Stefan Fleischauer Der Traum von der eigenen Nation
Ostasien im 21. Jahrhundert. Politik – Gesellschaft – Sicherheit ...
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Stefan Fleischauer Der Traum von der eigenen Nation
Ostasien im 21. Jahrhundert. Politik – Gesellschaft – Sicherheit – Regionale Integration Herausgegeben von Verena Blechinger-Talcott Thomas Heberer Sebastian Heilmann Patrick Köllner Hanns W. Maull Gunter Schubert
Stefan Fleischauer
Der Traum von der eigenen Nation Geschichte und Gegenwart der Unabhängigkeitsbewegung Taiwans
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
. . 1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Katrin Emmerich / Sabine Schöller VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16044-3
Danksagung
An dieser Stelle möchte ich mich herzlich bei meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Vogel, bedanken, der die Arbeit mit großem Engagement begleitet und gefördert hat. Seine freundliche und zuvorkommende Unterstützung stellten für mich eine unschätzbare Hilfe und Ermutigung dar. Mein besonderer Dank gilt auch meinem Zweitgutachter Herrn Prof. Dr. Schubert, der mir mit seinem kritischen und fachkundigen Rat wertvolle Denkanstöße gab, und der durch sein großes Engagement die Veröffentlichung des Buches ermöglichte. Während meines Aufenthaltes in Taiwan hatte ich Gelegenheit zu zahlreichen Interviews, bei denen meine Gesprächspartner mit großer Geduld und Bereitwilligkeit auf meine Fragen eingingen. Prof. Li Xiaofeng und Herr Roger Hsieh gaben mit zudem Anregungen für weitere Forschungen. Herr Chen Jiahong stellte mir seine umfangreiche Quellensammlung zur Verfügung. Besonders erwähnen möchte ich auch Herrn Günter Whittome, mit dem ich viele interessante Gespräche zum 228-Aufstand führte, sowie Herrn Dr. Chiu Chi-chun, der mir kompetente Hinweise zu verschiedenen Aspekten der taiwanesischen Rechtssprechung gab. Mein besonderer Dank gilt Frau Dr. Linda Arrigo. Sie ließ mich von ihrem reichen Erfahrungsschatz profitieren, und nahm am Fortgang meiner Arbeit großen und persönlichen Anteil. Ohne ihre unschätzbare Hilfe hätte dieses Buch nicht in seiner jetzigen Form entstehen können. Ich möchte mich weiterhin bei all jenen Institutionen und Organisationen bedanken, die mich auf unterschiedliche Weise unterstützt und zu dieser Dissertation beigetragen haben. Das Institut für taiwanesische Geschichte der Academia Sinica nahm mich als Visiting Scholar auf und ermöglichte mir den Zugang zu der umfangreichen Institutsbibliothek. Das Taipei 228 Memorial Museum gewährte mir unbeschränkten Einblick in die Sammlung des Museums, und zahlreiche ehrenamtliche Mitarbeiter standen mir mit überwältigender Freundlichkeit zur Seite. Die Wu Sanlian-Stiftung für historische Materialien Taiwans (Wu Sanlian Taiwan shiliao jijinhui) und das National Taiwan Museum stellten mir seltene historische Materialien zur Verfügung. Die Redaktion der Zeitung Liberty Times stellte Bild- und Textmaterialien aus ihrem Archiv bereit. Schließlich gilt mein besonderer Dank der Landesgraduiertenförderung BadenWürttemberg (GRAFÖG), dem Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) und der Chiang Ching-kuo Foundation for International Scholarly Exchange, ohne deren Stipendien die vorliegende Arbeit nicht zu realisieren gewesen wäre.
Ich widme diese Arbeit meinen Eltern, Prof. Peter und Ursula Fleischauer.
Stefan Fleischauer
Inhalt
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EINLEITUNG ........................................................................................................... 15 1.1 Forschungsinteresse, Aufbau und Methodologie .............................................. 15 1.1.1 Aufbau der Arbeit .................................................................................. 16 1.1.2 Methodisches Vorgehen und zentrale Fragestellungen .......................... 17 1.2 Forschungsstand und Literatur .......................................................................... 21 1.2.1 Forschungsstand und Literatur zum 228-Aufstand ................................ 22 1.2.1.1 Sekundärliteratur ...................................................................... 22 1.2.1.2 Quellen ..................................................................................... 23 1.2.2 Forschungsstand und Literatur zur taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung im Ausland ................................................. 25 1.2.2.1 Sekundärliteratur ...................................................................... 25 1.2.2.2 Quellen ..................................................................................... 26 1.2.3 Forschungsstand und Literatur zur Unabhängigkeitsbewegung zur Zeit des Weißen Terrors ...........................................................................27 1.2.4 Forschungsstand und Literatur zur Dangwai-Periode ..............................27 1.2.5 Forschungsstand und Literatur zur modernen taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung ......................................................................28 1.3 Konventionen ......................................................................................................29
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HISTORISCHE EINFÜHRUNG ................................................................................33 2.1 Frühe Besiedlung und die Herrschaft des Koxinga ........................................... 33 2.2 Taiwan unter der Qing-Herrschaft ..................................................................... 34 2.3 Die „Republik Taiwan“ und die japanische Kolonialherrschaft ........................ 36 2.4 Taiwans Rückkehr nach China ......................................................................... 40 2.5 Taiwan am Vorabend des 228-Aufstandes ........................................................ 42 2.5.1 Strukturelle Defizite der Provinzverwaltung und Diskriminierung der Taiwanesen ........................................................... 42 2.5.2 Wirtschaftlicher Niedergang .................................................................. 43 2.5.3 Korruption und Raub: Die Plünderung Taiwans .................................... 45
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Inhalt
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DER 228-AUFSTAND .............................................................................................. 49 3.1 Beginn des 228-Aufstandes ............................................................................... 50 3.1.1 Der Zigaretten-Vorfall vom 27.2 . .......................................................... 50 3.1.2 Ausbreitung des Aufstandes: Der Vorfall vor dem Gouverneursbüro ... 51 3.1.3 Ausschreitungen gegen Festländer ......................................................... 53 3.2 Politische Verhandlungen .................................................................................. 55 3.2.1 Erste Schritte .......................................................................................... 55 3.2.2 Beginn der Schlichtungsversuche .......................................................... 57 3.2.3 Die Schlichtungskommission ................................................................. 59 3.2.3.1 Gründung der Schlichtungskommission, Aufbau und Mitglieder .......................................................................... 59 3.2.3.2 Verhandlungen zwischen Regierung und Schlichtungskommission ......................................................... 62 3.2.3.3 Pragmatische Aufgaben der Schlichtungskommission ............ 66 3.3 Die Regierung in der Defensive ........................................................................ 69 3.3.1 Manipulation der taiwanesischen Volksvertreter ................................... 70 3.3.2 Mangelnde Streitkräfte und die Anfrage um Verstärkung ..................... 74 3.4 Das Ende des 228-Aufstandes ........................................................................... 79 3.4.1 Der 228-Aufstand in Gaoxiong .............................................................. 80 3.4.2 Der 228-Aufstand in Taizhong: Xie Xuehong, die 27. Truppe und die Schlacht von Puli ....................................................................... 82 3.4.3 Der 8. März - der letzte Tag des Aufstandes in Taipei und die Ankunft der Armee .................................................................... 85
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DIE TAIWANESISCHE UNABHÄNGIGKEITSBEWEGUNG IN JAPAN ........... 89 4.1 Die „Exilregierung der Republik Taiwan“ des Liao Wenyi .............................. 89 4.1.1 Die Brüder Liao Wenyi und Liao Wenkui ............................................. 89 4.1.2 Die Blütephase der Exilregierung, 1950-1961 ....................................... 93 4.1.3 Der Kampf auf Taiwan – die Untergrundorganisation der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung ........................................... 95 4.1.4 Die Kapitulation des Liao Wenyi ........................................................... 97 4.2 Die Entwicklung in Japan in den späten 60er Jahren ........................................ 99 4.2.1 Die Hauptströmung der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung ... 100 4.2.2 Shi Ming und die „linke“ Strömung der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung .................................................................. 102 4.3 Ergebnisse im Kontext dieser Arbeit ............................................................... 105 4.3.1 Der Kampf gegen das KMT-Regime ................................................... 105
Inhalt
9 4.3.1.1 Der revolutionäre Kampf auf Taiwan .................................... 105 4.3.1.2 Taiwan, USA und VRCh – die internationale Perspektive .... 107 4.3.2 Taiwanesischer Nationalismus ............................................................. 109 4.3.2.1 Liao Wenyi und die Theorie des „Taiwanesischen Mischblutes“ .............................................. 110 4.3.2.2 Taiwan zwischen Volk und Nation: Das Nationalismuskonzept des Wang Yude .......................... 112 4.3.2.3 Klassenkampf und nationale Befreiung: Das Nationalismuskonzept des Shi Ming ............................... 114 4.3.2.4 Nationalismus und der Kampf um Unabhängigkeit – die praktische Ebene .............................................................. 117 4.3.3 Der 228-Aufstand ................................................................................. 119 4.3.3.1 Mangelhafte Quellenlage ....................................................... 120 4.3.3.2 Der 228-Aufstand als Mittel der politischen Propaganda ...... 122
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DIE TAIWANESISCHE UNABHÄNGIGKEITSBEWEGUNG IN DEN VEREINIGTEN STAATEN .................................................................................... 127 5.1 Von der frühen Unabhängigkeitsbewegung zur WUFI ................................... 127 5.1.1 Von der UFI zur WUFI – organisatorischer und personeller Aufbau .. 127 5.1.2 Die WUFI und die „Taiwanesischen Heimatverbände“ ....................... 130 5.1.3 Der 424-Vorfall: Wendepunkt und Spaltung der WUFI ...................... 132 5.2 Die Lobby-Tätigkeiten der Unabhängigkeitsbewegung .................................. 136 5.2.1 Beginn der taiwanesischen Lobby-Arbeit ............................................ 136 5.2.2 Die Morde an Chen Wencheng und Jiang Nan: Prestigeverlust für das ROC-Regime ................................................... 138 5.2.3 FAHR und FAPA - organisierte Lobby der Unabhängigkeitsbewegung .................................................................. 139 5.3 Der Meilidao-Vorfall und die Verschärfung des Richtungsstreites ................. 140 5.4 Die letzte Phase der Unabhängigkeitsbewegung im Ausland, 1986 ............... 142 5.5 Ergebnisse im Kontext dieser Arbeit ............................................................... 145 5.5.1 Taiwanesische Unabhängigkeit ............................................................ 145 5.5.1.1 Die WUFI und ihr Anspruch als revolutionäre Gruppe ......... 145 5.5.1.2 Der Blick auf die Volksrepublik China .................................. 149 5.5.2 Taiwanesischer Nationalismus ...............................................................151 5.5.2.1 „Taiwanesischer Nationalismus“ und die „Festländer“ ......... 151 5.5.2.2 Die Herausforderung durch den chinesischen Nationalismus ................................................... 154 5.5.3 Der 228-Aufstand ................................................................................. 156 5.5.3.1 Die historische Aufarbeitung des 228-Aufstandes in den 70er Jahren .................................................................. 156
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Inhalt 5.5.3.2 Der 228-Aufstand in der politischen Wirksamkeit der Unabhängigkeitsbewegung .................................................... 158
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TAIWAN NACH 1947 – DER BEGINN DES WEIßEN TERRORS ..................... 163 6.1 Die Hinrichtung des Chen Yi und die Tabuisierung des 228-Aufstandes ....... 164 6.2 Widerstand in Zeiten des Weißen Terrors ....................................................... 165 6.2.1 Der Free China-Vorfall 1960 ............................................................... 168 6.2.2 Der Peng Mingmin-Vorfall 1964 ......................................................... 174 6.2.3 Vergleich der Fälle im Hinblick auf diese Arbeit ................................ 178
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DIE FRÜHE DANGWAI-BEWEGUNG .................................................................. 183 7.1 Beginn der Dangwai-Bewegung ..................................................................... 184 7.1.1 Die politische Opposition in lokalen und nationalen Wahlen .............. 184 7.1.2 Die Opposition und der Beginn der Dangwai-Zeitschriften: Die Taiwan zhenglun ........................................................................... 186 7.2 Die Oppositionsbewegung verfestigt sich zur Massenbewegung .................... 189 7.2.1 Widerstand der Massen gegen die KMT – der Zhongli-Vorfall 1977 . 190 7.2.2 Der Yu Dengfa-Vorfall und der Qiaotou-Marsch ................................ 191 7.3 Der Meilidao-Vorfall 1979: Wendepunkt der Dangwai-Bewegung ................ 194 7.3.1 Die Gründung der Zeitschrift Meilidao ................................................ 194 7.3.2 Der Konflikt spitzt sich zu: Die Amtsenthebung Xu Xinliangs und Übergriffe gegen die Opposition .......................................................... 195 7.3.3 Der Gedenktag der Internationalen Menschenrechte in Gaoxiong ...... 197 7.3.4 Verhaftungen ........................................................................................ 199 7.3.5 Die Meilidao-Prozesse, 18.3.-28.3.1980 .............................................. 200 7.3.6 Der „zweite 228-Vorfall“ – die Morde an der Familie des Lin Yixiong .................................................................................... 203 7.4 Ergebnisse im Kontext dieser Arbeit ............................................................... 206 7.4.1 Taiwanesischer Nationalismus ............................................................. 206 7.4.2 Der 228-Aufstand ................................................................................. 207 7.4.2.1 Der 228-Aufstand in den Dangwai-Zeitschriften der frühen Periode ........................................................................ 207 7.4.2.2 Der Meilidao-Vorfall und der 228-Aufstand ......................... 209 7.4.3 Taiwanesische Unabhängigkeit ............................................................ 213 7.4.3.1 „Republik China“ oder „Taiwan“? ......................................... 213 7.4.3.2 „Aufgeklärte“, „Militär“ und Präsident: die Gegner der Dangwai ........................................................ 216
Inhalt 8
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DIE DANGWAI-BEWEGUNG NACH DEM MEILIDAO-VORFALL ................ 219 8.1 Die oppositionellen Zeitschriften der späteren Dangwai-Periode ................... 219 8.1.1 Die Oppositionszeitschriften in Konflikt mit dem KMT-Regime ........ 220 8.1.2 Die Entwicklung der Dangwai-Zeitschriften nach 1981: Konkurrenzdruck und Rivalität ............................................................ 224 8.2 Spaltungstendenzen innerhalb der Dangwai, 1982-86 .................................... 227 8.2.1 Demokratiedefizit innerhalb der Dangwai? ......................................... 230 8.2.2 Korrumpierung der Dangwai durch öffentliche Ämter? ...................... 230 8.2.3 Die Dangwai vor der Spaltung? ........................................................... 231 8.2.4 Reform des Systems gegen Reform innerhalb des Systems ................. 233 8.3 Konsolidierung der Opposition und die Gründung der DPP ........................... 236 8.3.1 Beginn der Konsolidierung: Das „Empfehlungs-System“ ................... 236 8.3.2 Organisatorische Strukturen der Dangwai im Zeichen der Flügelkämpfe ................................................................................. 237 8.3.3 Von der „Studiengesellschaft“ zur „DPP“ – Kompromisse und erneute Vereinigung ............................................... 238 8.4 Ergebnisse im Kontext dieser Arbeit ............................................................... 243 8.4.1 Taiwanesischer Nationalismus ............................................................. 243 8.4.1.1 Taiwan als Sprachgruppe – der Sprachstreit in der Dangwai ....................................................................... 244 8.4.1.2 Der Hou Dejian-Vorfall ....................................................... 249 8.4.2 Taiwanesische Unabhängigkeit .......................................................... 257 8.4.2.1 Die Hongkong-Frage und die Taiwan-Frage ......................... 258 8.4.2.2 Die Dangwai und die Forderung nach „Selbstbestimmung“ ............................................................... 262 8.4.2.3 Der Blick ins Ausland: Die spätere Dangwai-Periode und die WUFI ........................................................................ 265 8.4.3 Der 228-Aufstand ................................................................................. 268 8.4.3.1 Der Beginn der 228-Forschung auf Taiwan ........................... 269 8.4.3.2 Der 228-Aufstand im Spannungsfeld von akademischen und politischen Interessen .............................. 274 8.4.3.3 Der 228-Aufstand als gezielte Tabuverletzung ...................... 279
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TAIWAN HEUTE: DEMOKRATISIERUNG UND POSTAUTORITÄRE GESELLSCHAFT .................................................................................................... 281 9.1 Die Unabhängigkeitsbewegung auf Taiwan .................................................... 282 9.1.1 Beginn der Unabhängigkeitsbewegung auf Taiwan ............................. 283 9.1.2 Die DPP und die taiwanesische Unabhängigkeit: Von „Selbstbestimmung“ zu „Referendum“ ........................................ 285
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Inhalt 9.1.3 Die DPP und die taiwanesische Unabhängigkeit in der aktuellen taiwanesischen Politik .......................................................... 287 9.1.4 Offene Fragen der Unabhängigkeitsbewegung .................................... 294 9.1.4.1 Notwendigkeit der taiwanesischen Unabhängigkeit .............. 294 9.1.4.2 Die wirtschaftliche Dimension: Interdependenz zwischen Taiwan und dem Festland ....................................... 296 9.1.4.3 Die militärische Dimension: Die Kriegsdrohung der VRCh ............................................................................... 299 9.1.4.4 Die öffentliche Meinung ........................................................ 305 9.2 Der 228-Aufstand ............................................................................................ 309 9.2.1 Das Jahr 1987: Entstehung der „228-Bewegung“ ................................ 309 9.2.2 Die Forderungen der 228-Bewegung ................................................... 311 9.2.2.1 Die Strukturen der modernen 228-Forschung ........................ 311 9.2.2.2 Die Errichtung von 228-Gedenkstätten und Mahnmalen ....... 316 9.2.2.3 Finanzielle Entschädigung der Opfer ..................................... 320 9.2.2.4 Der 28. Februar als nationaler Gedenktag .............................. 324 9.2.2.5 Juristische Strafverfolgung der Täter – der Fall Peng Mengqi ............................................................. 327 9.2.2.6 Die „mündliche Geschichte“ und das 228-Museum .............. 330 9.2.3 Der 228-Aufstand im Spannungsfeld von parteipolitischen Interessen der KMT ............................................................................. 333 9.2.3.1 Die Abwehrhaltung der KMT, 1987-1990 ............................. 333 9.2.3.2 Der 228-Aufstand im parteiinternen Fraktionsstreit der KMT ................................................................................. 335 9.2.3.3 Die politische Vereinnahmung der Angehörigen ................... 338 9.2.4 Die umstrittenen Fragen der aktuellen 228-Forschung ........................ 340 9.2.4.1 Der 228-Aufstand als kommunistischer Umsturzversuch ...... 340 9.2.4.2 Kulturelle Entfremdung zwischen Taiwan und dem Festland ................................................................... 342 9.2.4.3 Anzahl der Todesopfer ........................................................... 346 9.2.4.4 Die Verantwortung der Zentralregierung ............................... 350 9.2.4.5 Der 228-Aufstand und die taiwanesische Unabhängigkeit .... 353 9.2.5 Die politische Entschärfung des 228-Aufstandes ................................. 356 9.2.6 Die Präsidentschaftswahl 2004 und die 228-Kundgebung ................... 359 9.2.6.1 Die neue 228-Interpretation des Jahres 2004 ......................... 360 9.2.6.2 Die 228-Kundgebung im Wahljahr 2004 ............................... 363
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ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK .......................................................... 365 10.1 Der 228-Aufstand im Licht der neueren Forschung ........................................ 365 10.2 Der 228-Aufstand und die Konzeption eines taiwanesischen Nationalismus ......................................................................... 368
Forschungsinteresse, Aufbau und Methodologie
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10.2.1 Der 228-Aufstand und die Gegner der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung .................................................................. 368 10.2.2 Der 228-Aufstand und die Entwicklung des taiwanesischen Nationalismus ............................................................. 371 10.2.2.1 Der primordiale Ansatz der frühen Unabhängigkeitsbewegung .................................................... 371 10.2.2.2 Der zivile Nationalismus als Basis der strategischen Partnerschaft ..................................................... 375 10.2.2.3 Der 228-Aufstand und der „Neuen Taiwanese“ ..................... 377 10.2.3 Der 228-Gedenktag im Jahre 2004: Gefahr der parteipolitischen Instrumentalisierung? ........................................................................... 380 11
LITERATURVERZEICHNIS UND ANHANG ..................................................... 383 11.1 Namensregister ................................................................................................ 383 11.2 Liste der Interviewpartner ............................................................................... 396 11.3 Literaturverzeichnis ......................................................................................... 398 11.4 Alphabetisches Verzeichnis der chinesischsprachigen Zeitschriften und Zeitungen ............................................................................ 422 11.5 Internet-Seiten ................................................................................................. 423
1 Einleitung
1.1 Forschungsinteresse, Aufbau und Methodologie Am Nachmittag des 8. März 1947 erschienen Militärschiffe der chinesischen Marine vor der taiwanesischen Hafenstadt Jilong. Bei ihrer Einfahrt in den Hafen eröffneten die Schiffe mit Kanonen und Maschinengewehren das Feuer auf die Stadt, der Angriff wurde nur sporadisch erwidert. Nach über fünf Stunden ebbte die Kanonade allmählich ab; die Schiffe legten an mit der Vorhut einer Streitmacht, die in den nächsten Stunden und Tagen auf über 10.000 Soldaten anschwoll und die Insel mit rücksichtloser Gewalt unter die feste Kontrolle der Zentralregierung zwang. Damit endete eine zehntägige Periode, die in den taiwanesischen Geschichtsbüchern unter der Bezeichnung „228-Aufstand“ eingegangen ist: Ein gescheiterter Versuch der taiwanesischen Eliten, der ökonomischen Ausbeutung der Insel durch eine korrupte und ineffiziente chinesische Provinzverwaltung zu begegnen, die im Herbst 1945 nach 50 Jahren japanischer Kolonialherrschaft eingesetzt hatte. Das Streben nach größerer Autonomie vom Festland hatte damit einen katastrophalen Ausgang genommen, und durch die zahllosen Übergriffe der undisziplinierten Armee und die gezielten Unterdrückungsmaßnahmen der Behörden verloren Tausende von taiwanesischen Zivilisten ihr Leben. Der 228-Aufstand gehört zweifellos zu den prägenden Ereignissen der jüngeren taiwanesischen Geschichte. Auf Taiwan markierte der Aufstand den Beginn der autoritären und unangefochtenen Ein-Parteien-Herrschaft der Regierungspartei KMT, die sich nach dem Rückzug des Regimes auf die Insel bis zum Ende der 80er Jahre auf das Kriegsrecht stützte. Zugleich läutete der 228-Aufstand jedoch auch den Beginn einer Bewegung ein, die sich dem Kampf gegen die KMT-Herrschaft verschrieben hatte und die für eine formale Loslösung der Insel von China und die Errichtung eines unabhängigen taiwanesischen Staates eintrat. Während sich diese taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung über lange Jahre nur im Ausland artikulieren konnte, ist die Forderung nach staatlicher Unabhängigkeit seit Beginn der politischen Liberalisierung der Insel in der zweiten Hälfte der 80er Jahre zu einem geläufigen Topos der taiwanesischen Politik geworden. Die vorliegende Arbeit will der Frage nachgehen, welchen Einfluss der 228-Aufstand auf die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung nahm, d.h. in welchem Umfang und auf welche Weise die Akteure der Bewegung in ihrem politischen Kampf um staatliche Unabhängigkeit auf den 228-Aufstand rekurrierten und welche Hindernisse es dabei zu überwinden galt. Dieser Prozess ist bis heute nicht abgeschlossen. Noch im Jahre 2004 wurde das Gedenken an den 228-Aufstand bei der 228 Hand-in-Hand Kundgebung, in deren Verlauf eine der längsten Menschenketten der Geschichte gebildet wurde, auf spektakuläre Weise mit der Bekräftigung der taiwanesischen Eigenständigkeit gegenüber dem Festland verknüpft. Auch die jüngste Entscheidung des Präsidenten Chen Shuibian, den Nationalen Wiedervereinigungsrat am 28.2.06 zu suspendieren, belegt die hohe Symbolträchtigkeit, die dieses Datum bis heute besitzt. Zudem ist offensichtlich, welch hohe Brisanz die Frage der
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Einleitung
taiwanesischen Unabhängigkeit für die Sicherheitsarchitektur des pazifischen Raumes hat: Die Forderung nach taiwanesischer Unabhängigkeit könnte die latente Spannung zwischen Taiwan und der Volksrepublik China, welche die Insel als ihr Hoheitsgebiet betrachtet und im Falle einer formalen taiwanesischen Unabhängigkeitserklärung mit einem Militärschlag droht, zu einem folgenschweren und gewalttätigen Ausbruch bringen, dessen Auswirkungen für den Weltfrieden kaum abzuschätzen wären.
1.1.1 Aufbau der Arbeit Der Aufbau der Arbeit gliedert sich in fünf Teile: Im ersten Teil wird zunächst eine kurze historische Einführung vorangestellt (Kapitel Zwei). Im Folgenden wird der aktuelle Forschungsstand zum 228-Aufstand wiedergegeben (Kapitel Drei). Hierbei wird jedoch nicht das Anliegen verfolgt, die Forschung über den 228-Aufstand durch eigene Forschungsergebnisse wesentlich zu bereichern. Während jedoch der 228-Aufstand auf Taiwan in den letzten 15 Jahren zum Gegenstand intensiver Forschungstätigkeit geworden ist, haben die Ergebnisse dieser neueren Forschung in der westlichen Fachliteratur bislang nahezu keinen Niederschlag gefunden. Die Intention des Autors ist es daher, den aktuellen taiwanesischen Forschungsstand zu bündeln und einem westlichen Publikum zugänglich zu machen. Zudem soll der Leser in die Lage versetzt werden, die Argumente der verschiedenen politischen Vereinnahmungsversuche des 228Aufstandes anhand des aktuellen Forschungsstandes einer kritischen Bewertung zu unterziehen. Trotz dieser Einschränkung ist der Autor in einigen strittigen Fragen zu Ergebnissen gelangt, die sich im Gegensatz zur herrschenden Lehrmeinung der aktuellen 228Forschung befinden. Insbesondere betrifft dies die Frage, inwieweit der Wunsch nach staatlicher Unabhängigkeit bereits während des Aufstandes artikuliert wurde, sowie die Einschätzung der Beteiligung von kommunistischen Kräften, verkörpert in der Person der taiwanesischen Kommunistin Xie Xuehong. Auf diese und andere Fragen der aktuellen 228-Forschung wird im Kapitel 9.2.4. nochmals eingegangen. Der zweite Teil der Arbeit beschäftigt sich mit der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung im Ausland, unterteilt in die frühe Phase in Japan (1950 bis 1970, Kapitel Vier) und die spätere Unabhängigkeitsbewegung in den USA (1970 bis 1986, Kapitel Fünf). Im dritten Teil der Arbeit wird die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung dargestellt, wie sie sich nach 1950 auf Taiwan entwickelte. Diese Periode lässt sich wiederum in drei Unterabschnitte unterteilen: Die Phase des Weißen Terrors (Kapitel Sechs), die demokratische Oppositionsbewegung (die so genannte Dangwai-Bewegung) vor dem MeilidaoVorfall (Kapitel Sieben) und nach dem Meilidao-Vorfall (Kapitel Acht), der eine wichtige Zäsur in der Demokratisierung Taiwans markiert. Der vierte Teil der Arbeit widmet sich der offenen, artikulierten Unabhängigkeitsbewegung auf Taiwan heute, wie sie sich seit Beginn der politischen Liberalisierung der Insel zu Ende der 80er Jahre entfaltete (Kapitel Neun). Hier sollen die wichtigsten Fragen zur aktuellen Debatte über die staatliche Unabhängigkeit dargelegt werden; darüber hinaus wird ausführlich erörtert, welche Maßnahmen von Seiten des Regimes für eine Beilegung des 228-Aufstandes getroffen wurden, und wie sich die KMT heute ihrer „historischen Verantwortung“ für den Aufstand stellt.
Forschungsinteresse, Aufbau und Methodologie
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Im abschließenden fünften Teil (Kapitel Zehn) werden die Ergebnisse nochmals kompakt zusammengefasst, zudem wird das aktuelle Geschichtsbild des 228-Aufstandes und dessen Bezug zur Unabhängigkeitsbewegung, wie es sich besonders deutlich in der 228Kundgebung des Jahres 2004 manifestierte, einer kritischen Bewertung unterzogen. Die Arbeit verfolgt vor allem das Ziel, die wichtigsten Akteure der jeweiligen Perioden darzustellen und eine Vorstellung davon zu vermitteln, unter welchen Bedingungen und mit welchen Zielsetzungen der Kampf der Unabhängigkeitsbewegung geführt wurde. Besonderer Wert wurde darauf gelegt, der Vielschichtigkeit der Unabhängigkeitsbewegung gerecht zu werden – ein Aspekt, der bislang weitgehend vernachlässigt wurde. Im Mittelpunkt des Interesses stehen die zentralen Fragestellungen der Arbeit, die am Ende jedes Unterabschnittes zusammenfassend aufgegriffen werden.
1.1.2 Methodisches Vorgehen und zentrale Fragestellungen In ihrem methodischen Vorgehen verfolgt die Arbeit den Ansatz einer vergleichenden historiographischen Studie. Mit Rückgriff auf authentische Primärquellen soll die Frage beantwortet werden, welchen Einfluss der 228-Aufstand auf die zentralen Themen der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung nahm und bis heute nimmt, und welche Entwicklungen hierbei festzustellen sind. Die folgenden drei Fragestellungen stehen im Zentrum des Forschungsinteresses: 1.
Die Gegner der Unabhängigkeitsbewegung und die Mittel des Kampfes
Im Mittelpunkt dieses Themenkomplexes steht die Frage, wer von der Unabhängigkeitsbewegung zu verschiedenen Zeiten als hauptsächlicher Gegner des Unabhängigkeitsstrebens betrachtet wurde, und mit welchen Mitteln der Kampf jeweils geführt werden sollte. Dies beinhaltet die Punkte:
Wie sollte sich der Kampf um Unabhängigkeit konkret gestalten, und welche Schritte wurden unternommen, um den Kampf voranzutreiben? Bestand aus Perspektive der Unabhängigkeitsbewegung die Hoffnung, das angestrebte Ziel mit friedlichen Mitteln zu erreichen? Welche strategischen Allianzen wurden jeweils gesucht? Wie gezeigt werden soll, betraf dieser Gesichtspunkt insbesondere die Wahrnehmung der VRCh und der Festländer auf Taiwan, die sich in einer gegenläufigen Bewegung auf der Freund-Feind Matrix der Unabhängigkeitsbewegung jeweils von einem zum anderen Extrem verschoben.
2.
Die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung und der taiwanesische Nationalismus
Mit dem Nationalismus wird das bei weitem komplexeste und vielschichtigste Themenfeld der vorliegenden Arbeit berührt, das daher einige Vorbemerkungen erfordert. In Politikund Sozialwissenschaft ist der Nationalismus bereits seit vielen Jahrzehnten ein kontrovers diskutierter Forschungsgegenstand. Seit der Phase der postkolonialen Befreiungsbewegungen in den 60er Jahren ist ein umfangreiches Schrifttum zur Nationalismusdebatte entstan-
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Einleitung
den. Der Zugang zu dem Forschungsgebiet wird durch zahlreiche terminologische Hindernisse verstellt, die bereits bei dem Begriff der „Nation“ selbst ansetzen. So schrieb Eric Hobsbawm: […] the problem is that there is no way of telling the observer how to distinguish a nation from other entities a priori, as we can tell him or her how to recognize a bird or to distinguish a mouse from a lizard. Nation-watching would be simple if it could be like bird-watching. Attempts to establish objective criteria for nationhood, or to explain why certain groups have become „nations” and others not, have often been made […] the criteria used for this purpose – language, ethnicity or whatever – are themselves fuzzy, shifting and ambiguous, and as useless for purposes of the traveller’s orientation as cloud-shapes are compared to landmarks. This, of course, makes them unusually convenient for propagandist and programmatic, as distinct from descriptive purposes.1
In der Alltagssprache besteht die Tendenz, den Begriff „Nation“ mit „Staat“ gleichzusetzen. Während „Staat“ jedoch eine legale und juristische Organisation beschreibt, die über die Autorität verfügt, Gehorsam und Loyalität ihrer Bürger einzufordern, meint der Begriff der „Nation“ eine Gemeinschaft von Individuen, deren Mitglieder durch ein Gefühl der Solidarität und das Bekenntnis zu einer nationalen Identität miteinander verbunden sind. Ein Staat ist ein unbestreitbares Faktum; eine Nation hingegen enthält eine Begründung. An dieser Stelle würde es zu weit führen, die Nationalismusdebatte in all ihren Details aufzugreifen. Für die Anliegen dieser Arbeit genügt es, zwischen den beiden bedeutenden Ansätzen, dem „Primordialen Nationalismus“ (primordial nationalism) und dem „Zivilen Nationalismus“ (civic nationalism) zu unterscheiden. Wie sich aus dem Namen bereits ableiten lässt, betrachtet der primordiale Nationalismusansatz die Zugehörigkeit zu einer Nation als eine grundlegende Eigenschaft der „ersten Ordnung“, die durch keine anderen Faktoren bestimmt wird und jedem Individuum von Geburt an zukommt. Die nationale Zugehörigkeit wird als fundamentale Dimension der menschlichen Natur aufgefasst; jeder Mensch, in den Worten von Ernest Gellner, „[…] has a nationality as he has a nose and two ears.“2 Entsprechend werden die Charakteristika, die die Zugehörigkeit des Individuums zu einer Nation bestimmen, durch objektive und statische Merkmalen wie ethnische Abstammung, Blutsbande und vor allem Sprache 3 beschrieben: One common denominator of the primordialists […] is their belief in the „givenness” of ethnic and national ties. If the strong attachments generated by language, religion, kinship and the like are given by nature, then they are also fixed, or static.4
1 Hobsbawm 1990: 5f. In ähnlicher Weise äußerte sich Hugh Seton-Watson: „I am driven to the conclusion that no ‚scientific definition’ of a nation can be devised; yet the phenomenon has existed and exists. All that I can find to say is that a nation exists when a significant number of people in a community consider themselves to form a nation, or behave as if they formed one. It is not necessary that the whole of the population should so feel, or so behave, and it is not possible to lay down dogmatically a minimum percentage of a population which must be so affected.” Seton-Watson 1977: 5. 2 Gellner 1983: 6. 3 Zur besonderen Bedeutung der Sprache in der Nationalismusdebatte schrieb Clifford Geertz: „[…] the ‚language problem’ is only the ‚nationality problem’ writ small, though in some places the conflicts arising from it are intense enough to make the relationship seem reversed.” Geertz 1973: 242. 4 Özkirimli 2000: 75.
Forschungsinteresse, Aufbau und Methodologie
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Ein weiteres prägendes Merkmal, das den primordialen Nationalismus typischerweise auszeichnet, ist der Glaube an ein hohes und letztlich prähistorisches Alter der Nation – ein Phänomen, das im Englischen mit „perennialism“ bezeichnet wird. Hier besteht der deutlichste Unterschied zum zivilen Nationalismus, der davon ausgeht, dass Nationen ein historisch relativ junges Alter aufweisen. Die Nation wird betrachtet als das Produkt einer historischen Entwicklung unter spezifischen soziokulturellen Bedingungen – wenngleich die Faktoren, die von verschiedenen Autoren hierbei als maßgeblich angesehen werden, erheblich voneinander abweichen. Dies bedeutet auch, dass Nationen letztlich Artefakte sind, die der menschlichen Vorstellung entspringen. In seinem bahnbrechenden Werk „Imagined Communities“ schrieb Benedict Anderson zur Definition des Nationenbegriffes: [The nation] is an imagined political community – and imagined as both inherently limited and sovereign. It is imagined because the members of even the smallest nation will never know most of their fellow-members, meet them, or even hear of them, yet in the minds of each lives the image of their communion […] In fact, all communities larger than primordial villages of face-toface contact (and perhaps even these) are imagined.5
Daraus folgt, dass der Zugang zur Mitgliedschaft in einer Nation nicht länger an primordiale objektive Merkmale gebunden ist, sondern auf die Bereitschaft des Individuums zurückgeht, sich selbst als Teil der Nation zu begreifen. Die nationale Identität ist das Produkt der Selbstwahrnehmung und des individuellen Bekenntnisses zu einer Nation. Es wird erkenntlich, dass dieser Ansatz eines zivilen Nationalismus, der prinzipiell eine Perforation der nationalen Abgrenzung gegenüber Außenstehenden erlaubt, den Bedürfnissen und Anforderungen eines modernen Staatswesens in wesentlich höherem Maße gerecht werden kann – mit der Folge, dass der primordiale Erklärungsansatz einer natürlichen und ethnisch begründeten Nation in der Literatur heute kaum mehr eine Rolle spielt.6 Ein weiterer Begriff, der der Klärung bedarf, ist der Terminus „Nationalismus“: Mit diesem Begriff werden in der vorliegenden Arbeit diejenigen politischen Programme und Entwürfe bezeichnet, die auf die Gründung einer Nation (und damit letztlich die Gründung eines unabhängigen und souveränen Nationalstaates) ausgerichtet sind. Im Gegensatz zu Nation, der ein statisches Gebilde beschreibt, bezeichnet Nationalismus also eine zielgerichtete Bewegung. Diese Bewegung wird hervorgerufen und gesteuert von spezifischen Gruppen, die Jefferey Alexander als „carrier groups“7 bezeichnete: soziale und kulturelle Eliten mit jeweils eigenen Interessen und politischen Programmen. Ein wichtiges Element des Nationalismus – und zwar unabhängig davon, welches nationale Modell zu Grunde gelegt wird – ergibt sich aus der Notwendigkeit, eine Abgrenzung der eigenen nationalen Gruppe gegenüber der Außenwelt zu ermöglichen; ein Mechanismus also, der eine Zuordnung in Mitglieder und Nicht-Mitglieder der eigenen „Wir“Gruppe in Kontrast zu einer „Gruppe der Anderen“ erlaubt. Schon Fredrik Barth wies dar5
Anderson 1983: 6. So kommt etwa Umut Özkirimli zu dem Fazit: „There is no need to dwell too much on the primordialist approach […] very few scholars today continue to subscribe to the view that nations are primordial unchanging entities. Almost everybody admits that nations are born at a particular period in history, notwithstanding disagreements on the precise date of their emergence or the relative weight of pre-modern traditions and modern transformations in their formation.” Özkirimli 2000: 220. 7 Alexander 2004. 6
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Einleitung
auf hin, dass dieses Setzen und Aufrechterhalten von Grenzen von noch höherer Bedeutung ist als der eigentliche Inhalt der Gruppenidentität, „the cultural stuff“, der die Gruppe in ihrem Inneren ausmacht und zusammenhält. 8 Auch John Armstrong betont hierzu: […] both the cultural and the biological content of the group can alter as long as the boundary mechanisms are maintained […] Anthropological historians have been increasingly obliged to confront the fact […] that groups tend to define themselves not by reference to their own characteristics but by exclusion, that is, by comparison to „strangers”.9
Im Zuge dieser Grenzsetzung ist häufig zu beobachten, dass gerade traumatische Erfahrungen als wichtige Bezugspunkte bei der Konstruktion einer kollektiven Gruppenidentität instrumentalisiert werden – wobei, wie Neil Smelser betonte, sowohl die harmonisierende, nach innen gerichtete Dimension der Gruppenzusammengehörigkeit als auch der nach außen gerichtete Aspekt der Abgrenzung gegenüber Anderen berührt werden können: […] a collective trauma, affecting a group with definable membership, will, of necessity, also be associated with that group’s collective identity […] Any given trauma may be community- and identity disrupting or community- and identity solidifying – usually some mixture of both.10
Im Hinblick auf den Themenkomplex des Nationalismus in der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung werden im Kontext dieser Arbeit die folgenden Fragen aufgeworfen:
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Wie wurde die taiwanesische Nation aus Sicht der Unabhängigkeitsbewegung zu verschiedenen Zeiten definiert, und welche Entwicklungen sind hierbei zu beobachten? Welche Unterscheidungskriterien für die nationale Zugehörigkeit wurden jeweils zu Grunde gelegt? Welches „Gegenüber“ wurde der eigenen nationalen Identität jeweils entgegengestellt? Das heißt: Von „Wem“ wollte man sich mit welchen Mitteln abgrenzen, um über diesen Akt der Abgrenzung die eigene nationale Identität überhaupt erst in Erscheinung treten zu lassen? Wie gezeigt werden soll, ist in dieser Hinsicht von besonderem Interesse, welchen Standpunkt die Unabhängigkeitsbewegung in ihrer nationalen Selbstwahrnehmung jeweils gegenüber den verschiedenen ethnischen Gruppen auf Taiwan (und insbesondere den Festländern) bezog. Wurden die Festländer als Fremdkörper der taiwanesischen Nation betrachtet, oder wurde eine Koexistenz der verschiedenen ethnischen Gruppen oder gar eine Verschmelzung in einem übergreifenden nationalen Bezugsrahmen als möglich und wünschenswert erachtet? Wie gestaltete sich das Verhältnis von Nationalismus und den politischen Anliegen der Unabhängigkeitsbewegung jeweils in der Praxis? Konnte der Nationalismus, in der subjektiven Selbstwahrnehmung der Unabhängigkeitsbewegung, einen wichtigen oder gar entscheidenden Beitrag für eine erfolgreiche Massenmobilisierung leisten, oder wurde er gelegentlich als kontraproduktiv und hinderlich empfunden?
Barth 1969. Armstrong 1982: 5. 10 Smelser 2004: 43f. 9
Forschungsstand und Literatur 3.
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Der 228-Aufstand
In dem dritten Themenkomplex werden die Aspekte, die in den vorangegangenen Fragestellungen erarbeitet wurden, auf den 228-Aufstand angewandt. Zudem soll hier auch berücksichtigt werden, inwieweit einer historischen Aufarbeitung des Aufstandes Rechnung getragen wurde, und ob und in welchem Umfang die Kenntnis der historischen Tatsachen das Bild des 228-Aufstandes beeinflusste. Die konkreten Fragestellungen beinhalten daher die folgenden Gesichtspunkte:
Hinsichtlich der politischen Instrumentalisierung ist zu fragen, auf welche Weise und mit welchem Erfolg der 228-Aufstand für die politischen Ziele der Unabhängigkeitsbewegung nutzbar gemacht wurde und wird. Wie sind diese Vereinnahmungsversuche zudem im Spiegel des heute verfügbaren historischen Kenntnisstandes zu bewerten? Dies leitet über zum zweiten Aspekt: Über welchen Kenntnisstand zum 228-Aufstand verfügte die Unabhängigkeitsbewegung zu unterschiedlichen Zeiten? Welche Quellen waren jeweils bekannt, und welche Anstrengungen wurden unternommen, um den Kenntnisstand zu erweitern? Welche Fragen sind bis heute umstritten? Und schließlich: Welche Auswirkung hatten eventuelle Erkenntnislücken auf die politisch motivierte Instrumentalisierung des Aufstandes? Dieser letzte Aspekt bezieht sich sowohl auf die Unabhängigkeitsbewegung als auch auf das Regime, das sich seit Beginn der 90er Jahre um eine Aufarbeitung des Aufstandes bemüht. Bezüglich des taiwanesischen Nationalismus stellt sich die Frage, welche Funktion dem 228-Aufstand bei der Konstruktion einer nationalen taiwanesischen Identität zukam. Konnte der 228-Aufstand von der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung als „nationales Trauma“ im Sinne von Neil Smelser interpretiert werden, und welche Bedeutung hatte dieses nationale Trauma für die Entstehung und Konsolidierung verschiedener Nationalismuskonzepte? Welche Versuche wurden unternommen, die Interpretation des 228-Aufstandes an die wechselnden Wahrnehmungen der nationalen taiwanesischen Identität anzupassen?
1.2 Forschungsstand und Literatur Aus dem Aufbau der Arbeit wird ersichtlich, dass die vorliegende Untersuchung mehrere zeitlich getrennte Abschnitte unterscheidet. Im Zuge der Recherchen wurden die jeweils wichtigsten Quellen und Sekundärquellen zu jeder Periode gesichtet, zudem konnte der Autor im Zuge eines Aufenthaltes in Taiwan die Quellenbasis um insgesamt 28 Interviews bereichern.
22 1.2.1
Einleitung Forschungsstand und Literatur zum 228-Aufstand
1.2.1.1 Sekundärliteratur In der westlichen Forschung hat der 228-Aufstand bislang nur wenig Beachtung erfahren. Die bis heute einzige umfassende Darstellung des Aufstandes in deutscher Sprache stellt das Werk Taiwan 1947. Der Aufstand gegen die Kuomintang von Günter Whittome dar. Dieser verdienstvolle Beitrag wurde jedoch bereits im Jahre 1991 veröffentlicht, und konnte daher die neueren Erkenntnisse der taiwanesischen Forschung nicht berücksichtigen. Aus demselben Jahr datiert das englischsprachige Werk A Tragic Beginning: Taiwan Uprising of February 28, 1947, verfasst von Lai Zehan und Wei Wou, das nach seiner Veröffentlichung auf gemischte Reaktionen stieß. Zu Beginn der 90er Jahre war der 228-Aufstand auf Taiwan noch von hoher politischer Sensibilität. Allein durch den Titel des Buches, der den Aufstand als ein tragisches und damit schicksalhaftes Ereignis beschreibt, setzten sich die Autoren dem Vorwurf aus, die politisch Verantwortlichen des Aufstandes bewusst zu entlasten. Auf Taiwan ist der 228-Aufstand, der bis zum Beginn der demokratischen Liberalisierung mit einem strengen politischen Tabu belegt war, seit Beginn der 90er Jahre zum Gegenstand intensiver Forschungstätigkeit geworden. Von großer Bedeutung in dieser Entwicklung war der offizielle 228-Forschungsbericht, der in den Jahren 1991/92 im Auftrag des Exekutiv-Yuan von einer Gruppe von Historikern um Lai Zehan abgefasst wurde und der bis heute die umfassendste Sichtung von Quellen zum Aufstand darstellt. Seitdem ist auf Taiwan eine Fülle an wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Beiträgen zum 228-Aufstand hinzugekommen. Das Spektrum der Beiträge reicht dabei von akademischen Arbeiten über einzelne Aspekte des Aufstandes (wie etwa die Dissertationsschrift von Luo Shimin Untersuchung des 228-Vorfalles aus Perspektive der Rechtsgeschichte, Taipei 2000) über populärwissenschaftliche Arbeiten (z.B. der Beitrag von Xu Junya Frühling ohne Sprache. Ausgewählte Kurzgeschichten zum 228, Taipei 2003) bis hin zu Arbeiten aus dem Bereich der Jugend- und Pop-Kultur (etwa Ruan Meishu und Zhang Ruiting: Der 228 im Comic, Taipei 2005). Neben diesem weiten Spektrum an unterschiedlichen Genres kam bei der Suche und Auswahl der relevanten Literatur erschwerend hinzu, dass der 228-Aufstand auf Taiwan bis heute zu einem politisch kontroversen Thema zählt. Es kann einem Autor daher kaum gelingen, ein Buch über den 228-Aufstand jenseits von politischen Interessen und Vereinnahmungen vorzulegen – oder sich zumindest diesem Vorwurf auszusetzen. In der vorliegenden Arbeit wurde versucht, diesen politischen Kontroversen durch eine ausgeglichene Auswahl der relevanten Beiträge Rechnung zu tragen, wobei natürlich wissenschaftliche Beiträge im Zentrum des Interesses standen. Als wichtigster Repräsentant der (mit Einschränkung) KMT-freundlichen Beiträge fungiert der bereits erwähnte 228Forschungsbericht des Exekutiv-Yuan aus dem Jahre 1992, der bis heute als offizielle Stellungnahme der Regierung zum Aufstand betrachtet werden kann. Kontrastiert wurde diese Darstellung durch Beiträge von dezidiert KMT-kritischen Forschern. Besonders zu erwähnen ist hierbei das Werk von Chen Cuilian Faktionskämpfe und Machtpolitik. Ein anderes Gesicht der 228 Tragödie (Taipei 1995), das einen historisch fundierten Blick auf die internen Faktionskämpfe der KMT zur Zeit des 228-Aufstandes eröffnet, sowie die Beiträge von Li Xiaofeng (Taiwan, meine Wahl!, Taipei 1995, sowie Interpretations on 228, Taipei
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Einleitung Jahre 1947 zusammengetragen. Besondere Erwähnung verdienen hierbei die Beiträge von Wang Xiaobo (Die Wahrheit des 228, Taipei 2002, sowie die drei Bände Die taiwanesische Liga und der 228-Vorfall, Chen Yi und der 228-Vorfall und Die KMT und der 228-Vorfall, Taipei 2004); Ceng Jianmin (Das neue Geschichtsbild des 228, Taipei 2003); Li Ao (Untersuchung zum 228 auf Taiwan, drei Bände, Taipei 1989) und Chen Fangming und Lin Delong (Die hochgeheimen historischen Materialien der Behörden zum 228, Taipei 1992). Ein großer Vorzug dieser regierungsunabhängigen Quellensammlungen besteht darin, dass ein kritischer Vergleich mit der Quellenauswahl der offiziellen Forschung ermöglicht wird.
Angesichts der überwältigenden Fülle des Materials war es dem Autor nicht möglich, die Quellen zum 228-Aufstand umfassend zu durchdringen – allein im Zuge des offiziellen 228-Forschungsberichtes wurden über 80.000 Dokumente ausgewertet. Für das Anliegen dieser Arbeit, die den 228-Aufstand ja nicht zum eigentlichen Forschungsgegenstand hat, sondern lediglich als Ausgangspunkt der Arbeit nutzt, wäre ein solches Vorgehen auch unzweckmäßig. Stattdessen wurde das Ziel verfolgt, den aktuellen Forschungsstand auf Taiwan kritisch zu reflektieren und einem westlichen Publikum vorzustellen. Als Ausgangspunkt dienten hierbei die bedeutendsten, das heißt meistzitierten, Beiträge aus dem Bereich der wissenschaftlichen Sekundärliteratur. Dennoch wurden in ausgewählten Teilgebieten häufig die originalen Quellen des Jahres 1947 ausgewertet; insbesondere betrifft dies die Fragen, die in der zeitgenössischen 228-Forschung bis heute umstritten sind. Der Bereich der Quellen im weiteren Sinne umfasst auch Memoiren und Berichte von Augenzeugen des Aufstandes. Im Zuge der Recherchen wurden jedoch keine gezielten Anstrengungen unternommen, Augenzeugen des 228-Aufstandes aufzufinden. Dieser Verzicht geschah aus zwei Gründen: Zum einen wurde die Befragung von Augenzeugen auf Taiwan bereits seit Mitte der 80er Jahre in großem Umfang betrieben. Insbesondere zu Beginn der 90er Jahre wurde die „mündliche Geschichte“ zu einem Schwerpunkt der 228-Forschung (siehe Kapitel 9.2.2.6.). Die Ergebnisse dieser Befragungen liegen in zahlreichen Sammelbänden vor, etwa Zeugenaussagen zum 228, herausgegeben von Ye Yunyun (Taipei 1993) oder die sehr umfangreiche und nach Orten gegliederte Interviewserie unter der Federführung von Zhang Yanxian (Taipei 1992-1996). Aus Sicht des Autors wäre es für einen einzelnen Forscher ein vergebliches Unterfangen, diesen umfangreichen Quellenschatz um wesentliche Beiträge bereichern zu wollen – zumal leider konstatiert werden muss, dass fast 60 Jahre nach dem Aufstand zahlreiche Zeitzeugen bereits verstorben sind. Zum anderen zeigen die vorliegenden Interviews, dass das Mittel der Befragung von Augenzeugen (wenngleich eine sicher verdienstvolle Tätigkeit) doch nur begrenzt geeignet ist, wissenschaftlich wertvolle Erkenntnisse zu liefern und die strittigen Fragen der historischen Hintergründe des Aufstandes zu erhellen. Oftmals erweist sich, dass ein Einzelner jeweils nur einen kleinen Bereich überblicken konnte, so dass es schwer fallen muss, aus den einzelnen Impressionen ein Gesamtbild der Vorgänge zu gewinnen. Im Rahmen der Recherchen zu dieser Arbeit waren Interviews mit Augenzeugen des 228-Aufstandes daher zumeist Zufallsbegegnungen, die über Dritte vermittelt wurden und in der Regel nicht auf die Initiative des Autors zurückgingen. Zu den Interviews, die auf diese Weise entstanden, gehört etwa das Gespräch mit Frau Lin Licai, die zur Zeit des Aufstandes noch ein Kind war, oder mit Herrn Lin Taicheng, der den 228-Aufstand als Jugendlicher in Gaoxiong
Forschungsstand und Literatur
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1998) und Li Ao (Was Sie über den 228 nicht wussten, Taipei 1998). Besondere Erwähnung verdient zudem der Research Report on Responsibility For The 228 Massacre, erschienen im Frühjahr 2006, der von der halbstaatlichen Stiftung 228 Memorial Foundation herausgegeben wurde und der in Taiwan auf großes Medieninteresse stieß. Es muss jedoch konstatiert werden, dass auch dieser Versuch einer eindeutigen Schuldzuweisung für die Massaker des Aufstandes hinter der Zielsetzung der Autoren zurückblieb und die immer noch vorherrschenden Differenzen über die historische Rolle des Chiang Kai-shek und der KMT nicht ausgeräumt werden konnten – zumal das Buch kaum neue Erkenntnisse liefert, sondern zumeist auf Quellen zurückgreift, die schon seit langem bekannt waren.
1.2.1.2 Quellen Die bedeutendste Quelle zum 228-Aufstand, die bis heute in der Sekundärliteratur auf Taiwan als maßgebliche Referenzgrundlage angeführt wird, stellt die Tageszeitung Taiwan xinshengbao dar, die während der gesamten Dauer des Aufstandes (vom 28.2. bis zum 8.3.47) täglich erschien. Trotz ihrer unbestreitbaren politischen Nähe zu den taiwanesischen Regierungsbehörden – die Redaktion der Taiwan xinshengbao stand unter dem maßgeblichen Einfluss der Parteizentrale der KMT – zeugen die entsprechenden Berichte von einem mitunter erstaunlichen Maß an politischem Freiraum. Dennoch entging die Taiwan xinshengbao nach Niederschlagung des Aufstandes dem Vorwurf der „Kollaboration mit den Aufständischen“ – im Gegensatz zu vielen anderen taiwanesischen Tageszeitungen, die im März 1947 ihr Erscheinen einstellen mussten und deren Redaktionsmitglieder im Zuge der „Säuberung“ der Provinz von Aufständischen nicht selten verschwanden. Daher lassen sich in der Taiwan xinshengbao auch die Ereignisse nachzeichnen, die nach dem 8. März stattfanden – wenngleich für diesen Zeitraum selbstverständlich keine Berichte mehr toleriert wurden, die von den politischen Maßgaben der lokalen Machthaber abgewichen wären. Im Zuge der vorliegenden Arbeit wurden sämtliche Ausgaben der Zeitung vom Zeitraum Januar bis September 1947 sorgfältig durchgesehen. Des Weiteren wurden im Verlauf der Arbeit verschiedene Quellensammlungen aufgesucht. Diese Sammlungen beinhalten etwa offizielle Verlautbarungen der verschiedenen Regierungsbehörden auf lokaler und zentraler Ebene, Sammlungen von Berichten relevanter Augenzeugen und Dokumente aus Archiven der unterschiedlichsten militärischen und zivilen Regierungsorgane. Diese Quellensammlungen lassen sich ihrerseits in zwei Gruppen unterteilen:
Zum einen solche Quellensammlungen, die im Zuge der historischen Aufarbeitung des Aufstandes seit Beginn der 90er Jahre von der Regierung selbst veröffentlicht wurden. An erster Stelle stehen auch hier die Quellen, welche die Forschergruppe des Exekutiv-Yuan verwendete und die vom Institut für moderne Geschichte der Academia Sinica in einer Auswahl veröffentlicht wurden (Ausgewählte Materialien zum 228-Vorfall, Taipei 1992). Daneben wurden jedoch auch die Archive auf lokaler Ebene ausgewertet, wie etwa das Archiv der Provinz Taiwan (The Historiographical Records on the Taiwan Event of February 28, 1947, drei Bände, Nantou 1992). Zum anderen wurden auch von Seiten der unabhängigen und zumeist regimekritischen Forschung bereits seit Ende der 80er Jahre erste Sammlungen von Quellen aus dem
Forschungsstand und Literatur
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erlebte. Diese für den Autor sehr beeindruckenden Interviews eröffneten einen unmittelbaren emotionalen Zugang zu den Geschehnissen der damaligen Zeit. Eine besondere Bedeutung kam hierbei dem ausführlichen Gespräch mit Herrn Zhong Yiren zu, der im März 1947 nach eigenen Aussagen den militärischen Widerstand gegen die anrückenden Truppen des Regimes in Süd- und Mitteltaiwan anführte (siehe Kapitel 3.4.2. und 9.2.4.1.), und dessen Schilderungen einen deutlichen Kontrast zu der vorherrschenden Lehrmeinung darstellen. Für die Darstellung der Aufarbeitung des 228-Aufstandes seit dem Ende der 80er Jahre wurden vor allem taiwanesische Tageszeitungen ausgewertet. Als sehr hilfreich erwies sich hierbei das umfangreiche Zeitschriftenarchiv der Wu Sanlian-Stiftung, das zahlreiche relevante Beitrage aus den Jahren 1987-1997 umfasst. Für die neueren Entwicklungen wurden aktuelle taiwanesische Tageszeitungen ausgewertet; auch hier wurde besonderer Wert darauf gelegt, eine ausgeglichene Repräsentation aller politischen Lager zu gewährleisten. Darüber hinaus wurden die verfügbaren Materialien durch eigene Interviews ergänzt. Hierzu gehören die Gespräche mit Chen Yongxin, der maßgeblich an der Gründung der „228-Bewegung“ in den Jahren nach 1987 beteiligt war; Shao Minghuang, dem Leiter der Geschichtsabteilung der KMT; Lai Zehan, unter dessen Federführung der offizielle 228-Forschungsbericht der Regierung entstand; Ye Bowen, dem ehemaligen Kurator und Mitbegründer des 228-Museums in Taipei; Xie Yingcong, dem aktuellen Kurator des 228Museums, sowie Vertretern von Organisationen der Opferverbände des 228-Aufstandes: Lin Licai, Yang Zhenlong und Zhang Qiuwu.
1.2.2 Forschungsstand und Literatur zur taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung im Ausland 1.2.2.1 Sekundärliteratur Die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung im Ausland wurde bis dato kaum als Gegenstand der historischen Forschung betrachtet. Dies gilt insbesondere für die frühe Unabhängigkeitsbewegung in Japan, der in den wenigen zum Thema erschienenen Beiträgen zumeist nur ein kurzer Abschnitt gewidmet wird. Diese oberflächliche Auseinandersetzung mag dadurch begründet sein, dass die Unabhängigkeitsbewegung in ihrer Frühphase einen sehr kleinen Personenkreis von allenfalls einigen hundert Mitgliedern umfasste und die Zeitschriften dieser frühen Periode, die nur in geringer Auflage erschienen, heute kaum mehr aufzufinden sind. Dieser Mangel macht sich deutlich in dem Beitrag von Claude Geoffrey Die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung (Taipei 1997) bemerkbar, der eine intensive Auseinandersetzung mit den verfügbaren Quellen dieser Zeit vermissen lässt. Eine ähnliche Kritik muss gegen das Werk von Chen Jiahong Geschichte der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung im Ausland (Taipei 1998) vorgebracht werden. Wenngleich hier die Darstellung der späteren taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung in den USA durch die Auswertung zahlreicher Quellen und Befragung von Zeitzeugen als sehr fundiert erscheint, widmet Chen der Beschreibung der frühen Unabhängigkeitsbewegung in Japan nur wenige Seiten, die sich zumeist auf das Zusammentragen der wichtigsten biographischen Daten beschränkt. Zudem ist auffällig, dass das von Chen verwendete Material offenbar weitgehend von der WUFI, der führenden Unabhängigkeitsbewegung im Ausland,
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Einleitung
bezogen wurde, so dass kritische Stimmen zur WUFI, die es damals (und bis heute) stets gegeben hat, nicht ausreichend berücksichtigt wurden. Weitere Beiträge zur Unabhängigkeitsbewegung basieren oftmals auf Befragung von führenden Aktivisten der Bewegung, oder wurden gar von diesen selbst verfasst. Dies gilt etwa für den Beitrag von Song Zhongyang (Munataka Takayuki) Private Erinnerungen an die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung (Taipei 1996) sowie das Buch von Chen Mingcheng 40 Jahre der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung im Ausland (Taipei 1992). Wenngleich dieser unmittelbare Zugang zweifellos eine unverstellte Sicht auf die Aktivitäten und Motive der damaligen Akteure ermöglicht, weisen die genannten Beiträge an vielen Stellen einen narrativen und oftmals anekdotischen Charakter auf. Auch ist festzustellen, dass sich die Darstellung weitgehend auf die einseitige und oftmals verklärende Sicht der führenden Gruppierungen der Unabhängigkeitsbewegung beschränkt
1.2.2.2 Quellen Wie schon beschrieben, sind die Quellen der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung im Ausland oftmals nicht oder nur unter großen Schwierigkeiten aufzufinden – ein Problem, das auch bei der Literaturrecherche zur vorliegenden Arbeit nicht immer befriedigend gelöst werden konnte. Insbesondere gilt dies für die frühe und mittlere Phase der „Exilregierung“ des Liao Wenyi (vor 1960), deren Pamphlete und Propagandamaterialien oftmals aus handgeschriebenen und in kleiner Auflage produzierten Flugschriften bestanden, die nicht überliefert sind. Von großer Hilfe war daher das sehr verdienstvolle, von Zhang Yanxian herausgegebene Werk Die erste Stimme der taiwanesischen Unabhängigkeit: Die Republik Taiwan (Taipei 2000), das eine Sammlung von Interviews mit den damals noch lebenden Akteuren der frühen Unabhängigkeitsbewegung umfasst und das nach Kenntnis des Autors das einzige Werk überhaupt darstellt, das sich ausschließlich dieser frühen Periode widmet. Die wichtigsten Quellen für die vorliegende Arbeit waren die führenden Zeitschriften der Unabhängigkeitsbewegung im Ausland, insbesondere die Zeitschrift Taiwan qingnian (nach 1960) und Taidu yuekan (nach 1970, freundlicherweise zur Verfügung gestellt von Herrn Chen Jiahong). Sämtliche verfügbaren Ausgaben wurden sorgfältig auf Beiträge durchgesehen, die sich mit den Fragestellungen der vorliegenden Arbeit befassen. Zudem konnte der Autor Zeitzeugen und führende Akteure der Unabhängigkeitsbewegung zu Gesprächen treffen: Shi Ming, der seit den 50er Jahren in der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung aktiv ist und der als Gründervater der marxistischen Strömung gilt; Frau Linda Arrigo, die sich seit den 70er Jahren in der Unabhängigkeitsbewegung engagiert und die lange Jahre mit Shi Mingde, einem der führenden Aktivisten der Unabhängigkeitsbewegung, verheiratet war; Tian Tairen (Joshua Tin), der im Jahre 1986 als „Abweichler“ der WUFI eine eigene revolutionäre Splitterpartei der Unabhängigkeitsbewegung in den USA mitbegründete, Zheng Zicai und Huang Wenxiong (Peter Huang), den beiden Hauptakteuren im so genannten „424-Vorfall“ von 1970, und Wang Xingnan, der im Jahre 1976 ein Bombenattentat auf führende Politiker des KMT-Regimes verübte. Für den Autor lag die besondere Bedeutung dieser persönlichen Begegnungen darin, dass sich die genannten Interviewpartner zumeist außerhalb der „Hauptströmung“ der Unabhängigkeitsbewegung befanden; somit wurde eine fundierte und kritische Auseinandersetzung mit
Forschungsstand und Literatur
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dieser Hauptströmung, die in anderen Beiträgen zum Thema weitgehend vernachlässigt wurde, ermöglicht.
1.2.3 Forschungsstand und Literatur zur Unabhängigkeitsbewegung zur Zeit des Weißen Terrors Die Phase der autoritären Ein-Parteien-Herrschaft der KMT, auch genannt die Phase des „Weißen Terrors“, ist bis heute nicht systematisch aufgearbeitet worden. Die wenigen Werke, die zu dem Thema erschienen sind, bieten zumeist nur einzelne Impressionen dieser Zeit. Zum Teil liegt dies daran, dass der Weiße Terror auf Taiwan bis heute als politisch sensibles Thema gilt. Eine erschöpfende Darstellung dieser Periode ist daher nicht möglich. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit wurden lediglich die beiden Vorfälle herausgestellt, die am besten dokumentiert sind. Der Free China-Vorfall von 1960: Als wichtigste Bezugsquelle für den Free ChinaVorfall (auch: Lei Zhen-Vorfall) diente die ausführliche und fundierte Studie des Xue Huayuan Die „Free China“ und die demokratische Verfassung (Banqiao 1996). Zudem wurden die Jahrgänge 1957 bis 1960 der Zeitschrift Free China, soweit im Zeitschriftenarchiv der Academia Sinica vorhanden, auf relevante Artikel und Beiträge durchgesehen. Der Peng Mingmin-Vorfall von 1964: Eine wichtige Quelle für den Peng MingminVorfall sind die Memoiren des Peng A Taste of Freedom (New York, Chicago und San Francisco 1972), die dieser nach seiner erfolgreichen Flucht aus Taiwan veröffentlichte. Darüber hinaus hatte der Autor Gelegenheit zu ausführlichen Gesprächen mit Xie Congmin (Roger Hsie), einem Studenten und Mitstreiter des Peng Mingmin, dem, wie gezeigt werden soll, eine entscheidende Rolle im Vorfall zukam.
1.2.4 Forschungsstand und Literatur zur Dangwai-Periode Die Dangwai-Periode bezeichnet die Phase der beginnenden Liberalisierung, in der sich erstmals eine Opposition außerhalb der Regierungspartei KMT bildete und in einer Vielzahl von politischen Zeitschriften und Magazinen artikulierte. In der neuern historischen Forschung zu Taiwan wird diese Periode als wichtiger Abschnitt der jüngeren taiwanesischen Geschichte gewürdigt; sowohl in Beiträgen westlicher Sprachen (wie das von Murray Rubinstein herausgegebene Buch Taiwan. A New History, New York und London 1999, oder Denny Roy Taiwan. A Political History, New York und London 2003) als auch in taiwanesischen Beiträgen in chinesischer Sprache (z.B. Li Xiaofeng 40 Jahre der Demokratiebewegung auf Taiwan, Taipei 1987 oder Liao Qingxiu Die Geschichte Taiwans, Taipei 2003). Jedoch ist auffällig, dass insbesondere die Darstellungen von taiwanesischen Autoren oftmals nicht die kritische Distanz und Tiefe aufweisen, die für diese vielschichtige und äußerst komplizierte Periode angemessen wären. Dies mag daran liegen, dass der historische Abstand zu dieser Phase der taiwanesischen Geschichte noch nicht gegeben ist. Zahlreiche Akteure dieser Zeit sind heute noch in der taiwanesischen Politik aktiv – wie etwa der amtierende Präsident Chen Shuibian, der seine politische Karriere als Strafverteidiger der Ange-klagten des Meilidao-Vorfalles begann, oder der KMT-Politiker Song Chuyu, der bei der Präsidentschaftswahl im Jahre 2004 für das Amt des Vize-Präsidenten kandidierte.
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Einleitung
In den 80er Jahren trug Song Chuyu als Vorsitzender der Nachrichtenabteilung des KMTRegimes maßgebliche Verantwortung für die Unterdrückungsmaßnahmen des Regimes gegen politische Dissidenten und zählte daher auf Seiten der Opposition zu den meistgehassten Vertretern der Regierungspartei. Diese zeitliche Nähe zur aktuellen taiwanesischen Politik hat es bislang erschwert, die Dangwai-Periode einer kritischen und emotionsfreien historischen Forschung zu unterziehen. Ein weiteres Hindernis für einen Zugang zur Dangwai-Periode ist die beinahe unüberschaubare Fülle an Quellenmaterial. In den Jahren nach 1980 erschien eine verwirrende Vielzahl an politischen Magazinen, die unter ständiger Beobachtung des Regimes standen und auf Grund von Zensurmaßnahmen oftmals nach nur wenigen Tagen oder Wochen verboten wurden – freilich nur, um unmittelbar darauf unter einem anderen Namen erneut zu erscheinen. Von großem Wert für die Recherchen zur vorliegenden Arbeit erwies sich der Beitrag von Peng Linsong Die Zeitschriften der Dangwai und die demokratische Bewegung auf Taiwan (Taipei 2003), in der eine systematische Katalogisierung der wichtigsten Zeitschriften der Dangwai vorgenommen wurde. Im Zuge der Recherchen wurden die wichtigsten Zeitschriften der Dangwai sorgfältig durchgesehen, darunter die Zeitschriften Taiwan zhenglun/Taiwan Political Review, Meilidao/Formosa, Bashi niandai/The Eighties, Qianjin/Progress, Ziyou shidai, Penglaidao, Shen geng und Xin chaoliu. Zwei weitere Zeitschriften, die kontrastiert an der vorangegangenen Aufzählung etwas aus dem Rahmen fallen, sind die Zeitschrift Xiachao, die zwar eine regimekritische Grundhaltung vertrat, sich aber (im Gegensatz zu den anderen oppositionellen Zeitschriften) ausdrücklich für eine Wiedervereinigung mit dem Festland aussprach, sowie die Zeitschrift Jifeng, in der sich in den Jahren 1979/1980 die konservativsten Unterstützer des KMT-Regimes sammelten und die sich als Sprachrohr der nationalchinesischen Patrioten und bewusstes Gegenmodell zu der Herausforderung der politischen Opposition betrachtete. Auch für diese Periode konnte die Quellensammlung durch Interviews mit Zeitzeugen ergänzt werden. Besonders erwähnt werden sollte hierbei das Gespräch mit Professor Li Xiaofeng, der in den 80er Jahren in der Redaktion der Zeitschrift Bashi niandai mitwirkte, sowie Herrn Lin Zhuoshui, der für verschiedene Publikationen der Dangwai tätig war.
1.2.5 Forschungsstand und Literatur zur modernen taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung Im letzten Kapitel der Arbeit, das sich mit der modernen taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung auf Taiwan beschäftigt, wird der Anschluss an die aktuelle Tagespolitik Taiwans vollzogen. Eine Unterteilung in Literatur und Quellen, oder selbst in relevante und weniger relevante Literatur, gestaltet sich hier zunehmend schwierig: Es lässt sich mit einigem Recht behaupten, dass die Frage der taiwanesischen Unabhängigkeit das dominierende Grundthema der Politik Taiwans überhaupt darstellt, und es gibt kaum ein Politikfeld, das nicht in direkter oder indirekter Weise von dieser Frage betroffen wäre. In der vorliegenden Arbeit wurde der Versuch unternommen, diesen äußerst vielschichtigen Themenkomplex auf die zentralen Fragen zu reduzieren: Die Frage nach Berechtigung und Notwendigkeit einer taiwanesischen Unabhängigkeit, die militärische und wirtschaftliche Dimension sowie die öffentliche Meinung (Kapitel 9.1.4.). Neben der allgemeinen Recherche, die sich auf
Konventionen
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Tageszeitungen und Internet-Seiten von wichtigen Akteuren erstreckte, wurde der Kontakt zu Vertretern verschiedener relevanter Organisationen gesucht. Diese Interviews lassen sich in drei Gruppen unterteilen: An erster Stelle standen hier Gespräche mit prominenten Vertretern der drei großen 11 politischen Parteien DPP (Lin Zhuoshui), KMT (Shao Minghuang) und TSU (Lin Zhijia). Daneben wurden zwei kleinere Parteien kontaktiert, die zwar über wenig Einfluss verfügen, sich jedoch an den jeweiligen Extremem des politischen Spektrums befinden: Xu Qingsong und Lin Yufa als Vertreter der Taiwan Independence Party (TIP), die sich (wie der Name bereits erkennen lässt) vehement für eine sofortige staatliche Unabhängigkeit engagiert, sowie Yu Muming, den Parteivorsitzenden der New Party (NP), die mittelfristig für eine Wiedervereinigung mit dem Festland plädiert. Des weiteren wurden Gespräche mit Repräsentanten von zwei politischen Gruppierungen geführt, die sich in jeweils entgegen gesetzter Zielrichtung mit der Frage der taiwanesischen Unabhängigkeit beschäftigen: Die World United Formosans for Independence (WUFI), vertreten durch einer ihrer bedeutendsten Theoretiker Shi Zhengfeng, sowie die „Liga für die Wiedervereinigung Chinas“, deren Vorsitzender Wang Jinping für ein Interview zur Verfügung stand. Drittens schließlich wurden Interviews mit Wissenschaftlern geführt, die sich mit Themen beschäftigen, die in direktem Zusammenhang mit der taiwanesischen Unabhängigkeit stehen. Hierzu gehört der renommierte Historiker Li Xiaofeng, der Sozialwissenschaftler Wu Naide sowie die Medizinerin Lin Mali, die sich in ihrer Forschung mit der genetischen Verwandtschaft zwischen Taiwanesen und Chinesen beschäftigt.
1.3 Konventionen Für die Vorfälle des Jahres 1947 finden sich in der chinesischen Literatur unterschiedliche Bezeichnungen. Am häufigsten findet heute der Begriff „228-Vorfall“12 Verwendung. Von Seiten der Unabhängigkeitsbewegung im Ausland wurden hingegen zumeist die Termini „228-Revolution“ bzw. „Große 228-Revolution“13 bevorzugt. Der in dieser Arbeit gewählte Ausdruck „228-Aufstand“14 lässt sich hingegen eher selten auffinden. Eine ähnliche terminologische Vielfalt ist im Englischen zu konstatieren, wo zumeist der Begriff „228Incident“, daneben aber auch „228-Uprising“ oder „228-Insurrection“ verwendet werden. Die Bezeichnung „Aufstand“ steht vor der Schwierigkeit, dass eine allgemeine Volkserhebung assoziiert werden könnte, die den Sturz der staatlichen Autorität verfolgte – eine Zielsetzung, die jedoch nur von einer Minderheit der Akteure angestrebt wurde. Andererseits impliziert die heute überwiegende Bezeichnung „Vorfall“ nach Ansicht des Autors eine unzulässige Bagatellisierung und Verharmlosung der Ereignisse; daher wurde, trotz aller Vorbehalte, der Begriff „Aufstand“ als einzig angemessene Übersetzung gewählt. 11 Eine Partei, die in dieser Aufzählung fehlt, ist die People First Party (PFP), die sich im Anschluss an die Präsidentschaftswahlen im Jahre 2000 unter Führerschaft von Song Chuyu von der KMT abspaltete. In der Haltung der PFP zur Frage der Taiwanesischen Unabhängigkeit bestehen jedoch keine nennenswerten Differenzen zu den Ansichten der KMT; in den letzten Monaten wurde mehrmals über eine erneute Verschmelzung der beiden Parteien PFP und KMT spekuliert. 12 Er-er-ba shijian ҼҼޛһԦ 13 Er-er-ba geming ҼҼޛ䶙ભ bzw. er-er-ba da geming ҼҼޛབྷ䶙ભ 14 Er-er-ba qiyi ҼҼޛ䎧㗙 oder er-er-ba minbian ҼҼ≁ޛ䆺
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Einleitung
Die offiziellen Staatsnamen der politischen Gebilde auf beiden Seiten der Taiwan-Straße lauten „Volksrepublik China“ (VRCh) 15 bzw. „Republik China“ (Republic of China, ROC). 16 Im Sinne einer besseren Leserlichkeit wurden an Stellen, wo Missverständnisse ausgeschlossen werden konnten, jedoch auch die Begriffe „Festland“ bzw. „Nationalchina“ oder „Taiwan“ verwendet. „Taiwan“ bezieht sich dann selbstverständlich auf das gesamte Staatsgebiet der Republik China, das – neben der Hauptinsel Taiwan – auch die Inselgruppen Jinmen und Mazu, die Pescadores (Penghu) und eine Anzahl weiterer kleiner Inseln umfasst. Die autoritäre Ein-Parteien-Herrschaft der KMT über Taiwan wird zudem gelegentlich als „KMT-Regime“ oder „ROC-Regime“ bezeichnet. Diese bewusst abwertende Bezeichnung „Regime“ ist nach Meinung des Autors seit der demokratischen Liberalisierung jedoch nicht mehr angemessen, und findet für die Beschreibung der Periode nach 1990 keine Anwendung. Im Folgenden wird die Republik China wie ein staatliches Gebilde behandelt – etwa, wenn vom „taiwanesischen Präsidenten“ oder der „nationalchinesischen Regierung“ die Rede ist. Dies geschieht jedoch unter dem Vorbehalt, dass der taiwanesische Anspruch auf Eigenstaatlichkeit von der Mehrheit der internationalen Staatenwelt (darunter auch die Bundesrepublik Deutschland) nicht anerkannt wird. Für die Umschrift von chinesischen Termini wurde die international gebräuchliche Pinyin-Umschrift verwendet. Abweichungen wurden nur dort vorgenommen, wo Begriffe unter anderen Umschriften in den allgemeinen Sprachgebrauch eingegangen sind – also etwa „Peking“ (statt Beijing) oder „Chiang Kai-shek“ (statt Jiang Jieshi). Eine besondere Schwierigkeit bereitete hierbei die Umschrift des Begriffes „Chiang/Jiang-Clan“,17 mit der die Unabhängigkeitsbewegung im abfälligen Sinne das Regime des Chiang Kai-shek und dessen Sohn und Nachfolgers Jiang Jingguo bezeichnete. Für die Periode, die in die Lebzeiten des Chiang Kai-shek fällt, wurde hier die Umschrift „Chiang-Clan“ gewählt, für die Zeitspanne nach dessen Tod im Jahre 1975 hingegen die Umschrift „Jiang-Clan“. Für den Begriff „Liumang“, mit der in offiziellen Regierungsdokumenten oftmals die Aufständischen des Jahres 1947 diffamiert wurden, fand sich keine geeignete deutsche Übersetzung. Liumang bezeichnet Mitglieder von Mafia-ähnlichen, organisierten Verbrecherbanden. Im Gegensatz zur Mafia weisen Liumang-Banden jedoch einen eher geringen Organisationsgrad auf, zudem rekrutieren sich die Liumang zumeist aus den unteren Gesellschaftsschichten. Dem Begriff haftet daher auch die Konnotation von „Kleinkrimineller, Gewalttäter“ an. Bei Günter Whittome findet sich die Übersetzung „Rowdy“, die, bezogen auf den 228-Aufstand, zutreffend ist. Wie gezeigt werden soll, traten die LiumangBanden jedoch auch im weiteren Verlauf der Unabhängigkeitsbewegung in Erscheinung, hier wäre die Übersetzung „Rowdy“ irreführend. Der Autor hat sich daher entschieden, den Begriff unübersetzt zu lassen und die chinesische Umschrift Liumang zu übernehmen. Für die Festlegung der Jahreszahlen existieren auf Taiwan zwei unterschiedliche Systeme: Neben der im Westen gebräuchlichen Zählweise nach Christi Geburt findet auch das „Jahr der Republik“ (beginnt 1911) Verwendung. In den letzten Jahren ist die Wahl der Jahreszählung auf Taiwan Gegenstand einer politischen Kontroverse geworden, deren Ergebnis bislang aussteht. 18 In der vorliegenden Arbeit wurde im Sinne einer besseren 15
Zhonghua renmin gongheguo ѝ㨟Ӫ≁઼ޡ഻ Zhonghua minguo ѝ㨟≁഻ 17 Jiang zu 㭓᯿ 18 In jüngster Zeit wurde von Seiten der DPP ein Vorstoß unternommene, die westliche Zählung des gregorianischen Kalenders auf Taiwan allgemein verbindlich festzuschreiben. Von Kritikern wird jedoch auf die hohen 16
Konventionen
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Leserlichkeit in der Regel die westliche Zählung verwendet; Ausnahmen von dieser Konvention wurden durch Fußnoten besonders gekennzeichnet. Die auf Taiwan lebenden Volksgruppen lassen sich wie folgt unterscheiden: 1.
2.
Zum einen diejenigen Inselbewohner, die bereits vor der Rückkehr Taiwans nach China im Jahre 1945 dort lebten und die als „Leute aus der Provinz“ 19 bezeichnet werden. Diese (aus Perspektive des Jahres 1945) ursprünglichen Einwohner lassen sich unterteilen in Ureinwohner 20 sowie Nachfahren der frühen Siedler vom chinesischen Festland, die sich wiederum in Siedler aus der Provinz Fujian und Angehörige der ethnischen Minderheit der Hakka unterscheiden lassen. Die Nachkommen der frühen Einwanderer aus der Provinz Fujian, auch als Fulaoren oder Hoklo bezeichnet, stellen in dieser Gruppe den bei weitem größten prozentualen Anteil. Demgegenüber stehen die Bewohner, die sich nach der Rückkehr Taiwans zum Festland im Jahre 1945 auf der Insel niederließen und die insbesondere zu Ende des chinesischen Bürgerkrieges im Jahre 1949 dem ROC-Regime in großer Zahl nach Taiwan folgten. Diese späteren Einwanderer und deren auf Taiwan geborenen Nachkommen werden allgemein als „Festländer“21 (Waishengren, eigentlich: „Leute von außerhalb der Provinz“) bezeichnet. In jüngster Zeit findet sich auch der als politisch korrekt empfundene Terminus „Neue Einwanderer“. 22 Dieser Begriff konnte sich aber noch nicht allgemein durchsetzen, der Autor behält daher die eingebürgerte Bezeichnung „Festländer“ bei.23
In der vorliegenden Arbeit wird zumeist die Unterscheidung in „gebürtige Taiwanesen“ bzw. „Taiwanesen“ und „Festländer“ getroffen – dies mit dem Vorbehalt, dass die Nachkommen der zweiten und dritten Generation der Festländer natürlich auch auf Taiwan geboren wurden. Darüber hinaus wird der Begriff „Taiwanesen“ gelegentlich auch in Abgrenzung zu den Chinesen auf dem Festland, den Einwohnern der VRCh also, verwendet. In dieser letzten Bedeutung sind mit „Taiwanesen“ jeweils sämtliche Bewohner Taiwans, einschließlich der gebürtigen Taiwanesen und der Festländer, gemeint.
Folgekosten dieses Vorhabens verwiesen. Es wurde spekuliert, ob die Frage der Kalenderreform zum Gegenstand eines Referendums gemacht werden könnte. Siehe China Post, 14.3.06. 19 Benshengren ᵜⴱӪ 20 Yuanzhumin տ≁. Dem Begriff yuanzhumin haftet dabei nichts Abwertendes an, der Terminus wird etwa auch von verschiedenen politischen Interessenvertretungen der Ureinwohner verwendet. 21 Waishengren ཆⴱӪ 22 Xin yimin ᯠ〫≁ 23 Für den Autor ist nicht erkennbar, dass der Begriff „Festländer“ auf Taiwan als herabsetzend empfunden würde.
2 Historische Einführung
2.1 Frühe Besiedlung und die Herrschaft des Koxinga Die Insel Taiwan, durch eine 150km breite Meeresstraße vom chinesischen Festland getrennt, trat erst zu einem relativ späten Zeitpunkt in den Wahrnehmungskreis der chinesischen Herrscher. Über die ursprüngliche Besiedlung Taiwans, die bereits im Paläolithikum einsetzte, ist wenig bekannt. Die Ureinwohner der Insel, die in mehreren Stämmen auf Taiwan lebten und deren Sprachen der malayisch-austronesischen Sprachgruppe zugerechnet werden, verfügten über keine Schriftkultur; die Herkunft dieser Ureinwohner ist daher umstritten.24 Seit dem dritten Jahrhundert verweisen chinesische Quellen auf die Existenz einer Insel im Osten, die Ziel von gelegentlichen Expeditionen gewesen sei – es ist allerdings umstritten, ob mit dieser Insel, die meist als Liuqiu bezeichnet wurde, tatsächlich Taiwan gemeint war. Erst unter der Mongolendynastie der Yuan wurden dauerhafte militärische Vorposten auf der Taiwan vorgelagerten Inselgruppe Penghu errichtet; seit dem 14. Jahrhundert lässt sich ein nennenswerter Zustrom von chinesischen Einwanderern nach Taiwan nachweisen, die vor allem in küstennahen Fischerdörfern siedelten. Seit dem 16. Jahrhundert geriet Taiwan zudem als berüchtigtes Piratennest in Verruf. Im Jahr 1517 durchkreuzte eine portugiesische Flotte auf ihrem Weg nach Japan die Taiwan-Straße und gab der Insel den Namen „die schöne Insel“ (Ilha Formosa) – ein Name, der bis heute als Synonym für Taiwan Verwendung findet. Im 17. Jahrhundert wurden auf Taiwan die ersten dauerhaften Außenposten europäischer Kolonialmächte etabliert: Im Jahr 1624 errichteten die Niederlande an der Südküste der Insel eine Reihe von militärischen Befestigungen, während die Spanier im Jahre 1626 den nördlichen Küstenstreifen der Insel besetzten. Im Jahr 1642 gelang es den Holländern, die spanischen Konkurrenten zu vertreiben und formal die gesamte Insel unter ihre Jurisdiktion zu bringen. In der Mitte des 17. Jahrhunderts ereignete sich auf dem chinesischen Festland ein epochaler politischer Umbruch, dessen Auswirkungen die weitere Entwicklung Taiwans entscheidend prägen sollte. Die chinesische Ming-Dynastie wurde von den nördlichen Reiterstämmen der Mandschus gestürzt, die im Jahre 1644 mit der Eroberung der Hauptstadt Peking die Qing-Dynastie begründeten – die, wie sich herausstellen sollte, letzte Kaiserdynastie der chinesischen Geschichte. Die neuen Herrscher benötigten jedoch noch über 20 Jahre, um die letzten Reste von Ming-loyalen Widerstandsbewegungen zu beseitigen und ihre Herrschaft über das ganze Reich zu konsolidieren. Der militärische Widerstand für eine 24 In den letzten Jahrzehnten ist die Herkunft dieser Ureinwohner Gegenstand einer politisch motivierten Debatte geworden. Von chinesischen Forschern wurde geltend gemacht, dass die frühe Besiedlung Taiwans vom chinesischen Festland ausgegangen sei. Damit sollte belegt werden, dass Taiwan bereits seit der Altsteinzeit Teil des chinesischen Siedlungsraumes gewesen sei. Eine andere Theorie besagt hingegen, dass die ersten Einwohner Taiwans aus Indonesien und den Philippinen stammten oder – dies eine Hypothese, die sich besonders in Kreisen der politischen Bewegung für die Rechte der Ureinwohner großer Beliebtheit erfreut – dass Taiwan gar Ursprung des austronesischen Volksstammes gewesen sei. Vgl. Stainton 1999: 27-44.
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Historische Einführung
Restauration der Ming fand die Unterstützung des ehemaligen Piraten und Händlers Zheng Chenggong, in europäischen Quellen bekannt unter dem Namen Koxinga, 25 der eine starke Streitmacht in Südchina und auf Taiwan unterhielt. In mehreren Feldzügen unternahm Koxinga den Versuch, die Armeen der Qing zurückzudrängen; im Jahre 1659 wäre ihm dabei fast die Rückeroberung Nanjings geglückt. Koxinga, der vom letzten Ming-Kaiser mit dem Titel des Großadmirals der kaiserlichen Flotte bedacht wurde, zog sich angesichts der militärischen Übermacht der Qing schließlich vom chinesischen Festland zurück und brachte nach Vertreibung der Holländer im Jahr 1661 Taiwan unter seine Kontrolle. Nach dem frühen Tod Koxingas im Jahr 1662 hielten seine Nachfolger an dem Ziel einer Restauration der Ming fest. Im Jahre 1683 gelang es jedoch einer starken Seestreitmacht der Qing – angeführt von Shi Lang, einem ehemaligen Kampfgefährten Koxingas – das Regime der Zheng auf Taiwan zu beseitigen; Taiwan wurde erstmals formal in das chinesischen Kaiserreich integriert. Die 22jährige Herrschaft des Zheng-Regimes über Taiwan ist durch zwei prägende Merkmale gekennzeichnet. Zum einen trat unter der Herrschaft der Zheng erstmals ein deutlich chinesisches Element in Erscheinung. In den Jahren nach 1660 verdoppelte sich die chinesische Bevölkerung Taiwans, unter Koxinga wurden zudem die Rudimente eines Staatsapparates errichtet, dessen Struktur dem chinesischen Kaiserhof nachempfunden war. Zum zweiten wurde erstmals in der dokumentierten taiwanesischen Geschichte ein von äußeren Mächten autonomes politisches Gebilde errichtet, dessen Herrschaftszentrum (im Gegensatz zu den fremden Kolonialmächten der Holländer und Spanier) ausschließlich auf der Insel selbst ruhte. Man könnte daher von einer ersten faktischen Unabhängigkeit Taiwans von fremden Mächten ausgehen – wie dies in der späteren Unabhängigkeitsbewegung auch gelegentlich geschehen ist. Aufgrund ihres Anspruches auf Restauration der Ming betrachteten Koxinga und seine Nachfolger die Insel Taiwan jedoch nicht als eigentliches Herrschaftsgebiet, sondern lediglich als Rückzugs- und Aufmarschbasis für eine militärische Unterwerfung des Festlandes – ein Konstellation, die sich in den Jahren nach 1949 unter dem KMT-Regime erneut einstellen sollte.
2.2 Taiwan unter der Qing-Herrschaft Nach dem Sieg über das Zheng-Regime hatte der Qing-Hof zunächst erwogen, die chinesische Bevölkerung Taiwans auf das Festland umzusiedeln und die Insel sich selbst zu überlassen. Gegen dieses Vorhaben bildete sich jedoch eine Fraktion, angeführt von dem Eroberer Taiwans Shi Lang, die sich vehement für eine dauerhafte Eingliederung Taiwans in den chinesischen Reichsverband aussprach: Shih Lang vigorously opposed abandoning Taiwan, a prize he had fought many years to gain […] Shih Lang argued that Taiwan was too important strategically and economically for it not to be incorporated into the empire and that governing the new territory need not burden the national treasury. Shih pointed out the dangers to coastal security were Taiwan to fall into the
25
Der Name Koxinga leitet sich ab von dem Terminus „guoxingye“ ഻ဃ⡪, eine Ehrentitulierung, die Koxinga im Jahre 1645 verliehen wurde.
Die „Republik Taiwan“ und die japanische Kolonialherrschaft
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hands of a hostile power […] [Zheng] remnants hiding among aborigines in the mountains could never be entirely cleared out – to abandon Taiwan to them would turn it into a pirate’s lair.26
Die zögerliche Entscheidung der Qing für eine dauerhafte Präsenz auf Taiwan ergab sich also weniger aus einem aktiven Interesse an der Insel als aus dem passiven strategischen Motiv, potentiell feindlichen Mächten den Zugang zu Taiwan zu verwehren. Zwar wurde Taiwan 1684 als Präfektur der Provinz Fujian in das chinesische Kaiserreich integriert; bereits unmittelbar nach dem Sieg über die Truppen der Zheng wurde jedoch der größte Teil der besiegten Armee – und damit fast die Hälfte der gesamten chinesischen Bevölkerung – auf das chinesische Festland transferiert. In der Folgezeit wurde der Zustrom von chinesischen Siedlern nach Taiwan restriktiven Immigrationsbestimmungen unterworfen, die erst zu Beginn des 19. Jh. allmählich gelockert wurden. Die Qing-Verwaltung, deren effektive Jurisdiktion sich auf das Umland einiger befestigter Küstenstädte im Norden und Süden der Insel beschränkte, betrachtete Taiwan als unzivilisiertes Randgebiet des chinesischen Kulturkreises. Die Herrschaft der Qing stieß zudem häufig auf den Widerstand der Taiwanesen, die schließlich in dem Ruf standen, „alle drei Jahre einen kleinen, alle fünf Jahre einen großen Aufstand“27 durchzuführen. Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jh. begann der Kaiserhof, eine aktive Taiwan-Politik zu verfolgen. Auf Grund der geostrategischen Lage Taiwans hatten mehrere Großmächte (darunter die USA, Japan, Frankreich, Großbritannien und das Deutsche Reich) Interesse an einer friedlichen oder militärischen Besetzung der Insel erkennen lassen. Nach einem Überfall der Ureinwohner auf ein japanisches Schiff landete im Jahr 1874 eine japanische Strafexpedition auf Taiwan, die sich jedoch nach hohen Verlusten, verursacht vor allem durch tropische Krankheiten, nach wenigen Wochen wieder zurückzog. In den Jahren 1884-85 führte eine französische Flotte eine Blockade der Insel durch und rückte schließlich auf die nordtaiwanesischen Hafenstadt Jilong vor, wo sie von Qing-Truppen zurückgeschlagen werden konnte. Für den Qing-Hof wurde indes erkenntlich, dass Taiwan, sollte es nicht an fremde Kolonialmächte fallen, unter engere chinesische Kontrolle gebracht werden musste. 1885 wurde Taiwan in den Status einer Provinz erhoben, als Gouverneur der äußerst fähige Liu Mingchuan – der im Vorjahr die erfolgreiche Abwehr des französischen Expeditionsheeres geleitet hatte – berufen. Unter der Verwaltung des Gouverneurs Liu wurden zahlreiche administrative und infrastrukturelle Reformen durchgeführt, die von beeindruckenden technischen Innovationen begleitet waren: In den letzten Jahren der Qing-Herrschaft verfügten einige Orte Taiwans über elektrisches Licht und Telegraphenverbindungen (darunter ein für Ostasien revolutionäres Unterwasserkabel von über 150 km Länge, das eine telegraphische Verbindung zum Festland herstellte), es verkehrten erste Dampfschiffe und Eisenbahnen, ein moderner Postdienst verband die größeren Städte. In kürzester Zeit war Taiwan zu einer der fortschrittlichsten Provinzen Chinas aufgestiegen.
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Shepherd 1999: 108f. Nach Angaben von Li Xiaofeng und Lin Chengrong kam es in den 211 Jahren der Qing-Herrschaft über Taiwan zu insgesamt 189 bewaffneten Aufständen der Bevölkerung, von denen 73 als „groß“ zu bezeichnen seien. Li Xiaofeng/Lin Chenrong 2004: 99. 27
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Historische Einführung
2.3 Die „Republik Taiwan“ und die japanische Kolonialherrschaft In den Jahren 1894/95 brach zwischen China und Japan ein Krieg über die Vorherrschaft in Korea aus, in dem China unterlag. Im Friedensvertrag von Shimonoseki, unterzeichnet am 17. April 1895, wurde der chinesische Kaiserhof daraufhin verpflichtet, Taiwan und die vorgelagerten Penghu-Inseln an Japan abzutreten. Unter den chinesischen Eliten auf Taiwan, die bei den Friedensverhandlungen nicht konsultiert worden waren, rief dieser „Verrat“ des chinesischen Kaiserhofes Empörung hervor: [The] offhand treatment of the island people angered Formosan-Chinese leaders, who complained bitterly that they had been forsaken by the imperial government. They refused to accept the situation quietly, vowing to resist the Japanese if they should appear. 28
In der kurzen Übergangszeit zwischen Abtretung der Insel und der Ankunft der ersten japanischen Truppenkontingente unternahm Gouverneur Tang Jingsong den verzweifelten Versuch, der japanischen Okkupation durch die Ausrufung einer „Republik Taiwan“ (gegründet am 25. Mai 1895) zuvorzukommen. Diese Bemühungen erwiesen sich jedoch als fruchtlos: Am 23. Mai nahmen die Japaner die Penghu-Inseln in Besitz, sechs Tage später landete ein erstes japanisches Truppenkontingent von 15.000 Soldaten in Nordtaiwan und traf nur auf sporadischen Widerstand. Am 5. Juni floh Tang Jingsong aus Taipei und setzte auf das chinesische Festland über. Zwar wurde der Vormarsch der Japaner in den nächsten fünf Monaten durch vereinzelte Guerilla-Gruppen behindert – allen voran die „Schwarze Banner Armee“ des Liu Yongfu, die eine Konsolidierung der Republik im Süden der Insel anstrebte. Mit der Einnahme der südtaiwanesischen Stadt Tainan am 21. Oktober 1895 brach der organisierte Widerstand jedoch endgültig zusammen; Taiwan musste sich in sein Schicksal als Kolonie des japanischen Imperiums fügen. Bemerkenswert ist, dass diese kurzlebige „Republik Taiwan“ in der späteren taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung kaum als Manifestation eines ersten unabhängigen Staates gewürdigt wurde. Es ist jedoch offensichtlich, dass die chinesischen Eliten auf Taiwan mit Ausrufung der Republik lediglich die Hoffnung verbanden, eine japanische Okkupation der Insel zu verhindern und keineswegs eine echte staatliche Unabhängigkeit anstrebten. Bei Verkündung der Unabhängigkeitserklärung betonte Tang Jingsong ausdrücklich seine unerschütterliche Loyalität zum Qing-Kaiserhof. Das Regierungsmotto der Republik lautete „Auf Ewig Qing“, 29 die Staatsfahne zeigte einen goldenen Tiger auf blauem Grund – ein Tier, das auf dem Festland, nicht aber auf Taiwan heimisch ist.30 So schrieb etwa Huang Zhaotang: Das Ziel der Republik Taiwan bestand darin, eine Eroberung Taiwans durch Japan zu verhindern. Die Staatsgründung war lediglich ein Instrument des anti-japanischen Widerstandes, diese Tatsache steht ganz außer Zweifel […] Die taiwanesische Unabhängigkeit, die von diesen 28
Kerr 1974: 14. Yong Qing ≨ 30 Die Wahl des Tigers als Wappentier sollte offensichtlich als Korrelat zum Drachen, dem Wappentiers der chinesischen Qing-Dynastie, dienen und auf das Sprichwort „Drachen und Tiger sind Brüder“ (long hu xiongdi 喽㱾ݴ ᕏ) anspielen. In den letzten Jahren hat die optisch sehr ansprechende Tigerfahne der Republik Taiwan in einigen Kreisen der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung wieder an Popularität gewonnen, das Motiv – auf T-Shirts oder Fahnen – tritt bei fast jeder öffentlichen Kundgebung der Unabhängigkeitsbewegung in Erscheinung. 29
Die „Republik Taiwan“ und die japanische Kolonialherrschaft
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Leuten [in der Führung der Republik Taiwan] angestrebt wurde, war keine echte Unabhängigkeit, sondern [sie wollten] einen Staat, welcher der Qing-Dynastie angehören sollte.31
Aus Sicht der Japaner wurde mit der Besetzung Taiwans in erster Linie das Ziel der ökonomischen Ausbeutung der Insel für die Bedürfnisse des Mutterlandes verfolgt; zudem wurde schon zu einem frühen Zeitpunkt die strategische Überlegung angestellt, Taiwan als Ausgangsbasis für eine weitere koloniale Expansion in Südost-Asien zu nutzen. Die 50jährige japanische Kolonialherrschaft hatte für Taiwan jedoch durchaus positive Aspekte. Japan war erstmals in den Rang einer Kolonialmacht aufgerückt, ein Status, der zuvor nur den westlichen Großmächten vorbehalten gewesen war. Nachdem sich die japanische Autorität konsolidiert hatte, unternahm die japanische Kolonialverwaltung seit der Jahrhundertwende umfangreiche Anstrengungen für eine Modernisierung und infrastrukturelle Erschließung der Insel: Innerhalb von zehn Jahren wurde das Schienennetz verzehnfacht und Seehäfen erneuert oder ausgebaut. Durch die Einführung eines umfassenden Schulwesens und der allgemeinen Schulpflicht wurde die Alphabetisierung vorangetrieben, ein modernes medizinisches Versorgungssystem ließ Epidemien (seit alters her ein notorisches Problem auf Taiwan) deutlich zurückgehen und führte zu einem Anstieg der allgemeinen Lebenserwartung. Durch die Einführung modernster Anbaumethoden konnte der landwirtschaftliche Ertrag enorm gesteigert werden, im Laufe der Zeit machten sich auf Taiwan sogar die Anfänge erster Industriebetriebe, nach 1930 auch im Bereich der Schwerindustrie, bemerkbar. Am bedeutsamsten war jedoch, dass Taiwan unter der strengen, aber effektiven Verwaltung der Japaner in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine relativ stabile und ruhige Entwicklung nehmen konnte – im Gegensatz zu dem chinesischen Festland, das nach dem Zerfall der Qing-Dynastie im Jahre 1911 in eine Phase des Chaos und der inneren Unruhen stürzte. Von der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung wurde geltend gemacht, dass sich in der Phase der japanischen Kolonialherrschaft erstmals Anfänge einer taiwanesischen Identität geformt hätten. Durch die infrastrukturelle Erschließung der Insel und die Verbesserung der Verkehrs- und Handelswege sei erstmals ein inselumspannender Wirtschafskörper in Erscheinung getreten, und durch den effektiven, die ganze Insel umfassenden Verwaltungsapparat hätten die politischen Entscheidungen der japanischen Kolonialverwaltung die Lebenswirklichkeit aller Taiwanesen bestimmt. Die Bewohner Taiwans, die sich nun über eine gemeinsame, die internen ethnischen Differenzen transzendierende Hochsprache (Japanisch) austauschen konnten, hätten sich erstmals als Teil eines politisch und ökonomisch bestimmten Ganzen erfahren. Diese Erfahrung der Zusammengehörigkeit und Gemeinsamkeit sei begleitet und verstärkt worden durch die Erkenntnis der gemeinsamen Ungleichheit gegenüber den japanischen Kolonialherren. Alle Taiwanesen, unabhängig davon, ob sie nun aus der Provinz Fujian stammten oder der Gruppe der Hakka oder Ureinwohner angehörten, hätten sich in ihrer eigenen Heimat als Opfer von Diskriminierung von Seiten der ethnisch unterschiedenen und politisch privilegierten Japanern empfunden. Die Verbesserung der allgemeinen Schulbildung, die es jungen Taiwanesen erstmals in großer Zahl erlaubte, einen Universitätsabschluss – oftmals verbunden mit einem
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Zitiert nach Li Xiaofeng 1995: 78. An anderer Stelle führt Huang jedoch an, dass sich ein Gefängnisaufstand in Taidong im Jahre 1970, der die Gründung einer Republik zum Ziel gehabt habe, auf die Republik Taiwan des Jahres 1895 berufen hätte. Huang Zhaotang 1998: 8.
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Historische Einführung
Studienaufenthalt in Japan32 – anzustreben, habe zudem das Entstehen einer taiwanesischen intellektuellen Elite gefördert, die über diese Ungleichbehandlung reflektieren und sich in Printmedien33 artikulieren konnte. Zum ersten Mal sei dadurch auf Taiwan eine öffentliche Meinung entstanden, die politische Mitsprache und Gleichberechtigung für Taiwanesen gefordert habe. Seit Beginn der 20er Jahre entstand zudem eine Vielzahl von politischen Organisationen und Verbänden, die die Interessen der unterschiedlichen gesellschaftlichen Gruppen vertraten; darunter die „Vereinigung der Neuen Bürger“ 34 (gegründet 1919), die „Taiwanesische Kulturgesellschaft“35 (1921), die „Volkspartei Taiwan“36(1927), die „Gesamtvereinigung der taiwanesischen Arbeiter“37 (1928) und die „Liga zur lokalen Selbstverwaltung Taiwans“38 (1930).39 Die Forderung nach politischer Mitsprache, die all diesen Organisationen gemein war und die in der Formel der „Bewegung für Selbstverwaltung“ 40 ihren Ausdruck fand, konnte schließlich einen ersten Erfolg verzeichnen: Im Jahr 1935 wurden erstmals allgemeine Wahlen für ein Provinzparlament abgehalten.41 Aus Sicht der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung konnte diese erste Erkenntnis einer kollektiven taiwanesischen Identität, die sich seit den 20er Jahren in der Verfolgung eigener Interessen gegenüber den japanischen Kolonialherren herausbildete, jedoch nicht den Reifegrad einer reflektierten, auf Taiwan zentrierten nationalen Identität erreichen. Die taiwanesischen Eliten dieser Zeit seien in ihrer Mehrheit nicht in der Lage gewesen, sich von einer abstrakten chinesischen Han-Identität zu lösen. Im Gegenteil: Angesichts der ethnisch fremden Herrschergruppe der Japaner sei gerade das kulturelle Erbe des chinesischen Han-Volkes zum bestimmenden Merkmal der eigenen Identität erhoben worden. Wegen dieses Rückgriffs auf eine chinesisch verstandene Selbstwahrnehmung habe auch keine Forderung nach einer staatlichen Unabhängigkeit Taiwans entstehen können. Im Konflikt mit den japanischen Kolonialherren seien den taiwanesisch-chinesischen Eliten nur zwei Optionen verblieben: Erstens die Hoffnung auf eine Rückkehr nach China 42 32
Im Jahr 1928 wurde die erste Universität Taiwans, die Imperiale Universität Taipei, eröffnet. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Universität in Taiwan National University (Taiwan guoli daxue ਠ⚓഻・བྷᆨ) umbenannt und gilt heute als eine der besten Universitäten des Landes. 33 Die bekannteste Zeitung dieser Periode war die Taiwan minbao ਠ⚓≁. Die Zeitung, die sich vehement für die Interessen der taiwanesischen Bevölkerung einsetzte und als „Sprachrohr der Taiwanesen“ galt, wurde 1923 von taiwanesischen Studenten in Tokio gegründet. Seit 1927 erschien die Zeitung, die oftmals den Unwillen der japanischen Zensurbehörden erregte, auf Taiwan. Vgl. Li Xiaofeng/Lin Chenrong 2004: 198f. 34 Xin minhui ᯠ≁ᴳ 35 Taiwan wenhua xiehui ਠ⚓᮷ॆᴳ 36 Taiwan minzhongdang ਠ⚓≁唘 37 Taiwan gongyou zong lianmeng ਠ⚓ᐕ৻㑭㚟ⴏ 38 Taiwan difang zizhi lianmeng ਠ⚓ൠᯩ㠚⋫㚟ⴏ 39 In Jahr 1928 wurde zudem die Kommunistische Partei Taiwan in Shanghai gegründet. Auf Grund der Unterdrückungsmaßnahmen der japanischen Kolonialverwaltung und interner Flügelkämpfe konnten die taiwanesischen Kommunisten jedoch nicht zu einer bedeutenden politischen Kraft heranwachsen. Vgl. Chen Lifu 1996: 103f. 40 Zizhi yundong 㠚⋫䙻अ 41 Diese erste parlamentarische Vertretung der Insel hatte nur begrenzte Vollmachten, die sich weitgehend in einer beratenden Funktion erschöpften. Zudem wurde die Hälfte der Delegierten von der japanischen Kolonialbehörde ernannt. Dennoch sollte die Bedeutung dieser Wahlen, die in der Folgezeit im Zwei-Jahres-Rhythmus abgehalten wurden, nicht unterschätzt werden: „The Formosans […] were becoming familiar with all the devices of political campaigns and electioneering – posters, pamphlets, campaign rallies, and influence-peddling – elements of training and experience that ultimately were to form a frame of reference for future demands and expectations.” Kerr 1974: 171. 42 In seinen Erinnerungen schrieb Wu Zhuoliu über die enge emotionale Bindung der Taiwanesen an China: „Obwohl Taiwan vorübergehend von Japan besetzt war, [glaubten die alten Leute], dass Taiwan eines Tages [zum
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– dies die Haltung der radikalen Minderheit der anti-japanischen Bewegung, die sich zu Ende der 20er Jahre in der „Taiwanesischen Volkspartei“ des Jiang Weishui sammelte. Zweitens das Streben nach einer gleichberechtigten Stellung innerhalb des japanischen Herrschaftsrahmens als vollwertige chinesische Untertanen des japanischen Kaiserhofes – dies die Forderung der moderaten Mehrheit, vertreten durch die „Taiwanesischen Kulturgesellschaft“ des Lin Xiantang. Diese Konstruktion einer chinesisch-taiwanesischen Identität wirkte als Gegengewicht zu der Assimilationspolitik der Japaner, die über die Einführung japanischer Familiennamen und die Verbreitung des Shinto-Glaubens bewusst eine „Japanisierung“ der Insel erzielen wollten. Li Xiaofeng schrieb hierzu: […] bereits in der japanischen Ära entstand allmählich ein „Taiwan-Bewusstsein“, das sich sogar die Parole „Taiwan gehört den Taiwanesen“ zu Eigen machte. Dieses „TaiwanBewusstsein“ drückte sich jedoch in Abgrenzung zum „Japan-Bewusstsein“ aus. Eine andere Bedeutungsebene von „Taiwan gehört den Taiwanesen“ meinte daher: „Taiwan gehört nicht den Japanern“. Das Taiwan-Bewusstsein der damaligen Zeit war daher nicht in der Lage, sich von einem „China-Bewusstsein“ abzugrenzen. Im Gegenteil wurde das „China-Bewusstsein“ gerade zum Inhalt [der eigenen Identität].43
Der Ausbruch des chinesisch-japanischen Krieges im Jahre 1937 markierte das allmähliche Ende der vergleichsweise liberalen Phase der japanischen Kolonialherrschaft. Mit Admiral Kobayashi Seizo wurde nach 17 Jahren der zivilen Verwaltung wieder ein Militär zum Generalgouverneur über Taiwan bestimmt. Die radikalen politischen Organisationen wurden aufgelöst, erstmals rekrutierte die japanische Armee nun in großer Zahl „Freiwilligenverbände“ der taiwanesischen Jugendlichen. 44 Diese taiwanesisch-japanischen Verbände, die oftmals auf dem chinesischen Festland eingesetzt wurden, hatten nach Ende des Zweiten Weltkrieges in besonderem Maße unter der Vergeltung der chinesischen Sieger zu leiden. Die letzten Monate der japanischen Herrschaft waren von rigorosen Zwangsmaßnahmen der Kolonialregierung geprägt. Seit dem Sommer 1944 hatten sich die alliierten Luftangriffe gegen Taiwan verstärkt, allgemein wurde spätestens zur zweiten Jahreshälfte 1945 eine Invasion der Insel erwartet. Japan war entschlossen, einem solchen Angriff mit allen Kräften zu begegnen. Auf Taiwan wurden gewaltige Vorratsspeicher angelegt, um die Versorgung der Garnisonsarmee von 200.000 Mann über ein Jahr zu ermöglichen. Im Zuge der äußersten Kriegsanstrengung wurden taiwanesische Besitztümer konfisziert, und männliche Taiwanesen (soweit sie nicht in der Armee dienten) zu Arbeitseinsätzen zwangsverpflichtet. Diese antizipierte Invasion fand jedoch nie statt: Die japanische Kapitulation im August 1945, bedingt durch die atomaren Angriffe der Alliierten auf Hiroshima und Nagasaki, brachten den Krieg zu einem plötzlichen und unerwartet frühen Ende. chinesischen Vaterland] zurückkehren würde. Das chinesische Han-Volk würde eines Tages sicher wieder einen eigenen Staat begründen. Die alten Leute glaubten selbst noch in ihren Träumen fest daran, dass eines Tages eine Armee der Han [Chinesen] kommen und Taiwan erretten würde […] Es war wie bei einem Waisenkind, das sich nach seine Eltern sehnt, die es doch nie gekannt hatte […] Ein solches Gefühl kann nur verstehen, wer selbst einmal unter der Herrschaft eines fremden Volkes gelebt hat. Wer diese Erfahrung nicht kennt, kann es wohl leider nie begreifen.“ Wu Zhuoliu 1995: 7f. 43 Li Xiaofeng 1995: 92. 44 Es wurde jedoch nicht, wie in Japan, eine allgemeine Wehrpflicht eingeführt. Die Taiwanesen wurden vielmehr durch mehr oder weniger sanften Druck zu einem Eintritt in die Armee bewogen.
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2.4 Taiwans Rückkehr nach China Die Abtretung Taiwans an Japan im Jahre 1895 war von chinesischer Seite als völkerrechtlich verbindliche Regelung akzeptiert worden. Es finden sich keine Hinweise darauf, dass China in der Zeit vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges jemals territoriale Ansprüche auf Taiwan erhoben hätte. 45 Erst im Verlauf des Zweiten Weltkrieges entwickelte die Nationalregierung unter Chiang Kai-shek die Vorstellung, dass Japan nach dem Sieg der Alliierten zu einer Rückgabe aller „gestohlenen“ Territorien, darunter auch Taiwan, gezwungen werden solle. Dieser Forderung wurde in der alliierten Erklärung von Kairo 1943 Rechnung getragen; nach der Kapitulation Japans 1945 wurde Chiang Kai-shek vom alliierten Oberkommando zur Besetzung der Insel autorisiert. Bis heute ist der Vorgang der Rückkehr Taiwans unter chinesische Herrschaft aus völkerrechtlicher Sicht umstritten. Auch auf Seiten der Alliierten gab es in den ersten Nachkriegsjahren Stimmen, welche die völkerrechtliche Zulässigkeit der chinesischen Annexion der Insel nach 1945 in Frage stellten. 46 Zwar findet sich in den alliierten Erklärungen von Kairo (1943) und Potsdam (1944) sowie in der japanischen Kapitulationserklärung (1945) die eindeutige Bestimmung, dass Taiwan an China zurückgegeben werden solle. Von der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung wird jedoch geltend gemacht, dass diese Bestimmung ausgerechnet in den völkerrechtlich einzig verbindlichen Dokumenten, dem Friedensvertrag von San Franzisco und dem chinesisch-japanischen Friedensvertrag (beide 1952), nicht aufgenommen wurde. Hier erklärte Japan zwar seinen Verzicht auf Taiwan, es wurde jedoch versäumt, einen Begünstigten dieses Souveränitätsverzichtes ausdrücklich zu benennen. Aus völkerrechtlicher Sicht, so die Unabhängigkeitsbewegung, müsse daher theoretisch ein Fortbestehen des letzten zeitlich „greifbaren“ Zustandes unterstellt werden, also ein Kondominium der Alliierten Siegermächte über Taiwan. Wegen des offensichtlichen Realitätsferne dieses Konstruktes sei der völkerrechtliche Status Taiwans nicht zu entscheiden, und könne nur über ein allgemeines Referendum geklärt werden (die sog. „Theorie des unentschiedenen Status Taiwans“).47 Ungeachtet dieser völkerrechtlichen Vorbehalte hatte die chinesische Nationalregierung bereits im Jahr 1944 Vorbereitungen getroffen, um einen reibungslose Inbesitznahme und Verwaltung der Insel zu gewährleisten. Im Herbst 1944 wurde eine „Untersuchungskommission Taiwan“ 48 gegründet, unter deren Leitung bis zum Herbst 45 Zahlreiche Äußerungen von führenden chinesischen Politikern dieser Zeit (darunter auch Chiang Kai-shek und Mao Zedong) lassen klar erkennen, dass Taiwan nach 1895 keineswegs als „verlorenes chinesisches Territorium“ betrachtet wurde. In dem Verfassungsentwurf von 1935 werden etwa alle Provinzen aufgeführt, auf welche die Republik China zu diesem Zeitpunkt Anspruch erhob – darunter auch die Mandschurei und die Mongolei, die damals von Japan besetzt waren. Taiwan findet jedoch keine Erwähnung. Vgl. Cohen/Teng 1991: 47. 46 So schrieb US-Präsident Truman am 27.8.1950 an den amerikanischen Vertreter im UN Sicherheitsrat, Warren Austin: „The actual status of the island is that it is territory taken from Japan by the victory of the Allied forces in the Pacific. Like other such territories, its legal status cannot be fixed until there is international action to determine its future“.http://www.trumanlibrary.org/publicpapers/viewpapers.php?pid=852. 47 Taiwan diwei weiding lun ਠ⚓ൠսᵚᇊ䄆. Es sollte betont werden, dass diese Theorie der „ungeklärten völkerrechtlichen Stellung“ Taiwans nur von einer Minderheit der Völkerrechtler geteilt wird. Mathias Neukirchen kommt etwa zu dem Schluss, dass das unterstellte Kondominium der Alliierten über Taiwan faktisch niemals bestanden habe, eine Gesamtsicht der einschlägigen Vertragswerke müsse zu dem Ergebnis kommen, dass die faktische Okkupation Taiwans durch China spätestens 1952 nachträglich legalisiert worden sei – wobei jedoch offen bleibe, welche der beiden Regierungen als Repräsentant Chinas zu betrachten sei. Vgl. Neukirchen 2004. 48 Taiwan diaocha weiyuanhui ਠ⚓䃯ḕငᴳ
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1945 über 1000 Experten der unterschiedlichsten Verwaltungsbereiche (wie etwa Landwirtschaft, Finanzen oder Polizeiwesen) auf ihren Einsatz auf Taiwan vorbereitet wurden. Am 29.8.1945 wurde offiziell die Provinzverwaltung der Insel, die zunächst noch auf dem Festland residierte, ins Leben gerufen. Mit Chen Yi wurde ein Gouverneur für die neugegründete Provinz ernannt, der als Vertrauter Chiang Kai-sheks galt und wie Chiang aus der Provinz Zhejiang stammte. Chen hatte von 1934 bis 1942 den Posten des Provinzgouverneurs von Fujian49 innegehabt und galt zudem als Kenner der japanischen Lebensverhältnisse – er hatte an einer japanischen Militärakademie studiert und war mit einer Japanerin verheiratet. Auf Taiwan wurde die „Rückkehr zum chinesischen Vaterland“ mit einer begeisterten Stimmung des patriotischen Überschwanges gefeiert. Viele Taiwanesen hofften, nach 50 Jahren der kolonialen Fremdherrschaft den Status von gleichberechtigten Bürgern eines großen und mächtigen Staates zu erhalten; zudem mag auch eine Rolle gespielt haben, dass Taiwan praktisch über Nacht von der Seite der japanischen Verlierer zu den chinesischen Gewinnern des Krieges wechselte. Bereits in der Phase der Übergangszeit, 50 als die neue Provinzverwaltung ihre Arbeit noch nicht aufgenommen hatte, wurden überall auf der Insel Studiengesellschaften zum Erlernen der chinesischen Hochsprache gegründet. In allen größeren Städten organisierten spezielle „Begrüßungskomitees“ die Willkommensfeiern für die nationalchinesische Armee. Zhong Yiren, der zu diesem Zeitpunkt gerade aus der japanischen Armee entlassen worden war und der nur wenige Monate später zu einem führenden Widerstandskämpfer gegen das KMT-Regime werden sollte, beschrieb in einem Gespräch mit dem Autor seine Eindrücke dieser Zeit: Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war ich ein chinesischer Patriot […] Ich ging damals durch Taipei und sah einen alten Mann, der Fahnen [Nationalfahnen der ROC] verkaufte. Ich sprach ihn auf Taiwanesisch an, und der Mann erschrak. Wie kommt es, dass ein japanischer Offizier Taiwanesisch spricht? Ich hatte nämlich meine japanische Uniform an […] Die Fahne kostete 20 Kuai [Taibi], das war damals viel Geld. Aber ich wollte sie unbedingt haben.51
Am 17.10. hatte sich in der Hafenstadt Jilong eine große Menschenmenge eingefunden, um das erste Kontingent der 17. Armee unter General Chen Kongda auf Taiwan zu begrüßen. Die Ankunft der nationalchinesischen Truppen brachte jedoch für viele Taiwanesen eine enttäuschende Ernüchterung. Peng Mingmin, dessen Vater Peng Qingkao den Vorsitz über ein Begrüßungskomitee führte, schrieb in seinen Memoiren: The ship docked, the gangways were lowered, and off came the troops of China, the victors. The first man to appear was a bedraggled fellow who looked and behaved more like a coolie than a soldier, walking off with a carrying pole across his shoulder, from which was suspended his umbrella, sleeping mat, cooking pot, and cup. Others like him followed, some with shoes, some 49
Unter Chen Yi war es allerdings bereits in der Provinz Fujian zu gewaltvollen Aufständen der Bevölkerung gekommen, die blutig niedergeschlagen worden waren. Vgl. Chen Wanzhen et al 1990: 63ff. 50 Eine erste Vorausabteilung der neuen Provinzverwaltung, bestehend aus 80 Beamten, wurde erst am 2.10. nach Taipei eingeflogen. In der Übergangszeit zwischen dem Zeitpunkt der japanischen Kapitulation und der Ankunft der taiwanesischen Provinzregierung befand sich Taiwan für fast zwei Monate in einer Art herrschaftsfreiem Vakuum, das jedoch ohne größere soziale Unruhen überbrückt werden konnte. Die Unabhängigkeitsbewegung verwies später mit Stolz auf diese Phase der faktischen taiwanesischen Selbstverwaltung und wertete sie als Beleg dafür, dass die Taiwanesen damals sehr wohl in der Lage gewesen wären, eine eigenständige Verwaltung zu errichten. 51 Interview mit Zhong Yiren am 24.9.03.
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Historische Einführung without. Few had guns. My father wondered what the Japanese could possibly think. He had never felt so ashamed in his life […] Within an hour these troops, spreading through the town, had begun to pick up anything that took their fancy. As far as they were concerned, the Formosans were a conquered people.52
Dies war offensichtlich nicht die siegreiche Armee des chinesischen Vaterlandes, die sich viele Taiwanesen erhofft und herbeigesehnt hatten. Am 25. Oktober 1945 nahm der neu ernannte Provinzgouverneur Chen Yi in Taipei die Teilkapitulation der japanischen Streitkräfte auf Taiwan entgegen. Nach 50 Jahren der japanischen Fremdherrschaft war Taiwan erneut ein Teil Chinas geworden.
2.5 Taiwan am Vorabend des 228-Aufstandes Die Welle der nationalen Begeisterung begann schon wenige Wochen nach Ankunft der chinesischen Provinzregierung unter Gouverneur Chen Yi abzuebben und wich schließlich einer Stimmung der allgemeinen Erbitterung und Enttäuschung. Auslösend war hierbei zum einen die Korruption und Unfähigkeit der chinesischen Verwaltung, die Taiwan innerhalb weniger Monate in eine ökonomische Katastrophe führte. Die Provinzregierung war zudem von Beamten aus dem Festland dominiert, Taiwanesen wurden von der politischen Mitsprache ausgeschlossen. Seit Mitte des Jahres 1946 mehrten sich die Konflikte zwischen den Bewohnern der Insel und den vom Festland rekrutierten Zivil- und Militärbeamten.
2.5.1 Strukturelle Defizite der Provinzverwaltung und Diskriminierung der Taiwanesen Mit der Rückkehr zum chinesischen Vaterland hatten viele Taiwanesen die Hoffnung verbunden, nach Überwindung der japanischen Fremdherrschaft würde sich nun ein größerer politischer Gestaltungsraum für eine lokale Selbstverwaltung der neugegründeten Provinz – wie sie der Verfassungsentwurf der ROC auch vorsah – eröffnen. Nach Ankunft der neuen Provinzverwaltung wurde diese Hoffnung jedoch enttäuscht: Bereits im Vorfeld hatte die Zentralregierung in Nanjing entschieden, Taiwan auf Grund seiner langen kolonialen Vergangenheit unter Sonderverwaltung zu stellen. Gouverneur Chen Yi wurde mit außergewöhnlichen Vollmachten ausgestattet, die sich auf den administrativen, militärischen53 und legislativen Bereich erstreckten. Die leitenden Posten der Provinzregierung wurden fast ausschließlich mit Beamten aus dem Festland besetzt; im Oktober 1946 fand sich unter den 20 führenden Mitgliedern der Provinzverwaltung nur ein gebürtiger Taiwanese. Zwar wurde am 15.4.46 ein Konsultativrat der Provinz Taiwan 54 gewählt, dieser Konsultativrat verfügte jedoch – mit Ausnahme des Interpellationsrechtes – über keinerlei politische Kompetenzen. Auch auf den unteren Verwaltungsebenen war es für Taiwanesen fast unmöglich, in den Staatsdienst zu treten – wobei die Provinzregierung geltend machte, die Taiwanesen 52
Peng Mingmin 1972: 51f. Zusätzlich zu seinem Amt als Provinzgouverneur wurde Chen Yi zum Befehlshaber der Garnisonshauptkommandantur Taiwan ernannt, womit er den Oberbefehl über die auf Taiwan stationierten Streitkräfte innehatte. 54 Taiwansheng canyihui ਠ⚓ⴱ৳䆠ᴳ 53
Taiwan am Vorabend des 228-Aufstandes
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hätten keine ausreichende Kenntnis des Hochchinesischen. Zudem machten Taiwanesen die Erfahrung, dass sie zunehmend von Festländern aus ihren alten Posten verdrängt wurden, die zwar kaum über die nötige Qualifikation, dafür aber über einflussreiche Familienangehörige verfügten. In Gaoxiong besetzte etwa der neuernannte Polizeivorsteher innerhalb kürzester Zeit fast die gesamte Polizeiadministration der Stadt mit 40 seiner Verwandten. Der Rektor der technischen Hochschule berief Familienmitglieder als Lehrer, die nachweislich Analphabeten waren. Im Kreis Taipei wurde fast die gesamte taiwanesische Belegschaft der Kreisverwaltung entlassen und durch 200 Vertraute und Verwandte des Kreisvorstehers ersetzt.55 Als Folge dieses Nepotismus, über den die taiwanesischen Zeitungen (trotz der einsetzenden Zensur) fast wöchentlich berichteten, entstand ein aufgeblähter, aber zunehmend ineffektiver Verwaltungsapparat, der die begrenzten Finanzmittel der Provinzverwaltung belastete und die öffentliche Versorgung gefährdete. Die Zugverbindungen zwischen den größten Städten Taipei und Gaoxiong, die unter der japanischen Kolonialverwaltung noch im Zwei-Stunden-Takt verkehrt hatten, wurden nun auf zwei Züge pro Tag reduziert, die Zugunfälle häuften sich. Die medizinische Versorgung brach in manchen Teilen der Insel weitgehend zusammen; in den großen Städten, in denen die Müllabfuhr nicht mehr arbeitete, wurden erstmals seit 1919 wieder Fälle von Cholera gemeldet. Zahlreiche Studenten, die die von ihren neuen Lehrern willkürlich erhobenen „Studiengebühren“ nicht bezahlen konnten, mussten die Universitäten verlassen. Taiwan, in den Worten von George Kerr, „retreated toward the 19th century“. 56 Die Provinzverwaltung unter Gouverneur Chen Yi wurde von Seiten des Konsultativrates, der am 1. Mai 1946 erstmals tagte, aufs Schärfste kritisiert. Die Delegierten führten unzählige Beispiele von Ineffizienz und Korruption an und forderten vehement die Abschaffung der Sonderverwaltung und die Einführung einer regulären und verfassungskonformen Provinzregierung. Diese Hoffnung wurde jedoch bald enttäuscht: Im Januar 1947 erklärte die Zentralregierung in Nanjing, dass Taiwan noch nicht die nötige Reife für einen vollberechtigten Provinzstatus erreicht habe und für weitere zwei bis drei Jahre der direkten Kontrolle der Zentrale unterstellt würde. Für die taiwanesischen Volksvertreter wurde damit unmissverständlich deutlich, dass eine Verbesserung der politischen Verhältnisse mittelfristig nicht zu erwarten war.
2.5.2
Wirtschaftlicher Niedergang
Wenngleich Taiwan im Zweiten Weltkrieg unter Luftangriffen zu leiden gehabt hatte, hielten sich die Zerstörungen – mit Ausnahme der Hafenanlagen – in Grenzen. Die Befürchtung einer alliierten Invasion der Insel hatte sich nicht bewahrheitet, die Infrastruktur war daher weitgehend intakt geblieben. Die japanische Armee hatte gegen Ende des Krieges gewaltige Vorratslager angelegt, die nun zur Versorgung der Bevölkerung dienen konnten. Durch umsichtige wirtschaftspolitische Maßnahmen wäre daher eine rasche Wiederbelebung der taiwanesischen Wirtschaft möglich gewesen. Die Provinzverwaltung unter Gouverneur Chen Yi war jedoch nicht in der Lage, diese günstigen Rahmenbedingungen zu nutzen, sondern verfolgte statt dessen einen wirtschaftspolitischen Kurs, der innerhalb 55
Für diese und viele weitere Beispiele des Nepotismus siehe z.B. Chen Cuilian 1995: 80ff; Li Xiaofeng 1998: 40ff; Xingzhengyuan yanjiu er-er-ba shijian xiaozu 1994: 18ff. 56 Kerr 1965: 168.
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kurzer Zeit zu einer weitgehenden Lähmung des Wirtschaftslebens führte. Eine der ersten Maßnahmen der neuen Provinzverwaltung bestand in einer Enteignung aller japanischer Besitztümer, von der jedoch in vielen Fällen auch Taiwanesen betroffen waren – wie geschildert, waren umfangreiche taiwanesische Besitztümer erst in den letzten Monaten der japanischen Herrschaft konfisziert worden, zudem waren zahlreiche japanischtaiwanesische Gemeinschaftsunternehmen betroffen. Die neue Provinzverwaltung ließ diese juristischen Titel jedoch nicht gelten; eine Rückerstattung des Besitzes wurde in Ausnahmefällen nur dann bewilligt, wenn der ursprüngliche Eigentümer nachweisen konnte, zu keinem Zeitpunkt mit den Japanern kollaboriert zu haben – ein Nachweis, der praktisch kaum zu erbringen war. Chen Yi vertrat eine Politik des „Staatlichen Sozialismus“ 57 – eine Politik, die er bereits in Fujian praktiziert und die dort zu einer ökonomischen Katastrophe geführt hatte.58 Das Kernstück dieser Politik bestand in einer umfassenden staatlichen Steuerung der Wirtschaft. Wenngleich sich das staatliche Monopol (implementiert durch das Monopolbüro59) formal nur auf Kampfer, Streichhölzer, Alkohol, Tabak und Eichmaße beschränkte, wurde der Umfang der Monopolgüter durch weitere Einrichtungen (wie etwa das „Büro zur Verwaltung von Salzprodukten“60) allmählich ausgeweitet und umfasste schließlich nahezu alle Rohstoffe und Wirtschaftsgüter. Der Import und Export, essentiell für eine Inselwirtschaft, wurde über das staatliche Handelsbüro 61 reguliert. Dieser Versuch einer umfassenden staatlichen Lenkung der Wirtschaft erwies sich schon bald als fatal. Das Monopolbüro war nicht in der Lage, qualitativ hochwertige Güter zu einem konkurrenzfähigen Preis anzubieten, der Schmuggel – insbesondere von Zigaretten – nahm rasant zu. Mit Hilfe des staatlichen Monopols wurde die Provinzregierung, die enge Verbindungen zu staatlichen und privaten Wirtschaftsunternehmen unterhielt, zudem in die Lage versetzt, taiwanesische Güter mit gewaltigem Profit auf dem Festland anzubieten. Das Monopolsystem kam damit faktisch einer systematischen Ausbeutung der Insel gleich. Als Folge der Warenknappheit explodierten auf Taiwan die Preise, der Marktwert des Grundnahrungsmittels Reis stieg zwischen Oktober 1945 und Januar 1947 von 0,2 auf 80 Taibi pro Pfund – ein Verteuerung um den Faktor 400.62 Die Inflation wurde zudem durch eine verfehlte Fiskalpolitik der Provinzregierung, die über die Beibehaltung der taiwanesischen Währung Taibi eine Abkoppelung vom festlandchinesischen Finanzmarkt anstrebte, weiter verschärft. Die staatlich festgelegten Umtauschkurse führten zu großen Währungsdisparitäten zu Ungunsten des Taibi, der im Verlauf des Jahres 1946 über 30% seiner realen Kaufkraft verlor – was faktisch einer Entwertung der taiwanesischen Geldvermögen und Löhne gleichkam. In einer Verlautbarung des taiwanesischen Heimatverbandes Peking vom Frühjahr 1946 wurde die inkompetente Finanzpolitik der Regierung scharf kritisiert: Gouverneur Chen [Yi] regiert nun schon seit fast einem halben Jahr auf Taiwan, doch bis heute gibt es nicht einmal eine klare Regelung der Fiskalpolitik, was dazu geführt hat, dass alle Wirtschaftsbetriebe zum Erliegen gekommen sind […] Die Wirtschaftskraft Taiwans ist um die 57
Guojia shehui zhuyi ഻ᇦ⽮ᴳѫ㗙 Für eine vergleichende Darstellung der wirtschaftspolitischen Maßnahmen des Chen Yi in Fujian und Taiwan siehe Lai Zehan 1991. 59 Zhuanmaiju 䕹䌓ተ 60 Yanwu guanliju 咭⢙㇑⨶ተ 61 Maoyiju 䋯᱃ተ 62 Vgl. Chen Cuilian 1995: 101. 58
Taiwan am Vorabend des 228-Aufstandes
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Hälfte gesunken, die taiwanesische Wirtschaft ist in einen Halbschlaf gefallen. Wer ist dafür verantwortlich? […] Taiwan war ursprünglich ein Reisanbaugebiet, es gab immer Nahrung im Überfluss. Früher konnten jedes Jahr fünf Millionen Dan [Hektoliter] Reis nach Japan exportiert werden. Jetzt hat das einfache Volk nicht einmal genug zu essen, und in ganz China ist der Reis nirgendwo so teuer [wie auf Taiwan].63
Der Niedergang der Wirtschaft führte zu einem rapiden Anstieg der Arbeitslosigkeit, Schätzungen zufolge war die Zahl der Erwerbslosen bis zum Herbst 1946 auf bis zu eine halbe Million angestiegen – bei einer Gesamtbevölkerung Taiwans von sechs Millionen. Der Arbeitsmarkt wurde zudem von Tausenden junger Taiwanesen aus den demobilisierten japanischen Streitkräften überschwemmt, die aus ihren Einsatzgebieten in China und Südost-Asien auf die Insel zurückstrebten. Die Provinzregierung sah sich, angeblich auf Grund mangelnder Transportkapazitäten, schließlich nicht länger in der Lage, eine Rückkehr dieser demobilisierten Soldaten zu bewerkstelligen, die daraufhin in Sammellagern auf dem Festland interniert wurden – was in der taiwanesischen Öffentlichkeit zu tiefer Missstimmung führte.64 Ein ähnliches Problem hatte sich auf Taiwan selbst eingestellt, wo über 200.000 japanische Soldaten und deren Angehörige in Sammellagern auf ihre Repatriierung nach Japan warteten. Bedingt durch die verfehlte Wirtschaftspolitik war Taiwan innerhalb weniger Monate an den Rand des wirtschaftlichen Zusammenbruchs geraten. Seit dem Sommer 1946 war die Grundversorgung der taiwanesischen Bevölkerung gefährdet,65 es kam zu ersten Hungersnöten.
2.5.3
Korruption und Raub: Die Plünderung Taiwans
Bei einer Bewertung des ökonomischen Niedergangs auf Taiwan muss zugestanden werden, dass China in den vorangegangenen acht Jahren einen verlustreichen Krieg gegen Japan geführt hatte und zu diesem Zeitpunkt erneut in einem Bürgerkrieg gefangen war, der viele Provinzen des Festlandes in ähnlicher oder schlimmerer Form beeinträchtigte. Dieses Argument wurde auch von der Provinzregierung besonders hervorgehoben, die an die patriotische Leidensbereitschaft der Taiwanesen in Kriegszeiten appellierte. Diese Appelle verloren jedoch bald an Glaubwürdigkeit, als das empörende Maß an Korruption, das alle Ebenen der Provinzverwaltung erfasst hatte, allgemein bekannt wurde. Seit Beginn des Jahres 1946 fanden sich in der taiwanesischen Presse fast täglich Berichte über Veruntreuung öffentlicher Gelder und persönlicher Bereicherung selbst der höchsten Regierungsvertreter. So wurde etwa bekannt, dass auf Veranlassung des Gouverneursbüros 150.000 Tonnen konfiszierten Zuckers nach Shanghai verkauft worden waren, der Verlust der taiwanesischen Produzenten wurde auf über 1,2 Milliarden Taibi beziffert. 66 Gegen den Kreisvorsteher von Taipei, Lu Kuixiang, wurde der Vorwurf erhoben, er habe sich bei der Übernahme von japanischen Besitztümern auf unredliche Weise um mehrere Millionen 63
Taiwansheng lü Ping tongxianghui 1946: 17f. Vgl. etwa o.A. 1946: 15. 65 In einem Gespräch mit dem Autor erinnerte sich Frau Lin Licai an die verzweifelte Lage der Taiwanesen in diesen Monaten: Viele Familien, so Frau Lin, hätten sich weitgehend von den Blättern der Patate-Pflanze ernährt – eine Pflanze, die zuvor nur als Schweinefutter gedient hatte. 66 Siehe Li Xiaofeng 1998: 46. 64
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Taibi bereichert; nur wenige Tage später brach daraufhin in der Kreisverwaltung ein Feuer aus, das sämtliche belastenden Dokumente vernichtete. 67 Bei der ersten Sitzung des Konsultativrates der Provinz mussten die taiwanesischen Delegierten zu ihrer Bestürzung feststellen, dass fast die gesamten von der japanischen Armee angelegten Vorräte spurlos verschwunden waren. Die ungezügelte Ausbeutung Taiwans führte schließlich zum Abbau von ganzen Industrieanlagen, wie George Kerr berichtete: The year 1946 was one of unrelieved economic disaster. Prices rose steadily, production fell, and unemployment among the Formosans became a grave problem everywhere. The only happy people on Formosa were the Commissioners and their friends, who spent the year converting the island’s industrial assets into good hard gold bars which could be tucked safely away, out of sight, in any part of the world […] Factory after factory simply disappeared. The principle seemed to be that “If you can’t sell the product, sell the plant!” […] If a factory was not yielding commodities which could be sold promptly, the working assets were sold, beginning with the stockpiled raw materials, and then dismantling the factories themselves. Units which could be sold piecemeal went first, then the very framework went, shipped off to Shanghai as scrap metal.68
Die Korruption war indes nicht nur auf die oberen Ebenen der zivilen und militärischen Verwaltung beschränkt. Schon kurze Zeit nach der chinesischen Machtübernahme musste die Bevölkerung der Insel die Erfahrung machen, dass sich auch die einfachen Soldaten der nationalchinesischen Garnisonsarmee (notorisch unterbezahlt und undiszipliniert) an dem Eigentum der Einwohner bereicherten. Selbst der Kommandant der Militärgendarmen, Gao Weimin, beklagte die mangelnde Disziplin der Truppe: Viele Taiwanesen hatten damals Fahrräder, und wenn man zum Beispiel zur Post fuhr, stellte man sein Fahrrad in den Fahrradständer. Wenn die Soldaten sahen, dass die Fahrräder nicht abgeschlossen waren und sie niemand beobachtete, dann fuhren sie einfach davon […] einige Soldaten stürmten auch in Häuser und nahmen mit, was sie wollten – so was hatte es in Taiwan früher nie gegeben. Außerdem hielten sich [die Soldaten] an keine Regeln. Sie waren es gewohnt, im Zug niemals Fahrkarten zu kaufen […] wenn es Ärger [mit den Taiwanesen] gab, zogen sie einfach ihre Waffe.69
In den taiwanesischen Medien wurde beklagt, dass sich die nationalchinesischen Truppen wie eine Besatzungsarmee verhielten und den Taiwanesen mit der Arroganz der Eroberer begegneten. Seit Mitte des Jahres 1946 häuften sich die Konfrontationen zwischen Taiwanesen und Festländern. Im Juli kam es zu gewalttätigen Massenausschreitungen, als Soldaten eine große Menschenmenge auflösen wollten, die sich zu einer traditionellen taiwanesischen Theaterdarbietung versammelt hatte. Zahlreiche Beobachter warnten vor einer Eskalation der schwärenden Konflikte. So schrieb Liao Wenkui am 27.2.47 in einem Leitartikel der Zeitung Taiwan minbao: In letzter Zeit stiegen die Lebenshaltungskosten explosionsartig an, die Wirtschaft und Gesellschaft sind erschüttert, die Menschen leben in höchster Not […] Die Menschen haben nicht mehr den Funken einer Hoffnung [auf Besserung ihrer Lage] und fordern nur noch, mit einem 67
Siehe Li Xiaofeng 1998: 48. Kerr 1965: 127, 131f. 69 Zitiert nach Li Xiaofeng 1998: 72. 68
Taiwan am Vorabend des 228-Aufstandes
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Mindestmaß an Sicherheit leben zu können […] Die zunehmende Spaltung und die anschwellenden Konflikte zwischen verschiedenen Gesellschaftsschichten sind die Ursachen für die Destabilisierung der Gesellschaft. Wenn diese Entwicklung ihren Höhepunkt erreicht hat, dann wird die Folge soziales Chaos sein.70
Am selben Tag begann in Taipei der 228-Aufstand.
70
Taiwan minbao, 27.2.1947.
3 Der 228-Aufstand
Am 27.2.47 führte das unangemessene Vorgehen einiger Beamte des Monopolbüros in Taipei, bei dem eine Zigarettenhändlerin verwundet und ein unbeteiligter Passant getötet wurde, zu einem Sturm der Entrüstung, der schließlich in eine allgemeine Erhebung gegen die Herrschaft der Festländer mündete. Dieser „Vorfall vom 28.2.“ 71 breitete sich rasch in einer wellenförmigen Bewegung von Norden nach Süden aus: Die Gebiete, welche Taipei am nächsten lagen, reagierten am frühesten auf die Vorfälle, während der südliche Teil der Insel erst mit einigen Tagen Verspätung erfasst wurde. 72 In fast allen Gebieten verlief der Aufstand nach einem ähnlichen Muster. Zunächst kam es zu spontanen Aufständen der Bevölkerung, die sich gegen Regierungsorgane, verhasste lokale Machthaber und Einrichtungen des Militärs und der Polizei, darüber hinaus aber auch gegen „Festländer“ allgemein richteten. In dieser frühen Phase unternahm das Volk häufig den Versuch sich zu bewaffnen, indem es Waffen- und Munitionsdepots der Polizei und des Militärs73 stürmte. Diese Welle der Gewalt hielt jedoch meist nur einen Tag an. Mit der Beteiligung der Konsultativräte der Städte und Kreise wurden lokale Schlichtungskommissionen gebildet, 74 am 5.3. erfolgte die Gründung einer zentralen Schlichtungskommission in Taipei. Diese Kommissionen waren bestrebt, die öffentliche Ordnung wieder herzustellen – die Regierungsgewalt der Behörden war faktisch zusammengebrochen, und die Beamten aus dem Festland hatten ihre Posten verlassen. In den folgenden Tagen wurden daher Jugendliche und Studenten in verschiedenen „Sicherheitstruppen“ organisiert (in Taipei die „Treue Truppe“), welche die Polizeifunktionen übernahmen. Darüber hinaus gelang es in fast allen Gebieten, die Versorgung der Bevölkerung, die durch die Unruhen gefährdet worden war, wieder sicherzustellen. Die Schlichtungskommissionen sahen sich weiterhin vor der schwierigen Aufgabe, gewalttätige Zusammenstöße zwischen der Bevölkerung und lokalen Militär- und Polizeikräften zu vermeiden. Es ergingen daher Appelle an die lokalen Befehlshaber, keine Gewalt anzuwenden, die Waffen abzugeben und sich aus den Städten zurückzuziehen. Der Erfolg dieser Schlichtungsversuche gestaltete sich sehr unterschiedlich. Insbesondere in abgelegenen Gebieten im östlichen Teil der Insel, wo die Behörden über wenig Präsenz an Militär- oder Polizeikräften
71 Er-er-ba shijian ҼҼޛһԦ. Der Begriff „228-Aufstand“ ist ein wenig irreführend, da die Unruhen bereits am 27.2. einsetzten. 72 So wurde im Kreis Tainan in Südtaiwan noch am 9.3. eine „Schlichtungskommission für den Kreis Tainan“ gegründet – zu einem Zeitpunkt, als sich die zentrale Schlichtungskommission in Taipei bereits in Auflösung befand und Truppen aus dem Festland begonnen hatten, die Insel in ihre Gewalt zu bringen. 73 In seinen Erinnerungen weist General Peng Mengqi darauf hin, dass die Aufständischen die erbeuteten Waffen des Militärs oftmals nicht nutzen konnten, da Waffen und die dazugehörige Munition an verschiedenen Orten gelagert wurden. Diese getrennte Lagerung habe der strengsten Geheimhaltung unterlegen und sei nicht einmal den Wachmannschaften bekannt gewesen. Peng Mengqi 1992: 76. 74 Nach Aufruf der zentralen Schlichtungskommission entstanden in der Zeit vom 1.3.-9.3.1947 insgesamt in 17 Kreisen und Städten lokale Schlichtungskommissionen. Siehe Taiwan xinshengbao, 5.3.47.
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Der 228-Aufstand
verfügten, kam es selten zu Zusammenstößen. 75 In Gebieten mit einer starken Militärpräsenz hingegen kam es oftmals zu Konflikten zwischen bewaffneten Volksmengen und Armee- und Polizeiangehörigen. An mehreren Orten drangen Militäreinheiten in Stadtgebiete vor und gerieten in Schussgefechte mit eilig gegründeten „Volksverbänden“. Meist konnten die Armeeeinheiten zurückgedrängt werden, die sich daraufhin auf Flughäfen oder andere befestigte Stellungen zurückzogen. Ab dem 5.3.47 unternahm die zentrale Schlichtungskommission in Taipei, die inzwischen die Funktion einer „Ersatzregierung“ übernommen hatte, Schritte für eine umfassende Reformierung der Provinzverwaltung. Gouverneur Chen Yi, der aufgrund unzureichender militärischer Kräfte in die Defensive gedrängt worden war, ging zum Schein auf diese Reformvorschläge ein, während er heimlich militärische Verstärkung aus dem Festland anforderte. Am 8.3.47 wurde der 228Aufstand mit brutaler Gewalt niedergeschlagen. Im Zentrum der folgenden Darstellung steht Taipei, Zentrum der politischen Verhandlungen zwischen der zentralen Schlichtungskommission und dem Gouverneursbüro. Des weiteren sollen die die Ereignisse in zwei Gebieten außerhalb Taipeis näher beschrieben werden: Die südtaiwanesische Hafenstadt Gaoxiong, wo unter dem Oberbefehl von General Peng Mengqi das erste Massaker an der taiwanesischen Bevölkerung verübt wurde, und Taizhong in Mitteltaiwan, wo bewaffnete Volksverbände unter Führung von Xie Xuehong und Zhong Yiren den heftigsten Widerstand gegen die Armeeeinheiten der Regierung leisteten.
3.1 Beginn des 228-Aufstandes 3.1.1
Der Zigaretten-Vorfall vom 27.2.
Am frühen Abend des 27.2. führte eine Gruppe von sechs Beamten des Monopolbüros, begleitet von vier Polizisten, in der Nähe des Longshan-Tempels in Taipei eine Razzia gegen Straßenhändler durch, die dort geschmuggelte Tabakwaren anboten. Derartige Maßnahmen waren nicht ungewöhnlich. Der Ort war als Umschlagplatz für Schmuggelware bekannt, zudem hatte das Monopolbüro zuvor einen Hinweis auf die Ankunft einer großen Menge Konterbande erhalten. Den meisten Händlern gelang bei Eintreffen der Beamten die Flucht, nur eine Frau namens Lin Jiangmai wurde festgehalten. Unter den Tabakwaren von Frau Lin befand sich neben legalen Zigaretten mit dem Sigel des Monopolbüros in der Tat auch geschmuggelte Ware. Ungeachtet der Proteste von Frau Lin konfiszierten die Beamten jedoch sämtliche Zigaretten und außerdem das Geld der Händlerin, wobei es zu einem Handgemenge kam. Inzwischen hatte sich eine Menschenmenge gebildet, die das Vorgehen der Monopolbeamten mit Missfallen beobachtete und lautstark für Frau Lin eintrat. Frau Lin fiel schließlich vor den Beamten auf die Knie und versuchte, einen der Beamten, Ye Degen, zu umklammern. Dieser schlug mit dem Knauf seiner Pistole auf Frau Lin ein und fügte ihr eine schwere Kopfwunde zu. 76 Die aufgebrachte Menge drang daraufhin auf die 75 Beinahe gutmütige Züge nahm der Aufstand etwa im Kreis Penghu an: Auf dieser kleinen Inselgruppe, ca. 30 Kilometer von der Hauptinsel Taiwan entfernt, wurde die am 4.3. gegründete lokale Schlichtungskommission mit der Verwahrung sämtlicher Waffen beauftragt, bis eine Klärung der Verhältnisse zu erkennen sei. 76 Zu dem Ablauf der Vorgänge, die zur Verletzung von Frau Lin führten, existieren verschiedene Schilderungen. Der Fall wurde vom 28.2.-3.4.1947 vor einem Militärgericht in Taipei verhandelt. Ye Degen behauptete, Frau Lin habe sich im Handgemenge selbst verletzt. In einem ersten Bericht der Garnisonshauptkommandantur findet sich
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Beamten ein und zwang diese zur Flucht, wobei einer der Monopolbeamten namens Chuan Xuetong einen Schuss aus seiner Waffe abgab und einen unbeteiligten Passanten tödlich verletzte.77 Kurz darauf wurde das Polizeihauptquartier Taipei von einigen hundert Personen umkreist, die die sofortige Exekutierung der Schuldigen verlangten. Nachdem eine Stunde ergebnislos vergangen war, drangen einige Personen gewaltsam in das Polizeihauptquartier ein. Sie mussten jedoch feststellen, dass die gesuchten Beamten bereits an das Hauptquartier der Militärgendarmerie überführt worden waren. Das Polizeihauptquartier und der Sitz der Militärgendarmerie wurden bis zum Morgengrauen belagert – ungeachtet der Tatsache, dass inzwischen ein leichter Regen eingesetzt hatte. Auch an dem Redaktionsgebäude der auflagenstärksten Zeitung Taipeis, der Taiwan xinshengbao, hatte sich eine große Menschenmenge eingefunden und forderte die verantwortlichen Redakteure auf, über die Unruhen zu berichten. Dieses Ansinnen wurde zunächst abgewiesen; das Gouverneursbüro hatte bereits an alle Zeitungen die Anweisung ausgegeben, den Vorfall unerwähnt zu lassen. Die Menge drohte daraufhin mit der Zerstörung des Redaktionsgebäudes. Bevor die Lage eskalieren konnte, traf der Herausgeber der Zeitung, Li Wanju, ein und versprach für den nächsten Tag einen Bericht. Tatsächlich erschien am 28.2.47, gegen die ausdrückliche Anordnung des Gouverneursbüros, ein erster Artikel über die Unruhen – der sich allerdings auf eine kurze Meldung beschränkte und mit den lapidaren Worten „weitere Einzelheiten folgen“ schloss – eine Ankündigung, die sich in den nächsten Tagen nur zu sehr bewahrheiten sollte.78
3.1.2 Ausbreitung des Aufstandes: Der Vorfall vor dem Gouverneursbüro In den Morgenstunden des 28.2. bildeten sich in Taipei mehrere Demonstrationszüge, die mit Trommeln und Gongs durch die Straßen zogen. Das erste Ziel der protestierenden Menge war die Zweigstelle des Monopolbüros Taipei: In der irrigen Annahme, die Täter vom Vortag hielten sich dort versteckt, wurde das Büro gegen 10 Uhr gestürmt. Zwei Angestellte des Monopolbüros wurden erschlagen und vier weitere verletzt. 79 Die gesamte Einrichtung des Büros sowie dort gelagerte Waren wurden zerstört, auf die Straße geworfen und in Brand gesetzt. Es kam dabei jedoch, wie im ganzen weiteren Verlauf der Ausschreitungen, offensichtlich nicht zu Plünderungen. Ein Augenzeuge berichtete: „Eine Besonderheit gab es: Es kam nie zu Raub. Waren wurden aus dem Monopolbüro getragen und verbrannt, aber niemand stahl auch nur eine Zigarette oder eine Schachtel Streichhölzer. Es
hingegen die Behauptung, Frau Lin sei von einem aus der Menge geworfenen Stein getroffen worden. Das Gericht gelangte in seinem abschließenden Urteil jedoch zu der Ansicht, dass Ye Degen in der Tat auf Frau Lin eingeschlagen habe. Siehe Taiwan xinshengbao, 6.4.47. Vgl. auch Xingzhengyuan yanjiu er-er-ba shijian xiaozu 1994: 49f. 77 In den Quellen findet sich gelegentlich die Angabe, dass dieses erste Todesopfer des 228-Aufstandes Chen Wenxi unmittelbar tot gewesen sei. In der Tat verstarb Chen erst am darauf folgenden Tag in einem Krankenhaus in Taipei. 78 In diesem ersten Artikel der Taiwan xinshengbao vom 28.2.47 wurde noch fälschlich von zwei Todesopfern berichtet. Die Händlerin Frau Lin Jiangmai war tatsächlich nur verletzt worden. 79 Bei George Kerr findet sich der Hinweis, die beiden erschlagenen Beamten hätten selbst den Zorn der Menge auf sich gezogen: „[…] Monopoly Agents were discovered abusing two children who had been vending cigarettes. This was too much, an angry crowd beat the Chinese agents to death […]”. Kerr 1965: 255. Diese Angabe wird jedoch in anderen Quellen nicht bestätigt.
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war der Volkszorn, der überbordende Volkszorn.“ 80 Kurz darauf wurde auch die Hauptverwaltung des Monopolbüros in der Nähe des Südtors von einer protestierenden Volksmenge bedrängt. Wenngleich bereits bewaffnete Einheiten der Polizei und Militärgendarmerie aufgezogen waren, kam es auch hier zu Ausschreitungen, als sich das Monopolbüro weigerte, den Forderungen der Menge nachzugeben und zu den Vorfällen Stellung zu nehmen. Gegen 13 Uhr setzte sich ein großer Demonstrationszug in Richtung Gouverneursbüro in Bewegung, um die Forderung nach Bestrafung der Monopolbeamten direkt an Chen Yi zu überbringen. Die nun folgenden Ereignisse vor dem Gouverneursbüro, bei dem Wachsoldaten das Feuer auf die Menge eröffneten, können als der eigentliche Beginn des 228-Aufstandes betrachtet werden. Bislang hatten sich die Ausschreitungen in Grenzen gehalten. Wenngleich mindestens81 zwei Regierungsbeamte zu Tode gekommen waren, wäre es durch ein Einlenken der Provinzregierung wahrscheinlich noch möglich gewesen, die Ordnung in der Stadt rasch wieder herzu-stellen. Die Schüsse auf die Menge führten jedoch zu einer unkontrollierbaren Eskalation der Unruhen. Über den genauen Ablauf der Ereignisse gibt es indes widersprüchliche Schilderungen. Von offizieller Seite wird behauptet, die Wachsoldaten hätten erst nach Provokationen und Angriffen aus der Menge das Feuer eröffnet. So berichtete die Taiwan xinshengbao: Am Nachmittag gegen 13 Uhr setze sich ein Zug von 4-500 Menschen, angeführt von Trommeln und Gongs, Richtung Gouverneursbüro in Bewegung. Wachsoldaten hoben ihre Waffen, um der Menge Einhalt zu gebieten. Kurz darauf waren etwa 20 Schüsse zu hören, und die Menge zerstreute sich. Später sagten Stimmen aus dem Volk, dass zwei Menschen getötet und vier verletzt worden seien.82
Die Pressestelle des Gouverneursbüros äußerte sich zu den Vorfällen wie folgt: Gouverneur Chen bereitete sich gerade darauf vor, eine Rede zu halten und suchte nach einem Übersetzer [wie die meisten Chinesen aus dem Festland war Chen Yi des Taiwanesischen nicht mächtig, Anm. d. Aut.]. Die Aufständischen waren bereits bis auf den Platz vor dem Haupteingang vorgedrungen, hatten [einigen] Wachsoldaten die Waffen entrissen und einen der Wachen mit einem Schuss verwundet. Den Wachsoldaten blieb daraufhin nichts anderes übrig, als das Feuer zu erwidern. Es gab einen Toten und einen Verletzten, außerdem wurden sechs Personen festgenommen.83
Der Generalsekretär des Gouverneursbüros, Ge Jing’en, behauptete bei einer späteren Pressekonferenz, Gouverneur Chen Yi habe sich gerade vom zweiten Stock des Gebäudes an die Menge wenden wollen, als plötzlich ein Schuss aus einer Pistole auf ihn abgegeben worden sei. Die Wachsoldaten hätten daraufhin das Feuer erwidert.84 Bei regierungskritischen Autoren findet sich hingegen die Behauptung, die Menge habe sich friedlich dem Gouverneursbüro genähert. Die Wachsoldaten hätten unvermittelt 80
Liang Xingren 1947: 1. Tang Xianlong berichtet, dass bereits am Vormittag des 28.2. die Wohnung des ehemaligen Vorstehers des Monopolbüros, Ren Weijun, von einer aufgebrachten Menge zerstört worden sei, drei Bedienstete seien erschlagen worden. Tang Xianlong 1947: 61. 82 Taiwan xinshengbao, 3.4.47. 83 Taiwansheng xingzheng changguan gongshu xinwenshi 1947: 92. 84 Vgl. Xingzhengyuan yanjiu er-er-ba shijian xiaozu 1994: 53. 81
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das Feuer eröffnet und dabei auch Maschinengewehre eingesetzt. In dem Buch Taiwan erer-ba geming wird der Vorfall wie folgt beschrieben: Als der Demonstrationszug gerade die Zhongshan-Straße erreicht hatte, wurden vom Dach des Gouverneursbüro auf einmal ungefähr 20 Maschinengewehr-Salven abgefeuert. Drei Menschen wurden getötet, drei verletzt. Die Verletzten wurden nicht medizinisch behandelt und verstarben kurze Zeit später […] Seit dem Abend des 27.2. hatte das Volk lediglich eine Bestrafung der Mörder [der Beamten des Monopolbüros] gefordert, es war mit seiner Petition jedoch überall an eine Wand gestoßen […] Innerhalb von 30 Stunden wurden sechs unschuldige Menschenleben geopfert, nur weil die Petition für ein unschuldiges Menschenleben nicht zum Zuge kam. 85
Diese Version eines unprovozierten Angriffes der Wachsoldaten wird gestützt durch die Aussagen von Zhou Mengjiang, einem Reporter der Zeitung Zhongwai ribao, der Zeuge des Vorfalles wurde. Nach seinen Angaben hatte sich das Volk gerade den Toren des Gouverneursbüros genähert, als plötzlich Schüsse „wie vom Himmel“86 fielen. Einige Aussagen der offiziellen Quellen können inzwischen als widerlegt betrachtet werden. Im 228-Forschungsbericht des Exekutiv-Yuan aus dem Jahr 1992 wird etwa darauf hingewiesen, dass laut einer Bestimmung aus japanischer Kolonialzeit, die später von den KMT-Behörden übernommen wurde, vor dem Gouverneursbüro keine bewaffneten Wachsoldaten postiert waren – daher habe die Menge auch keine Waffen entreißen können. 87 Ebenso wird die Angabe von Ge Jing’en, nachdem Chen Yi nur knapp einem Attentat entgangen sei, durch keine anderen Quellen gestützt. Andererseits scheint es auch nicht plausibel, dass die Behörden in dieser frühen Phase der Unruhen einen unprovozierten Angriff auf protestierende Bürger angeordnet haben könnten. Am glaubwürdigsten erscheint nach Ansicht des Autors daher die Schilderung von Tang Xianlong, einem Reporter vom Festland.88 Danach habe das Gouverneursbüro Sicherheitsvorkehrungen getroffen und Soldaten mit Maschinengewehren auf dem Dach des Gebäudes postiert. Als die protestierende Menge auf dem Platz vor dem Gouverneursbüro eingetroffen war, hätten einige Personen versucht, den Polizeikordon zu sprengen, woraufhin es zu einem Handgemenge mit Wachsoldaten gekommen sei. In dieser aufgeladenen Stimmung hätten sich schließlich Schüsse gelöst, woraufhin auch die Maschinengewehre vom Dach des Gebäudes das Feuer eröffneten.
3.1.3 Ausschreitungen gegen Festländer Nach dem Vorfall vor dem Gouverneursbüro richtete sich die Wut der aufgebrachten Volksmenge gegen alle Personen und Einrichtungen, die mit dem verhassten KMT-Regime und dem chinesischen Festland in Verbindung gebracht wurden. Zahlreiche Gebäude wur-
85
Chen Wanzhen et al 1990: 108f. Zhou Mengjiang 1990: 168. 87 Siehe Xingzhengyuan yanjiu er-er-ba shijian xiaozu 1994: 53. Diese Aussage wird auch gestützt von Xiao Tie, einem Reporter der Zeitschrift Xinwen tiandi, der sich zu dieser Zeit auf Taiwan aufhielt: „Normalerweise gab es vor dem Gouverneursbüro keine Wachsoldaten. Ich hatte oft gesagt, dies sei eine liebenswerte demokratische Arbeitsweise.“ Xiao Tie 1947: 30. 88 Siehe Tang Xianlong 1947: 59 86
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den gestürmt, und Festländer jeden Alters wurden von einem entfesselten Mob misshandelt. Hierzu berichtete die Taiwan xinshengbao: [Im Anschluss an die Schüsse] wurde die Lage noch chaotischer. Die Studenten blieben dem Unterricht fern, und die Beamten aller staatlichen Behörden machten sich aus dem Staub. Ein Teil der Menge strömte zum Zhonghua-Reisebüro, schmiss Türen und Fenster ein und trug die Möbel auf die Straße, um sie zu verbrennen […] zahlreiche Beamte vom Festland und Angehörige der Polizei und Militärgendarmerie wurden zusammengeschlagen […] Auch die Studenten schlossen sich dem Treiben an. Gegen 17 Uhr wurden die Waren des Xintai-Kaufhauses89 […] von der Menge auf die Straße geworfen und verbrannt. Einige wenige Diebe versuchten dabei, die Gelegenheit zu Plünderung zu nutzen. Sie wurden [jedoch] von der Menge festgehalten und zusammengeschlagen.90
Vereinzelt wurde eine regelrechte Treibjagd auf Festländer veranstaltet. Häufig waren diese an ihrer Kleidung zu erkennen, die sich deutlich von der traditionellen Gewandung der einheimischen Taiwanesen unterschied. 91 Um Festländer eindeutig zu identifizieren, wurden Passanten zudem im lokalen Minnan-Dialekt oder auf Japanisch angesprochen: Die Aufständischen fragten zuerst auf Taiwanesisch: „Woher kommst Du?“. Es gab einige Festländer aus Fujian, die den Minnan-Dialekt beherrschten und antworteten „Aus Taiwan“, damit konnten sie der Prügel entgehen. […] Später wandten sich die Aufständischen […] auf Japanisch [an Passanten]. Wer nur Taiwanesisch, aber kein Japanisch konnte, war sicher A-Shan – ein beleidigender Ausdruck der Taiwanesen für Festländer. Als überall Festländer verprügelt wurden, wurde das „Schlagt die A-Shan“ genannt. […] Wer auch Japanisch beherrschte, dem konnte auf Taiwan nichts geschehen.92
In einigen Fällen kam es auf diese Weise zur systematischen Durchsuchung größerer Menschenansammlungen. Die Ausgänge des Shijie-Kinos in Taipei wurden nach Ende der Vorstellung abgeriegelt, und alle Besucher mussten sich durch Japanisch- und Taiwanesischkenntnisse als Taiwanesen ausweisen. 93 Ebenso wurden in Taipei einlaufende Züge nach Festländern durchkämmt. […] wenn sich unter den Reisenden, die mit dem Auto oder mit dem Zug in Taipei ankamen, ein Festländer fand, wurde dieser sofort nach dem Aussteigen von der rasenden Menge brutal zusammengeschlagen. Daher waren der [Haupt-] Bahnhof von Taipei und der Wanhua-Bahnhof auch die Orte, wo die meisten Festländer totgeschlagen wurden. Einige Festländer wurden erschlagen, ohne überhaupt zu wissen, warum sie sterben mussten […] Laut Schätzungen wurden an diesem 28.2. mehr als 100 Festländer erschlagen und insgesamt 900 verletzt.94
89
Das Xintai-Kaufhaus war das größte Kaufhaus in Taipei. Es wurde vom Handelsbüro geleitet und zog daher in besonderem Maße den Hass der Bürger auf sich. Vgl. Whittome 1991: 28. 90 Taiwan xinshengbao 3.4.47. 91 Viele Festländer äußerten in dieser Zeit ihr Befremden über die Kleidung der Taiwanesen, die durch starke japanische Einflüsse geprägt war. Sehr verbreitet waren etwa die Muji, eine Art Holzpantoffel mit hohen, stelzenartigen Absätzen. Im Frühjahr 1946 hatte die Provinzregierung den erfolglosen Versuch unternommen, die Herstellung dieser Holzpantoffel zu unterbinden. 92 Ceng Kejin 1947: 124. 93 Vgl. auch Hong Min 1947: 141. 94 Tang Xianlong 1947: 63.
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Das Geschäftsleben in Taipei war inzwischen zum Stillstand gekommen. Viele Geschäfte hatten schon seit den Morgenstunden des 28.2. aus Solidarität mit den Protesten geschlossen. Im Verlauf des Tages schlossen sich auch Arbeiter und Angestellte dem allgemeinen Streik an, Schüler und Studenten blieben dem Unterricht fern. Gegen 14 Uhr wurde die Minxiong-Radiostation im Zhongshan-Park von Aufständischen besetzt. In einer Radioansprache, die auf der ganzen Insel empfangen werden konnte, wurde über die Vorfälle der vergangenen zwei Tage in Taipei berichtet. Zudem wurde die Provinzregierung Taiwans scharf angegriffen: Chen Yi sei nicht Herr der Lage, überall seien korrupte Beamte am Werk, welche Taiwan ausbeuteten und damit für die anhaltende Hungersnot verantwortlich seien. Das Volk wurde aufgerufen, sich gegen korrupte Beamte zu erheben.95 Um 15 Uhr wurde von der Garnisonshauptkommandantur der Ausnahmezustand über die Stadt Taipei verhängt. Zum Schutz der Bürger und zur Bewahrung der öffentlichen Ordnung wurden alle Versammlungen untersagt. Die Bürger wurden angehalten, wieder friedlich an ihre Arbeit zu gehen und den Gewaltaufrufen einiger krimineller Elemente keine Beachtung zu schenken. Durch die Ausrufung des Ausnahmezustandes wurde die Gewalt in der Stadt jedoch nur noch verschärft: Bewaffnete Patrouillen schossen aus Fahrzeugen auf Passanten, und es kam zu vielen Zusammenstößen mit der protestierenden Bevölkerung, die nach wie vor einige Gebäude in der Stadt belagerte. 96 Jugendliche und Studenten griffen daraufhin vereinzelt Polizeistationen an, um sich ihrerseits zu bewaffnen. Dabei stießen sie auf wenig Widerstand: Die Beamten aus dem Festland hatten zum großen Teil ihre Posten verlassen und sich in Sicherheit gebracht. Zahlreiche taiwanesische Polizeibeamte hingegen schlossen sich, mitsamt ihren Waffen, den Aufständischen an. Unterdessen waren auch die Verkehrsverbindungen zwischen Taipei und dem Rest der Insel zusammengebrochen. Einige Studenten, die sich am Bahnhof nach Zügen in ihre Heimatdörfer erkundigen wollten, wurden von patrouillierenden Soldaten erschossen, zahlreiche weitere wurden verhaftet. Erst nach mehreren Tagen gelang es den gemeinsamen Anstrengungen des Gouverneursbüros und der Schlichtungskommission, die Ordnung in Taipei weitgehend wiederherzustellen.
3.2 Politische Verhandlungen 3.2.1 Erste Schritte Am Nachmittag des 28.2.47 wurde gegen 14 Uhr der Konsultativrat der Stadt Taipei vom Vorsitzenden Zhou Yanshou zu einer Dringlichkeitssitzung einberufen. Zu der Sitzung waren außerdem der Bürgermeister der Stadt Taipei, You Mijian, und der Vorsitzende des Konsultativrates der Provinz Taiwan, Huang Chaoqin, geladen worden. Die Delegierten formulierten erstmals97 konkrete Forderungen an Gouverneur Chen Yi, die als „Vorschläge“ unterbreitet wurden: 95
Siehe Lin Mushun 1948: 14. Schwere Zusammenstöße mit mehreren Todesopfern gab es unter anderem am Monopolbüro, der Verwaltung der Bahnpolizei und dem Verkehrsbüro. Vgl. Xingzhengyuan yanjiu er-er-ba shijian xiaozu 1994: 54f. 97 Wie die Taiwan xinshengbao in einer Sondernummer am Abend des 28.2. berichtete, hatte sich bereits am Vormittag eine Delegation der Volksvertreter am Gouverneursbüro eingefunden. Die Delegation sei von Stabschef Ke Yuanfen empfangen worden und habe einen Forderungskatalog von fünf Punkten übergeben, der unter ande96
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Sofortige Aufhebung des Ausnahmezustandes Die Täter vom Vortag sollten nach dem Gesetz bestraft werden Entschädigungen für Verwundete und Tote der Ausschreitungen Die Behörden sollten zusammen mit Delegierten des Volkes eine Schlichtungskommission bilden, um die Vorfälle vom 27.2. zu untersuchen. Bei ihrem Vorgehen gegen Schmuggler sollte es den Beamten des Monopolbüros in Zukunft streng untersagt werden, von Schusswaffen Gebrauch zu machen. Sofortige Freilassung aller Personen, die im Zuge der Unruhen verhaftet worden waren.98
5. 6.
Bei Übergabe des Forderungskataloges wiesen die Delegierten zudem darauf hin, dass es in der Vergangenheit auf Grund von Korruption zur Zusammenarbeit zwischen Beamten des Monopolbüros und Schmugglern gekommen sei – aus diesem Grund hätte sich auch alle Maßnahmen gegen den Schmuggel als wirkungslos erwiesen. Des Weiteren wurde die Auflösung der Polizeibrigade, einer von Chen Yi begründeten paramilitärischen Sondereinheit der Polizeikräfte, gefordert. Schließlich wurde Chen Yi aufgefordert, umgehend den Schusswaffengebrauch der Sicherheitsbeamten zu untersagen, um eine Ausweitung der Unruhen zu vermeiden. Chen Yi antwortete auf diese Vorschläge wie folgt: 1.
2.
3. 4.
Er habe in der Vergangenheit unaufrichtige Beamte stets ihres Postens enthoben und an die Gerichte übergeben. Er sei jedoch kein Gouverneur aus japanischer Kolonialzeit, und könne daher keinen Einfluss auf die Entscheidungsfindung der Gerichte nehmen. Zudem könne eine Verurteilung der schuldigen Beamten nur erfolgen, wenn ausreichende Beweise vorlägen – dies sei ein anerkannter Rechtsgrundsatz in allen Teilen der Welt. Die Unruhen seien zwar durch das Fehlverhalten der Beamten des Monopolbüros ausgelöst worden. Allerdings sei auch erwiesen, dass tatsächlich Schmuggelwaren angeboten worden seien. Die Polizeibrigade sei notwendig für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit der Provinz, da zurzeit noch keine ausreichenden regulären Polizeikräfte bereitstünden. Die restlichen Vorschläge der Delegierten, insbesondere die Aufhebung des Ausnahmezustandes und das Verbot des Schusswaffengebrauchs, könnten hingegen angenommen werden.99
Am Abend wandten sich Vertreter des Konsultativrates und hohe Regierungsbeamte gemeinsam in einer Rundfunkansprache an die Bevölkerung und riefen zu Ruhe und rem die sofortige Erschießung der schuldigen Beamten des Vortages und Entschädigungszahlungen für die Opfer der Unruhen umfasst habe. Es finden sich jedoch keine Angaben über die Identität dieser Delegierten; zudem bleibt unklar, auf welchem Wege diese zu Verhandlungen legitimiert wurden. Nach Ansicht des Autors wäre es auch erstaunlich, wenn sich bereits zu diesem frühen Zeitpunkt auf Seiten des Volkes eine spontane Verhandlungsführung etabliert hätte. 98 Taiwan xinshengbao, 3.4.1947. 99 Die oben stehende Schilderung des Treffens orientiert sich an dem ausführlichen Bericht in der Taiwan xinshengbao. In anderen Quellen wird hingegen behauptet, dass Chen Yi bei diesem Treffen gar nicht anwesend war und sich durch seinen Stabschef Ke Yuanfen vertreten ließ. Der Forschungsbericht des Exekutiv-Yuan berichtet hingegen, Chen Yi sei bei diesen ersten Verhandlungen zwar anwesend gewesen, er habe sich jedoch „zweideutig“ zu den Vorschlägen geäußert. Vgl. Lin Mushun 1948: 15; Xingzhengyuan yanjiu er-er-ba shijian xiaozu 1994: 56.
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Besonnenheit auf. Stabschef Ke Yuanfen bekräftigte, dass die Unruhen durch ein Missverständnis ausgelöst worden seien. Er verurteilte die Gewaltexzesse gegen die Mitbürger aus dem Festland und warnte die Bewohner Taipeis, sich nicht von einer Minderheit von Gewalttätern zu unbedachten Ausschreitungen aufwiegeln zu lassen. Die schuldigen Monopolbeamten würden nach dem Gesetz bestraft, außerdem sei bis zur Herstellung der öffentlichen Ordnung der Ausnahmezustand über Taipei verhängt worden. 100 Im Anschluss meldeten sich die taiwanesischen Konsultativräte Huang Chaoqin und Zhou Yanshou zu Wort. Sie appellierten an die Allgemeinheit, den Delegierten zu vertrauen, die in Kooperation mit den Behörden eine friedliche Beilegung des Konfliktes anstrebten. Schließlich wandte sich noch Frau Xie E101 an die Bevölkerung. Sie bestritt, dass vor dem Gouverneursbüro auf die Menge geschossen worden sei. Es habe lediglich einige Verletzte gegeben, nachdem die Wachsoldaten in die Luft geschossen und damit eine Panik ausgelöst hätten. Auch sie appellierte an das Volk, Ruhe zu bewahren und auf die Verhandlungen zu vertrauen. Am 1.3. kam es in Taipei jedoch, ungeachtet des immer noch anhaltenden Ausnahmezustandes, erneut zu Ausschreitungen. Am Vormittag sammelte sich eine aufgebrachte Menschenmenge vor dem Kangle-Krankenhaus, dass von Frau Xie E betrieben wurde, um sie für ihre Radioansprache vom Vortag zur Rede zu stellen. 102 Das Mobiliar des Krankenhauses und medizinisches Gerät wurden zerstört. Auch weiterhin kam es zu Zusammenstößen zwischen bewaffneten Patrouillen und aufgebrachten Bürgern. Der schwerste Vorfall ereignete sich vor dem Büro der Bahnpolizei, bei dem angeblich 18 Personen getötet und über 40 verletzt wurden. 103 Der erste Versuch einer raschen Befriedung der Unruhen war damit gescheitert. Die Provinzregierung und die taiwanesischen Volksvertreter erkannten, dass nur über eine umfassende Beilegung der Vorfälle noch auf eine Beruhigung der Lage zu hoffen war.
3.2.2 Beginn der Schlichtungsversuche Am 1.3.47 um 10 Uhr morgens trafen in der Zhongshan-Halle in Taipei die Delegierten des Konsultativrates der Stadt Taipei, die Abgeordneten der Nationalversammlung, die Konsultativräte der Provinz Taiwan und die Politischen Räte zusammen, um gemeinsam die „Kommission zur Untersuchung der blutigen Vorfälle im Zusammenhang mit der Beschlagnahme von Tabakwaren“ 104 zu gründen. Diese Versammlung beauftragte Zhou
100 Mit dieser Bestätigung des Ausnahmezustandes befand sich Ke Yuanfen im direkten Widerspruch zu Chen Yi, der nur wenige Stunden zuvor zugestimmt hatte, den Ausnahmezustand unverzüglich aufzuheben. 101 Frau Xie war Medizinerin und betrieb in Taipei das Kangle-Krankenhaus. Zudem war sie Mitglied des Konsultativrates der Stadt Taipei und die einzige weibliche Abgeordnete Taiwans in der Nationalversammlung. 102 Frau Xie meinte später in einem Interview zu diesen Ereignissen, dass sie diese Radioansprache vom 28.2. in gutem Glauben gemacht habe. Sie habe sich dabei auf die Angaben des Generalsekretärs des Gouverneursbüros, Ge Jing’en, verlassen. Dieser habe ihr versichert, dass die Soldaten lediglich in die Luft geschossen hätten und niemand ernsthaft zu Schaden gekommen sei. „Ich habe den Angaben von Ge Jing’en vertraut, denn es war ein formaler Bericht gegenüber einer ordentlichen Delegierten des Konsultativrates von Taipei. Damals konnte niemand wissen, dass die Regierung lügen oder inkorrekte Berichte machen könnte“. Siehe Chen Fangming 1991c: 392. 103 Lin Mushun 1948: 20. 104 Qiyan xue’an diaocha weiyuanhui 㐍➉㹰Ṹ䃯ḕငᴳ
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Yanshou, Huang Chaoqin, Wang Tiandeng und Lin Zhong, 105 Gouverneur Chen Yi die folgenden Beschlüsse zu überbringen: 1. 2. 3. 4. 5.
Sofortige Aufhebung des Ausnahmezustandes; Freilassung der Bürger, die im bisherigen Verlauf der Ausschreitungen verhaftet worden waren; Armeeangehörigen und Polizeibeamten sollte der Schusswaffengebrauch untersagt werden; Die Behörden sollten gemeinsam mit Vertretern des Volkes eine Schlichtungskommission gründen; Der Gouverneur solle sich über Rundfunk an die Bevölkerung wenden. 106
Chen Yi stimmte erneut zu, den Ausnahmezustand aufzuheben, als Frist wurde 16 Uhr desselben Tages genannt. Ebenso sagte er eine Freilassung aller Verhafteten zu, allerdings müssten hierzu die Familienangehörigen und lokalen Aufsichtsbeamten gemeinsam für den Betreffenden bürgen. Die anderen drei Forderungen könnten ebenfalls angenommen werden. Hinsichtlich der zu gründenden Kommission unterbreitete Chen Yi sogar selbst den Vorschlag, den Namen „Schlichtungskommission für den Vorfall vom 28.2.“107 zu wählen. Um 17 Uhr wandte sich Chen Yi zum ersten Mal über Rundfunk an die Bevölkerung. Zu den Vorfällen vom 27.2. erklärte er (wahrheitswidrig), dass die schuldigen Beamten bereits an die Gerichte übergeben worden seien und streng bestraft würden. Zudem seien an die verwundete Händlerin Lin Jiangmai und die Angehörigen des Getöteten Chen Wenxi bereits Wiedergutmachungen gezahlt worden. „Damit, denke ich, können alle zufrieden mit der Beilegung des Vorfalles sein“. 108 Zudem bat er um Verständnis für die Ausrufung des Ausnahmezustandes; dieser sei das Ergebnis der Unruhen, nicht deren Ursache. Ab Mitternacht (!) würde der Ausnahmezustand aufgehoben, allerdings müssten alle Bürger wieder friedlich ihren Beschäftigungen nachgehen. Versammlungen seien bis auf weiteres untersagt. Bürger, die im Zuge der Unruhen verhaftet worden waren, könnten freigelassen werden. Allerdings könne man nicht ausschließen, dass unter ihnen einige „sehr schlechte“ Menschen seien, daher würden schriftliche Bürgschaften verlangt. Die Behörden würden zusammen mit den Volksvertretern eine Schlichtungskommission zur Beilegung des Aufstandes gründen. Zum Ende seiner Ansprache appellierte Chen Yi an die Gesetzestreue seiner taiwanesischen Landsleute: Ich weiß, dass die überwiegende Mehrheit der taiwanesischen Landsleute gesetzestreue und gehorsame Bürger sind. Ich hoffe, dass ihr von nun an auf die Regierung vertraut und mit der Regierung zusammenarbeitet […] und wieder zu dem Zustand vor dem 27.2. zurückkehrt. Dies berührt die Ehre der Provinz, ich hoffe, dass ihr dies besonders bedenkt und vollkommen umsetzt.109
Bemerkenswert ist an dieser Stelle, dass Chen Yi mit keinem Wort die Vorfälle vor dem Gouverneursbüro am 28.2. und am Büro der Eisenbahnpolizei am 1.3. erwähnte, bei denen 105
Lin Zhong hatte das Amt eines Politischen Rates inne. Zudem leitete er die Minxiong-Radiostation Siehe Taiwan xinshengbao, 2.3.47. 107 Er-er-ba shijian chuli weiyuanhui ҼҼޛһԦ㲅⨶ငᴳ 108 Chen Yi 1947: 358. 109 Chen Yi 1947: 359. 106
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bislang die meisten Todesopfer zu beklagen gewesen waren. Angesichts der Tatsache, dass in Taipei inzwischen chaotische Zustände herrschten, wirkte die Rede des Chen Yi, die sich weitgehend mit den Vorfällen vom 27.2. befasste, äußerst befremdlich. Um 20 Uhr erfolgte eine Bekanntmachung der Garnisonshauptkommandantur, dass ab Mitternacht der Ausnahmezustand für den Kreis Taipei aufgehoben würde. Zudem wandte sich der Abteilungsleiter der Garnisonshauptkommandantur, Generalmajor Su Shaowen, schriftlich an den Konsultativrat der Stadt Taipei: Die Behörden hätten beschlossen, für die Opfer der Ausschreitungen, ohne Ansehen der Herkunft, eine finanzielle Entschädigung zu leisten.110 Für Todesopfer würde eine Summe von 200.000 Taibi an deren Angehörige gezahlt, Verletzte würden mit einem Schmerzensgeld von 50.000 Taibi entschädigt. Zudem würden die Kosten für medizinische Behandlungen übernommen. Mit Ausnahme des Verbotes vom Schusswaffengebrauch – ein Punkt, zu dem zumindest keine offizielle Verlautbarung erfolgt war – hatten die Behörden also sämtliche Forderungen der Volksvertreter erfüllt, oder deren Erfüllung in Aussicht gestellt. Es hatte erneut den Anschein, als könne eine Beilegung der Unruhen erzielt werden.
3.2.3 Die Schlichtungskommission Seit dem 28.2.47 war die Herrschaft der Provinzregierung Taiwan faktisch zusammengebrochen. Das Gouverneursbüro verfügte nur über wenige bewaffnete Streitkräfte und befand sich daher gegenüber den Volksvertretern in der Defensive. Nahezu sämtliche Beamte aus dem Festland verließen nach Ausbruch der Unruhen ihre Posten, alle Regierungsstellen wurden von Vertretern des Volkes besetzt. Die Regierungsgewalt wurde nunmehr, bis zur Niederschlagung des Aufstandes am 8.3.47, von Vertretern des Volkes ausgeübt. Eine zentrale Bedeutung kam dabei der Schlichtungskommission in Taipei zu, die innerhalb kürzester Zeit einen erstaunlich komplexen Verwaltungsapparat errichtete. Obwohl die Schlichtungskommission nach zweimaliger Erweiterung zunehmend durch interne Konflikte geschwächt und zudem von Agenten des Gouverneursbüros gezielt unterwandert wurde, konnte sie dennoch in einigen dringenden Problemen effektiv Abhilfe schaffen.
3.2.3.1 Gründung der Schlichtungskommission, Aufbau und Mitglieder Am 2.3. um 15 Uhr fand in der Zhongshan-Halle die erste Sitzung der nun umbenannten „Schlichtungskommission zur Beilegung des 228-Vorfalles“ statt. Neben den vier demokratischen Vertretungsorganen der Provinz, die zuvor die „Kommission zur Untersuchung der blutigen Vorfälle im Zusammenhang mit der Beschlagnahme von Tabakwaren“ gebildet hatten, hatte auch das Gouverneursbüro gemäß der getroffenen Absprache fünf hohe Regierungsvertreter zu dieser Sitzung entsandt. Im Verlauf der Sitzung wurde der Entschluss gefasst, den Umfang der Schlichtungskommission erneut zu erweitern. Die neu zu wählenden Delegierten sollten sich aus fünf Gruppen rekrutieren: der Handelskammer, den Gewerkschaften, den Studenten, Vertretern der „Gesellschaft für den Politischen Aufbau 110 Siehe Chen Fangming/Lin Delong 1992: 14. Günter Whittome weist darauf hin, dass aus den Quellen nicht hervorgeht, ob diese Summen tatsächlich ausgezahlt wurden. Whittome 1991: 32.
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der Provinz Taiwans“111 sowie angesehene Vertreter des Volkes. Zum vorläufigen Vorsitzenden der Kommission wurde per Akklamation Zhou Yanshou bestimmt, der auch in der Folgezeit die Mehrzahl der Sitzungen leitete. Zudem wurde beschlossen, dass die Schlichtungskommission künftig zwei Mal täglich (um 10 und 15 Uhr) tagen würde. Am 4.3. folgte eine zweite Erweiterung der Schlichtungskommission: Ziel dieser Erweiterung war es, Repräsentanten aus allen Teilen der Insel zusammenzuführen und Maßnahmen für eine umfassende Reform der Provinzverwaltung zu erarbeiten. Alle Verwaltungskreise und kreisfreien Städte wurden aufgerufen, Zweigstellen zur Regelung der lokalen Vorkommnisse zu bilden und Delegierte zur Hauptkommission in Taipei zu entsenden. Zudem umfasste die Schlichtungskommission in ihrer endgültigen Ausprägung Delegierte von einer Vielzahl von lokalen und provinzweiten Organisationen, darunter Vertreter der Ureinwohner, der Frauenverbände und der Presse. An diesem Tag wurde ein vorläufiges Organisationsstatut ausgearbeitet, das die Einrichtung eines Ständigen Ausschusses, eines Präsidiums und eines Sekretariats festschrieb. Dem Ständigen Ausschuss wurden zudem zwei Büros zugeordnet: Das Schlichtungsbüro sollte sich mit allen praktischen Problemen der zivilen Verwaltung der Provinz befassen, während das Politische Büro den weiteren Reformprozess der Provinz vorantreiben sollte. Den beiden Büros waren acht Unterausschüsse angegliedert. Trotz dieses anscheinend geordneten Aufbaus der Schlichtungskommission fanden die Sitzungen der Vollversammlung oftmals in einer chaotischen Atmosphäre statt. Durch die zweimalige Vergrößerung der Kommission hatte sich eine heterogene Zusammensetzung der Delegierten ergeben, dadurch wurde die Schlichtungskommission in ihrer Funktion als Forum des politischen Meinungsaustausches zunehmend behindert. Einzelne Delegierte nahmen nur gelegentlich an Sitzungen der Vollversammlung teil; zudem waren die Sitzungen öffentlich, und Redner wurden häufig von Zuhörern unterbrochen und niedergeschrieen. Wu Zhuoliu, der sich zu diesem Zeitpunkt als Reporter in Taipei aufhielt, berichtet von einer solchen Sitzung: Aus Neugierde ging ich auch einmal [zu einer Sitzung der Schlichtungskommission]. Viele der Volksvertreter waren eitle Aufschneider und Heuchler […] die von Anfang an darum wetteiferten, für sich selber zu werben und dabei pausenlos nur haarsträubenden Unsinn erzählten. Es gab überhaupt keine Ordnung […] Als ich die Zhongshan-Halle verließ, kam mir ein Geschichtsbuch aus meiner Schulzeit in Erinnerung, in dem eine Illustration der Französischen Revolution abgebildet war. Ich dachte, die Sitzung heute war dem sehr ähnlich.112
111 112
Taiwansheng zhengzhi jianshe xiehui ਠ⚓ⴱ᭯⋫ᔪ䁝ᴳ Wu Zhuoliu 1995: 198f.
Politische Verhandlungen
Abbildung 1:
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Organisatorischer Aufbau der Schlichtungskommission
Vollversammlung
Ständiger Ausschuss
Schlichtungsbüro
Politisches Büro
Hauptausschuss
Verhandlung
Nahrung
Planung
Verkehr Untersuchung Sicherheit Finanzen
Präsidium
Sekretariat
Die Vollversammlung der Schlichtungskommission wählte einen Ständigen Ausschuss, der mindestens 17 Mitglieder umfasste. Dieser bestimmte wiederum ein Präsidium, bestehend aus sieben Mitgliedern, dem ein Sekretariat angegliedert war. Das Präsidium repräsentierte die Schlichtungskommission und konnte Sitzungen einberufen. Das Politische Büro, dem die Unterausschüsse für Verhandlung und Planung angegliedert waren, war für die Ausarbeitung weiterer politischer Reformen verantwortlich. Die pragmatischen Aufgaben der Kommission wurden im Schlichtungsbüro geleistet, dem sechs Unterausschüsse angegliedert waren.
Der Schlichtungskommission standen zum Aufbau dieses komplexen Apparates nur wenige Tage zur Verfügung. Noch bevor sich die organisatorische Struktur voll entfalten konnte, wurde der 228-Aufstand durch das Eintreffen der Armee aus dem Festland beendet. Es bleibt zu spekulieren, ob sich die Strukturen der Kommission verfestig und zu einem ordentlichen Prozedere gefunden hätten, wenn hierzu mehr Zeit zur Verfügung gestanden hätte. Zudem konnte die Schlichtungskommission in ihren nachgeordneten Ausschüssen offensichtlich sehr effektive Arbeit leisten. Immerhin gelang es, die Lage in Taipei, die in der Zeit unmittelbar nach dem 27.2. an bürgerkriegsähnliche Zustände erinnerte, innerhalb weniger Tage weitgehend zu beruhigen und insbesondere die Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten.
