegen Einschränkung seiner Lehrfreiheit in München nach Berlin ging, dort als erste Tat die Aufhebung der Zensur gegen die Halleschen Jahrbücher erwirkte und von Arnold Rüge im August 1841 als 17 Ich haue das belegt im III. Anhang meiner Edition der Philosophie
Offenbarung 18 L . c . , 457
1841/42.
Frankfurt a. M. 1977.
der
»politisch und religiös freisinnig« charakterisiert wurde 1 9 - da also dieser Autor als ein notorischer Reaktionär geführt wird. Nun, der Brief, den Marx am 3. Oktober 1843 an Feuerbach geschrieben hat 2 0 , läßt sich so lesen, als sei dies auch Marxens ureigenste Ansicht gewesen - wenigstens auf den ersten Blick. Die Angelegenheit scheint mir freilich eines zweiten Blicks würdig. Marx glaubte - fälschlich aus einer Andeutung der Vorrede zur 2. Auflage des Wesenfs] des Christentums schließen zu können, daß Feuerbach »mit einer ausführlichen Arbeit über Schelling beschäftigt« sei. Er rät ihm dringend zu - und nennt ein paar Gründe. Erstens sei Schelling »38tes Bundesmitglied«, müsse also, da er gemäß Zensurinstruktion in Jourmalen nicht angegriffen werden könne, in einem größeren Buch attackiert werden. Eine umfangreichere Arbeit sei aber schon darum geboten, um Schelling »vor der franz. Schriftstellerwelt [zu enthüllen] - die sich merkwürdigerweise von ihm habe »ködern« lassen und besonders zu fürchten sei, da ja einige ihrer Vertreter - z. B. »der geniale Leroux«, der Schelling in einer Serie von Artikeln übersetzte, rühmte und verteidigte - die Sache des Sozialismus vertreten. Ein Angriff auf Schelling sei ferner »indirekt ein Angriff auf unsre gesamte und namentlich die preußische Politik«, da Schelling seine Lehre ja in den Dienst der »Diplomatie« gestellt habe. Endlich aber - und nun horcht man auf - sei es notwendig, daß gerade Feuerbach den Angriff führe. Sie sind grade der Mann dazu, weil Sie der umgekehrte wir
dürfen
Jugendgedanke
das
gute
von
unsrem
Gegener
Schelling
glauben,
-
der
sind. Der aufrichtige
Schellings (. . .), der bei ihm ein phantastischer Jugendtraum
gelieben ist, er ist Ihnen zur Wahrheit, zur Wirklichkeit, zu männlichem Ernst geworden.
Schelling
ist
daher
Ihr
antizipiertes
Zerrbild,
und
sobald
die
Wirklichkeit dem Zerrbild gegenübertritt, muß es in Dunst und Nebel zerfließen.
Ich denke, daß man noch heute, da die Angelegenheit alle Aktualität eingebüßt hat, unmittelbar das Zwiespältige in 19 L . c . , S. 421 20 Vgl.
28
zum folgenden I.e., 488 ff.
Marxens Kompliment verspürt: Niemand, der um seine intellektuelle Identität ringt, tut sich leicht mit der Aufforderung, seinem eigenen antizipierten Zerrbild gegenüberzutreten, zumal wenn es sich erstens um ein Stück Weltphilosophie handelt, dessen >Gutes< nicht verleugnet werden darf, und wenn zweitens sein phantastischer Anstrich nur unter der Bedingung in eitlen Nebel sich auflöst, daß man sich seinem Anspruch »männlich« entgegenstellt. Es gibt also etwas bei Schelling, das in Feuerbachs »positiver Philosophie« seine natürliche Erbin und, in der Stunde des Abfalls von seiner ursprünglichen Intention, seine natürliche Gegnerin gefunden hat. - Nun, Feuerbach ist nicht erst von Marx zu einem solchen Schritt aufgefordert worden - obwohl von keinem Zeitgenossen entschiedner als von Marx. Und wenn er über ein Jahrzehnt Scheu empfand, ihn zu tun, so wohl vor allem deshalb, weil er das Heikle einer Konfrontation mit seinem eigenen Zerrbild - und das war ja, unter uns, keine quantite negligeable - scheute. Drei zum Teil umfangreiche Briefentwürfe spiegeln Feuerbachs Verlegenheit: er hat fleißig aus der Paulusnachschrift exzerpiert, sich hin und her gewunden, ein paar Wochen Arbeitszeit geopfert und gestanden, Marx habe ihn da »in keinen geringen Zwiespalt mit mir selbst versetzt«. 21 Marx hatte offenbar ein Trauma berührt: immer schon hatte Feuerbach versucht, Schellings offensichtliche Vorläuferschaft nur in dessen anmaßlicher »Phantasie« stattfinden zu lassen. (Es ist nicht ohne Delikatesse, daß Marx dies zitiert.) Auch fiel ihm zur Kennzeichnung seiner eigenen Position kein besserer Name als derjenige ein, durch den auch Schellings Philosophie sich charakterisierte: »positive Philosophie«, die freilich bei ihm, im Gegensatz zu Schelling, »die wirkliche (nicht imaginäre) absolute Identität aller Gegensätze und Widersprüche« befasse. 22 Diese Konstellation muß sich vor Augen halten, wer Aufschlüsse über sein Verhältnis zu Schelling im Werk Feuerbachs sucht. 21
L.c. 494
22 Ludwig Feuerbach, Vorläufige Thesen zur Reformation der Philosophie, in: Gesammelte Werke, hg. von W. Schuffenhauer, Bd. 9, Berlin 1970, 260.
Mit diesen - ich weiß: viel zu fragmentarischen - Andeutungen breche ich die biographisch-philologische Rechersche nach Berührungspunkten zwischen dem Schellingschen und dem Feuerbach-Marxschen Materialismus vorerst ab und gebe eine weitere These vor: Es gab - nicht nur im Feuerbach-Marxschen Materialismus, sondern auch im franz. Sozialismus, bei Bakunin oder Cieszkowski 23 - eine mächtige Tradition hegelkritischer Argumente, die sich aus Schellings späten Vorlesungen gespeist und die materialistische Pointe ihres Einsatzes mit hervorgetrieben hat. Die Unsichtbarkeit dieser Traditionsspur, die sich bis in Lenins Notizhefte hinein verfolgen läßt, erklärt sich zum einen daraus, daß Schelling kein einziges Kolleg zu Lebzeiten veröffentlicht hat - die kurze Vorrede zu Cousin und der Raubdruck einer Nachschrift des i. Berliner Kollegs waren die einzig zitierbaren Dokumente seiner Wende zur »positiven Philosophie« zum anderen aber aus dem Umstand, daß den meisten Theoretikern der Linken der Gedanke einer Vorläuferschaft Schellings aus Gründen ihrer politischen Identität unerträglich war. (Es wäre reizvoll, die Nahtstelle zw. dem romantischen und dem sozialistischen Antiliberalismus genauer zu analysieren; 24 hier kämen viele eingeschliffene Terme unserer politischen Semantik sehr ins Schwimmen.) Übrigens bestand diese Aversion nicht immer und vor allem nicht zu Anfang; Ruges Interesse am Wortlaut der Schellingschen Kehre war so groß, daß er sich ihm als Editor seiner Vorlesungen anbot; Feuerbach, der sich in dieser Zeit an einer Schellingschen Nachschrift inspiriert zu haben scheint, schickte dem Philosophen mit offenbar ungeheuchelter Ehrfurcht seine Dissertation (was wäre wohl geschehen, wenn Schelling sie goutiert hätte? Zweifellos war ihm der Denkstil zu hegelisch); und Cieszkowski 23 Ich habe diesen wenig bekannten Zusammenhang aufgedeckt in der Einleitung
zu Schellings Philosophie der Offenbarung 1841/42, 25 ff. 24 Ich habe das seither versucht: Anti-bourgeoise Anarchie und RevolutionsKritik. Von der zwiespältigen Haltung der Fruhromantik zur Französischen Revolution, in: Henning Krauß (Hg.), Folgen der Französischen Revolution, Frankfurt a. M.
30
1989 (es 1579),
221-244.
dessen Historiosophie Schelling gekannt zu haben scheint - hat sich stets für Schelling - auch für dessen religiöse Option - lebhaft interessiert und ließ sich vom Berliner Kolleg in die polnische Heimat berichten (außerdem gibt es 2 Briefentwürfe von ihm an Schelling). Bakunin schrieb nach Hause: »Ihr könnt euch nicht vorstellen, mit welcher Ungeduld ich die Vorlesungen Schellings erwarte.« 25 Und Schelling, der sich im Grunde seines Herzens immer für den mißkannten geistigen Vater des Junghegelianismus ansah, hat seinerseits gesehen, daß diese jungen Leute »auch etwas der Art wollten«, wie es die positive Philosophie war. Nur suchten sie es mit immanent hegelianischen Mitteln, und das könne nur scheitern: eine systemverändernde Praxis müsse das Gebäude der »logischen Notwendigkeit« durchbrechen und sich von der immanenten Legitimation eines teleologisch konzipierten Intellektualprozesses emanzipieren.26 Man muß sehr deutlich sehen - der junge Fr. Engels ist dafür ein Paradebeispiel daß ein Teil der Affekte gegen Schelling typische Gruppenreaktionen von jungen Leuten sehen läßt, die ihre Solidaritätsbasis - den Konsensus in Hegel - bedroht fühlen, sobald fundamentale Prämissen seines Idealismus ins Wanken geraten. Das ist denn auch der wiederkehrende Reim ihrer Bittschreiben an Schelling: Er sei willkommen als Hegels Lehrer in Berlin; nur möge er des symbolischen Vaters Grab nicht schänden d. h. nicht etwa den Idealismus bekämpfen. Nun, diese Restriktion gilt ja für Marx offensichtlich nicht mehr: Er rühmt Feuerbach nicht nur als den Überwinder des junghegelianischen Idealismus von »Bruno Bauer und Konsorten« (ebenso kritisch äußerte sich Bakunin gegen die idealistische Linke), sondern deutet deren »Ärger gegen eine Praxis, die anders als die Auflösung einer bestimmten Kategorie in die
25 L . c . ,
461.
26 F. W. J . Schellings sammtliche
Werke,
hg. von K . F. A. Schelling, I. Abtlg.
Bde 1 - 1 0 ; II. Abtlg. Bde 1 - 4 , Stuttgart 1 8 5 6 - 1 8 6 1 (hinfort zit.: SW y römische Ziffer verweist auf Abtlg., arabische Ziffer auf Band), I I / 3 , 90.
31
>schrankenlose Allgemeinheit des Selbstbewußtseins< sein will«, in Schellings eigenen Worten. 27 Ich mache gleich die Probe: »In der Logik«, hatte Schelling gelehrt (und damit außer Marx auch Bakunin und Cieszkowski sehr beeindruckt), - »in der Logik liegt nichts Weltveränderndes. ( . . . ) Die ( . . . ) Umkehrung kann nicht vom Denken ausgehen, ( . . . ) Mit dem (. . .) Letzten der rationalen Philosophie [also: mit dem Gedanken des absoluten Selbstbewußtseins] ist nichts anzufangen. (. . .) Die Vernunftwissenschaft führt ( . . . ) wirklich über sich selbst hinaus und treibt zur Umkehr; diese selbst kann aber doch nicht vom Denken ausgehen. Dazu bedarf es vielmehr eines praktischen Antriebs; im Denken aber ist nichts Praktisches, der Begriff ist nur contemplativ, und hat es nur mit der Nothwendigkeit zu thun, während es sich hier um etwas außer der Nothwendigkeit Liegendes, um etwas Gewolltes handelt« (SW I / i o , 153 und H/% 565). Bevor ich nun - jenseits der Ebene der Polemik, die sich an der Oberfläche abgespielt hat - weitere Dokumente für sachliche Konvergenzen zwischen Schellings Spätphilosophie und dem Ansatz von Marxens praktischem Materialismus herbeischaffe, muß ich zunächst das schier Unmögliche versuchen: nämlich eine Skizze dieser Spätphilosophie und besonders ihrer Stellung zu Hegel zu liefern: Man muß den Duktus und den Stil dieses Denkens nämlich sehr genau vor Augen haben, wenn man bei der Suche nach Intarsien von Schellinganspielungen in Marxens Frühwerk fündig werden will. Daß diese Entzifferung nicht längst geschehen ist, kann ich mir nicht anders als aus dem Desinteresse der machthabenden Verwalter der Marxschen Doktorin an Schelling erklären - und das ist ein Desinteresse, das sich - dem Geiste und dem Buchstaben nach - nicht einmal auf Marx berufen kann und selbst dann, wenn es dies könnte, ein ziemlich anteduluvianisches Verständnis von dem, was einen Text im Gewebe einer Epoche konstituiert, zum Ausdruck bringt. 27 Die heilige 32
Familie,
in: MEW
2, 204.
Nach meiner Ansicht kann man den einen Gedanken, der Schellings Philosophieren von Anfang an bewegt, sehr genau angeben: Es ist die Überzeugung, daß das Sein (das als fugenlose Identität begriffen wird) nicht aus Verhältnissen der Reflexion abgeleitet werden kann. In gewissem Sinne war dies freilich die gemeinsame Überzeugung der drei Tübinger Freunde - etwa gegenüber Fichte. Dieter Henrich hat in liebevoller Restaurationsarbeit die Ruinen eines Gesprächs freizulegen versucht, 28 in dessen Verlauf es Hölderlin gelungen sei, auch Hegel - den Nachzügler in der freien Spekulation - von diesem Gedanken zu überzeugen und ihn über die »Gränzlinie der kantischen Philosophie«, 29 nämlich die Klippe des abstrakt seinem Anderen entgegengesetzten Subjekts - hinauszuführen. Hölderlin argumentierte etwa folgendermaßen: 30 Absolutheit und Selbstbezüglichkeit des Gedankens >Ich< schließen sich aus. Denn wenn die Ichheit unter der Bedingung stünde, sich explizit auf sich zu beziehen, dann könnte dieser Gedanke nicht im strengen Sinne unbedingt genannt werden. Auf der anderen Seite kann auf dies Unbedingte nicht einfach verzichtet werden, da anders das Moment des Sich-Habens in der Entgegensetzung der Relata - also das evidente Identitätsgefühl im Selbstbewußtsein - unerklärt bliebe. Es kann also nicht darum zu tun sein, eines der beiden Momente zu leugnen, sondern lediglich darum: zu betonen, daß nicht schon die aktive Beziehung des Selbst auf sich zu erklären erlaubt, woher ich Kenntnis von der Identität der Beziehungsglieder habe. Ich habe diese Kenntnis jedoch untrüglich, und also - folgert Hölderlin - muß sich in der »unendlichen Einigkeit« des Selbst »ein vorzuglich Einiges und Einigendes [manifestieren], das an sich kein Ich ist«. 31 28 Dieter Henrich, Hegel Hegel
und
Hölderlin,
im Kontext,
Frankfurt a. M. 1 9 7 1 : darin vor allem:
bes. 22 ff.
