Ren Dhark
Sonderband
Der schwarze Götze
SF-Roman von
Conrad Shepherd
ff/B
Ein Verzeichnis sämtlicher bisher ers...
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Ren Dhark
Sonderband
Der schwarze Götze
SF-Roman von
Conrad Shepherd
ff/B
Ein Verzeichnis sämtlicher bisher erschienenen und lieferbaren REN DHARK-Titel und -Produkte finden Sie auf den Seiten 191 und 192.
l. Auflage HJB Verlag & Shop e.K. Postfach 22 01 22 56544 Neuwied Bestellungen und Abonnements: 02631-354832 02631-356100 Buchhaltung: 0 26 31 - 35 48 34 Fax:02631-356102 www.ren-dhark.de © REN DHARK: Brand Erben Herausgeber: Hajo F. Breuer Titelbild: Ralph Voltz Druck und Bindung: Westermann Druck Zwickau GmbH © 2000 HJB Verlag Alle Rechte vorbehalten ISBN 3-930515-98-9
Vorwort Was ist eigentlich der Unterschied zwischen Stephen King und REN DHARK? Ganz einfach: Stephen King stellt eine Kurzge schichte ins Internet, und wer sie lesen will, muß seine Kreditkarte zücken und ordentlich Dollars abdrücken. Kurzgeschichten aus dem Kosmos von REN DHARK hingegen werden schon in naher Zukunft kostenlos von unserer Homepage herunterzuladen sein. Während ich diese Zeilen schreibe, arbeiten unsere Autoren schon an den ersten, völlig neuen und exklusiven Kurzgeschichten. Zum einen wollen wir mit dieser Gratiszugabe unseren Lesern für ihre langjährige Treue danken. Zum anderen bietet sich mit den Kurzgeschichten ein Forum für uns, auf dem wir neue Konzepte und auch neue Autoren ausprobieren können. Denn ohne neue Schreiber kann eine Endlosserie wie REN DHARK auf Dauer nicht bestehen. Ein besonderes Wort des Dankes möchte ich an den Autor des vorliegenden Bandes richten: Conrad Shepherd (alias Konrad Schaef, der ja auch schon bei den mittlerweile klassischen Aben teuern um die G'Loorn an RD mitschrieb) hat nicht nur eines seiner Lieblingsthemen in spannender Form wieder aufgegriffen und zu einem RD-Sonderband verarbeitet, den sicher auch Sie in einem Rutsch durchlesen werden - er hat dieses Buch ebenso pünktlich geliefert wie seinen Romananteil am gleichzeitig erscheinenden zweiten Band der regulären Reihe, obwohl er zwischenzeitlich ins Krankenhaus mußte, um sich am Herzen behandeln zu lassen. Zum Glück ist jetzt alles ausgestanden und Conrad schreibt in alter Frische und Schaffenskraft schon an den nächsten RD-Manuskripten. Ein Wort zum zweiten REN DHARK-Buch aus dem DrakhonZyklus: Die galaktische Katastrophe (so der Titel des Bandes) sucht die Milchstraße heim, und die Spur zu den wahren Myste rious droht für immer verschüttet zu werden. Der Roman ist ein Knaller - und wartet zum Schluß mit einer Wendung auf, die nie mand für möglich gehalten hätte. Wie es zu dieser explosiven Si tuation kam und was sich tatsächlich hinter der überraschenden Er
scheinung verbirgt, das verrät der nächste Sonderband, der soeben von Manfred Weinland verfaßt wird. Er erscheint pünktlich in drei Monaten zusammen mit dem dritten Band der regulären Reihe. Das wollen wir in Zukunft häufiger machen: in den Sonderbänden Romane veröffentlichen, die völlig für sich allein gelesen werden können, und die man auch als Sammler der regulären Reihe nicht lesen muß - aber wenn man sich doch beide Bücher zusammen gönnt, hat man einen deutlichen Mehrwert gegenüber demjenigen, der nur die reguläre Reihe oder nur die Sonderbände bezieht. Jetzt aber genug der langen Vorrede. Lassen Sie sich gefangen nehmen von den spannenden Ereignissen auf dem Kolonialplaneten Xing. Und tauchen Sie ein in die düsteren Geheimnisse des letzten G'Loorn... Giesenkirchen, im April 2000 Hajo F. Breuer
Prolog Der am 21. Mai 2051 erfolgte Start des Kolonistenraumschiffs GALAXIS unter dem Kommando von Sam Dhark mit 50.000 Siedlern an Bord zum 270 Lichtjahre entfernten Deneb-System erweckt in der offiziellen Geschichtsschreibung den Anschein, als wäre dieses ohne Zweifel beispiellose Unternehmen der Beginn des Kolonisationsprogrammes der Weltregierung gewesen. Tatsächlich aber hatten bereits vor diesem Zeitpunkt die sich ab zeichnenden Krisen einer übervölkerten Erde Menschen veranlaßt, zu fremden Planeten auszuwandern und neue Lebensräume zu er schließen: politisch extreme Gruppen, religiöse oder rassische Minderheiten - sie alle waren zu den Sternen aufgebrochen, um dort ihr neues Paradies zu suchen. Frei von jeglicher Verfolgung, nur ihren eigenen Idealen und Vorstellungen verpflichtet. Neben den Bemühungen der Weltregierung, besiedelbare Sauer stoffwelten zu entdecken und zu erschließen, schickten vor allem die großen Minengesellschaften ihre Forschungsschiffe in den Raum zwischen den Sternen, auf der Suche nach abbaubaren Res sourcen für den immer hungriger werdenden Rohstoffmarkt. Jeder Minenkonzern beschäftigte zahlreiche Prospektoren - wagemu tige, furchtlose Frauen und Männer, die manchmal jahrelang die Galaxis nach erdähnlichen Planeten und reichen Rohstoffquellen durchforschten. Inzwischen existieren Dutzende von diesen Pionieren gegründete Kolonien. Der Planet Xing mit seiner Kolonie Frontier Junction ist eine davon, und wahrscheinlich die am weitesten in Richtung Galakti sches Zentrum gelegene. Die Bevölkerung Xings hatte wenig von den Ereignissen zwischen 2051 und 2053 mitbekommen, sie war zu weit entfernt von den Medienkanälen der Terra-Press. Von der Giant-Herrschaft war sie nicht betroffen. Auch Informationen über die Vorgänge auf Hope im Col-System drangen nur sporadisch nach Xing durch. Vor allem aber wußte man nichts von den G'Loorn.
Doch das sollte sich ändern. Das Grauen kam fast unbemerkt. Aber nur fast.
1. 18. April 2057, Xing-System Das Böse hat viele Gesichter. Doch daß es sich in Gestalt zweier Blips zeigte, erwartete wohl niemand. Auch nicht die Besatzung des kleinen Schiffes, das als winziger Punkt auf dem Hintergrund der sternenübersäten Dunkelheit scheinbar stillstand, obwohl es sich mit rasender Geschwindigkeit, einer vorausberechneten Bahn folgend, durch das Zehnplaneten system einer großen gelben Sonne auf sein Ziel zubewegte: die vierte Welt. Der Name des Eigentümers stand in wuchtigen B lock Versalien auf der Hülle: JUNCTION MINING CORPORATION. Etwas kleiner der Erkennungscode: ME-234. Mining Explorer 234. Ein Schiff von vielen anderen, die von mehr als einem Dutzend Unternehmen überall im erforschten Raum zwischen den Sternen eingesetzt wurden. Unter der offiziellen Bezeichnung der eigentliche Name: IRON TRAMP. Vor nicht weniger als einer Stunde hatte der Raumer, entspre chend vorsichtig manövrierend, die im Kernbereich des Astero idenfeldes gelegene Schürfstation der Junction Minengesellschaft verlassen. Nun befand er sich auf Heimatkurs, den Laderaum voll mit Proben. Kapitän Derek Shiro lehnte sich in seinem Schwenk sessel zurück und betrachtete angespannt den Heckschirm, der schwarze, unauslotbare Tiefe und ein Tohuwabohu massiver Brok ken aus Gestein und Metall zeigte. Jeder Aufenthalt im xingschen Asteroidenfeld - und davon hatte die IRON TRAMP schon viele hinter sich - war ein riskantes Unterfangen durch die dort herr schenden chaotischen Kräften. Kräfte, die sich in kein berechenbares Muster einordnen ließen und die Telemetrieanzeigen des kleinen Schiffes vor nahezu unlösbare Probleme stellten. Es grenzte jedesmal an ein mittleres Wunder, heil aus den Milliarden und
Abermilliarden von Trümmern eines ehemaligen Planeten heraus zukommen, und nicht immer gelang es ohne kleinere Blessuren. Beredtes Zeugnis dafür war die einst glatte Hülle, die inzwischen vernarbt und verbeult war von Kollisionen mit den winzigen Brok ken, deren Flugbahnen sie tangierte. Dann schenkte Shiro seine Aufmerksamkeit den Statusanzeigen der Armaturen und Instrumente auf der geschwungenen Haupt konsole vor seinem Sitz, die ihm Aufschluß über Funktionen und Zustand des Schiffes gaben, und konzentrierte sich schließlich auf die Kollisionswarner. Aber da war nichts in relativer Nähe, was zur Besorgnis hätte Anlaß bieten können. Zum Glück für die IRON TRAMP. Das kleine Erzschiff besaß keine Abwehr- beziehungsweise Schutzschilde. Größeren Hindernissen konnte es nur durch wag halsige Flugmanöver entgehen. Für eine gewisse Sicherheit sorgte lediglich die intelligente, wabenförmige Ausschäumung zwischen innerer und äußerer Haut, die kleinere Mikro-Lecks selbsttätig ab zudichten vermochte. Und nur der Umstand, daß es innerhalb der Eis- und Gesteinsströme des Gürtels mit einer nur geringfügig höheren Eigengeschwindigkeit sozusagen mitschwamm, hatte es beim Durchfliegen bislang vor wirklich großen Schäden bewahrt. Aber das war keine Garantie. Nein, das war es wirklich nicht. Noch immer pulsierte das rote Auge des Hüllenalarms... Shiro schnitt den Telemetrieanzeigen des Suprasensors eine Grimasse und richtete sich im Schwenksessel ein wenig auf. Er war nicht größer als einen Meter siebzig, dafür aber mehr als hundert Kilo schwer, hatte grobe Züge und schmale graue Augen, die ihm einen Anflug von Unbarmherzigkeit verliehen. Seine vom langen Weltraumaufenthalt rötlich gewordene Gesichtshaut spannte sich über die kräftig ausgeprägten Backenknochen, die Erbteil seiner indianischen Mutter waren. Mit gerunzelter Stirn sah er sich im spartanisch ausgestatteten Kontrollraum der IRON TRAMP um. Man konnte wahrlich nicht behaupten, daß er groß war - tatsächlich war er von allen Räumen der kleinste Raum im Schiff - dennoch genügte er für die dreiköp
fige Besatzung. Er war für die Arbeit konzipiert und sollte keinesfalls der Entspannung oder gar der Erholung dienen. Um diesen zentralen Raum gruppierten sich die Schlafkabinen, die Luft umwälzanlage, Vorratsräume, Wiederaufbereitungssysteme sowie die Ladebuchten. Darunter lag der Maschinenraum mit den Kon vertern für den relativ schwachen Impulsantrieb und den Trieb werken für Atmosphärenflüge. All dies befand sich in einem nur vierzig Meter durchmessenden Schiff, dessen äußere Form einem abgeplatteten Ellipsoid glich. Aber mochte die IRON TRAMP auch aussehen, als käme sie mit ihrer verschrammten und verbeulten Außenhaut geradewegs vom Raumschiffsfriedhof, ihre Impulstriebwerke waren in bestem Zu stand. Nicht zuletzt dank Hassan Ezzahirs Ingenieurskunst. Der Mann hätschelte und pflegte die Konverter, als hinge sein Über leben davon ab. Was genau betrachtet ja auch der Fall war. Ohne funktionierendem Antrieb taugte die IRON TRAMP nicht mehr als eine leere Konservenbüchse. Hassan Ezzahir...! Der Kapitän hob den Blick zu den Monitoren der Deckenkon sole. Er musterte den Bildschirm, der ihm Sicht nach draußen auf die Schiffshülle bot, sehr sorgfältig. Dann glitten seine Finger über die Tastatur auf der verbreiterten Armlehne seines Sitzes. Außenkameras begannen, sich im Vakuum zu bewegen. Sie fingen Momentaufnahmen der sternenflimmernden Kulisse des Weltraums ein und fokussierten sich schließlich auf die einsame Gestalt im gepanzerten Inspektionsanzug, die der Kamera den Rücken zuwandte. Shiro schaltete die Außen Verständigung dazu. »Ezz!« Und noch einmal, diesmal mit unmißverständlicher Autorität: »Ezz!« »Yeah?« kam schließlich die einsilbige Antwort. »Wie sieht's aus?« »Soweit ganz gut.« Hassan Ezzahir, der algerische Bordingenieur, war dabei, ein fingernagelgroßes Meteoritenleck, das die Hüllensensoren noch innerhalb des Asteroidenfeldes gemeldet hatten, mit einer Platte