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Der 228-Aufstand
3.2.3.2 Verhandlungen zwischen Regierung und Schlichtungskommission Die Schlichtungskommission bemühte sich stets, ihr Vorgehen möglichst eng mit dem Gouverneursbüro abzustimmen. Pausenlos wurden daher Delegierte entsandt, um die Behörden über die Forderungen und Beschlüsse der Kommission zu informieren und in strittigen Fragen Zugeständnisse zu erlangen. Hinzu kam, dass auch Vertreter der Studenten, der „Gesellschaft für den Politischen Aufbau der Provinz Taiwans“ und anderer Organisationen beständig im Gouverneursbüro vorsprachen. Chen Yi beschwerte sich schließlich entnervt in einem Telegramm an die Schlichtungskommission: Über die Beilegung des 228-Vorfalles kommen andauernd verschiedene Delegierte und schlagen unterschiedliche Dinge vor. Zur Beilegung wurde nun aber schon die Schlichtungskommission gegründet, die eigentlich die Meinungen der Volksvertreter entgegennehme sollte. Ich hoffe, dass in Zukunft alle Vorschläge zuerst in der Schlichtungskommission diskutiert werden und dann gesammelt von Beauftragten der Kommission […] überbracht werden, damit über deren Umsetzung entschieden werden kann.113
Im Verhandlungsablauf lassen sich zeitlich und inhaltlich zwei Abschnitte unterscheiden. In der frühen Phase befasste sich die Kommission ausschließlich mit Fragen, die in direktem Zusammenhang mit den Ausschreitungen standen und die im Wesentlichen drei Punkte umfassten: 1. 2. 3.
Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung, Aufhebung des Ausnahmezustandes und die Rückkehr des Militärs in die Kasernen; Entschädigungen für Opfer des Aufstandes (s.o.); Bestrafung der Beamten, die durch ihr Fehlverhalten am 27.2. die Unruhen ausgelöst hatten.
In diesen drei Fragen konnte die Schlichtungskommission schon sehr bald ein Einlenken der Provinzregierung bewirken – wenngleich die getroffenen Vereinbarungen nicht oder nur unzureichend umgesetzt wurden.114 Schon bald aber begann sich die Zielsetzung der Schlichtungskommission grundlegend zu wandeln. Die Kommission wollte nun die Unruhen zum Anlass nehmen, grundlegende Fragen der Provinzverwaltung anzusprechen und zu weitreichenden Reformen der politischen Gegebenheiten zu gelangen. Ein erster Schritt in dieser neuen Richtung wurde 113
Taiwan xinshengbao, 8.3.47. Bezüglich des letzten Punktes ist bemerkenswert, dass die ursprüngliche Forderung nach „sofortiger Erschießung“ der schuldigen Beamten fallengelassen wurde. Jedoch beauftragte die Schlichtungskommission am 2.3. den Delegierten Li Rengui, in Begleitung von Reportern nach dem Verbleib der schuldigen Beamten zu fahnden. Am nächsten Tag berichtete Li, dass von den zehn Gesuchten lediglich die sechs Beamten des Monopolbüros inhaftiert worden seien, die vier Beamten der Polizeibrigade hingegen seien bereits aus der Haft entlassen worden. Daher müsse man ernsthaft zweifeln, ob Chen Yi wirklich aufrichtig an einer Bestrafung der Täter interessiert sei. Siehe Chen Fangming/Lin Delong 1992: 26. Die Photos der sechs Monopolbeamten wurden am 4. März in der Taiwan xinshengbao veröffentlicht. Zwei Monate später wurde gegen den Monopolbeamten Chuan Xuetong, der mit seinem Schuss in die Menge den Aufstand ausgelöst hatte, das Todesurteil verhängt. Ye Degen, der die Händlerin Lin Jiangmai mit einem Schlag niedergestreckt hatte, wurde zu vier Jahren Haft verurteilt. Es ist allerdings sehr zweifelhaft, ab diese Urteile vollstreckt wurden. Siehe Taiwan xinshengbao, 6.4.47. Vgl. auch Chen Wanzhen et al 1990: 138. 114
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am 4.3. unternommen. Eine Verhandlungsdelegation der Schlichtungskommission bat Chen Yi, zu folgenden Punkten Stellung zu nehmen: 1.
2. 3.
Nach Ansicht der Delegierten sei der Grund für die Ausschreitungen, dass die politischen und wirtschaftlichen Maßnahmen der Behörden in den vergangenen eineinhalb Jahren gescheitert seien – dies könne man auch daran ersehen, mit welcher Geschwindigkeit sich die Ausschreitungen über die ganze Insel ausgeweitet hätten. Die Schlichtungskommission könnte genutzt werden, um konkrete Pläne für eine politische Reform auf Taiwan auszuarbeiten. Chen Yi sei in der Vergangenheit zu sehr von seinen Untergebenen abgeschirmt gewesen. In dieser kritischen Lage sei es nun wichtig, dass Chen Yi auf das Volk zugehe, um in einer gemeinsamen Anstrengung die grundlegenden Probleme der Provinz zu lösen.
Chen Yi antwortete darauf: Meine politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen waren richtig – diesen Punkt haben alle Anwesenden ja auch schon eingeräumt. Ich weiß aber auch, dass meine Untergebenen oft unwissend handeln […] Im Hinblick auf politische Reformen werde ich nicht nur die Vorschläge der Schlichtungskommission, sondern alle guten Vorschläge der Bürger aufgreifen. In der Politik muss man [aber] zwischen der exekutiven Gewalt des Staates und den lokalen [Behörden] unterscheiden. Ich hoffe, dass [dies] bei den Vorschlägen bedacht wird. Es wurde der Wunsch geäußert, ich solle der Bevölkerung die Hand reichen. Das ist auch mein Wunsch. […] 115
Chen Yi gestand also ein Scheitern der festlandchinesischen Verwaltung über die Insel ein und entlastete sich gleichzeitig selbst, indem er die Verantwortung für die Missstände der Unfähigkeit einiger subalterne Beamte zuwies – eine Lesart, die auch nach Niederschlagung des Aufstandes von offizieller Seite vertreten wurde und die bis heute in der Literatur gelegentlich anzutreffen ist. Gleichzeitig erklärte Chen seine grundsätzliche Bereitschaft, über weitgehende Reformen der Provinzverwaltung zu verhandeln – mit der Einschränkung, dass die Forderungen nicht die Zuständigkeiten der Zentralregierung berühren dürften. Wie im weiteren Verlauf der Arbeit gezeigt werden soll, ist es jedoch sehr zweifelhaft, ob Chen Yi in der Tat jemals zu aufrichtigen Verhandlungen bereit war. Am 5.3.47 wurden die politischen Forderungen der Schlichtungskommission unter Federführung von Wang Tiandeng, der den Vorsitz über den „Ausschuss für Verlautbarungen“116 führte, in einem Acht-Punkte-Katalog zusammengefasst. Dieser Tag kann somit als ein Wendepunkt im Verhandlungsprozess angesehen werden: Die Kommission hatte die ihr zugewiesenen Aufgaben erfüllt. In Taipei und den meisten anderen Gebieten Taiwans hatte sich die Lage weitgehend normalisiert. Nun wandte sich die Schlichtungskommission ihrer zweiten, selbsternannten Aufgabe zu – der Umsetzung politischer Reformen. Die Beschlüsse dieses Tages lauteten im Einzelnen: 1. 115 116
Die Verantwortung für den 228-Zwischenfall liegt bei der Provinzregierung; Taiwan xinshengbao, 5.3.47. Xuanchuanbu ᇓۣ䜘
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2.
Die Posten des Generalsekretärs des Gouverneursbüros, der Behördenleiter sowie der Mitglieder des Rechtsausschusses sollten mindestens zur Hälfte mit Taiwanesen besetzt werden; Die öffentlichen Betriebe sollen von Taiwanesen verwaltet werden; Die Bürgermeister und Kreisvorsteher sollten über allgemeine Wahlen bestimmt werden; Abschaffung des staatlichen Monopolsystems und des Monopolbüros; Abschaffung des Handelsbüros; Garantie der Meinungsfreiheit, der Pressefreiheit und der Versammlungsfreiheit; Garantie für das Leben, die Unversehrtheit und den Besitz der Bürger.
3. 4. 5. 6. 7. 8.
In dieser Sitzung wurde zudem das Organisationsstatut der Schlichtungskommission verabschiedet, das am Vortag ausgearbeitet worden war (s.o.). Auch hier wurden die neuen Ambitionen der Kommission sichtbar: Mit diesem Statut wollte die Schlichtungskommission eine Grundlage schaffen, um sich als Repräsentationsorgan der gesamten Provinz zu etablieren. Die organisatorische Struktur umfasste alle Bereiche der zivilen Administration und erinnert somit in Ansätzen an die Funktion einer Ersatzregierung. Am 6.3. wurde die zweite Erweiterung der Schlichtungskommission vollzogen. In der Vollversammlung um 14 Uhr wurden die 17 Mitglieder des „Ständigen Ausschusses“ gewählt. Im Anschluss daran ergriff Wang Tiandeng das Wort: Es sei nun an der Zeit, so Wang, eine umfassende Verlautbarung über den 228-Vorfall auszuarbeiten und an die Allgemeinheit zu richten. Darin sollten sowohl die tieferen Ursachen für die Unruhen als auch die geplanten Schritte zur Beilegung des Aufstandes dargelegt werden. Der Vorschlag wurde begeistert angenommen.117 Am Abend des 6.3.47 sprach Chen Yi erneut im Radio – seine dritte und letzte Rundfunkdurchsage während des Aufstandes. Hierin ging er auf die jüngsten Forderungen der Schlichtungskommission ein, zukünftig mehr Taiwanesen in der Provinzregierung zu beteiligen. Hierzu, so Chen Yi, verfolge er den Plan, eine reguläre und verfassungsgemäße Provinzregierung für Taiwan anzustreben – ein Ansinnen, das noch wenige Wochen zuvor zurückgewiesen worden war. Im Zuge dieser Umstrukturierung, so Chen, sollten Taiwanesen bei der Besetzung von wichtigen Ämtern besonders berücksichtigt werden. Des Weiteren habe er beschlossen, für den 1. Juli allgemeine Wahlen für die Ämter der Kreisvorsteher und Bürgermeister anzusetzen. Schon vor diesem Termin könnten unpopuläre Amtsinhaber ihrer Ämter enthoben werden. Am wichtigsten, so Chen Yi, sei es im Augenblick jedoch, die öffentliche Ordnung so rasch wie möglich wieder herzustellen, damit die Versorgung der Bevölkerung langfristig gesichert werden könne. Das Wichtigste ist im Augenblick jedoch, die öffentliche Ordnung rasch wieder herzustellen. Sonst können Verräter die Gelegenheit nutzen, um Unruhe zu stiften und die Situation vor Ort zu destabilisieren. Heute Nachmittag gab es noch Vorfälle von gesetzlosen Elementen, die auf Lastwagen herumfuhren und Soldaten die Waffen entwendeten. Dann wäre da noch das Problem der Nahrungsversorgung, das täglich ernster wird […] Ihr müsst wissen: Die augenblickliche Nahrungsmittelknappheit liegt nur daran, dass die öffentliche Ordnung noch nicht wieder hergestellt wurde.118
117 118
Taiwan xinshengbao, 7.3.47. Chen Yi 1947: 361f.
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Dies waren die weitestgehenden Zugeständnisse, die die Regierung jemals gegenüber den Forderungen nach politischen Reformen einräumte. Äußerlich betrachtet hatte sich Chen Yi erneut großzügig auf die Anregungen der Schlichtungskommission zubewegt. Es ist durchaus überlegenswert, welchen Kurs die weitere politische Entwicklung auf Taiwan genommen hätte, wenn dieses Einlenken der Regierung aufrichtig unterbreitet worden wäre. Auf die tatsächlichen Maßnahmen und Überlegungen des Gouverneursbüros wird im Folgenden einzugehen sein. An dieser Stelle sollte jedoch angemerkt werden, dass zum Zeitpunkt dieser Ansprache auf dem Festland bereits Truppenkontingente für eine blutige Niederschlagung des Aufstandes bereitgestellt wurden – eine Tatsache, der sich Chen Yi durchaus bewusst war. In der Sitzung der Schlichtungskommission vom 7.3. stellte Wang Tiandeng den Entwurf eines 32 Punkte umfassenden Forderungskataloges vor, der sich an den acht Punkten vom Vortag orientierte. Diese „32 Forderungen“ 119 markierten den Höhepunkt und Abschluss der politischen Reformbestrebungen. In einem Vorwort bekräftigte die Schlichtungskommission zunächst ihre Sichtweise, dass die Unruhen seit dem 27.2. lediglich eine Reaktion der Bevölkerung auf die politischen und wirtschaftlichen Missstände seit der Rückkehr Taiwans zu China seien. An alle Einwohner der Provinz, ob Taiwanesen oder Festländer, erging die Aufforderung, Vorschläge für eine Verbesserung der politischen Verhältnisse einzubringen. Die Behörden sollten diesen Vorschlägen aufrichtig und mit gutem Willen begegnen. 120 Die Forderungen selbst gliederten sich in die zwei Themenkomplexe „Maßnahmen zur gegenwärtigen Lage“ (sieben Artikel) und „Grundlegende Maßnahmen“ (drei Artikel zu militärischen, 22 Artikel zu politischen Belangen). Zum Teil wurden hier die Forderungen der letzten Tage noch einmal aufgegriffen und konkretisiert, andererseits fanden sich auch einige neue Punkte, die in ihrem Ausmaß den Rahmen der bisherigen Forderungen deutlich übertrafen:
Die Rolle der Schlichtungskommission. Weiterhin sah die Schlichtungskommission ihre vordringliche Aufgabe darin, Vorschläge für politische Reformen zu sammeln und auszuformulieren. Allerdings wurde festgeschrieben, dass vorläufig alle Handlungen der Regierung mit der Kommission abgesprochen werden müssten – was einer praktischen Entmündigung der Provinzregierung gleichkam. Regelung bezüglich der der bewaffneten Streitkräfte. Es wurde die Forderung erhoben, alle Streitkräfte zu entwaffnen, die Waffen sollten von der Kommission und Angehörigen der Militärgendarmerie gemeinsam verwahrt werden. Zudem sollten auch in Zukunft keine Taiwanesen für den Bürgerkrieg auf dem Festland eingezogen werden Beteiligung der Taiwanesen an der Verwaltung der Provinz. Angestrebt wurde ein weitgehender Autonomiestatus für Taiwan. In allen wichtigen Bereichen der Provinzverwaltung sollten Taiwanesen zumindest die Hälfte der Posten besetzen, zudem müssten diese Kandidaten zumindest zehn Jahre auf Taiwan ansässig gewesen sein.121
119 Im Laufe der chaotischen Sitzung wurden weitere zehn Punkte in den Forderungskatalog aufgenommen, in der Literatur taucht er daher auch unter der Bezeichnung „42 Forderungen“ auf. 120 Siehe Taiwan xinshengbao, 8.3.47. Für eine deutsche Übersetzung der 32 Forderungen siehe Whittome 1991: 158ff 121 Eine Bestimmung, die sich gegen die so genannten Banshan ॺኡ (Halb-Festländer) richtete. Taiwanesen also, die schon seit Jahren auf dem Festland gewohnt hatten und daher mit den Gegebenheiten der Provinz nicht vertraut waren.
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Die Abstimmung über den Forderungskatalog stellte die Schlichtungskommission vor eine Zerreißprobe. Seit Tagen hatten Gerüchte über eine baldige Ankunft von Truppen aus dem Festland die Runde gemacht, und die Kommission war durch Agenten der Geheimdienste unterwandert worden. In dieser angespannten Stimmung waren viele moderate Delegierte nicht bereit, solch weitreichende Forderungen zu unterstützen, während einige Radikale (aller Wahrscheinlichkeit nach auf Anstiftung des Gouverneursbüros selbst) sogar noch weitere zehn Forderungen durchsetzten. In dem Werk Taiwan er-er-ba geming wird diese Sitzung wie folgt beschrieben: Wang Tiandeng meldete sich [zu Wort und sagte]: „Die Behörden haben in der Vergangenheit alle unsere Forderungen nach politischer Reform angenommen. Aber Versprechen sind etwas anderes als Taten. Was nützen uns Versprechen, die nicht eingehalten werden? […] Wenn die Behörden weiterhin nur Versprechen machen und keine Taten folgen lassen, dann muss ich hier wohl nicht erklären, was zu tun ist.“ […] Einige Agenten [des Gouverneursbüros] brachten weitere, unangemessene Forderungen ein; diese wurden ebenfalls [in den Forderungskatalog] aufgenommen, da im allgemeinen Chaos keine Gelegenheit war, sie im Einzelnen zu besprechen. […] In einer chaotischen Atmosphäre wurden nun unter großem Tumult die 42 Forderungen verabschiedet. Nach der Sitzung erklärte [der Vorsitzende der „Gesellschaft für den Politischen Aufbau der Provinz Taiwans“] Jiang Weichuan vor Ort seinen Austritt aus der Kommission. Auch von den anderen so genannten Moderaten ergriffen viele die Gelegenheit, sich heimlich aus dem Staub zu machen.122
Einige der zehn zusätzlichen Forderungen, die auf diese Weise Eingang in den Forderungskatalog fanden, wurden später von der Regierung als Beleg für die rebellischen Absichten der Schlichtungskommission herangezogen – wie etwa die Forderungen nach Auflösung der Garnisonshauptkommandantur und der Freilassung aller taiwanesischer Kriegsverbrecher sowie das Verlangen, dass die auf Taiwan stationierten Streitkräfte ausschließlich aus Taiwanesen bestehen sollten. Die Befürchtung eines Teils der Delegierten, die Zentralregierung könne mit militärischer Gewalt auf Taiwan einschreiten, erwies sich natürlich als vollkommen berechtigt. Am Morgen des 8.3., als der Forderungskatalog an Chen Yi übergeben wurde, waren die Streitkräfte bereits im Anmarsch auf Taiwan. Chen Yi wies die Forderungen mit heftiger Empörung zurück.123
3.2.3.3 Pragmatische Aufgaben der Schlichtungskommission Bei Gründung der Schlichtungskommission herrschten in Taipei zum Teil anarchische Zustände. Nach einer ersten Welle der impulsiven Gewaltexzesse waren die Ausschreitungen gegen Festländer zwar seit dem 1.3. deutlich abgeklungen – was auch daran lag, dass sich die meisten Festländer in den Schutz des vom Militär streng bewachten Flughafens begeben hatten, der zu einem Sammellager umfunktioniert worden war. Auch nach Aufhe122
Chen Wanzhen et al 1990: 224f. In den Quellen wird berichtet, dass Chen Yi den Forderungskatalog mit unbewegter Miene entgegengenommen und, ohne ihn vorher durchzulesen, wutentbrannt auf den Boden geworfen habe. Es lässt sich vermuten, dass Chen Yi von seinen Informanten in der Schlichtungskommission bereits bestens über den Inhalt der Forderungen unterrichtet worden war. Die Delegation, die die Forderungen übergeben hatte, zog sich bedrückt und mit dunklen Vorahnungen erfüllt zurück. Siehe z.B. Chen Wanzhen et al 1990: 226. 123
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bung des Ausnahmezustandes am 1.3. war es in den Straßen der Stadt jedoch immer wieder zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen bewaffneten Patrouillen des Militärs und aufgebrachten Taiwanesen gekommen. Die Kommission richtete daher bereits am 1.3. einen Appell an das Gouverneursbüro, den Einsatz von Schusswaffen zu untersagen. Besonders wurde die Polizeibrigade kritisiert, deren Angehörige für die Mehrzahl der Vorfälle verantwortlich gemacht wurden. Die Behörden zeigten sich zu entsprechenden Zugeständnissen bereit: Die Auflösung der Polizeibrigade wurde zwar abgelehnt, bereits am 1.3. erklärte Generalstabschef Ke Yuanfen jedoch seine Bereitschaft, alle Soldaten in die Kasernen zu beordern und die bewaffneten Patrouillen einzustellen Trotz dieser Zugeständnisse kam es jedoch immer wieder zu Zwischenfällen. Am 3.3.47 gelangte die Schlichtungskommission daher zu der Einschätzung, dass die Behörden entweder nicht gewillt oder nicht in der Lage waren, die bewaffneten Patrouillen effektiv zu kontrollieren. Die Kommission fasste den Beschluss, einen eigenen Sicherheitsdienst für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung aufzustellen. Diese „Treue Truppe“, 124 die sich in erster Linie aus Schülern und Studenten rekrutierte, unterstand dem Sicherheitsausschuss der Schlichtungskommission und sollte die regulären Polizeikräfte bei ihrer Arbeit unterstützen. Um 18 Uhr nahm die Treue Truppe, deren Mitglieder durch weiße Armbinden gekennzeichnet waren, ihre Arbeit auf; mit dem Gouverneursbüro wurde die Vereinbarung getroffen, dass die Armee bis zu diesem Zeitpunkt in die Kasernen zurückkehren sollte. Mit Hilfe dieser zivilen Sicherheitskräfte gelang es in der Tat, die öffentliche Ordnung in Taipei wiederherzustellen. Zwar beklagten einzelne Mitglieder der Schlichtungskommission auch in den folgenden Tagen, dass sich (ungeachtet der Zusage des Generalstabschef Ke Yuanfen) weiterhin Militärangehörige in der Stadt aufhielten.125 Seit dem 4.4. kamen die Ausschreitungen gegen Festländer jedoch vollkommen zum Erliegen, die Stadt hatte weitgehend zur Normalität zurückgefunden. Ein Reporter der Zentralen Pressestelle in Taipei berichtete: Heute [4.3.] ist die Ordnung in der Stadt Taipei wieder vollkommen hergestellt, und alle Läden haben geöffnet. Bei einer Kontrollfahrt durch die Stadt heute Morgen fuhren überall Autos, sowohl Mitbürger aus dem Festland als auch aus Taiwan waren geschäftig unterwegs, überall sah man lächelnde Menschen. […] Die Kinos haben geöffnet, und in den Märkten der Stadt drängen sich die Menschen. Ich konnte nirgendwo bewaffnete Einheiten der Polizei oder Militärpolizei entdecken, und auf den Straßen gibt es keine Anzeichen für Unruhen […] 126
Ein weiteres drängendes Problem, dem die Schlichtungskommission begegnen musste, war die Versorgung der Bevölkerung. Seit dem 1.3. waren sämtliche Verkehrsverbindungen von und nach Taipei unterbrochen worden; die Versorgung mit Grundnahrungsmitteln, die schon vor Ausbruch des 228-Aufstandes unzureichend gewesen war, trat dadurch in ein kritisches Stadium. Sämtliche Lebensmittelreserven der Stadt wurden mobilisiert und an 124
Zhongyi fuwudui ᘐ㗙ᴽउ䲺. Es existieren starke Verdachtsmomente, dass die „Treue Truppe“ innerhalb weniger Tage von Agenten des Militärbüros unterwandert wurde. Xu Dehui, dem der Oberbefehl über die Truppe übertragen wurde, war sehr wahrscheinlich ebenfalls Agent der staatlichen Sicherheitsdienste. 125 In einer Rundfunkansprache erklärte Wang Tiandeng, dass die Soldaten dabei oftmals die Uniformen von Polizisten angelegt hätten; die Bevölkerung solle daher auf keinen Fall Konfrontationen provozieren, um Zwischenfälle zu vermeiden. Am 5.3. wurde mit Ke Yuanfen die Vereinbarung getroffen, dass Soldaten, die sich zum Kauf von Nahrungsmitteln in die Stadt begaben, keine Waffen bei sich führen und weiße Wimpel an ihren Fahrzeugen anbringen sollten. Siehe Taiwan xinshengbao, 6.3.47. 126 Chen Fangming/Lin Delong 1992: 52.
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die Bevölkerung verteilt.127 In einem Bericht des Ausschusses für Nahrung vom 5.3. wurde etwa mitgeteilt, dass im Stadtteil Shulin 500 Säcke Reis angekauft worden seien. Zudem stünde man mit einer Brauerei im Stadtteil Songshan in Verhandlungen über den Ankauf von weiteren 3000 Säcken Reis, die eigentlich für die Herstellung von Alkohol bestimmt gewesen waren.128 Die Geldmittel für die Ausgaben der Schlichtungskommission schöpften sich einerseits aus Spenden von Firmen und Privatleuten. Darüber hinaus wurde am 4.3. der Beschluss gefasst, bei der Gongshang-Bank einen Geldkredit in Höhe von 20 Mio. Taibi für den Ankauf von Nahrung aufzunehmen; der Vorschlag für diese Anleihe war vom Vorstand der Bank, Huang Chaoqin, selbst unterbreitet worden. Am 4.3. erließ die Schlichtungskommission eine endgültige Regelung zum Ankauf von Nahrung: Beauftragte der Kommission wurden in den Süden der Insel entsandt, um Reis und Getreide aufzukaufen, diese wurden in Taipei zu einem festgelegten Preis verkauft. Die Differenz zwischen Anund Verkaufspreisen wurde von der Kommission beglichen.129 Für die langfristige Sicherstellung der Nahrungsversorgung war es jedoch von entscheidender Bedeutung, die Verkehrswege nach Taipei wieder herzustellen. 130 Am 2.3. wurde der Delegierte der Nationalversammlung Jian Wenfa von der Kommission zum Verantwortlichen für den Bahnverkehr ernannt. Am 4.3. erklärte der Vorsteher des Büros für Verkehr, Ren Xianqun, dass alle Bahnverbindungen wieder hergestellt seien. Die drohende Hungersnot in Taipei wurde damit abgewendet. Auch in anderen Bereichen konnte die Kommission Erfolge verzeichnen. Am 5.3. berichtete das Elektrizitätswerk von Taipei, dass alle leitenden Posten von Taiwanesen übernommen worden seien und dass die Stromversorgung bald in allen Gebieten der Provinz wieder hergestellt würde.131 Am 6.3. fasste die Gewerkschaft für Steinkohle der Provinz Taiwan in einer Dringlichkeitssitzung den Beschluss, der Schlichtungskommission 10.000 Tonnen Kohle zu Sonderpreisen zur Verfügung zu stellen, um die Preisstabilität zu gewährleisten.132 Trotz der äußerst schwierigen Ausgangsbedingungen war es der Schlichtungskommission also innerhalb weniger Tage gelungen, die öffentliche Ordnung in Taipei wiederherzustellen und die Grundversorgung der Bevölkerung sicherzustellen. Einerseits wurden diese Erfolge begünstigt durch ein erstaunliches Engagement in weiten Teilen Bevölkerung – was erkennen lässt, dass die Kommission ein hohes Maß an Unterstützung genoss. Zum andern lässt sich jedoch festhalten, dass sich unter den Taiwanesen (ungeachtet der anders lautenden Vorurteile der chinesischen Behörden) durchaus zahlreiche fähige Administratoren fanden, die den Beweis erbrachten, dass Taiwanesen sehr wohl zu einer eigenständigen Verwaltung der Insel in der Lage waren.
127 Angeblich stimmte Ke Yuanfen dabei auch einem Ansinnen der Kommission zu, die Nahrungsspeicher des Militärs für die Bevölkerung zu öffnen. Siehe Chen Cuilian 1995: 164. 128 Siehe Chen Fangming/Lin Delong 1992: 104. 129 Siehe Taiwan xinshengbao, 5.3.47. 130 Einige Mitglieder der Kommission äußerten die Befürchtung, dass Chen Yi die Zugverbindung nutzen könnte, um Truppen aus dem Süden der Insel nach Taipei zu verlagern und plädierten daher dafür, den Bahnverkehr erst nach Wiederherstellung der allgemeinen Ordnung wieder aufzunehmen. Siehe Chen Fangming/Lin Delong 1992: 27. Diese Befürchtung erwies sich als durchaus berechtigt. In der Tat unternahm Chen den Versuch, Soldaten aus der Festung Fengshan nach Taipei zu verlegen; der Versuch scheiterte jedoch, da die Bahngleise sabotiert worden waren. 131 Siehe Taiwan xinshengbao, 5.3.47 132 Siehe Chen Fangming /Lin Delong 1992: 130.
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3.3 Die Regierung in der Defensive Die Regierungsbehörden auf Taiwan waren über die Vorfälle des 27.2. zunächst nicht sonderlich beunruhigt. In seinem Tagebuch notierte Generalstabschef Ke Yuanfen für diesen Tag zwar einen Zwischenfall, bei dem durch das Fehlverhalten von Beamten des Monopolbüros Bürger zu Schaden gekommen seien. Dies sei jedoch lediglich ein polizeiliches Problem, das durch Bestrafung der Täter und Entschädigung der Opfer rasch beigelegt werden könne.133 Der Ernst der Lage wurde jedoch schon am nächsten Tag deutlich, als sich die Unruhen über ganz Taipei ausbreiteten. Am 28.2. berief Chen Yi eine Notsitzung der wichtigsten Regierungsvertreter ein. In seinen Memoiren berichtete Ke Yuanfen, dass man sich zunächst zu einer abwartenden Haltung entschlossen habe – angeblich, um unnützes Blutvergießen zu vermeiden: Alle waren sich einig, dass [die Unruhen] von Liumang134 angestiftet worden seien, daher wollte der Gouverneur [Chen Yi] die Liumang verhaften lassen. Ich hatte aber ein anderes Gefühl: Im Hintergrund müsste es sicher noch Leute geben, die den Vorfall anfachten [d.h. Kommunisten, Anm. d. Aut.]. Zudem hatten sich die Liumang unter die Menge gemischt und waren nicht ohne weiteres zu identifizieren. Bei dieser aufgebrachten Volksstimmung würden ein bewaffnetes Vorgehen und eine Verhaftung der Liumang sicher zu Zwischenfällen und Blutvergießen führen. Daher schlug ich vor, sofort eine Beilegung [der Vorfälle] anzustreben und gleichzeitig Mittel und Wege zu suchen, das Volk mit Hilfe von Polizei und Militärgendarmerie zu zerstreuen und wichtige Regierungseinrichtungen zu schützen. Erst danach sollten wir Maßnahmen gegen die Liumang in Erwägung ziehen. Der Gouverneur stimmte mir zu […]135
Ein noch gewichtigerer Grund für diese Zurückhaltung dürfte indes gewesen sein, dass sich auf Taiwan zu diesem Zeitpunkt nur wenige bewaffnete Streitkräfte befanden. Die Regierung verfolgte daher die Strategie, militärische Verstärkung aus dem Festland anzufordern und durch vorgetäuschte Verhandlungsbereitschaft Zeit zu gewinnen. Die Situation wurde weiterhin dadurch verschärft, dass die Unruhen zu heftigen Faktionskämpfen innerhalb der Provinzregierung führten. Bereits nach Ende des Zweiten Weltkrieges waren verschiedene Machtzentren innerhalb der politischen Führung der Republik China bemüht gewesen, eine möglichst große Einflusssphäre auf Taiwan abzustecken. Am erfolgreichsten hatte sich hierbei die so genannte „Political Science Group“ 136 erwiesen, zu der zahlreiche führende Mitglieder der neuen Provinzregierung (darunter auch Gouverneur Chen Yi) zählten. Eine zweite Faktion bildete das mächtige „Militärbüro“. 137 Zu den führenden Mitgliedern des Militärbüros auf Taiwan gehörten der Stabschef der Garnisonshauptkommandantur Ke Yuanfen, der Regimentskommandeur der Militärgendarmen Zhang Mutao und der Verantwortliche des Militärbüros Taipei, Lin Dingli. Das 133 Unmittelbar nach den Unruhen veröffentlichte Ke Yuanfen seine Tagebuchaufzeichnungen in der regierungsnahen Zeitschrift Zhengqi yuekan. Es ist natürlich davon auszugehen, dass Ke diese Aufzeichnungen nachträglich überarbeitete. So ist es z.B. fraglich, ob die Behörden zu diesem frühen Zeitpunkt eine „Bestrafung der Täter“ und „Entschädigung der Opfer“ erwogen hätten, wenn sich der Vorfall im Nachhinein nicht als so sensibel erwiesen hätte. Dennoch bieten die Tagebucheinträge einen aufschlussreichen Einblick in die Frage, wie die Behörden auf Taiwan den Aufstand wahrnahmen. 134 Liumang bezeichnet organisierte Verbrecherbanden. Siehe Konventionen, 1.3. 135 Ke Yuanfen 1947: 41. 136 Zhengxue pai ᭯ᆨ⍮ 137 Juntong ju 䓽㎡ተ
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Militärbüro stand in einem scharfen Konkurrenzverhältnis zur Political Science Group. Bei Tang Xianlong findet sich etwa der Hinweis, dass die umfassende Verlegung von Streitkräften von Taiwan auf das Festland im Jahr 1946 auf persönliche Differenzen zwischen hohen militärischen Befehlshabern und Chen Yi zurückzuführen war. Die Vermutung liegt nahe, dass Chen Yi bestrebt war, den Einfluss des militärischen Komplexes auf ein Minimum zu beschränken. Eine dritte einflussreiche Kraft war schließlich die so genannte „CC-Faktion“,138 auf Taiwan angeführt von dem KMT-Parteivorsitzenden der Zweigstelle Taiwan Li Yizhong, deren Machtbasis vor allem in den Parteistrukturen der KMT ruhte und die mit der Taiwan xinshengbao und der Guoshi ribao über zwei einflussreiche Presseorgane verfügte. In den Monaten nach der Übernahme nutzte die CC-Faktion diese Presseorgane oftmals zu heftigen Angriffen auf die Provinzregierung. Ke Yuanfen beklagte in seinen Erinnerungen die feindselige Haltung zwischen Partei (CC-Faktion) und Provinzregierung (Political Science Group): Normalerweise sollte die Regierungspartei Hilfestellung für die Genossen in der Regierung leisten und [diese] bei der Durchführung der Staatsangelegenheiten unter-stützen, das sollte eine völlig selbstverständliche Sache sein, aber auf Taiwan waren die Beziehungen zwischen Partei und Regierung in der Zeit kurz nach der Rückeroberung [nach dem Zweiten Weltkrieg] ausgesprochen schlecht. Die Partei war gegenüber Chen Yi feindselig eingestellt, da dieser ein führendes Mitglied der Political Science Group war, und verweigerte die Zusammenarbeit und Unterstützung […]139
Nach Ausbruch des 228-Aufstandes wurden die Schlichtungskommission und andere Regierungsorgane des Volkes von den Geheimdiensten der verschiedenen Faktionen infiltriert, wobei jede Faktion bestrebt war, den Aufstand für ihre eigenen Interessen zu instrumentalisieren. Von besonderer Tragweite war hierbei das Vorgehen des Militärbüros: Es gibt deutliche Hinweise darauf, dass das Militärbüro die Unruhen absichtlich anfachen wollte, um Chen Yi als inkompetent zu diskreditieren und einen Vorwand für eine militärische Intervention zu schaffen.
3.3.1 Manipulation der taiwanesischen Volksvertreter Jiang Weichuan, der jüngere Bruder des berühmten anti-japanischen Widerstandskämpfers Jiang Weishui, gehörte nach der Rückkehr Taiwans zu China zu den Mitbegründern der einflussreichen „Gesellschaft für den politischen Aufbau der Provinz Taiwan“, 140 die zur Zeit des 228-Aufstandes über mehrere zehntausend Mitglieder in allen Teilen der Insel verfügte. Nach Ausbruch des Aufstandes nutzte die Provinzregierung diese Gesellschaft als Werkzeug, um die Einheit der Schlichtungskommission zu untergraben und eine Spaltung der taiwanesischen Verhandlungsführung zu erzielen. Seit dem 28.2. suchten hochrangige 138 Der Name der Faktion leitet sich ab von den beiden Brüdern Chen Guofu und Chen Lifu, den Begründern dieser Faktion, die im Jahre 1927 den „Central Club“ als ersten Vorläufer der CC-Faktion ins Leben riefen. 139 Ke Yuanfen 1992a: 11. 140 Taiwansheng zhengzhi jianshe xiehui ਠ⚓ⴱ᭯⋫ᔪ䁝ᴳ. Die Organisation, ursprünglich gegründet unter dem Namen „Liga des taiwanesischen Volkes“ (Taiwan minzhong lianmeng ਠ⚓≁㚟ⴏ), war ein Sammelbecken für Aktivisten, die zuvor im radikalen Flügel der anti-japanischen Bewegung aktiv gewesen waren.
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Regierungsvertreter (darunter Chen Yi, Ke Yuanfen und der Kommandeur der Militärgendarmerie Zhang Mutao) mehrmals den Kontakt zu Jiang und ermutigten diesen, eine konkurrierende Volksvertretung für die Ausarbeitung demokratischer Reformen zu gründen. Für seine zweifelhafte Rolle im 228-Aufstand wurde Jiang von Sympathisanten der Unabhängigkeitsbewegung lange Zeit als Verräter gebrandmarkt. Im Jahr 1992 wurden jedoch die Tagebuchaufzeichnungen Jiang Weichuans veröffentlicht, die ein neues Licht auf die Ereignisse werfen. Wie Jiang Weichuan in seinen Memoiren berichtet, war er zunächst sehr erstaunt über die Avancen der Behörden. In der Vergangenheit hatte sich Jiang stets als ausgesprochener Kritiker der Provinzverwaltung erwiesen, und seine Beziehungen zum Gouverneursbüro galten als äußerst gespannt. 141 Erst nach längerem Zögern habe er am 2.3. einem Treffen mit Chen Yi zugestimmt, der ihn empfangen habe „wie ein Kranker den Arzt“.142 Bei diesem Treffen habe Chen Yi seinen Willen zu politischen Reformen bekräftigt, gleichzeitig jedoch seine Unzufriedenheit über die Schlichtungskommission geäußert – in der Jiang Weichuan selbst eine führende Rolle übernommen hatte.143 Die Schlichtungskommission, so Chen Yi, […] tagt nun schon seit drei Tagen, bei jeder Sitzung ist irgendwelches Volk anwesend, sie [die Delegierten] streiten nutzlos herum und liefern keine konkreten Vorschläge. Jeden Tag gibt es neue Berichte über die Ausbreitung des Aufstandes, aber sonst haben sie überhaupt keine Maßnahmen getroffen, um die Unruhen zu unterbinden […] die anderen Gebiete [Taiwans] erfahren von den Unruhen in Taipei, und das führt [dort] früher oder später zu ähnlich gewaltvollen Vorfällen […]144
Eine Einschätzung, die Jiang Weichuan offensichtlich teilte. Er traf mit Chen Yi die Übereinkunft, innerhalb von zehn Tagen eine neue Volksvertretung zu etablieren, bei der seine „Gesellschaft zum politischen Aufbau Taiwans“ eine führende Rolle übernehmen sollte.145 Nach diesem ersten Treffen kam es regelmäßig zu weiteren Gesprächen zwischen Jiang Weichuan und Chen Yi, wobei es Jiang nach eigenen Angaben gelang, Konzessionen der Behörden für die Beilegung des Aufstandes und die ersten Schritte in Richtung demokratischer Reformen zu erwirken.146 141 Im Frühjahr 1946 war Jiang Weichuan maßgeblich an der Aufdeckung eines Korruptionsskandals beteiligt, in dem hochgestellte Beamte des Gouverneursbüros involviert waren. Jiang wurde daraufhin seinerseits mit einer Klage wegen Verleumdung und Unruhestiftung bedroht und musste seine Vorwürfe in einer schriftlichen Erklärung zurückziehen. Siehe Chen Cuilian 1995: 107f. 142 Jiang Weichuan 1992: 10f. 143 In seinen Memoiren macht Jiang Weichuan geltend, dass er formal kein Mitglied der Schlichtungskommission gewesen sei und dieser im Gegenteil stets mit großen Misstrauen gegenübergestanden habe. Siehe Jiang Weichuan 1992: 33. Aus anderen Quellen geht jedoch hervor, dass Jiang spätestens seit dem 2.3. an Sitzungen der Kommission teilnahm und sich dort auch zu Wort meldete. Zudem wandte sich Jiang in der Zeit vom 2.3.-7.3. im Namen der Schlichtungskommission fünf Mal in Rundfunkansprachen an die Bevölkerung Taipeis. Schließlich wird berichtet, dass Jiang Weichuan nach Verabschiedung der 32 Forderungen am 7.3. aus der Schlichtungskommission ausgetreten sei – was natürlich voraussetzt, dass er zuvor Mitglied gewesen war. 144 Jiang Weichuan 1992: 13. 145 Diese neue Volksvertretung sollte, so Jiang, indes durch allgemeine Wahlen bestätigt werden und damit eine echte demokratische Legitimation erhalten. 146 In seinen Memoiren behauptet Jiang Weichuan, dass die Verhandlungserfolge der Schlichtungskommission in Wahrheit auf seine Bemühungen zurückzuführen seien. Die Kommission hätte sich nur im Nachhinein die Absprachen, die er mit Chen Yi getroffen habe, zu eigen gemacht – so zum Beispiel das Zugeständnis Chen Yis, für Taiwan eine reguläre Provinzverwaltung anzustreben. Vgl. Jiang Weichuan 1992: 82ff.
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Im Hinblick auf die Arbeit der Schlichtungskommission erwies sich die Spaltungsstrategie der Behörden als äußerst erfolgreich. Jiang und die Mitglieder seiner Organisation unternahmen in den folgenden Tagen alle Anstrengungen, um die Sitzungen der Kommission zu stören und Konflikte unter den Delegierten zu provozieren. Chen Yisong, der am 5.3. die Sitzung zur Verabschiedung des Gründungsstatutes der Schlichtungskommission leitete, erinnerte sich Jahrzehnte später in einem Interview: Jiang Weichuan hatte ein paar Leute mitgebracht, die im Sitzungssaal ununterbrochen herumlärmten. […] Ich war gerade am Rednerpult und erläuterte das Gründungsstatut, und diese Leute veranstalteten unten einen riesigen Tumult und riefen mir zu: „Sie haben sich wohl den Hohen Stuhl [des Vorsitzenden] unter den Nagel gerissen und wollen es sich nun bequem machen?“ Ich war damals noch jung und erregbar, und antwortete: „Wenn ihr auf dem Hohen Stuhl sitzen wollt, dann kommt doch rauf!“. So stieg ich dann einfach vom Rednerpult und ging nach Hause.147
Der oft gestellte Vorwurf an Jiang Weichuan, er habe die Einheit der taiwanesischen Verhandlungsführung untergraben, trifft also sicher zu. Man kann ihm dabei zu Gute halten, dass er bis zuletzt an die aufrichtige Verhandlungsbereitschaft Chen Yis glaubte und schließlich selbst zum Opfer der Unterdrückungsmaßnahmen wurde. Am Morgen des 9.3. stürmten Soldaten das Anwesen des Jiang, um ihn vor Ort zu erschießen. Die 19jährige Tochter, Jiang Qiaoyun, wurde von einer verirrten Kugel tödlich verwundet, durch einen nahezu unglaublichen Zufall gelang Jiang Weichuan selbst die Flucht – ein Polizist hatte bereits eine Waffe auf seinen Kopf gerichtet und den Abzug betätigt, die Waffe hatte jedoch Ladehemmung. Jiang Weichuan hielt sich über ein Jahr lang im Untergrund verborgen, zahlreiche Mitglieder der „Gesellschaft für den politischen Aufbau Taiwans“ wurden als Aufrührer verhaftet und exekutiert. Unter der neuen Provinzregierung des Gouverneurs Wei Daoming wurde Jiang Weichuan schließlich gestattet, ein Reuebekenntnis zu schreiben. Eine weitere wichtige Rolle bei der Infiltration und Destabilisierung der taiwanesischen Volksvertretung kam dem militärischen Geheimdienst auf Taiwan zu. Am 3.3. fand ein Treffen der militärischen Führung der Insel statt, auf der Generalstabschef Ke Yuanfen den Befehl ausgab, sämtlich taiwanesischen Anführer streng zu observieren und umfangreiche Verhaftungen vorzubereiten. In seinen Memoiren beschreibt Ke Yuanfen dieses Treffen: […] ich verfolgte die Strategie „den Räuberhauptmann fassen, um die Bande zu fangen“ und berief erneut alle Verantwortlichen der Geheimdienste ein: Generalmajor Chen Dayuan vom Büro für Aufklärung der Garnisonshauptkommandantur, den Regimentschef der Militärgendarmen Zhang Mutao und den Vorsteher der Dienststelle des Militärbüros Lin Dingli. Ich gab den Befehl, die Anstifter im Hintergrund aufzuspüren und die Bewegungen der Anführer zu überwachen, um für eine zukünftige Befriedung des Aufstandes gewappnet zu sein. Es war auch ein Glück, dass wir ein paar Vorbereitungen getroffen hatten. Als der Aufstand [am 8.3.] seinen Gipfelpunkt erreichte und die Regierung den Notstand über die ganze Provinz ausrief, konnten wir alle Ränkeschmiede auf einen Schlag festnehmen. Innerhalb einer Nacht konnten wir die Unruhen rasch befrieden.148
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Ye Yunyun 1993: 115. Ke Yuanfen 1992a: 23f.
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Zudem verfolgte Ke Yuanfen offenbar den Plan, die Lage auf Taiwan absichtlich zu destabilisieren, um einen Vorwand für eine militärische Intervention zu schaffen und Gouverneur Chen Yi als inkompetent zu diskreditieren. Zu diesem Zwecke wurden der von der Schlichtungskommission gegründete Sicherheitsdienst zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung – die „Treue Truppe“149 – unterwandert; Xu Dehui, der den Oberbefehl über die „Treue Truppe“ übernahm, war mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Agent des Militärbüros. Nach Ankunft der Armee am 8.3. verwandelte sich die Treue Truppe in ein gefürchtetes Instrument des Terrors; zahlreiche Schüler und Studenten, die in gutem Glauben zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit beigetragen und sich dabei in Einvernehmen mit den Behörden geglaubt hatten, wurden verhaftet und exekutiert. Im Bericht der 228Stiftung über die Verantwortung des 228-Aufstandes aus dem Jahre 2006 findet sich zu der Rolle der „Treuen Truppe“ folgende Bemerkung: Die „Treue Truppe“ unter Xu Dehui nahm Liumang in ihre Reihen auf […] die in aller Öffentlichkeit raubten, harmlose Bürger bedrohten […], [Opfer festsetzten und] erpressten und Morde begingen. Sie wollten Chaos und Zwist in der Bevölkerung säen, daher verprügelten sie Festländer und brannten deren Geschäfte nieder und schufen dadurch für die Zentralregierung einen Vorwand, Soldaten zur Niederschlagung des Aufstandes zu entsenden. Damit wird eindeutig klar, dass [staatliche] Agenten den [228-Aufstand] zusätzlich anfachten […]150
Es sollte an dieser Stelle angemerkt werden, dass es sehr schwer fällt, diese Vorgänge zweifelsfrei zu rekonstruieren. In offiziellen Quellen finden sich selbstverständlich keine Hinweise auf diese Intrigen der Behörden. In den Erinnerungen des Ke Yuanfen wird Xu Dehui als „Aufrührer“ bezeichnet, der den Plan verfolgt habe, die Jugendlichen in Taipei zu bewaffnen und zu Gewalttaten anzustiften. 151 Im Gegensatz zu dieser späteren Aussage steht jedoch ein Interview Ke Yuanfens mit einem Reporter der Zentralen Pressestelle vom 2.3.47, in dem er die Gründung der Treuen Truppe ausdrücklich begrüßt und die Beteiligung des Militärs freimütig eingestanden hatte: [Ke sagte]: Die Regierung arbeite im Augenblick mit ganzer Kraft daran, das Volk auf ihre Seite zu bringen. So seien Xu Dehui und andere verlässliche und einflussreiche taiwanesische Mitbürger hervorgetreten und hätten die Treue Truppe gegründet. Einerseits in der Hoffnung, die illegalen Kräfte unter den taiwanesischen Mitbürgern zu spalten, andererseits um die Regierung insgeheim bei ihrer Arbeit zu unterstützen.152
Zudem wird von Jiang Weichuan ein weiterer Vorfall berichtet, der ebenfalls darauf hindeutet, dass die militärische Führung eine weitere Eskalation der Unruhen anstrebte. Seit 149
Neben der Treuen Truppe wird in den Quellen die Gründung einer weiteren Einheit erwähnt: Die „Haupttruppe für Gerechtigkeit und Tapferkeit“ (Yiyong zongdui 㗙ࣷ㑭䲺) unter dem Oberbefehl von Lin Dingli. Hinsichtlich dieser beiden Gruppierungen besteht jedoch einige Unklarheit. So wird im 228-Forschungsbericht des ExekutivYuan angemerkt, es habe sich in Wahrheit um dieselbe Gruppe gehandelt. Li Dingli habe dabei den Oberbefehl über ganz Taiwan innegehabt, während Xu Dehui nur dessen Untergebener für den Raum Taipei gewesen sei. Xingzhengyuan yanjiu er-er-ba shijian xiaozu 1994: 63. Ke Yuanfen indessen behauptete in einem Interview im Jahre 1992, dass es sich in der Tat um zwei verschiedene Gruppen gehandelt habe. Ke Yuanfen 1992b: 727. Bei Lin Mushun hingegen wird die von Lin Dingli gegründete Truppe unter dem Namen „Mobile Haupttruppe“ (Xingdong zong duiwu 㹼अ㑭䲺Խ) angeführt. 150 Er-er-ba shijian jijinhui 2006: 317. 151 Ke Yuanfen 1992a: 26. 152 Chen Fangming/Lin Delong 1992: 247.
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dem 2.3., so Jiang, habe er mehrmals Besuche von einem Jugendlichen namens Lin Zhengxiang erhalten, der ihn um Unterstützung bei einer gewaltsamen Erhebung gegen die Regierungsbehörden gebeten habe. Lin habe ihm gegenüber behauptet, dass Tausende von bewaffneten Jugendlichen und Ureinwohnern für einen bewaffneten Aufstand bereitstünden. Jiang berichtet weiter, er habe schon damals den Verdacht gehegt, dass Lin Zhengxiang ein Agent der Garnisonshauptkommandantur sei. 153 In ihrer Dissertation über die faktionellen Kämpfe im 228-Aufstand unternahm Chen Cuilian intensive Anstrengungen, der Identität dieses mysteriösen Lin nachzuspüren. Dabei kam sie zu dem Ergebnis, dass Lin Zhengxiang in Diensten einer Regierungsbehörde (wahrscheinlich der vierten Unterabteilung für Wirtschaft der Polizeibehörde) stand. 154 Sollten diese Schlussfolgerung zutreffen, wäre ein Beweis dafür erbracht, dass führende Mitglieder der Provinzregierung tatsächlich eine Radikalisierung des Aufstandes anstrebten. Dies wäre natürlich ein ungeheuerlicher Vorgang: Sämtliche andere Maßnahmen der Provinzregierung bis zu diesem Zeitpunkt – die politische Spaltung der Schlichtungskommission, die Verlegung von Soldaten innerhalb Taiwans und die Anfrage nach militärischer Verstärkung – könnten zumindest damit begründet werden, dass die Regierung bestrebt war, möglichst rasch die öffentliche Ordnung wieder herzustellen. Eine gezielte Anfachung der Unruhen hingegen wäre mit der staatspolitischen Verantwortung einer lokalen Regierung nicht zu vereinbaren.
3.3.2 Mangelnde Streitkräfte und die Anfrage um Verstärkung Ein wichtiger Faktor für die zunächst passive Haltung der taiwanesischen Provinzregierung im 228-Aufstand war die Tatsache, dass sich zu diesem Zeitpunkt nur sehr wenige Streitkräfte auf der Insel befanden. Einer Eskalation des Aufstandes hätte daher kaum effektiv begegnet werden können. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges waren zwar beachtliche Streitkräfte auf Taiwan stationiert worden, diese wurden in den folgenden Monaten – bedingt vor allem durch die militärischen Notwendigkeiten des andauernden Bürgerkrieges – zum großen Teil auf das Festland verlegt. Diese militärische Entblößung der Insel wurde von Gouverneur Chen Yi aktiv unterstützt. Als sich Präsident Chiang Kai-shek im Oktober 1946 in Begleitung seiner Ehefrau in Taipei aufhielt, um an den Feierlichkeiten des einjährigen Jubiläums der Rückgewinnung der Provinz teilzunehmen, erklärte Chen Yi, dass die auf Taiwan stationierten Streitkräfte bei Bedarf komplett abgezogen werden könnten.155 Als Folge dieses umfangreichen Truppenabzuges befanden sich im Februar 1947 nur wenige Soldaten auf Taiwan, die darüber hinaus zu einem großen Teil aus Wachmannschaften, Funkern oder Technikern bestanden. An Kampftruppen fanden sich lediglich die Besatzungen der beiden Festungen in Gaoxiong (Fengshan) und Jilong sowie einige Batail153
Jiang Weichuan 1992: 69. Siehe Chen Cuilian 1995: 264f. 155 Durch dieses Angebot wollte Chen Yi sicherlich das Wohlwollen Chiang Kai-sheks gewinnen. Daneben gab es jedoch auch pragmatische Gründe, die für eine Truppenreduktion sprachen. Der Unterhalt umfangreicher Militärverbände hatte eine große finanzielle Belastung für die Provinz dargestellt. Zudem war es in der Vergangenheit immer wieder zu Konflikten zwischen Chen Yi und hohen militärischen Befehlshabern auf Taiwan gekommen. General Peng Mengqi, der sich am 28.12.1991 erstmals zu den Vorfällen im Frühjahr 1947 äußerte, warf Chen Yi vor, dieser habe aus persönlichen Gründen auf einen Abzug der Armee von Taiwan gedrängt. Chen Yi, so Peng, habe den militärischen Oberbefehlshaber der 62. Armee, General Chen Kongda, und den Befehlshaber der 70. Armee, Huang Tao, als persönliche Rivalen betrachtet. Als Folge des unüberlegten Truppenabzuges seien im Frühjahr 1947 nur etwa 5-6000 Soldaten auf Taiwan stationiert gewesen. Lianhe wanbao, 1.1.92. 154
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lone Infanterie und Militärgendarmerie. 156 Im Großraum Taipei standen der Regierung laut Angaben des Generalstabschef Ke Yuanfen nur eine Kompanie Militärgendarmen und ein Bataillon des Militärbüros zur Verfügung. Ke Yuanfen plädierte daher dafür, möglichst rasch mehr Truppen nach Taipei zu verlegen: Ich wusste zu diesem Zeitpunkt [am Nachmittag des 28.2.], dass die Lage extrem ernst war und kommunistische Verräter sich unters Volk gemischt hatten, um [die Unruhen] nach Kräften anzufachen. Daher rief ich den Vorsteher des Dritten Büros, Herr Lü, zu mir, um die militärischen Dispositionen zu treffen. Das größte Problem war damals, dass wir nicht über ausreichende militärische Kräfte verfügten […] Wir entschlossen uns daher, ein Bataillon des […] Regiments aus Fengshan [in Südtaiwan] und zwei [Einheiten] der Festungstruppen aus Jilong [in Nordtaiwan] nach Taipei zu verlegen. Die Truppen in Fengshan waren jedoch zu weit entfernt, um in unserer Not zu helfen. Wir konnten nur darauf hoffen, dass uns die Festungsbesatzung aus Jilong zu Hilfe eilen würde.157
Diese Truppenverlegung erwies sich jedoch als problematisch. Die Einheiten aus dem Süden der Insel, die mit der Bahn nach Taipei verlegt werden sollten, konnten nur bis Mitteltaiwan vordringen. In Xinzhu verließen die taiwanesischen Zugführer ihre Posten, zudem waren die Gleise sabotiert worden. Die LKW-Kolonne aus dem nahe gelegenen Jilong wurde hingegen immer wieder von Menschenmengen aufgehalten. Laut Ke Yuanfen wurde bei einem Zwischenfall ein Soldat der Truppe von Aufständischen erstochen.158 Die mangelnde Truppenpräsenz in Taipei hatte zur Folge, dass der Ausnahmezustand, der am 28.2. ausgerufen worden war, nur ungenügend umgesetzt werden konnte. Wie Tang Xianlong beklagte, konnten die Soldaten nur einige wenige strategisch wichtige Punkte kontrollieren. Die Ausrufung des Ausnahmezustandes habe daher die Lage in der Stadt nur verschlimmert: [Am Abend des 28.2.] gab es eine kurze Stille, die jedoch nach 20 Uhr […] durch die Ausrufung des Ausnahmezustandes unterbrochen wurde. Da die Garnisonshauptkommandantur eine Ausbreitung des Aufstandes verhindern und Behörden schützen wollte, wurde [das gesamte Militär in Taipei] von zusammengenommen gerade mal 1000 Mann mobilisiert, und der Ausnahmezustand wurde ausgerufen. Daraufhin erschienen an allen wichtigen Behörden und Verkehrspunkten Soldaten in voller Kampfmontur, die als alarmbereite Schutzmannschaften aufzogen und patrouillierten. Da aber letztendlich zu wenige Soldaten bereitstanden, konnten sie nicht ganz Taipei kontrollieren, und die Menge konnte sich [in vielen Stadtteilen] weiterhin frei bewegen.159
Selbst bei einer erfolgreichen Verlegung von Truppen aus anderen Teilen der Insel nach Taipei wäre es jedoch sehr fraglich gewesen, ob eine Unterdrückung des Aufstandes praktikabel gewesen wäre. In der Tat standen auch im Süden nicht genug Truppen bereit, um ein militärisches Vorgehen in großem Umfang zu ermöglichen – eine Tatsache, die 156 Laut 228-Forschungsbericht des Exekutiv-Yuan habe die gesamte Truppenstärke dieser Einheiten 5251 Mann umfasst. Tang Xianlong schätzte die Gesamtzahl der kampffähigen Soldaten auf ca. 3000, die zudem über die ganze Provinz verstreut gewesen seien. 157 Ke Yuanfen 1947: 42. 158 Diese Angabe findet sich auch im Bericht der Pressestelle des Gouverneursbüros. Hier wird der Getötete als Hauptmann Wei Zhaoqi identifiziert. Deng Kongzhao 1991: 209. In neueren Quellen wird der Zwischenfall hingegen nicht erwähnt. 159 Tang Xianlong 1947: 65f.
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offenbar den meisten Bewohnern Taipeis nicht bewusst war. 160 Schon zu einem frühen Zeitpunkt fassten die Behörden auf Taiwan daher den Entschluss, militärische Verstärkungen aus dem Festland anzufordern. Bis heute konnte jedoch die Frage nicht geklärt werden, zu welchem Zeitpunkt dieser Beschluss genau fiel. Eine Klärung dieser Frage wird dadurch erschwert, dass Chen Yi in direktem Kontakt mit Chiang Kai-shek stand und lange Zeit keinen offiziellen Bericht über die Zustände auf Taiwan verfasste. 161 Dieser informelle Schriftverkehr wurde jedoch nur fragmentarisch überliefert. In verschiedenen Quellen gehen die entsprechenden Angaben weit auseinander:
Bei Lin Mushun findet sich die Angabe, Chen Yi habe bereits am 1.3. um Unterstützung gebeten und das Ausmaß der Unruhen absichtlich übertrieben. Am 2.3. habe die Zentralregierung zugesagt, 100.000 Soldaten zur Unterdrückung des Aufstandes zu entsenden.162 Diese Behauptung wird auch von Chen Wanzhen et al vertreten: Chen Yi sei seit dem 1.3. entschlossen gewesen, den Aufstand gewaltsam zu unterdrücken und habe daher die Zentralregierung um Verstärkung gebeten.163 Laut Chen Cuilian sei es wahrscheinlich, dass Chen Yi bereits am 1.3. um Verstärkung gebeten habe, hierfür könnten jedoch keine sicheren Beweise erbracht werden. Eindeutig belegt sei hingegen der 2.3. – hierbei beruft sich Chen auf die Angaben im Tagebuch Ke Yuanfens.164 Li Xiaofeng schreibt, dass die Anfrage am 2.3. erfolgte und am 6.3. erneut bestätigt worden sei.165 Laut Tang Xianlong sei Chen Yi erst am 3.3. zu der Überzeugung gekommen, dass eine friedliche Beilegung der Unruhen nicht möglich sei. An diesem Tag habe er um Verstärkung gebeten, die Truppenkontingente seien zwischen dem 6.3. und 8.3. von Shanghai aufgebrochen.166 Im 228-Forschungsbericht des Exekutiv-Yuan wird angeführt, dass Verstärkung im großen Umfang erst am 5.3. angefragt wurde. Das Datum 2.3. wird hier unter Vorbehalt erwähnt, allerdings seien zu diesem Zeitpunkt nur Truppenteile betroffen gewesen, deren ursprünglicher Stationierungsort ohnehin Taiwan gewesen sei und die nun lediglich von ihren Einsatzorten auf dem Festland zurückbeordert worden seien. Das Datum 5.3. werde auch vom Oberbefehlshaber der 21. Armee, Liu Yuqing, bestätigt,
160 Bereits am 2.3. hatten Gerüchte über eine anrückende Armee aus Südtaiwan in Taipei kurzfristig zu einer Panik geführt, an allen wichtigen Einfallsstraßen wurden Barrikaden errichtet. Jiang Weichuan, der zu diesem Zeitpunkt immer noch an den Verhandlungswillen der Behörden glaubte, rief die Bevölkerung in einer Radioansprache vom 3.3. zur Besonnenheit auf: „Diese Gerüchte [von anrückenden Truppen] haben das Volk erneut verunsichert, und tatsächlich wurden [an vielen Orten] sofort Barrikaden errichtet […] dieses Vorgehen ist wirklich kindisch. Ein jeder möge einmal nachdenken: Die Armee lässt sich nicht einmal durch Eisenwände, Steinwälle oder Befestigungsanlagen aufhalten, alles kann von ihr durchbrochen werden. Wenn Chen Yi wirklich Soldaten nach Norden verlegen wollte, wie könnte man sie dann [mit solchen Barrikaden] aufhalten? Außerdem glaube ich fest daran, dass Chen Yi nicht die Absicht hat, Soldaten in Marsch zu setzen […] Hat heute irgendjemand auch nur einen Soldaten aus dem Süden kommen sehen?“ Jiang Weichuan 1992: 42. 161 So war Innenminister Zhang Wansheng noch am 4.3. auf Berichte der Zentralen Presseagentur angewiesen, und auf der Sitzung des Höchsten Verteidigungsausschusses vom 5.3. beschwerten sich viele Delegierte, dass Chen Yi immer noch keinen offiziellen Bericht über die Zustände auf Taiwan verfasst habe. Vgl. Chen Cuilian 1995: 348. 162 Lin Mushun 1948: 20, 23. 163 Chen Wanzhen et al 1990: 126. 164 Chen Cuilian 1995: 328. 165 Li Xiaofeng 1998: 138. 166 Tang Xianlong 1947: 94.
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der an diesem Tag den Marschbefehl nach Taiwan erhalten habe. 167 Auch im Bericht der staatlichen 228-Stiftung aus dem Jahr 2006 wird der 5.3. als erstes verlässliches Datum angeführt.168 Die Tragweite dieser Frage ist offensichtlich, denn hieran bemisst sich, inwieweit die Provinzregierung jemals zu echten Verhandlungen und zu einer friedlichen Lösung des Konfliktes bereit gewesen war. Wenngleich die verfügbare Quellenlage keine abschließende Beantwortung dieser Frage erlaubt, können nach Ansicht des Autors folgende Schlüsse gezogen werden:
Chen Yi verfasste offensichtlich bereits am 1.3. einen ersten Bericht über die Unruhen an die Zentralregierung. Dieses Telegramm ist jedoch in den Quellen nicht überliefert, und über dessen Inhalt besteht keine Gewissheit. Das Telegramm findet Erwähnung in der Sitzung des höchsten Verteidigungsausschusses der Zentralregierung. Hier findet sich lediglich der Hinweis, Chen Yi habe den Aufstand als „nicht groß“ bezeichnet. 169 Der 1.3. kann als Datum für eine Anfrage um militärische Verstärkung nicht ausreichend belegt werden. Es ist sehr wahrscheinlich, dass es zu diesem Zeitpunkt bereits einen Kontakt zwischen Chen Yi und der Zentralregierung gab. Alle Anzeichen deuten jedoch darauf hin, dass Chen Yi noch von einer raschen und friedlichen Beilegung des Aufstandes ausging. Die Behauptung Lin Mushuns, Chen Yi habe an diesem Tag um „100.000 Soldaten“ angefragt, ist mit Sicherheit zurückzuweisen. Bezüglich des 2.3. stellt sich die Frage, inwieweit man den Tagebuchaufzeichnungen des Ke Yuanfen folgen möchte. In weiten Teilen der 228-Forschung wird diese Quelle als Beleg zitiert – was nach Ansicht des Autors jedoch nicht unproblematisch ist. Das Tagebuch wurde, wie bereits erwähnt, von Ke Yuanfen wahrscheinlich nachträglich überarbeitet, zudem konnten andere Aussagen des Ke Yuanfen bereits als unwahr widerlegt werden.170 Der erste unwiderlegbare Beweis für eine Entsendung von Soldaten findet sich in einem Telegramm des Chiang Kai-shek an Chen Yi vom 5.3.171 Allerdings heißt es hier, dass die Soldaten bereits in Marsch gesetzt wurden – es ist also davon auszugehen, dass die Anfrage um Verstärkung eine geraume Zeit zuvor erfolgt sein muss.
Unbestritten ist jedoch die Tatsache, dass die Behörden auf Taiwan gegenüber den Volksvertretern den Anmarsch von Truppen verschwiegen und sogar bewusst logen. So äußerte
167
Xingzhengyuan yanjiu er-er-ba shijian xiaozu 1994: 202f, 204. Er-er-ba shijian jijinhui 2006: 317. 169 Chen Cuilian 1995: 328. 170 So behauptete Ke Yuanfen etwa, dass bereits am 28.2. ein Flugzeug aus Nanjing auf Taiwan angekommen sei und genaue Anweisungen von Chiang Kai-shek zur Beilegung des Vorfalles überbracht habe. Diese Behauptung ist mit Sicherheit nicht zutreffend – wie ein ehemaliger Untergebener des Ke, Fang Songyao, bereits im Jahre 1993 erklärte, hätte die Zentrale unmöglich so rasch auf die Vorfälle reagieren können. Siehe Ziyou shibao, 28.2.93. 171 Siehe Zhongyang yanjiuyuan jindaishi yanjiusuo 1992: 70. Für den 5.3. findet sich auch in den Tagebuchaufzeichnungen des Ke Yuanfen die Bemerkung, dass Chiang Kai-shek per Telegramm der Entsendung von Truppen zugestimmt habe. Allerdings ist hier von wesentlich größeren Truppenkontingenten die Rede. Es bleibt unklar, ob sich Ke Yuanfen hierbei auf dasselbe Telegramm bezieht, oder ob es am 5.3. weitere Kontakte zwischen Chen Yi und Chiang Kai-shek gegeben hatte. 168
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Der 228-Aufstand
sich Chen Yi am 6.3. in einer Rundfunkansprache zu den „Gerüchten“, dass Truppen vom Festland im Anmarsch auf Taiwan seien: Ich habe gehört, dass sich viele Mitbürger auf Grund von Lügen, die von Verrätern in Umlauf gebracht wurden, versteckt halten. Ich hoffe, dass ihr auf die Regierung vertraut und den Gerüchten keinen Glauben schenkt. Die größte Tugend der chinesischen Nation ist es, Großmut zu üben statt Vergeltung. Wie könnten wir gegenüber unseren taiwanesischen Landsleuten diese edle Tugend nicht befolgen? […] Meine Worte sind klar und vertrauenswürdig, und ich übernehme die volle Verantwortung für alles, was ich sage.172
Und noch am Vormittag des 8.3. – also wenige Stunden, bevor die erste Welle der Verstärkungsarmee in Jilong eintraf – sprach der Oberbefehlshaber der Militärgendarmerie, Zhang Mutao, als „Privatmann“ zur Schlichtungskommission und versicherte den Delegierten, dass alle vernünftigen Forderungen nach politischen Reformen bereits von den Behörden umgesetzt würden, man warte nur noch auf die Zustimmung der Zentrale. Wichtig sei es nun, die öffentliche Ordnung zu wahren und die Zentrale nicht durch übertriebene Forderungen zu provozieren; hierbei bezog er sich auf die 42 Forderungen vom Vortag. Bezüglich der Gerüchte über eine militärische Unterdrückung des Aufstandes sagte er: Ich kann mit meinem Leben garantieren, dass die Armee [auf Taiwan] auf keinen Fall mehr schießen wird, und auch die Zentrale […] wird garantiert keine Soldaten nach Taiwan entsenden. Seit dem Friedensvertrag von Shimonoseki vor 50 Jahren, als Taiwan unter japanische Herrschaft geriet, haben die Bewohner der Provinz die Grausamkeit und Unterdrückung der Japaner erfahren […] Ich hoffe, dass die Bewohner der Provinz nun nicht an der Zentralregierung zweifeln. Unser großer Vorsitzender Chiang [Kai-shek] wird sicher Verständnis für die angemessenen Forderungen der taiwanesischen Landsleute haben.173
Diese bewusste Irreführung der taiwanesischen Volksvertreter stellt sicher einen verwerflichen Vorgang dar, der von Seiten der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung nach Ansicht des Autors zu Recht scharf verurteilt wurde. Die Lügen der Regierung erreichten jedoch weitgehend ihr Ziel: Die meisten Anführer der taiwanesischen Volksvertreter waren von der Ankunft der Truppen vollkommen überrascht,174 und konnten sofort verhaftet (und oftmals umgehend exekutiert) werden. Zudem hatten die Taiwanesen selbst in dem begrenzten Rahmen, in dem dies objektiv möglich gewesen wäre, keinerlei Vorbereitungen für einen militärischen Widerstand getroffen. Mit Ausnahme von Taizhong und Jiayi, wo es zu den einzigen echten Kampfhandlungen des Aufstandes kam, konnte die Armee aus dem Festland nahezu unbehindert die gesamte Provinz unter ihre Kontrolle bringen.
172
Huang Cunhou 1947: 213f. Chen Fangming/Lin Delong 1992: 142. Jiang Weichuan schreibt hierzu, dass er, als er am Morgen des 9.3. Schüsse in der Stadt hörte, noch davon ausging, dass sich irregeleitete Studenten zu Gewalttaten hätten hinreißen lassen. Siehe Jiang Weichuan 1992: 130. 173 174
Das Ende des 228-Aufstandes
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3.4 Das Ende des 228-Aufstandes Bereits unmittelbar nach Ausbruch des 228-Aufstandes waren die taiwanesischen Volksvertreter in großer Sorge, dass die Zentralregierung in Nanjing die Vorfälle auf Taiwan als Rebellion gegen ihre Herrschaft auffassen und mit militärischer Gewalt begegnen könnte. In der Presse auf dem Festland wurde dieser Eindruck zum Teil erweckt: Am 5.3. berichtete Li Wanju auf einer Sitzung der Schlichtungskommission, dass in Shanghai Zeitungsberichte erschienen seien, welche die Zustände auf Taiwan absichtlich überspitzten und den Eindruck erweckten, Taiwan wolle eine Loslösung vom Festland erzielen. 175 Den Delegierten der Schlichtungskommission musste unter allen Umständen daran gelegen sein, diese Bedenken der Zentralregierung zu zerstreuen. 176 Bereits am 3.3. richtete die Schlichtungskommission über Vermittlung des US-Konsulates eine Botschaft an Nanjing, in der sie die Ausschreitungen gegen Festländer auf Taiwan bedauerte und erklärte, die taiwanesische Volksvertretung strebe lediglich politische Reformen an. Am 6.3. wurde in einer „Erklärung an alle Mitbürger“ nochmals die unerschütterliche Loyalität aller Taiwanesen zum chinesischen Vaterland unterstrichen: Unser Ziel ist es, korrupte Beamte [ihrer Ämter] zu entheben und Reformen für die Provinz zu erreichen. Wir wollen nicht etwa die Mitbürger aus dem Festland vertreiben. Wir heißen alle willkommen, an dieser politischen Reform der Provinz mitzuwirken […] Liebe Mitbürger: Wir alle sind Nachkommen des Gelben Kaisers, Angehörige des großartigen Han-Volkes, und jeder Bürger trägt Verantwortung für die Politik des Vaterlandes. Ein jeder möge seinen heißblütigen Patriotismus beweisen und mit uns gemeinsam voranschreiten […] Am 28.2. wurden einige Mitbürger aus dem Festland misshandelt, aber das war nur ein vorübergehendes Missverständnis, das wir sehr bedauern. […] In Zukunft werden sich solche Vorkommnisse garantiert nicht wiederholen […] Hoch lebe die Republik China. Hoch lebe die Regierung. Hoch lebe der Vorsitzende Chiang [Kai-shek].177
Diese Loyalitätsbekundungen blieben jedoch fruchtlos. Am 8.3. landeten die ersten Truppen auf Taiwan an, innerhalb weniger Tage wurde der Aufstand mit brutaler Härte unterdrückt. Zu einem ersten Massaker an der taiwanesischen Bevölkerung war es bereits am 6.3.47 gekommen, als die Truppen der Festung Gaoxiong auf eigene Initiative in der Stadt einrückten und den 228-Aufstand dort beendeten. Der Widerstand von taiwanesischer Seite beschränkte sich nach dem 8.3. auf kleinere Gefechte in Zentraltaiwan, die schließlich in der berüchtigten „Schlacht von Puli“ ihren Höhepunkt fanden.
175
Siehe Taiwan xinshengbao, 5.3.47. Insbesondere in der Frühphase des Aufstandes hatte die Schlichtungskommission jedoch Schwierigkeiten, eine einheitliche Außendarstellung in den taiwanesischen Medien durchzusetzen. Am 4.3. wurde auf einer Sitzung der Kommission beklagt, dass die Minxiong-Radiostation, die im Zuge der Unruhen von Aufständischen besetzt worden war, eigenmächtig und ohne Autorisierung der Schlichtungskommission Verlautbarungen und Appelle an die Bevölkerung richtete. Zudem kursierten in Taipei zahlreiche Anschläge und Flugblätter, die den Zielen der Schlichtungskommission zuwiderliefen. Siehe Chen Fangming/Lin Delong 1992: 65. 177 Taiwan xinshengbao, 7.3.47 176
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Der 228-Aufstand
3.4.1 Der 228-Aufstand in Gaoxiong Die Hafenstadt Gaoxiong, im Süden der Insel gelegen, war in den letzten Jahren der japanischen Kolonialherrschaft zu einem bedeutenden Militärstützpunkt ausgebaut worden. Neben Jilong im äußersten Norden Taiwans befand sich hier die zweite Festung der Insel, die über den Militärhafen der Stadt wachte. Trotz umfangreicher Verlegungen von Armeeverbänden auf das Festland waren hier im Frühjahr 1947 immer noch beachtliche Streitkräfte unter General Peng Mengqi stationiert; zudem konnten die Geschütze der Festung auf die Stadt gerichtet werden. 178 Angesichts dieser prekären Lage wollte Bürgermeister Huang Zhongtu, als am Abend des 28.2. die ersten Nachrichten über die Vorfälle in Taipei eintrafen, unbedingt einen Konflikt mit dem Militär vermeiden. Er gab seinen Untergebenen strenge Anweisung, Ruhe zu bewahren, und ordnete den Verkauf von Nahrungsmitteln zu Sonderpreisen an, um Unruhen in der Bevölkerung vorzubeugen. Am 2.3. traf sich die Stadtverwaltung zu einer Sondersitzung, um über mögliche Maßnahmen im Falle von Ausschreitungen zu beraten. Am 3.3. hatte der 228-Aufstand Gaoxiong erreicht. In einigen Teilen der Stadt bildeten sich Menschenansammlungen, die Parolen gegen „Festländer“ skandierten und Geschäfte und Wohnhäuser von Beamten zerstörten. Jugendliche griffen das Polizeihauptquartier der Stadt an und verletzten dabei mehrere Polizeibeamte. Zahlreiche Festländer wurden, soweit sie sich nicht in den Schutz der Festung begeben hatten, von Aufständischen aufgegriffen und in der Mittelschule der Stadt festgesetzt, 179 die zu einem Internierungslager umfunktioniert worden war. Am 5.3. gründete sich unter Leitung des Vorsitzenden des Konsultativrates der Stadt, Peng Qingkao, 180 die Schlichtungskommission Gaoxiong. Die Schlichtungskommission befand sich nun in einer schwierigen Lage: Einerseits betrachtete sie es als ihre Aufgabe, die Forderungen der Bevölkerung zu vertreten und eine Eskalation der Lage zu vermeiden. Andererseits drohte Peng Mengqi, die Stadt bei anhaltenden Unruhen mit Kanonen zu beschießen. Die Situation in Gaoxiong wurde weiterhin dadurch kompliziert, dass sich die radikaleren Elemente der Aufständischen unter der Leitung von Tu Guangming181 sammelten und am 5.3. ein „Hauptquartier“ gründeten, um Vorbereitungen für einen möglichen Konflikt mit der Festungsbesatzung zu treffen. Am Nachmittag des 5.3. wurde ein erster Versuch zu einer friedlichen Lösung unternommen: Gegen 14 Uhr wurde eine Delegation der Schlichtungskommission 178 Im Gegensatz zur Festung Jilong war die Festung in Gaoxiong dazu ausgelegt worden, bei einer eventuellen Invasion dem Feind zunächst das Anlanden zu erlauben, um ihm dann auf dem Land Widerstand zu leisten. Die Geschütze waren daher nicht auf das offene Meer, sondern auf das Land gerichtet, und konnten zudem relativ rasch gewendet werden. 179 Im April 1991 äußerte sich Hong Wenqing, der zur Zeit des 228-Aufstandes bei der Bewachung dieser Festländer mitgewirkt hatte, zu den Vorgängen in Gaoxiong: Die Festländer, so Hong, seien zu ihrem eigenen Schutz in der Mittelschule untergebracht worden, viele hätten sich aus eigenem Antrieb dort in Sicherheit gebracht. Die Festländer seien stets gut versorgt und behandelt worden. Nach Ankunft der Armee am 6.3. seien sie hingegen von ihren „Befreiern“ zunächst einmal ausgeraubt worden. Ziyou shibao, 20.4.91. 180 Peng Qingkao war der Vater von Peng Mingmin, der seit den 70er Jahren zu einer bedeutenden Führungspersönlichkeit in der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung wurde. Siehe Peng Mingmin-Vorfall, 6.2.2. 181 In der Literatur finden sich nur wenige Hinweise auf die Identität des Tu Guangming. Whittome weist darauf hin, bei Tu habe es sich um den „Leiter des Städtischen Amtes für japanische Vermögenswerte“ gehandelt. Whittome 1991: 116. Peng Mengqi hingegen behauptete, Tu sei ein bekannter Liumang aus Zeit der japanischen Okkupation gewesen. Peng Mengqi 1992: 68.
Das Ende des 228-Aufstandes
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unter Bürgermeister Huang, bestehend aus Tu Guangming und mehreren Delegierten182 der Schlichtungskommission, zur Festung entsandt. General Peng weigerte sich jedoch, die Delegierten zu empfangen und schlug stattdessen ein Treffen für den folgenden Tag vor. Er hatte sich bereits am Vortag zu einem militärischen Vorgehen entschlossen, und wollte mehr Zeit gewinnen, um seine militärischen Dispositionen für einen Angriff auf die Stadt zu treffen.183 Gemäß dieser Absprache fanden sich die Volksvertreter am Morgen des 6.3. erneut am Hauptquartier der Festung ein. Sie wurde daraufhin von General Peng Mengqi festgenommen, die meisten der Delegierten wurden vor Ort exekutiert. In seinen Erinnerungen behauptet Peng Mengqi, Tu Guangming habe während der Verhandlungen eine Waffe auf ihn gerichtet; nur durch das geistesgegenwärtige Einschreiten eines anwesenden Ordonnanzoffiziers sei er diesem Mordanschlag entkommen. Es kann jedoch mit Sicherheit davon ausgegangen werden, dass es sich um eine nachträglich konstruierte Schutzbehauptung handelt. Einerseits waren die Volksvertreter gründlich auf Waffen durchsucht worden, und zudem scheint es auch nicht nachvollziehbar, welche Motive Tu zu diesem Zeitpunkt für einem Mordanschlag auf General Peng gehabt haben könnte. 184 Nur zwei der Volksvertreter überlebten: Peng Qingkao wurde bis zum Ende der Unruhen in der Festung inhaftiert – angeblich verband ihn mit Peng Mengqi eine frühere Bekanntschaft. 185 Bürgermeister Huang Zhongtu hingegen wurde zugute gehalten, dass er nur gezwungenermaßen bei dem Aufstand mitgewirkt habe. Ihm wurde noch am selben Tag gestattet, in die Stadt zurückzukehren. Am Nachmittag des 6.3. gab General Peng den Befehl zum Angriff auf Gaoxiong. Innerhalb weniger Stunden brachte die Armee die gesamte Stadt und alle von den Aufständischen besetzten Gebäude unter ihrer Kontrolle. Wie der 228-Forschungsbericht des Exekutiv-Yuan aus dem Jahre 1991 feststellte, ging die Armee mit rücksichtsloser Härte vor: Das Rathaus, in dem die ahnungslosen Delegierten der lokalen Schlichtungskommission zu diesem Zeitpunkt tagten, wurde von Soldaten gestürmt, die ohne Vorwarnung Handgranaten in die Versammlung warfen und alle Überlebenden der Explosionen mit Bajonetten erstachen. Im Stadtzentrum wurden Mörsergranaten eingesetzt. Auf schwachen Widerstand trafen die Soldaten lediglich am Bahnhof, wo sich Mitglieder der studentischen Sicherheitstruppen verschanzt hatten. Nachdem die Armee das Gebäude gestürmt hatte, flohen viele 182 Über die Anzahl und Identität der Delegierten gibt es abweichende Angaben. Insbesondere konnte lange Zeit nicht geklärt werden, ob sich unter den Delegierten auch der Vorsteher des Bezirkes Lin Ya, Lin Jie, befand. Im Februar 1992 strebte die Tochter des Lin Jie, Lin Licai, eine gerichtliche Klage gegen Peng Mengqi an. Peng bestritt jedoch, Lin Jie jemals getroffen zu haben. Siehe Zhong-yang shibao, 24.2.92. Erst im Januar 1993 konnte die Beteiligung und Hinrichtung des Lin Jie erwiesen werden. In den Archiven der Garnison fand sich ein Telegramm des Peng Mengqi an Gouverneur Chen Yi, datiert auf den 23.3.1947. In diesem Telegramm teilte Peng die Verhaftung und Hinrichtung des „Aufständischen“ Lin Jie mit. Siehe Minzhong ribao, 14.1.93. 183 General Peng Mengqi gesteht diesen Tatbestand in seinen Erinnerungen sehr freimütig ein: „Ich wusste, dass Verhandlungen mit dieser [Delegation] unmöglich irgendwelche Ergebnisse erzielen würden. Aber ich ließ im Geheimen gerade Vorbereitungen treffen, um am Morgen des 7.3. mit ganzer Kraft zuschlagen zu können. Um das Geheimnis zu wahren, hielt ich [die Delegation] absichtlich hin und redete ihnen nach dem Mund. Ich sagte, ich könne die von ihnen vorgebrachten Vorschläge in Erwägung ziehen. Sie sollten [zunächst] zurückgehen, weitere Meinungen einholen und weitere konkrete, gangbare Wege zur Beilegung [des Vorfalles] ausarbeiten. Ich verabredete für den nächsten Tag ein erneutes Treffen in der Kommandantur [der Festung].“ Peng Mengqi 1992: 66. 184 In einer Reihe von Interviews in den 90er Jahren ging Peng Mengqi in seinen Vorhaltungen gegen die Volksvertreter sogar noch weiter: Er behauptete nun, dass zwei der Delegierten Handgranaten bei sich geführt hätten. Vgl. Huang Zhangjian 2007: 77. 185 Für Peng Qingkao mag auch die Tatsache lebensrettend gewesen sein, dass er mit Peng Mengqi – wenngleich nicht verwandt – den selben Familiennamen teilte.
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Der 228-Aufstand
Jugendliche und unbeteiligte Passanten in die Unterführung des Gebäudes. Soldaten postierten sich daraufhin an beiden Ausgängen des Tunnels und eröffneten das Feuer. Auch am 7.3. gingen die Übergriffe des Militärs gegen die Zivilbevölkerung weiter: Am Morgen des folgenden Tages [dem 7.3.] bemerkten Soldaten Luftblasen im Aihe-Fluss. Zuerst dachten sie, es handele sich um Fische, erst später bemerkten sie, dass sich Leute [mit Schnorcheln] unter die Wasseroberfläche gerettet hatten. [Die Soldaten] eröffneten das Feuer. Der Konsultativrat Qiu Zhide, der auf Befehl mit der Armee in die Stadt eingerückt war, [beschrieb], dass unter seinen Füßen alles voll Leichen gewesen sei. Die Erde sei von Blut getränkt gewesen wie ein Sumpf.186
Für seine „Verdienste“ 187 in Gaoxiong wurde Peng der militärische Oberbefehl für die Befriedung Südtaiwans übertragen. Nach Einnahme der Stadt Gaoxiong rückte die Armee, die am 9.3. durch Truppenkontingente aus dem Festland verstärkt wurde, nach Norden vor und brachte Pingdong, Qishan und weitere Städte unter ihre Kontrolle. Von Seiten der Unabhängigkeitsbewegung wird der „Schlächter von Gaoxiong“ Peng Mengqi bis heute zu den Hauptverbrechern des 228-Aufstandes gezählt (siehe 9.2.2.5.). Zu Beginn der 90er Jahre strebten Angehörige der Opfer, die von mehreren tausend Toten ausgingen, eine Anklage wegen Mordes gegen Peng an. Dieser verteidigte jedoch bis zu letzt sein Vorgehen und bestritt darüber hinaus, dass überhaupt ein Massaker stattgefunden habe: In Gaoxiong, so Peng, seien lediglich 67 „Rebellen“ exekutiert worden. 188 Peng Mengqi, der im Laufe seiner späteren Karriere in die höchsten militärischen Ämter aufgestiegen war, verstarb 1997 in Taipei.
3.4.2 Der 228-Aufstand in Taizhong: Xie Xuehong, die 27. Truppe und die Schlacht von Puli Der 228-Aufstand in Taizhong verdient aus zwei Gründen besondere Beachtung: Zum Ersten bildete sich hier ein Zentrum des bewaffneten Widerstandes, das für kurze Zeit weite Teile Zentraltaiwans unter die Kontrolle der aufständischen Bevölkerung brachte. Zum Zweiten galt lange Zeit als unbestritten, dass dieser Widerstand in großem Umfang von linken Kräften unter der bekannten taiwanesischen Kommunistin Xie Xuehong getragen wurde, die angeblich in Zentraltaiwan eine „Volksregierung“ etablieren und die Herrschaft der KMT über Taiwan stürzen wollte. Taizhong wurde nach Niederschlagung des 228Aufstandes daher für die Behörden zu einem wichtigen Beleg der offiziellen Lesart, die den 228-Aufstand als einen von Kommunisten geplanten und angeführten Umsturzversuch beschrieb (vgl. 9.2.4.1.). Wie in vielen anderen Gebieten Taiwans wurde in Taizhong, nachdem die Vorkommnisse in Taipei bekannt geworden waren, eine lokale Schlichtungskommission gegründet, in 186
Xingzhengyuan yanjiu er-er-ba shijian xiaozu 1994: 120. In einem ersten Telegramm vom 6.3. hatte Gouverneur Chen Yi zunächst sein äußerstes Missfallen über die militärische Niederschlagung des Aufstandes in Gaoxiong zum Ausdruck gebracht und Peng Mengqi wegen seines eigenmächtigen Vorgehens scharf getadelt. Chen Yi wollte dabei jedoch offenbar eine Konfrontation nur so lange hinauszögern, bis die Verstärkungstruppen aus dem Festland eingetroffen waren. Am 8.3. wurde Peng ausdrücklich für sein entschlossenes Vorgehen belobigt. 188 Siehe Ziyou shibao, 28.2.91. 187
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der vor allem lokale Honoratioren – allen voran der „große alte Mann“ der moderaten antijapanischen Bewegung, Lin Xiantang – dominierten. Auch hier kam es seit dem 2.3. zu Ausschreitungen gegen Regierungsbehörden und lokale Beamte aus dem Festland: Jugendliche stürmten das Polizeihauptquartier und entwendeten zahlreiche Waffen; Bürgermeister Huang Keli wurde seines Postens enthoben und in der Polizeistation der Stadt festgehalten. Im Gegensatz zu anderen Gebieten Taiwans machte sich in Taizhong jedoch bald eine starke radikale Strömung bemerkbar, die für eine umfassende Bewaffnung der Bevölkerung und die Vorbereitung eines bewaffneten Kampfes gegen die Einheiten der Nationalarmee eintrat. Eine wichtige Rolle spielte hier Frau Xie Xuehong, die am 2.3. den Vorsitz einer „Volksversammlung“ übernahm und ein „Hauptquartier zur Kriegsführung“ gründete. Unter Leitung dieses Hauptquartiers wurde eine „Volksarmee“ gebildet, die sich vor allem aus ehemaligen taiwanesischen Angehörigen der japanischen Streitkräfte sowie Schülern und Studenten rekrutierte, und deren militärische Führung von Zhong Yiren, einem ehemaligen Unteroffizier der japanischen Armee, übernommen wurde. In den folgenden Tagen wurde die Volksarmee zu einem Sammelbecken widerstandsbereiter Jugendlicher, die aus allen Gebieten Taiwans eintrafen. Zu ersten bewaffneten Konflikten mit der Armee kam es bereits am 3.3.47, als Soldaten eines nahe gelegenen Luftwaffenstützpunktes in die Stadt vorrückten; in den darauf folgenden Straßenkämpfen konnten diese Armeeeinheiten jedoch zurückgeschlagen werden. Nachdem die Volksarmee durch weitere Freiwillige verstärkt worden war, wurde der Luftwaffenstützpunkt am folgenden Tag zur Kapitulation gezwungen, die Volksverbände konnten weitere Waffen (darunter auch MGs und einige mittelschwere Geschütze) erobern. Die moderaten Kräfte der Schlichtungskommission Taizhong betrachteten diese Konfrontationen mit großer Sorge. Auf Initiative des Lin Xiantang stellte die Kommission daher am 2.3. einen eigenen Sicherheitsdienst auf, der die öffentliche Ordnung wahren und ein Gegengewicht zu den militanten Kräften um Xie Xuehong und Zhong Yiren bilden sollte. Zhong Yiren und Xie Xuehong reagierten daraufhin mit der Gründung der „27. Truppe“,189 welche die militärische Vorbereitung weiter vorantrieb und den Widerstand in anderen Gebieten der Insel unterstützte. 190 Der Machtkampf zwischen militanten und moderaten Kräften in Taizhong dauerte bis zum 8.3.47 an: Am 8.3. waren alle Behörden und staatlichen Einrichtungen immer noch in den Händen der „Volksarmee“, aber fast überall fanden sich eine konservative und eine radikale Fraktion. Während die Konservativen dafür eintraten, geduldig auf die Anweisungen der [zentralen] Schlichtungskommission [in Taipei] zu warten und eine friedliche Lösung des Konfliktes anstrebten, trat die radikale Fraktion […] entschlossen für einen bewaffneten Aufstand ein. Beide Fraktionen behinderten sich gegenseitig. Da es verschiedene Ansichten gab, konnte auch kein gemeinsames Vorgehen erfolgen.191
Am 9.3. wurde in Taizhong die Ankunft der Verstärkungsarmee aus dem Festland bekannt; am selben Tag befahl Gouverneur Chen Yi die sofortige Auflösung aller lokalen 189
Er-qi budui Ҽг䜘䲺. Wie Zhong Yiren dem Autor in einem Gespräch erläuterte, leitete sich der Name der 27. Truppe vom 27.2. ab – dem Tag, als in Taipei die ersten Ausschreitungen begannen. 190 Zu schweren Kämpfen kam es insbesondere am Shuishang-Militärflughafen in Jiayi, der über mehrere Tage von bewaffneten Verbänden der Volksarmee belagert wurde. Siehe Xingzhengyuan yanjiu er-er-ba shijian xiaozu 1994: 307ff. 191 Xingzhengyuan yanjiu er-er-ba shijian xiaozu 1994: 93.
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Schlichtungskommissionen. Die moderaten Kräfte der Schlichtungskommission in Taizhong, welche die Vergeltung der Nationalarmee fürchteten, kamen dieser Aufforderung nach: Alle Beamten und Soldaten des Festlandes, die in den vorangegangen Tagen festgesetzt worden waren, wurden freigelassen, Bürgermeister Huang wurde wieder in sein Amt eingesetzt. Unter Lin Xiantang wurden Vorbereitungen getroffen, die anrückenden Armeeverbände zu begrüßen. Die militanten Kräfte der 27. Truppe waren zu der Einsicht gezwungen, dass eine Verteidigung der Stadt Taizhong unter diesen Voraussetzungen nicht möglich schien; zudem sollte unnötiges Blutvergießen unter Zivilisten vermieden werden. Am 12.3. entschloss sich die Führung der 27. Truppe daher zu einem Abzug aus der Stadt und zog sich in die Berge zu dem kleinen Ort Puli zurück. Zhong Yiren berichtete in einem Gespräch mit dem Autor über diesen Rückzug: Am Abend des 12.3. haben wir Taizhong verlassen und sind nach Puli gegangen. Ich hatte vorher Befehl gegeben, dass alle Jugendlichen und Studenten ohne Kampferfahrung zurückbleiben sollten. In Puli wären sie uns nur zur Last gefallen, denn sie konnte nicht kämpfen, aber mussten trotzdem essen. In Puli habe ich versucht, die Unterstützung der Ureinwohner zu gewinnen, aber die wollten nicht mit uns kämpfen […] In Taizhong hatten wir noch viele [Mitglieder], vielleicht 2-3000. Den meisten habe ich gesagt, sie sollen heimgehen. In Puli waren wir vielleicht noch einige hundert.192
Am 13.3. traf die Armee in Taizhong ein und ging am folgenden Tag von zwei Seiten gegen Puli vor. Hier kam es am 15. und 16.3. zu den einzigen bedeutenden Gefechten zwischen Regierungstruppen und Aufständischen, bei denen nach Angaben von Shi Ming über 200 Soldaten getötet wurden.193 Die Angriffe der Regierungstruppen konnten, begünstigt durch das unwegsame Gelände, zunächst abgeschlagen werden. Am 16.3. waren die Munitionsvorräte der 27. Truppe jedoch verbraucht, die Truppe löste sich daraufhin auf. Den meisten Mitgliedern gelang es, unbemerkt durch die feindlichen Linien zu entkommen. Es ist offensichtlich, dass die 27. Truppe nicht auf einen Sieg über die überwältigende Übermacht der nationalchinesischen Armee hoffen konnte. Zwar wurde in Teilen der Unabhängigkeitsbewegung später geltend gemacht, dass es mit einer klugen Strategie möglich gewesen wäre, in den abgelegenen Bergregionen Taiwans über lange Zeit hinweg einen Guerilla-Krieg gegen die Truppen der KMT aufrechtzuerhalten und auf eine Ermüdung der Nationalarmee – die kurze Zeit darauf mit militärischen Niederlagen auf dem Festland konfrontiert war – zu hoffen. Zhong Yiren erklärte in einem Gespräch mit dem Autor, dass er Kenntnis über große verborgene Waffenlager der japanischen Armee gehabt habe, mit der sich eine Armee von 30.000 Mann hätte ausrüsten lassen. Zhong gestand jedoch ein, dass die taiwanesische Unabhängigkeit damals nicht zu den erklärten Zielen der Aufständischen gehörte: Wir haben zu Anfang nicht so viel nachgedacht. Wir waren jung, ich war damals gerade erst 26 Jahre alt, und wir hatten Waffen. Wir waren sehr selbstbewusst […] Ich wollte einfach meine Heimat verteidigen, ich stamme nämlich aus der Gegend von Taizhong […] [später] dachte ich dann, dass das Verhältnis zwischen China und Taiwan so sein sollte wie zwischen Irland und 192
Interview mit Zhong Yiren am 24.9.03. Shi Ming 1998: 813f. Shi Ming, der der „Schlacht von Puli“ ein eigenes Unterkapitel widmet, bietet eine etwas verklärende und heroisierende Darstellung des Schlachtverlaufes. Die Zahl von 200 gefallenen Soldaten scheint dem Autor zu hoch angesetzt. 193
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Großbritannien, mit einem hohen Maß an Autonomie [für Taiwan]. Dafür brauchten wir aber eine Armee, als Verhandlungsmasse […] Wenn man keine Armee hat, keine militärische Kraft, dann wird man nicht beachtet.194
Zhong Yiren wurde im April 1947 in Taipei festgenommen und zu 15 Jahren Haft verurteilt.195 Xie Xuehong setzte sich in den folgenden Monaten nach Hongkong und schließlich auf das chinesische Festland ab, wo sie – bis zu ihrem Sturz in der Kulturrevolution – eine führende politische Rolle unter den Taiwan-stämmigen Exilanten in der VRCh einnahm.
3.4.3 Der 8. März - der letzte Tag des Aufstandes in Taipei und die Ankunft der Armee In Taipei kursierten schon seit einigen Tagen Gerüchte über eine baldige Ankunft der Armee. Die 32 Forderungen, die am 7.3. von der Schlichtungskommission beschlossen und von Chen Yi zurückgewiesen worden waren, trugen weiterhin zur Verunsicherung der Bevölkerung bei. Einige moderate Delegierte der Schlichtungskommission, angeführt von Huang Chaoqin, Lian Zhendong, Huang Guoshu und Li Wanju, wollten sich angesichts der drohenden Gefahr in letzter Minute von allen Vorwürfen des „Vaterlandsverrates“ distanzieren und veröffentlichten am 8.3. im Namen der Schlichtungskommission eine Verlautbarung, in der die 32 Forderungen vom Vortag widerrufen wurden. Die Sitzung am 7.3., so die Verlautbarung, habe in einer chaotischen Atmosphäre stattgefunden, daher habe sich keine Gelegenheit geboten, die einzelnen Forderungen genau zu überprüfen. Einige der Punkte, die auf diese Weise in den Forderungskatalog eingegangen seien, könnten indes als Vaterlandsverrat missverstanden werden und könnten nicht den Willen der Delegierten und der Mehrheit der Bewohner Taiwans repräsentieren. 196 Erneut wurde deutlich, welchen Erfolg die Behörden mit ihrer Strategie der Spaltung und Infiltration – im Verbund mit drohender militärischer Gewalt – verzeichnen konnten. Dieser Widerruf stellte die letzte politische Handlung der Schlichtungskommission und ihr faktisches Ende als Verhandlungsinstrument zwischen Volk und Provinzverwaltung dar. Die Behörden der Provinzregierung trafen unterdessen ihre eigenen Vorbereitungen für das Eintreffen der Armee. Am Abend des 7.3. versetzte Gouverneur Chen Yi das gesamte Militär in Taipei in erhöhte Alarmbereitschaft. Stabschef Ke Yuanfen bereitete die erneute Ausrufung des Ausnahmezustandes vor. Gleichzeitig wurde die Zhongshan-Halle, in der die Schlichtungskommission ihren Hauptsitz hatte, von Agenten in Zivilkleidung streng überwacht. Tang Xianlong, der am Nachmittag des 8.3. die Zhongshan-Halle besuchte, berichtet von einer beklemmenden Stimmung: Als ich die Zhongshan-Halle verließ, wurde ich von merkwürdigen Leuten fixiert. Einige sahen aus wie Dienstboten, andere wie Zigarettenverkäufer oder Fahrer. Der scharfe Blick, mit dem sie mich anstarrten, war ein wenig beängstigend […] In ihrem Verhalten und ihren Mienen konnte ich viele Hinweise darauf finden, dass sie keine Taiwanesen waren, sondern Agenten mit besonderen Aufgaben […] Ein paar [Agenten] folgten mir in einiger Entfernung. Erst als ich um mehrere Ecken gebogen war, fielen sie langsam zurück. Der Regen nahm gerade zu, und obwohl es erst vier Uhr Nachmittags war, waren viele taiwanesische Ladenbesitzer dabei, hastig ihre 194
Interview mit Zhong Yiren am 24.9.03. Siehe Zhong Yiren 1993: 645ff. 196 Siehe Deng Kongzhao 1991: 279. 195
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Der 228-Aufstand Geschäfte zu schließen. Von vielen Taiwanesen war das Gerücht zu hören, dass die Armee im Anmarsch auf Taiwan sei.197
Um 22 Uhr erhielt das Gouverneursbüro die Nachricht, dass in Jilong bereits die ersten Verbände der Militärgendarmerie angekommen waren. Um 22.30 Uhr ließ Chen Yi daraufhin die Räume der Schlichtungskommission in der Zhongshan-Halle durch Bewaffnete stürmen. Die Delegierten der Schlichtungskommission, die sich zu diesem Zeitpunkt gerade in einer Sitzung befanden, hörten Schüsse und dachten zunächst, das Gouverneursbüro sei von Studenten angegriffen worden. Als die Soldaten in die Sitzungshalle eindrangen, versuchten die Delegierten in Panik zu fliehen, viele wurden niedergemetzelt. Einige bewaffnete Mitglieder der „Treuen Truppe“ in der Zhongshan-Halle erwiderten das Feuer, sie wurden jedoch von den Soldaten rasch überwältigt. 198 Zur gleichen Zeit wollte die Garnisonshauptkommandantur einen Vorwand für das militärische Vorgehen der Behörden schaffen. Am Morgen des 9.3. wandte sich Stabschef Ke Yuanfen in einer Rundfunkdurchsage an die Bewohner der Stadt Taipei und erklärte, dass am Abend zuvor Angriffe auf verschiedene Regierungseinrichtungen stattgefunden hätten. Bewaffnete Gewalttäter hätten die Speicher im Stadtteil Yuanshan attackiert, zudem seien auch die Garnisonshauptkommandantur, das Gouverneursbüro, die Taiwan-Bank und andere Organe Ziele von Angriffen geworden. Die Angreifer seien schließlich von Soldaten zurückgeschlagen worden. Auf Grund dieser Ausschreitungen werde erneut der Ausnahmezustand über die Städte Taipei und Jilong verhängt. 199 Zu dieser angeblichen Schlacht bei Yuanshan schreibt Jiang Weichuan: Einige Jugendliche berichteten, dass der Kampf bei Yuanshan in der Nacht zuvor eine Lüge sei, in Wahrheit seien dort Menschen ermordet worden. Angeblich hätten […] Soldaten viele Schüsse in die Luft abgegeben, und die Schüsse seien bis in die Stadt zu hören gewesen. Dann hätten Lastwagen etwa 20 Leichen angekarrt200 […] Einigen Leichen hätte man Uniformen der Armee, anderen die Kleidung von Bürgern aus japanischer Kolonialzeit übergezogen. [Dann wurden diese Leichen] am Straßenrand abgelegt und [so platziert, dass es aussah, als] seien sie in einer Schlacht getötet worden […]201
Am Vormittag des 9.3. führte Ke Yuanfen den Gesandten aus Fujian, Yang Lianggong, nach Yuanshan, um das „Schlachtfeld“ zu begutachten. Yang äußerte sich später zweifelnd: Die Getöteten seien alles 18 und 19jährige Jugendliche, zudem seien keine Spuren eines Kampfes zu sehen gewesen.202
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Tang Xianlong 1947: 90. Yang Yizhou schreibt über das Vorgehen der Soldaten: „Eine Truppe Soldaten stürmte in die Zhongshan-Halle und tötete auf allen Stockwerken und in allen Büros willkürlich 200 Studenten und Jugendliche, die dort mit Angelegenheiten der verschiedenen Unterabteilungen beschäftigt waren. Einige wurden mit Bajonetten erstochen, andere wurden aus den Fenstern gestürzt […] Wer aus dem vierten Stock gestoßen wurde, schlug sich den Schädel und alle Knochen kaputt, und war sofort tot. Aber die [Leute], die aus dem zweiten oder dritten Stock gestoßen wurden, waren nur halbtot. Da kamen [dann] Soldaten, die unten gewartet hatten, und erstachen sie mit Bajonetten. Ein Berg von Leichen, ein Meer von Blut, es war die Hölle […] Wer eine Armbanduhr oder einen Ring trug, dem wurden die Hand oder der Finger abgehackt.“ Yang Yizhou 1991: 110f. 199 Siehe Chen Cuilian 1995: 340f. 200 Lin Mushun spricht hingegen von einigen hundert Ermordeten. Siehe Lin Mushun 1948: 40. 201 Jiang Weichuan 1992: 131. 202 Siehe Lin Mushun 1948: 42. 198
Das Ende des 228-Aufstandes
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Am 8.3. gegen 15 Uhr kamen die ersten Vorauseinheiten der Verstärkungsarmee, bestehend aus zwei Bataillonen des Vierten Regiments der Militärgendarmen, an Bord des Schiffes Haiping Lun in Jilong an. An Bord befand sich auch der Zensor für Taiwan und Fujian, Yang Lianggong, der sich im Auftrag der Zentralregierung einen Eindruck von den Zuständen auf Taiwan verschaffen sollte. Hierbei trafen die Truppen auf sporadischen Widerstand, der mit brachialer Gewalt gebrochen wurde. Am Abend begab sich Yang unter dem Schutz einer Kompanie Militärgendarmen nach Taipei. Die Wagenkolonne wurde in der Nähe der kleinen Ortschaft Badu, nördlich von Taipei gelegen, angegriffen. Yang blieb unverletzt – er äußerte jedoch in seinem Bericht an die Zentrale Zweifel über die genaueren Umstände dieses Angriffes und macht geltend, dass der Zwischenfall von Seiten der Garnisonshauptkommandantur inszeniert worden sein könnte.203 Ab dem 8.3. trafen im Laufe der nächsten drei Tage weitere Truppenkontingente der 21. Armee unter dem Oberbefehl von General Liu Yuqing auf Taiwan ein. 204 Während der größere Teil der Truppen in Jilong, einer Hafenstadt nördlich von Taipei gelegen, an Land ging, wurde ein Teil der Streitmacht im Süden der Insel in der Hafenstadt Gaoxiong angelandet. Am 9.3. erreichte die Armee Taipei und Tainan, am 11.3. Jiayi, am 13.3. Taizhong und am 17.3. schließlich Hualian. Innerhalb von nur zehn Tagen hatte die Armee die gesamte Insel unter ihre Kontrolle gebracht, ohne auf nennenswerten Widerstand zu stoßen. Nach Angaben von regimekritischen Quellen wurde die Ankunft der Truppen von einer Welle der exzessiven Gewalt begleitet. Die führenden Persönlichkeiten der verschiedenen Schlichtungskommissionen wurden zumeist verhaftet und exekutiert, des weiteren richtete sich die Gewalt der Armee besonders gegen die Jugendlichen, die seit Ausbruch des 228-Aufstandes in den verschiedenen Sicherheitsdiensten tätig gewesen waren. 205 So berichtete Xu Caode, der die Ankunft der Armee in Jilong als Zehnjähriger erlebte: Durch den Türspalt unseres Ladens konnte ich furchtbare Dinge sehen: Soldaten erhoben ihre Waffen gegenüber allen, die ihnen verdächtig vorkamen. Erwachsene und Kinder wurden erschossen. Bis in die Abendstunden waren von draußen die furchtbaren Schüsse von Gewehren und MGs, die Befehle nach Verhaftung von Verdächtigen und die Hilfeschreie der Unschuldigen zu hören […] Am nächsten Tag war der Terror noch schlimmer. Wer sich auf der Straße bewegte oder nur das kleinste Anzeichen von Ungehorsam zeigte, wurde auf der Stelle erschossen. Auf der Straße sahen wir Berge von Leichen […] Menschen wurden getötet als seien sie Ameisen. Jeder Taiwanese über 20, der auch nur einen Fuß vor die Tür setzte, durfte nicht darauf hoffen, lebend zurückzukehren 206
Regimekritische Quellen machen geltend, dass auch unbeteiligte Bürger zu Tausenden Opfer eines staatlich sanktionierten Terrors geworden seien, der zu ungezählten Fällen von 203
Jiang Yongjing et al 1988: 359. Über die genauen Truppenkontingente und die Gesamtzahl der vom Festland entsandten Soldaten finden sich unterschiedliche Angaben. Wie ein Artikel in der Zili zaobao anmerkte, wurden auch im 228-Forschungsbericht des Exekutiv-Yuan zahlreiche militärische Fachtermini falsch oder ungenau verwendet. Der Autor des Artikels weist etwa darauf hin, dass der 228-Forschungsbericht die Anwesenheit von identischen Truppenteilen zu gleicher Zeit an unterschiedlichen Orten Taiwans ausweist. Zudem fände sich eine verdächtige Häufung der Zahl 21 (21. Armee, 21. Bataillon, 21. Zug usw.) sowie des Zeichens „Yu“ in den angeblichen Namen der Offiziere. Zili zaobao, 25.8.92. 205 Aus der Hafenstadt Jilong wird berichtet, dass dort Jugendliche systematisch gefoltert und mit Drähten, die den Opfern durch Hände und Füße gezogen wurden, im Hafenbecken ertränkt worden seien. Tagelang sei das Hafenbecken voll Leichen gewesen. Siehe Chen Wanzhen et al 1990: 244. 206 Zitiert nach Li Xiaofeng 1998: 167f. 204
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Der 228-Aufstand
Raub, Mord, Erpressung und Vergewaltigung geführt habe. Am 12.4.1947 veröffentlichten sechs taiwanesische Heimatverbände in Shanghai eine Bekanntmachung über die Gräueltaten der Armee, in der von grausamen Folterungen und willkürlichen Massenerschießungen berichtet wurde. Der Bericht schloss mit den Worten: „Das verbrecherische Massaker, das seit dem 8.3. über Taiwan hereingebrochen ist, ist nicht nur einmalig in der taiwanesischen Geschichte, es ist auch ein Schandfleck in der politischen Geschichte Chinas.“ 207 Die Gesamtzahl der Todesopfer unter der taiwanesischen Bevölkerung wurde von Seiten der Unabhängigkeitsbewegung auf bis zu 100.000 veranschlagt (zur Debatte über die möglichen Todesopfer des 228-Aufstandes siehe 9.2.4.3.). Am 15.5.47 wurde Gouverneur Chen Yi von seinem Posten in Taiwan abberufen und auf den Gouverneursposten der Provinz Zhejiang versetzt. Unter der neuen Provinzregierung des Wei Daoming wurde die „Säuberung“ der Provinz am darauf folgenden Tag abgeschlossen, der Ausnahmezustand über Taiwan aufgehoben. Der 228-Aufstand wurde damit offiziell für beendet erklärt.
207 Taiwan lü Hu liu tuanti 1947: 265. In der einschlägigen Literatur finden sich zahlreiche weitere bedrückende Aufzählungen von angeblichen Gräueltaten der Armee. An dieser Stelle soll das Thema nicht vertieft werden.
4 Die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung in Japan
Bereits wenige Wochen nach dem 228-Aufstand entstanden unter Führerschaft des Liao Wenyi die ersten Strukturen der modernen taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung als Reaktion auf die Unterdrückungsmaßnahmen der Regierung. Zu Beginn der 50er Jahre erfolgte eine Konsolidierung der Bewegung in Japan, wo Liao Wenyi die „Exilregierung der Republik Taiwan“ gründete. Die Entstehung der Unabhängigkeitsbewegung kann daher als direkte Konsequenz des 228-Aufstandes betrachtet werden – wenngleich die in der der einschlägigen Literatur oftmals anzutreffende Behauptung, dass nach dem 228-Aufstand ein Massenexodus der taiwanesischen Eliten ins Ausland eingesetzt hätte, nach Ansicht des Autors sehr fraglich scheint.208 Zu Beginn der 60er Jahre spaltete sich die Bewegung in eine Vielzahl von kleinen Gruppierungen. Für das Anliegen der vorliegenden Arbeit ist es jedoch hinreichend, die beiden größten Strömungen zu berücksichtigen: Die dominierende Hauptströmung, die sich in der Exilregierung des Liao Wenyi und später in der Vereinigten Liga manifestierte, und die Nebenströmung, die einen marxistischen Ansatz verfolgte und in deren Mittelpunkt Shi Ming stand.
4.1 Die „Exilregierung der Republik Taiwan“ des Liao Wenyi 4.1.1 Die Brüder Liao Wenyi und Liao Wenkui In der frühen taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung der 50er und frühen 60er Jahre kam Liao Wenyi (Thomas Liao) herausragende Bedeutung zu. Liao hatte in seiner Jugend langjährige Studienaufenthalte in Japan und den USA verbracht und im Jahre 1935 an der Universität von Michigan im Fach Biochemie promoviert. Erst nach Ende des Zweiten Weltkrieges kehrte Liao Wenyi nach Taiwan zurück und nahm verschiedene Ämter in der Provinzverwaltung wahr. Zudem engagierte sich Liao Wenyi leidenschaftlich in der taiwanesischen Tagespolitik. Bereits in Shanghai hatte er gemeinsam mit seinem Bruder Liao Wenkui (Joshua Liao) die Zeitschrift Taiwan yuekan gegründet. 209 Die Redaktion der Zeitschrift wurde nun im Herbst 1945 nach Taiwan verlagert, die Zeitschrift erschien unter dem Namen Qianfeng zazhi.210 208
Hierfür gab es auch pragmatische Gründe. Laut Shi Ming unterlagen die Schiffsverbindungen von und nach Taiwan zu dieser Zeit bereits der strengen Kontrolle des Militärs: „[Die KMT] hatte nach dem Zweiten Weltkrieg auch die Marine der Japaner übernommen, und [die Seewege nach] Taiwan wurden abgeriegelt. Daher war es unmöglich, nach Japan zu gelangen. Das ging nur heimlich, das gelang nicht vielen.“ Interview mit Shi Ming am 14.10.03. 209 Taiwan yuekan ਠ⚓ᴸ࠺. Von der Zeitschrift erschienen nur zwei Ausgaben. Vgl. Zhang Yanxian 1995: 5. 210 Qianfeng zazhi ࡽ䤂䴌䂼. In der Zeit vor dem 228-Aufstand erschienen auf Taiwan insgesamt 15 Ausgaben der Qianfeng zazhi, nach dem Verbot der Zeitschrift im März 1947 konnten drei weitere Ausgaben in Shanghai erscheinen.
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Die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung in Japan
Es ist bemerkenswert, dass Liao Wenyi in der Zeit vor dem 228-Aufstand keinerlei Sympathie für ein taiwanesisches Unabhängigkeitsbestreben erkennen ließ, sondern im Gegenteil die Rückkehr Taiwans zu dem chinesischen Mutterland zunächst begeistert begrüßte. In der Erstausgabe der Qianfeng verfasste Liao Wenyi anlässlich des chinesischen Nationalfeiertages am 10. Oktober 1945 einen enthusiastischen Leitartikel, in dem er die nationale Verbundenheit Taiwans mit dem Festland betonte. Der Artikel steht in einem befremdlichen Kontrast zum späteren Werdegang des Liao Wenyi: Wir sind zum Vaterland zurückgekehrt, und sind nun als Bürger der großartigen Republik China auf gleicher Augenhöhe mit allen anderen Völkern dieser Erde, dafür sollten wir unserem großartigen Anführer, dem Vorsitzenden Chiang [Kai-shek], unseren tiefsten Dank aussprechen. […] An diesem bedeutsamen Feiertag sollten wir auch die augenblicklichen Umstände bedenken und auf dem großen, lichten Weg voraneilen, nur so kann man ohne Schande ein Nachkommen des Gelben Kaisers sein, nur so können wir unseren Vorfahren gerecht werden […] Ich hoffe, dass zum „Doppel-Zehn Feiertag“ im nächsten Jahr meine Mitbürger in ihren Herzen und in ihrem Äußeren vollkommen zum Vaterland zurückgekehrt sein werden, und dass sich auch unsere Heimat vollkommen den Sitten des Vaterlandes angepasst haben wird. […] Abschließend will ich gemeinsam mit allen rufen: Es lebe die Republik China! Es lebe das chinesische Volk!211
In dem Zitat wird die nationale Begeisterung deutlich, die in den letzten Monaten des Jahres 1945 fast ganz Taiwan erfasst hatte. Der Appell an die „Nachfahren des Gelben Kaisers“ lässt erkennen, dass Liao Wenyi zu diesem Zeitpunkt keinen Zweifel hegte, dass Taiwan ein untrennbarer Bestandteil der chinesischen Nation sei. Im Gegenteil: Die Taiwanesen, so Liao, sollten Anstrengungen unternehmen, alle „unchinesischen“ Lebensgewohnheiten und Sitten abzulegen und auf diese Weise restlos mit dem Festland zu verschmelzen. Schon nach wenigen Wochen traten jedoch die verheerenden Fehler der Provinzverwaltung des Gouverneur Chen Yi immer deutlicher zu Tage. In der Qianfeng fanden sich nun zunehmend Beiträge, in denen die Inkompetenz und Korruption der Provinzverwaltung scharf angegriffen wurden. Am 21.2.1947, nur wenige Tage vor dem 228-Aufstand, veröffentlichte Liao Wenkui einen Beitrag mit dem Titel „Der Kampf zwischen Imperialismus und Nationalismus auf Taiwan“, in dem er die Unterdrückung und Diskriminierung der Taiwanesen durch Beamte aus dem Festland anprangerte und davor warnte, dass dies zur Entstehung eines „taiwanesischen Nationalismus“ und zu separatistischen Tendenzen auf der Insel führen könne.212 Die Frustration des Liao Wenyi wurde auch durch seine eigenen erfolglosen Versuche einer politischen Laufbahn genährt. Im August 1946 hatte sich Liao Wenyi um das Amt eines Konsultativrates der Provinz Taiwan beworben und hatte in seinem Wahlkampf ein höheres Maß an Selbstverwaltung für die Provinz gefordert. Obwohl er die Wahl gewinnen konnte, wurde ihm das Mandat auf Grund einer umstrittenen Entscheidung des Wahlleiters verweigert.213 Auch ein zweiter Versuch im Oktober 1946, ein Amt als Delegierter für den nationalen Verfassungskonvent zu erringen, scheiterte erneut. 211
Liao Wenyi 1945: 2f. Siehe Zhang Yanxian et al 2000: 6f. 213 Der Wahlleiter war der Auffassung, dass auf einem Stimmzettel der Name „Liao“ nicht deutlich zu erkennen sei und wertete die Stimme daher als ungültig. Dies hatte zur Folge, dass bei vier zu vergebenden Mandaten zwischen fünf Kandidaten Stimmgleichheit herrschte, in einem Losverfahren verpasste Liao Wenyi als einziger Kandidat die Wahl. 212
Die „Exilregierung der Republik Taiwan“ des Liao Wenyi
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Am Vorabend des 228-Aufstandes begaben sich die Brüder Liao zu einer Reise auf das Festland, sie erfuhren daher erst aus der Presse von den Vorkommnissen auf Taiwan. In den folgenden Wochen nahmen sie Kontakt zu verschiedenen organisierten Interessenverbänden von Taiwanesen auf dem Festland auf, die durch Petitionen und Verlautbarungen an die Presse auf die Handlungsweise der Regierung Einfluss nehmen wollten. Anfang März wurde in Shanghai ein Zusammenschluss der sechs wichtigsten taiwanesischen Organisationen in der „Vereinigten Unterstützungsgruppe zu dem grausamen 228-Vorfall auf Taiwan“214 erzielt. Am 12.3.1947, als die Armee bereits mit der „Säuberung“ der Insel begonnen hatte, veröffentlichte die Gruppe einen dramatischen Bericht über die unsäglichen Gräueltaten der Armee gegen die taiwanesische Zivilbevölkerung. Der Bericht enthielt Beschreibungen von Massenexekutionen mit Maschinengewehren und Kreuzigungen von unschuldigen Bürgern; Gefangene der Armee würden oftmals ohne Gerichtsverhandlung grausam verstümmelt und exekutiert. Taiwan sei in einen Zustand des Terrors versunken; immer noch würden Privatwohnungen von marodierenden Soldaten unter dem Vorwand der Suche nach verborgenen Aufständischen gestürmt, geplündert und die Bewohner zur Verschleierung der Verbrechen ermordet.215 Am 20.4.1947 verfasste Liao Wenkui in der Zeitschrift Qianfeng, die zu diesem Zeitpunkt in Shanghai erschien und auf Taiwan bereits verboten worden war, einen „Appell zu dem furchtbaren 228-Fall“, in dem er die Misswirtschaft der Provinzregierung als Ursache für den 228-Aufstand verantwortlich machte. Zudem seien die Beamten aus dem Festland den einheimischen Taiwanesen mit der Arroganz einer Siegerarmee begegnet: Unmittelbar nach der Rückkehr [Taiwans an das Festland] hatten die Beamten [vom Festland] die taiwanesische Kultur verachtet. Sie dachten, dass die wohlhabenden und gebildeten Taiwanesen schon lange japanisiert seien, die mittellosen und ungebildeten Massen hingegen seien alles Wilde. Daher war ihr Auftreten wie das eines Gebieters, der den Barbaren gegenübertritt […] Als sie nach Taiwan kamen, sahen sie, dass die taiwanesischen Intellektuellen kultiviert und eloquent waren und dem Vaterland in tiefem Patriotismus ergeben […] Die engstirnigen und unfähigen Beamten [aus dem Festland] waren daher überrascht, dann [wurden sie] neidisch und wollten die taiwanesischen Mitbürger [aus der Verwaltung der Insel] verdrängen […] 216
Wenngleich in dem zitierten Artikel bereits eine kulturell begründete Differenzierung zwischen „Festländern“ und „Taiwanesen“ erkennbar wird, traten die Brüder Liao zu diesem Zeitpunkt noch nicht für eine staatliche Unabhängigkeit Taiwans ein. Trotz der erschütternden Vorfälle auf Taiwan richteten sie bis Mitte April 1947 zahlreiche Appelle an hohe chinesische Regierungsvertreter, unter anderem Chiang Kai-shek, Verteidigungsminister Bai Chongxi und den neuen taiwanesischen Provinzgouverneur Wei Daoming, in denen sie die Behörden zu einer angemessenen Beilegung des Vorfalles aufriefen, um eine Entfremdung Taiwans vom chinesischen Mutterland zu verhindern. Gefordert wurden insbesondere eine Bestrafung der schuldigen Beamten, ein Ende der Sonderverwaltung der Provinz und ein höheres Maß an lokaler Selbstverwaltung. Es lässt sich also keinesfalls feststellen, dass der 228-Aufstand die Brüder Liao unmittelbar zu einem Eintreten für die taiwanesische Unabhängigkeit bewogen hätte. Im April 1947 erfuhren die Brüder Liao zu ihrer großen Überraschung, dass sie von den taiwanesischen Behörden unter den 30 flüchtigen „Haupt214
Taiwan er-er-ba can’an houyuanhui ਠ⚓ҼҼޛឈṸᖼᨤᴳ Taiwan lü Hu liu tuanti 1947: 261-265. 216 Liao Wenkui 1947: 258. 215
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Die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung in Japan
verbrechern“ des 228-Aufstandes aufgeführt wurden. 217 Da eine Rückkehr nach Taiwan unter diesen Umständen nicht möglich war, begaben sich die Brüder Liao zunächst nach Shanghai und, als auch hier eine Verhaftung drohte, in die britische Kronkolonie Hongkong. Im Sommer des Jahres 1947 kam es unter Führung von Liao Wenyi zur Gründung der Organisation „Liga zu erneuten Befreiung Taiwans“. 218 Wenngleich diese erste taiwanesische Unabhängigkeitsorganisation nur von kurzem Bestand war, allenfalls über ein Dutzend Mitglieder verfügte und in den Quellen sehr mangelhaft und widersprüchlich dokumentiert ist, 219 verdient sie doch aus zwei Gründen, die sich bereits im Namen der Organisation ablesen lassen, besondere Beachtung: Zum einen wurde die „Erneute Befreiung“ Taiwans gefordert – gemeint war, dass Taiwan, das vor dem Zweiten Weltkrieg unter 50 Jahren der Fremdherrschaft der Japaner gelitten hatte, erneut unter die Herrschaft eines fremden Volkes gefallen und daher erneut erlösungsbedürftig sei. Erstmals wurde also die Existenz eines taiwanesischen Volkes angenommen, das sich von Festlandchinesen ebenso deutlich unterschied wie von Japanern. Zum zweiten fanden sich in der „Liga“ auch zahlreiche Vertreter der taiwanesischen kommunistischen Untergrundpartei. Umstritten ist allerdings, ob sich unter ihnen auch Xie Xuehong befand, die als „erste Kommunistin Taiwans“ im 228-Aufstand maßgeblich an den Vorfällen in Taizhong beteiligt gewesen und der die Flucht auf das Festland gelungen war. 220 Mehrheitlich wird in den Quellen ihre Teilnahme an der „Liga zur erneuten Befreiung Taiwans“ festgehalten, hingegen schrieb Chen Fangming: […] Xie Xuehong war an der der „Liga zur erneuten Befreiung Taiwans“ zu keinem Zeitpunkt beteiligt. Die KMT beschrieb Liao Wenyi und Xie Xuehong als Mitglieder der Liga, das geschah aus der Notwendigkeit der Propaganda und der politischen Verfolgung. Man musste sie nur als Mitglieder der gleichen Organisation betrachten, und schon konnte man die Behauptung aufstellen, dass „die taiwanesische Unabhängigkeit ein Werkzeug der Kommunisten“ sei.221
Es ist jedoch bemerkenswert, dass in der „Liga zur erneuten Befreiung Taiwans“ offensichtlich der Versuch unternommen wurde, die frühe taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung, die sich in der Folgezeit in ein weites Spektrum unterschiedlicher und zum Teil verfeindeter Gruppierungen spaltete, in einer gemeinsamen Organisation zusammenzuführen, und dass dieser Versuch schon nach kurzer Zeit scheiterte. Die „Liga zur erneuten Befreiung Taiwans“ trat nur bei einem Anlass in die öffentliche Wahrnehmung: Im September 1948, zu einem Zeitpunkt, da sich die politisch linken Elemente wahrscheinlich bereits aus der Organisation zurückgezogen hatten, verfasste Liao Wenyi gemeinsam mit seinem Neffen Liao Shihao im Namen der Liga eine Petition an die Vereinten Nationen, in der er an verschiedene Staatsoberhäupter appellierte, Taiwan vorübergehend als Treuhandgebiet zu 217 Die Liste, veröffentlicht am 18.4.1947 von der Garnisonshauptkommandantur Taiwan, enthielt bei den Brüdern Liao unter der Rubrik „Straftat“ den gleich lautenden Vermerk: „Geheime Intrigen, wies den Ehrgeizlingen die Strategien zum Aufstand“. Siehe Taiwansheng jingbei zong silingbu 1947: 286-291. 218 Taiwan zai jiefang lianmeng ਠ⚓䀓᭮㚟ⴏ 219 Verschiedene Quellen machen unterschiedliche Angaben zum Gründungsort (Shanghai oder Hongkong) und Gründungszeitpunkt (zwischen Juni und August 1947). 220 Im November 1947 veröffentlichte Xie Xuehong einen Aufruf an die taiwanesischen Landsleute, in dem sie dazu aufrief, den Kampf gegen das „faschistische Regime“ der KMT fortzusetzen. Die „Liga zur erneuten Befreiung Taiwans“ wurde nicht erwähnt. Siehe Xie Xuehong 1947: 334-339. 221 Chen Fangming 1991a: 383f.
Die „Exilregierung der Republik Taiwan“ des Liao Wenyi
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verwalten und mittelfristig ein Referendum über die politische Zukunft der Insel abzuhalten.222 Gegen Ende des Jahres 1948 wurde für Liao Wenyi die Lage in Hongkong zunehmend bedrohlicher. Mit der Zuspitzung des chinesischen Bürgerkrieges erfolgte eine zunehmende Infiltration der Kronkolonie durch verschiedene Geheimdienste der KPCh und der KMT. Liao, der vom KMT-Regime nach wie vor als flüchtiger Schwerverbrecher gesucht wurde, entschloss sich daher im Dezember 1949 zur Emigration nach Japan.
4.1.2 Die Blütephase der Exilregierung, 1950-1961 Im Februar 1950 veranstaltete Liao Wenyi in Tokio eine Gedenkveranstaltung zum dritten Jahrestag des 228-Aufstandes. Nach Protesten der KMT wurde Liao daraufhin für fünf Monate wegen „illegaler Einreise“ verhaftet – angeblich geschah dies auf Initiative des Oberbefehlshabers der alliierten Streitkräfte in Asien, General McArthur, der mit der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung sympathisierte und ein Auslieferungsverfahren gegen Liao Wenyi nach Taiwan verhindern wollte. Nach seiner Haftentlassung begann Liao Wenyi in den nächsten Jahren mit einer stetigen organisatorischen Konsolidierung der Unabhängigkeitsbewegung in Japan. Am 17.5.1950 gründete er die „Demokratische Unabhängigkeitspartei Taiwan“, 223 am 1.9.1955 folgte die Bildung des „Übergangsparlamentes des taiwanesischen Volkes“, 224 das in den folgenden Monaten eine Verfassung für die „Republik Taiwan“ ausarbeitete. Am 28.2.1956, dem neunten Jahrestag des 228Aufstandes, erfolgte schließlich die formale Gründung der „Übergangsregierung der Republik Taiwan“ 225 und die Verkündung der taiwanesischen Unabhängigkeitserklärung. Liao Wenyi nahm das Amt des „erhabenen Präsidenten“ an, weitere führende Mitglieder der Exilregierung waren Vize-Präsident Wu Zhennan und der Vorsitzende des Übergangsparlamentes Zheng Taicheng. Trotz dieses kompakt anmutenden organisatorischen Aufbaus wurde die Exilregierung in Tokio nur von einer relativ kleinen Zahl von Aktivisten getragen. Shi Ming, dem im Jahr 1952 die Flucht von Taiwan nach Japan gelang und der für kurze Zeit mit Liao Wenyi zusammenarbeitete, äußerte in einem Gespräch mit dem Autor die Ansicht, dass die Anzahl der Anhänger im weiteren Umfeld der Exilregierung höchstens einige hundert Personen betragen haben dürfte.226 Trotz dieser begrenzten personellen Substanz verfügte die Exilregierung für einige Jahre über ein erstaunlich hohes internationales Ansehen. Der größte außenpolitische Erfolg der Exilregierung ist eng mit der Person des Chen Zhixiong verbunden. Chen, ursprünglich aus Pingdong in Südtaiwan stammend, hatte seit seiner frühen Jugend in Japan gelebt und wurde auf Grund seiner überragenden Sprachkenntnisse 222
Die Petition wurde in Hongkong auf Englisch verfasst. Ein Schwager von Liao Shihao, Huang Yunshang, der sich gerade in Hongkong aufhielt und auf einen Studienaufenthalt in Paris vorbreitete, schmuggelte die Petition nach Europa und übermittelte sie den Staatsoberhäuptern von Dänemark, Schweden, Frankreich, Holland und Belgien. Der genaue Wortlaut der Petition ist jedoch in den Quellen nicht überliefert. Es finden sich auch keine Hinweise darauf, dass die Petition auf Seiten der UNO oder der angesprochenen Staatsoberhäupter irgendeine Reaktion hervorgerufen hätte. Vgl. Zhang Yanxian et al 2000: 37. 223 Taiwan minzhu dulidang ਠ⚓≁ѫ⦘・唘 224 Taiwan linshi guomin huiyi ਠ⚓㠘ᱲ഻≁ᴳ䆠 225 Taiwan gongheguo linshi zhengfu ਠ⚓઼ޡ഻㠘ᱲ᭯ᓌ 226 Interview mit Shi Ming am 14.1.03.
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Die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung in Japan
(angeblich beherrschte er acht Sprachen) als Mitarbeiter der japanischen Botschaft in Indonesien beschäftigt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges betrieb Chen in Indonesien verschiedene Exportgeschäfte. Über die Vermittlung seiner Ehefrau, einer Holländerin, gelang es Chen zudem, die indonesische antikoloniale Befreiungsbewegung des Sukarno mit Waffenlieferungen zu unterstützen. Nach dem erfolgeichen Sturz der holländischen Kolonialmacht in Indonesien trat Chen, der nun als ein Held der Revolution galt, mit der Exilregierung des Liao Wenyi in Kontakt und wurde zum „außenpolitischen Beauftragten für Südost-Asien“ ernannt. Bald darauf wurde Chen Zhixiong jedoch für das SukarnoRegime, das sich auf Grund seiner marxistischen Ideologie an die Volksrepublik China annäherte, wegen seines Engagements für die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung zu einem politischen Ärgernis. Nach einem kurzen Gefängnisaufenthalt wurde Chen daher nach Japan deportiert. In Tokio wurde Chen von Liao Wenyi zum „Außenminister“ der Exilregierung bestellt. Auf Grund seiner, trotz aller diplomatischen Verwicklungen, glänzenden Kontakte in die höchsten Regierungskreise Indonesiens gelang Chen Zhixiong im Jahr 1955 ein politischer Coup: Liao Wenyi wurde als Repräsentant der taiwanesischen Exilregierung nach Indonesien eingeladen, um an der historischen Bandung-Konferenz der blockfreien Staaten in Malaysia teilzunehmen. Diese Konferenz, auf der Liao Wenyi als gleichberechtigter Gesprächspartner von führenden Staatsoberhäuptern wie etwa dem ägyptischen Präsidenten Nasser und Zhou Enlai als Vertreter der VRCh in Erscheinung treten konnte, markierte den Höhepunkt des internationalen Ansehens der Exilregierung. Chen Zhixiong geriet jedoch in das Visier der Geheimdienste der ROC. Im Jahr 1959 wurde Chen von Agenten der KMT in Tokio überwältigt und nach Taiwan entführt, dort wurde er im Jahr 1961 zum Tode verurteilt. 227 Der Tod des Chen Zhixiong bedeutete für die Exilregierung einen schweren Rückschlag, da die internationale Wahrnehmung der Exilregierung letztlich auf informellen und persönlichen Kontakten ihrer populären Vertreter beruhte. Im selben Jahr erfolgte eine weitere schwere diplomatische Niederlage. Über die Vermittlung von Huang Zhaotang war Liao Wenyi von der neu gewählten US-amerikanischen Administration des Präsidenten Kennedy das Angebot unterbreitet worden, nach New York zu reisen und eine Rede vor den Vereinten Nationen zu halten. Die Exilregierung mobilisierte daraufhin in euphorischer Stimmung alle Kräfte und sammelte Geld unter ihren Anhängern, um die Reise des Liao Wenyi, der sich über Europa nach Amerika begeben wollte, zu finanzieren. Nachdem Liao bereits in Schweden angekommen war, musste er erfahren, dass die US-Regierung ihre Einladung nach Intervention des KMT-Regimes widerrufen hatte. 228 Liao setzte seine Reise zwar fort, insgesamt leitete diese Episode jedoch den allmählichen Niedergang der Exilregierung ein: Liao Wenyi reiste, wie es mit dem amerikanischen Sondergesandten vereinbart worden war, zuerst nach Schweden und wartete ungeduldig auf Nachricht der Gegenseite. Erst auf Nachfrage bei der amerikanischen Botschaft erfuhr er, dass ihm die Einreise in die USA verweigert worden war. Eine direkte Rückreise nach Japan hätte einen zu großen Gesichtsverlust bedeutet, daher blieb ihm nichts anderes übrig, als nach Kanada zu reisen und sich dort mit einigen Vertretern 227
Siehe Cai Kuanyu 2001: 178. Angeblich hatte die ROC ihre Bereitschaft erklärt, ihren Widerstand gegen eine von den USA favorisierte Mitgliedschaft der Inneren Mongolei in der UNO aufzugeben – die ROC hatte zu diesem Zeitpunkt noch die chinesische Vertretung in den Vereinten Nationen inne und war daher Ständiges Mitglied im Sicherheitsrat. Als Gegenleistung wurde allerdings gefordert, dass die Einladung an Liao Wenyi widerrufen werden müsse.
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Die „Exilregierung der Republik Taiwan“ des Liao Wenyi
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der presbyterianischen Kirche zu treffen […] Als Liao Wenyi enttäuscht nach Japan zurückkehrte, hatte er anscheinend allen Kampfgeist verloren.229
4.1.3 Der Kampf auf Taiwan – die Untergrundorganisation der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung Die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung in Japan unternahm schon sehr früh den Versuch, auf Taiwan konspirative Zellen von Unabhängigkeitsaktivisten zu errichten. Zu einer der führenden Personen wurde dabei Huang Jinan. Huang, geboren am 9.11.1915 in Jiayi, hatte in den dreißiger Jahren in Japan studiert und diente im Zweiten Weltkrieg in der japanischen Armee auf den Philippinen. Nach der japanischen Kapitulation kehrte er im Frühjahr 1946 nach Taiwan zurück und trat dort mit George Kerr in Kontakt, der damals in der US-Vertretung in Taipei tätig war; im Januar 1947 kam es auch zu einem ersten Treffen mit den Brüdern Liao. Im September 1947 reiste Huang Jinan auf das chinesische Festland und traf dort in Shanghai und Hongkong erneut mit den Brüdern Liao zusammen. Bei Gründung der „Liga zur erneuten Befreiung Taiwans“ wurde er mit dem Amt des Generalsekretärs betraut. Huang war nach eigenen Angaben die eigentlich treibende Kraft für die klare Forderung nach taiwanesischer Unabhängigkeit. Liao Wenyi, der im Gegensatz zu ihm die Schrecken des 228-Aufstandes nicht selbst erlebt hatte, sei zu Anfang noch unentschlossen gewesen: Ich hatte mit eigenen Augen den 228-Vorfall auf Taiwan gesehen, und fühlte daher deutlich, dass die Herrschaft des Fremdregimes der KMT ein großes Unglück für Taiwan war […] Von diesem Zeitpunkt an trat ich für die taiwanesische Unabhängigkeit ein. In diesem Punkt kam Liao Wenyi erst später zu der gleichen Erkenntnis. Er war zuerst dafür eingetreten, dass Taiwan mit China einen Staatenbund eingehen und ein hohes Maß an Selbstverwaltung erhalten solle. Später meinte er dann wieder, die Vereinten Nationen sollten Taiwan als Treuhandgebiet verwalten und über ein Referendum die Zukunft Taiwans entscheiden. Aber ich habe ihm gesagt: […] Warum nicht gleich Unabhängigkeit? Auf Taiwan gibt es viele Intellektuelle, die Voraussetzungen für einen Unabhängigkeit sind vollkommen erfüllt. Schließlich habe ich [Liao Wenyi] überredet.230
Im Juni 1949 kehrte Huang nach Taiwan zurück, wo er gemeinsam mit Liao Shihao, dem Neffen von Liao Wenyi, und dessen Mutter Liaocai Xiuluan eine kleine Gruppe von Unabhängigkeitskämpfern leitete. Angesichts des äußerst effektiven Geheimdienstes des Regimes war es für die Unabhängigkeitsaktivisten auf Taiwan sehr schwierig, eine große Wirkung zu entfalten; die Aktivitäten dieser Gruppe beschränkten sich im Wesentlichen darauf, Propagandamaterial, das aus Japan eingeschmuggelt wurde, auf der Insel zu verteilen. Selbst der Besitz von revolutionären Propagandaschriften konnte mit dem Tod bestraft werden, und nicht alle Mitstreiter der Unabhängigkeitsbewegung waren bereit, ein solch hohes Risiko einzugehen. So berichtete Xu Chaoqing, der sich im Herbst des Jahres 1949 der Gruppe um Huang Jinan anschloss, wie er im Frühjahr 1950 einen Stapel Schriften aus Japan erhielt und an einen Kampfgenossen weitergab – der das kostbare Material aus
229 230
Chen Mingcheng 1992: 11. Zhang Yanxian et al 2000: 95.
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Furcht prompt in einem Fischteich versenkte. 231 Über den Unabhängigkeitskampf in dieser Phase äußerte sich Huang Jinan: Ich glaube, die meisten hatten große Angst. Zwar waren alle sehr unzufrieden mit der KMT, aber wenn man sie zu Taten bewegen wollte, waren alle sehr passiv […] Es gab daher nur äußerst wenige, die zu Mitstreitern wurden, es hat auch nie jemand Geld gespendet […] Als ich nach meiner Rückkehr nach Taiwan die Bewegung ins Leben rief, war ich sehr enttäuscht, die Taiwanesen sind einfach zu gleichgültig, zu passiv. Aber das war auch kein Wunder, unter der tyrannischen KMT-Herrschaft des Chiang Kai-shek war seit 1949, nachdem das Kriegsrecht ausgerufen wurde, das Eintreten für taiwanesische Unabhängigkeit ein todeswürdiges Verbrechen, das war eine äußerst ernste Angelegenheit.232
Im Mai 1950 wurden zehn Anführer der Gruppe verhaftet, die (vermutlich auf Grund eines verdeckten Informanten) schon seit längerem unter Beobachtung der taiwanesischen Sicherheitsorgane geraten waren. Im Juli des Jahres wurden sieben der Angeklagten zu hohen Haftstrafen verurteilt, darunter Huang Jinan zu zwölf, Liao Shihao und Xu Chaoqing zu je sieben Jahren. Lediglich Frau Liaocai blieb zunächst unbehelligt. Es scheint erstaunlich, dass die Angeklagten nicht zum Tode verurteilt wurden. Das ROC-Regime verfolgte jedoch den Plan, die Verhafteten als Unterpfand zu nutzen, um deren Verwandte in Japan zur Kapitulation und Rückkehr nach Taiwan zu bewegen. Einen ersten Erfolg konnte das Regime mit dieser Strategie im Juni 1956 erzielen, als der Schwiegervater von Liao Shihao, Chen Zhemin, sein Engagement in der Exilregierung des Liao Wenyi aufgab und nach Taiwan zurückkehrte. Die Haftstrafen der Inhaftierten wurden daraufhin prompt reduziert. Die meisten Angeklagten wurden gegen Ende der 50er Jahre entlassen, blieben aber unter strenger polizeilicher Beobachtung. Nur sehr wenige waren daher bereit, den Kampf um die taiwanesische Unabhängigkeit erneut aufzunehmen – darunter Frau Liaocai und Liao Shihao, die nach wie vor in brieflichem Kontakt mit Liao Wenyi standen und gelegentlich, unter höchstem persönlichen Risiko, Propagandamaterial aus Japan entgegennahmen. Allgemein kann jedoch konstatiert werden, dass die Untergrundorganisation der Exilregierung auf Taiwan, die bis zu der ersten großen Verhaftungswelle letztlich nur etwas über ein Jahr bestanden hatte, im Mai 1950 faktisch zerschlagen worden war. In der späteren Phase der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung in Japan ab Mitte der 60er Jahre bestanden jedoch offenbar weiterhin geheime Verbindungen nach Taiwan. In den Jahren nach 1970 gelang einigen Regimegegnern auf Taiwan die Flucht ins Ausland, wobei die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung einen maßgeblichen Beitrag leistete.233 Der spektakulärste Fall dieser Art war die Flucht des Peng Mingmin: Am 3.1.1970 gelang Peng Mingmin, der zu diesem Zeitpunkt auf Taiwan unter Hausarrest stand und streng von Agenten bewacht wurde, die unbemerkte Ausreise nach Schweden. Die Umstände der Flucht wurden von der Unabhängigkeitsbewegung damals aus nahe liegenden Sicherheitsbedenken streng geheim gehalten, die Taiwan qingnian äußerte sich jedoch triumphierend: 231
Siehe Zhang Yanxian et al 2000: 159ff. Zhang Yanxian et al 2000: 114. 233 1976 floh Chen Mingcai, der auf Grund seiner politischen Aktivitäten unter Beobachtung der taiwanesischen Polizei geraten war, gemeinsam mit seinem Sohn auf einem selbstgebauten Holzfloß auf die Diaoyutai-Inseln und dann weiter nach Japan. Im darauf folgenden Jahr gelang Zhang Jince und Wu Minghui die Flucht in einem Gummiboot. Siehe o.A. 1977b: 3. In beiden Fällen wurden die Fluchtpläne von der taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung ausgearbeitet. 232
Die „Exilregierung der Republik Taiwan“ des Liao Wenyi
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Jetzt ist offensichtlich noch nicht die Zeit gekommen, die Fakten über die […] genauen Umstände der Flucht bekannt zu geben. Die Tatsache jedoch, dass [Peng Mingmin] aus Taiwan fliehen konnte, ist ein konkreter Beweis für das rasche Er-starken der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung.234
Die geheimen Verbindungen nach Taiwan wurden von der Unabhängigkeitsbewegung darüber hinaus genutzt, um Berichte und Verlautbarungen von Regimegegnern im Ausland publik zu machen. So erschien das Manifest des Peng Mingmin, das nach dessen Verhaftung auf ungeklärtem Wege nach Japan gelangt war (vgl. 6.2.2.), schon nach kurzer Zeit in der japanischen Presse. Die (bis heute weitgehend ungeklärten) Kontaktwege der Unabhängigkeitsbewegung reichten sogar bis in die Haftanstalten. Xie Congmin, der in Verbindung mit dem Peng Mingmin-Fall eine langjährige Haftstrafe auf Taiwan verbüßt hatte, erläuterte in einem Gespräch mit dem Autor, dass es ihm sogar aus dem Gefängnis gelungen sei, Informationen über die Haftbedingungen der politischen Gefangenen ins Ausland zu schmuggeln.235 Wenngleich die Versuche der Unabhängigkeitsbewegung, auf Taiwan eine gewaltbereite Untergrundbewegung ins Leben zu rufen, bereits in den 50er Jahren gescheitert waren, so lässt sich doch konstatieren, dass die Unabhängigkeitsbewegung in Japan seit den 60er Jahren auf Taiwan offenbar über ein weit verzweigtes Netzwerk von Sympathisanten und Informanten verfügte.
4.1.4 Die Kapitulation des Liao Wenyi Zu Beginn der 60er Jahre begann das ROC-Regime, den Druck auf die Exilregierung des Liao Wenyi zu erhöhen. Hierfür mögen politische Erwägungen eine Rolle gespielt haben: Im Jahr 1960 hatte Präsident Chiang Kai-shek seine (verfassungswidrige) dritte Amtszeit angetreten, zudem wurde sein Sohn Jiang Jingguo, der das Amt des Verteidigungsministers innehatte, allmählich als Nachfolger seines Vaters installiert. Angesichts der zu erwartenden Widerstände war es daher aus Sicht des KMT-Regimes wünschenswert, nach Außen eine große Geschlossenheit des ganzen Volkes im antikommunistischen Kampf unter Führerschaft des ROC-Regimes zu demonstrieren. Die KMT verfolgte dabei die gleiche Strategie, die schon im Jahr 1956 im Fall von Chen Zhemin erfolgreich gewesen war, und benutzte die Verwandten und Mitstreiter Liao Wenyis auf Taiwan als politische Geiseln. Im Januar 1962 wurden Huang Jinan, Liao Shihao, Frau Liaocai Xiuluan, Liao Wenjin (der jüngere Bruder von Liao Wenyi) und Lin 234
o.A. 1970b: 45. Nach der Flucht des Peng Mingmin wurde auf Taiwan ein Hafenarbeiter aus Gaoxiong, Huang Mingtan, als angeblicher Fluchthelfer verhaftet und zu fünf Jahren Freiheitsstrafe verurteilt. Nach eigenen Angaben war Huang jedoch vollkommen unschuldig: Er habe Peng zwar flüchtig gekannt und habe ihn auch wenige Monate vor dessen Flucht zu einem gemeinsamen Essen getroffen, dabei habe er aber niemals etwas von den Fluchtplänen des Peng geahnt. Siehe Huang Mingtan 1986: 15. Im Jahr 1984, anlässlich des 20jährigen Jubiläums der „Taiwanesischen Unabhängigkeitserklärung“ des Peng Mingmin, offenbarte Xu Shikai die angeblichen Hintergründe der Flucht. Demnach sei er selbst maßgeblich an der Planung und Durchführung der Flucht des Peng Mingmin beteiligt gewesen. Vgl. Chen Mingcheng 1992: 59ff. Peng, der sich zu diesem Zeitpunkt mit anderen Führungspersönlichkeiten der Unabhängigkeitsbewegung überworfen hatte, bestritt diese Darstellung allerdings. Vgl. Lin Lu 1988: 12-14. 235 Interview mit Xie Congmin am 23.2.04. Die Unabhängigkeitsbewegung veröffentlichte auf Grund solcher Informationen zahlreiche Listen von politischen Gefangenen in Taiwan und beklagte deren inhumanen Haftbedingungen. Siehe z.B. o.A. 1968a: 55-57; o.A. 1977c: 7ff.
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Feng’en (ein Neffe von Liao) erneut verhaftet – unter der fabrizierten Anklage, sie hätten einen Mordanschlag auf Chiang Kai-shek geplant. Am 27.1.1965 wurden die harten Urteile verkündet: Huang Jinan und Liao Shihao wurden zum Tode verurteilt, Frau Liaocai zu 15 Jahren, die anderen Angeklagten zu je zwölf Jahren Haft. Über die Vermittlung von geheimen Boten wurde Liao Wenyi mit der Hinrichtung der Verhafteten gedroht, zudem wurden ihm im Falle seiner Rückkehr nach Taiwan bedeutende Zugeständnisse versprochen: Die Gefangenen würden freigelassen, der Besitz der Familie Liao – der zuvor größtenteils konfisziert worden war – würde zurückerstattet, zudem wurde Liao ein bedeutendes Regierungsamt in Aussicht gestellt. Nach anfänglichem Zögern stimmte Liao Wenyi diesen Bedingungen schließlich zu. Am 14.5.1965 verließ er heimlich Tokio 236 und kehrte nach Taiwan zurück, wo seine Kapitulation als großer Propagandaerfolg gefeiert wurde – ohne freilich die wahren Umstände der Rückkehr zu enthüllen. Liao, so der Tenor der regierungsnahen Medien, sei dem Aufruf des großen Vorsitzenden Chiang Kai-shek nach Vereinigung aller nationalen Kräfte gefolgt und habe aus innerer Überzeugung den falschen Weg der taiwanesischen Unabhängigkeit verlassen. Liao selbst, der in den ersten Tagen mit allen führenden Politikern des Regimes zusammentraf, wurde ebenfalls – gegen seinen Willen, wie vermutet werden darf – zu entsprechenden Erklärungen veranlasst: [Liao Wenyi] sagte [auf einer Pressekonferenz am 17.5.1965]: „Nach meiner Rückkehr nach Taiwan habe ich den Wohlstand und Fortschritt des Landes und die gütige Politik des Präsidenten Chiang [Kai-shek] gegenüber dem Volk gesehen. Dies hat mich zu der tiefen Einsicht gebracht, wie falsch meine früheren [Taten] waren. Daher bin ich bereit, in Zukunft meine ganze Kraft dem Staat zu widmen.“ Weiter sagte er: „Es steht ganz außer Zweifel: wir haben nur ein Land, das ist die Republik China; wir haben nur einen Anführer, das ist der großartige Präsident Chiang. Wir müssen der Führung des Präsidenten Chiang folgen, nur so können wir die Mission der Rückeroberung und des Aufbaus des Staates erfüllen und auf der großen Straße der „Drei Volksprinzipien“ voranschreiten.“ 237
Liao Wenyi erließ einen Appell an alle taiwanesischen Unabhängigkeitsorganisationen im Ausland, seinem Beispiel zu folgen und sich an der großen vaterländischen Aufgabe des antikommunistischen Kampfes zu beteiligen. Für diesen propagandistischen Einsatz wurde Liao Wenyi vom Regime belohnt: Gemäß der zuvor getroffenen Vereinbarungen wurden die meisten der Gefangenen kurz nach der Rückkehr Liao Wenyis freigelassen, 238 zudem wurde der umfangreiche Familienbesitz zurückerstattet. Seine politischen Ambitionen auf Taiwan erfüllten sich allerdings nicht. Statt des versprochenen „bedeutenden Amtes“ – angeblich hatte Liao Wenyi auf das Amt des Außenministers spekuliert – wurde ihm der politisch vollkommen unbedeutende Posten des stellvertretenden Direktors des Staudammprojektes von Zengwen zugewiesen. Nachdem das propagandistische Interesse an seiner 236
Angeblich war der Plan des Liao Wenyi, sich dem KMT-Regime zu „ergeben“, kurz vor dessen Abreise einigen engen Vertrauten bekannt geworden. Ein Mitstreiter, Huang Jieyi, wollte ihn daraufhin auf dem Flughafen erschießen, er scheiterte jedoch an den strengen Sicherheitsvorkehrungen. 237 o.A. 1965: 14f. 238 Die Freilassung erfolgte allerdings in einigen Fällen mit Verzögerung. So mussten etwa Xu Chaoqin und Chen Huotong ihre Haftstrafen von jeweils sechs Jahren komplett verbüßen. Huang Jinan wurde am 12.12.1965 entlassen, allerdings wurde er im Juni 1972 erneut verhaftet und zu 15 Jahren Haft verurteilt. Laut Huang war diese letzte Anklage vollkommen haltlos, ein missgünstiger Mitarbeiter habe ihm bewusst schaden wollen. Huang Jinan wurde erst im Jahr 1982 endgültig entlassen. Er hatte damit insgesamt 24 Jahre seines Lebens in elf verschiedenen Gefängnissen verbracht.
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Rückkehr erlahmt war, trat Liao Wenyi nie mehr politisch in Erscheinung.239 Er verstarb am 9.5.1986 im Alter von 76 Jahren in Taipei, ohne Taiwan noch einmal verlassen zu haben. Huang Jinan meinte zu den späten Jahren seines alten Kampfgefährten: [Nach seiner Rückkehr] war Liao Wenyi vollkommen dem Alkohol und den schönen Frauen verfallen. Vielleicht war er an der Politik verzweifelt, vielleicht wollte er auch der Beobachtung durch die Agenten [der KMT] entgehen. Vielleicht dachte er, dass die KMT ihn auf diese Weise weniger verdächtigen und zur Kenntnis nehmen würde […] Nach seiner Rückkehr war sein Auftreten ganz anders als zuvor, als sei er ein anderer Mensch. Als ich ihn damals in Hongkong getroffen hatte, war er lebhaft und voll Hoffnung für die taiwanesische Unabhängigkeit. Nach seiner Rückkehr war er nur noch ein Schatten seiner selbst, das kann einen wirklich traurig stimmen. Ich denke, er hätte damals nicht zurückkommen sollen. Selbst wenn er nicht zurückgekommen wäre, hätte man Liao Shihao und mich wohl trotzdem nicht erschossen […] Obwohl er es nie selbst gesagt hat, denke ich, dass er seine Rückkehr auch bereut hat.240
4.2 Die Entwicklung in Japan in den späten 60er Jahren Ein wichtiges Motiv für die Rückkehr des Liao Wenyi war, wie beschrieben, die Auslösung der politischen Geiseln auf Taiwan. Für die Exilregierung war die Lage in Japan allerdings schon seit Beginn der 60er Jahre zunehmend schwieriger geworden: Liao Wenyi war es nicht gelungen, die Kräfte der taiwanesischen Exilanten in Japan in einer gemeinsamen Front zu vereinen. Laut Shi Ming, der seit den frühen 50er Jahren in engem Kontakt mit Liao Wenyi stand, trug auch dessen fragwürdige politische Moral dazu bei, dass sich zahlreiche Aktivisten der Unabhängigkeitsbewegung schon früh von ihm distanzierten: Am Anfang hatte er viel Unterstützung, aber sein Vorgehen war falsch. Er hat Ämter verkauft, das war sein größter moralischer Fehler. Wenn man [in der Exilregierung des Liao Wenyi] Finanzminister werden wollte, musste man ihm erstmal eine Million [japanische Yen] geben – das war nicht richtig. […] Nach ungefähr zwei Jahren [nach Gründung der Exilregierung im Jahre 1955] hatte Liao die Unterstützung der Taiwanesen [in Japan] weitgehend verloren, außerdem wurde seine Exilregierung immer mehr von Agenten der KMT infiltriert. Zu Beginn der 60er Jahre war die Exilregierung schon ziemlich am Ende.241
Die erfolglose politische Mission im Jahr 1961 hatte weiterhin dazu beigetragen, das Ansehen der Exilregierung zu unterminieren. Immer mehr führende Unabhängigkeitsaktivisten in Japan distanzierten sich enttäuscht von Liao Wenyi, dem sie einen selbstherrlichen und realitätsfernen Führungsstil vorwarfen, und sammelten sich insbesondere um die Zeitschrift Taiwan qingnian (Junges Taiwan),242 die im Jahr 1960 von Wang Yude, Huang Zhaotang und Liao Jianlong243 ins Leben gerufen worden war. Es lässt sich also feststellen, dass die Exilregierung schon einige Jahre vor der Kapitulation des Liao Wenyi ihren Einfluss
239 Zu Beginn der 80er Jahre kamen einige Vertreter der neu erstarkten Opposition auf Liao Wenyi zu und wollten ihn zu einem erneuten politischen Engagement bewegen, was er jedoch ablehnte. Siehe Li Xiaofeng 1986: 58-64. 240 Zhang Yanxian et al 2000: 129ff. 241 Interview mit Shi Ming am 14.1.03. 242 Taiwan qingnian ਠ⚓䶂ᒤ 243 Trotz desselben Familiennamens war Liao Jianlong nach Kenntnis des Autors nicht mit Liao Wenyi verwandt.
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weitgehend eingebüßt hatte. Entsprechend wurde die Kapitulation des Liao in der Taiwan qingnian kommentiert: [Die Übergangsregierung des Liao Wenyi] verstand es immer nur, Fahnen zu schwenken und Parolen zu schreien, man konnte nie irgendwelche konkreten Taten erkennen. Über mehr als zehn Jahre hatten sie in Tokio Wurzeln geschlagen, ein protziges Gehabe an den Tag gelegt, sich zum Gespött der Leute gemacht und sich immer mehr von den taiwanesischen Mitbürgern entfernt. Am Ende war die Farce der Kapitulation des Liao Wenyi vorherzusehen. Mit einem Wort: Die Unabhängigkeitsbewegung des Liao war nur auf leere Titel aus, und unternahm keinerlei konkrete Anstrengungen. Sie kannte nur den persönlichen Nutzen, und verriet die Hoffnungen des Volkes.244
Auch in der Folgezeit wurden zwar Anstrengungen unternommen, die „Exilregierung“ weiterzuführen. Im Mai 1965 übernahm Guo Taicheng den Titel des Präsidenten, nach seinem Tod im Jahr 1976 folgte Lin Taiyuan in diesem Amt nach. Faktisch war die Exilregierung nach dem „Verrat“ des Liao Wenyi 245 jedoch vollkommen in der Bedeutungslosigkeit versunken,246 und die Spaltung der Bewegung in eine Vielzahl von Untergruppen, die sich schon seit den frühen 60er Jahren angedeutet hatte, wurde immer evidenter.
4.2.1 Die Hauptströmung der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung Die Hauptströmung der taiwanesischen Unabhängigkeitsaktivisten sammelte sich nach der Kapitulation des Liao Wenyi um die Zeitschrift Taiwan qingnian und die angeschlossene Organisation „Gesellschaft Junges Taiwan“. 247 Im Jahr 1965 wollte diese Gruppe das Machtvakuum füllen, das durch den Niedergang der Exilregierung entstanden war, und strebte daher eine umfangreiche Erweiterung der organisatorischen Strukturen an. Begünstigt wurde dieses Unterfangen durch die Unterstützung von Gu Kuanmin, einem erfolgreichen Geschäftsmann und Spross einer der reichsten Familien Taiwans. Er übernahm 1965 den Vorsitz über die Organisation, die sich nun in „Vereinigte Liga der taiwanesischen Jugend für die Unabhängigkeit Taiwans“248 (im Folgenden „Vereinigte Liga“) umbenannte. In der Folgezeit wurden zudem Kontakte zu Unabhängigkeitsgruppierungen im Ausland, insbesondere in den USA und Kanada, gesucht. Die Zeitschrift Taiwan qingnian, wurde nun zum Zentralorgan der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung ausgebaut und
244
Zeng Youming 1965: 28. Im Oktober 1966 musste die Exilregierung einen weiteren schweren Rückschlag verkraften: Wu Zhennan, der amtierende „Vizepräsident“ der Exilregierung, war dem Beispiel des Liao Wenyi gefolgt und war am 28.10.1966 nach Taiwan zurückgekehrt. Siehe o.A. 1966c: 6. 246 In den Quellen wird die „Übergangsregierung der Republik Taiwan“ zuletzt am 15.12.1979 erwähnt, als sie sich in New York in Reaktion auf den Meilidao-Vorfall mit neun anderen Gruppierungen der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung zur kurzlebigen „Gemeinsamen Front zur Staatsgründung Taiwans“ vereinte. In jüngerer Zeit scheint es Versuche zu geben, eine Neubelebung der „Übergangsregierung der Republik Taiwan“ zu erzielen. Im August des Jahres 2000 fand in Gaoxiong unter Leitung von Shen Jiande eine Sitzung des „Vorbereitungskomitees“ der Übergangsregierung mit 43 Teilnehmern statt. Siehe http://www.taip.org/declaration/ 000805.htm. 247 Taiwan qingnian she ਠ⚓䶂ᒤ⽮, im Jahr 1963 umbenannt in Taiwan qingnian hui ਠ⚓䶂ᒤᴳ 248 Taiwan qingnian duli lianmeng ਠ⚓䶂ᒤ⦘・㚟ⴏ 245
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erschien ab 1966 auf Chinesisch,249 um einen größeren Leserkreis zu erreichen. Der Wirkungskreis der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung auf Japan blieb in den folgenden Jahren jedoch beschränkt. Ein großes Hindernis für die personelle Erweiterung der Bewegung bestand in der beständigen Bedrohung der Mitglieder durch japanische Behörden und Agenten der KMT. In der Mitte der 60er Jahren waren zwar spektakuläre Fälle von Mord und Entführung durch den taiwanesischen Geheimdienst, wie sie zuvor häufig vorgekommen waren, kaum mehr zu erwarten. Die Aktivisten der Unabhängigkeitsbewegung mussten jedoch ständig um ihren Aufenthalt in Japan fürchten: Auf Grund der restriktiven japanischen Immigrationsbestimmungen war es für Ausländer in der Regel nicht möglich, die japanische Staatsbürgerschaft oder eine unbefristete Aufenthaltsgenehmigung zu erlangen. Selbst in den Fällen, in denen ein politisches Asyl gewährt wurde, war die Aufenthaltsgenehmigung jeweils nur auf sechs Monate befristet, 250 politische Aktivisten der Unabhängigkeitsbewegung mussten daher jederzeit mit einer Deportation nach Taiwan rechnen. Neben der personell schwachen Basis litt die Bewegung unter einem hohen Maß an Zersplitterung. Der Vereinigten Liga war es nicht gelungen, eine Vereinigung sämtlicher Kräfte der Unabhängigkeitsbewegung zu erzielen; auch weiterhin existierte eine Vielzahl kleinerer Gruppen, die jedoch in den Quellen selten Erwähnung finden und jeweils nur über wenige Mitglieder verfügt haben dürften. Das Maß der Zersplitterung und wechselseitiger Animosität dieser Zeit lässt sich an einem Vorfall im April 1967 veranschaulichen: Shi Ming, der damals ein „heimliches Mitglied“ der Vereinigten Liga war, hatte gemeinsam mit Resten der Exilregierung den vergeblichen Versuch unternommen, der Teilung der Unabhängigkeitsbewegung durch die Gründung einer „Vereinigung für die taiwanesische Unabhängigkeit“251entgegenzuwirken. Die „Vereinigte Liga“ weigerte sich nicht nur, dem Zusammenschluss beizutreten, sondern sie schloss darüber hinaus Shi Ming wegen dem Vorwurf der „Spalterei“ aus ihren Reihen aus. 252 Nach der Gründung der weltweiten Organisation „World United Formosans for Independence“ (WUFI) im Januar 1970 (vgl. 5.1.) wurde die „Vereinigte Liga“ zur maßgeblichen Kraft in der japanische Zelle der neu gegründeten Organisation, deren Vorsitzender Gu Kuanmin übernahm gleichzeitig den Vorsitz über die japanische Zweigstelle der WUFI. Zu diesem Zeitpunkt begann sich der Schwerpunkt der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung jedoch zunehmend in die USA zu verlagern, die Bewegung in Japan verlor hingegen immer mehr an Bedeutung. 249 Nach ihrer Gründung im Jahr 1960 erschien die Taiwan qingnian zunächst komplett auf Japanisch, ab 1964 finden sich gelegentlich Beiträge auf Chinesisch, wenngleich Japanisch nach wie vor überwog. Im Oktober 1966 erfolgte die komplette Umstellung auf Chinesisch, gleichzeitig fanden sich gelegentlich Beiträge, die eine halbromanisierte Schrift des Taiwanesischen (Minnanyu) verwendeten. Ab Februar 1970 erschienen die Hefte jeweils im monatlichen Wechsel auf Chinesisch und Japanisch, im April 1973 erfolgte wiederum die komplette Umstellung auf Japanisch. 250 Hou Rongbang, der seit 1964 bei der Taiwan qingnian arbeitete und sich aktiv in der Unabhängigkeitsbewegung engagierte, berichtete, wie er bei jeder Verlängerung seiner Aufenthaltsgenehmigung ein Messer und (eingenäht in seinen Hosenbund) eine Giftkapsel bei sich führte. Hou war in viele vertrauliche Informationen der Unabhängigkeitsbewegung eingeweiht, daher wollte er unter allen Umständen einer Auslieferung nach Taiwan und der zur erwartenden Folter durch taiwanesische Sicherheitsbehörden entgehen. Im Falle einer drohenden Auslieferung wollte er sich daher zunächst mit dem Messer selbst verletzen, um einen Krankenhausaufenthalt zu erzwingen und, falls dies fehlgeschlagen wäre, den Freitod wählen. Vgl. Chen Mingcheng 1992: 42ff. 251 Taiwan duli lianhui ਠ⚓⦘・㚟ᴳ. Die Organisation hatte nur für etwa zwei Monate bestand. 252 Siehe Gu Kuanmin 1968: 1.
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Im Jahr 1971 kam es innerhalb der Vereinigten Liga zu einer erneuten schweren Krise, als der Vorsitzende Gu Kuanmin – ohne Wissen der Mitglieder – in brieflichen Kontakt mit Jiang Jingguo, dem Sohn des taiwanesischen Präsidenten Chiang Kai-shek, trat. Am Vorabend der Verhandlungen zum Ausschluss der ROC aus den Vereinten Nationen appellierte Gu an Jiang Jingguo, Taiwan unter einem anderen Namen den Verbleib in der UNO zu ermöglichen. Auf Vermittlung japanischer Offizieller reiste Gu Kuanmin im März 1972 zu einem heimlichen Treffen mit Jiang Jingguo nach Taiwan. Erst nach seiner Rückkehr erstattete Gu in Japan gegenüber den Gremien der „Vereinigten Liga“ Bericht, und erklärte nach scharfer Kritik von führenden Mitgliedern seinen Austritt aus der Vereinigten Liga und der WUFI.253
4.2.2 Shi Ming und die „linke“ Strömung der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung Neben der Hauptströmung der Unabhängigkeitsbewegung, die sich in Japan zunächst in der Exilregierung des Liao Wenyi, dann in der Vereinigten Liga und schließlich in der WUFI manifestierte, verdient eine linke, marxistische Strömung der Unabhängigkeitsbewegung besondere Beachtung, die in der einschlägigen Literatur bis heute weitgehend vernachlässigt wird. Begründer dieser Strömung, die sich in den späten 50er Jahren in Tokio formierte, war Shi Ming (eigentlicher Name Shi Chaohui). Die mangelnde Beachtung, die diese Strömung bis heute erfahren hat, ist einerseits ideologischen Differenzen innerhalb der Unabhängigkeitsbewegung zuzuschreiben, bei der sich schließlich eine rechte, amerikafreundliche Strömung behaupten konnte. Andererseits vermied die linke Strömung der Unabhängigkeitsbewegung auch aus ihrem Selbstverständnis heraus die öffentliche Aufmerksamkeit: Deren Anhänger betrachteten sich als die „wahren“ Revolutionäre, die dem öffentlichen Positionskampf um Einfluss und Posten in der rechten Strömung mit Spott begegneten und ihren revolutionären Kampf gegen das KMT-Regime bewusst aus dem Verborgenen führten. Viele Vorgänge in dieser linken Strömung sind daher bis heute ungeklärt. Im Zuge der Recherchen hatte der Autor die Gelegenheit zu mehrstündigen Gesprächen mit Shi Ming, auch bei dieser Gelegenheit war Shi jedoch oftmals nicht bereit, Interna der Bewegung zu offenbaren. Shi Ming, geboren 1918 in Taipei, hatte bis 1942 in Japan ein Studium der politischen Ökonomie absolviert. Während seiner Studienzeit war er in Kontakt mit marxistischem Gedankengut gekommen und hatte sich einer linken „Studiengruppe“ angeschlossen. Nach seinem Universitätsabschluss begab er sich über Vermittlung der Studiengruppe nach Shanghai und schloss sich der KPCh an, um sich am Kampf gegen die japanische Imperialmacht zu beteiligen. Auf Grund seiner Japanischkenntnisse wurde er auf dem Festland für die Arbeit im Untergrund ausgebildet und verrichtete in der Folgezeit äußerst gefährliche Spionage- und Agententätigkeiten hinter den feindlichen Linien. Nach eigenen Angaben war Shi Ming in dieser Phase noch nicht zu der Position eines taiwanesischen Nationalismus gelangt: 253 Im Gegensatz zur spektakulären und viel beachteten Kapitulation des Liao Wenyi, die als ein Wendepunkt der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung betrachtet werden kann, wurde der Rücktritt von Gu Kuanmin in den Zeitschriften der Unabhängigkeitsbewegung kaum zur Kenntnis genommen. Diese mangelnde Beachtung ist sicher teilweise darauf zurückzuführen, dass sich zu Beginn der 70er Jahre allmählich die USA als neues Zentrum der Bewegung etabliert hatten. Der Rücktritt des Vorsitzenden der japanischen Zweigstelle der WUFI war daher allenfalls von nachgeordnetem Interesse.
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Ich war Internationalist, kein Nationalist. Damals habe ich nicht an die taiwanesische Unabhängigkeit gedacht, sonst wäre ich nach Taiwan gegangen, nicht nach China […] Ich war Sozialist, und ich wusste damals nur, dass die KMT eine Militärdiktatur ist. Daher wollte mich am antiimperialistischen Kampf der KPCh gegen die Japaner beteiligen […] Ich hatte seit meiner Grundschulzeit nur japanische Schulen besucht, ich konnte mich wie ein Japaner geben. Außerdem konnte ich fast so gut Japanisch wie ein Japaner. Daher wurde ich von der KPCh als Agent nach Shanghai geschickt […] Ich arbeitete als Agent gegen die japanische Armee.254
Am 2.3.1947 erfuhr Shi Ming, der sich damals in Nordchina befand, von dem 228Aufstand. Im Frühjahr 1949 begab er sich durch die Frontlinien zurück nach Taiwan. Hier gründete er im Februar 1950 eine „Bewaffnete Truppe für die Unabhängigkeit Taiwans“, 255 die im Untergrund operierte und Waffen sammelte, welche die japanische Armee unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges in geheimen Waffenlagern vergraben hatte. 256 Im November 1951 wurde die Gruppe entdeckt, Shi Ming konnte nur mit Mühe dem Zugriff der Polizei entkommen und verbarg sich in der Hafenstadt Jilong, wo er sich als Hafenarbeiter verdingte, bis ihm schließlich im Mai 1952 auf einem Fischerboot die Flucht nach Japan gelang. Im Jahr 1955 begann Shi Ming mit dem Aufbau einer revolutionären Gruppe, die von Tokio aus operierte und Kontakte zu Mitstreitern in Taiwan unterhielt. Zu seinem „Hauptquartier“ wurde ein Nudelrestaurant, das er seit 1962 (bis heute) in Tokio betreibt. Frau Linda Arrigo, die im Jahr 1979 mit Shi Ming in Tokio zusammentraf, beschrieb ihre damaligen Eindrücke: [Shi Ming] used the noodle-shop to provide employment for his operatives, and I can tell you that he is the one person that I have known in the Taiwan independence movement who is really trained and serious, and really professional […] It was a four-storey noodle-shop, first storey restaurant [and in the upper floors] was his intelligence centre. He was training groups of people who came from Taiwan.257
In den 60er Jahren schloss sich Shi Ming kurzfristig der Vereinigten Liga an, nach internen Differenzen (s.o.) gründete er im Juni 1967 seine eigene Organisation „Gesellschaft Unabhängiges Taiwan“,258 die eine eigene Monatsschrift „Unabhängiges Taiwan“ 259 unterhielt. Im Gegensatz zur Hauptströmung der Unabhängigkeitsbewegung war der Gesellschaft Unabhängiges Taiwan jedoch nicht an einer gezielten Expansion der Gruppe gelegen, der Schwerpunkt des revolutionären Kampfes wurde auf verborgene Aktivitäten in Taiwan gelegt.
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Interview mit Shi Ming am 14.1.03. Taiwan duli wuzhuangdui ਠ⚓⦘・↖㼍䲺. Über die Mitglieder und Operationsweise dieser Gruppe ist wenig bekannt. Shi Ming erwähnt nur drei weitere Mitglieder der Gruppe namentlich. Siehe Shi Ming 2001: 81. Zudem bleibt unklar, welches konkrete Ziel die Bewaffnete Truppe verfolgte, ob Shi Ming also in dieser frühen Phase tatsächlich einen bewaffneten Volksaufstand gegen das KMT-Regime für aussichtsreich hielt. 256 Im Gespräch mit dem Autor erwähnte Shi Ming, dass er damals über Karten verfügte, welche die Lagepläne der japanischen Waffenlager enthielten. Bis zum November 1951, als die Gruppe entdeckt wurde, konnte Shi Ming 38 japanische Gewehre mit dazugehöriger Munition bergen. 257 Interview mit Dr. Linda Arrigo am 13.2.04. 258 Taiwan duli hui ਠ⚓⦘・ᴳ 259 Duli Taiwan ⦘・ਠ⚓ 255
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Über den Untergrundkampf der Gesellschaft Unabhängiges Taiwan äußert sich Shi Ming bis heute nur sehr zurückhaltend. Es gelang jedoch offenbar, auf Taiwan einige Mitstreiter anzuwerben; mehrere Bombenattentate auf staatliche und militärische Einrichtungen in den 60er und 70er Jahren werden der Gesellschaft Unabhängiges Taiwan zugeschrieben. 260 Diese Bombenattentate hatten jedoch weitgehend symbolischen Charakter und galten zumeist militärischen Einrichtungen auf der Insel. Ziel war also nicht, etwa durch massive Zerstörungen die Infrastruktur des Staates zu lähmen oder Panik in der Bevölkerung zu erzeugen. Es wurde jedoch offenbar mehrmals der Plan verfolgt, Präsident Chiang Kai-shek oder dessen Sohn Jiang Jingguo zu ermorden. Von diesen Mordplänen ist nur der Fall des Zheng Ping öffentlich bekannt geworden. Zheng Ping, ein Bäcker aus Jilong, hatte sich im Jahr 1971 der revolutionären Gruppe um Shi Ming angeschlossen und aus eigener Initiative einen Mordanschlag auf Chiang Kai-shek geplant. Shi Ming entsandte daraufhin eine Gruppe von sechs Aktivisten, die bei der Vorbereitung des Attentates Unterstützung leisten sollten. Im Oktober 1973 wurde die Gruppe jedoch verhaftet. Zheng Ping wurde zum Tode verurteilt261 und am 12.8.1974 hingerichtet. Neben seinen politischen Aktivitäten begann Shi Ming in den 60er Jahren seine schriftstellerische Tätigkeit: Im Juli 1962 veröffentlichte er in Tokio die japanische Originalausgabe seines monumentalen Werkes „Die 400jährige Geschichte der Taiwanesen“ in drei Bänden, im September 1980 folgte eine chinesische Ausgabe. In diesem Buch präsentiert Shi Ming auf über 1800 Seiten die Geschichte Taiwans, deren Beginn er auf die Zeit der spanischen Kolonialherrschaft datiert, aus marxistischer Perspektive. Bis heute zählt das Werk zu den wichtigen Klassikern der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung, „die 400jährige Geschichte der Taiwanesen“ wurde zu einem gängigen Begriff der taiwanesischen Geschichtsforschung. Shi Ming, der lange Zeit als Staatenloser in Japan politisches Asyl erhielt, konnte erst im Mai 1980 aus Japan ausreisen. Er unternahm zahlreiche Reisen in die Vereinigten Staaten, Kanada und Europa, hier kam es zur Kooperation mit anderen linken Gruppierungen der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung. Erst im Jahr 1992 reiste Shi Ming, der bis zu diesem Zeitpunkt als einer der letzten unerwünschten Personen auf der „Schwarzen Liste“ des KMT-Regimes geführt wurde, heimlich nach Taiwan ein und wurde dort am 26.10.1992 an einer Mautstation der Autobahn verhaftet. Er wurde jedoch am selben Tag gegen eine Kaution aus der Haft entlassen und nicht weiter strafrechtlich verfolgt. Shi Ming lebt heute in Taipei und betreibt dort seit 2001 seine „Shi Ming Stiftung für Erziehung“. 262 Shi Ming hält nach wie vor an dem Ziel der Unabhängigkeit Taiwans fest, er verfolgt 260 Shi Ming selbst verwies den Autor auf Nachfrage auf den tabellarischen historischen Überblick in seinem Buch Shi Ming 2001: 72-173. Dort sind in den Jahren 1959 bis 1972 lediglich vier Bombenattentate aufgelistet, die von der Gesellschaft Unabhängiges Taiwan bzw. deren Ableger „Revolutionsarmee Unabhängiges Taiwan“ (Taiwan duli gemingjun ਠ⚓⦘・䶙ભ䓽) verübt wurden. Ziele dieser Attentate waren Bahngleise und militärische Transporte, im Dezember 1972 wurde ein Boben-attentat auf ein nicht näher bezeichnetes „Regierungsgebäude der Stadt Taipei“ verübt. Nach Kennt-nis des Autors kamen bei diesen Anschlägen keine Menschen ums Leben. Bis heute bleibt jedoch ungewiss, ob Shi Ming auch bei anderen Attentaten, insbesondere den Bombenattentaten auf zwei amerikanische Banken auf Taiwan im Februar 1971 und das Attentat auf zwei regimenahe Zeitungen im April 1984 (vgl. 8.4.2.3.) involviert war. 261 Gegen die sechs Mittäter des Zheng Ping wurden Haftstrafen zwischen Lebenslänglich und zehn Jahren verhängt. Vgl. Shi Ming 2001: 112f. 262 Shi Ming jiaoyu jijinhui ਢ᰾ᮉ㛢ส䠁ᴳ
Ergebnisse im Kontext dieser Arbeit
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jedoch nicht länger den Ansatz eines revolutionären, gewalttätigen Kampfes gegen das Regime.
4.3 Ergebnisse im Kontext dieser Arbeit 4.3.1 Der Kampf gegen das KMT-Regime Die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung ließ niemals einen Zweifel an ihrer Absicht, die Fremdherrschaft des KMT-Regimes durch gewalttätige Mittel zu beseitigen. Sie sah sich in unversöhnlicher Gegnerschaft zum KMT-Regime, es wurden daher auch niemals Alternativen zu einem Aufstand – etwa die Hoffnung auf eine innere Demokratisierung der KMT – erwogen. In dem Grundsatzprogramm der „Vereinigte Liga der taiwanesischen Jugend für die Unabhängigkeit Taiwans“ wurde hierzu angemerkt: Eine Demokratisierung der [KMT-] Regierung würde unweigerlich zum vollständigen Zusammenbruch der Chiang-Dynastie [KMT] führen, daher sind wir der Ansicht, dass die Regierung niemals von sich aus eine Demokratisierung einleiten wird. Der Sturz einer tyrannischen Regierung muss auf Waffengewalt zurückgreifen. Taiwanesen sollten daher zu jeder Zeit und an jedem Ort von allen Möglichkeiten Gebrauch machen, um der tyrannischen Herrschaft Widerstand zu leisten.263
An konkreten Maßnahmen wurden etwa Mordanschläge auf führende Politiker des Regimes und Täter des 228-Aufstandes sowie Brandstiftung und Bombenattentate auf Einrichtungen des Staates, der Partei und des Militärs erwogen. Dabei sei jedoch zu berücksichtigen, dass sich der „Feind“ im eigenen Land befinde, die Maßnahmen sollten sich daher auf bewusst anvisierte Ziele beschränken. Insbesondere dürfe das Leben von unschuldigen Landsleuten nicht unnötig gefährdet werden. In der ersten Phase des Kampfes sollte mit diesen Terrorakten vor allem ein psychologischer Effekt erzielt werden: Das wichtigste Ziel bei Attentaten besteht darin, den Feind in die Enge zu treiben und eine Stimmung des Terrors zu verbreiten, [so dass] die Kerngruppe des Feindes allmählich zur Auflösung und Kapitulation gebracht wird. Gleichzeitig werden sich die Opportunisten im weiteren Umkreis nach dem Wind richten […]264
Schließlich könne der revolutionäre Kampf in die entscheidende Phase treten: Ein allgemeiner Aufstand, getragen von weiten Teilen der taiwanesischen Bevölkerung, der das verhasste Fremdregime hinwegfegen würde – ein zweiter 228-Aufstand mit siegreichem Ausgang.
4.3.1.1 Der revolutionäre Kampf auf Taiwan Gemessen an den martialischen Vorstellungen der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung erwies sich zunehmend, dass die Realität in scharfem Kontrast zu solch kriegerischen 263 264
o.A. 1966b: 43. Huang Chuguo 1971: 28.
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Äußerungen stand. Wie im Vorangegangenen beschrieben, hatte Liao Wenyi zwar schon in den Jahren 1949-50 den Versuch unternommen, eine revolutionäre Zelle im taiwanesischen Untergrund zu etablieren und den revolutionären Kampf gegen das Regime voranzutreiben. Diese taiwanesischen Untergrundaktivisten um Huang Jinan und Liao Shihao konnten jedoch nur etwa ein Jahr operieren und stellten zu keinem Zeitpunkt eine echte Bedrohung für das Regime dar. Nach Aussage von Huang Jinan waren die begrenzten Aktionen zudem kaum mit der Exilregierung koordiniert, die Untergrundzelle operierte weitgehend autonom: Wir hatten weder Geld noch Waffen, daher verfolgten wir individuelle Aktionen, und diese Aktionen waren auch im Wesentlichen auf Propaganda beschränkt. Es gab überhaupt keinen organisierten Widerstand […] Liao Wenyi hatte bezüglich unserer Aktionen auf Taiwan nur die Richtung und Prinzipien vorgegeben, aber er hatte uns niemals mit einer konkreten Mission beauftragt, wir waren in unseren Aktionen vollkommen auf uns allein gestellt […]265
Auch nach dem Zusammenbruch der Exilregierung konnte die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung in den 60er Jahren keinerlei Erfolge vorweisen, die den Schluss erlaubt hätten, dass ein revolutionärer Aufstand in absehbarer Zeit bevorstehe oder dass Anstrengungen unternommen worden wären, einen Sturz des Regimes – etwa durch die gezielte Ausbildung von Kämpfern oder Waffenlieferungen – vorzubereiten. Dies war angesichts der Kräfteverhältnisse natürlich nicht erstaunlich: Unter der autoritären Herrschaft des Chiang Kai-shek war Taiwan mit einem dichten Netz von Agenten und Sicherheitsbeamten überzogen. Die ROC unterhielt, um ihren Anspruch auf eine „Rückeroberung des Festlandes“ zu untermauern, die im Verhältnis zur Einwohnerzahl weltweit größte Streitkraft. 266 Die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung in Japan wurde hingegen nur von wenigen Aktivisten getragen, in der Mehrzahl Akademiker und Auslandsstudenten, die weder über genügende Sachkenntnis noch entsprechende Mittel verfügten, um einen auch nur annährend aussichtsreichen militärischen Aufstand gegen das Regime ins Leben zu rufen. Es wirkt daher befremdlich, mit welchem unerschütterlichen Selbstvertrauen, das gelegentlich an Realitätsverlust grenzte, das Ziel einer siegreichen Revolution propagiert wurde. Insbesondere zwei Faktoren würden, so die Unabhängigkeitsbewegung, in naher Zukunft den Sturz des KMT-Regimes unausweichlich einleiten: Zum einen stütze das KMT-Regime seine tyrannischen Herrschaft auf einen relativ kleinen Personenkreis von einflussreichen Festländern, die jedoch im fortgeschrittenen Alter seien und sich allmählich von ihren dominierenden Positionen in Politik, Gesellschaft und Militär zurückzögen. Insbesondere wurde auf das hohe Alter Chiang Kai-sheks selbst verwiesen. Sein nahendes Ableben, so die Hoffnung, würde das Regime in eine schwere Krise stürzen. Der erklärte Nachfolger Jiang Jingguo habe keinen nennenswerten militärischen Rückhalt, und verfüge im Gegensatz zu seinem Vater auch nicht über das persönliche Charisma, um die militärische Elite des Landes dauerhaft an sich zu binden: Jiang Jingguo war selbst nie an einer Militärakademie […] obwohl er als Sohn Chiang Kaisheks in den Rang eines Generals erhoben wurde, werden viele militärische Befehlshaber, die 265
Zhang Yanxian et al 2000: 111f. In einem Appell der „United Formosans in America for Independence“, veröffentlicht in der New York Times im März 1969, wurde darauf verwiesen, dass 5% der taiwanesischen Bevölkerung und 80% des nationalen Budgets für die Landesverteidigung aufgewendet würden. Vgl. o.A. 1969b: 24-29. 266
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Ruhm auf dem Schlachtfeld erworben haben, ihm nicht folgen. Chiang Kai-shek ist schon über 80 Jahre alt, Gerüchten zu Folge hat er Krebs, sein Ende kann jederzeit kommen. Sobald er gestorben ist, wird Jiang Jingguo allein große Schwierigkeiten haben, die alte Generation der Chinesen und die professionellen Militärs zu kontrollieren […]267
Zum anderen sei die Erfolglosigkeit der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung in den vergangenen Jahrzehnten auch darauf zurückzuführen, dass die politische und intellektuelle Elite der Taiwanesen im 228-Aufstand ermordet oder zum Rückzug ins Privatleben gezwungen worden sei. Dieser Verlust habe dazu geführt, dass die Taiwanesen wie ein „Drache ohne Haupt“ keinen Weg gefunden hätten, ihren wachsenden Unmut gegen das KMT-Regime in einen gezielten und planvollen Widerstand zu überführen. In den letzten 20 Jahren sei jedoch eine neue Elite von taiwanesischen Intellektuellen herangewachsen: Das große Rad der Revolution wird […] von erstklassig qualifizierten Leuten voranbewegt […] Noch nie in der Geschichte wurde [eine revolutionäre Bewegung] von so hoch qualifizierten Leuten getragen, wie dies heute in der taiwanesischen revolutionären Unabhängigkeitsbewegung der Fall ist. Die meisten haben eine Universitätsausbildung, viele haben akademische Titel. Daher wird die Revolution Taiwan ohne jeden Zweifel zu einer glorreichen und freien Gesellschaft führen. Wir Taiwanesen können uns darauf vollkommen verlassen.268
4.3.1.2 Taiwan, USA und VRCh – die internationale Perspektive Das Streben nach einem Sturz des KMT-Regimes machte es für die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung unabdinglich, sich mit internationalen Machtkonstellationen und den zu erwartenden Folgen einer taiwanesischen Staatsgründung zu befassen. Insbesondere galt dies im Hinblick auf die beiden Staaten, deren nationale Interessen unmittelbar von dem politischen Schicksal Taiwans berührt wurden: Den Vereinigten Staaten von Amerika und der Volksrepublik China. Hinsichtlich der Vereinigten Staaten lässt sich, insbesondere in der frühen Phase der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung auf Japan, eine starke amerikafreundliche Tendenz beobachten – bemerkenswert insofern, dass die USA die erklärte Schutzmacht der ROC darstellten und mit ihrer Politik der Unterstützung für das KMT-Regime den Interessen der Unabhängigkeitsbewegung direkt zuwiderhandelten. Die Exilregierung unter Liao Wenyi richtete ihre ganzen Bestrebungen darauf, die USA zu einer Änderung dieser Politik zu bewegen. Die begrenzten Ressourcen der Exilregierung wurden fast ausschließlich darauf verwendet, sich als Alternative zu Chiang Kai-shek zu präsentieren, einen aufwendigen und angesichts seiner Machtlosigkeit überdimensionierten Regierungsapparat zu unterhalten und möglichst große internationale Aufmerksamkeit zu suchen. Man ließ sich dabei von der Hoffnung tragen, dass die USA ihre fehlerhafte Entscheidung des Jahres 1945 revidieren und an Stelle des tyrannischen KMT-Regimes die amerikafreundliche und demokratische Regierung einer unabhängigen Republik Taiwan setzen würden. Rückblickend lässt sich konstatieren, dass diese Hoffnung, das Regime des Chiang Kai-shek mit amerikanischer Unterstützung zu beseitigen, wohl zu keinem Zeitpunkt in die Nähe der Verwirklichung kommen konnte. Wenngleich es in den Jahren zwischen 1947-1949 angesichts der 267 268
Tian Diren 1969: 8f. Tian Diren 1969: 7.