29 Hölderlin, Brief an N e u f f e r vom 30 Vgl. Friedrich Hölderlin, Sämtliche
10. 10. 1794Werke,
hg. von Fr. Beissner ( • G r o ß e
Stuttgarter Ausgabe), Bd. I V , 253/4 (die große Anmerkung der weise 31
des poetischen
Verfahrungs-
Geistes).
Brief an den Bruder von Mitte 1801 (Große Stuttgarter Ausgabe V I , 419).
33
•
Hölderlin und Schelling - der seinem Freunde weitgehend folgt - nennen es das »Sein« oder die »Identität« - im Gegensatz zur »Indifferenz«, die dadurch ausgezeichnet ist, daß sie die Gleichheit ihrer Momente mit sich nur durch den Akt ihrer Synthesis herstellen kann und zu diesem Zweck auf eine gänzliche irreflexive Identität zurückgreifen muß, die dem Spiel der Beziehung als solchem entgleitet. Während Schelling - wie gesagt - in dieser Überzeugung mit Hölderlin übereinstimmt (es gab Differenzen, die mir terminologischer Natur gewesen zu sein schienen: Schelling versuchte, seinen Gedanken zunächst in der Sprache von Fichtes Wissenschaftslehre zu artikulieren, um - wie er später sagte - mit Fichte »nicht geradezu zu brechen«)32 - während also Schelling mit Hölderlin weitgehend übereinstimmte, hat Hegel die von Hölderlin empfangene Anregung von vornherein in einer reduzierten Perspektive angeeignet. Sie verhalf ihm zwar zu dem entscheidenden Schritt über die kantianische »Gränzlinie«, in dessen Folge er die »Vereinigung« der entgegengesetzten Wesenstendenzen von Liebe und Selbstheit nicht länger mehr von der abstrakten Subjektivität erhoffte. Dagegen war er nicht bereit, diese im Medium der Reflexion selbst geschehende Vereinigung wie Hölderlin aus einem transreflexiven »Seyn« oder, wie Sinclair sagte: aus der reinen »Athesis« 33 - zu erklären, die der Beziehung noch vorausläge. >LiebeLebenGeist< sind eben dies, in sich selbst den Gegensatz des Unendlichen und des Endlichen hervorzutreiben, ihn seiner Unwahrheit zu überführen und auf die in jeder Einseitigkeit ermangelte Ganzheit hin zu überschreiten (pleroma). Sie bewährt sich mitten in der Endlichkeit der Beziehung als die »wahre Unendlichkeit«, die nun nicht mehr ein Bezogenes ist, sondern als der 32 Zum früheren Verhältnis Schellings zu Hölderlin vgl. jetzt Dieter Henrich, Der Grund in Schellings 33 Ein
im Bewußtsein Philosophie,
wiederkehrender
(im Druck) und Manfred Frank, Eine Frankfurt a. M. Term
aus
1985, 61 ff.
Sinclairs
abgedruckt in Hannelore Hegel, Isaac von Sinclair Hegel,
34
Einführung
»Raisonnements«, zw. Fichte,
erstmals
Hölderlin
und
Frankfurt/Main 1 9 7 1 , 243 ff.; Neudruck in der Anthologie s. Anm. 51.
argumentative Fundus einleuchtet, kraft dessen diese Beziehung zugleich als Einheit oder kraft dessen die Substanz zugleich als Subjekt gedacht werden kann. Ein solcher Einheits-Begriff duldet kein über ihn hinausgehendes Sein, das ihn zur Reflexionsnegation zwänge; als solches wäre er immer schon sein Relat, d. h. ein bestimmter und unvollständiger Aspekt der unbegriffenen Totalität. Vielleicht stimmen Sie mir zu, daß dies keine böswillig verzerrende Charakterisierung von Hegels ursprünglicher Einsicht gewesen ist. Er hat sie in der Jenenser Logik und besonders in der Phänomenologie von 1807 vertieft und in großem Stil angewendet. Die eigentliche methodische Reflexion auf den formalontologischen Status seiner philosophischen Grundoperation hat er aber erst in der Wissenschaft der Logik geleistet. Und innerhalb dieses Werk ist für uns von besonderem Interesse der Ort, an welchem das Sein den Nachweis erfährt, daß es in Wahrheit als ein Moment der ganz auf sich gestellten Reflexion besteht. Ich kann die außerordentlich komplizierte Argumentation Hegels - in die Dieter Henrich seit einigen Jahren und, wie ich meine: als erster, einiges Licht gebracht hat - hier nicht einmal in Abkürzung referieren. Statt dessen will ich einen Geisterdialog erfinden, in welchem Hegel mit Hölderlin über die Konsequenzen dieses Schritts sich verständigt (tatsächlich hat er ja mit dem umnachteten Freund nie mehr gesprochen und auch das angebotene Gespräch mit Schelling tunlichst vermieden). Nun, Hegel hätte geltend gemacht, daß in die Kennzeichnung jenes »reinen Seins, ohne weitere Bestimmung« nur negative Prädikate eingehen können; z. B. dasjenige der Unmittelbarkeit und das der Un-bezogenheit. Hölderlin hätte zugestimmt. Nun charakterisiert Hegel - scheinbar arglos diesen Ausdruck der Unbezüglichkeit des Seins auch so, daß er es als ein »Nur«-auf-sich-bezogen-Sein kennzeichnet. Die reine Negation mäßigt sich hier zu einer bloßen Restriktion, die grundsätzlich die Möglichkeit der Beziehung-auf-sich nicht ausschließt. Ist das Sein aber einmal als unartikulierte oder wie Hegel sagt, »einfache« Beziehung angenommen, dann ist es 35
nach Hegels Prämissen - nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern logisch notwendig auch zuzugestehen, daß es einen Gegensatz in sich enthält, ohne den es ja übrigens völlig unbestimmt bliebe (was sich nicht negativ gegen ein Anderes profiliert, könnte auch nicht es selbst sein). Charakteristischerweise spricht Hegel auch stets - zumindest dem Sinne nach - vom Sein als vom »Begriff Sein«: auch dadurch kommt er der Meinung zuvor, hier gehe es geradezu um ein transreflexives Sein einen Gegenstand, der ja in einer Logik, also in einem formalontologischen System, gar keinen Ort haben könnte. Der Schritt, den Hegel im Übergang von der Indifferenz - also der letzten Position der Seinslogik - hin zur Logik des Scheins also der ersten Kategorie der Wesenslogik - vollzieht, läßt sich mithin so charakterisieren: der Begriff einer Beziehung im Zustand der Einstelligkeit wird mit ihr selbst im Zustande der Zweistelligkeit geglichen, oder: es wird in der Reflexionslogik eine verborgene Implikation des Begriffs der »einfachen Beziehung nur auf sich« expliziert; und damit kommt ans Licht, daß diese Selbstbeziehung eine Beziehung auf Anderes einschließt. Diese Konsequenz nun vollzieht sich nach Hegel im Rahmen eines Gedankens und fordert das Zugeständnis heraus, daß die Beziehung-auf-Anderes sich nicht lösen lasse von dem Begriff der Beziehung des Selbst nur auf sich. Hölderlin konnte nicht in persona antworten. An seiner Stelle «hat Schelling das Wort ergriffen und zwar - vermutlich - zuerst in seinen Vorlesungen über Geschichte der neueren Philosophie vom Sommersemester 1822 in Erlangen (Schellings Sohn, der des Vaters Werk aus dem Nachlaß ediert hat, hat der berühmten Münchener Hegelkritik aus den späten 20er und aus den 30er Jahren das Fragment eines älteren Manuskripts aus der Erlangener Zeit angestückt, bei dem es sich eigentlich nur um eine Vorstufe dieser Vorlesung handeln kann). 34 Auch Schel34 Die Geschichte
der Philosophie,
die bei Schelling nie ein eigenes Werk war,
sondern in den Vorlesungs-Zusammenhang
seiner Grundlegung der positiven
Philosophie gehört, hat Schellings Sohn aus diesem Zusammenhang gelöst und fälschlich auf 1827 datiert (sie stammt vermutlich aus einer Münchener Vorlesung
36
lings Replik verbirgt hinter der Anschaulichkeit ihrer Sprache eine ziemlich komplizierte Argumentation, die ich - um der Bündigkeit willen - abermals nur auf ihr Gerippe hin freilegen kann. Dabei erlaube ich mir, gelegentlich Formulierungen aus Schellings Würzburger System von 1804 einfließen zu lassen: sie zeigen unter der Oberfläche eines weitgehenden Konsensus mit Hegels Jenaer Philosophie bereits alle Bruchstellen ihrer späteren Auseinandersetzung. Schelling erkennt in Hegels Vorgehensweise mit einer, wie man sagen muß, ingeniösen Treffsicherheit den circulus in probando: Um als das, was er ist, am Ende seines Weges sich erkennen zu können, mußte der Begriff (oder die Idee) schon eine implizite Kenntnis seiner (bzw. ihrer) selbst besitzen (was Hegel - unter Rehabilierung der »intellektuellen Anschauung* im Methodenkapitel der Logik - verschämt zugesteht). 35 Ist dies jedoch der Fall - Hölderlin hatte es zuerst gezeigt dann kann man nicht länger behaupten, den Gedanken des Selbst in einer Folge von Schritten aus dem Gedanken des selbstlosen Seins »voraussetzungslos« abgeleitet zu haben: Dies vorgeblich selbstlose Sein mußte schon als eine Selbstbeziehung gedacht sein, und zwar als der Begriff einer Selbstbeziehung, die überdies eine - wenn auch unreflektierte - Kenntnis ihrer selbst besitzt (verfügte sie über diese Kenntnis nicht, so könnte das Sein in der Idee nicht als das Sichwissen gesetzt, aufgehoben und zugeeignet werden). Dies ist Schellings erster kritischer Einsatz: der dialektische Fortschritt im Prozeß der Entfaltung der Idee verdankt sich einem spekulären oder narzißtischen Dialog der Reflexion nur mit sich selbst: eine implizite Voraussetzung wird expliziert und dann als ein Moment des Explikats überführt. Feuerbach hat diese Kritik nur wiederholt, wenn er von 1833/34). Die Version von 1827/8 (Schellings erster Münchener Vorlesung) ist seither in einer studentischen Nachschrift (der von E m s t von Lasaulx) ediert
(und eingeleitet) von Siegbert Peetz, F. W. ]. Schelling.
System der
Weltalter,
Frankfurt a. M. 1990, darin besonders S. 22 ff. (etwa 6. bis 16. Vorlesung). 35 G . W. F. Hegel, Werke, Frankfurt a. M.
hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel,
1970 ff. ( - Theorie-Werkausgabe),
Bd. 6,
553.
37
dem Beweisverfahren der Logik vorwarf, »in den Gegensatz der Idee schon eine Prämisse einzubringen, die sie selbst sich vorausgeschickt hat«. 36 Auf diese Weise führe die Dialektik, die doch eigentlich eine dialogische Disziplin sei, »einen Monolog der Spekulation mit sich selbst«; ihre vorgebliche Voraussetzungslosigkeit sei eitle Beteuerung. 37 - So etwas mag er in einer Nachschrift Schellings zuerst gelesen haben; denn ein Blick auf Feuerbachs intellektuelle Entwicklung lehrt, daß seine Hegelkritik nicht aus Prämissen seines eigenen Denkens erwachsen ist, sondern sich durch einen jähen Bruch vollzogen hat, den man durch ein eindeutiges und fast wörtliches Schellingzitat in einer Tagebuchaufzeichnung von 1828 genau datieren kann: dort schreibt er, daß die »unbefleckte Jungfer >Logiksei< und daß von seinem Sein der Schein eines selbständigen Anfangs abhänge. Schelling hat den Sinn dieser Umkehrung in seiner ersten Erlanger Vorlesung eingehend analysiert: Reflexion, sagt er dort, heißt Umkehrung: sie verspiegelt den Richtungssinn jeder Sache, die sich in ihr darstellt, und gibt als das erste aus, was im Grunde nur das zweite ist: und sie stellt als das zweite zurück, was im Grunde - oder in Wirklichkeit das erste ist (SW I/io, 234 [im Kontext]). Bleibt die Reflexion
41 Hegel, Werke,
Bd.
5, 70.
43
unkritisch, so wird sie das, was doch lediglich für sie das erste ist, als das in der Tat erste ausgeben. Aber da sie die Möglichkeit hat, auch sich selbst zu reflektieren, vermag sie die verkehrte Stellung des Gedankens zur Wirklichkeit immanent zu korrigieren: sie begreift dann, daß der dialektische Prozeß, der vom Sein zur Reflexion führt, in Wahrheit von der Reflexion zum Sein führt, mit der Auflage freilich, daß dieses Sein nur als die Grenze der Reflexion sichtbar wird und nicht mehr innerhalb der Vernunftwissenschaft selbst thematisiert werden kann. Diese Konsequenz verfolgen, heißt nicht: den Idealismus vollenden, sondern ihn aufheben. Wenn Sie die berühmte Hegelkritik kennen, die Marx im Schlußkapitel seiner Ökonomisch-philosophische [ n ] Manuskripte (von 1844) gibt, wird ihnen die Konvergenz der Argumente aufgefallen sein. Die »Verkehrtheit« der Hegeischen Spekulation gegenüber der Wirklichkeit ist zweifellos der Favorit unter seinen Einwänden. Schelling hatte ihn bereits in die Formulierung gekleidet, daß bei Hegel die Positionen des Subjekts und des Prädikats gegeneinander invertiert seien. Feuerbach hatte das mit den gleichen Worten wiederholt, und noch Marx schreibt, bei Hegel werden »der wirkliche Mensch und die wirkliche Natur ( . . . ) bloß zu Prädikaten, zu Symbolen dieses verborgenen unwirklichen Menschen und dieser unwirklichen Natur. Subjekt und Prädikat haben daher das Verhältnis einer absoluten Verkehrung zueinander.« 42 Die Argumente, mit denen Marx diese Vorstellung bekämpft, rekrutieren sich, soviel ich sehe, weitgehend aus den Schellingschen Ressourcen: die Negation, sagt er, habe aus sich keine Möglichkeit, das Positive zu generieren; ja sie hebe sich - nicht im Hegeischen Sinne, sondern absolut - auf, sobald ihr das reale Hypokeimenon, die Seinsbasis der Natur, entzogen würde. Den Einwand des Zirkels im Gedanken voraussetzungsloser Reflexion strapaziert Marx nicht so stark wie Schelling und Feuerbach - aber er schließt sich Schelling, mehr als 42 MEWy
44
1. Erg.bd.
584.
