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Zu diesem Buch « ist ein wunderbares Buch», schrieb Shirley Ann Grau, Autorin des Romans «Die Hüter des Hauses», m der «New York Times Book Review». «Es hat den Humor und den Charme von und zugleich Faulknersche Ausdruckskraft. Von Anfang an rast die Handlung durch Windungen und Kurven und unvermutete Entwicklungen — gefühlvoll, aber nie rührselig. Am Ende triumphiert Menschlichkeit über Gewalt und Blutvergießen, ein Hoffnungsschimmer zeichnet sich ab - und ist zum Sheriff gelaufen.» «Was für eine schreckliche Tragödie», sagte Sissy Davis. «Wie man's nimmt», sagte Em. «Waldos Frau bekam eine Abfindung, und die Leute sagen, daß sie mit dem Geld von der Versicherung viel glücklicher war als je mit dem Wilden. Und er? Nun ja, er hat gelebt, wie er wollte, und hat ein großes Be gräbnis bekommen. Was kann ein Mann mehr verlangen? Stellen Sie sich vor, den ganzen Emalette River-Damm als Gruft! Kein Pharao, kein Kaiser hat ein größeres Grabmal als Waldo Payne.» Irgend etwas beunruhigte den Geistlichen. Er konnte es nicht auf sich beruhen lassen. «Ich sehe aber noch immer keinen Zusammenhang mit unserem Gespräch über die Religion.» «Kommt noch, Reverend.» Er deutete auf Gwens Kaffeetasse. «Sind Sie fertig?» Gwen nickte, ohne aufzublicken, und er nahm die Tasse und leerte sie. «Ja, und als der Damm beinahe fertig war, ließ der Bauleiter eine große Vase in die Mauer einbetonie ren, unterhalb vom Geländer, für Blumen und so. Ein paar von Waldos Kollegen hatten das vorgeschlagen. Und als die Bauar beiten abgeschlossen waren, übernahm eine von den Kirchenge meinden dort die Vase und stellte regelmäßig Blumen für den Wilden rein. Und mit der Zeit kam es so, daß Fremde Kleingeld 278
reinwarfen, für die Blumen, weil sie dachten, das wäre so ein heiliger Schrein oder so. Und dann trafen sich junge Liebespaare dort, die warfen Münzen in die Vase und wünschten sich was. Jedenfalls dauerte es nicht lange, und bei den Leuten in den Bergen dort ging das Gerücht um, der Damm hätte heilende Kräfte, und bald hielt ein Wunderheiler dort Erweckungsgottes dienste ab, und ehe man sich's versah wurde die Sache so gefähr lich mit den Menschenmassen, die den Verkehr aufhielten, und den Gläubigen, die in den Stausee fielen, daß die Behörden einschreiten mußten und die Vase herausbrechen ließen. Sie mußten sogar einen Wachtposten aufstellen, der den Verkehr regelte, bis die Dinge sich wieder beruhigten. Manche sagen, daß der Wachtposten noch lange danach von unbelehrbaren Gläubi gen Geld zugesteckt bekam. Aber wie ich schon sagte, mit der Zeit beruhigten sich die Dinge und nahmen wieder ihren normalen Lauf.» Der Prediger wartete noch immer, aber Em war offenbar am Ende angelangt. Er drückte die Daumen auf die Schläfen. «Ich glaube, Mr. Jojohn, ich sehe noch immer nicht recht, worauf Sie hinauswollen.» «Sie sehen es nicht?» Em zuckte resigniert mit den Schultern. «Na, da kann ich dann auch nichts machen», sagte er und ging auf die Tür zu. «Deutlicher kann ich's nicht sagen.» Er hatte es wieder einmal geschafft. Er hatte sich erfrischt-und ließ helle Verwirrung zurück. Bei anderer Gelegenheit, vor ei nem anderen Publikum, hätte er vielleicht seine Geschichte von der süßen Sally Flagg, die es mit Fort Bragg aufnahm, zum Besten gegeben. Später wünschte ich, er hätte es diesmal getan! Denn wie ich schon sagte, die ganze Sache nahm ein böses Ende. Als die Gäste gegangen waren, kam Gwen in den Garten, wo wir Zement glätteten, und erklärte Jayell ohne Umschweife, daß sie uns hier nicht mehr zu sehen wünsche. «Ach, Schatz, komm . . . » «Ich meine es ernst, Jayell!» sagte sie und warf zornig ihr Haar zurück. «Es reicht mir jetzt!» Jayell stand kleinmütig da. Es war ein Moment der für ihn 279
typischen Schwäche und Ratlosigkeit, und er suchte nach einem Ausweg. «Ich hab's nicht böse gemeint. . .» begann Em, aber sie fuhr ihn an. «Hält's Maul, du . . . du dreckiges Tier! Du bist bestimmt die albernste Karikatur eines Menschen, der ich je begegnet bin. Nimm diesen Lumpenbengel mit und bleibt in eurem schmierigen Ape Yard, wo ihr hingehört!» Jayell ließ seine Ziehlatte fallen. «Gwen, um Gottes willen!» «Jayell», sagte Em, «w enn du's ihr jetzt nicht gibst, wie sie`s verdient, zwingst du mich, es für dich zu tun.» «Komm, Em», sagte ich «wir gehen.» Ich faßte ihn am Arm, aber er wich nicht von der Stelle. Er stand da und starrte sie an. l Jayell stellte sich zwischen die beiden und rieb sich nervös die Hände an der Hose. «Hört zu, Freunde, sie ist durcheinander. Sie wird sich wieder beruhigen, und . . . » Zornbebend wandte Em sich mir zu: «So, du Lumpenbengel, und was mac hen wir jetzt? Keiner von uns kann sie schlagen, weil sie eine Frau ist. Ich schätze, Jayell, da bleibst nur du übrig.», Und er setzte ihm die Faust unters Kinn, daß Jayell ein paar Zoll vom Boden abhob. Kreischend rannte Gwen zu ihm. Jayell saß da und starrte benommen vor sich hin, eher verwun dert als irgend etwas anderes. «Du bist ein verdammter Narr, Jayell», sagte Em, «und Narren haben ein Recht darauf, Fehler zu machen. Wer aber einen Fehler macht und so tut, als war nichts gewesen, der ist ein Narr, mit dem ich nichts zu schaffen haben will.» «Heee . . . » Jayell rappelte sich auf und stützte sich auf Gwen. «Hört zu, Freunde, wir - bringen das später in Ordnung, ja?» Em blieb stehen und drehte sich um. «Sieh zu, daß du selber in Ordnung kommst», sagte er. Wir kehrten zum Ape Yard zurück, und wieder begann die Jagd nach Gelegenheitsjobs, denn Em duldete nicht einmal, daß Jayells Name vor ihm genannt wurde. Über einen Monat lang sah ich Jayell nicht wieder, bis zu jener Nacht, als der Teufel auf dem Motorrad hinter mir her war.
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Der Herbst war zu einem raschelnden braunen Oktober ver welkt. Es war Halloween, der Abend vor Allerheiligen. Die Kinder, erpresserische kleine Kobolde mit Pappmasken, quirlten durch die Straßen, stürmten den Laden, wo Mr. Teague und Tio extra einen Bonbon-Vorrat für sie bereithielten, und zogen hinauf zur Pension. Die Alten hatten Ruby Lamphams Bett ans Fenster gerückt und drängten sich dort, um Mr. Burroughs und Mr. Rampey zu beobachten, die - in weiße Laken gehüllt und mit mehlbestäubten Gesichtern - wie Gespenster aus der Hecke hervorsprangen, um den Kindern einen Mordsschrecken einzu jagen. Es war eiskalt, und ich ging in flottem Tempo vom Kino nach Hause, die Hände tief in den Taschen, die Schultern gegen den Wind gestemmt. Es war eine dreifache Horrorschau gewesen, und wer alle drei Vorstellungen aushielt, hatte zweimal freien Eintritt. Das konnte ich mir nicht entgehen lassen! Em war zu Hause geblieben: er saß auf der Feldkiste, den Rücken an die Tür gelehnt, beim Licht der voll aufgedrehten Petroleumlampe. Als ich am Rathaus vorbeikam ging eine Knallbombe los, und zwei Jungen stürmten über den Platz. Ein Polizist war ihnen hart auf den Fersen. Er hielt im Laufen seine baumelnde Pistolenta sche fest und brüllte, sie sollten stehenbleiben. Das war Hallo ween: ein bißchen Vandalismus, eingeschlagene Fenster, Zucker in Benzintanks. Ein paar Rowdies, die am nächsten Morgen gegen Kaution bei der Polizei abgeholt werden konnten. Leitar tikel mit mahnenden Worten im Star. Vor Bullards Fahrradhandlung blieb ich stehen und betrachtete die Kritzeleien und Namenszüge auf der Schaufensterscheibe. Dank einer stillschweigenden Übereinkunft zwischen dem alten Bullard und der Stadtjugend hatte sein Schaufenster das Hallo ween-Treiben von Generationen überlebt. Während andere La denbesitzer über die Malereien an ihren Fenstern fluchten, legte Bullard Kernseifensplitter auf dem Fenstersims bereit und ließ die Kritzeleien - jedenfalls die «sauberen» - stehen, bis der 281
nächste Regen sie abwusch. Mit der Zeit wurden die Parolen durch Unterschriften ersetzt, und nun kamen von überall aus der Stadt die Kinder, um ihren Namen an Mr. Bullards Schaufenster zu schreiben. Die Namen wechselten mit den Generationen - die jungen Leute wuchsen heran und zogen fort, und meist hörte man nie wieder etwas von ihnen noch tauchten ihre Namen in der Zeitung wieder auf -, doch in der kurzen Spanne zwischen Halloween und dem nächsten Regenguß standen sie an Mr. Bullards Schaufenster in der City von Quarrytown, für alle Welt sichtbar. Auch ich kritzelte meinen Namen auf ein freies Fleck chen am unteren Rand der Scheibe und trat einen Schritt zurück, um ihn zu betrachten. Wir lange würde es dauern, bis der nächste Regen . . . Doch einem seltsamen, drängenden Gefühl gehorchend, bückte ich mich und wischte ihn mit meinem Ärmel selber wieder aus. Ich wollte mich nicht der Laune des Wetters überlassen, und mein Name gehörte schließlich mir allein. Ich grübelte einen Augenblick darüber nach, selber überrascht über meine Reak tion, aber dann kam ich zu dem Schluß, daß es mich nicht ernsthaft interessierte, warum ich so gehandelt hatte. In letzter Zeit hatte ich vieles getan, was ich mir nicht recht erklären konnte. Ich handelte neuerdings mehr aus dem Gefühl als aus bewußtem Denken heraus, und es ging mir so gut wie schon lange nicht mehr. Achselzuckend wandte ich mich ab, kam dann aber noch einmal zurück und steckte ein paar Stückchen Seife ein. Zu Hause waren wir knapp an Seife . . . Als ich den Bahndamm überquerte und zum Ape Yard hinun tergehen wollte, meinte ich ein merkwürdiges Geräusch zu hö ren. Ich blieb stehen und horchte in den Wind. Nichts. Unten im Tal leuchteten die gelben Lichter. Da - jetzt hörte ich es wieder. Sirenen. Weit weg. Noch hinter den Lagerhäusern. Dann nahm ich ein anderes Geräusch wahr, das Brummen eines Motors, das von den Lagerhäusern her rasch näher kam. Es wurde immer lauter, bis plötzlich ein Motorrad zwischen den Häusern hervorbrach. Es donnerte mit quiet schenden Reifen durch die Kurve und kam den Bahndamm heraufgerast. Ich rettete mich mit einem Sprung und rollte die 282
Böschung hinunter, während die Maschine oben über die Gleise holperte, abhob und in die Straße zum Ape Yard schoß. Ich richtete mich auf und spähte hinterher. Hatte ich richtig gese hen? Ja! Der Fahrer steckte von Kopf bis Fuß in einem leuchtend roten Teufelskostüm! Und jetzt heulten die Sirenen heran. Mehrere Streifenwagen röhrten über die Bahngleise, hinter dem fliehenden Teufel her. Aber ich wußte, sie würden ihn nie erwischen. Der Teufel war ihnen weit voraus, und er fuhr ohne Licht. Im Gewirr der Gassen und Pfade des Ape Yard würde seine Spur sich verlieren. Ich ging weiter, und als ich am Twig Creek ankam, sah ich, daß der Teufel sie bereits abgehängt hatte. Die Streifenwagen kreuzten ziellos durch die Gegend, Rotlichter flackerten über die Hügel, die Sirenen heulten noch immer. An der Eisenbrücke unten im Tal hielt ein Polizeiauto neben mir. «Was hast du hier verloren, Junge?» «Ich geh nach Hause - ich nehme eine Abkürzung.» «Wo bist du gewesen?» «Im Kino.» «Hast du ein Motorrad vorbeifahren sehen?» «Oben am Bahndamm hat mich eines überholt, aber danach hab ich's nicht mehr gesehen.» Der Polizist wandte sich ab und sprach mit seinem Beifahrer. «Na gut, mach, daß du nach Hause kommst. Du hast zu dieser Nachtzeit hier unten nichts zu suchen.» «Ja, Sir.» Sie fuhren davon - und ich erstarrte. Ich blickte direkt auf den Teufel. Er lag eingeklemmt unter dem Motorrad an einer seichten Stelle des Bachbetts und kämpfte, um den Kopf über Wasser zu halten. Ich sprang von der Brücke hinunter und watete durch die eiskalte Strömung. Der Fahrer klammerte sich an einen Felsblock und versuchte die schwere Maschine mit dem Fuß fortzustoßen. Keu chend rang er unter dem enganliegenden Helm nach Luft. Ich riß ihm den Helm ab und sah das Gesicht - und der Teufel selbst hätte mir keinen größeren Schrecken einjagen können. «Phaedra Boggs!» 283