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drohenden Niederlage des ROC-Regimes im chinesischen Bürgerkrieg in einigen Kreisen der amerikanischen Staatsführung offensichtlich Überlegungen gab, Taiwan vorübergehend vom Festland abzutrennen, wäre die Exilregierung unter Liao Wenyi wohl kaum als ernsthafter Verhandlungspartner in Erwägung gezogen worden. In den Jahren nach 1960 mehrten sich in der Unabhängigkeitsbewegung die Stimmen, die eine einseitige Anlehnung der Bewegung an die USA als verfehlt betrachteten. Es hatte sich erwiesen, dass die USA offensichtlich nicht zu einer Änderung ihrer grundsätzlichen Politik der Unterstützung des KMT-Regimes bereit waren. Die Rolle der Vereinigten Staaten wurde daher differenzierter betrachtet: Im Rahmen ihrer globalen antikommunistischen Verteidigungsstrategie, so wurde argumentiert, verfolgten die USA in erster Linie das politische Interesse, ein Vordringen des Kommunismus zu verhindern. Das vordringlichste Ziel der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung ist der Sturz der [KMT] Regierung, die USA unterstützen diese Regierung, sind die USA damit unser Feind? Mit ihrer Unterstützung der KMT-Regierung verfolgen die USA das Ziel, ein Vordringen der VRCh auf Taiwan zu verhindern. […] Falls die Unterstützung der USA für die KMT-Regierung sich nur darauf gründet, dass die [KMT] Regierung nun mal effektiv über Taiwan herrscht, dann besteht für uns immer noch die Möglichkeit, unsere Feindschaft gegenüber den USA abzubauen […] 269
Für die strategischen Interessen der USA, so wurde unterstellt, sei es letztlich belanglos, ob das Regime des Chiang Kai-shek oder eine freie und unabhängige Republik Taiwan über die Insel herrsche. Wichtig sei aus Sicht der USA lediglich eine stabile Herrschaft, die in der Lage sei, Taiwan vor allen kommunistischen Übergriffen zu bewahren. Wenngleich sich in der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung zu Beginn der 60er Jahre allmählich die Erkenntnis durchsetzte, dass sie in ihrem Ringen kaum auf die aktive Unterstützung der USA hoffen durfte, so meinte man doch, zumindest auf eine wohlwollende Neutralität vertrauen zu können – vorausgesetzt, es gelänge den Taiwanesen aus eigener Kraft, das tyrannische Regime der KMT zu stürzen und eine stabile Herrschaft über die Insel zu errichten. Der Einfluss der VRCh wurde in Kreisen der Unabhängigkeitsbewegung sehr unterschiedlich beurteilt. Zwar hatte das chinesische Festland die klare Absicht erkennen lassen, gegen Taiwan mit militärischer Gewalt vorzugehen. Die Unabhängigkeitsbewegung vertrat jedoch in ihrer Mehrheit270 die Ansicht, dass sich diese Feindseligkeit des Festlandes nicht gegen Taiwan selbst, sondern gegen das Regime des Chiang Kai-shek richte – gewissermaßen ein Nachklang des „chinesischen“ Bürgerkrieges, der für Taiwan von nachgeordneter Relevanz sei. Der Sturz des ROC-Regimes, den die Unabhängigkeitsbewegung anstrebte, sei für die VRCh daher durchaus wünschenswert: Für die VRCh ist Chiang Kai-shek schon lange zu einem Skelett geworden, dessen Geist sich noch nicht zerstreut hat. Er ist ein Dorn im Auge der VRCh […] Wenn die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung jedoch mit Schwung und Begeisterung voranschreitet, dann wird die VRCh nur dafür beten, dass die Clique des Chiang Kai-shek vollkommen ausgerottet wird, ansonsten wird sie sicher nur tatenlos zusehen und den Dingen ihren natürlichen Lauf lassen.271 269
Gao Jianxin 1966: 15. Diese optimistische Sichtweise hinsichtlich der VRCh wurde jedoch nicht von allen Aktivisten der Unabhängigkeitsbewegung geteilt. Siehe z.B. Song Zhongyang 1969: 7. 271 Huang Chuguo 1970: 7. 270
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Die militärische Erstarkung der VRCh (die seit 1964 über Atomwaffen verfügt) wurde in Kreisen der Unabhängigkeitsbewegung als Schwächung und Destabilisierung des gemeinsamen Feindes Chiang Kai-shek begrüßt. Auf Grund dieser gemeinsamen Feindschaft könne die VRCh als potentieller Verbündeter der Unabhängigkeitsbewegung betrachtet werden; langfristig sei es durchaus möglich, freundschaftliche Kontakte zur VRCh aufzubauen. So äußerte sich Gu Kuanmin in einem Interview mit der Zeitschrift Taiwan qingnian: Realistisch betrachtet ist China von enormer Bedeutung für die Unabhängigkeit und Sicherheit der Republik Taiwan […] Daher sollten die diplomatischen Beziehungen zu China grundsätzlich auf eine freundliche Nachbarschaft zielen […] Ich denke, es wäre ideal, wenn die USA, China und Japan gemeinsam die Neutralität der Republik Taiwan garantieren würden […] das ist sehr schwer [zu verwirklichen], aber nicht unmöglich. Auf dieses Ziel wird unsere Außenpolitik ausgerichtet sein. 272
Es lässt sich also feststellen, dass sich die frühe Unabhängigkeitsbewegung nicht unbedingt in Gegnerschaft zum chinesischen Festland sah – wie dies heute zweifellos der Fall ist. Das Hauptaugenmerk der Unabhängigkeitsbewegung galt dem Sturz des KMT-Regimes auf Taiwan. Solange das Regime unerschütterlich über Taiwan herrschte, waren die Fragen nach der außenpolitischen Stabilität, den möglichen Bündnispartnern und Widersachern einer zukünftigen Republik Taiwan naturgemäß nur theoretischer Natur. Im Laufe der Zeit wurde jedoch immer deutlicher, dass sich die Hoffnungen auf einen raschen Sturz des KMT-Regimes nicht erfüllen würden. In den Kreisen der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung machte sich angesichts der anscheinend unerschütterlichen Herrschaft des KMT-Regimes über Taiwan allmählich Frustration breit. So wurde in einem Artikel der Taiwan qingnian aus dem Jahre 1966 beklagt: Das Regime des Chiang [Kai-shek] herrscht nun schon seit mehr als 20 Jahren über Taiwan. Wer die Korruption und Brutalität [des Regimes] kennt, kann sich über seine Beständigkeit nur wundern. […] Seit der Gründung der Vereinigten Liga und der Erstausgabe der [Zeitschrift] Taiwan qingnian sind nun schon sechs Jahre vergangen. Welche Schläge konnten wir dem Chiang-Regime in dieser Zeit durch unsere Bemühungen versetzen, wie weit konnten wir die taiwanesische Unabhängigkeit voranbringen? Die einzige Antwort lautet: So gut wie gar nicht!273
4.3.2 Taiwanesischer Nationalismus Die Konstruktion eines taiwanesischen Nationalismus war in der Frühphase der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung von einem primordialen Nationalismuskonzept geprägt, das sich in der „Theorie des Mischblutes“ des Liao Wenyi manifestierte und das die Vertreibung aller Chinesen von Taiwan zum Ziel hatte. Bereits im Laufe der 60er Jahre wurde diesem Konzept jedoch auf Grund von strategischen und humanitären Überlegungen das alternative Konzept eines politisch verstandenen zivilen Nationalismus entgegengesetzt, bei dessen Formulierung Wang Yude eine Vorreiterrolle zukam. Von Seiten der linken 272 273
o.A. 1968b: 11. o.A. 1966a: 4.
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Nebenströmung der Bewegung wurde schließlich ein marxistischer Ansatz verfolgt, der jedoch auf die weitere Entwicklung der Unabhängigkeitsbewegung keinen bedeutenden Einfluss nehmen konnte.
4.3.2.1 Liao Wenyi und die Theorie des „Taiwanesischen Mischblutes“ Die Exilregierung des Liao Wenyi ging von der Vorstellung aus, dass ein elementarer Unterschied zwischen Chinesen und Taiwanesen bestand. Ihr Kampf richtete sich daher gegen die „Chinesen“ vom Festland, welche Taiwan seit 1945 unterjochten und als fremdes Volk über Taiwan herrschten. Es existieren jedoch nur wenige Quellen, in denen sich führende Mitglieder der Exilregierung konkret zu den spezifischen Charakteristika der taiwanesischen Nation geäußert hätten; die Existenz einer eigenständigen nationalen Identität wurde offensichtlich als unstrittig vorausgesetzt. So schrieb Huang Zhaotang: Die einzelnen Organisationen und Mitglieder der Exilregierung haben anscheinend keinerlei Schriften veröffentlicht, die den taiwanesischen Nationalismus zum Thema gehabt hätten. Man kann daher nur auf Grundlage von verschiedenen Äußerungen Vermutungen anstellen. 274
Als Fundament einer ethnisch verstandenen taiwanesischen Nation diente die Vorstellung des „Mischblutes“ der Taiwanesen: Wenngleich die Mehrzahl der taiwanesischen Vorfahren aus dem Festland eingewandert sei, habe im Laufe der Jahrhunderte über Zwischenheiraten eine Vermischung dieser frühen chinesischen Siedler mit anderen Volksgruppen stattgefunden. An erster Stelle stand hier die Vermischung mit der ursprünglichen Population der taiwanesischen Ureinwohner, die schon seit Jahrtausenden auf der Insel siedelten und der malaiisch-polynesischen Volksgruppe angehörten. Darüber hinaus habe es jedoch auch Zwischenheiraten mit den Angehörigen der verschiedenen Kolonialherren gegeben, die in der wechselhaften Geschichte Taiwans über die Insel herrschten. In den Worten von Liao Wenyi: Wir Taiwanesen heute setzen die Blutlinie der Indonesier, Portugiesen, Spanier, Holländer, Fukinesen, Kantonesen und Japaner fort. Mit anderen Worten: Eine Mischung aus den Blutlinien der Ureinwohner, Han-Chinesen, Japaner, Iberer [Spanier] und Teutonen [Holländer]275
Durch den ständigen Zustrom von verschiedenen Volksgruppen nach Taiwan habe sich so im Laufe der Jahrhunderte die ethnisch eigenständige Gruppe der Taiwanesen geformt, die mit den Chinesen vom Festland allenfalls in entfernter Blutsverwandtschaft stünde. Der objektive Unterschied zwischen Taiwanesen und Chinesen habe also schon geraume Zeit vor der Rückkehr Taiwans zu China im Jahre 1945 bestanden. Bedauerlicherweise sei jedoch der Mehrzahl der Taiwanesen ihre eigene nationale Identität nicht bewusst geworden, die Rückkehr zum chinesischen „Vaterland“ sei daher zunächst auf allgemeine Zustimmung gestoßen – ein Umstand, der, so möchte man anfügen, offensichtlich auch für Liao Wenyi selbst galt (vgl. 4.1.1.). Erst die traumatische Erfahrung des 228-Aufstandes habe als Katalysator dieser objektiven und latenten nationalen Identität gewirkt, erstmals hätten sich 274 275
Huang Zhaotang 1994: 200. Zitiert nach Huang Zhaotang 1994: 200.
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die Taiwanesen als Mitglieder einer eigenständigen Nation erfahren. Ziel der Unabhängigkeitsbewegung müsse es nun sein, Taiwan von der Fremdherrschaft der Chinesen zu befreien und diese – in letzter Konsequenz – von der Insel zu vertreiben. Diese Theorie des Mischblutes bietet in vielen Aspekten ein typisches Beispiel eines primordialen Nationalismuskonzeptes, das die nationale Zugehörigkeit als „das Erste in einer Reihe“ versteht, also eine durch keinen anderen Faktor verursachte, grundlegende und objektive Eigenschaft, die jedem Menschen quasi natürlich zukommt. Primordiale Nationalismuskonzepte waren und sind in nationalen Befreiungsbewegungen keine ungewöhnlichen Erscheinungen; das Nationalismuskonzept des Liao Wenyi zeichnete sich jedoch durch zwei Besonderheiten aus: Zum ersten berufen sich primordiale Nationalismuskonzepte typischerweise auf die kulturelle Eigenständigkeit der eigenen Nation, die sich etwa in religiösen Praktiken, Sprache, Essens- und Kleidungsgewohnheiten u.ä. manifestiert. Im Falle Taiwans war diese Konstruktion einer kulturellen Autarkie jedoch nur schwer zu leisten, da die kulturelle Verwandtschaft zwischen Taiwan und China kaum zu widerlegen war. Im Wesentlichen gründete sich die behauptete kulturelle Eigenständigkeit der Taiwanesen daher auf das offensichtliche Merkmal der Sprache, das auf relativ einfache Weise eine Unterscheidung zwischen Sprechern des Taiwanesischen276 und des Hochchinesischen (Mandarin) ermöglichte. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang das Bemühen der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung, eine romanisierte Schriftsprache des Taiwanesischen zu entwickeln.277 Anzumerken ist allerdings, dass auch die lokalen Sprachen Taiwans (mit Ausnahme der Ureinwohnersprachen) ursprünglich vom Festland stammen. Zum zweiten findet sich in primordialen Nationalismuskonzepten regelmäßig die Tendenz, die Nation als ein uraltes und organisches Gebilde zu beschreiben, deren Anfänge sich letztlich im Dunkel der Geschichte verlieren. So schreibt Anthony Smith: Organic nationalism holds that the world consists of natural nations, and has always done so, that nations are the bedrock of history and the chief actors in the historical drama […] members of nations may, and frequently have, lost their national self-consciousness along with their independence, and the duty of nationalists is to restore that self-consciousness and independence to the ‘reawakened’ organic nation.278
Die frühe taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung konnte für die behauptete Existenz der eigenen Nation hingegen lediglich einen Zeitraum von maximal 400 Jahren reklamieren – ein eher dürftiger Zeitraum auch im Vergleich mit dem Han-chinesischen Nationalismus, welcher mit Stolz auf eine über 4000jährige Geschichte der chinesischen Nation verweist.
276
Die Definition einer „Taiwanesischen Sprache“ ist schwierig. Die am meisten verbreitete Sprache auf Taiwan ist das so genannte Minnanyu 䯙ই䃎, das auch in der Provinz Fujian auf dem Festland gesprochen wird. Es herrschen allerdings Meinungsverschiedenheiten darüber, ob und in welchem Maße sich die taiwanesische Spielart vom festländischen Minnanyu unterscheidet, wobei auch berücksichtigt werden muss, dass innerhalb Taiwans verschiedene Dialekte existieren. Im Rahmen der vorliegenden Arbeit würde eine eingehende Diskussion dieser Frage zu weit führen, hier soll der Begriff „Taiwanesisch“ synonym zu Minnanyu verwendet werden. Zudem ist anzumerken, dass auf Taiwan noch weitere lokale Sprachen existieren: Hakka (Kejiahua ᇒᇦ䂡) und die Sprachen der verschiedenen Ureinwohnerstämme – wenngleich sich diese Sprachgruppen gegenüber dem Minnanyu und dem Mandarin in einer deutlichen Minderheit befinden. 277 Hierbei tat sich insbesondere Wang Yude hervor, der ein renommierter Linguist war. 278 Smith 1971: 146.
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Es wird zudem offenkundig, dass Liao Wenyi mit dieser Theorie eines ethnisch verstandenen Nationalismus an die vorangegangene Periode der japanischen Kolonialherrschaft anknüpfen wollte. Ebenso wie die Japaner, die sich ethnisch deutlich von den Taiwanesen abgehoben hatten, sollten nun auch die Han-Chinesen als Fremdvolk gekennzeichnet und in ihrer Gesamtheit bekämpft werden. Laut Huang Zhaotang war diese Form des „taiwanesischen Nationalismus“ notwendig, um gegenüber dem Ausland und vor allem den Japanern den Kampf für die taiwanesische Unabhängigkeit verständlich zu machen: Für Ausländer besteht äußerlich kein Unterschied zwischen Taiwanesen und Chinesen […] Für Liao Wenyi […] war der Beweis, dass ‚Taiwanesen keine Chinesen sind’, die einfachste Vorgehensweise, um den Japanern begreiflich zu machen, warum Taiwan die Unabhängigkeit erstrebte. Für die Praxis der [Unabhängigkeits-] Bewegung war der taiwanesische Nationalismus eine Notwendigkeit und eine wirksame Waffe.279
4.3.2.2 Taiwan zwischen Volk und Nation: Das Nationalismuskonzept des Wang Yude Der erste umfassende Gegenentwurf zu der „Theorie des Mischblutes“ wurde zu Beginn der 60er Jahre von Wang Yude entwickelt. 280 Laut Wang beruhte ein großer Teil der Konfusion, der die Vorstellung einer „taiwanesischen Nation“ umgab, auf der unscharfen Verwendung des chinesischen Begriffes minzu,281 der je nach Kontext die Bedeutung von „Staat“, „Nation“ oder „Volk“ (im Sinne von ethnische Gruppe oder Rasse) annehmen konnte. Wang führte daher den aus dem Deutschen entlehnten Begriff „Volk“ ein, um eine inhaltliche Abgrenzung zu dem Terminus „Nation“ zu ermöglichen. Mit „Volk“ wurde dabei das frühe Stadium einer noch nicht entwickelten Nation bezeichnet. Die Ursprünge des chinesischen Han-Volkes reichen laut Wang Yude historisch weit in die Vergangenheit zurück, es zeichnete sich über Jahrhunderte durch überragende kulturelle Leistungen aus – Wang spricht gar, ohne erkennbare Ironie, von dem „Super-Volk“ der Han: Bis zur Mitte der Qing-Dynastie hatte das Han-Volk ohne Zweifel eine glorreiche Geschichte und eine überragende Kultur vorzuweisen […] Auch ich denke, dass das Han-Volk ein in der Geschichte selten aufzufindendes und großartiges Volk, ja sogar ein Super-Volk, war.282
Gerade die kulturelle Überlegenheit des Han-Volkes erwies sich jedoch zur Zeit der späten Qing-Dynastie als entwicklungshemmend. Nach der Konfrontation mit dem Westen im 19. Jahrhundert war China, das sich in einem übersteigerten Überlegenheitsgefühl seiner kulturellen Ausnahmestellung als Mittelpunkt der Welt betrachtete, über lange Zeit nicht in der 279
Huang Zhaotang 1998: 81. Eine umfassende Darlegung seiner Theorie veröffentlichte Wang Yude unter dem Titel „Theorie der taiwanesischen Nation“ (Taiwan minzu lun ਠ⚓≁᯿䄆) in drei Teilen in der Zeitschrift Taiwan qingnian. Die Beiträge, erschienen in den Nummern 35-37 (Oktober bis Dezember 1963), waren ursprünglich auf Japanisch verfasst. Eine chinesische Übersetzung findet sich in der Zeitschrift Gongheguo zazhi/The Republic, Nr. 24-26 (April bis Juni 2002). Die Beiträge sind im Internet aufzufinden unter: Teil 1: www.taiwannation.org.tw/republic/rep21-30/no24_11.htm Teil 2: www.taiwannation.org.tw/republic/rep21-30/no25_15.htm Teil 3: www.taiwannation.org.tw/republic/rep21-30/no26_12.htm 281 Minzu ≁᯿ 282 Wang Yude 1963b. 280
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Lage, notwendige Reformen in Richtung einer umfassenden Modernisierung zu bewältigen – im Gegensatz etwa zu Japan. Das Ergebnis war, dass China über Jahrzehnte auf dem Stadium des „Volkes“ verharrte und den wichtigen Schritt zur Nation erst mit erheblicher zeitlicher Verzögerung vollzog. Die Zusammensetzung des Han-Volkes war, bedingt durch die vertikale und horizontale Diversifikation einer feudalen Gesellschaftsordnung, zudem heterogen strukturiert. Innerhalb der Han existierten verschiedene „kleine Völker“ (xiao Volk) – dies galt zum Beispiel auch für die Vorfahren der Taiwanesen, die in den abgelegenen Küstenregionen von Fujian und Kanton siedelten und dort ein verhältnismäßig rückständiges Untervolk der Han bildeten.283 In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts begannen diese frühen Vorfahren der Taiwanesen mit der Besiedlung der Insel und bildeten dort, bedingt durch die neuen geographischen Bedingungen eines Inseldaseins, allmählich ein eigenständiges Volk aus. Die Entwicklung vom Volk zur Nation geschah laut Wang Yude im Zuge der industriellen Revolution und der Entstehung des kapitalistischen Wirtschaftssystems, das durch die Entstehung eines gemeinsamen Marktes eine weitere Verdichtung der losen Volksgemeinschaft bedingte. Für die nationale Theorie des Wang Yude ist entscheidend, dass diese Schritte zu einem modernen Nationalstaat auf Taiwan unter vollkommen anderen Voraussetzungen (und zu einem wesentlich früheren Zeitpunkt) einsetzten als auf dem chinesischen Festland. Seit der japanischen Okkupation im Jahr 1895 befanden sich die Taiwanesen in einem beständigen Abwehrkampf gegen die japanische Dominanz, die gemeinsame Erfahrung der diskriminierenden Ungleichbehandlung als „Bürger zweiter Klasse“ unter der japanischen Kolonialherrschaft stärkte das Bewusstsein einer taiwanesischen Schicksalsgemeinschaft. Zudem wurden durch die Modernisierungsmaßnahmen, die Japan in eigenem Interesse auf der Insel durchführte, allmählich die objektiven Voraussetzungen für die Nation-Werdung geschaffen – insbesondere durch die Anfänge eines kapitalistischen Wirtschaftssystems, die infrastrukturelle Erschließung der Insel und die Einführung des Japanischen als gemeinsame Hochsprache. Eine tragische Wendung in der taiwanesischen Geschichte war jedoch die Tatsache, dass die Mehrzahl der Taiwanesen ihre nationale Eigenheit, die sich insbesondere in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer deutlicher ausprägte, lange Zeit nicht erkannte und einem sentimentalen Streben nach dem „chinesischen Vaterland“ nachhing. Dies habe die nationale Entwicklung Taiwans entscheidend gehemmt: Historische Spekulationen sind zwar nicht sehr sinnvoll, aber nur einmal angenommen, die Taiwanesen hätten damals die Situation in China erkannt und es wäre ihnen der Unterschied zwischen Chinesen und Taiwanesen bewusst geworden. Dann hätte Japan vielleicht zur Anerkennung eines höheren Maßes an Selbstverwaltung [für Taiwan] gezwungen werden können, und später wäre es ein leichtes gewesen, die vollständige Unabhängigkeit zu erlangen […] Der taiwanesischen Nation, die in der japanischen Periode entstand, fehlte daher der letzte Schliff. Aber verglichen mit den Chinesen, die damals noch auf der verworrenen Stufe eines „Volkes“ verharrten, gab es doch schon einen entsprechenden Fortschritt. 284
Laut Wang trat die latent vorhandene taiwanesische Nation erst mit dem 228-Aufstand in Erscheinung. Durch die direkte Konfrontation zweier verschiedener Gesellschaften – der in 283
Die Anfänge dieses Untervolkes der Han in Fujian und Kanton datiert Wang Yude historisch auf das 8. Jahrhundert. Wang Yude 1963b. 284 Wang Yude 1963b
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Entwicklung begriffenen taiwanesischen Nation auf der einen, der rückständigen chinesischen Volksgemeinschaft auf der anderen Seite – seien die objektiven Unterschiede manifest geworden, der 228-Aufstand sei daher sowohl Geburtshelfer als auch unvermeidliche Begleiterscheinung der taiwanesischen Nation gewesen. Selbst in der Zeit nach dem 228Aufstand habe die taiwanesische Nation jedoch noch nicht ihre Vollendung erreicht. Dazu bedürfe es erst einer erfolgreichen Staatsgründung: Nur mit den Mitteln eines modernen Staates, insbesondere des Schul- und Erziehungswesens, könne sich eine Nation erfüllen. „Ein Staat verhält sich zu einer Nation wie ein Gefäß zum Inhalt […] Ich bin überzeugt, dass die Taiwanesen, sobald sie einen eigenen Staat gegründet haben, sofort zu einer Nation reinsten Wassers werden.“ 285
4.3.2.3 Klassenkampf und nationale Befreiung: Das Nationalismuskonzept des Shi Ming Etwa gleichzeitig mit Wang Yude entwickelte Shi Ming sein Konzept einer marxistisch gefassten nationalen Theorie. Im globalen Vergleich war dieses Phänomen nicht ungewöhnlich: Die Mehrzahl der postkolonialen Befreiungsbewegungen nach dem Zweiten Weltkrieg waren in ihren Anfängen zumindest vordergründig von einem marxistischen Weltbild geprägt. Die Besonderheit der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung bestand eher darin, dass der marxistische Ansatz – trotz des großen persönlichen Ansehens Shi Mings – zu keinem Zeitpunkt einen nachhaltigen Einfluss auf die Bewegung nehmen konnte. Das Nationalismuskonzept des Shi Ming stand zunächst vor der Schwierigkeit, dass sich der Marxismus nur bedingt als Instrument einer nationalen Befreiungsideologie eignet. Grundlage der marxistischen Theorie ist der Klassenkampf, dessen Träger (das internationale Proletariat) gerade nicht durch nationale Grenzen bestimmt wird. Das Heilsversprechen des Marxismus gilt in erster Linie den Unterdrückten aller Länder, Ziel des marxistischen Klassenkampfes ist eine klassen- und staatenlose Gesellschaft.286 Die Versöhnung zwischen der grundsätzlich internationalistischen Perspektive des Marxismus und dem Anliegen der nationalen Befreiung versucht Shi Ming, wie gezeigt werden soll, über eine Gleichsetzung zwischen den „Fremdherrschern“ über Taiwan (insbesondere Japan und China) und der ausbeutenden Klasse der Bourgeoisie zu erzielen. In ihren Grundlagen ähnelt die nationale Theorie in vielen Punkten dem Ansatz des Wang Yude. Ebenso wie Wang geht Shi Ming von einer primitiven Vorstufe der nationalen Identität aus, in der objektive Merkmale wie Kultur, Sprache und Blutsbande die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft bestimmen. Diese Vorstufe, die weitgehend dem „Volks“Begriff bei Wang Yude entspricht, bezeichnet Shi als „(Volks)-Stamm“, „Sippschaft“ oder 285
Wang Yude 1963b Der Zusammenhang zwischen Marxismus und Nationalismus ist durchaus komplex und diffus: Unzweifelhaft war der marxistischen Ideologie in den nationalen Befreiungsbewegungen seit Beginn des 20. Jahrhunderts eine große Bedeutung zugekommen. Karl Marx selbst hatte sich jedoch nur sehr sporadisch über die nationale Frage geäußert, so etwa in seiner Kritik an dem deutschen Nationalisten Friedrich List (1789-1846): „Marx thought that the Industrial Revolution, and the concomitant rule of the bourgeoisie, prompted the unification of the world and obliterated national differences. (Communism, he thought, would abolish nations themselves) […] While Marx saw the necessity of workers uniting across nations against the bourgeoisie, List called for the unification of all segments of a nation against other nations.“ Szporluk 1988: 4. Ernest Gellner sprach in diesem Zusammenhang von einem „Falschen Adressaten“: Das Heilsversprechen des Marxismus, dass ursprünglich an die proletarische Klasse adressiert war, wurde irrtümlich von den Nationen aufgegriffen. Vgl. Gellner 1983: 129. 286
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„Rasse“.287 Die Vorfahren der Taiwanesen waren in dieser frühen historischen Phase, ebenso wie die Chinesen des Festlandes, der Han-Ethnie zugehörig. Sie durchliefen jedoch seit der Besiedlung der Insel, die im 16. Jahrhundert einsetzte, eine eigenständige historische Entwicklung, die sich durch drei Besonderheiten auszeichnet: 1.
2.
3.
Die geographischen Rahmenbedingungen einer Insel, verbunden mit Überseehandel und dem Kontakt mit fremden Kulturen, führten zur Entstehung einer spezifischen Mentalität. Gefördert wurden etwa Pioniergeist und Wagemut – Charakteristika, die dem feudalistisch versiegelten Festland fremd blieben. Seit der holländischen Kolonialherrschaft im 17. Jahrhundert waren die Taiwanesen einem merkantilistisch geprägten Wirtschaftssystem, einer Vorstufe des Kapitalismus, ausgesetzt. Die wichtigste historische Erfahrung bestand jedoch in der ökonomischen Ausbeutung durch wechselnde Kolonialherren. Durch den beständigen Abwehrkampf gegen Fremdherrscher entstand auf Taiwan allmählich ein „Taiwan-Bewusstsein“, 288 das vor allem durch das Streben nach Selbstbestimmung und Autonomie gekennzeichnet war.
Schon vor der japanischen Kolonialherrschaft war also nach Shi Ming ein „Taiwan-Bewusstsein“ als Ausdruck der eigenständigen historischen Erfahrung in Erscheinung getreten, das die Taiwanesen objektiv von den Chinesen auf dem Festland unterschied – wenngleich Shi Ming einräumt, dass dieses Bewusstsein auf der Ebene einer diffusen und intuitiven Wahrnehmung angesiedelt war. Bewaffnete Konflikte auf Taiwan hätten sich daher nicht nur gegen die Fremdherrscher gerichtet, oftmals sei es auch zu internen Kämpfen zwischen den verschiedenen Volksgruppen auf Taiwan gekommen. Die Weiterentwicklung dieses diffusen Taiwan-Bewusstseins hin zu einem reflektierten Nationalismus geschah laut Shi Ming in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts. Shi macht hierfür ähnliche Faktoren wie Wang Yude aus: Die Expansion des kapitalistischen Wirtschaftssystems und die damit einhergehenden Modifikationen der taiwanesischen Gesellschaft; die Errichtung eines modernen Erziehungs- und Schulwesens und die Verbreitung von modernen, westlichen Nationalstaatskonzepten; die infrastrukturelle Erschließung der Insel und die Einführung einer einheitlichen Hochsprache. Der Kampf gegen die Ausbeutung durch Fremdherrscher, der schon seit Jahrhunderten die historische Erfahrung Taiwans prägte, konnte damit in ein neues Reifestadium treten. Die taiwanesische Gesellschaft […] sowie das Taiwan-Bewusstsein und der taiwanesische Nationalismus waren das historische Produkt, das im Prozess des bitteren Kampfes von Generationen [unserer] Vorfahren, der regen Immigration und Erschließung brachliegenden Landes, der gesellschaftlichen Modernisierung, der Ausbreitung von Kapitalismus und der Industrialisierung sowie des anti-kolonialen Kampfes entstand.289
Ein großer Unterschied zu Wang Yude besteht darin, dass Shi Ming wesentlich stärker ökonomische Ausbeutungsverhältnisse in den Mittelpunkt seiner Betrachtung stellt. Die Trennlinie zwischen den Trägern des taiwanesischen Nationalismus, den „Taiwanesen“, 287
Zuqun ᯿㗔, xuezu 㹰᯿, zhongzu ぞ᯿ Taiwan yishi ਠ⚓䆈 289 Shi Ming 1998: 1121. 288
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und den „Fremdherrschern“, verläuft bei ihm entlang der ökonomisch definierten Interessenlagen. Träger der nationalen, antikolonialen Befreiungsbewegung seien daher nicht die gebürtigen Taiwanesen per se – auch unter ihnen habe es stets Opportunisten gegeben, die mit den Fremdherrschern kooperierten und sich damit zu Feinden der nationalen Bewegung machten. Einen entscheidenden Wendepunkt in diesem Ringen um nationale Eigenständigkeit sieht Shi Ming, ebenso wie Wang Yude und Liao Wenyi, in der Phase zwischen 1945 und dem 228-Aufstand. Nach der Übernahme der Provinz im Jahr 1945 hätten sich die neuen chinesischen Herrscher die Unterdrückungsmechanismen der japanischen Kolonialherren zu eigen gemacht und, unterstützt von einem faschistischen Agenten- und Polizeiapparat, die ökonomische Ausbeutung und politische Unterdrückung der Insel fortgesetzt. Damit hätten die Festländer schließlich einen Aufstand der unterdrückten Massen provoziert. In seiner Betrachtung des 228-Aufstandes interessiert sich Shi Ming – im Unterschied zu den meisten Autoren – kaum für die politischen Verhandlungen in Taipei. Die „Schlichtungskommission“ sei kurz nach ihrer Gründung von taiwanesischen Opportunisten und Kollaborateuren der herrschenden Schicht unterwandert worden und sei daher für den weiteren Verlauf des Aufstandes irrelevant. Im Zentrum der Betrachtung steht hingegen der „Volksaufstand“ in Mittel- und Südtaiwan, insbesondere die „Schlacht von Puli“ (siehe 3.4.2.), in der Shi Ming den eigentlichen nationalen Befreiungskampf verwirklicht sieht. Das Scheitern des 228-Aufstandes führt Shi Ming unter anderem darauf zurück, dass die unterdrückte gesellschaftliche Schicht der Bauern (laut Shi verfügte Taiwan damals noch nicht über ein nennenswertes Industrieproletariat) nicht ausreichend in den Aufstand eingebunden worden sei: Es fehlte die [richtige] Erkenntnis der „Geschichte des revolutionären Kampfes auf Taiwan“; es wurde versäumt, die breite Masse der Bauern zum Aufstand [zu bewegen] und am bewaffneten Kampf zu beteiligen. Es mangelte an einer revolutionären Strategie für die Bauerndörfer – dies waren wichtige Gründe für das Scheitern der Revolution.290
Insgesamt wird deutlich, wie Shi Ming die Ausbeutungsverhältnisse des Klassenkampfes auf die taiwanesische Geschichte der kolonialen Fremdbestimmung überträgt und den nationalen Befreiungskampf als einen Kampf des unterdrückten Proletariats der Bauern gegen die unterdrückende Schicht der Fremdherrscher (und ihrer taiwanesischen Kollaborateure) fasst. Der Klassenkampf ist auch das letzte Ziel Shi Mings, die nationale Befreiung wird nur als ein erster Schritt auf dem Weg der proletarischen Revolution verstanden. So schreibt Shi Ming noch im Jahr 2001 über die aktuellen Verhältnisse auf Taiwan: Insbesondere die große Masse der Werktätigen, die ins Joch der Arbeit eingespannt sind, […] werden auf die unteren Ebenen der Gesellschaft gedrängt und haben mit der politischen Macht, den wirtschaftlichen Monopolen und den Medien von Kultur und Erziehung nicht das Geringste zu tun. Vor allem die große Masse der Arbeiter […] müssen täglich den bitteren Geschmack von Beleidigungen, Lügen und Nötigung erfahren, sie werden in eine hoffnungslose Lage ohne jeden Ausweg gedrängt. Sie hoffen, dass bald der Tag kommen möge, an dem sie ihr Haupt erheben […]291
290 291
Shi Ming 1998: 823. Shi Ming 2001: 49f.
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4.3.2.4 Nationalismus und der Kampf um Unabhängigkeit – die praktische Ebene Bei der Betrachtung der verschiedenen Nationalismuskonzepte sollte berücksichtigt werden, dass die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung vor allem praktische Resultate anstrebte. Eine nationale Theorie musste nicht in erster Linie historische Wahrheiten reflektieren, sondern plausibel sein – plausibel in dem Sinne, dass sie sich als tragfähig für das eigentliche Anliegen der Bewegung, der Schaffung eines unabhängigen Staates, erwies. Dies war nur über die erfolgreiche Mobilisierung der Massen zu erreichen: Eine abstrakte Diskussion etwa über die Frage, wann der Kapitalismus nach Taiwan vorgedrungen war und welche Auswirkungen dies möglicherweise auf das „taiwanesische Bewusstsein“ genommen hatte, war in dieser Hinsicht wenig hilfreich. Es mussten einfache, griffige Parolen gefunden werden, die den Widerstandsgeist der taiwanesischen Bevölkerung entfachen konnten. Zu Beginn der 60er Jahre musste sich die Unabhängigkeitsbewegung der Tatsache stellen, dass ihre bisherigen Bemühungen auf diesem Felde weitgehend fruchtlos geblieben waren; das Gefühl der Ohnmacht ließ die Frage der erfolgreichen Massenmobilisierung zu einer Obsession werden. Die „Theorie des Mischblutes“ des Liao Wenyi betonte, wie beschrieben, die ethnische Eigenständigkeit der Taiwanesen gegenüber den Festländern, die sich in Sprache, Kultur und Blutsbanden manifestiere. Dieser Ansatz hatte den Vorteil, dass ein leicht zu verinnerlichendes Feindbild präsentiert werden konnte; der Hass auf das tyrannische und von Festländern dominierte KMT-Regime, der nach dem 228-Aufstand weit verbreitet war, konnte somit kanalisiert und für die Zwecke der Unabhängigkeitsbewegung nutzbar gemacht werden. Der große Nachteil eines ethnisch verstandenen taiwanesischen Nationalismus war hingegen, dass die nationale Identität quasi schicksalhaft vorbestimmt war und nicht durch den individuellen, subjektiven Akt des Bekenntnisses zu Taiwan oder durch objektives Geburtsrecht erworben werden konnte. Festländer, selbst wenn sie auf Taiwan geboren waren oder mit den Zielen der Unabhängigkeitsbewegung sympathisierten, blieben daher prinzipiell von der taiwanesischen Nation ausgeschlossen. Seit Beginn der 60er Jahre stieß diese „Theorie des Mischblutes“ in Teilen der Unabhängigkeitsbewegung auf Ablehnung; insbesondere für die jüngere Generation wurde das vermittelte Feindbild zunehmend fragwürdig. Hierfür wurden humanitäre Gründe angeführt: Ein großer Teil dieser „neuen Einwanderer“ sei im Laufe der Jahre auf Taiwan heimisch geworden und hätte sich als neuen Bevölkerungsgruppe etabliert. Wenn [die Festländer] nicht länger China, sondern Taiwan als ihre Heimat betrachten und nur den Wunsch haben, dass ihre Nachkommen auf Taiwan leben und sterben, was für ein Unterschied besteht dann noch zu den Taiwanesen, die schon vor dem [Zweiten Welt-] Krieg hier lebten? Dann geht es doch nur noch darum, zu welchem Zeitpunkt man nach Taiwan gekommen ist! […] In den letzten 20 Jahren hat die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung ihr Feindbild immer auf dem Konflikt zwischen den Taiwanesen, die schon lange hier leben, und den [Festländern], die nach dem Krieg nach Taiwan kamen, errichtet. Man muss sagen, dass dies ein großer Fehler war.292
Der ethnisch verstandene Nationalismus des Liao Wenyi wurde jedoch auch aus strategischen Gründen abgelehnt. Zum einen sei es töricht, den Kampf um Unabhängigkeit gegen 292
Song Zhongyang 1969: 12f.
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einen beträchtlichen Teil der Bevölkerung 293 zu führen, der darüber hinaus unbestritten einen großen Teil der politischen, militärischen und gesellschaftlichen Ressourcen kontrollierte. Zum anderen sei auch die junge Generation der taiwanesischen Unabhängigkeitsaktivisten, die oftmals in Studienaufenthalten im Ausland mit modernen Nationalvorstellungen vertraut geworden war, mit einer archaisch anmutenden „Theorie des Mischblutes“ nicht länger zu begeistern Auf Grundlage eines ethnisch verstandenen Nationalismus war es jedoch faktisch nicht möglich, die Festländer auf Taiwan in den nationalen Befreiungskampf zu integrieren. Hierbei musste bedacht werden, dass sich die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung mit dem großchinesischen „Han-Nationalismus“ der KMT (und der VRCh) konfrontiert sah, zu dem ein Gegenmodell präsentiert werden musste. Je mehr man sich gegenüber den Festländern auf Taiwan öffnete, desto schwieriger wäre es, sich von den Festländern auf dem Festland abzuheben und gegen den Han-Nationalismus anzukämpfen, der gleichermaßen von der VRCh und der KMT propagiert wurde. Die nationale Theorie des Wang Yude – und, in geringerem Maße, des Shi Ming 294 – konnte nun einen Ausweg aus diesem Dilemma weisen. Die Unabhängigkeitsbewegung war nun nicht länger darauf angewiesen, eine ethnische Eigenständigkeit gegenüber China zu behaupten. Wang Yude räumte ein, dass die Taiwanesen in ihrer Mehrzahl ebenso wie die Chinesen der Han-Ethnie angehörten. Gleichzeitig wurde diese ethnische Zugehörigkeit jedoch auf die vormoderne Stufe des „Volkes“ verbannt, die für das Verständnis eines modernen Nationalstaates allenfalls von nachgeordneter Relevanz sei. Für Wang gab es infolgedessen auch keinen zwingenden Grund mehr, die Festländer auf Taiwan vom nationalen Befreiungskampf auszuschließen: Man muss an dieser Stelle klar feststellen, dass die Taiwanesen lediglich das KMT-Regime stürzen wollen, und nicht die zwei Millionen Chinesen [auf Taiwan] in ihrer Gesamtheit als Feinde betrachten. Wer von ihnen [nach der erfolgreichen Revolution] auf das Festland zurückkehren will, der sollte dabei unterstützt werden; wer auf Taiwan verbleiben möchte, der sollte freundlich aufgenommen werden; wer weiterhin Chinese bleiben möchte, der sollte das Aufenthalts [Recht] eines Ausländers [erhalten], wer zum Taiwanesen werden will, dem sollte dies gestattet werden. Wir wollen, wie unsere Vorfahren, neue [Einwanderer] mit Sanftmut willkommen heißen.295
293 Die Mehrzahl der Quellen dieser Zeit bezifferte den prozentualen Bevölkerungsanteil der „Festländer“ auf etwa 15%. Stéphane Corcuff wies jedoch darauf hin, dass die genaue Anzahl der Festländer, die zwischen 1945 und 1955 nach Taiwan übersiedelten, nur schwer zu ermitteln sei. Einerseits existierten für diesen Zeitraum nur lückenhafte Bevölkerungsstatistiken, zum anderen hätte das KMT-Regime aus politischen Gründen die Zahl der Festlandchinesen auf Taiwan bewusst zu hoch angesetzt. Vgl. Corcuff 2004: 26ff. 294 Bei Shi Ming lässt sich in der Frage der nationalen Zugehörigkeit von Taiwanesen und Festländern eine Entwicklung feststellen. In der frühen Phase ging Shi Ming auf Grund der unterschiedlichen historischen Erfahrungen von einer klaren Trennung dieser beiden Gruppen aus. In späteren Jahren revidierte Shi Ming jedoch diese Ansicht und vertrat nun den Standpunkt, dass ein bloßes Bekenntnis zu Taiwan ausreichend sei, um Teil der taiwanesischen Nation zu werden. „[…] ungefähr 15% der Gesamtbevölkerung Taiwans besteht heute aus Han-Chinesen, die auf Taiwan wohnen und leben. Wenn sie ihre aggressive und reaktionäre [Haltung] der Vergangenheit aufgeben, sich von neuem mit dem Boden und der historischen Gesellschaft identifizieren und entschlossen mit ‚Taiwan’ gemeinsam leben oder untergehen wollen, dann werden wir sie mit offenen Armen willkommen heißen.“ Shi Ming 2001: 53. 295 Wang Yude 1963c
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Für die Unabhängigkeitsbewegung ergab sich zu Beginn der 60er Jahre damit die Möglichkeit, den Kampf auf eine neue strategische Grundlage zu stellen, und (wie die damaligen Formulierungen lauteten) die „nationale Revolution“, die sich gegen alle Festländer auf Taiwan richtete, durch eine „politische Revolution“ aller Bewohner Taiwans gegen das autoritäre KMT-Regime zu ersetzen. Die Unabhängigkeitsbewegung der 60er Jahre war von einer leidenschaftlichen Debatte um diese beiden Alternativen geprägt; in der Hauptströmung der Bewegung konnte sich die Vorstellung einer „politischen Revolution“ jedoch nicht durchsetzen. Zwar wurde der Kampf um nationale Unabhängigkeit auch von Seiten der „Vereinigten Liga“ nicht länger ausschließlich mit ethnischen Differenzen begründet, auch das Ziel einer Vertreibung der Festländer wurde deutlich abgemildert.296 Es sei jedoch weltfremd, so wurde argumentiert, eine strategische Allianz zu den Festländern auf Taiwan zu suchen, so lange nicht identische Interessenlagen bestünden. Die Festländer bildeten (von wenigen Ausnahmen abgesehen) nach wie vor eine privilegierte Herrscherschicht, ein Sturz des Regimes könne daher nicht in ihrem Interesse sein. Zudem, so Gu Kuanmin, müsse eine um Festländer erweiterte Bewegung Gefahr laufen, ihre klaren Konturen zu verlieren und den Rückhalt der taiwanesischen Massen einzubüßen: […] Großmut gegenüber Feinden ist eine Tugend. Aber auf der Welt kann und sollte es keine Staatsoberhäupter oder nationale Anführer geben, die sich nicht gegen die Feinde des eigenen Volkes wenden […] Wir müssen darauf bedacht sein, dass wir uns auf keinen Fall von den zehn Millionen Taiwanesen isolieren. Bevor wir die zwei Millionen chinesischen Flüchtlinge in Erwägung ziehen, sollten wir zuerst an unsere zehn Millionen Mitbürger denken […] 297
4.3.3 Der 228-Aufstand Die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung in Japan stand insbesondere in ihren Anfangsjahren ganz im Zeichen des 228-Aufstandes; die Bewegung verstand ihren Kampf gegen das KMT-Regime als „Rache für den 228-Aufstand“. Dies lässt sich zum Teil durch die persönlichen Biographien der frühen Aktivisten erklären: In der frühen Unabhängigkeitsbewegung fanden sich zahlreiche prominente Akteure, die selbst durch den Aufstand gelitten oder Verwandte in den Massakern verloren hatten. Trotz der mangelhaften Kenntnis über den 228-Aufstand wurde der Aufstand als erstes Beispiel und Vorbild für eine gewaltvolle Erhebung gegen die chinesische Fremdherrschaft glorifiziert, und die Bewegung verfolgte das erklärte Ziel, den Aufständischen des Jahres 1947 nachzufolgen.
296 Nach Vorstellung des Gu Kuanmin sollte den Festländern nach Gründung der Republik Taiwan die Rückkehr auf das chinesische Festland nahe gelegt und ermöglicht werden. Wer auf Taiwan verbleiben wolle, solle zunächst unter Ausländerrecht gestellt werden und erst nach dem gesetzlich vorgeschriebenen Prozedere die Option auf eine taiwanesische Staatsbürgerschaft erhalten. Festländer, die auf Taiwan geboren wurden, sollten hierbei bevorzugt behandelt werden – Täter des 228-Aufstandes sollten hingegen ausdrücklich ausgeschlossen bleiben. Vgl. o.A. 1968b: 4f. 297 Gu Kuanmin 1966: 24f.
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4.3.3.1 Mangelhafte Quellenlage Wie im vorangegangenen Kapitel beschrieben, wurde der 228-Aufstand in allen Lagern der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung als entscheidender Wendepunkt in der Entstehung des taiwanesischen Nationalbewusstseins und als eines der wichtigsten Ereignisse der taiwanesischen Geschichte überhaupt aufgefasst. Es mag daher erstaunen, dass die historische Aufarbeitung des 228-Aufstandes eine relativ untergeordnete Rolle einnahm. Ein erster umfangreicher Bericht über den Aufstand erschien erst im Jahr 1961 in der Zeitschrift Taiwan qingnian,298 und wenngleich der 228-Aufstand in der Folgezeit zu einem festen Bestandteil der Februar-Ausgaben der jeweiligen Jahrgänge der Taiwan qingnian wurde, war in dem beobachteten Zeitraum bis 1970 nur ein mal der Versuch unternommen worden, an die Berichterstattung des Jahres 1961 anzuknüpfen und eine historisch fundierte Darstellung des Aufstandes zu präsentieren: Der Beitrag „Die Wahrheit über die 228-Revolution“ aus dem Jahr 1967.299 Auch in den beiden großen taiwanesischen Geschichtswerken, die in der ersten Hälfte der 60er Jahre entstanden, nahm der 228-Aufstand einen erstaunlich kleinen Umfang ein. Das monumentale Werk „Die 400jährige Geschichte der Taiwanesen“ von Shi Ming widmet dem Aufstand nur 44 von insgesamt 1840 Seiten; Wang Yude behandelt das Thema in seinem Buch „Die bedrückende Geschichte Taiwans“ auf gerade einmal fünf von 258 Seiten. Ein gewichtiger Grund hierfür war die mangelhafte Quellenlage. In den 60er Jahren waren neben den offiziellen Stellungnahmen der Regierung und den einschlägigen Zeitungsberichten des Jahres 1947 nur sehr wenige Quellen bekannt, die eine alternative und umfassende Sicht des Aufstandes ermöglicht hätten. Gelegentlich konnte die einseitige Darstellung des KMT-Regimes mit Augenzeugenberichten von Beteiligten und Beobachtern des Aufstandes kontrastiert werden. So berichtete etwa Shi Ming gegenüber dem Autor, dass er bei der Abfassung seines historischen Werkes in der glücklichen Lage gewesen sei, auf die Berichte von Verwandten zurückgreifen zu können: Der ältere Bruder von Wang Tiandeng [führendes Mitglied der Schlichtungskommission], Wang Shuiliu, war der Ehemann meiner Tante. Sein jüngerer Bruder war also ein Held des 228 in Taipei […] In Taizhong gab es Xie Xuehong, und ihr Sekretär hieß Shi Linliu. Der war der jüngere Bruder meines Vaters […] Er wurde nach dem 228 im März verhaftet und Ende 1948 wieder freigelassen. Ich kam im Mai 1949 nach Taiwan und habe beide getroffen. Die Informationen zum 228-Aufstand in meinem Buch „Die 400 jährige Geschichte der Taiwanesen“ habe ich von den beiden [Wang Shuiliu und Shi Linliu]. Daher hatte ich Informationen aus erster Hand.300
298 Die Jubiläumsausgabe der Taiwan qingnian zum einjährigen Bestehen der Zeitschrift erschien im Februar 1961 als Sondernummer zum 228-Aufstand. Der Bericht, erschienen auf Japanisch, hinterließ laut Chen Mingcheng einen tiefen Eindruck auf viele taiwanesische Auslandsstudenten in Japan. Das Thema sei als so sensibel empfunden worden, dass einige Leser es nicht gewagt hätten, Fingerabdrücke auf der Zeitschrift zu hinterlassen; daher seien die Seiten mit Hilfe von Essstäbchen umge-blättert worden. Vgl. Chen Mingcheng 1992: 17. 299 Gao Huaimin 1967: 5-45. Nach den vorangestellten Beobachtungen dürfte es nicht erstaunen, dass der Beitrag oftmals vereinfachend und (verglichen mit dem heutigen Kenntnisstand) fehlerhaft war. So findet sich in dem Artikel auf Seite sieben ein Eintrag über die Ereignisse des „29.2.1947“ – das Jahr 1947 war kein Schaltjahr. Derselbe Fehler findet sich noch im Jahr 1984 in einem Beitrag der Zeitschrift Qianjin/Progress. Vgl. Bing Gu 1984: 10. Es ist jedoch zweifelhaft, ob hierbei eine direkte Beeinflussung vorlag. In den beiden Artikeln sind unter dem „29.2“. jeweils unterschiedliche Ereignisse festgehalten. 300 Interview mit Shi Ming am 14.10.03 .
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Eine wichtige und oft zitierte Quelle dieser Zeit war das Buch „Die Februar-Revolution auf Taiwan“, das 1948 unter dem Pseudonym Lin Mushun veröffentlicht wurde. 301 In dem Werk wird der Versuch einer chronologisch und geographisch strukturierten Darstellung des Aufstandes unternommen, im Vorwort wird jedoch das oftmals ungewisse Fundament der Darstellung eingestanden: Dieses kleine Büchlein wurde nach Informationen von Genossen zusammengestellt, die Anführer oder Teilnehmer der Revolution waren […] viele dieser Genossen haben im Ausland Zuflucht gefunden […] daher konnte der Kampf an einigen Orten nicht in allen Einzelheiten geschildert werden, zudem war es kaum zu vermeiden, dass sich bezüglich einiger Orts-, Zeitund Namensangaben Ungenauigkeiten und Diskrepanzen [eingestellt] haben.302
Die mangelhafte Quellenlage führte dazu, dass eine historisch fundierte Auseinandersetzung mit dem 228-Aufstand in dieser frühen Phase kaum möglich war. Gerade der Mangel an verlässlichen Quellen eröffnete jedoch die Möglichkeit der Instrumentalisierung des Aufstandes für politische Zwecke. Deutlich zeigte sich diese Tendenz in der behaupteten Anzahl der Opfer: Angesichts des Fehlens jeder Art von verlässlichen Quellen konnte die behauptete Anzahl der getöteten Taiwanesen in nahezu beliebiger Höhe angesetzt werden. Das Spektrum der entsprechenden Zahlen erstreckte sich dabei von 20.000 über 50.000 (die beiden meistgenannten Schätzungen) bis hin zu über 100.000, eine Zahl, die von Wang Yude und Shi Ming eingeführt wurde und die höchste jemals behauptete Opferzahl darstellt (vgl. 9.2.4.3.). Die gewalttätigen Konflikte zwischen Taiwanesen und Chinesen bildeten das zentrale Element der historischen Bewertung des 228-Aufstandes. In erster Linie galt dies natürlich für die Gräueltaten der Regierungstruppen gegen die taiwanesische Zivilbevölkerung, die nach dem 8.3. die Ausmaße eines blutrünstigen, willkürlichen und sinnlosen Mordens angenommen hätten. Die Soldaten wussten nicht, was Taiwan für ein Ort war, aber die gewaltvolle Lust des Massakers riss alle [Soldaten] mit sich. In den vier Tagen vom 9.-13.3. wurde willkürlich geschossen. Männer und Frauen, Junge und Alte, die Einkäufe erledigen wollten, wurden auf der Straße ohne Unterschied niedergeschossen. Auf den Straßen und Gassen stapelten sich die Leichen von grausam verstümmelten Bürgern, [es flossen] Ströme von Blut, es war einfach ein furchtbarer Anblick […] In den Reihen der Armee meinte man damals: „Taiwanesen sind keine Chinesen, sie haben viele Chinesen getötet, natürlich muss man dafür Rache nehmen. Wenn man alle Taiwanesen umbringt, dann wird es auch nicht wieder zu einem Aufstand kommen“. 303
Bemerkenswerterweise wurden jedoch auch die Ausschreitungen der Taiwanesen gegen die Festländer in den ersten Tagen des Aufstandes nicht verheimlicht oder entschuldigt (wie
301 Die Identität des Lin Mushun ist in der Literatur umstritten. Günter Whittome geht von der Annahme aus, Lin Mushun sei das Pseudonym des bekannten taiwanesischen Kommunisten Su Xin. Vgl. Whittome 1991: 17. Lin Mushun war zudem der Name eines bekannten taiwanesischen Kommunisten, der in der Zeit der japanischen Okkupation auf Taiwan aktiv war. Im April 1928 hatte er zu den Mitbegründern der Kommunistischen Partei Taiwan in Shanghai gezählt. Zur Zeit des 228-Aufstandes war dieser Lin Mushun jedoch bereits verstorben. Chen Lifu vertritt daher die Ansicht, dass der Autor des Werkes „Die Februar-Revolution auf Taiwan“ in Wahrheit Yang Kehuan sei, der das Werk unter dem Namen des Lin Mushun veröffentlicht habe. Vgl. Zili zaobao, 28.2.90. 302 Lin Mushun 1948: 7. 303 Gao Huaimin 1967: 21f.
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dies in der späteren 228-Forschung tendenziell der Fall war), sondern mit einem Anflug von Stolz geschildert: [Am Nachtmittag des 29.2., d.h. 1.3.] verwandelte sich Taipei mit einem mal in eine Stadt des Schreckens. Mehr als 10.000 Menschen sammelten sich in allen Straßen und Gassen und verprügelten alle Chinesen, die sie sahen; [sie] prügelten, bis die Straßen von Blut gefärbt waren […] Überall hörte man Schreie „Schlagt die A-shan tot“, „Schlagt die Chinesen tot“. Die Militärgendarmen und die Polizei konnten nicht eingreifen, auf allen Straßen herrschte eine Stimmung von Zorn und Rache gegen die A-shan [Chinesen].304
Die differenzierte Frage nach den Gründen für die Eskalation des Aufstandes, konkret etwa nach den unterschiedlichen Wahrnehmungen der Provinzregierung des Chen Yi und der Zentralregierung in Nanjing oder den jeweils differierenden Interessenlagen der Delegierten der „Schlichtungskommission“ und der Masse des taiwanesischen Volkes, nahm hingegen in den populärwissenschaftlichen Quellen dieser Zeit eine nachgeordnete Bedeutung ein. Die historische Deutung des 228-Aufstandes wurde weitgehend reduziert auf den gewaltsamen Aufstand der unterdrückten und ausgebeuteten taiwanesischen Bevölkerung, die sich in gerechtem Zorn gegen die despotische Diktatur des aus ihrer Sicht kulturell rückständigen Volkes der Chinesen erhoben hatte und schließlich barbarisch niedergemetzelt wurde. Die differenzierte Bewertung der Festländer und ihre mögliche positive Rolle in der zukünftigen Unabhängigkeitsbewegung, die sich zu dieser Zeit in der Diskussion über eine „politische“ Revolution andeutete (s.o.), fand in der historischen Darstellung des 228Aufstandes also keinerlei Niederschlag.
4.3.3.2 Der 228-Aufstand als Mittel der politischen Propaganda Im Gegensatz zu der spärlichen wissenschaftlichen und populärwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem 228-Aufstand kam diesem eine große Bedeutung im Bereich der politischen Agitation zu. Bereits die erste politische Handlung des Liao Wenyi in Japan im Jahr 1950, die zu seiner vorüberhegenden Verhaftung führte, bestand in der Abhaltung einer Gedenkveranstaltung zum dritten Jahrestag des Aufstandes. Auch die Gründung der „Exilregierung“ am 28.2.1956, dem neunten Jahrestag des Aufstandes, lässt erkennen, welch große Bedeutung diesem Datum in der Unabhängigkeitsbewegung zugeschrieben wurde. In der Folgezeit wurden in jedem Jahr Gedenkveranstaltungen und Demonstrationszüge in Tokio abgehalten, um an die Gräuel des 228-Aufstandes zu erinnern – ein beliebtes Ziel war hierbei die Botschaft der ROC in Tokio. 305 Es lässt sich ohne Übertreibung behaupten, dass sich die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung in ihrem Selbstverständnis als Rächer und legitime Erben der Aufständischen des Jahres 1947 verstand. In oftmals pathetischen Worten wurde der aufopferungsvolle Kampf der vorangegangenen Generation beschworen: Am 28.2.1947 wurde auf dieser heiligen Erde [Taiwan] die Fackel der Revolution entzündet, um der brutalen Fremdherrschaft des Chiang Kai-shek Widerstand zu leisten. Ein blutiger Kampf entbrannte, um diesen heiligen Boden zu schützen […] Wir Spätgeborenen schwören, dass wir 304 305
Gao Huaimin 1967: 8. Siehe z.B. o.A. 1967b: 22ff.
Ergebnisse im Kontext dieser Arbeit
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den Kampf auf jeden Fall fortsetzen werden. [Wir werden] keine Opfer scheuen, alle Schwierigkeiten überwinden und die Republik Taiwan errichten! Dies ist die einzige Opfergabe, um Eure Seelen im Himmel zu ehren. Ruhet in Frieden, der Tag ist nicht mehr fern, da die Taiwanesen auf lichten Pfaden wandeln. Ruhet in Frieden, wir Spätgeborenen werden Altäre für Euren Heldenmut errichten, und der Weihrauch wird über 10.000 Generationen brennen. Ruhet in Frieden, ihr heldenmutigen Seelen, von allen Taiwanesen verehrt.306
Eine ungebrochene Linie vom 228-Aufstand zu der Unabhängigkeitsbewegung der 50er und 60er Jahre ließ sich indes nur auf Grundlage von zwei Prämissen konstruieren, die aus heutiger Sicht zumindest fragwürdig erscheinen: Zunächst musste unterstellt werden, dass die Aufständischen des Jahres 1947 in der Tat das Ziel einer staatlichen Unabhängigkeit verfolgt hatten. Zum anderen musste, falls der Aufstand als Vorbild auf dem Weg zur Unabhängigkeit dienen sollte, plausibel gemacht werden, dass der Aufstand zumindest das Potential für einen erfolgreichen Sturz des KMT-Regimes besessen hatte. Bezüglich des ersten Punktes ergab sich die Schwierigkeit, dass die Forderung nach Unabhängigkeit im Verlauf des 228-Aufstandes kaum zu dokumentieren war. Im Gegenteil: Die „Schlichtungskommission“ in Taipei hatte sich in mehreren Verlautbarungen ausdrücklich von der taiwanesischen Unabhängigkeit klar distanziert. Die Unabhängigkeitsbewegung der 50er und 60er Jahre argumentierte jedoch, ganz im Sinne von Liao Wenyi und Wang Yude, dass dieses Versäumnis nur auf eine unterentwickelte Selbsterkenntnis der eigenen nationalen Identität und einer falschen Wahrnehmung des chinesischen Festlandes beruht habe.307 Den Taiwanesen sei es folglich nicht möglich gewesen, ihre „wahren“ Interessen zu erkennen oder klar zu artikulieren. Der 228-Aufstand sei daher, wie es in dem Grundsatzprogramm der „Vereinigte Liga der taiwanesischen Jugend für die Unabhängigkeit Taiwans“ formuliert wurde, als „ein neuer Ausgangspunkt für eine bessere Selbsterkenntnis der Taiwanesen und den sehnlichen Wunsch nach der Unabhängigkeit Taiwans“ 308 zu betrachten. Zudem hätte der 228-Aufstand in seiner qualitativen Dimension eindeutig auf Unabhängigkeit vom Festland gezielt – selbst wenn dies den Akteuren des Jahres 1947 nicht immer selbst bewusst geworden sei. So schreibt Wang Yude: Die 228-Rebellion war ein bedeutender Vorfall, der eine entscheidende Auswirkung auf das Verhältnis zwischen Taiwanesen und Chinesen hatte. Wenngleich sie [die Taiwanesen] keine Parolen riefen, in denen die klare Forderung nach Unabhängigkeit erhoben wurde, waren die „32 Forderungen“ [der Schlichtungskommission vom 7.3.47] doch gleichbedeutend mit faktischer Unabhängigkeit, daran lässt sich nicht zweifeln. Falls die Rebellion erfolgreich gewesen wäre, dann wäre das hohe Maß an Selbstverwaltung in einem natürlichen Prozess in Teilung [vom Festland] und Unabhängigkeit [übergegangen].309
306
o.A. 1969a: 1f. Die Chinesen hingegen hätten Taiwan bereits seit 1945 als fremdes und erobertes Feindesland betrachtet. Hiezu schrieb Chen Gongzhong: „Durch die große 228-Revolution begannen die Taiwanesen zu erkennen, dass sie in Rasse, Politik und Geographie, praktischen Interessen, Sprache, Bräuchen und Sitten keinesfalls Chinesen sind. Die Chinesen hatten diese Ansicht in der Tat schon 1945, als sie Taiwan besetzten, nur den Taiwanesen war diese Erkenntnis nicht sofort zuteil geworden […]“. Chen Gongzhong 1966:.47. 308 o.A. 1966b: 43. 309 Wang Yude 2000: 161f. 307
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Die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung in Japan
Die zweite Überlegung, also inwieweit der 228-Aufstand jemals Aussicht auf Erfolg gehabt habe, verwies unmittelbar auf die Frage nach den Gründen seines Scheiterns. Dieser Aspekt war für die Unabhängigkeitsbewegung offensichtlich von großer Relevanz: Wenn man den 228-Aufstand als Vorbote der eigenen revolutionären Pläne verstand, musste man zwangsläufig darlegen, welche Fehler es zu vermeiden galt, damit sich die Niederlage von 1947 nicht wiederholte. Ein erster, offensichtlicher Grund für das Scheitern war die militärische Überlegenheit der KMT. Nach dem Eintreffen der Entsatzarmee vom Festland stand den Taiwanesen kein adäquates militärisches Mittel für einen erfolgreichen Widerstand zur Verfügung. In dieser Hinsicht, so wurde angeführt, befinde sich die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung der 60er Jahre in einer vorteilhafteren Lage. Im Gegensatz zum Jahr 1947 besitze das Chiang-Regime kein „Hinterland“ mehr und könne daher in einem zukünftigen Aufstand nicht auf Unterstützung von militärischen Kontingenten außerhalb Taiwans bauen. Zudem rekrutierten sich die Streitkräfte der ROC nunmehr vor allem aus gebürtigen Taiwanesen. Dies gelte zwar nicht für die hohen militärischen Ränge, die nach wie vor von Festländern gestellt würden. In einem bewaffneten Konflikt käme jedoch gerade den unteren Rängen und einfachen Soldaten, welche die Befehle der militärischen Führung in die Tat umsetzen, eine alles entscheidende Bedeutung zu. Obwohl die allermeisten Offiziere in der Armee Chinesen sind, rekrutieren sich die einfachen Soldaten, die wirklich die Waffe in die Hand nehmen, und die Truppenführer, die ihnen direkte Befehle geben, zum allergrößten Teil aus Taiwanesen […] Sobald es zu Unruhen kommt und die Revolution gegen die Regierung beginnt, werden diese Soldaten garantiert nicht auf die eigenen Landsleute schießen und [den Aufstand] niederschlagen. Im Gegenteil: Wenn sie sehen, dass die Zeit gekommen ist, werden einige Truppenführer vielleicht die Soldaten ins Lager der Revolution führen.310
Des Weiteren wurde angeführt, dass der 228-Aufstand auf Grund einer verfehlten militärischen Strategie gescheitert sei. Dieser Punkt wurde insbesondere311 von Shi Ming betont: Angesichts einer starken feindlichen Armee hätten sich die Taiwanesen im März 1947 in die Berge Zentraltaiwans zurückziehen und den Truppen der KMT mit den Mitteln des Guerilla-Kampfes begegnen sollen.312 […] der Feind hatte damals auf Taiwan ausreichend Waffen, Munition und militärische Güter [gelagert], um mindestens fünf Armeen auszurüsten […] Daher hätte man nach Möglichkeit Waffen, Munition und Güter erobern, in den Bergen sammeln und eine Basis errichten sollen. 310
Tian Diren 1969: 9. Die Frage des konkreten militärischen Vorgehens bei einer künftigen Revolution wurde in Kreisen der Unabhängigkeitsbewegung nur am Rande erörtert. Zumeist wurde hierbei unterstellt, dass das KMT-Regime in einem schlagartigen Volksaufstand, getragen von weiten Teilen der taiwanesischen Bevölkerung, rasch beseitigt werden könnte. Nur selten wurde die Möglichkeit eines langatmigen Guerilla-Krieges erwogen. Siehe z.B. o.A. 1967a: 19. 312 Wenngleich dieser Standpunkt etwas befremdlich erscheinen mag, sollte die strategische Beurteilung des Shi Ming nach Ansicht des Autors nicht leichtfertig zurückgewiesen werden. Wie bereits erwähnt, war Shi Ming einer der wenigen Akteure der Unabhängigkeitsbewegung, der über eine umfassende militärische Ausbildung und praktische Erfahrung im Untergrundkampf gegen die Japaner verfügte. In einem Gespräch mit Shi Ming am 14.1.03 wurde vom Autor die Frage gestellt, ob Shi Ming zwischenzeitlich zu einer neuen strategischen Bewertung des Aufstandes gelangt sei. Shi Ming beharrte jedoch auf dem Standpunkt, dass ein Guerilla-Kampf gegen die KMT Erfolg versprechend gewesen wäre. Selbst wenn man den Aussagen Shi Mings, bezogen auf den 228Aufstand, zustimmen wollte, bliebe natürlich fraglich, inwieweit die Voraussetzungen für einen Guerilla-Krieg in den 60er Jahren noch gegeben waren. 311
Ergebnisse im Kontext dieser Arbeit
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Dann hätte man einen Guerilla-Krieg führen, allmählich die Front erweitern und den Feind nach Kräften vertreiben [können]. Der Feind war damals mit der Situation konfrontiert, dass der Bürgerkrieg auf dem Festland an Heftigkeit zunahm. Der Feind hätte nur in begrenztem Rahmen Truppen nach Taiwan verlagern können.313
Das größte Versäumnis der Aufständischen von 1947 habe jedoch darin bestanden, dass der Zusammenschluss aller Taiwanesen zum Kampf gegen den gemeinsamen Feind verfehlt wurde. Dies sei auf die bereits erwähnte mangelnde Selbsterkenntnis und Fehlwahrnehmung zurückzuführen, die dazu geführt habe, dass weite Teile der taiwanesischen Bevölkerung die Unausweichlichkeit der gewaltsamen Konfrontation nicht in aller Schärfe erkannten. Zudem hätte es den revolutionären Anführern des Jahres 1947 an politischer Erfahrung gemangelt, daher sei es für den Provinzgouverneur Chen Yi ein leichtes gewesen, die Taiwanesen untereinander zu spalten, mit Agenten zu infiltrieren und bis zum Eintreffen der Regierungstruppen über seine wahren Absichten zu täuschen. Dies sei die wichtigste Lehre aus dem 228-Aufstand: Der Kampf gegen das KMT-Regime der chinesischen Fremdherrscher habe nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn es den Taiwanesen gelänge, alle internen Differenzen zu überwinden und eine vereinte Front gegen den gemeinsamen Feind zu bilden.
313
Shi Ming 1998: 823.
5 Die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung in den Vereinigten Staaten
Seit Mitte der 60er Jahre verlagerte sich das Zentrum der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung allmählich von Japan in die USA. Ein wichtiger Grund hierfür war die veränderte Präferenz der taiwanesischen Auslandsstudenten, die in dieser Periode die Basis der Unabhängigkeitsbewegung bildeten und sich nunmehr vermehrt von Japan in die Vereinigten Staaten orientierten. Bedingt durch die Größe des Landes war es für die taiwanesischen Auslandsstudenten zuweilen nicht leicht, den Kontakt untereinander aufrechtzuerhalten; die Ausbildung von organisatorischen Strukturen der Unabhängigkeitsbewegung verlief zunächst schleppend. Seit Mitte der 60er Jahre wurden mit der UFI und der UFAI die ersten landesweiten Unabhängigkeitsorganisationen gegründet, im Frühjahr 1970 folgte schließlich mit Gründung der WUFI der erste weltweite Zusammenschluss der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung.
5.1 Von der frühen Unabhängigkeitsbewegung zur WUFI 5.1.1 Von der UFI zur WUFI – organisatorischer und personeller Aufbau Die ersten Keimzellen der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung in den USA entstanden bereits in der Mitte der 50er Jahre. Im Januar 1956 wurde in Philadelphia die Gruppe „Free Formosan’s Formosa“ (3F) von fünf taiwanesischen Auslandsstudenten ins Leben gerufen. Kurz nach ihrer Gründung musste sich die Gruppe vorübergehend auflösen – angeblich, weil sie von amerikanischen Behörden der kommunistischen Umtriebe verdächtigt wurde; im Januar 1958 erfolgte die Neugründung unter dem Namen „United Formosans for Independence“ (UFI). Die Gruppe konnte in den folgenden Jahren bereits erste bescheidene Resultate vorweisen: Durch die Anwerbung neuer Mitglieder war es der UFI allmählich gelungen, ihren Wirkungskreis von Philadelphia auf New York, Chicago und Boston auszuweiten; an zahlreichen Universitäten wurden taiwanesische Studentenvereinigungen gegründet, die mit den Zielen der Unabhängigkeitsbewegung sympathisierten. Zudem wurde mit der Zeitschrift „Ilha Formosa“, die sich in ihrem Inhalt an der führenden Zeitschrift der Unabhängigkeitsbewegung Taiwan qingnian aus Japan orientierte, ein erstes regelmäßig erscheinendes Presseorgan ins Leben gerufen. Anlässlich des 13. Jahrestages des 228-Aufstandes stellte der Vorsitzende Chen Yide am 28.2.1961 erstmals auf einer Pressekonferenz in New York die Aktivitäten und Anliegen der Gruppe vor. Dieser erste öffentliche Auftritt der UFI fand, wie die Taiwan qingnian stolz verkündete, sogar Erwähnung in der New York Times. Nach wie vor war es für die UFI jedoch sehr schwierig, die vereinzelten Aktivisten der Unabhängigkeitsbewegung in den USA, deren Kommunikation (im Gegensatz zu Japan) durch die Weite des Landes erschwert wurde, zu koordinierten Aktionen zu mobilisieren. Die erste öffentliche Kundgebung der UFI im Spätsommer 1961
128
Die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung in den Vereinigten Staaten
rief daher nur wenig Resonanz hervor: Anlässlich des Besuches des Vizepräsidenten der ROC, Chen Cheng, in den Vereinigten Staaten rief die UFI am 4. August zu einer Protestkundgebung vor den Gebäuden der Vereinten Nationen in New York auf. Diese Protestkundgebung, in der historischen Selbstdarstellung der Unabhängigkeitsbewegung als „erste epochale Kundgebung der Taiwanesen in Nordamerika“ 314 gefeiert, bestand nach der Erinnerung des Chen Cheng aus insgesamt acht Teilnehmern – einige davon Kinder.315 Mitte der 60er Jahre konnte sich die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung in den USA schließlich etablieren. Hierfür waren vor allem zwei Ereignisse bedeutend: Durch den Peng Mingmin-Vorfall von 1964 (vgl. 6.2.2.) war das Anliegen der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung erstmals auf großes internationales Interesse gestoßen. Auf Initiative der UFI wurde die „Taiwanesische Unabhängigkeitserklärung“ des Peng Mingmin in einer englischen Übersetzung in der New York Times veröffentlicht. Die UFI konnte daraufhin einen deutlichen Zuwachs an Mitgliedern verzeichnen. Im darauf folgenden Jahr zeigte die Bewegung in Japan durch die Kapitulation des Liao Wenyi und den Niedergang der „Exilregierung der Republik Taiwan“ zudem deutliche Auflösungserscheinungen. Für die taiwanesischen Aktivisten in den USA bot sich daher die Chance, die UFI als weltweit führende Organisation der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung zu etablieren und ihr in den USA zu einer Wiederbelebung und Erneuerung zu verhelfen. Die UFI hielt – in dem begrenzten Umfang, in dem dies unter den damaligen Verhältnissen möglich war 316 – zwar weiterhin Kontakt zu ihren Mitstreitern in Japan. Wenngleich der Austausch mit Japan gelegentlich mit Missverständnissen belastet war,317 finden sich in den 60er Jahren in der japanischen Taiwan qingnian zahlreiche Beiträge von Aktivisten aus den USA. Es wurde jedoch deutlich, dass sich die UFI nicht nur als ein Fortsatz der japanischen Bewegung verstehen wollte, sondern einen grundlegenden Neubeginn der Unabhängigkeitsbewegung anvisierte. Gelegentlich wurde sogar Kritik an der frühen Unabhängigkeitsbewegung in Japan geäußert: Die Menschen, die sich nach der 228-Revolution im Ausland für die Unabhängigkeitsbewegung engagierten, bestanden vor allem aus Großgrundbesitzern. Ihre Begeisterung für die taiwanesische Unabhängigkeit hatte zwangsläufig mit dem Wunsch nach Rache zu tun. Jeder Egoist wird nur schwer die volle Unterstützung von Anderen finden, insbesondere in einer Revolution, die auf Opfer angewiesen ist […] Die Fackel der Revolution wurde bereits an Menschen weiterge314
Shi Zhengfeng 2000: 35. Vgl. A Xiubo 1994: 85. Dennoch scheint es, als habe diese Kundgebung bei Chen Cheng einen gewissen Eindruck hinterlassen. So berichtet Peng Mingmin, der Chen Cheng kurz nach dieser Begebenheit in Taiwan traf, in seinen Memoiren: „The vice-president began to talk of his own recent visit to the United States. He had been confronted by a Formosan Independence Movement demonstration […], the first such public demonstration in the United States, and he obviously was offended and angered. He had lost face. He felt that American authorities should have prevented such a rebellious gesture.” Peng Mingmin 1972: 109. 316 Ein großes Hindernis für den Austausch zwischen der amerikanischen und der japanischen Unabhängigkeitsorganisation waren in dieser frühen Phase die hohen Kosten. Die meisten Mitglieder der Unabhängigkeitsbewegung in den USA waren Studenten, die ihren Lebensunterhalt oftmals durch Gelegenheitsarbeiten bestritten und weder Zeit noch Geld für kostspielige Übersee-Telefonate oder gar Flüge ins Ausland erübrigen konnten. Siehe Song Zhongyang 1996: 141. 317 So unterhielt etwa der Vorsitzende der UFI, Chen Yide, zu Mitte der 60er Jahre gleichzeitig freundschaftliche Kontakte zu der „Exilregierung“ des Liao Wenyi und der „Gesellschaft Junges Taiwan“ des Gu Kuanmin, ohne von den Animositäten zwischen diesen beiden Gruppen zu ahnen. Gu Kuanmin beendete daraufhin seine finanzielle Unterstützung für die Zeitschrift „Ihla Formosa“; die Zeitschrift musste ihr Erscheinen einstellen. Siehe Chen Mingcheng 1992: 87. 315
Von der frühen Unabhängigkeitsbewegung zur WUFI
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reicht, die von hehren Zielen, Gerechtigkeitssinn und Liebe zu den Mitbürgern getragen werden.318
Im Jahr 1966 wurden gezielte Schritte zu einer organisatorischen Stärkung und Konsolidierung der Bewegung unternommen. Im Juni des Jahres trafen sich Vertreter von neun taiwanesischen Unabhängigkeitsorganisationen zu einer Konferenz in Philadelphia, um die Gründung einer neuen Dachorganisation „United Formosans in America for Independence“ (UFAI) zu vollziehen. Der Vorsitz wurde erneut von Chen Yide übernommen; Zhang Canhong, dem in den folgenden Jahren eine bedeutende und umstrittene Rolle in der Unabhängigkeitsbewegung zukommen sollte, wurde zum Vorsitzenden des Organisationsausschusses bestimmt. Gegen Ende der 60er Jahre zeichnete sich innerhalb der UFAI ein erster Generationswechsel ab. Viele Aktivisten der ersten Stunde, wie etwa Chen Yide, hatten ihre Studien abgeschlossen und ihr Engagement in der Unabhängigkeitsbewegung eingestellt. Für die UFAI ergab sich daraus die Notwendigkeit, den Schwerpunkt der Organisation aus dem reinen Umfeld der Universitäten zu verlagern, um ein weiteres Spektrum an Mitgliedern zu gewinnen. Dies führte einerseits zu einer Vertiefung der internationalen Kooperation, insbesondere mit der nach wie vor einflussreichen und erfahrenen Bewegung in Japan. Unter dem dritten Vorsitzenden der UFAI, Cai Tongrong, wurde die in Japan erscheinende Zeitschrift Taiwan qingnian ab August 1968 zum gemeinsamen Presseorgan von taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegungen in den USA, Japan, Kanada und Europa ausgebaut, 319 das Hauptquartier der UFAI wurde endgültig nach New York verlagert. Cai Tongrong verfolgte indes noch weitergehende Pläne: Am 20. September 1969 versammelten sich im Hauptquartier der UFAI in New York Vertreter von vier Weltzonen, um über die Gründung eines gemeinsamen, globalen Dachverbandes zu beraten. Die offizielle Gründung der „World United Formosans for Independence“ (WUFI), die daraufhin am 1. Januar 1970 erfolgte, war von einer euphorischen und hoffnungsvollen Stimmung getragen: Wenn man die revolutionäre Vergangenheit von anderen Staaten betrachtet, dann war ein Vorbote der erfolgreichen Revolution stets der Zusammenschluss von vereinzelt operierenden revolutionären Gruppen zu einer einheitlichen Bewegung. Der Same, der in der großartigen 228Revolution gesät wurde, hat […] nach über 20 Jahren gekeimt und ist gewachsen […] Die 70er Jahre, in denen Taiwan ein unabhängiger Staat werden wird, sind bereits angebrochen! Lasst uns unverzüglich den Reihen der großartigen Revolution beitreten und mit unseren eigenen Händen einen eigenen Staat gründen.320
Die angestrebte globale Präsenz der WUFI blieb indes mit strukturellen Problemen behaftet. Die WUFI verfügte nun zwar über einen Hauptstelle, die formal den fünf Zweigstellen in den USA, Kanada, Japan, Europa, und Taiwan 321 vorstand; faktisch ist es jedoch sehr
318
Tian Diren 1969: 7. Neben der UFAI und der „Vereinigte Liga der taiwanesischen Jugend für die Unabhängigkeit Taiwans“ aus Japan gehörten hierzu die „Kanadische Kommission für die Menschenrechte auf Taiwan“ (Jianada Taiwan renquan weiyuanhui ࣐བྷਠ⚓Ӫ℺ငᴳ) und die „Europäische Liga für die Unabhängigkeit Taiwans“ (Ouzhou Taiwan duli lianmeng ↀ⍢ਠ⚓⦘・㚟ⴏ). 320 o.A. 1970a:.7f. 321 Taiwan wurde vermutlich eher aus symbolischen Gründen mit einer eigenen Zweigstelle in der organisatorischen Struktur verankert. Selbstverständlich war es für die WUFI nicht möglich, auf Taiwan offen in Erscheinung 319
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Die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung in den Vereinigten Staaten
fraglich, inwieweit koordinierte Aktionen möglich waren. Zudem bestanden zwischen den einzelnen Zweigstellen erhebliche Unterschiede in Größe und Einfluss auf die Bewegung. Die größte und einflussreichste Zweigstelle, die in den Quellen mit großem Abstand am häufigsten erwähnt wird, befand sich natürlich in den Vereinigten Staaten – hier gab es auch zahlreiche personelle Überschneidungen mit der Hauptstelle. Erst mit weitem Abstand folgten die Zweigstellen in Kanada, Japan und Europa nach. Als zweite Maßnahme für eine umfassende Erweiterung der Organisation wurden nun die „Taiwanesischen Heimatverbände“ als neues Rekrutierungsfeld für die Unabhängigkeitsbewegung erschlossen.
5.1.2 Die WUFI und die „Taiwanesischen Heimatverbände“ Die taiwanesischen Heimatverbände,322 die sich in Nordamerika seit Mitte der 60er Jahre gründeten, stellten in ihren Anfangsjahren lediglich lokale und weitgehend unpolitische Zusammenschlüsse von Taiwanesen im Ausland dar, die sich zu regelmäßigen kulturellen Veranstaltungen trafen und einen losen Kontakt unter ihren Mitgliedern pflegten. Ursprünglich wurden diese Heimatverbände oftmals von Anhängern der KMT dominiert, die Verbände traten daher gelegentlich auch unter den Namen „Chinesischer Heimatverband“ auf.323 Zu Beginn der 70er Jahre schufen die taiwanesischen Heimatverbände allmählich überregionale Strukturen. So wurde am 7.9.1974 in Wien der „Verbund der weltweiten taiwanesischen Heimatverbände“ 324 mit 168 assoziierten Einzelverbänden gegründet. Für die politische Heterogenität dieses „Bundes“ spricht indes die Tatsache, dass auf der Gründungsveranstaltung neben Vertretern der WUFI auch Sprecher der KMT und des „Bundes zur Förderung der Vereinigung Chinas“ der VRCh auftraten.325 Für die WUFI boten die taiwanesischen Heimatverbände ein ideales Feld für die Rekrutierung neuer Mitglieder und Sympathisanten sowie (auch dies ein nicht unerheblicher Aspekt) die Akquirierung von Spendengeldern. Es wurden daher erhebliche Anstrengungen unternommen, die einzelnen Heimatverbände mit Sympathisanten der Unabhängigkeitsbewegung zu durchsetzen, nach Möglichkeit den Vorsitz zu erringen und den betreffenden Heimatverband politisch im Sinne der WUFI auszurichten. Anfangs stand die WUFI hierbei in Konkurrenz zur KMT und der VRCh, die ebenfalls um Sympathien unter den Taiwanesen im Ausland warben. Die Arbeit der WUFI wurde zudem dadurch behindert, dass sich ihre Mitglieder aus Furcht vor Repressionsmaßnahmen des KMTRegimes – auch gegen Familienangehörige auf Taiwan – nicht öffentlich zu erkennen geben konnten und daher diskret vorgehen mussten. Dennoch konnte die WUFI bis zum Ende der 70er Jahre sehr erfolgreich agieren; auch die KMT musste schließlich eingestezu treten. Im Jahr 1975 wurde die WUFI um eine „Zweigstelle Südamerika“ (Nanmei benbuই㖾ᵜ䜘) mit Sitz in Brasilien erweitert. 322 Taiwan tongxianghui ਠ⚓਼䜹ᴳ. Der Terminus „tongxiang“ bedeutet eigentlich „Aus der gleichen Heimat/Provinz stammend“. Die ersten Taiwan tongxianghui bestanden schon vor dem Ende des chinesischen Bürgerkrieges auf dem chinesischen Festland. 323 Zhongguo tongxianghui ѝ਼഻䜹ᴳ oder Zhonghua tongxianghui ѝ㨟਼䜹ᴳ. Dies führte zu einer weiteren Namensverwirrung, da auch die Heimatverbände der Chinesen aus der Volksrepublik China diese oder ähnliche Namen führten. Siehe o.A. 1981a: 25 324 Quan shijie Taiwan tongxianghui lianhehui ޘц⭼ਠ⚓਼䜹ᴳ㚟ਸᴳ. Kurz: Shi Tai hui цਠᴳ 325 Siehe o.A. 1974c: 1.
Von der frühen Unabhängigkeitsbewegung zur WUFI
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hen, dass sie im Ringen um die politische Vorherrschaft in den Heimatverbänden unterlegen war: Der „Verbund der weltweiten taiwanesischen Heimatverbände“ wurde von Seiten der KMT schließlich als „periphere Organisation“ der WUFI betrachtet […] Das Führungspersonal der Heimatverbände wurde von Agenten der KMT über viele Jahre auf die „Schwarze Liste“ gesetzt […] und die ehemaligen Vorsitzenden des „Verbund der weltweiten taiwanesischen Heimatverbände“ waren die Schwärzesten auf der Schwarzen Liste. 326
Die WUFI war jedoch stets bemüht, den Kern ihres Mitgliederstammes vom öffentlichen Betätigungsfeld der Heimatverbände durch einen Mantel der Geheimhaltung abzuschotten.327 Diese Vorsicht war unbedingt notwendig: Eine Enttarnung als Mitglied der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung hatte unweigerlich zur Folge, dass die betreffende Person von den Behörden der KMT auf eine „Schwarze Liste“ gesetzt wurde und eine Rückkehr nach Taiwan in der Regel nicht möglich war. Zahlreiche taiwanesische Heimatverbände und Studentenorganisationen in den USA waren mit Informanten der KMT durchsetzt, es wurden sogar so genannte „professionelle Studenten“ von Taiwan ins Ausland entsandt, die ihren Kommilitonen an den amerikanischen Universitäten nachspürten und politisch auffällige Personen denunzierten. Es war daher nicht möglich, der WUFI aktiv beizutreten; 328 verborgene Mitglieder gingen von sich aus auf viel versprechende Kandidaten zu. So beschrieb Joshua Tin, der lange Jahre in der Führungsspitze der WUFI aktiv war, seinen Zugang zu der Organisation: I joined a local Taiwanese community, […] and very gradually, because of my strong affiliation with Taiwan, I was approached by WUFI in 1978. They asked me if I would like to join them. […] It was a big secret, because everybody could be a secret [KMT] agent.329
Auch die Mitgliederversammlungen der WUFI fanden unter strengen Vorsichtsmaßnahmen statt. Erst nach einer Reihe von telefonisch vereinbarten Geheimzeichen war es den Teilnehmern möglich, zum Versammlungsort vorzudringen. So erinnerte sich der ehemalige Vorsitzende der WUFI-Zweigstelle USA, Li Duanmu: Ein Geheimzeichen konnte zum Beispiel darin bestehen, dass man in der rechten Hand eine Zeitung und in der linken Hand einen Handschuh hielt. Wenn Handschuh und Zeitung vertauscht 326
Shi Zhengfeng 2000: 61. Das Primat der Geheimhaltung scheiterte gelegentlich an einem Mangel an Disziplin. So wurde in einem Artikel der Taidu yuekan beklagt, dass sich zahlreiche Genossen aus reiner Geltungssucht gegenüber Außenstehenden zu erkennen gäben. Der Autor Zhu Taili fügte eine wenig galante Warnung bei: „Die verheirateten Genossen mögen mir noch ein offenes Wort erlauben: Ich weiß, dass Eure Ehefrauen alle begeisterte Anhänger der Revolution sind, aber ich muss Euch sagen, dass ihr auf keinen Fall ihrem Mundwerk vertrauen dürft. Der Verrat von Geheimnissen ist oft darauf zurückzuführen, dass sie [die Ehefrauen] nicht in der Lage sind, die Bedeutung [der Information] abzuschätzen und sich verplappern.“ Zhu Taili 1980: 17. 328 Es ist daher auch sehr schwer abzuschätzen, über wie viele Mitglieder die WUFI verfügte. Nur sehr wenige Angehörige des Führungspersonals (wie etwa der Vorsitzende Zhang Canhong oder der stellvertretende Vorsitzende Hong Zhesheng) traten öffentlich in Erscheinung. Für die große Mehrzahl der Mitglieder galt, dass sie, soweit sie sich überhaupt öffentlich äußerten, dies nur unter einem Decknamen taten. Daher ist auch bei der Mehrzahl der angeführten Literaturhinweise, die sich auf Artikel der Taidu yuekan beziehen, davon auszugehen, dass der jeweilige Autor unter einem Pseudonym schrieb. 329 Interview mit Joshua Tin (Tian Tairen) am 24.10.03. Auf Wunsch von Herr Tin wurde das Gespräch auf Englisch geführt. 327
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Die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung in den Vereinigten Staaten wurden, war das ein Hinweis darauf, dass das Mitglied bereits verfolgt wurde. Durch dieses Vorgehen […] konnten Verfolger zwar abgeschüttelt werden, es kam aber auch oftmals vor, dass Mitglieder den Versammlungsort nicht finden konnten.330
Dieses hohe Maß an Tarnung hatte zur Folge, dass sich innerhalb der WUFI im Laufe der Jahre eine isolierte und für Außenstehende intransparente Führungsschicht etablierte, die nach eigenem Ermessen über die Belange der Organisation entschied. Insbesondere in den Jahren nach 1979 mehrten sich die Stimmen, die den autoritären Führungsstil der WUFI – und insbesondere des langjährigen Vorsitzenden Zhang Canhong – kritisierten und der WUFI vorwarfen, Spendengelder von taiwanesischen Sympathisanten zu veruntreuen.
5.1.3 Der 424-Vorfall: Wendepunkt und Spaltung der WUFI Im April des Jahres 1970 weilte Jiang Jingguo zu einem Staatsbesuch in den Vereinigten Staaten. Es war dies weder sein erste Reise in die USA (sein letzter Besuch lag erst wenige Monate zurück) noch übte Jiang Jingguo damals ein besonders hohes Staatsamt aus – er hatte lediglich das Amt des stellvertretenden Vorsitzenden des Exekutiv-Yuan inne. Dennoch zeigte sich die US-amerikanische Regierung bemüht, ihm einen prestigeträchtigen Empfang zu bereiten. Einerseits galt Jiang Jingguo als designierter Nachfolger seines Vaters, des amtierenden Präsidenten der ROC Chiang Kai-shek. Zum anderen mag eine Rolle gespielt haben, dass die Regierung der Vereinigten Staaten zu diesem Zeitpunkt einen Besuch von Präsident Nixon in der VRCh vorbereiteten. Der zuvorkommende Empfang, den man Jiang Jingguo zu bereiteten gedachte, sollte wohl auch dazu beitragen, die zu erwartende Enttäuschung des Verbündeten ROC ein wenig zu mildern. Am dritten Tag, dem 24.4., wurde der Staatsbesuch von einem Vorfall in New York überschattet: Für Jiang Jingguo war an diesem Tag ein Treffen mit dem „East Asian Council of Commerce and Industry“ im Plaza-Hotel anberaumt worden. Vor dem Hotel hatten sich einige Dutzend taiwanesischer Demonstranten versammelt, die Flugblätter verteilten und Parolen skandierten. Als sich Jiang Jingguo, durch einen Polizeikordon abgeschirmt, auf den Eingang des Hotels zu bewegte, wurden ein Schuss auf ihn abgegeben. Der Attentäter war jedoch von einem nahe stehenden Sicherheitsbeamten bemerkt und in letzter Sekunde in der Tatausführung behindert worden; der Schuss, wenngleich aus wenigen Metern Distanz abgefeuert, verfehlten daher sein Ziel. Jiang Jingguo konnte sich unverletzt in die Lobby des Hotels zurückziehen. Der Täter und ein Komplize wurden überwältigt und festgenommen. Die WUFI, auf die unmittelbar der erste Tatverdacht fiel, geriet durch dieses Attentat in Bedrängnis. Ein Vertreter der Organisation, Chen Longzhi, der wenige Stunden nach dem Vorfall zum Tatort eilte, erklärte gegenüber Pressevertretern: „We certainly did not plan it. It must have been an individual act […] we do not know who did the shooting, or if he was a Formosan”. 331 Im Zuge der Ermittlungen bestätigten sich diese Angaben. Der Täter, Huang Wenxiong, war zwar ebenso wie sein Komplize und Schwager Zheng Zicai Mitglied der WUFI, beide waren dem militanten linken Flügel der Organisation zuzurechnen – Zheng fungierte sogar als Generalsekretär der WUFI. Die Tat war jedoch ohne 330 331
Chen Mingcheng 1992: 178. New York Times, 25.4.70.
Von der frühen Unabhängigkeitsbewegung zur WUFI
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Wissen der WUFI-Führung geplant worden.332 In einem Gespräch mit dem Autor beschrieb Huang Wenxiong, dass nur er selbst, sein Schwager Zheng Zicai, seine Schwester Huang Jingmei und ein Freund Lai Wenxiong in den Plan eingeweiht waren: Ursprünglich hatten wir vereinbart, dass das Los zwischen mir, Lai Wenxiong und Zheng Zicai entscheiden sollte, wer die Waffe abfeuert. Aber Zheng Zicai war mit meiner Schwester verheiratet und hatte zwei Kinder. Auch Lai hatte Frau und Kind. Deswegen habe ich mich freiwillig gemeldet.333
Da Huang Wenxiong sein Attentat auf Jiang Jingguo als politische Tat verstand, verwarf er die Attentatspläne, die damals in den militanten Kreisen der Unabhängigkeitsbewegung erwogen wurden und die einen relativ sicheren Erfolg garantiert hätten – wie etwa die Anwerbung eines gedungenen Mörders oder einen Anschlag mit einem Scharfschützengewehr aus weiter Entfernung. Für Huang konnte die Tat nur dann ihrer politischen Bedeutung gerecht werden, wenn sie von einem Taiwanesen persönlich und unter Aufopferung seines Lebens erfolgte – nach eigenen Angaben hatte Huang nicht damit gerechnet, den Mordanschlag selbst zu überleben. Jiang Jingguo war schon früher in den USA gewesen, und schon damals war [in Kreisen der Unabhängigkeitsbewegung] über ein Attentat debattiert worden […] Es gab zum Beispiel einige, die einen professionellen Mörder engagieren wollten. Andere hatten vorgeschlagen, ein Attentat mit einem Scharfschützengewehr zu verüben […] Aber ich dachte mir, dass [die Tat] von einem Taiwanesen verübt werden muss, und zwar öffentlich. Nur dann hätte es eine politische Bedeutung. Ein gedungener Mörder hätte das nicht leisten können.334
In dem Verfahren gegen Huang und Zheng wegen versuchten Mordes und Verschwörung (conspiracy) erfuhren die beiden Angeklagten eine überwältigende Unterstützung von verschiedenen taiwanesischen Gruppierungen in den USA. In einer großen Spendenaktion – an der sich, wie Huang stolz vermerkte, auch zahlreiche „Festländer“ beteiligten – konnten die WUFI und verschiedene taiwanesischen Heimatverbände eine Geldsumme aufbringen, die es ermöglichte, ein Gespann von erfahrenen Strafverteidigern zu engagieren und zudem die Kaution von insgesamt 190.000 USD (die damalige Rekordsumme im Staat New York) zu hinterlegen. Viele Unterstützer, die zum Teil Kredite aufgenommen oder ihre Immobilien verpfändet hatten, reagierten daher mit Enttäuschung und Verbitterung, als Huang und Zheng in ihrem Hafturlaub den Entschluss fassten, sich dem Strafverfahren zu entziehen und ins Ausland zu fliehen. Huang schreibt zu seiner Rechtfertigung: Einige Mitbürger meinten, ich hätte mich dem amerikanischen Gesetz stellen und meine Haftstrafe von 15 Jahren absitzen sollen, nur das wäre heldenhaft gewesen. […] Ich habe Respekt vor dieser Sichtweise. Aber ich muss gestehen: Ich hatte nie vor, ins Gefängnis zu gehen. Nachdem ich glücklich mit dem Leben davongekommen war […], bereitete ich mich daher darauf 332 Eine Unklarheit besteht bezüglich der Tatwaffe. Gegenüber dem Autor erklärte Zheng Zicai, er habe die Waffe, eine Beretta Kaliber 22, von einem weiteren führenden WUFI-Mitglied namens Chen Rongcheng geliehen. Dieser hätte daher zumindest einen Verdacht schöpfen müssen. 333 Interview mit Huang Wenxiong am 3.9.07. Wie Zheng Zicai in einem Interview mit dem Autor schildetere, war Huang Wenxiong zudem auf Grund seiner militärischen Ausbildung als einziger der Verschwörer im Umgang mit Faustfeuerwaffen vertraut. Interview mit Zheng Zicai am 4.9.07. 334 Interview mit Huang Wenxiong am 3.9.07.
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Die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung in den Vereinigten Staaten vor, in den Untergrund zu gehen. Den Grund kann man in einfache Worte fassen: Die amerikanische Regierung, die überall auf der Welt tyrannische Regime unterstützte, war der „große Chef“ des Chiang-Regimes [der KMT]. Da ich nun auf den kleinen Partner geschossen hatte, bestand für mich kein Grund, brav und artig das Gesetz des großen Chefs zu respektieren und ins Gefängnis zu wandern […]335
Für Huang Wenxiong begann damit ein Leben im Untergrund. Bis Mitte der 90er Jahre war sein Aufenthaltsort unbekannt,336 erst 1996 konnte er inkognito nach Taiwan zurückkehren.337 Huang Wenxiong lebt heute in Taipei. Zheng Zicai, der einige Tage vor Huang die Vereinigten Staaten verlassen hatte, floh zunächst nach Schweden und wurde dort von der Familie Bernhard beherbergt – derselben Familie, die kurz zuvor schon Peng Mingmin nach dessen Flucht aus Taiwan aufgenommen hatte. Einem Antrag auf politisches Asyl wurde jedoch nicht stattgegeben. Im Juni 1972 wurde Zheng an die Vereinigten Staaten ausgeliefert 338 und schließlich zu einer relativ milden Haftstrafe von fünf Jahren verurteilt, die er jedoch nur zu einem Drittel verbüßen musste.339 Im Jahr 1991 kehrte Zheng – der zu diesem Zeitpunkt noch an der Spitze der „Schwarzen Liste“ der unerwünschten Personen geführt wurde – nach Taiwan zurück und musste dort erneut eine Haftstrafe von zwölf Monaten wegen illegaler Einreise antreten. Zheng Zicai lebt heute in Gaoxiong in Südtaiwan. Der so genannte „424“-Vorfall von 1970 markiert einen entscheidenden Wendepunkt in der frühen Phase der WUFI und prägte in zweifacher Hinsicht die spätere Entwicklung in den Vereinigten Staaten: Erstens, und dies war aus Sicht der Unabhängigkeitsbewegung die erfreuliche Konsequenz, konnte durch den spektakulären Anschlag auf Jiang Jingguo ein zuvor nie erreichtes Maß an öffentlicher Aufmerksamkeit erzielt werden. Unter Mithilfe verschiedener taiwanesischer Heimatverbände und Menschenrechtsorganisationen gründete sich eine „Stiftung zur Rettung von Huang [Wenxiong] und Zheng [Zicai]“,340 die auf Veranstaltungen und in Presseverlautbarungen zu Spenden aufrief und die politische Unterdrückung in Taiwan anprangerte. Die Tat von Zheng und Huang war für die junge Bewegung zu einem Symbol 335
Huang Wenxiong 2003: 3. In einem Gespräch mit dem Autor wollte Huang Wenxiong über seinen Aufenthaltsort nach 1970 keine Details offenbaren: „Es tut mir leid, aber darüber kann ich auch heute noch nicht sprechen […] Viele Freunde, die mich damals beschützt haben, helfen auch heute noch politischen Flüchtlingen. Aber ich war in vielen Ländern […] ich habe ein relativ normales Leben geführt. Ich habe sogar einmal Vorlesungen an einer Universität gehalten.“ Interview mit Huang Wenxiong am 3.9.07. 337 Nach seiner Rückkehr hatte Huang Wenxiong keine strafrechtlichen Konsequenzen seiner Tat zu tragen, da die Verjährungsfrist für versuchten Mord bereits abgelaufen war. Allerdings wurde Huang wegen illegaler Einreise angeklagt, das Verfahren verlief jedoch ergebnislos. 338 Die Auslieferung von Zheng Zicai führte zu diplomatischen Komplikationen: Zheng war, um gegen seine Auslieferung zu protestieren, in einen Hungerstreik getreten und war daher bei seiner Ausweisung in die Vereinigten Staaten körperlich geschwächt. Bei einer Zwischenlandung in Kopenhagen bemerkten Mitarbeiter des Flugpersonals, dass Zheng nicht mehr bei Bewusstsein war; die Fluglinie verweigerte daraufhin die Weiterbeförderung in die USA. Die mitgereisten amerikanischen Polizeibeamten mussten daher auf eine alternative Reiseroute über Großbritannien ausweichen. Die britische Regierung wiederum verlangte ein erneutes Auslieferungsbegehren aus Washington. Die Auslieferung des Zheng, der mit Unterstützung von Amnesty International lange Zeit auf politisches Asyl in Großbritannien gehofft hatte, verzögerte sich dadurch um neun Monate. Vgl. o.A. 1975d: 4f. 339 Wie Zheng Zicai gegenüber dem Autor schilderte, war seine größte Sorge, dass er an die ROC ausgeliefert werden könnte, wo ihn mit hoher Wahrscheinlichkeit ein Todesurteil erwartet hätte. Die ROC protestierte auch gegen das aus ihrer Sicht allzu milde Urteil gegen Zheng. 340 Jiu Huang Zheng jijinhui ᮁ哳䝝ส䠁ᴳ. 336
Von der frühen Unabhängigkeitsbewegung zur WUFI
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des Mutes und Widerstandgeistes geworden, die politische Unterstützung für die beiden Angeklagten wurde zu dem Kristallisationspunkt einer Massenbewegung, deren Ausmaß anfangs selbst die Aktivisten der Unabhängigkeitsbewegung überraschte. Das politische Potential, das sich hierbei offenbarte, erschütterte nach Einschätzung von Huang Wenxiong selbst die Machthaber in Taipei: Die Öffnung der Partei- und Machtstrukturen des ROCRegimes für gebürtige Taiwanesen (die so genannte bentuhua der KMT), die zu Beginn der 70er Jahre einsetzte, sei auf die Erkenntnis zurückzuführen, dass sich ein Minderheitenregime von Festländern über eine entmachtete Mehrheit von gebürtigen Taiwanesen langfristig auch international nicht behaupten könne. Hierbei habe der 424-Vorfall einen großen Beitrag geleistet: [Die Tatsache], dass wir über die enthusiastische Spenden[-bereitschaft] auf Kaution entlassen werden konnten, war gleichbedeutend mit einer alternativen „Volksbefragung“ über die tyrannische Minderheitenherrschaft des Chiang-Regimes […] Obwohl mein Attentat ziemlich theatralische Züge trug, war diese „Volksbefragung“, deren Einfluss auf die amerikanische Regierung und der Druck auf die KMT von weitaus größerer Tragweite.341
Zum zweiten offenbarte der Vorfall aber auch strukturelle und ideologische Divergenzen innerhalb der Bewegung, die schließlich zur Spaltung führten. Die WUFI und deren Vorläuferorganisationen hatten bis zu diesem Zeitpunkt als Sammelbecken vielfältiger ideologischer Strömungen gedient. Durch den 424-Vorfall war die Führung der WUFI nun jedoch zu einer klaren Positionierung gezwungen. Der radikale Flügel der WUFI forderte, dass sich die Organisation, ungeachtet aller Konsequenzen, eindeutig mit den Attentätern solidarisieren sollte – immerhin, so wurde argumentiert, habe sich die WUFI stets als revolutionäre Bewegung verstanden und zu bewaffnetem Widerstand und Mordanschlägen gegen führende Politiker des „tyrannischen Regimes“ in Taiwan aufgerufen. Jede Distanzierung von einem solchen Anschlag müsste daher die Glaubwürdigkeit der WUFI schwer beschädigen. Die moderatere Führungsspitze der WUFI fürchtete jedoch, dass die Organisation von den US-amerikanischen Behörden als „terroristische Gruppe“ eingestuft und erneut (wie schon im Jahr 1957) mit einem Verbot belegt werden könnte. Im Interesse der ganzen Bewegung müsse man daher von Solidaritätsbekundungen mit Huang und Zheng Abstand nehmen. Zahlreiche führende Mitglieder der WUFI wandten sich auf Grund dieser aus ihrer Sicht zaghaften und inkonsequenten Haltung enttäuscht von der Organisation ab.342 Das paradoxe Ergebnis des 424-Vorfalles war für die WUFI also, dass sie gerade zu einem Zeitpunkt, da sie für ihre Anliegen ein bislang unerreichtes Maß an Unterstützung mobilisieren konnte, in eine schwere innere Krise gestürzt wurde, die sich auch im Wechsel des Führungspersonals niederschlug. Der Vorsitzende Cai Tongrong musste nach scharfer Kritik seinen Posten zu Gunsten von Zhang Canhong aufgeben. 341
Interview mit Huang Wenxiong am 3.9.07. Auch die beiden Haupttäter des 424-Vorfalles, Huang Wenxiong und Zheng Zicai, zeigten sich in einem Gespräch mit dem Autor enttäuscht über die mangelnde Unterstützung der WUFI; beide brachen den Kontakt zu der Organisation – bis heute – vollkommen ab. Insbesondere Zheng Zicai erhob schwere Vorwürfe gegen führende Kader der Organisation: Seine Verurteilung, so Zheng, sei ausschließlich auf Grund der Zeugenaussage des Chen Rongcheng erfolgt, der vor Gericht als Zeuge der Anklage ausgesagt und bestätigt habe, ihm die Tatwaffe ausgehändigt zu haben. „I think that WUFI betrayed me and Peter [Huang]. They allowed Chen Rongcheng to come forward as a witness. If he [had] refused to be a witness, then there would be no case against me […] There was no proof that I was involved. They had no physical evidence. But Chen Rongcheng said that he had given me the gun. If he hadn’t said that, then there would be no case against me.” Interview mit Zheng Zicai am 4.9.07. 342
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Die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung in den Vereinigten Staaten
Dieser Wechsel markierte aus Sicht des radikalen Flügels den Beginn einer ideologischen Verkümmerung der WUFI. Während in den frühen Jahren politisch linke Elemente stark vertreten waren, die für eine Radikalisierung der Bewegung eintraten, zogen sich diese in den Jahren nach 1970 weitgehend aus der WUFI zurück und bildeten eigene Splittergruppen. Die WUFI nahm in der Folgezeit eine wesentlich distanziertere Haltung zum Marxismus-Sozialismus ein. Zudem lässt sich ungeachtet der martialischen Propaganda feststellen, dass militante und revolutionäre Tendenzen nicht mehr im selben Ausmaß zur Entfaltung kamen. Zwar existierte unter der Führung von Hong Zhesheng343 auch in den Jahren nach 1970 eine linke Strömung innerhalb der WUFI, sie konnte jedoch keinen prägenden Einfluss auf die Organisation nehmen und entsprach auch nicht länger dem typischen Klientel der WUFI. Linda Arrigo, die in den frühen 80er Jahren in der linken Gruppe Meilidao zhoubao tätig war, merkte hierzu an: The leadership of WUFI is pretty much your straight middle-class Taiwanese American […] [they] have no social science training, they are just straight engineers. They don’t think they need any social science training. They just parrot some of the rhetoric of the international revolutionary organizations. But [they] really [have] a very low level of theory or strategy. […] But the other revolutionary struggles in the world in the late 60s and 70s were all Marxist, so superficially they took on some of the rhetoric of national liberation struggles, but they didn’t really understand it.344
Diese Spaltung der Unabhängigkeitsbewegung, die mit dem 424-Vorfall einsetzte, sollte sich im Verlauf der 70er und frühen 80er Jahre weiter verschärfen.
5.2 Die Lobby-Tätigkeiten der Unabhängigkeitsbewegung 5.2.1 Beginn der taiwanesischen Lobby-Arbeit Seit Mitte der 70er Jahre erweiterte sich das Tätigkeitsfeld der WUFI um einen wichtigen Bereich: Die gezielte Öffentlichkeitsarbeit in amerikanischen Medien, die auf die Verletzungen der Menschenrechte – insbesondere das Schicksal von politischen Gefangenen auf Taiwan – aufmerksam machen wollte und für das Anliegen eines unabhängigen Taiwans warb. Im Jahr 1975 erreichte diese Strategie des Appells an die amerikanische Öffentlichkeit einen ersten Höhepunkt: Am 5. April war Chiang Kai-shek verstorben, im Dezember desselben Jahres plante der US-amerikanische Präsident Gerald Ford einen Besuch in der Volksrepublik China. Die WUFI, deren Presseorgan Taidu yuekan zu diesem Anlass in einer englischen Ausgabe erschien, appellierte in einem offenen Brief an Gerald Ford und Henry Kissinger: When you negotiate with the Chinese rulers, it seems inevitable that „the Formosan Question“ will again be raised. We urge you to bear in mind that the Formosan (Taiwanese) people’s right to self-determination is non-negotiable.345 343 Im Frühjahr 1986 verließ Hong Zhesheng die WUFI und gründete gemeinsam mit Joshua Tin die „Revolutionäre Partei Taiwans“ Taiwan gemingdang ਠ⚓䶙ભ唘. 344 Interview mit Linda Arrigo am 8.10.03. 345 o.A. 1975b: 12f.
Die Lobby-Tätigkeiten der Unabhängigkeitsbewegung
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Die Appelle wurden begleitet von Protestkundgebungen der „Formosan Conference for Self-Determination”, die seit März des Jahres in mehreren amerikanischen Großstädten abgehalten wurden 346 und auf ein beachtliches Presseecho stießen. Zudem konnte die WUFI nunmehr auch unter hochrangigen amerikanischen Politikern Unterstützung finden. So sprach sich etwa Ramsey Clark, der frühere Generalstaatsanwalt, für die Selbstbestimmung der taiwanesischen Bevölkerung aus: We have to recognize it is not right to permit a tyranny, the government that fled the mainland, to impose its will there. We have to recognize, in this dangerous period, that we cannot again permit the Taiwanese people to be used as a pawn […] They must themselves decide their future, and we must have the courage to do what is right about it.347
Zu Ende der 70er Jahre verfügte die WUFI in den USA bereits über eine beachtliche Lobby; erklärte Sympathisanten der Unabhängigkeitsbewegung waren etwa Senator Robert Kennedy und der Vorsitzende des Asien-Ausschusses des US-Senats, Lester Wolff. Zu wichtigen Anlässen der Lobbyarbeit wurden die öffentlichen Anhörungen des US-Senats (hearings), in denen das ROC-Regime zur Einhaltung der Menschenrechte und zur Aufhebung des Kriegsrechtes aufgefordert wurde. Zum Jahreswechsel 1978/79 konnte die LobbyArbeit der Unabhängigkeitsbewegung einen spektakulären Erfolg verzeichnen. Nach Abbruch der offiziellen diplomatischen Beziehungen zur ROC hatten die USA ihre politischen und wirtschaftlichen Kontakte zu Taiwan auf eine neue gesetzliche Grundlage gestellt. Der Verabschiedung dieses „Taiwan Relations Act“ (TRA) war eine Anhörung des US-Senats vorausgegangen, bei dem unter anderem Peng Mingmin als prominenter Vertreter der taiwanesischen Interessen aufgetreten war. In der endgültigen Fassung des TRA, der am 10.4.1979 ratifiziert wurde, wird der Terminus „Taiwan“ wie folgt definiert: [T]he term „Taiwan” includes, as the context may require, the islands of Taiwan and the Pescadores [Penghu], the people on those islands, corporations and other entities and associations created or organized under the laws applied on those islands, and the governing authorities on Taiwan recognized by the United States as the Republic of China prior to January 1, 1979, and any successor governing authorities (including political subdivisions, agencies, and instrumentalities thereof).348
Dieser Verweis auf mögliche zukünftige Machthaber in Taipei, den die Unabhängigkeitsbewegung als Ergebnis ihrer Lobbytätigkeit reklamierte, ließ erkennen, dass die USA den Anspruch der KMT als einzig legitime Volksvertretung bis zu einer Rückeroberung des Festlandes nicht vorbehaltlos akzeptierte; von Seiten der KMT wurde dieser Passus als schwerer Affront aufgefasst. Wenige Monate später intensivierte die Unabhängigkeitsbewegung ihre LobbyAnstrengungen erneut. Anlass war diesmal der so genannten „Meilidao“-Vorfall auf Taiwan, bei dem fast die gesamte Führungsspitze der Oppositionsbewegung verhaftet worden war und vor einem Militärgericht verurteilt werden sollte. Die WUFI machte geltend, dass das KMT-Regime damit gegen die Bestimmungen des TRA verstoßen habe, in dem klar auf die Bedeutung der Menschenrechte hingewiesen werde, und forderte die 346
Siehe o.A. 1975c: 26. Clark 1975: 15. 348 Siehe Taiwan Relations Act, Sec.15/2: http://usinfo.org/docs/basic/tra_e.htm. Hervorhebung vom Autor. 347
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Die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung in den Vereinigten Staaten
amerikanische Regierung auf, angemessene Sanktionsmaßnahmen zu ergreifen. Nach Intervention der USA willigten die taiwanesischen Behörden ein, die Strafverfahren mit einem Minimum an rechtsstaatlichen Konventionen durchzuführen. Den Hauptangeklagten wurde gestattet, ihre eigenen Strafverteidiger zu benennen; zudem (dies eine Entscheidung von noch größerer Tragweite) wurden Pressevertreter aus dem In- und Ausland zu den Gerichtsverhandlungen zugelassen. Die Meilidao-Prozesse wurden daraufhin zu einem international beachteten Politikum und leiteten einen entscheidenden Wendepunkt in der Demokratiebewegung auf Taiwan ein (vgl. 7.3.5.).
5.2.2 Die Morde an Chen Wencheng und Jiang Nan: Prestigeverlust für das ROC-Regime In der ersten Hälfte der 80er Jahre wurden die Beziehungen zwischen den Regierungen der USA und der ROC durch zwei politisch motivierte Morde schwer belastet. Die Morde an dem Universitätsprofessor Chen Wencheng (1981) und dem Schriftsteller Liu Yilang (1984) ließen den Verdacht aufkommen, dass das ROC-Regime missliebige Dissidenten mit kriminellen Methoden beseitigen ließ. Im Juli 1981 wurde Chen Wencheng, der einen Lehrstuhl an der Carnegie-Melon University in Pennsylvania innehatte, bei einem Aufenthalt in Taiwan von Polizeibeamten zu einem „Gespräch“ gebeten, da ihm Verbindungen zur taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung in den Vereinigten Staaten vorgeworfen wurden. Am Morgen des 3.7. wurde der leblose Körper des Chen Wencheng auf dem Campus der Taiwan National University aufgefunden, die Leiche wies schwerste Verletzungen und Knochenbrüche auf. 349 Eine Untersuchungskommission der taiwanesischen Justizbehörden kam zu dem Schluss, dass Chen durch einen Sturz aus einem fünfstöckigen Universitätsgebäude ums Leben gekommen sei, daher sei von Selbstmord oder einem Unfall auszugehen. Die US-Regierung, die sich in diesem Fall direkt betroffen sah (Chen war amerikanischer Staatsbürger), reagierte mit großer Skepsis und scharfer Kritik. Im Zuge einer Anhörung im USRepräsentantenhaus führte insbesondere der Umstand zu erheblichen Irritationen, dass Chen offenbar von taiwanesischen Studenten der Universität, die als Informanten der KMT tätig waren, nachspioniert worden war. An das ROC-Regime wurde die Warnung ausgesprochen, dass die Wiederholung einer solchen Agententätigkeit auf amerikanischem Hoheitsgebiet zur Einstellung der US-amerikanischen Waffenlieferungen an Taiwan führen würde. Die bereits zugesagte Lieferung von Einsatzgeräten für die taiwanesische Polizei wurde vorübergehend ausgesetzt. Im Jahr 1984 rief der Fall des Liu Yiliang (Henry Liu) erneut große öffentliche Empörung hervor: Liu, der in den Vereinigten Staaten als Schriftsteller und Redakteur tätig war und unter seinem Pseudonym Jiang Nan („Südlich des Flusses“) eine kritische Biographie des Jiang Jingguo veröffentlicht hatte, wurde am 15.10.1984 in einem Parkhaus seiner Heimatstadt Daly City (Kalifornien) ermordet. 350 Die Täter Chen Qili und Wu Dun, die unter Mithilfe des FBI kurz darauf in Taiwan gefasst werden konnten, erwiesen sich als Mitglieder der „Bambus-Bande“, 351 einer berüchtigten taiwanesischen LiumangOrganisation. Das Verfahren nahm einen für das ROC-Regime katastrophalen Verlauf, als 349
Siehe o.A. 1981c: 6. Siehe Chen Wenzhong 1984: 13. 351 Zhubang ㄩᒛ 350
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sich herausstellte, dass die beiden Mörder im Auftrag des taiwanesischen Geheimdienstes gehandelt hatten. Für die amerikanischen Behörden stellte dieser Mordanschlag eines fremden Geheimdienstes auf amerikanischem Boden eine Provokation dar. Nach einer Anhörung im US-Repräsentantenhaus, bei dem auch Vertreter der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung sowie die Witwe des Liu Yilang, Cui Rongzhi, gehört wurden, forderte die US-Regierung die Auslieferung der Verantwortlichen. 352 In einem Gerichtsverfahren auf Taiwan wurde schließlich der Leiter des Büros für Aufklärung im Verteidigungsministerium, Wang Xiling, der Anstiftung zur Tat für schuldig befunden und mit 15 Jahren Haft bestraft. Die beiden Täter Chen und Wu wurden zu jeweils lebenslangen Haftstrafen verurteilt.353 Wenngleich die politische Führung der ROC jede Beteiligung an der Tat bestritt und den Mord als „unverantwortliche Tat einzelner Agenten“ 354 bezeichnete, hatte ihr Prestige in den Vereinigten Staaten großen Schaden genommen. Die Unabhängigkeitsbewegung nahm die beiden Mordfälle zum Anlass, die fortdauernde Verletzung der Menschenrechte in Taiwan und die totalitären staatlichen Repressionsapparate des KMT-Regimes aufs Schärfste zu verurteilen. Durch die Mordfälle hatte die WUFI für ihre Lobbyarbeit beträchtlich an Glaubwürdigkeit und öffentlicher Aufmerksamkeit gewonnen.
5.2.3 FAHR und FAPA - organisierte Lobby der Unabhängigkeitsbewegung Die erste organisierte Lobbygruppe der Unabhängigkeitsbewegung formierte sich im Jahr 1976: Die „Formosan Association for Human Rights“ (FAHR), die auf Initiative der WUFI und der taiwanesischen Heimatverbände in den USA gegründet wurde, befasste sich vor allem mit Menschenrechtsverletzungen auf Taiwan und pflegte dabei Kontakte zu Amnesty International und anderen internationalen Menschenrechtsorganisationen. Einen ihrer größten Erfolge konnte die FAHR im Frühjahr 1980 im Umfeld der Meilidao-Prozesse erzielen: Auf Anregung der FAHR reiste der ehemalige amerikanische Generalstaatsanwalt Ramsay Clark, der als Sympathisant der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung galt, nach Taipei, um den Gerichtsverhandlungen als Prozessbeobachter beizuwohnen. Das Ansehen der FAHR wurde jedoch dadurch belastet, dass ihr eine zu große Nähe zu der vom ROCRegime als „terroristische Vereinigung“ diffamierten WUFI nachgesagt wurde. Die Kontakte zwischen den beiden Organisationen schlugen sich sogar in familiären Banden nieder – die Mitbegründerin und langjährige Vorsitzende der FAHR, Frau Zhang Dinglan, war die Ehefrau des Vorsitzenden der WUFI, Zhang Canhong. Im Frühjahr 1982 rief daher Cai Tongrong, der ehemalige Vorsitzende der WUFI, eine weitere Lobby-Gruppe ins Leben: Die „Formosan Association für Public Affairs“ (FAPA). Die FAPA entwickelte sich sehr rasch zur einflussreichsten taiwanesischen Interessenvertretung mit einem ständigen Büro in Washington. Im Gegensatz zur WUFI galt die FAPA als moderate Organisation, die für eine friedliche Reform der politischen Verhältnis352 Der Vorfall involvierte unter anderem Jiang Xiaowu, einen Sohn des Präsidenten Jiang Jingguo, dem Verbindungen zur Unterwelt nachgesagt wurden. Nach dem Mordfall verließ Jiang Xiaowu auf Anordnung seines Vaters Taiwan und übernahm die Leitung der taiwanesischen Handelsvertretung in Singapur. Vgl. Zheng Keshuang 1985: 8-11. 353 Die lebenslangen Haftstrafen wurden im Zuge allgemeiner Amnestiegewährungen in den Jahren 1988 und 1990 zweimal reduziert. Im Mai 1990 wurden die Mörder des Henry Liu nach nur fünf Jahren in die Freiheit entlassen. 354 Siehe o.A. 1985b: 1.
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se auf Taiwan eintrat. Dies galt insbesondere für den Zeitraum nach 1985, als der Vorsitz der FAPA von Peng Mingmin übernommen wurde. Das Verhältnis zur WUFI war nicht immer ungetrübt;355 auf heftige Kritik traf etwa die Entscheidung der FAPA, zu ihrem Jahrestreffen im Dezember 1985 Vertreter der KMT und der VRCh zu einem Meinungsaustausch einzuladen.356 Zudem trat die FAPA in Fragen der Spenden-Akquirierung oftmals in Konkurrenz zur WUFI. Xie Congmin, der im Jahr 1986 die Gründung der „Demokratischen Partei Taiwans“ propagierte, beschrieb gegenüber dem Autor, wie er mit seiner von der FAPA unterstützen Aktion in Konflikt mit der WUFI geriet: „Die WUFI versuchte, die Bewegung [zur Gründung der Demokratischen Partei] zu behindern. Wer in den USA Geld sammelte, machte sich die WUFI zum Feind. Die WUFI betrachtete die USA als ihr Territorium.“357 Am 26.6.1988 kehrte die FAPA (drei Jahre vor der WUFI) nach Taiwan zurück und eröffnete in Taipei ihre Zentrale. Bis heute gilt die FAPA, die politisch der DPP nahe steht, als äußerst einflussreiche Organisation mit zahlreichen Kontakten zu hohen Regierungsvertretern in den Vereinigten Staaten. Frau Linda Arrigo, die der Gründung der Organisation zunächst sehr skeptisch gegenüber-stand, musste rückblickend den großen Erfolg der FAPA einräumen: When [Cai Tongrong] started to go around and say „We need another organization to lobby Congress”, I said: „Well, why do you need that? You already have FAHR, they are doing it anyway, and this is just more of the same” […] I have to say it was successful in what it was intended to do. I first thought it was trivial. If the US-policy is to favour the KMT, where are you going to get with trying to do more lobbying? Are you trying to buy yourself some senators or what? Basically, that’s exactly what they did. […] The organization is still there, it has become virtually the foreign ministry of Taiwan, because the real foreign ministry doesn’t do anything. FAPA has more contacts with the US Congress, now that Chen Shuibian is in office.358
5.3 Der Meilidao-Vorfall und die Verschärfung des Richtungsstreites Die WUFI hatte die Demokratiebewegung auf Taiwan (Dangwai-Bewegung, vgl. Kapitel sieben und acht), die seit Mitte der 70er Jahre feste Formen angenommen hatte und sich im Jahr 1979 um die politische Zeitschrift Meilidao scharte, stets mit einem gewissen Wohlwollen betrachtet. 359 Gleichzeitig vertrat sie jedoch den aus ihrer Sicht konsequenten Standpunkt, dass der Versuch einer friedlichen Demokratisierung und Liberalisierung Taiwans letztlich scheitern müsse. Im Dezember des Jahres 1979 schien sich diese Progno355 Die Darstellung des Chen Jiahong, der die FAPA als „Außenministerium“ der WUFI beschreibt, ist daher nach Ansicht des Autors nicht zutreffend. Vgl. Chen Jiahong 1998: 109. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass die FAPA in der historischen Selbstdarstellung der WUFI mit keinem Wort erwähnt wird. Vgl. Shi Zhengfeng 2000. 356 Siehe Li Jiachu 1985: 20f. 357 Interview mit Xie Congmin am 31.3.04. 358 Interview mit Linda Arrigo am 5.3.04. 359 In einigen Äußerungen der WUFI wurde gelegentlich der Eindruck erweckt, dass sie die Dangwai-Bewegung auf Taiwan auch substantiell und aktiv unterstützte. Siehe z.B. Chi Zixin 1980: 8. Diese Behauptung einer substantiellen und umfangreichen Unterstützung wurde von Mitgliedern der demokratischen Opposition auf Taiwan stets entschieden zurückgewiesen.
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se zu bestätigen: Nach einer Massenkundgebung in Gaoxiong am 12.12.79, der von gewalttätigen Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstranten begleitet war, wurde die Führungsspitze der Demokratiebewegung verhaftet und von einem Militärgericht zu langen Haftstrafen verurteilt. Auf die Hintergründe des Meilidao-Vorfalles, eines der wichtigsten Ereignisse in der Geschichte der Demokratisierung Taiwans, wird in Kapitel 7.3. einzugehen sein. Für die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung in den USA war jedoch bedeutend, dass sie im Zuge dieses Vorfalles von einer gewaltigen Welle der Unterstützung auf neue Höhen getragen wurde. Zudem war die WUFI nun organisatorisch und personell wesentlich besser aufgestellt als beim 424-Vorfall neun Jahre zuvor. Im Laufe der 70er Jahre hatte sie eine stabile und umfangreiche Mitgliederbasis geschaffen, zudem verfügte sie über Kontakte bis in die höchsten Regierungskreise der Vereinigten Staaten. Die WUFI war daher von der Hoffnung getragen, nun auch die Spaltung innerhalb der Unabhängigkeitsbewegung zu überwinden und zu einer neuen Geschlossenheit zu finden. Am 15.12., nur drei Tage nach den Ereignissen in Taiwan, wurde daher in New York die „Gemeinsame Front für die Staatsgründung Taiwans“ 360 ins Leben gerufen. Die zehn angeschlossenen Organisationen veröffentlichen eine gemeinsame Erklärung, die mit einem kämpferischen Aufruf schloss: Wir werden nach Kräften alle Taiwanesen im In- und Ausland vereinen und einen sofortigen, ausdauernden, umfassenden und erbarmungslosen Kampf gegen das Regime der KMT eröffnen – bis dieses verbrecherische Regime restlos vom Erdboden verschwunden ist.361
Es erwies sich jedoch, dass diese „Gemeinsame Front“ lediglich ein impulsiver, den Ereignissen auf Taiwan geschuldeter Versuch war, eine Einheit zu erzwingen, die sich faktisch nicht herstellen ließ. Nach ihrer Gründungserklärung trat die „Gemeinsame Front“ nie wieder in Erscheinung. Im Gegenteil: Im Anschluss an den Meilidao-Vorfall verschärften sich die internen Streitigkeiten innerhalb der Unabhängigkeitsbewegung zusehends. Dies lag auch daran, dass die Bewegung seit Ende der 70er Jahre durch zahlreiche bekannte politische Dissidenten erweitert wurde, die vor den Repressionsmaßnahmen des Regimes aus Taiwan geflohen waren. Von Seiten der WUFI wurde stets der Versuch unternommen, die Neuankömmlinge an die Organisation zu binden, diese Kooperationen waren jedoch stets von kurzer Dauer. Die Folge war eine weitere Zersplitterung der Bewegung: Peng Mingmin übernahm eine führende Rolle in der „Taiwanesisch-amerikanischen Gesellschaft“; 362 Shi Ming engagierte sich seit Anfang der 80er Jahre vermehrt in der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung in den USA und führte dort seine „Gesellschaft Unabhängiges Taiwan“ weiter; Xu Xinliang, der Chefredakteur der Meilidao-Zeitschrift, der einige Monate vor dem Meilidao-Vorfall in die USA emigriert war (vgl. 7.3.2.), wurde in Los Angeles Mitbegründer der Meilidao-Wochenschrift363 – nach 1981 kam es hierbei zu einer Kooperation mit Shi Ming.364 360
Taiwan jianguo lianhe zhenxian ਠ⚓ᔪ഻㚟ਸ䲓㐊 o.A. 1979a: 2. 362 Tai Mei xiehui ਠ㖾ᴳ 363 Meilidao zhoubao 㖾哇ጦ䙡 364 Diese Auflistung kann bei weitem keinen Anspruch auf Vollständigkeit erheben. Seit den 70er Jahren entstand in den Vereinigten Staaten eine verwirrende Vielzahl an kleinen und kleinsten Splittergruppen der Unabhängigkeitsbewegung, die in den Quellen oftmals nur ein oder zwei Mal Erwähnung finden. Hinzu kamen zahlreiche bekannte Akteure, die sich überhaupt keiner Gruppe anschlossen, sondern allenfalls in vorübergehende Allianzen 361
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Ideologische Differenzen – wie etwa im Falle Shi Mings – spielten hierbei zumeist eine untergeordnete Rolle. Von größerer Tragweite waren hingegen persönlichen Differenzen mit dem Führungspersonal der WUFI – und insbesondere deren Vorsitzenden Zhang Canhong. So erinnerte sich Frau Linda Arrigo, die zu Beginn der 80er Jahre in der Meilidao zhoubao mitwirkte: Anything that happened in the Taiwanese communities, WUFI was very envious about […] Whatever WUFI didn’t control, they either tried to take it over, or they tried to suppress it, a very selfish attitude […] By mid-1980, Xu Xinliang, Chen Wanzhen, Zhang Jince and me came in opposition to WUFI. The Taiwan communities were very confused and upset. [...] WUFI had been their hero, and WUFI said those people from Taiwan are heroes, but now these heroes from Taiwan are being isolated by WUFI. So WUFI began a kind of campaign, an eryu yundong [Rufmord-Kampagne]. WUFI does things in a very underhanded way, which I could give you lots of details. George Zhang [Zhang Canhong] is personally very underhanded.365
Im Frühjahr 1986 führte der Unmut über den autoritären Führungsstil des WUFIVorsitzenden Zhang Canhong schließlich zu einer weiteren Spaltung der Organisation: Eine Gruppe von 27 ideologisch linken Abweichlern um Hong Zhesheng und Tian Tairen (Joshua Tin) gründete die „Revolutionäre Partei Taiwans“. 366 Diese neugegründete linke Gruppierung konnte jedoch kaum mehr Einfluss auf die Unabhängigkeitsbewegung ausüben. Seit Mitte des Jahres 1986 wurde die Unabhängigkeitsbewegung von der Idee getragen, eine demokratische Partei in den USA zu gründen und nach Taiwan zu exportieren. Damit begann die letzte Phase der Unabhängigkeitsbewegung im Ausland: Die Rückkehr der Unabhängigkeitsbewegung nach Taiwan.
5.4 Die letzte Phase der Unabhängigkeitsbewegung im Ausland, 1986 Nach dem Meilidao-Vorfall von 1979 hatte die oppositionelle Demokratiebewegung auf Taiwan zu einem raschen Neubeginn gefunden. Flankiert von zahlreichen politischen Zeitschriften, hatte sich bis zur Mitte der 80er Jahre eine politische Kraft außerhalb der KMT etabliert, die bei lokalen Wahlen bis zu 30% der Wählerschaft gewinnen konnte. Die taiwanesische Demokratiebewegung in den Vereinigten Staaten erwartete seit Mitte des Jahres 1985 den entscheidenden Schritt: Die Gründung einer Oppositionspartei, die eine gezielte Auflehnung gegen das herrschende Kriegsrecht dargestellt hätte. Als dies jedoch ausblieb, fassten Aktivisten in den USA zu Beginn des Jahres 1986 den Entschluss, auf eigene Faust einen Impuls für die weitere Liberalisierung auf Taiwan zu geben. Eine Gruppe um Xu Xinliang, Lin Shuiquan und Xie Congmin wollte in den Vereinigten Staaten eine Oppositionspartei gründen und deren Mitglieder zu einer Rückkehr nach Taiwan veranlassen. Diese Bewegung, die als „Die Partei nach Taiwan tragen“367 bezeichnet wurde, stieß auf große Resonanz. Xie Congmin, der mit der praktischen Durchführung des Vorhabens betraut wurde, erinnerte sich: mit unterschiedlichen Gruppierungen traten – wie etwa Frau Chen Wanzhen, die auf Taiwan eine oppositionelle Zeitschrift mit dem Namen Chaoliu herausgegeben hatte. 365 Interview mit Linda Arrigo am 24.10.03. 366 Taiwan gemingdang ਠ⚓䶙ભ唘 367 Qian dang hui Tai 䚧唘എਠ
Die letzte Phase der Unabhängigkeitsbewegung im Ausland, 1986
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Xu Xinliang hatte mich im Februar [1986] aufgesucht und gebeten, vier oder fünf Leute zu finden, die ihn [in seinem Plan] unterstützen sollten. Wir wollten eine Bewegung ins Leben rufen, um die Partei nach Taiwan zurückzubringen […] Ich habe über 100 Leute gefunden, und mehr als 10.000 USD Spenden gesammelt […]368
Am 1.5.86 fand in Los Angeles ein erstes Vorbereitungstreffen für die Gründung der neuen Partei mit über 200 Teilnehmern statt. Das erklärte Ziel der „Demokratischen Partei“369 war es, als Katalysator der demokratischen Liberalisierung auf Taiwan zu wirken. 370 Mit ihrer Rückkehr und der bewusst kalkulierten Verhaftung durch staatliche Behörden wollten die Mitglieder den Kristallisationspunkt für die demokratische Bewegung auf Taiwan schaffen. Die offizielle Gründung der Partei, die eigentlich für den 4.10. des Jahres geplant war, fand indes nicht mehr statt. Am 28.9.86 wurde auf Taiwan die Demokratische Fortschrittspartei (DPP) gegründet. Bis heute ist strittig, inwieweit die Gründung der DPP von der „Demokratischen Partei“ angeregt oder erzwungen wurde. 371 Die Gründungsmitglieder der „Demokratischen Partei“ fassten jedoch den Entschluss, die Partei in eine „ausländische Zweigstelle“ der DPP umzufunktionieren und sich mittelfristig der DPP auf Taiwan anzuschließen. Im November des Jahres 1986 begann damit der letzte Abschnitt der Unabhängigkeitsbewegung im Ausland: Das „Sprengen der Grenzen“; 372 die Rückkehr der Aktivisten auf die Insel. Einzeln oder in Gruppen versuchten populäre Aktivisten der Unabhängigkeits- und Demokratiebewegung, eine Einreise nach Taiwan zu erzwingen, Verhaftungen und Gefängnisaufenthalte wurden dabei bewusst in Kauf genommen. Die Aktivisten aus den Vereinigten Staaten machten hierbei eine befremdliche und ermutigende Erfahrung: Obwohl einige der Regimegegner wegen schwerster Verbrechen auf Fahndungslisten des KMT-Regimes geführt wurden (wie etwa Xu Xinliang, dem der Versuch des Regierungssturzes vorgeworfen wurde), unternahm das Regime alle Anstrengungen, eine Rückkehr der Dissidenten zu verhindern. „Unerwünschten Personen“ wurde bei Zwischenlandungen die Weiterreise nach Taiwan verwehrt, oftmals scheiterte das „Sprengen der Grenzen“ daher
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Interview mit Xie Congmin (Roger Hsieh) am 31.3.04. Minzhudang ≁ѫ唘 370 In der demokratischen Bewegung auf Taiwan wurde die Gründung der „Demokratischen Partei“ in den USA mitunter skeptisch beurteilt. Zahlreiche Mitglieder der Oppositionsbewegung sprachen sich gegen diese als aufdringlich empfundene Einmischung von Außen aus. So äußerte sich der Vorsitzende des oppositionellen Schriftsteller- und Journalistenverbandes Qiu Yiren: „Ich bin gegen dieses Vorgehen des Auslandes. Die Gründung einer Oppositionspartei auf Taiwan ist kein juristisches Problem, sondern ein politischer Kampf […] Eine im Ausland gegründete Partei ist eine politische Gruppe ohne jede Wurzel auf Taiwan.“ Siehe o.A. 1986g: 9. Die populäre oppositionelle Zeitschriftenreihe Ziyou shidai und deren Herausgeber Zheng Nanrong hingen unterstützte das Anliegen der Demokratischen Partei und forderte ihre Leser auf, der Partei beizutreten – entsprechende Anmeldeformulare wurden der Zeitschrift beigelegt. Siehe. o.A. 1986f: 2f. 371 Li Xiaofeng etwa vertrat in einem Interview mit dem Autor die Ansicht, dass ein direkter Zusammenhang bestünde: Innerhalb der demokratische Opposition auf Taiwan sei die Gründung einer Oppositionspartei bereits seit mehreren Monaten diskutiert worden, viele Regimegegner hätten es jedoch lange nicht gewagt, sich offen gegen das Kriegsrecht zu stellen und Repressionsmaßnahmen des Regimes zu provozieren. Durch den überraschenden Vorstoß der Bewegung in den USA sei die Opposition jedoch in Zugzwang geraten. Interview mit Li Xiaofeng am 23.3.04. 372 Chong guan 㺍䰌 369
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schon auf halber Strecke.373 Dr. Linda Arrigo beschrieb die veränderte Stimmung unter den Regimegegnern: Originally, everybody was so afraid of the KMT. If you went back to Taiwan, they would arrest you, and you would get tortured and sentenced to 15 years. And now, all of a sudden, it was the KMT that was afraid of the overseas activists. People’s perception of the threat and the prestige of the Taiwan government and the security agencies just dropped, and dropped quickly. It suddenly became more of an issue: We people who were on the black list, how can we get back to Taiwan? […] After that point, a lot of people came back illegally.374
Die erste Welle der rückreisewilligen US-Aktivisten scheiterte weitgehend: Nur sechs von über 40 Personen, die im Spätherbst 1986 gemeinsam mit einem Flug von Los Angeles nach Hongkong (über Japan und Taiwan, dem eigentlichen Ziel) aufgebrochen waren, gelang schließlich die Einreise.375 Die Methoden der „Grenzbrecher“ wurden daraufhin immer raffinierter: Reisen wurden mit geliehenen oder gefälschten Pässen angetreten; taiwanesische Aktivisten, welche die amerikanische Staatsbürgerschaft besaßen, verwendeten in ihren Visumsanträgen leicht veränderte englische Umschriften für ihre Familiennamen, um die Kontrollmechanismen der staatlichen Behörden der ROC zu überlisten. Im Juli 1988 gelang es der ehemaligen Chefredakteurin der Zeitschrift Chaoliu, Chen Wanzhen, mit gefälschten Reiseunterlagen bis in die Ankunftshalle des internationalen Flughafens von Taipei vorzudringen, wo sie von Grenzbeamten erkannt und zum Rückflug gezwungen wurde.376 Im darauf folgenden Jahr gelang ihr jedoch die unbemerkte Einreise: Am 19.5.89 trat sie, sehr zum Erstaunen der taiwanesischen Polizei, bei einer Großveranstaltung der Opposition – dem Begräbnis von Zheng Nanrong, vgl. 9.1.1. – in Taipei öffentlich in Erscheinung; zudem konnte sie sich unbehelligt von der Veranstaltung zurückziehen.377 Die illegalen Einreiseversuche der taiwanesischen Aktivisten aus den USA wurden von Sympathisanten auf Taiwan mit Spannung und Anteilnahme verfolgt. Als am 2.12.86 bekannt wurde, dass Xu Xinliang mit einem Flug aus Manila in Taipei ankommen würde, versammelte sich unter Leitung von Xu Guotai, dem Bruder von Xu Xinliang und Mitglied der DPP, eine große Menge von einigen tausend Menschen, um Xu „Willkommen zu heißen“. Xu wurde jedoch nach seiner Ankunft von Sicherheitsbeamten abgefangen und zum Rückflug nach Manila gezwungen, daraufhin kam es zu heftigen Zusammenstößen zwischen demonstrierenden Sympathisanten der DPP und der Polizei, der Flughafenbetrieb musste vorübergehend eingestellt werden. 378 Erst im dritten Versuch gelang Xu Xinliang im September 1989 die Rückkehr nach Taiwan, als er sich mit einem gecharterten Fischer373
Xie Congmin, der bereits im November 1986 gemeinsam mit Xu Xinliang eine Einreise nach Taiwan versucht hatte und in Tokio gescheitert war, beschrieb gegenüber dem Autor eine anschauliche Anekdote: Nach dem vergeblichen Versuch, ein Flugzeug nach Taiwan zu besteigen, sei er mit Xu Xinliang – und einem großen Aufgebot der japanischen Presse – vor der diplomatischen Vertretung der ROC in Tokio erschienen, um den „gesuchten Verbrecher Xu Xinliang auszuliefern“: „Der Verantwortliche KMT-Vertreter hieß Ma Qichuang. Ich habe gefordert, man solle Xu Xinliang an Ma Qichuang ausliefern […] Ma traute sich nicht zu uns herunter [vor das Gebäude]. Er war oben im ersten Stock, und wir konnten nicht hinein. [Ich rief]: ‚Ich habe hier einen gesuchten Verbrecher, und will meine Belohnung!’“ Interview mit Xie Congmin am 31.3.04. 374 Interview mit Linda Arrigo am 24.10.03. 375 Siehe Jiang Gaishi 1986: 38f. 376 Siehe Zheng Nanrong 1988: 2f. 377 Vgl. Chen Yuhua 1989: 12-14. 378 Zum sog. „Flughafen-Vorfall“ siehe z.B. Xu Manqing 1986b: 14-19; Zhuang Shouyi 1986: 50f.
Ergebnisse im Kontext dieser Arbeit
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boot vom chinesischen Festland nach Taiwan schmuggeln ließ und in der Hafenstadt Gaoxiong verhaftet wurde.379 Die WUFI hatte der Gründung der „Demokratischen Partei“ im Sommer 1986 zunächst sehr distanziert gegenübergestanden. Gegen Ende der 80er Jahre begann sie sich jedoch vermehrt am „Durchbrechen der Grenzen“ zu beteiligen, wobei sie sich als ausgewiesene Untergrundorganisation durch besonders spektakuläre Aktionen auszeichnen konnte. Zu Berühmtheit gelangte etwa Chen Nantian, der ehemalige Vorsitzende der USAZweigstelle der WUFI, dem als „Mann mit den 1000 Gesichtern“ in den Jahren von 19881991 mindestens fünf Mal die heimliche Einreise nach Taiwan gelang. Im Dezember 1989 zeigte sich der amtierende Vorsitzende der WUFI-Zweigstelle USA, Guo Peihong, auf einer Veranstaltung der DPP in Zhonghe in Mitteltaiwan, wo er eine Erklärung verlas und Interviews gab. Nach dem Ende der Veranstaltung konnte er sich dem Zugriff der Polizei entziehen und in der Volksmenge untertauchen: Unter den Teilnehmern der Veranstaltung waren zuvor Hunderte von Masken mit dem Gesicht Guo Peihongs ausgegeben worden. Im Dezember 1989 fasste die WUFI auf einer Vollversammlung in New York offiziell den Beschluss, innerhalb von zwei Jahren nach Taiwan zurückzukehren. Die „Grenzbrüche“ und oftmals bewusst provozierten Verhaftungen der Mitglieder nahmen daraufhin deutlich zu. Am 30.8.91 wurde Guo Peihong am Flughafen Taipei verhaftet, am selben Tag stellte sich Lin Yingyuan, der stellvertretende Vorsitzende der WUFI-Zweigstelle USA, der seit 14 Monaten unerkannt auf der Insel gelebt hatte, der Polizei. Am 20.10.91 hielt die WUFI erstmals offen eine Versammlung in Taipei ab, erneut wurden drei führende Mitglieder verhaftet. Am 7.12. schließlich reiste der Vorsitzende der WUFI, Zhang Canhong, über Japan nach Taiwan ein und wurde ebenfalls am Flughafen festgenommen. Zu Beginn der 90er Jahre hatte die demokratische Liberalisierung auf Taiwan jedoch bereits große Fortschritte gemacht. Am 15.5.1992 wurde der berüchtigte „Strafparagraph 100“, der zuvor jedes Eintreten für die taiwanesische Unabhängigkeit unter Strafe gestellt hatte, abgeschafft. Die Mehrzahl der politischen Häftlinge und Unabhängigkeitsaktivisten wurden im Lauf der folgenden Monate entlassen. Im Sommer 1992 wurde ein lange angestrebtes Ziel erreicht: Die WUFI-Zweigstelle Taiwan konnte ihre zweite Vollversammlung am 27.6.92 ohne staatliche Repressionen in Taipei abhalten. Zhang Canhong, der sich zu diesem Zeitpunkt noch in Haft befand, wurde erneut zum Vorsitzenden gewählt. 45 Jahre nach dem 228-Aufstand war die Unabhängigkeitsbewegung nach Taiwan zurückgekehrt.
5.5 Ergebnisse im Kontext dieser Arbeit 5.5.1 Taiwanesische Unabhängigkeit 5.5.1.1 Die WUFI und ihr Anspruch als revolutionäre Gruppe In ihrem Selbstverständnis sah sich die WUFI als revolutionäre Gruppe, die den gewalttätigen Kampf auf Taiwan als einzigen Weg zum Sturz des verhassten KMT-Regimes betrach379
Nach Angaben von Xie Congmin hatte Xu Xinliang seine Verhaftung durchaus gewollt: Xu selbst habe der taiwanesischen Polizei einen Hinweis auf seinen Ankunftsort zukommen lassen. Interview mit Xie Congmin am 31.3.04.
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tete. Hier sah die WUFI auch ihre hauptsächliche Funktion: Im Ausland sei es – im Gegensatz zu Taiwan – möglich, Waffen zu erwerben und Kämpfer auszubilden. Im Gegensatz zu der frühen Bewegung der 50er und 60er Jahre wollte die WUFI also gezielt das Ausland (und insbesondere die USA) als Ausbildungs- und Rückzugsgebiet für die logistische und strategische Vorbereitung des revolutionären Kampfes auf Taiwan nutzen. In der Außendarstellung der WUFI umfasste diese „Taiwan-Arbeit“380 der Organisation zwei Dimensionen: Einerseits den allmählichen, aus dem Ausland gesteuerten Aufbau von revolutionären Strukturen auf Taiwan, zum anderen die gelegentliche Durchführung von Sabotageakten und Attentaten auf führende Politiker und Einrichtungen der Armee und des Militärs.381 Der Schwerpunkt der Arbeit wurde dabei eindeutig auf den ersten Aspekt, den verstärkten Aufbau von revolutionären Strukturen in Taiwan selbst, gelegt. Die WUFI betonte immer wieder, dass ein erfolgreicher Sturz des Regimes erst dann möglich sei, wenn auf Taiwan eine ausreichende militärische Schlagkraft zur Verfügung stünde. So beschrieb ein Leitartikel der Taidu yuekan den Stand der „Taiwan-Arbeit“ im Jahr 1972: Wir wollen besonders die Notwendigkeit der Planung und Organisation der Taiwan-Arbeit betonen. Man muss wissen, dass es ohnehin schwer ist, Mitstreiter auf Taiwan zu gewinnen. Wenn man von diesen nun ein kopfloses Vorgehen ohne intensive Planung forderte, dann wäre das Ergebnis eines solch blinden Vorgehens die Vergeudung von Menschenleben. […] Damit ist nicht gemeint, dass man vor Abschluss der Vorbereitungen keine [gewalttätigen] Aktionen durchführen könnte. Aber: Groß angelegte Aktionen, die darauf zielen, mit einem Schlag den Erfolg [den Sturz des Regimes] zu erreichen, sind nicht möglich.382
Bereits bei Gründung der WUFI war im Gründungsstatut eine „Zweigstelle Taiwan“ unter Leitung von „Qiu Yifa“ (selbstverständlich ein Deckname) eingerichtet worden, die nach Angaben der WUFI auch operationsfähig war. In den 70er und frühen 80er Jahren wurden nach erfolgreichen „Attentaten“ oftmals Bekennerschreiben und Erklärungen der Zweigstelle Taiwan veröffentlicht. Die WUFI äußerte sich jedoch nie detailliert über die Fortschritte der „Taiwan-Arbeit“: Weder wurden konkrete Angaben über eine erfolgreiche Erweiterung einer revolutionären Zelle auf Taiwan gemacht, noch wurden Einzelheiten über Schritte zum Aufbau einer solchen Zelle (wie etwa Waffenlieferungen, Einrichtung von militärischen Ausbildungslagern o.ä.) bekannt gegeben. Aus Sicht der WUFI wäre eine solche Vorsicht mehr als verständlich: Wenn sie ihren Anspruch als revolutionäre Untergrundorganisation ernst nahm, war ein gewisses Maß an Geheimhaltung sicher notwendig. Die WUFI sah sich jedoch zunehmend dem Vorwurf ausgesetzt, dass ihre – mit zahlreichen Spendengeldern finanzierte – „Taiwan-Arbeit“ lediglich der Propaganda gegenüber den Taiwanesen im Ausland diene. Auch innerhalb der WUFI mehrten sich die Stimmen, die starke Zweifel an der Ernsthaftigkeit des von der WUFI propagierten „revolutionären Aufstandes“ äußerten. Joshua Tin (Tian Tairen), der im Jahr 1978 der WUFI beigetreten war, verließ schließlich im Jahr 1986 die Organisation. In einem Gespräch mit dem Autor beschrieb er die enttäuschende Erfahrung in der WUFI:
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Daonei gongzuo ጦޗᐕ Die WUFI setzte dabei offenbar auch auf die Initiative von Einzeltätern. In der Taidu yuekan fanden sich regelmäßig Beiträge, die illustrierte Anleitungen zum Bau und Einsatz von Sprengsätzen und Molotowcocktails enthielten. Siehe z.B. o.A. 1976d: 6ff. 382 o.A. 1972b: 1. 381
Ergebnisse im Kontext dieser Arbeit
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After I joined the WUFI, I realized [that] this group is a secret group, but not doing anything secret. There was nothing! Not even […] terror attacks, or guerilla warfare – nothing. [They] were just a bunch of elite talking. Initially, I thought I probably was too junior, too green, [so] they would not let me touch anything, but gradually I [realized]: That’s all! Writing propaganda and sticking stamps on envelopes, and mail it to [people]. That’s all there was! […] The members within WUFI were all well-established middle-class Taiwanese, lots of engineers, lots of lawyers. They were well-fed and well-established in the United States. Their concern for Taiwan was only to the extent of nostalgic concern. So gradually I [realized] this group would not work.383
Auch auf Taiwan begann das Ansehen der WUFI zu leiden; die Existenz der „Zweigstelle Taiwan“ und des Herrn „Qiu Yifa“ selbst wurden in Frage gestellt. Im Jahr 1984 merkte ein Artikel der auf Taiwan erscheinenden oppositionellen Zeitschrift Qianjin/Progress kritisch an: In Wahrheit gibt es überhaupt keine „Zweigstelle Taiwan“, es gibt auch keinen „Qiu Yifa“ […] Es gab noch nie die geringsten Anzeichen dafür, dass [die WUFI] in Taiwan Fuß gefasst hätte. Auch ihre „Zweigstelle Taiwan“ ist nur leere Propaganda, [die WUFI] ist noch nicht einmal in der Lage, Informationen über die Vorgänge in Taiwan zu sammeln.384
Die WUFI antwortete auf solche Kritik (mit Hinweis auf die Notwendigkeit der absoluten Geheimhaltung) stets ausweichend. Sie stand jedoch unter großem Erfolgsdruck: Um ihren Anspruch als revolutionäre und kampfbereite Truppe zu untermauern, mussten „Siege“ in Form von erfolgreichen Attentaten oder Sabotageakten auf Taiwan präsentiert werden. So vermeldete die „Zweigstelle Taiwan“ in der Taidu yuekan im April 1976 stolz den erfolgreichen Anschlag auf eine Trafostation in Südtaiwan am 6.1., der zu einem Stromausfall im ganzen Süden der Insel geführt habe – von den taiwanesischen Behörden wurde der Ausfall hingegen auf schadhafte Starkstromkabel zurückgeführt. 385 Der spektakulärste Fall ereignete sich im Oktober desselben Jahres: Am 10.10.1976, dem Nationalfeiertag der ROC, wurde der Provinzvorsteher Taiwans, Xie Dongmin, durch eine Paketbombe schwer verletzt.386 Vier weitere Sprengsätze, die am selben Tag an hochrangige Regierungsvertreter des KMT-Regimes verschickt worden waren, konnten entschärft werden. Die WUFI bekannte sich umgehend zu der Tat: In einem Bekennerschreiben wurde Xie Dongmin, der seit 1972 als erster gebürtige Taiwanese das Amt des Provinzvorstehers ausgeübt hatte, als Verräter gebrandmarkt.387 Der Anschlag auf Xie Dongmin sei ein schlagender Beweis dafür, dass die WUFI in ihrem Kampf gegen das KMT-Regime nicht zwischen „Taiwanesen“ und „Festländern“ unterscheide. Jeder Feind des Volkes müsse jederzeit damit rechnen, Opfer von weiteren Anschlägen zu werden: Der Kampf unserer Liga [der WUFI] gegen die Gewaltherrschaft des Jiang-Clans beruht auf dem Prinzip von „Gewalt gegen Gewalt“, wir werden bis zum Ende entschlossen [weiterkämpfen]. Die Hauptverbrecher und Helfershelfer des Jiang-Clans sowie deren Familienangehörigen und Besitztümer im In- und Ausland sind unter ständiger und scharfer Beobachtung unserer Organisation. Falls diese Hauptverbrecher und Helfershelfer nicht sofort zur Einsicht kommen, 383
Interview mit Joshua Tin am 24.10.03. Zheng Zhe 1984: 27. Siehe o.A. 1976c: 1. 386 Der rechte Unterarm des Xie Dongmin erlitt schwere Verbrennungen und musste später amputiert werden. 387 Siehe Cheng Yun 1976: 3. 384 385
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Die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung in den Vereinigten Staaten werden nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Familien und Besitztümer zum Ziel unserer Strafaktionen werden.388
Im Januar 1977 nahm der Fall jedoch eine überraschende Wendung: Die Sicherheitsorgane der ROC verhafteten einen taiwanesischen Geschäftsmann namens Wang Xingnan, der mit seiner Familie in den USA lebte, als Hauptverdächtigen des Anschlags. Wang sei auf Grund von Fingerabdrücken identifiziert worden, die er auf den Paketen hinterlassen habe. Die Ehefrau von Wang Xingnan, Wang Meixia, bestritt diesen Vorwurf jedoch entschieden: Ihr Ehemann sei im Dezember 1976 der Einladung eines Geschäftspartners nach Hongkong gefolgt. Offenbar sei dies jedoch nur ein Vorwand der taiwanesischen Sicherheitsorgane gewesen, um ihn von Hongkong nach Taiwan zu entführen. 389 Auch seitens der WUFI, die sich ja bereits zu dem Anschlag bekannt hatte, wurde Wang Xingnan als unschuldiges Opfer der KMT-Behörden bezeichnet. Die Polizei wolle lediglich über ihre Unfähigkeit bei der Aufklärung des Falles hinwegtäuschen und die Erfolge des revolutionären Kampfes der WUFI marginalisieren. 390 Wang Xingnan wurde am 21.7.77 zu lebenslänglicher Haft verurteilt. In jüngster Zeit warf Wang Xingnan jedoch abermals ein neues Licht auf den Vorfall: Wie Wang in einem Gespräch mit dem Autor erläuterte, habe er den Anschlag im Jahre 1976 tatsächlich alleine und ohne Wissen der WUFI geplant und durchgeführt. Nur Zhang Canhong habe ich im Vertrauen von meinem Plan erzählt. Aber es war ein großes Geheimnis, das durften nicht viele Leute wissen […] Niemand hat mich geschickt. Es war mein eigener Plan, ich wollte nach Taiwan zurückgehen und mich [für die Unabhängigkeitsbewegung] opfern.391
Zudem habe er, im Gegensatz zu zahlreichen Gerüchten, nicht den Plan verfolgt, die anvisierten Opfer des Attentates zu töten. Die Sprengladungen seien dazu gar nicht geeignet gewesen: Ich habe mir damals hunderte von Knallfröschen gekauft und das Schwarzpulver [zum Bau der Bomben] verwendet […] Die Bomben waren so konstruiert, dass sie bei Öffnen der Pakete detonierten. Aber ich konnte ja nicht wissen, wer das Paket aufmacht. Bei Huang Jie wurde das Paket zum Beispiel von einem bodyguard geöffnet, der wurde am Arm verletzt […] Ich wollte der KMT nur einen Schrecken einjagen. Wenn ich hätte töten wollen, dann hätte ich TNT verwenden können. Das wäre kein Problem gewesen, viele Fischer auf Taiwan hatten damals TNT.392
Wang Xingnan war es zunächst gelungen, am 9.10.1976 unbemerkt aus Taiwan auszureisen. Bei einer Geschäftsreise nach Hongkong im Januar 1977 sei ihm jedoch über Mittelsmänner der KMT mitgeteilt worden, dass er als Täter der Anschläge identifiziert worden sei. Man habe darüber hinaus seinen Vater und seinen jüngeren Bruder auf Taiwan als politische Geiseln inhaftiert, daher habe er aus eigenem Antrieb den Entschluss gefasst, nach Taiwan zurückzukehren und sich den Behörden zu stellen. Wang Xingnan, der im Jahre 388
o.A. 1976e: 8. Siehe Wang Meixia 1977: 12. Siehe Cheng Yun 1977: 11. 391 Interview mit Wang Xingnan am 23.8.07 392 Interview mit Wang Xingnan am 23.8.07 389 390
Ergebnisse im Kontext dieser Arbeit
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1990 von Präsident Li Denghui begnadigt wurde, nimmt seit 1998 ein Mandat der DPP im Legislativ-Yuan wahr. Es bleibt also festzuhalten, dass Attentat des Jahres 1976 als die Aktion eines Einzeltäters betrachtet werden muss. Dies wiederum bestätigt den Verdacht, dass die WUFI aus propagandistischen Motiven oftmals Vorfälle auf Taiwan zu Unrecht für sich reklamierte.393 Ein Verdacht, der sich im Jahre 1984 anlässlich der Bombenattentate auf die Redaktionsgebäude der zwei regierungsnahen taiwanesischen Zeitungen Lianhebao und Zhongyang ribao erneut bestätigte (siehe 8.4.3.2.).
5.5.1.2 Der Blick auf die Volksrepublik China Ebenso wie die frühe Bewegung in Japan stand auch die Unabhängigkeitsbewegung der 70er und 80er Jahre vor der Frage, welche Haltung man gegenüber der Volksrepublik China einnehmen wollte. Konkret hieß das: War der Hauptgegner, den es zu bekämpfen galt, das „tyrannische Regime“ der KMT oder die Volksrepublik China, die latent mit einem Militärschlag gegen Taiwan drohte? Sollte man kompromisslos auf eine Schwächung des KMT-Regimes hinarbeiten – auch auf die Gefahr hin, dass ein solcher Schritt die Wahrscheinlichkeit einer festlandchinesischen Aggression gegen Taiwan erhöhte? In der Wahrnehmung der VRCh lassen sich verschiedene Ansätze unterscheiden. Bis zur Mitte der 70er Jahre hofften Teilen der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung zunächst, dass die VRCh langfristig ihre territorialen Ansprüche auf Taiwan fallenlassen und sich für vernünftige Appelle zugänglich erweisen würde. Man setzte also, wie es in einem Artikel der Taidu yuekan aus dem Jahr 1973 formuliert wurde, auf eine gewisse Lernfähigkeit der VRCh: Ist es möglich, dass China seine Feindschaft gegen eine taiwanesische Unabhängigkeit aufgibt? Wenn man [dies bestreiten] wollte, würde man damit das chinesische Volk als verstockt und unverbesserlich bezeichnen, das wäre dann doch eine zu große Herabsetzung des chinesischen Volkes […] Nur dann, wenn China eine Eroberung Taiwans plant oder sich in anderer Weise unfreundlich gegenüber Taiwan verhält, macht es sich selbst zum Feind des taiwanesischen Volkes. Daher wird Taiwan nach seiner Unabhängigkeit aktiv harmonische und gute Kontakte zu China auf-rechterhalten und um gegenseitiges Verständnis werben. Die Differenzen, welche das Chiang-Regime [die KMT] geschaffen hat, werden beseitigt werden, und [wir] werden in dem Umfang, in dem dies möglich ist, mit vereinten Kräften zusammen-arbeiten.394
In diesem Kontext wurde das zunehmende internationale Gewicht der VRCh, die im Jahre 1971 an Stelle der ROC den chinesischen Sitz in den Vereinten Nationen einnahm, begrüßt. Einerseits müsse jede Stärkung der VRCh zu Lasten des KMT-Regimes auf Taiwan erfolgen und somit das Ziel der Unabhängigkeitsbewegung (den Sturz des Regimes) fördern; zum anderen könnte eine zunehmende Integration der VRCh in die internationale Gemein393 Die WUFI äußerte sich im Jahre 2000 erneut zu dem Vorfall. Die Angaben des Wang werden weitgehend bestätigt, er wird jedoch als „geheimes Mitglied“ der WUFI bezeichnet. Auf die Frage, inwieweit die WUFI über den Plan des Wang Xingnan eingeweiht war und ob das „Bekennerschreiben“ aus dem Jahr 1976 somit eine gewisse Berechtigung hatte, wird jedoch nicht eingegangen – eine aus Sicht des Autors sehr viel sagende Zurückhaltung. Siehe Shi Zhengfeng 2000: 69f. 394 o.A. 1973c: 3.
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Die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung in den Vereinigten Staaten
schaft auch dazu beitragen, die VRCh in ihrer Politik gegenüber Taiwan zu zügeln. Diese optimistische Sichtweise, die schon in der früheren Periode der 50er und 60er Jahre vorherrschend gewesen war (vgl. 4.3.1.2.), erwies sich jedoch als zunehmend unrealistisch. Zu Beginn der 80er Jahre war die Unabhängigkeitsbewegung zu der Einsicht gezwungen, dass die VRCh ihren territorialen Anspruch über Taiwan nicht fallenlassen würde. Eine Zäsur bildete hierbei die Normalisierung der sino-amerikanischen Beziehungen im Jahr 1979: Nach der Aufnahme diplomatischer Kontakte zwischen den Vereinigten Staaten und der VRCh hielt die politische Führung der Volksrepublik unmissverständlich an der „Heiligen Mission“ der Wiedervereinigung des chinesischen Vaterlandes fest. Die VRCh erklärte sich zwar bereit, nach Möglichkeit eine friedliche Wiedervereinigung mit Taiwan anzustreben; nach wie vor wurde jedoch auch ein militärisches Vorgehen gegen die Insel nicht ausgeschlossen. Die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung wurde somit in den Jahren nach 1980 zunehmend mit der Frage konfrontiert, ob sie angesichts eines kompromisslosen und erstarkenden Festlandes weiterhin ausschließlich auf dem Kampf gegen das KMT-Regime beharren sollte. Gerade zu einer Zeit, da die Unabhängigkeitsbewegung über ihre erfolgreiche Lobbytätigkeit in den USA erstmals über einen gewissen Einfluss verfügte, musste sie sich der Notwendigkeit stellen, diesen Einfluss in bestimmten Fragen zu Gunsten des ROCRegimes geltend zu machen. Bereits zu Beginn der 70er Jahre zeigte sich diese Tendenz erstmals im so genannten Diaoyutai-Konflikt: Im Frühjahr 1971 hatte Japan mit Einverständnis der USA territoriale Ansprüche auf die kleine und unbewohnte Inselgruppe Diaoyutai geltend gemacht, obgleich ähnliche Ansprüche auch seitens Chinas (sowohl der ROC als auch der VRCh) bestanden. Die WUFI sah sich in diesem Konflikt genötigt, Partei für die Interessen Taiwans zu ergreifen und sich damit auf die Seite der ROC zu stellen.395 Ein weiteres Beispiel für eine erzwungene Kooperation zwischen Unabhängigkeitsbewegung und ROC-Regime zur Wahrung der gemeinsamen taiwanesischen Interessen findet sich zu Beginn der 80er Jahre: Die USRegierung verfolgte den Plan einer Neujustierung der Einwanderungsquoten für chinesische Immigranten. Nachdem die USA die Volksrepublik China diplomatisch anerkannt hatten, sollte nun auch das jährliche Einwanderungskontingent von 20.000 Personen, das zuvor der ROC zugestanden hatte, an die Volksrepublik übergehen. Sowohl die KMTRegierung als auch die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung protestierten gegen dieses Vorgehen. Hier konnte, nach intensiver Lobbyarbeit der FAPA, ein Erfolg erzielt werden: 1982 wurde sowohl der ROC als auch der VRCh ein Einwanderungskontingent von je 20.000 Personen zugesprochen. Von besonderer Sensibilität war jedoch die Frage der US-amerikanischen Waffenlieferungen an Taiwan. Das Thema gewann erstmals nach der Normalisierung der diplomatischen Beziehungen zwischen der VRCh und den USA an Brisanz, ebenso drohten die USA im Anschluss an den Chen Wencheng-Vorfall 1981 und den Jiang Nan-Vorfall 1984 (vgl. 5.2.2.) mit einer vorübergehenden Einstellung der amerikanischen Waffenlieferungen. Bei allen drei Anlässen sprach sich die Unabhängigkeitsbewegung für eine Beibehaltung der Waffenlieferungen aus – wenngleich das KMT-Regime im Gegenzug zur Aufhebung des Kriegsrechtes und Wahrung der Menschenrechte aufgefordert werden sollte. 396
395 396
Siehe o.A. 1972a: 1. Siehe Li Jiachu 1986: 7f; o.A. 1986d: 58-61; Chen Jiahong 1998: 109ff.
Ergebnisse im Kontext dieser Arbeit
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Es lässt sich also festhalten, dass die Stimmen innerhalb der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung, die auf ein neutrales oder wohlwollendes Festland gehofft hatten, spätestens seit Beginn der 80er Jahre zum Verstummen kamen. Die Frage lautete nicht länger, ob sich das Festland bei der Gründung eines unabhängigen Staates Taiwan feindselig verhalten würde; vielmehr beschäftigte man sich nunmehr mit der Frage, wie man einer solchen Feindseligkeit am besten begegnen konnte. Hierbei stand die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung vor dem Dilemma, dass jedes Eintreten für eine Stärkung Taiwans gegenüber dem Festland zugleich eine Stärkung des verhassten ROC-Regimes bedeuten musste – da „Taiwan“ als geographische Entität durch eben dieses Regime repräsentiert wurde. Für die Unabhängigkeitsbewegung galt es also, zwischen dem politischen Ziel, dem Sturz der KMT-Regierung, und der Wahrung der nationalen Interessen Taiwans abzuwägen. In der Frage der US-Waffenverkäufe führte dies zu dem paradoxen Ergebnis, dass sich die Unabhängigkeitsbewegung, die sich dem Sturz des KMT-Regimes verschrieben hatte, für eine militärische Unterstützung eben dieses Regimes aussprach. Dieses Dilemma konfligierender Interessenlagen und die gelegentliche faktische Unterstützung des ROCRegimes wurden jedoch in den Publikationen der Unabhängigkeitsbewegung selten thematisiert. In der Außendarstellung galt nach wie vor das ROC-Regime als hauptsächlicher Gegner: „Sobald Taiwan ein unabhängiger Staat geworden ist, wird die Absurdität einer ‚Rückkehr zum Festland’ auf ganz natürliche Weise verschwinden.“397
5.5.2 Taiwanesischer Nationalismus 5.5.2.1 „Taiwanesischer Nationalismus“ und die „Festländer“ In den 50er und 60er Jahren wurde über die Frage, ob und unter welchen Bedingungen die Festländer auf Taiwan an der taiwanesischen Nation teilhaben konnten, kontrovers und leidenschaftlich debattiert. In der amerikanischen Phase der Unabhängigkeitsbewegung wurde dieses Frage nun eindeutig beantwortet: Alle Bewohner Taiwans seien, unabhängig von ihrem Geburtsort und ihrer kulturellen Identität, als gleichberechtigte Bürger der taiwanesischen Nation zu betrachten. Die Unterscheidung in „Festländer“ und „(gebürtige) Taiwanesen“ sei, so wurde argumentiert, im historischen Kontext letztlich bedeutungslos. Seit Jahrhunderten sei Taiwan von Immigranten aus dem Festland besiedelt worden, jeder Taiwanese – mit Ausnahme der Ureinwohner – habe daher seine historischen Wurzeln auf dem Festland. Die Vorfahren einiger Taiwanesen kamen mit Koxinga [seit Mitte des 17. Jahrhunderts] nach Taiwan und herrschten über die damaligen Taiwanesen. Sie standen mit den damaligen Taiwanesen im Konflikt und wurden als „Festländer“ betrachtet. Diese „Festländer“ kehrten zur Zeit der Qing-Herrschaft über Taiwan [Ende des 17. Jahrhunderts] nicht in das Land ihrer Vorfahren zurück, gerieten gemeinsam mit den Taiwanesen unter die Herrschaft der Qing und wurden so selbst zu „Taiwanesen“. Als die Qing-Dynastie über Taiwan herrschte, kam wieder eine Gruppe „Festländer“ (die damals als Tangshan bezeichnet wurden) nach Taiwan. Sie herrschten über die Taiwanesen und standen mit diesen in Konflikt. Der größte Teil dieser „Festländer“ blieb unter der Herrschaft der Japaner [nach 1895] auf Taiwan, erfuhren gemeinsam mit den Taiwanesen die Herrschaft der Japaner und wurden so selbst zu „Taiwanesen“ […] Man kann also erkennen, 397
Chen Longzhi 1972: 16.
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Die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung in den Vereinigten Staaten dass die Vorfahren der meisten Taiwanesen bei ihrer Ankunft auf Taiwan als „Festländer“ bezeichnet wurden und sich auch selbst so verstanden […] Auch die „Festländer“ heute bilden da keine Ausnahme, auch sie werden allmählich zu Taiwanesen.398
Die Zugehörigkeit zur taiwanesischen Nation sei also objektiv determiniert durch eine historische Konstante der taiwanesischen Geschichte: Die Erfahrung der politischen Fremdbestimmung, die sich in der Herrschaft des Fremdregimes der KMT fortsetze. Von noch größerer Bedeutung sei indes ein subjektives Bekenntnis zu Taiwan, das sich, bei richtiger Erkenntnis der eigenen Interessen, zwangsläufig aus der objektiv-historischen Erfahrung ableiten müsse. Es sei jedoch bedauerlicher Weise nicht allen Mitgliedern der taiwanesischen Nation möglich, dieses subjektive Bekenntnis zu Taiwan zu leisten. Die Unabhängigkeitsbewegung führte hier die terminologische Differenzierung zwischen „Taiwanesen“ und „Taiwanesischem Volk“ ein: Wenn wir vom „Taiwanesischen Volk“ sprechen, dann meinen wir damit die 15 Millionen Bewohner Taiwans, einschließlich der „Festländer“. Wenn wir von „Taiwanesen“ sprechen, dann sind darin nur diejenigen „Festländern“ enthalten, die sich in ihrem innersten Herzen zu Taiwan bekennen […] Bei der Lektüre von Schriften der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung muss man klar zwischen „Taiwanesischem Volk“ und „Taiwanesen“ unterscheiden, nur dann kann man […] Missverständnisse vermeiden.399
Der Teil des „Taiwanesischen Volkes“, der noch nicht zu den „Taiwanesen“ gehöre und sich auch selbst nicht mit der taiwanesischen Nation identifiziere, bestehe überwiegend (wenn auch nicht ausschließlich) aus Festländern. Diese Festländer setzten sich jedoch nicht automatisch in Feindschaft zur taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung. Die Schuld trage auch hier die KMT, die über gezielte Propaganda eine Spaltung des taiwanesischen Volkes erzwingen wolle und es diesen Festländern unmöglich mache, ihre wahren Interessen zu erkennen. Es sei daher notwendig, weitere Überzeugungsarbeit zu leisten. Auch die „Festländer“ brauchen ein unabhängiges Taiwan, aber über 20 Jahre wurden sie von dem Chiang-Regime indoktriniert: „Ich bin Chinese, kein Taiwanese“. Zudem wurde ihnen Angst eingejagt: Sobald die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung erfolgreich sei, würde ein Drittel der „Festländer“ getötet, ein Drittel ins Meer getrieben und ein weiteres Drittel für medizinische Experimente missbraucht. Zudem sind die Festländer erst seit etwas über 20 Jahren auf Taiwan, es braucht einfach noch mehr Zeit, bevor sie sich mit Taiwan identifizieren können. 400
Aus Sicht der taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung war diese von der KMT betriebene Trennung in „Taiwanesen“ und „Festländer“ prinzipiell zu überwinden; die (in der Terminologie der 60er Jahre) „politische Revolution“ hatte sich gegenüber der „nationalen Revolution“ vollständig durchgesetzt.401 398
Chi Zixin 1974: 13. o.A. 1973b: 1. Chi Zixin 1974: 13. 401 Eine Schwierigkeit bei der Betrachtung der politischen Bewegungen dieser Zeit besteht darin, dass zumeist nur die politische Etikette sichtbar wird. In Teilen der Unabhängigkeitsbewegung bestanden (und bestehen bis heute) sicherlich nach wie vor Ressentiments gegen Festländer. Diese wurden jedoch seit Beginn der 70er Jahre aus Gründen der „politischen Korrektheit“ nicht mehr offen artikuliert. Joshua Tin erläuterte in einem Gespräch mit dem Autor, dass die WUFI zu dieser Zeit von einem starken, kulturell geprägten Taiwan-Chauvinismus getragen worden sei, der sich vor allem im Gebrauch der taiwanesischen Sprache manifestiert habe. Wenngleich die WUFI 399 400
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Der Unabhängigkeitsbewegung war es in den 70er Jahren jedoch nicht gelungen, eine nennenswerte Anzahl von Festländern für ihre Ziele zu gewinnen. Unter den führenden Mitgliedern der WUFI fanden sich ausschließlich gebürtige Taiwanesen, in den Quellen dieser Zeit finden sich nahezu keine Hinweise auf eine Partizipation von Festländern in der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung. 402 Der WUFI fiel es daher nicht leicht, überzeugende Belege für ihre Behauptung einer möglichen Kooperation zwischen Taiwanesen und Festländern im gemeinsamen Kampf gegen das KMT-Regime vorzuweisen. Ein wichtiger und in der Propaganda der WUFI oft zitierter Sonderfall stellte hierbei der Festländer Lei Zhen dar, der als Herausgeber der regimekritischen Zeitschrift Free China im Jahre 1960 nach dem erfolglosen Versuch der Gründung einer Oppositionspartei zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt worden war (siehe 6.2.1.). Nach seiner Haftentlassung im Januar 1972 richtete Lei Zhen einen erneuten Appell an die Staatsführung der ROC, in dem er für die Gründung eines unabhängigen Staates „The Democratic State of China – Taiwan“ 403 plädierte. Es sollte jedoch angemerkt werden, dass sich Lei Zhen stets ausdrücklich von der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung distanzierte und diese als eine Gefahr für Taiwan betrachtete. Für Lei Zhen war die Schaffung eines vom Festland unabhängigen staatlichen Gebildes weniger von ideologischen als vielmehr von pragmatisch-strategischen Motiven geleitet. Der von ihm anvisierte Staat „China-Taiwan“ hatte zudem einen vorübergehenden und flüchtigen Charakter. Weiterhin sollte an den Zielen des antikommunistischen Kampfes und der Rückeroberung des Festlandes prinzipiell festgehalten werden, auch die ursprüngliche Verfassung der ROC sollte weiterhin in Kraft bleiben und nur vorübergehend ruhen. Zudem rief Lei Zhen auch nicht zum Kampf gegen das KMT-Regime auf (was in seiner Lage auch nicht möglich gewesen wäre). Die KMT, so Lei, sollte Taiwan aus innerer Überzeugung in eine echte Demokratie überführen, für die Übergangsphase bis zur Verabschiedung einer neuen Verfassung sollte Chiang Kai-shek die Staatsgeschäfte als „Übergangspräsident“ weiterführen. Trotz dieser offenkundigen Unstimmigkeiten wurde Lei Zhen in den 70er Jahren von der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung als wichtiger Gewährsmann im Werben um die Unterstützung der Festländer vereinnahmt. Bei der Betrachtung seines Appells von 1972 müsse, so die WUFI, jedoch berücksichtigt werden, dass sich Lei Zhen an die Staatsführung der ROC gewandt habe – ein Schritt, der, wenn man seine Lage als vorbestrafter politischer Häftling bedachte, an sich schon von unerhörtem Mut zeuge. Lei Zhen tritt vollkommen und ohne jeden Zweifel für die taiwanesische Unabhängigkeit ein […] An seinen Äußerungen und Taten können wir erkennen, dass er aufrichtig und mit ganzem Herzen eine Kooperation mit den Taiwanesen zur Schaffung eines glücklichen Taiwans will. Als er diesen Text schrieb, verfolgte er das Ziel, dem Chiang-Clan die Ausrufung der taiwanesi-
dies rückblickend nicht einräumen wolle, seien nationale Konzepte so gut wie gar nicht erörtert worden. „Whatever they say to you now is not what they said then. The nationalist concept of WUFI was [to] speak Taiwanese, that was basically it.” Interview mit Joshua Tin am 24.10.03. 402 In eine Reihe von Fallstudien des Wei-der Shu aus dem Jahr 1997, die sich mit der Zusammensetzung der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung beschäftigt, waren 86% der Befragten gebürtige Taiwanesen (Fulao oder Hoklo) und 14% Hakka. Shu konnte weder Ureinwohner noch Festländer ausfindig machen, die sich an der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung im Ausland maßgeblich beteiligt hätten. Siehe Shu 2002: 47-68. 403 Zhonghua Taiwan minzhuguo ѝ㨟ਠ⚓≁ѫ഻
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Die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung in den Vereinigten Staaten schen Unabhängigkeit vorzuschlagen, [der Appell] war also für die Augen des Chiang-Clans bestimmt, wir sollten daher Verständnis für seine Wortwahl haben.404
5.5.2.2 Die Herausforderung durch den chinesischen Nationalismus Der taiwanesische Nationalismus der Unabhängigkeitsbewegung, der einen Zusammenschluss aller Bewohner Taiwans (einschließlich der Festländer) bei gleichzeitigem Ausschluss des chinesischen Festlandes anstrebte, verstand sich als Gegenentwurf zu einem „großchinesischen“ Nationalismus, wie er gleichermaßen von der VRCh und der ROC propagiert wurde. In der japanischen Periode der Unabhängigkeitsbewegung in den 50er und 60er Jahren kam es dabei zu keiner direkten Konfrontation zwischen den widerstreitenden nationalen Modellen: Die Taiwanesen bildeten in Japan eine relativ überschaubare Bevölkerungsgruppe, die sich entweder den Vorstellungen der Unabhängigkeitsbewegung anschlossen oder sich nicht maßgeblich politisch äußerten. In den Quellen dieser Zeit finden sich keine Hinweise darauf, dass unter den taiwanesischen Emigranten in Japan eine nennenswerte „pro-chinesische“ oder „pro-KMT“ Gruppierung bestanden hätte, welche in der Lage gewesen wären, die Unabhängigkeitsbewegung direkt herauszufordern. In den USA begann sich dieses geschlossene Erscheinungsbild der taiwanesischen Emigranten allmählich zu wandeln. Zum einen lag dies an der heterogenen Zusammensetzung der taiwanesischen Gemeinschaft: Seit Beginn der 70er Jahre stieg die Zahl der Taiwanesen im Ausland rasant an, die verstärkte geographische und soziale Diversifizierung komplizierten den politisch-propagandistischen Zugriff auf die taiwanesische Community. Hinzu kam, dass seit Beginn der 70er Jahre sowohl die ROC als auch die VRCh mit ihren Appellen an einen chinesischen Nationalismus zunehmend Anhänger unter den Taiwanesen gewinnen konnten. Für die ROC war hierbei der Diaoyutai-Konflikt 1971 von großer Tragweite. Durch ihre diplomatische Niederlage gegen Japan hatte sich die ROC im Diaoyutai-Konflikt als unfähig erwiesen, taiwanesische (oder gar chinesische) Interessen im internationalen Feld effektiv zu vertreten. Zahlreiche Taiwanesen zogen daraus den Schluss, dass die eigenen – taiwanesisch oder chinesisch verstandenen – nationalen Interessen nur unter dem schützenden Mantel einer großen und starken chinesischen Nation gewahrt werden konnten. Diese Herausforderung des chinesischen Nationalismus musste von der Unabhängigkeitsbewegung darum so ernst genommen werden, weil er sich nicht in dem Freund-Feind-Schema von „Taiwanesen“ gegen „Chinesen“ fassen ließ. Mit der Welle der pro-chinesischen und anti-japanischen nationalen Ressentiments hatte die VRCh im Zuge des DiaoyutaiKonfliktes ein Mittel gefunden, um die Reihen der Taiwanesen selbst zu unterwandern und die innere Einheit der Bewegung zu gefährden. Entsprechend scharf wandte sich die Unabhängigkeitsbewegung gegen diese „Spalter“ im Inneren. So äußerte etwa Peng Mingmin im Jahre 1974: [Einige Leute] werfen sich voll Ehrfurcht auf den Boden, sobald die Volksrepublik China erwähnt wird, als sei das Himmelreich auf Erden angebrochen. Die Naivität dieser Leute ist wirklich kaum zu fassen […] Solche Leute sehnen sich so sehr nach der VRCh, aber jeder weiß, dass [gerade] diese Leute es am allerwenigsten wagen würden, unter der Herrschaft der VRCh zu 404
Lei Zhen 1975: 2.
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leben. Sie sitzen bequem und gemütlich auf ihren Sofas in ihren klimatisierten Zimmern in Amerika oder Hongkong […], trinken Bier oder Cola und führen große Reden von „Volk“ und „Revolution“. Das sind typische „Feierabend-Revolutionäre“.405
Nur kurze Zeit später sah sich die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung mit einer weiteren Herausforderung von Seiten der ROC konfrontiert. Unter dem Eindruck der fortdauernden diplomatischen Rückschläge unternahm das ROC-Regime seit Beginn der 70er Jahre erste Schritte zu einer vorsichtigen Liberalisierung der politischen Sphäre. Unter der Parole von Gexin bao Tai406 („Reform und Schutz Taiwans“) wurden die erstarrten Strukturen des KMT-Parteiapparates und der nationalen Regierungsorgane allmählich für gebürtige Taiwanesen geöffnet; gemäßigte Kritik am Regime konnte sich erstmals öffentlich artikulieren.407 Der Höhepunkt dieser ersten Reformbestrebungen wurde um das Jahr 1975 erreicht: Nach dem Tod des Chiang Kai-shek hegten viele Beobachter die Hoffnung, dass die Zeiten des „Weißen Terrors“ überwunden und der Weg zu einer weitergehenden Demokratisierung beschritten werden könnte. Die WUFI warnte eindringlich davor, der „falschen Maske“ der Reformen Glauben zu schenken. Entsprechend wurde auch die demokratische Oppositionsbewegung auf Taiwan, die sich seit Mitte der 70er Jahre in Ansätzen formierte, stets mit einer gewissen Skepsis betrachtet: Das friedliche Streben nach Reformen zeuge zwar von einem großen Mut der Akteure, es müsse jedoch letztlich scheitern. Wir unterstützten mit ganzem Herzen die demokratischen Kämpfer, die auf Taiwan den legalen Kampf betreiben, ihr Mut ist aller Ehren wert […] ihr legaler Kampf kann das Ziel eines friedlichen Machtwechsels jedoch nicht erreichen. Die Geschichte zeigt, dass ein Tyrann nicht aus eigenem Antrieb zurücktreten wird, er wird auch nicht plötzlich aus Gewissensgründen zu demokratischen Prinzipien bekehrt werden. Das Volk wird nur dann Herr im eigenen Hause werden, wenn es die unvergleichliche Kraft des Volkes einsetzt […] Diese Kraft besteht nicht darin, dass man passiv auf Zugeständnisse der Machthaber setzt, sondern dass man [die Macht] aktiv, mit Schweiß und Blut, erkämpft.408
Aus Sicht der Unabhängigkeitsbewegung stellte die Gexin bao Tai-Parole des ROCRegimes einen ernst zu nehmenden Angriff auf die innere Geschlossenheit der Taiwanesen dar. Die Prämisse der Unabhängigkeitsbewegung – dass nämlich das Regime allenfalls von einer kleinen Minderheit von Festländern getragen werde, die es zu überzeugen oder zu überwinden gelte – musste gegenstandslos werden, wenn eine große Zahl von Taiwanesen bereit war, ihre Hoffnung auf eine friedliche Reform des Regimes zu setzen. Durch diese chinesisch-nationalistischen Herausforderungen von Seiten der VRCh und ROC wurde der Begriff des taiwanesischen Nationalismus zu Beginn der 70er Jahre zunehmend problematischer. Wenngleich die Inhalte eines taiwanesischen Nationalismus in der Ausprägung des Wang Yude, beruhend auf subjektivem Bekenntnis des Individuums und vorbehaltsloser Integration der Festländer, weiterhin propagiert wurde, vermied die WUFI jeden direkten Bezug zum Begriff des taiwanesischen Nationalismus selbst. In 405
o.A. 1974b: 5. Gexin bao Tai 䶙ᯠ؍ਠ 407 Seit Beginn der 70er Jahre erschienen auf Taiwan erstmals politische Zeitschriften, die vorsichtige Kritik an den politischen und sozialen Gegebenheiten auf Taiwan übten. Hierzu gehörten insbesondere die Zeitschriften Wenxing, Daxue zazhi und Taiwan Political Review/Taiwan zhenglun. Vgl. 7.1.2. 408 o.A. 1976a: 1. 406
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Die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung in den Vereinigten Staaten
einem Artikel der Taidu yuekan aus dem Jahr 1980 findet sich hierzu der folgende Kommentar: Einige Leute meinen, dass man sich die Parole des „Taiwanesischen Nationalismus“ auf die Fahne schreiben solle […] Die taiwanesische Nation hat jedoch noch nicht erkannt, dass sie eine Nation namens „Taiwanesische Nation“ bildet, daher würde eine solche Parole unter dem Volk keine Begeisterung hervorrufen […] Auf Grund der verschlagenen und verlogenen Propaganda der beiden aggressiven Regime [der VRCh und ROC] würde eine solche Parole das Volk auf Taiwan verwirren. […] Erst wenn die Zeit reif ist, werden wir [den taiwanesischen Nationalismus] als Parole auf die große Fahne der Agitation setzen.409
Intern hatte die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung also in der Frage des taiwanesischen Nationalismus seit Beginn der 70er Jahre zu einem weitgehenden Konsens gefunden. Es galt als unstrittig, dass die taiwanesische Nation auch Festländer umfassen müsse; mehr noch: Nur über eine Kooperation aller Taiwanesen (einschließlich der Festländer) sei das Ziel der Unabhängigkeitsbewegung, der Sturz des ROC-Regimes und die Schaffung eines unabhängigen Staates, zu verwirklichen. Gleichzeitig trat dieser aus Sicht der Festländer versöhnliche nationale Ansatz jedoch seit Beginn der 70er Jahre im politischen Kampf immer mehr zurück. Der taiwanesische Nationalismus, der in den 50er und 60er Jahren noch als Kernstück der Unabhängigkeitsbewegung gegolten hatte, verlor damit im Bereich der politischen Mobilisierung immer mehr an Bedeutung. Nach Ansicht des Autors lässt sich dieses Phänomen aus den veränderten Gegebenheiten des politischen Kampfes erklären. Während die Unabhängigkeitsbewegung in Japan die nationale Debatte weitgehend autonom führen konnte und sich kaum um den Rückhalt der eigenen Basis (den Taiwanesen in Japan) sorgen musste, war die Unabhängigkeitsbewegung nun erstmals mit einer direkten „Feindberührung“ konfrontiert. In der Herausforderung durch den chinesischen Nationalismus, wie er sich im Zuge des Diaoyutai-Konfliktes und der Gexin bao Tai-Bewegung manifestierte, hatte sich gezeigt, dass der taiwanesischen Nationalismus für eine Wirksamkeit nach Außen noch nicht ausreichend gefestigt war, was zu Missverständnissen und Unklarheiten führen konnte. Für die Unabhängigkeitsbewegung wurde es daher immer schwieriger, auf den Begriff des taiwanesischen Nationalismus als wirksame Waffe im politischen Kampf zu rekurrieren.
5.5.3 Der 228-Aufstand 5.5.3.1 Die historische Aufarbeitung des 228-Aufstandes in den 70er Jahren Eine wichtige Zäsur in der 228-Forschung der 60er Jahre stellt das Werk von George Kerr Formosa Betrayed, veröffentlicht im Jahre 1965, dar. George Kerr, der seit Mitte der 30er Jahre eine ausgedehnte Studien- und Lehrtätigkeit in Japan und Taiwan verbracht hatte, wurde nach Kriegsausbruch als ausgewiesener Asien-Experte in militärischer (1942-1946) und diplomatischer (1946-1947) Mission für die US-Regierung tätig. Zur Zeit des 228Aufstandes, diente Kerr als Vizekonsul der US-Vertretung in Taipei und wurde dort Zeuge des Vorfalles. Die besondere Relevanz des Buches ergibt sich aus Kerrs einzigartiger 409
o.A. 1981b: 3f.