Feuerbach, wieder an, wenn er die Unwahrheit des Hegeischen Finalgedankens damit begründet, daß sie als selbstbezügliche Negation gerade diesseits der Schwelle ihres Seins stehen bleiben müsse. Es gibt bei Marx wenigstens drei Formulierungen, die ich mir nur als freie Schellingzitate erklären kann (bei vielen anderen könnte es sich um Feuerbach-Anspielungen handeln). Das eine bezieht sich auf das Krude der Hegeischen Vorstellung, der Geist müsse, nachdem er am Schluß seine verkehrte Stellung zum Sein erkannt habe, nun über dieselben Stufen wieder herabsteigen, auf denen er hinausgestiegen ist, so daß »durch diese Umkehrung ( . . . ) der Mensch als ( . . . ) hervorbringende Ursache der Thierwelt, das Thierreich als hervorbringende Ursache des Pflanzenreichs, der Organismus überhaupt als Ursache der unorganischen Natur erscheine usw.« (SW I/io, 158 f.). Diesen Ulk hat Marx ähnlich wiederholt: »In Hegels Geschichtsphilosophie, wie in seiner Naturphilosophie«, schreibt er, »gebiert der Sohn die Mutter, der Geist die Natur, die christliche Religion das Heidentum, das Resultat den Anfang.« 43 An anderer Stelle schreibt Marx, »die Abstraktion, i. e. der abstrakte Denker« habe die Idee nur darum zur Selbstaufgabe »in ihr Anderssein« sich entschließen lassen, weil er schon vorher »durch Erfahrung gewitzigt und über ihre Wahrheit aufgeklärt« gewesen sei. 44 In der Paulus-Nachschrift hatte Schelling gespottet, daß der abstrakte Denker die Natur nach Vollendung der Idee nur darum noch zu bearbeiten sich getrieben fühlen mochte, weil sie in der Erfahrung nun einmal da sei. 45 Am besten scheint Marx aber der folgende Scherz Schellings aus der Vorrede zu Cousin gefallen zu haben. Schelling schrieb dort: Die logische Selbstbewegung des Begriffs (. . .) hielt, wie vorauszusehen, so lang vor, als das System innerhalb des bloß Logischen fortging; sowie es den schweren
43 MEW,
Bd. 2, 178; vgl.
44 MEWy
1. Erg.bd.
12.
585/6.
45 Schelling, Philosophie
der Offenbarung
1841/2,
I.e., 130. 45
Schritt
in die
Wirklichkeit
zu thun hat, reißt der Faden der
dialektischen
Bewegung
gänzlich ab; eine zweite Hypothese wird nöthig, nämlich daß es
der
man
Idee,
weiß nicht, warum? wenn es nicht ist, um die
Langeweile
ihres bloß logischen Seyns zu unterbrechen, beigeht oder einfällt, sich in ihre M o m e n t e auseinanderfallen zu lassen, womit die Natur entstehen soll (SW I / i o , 2 1 2 f.).
Und nun das Marxsche Pendant: Dieser ganze Übergang der Logik in die Naturphilosophie ist nichts andres als der -
dem abstrakten Denker so schwer zu bewerkstelligende und daher so
abenteuerlich v o n ihm beschriebene Übergang aus dem Abstrahieren Anschauen.
in das
Das mystische Gefühl, was den Philosophen aus dem abstrakten
Denken in das Anschauen treibt, ist die Langeweile,
die Sehnsucht nach einem
Inhalt. (. . .) insofern diese Abstraktion sich selbst erfaßt und über sich selbst eine unendliche Langeweile empfindet, erscheint bei Hegel das Aufgeben des abstrakten, nur im Denken sich bewegenden Denkens (. . .) als Entschließung, die als Wesen anzuerkennen und sich auf die Anschauung zu
Natur
verlegen. 4 6
Ich beschließe den Katalog der Schelling-Exzerpte im Marxschen Frühwerk. Ich habe in der nachfolgenden Abhandlung gezeigt, welche Schätze er sonst noch birgt. Indessen höre ich Sie seit langem fragen: Was nützt der vollständigste Katalog der Schelling-Marx-Affinitäten dem Buchstaben nach, wenn ihre Differenzen im Geist unüberbrückbar sind. Ich bin mir dessen gar nicht so sicher wie Sie. Auf dem Felde der Wissenschaft - und auf dem glaubten sich sowohl Schelling wie Marx zu bewegen - kann die politisch-moralische Position eines Autors immer nur insoweit belangvoll sein, wie sie die Qualität seiner Argumente bestimmt. Marx und Engels haben Hegel für den Seinsmographen, ja für den Ideologen der preußischen Restauration gehalten - und doch nicht die geringsten Bedenken getragen, von ihm zu lernen. Sollte das für Schelling nicht auch gelten dürfen? Es ist eines, Schelling als »38tes Bundesmitglied« zu bekämpfen, dem die gesamte preußische Polizei zur Verfügung stehe, und ein anderes, eine Nachschrift seiner ersten Berliner Vorlesung einigermaßen genau (und mit wiederholter Zustimmung) zu studieren. Es 46 MEWy
46
I. E r g . b d .
586/7.
lohnt nicht recht, darüber abstrakt zu debattieren: denn Marx hat das eine getan, ohne das andere zu unterlassen. - Man beobachtet in der Geschichte der Philosophie immer wieder, daß Systeme von späteren Generationen mit ganz anderem Erkenntnisinteresse zugeeignet werden, als es dasjenige ihres Autors gewesen ist. Das bedeutet nicht, daß dadurch die Struktur dieses Systems aufgehoben worden sei. Ihrer Struktur nach - und ganz entblößt von den politisch-theologischen Interessen ihres Autors - hat Schellings Konzeption der Geschichte unleugbar größere Affinität zu der des historischen Materialismus als die Hegeische. »Wahre Dialektik«, lehrte er in Berlin, »liegt nur im Reich der Freiheit: sie wird alle Rätsel lösen.« Die Freiheit aber erwirbt beim alten Schelling zentrale Bedeutung durch den Umstand, daß er den geschlossenen Stromkreis dessen, was er »logische Nezessitation« nannte, aufzubrechen versucht und der menschlichen Wirklichkeit aufgetragen hat, sich auf der Basis eines Seinszusammenhanges, der nicht ihr Werk ist, ihres praktischen Wesens wieder zu besinnen. Das waren Formulierungen, für die zumindest Pierre Leroux, Michail Bakunin und August Cieszkowski empfänglich waren. 4 7 Auch hat Schelling - selbst wenn seine persönliche Haltung gegenrevolutionär genannt werden kann - den Staat als einen Zwangsverband in Tönen inkriminiert, deren ätzende Schärfe nur in Bakunins oder Proudhons anarchistischen Manifesten wieder erreicht worden ist (vgl. z. B. SW I I / 1 , 534 ff.). Was Marxens Gedanken einer »Resurrektion der Natur« im Kommunismus betrifft, so will ich ihn hier nicht strapazieren. Wirklich gibt es ähnliche Formulierungen bei Schelling; 48 doch selbst wenn sie Marxens Quelle gewesen sein sollten, verweisen sie ja auf Traditionszusammenhänge, die Marx und Schelling 47 Ich habe Belege für diese Behauptung zusammengetragen in der Einleitung und im Dokumenten-Teil meiner Edition von Schellings Vorlesung
1841/42.
Vgl. zum folgenden 24 ff., 460 ff., 468 ff., 476 ff. 48 Z. B. im ersten Entwurf der Weltalter, 1811
und
1. Erg.bd.,
1813
Fragmente, in den Urfassungen von
hg. von Manfred Schröter, München
538, 536, vgl.
1946, 32. Vgl.
MEW,
573 f.
47
gemeinsam dem Neuplatonismus der Renaissance, der jüdischen Mystik und Jakob Böhme verdanken. Viel wichtiger ist die Konvergenz in ihrer Idee der »Entfremdung«. Der Ausdruck, der sich schon bei Franz Baader und Adam Müller im Kontext einer konservativen Kapitalismuskritik findet, bezeichnet bei Schelling ein Verhältnis der Verkehrung zwischen den dialektischen Momenten des Realen und des Idealen, also des Seienden und des Seinsollenden. Die These vom Primat des Seins vor dem Wesen (und im Bereich des erscheinenden Geistes: der Natur vor der Vernunft) kennzeichnet ein ontologisches Verhältnis: nur dem Sein, nicht der Würde nach, sagt Schelling, übertrifft das natürlich Seiende die menschlichen Wesenskräfte. Nun erreicht der Naturprozeß im Laufe der Evolution eine Stufe, in der sein weiteres Schicksal auf dem Spiel steht: Es ist der Moment, da das menschliche Selbstbewußtsein produziert und das zukünftige Geschick der Natur einer indeterminablen Freiheit überantwortet ist. Diese Chance hat der Mensch - so Schelling - vertan und vergeben: Statt die ontische Priorität seiner Naturbasis als Ermöglichungsbedingung seines Freiseins anzuerkennen und zu achten, hat er sie - selbstzerstörerisch zum Objekt seiner Herrschaft und Ausbeutung degradiert und so jenen »Umsturz« verschuldet, von dessen inhumanen Konsequenzen uns jeder Blick auf die eigene wie auf die uns umgebende Natur in trostloser Weise belehrt. Das war die Tat der »Entfremdung« des Menschen von der Natur, die ihn an den »Staat« - diesen Leviathan der Anti-Physis - ausgeliefert hat, unter dessen Zuchtrute er nun seufzt und dessen Mechanismus seine Freiheit versklavt. Dies sind nicht nur Gedanken von unleugbarer Aktualität - sie stimmen, ihrer Struktur nach, auch zu Marxens Begriff der Entfremdung. Durch ihn wird ja ebenfalls eine Verkehrung dessen, was der Menschennatur zur Basis dienen sollte, und seiner eigentlichen Wesenskräfte bezeichnet mit der Folge, daß der Mensch seine Wesenskräfte nun in den Dienst seiner leiblichen Erhaltung stellen muß, statt auf der Basis seiner Natur Freiraum für die Entfaltung seiner im eigentlichen Sinne menschlichen Möglichkeiten zu gewinnen. 48
Immerhin ist die Tat der Entfremdung kein Werk der Natur, sondern des Menschen - mithin abschaffbar. Schellings methodischer Materialismus eröffnet der Freiheit das Feld einer prinzipiell unabgeschlossenen und unabschließbaren Geschichte. Denn aus dem Gedanken der Bewußtseinstranszendenz des Seins folgte für ihn auch, daß keine denkbare Stufe der Evolution der Gattung legitimerweise von sich behaupten könnte, die Wahrheit erreicht zu haben: Schellings religiöse Option - und das haben ihm die hoffenderen unter den Sozialisten nicht vergessen - war immerhin gegen eines resistent: sie war nicht gezwungen, mit der Wirklichkeit in irgendeiner Form Frieden zu schließen, wie dies für Hegel aus systematischen Gründen notwendig war. Schelling hat auch Hegels totalitäre Staatslehre in einer Münchener Vorlesung attackiert: aber hier ist nicht der Raum, die Wirkungsgeschichte dieser Kritik auf die Hegeische Linke zu untersuchen. Das will ich Ihnen ersparen und lieber mit einem Zitat des französischen Frühsozialisten Pierre Leroux schließen. Aus ihm kann man lernen, daß es nicht notwendig und gleichsam aus natürlicher Feindschaft der Sozialismus ist, der sich an Schellings Lehre stößt, sondern lediglich eine orthodox hegelianische Fraktion desselben, die sich in einem technokratischen und dogmatischen Marxismus fortgesetzt hat und von dem man bedauern muß, daß sie so gar rasch von den humanistischen Entwürfen einer sozialistischen Utopie - der immer eine religiöse Komponente anhaftet - zu einer hegemonialen Weltmachtpolitik und zu dem übergegangen ist, was sie mit mißtönigem Eigenapplaus - den wissenschaftlichen Sozialismus nennt. Nun also das Leroux-Zitat: Zutiefst wahr ist alles, w a s Schelling zur gegenwärtigen Lage der P h i l o s o p h i e sagt (. . .).
Wie er so spüren
bedrängen,
und
zwar
auch w i r die G e f a h r e n , die heute die
nicht
nur
von
Seiten
ihrer
natürlichen
Philosophie Feinde,
den
Anhängern aller G ö t z e n d i e n s t e der Vergangenheit, sondern auch v o n Seiten derjenigen, die sich als P h i l o s o p h e n ausgeben, und doch nur E k l e k t i k e r sind. Leider hat die [in marxistischen und linkshegelianischen Auslegung
Hegels
viele
Seelenkräfte erstarren
Kreisen betriebene] u n w a h r e lassen.
Der
Pantheismus
des
Meisters hat den S k e p t i z i s m u s und die Gleichgültigkeit der Schüler nach sich gezogen. Leider gibt es heute viele sich so nennende Progressive, die glauben, daß
49
die Philosophie darin ihr Ziel habe, alles in Zweifel zu ziehen, und nicht darin, sich praktisch glaubend große Mystifikation
für etwas zu engagieren, ja die diesen Glauben für eine
erachten. Warum eigentlich - so muß man fragen - hat
es so weit kommen können, daß mystifizierende
Philosophen und Sophisten nun
gar bereit sind, die Philosophie zu verraten und sie an die Herrschenden zu verschachern.
III. An entscheidenden Stellen dieses Schelling-Buchs wird an aufschlußreiche Parallelen zu Jean-Paul Sartres L'etre et le neant. Essai d'une ontologie phenomenologique (Paris 1943, zit.: EN) appelliert werden, so im 3. Abschnitt des III., im 2. Abschnitt des IV. und 1. Abschnitt des VIII. Kapitels. Schellings These über unser Verständnis der Existenz anderer Subjekte ähnelt der Sartreschen Kritik an Hegels >Herr und Knecht< außerordentlich. Und das gilt noch mehr für das, was ich mit Sartre den >ontologischen Beweis der Reflexion< genannt habe. Auch die beiden Weisen, wie etwas >Grund< heißen darf (Erkenntnisversus Seins-Grund) finden beim späten Schelling den gleichen Einsatz wie bei Sartre. Den Übergang von der >noetischen Folge< im Bewußtsein zur >realen Zeit< denkt Schelling ganz ähnlich wie Sartre. Da mehrere Leser(innen) bemerkt haben, daß ich mir bei Sartre »operative Begriffe< zur Deutung der gedanklichen Grundoperationen Schelling ausborge, ist es wahrscheinlich am redlichsten, wenn ich einige dieser Anleihen explizit mache. So will ich im folgenden die Interaktion zweier Weisen von Grund-Sein, die Theorie des prä-reflexiven Cogito, den ontologischen Beweis und Sartres Unterscheidung zweier Weisen von Nicht-Sein behandeln. Man wird rasch sehen, warum dieser Vergleich für das Verständnis Schellings wirklich aufschließend ist; aber bei der Unterscheidung zweier Weisen von Nichtseiendem (oöx öv und [if\ öv) ist es umgekehrt Schelling, der Sartre zu wichtigen Differenzierungen verhelfen kann. 49 Pierre Leroux, De Dieu (. . .), in: La Revue (Avril),
5°
29/30.