und einem Laserschweißer zu versiegeln. »Geht das nicht schneller? Der Druckabfall in Sektor Blau 4 läßt sich kaum noch kompensieren!« »Du nervst, Skipper«, kam die kurz angebundene Antwort des Ingenieurs. Skipper... Ezzahir war der einzige an Bord der IRON TRAMP, der sich diese respektlose Wortwahl erlauben durfte, aus einem Grund, den das dritte Besatzungsmitglied, Kopilot und Funkmaat Roul Yardin, bis zum heutigen Tage nicht herausgefunden hatte, obwohl sie ei gentlich schon lange miteinander flogen und so manche Nacht in den Kneipen am Rande der Raumhäfen durchzecht hatten. Shiro runzelte die Stirn unter dem Mützenschirm und zog eine Grimasse. Er bemühte sich, nicht an den dunklen Punkt in seiner Vergangenheit zu denken. Nur er und der Algerier wußten Be scheid über jene unglückseligen Vorkommnisse in Cent Field, und beide hüteten sie das Geheimnis seit langer Zeit. Er sah zu, wie Ezzahir seine gefährliche Arbeit verrichtete, eingehüllt in das bläuliche Blitzlichtgewitter des Laserschweißers. Es war nicht ein fach, sich auf der Außenhaut zu bewegen, abgekoppelt vom Schwerefeld im Innern des Schiffes. Komplizierte Bewegungen in mehr als zwei Ebenen gleichzeitig durchzuführen erwies sich wegen der Magnetstiefel als äußerst schweißtreibend, da man stets wie ein Stiel von der Hülle abstand. Außerdem hatte man in dem unter Druck stehenden Anzug das Gefühl, sich in einem aufgeblähten Ballon zu befinden. Man konnte zwar Arme und Beine beugen, aber es war nicht einfach, und ein Niederkauern oder Knien erforderte in dem sperrigen Anzug ziemlich viel Kraft. Doch Hassan Ezzahir machte das nichts aus... »Wie? Was macht mir nichts aus, Skipper?« »Entschuldige, Ezz, ich habe mit mir selbst geredet. Ich dachte nicht an das Vipho.« »Schon gut. Außerdem bin ich fertig hier draußen.« Das nervig zuckende Warnlicht auf der Konsole vor dem Ka pitän erlosch. »Ich komme jetzt rein!« »Verstanden. Yardin?« 10
»Außenluke ist offen, Kapitän«, kam die Bestätigung des Kopi loten und Funkmaats Roul Yardin. »Hast du gehört, Ezz? Beweg deinen Arsch.« »Yeah. Okay. Bin schon unterwegs, Deck.« Auf dem Monitor sah man, wie sich der Ingenieur der IRON TRAMP, behängt mit dem am Gürtel befestigten Werkzeug, schwankend über die Hülle bewegte und schließlich in der Schleuse verschwand. Shiro schaltete die Außenkameras ab. Etwas später waren Schritte auf dem metallischen Fußboden des Gangs über die offene Bordverständigung zu hören. Dann das Geräusch eines aufzischenden Schotts. Hassan Ezzahir stapfte in den Kontrollraum und warf sich in den dritten Schwenksessel. Er war hager, größer als der Kapitän, und besaß eine gewaltige Hakennase, krauses, schwarzes Haar, einen ebensolchen Bart und buschige, schwarze Augenbrauen. »Die Blechbüchse sieht schrecklich aus, Deek«, klagte er mürrisch. Seine Stimme klang rauh und schroff. »In jeder Bezie hung. Überall Flicken. Noch ein paar Lecks, und ich weiß nicht mehr, wie ich die Schweißnähte setzen soll.« »Nun übertreibe mal nicht, Langer. Sobald wir die Basis errei chen, bekommt die Lady eine Generalüberholung. Versprochen.« »Hoffentlich hält sie noch so lange durch«, knurrte der Ingenieur pessimistisch. »Mal nicht den Teufel an die Wand«, knurrte Shiro verkniffen und schob die fleckige, zerknautschte Kapitänsmütze ins Genick. Nachdrücklich kramte er in den Taschen seiner Kombi und brachte aus deren unergründlichen Tiefen eine Packung Misha-Nüsse zum Vorschein. »Roul!« wandte er sich an Yardin. »Machen wir uns auf den Heimweg.« »Aye, Kapitän. Kurs liegt an...«
Ein anderes Schiff. Wesentlich größer als die IRON TRAMP. 11
Es strebte durch die ewige Nacht, bewegte sich summend und vibrierend durchs Dunkel. In der äußeren Form glich es einer Spindel - lang, an beiden Enden schmal zulaufend, mit einem Wulst um die Mitte. Die matt schimmernden Wandungen zeigten sich glatt und unversehrt. Mit einer einzigen Ausnahme. Diese Ausnahme war eine lange, rötlich-silberne Wunde, die sich an einer Seite des Schiffes beinahe über zwei Drittel seiner Länge erstreckte. Eine schwärende Wunde. Geschlagen vom Schwert eines gigantischen Wesens. Atmo sphärenreste aus zerstörten Sektionen entwichen noch immer als weiße, kristallisierte Wölkchen ins All. Es war diese Scharte, die verriet, daß das Schiff dem Verderben geweiht war, falls es nicht Zeit und Möglichkeit zu einer langwierigen Regeneration bekam. Diese Möglichkeit hatte sich bis jetzt noch nicht abgezeichnet. Im Innern des Schiffes wußte N'Sadog sehr wohl von der äußeren Verletzung der regenerativen Hülle. Doch sie war ihm zu diesem Zeitpunkt relativ gleichgültig; der dem Schiff im Inneren zugefügte Schaden übertraf hinsichtlich der Folgen die Verletzung an der Außenhülle des Rumpfes bei weitem. Und nur darum kreisten unablässig die Gedanken des G'Loorn, denn sein Überleben selbst hing an einem seidenen Faden. Er hatte natürlich nicht die Absicht, schon jetzt das Zeitliche zu segnen. Noch nicht. Vor allem nicht hier. Nicht so entsetzlich weit von seiner eigenen Art entfernt. Nein. Nicht hier, wo sein Tod so völlig ohne Sinn sein würde. Obwohl die Tatsache, daß er noch am Leben war, genausowenig Sinn ergab, seit sich die Zentralwelt in einem orgiastischen Feuer der Vernichtung aufgelöst hatte und zu einer Sonne geworden war. Noch jetzt verspürte er die tobende Ohnmacht, die ihn und die we nigen anderen G'Loorn, die das traumatische Desaster überlebten, überkommen hatte, als sie - schon auf dem Rückzug - mit ansehen mußten, wie sich das riesige Black Hole veränderte, nachdem die Kontrollstation im konzentrierten Feuer der abtrünnigen Skythen vergangen war, als hätte sie niemals existiert. 12
Die Chronosphäre lag längst außerhalb der Reichweite seiner Instrumente. Dort, wo sie sich befunden hatte, im Kernbereich dieser Galaxis, breiteten sich dunkle Materiewolken aus, in denen Abertausende von Sonnen funkelten. Das Herz der Milchstraße eine dicht gepackte Kugel aus Dezillionen von Sonnen - hatte sich aus seiner augenblicklichen Position gesehen in eine flache, nur einige Zehntausend Lichtjahre dicke Scheibe verwandelt. Die von ihm getroffene Entscheidung, sich nicht dem Treck der anderen G'Loorn anzuschließen, war ihm zu Beginn richtig er schienen. Im Nachhinein erwies sie sich jedoch als nicht sonderlich segensreich, denn die Folgen seiner Fehlentscheidung hatten sich als schwerwiegend herausgestellt. Der G'Loorn begriff noch immer nicht, wie ihm das hatte ge schehen können. Er war der Vertreter einer der am höchsten entwickelten Spezies im ZENTRUM, Mitglied der WAHRHAFT SELIGEN der Chro nosphäre. Wie alle seiner Art war er intelligent und nahezu un sterblich, wenn man die endlos lange Zeitperiode, die er und sei nesgleichen lebten, als Maßstab nahm. Unsterblich, vielleicht. Aber nicht unverletzlich. / Auch nicht mehr unbesiegbar. Und nun dies! Irgendwie hatte er das Empfinden, daß seine Kräfte schwanden, seit er die Chronosphäre verlassen hatte, daß sich seine Fähigkeiten auf eine ihm unerklärliche Weise langsam, aber stetig reduzierten. Nur so war es zu verstehen, daß er von dem fremden Raumschiff hatte überrascht werden können, das urplötzlich aus dem Hyperraum erschienen war und sofort mit allem zu feuern begonnen hatte, was es aufzubieten vermochte. Und noch ehe N'Sadog sich hatte fragen können, was da auf ihn zukam, hatte der hinter einem hochwirksamen Tarnfeld nur schemenhaft zu erkennende Fremde eine gigantische Energiekaskade lichtschnell in seine Richtung geschleudert. Die Schutzschirme waren unter dem unvorstellbaren Ansturm zusammengebrochen. Und dort, wo die Energien sich einen Weg ins Innere des Schiffes bahnten, war die Außenhülle aufgeplatzt wie die Schale einer überreifen Gengi 13
Frucht. Die Folgen dieses Angriffs waren verheerend. Sämtliche Feuerleitsysteme waren ausgefallen. Schutzlos, zu keiner Gegenwehr fähig, sah er sich den weiteren Attacken des Fremden ausgeliefert, der ihm bis in die Randzonen eines Systems mit einer gelben Sonne nachfolgte. Die Konverter der Sprungtriebwerke, die den Spindelraumer durch die Tiefen des interstellaren Raumes getrieben hatten, waren so schwer beschädigt, daß jeder Versuch, sie in Betrieb zu neh men, sein Schiff zu Atomen zerblasen hätte. N'Sadog hatte begriffen, daß er nichts dagegen tun konnte. Spezies von anderer Art hätten das Unglück verflucht, dem das Raumschiff zum Opfer gefallen war, oder mit dem Schicksal gehadert, daß sie sterben mußte, aber er tat keines von beidem. Die erste Reaktion wäre ihm töricht, die zweite unverständlich erschienen. Deshalb hatte er das einzig Richtige getan, das ihm die Situation gebot zu tun: Er deaktivierte alle Energieverbraucher, sogar die Lebenserhaltungssysteme. Sein Schiff mußte auf den Schirmen seines Verfolgers leer und tot erscheinen, ein Torso ohne das ge ringste Anzeichen von biologischen Funktionen. Er selbst verbarg sich hinter dem eiförmigen Kokon aus schim mernder Dunkelheit, die seinen Thron umgab, jener Membran vi talisierender Bioenergie, die ihn für eine gewisse Anzahl von Zeiteinheiten am Leben erhalten würde, trotz des Vakuums um ihn herum, wenn sie ihn auch für lange Zeit schwächte. Und der fremde Raumer war darauf hereingefallen! Oder...? Noch jetzt verspürte N'Sadog Verwunderung darüber, wie über raschend plötzlich sein Verfolger aufgegeben hatte und daß er ebenso unvermutet, wie er erschienen, auch schon wieder in den Tiefen des Weltraums verschwunden war. Er war seitdem nicht wieder aufgetaucht.