«Das Hinterrad, verdammt, los heb's hoch!» Ich versuchte es. Aber es rührte sich nicht. Es war die schwerste Maschine, die ich je gesehen hatte, und sie lag fest eingeklemmt zwischen den Steinen. Phaedra stemmte den einen Fuß dagegen, und wir stöhnten vor Anstrengung. Ich kniete mich ins Wasser und versuchte unter das Rad zu greifen. Da merkte ich, daß es zu fest zwischen den Felsen verkeilt war: wir würden es nie loskrie gen. «Ich muß Hilfe holen», sagte ich. «Hältst du's noch aus?» «Beeil dich», sagte sie. «Schnell!» Ich platschte ans Ufer, meine Gedanken rasten. Das nächste Haus war Dirseys Kneipe. Ich rannte den Hügel hinunter, über querte zwei Straßen und erreichte die Landstraße, die zum Fluß führte. Ich platzte in die Kneipe, und der erste, den ich erblickte, war Jayell Crooms, der trübsinnig an der Theke hing. «Jayell! Schnell, komm, es ist Phaedra!» «Was?» Er riß die Augen auf. «Was sagst du da, Junge?» «Phaedra Boggs, sie ertrinkt!» Kreischend hielt der Lieferwagen an der Brücke. Jayell und ich sprangen gleichzeitig in den Bach. Phaedra lag tief im Wasser, aber sie kämpfte, warf den Kopf hin und her, fluchte, spuckte Wasser. Jayell bückte sich, packte das Hinterrad der Maschine und ächzte vor Anstrengung und vor Schmerzen in seinem Bein. Er mühte sich ab, und seine Füße gruben sich in den Grund. Ich packte mit an und versuchte ihm zu helfen. Aber vergeblich. Jayell brüllte auf vor Wut und Verzweiflung, er zog und zerrte, da rutschte er plötzlich aus und fiel. Aber sein Gewicht und der plötzliche Ruck lösten das Rad aus seiner Verankerung. Wir packten wieder zu, Phaedra half mit ihrem freien Fuß kräftig mit, und endlich hatten wir es geschafft. Jayell legte den Arm um Phaedra und zog sie hoch. Eng umschlungen standen sie im Wasser. Phaedra zitterte vor Kalte. «Diese verdammten Schlaglöcher auf der Brücke!» sagte sie. «Kannst du gehen?» «Ja, aber ganz langsam.» Die beiden humpelten so sehr, daß ich sie die Uferböschung hinaufziehen mußte. Jayell setzte Phaedra auf das Trittbrett und
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kniete sich stöhnend hin, um ihren Knöchel zu betasten. Er riß das rote Satinhosenbein auf: ein klaffender Schnitt quer über die Wade kam zum Vorschein. Jayell riß einen Streifen von seinem Hemd ab und verband die Wunde. «Laß uns lieber zu einem Arzt fahren», sagte er. «Wegen dem Kratzer? Nein, bring mich nach Hause!» Sie legte die Arme um ihre Schultern und zitterte am ganzen Leibe. Ich sah ein Rotlicht über den Hügel gleiten. «Du solltest lieber dieses Kostüm ausziehen», sagte ich. «Laß nur, erst mal weg von hier!» Wir fuhren die Straße am Creek entlang, vorbei an den letzten Häuserreihen des Ape Yard, an der stinkenden Grube des alten Steinbruchs und dann durch das Gehölz zum Friedhof hin auf. Am Rand des Brachfelds ließ Phaedra ihn halten. «Den Rest des Weges schaff ich zu Fuß. Ich will nicht, daß Mama aufwacht.» Aber sie hinkte so sehr, daß sie schon beim ersten Grabstein stehenbleiben und sich ausruhen mußte. Jayell stieg aus und wollte ihr helfen, aber er war nicht viel besser dran als sie. Ich lief hin und ging zwischen ihnen, und sie stützten sich auf mich, und Jayell strich mir mit der Hand über den Kopf. «Was würden wir ohne dich machen, Early-Boy?» Das Haus der Boggs lag dunkel vor uns, nur durch den Laden vor dem Wohnzimmerfenster drang ein Lichtschimmer. «Und dein Vater?» fragte Jayell. Phaedra lachte bitter. «Keine Sorge, der ist heute abend bei seiner Nutte in Little Holland. Vorsicht, macht keinen Lärm!» Die hintere Tür war nicht abgeschlossen. Phaedra öffnete sie, horchte, und dann tasteten wir uns, zitternd und keuchend vor Anstrengung, durch den dunklen Flur zu Phaedras Zimmer. Kaum waren wir drinnen, lockerte sich Phaedras Griff an meiner Schulter, und sie glitt bewußtlos zu Boden. «Na, hättest du ihr so eine Nummer zugetraut?» flüsterte Ja yell. «Komm, hilf mir!» Mit vereinten Kräften hoben wir sie aufs Bett. Ich zog ihr die Schuhe aus. Jayell streifte ihr das nasse Teufelskostüm ab, und
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als ich mich wieder umdrehte, war mir klar, warum sie es unten am Bach nicht hatte ausziehen wollen. Sie trug nichts darunter. Schimmernd und nackt lag sie im Mondlicht. Sie war wunderschön. Jayell fand ein trockenes Handtuch, tupfte sie damit ab und wischte ihr behutsam den Schlamm aus dem Haar. Sie schlug die Augen auf. Und dann lag sie da und beobachtete ihn belustigt. «Na, gefall ich dir, Jack?» Jayell hielt inne und schaute sie an. Sie zog sic h hoch und lehnte sich an das Kopfende des Bettes. «Gib mir mal 'ne Zigarette her, Kumpel.» Ungeschickt grabschte ich nach der Zigarettenschachtel auf dem Nachttisch. Sie mußte meine zitternde Hand mit dem Zündholz festhalten. Sie inhalierte tief und stieß langsam den Rauch aus. Dann verharrte sie reglos, die glimmende Zigarette zwischen bebenden Porzellanfingern, und betrachtete Jayell. Wie seltsam: die ruppige Phaedra - so sanft und hilflos, und doch so zärtlich stark. Und so gänzlich nackt. «Wir. . . » Ich räusperte mich. «Wir sollten lieber ver schwinden.» «Ja», sagte Jayell. Er wollte gehen, aber ihre Hand schloß sich fest um seinen Arm. «Nein, geh nicht», sagte sie. «Ich hab dich auch nicht allein gelassen, damals, als du krank warst.» Da fiel es mir blitzartig wieder ein: der Tag, an dem ich Phaedra am Waldrand hatte halten sehen, als ich von Jayell fortlief. Ich hatte es über all den anderen Ereignissen jenes Tages ganz ver gessen. Jayell horchte. «Sie hat Licht an», flüsterte er. «Das hat sie immer an.» Plötzlich drückte sie die Zigarette aus. «Bleib bei mir, Jack!» «Ich glaube . . . » Ihre Hände strichen liebkosend über seine Brust, seinen Bauch. «Phaedra, um Gottes willen!» Ihre kundi gen Finger glitten zwischen seine Schenkel, fordernd, zupak kend. Sie knöpfte ihm das Hemd auf. «Jayell», sagte ich und trat von einem Bein aufs andere, «meinst
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du nicht. . .»Er wollte sich losreißen, aber sie warf den Arm um seinen Hals und zog ihn zu sich herab, und es schien, als wollten ihre Lippen sein Gesicht verschlingen. Dann kniete sie und schmiegte sich an ihn, und ihre starken Rückenmuskeln spann ten sich, als sie ihre Brüste an ihn drängte. Ihre Zunge fuhr über seine Augen, seine Ohren, seinen Hals. Langsam schloß er sie in die Arme, zog sie an sich. «He, genug, reißt euch zusammen!» rief ich. Sie warf sich herum und drückte ihn in die Kissen, kniete sich über ihn und nestelte an seinem Hosenbund. Sie zog den Reiß verschluß auf, und ihre Zunge, ihre Lippen fanden ihren Weg. Ihr goldenes Haar glitt über seinen Bauch. Jayell bebte, stöhnte immer wieder tief auf. Das Zimmer drehte sich. Ich konnte nicht atmen. Meine Beine waren gelähmt. «Um Gottes willen!» keuchte ich und wich zurück. Ich drehte mich um, stieß die Tür auf und hielt erschrocken inne. Was war das? Die kalte Luft draußen im Flur machte mich plötzlich hellwach und schärfte mejne Sinne. Zuerst fiel mir der Geruch auf. Ein dumpfer, fauliger Ge ruch. Dann hörte ich das Geräusch, ein leises Schaben am Bo den. Ich stürzte wieder zu den beiden ans Bett. «Jayell! Phaedra!» Sie hörten mich nicht. Sie umhüllten einander in rasender Glut, waren einander verfallen. «Na gut!» schrie ich und tanzte in meinen klatschenden, nassen Schuhen umher. «Dann bleibt eben hier!» Ich rüttelte am Fen ster. Aber es klemmte. «O Gott», stöhnte ich, «Gott im Him mel!» Ich schoß zur Tür und stieß sie auf. Vor mir im Dunkel kauerte ein unmenschliches Geschöpf. Und es starrte mich an. Wütend funkelten seine Augen aus tiefen Höhlen. «liiiih!» Das strähnige blonde Haar, halb zerfressen von ver krustetem Grind, erbebte, als die knöcherne Faust sich mir in den Magen grub. Weißglühender Schmerz durchzuckte mich, ich kippte vorn über und spürte greifende Krallen in meinem Haar. Ich lag auf den Knien, versuchte mich loszureißen, davonzukriechen, aber
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sie klammerte sich an mich wie ein Affe, kreischte und zappelte voll satanischer Lust. Ihre Fingernägel gruben sich in meine Kopfhaut. Ihr Gestank nahm mir den Atem. Plötzlich beugte sich eine dunkle Gestalt neben mir herab. Ein kurzes Ringen, Proteste, Gewinsel. Phaedra richtete sich auf, ein Geschöpf in den Armen, das kaum größer war als ein Kind, und hinkte rasch zur Tür. Draußen im Flur hörte ich ihre Stimme, freundlich, beschwichtigend, beschwörend, und dazwischen die andere Stimme, zeternd, gurgelnd, böse und verbittert: «Du verkommenes Luder! Mich einfach verrecken zu lassen . . . du dreckige Hure!» «Ist ja gut, Mama, ist ja gut. Jetzt komm, geh wieder ins Bett. Ich hol dir deine Medizin . . . » «Wer . . . ist da drin? He? Marvin! Marvin . . . » «Papa schläft schon. Ssssscht! Sei still, Mama, ist ja gut.» «Laß mich doch sterben, lieber Herr Jesus, bitte, laß mich sterben!» Jayell raffte seine Sachen zusammen, klemmte sich das Bündel unter den Arm, und wir tasteten uns durch den finsteren Flur zur Veranda. Draußen rannten wir los. Erst mitten auf dem Friedhof blieb Jayell stehen, tanzte schwankend auf dem eisigen Kies und versuchte in seine Hose zu schlüpfen. «Du bist verrückt!» sagte ich mit bebender Stimme. «Verrückt! Wie alle sagen. Was ist mit dir los, Jayell?» Er knurrte mich an, sah sich nach seinem einen Schuh um. «Laß mich in Ruhe. Laß mich in Ruhe!» Er stolperte zwischen den Grabsteinen umher, hielt sich sein schmerzendes Bein und suchte nach dem Schuh. «Wie konntest du sie verlassen? Sie liebt dich, Jayell, siehst du das nicht?» Er knirschte mit den Zähnen und stöhnte - es klang wie der Schrei einer verwundeten Katze, ein Schrei aus tiefster Qual. Fröstelnd schlang er die Arme um seine Schultern und humpelte davon, fort von den gellenden Sc hreien, die aus dem Haus drangen. «Ich hab's versucht», sagte er. «Ich hab sie angefleht! Aber sie wollte nicht, ich konnte sie nicht dazu bringen, die ses . . . dieses Geschöpf zu verlassen! Und dann kam Gwen, 288
strahlend und unbekümmert. Oh, verdammt! Verdammt! Ver dammt! Warum mußte das alles so kommen?» Wir gingen am Rand des Brachfelds entlang. Jayell, hinkend und schluchzend, suchte geistesabwesend immer noch am Weg rand nach seinem Schuh . . . Immer weiter entfernten wir uns von dem gespenstischen Haus, das jetzt still hinter uns lag, düster und dunkel, bis auf den ewigen Schimmer, der durch den Laden vor dem Wohnzimmerfenster drang. Em saß am Fenster und starrte in die Nacht hinaus. Er sagte nichts. Ich zog meine nassen Kleider aus und schlüpfte ins Bett. Er goß sich aus dem Krug, den er zwischen den Knien hielt, noch ein Glas Whiskey ein, trank einen Schluck und starrte mich an. «Was hast du gesehen heut nacht?» «Gespenster und Kobolde, Em. Nur Gespenster und Kobolde.» Ich musterte die großen Buchstaben U. S. auf meiner ArmyDecke. «Was hast du angestellt? Bist in den Fluß gefallen?» Ich drehte mich um und sah ihn an. Er war nicht betrunken. «Du hast uns über das Feld beim Friedhof gehen sehen, ja?» «Es war nur eine Frage der Zeit.» Ich setzte mich im Bett auf. «Wußtest du, daß sie sich gesehen haben, als er krank war?» «Ich weiß eine Menge Sachen», sagte er mit unverändertem Gesichtsausdruck. «Jayell wollte Phaedra heiraten. Sie hat ihn abgewiesen, hast du das gewußt? Sie hat ihn abgewiesen wegen ihrer Mutter. An scheinend sitzt jeder, so oder so, in der Falle, wie?» Mich fror, und ich legte mich hin und wickelte mich fest in meine Decke, um mir nicht noch einen Schnupfen zu holen. «Ich hab heute nacht ihre Mutter gesehen», sagte ich. «Man weiß nie, was im Haus nebenan vor sich geht, nicht wahr, Em?» Em saß da, trank still vor sich hin und starrte in die Nacht hinaus. So saß er noch da, mit leise singendem Atem, als ich endlich in Schlaf sank.
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Als Tio von dem Motorrad erfuhr, war er völlig aus dem Häus chen. «Das ist eine alte Harley 80, Zweitakter!» schrie er, als Em die Maschine aus dem Wasser zog. «Die läßt auf der Straße alles hinter sich!» «Die hat selber alles hinter sich», stellte Em mit einem Blick auf das von Schlamm und Wasser triefende Gefährt fest. «Der Vorderreifen ist hin, der Rahmen hat einen Schlag. Das ist nur noch Schrott!» Aber Tio war Feuer und Flamme. Er hockte sich davor, fühlte hier, prüfte da. «Du weißt nicht, wovon du redest, Mann; wir nehmen sie auseinander und reinigen sie, biegen sie zurecht, und dann werdet ihr sehen, wie dieser Prachtvogel wieder fliegen wird!» Wir schoben die Maschine in die Garage. Tio machte sich sofort an die Arbeit. Er breitete eines von Mr. Teagues besten Bettlaken auf dem Fußboden aus, und nach kurzer Zeit häuften sich darauf, Stangen, Rohre, Lager, Kolben, Federn, Dichtungsringe und andere Innereien aller Formen und Größen. Ich staunte, in wie viele Teile man ein Motorrad zerlegen konnte, und Tio holte aus den Teilen immer noch mehr Teile heraus. Dann machte er sieht über die Räder her, die er anfangs beiseite gestellt hatte, und drehte die Speichen aus. «Nein, dieses Schlachtefest kann ich nicht mitansehen», meinte Em und schlenderte davon, auf ein Bier. Später am Nachmittag, ich richtete oben in unserer Dachbude das Abendbrot her, hörte ich ein leises Geräusch, wie wenn Kohlen im Ofen nachrutschen. Zuerst dachte ich mir nichts dabei, denn ich glaubte, es sei Tio drunten in der Garage. Dann hörte ich's wieder, ein leises Scharren, und nicht von unten, sondern vom Schuppendach neben der Garage her. Und als ich mich umdrehte, schwang sich gerade ein blaues Jeans-Bein über den Fenstersims. Phaedra Boggs schob sich mühelos herein und warf Jayells Schuh auf den Boden. «He, Kumpel», sagte sie lächelnd.