Independante,
tome troisieme
Zunächst ein paar Worte zu den zwei Weisen, wie etwas Grund für ein anderes sein kann. Es kann (in der Sprache der Schulphilosophie) Seins- oder Erkenntnis-Grund sein. Im ersten Fall fundiert es das Begründete ontisch (seinem Existieren nach), im zweiten transzendental (hinsichtlich seiner Erkennbarkeit). Mit der Ankündigung einer Ontologie hofft Sartre, dem Idealismus zu entkommen, der in der Tradition gewöhnlich mit Positionen assoziiert wird, die (wie Sartre) das Selbstbewußtsein für einen philosophischen Ausgangspunkt halten. Wer (wie der mittlere und späte Husserl) den Ausdruck >transzendental< so stark faßt, daß noch >das Sein< selbst zu einem Konstitut der Leistungen der Subjektivität wird, für den stellt sich mit dem Einsatz bei der Evidenz des sich selbst durchsichtigen Subjekts die Alternative zwischen Ontologie (Einsatz beim Sein) und Phänomenologie (Einsatz bei den reinen Gegebenheiten des Bewußtseins) in aller Schärfe. Und genau dieser Alternative möchte Sartre durch die Entfaltung »einer phänomenologischen Ontologie< zu entkommen. Er versucht es durch folgende Konstruktion: Das Sein-an-sich fundiert ontisch das Für-sich-Sein; aber es ist das Für-sich-Sein, das dem En-soi zum Erscheinen (zum cpafvsoOcu) verhilft; insofern kann man sagen, daß das Für-sich nicht einfach unselbständig, sondern nur ontisch unselbständig ist. Epistemisch (oder transzendental) ist es eine ebenso selbständige Größe wie das En-soi. Darum ist Sartres Philosophie als »phänomenologische Ontologie< auf den ersten Anhieb gut und korrekt charakterisiert. Sehen wir jetzt in concreto zu, wie sie arbeitet. Gerhard Seel hat in dem nach wie vor besten Buch, das es über den Philosophen Sartre in deutscher Sprache gibt, 50 vorgeschlagen, Sartres Methode als die der Dialektik zu interpretieren. Dieser notorisch dunkle Ausdruck soll hier nur eine echte 50 Sartres Dialektik. Zur Methode und Begründung besonderer Berücksichtigung der SubjektsZeitBouvier 1971.
seiner Philosophie unter und Wertheorie, Bonn:
51
Interferenz zwischen zwei Seins-Bereichen, im vorliegenden Fall: zwischen dem En-soi und dem Pour-soi bedeuten. Eine Bewegung im einen läßt Spuren im anderen. Aber auch: was jetzt wie eine Bewegung im En-soi aussieht (weil man seinen spekulativen Blick darauf konzentriert hatte), erweist sich allsogleich als eine Struktur-Veränderung im Pour-soi. Und so fliegt der dialektische Ball immer hin und her. (Man muß ein flinker und gelenkiger Spieler sein, um gegenüber dem SchnellDenker Sartre am Ball zu bleiben oder mit seinen raschen Finten mitzuhalten.) Ich skizziere zunächst grob die Schritte, die die »Introduction« von EN durchläuft. Sie heißt (mit einem Augenzwinkern an Marcel Prousts Roman) »A la recherche de Petre« (EN 9, 11). Zunächst ist vom >Phänomen< die Rede und wie es der zeitgenössischen Phänomenologie gelungen sei, alle möglichen Dualismen hinter sich zu bringen: so die von Sein und BloßErscheinen, von Innen und Außen, von Akt und Potentia, von Kraft und Auswirkung usw. Wir machen uns einfach klar, daß >Sein< keinen Sinn für uns hat, wenn es da nichts gibt, das sich zu Erscheinung bringt. Vom Genie (als der Potentia einer Person) merken wir nur das, was ans Licht kommt, also die Werke. Die Kraft kennen wir nur durch die Auswirkungen - so etwa den elektrischen Strom z. B. durch die Elektrolyse oder noch einfacher: durchs Funktionieren des Eisschranks oder das Brennen der Glühbirne. Die angeblich unergründliche Innerlichkeit eines Subjekts kennen wir nur an seinem Stil (am Stil seines Lebens, seines Geschmacks, seiner Rede, seines Betragens usw.). Damit scheint das Seins-Thema - durch die Ankündigung einer Ontologie in Aussicht gestellt - harmonisch im Projekt einer Phänomenologie aufzugehen. Sartre spricht sogar von einem neuen »Monismus des Phänomens« (11). Aber dann taucht unversehens ein neuer Dualismus auf: der von Wesen (als Synthesis der Erscheinungen zu einem konzeptualisierten Ganzen) und Einzelerscheinungen: ähnlich dem kantischen Unterschied zwischen dem Mannigfaltigen der Einzelerscheinungen und der im Objekt vereinigten und begriffe52
nen Synthesis derselben. Das Wesen ist, wie Sartre sagt, >die synthetische Einheit der Manifestationen eines Dinges; und die Instanz, die diese Einheit zuerkennt und feststellt, ist der Begriff. Die Erscheinungs-Mannigfaltigkeit, die über einen Begriff zur Einheit versammelt wird, heißt Objekt. Aber: >wer Objekt sagt, sagt wahrscheinlich^ 51 Denn nie habe ich alle Aspekte (Husserl nannte sie Abschattungen) vor meinem geistigen oder sinnlichen Auge versammelt. Ein Objekt ist immer reicher als die Totalität aller Eindrücke, die ich über es im Laufe einer Wahrnehmung (ja im Laufe eines Lebens) registrieren kann. Sartre spricht von einer wahren >Unerschöpflichkeit (inepuisabilite)< der Erscheinungen eines Dings (EN 14), von der echten >Transzendenz< eines Objekts (I.e. und 24,2). Diese Transzendenz rückt den vermeinten Gegenstand außer der Reichweite des Subjekts: er ist eben mehr als die subjektiven Empfindungen, auf die der Empirismus ä la Berkeley und Hume ihn reduzieren will (I.e. und 27/8). Und so entsteht ein Dualismus des Unendlichen und des Endlichen. Gewiß kann ich, wenn ich einen Briefkasten von mehreren Seiten betrachtet habe, sein >Wesen< mittels eines Begriffs aussprechen. Aber was ich da tue, ist ein >passage ä la limiteadäquat< gegeben. Ferner: wer >Erscheinung< sagt (sie sei einzeln oder synthetisch über einen Begriff zu einem einheitlichen Wesen vereinigt),
51 Conscience de soi et connaissance de Philosophiey
de soiy in: Bulletin
de la Societe
Fran^aise
tome 42, 1948, 49-91 (zit.: C C ) , hier: 5 1 , 3 ; vgl. 64. Dieser
wichtige Text ist wiederabgedruckt unter den von mir herausgegebenen
kommentierten Selbstbewußtseins-Theorien a. M. (stw) 1 9 9 1 .
von
Fichte
bis Sartre,
und
Frankfurt
53
sagt: Erscheinung-für-ein-S^/e&f. Und damit ist die auf Seiten des Phänomens vermutete Selbständigkeit in unversehener Dialektik auf die Seite des Subjekts übergegangen, von dessen Existenz sie abhängt. Gibt es kein Subjekt - d. h. hat das Subjekt kein selbständiges Sein so gibt es auch kein Phänomen. Es kommt aber noch schlimmer: Unter den vielen Phänomenen (oder Erscheinungen) gibt es ein besonderes: das Phänomen >Seinesse apparens< (nach scholastischem Wortgebrauch): also das Sein, insofern es selbst erscheint. Erschiene es nicht, wie könnten wir dann von ihm sprechen? So muß der Seins-Erscheinung ein Bewußtseins-Zustand entsprechen: Während Heidegger das Sein in den sogenannten >Existenzialien< zur Erscheinung gelangen läßt (das sind vor allem das Verstehen und die Sorge), macht es Sartre Spaß, dem lesenden Bildungsbürger den Appetit zu verderben: Das Sein erscheint in den Gefühlen - und Gefühle sind Bewußtseinsmodi - des Ekels und der Langeweile. Ich will hier nicht darüber handeln, wieso Sartre gerade an diese beiden Gefühle denkt (man darf nicht vergessen, daß er das Sein, anders als Heidegger, als die nackte, bare, rechtfertigungs- und sinnlose Existenz denkt: als das, was vom Subjekt nicht verdaut werden kann und also >ausgekotzt< werden muß). 53 Nehmen wir an, es gebe ein Bewußtsein, in dem das Sein-selbst sich zur Erscheinung bringt, denn nur darum geht es hier (nicht darum, ob jemand vielleicht ein anderes Gefühl als Erscheinungsstätte des Seins vorschlagen möchte). Jetzt stehen wir an der ersten Weichenstellung des Sartreschen Hauptwerks. Sartre sagt nämlich, daß das erscheinende Sein das Sein der Erscheinung voraussetzt. Nicht, als könnte uns das allzusehr verwundern. Wir haben ja schon gehört, daß das Sein qua Existenz dem Wesen (als der
52 Dies Gefühl ist beschrieben in der berühmten Szene aus La nausee. Vorbild
ist
die
Jahrbuch
für Phänomenologie
Husserls Ideen,
phänomenologische
eines
und phänomenologische
ungarischen
Autors
im
Forschung, in dem auch
I. Band, und Heideggers Sein und Zeit erschienen waren: also
im Jahrbuch der phänomenologischen
54
Analyse
Sartres
Schule.
Synthesis der Erscheinungen) >vorausgehtl)]> der Unterschied beider liegt nur darin, daß das Phänomen eine einzelne Erscheinung und das Wesen eine [ideale] Synthesis aus allen Erscheinungen eines Objekts ist. Darum betrifft die These vom ontischen Primat des Seins vor dem Wesen die Erscheinung/das Phänomen ipso facto gleich mit.) Aber das Sein-selbst, das Sein an-sich oder vielmehr in-sich: es erscheint selbst nicht. Es ist überhaupt keine Eigenschaft (quidditas) des Objekts, sondern ist der inapparente /?e*/grund alles Erscheinens: »condition de tout devoilement: il est etrepour-devoiler et non etre devoile« (15). Ich kann nämlich die Eigenschaften eines Dings verändern - z. B. indem ich ein beschriebenes Papier durchstreiche, neu beschreibe, ausradiere, zerschnipsele oder verbrenne. Seine Existenz habe ich damit nicht zerschnipselt oder verbrannt. Das Sein ist überhaupt gar nicht etwas, über das ich Macht bekomme, wenn ich mich an seinen Eigenschaften (Wesenszügen, Erscheinungsweisen) vergreife. Es ist, wie Kant in einer berühmten Einsicht es formuliert hat, »kein reales Prädikat«. Es gehört nicht unter die Bestimmungen, die ich von einem Gegenstand aussage. Denn aussagen kann ich von etwas (xi x a t ä tivög) nur, was dieses Etwas ist: also sein Wesen (als - wie wir wissen - synthetische Einheit seiner Erscheinungen, die ihm als ebensoviele Eigenschaften zukommen.) Der Punkt ist besonderer Wichtigkeit. Da, sowohl für Schelling wie für Sartre, eine Weichenstellung ausschlagend war, die Kant 55
durchgesetzt hatte, muß zunächst kurz von ihm die Rede sein. Ich behaupte, daß Sartres Satz >im Selbstbewußtsein gehe die Existenz - das Sein - der Essenz - dem Wassein - voran< genau auch so für Kants Theorie des Selbstbewußtseins galt (und das ist nur eine von zahlreichen Parallelen, die Sartres Werk zu dem kantischen unterhält). Auch Kant gehört ja in die Reihe der Denker, die Subjektivität (er nennt sie mit Leibniz >Apperzeption, also Sich-selbstGewahren) für den Ausgangspunkt der Philosophie gehalten hat. Nun verteidigt Kant eine Zwei-Stämme-Lehre der Erkenntnis. Es gibt einerseits den Verstand, dessen Prinzip eben die Apperzeption ist; und es gibt andererseits die Sinnlichkeit, die uns die vom (unerkannbaren) Ding an sich gelieferten Erscheinungen beschert. >Erkenntnisse< bilden sich nur in Synthesen aus beiden: also dann, wenn sinnliche Informationen außerdem noch vom Verstand begrifflich bearbeitet werden. Nun entsteht natürlich für Kant folgendes Problem: Wenn auf den Titel >Erkenntnis< nur das Anspruch machen kann, was sowohl verständig wie auch sinnlich ist, dann entspricht dem Selbstbewußtsein selbst - das ja eine >reine intellektuelle Vorstellung< ist - keine Erkenntnis. Nun gehört es zu den Besonderheiten des >cogitoSelbstgewahrungontologischen Beweis*. In ihm wird von Seiten der Erscheinung nach einem Sein derselben verlangt: »il exige, en tant que phenomene, un fondement qui soit transphenomenal« (16). Damit schnellt der dialektische Ball - scheint's - vom Subjekt jäh auf das Sein zurück. Um zu rekapitulieren: Der erste Schritt war die Tilgung der Ontologie durch den Monismus des Phänomens: Sein ist nur als
mit derjenigen nicht in Widerspruch treten wird, die Kant ausdrücklich ablehnt und in welcher die Spontaneität des Verstandes die Materie der Sinne autark erschüfe (I.e.,
181 f.). Ich habe die entsprechenden Belege ausgewiesen und
interpretiert in meiner Arbeit Eine I.e., 42 ff.