Während die IRON TRAMP die Fahrt erhöhte, schien Derek Shiro ganz in der Arbeit aufzugehen, die Nußschalen zwischen 14
Zeigefinger und Daumen seiner mächtigen Hand zu knacken und die Kerne genüßlich mit den Zähnen zu zermahlen. Tatsächlich aber ließ er die Schirme nicht aus den Augen, die mit den Teleme trieanzeigen der Langstreckenscanner gekoppelt waren und das Planetensystem abbildeten, in dem sich das Schiff bewegte. Planet Nummer fünf war bereits hinter dem Asteroidengürtel aus dem Sichtbereich der Normaloptik verschwunden. Nummer eins, zwei und drei befanden sich im Moment am oberen Rand des Schirmes jenseits der riesigen Sonne und wurden von deren Licht überstrahlt; der glühendheiße Gasriese besaß die vierfache Größe des irdischen Zentralgestirns. Eben kam der vierte Planet des Systems ins Blickfeld - Xing. Die Heimat der Junction Mining Kolonie war im Moment nicht mehr als eine vom Suprasensor auf den Schirm erzeugte, tennis ballgroße, unstrukturierte Kugel. Halb von der Sonne angestrahlt, reflektierte sie deren Licht leicht gelb. Würde er eine NormaloptikAnsicht wählen, wäre Xing im Moment nichts weiter als ein etwas hellerer Punkt. Xing... Das Zehnplanetensystem war vor Jahren von einem Prospekto renraumschiff der JMC unter dem Kommando eines Kapitän lan Lo Xing entdeckt worden. Er gab der Sonne seinen Namen, ebenso dem vierten Planeten mit seinen beiden Monden lan und Lo, der als einziger innerhalb der Ökosphäre lag und eine Sauer stoffatmosphäre auf wies. Ein rauher Planet, dessen Äquatorring von einer Reihe von annähernd kreisförmigen Wüsten bedeckt war, obwohl zwischen den beiden Polen alle bekannten Geländeformationen beobachtet werden konnten. Die drei inneren, mondlosen Planeten hatten sich als unbewohnbar herausgestellt, ebenso die äußeren Planeten fünf bis zehn, die, erstarrt unter kilometerdicken Methaneispanzern, ihre Bahnen weit außerhalb der wärmenden Strahlen des Zentralgestirns zogen. In telligente Lebensformen waren im System keine entdeckt worden, nicht einmal Ansätze eines Prähominiden im Tier-HominidenÜbergangsbereich. Wohl aber ausgedehnte Erzvorkommen, be sonders auf Xing, was den Planeten für die Konzernleitung auf der 15
Erde zum potentiellen Kandidaten für eine intensive Ausbeutung machte. Der Asteroidengürtel, zwischen Xing und Planet Nummer fünf gelegen, erwies sich ebenfalls als Glücksfall für Junction Mining. Die Planetentrümmer waren voller seltener Erze, viele der Planetoiden besaßen Einschlüsse von modifizierten Erdölen und wiesen ausgedehnte Lagerstätten von Edelmetallen auf. »Kapitän!« Roul Yardins Stimme war ein kehliges Knurren der Überraschung. »Was gibt es, Roul? Schwierigkeiten?« »Ich - ich bin mir nicht sicher.« »Nicht sicher? Was heißt das, Mann? Drück dich gefälligst verständlich aus!« fuhr Shiro ihn mit unverhohlenem Ärger an. Er haßte unklare Meldungen. Der Co beeilte sich zu präzisieren. »Strukturerschütterungen fünfdimensionaler Art. Abstand 12,2 Lichtminuten in Sektor Rot-Alpha-2-2. Kapitän, zwei Objekte haben den Hyperraum verlassen und bewegen sich auf das System zu.« Shiro starrte auf den Hauptschirm, konnte aber nichts Un gewöhnliches sehen. »Was soll...«, begann er unwirsch. »Die Telemetrieanzeigen, Kapitän«, machte Yardin ihn auf merksam und überspielte die Daten auf den Hauptschirm über Shi ros Konsole. Auf korrespondierenden Displays erschienen in ra scher Folge Datenzeilen und Zahlenkolonnen; der Suprasensor be gann, Diagramme zu generieren. Dazwischen die pulsierenden Blips der Radarechos, die die erfaßten Objekte darstellten. Derek Shiro kratzte sich unter der Schirmmütze. »Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, daß es sich um ein natürliches Phänomen handelt?« »Keine Chance«, stellte der Kopilot mit Nachdruck klar. »Natürlich nicht«, murmelte der Kapitän. »Dieses System besitzt keine stellaren Anomalien. Zumindest haben die Astronomen noch keine entdeckt.« »Vielleicht die Verhüttungsschiffe?« mutmaßte Hassan Ezzahir. Eine verständliche Annahme. Die großen Erzfrachter der Junction Minengesellschaft flogen in 16
bestimmten Zeiträumen das Xing-System an, um die geförderten Bodenschätze an Bord zu nehmen und ins Heimatsystem zu trans portieren. Shiro schüttelte nachdrücklich den Kopf. »Davon wüßte ich...« Er fixierte mit verkniffenen Augen den Monitor. »Fernortung. Visuelle Darstellung!« Wegen der zunächst noch äußerst spärlich eingehenden Daten konnte die Suprasensorik der IRON TRAMP das, was von den Scannern eingefangen worden war, nur als eine grob strukturierte 3D-Ansicht innerhalb des Netzrasters auf der leicht gekrümmten Fläche des Frontschirmes darstellen. Aber noch während dies ge schah, schwoll der Datentransfer an. Die visuelle Wiedergabe der beiden Objekte änderte sich analog der eingehenden Informationen mit jeder verstreichenden Sekunde, bis aus den beiden Radarblips verwertbare Bilder wurden. »Was haben wir denn da?« Kapitän Shiro vergaß das Kauen, während er aus schmalen Augen auf die Monitorwiedergabe starrte. »Wüßte ich auch gerne«, murmelte Hassan Ezzahir und zog die Unterlippe zwischen die Zähne. Der Kopilot vertiefte sich kurz in seine Werte. »Es handelt sich eindeutig um Raumschiffe! - Zumindest bei einem Objekt«, schränkte er mit dumpfer Stimme ein. »Bei dem anderen bin ich überfragt; es hinterläßt keine klaren Spuren. Offenbar verbirgt es sich hinter einem sehr starken Tarnfeld, das unsere Scanner nicht durchdringen können. Aber es muß riesig sein! Es ist visuell eigentlich nur daran zu erkennen, daß es immer wieder das Licht entfernter Sterne verdeckt.« »Was ist mit dem sichtbaren?« »Spindelform«, beschied ihm Yardin knapp. »Etwa zweihundert Meter lang, in der Mitte zirka siebzig Meter Durchmesser. Die Enden der Spindel dürften nicht mehr als zwanzig Meter durch messen.« »Was ist mit dem Antriebssystem?« Der Kopilot schüttelte den Kopf. »Negativ, Kapitän. Aller dings...« 17
Er preßte die Lippen aufeinander, spürte, wie etwas in seinem Hinterkopf nagte, das er nicht in Worten fassen konnte, ihn aber über alle Maßen beunruhigte. »Komm schon, Mann! Laß dir nicht jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen...« »Ich... ich habe die Muster einer zwar schwachen, aber dennoch vorhandenen regelmäßigen Verteilung von Kohlenstoff, von Sili zium und Kobalt über das ganze Schiff gefunden«, bemerkte er schließlich tonlos, fast geistesabwesend. Derek fuhr herum. »Du meinst, du hast Lebensformen aufge spürt?« »Das ist ein Materie-Scan«, verdeutlichte ihm sein Co, »keine Lebensformanzeige.« »Das heißt was?« Es war Hassan Ezzahir, der antwortete. »Es könnte sich bei dem Schiff selbst um eine Art von Lebens form handeln.« »Du meinst...?« »Ich meine gar nichts« wehrte Hassan ab, und seine buschigen Brauen schienen sich zu sträuben. »Ich stelle nur fest, daß die Hülle des Schiffes aus einer uns unbekannten Legierung besteht, die nicht viel mit den üblichen Metallegierungen gemein hat, wie wir und andere Völker sie zum Bau von Raumschiffen verwen den.« Yardin wandte sich an den Kapitän. »Soll ich das Schiff rufen?« »Hmm...« Derek Shiro kratzte sich erneut unter der Mütze. »Nein. Das lassen wir lieber mal bleiben«, entschied er dann. »Wir sind nur ein kleiner Frachter ohne jegliche Bewaffnung. Am besten machen wir uns überhaupt nicht bemerkbar. Ich denke...« Er kam nicht mehr dazu, seinen Satz zu vollenden, da sich die Lage radikal änderte. Das Schattenschiff nahm mit einem gespenstischen, flackernden Glühen Fahrt auf und transitierte gleich darauf in den Hyperraum. Und von einer Sekunde zur anderen verschwand der Spindelrau mer vom Ortungsschirm. Hassan Ezzahir stieß zischend die Luft aus, und der Co starrte ziemlich ratlos auf die Anzeigen. 18
»Was war das jetzt schon wieder!?« fluchte der Kapitän grimmig und ertappte sich dabei, daß er merkwürdigerweise eine Art nervöser Irritation spürte, für die er keine Erklärung parat hatte; ein unbestimmbares Gefühl der Beunruhigung, das ihm die Nak kenhaare aufstellte. Empfindungen wuchsen in ihm, die ihm sagten, daß etwas nicht stimmte, daß sich da draußen gerade etwas Gefahrliches und Schreckliches abgespielt hatte. Wie recht er damit haben sollte, konnte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht wissen.
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2. Reglos saß N'Sadog auf seinem thronartigen Pilotensessel; um ihn herum summten und klickten die wenigen noch funkti onsfähigen Instrumente und zeigten ihm den Zustand seines ange schlagenen Raumschiffes an. Ein paar noch aktive Sichtschirme an den Wänden der runden Zentralkammer brachten die Umgebung ins Innere. Von den äußeren Randgebieten des Planetensystems dieser Sonne bis hierher zu gelangen hatte nur kurze Zeit erfordert - nach seinen Maßstäben. Wenn auch die Sprungtriebwerke ausgefallen waren, mit den Unterlicht-Antriebseinheiten konnte er nach wie vor manövrieren, wenn er sie nicht zu sehr belastete. Und nun war es auch Zeit, sich um sein Schicksal zu sorgen, sich mit der Planung des Überlebens zu befassen. Eine Weile hatte es fast so ausgesehen, als wäre er in der Lage, die beschädigte Hyperfunkanlage wieder in Betrieb zu nehmen, um Hilfe von seinesgleichen herbeizurufen. Inzwischen hatte er dieses Vorhaben auf später verschoben. Das Schiff und seine Anlagen waren zu mehr als zwei Dritteln zerstört, nur wenige Drohnen noch am Leben. Er brauchte unbedingt eine Basis, wo er lange genug überleben, in Ruhe das Regenerations programm des Schiffes in Gang setzen und sich seine Diener neu klonen konnte, um dann seine Reise nach Skythos fortsetzen zu können. Als er sich dazu entschlossen hatte, sich auf seiner Flucht vor dem Fremden in diesem System zu verstecken, hatte er die Ent scheidung gefällt, entlang der Ebene der Umlaufbahnen einzufliegen, um bessere Deckungsmöglichkeiten zu haben. Jetzt beglück wünschte er sich zu dieser Entscheidung, konnte er doch die Schwerefelder der äußeren Planeten dazu benutzen, kostbare Energie zu sparen; das Speichervolumen seiner Konverterbänke nahm rascher ab als angenommen. Erschreckend rasch sogar. Aus vielen Sektoren kamen mittlerweile Meldungen über immer 20
mehr Systemausfälle. Als er die Umlaufbahnen der äußeren Gasriesen hinter sich hatte, sagten ihm seine Instrumente, daß in dem System, das vor ihm ausgebreitet lag, Leben existierte. Leben aber, und mochte es noch so minderwertig sein, war das Synonym für Nahrung. Die klaffende Wunde, die der unbekannte Angreifer seinem Schiff zugefügt hatte, zerstörte unter anderem auch den Großteil der Kryo-Kammern, in denen die Grundlage für seine eigene Exi stenz aufbewahrt lag, und die Deaktivierung aller Energiesysteme während seiner Flucht vor dem fremden Schiff ließ auch noch die letzten der in Stasis gefangenen Wesen absterben, wie er inzwi schen festgestellt hatte - ohne daß er sich an ihrem Sterben hätte weiden können. Eine fatale Situation. Denn gerade jetzt, da er nahezu seine gesamte mentale Energie verbraucht hatte und der schwierigste Abschnitt noch vor ihm lag, wurde er von einem ungeheuren Verlangen überwältigt - vom Hunger. Nicht nach physischer Nahrung. Davon hatte er genug. Was er benötigte, waren die Emotionen gequälter, gemarterter und sterbender Kreaturen, während das Leben aus ihnen strömte. Vielleicht, so durchzuckte ihn ein Gedanke, vielleicht fand er hier sogar hochentwickeltes, intelligentes Leben! Der Gedanke daran, womöglich bald schon wieder mit den vita lisierenden Strömen von Emotionen versorgt zu werden, versetzte ihn in euphorische Stimmung. Seine vorderen Klauen zuckten in konvulsivischen Bewegungen. Ruckartig wandte er den monströsen Kopf hin und her, die rasiermesserscharfen Mandibeln öffneten und schlössen sich klickend, während die farnähnlichen Fühler, die seine Sinnesorgane bildeten, zitterten und bebten... Als er die Umlaufbahn des fünften Planeten überschritten hatte und durch den Asteroidengürtel in Richtung des vierten Planeten trieb, wurde es endlich zur Gewißheit: Es existierte eine intelli gente Lebensform in diesem System! Seine Instrumente registrierten energieerzeugende Systeme in 21
nerhalb des Gürtels. Vor Erwartung und Vorfreude durchströmten ihn vibrierende Schauer. Schon jetzt vernahm er wieder das Krachen zerschmet terndter Knochen. Das Reißen von Fleisch. Und die Vorstellung, die lebenspendenden Emotionen reiner Agonie in höchster Ver zückung zu genießen, ließ seinen Körper vor Gier erbeben. Einige Zeiteinheiten lang spielte N'Sadog mit dem Gedanken, die von der hier ansässigen Lebensform im Asteroidenfeld errichtete Station heimzusuchen, entschied sich aber dann doch dagegen. Auf einem Planeten durfte er ohne Zweifel mit weit mehr Leben rechnen als auf diesen tauben Gesteinsbrocken. Als sein Schiff der gelblich-weißen Sonne immer näherkam, be gann er mit seinem Scan der inneren Welten. An sich hätte er es vorgezogen, einen Planeten als Stützpunkt zu benutzen, der den in seinen Erinnerungen gespeicherten Vorstel lungen über die Heimatwelt Skythos entsprach. Wasserreich, mit feucht-heißem Klima und fruchtbarer, üppig wuchernder Dschun gelvegetation, in der die Ovumsträucher prächtig gediehen. Aber zwei Faktoren sprachen so deutlich dagegen, daß er davon Ab stand nehmen mußte. Zum ersten existierte eine derartige Welt nicht in diesem System. Zweitens - und das war wesentlich aus schlaggebender - konzentrierte sich das von den Scannern auf gespürte Leben auf jenen Planeten, der als einziger innerhalb der Ökosphäre lag. Es kam also nur die vierte Welt in Frage. Bei seinem Weiterflug ins Innere des Systems registrierten seine weitreichenden Instrumente ein winziges Schiff, das die hier be heimatete Lebensform dazu benutzte, sich durch den Weltraum zu bewegen. Er hegte zwar keine großen Befürchtungen, entdeckt zu werden - vieles sprach auch dagegen, daß die Wesen über hochentwickelte Systeme zur Ortung seines eigenen Raumfahr zeugs verfügten - aber das schloß natürlich die Möglichkeit nicht aus, daß er auf optischem Wege doch aufgespürt wurde. Und so bemühte er sich, schleunigst unsichtbar für elektronische Augen zu werden.