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«Ah, hallo», sagte ich. «Übrigens, da drüben gibt's auch eine Tür.» «Ja, ich weiß», sagte sie und zog ihr T-Shirt straff. «Ich wollte nicht von unserem Haus gesehen werden. Darum bin ich auf dieser Seite raufgestiegen.» «Ich wußte gar nicht, daß man unsere Garage überhaupt von euch aus sehen kann!» Das war ja eine interessante Neuigkeit. Ich hatte immer gemeint, die Garage sei nach außen völlig abge schirmt. Sie ging ans Fenster und zeigte hinunter. «Da drüben, siehst du den kleinen weißen Fleck dort? Das ist die Ecke von meinem Zimmer. Von dort sieht man das ganze Gebäude hier. Im Sommer hab ich dich und den Indianer beobachtet, wie ihr auf der Erde geschlafen habt - das war ein komischer Anblick! Und ein paarmal hab ich dich von der Dusche kommen sehen. Ha! Du wirst ja rot!» Sie zwinkerte boshaft. «Oh, keine Angst. Early-Boy, du hast nichts, was groß genug wäre, als daß man's auf die Entfernung sehen könnte.» Ich schob verlegen den Kochtopf vom Feuer, und sie bog sich vor Lachen. Es war ein tiefes, volles Lachen. Nach einer Weile beruhigte sie sich. «Scherz beiseite, Early-Boy, ich bin gekom men, um dir zu danken. Du hast mir heute nacht aus einer schönen Patsche rausgeholfen.» «Hm, ja. Ich dachte, ich rettete den Teufel. Hätte ich gewußt, daß du's warst, dann hält ich dich vielleicht absaufen lassen. Willst du eine Tasse Kaffee?» «Gern! Laß nur, ich mach schon. Setz dich hin.» Ich schwang mich aufs Fensterbrett. «Warum waren sie eigent lich hinter dir her?» Phaedra zuckte mit den Schultern. «Zu schnell gefahren oder das Kostüm, was weiß ich? Die Highway-Streife hatte ich nach zehn Meilen abgehängt. Ich nehme an, sie haben per Funk eine Meldung durchgegeben, denn bei Four Forks warteten schon die Stadtbullen mit einer Straßensperre. Sah ziemlich übel aus, einen Moment.» «Wo kamst du denn her?» «Von einer Fete bei einer Studentenverbindung in Athens. Vince Oliver hatte mich eingeladen. Aber die Spielchen wurden
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mir zu kindisch, und da dachte ich mir, pack deine Klamotten und hau ab. Das Teufelskostüm war als nächstes zur Hand.» «Und wie kamst du zu dem Motorrad?» «Irgend so ein Knallkopf wollte mich nach Hause fahren, aber dann zeigte sich, daß er meinte, zu sich nach Hause. Da hab ich ihn an einer roten Ampel abgesetzt und Gas gegeben.» «Nebenbei, es ist unten in der Garage. Was sollen wir damit machen?» «Behaltet's, verkauft's als Schrott - was ihr wollt.» «Meinst du nicht, er wird es suchen?» «Nein, der Widerling wollte nicht mal wissen, wo ich wohne. Immerhin hat er ein paarmal umsonst hinlangen dürfen, damit, wären wir quitt.» Phaedra zwinkerte mir zu, ohne zu lächeln. «Man muß seinen Preis hochhalten, verstehst du?» «Phaedra, warum machst du dich zur Hure?» Phaedra schaute mich an. Da war wieder das alte, harte Glitzern in ihren Augen. «Alle Frauen sind Huren, Early-Boy. Nur der Preis ist verschieden.» Wir hörten Schritte auf der Treppe. Ungleichmäßige Schritte. Phaedra hob den Kopf und warf mir einen Blick zu. Wir brauch ten nicht lange zu raten, wer da kam. Jayell schabte sich den verkrusteten Schlamm von den Stiefeln und öffnete die Tür. Als er Phaedra sah, blieb er stehen. «Keine Panik, Jack!» Phaedra amüsierte sich über seine Verle genheit. «Ich wollte nur deinen Schuh hier abliefern. Da ist Lippenstift an der Spitze, aber ich nehme nicht an, daß deine Frau das merkt.» Jayell grinste und zog sich einen Hocker heran. «Hat dir schon jemand gesagt, was für ein schlaues Kind du bist?» Sie kicherte. «Dauernd, Jack, dauernd.» «Bevor ihr zwei auf die Idee kommt, hier weiterzumachen, wo ihr heute nacht aufgehört habt», sagte ich, «möchte ich euch warnen. Em und ich führen ein christliches Haus.» Jayell zupfte sich ein paar Kletten vom Ärmel. «So, und wie ist's mit einer Tasse Kaffee?» «Das ist Jojohns Marke», sagte Phaedra warnend. «Schmeckt wie heißer Teer mit Zichorie. Habt ihr noch eine Tasse, Earl?» 292
«Mußt ein Marmeladeglas nehmen.» «Wo ist Em?» fragte Jayell. «Ich hab da eine Ladung Hohlblök ke, die müssen noch, ehe es dunkel wird, abgeladen werden.» «Er muß jeden Moment zum Abendbrot kommen.» «Und wie geht's bei Smithbilt?» fragte Phaedra. «Immer das gleiche.» Jayell blies auf seinen Kaffee. Er sah sich auf dem Boden um. «Na, wie gefällt dir das Leben hier bei Jojohn?» «Besser als im Straßengraben schlafen», sagte ich, «aber nicht viel . . . » Jayell stampfte auf das Fußbodenblech und ließ den Blick über die verzogenen Wände gleiten. «Erinnere mich mal daran, daß ich euch Sperrholz an diese Wände nagle. Hält wenigstens den Wind ab.» Er erspähte mein Spinnennetz in der Ecke und wollte es mit seiner Mütze wegfegen. Ich fiel ihm gerade noch rechtzeitig in den Arm. «Laß das! Das ist mein Projekt für Biologie», rief ich. «Ich muß es nächste Woche in die Schule mitbringen.» «Du hältst dir wohl deine Hausspinne, wie? Bei mir in der Werkstatt hab ich genug, um die ganze Schule mit Spinnen zu versorgen. Ich bin wohl doch in der falschen Branche.» Er rutschte mit dem Hocker näher und musterte die schwarz-gelbe Spinne. Sie saß in ihrem Netz und musterte offensichtlich Jayell. «Was für eine ist es?» «Ganz normale Gartenspinne», sagte ich. Phaedra beugte sich vor. «Epeira gemma.» «Ach ja, natürlich, du hast ja alle Insektennamen parat. . . » «Spinnen sind keine Insekten», sagte sie und trank einen Schluck von ihrem Kaffee, «sondern Arachniden.» «Und was ist das kleine Klümpchen hier?» Jayell deutete auf einen seidigen Kokon fast in der Mitte des Netzes. «Das ist eine Fliege, die sie gefangen hat. Du hast sie wahr scheinlich bei ihrer Mahlzeit gestört.» «Nein, nein, sie konserviert sie für später. Siehst du nicht, sie hat sie ganz eingesponnen. So könnte sie sie nicht fressen.» «Sie frißt sie nicht», sagte ich. «Sie saugt nur den Saft aus. Spinnen leben von flüssiger Kost.» 293
«Ja, wirklich?» «Ja, das ist richtig», sagte Phaedra. Sie kam mit ihren blitzenden Zähnen nahe an Jayells Hals heran. «So machen sie es: sie packen ihr Opfer, fesseln es und saugen es aus.» Jayell drehte sich um und blickte ihr in die Augen. Sie schaute ihn nachdenklich an. Er warf noch einen Blick auf das unglück liche Geschöpf in seinem seidenen Sarg, dann schob er plötzlich den Stuhl zurück und setzte sich seine Mütze auf. «Hm, ich kann nicht den ganzen Tag hier warten. Sag Em, ich hol ihn später ab.» In diesem Moment waren auf der Treppe wieder Schritte zu hören, schwere, wuchtige Schritte. Em und Jayell stießen fast in der Tür zusammen. «Hehoooh! Wußte gar nicht, daß wir Besuch haben.» «Ich geh ja schon», sagte Jayell und drückte sich vorbei. «Wir sprechen uns noch.» «Und was ist mit den Hohlblöcken?» fragte ich. «Dafür ist es jetzt zu dunkel. Wir laden sie morgen früh ab.» Jayell schob Em beiseite und polterte die Treppen hinunter. «Was ist denn mit dem los?» fragte Em. «Ja, das ist ein komischer Vogel», sagte Phaedra und schwang ein Bein übers Fensterbrett. «Wie geht's dir denn so, Em?» «Gar nicht gut. He, willst du auch schon gehen?» «Ja, es ist spät.» Sie beugte sich vor und fuhr mir mit der Hand durchs Haar. «Und nochmals vielen Dank, Early-Boy.» Damit ließ sie sich aufs Schuppendach fallen. «Verdammt», meinte Em, «da komme ich rein, und alle ver schwinden durch Türen und Fenster. Muß mich wohl langsam daran gewöhnen.» Er ging ans Küchenregal und holte sein Bonbonglas herunter. «Ist Tio immer noch am Basteln unten?» «Ja. Friß dich jetzt nicht mit Bonbons voll. Gleich ist das Abendbrot fertig. Du bist schuld, daß uns ein Job durch die Lappen gegangen ist. Wo hast du gesteckt?» «Wir, ein paar von uns, waren unten im Leichenschauhaus, wegen Rüben Johnson. Weißt du noch, das war der, für den Jayell im Sommer das Haus bauen wollt e . . . Irgendwer hat's ihm mit dem Messer besorgt. Uff, war nicht mehr viel von ihm übrig.» 294
Mir lief ein Schauder über den Rücken. Rüben Johnson war nach dem Zwischenfall wegen des Hauses verschwunden. In der Brandnacht hatten die «Bluthunde» seine Frau und das Baby geholt und im oberen Stockwerk des Bestat tungsinstituts einquartiert. Doc Bobo wollte sich «um sie küm mern», wie es hieß, bis Rüben wieder auftauchte. Jetzt war Rüben anscheinend wieder aufgetaucht. Ich sah Em an. Seine Augen blickten ausdruckslos, verrieten nichts. Gleichmütig kaute er auf seinem Bonbon herum. Am nächsten Morgen in aller Frühe war Tio wieder da, und von jetzt an wurden wir Tag für Tag beim ersten Morgengrauen durch metallische Geräusche geweckt. Tio arbeitete, bis es Zeit war, zur Schule zu gehen, und kam am Nachmittag wieder, sobald er im Laden Schluß machen konnte. Er war wie besessen, die Nachmittage waren viel zu kurz, und bald werkelte er bis spät in die Nacht. Wenn wir beim Abendbrot saßen, kam er zur Tür hereingestürzt, schnappte die Petroleumlampe vom Tisch und verschwand wortlos. «Wenn der nicht bald fertig ist», meinte Em, während er den Tisch ins Mondlicht zog, «dreh ich ihm noch den Hals um.» Schließlich waren alle Einzelteile gereinigt und konnten wieder zusammengesetzt werden. Und hier erwies sich meine bisher schon fragwürdige Mithilfe vollends als unbrauchbar. In meinen Händen paßte kein Teil ins andere. Griff ich dann nach dem Hammer, um dem widerspenstigen Teil etwas nachzuhelfen, stand Tio sofort neben mir und sagte: «Gib her, laß mich mal machen.» Schließlich machte er doch alles allein, und ich durfte nur Ölkanne und Putzlappen bedienen. Em streckte von Zeit zu Zeit den Kopf herein, schnaubte verächtlich und ging seiner Wege. Zum Schluß war die Maschine komplett bis auf das Vorderrad, das den größten Schaden davongetragen hatte. Der Reifen war geplatzt, und die Felge war irreparabel zerbeult. Aber wir brauchteruiur einen Nachmittag lang auf Bledsoes von Unkraut überwuchertem Gerümpelplatz herumzustöbern, da hatten wir brauchbaren Ersatz gefunden, und Bledsoe machte uns einen guten Preis für den Reifen, der sogar noch etwas Profil und nur 295
die dünnsten Risse aufwies. Das Rad war etwas kleiner als das ursprüngliche und gab der Maschine eine leichte Neigung nach vorn, aber das machte nichts aus, solange man keine Vollbremsung versuchte. Dann allerdings hatte die Maschine die Neigung, den Fahrer über den Lenker zu werfen. Fertig montiert, aufgetankt und spiegelblank poliert, so schoben wir sie auf die Wiese vor der Garage. Tios Gebrüll weckte Em aus dem Mittagsschlaf. «Nun ja», sagte Em und betrachtete das zerbeulte Schutzblech und den gezackten Riß im Auspuff. «Du hast alles wieder bei sammen, aber ich kann nicht sagen, daß es eine große Verbesserung wäre.» «Sie ist alt, und sie hat viel mitgemacht», sagte Tio, «aber sie hat trotzdem noch allerhand Dampf drauf.» Er warf ein Bein über den Sitz und trat den Starter durch. Die alte Maschine erbebte, blieb aber still und stumm. Er versuchte es noch einmal, und wieder erstarb der Motor glucksend. Em schob sich den Hut zurück und grinste. Tio rüttelte an einem Zündkabel, drehte das Gas voll auf und trat den Starter hart durch. Es war wie ein gewaltsames Erwachen, ein unentschlossenes Atemholen, dann sprang der Motor an, röhrte hysterisch auf und verfiel dann in einen stoßenden, rasselnden Leerlauf. Em Jojohn brüllte begei stert und klatschte. Aufgeregt grinsend rieb Tio sich die Hände, dann drehte er das Gas auf, hob die Füße vom Boden und donnerte über die Wiese davon. Erst am anderen Ende hatte er die Maschine wieder; halbwegs unter Kontrolle. Er drehte zwei gemütliche Runden auf der holprigen Wiese und kam schließlich wieder an, ließ die) Maschine ausrollen, trat den Ständer runter und strahlte uns triumphierend an: «Habt ihr das gesehen?» rief er aufgeregt: «Beinah wäre sie mit mir unter dem Hintern weggeflitzt! Ich sag i euch, das könnte der heißeste Ofen weit und breit auf den Straßen sein!» «Ist sie schon», sagte Em und streichelte die Maschine. «Nic ht schlecht aufgemöbelt!» « Laß mich auch mal fahren!» rief ich. Tio erklärte mir rasch die Bremsen und das Gas, und Em hielt das schwere Motorrad fest, während ich mich auf den Sattel schwang. Einen Moment später
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rollte ich holpernd durchs Gras. Ich konnte es nicht fassen, ich spürte begeistert den Fahrtwind und genoß das seltsame neue Machtgefühl. Ich kreiste langsam auf der Wiese, hopste vor Aufregung auf dem Sattel und winkte den Kühen zu, die in sicherem Abstand unter den Bäumen standen und zuschauten. «Unglaublich!» Das war alles, was ich bei der Rückkehr heraus brachte. «Absolut unglaublich!» Ich stieg ab, und Tio wollte Em überreden, es auch einmal zu versuchen. Der Indianer war entsetzt. «Du bist wohl überge schnappt», sagte er. «Ist doch nichts dabei», sagte Tio. «Wenn Earl es kann, dann kannst du es auch. Paß auf, hier ist das Gas . . . » Em wich zurück und schüttelte den Kopf. «Jeder, der zehn Liter Benzin in Brand steckt und sich rittlings draufsetzt, ist für mich nicht ganz richtig im Kopf!» «Gut, dann fahr ich», sagte Tio. «Komm, setz dich hinten drauf. Ich zeige dir, wie leicht es ist.» «Los, Em, fahr mit ihm, nur eine Runde!» Em musterte interes siert die Wolken. Tio und ich warteten, beseelt von der rück sichtslosen Entschlossenheit, eine neue Erfahrung auch den an deren mitzuteilen. Als Em sah, daß wir nicht lockerließen, und da er zu stolz war, einfach wegzugehen, erkannte er, daß er gefangen war. Er schwieg eine Weile, schoß Blicke auf das Mo torrad, auf uns und wieder auf die Wolken, dann schwang er sich plötzlich auf den Sattel und schlang die Arme um Tio. «Nicht so fest», protestierte Tio. «Du schnürst mir die Luft ab!» Em rutschte hin und her, suchte strampelnd nach den Fußrasten und zog sich den Hut in die Stirn. Endlich war er bereit. Tio warf sich auf den Starter, und die überladene Maschine quälte sich den Hügel hinauf. Als sie das erste Mal an mir vorbeikurvte, blickte Em zu mir herüber und riskierte die Andeutung eines Lächelns, aber noch immer klammerte er sich so fest, daß Tio fast erstickte. Noch eine Schleife, dann stieg Tio japsend ab. «Jetzt weißt du, wie es geht», keuchte er und warf sich ins Gras. Em rutschte vorsichtig nach vorn und wippte versuchsweise auf dem Sattel auf und ab. Er sah mich unsicher an.