64
Einführung
in Schellings
Philosophie,
erscheinendes. Das war die Position der (Husserlschen) Phänomenologie. Dann stellte sich heraus, daß etwas Phänomen nur sein kann für jemanden, also für ein Subjekt. Nun zeigt sich (drittens), daß die Erscheinung sich in Nichts auflösen würde, würde sie nicht vom Sein ontisch fundiert. Damit konzentrieren sich alle Blicke auf das Subjekt. Entweder kann es dem Phänomen das ihm fehlende Seins-Fundament zurückerstatten (und dann hätte die Seins-Position im Subjekt ihren Ort, und es würde verständlich, warum das Subjekt für einen philosophischen Ausgangspunkt hat gehalten werden können). Oder aber - zweite Möglichkeit - es stellte sich vom Subjekt heraus, daß es - als ein leeres Sich-selbst-Erscheinen, das alle Inhalte außer sich lassen muß - ontisch ebenfalls von einem Sein abhängig ist, das es außerhalb seiner Sphäre aufsuchen müßte. Und dann würde sich der »ontologische Beweis« für das Subjekt so auswirken, daß es die Staffel der Selbständigkeit in letzter Instanz doch ans subsistente Sein abtreten müßte. Vorderhand sieht es aber im Gegenteil so aus, als zeige sich, daß es kein Phänomen (also kein Erscheinen, auch kein SeinsErscheinen) gibt als für ein Subjekt. Und da das Subjekt - als Ort der Einsichtigkeit alles Erscheinens - die Drehscheibe ist, an der sich überhaupt alle Einsichtigkeits-Fragen entscheiden müssen, dürfen wir auch getrost die Seins-Frage an das Subjekt delegieren. Hier oder nirgends muß sich entscheiden, wem die Ehre der Priorität gebührt. Die Eleganz von Sartres >ontologischem Argument« besteht darin, daß es den Beweis der ontischen Priorität des Seins vor dem Erscheinen (und, da alles Erscheinen nur für-ein-Bewußtsein ist, auch vor dem Bewußtsein) aus der cartesianischen Evidenz des Selbstbewußtseins selbst sich erbringen läßt. Der Satz des Descartes heißt ja nicht einfach >cogito«, sondern >cogito, ergo sumc er impliziert eine Seins-Garantie. Was Kant aus diesem Doppelaspekt gemacht hat (und in welche theoretische Bredouille ihn das gebracht hat), haben wir eben gesehen. Jetzt wollen wir nachvollziehen, was Sartre aus der Existenz-Implikation des Selbstbewußtseins macht. 65
Die idealistische Position, in deren Sog wir uns gegenwärtig bewegen, macht die Rede vom Sein abhängig von dessen Erkennbarkeit. Das ist die Position des Bischofs Berkeley, die Sartre zitiert: »esse est percipi« (das meint: Sein ist Erkanntwerden). Ihr zufolge besteht die Berechtigung einer Annahme von Sein nur relativ auf ein Bewußtsein, das von ihm Kenntnis nimmt. Dann aber stellt sich jäh die Frage: die Erkenntnis selbst, ist die (17,1),? Auf diese Frage gibt es nur eine klare >janeinesse est percipi< kämen wir auf die Art in einen unendlichen Regreß, der das Sein auf immer unausgemacht lassen würde, und damit auch dasjenige Sein, ohne das nicht einmal eine idealistische Position konsistent durchgeführt werden könnte: nämlich das Sein des erkennenden Subjekts. Halten wir nun Descartes' Schluß >cogito sum< für eine Gewißheit (und das heißt: für eine unumstößliche Wahrheit), so muß das Sein des Bewußtseins andersworauf begründet sein als darauf, daß es von einem anderen (es fundierenden) Bewußtsein abhängt. Genauer gesagt: es müßte ein Bewußtsein geben, dessen Sein resistent dagegen wäre, daß ein anderes Bewußtsein es reflexiv wiederaufnähme. Noch anders gesagt: es müßte ein Bewußtsein geben, dessen Kenntnis von sich nicht darauf beruhte, daß ein anderes (zweites) Bewußtsein allererst nötig hätte, es reflexiv zu thematisieren. Definieren wir nun die »Erkenntnis (connaissance)< als den expliziten Bezug des 66
Bewußtseins auf ein ihm Anderes (eingeschlossen: auf ein anderes, auf ein von ihm numerisch verschiedenes Bewußtsein), so müssen wir sagen: Selbstbewußtsein darf nicht ein Fall von Selbst-Erkenntnis sein. Denn das Sein des Bewußtseins wäre nur zu retten, wenn im Bewußtsein der Subjekt- und der Objekt-Pol nicht auseinandertreten. Noch anders gesagt: der Satz >esse est percipi< muß, soll es ein Sein des Bewußtseins geben, hinsichtlich der Kenntnis, die das Bewußtsein von sich hat, suspendiert sein. Das Bewußtsein muß sich seines Seins vergewissern können, ohne sich zu vergegenständlichen. Wenn Bewußtsein ist, so nicht in der Weise, daß sein Sein Gegenstand einer Erkenntnis ist. Also muß die Erkenntnis-von-sich (die es durchaus gibt) auf ein unmittelbares Selbstbewußtsein begründet sein, in dem Subjekt und Objekt des Bewußtseins eines und dasselbe sind und sich als dasselbe auch kennen. Und dieses unmittelbare (durch keinerlei Mittelbarkeit gestörte) Selbstbewußtsein, sagt Sartre, ist die wahre »transphänomenale Seinsdimension des Subjekts« (I.e.), nach der wir suchen. Dafür, daß wir dem Bewußtsein-von-sich unbedingt die Ungegenständlichkeit als Seinsart zuschreiben müssen, kennen wir übrigens noch ein zusätzliches Motiv: Sie erinnern sich, daß die Transzendenz des Objekts sich daran kenntlich macht, daß es immer mehr ist als die Reihe der subjektiven Erscheinungen, durch die es sich uns kenntlich macht. Darum gilt ja auch das »Wer Objekt sagt, sagt bloß wahrscheinlich (celui qui dit >objetadäquat< heißt: im Nu in allen seinen Aspekten. Allein darum schon könnte Selbstbewußtsein kein Objekt-Bewußtsein sein; und allein darum schon könnte das Subjekt keinen Inhalt haben (oder vielmehr: jeder Inhalt muß ihm äußerlich: auf der Gegen67
stands-Seite fern von ihm bleiben). Sartre sagt gelegentlich: jedes Objekt sei »un centre d'opacite pour la conscience«: »il faudrait un proces infini pour inventorier le contenu total d'une chose« (EN 18). Nein, das Subjekt ist nicht durch Opazität, sondern durch Durchsichtigkeit ausgezeichnet; es kann keinen seiner Aspekte >ignorieren< (I.e.): es ist mit sich schlechterdings vertraut. Wobei mit >sich< eben meint: nicht mit seinen Inhalten auf der Gegenstands-Seite - und dazu zählt Sartre auch alles >PsychischeIntentionalität< meinte Husserl des Bewußtseins Aus-Sein-auf-etwas, das es normalerweise nicht selbst ich. Ich liebe jemanden, ich begehre, ich sehe, ich meine, ich lese etwas, mir ist um etwas zu tun usw. Solches intentionale Bewußtsein ist zweistellig. Es gibt da ein Bewußtsein und eines, von dem dies Bewußtsein besteht - und beide sind nicht dasselbe (mein Durst ist nicht das Wasser, nach dem ich schmachte; meine Verliebtheit ist nicht die Geliebte; und meine Wahrnehmung des Palazzo Pitti ist nicht der Palazzo Pitti selbst). Das gilt auch für den besonderen (für die Philosophie besonders wichtigen) Fall, daß das Bewußtsein sich selbst intentional vergegenwärtigt. Dann biegt es sich auf sich selbst zurück: es ist - mit einem lateinischen Kunstausdruck reflexiv. Auch hier ist das reflektierende Bewußtsein zumindest numerisch vom reflektierten unterschieden; und das Reflektierte könnte (zur Not) sehr wohl nicht sein, ohne daß darum auch das Reflektierende sich in nichts auflösen müßte (so wie ich mich in der Bestimmung irgendeines Intentional-Objekts vertun oder gar halluzinieren kann, ohne daß ich darum von Zweifeln 59 Vgl. Sartres lebhaft-anschaulichen Kurz-Essay Eine fundamentale Phänomenologie 29-32.
68
Husserls:
die Intentionalität,
in: Situations>
Idee der
I, Paris 1947,
an der Existenz des intendierende« Bewußtsein beschlichen würde). Von genau der Art (eines auch nicht sein könnenden Gegenstandes) kann der von Selbstbewußtsein nicht sein: denn in ihm darf das Sein nicht in die Stellung eines geraten, das von einem anderen abhängig ist. Das Selbst bewußtsein qua Bewußtsein meiner selbst als eines Existierenden verlangt vollkommene Prä-reflexivität (das ist Sartres Kunstausdruck); und nur darin besteht die unumstößliche Seins-Gewißheit, die ihm eignet. Auch wenn das, was ich intentional ins Auge fasse, nicht sein sollte, auch dann habe ich noch Selbstbewußtsein von dem Akt, der sich darauf richtet (»toute conscience positionnelle d'objet est en meme temps conscience non positionelle de soi« [EN 19,2]); weiß, daß dieser Akt existiert: ich weiß das, so wahr ich Bewußtsein von ihm habe: ein Bewußtsein, das mit dem Akt koextensiv ist und mit seinem Sein steht und fällt. Es wäre absurd anzunehmen, daß dieses Bewußtsein sich nicht kennen könnte: dann dann würde ich sagen können, daß ich von etwas Bewußtsein habe, das aber nicht wisse. Ich würde etwas völlig Unfundiertes und Unfundierbares gesagt haben. Natürlich kann ich auf ein Bewußtsein, das mit sich selbst unmittelbar bekannt ist, mittelbarerweise (durch eine reflexive Rückwendung auf mich selbst) in Beziehung treten. Aber das kann ich nur, weil ich, der reflexiven Rückwendung zuvor, mit mir präreflexiv schon vertraut war. Und es versteht sich von selbst, daß ein schon Bekanntes durch die Vermittlung der Reflexion auch explizit mit sich in Kontakt treten kann - aber eben unter der Voraussetzung, daß die Erkenntnis, die ich alsdann von mir gewinne, durch eine unmittelbare Selbstvertrautheit, die Sartre >nicht-setzendes< oder >prä-reflexives Selbstbewußtsein< nennt, bereits fundiert war. So ist die Erkenntnisvon-mir eigentlich ein Wieder-Erkennen; denn der Gegenstand der Reflexion mußte vor der Reflexion sich selbst schon bekannt (vertraut) gewesen sein. Andernfalls würde die Reflexion - und >Reflexion< heißt ja wörtlich: Widerspiegelung - im Spiegel ihrer Erkenntnis zwar etwas vorfinden. Sie hätte aber keinerlei Kriterium, um dieses anonyme Etwas als sich 69
zu identifizieren, wie sie's doch im Selbstbewußtsein mit untrüglicher Sicherheit tut. (Man kann hier denken an Roderick Chisholms Unterscheidung zwischen einem auf ErkenntnisBasis richtig identifizierten Subjekt x einerseits, das von sich selbst - also von x - erstens richtig identifiziert und zweitens für einen Gegenstand gehalten wird, der dieses oder jene Eigenschaft hat, und andererseits einem Subjekt, das ohne alle Erkenntnis-vermittelte Identifikation etwas von sich selbst* glaubt. 60 Das letztere, als zur Sicherheit seines epistemischen Selbstbezugs gelangt ohne alle kriterienvermittelte Erkenntis über sich, ist notwendig prä-reflexiv mit sich bekannt.) 61 60 Roderick Chisholm, The First Person. An Essay on Reference and tionality,
Brighton: The Harvester Press,
gehörigen
Verhältnisse
bewußtsein Subjektivität,
ausführlich
und Selbsterkenntnis. Stuttgart: Reclam,
1981,
analysiert
Inten-
17 ff. Ich habe die hierher
und
interpretiert
Essays zur analytischen
in
Selbst-
Philosophie
der
1991.
61 Jacques Lacan hat in einer berühmten Arbeit übers »Spiegelstadium« glauben machen wollen, die Freude des neugeborenen Menschenwesen über seine integrale Repräsentation im Spiegel sei Freude über sein Sich-als-sich-Erkennen. Das ist natürlich denkbar, setzt aber voraus, daß auch der »homo infans« ein SelbstGefühl als Kriterium seines Selbstbewußtseins schon haue; sonst würde er im Spiegel zwar jemanden, und diesen integral erkennen, nicht aber wissen, daß er mit sich zu tun hat. C . G . Gallup, J r . beschreibt ein Experiment, das Lacans These schlagend widerlegt und zeigt, daß z. B. auch Schimpansen ein »Selbstgefühl< haben. Sieht das Tier den Farbfleck, den man ihm auf die Stirn gemalt hat, im Spiegel, so wischt es ihn sich nicht im Spiegelbild, sondern auf der eigenen Stirn aus. So mußte es wissen, daß das Spiegelbild nur eine Repräsentation seines Körpers war - und diese Information konnte es nicht aus dem Spiegel erworben
haben (Cimpanzees: Self-Recognitiony
in: Science, 6 June 1983, 86 f.). Man hat
dieses Experiment verschiedentlich wiederholt, z. B. mit einer im Wortsinne selbstbewußten Schimpansin im Baseler Zoo. Vgl. auch die bemerkenswerten Äußerungen aus Fichtes Platner-Kolleg: »Ich bin unmittelbar nur meiner selbst und insbesondere meines Handelns mir bewußt. Über das Band zwischen dem Objekt und Subjekt ist oft gefragt worden, und diese
Frage
ist
es
eben,
die
die
bisherigen
Philosophen
[fast] gar
nicht
beantworten konnten. Man hat gesagt, die Seele sei ein Spiegel, in dem die Welt sich spiegelt [vgl. Philosophy
damit die Polemik
and the Mirror
of Nature].
gegen diese Metapher in R.
Rortys
Es fragt sich aber, wer sieht denn die
Bilder in diesem Spiegel? Der Spiegel selbst? Keineswegs. N u n soll aber erklärt werden, woher das Bewußtsein der Objekte entstehe. Man muß also noch ein
70
Nun haben wir folgenden Befund: das gesuchte trans-phänomenale Sein ist gefunden: es ist - so scheint's jedenfalls - das Sein der Subjektivität selbst. 62 Wie kam das Subjekt in die Stellung des Platzhalters des subsistenten Seins? Dadurch, daß in ihm keine Dualität, kein Objekt-Subjekt-Gegensatz (19,1), keine Paarigkeit (»La conscience de soi n'est pas couple«), keine Reflexivität angetroffen wird. So kann von ihm der Satz des Bischofs Berkeley >Sein ist relativ aufs Erkanntwerden< nicht gelten. Denn Selbstbewußtsein, sahen wir, ist kein Sich-selbstErkennen oder Wissen von sich ( 1 8 , 3 ) . Also gibt es hier auch Sein-Sein-nicht-in-sich-, sondern in-einem-Anderen-Haben. Selbstbewußtsein ist irreflexiv; es trägt seine Seinsgewißheit unmittelbar in sich selbst. Wenn es bewußt ist, so ist dieses Bewußtsein auch immer. Wenn ich Bewußtsein davon habe, verliebt zu sein, so bin ich verliebt - unabhängig von einer Reflexion, die ich auf den Inhalt dieses Bewußtseins schicke. (Wäre dem Bewußtsein dagegen ein Objekt präsentiert, so würde die Erkenntnis nie adäquat sein können: denn wir wissen ja, daß, »wer Objekt sagt, wahrscheinlich sagt« [wegen der Abschattungs-Unendlichkeit aller Objekt-Präsentationen]; dagegen ist das Subjekt sich adäquat und apodiktisch präsentiert: also ungegenständlich.) Bedeutet das nun auch - und damit wird die dritte und entdrittes haben. Stellt man da wieder einen Spiegel hin, so werden in ihn ebenso die Bilder hineinfallen; aber der zweite Spiegel sieht auch nicht. Man muß also etwas hinzunehmen, das sieht. Dies ist kürzlich die Geschichte der bisherigen Philosophie; man läßt Bilder in die Seele einströmen wie in einen Spiegel; aber dadurch wird die Frage nicht vergessen, was eigentlich sehe, oder die Frage nach dem Bande der Objekte und des Subjekts. Sie läßt sich nun so beantworten: Das vernünftige Wesen kann kein Spiegel sein, in dem sich eine Gestalt abdrückt, sondern ist ein Handelndes, selbsttätiges, und ist sich dieses Selbsttuns unmittelbar bewußt [etc.]« (Johann Gottlieb Fichte, Nachgelassene
Schriften,
hg. von Hans Jacob, Berlin 1937, Bd. II, 40).
62 Sie werden vielleicht fragen, mit welchem Recht ich die Ausdrücke »Subjektivität« und »Selbstbewußtsein« einfach pele-mele verwende, Ich tue das, weil Sartre selbst es so hält: »Ce qu'on peut nommer proprement subjectivite, c'est la conscience (de) conscience« (EN
29).