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3. Xing, 19. April 2057 Clive Lister öffnete lauthals fluchend - es hörte ihn sowieso niemand in dieser Einöde - den Kragen seiner Jacke. Der Ta gesanbruch lag noch keine zehn Minuten zurück. Er hatte rasch gefrühstückt und seine Notdurft verrichtet. Jetzt erhob sich die &
Sonne über den Horizont, schickte einen Schwärm Strahlen aus, und schon begann die Hitze. Es war erst Anfang Mai, aber hier am Rande der Ebene mit ihrer tundraähnlichen Vegetation brachte schon der Morgenwind den ersten Gluthauch aus der nahen Wüste mit. Der Mann sah auf sein Chrono, das mit einem breiten Klettband an seinem Handgelenk befestigt war; die Digitalanzeige war auf den Dreiundzwanzigstundentag dieser Welt abgestimmt. Es war wenige Minuten nach sieben Uhr. Die langgestreckten Wol kenbänder am Horizont begannen sich rasch aufzulösen. Im Umkreis von dreihundert Kilometern war außer ihm kein einziger Mensch. Die Ebene, auf der sich der Mann befand, erstreckte sich mehrere tausend Kilometer in Richtung auf den nördlichen Pol. Fünfzig Kilometer südlich seines Standorts öffnete sich hinter einer Barriere aus zerklüfteten Klippen eine der vielen Wüsten, die Xing zu einem trocken-heißen Planeten machten. Wie viele erdähnliche Sauerstoffwelten in der Galaxis war der Planet ein Geoid, also an den Polen abgeplattet. Er besaß einen äquatorialen Umfang von 39.645,58 km bei einem mittleren Son nenabstand von 448,7 Millionen Kilometer. Die Verteilung Landfläche zu Wasserfläche lag etwa bei zehn zu eins. Dadurch, daß die Polachse gegen die Bahnebene um 38,7 Grad geneigt war, wechselten die Temperaturen der Jahreszeiten rascher als auf der Erde und waren auch gegensätzlicher. Langsam ging Clive Lister vom Schweber weg in südwestlicher Richtung durch den in unregelmäßigen Abständet! gepflanzten 23
Wald aus kniehohen Bäumchen, die ihre verdrehten Äste in den Himmel reckten. Dann und wann blieb der Mann stehen und begutachtete mit dem geschulten Auge des Geningenieurs die Wachstumsfort schritte der Pflanzen. Nicht mehr lange, wobei »lange« aus der Sicht eines Terraforming-Spezialisten ein dehnbarer Begriff war, und sie würden einen Wald von vier bis fünf Meter hohen Bäumen bilden. Es handelte sich um Mutationszüchtungen einer kleineren, im Hochland von Tibet beheimateten Art, die ursprünglich einmal für den Mars vorgesehen war. Man hatte sie genetisch derart umge strickt, daß sie auch mit den xingschen Umweltvoraussetzungen zurechtkam. Sie machte den Eindruck, als habe man sich bemüht, eine Krüppelkiefer mit einer Zwerglärche zu kreuzen und das Endprodukt noch dazu bringen können, anstelle von Nadeln große Blätter hervorsprießen zu lassen. Die Photosynthese würde we sentlich zur Stabilität des Sauerstoffgehalts der Planetenatmo sphäre beitragen. Die Aufforstung war Teil des umfangreichen TerraformingProjektes, das Junction Mining hier auf Xing betrieb. Lister blieb stehen und kauerte sich nieder. »Merkwürdig...«, murmelte er bedächtig und streckte die Hand aus. Er zog den Fund aus dem Boden, befreite ihn mit den Fingern seiner Rechten sorgfältig von Bodenkrume und Wurzelfäden und begutachtete ihn gleichermaßen bedächtig von allen Seiten. Dann stapfte er zurück zum Schweber. Die verschrammte Kunststoffschale schwebte auf ihrem AGravpolster nur eine Handbreit über dem Boden. Leicht ächzend schwang sich Lister in den Fahrersitz und warf das, was er gefunden hatte, auf die Ladefläche, auf der schon eine Menge unterschiedlicher Gegenstände lagen. Darunter seine Waffe, das Iglu, in dem er seine Nächte auf der Mesa verbrachte, und die Brennstoffzelle, auf der er seine Mahlzeiten bereitete; er war seit zwei Wochen auf der Hochebene unterwegs und befand sich am Ende seiner Exkursion. Die Ramme des antiquierten Sturmfeuerzeugs wurde vom Mor 24
genwind zweimal ausgeblasen, bis es ihm glückte, sich eine seiner berüchtigten schwarzen Zigaretten anzuzünden. Clive Lister war ein Mann von siebenundfünfzig Jahren mit sehr kurz geschnittenem, stahlgrauem Haar, das wie eine Bürste von seinem Kopf abstand; Kimberly Nev fand, es sähe gut aus. »Sehr merkwürdig«, wiederholte er und nahm das Fundstück erneut in die Hand. Er drehte es hin und her, während er nachdenklich rauchte. Es handelte sich um einen von Wind und Erosion blankgeschliffenen, spitz zulaufenden Schädel, in dessen Kiefern eine Reihe von nadelspitzen Zähnen davon kündeten, daß es sich bei dieser Spezies um keinen Pflanzenfresser handelte. »Wüßte gerne«, setzte er sein Selbstgespräch fort, »wann ich mal ein vollständiges Skelett finde...« Er wiegte den Kopf und strich mit den Fingern über die kalkweiße Knochenplatte des Schädels; die paarweise an den Seiten angeordneten Augenhöhlen starrten ihn an. »Zumindest muß es sich um ein Raubtier mit einem außergewöhnlichen Gesichtsfeld handeln«, sagte er und warf den Rest der Zigarette in den Sand, wo er funkenstiebend erlosch. Er zog die Jacke ganz aus, öffnete den Klettverschluß seines Hemdes und krempelte die Ärmel auf; es war inzwischen noch heißer geworden. Die Sonnenscheibe war vollkommen über dem Horizont heraufgestiegen und überschüttete jetzt, von keinen nen nenswerten Wolken behindert, die endlose Fläche der Hochebene mit ihrem Licht. Seit gut zwei Jahren arbeitete der Wissenschaftler am Terraforming-Projekt. In dieser Zeit hatte er bereits eine Reihe Skelett funde gemacht. Es handelte sich seltsamerweise ausnahmslos um Schädel. Eines der ungelösten Rätsel des Planeten. Eines von vielen. Es gab noch andere. In der Ferne hörte Lister ein Anschwellen des Windes. Dann wurde er gewahr, daß die Windgeschwindigkeit in seiner Nähe nicht zugenommen hatte. Die gedrehten Äste der Bäumchen be wegten sich kaum mehr als zuvor. Erst als das Geräusch an Lautstärke zunahm, erkannte er, daß der Wind nichts damit zu tun haben konnte. 25
Er wandte sich dem Geräusch zu und hob den Kopf. Minuten lang beobachtete er den Himmel, konnte aber zunächst nichts er kennen. Dann entdeckte er doch eine Bewegung im schier unend lichen Blau. Ein kaum auszumachender Punkt zwischen den Fe derschleiern der Zirrostratuswolken. Er sprang aus dem Schweber und stellte sich breitbeinig hin, den Kopf in den Nacken gelegt. Was war das? Ein defekter Versorgungsexplorer? Kaum. Im Bereich von einigen hundert Kilometern gab es zwei Routen, die die im Osten und Süden arbeitenden TerraformingTeams mit Nachschub aus Frontier Junction versorgten. Aber die Transporter flogen nie so hoch und waren vor allem nicht so schnell. Es mußte sich also um etwas anderes handeln. Vielleicht um eines der Erzschiffe aus dem Gürtel? Wenn, dann befand es sich in Schwierigkeiten. Lister tendierte aber mehr zu der Annahme, daß sich einer der unzähligen Gesteinstrümmer aus dem Asteroidengürtel gelöst und auf die Wanderschaft durch das System begeben hatte, um schlußendlich vom Schwerefeld des vierten Planeten eingefangen und in der Atmosphäre zum Verglühen gebracht zu werden. Der Punkt am Himmel wurde größer. Ohne ihn aus den Augen zu lassen, griff Lister in die Brusttasche des Hemdes, holte den Com-Rekorder hervor und begann seine Eindrücke zu schildern. Gleichzeitig versuchte er die Flugrichtung des Punktes in Verhältnis zu seinem Standort zu schätzen, um so viele Hinweise wie möglich über den voraussichtlichen Absturzort festzuhalten - falls das, was dieser Punkt darstellte, denn bis auf die Oberfläche kommen sollte. Konnte ja sein, daß er die Auf zeichnung später mal benötigte. Inzwischen war das ferne Heulen zu einem schrillen Pfeifen ge worden. Es schwoll an, riß ab, kam wieder und wurde noch lauter. Schließlich ging es in ein heulendes Crescendo über, ein Ton, der an einen Tornado erinnerte, und ein glühender, feuerumloderter Körper erschien, der einen Schweif ionisierter Luft hinter sich herzog. Die Flammen waren die der Reibungshitze. 26
Lister ging inzwischen davon aus, daß es sich bei dem her abstürzenden Objekt um einen Meteoriten und nicht um ein Raum schiff handelte. Er kam jetzt schon ziemlich tief heran, nördlich Listers Position, mit Flugrichtung Süden. Dort lag die Wüste. Feuer. Geräusche. Toben. Das herabstürzende Objekt glitt in der Ferne über den gezackten Rand der Barriere, die die Wüste von der Tundra trennte, und war plötzlich verschwunden. Ein paar Sekunden blieb es still. Lister wartete. Aber es gab weder ein donnerndes Krachen, noch ein Kreischen, Knirschen oder Ächzen. Lediglich ein scharfes Zischen, als tauche der weißglühende Meteorit ins Wasser. Doch es gab kein Wasser in der Wüste. Dann schraubte sich in der Ferne eine Staubwolke in den Him mel, aber sie zerteilte sich rasch im Wind. Lister überlegte. »Eigentlich«, sagte er halblaut, »könnte ich meine Zelte abbre chen und nach Frontier Junction zurückfliegen. Meine vier zehntägige Tour ist vorbei.« Der Schweber war vollbeladen mit Präparaten aus den Pflanzungen. Die genauen Analysen über die Wachstumsraten in Bezug auf die hier herrschenden Umweltbedingungen würde er im Hauptlabor erstellen, in dem er seine Untersuchungen durchführte. Und soviel hatte er bereits erkennen können: Seit seinem letzten Trip schien es einige interessante Veränderungen gegeben zu haben; das Wachstum war ungleich höher als erwartet. Dem mußte er nachgehen, und das bedeutete viel Arbeit. »Gut« führte er sein Selbstgespräch fort. »Fliegen wir zurück in die Zivilisation. Aber vorher werde ich nachsehen, was da wirklich heruntergekommen ist.«
N'Sadog hockte auf seinem Thron, ein insektoides, riesiges Wesen von fast drei Metern Länge, mit vier gelenkigen, paarweise an seinem Oberkörper angebrachten Gliedmaßen, die mit zahnkamm artigen Auswüchsen versehenen waren. Das Augenband im monströsen Schädel beobachtete unablässig die rundum angeordneten Skalen und Bildschirme der noch funk tionierenden Instrumente seines Raumschiffes. Und er wartete mit dem Stoizismus seiner Rasse, während sich sein Schiff dem vierten Planeten näherte und in eine hohe Umlauf bahn einschwenkte, die es mehrmals um den Himmelskörper führte. Durch den aktivierten Ortungsschutz unsichtbar für jede Scanner-Erfassung. Allerdings nicht für optische Erkennung. Nein, das nicht. Doch das Risiko mußte er eingehen; es blieb ihm keine andere Wahl. Der Planet zeigte ein rötlich-trockenes Aussehen ohne nennens werte Wasserflächen. In einer Entfernung von durchschnittlich 299.000 Poocs besaß er zwei Monde, die in Opposition zueinander standen. Die Trabanten waren von geringer Dichte und besaßen nicht mehr als ein Siebenundsechzigstel der Masse des Planeten. N'Sadog betrachtete die gelb-braun marmorierte Oberfläche über die vergrößernden Schirme. Seine Sensoren orteten auf einer Hochebene eine Ansammlung künstlicher Bauwerke, die sich, so hatte es den Anschein, auch in den Boden hinein zu erstrecken schienen; sie orteten auch ausge dehnte Hohlräume. Auf der Ebene selbst war das Rund eines kleinen Raumhafens zu sehen, der eine Verbindung mit der Ansied-lung hatte. Eine Reihe von Verbindungswegen führten von der Anlage weg oder zu ihr hin. Drei kleinere Raumfahrzeuge standen herum. Auf einem Turm erhoben sich die Antennen einer Hyper funkanlage. Die Ansiedlung war bewohnt - von wem? - und voll in Betrieb. N'Sadogs Instrumente orteten ein energieerzeugendes System von erheblichem Umfang in einem Komplex außerhalb der Ansied lung: Das Kraftwerk der Stadt. Energie war immer gut. Zur gege bener Zeit würde er sich ihrer bedienen müssen. Seine Sensoren 28
fingen keinerlei Anzeichen von Lebensform-Echos dort auf. Of fensichtlich voll robotisch. Noch besser. So konnte er ungestört arbeiten. Zwei weitere Energiequellen wurden lokalisiert, eine in der Hauptsiedlung selbst und eine in einem kuppeiförmigen Gebäude am Rande des Raumhafens. Es war kein sehr ansprechender Ort nach seinem Empfinden. Aber er hatte keinen Anlaß, wählerisch zu sein. Und so entschloß er sich bei der nächsten Umkreisung, das Beste daraus zu machen. Er brauchte nicht lange, um in relativer Nähe zur Ansiedlung eine geeignete Stelle zu finden, an der er das angeschlagene Schiff sicher landen und verstecken konnte. Er ging tiefer, wählte seinen Einflugwinkel so, daß er möglichst lange im Planetenschatten bleiben würde. Während des Abstiegs führten seine Flugkontrolleinrichtungen einige Anpassungen durch und steuerten das Schiff in eine immer niedrigere Bahn. Schnell näherte er sich dem Terminator in Richtung Tagseite. Ein erstes fernes Heulen wurde hörbar: die Reibung der Luftmo leküle an der Außenhaut. N'Sadog ließ den Hauptschirm nicht mehr aus den Augen. Er sah die Oberfläche des Planeten näher und näher kommen. Je tiefer das angeschlagene Spindelschiff sank und je dichter die Atmosphäre wurde, desto mehr verstärkte sich auch das Leuchten der durch die Reibung ionisierten Luftmassen, bis sein Raumschiff in niedriger Höhe einen weithin sichtbaren Flammen seh weif hinter sich herzog. Das ließ sich nicht ändern. Wenn man seinen Abstieg sehen sollte, mochte es sein, daß man ihn für einen dieser vagabundierenden Gesteinstrümmer hielt, von denen in diesem System Unmengen vorhanden waren. Er machte sich darüber also keine allzu großen Sorgen. Sorgen bereitete ihm jedoch, daß nach dem von ihm geplanten Manöver lange Zeit keine Energie mehr zur Verfügung stand, und er in gewisser Weise für eine bestimmte Periode völlig schutzlos sein würde, bis es dem Schiff gelang, mit Hilfe der es umgebenden Ressourcen nach und nach neue Energien in die Konverter zu transferieren. Dann war der Terminator erreicht; N'Sadogs Schiff bewegte 29
sich im hellen Sonnenlicht. Schließlich raste es nur wenige hundert Poocs hoch über die zerklüftete Landschaft hinweg und näherte sich im spitzen Winkel dem Boden; jeden Augenblick mußte der Aufprall erfolgen. Unmittelbar vor dem scheinbar unvermeidlichen Aufschlag ak tivierte er die Bremstriebwerke und transferierte die restliche En ergie in die Bugkonverter. Die Desintegrations-Projektoren brannten im Augenblick des Auftreffens einen Tunnel in die Felswand, in dessen Schutz das Schiff langsam in den Boden eindrang und dicht unter der Oberfläche zur Ruhe kam Als der Wind die Dampf- und Staubwolken verweht hatte, war vom Spindelschiff N'Sadogs nichts mehr zu sehen. Das Verhängnis hatte Xing erreicht. Keiner wußte es. Niemand ahnte es.