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Stellung in Taiwan, die ihm intensive Kontakte sowohl zu führenden Taiwanesen (von denen viele seine ehemaligen Schüler waren) als auch, in seiner Eigenschaft als Vizekonsul, zu den Regierungsstellen der Provinz eröffnete. Die zweifellos einseitig protaiwanesische Beschreibung410 der wirtschaftlichen und politischen Umbrüche auf Taiwan nach 1945, die Kerr als eine Vergewaltigung der Insel durch korrupte Beamte und marodierende Soldaten aus dem Festland schildert, basiert daher auf einem ungewöhnlich fundierten und vielfältigen Erfahrungsschatz. Die besondere Anziehungskraft des Buches Formosa Betrayed ergibt sich indes aus der unverstellten Eindringlichkeit des unmittelbaren Beobachters; in eloquenter Sprache vermittelt Kerr eine bedrückende Vorstellung von den Massakern an der taiwanesischen Bevölkerung. So schrieb er über seine Erlebnisse nach Eintreffen der Armee in Taipei: During a lull in the action on our boulevard, we made our way to the Mackaye Mission Hospital […] From an upper window we watched Nationalist soldiers in action in the alleys across the way. We saw Formosans bayoneted in the street without provocation. A man was robbed before our eyes – and then cut down and run through. Another ran into the street in pursuit of soldiers dragging a girl away from his house and we saw him, too, cut down. This sickening spectacle was only the smallest sample of the slaughter then taking place throughout the city, only what could be seen from one window on the upper floor of one rather isolated house. The city was full of troops.411
Formosa Betrayed verstand sich auch als eine Anklageschrift gegen die US-amerikanische Taiwan-Politik jener Zeit. Die US-Regierung habe, so Kerr, nach 1945 unkluger Weise jedes Interesse an der Insel verloren. Durch ihre vorbehaltslose Unterstützung des korrupten und unfähigen Regimes des Chiang Kai-shek hätten die USA in unglaublicher Ignoranz ihre eigenen Interessen im pazifischen Raum gefährdet und die Hoffnung und das Vertrauen der Taiwanesen, die in den Kriegsjahren durch eine gezielte Propaganda bestärkt worden waren, bitter enttäuscht – dies sei der eigentliche „Verrat“ an Taiwan, der den Titel des Buches bildet. Im Mai 1974 erschien Formosa Betrayed, das bis heute als wichtige Quelle der 228-Forschung gilt, in chinesischer Übersetzung und wurde damit einem größeren Leserkreis von Taiwanesen zugänglich. Es muss jedoch befremdlich erscheinen, dass das Werk Formosa Betrayed in der 228Darstellung der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung über lange Zeit nahezu keine Beachtung fand.412 In den Jahren von 1973 bis 1980 veröffentlichte die Taidu yuekan in jeder Februar-Ausgabe unter dem Titel „Die Wahrheit über die großen 228-Revolution“ 410 In der späteren Rezeption des Buches auf Taiwan war George Kerr nicht unumstritten. Einige Autoren waren irritiert durch Kerrs Amerikazentrierte Schilderung der Ereignisse. So schreibt Chen Cuilian im Jahr 1995: „Das Buch [Formosa Betrayed] ist voll von der Arroganz der Amerikaner […] Taiwanesen erscheinen als von Geburt an minderwertig, [sie hätten] zu dem ‚heilige Land’ Amerika aufgesehen und sich aus ganzem Herzen zu ihm bekannt. [Die Taiwanesen] hätten es kaum erwarten können, dass sich Amerika zu ihnen herablässt und das Volk von seinem schweren Leid errettet – was sind das für hochmütige Ansichten! […] Wenn man die Memoranden und Pläne des George Kerr aufmerksam liest, [dann erkennt man], dass er stets die militärstrategischen und wirtschaftlichen Interessen der USA an erste Stelle setzte […]“ Chen Cuilian 1995: 422. Diese kritische Sicht auf George Kerr war jedoch in den 70er Jahren noch nicht anzutreffen. 411 Kerr 1965: 293. 412 Erst am Ende der in diesem Kapitel betrachteten Periode, im Jahr 1984, erschien in den USA das Buch von Chen Wanzhen, Chen Yongquan und Wang Jiansheng: 1947. Taiwan er-er-ba geming. (Erstveröffentlichung in Taiwan: Taipei 1990). Das Buch orientiert sich sehr eng an George Kerr, viele Passagen wurden wortgetreu von Formosa Betrayed übernommen.
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Die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung in den Vereinigten Staaten
einen nahezu identischen und über weite Passagen wortgleichen Beitrag über den chronologischen Ablauf der Ereignisse, der sich weitgehend an der Berichterstattung der japanischen Zeitschrift Taiwan qingnian aus den 60er Jahren orientierte – welche ihrerseits als Hauptquelle das Werk des Lin Mushun „Die Februar-Revolution auf Taiwan“ auswies. In ihrer Berichterstattung über die historischen Hintergründe des 228-Aufstandes war die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung der 70er Jahre weitgehend auf dem Kenntnisstand des Jahres 1948 verharrt. In der Darstellung des 228-Aufstandes wurden keine erkennbaren Anstrengungen unternommen, eine historische Aufarbeitung des Aufstandes (die natürlich angesichts der mangelhaften Quellenlage auch schwer zu leisten gewesen wäre) zu verfolgen. In der historischen Retrospektive war der 228-Aufstand zu einem starren Klischee gefroren, und dieses erstarrte Bild war aus Perspektive der Unabhängigkeitsbewegung auch nicht ergänzungsbedürftig. Der 228-Aufstand wurde nicht als Forschungsgebiet für historischen Erkenntnisgewinn begriffen, sondern einzig als Mittel der politischen Agitation eingesetzt. Nun hatten sich die Rahmenbedingungen des politischen Kampfes seit Beginn der 70er Jahre erheblich gewandelt, besonders zeigte sich dies in einer neuen Wahrnehmung der Festländer und ihrer möglichen Rolle im Kampf um staatliche Unabhängigkeit. Mit Hinblick auf den 228-Aufstand erwies sich das mangelnde historische Fundament nachgerade als Vorteil, denn gerade der Mangel an historisch fundierten Kenntnissen erlaubte eine große Flexibilität in der Interpretation des Aufstandes, die sich somit, wie im Folgenden dargelegt werden soll, den neuen Anforderungen anpassen konnte.
5.5.3.2 Der 228-Aufstand in der politischen Wirksamkeit der Unabhängigkeitsbewegung Die Interpretation des 228-Aufstandes war in den 70er und frühen 80er Jahren von drei politisch motivierten Interessen geprägt: Die Integration der Festländer sowie die Verwerfung von VRCh- und ROC-freundlichen Tendenzen unter den Taiwanesen. a.
Der 228-Aufstand und die Festländer
Wie im Vorangegangenen beschrieben, verfolgte die WUFI seit Beginn der 70er Jahre das Ziel, eine Integration der Festländer zu ermöglichen. Die künstlich geschaffene Kluft, die gebürtige Taiwanesen und Festländer auf Taiwan voneinander trennte, wurde dem Regime angelastet: Die KMT wolle bewusst eine Kooperation zwischen Taiwanesen und Festländern verhindern. In diesem Kontext wurde dem 228-Aufstand eine bedeutende Rolle zugewiesen: Obwohl sich die Zugehörigkeit der Festländer aus vielen komplizierten [Faktoren] zusammensetzt, sind sie sich doch in einem Punkt einig: [die Tatsache], dass sie die Taiwanesen fürchten und vor diesen auf der Hut sind. Die Taiwanesen sollten Verständnis für deren prekäre Lage haben, denn für das Chiang-Regime ist dies die einzige Ausrede, die Festländer im „gemeinsamen Boot“ zu halten. […] Die Logik [des Chiang-Regimes] ist dabei ganz einfach: Die Augen der Taiwanesen sind wachsam; sie werden sich eines Tages an den „Mitbürgern“ rächen, die [im 228-Aufstand] Taiwanesen getötet haben. [Den Festländern] bleibt aus Furcht vor dieser Rache
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nichts anderes übrig, als sich noch mehr mit Haut und Haaren dem Chiang-Clan zu verschreiben und gemeinsame Sache mit ihm zu machen.413
Ein wichtiges Anliegen der 228-Interpretation musste es daher sein, den Festländern die Furcht vor einer etwaigen Rache der Taiwanesen zu nehmen. 414 Immer wieder wurde darauf verwiesen, dass der 228-Aufstand oberflächlich betrachtet zwar eine Erhebung der „Taiwanesen“ gegen „Chinesen“ gewesen sei; diese Frontlinie habe sich jedoch zwangsläufig aus der damaligen Lage der Festländer ergeben, welche zumeist als Angehörige des Militärs oder der Regierungseinrichtungen das verhasste Fremdregime der KMT repräsentiert hätten. Die Rolle der Festländer und ihre Stellung in der taiwanesischen Gesellschaft hätten sich jedoch in den letzten Jahrzehnten grundlegend gewandelt; in ihrer überwältigenden Mehrheit seien auch sie zu Opfern und Unterdrückten des KMT-Regimes geworden. Gelegentlich findet sich die bemerkenswerte Behauptung, dass selbst die Aufständischen des Jahres 1947 diesen Unterschied zwischen einer Person und deren Funktion erkannt hätten: Zur Zeit der 228-Revolution repräsentierte die große Mehrheit der Festländer die Machthaber und wurden damit zu Feinden der Taiwanesen. Trotzdem konnten die taiwanesischen Anführer [des Aufstandes] genau zwischen Freund und Feind unterscheiden: Die korrupten Beamten wurden erbarmungslos angegriffen, die ehrlichen und aufrechten Festländer wurden [in den Ausschreitungen] beschützt.415
Aus politischem Kalkül wurde auf eine pathetische Verklärung des Aufstandes, die in der vorangegangenen Periode auf Japan noch einen wichtigen Bestandteil der 228Interpretation ausgemacht hatte, nun weitgehend verzichtet: Eine zu starke Fixierung auf die „Märtyrer“ des Aufstandes würde nur zu Missverständnissen unter den Festländern führen und damit der Bewegung insgesamt schaden: Man sollte nicht zu sehr die Märtyrer des 228-Aufstandes betonen (in der Tat waren die meisten einfach unschuldige Opfer, und keine Märtyrer) […] Auf den Kampfeswillen der jungen Taiwanesen haben [diese Appelle] ohnehin keinen großen Einfluss, jedoch wird unter den Mitbürgern aus dem Festland das Misstrauen verstärkt. Die Festländer erhalten den falschen Eindruck, die Revolution diene der Rache und wollte auf engherzige und kleinliche Weise Zwietracht säen. Noch schlimmer wäre es, wenn auch junge Taiwanesen diesen falschen Eindruck erhielten.416
Im Zuge der Neubestimmung der Festländer und ihrer Rolle in der taiwanesischen Gesellschaft wurde auch die Zuweisung von klaren Täter- und Opferrollen, die in der japanischen Periode noch als unstrittig vorausgesetzt worden war, tendenziell eingeschränkt. Erstmals wurde eingeräumt, dass es auch unter Festländern zu unschuldigen Opfern gekommen
413
Liu Yuzhong 1972: 9. Dies soll jedoch nicht bedeuten, dass die Unabhängigkeitsbewegung bereit gewesen wäre, die Gräueltaten des 228-Aufstandes ungesühnt zu lassen. In Beiträgen der Taidu yuekan wurde deutlich gemacht, dass man die Haupttäter des 228-Aufstandes (wie etwa General Peng Mengqi) nach einer erfolgreichen Revolution zu bestrafen gedachte. Siehe z.B. o.A. 1972c: 8. 415 o.A. 1973a: 2. 416 Ou Yin 1972: 10. 414
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Die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung in den Vereinigten Staaten
sei.417 Der 228-Aufstand konnte damit nicht länger uneingeschränkt als Vorbild für eine zukünftige Revolution dienen. In einem bemerkenswerten Leitartikel der Taidu yuekan zum 30jährigen Gedenktag des Aufstandes im Februar 1977 wurde daher eine, kontrastiert mit der japanischen Periode, radikale Neubewertung des Aufstandes vorgenommen: Die Unabhängigkeitsbewegung verfolge nicht etwa das Ziel, den Aufständischen des Jahres 1947 nachzueifern und einen „Zweiten 228-Aufstand“ zu entfachen; im Gegenteil müsse das Ziel der Unabhängigkeitsbewegung sein, einen erneuten 228-Aufstand gerade zu verhindern: Heute, nach 30 Jahren, sind die „Festländer“ von einst und deren Nachkommen bereits zu Taiwanesen geworden. Um einen weiteren 228-Aufstand zu verhindern, […] sollte sich das gesamte taiwanesische Volk, egal ob [gebürtige] Taiwanesen oder „Festländer“, mit Taiwan identifizieren und seine [ganze] Kraft für den Sturz des Jiang [-Regimes], die Abwehr von China [der VRCh] und den Aufbau Taiwans einsetzen.418
b.
Der 228-Aufstand und das „Großchina-Bewusstsein“
Wie im vorangegangenen Kapitel beschrieben, sah sich die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung mit der Herausforderung durch ein großchinesisches Nationalbewusstsein konfrontiert, welches die eigene Basis zu unterminieren drohte. Der 228-Aufstand bot eine willkommene Gelegenheit, diese (aus Sicht der Unabhängigkeitsbewegung) fatale Illusion eines „Großchina-Bewusstseins“ zu widerlegen. Auch die Aufständischen des Jahres 1947, so wurde argumentiert, seien in ihrer Mehrheit einem falschen Nationalverständnis erlegen, dieses vom KMT-Regime bewusst erzeugte nationale Trugbild habe schließlich zu der furchtbaren Niederlage im 228-Aufstand beigetragen. Der 228-Aufstand war ein Kampf der Taiwanesen gegen [Angehörige] der eigenen Ethnie […] In einem Kampf gegen eine fremde Rasse wird die Trennlinie zischen Freund und Feind durch ethnische Unterschiede klar gezogen; in einem Kampf gegen Fremdherrscher der eigenen ethnischen [Gruppe] wird diese Trennlinie zwischen Freund und Feind oftmals durch die heimtückischen Machenschaften und hinterlistigen Pläne der Fremdherrscher verwischt. […] Gerade deswegen haben die Märtyrer des 228-Aufstandes dem taiwanesischen Volk die wichtigste Lektion seiner Geschichte erteilt: Man darf niemals aufgrund eines emotionalen Empfindens das Schicksal des eigenen Volkes irgendeinem Fremdherrscher anvertrauen – selbst wenn er derselben ethnischen Gruppe […] angehört.419
In diesem Kontext gelangte die taiwanesische Kommunistin Xie Xuehong zu unerwarteter Prominenz: 420 Xie Xuehong hatte im 228-Aufstand eine führende Rolle in Zentraltaiwan eingenommen, unter ihrer Mitwirkung wurde Anfang März 1947 in Taizhong eine kurzlebige „Volksregierung“ gebildet (vgl. 3.4.2.). Nach der blutigen Niederschlagung des Aufstandes war ihr die Flucht nach Hongkong gelungen, wo sie im Juli 1948 der KPCh beitrat 417 Gleichzeitig wurde freilich betont, dass diese unschuldigen Opfer unter den Festländern in keiner zahlenmäßigen Relation zu dem Massaker an den gebürtigen Taiwanesen gestanden habe. Ein Artikel der Taidu yuekan machte hierzu geltend, dass im 228-Aufstand bis zu 50.000 Taiwanesen ermordet worden seien; die Anzahl der getöteten Festländer habe hingegen 33 betragen. Siehe Ng Yuzin Chiautong 1976: 4, 19-21. 418 o.A. 1977a: 1. 419 o.A. 1974a: 1. Hervorhebung im Original. 420 In den Jahren von 1972 bis 1980 findet sich in jeder Februar-Ausgabe der Taidu yuekan mindestens ein Artikel, der Xie Xuehong zum Thema hatte.
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und als Vorsitzende der „Liga für Demokratie und Selbstverwaltung Taiwans“421 für eine „Befreiung“ Taiwans durch die VRCh plädierte. Bis in die 50er Jahre hatte Xie, die am 1.10.1949 als Ehrengast an den Feierlichkeiten zur Staatsgründung der VRCh in Peking teilgenommen hatte, eine Reihe von einflussreichen politischen Ämtern inne. Im September 1957 begann sich die politische Strömung jedoch gegen Xie Xuehong zu wenden: Im Zuge der „Kampagne gegen Rechtsabweichler“ wurde sie als taiwanesische Separatistin denunziert und aus allen politischen Ämtern entfernt. Während der Kulturrevolution verschärften sich die Angriffe gegen Xie Xuehong; in den Jahren nach 1966 wurde sie als „rechte Konterrevolutionärin“ gebrandmarkt und von Roten Garden mehrmals schwer misshandelt; im November 1970 verstarb Xie im Alter von 69 Jahren in Peking. 422 Für die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung konnte Xie Xuehong als warnendes Beispiel dafür dienen, wie die VRCh die nationale Zuneigung der Chinafreundlichen Taiwanesen skrupellos für eigene Zwecke ausnutze. Xie hätte das wahre Gesicht der VRCh, die nur an territorialen Gewinnen interessiert sei, zu spät erkannt – was schließlich zu ihrem Untergang geführt habe. c.
Der 228-Aufstand und der Meilidao-Vorfall: Das Scheitern der Hoffnung auf Reformen
Eine weitere Herausforderung drohte der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung von Seiten des KMT-Regimes, das seit Beginn der 70er Jahre unter zahlreichen Taiwanesen im Ausland die Hoffnung auf demokratische Reformen geweckt hatte. Auch hier führte die Unabhängigkeitsbewegung den 228-Aufstand als warnendes Beispiel an; schon die Revolutionäre des Jahres 1947 hätten auf die Reformversprechen des Regimes vertraut und seien betrogen worden. Dies sei eine weitere wichtige Lehre des 228-Aufstandes: Der Kampf der Taiwanesen dürfe sich nicht in Petitionen und Eingaben an die Machthaber erschöpfen; nur über einen gewaltsamen Sturz des KMT-Regimes sei das Ziel eines selbstbestimmten Taiwans zu erreichen. Der Meilidao-Vorfall und die Verhaftung der führenden Oppositionellen auf Taiwan bestätigte in den Augen der Unabhängigkeitsbewegung diese Warnung vor falschen Reformversprechen der Machthaber. Am 15.12.1979, nur drei Tage nach Beginn der Verhaftungswellen auf Taiwan, versammelten sich Vertreter von zehn Organisationen der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung in New York und gründeten die „Gemeinsamen Front für die Staatsgründung Taiwans“. 423 In der Gründungserklärung, veröffentlicht in der Taidu yuekan, richtete die Gemeinsame Front einen dramatischen Appell an alle Taiwanesen: Das KMT-Regime habe erneut seinen verbrecherischen Charakter offenbart, alle Hoffnungen auf eine friedliche Reform hätten sich als Trugschluss erwiesen. Es verbleibe nun einzig die Alternative, den Kampf gegen das Regime mit allen Mitteln aufzunehmen: Die tragische Geschichte eines erneuten 228 hat begonnen! Die Fremdherrscher der KMT, angeführt vom Jiang-Clan [der KMT], hat die taiwanesische Bevölkerung, die an der Gedenkveranstaltung zum Internationalen Tag der Menschenrechte teilgenommen hatte, brutal unterdrückt, 421
Taiwan minzhu zizhi tongmeng ਠ⚓≁ѫ㠚⋫਼ⴏ Für einen tabellarischen Lebenslauf der Xie Xuehong siehe z.B. Chen Fangming 1991a: 757-772. 423 Taiwan jianguo lianhe zhenxian ਠ⚓ᔪ഻㚟ਸ䲓㐊. Dieses Bündnis war jedoch nur von kurzer Dauer, in den Quellen taucht es nur im Zusammenhang mit der zitierten Erklärung auf. 422
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Die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung in den Vereinigten Staaten außerdem wurden die Verfechter der Demokratie der Dangwai in tollwütiger Weise verhaftet. […] Das Vorspiel zum 228 hat bereits begonnen, aber das Ende des 228 wird sich garantiert nicht wiederholen! 424
Der Verweis auf den 228-Aufstand ist in dreifacher Hinsicht bemerkenswert. Erstens wurde in der oben genannten Erklärung eine Gleichsetzung zwischen dem Meilidao-Vorfall und dem „Beginn“ des 228-Aufstandes vorgenommen, wobei die genaue Bedeutung dieser Gleichsetzung jedoch nicht unmittelbar einleuchtet. Es werden ausdrücklich die Elemente der Unterdrückung Andersdenkender und der Gewaltherrschaft eines Fremdregimes genannt. All dies lässt sich zweifellos auch für das Jahr 1947 geltend machen, die große Verhaftungswelle und „Säuberung der Provinz“ setzte jedoch erst nach dem Eintreffen der Truppen aus dem Festland ein, also in einer späteren Phase des Aufstandes. Zweitens wird in dem Aufruf betont, dass sich das Ende des 228-Aufstandes nicht wiederholen dürfe. Diese Aussage erscheint nur sinnvoll, wenn man unterstellt, dass unter dem „Ende“ des 228-Aufstandes die Phase nach dem 8.3.1947 gemeint ist, die von Massakern der Armee an der taiwanesischen Bevölkerung gekennzeichnet war. Dies stand jedoch, selbst aus Sicht der radikalsten Gegner des KMT-Regimes, im Jahre 1979 wohl nicht ernsthaft zu befürchten. Und drittens stand der 228-Aufstand in den Augen der Unabhängigkeitsbewegung stets als ein gescheiterter Versuch, die Herrschaft der KMT über Taiwan zu stürzen. Eine Gleichsetzung des Aufstandes mit den Ereignissen des Jahres 1979 musste den Angeklagten im Meilidao-Prozess also implizit dieselben Motive unterstellen – was letztlich die Behauptung des KMT-Regimes, das eine Verurteilung wegen versuchten Regierungssturzes anstrebte, untermauerte. Es lässt sich also festhalten, dass die behauptete Parallelität der Ereignisse etwas konstruiert, jedoch unter dem Gesichtspunkt der „gescheiterten Hoffnung auf Reformen“ plausibel erscheinen mag. Ebenso wie die Mitglieder der Schlichtungskommissionen im Jahr 1947 hatte die demokratische Opposition im Jahr 1979 in der Tat die Reformbereitschaft des Regimes offensichtlich überschätzt. Gleichzeitig wird indes deutlich, dass diese oberflächliche Übereinstimmung allenfalls von zweitrangiger Bedeutung war. In der emotional geladenen Atmosphäre des Winters 1979/80 war sich die Unabhängigkeitsbewegung der großen Suggestivkraft bewusst, die der 228-Aufstand jenseits aller historischen Fragwürdigkeiten als politische Parole nach wie vor entfalten konnte. Die Wirkungskraft dieser Parole erzwang schließlich sogar eine Reaktion des KMT-Regimes: Im Frühjahr 1980 veröffentlichte die regimenahe Zeitschrift Jifeng eine regimefreundliche Darstellung der Ereignisse des Jahres 1947; das Tabu, das den 228-Aufstand auf Taiwan über Jahrzehnte umgeben hatte, wurde damit erstmals durchbrochen. (vgl. 7.4.2.2.).
424
o.A. 1979a: 2.
6 Taiwan nach 1947 – der Beginn des Weißen Terrors
In den Monaten nach dem 228-Aufstand mehrten sich, trotz massiver Unterstützung der USA, die militärischen Rückschläge der republikanischen Armee im chinesischen Bürgerkrieg. Die politische Führung der ROC bereitete den militärischen Notstand vor: Am 9.5.1948 wurden in Nanjing die „Vorübergehenden Bestimmungen zur Mobilisierung für die Niederwerfung des kommunistischen Aufstand“ 425 erlassen, die eine weitgehende Einschränkung der Verfassungsrechte und eine Erweiterung der Machtbefugnisse des Präsidenten erlaubten. Seit dem Frühjahr 1949 wurden Vorbereitungen getroffen, Taiwan als „letzte Bastion“ der ROC zu befestigen und die nationalen Regierungsorgane auf die Insel zurückzuziehen. 426 Nach den Massakern des 228-Aufstandes stand für die KMT-Führung zu befürchten, dass die taiwanesische Bevölkerung der nationalchinesischen Exilregierung mit Misstrauen und Feindseligkeit begegnen würde. Die Sicherheitsmaßnahmen auf der Insel wurden daher verschärft: Am 19.12.1948 wurde der Provinzgouverneur Wei Daoming, ein Zivilist, durch General Chen Cheng ersetzt; am 19.5.1949 wurde das Kriegsrecht über die Insel verhängt. Es begann nun eine Zeit, die in der taiwanesischen Geschichtsschreibung als die Phase des „Weißen Terrors“427 bezeichnet wird: Unter der Präsidentschaft des Chiang Kai-shek wurde die Verfassung der ROC in wesentlichen Teilen außer Kraft gesetzt. Die Wahlen für die nationale Regierungsorgane (die fünf Yuan), die im Herbst auf die Insel verlagert worden waren, wurden ausgesetzt; sämtliche Mandatsträger der Wahlen von 1947, denen die Flucht nach Taiwan gelungen war, verblieben bis auf weiteres – formal bis zur „Rückeroberung des Festlandes“ – im Amt. Der 228-Aufstand wurde mit einem strikten politischen Tabu belegt. Nur einmal, im Jahr 1950, fand der Aufstand eine letzte öffentliche Erwähnung, als der ehemalige Provinzgouverneur von Taiwan, Chen Yi, hingerichtet wurde. Jeglichem Widerstand gegen die autoritäre Herrschaft des KMT-Regimes wurde mit rücksichtsloser Härte begegnet, die historische Aufarbeitung dieser Periode bleibt bis heute lückenhaft. Von den Widerstandsbewegungen gegen das Regime sollen im Folgenden zwei Vorfälle im Zentrum der Untersuchung stehen: Der Free China-Vorfall von 1960 und der Peng Mingmin-Vorfall von 1964.
425
Dongyuan kanluan shiqi linshi tiaokuan अᡑҲᱲᵏ㠘ᱲọⅮ. Die Bestimmungen, die von der demokratischen Opposition neben dem Kriegsrecht als größtes Hindernis für eine Demokratisierung Taiwans betrachtet wurden, blieben bis zum 1.5.1991 in Kraft. 426 Chiang Kai-shek, der angesichts der nahenden Niederlage am 21.1.1949 vorübergehend zu Gunsten des Vizepräsidenten, General Li Zongren, von seinen Amtsbefugnissen als Präsident der ROC zurückgetreten war, bezog im März 1949 eine Residenz auf dem Yangming-Berg bei Taipei. 427 Baise kongbu ⲭ㢢 ᙆ.
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6.1 Die Hinrichtung des Chen Yi und die Tabuisierung des 228-Aufstandes Im Januar 1949 wurde Chen Yi seines Postens als Gouverneur von Zhejiang enthoben und wegen Fahnenflucht und Kooperation mit dem Feind angeklagt. Ihm wurde vorgeworfen, eine Übergabe der Provinz an die Kommunisten vorbereitet zu haben. Chen Yi wurde nach Taiwan gebracht und dort am 18.6.1950 exekutiert.428 Für das KMT-Regime bot die Hinrichtung Chen Yis eine Gelegenheit, einen Schuldigen für den 228-Aufstand zu präsentieren: In der taiwanesischen Presse wurde dargelegt, dass das Todesurteil gegen Chen Yi zwar auf Grund seines Verrates erfolge, gleichzeitig wurde ihm jedoch die volle Verantwortung am 228-Aufstand zugewiesen. Während der 228-Aufstand in den Jahren 1947 bis 1950 von Seiten der KMT stets als gescheiterter Aufstand der Kommunisten betrachtet worden war, wurde diese Lesart nun durch eine alternative Interpretation ergänzt: Durch die Missverwaltung der Provinzregierung unter Chen Yi in den Jahren zwischen 1945 und 1947 sei das taiwanesische Volk zum Aufstand getrieben worden, der 228-Aufstand sei also im Kern eine Bewegung gewesen, die sich gegen Chen Yi persönlich gerichtet habe: Die Widerstandsbewegung gegen Chen [Yi] wurde zu Anfang durch die [schlechte Verwaltung der] Behörden hervorgerufen; die Volksmassen, planlos und ohne jede Organisation, gerieten in Aufruhr. Es bestand überhaupt nicht die Absicht, sich gegen die [Zentral] Regierung zu wenden. Aus den Worten und Taten der Widerstandsbewegung gegen Chen Yi kann man ersehen, dass sie stets an der Seite […] der Nation und des Volkes stand. Chen Yi wollte den Vorfall jedoch absichtlich ausweiten und einen Keil zwischen Volk und Regierung treiben. So kam es zum unglücklichen 228-Vorfall, die Chinesen aus dem Landesinneren und die Taiwanesen wurden einander entfremdet. Erst [gestern], nach drei Jahren, als Chen Yi am 18.6.1950 nach dem Gesetz hingerichtet wurde, konnte diese [Entfremdung] endgültig überwunden werden. Man sieht, dass Chen Yi die volle Verantwortung für den 228-Aufstand angelastet werden muss.429
Es wird offensichtlich, dass die taiwanesischen Behörden mit der Aburteilung des Chen Yi lediglich eine Ausflucht aus der Verantwortung für den 228-Aufstand suchten. Selbst für einen wenig aufmerksamen Beobachter des Jahres 1950 musste sich die Frage aufdrängen, warum die Zentralregierung im Frühjahr 1947 Chen Yi trotz seiner behaupteten „Verbrechen“ auf Taiwan erneut in die Verantwortung des Gouverneurs der Provinz Zhejiang berufen hatte. Zudem wurde nicht erläutert, welche Motive Chen Yi dazu verleitet haben könnten, absichtlich einen „Keil“ zwischen Volk und Regierung zu treiben. Die KMT wollte offenbar den allgemeinen Hass gegen Chen Yi nutzen, um die Emotionen des taiwanesischen Volkes auf ein nahe liegendes Opfer zu lenken und dadurch zu beschwichtigen. Dies scheint in gewisser Hinsicht gelungen zu sein: Wie die regimenahe Zeitung Zhongyang ribao berichtete, habe die Hinrichtung Chen Yis unter der Bevölkerung der Stadt Taipei eine begeisterte und grimmige Genugtuung hervorgerufen; über 20.000 Schaulustige seien am Vormittag des 18. Juni zum Richtplatz geeilt, um die Exekution zu feiern.430 428 Das Grab des Chen Yi war lange Zeit unbekannt. Erst im Februar 1992 wurde in dem Dorf Bali (Kreis Taipei) im Rahmen eines von der Stadt Taipei initiierten Forschungsprojektes eine Grabstätte aufgefunden, in der Chen Yi mit hoher Wahrscheinlichkeit unter falschem Namen bestattet wurde. Siehe Minzhong ribao, 16.2.92. 429 Zili wanbao, 19.6.50. 430 Es ist rückblickend schwer zu beurteilen, ob die Begeisterung der taiwanesischen Bevölkerung über das Todesurteil gegen Chen Yi aufrichtig war. Zweifellos war im Jahr 1950 die Erinnerung an den 228-Aufstand in der Bevölkerung noch sehr präsent, es scheint jedoch kaum plausibel, dass sich unter den Bedingungen des Kriegs-
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Gleichzeitig wollte das Regime nunmehr einen endgültigen Schlussstrich unter den 228Aufstand ziehen; bis zur Phase der politischen Liberalisierung in den 80er Jahren markierte die Hinrichtung Chen Yis im Juni 1950 die letzte Begebenheit, bei der der 228-Aufstand von Seiten der Behörden öffentliche Erwähnung fand. Die KMT unternahm also in der Folgezeit nicht etwa den Versuch, den 228-Aufstand als Befreiung Taiwans von der kommunistischen Bedrohung oder von der korrupten Misswirtschaft eines unfähigen Provinzgouverneurs zu glorifizieren – was immerhin eine mögliche Variante der regimefreundlichen 228-Interpretation dargestellt hätte. Auch die KMT war sich der Unglaubwürdigkeit dieser Interpretationen wohl bewusst. Stattdessen sollte der 228-Aufstand vollständig aus der kollektiven Erinnerung der Taiwanesen verbannt werden. In der Phase des „Weißen Terrors“ wurde jede Erwähnung des Aufstandes scharf sanktioniert und konnte im wahrsten Sinne des Wortes lebensgefährlich sein. Erst mit der beginnenden Liberalisierung des politischen Systems zu Beginn der 80er Jahre wurde dieses Tabu durch die Anstrengungen der demokratischen Oppositionsbewegung allmählich unterminiert.
6.2 Widerstand in Zeiten des Weißen Terrors Unter der Herrschaft des Weißen Terrors errichtete das Regime des Chiang Kai-shek ein enges Netz von verschiedenen und zum Teil konkurrierenden Geheimdiensten, die alle Sphären der Gesellschaft einer scharfen Kontrolle unterwarfen. Der staatliche Sicherheitsapparat ging rücksichtslos gegen jeden echten oder vermuteten Widerstand vor, willkürliche Verhaftungen und Folter waren keine ungewöhnlichen Erscheinungen. Wer in die Fänge des Geheimdienstes geriet, konnte zudem kaum auf ein unparteiisches Verfahren hoffen: Die Urteile wurden bei so genannten „politischen“ Fällen von Militärgerichten nach den harten Bestimmungen des Kriegsrechtes und unter Ausschluss der Öffentlichkeit verhängt. Von Seiten des Regimes wurde der staatlich sanktionierte Terror selbstverständlich nie eingeräumt; das Chiang-Regime war stets bemüht, den Anschein eines „demokratischen Chinas“ zu wahren – dies sicher auch mit Rücksicht auf die Schutzmacht USA. In der Darstellung der KMT mussten auf Taiwan gewisse Verfassungsrechte zwar wegen des andauernden Bürgerkrieges vorübergehend beschnitten werden; die wohlwollende und unumstrittene Autorität der KMT habe Taiwan jedoch zum „Wirtschaftswunder“ der 70er Jahre geführt. Der steigende allgemeine Wohlstand habe, auch in den Augen einer ohnehin weitgehend unpolitischen taiwanesischen Bevölkerung, die Nachteile der autoritären Herrschaft bei Weitem überwogen. Dieses verzerrte und einseitige Geschichtsbild ist bis heute und insbesondere in der westlichen Literatur noch häufig anzutreffen.431 rechtes eine mehrtausendköpfige Menschenansammlung ohne Einwilligung oder Ermutigung der Regierung spontan hätte versammeln können. So schreibt George Kerr über die Hinrichtung Chen Yis, die er irrtümlicher Weise auf den 16.8. datiert: „In a spectacular bid for favor Chiang [Kai-shek] at last ordered the execution of his old friend General Chen Yi. It was announced that he was being punished for his abuse of the Formosan people in 1946 and 1947. Rallies were organized, a ration of fireworks was issued to make a gala occasion […]” Kerr 1965: 396. 431 So schrieben etwa Linda Chao und Ramon Myers: „To those living in Taiwan during 1986, martial law never seemed any problem because of the island’s unprecedented prosperity and social tranquillity […] Taiwan could not have experienced a peaceful democratic breakthrough without great leadership, beginning with Chiang Kaishek, who rebuilt the KMT and initiated limited democracy.“ Chao/Myers 1998: 128, 300. Bei Danny Roy findet sich folgende bemerkenswerte Passage: „Supporters of formal Taiwan independence were a minority, if a vocal
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Wenngleich die Regierung seit Ende der 90er Jahre die Rechtsgrundlage für eine finanzielle Entschädigung der Opfer des Weißen Terrors schuf 432 – wobei mit der Entschädigung der Opfer des 228-Aufstands, wie im weiteren Verlauf der Arbeit gezeigt werden soll, eine Präzedenzfall geschaffen worden war –, wurde diese dunkle Periode der taiwanesischen Geschichte bislang nicht systematisch aufgearbeitet. 433 Es ist daher kaum möglich, die Opfer des Weißen Terrors genau zu quantifizieren. Nach Angaben von Li Xiaofeng kam es alleine in den zehn Jahren von 1950 bis 1960 zu mehr als 100 politischen Vorfällen auf Taiwan, bei denen etwa 2000 Todesurteile vollstreckt und mehr als 8000 schwere Haftstrafen von jeweils über zehn Jahren verhängt wurden. Über 90% der Opfer seine Unschuldige gewesen.434 Bei Roger Xie findet sich die Angabe, dass in der Zeit von 1950 bis zur Aufhebung des Kriegsrechtes im Jahr 1987 mehr als 29.000 politische Vorfälle zu verzeichnen gewesen seien. Die Zahl der Todesurteile beziffert er auf 3-4000, über 140.000 Personen seien zu Gefängnisstrafen verurteilt worden.435 Die meisten Opfer des Weißen Terrors blieben namenlos; in den wenigen Fällen, die bis heute bekannt wurden, müssen die Fragen von Schuld und möglichen Motiven der Akteure oftmals spekulativ bleiben. Fabrizierte Anklagen auf „Taiwanesische Unabhängigkeit“ oder „Propaganda für den Kommunismus“ waren beliebte Vorwände des Regimes, um missliebige Dissidenten an die Gerichte auszuliefern. Oftmals wurde zwischen diesen beiden an sich widersprüchlichen Anklagepunkten nicht einmal unterschieden, da die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung aus Sicht des Regimes lediglich ein Instrument der kommunistischen Unterwanderung darstellte. Daher ist es schwierig, für diese Periode Widerstandsbewegungen und (was im Zentrum der vorliegenden Arbeit steht) organisierte Bewegungen zur Schaffung eines unabhängigen Taiwans nachzuweisen. Die oftmals geäußerte Annahme, es habe in dieser Periode keinen nennenswerten organisierten Widerstand one. Most of the public preferred keeping martial law and cared less about seeking independence than about matters such as crime, pollution, and the cost of living.” Roy 2003: 162. Für eine ausführliche Kritik an Danny Roy siehe Arrigo 2003: 225-230. 432 Im Juni 1998 erließ der Legislativ-Yuan das „Gesetz zur finanziellen Kompensation von Fällen, die unter dem Kriegsrecht zu Unrecht wegen Rebellion oder Spionage für die Kommunisten verurteilt wurden“ (jieyan shiqi budang panluan ji feidie shenpan anjian peichang tiaoli ᡂᱲᵏн⮦Ҳ᳘ग़䄌ሙࡔṸԦ㼌ݏọֻ). Es muss jedoch konstatiert werden, dass die staatlichen Entschädigungsleistungen für Opfer des „Weißen Terrors“ unbefriedigend sind. Wie die „Taiwan Association for Human Rights“ (TAHR) in einer Stellungnahme kritisch anmerkte, wird nur in solchen Fällen eine Entschädigung zugestanden, in denen eine unrechtmäßige Verurteilung erfolgte – für die Mehrzahl der Opfer von staatlicher Verfolgung und Folter gelte jedoch, dass eine gerichtliche Anklage nie erfolgt sei. Zudem sei auch in solchen Fällen, in denen eine Verurteilung erfolgt sei, für die Opfer nur sehr schwer der Nachweis zu erbringen, dass diese Verurteilung „unrechtmäßig“ gewesen sei. Siehe http://www.tahr.org.tw/site/english/wtre.htm. Mehrere prominente Opfer von staatlicher Verfolgung, darunter Vizepräsidentin Lü Xiulian und der ehemalige Vorsitzende der DPP Shi Mingde (beide verurteilt im Umfeld des Meilidao-Vorfalles) sowie Lin Yixiong (vgl. Lin Yixiong-Vorfall, 7.3.6.) erklärten, dass sie aus Protest auf eine Kompensation verzichten wollten. Siehe Taipei Times, 9.6.2002. 433 In den letzten Jahren waren auf Taiwan erste Ansätze einer geschichtswissenschaftlichen Forschung zum Weißen Terror zu erkennen. Im Jahr 2003 begann das Nationalarchiv (guojia dang’an guan ഻ᇦṸ佘) mit der Auswertung von Dokumenten des Militärs und der Gerichte. Die bislang erschienenen Werke, die zumeist dem populärwissenschaftlichen Bereich zuzurechnen sind, behandeln jedoch vor allem Einzelschicksale, ein umfassender Überblick über die Periode ist wohl erst in den kommenden Jahren zu erwarten. Für einen Einblick in das Thema sind u.a. folgende Werke zu empfehlen: Wang Huan 1999; Tsai 2002. In dem beeindruckenden Dokumentarfilm: „Warum wir nicht lachen“ (Women weisheme bu gechang ᡁ⛪فӰ哬нⅼୡ, Taipei 1996) werden Opfer des Weißen Terrors der 50er Jahre interviewt (Kopie im Besitz des Autors). 434 Li Xiaofeng 1999: 38ff. 435 Hsieh 2003: 1, 3.
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gegen das Regime gegeben, wäre aus Sicht des Autors jedoch ein Fehlschluss. Es besteht Veranlassung zu der Vermutung, dass die Herrschaft des Chiang Kai-shek in den Jahren nach 1950 bei weitem nicht so gefestigt war, wie das Regime dies glauben machen wollte. In den Jahren 1950 bis 1970 sind etwa folgende Vorfälle publik geworden: 436
Der Madou-Vorfall: Im Mai 1950 wurden 33 Bewohner des Städtchens Madou (Kreis Tainan, Südtaiwan) unter dem Vorwurf des versuchten Regierungssturzes festgenommen. Die drei Hauptangeklagten Xie Duanren, Cai Guoli und Zhang Muhuo wurden zum Tode verurteilt, in neun Fällen wurde eine lebenslange Haftstrafe verhängt. Der Sun Liren-Vorfall: Im August 1955 wurde General Sun Liren, Oberbefehlshaber der Infanterie und Rektor der Militärakademie von Fengshan, seiner Posten enthoben und unter Hausarrest gestellt. Es ist nicht bekannt, worauf sich der gegen ihn erhobene Vorwurf eines geplanten Regierungssturzes gründete – wahrscheinlich betrachtete Chiang Kai-shek jedoch den charismatischen General Sun als potentiellen Rivalen. Mehr als 600 Untergebene des General Sun wurden verhaftet. Der Su Dongqi-Vorfall: Im September 1961 wurde der Geschäftsmann Su Dongqi, der ein politisches Amt als Delegierter der Kreisversammlung von Yunlin bekleidete, unter dem Vorwurf des versuchten Regierungssturzes verhaftet. Im Zuge der Verhaftungswelle gegen Su und seine Mitangeklagten wurden über 300 Personen festgenommen. Ein Militärgericht verhängte am 17.5.62 die Todesstrafe gegen Su Dongqi und Zhang Maozhong, in zweiter Instanz wurde die Strafe auf lebenslängliche Haft reduziert. Weitere 47 Personen wurden zu Freiheitsstrafen zwischen 12 und 15 Jahren verurteilt. Der Vorfall an der Militärschule von Gaoxiong: Im Juli 1962 wurden über 30 Studenten und Lehrer der Militärschule von Gaoxiong verhaftet, da sie angeblich einen Sturz der Regierung und die Schaffung eines unabhängigen Taiwans angestrebt hatten. Die beiden Hauptangeklagten Shi Mingde 437 und Chen Sanxing wurden zu lebenslanger Haft, die anderen Angeklagten zu Haftstrafen zwischen fünf und zwölf Jahren verurteilt. Der Lin Shuiquan-Vorfall: Im August 1967 wurde einer Gruppe um den Delegierten der Stadtversammlung von Taipei, Lin Shuiquan, unter dem Vorwurf des versuchten Regierungssturzes festgenommen. Angeblich hatte die Gruppe Verbindungen zu taiwanesischen Unabhängigkeitsaktivisten in Japan unterhalten. In einer ersten Welle wurden mehr als 240 Personen verhaftet, die Hauptangeklagten Lin Shuiquan, Yan Yinmou und Lü Guomin wurden zu je 15 Jahren Haft verurteilt. Der Taiyuan-Vorfall 1970: Im Februar 1970 gelang es einigen politischen Häftlingen des Gefängnisses von Taiyuan (Kreis Taidong) unter der Führung von Zheng Jinhe, die Wachmannschaft des Gefängnisses zu überwältigen. Angeblich wollten die Aufständischen eine allgemeine Erhebung gegen das Regime auslösen. Von Taipei wurden daraufhin umgehend zwei Armeen in den Kreis Taidong entsandt, über den
436 Diese Liste ist bei weitem nicht vollständig; es soll an dieser Stelle nur ein kurzer Einblick in die größeren Vorfälle dieser Periode vermittelt werden. Die Angaben stützen sich vor allem auf folgende Quellen: Chen Bisheng 1984: 11-14; o.A. 1985g: 53-64; Shi Ming 2001; Li Xiaofeng 1999; Ye Xiangzhi 1986: Li Xiaofeng/Lin Chenrong 2004. 437 Shi Mingde wurde 1978 vorzeitig entlassen, er engagierte sich erneut in der politischen Opposition und wurde im Frühjahr 1980 als Haupttäter des Meilidao-Vorfalles (siehe 7.3.5.) erneut zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt.
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Taiwan nach 1947 – der Beginn des Weißen Terrors Kreis wurde der Ausnahmezustand verhängt. Den Anführern des Aufstandes gelang zunächst die Flucht in die umliegenden Berge, sie wurden jedoch in den folgenden Wochen festgenommen. Am 30.5.1970 wurden Zheng Jinhe und vier weitere Anführer der Erhebung zum Tode verurteilt.
Zwei Fälle von Widerstandsbewegungen gegen die KMT-Herrschaft, der Free ChinaVorfall von 1960 und der Peng Mingmin-Vorfall von 1964, sollen im Folgenden ausführlicher dargestellt werden. Dies scheint aus drei Gründen geboten: Zum einen waren mit Lei Zhen und Peng Mingmin zwei populäre Regimegegner betroffen, die auch im Ausland ein hohes Ansehen genossen. Dies führte, zweitens, dazu, dass diese beiden Vorfälle in den Quellen bei weitem am besten dokumentiert sind und somit eine ausreichende Materialbasis für eine kritische Auseinandersetzung zur Verfügung steht. Drittens schließlich wurde in beiden Fällen nachweislich Bezug zum 228-Aufstand genommen.
6.2.1 Der Free China-Vorfall 1960 Die Gründung der Zeitschrift Free China 438 datiert aus dem Jahr 1949: Angesichts der drohenden Niederlage im Bürgerkrieg war die Staatsführung der ROC in eine schwere Krise geraten. Im Januar 1949 trat Chiang Kai-shek vorübergehend von seinen Amtsbefugnisse als Präsident zu Gunsten des Vizepräsidenten General Li Zongren zurück. Li, der als „amtierender Präsident“ die Staatsgeschäfte führte, ließ hingegen erkennen, dass er dem damals von vielen Seiten geäußerten Ruf nach Friedensverhandlungen mit dem kommunistischen Feind eventuell Folge leisten und einen Waffenstillstand anstreben würde. In dieser kritischen Lage fand sich eine Gruppe von liberalen und KMT-nahen Intellektuellen um Hu Shi, Lei Zhen, Wang Shijie und Hang Liwu zusammen, um ein einflussreiches Presseorgan zu gründen und für eine Weiterführung des Kampfes zu plädieren. Die Gründung der Zeitschrift sollte ursprünglich in Shanghai erfolgen. Der rasche Zusammenbruch der Front im Spätsommer 1949 ließ diesen Plan indes scheitern. Die Zeitschrift Free China erschien erstmals am 20.11.1949 in Taipei. In den Jahren nach 1949 entsprach die Free China in ihrer antikommunistischen Grundhaltung zunächst ganz den Interessen des KMT-Regimes; die Zeitschrift wurde vom Erziehungsministerium finanziell unterstützt und gehörte zu Beginn der 50er Jahre zur Pflichtlektüre der Angehörigen der Streitkräfte. Im Laufe der 50er Jahre verschlechterten sich die Beziehungen zwischen der Free China und der Regierung jedoch zusehends: Für die Regierung, deren politische Herrschaft über Taiwan sich allmählich stabilisierte, war die Existenz der Zeitschrift „Free China“ nicht mehr so bedeutungsvoll und von unmittelbarer Dringlichkeit. Im Zuge der politischen und wirtschaftlichen Umbrüche auf Taiwan verlagerte sich der Schwerpunkt der demokratischen, liberalen und ursprünglich antikommunistischen Intellektuellen-Zeitschrift allmählich von der Kritik an Russland und der VRCh auf eine Reflexion und Debatte der internen Probleme Taiwans. 439
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Ziyou zhongguo 㠚⭡ѝ഻ Li Xiaofeng/Lin Chenrong 2004: 331.
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Die zunehmend regimekritische Haltung der Free China führte ab Mitte der 50er Jahre zu Spannungen mit den Partei- und Regierungsbehörden. Im Jahr 1955 wurde Lei Zhen, der Herausgeber der Zeitschrift, aus der KMT ausgeschlossen; die Mitarbeiter der Free China sahen sich heftigen Angriffen durch regimenahe Medien ausgesetzt. Diese Einschüchterungsversuche der staatlichen Stellen blieben jedoch fruchtlos: Im August 1957 erreichte die Kritik der Free China an den Missständen auf Taiwan einen vorläufigen Höhepunkt. Unter dem Titel „Die aktuellen Probleme“440 erschien eine Reihe von Beiträgen, in denen jeweils verschiedene Themen aus Politik und Gesellschaft einer kritischen Betrachtung unterzogen wurden. In einem Leitartikel zum Beginn der Reihe wurde die Frustration der liberalen und demokratischen Medienschaffenden angesichts einer umfassenden staatlichen Gängelung artikuliert: Eine Gesellschaft, die einer strengen Kontrolle unterworfen wird, wirkt nach Außen geordnet und stark, im Inneren jedoch werden alle Lebensgeister erstickt und verkümmern. Allein in den letzten sieben bis acht Jahren ist es in Taiwan so weit gekommen, dass der „Maßstab der Wahrheit“ in allem Reden und Denken der Gesellschaft von den Behörden vorgegeben wird […] Diesem Denken liegt ein tiefes Missverständnis zu Grunde: Die Ansicht, dass „Die Partei gleich der Regierung“ und „Die Regierung gleichbedeutend mit dem Staat“ seien. Leider ist diese Ansicht, die zum Chaos der letzten Jahrzehnte beigetragen hat, grundsätzlich falsch. […] Der Staat ist ewig, und kann nicht ausgewechselt werden. Eine Regierung ist nicht ewig, und kann ausgewechselt werden […] Was soll dann der Maßstab unserer Ansichten sein? [Dafür] kann es nur einen Maßstab geben: Die Dinge beim Namen nennen. Wenn etwas weiß ist, dann nennen wir es auch weiß. Wenn etwas schwarz ist, dann nennen wir es auch schwarz.441
Getreu diesem Motto von „Die Dinge beim Namen nennen“ wurden in den folgenden dreizehn Ausgaben der Zeitschrift (März 1957 bis April 1958) vierzehn Artikel veröffentlicht, die sich etwa mit der verfehlten Wirtschaftspolitik, der mangelnden Pressefreiheit, dem indoktrinierenden Schul- und Erziehungswesen und – Abschluss und Höhepunkt der Serie – der Gründung einer Oppositionspartei442 befassten. Ein Themengebiet, dem in dieser Serie großen Raum gewidmet wurde und das für die vorliegende Arbeit von besonderem Interesse ist, war das Problem einer möglichen „Rückeroberung“ des Festlandes – eine Frage, die indirekt auf die Möglichkeit einer staatlichen Unabhängigkeit als einziger logischen Alternative verweisen musste. In den Worten der Free China war dies „[…] der fundamentale Schlüsselpunkt aller Probleme des Freien Chinas. Wenn man diese Frage [der Rückeroberung] nicht in aller Klarheit bespricht, dann wird auch kein anderes Problem grundsätzlich zu lösen sein.“ 443 Die Zeitschrift machte deutlich, dass sie grundsätzlich an dem Ziel einer Rückeroberung festhielt. Alle Bewohner Taiwans seien von dem Wunsch getragen, eines Tages auf das befreite Vaterland zurückzukehren. Allein dieser Wunsch dürfe nicht die objektiven Gegebenheiten und die eigene Kraft zur Durchsetzung dieses Wunsches ignorieren. In einer ausführlichen Analyse über den „modernen Krieg“ wurde dargelegt, dass ein Staat (Taiwan wurde hierbei nicht namentlich genannt), der über keine fortschrittliche Rüstungsindustrie verfüge und auf Grund mangelnder natürlicher Ressourcen anfällig für eine feindliche Seeblockade sei, unter den 440
Jinri de wenti ӺᰕⲴ乼 o.A. 1957a: 3f. 442 Siehe o.A. 1957d: 3-5; o.A. 1957e: 3-6.; o.A. 1958a: 3-4; o.A. 1958b: 3-4. 443 o.A. 1957b: 5. 441
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Bedingungen der aktuellen Kriegsführung nicht erfolgreich sein könne. 444 Das Ziel der Rückeroberung des Festlandes sei zwar nicht von vorneherein aufzugeben, es müsse jedoch einer zukünftigen und noch nicht abzusehenden günstigen internationalen Konstellation vorbehalten bleiben. Obwohl ein erfolgreicher Feldzug zur Befreiung des Festlandes unter den gegebenen Umständen also faktisch undurchführbar sei, wurde kritisiert, dass die Staatsführung, die, so wurde unterstellt, die realen Gegebenheiten genau kannte, dennoch in beständiger Kriegsbereitschaft verharre und Taiwan dadurch eine enorme Last aufbürde. Die gewaltigen Streitkräfte von 600.000 Mann stünden in keinem Verhältnis zu der Wirtschaftskraft einer Bevölkerung von (damals) acht Millionen Einwohnern; 85% des Staatshaushaltes würden für Rüstungsausgaben eingesetzt. Eine kleine Insel von acht oder neun Millionen Einwohnern, die 600.000 Soldaten ernähren muss – diese Relation kann unter großen Mühen für eine kurze Zeit aufrechterhalten werden, aber [dieser Zustand] darf sich unter keinen Umständen über viele Jahre hinziehen […] ansonsten werden zuletzt sowohl das Militär als auch die Wirtschaft zusammenbrechen.445
Als erste, dringende Maßnahme forderte die Free China daher eine umfassende Reduktion des stehenden Heeres; im Gegenzug sollte die militärische Reserve ausgebaut werden, die sich im Falle einer günstigen militärischen Konstellation kurzfristig mobilisieren ließe. Von noch größerer Tragweite sei indessen der politische und psychologische Schaden, der durch die von den staatlichen Stellen propagierte Illusion einer baldigen Rückkehr auf das Festland hervorgerufen werde. Auf die künstlich genährte Erwartungshaltung müssten schließlich Enttäuschung und Misstrauen folgen: Den Behörden fehlt es anscheinend an psychologischem Allgemeinwissen. Jeder sollte wissen: Wenn man mit großer Selbstverständlichkeit eine unmögliche Versprechung macht, dann werden zu Anfang viele Leute dies für bare Münze nehmen. Später mehren sich dann die Zweifel, und schließlich folgt das totale Misstrauen. Je höher der Preis ist, den die Leute für ihre Hoffnungen entrichten müssen, desto größer ist die Enttäuschung, wenn die Illusionen zerspringen.446
Das Regime richte jedoch das gesamte politische und wirtschaftliche Leben der Insel auf diese Illusion einer baldigen Rückkehr auf das Festland aus, um seine autoritäre Herrschaft zu legitimieren. Viele Bürger seien bereit, den Verlust von demokratischen Grundrechten vorübergehend hinzunehmen – in dem guten Glauben an den flüchtigen und temporären Charakter des taiwanesischen Exils. Je länger dieser Zustand anhalte, desto größer müssten jedoch die Spannungen und Verwerfungen innerhalb der taiwanesischen Gesellschaft werden; zudem würde das größte Kapital für einen künftigen Sieg über den kommunistischen Gegner verspielt: Der vorbildliche Gegenentwurf einer freiheitlichen und demokratischen chinesischen Gesellschaft, mit dem man die Herzen der Mitbürger in den kommunistisch unterworfenen Gebieten des Vaterlandes gewinnen müsse.
444 Des Weiteren wurde z.B. der etwas kuriose Gedanke geäußert, dass ein Staat unter den modernen Bedingungen der Kriegsführung „über mindestens 150.000.000 Einwohner“ verfügen müsse, um in einem Feldzug zu bestehen. 445 o.A. 1957c: 3. 446 o.A. 1957b: 7.
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Wenige Monate nach Abschluss der Serie „Die aktuellen Probleme“ gewann der Kampf der Free China um eine Demokratisierung der Gesellschaft erneut an Brisanz: Seit Jahresende 1958 wurden Spekulationen laut, dass Chiang Kai-shek, dessen zweite und nach den Bestimmungen der Verfassung letzte Amtsperiode als Präsident im Frühjahr 1960 zu Ende ging, eine erneute Wiederwahl anstreben könnte. Die Free China wandte sich entschieden gegen dieses Vorhaben und verwies darauf, dass dies einen klaren Bruch der Verfassung darstellen würde, die lediglich eine einmalige Wiederwahl des Präsidenten vorsah. Auch eine Revision der Verfassung sei nicht möglich, da das zuständige Regierungsorgan, die Nationalversammlung, nicht beschlussfähig sei. 447 Trotz dieser Bedenken verabschiedete die Nationalversammlung am 11.3.60 eine Ergänzung der „Vorübergehenden Bestimmungen zur Mobilisierung für die Niederwerfung des kommunistischen Aufstandes“, nach der Chiang Kai-shek eine unbegrenzte Anzahl an Amtsperioden zugestanden wurde; am 21.3. wurde Chiang Kai-shek in seinem Amt als Präsident bestätigt. Die Niederlage im Streit um die Amtszeit des Chiang Kai-shek markiert einen entscheidenden Wendepunkt in der Geschichte der Free China. In der letzten Phase ihres Bestehens (April bis September 1960) widmete sie sich einem Vorhaben, das schließlich in dem Verbot der Zeitschrift und der Verhaftung ihrer führenden Mitglieder münden sollte: Der Gründung einer echten Oppositionspartei. Schon seit Mitte der 50er Jahre hatte die Free China auf die Notwendigkeit einer Opposition für das Funktionieren eines demokratischen Systems hingewiesen. Zudem sei nur über ein funktionierendes demokratisches System die historische Mission der Rückeroberung des chinesischen Festlandes zu erfüllen: Eine demokratische Regierung ist heutzutage eine allgemein verbreitete Forderung, aber ohne eine starke Opposition kann es keine gesunde Demokratie geben […] Für das Zusammenstehen der Bevölkerung im antikommunistischen Kampf haben wir eine Ein-Parteien-Herrschaft hingenommen, und gerade diese Ein-Parteien-Herrschaft hat sich zum größten Hindernis für Fortschritt entwickelt. Wenn wir keinen Fortschritt erzielen können, worauf soll sich dann unser [Glaube an] eine siegreiche Rückeroberung gründen?448
Da die Wahlen der nationalen Vertretungsorgane unter den Bestimmungen des Kriegsrechtes bis zur „Niederwerfung des kommunistischen Aufstandes“ auf unbestimmte Zeit suspendiert worden waren, richtete sich das Interesse der Free China auf die lokalen Wahlen auf Ebene der Provinz sowie der Kreise und Städte. Der KMT wurde vorgeworfen, diese Wahlen mit der erdrückenden Übermacht ihres Parteiapparates vollkommen zu dominieren; parteilose Kandidaten würden eingeschüchtert und die Wahlergebnisse zu Gunsten der KMT manipuliert. Im Anschluss an die lokalen Wahlen des Jahres 1957 unterstützte die Free China die Gründung einer „Gesellschaft zum Studium der lokalen Selbstverwaltung
447 Von den ursprünglich 3045 Delegierten der Nationalversammlung, in deren Zuständigkeit die Wahl des Präsidenten und die Revision der Verfassung fiel, waren im Frühjahr 1960 nur 1523 auf Taiwan wohnhaft. Zahlreiche Delegierte waren nach Ende des Bürgerkrieges auf dem Festland verblieben oder ins Ausland emigriert, die Nationalversammlung in Taipei verfügte daher im Jahr 1960 nicht über die für eine Verfassungsänderung notwendige Zweidrittelmehrheit. Am 12.2.60 erklärte der Oberste Gerichtshof jedoch, dass nur diejenigen Delegierten zu berücksichtigen seien, die der Einberufung der Nationalversammlung auch tatsächlich Folge leisteten. Die Entscheidung wurde von der Free China scharf kritisiert. 448 o.A. 1958b: 3.
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Chinas“, 449 um der Forderung nach einer Verbesserung des Wahlablaufes Nachdruck zu verleihen; der Antrag auf staatliche Zulassung der Gesellschaft wurde jedoch abgewiesen. Im Frühjahr 1960 nahmen die Forderungen nach Gründung einer Oppositionspartei erstmals konkrete Formen an: Im Umfeld der lokalen Wahlen auf Ebene der Kreise und Städte riefen parteilose Politiker und liberale Intellektuelle, unterstützt von der Free China, ein „Symposium zur Verbesserung der Wahlen“450 ins Leben. Am 15.6.1960 kündigten die Teilnehmer des Symposiums die Gründung einer Oppositionspartei „Demokratische Partei Taiwan“451 bis zum September des Jahres an. Auf der ersten Delegiertenversammlung wurden Lei Zhen, Gao Yushu und Li Wanju zu den Sprechern der Organisation bestimmt; die neu zu gründende Partei sollte ihre führenden Kader vor allem aus drei Quellen rekrutieren: 1.
2.
3.
Liberale Intellektuelle aus dem Festland. An erster Stelle stand hier Hu Shi, von dem man lange Zeit gehofft hatte, er würde eine führende Rolle innerhalb der demokratischen Opposition einnehmen.452 Wenngleich Hu Shi bereits im Jahr 1957 angekündigt hatte, dass er für führende Aufgaben nicht zur Verfügung stünde, hatte er auf Grund seines hohen Ansehens bis zum Verbot der Free China eine herausgehobene Position als spirituelle Leitfigur der Bewegung inne. Vertreter der beiden kleinen Parteien „Jugendpartei 453 und „Sozialdemokratische Partei China“.454 Seit Mitte der 20er Jahre hatten diese beiden kleinen Parteien im politischen System der ROC eine Nischenexistenz neben der KMT geführt, im Laufe des Bürgerkrieges und insbesondere seit dem Rückzug des Regimes nach Taiwan waren sie faktisch in der Bedeutungslosigkeit versunken. Auf der Gründungssitzung des „Symposiums zur Verbesserung der Wahlen“ wurde der Antrag eingebracht, diese beiden kleinen Parteien mit der neu zu gründenden „Demokratischen Partei Taiwan“ zu verschmelzen. Parteilose Politiker, denen es gelungen war, sich in lokalen Wahlen gegen die Kandidaten der KMT durchzusetzen und ein Mandat zu erringen. Im Zentrum standen hierbei Guo Guoji (Wahlkreis Taizhong), Wu Sanlian (Kreis Tainan), Li Yuanzhan (Stadt Gaoxiong), Guo Yuxin (Kreis Yilan), Li Wanju (Kreis Yunlin) und Frau Xu Shixian (Kreis Jiayi), die sich in den Wahlen von 1957 jeweils in ihren Wahlkreisen erfolgreich um ein Mandat in der Provinzversammlung beworben hatten und die als „Fünf Drachen und eine Phönix“ der taiwanesischen Politik bezeichnet wurden.
Bezüglich des zuletzt genannten Punktes wurde dem Umstand, dass es sich bei diesen Politikern auf lokaler Ebene fast ausschließlich um gebürtige Taiwanesen handelte, insbesondere in der Demokratiebewegung der 80er Jahre eine besondere Bedeutung zugemessen. Die 449
Zhongguo difang zizhi yanjiuhui ѝ഻ൠᯩ㠚⋫⹄ウᴳ Xuanju gaijin zuotanhui 䚨㠹᭩䙢ᓗ䃷ᴳ 451 Taiwan minzhudang ਠ⚓≁ѫ唘 452 Hu Shi (1891-1962). Hu, der im Jahr 1917 sein Studium der Philosophie in den USA (Cornell und Columbia) mit der Erlangung eines Doktorgrades absolviert hatte, nahm in der 4. Mai Bewegung eine führende Rolle ein und gehört in den 20er Jahren zu den führenden Intellektuellen Chinas. Von 1938-1942 diente Hu als Botschafter in den Vereinigten Staaten, von 1946-1948 war er Kanzler der Universität von Peking. Zu Beginn der 50er Jahre lehrte Hu Shi an der Cornell-Universität in den USA, 1957 kehrte er nach Taiwan zurück und leitete dort bis zu seinem Tod die prestigeträchtige Academia Sinica. 453 Qingniandang 䶂ᒤ唘 454 Zhongguo minzhu shehui dang ѝ഻≁ѫ⽮ᴳ唘 450
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Free China habe erstmals einen Schulterschluss von liberalen Kräfte aus dem Festland mit taiwanesischen Oppositionellen angestrebt; die Kooperation von „Festländern“ und „Taiwanesen“ im gemeinsamen Kampf für Demokratie, die auch in den 80er Jahren als eine große Herausforderung der Oppositionsbewegung betrachtet wurde, sei bereits im Jahr 1960 kurz vor einem Durchbruch gestanden. Allgemein trifft diese Beobachtung sicher zu; es sollte jedoch einschränkend darauf hingewiesen werden, dass sich diese Verbindung erst in den letzten Monaten des Bestehens der Zeitschrift Free China andeutete. Lei Zhen selbst hatte einer solchen Kooperation von Festländern und Taiwanesen lange Zeit mit Skepsis gegenübergestanden.455 Mit ihrem Vorstoß auf Gründung einer neuen Partei hatte sich die Free China in gefährlicher Weise exponiert. Dies war auch den Mitarbeitern der Zeitschrift bewusst; in der letzten Ausgabe am 1.9.1960 erschien eine „Dringende Bekanntgabe“ des „Symposiums zur Verbesserung der Wahlen“, in dem von dem allmählich enger werdenden Zugriff der staatlichen Behörden berichtet wurde. Leitende Angehörige der Zeitschrift und insbesondere Lei Zhen stünden unter ständiger Beobachtung, zudem habe man Kenntnis, dass das Regime bereits einen Vorwand für eine Verhaftung vorbereite. 456 In derselben Ausgabe findet sich der berühmte Beitrag des Yin Haiguang „Der große Strom nach Osten ist nicht aufzuhalten“. In dem kämpferischen Artikel wurden ein letztes Mal alle Beweggründe für die Schaffung einer Oppositionspartei angeführt. In dem Beitrag scheint sich jedoch die Vorahnung auf das kommende Unheil anzudeuten: In den letzten zehn Jahren haben einige Leute im Machtzentrum der KMT mit aller Kraft „die Kontrolle angezogen“ – und haben sie damit irgendetwas erreicht? Aus einer gewissen Perspektive betrachtet haben sie in der Tat etwas erreicht. Sie haben auf dieser kleinen Insel mit Bestechungen einige Materialisten ohne jede Prinzipien als Anhänger gewonnen. Wie zu der Zeit, als sie die politische Macht auf dem Festland innehatten, haben sie auf Taiwan mit großer Effektivität alle Leute mit Charakter, Integrität und Verantwortungsbewusstsein ausgeschaltet. Sie kontrollieren eine Clique, die davon lebt, Lügen zu verbreiten und Gerüchte in Umlauf zu setzen. Sie kontrollieren ein Pack von Leuten, die sich an Übeltaten beteiligen und dabei selbst fett werden. […] Aber was kontrollieren sie schon, außer unseren Körpern? All das ist hohl und nichtig […] Der Große Strom wird sich trotz allem ins Ostmeer ergießen. Wir glauben fest: Alle vernünftigen Wünsche der Mehrheit werden sich eines Tages, früher oder später, erfüllen. Freiheit, Demokratie, Garantie der Menschenrechte – all diese Forderungen können nicht auf Ewig von einer kleinen Minderheit, die mit Gewalt die Staatsmacht besetzt, aufgehalten werden.457
Nur drei Tage nach dem Erscheinen der letzten Ausgabe der Free China, am 4.9.1960, wurden Lei Zhen und drei weitere führende Mitglieder der Redaktion unter dem Vorwurf der „Propaganda für den Kommunismus“ und des „Defätismus“ verhaftet. Dem Redaktionsmitglied Liu Ziying wurde Spionagetätigkeit für den kommunistischen Feind vorgeworfen. Am 8.10. wurden Lei Zhen und Liu Ziying von einem Militärgericht zu zehn und zwölf Jahren Haft verurteilt;458 der Versuch einer Parteigründung war damit gescheitert.
455
Vgl. Xue Huayuan 1996: 348f. o.A. 1960b: 16. Yin Haiguang 1960: 5f. 458 Angeblich hatte Chiang Kai-shek in dem Verfahren persönlich interveniert und darauf bestanden, dass Lei Zhen nicht unter zehn Jahren Haft bestraft werden dürfe. Siehe Li Xiaofeng/Lin Chenrong 2004: 338. 456 457
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6.2.2 Der Peng Mingmin-Vorfall 1964 Am 20.9.1964 wurde Peng Mingmin, der zu diesem Zeitpunkt als Professor der Politikwissenschaft in Taipei lehrte, zusammen mit seinen beiden Studenten Xie Congmin und Wei Tingchao verhaftet und unter dem Vorwurf des versuchten Regierungssturzes angeklagt. Der Vorfall erregte international großes Aufsehen: Peng, geboren im Jahre 1923 in Taizhong, zählte zu den herausragenden Trägern einer jungen Generation von Akademikern, die unter dem Regime der KMT ihr Studium absolviert hatten und hohes internationales Ansehen genossen. In seiner Studienzeit hatte Peng ausgedehnte Auslandsaufenthalte in Kanada und Frankreich durchlaufen, nach seiner Rückkehr nach Taiwan wurde er mit 34 Jahren als jüngster Professor in der Geschichte der prestigeträchtigen Taiwan National University in Taipei tätig. Im Jahr 1961 trat Peng Mingmin auch international an herausgehobener Stelle in Erscheinung: Er wurde, sehr zu seiner eigenen Überraschung, zu einem politischen Berater der Delegation der ROC bei den Vereinten Nationen benannt. In der diffizilen und heiklen Mission, 459 in der erstmals das Vertretungsrecht der ROC für Gesamtchina zur Abstimmung gestellt wurde, war sicherlich die Tatsache von Bedeutung, dass Peng Mingmin als gebürtiger Taiwanese die geschlossenen Unterstützung der taiwanesischen Bevölkerung für das Regime des Chiang Kai-shek signalisieren sollte. In seinen Memoiren schrieb Peng hierzu: The fate of the Nationalist regime was at stake, but so too was the fate of the Formosan people. They were seldom mentioned in the debates. Our delegation refused to admit that these were separate interests, and my presence as a Formosan member implied a consensus in support of Chiang’s government that did not exist.460
Die Erfahrungen in den Vereinten Nationen hatten Peng, der nach eigenen Angaben bis dahin ein unpolitisches und privilegiertes Dasein als angesehener Akademiker genossen hatte, erstmals zu einer Reflexion über die grundlegenden Probleme Taiwans angeregt. In den folgenden Monaten traf er sich zu häufigen Gesprächen mit seinen Studenten Xie Congmin und Wei Tingchao, im Sommer 1964 reifte schließlich der Entschluss, ein Manifest über die grundlegenden Probleme Taiwans zu verfassen und anonym in Umlauf zu bringen. Das Manifest, dass schließlich als „Taiwanesische Unabhängigkeitserklärung“ 461 bekannt werden sollte, ging maßgeblich auf die Initiative von Xie Congmin zurück. Xie, geboren 1934 in eine wohlhabende Familie in Südtaiwan, hatte ein Jurastudium an der Taiwan National University absolviert und war nach Abschluss seines Studiums als Lehrer an der Militärakademie von Fengshan tätig geworden. Auf Grund seiner Lehrtätigkeit verfügte Xie über profunde Kenntnisse der militärischen Kapazitäten der ROC-Streitkräfte, schon bald erkannte er, dass jede Hoffnung auf eine Rückeroberung des Festlandes vergeblich sei. Im Frühjahr 1964 zog sich Xie Congmin von der Militärakademie zurück und wurde, auf Vermittlung von Peng Mingmin, in der Redaktion der Zeitschrift The Free China Monthly in Taipei tätig. In dieser Zeit entstand die Urfassung des späteren Manifestes: Xie 459
In der Abstimmung konnte die ROC schließlich eine knappe Zweidrittelmehrheit für ihren Verbleib in der UNO mobilisieren. Peng Mingmin 1972: 114. 461 Taiwan duli xuanyan ਠ⚓⦘・ᇓ䀰 460
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Congmin wollte seine kritischen Gedanken zum ROC-Regime in leichtverständlichen Worten zusammenfassen und einem breiten Publikum zugänglich machen. Im Sommer des Jahres weihte er einen Jugendfreund, Wei Tingchao, und seinen ehemaligen Lehrer, Peng Mingmin, in seinen Plan ein; gemeinsam wurde eine verkürzte Fassung unter dem Titel „Manifest der Bewegung für die Selbstbestimmung Taiwans“ 462 (der Titel „Taiwanesische Unabhängigkeitserklärung“ ist eine spätere Hinzufügung)463 erarbeitet, die in einer Auflage von 20.000 Exemplaren gedruckt und anonym an einflussreiche Vertreter aus Politik und Gesellschaft verschickt werden sollte. Die endgültige Fassung teilte sich in acht Unterpunkte, deren Inhalt sich folgendermaßen zusammenfassen lässt: 1.
2.
3.
4.
5.
462
Der Anspruch des Regimes auf die Vertretung für Gesamtchina sei eine groteske Absurdität, die sich nur mit der massiven Militärunterstützung der Vereinigten Staaten aufrechterhalten ließe. Auch in den USA verfolge man faktisch bereits eine Politik der „Zwei China“, zudem bestünde stets die Gefahr, dass Taiwan für die politischen Interessen der USA geopfert werden könne. Die Streitkräfte der ROC hätten weder die personellen noch die militärtechnischen Voraussetzungen, um ernsthaft eine Rückeroberung des Festlandes anzustreben. Zudem sei die Disziplin der Soldaten äußerst schlecht: Die Festländer unter den Soldaten hätten für die Illusion einer baldigen Rückkehr in die Heimat „ihr Leben dem Tyrannen“ geweiht und seien bitter enttäuscht worden; die jungen Taiwanesen hingegen seien, den 228-Aufstand vor Augen, von einem tiefen Hass gegen das Regime geprägt, der nur durch deren rücksichtslose Unterwerfung gezügelt werden könne. Die Ansicht, man könne mit solchen Streitkräften die Armee des Festlandes bezwingen, sei – so der anschauliche Vergleich – „als ob ein kaputter Besen einer Windmühle den Krieg erklären wollte“. Mit der Propagandalüge einer „Rückeroberung“ des Festlandes wolle das KMTRegime unter Chiang Kai-shek lediglich seine tyrannische Herrschaft über die Insel sichern. Über das Kriegsrecht sei die Verfassung in ihren wesentlichen Teilen außer Kraft gesetzt, gleichzeitig wolle das Regime mit patriotischen Parolen die Unterdrückung der Redefreiheit und der demokratischen Grundrechte legitimieren. Die nationalen Vertretungsorgane der ROC, die seit 1947 nicht neu gewählt wurden, hätten jede Legitimation eingebüßt. Taiwan werde von einer Clique von Festländern innerhalb der KMT beherrscht, denen eine unter-drückte und – nach den Schrecknissen des 228-Aufstandes – feindselige taiwanesische Bevölkerung gegenüberstünde. Chiang Kai-shek könne also weder China noch Taiwan, ja nicht einmal die KMT repräsentieren Die Wirtschaft Taiwans leide unter den gewaltigen Militärausgaben, zudem seien alle wirtschaftlichen Maßnahmen des Regimes kurzsichtig und auf die maximale Ausbeutung Taiwans ausgerichtet. Die KMT „schlachte das Huhn, um an das Ei zu kommen“.
Taiwan zijue yundong xuanyan ਠ⚓㠚⊪䙻अᇓ䀰 Aus Sicherheitsbedenken trugen die Originale des Manifestes keinen Titel, dieser sollte erst unmittelbar vor Versand mit Hilfe eines Stempels eingefügt werden. Im Ausland kursierten seit dem Herbst 1964 offenbar mehrere Versionen des Manifestes. Die vorliegende Darstellung orientiert sich an Shi Ming 2001: 187-216. Xie Congmin bestätigte in einem Treffen mit dem Autor, dass diese Version dem Original entspreche – wenngleich auch bei Shi Ming der Titel des Manifestes („Manifest zur Selbstrettung Taiwans“ statt „Manifest der Bewegung zur Selbstrettung Taiwans“) leicht abgeändert wurde. 463
176 6.
7.
8.
Taiwan nach 1947 – der Beginn des Weißen Terrors Taiwan, das faktisch bereits seit 1949 vom Festland getrennt sei, erfülle alle Voraussetzungen für eine Eigenstaatlichkeit. Gemessen an seinem Territorium könne ein unabhängiges Taiwan unter den 30 größten Staaten der Vereinten Nationen eingereiht werden. Das einzige Hindernis für ein fortschrittliches und modernes Taiwan sei die Herrschaft des Chiang Kai-shek. Daher gelte es, alle Bewohner der Insel, unabhängig von ihrem ethnischen und kulturellen Hintergrund, in einem gemeinsamen Kampf zum Sturz des Regimes zu vereinen. Taiwan solle als unabhängiger Staat in den Vereinten Nationen vertreten sein, eine neue Verfassung solle freie Wahlen, Versammlungs- und Redefreiheit, die Unabhängigkeit der Justiz und die grundlegenden Menschenrechte garantieren. Im letzten Punkt wurde der Kampfesmut der Taiwanesen gestärkt: Die Unabhängigkeitsbewegung werde von einer starken Untergrundorganisation getragen, die bereits Kontakte zu Mitstreitern im Ausland unterhalte, auch auf Taiwan selbst gewinne diese Organisation täglich an Kraft. Das Manifest schloss mit einem Symbol, das ein Dreieck über einem Kreis zeigte (die stilisierte Darstellung des Zeichens Tai ਠ für „Taiwan“) und dem Aufruf: „Mitbürger! Der Sieg ist in greifbarer Nähe! Dies ist unser Symbol, vom heutigen Tag an wird es immer öfter an allen möglichen Orten erscheinen. Denkt daran! Wenn ihr dieses Symbol seht, dann ist dies ein Zeichen dafür, dass unsere Organisation rasch wächst […]“464
Beim Druck des Manifestes ergab sich die Schwierigkeit, dass Peng, Xie und Wei nicht über die nötigen Gerätschaften verfügten, um eine Auflage von 20.000 Exemplaren herzustellen. Es war den Beteiligten jedoch bewusst, dass ihnen bei einer Verhaftung die schwersten Strafen drohten. Nach diskreten Erkundigungen gelang es Xie Congmin schließlich, eine kleine Druckerei in einem abgelegenen Stadtviertel von Taipei ausfindig zu machen, deren Besitzer des Lesens unkundig war. Zudem wurde der Drucktermin auf das chinesische Herbstfest gelegt, an dem die Mitarbeiter der Druckerei einen arbeitsfreien Tag hatten. Der Plan schien zunächst aufzugehen: Am Nachmittag des 20.9.1964 wurden die 20.000 fertig gedruckten Exemplare von einem kleinen Hotelzimmer, das als konspirativer Treffpunkt gedient hatte, zu einer vermeintlich sicheren Wohnung transferiert. Kurze Zeit später wurden Peng, Xie und Wei jedoch in dem Hotel von Polizeibeamten überrascht – vermutlich465 hatte ein Kind aus der Nachbarschaft der Druckerei ein Exemplar aus dem Stapel der fertig gedruckten Manifeste entwendet und der Polizei übergeben. Am 2.4.1965 wurden von einem Militärgericht die Urteile gegen die Beteiligten verkündet: Peng Ming464
Dieser frei erfundene Hinweis auf eine „starke Untergrundorganisation“ bereitete den drei Akteuren nach ihrer Verhaftung einiges Ungemach. So schreibt Peng Mingmin: „Our manifesto had boasted that we had popular backing, and a large and growing secret underground organization with branches in every part of Formosa. Unfortunately, this was not quite true; in an attempt at psychological warfare, we had overreached ourselves […] Apparently the security officers actually believed our boast, and demanded to know the details.” Peng Mingmin 1972: 143. 465 Die Beteiligten geben verschiedene Angaben zu den unglücklichen Umständen, die schließlich zu ihrer Verhaftung führten. Peng Mingmin beschreibt, dass der Besitzer der Druckerei selbst die Polizei informiert hätte. In einem Gespräch mit der Zeitschrift Taidu yuekan im September 1974 erinnerte sich Peng mit Verbitterung an diesen „Verrat“. Siehe o.A. 1974b: 5. Xie Congmin erwähnte in einem Interview mit dem Autor hingegen die oben angeführte Version, nach der ein Kind zur Aufdeckung des Falles beitrug. Xie Congmin war in erster Linie mit den praktischen Aspekten des Druckens befasst, daher ist seiner Darstellung in dieser Frage nach Ansicht des Autors der Vorzug zu geben.
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min und Wei Tingchao wurde zu je acht Jahren, Xie Congmin zu zehn Jahren Haft verurteilt. Trotz der Verhaftung der Beteiligten und der Konfiszierung des Manifestes gelangte das „Manifest der Bewegung zur Selbstrettung Taiwans“ auf nicht ganz geklärtem Wege466 ins Ausland und erlangte dort eine enorme Popularität: Bereits wenige Wochen nach dem Vorfall kursierten Nachdrucke in Japan und den USA; am 20.11.66 erschien eine englische Übersetzung in der New York Times (vgl. 5.1.1.). Es lässt sich wohl behaupten, dass das Manifest in den 60er und 70er Jahren zu der wichtigsten Schrift der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung im Ausland avancierte. Im Jahr 1970 erreichte die öffentliche Aufmerksamkeit für den „Peng MingminFall“467 ihren Höhepunkt: Peng, der am 2.11.1965 aus der Haft entlassen und unter Hausarrest gestellt worden war, hatte mit Hilfe von Freunden im Ausland seit 1968 seine Flucht aus Taiwan geplant. Wenngleich er zu diesem Zeitpunkt unter strenger und ständiger Bewachung durch Agenten stand, war es Peng gelungen, seine Bewacher zu täuschen468 und unerkannt ein Flugzeug nach Schweden zu besteigen. Hier erhielt er politisches Asyl und ließ sich schließlich im September 1970 in den Vereinigten Staaten nieder. Auf Grund des Manifestes und seiner spektakulären Flucht wurde Peng in den Vereinigten Staaten zu einer gefeierten Führungspersönlichkeit der jungen Unabhängigkeitsbewegung. Im Jahr 1992 kehrte er schließlich nach Taiwan zurück und wurde im Jahr 1996 bei den ersten freien Präsidentschaftswahlen als Kandidat der Oppositionspartei DPP nominiert. Xie Congmin und Wei Tingchao wurden im September 1969 vorzeitig aus der Haft entlassen. Im Februar 1971 erfolgte jedoch eine erneute Verurteilung zu einer 15jährigen Haftstrafe: Ihnen wurde eine Beteiligung an Bombenattentaten vorgeworfen, die am 5.2. auf eine amerikanische Bankfiliale in Taipei und ein amerikanisches Nachrichtenbüro in Tainan verübt worden waren. 469 Im September 1977 wurden Xie und Wei abermals 466
Nach Angaben von Xie Congmin wurden ursprünglich 20.000 Exemplare des Manifestes gedruckt, bei der Konfiszierung des Materials konnten jedoch nur 19.700 Exemplare aufgefunden werden. Für das Fehlen von 300 Exemplaren habe er keine Erklärung. Bei einem späteren Aufenthalt in Japan sei ihm jedoch ein Nachdruck zur Kenntnis gebracht worden, der einschließlich der Typensetzung vollkommen mit dem Original identisch gewesen sei – was darauf hindeutete, dass die originalen Druckplatten, die sich bis zu seiner Verhaftung in seinem Besitz befunden hatten, ebenfalls entwendet oder kopiert worden waren. Interview mit Xie Congmin am 24.2.04. 467 Aus Sicht des Autors ist die Bezeichnung „Peng Mingmin-Fall“, unter welcher der Vorfall bis heute bekannt ist, nicht ganz zutreffend. Wie beschrieben, ging die Initiative für die Abfassung und Verbreitung des Manifestes in erster Linie von Xie Congmin aus. Hinzu kommt, dass Xie Congmin in wesentlich stärkerem Maße die Konsequenzen der Tat zu tragen hatte. Während Peng Mingmin bereits nach etwas über einem Jahr aus der Haft entlassen und unter Hausarrest gestellt wurde, verbrachte Xie (mit einigen kurzen Unterbrechungen) fast 13 Jahre in Haft. Nach Meinung des Autors wurden die Verdienste des Xie durch die größere Popularität des Peng Mingmin ein wenig überschattet. 468 In seinen Memoiren beschreibt Peng mit einer gewissen Süffisanz, dass seine Flucht zu mehreren Degradierungen und Verhaftungen von Sicherheitsbeamten führte. Die Agenten, die eigentlich für seine Überwachung zuständig waren, hatten noch lange nach seiner Flucht Abrechnungsbelege für kostspielige Hotels und Gaststätten bei ihren vorgesetzten Stellen eingereicht. Erst zwei Wochen nach Pengs Ankunft in Schweden wurde seine Flucht auf Taiwan bemerkt. 469 Li Ao, ein prominenter Regimekritiker, wurde ebenfalls in diesen Fall involviert. Bis heute ist die Täterschaft dieses Anschlages ungeklärt; rückblickend ist es wahrscheinlich, dass das Regime die Urteile gegen Xie und Wei als „Rache“ für die erfolgreiche Flucht des Peng Mingmin verhängte. In einem Gespräch mit dem Autor schilderte Xie Congmin, dass er bereits unmittelbar nach Bekannt werden der Flucht des Peng Mingmin mit einer erneuten Haftstrafe rechnete. „Ich hatte ein feeling, ich wusste, dass ich wieder verhaftet werden würde […] ich wusste nur nicht, unter welchem Vorwand. Ich hatte [in den Monaten vor der zweiten Verhaftung] immer einen gepackten Koffer bereit“. Interview mit Xie Congmin am 27.2.04.
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vorzeitig entlassen. 470 Während sich Wei Tingchao in den Jahren 1978 und 1979 in der Demokratiebewegung engagierte und im Zuge des Meilidao-Vorfalles (vgl. 7.3.) ein drittes Mal verhaftet wurde, 471 hielt sich Xie Congmin in den Jahren nach 1977 von politischen Aktivitäten auf Taiwan fern. Laut Xie war ein solches Engagement auch kaum erwünscht. Als ehemaliger „politischer Häftling“ galt er als Risikofaktor; er sei nach seiner Haftentlassung daher auf viel Furcht gestoßen: Viele Leute rannten davon, wenn sie mich sahen. Wenn man aus dem „kleinen Gefängnis“ kam, landete man im „großen Gefängnis“ – ganz Taiwan wurde zu einem Gefängnis. Bekannte und alte Freunde waren alle nicht mehr gesehen […] Es gab nur sehr wenige [ehemalige] politische Häftlinge, die sich [an Aktionen der Opposition] beteiligten. Shi Mingde, Wei Tingchao – nur sehr wenige.472
Im September 1979, nur wenige Monate vor dem Meilidao-Vorfall, erhielt Xie Congmin die Genehmigung zur Ausreise aus Taiwan. Er ließ sich in den Vereinigten Staaten nieder und wurde vom KMT-Regime auf die „Schwarze Liste“ der unerwünschten Personen gesetzt; am 18.10.1988 gelang ihm im Zuge des „Durchbrechens der Grenzen“ (vgl. 5.4.) die Wiedereinreise nach Taiwan.473 Xie Congmin, der zu Anfang der 90er Jahre als Delegierter der DPP ein Mandat im Legislativ-Yuan innehatte und zum „Berater des Präsidenten“ ernannt wurde, lebt heute in Taipei.
6.2.3 Vergleich der Fälle im Hinblick auf diese Arbeit Rein äußerlich betrachtet, weisen der Free China-Vorfall von 1960 und der Peng MingminVorfall von 1964 zumindest zwei Unterschiede auf, welche die Äußerungen der Akteure jeweils erheblich beeinflussten. Der erste Aspekt bezieht sich auf die Frage der Öffentlichkeit. Die Mitarbeiter der Free China wandten sich in einer Pressepublikation an ihre Leserschaft, die Redakteure waren sich jederzeit bewusst, dass sie für ihre Aussagen zur Verantwortung gezogen werden konnten. Die Akteure des Peng Mingmin-Vorfalles hingegen agierten im Verborgenen und hofften, dem Zugriff des Regimes zu entgehen. Der zweite, vielleicht weniger offensichtliche Aspekt betrifft den ethnischen Hintergrund der Mitwirkenden: Während die Bewegung der Free China vor allem von liberalen Festländern getragen wurde, waren die Akteure des Peng Mingmin-Vorfalles gebürtige Taiwanesen.474 Auch in den Fragestellungen, die im Zentrum der vorliegenden Arbeit stehen, lassen sich deutliche Unterschiede zwischen den beiden Vorfällen aufweisen: Im Gegensatz zu den Beteiligten es Peng Mingmin-Vorfalles hatte sich die Free China – aus innerer Überzeugung, wie vermutet werden darf – niemals für eine Unabhängigkeit Taiwans 470 Nach dem Tod des Chiang Kai-shek 1975 war eine allgemeine Amnestie erlassen worden, daher wurde die zweite Haftstrafe reduziert. 471 Wei Tingchao gehörte jedoch nicht zu den acht Hauptangeklagten des Prozesses, sondern zu den 32 Angeklagten, gegen die am 16.4.1980 ein getrenntes Zivilverfahren eröffnet wurde. Wei wurde am 2.6.1980 zu einer sechsjährigen Haftstrafe verurteilt. 472 Interview mit Xie Congmin am 5.3.04. 473 Vgl o.A. 1988c: 40-45. 474 Wei Tingchao war auf Taiwan geboren und gehörte der ethnischen Minderheit der Hakka an.
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ausgesprochen. In einem Punkt jedoch herrschte Einigkeit: Der 228-Aufstand wurde als Ursprung der latenten Feindschaft zwischen den Volksgruppen auf Taiwan betrachtet; die Beteiligten beider Vorfälle betrachteten es als ihre wichtige Aufgabe, diese Feindschaft rasch beizulegen. 1.
Taiwanesische Unabhängigkeit und Widerstand gegen das KMT-Regime
In der einschlägigen Literatur wird die Free China oftmals als erster Vorbote der DangwaiPeriode beschrieben, einer Oppositionsbewegung, die, flankiert von politischen Zeitschriften, seit Mitte der 70er Jahre auf eine Liberalisierung der politischen Sphäre hinwirkte. Ebenso wie die Free China wandten sich die Akteure dieser späteren Periode couragiert gegen das Unrechtsregime der KMT, die zentralen Forderungen bestanden auch hier in Neuwahlen der nationalen Vertretungsorgane475 und der Gründung einer Oppositionspartei. In dieser späteren Periode, auf die in folgenden Kapiteln noch genauer einzugehen sein wird, lässt sich das Ringen um Demokratisierung nur schwer von dem Eintreten für die staatliche Unabhängigkeit Taiwans trennen. Wenngleich entsprechende Forderungen auf Grund der bestehenden politischen Tabus nur unter großer Vorsicht geäußert werden konnten und sich oftmals in impliziten Andeutungen erschöpfen mussten, empfanden zumindest Teile dieser späteren Dangwai-Bewegung ihren Kampf gegen das KMT-Regime stets auch als ein Ringen für die taiwanesische Unabhängigkeit Für die Free China kann dieser Zusammenhang indes nicht geltend gemacht werden: Es steht außer Zweifel, dass die Free China zu keinem Zeitpunkt eine formelle Loslösung Taiwans vom Festland befürwortete. Im Gegenteil: Wie gezeigt, beruhte die Gründung der Zeitschrift im Jahr 1949 gerade in dem verzweifelten Bemühen, den Kampf gegen den kommunistischen Widersacher mit allen Mitteln zu intensivieren. Das Regime wurde nicht dafür angeprangert, dass es, trotz zweifelhafter Erfolgsaussichten, an einer Rückgewinnung des verlorenen Staatsgebietes festhielt. Kritisiert wurden lediglich die negativen politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Folgen des beständigen Kriegszustandes, die es aus Sicht der Free China zu mildern galt. Die Rückeroberung des Festlandes sollte also keineswegs aufgegeben, sondern nur auf einen günstigeren Zeitpunkt verschoben werden. Ebenso richtete sich der Kampf der Free China nicht gegen den Staat selbst. Durch die Gründung einer Oppositionspartei und die Demokratisierung der politischen Sphäre (zunächst auf lokaler Ebene) sollte das Regime gestärkt und zu neuer Vitalität geführt werden. Zudem beriefen sich die Akteure der Free China in ihrem Tun stets auf die Verfassung der ROC. Es lässt sich daher argumentieren, dass sich die Mitwirkenden der Free ChinaBewegung als die eigentlichen Verteidiger der ursprünglichen demokratischen Institutionen der Republik China und als Wächter der Verfassung verstanden. In dem Manifest des Peng Mingmin, Xie Congmin und Wei Tingchao hingegen wurde ebenso deutlich dargelegt, dass die „Selbstrettung“ Taiwans nur über die Beseitigung des Regimes und die formale staatliche Unabhängigkeit Taiwans verwirklicht werden könne. Unklar hingegen bleibt, inwieweit diese „Beseitigung“ aus Sicht der Verfasser auch 475 Die Free China hatte zwar die Forderung nach Neuwahlen der nationalen Regierungsorgane nicht unmittelbar aufgegriffen. Wie beschrieben, sollte die zu gründende „Demokratische Partei China“ zunächst nur bei lokalen Wahlen antreten. Aus diversen Andeutungen lässt sich jedoch ersehen, dass die Free China mit der Gründung einer Oppositionspartei langfristig durchaus das Ziel der Regierungsübernahme auch auf nationaler Ebene ins Auge gefasst hatte. Siehe o.A. 1960c: 20-21.
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Taiwan nach 1947 – der Beginn des Weißen Terrors
Anwendung von Gewalt einschließen sollte. Wenngleich im Manifest in unmissverständlichen Worten die „Vernichtung der illegalen Herrschaft des Chiang-Regimes“ gefordert wurde, stehen diese martialischen Töne in merkwürdigem Kontrast zu späteren Aussagen der Beteiligten. So sagte Xie Congmin in einem Gespräch mit dem Autor: Es ging uns um Aufklärung, wir wollten zum Nachdenken anregen. Wir hatten also überhaupt nicht an einen Aufstand gedacht […] Wenn einige zehntausend, oder auch nur einige tausend, Exemplare [unseres Manifestes] in der taiwanesischen Gesellschaft kursiert wären, dann hätte auch die KMT [dazu] Stellung beziehen müssen. Ich wollte die KMT zwingen, über die internationale Lage und die Zukunft Taiwans nachzudenken.476
Mit Sicherheit lässt sich jedoch feststellen, dass die „große Untergrundorganisation“, welche die Autoren des Manifestes anführten, ein reines Produkt ihrer Imagination war. Weder von der Free China noch von den drei Beteiligten des Peng Mingmin-Vorfalles wurden jemals irgendwelche praktischen Schritte unternommen, um einen wie auch immer gearteten gewalttätigen Widerstand gegen das Regime zu initiieren. 2.
Der 228-Aufstand und das Verhältnis von Festländern und Taiwanesen
Wie im Vorangegangenen beschrieben, war der 228-Aufstand seit dem Jahr 1950 vollkommen aus der öffentlichen Wahrnehmung Taiwans verbannt worden; jede Nennung des Aufstandes konnte schwere Repressionen des Regimes nach sich ziehen. Die Akteure des Peng Mingmin-Vorfalles, die auf den Schutz der Anonymität hofften, hatten natürlich keine Veranlassung, dieses Tabu zu beachten. Im „Manifest der Bewegung zur Selbstrettung Taiwans“ findet der 228-Aufstand an drei Stellen Erwähnung. Erstaunlich ist jedoch, dass sich auch in der Spätphase der Free China ein Artikel findet, der (in sehr subtiler Weise) an das Tabu des 228-Aufstandes rührte. In dem Beitrag „Taiwanesen und Festländer“ vom Juli 1960 findet sich folgende bemerkenswerte Stelle: Jeder dürfte sich noch daran erinnern, wie begeistert die Taiwanesen in der frühen Phase der Rückkehr Taiwans [zum Festland im Herbst 1945] der Armee aus dem Festland zujubelten, und wie herzlich die Festländer aus allen Schichten der Gesellschaft willkommen geheißen wurden […] Kurz darauf kam es jedoch auf Grund von einigen verfehlten politischen Maßnahmen zu einem Aufstand, der eine tiefe und schmerzliche Wunde riss. Die Taiwanesen und Festländer, die in diesem Aufstand in Mitleidenschaft gezogen wurden, waren in ihrer großen Mehrheit Unschuldige, Unglückliche.477
Nach Kenntnis des Autors ist dies in den Jahren zwischen 1950 und dem Beginn der 80er 478 Jahre die einzige Erwähnung, die der 228-Aufstand überhaupt in einer auf Taiwan erscheinenden Pressepublikation erfuhr. Beim Umgang mit dem 228-Aufstand in den beiden hier behandelten Vorfällen fallen folgende Besonderheiten auf:
476
Interview mit Xie Congmin am 24.2.04. o.A. 1960a: 3. 478 Mit Ausnahme einer ebenfalls sehr vorsichtigen Erwähnung des 228-Aufstandes in der letzten Ausgabe der Zeitschrift Meilidao im Jahr 1979, vgl. 7.4.2.1. 477
Widerstand in Zeiten des Weißen Terrors
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In beiden Fällen wurde darauf verzichtet, dem Leser eine eingehende Erklärung des Terminus beizugeben. Im Falle der Free China, die im Lichte der Öffentlichkeit agierte und deren Redakteure sich für ihre Äußerungen verantworten mussten, ist diese Zurückhaltung verständlich. Auch die Akteure des Peng Mingmin-Vorfalles gingen jedoch offenbar davon aus, dass der „228-Aufstand“ (im Manifest: „228Zwischenfall“) ein allgemein geläufiger Begriff war, der keiner genaueren Erläuterungen bedurfte.479 Bezüglich der Leidtragenden des Aufstandes lässt sich ein Unterschied zwischen den beiden Darstellungen erkennen: Während die Free China, deren maßgebliche Mitglieder Festländer waren, ausdrücklich auch die Opfer unter den Festländern erwähnt, beschreibt das „Manifest“ der gebürtigen Taiwanesen Peng, Xie und Wei den Aufstand ausschließlich als Massaker der KMT-Truppen an den Eliten der gebürtigen Taiwanesen. In beiden Fällen wird jedoch betont, dass die Opfer des Aufstandes, zumindest in ihrer überwiegenden Mehrheit, Unschuldige gewesen seien. Diese Aussage muss ihrerseits als schwerer Vorwurf gegen die „Täter“ des Vorfalles, also die militärische und politische Führung der KMT, gedeutet werden – ein Vorwurf, der im „Manifest“ explizit gemacht wird, der jedoch auch in dem Artikel der Free China anklingt.480 In beiden Fällen wird der 228-Aufstand als Ausgangspunkt einer Entfremdung zwischen den Volksgruppen betrachtet, die bis in die Gegenwart fortwirke und vom KMT-Regime sogar absichtlich vertieft werde.
Diese Entfremdung aber, und das ist der entscheidende Punkt, wurde von beiden Seiten – den Festländern der Free China und den gebürtigen Taiwanesen des Peng MingminVorfalles – als großes Unglück für Taiwan und als Wurzel aller aktuellen Probleme begriffen, beide wollten daher, von verschiedenen Ausgangspunkten, eine Annäherung an die jeweils andere Volksgruppe suchen. Die Erfüllung des jeweiligen Ziels (Demokratisierung bzw. Überwindung des KMT-Regimes) konnte nach Ansicht der Akteure nur über eine Kooperation aller Bewohner Taiwans erreicht werden. Dieser Aufruf an eine allseitige Kooperation und Verständigung zeitigte in der öffentlichen Wahrnehmung auf Taiwan zunächst keine nachweisliche Wirkung. Der Artikel der Free China wurde in der taiwanesischen Presse ignoriert, von irgendwelchen Stellungnah-
479 Hingegen erwähnte Xie Congmin in einem Gespräch mit dem Autor, dass er selbst erst verhältnismäßig spät die genaueren Hintergründe des 228-Aufstandes erfahren habe. In seinen Studentenjahren habe der Aufstand keine große Rolle gespielt: „[In der Universität] hat man sich nur sehr wenig über den 228 [Aufstand] unterhalten. Unsere Generation hatte schon einen [zeitlichen] Abstand. Für mich war das nicht so bedeutungsvoll […] bei uns zu Hause [in Tainan] ist [im 228-Aufstand] auch nicht viel passiert. Unsere Generation hat sich also nicht so viel darüber unterhalten.“ Interview mit Xie Congmin am 23.2.04. 480 An dieser Stelle muss einschränkend darauf hingewiesen werden, dass es rückblickend nicht zu entscheiden ist, welches Vorwissen über den 228-Aufstand die Autoren der Free China bei ihren Lesern voraussetzten und welche Assoziationen jeweils bei Autor und Leser geweckt wurden. Es wäre auch die Interpretation denkbar, dass der Artikel der Free China mit dem (nicht explizit genannten) 228-Aufstand lediglich die Phase zwischen dem 28.2. und 8.3.47 kennzeichnen wollte; den Zeitraum also vom Beginn des Aufstandes bis zum Eintreffen der Armeeverbände vom Festland. Unter diesem Vorzeichen würden die „Opfer“ des Aufstandes lediglich diejenigen Personen bezeichnen, die in der frühen Phase der Unruhen zu Schaden kamen; „Täter“ wären dann die Aufständischen selbst. Diese regimefreundliche Interpretation des Vorfalles findet sich etwa im Jahr 1980 in einer Serie der Zeitschrift Jifeng (vgl. 7.4.2.2.).
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men oder Erwiderungen des Regimes ist dem Autor nichts bekannt.481 Die Beteiligten des Peng Mingmin-Vorfalles hingegen wurden nach ihrer Verhaftung Opfer einer gezielten Rufmordkampagne. So schreibt Peng Mingmin in seinen Erinnerungen: At once every agency of the party began a campaign to misrepresent what we had done and said in our manifesto […] The party spread a version that was the exact reverse of our arguments and statements. For example, we had clearly advocated a sensible cooperation between Formosans and Chinese exiles in an endeavour to strengthen and develop Formosa. The party’s interpretation had it that we had urged that all Chinese be killed or thrown into the sea, or that they should be used as guinea pigs for medical research. Other points were taken up, twisted, and misinterpreted in like fashion […] Behind it lay the government’s very real fear that if a majority of exiles cooperated with a majority of the Formosans, the one-party system would be destroyed and the Generalissimo [Chiang Kai-shek] would be unseated.482
Im Ausland hingegen nahm das Manifest seit Mitte der 60er Jahre einen großen Einfluss auf die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung. Insbesondere in der Debatte über die nationale Identität der Taiwanesen und dem Verhältnis der verschiedenen Volksgruppen zueinander, die zu diesem Zeitpunkt mit Vehemenz geführt wurde (vgl. 4.3.2.4.), kam dem „Manifest der Bewegung zur Selbstrettung Taiwans“ eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu.
481
Allerdings ist es auch möglich, dass der entsprechende Beitrag den Zensurbehörden des Regimes zum Opfer fiel und daher gar nicht erscheinen konnte. 482 Peng Mingmin 1972: 148f.
7 Die frühe Dangwai-Bewegung
Zu Beginn der 70er Jahre wurde das ROC-Regime mit einer Reihe von Krisen konfrontiert, die eine Destabilisierung des Regimes befürchten ließen. Die erste große diplomatische Niederlage erfolgte im so genannten Diaoyutai-Konflikt. Die Diaoyutai (japanisch: Senkaku), eine ca. 120 Seemeilen nordöstlich von Taiwan gelegene Inselgruppe von acht kleinen Inseln, gehörte zu den Territorien, welche die Qing-Dynastie im Vertrag von Shimonoseki 1895 an Japan abgetreten hatte. Nach 1945 wurden die unbewohnten Inseln zunächst unter die Treuhand-Verwaltung der USA gestellt. Sowohl die Volksrepublik China, die ROC auf Taiwan und Japan erhoben in der Folgezeit Herrschaftsansprüche auf die Inseln. Hierbei waren vor allem ökonomische Interessen von Bedeutung: Neben reichen Fischgründen wurden seit Ende der 60er Jahre Erdölvorkommen vermutet. Im August 1970 bekräftigte Japan daher seinen Herrschaftsanspruch und vertrieb mit Booten der Küstenwache chinesische Fischerboote aus den Gewässern. Auf Taiwan führte der Disput um die DiaoyutaiInseln zu einer propagandistisch geschürten Welle der patriotischen Empörung, die naturgemäß eine anti-japanische Spitze hatte. An Universitäten bildete sich eine „Bewegung zum Schutz der Diaoyutai“,483 und in der Zeitschrift Daxue/The Intellectual erschien im April 1971 ein gemeinsamer Aufruf von 93 Gelehrten und Unternehmern, die in aller Schärfe gegen das Vordringen von fremden Mächten in chinesisches Territorium protestierten.484 Für das KMT-Regime war der politische Schaden daher enorm, als die USA 1971 den japanischen Anspruch anerkannten und die Inselgruppe offiziell japanischer Souveränität unterstellten.485 Es hatte sich erwiesen, dass die ROC mit ihrem Alleinvertretungsanspruch über Gesamtchina offenbar nicht in der Lage war, chinesische Interessen international durchzusetzen. Ein weiterer schwerer Schlag für den internationalen Rückhalt des ROC-Regimes erfolgte am 26. Oktober 1971, als die Vollversammlung der Vereinten Nationen den Entschluss fasste, der Volksrepublik China die Gesamtvertretung Chinas in den Vereinten Nationen, inklusive den Sitz im Ständigen Sicherheitsrat, zu übertragen. Das ROC-Regime zog sich daraufhin aus der UNO und allen angeschlossenen Organisationen zurück. In der Folgezeit begann sich nun auch das Verhältnis der Staaten, mit denen die ROC diplomatische Kontakte unterhielt, zu Gunsten der VRCh zu verschieben. Bereits im Jahr 1971 wechselten elf Staaten ihre diplomatische Anerkennung zur VRCh, 1972 folgten 14
483
Bao Diao yundong ؍䠓䙻अ Siehe Li Xiaofeng 1987: 94f. 485 Bis heute ist die Hoheitsgewalt über die Diaoyutai-Inseln umstritten. 1996 flammte der Streit über die Inselgruppe erneut auf, als Japan einen Leuchtturm auf einer der Inseln errichtete. Ein Mitglied einer Aktivistengruppe aus Hongkong kam daraufhin bei dem Versuch ums Leben, die Inseln schwimmend zu erreichen und dort die chinesische Flagge zu hissen. Für einen Überblick über den Diaoyutai-Konflikt siehe Shaw 1999: 2-142. 484
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weitere.486 Es war abzusehen, dass der diplomatische Spielraum der ROC in Zukunft immer mehr schwinden würde. Auch innenpolitisch deuteten sich auf Taiwan Mitte der 70er Jahre große Umbrüche des politischen Systems an. Am 5.4.1975 verstarb Präsident Chiang Kai-shek, am 20.5.1978 folgte dessen Sohn Jiang Jingguo in dieses Amt nach. 487 Für viele Taiwanesen markierte der Tod der langjährigen Führerfigur Chiang Kai-shek das Ende einer Periode, die einerseits durch autoritäre Herrschaft und politische Unterdrückung, andererseits jedoch durch eine Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs und der politischen Stabilität gekennzeichnet war. Die Zukunft des angeschlagenen ROC-Regimes schien ungewiss wie nie zuvor. In Teilen der Gesellschaft machte sich nun jedoch die Hoffnung breit, dass die seit langem überfälligen Reformen der politischen und gesellschaftlichen Ordnung in Angriff genommen würden.
7.1 Beginn der Dangwai-Bewegung Seit Beginn der 70er Jahre zeichneten sich erste Ansätze einer politischen Oppositionsbewegung ab, deren Vertreter sich außerhalb des Parteiapparates der KMT befanden („Außerhalb der Partei“ – Dangwai)488 und die als unabhängige Kandidaten bei Wahlen antraten. Unterstützt und flankiert wurde diese Bewegung von einer Reihe von oppositionellen Zeitschriften, von denen die Taiwan zhenglun489 eine führende Rolle einnahm.
7.1.1 Die politische Opposition in lokalen und nationalen Wahlen In den 70er Jahre wurde das politische System der ROC vollkommen von der faktischen Ein-Parteien-Herrschaft der KMT dominiert. 490 Zwar wurden bereits seit 1956 Wahlen auf den lokalen Ebenen der Kreise und Städte abgehalten, bei denen sich gelegentlich auch unabhängige Kandidaten durchsetzen konnten. Auf Ebene der fünf nationalen Vertretungsorgane491 hingegen verblieben die Delegierten im Amt, die ihr Mandat in den letzten gesamtchinesischen Wahlen im November 1947 errungen hatten. Eine Neuwahl, so wurde 486
Die Bundesrepublik Deutschland nahm 1972 diplomatische Kontakte zur Volksrepublik China auf. Davor hatten keine formalen diplomatischen Beziehungen zu einem der beiden chinesischen Regime bestanden. Es handelte sich also nicht um einen Wechsel der diplomatischen Anerkennung. 487 Nach dem Tod des Chiang Kai-shek wurden die Amtsgeschäfte des Präsidenten für die verbleibende Amtszeit zunächst von Vizepräsident Yan Jiagan übernommen. 488 Dangwai 唘ཆ 489 Taiwan zhenglun ਠ⚓᭯䄆 490 Neben der KMT existierten zwar noch die beiden Splitterparteien „Sozialdemokratische Partei China“ und „Jugendpartei“, deren Gründungen noch aus der Zeit vor dem Rückzug des KMT-Regimes nach Taiwan datierten und die, wie beschrieben, im Free China-Vorfall eine gewisse Rolle gespielt hatten. Zu Beginn der 70er Jahre waren diese Parteien jedoch ohne jeden politischen Einfluss und vollkommen von der KMT dominiert. Zu Ende des Jahres 1979, als die Forderungen nach Gründung einer Oppositionspartei immer lauter wurden, versuchte die KMT sogar selbst, die zu diesem Zeitpunkt vollkommen desorganisierte Jugendpartei erneut zu beleben. Zu diesem Zweck musste der Parteivorsitzende, Herr Li Huang, aus den USA zurück nach Taiwan gebeten werden. Siehe o.A. 1979c: 4-9. 491 Im Gegensatz zu der dreifachen Gewaltenteilung westlicher Demokratien kennt die ROC eine Teilung in die fünf Gewalten Legislativ-Yuan (Lifayuan ・⌅䲒), Exekutiv-Yuan (Xingzhengyuan 㹼᭯䲒), Kontroll-Yuan (Jianchayuan ⴓሏ䲒), Prüfungs-Yuan (Kaoshiyuan 㘳䂖䲒) und Judikativ-Yuan (Sifayuan ਨ⌅䲒).
Beginn der Dangwai-Bewegung
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von der KMT argumentiert, sei erst möglich, wenn ganz China vom kommunistischen Gegner befreit wäre – bis zu dem Zeitpunkt also, da die Rückeroberung des Festlandes durch die erfolgreiche Beendigung des Bürgerkrieges vollbracht sei. Zu Beginn der 70er Jahre stellte sich jedoch, wie vorherzusehen, ein biologisches Problem ein: Zahlreiche Delegierte waren in den vorangegangenen drei Jahrzehnten verstorben oder auf Grund ihres hohen Alters nur noch bedingt in der Lage, an den Sitzungen der Parlamente teilzunehmen. Seit dem Jahr 1969 wurden daher „Ergänzungswahlen“ abgehalten, um die entstandenen Lücken zu schließen und zumindest den Anschein eines funktionsfähigen parlamentarischen Systems zu wahren. Diese Ergänzungswahlen für die Vertretungsorgane Legislativ-Yuan (alle drei Jahre) und Nationalversammlung (alle sechs Jahre) betraf indes nur einen kleinen Teil der Abgeordneten und konnte an den gegebenen Machtverhältnissen nichts ändern. Zudem mussten sich die neu gewählten Delegierten nach Ablauf ihrer Legislaturperiode jedes Mal erneut Wahlen stellen – im Gegensatz zu den Mandatsträgern des Jahres 1947, deren Sitz als sakrosankt galt. Dennoch eröffnete sich nun auch für Politiker der Opposition erstmals ein neuer, wenn auch begrenzter Gestaltungsspielraum auf nationaler Ebene. In den Jahren 1969 bis 1977 fanden mehrere Wahlen auf nationaler und regionaler Ebene statt.492 Hier gelang es der Opposition erstmals, in das politische Establishment des Landes vorzudringen: In ihren Reihen fanden sich nun Delegierte des Legislativ-Yuans wie Huang Shunxing, Zhang Shuzhen und Xu Jiexian, Abgeordnete der Nationalversammlung wie Huang Tianfu und Zhang Chunnan, der Kreisvorsteher von Taoyuan, Xu Xinliang und zahlreiche Delegierte auf Ebene der Provinz sowie der Kreis- und Stadtparlamente. Zu den einflussreichsten oppositionellen Politikern dieser Zeit zählte Kang Ningxiang, der in den folgenden Jahren maßgeblichen Einfluss auf die Oppositionsbewegung Taiwans nehmen sollte. Kang, im ursprünglichen Beruf Tankstellenwart in Taipei, begann seine politische Karriere bei den Wahlen der Stadtabgeordneten von Taipei am 15.11.69, wo sich der bis dahin weitgehend unbekannten Kandidat durchsetzen konnte. Im darauf folgenden Jahr bereiste Kang die USA und stieß dort als populärster Oppositionspolitiker Taiwans auf reges Medieninteresse. Ein strukturelles Problem der Oppositionsbewegung der 70er Jahre bestand jedoch in ihrer Heterogenität. Angesichts des fortbestehenden Verbots der Parteigründung waren die Kandidaten in ihren Wahlkämpfen auf sich allein gestellt, es existierten weder feste organisatorische Strukturen noch eine einheitliche politische Linie. Zwar wurde anlässlich der Wahlen des Stadtparlamentes von Taipei im Jahr 1973 auf Initiative von Kang Ningxiang erstmals der Versuch unternommen, einen Zusammenschluss der Kandidaten außerhalb der KMT zu erzielen: In einer „Gemeinsamen Front der vier Dangwai-Kandidaten“,493der sich neben Kang Ningxiang noch Chen Yirong, Zhang Junhong und Wang Kunhe anschlossen, wurden gemeinsame Wahlveranstaltungen und Redeforen organisiert. Solche Initiativen blieben jedoch Ausnahmeerscheinungen. Der Begriff Dangwai umfasste bis zum Ende der
492
Drei mal wurden in diesem Zeitraum Ergänzungswahlen zu den nationalen Vertretungsorganen abgehalten: 1969, 1972 und 1975. 493 Dangwai si ren lianhe zhenxian 唘ཆഋӪ㚟ਸ䲓㐊. Laut Peng Linsong wurde hier erstmals in einem Wahlkampf der Begriff „Dangwai“ zur Bezeichnung von Politikern außerhalb der KMT verwendet. Siehe Peng Linsong 2003: 3.
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Die frühe Dangwai-Bewegung
70er Jahre unterscheidungslos alle politischen Kräfte außerhalb der KMT, die sich aus den unterschiedlichsten Lagern rekrutierten:494 1.
2.
3.
4.
Erstens waren dies „abtrünnige“ Mitglieder der KMT, die sich aus Enttäuschung oder unerfülltem persönlichen Ehrgeiz von der Partei losgesagt hatten und in ihrer weiteren politischen Karriere oftmals führende Positionen in der Dangwai einnahmen. Dies gilt etwa für Zhang Junhong und Xu Xinliang. Zweitens erfahrene Politiker mit einer starken lokalen Machtbasis, wie etwa Yu Dengfa, deren politische Hausmacht oft aus unübersichtlichen Geflechten von persönlichen Kontakten und lokalen Allianzen bestand. Drittens junge Intellektuelle, die aus dem journalistischen Bereich zur Politik gefunden hatten. Besonders gilt dies für die Zeitschrift Daxue/The Intellectual:495 Zu Beginn der 70er Jahre wurde diese Zeitschrift zu einem Sammelbecken von progressiven Kräften, die in den Jahren 1972 und 1973 in einen kritischen Dialog mit der Regierung traten. Zu den Mitarbeitern zählten etwa die späteren Dangwai-Aktivisten Chen Shaoting, Chen Guying und Huang Tianfu. Viertens schließlich junge Intellektuelle, die oftmals an der taiwanesischen EliteUniversität National Taiwan University in den Fächern Jura oder Politikwissenschaft einen akademischen Abschluss erhalten und einen Teil ihres Studiums im Ausland absolviert hatten. Dies gilt etwa für Lü Xiulian und Chen Wanzhen.
Seit Mitte der 70er Jahre wurden die Anstrengungen intensiviert, der Oppositionsbewegung durch ein gemeinsames Presseorgan zu einer größeren Geschlossenheit zu verhelfen. Von besonderer Bedeutung war hierbei die Zeitschrift Taiwan zhenglun/Taiwan Political Review.
7.1.2 Die Opposition und der Beginn der Dangwai-Zeitschriften: Die Taiwan zhenglun Die Gründung der Zeitschrift Taiwan zhenglun erfolgte im Frühjahr 1975. Eine Gruppe von oppositionellen Politikern um Kang Ningxiang (Verlagsvorsitzender), Huang Xinjie (Herausgeber) und Zhang Junhong (Chefredakteur) verfolgte mit der Gründung der Zeitschrift das erklärte Ziel, der Oppositionsbewegung zu einem höheren Maß an Homogenität zu verhelfen. Weitere wichtige Mitarbeiter der Zeitschrift waren Yao Jiawen, der als Jurist die rechtliche Beratung der Zeitschrift übernahm, und Huang Hua, der als erklärter 494
Diese Unterteilung soll lediglich einen ungefähren Eindruck von der Diversität der Dangwai vermitteln und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Zudem gab es Überschneidungen: Unter den führenden Mitgliedern der Zeitschrift Daxue fanden sich auch die ehemaligen KMT-Mitglieder Xu Xinliang (der unter dem Pseudonym Xu Renzhen schrieb) und Zhang Junhong (Pseudonym Zhang Jinghan). 495 Die Zeitschrift Daxue, gegründet im Januar 1968, beschäftigte sich ursprünglich mit kulturellen Themen. Zum Jahreswechsel 1970/71 vollzog sich jedoch ein Umbruch in der Redaktion: Xu Xinliang, Wang Xiaobo, Chen Guying und andere politisch engagierte junge Intellektuelle übernahmen die redaktionelle Führung der Zeitschrift und berichteten in den folgenden zwei Jahren in oftmals sehr kritischen Berichten über politische Missstände des ROC-Regimes. Diese „politische“ Phase der Zeitschrift wurde vom KMT-Regime zunächst gefördert. Laut Li Xiaofeng bereitete sich Jiang Jingguo zu diesem Zeitpunkt auf die politische Nachfolge seines Vaters vor, daher sei es für ihn politisch opportun gewesen, junge Intellektuelle an die KMT zu binden und dafür auch in engen Grenzen Kritik an politischen Zuständen zuzulassen. Zu Beginn des Jahres 1973, als Jiang Jingguo seine Macht konsolidiert habe, sei daher auch der politische Einfluss der Daxue rasch erloschen. Siehe Li Xiaofeng 1987: 104ff.
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Regimekritiker bereits mehrere Jahre in Haft verbracht hatte und erst wenige Monate zuvor auf Bewährung entlassen worden war.496 Die Taiwan zhenglun verdient aus drei Gründen besondere Beachtung: 1.
2.
3.
Erstmals seit dem Jahr 1960, als Lei Zhen und die Zeitschrift Free China mit ihrem Versuch der Gründung einer Oppositionspartei scheiterten, wurde hier ein erneuter Anlauf unternommen, ein dauerhaftes Forum für politisch abweichende Meinungen zu schaffen. Trotz ihrer kurzen Erscheinungszeit (die Taiwan zhenglun wurde nach nur fünf Ausgaben verboten) wurde hier zudem ein Vorbild für alle folgenden DangwaiZeitschriften der späten 70er und 80er Jahre gesetzt. Die stürmische Dangwai-Periode, die einen immens wichtigen Zeitabschnitt in der Demokratisierung Taiwans darstellt und die schließlich im Jahr 1986 zur Gründung der DPP führte, nahm hier ihren Anfang. Im Gegensatz zur Free China-Periode fanden sich in den Reihen der Taiwan zhenglun aktive Politiker, die zum Teil Mandate (in der Mehrzahl auf lokaler Ebene) innehatten. Während sich in der Free China in erster Linie liberale Intellektuelle gesammelt hatten, die über keine praktische politische Erfahrung verfügten, bestand die große Leistung der Taiwan zhenglun darin, erstmals einen Brückenschlag zwischen liberalen Intellektuellen (meist aus dem journalistischen und juristischen Bereich) und Oppositionspolitikern herzustellen. Dies lässt sich auch in den Inhalten der Taiwan zhenglun ablesen: Erstmals standen nun auch pragmatische politische Probleme, und insbesondere der Wahlkampf von 1975, im Vordergrund der Berichterstattung. Während die Mitarbeiter der Free China fast ausnahmslos aus regimekritischen Intellektuellen bestand, die der KMT vom Festland nach Taiwan gefolgt waren, sammelten sich im Umfeld der Taiwan zhenglun erstmals politische Akteure, die auf Taiwan geboren waren. Diesem Umstand wurde in der späteren Dangwai-Periode eine große Bedeutung zugemessen: Zum ersten Mal hätten gebürtige Taiwanesen in einem von Festländern dominierten politischen System eine eigene Stimme gefunden.
Die Gründung der Taiwan zhenglun im August 1975 stand ganz im Zeichen der veränderten außen- und innenpolitischen Rahmenbedingungen der ROC. Wie eingangs erwähnt, hatte das ROC-Regime zu Beginn der 70er Jahre durch eine Reihe von diplomatischen Rückschlägen eine bedenkliche Destabilisierung erfahren. In der Erstausgabe der Zeitschrift verglich Zhang Junhong die Situation Taiwans mit einem leckgeschlagenen Schiff, das in einem tosenden Meer treibt.497 Es sei daher dringend geboten, den politischen Dialog 496
Zwischen Dezember 1963 und Juli 1975 war Huang Hua insgesamt acht Jahre inhaftiert. Beginnend mit der zweiten Ausgabe der Taiwan zhenglun schrieb er als „Vorzeitig Entlassener Häftling“ (Jianxingren ࡁӪ für jede Ausgabe einen Artikel, die sicher zu den beeindruckenden Beiträgen der Zeitschrift gehören. Huang war sich offensichtlich der Gefahr bewusst, in die er sich durch seine erneute politische Tätigkeit begab. Dennoch scheute er sich nicht, Probleme der Gesellschaft mutig anzusprechen. Nach dem Verbot der Zeitschrift im Dezember 1975 wurde Huang Hua im Juli 1976 erneut verhaftet und zu einer zehnjährigen Haftstrafe verurteilt – angeblich, weil er einen Sturz der Regierung vorbereitet habe. Nach seiner Entlassung am 20.5.1987 engagierte sich Huang Hua erneut in der politischen Opposition und wurde von der DPP im Mai 1990 als „Präsidentschaftskandidat“ nominiert – gegen die Bestimmungen des damals gültigen Wahlgesetzes. Im Dezember 1990 wurde er erneut zu einer zehnjährigen Haftstrafe verurteilt und schließlich am 18. Mai 1992 von Präsident Li Denghui begnadigt. 497 Siehe Zhang Jinghan 1975a: 8-13.
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zwischen Regierung und Volk zu vertiefen und gemeinsam Lösungen anzustreben. Dies aber habe zur Voraussetzung, dass eine Liberalisierung der politischen Sphäre erfolgen müsse. Die faktische Ein-Parteien-Herrschaft der KMT, die sich in den er-starrten Formen des „ewigen Parlamentes“ manifestierte, wurde in einer aus heutiger Sicht erstaunlichen Offenheit angegriffen. So schrieb Wang Chunfeng zu dem Problem der überwältigenden politischen Dominanz der KMT: Zwar sei es in einem demokratischen System für jede politische Partei das natürliche Streben, ihre politische Macht auszubauen. Jedoch: […] wir dürfen dabei einen Punkt nicht übersehen, und das ist, auf welchem Weg [eine Partei] ihre politische Macht erlangt. Wenn sie mit Haken und Ösen kämpft, um ihren politischen Einfluss zu erweitern, dann ist dies nicht ein normales Phänomen, sondern ein Verbrechen und ein Fehler. Ich habe auch nichts dagegen, wenn ein Individuum seine ganze Kraft einsetzt, um Geld zu verdienen. Aber wenn dieser Verdienst über Spielhallen, Drogenhandel und Prostitution erzielt wird, dann ist dies ein Verbrechen und ein Fehler. Wenn sich eine politische Partei nicht dem fairen Wettbewerb aussetzt und über ein gesetzmäßiges Verfahren die Unterstützung des Volkes erwirbt, dann muss man ihre Macht genauso verneinen. 498
Ein weiteres wichtiges Thema der Taiwan zhenglun war die Forderung nach Wahrung der Menschenrechte. Diese konnten indes zu diesem relativ frühen Zeitpunkt nur indirekt und in großer Vorsicht angemahnt werden. So beschrieb etwa Huang Hua, wie er selbst unschuldig in die Fänge der Polizeiorgane geraten sei, und brachte seine Verzweiflung über die Hilflosigkeit angesichts einer politisch motivierten Strafverfolgung zum Ausdruck: Auch heute gilt: Selbst, wenn Huang Hua keine Gesetze übertreten hat, aber die KMT steif und fest behauptet, er habe gesetzeswidrig gehandelt und ihn wieder festnehmen will, ihn noch mal für elf oder zwölf Jahre einsperren oder sogar erschießen will, was kann er dann schon tun? Es ist schon so: Wenn die KMT unbedingt Huang Hua schnappen will, kann er überhaupt nichts dagegen machen. Und das gilt nicht nur für Huang Hua, sondern auch für Huang Xinjie oder Kang Ningxiang – was könnten die schon tun? 499
In deutlicheren Worten wurde die mangelnde Freiheit der Presse beklagt – ein Thema, das sich auch in der späteren Dangwai-Periode immer wieder findet. Eine unabhängige und freie Presse, so wurde argumentiert, sei die Basis jedes demokratischen Systems. Eine Pressezensur hingegen würde dem Ansehen Taiwans im Ausland schaden, zudem würde der Staat in seinem Inneren geschädigt: Der Staat gehört allen Bürgern, die Regierung ist nur die Dienerin des Volkes. Jeder Steuerzahler hat ein Recht darauf, dass die Diener ihre Pflicht gewissenhaft erfüllen. Er hat das Recht, die Regierung zu kritisieren, das darf nicht als „Schädigung des Staates“ angesehen werden. Im Gegenteil: Beamte, welche die Medien dabei behindern, Probleme aufzuzeigen und den Volkswillen widerzuspiegeln; öffentliche Diener, die Fehler machen und diese auch noch verschleiern wollen – das sind die Leute, die in Wahrheit dem Staat schaden. 500
In der letzten Phase ihres kurzen Bestehens stand die Taiwan zhenglun immer mehr im Zeichen der Ergänzungswahlen zum Legislativ-Yuan im Dezember 1975. Insbesondere in 498
Wang Chunfeng 1975: 21. Huang Hua 1975a: 13. 500 Zhuang Boshi 1975: 22f. 499
Die Oppositionsbewegung verfestigt sich zur Massenbewegung
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den letzten zwei Ausgaben (November, Dezember 1975) lässt sich eine Radikalisierung der Sprache feststellen, die zum Verbot der Zeitschrift beigetragen haben dürfte. Die KMT, die über ihren erdrückenden Parteiapparat die Wahl dominierte und deren Kandidaten meist mit überwältigender Mehrheit gewählt wurden, wurde offen des Wahlbetruges bezichtigt. 501 Zudem seien die Wahlen auf Taiwan nicht mit denen anderer demokratischer Staaten zu vergleichen. Die Mehrheit der Delegierten stand als „Abgeordnete auf Lebenszeit“ nicht zur Disposition. In diesen Ergänzungswahlen kann das Volk nur unter 21 Kandidaten 502 der Region [Taiwan] auswählen, das sind lediglich 1/20 der gesamten Parlamentarier […] Zudem hat die KMT den Willen und die Macht, alle ihre Kandidaten durchzusetzen. Das Volk wählt daher streng genommen „Parteivertreter“, und keine „Volksvertreter“. Die restlichen Volksvertreter, die man dem Volk zur freien Wahl lässt, sind lediglich sechs Leute, das ist 1/90 der gesamten Sitze im Legislativ-Yuan […] Wenn man dem Volk nicht einmal mehr ein Minimum an Wahlrecht und Bestimmungsrecht zugesteht, dann wird es Vertrauen und Interesse in dieses Wahlsystem verlieren, und das apathische und hilflose Herz des Volkes wird sich immer mehr entfernen.503
Das Verbot der Taiwan zhenglun im Dezember 1975 erfolgte offiziell wegen eines umstrittenen Beitrages von Qiu Chuiliang, 504 sicher war jedoch ausschlaggebend, dass sich die Zeitschrift in ihrer Berichterstattung zu weit über die Grenzen des Erlaubten vorgewagt hatte. Das Verbot sorgte für internationales Aufsehen, daher wurden die verantwortlichen Redakteure in ihrer Mehrzahl nicht strafrechtlich verfolgt. 505 Kang Ningxiang, Zhang Junhong und Xin Wenjie war es zudem gelungen, in den Dezemberwahlen Mandate zu erringen. Ihre Stellung als gewählte Volksrepräsentanten verlieh ihnen zusätzlichen Schutz vor strafrechtlicher Verfolgung.
7.2 Die Oppositionsbewegung verfestigt sich zur Massenbewegung In den zwei Jahren zwischen 1977 bis 1979 unterlief die Oppositionsbewegung auf Taiwan drei wichtige Entwicklungen: 1.
Mit dem Zhongli-Vorfall und dem Qiaotou-Marsch entstanden erstmals seit dem 228Aufstand Volksbewegungen, die sich offen gegen das Regime der KMT stellten.
501 So schrieb etwa Zhang Jince unter dem Pseudonym Jin Wenji: „Viele Leute fragen sich, warum sie überhaupt noch wählen sollen. Wer gewählt wird oder nicht, einschließlich [der Frage] wer wie viele Stimmen erhält, wurde doch längst schon vorher entschieden.“ Jin Wenji 1975: 17. 502 Insgesamt wurden 51 Kandidaten neu gewählt. 30 dieser Sitze gingen jedoch nach festen Quoten an politische Organisationen und Auslandschinesen. 503 Zhang Jinghan 1975b: 11. 504 Qiu lehrte zu diesem Zeitpunkt in Australien und konnte daher nicht strafrechtlich verfolgt werden. In seinem Beitrag hatte er ein Treffen mit einem taiwanesischen Landsmann, einem überzeugten Kommunisten, beschrieben. Dieser habe ihm gegenüber geäußert, dass es für Taiwan nur zwei Möglichkeiten gebe: Gewaltsamer Aufstand gegen die Herrschaft der KMT oder rasche Wiedervereinigung mit dem Festland. Dieses Zitat wurde von den KMT-Behörden als „Propaganda für den Feind“ und „Aufruf zum Sturz der Regierung“ ausgelegt. Siehe Qiu Chuiliang 1975: 31ff. 505 Wie bereits beschrieben, wurde Huang Hua erneut für zehn Jahre inhaftiert. Zhang Jince wurde unter dem Verdacht der Korruption angeklagt, ihm gelang jedoch die Flucht in die USA. Vgl. Peng Linsong 2003: 16; Zhuang Yingcun 1985a: 36-41.
190 2.
3.
Die frühe Dangwai-Bewegung Die Aktivisten der Meilidao setzten sich ab 1979 an die Spitze dieser Bewegung. In ihrem straffen, Inselumspannenden Netz von „Verlagsbüros“ wurden zum ersten Mal deutliche Ansätze einer Oppositionspartei sichtbar. Innerhalb der Dangwai-Bewegung deutete sich eine Spannung zwischen radikalen und moderaten Kräften an, die in der Meilidao bzw. Bashi niandai ihren jeweiligen journalistischen Ausdruck fanden.
7.2.1 Widerstand der Massen gegen die KMT – der Zhongli-Vorfall 1977 Im November 1977 wurden auf Taiwan fünf Wahlen auf lokaler Ebene abgehalten. In diesen bislang größten Wahlen der taiwanesischen Geschichte stand ins-besondere Xu Xinliang, der sich um das Amt des Kreisvorstehers von Taoyuan bewarb, im Zentrum des allgemeinen Interesses.506 Xu, ursprünglich Mitglied der KMT, hatte sich in der Vergangenheit in seiner Eigenschaft als Provinzabgeordneter als äußerst unbequemes Parteimitglied erwiesen. 507 Bei der Wahl zum Kreisvorsteher von Taoyuan verweigerte ihm die KMT daher die die Nominierung. Daraufhin erklärte Xu seinen Austritt aus der KMT und trat als unabhängiger Kandidat an, sein Wahlkampf wurde von zahlreichen Mitgliedern der Dangwai unterstützt. Am 19.11., dem Tag der Stimmenauszählung, kam es zum so genannten ZhongliVorfall: In dem kleinen Städtchen Zhongli, im Kreis Taoyuan gelegen, verbreitete sich das Gerücht eines Wahlbetruges der KMT.508 Das Polizeiquartier von Zhongli wurde daraufhin von einer großen Menschenmenge eingekreist, die eine unabhängige Überprüfung der Stimmauszählung forderte. Als die Wahlverantwortlichen bis zum Abend keine Reaktion zeigten, entlud sich die angeheizte Stimmung in gewalttätigen Ausschreitungen: Die Polizeistation wurde niedergebrannt, mehrere umliegende Gebäude und Polizeifahrzeuge beschädigt. In Zusammenstößen mit der Polizei wurden zwei Jugendliche getötet. 509 Ungeachtet dieses Vorfalles konnte Xu Xinliang die Wahl mit großer Stimmenmehrheit für sich entscheiden. Der Zhongli-Vorfall markierte eine wichtige Zäsur in der Geschichte der Oppositionsbewegung: Während sich der Widerstand gegen das KMT-Regime bislang auf den journalistischen und politischen Bereich beschränkt hatte, waren hier erstmals große Menschenmassen beteiligt, deren gewalttätige Proteste an die Ausmaße eines Volksaufstandes grenzten. Es sollte betont werden, dass dieser Vorfall nicht von der Opposition gesteuert
506 Dem Kreis Taoyuan kam in mehrfacher Hinsicht eine besondere Bedeutung zu. Hier befand sich der Internationale Flughafen Taiwans, der Chiang Kai-shek International Airport, zudem war Taoyuan Sitz der Ersten Heeresgruppe der Streitkräfte. Von besonderer Bedeutung für die KMT mag auch gewesen sein, dass sich die Grabstätte des Chiang Kai-shek im Kreis Taoyuan (Zizhu) befand. 507 Im März 1977 veröffentlichte Xu das Buch „Die Stimme des Windes“ (Yufeng zhi sheng 䴘付ѻ㚢), in dem er über seine politischen Erfahrungen berichtete und einige „Kollegen“ der KMT zum Teil scharf angriff. 508 Über den Vorfall wurde am nächsten Tag in allen großen Zeitungen ausführlich berichtet. Es konnte jedoch nie geklärt werden, was der genaue Auslöser der Unruhen war. Angeblich wollte der Verantwortliche des Wahlbüros zwei älteren Herrschaften bei ihrer Stimmabgabe „behilflich sein“, dies wurde von Umstehenden als unlautere Einmischung in die Stimmabgabe interpretiert. Vgl. Chen Yixin 1977: 14f. 509 Die Leichen der beiden 19jährigen Jugendlichen Jiang Wenguo und Zhang Zhiping wurden unmittelbar nach dem Vorfall eingeäschert, die Todesursachen konnten daher nicht ermittelt werden. Angeblich wurden sie unglücklich von Tränengas-Geschossen der Polizeikräfte getroffen. Siehe Chen Bisheng 1984: 14.
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wurde,510 sondern sich als spontane Unmutsäußerung entlud. Jedoch wurde nun auch von Teilen der Oppositionsbewegung die Masse des Volkes als Basis für politisches Handeln entdeckt. Ein Teil der moderaten politischen Opposition wollte diesen Wandel hin zu einer populären Volksbewegung jedoch nicht mitvollziehen, die politische Opposition spaltete sich daher in Vertreter eines „Weges durch die Parlamente“ und eines „Weges der Massen“. Diese Spaltung, die sich seit dem Ende der 70er Jahre andeutete, sollte sich jedoch erst in der zweiten Phase der Dangwai-Bewegung in den 80er Jahren manifestieren.
7.2.2 Der Yu Dengfa-Vorfall und der Qiaotou-Marsch Für den Dezember des Jahres 1978 waren in Taiwan erneut Ergänzungswahlen für den Legislativ-Yuan anberaumt. Im Wahlkampf präsentierte sich die Opposition so stark wie nie zuvor: Mit Lü Xiulian, Yao Jiawen, Chen Guying, Huang Huangxiong, Zhang Dejun, Chen Wanzhen und Wang Tuo war die Bewegung um zahlreiche populäre Politiker und Intellektuelle verstärkt worden. Im Zuge des Zhongli-Vorfalles war die Opposition in das Zentrum des öffentlichen Interesses gerückt und hatte bereits in den lokalen Wahlen des Jahres 1977 beachtliche Zugewinne verzeichnen können. Die Dangwai war nun getragen von der Hoffnung, diese Tendenz auch in den kommenden nationalen Wahlen fortzusetzen – wofür es jedoch unabdingbar war, ein geschlossenes Auftreten der Opposition zu erreichen. Zu diesem Zweck wurde im Herbst des Jahres 1978 die „Gruppe zur Wahlunterstützung der Dangwai-Kandidaten“511 gegründet. Diese Gruppe um Huang Xinjie, Shi Mingde und Chen Ju wollte unabhängige Kandidaten in gemeinsamen Redeveranstaltungen zusammenführen, zudem veröffentlichte die Dangwai nun erstmals gemeinsame politische Forderungen. Diese zwölf „konstruktiven politischen Vorschläge“ wurden am 5.12.78 auf einer Pressekonferenz vorgestellt, darunter fanden sich Forderungen wie die Abschaffung des Kriegsrechtes, komplette Neuwahlen der nationalen Vertretungsorgane, Liberalisierung der Presse, Aufhebung des Parteienverbotes, Unabhängigkeit der Justiz, Freilassung der politischen Gefangenen und Wahrung der Menschenrechte. 512 Der Forderungskatalog wurde von über 70 Unterstützern der Dangwai unterzeichnet. Gleichzeitig bahnte sich jedoch erstmals eine Spaltung innerhalb der Dangwai an. Teile der Bewegung hatten sich vom langjährigen moderaten Zentrum der Opposition, das sich um Kang Ningxiang formiert hatte, entfernt und suchten nun nach einer neuen repräsentativen Identifikationsfigur. Hierbei verfiel man auf Yu Dengfa, der das Amt des Kreisvorsitzenden von Gaoxiong ausübte und in Südtaiwan über eine beträchtliche Machtbasis
510 Der vermutete Wahlbetrug wurde von dem Zahnarzt Qiu Yibin aufgedeckt, der im Wahlkampfteam des Xu Xinliang tätig war. Qiu nahm jedoch keinen Einfluss auf die weiteren gewaltsamen Vorgänge; im Rahmen des Zhongli-Vorfalles wurde Qiu auch nicht strafrechtlich belangt. Allerdings wurde er zwei Jahre später im Zuge des Meilidao-Vorfalls verhaftet. Dies wurde von einigen politischen Beobachtern als „späte Rache“ der KMT gewertet. Auf internationalen Druck wurde Qiu Yibin am 12.2.1980 aus der Untersuchungshaft entlassen. Vgl. Lü Xiulian 1997: 38, 268f. 511 Taiwan Dangwai renshi zhuxuantuan ਠ⚓唘ཆӪ༛ࣙ䚨ൈ. Um juristische Bedenken auszuräumen, wurde die Gruppe offiziell dem Büro des Dangwai-Kandidaten Yang Qingchu angegliedert, der als Gewerkschaftsvertreter kandidierte. 512 Siehe Lü Xiulian 1997: 41f.
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verfügte. Yu zählte zu diesem Zeitpunkt jedoch bereits 75 Jahre, darüber hinaus wurden ihm Verbindungen zur Unterwelt nachgesagt.513 Am Morgen des 16.12.78 wurde bekannt, dass die Vereinigten Staaten zum Jahreswechsel diplomatische Kontakte zur Volksrepublik China aufnehmen würden. Angesichts dieser außenpolitischen Krise erklärte Präsident Jiang Jingguo, die für den 23.12. anberaumten Wahlen „auf unbestimmte Zeit“ zu verschieben. Für die Dangwai, die sich mit großem Einsatz auf die Wahl vorbereitet und beträchtliche Stimmengewinne erhofft hatte, bedeutete dies einen schweren Rückschlag. Die Opposition hatte (angeblich durch eine Indiskretion in der US-amerikanischen Vertretung) bereits einige Stunden vor der offiziellen Verlautbarung von dieser Entwicklung erfahren und berief umgehend eine Versammlung der „Gruppe zur Wahlunterstützung der Dangwai-Kandidaten“ ein. Bereits um sieben Uhr morgens wurde eine erste Erklärung der Gruppe an die Presse getragen: Zunächst erklärten alle oppositionellen Kandidaten die sofortige Einstellung des Wahlkampfes und appellierten an die USA, auch weiterhin für die Sicherheit Taiwans Sorge zu tragen; das Volk wurde zur Ruhe und Besonnenheit aufgerufen. Zugleich appellierte die Dangwai jedoch an die KMT: Der Abbruch der diplomatischen Kontakte zu den USA habe keinen direkten Einfluss auf den Wahlvorgang; die einzige Möglichkeit, in dieser Krise Ruhe und Unerschütterlichkeit zu demonstrieren, sei das Festhalten an rechtsstaatlichen Prinzipien und die rasche Wiederaufnahme des Wahlkampfes.514 Dennoch überwog innerhalb der Dangwai die Enttäuschung. Der KMT wurde vorgeworfen, aus Furcht vor den zu erwartenden Stimmeneinbußen einen Vorwand für den Abbruch der Wahlen zu suchen. Am 25.12.78, dem „Tag der Verfassung“, versammelten sich führende Vertreter der Dangwai im Hauptquartier der „Gruppe zur Wahlunterstützung der Dangwai-Kandidaten“ und veröffentlichten eine „Erklärung der Dangwai zur Lage der Nation“. Erneut wurden in zehn Punkten die wichtigsten politischen Forderungen der Opposition zusammengefasst, der Text schloss mit der Feststellung, dass nur die 17 Millionen Taiwanesen über die Zukunft des Landes bestimmen könnten.515 Um ihrerseits ein kämpferisches Zeichen zu setzen, kündigte die Oppositionsbewegung für Ende Januar eine Kundgebung in Gaoxiong an, die als „Geburtstagsfeier“ für Yu Dengfa ausgegeben werden sollte und zu der sich über 1000 Teilnehmer angekündigt hatten. Bevor dieser Plan jedoch in die Tat umgesetzt werden konnte, wurden Yu Dengfa und dessen Sohn Yu Ruiyan am 21.1.79 verhaftet. Yu Dengfa und Yu Ruiyan, so die Anklage, hätten gemeinsam mit dem kommunistischen Spion Wu Tai’an 516 einen Umsturz der Regierung geplant. Wu wurde am 16.4. zum Tode verurteilt und am 28.5.79 hingerichtet. Am selben Tag erfolgte in zweiter Instanz das Urteil gegen Yu Dengfa (acht Jahre Freiheitsentzug) und Yu Ruiyan (ein Jahr).517 513 Li Xiaofeng bezeichnet Yu Dengfa als ein „Mafia-Oberhaupt“ (heipai shounao 唁⍮俆㞖). Siehe Li Xiaofeng 1999: 109ff. 514 Siehe Huang Xinjie et al 1978a: 164 f. 515 Siehe Huang Xinjie et al 1978b: 166ff. 516 Wu Tai’an (eigentlicher Name Wu Chunfa) war zu Beginn der 70er Jahre nach Tokio emigriert, um in Taiwan einem Verfahren wegen Betruges zu entgehen. Dort, so die Anklage, sei er mit der Botschaft der VRCh in Verbindung getreten und habe Instruktionen erhalten, auf Taiwan einen Volksaufstand zu entfachen. Zu Beginn des Jahres 1978 kehrte Wu, der in den Kreisen der Dangwai bis zu diesem Zeitpunkt vollkommen unbekannt war, nach Taiwan zurück und belastete nach seiner Festnahme Yu Dengfa schwer. Die Verurteilung von Yu Dengfa erfolgte letztlich nur auf Grund der Aussagen von Wu Tai’an. 517 Im Umfeld der Meilidao-Prozesse wurde Yu Dengfa im Frühjahr 1980 zu „medizinischer Behandlung“ vorzeitig aus der Haft entlassen. Am 13.9.1989 wurde er leblos und mit schweren Kopfverletzungen in seinem Haus
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Bereits am Tag nach der Verhaftung (22.1.) reagierte die Dangwai in einer ersten Stellungnahme: In einer „Mitteilung an die ganze Nation bezüglich der Verhaftung von Vater und Sohn Yu“ wurde das Vorgehen der KMT scharf verurteilt. Zudem versammelten sich am Nachmittag etwa 30 Sympathisanten der Dangwai, um in dem Städtchen Qiaotou (Kreis Gaoxiong), dem Heimatort von Yu Dengfa, gegen dessen Verhaftung zu protestieren. Die Demonstranten waren sich der Gefährlichkeit dieses Unterfangens durchaus bewusst und rechneten mit Unterdrückungsmaßnahmen seitens der Polizeikräfte. So schrieb Linda Arrigo, die an dem Demonstrationszug teilnahm: The Chiaotou [Qiaotou] March […], the dangwai’s lightning response to the government attack, took their resistance to crucial public exposure. Many of those traveling to Kaohsiung [Gaoxiong] early on that morning had written their wills and expected to meet machine guns. […] At the scene on January 22, agents with cameras were quickly deployed to the rooftops to record every move of the thirty marchers, but the government did not seem set for immediate violence. We do not know if it was hesitant to draw unfavorable publicity in Washington, or domestically. The march was a small item in the newspaper, but word-of-mouth spread like wildfire and drew hundreds, then thousands, to following protests.518
Obwohl die Anzahl der Teilnehmer relativ gering war und der Demonstrationszug in seiner Friedfertigkeit nicht mit dem spektakulären Vorfall von Zhongli verglichen werden kann, bestand doch ein wichtiger Unterschied zwischen den beiden Ereignissen: Während sich in Zhongli eine Menschenmenge spontan gegen eine vermutete Ungerechtigkeit erhoben hatte, wurde nun, zum ersten Mal seit dem 228-Aufstand und in offenem Bruch zum geltenden Kriegsrecht, eine öffentliche, geplante Demonstration gegen das KMT-Regime abgehalten. Joshua Tin, der in den 80er Jahren in der Unabhängigkeitsbewegung in den USA aktiv war, vertrat in einem Gespräch mit dem Autor die Ansicht, dass der Qiaotou-Marsch daher in seiner Bedeutung für die spätere Entwicklung der Dangwai-Bewegung noch höher einzuschätzen sei als der berühmte „Meilidao-Vorfall“ im Dezember desselben Jahres.519 Auch Linda Arrigo schrieb über die Bedeutung des Qiaotou-Marsches: In my account, the [Q]iaotou March was the pivotal showdown in the breakthrough of the democratic movement organization to confrontation with the regime under public witness, much more so than the later events that continued to the founding of Formosa [Meilidao] Magazine and exponential growth of the scale of activity. After this point it was clear to the public that the challenge to the regime was real, not half-cowed or opportunistic, and that the early sprouts could survive. The dynamic of populist appeal to mobilize the masses - and thus stave off arrest - emerged from this implicit pact between movement leadership and restive masses.520
aufgefunden, die Tatumstände deuteten auf ein Gewaltverbrechen hin. Am 5.11.1989 wurden die Ermittlungen im Todesfall Yu Dengfa offiziell abgeschlossen; auf einer Pressekonferenz erklärten Vertreter der Polizeibehörde, Yu Dengfa sei durch einen unglücklichen Sturz und den daraus resultierenden Kopfwunden ums Leben gekommen. Die Angehörigen von Yu, die einen politisch motivierten Mord von Seiten der KMT vermuteten, zeigten sich enttäuscht von diesem Ergebnis und setzten am selben Tag eine Belohnung von drei Mio. NTD auf die Ergreifung des Täters aus. Vgl. Li Shuangshuang 1989: 34-37. 518 Arrigo 2004: 7. 519 Interview mit Joshua Tin (Tian Tairen) am 24.10.03. 520 Arrigo 2004: 7.
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7.3 Der Meilidao-Vorfall 1979: Wendepunkt der Dangwai-Bewegung Mit dem Abbruch der Wahlen von 1978 und der Verhaftung von Yu Dengfa im Januar 1979 hatte die Dangwai innerhalb weniger Wochen zwei schwere Rückschläge hinnehmen müssen. Die Gründung der Zeitschrift Meilidao, die sich als zentrales Medienorgan der Oppositionsbewegung etablieren konnte, ließ jedoch auf eine weitergehende Konsolidierung der Opposition hoffen: Die „Service-Büros“ der Zeitschrift, die in allen Teilen der Insel eröffnet wurden, nahmen zunehmend die Funktion eines Inselumspannenden Parteiapparates an. Im Verlauf des Jahres verschärften sich jedoch die Konflikte der MeilidaoGruppe mit dem Regime. Wichtige Faktoren waren hierbei die gesetzwidrige Amtsenthebung von Xu Xinliang, das repressive Vorgehen von Polizeikräften bei Kundgebungen der Dangwai und Angriffe gegen die Service-Büros der Meilidao.
7.3.1 Die Gründung der Zeitschrift Meilidao Seit Mitte des Jahres 1979 existierten auf Taiwan mehrere politischen Zeitschriften: Am 31.5. erschien die Erstausgabe der Zeitschrift Bashi niandai/The Eighties,521 herausgegeben von Kang Ningxiang; es folgten in kurzen Abständen die Zeitschriften Xin Jingjie (Herausgeber Lin Yixiong), Gusheng (Chen Guying) und Chunfeng (Wang Tuo). Diese Zeitschriften erschienen jeweils nur in kleiner Auflage und reflektierten lediglich das politische Spektrum einzelner Personen oder kleiner Gruppen. Es schien, als würde sich die Gefahr einer Zersplitterung der Dangwai vergrößern. Im März des Jahres 1979 fassten daher einige prominente Oppositionelle um Huang Xinjie und Shi Mingde den Plan, dieser Gefahr durch die Gründung eines zentralen, professionell gestalteten Presseorgans entgegenzuwirken. Am 16.8.1979 wurde die Redaktion der Zeitschrift Meilidao522 (Schöne Insel) offiziell ins Leben gerufen. Im Gegensatz zur Taiwan zhenglun des Jahres 1975 wandte sich die Meilidao nicht nur an eine überschaubare Elite von politischen Oppositionellen, sondern verstand sich als zentrales Organ einer oppositionellen „Neuen Generation“, die von einer breiten Masse des Volkes getragen wurde. Im Leitartikel der Erstausgabe heißt es hierzu: Nach den lokalen Wahlen im Jahr 1977 und den Nachwirkungen des Zhongli-Vorfalles ist nun die politische Bewegung der Neuen Generation angetreten, die von der reißenden Kraft des Volkes und dem begeisterten [Wunsch nach] politischer Partizipation getragen wird. In den 30 Jahren der KMT-Herrschaft über Taiwan manifestiert sich damit erstmals der Wunsch der breiten Masse des Volkes nach politischer Beteiligung, zum ersten Mal in 30 Jahren wird die EinParteien-Herrschaft der KMT herausgefordert.523
521
Bashi niandai ॱޛᒤԓ Innerhalb der Gründergruppe wurde der Name der Zeitschrift lange kontrovers diskutiert. Der erste Antrag auf Erteilung einer Zeitschriftenlizenz lautete auf den Namen Shengguo 㚆഻ (Heiliges Land), dieser wurde jedoch von den Behörden abgewiesen. Ein weiterer Vorschlag, Meidao 㖾ጦ (ebenfalls mit der Bedeutung „schöne Insel“), wurde verworfen, da man fürchtete, der Name könnte von Spöttern in Daomei قᾓ (Missgeschick) verkehrt werden. Der endgültige Name „Meilidao“ ist ein Zitat aus der „Durchgängigen Geschichte Taiwans“, in der Taiwan mit den Worten „Tosendes Meer, schöne Insel“ (suosuo zhi yang, meili zhi dao ၁၁ѻ⌻, 㖾哇ѻጦ) beschrieben wird. Vgl. Lü Xiulian 1997: 82. 523 o.A. 1979c: 4. 522
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Bereits die Gründungsfeier der Zeitschrift sorgte für Aufsehen. Die Herausgeber der Zeitschrift hatten am 8.9.1979 Vertreter der Opposition und der KMT (welche die Einladung allerdings in der Mehrzahl nicht wahrnahmen) zu einem Empfang in das Zhongtai-Hotel in Taipei geladen. Vor dem Hotel versammelte sich eine Gruppe von „antikommunistischen Patrioten“, die gegen die Gründung der Meilidao protestierten und eintreffende Gäste mit Beschimpfungen und Wurfgeschossen bedachten. 524 Für die Zeitschrift bedeutete diese öffentliche Aufmerksamkeit indes einen nicht unwillkommenen Popularitätsgewinn – durch diesen Zhongtai-Vorfall stand die Meilidao von Beginn an im Zentrum des öffentlichen Interesses. Während die Erstausgabe der Meilidao mit einer Auflage von 63.000 Exemplaren erschien, wurden von der zweiten Ausgabe bereits 90.000 Hefte in den Handel gebracht; mit der dritten Ausgabe wurde schließlich die Zahl von 100.000 verkauften Exemplaren überschritten. Aus dem Nichts war die Meilidao damit zur auflagenstärksten politischen Zeitschrift Taiwans avanciert. Von ebenso großer Bedeutung wie die Zeitschrift selbst war hingegen die organisatorische Struktur der Meilidao-Gruppe: Ausgehend von der Hauptredaktion in Taipei wurden in zahlreichen Städten und Kreisen der Insel Zweigstellen, so genannte „Service-Büros“, 525 gegründet. Bis zum Ende des Jahres existierten auf Taiwan elf 526 dieser Büros, zudem bestanden Zweigstellen in Japan, den USA und Kanada. Diese Büros übernahmen in zunehmenden Maße quasi-parteiliche Funktionen: Oppositionelle Politiker verfügten nun in allen Teilen Taiwans über Örtlichkeiten für politische Veranstaltungen, zudem war es möglich, große Menschenmassen für politische Kundgebungen zu mobilisieren. Im Herbst des Jahres 1979 erschienen Begriffe wie „die politische Gruppe der Meilidao“ oder, noch deutlicher, die „Partei ohne Namen“.527 Es hatte den Anschein, als könne es der Meilidao gelingen, die oppositionellen Kräfte der Dangwai effektiv in einer gemeinsamen organisatorischen Struktur zu bündeln und somit erstmals eine veritable politische Kraft außerhalb der KMT zu etablieren. Am 25.9.1979 stellten die oppositionellen Abgeordneten des Legislativ-Yuans Fei Xiping, Huang Xinjie und Kang Ningxiang in einer parlamentarischen Anfrage zum ersten Mal das gesetzliche Parteienverbot in Frage.528 Das Streben nach einer echten Oppositionspartei, mit dem Lei Zhen und die Zeitschrift Free China fast 20 Jahre zuvor gescheitert waren, schien kurz vor seiner Erfüllung.
7.3.2 Der Konflikt spitzt sich zu: Die Amtsenthebung Xu Xinliangs und Übergriffe gegen die Opposition Xu Xinliang, der seit den Wahlen von 1977 das Amt des Kreisvorstehers von Taoyuan innehatte (s.o.) und als einer der populärsten Oppositionspolitiker galt, hatte sich, wie viele andere aktive Politiker der Dangwai, an dem Protestmarsch in Qiaotou beteiligt. Am 4.2.79 leitete daraufhin der Kontroll-Yuan ein Disziplinarverfahren gegen Xu ein. Am 29.6. wurde Xu Xinliang wegen „unerlaubter Entfernung vom Amt“ für zwei Jahre suspendiert, an 524
Siehe Zhou Yu 1979: 65. Fuwu chu ᴽउ㲅 526 Zum Zeitpunkt der Erstausgabe im August 1979 bestanden zunächst sieben dieser Service-Büros. Im Laufe der folgenden Monate kamen Büros in Gaoxiong (28.9.), Taizhong (25.10.), Nantou (12.11.) und Pingdong (7.12.) hinzu. 527 Vgl. z.B. Zhang Yanxian 2000: I-X. 528 Siehe o.A. 1979d: 2-6. 525
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seiner Stelle übernahm das KMT-Mitglied Ye Guoguang „in Vertretung“ dessen Amt. Seitens der Dangwai wurde diese Entscheidung mit Empörung aufgenommen. Durch diese „Suspendierung vom Amt“ hatte die KMT Neuwahlen im Kreis Taoyuan verhindert – die im Falle einer „Amtsenthebung“ zwingend vorgeschrieben gewesen wären. Zudem wurde die Entscheidung des Kontroll-Yuans so lange hinausgezögert, dass Xu Xinliang auch nach Ablauf der zwei Jahre sein Amt nicht wieder aufnehmen konnte, da die verbleibende Amtszeit weniger als ein Jahr betragen hätte. Die KMT hatte also effektiv die Wahlniederlage von 1977 revidiert – und damit in den Augen der Opposition den Wählerwillen durch taktische Winkelzüge ad absurdum geführt. Am 2.4., unmittelbar nach Einleitung des Disziplinarverfahrens, sammelten sich über 100 Mitglieder der Opposition in Taoyuan zu einer Demonstration – die zweite öffentliche Kundgebung der Dangwai nach dem QiaotouMarsch. Am 26.5., dem 39sten Geburtstag von Xu Xinliang, wurde die „Geburtstagsfeier“ zu einer politischen Großkundgebung mit über 10.000 Beteiligten umfunktioniert. Als am 29.6. das Ergebnis des Disziplinarverfahrens bekannt wurde, hielten Vertreter der Dangwai in Taipei eine Pressekonferenz ab. Lin Yixiong, der trotz starker Grippe erschienen war, hielt eine emotionale und in ihrer Offenheit bislang einmalige Ansprache: Seit ihrem Rückzug nach Taiwan habe die KMT das taiwanesische Volk nur belogen und unterdrückt. Auf Taiwan würde niemand ihren Anspruch als Regierungspartei anerkennen, sie sei lediglich eine Bande von Aufständischen. Lin forderte die Opposition auf, endlich radikale Konsequenzen zu ziehen: Im Augenblick haben die Vertreter der Dangwai zwei Optionen: Erstens Härte gegen Härte setzen und Gewalt mit Gewalt begegnen; zweitens verstummen und untergehen. Alle Demonstrationen und Flugblätter sind jetzt sinnlos geworden [...] Zwei Optionen! Ich werde jede Entscheidung akzeptieren. Aber wenn es nur darum geht, ein paar Flugblätter zu verteilen, dann habe ich keine Lust mehr!529
Am 28.7.79 plante die Dangwai aus Protest gegen die Amtsenthebung Xu Xinliangs 530 erneut eine Kundgebung in Taizhong. Als die kleine Gruppe der Dangwai-Aktivisten im Stadtpark von Taizhong eine Redeveranstaltung abhalten wollte, wurde sie von Polizeibeamten und vereinzelten „antikommunistischen Patrioten“ drangsaliert. Die Teilnehmer der Veranstaltung wurden von Feuerwehrfahrzeugen mit Wasser besprengt, Beamte der Einsatzpolizei gingen schließlich mit Knüppeln und elektrischen Schlagstöcken gegen die Menge vor. Dieser „728-Vorfall“, der erste offene Konflikt zwischen Demonstranten und Polizeibeamten, zeigte deutlich die zunehmende Gewaltbereitschaft der staatlichen Sicherheitskräfte und setzte einen Präzedenzfall für künftige Zusammenstöße. Zum ersten Mal 529 Die Rede wurde in der Untergrundzeitschrift Xin chaoliu abgedruckt. Die Xin chaoliu, herausgegeben von Chen Wanzhen, war zu diesem Zeitpunkt ein handgeschriebenes Flugblatt, das ohne amtliche Lizenz erschien und vor allem innerhalb der Dangwai kursierte. Am 7.8. erfolgte ein polizeilicher Zugriff auf die Minghui-Druckerei in Taizhong, wo die Xin chaoliu hergestellt wurde. Ein Mitarbeiter der Zeitschrift, Chen Bowen sowie der Besitzer der Druckerei, Yang Yurong, wurden verhaftet. Chen Wanzhen, die sich zu diesem Zeitpunkt in den USA aufhielt, trat daraufhin in New York in einen 12tägigen Hungerstreik und protestierte in US-amerikanischen Medien gegen die Unterdrückung der Redefreiheit. 530 Nach seiner Amtsenthebung verließ Xu Xinliang am 30.9.79 mit seiner Familie Taiwan und reiste zu Studienzwecken in die USA. Er konnte somit dem Zugriff der Behörden im Umfeld der Meilidao-Prozesse entgehen, wurde jedoch auf die „Schwarze Liste“ der taiwanesischen Behörden gesetzt und konnte nicht nach Taiwan zurückkehren. Erst im Mai 1989 gelang ihm die illegale Einreise nach Taiwan. Xu wurde zunächst wegen Verdacht auf Hochverrat verhaftet und am 20.5.1990 von Präsident Li Denghui begnadigt
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kam darüber hinaus die neue Ausrüstung der Polizeikräfte, bestehend aus elektrischen Schlagstöcken und hohen Schilden, zum Einsatz. Dies hinterließ bei den Demonstranten einen entsprechend beklemmenden Eindruck. Wegen gerade einmal 20 kultivierter, vollkommen unbewaffneter Mitglieder der Dangwai haben die „Sicherheitsorgane“ gewaltige „Streitkräfte“ mobilisiert. Damit haben sie ein Maß an Furcht, Empfindlichkeit und Hysterie dargeboten, das sich jeder Diagnose entzieht […] Angesichts dieses Vorfalles müssen wir die Fragen stellen: Wer hat hier einen Vorfall provoziert? Wer ist mit Gewalt vorgegangen und hat die Grenzen des Gesetzes überschritten? Wer hat in tollwütiger Manier Chaos gestiftet?531
In den folgenden Monaten war die Dangwai weiteren, zum Teil subtileren Übergriffen ausgesetzt. Im August und September wurden einige Aktivisten der Opposition verhaftet, 532 seit Mitte Juli wurde Shi Mingde von Zivilbeamten überwacht. Im Oktober häuften sich die Drohanrufe und gewalttätigen Übergriffe gegen die Redaktion und Service-Büros der Meilidao. Allein das Redaktionsgebäude der Meilidao in Taipei wurde dreimal Ziel von anonymen Gewalttätern, die Einrichtungsgegenstände zerstörten und Mitarbeiter bedrohten. Im November wurde das Haus von Huang Xinjie von Unbekannten verwüstet, am selben Tag erfolgte ein Angriff auf das Service-Büro der Meilidao in Gaoxiong. Am 7.12.79 wurden erstmals Mitarbeiter der Meilidao verletzt, als Gewalttäter, mit Knüppeln und Schwertern bewaffnet, in das Büro in Pingdong eindrangen. Anzeigen der Meilidao gegen Unbekannte blieben folgenlos. Angesichts dieses manifesten Terrors erfolgte Ende November ein Ultimatum der Meilidao: Mitarbeiter der Zeitschrift wandten sich an die Presse und erklärten, man wolle der Polizei zehn Tage zur Aufklärung der Vorfälle einräumen. Nach Ablauf dieser Frist sehe sich die Meilidao gezwungen, Selbstverteidigungsgruppen zu bilden und Waffen in den Büros der Zeitschrift bereitzuhalten. In den letzten Wochen das Jahres 1979 wurde somit immer deutlicher, dass sich die Opposition auf einen zunehmend gefährlichen Weg begeben hatte – ein Weg, der schließlich im berüchtigten Meilidao-Vorfall kulminieren sollte.
7.3.3 Der Gedenktag der Internationalen Menschenrechte in Gaoxiong Die Meilidao-Gruppe wollte den Tag der Internationalen Menschenrechte am 10.12.79 für eine Großkundgebung in Gaoxiong nutzen. Unter Leitung von Shi Mingde wurden die Vorbereitungen für diese nicht genehmigte Kundgebung mit erheblichem Aufwand vorangetrieben, sie sollte sowohl in Umfang als auch im Organisationsgrad alle vorangegangenen Aktionen der Dangwai übertreffen. Für den geplanten Umzug wurden Hunderte Transparente, Fackeln und Banderolen bereitgestellt. Außerdem wurde, unter dem Eindruck des Angriffes auf das Meilidao-Büro in Pingdong am 7.12., unter der Leitung von Yang Wenzhang eine „Sicherheitstruppe“ gebildet, die sich mit Knüppeln bewaffnen sollte.
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Fan Zhengyou 1979: 74f. Am 28.8. wurde Hong Zhilang wegen angeblicher Vorbereitung eines Regierungsumsturzes verhaftet. Hong, Herausgeber der Zeitschrift Fubao zhi sheng, war allerdings ein verdeckter Informant der Sicherheitsbehörden des Regimes. Am 3.10. folgte die Verhaftung des oppositionsnahen Schriftstellers Chen Yingzhen und des Journalisten Li Qingrong. Beide wurden jedoch nach zwei Tagen wieder freigelassen. 532
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Am 9.12., dem Tag vor der Kundgebung, kam es in Gaoxiong zu einem Zwischenfall, bei dem zwei Mitarbeiter der Meilidao, Yao Guojian und Qiu Ashe, verhaftet und in der Gushan-Polizeistation von Gaoxiong festgesetzt wurden. Die Meilidao mobilisierte umgehend etwa 100 Sympathisanten und forderte vor der Polizeistation die Freilassung der Gefangenen. Bis zum Abend gelang es tatsächlich, die Verhafteten auszulösen; Yao und Qiu waren bei der Befragung durch Polizisten jedoch so schwer verletzt worden, dass sie umgehend in ein Krankenhaus eingewiesen werden mussten. Dieser „Gushan-Vorfall“, nur wenige Stunden vor der geplanten Kundgebung, wurde seitens der Meilidao-Gruppe als eine erneute und unerträgliche Provokation betrachtet. Der Tag der Menschenrechte hatte damit eine neue Dimension angenommen: Sämtliche führende Oppositionelle, von denen einige keine Teilnahme an der Kundgebung geplant hatten, wurden informiert und eilten nach Gaoxiong. Laut Lü Xiulian entsprach dies auch genau dem Plan der Sicherheitskräfte: [Durch den Gushan-Vorfall] konnte die KMT zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Denn einerseits wurde der Gushan-Vorfall für Yao und Qiu zum Verhängnis, andererseits wurde die Elite der Dangwai in ganz Taiwan dazu veranlasst, nach Gaoxiong zu eilen, und wurden so alle in einem Netz gefangen. […] Es war wie beim 228-Aufstand: Damals hatten Beamten des Monopolbüros [die Waren] der Zigarettenverkäuferin Lin Jiangmai konfisziert und hatten [Frau Lin] erschossen,533 die Situation geriet außer Kontrolle. Auch der Gaoxiong [Meilidao]-Vorfall wurde durch das Vorgehen der Polizei und durch die Folterung von Yao Jianguo und Qiu Ashe ausgelöst. Zweifellos war der Gushan-Vorfall die Lunte, an der sich der Gaoxiong-Vorfall entzündete.534
Am Abend des 10.12. setzte sich der Demonstrationszug, angeführt von mehreren Kleintransportern und Fackelträgern, vom Meilidao-Büro aus in Bewegung Richtung Innenstadt. Da der ursprünglich vorgesehene Veranstaltungsort (der Datong-Park) bereits von Polizeikräften abgesperrt worden war, zog der Demonstrationszug nun zum zentralen Verkehrsring von Gaoxiong, in der Nähe des Bahnhofes gelegen. Dort angekommen, bat Wang Tuo, der das Programm des Abends leitete, mehrere Redner auf die Bühne. Schon nach wenigen Minuten breitete sich jedoch Unruhe aus: Von allen Seiten drangen Beamte der Einsatzpolizei auf die Demonstranten ein. Als die Polizei Tränengasgeschosse einsetzte, breitete sich Panik aus. Es gelang der Menge, den Polizeikordon zu sprengen und zurück zum MeilidaoBüro zu ziehen. Hier kam es zunächst zu einer vorläufigen Entspannung der Lage. Mehrere Aktivisten der Opposition, darunter Lü Xiulian, Kang Ningxiang, Ji Wansheng und Zhang Chunnan, hielten Ansprachen, in der sie die Menge zur Ruhe aufforderten und die Polizeikräfte zur Mäßigung mahnten. Als sich die Versammlung gerade auflösen wollte, eskalierte die Situation erneut: Mehrere tausend Polizisten gingen gegen die Versammlung vor, die inzwischen auf einige zehntausend angewachsen war, und setzten abermals Tränengas ein. Es kam zu mehreren Verletzten auf beiden Seiten, Polizeifahrzeuge wurden umgestürzt. Erst gegen 23 Uhr ebbten die Unruhen allmählich ab.
533 534
Hier irrt Lü Xiulian: Beim 228-Vorfall hatte Frau Lin Jiangmai lediglich eine Kopfwunde davongetragen. Lü Xiulian 1997: 130.
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7.3.4 Verhaftungen In Taiwan war das Presseecho über diesen Vorfall, das am Tag nach dem Ereignis einsetzte, vernichtend für die Meilidao-Gruppe. Der Vorfall wurde als geplante Unruhestiftung geschildert, die Meilidao wurde in die Nähe von Kommunisten und Aufständischen gerückt. Selbst die Zeitschrift Daxue, die sich zu diesem Zeitpunkt immer noch als regimekritisches Presseorgan verstand, äußerte Unverständnis gegenüber den Aktivisten der Meilidao: [Es wurden] im Vorfeld Fackeln, chemische Stoffe und Molotow-Cocktails vorbereitet, das sollte bei einer Versammlung oder Demonstration wirklich nicht vorkommen […] Die Gewalttäter riefen Parolen wie „Schlagt die Festländer tot“, „Taiwanesen schlagen keine Taiwanesen“ […] wenn dies für die Meilidao den Weg der politischen Propaganda darstellt, dann sollten sich alle Taiwanesen von ihr distanzieren.535
Allgemeines Lob fand hingegen der Einsatz der Polizeikräfte, die angeblich allen Provokationen und Angriffen zum Trotz auf eine Deeskalation der Lage hingewirkt hätten. In den Zeitungsberichten stieg die behauptete Zahl der verletzten Polizisten kontinuierlich an: Während am 13.12. noch von 16 Verletzten berichtet wurde, stieg diese Zahl in den nächsten Tagen auf über 150 und schließlich 186. Hingegen erschienen keine Berichte über verletzte Demonstranten. Lü Xiulian, Lin Yixiong, Shi Mingde, Zhou Pingde, Huang Xinjie, Yao Jiawen und Zhang Junhong unternahmen am 12.12.79 auf einer eilig anberaumten Pressekonferenz den Versuch, diesen unausgewogenen Berichten entgegenzutreten. Die Meilidao-Vertreter standen jedoch unter großer Anspannung, und im Verlauf der Pressekonferenz ließ sich Lin Yixiong zu Ausfällen gegen die Reporter hinreißen – worauf die Hälfte der Pressevertreter die Konferenz verließ. Lü Xiulian schreibt hierzu: […] die Vertreter der Meilidao waren in den drei Tagen und Nächten seit dem Gaoxiong-Vorfall ständig nervös und aufgekratzt und doch voll hektischer Tätigkeit, [wir hatten] weder ausgiebig geschlafen noch gegessen. In den Zeitungen und im Fernsehen war alles voll vom Ruf nach Vergeltung, hinzu kam noch, dass die Meilidao-Büros in Gaoxiong und Taizhong ständig Drohungen erhielten. All dies versetzte uns in Unruhe, und wir waren im Kopf nicht frei. Daher war es egal, wie viel wir erklärten oder Fragen beantworteten; es gelang uns einfach nicht, zum Kern der Sache vorzustoßen, und vor allem konnten wir der einseitigen Berichterstattung der KMT nicht effektiv entgegentreten. Alles in allem war die Pressekonferenz ein Misserfolg.536
Am Abend begann die Verhaftungswelle: In der Nacht vom 12. auf den 13. Dezember wurde Haftbefehl gegen 16 Haupttäter des Vorfalles wegen Verdacht auf Hochverrat und versuchtem Regierungsumsturz erlassen. Die meisten Gesuchten wurden im Schlaf überrascht und festgenommen,537 lediglich Shi Mingde gelang zunächst die Flucht. Trotz einer hohen Belohnung, die auf seine Ergreifung ausgesetzt wurde,538 konnte sich Shi mehrere 535
o.A. 1979e: 4. Lü Xiulian 1997: 211. 537 Huang Xinjie, der ein Mandat als Abgeordneter des Legislativ-Yuan ausübte, genoss parlamentarische Immunität. Am 14.12. wurde diese Immunität jedoch aufgehoben, Huang wurde verhaftet. 538 Die Flucht von Shi Mingde führte zu einer der größten Fahndungen in der taiwanesischen Polizeigeschichte, an der zeitweise über 20.000 Beamte beteiligt waren. Vgl. Lin Zhuoshui 1980: 14f. 536
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Wochen bei Freunden und Mitgliedern der presbyterianischen Kirche verbergen. Erst am 18.1.80, als er sich gerade auf eine Gesichtsoperation vorbereitete, wurde er in Taipei gefasst. 539 Die Ehefrau von Shi Mingde, Linda Arrigo, war durch ihre amerikanische Staatsbürgerschaft vor Strafverfolgung geschützt. Sie wurde am 15.12.79 des Landes verwiesen und begann in den nächsten Monaten eine gezielte Pressekampagne zu Gunsten der Meilidao-Angeklagten, die sie in die USA, Japan und Hongkong führte (s.u.). Aus den Kreisen der Opposition wurde lediglich Kang Ningxiang von Verhaftung ausgenommen – und dies, obwohl er am Meilidao-Vorfall (wenn auch verspätet) teilgenommen und, im Gegensatz zu Lin Yixiong, der zusammen mit Kang Ningxiang am Abend in Gaoxiong eingetroffen war, auch das Wort ergriffen hatte. 540 Ebenso blieb die von ihm herausgegebene Zeitschrift Bashi niandai vom allgemeinen Presseverbot ausgenommen: Die Bashi niandai war die einzige politische Zeitschrift, die in den Monaten nach dem MeilidaoVorfall unter dem Namen Yazhouren 541 weiter erscheinen konnte. Die Vermutung liegt nahe, dass dem Regime daran gelegen war, eine erwiesenermaßen moderate und eingeschüchterte Opposition weiter bestehen zu lassen und lediglich den größeren, radikalen Teil der Dangwai zu vernichten. Im Zuge des Meilidao-Vorfalls wurden insgesamt 152 Personen festgenommen. Als am 19.2.1980 die offizielle Anklageschrift vorgelegt wurde, hatte sich die Anzahl der Hauptangeklagten, die sich mit Berufung auf das Kriegsrecht vor einem Militärgericht verantworten mussten, auf acht Personen reduziert: Lü Xiulian, Huang Xinjie, Shi Mingde, Lin Yixiong, Chen Ju, Lin Hongxuan, Yao Jiawen und Zhang Junhong. Gegen weitere 32 Angeklagte wurde ein getrenntes Zivilverfahren eröffnet.542
7.3.5 Die Meilidao-Prozesse, 18.3.-28.3.1980 Nach den Verhaftungen am 13.12.79 gelang es Sympathisanten der Meilidao, die Nachricht über den Vorfall an die Weltöffentlichkeit zu tragen und damit ein gewaltiges Echo der 539
Gegen die zehn Helfer des Shi Mingde, von denen sechs der presbyterianischen Kirche angehörten, wurde ebenfalls ein Verfahren eröffnet. Am 23.5.1980 wurden die Hauptangeklagten dieses Verfahrens, Pater Gao Junming und Xu Qingfu zu jeweils sieben Jahren und Pater Lin Wenzhen zu fünf Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Die verbleibenden sieben Angeklagten erhielten jeweils Freiheitsstrafen von zwei Jahren. Vgl. Lü Xiulian 1997: 503-522. 540 Zu den Vorgängen am 10.12. in Gaoxiong existieren abweichende Schilderungen. Insbesondere um die Rolle von Kang Ningxiang entbrannten später heftige Kontroversen. Kang Ningxiang behauptet hierbei, er und Lin Yixiong seien gemeinsam mit dem Taxi von Taipei nach Gaoxiong gefahren (und nicht, wie oft behauptet, mit dem Zug), sie seien erst am späten Abend eingetroffen. Zu den Verdächtigungen, die sich aus der Tatsache ergaben, dass er später nicht verhaftet wurde, schreibt Kang: „In vielen Wahlveranstaltungen und Zeitschriften gibt es Leute, die immer wieder darauf hinweisen, dass nur ich nicht verhaftet worden sei und dies als einen Schandfleck betrachten. Das ist ungerecht. Auch Xu Rongshu, Huang Shunxing und Zhang Deming hatten sich an den Aktionen in Gaoxiong beteiligt und blieben völlig unbehelligt. Qiu Binyi hingegen war bei sich zu Hause in Zhongli, und wurde trotzdem verhaftet. Diese Tatsache beweist, dass die KMT schon von langer Hand geplant hatte, wen sie verhaften wollte, und den ‚Gaoxiong-Vorfall’ […] nur als Vorwand nutzte, um sich der Leute zu entledigen.“ Kang Ningxiang 1985: 44. 541 Yazhouren ӎ⍢Ӫ 542 Von den 32 Angeklagten wurde am 2.6.1980 in erster Instanz in 31 Fällen Freiheitsstrafen zwischen zehn Monaten und sechs Jahren und acht Monaten verhängt, eine Anklage endete mit Freispruch. Am 2.8. wurden in zweiter Instanz zwei weitere Angeklagte freigesprochen, in 22 Fällen wurden die Freiheitsstrafen reduziert. Vgl. Lü Xiulian 1997: 499-502.
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internationalen Presse auszulösen. Eine wichtige Rolle kam hierbei Linda Arrigo, der Ehefrau von Shi Mingde, zu. Nachdem sie am 15.12. von Taiwan deportiert worden war, initiierte sie eine viel beachtete Pressekampagne: When I was deported, this became a big event. I started off on a real publicity war. They gave me a ticket to the States, but I got off in Japan and went to Hong Kong, and gave the news to all the Hong Kong press […] I gave an interview to Qishi niandai on January 1st, which countered the KMT propaganda. The KMT had put out the propaganda that this was a small uprising against the government, completely irrational […] and that was the excuse for arresting all of the opposition – not just for a riot, but for sedition, for attempting to overthrow the government. The KMT claimed that the Meilidao organization attacked the riot police, which was completely ridiculous […] the KMT deported me, and it was very good, because after that, I and the KMT were in a battle for about six months – and I think I won.543
Insbesondere in den USA gelang es Frau Arrigo, die dort lebenden Taiwanesen in großer Zahl zu mobilisieren. In zahlreichen Demonstrationen und Kettenbriefen wurde die USRegierung aufgefordert, Stellung zu den Verhaftungen in Taiwan zu beziehen und die Rüstungslieferungen an Taiwan einzustellen. Darüber hinaus kam es zu Übergriffen gegen Einrichtungen der ROC in den USA: 544 Am 22.12.79 detonierte eine Bombe in der Vertretung der ROC in New York, mehrere Fensterscheiben gingen zu Bruch. Am 22.1.80 wurde auf dem Flughafen von Los Angeles eine weitere Bombe auf einem Fließband der China Airways, der staatlichen Fluglinie der ROC, entdeckt. Nach einem Bombenanschlag auf ein Anwesen des hochrangigen KMT-Beamten Wang Sheng in Mission Valley am 17.2. wurde die Gefahrenlage so dramatisch eingeschätzt, dass das Außenministerium der ROC alle Auslandsvertretungen zu erhöhter Alarmbereitschaft anhielt und besonderen Schutz durch die US-Sicherheitskräfte erbat. Auch seitens der US-Regierung wurde Druck auf Taiwan ausgeübt und die Forderung nach fairen und offenen Verfahren erhoben. In einer Anhörung des Asien-Ausschusses des US-Repräsentantenhauses am 16.2. wurde mit besonderem Verweis auf die Verhaftungen im Zuge der Meilidao-Ermittlungen Besorgnis über die Lage der Menschenrechte in Taiwan geäußert. Am selben Tag entsandte Amnesty International zwei Beobachter zu den Verhandlungen, zudem reiste der frühere Generalstaatsanwalt der USA, Ramsey Clark, im Februar 1980 nach Taiwan, um den Verhandlungen persönlich beizuwohnen. Angesichts dieses internationalen Drucks sahen sich die taiwanesischen Behörden schließlich gezwungen, einem öffentlichen Prozess zuzustimmen. Die Hauptangeklagten waren nach ihrer Festnahme über zwei Monate in Einzelhaft genommen und von der Außenwelt isoliert worden. Unter Anwendung von extremen Zwangsmaßnahmen wurden sie zu Geständnissen gezwungen, in denen sie sich gegenseitig und auch jeweils selbst schwer belasteten. 545 Bei der Eröffnung des Prozesses am 22.2. wurden zunächst Pflichtverteidiger bestellt, die sich jedoch vollkommen passiv verhielten. 543
Interview mit Linda Arrigo am 24.10.03 Auch in der Bundesrepublik Deutschland kam es am 16.1.80 zu einem Vorfall, bei dem sieben Maskierte in die ROC-Vertretung in Bonn eindrangen und per Fax einen Aufruf an Präsident Jiang Jingguo richteten. Die Täter konnten überwältigt werden, es gab keine Verletzte. 545 Einige der Angeklagten äußerten sich später zu den verschiedenen inhumanen Foltermethoden, die etwa in Drohungen, Demütigungen, Schlägen und Schlafentzug bestanden, an dieser Stelle soll das Thema nicht vertieft werden. Qiu Yibin unternahm aus Verzweiflung schließlich einen Selbstmordversuch. Er wurde am 13.2.1980 aus der Haft entlassen. Siehe Lin Zhuoshui 1980: 23. 544
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Nachdem die KMT-Behörden einem öffentlichen Verfahren zugestimmt hatten, bildete sich ein Team von 15 Strafverteidigern, die der Opposition auch politisch nahe standen.546 Am 27.2. wurde es den Angeklagten erstmals erlaubt, ihre Verwandten und Verteidiger zu Gesprächen im Gefängnis zu treffen. Der erste öffentliche Verhandlungstag am 28.2.80, der vom Mordfall in der Familie Lin überschattet wurde (siehe 7.3.6.), begann mit einem Eklat: Die Anwälte zeigten sich empört über die Tatsache, dass die Verhandlung insgeheim bereits am 22.2. eröffnet worden war; zudem erzwangen sie, unter Androhung der Mandatsniederlegung, eine Aufschiebung des Prozesses bis zum 18.3., um sich Einsicht in die Akten zu verschaffen. In den Prozessen, die sich über zehn Tage vom 18.3.-28.3.80 erstreckten, wurde bald deutlich, dass sich die Anklage in erster Linie auf die „Geständnisse“ der Angeklagten stützte. Die Verteidigung verfolgte daher die Strategie, die Nichtigkeit dieser Geständnisse nachzuweisen. Alle Angeklagten widerriefen in Zuge der Verhandlungen ihre früheren Aussagen, zudem wurde erstmals in der taiwanesischen Rechtsgeschichte öffentlich der Vorwurf der Folter erhoben. Der erste, der in dieser Frage einen Aufruhr auslöste, war der Verteidiger von Huang Xinjie, Chen Shuibian. Er bat das Gericht zunächst, die Aussagekraft der Geständnisse zu überprüfen, „Falls die Geständnisse der Angeklagten durch Folter erzwungen und nicht freiwillig abgelegt wurden, dann ist der Vorwurf der Anklage hinfällig, und es besteht keine weitere Notwendigkeit der Verteidigung.“ Chen Shuibian hatte urplötzlich das Wort „Folter“ ausgesprochen; es war, als habe im Gerichtssaal der Blitz eingeschlagen, alles erstarrte.547
In der Urteilsverkündung vom 18.4.1980 stellte das Gericht jedoch fest, dass die Geständnisse freiwillig erfolgt seien. Die Angeklagten wurden des versuchten Regierungsumsturzes für schuldig befunden: Eine Gruppe von fünf Aktivisten, bestehend aus Shi Mingde, Yao Jiawen, Lin Yixiong, Zhang Junhong und Xu Xinliang, hätte den Plan verfolgt, die Zeitschrift Meilidao als Instrument der Massenmobilisierung zu nutzen und, mit Unterstützung der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung im Ausland sowie der Volksrepublik China, ein unabhängiges Taiwan auszurufen. Shi Mingde wurde zu lebenslanger Haft verurteilt, Huang Xinjie zu 14 Jahren Haft und zehn Jahren Entzug der bürgerlichen Rechte, die übrigen sechs Hauptangeklagten zu je zwölf Jahren Haft und zehn Jahren Entzug der bürgerlichen Rechte. Das Eigentum der Angeklagten wurde eingezogen. Es bleibt festzustellen, dass die Meilidao-Prozesse eindeutig politischen Charakter trugen. Der Verdacht liegt nahe, dass die Hauptangeklagten schon geraume Zeit vor dem Meilidao-Vorfall ins Visier der Staatssicherheitsdienste geraten waren – hierfür spricht etwa die Tatsache, dass einige der Angeklagten am Vorfall gar nicht beteiligt waren (wie etwa Qiu Yibin), während andere Beteiligte nicht belangt wurden (wie etwa Kang Ningxiang). Ein weiterer Beweis für die politisch motivierte Verurteilung der MeilidaoAngeklagten findet sich in dem Verfahren gegen Huang Xinjie, der von einem DangwaiAktivisten namens Hong Zhiliang schwer belastet wurde. Hong, der die oppositionelle Zeitschrift Fubao zhi sheng herausgab, machte in dem Verfahren geltend, dass er gemeinsam mit Huang Xinjie in Kontakt mit Agenten der VRCh getreten sei und einen Sturz der Regierung vorbereitet habe. Huang sei als Lohn für seinen Landesverrat der Vorsitz über die Provinz Taiwan in einem wiedervereinigten China versprochen worden. Diese absurd 546
Unter den Juristen befand sich auch Chen Shuibian, nach 2000 Präsident der ROC, dessen politische Karriere hier begann und der mit 29 Jahren das jüngste Mitglied der Verteidigergruppe war. 547 Lü Xiulian 1997: 320.
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anmutende Anschuldigung trug zur besonderen Schwere des Urteils gegen Huang Xinjie bei. Hong Zhiliang wurde zu fünf Jahren Haft verurteilt. Im Juli 1985 wurde jedoch bekannt, dass Hong Zhiliang als Agent des taiwanesischen Geheimdienstes fungiert hatte. Hong veröffentlichte nach seiner Haftentlassung im Juli 1985 ein Buch, in dem er freimütig beschrieb, wie er bereits Anfang 1978 vom Geheimdienst angeworben wurde, um gezielt die Reihen der Dangwai zu unterwandern; auch die „oppositionelle“ Zeitschrift Fubao zhi sheng sei von staatlichen Behörden finanziert worden. Diese Erkenntnis lieferte für die Aktivisten der Dangwai den eindeutigen Beweis, dass die Meilidao-Prozesse von langer Hand von der KMT geplant worden waren. Der Bruder von Huang Xinjie, Huang Tianfu, äußerte sich in einem Interview mit der Zeitschrift Ziyou shidai: Es ist wirklich beängstigend! […] Jetzt kann man eindeutig erkennen, dass der ganze MeilidaoFall allein von der KMT inszeniert wurde, um den Mitgliedern der Dangwai eine Falle zu stellen. Hong Zhiliang hat eine falsche Aussage abgelegt und das Spiel der KMT mitgespielt. Aber die KMT hat [dann] aus dem falschen Spiel ernst gemacht und Hong Zhiliang für fünf Jahre eingesperrt.548
Keiner der Angeklagten musste die Strafe indes komplett verbüßen. Zunächst wurde im August 1984 Lin Yixiong entlassen – sicherlich war ein Grund hierfür, dass er durch die Mordfälle an seinen Familienangehörigen eine tragische Berühmtheit erlangt hatte.549 1985 erfolgten die Entlassungen von Lü Xiulian und Lin Hongxuan, 1986 Chen Ju und Yao Jiawen, 1988 Huang Xinjie und Zhang Junhong. Am 25.5.1990 wurden die Urteile im Meilidao-Prozess widerrufen und alle Beteiligten rehabilitiert; als letzter der MeilidaoAngeklagten wurde Shi Mingde,550 der insgesamt mehr als 25 Jahre im Gefängnis verbracht hatte, aus der Haft entlassen.