71
scheidende dialektische Runde zwischen dem Sein und dem Für-sich eröffnet daß, wenn die Seinsgewißheit nur im Subjekt angetroffen wird, das Subjekt mit dem En-soi-Sein geradehin identifiziert werden kann? Und daß wir dasjenige Sein, das dem Erscheinen ontisch zuvorkommt, nun endgültig im Selbstbewußtsein angetroffen haben? Keineswegs, antwortet Sartre. Und diese Antwort ist nach dem vorangehenden nicht gerade leicht nachzuvollziehen. Was soll das heißen, wenn Sartre sagt: Das Subjekt ist zwar der Ort, in dem die Transphänomenalität des Seins zur Gewißheit wird; nicht aber ist das Subjekt selbst = dem En-soi. Seine innere Leere macht vielmehr, daß es ontisch vom En-soi abhängt (also ontisch unselbständig ist) - was nicht ausschließt, daß es transzendental eine (auf En-soi) irreduzible Größe, ein eigener Seins-Typs, eben der des etre pour-soi, ist. Wie ist das denkbar? Nun, dadurch, daß die vielbeschworene Selbstdurchsichtigkeit des Selbstbewußtseins mit dem Umstand erkauft ist, daß das Selbstbewußtsein an ihm selbst oder durch sich selbst keinen Inhalt hat: es ist völlig substanzlos oder leer (wie übrigens auch das kantische >Ich denkekontingent< meint: nicht durch eine Potenz oder einen Grund mit einer Art »Notwendigkeit« geadelt. Kurz: das Ansich-Seiende ist dem Bewußtsein in allen Merkmalen kontradiktorisch entgegengesetzt: es ist von sich erfüllt, reine Position/ Positivität, reines fugenloses Mit-sich-Zusammenfallen, lautere Unbewußtheit und Bestimmungsunabhängigkeit. So bedarf es zu seinem Subsistieren nicht des Bewußtseins; im Gegenteil wäre - das besagt ja der »ontologische Beweis« - das Bewußtsein nicht ohne das En-soi, >auf das es gerichtet und von dem es getragen ist«. Das bedeutet aber nicht, daß das Sein-an-sich ohne die Zutat des Bewußtseins an den Status des >Seinsphänomens< gelangte, daß die (Heideggersche) Erschlossenheit 74
ihm von anderswärtsher zukäme als von seiten des Bewußtseins. Da aber das Bewußtsein - in jeder Hinsicht dem Sein entgegengesetzt - nichtig ist, richtet sich nun alle Aufmerksamkeit auf eine reichere Bestimmung dieses seines >me-ontologischen< Status (und hier fällt Licht auf Sartre durch eine zentrale Unterscheidung der Schellingschen Spätphilosophie). Sartre unterscheidet zunächst zwischen zwei Weisen, in denen von >nichts< geredet werden kann: zwischen dem Nichts als >neant< und als >rien< (EN 51). Jenes sei das - verglichen mit den Sein en-soi - nicht Seiende; dieses das in keinem Betracht, das überhaupt nicht Seiende. »II est frappant«, schreibt Sartre, »que la langue nous fournisse un neant des choses (>Rienrien< und >neantEs gibt Bewußtsein«. Wie gibt es also Bewußtsein, wenn es doch zu dessen Seins-Auszeichnung gehört, ein >Nichts-an-Sein< (oder genauer: ein Nichts-an-En-soi) zu sein? Darüber wissen wir einiges schon aus dem Kontext des ontologischen (oder besser: des me-ontologischen) Beweises. Das Nichts-an-Sein, als welches wir das Bewußtsein kennen, ist in der Weise, sich auf ein Sein zu stützen (und intentional zu beziehen), das nicht es selbst ist. Das meint Sartre, wenn er schreibt, das Sein des Bewußtseins sei ein geliehenes Sein. Und das meint er auch mit der auf Anhieb nicht leicht verständlichen Formel vom >etre eteSein = Erkannt-Werden< (Berkeleys >esse est percipidas präreflexive Cogito und das Sein des perciperec II n'a pas
(. . .) d'abord
une conscience qui recevrait ensuite
une affection
»plaisir«, comme une eau qu'on colore, qu'il n'y a d'abord un plaisir (inconscient ou psychologique) que recevrait ensuite la qualite de conscient, comme un faisceau de lumiere. Ii y a un etre indivisible, indissoluble - non point une substance soutenant ses qualites comme de moindre etre, mais un etre qui est existence de part en part. Le plaisir est Petre de la conscience (de) soi et la conscience (de) soi est la loi d'etre du plaisir. C'est ce qu'exprime fort bien Heidegger, lorsqu'il ecrit (en parlant du »Dasein«, ä vrai dire, non de la conscience): »Le (essentia)
>comment
Existenz< mit der scholastischen verwechselt, in der >existentia< quodditas (Daß-Sein) meint. Und er würde sich auch ganz entstellend zitiert fühlen, wenn Sartre dies Zitat 1. in einen Selbstbewußtseinskontext versetzt (aus dem Heidegger es gerade heraushalten wollte), und wenn Sartre 2. seine These vom Vorrang der Existenz (des Daß-Seins) vor der Essenz (dem Was-Sein) benützen will, um die Freiheit des Subjekts zu erklären. (Sartres ihm unbewußtes, aber wirkliches Vorbild ist hier wie oft Schelling, der Freiheit als die Unabhängigkeit des 84
Wesens vom Daß verstanden hat und der von des Subjekts »Freiheit gegen das eigene Sein« spricht [Pos. Ph. 443]; auch sagt er: »Der Mensch muß von seinem Seyn sich losreissen, um ein freies Seyn anzufangen. [. . .] Sich von sich selbst befreien, ist die Aufgabe aller Bildung« 67 - aber das ist jetzt nicht unser Thema.) Kehren wir vielmehr in unseren eigenen Zusammenhang zurück: Sartre sagt hier,- daß das Sein und das Seins-Bewußtsein in der >conscience (de) soi< untrennbar verbunden sind. Dennoch unterscheidet er zwei Momente: die Lust als Sewfsmoment] des Bewußtseins und ein formales Element, das er >das Gesetz des Seins der Lust< nennt: offenbar die Bewußtseinskomponente. So wird er später (EN 126) das >neant neantise< im Selbstbewußtsein vom >pouvoir neantisant< unterscheiden; jenes wäre sozusagen das Objekt-Moment, dieses die Subjekt-Seite des Selbstbewußtseins, obwohl (wie wir uns erinnnern) Sartre die Eintragung einer Subjekt-ObjektDifferenz ins präreflexive Selbstbewußtsein zwei Seiten früher (19) streng abgewiesen hatte. Darauf wäre - bei der Freilegung der Mikro-Struktur von Sartres >Selbstbewußtsein< - noch genauer zurückzukommen. Ich muß mich mit dem Nachweis begnügen, daß Sartre in der Abhängigkeit des Seins vom Bewußtsein (innerhalb des präreflexiven Cogito) die Spur seiner künftigen Freiheit (und übrigens auch seiner Zeitlichkeit) erblickt: Im Selbstbewußtsein bestimmt das (nichtende) FormMoment das vergleichsweise materielle (das genichtete) Moment, es gibt so etwas wie Selbstbestimmung im Bewußtsein (»cette determination de soi par soi« [22]). Drastisch ausgedrückt (und so gewißt auf Dauer nicht haltbar): das Bewußtsein wählt frei, als was (unter welchem Inhalt) es existieren möchte: ob als Lust, ob als Schmerz - denn die strenge gläserne Selbstbezüglichkeit des Cogito schließt aus, daß da ein ihm Äußeres ins Spiel käme, von dem es Bestimmungen erführe. So 67 In: Philosophie
der Offenbarung
Manfred Frank, Frankfurt a. M.
1841/42
( - Paulus-Nachschrift), hg. von
1977; vgl. weitere Zitate in der Einleitung,
66:.
85
nichtet das Bewußtsein sein eigenes Sein, aber in der Weise, darauf bewußt als auf seinen immanenten Inhalt bezogen zu sein: als das, was es selbst nicht ist (oder: als das, was es sich bestimmt, selbst nicht zu sein) und wovon es apodiktisches Bewußtsein hat. - Diese (jetzt noch undurchsichtigte) Struktur der inneren Selbst-Negation (an der aber seine Autonomie und Selbständigkeit gegenüber dem Sein hängt) macht dann für Sartre erneut einen Anschluß an Heidegger möglich. Heidegger sagt ja, das Dasein sei dasjenige Seiende, dem es in seinem Sein um sein Sein geht. Das übersetzt Sartre so: »la conscience est un etre lequel il est dans son etre question de son etre« (29). Und das versteht Sartre so: das Subjekt ist das sich selbst radikal fragliche Wesen: denn seine Seinsauszeichnung ist dies, daß es sein eigenes Sein in Frage stellt, d. h. sich nichtet. Und genau darin besteht seine Autonomie gegenüber dem En-soi, von dem es gleichwohl ontisch abhängt. (Käme ihm nämlich selbst substantielles Sein zu, dann würde es unabhängig von seinem Gegenstand existieren können68 - genau das kann es aber nicht: es ist immer nur ein - präreflexiv mit sich selbst bekanntes - Bewußtsein von etwas, das normalerweise nicht es selbst, also nicht sein eigener vergegenständlichter Reflex selbst, ist.) Hier deutet sich eine Spannung an in Sartres Konzeption des Selbstbewußtseins. Wir müssen sie kurz ins Auge fassen, bevor der nächste Schritt einsichtig wird. Dieser nächste Schritt müßte darin bestehen zu zeigen, daß sich das Bewußtsein über sich selbst täuschen kann. Es prätendiert dann, etwas über sich zu glauben, von dem es doch wissen können sollte, daß es diesen Glauben über sich nicht hat. Man könnte ihm dann aufs Gesicht zu sagen: >Das glaubst du doch wohl selber nicht!< Diese >Schlechtgläubigkeit< heißt >mauvaise foi< (EN 85 ff.). Normalerweise wird der Ausdruck durch >Unaufrichtigkeit< übersetzt, obwohl das Phänomen damit einen moralischen Anstrich bekommt, der Sartres streng phänomenbezogene 68 Vgl. Gerhard Seel, I.e., 17 u. 0
86
Analyse eher verstellt. Da Sartre Freuds Unbewußtes als eine >Mythologie< ablehnt, nicht aber die psychischen oder behavioralen Phänomene leugnet, aufgrund deren Freud die Hypothese eines Unbewußten aufgestellt hatte, dient ihm die Analyse der >mauvaise foi< als Alternative zur Erklärung von Phänomenen wie Verdrängung und Verleugnung. Eine durchgeführte »existentielle Psychoanalyse< (die Sartre merkwürdigerweise ganz an den Schluß seines Buches gesetzt hat) knüpft hieran an. Zunächst eine Illustration des Phänomens - dann ein Hinweis auf ein theoretisches Problem, das in Sartres Theorie aus Anlaß ihrer Analyse aufbricht. Sartre erzählt uns die Geschichte eines Paares, eines Manns und einer Frau, die in einem Park Spazierengehen. Beide haben den Kopf voller sublimer Gedanken und entzücken sich an den Blumenrabatten, am Duft der Linden, an einem herrlichen Konzert, das sie gehört haben, an allem Romantischen und Lyrischen, das in der Luft liegt. Nur ein Inhalt wird von ihrem Bewußtsein ausgeschlossen oder einfach nicht realisiert: der der Verliebtheit oder des aufkommenden Begehrens. So geht es eine Weile, aber nun ergreift der Mann die Hand der Frau, nehmen wir an: sanft und kaum merklich. Und sie bestimmt nun ihr Bewußtsein, diese Veränderung einfach nicht zu registrieren, obwohl ihr Herz stärker schlägt und sie größere Mühe hat, den romantischen Diskurs mit scheinbarer Unbefangenheit fortzusetzen. Die Hand löst sich in ihrem Geist von ihrem Körper ab, es ist nicht die ihre, sie ruht wie ein Stück Materie bedeutungslos in einem anderen sie anonym umschließenden Material usw. Kurz: diese Frau glaubt selbst nicht, was sie sich da zu glauben einredet. Sie praktiziert die >Schlechtgläubigkeit< oder »mauvaise foiAber das glaubst du ja selbst nicht.Dasein, dem es in seinem Sein um sein Sein zu tun istZu-tun-Sein-umsein-eigenes-Sein< im Französischen wiedergibt durch ein >Sichselbst-in-Fragen-Stellenunmittelbar< und »unbed i n g t selbst >absolut< einbringen konnte). Wohl aber können wir das Motiv für Sartres augenscheinlichen Selbstwiderspruch erraten. (Es ähnelt wieder bis in die Details der Relation von unbedingter Einheit und zeitlicher Differenzierung des absoluten Subjekts bei Schelling.) Sartre möchte mit dem Ausgang vom Subjekt nicht - wie die cartesianische und die idealistische Philosophie - in die Falle des >Instantaneismus< geraten. Damit ist die Zeitlosigkeit des Selbstbewußtseins gemeint. Das Selbstbewußtsein soll vielmehr zeitlich sein oder doch wenigstens die Struktur der Zeitlichkeit aus sich verständlich machen. Nun gilt für die Zeit, daß sie - anders als die erste Bestimmung des präreflexiven Cogito - offensichtlich nach Vor und Nach, womöglich gar nach Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gegliedert ist. Diese Gliederung nun ist nicht einfach eine Zerstückelung. Sartre sagt sehr treffend: »Si donc le temps est Separation, du moins / est-il une Separation d'un type special: une division qui reunit« (EN 176/7). Dann fragt sich natürlich bei der Anlage von Sartres Selbstbewußtseins-Theorie sogleich: welche Instanz könnte diese Einigung besorgen? Sicher nicht der negative Selbst-Bezug, denn der bringt ja gerade eine Selbst-Anfechtung, ein Identitäts-Dementi mit sich. Außerdem hat Sartre, wie wir sahen, den Titel »Identität« an die Seinsweise des En-soi verschenkt, kann sich also 9i
seiner nicht bedienen, um die innere Zugleich-Einheitlichkeitund-Gegliedertheit des zeitlich strömenden Bewußtseins zu charakterisieren. Dennoch bedarf auch das Bewußtsein einer gewissen Einheit, um dem Zeitfluß Kontinuität (also Einheit im Wechsel) zu verleihen. Und um deretwillen hält Sartre auch wieder an der Bestimmung des Bewußtseins als indistinker Einheit zweier Momente fest, die er später >reflet< und >refletant< nennt. 69
69 Ich
habe das ausgeführt in meinem
Pfullingen
92
1990.