Lister sah nach der Zeit: 09.11 Uhr. Hmm... Der Ort des Aufschlags konnte höchstens zweihundert bis dreihundert Kilometer entfernt sein. Den Umweg, der eigentlich keiner war, konnte er machen. Es würde lediglich bedeuten, daß er zwei oder drei Stunden später in Frontier Junction eintraf. Entschlossen kletterte er in den abgewetzten Pilotensitz, setzte die zerkratzte Sonnenbrille auf, wendete den Schweber auf seinem Antigravfeld und konsultierte den im Armaturenbrett eingelassenen Kompaß. Die Nadel deutete auf den magnetischen Nordpol Xings. Sein Ziel lag im Südosten. Er trat den Beschleunigungshebel nieder; die Ebene mit den Baumpflanzungen blieb zurück. Die Anzeige des Geschwindigkeitsmessers kletterte von 40 auf 60, auf 80, 90... und blieb bei 100 konstant. In geringer Höhe überflog der Wissenschaftler die Barriere der Klippen - und die Wüste breitete sich vor und unter ihm aus. Über dem goldfarbenen Sandmeer beschleunigte er den Schweber auf einhundertfünfzig Kilometer pro Stunde. 30
Er sah im Geiste die Karten des Gebietes vor sich: ein etwas schiefes Dreieck, das mit der Spitze nach Norden zeigte. Die ab fallenden Verbindungsstrecken zu den Eckpunkten der Grundlinie wurden durch Gebirgszüge begrenzt. An der Basislinie, aus der ungefähren Mitte leicht nach Osten versetzt, lag Frontier Junction. Im topographischen Zentrum breitete sich die Wüste aus. Während des Fluges kamen ihm die ersten Zweifel, ob es sich tatsächlich um einen Meteoritenbrocken gehandelt hatte, der da heruntergekommen war. Er war kein ausgebildeter Astronom, und die komplizierten und verwickelten Bahngesetze planetoider Körper innerhalb der Schwerefelder von Planetensystemen waren ihm an und für sich ein Buch mit mehr als nur sieben Siegeln. Aber er besaß einiges Basiswissen, auch die Mechanik der Fallge setze waren ihm noch immer geläufig. Und so drehten sich seine Gedanken um die Überlegungen, daß die Geschwindigkeit des Meteors eigentlich wesentlich höher hätte sein müssen, als sie es tatsächlich war. Hatte ihn etwas abgebremst? Und wenn ja - was? Die Atmosphäre? Wohl kaum. Die Lufthülle Xings war etwa von jener Dichte, wie sie in zirka zweitausend Metern Höhe auf der Erde herrschte. Listers Schweber summte zuverlässig und trug ihn vorwärts. Hundertfünf zig Kilometer... Der langgestreckte, flache Hügelzug kam in Sicht, der die Wüste in Ost-West-Richtung durchschnitt. In der Frühzeit der planetaren Geschichte hatte sich an dieser Stelle vermutlich eine Kette kleinerer Vulkane erhoben, deren Auswürfe mit zur Bildung der Wüste beigetragen hatten. Als er die Erhebung hinter sich hatte, verringerte Lister die Fahrt; die Aufschlagstelle mußte bald in Sicht kommen. Er schaltete den Autopiloten ein und beobachtete das Gelände unter sich durch die Objektive des schweren Makro-Fernglases, das neben seiner primären Funktion als Feldstecher auch noch als Aufzeich nungsgerät diente. Ein Nanoprozessor speicherte alle Bildinfor mationen, die bei Bedarf jederzeit wieder über den kleinen Schirm 31
abgerufen werden konnten. Theoretisch sollte er einen Kreis von etwa 120 Kilometern Durchmesser überblicken können. Aber der Ausschnitt des Geländes, den er wirklich sah, maß wesentlich weniger. Er begann, methodisch die Umgebung abzusuchen, forschte nach Zeichen, die der Meteorit hinterlassen haben mußte, hielt Ausschau nach bestimmten Markierungen im Gelände, die auf seinen Karten nicht verzeichnet waren... Nichts! Die Sonnenstrahlen schufen Zonen scharf abgegrenzter Schatten über dem unwirtlichen Terrain. Lister überflog den Kamm einer gewaltigen Düne. Dahinter öffnete sich ein Tal, durch das ein ausgetrocknetes Flußbett führte. Die noch zu erahnenden Uferränder waren von unzähligen Verästelungen gezahnt. Es sah aus wie das Skelett eines riesigen Schlange; weiß, das Licht der Sonne schmerzend grell reflektie rend. Skelett...? Natürlich! Skeleton River! Er kannte diese merkwürdige Formation, die Zeugnis dafür ablegte, daß sich vor Urzeiten hier einmal ein mächtiger Fluß sein Bett gesucht haben mußte. Seine etwas makabre Bezeichnung stammte aus der Neuzeit: Er hatte sie von den Landvermessungsteams der Terraformer erhalten, die hier durch gekommen waren. Der Schweber glitt weiter. Er blieb über dem Flußbett, das sich in südlicher Richtung da hinzog. Natürlich nicht als Gerade, sondern stark mäandernd. Lister verlangsamte die Geschwindigkeit etwas und suchte mit dem starken Glas das Gelände vor sich ab, aber alles, was er sah, waren weiße Felsen, gelber Sand und schwarze Schatten. Minute um Minute verging, während der Wissenschaftler langsam nach Süden flog. Und dann entdeckte er es. Vor ihm lag ein großer Kessel, der von Dünen, Felsen und Kiesmergel gebildet wurde. Das Flußbett war in südlicher Richtung breit und sehr flach, und Sand hatte die Kiesel zugeweht. 32
Im Westen befand sich eine große, steile Felswand, vor der bis in eine Höhe von zirka zwanzig Metern eine Düne lag. Der Kamm wies einen tiefen Einschnitt bis zum Kesselboden auf, so als hätte ihn ein großer Körper durchflogen. Dahinter be fand sich in der Felswand eine Öffnung mit annähernd rundem Querschnitt und einem Durchmesser von etwa achtzig Metern. Die Wände schienen bläulich zu glühen War hier der Meteorit eingedrungen?
Es hatte den Anschein.
Aber wo waren dann die Spuren dieses Ereignisses?
Ein derartiger Aufschlag hatte üblicherweise die Gewalt von
mehreren Megatonnen Sprengstoff, selbst wenn die Reibungshitze dem Meteoriten bei seinem Fall durch die Atmosphäre nur einen Bruchteil seiner ursprünglichen Masse belassen hatte. Nichts von alledem war hier zu sehen. Keine aufgeworfenen Erdwälle oder tiefe Furchen in der Planetenkruste. Lister steuerte den Schweber zu Boden und setzte ihn unter einem Überhang ab, der seinem Gefährt Deckung gab. Warum er das tat, dafür hatte er keine rationale Erklärung. Er klemmte den Feldstecher wieder an seinem Arbeitsgürtel fest und überlegte. Minuten vergingen. Die Stille um ihn war erdrückend; der Wind war in diesem Kessel zum Erliegen gekommen. Nur die allgegenwärtigen Sandfliegen summten träge in der Hitze. Schließlich schwang er sich aus dem Schweber. »Auf geht's...«, murmelte er und entsicherte den schweren Para schocker rechts an der Hüfte. Langsam trat er zwischen den Felsen hervor, richtete seine Schritte auf den Düneneinschnitt mit der dahinterliegenden Öff nung in der Felswand und musterte dabei aufmerksam das vor ihm liegende Terrain. Unter den Sohlen seiner Stiefel knirschte der Kies.
Sonst war kein Geräusch vernehmbar.
Noch immer nicht...
Eine merkwürdige Ahnung nahm von Clive Lister Besitz. Er
wußte irgendwie, daß er in Kürze auf etwas stoßen würde, das er
nicht hatte voraussehen können. Er arbeitete sich keuchend durch den Düneneinschnitt, überquerte das sich daran anschließende flache Stück Boden und hielt dann etwa zwanzig Meter vor der Öffnung in der Felswand an. Sehr viel Hitze konnte bei dem Einschlag nicht freigesetzt worden sein - wenn man überhaupt von einem solchen sprechen durfte. Dann sah er, daß sich in der Tunnelöffnung etwas bewegte. Er konnte in dem dort herrschenden Halbdunkel nicht genau erkennen, was es war, aber Bewegung war definitiv vorhanden. »Hallo, Sie da!« rief Lister. »Sind Sie verletzt?« Keine Antwort. Natürlich nicht! Sind Sie verletzt... Wasfär ein Schwachsinn, dachte er verwundert. Wer überlebt schon einen derartigen Aufprall! Außerdem: Wie kam er bloß auf den Gedanken, daß es sich bei dem ab gestürzten Objekt nicht um einen Gesteinsbrocken aus dem All handelte? Und trugen nicht Meteoriten Leben höchstens ins Form von Bakterien? Aber je länger Lister den Tunnel betrachtete, um so mehr setzte sich in ihm die Überzeugung fest, daß es sich bei dem, was da heruntergekommen war, gar nicht um einen Meteoriten gehandelt hatte. Er runzelte die Stirn und spürte eine Welle von Übelkeit aus sei nem Magen nach oben schießen. Er machte einen Schritt auf den Tunnel zu, zögerte dann, blieb stehen und zog die schwere Waffe. Der Lauf glitt aus dem Halfter. Dann erstarrte Clive Lister, als das Alien aus der vagen Dunkelheit des Tunnels hervorkam und sich ihm in aller Deutlichkeit präsentierte. Das Blut gerann in seinen Adern. Etwas Unheimlicheres als das, was sich wenige Schritte von ihm entfernt aufrichtete und ins Licht trat, hatte er noch nie gesehen. Es handelte sich eindeutig um ein insektoides Individuum. Eine Gottesanbeterin von knapp drei Metern Länge, die ihn mit glühendem Leuchten aus einem den Schädel umspannenden Au
genband grimmig anstarrte. Das Licht der Sonne spiegelte sich auf schwarzem, schimmerndem Chitin und brach sich an den gezackten Klauen der paarweise angebrachten oberen Gliedmaßen. Der Kiefer des Monstrums öffnete und schloß sich mit einem scharfen Klicken, das Lister an blitzende Scheren gemahnte. Furcht verwandelte seine Gedärme in einen eisigen Klumpen. Er wollte wegrennen, getrieben von einem Impuls, der aus der archai schen Matrix seines Unterbewußtseins hochkochte. Statt dessen riß er den Paraschocker hoch. Viel zu spät. Seine Reflexe waren im Gegensatz zu denen des monströsen Wesens unerträglich langsam. Das Alien überbrückte die Entfernung zu Lister mit einer glei tenden Bewegung, die scheinbar ohne Zeitverzug vonstatten ging. Zwei Fangarme schlugen die Waffe mit einer Gewalt beiseite, daß Listers Handgelenk mit einem häßlichen Geräusch brach, während die Zangen der beiden oberen Arme sich um den Kopf des Mannes schlössen und mit der Gewalt von Hydraulikklammern zudrückten. Chitinharte Klauen bohrten sich in seinen Schädel. Der Wissenschaftler wurde ruckartig hochgezogen. Er fand keine Zeit mehr, seine Verzweiflung und Qual über den unerträglichen Schmerz laut hinauszuschreien, bevor er starb. Seine letzte Empfindung war blankes Entsetzen.
N'Sadog öffnete die Mandibeln zu einem schrecklichen Schrei des Triumphes. Wie in einem Rauschzustand drehte er den Schädel hin und her, während er selbst noch das letzte Quentchen von Leiden, das als elektrische Spannung durch seine Nerven und Muskeln blitzte, genußvoll assimilierte. Schließlich gewannen Vernunft und Scharfsinn in dem G'Loorn wieder die Oberhand. Er betrachtete das armselige kleine Wesen, das er getötet hatte, und das jetzt mit zerschmettertem Schädel am Boden lag, näher. Lister nannte es sich, soviel hatte er noch seinen Gedanken ent nehmen können, während es qualvoll starb. Und es war Teil einer
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größeren Gemeinschaft, die sich Menschen nannte. Merkwürdiges, zweibeiniges Lister-Wesen. Mit rundem Kopf, gedrungener Gestalt und kurzen Gliedern, von denen die beiden unteren noch in eine Art Schutz gehüllt waren. Schwach und amorph. Und so unglaublich langsam. Es schien dem G'Loorn wenig glaubhaft, daß ein derartig schwaches und langsames Geschöpf sich so lange auf einem Pla neten wie diesem am Leben hatte halten können, um zur beherr schenden Lebensform zu werden. Aber vielleicht war das, was da vor ihm lag, gar nicht die dominante Art. Vielleicht stellte es nur eine untergeordnete Spezies dar, während ihm die wahren Beherr scher noch verborgen blieben! Er sah jetzt ein, daß es doch besser gewesen wäre, das ListerWesen am Leben zu erhalten, um weitere Nachforschungen anstellen zu können. So wäre er an nützliche Informationen gekommen, aus denen er zusätzliches Wissen über den Zivilisationsstand des toten Wesens gewonnen hätte. Zu ändern war das aber nicht mehr, also verschwendete er keinen weiteren Gedanken daran. Immerhin war es ein Glücksfall für ihn, daß er eine Rasse gefunden hatte, derer er sich bedienen konnte, um seinen mentalen Hunger zu löschen. Allerdings gab es gewisse Voraussetzungen, die solch eine Rasse zu erfüllen hatte. Der Gedanke, sich mit minderwertigen Geschöpfen abgeben zu müssen, rief Abscheu in ihm hervor, aber selbst Minderwertige waren noch allemal besser als Einzeller oder sonstige Parasiten. Er hob die Waffe auf, die das Wesen bei sich getragen hatte und untersuchte sie sorgfältig, um ihren Mechanismus zu ergründen. Die Bauart war ihm nicht geläufig, aber es war eindeutig eine Strahlwaffe, ein Paralysator, der auf die Neuralsysteme des Opfers einwirkte. Vermutlich vorzugsweise auf das periphere Nervensy stem, das die Muskelbewegungen und ähnliche Willensfunktionen steuerte. Der G'Loorn revidierte seine Meinung. Diese Lebensform, diese Menschen, waren zweifelsfrei intelli gent. Intelligente Wesen aber waren voller mentaler Energien! 36
Und es waren ihrer so viele auf dieser Welt!