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«Fahr los, Em, du schaffst es.» Ein Bild gesammelter Konzentration, so stieß er sich ab, schwankte ein paar Meter weit und fiel auf die Seite. «Du mußt Balance halten», sagte Tio, als wir Em auf die Beine halfen. «Wie auf dem Fahrrad!» «Kann ich, kann ich.» Em stieg auf und versuchte es noch einmal. «Mehr Tempo», schrie Tio, «mehr Tempo!» Em drehte das Gas auf, und aufbrül lend fiel die Maschine in eine flottere Gangart. «So ist's gut, so ist's richtig!» Unsicher schaukelte Em um den Hügel herum, und als er an der Nordseite - immer noch Herr der Lage - wieder zum Vorschein kam, schrien wir «Bravo!» und klatschten in die Hände. Em setzte ein breites Grinsen auf und fuchtelte fröhlich mit den Ellbogen, was, mit dem Drehgashebel in der Hand, ein entschiedener Fehler war. Die Maschine stotterte, stockte und schoß dann donnernd in einer blauen Wolke davon. Hilflos mußten wir zusehen, wie der Indianer über den Acker raste, hart über den Graben setzte, knapp einen Birnbaum ver fehlte, einen Baumstumpf rammte und kopfüber in einen Reisig haufen flog. Als wir bei ihm ankamen, arbeitete er sich gerade, majestätisch fluchend, aus dem Gestrüpp. Blutperlen standen auf weißen Schrammen in seinem Gesicht und am Hals. Das Motorrad kreiselte mit heulendem Motor am Boden, bis Tio es abstellte. «Finger weg!» brüllte Jojohn, während er sich Zweige und Blätter vom Hemd zupfte. «Laß die Finger von der Maschine!» «Komm schon, Em. Du bist prima gefahren», sagte Tio. «Ja», sagte ich, «wozu willst du dich umbringen?» Wütend schob Em uns beiseite, packte die widerspenstige Ma schine, schleppte sie zu einer ebenen Stelle und setzte sie mit Wucht auf ihre teuflischen Räder. Dann schwang er sich wieder auf den Sattel und kommandierte: «Los, laß sie an!» «Em, du fährst sie noch zu Klump», jammerte Tio. «Ich fahre sie entweder, oder ich wickle sie um diesen gottver dammten Baum!» erklärte er und hielt mir seine Vaselinedose hin. «Halt mal meine Streichhölzer!» 298
Tio seufzte ergeben und trat den Starter durch. Und weiter ging der Kampf des Indianers mit der Maschine. Tio und ich hockten uns auf einen Baumstamm und warteten. Rauf und runter zockelten sie über die Wiese. Em hielt das Gas fast auf Null und tuckerte gemütlich durchs Gras, immer im Kreis und immer in der gleichen Spur, am Waldrand entlang, ein todernstes Geschäft. Mit der Zeit wurde es uns langweilig, ihm zuzuschauen, und wir vertrieben uns die Zeit mit Messerwerfen. Dann machten wir einen Ringkampf, spielten im Birnbaum Tarzan und probierten, wer länger an einem Arm hängen konnte. Tio entdeckte einen interessanten Käfer, mit dem wir fast eine halbe Stunde spielten, bis er ohne Vorankündigung seine Flügel ausbreitete, die wir vorher gar nicht bemerkt hatten, und davonflog. «Was meinst du, ob er nicht weiß, wie er anhalten soll, und einfach zu stolz ist, es zu sagen?» überlegte Tio. «Nein», sagte ich und sah zu Em hinüber. «Er hat eine neue Welt für sich entdeckt und ist dabei, sie zu erforschen. Ich würde mich nicht zu sehr darauf verlassen, daß du dein Motorrad wiederkriegst.» «Was soll's», sagte Tio und wandte sich zum Gehen. «Mr. Teague würde mir sowieso nicht erlauben, es zu behalten.» Ich lehnte mich an den Stamm des Birnbaums, und nach einer Weile döste ich ein. Die sinkende Sonne überzog die Berge Georgias mit blankem Kupfer. Die Grillen kündigten die Dun kelheit an. Runde um Runde zog der Indianer seine Spur, an seine Kreisbahn gefesselt wie ein Jahrmarktspony, die Ellbogen durchgedrückt, das Gesicht in andächtigem Staunen erstarrt-so legte er sich vorsichtig in die Kurve. Tio verwand den Verlust des Motorrads. Ja, binnen einer Wo che war er von der Idee besessen, daß jetzt noch ein Anhänger fehlte, und er stürzte sich in die Arbeit. Jayell half ihm beim Entwurf und gab ihm Rohre und Holz, und Em und ich halfen ihm, auf Bledsoes Gerümpelplatz und in der Gießerei nach Winkelstreben und Rädern zu suchen. Es war ein zweirädriger Anhänger, leicht, beweglich und fest genug, um ohne weiteres drei Mann zu tragen. Em strich ihn gelb an und fuhr damit stolz 299
bei allen seinen Kneipen am Fluß vor. Ganz traute er der Maschine nie, und er blieb immer ein ängstlicher Fahrer. Aber er konnte fahren, wohin er wollte, und nach zwei, drei Wochen brachte er es sogar fertig, zu bremsen, ohne über den Lenker zu fliegen.
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«Verdammt, halt doch mal still!» «Du hast mich geschnitten!» Ich sprang auf und rieb mir den Hals. An meiner Hand war Blut. «Da, schau dir das an. Schau dir das an!» «Nur ein kleiner Kratzer. Setz dich hin.» Em packte mich am Arm und zog mich wieder auf den Hocker. «Ich hab noch nie so ein Geschrei wegen so einem kleinen Kratzer gehört!» «Ich will mir keine Blutvergiftung holen. Wo gibt's denn so was, Haareschneiden mit der Heckenschere!» «75 Cents für den Friseur - ist doch Blödsinn! So, halt den Kopf schief, damit ich's abwischen kann.» «Nicht mit dem Handtuch, das ist schmutzig. Nimm das gelbe!» Em warf das Handtuch über den Sparren und zog das saubere herunter. «So wie du die Wäsche wäscht, kann man's kaum unterscheiden.» «Wenn du nicht zufrieden bist - der Waschzuber hängt an der Wand und das Waschbrett gleich daneben!» «Ich sage ja gar nichts.» «Und wenn du dir das nächste Mal die Schuhe putzt, leg bitte eine Zeitung unter. Schau nur, wie der Fußboden aussieht!» Die Arbeit war knapp, und es war kalt geworden, und durch den Ape Yard heulten Sturmböen, die das Blech auf dem Dach anhoben und die Vögel zwangen, seitwärts zu trippeln, um nicht 300
das Gleichgewicht zu verlieren. Und das Schlimmste: es war Weihnachten. Der peitschenknallende, wahnwitzige Jubel, der am Ende jedes sterbenden Jahres ausbrach, fiel wieder über uns her. Feiertage waren für uns immer so etwas wie ein Zwang, als gehörten sie eigentlich in eine andere Welt und würden im Ape Yard nur nachgeahmt. In den zwei Wochen vor Weihnachten hatten Em und ich die ganze Stadt auf der Suche nach Arbeit durchgekämmt, aber trotz des hektischen Betriebs in den Geschäften waren kaum Jobs zu finden. Sie wurden uns von Studenten weggeschnappt, die in den Ferien arbeiteten, um ihren Freundinnen Armreifen und Plattenalben zu schenken. Wir halfen beim Umzug einer Eisen warenhandlung, säuberten an einer abgebrannten Tankstelle Ziegelsteine, und drei Tage lang durfte ich für einen kranken Sodamixer im Drugstore einspringen. Em war fast erleichtert, als er den Job an der Kohlenrampe verlor. Das sei nicht seine Art Dreck, meinte er. Am Weihnachtsabend lag die Stadt erschöpft da. Die letzten verspäteten Käufer durchforsteten die Läden unter den müden Augen dauernd auf die Uhr schauender Verkäufer. In Clubs und Salons reichten weißbefrackte Neger Tabletts mit Gläsern herum - und die Leute waren schon zu betrunken, um beim Tanzen auf den Rhythmus der Combo zu achten. Die bunten Glitzergirlanden an den Laternenmasten hatten den gleichen Hauch von Verlorenheit und Trostlosigkeit wie die abgeblätter ten Krippenfiguren auf dem Platz vor dem Rathaus. Doch un beirrt stimmten überall in der Stadt Kirchenchöre ihren «Mes sias» an. Auf der Rock Crusher Road wandelten hitzige Jungfern in raschelnden Krinolinen in der Hoffnung auf ein neues «ewiges» Glück, besiegelt mit Senfkornamuletten und Christophe rus-Medaillen. Junge Ehepaare, müde, pleite, aber glücklich, schlenderten durch die Straßen, lauschten den Chorälen und zeigten ihren Kindern die Weihnachtsbeleuchtung. Im Ape Yard träumten die Jungen von ledernen Cowboyanzügen und die Mädchen von sprechenden, laufenden Puppen und all dem schö nen funkelnden, ratternden Spielzeug, während die Mütter Äp 301
fel und klebrige Süßigkeiten in Pappschachteln füllten und schändlich betrunkene Väter in den Kamin spuckten. Die Wiese hinter der Garage war schön: unter dem blau-kalten klaren Nachthimmel schimmerten die Reste von morgendlichem Schnee im Gras. Während Em mir die Haare schnitt, badete ich meinen Daumen in kaltem Wasser. Den Nagel würde ich wohl verlieren, er lief schon schwarz an, aber das heiße Pochen und der Schmerz ließen allmählich nach. Trotz des Unfalls war ich glücklich, daß ich die zwei Tage Arbeit im Wasserwerk bekom men hatte - Rohrmuffen für die Inventur sortieren. Der Lohn war gut, ein Dollar die Stunde, und im Wasserwerk arbeitete sich niemand zu Tode. Ich hätte besser achtgeben sollen, als Ronnie mit der Kiste voller Knierohre kam, ich wußte ja, wie unge schickt er war. Ronnie, für die Feiertage vom College nac h Hause gekommen, war der Sohn des Stadtdirektors, ein Junge, der mit einer Hand arbeitete und mit der anderen seine Meer schaumpfeife liebkoste. «Tut der Finger noch weh?» «Ist schon in Ordnung.» Em bestäubte meinen Hals mit Backpulver, und ich hielt den Kopf hinunter, damit er die Haare wegbürsten konnte. In den Spiegel zu schauen, das ersparte ich mir lieber. «Froohe Weihnachten! Hohohooo! Froohe, froohe . . .!» Tio kam durch die Tür gesprungen, einen weißen Wattebart unter dem Kinn und mit einem gewaltigen Bauch unter der Jacke, den er mit beiden Händen festhielt. «Was für ein Anblick», rief Em, «ein schwangerer Santa Claus!» Tio setzte sich auf die Feldkiste und schlug die Beine übereinan der. «Lach nur, mach nur deine blöden Spaße! Ich überleg mir inzwischen, ob ich aufstehen und gehen soll, oder ob ich Erbarm men mit den Einfältigen haben und dich an meinem Weihnachts vergnügen teilhaben lassen soll.» Er knüpfte seine Jacke auf und zog einen Krug mit einer purpurnen Flüssigkeit hervor. Em wurde ernst, bückte sich und untersuchte den Krug. «Wo in aller Welt», flüsterte er andächtig, «hast du Muskatellerwein auf getrieben?» 302
«Jemand hat uns zwei Gallonen in den Laden gestellt. Mr. Teague ist gerade mit der einen zu Bett gegangen.» Wir suchten hastig nach Gläsern, und dann machte ich meine erste Bekanntschaft mit hausgemachtem Wein. Es war irgendwie eine Enttäuschung. Er war stark und bitter und hatte nichts von dem milden Aroma, das ich erwartet hatte. «Du mußt dich erst daran gewöhnen», sagte Em und goß sich sein Glas wieder voll. «Schlürf ihn langsam und laß ihn wirken!» Tio rülpste und schwenkte sein Glas. «Gieß mir auch noch ein bißchen dazu. Dieser Stoff und ich sind alte Freunde.» Em fügte sich widerwillig, aber er gab die Flasche nicht aus der Hand. Wir plauderten und schlürften den Wein, jedenfalls ich Tio und Em soffen. Nach einer guten Stunde, der Wein in der Flasche nahm inzwischen etwas langsamer ab, richtete sich Em plötzlich auf und sagte: «Verdammt, ich bin hungrig! Was haben wir zu essen, Earl?» «Essen, ja, Sir! Das ist jetzt das Richtige.» Ich stand auf und suchte im Schrank. «Worauf hast du denn Lust? Spaghetti aus der Dose?» «Oh, mein Gott!» «Ich könnte auch die Schweinshaxe mit Gumbo aufwärmen.» «Nichts für mich!» «Und wenn ich ein Kotelett in die Pfanne haue?» «Junge, willst du meinen Magen ruinieren?» «Also, das war's. Außer wir gehen in die Stadt, ins Cafe.» «Wieviel haben wir noch im Vogelhaus?» Ich dachte nach und schüttelte den Kopf. «Nicht genug, um ins Cafe zu gehen.» Em streckte sich stöhnend auf dem Feldbett aus. «Was für ein trauriges Weihnachtsfest! Morgen gibt's überall in der Stadt Schinken und Truthahn mit Füllung und Preiselbeerensoße, und wir sitzen hier und darben! Was gibt's denn bei euch, Tio?» «Mr. Teague macht meistens ein Hühnchen, wenn wir nicht alle verkauft haben.» «Hühnchen? Hörst du das, Junge? Wie lange haben wir kein Hühnchen mehr auf dem Tisch gehabt!»