7.3.6 Der „zweite 228-Vorfall“ – die Morde an der Familie des Lin Yixiong Am 27.2.1980 wurde es den Hauptangeklagten der Meilidao-Prozesse erstmals nach über zwei Monaten der Isolationshaft gestattet, im Gefängnis mit ihren Verwandten und Verteidigern zusammentreffen. Im Gespräch mit seiner Ehefrau Fang Sumin und seiner Mutter Linyou Amei, das von Vollzugsbeamten mitgehört und auf Tonband aufgezeichnet wurde, äußerte Lin Yixiong indirekt den Hinweis, dass er gefoltert worden sei. Am darauf folgenden Tag, dem 28.2., begann die öffentliche Verhandlung gegen die Hauptangeklagten im Militärgericht von Jingmei. Frau Fang Sumin wurde erst kurz vor Beginn der Verhandlung 548
Ceng Xinyi 1985: 29. Gleichzeitig mit Lin Yixiong wurden die drei Mitglieder der Presbyterianischen Kirche Gao Junming, Xu Qingfu und Lin Wenzhen, die Shi Mingde bei seiner Flucht vor den Behörden versteckt hatten, wegen guter Führung vorzeitig entlassen. Siehe o.A. 1984e: 6f. Die Entlassung Lin Yixiongs war jedoch nicht gleichbedeutend mit einer Begnadigung. Die Haftstrafe wurde von zwölf auf acht Jahre reduziert, für die verbleibende Haftzeit wurde Lin Haftbeurlaubung gewährt. Er konnte jedoch seinen Beruf als Rechtsanwalt zunächst nicht ausüben, zudem wurden ihm für drei Jahre die Bürgerrechte entzogen – was bedeutete, dass er sich nicht für politische Ämter bewerben konnte. Vgl. Zhao Chang 1984: 6f. 550 Bereits im Jahr 1987 wurde Shi Mingde von Seiten der Behörden das Angebot unterbreitet, eine Haftminderung vorzunehmen oder die verbleibende Haftstrafe in eine Bewährungsstrafe umzuwandeln. Shi, der sich keiner Schuld bewusst war, wies dieses Angebot jedoch in einem Brief an Präsident Jiang Jingguo zurück. Siehe Shi Mingde 2003: 35ff. 549
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telefonisch informiert und eilte zum Gerichtssaal. Als sie gegen Mittag zu Hause anrief, um sich des Wohlergehens der drei Töchter der Familie zu vergewissern, wurde der Anruf nicht entgegengenommen. Am Nachmittag wuchs ihre Besorgnis, und sie bat eine Sekretärin von Lin Yixiong, Frau Tian Qiujin, der Sache auf den Grund zu gehen. Als Frau Tian gegen 15 Uhr am Haus der Lins eintraf, fand sie älteste Tochter der Familie, die 9jährige Lin Huanjun, schwer verletzt in ihrem Bett liegen. Das Mädchen war durch mehrere Messerstiche in Brust und Rücken verletzt worden und hatte viel Blut verloren, war jedoch bei Bewusstsein. Frau Tian informierte umgehend Polizei und Rettungssanitäter sowie die oppositionelle Zeitschrift Bashi niandai. Noch vor Ankunft der Polizei erschienen zwei Redakteure der Bashi niandai, Lin Zhuoshui und Kang Wenxiong, am Tatort. Diese machten im Keller des Hauses eine erschütternde Entdeckung: Unter der Kellertreppe fanden sie den leblosen Körper von Frau Linliu, der Mutter von Lin Yixiong. Sie war durch Messerstiche getötet worden. Mit fieberhafter Sorge begann nun die Suche nach den beiden 7jährigen Zwillingstöchtern der Familie, Lin Tingjun und Lin Liangjun. Bald stellte sich heraus, dass die beiden an diesem Tag nicht bei ihrem Kindergarten erschienen waren. Zunächst vermutete man eine Entführung, Polizeibeamte und Freiwillige begannen mit einer umfassenden Durchsuchung der Nachbarschaft. Schließlich wurden jedoch die schlimmsten Befürchtungen bestätigt: Am frühen Abend wurden die Leichen der beiden Mädchen in einer versteckten Ecke des Kellers aufgefunden.551 Lin Yixiong, der am späten Abend des 28.2. aus der Haft beurlaubt wurde und zunächst nicht über die Morde informiert worden war, wurde von Freunden vorsorglich in ein Krankenhaus gebracht – angeblich für einen Gesundheitstest. Hier kam es zu einer makabren Szene: Lin Yixiong, der 77 Tage im Gefängnis verbracht hatte, war ein bisschen bleich, aber bald zeigte sich in dem Licht der Straßenlaternen sein Lächeln. Er fragte beständig nach Freunden, und dankte ihnen […] Wir brachten ihn zum Changkang-Krankenhaus. Er nahm eine Dusche, ließ den Arzt einige Untersuchungen vornehmen und bekam eine Spritze. Als er das ganze Zimmer voll von Freunden sah, wurde er ausgelassen und wollte mit allen Bier trinken, alle Anwesenden lächelten und tranken einige Gläser mit ihm. Dann trank man Shaoxing-Schnaps, rauchte Pfeife. Im Zimmer wurde es langsam still, die Stimmung wurde immer drückender. Lin Yixiong merkte allmählich, das irgendetwas nicht stimmte […]552
Schon wenige Stunden nach Bekannt werden des Mordfalles nahm eine Sonderkommission der Kriminalpolizei ihre Ermittlungsarbeit auf. Zunächst zeigte sich die Polizei sehr zuversichtlich: Bereits am 29.2. erklärte ein Polizeisprecher, der Kreis der Verdächtigen sei bereits erheblich eingeschränkt worden. Auf die Ergreifung des Täters wurde eine Belohnung von 500.000 NTD ausgesetzt, bis zum 10.3. stieg diese Summe auf fünf Mio. NTD. Am 4.3. meldete die Zeitung Dahuabao, dass die Sonderkommission nun über 14 Untergruppen verfüge und die Ermittlungen mit großem Aufwand vorangetrieben würden. Am 7.3. erklärte der Leiter der Sonderkommission Cao Ji, der Fall stehe kurz vor der Aufklärung und sei bereits zu 99.9% gelöst.553 In den regierungsnahen Medien wurden die Ermittlungen zum Mordfall jedoch von einer politisch gesteuerten Berichterstattung begleitet. In der Zhong551
Zu den Vorgängen nach dem Mordfall siehe z.B. Qiu Jin 1982: 81-84; Fang Sumin 1981: 95-97. Lin Nanchuang 1980: 10. 553 Über die Presseberichte zu den Ermittlungen siehe Wang Zhenhui 1985: 22-24. 552
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guo shibao erschien die unwahre Behauptung, die überlebende Tochter Huanjun habe den Täter identifiziert und ausgesagt, er sei schon öfters im Elternhaus zu Besuch gewesen. 554 Der Verdacht wurde dadurch auf die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung gelenkt: Durch seine gute Kooperation mit den Polizeikräften habe Lin Yixiong den Unmut der Unabhängigkeitsbewegung im Ausland erregt. Der Mord, eventuell in den USA von Xu Xinliang geplant, sei daher ein Racheakt an Lin gewesen. Diese Behauptung erwies sich als haltlos. Abgesehen davon, dass Lin Yixiong keineswegs „gut kooperiert“ hatte, sondern im Gegenteil heftiger Folter unterworfen worden war, ist es nicht plausibel, wie die Unabhängigkeitsbewegung so schnell auf die Ereignisse hätte reagieren können. Wie geschildert, waren die Angeklagten bis zum 27.2.1980 in Isolationshaft und vollkommen von der Außenwelt abgeschnitten. In den USA wies die Unabhängigkeitsbewegung die Vorwürfe zurück: [Die Behauptung], dass Aktivisten der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung oder Mitglieder der Dangwai […] Unschuldige töten, um politische oder psychologische Ziele zu erreichen, ist eine Lüge, die nur von einfältigen Handlangern des Jiang-Clans [der KMT] fabriziert werden konnte […] Nur der Jiang-Clan selbst hatte alle Voraussetzungen, um den Mord zu verüben: 1. Das Haus der Familie Lin wurde rund um die Uhr von Agenten überwacht, man hatten umfassende geheimdienstliche Erkenntnisse [über die Opfer] 2. Der Jiang-Clan verfügt über viele Agenten […], die für den Kampf mit Messern ausgebildet wurden. Dem Jiang-Clan wäre es ein Leichtes, diese Leute zu dem Mord anzustiften oder zu ermutigen 3. Wenn der Mord fehlgeschlagen und der Täter verhaftet worden wäre, dann hätte [die KMT] die Identität des Mörders verschleiern können. 4. Die Medien Taiwans sind alle in der Hand [der KMT], daher musste zunächst nicht befürchtet werden, dass die Taiwanesen die wahren Umstände [des Mordfalles] erkennen. 555
Der erste Punkt des oben genannten Zitates ist von einiger Tragweite: Träfe es zu, dass das Haus der Familie Lin zum Zeitpunkt des Mordes unter Beobachtung von Polizisten und Agenten stand, so wäre es sicher nicht nachzuvollziehen, wie ein Mörder unbemerkt ins Haus hätte eindringen können. Diese Behauptung findet sich in zahlreichen Quellen zum Lin-Mord – ein Beweis konnte hierfür jedoch nicht erbracht werden. Selbst von Seiten der Familie Lin wurden diese Anschuldigungen nicht öffentlich geäußert. Die Mordfälle konnten bis heute nicht aufgeklärt werden. 556 Es ist vermutlich dem Zufall zuzuschreiben, dass die Morde an einem 28. Februar verübt wurden – schließt man sich den Verdächtigungen der Unabhängigkeitsbewegung an, so waren die Morde eine Rache des Agentenapparates der KMT an Lin Yixiong, der sich am Vortag über Folter beklagt hatte. Dennoch wurde dieser „zweite 228-Vorfall“ nach dem erneuten Aufleben der Dangwai-Bewegung ab 1981 stets in Zusammenhang mit dem 228-Aufstand erwähnt und zum Symbol für den politischen Terror der KMT.
554
Siehe Xu Manqing 1989: 28f. Liu Zhongyi 1980: 12. 556 Am 1.8.1981 veröffentlichte der Leier der Kriminalpolizei, Cao Ji, der zu diesem Zeitpunkt bereits im Ruhestand war, seine Erinnerungen an den Lin-Mordfall. Darin behauptete er, der Täter sei ein geistig verwirrter Mann aus Yilan gewesen, der jedoch aus Mangel an Beweisen wieder freigelassen werden musste. Vgl. Wang Zhenhui 1985: 24. 555
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7.4 Ergebnisse im Kontext dieser Arbeit Bei der Aufarbeitung der Dangwai-Bewegung der 70er Jahre besteht eine Schwierigkeit darin, sich in die politischen Realitäten und Zwänge eines autoritären Regimes einzufinden. Bei einer oberflächlichen Beschäftigung mit den Quellen dieser Zeit fällt es zuweilen schwer, die Brisanz von politischen Texten, die sich oft in subtilen Andeutungen erschöpft, in vollem Umfang zu erfassen. Auch dem Autor erschloss sich der politische Diskurs der Zeit in seinem ganzen Spektrum erst nach Gesprächen mit politischen Aktivisten dieser Periode, die zudem Hinweise für eine weitere Lektüre gaben.
7.4.1 Taiwanesischer Nationalismus Im Zentrum der Dangwai-Bewegung stand das Streben nach Demokratisierung. Dies führte jedoch zwangsläufig zu einer Eingrenzung auf Taiwan als Objekt dieser Bemühung. Dem Streben nach Demokratisierung der politischen Sphäre folgte unausweichlich eine territoriale Konzentration auf das Gebiet, in dem sich diese politische Sphäre manifestierte. Es ist augenfällig, dass die meisten Akteure der Dangwai-Bewegung gebürtige Taiwanesen waren. Ihr Augenmerk richtete sich auf den Bereich ihrer Lebenswirklichkeit, der eben auf Taiwan begrenzt war. Der Begriff „Nation“, der laut offizieller Staatsdoktrin immer auch die „Verlorenen Gebiete“ auf dem Festland umfasste, wurde in diesem Kontext unscharf. In den oppositionellen Zeitschriften wurden die Begriffe „Nation/Staat“ und „Heimat“ häufig synonym verwendet. So schreibt z.B. Zhang Junhong in einem Artikel der Taiwan zhenglun: Wenn diese Gesellschaft, dieser Staat uns gehört, dann haben wir auch das Recht, diesen Staat aus tiefstem Herzen und mit leidenschaftlicher Hingabe zu lieben. Wir sollten auch das Recht haben, uns um das Wohlergehen unserer Freunde und Verwandten, unserer Nachbarn und Mitbürger zu sorgen […] Wenn mehr Leute dazu gebracht werden können, ihre Heimat und ihre Mitbürger zu lieben und sich um ihre Zukunft zu sorgen, dann werden zukünftig immer mehr Leute bereit sein, die Nation, zu der sie gehören, heißblütig und leidenschaftlich zu lieben und zu verteidigen.557
Aus dem Zitat wird deutlich, wie der Begriff des Staates an Heimat, Mitbürger und Nachbarn gekoppelt wird. Der bedrohte und zu verteidigende „Staat“ meint hier nicht länger das offizielle Staatsgebiet der ROC, einschließlich des Festlandes, sondern die Insel Taiwan – die gegen den Zugriff des chinesischen Festlandes verteidigt werden muss. Eine ähnliche Unschärfe lässt sich bei dem Begriff der „Mitbürger“ feststellen. In den Dangwai-Zeitschriften wurde dieser Begriff gelegentlich im Sinne der propagandistischen Auslegung der KMT verwendet und auf alle Chinesen ausgedehnt – etwa, wenn von der „Befreiung der Mitbürger auf dem Festland“ die Rede war. Insbesondere in den späten 70er Jahren stellte sich in den oppositionellen Zeitschriften jedoch die Konvention ein, den Begriff „Mitbürger“ mit dem Ausdruck der (damals) „18 Millionen Bürger Taiwans“ zu verbinden. „Mitbürger“ meinte dann nicht mehr die Bevölkerung des gesamten von der ROC beanspruchten Staatsgebietes, einschließlich der Bevölkerung der VRCh, sondern 557
Zhang Jinghan 1975a: 13.
Ergebnisse im Kontext dieser Arbeit
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beschränkte sich auf die Bewohner der Gebiete, über welche die ROC die tatsächliche politische Herrschaft ausübte. Dieses Verständnis des „Mitbürgers“ umfasste prinzipiell alle auf Taiwan lebenden Menschen, unabhängig von ethnischer, kultureller oder sprachlicher Zugehörigkeit. Festländer sollten also nicht etwa ausgegrenzt werden, sondern im Gegenteil an dem großen Ziel, der Demokratisierung der politischen Sphäre, teilhaben. Voraussetzung für ein harmonisches Zusammenleben der Volksgruppen sei jedoch, dass alle Bürger gleichberechtigt an Staat und Gesellschaft teilhaben müssten. Beklagt wurde in diesem Zusammenhang, dass gebürtige Taiwanesen gegenüber den zugewanderten Festlandchinesen und deren Nachkommen in vielen Bereichen der politischen und gesellschaftlichen Sphäre benachteiligt würden.558 Es sei etwa nicht hinzunehmen, dass gebürtige Taiwanesen seit Jahrzehnten von den politischen Vertretungsorganen faktisch ausgeschlossen blieben. Es wurde jedoch stets betont, dass man lediglich eine Gleichstellung der Taiwanesen mit den Festländern forderte. Keinesfalls sollten diese ihrerseits diskriminiert oder ihrer legitimen Rechte beraubt werden. Ohnehin würden die leitenden Positionen des Staates nur von einer kleinen Minderheit der Festländer besetzt. Für die meisten Festländer, die ehemaligen Soldaten der niederen Ränge und Flüchtlinge aus dem Festland, gelte hingegen, dass sie unter recht bedauernswerten Umständen ihr Leben fristeten. […] sie führen, vollkommen unbeachtet, ein einsames Leben. Sie haben überhaupt nichts – keine großartige Vergangenheit, keine profunde Schuldbildung und natürlich auch keine finanziellen Mittel, um ihren Lebensabend in Wohlstand zu verbringen. […] Jeden Pfennig, den sie besitzen, haben sie durch ihre eigenen Hände und eigenen Schweiß verdient! Nicht wie die Parlamentarier, deren eine Legislaturperiode schon 27 Jahre dauert und die sich gemütlich von den Steuern des Volkes bedienen und ein angenehmes Leben verbringen […] Es ist sehr leicht, den Nachlass dieser Mehrheit [der Festländer] zu verwalten. Man muss sie einfach einäschern, die Überreste in eine Urne werfen und in einen Tempel stellen. Sie werden da nicht mehr als ein paar Zoll Platz einnehmen. Vielleicht kommt einmal ein starkes Erdbeben oder ein Taifun, und die Mauern des Tempels stürzen ein und die Urne zerbricht. Dann wird ihre Asche im Wind treiben, sich über das große Land verstreuen und im Nichts verschwinden. So ist eben das Trugbild des menschlichen Lebens.559
7.4.2 Der 228-Aufstand 7.4.2.1 Der 228-Aufstand in den Dangwai-Zeitschriften der frühen Periode In der frühen Phase der Dangwai-Bewegung fand der 228-Aufstand nahezu keine Erwähnung. Bei der intensiven Durchsicht der oppositionellen Zeitschriften bis 1979 fand sich nur ein Artikel, erschienen in der Meilidao, der den 228-Aufstand eher beiläufig erwähnt. 558 So verwies zum Beispiel Yao Jiawen in einem Beitrag auf den grotesken Tatbestand, dass höhere Beamte des öffentlichen Dienstes nach wie vor auf Grundlage eines Verteilungsschlüssels aus Zeiten vor Ende des Bürgerkrieges nach ihrer Provinzzugehörigkeit ausgewählt würden. Dies habe zur Folge, dass ein Festländer gegenüber einem Taiwanesen bei gleicher Qualifikation eine 186-fach höhere Chance habe, in den öffentlichen Dienst übernommen zu werden. Einige Provinzen des Festlandes seien auf Taiwan so schwach vertreten, dass überhaupt keine geeigneten Bewerber gefunden werden könnten, um die Quoten zu erfüllen; infolgedessen habe man die Ansprüche in diesen Fällen absenken müssen. Siehe Yao Jiawen 1975: 14-21. 559 Zhou Qier 1975: 65.
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Die frühe Dangwai-Bewegung
In dem Beitrag „Die taiwanesische Geschichte der 18 Millionen“ beschäftigt sich der Autor Liu Fengsong mit dem Zusammenleben der verschiedenen Volksgruppen auf Taiwan im historischen Kontext. Dem 228-Aufstand werden nur zwei kurze Zeilen gewidmet, dennoch ist diese Stelle sehr aufschlussreich: Kurz nach der Rückkehr Taiwans zum Mutterland kam es zum Austausch von Feindseligkeiten zwischen Taiwanesen und Festländern, dies führte zum 228-Vorfall. Obwohl nun schon über 30 Jahre vergangen sind, werden alle, die den Vorfall selbst erlebt haben, den Schmerz noch in frischer Erinnerung haben; hier soll [das Thema] nicht vertieft werden.560
Aus der zitierten Stelle ist zu ersehen, dass sich der Autor offensichtlich der Sensibilität des Themas bewusst war. Der neutrale Begriff „Austausch von Feindseligkeiten“ erscheint angesichts der grausamen Massaker fast wie ein Euphemismus. Zudem werden keinerlei Schuldzuweisungen ersichtlich. All dies sollte natürlich nicht erstaunen; der 228-Aufstand galt zu dieser Zeit als striktes politisches Tabu. Erstaunlich erscheint eher, dass überhaupt eine Erwähnung des Aufstandes möglich war und (nach Kenntnis des Autors) offensichtlich der staatlichen Zensur entging. Eine mögliche Erklärung wäre, dass der entsprechende Abschnitt einfach zufällig unbemerkt blieb – oder dass selbst die staatlichen Zensoren den Terminus „228-Vorfall“ nicht immer zuordnen konnten. Liu scheint indes davon auszugehen, dass zumindest ein Teil seiner Leserschaft – jeder, der den Aufstand noch selbst erlebt hat oder, so könnte man ergänzen, aus Erzählungen von Älteren kennt – aus dieser kurzen Passage eigene Schlüsse ziehen könne. Diese Kunst des „verschweigenden Erzählens“ stellt den Forscher vor die schwierige Frage, inwieweit solche Anspielungen auf das Unsägliche von den Lesern auch verstanden wurden. In den zahlreichen Interviews im Umfeld dieser Arbeit wurde häufig die Frage aufgeworfen, wann die Befragten jeweils zum ersten Mal von den Geschehnissen um den 228-Aufstand erfuhren. So berichtete etwa der ehemalige Kurator des 228-Museums in Taipei, Ye Bowen,561 er habe erst Mitte der 80er Jahre vom 228-Aufstand erfahren. 562 Andere Gesprächspartner hingegen meinten, sie hätten bereits in früher Jugend Kenntnis vom 228-Aufstand gehabt – meist aus Erzählungen von älteren Verwandten oder Bekannten. Wenngleich diese Frage nicht endgültig entschieden werden kann, ist es nach Ansicht des Autors wahrscheinlich, dass große Teile der Bevölkerung zumindest schemenhafte Vorstellungen vom 228Aufstand hatten. Es scheint kaum plausibel, dass ein solch traumatisches Ereignis nach nur drei Jahrzehnten in Vergessenheit geraten konnte. So meinte auch der DPP Abgeordnete Lin Zhuoshui im Gespräch mit dem Autor: Ich wusste schon [vom 228-Aufstand], als ich noch sehr klein war, aber keine Einzelheiten. […] Der letzte Kampf im 228-Aufstand wurde in meiner Heimat ausgetragen. Ich war damals gerade erst geboren. Aber weil es in der Nähe unseres Hauses Kämpfe gab, flog eine Kugel am Kopf meines Vaters vorbei. Meine Großmutter sagte mir später, dass mein Vater fast gestorben wäre. Daher wusste ich schon früh davon. Aber mehr wollte [meine Großmutter] nie sagen […] Für meine Generation galt also, dass die ältere Generation nicht darüber sprechen konnte. Sie hatten
560
Liu Fengsong 1979: 71. Interview mit Ye Bowen am 8.9.03 562 Als ich im Gespräch mit Prof. Li Xiaofeng diesen Tatbestand erwähnte, meinte Prof. Li lachend, Herr Ye Bowen sei in dieser Hinsicht wohl ein wenig langsam gewesen. Interview mit Li Xiaofeng am 23.3.04. 561
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zu viel Angst, sie wagten es nicht. Die Generation, die etwa zehn Jahre älter war, wussten alle davon.563
Es bleibt jedoch festzuhalten, dass das Tabu um den 228-Aufstand von den DangwaiZeitschriften der frühen Periode fast ausnahmslos unberührt blieb.
7.4.2.2 Der Meilidao-Vorfall und der 228-Aufstand Wie im Vorangegangenen beschrieben, hatte der Meilidao-Vorfall in der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung im Ausland heftige Reaktionen ausgelöst. Am 15.12.1979 gründete sich in den Vereinigten Staaten die „Gemeinsame Front zur Staatsgründung Taiwans“ und richtete in der Taidu yuekan einen eindringlichen Appell an alle Taiwanesen, in dem ein starker Bezug zum 228-Aufstand genommen wurde (vgl. 5.3.). Es bleibt zwar fraglich, in wieweit dieser Aufruf auf Taiwan allgemein bekannt wurde – die Taidu yuekan zählte selbstverständlich zu den verbotenen Schriften, und konnte nur unter großen Risiken auf die Insel geschmuggelt werden. Die Erklärung provozierte jedoch eine Reaktion innerhalb der KMT-nahen politischen Kreise. Die Zeitschrift Jifeng (Sturmwind),564 in der sich die konservativsten politischen Kräfte der Insel fanden, hatte seit ihrer Gründung im August 1979 einen erbitterten Kampf gegen die als „Kommunisten“ diffamierte Dangwai geführt. In der Januar-Ausgabe 1980 schrieb die Redaktion der Jifeng in einem Leitartikel: Schon seit über 20 Jahren nutzen Kommunisten und Verräter der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung den „228-Vorfall“, um die Eintracht [auf Taiwan] zu zerstören […] Im Aschluss an den Meilidao-Vorfall wurde dieser alte Trick von den Verrätern der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung erneut angewandt, sie wollen dies als einen erneuten „228“ verkaufen. 565
Die Jifeng wolle daher zu einer Klärung der historischen Tatsachen beitragen: „Damit werden die schamlosen Lügen der Kommunisten und Verräter zerschlagen werden, zudem [wollen wir] vor der Geschichte Zeugnis abliefern.“566 Unter dem Titel „Die Wahrheit über den 228“ erschien, unter der Federführung von Xu Chengzong, in den folgenden fünf Ausgaben (Januar bis Mai 1980) eine umfangreiche Darstellung der Ereignisse des Jahres 1947. Wenngleich die Berichterstattung über den Aufstand von politisch motivierten Interessen geleitet war, kommt dieser Serie in der 228-Forschung dennoch eine große Bedeutung zu: Erstmals seit 1947 wurde das Tabu des vollkommenen Verschweigens, das den 228Aufstand seit über 30 Jahren umgeben hatte, durchbrochen. Daher soll die Darstellung der Jifeng an dieser Stelle etwas ausführlicher skizziert werden. Zunächst fällt auf, dass die Darstellung des 228-Aufstandes lückenhaft und mit Fehlern behaftet ist.567 Dies ist einerseits auf die politische Intention des Autors zurückzufüh563
Interview mit Lin Zhuoshui am 30.10.03. Jifeng ⯮付 565 o.A. 1980a: 4 566 o.A. 1980a: 4 567 So findet sich bei Xu Chengzong etwa die Behauptung, Chen Yi habe bereits am 1.3.47 alle politischen Forderungen der Volksvertreter erfüllt. Die Vorgänge in Gaoxiong, wo unter General Peng Mengqi bereits am 6.3. ein Massaker unter der Bevölkerung verübt wurde, finden hingegen gar keine Erwähnung. Weiterhin behauptet Xu, die Zentralregierung habe den Entschluss zur Entsendung von Truppen erst am 8.3. gefasst, als Einrichtungen der 564
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ren: Xu Chengzong war sichtlich bestrebt, die „Schuld“ der Aufständischen nachzuweisen und das Verhalten der Regierungsbehörden in möglichst gutem Licht erscheinen zu lassen. Zum anderen wird deutlich, dass zu diesem Zeitpunkt zahlreiche, auch regierungsnahe Quellen noch nicht zugänglich waren. Die mangelhafte Quellenlage ist der einzige Punkt, in dem Xu leichte Kritik am KMT-Regime erkennen lässt: In der Vergangenheit waren unsere Bemühungen, die Tatsachen zu klären, zu spärlich und zu passiv. Das führte dazu, dass der „228-Vorfall“ von Feinden als Ausrede benutzt wurde, um unseren Staat zu diffamieren, unsere Mitbürger gegeneinander aufzuwiegeln und unser friedliches Leben zu stören […] Über viele Jahre hat es unsere Regierung versäumt, sich gegen Vorwürfe zu verteidigen […], das hat zu vielen Missverständnissen geführt […] Die Nationalregierung wollte noch nie viele Worte machen, sie ist es gewohnt, die Geschichte für sich sprechen zu lassen. Natürlich: in der Geschichte der chinesischen Nation zählen zehn oder 20 Jahre des Wartens nicht viel. Wenn man jedoch mit akuten Problemen konfrontiert wird, ist dann ein stummes Abwarten der Sache dienlich?568
Des Weiteren zeigt sich Xu bestrebt, die Ausmaße des 228-Aufstandes zu marginalisieren. Die Gesamtzahl der Opfer beziffert er auf lediglich 239 Tote, 1882 Verletzte und zwei Vermisste569 – ohne jedoch auszuweisen, auf welche Quellen sich diese Angaben stützen. In seinem Bericht finden zudem nur die Festländer Erwähnung, die in den ersten Tagen des 228-Aufstandes angeblich Opfer von taiwanesischen Aufständischen geworden waren. Die Ausschreitungen der Armee, die nach dem 8.3.47 einsetzten, bleiben hingegen unerwähnt. Aus dem Bericht des Xu Chengzong gewinnt der Leser den Eindruck, dass mit der Ankunft der Armee (die Xu fälschlicherweise auf den 9.3. datiert) unmittelbar die öffentliche Ordnung auf der Insel wiederhergestellt worden sei. Am 9.3. ging die 21. Armee in Jilong an Land und wahrte die öffentliche Sicherheit […] Nach der Anlandung der Nationaltruppen hatte sich die so genannte „Schlichtungskommission zum 228-Aufstand“ bereits zerstreut […] Mit einem Mal waren die die dunklen Wolken und Rauchschwaden, die sich in den letzten Tagen über ganz Taiwan gelegt hatten, verflogen, und man sah wieder das Licht der Sonne.570
Auch in der Frage nach Schuld und Verantwortung des 228-Aufstandes werden in der Darstellung der Jifeng die offiziellen Aussagen des KMT-Regimes vollkommen unkritisch übernommen. Der erste offizielle Bericht über den 228-Aufstand, der im April 1947 vom damaligen Verteidigungsminister Bai Chongxi erging, wird wörtlich zitiert. 571 Verantwortlich seien demnach Kommunisten, unterstützt von Japanern und einigen wenigen taiwanesischen „Ehrgeizlingen“, welche den Vorfall vom 27.2. genutzt und gezielt angefacht hätten, um einen Sturz der Provinzregierung herbeizuführen. Xu Chengzong unternimmt große Anstrengungen, eine kommunistische Infiltration Taiwans seit den 20er Jahren zu belegen:
Armee in Taipei von Aufständischen angegriffen worden seien. Die Truppen seien erst am 9.3. auf Taiwan angekommen. Siehe Xu Chengzong 1980d: 56-66. 568 Xu Chengzong 1980c: 48. 569 Xu Chengzong 1980a: 90. 570 Xu Chengzong 1980d: 61. 571 Xu Chengzong 1980d: 57.
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Die Infiltration Taiwans durch die kommunistische Partei begann bereits im Jahre 1928, an der Spitze standen die beiden kommunistischen Anführern Xie Xuehong und Cai Xiaogan […] Bis zum Februar 1947 hatten sie nacheinander das „Arbeitskomitee der Stadt Taipei“ und das „Arbeitskomitee der Stadt Taizhong“ gegründet, zudem gab es Zweigstellen in den Städten Tainan, Jiayi und Gaoxiong […] Am Abend des 27.2.1947 geschah in Taipei der Vorfall, bei dem das Monopolbüro Zigaretten beschlagnahmte. Während die Massen den weiteren Abläufen blindlings gegenüberstanden, wurde [der Vorfall] von den Kommunisten sehr rasch kontrolliert und ausgenutzt, somit mutierte der Vorfall zum Vorspiel eines kommunistischen Komplotts, die lokale Herrschaft zu ergreifen.572
In der Frage der Verantwortung für den 228-Aufstand ist bemerkenswert, dass Gouverneur Chen Yi weitgehend von aller Mitschuld am Aufstand entlastet wird. Gespiegelt an den Zeitungsberichten des Jahres 1950, als Chen Yi auf Taiwan exekutiert wurde (vgl. 6.1.), kann man fast von einer Rehabilitation Chen Yis sprechen. Während des 228-Aufstandes sei er aufrichtig um eine friedliche Beilegung der Unruhen bemüht gewesen und daher stets mit Großmut und Nachsicht auf die Forderungen der Schlichtungskommission eingegangen. Dies sei jedoch von den Aufständischen ausgenutzt worden. Die Provinzregierung unter Gouverneur Chen Yi müsse sich daher allenfalls eine zu große Nachsicht und Naivität vorwerfen lassen. Es wird zudem angeführt, dass sich Taiwan in den Jahren nach 1945 in einer prekären ökonomischen Lage befunden habe, dies hätte bei einigen Taiwanesen zu Enttäuschung mit den neuen Machthabern geführt. Diese wirtschaftliche Notlage sei jedoch keinesfalls der KMT-Regierung anzulasten. Auslösend seien einerseits die Kriegszerstörungen auf Taiwan, andererseits die Zwänge des fortdauernden Bürgerkrieges auf dem Festland gewesen. Für die Taiwanesen im Allgemeinen gelte, dass nur eine kleine Minderheit zu Mitläufern des Aufstandes geworden sei und sich den Ausschreitungen angeschlossen hätte – ein Tatbestand, den Xu, ganz im Sinne der offiziellen Regierungsverlautbarungen von 1947, insbesondere der 50jährigen Phase der japanischen Okkupation und der damit einhergehenden Entfremdung vom chinesischen Vaterland anlastet. Für die große Mehrheit der Taiwanesen gelte jedoch, dass sie dem Aufstand ablehnend gegenübergestanden sei. Dies ist laut Xu ein bedeutender Punkt, den er mehrmals betont: Der 228-Aufstand könne nicht als Konflikt zwischen den verschiedenen Volksgruppen auf Taiwan verstanden werden. In der ersten Woche des 228-Vorfalles wurden auch nicht alle Festländer Opfer von Diskriminierung. Der Onkel des Autors war ein Festländer, der von einem Taiwanesen beschützt wurde. Daher müssen sich auch die taiwanesischen Mitbürger dieser Zeit nicht vor der Nation schämen.573
Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass der 228-Aufstand im Zuge des MeilidaoVorfalles an neuer Brisanz für die politische Auseinandersetzung gewann. Erstmals in der neueren Geschichte wurde der Aufstand in einen unmittelbaren Kontext zu aktuellen politischen Ereignissen auf Taiwan gestellt und von den beiden Extremen des politischen Spektrums – der Unabhängigkeitsbewegung im Ausland und der regimefreundlichen Zeitschrift Jifeng – als Maßstab und warnendes Beispiel mit aktuellem Bezug instrumentalisiert. Sowohl die Unabhängigkeitsbewegung in den USA als auch die konservativen Kräfte der 572 573
Xu Chengzong 1980d: 65f. Xu Chengzong 1980c: 49.
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Zeitschrift Jifeng betonten, es sei ihnen daran gelegen, eine Wiederholung des 228Aufstandes zu vermeiden. Dem lagen selbstverständlich zwei vollkommen unterschiedliche Interpretationen des Aufstandes zu Grunde. Aus jeweils unterschiedlicher Perspektive wurde von beiden extremen Standpunkten der Versuch unternommen, eine Art Deckungsgleichheit zwischen den Ereignissen der Jahre 1947 und 1979 zu erzwingen – ein bemühtes Unterfangen, das nach Meinung des Autors in beiden Fällen scheiterte. Aus Sicht der konservativen, regierungsnahen Kräfte der Jifeng war der 228-Aufstand, ebenso wie der Meilidao-Vorfall im Jahre 1979, ein gescheiterter Versuch von Kommunisten, die Regierung zu stürzen und die verschiedenen Bevölkerungsgruppen auf Taiwan gegeneinander aufzuwiegeln. Vordergründig schien diese Verbindung zwischen den beiden Ereignissen also nahe liegend: Der „Meilidao-Vorfall“ war, genauso wie der „228-Vorfall“, von Außen gesteuert. Ich bin überzeugt, dass die Wahrheit sicher bald bekannt wird. Im Meilidao-Vorfall zeigten die Taiwanesen, dass sie aus Überzeugung die Fähigkeit besitzen, die Vernunft zu wahren und die Regierung zu unterstützen. Man sieht, dass die Taiwanesen in ihrem Patriotismus niemandem nachstehen. Die Illusion der Leute, die schon den 228-Aufstand benutzen wollten, um Hass [zwischen den Volksgruppen] zu schüren, ist ein weiteres Mal fehlgeschlagen. 574
Diese Gleichsetzung kann allerdings nicht überzeugen, da die entscheidende Grundlage nicht glaubhaft gemacht werden kann. Weder im Meilidao-Vorfall noch im 228-Aufstand konnte eine maßgebliche Beteiligung kommunistischer Kräfte nachgewiesen werden. Wenngleich der Autor Xu Chengzong den Anschein eines objektiven historischen Tatsachenberichtes erweckt, beschränkt sich seine Darstellung des 228-Aufstandes letztlich auf ein unreflektiertes Konglomerat von einseitiger, voreingenommener Geschichtsbetrachtung und amorphen politischen Ressentiments. Der 228-Aufstand wird in seiner Interpretation auf die Phase vom 28.2., dem Ausbruch des Aufstandes, bis zum Eintreffen der Armee am 9.3. (richtig: 8.3.) eingeengt. Die Massaker an der taiwanesischen Bevölkerung, die in der Mehrzahl nach dem Eintreffen der Armee verübt wurden und die das eigentliche Trauma des 228-Aufstandes verursachten, werden nicht ansatzweise erwähnt, es wird auch kein Versuch der Verteidigung oder Relativierung dieser Gräueltaten unternommen – sie werden schlichtweg ignoriert. Als Fazit lässt sich konstatieren, dass der 228-Aufstand in der emotional geladenen Atmosphäre des Jahreswechsels 1979/80 von Gegnern und Befürwortern des Regimes auf Taiwan als Mahnruf genutzt wurde. Wenngleich der 228-Aufstand nur entfernte Ähnlichkeiten zu der Situation des Jahres 1979/80 aufwies, war beiden Seiten offenbar bewusst, welch große Anziehungskraft der 228-Aufstand auch nach 30 Jahren des Verschweigens auf Taiwan entfaltete. Nur so lässt sich erklären, dass sich das KMT-Regime angesichts der schweren politischen Krise, die der Meilidao-Vorfall und die Morde an der Familie des Lin Yixiong herbeigeführt hatten, veranlasst sah, das Tabu um den 228-Aufstand selbst zu durchbrechen und offensiv eine eigene, wenn auch wenig glaubwürdige Interpretation des Aufstandes zu präsentieren. Damit wurde jedoch unabsichtlich der Weg für abweichende Interpretationen bereitet, die in den Jahren nach 1981 den 228-Aufstand verstärkt in das Bewusstsein der taiwanesischen Gesellschaft vordringen ließen.
574
Xu Chengzong 1980c: 53.
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7.4.3 Taiwanesische Unabhängigkeit 7.4.3.1 „Republik China“ oder „Taiwan“? Es wäre selbstverständlich ein vergebliches Unterfangen, die oppositionellen Zeitschriften der 70er Jahre nach Beiträgen zu durchsuchen, die offen für eine taiwanesische Unabhängigkeit plädiert hätten. Unter den Bestimmungen des Kriegsrechtes und des berüchtigten „Strafparagraphen 100“ galt jedes Eintreten für die taiwanesische Unabhängigkeit als schweres Vergehen und wurde mit langen Haftstrafen geahndet. Die Frage, ob unter diesen Rahmenbedingungen dennoch eine Strömung innerhalb der Oppositionsbewegung existierte, die sich für eine taiwanesische Eigenstaatlichkeit einsetzte, muss differenziert beantwortet werden. Zum einen wäre hier die Frage zu stellen, welche Alternativen für die Zukunft Taiwans gesehen wurden. Diese Frage muss sich spiegeln an der zentralen Staatsdoktrin der KMT, die auf einer „Rückeroberung des Festlandes“ beruhte, und aus der sich weitgehend der Herrschaftsanspruch des KMT-Regimes ableitete. Auf diesen Anspruch einer zukünftigen Rückeroberung des Festlandes reagierte die Oppositionsbewegung auf verschiedene Weisen: Einerseits wurde dieser Zukunftsentwurf aufgegriffen und für die eigenen Ziele instrumentalisiert. Dies lässt sich darstellen an dem Begriff des „Zusammenschlusses“ (tuanjie)575 aller gesellschaftlichen Kräfte für die heilige Mission der Rückeroberung des Vaterlandes, der seit Ende der 60er Jahre vom Regime als politische Parole ausgegeben worden war. Hierzu schrieb Huang Hua in der Taiwan zhenglun: Was bedeutet tuanjie? Bedeutet tuanjie etwa, dass alle Bürger ihren Personalausweis gegen einen Mitgliedsausweis der KMT eintauschen? Bedeutet tuanjie, dass die Kandidaten der KMT mit 100% der Stimmen gewählt werden? Bedeutet tuanjie, dass alle Zeitungen und Zeitschriften täglich ein Loblied [auf die KMT] anstimmen und alle Leute „Hoch“ und „Großartig“ schreien? Ich denke, dass nur Idioten so eine Art von tuanjie begrüßen würden. […] Ein erzwungenes tuanjie ist sicherlich hohl und falsch, und dies ist manchmal noch gefährlicher als gar kein tuanjie […] Ein aufrichtiges tuanjie bedeutet, dass sich alle Menschen freiwillig, aus eigener Initiative und mit ganzem Herzen beteiligen. Wie aber können die Beteiligten „aufrichtig“ sein, wenn ihre grundlegenden Rechte und ihr Status nicht gerecht und vernünftig respektiert werden?576
Es wird ersichtlich, wie hier eine doppelte Strategie verfolgt wurde: Zwar wurde das Staatsziel der „Rückeroberung des Festlandes“ nicht hinterfragt und offensichtlich sogar für ein „aufrichtiges tuanjie“ geworben. Die Verwirklichung dieses Ziels wurde jedoch an Bedingungen geknüpft, die in Wahrheit den Kern der Oppositionsbewegung ausmachten: Politische Initiative des Volkes (also auch demokratische Möglichkeiten der politischen Artikulation) und Wahrung der Grundrechte. Andererseits wurde in weiten Teilen der Oppositionsbewegung das Staatsziel der Rückeroberung des Festlandes mit großer Skepsis betrachtet. Wie bereits erwähnt, hatte das ROC-Regime seit Beginn der 70er Jahre einige schwere Niederlagen im internationalen Feld hinnehmen müssen. Nach dem Auszug der ROC aus den Vereinten Nationen 1972 und dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu den USA 1979 schwand der 575 576
Tuanjie ൈ㎀ Huang Hua 1975b: 39.
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internationale Rückhalt für die ROC zusehends. Dies führte in weiten Teilen der Oppositionsbewegung und des Volkes allgemein zu einer tiefen Verunsicherung. Das Vertrauen in die Steuerungsfähigkeit der KMT war schwer angeschlagen, ein Gefühl der existentiellen Bedrohung stellte sich ein. Vor diesem Hintergrund schien es zunehmend unrealistisch, weiterhin auf eine Überwindung des kommunistischen Gegners zu hoffen. In einem Artikel von Zhang Junhong heißt es hierzu lakonisch: Natürlich gibt es auch noch Leute, die behaupten, dass das Festland ein untrennbarer Teil des heiligen Territoriums der Republik China und dass die Rückeroberung des Festlandes immer noch die heilige Mission des Volkes sei […] Diese Ansicht entspricht am ehesten unserer Staatspolitik. Schade ist nur: Diese Staatspolitik der Rückeroberung des Festlandes ließ sich lange Zeit nicht umsetzen und verwirklichen. Einige Leute reden zwar noch davon, aber nur sehr wenige schenken dem noch Beachtung.577
Im Gegenteil: Indem die KMT unbeirrt und kompromisslos an einem angesichts der eigenen Schwäche aussichtslosen Kampf gegen das kommunistische Festland festhielt, geriet Taiwan zunehmend selbst in Gefahr, Opfer einer festlandchinesischen Aggression zu werden. Als im November 1975 bekannt wurde, dass US-Präsident Ford einen Besuch in der VRCh plante, appellierte die Taiwan zhenglun in einem verzweifelten und kämpferischen Leitartikel an die gemeinsamen demokratischen Wertvorstellungen und die Entschlossenheit der Taiwanesen: Präsident Ford sollte erkennen: Zwar sind die Bewohner von Taiwan von Natur aus lethargisch und nehmen Widrigkeiten fügsam hin. Falls aber eines Tages ein Punkt erreicht wird, an dem unsere Duldsamkeit zu keinem Ergebnis mehr führt, dann werden wir nicht einfach dasitzen und auf den Tod warten. Auch wir werden für unsere Zukunft einen Entscheidungskampf auf Leben und Tod führen. Wir sehen ganz klar, dass sich an der Ostküste Taiwans der tosende Pazifische Ozean erstreckt, hier gibt es keinen Ort mehr, an den wir fliehen könnten […] Was auch immer kommen mag und egal, welcher Druck auf uns lastet: Wir werden niemals die Herrschaft eines kommunistischen Systems hinnehmen. Für die Heimaterde unserer Vorfahren, für unsere schöne Insel, werden wir entschlossen kämpfen, bis zum letzten Soldaten und bis zum letzten Blutstropfen.578
Die antikommunistische Haltung der Regierung wurde also übernommen – jedoch nicht in der offensiven Art des KMT-Regimes, die, zumindest vordergründig, einen Sieg über den kommunistischen Gegner propagierte, sondern aus Perspektive einer nahezu verzweifelten Defensive. Trotz der martialischen Untertöne war jedem bewusst, welches Ergebnis ein solcher „Entscheidungskampf auf Leben und Tod“ gegen den übermächtigen kommunistischen Gegner letztlich haben würde. Es ist jedoch zu betonen, dass diese Wahrnehmung der VRCh als potentielle Bedrohung für die eigene Existenz nicht von allen Seiten der Oppositionsbewegung geteilt wurde. Der unversöhnliche Gegensatz zwischen taiwanesischer Selbstbestimmung und territorialen Ansprüchen der VRCh, wie er sich zu Beginn der 80er Jahre deutlich herausbildete, wurde zu diesem relativ frühen Zeitpunkt noch nicht allgemein in dieser Schärfe erkannt. Einerseits setzte man große Erwartungen auf die demokratische Bewegung innerhalb der 577 578
Zhang Jinghan 1975a: 8. o.A. 1975f: 3.
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VRCh selbst, zum anderen wurde gehofft, dass die VRCh ihren territorialen Anspruch auf Taiwan letztlich nicht allzu ernst nehmen würde. Eine politisch linke Strömung innerhalb der Oppositionsbewegung, die sich insbesondere innerhalb der Meilidao sammelte, trat der VRCh daher durchaus freundlich gegenüber. Frau Linda Arrigo, die maßgeblich an der redaktionellen Leitung der Meilidao beteiligt war, meinte hierzu: In 1978/79, and even up to 1980 or even later, we didn’t really have a sense that China would take a very reactionary position or that it would not support the democratic movement in Taiwan. We believed a lot of its propaganda: that it was in favour of the national liberation movements throughout the world, and „up with the people” and democratic socialism and all of that stuff […] I think [China] did have a strong nationalist stance. But it wasn’t so clear that it was so ob579 noxious, it wasn’t so clear that it was really an oppressive stance.
Insbesondere in dieser linken Strömung wurde der Kampf gegen die Herrschaft der KMT auch als Kampf für die staatliche Unabhängigkeit Taiwans begriffen. Durch die Infragestellung des Staatszieles der „Rückeroberung des Festlandes“ wurde eine Basis geschaffen, den Herrschaftsanspruch der KMT und den Status der ROC als „einzig legitime Regierung Chinas“ zu erodieren. Wenn man auf eine Rückeroberung verzichtete, blieb als logische Konsequenz nur eine Verweisung auf die Insel Taiwan als verbleibendes Staatsgebiet – und damit implizit ein Eintreten für taiwanesische Unabhängigkeit. Dieser implizite Zusammenhang wurde von Teilen der Oppositionsbewegung durchaus wahrgenommen, wenngleich im Hinblick auf die bestehende Rechtslage ein offenes Eintreten für taiwanesische Unabhängigkeit unmöglich war. 580 In der Meilidao finden sich gelegentlich sehr subtile Anspielungen auf den Wunsch nach staatlicher Unabhängigkeit, die sich jedoch niemals zu deutlich artikulieren konnten. Ein anschauliches Beispiel hierfür bietet ein Beitrag aus der zweiten Ausgabe der Zeitschrift: Am 10.9.1979 gelang es einem Ärzteteam des Changkang-Hospitals in Taipei, die dreijährigen siamesischen Zwillingsschwestern Zhang Zhongren und Zhang Zhongyi, die am Beckenknochen zusammengewachsen waren, durch einen operativen Eingriff zu trennen. Die Operation wurde in der Presse mit großem Interesse verfolgt, da Taiwan hier die Gelegenheit hatte, den hohen Stand der medizinischen Forschung des Landes unter Beweis zu stellen. Nach dem erfolgreichen Eingriff erschien in der September-Ausgabe der Meilidao ein Gedicht von Lin Wende, der in einer kaum verschleierten Analogie die Segnungen eines „unabhängigen Daseins“ rühmte: Ein Hoch auf die Trennung und das unabhängige Leben Von nun an sind Zhongren und Zhongyi eigenständige Personen Sie träumen nicht länger verschiedene Träume im gleichen Bett 579
Interview mit Linda Arrigo am 24.2.04 Im Dezember 1975 fand in den Vereinigten Staaten ein Interview der Zeitschrift The Asia Mail mit Huang Xinjie statt. In diesem bemerkenswerten Gespräch wird erkenntlich, wie Huang das Thema einer staatlichen Eigenständigkeit für Taiwan sehr ambivalent beantwortete. So äußerte Huang auf die Frage, ob er mit dem Ziel der Rückkehr auf das Festland übereinstimme, ausweichend: „Whether I agree with this policy or not is another matter. It is the top priority of the country. We Taiwanese agree with this policy, but they [the KMT] have said it for so long. We want them to get on with it.” An einer anderen Stelle desselben Interviews meint er hingegen mit Bezug auf das Shanghai-Communique: „Taiwanese feel that […] Taiwan is not part of the mainland […] Some of the people of the U.S. are emigrants from England. Now, does the U.S. belong to England? No, that kind of talk doesn’t make sense“. Henderson 1976: 7f. 580
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Die frühe Dangwai-Bewegung Und die eine erwacht während die andere schläft […] Der Sinn des Lebens ist, sein eigener Herr zu sein Der Wert des Lebens ist die Unabhängigkeit für jeden […] Für die Seelen der 18 Millionen ist dies Ansporn und Inspiration: Die Trennung ist vollbracht, das Leben ist unabhängig!581
Als Fazit lässt sich jedoch festhalten, dass die Oppositionsbewegung der 70er Jahre vollkommen im Zeichen des Kampfes gegen das autoritäre KMT-Regime und für die Demokratisierung Taiwans stand. Die Frage, welche zukünftige Entwicklung Taiwan nehmen sollte, war zu diesem Zeitpunkt von untergeordneter Bedeutung. Dies ist auch nicht erstaunlich: Zunächst musste der Kampf gewonnen werden, das Ringen gegen den übermächtigen Gegner KMT ließ kaum Raum für eigene politische Entwürfe. Die Vorstellungen über die Zukunft Taiwans, soweit sie existierten, waren zudem schemenhaft und widersprüchlich. Das Spektrum reichte dabei von einer moderaten Opposition, welche die antikommunistische Haltung der KMT teilte, bis hin zu einer linken Oppositionsbewegung, die sich vor allem zu Ende der 70er Jahre in der Meilidao sammelte, in radikalerer Form für eine taiwanesische Unabhängigkeit eintrat und der VRCh teilweise freundlich gegenüberstand. Bemerkenswert ist hierbei, dass diese unterschiedlichen politischen Orientierungen zu diesem Zeitpunkt noch kaum zu internen Spannungen führten. Die gemeinsame Gegnerschaft zum KMT-Regime, das sich in den 70er Jahren außenpolitisch schwer beschädigt, im Inneren jedoch unverändert dominant präsentierte, überwog alle Diskrepanzen innerhalb der Oppositionsbewegung.
7.4.3.2 „Aufgeklärte“, „Militär“ und Präsident: die Gegner der Dangwai Es ist auffallend, dass der „Gegner“ KMT in der Dangwai-Bewegung durchaus differenziert wahrgenommen wurde – im Gegensatz etwa zu der Unabhängigkeitsbewegung im Ausland. Es lässt sich eine dreifache Abstufung erkennen: Zum einen blieb Jiang Jingguo von politischer Kritik weitgehend ausgenommen. Jiang Jingguo, so der allgemeine Konsens, sei aufrichtig um Wohlstand und Reformen bemüht. 582 Jedoch habe seine Kraft Grenzen, gerade zur Unterstützung seiner Bemühungen müsse die vollständige demokratische Öffnung des Systems erfolgen. Im Fernsehen, in der Zeitung, sehe ich ihn [Jiang Jingguo] fast ohne jede Rast von Ost nach West [der Insel] eilen, seine Spuren finden sich noch in den ländlichen und abgelegenen Gebieten Taiwans. Unaufhörlich will er den Wünschen und Befindlichkeiten des Volkes nachspüren, und er hält seine Untergebenen beständig zu Selbstdisziplin und Integrität an […] Aber die Kraft und die Zeit eines Einzelnen sind begrenzt. […] Der Grund ist einfach: Es fehlt an Wettbewerb. 581
Lin Wende 1979: 87. Es sollte betont werden, dass offene Kritik am Staatsoberhaupt mit großen Gefahren verbunden war. Ein anschauliches Beispiel hierfür bietet der Fall des parteilosen Kandidaten Bai Yacan: Im Wahlkampf zu den Ergänzungswahlen zum Legislativ-Yuan im Dezember 1975 veröffentlichte Bai eine „Erklärung“, in der er 29 kritische Fragen an Jiang Jingguo richtete. In der Erklärung wurde unter anderem darauf hingewiesen, dass Jiang Jingguo weder Einkommens- noch Erbschaftssteuer zahle, dass sein Sohn Jiang Xiaoyong trotz mangelnder Qualifikation einen Studienplatz an der prestigeträchtigen Taiwan National University erhalten hatte, und dass der Besitz der Familie Jiang zum großen Teil ins Ausland transferiert worden sei. Auf Grund dieser Erklärung wurde Bai zu lebenslanger Haft verurteilt. Vgl. Shi Ming 2001: 219 ff. 582
Ergebnisse im Kontext dieser Arbeit
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Ohne Wettbewerb wird ein Organismus automatisch aufgebläht, automatisch stellen sich Trägheit und Ineffizienz ein. Wenn man nun eine konkurrierende politische Kraft zulassen, der Vorsitzende Jiang sich auf den Posten einer nationalen Führungsrolle zurückziehen und man zulassen würde, das sich auf natürliche Weise eine kontrollierende Kraft bildet, dann würde dies auch die KMT zu einer Gesundung führen […]583
Weiterhin unterschied man eine „aufgeklärte Fraktion“ 584 innerhalb der KMT, bei der man im Streben nach politischer Demokratisierung auf Verständnis und vielleicht sogar Kooperation hoffte. Der Dialog mit dieser Strömung der KMT wurde etwa in gemeinsamen Symposien gesucht,585 selbst zur Gründungsveranstaltung der Zeitschrift Meilidao wurden führende Mitglieder der KMT (darunter auch Präsident Jiang Jingguo, der die Einladung natürlich nicht wahrnahm) eingeladen. Die Suche nach politischen Alliierten innerhalb der KMT war durchaus nahe liegend – immerhin hatten einige führende Mitglieder der Dangwai ihre politische Karriere selbst in der Partei begonnen. Schließlich fanden sich am äußerst rechten Rand des Regimes die Kräfte des Militärs, der Garnison, der Polizei und der Geheimdienste. 586 Diese als qingzhi danwei (Sicherheitsdienste) 587 bezeichnete ultrakonservative Strömung stand in den Augen der Dangwai in unversöhnlicher Gegnerschaft zu politischen Reformen, hier fand sich der eigentliche Gegner der Demokratiebewegung: In unserem Land gibt es augenblicklich viele Experten für politische Kriegsführung, die ursprünglich für militärische Zwecke ausgebildet wurden […] In ihren Köpfen finden sich immer noch [Begriffe wie] „Führer, Ideologie, Nation“. Wie reagieren sie nun, wenn sie in der Gesellschaft mit der aufstrebenden Welle der Demokratiebewegung konfrontiert werden? […] Sie erkennen den wahren Wert der Demokratie nicht an. Sie betrachten alle Menschen mit abweichenden politischen Ansichten als Feinde […] sie haben sogar die Hoffnung, die Massenmedien zu kontrollieren und [so] ihre Truppen für den psychologischen Krieg zu mobilisieren. Sie betreiben Propaganda, setzen Gerüchte in Umlauf und polemisieren, alle Mittel sind willkommen. Es handelt sich sozusagen um eine „totale Mobilmachung“. Sie haben auch keine Hemmungen, militärische Strategien einzusetzen. Sie manipulieren das öffentliche Urteil, um die „Handlanger ihrer Feinde“ auszurotten.588
Mit Sorge betrachtete die Dangwai insbesondere nach Abbruch der Wahlen im Dezember 1978, wie sich innerhalb der KMT eine konservative Wende abzuzeichnen drohte. In der Erstausgabe der Meilidao appellierte die Zeitschrift in ihrem Leitartikel, diesen verderblichen Einfluss der Konservativen abzuwenden: 583
Huang Hua 1975a: 14 . Kaiming pai 䮻᰾⍮ 585 Der Versuch des Dialogs war indes nicht immer erfolgreich. So wurde im Oktober 1979 der Vorsitzende des Petitionsausschusses des Legislativ-Yuans, Pan Rongli, von der Meilidao zur Gründungsveranstaltung des „Nationalen Freundschaftsverein der Autoren von verbotenen Büchern“ geladen. Das Gespräch über Fragen der Meinungsfreiheit verlief wenig fruchtbar; immerhin wurde Herrn Pan in der folgenden Ausgabe der Meilidao jedoch Raum gewährt, seine Sicht des Gespräches darzubieten. Siehe Pan Rongli 1979: 98-100. In dem Artikel beschreibt Pan, wie er alle Kritik der Dangwai-Vertreter am Regime souverän widerlegte und seine Gesprächspartner schließlich beschämt verstummten. Der Beitrag wurde unkommentiert abgedruckt. 586 Die Geheimdienste des Regimes waren in vier Zweige gegliedert: das Büro für Nationale Sicherheit, das Untersuchungsbüro des Justizministeriums, der Nachrichtendienst des Verteidigungsministeriums und der Agentenapparat der Garnisonskommandantur Taiwan. 587 Qingzhi danwei ᛵ⋫ս 588 Chen Bowen 1979: 96. 584
218
Die frühe Dangwai-Bewegung
Wir sind der Meinung, dass der Rückzug der KMT-Regierung auf konservative Positionen unser Land und unsere Gesellschaft auf einen tragischen Weg führen wird: Die Herrschaft des Militärs und der Geheimdienste. Militär und Geheimdienste betrachten das ganze Volk als potentielle Räuber des „privaten Gutes der Einen Partei“ (der politischen Herrschaft), daher [gründen sie ihre Herrschaft] auf politischen Terror und lückenlose Kontrolle. Ihrem Wesen nach stehen sie im Gegensatz zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. 589
Die qingzhi danwei agierten nach Ansicht der Dangwai weitgehend autonom; zudem machten sie sich kriminelle Elemente für ihren Kampf gegen die Demokratiebewegung zu Nutze. Zum einen wurde ihnen unterstellt, Verbindungen zur taiwanesischen Unterwelt zu unterhalten. Diese seien etwa für die zahlreichen Angriffe auf Service-Büros der MeilidaoGruppe verantwortlich. Außerdem hätten die Agentenapparate Massenkundgebungen der Dangwai durch jugendliche Kriminelle infiltriert, um Konflikte mit regulären Polizeikräften zu provozieren und so die Opposition zu diskreditieren – so etwa beim MeilidaoVorfall, der nur auf Grund solcher gezielten Störaktionen schließlich eskaliert sei. Schließlich wurde der radikal-konservative Flügel der KMT auch verdächtig, die Morde an der Familie des Lin Yixiong verübt zu haben – eine Ansicht, die sich innerhalb der Dangwai fast ungeteilt durchsetzte. Die ultrakonservative Strömung des KMT-Regimes fand ihre publizistische Plattform in der bereits erwähnten Zeitschrift Jifeng. Die politische Zeitschrift wurde im August 1979 von Konservativen um Shen Guangxiu, Xiao Yujing und Li Shengfeng gegründet und sah sich in bewusster Gegnerschaft zu den politischen Zeitschriften der Opposition; die Herausgeber verstanden sich als aufrechte Patrioten im Kampf gegen Kommunisten und Vaterlandsverräter. 590 Als Reaktion auf die Gründung der Meilidao entstand aus Kreisen der Jifeng die Gruppe der „antikommunistischen Patrioten“, die gezielt die Veranstaltungen der Opposition störten. Es stellt sich schließlich die Frage, inwieweit die Dangwai zu diesem Zeitpunkt zu einem gewalttätigen Konflikt mit dem Regime bereit war. Es steht außer Zweifel, dass sich die Zusammenstöße zwischen Opposition und Ordnungskräften im Lauf des Jahres 1979 mehrten. Auch war in den Kreisen der Meilidao eine Radikalisierung der Sprache zu beobachten – insbesondere in der oben erwähnten Ansprache des Lin Yixiong am 29.6.79, in welcher er die Opposition dazu aufforderte, in Zukunft „Gewalt gegen Gewalt“ zu setzen. Und schließlich war der Meilidao-Vorfall am 10.12.79 von gewalttätigen Ausschreitungen begleitet. Es wäre nach Ansicht des Autors jedoch ein Trugschluss, diese gewalttätigen Vorfälle als gezielte Angriffe auf die Regierung zu interpretieren. Vielmehr waren sie unausweichliche Begleiterscheinungen einer Oppositionsbewegung, die vermehrt auf Massenmobilisierung und Demonstrationen setzte und dabei in Konflikt mit einem restriktiven Polizeiapparat geriet. Unabhängig von der Frage, von welcher Seite die Zusammenstöße jeweils provoziert wurden, lässt sich festhalten, dass zu keinem Zeitpunkt die Staatsführung selbst mit gewalttätigen Methoden bekämpft werden sollte. Nie wurden etwa aus Kreisen der Dangwai Anschläge auf führende Politiker verübt oder staatliche Einrichtungen tätlich angegriffen. Trotz aller Rückschläge der Jahre 1978 und 1979 war die Oppositionsbewegung der 70er Jahre von der Hoffnung getragen, eine friedliche Reform des bestehenden Systems zu erwirken. 589
o.A. 1979c: 7. Shen Junshan hingegen bezeichnete die Herausgeber der Jifeng einmal als „tollwütige faschistische Hunde“. Vgl. Lü Xiulian 1997: 285. 590
8 Die Dangwai-Bewegung nach dem Meilidao-Vorfall
Im Anschluss an den Meilidao-Vorfall des Jahres 1979/80 erfolgte zu Beginn der 80er Jahre ein rascher Neubeginn der demokratischen Oppositionsbewegung auf Taiwan. Zwei Besonderheiten prägten diese Phase: Zum einen nutzte die Bewegung nun verstärkt politische Magazine als Medium der politischen Auseinandersetzung. Im Gegensatz zu den 70er Jahren, in denen jeweils eine (wie 1975 die Taiwan zhenglun) oder zwei Zeitschriften (1979 die Meilidao neben der Bashi niandai) die Presselandschaft der Opposition dominiert hatten, war nun außerhalb der vom Regime kontrollierten Massenmedien ein großer Markt für politisch abweichende Meinungen entstanden. Zum zweiten wurden die Divergenzen innerhalb der Oppositionsbewegung, die sich bereits in der vorangegangenen Phase angedeutet hatten, zunehmend manifest und mündeten schließlich in einen Richtungsstreit zwischen der moderaten Kang Ningxiang-Gruppe und der radikalen Jungen Generation. Dieser Richtungsstreit hatte im Jahr 1983 erstmals eine Schwächung der Dangwai zur Folge. Durch die Gründung verschiedener Organisationen wurde mehrmals vergeblich der Versuch unternommen, die zwei Strömungen der Opposition zu versöhnen und zu einem geschlossenen Auftreten zu finden. Die Gründung der Oppositionspartei DPP (Democratic Progressive Party) im Herbst 1986 markierte schließlich das Ende der Dangwai-Periode, die meisten der oppositionellen Zeitschriften stellten ihr Erscheinen ein.
8.1 Die oppositionellen Zeitschriften der späteren Dangwai-Periode Im Zuge des Meilidao-Vorfalles im Dezember 1979 waren sämtliche oppositionellen Zeitschriften (mit Ausnahme der Bashi niandai) mit einem Verbot belegt worden, zudem wurde die Vergabe von neuen Zeitschriftenlizenzen für die Dauer von einem Jahr eingefroren. Nach Ablauf dieser Frist begann zu Anfang des Jahres 1981 die zweite Phase der DangwaiZeitschriften. Diese zweite Phase, in Anlehnung an die chinesische Geschichte auch „Zeit der Streitenden Reiche“591 genannt, war durch eine unübersichtliche Vielfalt von Publikationen gekennzeichnet. Diese Entwicklung hatte mehrere Konsequenzen: 1.
2.
591
Erstens war das KMT-Regime nicht länger in der Lage, die oppositionellen Zeitschriften im selben Umfang wie zuvor einer umfassenden Kontrolle zu unterwerfen. Wenngleich einzelne Zeitschriften immer wieder durch Verbote und Konfiszierungen einzelner Ausgaben behindert wurden, war die Gesamtheit der Dangwai-Publikationen faktisch unangreifbar geworden. Zweitens hatte sich zwischen den Zeitschriften und dem KMT-Regime ein Kampf um die Meinungsfreiheit herausgebildet, der eigenen, mitunter informellen und unkonvenZhanguo shidai ᡠ഻ᱲԓ
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3.
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5.
Die Dangwai-Bewegung nach dem Meilidao-Vorfall tionellen Regeln folgte. Die Redaktionen der Zeitschriften konnten dabei gezielt gegen bestehende Beschränkungen der Redefreiheit aufbegehren und kontrollierte Risiken eingehen – wie gezeigt werden soll, war hierbei die Berichterstattung über den 228Aufstand von großer Bedeutung. Nur selten führten solche gezielten Tabubrüche zum Niedergang einer Zeitschrift. Drittens war in der Dangwai erstmals das Berufsbild des Zeitschriftenredakteurs entstanden. Während die Verantwortlichen der Taiwan zhenglun und der Meilidao im Regelfall neben ihrer publizistischen Tätigkeit noch anderen Berufen nachgingen (sei es als Juristen oder politische Mandatsträger), wurde nun die Mehrzahl der Zeitschriften von professionellen Redaktionen geleitet. Viertens führte das Überangebot auf dem politischen Meinungsmarkt zu deutlich stärkeren Dissonanzen zwischen den oppositionellen Zeitschriften. Die meisten der Dangwai-Zeitschriften standen verschiedenen politischen Lagern innerhalb der Opposition nahe, die sich insbesondere im Hinblick auf ihre Radikalität (Revolutionäre gegen Reformer) und in ihrer Haltung gegenüber dem chinesischen Festland (taiwanesische Unabhängigkeit gegen Wiedervereinigung mit China) voneinander abgrenzten. Dies galt bereits für die Phase vor dem Meilidao-Vorfall, 592 als die Zeitschrift Meilidao für eine radikalere Opposition eintrat, während die Bashi niandai eher den gemäßigten Kräften nahe stand. Diese politischen Divergenzen wurden seit Beginn der 80er Jahre zudem durch Unstimmigkeiten überlagert, die ihren Ursprung im ökonomischen Wettbewerb hatten und sich oftmals in persönlichen Animositäten niederschlugen. Fünftens mussten sich die Dangwai-Zeitschriften nun vermehrt an den Bedürfnissen des Marktes orientieren. Nach Ansicht einiger Beobachter hatte dies ein allgemeines Absinken des journalistischen Niveaus zur Folge. Politische Analysen und theoretische Erörterungen traten immer mehr in den Hintergrund, der neue Schwerpunkt wurde auf aktuelle Berichterstattung und regionale Nachrichten gelegt. Zudem wurde nun in viel stärkerem Maße als zuvor an ein Taiwan-Bewusstsein appelliert.
8.1.1 Die Oppositionszeitschriften in Konflikt mit dem KMT-Regime In den Jahren nach 1980 wurde der Kampf um eine Ausweitung der Redefreiheit zu einem dominierenden Thema der Dangwai-Zeitschriften. Der journalistischen Arbeit waren dabei Grenzen gesetzt, die auf unscharfen Bestimmungen mit einem weiten Interpretationsrahmen beruhten. Verbote bestanden etwa gegen „Beleidigung des Staatsoberhauptes“, „Propaganda für den kommunistischen Feind“, „Verrat von Staatsgeheimnissen“ und „Störung der öffentlichen Moral“. 593 Seitens der Dangwai wurde beklagt, dass die Behörden oft
592 Im Hinblick auf ein chinesisches Nationalverständnis und dem Ziel einer Wiedervereinigung mit dem Festland war innerhalb der Dangwai insbesondere die Zeitschrift Xiachao ༿ᵍ von großer Bedeutung. Die Zeitschrift wurde bereits im Jahr 1976 gegründet, sie war jedoch an den bedeutenden politischen Auseinandersetzungen der 70er Jahre nicht maßgeblich beteiligt und wurde daher im vorangegangenen Kapiteln nicht berücksichtigt. 593 Die rechtliche Grundlage dieser Bestimmungen bildeten verschiedene Gesetzeswerke, insbesondere das Kriegsrecht (jieyanfa ᡂ⌅), das Gesetz zur nationalen Mobilisierung (guojia zong dong-yuan fa ഻ᇦ㑭अ⌅) und die Bestimmungen zur Regelung von Druckerzeugnissen unter dem Kriegsrecht im Gebiet Taiwan (Taiwan diqu jieyan shiqi chubanwu guanzhi banfa ਠ⚓ൠ॰ᡂᱲᵏࠪ⡸⢙㇑ࡦ䗖⌅). Es blieb unklar, in welchem Zusam-
Die oppositionellen Zeitschriften der späteren Dangwai-Periode
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willkürlich Verbote verhängten, die jeder juristischen Grundlage entbehrten. In einem Artikel der Zeitschrift Qianjin/Progress, die zu den Hauptleidtragenden der staatlichen Repressionsmaßnahmen zählte, hieß es hierzu: […] als Gründe für die Verbote werden stets „Verwirrung der öffentlichen Meinung“, „Herbeiführen von Zwistigkeiten zwischen Volk und Regierung“ und andere verschwommene Begriffe angeführt, das sind alles überhaupt keine formalen juristischen Termini […] Als Grundlage für Verbote dienen heute nicht etwa ordentliche Gesetze, die vom Legislativ-Yuan verabschiedet worden wären. Kann man etwa mit einfachen Verwaltungsanordnungen oder ähnlichen Bestimmungen die Verfassung außer Kraft setzen?594
Das Instrumentarium der staatlichen Repressionsmaßnahmen reichte von Verwarnungen über Geldstrafen und Konfiszierung einzelner Ausgaben bis hin zu einem zeitlich begrenzten Entzug der Zeitschriftenlizenz – im Normalfall für ein Jahr. Verbote gegen DangwaiZeitschriften wurden seit Anfang der 80er Jahre mit solcher Regelmäßigkeit verhängt, dass Yan Jinfu zu diesem Thema schrieb: „Entzug der Lizenz, Raub [d.h. widerrechtliche Konfiszierung von Zeitschriften] und Verbote gegen Dangwai-Zeitschriften sind schon keine Neuigkeit mehr. Unter den Dangwai-Zeitschriften geht das geflügelte Wort: ‚Nicht verboten zu werden, das ist eine Neuigkeit!’.“595 Im Juli 1984 vermeldete die Zeitschrift Qianjin, dass die KMT innerhalb eines Monats 14 Verbote gegen Zeitschriften verhängt und damit einen neuen Weltrekord aufgestellt habe, „[…] außer Taiwan selbst kann diesen Rekord wohl kein Land der Erde brechen!“. 596 Im Juli 1985 erschien in der Penglaidao597 anlässlich des einjährigen Bestehens der Zeitschrift eine weitere rekordverdächtige Meldung: Von den ersten 51 Ausgaben seien 50 von Verboten und Konfiszierungen betroffen gewesen, damit sei eine Quote von über 98% erreicht worden.598 Für die Redaktionen der Zeitschriften bestand jedoch keine Verpflichtung, eine bestimmte Ausgabe bereits vor ihrem Erscheinen bei einer Zensurbehörde vorzulegen. Dies war sicher eine recht merkwürdige Besonderheit im Ringen zwischen den DangwaiZeitschriften und den staatlichen Behörden: Die staatliche Zensur setzte jeweils erst nach dem offiziellen Erscheinungstermin der Zeitschrift an, wenn die entsprechende Ausgabe bereits gedruckt und zur Auslieferung bereit war. Professor Li Xiaofeng, der zu Beginn der 80er Jahre in der Redaktion der Zeitschrift Bashi niandai/The Eighties tätig war, erläuterte hierzu: Die KMT behauptete immer, es gäbe auf Taiwan Meinungsfreiheit […] Sie kleideten [die Verbote] immer in schöne Worte: „Wir respektieren die Meinungsfreiheit, aber […] aus Gründen der nationalen Sicherheit müssen wir [die Zeitschriften] konfiszieren.“ Sie betonten immer den
menhang diese unterschiedlichen Gesetzestexte zueinander standen und welcher Bestimmung jeweils Vorrang einzuräumen war. Vgl. Xie Changting 1985: 60-63. 594 Li Rushan 1984: 7. 595 Yan Jinfu 1985: 1. Dies war keineswegs eine Übertreibung: So hatte etwa die Qianjin/Progress in einem Beitrag ihr Erstaunen über die Tatsache ausgedrückt, dass die Zeitschrift Zaiye pinglun einen äußerst KMT-kritischen Beitrag veröffentlicht hatte – und dafür wider Erwarten nicht verboten worden war. Siehe o.A. 1983d: 41. 596 Li Rushan 1984: 6. 597 Penglaidao 㬜㨺ጦ 598 Siehe Chen Liangsi 1985: 12-16.
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Die Dangwai-Bewegung nach dem Meilidao-Vorfall Respekt vor der Meinungsfreiheit, daher konnten sie [die Zeitschriften] nicht bereits im Vorfeld kontrollieren […]599
Wenn die Redaktion einer Zeitschrift in einem amtlichen Schreiben von einem Verbot benachrichtigt wurde, setzte daher ein Wettlauf gegen die Behörden ein: Wenn es gelang, die Hefte trotz des Verbotes in den Verkauf zu bringen, konnten gute Gewinne erzielt werden, da sich die entsprechende Ausgabe bei den Lesern besonderer Beliebtheit erfreute – andernfalls drohten hohe finanzielle Verluste. Verbote hatten große Auswirkung. Es gab zwei Möglichkeiten: Wenn die Hefte bereits gedruckt und im Verkauf waren und dann ein amtliches Schreiben kam […] wurden die Besitzer der Buchhandlungen informiert: „Die Ausgabe wurde verboten, schnell verstecken“. Aber die Leser fragten dann heimlich [nach der Ausgabe], sie wurde unter dem Tisch verkauft. Die Ausgabe wurde dann zu einem echten Verkaufsschlager. Wenn die Hefte aber noch in der Druckerei waren, dann wurden [sie] direkt in der Druckerei konfisziert, und das war dann wirklich Pech! Denn die Kosten waren sehr hoch, man hatte hohe Verluste. Es kam also immer auf die Situation an. Manchmal riefen wir von der Redaktion [bei der Druckerei] an: „Schnell, schnell, die Ausgabe wurde verboten!“ Und dann kam es zu einem echten Wettrennen […] Wenn wir zu langsam waren, wenn unsere Transportfahrzeuge zu spät kamen, dann wurden die Hefte [von der Polizei] weggeschleppt […] Das konnte eine Zeitschrift auch in den Ruin treiben. Aber wenn [die Hefte] dem Verbot entgehen konnten, konnte man viel Geld verdienen. Das kompensierte viele Verluste.600
Gelegentlich kam es hierbei zu grotesken Situationen. Die Fahrzeuge der Redaktionen, welche die Hefte in den Morgenstunden von Taipei in den Süden der Insel transportierten, konnten sich oftmals nur nach Verfolgungsjagden auf der Autobahn dem Zugriff der Polizei entziehen. Im März 1985 wollte Lin Zhengjie einer Konfiszierung seiner Zeitschrift Qianjin entgegenwirken, indem er sich gemeinsam mit seiner Ehefrau auf die fertig gedruckten und in der Druckerei bereitliegenden Heftstapel setzte. Trotz aller Drohungen der herbei beorderten Polizisten blieb er über zehn Stunden beharrlich sitzen, während Freunde ihn mit Nahrung und Getränken versorgten.601 Eine weitere Merkwürdigkeit bestand bezüglich der Vergabe von amtlichen Lizenzen. Wenn einer Zeitschrift die Lizenz entzogen wurde, bedeutete dies keineswegs, dass sie ihr Erscheinen auch tatsächlich einstellte. Für diesen Fall hatten die Redaktionen bereits im Vorfeld zahlreiche Lizenzen vorbereitet, die meist auf ähnlich lautende Namen ausgestellt waren.602 Sobald eine Lizenz durch ein Verbot „verbraucht“ war, wurde daher einfach der Name der Zeitschrift geändert, und die folgende Ausgabe konnte, meist ohne zeitliche Verzögerung, zum gewohnten Termin erscheinen. 603 Dieses Vorgehen wurde insbesondere von 599
Interview mit Li Xiaofeng am 3.3.04 Interview mit Li Xiaofeng am 3.3.04 601 Siehe Bi Li 1985: 38-41. 602 Eine erste Schwierigkeit im Zuge der Recherchen war daher, die entsprechenden Zeitschriften jeweils zu identifizieren. Die Zeitschrift Shengeng (␡㙅, Tiefes Pflügen) etwa änderte ihren Namen in „Shenggen“ (⭏ṩ, Wurzeln schlagen), „Shengen“ (␡ṩ, Tiefe Wurzeln) und „Shengen“ (ըṩ, Wurzeln austreiben). All diese ähnlich klingenden Namen werden im Chinesischen mit unterschiedlichen Schriftzeichen geschrieben, und die Anordnung der Zeitschriftenarchive in chinesischen Bibliotheken orientiert sich für gewöhnlich an der Anzahl der Striche eines Zeichens. 603 In der vorliegenden Arbeit werden die Zeitschriften dieser Periode daher auch nicht mit einem bestimmten Namen, sondern mit dem Begriff der „Reihe“ bezeichnet. 600
Die oppositionellen Zeitschriften der späteren Dangwai-Periode
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der Zeitschriftenreihe Ziyou shidai in rekordverdächtigem Maße angewandt: Nach Recherchen des Autors änderte die Zeitschrift in den 5 ½ Jahren ihres Bestehens nicht weniger als 47mal ihren Namen. Um den Lesern die Orientierung zu erleichtern, gingen die meisten Zeitschriften dazu über, sämtliche Ausgaben unabhängig vom jeweils verwendeten Namen mit einer durchlaufenden „Gesamtnummer“ zu versehen. Ein besonders kurioser Weg zur Umgehung der gesetzlichen Beschränkungen gegen politische Zeitschriften wurde von dem bekannten taiwanesischen Intellektuellen Li Ao eingeschlagen. Li Ao hatte bereits in den frühen 70er Jahren in der Zeitschrift Wenxing regimekritische Artikel veröffentlicht und damit große Bekanntheit erlangt, wegen seiner kritischen Äußerungen hatte er lange Haftstrafen verbüßt. 604 Auf Grund dieser Vorstrafen wurde ihm zu Beginn der 80er Jahre keine Lizenz für eine eigene Zeitschrift erteilt – woraufhin Li Ao das weltweit wohl einzigartige Projekt in Angriff nahm, jede Woche ein Buch zu veröffentlichen. Dieses Vorgehen hatte den großen Vorteil, dass seine Buchreihe Li Ao qianqiu pinglun congshu605 nicht den Bestimmungen des Zeitschriftenrechtes unterworfen war und daher auch nicht in ihrer Gesamtheit verboten werden konnte – entsprechende Verbote konnten sich jeweils nur gegen einzelne Exemplare richten. In einigen wenigen Fällen konnte es auch vorkommen, dass Redakteure von DangwaiZeitschriften auf Grund ihrer journalistischen Arbeit mit Gefängnisstrafen bedroht wurden. Hierbei kam eine Besonderheit der taiwanesischen Gesetzgebung zur Anwendung, welche den Tatbestand der „Verleumdung“ als strafrechtliches Vergehen betrachtet und mit verhältnismäßig schweren Strafen ahndet. Der bekannteste Fall betraf im Jahre 1985 Chen Shuibian, nach 2000 Präsident der ROC, der sich bereits als Strafverteidiger in den Meilidao-Prozessen (vgl. 7.3.5.) einen Namen innerhalb der Dangwai gemacht hatte und zu diesem Zeitpunkt als Mitherausgeber der Zeitschrift Penglaidao arbeitete. Am 19.6.1984 erschien in der Penglaidao ein Artikel, der sich mit den beklagenswerten Zuständen an der Donghai-Universität in Zentraltaiwan befasste. 606 Bemängelt wurde unter anderem die zunehmende Einflussnahme der KMT auf den Universitätsbetrieb, der sich in einem Absinken des akademischen Niveaus niederschlage. Eher beiläufig wurde dabei auch der Leiter der philosophischen Fakultät, Prof. Feng Huxiang, erwähnt, der „Übersetzungen statt eigener Arbeit“ leiste – ein impliziter Plagiatsvorwurf. Feng Huxiang verklagte daraufhin Chen Shuibian und zwei weitere Mitarbeiter der Penglaidao (Huang Tianfu und Li Yiyang) wegen Verleumdung, am 12.1.85 wurden die drei Angeklagten zu je einem Jahr Freiheitsentzug verurteilt,607 die Zeitschrift musste 200.000 NTD Entschädigung zahlen. Von Seiten der Dangwai wurde dieses Verfahren als politisch motivierter Angriff auf die Meinungsfreiheit betrachtet, Feng Huxiang sei von der KMT zu dieser Anklage
604 Die erste Verhaftung Li Aos erfolgte im Zuge von Bombenattentaten, die am 5.2.1971 auf eine USamerikanische Bankfiliale in Taipei und das taiwanesisch-amerikanische Nachrichtenbüro in Tainan verübt wurden. Li Ao und acht weitere Angeklagte wurden zu Haftstrafen zwischen zwölf und 15 Jahren verurteilt. Siehe Chen Bisheng 1984: 14. Li Ao meinte hierzu, die KMT habe lediglich eine Ausrede gesucht, um ihn für seine regimekritische Haltung zu bestrafen. Es besteht jedoch Unklarheit darüber, wann und wie oft Li Ao inhaftiert wurde, und wie lange diese Haftstrafen jeweils dauerten. Er selbst machte diesbezüglich offenbar widersprüchliche Angaben – ein Umstand, der ihn von seinen Kritikern im Zuge der „Kritisiert Li Ao“-Kampagne vorgehalten wurde (vgl. 8.1.2.). 605 Li Ao qianqiu pinglun congshu ᵾᮆॳ⿻䂅䄆ᴨ 606 Siehe Gao Yuren 1984: 12f. 607 Die Haftstrafe wurde später auf je acht Monate reduziert.
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Die Dangwai-Bewegung nach dem Meilidao-Vorfall
ermutigt worden. 608 Unmittelbar vor seinem Haftantritt äußerte Chen Shuibian in einem Interview seine Ansicht über die wahren Hintergründe des Vorgangs: Es gab in letzter Zeit Gerüchte, dass ich mich um das Amt des Kreisvorstehers von Tainan bewerben wollte, [die KMT] hatte Angst vor dieser Herausforderung und verurteilte mich daher zu einem Jahr Gefängnis […] ich werde jetzt meine Ehefrau ermutigen, an meiner Stelle zu kandidieren.609
Chen Shuibian weigerte sich demonstrativ, gegen das Urteil Berufung einzulegen. „Es gibt viele Arten des Protestes, Berufung ist eine Art, nicht in Berufung zu gehen ist eine andere Art […] Ich will persönlich ein Beispiel geben, und allen Leuten zeigen, dass man sich vor dem Gefängnis nicht fürchten muss.“610 Wenngleich dieser Vorfall in der oppositionellen Presse für großes Aufsehen sorgte und manche Autoren bereits einen Rückfall in die Zeiten der brutalen politischen Unterdrückung Andersdenkender fürchteten, sollte doch darauf hingewiesen werden, dass der Penglaidao-Fall sicher nicht mit den Repressionsmaßnahmen vorangegangener Jahre verglichen werden kann. In den 50er und 60er Jahren, zu den frühen Zeiten des Weißen Terrors, wurden politische Dissidenten zu Hunderten aufgegriffen, exekutiert oder für lange Jahre unter inhumanen Bedingungen und Folter eingekerkert. Noch im Jahr 1975 musste Huang Hua für sein politisches Engagement in der Taiwan zhenglun mit einer zehnjährigen Haftstrafe büßen. Der Meilidao-Vorfall 1979/80 kann wohl als der letzte große Zugriff des Regimes gegen die Opposition bezeichnet werden. In den 80er Jahren gehörten solche umfassenden, brutalen Repressionsmaßnahmen jedoch endgültig der Vergangenheit an. Dies soll den Respekt vor dem Mut und der Einsatzbereitschaft der oppositionellen Aktivisten dieser Zeit nicht mindern: Durch ihr politisches Engagement gingen sie mitunter erhebliche berufliche Risiken ein, für einen beherzten Artikel konnte ein Redakteur über Nacht seine ökonomische Existenzgrundlage einbüßen. Mit drakonischen Haftstrafen, mit Gefahr für Leib und Leben musste jedoch ernsthaft niemand mehr rechnen.
8.1.2 Die Entwicklung der Dangwai-Zeitschriften nach 1981: Konkurrenzdruck und Rivalität In den Jahren nach 1981 stieg die Anzahl der oppositionellen Zeitschriften enorm an. Im Frühjahr 1984 wurden in einem Artikel der Bashi niandai nicht weniger als 29 Publikationen genannt, die zu diesem Zeitpunkt auf dem Markt waren – wobei eine hohe „Dunkelziffer“ von Untergrundzeitschriften, die ohne amtliche Genehmigung erschienen, gar nicht berücksichtigt wurde. 611 Zudem gingen die meisten Zeitschriften, die vordem monatlich
608 Eine interessante Umkehrung des Vorwurfes eines „politisch motivierten Strafverfahrens“ war im Februar 2003 zu beobachten: Gegen Prof. Feng Huxiang wurde Anklage erhoben, weil er angeblich seine philippinische Hausangestellte sexuell belästigt hatte. Feng bezeichnete diese Anschuldigung als vollkommen haltlos und vermutete seinerseits eine „späte Rache“ des Chen Shuibian für den Vorfall im Jahr 1985. Siehe Ziyou shibao, 16.2.2003 609 Guo Jun 1985: 12. 610 Guo Jun 1985: 11f. 611 Siehe Li Wangtai 1984: 11-18.
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erschienen waren, zu einem wöchentlichen Erscheinen über;612 dies führte zu Kostensteigerungen und einer weiteren Übersättigung des begrenzten Marktes. Dabei konnten die Dangwai-Zeitschriften nahezu keine Werbeeinnahmen verbuchen: Die Dangwai-Zeitschriften haben im Augenblick einfach keine effektiven Einnahmequellen. Die mittelständischen Betriebe fürchten, dass die KMT mit [schikanierenden] Rechnungsprüfungen reagieren könnte, und trauen sich daher fast ausnahmslos nicht, in den DangwaiZeitschriften Werbung zu betreiben. Ohne die Werbeeinnahmen sind die Dangwai-Zeitschriften in ihren Finanzen natürlich ganz auf den Verkauf angewiesen […] Nach der Umstellung auf Wochenzeitschriften stiegen die Ausgaben der Redaktionen stark an (für eine Monatszeitschrift müssen in etwa 60.-100.000 NTD, für eine Wochenzeitschrift 100.-250.000 NTD aufgebracht werden) […] Die gestiegenen Kosten führen dazu, dass eine Wochenzeitschrift mindestens 8000 Heften verkaufen muss, um die Ausgaben zu decken (für eine Monatszeitschrift waren dies immer nur ca. 5000 Hefte).613
Viele Zeitschriften waren durch den ökonomischen Druck gezwungen, ihre redaktionelle Ausstattung auf ein Minimum zu reduzieren. Vor allem bei den kleineren Redaktionen konnten nur wenige Mitarbeiter fest angestellt werden, einige Zeitschriften waren sogar Ein-Mann-Unternehmen – wie die Zeitschrift Leishen, herausgegeben von Lei Yuqi, oder die bereits erwähnte Reihe Li Ao qianqiu pinglun congshu. Im zunehmenden Wettbewerb wollten viele Dangwai-Zeitschriften dadurch bestehen, dass sie immer rückhaltsloser gegen politische Tabus vorgingen und über die „geheimen Interna“ des KMT-Regimes berichteten. Einerseits war dieser journalistische Mut sicherlich anerkennenswert: Durch das beständige Anstürmen gegen die bestehenden Verbote konnte die Freiheit der Meinungsäußerung allmählich ausgedehnt werden. Andererseits wurde durch die reißerische Manier der Berichterstattung oftmals die Grenze zum populistischen Enthüllungsjournalismus überschritten. Selbst innerhalb der Dangwai erhoben sich mahnende Stimmen, die vor schlecht recherchierten und sensationshungrigen Berichten warnten und mehr Zurückhaltung forderten: Man muss auch eingestehen, dass einige Dangwai-Zeitschriften in ihrer Berichterstattung über die Probleme der KMT willkürlich vorgehen, manchmal erscheinen Artikel, die schon an Rufschädigung grenzen. Aber das ist dann ein juristisches Problem, das gerichtlich gelöst werden kann […] Wenn Funktionäre der KMT denken, dass ihr Ruf geschädigt wurde, dann können sie Anklage erheben. Wenn es erstmal Präzedenzfälle gibt, werden die Zeitungen und Zeitschriften von selbst mehr Vorsicht in ihren Artikeln walten lassen.614
Der ökonomische Druck des Marktes schlug sich auch in einem zunehmend angespannten Verhältnis der Dangwai-Zeitschriften untereinander nieder. Zwar wurde weitgehend ein kollegiales Verhältnis gepflegt, und verschiedene Zeitschriften stellten sich gegenseitig Bild- und Textmaterialien zur Verfügung. Oft kam es auch vor, dass Redakteure einer Zeitschrift in anderen Publikationen Texte veröffentlichten. Dieses kollegiale Verhältnis konnte jedoch wegen nichtiger Anlässe in Feindseligkeit umschlagen. Ein anschauliches Beispiel 612 Als erste Wochenzeitschrift der Dangwai konnte sich im März 1983 die Zeitschrift Qianjin etablieren, im Oktober 1983 folgte die Shengeng. Bis zur Mitte des Jahres 1984 waren die meisten Zeitschriften der Dangwai zu einem wöchentlichen Erscheinen übergegangen. 613 Guo Xun 1984: 27. 614 Li Nanfang 1984: 38.
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hierfür bietet der Streit zwischen der Ziyou shidai (die zu diesem Zeitpunkt unter dem Namen Fayang erschien) und der Qianjin im Frühjahr 1985, in den auch Li Ao maßgeblich involviert war. Li Ao, der sicher zu den kontroversen Figuren 615 der Oppositionsbewegung zählte, war in den Kreisen der Dangwai für seine scharfsinnigen und schonungslosen Kritiken berüchtigt, von denen auch Mitstreiter und Gefährten nicht ausgenommen blieben. Mit einer geradezu bewundernswerten Konsequenz weigerte er sich beharrlich, dauerhafte Bündnisse einzugehen und schuf sich im Lauf der Jahre in allen Lagern Widersacher. In einem Beitrag der Shengeng-Reihe wurde Li Ao wie folgt charakterisiert: Wer Li Ao hasst, der hasst ihn von ganzem Herzen; wer ihn liebt, der liebt ihn mit ganzem Herzen. Wer ihn hasst, darf ihm bloß nicht zu nahe treten, dann kann er gut leben. Aber wer ihn liebt, wer ihn bewundert und verehrt, der sollte am besten nicht sein Freund werden […] Im Reich des Li Ao gibt es Feinde auf ewig, aber keine Freunde auf ewig. 616
Li Ao unterhielt zu den beiden Zeitschriften Qianjin und Ziyou shidai zunächst ein freundschaftliches Verhältnis, in beiden Publikationen veröffentlichte er über viele Monate eine regelmäßig erscheinende Kolumne. 617 Die Unstimmigkeiten zwischen den beiden Zeitschriften brachen aus, als die Qianjin am 9.3.85 einige Photos der Ziyou shidai veröffentlichte, ohne die Quelle auszuweisen. Am 18.3. protestierte der Herausgeber der Ziyou shidai, Zheng Nanrong, in einem offenen Brief mit scharfen Worten gegen diesen „Verrat“ und „Diebstahl“.618 Lin Zhengjie, der Verantwortliche der Qianjin, zeigte sich befremdet über diese wütende Reaktion, war jedoch zu einer formalen Entschuldigung und finanzieller Wiedergutmachung bereit. Er äußerte jedoch gleichzeitig die Vermutung, dass Li Ao aus Neid diese heftige Attacke initiiert habe: Fayang [aus der Ziyou shidai-Reihe] wird von Li Ao ferngesteuert […] falls Li Ao die Angriffe auf unsere Zeitschrift nutzen will, um seine eigene verfahrene Situation zu retten, dann werden wir über die Machenschaften des Herrn Li Ao in Zukunft ohne alle Vorbehalte [berichten]. In seinen wechselvollen Geschäften konnte Li Ao zu Höchstzeiten X-10.000 Hefte verkaufen, heute ist seine Pinglun congshu auf X-tausend Exemplare abgefallen (über die Zahl „X“ werden wir uns nicht äußern).619
Sowohl Li Ao als auch Zheng Nanrong reagierten prompt auf diese neuerlichen Anwürfe. Li Ao veröffentlichte einen offenen Brief an Lin Zhengjie,620 in dem er Lin unter anderem vorwarf, ihn seit Jahren ausgenutzt zu haben. Zheng Nanrong war besonders entrüstet über den Vorwurf, seine Zeitschrift werde von Li Ao „ferngesteuert“: „Li Ao ist nur dem Namen nach ein Mitarbeiter unserer Zeitschrift. Wurde das nun endlich begriffen? […] Falls Herr Li Ao oder ich irgendwelchen ‚unlauteren Machenschaften’ nachgehen, dann lade ich die Qianjin ein, ‚ohne alle Vorbehalte’ öffentliche Kritik zu üben.“621 615 Einige Vertreter der Dangwai waren etwa befremdet über die Tatsache, dass Li Ao auf dem Titelblatt jeder Ausgabe seiner Buchreihe eine nackte oder leicht bekleidete Dame abbildete. 616 Jiang Gaishi 1985b: 37. 617 Li Ao verfolgte dabei das Prinzip, für seine Beiträge in anderen Zeitschriften kein Honorar zu verlangen. Allerdings bestand er darauf, dass seine Texte niemals um das kleinste Detail verändert oder redigiert werden dürften. 618 Siehe Zheng Nanrong 1985a: 35. 619 Wu Xianghui 1985a: 30f. 620 Li Ao 1985: 34-41. 621 Zheng Nanrong 1985b: 44f.
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Und genau dies tat die Qianjin. Von April bis Juli 1985 entfachte die Zeitschrift unter Leitung von Wu Xianghui eine nachgerade fanatische „Kritisiert Li Ao“-Kampagne. Über zwölf Wochen wurde in jeder Ausgabe ein kritischer Artikel zu Li Ao veröffentlicht. Unter anderem wurden Zweifel an seiner schriftstellerischen Befähigung geäußert, 622 es wurde hinterfragt, ob Li Ao bezüglich seiner früheren Gefängnisaufenthalte gelogen hatte, 623 sowohl seine familiären Verhältnisse als auch seine politische Integrität wurden aufs schärfste kritisiert.624 Zudem wurde eine Sonderrubrik „Notizen zur Kritik an Li Ao“ eingerichtet, in der die Leser ihre eigenen Ansichten zu Li Ao einbringen konnten. Die Angriffe gegen Li Ao nahmen schließlich solche Ausmaße an, dass dieser im Dezember 1985 gegen Lin Zhengjie, Wu Xianghui und zwei weitere Mitarbeiter der Qianjin/Progress ein Verfahren wegen übler Nachrede anstrebte. In einem Interview mit der Ziyou shidai äußerte sich Li Ao zu dieser Entwicklung: Man kann Li Ao kritisieren, aber man darf ihn nicht verleumden […] Als die Verleumdungen anfingen, habe ich die falschen Behauptungen zunächst zurückgewiesen und berichtigt […] ich habe [die Kritiker] darauf hingewiesen, dass die Vorwürfe auf tönernen Füßen stehen. Aber obwohl die Wahrheit eindeutig bewies, dass sie im Unrecht waren, haben sie mit ihren Verleumdungen immer weiter gemacht. Daher ist nun klar: Dies ist bereits kein „Kampf der Federn“ mehr, sondern ein „juristischer Kampf“. […] Juristische Probleme muss man juristisch klären.625
Dies war sicherlich ein bemerkenswerter Vorgang: Aktivisten einer Oppositionsbewegung, die sich dem Kampf gegen das autoritäre KMT-Regime verschrieben hatten, bemühten die Gerichte eben dieses Regimes, um interne Streitigkeiten auszutragen. 626 Es wird auch deutlich, wie sensibel die Redaktionen auf Kritik reagieren konnten – selbst wenn sie aus dem „eigenen Lager“ der Dangwai stammte. Und schließlich dürfte dieser öffentlich ausgetragene Streit auch von ökonomischen Interessen getragen worden sein. Ohne inhaltlich auf die Kritik einzugehen, ist sicher davon auszugehen, dass die Angriffe gegen Li Ao, der als einer der scharfzüngigsten und hervorragendsten Autoren der Opposition galt, für großes öffentliches Interesse und entsprechend hohe Auflagen gesorgt haben dürfte.
8.2 Spaltungstendenzen innerhalb der Dangwai, 1982-86 In der zweiten Phase der Dangwai-Bewegung deutete sich mit Beginn der 80er Jahre eine Teilung der Bewegung in zwei Flügel an. Eine Tendenz, die sich bereits im Vorfeld des Meilidao-Vorfalles im Jahr 1979 abgezeichnet hatte, trat nun zunehmend deutlicher in Erscheinung. Auf der einen Seite stand eine moderate politische Opposition um den „großen alten Mann“ der Dangwai-Bewegung, Kang Ningxiang. Diese als „Kang [Ningxiang]Gruppe“ (Kang xi) bezeichnete Fraktion, zu der unter anderem Zhang Deming, Fei Xiping und Huang Huangxiong gezählt wurden, bestand aus einer Reihe von erfahrenen oppositio622
Siehe Wu Xianghui 1985b: 6-12. Siehe Wu Xianghui 1985c: 13-21. 624 Siehe Wu Xianghui 1985e: 26-31; Wu Xianghui 1985f: 60-64. 625 Xu Manqing 1985: 45. 626 Ein ähnlicher Fall ereignete sich im November 1985, als der oppositionelle Politiker Zhang Deming Anklage gegen den Herausgeber der Ziyou shidai, Zheng Nanrong, erhob – ebenfalls wegen „Rufschädigung“. Zheng Nanrong wurde schließlich zu acht Monaten Haft verurteilt. Siehe 8.3.3. 623
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nellen Politikern, die bereits mehrere Wahlkämpfe erfolgreich bestritten hatten und zum Teil seit Jahren verschiedene politische Ämter innehatten. Wenngleich sie sich für eine demokratische Reform der politischen Sphäre einsetzten, verfolgten sie dabei einen Kurs der geduldigen Überzeugungsarbeit, der auch Kompromisse mit der liberalen Fraktion innerhalb der KMT nicht scheute. Dagegen stand die Gruppe der so genannten „Jungen Generation“, zu deren Sprachrohr sich seit dem Frühjahr 1982 die Zeitschrift Shengeng gemacht hatte. Die Anhänger dieser Gruppe sahen sich selbst als Idealisten, die keine politischen Ämter anstrebten und sich nur den Prinzipien der Demokratie und des gesellschaftlichen und politischen Umbaus Taiwans verpflichtet sahen. Mit Ungeduld betrachteten sie die aus ihrer Sicht vergeblichen politischen Manöver der etablierten Mandatsträger. Sie fürchteten, dass die ursprünglichen Ideale und der Geist des Widerstandes in endlosen parlamentarischen Debatten allmählich zerrieben würden. Der offene Richtungsstreit setzte ein nach dem so genannten „Boykott-Vorfall“ im Sommer 1982:627 Am 14.5. hatten Dangwai-Abgeordnete im Legislativ-Yuan den Antrag eingebracht, den Kommandanten der Garnison Taiwan zu einem Arbeitsbericht vor das Parlament zu laden. Der Antrag wurde erwartungsgemäß von der KMT-Mehrheit des Hauses abgelehnt, wobei für die Dangwai-Delegierten jedoch der Umstand empörend war, dass nicht alle gemeldeten Sprecher der Opposition ihre Wortmeldungen einbringen konnten – ein klarer Bruch der parlamentarischen Geschäftsordnung. Auf einem Treffen der Dangwai-Abgeordneten am 21.6.82 wurde diese „Unterdrückung der Minderheit“ angeprangert, zudem einigten sich neun parteilose Abgeordnete auf Boykott-Maßnahmen, die ab dem 25.6. in Kraft treten sollten. Von diesem Zeitpunkt an würde die Dangwai jede parlamentarische Eingabe durch Gegenstimmen blockieren und somit eine Abstimmung erzwingen. Die Tagesordnung des Parlaments konnte durch eine solche Boykotthaltung effektiv behindert werden: Eine Mehrzahl der „ewigen“ Delegierten der KMT, die ihr Mandat noch aus den Wahlen von 1947 innehatten, waren zu diesem Zeitpunkt bereits in fortgeschrittenem Alter und nahmen nur unregelmäßig an Sitzungen teil, an den meisten Sitzungstagen verfügte das Parlament daher nicht über das nötige Quorum. Die Zeitschrift Shengeng kommentierte mit einer gewissen Häme: Wenn die Dangwai das Prozedere des Parlamentes beeinflusst, indem sie Abstimmungen erzwingt, dann wird die Tagesordnung verzögert, und die alten Herrschaften des Parlamentes könnten nicht länger zu spät kommen, früher gehen, blaumachen oder nur vor sich hinträumen. Sie müssten, genau wie die Dangwai, ihre Arbeit respektieren und sich von 9 Uhr bis 18 Uhr im Parlament zum Dienst melden […] Ärzte der Geriatrie werden natürlich mit dem Kopf schütteln, aber das ist nicht das Problem der Dangwai […] wenn [die alten Delegierten] es nicht mehr ertragen, können sie ja in Ruhestand gehen.628
627 Ein weiterer wichtiger Schritt zum Bruch der Dangwai war eine „Privatreise“ der vier populären oppositionellen Politiker Kang Ningxiang, Zhang Deming, Huang Huangxiong und You Qing, die vom 29.6.-7.8.82 die USA und Japan besuchten. Diese „Reise der Vier“ war für die Dangwai der erste Auftritt in internationalem Feld und bot auf Taiwan Anlass zu Kontroversen: Bei öffentlichen Auftritten mahnten die Vier zwar ein höheres Maß an Demokratie in Taiwan an, andererseits sprachen sie sich aber auch für einen weiteren Verkauf von Defensivwaffen an das KMT-Regime aus – was ihnen als „Propaganda für die KMT“ angekreidet wurde. Zudem seien die Vier nicht autorisiert gewesen, im Namen der gesamten Dangwai zu sprechen. Siehe Li Xiaofeng 1987: 178ff; Zheng Nanrong 1983: 41-44. 628 Lin Shiyu 1982: 10f.
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Am 25.6.82 scheiterte dieses Boykottvorhaben jedoch in letzter Minute: Am Vormittag wurde unter Federführung von Kang Ningxiang eine Verständigung mit dem Generalsekretär der KMT-Fraktion, Zhou Muwen, erzielt. Die Dangwai erklärte sich bereit, von den Boykottmaßnahmen Abstand zu nehmen, Zhou hingegen machte das Zugeständnis, dass künftig in allen Fragen von politischer Brisanz zunächst der Dialog mit der Dangwai gesucht würde.629Aus Sicht der Jungen Generation hatte Kang Ningxiang damit einen viel versprechenden politischen Vorstoß eigenmächtig im Keim erstickt: Von dem Treffen am Vormittag des 25. [Juni] wurden überhaupt nicht alle Abgeordneten, die an dem Treffen vom 21. teilgenommen hatten, informiert. Zudem wurden nicht alle Anwesenden an dem Entschluss beteiligt, denn schon zuvor […] war von zwei, drei „Bossen“ der Dangwai der Beschluss gefasst worden, nachzugeben und einen Kompromiss [mit der KMT] einzugehen.630
Diesen „Boykott-Vorfall“ nahm die Junge Generation, vertreten in erster Linie durch die Zeitschrift Shengeng, zum Anlass, eine grundlegende Debatte über die Ziele und Vorgehensweisen der Dangwai anzustoßen. In diesem Meinungsaustausch, der schließlich die Züge einer „Kritisiert Kang [Ningxiang]“ Bewegung annahm,631 betonte die Junge Generation stets, dass ihr hierbei nicht an einem größeren Einfluss auf die Dangwai gelegen sei, denn „[…] im Augenblick verfügt die Dangwai über keine nennenswerte [Macht] Basis. Wer hier Interesse an ‚Machtkämpfen’ bekundet, der hat die Weitsicht einer Bohne. Die dringende Aufgabe der Dangwai ist es jetzt, in eingehender Diskussion einen Weg zur Stärke zu finden. Jetzt ist es noch viel zu früh für [interne] Machtkämpfe!“ 632 Es sei jedoch augenfällig, dass die demokratische Bewegung der letzten Jahre ihren Zielen kaum näher gekommen sei. Daher sei es unabdinglich, sich über einen internen Austausch auf grundlegende Prinzipien zu verständigen. 633 Die zentralen Fragen, die dabei
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Ein Versprechen, das nach Ansicht von einigen Mitgliedern der Dangwai schon wenige Wochen später gebrochen wurde: Im Juli wurde im Legislativ-Yuan mit der Mehrheit der KMT eine Verschärfung des Strafrechtes beschlossen, ohne dass zuvor ein Einvernehmen mit der Dangwai gesucht worden wäre. 630 Wang Limei 1982: 5. Auch Li Ao kam zu der Einschätzung, dass Kang Ningxiang durch seine inkonsequente Haltung der KMT zu einem politischen Sieg verholfen habe: „Kang Ningxiang streckte vor der Schlacht die Waffen, warf den ursprünglichen Entschluss über den Haufen und verzichtete auf den Boykott […] Am nächsten Tag prahlte die KMT in ihrer Zeitung Zhongyang ribao, dass ihr Fraktionsvorsitzender einen vollständigen Sieg errungen habe. Die KMT winkte nur kurz mit dem kleinen Finger, und die Dangwai-Vertreter kuschten.“ Li Ao 1982: 5f. 631 Die schärfste Kritik an der Gruppe um Kang Ningxiang wurde von Chen Guying geäußert. In einem viel beachteten Artikel, erschienen in der Zeitschrift Zongheng, warf er Kang Ningxiang nicht nur politisches Kalkül und einen Mangel an Idealen vor, sondern er bezichtigte Kang der Feigheit und des Verrates an der DangwaiBewegung. Kang Ningxiang, so Gu, habe bereits in den Jahren vor dem Meilidao-Vorfall den Entschluss gefasst, die Rolle einer „regimetreuen Opposition“ zu übernehmen und mit der KMT zu kooperieren. Damit habe er die Niederschlagung der wahren oppositionellen Kräfte der Meilidao-Gruppe herbeigeführt oder zumindest billigend in Kauf genommen. Siehe Chen Guying 1982: 13. 632 Zhang Mingxiong 1982a: 6. 633 Dieses Angebot eines „Dialoges“ wurde von der moderaten Fraktion um Kang Ningxiang weitgehend ignoriert; die Diskussion fand fast ausschließlich innerhalb der Jungen Generation statt. Die Shengeng kommentierte dieses fortdauernde Schweigen: „Die Shengeng muss natürlich die Verantwortung [für ihre Aussagen] übernehmen, die Shengeng ist auch sicherlich bereit, in diesen Fragen eine eingehende Selbstkritik zu üben und auch Kritik entgegenzunehmen. Aber wir können nicht hinnehmen, wenn man mit seiner Meinung hinter dem Berg hält“. Siehe Zhang Mingxiong 1982a: 5.
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aufgeworfen wurden, prägten die weitere Entwicklung der Dangwai-Bewegung und wirkten bis über die Gründung der DPP in Jahre 1986 hinaus weiter.
8.2.1 Demokratiedefizit innerhalb der Dangwai? Zunächst wurde die Frage berührt, inwieweit die Dangwai selbst bereits über interne demokratische Strukturen verfügte. In dem eigenmächtigen Vorgehen des Kang Ningxiang beim Boykott-Vorfall sahen viele Mitglieder der Jungen Generation den Beweis erbracht, dass die Dangwai letztlich von einigen wenigen populären Führungsfiguren geleitet würde, sich in ihrem Aufbau also nur marginal von den autoritären Strukturen der KMT unterscheide. Wir von der Dangwai verspotten die KMT, dass sie in den 38 Jahren ihrer Herrschaft über Taiwan unfähig und unwillig sei, eine demokratische Regierung zu errichten. Aber die Dangwai selbst, die für die demokratische Bewegung auf Taiwan steht, kann intern keine hochwertigen demokratischen Strukturen errichten […] Das ist so, als würde ein Einbeiniger darüber spotten, dass ein Invalide ohne Beine davon träumt, den Himalaja zu besteigen, und selbst damit prahlt, dass er den höchsten Berg der Welt bezwingen kann. Egal, ob jemandem ein Bein oder beiden Beine fehlen, es ist für beide unmöglich, den höchsten Berg der Welt zu besteigen!634
Letztlich sei die Errichtung demokratischer Strukturen auch ausschlaggebend für die Frage, inwieweit es der Dangwai in Zukunft gelingen könne, weite Kreise der Bevölkerung für ihre Ziele zu gewinnen. „Demokratische Strukturen“ meinte also nicht nur einen demokratischen Aufbau der Dangwai selbst, sondern darüber hinaus eine gleichberechtigte Partizipation des ganzen Volkes – denn schließlich sei das Streben nach Demokratie eine Angelegenheit, die alle Bürger Taiwans betreffe. Die Shengeng vertritt den Standpunkt, dass die Demokratiebewegung eine Angelegenheit des Volkes ist, man muss unbedingt offen [darüber] diskutieren […] Die Eliten, die der Bewegung folgen, müssen eine klare Vorstellung haben, und nicht im Gefängnis landen, ohne überhaupt zu wissen wofür. Das gilt auch für das Volk: Niemand will mit Räucherstäbchen in der Hand einer Prozession folgen, ohne zu wissen, zu welchem Tempel es geht.635
8.2.2 Korrumpierung der Dangwai durch öffentliche Ämter? Die Junge Generation warf die Frage auf, inwieweit es für die Oppositionsbewegung tunlich sei, sich in Parlamenten und politischen Ämtern einzurichten und damit Teil des politischen Systems zu werden, das es eigentlich zu überwinden galt. Viele parteilose Mandatsträger, so der Vorwurf, hätten die Ideale der Dangwai aus persönlichen Interessen aufgegeben, sie seien lediglich an ihrem eigenen Machterhalt interessiert. Einige Genossen aus der Dangwai sind schon zu lange „im System“ und haben bereits die Bedeutung [des Wortes] Reformen vergessen. Alle drei, vier Jahre wird vor dem Wahlvolk das 634 635
Zheng Nanrong 1983: 41. o.A. 1982b: 5.
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Ziel der Demokratie ein bisschen in die Sonne gehängt, und dann lebt man weiter „im System“ ziellos in den Tag hinein; das ist falsch!636
Und selbst, wenn politische Mandatsträger der Dangwai an ihren Idealen festhielten, bestehe die Gefahr, dass sie in eine Rolle gedrängt würden, die der Entwicklung der Oppositionsbewegung insgesamt Schaden zufüge. Der politische Alltag von oppositionellen Abgeordneten sei geprägt durch beständige Frustrationen angesichts einer übermächtigen Mehrheit der KMT in allen nationalen Vertretungsorganen. Es werde somit eine Rolle des Unterlegenen eingeübt, die auf Dauer ein Gefühl der Machtlosigkeit zementieren müsse: Als sich [die Dangwai-Parlamentarier] im Angesicht der Mächtigen selbst einredeten, sie müssten an ihrer Rolle der Schwachen festhalten – wo war da ihre ursprüngliche, rückhaltlose Hingabe? Ich will überhaupt nicht andeuten, [sie] hätten ihre unschuldigen Motive bereits eingebüßt, ich mache mir nur Sorgen. Ein Mensch, der stets beharrlich eine Rolle spielt, wird im Laufe der Jahre vor dem Schlafengehen seine Schminke abwischen, und am nächsten Tag wieder in derselben Maske weitermachen.637
8.2.3 Die Dangwai vor der Spaltung? Bereits im Jahre 1982 wurden Stimmen laut, die angesichts der fortdauernden Flügelkämpfe eine dauerhafte Spaltung und Schwächung der Dangwai befürchteten. Die Gefahr einer drohenden Spaltung blieb in den folgenden Jahren eines der dominierenden Themen der Dangwai-Bewegung. Schon zu Zeiten der Meilidao-Gruppe im Jahre 1979, so wurde argumentiert, habe ein latenter Zwist innerhalb der Bewegung zu einer Spaltung geführt, der schließlich in einem Desaster endete. Der große Fehler habe damals in einem Mangel an Reflexion und wechselseitigem Austausch bestanden. Ein umfassender Dialog der beiden Lager könne daher dazu beitragen, die Fehler der Vergangenheit zu vermeiden und letztlich eine Stärkung der Dangwai herbeizuführen. Zur Zeit der Meilidao führte der Richtungsstreit zur Aufspaltung [der Oppositionsbewegung] in die Meilidao-Gruppe und die Kang [Ningxiang]-Gruppe […] und damals konnten die beiden Fraktionen nicht effektiv kooperieren und sich gegenseitig ergänzen. Die Kraft zum Zusammenhalt ging verloren, und die Meilidao-Gruppe wurde schließlich ausgerottet.638
Die Frage nach einer drohenden Spaltung der Dangwai verwies darüber hinaus auf ein noch grundsätzlicheres Problem: Wie war der Begriff „Dangwai“ überhaupt zu fassen? Einerseits hatte die Oppositionsbewegung seit Beginn der 80er Jahre große Erfolge in Wahlkämpfen verzeichnen können, regelmäßig konnte sie in lokalen Wahlen bis zu 30% der Stimmen für sich gewinnen. 639 Diese erfreuliche Entwicklung konnte Anlass zu der Hoffnung geben,
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Lin Zhengjie 1982a: 8. Lin Shiyu 1982: 10. 638 Yan Yinmou 1985: 21. 639 Dies bedeutete natürlich nicht, dass die Dangwai in den nationalen Vertretungsorganen 30% der Delegierten stellen konnte, da bei den nationalen „Ergänzungswahlen“ jeweils nur ein Bruchteil der Mandate zur Disposition stand und das Regime umfassende Neuwahlen nach wie vor verweigerte. Zur Zeit des „Boykottvorfalles“ 1982 waren im Legislativ-Yuan lediglich 15 parteilose Delegierte vertreten – gegenüber 337 Abgeordneten der KMT. 637
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dass die Dangwai alleine durch ihr zunehmendes politisches Gewicht ihr erstes großes Teilziel, die Gründung einer Oppositionspartei, in absehbarer Zukunft erreichen könnte: Früher bestand die Dangwai nur aus sehr wenigen Leuten, jetzt sind so viele Leute bei der Dangwai. 30% der Wähler unterstützen uns, [die Dangwai] ist schon zu einer sehr großen politischen Kraft geworden. In Deutschland kann man schon mit 5% der Stimmen eine Oppositionspartei gründen.640 Wenn wir von der Dangwai nach Deutschland gingen, könnten wir schon sechs Oppositionsparteien gründen.641
Auf der anderen Seite war es jedoch offenkundig, dass der Begriff „Dangwai“ nach wie vor eine äußerst heterogene Gruppe von verschiedenen Interessengruppen und Individuen bezeichnete. Der Dangwai, so wurde argumentiert, sei es noch nicht gelungen, der demokratischen Bewegung eine stabile und belastbare Basis innerhalb der taiwanesischen Gesellschaft zu sichern. Ohne diese gesellschaftliche Basis seien auch Wahlergebnisse nur von begrenzter Aussagekraft. Wenn man von der Kraft der Dangwai spricht, an welchem Maßstab sollen wir diese Kraft dann messen? Oft sprechen wir über die Anzahl der Dangwai-Vertreter, die in Wahlen öffentliche Ämter erringen, oder die Anzahl der Stimmen für die Dangwai, oder den prozentuale Stimmgewinn, oder die Auflage und Leserschaft von Dangwai-Zeitschriften […] Mit anderen Worten: Der so genannte Fortschritt der Dangwai bedeutet normalerweise, dass man die Unterstützung von Einzelnen aufaddiert. Das heißt nicht, dass die Dangwai eine gesellschaftliche oder systematische Kraft hervorgebracht hätte, die von der Dangwai mobilisiert und eingesetzt werden könnte. Die Kraft der Dangwai ist daher wie verstreuter Sand. Die Zahlen sind vielleicht erfreulich, aber sie bilden keine Ressource, die man im politischen Wettbewerb nutzen könnte.642
Der Streit um die Bedeutung des Begriffes Dangwai erhielt Mitte des Jahres 1984 durch eine Reihe von Skandalen neuen Auftrieb. Es wurde bekannt, dass einige parteilose Mandatsträger private Interessen und öffentliche Aufgaben vermengt hatten. Besonders anrüchig war die Erkenntnis, dass der parteilose Abgeordnete des Stadtparlaments von Gaoxiong, Xu Kunlong, im Nebenberuf Betreiber eines Bordells war. Die Zeitschrift Xin chaoliu/New Tide entfachte daraufhin das so genannte Problem von „Huhn und Hase im selben Käfig“:643 In der Vergangenheit habe die Dangwai den Fehler begangen, keinerlei Maßstäbe für die Aufnahme neuer Mitglieder festzulegen.
640 Mit Blick auf die deutschen Verhältnisse wurde offensichtlich nicht deutlich unterschieden zwischen der Gründung einer Partei und dem Einzug in Parlamente bzw. der Gründung einer parlamentarischen Fraktion. 641 Lin Zhengjie 1982b: 27. 642 Cai Songshan 1984: 6. 643 Mit „Huhn“ und „Hase“ waren die beiden Strömungen innerhalb der Dangwai gemeint, die für eine möglichst breite Basis der Bewegung (auf Kosten der Homogenität) bzw. für unverrückbare Ideale und politische Integrität (auf Kosten der Masse) eintraten. Für den Autor wurde jedoch nicht ersichtlich, welche Gruppierung jeweils mit „Huhn“ bzw. „Hase“ gekennzeichnet werden sollte. Auch für einige Redakteure der Dangwai waren die Begriffe offensichtlich nicht zuzuordnen: „Wer ist denn nun Hase, und wer ist Huhn? Seit die Xin chaoliu eine Serie von Artikeln zum Problem von ‚Hase und Huhn’ veröffentlichte, hat das Thema so manche Freunde aus der Dangwai verwirrt.“ o.A. 1984f: 4.
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Früher konnte sich jeder unter die Fahne der Dangwai scharen, er musste nur den Mut aufbringen, die leiseste Kritik an der KMT zu üben. Es gab fast niemanden, der im Lager der Dangwai keine Heimat gefunden hätte. 644
Nach Ansicht der konservativen Strömung innerhalb der Dangwai war dieses Vorgehen auch legitim. Die Dangwai, so wurde argumentiert, agiere aus einer Position der Schwäche und müsse daher gelegentlich taktische Bündnisse eingehen. Man dürfe sich nicht scheuen, „selbst mit dem Teufel einen Pakt einzugehen […] und dann, wenn das kurzfristige Ziel erreicht wurde, den Pakt ohne Bedauern zu zerreißen.“.645 Dieser opportunistischen Sichtweise wurde entgegnet, dass auf diese Weise niemals eine interne Disziplin durchgesetzt werden könne und der Begriff der Dangwai letztlich bedeutungslos würde. In der Gründungsphase muss eine oppositionelle politische Gruppe mehr Gewicht auf „Qualität“ denn auf „Masse“ [ihrer Mitglieder] legen […] Der Sinn der Dangwai liegt darin, […] dass sie sich mutig an der Seite des Volkes abmüht. Wenn dies gelingt, dann kann die Dangwai zu einer sinnvollen Minderheit werden, selbst wenn sie nur aus zwei oder drei Leuten bestehen sollte.646
Während sich die Diskussion seit dem Jahr 1982 also zunächst auf die Ebene der politischen Führung der Opposition und die Abgrenzung gegenüber der KMT beschränkt hatte, wurden nun auch zunehmend die unteren Ebenen der Bewegung auf ihre „DangwaiTauglichkeit“ hinterfragt. Der Kern des Problems blieb hingegen unverändert: Welche Merkmale sollten die Dangwai auszeichnen? Welchen Stellenwert sollten politische Ideale für die Bewegung haben, und worin bestanden diese?
8.2.4 Reform des Systems gegen Reform innerhalb des Systems Hier wurde schließlich eine Kernfrage der Oppositionsbewegung berührt, die für die vorliegende Arbeit von besonderem Interesse ist und die daher etwas ausführlicher dargelegt werden soll. In Teilen der Dangwai wurden zu Beginn der 80er Jahre Zweifel laut, ob die Bewegung in der Vergangenheit nicht grundsätzlich falsche Mittel zur Erlangung ihrer Ziele eingesetzt habe. Diese Mittel hätten sich in den vergangenen 30 Jahren auf zwei Vorgehensweisen beschränkt: Teilnahme an Wahlkämpfen und die Gründung von oppositionellen Zeitschriften. Diese beiden Vorgehensweisen seien im Einklang mit den bestehenden Gesetzen des Regimes, „legale“ Mittel also, die „im System“ verankert seien. Dadurch ergäbe sich jedoch eine paradoxe Situation: Solange sich die Oppositionsbewegung ausschließlich auf Mittel „innerhalb des Systems“ beschränke, könne unmöglich eine politische Kraft entstehen, die auf eine Reform des Systems selbst ziele. Die Ein-ParteienHerrschaft der KMT, die sich auf das Kriegsrecht stützte und das politische System Taiwans prägte, könne also niemals effektiv angegriffen werden. Im Zentrum der Kritik stand erneut die moderate Fraktion der Gruppe um Kang Ningxiang. Diese, so der Vorwurf, sei ausschließlich auf Wahlkämpfe fixiert und von der Hoffnung getragen, die Ziele der Dangwai innerhalb der Parlamente voranzutreiben. Ziel dieses „Weges der Parlamente“ 647 644
Guo Shixiong 1984: 36. Li Daniu 1984: 61. Guo Shixiong 1984: 36. 647 Yihui luxian 䆠ᴳ䐟㐊 645 646
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Die Dangwai-Bewegung nach dem Meilidao-Vorfall
sei, eine Reform von Innen zu erreichen, was unter den bestehenden Bestimmungen des Kriegsrechtes jedoch hoffnungslos sei. Das Kriegsrecht lasse umfassende Neuwahlen ohnehin nicht zu, zudem würden die Spielregeln des Wahlkampfes von der KMT bestimmt, und könnten nach Belieben zu deren Vorteil abgeändert werden. Außerdem bestünde in der moderaten Fraktion der Dangwai die Tendenz, Bündnisse mit dem liberalen Flügel der KMT zu suchen und auf eine innerliche Erneuerung der KMT zu hoffen. Die Vorstellung, dass die KMT aus sich selbst heraus zu Reformen fähig sei, zeuge indes von einer bedenklichen Naivität: Einigen Freunden aus der Dangwai wollen wir sagen: Eine Reform innerhalb des Systems ist Lüge und Selbstbetrug, ist Kompromiss und Rückschritt. Wenn man darauf warten wollte, dass die KMT von sich aus Reformen vornimmt, wäre das genauso töricht, als würde man [bei der Hasenjagd] darauf warten, dass ein Hase von selbst gegen einen Baum rennt und sich das Genick bricht.648
Schließlich würde eine größere Anlehnung an den liberalen Flügel der KMT dazu führen, dass sich eine Positionsbestimmung der Dangwai selbst immer schwieriger gestalten müsste. Wenn man sogar bereit wäre, mit Teilen der KMT Bündnisse einzugehen, würde der Begriff Dangwai seine letzten Konturen verlieren. Zusammenfassend ließe sich also konstatieren, dass der Weg der moderaten Hauptströmung der Dangwai, der auf eine „Reform innerhalb des Systems“ zielte, vergeblich sei und in Gefahr geriete, die politischen Ideale der Opposition zu verraten. So sei auch zu erklären, dass die Bemühungen der Opposition bislang keine Früchte getragen hatten. Die Dangwai müsse daher zu der Erkenntnis gelangen, dass nur über Mittel „außerhalb des Systems“ eine „Reform des Systems“ zu erzielen sei. Dies erfordere ein Umdenken in zwei Sphären: Zum einen müsse sich die Dangwai in ihrem politischen Kampf auf ihre Rolle als Fürsprecherin des Volkes besinnen. Die moderate Opposition um Kang Ningxiang sei in Gefahr, in die stereotype, durch den kulturellen Hintergrund Chinas geprägte Rolle des „entrückten“ Intellektuellen zu verfallen und darüber die Basis der Bewegung zu vernachlässigen.649 Der Weg der Opposition sei nicht in Parlamenten zu verwirklichen, sondern nur auf der Straße, in direktem Kontakt mit den einfachen Menschen. Das Ziel der politischen Demokratisierung dürfe nicht länger das Anliegen einer kleinen, elitären Minderheit bleiben. Zum anderen, in enger Verbindung zum oben genannten, müsse die Dangwai neue Mittel des politischen Kampfes erproben. Das Schlüsselwort in diesem Zusammenhang lautete „Massenmobilisierung“, und nur in diesem Kontext konnten auch Wahlkämpfe ein 648 Lin Zhengjie 1982a: 8. Darüber hinaus, so wurde argumentiert, besteht die Gefahr der Selbstüberschätzung: In der KMT sei die Dangwai mit einem Gegner konfrontiert, der über jahrzehntelange Erfahrung im politischen Machtkampf verfüge. Die Dangwai hingegen sei innerlich nicht gefestigt, verfüge über keinerlei gesellschaftliche Basis und könne daher in einem „Machtspiel“ mit der KMT nur unterliegen. So schrieb Zhang Mingxiong: „Wir sind dagegen, dass sich die Dangwai schon für stark genug hält, mit der KMT zu flirten und den gewagten Weg des ‚gegenseitigen Nutzens’ beschreitet. Denn die Dangwai verfügt nicht über genügend Ressourcen und Fähigkeiten, mit der KMT ‚Spiele’ zu spielen […] Wir können schon von Glück sagen, wenn die KMT uns nicht ausnutzt.“ Zhang Mingxiong 1982b: 6. 649 So merkte Huang Jinshui kritisch an: „Die Vertreter der Dangwai sind es gewohnt, bei politischen Veranstaltungen ihre scharfsinnigen Reden unters Volk zu bringen […] selbst wenn sie Leuten gegenüberstehen, die Schlappen tragen und Betelnuss kauen […] Natürlich spenden die Zuhörer trotzdem Beifall. Aber wie lange wird die Geduld des Volkes noch andauern?“ Huang Jinshui 1984: 15.
Spaltungstendenzen innerhalb der Dangwai, 1982-86
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sinnvolles Mittel des politischen Kampfes darstellen. Die Vertreter einer „Reform des Systems“ waren also nicht generell gegen eine Beteiligung an Wahlen, sie verfolgten damit lediglich ein anderes Ziel. Die Anzahl der errungenen Mandate betrachteten sie als vollkommen belanglos, hingegen bot der Wahlkampf eine gute Gelegenheit, publikumswirksam aufzutreten und sich als Interessenvertretung des Volkes zu profilieren. Durch Wahlen kann man auf Taiwan ohnehin keinen politischen Machtwechsel erreichen, daher ist ein „höherer prozentualer Stimmengewinn“ auf jeden Fall wichtiger als „mehr Mandate“. Wir wollen mehr Stimmen, um die KMT über ihre eingeschlagene Richtung zu warnen, und wir wollen nicht mehr Mandate, um noch mehr Leute der Dangwai [in Parlamente zu wählen], die [dann] ihr Gehalt von der KMT beziehen und so ihren Lebensunterhalt bestreiten.650
Jedoch, und hier zeigte sich der große Unterschied zu einer „Reform innerhalb des Systems“, dürfe der Wahlkampf nicht als einziges Mittel der politischen Auseinandersetzung begriffen werden. Es sei Aufgabe der Dangwai, alle denkbaren Wege der friedlichen Massenmobilisierung zu nutzen, wobei man auch vor einer Überschreitung des juristisch Erlaubten nicht zurückschrecken dürfe. Das politische System Taiwans selbst sei auf der Willkür des Kriegsrechtes begründet, daher bestehe keine Verpflichtung, sich an unvernünftige Gesetze zu halten. Öffentliche Redeveranstaltungen, Demonstrationszüge, organisierter Druck auf einzelne Abgeordnete durch Brief- und Telefonaktionen – all dies seien mögliche Maßnahmen, 651 große Massen der Bevölkerung in den politischen Protest einzubinden und somit Druck auf das System selbst auszuüben.652 Die Ergänzungswahlen zu den nationalen Vertretungsorganen im Dezember 1983 verliefen aus Sicht der Opposition enttäuschend. Erstmals seit 1980 musste die Dangwai große Stimmenverluste hinnehmen. Viele der populären, charismatischen Spitzenpolitiker der Dangwai (wie Zhang Deming, Xu Guotai, Gaoli Lizhen und Huang Huangxiong) unterlagen in ihren Wahlkreisen, auch Kang Ningxiang konnte überraschenderweise sein Mandat nicht verteidigen. Für viele politische Beobachter war der Richtungsstreit ausschlaggebend für diese Niederlage. In der Opposition wurden daraufhin Stimmen laut, die für mehr Zurückhaltung bei öffentlicher Kritik plädierten. Zwar sei es wichtig, an Selbstkritik und
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Zheng Nanrong 1983: 43. Xie Changting merkte hingegen kritisch an, dass diese von der Shengeng angeregten Maßnahmen letztlich auch „im System“ verankert seien und zudem nicht erkenntlich sei, wie damit das System bekämpft werden könne. „Maßnahmen wie Telefonaktionen und Massenbriefe […] können allenfalls zu kurzfristigen Irritationen führen, [ansonsten] werden damit nur die Einnahmen des Postministeriums gesteigert. Es ist aber schwer zu erkennen, wie [auf solche Weise] das ‚System angegriffen’ werden kann.“ Xie Changting 1982: 18. 652 Es ist augenscheinlich, dass sich die Junge Generation mit ihren Vorstellungen einer „Reform des Systems“ und eines „Wegs der Straße“ an das Vorbild der Meilidao-Gruppe im Jahr 1979 anlehnte. Jedoch ist bemerkenswert, dass auch das Vorgehen der Meilidao als zu wenig konsequent bewertet wurde; erstmals in der DangwaiBewegung wurde, bei allem gebotenen Respekt vor der Opferbereitschaft der Aktivisten des Jahres 1979, Kritik an der Meilidao geäußert. So sei es auch der Meilidao nicht gelungen, sich von ihren elitären Allüren zu befreien und wirkliche Nähe zu den Volksmassen zu suchen. Daher sei auch das Scheitern der Meilidao in dem Vorfall vom Dezember 1979 in weiten Teilen des Volkes auf Teilnahmslosigkeit gestoßen: „Der Meilidao-Vorfall war schrecklich, und dennoch ging [in Gaoxiong] auf dem Nachtmarkt und in den Nebenstraßen das rauschende Nachtleben mit Wettspielen und Trinkgelagen ganz normal weiter. Falls die Mitglieder der Meilidao wirklich den Weg des Volkes beschritten hatten, warum war das Volk dann so gleichgültig?“ Chen Muhuo 1984: 39. 651
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Die Dangwai-Bewegung nach dem Meilidao-Vorfall
internem Dialog festzuhalten, jedoch „sollte [man] sich nicht in aller Öffentlichkeit streiten, sonst macht man sich zum Gespött der Leute.“653
8.3 Konsolidierung der Opposition und die Gründung der DPP 8.3.1 Beginn der Konsolidierung: Das „Empfehlungs-System“ Im Dezember 1980 wurden die Ergänzungswahlen zu den nationalen Vertretungsorganen Legislativ-Yuan und Nationalversammlung, die ursprünglich für den Dezember des Jahres 1978 vorgesehen und auf Grund der diplomatischen Krise des ROC-Regimes verschoben worden waren, erneut angesetzt. Diese ersten Wahlen der späteren Dangwai-Periode standen ganz im Zeichen der Meilidao-Prozesse: Mit dem Führungspersonal der MeilidaoGruppe befanden sich einige der populärsten Köpfe der Oppositionsbewegung in Haft; zudem konnten parteilose Kandidaten nach Schließung der Service-Büros auf keinerlei organisatorische Strukturen mehr zurückgreifen. Mit dem Niedergang der Meilidao stand zu befürchten, die Dangwai könnte sich als politische Kraft weitgehend auflösen. In einer Erklärung des „Freundschaftsvereins der Dangwai-Kandidaten für die nationalen Wahlen“654 vom 21.11.1980 wurde daher die besondere Bedeutung der bevorstehenden Wahlen für den Fortbestand der demokratischen Opposition selbst beschworen: Wir denken, dass dies […] die wichtigste Wahl in der Geschichte Taiwans ist, diese Wahl hat entscheidende Auswirkung auf die demokratische Zukunft des Landes […] Wenn die politische Kraft der Dangwai in diesen Wahlen nicht neu erstehen kann, dann ist es nicht abzusehen, wann das taiwanesische Volk die von der Verfassung garantierten demokratischen Freiheiten und Rechte, für welche auch die Dangwai stets mit großer Entschlossenheit eingetreten ist, für sich reklamieren kann […] 655
In diesem Aufruf präsentierte der „Freundschaftsverein“ eine Liste von Wahlempfehlungen, unterteilt nach den jeweiligen Wahlkreisen, die sich indes auf wenige Kandidaten beschränkte. Für die mangelnde Geschlossenheit der Dangwai in dieser Phase spricht auch die abschließende Bemerkung der Wahlempfehlung, die darauf hinwies, dass „[…] es noch einige parteilose Kandidaten gibt, die erst seit kurzem in der Politik aktiv sind und die wir nicht gut genug kennen, um eine Wahlempfehlung auszusprechen. Wenn sie in Zukunft in Einklang mit unseren Idealen handeln, werden wir uns auch zu ihnen bekennen.“656 Das Ergebnis der Wahlen war für die Dangwai ermutigend; viele der vorgeschlagenen Kandidaten konnten ein Amt erringen. Dieser Erfolg war jedoch in erster Linie dem persönlichen Charisma der einzelnen Kandidaten zu verdanken. Im Zentrum der öffentlichen Wahrnehmung standen insbesondere Verwandte von Meilidao-Angeklagten, die sich an Stelle ihrer Angehörigen um politische Ämter beworben hatten – darunter etwa Zhou Qingyu (die 653
o.A. 1983f: 15. Zhongyang minyi daibiao dangwai houxuanren lianyihui ѝ഻≁ԓ㺘唘ཆى䚨Ӫ㚟䃬ᴳ. Diese Vereinigung von oppositionellen Kandidaten hatte sich bereits im Juni 1979 gegründet, war jedoch im weiteren Verlauf dieses turbulenten Jahres faktisch mit der politischen Gruppe der Meilidao verschmolzen. 655 o.A. 1980b: 231. 656 o.A. 1980b: 235. Für die fünf Wahlkreise und zwei kreisfreien Städte Taipei und Gaoxiong wurden jeweils nur ein oder zwei Kandidaten empfohlen. Insgesamt wurden für 26 Kandidaten Wahlempfehlungen ausgesprochen. 654
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Ehefrau von Yao Jiawen), Xu Rongshu (die Ehefrau von Zhang Junhong) und Huang Tianfu (der jüngere Bruder von Huang Xinjie). Von einem geschlossenen Auftreten wie zur Zeit der Meilidao war die Opposition hingegen noch weit entfernt. Im November des folgenden Jahres boten die Wahlen auf lokaler Ebene eine weitere Gelegenheit zur Stabilisierung und Konsolidierung der Opposition. Auf einem Treffen der Dangwai in Pingdong wurde am 9.9.81 eine „Empfehlungsgruppe“ 657 gegründet, die Kandidatenliste für die bevorstehenden Wahlen umfasste nun bereits 40 Namen. Im November veröffentlichte diese Empfehlungsgruppe eine „Gemeinsame Erklärung“, 658 in der auf die besondere Bedeutung der Opposition als einer „ausgleichenden Kraft“ verwiesen wurde. Als äußeres Zeichen der neuen Geschlossenheit erschienen bei diesen Wahlen erstmals grüne Fahnen mit der Aufschrift „Dangwai“ – die Farbe Grün sollte in der Folgezeit das Symbol der Opposition bleiben und schließlich die Parteifarbe der DPP werden. In der ersten Phase der Konsolidierung nach dem Meilidao-Vorfall konnte in den Jahren 1980/81 also eine Wiederbelebung der Opposition erreicht werden. Im Zentrum dieser Konsolidierungsbemühungen standen die gewählten Mandatsträger der Dangwai, in vorderster Linie Kang Ningxiang, deren „Empfehlungslisten“ bereits in Ansätzen an Wahllisten einer Partei erinnerten. Die politische Linie der Opposition entsprach dabei den moderaten Vorstellungen des „Weges der Parlamente“: Im Gegensatz zur Meilidao-Gruppe des Jahres 1979 verzichtete man auf Massenmobilisierung und demonstrative Übertretung der Gesetze. Die rasche Wiederbelebung der politischen Opposition nach 1980 kann daher weitgehend als das Verdienst der Kang Ningxiang-Gruppe betrachtet werden.
8.3.2 Organisatorische Strukturen der Dangwai im Zeichen der Flügelkämpfe Im Umfeld der Ergänzungswahlen von 1983 wollte die Opposition erneut eine gemeinsame Kandidatenliste präsentieren. Die Gründung der anvisierten „Gruppe zur Unterstützung des Wahlkampfs der Dangwai-Mitglieder“659 (kurz: Unterstützergruppe) stieß jedoch auf unerwartete Schwierigkeiten. Zum ersten Mal in der Geschichte der Dangwai sollten die Kandidaten der Opposition in Vorwahlen bestimmt werden. Für die moderate Kerngruppe um Kang Ningxiang ging diese umfassende Beteiligung weiter Kreise der Opposition hingegen zu weit: Sie fürchtete, in ihrer Bewerbung um Listenplätze von Vertretern der Jungen Generation verdrängt zu werden – womit aus ihrer Sicht der gesamte bisherige Erfolg der oppositionellen Konsolidierung gefährdet wäre. Im Statut der Unterstützergruppe wurde daher die kontroverse Bestimmung verankert, dass aktive Mandatsträger, die sich um eine Wiederwahl bewarben, bevorzugt berücksichtigt werden sollten. In Kreisen der Jungen Generation wurde dieses undemokratische Vorgehen scharf verurteilt: Die Unterstützung des Volkes für die [Mandatsträger der] Dangwai gilt immer nur für drei Jahre, wenn drei Jahre abgelaufen sind, muss man dem Volk erneut die Wahl zugestehen. Natürlich können die amtierenden Mandatsträger die Erfolge ihrer Amtszeit mit aller Kraft anpreisen, aber die Entscheidung, ob ihre Leistung wirklich so außergewöhnlich war, muss dem Wahlvolk vorbehalten bleiben, und nicht den Abgeordneten selbst. Das ist auch der Grund, warum wir gegen 657
Tuijian tuan ᧘㯖ൈ Siehe o.A. 1981d: 245f. 659 Dangwai renshi jingxuan houyuanhui 唘ཆӪ༛ㄦ䚨ᖼᨤᴳ 658
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Die Dangwai-Bewegung nach dem Meilidao-Vorfall das Ewige Parlament der KMT kämpfen. Die Volksvertreter der Dangwai […] verweigern sich jeder Fairness und jedem Wandel, und halten bis zum bitteren Ende am Status Quo fest, wo liegt da noch der Unterschied zur KMT?660
Da Vermittlungsversuche zwischen den beiden Flügeln der Opposition scheiterten, kam es schließlich am 9.9.83 von Seiten der Jungen Generation zur Gegengründung661 der „Vereinigten Freundschaftsgesellschaft der Herausgeber und Schriftsteller der Dangwai“.662 Deren Mitglieder betrachteten sich als die Verfechter der demokratischen Ideale 663 der Dangwai, die ihren Einfluss nicht in Parlamenten und politischen Ämtern, sondern in Publikationen und in direkten Appellen an das Volk geltend machen wollte. 664 Durch die Gründung zweier konkurrierender oppositioneller Gruppierungen wurde das Ziel einer einheitlichen politischen Front verfehlt: Beide Organisationen präsentierten im Wahlkampf jeweils eigene Kandidatenlisten, der Richtungsstreit innerhalb der Dangwai, der bereits seit einem Jahr gärte, wurde im Vorfeld der Wahlen nun auch auf organisatorischer Ebene vollzogen. Wie oben beschrieben, waren die Folgen insbesondere für den moderaten Flügel um Kang Ningxiang (der selbst ebenfalls die Wiederwahl verpasste) katastrophal. Zum ersten Mal seit dem Neubeginn der Dangwai im Jahre 1980 musste die Opposition massive Stimmenverluste hinnehmen.
8.3.3 Von der „Studiengesellschaft“ zur „DPP“ – Kompromisse und erneute Vereinigung Unter dem Eindruck der Wahlniederlage von 1983 wurden mit Beginn des Jahres 1984 aus Kreisen der moderaten Dangwai-Fraktion erneut Anstrengungen unternommen, die beiden auseinanderstrebenden Flügel der Opposition in einer gemeinsamen Organisation zu vereinen. Federführend war hierbei der Abgeordnete des Legislativ-Yuans Fei Xiping,665 der die neue Organisation in erster Linie als Koordinierungsstelle der Dangwai-Delegierten in den verschiedenen Volksvertretungsorganen etablieren wollte. Die Gründung des anvisierten „Vereins zum Studium der öffentlichen Politik“ 666 versuchte die KMT jedoch mit einem juristischen Winkelzug zu verhindern: Sie kam der Opposition mit der Gründung einer regimenahen „Studiengesellschaft für öffentliche Politik der Republik China“ 667 zuvor – laut gesetzlicher Bestimmungen war es nicht zulässig, dass zum gleichen Gegenstand zwei unterschiedliche Organisationen bestanden.668 Fei Xiping erklärte jedoch seine Entschlos660
Zhang Mingxiong 1983: 14. Die Gründung der „Freundschaftsgesellschaft“ ging dabei der „Unterstützergruppe“ um einige Tage voraus. Die Bildung einer „Unterstützergruppe“ wurde zwar bereits seit dem Frühjahr 1983 vorbereitet, jedoch erst am 18.9. offiziell vollzogen. 662 Dangwai bianji zuojia lianyihui 唘ཆ㐘䕟ᇦ㚟䃬ᴳ. 663 In einer klaren Abgrenzung zur „Unterstützergruppe“ verfolgte die Freundschaftsgesellschaft indes die ihrerseits fragwürdige Politik, aktive Mandatsträger der Dangwai von den meisten Funktionen innerhalb der Organisation ausdrücklich auszuschließen. 664 Siehe Lin Zhuoshui 1983:.8. 665 Nach seiner Wahlniederlage hatte sich Kang Ningxiang vorübergehend aus der Politik zurückgezogen. 666 Gonggong zhengce yanjiuhui ޡޜ᭯ㆆ⹄ウᴳ. 667 Zhonghua minguo gonggong zhengce xuehui ѝ㨟≁഻ޡޜ᭯ㆆᆨᴳ 668 Den selben „Trick“ hatte die KMT im Jahre 1979 angewandt, als sie der Gründung eines oppositionellen „Komitees für Menschenrechte Taiwan“ durch die Gründung des „Vereins für die Menschenrechte China“ zuvorgekommen war. Vgl. Lü Xiulian 1997: 122. 661
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senheit, sich durch diese juristische Hürde nicht beirren zu lassen und das Risiko einer Gesetzesübertretung in Kauf zu nehmen: „Wer dazu keine Nerven hat, soll nach Hause gehen und sich schlafen legen“.669 Auch nach Gründung der oppositionellen Studiengesellschaft konnten die bestehenden Differenzen nicht ausgeräumt werden. Die Spannungen zwischen der radikaleren „Jungen Generation“ und den moderateren Kräften der Dangwai verschärften sich in den folgenden Monaten zusehends an der Frage, ob die neu gegründete Studiengesellschaft in einen Dialog mit der KMT treten sollte, um einem Verbot zu entgehen. Am 6.12. richtete Fei Xiping als Vorsitzender der Studiengesellschaft einen Brief an den Generalsekretär der KMT, Jiang Yanshi, und erklärte, die Studiengesellschaft wolle keinesfalls in politische Gegnerschaft zur KMT treten. Unter Berufung auf die Verfassung und die Schriften des Sun Yazen sei den Mitgliedern der Gesellschaft nur daran gelegen, ein höheres Maß an Pluralität in den politischen Entscheidungsprozess einfließen zu lassen. Und: Wenngleich die Mitglieder unserer Gesellschaft in einigen Fragen andere politische Meinungen vertreten mögen […], so sind die Mitglieder unserer Gesellschaft doch ausnahmslos Patrioten und Antikommunisten, und halten aufrichtig an einem Zusammenschluss [aller politischen Kräfte] fest, hier gibt es zu Ihrer werten Partei nicht den geringsten Unterschied.670
Der Brief des Fei Xiping erfüllte zwar sein Ziel; die KMT sah zunächst von Verbotsmaßnahmen gegen die Studiengesellschaft ab. Von Seiten der Jungen Generation, allen voran dem Vorsitzenden der „Vereinigten Freundschaftsgesellschaft der Herausgeber und Schriftsteller der Dangwai“, Qiu Yiren, wurde Fei für seine „unterwürfige Haltung“ jedoch heftig kritisiert.671 Am 29.3.85 erklärte Fei Xiping daraufhin seinen Austritt aus der Studiengesellschaft, der Vorsitz wurde von You Qing übernommen. Die Opposition hielt indes am Kurs eines engeren Zusammenschlusses fest. Im Vorfeld der lokalen Wahlen auf Ebene der Provinzvorsteher und Bürgermeister im November 1985 kam es erstmals zu einem Zusammenschluss der beiden konkurrierenden Organisationen: In einer gemeinsamen „Gruppe zur Wahlunterstützung der Opposition im Jahr 1985“,672 gegründet am 28.9.85, wurden 42 gemeinsame Kandidaten für die Wahl nominiert. Man einigte sich auf ein gemeinsames Wahlprogramm in 20 Punkten, 673 darunter fanden sich etwa die Forderungen nach Selbstbestimmung, Aufhebung des Kriegsrechtes und Freilassung der politischen Gefangenen. Zudem wählten die Kandidaten die provokative Parole: „Eine neue Atmosphäre durch eine neue Partei, durch Selbstbestimmung Taiwan retten“. 674 Bei den Wahlen konnte die Dangwai große Erfolge verzeichnen; insgesamt konnte sie etwa 30% der Stimmen auf sich vereinen, im Kreis Taipei erreichte die Zustimmung sogar nahezu 40%. 675 Für die nationalen Ergänzungswahlen im Dezember des 669
Huang Jiaguang 1984: 33. Zitiert nach Li Xiaofeng 1987: 201. Siehe z.B. o.A. 1985d: 8-11. 672 1985 nian dangwai xuanju houyuanhui 1985 ᒤ唘ཆ䚨㠹ᖼᨤᴳ 673 Siehe Zhou Xiuhuan/Chen Shixiong 2000: 513f. 674 Xin dang xin qixiang, zijue jiu Taiwan ᯠ唘ᯠ≓䊑, 㠚⊪ᮁਠ⚓. Im Oktober erging eine Verlautbarung der lokalen Wahlkommissionen, dass die Verwendung des Begriffes „Selbstbestimmung“ (zijue 㠚⊪) rechtliche Konsequenzen nach sich ziehen würde. Einige Kandidaten der Opposition änderten daraufhin die Parole entsprechend ab, und verwendeten statt dessen den homophonen Begriff „Selbstbesinnung“ (zijue 㠚㿪). 675 Im Provinzparlament konnte sich elf der 18 oppositionellen Kandidaten durchsetzen, im Stadtparlament von Taipei konnten gar sämtliche elf Kandidaten ein Mandat erringen. Im Kreis Gaoxiong wurde die oppositionelle 670 671
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folgenden Jahres wollte die Opposition einen weiteren Schritt in Richtung einer noch engeren Koordinierung der oppositionellen Kräfte unternehmen. In Anlehnung an die Service-Büros der Meilidao-Gruppe im Jahre 1979 sollte erneut ein Inselumspannendes Netz an Zweigstellen der Studiengesellschaft entstehen, die Gesellschaft würde damit parteiähnliche Strukturen annehmen. Das KMT-Regime hatte den organisatorischen Ausbau der Studiengesellschaft in den Jahren 1985 und 1986 und den Ruf nach Gründung einer Oppositionspartei mit Sorge beobachtet. Es reagierte auf diese Herausforderung mit einer doppelten Strategie: Einerseits wurde die Drohung eines vollständigen Verbotes der Studiengesellschaft aufrechterhalten. Auch in den Kreisen der Dangwai blieb die Sorge bestehen, dass sich der Meilidao-Vorfall wiederholen könnte.676 Andererseits unternahmen die moderaten Kräfte innerhalb der KMT den Versuch, den Dialog mit der Opposition zu intensivieren und die Gründung einer Oppositionspartei sozusagen im Guten zu verhindern. Im Sinne einer größeren politischen Neutralität wurden einige renommierte Gelehrte 677 als Vermittler in den Dialog einbezogen. Bei einem ersten Treffen der Verhandlungspartner am 10.5.86 konnte indes keine Einigkeit erzielt werden: Die KMT unterbreitete das Angebot, die Gründung von Zweigstellen zu gestatten, falls die Studiengesellschaft ihren Namen ändern und auf den Begriff „Dangwai“ verzichten würde. Für die Vertreter der Dangwai war dieser Vorschlag indes inakzeptabel: Mit Berufung auf die Verfassung vertraten sie die Ansicht, dass die Studiengesellschaft (ebenso wie die KMT) nicht verpflichtet sei, sich bei irgendeiner staatlichen Stelle unter irgendeinem Namen registrieren zu lassen. Auch in einer zweiten Gesprächsrunde am 24.5. konnte in dieser strittigen Frage kein Fortschritt erzielt werden. Die dritte Gesprächsrunde, geplant für den 7.6., fand bereits nicht mehr statt. Inzwischen hatte sich das politische Klima verschärft: Die Junge Generation der Dangwai hatte die Gespräche mit dem politischen Gegner KMT mit Misstrauen und Ungeduld betrachtet, und unternahm nun auf eigene Initiative weitere Schritte, ohne ein Ergebnis der Gespräche abzuwarten. Bereits am 11.5., dem Tag nach der ersten Gesprächsrunde zwischen KMT und Opposition, erklärten Chen Shuibian und Yan Jinfu die Gründung einer ersten Zweigstelle der Studiengesellschaft, am 17.5. folgte die Gründung einer Zweigstelle in Taipei. Zudem wurde das Verhältnis zwischen Opposition und Regierung seit Ende 1985 von einer Anzahl von politischen Vorfällen belastet, die eine erneute Verhärtung der Fronten nach sich zogen und eine Fortführung der Gespräche behinderten: Am 18.11.85 wurde die Ehefrau von Chen Shuibian, Wu Shuzhen, Opfer eines Anschlages. Das Ehepaar Chen und Wu befand sich in Tainan, um trotz verlorener Wahl der Bevölkerung für die Unterstützung zu danken. Plötzlich raste ein Kleinlastwagen in die Menschenmenge, Wu Shuzhen wurde mehrmals überfahren. 678 Sofort wurde seitens der
Kandidatin Yuchen Yueying zur Kreisvorsteherin gewählt, Chen Shuibian hingegen verpasste im Kreis Tainan knapp den Wahlsieg. Vgl. Li Xiaofeng 1987: 217f. 676 Vgl. z.B. Zhang Mingyuan 1986: 22f. 677 Unter den Vermittlern befanden sich etwa die Professoren Hu Fo, Yang Guoshu, Li Hongxi und Zhang Zhongdong 678 Wu Shuzhen trug von diesem Unfall eine Querschnittslähmung davon, bis heute ist sie auf einen Rollstuhl angewiesen. In einer bemerkenswert versöhnlichen Geste erklärte Chen Shuibian am 19.1.86, er wolle die Strafanzeige gegen den Fahrer des Wagens, Zhang Rongcai, zurückziehen, da dieser lediglich als politisches Werkzeug missbraucht worden sei. Siehe o.A. 1986a: 56f. Trotz dieses Vorfalles musste Chen Shuibian im Mai 1986 seine achtmonatige Haftstrafe im Zusammenhang mit dem Penglaidao-Vorfall antreten (vgl. 8.1.1.).
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Dangwai der Verdacht eines politisch motivierten Anschlages geäußert. Insbesondere wurde die fahrlässige Ermittlung der Polizei angeprangert: Die Polizei erklärte in einer Pressemitteilung, dass der „Verkehrsunfall“ auf ein Versagen der Bremse des Kleinlastwagens zurückzuführen sei. Der Fahrer habe, um Passanten auszuweichen, den Lastwagen in die kleine Gasse gelenkt, wo weniger Menschen gewesen seien, und damit den „Unfall“ verursacht. In Wahrheit handelt es sich eine Sackgasse, normalerweise dürfen Fahrzeuge dort gar nicht hineinfahren. […] Und wenn wirklich ein „Bremsversagen“ vorlag, warum konnte [der Fahrer] dann, nachdem er Wu Shuzhen zum ersten Mal überfahren hatte, sofort bremsen, im Rückwärtsfahren nochmals [den Körper von Wu] überfahren, danach erneut bremsen und nochmals über Wu fahren? Wie kann da ein „Bremsversagen“ vorliegen? Warum will die Polizei den Gewalttäter schützen? 679
Am 19.5.86 wurde unter der Leitung von Zheng Nanrong, dem Herausgeber der Ziyou shidai-Reihe, eine Protestkundgebung zum Gedenken an den 30. Jahrestag des Kriegsrechtes abgehalten. Diese „Grüne 519-Aktion“ mobilisierte etwa 200 Demonstranten, die sich am Longshan-Tempel in Taipei versammelten. Die Demonstranten wurden von einem großen Polizeiaufgebot eingekreist und konnten daher den geplanten Protestzug nicht durchführen; dennoch erregte dieser Vorfall in Taiwan einiges Aufsehen. 680 Nur zwei Wochen später wurde Zheng Nanrong wegen „Verleumdung“ und „Verwirrung der öffentlichen Meinung“ zu einer achtmonatigen Haftstrafe verurteilt. 681 Im September 1986 kam es im Zuge der Verurteilung des oppositionellen Politikers Lin Zhengjie zu den größten Massenkundgebungen seit 1979. Am 2.9. wurde Lin, der ein Mandat als Abgeordneter des Stadtparlamentes Taipei innehatte, wegen „Verleumdung“ zu 18 Monaten Haft verurteilt. 682 Lin Zhengjie verzichtete auf ein Berufungsverfahren, er weigerte sich jedoch gleichzeitig, das Urteil anzuerkennen. Nachdem er eine vorbereitete Rede verlesen hatte, in der er sich von den Bürgern Taipeis verabschiedete, setzte er sich an die Spitze eines Protestzuges, der sich vor dem Gerichtsgebäude versammelt hatte. Im Laufe des Tages stieg die Zahl der Demonstranten auf einige tausend, sämtliche führende Politiker der Dangwai schlossen sich der Kundgebung an. In den folgenden zehn Tagen kam es auf ganz Taiwan zu Protestkundgebungen von Sympathisanten, die Gesamtzahl der Demonstranten wurde auf einige 10.000 geschätzt – wenngleich, wie die Dangwai stolz vermeldete, in den zehn Tagen der Protestwellen nicht eine einzige Fensterscheibe zu Bruch gegangen sei. 683 Angesichts dieser Vorfälle, die für einige Dangwai-Vertreter einen
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Zheng Jing 1985: 8. Siehe o.A. 1986h: 18-23. 681 Siehe Xu Manqing 1986a: 20f. Die Verhaftung des Zheng Nanrong erfolgte auf Grund einer Anklage des oppositionellen Politikers Zhang Deming, die vom November des Vorjahres datierte. Eine Besonderheit dieses Falles bestand also darin, dass (wie in der Vergangenheit schon öfters geschehen) hier ein juristischer Streit innerhalb der Dangwai ausgetragen wurde. Im Vorfeld der Wahlen zum Kreisvorsteher von Taoyuan hatte die Ziyou shidai Kritik an Zhang Deming geäußert und diesem vorgeworfen, enge Kontakte zur KMT zu unterhalten. Zhang hatte daraufhin am 11.11.85 Anklage gegen die Herausgeber der Ziyou shidai, Zheng Nanrong und Wang Zhenhui, wegen Rufschädigung erhoben. Siehe o.A. 1986i: 26-29. 682 Lin hatte gegen den KMT-Delegierten Fu Yishou Anschuldigungen gegen dessen Geschäftsgebaren erhoben. Fu, im Hauptberuf Lebensmittel-Großhändler, habe verdorbenes Milchpulver und Kängurufleisch zum Verkauf angeboten. Fu hatte daraufhin Anklage gegen Lin Zhengji erhoben. Siehe o.A. 1986j: 28f. 683 Siehe o.A. 1986k: 10-13. 680
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Rückfall in die Zeiten des Weißen Terrors befürchten ließen, erklärten Vertreter der Jungen Generation, dass eine Fortsetzung des Dialoges mit der KMT ausgeschlossen sei.684 In dieser gespannten politischen Lage traf sich die Gesellschaft zur Wahlunterstützung am 28.9.1986 zu einer Vollversammlung mit über hundert Teilnehmern, um über eine gemeinsame Kandidatenliste für die Wahlen zum Jahresende zu beraten. Zur Überraschung vieler Anwesender wurde vom Vorsitzenden der „Vereinigten Freundschaftsgesellschaft der Herausgeber und Schriftsteller der Dangwai“, You Qing, ein Antrag in sechs Punkten eingebracht, der auf die sofortige Gründung einer Oppositionspartei zielte. Die Vorbereitungen für eine Parteigründung, so You, seien in verschiedenen Gremien der Studiengesellschaft und der Freundschaftsgesellschaft bereits abgeschlossen, es bestünde kein Grund zu weiterem Zögern: Die Gesellschaft zur Wahlunterstützung ist nur eine Organisation des Übergangs, unser Ziel ist die Gründung einer Partei. Bezüglich des Zeitpunktes der Parteigründung sind alle der Ansicht, dass dieses Jahr am besten wäre, und in diesem Jahr ist wiederum der heutige Tag am besten.685
Einige der Delegierten hielten diesen Schritt dennoch für verfrüht. Allgemein hatte man frühestens im folgenden Jahr 1987 mit der Gründung einer Partei gerechnet, 686 in den anschließenden, leidenschaftlichen Diskussionen wurde über Fragen wie das Statut und der Name der zu gründenden Partei 687 beraten. Schließlich meldete sich Zhu Gaosheng mit einer kämpferischen Rede zu Wort: Zhu Gaosheng trat dafür ein, die Gründung der Partei heute offiziell zu verkünden. Die vorgeschlagenen Kandidaten sollten alle zu Kandidaten der neuen Partei werden und in vorderster Linie stehen: Falls es Repressionsmaßnahmen gegen die neue Partei geben sollte, sollten alle Kandidaten die Teilnahme an den Wahlen verweigern. Dies würde die KMT einem noch nie dagewesenen internationalen Druck aussetzen, auch die Mitbürger im Ausland würden ihre schwere Besorgnis äußern.688
In einer spannungsgeladenen und euphorischen Stimmung wurde am Nachmittag die Gründung der neuen Partei beschlossen, gegen 18 Uhr verkündete Fei Xiping, der den Vorsitz über die Versammlung führte, offiziell die Gründung der DPP. 689 Das jahrzehntelange
684 Siehe z.B. Yi Shuihan 1986: 30. Zudem wurde befürchtet, dass die konservativen Kräfte des Regimes einen umfassenden Zugriff auf die Dangwai planten und die Gespräche nur als Vorwand nutzen, um mehr Zeit für die Vorbereitung der Repressionsmaßnahmen zu gewinnen. So wurde in der Ziyou shidai-Reihe die Nachricht kolportiert, das Regime habe bereits eine Schwarze Liste mit den wichtigsten Regimegegnern zusammengestellt. Siehe Jiang Feng 1986a: 10f. 685 o.A. 1986l: 4. 686 So hatte die Hauptstelle der Studiengesellschaft unter Kang Ningxiang und Lin Zhengjie im Juli 1986 einen „Zeitplan“ zur Demokratisierung Taiwans erarbeitet, der die Gründung einer Oppositionspartei für das Jahr 1987 anvisierte. Siehe Deng Weizhen 1986: 56f. 687 Einige der Delegierten wollten einen Bezug zu Taiwan im Parteinamen verankert sehen. Ein weiterer Vorschlag sah vor, die neu zu gründende Partei, in Anlehnung an die gescheiterte Parteigründung der Free China im Jahre 1960, „Demokratische Partei Taiwans“ zu nennen. Schließlich setzte sich Xie Changting mit seinem Vorschlag „Demokratische Fortschrittspartei“ durch. Am wichtigsten, so Xie, sei zunächst die Gründung einer Oppositionspartei – der Parteiname könne im Nachhinein jederzeit geändert werden. Siehe Jiang Feng 1986b: 4-11. 688 o.A. 1986l: 6f. 689 Democratic Progressive Party, Chinesischer Name Minzhu jinbudang ≁ѫ䙢↕唘
Ergebnisse im Kontext dieser Arbeit
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Streben der demokratischen Oppositionsbewegung auf Taiwan, die Gründung einer oppositionellen Partei, war damit zu einem Abschluss gekommen. 690
8.4 Ergebnisse im Kontext dieser Arbeit 8.4.1 Taiwanesischer Nationalismus In der zweiten Phase der Dangwai-Zeitschriften lässt sich, verglichen mit dem Zeitraum vor 1980, eine deutlich stärkere Bezugnahme zu einer eigenständigen taiwanesischen Identität feststellen. Einerseits war diese Entwicklung eine notwendige Folge der veränderten Presselandschaft: Durch die Zunahme der Dangwai-Publikationen waren die Redaktionen der Zeitschriften gezwungen, sich vermehrt den Anforderungen des Marktes anzupassen – und eine Mehrheit des potentiellen Leserkreises bestand aus gebürtigen Taiwanesen. 691 Die Konstruktion einer eigenständigen taiwanesischen Identität als Mittel zum Kampf gegen das Regime stieß indes auf eine doppelte Schwierigkeit. Zum einen mussten nach wie vor politische Tabus beachtet werden. Wenngleich sich der Rahmen der Redefreiheit seit Beginn der 80er Jahre deutlich erweitert hatte, konnte ein allzu unverhülltes Eintreten für einen taiwanesischen Nationalismus immer noch juristische Konsequenzen nach sich ziehen. Wie gezeigt werden soll, traten in Teilen der Dangwai nunmehr Themen in den Vordergrund, die indirekt eine Abgrenzung der gebürtigen Taiwanesen von dem von Festländern dominierten KMT-Regime ermöglichten: Die taiwanesischen Sprache (das so genannte Minnanyu) und die eigenständige historische und kulturelle Entwicklung Taiwans. Jedoch war die Behauptung einer eigenständigen taiwanesischen Identität auch innerhalb der Opposition umstritten. Zum einen betraf dies die grundsätzliche Erwägung, ob Taiwan überhaupt eine eigenständige Identität zugesprochen werden konnte. Wie eingangs erwähnt, traten Teile der Dangwai für eine Wiedervereinigung mit dem chinesischen Festland ein und waren, trotz ihres Widerstandes gegen das KMT-Regime, nicht bereit, die chinesische Identität der Taiwanesen in Frage zu stellen. Diese Differenzen innerhalb der Dangwai traten anlässlich des Hou Dejian-Vorfalls im Jahre 1983 besonders deutlich zu Tage. Weiterhin stellte sich die Frage, wie eine taiwanesische Identität, wenn man sie denn zugestehen wollte, zu definieren sei. Die Opposition stand vor dem schwierigen Problem, wie die verschiedenen Volksgruppen auf Taiwan in dieser Hinsicht gefasst werden konnten: Einerseits die gebürtigen Taiwanesen, die sich wiederum in frühe Einwanderer aus Fujian (die so genannten Fulao), die Hakka und die Ureinwohner gliederten, andererseits die zugewanderten Festlandchinesen der ersten und zweiten Generation. Die Dangwai musste der 690
Bei einer anschließenden Pressekonferenz am Abend meinte Xie Changting auf die Frage eines Reporters, ob die Gründung der Partei nicht übereilt geschehen sei: „Wir haben uns 30 Jahre lang vorbereitet.“ Jiang Feng 1986b: 10. 691 Li Wangtai äußerte hierzu die nach Meinung des Autors etwas fragwürdige Ansicht, dass die Affinität zu Taiwan unter anderem vom gesellschaftlichen Status einer Person bestimmt werde: „Die Dangwai-Zeitschriften lösten sich von der Intellektuellen-Bewegung und unterliefen eine Entwicklung in die unteren Gesellschaftsschichten. Eine Folge davon war, dass sich in den Zeitschriften inhaltlich eine deutliche Taiwanisierung abzeichnete. Dieses Phänomen war angesichts der Bevölkerungsverteilung innerhalb der Gesellschaft unvermeidlich. Denn auf Taiwan gilt, ob nun in Bezug auf politische oder gesellschaftliche Macht: je höher die Schicht, desto mehr [Affinität zu] China; je niedriger die Schicht, desto mehr [Affinität zu] Taiwan.“ Li Wangtai 1984: 14.
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Tatsache gerecht werden, dass sich in den Reihen der Opposition zahlreiche Festländer fanden, während andererseits viele gebürtige Taiwanesen führende Positionen des Regimes besetzten. Die klare Unterscheidung in ein „festlandchinesisches“ Regime, das mit autoritären Mitteln über eine „taiwanesische“ Bevölkerung herrschte, erschien immer weniger plausibel.
8.4.1.1 Taiwan als Sprachgruppe – der Sprachstreit in der Dangwai Die Frage der sprachlichen Selbstbestimmung der Taiwanesen wirkte auf zwei unterschiedlichen Ebenen auf die Dangwai ein: Zum einen trat das Problem in Konfrontation mit dem KMT-Regime zu Tage. Die politische Strategie des Regimes, Mandarin als einheitliche Hochsprache zu erzwingen, wurde von der Opposition einmütig verurteilt: Das Regime, so der Vorwurf, verfolge das Ziel einer Beschneidung und Verödung der sprachlichen Vielfalt der Insel – wenngleich die pragmatische Notwendigkeit einer Hochsprache gelegentlich eingeräumt wurde. Andererseits betraf das Problem auch die Dangwai selbst. Einige Aktivisten innerhalb der Opposition betrachteten die Unterdrückung des Taiwanesischen als einen gezielten Angriff auf ihre kulturelle Identität, und wollten daher in Oppositionskreisen der eigenen Muttersprache zu einer dominanten Stellung verhelfen. Dies wiederum musste diejenigen Regimegegner befremden, die anderen Sprachgruppen angehörten. Hier stellte sich die Frage, ob nicht die Gefahr eines neuen, taiwanesischen Sprachchauvinismus drohte. Beide Aspekte sollen im Folgenden behandelt werden. Seit der Übernahme Taiwans im Jahr 1945692 begann das KMT-Regime eine Politik der sprachlichen Vereinheitlichung, indem das Hochchinesische (Mandarin) als verbindliche Landessprache festgelegt wurde. Seit 1953 wurden Japanisch und alle lokalen Sprachen Taiwans im amtlichen Verkehr unterbunden. Ebenso wurde der Schulunterricht auf Mandarin abgehalten: Mit strengen Disziplinarmaßnahmen wurde es den Schülern untersagt, in der Schule andere Sprachen als Mandarin zu verwenden. Übertretungen dieser Regel wurden nicht selten mit Schlägen und Geldstrafen geahndet. 693 Auch in den Massenmedien wurde allmählich eine Politik der Bevorzugung des Hochchinesischen auf Kosten der lokalen Sprachen verfolgt, wenngleich die Entwicklung hier etwas später einsetzte. 1972 wurde der Anteil der taiwanesisch-sprachigen Programme auf eine Stunde pro Tag begrenzt. Besonders empörend war aus Sicht vieler Regimegegner dabei die Tatsache, dass nunmehr selbst traditionelle taiwanesische Theater- und Gesangsdarbietungen, insbesondere das Budaixi 694 und das Gezaixi, 695 meist auf Mandarin gesendet wurden. Und selbst in den seltenen Fällen, in denen taiwanesische Originalfassungen aufgeführt wurden, kam dabei ein fehlerhaftes Taiwanesisch zum Einsatz, das für viele Einheimische unverständlich blieb. 692 Die Politik einer einheitlichen Hochsprache wurde bereits kurz nach Gründung der ROC im Jahre 1911 auf dem Festland verfolgt. Auf Grund der instabilen politischen Lage in den 20er-40er Jahren blieben diese Bemühungen jedoch weitgehend wirkungslos. Vgl. Hong Weiren 1984: 53. 693 Hong Weiren wies darauf hin, dass an einigen Schulen spezielle „Ordnungsdienste“ der Schüler gebildet wurden, um die Schüler zu gegenseitiger Kontrolle und Denunziation anzuhalten. „Diese Ordnungsdienste wachten darüber, ob Mitschüler lokale Sprachen verwendeten. Wer erwischt wurde, musste sich in die Ecke stellen oder [eine Geldstrafe] zahlen. Die Schüler wurden in ihrer Selbstachtung schwer verletzt […] an einigen Schulen gibt es solche ‚Ordnungsdienste’ bis heute.“ Hong Weiren 1984: 54. 694 Budaixi ᐳ㺻ᡢ, eine Art Puppentheater 695 Gezaixi ⅼԄᡢ, eine Form der taiwanesischen Oper.
Ergebnisse im Kontext dieser Arbeit
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In den so genannten ‚Minnanyu [Taiwanesisch]-Nachrichten’ und den [traditionellen taiwanesischen Theaterformen] im Fernsehen kommt immer wieder ein ‚Taiwanesisch’ vor, das Taiwanesen nicht verstehen könnten, wenn es keine Untertitel gäbe. Und jemand, der Taiwanesisch als Muttersprache spricht und nie Chinesisch gelernt hat, kann selbst mit Untertiteln dieses ‚Taiwanesisch’ nicht verstehen.696
Diese rücksichtslose Sprachpolitik des Regimes 697 wurde von der Opposition einhellig verurteilt. In den Dangwai-Zeitschriften der frühen 80er Jahre erschienen zahlreiche Beiträge, in denen die Autoren von demütigenden Erlebnissen in ihrer Schulzeit berichteten und ein höheres Maß an Respekt vor allen einheimischen Sprachen einforderten. Es ist daher nicht verwunderlich, dass mit dem Anwachsen der politischen Opposition auch die taiwanesische Sprache wieder vermehrten Einzug in den politischen Sprachraum fand. Dies galt insbesondere für Wahlkampfveranstaltungen: Hier nutzten Kandidaten der Opposition gezielt die Möglichkeit, über die taiwanesische Sprache einen emotionalen Zugang zu den Zuhörern zu finden: Die Muttersprache, die man von klein auf gelernt hat, ist ein untrennbarer Teil der Persönlichkeit, viele tief verwurzelte Denk- und Sichtweisen, Wünsche und Emotionen lassen sich nur in der Muttersprache ausdrücken. Daher halten einige Kandidaten das Taiwanesische für bequemer, auch wenn sie Hochchinesisch beherrschen. Außerdem reagiert auch das Publikum mit mehr Begeisterung, wenn [der Kandidat] Taiwanesisch verwendet.698
Die Kritik an der Sprachpolitik des Regimes verschärfte sich insbesondere zum Ende des Jahres 1985, als eine Gesetzesvorlage des Erziehungsministeriums bekannt wurde. Über ein neues „Sprachgesetz“ sollte Mandarin als einzig zulässige Sprache auf allen öffentlichen Veranstaltungen (inklusive der Wahlkämpfe) festgeschrieben werden. 699 Damit, so die Opposition, habe die repressive Sprachpolitik der KMT eine neue Qualität erreicht. 700 Angesichts des überwältigenden gesellschaftlichen Widerstandes wurde die Gesetzesvorlage schließlich zurückgezogen. In Konfrontation mit dem Regime stand die also Opposition in einmütiger Abwehr gegen das staatlich verordnete Mandarin-Chinesisch, wenngleich die Vorteile einer einheitlichen Hochsprache durchaus anerkannt wurden. Ein prägendes Phänomen der historischen Entwicklung Taiwans, so das geläufige Argument, sei der beständige Zustrom von unterschiedlichen Sprachgruppen nach Taiwan. Auf Grund von Kommunikationshürden sei eine 696
Liao Li/Yang Bichuan 1986: 24. Ironischerweise war die Beherrschung des Standard-Mandarin auch unter den Festländern, die aus unterschiedlichen Regionen des Festlandes stammten, nicht selbstverständlich. In den verschiedenen Provinzen des Festlandes ist die chinesische Hochsprache durch starke Einflüsse des jeweiligen regionalen Dialektes gefärbt – ein Phänomen, das sich auch heute auf Taiwan feststellen lässt und scherzhaft als „Taiwan-Mandarin“ bezeichnet wird. Selbst Präsident Chiang Kai-shek sprach ein Mandarin, das durch den schweren Akzent seiner Heimatprovinz Zhejiang geprägt und für Chinesen aus anderen Provinzen nur schwer verständlich war. 698 Liu Yumin 1983: 21f. Laut Liu hatten selbst Kandidaten der KMT die Vorteile des Taiwanesischen auf Wahlveranstaltungen entdeckt – mit allerdings zweifelhaftem Erfolg. „Auch mit der Verwendung von Taiwanesisch können die Kandidaten der KMT nicht unbedingt eine große Wirkung auf die Massen erzielen […] auch die Verwendung des Taiwanesischen kann den ursprünglichen Mangel an Inhalt nicht kompensieren.“ Liu Yumin 1983: 23. 699 Übertretungen dieser Vorschrift sollten mit Geldstrafen zwischen 3000 und 10.000 Taibi geahndet werden. Vgl. Jiang Pengjian 1985: 40f. 700 Vgl. o.A. 1985e: 4. 697
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umfassende Entwicklung und Erschließung der Insel lange Zeit behindert worden, erst unter der japanischen Kolonialherrschaft habe sich erstmals eine einheitliche Hochsprache (Japanisch) etabliert. Dies wiederum habe zum verstärkten Austausch zwischen den verschiedenen Sprachgruppen beigetragen und die Entstehung eines Inselumspannenden taiwanesischen Bewusstseins erst ermöglicht. Im Zentrum der Kritik stand also nicht unbedingt das Mandarin als Hochsprache an sich; trotz aller Kritik an der Sprachpolitik des Regimes wurde eine einheitliche Hochsprache als pragmatische Notwendigkeit erkannt, und Mandarin konnte (wie zuvor das Japanische) diese wichtige Funktion ebenfalls erfüllen. Dem Regime wurde vielmehr angelastet, dass dessen Sprachpolitik fehlgeleitet und, jenseits aller pragmatischen Erwägungen, bis in die private Sphäre vorgedrungen sei. Das Problem der Sprache führte indes auch innerhalb der Dangwai zu Verwerfungen. Schon zu Beginn der 80er Jahre wurden innerhalb der Opposition Stimmen laut, die in dem unaufhaltsamen Vordringen des Taiwanesischen auf Veranstaltungen der Opposition eine Intoleranz gegenüber Vertreten anderer Sprachgruppen (inklusive des Mandarin) sahen. Hier ergab sich also die spiegelbildliche Frage: War die Opposition selbst in Gefahr, einer Art des Sprachchauvinismus zu verfallen – mit Taiwanesisch als dominierender Sprache? Leidtragende einer solchen Entwicklung wären aller vorderst die Festländer, die den Zielen der Opposition mit Sympathie gegenüberstanden, jedoch kein Taiwanesisch beherrschten. Auch die Dangwai müsse berücksichtigen, dass Taiwan eine multilinguale Gesellschaft sei und dass sich diese Vielsprachigkeit auch in den Reihen der Oppositionsbewegung niederschlage. Daher sei es schon aus Respekt vor den Mitgliedern anderer Sprachgruppen geboten, sprachliche Gleichberechtigung zu praktizieren, wenn man nicht ganze gesellschaftliche Gruppen von der Demokratiebewegung ausschließen wolle. Leute, die nicht Taiwanesisch sprechen können, wie Festländer, Hakka oder Ureinwohner, sind genauso auf Gedeih und Verderb mit Taiwan verbunden, betrachten sich genauso als „Einwohner Taiwans“, sind genauso um die Zukunft Taiwans besorgt, leiden genauso unter den vielen Übeln der KMT-Herrschaft, erhoffen genauso Fortschritte; und sie sind bereit, sich mit ganzer Kraft einzusetzen. Aber können auf Versammlungen der Dangwai etwa Ureinwohner ihre Sprache sprechen? Oder Hakka? Oder selbst Leute aus [den Provinzen] Kanton oder Hunan, können die etwa ihre eigenen Sprachen sprechen? Falls Nein, warum wollen dann Sprecher des Taiwanesischen unbedingt Minnanyu [Taiwanesisch] verwenden? Deutet das nicht an, dass nur die Sprecher des Taiwanesischen die Hauptströmung der Dangwai darstellen, oder dass sie die aktuelle Dangwai-Bewegung als ihre „Privatangelegenheit“ betrachten? 701
Die Kritik an der Dominanz des Taiwanesischen in der Dangwai verschärfte sich im November 1984: Am 18.11. stand die „Vereinigte Freundschaftsgesellschaft der Herausgeber und Schriftsteller der Dangwai“ vor der Entscheidung, welche Sprachen auf Sitzungen der Gesellschaft zugelassen werden sollten. Ein versöhnlicher Vorschlag des Vorsitzenden Lin Zhengjie, die vier Sprachgruppen Mandarin, Taiwanesisch, Hakka und Ureinwohnersprachen gleichberechtigt zu behandeln und, falls ein Drittel der Anwesenden den Ausführungen nicht folgen könnte, einen Übersetzer zu bestellen, führte zu heftigen Disputen. Schließlich wurde der gegenläufige Antrag eingebracht, Taiwanesisch als einzige Sprache zuzulassen und alle Mitglieder zum Erlernen der Sprache zu ermutigen. Der Vorschlag
701
Lin Pohai 1984a: 35.
Ergebnisse im Kontext dieser Arbeit
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wurde mit der knappen Stimmenmehrheit von 24 zu 23 Stimmen abgelehnt. 702 Yao Guojian, ein gebürtiger Festländer, der sich bereits seit den Zeiten der Meilidao in der Dangwai engagiert und als politischer Häftling eine Gefängnisstrafe verbüßt hatte, beschrieb in einem Artikel der Zeitschrift Qianjin seine große Enttäuschung: Wenn die demokratische Bewegung der Dangwai nicht aktiv die [Vorurteile] gegenüber ethnischen Gruppen ausräumt, dann ist [sie] nichts als ein Teufelskreis ohne jede Hoffnung […] Ich bin noch nicht lange in der Dangwai, aber ich habe unter der KMT kaum weniger gelitten als andere. Alle Rückschläge haben nie meine Entschlossenheit geschmälert, mich für dieses Land einzusetzen. Diese Sprachprobleme haben mich wie ein Dolchstoß verletzt, ich musste mit schwerem Herzen zusehen, wie das öde Problem der Sprache einen Graben in dem Zusammenhalt der Dangwai aufgeworfen hat.703
Indes wurde von Seiten der Befürworter einer dominanten Stellung des Taiwanesischen ein zunehmend schärferer Ton angeschlagen. Hinsichtlich des pragmatischen Problems einer gemeinsamen Hochsprache als Werkzeug der Kommunikation wurden Zweifel geäußert, ob Mandarin diese Rolle erfüllen könne. Mehr als 80% der Bewohner Taiwans, so wurde angeführt, seien Muttersprachler des Minnanyu, insbesondere älteren Taiwanesen könne man kaum zumuten, sich des Hochchinesischen zu bedienen. Die Vernachlässigung des Taiwanesischen habe bereits zu Verständigungsgräben zwischen den Generationen auf Taiwan geführt; oftmals sei es älteren Taiwanesen nicht mehr möglich, mit ihren eigenen Nachkommen zu kommunizieren. 704 Zudem werde das Problem der Verdrängung des Taiwanesischen oftmals unterschätzt. Sprache sei nicht nur ein beliebiges Mittel der Kommunikation, sondern die Manifestation der Werte, Weltsicht und kulturellen Vergangenheit eines Volkes. Der Untergang der Muttersprache müsse unausweichlich zu einem Niedergang der eigenständigen Identität führen, und genau dies sei auch das Ziel, welches das Regime mit seiner Sprachpolitik verfolge. Die „Fremdherrscher“ der KMT wollten mit ihrer Erziehung zum Mandarin die kulturelle Identität der Taiwanesen auslöschen, und somit über eine umfassende Kontrolle der kulturellen Sphäre ihre politische Herrschaft über die Insel auf lange Zeit festigen. Schon jetzt seien die Taiwanesen in ihrem eigenen Land in Gefahr, zu einer kulturellen Minderheit abzusteigen. In einem Artikel der Zeitschrift Xin chaoliu wurde beschrieben, wie das Taiwanesische in den letzten Jahrzehnten einen hoffnungslosen Abwehrkampf gegen die Dominanz des Mandarin führe. Die erste Schwierigkeit bestehe bereits darin, dass das Taiwanesische keine Möglichkeit gefunden hätte, eine eigenständige Schriftsprache auszuformen: Ich bin Taiwanese, aber obwohl ich an dieser Stelle die Bedeutung meiner Muttersprache herausstellen will, habe ich keine Möglichkeit, diesen Artikel in meiner Muttersprache zu schreiben. Dieser Artikel, auf [Mandarin] Chinesisch geschrieben, ist ein weiteres Symbol für den kulturellen Sieg der Herrschenden.705 702
Es sollte betont werden, dass der Sprachstreit innerhalb der Dangwai kaum von praktischen Notwendigkeiten getragen wurde. Auch in der „Vereinigten Freundschaftsgesellschaft der Herausgeber und Schriftsteller der Dangwai“ wurde nie ein Punkt erreicht, an dem die sprachliche Verständigung der Mitglieder gefährdet gewesen wäre – zumal, wie Wang Yong betonte, „[…] die Mitglieder, die kein Mandarin verstehen, an den Fingern einer Hand gezählt werden können.“ Yao Guojian 1985: 40. 703 Yao Guojian 1985: 38-41. 704 Vgl. z.B. Hong Weiren 1984a: 55. 705 Liao Li/Yang Bichuan 1986: 23.
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Das Taiwanesische sei somit von einer natürlichen Evolution abgeschnitten, was zu einer Regression der Sprache führe. Neue Begriffe würden keinen Eingang ins Taiwanesische finden, während alte Termini allmählich obsolet würden. Damit sei Taiwanesisch in seiner Funktion als sprachliches Medium zunehmend beeinträchtigt. Die Abdrängung des Taiwanesischen verliefe zudem über eine perfide Politik der sprachlichen Diskriminierung. Der Erwerb höherer Bildung habe die fehlerlose Beherrschung des Hochchinesischen zur Voraussetzung. Um die beruflichen Chancen ihres Nachwuchses zu wahren, seien Eltern daher gezwungen, das Hochchinesische auch im privaten Bereich zu verinnerlichen. Mandarin habe sich als „korrektes“, gepflegtes Chinesisch etabliert, Taiwanesisch hingegen werde als ungehobelte, minderwertige Sprache der Ungebildeten empfunden. Diese schleichende Erodierung der eigenen Sprache habe weitreichende Folgen für die Grundlagen der taiwanesischen Identität; mit der Dominanz des Hochchinesischen in allen Lebensbereichen sei das Regime in der Lage, die geschichtlichen Erinnerungen und kulturellen Eigenheiten Taiwans zu unterwandern und schließlich aufzulösen. So sei die KMT ihrem Ziel, aus Taiwanesen „echte“ Chinesen zu machen, schon erschreckend nahe gekommen: Die Sprachpolitik ist die grundlegendste und effektivste Art […] der Kontrolle. Durch Repressionsmaßnahmen in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft kann der Widerstand der Beherrschten nicht unbedingt vollständig ausgelöscht werden. Modifikationen in Wertesystem und Weltsicht hingegen können die Basis für Reflexion und Kritik der Beherrschten vollständig vernichten. Wenn das so genannte „Hochchinesisch“ durch versteckte oder offene systematische Planung von Taiwanesen als Symbolsprache für das Denken verinnerlicht wurde, dann haben die Taiwanesen die der fremden Sprache inhärenten Wertesysteme und Weltsichten übernommen. Daraufhin übernehmen die Taiwanesen die von den Machthabern fabrizierte Geschichte als ihre eigene […] Zu diesem Zeitpunkt werden die Beherrschten bereits vom Innersten ihres Herzen und vollständig zu gehorsamen Untertanen der Herrschenden geworden sein.706
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass sich im Hinblick auf die Frage der angemessenen Sprachpolitik innerhalb der Dangwai drei Gruppen bildeten: In der ersten Gruppe fanden sich in der Mehrzahl Festländer der ersten und zweiten Generation, die einerseits die repressive Sprachpolitik der KMT ablehnten, andererseits aber vor einem taiwanesischen Sprachchauvinismus innerhalb der Dangwai warnten. Das Ringen um Demokratie und Freiheit betreffe alle Bewohner Taiwans, niemand dürfe auf Grund sprachlicher Differenzen von der Demokratiebewegung ausgeschlossen bleiben. Letztlich sei Sprache nur ein pragmatisches Mittel der Kommunikation, und es sei, bei aller berechtigter Kritik an der Sprachpolitik des Regimes, nicht zu verkennen, dass Mandarin inzwischen zur lingua franca Taiwans geworden sei. Auf der anderen Seite des Spektrums stand eine Gruppe gebürtiger Taiwanesen, die ihre Muttersprache und, damit verbunden, die eigenständige kulturelle und historische Identität Taiwans durch die vereinheitlichende Sprachpolitik der KMT gefährdet sah. Sprache erschien ihnen nicht nur als pragmatisches Werkzeug der Kommunikation, sondern als Mantel der eigenen Identität und Garant der Tradierung kultureller Werte. Nur durch ein entschlossenes Eintreten für die taiwanesische Sprache sei zu verhindern, dass sich die eigenständige taiwanesische Identität im vom Regime propagierten großchinesischen Bezugsrahmen allmählich auflöse. 706
Liao Li/Yang Bichuan 1986: 25.