opuscula-Bändchen
Zeitbewußtainy
Einleitung Schellings Name hat unter Marxisten rechten Glaubens keinen guten Klang. Der Ruf des Reaktionärs klebt dem früheren Sympathisanten mit dem Jakobinertum in ihrer maßgeblichen Philosophiegeschichtsschreibung ebenso hartnäckig an wie der Pomadentopf den Versen des Euripides in der aristophanischen Komödie. 1 Nimmt man die Rüge ernst, so fehlt ihr doch viel zu einem Argument. Als Zeitgenossin einer komplexen historischen Wirklichkeit spiegelt Schellings Philosophie die Tendenzen - auch >progressive< - ihrer Epoche wider. Hatte sie darum nicht gleiches Recht mit Hegel auf die Engelssche Unterscheidung ihres »relativen Konservatismus< von dem »absolut revolutionären Charakter< 2 , den sie, wie die Rezeptionsgeschichte beweist, gleichsam wider persönliches Wollen, als ein Allgemeines in sich verbarg? Wir danken dem dialektischen Materialismus die Einsicht, daß historische Prozesse jederzeit das individuelle Bewußtsein des Handelnden übertreffen. Warum sollte gerade Schellings historische Leistung in ihrem privaten Konservatismus sich erschöpfen? - Übrigens scheint es nicht sinnvoll, den Grad der Schellingschen »Justifikation dessen, was da ist«3, an der komparativen Fortschrittlichkeit Hegels zu messen. Der Vergleich mit dem überlegenen politischen Bewußtsein des Freundes 4 sucht eine Auseinandersetzung ins Private abzudrängen, bei 1 Frösche, V . 1 1 9 7 ff. 2 Friedrich Engels, Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie. In: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, hg. vom Institut
für Marxismus-Leninismus
beim
ZK
der S E D ,
Berlin
1956
ff.,
Bd. 2 1 , 2 6 7 / 8 . 3 Heinrich H e i n e , Beiträge
zur deutschen
Ideologie,
hg. von H a n s M a y e r ,
Frankfurt/M.-Berlin-Wien 1971, 181. 4 Noch immer w ü r d e ein solcher Vergleich der noch zu leistenden gehenden
Aufarbeitung
und
Ausdeutung
der Quellen
vorgreifen,
eindie
-
wenigstens w a s Schelling b e t r i f f t - durchaus noch nicht k o m p l e t t erschlossen sind. 93
deren Beurteilung nur das philosophische Potential den Ausschlag geben darf. Auf dieser Ebene schwindet die Differenz beider voneinander zur Unerheblichkeit gegenüber dem Fortschritt, den Marx über beide glaubte errungen zu haben. Schließlich wissen wir, daß sowohl Feuerbach wie auch Marx wesentliche Argumente ihrer Hegelkritik - und zwar solche, die seither mit ihrem Namen verbunden geblieben sind von Schelling übernommen haben. Im Unterschied zur Mehrzahl ihrer Nachfolger waren sie sich dessen - wenn auch zuweilen ungern - bewußt. Man muß überdies sehen, daß die frühe, besonders die Engelssche Polemik gegen Schelling fast durchweg im Namen und zur Verteidigung Hegels geschah. Sie kann darum nicht schon für eine Artikulation des seiner selbst bewußt gewordenen dialektischen Materialismus angesehen werden. Die westliche Schellingforschung bietet kein vergleichbar einheitliches Bild. Glücklicherweise gehört auch bei uns die Stilisierung Hölderlins zu einer Mimose edler, weil apolitischer Innerlichkeit ebenso der Vergangenheit an wie die Entstellung des Schellingschen Ansatzes zu einem natur- und kunstfrohen Klassizismus. Die Vielfalt von Aspekten, unter denen sich sein Werk betrachten ließ, spiegelt sich in einer Fülle von Interpretationen verschiedenster Ausrichtung. 5 Einige Versuche nehmen ihn als Denker der Geschichtlichkeit in Anspruch, der ein wesentliches Wahrheitsmoment des Marxismus vorweggenommen habe. 6 Wir pflichten dieser These bei, möchten allerdings darauf aufmerksam machen, daß es 5 Einen
guten
Oberblick
über
die
Forschungssituation
graphie von Hans Jörg Sandkühler, Friedrich
Wilhelm
gibt
die
Joseph
Biblio-
Schelling,
Stuttgart 1 9 7 ° -
6 So exemplarisch
Jürgen Habermas, Dialektischer
Idealismus
im
Über-
gang zum Materialismus - Geschichtsphilosophische Folgerungen aus Schellings Idee einer Contraction Gottes. In: Theorie und Praxis, Frankfurt/Main
197*.
Vgl.
neuerdings
die etwas oberflächliche, aber
anregende Arbeit von Friedrich W . Schmidt, Zum bei Schelling
und Hegel,
graphie von S a n d k ü h l e r .
94
Begriff
der
vielfach Negativität
Stuttgart 1 9 7 1 . Weitere Auskünfte gibt die B i b l i o -
gerade Argumente aus Schellings Auseinandersetzung mit Hegels Logik gewesen sind, die der Dialektik der Marxisten zu einer materialistischen Fundierung verholfen haben. 7 Die Bedeutung, die ihnen für die Selbstkonstitution des Feuerbachschen, aber auch des Marxschen Denkens zukommt, ist wenn überhaupt - nur beiläufig gewürdigt worden. Es gibt auch bis zur Stunde keine wirklich befriedigende philosophische Rekonstruktion des Dialogs, der nach Hölderlins Verstummen - wie immer indirekt - zwischen Schelling und Hegel stattgefunden hat. Dergleichen läßt sich freilich nur in Angriff nehmen, wenn Kriterien zur Verfügung stehen, die die Divergenzen der beiden Systemtypen von der Basis eines grundsätzlichen Konsensus sich abheben lassen. Der Rekonstruktion dieses philosophischen Dialogs und dem Aufweis historischer Nahtstellen der Schellingschen mit der Feuerbach-Marxschen Kritik an Hegel ist unsere Arbeit gewidmet. Übrigens glauben wir, daß ein Teil besonders der westlichen Forschung in konsequenter Ausrichtung auf Geschichtlichkeit und Praxis die wesentliche Dimension, in der sich das Marxsche Denken bewegt, wiedergewonnen hat. Eine Gefahr sehen wir allerdings in der Tendenz zur totalen Reduktion der Natur auf die sie aneignende und verwandelnde Arbeit und auf die solcherart vermittelten historischen Prozesse. Die naturhafte Grundlage von Praxis (die, Marx zufolge, eine »sinnliches »gegenständliche Tätigkeit bleibt) wird buchstäblich dadurch zur Verdunstung und Ätherisierung getrieben, daß man zeigt, sie entferne sich im Verlauf der Bearbeitung immer mehr von jener und löse sich endlich in einen leeren Allgemeinbegriff wie Geschichte, Praxis oder Struktur auf. 7 Das
übersehen
selbst
neuere
Arbeiten
zu
Hegel
geschichte seiner D i a l e k t i k wie Werner Becker, Hegels
und das Prinzip sehe Dialektik,
des Idealismus,
und Begriff
zur
Wirkungs-
der
Dialektik
Stuttgart 1969; Andries Sarlemijn,
Hegel-
Berlin 1 9 7 1 , sowie H a n s Friedrich F u l d a und Dieter Henrich
(Hg.), Materialien
zu Hegels
>Phänomenologie
des Geistes,
Frankfurt/
Main 1973, 7 - 4 1 .
95
Dieser Rationalisierungsakt, der nicht nur blind ist gegen seine Komplizenschaft mit den Medianismen der bürgerlichen Gesellschaften, sondern auch eine traditionsreiche Berührungsangst neuzeitlichen Denkens vor der Materie zum Ausdruck bringt, steht in der Nachfolge der Hegeischen Logik: Das Sein, nur scheinbar die Basis des Prozesses, hebt sich ins Wesen auf; aber nicht nur in dem Maße, wie es bestimmbar ist (esse apparens), sondern gleichsam mit Haut und Haar, und wird ein am Wesen selbst bestehender Schein. Solche Destillation des puren Gedankens aus der Trübheit des Seins steht in genauem Zusammenhang mit der frühkapitalistischen Autonomisierung des Mittels gegenüber seinem Ursprung wie seinem Zweck.8 »D'une mani^re ou d'une autre«, sagt Sartre, »le bourgeois fait fonction d'intermediaire entre le producteur et le consommateur, il est le moyen terme eleve a la toutepuissance. ( . . . ) Comme le bourgeois n'a de rapport avec les forces naturelles que par personnes interposees (...)> il a . . . choisi de donner la premiere importance au moyen.« 9 8 Tendenziell beherrscht diese I d e o l o g i e selbst weite R e g i o n e n nannten »klassischen Marxismus«. J ü r g e n H a b e r m a s (Erkenntnis esse, F f m . 1970*, 59 ff.) und neuerdings A l f r e d Schmidt
Sinnlichkeit.
Ludwig
Feuerbachs
anthropologischer
des und
Inter-
(Emanzipatorische
Materialismus,
chen 1 9 7 3 , 30 ff ) haben darauf hingewiesen, daß der von
soge-
Mün-
positivistischem
Fortschrittsglauben unreflektiert genährte Instrumentalismus, der N a t u r auf den Status einer z w a r p r ä h i s t o r i s c h - f u n d a m e n t a l e n , aber v o n P r a x i s zum T ä t i g k e i t s o b j e k t in
gelegentlichen
Marx
degradierten
Aphorismen
und Engels sich
findet.
Entität
eingeschränkte -
Ohne Z w e i f e l
menschlicher
v e r w e i s t , als
Inkonsequenz
eine
nur
bereits
bei
ist es, seitdem
die
»öko-
logische Krise< nicht mehr nur wissenschaftliche Prognose, sondern sinnliche G e w i ß h e i t ist, leicht g e w o r d e n , die G e f a h r in der strikt
undialektischen
Antithese des »Reichs der Freiheit« und des v o n N a t u r z w ä n g e n und deren Besiegung gekennzeichneten Prozesses zu durchschauen. Aus dieser P e r s p e k tive f ä l l t dann freilich ein neues Licht auf die »realidealistische
TapferkeitsetztAbfalls< als einziges Moment der Idee die Gelegenheit zu eigenständiger und empirischer Realität ergreifen kann. Die7 Vgl.:
»dem
Seyn
oder
Wesen«
(I,
7, 6 5 , 5 ) .
-
Kunst
unterscheidet noch zwischen dem Absoluten
stenz«
und demselben
»als
Wesen, als
Die
Philosophie
»als Grund
Absolutem«
(I,
der
von
5, 630).
Später
crschcint umgekehrt das nichtsciendc Wesen, wclches das Sein wesen und ihm R a u m gibt, als Seins- oder Existenzgrund. Verschiebung
gibt es zwischen
den
Weltaltern
Eine
und der
der
Mythologie
läßt
entsprechende
Spätphilosophie.
Hieß dort der negative Wille noch »Hunger nach Wesen« (WA so heißt er in der Philosophie
Exi-
II,
» H u n g e r nach S e y n «
138), (II,
1» 294). 8 »Das
Seyn
ist hier,
was
uns
die
reine
Copula
des
oder Selbstbcjahens, als copula a u f g e f a ß t , ist« (I, 7, 6 6 , t ) .
216
Selbsterkennens
sen Seinstyp, dem »Realität [nur zukommt] im abstrahlenden, d. h. vom Realen absehenden Denken« (I, 7, 239; vgl. 1,6,185,0 Z. 22 ff.)9, hat Schelling eine Zeitlang als »abstrakte Existenz« (I, 7, 241) terminologisch fixiert. Doch fällt auf, daß dieser Ausdruck eine systematische Verlegenheit angesichts der zugleich wunderbaren und schrecklichen »Grundlosigkeit des bloßen Daseins< (I, 7, 198) verschleiern soll. Nur so läßt sich die Antwort deuten, die Schelling schon 1804 jener »Frage des am Abgrund der Unendlichkeit schwindelnden Verstandes: warum ist nicht nichts, warum ist etwas überhaupt?« (I, 6, 155) entgegenhält: Etwas ist, weil Wesen und Wirklichsein in ewiger Einheit zusammenbestehen. Uberwältigt von der Evidenz, auf die der Gedanke absoluter Identität von Wesen und Wirklichkeit sich stützte, glaubte Schelling »die Stätte der E i n z e l h e i t . . . als des an und für sich Unoffenbaren« (ebd.) als ein relatives Non-ens in dem Maße behandeln zu können, wie sie »nur an und mit dem Unendlichen^, d. h. an ihr selbst nichts wahrhaft Reelles, d. h. ein solches ist, »welches ohne das, so sich in ihr faßt, niemals erscheinen könnte« (ebd.). Daß sich freilich mit gleichem Recht auch das Umgekehrte sagen ließe und das Wesen ewig als nichts bleiben müßte ohne die Singularisierung in der »Existenz«, ist eine neue Einsicht, die Schelling selbst mit »einer Art von heiligem Schrecken« überfallen haben mag (ebd.). Sie war es, die seit der Weltalter-Phase nach einer genetischen Aufklärung des Sinns von Sein drängte. Das Wesen, so erklärt Schelling nun, kann Sein genannt werden, wenn dieser Ausdruck eine dem verlorengegangenen Verbum »wesen« gleiche »transitive« Bedeutung annimmt9a (vgl. 9 Die Philosophie -
der
Kunst
nennt die
»Identität« oder
[das] Nichtwirkliche« und ordnet »das Wirkliche« »der
»das
Absolute
Nicht/identität
des Allgemeinen und Besonderen« zu (I, 5, 3 7 0 / 1 ) . 9a Vgl. Heidegger, Identität
und
Differenz,
Pfullingen
4
1957,
56,2:
»Sein
des Seienden heißt: Sein, welches das Seiende ist. Das »ist« spricht hier transitiv, übergehend. Das Sein west hier in der Weise eines Überganges zum Seienden.« Ahnliche Formulierungen im Radiovortrag Zeit
und
Sein.
1*7
II, i, 288; II, 3, 2 1 2 , ! und 2 2 7 , 2 ff-)» die es als Grund des Seienden (dessen, was ist) qualifiziert. Das transitiv gedachte Sein wäre dann als das allgemeine Subjectum - nun nicht mehr im Sinne von Reflektierendem, sondern von tijioxef^ievov (II, 2, 28 ff.; vgl. II, 3, 2 3 3 , 2 ) ~ des »Besonderen« zumal aktives Vermögen (»Können«, »Macht«) des Seienden und ein im Vergleich zu diesem Negatives. D. h. es kann das Prinzip zwar begründen, ist aber nicht sein Urheber (II, 1, 562,j). Schon 1806 hat Schelling diesen sein System revolutionierenden Gedanken folgendermaßen vorbereitet: »In dem Satz: A ist B [Das Unendliche = A ist als dieses unmittelbar auch das Endliche = B], ist in der That nichts anderes gesagt als: A ist das Esse (die Wesenheit) von B (welches insofern also für sich selbst nicht wäre, nun aber vermöge die Verknüpfung mit A ist). Eben dieß ist der Sinn des Satzes: Gott ist alle Dinge, welcher lateinisch nicht sowohl durch est res cunctae, als vielmehr (invita latinitate) durch est res cunctas ausgedrückt werden müßte« (I, 7, 205, Anm. 1). Z w a r hat Schelling sich damals noch bemüht, den positiven Sinn der Rede vom Sein des Wesens durch die Überlegung zu retten, daß »offenbar . . . dem, welches nur ist, inwiefern ein anderes es ist, keine gleiche Realität mit dem zukommen [könne], welches ihm das Seyn ist« (I, 7, 208); indessen ließe sich ebenso gut das Umgekehrte sagen, daß, was darin aufgeht, einem andern Ermöglichungsbedingung für dessen Sein zu sein (vgl. II, 3, 229/30), selbst ein im »aussaglichen Sinne . . . Nichtseyendes« sein müsse (II, 1, 288/9). Denn »Grund ist gegen das, dem es Grund ist, nicht seiend« (Pos. Ph., 32/II 136). 9 a Gewiß bedeutet das nicht, daß, was sich darin erschöpft, einem anderen den Grund zu bereiten, selbst schlechterdings gar nicht sei. Das Wesen, welches das Sein wesen läßt, hat zwar die Seinsweise des »nicht Seyns elvcu)«, ist darum aber doch kein absolutes »Nicht-seyn (oüx elvai)« (II, 1, 289). Noch exakter wäre die folgende Beschreibung: das bloß 9a II, 2, 42: »was nur G r u n d ist, ist immer selbst nicht seyend«.