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«Nicht mehr seit dem letzten Sonntag bei Miss Esther, glaube ich.» Plötzlich setzte Em sich auf. Er schaute mich an, als versuchte er sich an etwas zu erinnern. Dann stand er auf und stieg in seine Stiefel. «Bei Gott, wir werden ein Hühnchen im Topf haben!» «Wie denn?» «Erinnerst du dich an den alten Dreckskerl mit der Milchfarm, der uns um unser Geld geprellt hat? Er hat einen ganzen Stall voll Hühner!» «Du willst doch nicht etwa . . . » «Und ob ich will!» Tio war sofort auf den Beinen, mit glasigen Augen und platzend vor Neugier. «Ich brauch ein Stück Draht», sagte Em. «Festen Packdraht. Unten im Schuppen muß noch ein Ende sein. Und dann brauch ich einen langen Stock.» Tio fand den Draht, und Em zog den Stil aus einer kaputten Hacke. Er befestigte den Draht an dem einen Ende des Stils, führte ihn durch eine Öse, die er aus einem Nagel zurechtbog, und an der Stange entlang zum anderen Ende, wo er ihn um seine Hand wickelte. Er machte eine Schlinge und probierte sie ein paarmal am Stuhlbein aus. Dann drehte er sich um und grinste uns an. «Hol das Motorrad raus», sagte er. Genau nach Ems Plan näherten wir uns Hutchinsons Farm von hinten, vom Little Holland Highway her. Wir ließen das Motorrad im Wald stehen, sprangen über den gefrorenen Abzugsgraben und schlichen uns am Zaun entlang. Geduckt, und immer das Farmhaus im Auge behaltend, huschten wir von einem Stallgebäude zum ändern, bis wir den Geräteschuppen neben dem Hühnerhaus erreichten. «Hier warten wir besser, bis er ins Bett geht», sagte Em. Das Farmhaus oben auf dem Hügel lag dunkel da, nur in der Küche brannte Licht. Em entkorkte den Weinkrug, nahm einen langen Zug und hielt den Krug mir hin. «Ich glaube, ich hab genug», sagte ich. Ich wußte nicht, ob es die Aufregung war, jedenfalls war mir von dem, was ich getrunken hatte, schon ein bißchen schummrig. «Ich schlucke gern noch einen», meldete sich Tio. 304
«Du schluckst dich noch dumm und dämlich», sagte Em. «Nimm doch um Gottes willen diesen blöden Bart ab!» «Ssssch! Ihr beide! Wollt ihr das ganze Haus wecken?» Anfangs war es stockfinster gewesen, aber jetzt kam ein kühler Wind auf, und am Himmel trieben Wolkenfetzen dahin; das neue Dach des Milchschuppens schimmerte silbern im Mondlicht. Nach einer Weile sah ich das Licht in der Küche ausgehen. Gleich darauf flutete bunter Lichterglanz über das Gebüsch vor dem Wohn zimmerfenster. Ich fluchte leise und kroch zu Em und Tio zurück. «Feine Hühnerdiebe sind wir! Mann, wir hätten uns wahrhaftig keine bessere Nacht aussuchen können . . . » «Wieso denn, was ist?» «Es ist Weihnachtsabend, erinnerst du dich? Sie werden die halbe Nacht feiern!» «Nein», sagte Em und schüttelte den Kopf. «Er hat keine Familie.» «Woher willst du das wissen?» «Wenn Kinder da sind, siehst du immer irgendwelche Spuren von ihnen ums Haus, und damals, als er uns am Pumpenhaus warten ließ, habe ich gesehen, wie er sich in der Küche selbst sein Essen zurechtmachte. Würde der etwa selbst kochen, wenn er eine Frau hätte?» «Du erstaunst mich», sagte Tio. «Dann spielt er eben für sich allein Santa Claus», sagte ich. «Ich hab jedenfalls eben die Christbaumbeleuchtung angehen se hen.» «Was ?» Em kroch vor und spähte um die Ecke. «Komisch, er ist nicht der Typ für so was.» «Stell dir vor, er hat Em für einen Zigeuner gehalten», sagte ich zu Tio. Tio kicherte los, und Em zischte ihn an. «Wir wollen lieber mal nachsehen», sagte er. «Das paßt alles nicht zusammen.» «Wir alle drei?» fragte ich. «War's nicht besser, wenn nur einer geht?» «Nein, wir bleiben besser zusammen. Wenn einer allein geht, und es ist alles klar, dann muß er den ganzen Weg zurückrobben, am Hühnerhaus vorbei, um die anderen zu holen, und dann 305
wieder zurück. Hat keinen Sinn, wenn wir überall auf der Farm rumlaufen und Spuren hinterlassen, wie? Tio, verdammt, laß die Finger von dem Krug!» Er riß ihm den Krug aus der Hand, leerte ihn mit ein paar langen Zügen und warf ihn weg. «So, jetzt kommt ihr wenigstens nicht mehr in Versuchung», sagte ich. Tio wieherte wieder los, verschluckte sich an einem langen Rülpser und saß am Boden und rang nach Luft. «Zum Teufel!» zischte Em, riß ihm den Wattebart ab und klopfte ihn auf den Rücken. Als Tio wieder atmen konnte, krochen wir auf allen vieren los, Em voran und ich als Nachhut. Tio krabbelte mit schwerer Schlagseite zwischen uns. Mir wurde immer flauer. Kein warnendes Bellen ertönte vom Haus her, aber darüber machten wir uns keine Sorgen; Hutchinson war nicht der Typ, der Abfälle, die seine Schweine fett machen konnten, an einen Hund verfütterte. Als wir das Haus erreichten, zogen wir Tio auf die Füße und schlichen uns vorsichtig ans Wohnzimmerfenster. Em nahm den Hut ab und schob den Kopf von der Seite her zum Fenster, bis das bunte Licht sich in seinem einen Auge spiegelte. Das Auge blinzelte, um sich an das Licht zu gewöhnen, weitete sich dann staunend, zwinkerte mehrmals, und dann rückte das andere Auge nach. Beide Augen starr aufgerissen. In der Ecke des Zimmers stand eine kümmerliche Fichte. Ihr elektrischer Farbenreigen glitt über die Wände, die Decke, die tristen Möbel mit ihren Schonbezügen - und über die nackten weißen Gestalten, die sich lustvoll am Boden wälzten. Die Köpfe waren uns zugewandt, Mr. Hutchinsons Gesicht ruhte an ihrer Schulter, und seine Glatze schaukelte wie ein kleiner Mond im Schummerlicht auf und ab. Die wulstige Stirn der Frau und ihre dichten roten Locken auf dem Kissen waren unverwechselbar: es war Eva Flynn, die Kellnerin aus Maes Fernfahrer-Kneipe. Tio kniff die Augen zusammen, und seine Kehle zuckte gefähr lich. Gerade noch rechtzeitig drückte Em ihm seine große Hand auf den Mund. Er packte ihn am Hosenbund und trug ihn über
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den Hof und den Hügel hinunter, während Tios Beine wie wild in der Luft strampelten und sein Atem stoßend durch die Finger des Indianers zischte. Hinter dem Stall ließen wir uns ins Gras fallen, preßten uns die Hände vors Gesicht, zappelten hilflos mit den Beinen und wälzten uns vor Lachen - es tat richtig weh, und doch konnten wir nicht aufhören. «Okay, Boys», sagte Em heiser und rappelte sich mühsam auf die Knie, «holen wir die Hühner . . . » Er hielt inne, konnte aber nicht wiederstehen. «Solange der Gockel noch beschäftigt ist.» «liiäaaaaaah» gurgelte Tio, und Em plumpste wieder vornüber aufs Gesicht. Schließlich zogen wir uns auf unsere Füße hoch und stolperten los, dem Hühnerhaus entgegen, wagten jedoch nicht, einander anzusehen. Tio und ich spähten durch das Lattengitter, während Em den Riegel zurückschob und mit seinem Hühnerfänger hinein schlüpfte. Einen Augenblick stand er regungslos da, dann tappte er vorsichtig an den Reihen der geisterhaft weißen Hühner vorbei. Eine der Hennen gluckte und erhob sich, Em erstarrte. Nach einer Weile plusterte das Huhn sein Gefieder und ließ sich wieder nieder. Er suchte sich eine besonders fette Henne auf der untersten Stange aus. Jetzt schob er langsam die Drahtschlinge vor. Tio und ich hielten die Luft an. Der Draht war in der Dunkelheit unsichtbar, wir sahen nur den Holzgriff, der sich Zentimeter um Zentimeter ihrem Kopf näherte. Plötzlich schnappte die Schlinge zu. Em riß die Henne zu Boden und trat mit dem Fuß drauf, um dem Geflatter ein Ende zu machen. Schluß. Es ging so schnell und leise, daß die schlafenden Schwestern sich kaum regten. «T-t-t-t tsss», Tio schüttelte in duseligem Staunen den Kopf. Em löste die Schlinge, und die Henne lag schlaff und leblos mit langsam sich entfaltenden Flügeln in seiner Hand. Schnell und ebenso lautlos fing er noch zwei und reichte sie uns durch die Tür. Ich steckte sie in den mitgebrachten Sack. «Will mal lieber noch eine holen», sagte Em. Er wollte sich schon umdrehen, da
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machteTio «Pssst!» durch denSpaltund immer wieder «Pssst!», bis Em zurückkam, «Laß mich die letzte fangen», sagte er. «Du bist heut nicht in Form», flüsterte Em. «Ach was, Mann, ich hab doch gesehen, wie du's machst. Komm, laß mich eine fangen. Ist doch unfair, wenn du allein den ganzen Spaß hast.» Em seufzte. «Meinetwegen, aber leise!» Tio schlüpfte durch die Tür und griff nach dem Fänger. Em stützte ihn und wies ihm den Weg zu den Hühnern. «Em, bist du wahnsinnig?» flüsterte ich. Em legte den Finger an die Lippen und grinste. Tio wankte an den Hühnerstangen entlang. Zwei alte Hennen auf dem unteren Rost hoben den Kopf, standen auf und beäugten ihn mißtrauisch. Tio baute sich angriffslustig vor ihnen auf, und nach schier endloser Fummelei mit der Drahtschlinge hob er die Stange, ließ sie über ihren Köpfen schaukeln und senkte sie langsam auf die rechte herab. Die Henne beobachtete die sich nähernde Gefahr, und im letzten Moment ruckte sie mit dem Kopf, und die Schlinge glitt an ihrem Gefieder ab. Em schlug sich die Hand vor den Mund und wandte sich ab. Tio grinste einfältig. Er schob seinen Hut ins Genick und versuchte es noch einmal. Das Huhn hatte anscheinend die Ge duld verloren, es hüpfte auf den Boden und trippelte unter den Rosten davon. Tio starrte hinterher. Verwirrt wandte er sich ratsuchend nach Em um. Aber Em konnte ihm nicht helfen; er klammerte sich an einen Dachsparren und schüttelte sich in einem stummen Lachkrampf. Tio stützte sich auf den Fänger und überdachte die Situation. Er ging in die Hocke, spähte unter den Hühnerrost und schaute sich wieder nach Jojohn um. Schließlich tat er, was er offenbar für das Nächstliegende hielt. Er ging auf die Knie und krabbelte unter den Rost. Als es mir endlich gelang, Em auf die neue Wendung der Dinge aufmerksam zu machen, erschrak er und hastete gebückt an den Hühnerstangen entlang. «Tio!» flüsterte er heiser. «Du ver dammter Idiot! Komm raus da!» Im gleichen Moment hörte ich, 308
wie sich die Schlinge schloß - um das Beinchen der erbosten Henne, wie sich zeigen sollte. Beim ersten Gezeter unter dem Rost erhob sich das ganze Hühnervolk als flatternde, ohrenbetäubend donnernde Wolke in die Lüfte, und zwischen den Stangen kam Tio zum Vorschein, der entschlossen seine zappelnde Beute festhielt. Hühner, überall Hühner. Sie klatschten gegen die Wände, flatterten unter der Decke, krachten gegen die Tür, hockten sekundenlang auf den Sparren, um sogleich durch andere heranflatternde Hennen vertrieben zu werden; sie brandeten in schäumenden Wogen zwischen den Hühnerstangen auf und nieder, wirbelten hoch in die Luft, schössen umher in einem Schauer weißer Federn. Em hatte es aufgegeben, sich zu Tio vorzukämpfen, und bahnte sich mit windmühlenschwingenden Armen seinen Weg zur Tür. Auf der Veranda hinter Hutchinsons Haus ging Licht an. Am Pumpenhaus flammte eine Lampe auf. Ich rannte zur Tür und riß sie auf, und obwohl ich brüllte, hörte ich meine eigene Stimme nicht. Aber die offene Tür zeigte den tobenden Hühnern ein Viereck Mondlicht, nach dem sie jetzt strebten - und da wogten sie auch schon heran und fluteten als gackernde, gischtende Brandung den Hügel hinunter. Die erste Schrotladung pfiff durchs Hühnerhaus hindurch und prasselte gegen den Melkstall. Da gab Em es auf, noch lange nach der Tür zu suchen, und stürmte durch die splitternden Latten hinaus. Er hatte Tio gefunden und schleppte ihn hinter sich her. Tio hielt noch immer den Fänger mit dem flatternden Huhn um klammert. Ich hatte einen ziemlichen Vorsprung, aber schon am Futtersilo überholte mich Em, in der einen Hand seinen Hut, mit der anderen Tio fest am Kragen gepackt, im Laufen mit dumpfen Atemstößen grunzend: «Uh-hah! Uh-hah! Uh-hah!» Der zweite Schuß krachte, und erst der Einschlag in den Sack in meiner Hand machte mir klar, daß ich noch immer die Hühner schleppte. Ich sprang über den Graben und hechtete zu Tio in den Anhänger, während Em mit Vollgas in die Uferstraße einbog. Meilenweit holperten wir über Forstwege und Nebenstraßen, ehe wir 309
uns wieder auf den Highway wagten, aber auch jetzt noch waren wir bei jedem Scheinwerferlicht, das wir sahen, überzeugt, daß es Hutchinson oder der Sheriff war, und hielten an und schoben das Motorrad ins Gebüsch. Aber schließlich faßten wir wieder Mut und beruhigten uns, und Em knatterte heimwärts. Ich starrte dem unter mir wegglei tenden Straßenpflaster nach, während Tio längst selig neben mir schlief, den Kopf auf den Hühnersack gebettet. An der Brücke am unteren Ende des Ape Yard drosselte Em das Gas und brüllte über die Schulter: «Irgendwer muß die Dinger ja zubereiten.» «Wie meinst du das?» Oben am Hügel funkelten die Lichter des Rainbow Supper Club. «Mann, ich bin völlig erschlagen», sagte Em. «Ich auch», sagte ich. Es war weit nach Mitternacht. «Ich jedenfalls hab keine Lust, die Vögel zu rupfen.» «Hm, aber einer muß es machen, wenn wir morgen Huhn auf dem Tisch haben wollen.» Das hätte ich mir denken können, daß du's auf mich abwälzen würdest, dachte ich. Aber als wir uns dem Rainbow Club näherten, wehte ein verführerischer Duft durch die Luft, und ich begriff, worauf er hinauswollte. «Ich kann nicht bis morgen warten, ic h bin halb verhungert. Was meint ihr, tauschen wir die Dinger gegen ein paar von Old Bubbas saftigen Barbecues ein?» «Was? Keinen Hühnerbraten nach all der Aufregung?» «Ach, komm, die alten Hennen sind wahrscheinlich sowieso zäh wie Leder.» Er bog schon in die Auffahrt zum Rainbow Club ein. «Wie wollen wir die Hühner denn überhaupt braten, wir haben doch gar keinen Herd! Da reden wir und reden und haben nicht mal einen Herd.» «Da hast du allerdings recht.» «Wir wissen auch gar nicht, wie man Hühner zubereitet.» «Auch richtig, Em.» «Aber Old Bubba weiß ganz genau, wie man Barbecue macht.» Das stimmte. Bubba Whites Rainbow Supper Club, ein scheu nenartiges Gebäude, eine ehemalige Mühle, war berühmt für sein gutes Barbecue - und für Mord und Totschlag. Bubba 310
White, ein Baum von einem Mann, hatte das gutmütige Gesicht eines schwarzen Santa Claus, aber ein etwas heftiges Tempera ment. Er hatte schon mehrmals hinter Gittern gesessen, und ab und zu, wenn der Volkszorn allzu laut wurde, machte die Polizei bei ihm eine Razzia und schloß das Lokal. Es dauerte immer nur ein paar Monate, bis der Rainbow Club wieder seine Pforten öffnete und der Keller wieder mit geschmuggeltem Whiskey gefüllt war. Und bis Sträflinge aus dem Arbeitslager an Bubbas Tischen bedienten. Bubba White war nämlich Doc Bobos Schwager. Em schlängelte sich zwischen parkenden Autos hindurch zur Küchentür. Er klopfte. Drinnen lärmte die Jukebox. Er klopfte noch einmal. Und jetzt öffnete sich die Tür einen Spalt. Bubba höchstpersönlich spähte aus der verqualmten Küche heraus. Sein kastanienbrauner Schlips steckte im Gürtel, Schweißperlen glänzten auf seiner Glatze und sickerten in seinen Kragen. Er erkannte Em und grinste. «Na, so was!» Em hielt die Hühner hoch. Die Flügel hingen schlaff herab. «Schau mal, Bubba, wir haben hier ein paar herrliche Hühnchen. Würdest du sie gegen ein gutes Barbecue eintauschen?» Bubba White zog die Luft durch die Zähne, beugte sich zur Tür hinaus und sah sich um. Als er mich erblickte - ich versuchte gerade, Tio auf die Beine zu bringen -, starrte er Em mißtrauisch an. «Alles in Ordnung», sagte Em. «Die Jungs haben mir nur geholfen, die Dinger hier zu fangen.» Bubba betrachtete die Hühner. «Wie lange sind die Vögel schon tot?» «Noch keine Stunde. Hier, fühl mal, sind noch warm.». Bubba befühlte sie gleichgültig. «Das hier sieht aus, als war's überfahren worden.» «Es hat eine Ladung Schrot abgekriegt, aber die ändern haben keinen Kratzer.» Bubba, offenbar zufrieden mit dem Ergebnis seiner Untersu chung, drehte sich um und gab die Vögel einer Frau, die sich an einem Barbecue-Spieß zu schaffen machte. «Da, nimm die Hüh ner, Etta, und mach den dreien hier was zu essen.» Er holte eine Flasche aus dem Schrank. 311
«Wie war's mit einem Schluck, Em?» «Lieber nicht», sagte Em. «Ich hab vorhin Wein getrunken, das bekommt mir nicht.» Bubba kicherte. «Immer noch dein empfindlicher Magen, ja?» «Wund wie eine Hure im Pfadfinderlager», sagte Em und rieb sich den Bauch. «Manchmal kommt's mir so vor, als sei das ; Innenfutter schon durch.» Bubba lachte. Er öffnete die Tür zum Speisesaal und deutete zum Balkon hinauf. «Geht schon mal und setzt euch. Ich schick euch gleich das Essen rauf.» Er winkte einem Kellner. Em tippte der Köchin auf die Schulter: «Für mich eine ordent liche Portion von der scharfen Soße, Etta!» Der Kellner führte uns zwischen tanzenden Paaren hindurch. An den Tischen im Saal saßen Männer und Frauen, die aßen und lachten und sich im Schummerlicht der Kerzen umarmten. Sie fühlten sich wohl in der von Sex und saftigen Speisedünsten erfüllten Atmosphäre dieses Raums, in dem ihre Vorfahren als Sklaven gearbeitet hatten. Wir folgten dem jungen Kellner die Treppe hinauf zum Balkon, wo er uns einen Tisch zuwies, von dem aus man auf den Fluß blickte. Wegen der Hitze im Saal waren die Fenster geöffnet worden, und ein kühler Luftzug drang herein. Wir setzten uns und beobachteten die Tänzer, bis der Kellner mit dampfenden Platten voll Schweinefleisch mit Minze und Pommes frites kam und Krüge mit kühlem Bier vor uns hinstellte. Mir war, als hätte ich tagelang nichts gegessen. Wir saßen da und aßen und waren glücklich. Draußen schwankten die Bäume am Fluß unter einem schwar zen Windstoß, der einen Schleier Hagel vor sich her trieb. Die Eiskörner prasselten durch die im Tavernenlicht schimmernden Blätter und vollführten einen silbernen Tanz zwischen den dunklen Wurzeln. Wir spülten das würzig duftende Fleisch mit prickelnden Schlucken dunklen Biers hinunter. Ich blickte in das flackernde Licht der roten Kerze auf unserem Tisch. «Frohe Weihnachten», sagte ich.