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Zwischen diesen beiden Extremen schließlich fanden sich Oppositionelle, die für eine konsequente Gleichberechtigung aller Sprachen eintraten. Die Sprachpolitik des Regimes wurde kritisiert, gleichzeitig wurden jedoch auch die Fürsprecher einer dominanten taiwanesischen Sprache daran gemahnt, dass Taiwan (neben Mandarin und Minnanyu) noch zahlreiche weitere lokale Sprachen aufweise. Jedem Taiwanesen müsse die Möglichkeit belassen bleiben, sich der Sprache seiner Wahl zu bedienen. Zudem wurde, mit Blick auf andere multilinguale Staaten wie Kanada oder die Schweiz, darauf hingewiesen, dass auch die Einführung von mehreren, gleichberechtigten Hochsprachen ein gangbarer Weg sei. Innerhalb der Opposition konnte die Sprachenfrage nicht gelöst werden. Bis heute dauert der Antagonismus von Taiwanesisch und Mandarin als trennende Barriere zwischen den Volksgruppen an. Schließlich blieb auch der Dangwai nur die Hoffnung, die in einem Artikel der Zeitschrift Bashi niandai formuliert wurde: […] Mandarin, Minnanyu und Hakka sind alles wichtige Sprachen auf Taiwan, und vielleicht werden sich die drei im Laufe der Zeit gegenseitig beeinflussen und zur Entstehung einer „Taiwanesischen Hochsprache“ führen, auch das ist kein Ding der Unmöglichkeit.707
8.4.1.2 Der Hou Dejian-Vorfall Im Juni 1983708 wurde die taiwanesische Öffentlichkeit von der Nachricht überrascht, dass der populäre Volkssänger Hou Dejian einen Aufenthalt in Hongkong genutzt hatte, um sich in die Volksrepublik China abzusetzen. Hou, ein Festländer der zweiten Generation, der zu diesem Zeitpunkt 26 Jahre alt war, hatte zwei Jahre zuvor das Lied „Der Botschafter des Drachen“ 709 veröffentlicht, in dem er ein verträumtes Sehnen nach dem verlorenen Vaterland beschrieben hatte: Im fernen Osten gibt es einen Fluss, sein Name ist Yangtze Im fernen Osten gibt es einen Fluss, sein Name ist Gelber Fluss Wer noch nie die Schönheit des Yangtze bestaunen konnte, der wird in seinen Träumen in dessen Wassern baden; Wer noch nie den mächtigen Gelben Fluss gehört hat, der wird in seinen Träumen die tosenden Wellen hören; Im uralten Osten gibt es einen Drachen Sein Name ist China […]
Für das KMT-Regime bedeutete diese „Fahnenflucht“ einen schweren Gesichtsverlust: Ein ausgewiesener chinesischer Patriot hatte durch seine Flucht kundgetan, dass er das wahre China auf dem Festland verwirklicht sah. Es stand zu befürchten, dass Hou nun vom Regime der KPCh als wirksames Werkzeug der Propaganda genutzt werden könnte. 710 Auf 707
o.A. 1983a: 20. In einigen Quellen wird der Hou Dejian-Vorfall irrtümlicherweise auf das Jahr 1984 datiert. Der Fehler findet sich erstmals bei Shi Minhui 1988a und wurde von anderen Autoren übernommen. Vgl. z.B. Geoffroy 1997: 209ff. 709 Long de chuanren 喽ⲴۣӪ 710 Eine Befürchtung, die sich allerdings nicht bewahrheitete. Auch auf dem Festland blieb Hou Dejian ein sehr unbequemer und regimekritischer Künstler. So bezeichnete er die Volksrepublik China als „feudalistisch, konservativ, patriarchalisch, undemokratisch, ohne Rechtssystem, rückständig, unzivilisiert.“ Vgl. o.A. 1984g: 38. Die freimütige Kritik des Hou Dejian an den Zuständen in der Volksrepublik China war für die Zeitschrift 708
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Taiwan wurden verschiedene Spekulationen über die Motive des Hou Dejian laut, als mögliche Gründe wurden Unzufriedenheit mit den taiwanesischen Zensurbehörden, 711 berufliche Erfolglosigkeit und eine unglückliche Ehe kolportiert. Hou selbst wies diese Spekulationen zurück und betonte, er sei nur von der Sehnsucht nach seiner Heimat getrieben worden. Ebenso wie sein Vater, der aus der Provinz Sichuan stammte und der im Jahr 1949 der KMT nach Taiwan gefolgt war, habe er sich stets als Festland-Chinese betrachtet.712 Ein Teil der Opposition zeigte sich enttäuscht, dass Hou, der auf Taiwan geboren und aufgewachsen war, seiner Heimat den Rücken gekehrt hatte. Diese Entscheidung sei jedoch nur auf eine unreife, jugendliche Schwärmerei zurückzuführen und sollte nicht politisch überbewertet werden. In einem geradezu trotzigen Leitartikel kommentierte die Bashi niandai: […] einen verliebten Jüngling, der in seinem Herzen den Drachen trägt und der erst den Yangtze Fluss und den Gelben Fluss gesehen haben muss, bevor er ohne Bedauern sterben kann – einen solchen Jüngling kann man nicht aufhalten […] Also dann gehe hin und liebe, mit ganzer Kraft, aber werde darüber nicht schwermütig! Wir werden uns nicht darum kümmern. Auf Taiwan gibt es keine Drachen, nur Wasserschlangen. […] Also geh’ schon. Verlasse diesen engen Kreis, aber verliere nicht den Respekt vor unserer Heimat. Wir werden nicht eine halbe Augenbraue heben.713
Einige wenige regimekritische Intellektuelle zeigten indes Verständnis für die Entscheidung des Hou Dejian. Das Sehnen nach dem verlorenen Vaterland sei eine Regung, die letztlich alle Chinesen (auch auf Taiwan) teilten. In dem vielbeachteten Artikel „Zu einem umfassenderen historischen Blickfeld“ der Zeitschrift Qianjin/Progress schrieb Chen Yingzhen: Hou Dejian hat seine Gitarre geschultert und ist unbemerkt auf das Festland geschlichen. Aber das ist nicht etwa ein „Sieg“ für die VRCh, und schon gar nicht eine „Niederlage“ für die KMT. Er wollte einfach nur das Land seiner Ahnen sehen, das schon so lange in seinem Blut strömte […] Jeder Vorwurf des Verrates wäre eine Beleidigung für diesen natürlichen, leidenschaftlichen Nationalismus.714
Dieser Artikel des Chen Yingzhen löste innerhalb der Dangwai eine heftige Debatte um die Frage der nationalen Identität der Taiwanesen aus, die im folgenden Jahr in fast allen Dangwai-Publikationen ihren Niederschlag fand und die als Streit zwischen dem „ChinaKnoten“ und „Taiwan-Knoten“715 bekannt wurde. Der Mehrzahl der Oppositionellen, die
Qianjin/Progress schließlich Anlass zur Sorge um dessen Sicherheit: „Man muss sagen: dieser leidenschaftliche junge Mann hält […] an seiner naiven, hoffnungsvollen Zuversicht fest. Dass er auf dem Festland sagt, er setze Vertrauen in die KMT und empfinde Hochachtung vor Jiang Jingguo, beweist seine Naivität und Unerfahrenheit in politischen Dingen. Wir können nur hoffen […], dass er keine Rückschläge und Qualen zu erleiden haben wird.“ Xing Xing 1983: 27. 711 Diese Annahme entbehrte nicht einer gewissen Grundlage. Von seiner letzten Schallplatte, „Der Botschafter des Drachen, zweiter Teil“ konnten nur drei der insgesamt elf Titel die Genehmigung der Zensurbehörde erhalten. Siehe Ma Fengzi 1983: 23. 712 Siehe Huzhang Dongfu 1984: 74 713 Xi Nike 1983: 21. 714 Chen Yingzhen 1983a: 15. 715 Zhongguojie ѝ഻㎀ gegen Taiwanjie ਠ⚓㎀. Den Begriffen liegt ein Doppelsinn zu Grunde: Mit „ChinaKnoten“ wird gewöhnlich eine traditionelle chinesische Kunstfertigkeit zum Knüpfen besonders prächtiger
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sich für eine eigenständige taiwanesische Identität aussprach, stand ein relativ kleiner Kreis von Gelehrten und Intellektuellen gegenüber, der nach der im März 1983 neugegründeten Zeitschrift als Xiachao-Gruppe bezeichnet wurde und der sich für einen chinesischen Nationalismus aussprach. Diese Xiachao-Gruppe, zu der insbesondere Chen Yingzhen, Dai Guohui, Wang Xiaobo, Chen Guying und (gelegentlich) Li Ao gezählt wurden, stand tendenziell einer marxistischen Ideologie nahe, sah sich jedoch in politischer Gegnerschaft sowohl zur VRCh auf dem Festland als auch dem KMT-Regime auf Taiwan. Im Laufe der folgenden Monate wurde der Disput um die Frage der nationalen Identität auf nahezu alle Gebiete der Politik, Geschichte, Kultur und Literatur ausgedehnt. Einige Vertreter der Xiachao-Gruppe vertraten hierbei, gemäß ihrer ideologischen Ausrichtung, einen marxistischen Ansatz und gingen etwa der Frage nach, unter welchen ökonomischen Voraussetzungen die Entstehung eines Nationalbewusstseins möglich sei, welche gesellschaftlichen Klassen dieses jeweils propagierten und welche Beziehung zwischen Klassen- und Nationalbewusstsein herrsche.716 Es würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen, die Debatte an dieser Stelle in vollem Umfang zu referieren. Insbesondere die wissenschaftlich-marxistische Dimension fand in der Oppositionsbewegung auch kaum Anklang und blieb im weiteren Verlauf der Dangwai weitgehend folgenlos. Nur wenige Befürworter eines taiwanesischen Bewusst-seins waren bereit, sich ernsthaft auf eine Debatte in der schwierigen Materie des marxistischen Determinismus einzulassen 717 – zumal, wie vermutet werden darf, dies von der Mehrzahl der Leser kaum verstanden worden wäre. Gelegentlich wurde auch hinterfragt, inwieweit die Xiachao-Gruppe selbst diese marxistische Terminologie nur als Vorwand nutzte: Die Herren der Xiachao waren schon von vorneherein auf einen idealistischen, chinesischen Nationalismus festgelegt, und dann „benutzten sie Sprache des historischen Materialismus“, um ihre eigenen Vorstellungen zu verpacken […] die „wissenschaftliche“ Klassenanalyse war nur vorgeschoben, die „im tiefsten Herzen schlummernden Erinnerungen und Emotionen“ waren in Wahrheit das hauptsächliche Motiv [der Xiachao], sich gegen ein taiwanesisches Bewusstsein zu stellen.718
Zierknoten bezeichnet. Im übertragenen Sinne wurde jedoch auf einen „chinesischen Knoten im Herzen“, also eine nicht zu lösende, irrationale Bindung an China angespielt. 716 Vereinfacht gesagt geht der Marxismus davon aus, dass die Entstehung einer reflektierten nationalen Identität erst in einem gewissen Reifestadium der wirtschaftlichen Industrialisierung und Modernisierung in Erscheinung treten kann. Entsprechend wurden die Fragen erörtert, zu welchem Zeitpunkt auf Taiwan die Industrialisierung einsetzte, welche Bedeutung der japanischen Kolonialherrschaft dabei zukam und wie die verschiedenen gesellschaftlichen Klassen im Spannungsverhältnis von Kooperation mit den Japanern und Abwehr einer fremden Herrschaft ihre jeweiligen Klasseninteressen verfolgten. Dieser Teil der Diskussion wurde am umfassendsten in einem Gespräch zwischen Chen Yingzhen und Dai Guohui entwickelt, das in zwei aufeinander folgenden Ausgaben der Zeitschrift Xiachao veröffentlicht wurde. Siehe Ye Yunyun 1984a: 19-28 (Teil 1); Ye Yunyun 1984b: 62-71 (Teil 2). 717 Einer der wenigen Autoren, die sich auf diesen marxistischen Ansatz einließen, war Zheng Mingzhe. Das Gespräch zwischen Chen Yingzhen und Dai Guohui kommentierte Zheng in einem kämpferischen Artikel wie folgt: „Dieser Dialog führte deutlich vor Augen, zu welchem Ergebnis das Gespräch zweier verwirrter Leute führen muss: Das Gespräch selbst war ein Desaster, für den Leser ein Alptraum, und ich empfand große Frustration […] In einigen Gelehrtenkreisen wollen Leute, die noch nicht einmal begriffen haben, was ‚Sozialwissenschaft’ ist, schon blindlings irgendeine ‚chinesische Sozialwissenschaft’ begründen […] Mit solch oberflächlichem Vorgehen wird [man] nur zum Gespött der akademischen Kreise, ansonsten hat es keine Bedeutung.“ Zheng Mingzhe 1984: 119f. 718 Huang Liande 1984: 148f.
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Die Dangwai-Bewegung nach dem Meilidao-Vorfall
Für das Anliegen der Arbeit ist es ausreichend, den Blick auf die bedeutende Frage zu beschränken, die innerhalb der Dangwai am heftigsten diskutiert wurde und welche die nachhaltigsten Auswirkungen auf die Dangwai-Bewegung nahm: Gab es eine eigenständige taiwanesische Identität, und wodurch zeichnete sie sich aus? Wer konnte an ihr teilhaben, und welchen Einfluss hatte dies auf die politische Demokratiebewegung? Bezüglich der nationalen Identität vertrat die Xiachao-Gruppe einen chinesischen Nationalismus, der sich kaum von dem Nationalismuskonzept der beiden Regime der KMT und der VRCh unterschied. Die nationale Identität der Chinesen sei das Produkt einer Jahrtausende währenden kulturellen und historischen Entwicklung, die tief in dem nationalen Charakter aller Chinesen (sowohl auf dem Festland als auch auf Taiwan) verankert sei und sich allen rationalen Erwägungen entziehe. Diese tief greifende, oftmals unreflektierte emotionale Bindung an das chinesische Vaterland habe auch Hou Dejian in „Der Botschafter des Drachen“ angesprochen, was den großen Erfolg des Liedes erkläre. Der Gelbe Fluss und der Yangtze, die Hou in seinem Lied besang, seien zu beinahe schon mystischen Symbolen der chinesischen Nation geworden. „Die Wasser des Yangtze“; „die tosenden Wellen des Gelben Flusses“, „China“, „Drache“ […] diese Worte und Eindrücke rühren an die nationalen Gefühle, die tief in unseren Herzen schlummern […] Diese Vorstellungen und Emotionen sind in einer 5000jährigen Entwicklung zu der kollektiven Erinnerung und dem kollektiven Erlebnis der ganzen Nation geworden. [Sie] sind vollständig in das Blut der Chinesen übergegangen und haben heute und in der Vergangenheit alle politischen Machthaber überdauert […]719
Diese nationale Identität, die sich über Blutsbande und Kultur über die Generationen tradiere, sei jedoch auf Taiwan in Misskredit geraten. Hieran trage zunächst das autoritäre KMTRegime die Schuld, das zur Untermauerung seiner autoritären Herrschaft eine überzogene pro-chinesische Propaganda betreibe. Die Dangwai-Bewegung stünde in Gegnerschaft zum Regime und dessen Institutionen, daher würden alle Standpunkte der KMT abgelehnt. Nun dürfe jedoch nicht alles, was das Regime propagiere, verurteilt werden: Warum ist es unbedingt schändlich und lächerlich, wenn uns die „KMT-Erziehung“ lehrt, auf unsere chinesische Herkunft stolz zu sein, die Schönheit der chinesischen Flüsse und Berge zu schätzen und die chinesische Teilung als eine Tragödie zu betrachten? Müssen wir dann auch die Mathematik, die uns die „KMT-Erziehung“ lehrt, vollständig zurückweisen?720
Ein weiterer wichtiger Faktor sei die beständige Bedrohung durch das Festland. Diese fortwährende, existentielle Bedrohung habe auf Taiwan in einer Gegenreaktion zu einer bewussten Identifikation mit den vorhandenen ökonomischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen der Insel geführt. Diese als „Taiwan-Bewusstsein“ bezeichnete Empfindung sei also in ihrem Kern politisch und antikommunistisch, und als solche auch nicht zu verurteilen. Jeder Bewohner Taiwans sei, unabhängig von seiner nationalen Identität, sogar aufgerufen, sich als politisch verstandener Bürger mit den Lebenswirklichkeiten seiner Umwelt zu identifizieren und auf eine Verbesserung der politischen Bedingungen hinzuwirken. Problematisch sei hingegen, wenn dieser politisch verstandene Begriff „TaiwanBewusstsein“ durch den kulturell geladenen Terminus „Taiwanesen-Bewusstsein“ 719 720
Chen Yingzhen 1983a: 12f. Chen Yingzhen 1983b: 40.
Ergebnisse im Kontext dieser Arbeit
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verdrängt werde. „Taiwanesen“ im kulturellen Kontext würde auf die gebürtigen Taiwanesen verweisen, und müsse, im Gegensatz zu dem politischen Begriff „TaiwanBewusstsein“, die Festländer auf Taiwan ausschließen. Es wurde zwar zugestanden, dass Taiwanesen (wie jede Volksgruppe in China) eigene Besonderheiten aufwiesen, die sie von anderen chinesischen Volksgruppen unterschieden. Hierbei sei es jedoch wichtig, eine hierarchische Gliederung zu erkennen. Ein kulturell verstandenes „TaiwanesenBewusstsein“ sei dem übergreifenden China-Bewusstsein untergeordnet, und diese Hierarchie ließe sich sogar nach Unten erweitern. So meinte Dai Guohui, ein Angehöriger der Hakka-Volksgruppe: Das Bewusstsein der Hakka auf Taiwan steht nicht im Gegensatz zu einem TaiwanesenBewusstsein. Ich denke, man kann [das Hakka-Bewusstsein] als einen untergeordneten Begriff des Taiwanesen-Bewusstseins behandeln. Aber das chinesische Nationalbewusstsein ist wiederum dem Taiwanesen-Bewusstsein übergeordnet. Ich hoffe, dass ein gesundes Wachstum des Taiwanesen-Bewusstseins nicht bedeutet, dass ich mein Bewusstsein als taiwanesischer Hakka aufgebe, und noch weniger: dass ich mich nicht länger mit dem chinesischen Nationalbewusstsein identifiziere!721
In Teilen der Dangwai, so die Kritik der Xiachao-Gruppe, werde nun der Fehler begangen, diese hierarchische Ordnung der verschiedenen Ebenen zu missachten und das TaiwanesenBewusstsein zu einem „Taiwanesischen Nationalbewusst-sein“ zu überhöhen, das gleichberechtigt mit dem chinesischen Nationalbewusst-sein konkurrieren wolle. Dieses Unterfangen sei zum einen vom historischen Standpunkt aus zum Scheitern verurteilt, denn kein Bewohner Taiwans (mit Ausnahme der Ureinwohner) könne seine chinesischen Wurzeln verleugnen. Zudem werde der schwere Fehler begangen, dieses konstruierte taiwanesische Nationalbewusstsein auf die politische Ebene zu übertragen und mit einer anti-chinesischen Spitze zu versehen. Dies habe zwei verheerende Auswirkungen: Im Verhältnis zur Volksrepublik werde der „Spalterei“, der taiwanesischen Unabhängigkeit, Vorschub geleistet. Dies sei jedoch ein Verbrechen und ein Verrat an der chinesischen Nation: Lasst uns in aller Deutlichkeit erkennen, dass die „Abspaltung Taiwans“ nur eine Augenblickserscheinung ist, eine Missgeburt des internationalen Imperialismus und der dunklen Periode der modernen chinesischen Geschichte. Lasst alle, die sich zu ihrem Chinesentum bekennen […] unerschütterlich dagegen ankämpfen, dass im chinesischen Volk Teilung und Hass entstehen […]722
Innerhalb der Dangwai-Bewegung hingegen müsse dieses falsch verstandene „taiwanesische Nationalbewusstsein“ zu Vorurteilen gegen Festländer führen, welche infolgedessen von der Partizipation in der Demokratiebewegung ausgeschlossen würden. Es werde unterstellt, dass nur ein Bekenntnis zur (kulturell und politisch verstandenen) „Taiwanesischen Nation“ als Ausweis der Liebe zur Heimat gelten dürfe. Dadurch werde ein strategischer Fehler begangen: Der politische Widerstand gegen das Unrechtsregime der KMT werde unnötigerweise durch eine emotional geladene und fruchtlose Debatte belastet, die Folge seien Misstrauen und Entzweiung.
721 722
Ye Yunyun 1984a: 97. Chen Yingzhen 1983b: 41.
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Die Dangwai-Bewegung nach dem Meilidao-Vorfall
In den Argumenten der Xiachao-Gruppe wird also eine dreigeteilte Hierarchie sichtbar, die sich wie folgt zusammenfassen lässt: 1.
2.
3.
An der Spitze findet sich das chinesische Nationalbewusstsein, das alle Taiwanesen (mit Ausnahme der Ureinwohner) mit ihren Landsleuten auf dem Festland teilen. Dieses Nationalbewusstsein stützt sich auf Blutsbande und die uralte kulturelle und historische Tradition Chinas. Daneben wird die Existenz eines ebenfalls kulturell verstandenen „TaiwanesenBewusstseins“ eingeräumt. Dieses lässt sich seinerseits in weitere kulturelle Identitäten aufspalten, bleibt aber selbst unbedingt dem chinesischen Nationalbewusstsein untergeordnet. Teile der Bevölkerung Taiwans (insbesondere die Festländer) bleiben von diesem „Taiwanesen-Bewusstsein“ zwar ausgeschlossen, dies hat jedoch im Idealfall keine Auswirkung auf das harmonische Zusammenleben der verschiedenen Volksgruppen. Drittens entstand durch die besonderen politischen und historischen Bedingungen auf Taiwan ein „Taiwan-Bewusstsein“, das allerdings, im Gegensatz zu den oben angeführten Begriffen, rein politisch zu verstehen ist. Es bezeichnet eine Identifikation mit den objektiv gegebenen Lebenswirklichkeiten der Insel und steht allen Bewohnern Taiwans (letztlich sogar den dort lebenden Ausländern) offen. Auch dieses „TaiwanBewusstsein“ bleibt in einem wichtigen Punkt dem chinesischen Nationalbewusstsein untergeordnet: Dem Verbot der staatlichen Unabhängigkeitsbestrebung.
Das falsche „Taiwanesische Nationalbewusstsein“, das von Teilen der Opposition propagiert werde, beruhe auf einer unzulässigen Vermischung dieser Ebenen; die Folge seien Misstrauen und Spaltung unter den chinesischen Landsleuten – sowohl innerhalb Taiwans als auch zwischen Taiwan und dem Festland. Es verwundert nicht, dass die Ansichten der Xiachao-Gruppe in weiten Teilen der Dangwai zu erbitterten Gegenstimmen führten. Die Kritik richtete sich zunächst gegen die Unterstellung, die Bewohner Taiwans seien über Blutsbande und kulturelle Tradierungen, also gewissermaßen unentrinnbar, einem chinesischen Erbe verhaftet. Cai Yimin, einer der eloquentesten Kritiker der Xiachao, schrieb hierzu: Wie kann eigentlich das „Land der Vorfahren“ über lange Zeit im Blut eines Menschen fließen? Bei Vorstellungen, Emotionen und Hoffnungen kann man gerade noch behaupten, dass sie im Blut eines Menschen fließen. Aber ein „Land“? Ein „Land der Vorfahren“ – wie soll das gehen?723
Die Xiachao-Gruppe, so die Kritik, habe das Wesen einer nationalen Identität nicht begriffen. Im Zentrum stünden hierbei nicht kulturelle und blutsverwandtschaftliche Aspekte, 724 723
Cai Yimin 1983: 16. Seitens der Kritiker der Xiachao wurde die Frage, ob Taiwanesen als eigenständige Ethnie zu betrachten seien, unterschiedlich beantwortet. Gelegentlich wurde eingeräumt, dass die meisten Bewohner Taiwans in der Tat dem chinesischen Kulturkreis nahe stünden. So schrieb etwa Chen Yuan: „Zwischen Taiwan und dem Festland bestand seit alten Zeiten ein enger Austausch. In ethnischer und kultureller Hinsicht [sowie] in Gebräuchen und Sitten sind sie identisch, daran besteht gar kein Zweifel.“ Chen Yuan 1983: 19. Huang Liande sah hingegen keinen Grund, Taiwan als untergeordnete kulturelle Einheit zu begreifen: „[Es gibt also] ein historisches, kulturelles, nationales China? Wo ist dann das historische, kulturelle, nationale Taiwan abgeblieben?“ Huang Liande 1984: 146. Lin
724
Ergebnisse im Kontext dieser Arbeit
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sondern die konkreten historischen und sozialen Erfahrungen einer Gruppe. Die historische Entwicklung Taiwans in den letzten 400 Jahren unterscheide sich indes vollkommen von dem Festland, und sei durch zwei Merkmale geprägt: Den häufigen Zustrom von Immigranten unterschiedlicher Herkunft und den permanenten Abwehrkampf gegen fremde Herrscher. Durch die gemeinsame Erfahrung der Unterdrückung sei allmählich ein „Taiwan-Bewusstsein“ gereift, in dem sich alle Taiwanesen, unabhängig von ihrer kulturellen und ethnischen Herkunft, als gleichermaßen fremdbestimmt wahrgenommen hätten. Und gerade weil sich die Identität einer Gruppe an den realen Lebensumständen orientiere, sei es absurd, einem gemeinsamen, übergreifenden chinesischen Nationalismus das Wort zu reden. Junge Taiwanesen seien durch vollkommen andere Erfahrungen geprägt als ihre Altersgenossen auf dem Festland. Wie soll ein junger Taiwanese, der unter den Erfahrungen des 228-Aufstandes, der 8-7 Flutkatastrophe und dem Meilidao-Vorfall aufgewachsen ist, das selbe Bewusstsein entwickeln wie ein junger Chinese auf dem Festland, der durch den Großen Sprung nach Vorne, die Kulturrevolution und das Erdbeben von Tangshan geprägt wurde? Das Bewusstsein wird bestimmt durch die gesellschaftliche Umwelt eines Menschen. Angesichts der Rohstoffknappheit oder der internationalen Isolation [Taiwans] wird ein junger Taiwanese […] notwendigerweise ein Gefühl der Bedrohung empfinden. Ein solches Gefühl der Bedrohung bleibt für einen jungen Chinesen auf dem Festland unverständlich. Ein Intellektueller, der auf Taiwan für ein China-Bewusstsein eintritt, hat streng genommen weder Taiwan noch China verstanden.725
Die taiwanesische Identität ergebe sich also im Wesentlichen aus der realen Erfahrung der gleichen Lebensumstände, die alle Bewohner Taiwans zu einer Schicksalsgemeinschaft zusammenschmiede. Alle Volksgruppen Taiwans seien in gleichem Maße Teil dieser Gemeinschaft, unabhängig davon, ob dies in jedem Fall bewusst werde. Der Vorwurf einer Intoleranz gegen Festländer auf Taiwan laufe daher ins Leere: Dai Guohui hatte behauptet, dass Festländer […] nicht die Ansicht teilten, dass sie mit dem gesellschaftlichen und ökonomischen Leben auf Taiwan eine Gemeinschaft bilden. Was für eine erschreckende Analyse! Haben diese Leute etwa in den letzten 30 Jahren nicht auf Taiwan gelebt? Wenn sie nicht Teil der taiwanesischen, kapitalistischen Wirtschaftsgemeinschaft sind, sind sie dann etwa Teil der sozialistischen Wirtschaftsgemeinschaft des Festlands? 726
Daher sei es auch falsch, das Erstarken eines taiwanesischen Bewusstseins mit der Schwächung der Demokratiebewegung gleichzusetzen. Das Gegenteil sei der Fall: Im Gegensatz zu den frühen Oppositionellen der Free China, die einer theoretischen, abstrakten ChinaIdeologie verhaftet geblieben und daher gescheitert seien, habe sich die Dangwai seit Mitte der 70er Jahre durch die Besinnung auf das taiwanesische Bewusstsein erstmals im Einklang mit den realen Gegebenheiten Taiwans befunden – was auch ihren Erfolg erkläre. Der Kampf gegen das Unrechtsregime der KMT sei nur dann Erfolg versprechend, wenn es gelinge, die Basis des Herrschaftsanspruches, den chinesischen Nationalismus des Regimes, zu unterminieren. Das taiwanesische Bewusstsein sei daher nicht Hindernis, sondern Grundlage einer erfolgreichen Demokratiebewegung. Die Demokratiebewegung sei Zhuoshui verwies hingegen darauf, dass die gebürtigen Bewohner Taiwans vermutlich nicht einmal in enger blutsverwandtschaftlicher Beziehung zu den Chinesen auf dem Festland stünden. Lin Zhuoshui 1984: 158f. 725 Shi Minhui 1988b: 4f. 726 Huang Liande 1984: 140.
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Die Dangwai-Bewegung nach dem Meilidao-Vorfall
„wie ein Boot, das auf der Strömung des taiwanesischen Bewusstseins schwimmt. Die Dangwai muss diese Kraft nur fassen, und es wird zwangsläufig vorangehen […]“.727 Die Aussage der Xiachao-Gruppe, dass ein Eintreten für eine taiwanesische Unabhängigkeit einem Verbrechen an der chinesischen Nation gleichkomme, wurde ebenfalls zurückgewiesen. Hier allerdings zeigten sich deutlich die politisch bedingten Schranken, unter denen die Debatte stattfand. Der nahe liegende Schritt, dem Einigungsgedanken Chinas auf Grundlage des chinesischen Nationalismus eine taiwanesische Unabhängigkeit, beruhend auf der taiwanesischen Identität, entgegenzusetzen, wurde nicht vollzogen – und konnte unter den Bedingungen der Jahre 1983/84 vermutlich auch nicht vollzogen werden. Wenngleich hier nach Ansicht des Autors der eigentliche Kern der Debatte berührt wurde, hätte ein offenes Eintreten für eine taiwanesische Unabhängigkeit die Grenzen des juristisch Erlaubten allzu weit überschritten. Nur selten fand die taiwanesische Unabhängigkeit als Gegenmodell zu einer Wiedervereinigung mit dem Festland überhaupt Erwähnung, nie wurde dabei ein direkter Zusammenhang zwischen taiwanesischer Unabhängigkeit und taiwanesischem Bewusstsein hergestellt. Von einigen Autoren wurde jedoch, in Analogie zu anderen Staaten, der Standpunkt vertreten, dass die Frage der staatlichen Unabhängigkeit getrennt zu betrachten sei von der nationalen Identität. Der von der Xiachao erhobene Vorwurf der „Spalterei“ und des „Verrates“ sei daher hinfällig. 728 Als meistgenannte Beispiele fanden hier Singapur und die USA Erwähnung: Die USA wurde erfolgreich von den Nachkommen eingewanderter Piraten gegründet, die Einwanderer Nordamerikas genießen nun schon seit 200 Jahren Wohlstand und Demokratie. In der Republik Singapur, erfolgreich gegründet von den Nachkommen eingewanderter Chinesen, wird von der Regierung des Li Guanyao ein offener Konfuzianismus propagiert […] Nur wir Taiwanesen […] [durchleben] in Kultur und Politik eine ernsthafte Identifikationskrise.729
Wer hingegen die Zukunft Taiwans abhängig mache von einem chinesischen Nationalismus, der leiste dadurch unbewusste Unterstützung für den Herrschaftsanspruch des KMTRegimes, und die taiwanesische Bevölkerung werde „[…] in einen Zeittunnel versetzt, die Vergangenheit und die Zukunft beherrschen die Gegenwart.“730 Die Vertreter eines taiwanesischen Bewusstseins unterschieden also hinsichtlich der taiwanesischen Identität zwei Ebenen: 1.
2.
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An erster Stelle findet sich das Taiwan-Bewusstsein, das auf einer real existierenden und historisch gewachsenen Lebensgemeinschaft beruht. Alle Bewohner Taiwans sind, unabhängig von ihrem kulturellen und ethnischen Hintergrund, gleichermaßen Teil dieser Gemeinschaft. An nachgeordneter Stelle wird die kulturelle Identität der Taiwanesen eingereiht, die von verschiedenen Autoren unterschiedlich bewertet wurde. In den meisten Fällen wurde das Problem umgangen, indem auf die kulturelle Heterogenität der taiwanesischen Gesellschaft als typisches Merkmal einer Immigranten-Gesellschaft verwiesen
Chen Shuhong 1983: 20. So kommentierte Gao Yige den Vorwurf der „Spalterei“ wie folgt: „[…] mit einer solchen historischen Sichtweise könnte auch Königin Elizabeth dem ‚englischen Nachkommen’ [Präsident Ronald] Reagan und seinen Vorfahren deren ‚Landesverrat der amerikanischen Unabhängigkeit’ zum Vorwurf machen.“ Gao Yige 1984: 167. 729 Chen Yuan 1983: 19. 730 Chen Shuhong 1983: 19. 728
Ergebnisse im Kontext dieser Arbeit
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wurde. Gelegentlich wurde auch der Versuch unternommen, zumindest für die frühen Einwanderer aus Fujian an der Behauptung einer kulturellen Eigenständigkeit festzuhalten. Eine weitere Alternative bestand darin, die kulturelle Verwandtschaft zwischen Chinesen und (der großen Mehrheit) der Taiwanesen einzuräumen, diese jedoch für politisch irrelevant zu erklären. Keinesfalls aber dürfe die kulturelle Ebene Einfluss auf die politische nehmen. Dies galt auch für die Zukunft Taiwans und, wie man folgern kann, die Möglichkeit einer taiwanesischen Unabhängigkeit. Der Streit zwischen dem „China-Knoten“ und dem „Taiwan-Knoten“ fiel zeitlich mit dem Sprachstreit innerhalb der Dangwai zusammen (s.o.), auch inhaltlich waren die Grenzen zwischen den beiden Themen fließend. Die große Bedeutung dieser offenen Debatte liegt darin, dass die Fragen der nationalen Identität zum ersten Mal in aller Deutlichkeit vorgebracht und gegeneinander gestellt wurden. Es ist bemerkenswert, in welcher Reife sich die Argumente beider Seiten zu diesem frühen Zeitpunkt präsentierten. Faktisch wurden alle Aspekte, die die nationale Debatte in den folgenden Jahren prägten und bis heute prägen, an dieser Stelle bereits angesprochen. Dies lässt vermuten, dass die Frage der nationalen Identität in den Kreisen der Opposition schon sei längerem gärte und in den Jahren 1983/84 schließlich ihren Ausdruck fand. Verwunderlich ist, mit welcher Offenheit die Debatte unter den Bedingungen eines autoritären Regimes geführt werden konnte. Hier wird deutlich, welche Erfolge die Dangwai-Zeitschriften mit ihrem Streben nach einer Erweiterung der Redefreiheit bereits erzielen konnten – wenngleich mehrere Autoren auf bestehende Verbote verwiesen und gelegentlich zu mehr Zurückhaltung rieten. 731 Die Redefreiheit stieß jedoch an ihre Grenze, wenn die Frage der taiwanesischen Unabhängigkeit berührt wurde. In der Dangwai-Periode der späten 80er Jahre war dieses Thema nach wie vor tabuisiert, die konsequente Erweiterung des taiwanesischen Bewusstseins auf die politische Ebene musste daher der folgenden Periode vorbehalten bleiben.
8.4.2 Taiwanesische Unabhängigkeit Seit Beginn der 80er Jahre wurde die Frage der internationalen Stellung Taiwans und das Verhältnis zur Volksrepublik China in wesentlich höherem Maße als zuvor in den Publikationen der Opposition reflektiert. Zum einen zeigte sich auch hier die allmähliche Ausweitung der Redefreiheit, zum andern hatte sich die internationale Isolation Taiwans, die mit der Aufnahme diplomatischer Kontakte zwischen den USA und der Volksrepublik China im Jahr 1978/79 einen dramatischen Höhepunkt erreicht hatte, weiter verschärft. Hinzu kam, dass sich in den Jahren nach 1982 eine Lösung der Hongkong-Frage abzeichnete: Hier konnte die VRCh durch ihren Ansatz von „Ein Land, zwei Systeme“ ein flexibles politisches Konzept für eine friedliche Wiedervereinigung Chinas präsentieren, ohne indes die militärische Drohung gegen Taiwan aufzugeben. Aus Sicht der Dangwai hatte die Regierung der ROC diesem neuen, flexiblen Ansatz der VRCh keine substantiellen Konzepte entgegenzusetzen. Einerseits hielt die KMT-Regierung an ihrem obsoleten Anspruch der „einzig legitimen Regierung“ Chinas fest und verweigerte jeden Kontakt mit dem Festland, 731
Chen Yingzhen, der die Debatte mit seinen Artikel „Auf einen erweiterten historischen Blickwinkel“ ausgelöst hatte, zog sich zu einem relativ frühen Zeitpunkt aus der Diskussion zurück – mit dem Hinweis, er wolle niemanden zu unüberlegten Erwiderungen provozieren und damit gefährden. Siehe Chen Yingzhen 1983b: 40.
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Die Dangwai-Bewegung nach dem Meilidao-Vorfall
andererseits war sie nicht fähig, die Sicherheit Taiwans langfristig zu gewährleisten. Für die Opposition war es jedoch schwierig, eigene Konzepte für die Zukunft Taiwans und das Verhältnis zum Festland zu entwickeln. Allzu leicht konnte jede Äußerung, die nicht im Einklang mit der offiziellen staatlichen Doktrin stand, als Eintreten für die taiwanesische Unabhängigkeit bestraft werden. Im Jahre 1984 unterbreitete der Dangwai-Abgeordnete Fei Xiping den Vorschlag einer „Chinesischen Konföderation“ mit dem Festland, wofür er allgemein kritisiert und mit strafrechtlicher Verfolgung bedroht wurde. Die politischen Zukunftskonzepte der Dangwai verdichteten sich im Jahr 1983 in der amorphen Forderung nach „Selbstbestimmung“ für die Bewohner Taiwans, wobei verschiedene mögliche Interpretationen bewusst offengelassen wurden. In den Jahren nach 1982 lässt sich in den Zeitschriften der Dangwai eine deutliche Zunahme von Berichten über die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung im Ausland verzeichnen. Viele Forderungen und theoretische Grundlagen der taiwanesischen Unabhängigkeit konnten somit als „Zitate“ formuliert werden, ohne den Autor direkt zu kompromittieren. Die Berichte über die Unabhängigkeitsbewegung waren dabei keinesfalls immer mit einem zustimmenden Unterton unterlegt, insbesondere die WUFI wurde zum Ziel schwerer Kritik. Für viele Oppositionelle war die Unabhängigkeitsbewegung im Ausland gleichbedeutend mit Gewalt und Terror. Dies zeigte sich besonders deutlich im Jahr 1983, als auf Taiwan zwei Bombenanschläge auf die Redaktionen der regierungsnahen Zeitungen Lianhebao und Zhongyang riao verübt wurden.
8.4.2.1 Die Hongkong-Frage und die Taiwan-Frage Die Verhandlungen zwischen der Volksrepublik China und Großbritannien, welche die Modalitäten der vertragsgemäßen Rückgabe der Kronkolonie Hongkong im Jahr 1997 an China festsetzen sollten, erzielten im September des Jahres 1984 als erstes konkretes Ergebnis eine gemeinsame Erklärung beider Seiten. Für die Volksrepublik war diese gemeinsame Erklärung ein großer Erfolg: Die chinesische Seite hatte sich mit ihrem Modell des „Ein Land, zwei Systeme“ vollständig durchsetzen können. Nach diesem Modell sollte Hongkong für einen Zeitraum von 50 Jahren den Status einer Sonderverwaltungszone, verbunden mit einem hohen Maß an lokaler Selbstverwaltung, erhalten; zudem sollten die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen Hongkongs auch nach der Wiedervereinigung mit China unverändert weiter bestehen. Auf Taiwan war der Verhandlungsmarathon, der sich seit September 1982 über mehr als 20 Verhandlungsrunden erstreckt hatte, aufmerksam und misstrauisch verfolgt worden. Die Auswirkungen der „Hongkong-Frage“ für Taiwan lagen dabei auf der Hand: Es stand zu erwarten, dass die Volksrepublik China das Hongkong-Modell des „Ein Land, zwei Systeme“ nun auch auf Taiwan übertragen und eine friedliche Wiedervereinigung einfordern würde.732 Die Offerten der Volksrepublik, mit der KMT in Verhandlungen über eine 732 Aus Sicht der Opposition war dies der eigentliche Grund dafür, dass die Volksrepublik bereits zu einem solch erstaunlich frühen Zeitpunkt – 13 Jahre vor der eigentlichen Übergabe – ein Verhandlungsergebnis angestrebt hatte. In der Vergangenheit hatte die Volksrepublik stets die Lösung der Taiwan-Frage als oberste Priorität betrachtet und Hongkong als willkommene „Brücke“ für den Austausch mit der Insel genutzt. „Vorletztes Jahr erklärte Peking seine Entscheidung ‚Hongkong zurückzuholen’, und Viele begriffen nicht, warum Peking die Brücke abreißen wollte, noch bevor der Fluss überquert war […] Das Ziel der Volksrepublik liegt in der Hoffnung, dass die Bevölkerung Hongkongs den Hongkong-Plan akzeptiert und befürwortet, [dies soll] die
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Wiedervereinigung unter dem Vorzeichen des „Ein Land, zwei Systeme“ zu treten, wurden indes von Seiten des KMT-Regimes entschieden zurückgewiesen. 733 Auch in der Opposition und der taiwanesischen Öffentlichkeit traf das Hongkong-Modell auf breite Ablehnung. Der Freiraum der politischen Selbstverwaltung, welcher der Bevölkerung Hongkongs zugestanden werden sollte, sei in Wahrheit nur Makulatur. Zudem wurde der Verdacht geäußert, dass die Volksrepublik selbst diese begrenzten vertraglichen Zugeständnisse nach 1997 jederzeit widerrufen könne. Dasselbe gelte natürlich auch für eine mögliche Vereinbarung mit Taiwan: Sobald Taiwan einmal seine faktische staatliche Souveränität aufgegeben habe, sei es unwiderruflich der Willkür des Festlandes ausgeliefert. Wenngleich das Modell von „Ein Land, zwei Systeme“ für Taiwan vollkommen inakzeptabel war, konnte die Volksrepublik durch gezielte Propagierung dieses Modells eine offensive Position einnehmen. Gegenüber der internationalen Staatengemeinschaft konnte die Volksrepublik darauf verweisen, erstmals seit Ende des chinesischen Bürgerkrieges einen neuen Impuls zur Verbesserung der verkrusteten, feindseligen Beziehungen zum Erzfeind KMT gegeben zu haben. Im Gegensatz dazu habe sich die KMT, so die Kritik der Opposition, durch ihr starrsinniges Festhalten an der bedeutungslosen Parole einer „Wiedervereinigung unter den Drei Volksprinzipien“ und der Politik der „Drei Nein“ (keine Kontakte, keine Verhandlungen, keine Kompromisse) in die Defensive drängen lassen und gerate in Gefahr, die internationale Isolation Taiwans noch zu verstärken. Die VRCh hat sich international die Reputation geschaffen, eine friedliche Wiedervereinigung anzustreben. Im Gegensatz dazu lehnt die Regierung [der ROC] Verhandlungen immer wieder ab, und behauptet unaufhörlich, sie wolle ‚den Kommunismus ausrotten’. Die internationale Gemeinschaft kann [diese Parolen] allmählich nicht mehr ertragen, außerdem wirken sie kriegslüstern und starrsinnig […] Wenn die KMT weiterhin weder ihre Unfähigkeit eingestehen noch eine gute Strategie erarbeiten kann, dann wird, wenn die VRCh einmal Taiwan militärisch angreifen sollte, auch niemand Mitleid mit der KMT-Regierung empfinden, und schon gar keine helfende Hand ausstrecken. Denn man wird denken: Da die KMT Verhandlungen abgelehnt hat, war Krieg eben die einzige verbliebene Wahl.734
Mit Sorge wurde auf Seiten der Opposition registriert, dass die Volksrepublik weiterhin an einer militärischen „Befreiung“ Taiwans festhielt, falls ihre Angebote für eine friedliche Verhandlungslösung langfristig keine Ergebnisse zeigen sollten. Diese Drohung wurde innerhalb der Dangwai durchaus ernst genommen: Wenngleich eine Invasion der Insel als unwahrscheinlich galt, stand zu befürchten, dass das Festland eine militärische Blockade durchführen und Taiwan auf diese Weise in kürzester Zeit zu Kapitulation zwingen könnte.735 Das KMT-Regime nehme jedoch, so die Kritik der Opposition, diese durchaus reale Öffentlichkeit Taiwans dahingehend beeinflussen, dass sie einen ähnlichen Vorschlag der Volksrepublik [ebenfalls] akzeptiert und befürwortet.“ Qi Xing 1984: 53f. 733 Hinsichtlich der Hongkong-Frage ergab sich für das KMT-Regime zudem das Dilemma, dass die ROC weiterhin die staatliche Souveränität für ganz China, inklusive Hongkong, für sich beanspruchte und schon aus diesem Grund die Verhandlungen zwischen der VRCh und Großbritannien als gegenstandslos betrachten musste. Vgl. Chen Gaoshan 1984: 34-37; Tian Zhizhi 1984: 44-45. 734 Wu Feng 1984: 28. 735 Seitens der politischen Führung der VRCh wurde die Möglichkeit einer Blockade Taiwans als Mittel der „indirekten“ Kriegsführung erstmals im Oktober 1984 in einem Gespräch zwischen Deng Xiaoping und einer japanischen Besucherdelegation aufgegriffen. Auf einem Symposium zu den Fragen der neuen Sicherheitsrisiken im
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Die Dangwai-Bewegung nach dem Meilidao-Vorfall
Bedrohung offensichtlich nicht ernst und verfüge über keine realistischen militärischen Optionen, um eine solche Blockade zu verhindern oder zu durchbrechen. Es wurde daher bezweifelt, ob die KMT wirklich gewillt wäre, Taiwan mit vollem Einsatz gegen einen Angriff des Festlandes zu verteidigen. Schon einmal, im Jahre 1949, seien die Streitkräfte des KMT-Regimes einem Entscheidungskampf mit dem kommunistischen Gegner ausgewichen und hätten sich auf Taiwan zurückgezogen. In den folgenden Jahrzehnten sei Taiwan stets nur als Basis für eine spätere Rückeroberung des Festlandes wahrgenommen worden, in den über 30 Jahren ihrer Herrschaft sei das KMT-Regime auf Taiwan nie heimisch geworden. Es wäre daher nicht erstaunlich, wenn die führenden Kader der KMT im Falle einer erneuten militärischen Konfrontation mit dem übermächtigen kommunistischen Gegner erneut die Flucht ergreifen und Taiwan seinem Schicksal überlassen würden.736 In diesem Zusammenhang wurde mit Empörung festgestellt, dass zahlreiche hohe KMTKader737 ihre Familien und Besitzstände ins westliche Ausland (zumeist in die USA) gebracht hätten. Wie ein Artikel in der Zeitschrift Shengen kritisch anmerkte, hätten selbst die beiden Söhne des Premiers Yu Guohua die amerikanische Staatsbürgerschaft angenommen. 738 Dieser Hang zum Defätismus, der sich aus einer allgemeinen Vertrauenskrise nähre, habe sich zwischenzeitlich auch auf weite Kreise der taiwanesischen Gesellschaft übertragen. Wer immer es sich leisten könne, sei darum bemüht, ins Ausland zu streben. Man kann nicht mehr feststellen, wann diese Fluchtwelle ins Ausland einsetzte. Es fehlen auch statistische Angaben darüber, wie viele Menschen nun jedes Jahr im Ausland Fuß fassen. Aber wir wissen […], dass es ein ernstes Problem ist. Egal ob alt oder jung, Mann oder Frau, arm oder reich: In allen Straßen und Gassen, auf allen öffentlichen Plätzen, sind die Fragen um Green Card und Auswanderung zu den leidenschaftlichsten und meistdiskutierten Themen geworden […] Alles drängelt, schubst und rennt; es ist, als sei auf Taiwan eine schreckliche Seuche ausgebrochen 739
Aufgabe der Regierung wäre es nun, ihrerseits einen realistischen und offensiven Plan für die Zukunft Taiwans zu erarbeiten, um der allgemeinen Vertrauenskrise zu begegnen und ein Gegengewicht zu der „friedlichen Offensive“ des Festlandes zu schaffen. Trotz aller Rückschläge der letzten Jahrzehnte habe Taiwan durchaus das Potential, eine selbstbewusste und offensive Position gegenüber dem Festland zu entwickeln. Im Gegensatz zu Hongkong, sei Taiwan in seiner Grundversorgung vom Festland autark; zudem würde die Taiwan-Straße einen natürlichen Schutz vor militärischen Übergriffen bieten. Taiwan könne außerdem, im Gegensatz zu Hongkong, beträchtliche Streitkräfte zu seinem Schutz pazifischen Raum, das vom 14.-16.3.1985 in Washington stattfand, wurde dieser neuen Bedrohung große Bedeutung zugemessen. Siehe Wang Jinyun 1985: 26-29. 736 Gelegentlich wurde hierbei auch die Frage der Loyalität der taiwanesischen Streitkräfte aufgeworfen – ein Thema, das die Unabhängigkeitsbewegung bis heute beschäftigt. So wurde darauf hingewiesen, dass unter den oberen Rängen des Militärs (und insbesondere in der dominanten Waffengattung der Infanterie) nur sehr wenige gebürtige Taiwanesen zu finden seien, nach wie vor stellten die Festländer der ersten und zweiten Generation einen überproportional hohen Anteil an militärischen Befehlshabern. Vgl. z.B. Chen Mingtai 1986: 8-12. 737 Laut einer Statistik der Zeitschrift Shengeng habe eine Mehrheit der „alten Delegierten“ der zentralen Volksvertretungsorgane Familienangehörige, die eine ausländische Staatsbürgerschaft besäßen oder langfristig im Ausland lebten. Die prozentuale Verteilung betrüge für die Delegierten der einzelnen Organe: Legislativ-Yuan: 85%; Kontroll-Yuan 83%, Nationalversammlung: 67%. o.A. 1985f: 63. 738 o.A. 1985f: 62 739 Li Huan 1984: 16.
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aufbieten, und schließlich sei eine Invasion der Insel auch nicht im Interesse der USA, die sich nach wie vor als Schutzmacht Taiwans verstünden. Für die Dangwai war es jedoch schwierig, ihrerseits konstruktive Pläne für die politische Zukunft Taiwans zu erarbeiten. Jedes Abweichen vom Alleinvertretungsanspruch für Gesamtchina, der vom Regime propagiert wurde, konnte nach den Bestimmungen des herrschenden Kriegsrechtes juristisch verfolgt werden. Der einzige nennenswerte Vorstoß 740 aus den Kreisen der Opposition wurde vom oppositionellen Abgeordneten des LegislativYuan Fei Xiping unternommen, der am 16.10.1984 in einer parlamentarischen Anfrage sein Modell der „Konföderierten Staaten von China“741 vorstellte. Nach dem Modell des Fei Xiping sollten die Volksrepublik China und die ROC auf Taiwan – und eventuell noch weitere chinesischsprachige Gebiete wie Singapur und Hongkong – einen Staatenbund bilden, dessen Mitglieder gleichberechtigt über gemeinsame Anliegen befinden sollten. Im Gegensatz zu einem Bundesstaat zeichne sich ein Staatenbund dadurch aus, dass die Gliedstaaten jeweils über uneingeschränkte staatliche Souveränität verfügten und etwa eigene Streitkräfte und eigene diplomatische Kontakte unterhielten. Die Volksrepublik China dürfe daher nach Gründung der Konföderation nicht länger den internationalen Lebensraum Taiwans einschränken, auch eine Rückkehr in die Vereinten Nationen müsste Taiwan zugestanden werden. Alle vertraglichen Vereinbarungen zwischen den Mitgliedern des Staatenbundes würden einstimmig erfolgen, darüber hinaus stehe es jedem Gliedstaat jederzeit frei, den Bund zu verlassen, wenn er seine eigenen Interessen nicht länger gefördert sehe. Im Rahmen dieses gemeinsamen Staatenbundes könnten Taiwan und die Volksrepublik in einen friedlichen Wettbewerb der gesellschaftlichen Systeme treten, die Frage der nationalen Wiedervereinigung könnte schließlich zu einem noch nicht abzusehenden Zeitpunkt durch Volksentscheid beigelegt werden. Der Vorschlag des Fei Xiping führte im Legislativ-Yuan zu tumultartigen Szenen und wurde selbstverständlich abgelehnt. Aus Sicht der KMT hätte die Gründung eines solchen Staatenbundes zur logischen Voraussetzung, dass Taiwan zunächst als eigenständiger, souveräner Staat begriffen werden müsste, womit die KMT (aus ihrer Perspektive sicher nicht ganz zu Unrecht) den Tatbestand der „Taiwanesischen Unabhängigkeit“ erfüllt gesehen hätte. Unter Federführung des KMT-Abgeordneten Zhu Rusong wurde sogar erwogen, ob Fei Xiping für seine „verfassungsfeindlichen“ Äußerungen juristisch zu belangen sei.742 Auf Seiten der Dangwai traf Fei Xiping hingegen auf gemischte Reaktionen. Große Teile der Opposition strebten einen größeren internationalen Gestaltungsspielraum für Taiwan an, der sich in Abgrenzung zur Volksrepublik eröffnen sollte. Allein der Begriff einer „Chinesischen Konföderation“ wirkte daher als Reizwort, und es wurde kritisch angemerkt, dass auch das Modell des Fei Xiping das Ziel einer zukünftigen Wiedervereinigung mit dem Festland aufge-griffen habe. Schließlich wurde ihm politische Naivität vorgeworfen: Abgesehen von allen Widerständen innerhalb Taiwans sei nicht zu erwarten, dass die Volksrepublik China einer solch gestalteten „Konföderation“ die Zustimmung erteilen oder gar selbst beitreten würde. 740 In akademischen Kreisen wurden bereits seit Beginn der 80er Jahre verschiedene Modelle für die zukünftige Beziehung zwischen Taiwan und dem Festland diskutiert, wie zum Beispiel das „Deutschland-Modell“ von Qiu Hongda, das „Singapur-Modell“ von Zhang Xucheng und das Modell des „Staates mit mehreren Systemen“ von Wei Yong. Keiner dieser Ansätze konnte jedoch eine große politische Wirkung entfalten. Vgl. Chen Bisheng 1982: 21-25. 741 Da Zhongguo lianbang བྷѝ഻㚟䛖 742 Siehe Tang Jianguo 1984: 48-50.
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Die Konföderation des alten Fei [Xiping] hätte als grundsätzliche Voraussetzung, dass auf beiden Seiten der Taiwan-Straße unabhängige souveräne „Staaten“ bestehen […] Wie könnte die VRCh [in diesem Punkt] leichtfertig nachgeben? Anders gesagt: Wenn die VRCh mit Taiwan gemeinsam eine Konföderation bilden würde, dann könnte Taiwan in die UNO zurückkehren, die diplomatische Front eröffnen und sie [die VRCh] hätte Taiwan auf ewig verloren. Es gäbe einen Gewinner und einen Verlierer. Besteht die [politische Führung] der VRCh etwa nur aus Deppen mit dem IQ Null? 743
Allgemein wurde jedoch gelobt, dass der Vorschlag des Fei von Kreativität zeuge und die Propaganda-Maschinerie des KMT-Regimes in Aufruhr versetzt habe. Mit Empörung wurde der Vorwurf zurückgewiesen, Fei Xiping habe sich mit seinem Modell in Gegnerschaft zur Verfassung begeben und würde, wie von KMT-nahen Medien behauptet, dem kommunistischen Feind Vorschub leisten. Der wahre Grund für die Kritik der KMT sei die Erwägung, dass die Gründung einer Konföderation mit dem Festland langfristig zu einer Aufhebung des Kriegsrechtes auf Taiwan führen müsste, was wiederum die Alleinherrschaft der Partei beenden würde. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Entwurf des Fei Xiping vor allem deswegen Aufmerksamkeit verdient, weil er die einzige konkrete Alternative zu den überkommenen und obsoleten Vorstellungen des KMT-Regimes auf eine „Rückeroberung des Festlandes“ darstellte. Unter den politischen Gegebenheiten des Jahres 1984 bestand faktisch niemals die geringste Aussicht auf eine Verwirklichung dieses Zukunftsmodells – was selbstverständlich auch Fei Xiping bewusst war. Die eigentliche Intention des „chinesischen Staatenbundes“ bestand darin, einen Weg aufzuzeigen, wie man der „friedlichen Offensive“ der VRCh auf kreative und effektive Weise begegnen konnte. In diesem Sinne äußerte sich auch Fei Xiping selbst, der sich über die Realisierbarkeit seines Planes keine Illusionen machte, in einem Gespräch mit der Zeitschrift Shengeng: Ich habe letztlich keine Macht, ich kann nur Vorschläge unterbreiten und Möglichkeiten ausloten. Falls die VRCh dem Vorschlag zustimmt, wäre das mit Sicherheit von Vorteil für Taiwan. Falls die VRCh nicht zustimmt, dann haben wir damit ein Mittel zu Abwehr der Propaganda in der Hand. Wenn Du „Ein Land, Zwei Systeme“ ins Gespräch bringst, dann berufe ich mich eben auf „Die chinesische Konföderation“.744
8.4.2.2 Die Dangwai und die Forderung nach „Selbstbestimmung“ Seit ihrem Entstehen in den 70er Jahren hatte die Dangwai stets den Kampf gegen das autoritäre Regime der KMT als ihre eigentliche Aufgabe verstanden. Mit dem Beginn der 80er Jahre wurde dieses primäre Anliegen jedoch zunehmend durch die Sorge um das politische Überleben der Insel in internationalem Feld ergänzt: Ausgelöst durch die zunehmende internationale Isolation Taiwans wurde in den Jahren nach 1980 die Bedrohung durch das Festland in einem wesentlich stärkerem Maße, als dies in den vorangegangenen Jahren der Fall gewesen war, als existentielle Gefahr wahrgenommen. Diese beiden Ziele, der Kampf gegen das KMT-Regime und die Abwehr der chinesischen Hoheitsansprüche, verschmol743 744
Tai Bao 1984: 45. Tai Bao 1984: 46.
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zen in der politischen Oppositionsbewegung im Jahr 1983 in der Forderung nach „Selbstbestimmung“745 für die (damals) 18 Millionen Einwohner Taiwans. Die Forderung nach Selbstbestimmung wurde erstmals in den Ergänzungswahlen zu den nationalen Vertretungsorganen im Dezember 1983 erhoben, als die oppositionellen Kandidaten der „Gruppe zur Unterstützung des Wahlkampfs der Dangwai-Mitglieder“ die Forderung: „Die Zukunft Taiwans sollte von den 18 Millionen Bewohnern Taiwans selbst bestimmt werden“ in ihre Wahlkampfplattform aufnahm. Das Regime reagierte prompt mit einem generellen Verbot: Der Vorsitzende des Wahlausschusses, Lin Yanggang, erklärte öffentlich, die Forderung nach „Selbstbestimmung“ sei inhaltlich mit der Forderung nach taiwanesischer Unabhängigkeit gleichzusetzen und verstoße daher gegen den Artikel 54 des Wahlgesetzes, der unter anderem Aufwiegelung zum Regierungssturz und Störung der öffentlichen Ordnung untersage. Verstöße könnten mit Freiheitsstrafen von bis zu sieben Jahren geahndet werden. In Kreisen der Dangwai führte dieses Verbot zu heftigen Gegenreaktionen, die Frage der „Selbstbestimmung“ wurde zu einem dominierenden Thema des Wahlkampfes. Der Vorwurf, die Opposition wolle insgeheim für die taiwanesische Unabhängigkeit eintreten, wurde mit folgenden Argumenten zurückgewiesen: Zum ersten sei das Recht eines Volkes auf Selbstbestimmung ein anerkanntes Prinzip aller demokratischen Staaten. Die Forderung sei in erster Linie im innenpolitischen Kontext zu verstehen, ziele also auf die „Selbstbestimmung“ des Volkes gegenüber den autoritären staatlichen Strukturen des KMT-Regimes. Im Grunde handele es sich also lediglich um eine Paraphrasierung der Forderung nach Demokratie und den verfassungsrechtlich garantierten Grundrechten, den ureigensten Anliegen der Demokratiebewegung.746 Zweitens wolle die KMT bewusst die eigentliche Bedeutung des Begriffes „Selbstbestimmung“ verschleiern. Im Gegensatz zur „Taiwanesischen Unabhängigkeit“ sei „Selbstbestimmung“ kein politisches Ziel an sich, sondern beschreibe lediglich einen Vorgang der demokratischen Entscheidungsfindung: „Selbstbestimmung“ bezeichnet eine demokratische Vorgehensweise, einen neutralen Begriff. Die Dangwai fordert von der KMT, dass sie […] die Legitimität der „konstitutionellen Rechtsordnung“ und die „Unveränderlichkeit“ der „grundlegenden Staatspolitik“ einem Verfahren der Artikulation des Volkswillens unterzieht, das einem demokratischen Vorgehen entspricht. [Selbstbestimmung] an sich fällt kein Werteurteil.747
Wenn sich eine Mehrheit der Bürger etwa für eine Wiedervereinigung mit dem Festland aussprechen sollte, dann müsste man auch diese Entscheidung als Ausdruck der „Selbstbestimmung“ hinnehmen Drittens würde der Begriff der Selbstbestimmung, auch wenn man ihn auf die internationale Stellung Taiwans anwendete, lediglich auf eine Selbstverständlichkeit verweisen: Dass nämlich die Entscheidung über das politische Schicksal der Insel in der Hand der Bewohner läge. „[…] wer sollte [denn] sonst über die Zukunft Taiwans entscheiden? Etwa die Amerikaner? Taiwan ist nicht der 51. Staat der USA!“748 Hier bestehe ein wichtiger Unterschied zwischen Taiwan und Hongkong: Für die Einwohner Hongkongs habe sich niemals die Möglichkeit geboten, ihren Willen für die Zukunft der Kronkolonie zu 745
Zijue 㠚⊪ Siehe z.B. Zhao Chang 1983: 9. 747 Xiang Tian 1984: 42. 748 Ceng Wenxi 1984: 13. 746
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artikulieren. Daher müsse Taiwan, wenn es dem traurigen Schicksal der „Eingliederung“ in den chinesischen Staatsverband entgehen wolle, von dieser Möglichkeit der Artikulation Gebrauch machen. […] die Bewohner Hongkongs haben nie die Bedeutung der politischen Partizipation erkannt, sie haben von Großbritannien niemals das Recht auf Selbstbestimmung erstritten und waren mit ihrem Status als britische Bürger zweiter Klasse zufrieden […] daher war ihr spontaner, zorniger Protest [gegen die Rückgabe an China] so schwach und wurde nicht beachtet. Da ihnen das Recht auf Selbstbestimmung fehlte, wurden die Bewohner Hongkongs verraten.749
Mit Hinblick auf Hongkong werde auch die Inkonsequenz des KMT-Regimes deutlich: Während die Regierung angesichts der nahenden Übergabe Hongkongs an die VRCh öffentlich appelliert habe, man solle den Willen der dortigen Bevölkerung respektieren, wolle sie den Bewohnern Taiwans eben dieses Zugeständnis verweigern. Viertens schließlich verfolge das Regime lediglich die Strategie, die Dangwai in den Augen der Wähler zu diskreditieren. Das Regime sei durch die Anstrengungen der Opposition, sich im Wahlkampf von 1983 als kompakte Gruppe zu präsentieren, verunsichert und benutze daher den Vorwurf der „Taiwanesischen Unabhängigkeit“ als Schlagwort für eine politische Rufmordkampagne. Damit leiste die KMT indes unbeabsichtigte Unterstützung für die VRCh: Das politische Plädoyer [für die Selbstbestimmung Taiwans] wurde früher nur von der KPCh entschieden zurückgewiesen; wer hätte gedacht, dass sich diesmal auch die KMT offen dagegen ausspricht? […] Diese Unterstützung aus der Ferne wird die Leute in der VRCh, die für die Propaganda zur Wiedervereinigung mit Taiwan verantwortlich sind, sicher zu wilden Freudensprüngen bewegen.750
Aus den oben genannten Punkten lässt sich ersehen, dass der Begriff der „Selbstbestimmung“ sehr unscharf und mehrdeutig gefasst wurde – dies erklärt, warum er von sämtlichen Vertretern der Opposition, ungeachtet der sich damals abzeichnenden Flügelkämpfe, übernommen werden konnte.751 Zum einen bezog sich diese Mehrdeutigkeit auf die Frage der praktischen Konsequenz: Es wurde nicht deutlich, ob lediglich ein generelles Bekenntnis zu demokratischen Verfahren gemeint war oder ob sich das „Recht der 18 Millionen Einwohner auf Selbstbestimmung“ in konkreten Maßnahmen – etwa einem Referendum oder umfassenden Neuwahlen aller nationalen Volksvertretungen – zu manifestieren habe. Zum andern blieb unklar, auf welches Gegenüber (die KMT oder die VRCh) sich diese Forderung nach Selbstbestimmung richtete. Die Vertreter der moderaten Fraktion innerhalb der Dangwai betrachteten in erster Linie die KMT als Widersacher der Verwirklichung eines selbstbestimmten politischen Daseins, während radikale Teile der Opposition verstärkt den
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o.A. 1984h: 1. o.A. 1983e: 1. 751 Lediglich Kang Ningxiang, der zu diesem Zeitpunkt wegen seiner allzu regimenahen Haltung ohnehin in der Kritik stand, verzichtete auf den sensiblen Begriff „Selbstbestimmung“ und paraphrasierte die Forderung mit der Aussage, die Zukunft Taiwans solle von allen Bewohnern Taiwans gemeinsam „entschieden“ werden. „Einige Leute meinen, dass Kang Ningxiang vielleicht schon von entsprechenden Stellen [des Regimes] gewarnt wurde und daher diese politische Forderung nicht übernommen hat“. Zhao Chang 1983: 8. 750
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internationalen Aspekt des Begriffes und die Abwehr der VRCh betonten. 752 Während eine generelle Gleichsetzung der Begriffe „Selbstbestimmung“ und „Taiwanesische Unabhängigkeit“, wie die KMT sie vornahm, sicherlich überzogen war, lässt sich doch feststellen, dass diese Interpretation zumindest ermöglicht und von einigen Vertretern der Opposition auch in diesem Sinne umgesetzt wurde. Die Auseinandersetzung zwischen Regime und Opposition um den Begriff der „Selbstbestimmung“ konnte im Wahlkampf von 1983 nicht beigelegt werden, der Wahlausschuss bestand auf seiner Entscheidung, den Terminus aus der Wahlkampfplattform der Dangwai zu streichen. Allerdings erfolgte auch keine Eskalation: Während einige Vertreter der Opposition auf Druck der Regierung den Begriff „Selbstbestimmung“ durch das homophone Wort „Selbstbesinnung“ 753 ersetzten, hielten andere Dangwai-Kandidaten an der ursprünglichen Fassung fest, wurden dafür aber nach Kenntnis des Autors nicht strafrechtlich belangt. In den lokalen Wahlen im November 1985 wurde der Begriff „Selbstbestimmung“ erneut in den 20-Punkte-Katalog der Opposition aufgenommen und abermals mit einem Verbot der Behörden belegt.754
8.4.2.3 Der Blick ins Ausland: Die spätere Dangwai-Periode und die WUFI In den Jahren nach 1980 erschienen in den Zeitschriften der Dangwai vermehrt Berichte über taiwanesische Organisationen im Ausland, wobei insbesondere die USA im Mittelpunkt des Interesses standen. Zum einen zeigten sich hier die Erfolge des beständigen Kampfes um Redefreiheit, die ein immer breiteres Spektrum der Berichterstattung ermöglichten, zum anderen war das Interesse der Leser an den USA durch die gestiegene Anzahl von taiwanesischen Auslandsstudenten seit Ende der 70er Jahre deutlich gewachsen. In allen Zeitschriften dieser Periode finden sich „Reiseberichte“ von taiwanesischen Reportern, die in den USA mit führenden Persönlichkeiten taiwanesischer Organisationen zusammentrafen, Reportagen von „Auslandskorrespondenten“, die zumeist selbst in den USA studierten und schließlich sogar fernmündliche Interviews, bei denen die Redaktionen der Zeitschriften in Übersee-Telefonaten direkt mit bekannten taiwanesischen Dissidenten im Ausland in Verbindung traten.755 Eine wichtige Funktion dieser Auslandsberichte bestand darin, dass die Zeitschriften regimefeindliche politische Ansichten darlegen konnten, ohne sich dabei mit diesen Ansichten zu identifizieren und damit strafbar zu machen. 756 Dies galt
752 So schrieb etwa Ceng Wenxi in einem Artikel der Zeitschrift Shengeng: „Wenn wir sagen, dass die Zukunft Taiwans von den Bewohnern gemeinsam entschieden werden soll, so richtet sich dieser Standpunkt keinesfalls nur gegen die KMT, die KMT soll auch nicht ausgeschlossen werden (denn auch die KMT ist ein Teil der Bewohner Taiwans). Wir wurden zu dieser Auffassung durch die aggressiven Ambitionen der VRCh gegenüber Taiwan bewogen.“ Ceng Wenxi 1984: 15. 753 Zijue 㠚㿪 754 Siehe o.A. 1985c: 49. 755 Hierbei bestand die Gefahr, dass die Telefonate von offiziellen Stellen abgehört wurden, was viele Zeitschriften jedoch wenig bekümmerte. Im Februar 1986 forderte Wei Tingyu in einem telefonischen Interview der Zeitschrift Ziyou shidai Peng Mingmin dazu auf, ohne alle Vorbehalte zu sprechen: „Fast alle unsere Ausgaben werden verboten, das sind wir schon gewohnt, da macht eine Ausgabe mehr auch keinen Unterschied. Unser Gespräch wird mit Sicherheit abgehört, aber [Sie] können ruhig über alles reden […]“. Zheng Nanrong 1986: 8. 756 Ein Vorläufer für diese Strategie des indirekten Eintretens für umstrittene politische Standpunkte durch Zitate findet sich bereits im Jahr 1975, als Qiu Chuiliang in der letzten Ausgabe der Zeitschrift Taiwan zhenglun/Taiwan
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insbesondere für die Frage der taiwanesischen Unabhängigkeit: In einem geradezu seiltänzerischen Balanceakt wurden Befürworter der taiwanesischen Unabhängigkeit in den USA mit Aussagen zitiert, die, wären sie auf Taiwan geäußert worden, mit Sicherheit zu strafrechtlicher Verfolgung geführt hätten. Ein anschauliches Beispiel hierfür findet sich in einem Artikel der Zeitschrift Qianjin/Progress: Unter dem Titel „Warum Wiedervereinigung? Warum Taiwanesische Unabhängigkeit?“ wurden systematisch alle Argumente aufgelistet, die für die taiwanesische Unabhängigkeit sprachen – wobei die im Titel suggerierten Gegenargumente für die Wiedervereinigung mit China lediglich als Stichwortgeber dienten. Wenngleich die Autoren dieser Artikel bedacht sein mussten, keinen allzu offensichtlichen Standpunkt zu beziehen, 757 konnte auf diese Weise über den Umweg der Auslands-Berichterstattung ein Weg gefunden werden, den Leser zumindest mit den relevanten Argumenten vertraut zu machen. Die Zeitschriften der Dangwai distanzierten sich jedoch stets von der militanten Haltung einiger Unabhängigkeitsgruppen. Dies hatte mehrere Gründe: Die Dangwai musste sich gegen den vom KMT-Regime (zu Unrecht) erhobenen Vorwurf wehren, sie stünde in direktem Kontakt mit taiwanesischen Unabhängigkeitsgruppen im Ausland oder werde von diesen finanziert. Zudem entsprach ein militanter, revolutionärer Ansatz, wie er im Ausland propagiert wurde, auch nicht den Interessen der Dangwai. Die politische Opposition auf Taiwan hatte sich stets für eine friedliche Reform des Systems eingesetzt, wie sich auch in dem Richtungsstreit innerhalb der Dangwai nach 1982 zeigte: Wenngleich einige Oppositionelle der Jungen Generation dafür eintraten, zu Maßnahmen „außerhalb des Systems“ – d.h. außerhalb der bestehenden Gesetze – zu greifen (vgl. 8.2.4.), betonten sie doch stets, dass sie damit keinesfalls eine Revolution im Sinne hatten. Willst Du den Weg der Revolution gehen? Entschuldigung, dann gehe bitte ins Ausland und propagiere dort Deine revolutionäre Heilsbotschaft. Wir waren noch nie der Ansicht, dass eine gewalttätige Machtergreifung den 19 Millionen Einwohnern Taiwans viel Nutzen bringen würde. Wir waren auch noch nie der Ansicht, dass die Dangwai, die für friedliche Reformen eintritt, das Volk vor die Panzer und Geschütze der KMT führen sollte.758
Die ablehnende Haltung der Opposition gegenüber Gewalt zeigte sich besonders deutlich im Jahr 1983: Am Vormittag des 16. April waren in den Redaktionsgebäuden der regierungsnahen Zeitschriften Lianhebao und Zhongyang ribao in Taipei im Abstand von wenigen Minuten zwei Bomben detoniert. Wenngleich keine Todesopfer zu beklagen waren, entstand beträchtlicher Sachschaden, zwölf Mitarbeiter der Zhongyang ribao wurden verletzt. In Zuge der polizeilichen Ermittlungen wurde die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung im Ausland der Tat verdächtigt; der Verdacht schien sich schließlich zu bestätigen: Nach mehr als acht Monaten erklärten die Ermittler den Fall für gelöst. Als Täter wurden die Brüder Huang Shizong und Huang Shigeng festgestellt, die von der WUFI zu der Tat angestiftet worden seien. Während sich der Haupttäter Huang Shizong ins Ausland abgesetzt hatte, konnte Huang Shigeng festgenommen werden. Die Zeitschriften der Dangwai äußerten sich skeptisch gegenüber den Ermittlungsergebnissen und wiesen auf Political Review die radikalen Ansichten eines Taiwanesen, den er im Ausland zu einem Gespräch getroffen hatte, unkommentiert zitierte. Der Artikel führte zum Verbot der Zeitschrift. Vgl. 7.1.2. 757 Im genannten Beispiel kam der Autor Lin Pohai zu dem versöhnlichen Fazit, das vordringliche Ziel aller politischen Zukunftsentwürfe müsse die Verbesserung der Lebensumstände des Volkes sein. Lin Pohai 1984b: 50. 758 Jiang Gaishi 1985a: 14.
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mehrere Unstimmigkeiten in den Berichten der Polizeibehörden hin.759 Die Situation wurde jedoch noch komplizierter, als die WUFI nach einigem Zögern tatsächlich die Verantwortung für die Anschläge übernahm. Die Kritik der Dangwai richtete sich daraufhin gegen die WUFI: Ihr wurde vorgeworfen, sich nicht aufrichtig um das Wohlergehen der taiwanesischen Landsleute zu sorgen. Bombenanschläge seien eine Gefährdung für das Leben und den Besitz von Unschuldigen und daher natürlich abzulehnen. Zudem nehme die WUFI zumindest in Kauf, den politischen Demokratisierungsprozess der Dangwai zu diskreditieren. Die Dangwai befinde sich ohnehin in einer prekären Lage, da sie sich beständig des Vorwurfs der Gewaltbereitschaft erwehren müsse. Die WUFI wolle diesen Verdacht nun noch erhärten, um Repressionsmaßnahmen des Regimes gegen die Opposition zu provozieren, die taiwanesische Gesellschaft zu destabilisieren und damit ihr eigenes Ziel des gewaltvollen Sturzes der KMT-Regierung voranzutreiben. Die gewaltbereite Fraktion der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung hat mit ihrem Bombenattentat also durchaus die negativen Auswirkungen für die Dangwai bedacht. Mehr noch: Diese Auswirkungen sind sogar ihr eigentliches Ziel. Der negative Einfluss dieser militanten taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung auf die taiwanesische Demokratiebewegung wird daher offensichtlich.760
Zudem wurde die WUFI des Dilettantismus bezichtigt; es wurde bezweifelt, ob sie überhaupt die Fähigkeit zu solchen Bombenattentaten besitze. Wenngleich sie stets bemüht sei, sich als kämpferische, revolutionäre Gruppe zu profilieren, sei ihr Einfluss auf Taiwan in Wahrheit minimal. Schon mehrmals habe die WUFI jedoch Vorfälle auf Taiwan für sich reklamiert, ohne auf die Betroffenen Rücksicht zu nehmen: Sie sind in der Vergangenheit nicht davor zurückgeschreckt, Genossen zu opfern und sich der juristischen Verantwortung zu entziehen. Wenn auf Taiwan jemand wegen eines politischen Vorfalles verhaftet wurde, dann trat sie [die WUFI] an die Öffentlichkeit und erklärte, dass es sich in der Tat um ein Mitglied handle […] Der Verhaftete im Gefängnis war dann arm dran, und ihn erwartete ein hartes Schicksal, [obwohl] er vielleicht noch nie von der „WUFI“ gehört hatte.761
Schließlich wurde der WUFI vorgeworfen, lediglich finanzielle Interessen zu verfolgen. In den langen Jahren ihres Bestehens habe sich die Organisation immer mehr zum privaten Besitz ihres Vorsitzenden Zhang Canhong entwickelt, der unter dem Vorwand des „revolutionären Kampfes“ gegen das KMT-Regime Spenden in den USA sammle und für ungeklärte Zwecke verwende.762 Daher sei es für die WUFI von großer Bedeutung, den 759 So wurde seitens der Polizeibehörden etwa behauptet, der Täter Huang Shizong habe nach seinem erfolgreichen Attentat einen unsignierten „Erfolgsbericht“ an die WUFI geschickt und sei nach Abgleich von über 30.000 (!) Vergleichsproben anhand seiner Handschrift ermittelt worden – eine Darstellung, die offensichtlich jeder Wahrscheinlichkeit widerspricht. Zudem habe die Polizei im Hause von Huang Shigeng angeblich Materialien zum Bau von Bomben gefunden, obwohl des Anwesen erst Monate nach der Tat durchsucht worden war – was die Dangwai zu der berechtigten Frage verleitete, ob man von einem ausgebildeten Attentäter ein solch dilettantisches Verhalten erwarten könne. Siehe Zhu Yongliang 1983: 18-21; Wu Xianghui 1983: 4-10. 760 Zhao Wen 1983: 14. 761 He Zhikai 1983: 22. 762 Es wurde sogar der Vorwurf erhoben, hochrangige Mitglieder der WUFI würden die Spenden für eigene Zwecke veruntreuen: „Die Gesamtsumme und der Verwendungszweck der Spenden gilt als ‚militärisches Staatsgeheimnis’, nur ein oder zwei Leute wissen [darüber Bescheid]. Die WUFI behauptet, der größte Teil der Spenden
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Nimbus einer revolutionären, gewaltbereiten und effektiven Kampfgruppe zu bewahren: Jedes Mal, wenn sie einen Anschlag für sich reklamieren konnte, seien ihre Spendenaufkommen angestiegen.763 Die Sicht der Dangwai auf die taiwanesischen Unabhängigkeitsorganisationen im Ausland war also durch die drei Punkte Gegnerschaft zur KMT, Ziel und Methode geprägt: 1.
2.
3.
Ebenso wie die Unabhängigkeitsbewegung betrachtete die Dangwai das KMT-Regime als primären Gegner und wollte den autoritären Machtapparat beseitigen – ein Tatbestand, den die Dangwai auch offen auf Taiwan propagierte. In dem Ziel der Schaffung eines unabhängigen taiwanesischen Staates lässt sich unterstellen, dass Teile der Dangwai mit den Unabhängigkeitsorganisationen des Auslandes konform gingen. Es ist jedoch schwierig, den Anteil der Unabhängigkeitsbefürworter auf Taiwan zu beziffern – aus dem nahe liegenden Grund, dass ein Eintreten für taiwanesische Unabhängigkeit nach wie vor bedeutete, in Konflikt mit den bestehenden Gesetzen zu geraten. Das gewaltbereite und revolutionäre Vorgehen der taiwanesischen Unabhängigkeitsorganisationen im Ausland wurde hingegen ausnahmslos abgelehnt. Ebenso wie in den Jahren vor 1980 hielt die Dangwai an dem Ziel einer friedlichen Reform des Systems fest.
8.4.3 Der 228-Aufstand Im Zuge des Meilidao-Vorfalles 1979 wurde das politische Tabu, das den 228-Aufstand auf Taiwan seit 1947 umgeben hatte, erstmals durchbrochen. Nach einem Pamphlet von taiwanesischen Unabhängigkeitsgruppierungen in den USA, in dem eine direkte Verbindung zwischen den Vorfällen von 1947 und 1979 hergestellt und der 228-Aufstand als Aufruf zum Kampf gegen das KMT-Regime instrumentalisiert wurde, sah sich die regierungsnahe Zeitschrift Jifeng im Frühjahr 1980 veranlasst, eine regimefreundliche Sicht der Ereignisse zu präsentieren, die sich weitgehend an die offizielle Darstellung der KMT-Regierung aus dem Jahre 1947 anlehnte. Nach mehr als 30 Jahren des Verschweigens war der 228Aufstand damit erneut in die öffentliche Wahrnehmung getreten, und für regimekritische Historiker und Journalisten wurde das Feld eröffnet, eine eigene Interpretation des Vorfalles zu erarbeiten. In den Berichten über den 228-Aufstand, die sich im Lager der Opposition in den Jahren nach 1981 häuften, zeichneten sich folgende Tendenzen ab: 1.
Historische Aufarbeitung: In den Jahren zwischen 1980 und 1986 wurden historische Quellen zum 228-Aufstand erschlossen, die einen Kontrast zu den offiziellen Verlautbarungen des Regimes bildeten. Von besonderer Bedeutung waren hierbei Quellen aus dem Ausland, Memoiren von Beteiligten und Interviews mit Augenzeugen. Diese frühen Recherchen, die im journalistischen und akademischen Feld ihren Niederschlag fanden, markieren den Beginn der modernen 228-Forschung auf Taiwan.
würde auf Taiwan verwendet, aber viele Leute meinen, dass deren Aktivitäten auf der Insel gegen Null gehen. Der einzige sichtbare Verwendungszweck besteht darin, dass sich wichtige Mitglieder der WUFI pausenlos gegenseitig als Gäste einladen und gegenseitig zuprosten […]“ Xin Wen 1985: 7. 763 Siehe z.B. Zheng Zhe 1984: 29.
Ergebnisse im Kontext dieser Arbeit 2.
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Der 228-Aufstand im politischen Kontext: Vor dem Hintergrund des politischen Kampfes gegen das KMT-Regime wurde der 228-Aufstand als politische Waffe instrumentalisiert, indem die KMT mit ihrer historischen Schuld konfrontiert wurde. Zudem wurde der 228-Aufstand als Ursprung der taiwanesischen Oppositionsbewegung beschrieben, wobei jedoch eine klare Trennlinie zu dem Streben nach taiwanesischer Unabhängigkeit gezogen wurde. Gezielte Tabuverletzung: Mit ihren Berichten über den 228-Aufstand gingen die Zeitschriften das Risiko eines Verbotes ein oder strebten dieses sogar bewusst an. Ziel dieses Tabubruches war die Ausweitung der Redefreiheit.
In der späteren Dangwai-Periode wurde damit eine alternative Wahrnehmung des 228Aufstandes propagiert, die sich deutlich von der offiziellen Version eines „kommunistisch inspirierten Versuch des Regierungsumsturzes“ abhob. Diese offizielle Stellungnahme des Regimes, die im Kern seit 1947 unverändert geblieben war, konnte vor der neuen Herausforderung einer regimekritischen Forschung nicht länger bestehen und verlor immer mehr an Glaubwürdigkeit. Das alternative Bild des 228-Aufstandes, das nun von der Opposition entworfen wurde, war jedoch ebenfalls von politischen Interessen überlagert – oftmals war der Dangwai weniger daran gelegen, ein historisch „wahres“ Bild des Aufstandes zu gewinnen als vielmehr, Belastungsmaterial gegen die KMT zu sammeln. Diese Bürde der politisch motivierten Voreingenommenheit prägt die 228-Forschung bis heute.
8.4.3.1 Der Beginn der 228-Forschung auf Taiwan Ein erklärtes und vordringliches Ziel der Dangwai-Zeitschriften bestand darin, den 228Aufstand als Teil der taiwanesischen Geschichte erneut präsent werden zu lassen. Dies sei insbesondere im Interesse der jüngeren Generation, die selbst keine Erinnerungen an den Aufstand habe, dringend geboten. Über Jahrzehnte sei jede öffentliche Erwähnung des 228Aufstandes nicht möglich gewesen, dadurch gerate das historische Wissen über dieses Schlüsselereignis der taiwanesischen Geschichte zunehmend in Vergessenheit. Der 228Aufstand sei zwischenzeitlich als geheimnisvolles und Schreckenerregendes Phantom in die Volksfolklore eingegangen. Für uns Junge ist der 228-Aufstand der Alptraum unserer Väter, Mütter und Onkel. Wir haben ihn nicht gesehen, und sie sind nicht bereit, uns davon zu erzählen. Es ist wie bei dem Märchen von der bösen Hexe aus unserer Kindheit: Unsere Eltern haben uns damit einen Schrecken eingejagt, wenn wir nicht brav waren. Merkwürdig war nur: Beim Märchen von der bösen Hexe haben die Kinder in der Nacht geweint, wenn aber die Rede auf den „228“ kam, dann wurden die Erwachsenen selbst, die die Geschichte erzählten, kreidebleich.764
Hierbei standen die Autoren der Dangwai-Zeitschriften zunächst vor der schwierigen Aufgabe, authentische Quellen zum Aufstand zu erschließen.
764
o.A. 1983b: 15.
270 a.
Die Dangwai-Bewegung nach dem Meilidao-Vorfall Offizielle Dokumente und Verlautbarungen der Regierung
Eine Auswertung der offiziellen Quellen war für das Anliegen der regimekritischen Forschung aus nahe liegenden Gründen von begrenztem Wert. Einerseits waren zu diesem Zeitpunkt nur wenige offizielle Quellen allgemein verfügbar,765 zum anderen waren diese natürlich darauf ausgelegt, das Handeln der Regierung in einem möglichst positiven Licht erscheinen zu lassen. Trotz ihrer offensichtlichen Parteilichkeit konnten diese Quellen jedoch dazu dienen, den chronologischen Ablauf des Aufstandes zu rekonstruieren.766 Zudem wurden Anstrengungen unternommen, offizielle Aufzeichnungen zum Aufstand aufzufinden, die zuvor nicht berücksichtigt worden waren. So veröffentlichte etwa Li Xiaofeng im Jahr 1986 in der Zeitschrift Bashi niandai eine Auflistung aller relevanten Einträge aus den lokalen Chroniken der einzelnen Städte und Kreise Taiwans, die sich freilich zumeist auf jeweils wenige Zeilen beschränkten. Zu der Bedeutung der offiziellen Quellen in diesem Stadium der 228-Forschung äußerte Li Xiaofeng gegenüber dem Autor: [Die offiziellen Dokumente] waren alle aus der Perspektive der Behörden geschrieben, man las dort andauernd von „Gewalttätern“ […] Aber für mich war das egal: Man musste die Quellen einfach auf den Kopf stellen, man musste zwischen den Zeilen lesen.767
b.
Memoiren und Tagebuchaufzeichnungen
Eine der bekanntesten Augenzeugenberichte zum 228-Aufstand fand sich in den Memoiren des Wu Zhuoliu.768 Wu, ein gebürtiger Taiwanese, der längere Zeit auf dem Festland verbracht hatte und seit dem Herbst 1946 als Reporter auf Taiwan tätig gewesen war, widmete dem Aufstand, den er selbst in Taipei erlebt hatte, in seinem autobiographischen Werk Wu Huaguo [Feigen] großen Raum.769 Die Memoiren waren erstmals in den Jahren 1967 und 1968 in einer dreiteiligen Serie der Zeitschrift Taiwan wenxue erschienen. Erstaunlicherweise konnten die Artikel zunächst der Zensur entgehen, eine Buchfassung im Jahr 1970 wurde hingegen unmittelbar nach ihrem Erscheinen verboten. 770 Wenngleich die Memoiren
765 Die Dangwai-Zeitschriften dieser Periode mussten sich im Wesentlichen auf folgende offizielle Verlautbarungen der Regierung zum 228-Aufstand beschränken: 1) Die Ansprache des Präsidenten Chiang Kai-shek zur Beilegung des Aufstandes am 10.3.1947; 2) Die offizielle Proklamation Nr. 1 des Verteidigungsministeriums vom 17.3.1947; 3) Rundfunkansprache des Verteidigungsministers Bai Chongxi am 27.3.1947; 4) Schriftliche Erklärung des Verteidigungsministers Bai Chongxi, vorgestellt auf einer Pressekonferenz in Taipei am 1.4.1947; 5) Bericht des Verteidigungsministers Bai Chongxi über die Ursachen des Aufstandes und die Maßnahmen zur Beilegung vom 7.4.1947. Der Bericht des Yang Lianggong, der am 8.3.47 als erster Gesandter der Zentralregierung auf Taiwan angelangt war, wurde erst im Jahr 1988 veröffentlicht. Vgl. 9.2.2.1. 766 Ein Unterfangen, das jedoch nicht immer gelang. So findet sich in einer chronologischen Darstellung der Zeitschrift Qianjin/Progress ein Eintrag über die Ereignisse des „29.2.1947“ – das Jahr 1947 war, im Gegensatz zu 1984, kein Schaltjahr. Siehe Bing Gu 1984: 10. 767 Interview mit Prof. Li Xiaofeng, 23.3.04. 768 Wu Zhuoliu, 1900-1976, eigentlicher Name Wu Jiantian ⭠ڕ 769 Wu Zhuoliu 1995; zum 228-Aufstand insbesondere das Schlusskapitel Nr.13 (187ff). 770 Taiwan wenxue ਠ⚓᮷ᆨ. Die Zeitschrift wurde von Wu Zhuoliu selbst herausgegeben und verfügte nur über eine geringe Auflage. „[…] vielleicht haben die ‚großen Brüder’ der staatlichen Zensurbehörden nicht einmal von der Existenz dieser Zeitschrift gewusst, und sie wurde deshalb nicht verboten“. Wu Zhuoliu 1995: Vorwort.
Ergebnisse im Kontext dieser Arbeit
271
des Wu zur Mitte der 80er Jahre nach wie vor zu den „verbotenen Schriften“ zählten, wurden sie in zahlreichen Zeitschriften der Dangwai als wichtige Quelle angeführt.771 Ebenfalls von großer Bedeutung waren die Memoiren des Yang Zhaojia. Yang, ein populärer taiwanesischer Kulturschaffender, befand sich zur Zeit des 228-Aufstandes in Shanghai und konnte sich über die Vorgänge auf Taiwan nur aus der Presse informieren. Auf dem Festland setzte sich Yang gemeinsam mit anderen populären Taiwanesen in Appellen an die Zentralregierung vehement für eine friedliche Beilegung des Vorfalles ein. Im Auftrag des Verteidigungsministers Bai Chongxi wurde Yang am 11.3.47 als Kopf einer zehnköpfigen Delegation nach Taipei entsandt, um sich vor Ort einen Eindruck zu verschaffen. Auf Taiwan angekommen, wurde die Delegation jedoch von Wachsoldaten, die von Gouverneur Chen Yi instruiert worden waren, bedroht und isoliert. Bereits am darauf folgenden Tag kehrte sie unverrichteter Dinge nach Nanjing zurück. Die Soldaten, die [auf Taiwan] zu unserem „Schutz“ bereitstanden, waren nicht allzu höflich. Sie verhinderten, dass wir mit Außenstehenden in Kontakt traten, außerdem wichen sie nie einen Schritt von unserer Seite. Selbst wenn wir auf die Toilette gingen, wurden wir von vier Wachsoldaten mit aufgepflanztem Bajonett begleitet, die uns feindselig anstarrten […] Zum Glück war das Flugzeug, das uns hergebracht hatte, noch nicht abgeflogen, daher flogen wir […] zurück nach Nanjing. Rückblickend haben mir Leute später gesagt, dass mein Leben damals davon abhing, dass der Pilot noch nicht zurückgeflogen war. Man hätte leicht eine Gelegenheit finden können, mich umzubringen, gegenüber Minister Bai hätte sich sicher eine Ausrede gefunden.772
Die Erlebnisse des Yang Zhaojia wurden erstmals im März 1984 in der Zeitschriftenreihe Shengeng veröffentlicht, die Ausgabe fiel jedoch vermutlich der Zensur zum Opfer. Im darauf folgenden Jahr wurden die Memoiren von derselben Zeitschrift erneut publiziert.773 Im Jahr 1985 veröffentlichte die Zeitschrift Qianjin einen Teil der bislang unveröffentlichten Tagebuchaufzeichnungen eines Herrn Zhong Lihe, welche „durch einen Zufall“ in den Besitz der Redaktion gelangt seien. Zhong, zu dessen Identität keine weiteren Angaben gemacht wurden, war ein Chinese vom Festland und hatte den Aufstand während eines Krankenhausaufenthaltes in Taipei erlebt. In seinem Tagebuch beklagt Zhong zwar, selbst Opfer von Diskriminierung geworden zu sein – er berichtet beispielsweise, wie die Krankenschwestern des Hospitals nach Beginn der Ausschreitungen am 1.3. nur sehr widerwillig Medizin an „Festländer“ verteilten. Zugleich äußert er jedoch Verständnis für die Beschwernisse der taiwanesischen Bevölkerung. So findet sich in seinen Aufzeichnungen die Bemerkung: Unsere taiwanesischen Mitbürger haben einfach keine Alternative, nur deswegen verhalten sie sich so. Sie sind auch zu bemitleiden […] Aber sie schlagen die Falschen. Sie schlagen auf einfache Leute [unter den Festländern] ein, die genau wie sie selbst unschuldige Opfer [der Provinzregierung] sind.774
771
Am ausführlichsten geschah dies in einem umfangreichen Bericht der Zeitschriftenreihe Shengeng aus dem Jahre 1985. Siehe o.A. 1985a: 28-40. 772 Yang Zhaojia 1967: 360. 773 Yang Zhaojia 1985: 41f. Es konnte nicht ermittelt werden, ob im Jahr 1985 erneut ein Verbot der Zeitschrift erfolgte. 774 Zhong Lihe 1985: 49.
272
Die Dangwai-Bewegung nach dem Meilidao-Vorfall
Es lässt sich festhalten, dass die Memoiren von Augenzeugen des Aufstandes einen wichtigen Kontrast zu den Verlautbarungen des Regimes bildeten. Zwar hatten auch die Autoren der Memoiren, die ihre Erinnerungen zumeist in den 60er Jahren verfasst hatten, politische Tabus zu beachten – zumeist wurde der Aufstand in sehr behutsamer Form behandelt, niemals wurde offene Kritik an der chinesischen Zentralregierung geäußert. Aus den oben genannten drei Quellen 775 konnten jedoch neue Blickwinkel auf den Aufstand eröffnet werden: Von Taiwanesen, die den Aufstand auf Taiwan (Wu Zhuoliu) oder dem Festland (Yang Zhaojia) erlebt hatten, sowie den Erlebnissen eines Festländers im Aufstand (Zhong Lihe). Erstmals bot sich somit die Möglichkeit, einen unmittelbaren Zugriff auf die Geschehnisse des Jahres 1947 jenseits der offiziellen Darstellungen zu nehmen. c.
Quellen aus dem Ausland
Unter den Taiwanesen im Ausland, insbesondere in Japan und den Vereinigten Staaten, kursierten bereits seit den 60er Jahren regimekritische Schriften, die den 228-Aufstand zum Thema hatten. Hierzu zählten die „400jährige Geschichte der Taiwanesen“ von Shi Ming (veröffentlicht 1962), „Die Februar-Revolution auf Taiwan“ von Lin Mushun (1948) und „Formosa Betrayed“ von George Kerr (1965). Insbesondere das Werk von George Kerr nahm hierbei einen hohen Stellenwert ein und zählt bis heute zu den Klassikern der 228Forschung. Sein Buch, das auf Taiwan selbstverständlich verboten war, galt als eine der eloquentesten und streitbarsten Anklageschriften gegen das KMT-Regime (vgl. 5.5.3.1.). Erst gegen Ende der Dangwai-Periode wurde von einigen oppositionellen Zeitschriften das Wagnis unternommen, das Werk einer größeren Öffentlichkeit vorzustellen. Im Februar des Jahres 1986 veröffentlichte die Zeitschriftenreihe Shengeng in einer Sondernummer eine komplette chinesische Übersetzung des Buches – was selbst zu diesem relativ späten Zeitpunkt zu einem Verbot der Zeitschrift führte. Im selben Jahr erschien in der Zeitschriftenreihe Bashi niandai ein Artikel, der einen Überblick über Berichte verschiedener ausländischer Beobachter des 228-Aufstandes (darunter die Reporter Tillman Durdin und George Baur) präsentierte. Auch hier nahm das Buch „Formosa Betrayed“ eine herausragende Stellung ein.776 In der Dangwai-Periode war es faktisch nicht möglich, direkten Bezug auf verbotene Werke zu nehmen, ohne ein Verbot der Zensurbehörden zu riskieren. Dennoch waren diese Bücher den meisten regimekritischen Historikern bekannt; 777 sie wurden oftmals im Ausland kopiert und heimlich nach Taiwan geschmuggelt. Durch den Anstieg der taiwanesischen Auslandsstudenten, insbesondere in den USA, und die damit einhergehenden verbesserten Kommunikationswege zwischen Taiwan und dem Ausland wurde es für das
775
Die drei genannten Quellen stellten in dieser Zeit die meistzitierten und zugleich die aussagekräftigsten Biographien von Augenzeugen des 228-Aufstandes dar. Es waren darüber hinaus noch weitere Quellen bekannt. In einem Artikel der Zeitschrift Penglaidao fand sich eine kompakte Darstellung von 14 Quellen aus dem In- und Ausland, unter anderem wurden hierbei etwa auch die Memoiren des Qiu Niantai, Zhu Jiahua und Han Shiyuan vorgestellt. Die Ausgabe fiel jedoch der staatlichen Zensur zum Opfer. Li Xiaofo 1985: 44-50. 776 Siehe Huang Jiayu 1986: 11-15. 777 In zahlreichen Artikeln von Dangwai-Zeitschriften wird der Einfluss von Büchern über den 228-Aufstand, die in Taiwan zu diesem Zeitpunkt verboten waren, auch deutlich spürbar. In einem Beitrag der Zeitschrift Shengeng aus dem Jahr 1985 wurden ganze Passagen fast wortgetreu von Lin Mushun übernommen. Siehe Bing Gu 1984: 28-40.
Ergebnisse im Kontext dieser Arbeit
273
KMT-Regime immer schwieriger, den Informationsfluss von und nach Taiwan zu kontrollieren. Li Xiaofeng berichtete zu dem Thema der verbotenen Bücher: Das Buch „Formosa Betrayed“ war verboten, aber ich habe heimlich [Bekannte] gebeten, es für mich zu kopieren. So konnte ich es trotzdem lesen […] Verbotene Bücher lasen wir umso lieber. So wie heute [in der VRCh] unter der KPCh: verbotene Sachen liest man am liebsten. […] Das war zu dieser Zeit schon nicht mehr so gefährlich. Die Zeitschrift konnte verboten werden, aber man wurde nicht mehr verhaftet, wie in den 50er Jahren.778
d.
Interviews mit Augenzeugen
In den Dangwai-Zeitschriften der 80er Jahre wurde damit begonnen, Berichte von Augenzeugen des Aufstandes zu sammeln und zu publizieren. Dieser Forschungsansatz der „mündlichen Geschichte“ war für die 228-Forschung bis in jüngste Zeit von großer Bedeutung. Die ausführlichste Interviewreihe dieser Periode findet sich in einem Beitrag der Zeitschrift Qianjin aus dem Jahr 1984. Hier wurden insgesamt dreizehn Zeitzeugen aller Altersstufen zu ihren Erinnerungen an den Aufstand befragt. Anhand dieses Beitrags wurde deutlich, vor welchen Schwierigkeiten die Auswertung von Augenzeugenberichten stand. Zum einen war eine gewisse Reserviertheit der Interviewpartner zu spüren. Die meisten Befragten779 zogen es vor, anonym zu bleiben und äußerten sich nur sehr vorsichtig zu sensiblen Fragen. So meinte ein „Herr Zhang“,780 der die Kämpfe im Süden Taiwans als aktiver Kombattant miterlebt hatte: Über den Gefechtsverlauf der „27. Truppe“ [mit den Regierungstruppen, vgl. 3.4.2.] weiß ich natürlich Bescheid, aber jetzt ist noch nicht die Zeit gekommen, darüber zu sprechen. Vielleicht können wir später einmal darüber reden.781
Zudem wurde in den Interviews deutlich, dass jeder Augenzeuge jeweils nur einen kleinen Bereich überblicken konnte. Viele der Befragten erzählten etwa von Freunden und Verwandten, die im Aufstand umgekommen waren, oder von Massenexekutionen, die sie selbst beobachtet hatten. Wenngleich die Befragung von Zeitzeugen sicher eine verdienstvolle und wichtige Tätigkeit darstellte, fiel es doch schwer, aus den einzelnen Beobachtungen ein Gesamtbild des Geschehens zu erhalten. Ein Zeitzeuge des 228-Aufstandes, dem in der späteren Dangwai-Periode besondere Aufmerksamkeit gewidmet wurde, war der taiwanesische Schriftsteller und politische Aktivist Yang Kui. Yang hatte sich bereits unter der japanischen Kolonialregierung in der Arbeiter- und Bauernbewegung engagiert und hatte für diese politischen Aktivitäten zwölf 778
Interview mit Li Xiaofeng am 23.3.04. Die einzige Ausnahme hiervon bildete Herr Huang Ying, der zur Zeit des Aufstandes als Reporter in Jiayi arbeitete und später das Amt eines Konsultativrates der Stadt ausübte. Es ist jedoch sicher kein Zufall, dass der Bericht des Herrn Huang sehr allgemein gehalten war. Er habe die meiste Zeit des Aufstandes im Krankenhaus verbracht: „Ich hatte zu dieser Zeit hohes Fieber, eine Lungenentzündung. […] zu dieser Zeit war auch meine Frau hochschwanger. Ich bin daher mit ihr zusammen ins Kreiskrankenhaus gegangen. Zehn Tage lang habe ich keinen Fuß vor die Tür gesetzt. Daher weiß ich auch nicht, was in der Stadt vor sich ging.“ Huang Jiaguang/ Wang Shuishui 1984: 14. 780 Die Befragten wurden jeweils nur mit ihrem Familiennamen und ihrem Beruf bezeichnet. Im Gegensatz zu westlichen Sprachen sind chinesische Familiennamen jeweils weit verbreitet, eine genaue Identifizierung ist daher nur über den Vornamen einer Person möglich. 781 Huang Jiaguang/Wang Shuishui 1984: 18. 779
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Die Dangwai-Bewegung nach dem Meilidao-Vorfall
Gefängnisstrafen verbüßt. Zur Zeit des 228-Aufstandes arbeitete er als Redakteur der Zeitschrift Taiwan wenxue782 in Taizhong. Wenngleich er an den Ausschreitungen nicht direkt beteiligt war, wurde er im April 1947 zunächst für drei Monate inhaftiert. Der 228Aufstand hatte einen tiefen Eindruck auf Yang hinterlassen, was ihn schließlich gegen Ende des Jahres 1948 dazu veranlasste, eine „Friedenserklärung“ 783 an seine Landsleute zu verfassen. Auf Grund dieser Friedenserklärung wurde Yang Kui im Frühjahr 1950 zu zwölf Jahren Haft verurteilt. In seinen späten Jahren äußerte sich Yang Kui zu seiner Inhaftierung: Die Anklage lautete auf „Propaganda für Aufständische“. Diesen Punkt kann ich bis heute nicht begreifen. Zu jener Zeit gab es jeden Tag Konflikte zwischen Taiwanesen und Festländern, wenn auch ohne Gewalt, ohne Gewehre, aber man bekämpfte sich jeden Tag. Meine „Friedenserklärung“ besagte nur, dass das nicht gut sei […] Ich habe mich mein ganzes Leben lang als Kulturschaffender betätigt, ich besitze nichts als meine Feder. Wenn man nicht einmal mit der Feder kommunizieren kann, dann ist es leider noch ein weiter Weg zu Freiheit und Demokratie.784
Wenngleich das Schicksal Yang Kuis also nicht direkt mit den Ereignissen des 228Aufstandes in Verbindung stand, wurde er von Seiten der Opposition als ein aufrechter Streiter für Demokratie und Verständigung zwischen den Volksgruppen gewürdigt, der es als erster gewagt hatte, an die Wunde des 228-Aufstandes zu rühren.
8.4.3.2 Der 228-Aufstand im Spannungsfeld von akademischen und politischen Interessen Im Zuge des neu erwachten Interesses am 228-Aufstand taten sich auf Taiwan zu Beginn der 80er Jahre zahlreiche regimekritische und meist junge Historiker wie Wang Xiaobo, Li Ao und Li Xiaofeng mit eigenen Forschungen zu diesem Thema hervor. Li Ao begann bereits zu Beginn der 80er Jahre mit einer systematischen Suche nach unveröffentlichten Materialien zum 228-Aufstand. Seine Quellensammlung, in dieser frühen Periode sicherlich die umfangreichste ihrer Art, konnte indes erst im Jahr 1989 in drei Bänden erscheinen.785 Li Xiaofeng, der in den 80er Jahren für die Zeitschrift Bashi niandai arbeitete, verfasste im Jahr 1985 mit seiner Magisterarbeit „Die Volksvertreter der frühen Nachkriegsperiode auf Taiwan“786 die erste akademische Arbeit auf Taiwan, die den 228Aufstand streifte. Die Dangwai-Zeitschriften konnten von diesen neuen Forschungsergebnissen profitieren und versuchten ihrerseits, das Forschungsinteresse am 228-Aufstand zu bestärken. An die KMT erging der Appell, das Schweigen um den 228-Aufstand zu 782
Taiwan wenxue ਠ⚓᮷ᆨ. Die Zeitschrift stand mit der gleichnamigen Publikation des Wu Zhuoliu (s.o.) in keinem Zusammenhang. 783 Heping Xuanyan ઼ᒣᇓ䀰. Yang Kui fertigte von seiner „Friedenserklärung“ ursprünglich 30 Kopien an, die er an verschiedene prominente Gelehrte auf Taiwan verschickte. Kurz vor seiner Verhaftung versteckte Yang Kui das Original der „Friedenserklärung“ unter einem Bambusstrauch, nach seiner Entlassung konnte er das Versteck jedoch nicht mehr finden. Der genaue Inhalt der „Friedenserklärung“ ist daher nicht überliefert. Die Zeitung Da gongbao in Shanghai veröffentlichte eine redigierte Version der „Friedenserklärung“, dieser Artikel führte schließlich zur Verhaftung Yang Kuis. Siehe Yang Zujun 1984: 20f; Zhuang Yingcun 1985b: 34-37. 784 Li Shengfo 1982: 79. 785 Li Ao 1989. 786 Taiwan zhanhou chuqi de minyi daibiao ਠ⚓ᡠᖼࡍᵏⲴ≁ԓ㺘.
Ergebnisse im Kontext dieser Arbeit
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brechen und zu einer Erhellung der historischen Tatsachen beizutragen. Das Ringen um die historische Wahrheit sei nicht getragen von Rachegelüsten gegen die KMT. Ziel sei lediglich, den Opfern des Aufstandes historische Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und somit eine lange schwärende Wunde der Gesellschaft zu heilen. Aus den Berichten der oppositionellen Zeitschriften der 80er Jahre wird jedoch deutlich, dass eine objektive, auf historische Erkenntnis gerichtete wissenschaftliche Aufarbeitung des Aufstandes zu diesem Zeitpunkt nicht möglich war. Das historische Erkenntnisinteresse wurde oftmals von dem politisch motivierten Anliegen überlagert, die historische Schuld der KMT anzuprangern. Die Angriffe der verschiedenen Fraktionen der Opposition auf die KMT unterschieden sich dabei in ihrer Heftigkeit, wobei die Bashi niandai als Presseorgan des moderaten Flügels der Dangwai tendenziell mehr Zurückhaltung übte, während die Shengeng als Repräsentant des radikalen Flügels deutlich schärfere Töne anschlug. Zugleich lässt sich im Zeitraum von 1981 bis 1986 eine mit jedem Jahr zunehmende Verschärfung der Auseinandersetzung feststellen – ein Indiz dafür, dass die Tabuisierung des 228-Aufstandes zunehmend unterminiert wurde. Allgemein waren die Berichte über den 228-Aufstand durch folgende Charakteristika geprägt: a.
Die Opfer des 228-Aufstandes
Die erste Konfliktlinie zwischen Opposition und Regierung zeigte sich schon bei der begrifflichen Definition. Aus Sicht der Regierung wurde mit „228-Aufstand“ die Phase zwischen dem auslösenden „Zigarettenvorfall“ am 27.2.47 und dem Eintreffen der Armee am 8.3.47 bezeichnet. Opfer des Aufstandes waren also die Festländer auf Taiwan, die in den ersten Tagen der Unruhen von ihren taiwanesischen Landsleuten misshandelt worden waren. Die blutige Niederschlagung des Aufstandes in der Zeit nach dem 8.3. wurde hingegen nicht thematisiert. Aus Sicht der Opposition war das Verhältnis gerade umgekehrt: Schwerpunkt des Aufstandes waren die Massaker an der taiwanesischen Bevölkerung, die nach dem 8.3. einsetzten. Besonders umstritten war hierbei die Frage, wie viele Menschen im Aufstand ums Leben gekommen waren. Die Frage nach der Anzahl der Todesopfer bleibt bis heute ungeklärt, es ist daher nicht verwunderlich, dass die frühe 228-Forschung nur zu ungesicherten Schätzungen gelangen konnte. Für das Anliegen einer Anklage gegen die KMT war es aus offensichtlichen Gründen vorteilhaft, die Anzahl der Opfer eher hoch zu bemessen. Tatsächlich waren die Zahlen, die von den Dangwai-Zeitschriften behauptet wurden, meist an der oberen Grenze dessen, was anhand heutiger Erkenntnisse als glaubhaft gelten kann. Ein Bericht der Bashi niandai nannte 20.000 getötete Taiwanesen als „konservative Schätzung“,787 während die Zeitschrift Shengeng vermeldete: Angeblich wurden alleine in Taipei mehr als 10.000 Menschen offen oder heimlich ermordet. Taipei hatte damals nur eine Bevölkerung von 300.000. Mit anderen Worten: Einer von 30 Einwohnern oder ein Mensch aus je sechs Familien wurde getötet.788
787 788
Huang Jiayu 1986: 15. o.A. 1985a: 39.
276 b.
Die Dangwai-Bewegung nach dem Meilidao-Vorfall Die Schuldigen des 228-Aufstandes – Chen Yi und Peng Mengqi
In der Frage der Schuldzuweisung lässt sich in einem Punkt ein hohes Maß an Übereinstimmung zwischen der Opposition und dem Regime feststellen: Von beiden Seiten wurde Gouverneur Chen Yi ein hohes Maß an Mitschuld zugewiesen. Die Aburteilung Chen Yis durch die KMT-Regierung im Jahre 1950 wurde von der Opposition jedoch keinesfalls begrüßt, sondern als verzweifelter Versuch der KMT gewertet, durch das „Bauernopfer“ Chen Yi der politischen Verantwortung für den Vorfall zu entgehen. Die Verurteilung Chen Yis und dessen Exekution im Jahre 1950 habe in keinem Zusammenhang mit den Vorfällen von 1947 gestanden: Nachdem auf Taiwan eine reguläre Provinzverwaltung eingeführt wurde, wechselte Chen Yi auf den Posten des Gouverneurs von Zhejiang, über dem ganzen Vorfall sollte sich damit der Vorhang senken. Aber die Regierung hat sich gegenüber dem Volk niemals ehrlich verantwortet, die Beamten, die ihre Pflicht versäumt hatten, wurden auch nie bestraft. Obwohl Chen Yi drei Jahre später […] exekutiert wurde, lautete die Anklage auf Verrat und Überlaufen zu den Kommunisten. Wie kann man durch Verschleierung der Tatsachen, Beschützen von korrupten Beamten und Abschieben von Verantwortung den mehr als 10.000 unschuldig getöteten Taiwanesen gerecht werden?789
Ein weiterer Hauptschuldiger des Aufstandes, der zu diesem Zeitpunkt in Taipei lebte, war General Peng Mengqi, der durch sein militärisches Vorgehen gegen die Bevölkerung Gaoxiongs am 6.3.1947 den Ruf des „Schlächters von Gaoxiong“ erhalten hatte (vgl. 3.4.1.). In den Berichten der Dangwai-Zeitschriften fanden die Massaker in Gaoxiong jedoch nahezu keine Erwähnung 790 – ein Grund hierfür mag gewesen sein, dass man rechtliche Schritte von Peng Mengqi fürchtete. Mit einer gewissen Genugtuung berichtete jedoch die Zeitschrift Bashi niandai im März 1983, dass Peng Mengqi zum Jahrestag des 228-Aufstandes von anonymer Seite belästigt worden sei. Am 28.2.83 wurde das Anwesen von Peng Mengqi mit roten Schriftzügen beschmiert, am Nachmittag desselben Tages wurde an fünf Orten in Taipei Flugblätter von Hochhäusern aus in die Menge geworfen, die Peng als Verbrecher schmähten und einen Lageplan zu seinem Haus enthielten. 791 Im Juni des Jahres wurden sechs Studenten als Urheber der Vorfälle festgenommen, Peng Mengqi verzichtete jedoch auf eine Anklage, die Studenten wurden lediglich von ihrer Universität verwarnt.792 Derlei Vorfälle, die sich angeblich in den vorangegangenen Jahren in ähnlicher Form schon mehrmals ereignet hätten, seien als Hinweis darauf zu deuten, dass die Verbrechen des Peng Mengqi in der Bevölkerung noch nicht in Vergessenheit geraten seien. c.
Der 228-Aufstand als Ursprung der Oppositionsbewegung
Die Hauptschuld am 228-Aufstand wurde dem KMT-Regime angelastet. Mit dem blutigen Massaker an der taiwanesischen Bevölkerung habe die KMT das Ziel verfolgt, die 789
o.A. 1986c: 17. Die einzige Ausnahme hiervon bildete die 228-Berichterstattung der Zeitschrift Shengeng aus dem Jahr 1985, in der das „blindwütige Morden“ der Truppen unter General Peng aufs Heftigste verurteilt wurde. Vgl. o.A. 1985a: 28-40. Im folgenden Jahr verzichtete dieselbe Zeitschrift jedoch auf eine Darstellung der Vorfälle in Gaoxiong. Vgl. o.A. 1986e: 16ff. 791 o.A. 1983c: 8. 792 o.A. 1984a: 22f. 790
Ergebnisse im Kontext dieser Arbeit
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politische Opposition auf Taiwan zu beseitigen und ihre autoritäre Herrschaft zu festigen. Unter diesem Aspekt habe der 228-Aufstand die politischen Machtverhältnisse der Insel bis in die Gegenwart der 80er Jahre geprägt. Die Opposition sah sich daher einem historischen Erbe des Kampfes gegen die autoritäre Herrschaft des KMT-Regimes verpflichtet, das trotz aller objektiv unterschiedlichen Ausprägungen über den Meilidao-Vorfall von 1979, die Reformbemühungen der Free China 1960 bis in die Zeiten des „Weißen Terrors“ und letztlich den 228-Aufstand zurückreichte. Oftmals wurde dies in dem Bild des „Weihrauchs der Demokratie“793 ausgedrückt, der über Jahrzehnte trotz aller Unterdrückung nie verloschen sei. Die historische Verwandtschaft der Dangwai-Bewegung zu den Ereignissen des Jahres 1947 wurde also kaum in konkreten Inhalten gesucht; die politischen Rahmenbedingungen des Jahres 1947 unterschieden sich allzu offensichtlich von der Lebenswirklichkeit der 80er Jahre. Während Taiwan im Jahr 1947 etwa unter der ökonomischen Ausbeutung durch die Zentralregierung auf dem Festland, den Folgen des andauernden Bürgerkrieges und der ungelösten Frage der Repatriierung von Japanern auf Taiwan gelitten hatte, war die Oppositionsbewegung der 80er Jahre mit den Folgen des Kriegsrechtes (das erst ein Jahr nach dem 228-Aufstand ausgerufen wurde) und der Unterdrückung der Meinungsfreiheit (während zur Zeit des 228-Aufstandes ein erstaunlich hohes Maß an Pressefreiheit herrschte) konfrontiert. Es bestanden also nur wenige Berührungspunkte, um direkt an die politischen Forderungen der 228-Aktivisten anzuknüpfen. Die ungebrochene historische Linie ergab sich vielmehr indirekt im unveränderten Gegner KMT, der im 228-Aufstand erstmals seine Grausamkeit offenbart habe. Durch die blutigen Massaker sei eine ganze Generation von Taiwanesen traumatisiert worden und habe sich aus der Politik zurückgezogen, die KMT habe für die folgenden Jahrzehnte effektiv jeden politischen Widerstand zum Verstummen gebracht. „Es lässt sich leicht erkennen, dass die KMT seit mehr als 30 Jahren eine Kolonialherrschaft ausübt, die sich ihrem Wesen nach nicht verändert hat.“794 In diesem Kontext wurde auch der „Zweite 228-Vorfall“ von 1980 gefasst (vgl. 7.3.6.). Die Morde an der Familie des Lin Yixiong wurden zwar nicht direkt dem KMTRegime zur Last gelegt – wenngleich gelegentlich entsprechende Andeutungen gemacht wurden, gab es (und gibt es bis heute) keine eindeutigen Beweise, die auf eine direkte Täterschaft des Regimes deuteten. Allerdings wurde die Unfähigkeit der Polizeibehörden kritisiert, die sich trotz vollmundiger Versprechen als unfähig erwiesen hätten, den Mordfall aufzuklären. Der 28. Februar sei damit erneut mit einer ungesühnten Bluttat belastet worden.795: d.
Der 228-Aufstand als Ursprung der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung
Die Frage, ob der 228-Aufstand als erster Ausdruck einer taiwanesischen Unabhängigkeitsbestrebung zu betrachten sei, wurde von den Autoren der Dangwai-Zeitschriften durchgehend verneint. In den Monaten nach Ende des Zweiten Weltkrieges seien die Taiwanesen vom chinesischen „Vaterland“ zwar bitter enttäuscht worden, und die große Welle der patriotischen Begeisterung sei schon nach wenigen Wochen in Desillusionierung und Verzweiflung über die unfähige und korrupte Provinzverwaltung umgeschlagen. Im 228Aufstand hätten die Forderungen der Schlichtungskommission jedoch nur darauf gezielt, 793
Minzhu de xianghuo ≁ѫⲴ俉⚛, siehe z.B. o.A. 1982a: 9-39 o.A. 1986b: 25. 795 Siehe z.B. o.A. 1985a: 28. 794
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Die Dangwai-Bewegung nach dem Meilidao-Vorfall
die Machtfülle des Provinzgouverneurs Chen Yi zu beschneiden und eine normale Provinzregierung mit dem verfassungsrechtlich garantierten Spielraum an lokaler Selbstverwaltung zu errichten. Nach der Abberufung Chen Yis seien diese Forderungen schließlich im Mai 1947 erfüllt worden: Leider kamen diese Anordnungen […] etwas zu spät. Wenn man [die Einrichtung einer normalen Provinzverwaltung] bereits im September 1945 beschlossen hätte, dann gäbe es „zwingende Gründe“ zu der Vermutung, dass eine Chance bestanden hätte, die große Katastrophe nach dem 27.2.1947 zu vermeiden oder abzumildern.796
Die Interpretation des 228-Aufstandes als eine auf staatliche Unabhängigkeit gerichtete Abwehr eines chinesischen Fremdregimes, die in der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung im Ausland eine große Rolle spielte, kam in der späteren Dangwai-Periode also nicht zum Tragen. Nach Ansicht des Autors gab es hierfür zwei Gründe: Zum einen war der Wunsch nach staatlicher Unabhängigkeit zu Mitte der 80er Jahre in Teilen der Opposition zwar durchaus präsent, er stand jedoch hinter der vordringlichen Aufgabe des Kampfes gegen das KMT-Regime zurück. Entsprechend wurde der 228-Aufstand in erster Linie als Waffe im politischen Kampf gegen das Regime genutzt, das zum Eingeständnis der historischen Schuld gezwungen werden sollte. Zum andern hätte eine Interpretation des 228Aufstandes als gescheiterter Versuch eines taiwanesischen Unabhängigkeitskampfes tendenziell dem historischen Bild der KMT entsprochen, das es doch gerade zu widerlegen galt. Im Zentrum stand das Bemühen der Opposition, die „Unschuld“ der taiwanesischen Bevölkerung und die „Schuld“ des KMT-Regimes am 228-Aufstand zu belegen. Eine Überbetonung des Faktors der taiwanesischen Unabhängigkeitsbestrebung hätte hierbei als eine Rechtfertigung für die Niederschlagung des Aufstandes missverstanden werden können. e.
Der 228-Aufstand als Auslöser der latenten Feindschaft zwischen den Volksgruppen
In der frühen Unabhängigkeitsbewegung in Japan wurde der 228-Aufstand vor allem als Massaker des Fremdregimes der Festlandschinesen an der einheimischen taiwanesischen Bevölkerung betrachtet, der Ruf nach Rache wurde zu einem wichtigen Faktor bei der Entstehung des frühen taiwanesischen Nationalismus (Vgl. 4.3.2.1.). In der Dangwai-Periode wurde diese Interpretation durchweg zurückgewiesen. Es wurde zwar betont, dass der 228Aufstand zum Misstrauen zwischen den Volksgruppen beigetragen habe, dieser Umstand wurde jedoch bedauert. Das Gedenken an den Aufstand solle nicht dazu beitragen, den Hass gegen Festländer zu schüren. Es wurde im Gegenteil stets betont, dass nur eine historische Aufarbeitung dieses unbewältigten Traumas zu einer echten Verständigung zwischen den Volksgruppen führen könne. Wang Xiaobo, selbst ein Festländer, schrieb hierzu in einem Artikel der Zeitschrift Qianjin/Progress: Wenn man die kollektive Frustration der taiwanesischen Mitbürger lösen will, wenn man die „Urschuld“ der Festländer beseitigen will, dann muss man zuerst das historische Problem des „228-Vorfalles“ lösen, denn an ihm liegt es, dass die „Herkunftskonflikte“ auf Taiwan zu „Konflikten zwischen Feinden“ werden konnten. […] Wenn man den 228-Aufstand nicht löst, 796
Gan Huailu 1983: 27.
Ergebnisse im Kontext dieser Arbeit
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dann wird er eines Tages zur „inneren Wunde“ des nationalen Zusammenhaltes werden […] [und die KMT] wird sich in Zukunft nur schwer vor der Geschichte verantworten können und auch nur schwer dem Vorwurf entgehen, die nationale Einheit zerstört zu haben. Sie wird zum Verbrecher des tragischen Bruderkonfliktes zwischen den [gebürtigen] Taiwanesen und ihren Brüdern aus dem Festland.797
Es ist jedoch zu konstatieren, dass das Hauptaugenmerk der Opposition den Leiden der gebürtigen Taiwanesen im 228-Aufstand galt. Die Opfer unter den Festländern, die es ebenfalls zweifellos gegeben hatte, wurden weitgehend verschwiegen. Verglichen mit den offiziellen Stellungnahmen des Regimes zeichnete sich also eine Parallele der Betrachtungsweisen ab – mit dem Unterschied, dass Opposition und Regierung jeweils die Perspektive verschiedener Bevölkerungsgruppen (gebürtige Taiwanesen bzw. Festländer) einnahmen. In beiden Fällen wurden zwar die Angehörigen der jeweils anderen Gruppe nicht kollektiv in die Verantwortung für die Verbrechen an der eigenen Gruppe genommen – nur ein kleiner Teil habe sich jeweils schuldig gemacht, während der überwiegende Teil der Fremdgruppe selbst zum Opfer der Ausschreitungen wurde. Andererseits wurde die Perspektive fast ausschließlich auf die Opfer der eigenen Gruppe reduziert. Die Opfer unter der jeweils anderen Gruppe (für das Regime die getöteten Taiwanesen nach dem 8.3., für die Opposition die getöteten Festländer zwischen dem 28.2.und 8.3.) wurden hingegen ignoriert.
8.4.3.3 Der 228-Aufstand als gezielte Tabuverletzung Seit Beginn der 80er Jahre wurden die Berichte der Dangwai-Zeitschriften über den 228Aufstand mit jedem Jahr umfangreicher und in ihrem Ton schärfer. Die erste Erwähnung des 228-Aufstandes findet sich im November 1981 in einem Artikel der Zeitschrift Bashi niandai, der die politische Oppositionsbewegung aus historischer Perspektive betrachtete. Das Tabu, das den 228-Aufstand umgab, war zu diesem Zeitpunkt noch deutlich zu spüren. Der Aufstand fand nur an zwei kurzen Stellen Erwähnung, in beiden Fällen wurde er mit dem Euphemismus „der unglückliche Zwischenfall“798 bezeichnet. In den darauf folgenden Jahren wurde diese Zurückhaltung jedoch restlos aufgegeben. Seit 1982 berichteten sämtliche große Dangwai-Zeitschriften in jedem Jahr um den 28. Februar in großer Aufmachung (zumeist in der Titelgeschichte) über die Ereignisse des Jahres 1947. Gegenüber anderen Themen, die an staatliche Verbote rührten – wie etwa Berichte über die Foltermethoden der taiwanesischen Polizeibehörden oder die „dunkle Geschichte“ der KMT – hatte der 228Aufstand den großen Vorteil, dass er durch ein klares Datum gekennzeichnet war 799 und somit einen hohen Wiedererkennungswert besaß. Für die Dangwai-Zeitschriften wurde der 228-Aufstand daher zu einer Art Messlatte des journalistischen Mutes. Jede Zeitschrift musste der Erwartungshaltung ihrer Leserschaft Rechnung tragen, die alljährliche Berichterstattung zum Jahrestag des Aufstandes wurde gewissermaßen als Ausweis der standhaften 797
Wang Xiaobo 1984: 58. Buxing shijian нᒨһԦ, siehe Huang Yuxiong 1981: 13-15. 799 Die überwiegende Mehrzahl der Berichte fand sich natürlich zum Jahrestag des Aufstandes um den 28. Februar jedes Jahres. Der 228-Aufstand kam gelegentlich auch in anderen Kontexten zur Sprache, wie etwa anlässlich des Nationalfeiertages zur Gründung der ROC (10. November) oder der Rückkehr Taiwans an China nach dem Zweiten Weltkrieg (Guangfujie ݹᗙㇰ am 25. November). 798
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oppositionellen Gesinnung betrachtet. Zwischen den verschiedenen Zeitschriften entspann sich geradezu ein Wettbewerb, die „Konkurrenz“ durch besonders kritische und beherzte Berichte zu überflügeln. Diese Berichterstattung über den 228-Aufstand hatte indes ihren Preis: Nach Recherchen des Autors wurden nahezu sämtliche Berichte der Dangwai-Zeitschriften über den 228-Aufstand in den Jahren 1981 bis 1986 mit Verboten der Zensurbehörden belegt.800 Die Dangwai-Zeitschriften machten sich über die Folgen ihrer 228-Berichterstattung auch keinerlei Illusionen. Die Verbote des Regimes konnten jedoch ihrerseits als Anlass zur Kritik an den strengen Zensurbestimmungen des Regimes dienen. So berichtete die Zeitschrift Qianjin am 10. März 1984 über das Verbot der vorangegangenen Ausgabe: [In der vorangegangenen Ausgabe] unternahm [wir] eine Anstrengung, von der wir wussten, dass sie scheitern würde, und veröffentlichten die Titelgeschichte „Aus dem Schatten des 228 heraustreten“. Wir hatten uns vorbereitet und warteten auf die Anordnung zur Konfiszierung, gleichzeitig trugen wir in unserem Herzen ein kleines Fünkchen Hoffnung, dass wir dem Unheil glücklich entrinnen könnten. Aber natürlich: Unter der despotischen Gewalt der Machthaber gibt es kein glückliches Entrinnen, und die Zeitschrift musste die schwersten Verluste seit fast 50 Ausgaben hinnehmen. Fast 20.000 Hefte […] wurden geraubt [d.h. konfisziert].801
Es konnte gelegentlich vorkommen, dass insbesondere kleinere oppositionelle Zeitschriften durch derartige Konfiszierungen und Verbote in den Ruin getrieben wurden. 802 Für die auflagenstarken Zeitschriften der Dangwai waren die finanziellen Verluste jedoch in der Regel zu verkraften. Trotz der Konfiszierung einzelner Ausgaben konnte gewöhnlich ein Teil der Hefte in den Handel gelangen, einem Verbot der gesamten Zeitschrift war fast immer durch die Bereitstellung einer „Nachfolgezeitschrift“ vorgebeugt worden (vgl. 8.1.1.). Für die späte Dangwai-Bewegung wurde der 228-Aufstand somit zu einer wichtigen Waffe im Kampf um eine Ausweitung der Redefreiheit. Mit dem Mittel der gezielten Tabuverletzung wurden sowohl die taiwanesische Öffentlichkeit als auch die staatlichen Zensurbehörden gezwungen, die Grenze der politischen Sensibilität allmählich abzusenken. Prof. Li Xiaofeng, der in den 80er Jahren mehrere Beiträge zum 228-Aufstand für die Zeitschrift Bashi niandai verfasste, äußerte gegenüber dem Autor: Natürlich, man wollte auch provozieren. Unter dem Kriegsrecht war es nicht erlaubt, dass man [über den 228-Aufstand] sprach. Daher wollte man die Autorität, das System herausfordern und die Redefreiheit erweitern. […] Schließlich haben sich die KMT und unsere Mitbürger daran gewöhnt, dass man sich traute, über Verbotenes zu reden.803
800
Es ließ sich jedoch nicht ermitteln, wie viele der Hefte trotz der Verbote in den Handel gelangten. Vgl. 8.1.1. o.A. 1984c: 4. Auch diese Ausgabe der Zeitschrift wurde indes von einem Verbot der Zensurbehörden betroffen. 802 So führten etwa im März 1984 Verbote gegen die Zeitschrift Taiwan niandai, die über den 228-Aufstand berichtet hatte, zur Einstellung des Magazins. Siehe o.A. 1984d: 42. 803 Interview mit Prof. Li Xiaofeng am 23.3.04. 801
9 Taiwan heute: Demokratisierung und postautoritäre Gesellschaft
Nach Gründung der DPP am 28.9.1986 und der Aufhebung des Kriegsrechtes am 14.7.1987 hatte sich die politische Landschaft Taiwans grundlegend gewandelt: Erstmals war eine tolerierte Oppositionspartei804 in Erscheinung getreten, das Herrschaftsmonopol der KMT war nach über 40 Jahren erloschen. Am 13.1.1988 verstarb Präsident Jiang Jingguo im Alter von 77 Jahren. Mit Li Denghui, der als amtierender Vizepräsident ins Amt nachrückte, stand erstmals ein gebürtiger Taiwanese an der Spitze der Staatsführung der ROC. Am 1.12.1989 nahm die DPP als registrierte Partei an Wahlen auf nationaler und lokaler Ebene teil und konnte beachtliche Erfolge erzielen. Dennoch war die Entwicklung hin zu einer demokratischen, pluralistischen Gesellschaft zunächst unvollständig geblieben. An Stelle des obsoleten Kriegsrechtes trat das „Gesetz zur Sicherheit des Staates“,805 das nach wie vor die Verfassung in vielen wichtigen Punkten einschränkte. Zudem waren die Delegierten des „Ewigen Parlamentes“, deren Mandat noch aus den Wahlen von 1947 stammte, nach wie vor in ihren Ämtern verblieben. Erst mit Beginn der 90er Jahre kam die Entfaltung eines liberalen und demokratischen Systems unter der Präsidentschaft des Li Denghui zur vollen Entfaltung. Der von Li verfolgte Reformkurs, der auf einer parteiübergreifenden „Konferenz über die Angelegenheiten des Staates“806 festgelegt wurde, führte am 30.4.1991 zur Abschaffung der „Bestimmungen zur Mobilisierung für die Niederwerfung des kommunistischen Aufstandes“. Damit war der Weg für eine komplette Neuwahl der nationalen Vertretungsorgane (Dezember 1991 der Nationalversammlung, Dezember 1992 des Legislativ-Yuan) geebnet. Seit den ersten direkten Präsidentschaftswahlen im Jahr 1996 wurde das gesamte politische Führungspersonal der ROC in allgemeinen Wahlen von der Bevölkerung Taiwans bestimmt. Im Zuge der demokratischen Reformen entstand auf Taiwan eine weit gefächerte Parteienlandschaft. 807 Bei diesen Parteigründungen kam es zu einigen befremdlichen Konstellationen, die für den Beobachter gelegentlich nur schwer nachvollziehbar sind. Am spektakulärsten ist sicher der politische Werdegang des Altpräsidenten Li Denghui: Nach 804
Nach ihrer Gründung war die DPP zunächst nicht offiziell registriert, für einige Monate existierte die Partei in einer Art rechtlichem Vakuum. Die Anerkennung der DPP als legitime Oppositionspartei erfolgte erst am 15.7.1987, als Präsident Jiang Jingguo das bis dahin gültige Verbot der Parteigründung aufhob. 805 Guo’an fa ഻ᆹ⌅ 806 Guoshi huiyi ഻һᴳ䆠. Zu dieser als historisch zu bezeichnenden Konferenz war auch an Peng Mingmin, der als führende Persönlichkeit der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung in den USA galt, eine persönliche Einladung des Präsidenten ergangen. Peng lehnte die Einladung jedoch ab – mit dem Hinweis, dass das Regime nach wie vor zahlreiche Unabhängigkeitsbefürworter inhaftiert halte. Eine Rolle mag auch gespielt haben, dass Peng die „Schwarze Liste“ der Regimegegner anführte. Zum Zeitpunkt der „Konferenz über die Angelegenheiten des Staates“ waren die reformerischen Kräfte unter Li Denghui noch keineswegs gefestigt; bei einer Rückkehr hätte Peng mit strafrechtlicher Verfolgung wegen Landesverrates rechnen müssen. Vgl. Chen Jiahong 1998: 194f. 807 Nach Angaben des Government Information Office waren im Juni 2005 insgesamt 110 Parteien registriert. Siehe http://www.gio.gov.tw/taiwan-website/5-gp/yearbook/p072.html#2
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Taiwan heute: Demokratisierung und postautoritäre Gesellschaft
der Niederlage der KMT bei den Präsidentschaftswahlen im Jahre 2000, als eine Spaltung der Partei den Wahlsieg des DPP-Kandidaten Chen Shuibian mit nur 39,3% der Stimmen ermöglichte, verließ Li Denghui die KMT schloss sich im August 2001 der Taiwan Solidarity Union (TSU) an, die sich stark für die taiwanesische Unabhängigkeit engagiert. Die Frage der nationalen Unabhängigkeit ist heute zu einem Thema der taiwanesischen Politik geworden, das ohne alle Tabus debattiert wird. Mit einigem Recht lässt sich behaupten, dass die Frage der zukünftigen Beziehung Taiwans zum Festland das beherrschende Thema der taiwanesischen Politik überhaupt darstellt. Die für westliche Demokratien häufig verwendete Architektur der Parteienlandschaft, die zwischen einem konservativen „rechten“ und einem progressiven „linken“ Lager unterscheidet, lässt sich im Falle Taiwans eher mit einer Unterteilung in Unabhängigkeitsbefürworter und Vertreter einer (wie auch immer zu gestaltenden) zukünftigen Wiedervereinigung mit dem Festland beschreiben: Auf Seiten der Unabhängigkeitsbefürworter finden sich die DPP, die Taiwan Solidarity Union (TSU) und die radikale Splitterpartei Taiwan Independence Party (TIP). Dieses Lager wird, mit Bezugnahme auf die Parteifarbe der DPP, gemeinhin als „grünes Lager“ bezeichnet. Demgegenüber findet sich das politische Lager der Unabhängigkeitsgegner, bestehend aus KMT, der People First Party (PFP) und der Neuen Partei (NP), das als „blaues Lager“ tituliert wird.
9.1 Die Unabhängigkeitsbewegung auf Taiwan Zu Beginn der demokratischen Reformen blieb das Tabu der taiwanesischen Unabhängigkeit gemäß des Strafparagraphen 100 zunächst in Kraft. Trotz dieses Verbotes zeigten sich Teile der Opposition bereits seit 1987 entschlossen, eine öffentliche Debatte in dieser Frage zu erzwingen. In der ersten Phase war dieses Ringen insbesondere getragen von der Zeitschrift Ziyou shidai – eine der wenigen oppositionellen Zeitschriften der Dangwai-Periode, die nach 1986 weiterhin erschien – und ihrem Herausgeber Zheng Nanrong. Der Kampf um eine umfassende Redefreiheit gipfelte schließlich in dem Taidu-Vorfall von 1987/88 und dem Zheng Nanrong-Vorfall von 1989. Für das Regime stellte die öffentliche Debatte um die taiwanesische Unabhängigkeit eine Provokation dar. Zu Ende der 80er Jahre wurde von Seiten der Machthaber ein letztes Mal der Versuch unternommen, der wachsenden Unabhängigkeitsbewegung durch Repressionsmaßnahmen zu begegnen und die seit 40 Jahren andauernde Tabuisierung der staatlichen Unabhängigkeit zu perpetuieren. Eine Rückkehr zu der staatlichen Gewalt des „Weißen Terrors“ war jedoch unter den veränderten politischen Rahmenbedingungen nicht mehr möglich. Seit dem Jahr 1989 zeichnete sich immer deutlicher ab, dass dem Regime keine Alternative zur Tolerierung der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung als neuem Faktor der politischen Realität zur Verfügung stand – ein Schritt, der schließlich am 15.5.1992 durch die Abschaffung des Strafparagraphen 100 vollzogen wurde. Innerhalb der DPP führte die zunehmend erstarkende Unabhängigkeitsbewegung zu einer parteiinterne Krise, welche die Partei schließlich an den Rand der Spaltung führte. Die Partei selbst war in der Frage der taiwanesischen Unabhängigkeit in zwei Fraktionen gespalten, und die internen Konflikte traten im Lauf des Jahres 1988 immer deutlicher zu Tage. Auf mehreren Parteitagen unternahm die DPP den Versuch, einen tragfähigen Konsens in dieser Frage zu finden; im Jahr 1991 mündeten diese Bemühungen schließlich in
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der Neufassung des Parteistatutes und einer weitgehenden Verschmelzung der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung mit der DPP. In der zweiten Hälfte der 90er Jahre wurde dieses klare Bekenntnis der DPP zur taiwanesischen Unabhängigkeit jedoch erneut revidiert: Durch die „Zwei-Staaten Theorie“ des Li Denghui im September 1999 wurde ein theoretischer Rahmen vorgegeben, der den moderaten Unabhängigkeitsbefürwortern eine Eroberung der ROC von Innen erlaubte. Wie im Folgenden näher erläutert wird, vertritt die DPP als Folge dieser Neuorientierung heute die Strategie eines „Defensiven Referendums“, das ein Festhalten am Status Quo ermöglicht.
9.1.1 Beginn der Unabhängigkeitsbewegung auf Taiwan Zheng Nanrong, seit 1984 Herausgeber der Zeitschriftenreihe Ziyou shidai, hatte sich bereits in den Jahren der Dangwai-Bewegung als einer der schärfsten Kritiker des Regimes profiliert. Die Ziyou shidai, die sich dem Prinzip der „100%igen Redefreiheit“ verschrieben hatte, befand sich in beständigem Konflikt mit den staatlichen Zensurbehörden. In den 5½ Jahren ihres Bestehens wurde der Zeitschriftenreihe 47mal die Lizenz entzogen – ein in der Geschichte des Pressewesens wohl einmaliger Vorgang (vgl. 8.1.1.). Am 25.4.1987 durchbrach die Zeitschrift ein bis dahin streng befolgtes politisches Tabu: In einem als historisch zu bezeichnenden Leitartikel sprach sich Zheng Nanrong erstmals offen für die taiwanesische Unabhängigkeit aus. In dem Leitartikel „Ich bin für die Unabhängigkeit Taiwans!“ bezeichnete Zheng Nanrong, selbst ein Festländer der zweiten Generation, 808 die Legalisierung des Eintretens für die staatliche Unabhängigkeit als notwendige Voraussetzung für eine echte Demokratisierung Taiwans und zugleich als einziges Mittel, die inneren Spannungen der Gesellschaft zu überwinden. Nur über eine umfassende und offene Debatte könne es gelingen, die autoritäre Herrschaft der KMT endgültig zu beenden und auf Taiwan eine „Schweiz des Ostens“ 809 zu errichten. Der Artikel wurde auf Taiwan als Sensation empfunden: Zum ersten Mal seit über 40 Jahren wurde öffentlich ein Plädoyer für die taiwanesische Unabhängigkeit gehalten. In den folgenden Monaten ließ die Zeitschrift in fast jeder Ausgabe einen Artikel folgen, der in mehr oder weniger offener Form für die Idee eines unabhängigen Taiwans eintrat. Wenige Monate später wurde dieser Ruf nach staatlicher Unabhängigkeit erstmals von einer organisierten Interessenvertretung aufgenommen. Am 30.8.1987 versammelten sich in Taipei mehr als 140 ehemalige politische Häftlinge, um die Gründung des „Vereinigten Freundschaftsverbundes der politischen Opfer Taiwans“810 zu vollziehen. Schon im Vorfeld hatte die Gründung dieser Vereinigung öffentliches Aufsehen erregt; es stand zu erwarten, 808
Der Vater von Zheng Nanrong stammte aus der Provinz Fujian, seine Mutter stammte aus Südtaiwan. Zheng Nanrong wurde im Jahr 1947 in Taipei geboren und hatte das Festland nie bereist. Die amtliche Registrierung des Heimatortes richtete sich jedoch nach der Herkunft des Vaters. Hu Huiling, eine enge Vertraute von Zheng und Mitarbeiterin der Zeitschrift, beschreibt, wie sich Zheng Nanrong kurz vor seinem Tod zu seiner Herkunft äußerte: „Im letzten Interview fragte ich Zheng Nanrong: […] ‚Nach allgemeinem Dafürhalten bist Du auch ein Festländer der zweiten Generation, wie stellt Du dich zu dieser Frage?’ Zheng Nanrong antwortete: ‚Mit drei, vier Jahren hatte ich solche Zweifel, ich wusste selber nicht, wo ich hingehörte. In Lebensstil und Sprachgewohnheit waren wir eine vollkommen taiwanisierte Familie, aber die ganze Gesellschaft betrachtete mich als Festländer’. Ich fragte noch einmal nach: ‚Und betrachtest du dich nun als Taiwanese oder als Festländer?’. Zheng Nanrong […] sah mich lange an und sagte dann mit sanfter Stimme: ‚Ich bin ein Festlands-Taiwanese’“ Hu Huiling 1989: 44. 809 Siehe Zheng Nanrong 1987: 1. 810 Taiwan zhengzhi shounanzhe lianyi zonghui ਠ⚓᭯⋫ਇ䴓㚟䃬㑭ᴳ
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dass die Hauptleidtragenden der politischen Unterdrückung einen besonders unversöhnlichen Standpunkt gegen das Regime beziehen würden. Die Erwartungen wurden jedoch übertroffen, als ein Antrag von Xu Caode zur Abstimmung gestellt wurde: Er unterbreitete den Vorschlag, im Grundsatzprogramm den Satz „Taiwan sollte unabhängig werden“ zu verankern. Der Antrag wurde von Cai Youquan, der den Vorsitz über die Versammlung führte, an das Plenum zur Abstimmung geleitet und mit 76:13 Stimmen angenommen. Die Reaktion des Regimes erfolgte am 19.9.87: Gegen vier Beteiligte der Gründungsveranstaltung wurden Ermittlungsverfahren eingeleitet, am 12.10. wurde gegen Cai Youquan und Xu Caode Anklage wegen „Verdacht auf Rebellion“ erhoben. Am 27.8.88 wurde das harte Urteil im so genannten Taidu-Fall in zweiter Instanz 811 verkündet: Beide Angeklagte wurden der versuchten Rebellion und der versuchten Spaltung des Staatsgebietes für schuldig befunden; Cai Youquan wurde zu elf, Xu Caode zu sieben Jahren Haft verurteilt.812 Auch die Zeitschrift Ziyou shidai hatte sich durch ihr offenes Eintreten für die taiwanesische Unabhängigkeit gegenüber den Sicherheitsorganen des Staates in gefährlicher Weise exponiert. Der Konflikt eskalierte im Dezember des Jahres 1988: Die Ziyou shidai veröffentlichte am 10.12.88 einen „Verfassungsentwurf der Republik Taiwan“ des Xu Shikai. 813 Die staatlichen Behörden begannen daraufhin am 21.1.89 Ermittlungen gegen Zheng Nanrong wegen Verdacht auf „Rebellion“. Zheng Nanrong missachtete jedoch sämtliche gerichtlichen Vorladungen. Stattdessen kündigte er an, er wolle sich der Verhaftung notfalls mit Gewalt widersetzen. Vom 27.1. bis zum 7.4.89 verbrachte er 71 Tage in den Redaktionsräumen der Zeitschrift, die zur „Festung“ ausgebaut wurde.814 In einem Interview am 3.2.89 äußerte sich Zheng Nanrong zu seinen Motiven: In einem demokratischen Staat ist der Vorwurf der „Rebellion“ eine sehr ernste Sache. Die Vorladung […] wegen „Verdacht auf Rebellion“ bedeutet daher für mich eine äußerste Form der Verfolgung, zudem erweist sich hier der Missbrauch der staatlichen Macht. Daher denke ich, dass Widerstand notwendig ist. Die Taiwanesen sollen erkennen, dass die KMT ihre staatliche Macht missbraucht, um politisch Andersdenkende zu verfolgen; das Volk hat [daher] ein Recht auf Widerstand […] Sie werden mich niemals zu fassen kriegen, sie werden nur meine Leiche bekommen.815
811 Beide Angeklagten hatten zunächst ein Revisionsverfahren angestrebt. Chen Shuibian, der damals die Verteidigung im Taidu-Fall übernommen hatte, sah jedoch keine Aussicht auf eine Milderung der Urteile. Die Gerichtsverhandlung wurde daher, im Einvernehmen mit den Angeklagten, gezielt zur Agitation für die taiwanesische Unabhängigkeit genutzt. Siehe Zhang Qibin 1988: 44f. 812 Im Jahr 1991 wurden Xu Caode und Cai Youquan von Präsident Li Denghui begnadigt. 813 Xu Shikai war zu diesem Zeitpunkt Vorsitzender der führenden taiwanesischen Unabhängigkeitsorganisation im Ausland, der „World United Formosans for Independence“ (WUFI). Nach Aussagen von Xu Shikai war der Verfassungsentwurf bereits in den 60er Jahren entstanden. Siehe Jiang Songqing 1989: 88; Xu Shikai 1989: 64-69. 814 Ende Februar ließ die Redaktion der Zeitschrift in einem kämpferischen Artikel verlauten: „Nachdem die Befestigungen mehrmals verstärkt wurden, ist die Verteidigungsanlage nun bereits entsprechend stark. Falls die Polizei Zheng Nanrong mit Gewalt verhaften will, wird sie nach unserer Einschätzung zumindest fünf Bastionen und entschlossenen Widerstand überwinden müssen“. o.A. 1989b: 64. Die Redaktion äußerte sich nicht darüber, welche „Befestigungen“ konkret errichtet wurden. Aus den späteren Ereignissen lässt sich jedoch ablesen, dass lediglich eine Verstärkung der Zugänge durch Eisentüren und Eisengittern vor den Fenstern vorgenommen wurde. Es finden sich keine Hinweise darauf, dass irgendwelche Waffen bereitgestellt wurden. 815 o.A. 1989d: 34.
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Am 25.2.89 ließ die Ziyou shidai eine erneute Provokation folgen, indem sie einen weiteren Verfassungsentwurf816 des Zhang Canhong veröffentlichte. 817 Die Zeitschrift erklärte, dass sie an ihrem Standpunkt festhalten und eine offene Debatte über die Zukunft Taiwans erzwingen wolle. Alle Leser wurden daher aufgefordert, weitere Vorschläge für eine neue Verfassung zu unterbreiten.818 Indessen wurde die Spannung zwischen Zheng Nanrong und den staatlichen Behörden immer akuter. Zheng Nanrong hatte zwei weitere Gerichtsvorladungen im Februar und März 1989 ignoriert, am 4.4. wurde Haftbefehl gegen ihn erlassen. Am 10.2. gründete sich eine „Solidaritätsgruppe im Fall der Neuen Verfassung“, deren Mitglieder, zumeist populäre Vertreter des radikalen Xin chaoliu-Flügels der DPP, 819 abwechselnd rund um die Uhr an den Redaktionsräumen der Ziyou shidai Wache hielten. Im März veranstaltete die Solidaritätsgruppe mehrere Symposien, um über die Anliegen des Zheng Nanrong und die Notwendigkeit einer neuen Verfassung aufzuklären. Der Zugriff der Polizeikräfte erfolgte am Morgen des 7.4.89, als über 100 Einsatzkräfte der Polizei die Redaktion der Ziyou shidai stürmten.820 Noch bevor es der Polizei gelang, die eisernen Gittertüren vor den Redaktionsräumen aufzubrechen, hatte sich Zheng Nanrong mit Benzin übergossen und in Brand gesteckt. Durch seinen Freitod war Zheng Nanrong zum Märtyrer der jungen taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung auf Taiwan geworden.
9.1.2 Die DPP und die taiwanesische Unabhängigkeit: Von „Selbstbestimmung“ zu „Referendum“ Seit ihrer Gründung im Jahr 1986 hatte sich die Parteispitze der DPP stets ambivalent zu der Frage der taiwanesischen Unabhängigkeit geäußert. Ein klares Bekenntnis zur staatlichen Unabhängigkeit war aus zwei Gründen schwierig: Zum einen galt es, die möglichen Reaktionen des Regimes zu bedenken; nach Ansicht des moderaten Parteiflügels stand hierbei das Fortbestehen der DPP und der demokratischen Reformen der vorangegangenen Jahre auf dem Spiel. 821 Zum anderen konnte die DPP in der Frage der taiwanesischen Unabhängigkeit jedoch auch intern keinen Konsens erzielen. Die Partei teilte sich in dieser Frage in zwei Fraktionen: Zum einen der moderate Meilidao-Flügel822 der Partei, dessen Vertreter – wie etwa Fei Xiping, Zhu Gaozheng, Kang Ningxiang und Yu Dengfa – jedes direkte Eintreten für die staatliche Unabhängigkeit aus ideologischen oder pragmatischen
816
Zu Ende der 80er Jahre kursierten mehrere Entwürfe für eine neue taiwanesische Verfassung, die zum Teil (vermutlich in Anlehnung an die BRD) auch die Bezeichnung „Grundgesetz“ trugen. Siehe z.B. Lin Yixiong 1989. 817 Siehe Zhang Canhong 1989b: 70-77. 818 Siehe Zhang Canhong 1989a: 68. 819 Zu den Mitgliedern der „Solidaritätsgruppe“ gehörten unter anderem der ehemalige Vorsitzende der DPP, Jiang Pengjian, sowie Yao Jiawen, Chen Shuibian, Huang Hua und Lin Zhuoshui. Vgl. o.A. 1989a: 41. 820 Eine ausführliche Beschreibung des Vorfalles findet sich bei Lin Ganyi 1989: 6-11. 821 Siehe z.B. o.A. 1987d: 25. 822 Es erscheint ein wenig überraschend, dass der moderate Flügel der DPP mit dem Namen Meilidao bezeichnet wurde. Wie in den vorangegangenen Kapiteln beschrieben, war die Zeitschrift Meilidao im Jahr 1979 gerade das Sammelbecken der radikaleren Kräfte der Oppositionsbewegung, während sich der moderate Flügel um die Zeitschrift Bashi niandai scharte. Dem Autor ist nicht bekannt, wie es zu dieser Umdeutung des Begriffes kam, die in einigen westlichen Beiträgen offenbar zu Verwirrung führte. Vgl. etwa Roy 2003: 171.
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Gründen ablehnten. Demgegenüber drängte der radikale Xin chaoliu-Flügel,823 in dem zumeist jüngere Politiker wie Qiu Yiren, Wu Nairen und Lin Zhuoshui dominierten, 824 auf ein klares Bekenntnis zur staatlichen Unabhängigkeit. 825 Diese fraktionelle Spaltung, die sich bereits in der Dangwai-Periode abgezeichnet hatte, wurde seit 1983 durch einen Kompromiss überbrückt, indem sich die Opposition auf eine nicht näher definierte „Selbstbestimmung“ des taiwanesischen Volkes verständigte (vgl. 8.4.2.2.). Im Lauf des Jahres 1987 erwies sich jedoch, dass die Kompromissformel der „Selbstbestimmung“ immer weniger geeignet war, die Spannungen innerhalb der Partei zu überwinden. Unter dem Eindruck des Taidu-Falles begannen sich Teile der Partei zu verselbständigen: Bereits am 17.10.87 hatten sich (ohne Einwilligung der Parteispitze) eine Reihe von populären Vertretern der Opposition in einer „Gruppe zum Beistand im Fall der Organisation der politischen Opfer“ zusammengefunden, die sich in öffentlichen Kundgebungen mit den Angeklagten Cai Youquan und Xu Caode solidarisierte. Zudem schien sich eine zunehmende Kluft zwischen der zentralen Parteiführung und den lokalen Parteistrukturen der DPP aufzutun. Auf Ebene der Kreise und Städte schlossen sich elf Zweigstellen der DPP den Solidaritätskundgebungen für die Angeklagten im Taidu-Fall an.826 Im April 1988 sprachen sich bei einer Umfrage auf Ebene der Parteibasis 63% der Befragten dafür aus, den Satz „Das Volk hat die Freiheit, für taiwanesische Unabhängigkeit einzutreten“ ins Parteiprogramm der DPP aufzunehmen. Angesichts dieser eindeutigen Tendenzen geriet die Parteiführung der DPP zunehmend unter Druck. So schrieb die Ziyou shidai über das Ergebnis dieser Umfrage: Nach unserem Verständnis herrscht in der Parteizentrale der DPP bei diesem Thema [der taiwanesischen Unabhängigkeit] allgemeine Furcht vor der KMT, und diese [Furcht] wird sehr wahrscheinlich das Ergebnis der Umfrage […] irrelevant machen. Egal, wie deutlich das Verhältnis zwischen Unterstützern und Gegnern [der taiwanesischen Unabhängigkeit] auch ausfallen mag, die Parteiführung wird [diesen Antrag] zurückweisen. Falls dies wirklich der Fall sein sollte, wollen wir die Parteiführung der DPP an dieser Stelle fragen: Wie wollt ihr dem Willen der Parteibasis begegnen?827
Im November 1987 unternahm die DPP auf ihrem zweiten großen Parteitag einen ersten Versuch, zu einem neuen Kompromiss in dieser heiklen Frage zu gelangen. Von Vertretern des Xin chaoliu-Flügels wurde der Antrag eingebracht, das Parteiprogramm der DPP zu 823 Der Name Xin chaoliu leitet sich ab von der gleichnamigen Zeitschrift, die seit 1978 zunächst als Flugschrift erschienen war. In den Jahren 1984 bis 1993 folgten mehrere Neugründungen der Zeitschrift. 824 In den Jahren nach 1986 wurde auch Chen Shuibian, seit dem Jahr 2000 Präsident der ROC, häufig mit dem Xin chaoliu-Flügel in Verbindung gebracht. Nach Verständnis des Autors kam ihm meist die Rolle eines prominenten Vermittlers zwischen den beiden Flügeln zu. Aus seinen Äußerungen dieser Zeit lässt sich jedoch eindeutig ersehen, dass Chen Shuibian zu den klaren Befürwortern einer taiwanesischen Unabhängigkeit zählte. Siehe etwa Chen Shuibian 1988a: 70-80; Chen Shuibian 1988b: 40-45. 825 Aus Sicht des Xin chaoliu-Flügels wurde die staatliche Unabhängigkeit als eigentlicher Kern der Demokratiebewegung selbst betrachtet. Dies brachte Lin Zhuoshui in einem Symposium der DPP im März 1988 zum Ausdruck: Wenn sich die Partei nicht zur Unabhängigkeit bekennen könne, so Lin, dann hätte man die Gründung einer Oppositionspartei gleich unterlassen können. Siehe Chen Lingyi 1988: 58f. 826 Für das hohe Maß an Disharmonie innerhalb der DPP steht etwa die Tatsache, dass der ständige Ausschuss der Parteizentrale am 30.11. einem Antrag des Zhu Gaozheng folgte, nach dem die lokalen Zweigstellen der Partei sich vorläufig nicht mehr eigenmächtig an Solidaritätsbekundungen für die Angeklagten im Taidu-Fall beteiligten durften. Vgl. o.A. 1988b: 37-41. 827 Lin Zhengyi 1988: 55.
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revidieren und um den Satz „Das Volk hat die Freiheit, für die taiwanesische Unabhängigkeit einzutreten“ zu ergänzen. Von Seiten der Xin chaoliu wurde betont, dass damit nicht etwa ein Bekenntnis zur taiwanesischen Unabhängigkeit selbst zur Abstimmung stünde, sondern lediglich das Recht, eine solche öffentlich zu befürworten. Im Kern sei also die Frage der Redefreiheit (eines ureigenen Anliegens der Opposition) berührt. Jeder Verweis auf das Recht der „Selbstbestimmung“ müsse inhaltsleer bleiben, wenn eine mögliche Konsequenz der Selbstbestimmung, eben die taiwanesische Unabhängigkeit, von vorneherein ausgeklammert bliebe. Nach hitzigen Debatten wurde der Antrag vertagt. Ein zweiter Vorstoß wurde auf dem zweiten außerordentlichen Parteitag der DPP am 17.4.1988 unternommen. Hier konnte erstmals ein Fortschritt erzielt werden: Zwar wurde eine Revision des Parteiprogramms weiterhin abgelehnt; in der so genannten „417Resolution“ erklärte die Partei jedoch ein konditionales Bekenntnis zur taiwanesischen Unabhängigkeit, das in den so genannten „Vier Wenn“ zum Ausdruck kam. Die DPP würde sich für die taiwanesische Unabhängigkeit aussprechen, falls 1) die KMT in Verhandlungen mit der VRCh über eine Wiedervereinigung treten; 2) Die KMT die Interessen des taiwanesischen Volkes verraten; 3) Die VRCh militärisch gegen Taiwan vorgehen oder 4) Sich die KMT langfristig einer weiteren Demokratisierung verweigern sollte.828 Am 23.6.1991 wurde schließlich auf der fünften Vollversammlung der nationalen Parteidelegierten eine revidiertes Parteiprogramm verabschiedet, in dem die bis ins Jahr 1999 gültige Haltung der DPP zu der Frage der taiwanesischen Unabhängigkeit festgelegt wurde: Die staatliche Unabhängigkeit und die Gründung der Republik Taiwan sei demnach über ein allgemeines Referendum anzustreben. Mit diesem Beschluss wurde der bislang unscharf gefasste Begriff der „Selbstbestimmung“ vollkommen im Sinne der Xin chaoliuFraktion829 interpretiert, indem erstmals das konkrete Vorgehen (ein allgemeines Referendum) als auch das angestrebte Ziel (staatliche Unabhängigkeit) klar genannt wurden. Freilich blieb auch diese Neufassung des Parteiprogramms zunächst folgenlos, da weder eine Frist für das angestrebte Referendum genannt noch dargelegt wurde, durch welche Maßnahmen ein solches zu ermöglichen wäre – im Jahr 1991 hätte dies zunächst vollkommen andere Machtverhältnisse und eine Änderung der Gesetzeslage vorausgesetzt. 830 Dennoch wurde durch diese Formel der „Gründung der Republik Taiwan durch Referendum“ eine weitgehende Verschmelzung der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung mit der DPP erzielt.
9.1.3 Die DPP und die taiwanesische Unabhängigkeit in der aktuellen taiwanesischen Politik Über weite Teile der 90er Jahre standen sich die beiden großen Parteien DPP und KMT mit zwei unversöhnlichen Konzepten für die zukünftigen Beziehungen Taiwans zum 828
Aus Sicht der Befürworter einer taiwanesischen Unabhängigkeit war dieses „konditionale“ Bekenntnis ein enttäuschendes Ergebnis. Der Parteivorsitzende Yao Jiawen verteidigte den Entschluss: „In der Frage, ob die DPP die taiwanesische Unabhängigkeit als letztes Ziel anstreben soll, […] gibt es innerhalb der Partei keinen grundsätzlicher Konsens. Daher ist jetzt nicht die beste Zeit, [diese Frage] zu stellen.“ Li Tianci 1988: 29. 829 Einige prominente Vertreter der konservativen Meilidao-Fraktion, allen voran Fei Xiping, verließen nach diesem Beschluss die DPP. 830 Zum Zeitpunkt des Parteitagsbeschlusses der DPP vom 23.6.1991 war das Verbot der taiwanesischen Unabhängigkeit (der „Strafparagraph 100“) formal noch in Kraft.
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chinesischen Festland gegenüber. Die DPP forderte, wie beschrieben, eine formale Unabhängigkeit über den Weg eines allgemeinen Referendums. Bei den ersten allgemeinen Präsidentschaftswahlen des Jahres 1996 war dieses klare Bekenntnis der DPP zu einer taiwanesische Unabhängigkeit offenbar: Der Kandidat der DPP, Peng Mingmin, hatte sich in den USA über viele Jahre in der taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung engagiert und galt als Held der Bewegung. Von Seiten des KMT-Regimes hingegen wurde im Jahr 1990 der „Nationale Wiedervereinigungsrat“ (National Unification Council, NUC) ins Leben gerufen, der im darauf folgenden Jahr die „Richtlinien zur nationalen Wiedervereinigung“ erließ. Das grundsätzliche Fernziel einer Wiedervereinigung Taiwans mit dem chinesischen Festland wurde von der KMT also bestätigt – wenngleich die in den „Richtlinien“ geforderten politischen und ökonomischen Vorbedingungen für eine Wiedervereinigung eine solche zumindest in absehbarer Zukunft kaum als durchführbar erscheinen ließen.831 Im Verlauf der 90er Jahre ließ sich jedoch ein allmähliches Abrücken beider Seiten von den jeweiligen Extremen Wiedervereinigung und Unabhängigkeit beobachten. Beide Alternativen stießen an pragmatische Grenzen, die Robert Marsh als „reality constraints“ bezeichnete: Among the population of Taiwan, those who favor the establishment of an independent Republic of Taiwan face the reality constraint that the People’s Republic of China (PRC) has not renounced the use of military force to prevent what, in Beijing’s logic, is regarded as „the loss of Taiwan“. Supporters of the opposite type of national identity – reunification of Taiwan with the Mainland China – also face a reality constraint: the nondemocratic, economically less developed character of the PRC.832
Sowohl die KMT als auch die DPP konvergierten allmählich zu einem Konsens, der eine Beibehaltung des augenblicklichen Zustandes vorsah, welcher als faktisch eigenstaatlicher Status gegenüber dem Festland gedeutet wurde. Der erste Impuls ging hierbei von der KMT aus: Unter der Präsidentschaft des Li Denghui wurde bereits seit Beginn der 90er Jahre das Ziel verfolgt, die von der VRCh erzwungene diplomatische Isolation Taiwans zu unterlaufen und substantielle Kontakte zu anderen Staaten anzustreben. Im Rahmen einer Politik, die als „pragmatische Außenpolitik“ bezeichnet wurde, reisten hochrangige Regierungsvertreter zu Staatsbesuchen ins Ausland, um quasi-diplomatische Kontakte auf höchster Regierungsebene herzustellen. Diese Reise-Diplomatie, formal als „Privatreisen“ getarnt, erreichten im Jahre 1995 ihren Höhepunkt, als Li Denghui die Vereinigten Staaten besuchte – angeblich, um an einer Jubiläumsfeier seiner Alma Mater Cornell University teilzunehmen, wo er 1968 als Agrarökonom promoviert hatte. Die USA-Reise des Li Denghui führte in den Jahren 1995/1996 zu einer militärischen Krise in der Taiwan-Straße, als die Volksbefreiungsarmee eine Reihe von Manövern in unmittelbarer Umgebung der Insel abhielt. Die 831 Der NUC wurde am 7.10.1990 als ad-hoc Einrichtung des Präsidentenbüros gegründet. Der NUC, formal das höchste Organ der taiwanesischen Festlandpolitik, diente als Beratungsgremium des Präsidenten und bestand laut Statuten aus 36 bis 45 Mitgliedern, die sich aus hochrangigen Politikern aller Parteien, Gewerkschaftsvertretern sowie Unternehmern und Wissenschaftlern zusammensetzten. Vgl. Wu An-chia 1991: 3. Am 23.2.91 erließ der NUC die „Richtlinien für die nationale Wiedervereinigung“ (guojia tongyi gangling ഻ᇦ㎡а㏡么). Laut dieser Richtlinien ist die Wiedervereinigung Chinas langfristig auf Grundlage eines Drei-Phasen-Modells zu erzielen, das eine allmähliche Annäherung der beiden Seiten vorsieht. Eine Wiedervereinigung wurde jedoch erst dann in Aussicht gestellt, wenn eine weitgehende Angleichung in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht erfolgt sei – was konkret wohl bedeutete, dass das Regime der VRCh von einem demokratischen System westlicher Prägung abgelöst würde. Zu den „Richtlinien für die Nationale Wiedervereinigung“ siehe Chang Chen-pang 1991: 1-3. 832 Marsh 2002: 144.
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Krise konnten entschärft werden, nachdem die Vereinigten Staaten mit der Entsendung von zwei Flugzeugträgerverbänden intervenierten. Das Bestreben, für Taiwan einen gleichberechtigten Status in der internationalen Gemeinschaft zu reklamieren, fand schließlich in der so genannten „Zwei-Staaten Theorie“ 833 ihren Ausdruck. In einem Interview mit dem Deutschlandfunk im September 1999 bezeichnete Li Denghui das Verhältnis Taiwans zum Festland als eine zwischenstaatliche, oder zumindest „besondere zwischenstaatliche Beziehung“. 834 In seinem Buch „Das Taiwan Plädoyer“ erläuterte Li Denghui diesen Standpunkt: Im Augenblick ist China ein „China mit geteilter politischer Herrschaft“. Die Republik China wurde im Jahre 1912 gegründet. Obwohl sie sich nach 1949 auf Taiwan zurückzog, hat die VRCh doch niemals politische Macht über Taiwan ausgeübt. Die beiden Seiten der TaiwanStraße werden von zwei unterschiedlichen politischen Entitäten regiert; an dieser objektiven Tatsache ist nicht zu rütteln […] Die beiden Seiten sollten sich unter den Prinzipien der Gleichberechtigung und des gegenseitigen Respekts […] um Verständnis und die Bewahrung des Friedens in Asien [bemühen]. 835
Über den Umweg der pragmatischen Außenpolitik und der Zwei-Staaten Theorie des Li Denghui wurde von der KMT also ein theoretischer Rahmen geschaffen, um den Status Quo der Beziehungen zur VRCh im Sinne einer faktischen und quasi-staatlichen Eigenständigkeit Taiwans zu interpretieren. Wenngleich das Ziel einer langfristigen Wiedervereinigung als eine mögliche Alternative nicht grundsätzlich aufgegeben wurde, müsse Taiwan im Rahmen des Status Quo ein dem Festland gleichberechtigter Status zugestanden werden. Auch für die DPP bot dieser neue Ansatz die Möglichkeit einer politischen Neupositionierung. Die DPP war, bedingt durch die aus ihrer Sicht enttäuschenden Präsidentschaftswahlen 1996, zu der Einsicht gezwungen, dass die Forderung nach unmittelbarer staatlicher Unabhängigkeit keine Mehrheit der Wählerschaft finden konnte. Aus strategischen Überlegungen musste die DPP daher eine Lösung finden, die (mit Rücksicht auf die radikalen Unabhängigkeitsbefürworter innerhalb der Partei) ein prinzipielles Festhalten an der staatlichen Unabhängigkeit erlaubte, ohne dabei jedoch die Wählerschaft durch allzu extreme Positionen zu alarmieren. Die Zwei-Staaten Theorie konnte hier einen Ausweg weisen: Der DPP war es nun möglich, den quasi-staatlichen Status Taiwans in den bestehenden Staatskörper der ROC einzubetten. Die zuvor geforderte unabhängige „Republik Taiwan“ wurde mit dem politischen Gebilde ROC verschmolzen, die DPP unternahm sozusagen eine „friedliche Eroberung“ der ROC von Innen. Am deutlichsten schlug sich diese neue Strategie im neu gefassten Parteistatut nieder, das auf dem achten Parteitag der DPP im Mai 1999 verabschiedet wurde: In dem so genannten „Entschluss über die Zukunft Taiwans“836 erklärte die Partei zwar ihr Festhalten an der gültigen Formel eines Referendums. Ein solches Referendum soll nun aber nicht länger aktiv herbeigeführt werden. Vielmehr wurde nun festgestellt, dass jede Änderung (!) des Status Quo ausschließlich von den Bewohnern der Insel Taiwan herbeigeführt werden könne. Diese neue Formel des „Defensiven Referendums“ erlaubte es einerseits, den aggressiven Wiedervereinigungsforderun833
Liangguo lun ޙ഻䄆 Teshu guo yu guo guanxi ⢩↺഻㠷഻䰌ײ 835 Li Denghui 1999a: 158f. 836 Taiwan qiantu jueyi an ਠ⚓ࡽ䙄⊪䆠Ṹ 834
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gen der VRCh zu begegnen, besagt aber gleichzeitig auch, dass die DPP bereit sei, den augenblicklichen Status Quo zumindest vorläufig zu akzeptieren. Ein Handlungsbedarf wird nur dann gesehen, wenn der Status Quo in Zukunft gefährdet werden sollte. Die DPP ist nunmehr bereit, den Fortbestand der Republik China als souveränen Staat, mit all ihren staatlichen Symbolen und Institutionen, zuzugestehen.837 Im Jahr 2000, als die DPP nach dem knappen Wahlsieg des Chen Shuibian erstmals den Präsidenten der Republik China stellte, wurde diese neue Ausrichtung der Partei in der Antrittsrede des Chen deutlich: Ich bin mir darüber in Klaren, dass ich als Präsident der zehnten Amtsperiode der ROC, gewählt vom Volk, die Verfassung respektieren, die Souveränität, Würde und Sicherheit des Landes bewahren und den Wohlstand des ganzen Volkes sicherstellen muss. Daher garantiere ich, dass ich, solange die VRCh nicht militärisch gegen Taiwan vorgeht, in meiner Amtszeit kein unabhängiges Taiwan ausrufen, den Staatsnamen nicht ändern, die Zwei-Staaten-Theorie nicht in die Verfassung aufnehmen und kein Referendum zur Änderung des Status Quo im Hinblick auf Unabhängigkeit oder Wiedervereinigung unterstützen werde. Darüber hinaus steht auch vollkommen außer Frage, dass die Richtlinien zur nationalen Wiedervereinigung und der NUC weiter Bestand haben werden.838
Dieses Zugeständnis an den Status Quo, bekannt geworden unter der Formel der „Fünf Nein“,839 das anlässlich der Wiederwahl des Präsidenten Chen Shuibian im Frühjahr 2004 erneut bestätigt wurde, umreißt seitdem die gültige Haltung der DPP in der Frage der taiwanesischen Unabhängigkeit. Inhaltlich lässt sich dieser Standpunkt wie folgt zusammenfassen: Eine formale Unabhängigkeitserklärung ist nicht nötig, da Taiwan bereits ein faktisch unabhängiger Staat ist und den Namen „Republik China“ trägt. Eine formale Unabhängigkeitserklärung müsste sich daher auf symbolische Akte, etwa die Wahl eines neuen Staatstitels und neuer nationaler Symbole, beschränken. Unter gewissen Gesichtspunkten, insbesondere der Vertretung Taiwans in internationalen Organisationen, mag ein solcher rein symbolischer Schritt zwar wünschenswert sein. Angesichts der Gefahren, die mit einer formalen Unabhängigkeitserklärung verbunden wären, verzichtet die DPP jedoch darauf, eine aktive Modifikation des Status Quo anzustreben – vorausgesetzt, die VRCh nimmt ihrerseits von solchen Schritten ebenfalls Abstand. Diese in der Literatur als Dutai („Unabhängiges Taiwan“, im Gegensatz zu Taidu, taiwanesische Unabhängigkeit) bezeichnete Formel erläuterte Lin Zhuoshui gegenüber dem Autor wie folgt: Nach Ansicht der DPP ist Taiwan bereits ein unabhängiger Staat […] Am liebsten hätten wir [den Staatsnamen] „Taiwan“ gewählt. „Republik China“ ist nicht unsere erste Wahl, aber wir können [diesen Staatsnamen] hinnehmen. Das Problem ist, dass es innerhalb Taiwans keinen Konsens [in dieser Frage] gibt. Wir wollen interne Konflikte vermeiden, daher können wir uns auch mit der Bezeichnung „Republik China“ arrangieren. Wenn es intern einen entsprechenden Konsens gäbe, wäre eine Namensänderung natürlich nicht schlecht.840
837 Ein deutliches Symbol dieser „friedlichen Eroberung“ der ROC durch die DPP war im Wahlkampf der Präsidentschaftswahlen des Jahres 2004 zu beobachten, als der TV-Wahlspot der DPP die Fahne der ROC (die gleichzeitig die Parteifahne der KMT ist ) zeigte. 838 www.president.gov.tw/2_special/520/speak.html 839 Eigentlich: „Vier Nein, ein Nicht-Sein“ (si bu yi meiyou ഋна⋂ᴹ) 840 Interview mit Lin Zhuoshui am 30.10.03.
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Dennoch ließ sich in den letzten Jahren beobachten, dass von Seiten der DPP dieses Bekenntnis zum Status Quo tendenziell unterhöhlt wurde. Eine bedeutende Geste in diesem Zusammenhang war der 228-Gedenktag im Jahr 2004, der in einem späteren Kapitel behandelt werden soll. Drei weitere Punkte verdienen in diesem Zusammenhang jedoch Beachtung: Die Bestrebungen der DPP für eine neue Verfassung, die Auflösung des NUC und die Ankündigung der DPP, ein Referendum über eine erneute Aufnahme Taiwans in die Vereinten Nationen anzusetzen. Die Forderung einer neuen Verfassung wurde von der DPP erstmals im Umfeld des Wahlkampfes für die Präsidentschaftswahlen 2004 vorgetragen: Im Herbst 2003 kündigte Chen Shuibian an, die DPP werde bis spätestens zum Jahre 2006 841 eine neue Verfassung für Taiwan ausarbeiten. Für diesen Schritt konnten durchaus gute Gründe ins Feld geführt werden: Seit dem Beginn der demokratischen Öffnung Taiwans in den 80er Jahren und der Aufhebung des Kriegsrechtes hatte sich erwiesen, dass die Verfassung, die seit 1948 in wesentlichen Punkten außer Kraft gesetzt worden war, den Ansprüchen eines modernen demokratischen Staates nicht zufrieden stellend gerecht werden konnte. In den letzten 15 Jahren wurden acht Verfassungsänderungen vorgenommen. Dennoch war das Thema natürlich von enormer politischer Brisanz: Zahlreiche Beobachter prognostizierten, dass Chen Shuibian im Zuge der neuen Verfassungsgebung entscheidende Impulse für eine formale staatliche Unabhängigkeit setzen würde, was sich etwa in einem neuen Staatsnamen, neuen staatlichen Symbolen und der klaren Festschreibung eines auf Taiwan reduzierten Staatsgebietes niederschlagen könnte. Die VRCh warnte die taiwanesische Führung, dass eine neue Verfassung als eine faktische Unabhängigkeitserklärung gewertet und eine militärische Reaktion des Festlandes provozieren könnte. Auch auf Seiten der USA machten sich Irritationen bemerkbar: Die USA gemahnten Chen Shuibian an sein Versprechen der „Fünf Nein“, und erklärten, dass sie eine unilaterale Änderung des Status Quo in der TaiwanStraße nicht unterstützen würden.842 In jüngster Zeit wurde das Thema einer neuen Verfassung in der politischen Debatte weitgehend in den Hintergrund gedrängt.843 Als eine weitere Provokation wurde von Seiten Pekings ein Schritt der DPP im Frühjahr 2006 aufgefasst: Am 28.2. erklärte Chen Shuibian, dass der National Unification Council (NUC) seine Funktion einstellen und die Richtlinien zur nationalen Wiedervereinigung keine Anwendung mehr finden würden. 844 Auch in diesem Fall konnten pragmatische Gründe für die Entscheidung angeführt werden: Der NUC, so wurde argumentiert, sei eine anachronistische Einrichtung, die bereits seit über fünf Jahren nicht mehr getagt habe. Im Jahr 2005 sei das Budget des NUC mit ganzen 1000.- NTD (etwa 25.- €) veranschlagt worden. Zudem sei der NUC im Jahr 1991 lediglich auf Grund eines präsidialen Erlasses als 841 Dieser ursprüngliche Zeitrahmen wurde in jüngster Zeit auf das Datum 2008, das Ende der zweiten und letzten Amtszeit des Chen Shuibian, korrigiert. 842 Siehe Agence France Press, 30.11.04. 843 Wenngleich Chen Shuibian offensichtlich an einem entsprechenden Verfassungsentwurf festhält, lässt sich mit Sicherheit ausschließen, dass dieser die nötige ¾ Mehrheit des Legislativ-Yuan – wo das blaue Lager im Augenblick eine Mehrheit der Mandate innehat – und, falls diese Hürde wider Erwarten genommen werden sollte, die absolute Mehrheit in einem dann zwingend vorgeschriebenen Referendum erhalten könnte. Vgl. Washington Post 14.3.06. 844 In der taiwanesischen Presse wurde kolportiert, dass die englische Übersetzung des Gesetzestextes zu Kontroversen führte. Der ursprüngliche Gesetzesentwurf sah vor, die Abschaffung (feizhi ᔒ→) des NUC mit „termination“ zu übersetzen. Nach Intervention der USA sei jedoch die Entscheidung getroffen worden, statt dessen die (sprachlich freiere, jedoch moderatere) Formulierung „cease to function“ zu wählen. Siehe Ziyou shibao, 28.2.06.
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Beratungsgremium ins Leben gerufen worden; dessen Abschaffung sei daher ebenfalls ausschließlich in das Ermessen des Präsidenten zu legen.845 Dennoch geriet Chen Shuibian von Seiten der VRCh (und der politischen Opposition) erneut in scharfe Kritik: Chen Shuibian habe mit dieser Entscheidung aus kurzsichtigen politischen Motiven erneut eine bewusste Provokation des Festlandes herbeigeführt. Zudem stelle diese Abschaffung des NUC einen klaren Bruch der Versprechen der „Fünf Nein“ 846 dar; Chen habe sich daher unglaubwürdig gemacht und eklatant gegen die Sicherheitsinteressen Taiwans verstoßen. Am 14.3.2005 reagierte die VRCh auf die aus ihrer Sicht fortgesetzten Provokationen der DPP mit der Verabschiedung eines „Anti-Abspaltungs-Gesetzes“, in dem die VRCh erneut ihre Drohung bekräftigte, im Falle einer taiwanesischen Unabhängigkeitserklärung zu „nicht-friedlichen“ Mitteln zu greifen, um die Souveränität und territoriale Unversehrtheit des chinesischen Staates zu wahren. Seit dem Frühjahr 2007 verstärkte die DPP ihre Anstrengungen, eine Neuaufnahme Taiwans in den Vereinten Nationen unter dem Namen „Taiwan“ zu erzielen. Ein erster Antrag, gerichtet am 19.7.2007 an den UN-Generalsekretär Ban Ki-moon, wurde jedoch vom Sekretariat der Vereinten Nationen kommentarlos abgewiesen. 847 Die DPP ließ daraufhin verlautbaren, im Frühjahr 2008 ein allgemeines Referendum über einen Antrag auf Mitgliedschaft abzuhalten. Anlässlich des Nationalfeiertages am 10. Oktober bekräftigte Präsident Chen Shuibian in einer Rede den taiwanesischen Anspruch auf eine angemessene Vertretung in der UNO: Wir werden unser Streben nach Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen trotz vorübergehender Rückschläge nicht aufgeben. Die taiwanesische Regierung wird an diesem Ziel mit unerschütterlicher Entschlossenheit festhalten. Taiwan ist ein souveräner Staat […] Wir haben das Recht, eine Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen unter dem Namen „Taiwan“ zu verlangen […] Unglücklicher Weise hat China unser Streben nach Demokratie als Schritt auf eine „de jure“ Unabhängigkeit diffamiert […] Die Tatsachen beweisen, dass die Probleme zwischen den beiden Seiten der Taiwan-Straße nicht von Taiwan herrühren, welches Freiheit, Demokratie und Menschenrechte respektiert, sondern von China, welches immer noch unter einer totalitären und diktatorischen Herrschaft steht. Dieser Tatsache muss sich die internationale Gemeinschaft in aller Ernsthaftigkeit stellen.848
Das Referendum, das gemeinsam mit den Präsidentschaftswahlen am 22. März 2008 abgehalten werden soll, ist jedoch auf Taiwan umstritten. Von Seiten der politischen Opposition wurde Chen Shuibian der Vorwurf gemacht, er wolle lediglich, wie bereits im Jahre 2004, die Präsidentschaftswahlen mit einem populären, aber letztlich bedeutungslosen Referen-
845
Siehe z.B. Lianhe bao, 28.2.06. In der Tat hatte Chen Shuibian in seiner Antrittsrede im Jahr 2000 ausdrücklich die Abschaffung des NUC ausgeschlossen. Von Seiten der DPP wurde jedoch darauf verwiesen, dass man die „Fünf Nein“ des Präsidenten im Kontext der gesamten Rede sehen müsse. Präsident Chen habe für seine „Fünf Nein“ ausdrücklich die Bedingung gestellt, dass die VRCh ihrerseits keine Schritte auf eine einseitige Änderung des Status Quo unternehmen dürfe. In den letzten Jahren habe die VRCh jedoch ihre militärischen Kapazitäten für eine Aggression gegen Taiwan stetig ausgebaut, daher seien die Voraussetzungen für die „Fünf Nein“ nicht länger gegeben. 847 Taipei Times, 25.7.07. Diese nachlässige Behandlung des taiwanesischen Antrages führte auf Seiten der politischen Führung zu erheblichen Irritationen. UN-Generalsekretär Ban, so der Vorwurf, habe sich eigenmächtig über das in der UN-Charta vorgeschriebene Prozedere hinweggesetzt. Nur die Vollversammlung der Vereinten Nationen sei autorisiert, über einen Antrag auf Mitgliedschaft zu befinden. 848 http://www.president.gov.tw/php-bin/prez/shownews.php4?_section=3&_recNo=13 846
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dum verknüpfen,849 um eine Mobilisierung der Wählerschaft zu erzielen und so die Wahlchancen des DPP-Präsidentschaftskandidaten Xie Changting zu erhöhen. Die KMT erklärte, das angestrebte Referendum zu boykottieren und stattdessen ein eigenes Referendum über einen Antrag auf Mitgliedschaft unter dem Namen „Republik China“ anzusetzen. Zusammenfassend lässt sich konstatieren, dass die jüngsten Vorstöße der DPP auf eine Affirmation der taiwanesischen Eigenstaatlichkeit vor allem symbolischen Charakter trugen. Diese konnten auf Grund ihrer faktischen Unrealisierbarkeit (im Falle der Verfassung und der Mitgliedschaft in den Vereinten Nationen) oder ihrer begrenzten Tragweite (im Falle der Abschaffung des NUC) das Gesamtbild der politischen Ausrichtung der DPP bis dato nicht entscheidend beeinflussen. 850 Die Kritik der Opposition, Präsident Chen Shuibian wolle mit diesen letztlich inhaltsleeren Gesten an die kleine, aber kompakte Wählergruppe der entschlossenen Befürworter einer taiwanesischen Unabhängigkeit appellieren, mag nach Ansicht des Autors zwar sehr wohl zutreffen. Es lässt sich jedoch konstatieren, dass es der DPP auch unter der Präsidentschaft des Chen Shuibian nicht gelungen ist, sich vom Rahmen des Status Quo zu lösen – eine Haltung, die sich letztlich nicht allzu sehr von dem Standpunkt der KMT unterscheidet. Allenfalls lassen sich hier Unterschiede in der Gewichtung der Begriffe „Republik China“ und „Taiwan“ erkennen: Während die KMT den Status Quo dahingehend interpretiert, dass die Republik China seit 1911 ein souveräner Staat und Taiwan ein Teil der ROC sei, macht die DPP geltend, dass Taiwan unabhängig sei – und im Augenblick den Staatsnamen „Republik China“ trage. Dieses Zugeständnis an den Status Quo, das aus Sicht der DPP für die Konsolidierung und den Ausbau der politischen Macht unumgänglich war, hat in den Kreisen der radikalen Unabhängigkeitsbewegung zu einer gewissen Ernüchterung geführt. Von vielen Seiten wird der Vorwurf erhoben, die DPP habe aus machtpolitischem Kalkül ihr frühes Ideal einer taiwanesischen Unabhängigkeit geopfert. So äußerte sich Xu Qingsong von der TIP gegenüber dem Autor: Der Weg der DPP hat sich bereits immer mehr der KMT angenähert. [Die DPP] interessiert sich nur noch für den eigenen Machterhalt und die eigenen Interessen. Daher haben wie die „Partei der taiwanesischen Staatsgründung“ [TIP] gegründet […] Früher habe ich auch die DPP unterstützt, erst mit 50 Jahren bin ich der TIP beigetreten. Auf Taiwan sind wir die einzigen, die an dem Ideal der Staatsgründung unbeirrt festhalten.851
Von anderer Seite wird jedoch auch Verständnis für die heikle Lage der DPP geäußert. Seit der Übernahme der Präsidentschaft im Jahr 2000 musste die DPP im Sinne ihrer staatspolitischen Verantwortung und mit Rücksicht auf die moderaten Wählergruppen von ihren früheren, oftmals als radikal bezeichneten Positionen abrücken. Der Status Quo, der nach Ansicht der großen Mehrheit der Taiwanesen (vgl. 9.1.4.4.) im Augenblick die einzige 849
Zu betonen ist hierbei, dass sich das angestrebte Referendum selbstverständlich nicht auf eine UNMitgliedschaft Taiwans bezieht – sondern lediglich auf einen zu stellenden Antrag auf eine solche. Angesichts des diplomatischen Widerstandes der Volksrepublik China und der großen Mehrheit der UN-Mitgliedstaaten hätte ein solcher Antrag, unabhängig vom Ausgang des anvisierten Referendums, keinerlei Aussicht auf Erfolg. Vgl. China Post, 11.10.07 850 Am 1.10.2007 wurde auf dem nationalen Parteikongress der DPP eine Resolution verabschiedet, die erneut die Notwendigkeit einer neuen Verfassung für Taiwan betonte. Ein Antrag des Parteivorsitzenden You Xikun, der für eine Namensänderung des Landes in „Republik Taiwan“ plädierte, wurde jedoch mit deutlicher Mehrheit zurückgewiesen. You Xikun trat daraufhin vom Parteivorsitz der DPP zurück. Siehe Ziyou Shibao, 28.9.07. 851 Interview mit Xu Qingsong am 24.5.03.
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Alternative darstellt, die sich mit den sicherheitspolitischen Interessen Taiwans vereinbaren lässt, bietet hierbei wenig Raum für alternative Zukunftsentwürfe.
9.1.4 Offene Fragen der Unabhängigkeitsbewegung Es würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit übersteigen, wenn man die Frage der taiwanesischen Unabhängigkeit in der aktuellen taiwanesischen Politik an dieser Stelle erschöpfend behandeln wollte. Stattdessen soll im Folgenden auf einige zentrale Frage eingegangen werden, die nach Ansicht des Autors den eigentlichen Kern der Unabhängigkeits/Wiedervereinigungs-Debatte darstellen.
9.1.4.1 Notwendigkeit der taiwanesischen Unabhängigkeit Zunächst stellt sich die Frage, aus welchem Grunde Taiwan eine formale staatliche Unabhängigkeit vom Festland anstreben sollte. Trotz der weitgehenden internationalen Isolation der Insel, die sich seit Beginn der 70er Jahre unablässig verstärkte und die dazu führte, dass Taiwan heute nur noch zu einer Minderzahl von Staaten formale diplomatische Kontakte 852 unterhält, konnte dies in fast allen Fällen durch die Einrichtung von substantiellen Vertretungen, die als „Wirtschaftbüro“ oder „Kulturbüro“ firmieren, kompensiert werden. Nachteilig ist zudem, dass Taiwan in den meisten wichtigen internationalen Organisationen nicht vertreten ist.853 Offenbar konnte dieser Mangel jedoch die wirtschaftliche Entwicklung der Insel und die Entfaltung einer fortschrittlichen und demokratischen Gesellschaft nicht behindern. Angesichts der unbestreitbaren Gefahren, die mit einer formalen Unabhängigkeitserklärung verbunden sind, lässt sich daher argumentieren, dass für Taiwan eine Änderung des augenblicklichen Status Quo kaum greifbare Vorteile brächte, die ein solches Risiko rechtfertigten. Zudem lässt sich geltend machen, dass Taiwan spätestens seit den ersten freien Präsidentschaftswahlen im Jahr 1996 einen faktisch unabhängigen Staat darstellt. Das gesamte politische Führungspersonal wird seitdem in freien Wahlen von den Bewohnern der Insel bestimmt; zudem verfügt die Republik China (Taiwan) über eine definierte Staatsbevölkerung und ein definiertes Territorium. Man könnte daher die Ansicht vertreten, dass die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung im engeren Sinne bereits zu einem Abschluss
852
Im Rahmen der „chinesischen Hallstein-Doktrin“ sind die diplomatischen Beziehungen zu der ROC bzw. der VRCh jeweils exklusiver Natur, d.h. alle Staaten, welche die VRCh diplomatisch anerkennen, müssen ihre formalen diplomatischen Kontakte zur ROC abbrechen. Augenblicklich unterhält Taiwan (ROC) zu 25 Staaten formale diplomatische Kontakte, die meisten davon jedoch kleine Staaten in Afrika und Ozeanien (wie Palau, Tuvalu, Kiribati, Sao Tomé und Principe oder Burkina Faso). In Europa unterhält nur der Vatikan diplomatische Kontakte zur ROC aufrecht. Siehe Angaben des Government Information Office: http://www.gio.gov.tw/taiwan-website/5gp/yearbook /p116.html#3 853 Zu den wichtigen internationalen Organisation, in denen Taiwan heute Mitglied ist, gehören die WTO, die Asia Pacific Economic Cooperation (APEC), die Asian Development Bank (ADB) und das Internationale Olympische Komitee (IOC). In allen diesen Organisationen musste Taiwan jedoch auf die Bezeichnung „Republik China“ verzichten und stattdessen unter dem Namen „Chinese Taipei“ oder „Taipei, China“ auftreten. Zudem ist es Taiwan (etwa bei olympischen Spielen) nicht gestattet, nationale Symbole wie Nationalflagge und Nationalhymne zu verwenden.
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gekommen ist. So äußerte sich auch Joshua Tin, ein führendes Mitglied der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung in den USA, gegenüber dem Autor: The critical point was 1996. That was the first time that Taiwan held presidential elections […] Some people still say they want to achieve Taiwan Independence. But from my point of view, Taiwan Independence is only valid until 1996. Since 1996, the president is elected by the people of Taiwan, so we can no longer consider the government as a foreign power […] When people say: „Taiwan should be independent”, I always ask them: „Independent from what?” Has Beijing occupied Taiwan? No, never. The situation today is: Taiwan is a sovereign independent country.854
Aus Perspektive der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung ist hier jedoch die Frage der nationalen Würde berührt: Taiwan, so wird argumentiert, habe wie alle anderen Staaten das Recht, einen angemessenen Staatsnamen offiziell zu führen, und man sei nicht gewillt, sich dabei von eventuellen Irritationen auf Seiten der Volksrepublik China beirren zu lassen. Eine formale Unabhängigkeitserklärung sei auch aus pragmatischer Sicht von Vorteil: Paradoxerweise sei gerade wegen der militärischen Bedrohung durch das Festland eine formale Unabhängigkeit von höchster Dringlichkeit. Dieser zunehmenden Bedrohung könne Taiwan nämlich langfristig nur dann begegnen, wenn es als anerkanntes Mitglied der internationalen Gemeinschaft auf den von der UNO-Charta garantierten Schutz vertrauen könne. Lin Yufa von der TIP veranschaulichte dies am Beispiel Kuwaits: Taiwan ist international isoliert, in der internationalen Gemeinschaft sind wir Waisen. Faktisch ist Taiwan zwar schon ein Staat, aber nicht aus rechtlicher Sicht. Denn wir haben uns nie unabhängig erklärt […] Falls es jemals zu Spannungen [mit dem Festland] kommen sollte, könnte die internationale Gemeinschaft daher auch nicht intervenieren. Als Kuwait von dem Irak überfallen wurde, konnten die USA und Großbritannien Soldaten entsenden, sie konnten intervenieren, denn Kuwait ist ein Staat und wurde von der Charta der UNO beschützt […] Und [unter dem Namen] „Republik China“ kann Taiwan [an der internationalen Isolation] auch nichts ändern, denn China wird schon von der Volksrepublik China vertreten. Der Name „Republik China“ ist eine einzige große Lüge. Wir belügen uns nur selbst. Wenn man sich nicht zu sich selbst bekennt, dann kann man das auch von keinem Außenstehenden erwarten.855
Von Relevanz ist in diesem Zusammenhang ein neuer Vorstoß der Unabhängigkeitsbewegung, der als „Bewegung zur Richtigstellung des Namens“ (Zhengming-Bewegung 856 ) bezeichnet wird. Diese Zhengming-Bewegung wurde im Jahr 2002, unter Schirmherrschaft des Altpräsidenten Li Denghui, von der TSU und der WUFI ins Leben gerufen. Am 11.5.2003 wurde in Taipei eine Großkundgebung mit über 100.000 Teilnehmern abgehalten. Die Bewegung hat sich zum Ziel gesetzt, den offiziellen Staatsnamen der Insel von „Republik China“ in „Republik Taiwan“ zu ändern. Diese Namensänderung soll in einer neuen Verfassung ihren Niederschlag finden, zudem wurde die Regierung aufgefordert, den Terminus „China“ in allen staatlichen Organen und Unternehmen zu streichen. Darüber hinaus soll auch in den Lehrplänen der Schulen und Universitäten mehr Gewicht auf Inhalte 854
Interview mit Joshua Tin (Tian Tairen) am 24.10.03 Interview mit Lin Yufa am 24.5.03. 856 Zhengming yundong ↓䙻अ Der Terminus „Zhengming“ (Richtigstellung der Namen) ist der konfuzianischen Lehre entlehnt. Angesichts der chaotischen politischen Verhältnisse seiner Zeit nannte Konfuzius die „Richtigstellung der Namen“ als eines der wichtigsten Ziele, d.h. die Dinge sollten ihren Bezeichnungen entsprechen. 855
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mit Bezug zu Taiwan gelegt werden.857 In jüngster Zeit konnte die Zhengming-Bewegung einige beachtliche Erfolge erzielen: Im Zuge einer politischen Kampagne, die als „DeSinisierung“858 bezeichnet wird, wurde im Verlauf des Jahres 2007 der Staatstitel „Republik China“ in zahlreichen staatlichen Organen – wie etwa der staatlichen Postbetriebe oder der Chinese Petroleum Corporation – in „Taiwan“ umgeändert. Am 28.2.2007 erschienen anlässlich des 60. Jahrestages des 228-Aufstandes erstmals Briefmarken mit dem Aufdruck „Taiwan“. Ein erster Höhepunkt dieser Kampagne wurde im April 2007 erreicht, als der DPP-geführte Exekutiv-Yuan unter Präsident Chen Shuibian den Beschluss fasste, die „Chiang Kai-shek Gedenkhalle“ in Taipei in „Nationale Gedenkhalle der taiwanesischen Demokratie“ umzubenennen.859 Aus dem oben Gesagten, der Tatsache nämlich, dass Taiwan faktisch bereits ein souveräner Staat sei, wird von Seiten der Zhengming-Bewegung der Schluss gezogen, dass über den relativ unkomplizierten Akt der Änderung des Staatsnamens die formale Unabhängigkeit erreicht werde. Substantiell ist diese Bewegung nach Ansicht des Autors daher mit der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung identisch. In einem Gespräch mit dem Generalsekretär der TSU, Lin Zhijia, bestand Herr Lin jedoch darauf, dass eine bloße Namensänderung für das Festland keine große Provokation darstellen würde, und daher die Gefahr einer Konfrontation geringer sei: Die Zhengming-Bewegung ist ein sanftes Vorgehen. Im Gegensatz zur taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung sind wir der Ansicht, dass Taiwan in Wahrheit bereits ein unabhängiger und souveräner Staat ist, nur sein Name lautet noch „Republik China“, und das halten wir für falsch […] Wir wollen, dass Taiwan als „Republik Taiwan“ bezeichnet wird, und mit diesem Namen können wir der internationalen Gemeinschaft beitreten. [Der neue Staatsname] soll sich auch in einer neuen Verfassung niederschlagen, und vielleicht auch in einer neuen Nationalflagge- und Hymne. Die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung gehört der Vergangenheit an, denn früher war man der Ansicht, dass Taiwan noch nicht unabhängig sei […] Die Zhengming-Bewegung ist sanft, auch die VRCh wird dadurch nicht so stark provoziert. Wir wollen nur einen anderen Namen.860
Es mag jedoch bezweifelt werden, ob die politische Führung der VRCh dieses „sanftere“ Vorgehen auch als solches anerkennen würde.