Die Erkenntnis überlief ihn wie ein heißer Schauer.
Seine Klauen zuckten in einer konvulsivischen Bewegung, die
dornbewehrten Mandibeln seines monströsen Schädels öffneten und schlössen sich klickend. Ein rauschhaftes Prickeln durchlief sein kompliziertes Nerven system, während er sich vorstellte, bald diese schwächlichen Wesen zu zerschmettern, ihnen die Glieder zu brechen, Knochen und Sehnen in Fetzen zu reißen und dabei ihre Leiden genußvoll zu assimilieren, während sie in Agonie langsam dahinsiechten. Und er wußte auch schon, wie er das bewerkstelligen konnte.
Aber zunächst brauchte er weitere Informationen.
Er warf die Waffe weg und untersuchte das tote Lister-Wesen.
Es steckte in einer Schutzkleidung, die bewies, daß es und sei
nesgleichen Schutz vor den klimatischen Bedingen brauchte. Er entfernte sie. Der weißliche, schlaffe Körper rief Ekel in ihm hervor. Er riß sich zusammen. Es mußte getan werden. Er setzte eine rasiermesserscharfe Klaue unterhalb des Kopfes an. Eine wie beiläufig wirkende Bewegung - und der Körper wurde der Länge nach aufgetrennt. Wie er es sich gedacht hatte! Bei der hier lebenden Spezies handelte es sich um Wirbeltiere mit einem Endoskelett. Umhüllt mit langfaserigem Fleisch und Muskelgewebe. Nicht sehr effizient - und vor allem sehr, sehr anfällig gegen Gewalteinwirkung von außen. Die nächste Frage war: Was sollte er mit der Leiche tun?
Er tat das naheliegendste.
Er verbrannte sie mit Hilfe seiner eigenen Waffe.
Dann kehrte er in die Dunkelheit des Tunnels und zu seinem
Schiff zurück, mit dem Vorhaben, diese Öffnung sobald wie möglich gegen jeden weiteren Einblick zu tarnen. Er mußte vorläufig im Verborgenen agieren, um seine Schwäche zu tarnen. Bis auf jene Zeitperioden, in denen er seinen Hunger stillen wollte, stillen mußte.
Xing, Frontier Junction - Tage später Irgendwann in der Nacht erwachte Kimberly Nev. Aus dem Schlaf gerissen von einem Geräusch, das nur noch als Nachhall in ihrem Kopf vorhanden war und einen schlechten Geschmack in ihrem Geist hinterließ. Sie lag auf der Seite, unter einem schweißfeuchten Laken.
Ihr Herz klopfte.
Sie konnte den Puls in ihren Schläfen hämmern spüren.
Langsam nur klärte sich ihr Geist; die wispernden, raunenden
und rufenden Stimmen ihres Alptraumes verschwanden. Sie blinzelte und rollte sich mit einem tiefen Seufzer auf den Rücken. Willkommen unter den Lebenden... Wer hatte das gesagt?
Sie lauschte mit angehaltenem Atem.
Im Haus war alles still; auch draußen war es ruhig.
Hmm... Sie schalt sich eine furchtsame Pute.
Was immer sie gehört haben wollte: Es war nichts.
Dann hörte sie doch Geräusche.
Das Schwirren des Chrono neben ihrem Bett.
Weiter entfernt das Summen der Reglerschaltung für die Raum
heizung - so heiß die Tage auch waren, Xings Nächte waren am Rande der Barriere-Wüste verflixt kalt. Eines der Bretter an der linken Wand - überladen mit Ton- und Bildträgern für das Vipho, knackte vernehmlich. Doch das waren keine Geräusche im eigentlichen Sinne. Sie gehörten so zu ihrer Behausung, daß sie niemals störten. Ganz im Gegenteil, wären sie plötzlich verstummt, hätte dieser Umstand sie weit eher aus dem Schlaf gerissen. Es mußte etwas anderes gewesen sein, das sie aufgeschreckt hatte. Komisch. 38
Sie lauschte erneut. Nichts... Aber weshalb dann diese unerklärliche Unruhe in ihr? Ob es mit dem Traum zusammenhing, der sie seit einigen Tagen heim suchte? Eigentlich glaubte sie nicht an böse Vorahnungen, aber es gab ihr zu denken, daß sie immer den gleichen Traum hatte. Nach einer Weile streckte sie die Hand aus und betätigte einen Schalter. Die kleine Lampe neben dem Bett schuf einen genau ab gezirkelten Kreis von Helligkeit. Eine leere Tasse war darin zu er kennen und der Bericht für die Kommission, an dem sie vor dem Einschlafen noch gearbeitet hatte. Sie warf einen Blick auf das Zeitfenster des Zimmer-Chrono: drei Uhr morgens planetare Zeit. Xing besaß mit seiner Rotations geschwindigkeit von dreiundzwanzig Stunden um die eigene Achse fast Terra-Norm. Himmel...! Sie hatte nicht mehr als drei Stunden geschlafen. Und heute hatte sie einen harten Tag vor sich. Wie hart, konnte sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht einmal erahnen. Sie schwang die Beine über die Bettkante und setzte sich auf. Mit spitzen Finger entfernte sie eine Haarsträhne, die an ihrer Wange klebte - in diesem Moment setzte das Geräusch wieder ein, das ihren Schlaf unterbrochen hatte. Eine helle Stimme. Sie kam eindeutig aus Chris' Zimmer. Hatte er wieder eine seiner schlimmen Nächte und sprach im Schlaf? Es schien so. Sie beschloß, nach ihm zu sehen, schwang ergeben die Beine über die Bettkante und setzte sich auf. Ihr eigener Alptraum war verschwunden, aber irgendwie wußte sie, daß er wiederkommen würde. Sie kratzte sich in der Leisten gegend, trat auf den Flur hinaus und ging ihn auf nackten Füßen entlang. Chris' Murmeln wurde lauter, hektischer - sie glaubte Panik darin zu erkennen - brach dann aber ab, als sie die Tür öffnete und 39
ins Zimmer trat. Ihr Sohn schien tief und fest zu schlafen! Irritiert trat sie leise ans Bett und beugte sich über ihn; der schwache Lichtschein vom Flur ließ ihn bleich aussehen, ein leichter Schweißfilm lag auf seinem Gesicht. »Bist du wach?« murmelte sie und unterdrückte ein Gähnen. Ruhiges Atmen. Sie schüttelte den Kopf und schaute sich in dem Durcheinander in seinem Zimmer um; wie erwartet fand sie außer dem Stuhl vor dem Arbeitstisch mit der Suprasensor-Konsole keine vernünftige Sitzgelegenheit, also hockte sie sich statt dessen aufs Bett und be trachtete ihn. Sie seufzte. Groß war er inzwischen geworden; wie schnell doch die Zeit verging. Sein Haar war lang, fast so lang wie das eines Mädchens, was ihm mitunter den Spott seiner Mitschüler und die Mißbilli gung des Schulleiters eintrug. Das Kinn und die hohe Stirn erin nerte immer mehr an Zak. Sie seufzte wieder. Manchmal wünschte sie sich, Chris wäre nicht schon vierzehn und sie wären noch auf der Erde. Aber das waren törichte Gedanken. Dann wurde sie gewahr, wie eine Veränderung mit ihm vorging. Die Augen unter den geschlossenen Lidern bewegten sich ruck artig. Sein Atem kam stoßartig. Seine Beine zuckten, so als laufe er in seinem Traum hinter jemandem her - oder vor etwas davon. Seine Unterlippe begann zu zittern, als würde er jeden Moment an fangen zu weinen. Dann begann er mit sonderbar gutturaler Stimme kaum verständliche Worte zu murmeln. Sie beugte sich zu ihm hinunter und lauschte auf das, was er sagte. Seine Stimme wurde lauter, verständlicher. »... geh weg... n-n-nein, ich... will n-n-i-nicht.« Kimberly schluckte mit trockener Kehle. Eine Gänsehaut jagte über ihren Rücken und ließ sie schaudern. »Chris!« sagte sie scharf. 40
»Nein!« sagte er plötzlich, ohne die Augen zu öffnen, und seine Stimme war von einer nie gekannten Härte. »Verschwinde. Du gehörst nicht hierher...« Sie griff nach seinen Handgelenken und schüttelte ihn.
»N-n-nein...!«
Chris schlug die Augen auf, sah durch sie hindurch. Sein Atem
kam stoßweise. »Unglaublich«, murmelte er. »Was?« Kimberly beugte sich vor. Sie war sich nicht sicher, was er gesagt hatte. »Was es ist... wozu es fähig ist... was es tun kann...« Er spricht nur im Schlaf, obwohl er die Augen offen hat, dachte Kimberly, aber sie spürte erneut einen kalten Schauer »Ruhig, mein Liebling, ruhig!« sagte sie eindringlich, um die Barriere zu durchdringen, die seinen Geist gefangenhielt. »Ich bin ja bei dir. Es war nur ein Traum! Verstehst du? Nur ein Traum. Es ist alles in Ordnung! Du bist in Ordnung!« Sie strich ihm den Schweiß von der Stirn.
»Willst du was trinken?«
»Nein, Mom.« Seine Stimme klang sehr dünn, sehr jung. Fast
so, als sei er nicht älter als fünf oder sechs. »Nein, mir geht's gut.« Seine Stimme verlor sich. »Bist du sicher, Chris? - Chris?« Er war bereits wieder eingeschlafen. Kimberly Nev wartete ein paar Minuten; sein Atem war ruhig, kam tief und regelmäßig. Schließlich zog sie die Decke bis zu seinem Kinn hoch, beugte sich zärtlich hinunter und küßte ihn auf die Wange. Etwas, was er im wachen Zustand empört vereitelt hätte. »Ich habe dich sehr, sehr lieb«, flüsterte sie. Dann kehrte sie in ihr Zimmer zurück.
In Gedanken bei Chris.
Sie hoffte, daß er nicht mehr träumte.
Es war noch immer still in der Wohnung.
Auch draußen war es still.
Mondlicht fiel in breiten Bahnen durch das Fenster. Es mußte
lan sein. Lo war um diese frühe Morgenstunde bereits wieder un tergegangen.