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Em nickte und blinzelte mir zu. «Frohe Weihnachten!» «Frohe Weihnachten», sagte ich. Tio, mit glasigen Augen und vollgestopftem Mund, lüftete seinen zerbeulten Hut. «Frrr . . . » gurgelte er. Und das war's. Das froheste Weihnachtsfest, das ich je erlebt hatte.
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Drittes Buch
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Es war der erste Sonnabend im neuen Jahr, der Poncini-Tag, die offizielle Eröffnung der auf sechs Monate geplanten Jahrhun dertfeiern und ein Paukenschlag, ein großer Tag für Quarrytown. Bürgermeister Crowler hatte von der Rathaustreppe herab eine feierliche Ansprache gehalten. Der Poncini-Park, ein Netz von Spazierwegen mit Ruhebänken kreuz und quer durch eine Azaleenpflanzung hinter der Galaxy Plaza, war eingeweiht worden. Die Leute schoben sich durch die Straßen und feilschten vor den Ständen des Poncini-Jahrmarkts, Männer mit frisch gesprossenen Bärten, mit Derbyhüten und Kragenschleifen, Frauen in selbstgeschneiderten Oma-Kleidern, nicht unbedingt echt, aber Old Time. Auf dem Platz von Allie Shafers Gebrauchtwagenmarkt gab es Volkstänze unter einem großen Transparent, das zum Jubi läums-Ausverkauf einlud. Auf dem Marktplatz hatten zwei Brüder Cohen gerade die bisher favorisierten Amborsini-Zwillinge beim Wettkampf um die größte Ähnlichkeit mit den Poncini Brothers geschlagen, und zwischen den älteren Italienern flogen Flüche in unverfälschter lingua. materna hin und her. Die Rotarier verkauften heiße Würstchen. Die High School-Band jazzte auf dem Rasen vor dem Rathaus. Zweirädrige Karren und Planwagen aus der Pionierzeit verstopften die Straßen der Innenstadt, ein scheuendes Pferd ging durch und stürmte durch das Portal des Marble City Hotel. Auf dem Heimweg schlössen Em und ich uns einer Menschen menge an, die hinter der Stadtbibliothek aufbrach, um das Grab von Easter Robinson zu suchen. Tad Breisner, der Sohn des Doktors, war anwesend. Er wurde von Historikern und Archäologen der Universität Athens begleitet, die ihre Geländekarten und Dokumente mitgebracht hatten und heftig mit den Mitglie
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dern der Historischen Gesellschaft von Pollard County und deren verwirrter Präsidentin Odetta Woolsen disputierten. Der presbyterianische Geistliche bemühte sich, die Gemüter zu be sänftigen. Helferinnen in wallenden Röcken schenkten heißen Kaffee ein und verteilten Broschüren von Tad Breisner. Seit dem ersten Auftauchen dieser Broschüren war Mrs. Wool sens Ruhe dahin. Easter Robinson, ein Mischling, halb Indianer, halb Neger, ein hochgewachsener, imposanter Mann, war die zentrale Gestalt vieler Geschichten und Legenden aus dem Bergland unserer Gegend. Mit einer Bande von Gesetzlosen und Deserteuren war er von 1854 bis 1862 kreuz und quer durch Georgia und South Carolina gezogen und hatte plündernd und mordend eine lukra tive Karriere gemacht, bis er am Little Iron River auftauchte und auf dem Besitz von Colonel David Johns ein mysteriöses Ende fand. Die offizielle Version vom Ableben des Banditen, wie sie im Tagebuch des Reverend Josiah Whittier, des Gründers der Hi storischen Gesellschaft, verzeichnet war, besagte, daß Robinson von der tapferen Mrs. Johns erschossen worden war, als er und seine Kumpane in Abwesenheit des Colonel das Tor des Herren hauses stürmen wollten. Die Historische Gesellschaf t hatte Mrs. Johns' Geburtshaus am Atlanta Highway unter Denkmalschutz gestellt und in dem Herrenhaus eine Martha Pirkner Johns-Ge dächtnis-Bibliothek eingerichtet. Jetzt aber kam Tad Breisner mit seinen Pamphleten daher, die — voll von peinlich genau recherchierten Details und sogar foto grafisch reproduzierten Briefen von Mrs. Johns' Handschrift erschreckende Beweise für eine andere, dunklere Version der Geschichte lieferten. Dieser Bericht, bisher stets als schmutziges Sklavengeschwätz abgetan, besagte, daß Robinson keineswegs ein Fremder in der Residenz der Johns gewesen war, sondern in Zeiten der Abwe senheit des Colonel dort aus und ein ging, und daß er den Tod gefunden hatte, als er eines Nachts aus dem Schlafzimmerfenster kletterte und eine Dienerin, ein neu eingestelltes und mit den Bräuchen des Hauses noch nicht vertrautes Mädchen, ihm mit 318
einem Kaminscheit den Schädel einschlug. Mrs. Johns, so ging der Bericht weiter, hatte Robinson in der Familiengruft der Johns unterhalb der Sklavenquartiere beisetzen lassen. Das un wissende Mädchen aber wurde ausgepeitscht und nach Savannah zurückgeschickt. Wie auch immer, Easter Robinson hatte Pollard County einen Abglanz seines Ruhms hinterlassen, und alle Beteiligten waren entschlossen, diesen anläßlich der Jahrhundertfeiern wiederzu beleben. Tad Breisner und sein Expertenteam von der Universität hatten sich geschworen, Easter Robinsons Überreste noch in der ersten Jubiläumswoche ans Licht zu fördern. Der Verband der Granit-Unternehmer hatte Landvermesser und Planierraupen zur Verfügung gestellt. Die Versammlung folgte einem trok-kenen Bach über die Felder bis zur östlichen Grenze der Ländereien der Johns und näherte sich immer mehr dem Ape Yard. Hier wurde die Debatte hitzig. «Es kann nicht sein», sagte Mrs. Woolsen. «Die östliche Grenze des Besitzes verlief am südlichen Bogen des Bachbetts. So steht es hier in Reverend Whittiers Tagebuch.» Mrs. Woolsen, die selbst zwei Bücher über die Geschichte von Pollard County veröffentlicht hatte, war es nicht gewohnt, daß ihre Quellen angezweifelt wurden. Tad Breisner klopfte auf eine Rolle xerographierter Karten. «Diese Karten sind aus den Archiven der Hauptstadt, und sie stimmen genau mit den Akten im Rathaus überein. Wir dürfen nicht vergessen, daß Reverend Whittier eher volkstümliche Überlieferungen als Fakten verzeichnet und daß sein Traktat einem historischen Bericht beigefügt ist, den er in hohem Alter und weitgehend aus dem Gedächtnis verfaßt hat.» Er schlug einen in Leder gebundenen Wälzer auf. «Also, in einem Punkt stimmen alle Quellen überein, nämlich daß Robinson unterhalb der Sklavenquartiere beigesetzt wurde, an dem Bach, dessen südöstliche Biegung die nordöstliche Grenze des Anwesens der Johns bildete. Während nun aber der vordere Grenzverlauf des Anwesens mehr oder weniger feststeht, ist hier hinten das ganze Gelände verändert. Und zwar ist es der Bach, der das Problem schafft. Es hat nämlich niemand bedacht, daß ein seichter Bach 319
auf einer Ebene wie dieser erheblich meandern und sein Bett verändern kann. Und tatsächlich hat dieser Bach, irgendwann in den letzten hundert Jahren, einen kürzeren Weg zum Twig Creek genommen, quer durch das Anwesen der Johns. Aber bevor die ersten Häuser in der Talsenke gebaut wurden, floß er in dieser Mulde einige hundert Meter weiter nordöstlich, bevor er die Biegung machte. Gehen wir doch vorläufig einmal von dieser Hypothese aus.» Und wieder setzte sich der Trupp in Bewegung. Die Männer legten unter der strahlenden Nachmittagssonne ihre Fräcke ab, die Damen hoben ihre langen Röcke über das Dornengestrüpp. Em teilte seinen Flachmann mit einem schwitzenden Bulldozerfahrer, der sich als nützlicher Freund erwies und uns ein Stück aufsitzen ließ. Die über die Hänge marschierende Prozession erregte im Ape Yard nicht wenig Aufsehen, und als sie an den verfallenen Hütten vorbeizog, schlössen sich ein paar Dutzend schwarze Gesichter an. «Es kann nicht sein», protestierte Mrs. Woolsen, «es kann nicht sein!» Als wir die letzte Meßlatte erreichten, gebot Tad Breisner Halt. Wir befanden uns auf einem unkrautüberwucherten Geröllfeld, genau zwischen der Garage und Mr. Teagues Laden. Tio kam über das Geröll geschlittert. «Was ist denn los, Mann?» «Easter Robinsons Grab, es muß hier irgendwo sein!» «Heeeiiiii!» rief Tio. Wie oft hatten wir zwischen diesen Hü geln Easter Robinson gespielt! Die Universitätsleute hielten eine Konferenz ab. Sie konsultierten ihre Karten, verglichen Tabellen und notierten topographische Daten. Schließlich wurde ein Meßband ausgerollt. Dann trat Tad Breisner vor und deutete auf ein mit Pfählen abgestecktes Rechteck. «Meine Kollegen und ich sind der Meinung, daß das Grab sich in diesem Umkreis befindet. Dr. Speichen vermutet hier eine zehn bis zwölf Fuß starke Ablagerung, bedingt durch die seitherige Erosion des Geländes, die natürlich manche topographischen Merkmale zugedeckt und die Ufergemarkungen verändert haben mag, aber wir sind alle der Meinung, daß dies das frühere Bachbett war. Falls das zutrifft und alle übrigen
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Berechnungen richtig sind, müßte das hier die wahre Nordost grenze sein, wie sie in den ursprünglichen Urkunden verzeichnet ist.» Diese Ankündigung löste in der Menge, die mittlerweile auf mindestens hundert Menschen angewachsen war, große Aufre gung aus. Bürgermeister Crowler wollte wissen, wem das Land gehörte, dem diese einzigartige Ehre zukam. Irgendwer rief, es gehöre Mr. Teague. «Nein, mir nicht», sagte Mr. Teague vom anderen Bachufer her, «mein Grundstück endet genau hier. Das da drüben gehörte früher den Cahills. Ich weiß nicht . . . » «Es gehört mir», sagte eine Stimme, und Doc Harley Bobo drängte sich durch die Menge. «Ich erwarb es, als Mrs. Cahill aus der Stadt fortzog.» Em grinste mich an. «Da lernst du deinen neuen Vermieter kennen . . . Mister Ohnegesicht.» Bürgermeister Crowler erläuterte Doc Bobo das Vorhaben der Experten und bat um die Erlaubnis, nach den Überresten Easter Robinsons zu graben. Er sprach von Bürgerstolz und histori scher Bedeutung. Tad Breisner erläuterte: «Da Zeit und Mittel knapp sind, haben wir die Absicht, rasch in die Tiefe zu graben und die Erde nach Artefakten durchzusieben. Ich habe gute Gründe, anzunehmen » und hier warf er einen Seitenblick auf Mrs. Woolsen- «daß er in einer Gruft beigesetzt wurde. Falls nicht, könnten sich noch einige Knochen im Lehm erhalten haben. Zumindest aber müßte ein Schwert, eine Pistole, eine Gürtelschnalle oder irgendein anderer Metallgegenstand zu finden sein.» «He, Doc», rief Mr. Teague, «Sie werden doch nicht erlauben, daß hier ein Mausoleum mit freiem Eintritt errichtet wird?» «Oh, um Himmels willen, nein», sagte Mrs. Woolsen mit einem Blick auf die schwarzen Kinder. «Die Überreste würden natür lich in unser Museum überführt werden.» Doc Bobo setzte ein breites Grinsen auf, während Flake Web ster vom Star seine Kamera in Anschlag brachte, und sagte: «Es ist mir eine Ehre, wenn Sie hier graben. Falls Sie noch irgendwelche Hilfe brauchen . . . » 321
Tad Breisner gab das Zeichen, und die Bulldozer senkten ihre Schaufeln ins Erdreich. «Paßt nur auf, daß auch jede Schaufel Dreck wieder zurückgekippt wird», sagte Mr. Teague, ehe er zu seinem Laden zurückschlurfte. «Es gibt schon genug Löcher in der Gegend . . . » Den ganzen Nachmittag gingen die Arbeiten weiter. Die Bull dozer schoben die Erde vor einen Schaufelbagger, der sie auf einen schräg stehenden Rost fallen ließ, wo die Steine aussortiert und größere Lehmklumpen aufgebrochen wurden. Dann wurde die bröckelige Erde durch Drahtgitter gesiebt und von Hand durchgeharkt und gesichtet. Bis Sonnenuntergang, als Tad Breisner den Feierabend verkün dete, hatte die Ausgrabung eine verrostete Drahtrolle, eine Rad kappe, mehrere Zaunlatten und einen Korb voll Glas- und Ton scherben an den Tag gefördert, aber keine Spur von Easter Robinson. Am nächsten Morgen wurden die Arbeiten wieder aufgenommen, aber die Limonadendamen und auch Mrs. Wool sen kamen nicht wieder. Em Jojohn bekundete einen ähnlichen Mangel an Interesse», sehr zum Bedauern der Bulldozerfahrer, die ständig nach ihn fragten. Die Kinder aus dem Ape Yard allerdings waren vollzählig erschienen, sehr zum Kummer von Tad, der am Vortag den halben Nachmittag damit verbracht hatte, jeden der zahllosen seltsam geformten Steine, die sie fanden, zu begutachten. Kurz nach Mittag wurden erregte Stimmen in der Grube laut. Die Bulldozer hatten sich etwa zwanzig Fuß in die Tiefe gebuddelt und kamen nicht weiter. Was zuerst nach einem Steinbrocken oder einem Schichtfragment aussah, wurde immer größer, je mehr die Bulldozer die Erde abräumten. Die Ketten rutschten kreischend auf massivem Stein. Rosa Stein, der in der Sonne funkelte und strahlte. Mr. Thurston von Blue Light Monuments kletterte hinunter, um das Material zu untersuchen. «Es ist Marmor, reiner Marmor!» rief er aufgeregt. «Schiebt hier noch etwas mehr weg!» Schließlich war eine Fläche von mehreren hundert Quadratfuß freigelegt. Andere Granitfachleute sprangen in die Grube. «Der beste rote Marmor, den ich je in dieser Gegend gesehen 322