9.1.4.2 Die wirtschaftliche Dimension: Interdependenz zwischen Taiwan und dem Festland Seit dem Ende der 80er Jahre erfuhr der Handel zwischen Taiwan und dem Festland eine atemberaubende Entwicklung. Während sich das Handelsvolumen zwischen den beiden Seiten vor 1987 im marginalen Bereich bewegte, wurden in den 90er Jahren oft zwei- bis 857
Zu den einzelnen Forderungen der Zhengming-Bewegung siehe o.A. 2003: 19ff. Qu Han hua ৫╒ॆ 859 Der Vorstoß des Exekutiv-Yuan stieß zunächst auf den erbitterten Widerstand der KMT-geführten Stadtregierung von Taipei, welche die Gedenkhalle betreibt. Bürgermeister Hao Longbin erklärte, er werde jeden Versuch, die Namensplakette der Chiang Kai-shek Gedenkhalle zu entfernen, unter Einsatz von Polizeikräften unterbinden. Siehe Taipei Times, 22.4.2007 860 Interview mit Lin Zhijia am 3.10.03. 858
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dreistellige Wachstumsraten erzielt. Im Jahr 1998 überschritt das Handelsaufkommen erstmals die Marke von 25 Milliarden USD; Taiwan und die VRCh wurden damit wechselseitig zum drittgrößten Handelspartner.861 Mit dem Beitritt Taiwans zur WTO – und der damit verbundenen Öffnung des taiwanesischen Marktes für Produkte des Festlandes – hat sich diese Tendenz noch verstärkt. Im Jahr 2004 wurde ein Handelsvolumen vom über 60 Milliarden USD erreicht; im Vergleich zum Vorjahr eine Steigerung von 100%. Entsprechend nahmen die taiwanesischen Investitionen auf dem Festland in den letzten Jahren stark zu. Im Jahr 2003 hatten die taiwanesischen Investitionen dort einen Gesamtwert von 34,3 Milliarden USD erreicht – eine Summe, die 47% der gesamten Auslandsinvestitionen der taiwanesischen Firmen entsprach. In der Literatur wird diese fortschreitende wirtschaftliche Verflechtung der beiden Territorien gelegentlich als stabilisierender Faktor beschrieben. Auf Grund der zunehmenden Interdependenz, so wird argumentiert, werde eine kriegerische Konfrontation zwischen den beiden Seiten zunehmend unwahrscheinlicher. Vor allem das Festland müsse sich vergegenwärtigen, dass ein Konflikt mit Taiwan die wirtschaftliche Entwicklung der VRCh um Jahre oder Jahrzehnte zurückwerfen müsste. Es sei daher schon heute fraglich, ob die Androhung einer „gewaltsamen Befreiung“ der Insel letztlich ganz ernst zu nehmen ist. So äußerte sich Lin Zhuoshui von der DPP gegenüber dem Autor: In der VRCh gab es [in den letzten Jahren] ein rasches Wirtschaftswachstum, aber dieses Wachstum ist auf internationalen Handel angewiesen. Wenn die Handels- und Investitionsbeziehungen zu den USA und Japan nicht bestünden, würde die chinesische Wirtschaft sofort zusammenbrechen. Für die VRCh wäre also eine Voraussetzung [für einen Angriff auf Taiwan], dass sie unabhängig von diesen internationalen wirtschaftlichen Abhängigkeiten sein müsste. Und das ist meiner Ansicht nach zumindest in den nächsten 10-15 Jahren nicht zu erwarten […] [Die VRCh] hat auch mit ernsten Folgeproblemen zu kämpfen, die sich aus dem raschen Wirtschaftswachstum ergeben haben. Die gesellschaftlichen Widersprüche sind zu kompliziert, und werden immer stärker. Die Priorität für die VRCh muss also sein, sich ihren inneren Problemen zu stellen. Ein Konflikt mit Taiwan wäre da sicher keine weise Entscheidung.862
Auf taiwanesischer Seite wurde die wirtschaftliche Verflechtung stets mit gemischten Gefühlen beobachtet. Im Jahr 1995 propagierte Präsident Li Denghui die Politik von „Vorsicht und Zurückhaltung“, 863 eine Politik, die von Chen Shuibian unter dem Motto „aktive Erschließung, effektive Kontrolle“864 fortgeschrieben wird. Mit dieser Politik verfolgt die politische Führung die Absicht, die Investitionsströme der taiwanesischen Wirtschaft vom chinesischen Festland weg auf andere lukrative Investitionsgebiete (wie etwa Thailand oder die Philippinen) hinzulenken. Zudem weigert sich die politische Führung Taiwans bis 861
Es ist sehr schwierig, das Handels- und Investitionsvolumen zwischen der VRCh und Taiwan genau zu beziffern. In der Literatur weichen die diesbezüglichen Angaben zum Teil erheblich voneinander ab. Dies liegt daran, dass der indirekte Handel von taiwanesischer Seite lange Zeit verboten war; bis heute bestehen gewisse rechtliche Beschränkungen bezüglich der erlaubten Handelsgüter – ausgenommen sind nach wie vor etwa rüstungsrelevante Güter sowie Produkte aus dem Bereich der Hochtechnologie. Ein Teil der taiwanesischen Firmen, die mit dem Festland Handel trieben oder Investitionen in der VRCh tätigten, versäumten es daher, ihre Handelskontakte öffentlich zu machen. Die in dieser Arbeit verwendeten Angaben beziehen sich auf die statistischen Daten des Mainland Affairs Council (MAC) und des Government Information Office (GIO). 862 Interview mit Lin Zhuoshui am 30.3.03. 863 Jieji yongren ᡂᙕ⭘ᗽ 864 Jiji kaifang, youxiao guanli ぽᾥ䮻᭮, ᴹ᭸㇑⨶
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heute, die von der Volksrepublik China eingeforderten direkten „drei Kontakte“, 865 d.h. direkte Kontakte in Handel, Telekommunikation sowie Schiffs- und Flugverbindungen, zuzugestehen. 866 Der Grund für diese Zurückhaltung besteht darin, dass von Seiten der politischen Führung eine zu große Abhängigkeit vom festlandchinesischen Markt befürchtet wird. Ein Vorbehalt, der auch von Seiten der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung stets geäußert wird: Auf Grund mangelnder Rechtssicherheit könnten die taiwanesischen Investitionen, trotz aller anders lautender Beteuerungen der festlandchinesischen Führung, im Konfliktfall als „wirtschaftliches Unterpfand“ gehandelt werden, um die Regierung in Taipei zu einem Einlenken zu bewegen. Gelegentlich wird sogar der Verdacht geäußert, dass das Festland mit seiner Wirtschaftpolitik eine gezielte Strategie der „friedlichen Eroberung“ Taiwans verfolge. 867 Lin Zhuoshui von der DPP äußerte sich zu dieser Frage wie folgt: Diese starke gegenseitige Abhängigkeit bedeutet für beide Seiten ein hohes Risiko […] Die [taiwanesischen] Investitionen sind auch für das Festland sehr wichtig, vor allem für die chinesische Informationstechnologie […] Daher steigt die Nervosität auf beiden Seiten. Die VRCh will Taiwan in größere Abhängigkeit führen, das stimmt schon. Sie wollen dass wir alle unsere Eier in ihren Korb legen. Aber wenn sie unsere Eier zerschlagen, dann werden sie auch darunter zu leiden haben. Aber natürlich: Für Taiwan ist die Gefahr noch größer. Denn wenn die VRCh ein paar Eier zerschlägt, verdienen sie eben ein bisschen weniger Geld. Für Taiwan wären die Folgen wesentlich ernster. Aber beide Seiten müssten einen Preis zahlen – die VRCh weniger, Taiwan mehr.868
Diese Gefahr einer zu großen Abhängigkeit der taiwanesischen Wirtschaft vom Festland wird nicht in allen Teilen der Literatur in dieser Schärfe gesehen. In seiner Untersuchung über die wirtschaftspolitischen Folgen der hohen Interdependenz kommt Thomas Schneider etwa zu dem Ergebnis, dass wirtschaftliche Sanktionen gegen Taiwan aller Voraussicht nach nicht zu erwarten seien. Zum einen, so Schneider, seien solche Sanktionen für die VRCh mit fast ebenso großen Kosten verbunden wie für Taiwan – Schneider beziffert die zu erwartenden Kosten auf etwa 1-3% des Bruttoinlandsproduktes. Darüber hinaus wären solche Sanktionen auch kaum geeignet, politische Zugeständnisse zu erzwingen. Eine vielleicht allzu optimistische Sichtweise,869 die von der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewe865
Santong й䙊 Seit 2001 wurden diese „drei Kontakte“ in kleinem Rahmen verwirklicht: Unter den so genannten „kleinen Drei Kontakten“ ist es einer begrenzten Anzahl von Schiffen erlaubt, direkt zwischen den kleinen vorgelagerten taiwanesischen Inselgruppen Jinmen und Mazu und den festlandchinesischen Häfen Xiamen und Fuzhou zu verkehren. Bislang bewegen sich die Schiffskontakte jedoch im marginalen Bereich. Siehe http://www.mac.gov.tw/english/ english/csexchan/3link9404a.gif 867 So wies Wu Yushan bereits im Jahre 1994 darauf hin, dass die Handelskontakte zwischen Taiwan und dem Festland durch zwei Anomalien geprägt seien: Erstens bestehe ein gewaltiger Handelsüberschuss zu Gunsten Taiwans; mehr als 85% des Handelsvolumens ergebe sich aus taiwanesischen Exporten in die VRCh. Zweitens sei die Mehrzahl der taiwanesischen Investitionsprojekte auch in wirtschaftlicher Hinsicht für das Festland nicht besonders attraktiv: Die Mehrzahl der taiwanesischen Investoren seien kleine und mittlere Betriebe des arbeitsintensiven Sektors, die vor allem durch geringe Lohnkosten und laxe Umweltschutzbestimmungen auf das Festland gelockt würden. Das Festland nehme also durch die Handelskontakte mit Taiwan enorme Nachteile in Kauf, die sich aus rein ökonomischen Überlegungen nicht erklären ließen. Siehe Wu Yushan 1994: 44ff. 868 Interview mit Lin Zhuoshui am 30.10.03 869 In der Dissertationsarbeit des Thomas Schneider wurde der komplexen politischen und historischen Dimension des Taiwan-China-Konfliktes nur oberflächlich Rechnung getragen. Auf Grund seiner Quellenauswahl, die sich in wichtigen Punkten auf englischsprachige Literatur des Festlandes stützt, gelangt Schneider zu einem sehr 866
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gung in der Mehrheit nicht geteilt wird. Die wirtschaftliche Verflechtung der beiden Territorien, so wird argumentiert, sei für Taiwan mit erheblichen politischen Konsequenzen verbunden, die sich bereits unterhalb der Schwelle eines manifesten und massiven Konfliktes bemerkbar machten. Schon heute ließe sich feststellen, dass die politische Führung des Landes in ihrer Politik gegenüber dem Festland die Interessen der mächtigen Wirtschaftslobby berücksichtigen müsse, die aus nahe liegenden Gründen eine Intensivierung und Erleichterung des wirtschaftlichen Austausches mit dem Festland fordere und berechtigte sicherheitspolitische Bedenken oftmals nicht gelten ließe. Im Zuge einer zukünftigen weiteren Vertiefung der Handelsbeziehungen sei zu befürchten, dass sich dieser Konflikt zwischen wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Interessen auf Taiwan noch verstärken werde. Festzuhalten bleibt, dass alle Versuche einer politischen Steuerung der wirtschaftlichen Investitions- und Handelsströme bislang wenig erfolgreich waren. Auch in Zukunft wird sich Taiwan daher mit den Folgen einer zunehmenden wirtschaftlichen Verflechtung mit dem Festland – und allen damit verbundenen Gefahren – arrangieren müssen.
9.1.4.3 Die militärische Dimension: Die Kriegsdrohung der VRCh Die aggressive Haltung der Volksrepublik China gegenüber der „abtrünnigen“ Provinz Taiwan, die seit 1949 auf eine Wiedervereinigung des Vaterlandes nach einem erfolgreichen Feldzug setzte, wurde seit Ende der 70er Jahre grundsätzlich modifiziert: Taiwan soll nun möglichst mit friedlichen Mitteln zu einer Wiedervereinigung unter dem Motto von „Ein Land, zwei Systeme“870 bewogen werden. Nach wie vor hält die Volksrepublik jedoch an der Androhung militärischer Gewalt fest. Aus Sicht der VRCh wäre ein gewaltsamer Konflikt mit Taiwan unausweichlich, wenn einer der folgenden Punkte eintritt: 1. Taiwan erklärt sich unabhängig; 2. „Fremde Mächte“ intervenieren in der Taiwan-Frage; 3. Taiwan entwickelt Atomwaffen; 4. Taiwan widersetzt sich langfristig Gesprächen über eine friedliche Wiedervereinigung. Im Folgenden soll kurz dargestellt werden, wie diese militärische Drohung des Festlandes in Kreisen der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung diskutiert wird. In dieser Debatte kommt der nuklearen Bewaffnung der Volksrepublik China keine direkte Bedeutung zu. Die Volksrepublik hat mehrmals erklärt, dass bei einem eventuellen kriegerischen Konflikt mit Taiwan keinesfalls Nuklearwaffen zum Einsatz kämen – was aus dem Anspruch der VRCh, Taiwan „befreien“ (und nicht „vernichten“) zu wollen auch durchaus glaubhaft scheint. Sehr wohl wird jedoch in der einschlägigen Literatur erwogen, ob die einseitigen Verständnis der Konfliktdynamik. Die jüngsten Krisen in der Taiwan-Straße (1995/96 und 2000) interpretiert Schneider etwa als bewussten Versuch der taiwanesischen Führung, eine aggressive Reaktion des Festlandes zu provozieren. Laut Schneider „[…] scheint es so, als ob die letzten beiden großen Cross-Strait-Krisen vom taiwanesischen Präsidenten bewusst als klare Gegentaktik zu Pekings ökonomischen Annäherungskurs provoziert wurden. Auf diesem Weg gelang es der Führung in Taipei, die PRC [VRCh] aus der Reserve zu locken und die angespannte Situation zwischen Peking und Taipei dazu zu nutzen, in Taiwan wieder eine negative Grundstimmung gegenüber der PRC zu erzeugen, um auf diesem Weg der eigenen Pro-Unabhängigkeitsagenda neuen Zuspruch und Berechtigung zu verleihen.“ Schneider 2004: 306. Die aggressiven territorialen Ansprüche der VRCh werden von Schneider vollkommen unreflektiert übernommen, so dass jeder Protest gegen die massive militärische Bedrohung der Insel natürlich als „Provokation“ erscheinen muss. 870 Yiguo liangzhi а഻ࡦޙ
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nukleare Bewaffnung der Volksrepublik als Abschreckungspotential gegen die USA dienen könnte, um eine Intervention zu Gunsten Taiwans zu verhindern.871 Folgende Punkte sollen daher im Zentrum der Darstellung stehen:
Das Potential der chinesischen Streitkräfte, eine Invasion der Insel erfolgreich durchzuführen bzw. mit anderen Mitteln der konventionellen Kriegsführung eine Unterwerfung Taiwans zu erzwingen; dazu spiegelbildlich die Verteidigungsbereitschaft der taiwanesischen Streitkräfte, d.h. die Möglichkeit, einem solchen Angriff zu widerstehen oder ein ausreichend großes Abschreckungspotential bereitzustellen; die Wahrscheinlichkeit, dass sich die USA im Falle eines militärischen Konfliktes zu Gunsten Taiwans engagieren würden.
Bezüglich der militärischen Kapazitäten des Festlandes waren bis in die Mitte der 90er Jahre Zweifel angebracht, ob das Festland selbst unter den günstigsten Voraussetzungen – d.h. ohne militärische Intervention des Auslandes – eine Invasion Taiwans durchführen könnte. Trotz der gewaltigen numerischen Überlegenheit der festlandchinesischen Streitkräfte wurde die Volksbefreiungsarmee (VBA) oftmals als „größtes Militärmuseum der Welt“ verspottet. Gegenüber der kompakten und mit modernen Waffen ausgestatteten taiwanesischen Armee galt sie in Ausrüstung und militärischem know-how als hoffnungslos veraltet. Zu bedenken ist auch, dass eine Eroberung Taiwans aus Sicht der VBA auf ganz spezifische militärische Kapazitäten angewiesen wäre, die eine Überquerung der TaiwanStraße ermöglichen müssten. Die umfangreiche Infanterie, die auf über zwei Millionen Soldaten geschätzt wird, wäre hierbei wenig hilfreich. Vielmehr würden Marine und Luftwaffe besondere Bedeutung zukommen. Insbesondere in der letzten Waffengattung konnte Taiwan in der Vergangenheit jedoch durch den Einsatz modernen Kriegsgeräts militärische Kapazitäten bereitstellen, die dem festlandchinesischen Widersacher zumindest ebenbürtig waren. In den letzten 10-15 Jahren hat sich dieses Bild jedoch sehr zu Ungunsten Taiwans gewandelt. Die Volksrepublik hat in der jüngeren Vergangenheit gewaltige Anstrengungen zur Schaffung einer modernen Armee unternommen. Wie ein Artikel in der New York Times kommentierte: Experts say China has been steadily building up its strategic and conventional capabilities and preparing to project its influence into the western Pacific. […] All that spending has gone to building a sophisticated modern military: a massive submarine fleet, an air force stocked with Russian fighter jets, and the newest Chinese-developed technology in missile defense, satellite surveillance, radar, and interception - including the ability to fire nuclear-tipped intercontinental
871 Die Volksrepublik China besitzt seit 1964 Atomwaffen. Selbstverständlich unterliegt das Atomwaffenarsenal der strengsten Geheimhaltung; die Einschätzung der atomaren Kapazitäten der Volksrepublik kann sich daher nicht auf verlässliche Quellen stützen. Dies gilt auch für die Frage des technischen Standards der Trägersysteme und, damit verbunden, der maximalen Reichweite der chinesischen Atomwaffen. Aus Kreisen von Militärexperten wird jedoch berichtet, dass die jüngste Generation der chinesischen Trägerraketen (die Dongfeng IV-Rakete) mit einer Reichweite von bis zu 12.000 Kilometern in der Lage sei, die Ostküste der Vereinigten Staaten zu erreichen. Vgl. Angaben des Verteidigungsministeriums der ROC: http://www.mnd.gov.tw/tonado/searcher.exe?o=2&v= root&p=%AAF%AD%B7
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ballistic missiles from submarines anywhere in the Pacific Ocean. China's military - with some 2.3 million soldiers - can now legitimately challenge that of the United States.872
Während die offiziellen Zahlen der VRCh das Rüstungsbudget des Jahres 2005 mit 30 Milliarden USD (bei einem Anstieg zum Vorjahr um 12,6%) ausweisen, wird diese Zahl von westlichen Militärexperten bezweifelt. Im Juli 2005 ließ das US Verteidigungsministerium verlauten, dass die realen Rüstungsausgaben der VRCh auf mindestens das Dreifache (also 90 Milliarden USD) zu beziffern seien – eine Summe, die weltweit nur von den USA und Russland überboten werde. 873 Diese gewaltigen Rüstungsanstrengungen werden auf Taiwan mit großer Sorge beobachtet. Die Volksrepublik China, so wird argumentiert, wird augenblicklich von keiner äußeren Gefahr bedroht, die eine solche Aufrüstung plausibel machen könnte. Es wird daher befürchtet, dass die VRCh langfristig eine Eroberung der Insel vorbereitet. Eine Befürchtung, die offensichtlich auch von amerikanischer Seite 874 geteilt wird: U.S. Defense Secretary Donald Rumsfeld, currently on a trip to China, asked pointedly in a June 4 [2005] speech in Singapore, “Since no nation threatens China, one must wonder: Why this growing investment? Why these continuing large and expanding arms purchases? Why these continuing robust deployments?” Experts have a one-word answer: Taiwan.875
Demgegenüber sind die taiwanesischen Verteidigungsanstrengungen mit zahlreichen Widrigkeiten konfrontiert. Aus politischen Erwägungen hat Taiwan bislang auf den Aufbau einer starken heimischen Rüstungsindustrie verzichtet; für die Beibehaltung des militärischen Gleichgewichtes in der Taiwan-Straße ist die Insel daher auf den Import von Rüstungsgütern angewiesen. Diese Politik stieß jedoch in der Vergangenheit regelmäßig auf den Widerstand der Volksrepublik China, die jede Waffenlieferung an Taiwan als „Einmischung in die inneren Angelegenheiten“ des chinesischen Staates verurteilte. In einigen Waffengattungen ist es den Streitkräften der ROC daher bislang nicht gelungen, die militärischen Kapazitäten Taiwans an die Bedingungen des fortschreitenden Rüstungswettlaufes anzupassen. Dies gilt etwa für Unterseeboote: Augenblicklich verfügt die taiwanesische Marine lediglich über vier U-Boote älteren Typs, von denen nur zwei bewaffnet sind. Die Versuche der letzten Jahre, moderne Diesel-U-Boote zu erwerben, sind jedoch bislang gescheitert.876
872
New York Times, 24.10.05. Agence France Presse, 22.11.05. Eine militärische Studie aus Japan, die im Frühjahr 2006 im Auftrag der japanischen Regierung durchgeführt wurde, kam ebenfalls zu dem Ergebnis, dass der rapide militärische Ausbau der chinesischen Streitkräfte als destabilisierender Faktor in Südost-Asien zu betrachten sei. Sowohl der Umfang als auch die Art der festlandchinesischen Aufrüstung sei als Hinweis darauf zu deuten, dass die VRCh eine Invasion Taiwans vorbereite. Siehe Agence France Presse, 28.3.06. 875 New York Times, 24.10.05. 876 Geplant ist der Erwerb von acht U-Booten, die in den Vereinigten Staaten hergestellt werden sollen. Umstritten ist jedoch noch, ob Teile der U-Boot Produktion nach Taiwan verlagert werden können – wie die militärische Führung der ROC fordert. Siehe Informationen des Verteidigungsministeriums der ROC: http://www.mnd.gov.tw/ eng/news/newsroom.aspx?PublicID=104. Zudem verfügen die USA selbst nicht über Baupläne für Dieselgetriebene U-Boote, da die U-Boot Flotte der Vereinigten Staaten seit langem auf atomaren Antrieb umgerüstet wurde. Eine Anfrage an die Regierung der Bundesrepublik Deutschland für den Ankauf der entsprechenden Blaupausen wurde jedoch im Jahr 2001 abschlägig beschieden. 873 874
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Die taiwanesischen Rüstungsanstrengungen werden weiterhin mit dem Problem konfrontiert, dass die staatlichen Rüstungsausgaben in den letzten Jahren stetig reduziert wurden und im Jahr 2004 nur noch 16,6% des Staatshaushaltes ausmachten (im Vergleich: 1995 waren es noch 24,5%).877 Im Gegensatz zu den Streitkräften der Volksrepublik China, die auf einen zunehmend größeren Verteidigungshaushalt zurückgreifen können, stehen die Streitkräfte der ROC daher vor der Herausforderung, mit relativ sinkenden finanziellen Mitteln einer immer größeren Bedrohung zu begegnen. In der militärischen Strategie Taiwans scheint sich daher in den letzten Jahren eine neue Tendenz abzuzeichnen, die vermehrt auf die Errichtung von offensiven militärischen Kapazitäten setzt, um das Abschreckungspotential der Streitkräfte zu erhöhen. 878 Ohne auf die militärischen Details einzugehen, lässt sich festhalten, dass eine Mehrzahl von Autoren davon ausgeht, dass eine Invasion der Hauptinsel Taiwan durch die VBA unter den augenblicklichen Umständen nicht Erfolg versprechend wäre. Bislang, so die vorherrschende Meinung, wären die Streitkräfte der ROC aus eigener Kraft in der Lage, einem solchen Angriff effektiv zu begegnen. Ebenso scheinen andere Szenarien, die einen partiellen Konflikt unterstellen – etwa eine militärische Blockade der Hauptinsel Taiwan oder der vorgelagerten Inselgruppen Jinmen und Mazu – aus heutiger Sicht nicht sehr wahrscheinlich. Zwar wäre eine solche Blockade der taiwanesischen Schifffahrtsrouten relativ leicht zu bewerkstelligen und würde zudem ein effektives Mittel darstellen, um die Grundversorgung der Insel innerhalb weniger Tage an einen kritischen Punkt zu führen. Aus ebendiesem Grund hat Taiwan jedoch angekündigt, in einem solchen Fall eine weitere Eskalation des Konfliktes in Kauf zu nehmen und Ziele auf dem Festland anzugreifen. Auch müsste die festlandchinesische Führung, angesichts ihrer martialischen und nationalistischen Wiedervereinigungsrhetorik der letzten Jahrzehnte, bei einem gescheiterten Militärschlag gegen Taiwan sehr ernste innenpolitische Konsequenzen befürchten, die das Regime selbst destabilisieren könnten. Es ist also kaum davon auszugehen, dass sich die politische und militärische Führung des Festlandes zu einem ungenügend vorbereiteten und riskanten militärischen Unterfangen wird hinreißen lassen. In den nächsten Jahren wird die Verteidigungsfähigkeit der taiwanesischen Streitkräfte gegenüber den offensiven Kapazitäten des Festlandes jedoch immer mehr zurückfallen. In naher Zukunft – viele Quellen nennen hier den Zeitraum der nächsten 10-15 Jahren – wird in dieser Entwicklung der entscheidende Punkt erreicht werden, an dem ein Feldzug gegen Taiwan für das Festland mit relativ wenigen Verlusten und innerhalb kurzer Zeit möglich sein wird.879 In Zukunft wird daher für das militärische Gleichgewicht von entscheidender Bedeutung sein, welche Haltung die internationale Staatenwelt – allen voran natürlich die USA – in einem solchen Konflikt einnehmen würde. 877
http://www.gio.gov.tw/taiwan-website/5-gp/yearbook/p104.html#1 Wie die Agence France Presse berichtete, testeten die Streitkräfte der ROC im Januar 2006 erstmals den Prototyp einer neuen Mittelstreckenrakete, die mit einer Reichweite von 600km Ziele auf dem Festland erreichen kann. Sollte diese neue Xiongfeng-Rakete etwa auf der vorgelagerten Penghu-Inselgruppe stationiert werden, würden Ziele in Hongkong oder Shanghai in den Aktionsradius der Raketen geraten. Nach unbestätigten Pressemeldungen plant Taiwan bis zum Jahr 2010 die Herstellung von 50 solcher Raketen, langfristig sollen über 500 dieser Waffensysteme in Dienst gestellt werden. Agence France Presse, 9.1.06. 879 Dr. Masako Ikegami vom Center for Pacific Asian Studies (Stockholm) kommt daher zu der ernüchternden Schlussfolgerung, dass ein massiver bewaffneter Konflikt in der Taiwan-Straße in den nächsten 10-15 Jahren mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu erwarten sei. Dies sei unabhängig davon, wie sich Taiwan verhalte, ob also etwa eine Unabhängigkeitserklärung erfolge oder nicht. Die einzige Möglichkeit, einen solchen Konflikt zu verhindern, bestehe in einer bedingungslosen Kapitulation Taiwans. Ikegami 2006. 878
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Die China-Politik der Vereinigten Staaten wird seit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen mit der ROC und dem damit verbundenen Abzug aller US-Truppen und Militärberater von Taiwan im Jahr 1979 von dem „Taiwan Relations Act“ (TRA) bestimmt (vgl. 5.2.1.). In diesem Gesetzeswerk erklären die Vereinigten Staaten ihre grundsätzliche Politik des „Ein China“ (One China Policy), d.h. die USA erklärten, dass Taiwan und die VRCh als Teil eines chinesischen Staates zu betrachten seien. Gleichzeitig betonten sie jedoch, dass jede Änderung des Status Quo nur auf friedliche Weise geschehen dürfe, gewalttätige Übergriffe einer Seite seien für die USA hingegen ein „Anlass zu großer Besorgnis“ (matter of grave concern).880 Von Seiten der VRCh, die Taiwan als ihr Staatsgebiet betrachtet, wird der Taiwan Relations Act grundsätzlich als illegitime Einmischung in innerchinesische Angelegenheiten verurteilt. Insbesondere zwei Punkte, die im vorliegenden Kontext von besonderem Interesse sind, führen zu häufigen Irritationen: Im Art. 5 des TRA erklären die Vereinigten Staaten ihren Willen, Taiwan den Zugang zu Defensivwaffen zu ermöglichen, deren Umfang die Verteidigungsbereitschaft der Insel sicherstellen soll. Nach heftigen Protesten der VRCh wurde diese Bestimmung in einem Communiqué von 1982881 ergänzt: Die Waffenlieferungen an Taiwan sollen demnach in ihrem Umfang nicht die Waffenlieferungen an die VRCh überschreiten. Es lässt sich jedoch festhalten, dass dieser Versuch der VRCh, eine Beschränkung der amerikanischen Waffenlieferungen an Taiwan zu erwirken, praktisch folgenlos blieb. Die Frage über den Verkauf von Rüstungsgütern an Taiwan wird in den USA unter rein politischen (und ökonomischen) Gesichtspunkten behandelt; es ist dem Autor nicht bekannt, dass hierbei juristische Bedenken jemals eine bedeutende Rolle gespielt hätten. 882 Von größerem Interesse ist indes der Art. 4 des TRA: Hier erklären die Vereinigten Staaten in konkreten Worten, wie der Begriff der „nicht-friedlichen“ Mittel zu definieren sei. Im Gesetzestext heißt es: [The United States] consider any effort to determine the future of Taiwan by other than peaceful means, including by boycotts or embargoes, a threat to the peace and security of the Western Pacific area and of grave concern to the United States.
Unter „nicht-friedlichen Mitteln”, so der TRA, seien also nicht nur bewaffnete Konflikte zu verstehen. Auch die Anwendung von Boykott- oder Embargomaßnahmen seien als aggressive und nicht zu tolerierende Schritte zu betrachten. Die Möglichkeiten der VRCh, Druck auf Taiwan auszuüben, wären damit also beträchtlich eingeengt. Trotz dieser klaren Aussagen sind Zweifel angebracht, ob die USA ihre eingegangenen Verpflichtungen im Krisenfall wirklich wahrnehmen würden. Hierbei ist zu beachten, dass es sich bei dem TRA nicht um ein völkerrechtlich verbindliches Abkommen zwischen zwei Staaten handelt, sondern um ein Gesetz, dass in einem internen Gesetzgebungsprozess der Vereinigten Staaten verabschiedet wurde. Sowohl Interpretation als auch eventuelle Abänderungen des TRA wären daher allein Sache der USA. Wenngleich die Vereinigten Staaten in der Vergangenheit ihre Bereitschaft unter Beweis gestellt haben,
880
http://usinfo.state.gov/eap/Archive_Index/Taiwan_Relations_Act.html Siehe etwa Zhu Chenghu 1998: 174ff. 882 Im Jahre 2001 offerierten die USA etwa ein Verkauf von Rüstungsgütern im Wert von 610 Milliarden Taibi, dem finanziell größten Waffenverkauf seit über zehn Jahren. Die Bewilligung der finanziellen Mittel für diese Rüstungsgüter wurde jedoch im Legislativ-Yuan bislang mit den Stimmen der Opposition verweigert. Siehe Lin Cheng-yi/Lin Wen-cheng 2005: 69-88. 881
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sich im Krisenfall auch massiv zu Gunsten Taiwans zu engagieren, 883 bleibt doch fraglich, inwieweit diese Bereitschaft (und Möglichkeit) für eine Intervention zu Gunsten Taiwans auch in Zukunft als verlässlicher Faktor des schwelenden China-Taiwan-Konfliktes betrachtet werden kann. Von strategischer Bedeutung ist hierbei (wie im Vorangegangenen angedeutet) auch die Frage, ob die zunehmenden nuklearen Kapazitäten der VRCh, die als Drohpotential 884 gegen Amerika dienen könnten, in Zukunft zu einem strategischen Umdenken der USA führen werden. In Kreisen der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung wird die Frage einer USamerikanischen Intervention im Falle eines Konfliktes mit dem Festland optimistisch beurteilt. Zum einen, so wird argumentiert, würden die Vereinigten Staaten aus ideologischen Beweggründen mit dem demokratischen Taiwan gegenüber dem kommunistischen Festland sympathisieren. Zudem würden die USA jedoch auch aus eigenem Interesse nicht zulassen, dass Taiwan von der VRCh eingenommen werde. Auf Grund der geostrategischen Bedeutung Taiwans würde eine solche Entwicklung die gesamte Sicherheits- und Verteidigungsstruktur des südostasiatischen Raumes erschüttern. Daher treffe auch der Vorwurf der Unabhängigkeitsgegner nicht zu, dass es nicht opportun sei, sich in seinem Unabhängigkeitsstreben auf die Kraft einer fremden Macht zu verlassen. Die TIP erläuterte hierzu: Die USA und Japan haben starke wirtschaftliche und militärische Interessen gegen-über Taiwan, daher werden sie sich auch in Zukunft für Taiwan engagieren […] Als Kuwait von dem Irak überfallen wurde, waren sie auch auf die militärische Unterstützung der USA und Großbritanniens angewiesen. Warum sollte das eine Schande sein? Staaten sind wie Menschen, man hilft sich gegenseitig. Taiwan hat eine besondere geostrategische Bedeutung, deswegen werden die USA und Japan natürlich auch ihre eigenen nationalen Interessen bedenken […] Heutzutage ist ein Krieg nicht länger nur eine Angelegenheit zwischen zwei Staaten. Wir leben in einem globalen Dorf, und eine Eroberung [Taiwans durch die VRCh] hätte Auswirkungen auf den ganzen Weltfrieden. Das könnten die USA niemals zulassen.885
Für den gesamten Komplex der militärisch-strategischen Dimension lässt sich aus Sicht der Unabhängigkeitsbewegung daher Folgendes konstatieren: In den nächsten Jahren, so wird argumentiert, seien die militärstrategischen Voraussetzungen – sowohl, was die Verteidigungskapazitäten der eigenen Streitkräfte als auch die Interventionsbereitschaft der Vereinigten Staaten betrifft – für Taiwan als günstig zu bezeichnen. Diese beiden Voraus883 Die größte Krise zwischen Taiwan und dem Festland der letzten Jahre ereignete sich in den Jahren 1995/96: Im Umfeld der ersten freien Präsidentschaftswahlen auf Taiwan unternahm das Festland eine Reihe von Militärmanövern in unmittelbarer Umgebung der Insel, die nach Ansicht einiger Beobachter als Vorbereitung auf eine Invasion gedeutet werden konnten. Die Vereinigten Staaten entsandten daraufhin zwei Flugzeugträger-Verbände in die Region, der Konflikt konnte rasch eingedämmt werden. Für eine ausführliche Beschreibung der Krise von 1995/96 siehe Garver 1997. 884 Von Seiten der chinesischen Führung wurde die nukleare Drohung gegen die USA nie direkt ausgesprochen. Bereits im Jahre 1995 äußerte jedoch General Xiong Guangkai gegenüber dem früheren stellvertretenden USVerteidigungsminister Chess Freeman, dass die VRCh im Falle einer US-amerikanischen Intervention in einem chinesisch-taiwanesischen Konflikt keine andere Wahl habe, als Atomwaffen gegen die USA einzusetzen. Siehe Reuters, 21.12.05. Im Juli 2005 wurde diese Drohung von Generalmajor Zhu Chenghu in einem Gespräch mit Reportern aus Hongkong bekräftigt. Wenngleich die militärische Führung der VRCh diese Bemerkung umgehend verurteilte und General Zhu mit einem Disziplinarverfahren bestrafte, lassen derlei Äußerungen aus Sicht des Autors doch den Schluss zu, dass der Alptraum eines atomaren Waffengangs gegen die Vereinigten Staaten in den höchsten militärischen Führungszirkeln der VBA offenbar ernsthaft in Erwägung gezogen wird. 885 Interview mit Lin Yufa, 24.5.03.
Die Unabhängigkeitsbewegung auf Taiwan
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setzungen können jedoch nicht auf unbestimmte Zeit garantiert werden. Dies erklärt die in der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung häufig zu spürende Stimmung der Dringlichkeit: Für die Option der staatlichen Unabhängigkeit befände sich Taiwan in einem sich rasch verengenden Zeitfenster. Wenn innerhalb dieses Zeitfensters die Chance auf eine staatliche Unabhängigkeit und den damit verbundenen Schutz der internationalen Gemeinschaft ungenutzt bliebe, wäre Taiwan langfristig den aggressiven Bestrebungen der VRCh ausgeliefert. Das von Gegnern der Unabhängigkeitsbewegung stets vorgebrachte Argument, dass eine Unabhängigkeitserklärung zwangsläufig zu einem Konflikt mit dem Festland führen müsse, übersehe hierbei einen entscheidenden Punkt: Für die Frage einer möglichen festlandchinesischen Aggression sei es vollkommen irrelevant, wie sich Taiwan verhalte. Das Festland werde nicht dann gegen Taiwan militärisch vorgehen, wenn sich die Insel unabhängig erkläre, sondern dann, wenn die militärischen und diplomatischen Vorbereitungen für einen solchen Schritt abgeschlossen seien. Eine Unabhängigkeitserklärung wäre daher nicht Auslöser eines kriegerischen Konfliktes, sondern im Gegenteil die einzig gangbare Strategie, um den drohenden Konflikt mit dem Festland auf Dauer beizulegen. Nur dann, wenn sich Taiwan und die VRCh als gleichberechtigte souveräne Staaten begegneten, könne eine echte und dauerhafte Friedenspolitik mit dem Festland eingeleitet werden.
9.1.4.4 Die öffentliche Meinung Die Unabhängigkeitsbewegung plädiert in ihrer Mehrheit dafür, die Frage der staatlichen Unabhängigkeit über ein allgemeines, bindendes Referendum zu entscheiden. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, inwieweit der Wunsch nach staatlicher Unabhängigkeit in der taiwanesischen Bevölkerung verbreitet ist, und welcher Anteil der Bevölkerung bereit wäre, den angesichts der militärischen Drohung des Festlandes riskanten Schritt einer formalen Unabhängigkeitserklärung zu wagen. Die beiden großen politischen Lager nehmen für sich in Anspruch, in der Frage der Unabhängigkeits- bzw. Wiedervereinigungsdebatte den mehrheitlichen Willen der taiwanesischen Bevölkerung zu repräsentieren. Hierzu werden Umfragen angeführt, wie sie seit Mitte der 90er Jahre von den verschiedensten Institutionen und Parteien durchgeführt werden. Eine vergleichende Betrachtung der entsprechenden Umfragen der letzten fünf Jahre zeigt jedoch, dass die jeweiligen Ergebnisse stark voneinander abweichen (siehe Tab. 1 und 2) – der prozentuale Anteil der Befragten, die sich für eine taiwanesische Unabhängigkeit aussprachen, zeigte in dem beobachtetem Zeitraum eine verblüffende Varianz von 3,4% bis hin zu 51,4%. Eine zufrieden stellende Erklärung für diese weite Streuung ist dem Autor nicht bekannt; es ist jedoch auffällig, dass die entsprechenden Umfrageergebnisse meist die politische Präferenz der durchführenden Stelle reflektieren. Einige Punkte sind darüber hinaus zu beachten: Zum einen zeigt ein Blick auf die zeitliche Dimension, dass die Frage nach staatlicher Unabhängigkeit bzw. Wiedervereinigung mit dem Festland offenbar kurzfristigen Stimmungsschwankungen unterliegt, die durch tagespolitische Ereignisse hervorgerufen werden könnten. Ein Beispiel hierfür bieten die Umfragen, die von dem Fernsehsender TVBS im August 2003 und im März 2005 durchgeführt wurden: Innerhalb von nur 18 Monaten war ein Anstieg der Unabhängigkeitsbefürworter von sechs auf über 30 Prozent zu verzeichnen.
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Taiwan heute: Demokratisierung und postautoritäre Gesellschaft
Tabelle 1: Meinungsumfragen zu Wiedervereinigung/Unabhängigkeit, 2000-2005. Bis zu sechs mögliche Antworten: a. b. c. d. e. f.
Möglichst rasche Unabhängigkeit Zunächst Status Quo, später Unabhängigkeit Status Quo auf unbegrenzte Zeit beibehalten Zunächst Status Quo, Entscheidung über Unabhängigkeit oder Wiedervereinigung verschieben Zunächst Status Quo, später Wiedervereinigung Möglichst rasche Wiedervereinigung
2000/01 2000/02
Antworten, Angaben in % (Fehlende auf 100: keine Antwort/Meinung) a b c d e f 11,0 14,0 34,0 17,0 6,0 3,2 13,8 17,4 39,0 20,2 2,0
2000/02 2000/06 2000/08 2000/12
5,8 11,9 13,0 2,4
12,5 8,5 13,0 12,6
19,3 11,7 32,0 13,5
35,2 42,1 39,3
19,0 9,0 19,0 24,4
2,4 10,3 10,0 3,8
2001/12 2002/05
17,0 2,9
9,0 12,6
31,0 14,3
38,5
16,0 14,8
10,0 2,7
2002/05 2003/05 2003/10 2004/04
17,0 4,8 22,0 3,3
11,0 11,5 14,0 16,6
34,0 10,8 35,0 18,0
34,2 40,0
16,0 29,5 11,0 9,8
9,0 4,0 6,0 2,0
2004/11 2005/02
21,0 5,3
10,0 13,8
36,0 22,7
37,0
11,0 11,0
6,0 1,3
2005/02 2005/03 2005/04 2005/11
16,0 4,1 16,0 10,3
10,3 14,2 7,4 14,0
43,1 48,7 9,7 18,4
41,2 37,7
12,6 10,2 7,8 12,0
6,3 1,2 6,1 2,1
Datum
Umfrage durchgeführt von: United Daily News Nat. Forschungszentrum für Meinungsumfragen Burke Marketing Research Today News Agency United Daily News Nat. Forschungszentrum für Meinungsumfragen United Daily News Zhengzhi-Universität, Institut für Soziologie United Daily News KMT – Policy Research Center United Daily News Zhengzhi-Universität, Foschungszentrum für Wahlen United Daily News Zhengzhi-Universität, Foschungszentrum für Wahlen United Daily News China Times ERA-Newschannel Zhengzhi-Universität, Foschungszentrum für Wahlen
Die Unabhängigkeitsbewegung auf Taiwan
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Tabelle 2: Meinungsumfragen zu Wiedervereinigung/Unabhängigkeit, 2000-2005. Bis zu drei mögliche Antworten: a. b. c.
Taiwanesische Unabhängigkeit Status Quo Wiedervereinigung
2000/05 2000/05 2001/03
Antworten, Angaben in % (Fehlende auf 100: keine Antwort/Meinung) a b c 36,8 13,8 30,3 16,0 55,0 14,0 29,6 21,6 26,6
2001/04
11,6
58,4
18,8
2002/08 2002/08 2002/12 2003/08 2003/10 2003/12 2004/10 2005/03 2005/03
24,4 42,5 17,4 6,0 51,8 17,0 30,1 23,0 31,0
54,8 18,4 54,3 57,0 66,0 54,9 47,0 40,0
12,9 19,9 18,9 11,0 29,0 8,0 7,0 12,0 13,0
Datum
Umfrage durchgeführt von:
Juece gonguan-Zentrum für Meinungsforschung TVBS-Fernsehstation Exekutiv-Yuan: Research, Development and Evaluation Commission Zhengzhi-Universität, Forschungszentrum für Wahlen KMT – Policy Research Center DPP-Parteizentrale Tianxia-Magazine TVBS-Fernsehstation DPP [Antwort „Status Quo” nicht vorgegeben] TVBS-Fernsehstation Exekutiv-Yuan, Abteilung für Medien China Times TVBS-Fernsehstation
Nach Meinung des Autors dürfte hierbei das „Anti-Abspaltungsgesetz“ der VRCh vom Frühjahr 2005 einen wichtigen Einfluss ausgeübt haben, das auf Taiwan von vielen Seiten als Provokation empfunden wurde und zu einem „Wagenburg-Effekt“ (rally around the flag) geführt haben könnte. Von noch größerer Bedeutung ist jedoch, welche möglichen Alternativen in den entsprechenden Umfragen jeweils zur Auswahl gestellt werden. Wie die Tabellen zeigen, führt eine thematische Aufsplitterung der Rubrik „Status Quo beibehalten“ dazu, dass ein großer Teil der Befragten von den beiden Extremen „sofortige Unabhängigkeit“ oder „sofortige Wiedervereinigung“ abrückt (vgl. Tab.1). In Tab.2 ist der umgekehrte Effekt zu beobachten: Je weniger Auswahlmöglichkeiten angeboten wurden, desto mehr waren die Befragten bereit, sich auf eine der beiden klaren Alternativen Unabhängigkeit oder Wiedervereinigung festzulegen. Am extremsten lässt sich dies in der Umfrage der DPP vom Oktober 2003 beobachten: Hier wurde die Option „Status Quo beibehalten“ überhaupt nicht zur Auswahl gestellt, die Umfrage zeigte (was aus dem Vorangegangenen nicht überraschen sollte) eine deutliche relative und absolute Mehrheit für die taiwanesische Unabhängigkeit. Lin Zhuoshui verteidigte in einem Gespräch mit dem Autor dieses auf den ersten Blick fragwürdige Vorgehen: Ich denke, [viele Umfragen] fragen nicht nach der Meinung der Leute, sondern nach der [bevorzugten] Strategie. Die Meinung der Leute wird am besten in den Umfrage erkenntlich, die wir
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Taiwan heute: Demokratisierung und postautoritäre Gesellschaft [die DPP] durchgeführt haben […] Unser Vorgehen ist nicht so kompliziert. Wir fragen die Leute direkt: Wollt ihr euch mit dem Festland wieder-vereinigen, oder wollt ihr die Unabhängigkeit? […] Ich denke, Status Quo ist auch eine Form der Unabhängigkeit. Aber Status Quo ist eine Strategie, und keine Meinung. Nur Unabhängigkeit oder Wiedervereinigung sind echte Meinungen. Wenn man zu komplizierte Fragen stellt, dann bekommt man auch komplizierte Antworten.886
Diese Bemerkung verweist auf eine weitere Schwierigkeit in der Interpretation der Umfrageergebnisse: In fast allen Umfragen lässt sich jeweils eine klare Mehrheit für die (zeitlich befristete oder unbefristete) Beibehaltung des Status Quo konstatieren. Dabei bleibt jedoch offen, was die Befragten jeweils mit „Status Quo“ assoziieren. Von Seiten der Unabhängigkeitsbewegung wird hierbei (aus Sicht des Autors nicht ganz zu Unrecht) argumentiert, dass Taiwan bereits ein faktisch unabhängiger Staat sei. Der Wunsch nach Beibehaltung dieses faktisch unabhängigen Zustandes müsse daher als eine Art implizites Bekenntnis für die Unabhängigkeit Taiwans gewertet werden. Gleichzeitig müsse der taiwanesischen Bevölkerung jedoch bewusst gemacht werden, dass dieser Status Quo in Zukunft unmöglich bewahrt werden könne. Das Festland habe mehrmals deutlich erklärt, dass es den augenblicklichen Zustand nicht unbegrenzt tolerieren und eine „Wiedervereinigung des Vaterlandes“ früher oder später erzwingen werde. So äußerte sich Lin Yufa von der TIP: Was bedeutet „Status Quo“? Das bedeutet, den augenblicklichen Staus Quo der Unabhängigkeit beizubehalten […] Aber in Zukunft wird eine Beibehaltung dieses Zustandes immer unwahrscheinlicher. Die VRCh will uns einverleiben. Sie übt diplomatischen und militärischen Druck aus, um Taiwan zu einem Teil Chinas zu machen […] Man muss sich also zwischen Taiwan und China entscheiden. Will man Chinese sein oder Taiwanese? Wenn man Taiwanese sein will, dann muss man die taiwanesische Unabhängigkeit unterstützten. Und wer Chinese sein will, der kann ja nach China gehen […] Es gibt zwar auf Taiwan immer noch einige Leute, die am Status Quo festhalten wollen, aber auch die werden sich entscheiden müssen. Dafür müssen wir arbeiten.887
Aus den verfügbaren Daten lässt sich lediglich der Schluss ziehen, dass eine aussagekräftige und unumstrittene Sondierung der öffentlichen Meinung zur Frage der taiwanesischen Unabhängigkeit nicht vorliegt. Daher ist es auch nicht möglich, eine eindeutige Tendenz der öffentlichen Meinung zu erkennen oder gar in die Zukunft zu extrapolieren – ungeachtet der Tatsache, dass entsprechende Umfragen mit den unterschiedlichsten Designs das politische Geschehen der letzten Jahre begleiten und immer wieder für Schlagzeilen sorgen. Während einige Beobachter bereits ein „Ende der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung“888 ausgerufen haben, wird von anderer Seite ein langsames, aber stetiges Anwachsen der Unabhängigkeitsbefürworter beobachtet. Die lange gehegte Vorstellung der Unabhängigkeitsbewegung, ein Ende der autoritären KMT-Herrschaft müsse zwangsläufig und unmittelbar zu einer taiwanesischen Staatsgründung führen, hat sich jedoch offensichtlich nicht bewahrheitet. Es steht auch nicht zwangsläufig zu erwarten, dass die Unterstützung für eine taiwanesische Unabhän-
886
Interview mit Lin Zhuoshui am 30.10.03. Interview mit Lin Yufa (TIP) am 24.5.03. 888 Siehe z.B. Ross 2006: 147f. 887
Der 228-Aufstand
309
gigkeit im Laufe der Zeit an mehr Boden gewinnen wird.889 Zwar ist es der Unabhängigkeitsbewegung seit Ende der 80er Jahre gelungen, das Thema der staatlichen Unabhängigkeit von allen politischen Tabus zu befreien und eine große Anzahl von Unterstützern zu gewinnen. Es hat jedoch den Anschein, als sei der Prozess des Anwachsens der Unabhängigkeitsbewegung auf Taiwan zumindest zu einem vorläufigen Stillstand gekommen. Daher ist es zumindest sehr fraglich, ob das von der Unabhängigkeitsbewegung geforderte Referendum auch das erhoffte Ergebnis bringen würde. Von Seiten der Unabhängigkeitsbewegung wird hierbei argumentiert, dass sich auch nach dem Ende der politischen Alleinherrschaft der KMT ein Bewusstsein der taiwanesischen Identität nur langsam verbreiten könne. Insbesondere im Schul- und Erziehungswesen sowie in den Medien werde nach wie vor eine großchinesische Ideologie propagiert, welche die Anliegen der Unabhängigkeitsbewegung in Misskredit bringen wolle. 890 Ein Referendum über die taiwanesische Unabhängigkeit könne daher nur dann das aufgeklärte Selbstinteresse der taiwanesischen Bevölkerung reflektieren, wenn die Frage der staatlichen Souveränität zuvor in einer öffentlichen und unvoreingenommenen Debatte erörtert worden sei: Heute sprechen sich viele Taiwanesen für die Beibehaltung des Status Quo aus, weil sie nur durch Medien informiert werden, die in der Hand der Wiedervereinigungs-Fraktion sind. Dort wird andauernd die Angst der Leute vor dem Festland geschürt […] Vor einem Referendum müsste daher eine öffentliche Debatte in den Medien stattfinden, vielleicht über ein halbes Jahr oder ein Jahr. Denn in den Medien sehen die Leute heute nur [die Ansichten] der Wiedervereinigungs-Fraktion […] Ich bin sicher: Wenn sie richtig informiert wären, würden sich über 80% der Taiwanesen für die staatliche Unabhängigkeit aussprechen.891
9.2 Der 228-Aufstand 9.2.1 Das Jahr 1987: Entstehung der „228-Bewegung“ Am 4.2.1987, dem Vorabend des 40. Jahrestages des 228-Aufstandes, gründete sich in Taipei die „Gesellschaft zur Herbeiführung eines 228-Friedenstages“.892 Die Gesellschaft, die von Zheng Nanrong, Li Shengxiong und Chen Yongxing (der den Vorsitz innehatte) ins Leben gerufen wurde, verfolgte das erklärte Ziel, die öffentliche Wahrnehmung des Aufstandes zu schärfen und das Tabu, das den Aufstand zu diesem Zeitpunkt nach wie vor umgab, endgültig zu durchbrechen. In einer ersten Verlautbarung, veröffentlicht auf einer Pressekonferenz am 4.2.1987, wurde betont, dass nur über eine offene Auseinandersetzung
889 Robert Marsh schrieb hierzu: „If the DPP waits until the majority of the population are Taiwan nationalists, it may have to wait for a long time. Much experience indicates that we cannot assume that a trend observed over a few years will continue in the same direction.” Marsh 2002: 156. 890 Der Vorwurf der politischen Steuerung der Medien wird in spiegelbildlicher Weise auch von der anderen Seite des politischen Spektrums erhoben. Nach der Verabschiedung eines neuen Mediengesetzes im Herbst 2003, mit dem eine politische Einflussnahme auf die Medien verhindert werden soll, traten zwar zwölf Parteifunktionäre der DPP von ihren Posten in Medienunternehmen zurück. Siehe Taipei Times, 3.9.03. Dennoch, so der Vorwurf der KMT, nehme die DPP über finanzielle Zuwendungen erheblichen Einfluss auf die Berichterstattung einiger Medien. 891 Interview mit Lan Qingtang (TIP) am 24.5.03. 892 Er-er-ba hepingri cujinhui ҼҼ઼ޛᒣᰕ׳䙢ᴳ
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Taiwan heute: Demokratisierung und postautoritäre Gesellschaft
mit dem 228-Aufstand die schwelenden Konflikte innerhalb der taiwanesischen Gesellschaft überwunden werden könnten: Seit 40 Jahren kommen die Toten nicht zur Ruhe, auch die Lebenden finden daher nur schwer ihren Frieden […]. „Friede“ – zwischen den Herrschern und Beherrschten, zwischen Taiwanesen und Festländern – ist jedoch die wichtigste Lebensgrundlage dieser Insel […] Wir appellieren, die Wahrheit zu veröffentlichen und das geschehene Unrecht wiedergutzumachen, auf dass die Seelen der Toten zur Ruhe kommen und die Lebenden in ihren Herzen Frieden finden. Zudem sollen die Bewohner dieser Insel durch Verstehen zu Verständigung, durch Verständigung zu Versöhnung gelangen, denn Versöhnung ist der erste Schritt auf dem Weg zum Frieden.893
Der Appell der „Gesellschaft zur Herbeiführung eines 228-Friedenstages“ um allgemeine Unterstützung stieß auf überwältigende Resonanz: Innerhalb kürzester Zeit solidarisierten sich über 50 Gruppierungen im In- und Ausland mit den Anliegen der Gesellschaft.894 Die öffentliche Debatte um den 228-Aufstand, der sich in den Jahren zuvor auf den journalistischen Bereich beschränkt hatte, nahm damit eine neue Dimension an. Erstmals entstand auf Taiwan eine „228-Bewegung“, die sich unter anderem in öffentlichen Rededebatten und Großkundgebungen artikulierte und damit weite Teile der Bevölkerung erreichte. Unter den Bedingungen des damals noch andauernden Kriegsrechtes stellte dies eine Herausforderung an die Machthaber dar und war für die Teilnehmer mit einem gewissen Risiko verbunden. In einem Gespräch mit dem Autor erinnerte sich Chen Yongxing an das erste Jahr der Veranstaltung: Damals herrschte noch Kriegsrecht, da durfte man keine Demonstrationen abhalten […] Jede unserer Aktionen wurde daher [von der Polizei] behindert, und wir wurden geschlagen. Aber bei jeder Aktion konnten wir [den Polizeikordon] durchbrechen. Was wollten sie auch tun, wenn man friedlich demonstriert? Ich habe mir noch gedacht: Werden sie es wagen zu schießen? Werden sie wie vor 40 Jahren beim 228-Aufstand noch mal schießen? Ich habe nicht gedacht, dass sie sich das trauen würden. Aber man könnte vielleicht festgenommen und [zu einer Gefängnisstrafe] verurteilt werden, darauf hatte ich mich innerlich eingestellt […] Man musste vielleicht einen Preis zahlen, aber ich glaubte nicht, dass sie schießen würden.895
Vom 14.2.-1.3.87 wurden 20 Veranstaltungen auf der ganzen Insel abgehalten. Auf der zentralen Großveranstaltung in Taipei, die von der DPP mitgetragen wurde, versammelten sich nach Berichten der Ziyou shidai über 30.000 Teilnehmer.896 An dem Familiengrab des Lin Yixiong in Yilan fand am gleichen Tag ein Gedenkgottesdienst der presbyterianischen Kirche statt, um der Opfer der Familie Lin im „Zweiten 228-Vorfall“ von 1980 (vgl. 7.3.6.) und der Opfer des Aufstandes von 1947 zu gedenken. Zu weiteren Schwerpunkten der Großkundgebungen wurden insbesondere die Orte, die im 228-Aufstand eine besondere Rolle gespielt hatten, darunter Gaoxiong, wo das Massaker der Truppen unter General Peng 893
Chen Yongxing 1988: 59. Siehe o.A. 1987a: 15. Interview mit Chen Yongxing am 17.3.05. Bei einer Betrachtung von Bildern der ersten 228-Veranstaltungen verwies Chen Yongxing den Autor lachend auf ein Photo, das ihn ohne seine Brille zeigte – „Die war mir da schon von Polizisten von der Nase geschlagen worden.“ 896 Die Veranstaltung wurde zugleich eine „Begrüßungsfeier“ für Yao Jiawen, der eine achtjährige Haftstrafe wegen seiner Beteiligung im Meilidao-Vorfall verbüßt hatte und nur wenige Tage zuvor aus dem Gefängnis entlassen worden war. Yao Jiawen erklärte am selben Abend seinen Beitritt zur DPP, nur wenige Wochen später wurde er zum Vorsitzenden der Partei gewählt. o.A. 1987b: 7ff. 894 895
Der 228-Aufstand
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Mengqi bereits am 6.3. begonnen hatte, sowie Taizhong, Jiayi und Puli, wo im Jahr 1947 die heftigsten Kämpfe zwischen Bevölkerung und Regierungstruppen stattgefunden hatten. Die überwältigende Resonanz hatte die Erwartungen der Veranstalter voll und ganz erfüllt: Seit 40 Jahren hat die KMT das Volk daran gehindert, diesen Vorfall öffentlich zu diskutieren. Durch diese 20 Veranstaltungen wurde das Tabu um den 228-Aufstand jedoch endlich vollständig durchbrochen.897
9.2.2 Die Forderungen der 228-Bewegung Von Seiten der 228-Bewegung wurden bereits im Jahr 1987 konkrete Forderungen hinsichtlich einer juristischen, historischen und politischen Aufarbeitung des 228-Aufstandes erhoben, die im Verlauf der nächsten zehn Jahre weitgehend unverändert blieben. Diese Forderungen stießen zunächst auf den Widerstand des Regimes. Schon bald war die KMT jedoch zu der Einsicht gezwungen, dass ein Festhalten an der vorangegangenen Politik der Unterdrückung und Verleugnung des 228-Aufstandes unter den Bedingungen einer zunehmend liberalen Gesellschaft und einer kritischen öffentlichen Meinung nicht länger möglich war. Nach anfänglichem Zögern wurden die Forderungen daher weitgehend erfüllt – ein Prozess, der 1997 mit der Einweihung des 228-Museums in Taipei zu seinem vorläufigen Abschluss kam.
9.2.2.1 Die Strukturen der modernen 228-Forschung Seit Beginn der 228-Bewegung bestand einer ihrer zentralen Forderungen darin, die „Wahrheit“ des 228-Aufstandes, die über 40 Jahre lang unterdrückt worden war, zu rekonstruieren. An die Machthaber erging der Appell, die Tabuisierung des 228-Aufstandes zu beenden, sämtliche offiziellen Dokumente von Partei- und Regierungsorganen freizugeben und eine öffentliche und kritische 228-Forschung zu ermöglichen. Das Regime leistete gegen diese Forderung anfänglich Widerstand. Nach einer parlamentarischen Anfrage im Legislativ-Yuan898 am 1.3.1988 erklärte Premier Yu Guohua, die Forderung nach Öffnung der Dokumente könne nicht erfüllt werden – aus dem einfachen Grunde, dass nach über 40 Jahren keine Dokumente mehr aufzufinden seien. Nach erbitterter Kritik der Opposition, die der Regierung mangelnde Aufrichtigkeit vorwarf, 899 sah sich das Regime jedoch nur wenige Tage später zu einem ersten Einlenken genötigt. Am 9.3.88 veröffentlichte der Kontroll-Yuan erstmals den offiziellen „Untersuchungsbericht zum 228-Vorfall“ 900 des Zensors für Fujian und Taiwan, Yang Lianggong, sowie den „Bericht zum 228-Vorfall“901 des Verteidigungsministers Bai Chongxi. Diese beiden Dokumente waren im Frühjahr 1947 als offizielle Berichte für die Zentralregierung angefertigt worden und hatten bis dato als 897
o.A. 1987b: 6. Diese parlamentarische Anfrage ging interessanterweise von einer Mandatsträgerin der KMT aus: Frau Xie Meihui appellierte an die Regierung, einen „objektiven“ Bericht über den Aufstand zu veröffentlichen, um der Opposition keine Angriffsfläche im Hinblick auf den 228-Aufstand zu bieten. Siehe Lianhe bao, 2.3.88. 899 Siehe etwa Li Ao 1988: 58ff. 900 Er-er-ba shijian diaocha baogao ҼҼޛһԦ䃯ḕ 901 Er-er-ba shijian baogao ҼҼޛһԦ 898
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Taiwan heute: Demokratisierung und postautoritäre Gesellschaft
verschollen gegolten.902 Im darauf folgenden Jahr 1989 wurde dieser Bericht ausdrücklich als offizielle Lesart der Regierung bestätigt: Am 22.4.1989 erfolgte eine gemeinsame Erklärung des Verteidigungs-, und Justizministeriums zum 228-Aufstand, die als Quellen ausschließlich die offiziellen Berichte des Jahres 1947 auswiesen. Die Regierung begründete dieses Vorgehen damit, dass eine erneute Untersuchung des Vorfalles unmöglich zu neuen Erkenntnissen führen könne: Über die wahren Umstände und Ursachen des Aufstandes finden sich im Untersuchungsbericht des Zensors Yang Lianggong und in dem […] [Bericht des Verteidigungsministers Bai] bereits wahrheitsgetreue und ausführliche Darlegungen. Der Vorfall liegt nun bereits über 40 Jahre zurück, viele Beteiligte sind verstorben, das Material ist verloren gegangen. Wollte man heute einen Bericht anfertigen, der noch genauer als der damalige „Untersuchungsbericht“ sein soll, so wäre das ein Ding der Unmöglichkeit.903
Von Seiten der Regimekritiker wurden diese Schritte als vollkommen unzufriedenstellend zurückgewiesen. Obzwar die persönliche Integrität des Yang Lianggong nicht bezweifelt wurde,904 seien die Berichte des Jahres 1947 unter erheblichem politischem Druck entstanden und reflektierten allenfalls die Sichtweise eines autoritären Regimes, das ein Massaker verschweigen wolle. Es komme daher einer Verhöhnung der Opfer des Aufstandes gleich, der Forderung nach einer historischen Aufarbeitung des 228-Aufstandes mit Bezug auf offizielle Quellen des Jahres 1947 zu begegnen.905 In den Jahren 1987 und 1988 hatte die Regierung aus Sicht der Regimekritiker also jede Aufrichtigkeit für eine Aufarbeitung des 228-Aufstandes vermissen lassen. Zu Beginn der 90er Jahre wurden jedoch erstmals umfangreiche Maßnahmen für eine erneute Aufarbeitung des 228-Aufstandes unternommen. Auf persönliches Betreiben des Präsidenten Li Denghui wurde am 29.11.1990 ein „Sonderausschuss des Exekutiv-Yuan zum 228-Vorfall“906 einberufen. Die Aufgabe des Ausschusses, dessen Vorsitz von VizePremier Shi Qiyang übernommen wurde, bestand darin, sämtliche offene Fragen zum 228Aufstand zu klären und die Regierung insbesondere im Hinblick auf eine eventuelle finanzielle Entschädigung der Opfer, die Errichtung von Gedenkstätten und die Ausrufung eines nationalen Gedenktages am 28. Februar als Beratungsgremium zu unterstützen. Als erster wichtiger Schritt für eine solche Beilegung des 228-Aufstandes wurde eine umfassende Sichtung und Bewertung sämtlicher verfügbaren Materialien zum Aufstand vorbereitet. Zu diesem Zweck wurde dem Sonderausschuss ein „Ausschuss des Exekutiv-Yuan zur Erforschung des 228-Vorfalles“ 907 angegliedert, in dessen „Arbeitsausschuss“ wiederum fünf 902 Die beiden Berichte wurden in allen großen Zeitungen auf Taiwan nachgedruckt. Hinsichtlich des „Untersuchungsberichtes“ des Yang Lianggong wurde jedoch der Verdacht geäußert, dass die Regierung Teile des Berichtes zurückgehalten oder verfälscht habe. In einem Artikel der Minzhong ribao wurde etwa darauf hingewiesen, dass der veröffentlichte Bericht deutliche stilistische Brüche aufweise, zudem sei der Anhang offensichtlich um mehrere Seiten verkürzt worden. Minzhong ribao, 12.3.88. 903 Taiwan ribao, 23.4.89. 904 Yang Lianggong, zu diesem Zeitpunkt 94 Jahre alt, wollte sich an den aktuellen Debatten zu seinem Bericht aus dem Jahre 1947 nicht beteiligen. Er lehnte alle Ansinnen auf ein Interview ab, da er „nicht wünsche, dass sein Lebensabend vom 228-Vorfall gestört“ würde. Siehe Zili wanbao, 13.3.88. 905 Siehe etwa Chen Lingyi 1989 906 Xingzhengyuan er-er-ba zhuan’an xiaozu 㹼᭯䲒ҼҼޛሸṸሿ㍴ 907 Xingzhengyuan yanjiu er-er-ba xiaozu 㹼᭯䲒⹄ウҼҼޛሿ㍴. Bei der Besetzung dieses Ausschusses wurde besondere Rücksicht auf eine paritätische Vertretung von gebürtigen Taiwanesen und Festländern genommen. Dies spiegelte sich auch in dem doppelt besetzten Vorsitz des Ausschusses wider, der gleichberechtigt von dem
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prominente Historiker unter der Federführung von Lai Zehan908 mit der praktischen Ausarbeitung eines offiziellen Berichtes zum 228-Aufstand betraut wurden. Von offizieller Seite wurde dem Arbeitsausschuss, der im Januar 1991 seine Arbeit aufnahm, jede denkbare Unterstützung zugesichert. Li Denghui wies alle staatlichen Stellen an, ihre Archive ohne jede Einschränkung für die Forschergruppe zu öffnen. Zudem fasste das Präsidentenbüro den Entschluss, mit „gutem Beispiel“ voranzugehen und dem 228-Arbeitsausschuß unter anderem uneingeschränkten Zugang zu den bis dato verschlossenen Archiven des Präsidentenpalastes, den so genannten „Daxi“-Archiven, zu gewähren.909 Unterstützung erhielt die Forschergruppe auch von Seiten der VRCh, die (nach anfänglichem Zögern) relevante Materialien aus Archiven in Nanjing und Peking zur Verfügung stellte.910 Die Fortschritte des Arbeitsausschusses, dessen abschließender Bericht für das Frühjahr 1992 angekündigt war, wurden in der taiwanesischen Öffentlichkeit mit Aufmerksamkeit verfolgt. Der 228-Bericht sollte erstmals seit 1947 eine erneute Positionsbestimmung des Regimes zum 228-Aufstand vornehmen. Sowohl für Gegner wie Unterstützer der 228Bewegung war schwer abzuschätzen, zu welchen konkreten Ergebnissen die Forschergruppe dabei gelangen würde. Wenngleich die Abfassung des Berichtes von strengen Geheimhaltungsmaßnahmen umgeben war, drangen im Lauf des Jahres 1991 immer wieder einzelne Details über die Arbeit der Forschergruppe an die Öffentlichkeit und boten dort Anlass zu Spekulationen. Der öffentliche Druck auf die Forschergruppe war daher enorm; zu der gewaltigen Arbeitslast trat ein – laut Lai Zehan – sehr eng bemessener Zeitrahmen: Ich wusste, dass es mindestens drei Jahre dauern würde, wenn man alle Dokumente berücksichtigen wollte. Am Anfang habe ich daher auch vorgeschlagen, dass man [den Forschungsplan] auf drei Jahre ansetzen sollte. Aber Vize-Premier Shi Qiyang von der KMT sagte, das sei zu lang, we can’t wait so long […] Wir hatten nur ein Jahr, um den Bericht zu schreiben, daher konnten wir viel Material nicht berücksichtigen. Ein Jahr war zu kurz […] Ich wollte damals zum Beispiel auch die Archive der Krankenhäuser einsehen, denn deren Dokumentation ist ziemlich ausführlich. Viele Verwundete wurden damals [zur Zeit des 228-Aufstandes] in Krankenhäusern behandelt. Aber die Zeit war zu kurz. […] Ich musste den Bericht schreiben, ich musste ins Ausland, ich musste nach Nanjing – die Zeit war einfach zu knapp.911
Hinzu kam, dass die Arbeit der offiziellen 228-Arbeitsgruppe von Seiten der 228Bewegung mit einem gewissen Misstrauen begleitet wurde. Wenngleich die beteiligten gebürtigen Taiwanesen Chen Zhongguang und dem Festländer Ye Mingxun wahrgenommen wurde. Beide Herren hatten den 228-Aufstand selbst erlebt. 908 Neben Lai Zehan waren dies die Herren Huang Fusan, Wu Wenxing, Huang Xiuzheng sowie Frau Xu Xueji. Ursprünglich sollten die Mitglieder der Forschergruppe – mit Ausnahme von Lai Zehan – erst nach Abschluss des Berichtes namentlich bekannt gegeben werden, um jede äußere Einflussnahme auf die Forscher zu verhindern. Dennoch wurden die Namen der Beteiligten schon sehr früh in der Presse kolportiert. Siehe Ziyou shibao, 3.2.91. 909 Die „Daxi-Archive“ umfassen im Schwerpunkt Materialien und Dokumente des Präsidenten Chiang Kai-shek. Der Name dieser Archive, deren Umfang in etwa 390.000 Schriftstücken zählt, leitet sich von dem Städtchen Daxi im Kreis Taoyuan ab, wo die Archive seit dem Rückzug der KMT im Jahr 1949 aufbewahrt wurden. Schon in der Vergangenheit war ausgewählten Forschern beschränkter Zugang zu den Archiven gewährt worden, dennoch galt das Archiv zu Beginn der 90er Jahre als bei Weitem wichtigste unerschlossene Quelle zur Geschichte der ROC. Entsprechend wurde die Ankündigung auf Öffnung der Archive in Historikerkreisen als Sensation aufgefasst. Im Jahr 1995 wurde das Archiv in den Besitz der Academia Historica überführt. Siehe Internetseite der Academia Historica: http://academia.drnh.gov.tw/c_edit/c_edit_04b.htm 910 Siehe Zhongguo shibao, 10.1.92. 911 Interview mit Lai Zehan am 15.3.05.
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Historiker einen untadeligen Ruf als integre und gewissenhafte Forscher genossen, wurde in Frage gezogen, inwieweit die KMT den Versuch einer politisch motivierten Einflussnahme auf die Forschertätigkeit nehmen würde.912 Insbesondere wurde in diesem Zusammenhang bezweifelt, ob es der Forschungsgruppe gelingen könne, den zu erwartenden Widerstand der konservativen Kräfte des Regimes (vor allem in Polizei und Militär) gegen eine Offenlegung der Dokumente zum 228-Aufstand zu überwinden.913 In der Tat stand die Forschergruppe um Lai Zehan gelegentlich vor der Schwierigkeit, dass einige Behörden es zunächst an der vereinbarten Kooperation ermangeln ließen. Gelegentlich, so Lai, war er daher zu drastischen Schritten gezwungen: Bei der Garnisonshauptkommandantur sagte mir ein Generalleutnant: „Wir haben kein Material […] Wir haben zum 228-Vorfall nur ein Blatt Papier, eine Gesuchtenliste“. Ich wusste, dass das unmöglich war. Die Garnisonshauptkommandantur war damals für Verhaftungen und Exekutionen verantwortlich, natürlich musste es da auch Material geben. Aber man sagte mir, sie hätten keine Dokumente. Da sagte ich: „Na gut. Dann werde ich jetzt eine Pressekonferenz halten und bekannt geben, dass ich von allen meinen Posten zurücktrete.“ Das hat ihnen einen gehörigen Schrecken eingejagt. Am nächsten Tag brachten sie mir zwei Kisten mit Dokumenten. […] Die Seriennummern der Dokumente waren jedoch nicht in der richtigen Reihenfolge. Das zeigt, dass die Dokumente manipuliert wurden. Wahrscheinlich Dokumente, die mit Chiang Kai-shek und Jiang Jingguo zu tun hatten.914
Die regimekritische 228-Bewegung war verständlicherweise nicht bereit, die Deutungshoheit über den 228-Aufstand ausschließlich an eine Arbeitsgruppe des Exekutiv-Yuan abzutreten. Im Jahr 1991 bildete sich daher unter Schirmherrschaft der „Gesellschaft zur Herbeiführung eines 228-Friedenstages“ ein informeller Zusammenschluss von regimekritischen Historikern, die eigenständige Arbeiten zum 228-Aufstand veröffentlichten. In einem Gespräch mit dem Autor erläuterte der Vorsitzende der Gesellschaft, Chen Yongxing, dass diese Forschungstätigkeit lediglich von dem Interesse um eine ausgeglichene Bewertung des 228-Aufstandes geleitet wurde, und keinesfalls die Integrität der offiziellen 228-Forschergruppe in Zweifel ziehen wollte: Wir waren damals in Sorge, dass [die Forschergruppe unter Lai Zehan] nicht ausgewogen genug schreiben würde. Also haben wir auch einen Forschungsausschuss zum 228 gebildet […] Ich denke, dass dies einen gewissen Druck auf Lai Zehan und die offizielle Forschergruppe ausgeübt hat. Natürlich: Lai Zehan und die anderen Mitglieder der Forschergruppe, wie Xu Xueji und 912 Der Vorwurf der politischen Einflussnahme wurde von Lai Zehan jedoch entschieden zurückgewiesen: „Niemand hat uns Instruktionen gegeben […]. Als wir den Forschungsbericht geschrieben haben, waren auch keine Regierungsmitglieder mit uns in Kontakt. Ich war für den Forschungsbericht verantwortlich, daher weiß ich das genau. Der damalige Generalsekretär des Exekutiv-Yuan, Wang Zhaoming, hatte in der letzten Fassung [vor dem Druck] einen Einwand. Wir hatten [den Satz] geschrieben: ‚Taiwan ist ein Inselstaat’. Er meinte, dass ‚Inselstaat’ zu nahe an taiwanesischer Unabhängigkeit sei, [und sagte] wir sollten ‚Insel’ schreiben, das würde doch reichen. Wir haben uns nicht darum gekümmert.“ Interview mit Lai Zehan am 15.3.05. 913 In diesem Zusammenhang wurde auch die Besorgnis geäußert, dass einige Behörden (insbesondere das Militär) entsprechende Dokumente absichtlich vernichten könnten. Im März 1991 wandte sich der „Ausschuss des Exekutiv-Yuan zur Erforschung des 228-Vorfalles“ in dieser Frage an das Präsidentenbüro und appellierte an Präsident Li Denghui, er solle erneut entsprechende Anweisungen an die militärischen Stellen erlassen. Minzhong ribao, 9.3.91. 914 Interview mit Lai Zehan am 15.3.05. Nicht immer, so Lai, war die anfängliche Zurückhaltung einiger Behörden auf mangelnde Kooperationsbereitschaft zurückzuführen. Oftmals fehlte es den entsprechenden Stellen auch an der Sachkenntnis, relevantes Material zu identifizieren.
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Huang Fusan, sind auch seriöse Historiker, sie hätten niemals einfach nur beliebigen Unsinn geschrieben. Aber man konnte nun vergleichen. […] Aus Sicht der offiziellen 228-Forschergruppe war dies also ein gutmütiger Wettbewerb.915
Sowohl von offizieller wie von regimekritischer Seite markiert der Beginn der 90er Jahre daher eine Art Höhepunkt der neueren 228-Forschung. Allein in den zwölf Monaten vom Dezember 1991 bis 1992 erschienen 14 neue Werke zum Thema. Zugleich wurden von regimekritischer Seite die Bemühungen intensiviert, das öffentliche Bewusstsein für den 228-Aufstand zu sensibilisieren. Im Februar 1992 gründete sich die „Gruppe 47“, 916 ein Zusammenschluss von kritischen Akademikern, Schriftstellern und Künstlern, die es sich zum Ziel gesetzt hatten, im Verlauf von zehn Jahren in den verschiedensten kulturellen Bereichen den 228-Aufstand zu thematisieren. Einziges Aufnahmekriterium für die Gruppe, der etwa Zhang Yanxian, Chen Fangming, Lin Zhuoshui und Ye Bowen angehörten, war das gemeinsame Geburtsjahr 1947, das Jahr des 228-Aufstandes. Im Jahr 1997 war diese Gruppe 47 maßgeblich an der Gründung des 228-Museums in Taipei beteiligt. Im Februar 1992, als der „Forschungsbericht zum 228-Aufstand“ des Exekutiv-Yuan schließlich offiziell vorgestellt wurde, 917 hatten sich somit auf Taiwan die heute noch existenten Strukturen einer dezidiert „offiziellen“ und „KMT-kritischen“ 228-Forschung etabliert. Es ist kaum verwunderlich, dass der Forschungsbericht bereits unmittelbar nach seiner Veröffentlichung zum Gegenstand heftiger Kontroversen wurde. Die Betrachtung der inhaltlichen Kontroversen der modernen 228-Forschung, die sich seit 1992 kaum verändert haben, soll einem späteren Kapitel vorbehalten bleiben. An dieser Stelle soll zunächst auf den hohen Stellenwert des Forschungsberichtes verwiesen werden, der aus zwei Gründen bis heute die 228-Forschung prägt: Zum ersten leistete der Forschungsbericht eine umfassende Sichtung und Auswertung aller damals verfügbaren Dokumente und erlaubte damit erstmals eine äußerst fundierte, wenn auch umstrittene, Sicht auf die Ereignisse des Jahres 1947 – eine Leistung, die auch von regimekritischer Seite allgemein eingeräumt wurde. 918 Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung wurde zwar auch von offizieller Seite stets der vorläufige Charakter des Forschungsberichtes betont, dessen Schlussfolgerungen im Zuge weiterer Forschung jederzeit revidiert werden könnten. Wenngleich im Verlauf der letzten Jahre in der Tat eine gewaltige Menge an zusätzlichem Material zum 228-Aufstand zu Tage kam, ist eine solche umfassende Revision bislang ausgeblieben. Der Forschungsbericht muss daher bis heute als offizielle Stellungnahme der KMT zum Aufstand betrachtete werden. So betonte Lai Zehan gegenüber dem Autor mit großem Nachdruck den ungebrochenen Wert des Forschungsberichtes: Der Bericht hat keine Stellen, die grundsätzlich überarbeitet werden müssten. Seit [1992] sind viele neue Dokumente aufgetaucht, die ein genaueres Verständnis über lokale Vorgänge 915
Interview mit Chen Yongxing am 17.3.05. Si-qi she ഋг⽮. Der Name der Gruppe war in bewusster Anlehnung an die „Gruppe 47“ der BRD entstanden. Eine Anthologie der Schriften der Gruppe 47 findet sich in Si-qi she 1992a; Si-qi she 1992b. Im Jahr 2001 löste sich die Gruppe plangemäß auf. 917 Die offizielle Veröffentlichung des Forschungsberichtes erfolgte am 22.2.92. Bereits einige Wochen zuvor war durch eine Indiskretion eine vorläufige Endfassung des Berichtes an die Presse gelangt, die öffentliche Debatte um den Forschungsbericht hatte daher bereits Anfang Februar eingesetzt. Siehe Zhongguo shibao, 11.2.92. 918 So äußerte etwa Li Xiaofeng seinen ausdrücklichen Respekt vor der gewissenhaften Arbeit der beteiligten Historiker und bezeichnete den Forschungsbericht als „viel besser als erwartet, wenn auch nicht ideal“. Siehe Ziyou shibao, 11.2.92. 916
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Taiwan heute: Demokratisierung und postautoritäre Gesellschaft ermöglichen. Über den Widerstand in jedem [Verwaltungs-] Kreis gibt es jetzt genaue Berichte, die hatten wir bei unserem Forschungsbericht noch nicht zur Verfügung […] Aber das große Bild, the whole picture, hat sich nicht verändert. Heute gibt es einige Gelehrte, die immer sagen, man müsse [den Forschungsbericht] grundsätzlich überarbeiten, aber das ist nonsense […] Wir laden jeden herzlich ein, eine Überarbeitung zu schreiben, aber von diesen Leuten kommt immer nur Kritik, keine echten Taten.919
Zweitens stellte der Forschungsbericht für die Regierung die wichtigste Referenzquelle für alle weiteren Maßnahmen zur Beilegung des 228-Aufstandes dar, insbesondere hinsichtlich der Errichtung von 228-Gedenktätten, der Entschädigung der Opfer sowie der (letztlich gescheiterten) strafrechtlichen Verfolgung der Haupttäter des Aufstandes. Der 228Forschungsbericht diente damit bis in die zweite Hälfte der 90er Jahre als Fundament des staatlichen Handelns. Aus Sicht der KMT war die Regierung mit der Abfassung des Forschungsberichtes ihrer Verpflichtung nach Offenlegung der Dokumente und Offenbarung der „Wahrheit“ des 228-Aufstandes nachgekommen.
9.2.2.2 Die Errichtung von 228-Gedenkstätten und Mahnmalen Die Errichtung von Denkmälern und Mahnmalen als manifeste Symbole des historischen Gedenkens an den 228-Aufstand gehörte ebenfalls zu den frühen Forderungen der 228Bewegung. Auch in diesem Punkt war die Regierung zunächst nicht zu Zugeständnissen bereit, die 228-Aktivisten waren daher in den ersten Jahren auf eigene Ressourcen angewiesen. Bereits im Februar 1988 entstand in Neihu (Kreis Taipei) eine erste 920 kleine Gedenkstätte für den bekannten taiwanesischen Gelehrten und Kulturschaffenden Lin Maosheng, der im 228-Aufstand umgekommen war; die Stätte wurde jedoch kurz nach ihrer Fertigstellung auf polizeiliche Anordnung wieder abgerissen. 921 Im darauf folgenden Jahr gelang jedoch ein erster Durchbruch: In der südtaiwanesischen Stadt Jiayi, wo die parteilose Bürgermeisterin Zhang Boya dem Ansinnen mit Sympathie gegenüber stand, wurde am 19.8.89922 die erste dauerhafte 228-Gedenkstätte Taiwans eingeweiht.923 Die Finanzierung der Gedenkstätte war ausschließlich über private Spenden ermöglicht worden, wobei Spenden nur bis zu einem Höchstbetrag von 1000.- NTD (damals etwa 80.- DM) angenommen 919
Interview mit Lai Zehan am 15.3.05. In der Tat stieß man im Zuge der erhitzten Debatte um die Errichtung einer „ersten 228-Gedenkstätte“ auf die überraschende Tatsache, dass im Städtchen Magong auf der kleinen Insel Penghu bereits seit dem Jahr 1947 eine bislang unbeachtete 228-Gedenkstätte bestand. Mit dieser Gedenkstätte sollte damals der Dankbarkeit Ausdruck verliehen werden, dass Penghu vom 228-Aufstand weitgehend verschont geblieben war. Siehe Lianhe bao, 6.1.92. 921 Die Gedenkstätte wurde zum großen Teil von Lin Zongping, dem Sohn des Lin Maosheng, finanziert. Siehe o.A. 1988a: 63. 922 Auch bei der Errichtung dieser 228-Gedenkstätte galt es zunächst, erhebliche Widerstände der Behörden auszuräumen. Die Einweihung der Gedenkstätte, die ursprünglich für den Januar des Jahres anvisiert gewesen war, verzögerte sich daher bis zum Herbst. Die Gedenkstätte wurde nach ihrer Fertigstellung der Stadt Jiayi übereignet. Siehe o.A. 1989c: 30; Lu Junyi 1991: 156ff. 923 Die Geschichte der Gedenkstätte von Jiayi ist von einigem Interesse: Auf dem Ort der 228-Gedenkstätte vor dem Bahnhof von Jiayi stand ursprünglich eine Bronzestatute des chinesischen Mandarins Wu Feng, der nach einer Legende im 18. Jahrhundert durch sein Selbstopfer die Ureinwohner Taiwans von der grausamen Sitte der Menschenopfer abgebracht hatte. Diese Legende wurde von Vertretern der lokalen Ureinwohnerstämme Südtaiwans als Ausdruck des chinesischen Chauvinismus und Beleidigung der eigenen Kultur verurteilt. Am 31.12.1988 wurde die Statue von einer Delegation der Ureinwohner zerstört. 920
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wurden. Die Gedenkstätte, so Chen Yongxing auf der Einweihungsfeier, könne somit in der Tat als kollektive Leistung des taiwanesischen Volkes betrachtet werden.924 Die Regierung, die sich seit 1992 aktiv an der Errichtung von 228-Gedenkstätten925 beteiligte, stand hier vor einem Dilemma: Einerseits bot sich für die KMT eine Gelegenheit, ihre Aufrichtigkeit bei der Aufarbeitung des Aufstandes öffentlichkeitswirksam zu dokumentieren; andererseits wurde sie jedoch zu einer klaren Stellungnahme bezüglich der Ursachen und der historischen Bedeutung des Aufstandes gezwungen. Von besonderer Brisanz waren hierbei die Texte der Gedenktafeln, deren genauer Wortlaut zu heftigen Auseinandersetzungen mit den Angehörigenverbänden der Opfer des 228-Aufstandes führte. Von Seiten der Angehörigen, die sich seit Beginn der 90er Jahre in verschiedenen Verbänden organisiert hatten (siehe 9.2.3.3.), wurde vehement gefordert, dass die entsprechenden Texte einen Verweis auf die „Schuldigen“ der Massaker enthalten müssten. Dies galt vor allem für General Peng Mengqi, der von der regimekritischen 228-Bewegung als „Schlächter von Gaoxiong“ geschmäht wurde, und Präsident Chiang Kai-shek selbst, der die politische Verantwortung für den 228-Aufstand trage. Im Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit stand das prestigeträchtige 228-Mahnmal in Taipei, dessen Errichtung unmittelbar im Anschluss an die Veröffentlichung des 228-Forschungsberichtes im Februar 1992 beschlossen wurde. Auf Anregung von Präsident Li Denghui wurde die Planung des Denkmals in die Hände eines „Ausschusses zur Errichtung eines Denkmals für den 228-Vorfall“926 gelegt, in dem Vertreter der Regierung, der KMT-kritischen 228-Bewegung und der Angehörigen der Opfer im Konsens über die Ausgestaltung des Mahnmals befinden sollten. Es erwies sich jedoch, dass ein solcher Konsens oft nicht zu erzielen war. Schon die Wahl des Ortes war von Kontroversen begleitet. Eine erste Entscheidung der Regierungsvertreter, das Mahnmal in dem weitläufigen, aber abgelegenen Xinsheng-Park in unmittelbarer Nähe des SongshanFlughafens zu errichten, stieß auf den Widerstand der Angehörigen und musste schließlich zu Gunsten des zentral gelegenen „Neuen Parks“ (später umbenannt in „Park zum 228Friedensgedenken“ 927 ) revidiert werden. 928 Der Vorsitzende des Ausschusses zur Errichtung des Denkmals, Qiu Chuanghuan, erklärte daraufhin seinen Rücktritt. 929 Auch die konkrete Gestaltung des 228-Denkmals, die Gegenstand eines öffentlichen Wettbewerbs wurde, führte zu Kontroversen. Nach einer umstrittenen Entscheidung des Ausschusses zur Errichtung des Denkmals wurde aus über 280 Einsendungen schließlich ein Entwurf des Zheng Zicai zum Sieger des Wettbewerbs erklärt. Von vielen Seiten wurde hierbei politische Motive vermutet: Zheng Zicai war im April 1970 am Attentat auf Jiang Jingguo in New York beteiligt gewesen930(424-Vorfall, siehe 5.1.3.) und galt als Held der taiwane924
Wu Huifen 1989: 69. Am 28.2.92 wurde in Pingdong die erste aus öffentlichen Geldern finanzierte 228-Gedenkstätte eingeweiht. Bis heute existieren auf ganz Taiwan 21 Denkmäler und Mahnmale zum 228-Aufstand. Zur geographischen Lage und Entstehungsgeschichte der einzelnen Mahnmale siehe Internetseite der 228 Memorial Foundation: http://www.228.org.tw/promote_monument.php 926 Er-er-ba shijian jianbei weiyuanhui ҼҼޛһԦᔪ⻁ငᴳ 927 Die Umbenennung des Parks in Jahr 1996 fiel unter die Verantwortung der Stadtregierung Taipei unter dem damaligen Bürgermeister Chen Shuibian. Am Eingang des Parks wurde ein eigener Gedenkstein errichtet, dessen Gedenktext weitgehend in Absprache mit den Angehörigen verfasst wurde. Siehe Lianhe wanbao, 26.2.96. 928 Siehe Minzhong ribao, 16.4.92. 929 Siehe Zhongguo shibao, 16.4.92. 930 Zur Zeit des Wettbewerbes musste Zheng, der im Herbst 1992 mit einer falschen Identität nach Taiwan zurückgekehrt war, eine Haftstrafe wegen „illegaler Einreise“ abbüßen. Der Entwurf des 228-Denkmals in Taipei, den 925
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sischen Unabhängigkeitsbewegung. Kritische Stimmen äußerten den Verdacht, dass die Angehörigen, die mehrheitlich der DPP nahe standen, allein aus diesem Grund den Entwurf des Zheng verwirklichen wollten. Dies führe aber zu einer unangemessenen parteipolitischen Einflussnahme auf das 228-Gedenken.931 Im Zentrum der Auseinandersetzung stand jedoch die Frage, welchen Text die Gedenktafel des Mahnmals tragen sollte. Mit der Abfassung des Textes, dessen Umfang durch baubedingte Umstände auf 700 Zeichen begrenzt war und der auf einer runden Bronzeplatte von etwa einem Meter Durchmesser eingraviert werden sollte, wurde eine Gruppe von prominenten taiwanesischen Historikern unter der Leitung von Lai Zehan beauftragt. Diese sollten, in Kooperation mit Vertretern der Angehörigen, eine einvernehmliche Lösung anstreben. Die Endfassung des Entwurfes sollte schließlich dem Exekutiv-Yuan als letzter Entscheidungsinstanz vorgelegt werden. Im Verlauf der nächsten Monate wurde nun der Versuch unternommen, einen tragfähigen Text auszuarbeiten, wobei oftmals bereits Details umstritten waren.932 Dennoch war es bis zum 28. Februar 1995, dem Einweihungsdatum des 228-Denkmals in Taipei, nicht gelungen, eine einvernehmliche Lösung für einen Gedenktext zu finden. Das für die Regierung unerfreuliche Ergebnis war daher, dass das 228-Denkmal in Taipei über zwei Jahre als kurioses „Denkmal ohne Text“ für Gespött sorgte. Von Seiten des Präsidenten Li Denghui wurde schließlich der Vorschlag unterbreitet, das Denkmal angesichts der anscheinend unüberwindlichen Differenzen dauerhaft ohne Text zu belassen. 933 Aus Sicht des Historikers Chen Yishen offenbarte diese resignative Äußerung das ganze Dilemma der Regierung: Solche Äußerungen sind reine Ausflüchte, denn der ursprüngliche Plan der Regierung war, ein Denkmal mit Text zu errichten, und nur deswegen, weil zwischen den Behörden und dem Volk kein Konsens über den Inhalt des Textes besteht, wurde die Sache immer wieder hinausgezögert. Wie kommt es, dass ein solcher Konsens nicht zu erzielen war? Weil eine Beschreibung der Ursachen, des Ablaufs und des Ergebnisses des 228-Aufstandes dazu zwingt, eine klare Stellung zu beziehen und die Verantwortlichen [für den Aufstand] zu benennen. Die damalige Regierungspartei ist heute immer noch an der Regierung. Wie soll man auch erwarten, dass es den Herrschern leicht fallen könnte, sich selbst zur Rechenschaft zu ziehen? 934
Um den auf Dauer untragbaren Zustand eines „Denkmals ohne Text“ zu beenden, erhöhte sich im Jahr 1997 der politische Druck: Zum symbolträchtigen 50. Jahrestag des Aufstandes, der zusammenfiel mit der Einweihung des 228-Museums in unmittelbarer Nähe des 228-Denkmals, sollte der Streit um den Gedenktext endgültig beigelegt sein. Seit dem Januar 1997 befanden sich die Vertreter der verschiedenen Interessengruppen, deren Verhandlungen inzwischen von der im Jahr 1995 gegründeten staatlichen „Stiftung zur Zheng zusammen mit seinem ehemaligen Kommilitonen Wang Junxiong anfertigte, ist daher größtenteils im Gefängnis entstanden. Interview mit Zheng Zicai am 4.9.07. 931 Es wurden jedoch auch Stimmen laut, welche das 228-Denkmal in gegenläufiger Weise kritisierten. So äußerte sich der parteilose Abgeordnete Ye Xianxiu kritisch über die allzu prächtige Ausgestaltung des 228-Denkmals und warf der KMT vor, sie wolle sich ein „Siegesdenkmal“ setzen. Siehe Minzhong ribao, 1.3.95. 932 Umstritten war etwa, ob bei der Aufführung von Jahreszahlen der westliche Kalender oder die in Taiwan ebenfalls gebräuchliche Zählung nach dem „Jahr der Republik China“ (beginnt 1911) Verwendung finden sollte. In dieser Frage konnte schließlich ein Kompromiss erzielt werden: Für den Verweis auf das Errichtungsjahr des Denkmals wurde das Jahr der Republik China verwendet (Jahr 84, entspricht 1995), alle anderen Daten im Gedenktext hingegen verwenden die westliche Jahreszählung. Siehe Ziyou shibao, 22.1.97. 933 Siehe Minzhong ribao, 27.2.96. 934 Zili wanbao, 28.2.96.
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Erinnerung an den 228-Aufstand“935 koordiniert wurden, in ständigem Kontakt. Zwei Punkte waren nach wie vor besonders umstritten: Der erste Punkt betraf die Frage, wie das Eingreifen der Armee nach dem 8.3.47 zu werten sei. Die Angehörigen der Opfer forderten, die Niederwerfung des Aufstandes durch die Armee als „Unterdrückung“ und „Morden“ zu bezeichnen. Die Vertreter der Regierung hingegen bestanden auf der Formulierung einer „Befriedung“ der Insel – allenfalls mit dem Zugeständnis, dass es dabei zu „wahllosem Schießen“ gekommen sei. Von noch größerer Brisanz allerdings war die Forderung der Angehörigen, die Täter des Aufstandes namentlich im Text der Gedenkstätte aufzuführen – insbesondere General Peng Mengqi, 936 Provinzgouverneur Chen Yi und den Kommandierenden der Polizeigendarmerie Zhang Mutao. Darüber hinaus wurde aber auch ein ausdrücklicher Verweis auf die politische Verantwortung des Präsidenten Chiang Kai-shek gefordert, der „ohne genaue Prüfung“ der tatsächlichen Zustände auf Taiwan eine Entsendung der Armee veranlasst habe. Hier signalisierten die Regierungsvertreter nach langen Verhandlungen ihr weitgehendes Entgegenkommen – allerdings mit der Einschränkung, dass Chiang Kai-shek nicht namentlich zu erwähnen und stattdessen die Formulierung „Staatsvorsitzender“ zu wählen sei. Ende Januar schien sich erstmals ein Kompromiss abzuzeichnen: Am 22.1.97 wurde der Entwurf eines Gedenktextes veröffentlicht, der auch von Kritikern als „mutig“ gelobt wurde. 937 Dies änderte sich jedoch schlagartig am 28.1., als die endgültige Fassung des Gedenktextes bekannt wurde: Die „Stiftung zur Erinnerung an den 228-Aufstand“ hatte, angeblich auf Druck des Exekutiv-Yuans, eigenmächtig Änderungen im Entwurf vorgenommen, ohne sich mit den Opfern des 228-Aufstandes und deren Angehörigen zu beraten. Der landesweite Bund der regionalen 228-Opferverbände erklärte daraufhin den erzielten Kompromiss mit der staatlichen Stiftung für gescheitert. Sämtliche umstrittene Angaben, die auf das Verhalten der Armee und des Präsidenten Chiang Kai-shek verwiesen, seien im letzten Entwurf nicht berücksichtigt worden. Ein solcher Text, so eine Vertreterin der Angehörigen Yuan Meishu, sei „noch schlimmer als gar kein Gedenktext“.938 Am 12.2. veröffentlichte der Verband einen eigenen Entwurf mit der ultimativen Forderung, den Gedenktext im Sinne der Angehörigen zu überarbeiten – worauf die 228Stiftung verlautbaren ließ, dass Änderungen nicht mehr möglich seien, da die Gravurarbeiten an der Bronzeplatte bereits begonnen hätten.939 Der Eklat um den Gedenktext des 228-Mahnmals in Taipei eskalierte schließlich am 28.2.97, dem Tag der feierlichen Einweihung des nun komplettierten Denkmals. Am frühen Nachmittag, nur wenige Stunden nach der Einweihungszeremonie, wurde die Bronzeplatte mit dem Gedenktext von einer kleinen Gruppe von KMT-kritischen 228-Aktivisten aus der Verankerung gerissen und mit einem Vorschlaghammer beschädigt. Wenngleich sich die Vertreter der Angehörigen von diesem Akt des Vandalismus ausdrücklich distanzierten und
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Er-er-ba jinian jijinhui ҼҼޛ㌰ᘥส䠁ᴳ Die Frage, ob Peng Mengqi namentlich im Gedenktext des 228-Mahnmals erwähnt werden solle, hatte bereits im Jahr 1993 beim Bau der 228-Gedenkstätte in Gaoxiong zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen der Stadtregierung und den Angehörigenverbänden geführt. Hier konnte jedoch schließlich ein Kompromiss erzielt werden, indem der Name [Peng Mengqi], in Klammern gesetzt, Aufnahme in den Gedenktext fand. Minzhong ribao, 11.2.93; Ziyou shibao, 14.2.93. 937 Siehe Ziyou shibao, 22.1.97. 938 Minzhong ribao, 29.1.97. 939 Siehe Ziyou shibao, 12.2.97. 936
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der unwahren Behauptung940 entgegentraten, die Zerstörung der Gedenktafel sei von Angehörigenverbänden initiiert worden, 941 sahen sie dennoch den Beweis erbracht, dass eine weitere Überarbeitung des Textes dringend geboten sei. Entsprechende Vorschläge auf eine Neufassung des Textes, die auch von der Stadtverwaltung unter Chen Shuibian unterstützt wurden, blieben jedoch letztlich fruchtlos: Die Gedenktafel wurde wiederhergestellt und unverändert an ihrem ursprünglichen Platz eingesetzt.
9.2.2.3 Finanzielle Entschädigung der Opfer In den Jahren nach 1987 wurden die Opfer des 228-Aufstandes und deren Familienangehörige zu wichtigen Akteuren der 228-Bewegung. Die 228-Bewegung verstand sich als Fürsprecher für diese Opfer, deren Familien oftmals über Jahrzehnte unter staatlichen Repressionen gelitten hatten. Frau Zhang Qiuwu, deren Vater am 12. März 1947 von Soldaten getötet worden war, berichtete gegenüber dem Autor von den Schikanen, denen sie und ihre Familienangehörigen ausgesetzt waren: Die Familien standen immer unter Beobachtung. Oft kamen Polizisten in unser Haus und konfiszierten alle möglichen Sachen. […] Besonders misstrauisch war man gegenüber den Männern. Mein jüngerer Bruder war damals [1947] noch sehr klein, aber trotzdem wurde er auch später, als Erwachsener, immer wieder schikaniert. Er konnte zum Beispiel nicht ausreisen. […] Aber auch wir Frauen hatten zu leiden. Niemand wagte es, uns einen Heiratsantrag zu machen.942
Die in Taiwan übliche terminologische Unterscheidung in „Opfer“ des 228-Aufstandes und deren „Familienangehörige“ ist etwas unscharf. Abgesehen von dem Verlust eines engen Verwandten hatten die Angehörigen der ersten und zweiten Generation durchaus selbst unter den Nachwirkungen des 228-Aufstandes zu leiden und wurden oftmals Opfer einer staatlich initiierten Diskriminierung, die sich etwa in einer Verschlechterung von beruflichen Karrierechancen zeigte. 943 Von Seiten des Regimes wurden Familien, die im 228940
Angesichts des vehementen Widerstandes der Angehörigen gegen den 228-Gedenktext scheint es nicht erstaunlich, dass die Zerstörung der Bronzeplatte zunächst ihnen angelastet wurde. An diesem (wie sich herausstellte unbegründetem) Verdacht waren die Angehörigenverbände jedoch nicht ganz unschuldig: Nur zwei Tage vor Einweihung der 228-Gedenktstätte hatten sich verschiedene Angehörige von 228-Opfern in der Presse geäußert und eine Zerstörung der Gedenkplatte angedroht. Siehe Zhongguo shibao, 27.2.97. 941 Von öffentlicher Seite wurde auf eine Anklage wegen Zerstörung öffentlichen Eigentums verzichtet. Hierbei mag auch eine Rolle gespielt haben, dass zum Zeitpunkt der Beschädigung die Besitzverhältnisse der Gedenktafel nicht geklärt waren. Die staatliche „Stiftung zur Erinnerung an den 228-Aufstand“, die mit der Herstellung der Bronzeplatte beauftragt worden war, machte geltend, dass die Gedenktafel nach ihrer Verankerung im 228Denkmal als Teil desselben zu betrachten und somit in den Besitz der Stadt Taipei übergegangen sei. Chen Shuibian, der Bürgermeister von Taipei, hielt dem entgegen, dass auf Grund des 228-Gedenktages die Behörden nicht gearbeitet hätten, daher seien die entsprechenden Schenkungsdokumente nicht rechtzeitig eingegangen. Siehe Minzhong ribao, 2.3.97. Dieser kuriose Sachverhalt führte dazu, dass die polizeilichen Stellen, die die beschädigte Gedenkpalette sichergestellt hatten, zunächst keinen Besitzer ausmachen konnten und schon aus diesem Grund von einer Anklage gegen die Täter absehen mussten. Siehe Zili zaobao, 2.3.97. 942 Interview mit Frau Zhang Qiuwu am 9.3.05. 943 So äußerte etwa ein Vertreter der Angehörigen, Yang Zhenlong, in einem Gespräch mit dem Autor: „Die Angehörigen wurden früher immer unterdrückt. Wie in meinem Fall: Ich konnte kein Staatsbeamter werden. Denn egal, wie sehr ich mich angestrengt hätte, ich wäre niemals befördert worden“. Interview mit Yang Zhenlong am 10.3.04.
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Aufstand aktenkundig geworden waren, in besonderen „Sicherheitsdossiers“ erfasst, und es finden sich Hinweise darauf, dass diese Dossiers bis zu Beginn der 90er Jahre fortbestanden.944 Von Anfang an verfolgte die 228-Bewegung das Ziel, eine finanzielle Entschädigung der Opfer zu erzwingen. Bereits im Frühjahr 1987 wurden auf ganz Taiwan 17 „Registrierstellen für die Opfer“ eingerichtet, bei denen Überlebende des Aufstandes oder deren Familienangehörige ihre Ansprüche für eine spätere eventuelle Entschädigung aktenkundig machen konnten.945 Erst im Jahre 1992 gelang es, der Forderung nach finanzieller Entschädigung auf politischer Ebene Geltung zu verschaffen. Wie bereits bei der Frage nach Errichtung von Denkmälern, wollte die KMT-Regierung auch hier erst nach Veröffentlichung des 228-Forschungsberichtes des Exekutiv-Yuan konkrete Schritte einleiten. Bereits am 22.2.92, dem Tag der Veröffentlichung des Forschungsberichtes, wurde die Frage der finanziellen Entschädigung erstmals im Legislativ-Yuan debattiert. Grundsätzlich stimmten alle Parteien einer Entschädigung zu, wenngleich die KMT mehrheitlich die Meinung vertrat, dass eine „symbolische“ Entschädigung ausreichend sei.946 Zwischen Regierung und Opposition – welche die Interessen der Opfer vertrat – waren die folgenden drei Punkte lange Zeit umstritten: Erstens betraf dies, wie bereits angedeutet, die Frage der Höhe der Entschädigung. Auch die Angehörigen vertraten in dieser Frage unterschiedliche Ansichten. Während für einige Angehörigenverbände die Höhe der Entschädigung von nachgeordneter Bedeutung war, wurden andererseits gelegentlich auch finanzielle Interessen deutlich. 947 In der politischen Auseinandersetzung konnte bis zum Jahr 1995 in dieser Frage keine Einigung erzielt werden: Während die KMT lediglich eine Höchstsumme von sechs Mio. NTD pro Person zugestehen wollte, beharrte die DPP auf einer Summe von zehn Mio., während die „Neue Partei“ einen Kompromiss von acht Mio. vorschlug. In der Debatte um diese Summen 944 Noch im Jahr 1992 wurde Premier Hao Bocun im Legislativ-Yuan mit einer parlamentarischen Anfrage der Opposition konfrontiert, in der auf den empörenden Tatbestand verwiesen wurde, dass die staatlichen Sicherheitsorgane nach wie vor „Sicherheitsdossiers“ über Familienangehörige von Opfern des 228-Aufstandes führten. Hao Bocun erwiderte, dass er von solchen Dossiers keine Kenntnis habe; sollten die Vorwürfe jedoch der Wahrheit entsprechen, so werde er persönlich die Löschung aller entsprechenden Daten anordnen. Siehe Ziyou shibao, 7.3.92. 945 Siehe o.A. 1987c: 59; Zheng Eryu 1988: 67ff. Diese frühen Bemühungen um eine Registrierung der 228-Opfer waren indes nur von mäßigem Erfolg: Im Jahr 1987 konnte die Gesellschaft lediglich 83 Opfer des Aufstandes namentlich identifizieren. Die Liste der Opfer schloss mit einer lapidaren Bemerkung des Autors Zheng, dass eine Fehlzahl von 5.000 – 10.000 zu berücksichtigen sei. 946 Siehe Zhongguo shibao, 23.2.92. 947 Im Umfeld der Wahlen für den Legislativ-Yuan im Dezember 1992 sorgte der Kandidat der KMT in Gaoxiong, Wang Tianjing, für einen Skandal: In einem Wortspiel mit den im Chinesischen homophonen Wörtern „Geld“ (䥒 qian) und „Vorn“ (ࡽ qian) hatte Wang die Angehörigen der 228-Opfer aufgefordert, sie sollten „nach Vorne blicken, und nicht immer nur aufs Geld schauen“. Vertreter der Angehörigen, unterstützt von dem DPPKandidaten Li Qingxiong sowie der gesamten DPP-Führung in Gaoxiong, drangen daraufhin gewaltsam in das Wahlbüro des Wang Tianjing ein und forderten eine Entschuldigung. Siehe Taiwan shibao, 14.12.92. Es finden sich jedoch Hinweise darauf, dass auf Seiten der Angehörigen auch finanzielle Interessen eine gewisse Rolle spielten. Die gesetzliche Grundlage für die finanzielle Entschädigung der Opfer, die schließlich im Jahr 1995 geschaffen wurde, beinhaltete keine Aussagen darüber, nach welchem Schlüssel die Entschädigungssumme unter den Angehörigen verteilt werden sollte. In der Presse findet sich der Fall der Familie Zhang: Die Entschädigungssumme von sechs Mio. NTD sollte zwischen vier Geschwistern verteilt werden, demnach hätte jedem Geschwisterteil ein Anteil von 1,2 Mio. NTD zugestanden. Der älteste Sohn der Familie beanspruchte jedoch mit dem Recht des Ältesten die Hälfte der Summe für sich und drohte andernfalls eine „Vendetta“ an. Der Fall musste vor Gericht geklärt werden. Siehe Ziyou shibao, 24.1.97.
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wurde auch deutlich, dass allgemein große Unsicherheit darüber herrschte, wie viele Personen eine Entschädigung beantragen würden. Die DPP verwies darauf, dass, je nach Anzahl der Antragsteller, eine Gesamtsumme von bis zu 200 Milliarden NTD bereitgestellt werden müsste. Um Steuererhöhungen zu vermeiden, unterbreitete der DPP-Abgeordnete Xu Guotai daher den Antrag, die Entschädigungsmittel zum Teil aus der Parteikasse der KMT zu bestreiten.948 Zweitens war umstritten, wie der Personenkreis, der einen Anspruch auf Entschädigung geltend machen konnte, zu bestimmen sei. 949 So forderten etwa Abgeordnete der „Neuen Partei“, dass nur „Unschuldige“ einen Anspruch auf Entschädigung geltend machen könnten; keinesfalls sollten jedoch solche Personen entschädigt werden, die sich im 228-Aufstand gewaltsam gegen Regierungsorgane erhoben hatten.950 Weiterhin erwies es sich als schwierig, genaue Maßstäbe für die Nachweispflicht der Antragsteller zu erarbeiten. Bereits im Februar 1992 wurden die Meldeämter auf Ebene der Kreise und Städte angewiesen, die Archive des Jahres 1947 auf solche Personen zu überprüfen, die eines unnatürlichen Todes gestorben sein könnten. Dieser Ansatz erwies sich jedoch als wenig aussagekräftig: Durch Kriegseinwirkungen waren zahlreiche Archive zerstört worden. Die Datenbasis war, wie auch das Innenministerium einräumte, daher äußerst lückenhaft. 951 Beginnend mit dem 1. Juli 1992 wurde den Opfern des 228-Aufstandes die Möglichkeit eröffnet, ihre Ansprüche bei Stadt- und Kreisverwaltungen aktenkundig zu machen. Zur allgemeinen Überraschung erwies sich dabei die Gesamtzahl der Antragsteller als wesentlich geringer als erwartet: Bis zur Verabschiedung des Entschädigungsgesetze im Jahr 1995 wurden lediglich 1382 Opfer des 228-Aufstandes registriert.952 Von Seiten der Angehörigen wurde jedoch geltend gemacht, dass diese niedrige Zahl in erster Linie auf die überzogenen Anforderungen sowie auf verfälschte Dokumente zurückzuführen sei. So kritisierte etwa Li Wenqing, der Vorsitzende des lokalen Verbandes der 228-Opfer in Taipei, dass die Todesfälle des 228-Aufstandes im Jahr 1947 von den Behörden oftmals fälschlicher Weise als „verzogen nach Shanghai“ oder als „verstorben nach langer Krankheit“ registriert worden seien. 953 Zudem sei es insbesondere älteren Antragstellern nicht zuzumuten, aus eigener
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Siehe Ziyou shibao, 2.3.95. Im Jahr 1997 nahm diese Debatte um die Berechtigung auf Entschädigung sogar eine internationale Dimension an: In der taiwanesischen Presse waren Berichte erschienen, die darauf verwiesen, dass im 228-Aufstand auch über 100 japanische Staatsangehörige ums Leben gekommen seien. Diese Berichte, die von japanischer Seite aufmerksam registriert wurden, veranlassten die Regierung zu der Erklärung, dass die Entschädigungszahlungen ausschließlich an Bürger der ROC geleistet würden. Darüber hinaus, so Lai Zehan in einem Interview, hätten zahlreiche Taiwanesen im Jahr 1947 japanische Namen geführt, daher könne man nicht ausschließlich auf Grund von Namen auf die Staatsangehörigkeit der Opfer schließen. Siehe Ziyou shibao, 2.3.97. In einem Punkt wurde diese Einschränkung jedoch flexibel gehandhabt: Wie die „Stiftung zum Gedenken an den 228-Aufstand“ im Februar 1996 erklärte, könnten auch diejenigen Opfer und Angehörige Ansprüche geltend machen, die ihren festen Wohnsitz in der Volksrepublik China hätten. In diesem Fall betrüge die Höchstsumme allerdings nur zwei Mio. NTD. Siehe Zili zaobao, 28.2.96. 950 Siehe Zhongguo shibao, 23.2.92. 951 Siehe Zhongguo shibao, 28.2.92. 952 In 1335 Fällen hatten Angehörige den Verlust eines Verwandten gemeldet, wogegen 47 der Antragsteller selbst im Aufstand gelitten hatten. Zili wanbao, 28.2.95. 953 Siehe Zili zaobao, 28.2.96. 949
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Initiative die Nachweispflicht zu erfüllen, in diesen Fällen sollten die staatlichen Behörden selbsttätig die Beweislage prüfen.954 Ein dritter Punkt schließlich betraf die Frage, unter welchem Gesichtspunkt man die Entschädigungszahlungen überhaupt fassen sollte. Die KMT-Regierung war lediglich bereit, die finanziellen Zuwendungen als „Beileidszuwendung“ 955 oder „Kompensation“ zu bezeichnen, während die Angehörigen vehement eine „Wiedergutmachung“ forderten. Dieser eher symbolische Streit um die terminologische Bezeichnung der Geldleistungen gehörte (und gehört bis heute) zu den am heftigsten umstrittenen Aspekten der finanziellen Entschädigung. Aus Sicht der Angehörigen stellte die Bezeichnung „Beileidszuwendung“ eine Herabwürdigung dar. Die Weigerung der KMT, eine „Wiedergutmachung“ zu leisten, sei ein erneuter Beweis für die Unfähigkeit der Regierung, ihre Fehler einzugestehen und sich aufrichtig um eine Versöhnung der Gesellschaft zu bemühen. Auch der neutrale Begriff „Kompensation“ sei für die Angehörigen der 228-Opfer eine „zweite Demütigung“; einige Angehörigenverbände erklärten, sie würden unter diesen Umständen auf eine finanzielle Entschädigung verzichten.956 Diese Unstimmigkeit über die begriffliche Bestimmung konnte bis heute nicht beigelegt werden, wenngleich sich in jüngster Zeit eine Lösung andeutet: Anlässlich des 228-Gedenkens im Jahre 2006 wurde zwischen der KMT und der DPP ein grundsätzlicher Konsens erzielt, den Begriff „Kompensation“ in den relevanten gesetzlichen Bestimmungen in naher Zukunft durch „Wiedergutmachung“ zu ersetzen.957 Am 23.3.95 wurde das „Gesetz zur Beilegung des 228-Vorfalles und zur Kompensation“958 in dritter Lesung im Legislativ-Yuan verabschiedet. Das Gesetz, bei dem sich die KMT in wesentlichen Punkten durchsetzen konnte, sieht folgende Regelungen vor:
Im Gesetzestext kommt durchgebend die Bezeichnung „Kompensation“ zur Anwendung; Anspruch auf Entschädigung kann von den Betroffenen selbst oder deren Blutsverwandten oder Ehegatten erhoben werden. Finanzielle Kompensationen werden geleistet für Tote und Vermisste, Schwerverletzte und Opfer von Folterung und willkürlicher Verhaftung. Die finanzielle Entschädigung erstreckt sich weiterhin auf materielle Verluste sowie auf Verlust an Gesundheit und Ehre; Die Entschädigungen werden in Einheiten von 100.000 NTD geleistet, die Höchstsumme beträgt 60 Einheiten (sechs Mio. NTD).
Mit der praktischen Durchführung der finanziellen Entschädigung wurde die neu gegründete „Stiftung zur Erinnerung an den 228-Vorfall“ (228 Memorial Foundation) beauftragt. Die Stiftung, die als Person des öffentlichen Rechts auftritt, wird sowohl durch staatliche Mittel als auch durch private Spenden finanziert. Neben den Belangen der finanziellen 954 Diese Anregung wurde im Jahr 1997 aufgegriffen: Am 24.2. fasste die mit der Entschädigungszahlung beauftragte „Stiftung zur Erinnerung an den 228-Aufstand“ den Entschluss, älteren Antragstellern in ihrer Nachweispflicht aktiv entgegenzukommen. Siehe Zhongguo shibao, 25.2.97. 955 Der chinesische Terminus fuxu ᚔ lässt sich im Deutschen nur schwer wiedergeben. Das erste Zeichen fu ist jedoch in der Bedeutung von „Trost spenden“ zu verstehen. Im Gegensatz zu „Wiedergutmachung“, das auf ein früheres Fehlverhalten schließen ließe, wurde mit dem Terminus fuxu eher die Assoziation eines unglücklichen Schicksalsschlages, etwa einer Naturkatastrophe, erweckt. 956 Siehe Ziyou shibao, 24.3.95. 957 Siehe Ziyou shibao, 28.2.06. 958 Er-er-ba shijian chuli ji buchang tiaoli ҼҼޛһԦ㲅⨶ণ㼌ݏọֻ
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Entschädigung ist die Stiftung darüber hinaus angehalten, sich für die Erinnerung an den 228-Aufstand zu engagieren. 959 Bis dato (Zugriff am 3. November 2007) wurden 2756 Fälle von Verlust an Leben und körperlicher Unversehrtheit bearbeitet, von denen in 2710 Fällen eine Entschädigung zugestanden wurde. Die anerkannten Fälle wiederum betreffen 681 Todesfälle, 177 Vermisste und 1389 Fälle von willkürlicher Verhaftung. Insgesamt wurde eine Entschädigungssumme von 7,1 Milliarden NTD an 9286 Personen ausgezahlt.960 Festzuhalten ist, dass die KMT-Regierung seit 1995 grundsätzlich der Forderung nach finanzieller Entschädigung der Opfer des 228-Aufstandes nachgekommen ist. Auffällig ist jedoch die bis heute niedrige Zahl an aktenkundigen und entschädigten Todesopfern – ein Tatbestand, der (wie noch gezeigt werden soll) die Debatte um die mögliche Gesamtzahl der Todesopfer erheblich beeinflusste. Es stellt sich die Frage, ob die Anforderungen an eine Nachweispflicht möglicherweise zu hoch angesetzt wurden. 961 Hierzu äußerte Yang Zhenlong, der im Jahr 2004 die Interessen der Angehörigen in der Stiftung zur Erinnerung an den 228-Vorfall vertrat: Ich bin sehr betrübt über [diese niedrige Entschädigungsrate]. Erst nach 50 Jahren konnte man Entschädigung beantragen, und oft gibt es keine Beweise. Das Gesetz ist streng […] Bei Exekutierten hat man manchmal noch ein Todesurteil, aber viele wurden [damals] auf offener Straße niedergeschossen. Wo sollen da Beweise herkommen? Es gibt jetzt auch meist keine Augenzeugen mehr. 50 Jahre sind zu lang. […] Aber das Gesetz muss natürlich gewisse Anforderungen stellen, deswegen gibt es immer wieder Konflikte zwischen der Stiftung und den Angehörigen. Denn wir denken, dass sie [die Stiftung] alles zu bürokratisch regeln will. [Der 228-Aufstand] ist aber ein politischer Vorfall, kein juristischer. Es gibt oft keine Beweise. China war damals kein fortschrittlicher Staat, da hat man Leute getötet, ohne irgendeinen Beweis zu hinterlassen. Daher sind bei der Stiftung nur 800 Todesfälle bekannt, in Wahrheit waren es mindestens 20.000. Aber sehr viele Leute können keinen Antrag auf Entschädigung stellen, weil die Beweise fehlen.962
Nach Ansicht des Autors ist die umstrittene finanzielle Kompensation ein weiterer Beleg dafür, wie mühsam eine Beilegung des 228-Aufstandes fallen musste, die sich weitgehend auf staatliche Ressourcen stützte, welche in der Mehrzahl aus der Zeit des Weißen Terrors stammten. Die Beilegung eines begangenen Unrechtes muss dort an ihre Grenzen stoßen, wo nur die Dokumentation eines Unrechtsregimes gelten darf.
9.2.2.4 Der 28. Februar als nationaler Gedenktag Das Ziel, den 28. Februar als nationalen Gedenktag einzusetzen, gehörte (wie sich bereits aus dem Namen der Organisation erschließen lässt) zu den urtümlichsten Anliegen der „Gesellschaft zur Herbeiführung eines 228-Friedenstages“. In den Jahren nach 1987 war jedoch vorherzusehen, dass das Regime diesem Ansinnen kaum entsprechen würde. Wie 959
Internet-Seite der 228 Memorial Foundation siehe: http://www.228.org.tw http://www.228.org.tw/pay228_statistics_case.php 961 Der Autor hatte sich während eines Taiwan-Aufenthaltes erfolglos um ein Gespräch mit einem Vertreter der Stiftung bemüht. Wie das Sekretariat der Stiftung erklärte, wolle man sich zu einer politisch sensiblen Frage nicht äußern. 962 Interview mit Yang Zhenlong am 10.3.04. 960
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Chen Yongxing gegenüber dem Autor betonte, war der Appell der „Gesellschaft zur Herbeiführung eines 228-Friedenstages“ daher nicht nur an die Machthaber gerichtet: Viele Leute sagten mir damals: „Wie könnte sich die KMT jemals entschuldigen? Das ist doch unmöglich! Die KMT wird niemals ihre Fehler eingestehen. Daher wird die KMT auch niemals einwilligen, den 28. Februar zum nationalen Gedenktag zu erklären“. Ich sagte daraufhin [in einer Rede]: „Wenn wir Taiwanesen selbst am 28. Februar einen Tag frei nehmen, dann haben wir unseren nationalen Gedenktag – oder etwa nicht? Wir brauchen doch nicht deren Erlaubnis!“. Ich wollte den Stolz der Taiwanesen herausfordern, challenge. Seid ihr nun die Herren des Staates oder nicht? Wenn wir die Herren des Staates sind, warum können wir dann nicht des 228 gedenken? Warum können wir nicht unserer Vorfahren gedenken? Warum können wir nicht selbst bestimmen, ob [der 28. Februar] ein Gedenktag ist oder nicht? Natürlich geht das! Die Regierung ist dazu da, dem Volk zu dienen. Warum muss man da noch die KMT um Erlaubnis fragen? […] Diese Logik ist ganz einfach: Wenn man heute fragt, ob Taiwan unabhängig werden soll, muss man nicht die VRCh um Erlaubnis fragen. Man muss die Taiwanesen fragen!963
Die Opposition richtete ihre Anstrengungen zunächst darauf, im Parlament eine symbolische Respektsbezeigung für die Opfer des 228-Aufstandes durchzusetzen. Bereits im Jahr 1990 konnte hierbei ein als historisch zu bezeichnender Durchbruch erzielt werden: Am 27.2. um 9.40 Uhr erhoben sich Abgeordnete der KMT und der Opposition 964 für eine Schweigeminute. Durch diese Geste hatte das Gedenken an den 228-Aufstand erstmals eine offizielle Sanktionierung durch die KMT-Regierung erfahren, 965 und in den folgenden Jahren konnte sich diese Schweigeminute als anerkannter Teil der parlamentarischen Gepflogenheiten etablieren.966 Schwieriger gestaltete sich indes das Anliegen der 228-Bewegung, den 28. Februar allgemein als nationalen Gedenktag zu verankern und dem Gedenken an den 228-Aufstand landesweite Bedeutung zu verschaffen. Selbst das Jahr 1992, in dem viele andere Forderungen der 228-Bewegung an Dynamik gewannen, brachte in dieser Hinsicht keine Fortschritte. Aus Sicht der Regierung waren hierbei auch pragmatische Bedenken von Bedeutung – etwa die Überlegung, dass es auf Taiwan bereits zu viele Feiertage gäbe sowie der volkswirtschaftliche Schaden, den ein arbeitsfreier Tag verursachen würde 967 – ein 963
Interview mit Chen Yongxing am 17.3.05. Wie ein Bericht der Zeitung Lianhe bao kritisch anmerkte, hatten es einige Delegierte der KMT vorgezogen, den Plenarsaal für die Dauer der Schweigeminute zu verlassen und sich in die Lobby des Parlamentsgebäudes zurückzuziehen. Siehe Lianhe bao, 28.2.90. 965 Im selben Jahr führte ein ähnlicher Vorstoß der DPP in der Nationalversammlung zu verwirrenden Szenen: Nachdem am 27.2.90 ein Antrag der DPP auf Durchführung einer Schweigeminute zunächst abgelehnt worden war, fasste das Haus am darauf folgenden Tag den Beschluss, nun doch eine Schweigeminute abzuhalten. Die Mehrzahl der DPP-Abgeordneten war an diesem Tag jedoch auf unterschiedlichen 228-Gedenkveranstaltungen engagiert und daher nicht anwesend. Zudem befolgte nur etwa die Hälfte der anwesenden Delegierten die Aufforderung, sich von ihren Sitzen zu erheben. Siehe Lianhe bao, 1.3.90. 966 Dennoch fehlte dieser Geste zunächst die Verbindlichkeit einer formalen Regelung. Dies erwies sich besonders deutlich im Jahr 1993: Der 28. Februar war in diesem Jahr auf ein Wochenende gefallen, die nächste Sitzung des Legislativ-Yuan fand daher erst am 2.3. statt. Der Antrag der DPP, dennoch eine Schweigeminute abzuhalten, wurde vom Parlamentsvorsitzenden mit der Begründung zurückgewiesen, dass der 28.2. schon vergangen sei und man nicht die kostbare Zeit des Parlaments verschwenden wolle. Erst nach über einer Stunde (!) erhitzter Debatten konnte die DPP ihrem Antrag Geltung verschaffen. Siehe Minzhong ribao, 3.3.93. 967 Im Jahr 1997, als der 28.2. offiziell zum arbeitsfreien Gedenktag erklärt wurde, erschienen in der taiwanesischen Presse auch prompt Berichte, die einen volkswirtschaftlichen Schaden von 2,8 Milliarden NTD und ein Absinken des BSP um 0,4% prognostizierten. Siehe z.B. Zili zaobao, 26.2.97. 964
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Argument, das der DPP-Vorsitzende Zhang Junhong mit dem Vorschlag konterte, im Gegenzug zu einem arbeitsfreien 228-Gedenktag den Feiertag zum Gedenken des Geburtstages von Chiang Kai-shek (am 31.10.) aufzuheben. 968 Im Jahr 1995 wurde mit Verabschiedung des „Gesetzes zur Beilegung des 228-Vorfalles und zur Kompensation“ eine Lösung gefunden, die als ein erster Kompromiss bezeichnet werden kann: Das Gesetz sah zwar vor, den 28. Februar zum nationalen Gedenktag zu bestimmen, allerdings sollte damit kein arbeitsfreier Tag verbunden sein. Diese für die Opposition äußerst unbefriedigende Lösung wurde am 5.10.95 durch entsprechende Regelungen umgesetzt. Im Jahr 1996 wurde zum ersten und, wie sich herausstellen sollte, einzigen Mal der 28. Februar als nichtarbeitsfreier Gedenktag begangen. Die Opposition, der auf Grund der parlamentarischen Mehrheitsverhältnisse die Möglichkeit genommen war, ihrer Forderung nach einem arbeitsfreien nationalen 228Gedenktag Nachdruck zu verleihen, konnte jedoch auf regionaler Ebene eine Vorreiterrolle übernehmen. Anlässlich des symbolträchtigen 50. Gedenktages des 228-Aufstandes erklärte der DPP-Bürgermeister von Taipei, Chen Shuibian, im Februar 1997, dass für sämtliche Angestellte der Stadt Taipei der 28. Februar 1997 erstmals ein arbeitsfreier Tag werden sollte. Aus juristischer Sicht war dieser Schritt des Chen Shuibian umstritten. Wie Innenminister Lin Fuzheng am 24.2. erklärte, befinde sich dieses eigenmächtige Vorgehen der Stadt Taipei im klaren Gegensatz zur der gesetzlich verbindlichen Regelung, die einen arbeitsfreien Tag ausdrücklich verneine. Falls Chen Shuibian an seinem Vorhaben festhalten sollte, werde man daher in Erwägung ziehen, ein Disziplinarverfahren am Kontroll-Yuan in die Wege zu leiten.969 Bereits am darauf folgenden Tag erfolgte jedoch ein bemerkenswerter Umschwung: Im Legislativ-Yuan wurde nun, mit Unterstützung der Mehrheit der KMT, ein Antrag der DPP verabschiedet, den 28. Februar nun doch zu einem arbeitsfreien Tag für ganz Taiwan zu erklären. Mehr noch: Die KMT-Fraktion ging nun sogar über das ursprüngliche Ziel der DPP hinaus und unterbreitete den (letztlich nicht weiter verfolgten) Vorschlag, sogar drei arbeitsfreie Tage anzusetzen.970 Wegen der Kürze der Zeit konnte das Gesetz nur über einen Eilantrag an den Präsidenten noch rechtzeitig verabschiedet werden. Jedoch kam es zu einiger Verwirrung darüber, für welche Stellen und Behörden der arbeitsfreie Tag nun gelten solle.971 Die bis heute gültige Verankerung eines arbeitsfreien nationalen 228-Gedenktages ist also ausschließlich der couragierten Beharrlichkeit der Stadtregierung Taipei unter Bürgermeister Chen Shuibian geschuldet. Chen hatte dabei politischen Weitblick erkennen lassen: Er hatte, wie ein Leitartikel der Zili zaobao kommentierte, „die Initiative auf seiner Seite. Er hatte richtig vorhergesehen, dass der Legislativ-Yuan seinem Vorschlag folgen würde.“972 Dennoch ist es bemerkenswert, mit welcher Eilfertigkeit die von der KMT dominierten nationalen Regierungsorgane dem Vorstoß der Stadt Taipei nach anfänglichem Zögern folgten und mit überhastetem Eifer sogar zu übertreffen suchten. Seinen politischen Coup vollendete Chen Shuibian neun Jahre später als Präsident der ROC: In einer ebenfalls überraschenden und nicht unumstrittenen Entscheidung verfügte Chen 968
Siehe Zili zaobao, 28.2.93. Siehe Ziyou shibao, 25.2.97. 970 Siehe Ziyou shibao, 26.2.97. 971 So stellte der Exekutiv-Yuan erst am 27.2.97 klar, dass sich der arbeitsfreie Tag nicht auf die Berufstätigen der Finanzwelt bezöge. Diese überraschende Ankündigung führte laut Presseberichten zu chaotischen Szenen an der Börse. Siehe Zili wanbao, 27.2.97. 972 Zili zaobao, 26.2.97. 969
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Shuibian im Februar 2006, dass der 228-Gedenktag mit einer allgemeinen Trauerbeflaggung zu begehen sei.973 Mit dieser Anordnung, die Fahnen zum ehrenden Gedenken der Opfer des 228-Aufstandes auf Halbmast zu senken, wurde dem 228-Gedenken die höchste offizielle Weihe verliehen.
9.2.2.5 Juristische Strafverfolgung der Täter – der Fall Peng Mengqi Die Angehörigen des 228-Aufstandes verfolgten seit Beginn der 90er Jahre das Ziel, die Verantwortlichen des Aufstandes zur juristischen Rechenschaft zu ziehen. Es liegt auf der Hand, dass sich eine solche juristische Strafverfolgung nach über vier Jahrzehnten äußerst schwierig gestalten musste. Der von der Opposition aufgegriffenen Forderung nach einer Bestrafung der Täter begegnete die Regierung stets mit dem schwer zu widerlegenden Argument, dass die Verantwortlichen des 228-Aufstandes nicht mehr greifbar seien. So erklärte die Provinzregierung im Oktober 1990, dass sich unter der aktuellen politischen Führung des Landes keine aktiv Beteiligten des 228-Aufstandes befänden. Die Personen, welche die juristische Verantwortung für die Niederschlagung des 228-Aufstandes getragen hätten, seien bereits verstorben.974 In einem Fall975 traf diese Aussage jedoch nicht zu: General Peng Mengqi, der zur Zeit des 228-Aufstandes als Kommandant der Festung Gaoxiong von der Opposition für das blutige Massaker am 6.3.47 verantwortlich gemacht wurde (siehe 3.4.1.), lebte zu Beginn der 90er Jahre in Taipei. Besonders empörend war aus Sicht der Opposition, dass Peng Mengqi nicht nur jeder Bestrafung für den 228-Aufstand entgangen war, sondern darüber hinaus nach einer überaus erfolgreichen militärischen und politischen Karriere976 nun eine großzügig bemessene Altersversorgung bezog. 977 Mehrmals wurde die Forderung laut, die Privilegien des Peng einzuziehen und ihm sämtliche militärischen Auszeichnungen978 abzuerkennen. Peng Mengqi, der sich im Dezember 1991 in einem Interview mit der 228Forschergruppe erstmals zu den gegen ihn erhobenen Anschuldigungen äußerte, machte geltend, dass er als Soldat an die Befehle der übergeordneten Stellen gebunden gewesen sei und bestritt, dass in Gaoxiong überhaupt ein Massaker stattgefunden habe.979
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Siehe Lianhe bao, 28.2.06. Siehe Zili wanbao, 3.11.90. Ein weiterer Verantwortlicher, der zu diesem Zeitpunkt noch lebte, war General Ke Yuanfen, der zur Zeit des 228-Aufstandes als Generalstabschef der Garnison Taiwan gedient hatte. Ke wohnte jedoch in den USA und befand sich daher außerhalb der taiwanesischen Gerichtsbarkeit. Im Februar 1992 gab General Ke bekannt, dass er für eine medizinische Behandlung eine Reise nach Taiwan plane. Angesichts seiner umstrittenen Rolle im 228Aufstand ließ er diesen Plan jedoch rasch wieder fallen. Siehe Zili zaobao, 2.3.92. 976 Nach dem 228-Aufstand wurde Peng Mengqi für seine „Verdienste“ zum stellvertretenden Generalstabschef der Garnison Taiwan ernannt. Im Weiteren diente Peng, der im Jahr 1959 zum Vier-Sterne-General befördert worden war, als Generalstabschef der Garnison sowie als Botschafter in Thailand und Japan. Seit 1965 hatte Peng Mengqi zudem (bis zu seinem Tod) das eher symbolische Amt eines militärischen Beraters des Präsidentenbüros inne. 977 In einer parlamentarischen Anfrage wies der DPP-Abgeordnete Chen Zhenan darauf hin, dass allein das weitläufige und staatlich finanzierte Anwesen des Peng Mengqi in Taipei auf einen Wert von über einer Milliarde NTD zu beziffern sei. Siehe Zili zaobao, 27.2.94. 978 Peng Mengqi war Träger des Qingtian bairi-Ordens (䶂ཙⲭᰕणㄐ) – eine der höchsten militärischen Auszeichnungen der ROC. 979 Siehe Lianhe wanbao, 1.1.92. 974 975
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Nach Veröffentlichung des 228-Forschungsberichtes im Februar 1992 verschärfte sich die Debatte um die juristische Schuld des Peng Mengqi. Wenngleich sich Peng lobend über den Forschungsbericht äußerte und sich durch die Angaben des Berichtes in seinem Handeln bestätigt sah,980 bot der Bericht andererseits seinen Kritikern Anlass, eine Bestrafung des Peng zu fordern. Am 28.2.92 fand in Taipei eine Großkundgebung unter dem Motto „Große Versammlung zum Gedenken an die Märtyrer des 228-Aufstandes“ statt, auf dem der Forschungsbericht als Beleg für die Schuld des General Peng zitiert wurde. Die Teilnehmer der Kundgebung sammelten sich schließlich zu einem Protestzug zum Anwesen des Peng Mengqi und wollten eine Protestnote übergeben. 981 Als dieses Vorhaben scheiterte, bewarfen sie das Haus des Peng mit Steinen. Wenige Wochen später erfolgten die ersten rechtlichen Schritte gegen Peng Mengqi: Am 3.4.92 erhob Frau Zhang Donghui, deren Vater Zhang Rongzong im März 1947 in Gaoxiong ums Leben gekommen war, eine Anklage wegen Mordes. Am 11.3. folgte eine Klage der Frau Lin Licai, einer Tochter des Bezirksverwalters Lin Jie, der am 5.3.47 als Volksvertreter zu Verhandlungen mit der Festungskommandantur Gaoxiong entsandt und auf Anordnung von Peng Mengqi hingerichtet worden war (siehe 3.4.1.). Die Anklageschrift der Lin Licai umfasste den Vorwurf des Mordes, der Leichenschänderei, des Fälschens von amtlichen Schriftstücken, der Verleumdung sowie des illegalen Waffenbesitzes. 982 Im Februar 1993 scheiterten diese Klagen jedoch. Wie der Oberste Gerichtshof in zweiter Instanz erklärte, seien keine hinreichenden Beweise für ein bewusstes Fehlverhalten des General Peng Mengqi vorgelegt worden; zudem seien etwaige Straftaten bereits verjährt.983 Im Februar 1995 wurde im „Gesetz zur Beilegung des 228-Vorfalles und zur Kompensation“ schließlich eindeutig festgelegt, dass eine strafrechtliche Verfolgung von Tätern des 228-Aufstandes nicht möglich sei. Den Opfern des 228-Aufstandes war damit jede Option für weitere rechtliche Schritte endgültig genommen.984 Festzuhalten bleibt, dass die strafrechtliche Verfolgung der Täter des 228-Aufstandes, vertreten in der Person des Peng Mengqi, letztendlich scheiterte. Zugleich war dies die einzige wesentliche Forderung der 228-Bewegung, in der die KMT-Regierung zu keinerlei Zugeständnissen bereit war. Vordergründig wurden hierbei formale Hindernisse angeführt – insbesondere die Tatsache, dass die 30jährige Verjährungsfrist für Mordtaten bereits abgelaufen war. Allein diese formale Beschränkung verhinderte, dass sich die taiwanesischen Gerichte im Detail mit der juristischen Schuldfrage der Verantwortlichen des 228Aufstandes hätten befassen müssen. Die besondere Brisanz des Falles Peng Mengqi ergab sich jedoch aus dessen symbolischer Bedeutung: Mit General Peng sollte stellvertretend die gesamte KMT-Führung zur Verantwortung gezogen werden. Für die Kläger war daher das angestrebte Strafmaß gegen Peng von zweitrangiger Bedeutung. Es wurde nie gefordert, 980 Peng bezeichnete den Forschungsbericht als „im großen und ganzen objektiv“. Er wies vor allem darauf hin, dass der Forschungsbericht die Aufständischen als „Rebellen“ bezeichnet und sein Vorgehen damit implizit gutgeheißen habe. Zudem sei seine Behauptung, er habe den Befehl erteilt, zunächst Warnschüsse abzugeben, im Forschungsbericht bestätigt worden. Siehe Lianhe wanbao, 24.2.92. 981 Siehe Lianhe bao, 29.2.92. 982 Der letzte Punkt der Anklageschrift (illegaler Waffenbesitz) scheint etwas rätselhaft, wenn man die militärische Stellung des Peng Mengqi bedenkt. Es ist jedoch möglich, dass angesichts der vorhersehbaren Abweisung der Klage wegen Verjährung bewusst ein Punkt aufgenommen wurde, der aus jüngerer Zeit datierte und daher dieser Verjährungsfrist nicht unterlag. 983 Siehe Zhongguo shibao, 1.3.93. 984 Von Seiten der Kläger wurde vorübergehend erwogen, im Fall Peng Klage am Internationalen Gerichtshof zu erheben. Dieser Plan wurde jedoch nicht realisiert. Siehe Zili zaobao, 1.4.93.
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Peng etwa zu einer langen Haftstrafe zu verurteilen – wie dies bei einer Mordklage an sich zu erwarten wäre. Im Gegenteil: Eine der Hauptklägerinnen, Frau Zhang Donghui, erklärte sogar, sie sei bereit, die Klage gegen Peng Mengqi zurückzuziehen, falls dieser sich öffentlich entschuldige – ein Ansinnen, das von Peng jedoch abgelehnt wurde. 985 Auch der erbitterte Gegner der KMT-Regierung, die World United Formosans for Independence, erklärte zum Fall Peng: Wichtig sei lediglich, dass überhaupt eine Verurteilung erfolge – danach könne man Peng Mengqi umgehend begnadigen.986 Die KMT war sich der symbolischen Bedeutung des Falles Peng bewusst. Im Gegensatz zu Chen Yi konnte Peng Mengqi nur schwerlich für die Massaker des 228-Aufstandes in Haftung genommen werden. Immerhin war General Peng auf Grund seiner „Verdienste“ im 228-Aufstand in die höchsten Ebenen des militärischen Establishments aufgerückt und hatte seine hohe Position bis in die 90er Jahre unumstritten behauptet. Eine Verurteilung des Generals Peng hätte für die KMT ein juristisch greifbares Eingeständnis ihrer historischen Schuld bedeutet, und wenngleich sich die Regierungspartei seit Beginn der 90er Jahre in eigenem Interesse um eine Beilegung des 228-Aufstandes bemühte, waren insbesondere die konservativen Kreise zu einem solch manifesten Schritt nicht bereit. In einem Interview mit dem Autor kommentierte Lai Zehan dieses Dilemma der KMT wie folgt: Peng Mengqi war der einzige, der auf Grund des 228-Vorfalles befördert wurde. […] Aus Sicht der Regierung hatte er sich große Verdienste um die ganze Insel erworben. Er hat den Aufstand sofort unterdrückt, deswegen ist der Süden der Insel, Tainan, Gaoxiong und Pingdong, sofort befriedet worden, immediately return to peace. Aus Sicht der Regierung, aus Sicht von Chiang Kai-shek war er also ein guter General […] Aber er tötete viele Leute. Aus Sicht des Volkes ist er ein Verbrecher. Wie soll man da einen Kompromiss finden? Wenn er keine Gewalt angewandt hätte, hätte sich der Aufstand ausgeweitet, und es wären noch mehr Leute ums Leben gekommen. […] Es kommt also immer darauf an, ob man aus Sicht der Regierung oder aus Sicht des Volkes argumentiert. Aber wo ist die historische Wahrheit?987
Darüber hinaus hätten sich aus einem Gerichtsverfahren gegen Peng Mengqi auch durchaus praktische Konsequenzen für die KMT ergeben können. Hinsichtlich der Verjährungsfrist argumentierte die Opposition, aus Sicht des Autors vollkommen zu Recht, dass eine Klage gegen Peng Mengqi zur Zeit des Kriegsrechtes nicht möglich war. Daher forderte sie, dass die 30jährige Verjährungsfrist für Täter des 228-Aufstandes erst mit der Aufhebung des Kriegsrechtes im Jahre 1988 ansetzen solle. Hätte sich diese Argumentation durchgesetzt, so hätten sich daraus für die KMT unübersehbare Folgen für weitere Klagen von Opfern politisch motivierter Unterdrückung, insbesondere aus der Periode des „Weißen Terrors“, ergeben können.988 Bis heute kann die Grabstätte des Peng Mengqi als Symbol der unvollständigen historischen Aufarbeitung des 228-Aufstandes gelten. Peng, der am 17.12.97 im Alter von 89 Jahren verstarb, wurde auf dem nationalen Friedhof der Streitkräfte in der „Sektion für besondere Verdienste“ beigesetzt. Auf seinem Grabmal findet sich eine persönliche 985
Siehe Minzhong ribao, 12.2.93. Siehe Zili zaobao, 27.2.94. 987 Interview mit Lai Zehan am 15.3.05. 988 In diesem Sinne äußerte sich etwa ein Vertreter der Angehörigen, Lin Mingde: Ein „Musterprozess“ gegen Peng Mengqi und Ke Yuanfen sei notwendig, um ein Exempel für Machthaber zu statuieren, die sich an den Rechten des Volkes vergangen hätten. Ziyou shibao, 29.2.92. 986
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Widmung des damaligen Präsidenten Li Denghui, in dem die verdienstvollen Leistungen des Peng Mengqi für Volk und Partei hervorgehoben werden. In den letzten Jahren wurde die Grabstätte mehrmals geschändet, die Grabinschrift wurde durch Säure verätzt und ist heute zum Teil unleserlich.
9.2.2.6 Die „mündliche Geschichte“ und das 228-Museum Die 228-Bewegung betrachtete es als eines ihrer vordringlichsten Ziele, die Erinnerung an den 228-Aufstand wieder zu beleben und für die Allgemeinheit zu dokumentieren. Wichtige Ansprechpartner bei dieser Bemühung waren die Überlebenden und Augenzeugen des 228-Aufstandes: Bereits im ersten Jahr der 228-Bewegung 1987 veröffentlichte die „Stiftung zur Erinnerung an den 228-Aufstand“ einen Aufruf an die Opfer des Aufstandes, nach Möglichkeit historisches Material aus der Zeit des Aufstandes zur Verfügung zu stellen. 989 Während diese Bemühungen um eine Dokumentation des 228-Aufstandes, deren Wurzeln sich (wie gezeigt) in die Dangwai-Periode zurückverfolgen lassen, zunächst nur auf begrenzte Resonanz stießen, stieg das allgemeine Interesse an dem 228-Aufstand zu Beginn der 90er Jahre deutlich an. Zu dieser Entwicklung trug der Film „City of Sadness“990 des jungen Regisseurs Hou Xiaoxian bei. Der Film, der bei den Filmfestspielen von Venedig im September 1989 mit der Goldenen Palme für den besten ausländischen Films ausgezeichnet worden war – die erste bedeutende internationale Auszeichnung der taiwanesischen Filmbranche – thematisierte erstmals in einer taiwanesischen Medienproduktion den 228-Aufstand und wurde in Taiwan lebhaft und kontrovers diskutiert. 991 Die regimekritische 228-Bewegung intensivierte nun ihre Bemühungen, die Berichte von Augenzeugen des 228-Aufstandes systematisch zu sammeln und durch diese „mündliche Geschichte“ 992 einen authentischen und volksnahen Zugang zu den Geschehnissen des Jahren 1947 zu vermitteln. Im Jahr 1989 erschien ein erster umfangreicher Sammelband mit Augenzeugenberichten des 228-Aufstandes.993 In den Jahren nach 1992 fand diese Form der Geschichtsschreibung, die nach 1990 einen Schwerpunkt der regimekritischen 228-Forschung ausmachte, ihren vorläufigen Höhepunkt: Unter Federführung der KMT-kritischen Historiker Zhang Yanxian, Gao Shuwen und Hu Huiling erschien in den Jahren zwischen 1992 und 1996 eine zehnbändige Buchreihe, die eine geographisch gegliederte, systematische Befragung von Augenzeugen des 228-Auufstandes präsentierte. Auch von offizieller Seite wurde seit Ende der 80er Jahre ein Interesse an den Augenzeugenberichten des 228-Aufstandes erkennbar. Bereits im Jahr 1987 begann das Archiv der Provinz Taiwan 994 mit einem Forschungsprojekt, das eine umfangreiche Befragung von Augenzeugen des Aufstandes zum Ziel hatte. Wegen des damals noch geltenden 989
Siehe Zheng Eryu 1988: 167ff Beiqing chengshi ᛢᛵᐲ 991 Anlass zu Kontroversen bot dabei auch der Regisseur Hou Xiaoxian, ein Festländer der zweiten Generation, der seinen Film durchaus nicht als Pamphlet für die taiwanesische Unabhängigkeit missverstanden sehen wollte. „Ich bin kein Taiwanese, ich bin Chinese aus der Provinz Kanton. Mit meinem Film ‚City of Sadness’ wollte ich den 228-Aufstand von einem objektiven Standpunkt aus betrachten […] Der Film […] wurde für Chinesen gedreht. Man muss die Chinesen und die chinesische Kultur kennen, um den Film zu verstehen.“ Lianhe wanbao, 18.9.89. 992 Koushu lishi ਓ䘠↧ਢ 993 Zhang Yanxian/Li Xiaofeng 1989. 994 Taiwansheng wenxianhui ਠ⚓ⴱ᮷⦫ᴳ 990
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Kriegsrechtes wurde dieses Forschungsprojekt zunächst als Geheimsache behandelt, erst im Jahr 1991 wurden die Ergebnisse dieser Interviews erstmals veröffentlicht. Darüber hinaus wurde auch im Zuge des Forschungsberichtes des Exekutiv-Yuan das Zeugnis von Augenzeugen des 228-Aufstandes gesucht. Hierbei wurden über 250 Interviews mit Beteiligten und Augenzeugen des 228-Aufstandes geführt.995 Während die 228-Bewegung in ihrem Anliegen einer umfassenden Dokumentation des Aufstandes bedeutende Fortschritte zu verzeichnen hatte, konnte ein weiteres Ziel über lange Zeit zunächst nicht erfüllt werden: Die Einrichtung eines 228-Museums als Herberge und repräsentatives Zeugnis des 228-Gedenkens. Erst im Jahr 1995 konnte in dieser Frage ein Durchbruch erzielt werden: Auf Anregung der „Gruppe 47“ (siehe 9.2.2.1.) willigte die Stadtregierung Taipei unter dem DPP-Bürgermeister Chen Shuibian ein, anlässlich des 50. Gedenktages des 228-Aufstandes im Jahr 1997 das Gebäude der ehemaligen Rundfunkanstalt Taipei zur Verfügung zu stellen, von wo aus im März 1947 die Nachricht über den Beginn des 228-Aufstandes über die ganze Insel verbreitet hatte. Unter Schirmherrschaft der KMT-kritischen 228-Friedensgesellschaft996 (228 Peace Foundation) wurde im Oktober 1995 ein Vorbereitungsausschuss für die Gründung des Museums ins Leben gerufen, als erster Kurator des Museums wurde Ye Bowen 997 vorgeschlagen. Während der Vorbereitungsphase für die Museumseröffnung, die auf Grund des nahenden 50. Gedenktages unter erheblichem zeitlichen Druck stand, war die 228-Friedensgesellschaft weitgehend auf sich allein gestellt. 998 In einem Gespräch mit dem Autor erinnerte sich Ye Bowen an diese schwierige Zeit: Als das Museum gegründet werden sollte, hatten wir zunächst überhaupt kein Material. Wir wussten auch nicht, wo wir Material suchen sollten. Die Anfrage an offizielle Stellen wurde ignoriert, damals war noch die KMT an der Macht […] Nach Gründung des Museums bekamen wir einiges Material aus den USA. Einige Zeitungen von damals, die von einigen Leuten über 50 Jahre lang aufgehoben wurden. Ich war damals sehr gerührt, dass uns dieses Material zur Verfügung gestellt wurde. George Kerr […] schickte uns sein gesamtes Material nach Taiwan, über 21 Kisten, die haben wir ihm abgekauft. Aber von offizieller Seite kam gar nichts. 999
Ebenso seien die finanziellen Zuwendungen vollkommen ungenügend gewesen, die Museumsleitung habe daher fortlaufend auf private Spenden zurückgreifen müssen:
995 Im Jahr 1993 wurde in einem Sonderband eine Auswahl von 43 Interviews in voller Länge veröffentlicht. Siehe Zhongyang yanjiuyuan jindaishi yanjiusuo 1993. 996 Er-er-ba heping cujinhui ҼҼ઼ޛᒣ׳䙢ᴳ 997 Ye Bowen, ein Mitglied der „Gruppe 47“, ist ein erfolgreicher Geschäftsmann. Angesichts der knapp bemessenen finanziellen Zuwendungen gelang es Ye, über seine Kontakte zur taiwanesischen Geschäftswelt private Spender für die Museumsgründung zu mobilisieren. Im Frühjahr 1996 wurde die Spenderliste von vier der erfolgreichsten Unternehmer der Insel (darunter auch Ye selbst) angeführt, die jeweils einen Betrag von zwei Mio. Taibi beitrugen. Siehe Ye Bowen/Xu Weitai 2001: 51. 998 Im Juli 1996 erklärte die Stadtregierung Taipei, dass auf Grund der klammen Finanzlage die finanziellen Zuwendungen für die 228-Gedenkveranstaltungen im Jahr 1997 erheblich reduziert werden müssten. Von diesem Entschluss war auch das 228-Museum in Taipei betroffen: Wie Vize-Bürgermeister Chen Shimeng auf einer Pressekonferenz erklärte, stünde zu befürchten, dass das Museum am Tag der Einweihung zunächst nur einen Teil der Ausstellungsräume für den Besucherverkehr öffnen würde. Siehe Dacheng bao, 5.9.96. Über den Verkauf von Sondermünzen- und Briefmarken konnten im Januar 1997 jedoch zusätzliche Finanzmittel erschlossen werden. Siehe Minzhong ribao, 21.1.97. 999 Interview mit Ye Bowen am 10.3.04.
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Taiwan heute: Demokratisierung und postautoritäre Gesellschaft Als wir damals mit dem 228-Museum angefangen haben, konnten wir über zehn Mio. an Spenden mobilisieren. Von staatlicher Seite haben wir nur Mittel für zwei hauptamtliche Mitarbeiter erhalten, wir haben aber sechs eingestellt. Wir mussten uns dann selbst um die finanzielle Ausstattung kümmern.1000
Schon bald erwies sich Ye Bowen als unbequemer und mutiger Museumsleiter, der sowohl bei einigen Angehörigen der 228-Opfern als auch von Seiten der Stadtverwaltung in die Kritik geriet. Für großes Aufsehen etwa sorgte im November 1999 eine Sonderausstellung des Museums mit dem Titel „Von der Fremde in die Heimat“, mit der an das schwere Schicksal der Festländer in Taiwan erinnert werden sollte, die im Jahr 1949 dem KMTRegime nach Taiwan gefolgt waren. 1001 Von Seiten der Angehörigen, die der Meinung waren, dass das 228-Museum den Opfern des Aufstandes gewidmet sein sollte, wurde diese Ausstellung heftig kritisiert. Im Frühjahr 2000 kam das Museum erneut in die Schlagzeilen: Das neugegründete „Amt für Kultur“ der Stadt Taipei unter der Amtsleiterin Long Yingtai hatte den überraschenden und äußerst umstrittenen Entschluss gefasst, den Vertrag der 228 Peace Foundation für den Betrieb des Museums nicht zu verlängern, sondern Gegenstand einer öffentlichen Ausschreibung zu machen. Aus Sicht der Museumsleitung unter Ye Bowen war dies eine politisch motivierte Entscheidung der nunmehr von der KMT geführten Stadtverwaltung. 1002 Der Betrieb des Museums wurde ab dem 1. Juni 2000 vom Taiwan Area Development Research Institute 1003 übernommen, dem politische Nähe zur KMT nachgesagt wird. Die genauen Hintergründe dieser Entscheidung, die im Rückblick schwer zu durchschauen sind und die gelegentlich wohl auch von persönlichen Animositäten der Beteiligten getragen war, 1004 sollen hier nicht im Einzelnen erörtert werden. Als Folge dieser Umgestaltung zogen sich jedoch zahlreiche Unterstützer und ehrenamtliche Mitarbeiter vom 228-Museum zurück; für den Betrieb des Museums bedeutete diese Neubesetzung sicherlich einen schweren Rückschlag. Aus Sicht des Ye Bowen hat das Museum damit einiges von seiner ursprünglichen Bedeutung eingebüßt: Alles ist jetzt viel schlichter geworden. Das Museum steht noch unverändert, aber die Lebenskraft ist nicht mehr da. Es sind auch keine neuen Ausstellungsstücke mehr hinzugekommen. Das Material ist immer noch dasselbe, das wir zu Anfang gesammelt hatten. Das Gefühl hat sich vollkommen geändert […] Ich hatte damals gehofft, dass das Museum auch nach meinem Rücktritt seine Bedeutung bewahren könnte. Ich dachte, die Regierung und die Opposition könnten gemeinsam über das Museum verfügen. Aber das wollten Ma Yingjiu und Long Yingtai nicht […] Die Geschichte wird beweisen, dass Long Yingtai das Museum zu Grunde gerichtet hat. 1005
Am 31.12.2001 wechselte die Museumsleitung erneut: Das Museum wurde nunmehr direkt der Stadtverwaltung unterstellt, mit Xie Yingcong wurde der dritte und vorläufig letzte Museumskurator benannt. Xie Yingcong, der sich zu den Vorgängen des Jahres 2000 nicht 1000
Interview mit Ye Bowen am 10.3.04. Siehe http://228.culture.gov.tw/web/display/2/exhDt.asp?id=27&show=1&daYear=1999 1002 Im Dezember 1998 hatte sich der DPP-Bürgermeister Chen Shuibian vergeblich um eine Wiederwahl bemüht, sein Amtsnachfolger war der KMT-Bürgermeister Ma Yingjiu. 1003 Taiwan quyu fazhan yanjiuyuan ਠ⚓॰ฏⲬኅ⹄ウ䲒 1004 Im Frühjahr 2001 veröffentlichten Ye Bowen und Xu Weitai ein Buch, das die Vorgänge des Jahres 2000 aus Sicht der alten Museumsleitung schildert und das gelegentlich vor polemischen Attacken gegen die Kulturbeauftragte Long Yingtai und Bürgermeister Ma Yingjiu nicht zurückschreckt. Siehe Ye Bowen/Xu Weitai 2001: 51ff. 1005 Interview mit Ye Bowen am 10.3.04. 1001
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im Detail äußern wollte, betonte im Gespräch mit dem Autor jedoch, dass er stets um eine weitgehende Einbeziehung der Angehörigen des 228-Aufstandes bemüht sei. Zudem, so Xie, erfordere seine Position als Museumsleiter eine äußerste politische Neutralität: Ich selber bin gebürtiger Taiwanese, daher verstehe ich die Gefühle der Angehörigen. Das Kulturamt hatte auch diese Anforderungen an einen Museumsleiter: Erstens musste er Historiker sein, zweitens gebürtiger Taiwanese […] Bis heute wurde ich noch nie für meine Entscheidungen kritisiert. Als Museumsleiter muss man politisch neutral bleiben. Man muss die Geschichte objektiv betrachten […] Man muss immer sehr vorsichtig sein, und sich seine Taten genau überlegen. Ich wurde eingeladen, an der 228-Kundgebung [am 28.2.2004] teilzunehmen. Ich habe abgelehnt. Aber meine Frau will hingehen, und ich habe sie [in dieser Absicht] auch unterstützt. Aber für mich ist das unmöglich.1006
Während das 228-Musuem in Taipei also in den ersten Jahren nach seiner Gründung von tendenziell DPP-freundlichen Kräften und engagierten Mitarbeitern getragen wurde, hatte sich dieses Bild durch die Neubesetzung der Museumsleitung im Jahr 2000 gewandelt. Die Frage bleibt offen, ob hierbei die neuen politischen Machtverhältnisse der Stadt Taipei eine Rolle gespielt haben mögen. Der Autor jedenfalls gewann bei mehreren Besuchen des Museums in den Jahren 1998 bis 2007 und über Gespräche mit ehrenamtlichen Mitarbeitern verstärkt den Eindruck, dass der anfängliche Elan der Museumsführung etwas verflogen ist. In einem Interview mit dem Autor betonte der heutige Museumsdirektor Xie Yingcong, dass er hoffe, die Unterstützung der frühen ehrenamtlichen Mitarbeiter zurück zu gewinnen: Als das Museum eröffnet wurde, war Chen Shuibian Bürgermeister [von Taipei]. Die meisten Mitarbeiter des Museums waren Anhänger von Chen, und Unterstützer der taiwanesischen Unabhängigkeit. […] Nach der Wahl des Ma Yingjiu haben sich viele der frühen Unterstützer zurückgezogen, weil sie nicht hinnehmen wollten, dass das Museum von der ‚Wiedervereinigungs-Fraktion’ kontrolliert wird […] Das nehme ich mir sehr zu Herzen. Seit letztem Jahr bin ich in diesen Posten aufgerückt. Ich hoffe sehr, dass ich deren Vertrauen zurückgewinnen kann, und dass sie sich erneut für das Museum engagieren. Das wird mein Ziel sein.1007
9.2.3 Der 228-Aufstand im Spannungsfeld von parteipolitischen Interessen der KMT 9.2.3.1 Die Abwehrhaltung der KMT, 1987-1990 Durch die Entstehung einer artikulierten und populären 228-Bewegung im Jahr 1987 wurde das KMT-Regime in die Defensive gedrängt. Die erste Reaktion der Regierung bestand, wie geschildert, in einer Schutzhaltung der vollkommenen Verleugnung: Die Regierung wollte an der Interpretation des 228-Aufstandes als eines kommunistischen Umsturzversuches festhalten; im Grunde sollte also die offizielle Lesart des Jahres 1947 unverändert wieder aufgegriffen werden. 1008 Schon bald erwies sich jedoch, dass diese rein defensive 1006
Interview mit Xie Yingcong am 16.2.04. Interview mit Xie Yingcong am 16.2.04. 1008 So erklärte etwa der KMT-Abgeordnete Zhou Shufu in einer parlamentarischen Anfrage im April 1987, schon das Datum des Aufstandes lasse einen klaren Zusammenhang zum Kommunismus erkennen. Die chinesischen Zeichen für 228 (ҼҼ )ޛlassen sich auf eine Weise kombinieren, dass das Zeichen für „Kommunismus“ ()ޡ 1007
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Haltung unter den Bedingungen der zunehmenden politischen Demokratisierung nicht hinreichen würde. Bei einer vollkommenen Verweigerung des Dialoges und der historischen Aufarbeitung stand aus Perspektive der KMT zu befürchten, dass die Opposition den 228Aufstand dauerhaft als wirksame Waffe im politischen Wettstreit instrumentalisieren könnte. Bereits im Jahr 1988 verfolgte die KMT daher einen neuen Ansatz: Die tragische Dimension des 228-Aufstandes sollte zwar nicht länger abgestritten werden, jedoch musste die KMT nach Möglichkeit danach streben, das Gedenken an den Aufstand aus der politischen Debatte fernzuhalten und auf die Ebene einer unpolitischen historischen Forschung zu verbannen. Dieser neue Ansatz wurde zunächst auch von Li Denghui vertreten, der nach dem Tod des Jiang Jingguo im Januar 1988 als erster gebürtiger Taiwanese in das Amt des Präsidenten der Republik China aufrückte. In einer beispiellosen Geste stellte sich Li Denghui nach seinem Amtsantritt auf einer Pressekonferenz den Fragen der Reporter, hierbei wurde auch der 228-Aufstand berührt. Li sagte: Ich denke, dass alle Anwesenden heute jünger als 40 Jahre sind. Ich finde es sehr merkwürdig, wenn heutzutage Leute unter 40 Jahren über den 228-Aufstand reden. […] Sollte man Fragen über die damaligen Umstände und über viele Dinge, die damals passiert sind, nicht lieber späteren Historikern überlassen? Warum muss man solche Fragen jetzt hervorzerren? Mit solchen Dingen wird Agitation betrieben […], verstößt das nicht gegen das Prinzip der gegenseitigen Liebe? Wenn man nach dem Prinzip von „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ vorgeht, dann wird diese Gesellschaft niemals zur Ruhe kommen. […] Für den Fortschritt muss der Blick nach Vorne gerichtet sein, man darf nicht immer zurückblicken.1009
Diese Formel des „Nach Vorne Blickens“ wurde für die KMT in den folgenden zwei Jahren zum Leitfaden im Umgang mit dem 228-Aufstand. Die Erinnerung an den 228-Aufstand dürfe nicht das politische und gesellschaftliche Klima vergiften; stattdessen solle er als bedauerliche historische Tragödie begriffen werden, der in dem historischen Kontext der chinesischen Geschichte einzuordnen sei.1010 Für die 228-Bewegung war dieser Appell, die „Geschichte ruhen zu lassen“, selbstverständlich vollkommen inakzeptabel. In einer öffentlichen Erklärung antwortete die „Gesellschaft zur Herbeiführung eines 228-Friedenstages“ den Ausführungen des Li Denghui: Präsident Li habe die Motive der Gesellschaft offenbar missverstanden. Man habe niemals nach dem Motte von „Auge um Auge, Zahn um Zahn“ Rache für den 228-Aufstand nehmen wollen. Im Gegenteil: Auch die 228-Bewegung verfolge das Anliegen einer Beilegung des Aufstandes im Sinne einer gesellschaftlichen Eintracht. Hierfür sei es jedoch unausweichlich, sich der Vergangenheit mutig zu stellen, vergangenes Unrecht offen zu benennen und Wiedergutmachung zu leisten. Dies gebiete schon der Respekt vor den Opfern des Aufstandes, die seit über vier Jahrzehnten vergeblich auf Gerechtigkeit warteten. 1011 In einem Gespräch mit dem Autor äußerte sich Chen Yongxing zu seinen damaligen Motiven: entsteht. Siehe Taiwan shibao, 8.4.87. Diese graphische Entsprechung ist natürlich rein zufällig, zudem begann der 228-Aufstand bereits am 27.2.47 1009 Er-er-ba hepingri cujinhui 1991: 156ff. 1010 In diesem Sinne äußerte sich etwa Premier Yu Guohua im Dezember 1988 vor ausländischen Reportern: Zwar sei der 228-Aufstand ein bedauernswertes Kapitel der Geschichte; die Regierung sehe jedoch keine Veranlassung, sich für diesen Vorfall zu entschuldigen. Schließlich habe sich auch niemand bei den ungezählten Chinesen entschuldigt, die bei der Gründung der Qing-Dynastie im 17. Jahrhundert von den Mandschus getötet worden seien. Von Seiten der DPP wurde Premier Yu für diese Äußerung aufs Schärfste kritisiert. Siehe Zili wanbao, 2.3.89. 1011 Siehe Taiwan shibao, 25.2.88.
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Ich bin eigentlich Psychiater. Daher wusste ich genau: Wenn man seine Angst immer nur verbirgt, dann kann man die Probleme niemals lösen. Auch ein Patient muss sich seinen Problemen stellen. Im Chinesischen gibt es ein Sprichwort: „Wer einmal von einer Schlange gebissen wurde, der wird immer Angst vor einem Seil haben“. Diese Furcht ist aber pathologisch. Es gibt keinen Grund zur Angst. Man muss nur das Ding, das Seil, genau erkennen […] In den letzten 40 Jahren hatte sich auch die KMT gewandelt. Sie war nicht länger ein brutales, faschistisches Regime, das wahllos Menschen ermordet. Aber sie musste sich ihrer Furcht stellen.1012
Auch die DPP kritisierte die aus ihrer Sicht verantwortungslose Haltung der KMT. Hier gingen die Angriffe gegen das Regime verständlicherweise sehr viel weiter: Die KMT, so der allgemeine Konsens der Opposition, könne ihrer autoritäre Vergangenheit nur dann überwinden, wenn sie die politische Macht abgebe – eine Sichtweise, bei der gelegentlich der Vergleich der deutschen Aufarbeitung mit dem Dritten Reich bemüht wurde. 1013
9.2.3.2 Der 228-Aufstand im parteiinternen Fraktionsstreit der KMT Seit Beginn der 90er Jahre unternahm die KMT Anstrengungen, den Forderungen der 228Bewegung entgegenzukommen – als Wendepunkt kann hierbei die Gründung des „Sonderausschusses des Exekutiv-Yuan zum 228-Vorfall“ im November 1990 (s.o.) betrachtete werden. Dieses Einlenken der KMT war natürlich in erster Linie auf den Druck der von der Opposition unterstützten 228-Bewegung und der kritischen öffentlichen Meinung zurückzuführen. Gleichzeitig lassen sich jedoch Anzeichen erkennen, dass die Regierungspartei auch aus eigenem Antrieb auf eine umfassende Aufarbeitung des 228-Aufstandes hinzuarbeiten begann. Nach Meinung des Autors lässt sich dieses Phänomen zum Teil mit den Machtkämpfen innerhalb der KMT erklären, die schließlich im Jahre 1993 zur Spaltung der Partei führten. Im Zuge der Demokratisierung der politischen Sphäre hatten sich innerhalb der KMT zwei Fraktionen gebildet: Auf der einen Seite eine konservative Fraktion, die sich als Wächter der reinen Lehre der „Drei Volksprinzipien“ des Sun Yazen verstand, die sämtliche Schritte auf eine demokratische Öffnung mit Misstrauen beobachtete und mit Stolz die historischen Verdienste der Partei und das Andenken des Präsidenten Chiang Kai-shek verteidigte. An der Spitze dieser als „Nebenströmung“1014 titulierten Faktion, deren Machtbasis vor allem das Militär bildete, standen General Jiang Weiguo, ein Sohn des Chiang Kai-shek, und General Hao Bocun.1015 Dem gegenüber stand die als „Hauptströmung“1016 bezeichnete Faktion, die unter Führung des Präsidenten Li Denghui den größeren Einfluss auf die Partei nehmen konnte. Im Gegensatz zur „Nebenströmung“ vertrat diese moderatere Faktion offensiv das Ziel einer weitergehenden Demokratisierung; zudem war die Hauptströmung in wesentlich höherem Maße bereit, sich den historischen Verfehlungen der KMT zu stellen. Mehr noch: Aus Sicht dieser Hauptströmung bot gerade die Konfrontation mit 1012
Interview mit Chen Yongxing am 17.3.05. Siehe etwa Ziyou ribao, 28.2.88. 1014 Fei zhuliu pai 䶎ѫ⍱⍮. Eigentlich: „Nicht-Hauptströmung“. 1015 Hao Bocun (auch: Hau Beicun). Vor seinem politischen Engagement hatte General Hao eine glänzende militärische Karriere absolviert und in den Jahren 1981-1989 als Generalstabschef der Armee gedient. Von 1989-1990 hatte Hao das Amt des Verteidigungsministers inne. Trotz seiner konservativen Grundhaltung galt Hao als charismatischer Politiker, dem von seinen Anhängern insbesondere Verdienste im Bereich der Korruptionsbekämpfung zu Gute gehalten wurden. 1016 Zhuliu pai ѫ⍱⍮ 1013
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der „dunklen Vergangenheit“ der KMT die Gelegenheit, sich von ebendieser Vergangenheit zu distanzieren und die KMT als neue, demokratische Partei zu profilieren, die im demokratischen Wettbewerb mit der Opposition bestehen konnte. Ein erster offener Konflikt zwischen diesen beiden Faktionen wurde im Frühjahr 1990 ausgetragen, als sich Präsident Li Denghui um seine zweite, reguläre Amtszeit bewarb und die konservativen Kräfte der Partei mit Jiang Weiguo einen Gegenkandidaten nominierten – ein bislang in der KMT unerhörter Vorgang. Nach seiner erfolgreichen Wiederwahl suchte Li Denghui eine Verständigung mit seinen parteiinternen Widersachern, indem er General Hao Bocun zum Premier berief.1017 Im Jahr 1993 kam es schließlich zum endgültigen Bruch, als sich die konservative Nebenströmung von der KMT abspaltete und eine eigene Partei namens „Neue Partei“1018 gründete.1019 Auch die konservative Nebenströmung der KMT vertrat die Ansicht, dass sich die Partei ihrer Vergangenheit stellen müsse. Bereits im Dezember 1990 traf sich Premier Hao Bocun in einer symbolträchtigen Geste mit Vertretern der Opfer des 228-Aufstandes. Dieses Treffen, bei dem Premier Hao sein persönliches Beileid zum Ausdruck brachte, wurde in der taiwanesischen Presse allgemein als Wendepunkt in der Haltung des Regimes zum 228-Aufstand betrachtet.1020 Dennoch konnte die „Hauptströmung“ unter Li Denghui bei der Aufarbeitung des 228-Aufstandes mit größerer Glaubwürdigkeit agieren, da sie in wesentlich größerem Umfang zu einem umfassenden Schuldbekenntnis bereit war. Dies galt insbesondere für die historische Bewertung des Präsidenten Chiang Kai-shek, der von Regimekritikern als Haupttäter des 228-Aufstandes betrachtet wurde. Die Bereitschaft zu einer umfassenden Aufarbeitung des 228-Aufstandes bedeutete für die Hauptströmung der KMT nicht nur, dass die Partei insgesamt an politischem Profil gegenüber der Opposition gewinnen und die Deutungshoheit des Aufstandes, die sich bis dahin allein in den Händen der Opposition befunden hatte, für sich reklamieren konnte. Zugleich bot sich die Möglichkeit, sich von parteiinternen Widersachern zu distanzieren. Diese Spannungen innerhalb der KMT zeigten sich bereits im Mai 1990, als Li Denghui in seiner Antrittsrede für seine erste reguläre Amtsperiode als Präsident der ROC den Willen der Regierung bekundete, eine historische und politische Aufarbeitung des Aufstandes zu unterstützen und einen Sonderausschuss des Legislativ-Yuan einzuberufen – eine Ankündigung, die von Premier Hao Bocun auf einer Pressekonferenz umgehend dementiert wurde.1021 Die parteiinternen Konflikte der KMT waren in einem besonders sensiblen Punkt von hoher Brisanz: In der Frage nämlich, ob die Regierung zu einer offiziellen Entschuldigung gegenüber der taiwanesischen Gesellschaft allgemein und den Opfern des Aufstandes im Besonderen bereit sei – eine Frage, die in den taiwanesischen Medien seit Beginn der 90er 1017
Für eine kompakte chronologische Darstellung der politischen Ereignisse dieser Jahre siehe Copper 1993. Xindang ᯠ唘 1019 Am 4. Februar 1993 trat Hao Bocun von seinem Amt als Premier zurück, sein Amtsnachfolger war der gebürtige Taiwanese Lian Zhan. Am 10. August des Jahres wurde die „Neue Partei“ offiziell gegründet. Im Dezember 1993 nahm die neugegründete Partei erstmals an den Wahlen der Kreisvorsteher und Bürgermeister teil, hierbei konnte sie mit 16,3% der Stimmen ihr bislang bestes Wahlergebnis erzielen. Der politische Einfluss der Neuen Partei ist heute jedoch deutlich gesunken. Bei den letzten Wahlen zum Legislativ-Yuan im Dezember 2005 konnte die Partei nur 0,13% der Stimmen gewinnen und stellt lediglich einen der 225 Delegierten des Hauses. Siehe http://www.gov.tw /index.htm 1020 Siehe Zhongguo shibao, 7.12.90. 1021 Diese Aussage des Hao Bocun, die sich im direkten Gegensatz zu der Ankündigung des Präsidenten befand, führte in der taiwanesischen Presse zu einiger Verwirrung. Es wurde sogar spekuliert, ob Hao Bocun eventuell die Frage des Reporters missverstanden haben könnte. Siehe Zili wanbao, 2.6.90. 1018
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Jahre der Anlass für verschiedenste Spekulationen war. Es wurde allgemein erwartet, dass Li Denghui als Vorsitzendem der KMT und Staatsoberhaupt der ROC selbstverständlich eine führende Rolle bei einer möglichen Entschuldigung für den 228-Aufstand zukommen müsse, dieser ließ auch bereits seit 1990 seine grundsätzliche Bereitschaft zu einem solchen Schritt anklingen. Andererseits wurde sowohl von Seiten der Opposition als auch von Teilen der KMT geltend gemacht, dass Li Denghui als gebürtiger Taiwanese zumindest potentiell selbst als Leidtragender des 228-Aufstandes zu betrachten sei, eine aufrichtige Entschuldigung der Regierung müsse daher auch von dem Festländer und Militär Premier Hao Bocun ausgehen – ein Ansinnen, das Hao jedoch mehrmals mit der Begründung zurückwies, der 228-Aufstand sei durch ein „historisches Missverständnis“ zwischen Brüdern ausgelöst worden, bei der es keiner Entschuldigung von irgendeiner Seite bedürfe.1022 Erst in den Jahren nach 1993, als die Spannungen innerhalb der KMT durch die Abspaltung der konservativen Fraktion in der „Neuen Partei“ vorerst beigelegt waren, konnte die KMT eine offizielle Entschuldigung für den 228-Aufstand leisten. Anlässlich der Einweihung der 228Gedenkstätte in Taipei am 28.2.95 hielt Präsident Li Denghui vor Vertretern der Angehörigen eine viel beachtete Rede, in der er sagte: Ich selbst habe den 228-Vorfall erlebt, und seit vielen Jahren bin ich voll tiefer Trauer über diese historische Tragödie, die hätte verhindert werden können und die sich dennoch ereignete […] Die Opfer [des 228-Aufstandes], ihre Kinder und Enkel, können heute mit eigenen Augen sehen, wie auf unserer teuren Insel dieses 228-Mahnmal als Ausdruck der historischen Gerechtigkeit […] errichtet wird, und mit eigenen Ohren hören, wie ich in meiner Eigenschaft als Staatoberhaupt die Verantwortung für die Fehler der Regierung übernehme und mich aufrichtig entschuldige […] Es ist nur bedauerlich, dass viele der Angehörigen bereits von uns gegangen sind und die Vollendung dieser Gedenkstätte nicht mehr erleben konnten.1023
Die Entschuldigung wurde von Lin Zongyi als Vertreter der Angehörigen entgegengenommen, der die Entschuldigung des Li Denghui als größtes und lange ersehntes Geschenk für die Angehörigen bezeichnete. Dieses Eingeständnis der KMT hinsichtlich ihrer historischen Schuld, das sich bereits in der Frage um die Errichtung von Gedenkstätten angedeutet hatte, markierte zugleich die Erfüllung der letzten großen Forderung der 228-Bewegung. Wenngleich diese Entschuldigung des Li Denghui von einigen Angehörigen als ungenügend zurückgewiesen wurde 1024 und die Frage der historischen Schuld der KMT 1025 und 1022
Siehe Zili zaobao, 29.2.92. Zili zaobao, 1.3.95. 1024 Von Angehörigen wurde etwa die Kritik erhoben, dass die KMT nach wie vor eine strafrechtliche Verfolgung der Täter verweigere, die Entschuldigung könne daher nicht akzeptiert werden. Zudem sei nicht zu verkennen, dass die KMT – trotz ihres Eingeständnisses – nach wie vor die Regierung stelle, das Einlenken des Li Denghui sei daher nichts weiter als ein durchsichtiger Versuch, der KMT eine neue Legitimationsbasis zu erschließen. Auch die DPP zeigte sich mit der Entschuldigung des Li Denghui nicht befriedigt. Lü Xiulian rief die Angehörigen dazu auf, die Entschuldigung des Präsidenten zurückzuweisen. Siehe Ziyou shibao, 1.3.95. 1025 So kommentierte etwa Lin Yufa von der TIP in einem Gespräch mit dem Autor die Entschuldigung des Li Denghui wie folgt: „Li Denghui hat sich zwar entschuldigt, aber Li ist doch selbst [gebürtiger] Taiwanese. Haben die Taiwanesen damals etwa ihre eigenen Mitbürger umgebracht? Auch die Entschädigungen für die Opfer [des 228-Aufstandes] werden von den taiwanesischen Steuerzahlern beglichen […] Als die KMT im Jahr 2000 die Präsidentschaftswahlen verlor, hat man ihr [Partei] Vermögen auf 200 Milliarden NTD geschätzt. Die Entschädigungen für die Opfer sollte auch vom Geld der KMT gezahlt werden, nur das wäre gerecht. Jetzt müssen Taiwanesen mit ihren Steuergeldern die Entschädigungen für Taiwanesen zahlen – das ist doch absurd!“ Interview mit Lin Yufa am 24.5.03. 1023
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insbesondere des Chiang Kai-shek bis heute, wie gezeigt werden soll, einer der kontroversesten Themen der aktuellen 228-Forschung darstellt, kann konstatiert werden, dass die Rede des Li Denghui aus Sicht der KMT eine nicht zu unterschätzende Entlastung darstellte. Nach Abspaltung der konservativen Kräfte in der „Neuen Partei“ konnte sich die KMT als einsichtige und historisch unbelastete Kraft in der neuen und demokratisch strukturierten politischen Landschaft Taiwans positionieren. Ein Leitartikel der Zeitung Ziyou shibao kommentierte hierzu: In der Geschichte gibt es ungezählte Beispiele für Völker, die von der eigenen Regierung unterdrückt wurden. Aber nur sehr selten kommt es vor, dass sich diese Regierungen entschuldigen – es sei denn, es hätte [vorher] ein Regierungswechsel stattgefunden. Oberflächlich betrachtet, ist diese Entschuldigung nur ein Eingeständnis der Fehler der Vergangenheit, in Wahrheit wollte man aber ohne Zweifel eine klare Grenze zu den alten Machthabern ziehen, um die Legitimität der neuen Regierung zu untermauern. Die Macht des Li Denghui hat ihre Wurzeln in der alten KMT. Die Entschuldigung konnte er erst zu einem Zeitpunkt wagen, da die […] konservative Strömung keine Bedrohung für ihn mehr darstellte.1026
9.2.3.3 Die politische Vereinnahmung der Angehörigen Die Opfer des 228-Aufstandes und deren Angehörigen, die als Leidtragende und lebende Zeugen begangenen Unrechtes allgemein hohen Respekt genossen, wurden seit Beginn der 90er Jahre zur wichtigsten Zielgruppe in der politischen Auseinandersetzung um den 228Aufstand. Die Opposition hatte sich in ihrem Engagement für eine Aufarbeitung des 228Aufstandes stets als Fürsprecherin dieser Angehörigen verstanden, in ihrer überwiegenden Mehrzahl standen diese daher der Opposition nahe. Bei der Begegnung mit den Angehörigen kam Li Denghui jedoch seine Identität als gebürtiger Taiwanese zu Gute. Darüber hinaus verband ihn eine langjährige Freundschaft mit Lin Zongyi, dessen Vater Lin Maosheng im 228-Aufstand ums Leben gekommen war und der zu einem der prominentesten Vertreter der Angehörigen des 228-Aufstandes wurde. Auf Vermittlung von Lin traf sich Präsident Li Denghui im März 1991 erstmals mit Vertretern von verschiedenen Angehörigenverbänden. Auf diesem Treffen unterbreitete Präsident Li das Angebot, im „Sonderausschuss des Exekutiv-Yuan zum 228-Vorfall“ auch Vertreter der Angehörigen zu beteiligen.1027 Nach dem Rückzug der konservativen Kräfte der KMT intensivierte die Partei ihr Werben um die Angehörigen. Im Jahr 1996, als zum ersten Mal direkte und freie Präsidentschaftswahlen abgehalten wurden, berief sich Li Denghui auf die Verdienste, die sich die KMT bei der Beilegung des 228-Aufstandes erworben habe. Zudem ließ er erkennen, dass er sich trotz seiner Entschuldigung vom Vorjahr nicht als wahrhaft Schuldigen betrachte. Immerhin, so Li, sei er als gebürtiger Taiwanese selbst zu den Leidtragenden des 228Aufstandes zu zählen, daher sei es eher angemessen, wenn er selbst Rezipient einer Entschuldigung wäre. Li Denghui ging schließlich soweit, sich selbst als tatsächliches Opfer des 228-Aufstandes zu bezeichnen. Für diese Selbstdarstellung als „Opfer“ geriet Li Denghui in die Kritik, da nicht geklärt werden konnte, auf welchen Sachverhalt sich diese 1026 1027
Ziyou shibao, 1.3.95. Siehe Lianhe wanbao, 5.3.91.
Der 228-Aufstand
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Behauptung bezog.1028 Am 28.2.1996 zog Lin Yixiong, dessen Mutter und zwei Töchter im „zweiten 228-Vorfall“ im Jahr 1980 ermordet worden waren (siehe 7.3.6.), mit einigen Unterstützern vor den Präsidentenpalast und forderte Präsident Li auf, seine Aussagen zu konkretisieren oder aber in Zukunft von solchen Behauptungen Abstand zu nehmen. 1029 Als Folge dieses aggressiven Werbens um die Unterstützung der Angehörigen machten sich innerhalb der Angehörigenverbände bald Spannungen bemerkbar. Die führende Organisation der Angehörigen, die „Allianz für die Anteilnahme am 228“, 1030 die im August 1991 unter Vorsitz von Lin Zongyi gegründet worden war und die als offizieller Ansprechpartner der Regierung fungierte, wurde zu keinem Zeitpunkt von sämtlichen Angehörigen als legitime Vertretung akzeptiert. Schon bald bildeten sich rivalisierende Organisationen, die sich allerdings zumeist auf lokale Zusammenschlüsse beschränkten. Zu einer ersten Konfrontation zwischen Angehörigenverbänden kam es im Februar 1993, als sich der lokale Verband von Gaoxiong1031 dagegen verwahrte, dass Lin Zongyi als Repräsentant der Angehörigen zu den Einweihungsfeierlichkeiten des dortigen 228-Denkmals eingeladen wurde.1032 Auch die Einweihung des 228-Denkmals in Taipei im Februar 1995 war von einem unschönen Vorfall überschattet: Nur etwa 200 Angehörige waren als „Ehrengäste“ eingeladen worden, um den Einweihungsfeierlichkeiten und der Entschuldigung des Präsidenten beizuwohnen. Mehr als 1000 Angehörigen, die ohne Einladung zum Veranstaltungsort, dem „228-Park“ in Taipei, angereist waren, wurde hingegen der Zutritt zu dem Areal des Denkmals verwehrt. Die enttäuschten und aufgebrachten Angehörigen veranstalteten daraufhin im Park eine eigene, inoffizielle Gedenkveranstaltung, auf der das unglückliche Vorgehen der Regierung als „Spaltungsstrategie“ gegeißelt und aufs Schärfste verurteilt wurde.1033 Das Werben der KMT um die Unterstützung der Angehörigen kann also zumindest als teilweise erfolgreich bezeichnet werden. Wenngleich es der KMT kaum gelingen konnte, die Mehrzahl der Angehörigen von ihrer KMT-kritischen Haltung abzubringen, so konnte Li Denghui als gebürtiger Taiwanese dennoch glaubhaft die Interessen der Angehörigen aufgreifen und damit politisches Kapital für die KMT gewinnen. Zugleich war es den 1028
Zur Zeit des 228-Aufstandes hielt sich Li Denghui als Student an der National Taiwan University in Taipei auf. In seinen Memoiren behauptete Li Denghui, er habe in dieser Zeit an mehreren Studentenversammlungen teilgenommen. Dies, so Li weiter, habe noch im Jahre 1969 dazu geführt, dass er von Seiten des Geheimdienstes zu nächtlichen Verhören abgeholt worden sei. Siehe Li Denghui 1999b: 36f. Li Bingnan, der jüngere Bruder von Li Denghui, behauptete hingegen in einem Interview mit der Zeitung Zhongguo shibao, dass sein Bruder zur Zeit des 228-Aufstandes um ein Haar von einer verirrten Kugel getroffen worden sei. Siehe Zhongguo shibao, 26.2.94. 1029 Siehe Taiwan shibao, 29.2.96. 1030 Er-er-ba guanhuai lianhehui ҼҼޛ䰌ᠧ㚟ਸᴳ 1031 Der lokale Angehörigenverband in Gaoxiong, gegründet am 8.9.92, stellte den ersten dieser lokalen und unabhängigen Verbände von Angehörigen dar. Wie der Vorsitzende Wang Junxiong erklärte, sei die zentrale „Allianz für die Anteilnahme am 228“ des Lin Zongyi bereits von rivalisierenden politischen Interessen unterwandert, die Mehrzahl der Mitglieder seien nicht einmal echte Angehörige von Opfern. In der neu gegründeten „Gesellschaft der Familienangehörigen von Opfern des 228 für Anteilnahme“ (Er-er-ba shounan jiashu guanhuai xiehui ҼҼޛ ਇ䴓ᇦኜ䰌ᠧᴳ) wolle man hingegen nur Mitglieder aufnehmen, die eine Verbindung zum 228-Aufstand nachweisen könnten. Siehe Zili zaobao, 8.9.92. 1032 Siehe Zili wanbao, 16.2.93. 1033 Der Vorsitzende des lokalen Angehörigenverbandes von Taipei, Li Wenxiang, erklärte hierzu: Die Regierung habe nur Repräsentanten von wohlhabenden und einflussreichen Familien eingeladen, man wolle offensichtlich eine Spaltung der Angehörigen in „Adelige“ und „Gemeine“ betreiben. Zudem, so Li, seien die bereitgestellten Sitzplätze für die geladenen Gäste nicht einmal zur Hälfte belegt gewesen. Unter diesen Umständen sei die Entschuldigung des Li Denghui bedeutungslos. Siehe Zili wanbao, 28.2.95.