Kimberly Nev kroch wieder ins Bett. Sie zog die Beine unter der Decke an und legte die Arme auf die Knie. Eine Weile blieb sie regungslos sitzen. Sie dachte an ihren Traum in der Nacht, ehe Chris' Stimme sie geweckt hatte. Ihren Traum... In ihm lief sie durch eine Wüste. Nackt. Schutzlos. Sie spürte den grobkörnigen Sand unter ihren bloßen Füßen. Ein nachtkalter Wind ließ sie frieren. Zwei Monde, kalkweiß und riesig groß, standen über ihr und schienen sie wie die Augen eines Ungeheuers anzustarren. Obwohl sie alleine war, konnte sie hören, daß jemand neben ihr lief. Ein seltsames Zischen und Rascheln, als gleite dieser... dieses Ding nur über den Boden dahin, anstatt fest aufzutreten. Wie eine Natter, die sich über heißen Wüstensand schlängelte. Aber immer, wenn sie zur Seite blickte, wich der schwarze Schemen zurück und sie sah nur ihren eigenen, verzerrten Schatten im fahlen Licht der Monde... Seltsam. Nein, mehr als das. Bizarr und beunruhigend... Was es ist... wozu es fähig ist...? Sie seufzte. Sie wünschte sich, Chris' Gedanken lesen zu können. Was es tun kann... Wen meinte Chris? Ob er sich nach dem Aufwachen noch daran erinnern würde, was er in der Nacht geträumt hatte? Sie beschloß, ihn zu fragen. Er wich ihr zwar immer aus, wenn sie, was selten genug vorkam, an seinen Gedanken teilhaben wollte. Aber er hatte sich noch nie so seltsam benommen wie in dieser Nacht. Also würde sie diesmal darauf bestehen, und damit basta! Sie griff nach dem Bericht. Eine Weile las sie darin, suchte nach Schwachstellen. Fand keine und war sehr zufrieden mit sich. Sie wurde schläfrig. Die Lider flatterten. Die Seite, in der sie ge rade las, hatte sie schon ein paarmal in der Hand gehabt. Ver 42
dämmt! Sie konnte sich nicht mehr konzentrieren. Sie gähnte. Ihre Finger wurden schlaff, ließen den Bericht fallen. Er rutschte über die Bettkante auf den Boden. Sie nahm sich nicht die Mühe, ihn aufzunehmen. Ihre Hand tastete nach dem Licht schalter. So. Jetzt würde sie schlafen. Zum Teufel mit den Alpträumen! Sie streckte sich aus und schloß seufzend die Augen. Sie wollte sich eben in die Kissen vergraben - als schriller Lärm sie auffahren ließ. Verdammt! Was war denn jetzt schon wieder? Mit jagendem Puls fuhr sie hoch. Dann erkannte sie, daß es früher Morgen war und der Wecker sie aus dem Schlaf gerissen hatte. Idiotisch, aber nicht zu ändern. Es brachte auch nichts, zu versuchen, weiterzuschlafen. Sie hatte einen arbeitsreichen Tag vor sich. Und das wußte sie. In ihre Überlegungen hinein summte das Vipho. Sie aktivierte das Gerät. »Ja?« Es war Greg Zarn, ihr Vorarbeiter. »Punkt acht vor Ihrer Tür, Ma'm.« »Hmmm. - Okay.« »Wie geht's?« »Weiß ich nicht, hab' noch nicht gefrühstückt.« Zarn kicherte, was bei seinem Alter etwas albern klang. »Also, bis später.« »Okay. Danke.« Sie duschte, zog einen Morgenrock an und lief in die Küche hinunter. Chris war schon auf und hatte Frühstück gemacht. Sie zog aner kennend die Brauen hoch; der Kaffee brodelte in der Glaskanne, auf der Warmhalteplatte stand ein Teller mit Rührei und knusprigem Speck. Es geschah in letzter Zeit immer häufiger, erinnerte sie sich. Meist dann, wenn sie ein ausgedehntes Diagnoseprogramm zu bewältigen hatte. Sie lächelte, goß sich Kaffee ein, griff sich den bereitgestellten Teller und ging, beides in den Händen 43
balancierend, zu Chris, der, seinen heißen Kakao schlürfend, am Tisch saß und auf einem Mini-PAD irgendein Spiel spielte. Sie setzte sich. »Morgen, Schatz« »Morgen, Mom.« »Du wirst dir noch die Augen verderben, Junge.« »Mom...!« murmelte Chris und schüttelte vorwurfsvoll den Kopf. »Ist ja gut. Ich höre schon auf.« »Übrigens, Mom«, es klang beiläufig. »Du sollst dich mal in der Schule sehen lassen.« O, oh! Das klang nicht gut. Aber sie beschloß, positiv zu denken. »Wer sagt das?« »Hmm... Mister Allender. Er möchte dich sprechen.« Mister Poe Allender war Chris' Schulleiter. »Nanu?« Sie tat erstaunt. »Was ist den los? Was ausgefressen?« »Öhh, eigentlich nicht...«, druckste Chris. »Ja oder nein?« Kimberly beharrte auf diesen Alternativen; sie kannte schließlich ihren Sohn. »Vielleicht. Vermutlich... ja.« »Eine ernste Sache?« »Nö...« »Dann sage ihm, sobald ich Zeit habe, komme ich vorbei.« Chris strahlte. »Fein, Mom. Heute?« »Nein. Ich glaube nicht...« Sie zögerte. »Ich habe die Kondensatoren draußen über der Farm von Pea dras zu überprüfen. Es wird Mittag werden, bis ich damit fertig bin. Ein anderes Mal vielleicht.« Er stand auf. »Vielleicht. Du arbeitest zu viel, Mom.« Es klang nicht vorwurfsvoll. Es war einfach eine Feststellung. Eine, die al lerdings zutraf. Sie beschloß, nicht darauf einzugehen. »Mußt du schon gehen, Schatz?« Er trank seine Tasse leer. »Der Schweber kommt jeden Moment. Ich will nicht, daß er auf mich warten muß.« Und weg war er. 44
Erst da merkte sie, daß sie vollkommen vergessen hatte, ihn über seinen Traum auszufragen, wie sie es sich eigentlich vorgenom men hatte. Aber jetzt war es zu spät, sie mußte dieses Vorhaben auf einen späteren Zeitpunkt verschieben. Vielleicht wenn er aus der Schule kam. Das lenkte ihre Gedanken unweigerlich wieder auf den Schulleiter. Ein Eiferer. Ein Mann, mit dem sie nicht zurechtkam, mit dem viele in Frontier Junction nicht zurechtkamen. Nur hatten die nicht das Problem, das sie hatte. Ihre Eingeweide zogen sich zusammen. Poe Allender! Er möchte dich sprechen... Würde er wieder davon anfangen, daß ihr Sohn nichts in der Schule verloren hatte? Daß sein Anderssein in der kleinen, überschaubaren Gemeinschaft dieses Außenpostens der Menschheit nur Unruhe und Mißtrauen, ja sogar Feindschaft erzeugte und er, wenn man es bei Licht betrachtete, eigentlich nirgends was verloren hatte? Außer vielleicht auf einem Planeten oder Mond oder tief unter der Erde unter seinesgleichen. Ihre Hände hatten sich um die Tasse gekrampft, daß es weh tat. Sie mußte sich zwingen, den Druck ihrer Finger zu lösen, ehe das Material zersprang. Nein, sie würde nicht zulassen, daß man ihm weh tat, ihrem Jungen. Nie mehr. Und niemand. Nicht umsonst hatte sie besondere Aufmerksamkeit und Mühe auf seine Erziehung gelegt. Und nur sie. Zak hatte sich ja beizeiten aus der Verantwortung gestohlen. Hatte ihr die Bürde überlassen. Hatte das Feld kampflos geräumt. Sich davongeschlichen wie ein Dieb in der Nacht. Zacharias »Zak« Houska... Dieser Hundesohn. »Ich - ich kann nicht mit dem Gedanken leben«, hatte er ihr auf der Shuttlerampe an dem Tag, als er sich davonstahl, eröffnet »ein Monster gezeugt zu haben. Außerdem - wer sagt mir, daß ich der Vater bin? In meiner Familie hat es nie - nie Abnormitäten gegeben. ..« Er sagte das Wort wie etwas widerlich Unanständiges. Für Sekundenbruchteile war sie erstarrt. Dann hatte sie ihre ganze Wut, ihren Schmerz über seinen Verrat und seine ungeheu erliche Unterstellung in den Schlag gelegt, der seine Augenbraue 45
aufbrechen ließ wie eine rote Blüte. Zak hatte sie nur angesehen. Sekundenlang. Während ein dünner Blutfaden in seinem Dreitagebart versik kerte. Dann hatte er die Schultern gezuckt und war die Rampe hoch gelaufen, um für immer aus ihrem und dem Leben von Chris zu verschwinden... Damals hatte sie nur Zorn und brennende Wut empfunden, sobald sie an ihn dachte. Dann war davon nur noch Geringschätzung übriggeblieben. Heute war die Erinnerung an ihn verblaßt wie eine alte Tapete in einem längst nicht mehr bewohnten Haus. Und sie hatte sich eines geschworen: nie wieder ihr Herz so sehr an einen Menschen zu hängen wie an Chris' Vater. Nie mehr. Eine Abnormität hatte Zak ihrer beider Sohn genannt. Was für ein dummes Zeug! Chris war eines der schönsten Babys, das je das Licht der Erde erblickt hatte. Natürlich war sie während der letzten Wochen der Schwanger schaft in Sorge über mögliche Komplikationen bei der Geburt wie jede junge Mutter, die ihr erstes Kind erwartete. Der Doc im Childrens' Health Center von World-City beruhigte sie, es würde keine Probleme geben. Und tatsächlich hatte Kimberly eine leichte Geburt und brachte am 11. Januar 2043 einen gesunden Jungen zur Welt. Bei den Routineuntersuchungen wurden keinerlei Auffälligkeiten festgestellt - bis auf eine gesteigerte Hirnstromak tivität, die in diesem zarten Alter ungewöhnlich war. Aber das würde sich geben, hatte der Arzt versichert, sobald der Junge einige Wochen alt sei. Offenbar hatte es unmittelbar vor der Geburt eine gewisse Reizüberflutung für den Fötus gegeben. Zak und Kimberly konnten sich zuerst nicht auf einen Namen einigen, entschieden sich aber dann für Christopher. Nach Christo pher da Nev, einen von Kimberlys fernen Vorfahren, der mit Vasco da Gama auf dessen berühmter Expedition den Seeweg nach Indien erkunden half... Das Vipho riß sie aus ihren Gedanken. Sie meldete sich. 46
Greg Zarn war in der Leitung. »Ich fahre jetzt los«, ließ er sie wissen. »In Ordnung.« Kimberly stellte das Geschirr in den Spüler und ging in ihr Zim mer, um sich anzuziehen. Sie sah in den Spiegel, musterte aufmerksam ihr kurzes, rotes Haar, das immer etwas unfrisiert wirkte, egal was sie damit an stellte, und die kaum sichtbaren Sommersprossen in ihrem schmalen, frischen Gesicht. Sie beugte sich näher zum Spiegel und betrachtete prüfend ihre Haut. Nein. Da waren noch keine Falten zu erkennen. Tatsächlich war Kimberly Nev attraktiv, langbeinig, hellhäutig wie alle Rothaarigen und besaß weich schimmernde Augen in einem leichten Grünton. Sie kniff die Augen zusammen und grinste albern. Dann streckte sie sich die Zunge heraus, seufzte - Gott, was für elegische An wandlungen für eine erwachsene Frau und Wissenschaftlerin und beeilte sich mit ihrer Garderobe. Sie ging nach unten, griff sich ihren Arbeitskoffer und trat genau in dem Moment auf die Straße hinaus, als der wuchtige Schweber des hydrologischen Amtes um die Ecke bog und in einer Staubwolke vor ihr zum Stehen kam. Zarn grinste sie aus dem Fahrzeug heraus an. Ein fünfundfünf zigjähriger, vierschrötiger Baum von einem Kerl. Muskulös, glit zernde Augen, steile Nase und Glatze. Seine Hände sahen aus, als könne er damit den Boden von Xing ohne irgendwelche Hilfsmittel umgraben. Ein verläßlicher Mann, den wenig aus der Ruhe brachte. Sie arbeitete gern mit ihm. »Ah, guten Morgen, Doktor!« »Morgen, Greg.« Sie ließ sich in den Sitz fallen. »Schon was von Clive gehört?« »Negativ.« »Was könnte da passiert sein?« »Weiß nicht.« Er zuckte mit den Schultern, während er den Schweber startete und über die Hauptstraße Frontier Junctions steuerte. »Die letzte bekannte Position«, überlegte Kimberly laut, »war die Pflanzung auf der Hochebene jenseits von Haywires Farm.
Wohin könnte er sich gewandt haben? Und warum meldet er sich nicht?« Ist eigentlich nicht seine Art, dachte sie. Clive Lister war einer der wenigen Männer in Frontier Junction, mit denen Kim näheren Kontakt pflegte. Einerseits war er ein be gnadeter Erzähler von Bonmots und kleinen Geschichten, deren Wahrheitsgehalt nicht immer nachzuprüfen war, andererseits schätzte er ihr Wissen als Xenobiologin. Sie machte sich Sorgen, ohne zu wissen, ob dazu Anlaß bestand.