habe», meinte Wilbur Taylor von der Three Angels-Hütte. «Wer hätte gedacht, daß wir hier so etwas finden!» «Vielleicht ist es nur eine Platte», sagte ein anderer. «Ja, natürlich, wir brauchen eine Bohrprobe», sagte Mr. Thur ston. «Aber sehen Sie nur -» er fuhr mit der Hand über die rosa Fläche - «haben Sie je eine so große Fläche mit so wenigen Unreinheiten gesehen?» Die Männer schüttelten den Kopf. «He! Hierher! Hierher!» Ein Bulldozerfahrer am Nordende der Grube richtete sich auf und fuchtelte mit den Armen. Er deutete auf einen großen Erdklumpen, der auf den ersten Blick wie ein lehmverkrusteter Felsblock aussah. Die Universitätsleute rannten hin, fielen auf die Knie und klaubten die Erde weg. Eine rostige Metallkante kam unter dem Lehm zum Vorschein.. «Aufhören!» rief Tad Breisner. Er schickte alle anderen fort, und mit Hilfe von Dr. Speichen und zwei anderen Kollegen hüllte er vorsichtig den ganzen Block in eine Schutzfolie ein. Ein Lastwa gen wurde herbeigewinkt, sie luden das Ding auf und fuhren damit hinauf in die Stadt. Ein paar Tage später stand es auf der ersten Seite des Star. Ja, es waren die sterblichen Reste von Easter Robinson, eines großen Menschen von einsfünfundachtzig, mit Schädelfraktur, und sie waren in einen Sarkophag mit dem Familienwappen der Johns gebettet. Odetta Woolsen stand für keinerlei Auskünfte zur Verfügung, aber binnen einer Woche hatte die Historische Gesellschaft ihre Mittel zur Erhaltung des Geburtshauses von Martha Johns ge sperrt, und bei der Bezirksverwaltung wurde ein Antrag auf Umbenennung der Gedächtnisbibliothek eingereicht.
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Tio lief hin und her und rechnete. Em und ich saßen auf der Bank, schälten Erdnüsse und schauten zu, wie er sich den Kopf zerbrach. Das Prinzip war einwandfrei, da waren wir uns alle einig. Von Rechts wegen mußte der automatische Kartoffelbe hälter funktionieren wie ein Zauberding. Der Manager des Valley Farm Store hatte sich inzwischen so daran gewöhnt, Tio dort herumlungern und die Betriebsabläufe studieren zu sehen, daß er den Jungen gelegentlich beiseite nahm und ihm gute Ratschläge gab. Regale und Verkaufsgondeln müs sen immer gefüllt sein, sagte er, das sei wichtig, denn die Kunden kauften nicht gern das letzte Stück eines Artikels. In Schuhge schäften, führte er aus, würden die Schuhe immer aus einem hinteren Raum gebracht, weil die vielen Kartons an den Wänden in der Hauptsache leer und zur Dekoration da waren. Und nie hat es einen eifrigeren Schüler gegeben als Tio. Er stopfte den Boden halbvoller Körbe mit Papier aus. Er sägte Regalbretter auf halbe Breite zurecht, damit man auch mit der Hälfte der Waren den Eindruck voller Regale erzielen konnte. Aber das waren einfache, praktische Tricks. Was Tio vor schwebte war die Automation! Und als er in der neuen Cafeteria an der Galaxy Plaza den automatischen Tablettheber entdeckte, war er Feuer und Flamme. Er rannte zum Laden zurück und nahm die Konstruktion des ersten automatischen, sich selbst regulierenden Kartoffelbehälters der Welt in Angriff. Das Prinzip des Tabletthebers war höchst einfach: durch eine sinnvolle Vorrichtung von Federn und Gegengewichten am Bo den des Kastens wurde jedesmal, wenn man ein Tablett fort nahm, der ganze Stapel ein Stückchen angehoben. Man wußte nie, wie viele Tabletts übrig waren, bis man das letzte heraus nahm. Wenn das mit Tabletts funktionierte, mußte es auch mit Kartof feln funktionieren, sagte sich Tio. Er befestigte starke Springfe dern am Boden des Kartoffelbehälters und legte eine bewegliche Sperrholzplatte darüber. Wenn man Kartoffeln oben aus dem 324
Behälter nahm, so rechnete er, dann verringerte sich das Gewicht, die Federn drückten den Sperrholzboden höher, und der Behälter sah immer voll aus. Tio hob Körbe voll Kartoffeln an, um ihr Gewicht zu prüfen. Er kontrollierte mit dem Fuß die Spannung der Federn am Boden des Behälters. Schließlich war er zufrieden. «Los, Em, steig in den Kasten und drück den Sperrholzboden ganz runter!» Ich hätte es vernünftiger gefunden, die Erfindung gleich mit Kartoffeln auszuprobieren. Dann hätten wir ja gesehen, wie weit die Federn unter ihrem Gewicht nachgaben. Aber als ich diesen Vorschlag machte, zog ich mir nur den Zorn des Meisters zu. «Du kannst nicht mal ein anständiges Bügelbrett bauen und willst mir gute Ratschläge geben? Komm, Em, steig in den Behälter!» Em tat es grinsend, und als die Platte ganz runtergedrückt war, verriegelte Tio sie mit einem Pflock, den er durch ein Astloch steckte. «Em, meinst du nicht auch, er sollte . . . » Em legte den Zeigefinger an den Mund und verdrehte die Augen. Nachdem die Bodenplatte befestigt war, stieg Em aus dem Kasten und half Tio, ihn mit Kartoffeln zu füllen. Korb um Korb schütteten sie hinein. Ich ging nach draußen, um mir noch eine Tüte Erdnüsse aus dem Röster zu holen. Als ich den Deckel schloß, nahm ich aus dem Augenwinkel etwas wahr, das aus der Richtung des Messegeländes die Straße herabkam. Ich stieg die Stufen zum Laden hinauf und beobachtete, wie es sich näherte: ein alter gelber Schulbus, der wie ein durchgegangener Achterbahnwagen die Straße hinunter kariolte. Er ratterte über die Brücke und hielt mit kreischenden Bremsen knapp vor Mr. Teagues Laden. Eine Salve Kies spritzte gegen die Ladenfront. «Barmherziger Gott, laßt mich raus hier!» schrie eine Stimme, und im nächsten Moment drängten sich die Alten aus der Pension hinaus ins Freie. «Nicht schlecht, fürs erste Mal», tönte Mr. Rampey, als er sich
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aus dem Fahrersitz schwang. «Hab ich das nicht gut gemacht, Lucia?» Mr. Teague, angelockt durch den Aufruhr vor seinem Haus, stand da und staunte, wie die Alten sich die Beine vertraten und ihre Sonntagsgewänder glattstrichen. «Na, was sagst du dazu, Alvah?» fragte Mr. Rampey. «Wir haben jetzt einen fahrbaren Untersatz!» Und an Tio gewandt: «Tank mal voll, Junge.» «Ein Sarg auf Rädern ist das, wenn Sie meine Meinung wissen wollen», kreischte Mrs. Porter, die Ruby Lampham beim Aus steigen behilflich war. «Ebensogut kann er uns gleich zum Fried hof fahren!» «Wo habt ihr diesen Bus aufgetrieben?» fragte Mr. Teague. «Bei Bledsoe, auf dem Schrottplatz», sagte Mr. Burroughs. «Wir können ihn gut für unser Geschäft brauchen.» «Bledsoe wollte ihn schon ausschlachten», sagte Mr. Rampey. «Geschäft? Was für ein Geschäft?» wollte Mr. Teague wissen. «Auf jeden Fall haben wir viel zuviel dafür bezahlt», bellte Mr. Jürgen. «Ich brauch einen Drink, Alvah», rief Mr. Burroughs und stürmte in den Laden. «Könnten wir nicht gle ich einkaufen, wo wir schon mal hier sind?» meinte Mrs. Metcalf. «Aber wir kaufen doch immer am Freitag ein», protestierte Farette. «Ich hätte auch gern einen kalten Drink», sagte Mrs. Cline, als die anderen in den Laden drängten. «Doch nic ht so was!» sagte Mr. Burroughs und schob seine Pepsi weg. «Ich brauche einen richtigen Drink! Wo hast du die Flasche, Alvah?» «Ich könnte auch einen Schluck gebrauchen», meinte Mr. Rampey. «Du nicht, um Himmels willen», rief Mr. Burroughs. Mr. Teague hatte eine Flasche von oben geholt und gab sie Mr. Burroughs. «Also, was ist das mit dem Geschäft?» Mr. Burroughs setzte die Flasche ab, lehnte sich an die Regi strierkasse und stieß einen langen Seufzer aus. «Möchte jemand einen Haferkeks?» fragte Mrs. Bell. «Viel 326
leicht sollten wir von diesen zarten Haferkeksen eine Packung mitnehmen?» «Mr. Burroughs . . . » Mrs. Porter fuchtelte mit einer weißen Puderdose vor seiner Nase herum. «Hier, Dr. Sweetes Fußpu der», zwitscherte sie. «Bestimmt wird Ihnen ein gutes Fußbad ...» «Herrgott, Frau! Wir haben jetzt keine Zeit, um über Fußbäder nachzudenken. Wir müssen ans Geschäft denken!» «Geschäft? Was für ein Geschäft?» schrie Mr. Teague. Mr. Woodall schrak auf und fuhr herum: «Geschäft?» Mr. Burroughs Augen leuchteten vor Eifer. «Antiquitäten, Al vah! Tolle Sache. Nippes für die Jubiläumsleute. Die Idee ist mir gekommen, als ich sah, wie unseren Damen die Flickendecken, die sie nähen, aus der Hand gerissen werden. Also, vor ein paar Tagen kam Doris Walker und wollte sich eine holen, du weißt, die Frau von Haley Walker, der den Traktorenhandel hat, und sie hatte ihre Cousine mitgebracht, aus Four Forks, und die wollte auch gleich eine haben. Na, und da wollte ich die Damen mal ein bißchen auf den Arm nehmen und sagte zu ihnen, das heißt, ich sagte zu der Cousine, die Decke, die sie haben wollte, die würde 10 Dollar mehr kosten, wegen dem blauen Wollstreifen darin, der wäre von einem Mantel, der einem der Poncini Brothers gehört hätte! Ich sagte: <Meine alten Herrschaften haben die beiden Brüder noch gut gekannt, o ja! Sie luden sie öfter zum Essen ein. Ein bißchen sonderbar waren sie schon, aber sehr feine Italiener!) Ja, Sir, und ob du's glaubst oder nicht, die Frau riß mir die Decke aus der Hand, und bevor ich bis drei zählen konnte, stand ich da mit einer Handvoll Geld! Ich wollte es ihr zurückgeben, klar, aber Rampey zog mich aus dem Zimmer. Na ja, und wir haben über die Sache gesprochen, und da kam uns die Idee, daß furchtbar viele Leute ganz verrückt sind nach diesen alten Sachen, und bei uns, bei unseren Kindern liegt das alte Zeug in Massen auf dem Speicher rum, falls die Gauner es nicht schon weggeschmissen haben. Ja, und da dachten wir, wir fahren hin, holen den Krempel und verkaufen ihn!» Mr. Jürgen mischte sich ein. «Manches müssen wir natürlich ein bißchen älter machen, als es ist, Sie verstehen . . . » 327
Mr. Burroughs beugte sich vor. «Äh . . . die Sache mit dem Mantel von den Poncini Brothers», sagte er und zwinkerte Mr. Teague zu, «das brauchen die Damen ja nicht unbedingt zu wissen.» Mrs. Metcalf kam dazu. «Wenn wir rechtzeitig zu dem Essen dort sein wollen, müssen wir uns beeilen.» «Zu welchem Essen?» fragte Mr. Teague. «Bei den Methodisten im Gemeindehaus gibt's heute ein großes Abendessen», sagte Mr. Burroughs. «Da ist mächtig was los, und außerdem, du weißt ja, wenn wir auswärts essen, können wir's von der Miete abziehen!» «Und vielleicht finden wir ein paar neue Kunden», sagte Mr. Jürgen. «Darum haben wir ein paar Decken mitgenommen, für alle Fälle.» «Also, alles einsteigen!» rief Mr. Burroughs, und die Alten drängten aus dem Laden. Im Hinausgehen gab Mr. Rampey Mr. Teague einen halbver zehrten Schokoriegel zurück: «Kann das Ding nicht essen, Al vah. Da ist irgendwas dran . . . » Schließlich saßen sie wieder alle in ihrem Bus, und mit knir schendem Getriebe schwankte der alte Kasten auf die Straße hinaus, blieb stehen, startete wieder, soff ab, startete abermals und quälte sich mit hustendem Auspuff bergaufwärts. Mr. Teague wollte gerade die Treppe hinaufsteigen, wahr scheinlich um ein Nickerchen zu machen, da fiel Tio wieder sein Kartoffelbehälter ein. «He, Mr. Teague, sehn Sie sich das mal an!» rief er triumphie rend und zog den Pflock aus dem Astloch. Der Behälter explodierte wie ein Vulkan. Es regnete Kartoffeln. Ich hechtete unter den Ladentisch, Em kauerte sich in eine Ecke und schützte sich, so gut es ging, mit einem Korbdeckel. Mr. Teague, mitten in dem Kartoffelhagel, tanzte Gott anrufend über die Dielen und hielt sich die Arme über den Kopf. Als der Sturm sich gelegt hatte, stolperte er wutentbrannt los, und als er Tio endlich fand, starrte er ihn lange sprachlos an.