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Taiwan heute: Demokratisierung und postautoritäre Gesellschaft
Angehörigen unter dem Einfluss von parteipolitisch motivierten Vereinnahmungsversuchen nicht gelungen, eine einheitliche und schlagkräftige Interessenvertretung zu etablieren – ein aus Sicht der KMT vielleicht nicht beabsichtigtes, aber sicherlich begrüßenswertes Ergebnis.
9.2.4 Die umstrittenen Fragen der aktuellen 228-Forschung 9.2.4.1 Der 228-Aufstand als kommunistischer Umsturzversuch Bereits am Abend des 28.2.47 richtete Gouverneur Chen Yi ein Telegramm an Chiang Kaishek, in dem er den Präsidenten von der Ausrufung des Kriegsrechtes über Taiwan informierte. Agenten der Kommunisten, so Chen Yi, hätten sich mit taiwanesischen Verbrechern zusammengetan und planten einen Sturz der lokalen Behörden. 1034 Mit dieser Erklärung des 228-Aufstandes als eines „kommunistisch motivierten Umsturzversuches“ wurde somit bereits am ersten Tag das zentrale Element der offiziellen Lesart des 228-Aufstandes angesprochen, das sich in allen Regierungserklärungen wieder fand und das schließlich auch die Entsendung der Armee rechtfertigen sollte: Nur durch das rasche und entschlossene Vorgehen der Streitkräfte sei verhindert worden, dass Taiwan – wie es ein taiwanesischer Militär noch im Jahre 1980 formulierte – „noch vor dem Festland Rot geworden“1035 sei. Aus Perspektive der KMT wurde der 228-Aufstand damit gewissermaßen als ein Nebenschauplatz des Kampfes gegen den kommunistischen Gegner gefasst, der sich zu diesem Zeitpunkt auf dem Festland im Bürgerkrieg manifestierte. Diese Interpretation eines kommunistischen Umsturzversuches hielt sich auf Taiwan, wie gezeigt, bis in die späten 80er Jahre, als der 228-Aufstand erstmals wieder in die öffentliche Debatte vordringen konnte. Diese Darstellung des 228-Aufstandes als eines von Kommunisten angestifteten Versuches des Regierungssturzes war im Jahr 1947 vielleicht nicht so abwegig, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Im Gegensatz zu den 50er Jahren, als der Vorwurf der „pro-kommunistischen Spionage“ für die staatlichen Sicherheitsorgane der KMT einen willkommenen Vorwand für die Unterdrückung jeder regimekritischen Äußerung diente, herrschte im Jahr 1947 in der Tat noch Bürgerkrieg. Es schien durchaus plausibel, dass sich die KPCh lokale Unruhen für ihren Kampf gegen die KMT zu Nutze gemacht haben könnte (wie dies auf dem Festland in vielen Fällen geschehen war). Die Behauptung des KMTRegimes, der 228-Aufstand sei in erster Linie als kommunistischer Umsturzversuch zu betrachten, gewann für lange Zeit auch deshalb an Glaubwürdigkeit, da die Volksrepublik China einen gleich lautenden Anspruch erhob. Seit 1949 wurden in Peking von verschiedenen Organisationen1036 von Taiwanesen auf dem Festland Gedenkveranstaltungen zum 228-
1034
Siehe Zhongyang yanjiuyuan jindaishi yanjiusuo 1992: 64. Pan Zhijun 1980: 325-345. Im Jahr 1949 wurden die 228-Gedenkveranstaltungen zunächst unter der Leitung der „Taiwanesischen Landsleute in Peking“ (Zai Beiping shi Taibao ൘ेᒣᐲਠ㜎) durchgeführt, im Jahr 1950 wurde die Organisation in „Allianz für die Demokratie und Selbstverwaltung Taiwans“ (Taiwan minzhu zizhi tongmeng ਠ⚓≁ѫ㠚⋫਼ⴏ ) umbenannt. Mit dem Beginn der Kulturrevolution wurden die 228-Gedenkveranstaltungen auf dem Festland ab 1966 zunächst ausgesetzt, seit 1973 wurden sie jedoch erneut aufgenommen. Vgl. Zhongchuan Changlang 1982: 67-75. Seit 1981 sind die Taiwanesen auf dem Festland in der „Nationalen Freundschaftsgesellschaft der taiwanesischen Landsleute“ (Zhonghua quanguo Taiwan tongbao lianyihu ѝ 㨟 ޘ഻ ਠ ⚓ ਼ 㜎 㚟 䃬 ᴳ , englische
1035 1036
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Aufstand abgehalten, in denen die Aufständischen als Vorkämpfer der kommunistischen Ideale und chinesische Patrioten gewürdigt wurden, die sich unter Führung der KPCh gegen das faschistische Regime des Chiang Kai-shek erhoben hätten. Wenngleich sich die Inhalte der 228-Gedenkveranstaltungen in Peking je nach der Ausrichtung der internationalen Politik der VRCh verschoben,1037 bleibt dieser Anspruch einer kommunistischen Unterfütterung des 228-Aufstandes von Seiten der VRCh bis heute bestehen. In der neueren 228-Forschung auf Taiwan wurde diese Behauptung, der 228-Aufstand sei im Wesentlichen auf kommunistische Agitation zurückzuführen, jedoch eindeutig widerlegt. Wenngleich es bereits seit den 20er Jahren auf Taiwan Strukturen einer kommunistischen Untergrundpartei gab, wurde diese von den japanischen Behörden stets sehr effektiv unterdrückt und konnte sich zu keinem Zeitpunkt zu einer nennenswerten Bewegung entwickeln. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges kam als weiteres Hindernis hinzu, dass die taiwanesischen Kommunisten strukturell nicht der KPCh auf dem Festland, sondern der kommunistischen Partei in Japan angegliedert waren. 1038 Zur Zeit des 228Aufstandes bestanden daher nur sehr wenige Kontakte zu der kommunistischen Bewegung auf dem Festland. Die Kommunisten auf Taiwan wurden, wie alle Beteiligten, von dem Ausbruch des 228-Aufstandes vollkommen überrascht und waren weder personell noch organisatorisch in der Lage, den Aufstand für eigene Zwecke zu nutzen. Bis heute wird diese Behauptung einer maßgeblichen kommunistischen Einflussnahme jedoch in einem Fall gelegentlich aufrechterhalten: die Stadt Taizhong, wo es unter Leitung der taiwanesischen Kommunistin Xie Xuehong im März 1947 zur Gründung einer „Volksregierung“ und der paramilitärischen Volksmiliz der „27. Truppe“ gekommen sei, welche für einige Tage die Stadt unter ihre Kontrolle gebracht habe (vgl. 3.4.2.). Im Zuge der Forschungsarbeiten hatte der Autor die Gelegenheit zu einem ausführlichen Gespräch mit Herrn Zhong Yiren, der die Vorgänge in Taizhong in vollkommen anderer Weise darstellt: Nicht Xie Xuehong, sondern er selbst sei der Anführer der „27. Truppe“ gewesen. Mit Xie habe ihn jedoch eine alte Bekanntschaft verbunden, daher habe er ihrer Bitte entsprochen und sie unter den Schutz der 27.Truppe gestellt. In dem Bemühen, junge Mitstreiter – insbesondere Ureinwohner – für den Widerstand gegen die Truppen der KMT zu mobilisieren, habe sich die Anwesenheit von Xie Xuehong als äußerst hinderlich erwiesen: Wir haben damals Leute ausgeschickt, nach Jiayi und Puli. Wir wollten die jungen Ureinwohner ermutigen, sich uns anzuschließen, denn die hatten alle Erfahrungen in der vordersten Front der japanischen Armee gesammelt. Diese Erfahrungen waren für uns sehr wertvoll. Aber dieser Plan schlug fehl […] Als sich unsere 27. Truppe nach Puli zurückzog, wurde die ganze Verantwortung [für den 228-Aufstand] den Kommunisten zugeschoben. Und wir hatten Xie Xuehong mitgebracht, viele Ureinwohner hatten Angst […] die Ureinwohner […] haben nur den Namen „Xie Xuehong“ gehört und dachten, die Rote Armee sei einmarschiert, und daraufhin hatten sie Angst vor uns.1039
Bezeichnung All China Taiwanese Association) organisiert, die seitdem für die Durchführung der 228Gedenkveranstaltungen in Peking verantwortlich ist. Internetseite: www.tailian.org.cn. 1037 So lässt sich etwa besonders in der frühen Phase des 228-Gedenkens des Festlandes eine deutliche antiamerikanische Spitze feststellen – ein Element, das nach 1979, als die VRCh diplomatische Kontakte mit den USA aufnahm, verschwand. Siehe Chen Fangming 1991b: 37-44. 1038 Die Kommunistische Partei Taiwans wurde 1928 in Shanghai gegründet und vertrat – als erste politische Kraft – die Forderung einer staatlichen Unabhängigkeit für Taiwan. Siehe Chen Lifu 1996: 103f. 1039 Interview mit Zhong Yiren am 24.9.03
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Trotz anders lautender Propaganda, so Zhong, sei daher die Behauptung einer maßgeblichen kommunistischen Beteiligung auch für das Gebiet um Taizhong nicht zutreffend. Die Kommunisten hatten nicht einmal eine Marine, wie hätten sie nach Taiwan kommen sollen? Und damals war gerade [die kommunistische Hochburg] Yan’an [von den Nationalisten] eingenommen worden. Die Kommunisten waren damals selbst in großer Gefahr, wie hätten sie da Leute nach Taiwan entsenden sollen? Das ist doch unmöglich! […] Auch in der Volksrepublik China wurde der 228-Aufstand von der Propaganda groß aufgebauscht. Viele Leute, auch Xie Xuehong, haben später behauptet, sie hätten den Aufstand angeführt. Alles sei von ihnen ausgegangen. Aber das ist Unsinn.1040
Sollte diese Darstellung der Vorgänge in der Gegend von Taizhong, die bislang in der Forschung weitgehend vernachlässigt wurde1041 und die heute natürlich nur schwer zu verifizieren1042 ist, zutreffen, so muss man zu dem Schluss kommen, dass selbst in diesem Gebiet keine maßgebliche Beteiligung der Kommunisten am 228-Aufstand stattgefunden hatte.
9.2.4.2 Kulturelle Entfremdung zwischen Taiwan und dem Festland Bereits unmittelbar nach der Rückkehr Taiwans zum Festland kam der Frage der kulturellen Entfremdung eine bedeutende Rolle zu. Festlandchinesen, die Taiwan in den Monaten nach der Übernahme bereisten, zeigten sich befremdet von vielen Lebensgewohnheiten und Wertevorstellungen der einheimischen Bevölkerung, die sich vollkommen von den Gewohnheiten des Festlandes unterschieden und die auf eine tief greifende „Japanisierung“ der Insel schließen ließen. Diese Wahrnehmung einer kulturellen Andersartigkeit zeigte auch große Auswirkungen auf die politische Struktur der Provinzverwaltung. Aus Sicht der Zentralregierung war Taiwan auf Grund seiner 50jährigen Kolonialvergangenheit eine Sonderstellung unter den Provinzen zuzuweisen. Gouverneur Chen Yi wurde mit besonderen Vollmachten ausgestattet; zudem rekrutierte sich die administrative Führungsschicht der Provinz fast ausschließlich aus zugereisten Beamten des Festlandes. Chen Yi argumentierte, dass Taiwan als Folge der langjährigen „Versklavung“ durch die Japaner nicht über qualifiziertes Führungspersonal verfüge, zumeist seien nicht einmal die erforderlichen Sprachkenntnisse des Mandarin gegeben. Die neuen chinesischen Machthaber begegneten den kulturell entfremdeten Taiwanesen mit einem gewissen Misstrauen, das die Loyalität der Taiwanesen zum chinesischen Vaterland in Frage stellte. Zu Beginn des 228Aufstandes schienen sich diese Befürchtung einer tief greifenden „Japanisierung“ der Taiwanesen zu bestätigen. Wie regierungsnahe Quellen berichteten, hätten aufgebrachte Menschenmassen am 28.2.47 in Taipei eine regelrechte Menschenjagd auf Festländer veranstaltet. Wer sich nicht mit japanischen Sprachkenntnissen als gebürtiger Taiwanese ausweisen konnte, sei zum Opfer schwerster Misshandlungen geworden. In Berichten der Regierungsorgane wurde mit Ingrimm vermerkt, dass auf den Straßen Taipeis jubelnde 1040
Interview mit Zhong Yiren am 24.9.03. Diese Darstellung des Zhong Yiren ist nicht ganz neu. Bereits im Jahr 1993 veröffentlichte Zhong seine Memoiren, in denen er die Vorgänge in Taizhong aus seiner Sicht beschrieb. Siehe Zhong Yiren 1993. Nach Ansicht des Autors wurden diese Memoiren in der modernen 228-Forschung bislang nicht ausreichend gewürdigt: 1042 Die Behauptung des Zhong Yiren, er sei in Wahrheit der Anführer der 27. Truppe gewesen, wurde bereits im Jahr 1988 durch die Aussagen eines weiteren Beteiligten, Huang Jindao, bestätigt. Siehe Taiwan shibao, 13.3.88. 1041
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Japaner gesichtet worden seien. 1043 In Zentral- und Südtaiwan, wo sich paramilitärische Aufständische organisiert hatten, hätten Taiwanesen japanische Uniformen angelegt und japanische Marschlieder angestimmt.1044 In der Erklärung des 228-Aufstandes des Regimes kam diesen Elementen der kulturellen Fremdbestimmung und Entfremdung Taiwans eine große Bedeutung zu; aus Sicht der Regierung wurde dies sogar zur Entlastung der taiwanesischen Bevölkerung angeführt. Viele Taiwanesen, so die offizielle Lesart, hätten sich zwar in verwerflicher und blindwütiger Weise gegen ihre Mitbürger und das chinesische Vaterland vergangen. Dies sei jedoch zumindest teilweise auf eine unverschuldete, da von Außen erzwungene, kulturelle Rückständigkeit zurückzuführen: Als Folge der Entmündigung und Indoktrination durch die japanische „Versklavung“ könne von Taiwanesen nicht erwartet werden, dass sie die Tugenden des chinesischen Vaterlandes verinnerlicht hätten. Wie Kinder oder Betrunkene1045 seien die Mitläufer des Aufstandes daher nicht in der Lage gewesen, die Tragweite ihrer Handlungen zu überblicken. In einem offiziellen Bericht zum 228-Aufstand merkte das Gouverneursbüro am 30.3.47 hierzu an: Unter der Herrschaft der Japaner wurden die Taiwanesen einer versklavenden Erziehung unterworfen, die destruktive [japanische] Propaganda war voll Verachtung für China. Die jungen Leute auf Taiwan […] wissen nichts über die Geschichte oder Geographie des Vaterlandes. [Viele Taiwanesen] eifern im alltäglichen Leben den Japanern nach und haben nur den Wunsch, auf ewig Untertanen der Japaner zu bleiben. Dies hat auf viele junge Leute einen tiefen Eindruck: Sie wissen nichts von der chinesischen Kultur und der großartigen Lebenskraft der chinesischen Nation.1046
Dieses Gefühl der kulturellen Überlegenheit fand sich nicht nur in offiziellen Stellungnahmen der Regierung, sondern war auch in Kreisen von „liberalen“ Festländern weit verbreitet. Ein anschauliches Beispiel hierfür bietet He Rong, der zur Zeit des 228-Aufstandes als Grundschullehrer in Taipei tätig war und der den Forderungen und Nöten der Taiwanesen durchaus mit Sympathie gegenüberstand. In einer Erzählung (veröffentlicht unter dem Pseudonym Hong Quhuo – „Die Flut erstickt das Feuer“) ließ He Rong in einer „Geisterrede“ den Geist eines fiktiven Taiwanesen, der durch eine verirrte Kugel im 228-Aufstand ums Leben gekommen war, von seinen Erfahrungen unter der japanischen Kolonialherrschaft und seinen Eindrücken über das chinesische Vaterland berichten:
1043
Siehe etwa Taiwan xinshengbao, 5.3.47. Dies könnte ein Grund dafür gewesen sein, dass die Provinzregierung gegenüber der Zentrale zunächst von einer massiven Unterstützung der Aufständischen durch japanisches Militär berichtet hatte. Zhong Yiren schilderte hierzu in einem Gespräch mit dem Autor: „Die KMT war damals [bei ihrem Vorrücken gegen die 27. Truppe] sehr vorsichtig. Sie hatten gehört, in unserer 27. Truppe befänden sich viele Japaner, und vor denen hatten sie Angst. In Wahrheit war bei uns nicht ein einziger [Japaner]. Aber wir unterhielten uns immer auf Japanisch, auch unser Drill, unsere Uniformen und Waffen waren alle wie bei der japanischen Armee“. Interview mit Zhong Yiren am 24.9.03. 1045 Bereits am 6.3. hatte Chen Yi in einer Rede vor den Behördenleitern der verschiedenen Regierungsstellen Taiwans gesagt: „Die Japaner haben Taiwan 50 Jahre lang unterdrückt, daher sind die Emotionen der Taiwanesen leicht erregbar. Wie Betrunkene, die nicht mehr Herr ihrer Sinne sind, haben sie daher Menschen verprügelt und Häuser zerstört. Doch bald werden sie aus ihrem Rausch erwachen, und sich ihrer Vergehen schämen.“ Chen Fangming/Lin Delong 1992: 112f. 1046 Taiwansheng xingzheng changguan gongshu 1947: 71. 1044
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Taiwan heute: Demokratisierung und postautoritäre Gesellschaft Ich bin nicht einmal 40 Jahre alt geworden, ich hatte nie die Gelegenheit, das [chinesische] Vaterland kennen zu lernen. Ich habe die Erziehung der Japaner erfahren, aber die kennen das Vaterland nicht – wie sollten sie auch? Die Japaner haben gesagt, dass China seit der TangDynastie [6.-9.Jh.] ein Land ohne Kultur sei, und keine Vorstellung von moderner Wissenschaft habe. In China, so sagten die Japaner, gebe es keine Eisenbahnlinien und keine Lokomotiven. Die Japaner sagten, dass Chinesen nur Drogen produzieren und Opium rauchen. Aus alten Erzählungen habe ich von einem gewissen Konfuzius gehört, der soll ein Heiliger gewesen sein […] Ich weiß natürlich, dass China größer ist als Japan – aber viele Taiwanesen wissen das nicht.1047
Auch hier zeigte sich der überhebliche Gestus eines tadelnden, wenn auch wohlwollenden chinesischen Überlegenheitsgefühls. Selbst aus Sicht der liberalen und regimekritischen Festländer erschienen die Taiwanesen als ein durch die 50jährige Kolonialherrschaft der Japaner entmündigtes und dem Vaterland entfremdetes Volk, dem die Tugenden der chinesischen Kultur verschlossen geblieben waren – wie die „barbarischen“ Ureinwohner, denen viele Ähnlichkeiten mit der taiwanesischen Gesamtbevölkerung nachgesagt wurden. Es galt nun, dieser unverschuldete Unmündigkeit und Infantilität, die sich im 228-Aufstand in gewaltsamen und blinden Exzessen Bahn gebrochen hatten, mit einer Mischung aus Milde und Härte zu begegnen. Aus Sicht der regimekritischen 228-Foschung wird diesem Element der kulturellen Differenz zwischen Taiwan und China ebenfalls eine hohe Bedeutung zugewiesen. Hier wird die Frage der kulturellen Rückständigkeit jedoch in entgegen gesetzter Weise beantwortet: Unter der 50jährigen Kolonialherrschaft Japans sei Taiwan zu einer fortschrittlichen und modernen Gesellschaft avanciert, die sich um Welten von der rückständigen und feudalen Gesellschaftsordnung des Festlandes abgehoben habe. In den Werken von Autoren der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung finden sich ungezählte Beispiele, wie die Festländer nach ihrer Ankunft auf Taiwan voll Verblüffung die Segnungen der modernen Technik bestaunt hätten. 1048 Über die Soldaten der KMT wird etwa kolportiert, dass sie des Fahrradfahrens unkundig gewesen seien und keine Vorstellung von modernen sanitären Einrichtungen1049 gehabt hätten. Auf den Eisenbahnstrecken Taiwans hätten sich mehrere Unfälle ereignet, da Soldaten der KMT wichtige Schalt- und Steuerungselemente, deren Funktion sie nicht begriffen, entwendet hätten. 1050 Mit Empörung wurde auch die Behauptung zurückgewiesen, dass Taiwan nach dem Zweiten Weltkrieg auf Grund seiner langjährigen kolonialen Fremdbestimmung mit demokratischen Prinzipien nicht vertraut und daher nicht befähigt gewesen sei, einen Platz als normale Provinz der Republik China einzunehmen. Im Gegenteil wird geltend gemacht, dass Taiwan bereits seit den 30er Jahren erste Erfahrungen mit dem demokratischen Prozedere eines Mehrparteienwettbewerbes sammeln
1047
Hong Quhuo 1947: 104. Eine amüsante Episode wird etwa über den Ort Yanshui (咭≤, der Ortsname bedeutet „Salzwasser“) berichtet, in dem sich die größte Zuckerraffinerie der Insel befand. Ein Reporter aus dem Festland, der auf seiner Reise durch Taiwan von der Fortschrittlichkeit der Insel beeindruckt war, habe aufgeregt berichtet, dass es die moderne Technologie auf Taiwan sogar erlaube, aus Salzwasser Zucker zu gewinnen. Vgl. Li Xiaofeng 1998: 97. 1049 In fast allen entsprechenden Beiträgen über den 228-Aufstand findet sich etwa die Geschichte über einen Soldaten, der sich erbost bei einem Klempner beschwert habe, welcher ihm zuvor einen Wasserhahn verkauft hatte. Der Soldat habe den Wasserhahn einfach in eine Mauer geschraubt und daraufhin erbittert feststellen müssen, dass das erhoffte Leitungswasser nicht fließen wollte. 1050 Siehe etwa Kerr 1965: 101. 1048
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konnte – wenngleich sich der politische Entfaltungsraum auf den Rahmen einer von den Japanern tolerierten Selbstverwaltung beschränken musste. Zu einer Zeit, als das „Vaterland“ unter die politische Bevormundung der KMT fiel, hatten taiwanesische Intellektuelle mit der „Taiwanesischen Volkspartei“ bereits die erste moderne politische Partei Taiwans gegründet. Zu einer Zeit, da die so genannten Brüder und Schwestern auf dem Festland vor Revolutionen im Inneren und Invasion durch fremde Mächte flohen, hatten die Taiwanesen bereits mehrmals die Erfahrung von demokratischen Wahlen gemacht.1051
Diese demokratische Tradition habe auch nach der Rückkehr zum Festland ihren Niederschlag gefunden: In den ersten Wahlen des Konsultativrates der Provinz Taiwan im April 1946 hatten sich 1180 Kandidaten für die 30 Mandate des Konsultativrates beworben; 1052 allein dieses hohe Maß der politischen Partizipation lasse auf die politische Reife und Mündigkeit der taiwanesischen Gesellschaft schließen. Es lasse sich daher feststellen, dass Taiwan zwar seit dem Friedensschluss von Shimonoseki im Jahr 1895 – der überdies als „Verrat“ des chinesischen Vaterlandes an den Taiwanesen interpretiert werden könne – unter die Herrschaft einer fremden Macht geraten sei. Als Folge seien die Taiwanesen als „Bürger zweiter Klasse“ in ihrer eigenen Heimat aus einigen Bereichen des politischen und gesellschaftlichen Lebens ausgeschlossen worden. Dennoch habe diese politische Fremdbestimmung auch erhebliche Vorzüge besessen: Mit den Japanern hätte die damals fortschrittlichste Nation Asiens Einzug auf Taiwan gehalten. Im Gegensatz zu dem chinesischen Festland, das seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts in einem Chaos von politischen Umbrüchen, Bürgerkriegen und Hungersnöten versunken sei, habe Taiwan eine vergleichsweise ruhige und stetige Entwicklung genommen, die mit einem rasanten Anstieg des allgemeinen Lebensstandards einhergegangen sei. Auch in den Bereichen öffentliche Sicherheit, allgemeine Schuldbildung, Infrastruktur und moderne Medien habe sich Taiwan als fortschrittliche Gesellschaft präsentiert, die in Asien allenfalls von Japan selbst übertroffen worden sei – während das chinesische Festland den Stand eines Entwicklungslandes besessen habe. Diese kulturelle Rückständigkeit des Festlandes, die nach der Rückkehr der Insel innerhalb weniger Wochen zu einer ökonomischen und sozialen Katastrophe geführt habe, sei als wesentlicher Grund für den Ausbruch des 228-Aufstandes zu betrachten: Auf seinem Weg zu einer modernen Gesellschaft war Taiwan dem Festland weit voraus, der Entwicklungsunterschied zwischen den beiden Gesellschaften war gewaltig – von den Unterschieden in Wertvorstellungen und Lebensstandard ganz zu schweigen. Wenn zwei Gesellschaften von unterschiedlichem Charakter mit Gewalt „vereint“ werden, dann kommt es sehr leicht zu Reibungen, die Konflikte nach sich ziehen. Dies gilt vor allem dann, wenn die unterentwickelte Seite als „Eroberer“ auftritt und die höher entwickelte Seite beherrschen will […] Es ist daher kein Zufall, dass der 228-Vorfall vor diesem historischen Hintergrund ausbrach.1053
Dieses Element der „kulturellen Entfremdung“ zwischen Taiwan und dem Festland als wesentlichem Faktor für den Ausbruch des 228-Aufstandes hat in den letzten Jahren vor allem in Kreisen der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung erneut an Bedeutung gewonnen. Dies liegt, wie im weiteren Verlauf der Arbeit gezeigt werden soll, daran, dass 1051
Li Xiaofeng 1998: 89f. Siehe Li Xiaofeng 1998: 207. 1053 Li Xiaofeng 1998: 211. 1052
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Taiwan heute: Demokratisierung und postautoritäre Gesellschaft
dieser Faktor der erzwungenen Zusammenführung zweier kulturell unterschiedlicher Gesellschaften einen Schwerpunkt der jüngsten 228-Interpretation einnimmt: der 228Aufstand als warnendes Beispiel einer erneuten Vereinigung mit dem kulturell rückständigen chinesischen Festland.1054
9.2.4.3 Anzahl der Todesopfer Die mögliche Anzahl der Todesopfer des 228-Aufstandes gehört bis heute zu den kontroversesten Themen der 228-Forschung. Neben der Gesamtzahl erstreckt sich dies auch auf die Frage, wie viele Todesopfer jeweils unter den Festländern (vor Eintreffen der Armee am 8.3.) bzw. gebürtigen Taiwanesen (durch die darauf folgenden Ausschreitungen der Armee) zu Tode gekommen waren. Während die KMT in den Monaten nach dem 228Aufstand von etwa 2-3000 Opfern sprach, von denen die meisten Festländer (also vor allem Staatsbeamte sowie Angehörige der Polizei- und Streitkräfte) gewesen seien, gingen Autoren der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung von bis zu 100.000 Todesopfern aus. 1055 Es mag befremdlich scheinen, mit welcher Vehemenz um diese Frage der Opferzahlen gerungen wurde. So kritisierte Qiu Niantai bereits im Jahr 1976: Warum werden die Angaben über Todesopfer von beiden Seiten [Volk und Regierung] immer so maßlos übertrieben? Hat etwa die Seite Recht, die mehr Todesopfer zu beklagen hat?1056
Es ist erstaunlich, dass sich diese Frage bis heute jeder Klärung entzieht. Es existieren keine Quellen, die eine auch nur annähernd fundierte Schätzung erlauben würden. Im Rahmen des 228-Forschungsberichtes des Exekutiv-Yuan im Jahr 1991 unternahm Chen Kuanzhen den Versuch, sich anhand der verfügbaren Bevölkerungsstatistiken aus den Jahren vor und nach dem 228-Aufstand einer verlässlichen Zahl anzunähern. Chen wies jedoch auf die Schwierigkeiten eines solchen Vorgehens hin:
1054
Wang Jinping, Vorsitzender der „Liga für die Wiedervereinigung Chinas“ (Zhongguo tongyi lianmeng ѝ഻㎡ а㚟ⴏ), wandte sich in einem Gespräch mit dem Autor entsprechend scharf gegen diese aus seiner Sicht verfehlte Behauptung einer kulturellen Rückständigkeit Chinas: „In der Zeit vor dem 228-Aufstand wäre kein Taiwanese auf den Gedanken gekommen, Taiwan für fortschrittlicher als China zu halten. Wann hat die Modernisierung Taiwans denn eingesetzt? Unter der Qing-Dynastie [gegen Ende des 19. Jahrhunderts], unter dem Gouverneur Liu Mingchuan. Damals wurden auch die Eisenbahnen gebaut […] Die Japaner haben die bereits bestehenden Strukturen ausgebaut, aber das war doch nicht für die Interessen der Taiwanesen. Alles geschah nur für die Interessen des japanischen Kaiserreiches. […] Natürlich war die Politik der KMT verfehlt. Aber das kann man doch nicht mit der Kolonialherrschaft der Japaner vergleichen. Als die Japaner Taiwan [im Jahr 1895] in Besitz nahmen, haben sie über 60.000 Taiwanesen getötet. Für diese Zahlen gibt es Beweise. Mit ihrer modernen Armee haben sie den Widerstand der Taiwanesen unterdrückt, über 50 Jahre lang. Auch der anti-japanische, anti-koloniale Widerstand der Taiwanesen hat eine lange Geschichte. Wenn die Kolonialherrschaft der Japaner wirklich so gut gewesen wäre, wie hätte es dann zu einem solchen Widerstand kommen können?“ Interview mit Wang Jinping am 23.5.03. 1055 Yang Yizhou verwies auf den Tatbestand, dass bei einer Volkszählung aus dem Jahr 1960 eine Bevölkerungslücke von 126.800 Personen festgestellt wurde. „Diese Zahl ist nicht unbedingt mit der Zahl der Getöteten [des 228-Aufstandes] identisch, aber wer weiß bis heute schon die genaue Zahl der Erschossenen?“ Yang Yizhou 1991: 183. 1056 Qiu Niantai 1976: 354.
Der 228-Aufstand
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Tabelle 3: Angaben über die Todesopfer des 228-Aufstandes (Auswahl)1057
1. Offizielle Stellungnahmen und KMT-freundliche Schätzungen
Quelle
Datum
Anzahl der Opfer
Yang Lianggong, He Hanwen: „Forschungsbericht zum 228-Vorfall“
April 1947
Bericht des Verteidigungsministers Bai Chongxi
7.4.47
Bericht der Garnisonshauptkommandantur der Provinz Taiwan
30.4.47
228-Forschungsbericht des Exekutiv-Yuan
Feb. 1992
Verwundete, getötete und vermisste Festländer (Beamte, Polizisten, Soldaten): 1398 Verwundete und Getötete unter der taiwanesischen Bevölkerung: 61 Verwundete, getötete und vermisste Polizisten und Soldaten: 440 Verwundete, getötete und vermisste Staatsangestellte und sonstige Zivilisten: 2200 Verluste unter Polizisten und Soldaten: 90 Tote, 397 Verletzte Getötete und hingerichtete Aufständische: 43 18-28.000 Todesopfer
2. Regimekritische Angaben Bericht zum 228-Vorfall von sechs taiwanesischen Gruppierungen in Shanghai Lin Mushun: Die FebruarRevolution auf Taiwan Su Xin: Das zornige Taiwan
22.4.47
mindestens 30.000 Todesopfer, mehrere Tausend Verhaftete
1948
Wang Yude1058: Die bedrückende Geschichte Taiwans Shi Ming: Die 400jährige Geschichte der Taiwanesen George Kerr: Taiwan Betrayed Peng Mingmin: A Taste of Freedom
1964
mindestens 10.000 Todesopfer, mehrere Tausend Verhaftete mindestens 10.000 Todesopfer, mindestens 5000 Verhaftete Über 100.000 Todesopfer
1964
Über 100.000 Todesopfer
1965 1972
über 20.000 Todesopfer über 20.000 Todesopfer
1948
1057 Tabellarische Zusammenstellungen über verschiedene Angaben zu den Todesopfern des 228-Aufstandes finden sich auch bei Chen Cuilian 1995: 372ff; Lin Huixuan 2001: 40. Im Internet www.tacocity.com.tw/fs604/ 228/oindex.html 1058 Die Angabe bezieht sich jedoch offensichtlich auf eine frühe Aussage von Wang Yude, die dem Autor nicht vorliegt. In der chinesischen Ausgabe des Buches „Die bedrückende Geschichte Taiwans“ spricht Wang hingegen von „10.000 bis mehreren 10.000“ Opfern. Wang Yude 2000: 161.
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Taiwan heute: Demokratisierung und postautoritäre Gesellschaft
Li Xiaofeng: 100 große Ereignisse der taiwanesischen Geschichte 228-Memorial-Foundation: „Die Zuweisung der Verantwortung für den 228-Aufstand“
1999 2006
keine gesicherte Datenbasis, aber wahrscheinlich 10.-20.000 Todesopfer keine gesicherten Datenbasis, Verweis auf die Angaben des 228-Forschungsberichts (1828.000)
Man muss sich zunächst vor Augen halten, dass Taiwan [im Jahr 1947] durch Kriegseinwirkungen in Schutt und Asche lag. Die Regierungsbeamten [der ROC], die aus den Händen der Japaner ein Meldesystem übernahmen, das bereits seit 1940 auf Grund von mangelnden Arbeitskräften lückenhaft war […], hatten auf dem Festland noch keine umfangreichen Erfahrungen in der Bevölkerungsregistrierung sammeln können. Zudem strömten nach Kriegsende die demobilisierten taiwanesischen Soldaten der japanischen Armee unaufhörlich nach Taiwan zurück. Wie soll man davon ausgehen, dass es in einer solchen Zeit verlässliche Bevölkerungsstatistiken geben könnte?1059
Unter diesem Vorbehalt gelangte Chen zu dem Schluss, dass die Zahl der Opfer des 228Aufstandes zwischen 18.000 und 28.000 betragen haben könnte – eine Zahl, die als Ergebnis der 228-Forschungsgruppe des Exekutiv-Yuan in den Bericht übernommen wurde 1060 und die in ihrer Größenordnung eine Annäherung an die behaupteten Zahlen der regimekritischen 228-Forschung erlaubte.1061 In der Tat lässt sich beobachten, dass sich in den Jahren nach 1992 bei fast allen Autoren der 228-Forschung zunächst ein gewisser Konsens einstellte, die Anzahl der Opfer des 228-Aufstandes bei einer Zahl um 20.000 anzusetzen. In der zweiten Hälfte der 90er Jahre wurde dieser Konsens jedoch erneut erschüttert. Auslösend hierfür war die Tatsache, dass die Anzahl der Opfer, die nach 1995 eine finanzielle Entschädigung beantragten, bislang weit hinter den Erwartungen zurückgeblieben ist und bis heute unter 700 beträgt (vgl. 9.2.2.3.). Aus Kreisen von KMT-nahen Historikern wurde daher in den letzten Jahren die Vermutung geäußert, dass die Anzahl der Todesopfer bei weitem niedriger sein könnte als bislang vermutet. So äußerte sich der Vorsitzende der Geschichtsabteilung der KMT, Shao Minghuang, in einem Gespräch mit dem Autor: Ich persönlich denke: Wenn man diese Zahl [von 700] zum Ausgangspunkt nimmt, und dann ein wenig hinzuaddiert, oder sogar verdoppelt, kommt man auf eine vernünftige Zahl. Ich denke, dass damals in etwa 1-2000 Leute umgekommen sind. Aber wenn man von 10.000 oder mehr spricht […] dann ist das nur eine beliebig angesetzte Zahl, die sich nicht belegen lässt. Als Historiker muss man sich an verlässliche Angaben halten, und nicht irgendwelche Traumzahlen in die Welt setzen […] Man kann also überhaupt nicht von einem „Massaker“ sprechen.1062
1059
Chen Kuanzheng 1992: 1. In der Buchveröffentlichung des 228-Forschungsberichtes aus dem Jahr 1994 wurde diese Zahl allerdings nicht erwähnt. Hier findet sich nur die lapidare Bemerkung: „[…] es ist leider unmöglich eine genaue Zahl der Todesopfer anzugeben. Ein mögliches Vorgehen [für die Ermittlung einer verlässlichen Zahl] besteht darin, von den Haushaltsregistern auszugehen. Dies ist jedoch eine gewaltige und komplizierte Aufgabe, kurzfristig kann sie nicht geleistet werden“. Xingzhengyuan yanjiu er-er-ba shijian xiaozu 1994: 263. 1061 Lai Zehan nahm diese Zahl in einem Gespräch mit dem Autor zum Anlass, die Unabhängigkeit der 228Forschergruppe von politischen Vorgaben der KMT-Regierung zu belegen. Bei einigen Regierungsvertretern, so Lai, sei diese recht hohe Zahl auf Unmut gestoßen; die 228-Forschergruppe habe sich jedoch nicht beirren lassen. Interview mit Lai Zehan am 15.3.05. 1062 Interview mit Shao Minghuang am 13.5.03. 1060
Der 228-Aufstand
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Wie im Vorangegangenen beschrieben, wehrten sich die Angehörigen des 228-Aufstandes mit Nachdruck gegen eine solche aus ihrer Sicht politisch motivierte Fehlinterpretation der geringen Zahl an Entschädigungen. Diese Zahl sei vielmehr als Beleg dafür zu werten, dass die staatlichen Anstrengungen für eine Entschädigung der Opfer bislang bei weitem nicht hinreichend seien. Einerseits seien zahlreiche Morde nicht zu belegen, zum anderen hätten viele Angehörige aus Missmut über den Begriff „Kompensation“ (statt „Entschädigung“) von einem Antrag auf Wiedergutmachung Abstand genommen. Und schließlich dürfe man auch nicht ausschließen, dass zahlreiche Familien von Opfern nicht mehr auffindbar seien – etwa, wenn die nahen Familienangehörigen bereits verstorben oder ins Ausland emigriert seien.1063 Diesen Punkt betonte Li Xiaofeng in einem Gespräch mit dem Autor: Damals wurden viele junge Leute getötet, viele waren erst Teenager. Unter den Getöteten waren viele Oberschüler und Studenten. Und diese Studenten haben keine Nachkommen. Ihre Eltern sind vielleicht schon verstorben, daher gibt es niemanden, der einen Antrag auf Entschädigung stellen könnte. Das ist ein wichtiger Faktor.1064
Auch der zweite Aspekt des Streites um die Opferzahlen, die Frage nämlich, wie viele der Opfer des 228-Aufstandes Festländer gewesen seien, ist bis heute Anlass einer erheblichen Kontroverse. Die Relevanz dieses Streites weist weit über eine rein akademische Debatte hinaus: Hier wird die Frage berührt, welche Volksgruppe die „Opferrolle“ des 228Aufstandes für sich reklamieren kann. Aus Sicht einiger Autoren werde die Wahrnehmung der 228-Opfer inzwischen vollkommen auf die Opfer unter den gebürtigen Taiwanesen reduziert, den Festländern hingegen werde in unreflektierter Weise eine nicht gerechtfertigte Täterrolle zugewiesen. Die Kontroverse um die Opfer des 228-Aufstandes erreichte im Zuge der ersten freien Präsidentschaftswahlen im Februar 1996 einen Höhepunkt, als der Kandidat der Neuen Partei, Lin Yanggang, öffentlich die Ansicht äußerte, dass die Mehrzahl der Opfer des 228-Aufstandes Festländer gewesen seien. Diese Äußerung des Lin löste einen Sturm der Entrüstung aus; Lin Yanggang sah sich schließlich zu einer Relativierung seiner Aussage gezwungen, indem er von einem durch die Medien verursachten Missverständnis sprach.1065 Nach Ansicht von Li Xiaofeng steht die Behauptung, dass die Opfer unter den Festländern ähnlich hoch oder höher als die Opfer unter den gebürtigen Taiwanesen zu beziffern seien, im Widerspruch zu jeder seriösen Forschung: Natürlich gab es auch unter den Festländern Opfer. Aber das waren zumeist Verletzte. Die Taiwanesen hatten damals keine Gewehre, sondern höchstens Knüppel […] wo hätten sie auch [Schuss-] Waffen hernehmen sollen? Das lässt sich nicht vergleichen mit den Massakern, die von der Armee [an gebürtigen Taiwanesen] verübt wurden.1066 1063
In diesem Sinne äußerte sich auch Lai Zehan in einem Gespräch mit dem Autor: „Ich habe von solchen Leuten gehört, die die Zahlen der 228-Stiftung als Ausgangspunkt für die [Berechnung der] Opferzahl des 228 heranziehen wollen. Zu denen sage ich immer: ‚Ihr seid doch schwach im Kopf, da kann man doch nicht die Zahlen der Stiftung heranziehen.’ […] Die Sache ist viel komplizierter. Viele Leute wurden einfach erschlagen, in anderen Fällen haben die Familien die Beweise nicht bis in die 90er Jahre aufgehoben […] Hinzu kommt die Migration nach dem Zweiten Weltkrieg. Wer Geld hatte, hat Taiwan oftmals verlassen. Und viele Familien sind vielleicht auch schon ausgestorben. Das ist gut möglich, die durchschnittliche Lebenserwartung war auf Taiwan früher nicht sehr hoch, vielleicht nur 40 oder 50 Jahre […] Es gibt eben kaum Fälle, in denen Familien in den 90er Jahren noch Beweise vorlegen konnten. Das Problem ist heute nicht zu lösen. Niemand weiß, wie viele Opfer es gegeben hat.“ 1064 Interview mit Li Xiaofeng am 23.3.04. 1065 Siehe Taiwan shibao, 29.2.96. 1066 Interview mit Li Xiaofeng am 23.3.04.
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Taiwan heute: Demokratisierung und postautoritäre Gesellschaft
Es lässt sich also festhalten, dass es auf Grund der mangelhaften Quellenlage bis heute nicht möglich ist, eine auch nur annähernd zuverlässige Schätzung der Opferzahlen des 228-Aufstandes abzugeben. Als unterste Grenze muss die Anzahl der 700 entschädigten Fälle angesehen werden – wenngleich, wie gezeigt, selbst die konservativen Kreise der 228-Forschung bereit sind, einen „Toleranzspielraum“ von ein- bis zweitausend Opfern zuzugestehen. Eine Obergrenze lässt sich hingegen kaum bestimmen: Die von der Unabhängigkeitsbewegung gelegentlich behauptete Anzahl von 100.000 und mehr Toten erscheint zwar kaum realistisch, sie lässt sich jedoch auch nicht eindeutig widerlegen. Einige indirekte Hinweise legen indes den Schluss nahe, dass sich die Ausschreitungen der Armee kaum in den von der KMT-nahen Forschung behaupteten marginalen Grenzen bewegt haben dürften. So kam etwa eine Untersuchung über den militärischen Nachschub zu dem Ergebnis, dass die nach Taiwan entsandten Truppen im März 1947 insgesamt über 200.000 Gewehrpatronen, 1000 Handgranaten und 700 Kanonengeschosse verbraucht hatten. 1067 Angesichts dieses bedrückenden Vernichtungspotentials scheint es nach Meinung des Autors durchaus glaubhaft, die Opfer des 228-Aufstandes auf 10.000 oder mehr zu beziffern.
9.2.4.4 Die Verantwortung der Zentralregierung In der modernen 228-Forschung gilt es als erwiesen, dass es nach Ankunft der Armee am 8.3.47 auf Taiwan zu Übergriffen des Militärs gegen die taiwanesische Zivilbevölkerung gekommen war – wenngleich das Ausmaß dieser Übergriffe umstritten ist. Von noch größerer Tragweite ist jedoch die Frage, welche Motive die Zentralregierung mit der Entsendung der Armee verfolgte. War der Regierung lediglich daran gelegen, eine Provinz in Aufruhr zu befrieden – wie die KMT-nahe 228-Forschung behauptet, oder waren die Massaker an der taiwanesischen Bevölkerung die Folge eines geplanten Vorgehens – dies der Vorwurf der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung. Von besonderem Interesse ist hierbei die Frage, welche Rolle Chiang Kai-shek jeweils beigemessen wird, der die politische Verantwortung für die Entsendung der Armee trug. Von Seiten der KMT-nahen 228-Forschung wird geltend gemacht, dass Chiang Kaishek als Staatsoberhaupt der Republik China nicht nur das Recht, sondern sogar die Pflicht gehabt habe, die rechtlosen Ausschreitungen auf Taiwan zu beenden und die staatliche Autorität wiederherzustellen. Seine Entscheidung, Truppen nach Taiwan zu entsenden, sei daher nicht zu beanstanden. Allenfalls könne gegen Chiang Kai-shek der Vorwurf erhoben werden, er habe sich zu sehr auf die Angaben seiner Untergebenen (und insbesondere des Provinzgouverneurs Chen Yi) verlassen und damit seine Aufsichtspflicht verletzt. 1068 Der Vorsitzende der Geschichtsabteilung der KMT, Shao Minghuang meinte hierzu:
1067
Siehe Lianhe wanbao, 27.2.92. Diese Sichtweise machte sich etwa der 228-Forschungsbericht des Jahres 1992 zu eigen: „Angesichts von revolutionären Vorgängen lag es in der Amtsbefugnis des Staatsoberhauptes Chiang, Soldaten zur Unterdrückung [des Aufstandes] zu entsenden […] Die Forderungen der ‚Schlichtungskommission’ bezogen sich [zwar] allenfalls auf ein hohes Maß an Selbstverwaltung, man hatte nicht die Absicht, sich gegen die Zentralregierung zu erheben. Chiang war jedoch durch seine militärischen Pflichten [auf dem Festland] in Anspruch genommen, er hatte keine Zeit, die Beweise zu prüfen, zudem vertraute er zu sehr auf [Provinzgouverneur] Chen Yi und kam dessen Bitte nach Entsendung von Truppen nach. Es muss also festgestellt werden, dass [Chiang] seine Aufsichtspflicht 1068
Der 228-Aufstand
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Man stelle sich vor: Wenn es auf der Straße zu Ausschreitungen kommt, und die Mehrheit der Bevölkerung betroffen ist, dann muss jeder Staat für die Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit sorgen. Das gilt für alle Staaten, auch für Demokratien. Chiang Kai-shek musste also in seiner Verantwortung als Staatsoberhaupt handeln. Und damals war [auf dem Festland] noch Bürgerkrieg […] da konnte man es noch weniger hinnehmen, dass die öffentliche Ordnung zusammenbrach. Aber Präsident Chiang hatte klare Prinzipien: Er hatte ausdrücklich befohlen, dass die Soldaten keine Rache nehmen oder Plünderungen durchführen sollten. Er wollte ein diszipliniertes Vorgehen […] Aber in der praktischen Ausführung wurden diese Prinzipien nicht immer umgesetzt.1069
Zur Entlastung des Präsidenten Chiang wird zudem angeführt, dass dieser die militärischen Befehlshaber auf Taiwan mehrmals angewiesen habe, auf strenge Disziplin unter den Soldaten zu achten1070 und insbesondere Racheakte der Armee gegen die taiwanesische Zivilbevölkerung mit aller Härte zu bestrafen. Auf Grund der militärisch angespannten Lage auf dem Festland sei es für Chiang Kai-shek jedoch nicht möglich gewesen, erfahrene und disziplinierte Truppen für die Niederwerfung eines Aufstandes nach Taiwan zu entsenden. Die Ausschreitungen gegen die Zivilbevölkerung seien daher bedauernswerte Begleiterscheinungen, die jedoch vor allem auf die mangelnde Disziplin unter den Soldaten zurückzuführen sei und keinesfalls der politischen Führung angelastet werden dürften. Es verwundern nicht, dass diese weitgehende Entlastung des Präsidenten Chiang Kaishek von Seiten der KMT-kritischen Forschung entschieden zurückgewiesen wird. Folgende Punkte werden dabei geltend gemacht: Zum einen sei die Behauptung, Präsident Chiang sei durch irreführende Berichte seiner untergebenen Stellen zu einem unüberlegten Vorgehen veranlasst worden, eindeutig zu widerlegen. Chiang Kai-shek habe sehr wohl verschiedene Kommunikationskanäle zu den unterschiedlichsten Akteuren unterhalten (darunter die „Schlichtungskommission“ der taiwanesischen Volksvertreter, die Botschaft der Vereinigten Staaten in Nanjing, das USKonsulat in Taipei sowie taiwanesische Organisationen auf dem Festland). Chiang sei daher durchaus in der Lage gewesen, sich ein Bild von den Zuständen auf Taiwan zu machen. Insbesondere musste Chiang Kai-shek bewusst gewesen sein, dass sich Taiwan zu dem Zeitpunkt, als die Entscheidung für die Entsendung der Armee fiel, keineswegs „in Aufruhr“ befand, sondern dass vielmehr seit Anfang März (mit Ausnahme einiger Gebiete in Zentraltaiwan) wieder weitgehend Ruhe eingekehrt war. Wie auch Herr Lin Zhijia betonte, sei die Entsendung von bis zu 20.000 Soldaten daher als vollkommen unverhältnismäßig zu bezeichnen: Das taiwanesische Volk hatte damals höchstens ein paar Gewehre aus Polizeistationen entwendet, aber sie hatten doch keine schweren Waffen [wie] Geschütze, Panzer oder Ähnliches. Und die Entsendung der Armee musste natürlich zu vielen Todesopfern [unter der Zivilbevölkerung]
verletzte. Später wurde Chiang über die wahren Umstände informiert, aber der historische Fehler war schon geschehen und konnte nicht wieder gutgemacht werden.“ Xingzhengyuan yanjiu er-er-ba shijian xiaozu 1994: 411. 1069 Interview mit Shao Minghuang am 15.3.03. 1070 George Kerr äußerte sich zu diesen Anordnungen des Chiang Kai-shek wie folgt: „Obviously Chiang’s remarks were not prepared for the Formosans (he could not care less what they might think, now that his troops were firmly in control) but for the public at Nanking [Nanjing], and for the historical record – the wonderful Chinese historical record of benevolent acts piously undertaken by paternal government and carefully set down for posterity to admire.”Kerr 1965: 309.
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Taiwan heute: Demokratisierung und postautoritäre Gesellschaft führen. Man hätte einfach ein paar Polizisten entsenden können, das hätte vollkommen genügt.1071
Zudem habe Chiang Kai-shek auch nach Beginn der militärischen Aktionen auf Taiwan einen engen Kontakt zu den Entscheidungsträgern auf Taiwan aufrechterhalten. Dies wird insbesondere in dem vielbeachteten Werk „Die Zuweisung der Verantwortung für den 228Vorfall“, herausgegeben im Jahre 2006 von der staatlichen 228-Stiftung, betont. Allein für den Zeitraum vom 10.2.-4.6.47 fänden sich in den Daxi-Archiven (vgl. 9.2.2.1.) 99 Dokumente, die den Informationsaustausch zwischen dem Präsidenten und verschiedenen staatlichen und militärischen Stellen auf Taiwan belegten. „[…] man sieht, in welch hohem Maße Chiang Kai-shek in den Vorfall involviert war und in welchem Grad er die Vorgänge beeinflusste. Für diesen unglücklichen Vorfall muss der höchste politische Führer selbstverständlich die größte Verantwortung übernehmen.“1072 Als Beleg für die inhumane und brutale Vorgehensweise der Zentralregierung wird in der einschlägigen Literatur gelegentlich ein Telegramm des Chiang Kai-shek erwähnt, das allerdings nicht überliefert ist, und dessen Existenz nur durch das Zeugnis des damaligen Nachrichtenoffiziers der Garnisonshauptkommandantur, Shu Tao, belegt ist. Am 1.3.47, so Shu, habe Chiang Kai-shek die militärische Führung auf Taiwan mit den Worten, es sei „besser, 99 Unschuldige zu töten, als einen Schuldigen entkommen zu lassen“ zu unnachgiebiger Härte gegen die taiwanesischen Aufständischen angehalten. 1073 In Teilen der KMT-kritischen 228-Forschung gehen die Vorwürfe gegen Chiang Kaishek indes noch weiter: Chiang habe nicht nur in seiner Verantwortung als Staatoberhaupt in seiner Fürsorgepflicht gefehlt und die Untaten der Armee zugelassen. Vielmehr habe er das Massaker an der taiwanesischen Bevölkerung nicht nur toleriert, sondern bewusst angestrebt. Mit diesem Vorgehen habe er die intellektuelle Führungsschicht der taiwanesischen Eliten eliminieren und den Taiwanesen allgemein eine furchtbare Lehre erteilen wollen, um die politische Dominanz des ROC-Regimes über die Insel in Zukunft zu erleichtern. 1074 Während sich die Gewalt der Armee in den ersten Tagen der Unterdrückung des Aufstandes wahllos gegen taiwanesische Zivilisten gewandt habe, seien insbesondere in der zweiten Phase der „Befriedung“ der Provinz, die ab dem 14.3.47 einsetzte, Todeslisten von prominenten Regimekritikern und taiwanesischen Eliten erstellt worden, wenngleich diese Opfer in keinster Weise in den 228-Aufstand involviert gewesen seien. Erst durch diese gezielte Auslöschung der taiwanesischen Eliten, die sich in der Periode des Weißen Terrors fortgesetzt habe, habe der 228-Aufstand seine traumatische 1071
Interview mit Lin Zhijia am 3.10.03. Er-er-ba shijian jijinhui 2006: 168. Shu Tao erwähnte dieses angebliche Telegramm erstmals auf einer Pressekonferenz im März 1995. Shu wies außerdem darauf hin, dass die zehn engsten Untergebenen des Chen Yi nach dem 228-Aufstand allesamt auf ungeklärte Weise verschwanden, er selbst habe drei Jahre im Gefängnis verbracht. Mit diesen Maßnahmen, so der Vorwurf des Shu, habe die Provinzregierung alle Mitwisser dieses kompromittierenden Schreibens beseitigen wollen. Siehe Ziyou shibao, 7.3.95. 1074 In der Literatur wird gelegentlich die Annahme geäußert, Chiang Kai-shek habe durch dieses rücksichtslose Vorgehen bereits einem eventuellen Rückzug der Zentralregierung nach Taiwan, wie er im Herbst 1949 tatsächlich erfolgte, den Weg bereiten wollen. Dieser Ansicht ist jedoch nicht zuzustimmen: Im Frühjahr 1947 war die militärische Lage der Republikaner im chinesischen Bürgerkrieg noch keineswegs als schlecht oder gar aussichtslos zu bezeichnen. Im Gegenteil: Das republikanische Militär der ROC war seinen kommunistischen Widersachern zu diesem Zeitpunkt in einem Verhältnis von etwa 3:1 überlegen, und wurde zudem durch massive Militärhilfe der Vereinigten Staaten unterstützt. Kurz nach dem 228-Aufstand, am 18.3.47, konnten republikanische Truppen unter General Hu Zongnan die kommunistische Basis in Yan’an einnehmen. Vgl. Chang/Halliday 2005: 293ff. 1072 1073
Der 228-Aufstand
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Dimension erhalten. Professor Shi Zhengfeng, einer der prominentesten Nationalismusforscher der Unabhängigkeitsbewegung, äußerte sich hierzu gegenüber dem Autor: Ich denke, die taiwanesischen leader wurden absichtlich getötet, das steht außer Zweifel […] Die KMT wollte die taiwanesischen leader beseitigen, es war ein vollkommen beabsichtigtes und bösartiges Morden. Wenn man diese Tötungen vorher nicht geplant hätte, wären unmöglich derart systematisch alle taiwanesischen Anführer getötet worden. Über einen Zeitraum von 30 Jahren hatten wir [Taiwanesen] keine politischen Anführer. Ich weiß nicht, ob dieser Plan [der Beseitigung der taiwanesischen Eliten] ein Grund für den 228-Aufstand war, aber zumindest hat die KMT [den 228-Aufstand] dafür genutzt.1075
In der frühen Phase der regimekritischen 228-Forschung bestand stets die Hoffnung, in den staatlichen Archiven einen Beweis für diese Untaten der politischen Führung aufzufinden. Trotz einer intensiven, bereits mehr als 15 Jahre währenden kritischen Forschung konnte ein solch unumstößlicher Beweis jedoch nie aufgefunden werden. Aus Sicht der KMTkritischen Forschung ist dies damit zu erklären, dass entweder bis heute einige Dokumente geheim gehalten werden – oder aber dass sämtliche Beweise für die Verbrechen der KMT bereits im Verlauf der letzten 50 Jahre vernichtet wurden. Nach Ansicht des Autors ist es sehr zweifelhaft, ob die zukünftige 228-Forschung in dieser Frage eine Klärung schaffen kann. Letztlich könnte sich auch eine Vermutung des Lai Zehan bewahrheiten: Wer heute den 228-Aufstand untersuchen will, sollte ein bisschen gesunden Menschenverstand, common sense, mitbringen [und] sich in die damaligen Verhältnisse hineinversetzen. Es gibt jetzt immer Versuche, einen Beweis dafür zu finden, dass Chiang Kai-shek der Haupttäter war. Aber ist es etwa wahrscheinlich, dass Chiang Kai-shek Beweise hinterlassen haben könnte? Natürlich nicht! […] Wenn Chiang Kai-shek diese Leute wirklich hätte töten wollen, dann hätte er das doch nicht in Telegrammen und [schriftlichen] Botschaften angeordnet. Er hätte die Befehle mündlich erteilt […] Er hätte keine Beweise, evidence, hinterlassen. Wer heute nach Beweisen [für die Schuld des Chiang Kai-shek] sucht, ist einfach schwach im Kopf. Chiang hätte ihnen niemals den Gefallen getan, Beweise zu hinterlassen.1076
9.2.4.5 Der 228-Aufstand und die taiwanesische Unabhängigkeit Es gilt als unumstritten, dass der 228-Aufstand den Beginn der modernen taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung markiert. Jedoch ist zu fragen, inwieweit dieser Wunsch nach nationaler Unabhängigkeit vom chinesischen Festland bereits zur Zeit des 228-Aufstandes von Relevanz war, ob also zumindest in Teilen der taiwanesischen Bevölkerung bereits im Jahre 1947 eine Unabhängigkeit vom Festland angestrebt wurde. Wie in vorangegangenen Kapiteln dargelegt, wurde dieser direkte Zusammenhang zwischen 228-Aufstand und Streben nach Unabhängigkeit sowohl von der KMT als auch von Teilen der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung festgestellt – wenngleich hierbei unterschiedliche Interessen verfolgt wurden. Aus Sicht des Regimes waren hierbei die 32 Forderungen von besonderer Bedeutung, die am 7.3.47 von der Schlichtungskommission in Taipei vorgelegt worden waren. Diese 32 Forderungen, so die Sichtweise der Regierung, hätten kein anderes Ziel 1075 1076
Interview mit Shi Zhengfeng am 6.11.03. Interview mit Lai Zehan am 15.03.05.
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gehabt, als Taiwan vom Festland abzuspalten. So äußerte sich Chiang Kai-shek am 10.3. in einer ersten offiziellen Stellungnahme zur Niederschlagung des 228-Aufstandes: […] die so genannte „Schlichtungskommission“ hatte plötzlich vollkommen unvernünftige Forderungen erhoben, darunter die Auflösung der Garnisonshauptkommandantur und die Abgabe aller Waffen zur Verwahrung an die Kommission. Zudem wurde gefordert, dass alle [auf der Insel stationierten] Land-, Luft- und Seestreitkräfte nur von Taiwanesen gestellt werden sollten. Mit diesen Forderungen wurde der Rahmen der lokalen Selbstverwaltung bereits überschritten, und die Zentralregierung konnte sie nicht annehmen. 1077
Wenn diese Forderungen angenommen oder umgesetzt worden wären, so ein regierungsnaher Autor im März 1947, „dann hätte sich die Republik China gleich dem ‚Staat Taiwan’ ergeben können“.1078 In der zeitgenössischen 228-Forschung wird dieser Zusammenhang zwischen Streben nach taiwanesischer Unabhängigkeit und dem 228-Aufstand indes nahezu einhellig zurückgewiesen. Unabhängig von politischer Präferenz herrscht unter den taiwanesischen Historikern der weitgehende Konsens, dass die Vorstellung einer Loslösung vom Festland und der Gründung eines unabhängigen Staates erst als Konsequenz des 228-Aufstandes entstanden sei; im Aufstand selbst hätten diese Bestrebungen keine Rolle gespielt. So äußerte sich etwa Shi Zhengfeng gegenüber dem Autor: Ich denke, die taiwanesischen leader verfügten damals nicht über das nötige Wissen […] Auch im Volk gab es damals keinen starken Wunsch [nach taiwanesischer Unabhängigkeit]. Schon unter den Japanern hatten die Taiwanesen stets nur ein höheres Maß an lokaler Selbstverwaltung gefordert, aber niemals staatliche Unabhängigkeit. Das wäre von den japanischen Behörden auch nicht toleriert worden. Es fehlte das Erweckungserlebnis, daher konnte eine solche Idee damals nicht entstehen.1079
Diese Sichtweise steht in völliger Übereinstimmung mit den Aussagen der Schlichtungskommission, die sich seit Beginn des Aufstandes stets entschieden gegen alle Gerüchte gewandt hatte, dass Taiwan eine Unabhängigkeit von China anstrebe (vgl. 3.4.3.). Nach Ansicht des Autors existieren jedoch Hinweise darauf, dass das Streben nach Unabhängigkeit vom chinesischen Festland auf Taiwan bereits vor und während des 228Aufstandes eine gewisse Relevanz besaß. Ein Beispiel hierfür bietet der so genannte „Vorfall der taiwanesischen Unabhängigkeit“:1080 Unmittelbar nach der Kapitulation Japans im August 1945 verfolgten einige einflussreiche Taiwanesen offensichtlich den Plan, einer chinesischen Übernahme der Insel durch die Gründung eines unabhängigen Staates zuvorzukommen. Mitte August trafen sich Repräsentanten dieser Strömung, darunter Gu Zhenfu1081, Xu Bing, Lin Xiongxiang und Jian Langshan, mit einigen japanischen Offizieren, die 1077
Chiang Kai-shek 1947: 1. Huang Cunhou 1947: 214. 1079 Interview mit Shi Zhengfeng am 6.11.03. 1080 Taidu shijian ਠ⦘һԦ 1081 Der weitere Werdegang des Gu Zhenfu mag vor diesem Hintergrund kurios erschienen: In den so genannten „Gu-Wang Gesprächen“, die seit 1993 eine pragmatische Annäherung der ROC und der VRCh zum Ziel hatten, trat Gu Zhenfu als Repräsentant der ROC auf. Vgl. Fleischauer 2001. Bemerkenswert ist auch, dass der jüngere Bruder von Gu Zhenfu, Gu Kuanmin, seit Mitte der 60er Jahre eine führende Rolle in der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung in Japan einnahm. Vgl. 4.2.1. 1078
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sich mit der Niederlage Japans nicht abgefunden hatten und den Plan eines unabhängigen Taiwans unterstützten, zu einer Konferenz auf dem Yangming-Berg 1082 bei Taipei. Das Vorhaben stieß jedoch bald auf den Widerstand des japanischen Gouverneurs Anno Rikichi und musste fallengelassen werden. Im Januar 1947 wurden die Haupttäter des „TaiduVorfalles“ des Landesverrates bezichtigt und zu Haftstrafen von bis zu zwei Jahren verurteilt; insgesamt waren nach Angaben von Chen Cuilian über 100 Personen in den Vorfall involviert.1083 Die genaueren Hintergründe dieses „Taidu-Vorfalles“ konnten bis heute nicht näher erhellt werden.1084 So muss offen bleiben, inwieweit sich diese Vorstellungen einer anvisierten Staatsgründung jemals zu einer konkreten Planung verdichtet hatten und ob die Initiative hierfür von den beteiligten Taiwanesen oder Teilen des japanischen Militärs ausgegangen war. Es hat jedoch den Anschein, als habe man die Ereignisse des Jahres 1895, als mit der Gründung der kurzlebigen „Republik Taiwan“ (vgl. 2.3.) der Zugriff der Japaner auf Taiwan vereitelt werden sollte, im Jahr 1945 sozusagen spiegelbildlich wiederholen wollen. Auch nach Ankunft der chinesischen Behörden auf Taiwan gibt es Hinweise darauf, dass ein Teil der taiwanesischen Bevölkerung zumindest mittelfristig eine Loslösung vom Festland befürwortete. Eine Umfrage des US-amerikanischen OSS (Office of Strategic Services) im Januar 1946 hatte ergeben, dass die Mehrzahl der Befragten für Taiwan eine Treuhandverwaltung unter Aufsicht der USA wünschte. Als zweitbeste Alternative wurde eine Rückkehr unter japanische Herrschaft genannt, nur eine Minderheit der Befragten sprach sich hingegen für eine Fortdauer der chinesischen Herrschaft über die Insel aus. 1085 Das Ergebnis der Umfrage wurde am 4.4.1946 in der Washington Post veröffentlicht und führte auf chinesischer Seite zu erheblichen Irritationen.1086 In einigen Quellen findet sich darüber hinaus die Angabe, dass im Sommer des Jahres 1946 Vertreter von taiwanesischen Jugendverbänden eine Petition an das US-Konsulat in Taipei gerichtet hätten mit der Aufforderung, die USA sollten sich aktiv für eine solche Treuhandverwaltung engagieren.1087 Auch zur Zeit des 228-Aufstandes erschienen auf Taiwan angeblich Flugblätter, die in deutlichen Worten eine Vertreibung der „Chinesen“ und eine staatliche Unabhängigkeit für Taiwan forderten. In einem dieser Flugblätter hieß es etwa:
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Der Yangming-Berg (Yangmingshan 䲭᰾ኡ) trug damals noch den japanischen Namen Zao-Berg (Zaoshan 㥹ኡ). In der Literatur wird dieser Taidu-Vorfall von 1945 daher gelegentlich auch unter der Bezeichnung „Zaoshan-Vorfall“ angeführt. 1083 Siehe Chen Cuilian 1995: 104f. 1084 So schrieb Huang Zhaotang im Jahre 1998: „Einige Beteiligte [des Taidu-Vorfalles] leben heute noch, aber sie bewahren striktes Schweigen – vielleicht ist das Thema immer noch zu sensibel. Daher ist es sehr schwierig, Vermutungen über [ihre] damaligen Vorstellungen anzustellen“. Huang Zhaotang 1998: 74. 1085 Siehe z.B. Chen Cuilian 1995: 395. George Kerr kommentierte diese Umfrage wie folgt: „It was a silly performance, and the Chinese had cause to be indignant. The OSS Officers, on their part, believed that local antiChinese feeling was rising to a degree which made the enquiry legitimate.” Kerr 1965: 95. 1086 Siehe Pu Feng 1946: 153. 1087 Diese Petition wird etwa erwähnt von Huang Zhaotang, er nennt Wang Jinan als Verfasser der Petition. Siehe Huang Zhaotang 1998: 74. Möglicherweise liegt hier jedoch eine Verwechslung mit einer späteren Eingabe vor, die Huang Jinan im September 1948 im Namen der „Liga zur erneuten Befreiung Taiwans“ verfasste (vgl. 4.1.1.).
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Taiwan heute: Demokratisierung und postautoritäre Gesellschaft Volk, erhebe Dich! Steigende Preise, eine explodierende Arbeitslosigkeit – ist das nicht alles auf den Einfluss der chinesischen Schweine zurückzuführen? Jagt sie fort! Vertreibt sie! Nicht einer soll bleiben, Taiwan gehört uns!1088
Wenngleich für die angeführten Vorfälle keine gesicherte Materialbasis besteht, so geben sie nach Ansicht des Autors doch Anlass zu der berechtigten Vermutung, dass einem großen Teil der taiwanesischen Bevölkerung im Jahre 1947 die Vorstellung einer staatlichen Unabhängigkeit keinesfalls vollkommen fremd war. Angesichts des dramatischen ökonomischen Niederganges der taiwanesischen Wirtschaft seit 1945 wäre es nicht verwunderlich, wenn der Wunsch nach einer möglichst großen Distanz zum Festland zahlreiche Anhänger gefunden hätte. Bei den Äußerungen der Schlichtungskommission, deren führende Mitglieder stets ihren unbedingten Patriotismus als Bürger der Republik China betonten, muss zudem bedacht werden, dass sich die Kommission in politisch fest umrissenen Grenzen bewegen musste und dass den Delegierten der Schlichtungskommission zweifellos bewusst war, dass eine Forderung nach staatlicher Unabhängigkeit im Frühjahr 1947 keinerlei Aussicht auf Erfolg gehabt hätte. Eine solche staatliche Unabhängigkeit hätte sich allenfalls mit der Unterstützung der USA verwirklichen lassen – die ablehnende USamerikanische Haltung in dieser Frage war jedoch bekannt. Wie in vielen anderen Fällen von revolutionären Bewegungen gilt nach Ansicht des Autors auch für den 228-Aufstand, dass er eine Reaktion auf bestehende Missstände darstellte, jedoch keine einheitliche, planvolle und visionäre Zielrichtung verfolgte. Schon die Kürze der Zeit (der 228-Aufstand währte kaum über eine Woche) ließ es nicht zu, dass sich die vielfältigen Vorstellungen über die politische Zukunft der Insel, die damals von verschiedenen Akteuren vertreten wurden, zu einem homogenen und von weiten Teilen der Bevölkerung getragenen Konsens hätten verfestigen können.
9.2.5 Die politische Entschärfung des 228-Aufstandes Im Zuge der Demokratisierung Taiwans seit dem Ende der 80er Jahre wurde die KMT vor eine paradoxe Lage gestellt: Auf der einen Seite war die KMT nicht willens oder in der Lage, die fortschreitende Demokratisierung einzudämmen oder zurückzudrängen. Sie stand daher vor der Notwendigkeit, sich im demokratischen Wettstreit, der von einer freien und pluralistischen Medienlandschaft flankiert wurde, gegen konkurrierende Parteien zu behaupten. Andererseits war die KMT jedoch mit dem Erbe einer 40jährigen autoritären Herrschaft belastet; ein Erbe, das die Glaubwürdigkeit der Partei in einem demokratischen Umfeld beschädigen musste. Der 228-Aufstand war hierbei von zentraler Bedeutung: Wenngleich der Aufstand schon geraume Zeit zurücklag, markierte er doch den Beginn der Terrorherrschaft des KMT-Regimes. Aus Sicht der Regimekritiker war der Aufstand daher in seiner symbolischen Bedeutung kaum zu überschätzen. Zudem waren die Grenzen zwischen 228-Aufstand und der darauf folgenden Periode des „Weißen Terrors“ fließend, da
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Chen Fangming/Lin Delong: 244. In dem Werk wird eine Anzahl von Flugblättern wiedergegeben, die angeblich zur Zeit des 228-Aufstandes kursierten. Es muss jedoch eingeräumt werden, dass die Authentizität dieser Flugschriften rückblickend nicht verifiziert werden kann.
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die politische Verfolgung von Dissidenten, die mit dem 228-Aufstand einsetzte, übergangslos in den Weißen Terror mündete. 1089 Seit dem Jahr 1987 waren die Opfer des Weißen Terrors, repräsentiert durch den „Vereinigten Freundschaftsverbund der politischen Opfer Taiwans“ (vgl. 9.1.1.), maßgeblich in der 228-Bewegung engagiert und forderten Entschädigungen, die sich an den Maßnahmen zur Beilegung des 228-Aufstandes orientieren sollten.1090 Dem 228-Aufstand kam somit eine wichtige Vorreiterrolle zu; die Funktion eines Kristallisationspunktes, von dem aus die KMT mit ihrer gesamten autoritären Vergangenheit konfrontiert werden konnte. Wenngleich das Einlenken der KMT in Hinsicht auf die Forderungen der 228-Bewegung möglicherweise auch aus humanitären Überlegungen erfolgte (wie das Regime stets geltend machte), so wurden hier ebenfalls die vitalen Interessen der Regierung berührt. Lai Zehan, der im Jahr 1991 den „228-Forschungsbericht“ des Exekutiv-Yuan maßgeblich mitverfasste, äußerste sich hierzu wie folgt: Warum wollte die KMT einen Bericht zum 228 anfertigen? Die KMT wusste, dass sie, wenn sie sich dem 228 nicht stellen würde, früher oder später vom Volk gestürzt werden würde. Diese Gefahr gab es tatsächlich, und der KMT war dies auch bewusst. Denn bis zum 228Forschungsbericht wurde der 228 auf allen politischen Versammlungen, in allen Wahlen genutzt, um die KMT anzugreifen […] [Der 228] ist ein Symbol der kollektiven taiwanesischen Erinnerung.1091
Durch ihre weitgehenden Zugeständnisse an die Forderungen der 228-Bewegung in den Jahren von 1991 bis 1997 – von der Öffnung der staatlichen Dokumente über den Bau von Denkmälern und die finanzielle Kompensation für Angehörige bis hin zur Selbststilisierung des Li Denghui als „Opfer“ des 228 – hatte die KMT tatsächlich ihr Ziel erreicht, den 228Aufstand als politische Waffe in den Händen der Opposition weitgehend zu neutralisieren. Mit Hinsicht auf den 228-Aufstand präsentierte sich die KMT unter Li Denghui als eine durch und durch gewandelte Partei, die mit der KMT des Jahres 1947 nur noch den Namen teilte. So äußerte Li Denghui etwa im Jahre 1997, der 228-Aufstand sei verursacht worden von einem „rückständigen Staat, der wahllos Leute erschlagen“ 1092 habe – ein Ausspruch, wie er auch von der Opposition hätte getätigt werden können und der keinen Rückschluss mehr darauf erlaubte, dass Li Denghui zu diesem Zeitpunkt der Partei vorstand, die den 228-Aufstand zu verantworten hatte. Mit dieser bemerkenswerten „Umarmungsstrategie“ gelang es der KMT weitgehend, sich aus ihrer historischen Verantwortung für den 228-Aufstand zu lösen und selbst eine 1089
Gelegentlich war etwa das Phänomen zu beobachten, dass tatsächliche oder angebliche Beteiligte des 228Aufstandes erst Jahre später belangt wurden. Dies galt etwa für Gao Yisheng, einem führenden Mitglied des Ureinwohnerstammes der Zou. Wegen angeblicher Beteiligung am 228-Aufstand wurde Gao im März 1947 zunächst verhaftet und kurz darauf wieder in die Freiheit entlassen. Im Jahre 1954 wurden Gao Yisheng und weitere prominente Angehörige des Zou-Stammes jedoch erneut verhaftet und hingerichtet. Siehe Ziyou shibao, 28.2.92. 1090 Eine solche Regelung wurde im Jahr 1998 tatsächlich gefunden. Das „Gesetz zur finanziellen Kompensation von Fällen, die unter dem Kriegsrecht zu Unrecht wegen Rebellion oder Spionage für die Kommunisten verurteilt wurden“ wurde ausdrücklich als Ergänzung zu den Kompensationen des 228-Aufstandes verabschiedet. Die zu leistenden Entschädigungszahlungen (Einheiten von je 100.000 NTD bei einer Höchstsumme von sechs Mio. NTD) sind identisch mit den Entschädigungszahlungen an die Opfer des 228-Aufstandes. Zudem wurde im Gesetzestext ausdrücklich festgeschrieben, dass nur solche Fälle Anspruch auf Entschädigung erheben könnten, die noch keinen Antrag auf Entschädigung als Opfer des 228-Aufstandes geltend gemacht hätten. 1091 Interview mit Lai Zehan am 15.3.05. 1092 Ziyou shibao, 28.2.97
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führende Rolle in dem Gedenken an den Aufstand zu reklamieren. Dies führte spätestens seit Mitte der 90er Jahre zu einer aus Sicht der Opposition frustrierenden Entwicklung, da die Aufrichtigkeit der Regierungspartei zu einer echten Beilegung des Aufstandes natürlich bezweifelt wurde. So schrieb Lin Yixiong im Jahre 1997 anlässlich des 50. Gedenktages des 228-Aufstandes in einem Leitartikel der Zeitung Ziyou shibao: Heute, 50 Jahre nach dem 228 […] sind die Fragen von historischer Gerechtigkeit, von Erkenntnis von Richtig und Falsch, nicht etwa geklärt, sondern im Gegenteil unklarer als je zuvor. Die Gedenkveranstaltungen [zum 228-Aufstand], die in der Vergangenheit einen Teil des Kampfes [gegen das Regime] darstellten, werden inzwischen von der Regierung organisiert. Dieser äußerst bedeutungsvolle und in seinem Ablauf komplizierte historische Vorfall wurde inzwischen auf eine silberne Gedenkmünze geprägt, und ist bei Sammlern ein beliebtes Spielzeug. An allen Orten wurden Gedenkstätten errichtet, damit wurde aber anscheinend nur erreicht, dass dieser historische Vorfall zu einer förmlichen und steifen Zeremonie verkommen ist. Auf diese Weise kann von [dem 228-Aufstand] keine echte, die Menschen bewegende Kraft zur Veränderung der Gesellschaft ausgehen.1093
Auch in den folgenden Jahren wurden von verschiedenen Seiten weiterhin Versuche unternommen, die KMT in ihrer historischen Verantwortung für den 228-Aufstand zu stellen – eine Tendenz, die bis heute anhält.1094 Diese Versuche einer politischen Schuldzuweisung verloren jedoch immer mehr an Gehalt: Durch das weitgehende Einlenken der KMT und die Erfüllung nahezu aller Forderungen der 228-Bewegung war der Opposition mit Hinblick auf den 228-Aufstand buchstäblich der Gegner verloren gegangen. Der Begriff „228-Aufstand“ war in der politischen Kontroverse zu einem Abziehbild geworden; einer inhaltsleeren Formel, deren Bedeutung vordergründig offensichtlich und gerade deswegen so beliebig war. Selbst den konservativsten Kreise des politischen Spektrums stand es nun frei, sich auf den 228-Aufstand zu berufen.1095 In der taiwanesischen Öffentlichkeit führte dies schließlich zu einer gewissen Ermüdung angesichts der – nach Ansicht vieler Beobachter unangemessenen und beliebigen – Inanspruchnahme des 228-Aufstandes. So kommentierte ein Artikel der Zeitung Ziyou shibao im Jahr 1996, dem Jahr der ersten freien Präsidentschaftswahlen: Wenn man heute beobachtet, wie alle Kandidaten in [der Forderung] wetteifern, man müsse die historische Lehre aus dem 228 ziehen, dann scheint es kaum vorstellbar, dass der 228 vor fünf Jahren noch als politisches Tabu galt […] Das liegt, einfach gesagt, daran, dass der Wahlkampf tobt, und der 228 ist für jede Partei bereits zu einem Götzen geworden, vor dem man sich ehrfurchtsvoll verneigt, und darüber wird jede historische Lehre vergessen […] Da der 228 auf Taiwan bereits zum Gegenstand einer exzessiven Politisierung geworden ist, übersteigt seine 1093
Ziyou shibao, 28.2.97. Im Februar 2006 gab die Pro-Unabhängigkeitsgruppierung „Nordgesellschaft“ (Bei she े⽮) bekannt, dass sie im Auftrag einer Gruppe von Angehörigen eine Schadensersatzklage gegen die KMT anstreben wolle. Nach Angaben des Anwaltes der „Nordgesellschaft“, Gu Lixiong, soll die Schadenssumme von sechs Milliarden NTD zum Bau eines „Museums für Menschenrechte“ verwendet werden. Auch Gu gestand jedoch ein, dass die Klage nur geringe Erfolgsaussichten hat. Zhongguo shibao, 28.2.06. 1095 Im Jahr 1996 war auf Taiwan etwa eine Debatte darüber ausgebrochen, ob die Leichname der Präsidenten Chiang Kai-shek und Jiang Jingguo, die auf Grund einer testamentarischen Verfügung der beiden verstorbenen Präsidenten ihrer Überführung auf ein „befreites“ Festland harrten, nicht doch lieber in Taiwan bestattet werden sollten. Der Sohn des Chiang Kai-shek, General Jiang Weiguo, ließ daraufhin verlauten, eine solch pietätlose Tat könnte einen „zweiten 228“ zur Folge haben. Siehe Ziyou shibao, 28.10.96. 1094
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politische Symbolik bei Weitem jede historische Bedeutung. Wenn die Politiker daher ihre Opfergaben vor dem Götzen des 228 darbringen, müssen wir nicht der Opferprozession folgen und uns mit ihnen verneigen. Es genügt, sich zurückzulehnen und die Show zu genießen. 1096
Seit Mitte der 90er Jahre ließ sich daher ein deutlicher Bedeutungsverlust des 228Gedenkens konstatieren. Die 228-Gedenkveranstaltungen, die zu Beginn der 90er Jahre noch tausende regimekritische Demonstranten mobilisieren konnten, wurde nun in staatlich finanzierten und würdevollen, aber unspektakulären Zeremonien begangen, wobei hochrangige Politiker aller Parteien ihren Respekt und ihr Beileid mit den Opfern des Aufstandes bekundeten. Diese Tendenz des Bedeutungsschwundes des 228-Aufstandes als wirkungsvolle Waffe im politischen Kampf wurde erst im Jahr 2004 durch die spektakuläre Großkundgebung „228 Taiwan mit bloßen Händen beschützen“ gewendet.
9.2.6 Die Präsidentschaftswahl 2004 und die 228-Kundgebung Auf Taiwan stand das Frühjahr 2004 im Zeichen der Präsidentschaftswahl, die am 20. März des Jahres stattfinden sollte. Im Vorfeld der Wahl, die von allen Parteien als „Schicksalswahl“ bezeichnet wurde, hatte sich die Lagerbildung zugespitzt: Während im Jahr 2000 noch vier Kandidaten um die Gunst der Wähler geworben hatten, hatte sich das Feld nunmehr auf zwei Kandidatengespanne (jeweils für das Amt des Präsidenten und Vizepräsidenten) reduziert. Das blaue Lager der Parteien KMT und PFP benannte mit Lian Zhan (KMT) und Song Chuyu (PFP) ein gemeinsames Kandidatengespann 1097 und wollte damit die Spaltung, welche in den vorangegangenen Wahlen den Sieg des Chen Shuibian mit nur 39.3% der Stimmen ermöglicht hatte, überwinden. Für das grüne Lager aus DPP und TSU ergab sich daraus die Konsequenz, dass der Amtsinhaber Chen Shuibian und Vize-Präsidentin Lü Xiulian im Vergleich zum Jahr 2000 eine deutliche Steigerung des Wahlergebnisses erzielen mussten, um die nunmehr benötigte absolute Stimmenmehrheit zu erhalten. Im Umfeld des hochdramatischen Wahlkampfes gewann der 228-Gedenktag des Jahres 2004 auf unerwartete und spektakuläre Weise an Gewicht: Unter dem Motto „Taiwan mit der Hand beschützen“1098 folgten am 28.2.04 bis zu zwei Millionen Menschen 1099 dem Aufruf des grünen Lagers und bildeten eine geschlossene Menschenkette, die sich von der Hafenstadt Jilong im Norden bis nach Gaoxiong im äußersten Süden der Insel erstreckte.1100 Diese gewaltige Menschenkette, die sich durch 17 Kreise und 64 Städte zog und 1096
Ziyou shibao, 28.2.96. Die Neue Partei benannte keinen eigenen Kandidaten, sondern sprach stattdessen eine Wahlempfehlung zu Gunsten des „blauen Lagers“ aus. 1098 Shouhu Taiwan 䆧ਠ⚓ 1099 Die 228-Kundgebung war nur die erste in einer Reihe von Massenkundgebungen, die den Wahlkampf des Jahres 2004 prägten. Im März veranstaltete das blaue Lager vom KMT und PFP eine Protestkundgebung gegen Chen Shuibian, die angeblich ebenfalls über zwei Millionen Teilnehmer anzog. Massenkundgebungen dieser Dimension stellen sicher ein neues Phänomen im politischen Kampf dar. Aus nahe liegenden Gründen versuchte jede Seite, die Aktionen des politischen Gegners zu marginalisieren, entsprechend weichen die Angaben über die Teilnehmerzahlen der verschiedenen Veranstaltungen in der Presse erheblich voneinander ab. Bezüglich des 228Gedenktages reichen die Angaben von einer Million bis hin zu der (vielleicht allzu genehmen) Zahl von mindestens 2,28 Millionen. Siehe Taiwan ribao, 29.2.04. 1100 Nach dem ursprünglichen Plan der Veranstalter sollte die Menschenkette von der kleinen Insel Hepingdao ઼ ᒣጦ (Insel des Friedens) im Norden von Jilong bis zur Jianguo-Straße ᔪ഻䐟 (Straße der Staatsgründung) in 1097
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damit ein Gebiet durchlief, das ¾ des bewohnten Gebietes von Taiwan abdeckte, war mit einer Gesamtlänge von über 500km die zweitlängste Menschenkette aller Zeiten – und die längste, die jemals in Asien gebildet worden war.1101 Die Kundgebung, die unter der gemeinsamen Schirmherrschaft von Li Denghui und Chen Shuibian stand, stellte damit in beeindruckender Weise die Mobilisierungsfähigkeit des grünen Lagers unter Beweis. Die Vorbereitungszeit für die Massenkundgebung hatte nur wenige Monate betragen; erst im September des Jahres 2003 wurden die Pläne für diese imposante Kundgebung erstmals öffentlich gemacht. 1102 Die spektakuläre Aktion wurde als großer Erfolg für das grüne Lager gewertet: Die Menschenkette dominierte über Wochen hinweg die Berichterstattung der taiwanesischen Medien; Fernseh- und Reporterteams aus über 100 Staaten berichteten vor Ort. Der überwältigende Erfolg der „228 Hand-in-Hand Kundgebung“ trug damit, nur drei Wochen vor dem Wahltermin, zu einer wahren Euphorisierung des grünen Lagers bei. Auf der zentralen Veranstaltung der 228-Kundgebung in Miaoli sprach Chen Shuibian von dem bewegendsten Moment seines Lebens: Mit dieser Menschenkette, so Chen, hätten die Taiwanesen eine uneinnehmbare „Große Mauer der Demokratie und Freiheit“ errichtet. 1103 Durch die „228 Hand-in-Hand Kundgebung“ hatte das 228-Gedenken somit eine spektakuläre und unerwartete Neubelebung erfahren, die zugleich zu einer Umdeutung des 228Aufstandes führte. Zwei Aspekte, welche die 228-Interpretation seitdem prägen, traten nunmehr in den Vordergrund: 1. 2.
Der 228-Aufstand als warnendes Mahnmal gegen die Bedrohung der Insel durch die Volksrepublik China; und Der 228-Aufstand als Symbol der Harmonie zwischen den Volksgruppen.
9.2.6.1 Die neue 228-Interpretation des Jahres 2004 Das erklärte Hauptanliegen der 228-Menschenkette bestand darin, gegen die militärische Bedrohung der Insel durch das chinesische Festland zu protestieren. Dieses Anliegen wurde überdeutlich zum Ausdruck gebracht: Auf dem Höhepunkt der Veranstaltung um 2,28 Uhr nachmittags, als die Menschenkette geschlossen wurde, skandierten die Teilnehmer die Parolen „Gegen Raketen, für Frieden“ und „Taiwan Yes, China No!“. Angesichts der Gaoxiong reichen. Damit hätte sich die Wortkombination Heping – Jianguo ઼ᒣᔪ഻ (friedliche Staatsgründung) ergeben. Auf Grund der großen Resonanz, von der auch die Veranstalter überrascht wurden, musste die Kette allerdings um einige Kilometer verlängert werden. 1101 Als erklärtes Vorbild für diese Veranstaltung diente eine Großkundgebung der drei baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen, bei der am 23.10.1989 wahrscheinlich über drei Millionen Menschen eine Kette entlang der Grenze zur Sowjetunion bildeten. Die Kundgebung wurde als wichtiger Schritt auf dem Weg zur staatlichen Unabhängigkeit der ehemals sowjetischen baltischen Republiken bezeichnet. 1102 Mit der praktischen Vorbereitung der Kundgebung wurde der Vorsitzenden der WUFI, Huang Zhaotang, beauftragt. In einem Interview beschrieb Huang, dass zunächst lediglich eine zentrale Kundgebung in Taipei mit etwa 500.000 Teilnehmern anvisiert worden sei, auf Grund der befürchteten Störung für das Verkehrs- und Infrastrukturnetz der Stadt, die eine solche gewaltige Menschenmenge zwangsläufig nach sich ziehen müsste, sei jedoch im Herbst 2003 die Idee einer Menschenkette gereift. Zu Anfang, so Huang, sei die Idee von vielen Seiten kritisiert worden; insbesondere sei die Befürchtung geäußert worden, dass die Kette aus Mangel an Teilnehmern Lücken aufweisen und somit kontraproduktiv wirken könnte. Für eine erfolgreiche Kettenbildung habe man eine Teilnehmerzahl von mindestens 500.000 Personen vorausgesetzt. Siehe Ziyou shibao, 16.2.04. 1103 Siehe Taiwan ribao, 29.2.04.
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massiven militärischen Bedrohung durch das Festland, so die Veranstalter der 228Kundgebung, gelte es, die wichtigen Lehren aus dem 228-Aufstand zu ziehen: Im Jahr 1945 sei Taiwan schon einmal unter die Herrschaft des autoritären, festlandchinesischen KMT-Regimes geraten. Nach Jahrzehnten der Unterdrückung sei es den Bewohnern der Insel schließlich gelungen, ein demokratisches und liberales System zu errichten. Eine Erkenntnis des 228-Aufstandes müsse daher sein, die Werte der Demokratie und Freiheit wertzuschätzen und gegen äußere Bedrohungen zu verteidigen. Erneut werde Taiwan durch ein Regime bedroht, das sich in seinem autoritären Charakter kaum von der KMT der 40er Jahre unterscheide. In diesem Kontext könne der 228-Aufstand als anschauliches und warnendes Beispiel dafür dienen, welche furchtbaren Folgen eine erzwungene und übereilte Vereinigung Taiwans mit dem Festland nach sich ziehen müsse. Diese Gefahr eines „Zweiten 228“, der in seinem Ausmaß noch verheerender sein könnte als das Massaker des Jahres 1947, gelte es, mit Entschlossenheit zu bannen. Herr Xie Zhiwei,1104 der maßgeblich in der Zhengming-Bewegung (s.o.) engagiert war, äußerte sich hierzu gegenüber dem Autor: Im 228-Massaker wurden Taiwanesen ermordet, und zwar […] von einer Fremdherrschaft, die von China kam. Jetzt sagt man sich: Wenn wir diesmal nicht die Entschlossenheit zeigen, dass wir bereit und willig sind, Taiwan zu verteidigen, dann geschieht das noch mal […] und diesmal würde keiner mit einem blauen Auge davonkommen. [Also] müssen wir zusammenstehen, und dieser Drohung schon im Voraus begegnen. Wenn China noch einmal angreifen oder Taiwan an sich reißen würde, dann kann man sich vorstellen, dass es noch mal ein ähnliches 228-Massaker geben könnte.1105
Der zweite wichtige Aspekt der neuen 228-Interpretation, wie sie sich in der „228 Hand-inHand Kundgebung“ manifestierte, bezieht sich auf das harmonische Zusammenleben aller vier Volksgruppen,1106 die gleichberechtigt, durch das gemeinsame Bekenntnis zu Taiwan, in schicksalhafter Weise miteinander verbunden seien. Auf der „228 Hand-in-Hand Kundgebung“ wurde bei allen Gelegenheiten die ethnische Vielfalt Taiwans unterstrichen: Auf der zentralen Veranstaltung in Miaoli wurde besonderer Wert darauf gelegt, neben den Hauptveranstaltern Chen Shuibian und Li Denghui auch Vertreter aller Volksgruppen auf der Rednerbühne zu berücksichtigen. 1107 In allen größeren Städten wurde die 228Kundgebung von zahlreichen kulturellen und künstlerischen Darbietungen der verschiedenen Volksgruppen begleitet. Am Beginn der Menschenkette, auf der kleinen Insel Hepingdao, wurde – in Anlehnung an eine Friedenszeremonie der Ureinwohner – von Angehöri1104
Durch seinen langjährigen Studienaufenthalt in Deutschland verfügt Herr Xie über ausgezeichnete Deutschkenntnisse, das Gespräch wurde daher auf Deutsch geführt. Von 2005-2007 leitete Xie Zhiwei die Vertretung der ROC in Deutschland. 1105 Interview mit Xie Zhiwei am 30.3.04. 1106 Die übliche Unterteilung in die vier Volksgruppen der Fulao (gebürtige Taiwanesen mit historischen Wurzeln in Fujian), Festländer, Hakka und Ureinwohner wurde auf der 228-Kundgebung von Chen Shuibian durch eine fünfte Gruppe der „Ausländer“ auf Taiwan erweitert. Gemeint waren wohl insbesondere Zuwanderer aus südostasiatischen Staaten, die durch Heirat die taiwanesische Staatsbürgerschaft erworben hatten. Es ist sicher kein Zufall, dass sich dieses Bild der „Fünf Volksgruppen“ auf treffliche Weise in die Metapher der „Fünf Finger einer Hand“ überleiten ließ. 1107 Die ursprüngliche Planung der Veranstalter hatte vorgesehen, dass der Beginn der Kette in Jilong von einem Kreis, bestehend aus Vertretern der vier Volksgruppen, gebildet werden sollte. In der hektischen und teilweise chaotischen Stimmung, die der große Andrang an Teilnehmern hervorgerufen hatte, konnte dieser Plan allerdings nicht umgesetzt werden. Den Anfang der Kette bildetet statt dessen ein Herr Cai – der zufällig zu den Angehörigen der 228-Opfer gehört. Siehe Zhongguo shibao, 29.2.04.
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gen des Paiwan-Stammes Wasser aus dem Meer geschöpft und in Behältern die Kette entlang gereicht. Auch in diesem Kontext, so die Veranstalter der Kundgebung, sei das Gedenken an den 228-Aufstand von maßgeblicher Bedeutung: Durch die Ereignisse des Jahres 1947 seien zwischen den Volksgruppen auf Taiwan Hass und Misstrauen entstanden. Der 228-Aufstand sei daher als eine lang schwärende Wunde zu betrachten, die ein harmonisches Zusammenleben der Volksgruppen verhindert habe. Ein wichtiges Anliegen müsse daher sein, diese Wunde zu heilen und ein Klima des gegenseitigen Vertrauens und der Solidarität zwischen den Volksgruppen zu schaffen. Gerade durch die Überwindung des schweren Traumas, das der 228-Aufstand hervorgerufen habe, könne somit eine neue Kraft für ein vertieftes und aufgeklärtes, alle Volksgruppen umfassendes Bekenntnis zu Taiwan erschlossen werden. Wie ein Leitartikel in der Zeitung Taiwan ribao kommentierte: Durch die 228 [Kundgebung] „Taiwan mit der Hand beschützen“ wurde die größte Anzahl an Teilnehmern, die jemals an einer Kundgebung in Taiwan teilnahmen, mobilisiert. Zum ersten Mal ist es dabei gelungen, die Konflikte zwischen den Volksgruppen, seit langem ein fatales Erbe Taiwans, durch Freude und Vitalität zu durchbrechen. Die Konflikte, die in der Vergangenheit das Verhältnis zwischen den Volksgruppen belasteten, wurden dadurch in einen Kristallisationspunkt für ein weitergehendes Bekenntnis zu Taiwan gewandelt – und dieses große Thema wird auch eine wichtige Grundlage für die weitere Entwicklung Taiwans sein.1108
Schließlich war es aus Sicht der Sympathisanten des Chen Shuibian mit der „228 Hand-inHand Kundgebung“ des Jahres 2004 gelungen, das 228-Gedenken in einen neuen, konstruktiven Kontext zu stellen. In der Vergangenheit, so wurde argumentiert, sei das 228Gedenken stets von Trauer, Leid und Vorwürfen geprägt gewesen. Diese Stimmung der Niedergeschlagenheit habe es nicht erlaubt, zukunftsweisende Lehren aus dem 228Gedenken zu ziehen. Seit dem Jahre 2004 sei diese betrübliche und rückwärtsgewandte Tendenz jedoch überwunden worden: Das Gedenken an den 228-Aufstand werde nun durch ein vitales, aktives und fröhliches Bekenntnis zu Taiwan geprägt, das alle Bewohner Taiwans einschließen könne. So äußerte sich Xie Zhiwei in einem Gespräch mit dem Autor: [Die 228-Kundgebung] war die Fortsetzung der Zhengming-Bewegung, es wurde eine Karnevalsstimmung [hervorgerufen]. Bis zu diesem Tag bedeutete 228 immer Trauer und Anklage an die KMT. Es war immer ein Versuch, den Blick auf die Vergangenheit zu lenken. Aber diesmal hat man den Blick auf die Drohung von Außen gelenkt, und zwar auf eine neutrale [und] fröhliche Weise. Man hat ein Zusammengehörigkeitsgefühl hervorgerufen, und dieses Zusammengehörigkeitsgefühl war seit Jahrzehnten da, aber es wurde immer unterdrückt […] Wir mussten dieses Gefühl zum Ausdruck bringen, das war entscheidend wichtig. Viele Leute, die es früher nie gewagt hätten, haben sich dieser Bewegung angeschlossen.1109
Das Bekenntnis zu Taiwan und die sorgende Liebe zur Heimat seien zudem Emotionen, die allen Bewohnern Taiwans gemein seien und die weder vor kulturellen noch ethnischen Schranken Halt machen durften. Selbst politische Divergenzen könnten und sollten hierbei keine Rolle spielen: Das grüne Lager hatte im Vorfeld der Kundgebung eine ausdrückliche Einladung an den politischen Gegner ausgesprochen, sich an der 228 Hand-in-Hand Kundgebung zu beteiligen. Schließlich wurde jedoch deutlich, dass das 228-Gedenken des Jahres 1108 1109
Taiwan ribao, 29.2.04. Interview mit Xie Zhiwei am 30.3.04.
Der 228-Aufstand
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2004 allzu sehr von den parteipolitischen Auseinandersetzungen der nahenden Präsidentschaftswahlen überschattet wurde.
9.2.6.2 Die 228-Kundgebung im Wahljahr 2004 Das blaue Lager der Parteien KMT und PFP betrachteten die „228 Hand-in-Hand Kundgebung“ mit großer Skepsis. Das Anliegen der Kundgebung, ein Bekenntnis zu Taiwan zu leisten, wurde zwar grundsätzlich auch vom blauen Lager gutgeheißen, jedoch sei bereits im Vorfeld der Kundgebung deutlich geworden, dass die DPP den 228-Gedenktag ausschließlich für ihre eigennützigen politischen Ziele missbrauchen wolle. Der „Hauptdarsteller“ der Kundgebung, so ein Leitartikel in der Zeitung Zhongyang ribao, sei nicht etwa Taiwan, sondern ausschließlich Präsident Chen Shuibian: Wenn nicht der Faktor der Wahlen wäre, dann würden sich wohl alle Bewohner Taiwans an einem 228-Gedenken beteiligen, das „Taiwan mit bloßen Händen schützt“. Aber jeder weiß ganz genau: Die DPP und TSU, die diese Bewegung ins Leben gerufen haben, wollen nur die Wahlchancen des Chen Shuibian erhöhen und einen Effekt von „Wahlstimmen-Ansporn“ erzielen. Die Folge war, dass die schmerzliche Erinnerung [an den 228-Aufstand] vom grünen Lager […] zum Wahlhelfer von Chen Shuibian bemüht wurde. Diese Umdeutung des 228 ist wirklich bedauerlich. Für das grüne Lager ist der Hauptdarsteller des so genannten „Mit bloßen Händen Taiwan beschützen“ nicht etwa Taiwan, sondern Chen Shuibian. Sollen wir unter diesen Umständen etwa teilnehmen?1110
Von besonderer politischer Brisanz war aus Sicht der Opposition die Tatsache, dass Chen Shuibian den 228-Gedenktag mit dem umstrittenen Thema des ersten nationalen Referendums verbunden hatte, das gemeinsam mit dem Urnengang zu den Präsidentschaftswahlen am 20.3. abgehalten werden sollte. Nach dem Willen des grünen Lagers sollte die taiwanesische Bevölkerung über folgende Fragen abstimmen: 1. 2.
Soll Taiwan für den Fall, dass die VRCh ihre militärisch Bedrohung gegenüber der Insel nicht aufgibt, seinerseits moderne Waffensysteme erwerben? Soll Taiwan auch weiterhin einen Dialog mit dem Festland aufrechterhalten, welcher eine friedliche und stabile Koexistenz der beiden Seiten zum Ziel habe?
In seiner Rede auf der 228-Gedenkveranstaltung betonte Chen Shuibian die besondere Bedeutung des Referendums für die weitere Demokratisierung Taiwans. Zum ersten Mal1111 in der Geschichte, so Chen, hätten die Taiwanesen die Gelegenheit, sich als wahrer Volkssouverän zu erweisen und gleichzeitig ein Bekenntnis zu Taiwan zu leisten. Das Referendum, so Chen, sei daher von noch höherer Bedeutung als der Ausgang der Präsidentschaftswahlen. 1110
Zhongyang ribao, 29.2.04. Die Verfassung der ROC sieht zwar im Art. 17 ausdrücklich die Möglichkeit eines allgemeinen Referendums vor. Für das Referendum des Jahres 2004 war daher – im Gegensatz zu zahlreichen anders lautenden Darstellungen in der taiwanesischen Presse – keine Verfassungsänderung nötig. Diese Bestimmung wurde jedoch in den Zeiten des Kriegsrechtes ausgesetzt, erst im Jahr 2003 wurde ein entsprechendes Gesetz zur Umsetzung der Verfassungsbestimmung erlassen.
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Von Seiten der Opposition wurde das Referendum hingegen auf das Schärfste kritisiert. Zum einen, so das blaue Lager, bestünden größte Zweifel, ob das Referendum überhaupt rechtmäßig sei. 1112 Laut Referendumsgesetz stünde dem Präsidenten nur im Falle eines besonderen „nationalen Notstandes“ das Initiativrecht für ein Referendum zu. Die Argumentation des Chen Shuibian, dass die VRCh über 500 Raketen auf Taiwan gerichtet habe und damit die Voraussetzung des nationalen Notstandes quasi dauerhaft erfüllt sei, könne nicht überzeugen. Zudem wurde geltend gemacht, dass sich das Referendum auch inhaltlich nur auf Trivialitäten bezöge. Zu den Aufgaben jeder Regierung, egal welchen Staates, gehöre selbstverständlich die Gewährleistung der äußeren Sicherheit; 1113 auch ließe sich kaum vorstellen, aus welchen Motiven ein friedlicher Dialog mit dem Festland abgelehnt werden sollte. Chen Shuibian, so die Kritik, wolle durch dieses fragwürdige Referendum lediglich eine publikumswirksame Mobilisierung seiner Anhängerschaft beim Urnengang gewährleisten. Die Kandidaten des blauen Lagers riefen ihre Anhänger daher auf, das „illegale“ Referendum zu boykottieren und damit die laut Referendumsgesetz erforderliche Mindestbeteiligung von 50% der wahlberechtigten Bürger zu verhindern. Das blaue Lager entschloss sich zudem, eine getrennte 228-Kundgebung abzuhalten: Unter dem Motto „Dein Blut ist in meinem, mein Blut in dem Deinen“ wurden die Anhänger zu Blutspenden aufgerufen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die spektakuläre 228 Hand-in-Hand Kundgebung des Jahres 2004 einen wichtigen Faktor für den Wahlerfolg 1114 des grünen Lagers darstellte. Wenngleich das Referendum auf Grund mangelnder Beteiligung scheiterte, konnte Chen Shuibian die Präsidentschaftswahlen mit dem denkbar knappen Vorsprung von nur 29.518 Stimmen1115 für sich entscheiden. Das Gedenken an den 228-Aufstand war somit zu einem entscheidenden Wahlkampfinstrument der DPP geworden.
1112
Die gesetzliche Grundlage für das Referendum war erst im November des Jahres 2003 geschaffen worden. Das „blaue Lager“ aus KMT und PFP konnte dabei mit ihrer Mehrheit im Legislativ-Yuan die Ausgestaltung des Referendumsgesetzes maßgeblich bestimmen. So wurden etwa ausdrücklich festgelegt, dass die Definition des Hoheitsgebietes sowie eine Änderung der staatlichen Symbole nicht zum Gegenstand eines Referendums gemacht werden durften. Zudem wurde die Initiative für ein Referendum ausschließlich der Legislative zugewiesen; ein Vorschlag der DPP, dass auch die Exekutive das Initiativrecht erhalten solle, konnte sich nicht durchsetzen. Siehe Taipei Times, 28.11.03. 1113 Von Seiten der militärischen Führung wurde betont, dass sich die staatlichen Rüstungsausgaben an Notwendigkeiten orientierten, die dem Laien gar nicht zugänglich seien. Zudem hätte das Referendum keinerlei praktische Auswirkungen auf geplante Rüstungsprojekte. 1114 Es würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen, die Ereignisse der äußerst interessanten und umstrittenen Präsidentschaftswahl im Einzelnen zu erörtern. Die wichtigsten Fakten sollen hier kurz vorgestellt werden: Am Vortag der Wahl wurde Chen Shuibian auf einer Wahlkundgebung in Tainan Opfer eines Attentates, er musste leicht verletzt in einem Krankenhaus behandelt werden. Von Seiten der Opposition wurde Chen vorgeworfen, dieses vorgebliche Attentat selbst inszeniert zu haben, um über einen „Mitleidseffekt“ zusätzliche Stimmen zu gewinnen. Zudem, so die KMT, seien die Streitkräfte auf Grund des Attentates in erhöhte Alarmbereitschaft versetzt worden, daher sei es zahlreichen Angehörigen der Streitkräfte (traditionell eine Wählerschaft der KMT) nicht möglich gewesen, ihre Stimmen abzugeben. Äußerst verdächtig sei zudem die enorm hohe Zahl an ungültigen Stimmen, die sich im Vergleich zu den Wahlen des Jahres 2000 um ein Vielfaches erhöht habe. Über mehrere Wochen hinweg weigerte sich das blaue Lager, die Wahl anzuerkennen, und organisierte einen Dauerprotest vor dem Präsidentenpalast in Taipei. Bis heute wird gegen Präsident Chen der Vorwurf erhoben, er habe sich den Wahlsieg mit unlauteren Mitteln erschlichen. 1115 In der DPP-freundlichen Presse wurde nicht versäumt, auf die verblüffende Tatsache hinzuweisen, dass dieser Vorsprung genau 0.228% der Stimmen entsprach. Siehe z.B. Taiwan ribao, 21.3.04.
10 Zusammenfassung und Ausblick
10.1 Der 228-Aufstand im Licht der neueren Forschung Die Tabuisierung des 228-Aufstandes hatte zur Folge, dass die regimekritische Forschung zum 228-Aufstand, die in großem Umfang erst in den 80er Jahren einsetzte, lange Zeit über sehr wenige Quellen verfügte. Gerade diese mangelnde Quellenbasis erleichterte es jedoch, den 228-Aufstand für verschiedene politische Interessen zu instrumentalisieren. Seit Beginn der 90er Jahre hat sich das Bild vollkommen gewandelt: Beginnend mit dem offiziellen 228-Forschungsbericht des Jahres 1991/1992 wurde eine intensive Auswertung von ungezählten historischen Dokumenten und Berichten von Augenzeugen vorgenommen. Es hat jedoch den Anschein, dass der Prozess der historischen Erhellung des Aufstandes zwischenzeitlich zu einem vorläufigen Abschluss gekommen ist. Angesichts der nach wie vor ungeklärten Fragen wird daher gelegentlich der Vorwurf erhoben, die KMT halte wichtige Schlüsseldokumente nach wie vor zurück – ein Vorwurf, der sich natürlich weder verifizieren noch zurückweisen lässt. Dennoch scheint es sehr fraglich, ob zukünftige Forschung ein umfassenderes Verständnis des Aufstandes ermöglichen wird. Das Bild, das sich anhand der heutigen Quellenlage bietet, lässt die Vorgänge im 228Aufstand als äußerst kompliziert und vielschichtig erscheinen. Es steht heute außer Frage, dass der Aufstand nicht das Ergebnis eines geplanten Vorgehens war, sondern sich spontan an dem unangemessenen Vorgehen von Beamten des Monopolbüros entzündete. Sowohl die Regierung als auch die taiwanesischen Volksvertreter waren von den Entwicklungen nach dem 27.2.47 vollkommen überrascht, und mussten ihr Verhalten den ständig wechselnden und nicht vollständig kontrollierbaren Gegebenheiten anpassen. Gleichzeitig ist jedoch festzuhalten, dass die verfehlten politischen Maßnahmen der Provinzregierung unter Gouverneur Chen Yi (eine verheerende Wirtschaftspolitik, die gezielte Diskriminierung von gebürtigen Taiwanesen und das erschreckende Maß an Korruption) bereits seit dem Frühjahr 1946 zu einer zunehmend Konflikt geladenen Atmosphäre auf der Insel geführt hatten. Es lässt sich daher spekulieren, dass ein gewaltsamer Ausbruch der schwelenden Konflikte langfristig unvermeidlich war. Dem 228-Aufstand haftet damit sowohl der Charakter einer unvorhersehbaren Spontaneität als auch einer gewissen Unausweichlichkeit an; eine Sichtweise, die heute von den meisten Autoren geteilt wird: Der 228-Aufstand wird beschrieben als ein letztlich beliebiger Anlass, an dem sich die schon lange gärende Spannung zwischen den Bewohnern der Insel und den chinesischen Behörden der zivilen und militärischen Verwaltung Bahn brach. Die Unübersichtlichkeit des 228-Aufstandes wurde zudem bedingt durch die Kürze der Zeit: In den gerade einmal zehn Tagen, die der 228Aufstand andauerte, konnten sich die von unterschiedlichen Akteuren errichteten Strukturen nicht entfalten und sind nur in Rudimenten zu erahnen. Dennoch ist bemerkenswert, dass die lokalen Schlichtungskommissionen offenbar innerhalb von wenigen Tagen in der Lage waren, die gewalttätigen Ausschreitungen in den meisten Gebieten der Insel zu unterbinden und, nachdem die staatliche Autorität kollabiert war, eine zum Teil sehr effektive
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Zusammenfassung und Ausblick
Ersatzverwaltung zu errichten. In einem zweiten Schritt nahmen die taiwanesischen Volksvertreter den 228-Aufstand zum Anlass, eine grundsätzliche Reform der politischen Verhältnisse auf Taiwan zu erwirken. Dieser Vorstoß, der schließlich in den berüchtigten 32 (auch: 42) Forderungen mündete, ging dabei in manchen Fragen über die verfassungsrechtlich zugestandene Kompetenz einer Provinzverwaltung hinaus. Insbesondere die Forderungen nach Auflösung der Garnisonshauptkommandantur sowie die Freilassung von taiwanesischen Kriegsverbrechern, die am 7.3.47 in einem Zehn-Punkte Ergänzungsantrag der Vollversammlung der Zentralen Schlichtungskommission Aufnahme in den Forderungskatalog fanden, mussten aus Sicht der Regierung als unannehmbar erscheinen. Dieser Punkt wird auch von regimekritischen Historikern eingestanden; jedoch wird gleichzeitig geltend gemacht, dass diese unannehmbaren Forderungen von Agenten und Agitatoren der Regierungsbehörden selbst eingebracht worden seien, die dadurch einen Verhandlungserfolg von vorneherein verhindern und einen Vorwand für ein militärisches Eingreifen der Regierung schaffen wollten. Es lässt sich rückblickend nur schwer beurteilen, inwieweit divergierende und konkurrierende Interessengruppen innerhalb der Regierung das Handeln der Provinzverwaltung bestimmten. Wie insbesondere die ausführliche und verdienstvolle Studie von Chen Cuilian nachwies, kam den Konflikten zwischen verfeindeten Faktionen der Machthaber, namentlich der CC-Faktion, der Political Science Group und dem Militärbüro, sicher eine gewichtige Rolle im 228-Aufstand zu. Einschränkend muss jedoch angemerkt werden, dass eine genaue Analyse dieser faktionellen Verwerfungen oft nicht möglich ist. Wenngleich die fragwürdigen Machenschaften der Regierung letztlich auch von Frau Chen nicht mit unumstößlichen Beweisen belegt werden konnten, so bestehen doch zahlreiche und massive Anhaltspunkte für den Verdacht, dass Teile der Provinzregierung schon zu einem frühen Zeitpunkt gezielt die Schlichtungskommissionen und zivilen Sicherheitstruppen unterwanderten und eine weitere Destabilisierung der öffentlichen Ordnung anstrebten. Unbestritten ist jedoch, dass Gouverneur Chen Yi, in Abstimmung mit der Zentralregierung, schon zu einem frühen Zeitpunkt auf eine militärische Niederschlagung des Aufstandes setzte und die politischen Verhandlungen lediglich als Vorwand nutzte, um Zeit bis zur Ankunft der militärischen Verstärkung aus dem Festland zu gewinnen. Dieser verwerfliche Vorgang stellt den eigentlichen Verrat der Regierungsbehörden dar, der das Vertrauen der Taiwanesen in die Staatsgewalt nachhaltig erschüttern musste: Bis zuletzt glaubten sich die taiwanesischen Volksvertreter in ihrem Bemühen um politische Reformen im Einvernehmen mit der Regierung, es gab daher kaum Versuche, dem Morden, das nach dem 8.3. einsetzte, zu entkommen oder durch organisierten Widerstand zu begegnen. Bis heute konnte nicht geklärt werden, welche Ausmaße die Massaker an der taiwanesischen Zivilbevölkerung annahmen. Dies ist sicher eine der auffälligsten Lücken der modernen 228-Forschung: Die behauptete Anzahl der Todesopfer bewegt sich nach wie vor in dem weiten Rahmen von ca. 2000 bis hin zu 100.000. Ein Spektrum, das nach Meinung des Autors auf Grundlage der verfügbaren Quellen realistischerweise auf etwa 10.000 bis 30.000 eingeengt werden kann. Dieses erstaunliche Unvermögen der modernen 228Forschung, präzisere Zahlen zu liefern, erklärt sich teilweise durch die kriegsbedingte Konfusion, die im Frühjahr 1947 noch in vielen Bereichen vorherrschte. Bedingt durch die Demobilisierung der japanischen Armee und des andauernden Bürgerkrieges auf dem chinesischen Festland strömten große Massen von entwurzelten Menschen von und nach Taiwan. Jede verlässliche behördliche Registrierung war zusammengebrochen – ein Zustand,
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der in ähnlicher Weise auch in Mitteleuropa nach dem Zweiten Weltkrieg zu konstatieren war. Von noch größerer Bedeutung ist jedoch die Vereinnahmung des 228-Aufstandes durch verschiedene politische Interessen, die eine Opferrolle der Taiwanesen beanspruchen beziehungsweise zurückweisen wollten. Auch hier lassen sich vergleichbare Fälle nennen – wie etwa das Nanjing-Massaker von 1937 oder der alliierte Luftangriff auf Dresden im Jahre 1944, bei denen die Zahl der Todesopfer ebenfalls bis heute Gegenstand einer zum Teil politisch motivierten Kontroverse sind. Bis heute bleibt umstritten, welche Faktoren zu dem Massaker des 228-Aufstandes führten. Von Seiten der KMT-freundlichen Forschung werden zwei Gründe angeführt: Zum einen sei es auf Seiten der Zentralregierung zu Fehlwahrnehmungen gekommen. Die Regierung sei, auch auf Grund von übertriebenen Berichten der lokalen Behörden, zu der Einschätzung gelangt, dass sich die Provinz in offenem Aufruhr befinde. Angesichts der angespannten Lage im Bürgerkrieg sei die oberste Priorität für die Regierung daher gewesen, Taiwan möglichst rasch zu befrieden und die öffentliche Ordnung wiederherzustellen. Zum andern hätte es den entsandten Truppenkontingenten an Disziplin gemangelt, so dass die klaren Befehle der Zentralregierung, ein Blutvergießen von Unschuldigen unter allen Umständen zu vermeiden, nicht immer umgesetzt worden seien. Die KMT-kritische Forschung behauptet hingegen, das KMT-Regime unter Chiang Kai-shek habe den 228Aufstand zum Anlass genommen, die taiwanesische Führungselite gezielt auszulöschen – eine verbrecherische und mörderische Politik, die sich in der folgenden Periode des Weißen Terrors fortgesetzt habe. Für die weitere politische Entwicklung Taiwans werden dem 228Aufstand daher zwei wichtige Schlüsselfunktionen zugeschrieben: Einerseits markiert der Aufstand den Beginn der autoritären Ein-Parteien-Herrschaft der KMT, die insbesondere zur Zeit des Weißen Terrors in den 50er und 60er Jahren mit rücksichtsloser Härte gegen Regimegegner vorging und eine von Festländern dominierte Fremdherrschaft über Taiwan errichtete. Wenngleich sich bereits seit Beginn der 70er Jahre, namentlich in der „Gexin bao Tai“ Bewegung, erste demokratische Reformen ankündigten, blieb diese Machtstruktur in ihrem Kern bis in die jüngste Zeit unverändert bestehen. Im Zuge der Demokratisierung Taiwans wurde die Aufarbeitung des Aufstandes daher für das KMT-Regime zu einer Aufgabe von höchster Dringlichkeit und äußerster Sensibilität, die jedoch (wenngleich auch aus Sicht zahlreicher Kritiker nicht befriedigend) gelöst werden konnte, wobei Präsident Li Denghui ein besonderer Verdienst zuerkannt werden muss. Andererseits setzte mit dem Aufstand die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung ein. Umstritten bleibt hierbei, inwieweit das Streben nach staatlicher Unabhängigkeit im Aufstand bereits eine Rolle spielte. Die Mehrheit der Autoren verneint diese Aussage – ein, wie dargelegt, nach Ansicht des Autors etwas voreiliger Schluss. Der 228-Aufstand war jedoch nur Auslöser der Unabhängigkeitsbewegung. Die Tatsache hingegen, dass die Unabhängigkeitsbewegung über Jahrzehnte fortbestand, hatte ihre Ursache in dem autoritären Regime der KMT, das demokratische Reformen verweigerte und Andersdenkende mit brutaler Gewalt unterdrückte.
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Zusammenfassung und Ausblick
10.2 Der 228-Aufstand und die Konzeption eines taiwanesischen Nationalismus Seit den Anfängen der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung kam dem 228-Aufstand eine zentrale Bedeutung in dem Streben nach einer unabhängigen taiwanesischen Nation zu. Der 228-Aufstand übernahm dabei eine doppelte Funktion: 1.
2.
Zum einen konnte der Aufstand in einer nach außen gerichteten Wirksamkeit als propagandistische Waffe im Kampf gegen den wahrgenommenen Gegner dienen. In dieser Außenwirkung wurde der 228-Aufstand als Mittel des politischen Kampfes gegen drei wechselnde Gegner genutzt: Die Festländer auf Taiwan, die KMT und schließlich die VRCh. Darüber hinaus übte der 228-Aufstand jedoch auch eine Innenwirkung aus, die eine Definition der eigenen, national verstandenen Gruppe ermöglichte. In diesem Kontext erhielt der 228-Aufstand seine besondere Bedeutung durch seine Funktion einer klaren Demarkationslinie, die eine Trennung in „Innen“ und „Außen“ der taiwanesischen Nation erlaubte und diese dadurch erst in Erscheinung treten ließ: Auf der einen Seite die (tatsächlichen oder potentiellen) Opfer des Aufstandes als qualifizierte Mitglieder der taiwanesischen Nation, denen auf der anderen Seite die Täter und Nutznießer des Aufstandes als Außenseiter und Gegner des nationalen Unabhängigkeitsstrebens gegenüberstanden. Die nationale Selbstwahrnehmung rekurrierte daher nicht nur auf die Gemeinsamkeiten der Mitglieder untereinander, sondern war ebenso das Produkt der Abgrenzung von einem wahrgenommenen und zumindest potentiell feindseligen Gegenüber.
Im Verlauf der letzten sechs Jahrzehnte ergab sich jedoch die Schwierigkeit, dass die wahrgenommene Freund-Feind-Matrix der Unabhängigkeitsbewegung auf Grund von innenpolitischen Umbrüchen auf Taiwan und alternierenden internationalen Konstellationen mehrfach Veränderungen unterworfen war. Die Unabhängigkeitsbewegung stand oftmals vor der schwierigen Aufgabe, ein nationales Konzept und (damit verbunden) eine modifizierte Interpretation des 228-Aufstandes zu erarbeiten, die diesen Veränderungen gerecht werden konnte – eine Aufgabe, die sich nicht immer als lösbar erwies.
10.2.1 Der 228-Aufstand und die Gegner der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung In der Frühphase der Unabhängigkeitsbewegung war das propagierte Feindbild relativ unkompliziert und konnte direkt auf den 228-Aufstand Bezug nehmen: Die Feinde der Unabhängigkeitsbewegung waren die chinesischen Festländer auf Taiwan, die sich durch die Massaker des Aufstandes in unversöhnliche Gegnerschaft zum taiwanesischen Volk gestellt hatten. Zwar wurde gelegentlich eingeräumt, dass die meisten Festländer erst gegen Ende des chinesischen Bürgerkrieges im Jahre 1949, über zwei Jahre nach dem 228-Aufstand, nach Taiwan emigriert waren und in ihrer Mehrzahl vermutlich nicht einmal Kenntnis von dem Aufstand hatten. Dennoch, so wurde argumentiert, seien sämtliche Festländer, unabhängig von ihrer persönlichen Schuld, als Nutznießer des Aufstandes zu betrachten, da dieser eine Unterjochung der gebürtigen Taiwanesen und eine systematische Bevorzugung
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der Festländer zur Folge hatte. Der 228-Aufstand wurde als „Urschuld“1116 der Festländer auf Taiwan beschrieben, die nur durch einen Sturz des Regimes und eine Vertreibung oder Unterwerfung der chinesischen Fremdherrscher beglichen werden konnte. Es ist dabei bemerkenswert, dass sich die Feindschaft der Unabhängigkeitsbewegung gegen das „chinesische Volk“ zunächst nicht gegen die Chinesen auf dem Festland richtete; im Gegenteil verfolgte die Unabhängigkeitsbewegung über lange Zeit die Hoffnung, die VRCh als möglichen Verbündeten im Kampf gegen den gemeinsamen Feind, das KMT-Regime, zu gewinnen. Die erste Revision dieses Feindbildes stellte sich seit Mitte der 60er Jahre ein, als die Alternative einer „politischen“ Revolution, die sich gegen das KMT-Regime richtete, als Gegenentwurf zur bislang gültigen „nationalen“ Revolution etabliert wurde. In der amerikanischen Phase der Unabhängigkeitsbewegung nach 1970 hatte sich dieses neue Feindbild vollständig durchgesetzt: Der zu bezwingende Gegner war nicht länger die Gesamtheit der Festländer, die im Gegenteil als Verbündete für den Kampf gewonnen werden sollten, sondern ausschließlich das autoritäre Regime der KMT. Zudem musste sich die Unabhängigkeitsbewegung seit Mitte der 70er Jahre, als die territorialen Ambitionen der VRCh zunehmend deutlicher wurden, mit der Frage auseinandersetzen, wie sie die zukünftige Beziehung zum chinesischen Festland gestalten wollte. Über die gesamte Periode der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung im Ausland blieben die Mittel des Kampfes hingegen unverändert. Die Unabhängigkeitsbewegung zog niemals Alternativen zu einem bewaffneten Aufstand gegen das KMT-Regime in Erwägung. Aus Sicht der Unabhängigkeitsbewegung stand nicht zu erwarten, dass die Fremdherrscher des KMT-Regimes freiwillig von ihrer Macht ablassen würden. Da die Insel Taiwan das letzte verbliebene Gebiet unter effektiver Kontrolle der ROC darstellte, wäre eine demokratische Reform des bestehenden Machtapparates und (so wurde unterstellt) die daraus zwangsläufig resultierende taiwanesische Unabhängigkeit gleichbedeutend mit einem Untergang des ROC-Regimes. Das Ringen gegen den „Chiang-Clan“ gewann dadurch seinen erbarmungslosen Charakter eines Kampfes auf Leben und Tod, der keinen Raum für Kompromisse oder Koexistenz ließ. Diese unversöhnliche, auf Kampf gerichtete Gegnerschaft verblieb jedoch ausschließlich auf Ebene der Außendarstellung und Propaganda. Angesichts der Kräfteverhältnisse ist es natürlich nicht erstaunlich, dass ein Sturz des Regimes zu keinem Zeitpunkt aussichtsreich erscheinen konnte. Dennoch mag es befremden, dass die Unabhängigkeitsbewegung im Ausland nicht einmal den Versuch unternahm, im Rahmen ihrer Möglichkeiten einen zumindest symbolisch gemeinten gewaltsamen Widerstand zu betreiben – wie beschrieben, gingen die wenigen spektakulären Anschläge auf führende Politiker des Regimes (wie etwa der 424-Vorfall im Jahre 1970 oder der Paketbombenanschlag auf Xie Dongmin im Jahre 1976) auf die Initiative von Einzeltätern zurück. Ein Grund hierfür war sicherlich die Tatsache, dass die Unabhängigkeitsbewegung seit ihren Anfängen durch interne Zersplitterung und Rivalitäten geschwächt wurde. Hinzu kam, insbesondere im Falle der WUFI, die lange Abwesenheit der taiwanesischen Unabhängigkeitsaktivisten von Taiwan, die eine Einschätzung der politischen Verhältnisse auf der Insel zunehmend erschwerte. So kommentierte Xie Congmin die Unabhängigkeitsbewegung in den USA wie folgt:
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Yuanzui 㖚
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Zusammenfassung und Ausblick Das Problem war: Man war schon zu lange von Taiwan weg, und hatte deswegen den Gegner [das KMT-Regime] aus den Augen verloren. Wer Krieg führen will, der muss den Feind auch sehen […] Das Ergebnis [war], dass man stattdessen auf die eigenen Leute einschlug.1117
Ein etwas anderes Bild bot die Unabhängigkeitsbewegung auf Taiwan selbst. Die Anfänge dieser Bewegung sind schwer zu datieren – wie beschrieben, gab es schon zu Zeiten des Weißen Terrors offensichtlich vereinzelte Versuche, organisierten Widerstand gegen die Herrschaft der KMT ins Leben zu rufen. Die mangelnde historische Aufarbeitung dieser Periode macht es bis heute jedoch sehr schwer, ein genaues Bild von den Vorgängen dieser Zeit zu gewinnen. In den beiden bestdokumentierten und in dieser Arbeit behandelten Fällen – dem Free China-Vorfall von 1960, der allerdings nur bedingt zur taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung gezählt werden kann, und der Peng Mingmin-Vorfall von 1964 – finden sich jedoch keine Hinweise darauf, dass ein revolutionärer Sturz des Regimes anvisiert worden wäre. Mit dem Beginn der Dangwai-Periode in den 70er Jahren war das militante Element, das die Unabhängigkeitsbewegung im Ausland bis zu deren Ende im Jahr 1986 prägte, auf Taiwan jedoch vollkommen verschwunden. Die Aktivisten der politischen Opposition strebten eine Reform des Systems ausschließlich mit friedlichen Mitteln an. Dies gilt auch für den Meilidao-Vorfall von 1979 und den radikalen Xin chaoliu-Flügel der Opposition, der seit 1982 eine „Reform des Systems“ unter Einbeziehung von rechtswidrigen (aber nicht gewalttätigen) Mitteln forderte. Wenngleich die Unabhängigkeitsbewegung auf Taiwan – die nur zum Teil mit der Oppositionsbewegung identisch war – in ihrer Zielsetzung, also der Beseitigung des autoritären und auf Kriegsrecht begründeten KMT-Regimes, mit den militanten Bewegungen im Ausland konform ging, spielte das Element der Gewalt nie eine Rolle. In diesem Kampf gegen das KMT-Regime kam dem 228-Aufstand eine große Bedeutung zu, die sich mit dem „Zweiten 228-Vorfall“ von 1980, den Morden an den Familienangehörigen des Lin Yixiong, noch zusätzlich steigerte. Die große Wirksamkeit des Aufstandes als einer gegen die KMT gerichteten politischen Waffe ergab sich aus seiner unmittelbaren Plausibilität: Zweifellos war die KMT in der Tat in vollem Umfang für die Massaker des Jahres 1947 haftbar zu machen. Die große Bedeutung, die dem 228Aufstand von Seiten der Unabhängigkeitsbewegung zugemessen wurde, ließ sich im Frühjahr 1980 beobachten, als eine Allianz der Unabhängigkeitsgruppierungen im Ausland eine Gleichsetzung zwischen 228-Aufstand und Meilidao-Vorfall vornahm und damit der erneuten Debatte über den 228-Aufstand in Taiwan Vorschub leistete. Auf Taiwan konnten die Dangwai-Zeitschriften mit ihrer Berichterstattung über den 228-Aufstand und den bewusst provozierten Reaktionen der Zensurbehörden zudem ein Zeichen für ihr Ringen um freie Meinungsäußerung setzen. Im Verlauf der 90er Jahre kam der Kampf gegen die autoritäre Herrschaft des KMTRegimes zu einem siegreichen Ende. Im Zuge der politischen Demokratisierung gab die KMT ihre Ein-Parteien-Herrschaft auf und begnügte sich mit der Rolle einer normalen Partei, die den demokratischen Wettstreit mit anderen Parteien annahm. Wichtige Schritte auf diesem Weg waren die Gründung der DPP im Jahre 1986, die Aufhebung des Kriegsrechtes und des Verbotes von Parteigründungen im Jahr 1987, und die kompletten Neuwahlen der zentralen Vertretungsorgane sowie die Abschaffung des Strafparagraphen 100 in den Jahren 1991/1992. Spätestens seit den ersten freien Präsidentschaftswahlen im Jahr 1117
Interview mit Xie Congmin am 31.3.04.
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1996 lässt sich eine Fremdbestimmung Taiwans nicht länger behaupten. Im engeren Sinne hatte die Unabhängigkeitsbewegung damit ihr Ziel erreicht. Der faktisch souveräne Status Taiwans wurde auch von der DPP eingeräumt, die in der zweiten Hälfte der 90er Jahre eine „friedliche Eroberung“ der ROC von Innen vornahm. Diese hatte sich bereits in den 70er Jahren angedeutet, als sich in den Zeitschriften der Dangwai eine weitgehende Gleichsetzung der Begriffe „Staat“ „Heimat“ und „Mitbürger“ „18 Millionen Einwohner Taiwans“ vorgenommen wurde. In der zweiten Hälfte der 90er Jahre kam dieser Prozess, der sich in den Parteitagsbeschlüssen der DPP zum angestrebten „defensiven Referendum“ über die staatliche Unabhängigkeit und der Akzeptanz und aktiven Bejahung des Status Quo niederschlug, nun zu einem vorläufigen Abschluss. Im selben Maße, wie sich die KMT als Gegner der Unabhängigkeitsbewegung auflöste, wurde auch der 228-Aufstand als Waffe im politischen Kampf zunehmend unbrauchbar. Durch ihre Zugeständnisse an die Forderungen der 228-Bewegung und die weitgehende (wenngleich nach Ansicht vieler Kritiker ungenügende) Aufarbeitung des 228-Aufstandes in den Jahren 1990-1997 war es der KMT gelungen, sich aus ihrer historischen Verantwortung für den 228-Aufstand zu lösen und seit 1992, verstärkt seit 1995, sogar eine aktive Rolle im 228-Gedenken für sich zu reklamieren. Seit Mitte der neunziger Jahre erfolgte daher die bislang letzte Neufassung des Feindbildes der Unabhängigkeitsbewegung und damit verbunden eine Neuinterpretation des 228Aufstandes: Der Aufstand als politische Waffe gegen die Wiedervereinigungsansprüche der VRCh. In der spektakulären 228-Gedenkveranstaltung des Jahres 2004 kam dieser Interpretation eine tragende Rolle zu. Der 228-Aufstand wird nunmehr beschrieben als das tragische Ergebnis einer erzwungenen und übereilten Vereinigung zweier unterschiedlicher gesellschaftlicher Systeme. Der Terminus „Zweiter 228-Aufstand“, der im Verlauf der letzten Jahrzehnte mehrmals auf politische Vorfälle Anwendung fand, wird somit auf ein mögliches zukünftiges Szenario gewendet, das eine bewaffnete Konfrontation zwischen Taiwan und dem chinesischen Festland unterstellt. Die Bedingungen der Jahre 1945-1947 werden auf die aktuellen Verhältnisse übertragen: Auf der einen Seite wird das demokratische und fortschrittliche Taiwan skizziert, das von einem aggressiven, autoritären, kulturell andersartigen und (so wird implizit unterstellt) minderwertigem Festland bedroht wird. Die historische Lehre des 228-Aufstandes müsse daher sein, die Werte einer fortschrittlichen und demokratischen Gesellschaft zu erkennen und die faktische Eigenstaatlichkeit der Insel zu verteidigen.
10.2.2 Der 228-Aufstand und die Entwicklung des taiwanesischen Nationalismus 10.2.2.1 Der primordiale Ansatz der frühen Unabhängigkeitsbewegung In der frühen Phase der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung in Japan war der Vorgang der Grenzsetzung bei der Konstruktion einer eigenen nationalen Gruppenidentität, der sich in Abgrenzung zu den Festländern vollzog, vergleichsweise direkt und unkompliziert. Gemäß der „Theorie des Mischblutes“ von Liao Wenyi wurde die taiwanesische Nation über ethnische, kulturelle und linguistische Merkmale definiert; die qualifizierten Mitglieder der taiwanesischen Nation waren daher leicht von ihrem „chinesischen“ Gegenüber – den Festländern auf Taiwan und Sprecher des Hochchinesischen – zu unterscheiden, die als
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Zusammenfassung und Ausblick
fremde und kulturell minderwertige Ethnie betrachtet wurden. Diese Konstruktion einer ethnisch gefassten nationalen Identität ist in der Geschichte der nationalen Bewegungen eine häufig zu beobachtende Erscheinung. Es ist jedoch auffällig, dass der Begriff der Ethnie selbst unscharf ist; einige Autoren, wie etwa Paul Brass, vertreten die Ansicht, dass Ethnien letztlich künstliche Gebilde seien: […] ethnicity and nationalism are not “givens”, but are social and political constructions. They are creation of elites, who draw upon, distort, and sometimes fabricate materials from the cultures of the groups they wish to represent in order to protect their well-being or existence or to gain political and economic advantage for their groups as well as for themselves. 1118
Trotz oder gerade wegen dieser Unschärfe eignet sich der Rückgriff auf eine ethnisch gefasste Identität jedoch als Instrument zur Abgrenzung und Mobilisierung der eigenen Gruppe gegenüber einem wahrgenommenen Widersacher. So betont etwa Eric Hobsbawm: „[T]here is no more effective way of bonding together the disparate sections of restless peoples than to unite them against outsiders […] ethnicity can mobilize the vast majority of its community – provided its appeal remains sufficiently vague or irrelevant.”1119 Für die frühe taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung in Japan diente die Konstruktion einer eigenständigen, über gemeinsame Blutsbande konzipierten ethnischen Identität als Korrelat und Gegenentwurf zu dem großchinesischen und ebenfalls ethnisch gefassten Han-Nationalismus des KMT-Regimes. Dieser bestimmte die nationale Identität der Taiwanesen als Teil der chinesischen Nation, als „Nachfahren des Gelben Kaisers“, worauf letztlich der Herrschaftsanspruch des Regimes beruhte. Die „Theorie des Mischblutes“ bot der Unabhängigkeitsbewegung die Möglichkeit zur Verbreitung eines simplifizierenden und leicht zu verinnerlichenden Feindbildes: Die fehlgeschlagene „228-Revolution“ konnte als Beweis für die Inkompatibilität dieser ethnisch verschiedenen Antagonisten und als brutaler Unterwerfungskrieg durch das kulturell minderwertige chinesische Volk skizziert werden. Für die Aktivisten dieser frühen Periode waren die Erinnerungen an die Massaker des Militärs noch in deutlicher Erinnerung; der Appell an eine Vertreibung der Festländer durch einen „zweiten 228-Aufstand“ richtete sich daher an das Gerechtigkeitsgefühl und den Wunsch nach Rache. Hinzu kam, dass Taiwan in dieser frühen Periode (in den 50er und 60er Jahren) unter dem strengen Joch des „Weißen Terrors“ stand, der politische Dissidenten zu Hunderten einkerkerte oder exekutierte. Angesichts des autoritären, von Festländern dominierten Regimes der KMT, das Wahlen auf nationaler Ebene verweigerte, waren sowohl die Heteronomie Taiwans als auch die Ungleichwertigkeit der gebürtigen Taiwanesen in der politischen Sphäre unbestreitbare Fakten. Das vereinfachende Feindbild, das die Festländer als unversöhnliche Gegner der Taiwanesen beschrieb, präsentierte sich daher oberflächlich im Einklang mit den politischen Realitäten dieser Zeit. Als wichtigstes Unterscheidungsmerkmal diente die Sprache – bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang das Bemühen der frühen taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung, eine eigene, romanisierte Schriftsprache des Taiwanesischen zu etablieren. Wie beschrieben, war bereits vor und während des 228-Aufstandes die Sprache das Kriterium, dem in der Unterscheidung und der damit verbundenen Diskriminierung zwischen gebürtigen Taiwanesen und Festländern die größte Bedeutung zukam. Die Konstruktion einer 1118 1119
Brass 1991: 8. Hobsbawm 1990: 91, 161.
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Gruppenidentität anhand von kulturellen und linguistischen Unterscheidungskriterien betraf jedoch nicht nur die gebürtigen Taiwanesen und Sprecher des Minnanyu. Stéphane Corcuff wies darauf hin, dass der Terminus „Festländer“, der in Taiwan üblicherweise für die Kennzeichnung der nach 1945 zugewanderten Festlandchinesen verwendet wird, eine spezifisch taiwanesische Wortschöpfung darstellt, die in der Volksrepublik China nur sehr selten Verwendung findet. Als eigenständige ethnische Kategorie traten Festländer erst durch die politischen Verhältnisse auf Taiwan nach 1945 in Erscheinung. Der Terminus „Festländer“ bezeichnet eine durchaus heterogene Gruppe, deren Mitglieder aus den verschiedensten Provinzen Chinas stammen und die unterschiedliche chinesische Sprachen und Dialekte sprechen. Durch die Politik der erzwungenen „Mandarinisierung“, mit der Mandarin als verbindliche Hochsprache eingeführt wurde, waren Festländer, sofern sie nicht aus der Gegend um Peking stammten, ebenso wie gebürtige Taiwanesen zum Erlernen einer fremden Sprache genötigt. Ein ähnlicher Einwand lässt sich gegen den kollektiven Terminus „Ureinwohner“ vorbringen, mit dem eine Vielzahl unterschiedlicher Stämme1120 mit jeweils eigenen, wechselseitig nicht verständlichen Sprachen unter einer ethnischen Kategorie subsumiert wurden. In beiden Fällen (sowohl den „Festländern“ als auch den „Ureinwohner“) gilt, dass die Schaffung einer kollektiven Identität erst durch die Interaktion mit der Umwelt möglich und notwendig wurde. Bei den Ureinwohnern setzte dieser Prozess verstärkt unter der japanischen Kolonialverwaltung ein, bei den Festländern hingegen seit 1945. Erst durch die Konfrontation mit anderen Gruppen und die Erfahrung, als einheitliche Gruppe behandelt zu werden, wurden die Konturen einer eigenen Gruppenidentität deutlich, und zwar unabhängig davon, wie heterogen sich die Gruppe in ihrem Inneren zusammensetzte oder wie unplausibel die Identitätsmarker (vor allem Sprache) erscheinen mochten. Die ethnische Differenzierung zwischen „Taiwanesen“, „Ureinwohnern“, „Festländern“ und „Hakka“ ist daher alles andere als selbsterklärend und offensichtlich. Der von Liao Wenyi vertretene Anspruch einer eigenständigen taiwanesischen Blutsverwandtschaft, letztlich also einer taiwanesischen „Rasse“, die sich durch Zwischenheirat verschiedener Volksgruppen im Verlauf von vier Jahrhunderten herausgebildet habe, wird von Seiten der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung bis heute nicht vollständig aufgegeben. So wird etwa geltend gemacht, dass die Insel insbesondere seit dem 16. Jahrhundert von Siedlerpopulationen bevölkert worden sei, die größtenteils aus männlichen Mitgliedern bestanden und deshalb auf eine Vermischung mit den ortsansässigen Ureinwohnern angewiesen waren. So äußerte sich Herr Lin Yufa von der TIP gegenüber dem Autor: Von den 100.000 chinesischen Soldaten, die Koxinga [im 17. Jahrhundert] angeblich vom Festland nach Taiwan brachte, hatten die meisten keine Frauen. Also haben sie sich unter den Ureinwohnern Frauen gesucht […] von den 100.000 Soldaten haben vielleicht 10.000 eine Familie gegründet, und deren Nachfahren haben sich ihrerseits mit den Ureinwohnern vermischt. Die Gene der Ureinwohner nahmen [prozentual] immer mehr zu, man näherte sich genetisch immer mehr den Ureinwohnern an. Heute liegt der Anteil der Ureinwohner-Gene bei den meisten Taiwanesen vielleicht bei 85%. Kann man da noch sagen, dass sie aus China stammen? […] Man hat den Ureinwohnern früher einfach chinesische Namen verpasst. Meine Vorfahren waren zum Beispiel Ureinwohner des Flachlandes. Sie haben vermutlich in der Nähe eines 1120 Die Unterteilung der Ureinwohnerstämme auf Taiwan ist nicht einheitlich, die diesbezüglichen Angaben reichen von neun bis zwölf Stämme.
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Zusammenfassung und Ausblick Waldes gewohnt, daher hat man ihnen einfach den chinesischen Namen Lin [chin.: Wald] gegeben. Und jetzt könnte man meinen, dass meine Vorfahren aus dem Festland stammen, aus der Gegend um Xihe etwa, wo der Name Lin besonders häufig vorkommt.1121
Von Seiten der modernen Genforschung fand der Anspruch auf eine ethnische Eigenständigkeit der Taiwanesen Bestätigung. Professor Lin Mali (Marie Lin), die das Institut für Immunhämatologie am Mackay Memorial Hospital in Jilong leitet und die als anerkannte Expertin auf dem Gebiet der Genforschung gilt, beschäftigt sich in ihrer Forschung mit der Zusammensetzung des taiwanesischen Genpools. Die Studien von Professor Lin konnten den Nachweis erbringen, dass die Mehrzahl der gebürtigen Taiwanesen in der Tat nicht als Angehörige der Han-Ethnie zu betrachten sind. Die frühen Einwanderer vom chinesischen Festland, die sich seit dem 17. Jahrhundert vermehrt auf Taiwan niederließen, waren Angehörige des Yueh-Volkes, das in den südlichen Küstenregionen Chinas siedelte. Das Yueh-Volk, Vorläufer der heutigen Vietnamesen, sei erst zu einem historisch relativ späten Zeitpunkt von den Han kulturell assimiliert worden. […] our studies correspond with the historical fact that the „Taiwanese“ are the descendants of the southeast coastal indigenous population (Yueh) of China and should therefore not be considered as descendants of „pure” northern Han Chinese.1122
Die Frage hingegen, in welchem Umfang eine Vermischung dieser frühen Yueh-Siedler mit den Ureinwohnern Taiwans stattgefunden und sich im Genpool niedergeschlagen habe, ist nicht schlüssig zu beantworten. Wie Professor Lin in einem Gespräch mit dem Autor erläuterte, stünde die diesbezügliche Forschung vor der Schwierigkeit, dass zahlreiche Flachland-Stämme bereits ausgestorben seien, so dass keine genetischen Untersuchungen durchgeführt werden konnten. Der genetische Einfluss der Ureinwohner, der die Taiwanesen nicht nur von der Han-Ethnie Nordchinas, sondern auch von der Yueh-Ethnie der südchinesischen Küstenregionen unterscheidet und damit erst einen eigentlich „taiwanesischen“ Genpool begründet, sei jedoch auf mindestens 13% (und eventuell wesentlich mehr) zu veranschlagen.1123 Wenngleich also auch die neuere Genforschung den Schluss zulässt, dass gebürtige Taiwanesen tatsächlich in genetischer Hinsicht von Chinesen (und damit auch den Festländern auf Taiwan) unterschieden werden können, so spielt dieser mögliche Unterschied in der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung und der politischen Debatte um die nationalen Identität heute praktisch keine Rolle mehr. 1124 So schreibt etwa Shi Zhengfeng, ein führendes Mitglied der WUFI: 1121
Interview mit Lin Yufa (TIP) am 24.5.03. Lin Marie 2003: 4. Es sollte betont werden, dass Dr. Lin Mali ihre Forschung keineswegs in den Kontext der nationalen Debatte auf Taiwan stellt. Wie Dr. Lin dem Autor lächelnd erklärte, sei sie selbst, wenngleich überzeugte Befürworterin der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung, halb Japanerin. 1124 Eine besondere Betonung der ethnischen Eigenständigkeit der Taiwanesen im Hinblick auf Gründung eines unabhängigen Staates wird heute allenfalls von dem radikalsten Rand der Unabhängigkeitsbewegung geltend gemacht. In einem Beitrag von Shen Jiande wurde hierbei der 228-Aufstand sogar als Beleg angeführt: „Im Jahr 1947 haben die chinesischen Soldaten Maschinengewehre auf Militärfahrzeuge und Busse montiert und willkürlich Taiwanesen ermordet; dies beweist, dass die Chinesen den Plan verfolgten, die Taiwanesen auszurotten. Wenn [Chinesen und Taiwanesen] wirklich der gleichen Rasse angehörten, wie hätten sie dann [eine solche Gräueltat] übers Herz bringen können?“ Shen Jiande 2003: 13f. Dieser radikalen und im politisch abwertenden 1122 1123
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Wenn die Taiwanesen tatsächlich Nachkommen des Yueh-Volkes und/oder der Ureinwohnerstämme des Flachlandes sind, […] sollten wir dann etwa wegen dieser Blutsbande gemeinsam mit Fukien, Kanton und den südchinesischen Küstengebieten einen gemeinsamen Staat gründen? Sollten wir etwa zu Vietnam, das auch zum Yueh-Volk gehört, einen engeren Kontakt suchen? Wir können nicht umhin, die Frage zu beantworten: Haben die Festländer, die nach dem Krieg nach Taiwan kamen und keinen [genetischen] Anteil an den Ureinwohnerstämmen des Flachlandes vorweisen können, etwa nicht die Möglichkeit, die nationale Identität der Taiwanesen anzunehmen? 1125
10.2.2.2 Der zivile Nationalismus als Basis der strategischen Partnerschaft Das auf ethnischen Differenzen beruhende Nationalismuskonzept des Liao Wenyi kam in Kreisen der Unabhängigkeitsbewegung bereits zu einem sehr frühen Zeitpunkt unter Druck. Spätestens seit Mitte der 60er Jahre wurde es allmählich von einem „zivilen“ Nationalismuskonzept ersetzt, dessen erste fundierte Ausformung sich bei Wang Yude findet und das spätestens seit Beginn der amerikanischen Periode der Unabhängigkeitsbewegung nach 1970 die nationale Debatte dominierte. Kernstück dieses Modells war eine neue Referenzgrundlage der nationalen Identität, die die Zugehörigkeit zur taiwanesischen Nation nicht länger von objektiven ethnischen Charakteristika abhängig machte, sondern stattdessen das individuelle Bekenntnis zu Taiwan in den Mittelpunkt stellte. Diese Neupositionierung erlaubte es prinzipiell, die Abgrenzung gegenüber den Festländern auf Taiwan aufzugeben und eine Integration der Festländer in dem Kampf um nationale Unabhängigkeit zu propagieren. Bis heute wird dieses subjektive Bekenntnis von allen Akteuren der Unabhängigkeitsbewegung als maßgebliche Größe der nationalen Zugehörigkeit anerkannt. So äußerten sich Vertreter der TIP in einem Gespräch mit dem Autor: Auf Taiwan gibt es heutzutage keine Probleme mehr zwischen den Volksgruppen, das Problem auf Taiwan ist die Identifikation mit dem Staat […] Jeder, der seine Wurzeln in Taiwan hat und [hier] leben möchte, sollte sich für Taiwan einsetzen, dann ist es egal, woher er [oder] seine Vorfahren [ursprünglich] stammten. Wer sich mit Taiwan identifiziert und Taiwan liebt, der ist Taiwanese, das steht ganz außer Zweifel. 1126
Dies soll jedoch nicht bedeuten, dass die Existenz unterschiedlicher Volksgruppen mit teilweise divergierenden Interessen geleugnet oder für irrelevant erklärt worden wäre. Allein die politischen Realitäten auf Taiwan ließen einen solchen Schritt nicht zu: Wenngleich die klare Trennung in festlandchinesische „Herrscher“ und taiwanesische „Beherrschte“, die zur Hochphase des Weißen Terrors plausibel erscheinen mochte, seit Beginn der 70er Jahre allmählich an Schärfe verlor, so blieb doch die unbestreitbare Tatsache der politischen Fremdbestimmung Taiwans, wie sie sich in dem „Ewigen Parlament“ der KMT manifestierte, bis zum Beginn der politischen Liberalisierung unverändert bestehen. Für die taiwanesische Unabhängigkeitsbewegung war es daher lange Zeit kaum möglich, ein nationales Konzept zu erarbeiten, das eine echte Verschmelzung der Volksgruppen und eine Sinne als rassistisch zu bezeichnenden Randgruppe kommt jedoch in der modernen Unabhängigkeitsbewegung keinerlei maßgebliche Bedeutung zu. 1125 Shi Zhengfeng 2003: 54. 1126 Interview mit Lin Yufa (TIP) am 24.5.03.
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Zusammenfassung und Ausblick
Auflösung der ethnischen Differenzen in einem umfassenden nationalen Bezugsrahmen erlaubt hätte. Das angestrebte Ziel lässt sich wohl eher mit dem Konzept einer strategischen und gleichberechtigten Partnerschaft zwischen den Volksgruppen beschreiben, auf dessen Grundlage der Kampf gegen den politischen Gegner (in dieser Phase vor allem das KMTRegime, erst in zweiter Linie die VRCh) erfolgreich geführt werden konnte. Im Zuge dieser Neuorientierung unternahm die Unabhängigkeitsbewegung seit Beginn der 70er Jahre den Versuch, eine radikale Neuinterpretation des 228-Aufstandes zu erarbeiten, die diesem integrativen Ansatz gerecht werden konnte. Der 228-Aufstand wurde nicht länger als Vorbild für einen erneuten gewaltsamen Aufstand gegen die chinesischen „Fremdherrscher“, begriffen; im Gegenteil bestand das erklärte Ziel nunmehr darin, den Festländern auf Taiwan die Furcht vor einer Wiederholung der Ereignisse des Jahres 1947 und einer „Rache“ der Taiwanesen zu nehmen. Die Verantwortung für die Massaker des Aufstandes wurde allein dem autoritären KMT-Regime zugewiesen und erstmals eingestanden, dass auch zahlreiche Festländer zu Opfern der Ausschreitungen geworden waren. Die Frontstellung des 228-Aufstandes wurde damit in einer Weise neu gezeichnet, so dass sie eine Deckungsgleichheit mit dem strategischen Anliegen der Unabhängigkeitsbewegung herstellte: Die „Täter“ des autoritären KMT-Regimes gegen die „Opfer“ der großen Masse der taiwanesischen Bevölkerung – einschließlich der damals auf der Insel wohnhaften Festländer. Diese Neuinterpretation war jedoch mit einigen gravierenden Problemen behaftet. Zum einen ergab sich ein diametraler und nur schwer zu überbrückender Gegensatz zur Propaganda der vorangegangenen Periode, die einen „Zweiten 228-Aufstand“ und eine Vertreibung der Festländer als erklärtes Ziel der Bewegung propagiert hatte und die nun grundsätzlich revidiert werden musste. Zum anderen wurde die Interpretation des 228Aufstandes nunmehr von einem passiven strategischen Motiv geprägt, das die Möglichkeit einer harmonischen Koexistenz der gebürtigen Taiwanesen und Festländer nicht wegen, sondern trotz des 228-Aufstanders unterstellte. Im Kontext der nationalen Debatte verlor der 228-Aufstand seine frühere herausragende Bedeutung, da er sich nicht länger aktiv als Grenzmarker zum wahrgenommenen Feind und als bindendes Element der eigenen Gruppe instrumentalisieren ließ. Die Glorifizierung des Aufstandes, die die Unabhängigkeitsbewegung der japanischen Periode geprägt hatte, wich zunehmend dem Bestreben, die Konfrontationen zwischen Taiwanesen und Festländer als tragisches Unglück zu klassifizieren. Es erwies sich zudem, dass das von der Unabhängigkeitsbewegung propagierte Streben einer strategischen Partnerschaft mit den Festländern im Ergebnis nicht sonderlich erfolgreich war: Bis in die 80er Jahre lässt sich keine nennenswerte Beteiligung von Festländern in der Unabhängigkeitsbewegung feststellen, erst im Jahre 1992 gründete sich mit der „Gao-Seng-Lang Association For Taiwan Independence“ 1127 (GATI) die erste Unabhängigkeitsorganisation von Festländern. In der Gründungserklärung der Organisation heißt es: Die Mitglieder unserer Organisation halten sich grundsätzlich nicht länger für „Festländer“ […] Nach dem Krieg ließen wir uns als „Neue Einwanderer“ auf Taiwan nieder oder wurden als erste Generation auf Taiwan geboren. […] Alle Volksgruppen, die Taiwan als ihre „Wurzel“ betrachten (sowohl die Ureinwohner als auch die frühen und späteren Einwanderer) sollten auf 1127
Chinesischer Name: Waishengren Taiwan duli xiejinhui ཆⴱӪ⦘・䙢ᴳ. Der Terminus „Gao-SengLang“ ist eine Lautumschrift des taiwanesischen Begriffes „Festländer“ (Waishengren).
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Grundlage des gegenseitigen Respekts, der Toleranz und des gegenseitigen Verständnisses gemeinsam zu der Erkenntnis gelangen, dass wir das gleiche Schicksal teilen Wir müssen erkennen, dass wir alle gleichermaßen bedroht sind, und die größte Bedrohung für Taiwan ist heute nicht die militärische Drohung des Festlandes, sondern [sie geht] von solchen Leuten [aus], die sich zwar mit Taiwan identifizieren, aber trotzdem China als ihr Vaterland betrachten.1128
Wenngleich die Gründung der GATI als bemerkenswerter und mutiger 1129 Schritt zu würdigen ist, bleibt die Organisation eine Randerscheinung und kann nicht als typisch für das Verhältnis der verschiedenen Volksgruppen zur Frage der nationalen Identifikation betrachtet werden.
10.2.2.3 Der 228-Aufstand und der „Neuen Taiwanese“ In der zweiten Hälfte der 90er Jahre wurde von Seiten der Politik ein neues nationales Konzept entwickelt, dass sich dem Problem der nationalen Identität in einem Staat mit unterschiedlichen ethnischen Volksgruppen stellt und das als „Neuer Taiwanese” 1130 bezeichnet wird. Li Denghui, der allgemein als Schöpfer dieses Modells betrachtet wird, schrieb hierzu in seinem 1999 erschienenen Buch „Das Taiwan-Plädoyer“: Heute, da wir dem 21. Jahrhundert entgegenblicken, müssen wir der der historischen Entwicklung Taiwans besondere Aufmerksamkeit schenken. Seit Jahrhunderten hat Taiwan zahlreiche unterschiedliche Volksgruppen in sich aufgenommen, viele unterschiedliche Kulturen haben sich hier vermischt und zu der Entwicklung eines modernen und aufgeklärten Staates geführt […] Der „Neue Taiwanese“ wurde nicht plötzlich geboren, sondern ist die Errungenschaft einer historischen Agglomeration.1131
Die Vorstellung des „Neuen Taiwanesen“ befindet sich in der Tradition des von der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung propagierten Modells eines „zivilen Nationalismus“, der bereits 30 Jahre zuvor von Wang Yude formuliert wurde und der das individuelle Bekenntnis zu Taiwan als einzig maßgebliches Kriterium der nationalen Zugehörigkeit beschreibt. Ebenso wie bei Wang Yude werden ethnische und kulturelle Differenzen zwischen den verschiedenen Volksgruppen zwar nicht negiert, jedoch für die Frage der nationalen Identifikation als irrelevant betrachtet. Allen Volksgruppen steht es frei, sich mit der ausschließlich politisch verstandenen taiwanesischen Nation zu identifizieren. Der große 1128
Waishengren Taiwan duli xiejinhui 1992: 27. Im Zuge der Forschungsarbeit hatte der Autor Gelegenheit zu einem Gespräch mit Frau Lin Licai, Witwe des 1999 verstorbenen Gründers der GATI Liao Zhongshan. Frau Lin beschrieb, dass die Mitglieder der GATI oftmals schweren Anfeindungen ausgesetzt waren: „Viele Festländer beschimpften meinen Mann [Liao Zhongshan] auf übelste Weise und nannten ihn einen Verräter. Sie waren eben der Ansicht, dass sie Chinesen seien und keine Taiwanesen“. Interview mit Lin Licai am 3.9.03. Der Vater von Frau Lin wurde im Zuge des 228-Aufstandes in Gaoxiong getötet, seit Beginn der 90er Jahre engagierte sich Frau Lin in 228-Opferverbänden und strebte eine Klage gegen General Peng Mengqi an (vgl. 9.2.2.5.). Für ihren Ehemann Liao Zongshan war die Auseinandersetzung mit dem 228-Aufstand ein wichtiger Impuls für sein Engagement in der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung. Die GATI, die zu keinem Zeitpunkt über mehr als 200 Mitglieder verfügte, ist in den letzten Jahren nur noch selten in Erscheinung getreten. Für eine Sammlung der Schriften und Artikel des Liao Zhongshan siehe Liao Zhongshan 1998. 1130 Xin Taiwanren ᯠਠ⚓Ӫ 1131 Li Denghui 1999a: 265f. 1129
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Zusammenfassung und Ausblick
Fortschritt im Vergleich zu Wang Yude besteht hinsichtlich der politischen Realisierbarkeit dieses Konzeptes: Seit der Demokratisierung Taiwans lässt sich die Behauptung einer Ungleichbehandlung und Diskriminierung von bestimmten Volksgruppen nicht länger vertreten. Da die Machtstruktur der autoritären KMT-Herrschaft, die bis zum Ende der 80er Jahre eine klare Bevorzugung der Festländer im politischen Feld implizierte, nicht länger existiert, besteht auch keine zwingende Notwendigkeit mehr, unterschiedliche Interessenlagen der verschiedenen Volksgruppen im internen politischen Machtgefüge zu unterstellen. Mit der Errichtung eines demokratischen Systems, das die politische Chancengleichheit, unabhängig von ethnischen Charakteristika, sicherstellt, wurde ein nationales Modell eröffnet, das nicht nur alle Volksgruppen, sondern auch alle politischen Lager auf Taiwan integrieren kann und das sich im Einklang mit den politischen Gegebenheiten auf Taiwan befindet. Das Modell des „Neuen Taiwanesen“ ist jedoch problematisch. Fraglich ist, inwieweit dieses nationale Konzept in der Tat den Realitäten auf Taiwan gerecht wird, d.h. inwieweit die nationale Identifikation mit Taiwan – in Abgrenzung zu einer chinesisch gefassten Selbstwahrnehmung – allgemein Verbreitung gefunden hat. Seit Beginn der 90er Jahre ist die Frage der nationalen Identifikation der Bewohner Taiwans zu einem der dominierenden Themen der taiwanesischen Sozialwissenschaften aufgerückt. In verschiedenen Umfragen wurde ermittelt, ob die Mehrheit der taiwanesischen Bevölkerung ihre nationale Identität als „chinesisch“ oder „taiwanesisch“ empfindet. Die Ergebnisse dieser Umfragen 1132 lassen einen eindeutigen Wandel zu Gunsten einer „taiwanesischen“ Identität erkennen, wie ein Artikel in der Zeitschrift Issues and Studies kommentierte: [...] Taiwan people have shown a clear tendency to move from having a Chinese identity towards exhibiting a Taiwanese identity. Our data indicate that regardless of ethnic background, age, educational level, gender, and partisan identity, the Taiwan people’s Chinese identity ratio declined while their Taiwanese identity rose sharply. 1133
Dieser Identitätswandel vollzog sich jedoch nicht bei allen Volksgruppen in gleichem Maße. Nach wie vor lässt sich feststellen, dass Festländer einer Identifikation mit Taiwan tendenziell ablehnend gegenüberstehen. Prof. Wu Naide, der sich in seiner Forschung mit diesem Phänomen beschäftigt, erläuterte hierzu gegenüber dem Autor: Viele Festländer unterscheiden in ihrer Identifikation zwischen Gesellschaft und Politik. In gesellschaftlicher Hinsicht ist die Trennung nicht mehr so klar. Viele Festländer heiraten [gebürtige] Taiwanesen oder haben [dort] ihren Freundeskreis. Aber in der Politik herrschen immer noch viele Stereotypen vor. […] Außerdem heiraten Festländer immer noch eher untereinander. Ich denke nicht, dass dieser Unterschied in naher Zukunft verschwinden wird. Auch in der dritten und vierten Generation kann man Festländer noch deutlich unterscheiden.1134 1132
Die Ergebnisse dieser Umfragen weisen einige Parallelen zu Umfragen über die Präferenzen für die zukünftige Entwicklung zwischen Taiwan und dem Festland (vgl. 9.1.4.4.) auf. Neben der relativ weiten prozentualen Streuung der Antworten bei verschiedenen Umfragen ist auffällig, dass die Mehrzahl der Befragten eine klare Alternative vermeidet und stattdessen die interpretationsbedürftige Formulierung „Sowohl Taiwanese als auch Chinese“ zur Beschreibung der eigenen nationalen Identität bevorzugt. Trotz dieser Einschränkung lässt sich langfristig ein deutlicher Wandel zu Gunsten einer „taiwanesischen“ Identität erkennen. Für eine vergleichende Darstellung von verschiedenen Umfragen der Jahre 1990-2000 siehe http://www.mac.gov.tw/big5/mlpolicy/pos/9001/table 12.htm 1133 Liu/Ho 1999: 33. 1134 Interview mit Wu Naide am 2.3.04. An anderer Stelle beklagte Prof. Wu die immer noch anzutreffenden Feindseligkeiten zwischen Festländern und gebürtigen Taiwanesen, die jedoch nicht immer gerechtfertigt seien:
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Das Modell des „Neuen Taiwanesen“, eine alle ethnischen Differenzen transzendierende Identifikation mit Taiwan, wird bis heute nur von einem Teil der Bevölkerung vertreten. Nach wie vor ist eine große Zahl von Taiwanesen nicht bereit, ihre Identifikation mit China aufzugeben oder hinter eine taiwanesisch bestimmte Selbstwahrnehmung zurücktreten zu lassen. So schrieb Stéphane Corcuff: The idea of a New Taiwanese people is definitely political. Any claim that this would already designate the new reality of Taiwan would be exaggerated, for ethnic divisions have not yet vanished. People take the shengji wenti (the question of provincial origin) much less into consideration than before, which shows that behind political slogans, the progressive emergence of a new ethnic consciousness is real. However, the current ethnic dividing lines have not yet disappeared, and it will take many more years for them to vanish and be replaced by another divide: „we,” the Taiwanese in Taiwan, and „they,” Chinese in China. 1135
Eine weitere Fragwürdigkeit des „Neuen Taiwanesen“ lässt sich hinsichtlich der politischen Instrumentalisierung dieses Konzeptes geltend machen. Insbesondere von Seiten der Unabhängigkeitsbefürworter wird die Vermischung der unterschiedlichen Volksgruppen und Kulturen als eine historische Notwendigkeit beschrieben, die sich jenseits der subjektiven Erkenntnis des Individuums zwingend vollzieht. Die Existenz einer taiwanesischen „Schicksalsgemeinschaft“, die alle Bewohner Taiwans einschließt, wird als unbestreitbares Faktum vorausgesetzt – mit Gültigkeit auch für diejenigen, die diese Schicksalsgemeinschaft ablehnen und eine Wiedervereinigung mit dem Festland wünschen. Das subjektive Bekenntnis wird quasi an einem absoluten Maßstab gemessen und in ein „richtiges“, Taiwan bejahendes, und „falsches“ Bekenntnis unterteilt, das Taiwan nur in einem gesamtchinesischen Bezugsrahmen gelten lässt. In gewisser Weise lässt sich hier ein funktionaler Rückgriff auf die „Theorie des Mischblutes“ des Liao Wenyi feststellen: Ebenso wie die (zu diesem Zeitpunkt ethnisch gefasste) nationale Identität der (gebürtigen) Taiwanesen objektiv und unverrückbar festgelegt war, zeigt sich das Konzept des nunmehr um die Festländer erweiterten „Neuen Taiwanesen“ ebenso als schicksalhafte und unausweichliche Notwendigkeit. Von Seiten des politischen Gegners wurde den Unabhängigkeitsbefürwortern daher der Vorwurf gemacht, eine logische Folge zu erzwingen, die sich in den drei Schritten „Taiwanesische Schicksalsgemeinschaft >> Liebe zu Taiwan >> taiwanesische Unabhängigkeit“ beschreiben lässt und die allen Gegnern dieses nationalen taiwanesischen Bezugsrahmens die Liebe zur Heimat abstreitet. Auch Shi Zhengfeng von der WUFI merkte hierzu kritisch an: Wenn die ethnische Gruppe der Festländer der Ansicht ist, dass eine wichtige und unerschütterliche Wurzel ihrer ethnischen Identität darin besteht, Chinese zu sein, dann muss sich der Staat zum Schutz dieser speziellen kollektiven Identität verpflichten […] In der Wahl von nationaler Identifikation, politischen Standpunkten oder Ideologie gibt es kein Richtig und Falsch. Man kann nur fragen, ob der Wahlvorgang fair, vernünftig und friedlich ist. Wenn wir wirklich gegen
„In ‚absoluten Zahlen’ gibt es mehr gebürtige Taiwanesen, die die Ansichten der Festländer teilen. Auch sie identifizieren sich mit China, und schließen eine zukünftige Wiedervereinigung ebenfalls nicht aus. Wenngleich der prozentuale Anteil der Leute, die sich mit China identifizieren, bei Festländern vergleichsweise höher liegt (etwa bei 60%), ist die Identifikation mit China keinesfalls eine Erscheinung, die sich nur bei Festländern feststellen ließe“. Ziyou shibao, 11.11.05. 1135 Corcuff 2002b: 188.
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Zusammenfassung und Ausblick die Unterdrückung Andersdenkender sind, wie sie früher zur Zeit des Kriegsrechtes stattfand, dann dürfen wir heute nicht die Fehler der Vergangenheit wiederholen.1136
Mit der 228-Kundgebung des Jahres 2004 trat der 228-Aufstand erstmals in den Dienst dieses neuen nationalen Modells, indem der harmonisierende Aspekt einer „Heilung der Wunden“ betont wurde, die zu einer vertieften und aufgeklärten Solidarität unter den Volksgruppen und damit zu einer Konsolidierung und Verbreitung des „Neuen Taiwanesen“ beitragen könne. Der 228-Aufstand wurde beschrieben als ein einschneidendes und traumatisierendes Erlebnis, das alle Volksgruppen auf Taiwan betroffen habe und dessen Überwindung als ein Bezugspunkt des „Neuen Taiwanesen“ dienen könne – in Abgrenzung auch zu den Chinesen auf dem Festland, die diese historische Erfahrung nicht teilten. In gewisser Hinsicht wurde damit das fehlende Element der 228-Interpretation der späteren Unabhängigkeitsbewegung im Ausland, die sich in ihrem Konzept des „zivilen Nationalismus“ kaum aktiv auf den 228-Aufstand berufen konnte, nachgereicht. Dieser versöhnliche Ansatz wurde einerseits ermöglicht durch den gewachsenen zeitlichen Abstand und insbesondere durch die Tatsache, dass mit Peng Mengqi und Ke Yuanfen die letzten Täter des Aufstandes, denen eine persönliche Schuld an den Massakern angelastet werden konnte, verstorben waren. Zugleich war die weitgehende politische Beilegung und Befriedung des 228-Aufstandes, die sich in den Jahren 1990-1997 in der Erfüllung der Forderungen der 228-Bewegung manifestierte, unverzichtbare Voraussetzung für eine solch versöhnliche Interpretation: Immerhin müssen Wunden gesäubert werden, bevor sie heilen können.
10.2.3 Der 228-Gedenktag im Jahre 2004: Gefahr der parteipolitischen Instrumentalisierung? Im Jahre 2004 hatte das Gedenken an den 228-Aufstand durch die Aufsehen erregende Menschenkette der „Hand-in-Hand Kundgebung“ eine beeindruckende und unerwartete Neubelebung erfahren. Der 228-Aufstand, der in den vorangegangenen Jahren seine Bedeutung für die Anliegen der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung weitgehend eingebüßt hatte, konnte dadurch erneut zum wichtigsten Symbol des taiwanesischen Anspruches auf eine autonome und gleichberechtigte Stellung gegenüber dem Festland aufsteigen. Die jüngste Interpretation des 228-Aufstandes und seine Instrumentalisierung als politische Waffe gegenüber dem neuen Gegner der Unabhängigkeitsbewegung (der VRCh) kann jedoch nach Ansicht des Autors nicht vollkommen überzeugen. Durch die Beschreibung des 228-Aufstandes als einer verheerenden Folge eines Übergriffes des kulturell unterschiedenen und rückständigen „China“ kehrt die Unabhängigkeitsbewegung in struktureller Hinsicht zu alten Mustern der Interpretation zurück, die bereits in der Frühphase der Unabhängigkeitsbewegung dominant waren. Die Rollen in diesem Muster wurden nun jedoch neu besetzt: In der Frühphase der Unabhängigkeitsbewegung wurde der „chinesische“ Gegner für gewöhnlich nicht mit dem chinesischen Festland gleichgesetzt, sondern mit den Festländern auf Taiwan. Gleichzeitig lässt sich die Rückkehr eines starken konfrontativen Elements beobachten. Von der Unabhängigkeitsbewegung wird angeführt, dass jede Hoffnung auf eine friedliche Einigung mit dem als kulturell rückständig und minderwertig beschriebenen chinesischen Festland vergebens sei. 1136
Shi Zhengfeng 2003: 58.
Der 228-Aufstand und die Konzeption eines taiwanesischen Nationalismus
381
Ebenso wie bei der frühen taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung, die keine Alternative zu einer gewaltsamen Konfrontation mit dem „chinesischen“ Feind gesehen und daher eine „Auslöschung“ der Festländer auf Taiwan propagiert hatte (während gleichzeitig eine friedliche Verständigung mit der VRCh für möglich gehalten wurde), wird heute erneut befürchtet, dass der Antagonismus zwischen dem chinesischen Festland und Taiwan langfristig zu einem bewaffneten Konflikt führen wird. Entsprechend bestand ein Hauptanliegen der „228 Hand-in-Hand Kundgebung“ des Jahres 2004 in einem Protest gegen die zahlreichen Mittelstreckenraketen, die das Festland auf Taiwan gerichtet hält. Es ist nicht das Anliegen dieser Arbeit, das Recht Taiwans auf nationale Selbstbestimmung gegenüber dem Festland zu diskutieren oder die Befürchtungen zu marginalisieren, die viele Taiwanesen für die Zukunft und Sicherheit ihres Landes hegen und die angesichts der manifesten militärischen Bedrohung durch das Festland nur allzu verständlich erscheinen. Die Annahme, dass eine Vereinigung mit dem Festland zu einem „Zweiten 228-Aufstand“, also zu Blutvergießen und Unruhen, führen würde, mag zwar durchaus zutreffen. Dennoch bleibt fraglich, warum das „grüne Lager“ der DPP und TSU den 228Aufstand als Symbol für die Bekräftigung der taiwanesischen Eigenständigkeit gegenüber dem Festland gewählt hat. Es sollte betont werden, dass die VRCh (die erst zwei Jahre nach dem 228-Aufstand gegründet wurde), in keiner Weise für die Massaker des Jahres 1947 verantwortlich gemacht werden kann, und es besteht daher die Gefahr, dass die neue 228Interpretation zu einer Vernachlässigung historischer Fakten führen könnte. Zudem scheinen die politischen Motive des grünen Lagers mit Hinblick auf diese neue 228-Interpretation fragwürdig. In der Vergangenheit wurde die politische Instrumentalisierung des 228-Aufstandes stets aus einer Position der Schwäche vorgenommen, d.h. im Ringen mit dem übermächtigen KMT-Regime. Im Jahre 2004 hingegen wurde die Agenda des 228-Gedenkens ausschließlich von der Regierungspartei DPP bestimmt. Die „Hand-inHand Kundgebung“ wurde vollkommen von den grünen Parteifahnen der DPP dominiert, und es steht außer Zweifel, dass die Kundgebung einen wesentlichen Anteil an dem Ausgang der Präsidentschaftswahlen des Jahres 2004 trug. Es ist daher nahe liegend, die Hand-in-Hand Kundgebung und die neue 228-Interpretation in den Kontext der Wahlen des Jahres 2004 zu stellen. Wenngleich die DPP in den letzten Jahren Schritte unternommen hat, den 228-Aufstand als Symbol der taiwanesischen Selbstbestimmung zu konsolidieren (wie die Entscheidung des Präsidenten am 28.2.2006 zur Abschaffung des NUC dokumentiert), hat sich eine ähnlich medienwirksame und spektakuläre Kundgebung seitdem nicht wiederholt. Nach Ansicht des Autors mag es jedoch fragwürdig erscheinen, die Erinnerung an den 228-Aufstand für parteipolitische Interessen in einer demokratischen Gesellschaft zu reklamieren. Eine überzogene politische Vereinnahmung des 228-Aufstandes birgt die Gefahr, dass das Gedenken an den 228-Aufstand erneut zu einer Spaltung der taiwanesischen Gesellschaft führt – eine Spaltung, deren Friktionslinie nicht ethnischen Differenzen, sondern parteipolitischen Präferenzen folgt.
11 Literaturverzeichnis und Anhang
11.1 Namensregister
Name (Pinyin)
Name (chin.)
Anmerkungen
Arrigo, Linda
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Seit den 70er Jahren in der Oppositionsbewegung auf Taiwan engagiert, früher mit >Shi Mingde verheiratet.
Bai Chongxi
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Im Jahre 1947 Verteidigungsminister der ROC, besucht Taiwan vom 17.3. bis 20.4.47.
Bai Yacan
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Parteiloser Politiker, veröffentlicht im Jahre 1975 einen Katalog mit kritischen Fragen an Präsident >Jiang Jingguo. Wird daraufhin zu zehn Jahren Haft verurteilt
Bao Keyong
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Im Jahre 1947 hoher Beamter der Provinzerwaltung Taiwans, nimmt als Regierungsvertreter an erster Sitzung der „Schlichtungskommission“ (3.3.47) teil.
Cai Tongrong
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Führendes Mitglied der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung in den USA, ab 1968 Vorsitzender der UFAI. Erster Vorsitzender der WUFI (1970), zieht sich nach dem 424-Vorfall (1970) aus der WUFI zurück.
Cai Youquan
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Aktivist der Unabhängigkeitsbewegung nach 1980, im Jahre 1987 zusammen mit >Xu Zaode im Zuge des sog. „Taidu-Vorfalles“ zu langjähriger Haftstrafe verurteilt.
Chen Cheng
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Hochrangiger Militär, ab Dezember 1948 Provinzvorsteher der Provinz Taiwan. Später Premier der ROC (1950-1954 und 19581963), Vizepräsident (1960-1965).
Chen Fuzhi
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Vorsitzender der Schlichtungskommission in Jiayi (gegründet am 3.3.47). Nach Niederschlagung des 228-Aufstandes am 11.3. verhaftet und exekutiert.
Chen Guying
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Schriftsteller und Politiker, Aktivist der Oppositionsbewegung auf Taiwan. Herausgeber der Zeitschrift Gusheng (1979). Wurde der Xiachao-Gruppe der Opposition zugerechnet.
Chen Hesheng
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Im Jahre 1947 Vorsitzender des Monopolbüros Taiwan.
Chen Ju
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Aktivistin der frühen Oppositionsbewegung auf Taiwan, im Zuge des Meilidao-Vorfalles zu langjähriger Haftstrafe verurteilt. Später Engagement in der DPP, Abgeordnete der Nationalversammlung, Vorsitzende des Arbeiterausschusses des Exekutiv-Yuan (20002005)
Chen Kongda
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Nach 1945 Oberbefehlshaber der Streitkräfte auf Taiwan.
384
Literaturverzeichnis und Anhang
Chen Nantian
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Führender Aktivist der Unabhängigkeitsbewegung in den USA. Vorsitzender der USA-Zweigstelle der WUFI (1983-85), stellvertretender Vorsitzender der WUFI-Hauptstelle (seit 2005)
Chen Shuibian
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Führendes Mitglied der Oppositionsbewegung in Taiwan und Strafverteidiger in den Meilidao-Prozessen (1980). Im Zuge des Penglaidao-Vorfalles (1985) zu mehrmonatiger Haftstrafe verurteilt. 1987 Beitritt zur DPP, Abgeordneter und Fraktionsvorsitzender. 1994-1998 Bürgermeister von Taipei, 2000-2008 Präsident der ROC.
Chen Songjian
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Zur Zeit des 228-Aufstandes Polizeivorsteher von Taipei. Wird im 228-Aufstand (angeblich ohne sein Wissen) zum Vorsitzenden des Büros für Polizeiangelegenheiten der Schlichtungskommission bestimmt. Daher am 10.3.47 verhaftet.
Chen Tangshan
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Aktivist der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung in den USA. Nach 1978 Vorsitzender der taiwanesischen Heimatverbände der USA, später Vorsitzender des weltweiten Dachverbandes der taiwanesischen Heimatverbände (1979-1985). Nach 1987 Beitritt zur DPP, Vorsteher des Kreises Tainan (1993-2000). Außenminister der ROC (2004-2006), Generalsekretär des Präsidentenbüros (seit 2006).
Chen Wanzhen
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Aktivistin der Oppositionsbewegung auf Taiwan. Herausgeberin der Zeitschrift Chaoliu (1978/79), 1979 Emigration in die USA. 1988 spektakuläre heimliche Rückkehr nach Taiwan. Abgeordnete der DPP in Legislativ-Yuan (1993-1995). Nach 1996 Abgeordnete der Nationalversammlung, 1997 aus der DPP ausgeschlossen.
Chen Wencheng
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Mathematikprofessor, aktiv in der taiwanesischen Unabhängigkeitsbewegung in den USA. Wird bei einem Besuch in Taiwan im Juli 1987 von Sicherheitsbeamten verhört, kommt auf ungeklärte Weise ums Leben (Chen Wencheng-Vorfall).
Chen Wenxi
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Wird am 27.2.1947 vom Beamten des Monopolbüros tödlich verwundet, erstes Todesopfer des 228-Aufstandes.
Chen Yi
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Im Frühjahr 1947 Generalgouverneur der Provinz Taiwan. Geboren 1884 in Zhejiang. Schulische Ausbildung in Japan (19021909), Studium der Militärwissenschaften in Tokio (1917-1920). Schließt sich 1926 der KMT an. Provinzvorsteher von Fujian (1934-42), nach 1942 Generalsekretär des Exekutiv-Yuan. 1945 Ernennung zum Generalgouverneur der Provinz Taiwan. Nach dem 228-Aufstand Vorsteher der Provinz Zhejiang. Im Februar 1949 wegen des Vorwurfs des Defätismus verhaftet und am 18.6.1950 in Taipei hingerichtet.
Chen Yide
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Aktivist der frühen Unabhängigkeitsbewegung in den USA. Nach 1958 erster Vorsitzender der UFI, nach 1966 Vorsitzender der UFAI.
Chen Yingzhen
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Schriftsteller, Historiker, Aktivist der Oppositionsbewegung auf Taiwan. Wurde der Xiaochao-Fraktion zugerechnet. Löste mit seinem Artikel „Zu einem umfassenderen historischen Blickfeld“ im Jahre 1984 eine Nationalismusdebatte innerhalb der Dangwai aus.
Namensregister
385
Chen Yisong
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Während des 228-Aufstandes führendes Mitglied der Schlichtungskommission, maßgeblich an Abfassung der Satzung der Kommission beteiligt. Wird jedoch nach Niederschlagung des Aufstandes nicht behelligt. Später Mitglied des Prüfugs-Yuan, Vorstandsmitglied der Taiwan-Bank.
Chen Yongxing
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Aktivist der frühen 228-Bewegung, Mitbegründer und Vorsitzender der „Gesellschaft zur Herbeiführung eines 228-Friedenstages“ im Jahre 1987.
Chen Yude
䲣㛢ᗧġ
Aktivist der Unabhängigkeitsbewegung in Japan, Mitbegründer der Taiwan qingnian.
Chen Zhemin
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Aktivist der Unabhängigkeitsbewegung in Japan, wird 1956 nach Verhaftung seines Schwiegersohnes >Liao Shihao zur Rückkehr nach Taiwan gezwungen.
Chen Zhixiong
䲣ᘇ䳴ġ
„Außenminister“ der Exilregierung des >Liao Wenyi in Japan. 1959 von Agenten der KMT entführt und 1961 in Taiwan hingerichtet.
Chen Zhongguang
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Vorsitzender des „Ausschusses des Exekutiv-Yuan zur Erforschung des 228-Vorfalles“ (1990), Vorsitz geteilt mit >Ye Mingxun.
Chiang Kai-shek (Jiang Jieshi)
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Langjähriger Präsident der ROC und Parteivorsitzender der KMT. Nach der Niederlage der nationalchinesischen Truppen im chinesischen Bürgerkrieg und dem Rückzug der ROC auf Taiwan (1949) basierte das autoritäre Regime des Chiang Kai-shek auf dem Kriegsrecht. Nach dem Tod des Chiang Kai-shek im Jahr 1975 folgte ihm dessen Sohn >Jiang Jingguo in das Amt des Präsidenten nach.
Chuan Xuetong
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Beamter des Monopolbüros, gab am 27.2.47 den tödlichen Schuss auf Liu Yiliang (Jiang Nan), verklagt im Jahre 1984 die Regierung der ROC.
Dai Guohui
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Historiker, Aktivist der Oppositionsbewegung. Maßgeblich im Nationalismusstreit der Dangwai (1984) involviert.
Fei Xiping
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Führendes Mitglied der Oppositionsbewegung auf Taiwan, wurde dem moderaten Meilidao-Flügel der Dangwai zugerechnet. Vorsitz über den oppositionellen „Verein zum Studium der öffentlichen Politik“ (1984), Gründungsmit-glied der DPP. Im Jahr 1991 Austritt aus der DPP.
Feng Huxiang
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Philosophieprofessor and der Donghai-Universität, verklagt im Jahr 1984 Huang Xinjie auf.
Hou Dejian
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Populärer taiwanesischer Volkssänger. Emigriert 1983 in die VRCh, löst mit diesem Hou Dejian-Vorfall Nationalismusdebatte innerhalb der Dangwai aus.
Hu Fuxiang
㜑⾿ġ
Im Frühjahr 1947 hohes Mitglied der Provinzverwaltung Taiwans, Vorsteher des Büros für Polizeiangelegenheiten.
Hu Shi
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Führender Intellektueller der ROC (1819-1962). Studien-aufenthalt in den USA, Doktor der Philosophie im Jahre 1917. Botschafter der ROC in den USA (1938-42), Rektor der Qinghua-Universität (1946), Mitglied des Verfassungs-gebenden Konvents der ROC (1948), Vorsitzender der Academia Sinica (seit 1957).
Huang Chaoqin
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Im Frühjahr 1947 Vorsitzender des Konsultativrates der Provinz Taiwan, übernimmt im 228-Aufstand führende Rolle in der Schlichtungskommission. Am 8.3.47 Mitverfasser eines „Widerrufes“ der Kommission.
Huang Guoshu
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Im Frühjahr 1947 taiwanesischer Delegierter in der Nationalversammlung, führende Rolle in der Schlichtungskommission.
Huang Hua
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Politischer Oppositioneller auf Taiwan. Erstes politisches Engagement im Free China-Vorfall 1960, verurteilt zu 2 ½ Jahren Haft. Weitere Verurteilung im Zusammenhang mit dem Lin ShuiquanVorfall (1967). Nach Haftentlassung Engagement in der oppositionellen Zeitschrift Taiwan zhenglun (1975), erneute Verurteilung zu zehn Jahren Haft. Im Jahr 1990 „Präsidentschaftskandidat“ der DPP, Verurteilung zu zehn Jahren Haft. Begnadigt im Jahre 1991. Seit 2000 politischer Berater des Präsidentenbüros.
Namensregister
387
Huang Jinan
哳㌰⭧ġ
Aktivist der frühen Unabhängigkeitsbewegung, bis 1950 im Untergrund in Taiwan aktiv. Nach 1950 mehrere Gefängnisstrafen. Ehrenmitglied der DPP, von 2000 bis zu seinem Tod 2003 politischer Berater des Präsidentenbüros.
Huang Keli
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Während des 228-Aufstandes Bürgermeister von Taizhong, wird von Aufständischen festgesetzt.
Huang Tianfu
哳ཙ⾿ġ
Aktivist der Oppositionsbewegung auf Taiwan. Mitarbeit in der Zeitschrift Meilidao, involviert in den Penglaidao-Vorfall (1985).
Huang Wenxiong
哳᮷䳴ġ
Mitglied der WUFI in den USA, verübt am 24.4.1970 in New York gemeinsam mit >Zheng Zicai Anschlag auf Jiang Jingguo (424-Vorfall).
Huang Xinjie
哳ؑӻġ
Oppositioneller, Herausgeber der Taiwan zhenglun (1975), leitendes Mitglied der Zeitschrift Meilidao. Haftstrafe im Zuge des Meilidao-Vorfalles (1980-1988). Nach Haftentlassung Beitritt zur DPP, Parteivorsitzender (1988-1990).
Huang Zhaotang
哳ᱝาġ
Führender Aktivist der Unabhängigkeitsbewegung. Nach 1960 Mitglied der „Vereinigten Liga der taiwanesischen Jugend für die Unabhängigkeit Taiwans“ in Japan. Nach 1970 führendes Mitglied der WUFI, Vorsitz seit 2001.
Huang Zhongtu
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Zur Zeit des 228-Aufstandes Bürgermeister von Gaoxiong. An Verhandlungen mit >Peng Mengqi beteiligt, einer von zwei Überlebenden der Verhandlungsdelegation.
Jian Chengyu
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Im Frühjahr 1947 Mitglied des Konsultativrates der Stadt Taipei, führendes Mitglied der Schlichtungskommission. Nach Niederschlagung des Aufstandes exekutiert.
Jian Wenfa
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Im Frühjahr 1947 Delegierter der Nationalversammlung. Mitglied der Schlichtungskommission.
Jiang Jieshi
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Siehe Jiang Weishui, Vorsitzender der „Gesellschaft für den politischen Aufbau der Provinz Taiwan“. Mitglied der Schlichtungskommission, führt eigenmächtige Verhandlungen mit Gouverneur Liao Wenyi. Wird im Jahr 1965 vom KMT-Regime nach Japan entsandt, um Liao Wenyi zur Kapitulation und Rückkehr nach Taiwan zu bewegen.
Liao Shihao
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Neffe des >Liao Wenyi, Untergrundsaktivist der Unabhängigkeitsbewegung auf Taiwan. Im Jahr 1965 zum Tode verurteilt, „Geisel“ des KMT-Regimes, um Liao Wenyi zur Kapitulation zu zwingen.
Namensregister
389
Liao Wenjin
ᔆⓛ䙢ġ
Jüngerer Bruder von >Liao Wenyi, wird 1962 unter dem Vorwurf der Agitation für die taiwanesische Unabhängigkeit verhaftet.
Liao Wenkui (Joshua Liao)
ᔆ᮷ཾġġ
Älterer Bruder von >Liao Wenyi. Nach 1945 Mitherausgeber der Qianfeng zazhi. Nach dem 228-Aufstand als einer der „Hauptverbrecher“ gesucht.
Liao Wenyi (Thomas Liao)
ᔆ᮷⇵ġ
Führender Aktivist der Unabhängigkeitsbewegung in Japan, Begründer und Präsident der „Exilregierung“ in Tokio. „Kapituliert“ im Jahre 1965, um verurteilte Verwandte und Freunde in Taiwan auszulösen.
Liao Zhongshan
ᔆѝኡġ
Festländer und Aktivist der Unabhängigkeitsbewegung, Ehemann von >Lin Licai. Gründer der GATI.
Liaocai Xiuluan
ᔆ㭑㎹ 呎ġ
Mutter des Lin Licai daher eine Klage gegen Peng Mengqi an.
Lin Lianzong
᷇䙓ᇇġ
Im Frühjahr 1947 Delegierter der Nationalversammlung, führendes Mitglied der Schlichtungskommission. Seit dem 9.3.47 vermisst.
Lin Licai
᷇哾ᖙġ
Tochter des Lin Jie, verheiratet mit Peng Mengqi an.
Lin Maosheng
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Gelehrter und Kulturschaffender, erster taiwanesischer Träger eines Doktortitels in Philosophie (Columbia, USA, 1929). Dekan der geisteswissenschaftlichen Fakultät der Taiwan National University, Herausgeber der Zeitung Taiwan minbao. Seit dem 228Aufstand vermisst, angeblich am 13.3.47 von Militärangehörigen ermordet.
Lin Taiyuan
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Aktivist der Unabhängigkeitsbewegung in Japan, nach 1976 dritter und letzter Präsident der „Exilregierung“.
Lin Xiantang
᷇⦫าġ
Taiwanesischer Gelehrter und Kulturschaffender zur Zeit der japanischen Kolonialherrschaft. Mitbegründer der „Taiwanesischen Kulturgesellschaft“ (1921). Im 228-Aufstand Mitglied der moderaten Fraktion in der Schlichtungskommission Taizhong. 1949 Emigration nach Japan, stirbt dort im Jahre 1956.
390
Literaturverzeichnis und Anhang
Lin Yanggang
᷇⌻ġ
Bedeutender Politiker auf Taiwan. Bürgermeister von Taipei (1976-78), Vorsteher der Provinz Taiwan (1978-81), Innenminister (1981-84), Justizminister (1994-96), stellvertretender Vorsitzender der KMT (1993-95). Tritt im Jahr 1996 als Präsidentschaftskandidat der Neuen Partei an, gemeinsame Kandidatur mit