Der gleiche Morgen - etwas früher Die Sonne stand hier im Norden des Planeten bereits mehrere Handbreit über dem Horizont. Der Wind verlor die Kühle der Nacht. Schweigend stand Scott Haywire vor dem Pflugdozer und erledigte die letzten Handgriffe. Heute waren die Felder an der östlichen Seite des Areals mit dem Pflügen dran. Es war höchste Zeit dafür. Und ausgerechnet heute war sein Farmhelfer Terry Gustavson nirgends zu finden. Eigentlich hatten sie vorgehabt, mit zwei Pflugdozern gemeinsam ans Werk zu gehen, um die Arbeit noch vor dem Abend unter Dach und Fach zu bringen. Wie es aussah, mußte er morgen noch einmal dort hinaus. Es wurde eng, verdammt eng. Soviel sah er schon jetzt. War das Land nicht vorbereitet, konnten die Terraforming-Teams die Bäume nicht setzten. Das bedeutete, daß die Explorer in den Hangars bleiben mußten, daß Männer tatenlos herumsaßen und der vorge sehene Zeitrahmen aus den Fugen geriet... Er fluchte laut und erbittert und langanhaltend. Sein Frau Greta kam aus dem langgestreckten, niedrigen Lager schuppen neben dem Haupthaus mit der umlaufenden Veranda. »Und?« fragte er. Sie schüttelte den Kopf; die noch tiefstehende Morgensonne ließ sie die Augen zusammenkneifen. 48
»Keine Spur von ihm. Ich kann ihn nirgends finden. Sein Zimmer ist leer, das Bett sieht aus, als habe er eine Weile darin ge schlafen. Dann muß er aufgestanden sein. Seine Arbeitskleider sind verschwunden. Aber wohin er gegangen sein könnte...« Sie schüttelte erneut den Kopf. »Und du? Hast du eine Spur? Fehlt eine Maschine?« »Wenn er die Farm verlassen hat«, erwiderte er zornig, »hat er es zu Fuß gemacht.« »Das ist doch sonst gar nicht seine Art«, meinte sie, »zu ver schwinden, ohne einen Ton zu sagen.« Sie kam langsam über den Hof auf ihn zu. Er zuckte die Schultern und schwang sich in den Sitz des Do zers. »Art hin, Art her«, grollte er. »Wenn ich ihn in die Finger kriege, wird er sich einiges anhören müssen. - Aber jetzt muß ich los, sonst brummen die uns noch eine Konventionalstrafe auf. Und du weißt, was das heißt, Frau!« Der Farmer startete die Maschine mit einem wilden Ruck; der A-Grav hob den Dozer auf eine Höhe von etwa fünfzig Zentimetern an; noch war der Raupenantrieb seitlich hochgeklappt. Das angehängte vielscharige Pflugsystem begann zu klirren. Haywire umklammerte den wuchtigen Steuerhebel. Er wollte das Gerät ge rade in Bewegung setzen, als Greta ihm ans Bein klopfte. »Was denn noch?« Sie hob den kleinen Container. »Dein Mittagessen...« Scott dankte ihr mit einem knappen Nicken, deponierte den Con tainer hinter seinem Sitz und lenkte das Gefährt über den Rasen streifen zu einem Durchgang im Zaun, der den Hof von den an grenzenden Feldern trennte. Die Farm blieb hinter ihm zurück. Er beschleunigte bis zur ma ximalen Geschwindigkeit des Pflugdozers. Der Fahrtwind zerrte an seinen Haaren und kühlte ein wenig sein sonnenverbranntes Gesicht. Eine halbe Stunde später hatte er die Grenze des Areals erreicht, das er für die Pflanzung der Bäume vorbereiten sollte. Er ließ den Raupenantrieb herunterklappen, schaltete den A-Grav aus und drehte den riesigen, hochkant stehenden Pflug in die Waagerechte, 49
um schließlich den ganzen Mechanismus abzusenken. Über die Suprasensorik stellte er die Tiefe ein, bis zu der die scharfen Messer den Boden umpflügen sollten. Dann begann er damit, seine Runden zu drehen, Bahn um Bahn zu ziehen. Die Größe des Pfluges gab dabei die Breite vor: fast zehn Meter. Wenngleich er noch immer ungehalten darüber war, daß sich Gustavson scheinbar still und heimlich aus dem Staub gemacht hatte - wahrscheinlich wollte er sein Glück in der Mine versuchen, die wesentlich mehr an Lohn zahlte, als er es konnte - so spürte er doch, wie sein Ärger langsam verrauchte. Er holte tief Luft und füllte seinen Lungen mit dem erdigen Duft frisch gepflügten Bodens. Obwohl er seine Jugend auf der Erde verbracht hatte, empfand er die Wiege der Menschheit längst nicht mehr als sein Zuhause. Jetzt war Xing seine und Gretas Heimat. Wenn er sich doch mal Gedanken über die Erde machte, hatte er nur die Erinnerung an überfüllte, riesige Städte, in denen die Menschen dichtgedrängt und weitgehendst ohne Natur lebten. Hinter dem Dozer türmten sich die Schollen zu endlosen Zeilen. Das Land war, nach xingschen Verhältnissen einigermaßen fruchtbar. Die meisten Nutzpflanzen und Bäume, die hier wuchsen, waren einmal als Saatgut mit dem ersten Kolonistenschiff von der Erde gekommen und hatten nach einer Phase der Anpassung keine Schwierigkeiten auf ihrer neuen Heimatwelt. Scott Hay wire hielt den Steuerknopf locker in der rechten Hand, die linke lag auf seinem Oberschenkel, während er automatisch nach Hindernissen im Boden vor ihm Ausschau hielt, die den Messern des Pfluges gefährlich werden konnten. Für derartige Fälle hatte er einen schweren Zweihandblaster in der Halterung neben seinem Sitz, mit dem er alles, was zu groß war, um vom Pflug bewältigt zu werden, zerkleinern konnte. Das Areal, das er pflügte, lag am nordöstlichen Rand seiner 4.000 Morgen großen Farm. Es war leicht geneigt und lag inmitten sanfter Erhebungen. Ein ausgetrocknetes Bachbett schlängelte sich an seinem Rand entlang. Wenn er den Blick hob, konnte er weit entfernt im Glast der 50
Sonne den langgestreckten, niedrigen Zackenkamm der Klippen barriere erkennen, hinter der der trockenste Teil dieses Gebietes begann. Die Barriere-Wüste. Der Gedanke an die Unwirtlichkeit dieses Landstrichs brachte die Erinnerung an ein Phänomen zurück, das er und Greta vor we nigen Tagen zu sehen geglaubt hatten. Irgendwas schien aus dem Himmel gekommen und in die Wüste gestürzt zu sein. Aber genausogut konnten sie sich getäuscht haben; das blen dende Licht der Sonne spielte einem manchmal Streiche. Scott konzentrierte sich wieder aufs Pflügen und ließ seine Blicke schweifen. Ein paar Minuten später sah er den Gegenstand etwa vierzig Schritte zu seiner Linken auftauchen. Eine freiliegende knotige Baumwurzel? Aber er hatte noch nie eine derart große Baumwurzel hier gefunden. Ganz abgesehen davon, daß dieses Areal bislang keine höheren Gewächse als Speergras hervorgebracht hatte. Seine Neugier war geweckt. Er hielt den Pflugdozer an, ließ den Antrieb aber weiterlaufen. Er stieg herunter und streckte sich. Es knackte vernehmlich, als sich sein krummer Rücken wieder aufrichtete. Dann stapfte er auf den Gegenstand zu. Keine zwei Dutzend Schritte später hörte er die Sandfliegen.
Ein Kadaver?
Dann fiel ihm ein, daß Xing keine Fauna im herkömmlichen
Sinne besaß. Ob sich eines der kleinen Rinder hierher verirrt hatte? Wenn, dann mußte es von einer der anderen Farmen stammen. Er hatte heute morgen bei der Fütterung seiner eigenen Tiere keines vermißt. Er runzelte die Brauen, blieb aber nicht stehen.
Schließlich stand er vor dem Gegenstand.
»O Gott«, keuchte er und spürte, wie sein Magen rebellierte.
Es war keine Baumwurzel.
Auch kein Tierkadaver...
Scott Haywire wandte sich ab und beugte sich würgend vorn
über. Die schwieligen Hände auf die Knie gestützt, übergab er sich geräuschvoll, während sich das Bild des gehäuteten Körpers von Terry Gustavson für immer in sein Gedächtnis einbrannte. 51
5. Frontier Junction, noch immer der gleiche Morgen Als der Schweber an der Schule vorbeikam, gab Kim einem plötzlichen Impuls nach und ließ Zarn anhalten. Sie konnte es gleich erledigen. Je früher sie das Gespräch mit Allender hinter sich brachte, um so besser war es für ihr Seelenheil. »Warten Sie hier, Greg«, sagte sie kampfeslustig. »Ich bin schnell wieder zurück, denke ich.« Als sie das Gebäude betrat, spürte sie Zarns erstaunte Blicke. Anscheinend fragte er sich, was in seine Chefin gefahren sein mochte, die sich am frühen Morgen bereits den Sermon eines Schulleiters anhören wollte. Sie grinste in sich hinein. Das Lächeln auf ihrem Gesicht verschwand, als sie gleich darauf Poe Allender in seinem Büro gegenüberstand. Er bot ihr zwar an, Platz zu nehmen, aber sie verzichtete. »Ich vermute, Chris hat wieder mal nicht Ihren Vorstellungen entsprechend reagiert?« begann sie ohne Umschweife nach der frostigen Begrüßung. »Wenn Sie damit meinen, daß er sich unbotmäßig verhält, ja.« Unbotmäßig! Auch so ein Ausdruck, den niemand auf Xing verwendete - außer Poe Allender natürlich. Er hatte noch mehr solcher Bezeichnungen für Dinge, die sein Mißfallen über seine Schüler bekundeten. Oder über den Magistrat. Oder über das Leben allgemein. »Hören Sie«, sagte Kimberly und bemühte sich, einen versöhnlichen Ton in ihrer Stimme mitschwingen zu lassen, »ich bin eine hart arbeitende Frau. Kürzen wir das Ganze doch ab: Was hat er denn angestellt?« »Das kommt mir entgegen. Neuerdings gefällt er sich als Spaß vogel.« Er zog eine hämische Miene. »Na, das ist doch mal was Erfreuliches, finden Sie nicht? Ich 52
fürchtete schon, es wäre etwas Ernsthaftes. Doch wenn das alles ist...« Sie machte auf dem Absatz kehrt, um den Raum zu verlassen. »Warten Sie, Frau...« »Doktor Nev.« Sie drehte sich wieder um. »Es heißt: Doktor Nev. Soviel Zeit muß sein.« Seine Miene war säuerlicher als eine Schiffsladung Zitronen. »Wenn ich > Spaßvogel < sagte, meinte ich es nicht im heiteren Sinne. Ihr Junge bringt das ganze Gefüge der Klasse durcheinan der.« »Inwiefern?« »Er nimmt nicht mehr am Unterricht teil.« »Vermutlich können Sie ihm nichts mehr beibringen«, schlug sie zurück und registrierte mit innerlicher Schadenfreude, wie er blaß wurde. Aha, da ist der Gute empfindlich, dachte sie, um laut fort zufahren: » Das ist nun mal eine Tatsache. Daß er sich da in Ihrer Schule langweilt, ist nicht verwunderlich.« Ihre Stimme hob sich langsam. »Papperlapapp«, zischte er. »Wollen Sie mir ernsthaft einreden, Dir Sohn sei ein Genie?« »Vielleicht ist er es, vielleicht nicht. Aber das ist nicht Gegen stand unserer Auseinandersetzungen. Nicht wahr? Vielleicht bemühen Sie sich einmal darum, ihn als das zu akzeptieren, was er ist, und ihn nicht weiterhin in aller Öffentlichkeit zu diskriminie ren.« »Ich fürchte, das kann ich nicht. Ihr Sprößling ist ein Monstrum. .. und das wissen Sie, Doktor Nev.« Das tat weh, und der Hurensohn von Schulleiter wußte das auch, dem fuchsigen Grinsen nach zu urteilen, das sein teigiges Gesicht nicht menschlicher machte. Sie trat auf ihn zu, so nahe, daß er zurückwich, bis ihm der Schreibtisch hinter seinem Rücken Einhalt gebot. Schweiß stand auf seiner Stirn, lief herunter und sammelte sich in seinen Au genhöhlen; er zwinkerte die Tropfen fort. »Er-ist-kein-Monstrum«, sagte sie, jedes Wort scharf betonend. »Er hat nur gewisse telekinetische Fähigkeiten. Was ist eigentlich los mit Ihnen?«
»Gar nichts. Ich mag bloß keine kleinen Mutanten, die sich in Szene setzen und vor den Augen der Mitschüler mit Tischen und Bänken in der Luft jonglieren. Gott weiß, was er noch alles kann! Ist er nicht längst eine Gefahr für unser Gemeinwesen? Von mei nem Standpunkt aus betrachtet eine völlig rationales Frage.« »Sie Bastard!» murmelte Kimberly halblaut, und eine Zornesader begann auf ihrer Stirn zu pochen. »Sie verdammter, egomanischer Bastard!« »Kümmern Sie sich lieber um Ihren Bastard«, antwortete Poe Allender. »Ich werde jedenfalls im Magistrat beantragen, daß Christopher von der Schule verwiesen wird.« »Sie überschreiten Ihre Kompetenzen« sagte Kim. »Na und?« Er starrte sie herausfordernd an. Sie blickte wütend zurück. Unschlüssig, ob sie ihm zwischen die Beine treten oder die Faust in den Magen rammen sollte. Doch dann machte sie eine wegwerfende Handbewegung, legte ihre ganze Verachtung in diese Geste. »Wissen Sie was, Allender? Sie haben gewonnen. Ich veranlasse, daß Chris nicht mehr am Unter richt teilnehmen muß. Er wird statt dessen am Fernunterricht teil nehmen wie die Farmerkinder.« Sie drehte sich brüsk um und ging, ehe sie ihn wirklich mit ir gendeinem Gegenstand niederschlug. Lust dazu verspürte sie schon. Mit zorngerötetem Gesicht bestieg sie den Schweber, warf die Tür zu, fuhr die Scheibe hoch und lehnte sich in den abgewetzten Sitz zurück. Ihren Chris einen Bastard zu nennen! Das tat weh. Fast so weh, wie damals Zaks Bemerkung, daß er ein Monster sei. Nein, Chris war alles andere als ein Monstrum. Ein Mutant, ja, das schon eher. Zumindest hatte er einige Fähig keiten, über die >normale< Kinder nicht verfügten. Auch Erwachsene übrigens nicht, wie ihr der Spezialist der neu rologischen Fakultät an der Childrens' Health Clinic in World-City versichert hatte, und sie hatte mit Erstaunen registriert, daß er das zu bedauern schien. Monstrum... 54
Wieder strömten die Erinnerungen auf sie ein. Gewaltsam. Schmerzhaft. Seltsam klar. Eine betraf die Zeit nach Chris' Geburt. In den ersten Wochen, als ihr kleiner Liebling auf der Welt war, war noch nichts von seinem >Anderssein< zu merken gewesen. Auch während der nächsten Lebensmonate zappelte und strampelte er wie jedes andere Baby und krähte vor Entzücken, wenn er seine Mutter oder seinen Vater sah. So vergingen die ersten zwei Jahre. Dann jedoch trat eine Veränderung in seinem Verhalten ein, die sie zunächst gar nicht erkannte. Eines Nachts aber hörte sie aus seinem Zimmer ein Glucksen und Lachen und leises Krähen. Laute, die er immer dann produ zierte, wenn er rundum zufrieden und glücklich war. Ob er träumte? Neugierig öffnete sie die Tür einen Spalt, spitzte ins Zimmer und erstarrte wie vom Schlag gerührt. Chris' Kinderzimmer war von einem unirdischen Licht erfüllt, dessen Quelle sie nicht lokalisieren konnte. In diesem Licht drehte sich über seinem Bettchen ein bunter Reigen aus all seinen Spiel sachen wie ein mikroskopisch kleines Planetensystem in der Luft, mit dem großen gelb getupften Ball im Mittelpunkt als Sonne. Und Chris lag darunter und quäkte vergnügt. Seine kleinen Händen fuhrwerkten durch die Luft, und ohne daß er irgend etwas berührte, änderten die Spielsachen ihren Lauf analog zu seinen Bewegun gen... »Seine physische Entwicklung ist völlig normal und entspricht seinem Alter«, sagte die Ärztin, die Kim ganz aufgelöst und von Ängsten geplagt aufsuchte und der sie die Symptome schilderte. »Aber lassen Sie ihn doch vierundzwanzig Stunden in unserer Obhut, Doktor Nev«, bat sie sie, »wir werden ihn gründlich untersuchen.« Aus den vierundzwanzig wurden sechsundneunzig Stunden. Schließlich stand sie vor einem Gremium ernst dreinblickender Männer und Frauen; Chris hing an ihrem Rock und war zufrieden,
seine Mom wiederzuhaben. »Was haben Sie festgestellt?« wollte Kimberly wissen. Der leitende Neurologe legte die Stirn in Falten. »Tja, physisch fehlt Ihrem Sohn nichts«, sagte er zögerlich. Kimberly Nev runzelte die Stirn. »Aber...?« »Aber im psychischen Bereich entwickelt er sich zu einem PSI... einem Mutanten.« Er schwieg einen Moment, um ihr Gele genheit zu geben, das eben gesagte zu verarbeiten. Dann fuhr er fort: »Wir haben noch nicht alle seine Fähigkeiten eruieren kön nen...«, er sagte wirklich >eruierenPsychopathUnfallen