218
Wesende ist, insofern es sich das nicht Sein selbst zum Sein gemacht hat (II, 3, 231), und es müßte als Nichts zu existieren aufhören, sobald es das im emphatischen Sinne Seiende würde. Für diese ekstatische Existenz (II, 2, 38 und 56), die Sein nur außerhalb ihrer selbst gewinnt, hat die deutsche Sprache keinen eigenen Terminus. Schelling bedient sich darum neben der zitierten griechischen gelegentlich auch der französischen Unterscheidung von >rien< und >neant< ( 1 , 1 0 , 2 8 5 ) . Das Wesen ist dann ein »Nichts«, ein »gänzlicher Mangel«, ein »Hunger nach Seyn« nicht im Sinne eines >rienesse< sich auf kein »percipi« reduzieren läßt, das
transzen-
dentale
Ich aber gar
kann,
ist sein
Wesen
(und
(siehe Schelling I I ,
erkannt)
werden
so
1, 3 1 6 , » [ . . . ]
daß hier das
Wesen selbst bloß im Actus bestehe«. Das Sein der reinen
Apperzeption
ist der reine,
das Sein
nicht angeschaut
nicht selbst
nung »bestimmt« [vgl. KRV, 20 Ästhetik,
226
wieder
erscheinende
»Aktus«,
B 158 A n m . ] ) .
ed. Bassenge, 8 8 1 / 2 ; vgl. L I I , 560 u. 572.
der die
Erschei-
friedlich zu - zwischen Seyn und Nichts [als bloßen Potenzen] ist kein Gegensatz, die thun einander nichts«).2 l
Die Unmöglichkeit eines logischen Übergangs zur Wirklichkeit Vermutlich hätte Hegel derlei Einwendungen als schieres Mißverständnis des Programms seiner Logik abgetan. Schellings Kritik richtet sich jedoch gar nicht gegen die Logik als solche, sondern gegen den Gebrauch, den Hegel innerhalb des S y stems der Philosophie< von ihr als den »Gedanken Gottes vor der Schöpfung einer Welt< macht. Und an diesem Punkt sieht er den erkenntnistheoretischen Zirkel von Hegels Theorie auch auf ontologischer Basis wiederauferstehen: »Hegel will nicht das Absolute, sondern das existirende Absolute . . . [Er will] durch seine Logik . . . die Existenz des Absoluten . . . beweisen« (I, 10, 1 4 9 , 0 ) . Wieder ist es möglich, sich auf einen programmatischen Satz Hegels zu berufen, »in dem die Wahrheit behauptet wird, in dem Begriffe allein das Element ihrer Existenz zu haben« (Phän., i2, :J ). Diese Wahrheit wird jedoch gleich im ersten Satz der Logik wie aus der Pistole geschossen: Hegel kennt als Sein (das er übrigens, wie Schelling mit Recht anmerkt, 21
Feuerbach
hat diese spöttische
Kritik
sich zu eigen gemacht.
Hegels
Rede von einer Entwicklung, die noch kein reales Außereinander
(keine
Zeit) annehme, hält er f ü r »ein wahres Meisterstück spekulativer »Der S a t z : das absolute Wesen entwickelt sich aus sich -
Willkür
ist (. . .) nur
umgekehrt ein wahrer. Es muß (. . .) heißen: N u r ein sich entwickelndes, sich zeitlich entfaltendes Wesen ist ein wahres, lutes
Wesen«
(L.
Feuerbach, Gesammelte
ein wirkliches,
Werke,
hg. von
Philosophie
der
ein
abso-
W. Schuffen-
hauer, Bd. 9, Berlin 1970, 2 5 2 / 3 ) . Vgl.
I.e., B d .
9 ( G r u n d s ä t z e zu
einer
Zukunft),
326-
329: »Betrachte ich z. B. das Sein nur in abstracto, abstrahiere ich von aller Bestimmtheit, die ist, so habe ich natürlich Sein gleich Nidits.
Der
Unterschied, die Grenze zwischen Sein und Nichts ist ja allein die
Be-
stimmtheit. Wenn
ich das,
was
ist,
weglasse, was ist noch dieses
bloße
»ist«?« (ebd., 329).
227
mit Objektivität verwendet) ohnehin nur den Begriff des Seins (esse apparens), nicht das sich entziehende und bestimmungsunabhängige Sein des Wesens selbst (esse subsistens): Beide werden auf der ersten Stufe der Logik konfundiert, obwohl in der Identifikation von U j und U 2 beide Bedeutungen wiederauferstehen.
synonym
Durch diese a priori vorgenommene Reduktion des Seins auf den Begriff Sein ist aber für das Hegeische System eine folgenschwere Vorentscheidung getroffen. Wenn nämlich die nach Durchgang durch sein Anderes erreichte »Vollendung und Durchsichtigkeit« des Geistes für sich selbst als »das Sein, das [überdies] die Reflexion in sich selbst ist« (Phän., 25), oder als »dies Einfache, wie es als solches Existenz hat« (Phän., 24), bestimmt wird, so ist diese Bestimmung in dem Maße zirkelhaft, wie ein begrifflich gefaßtes Sein schon auf der ersten Stufe der Logik vorausgesetzt war und die Selbstreflexion des Geistes, jeder Realität bar, tatsächlich nur als die im reinen Äther sich vollziehende abstrakte Begegnung des Gedankens mit sich selbst in der Potenz des Seins zustandekommt. Von einer dialektischen Weiterbestimmung des leersten aller Gedanken zur Selbsterkenntnis könnte nur in einem problematischen Sinne die Rede sein. Natürlich ist dies nicht Hegels Meinung - und Schellings Kritik unterstellt, daß sie es nicht ist. Die Idee der Logik, in welcher die »absolute Einheit des reinen Begriffs und seiner Realität« (L II, 573) selbst nur in der Potenz des B e g r i f f s 2 2 gesetzt ist, korrigiert vielmehr ihre Abstraktheit in dem »freien Entschluß« (ebd.) zur äußeren Wirklichkeit der N a t u r 2 3 , mit welcher sie sich bereichert, um als Geist zu 22 In
der
»Sphäre«
des
sich zum Gegenstande
»sich begreifenden
hat«
und so zur
B e g r i f f s « (L
»Realität«
II,
573),
»der
f ü r sich w i r d
(I.e.,
57*). 23 Wirklichkeit und N a t u r sind hier noch S y n o n y m a . D i e
Naturwerdung
der Idee ist die Voraussetzung f ü r ihr wirkliches Dasein, aus dessen Ä u ß e r lichkeit sie sich in einer S t u f e n f o l g e sukzessiver
Idealisierung
f r e i t , um Geist zu w e r d e n ; doch ist sie als durch die N a t u r
228
zwar
be-
geschrittene
ihrer vollen und nunmehr konkreten Bestimmtheit zurückzukehren. Im vorhinein läßt sich freilich absehen, daß, wenn die Entäußerung zur Natur als eine echte Bereicherung der Idee verstanden wird, entweder die Immanenz des Hegeischen Systems (d. h. die These, daß der Begriff alles sei und nichts außer sich zurücklasse) gesprengt wird, indem alsdann ja die Idee der Logik ihre Realität noch außer sich hätte, oder aber die Natur als bloße Entfaltung der in der Idee vereinigten Potenzen realisiert wird. Hegels Erklärungen suchen die Mitte zwischen der Skylla einer transreflexiven Realität und der Charybdis einer abstrakten Idealität anzusteuern. Einerseits wird zugestanden, daß die Idee der Logik, ihrer Einheit mit der Realität unerachtet (L II, 572), doch erst nur »logisch,... in dem reinen Gedanken . . . [oder] in die Subjektivität eingeschlossen« sei 2 4 und diese Abstraktheit in dem »Trieb* empfinde, »diese aufzuheben« und sich in *einer anderen Sphäre und Wissenschaft« zu komplettieren (L II, 572/3) andererseits wird die freie Entschließung der Idee in »die absolut für sich selbst ohne Subjektivität seiende Äußerlichkeit des Raums und der Zeit« (L II, 573) als eine Herauswendung des »Moment(es) ihrer [eigenen] Besonderheit« (Enz. I, 393)
Idee selbst »erscheinender Geist«, Idee in Fleisch und Bein, hat also selbst ihre naturhafte Seite in sich bewahrend aufgehoben (das gleiche gilt f ü r die Geschichte, die, um wirkliche
Geschichte zu sein, auf der N a t u r
siert). »Insofern wir also wirklich sind«, sagt N o v a l i s , »sind w i r Alles
Wirkliche
in uns gehört
der N a t u r «
(Novalis,
I.e.,
Bd.
ba-
Natur. 2,
144,
N r . 73). Schelling hat eine vergleichbare Unterscheidung des »bloß Logischen« der Wissenschaftslehre
von ihrem noch ausstehenden »materiellen Beweis« durch
die Naturphilosophie schon in seinem Brief an Fichte, J e n a , [in: H . Fuhrmans ( H g . ) :
F. W. J . Schelling, Briefe
und
19. 1 1 . 1800
Dokumente
II
(I.e.), 296,j] vorgenommen. Sichtbar antizipiert diese Passage die spätere Hegelkritik
und die Unterscheidung einer positiven
von einer
negativen
Philosophie. 24 »Die systematische der L o g i k ]
Ausführung
[der
ist selbst eine Realisation,
Idee aber
innerhalb der
Wissenschaft
innerhalb derselben
Sphäre
gehalten« (L I I , 572).
229
interpretiert 2 5 , also als explicatio »des göttlichen Begriffs« (L II, 572). Der Zirkel besteht darin, daß der Begriff, welcher Existenz im »Außersichkommen« (Enz. II, 36 u.) erst hinzuerwirbt, diese »auf allgemeine Weise zumal« in die Natur entäußern soll (Enz. II, 32 o.): Einerseits soll Existenz als Manifestation der Idee (Enz. II, 31 o.), andererseits Geist als die um die Existenz erst zu bereichernde und insofern selbst noch irreale Idee (Enz. II, 23) verstanden werden. Anders gesagt: der »Idee«, welche »Subjekt und Objekt, ihrer selbst bewußt, als das Ideale auch das Reale« ist, ein Bedürfnis ansinnen, »weiter und auf andere Weise, als sie schon ist, reell zu werden« ( 1 , 1 0 , 1 5 2 ) , hieße, ihr die Wirklichkeit, die sie am Ende der Logik erreicht hat, im gleichen Akt abzuerkennen, da man sie ihr zuspricht. Nimmt man dagegen an, es sei in der Tat Hegels Absicht gewesen, in der Logik die Einheit von Wesen und Sein vorerst noch abstrakt (im Begriff) darzustellen, so wird keiner Dialektik gelingen, den mit der Entschließung zur Natur beschrittenen Gang vom reinen Können zum Sein zu rechtfertigen (I, 10, 212 u. und 153/4). Bekanntlich bedient sich Hegel in den zur Naturphilosophie überleitenden §§ der Enzyklopädie ausgiebig des geschmähten Schellingschen Instrumentariums: Er bestimmt die Äußerlichkeit der Natur als den »Abfall der Idee von sich selbst« (Enz. II, 28), als »Unangemessenheit ihrer selbst mit sich« (I.e.), als abstraktes Für-sidi-Bestehen (I.e., 30 u.) der Momente, die ihre Unterschiede äußerlich gegeneinander kehren (I.e., 31 u.) und die substantielle Einheit der »Potenzen« (I.e., 39 u.) in Gestalt von gegeneinander »gleichgültigen Existenzen« (I.e., 31 u.) aufsprengen usw. - Aber diese Adaptation ist zum Scheitern verurteilt, da eine solche Herleitung selbst nur wieder die Form (den Begriff) explizieren kann, unter denen Realität - wenn sie ist - existiert. D. h. sie fällt selbst in den Bereich der Logik zurück, den zu verlassen 25 Der § 191
der ersten Ausgabe las: »Die Idee . . . entschließt
sich,
sidi
als N a t u r oder in der Form des Andersscyns aus sich zu entlassen«
(zit.
Schelling I, io, 1 5 3 ) .
230
sie sich aus freien Stücken angeschickt hat. Soll der Ubergang zur Natur die Herauswendung zur Realität erklären, so mußte die Idee als das Wesen, das Ist, in ihrer Existenz zuvor erwiesen sein. »Was sich frei entschließen soll, muß ein wirklich Existirendes seyn, ein bloßer Begriff kann sich nicht entschließen« (I, 1 0 , 1 5 4 , v g l . I.e., 2 1 3 ) . 2 6 Nur ein solcher Begriff, der vor seiner Entäußerung zur Wirklichkeit von dem reinen Aktus des Seins >präveniert< wird und dessen relative Nichtigkeit vor der absoluten Auflösung dadurch geschützt ist, daß seine Potenz auf einem Sein basiert, kann sich realisieren und damit gefahrlos die Sphäre seines bislang »bloß wesenden Seyns« aufheben. Ein solches von seinem Wesen (seinen Momenten oder Potenzen) relativ unabhängiges Sein hatte Schelling - er mag es nachträglich von der neugewonnen Perspektive her in Abrede stellen (I, 10, 147-9) - bereits im identitätsphilosophischen Ansatz postuliert. Nur auf solcher Basis ist Realität ins Spiel zu bringen. Hegel dagegen läßt, indem er das subsistente Sein unverzüglich auf den Begriff Sein verkürzt, die erste und einzige Möglichkeit seines philosophischen Systems
26 V g l . I , 1 o t
1 5 5 : »der G o t t , sofern er nur Ende
ist ( . . . ) ,
der keine Z u k u n f t hat, der nichts anfangen kann, der bloß ursache, auf
der als
keine Weise Princip, anfangende, hervorbringende
Gott, Final-
Ursache
seyn kann, ein solcher G o t t ist doch o f f e n b a r nur (. . .) dem Wesen nach Geist, (. . .) nur substantieller Geist.« L u d w i g Feuerbach hat diesem Argument gegen Hegel und den abstrakten Idealismus
überhaupt
lebhaft
zugestimmt:
»Die
Philosophie«,
sagt
er,
»kommt nicht am Ende erst auf die R e a l i t ä t , sie beginnt vielmehr
mit
der Realität. (. . .) der Geist ist das Ende, nicht der A n f a n g der Dinge. •
Der Ubergang von der Empirie zur Philosophie
ist Notwendigkeit,
Ubergang von der Philosophie zur Empirie luxuriöse Philosophie, die mit dem Gedanken ohne sequent mit einer gedankenlosen den >Anfang
der Philosophie