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«Barmherziger Gott», rief er, «wie hast du das nun wieder geschafft!» Ich kugelte mich unter dem Tresen vor Lachen und rang nach Atem. Em stand in der Ecke, hielt sich den Bauch und japste tonlos. Nach einer Weile merkte ich, daß andere Stimmen in unser Gelächter einstimmten, und als ich mich gefaßt hatte, streckte ich den Kopf hervor. Mir verging das Lachen. Da standen Doc Bobo, Mr. William Thurston von Blue Light Monuments, Präsident des Verbands der Granit-Unternehmer, und Bürgermeister Walter Crowler. «Mir scheint, wir platzen hier in eine kleine Feier, Alvah», sagte der Granitmann, als die drei eintraten. Mr. Teague kletterte auf seinen Hocker hinter der Kasse und rieb sich seine schmerzende Glatze mit einem Handtuch. «Großer Gott, ich weiß nicht, wenn Schießpulver nicht so teuer . . . » «Sie kennen den Bürgermeister, Alvah . . . » Der Bürgermeister streckte die Hand aus. «Hallo, Alvah, wie geht's denn so?» «Donnerwetter, Walter, zwei Besuche in einer Woche, und normalerweise lassen Sie sich nicht einmal vor den Wahlen hier blicken.» Mr. Thurston räusperte sich. «Ja, wir haben jetzt also die Berichte über die Bohrproben, und sie sind noch sehr viel besser als wir erwartet hatten.» Er ging auf und ab und musterte den Laden. «Verstehen Sie, ich will nicht behaupten, es sei der Fund des Jahrhunderts, dieser Marmor ist nur für Bauzwecke geeig net, und lange Zeit ist der gute alte Blaugraue unser Brot und unsere Butter gewesen, aber es gibt einen Markt dafür, und wir glauben, es ist genug da, um eine kleine Grube zu rechtfertigen. Es ist eine tiefliegende Schicht, das zeigen die Proben, die ande rerseits natürlich nicht die Verunreinigungen zeigen. Es wäre allerhand Erde zu bewegen, und dazu kommen der Laden und eine Anzahl von den Hütten hier, die abgerissen werden müßten, und natürlich brauchen wir noch weitere Proben, ehe wir defini tive Vorschläge machen können, aber . . . » «Einen Moment mal», sagte Mr. Teague und ließ sein Hand 329
tuch auf den Tresen fallen. «Habe ich Sie richtig verstanden? Sie wollen meinen Laden abreißen und ein neues Granitloch graben?» Mr. Thurston war überrascht. «Aber darüber sprechen wir doch die ganze Zeit. Deswegen haben wir doch die Probebohrungen vorgenommen . . . » «Ich habe niemandem gestattet, auf meinem Grund und Boden Probebohrungen vorzunehmen!» «Nicht auf Ihrem Boden! Auf Doc Bobos Land, drüben, hinter dem Bach. Wir hatten die Geräte die ganze Woche dort und . . . » «Ich hab nicht darauf geachtet. Ich dachte, die füllen das Loch wieder auf. Ich konnte ja nicht wissen, daß Sie noch eine neue Grube graben wollen!» «Also, es ist so: die Hauptmasse der Schicht liegt unter Doc Bobos Land, aber für eine Grube würde das ganze Gelände hier gebraucht, auch Ihr Grund und Boden. Ich dachte, Sie würden sich freuen . . . » «O nein, Sir, mein Grund und Boden ist nicht zu verkaufen!» «Gut, dann vielleicht zu verpachten, was auch immer. Ich möchte Ihnen nur begreiflich machen, Alvah . . . » «Ich will Ihnen mal was begreiflich machen, Billy Thurston. Ihr werdet mir nicht mein Geschäft ruinieren, nur um hier nach Grabsteinen zu buddeln!» «Das meinen Sie doch nicht im Ernst.» «Und ob!» sagte Mr. Teague. Dann fuhr er Tio an: «Los, heb die Kartoffeln auf, aber schnell, sonst bring ich dich auf die Galeere!» «Mr. Teague», mischte Doc Bobo sich ein, «ich glaube, Sie verstehen nicht. Ich besitze den größten Teil des in Frage stehenden Geländes, aber Mr. Thurston und andere Vertreter der GranitIndustrie haben ein ernsthaftes Interesse bekundet, sich hier an einer neuen Granitgrube zu beteiligen. Sie haben ein überaus großzügiges Angebot unterbreitet, eine korporative Unternehmung, die sie mit ihren Erfahrungen, ihren technischen Möglichkeiten unterstützen wollen . . . ein sehr lukratives Angebot. Nun, ich besitze zwar den größten Teil des Geländes, aber es ist unmöglich, ohne Ihre Kooperation, Mr. Teague, und ohne
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die Kooperation einiger anderer, die angrenzende Grundstücke besitzen, das Projekt in Angriff zu nehmen. Ja, Sie besitzen nächst mir das größte Stück Land. Die anderen haben bereits ihr Interesse bekundet, ihre winzigen Parzellen zu verkaufen, mit hübschem Profit, versteht sich. Warum nicht auch Sie, Mr. Tea gue, wenn Sie von allen das meiste gewinnen könnten?» «Weil», sagte Mr. Teague, «weil ich im Lebensmittelhandel bin. Ich bin seit 52 Jahren im Lebensmittelhandel, und ich habe keine Lust, auf meine alten Tage ins Granitgeschäft einzusteigen und noch so ein schwarzes, stinkendes Arschloch in die Erde zu graben!» «Alvah», sagte der Bürgermeister, «wie Sie wissen lebt unsere Stadt von einem einzigen Industriezweig. Wenn wir weiter exi stieren wollen, brauchen wir jede Reserve. Und dieses Projekt könnte der ganzen Gemeinde den Fortschritt bringen.» «Fortschritt, Fortschritt», schnaubte Mr. Teague verächtlich, «Sie kommen hier in den Slum und reden mir von Fortschritt! Hätten Sie sich doch in den letzten vierzig Jahren mal hier unten blicken lassen und eine Straße asphaltiert oder kanalisiert, dann hätten Sie Ihren kostbaren Felsen vielleicht schon damals gefun den, rechtzeitig, um für alle was Gutes zu tun. Sie sind zu spät dran, Bürgermeister. Erwarten Sie nicht von mir, daß ich mich für den Fortschritt der Stadt interessiere! Ich mach mir einen Dreck aus dem Granitgeschäft. Es ist ein Fluch, in dieser Stadt geboren zu sein, die nichts als Grabsteine hervorbringt! Und Sie wollen, daß ich mein Geschäft aufgebe, damit Sie noch mehr Grabsteine ausbuddeln können!» «Aber bedenken Sie, was wir Ihnen bieten», beschwor ihn Mr. Thurston. «Eine Chance, aus diesem Slum, wie Sie sagen, her auszukommen und Ihren Lebensabend in aller Bequemlichkeit zu verbringen. Sehen Sie sich um, Alvah! Das nennen Sie ein Geschäft? Keine fünf Jahre, und die Kettenläden machen Ihren Laden dicht!» «In fünf Jahren, so Gott will, könnt ihr meinen Sarg dichtma chen! Was könnt ihr mir schon bieten, mit meinen über siebzig Jahren? Eine Weltreise ? Ein großes Haus in Marble Park und das Recht, mit euch und den Ganoven vom Country Club zu plau 331
dern? Für mich ist es zu spät, hier wegzugehen. Ich hab mein Leben hier unten verbracht. Hier hab ich eine Wohnung, meine Arbeit und Leute, die mich respektieren.» «Mr. Teague», sagte der Bürgermeister, und er wurde förmli cher, ernster, «lassen Sie mich ganz offen mit Ihnen reden. Im Vertrauen, ich wollte diesen Aspekt der Sache nicht gerade heute zur Sprache bringen, aber wie Sie wissen, feiern wir dieses Jahr das hundertjährige Jubiläum unserer Granit-Industrie, und die Augen des ganzen Landes sind auf uns gerichtet. Und zu der großen Abschlußfeier im Juni werden wir Würdenträger aus der Hauptstadt unseres Staates und aus Washington hier haben. Der Gouverneur, Kongreßabgeordnete. Und Senator Broward hat ein paar wichtige Leute aus Washington eingeladen, die den Oconostee-Staudamm besichtigen werden. Das bedeutet Publi city im ganzen Land. Wie Sie vielleicht gehört haben, planen will zur Zeit ein aus Bundesmitteln gefördertes Siedlungsprojekt, mit dem wir weitgehend die unzulänglichen Behausungen ersetzen wollen, die eines Tages von dem Stausee überflutet sein werden. Ich denke, Sie werden mir zustimmen, daß dies der richtige Zeitpunkt ist, um einen richtungweisenden Schritt zu tun. Und unter den gegebenen Umständen wäre es eine ausgezeichnete Sache, wenn wir die Aufnahme des ersten schwarzen Mitglieds in den Verband der Granit-Unternehmer bekanntgeben und so beweisen könnten, daß wir eine stabile Gemeinschaft sind, die zusammenarbeitet zum Wohl und Nutzen unseres ganzen Vol kes. Wir alle brennen darauf, uns für diese Bemühungen einzu setzen.» Mr. Teague schwieg. Und in dieses Schweigen hinein sagte Doc Bobo: «Kurz, und um es rundheraus zu sagen, Mr. Teague, die Sache ist nicht nur für mich wichtig, sondern auch für andere Leute, Leute in hohen politischen Kreisen. Denken Sie an das Siedlungsprojekt! Wenn die Bundesregierung Geld für Schwarze bewilligt, möchte sie ein paar schwarze Gesichter in den? Ausschüssen sehen. Das ist nun mal der Gang der Zeit, verstehen Sie? Und dann die neue Situation an den Schulen! Alle sind bestrebt, die Angelegenheit so ruhig wie möglich zu behandeln, aber man nimmt an, daß die Schwierigkeiten jetzt erst anfangen, 332
und es gibt Leute, die gern zuverlässige schwarze Persönlichkeiten in hohen Stellungen sähen, falls sie wirklich losschla gen, Leute, denen man vertrauen kann. Der Verband der Granit-Unternehmer könnte das ideale Sprungbrett für Ämter sein, in denen ich unserem Distrikt in den kommenden Jahren unschätzbare Dienste erweisen könnte! Deshalb liegt mir so daran, daß wir diese Gelegenheit nicht verstreichen lassen. Und natürlich», fuhr er fort, «appelliere ich an Sie auch im Namen Ihrer farbigen Freunde und Kunden hier in der Nach barschaft. Bedenken Sie, was diese Leute gewinnen würden durch den Verkauf ihrer Parzellen und dann durch die neuen Arbeitsplätze in der Grube. So eine Chance bietet sich dem Ape Yard nicht ein zweites Mal.» «Meine Herren», sagte Mr. Teague, «wenn Sie Bobo die Chance geben wollen, jeden Bundesdollar zu schlucken, den die Regierung hier reinpumpt - mir ist das egal. Von mir aus können Sie ihn zum Präsidenten der Granit-Unternehmer machen und ihn in den Kongreß schicken! Aber meinen Laden werden Sie nicht abreißen! Und erzähl mir nichts von Chancen für die Schwarzen, Bobo. Ich füttere die durch, die du verhungern läßt. Erhöhe erst die Sklavenlöhne in deiner Fabrik, und dann komm wieder und red mit mir.» Er schüttelte den Kopf. «Ich weiß, wie du die Leute dazu bringst, ihren Grund und Boden zu verkaufen, und ich weiß - und sie wissen es auch -, daß du, wenn du sie erst mit deinen Granitleuten verschaukelt hast, am Ende allen Profit einstreichen wirst und daß sie nichts kriegen, nur ein Loch in der Erde, wo sie im Winter bei eisiger Kälte und im Sommer bei fünfzig Grad Hitze schuften dürfen. Sprich mir nicht von Chancen für die Schwarzen, Doc. Ich seh keine Chancen, außer für dich . . . und du bist schon seit dreißig Jahren nicht mehr schwarz!» Die drei Herren wechselten einen stummen Blick. Der Bürger meister drehte sich um und stampfte wütend hinaus. Die anderen folgten ihm. Tio konnte kaum seinen Jubel unterdrücken, bis sie außer
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Hörweite waren. «Habt ihr den Alten da gehört?» rief er. «Der hat's ihnen aber gegeben, habt ihr das gehört?» «Tiiiooo!» «Bin ja schon dabei, Mr. Teague . . . ich sammle sie ja schon auf!»
3 3 Vom Bürgermeister und von den Granit-Unternehmern hörten wir nichts mehr, aber gleich am nächsten Tag begann Doc Bobo in aller Stille das Land rund um Mr. Teagues Laden aufzukaufen. Nach und nach leerten sich die Hütten, und ihre Bewohner zogen in die billigen Fertighäuschen, die am Südhang des Tals aus dem Boden schössen. «Soll er sie nur alle vertreiben», murrte Mr. Teague, «bis ich allein übrig bin. Um so besser sieht man meinen Laden!» Die Alten in der Pension und ich hatten gezittert, seit wir wußten, daß der neue Eigentümer Doc Bobo war. Deshalb waren wir erleichtert, als am folgenden Tag der Makler J. J. Bearden erschien und uns versicherte, daß zumindest vorläufig keine Gefahr für die Pension und das Grundstück bestehe. Die Planungen konzentrierten sich einstweilen auf die Gegend um die Sunflower Street, Mr. Teagues Anwesen eingeschlossen. Und falls der Grubenbetrieb expandierte und neues Gelände benötigt wurde . . . nun, darauf würden wir uns einstellen, wenn es soweit war. Aber das würde noch Monate dauern, vielleicht Jahre. «Falls er darauf spekuliert, daß Teague verkauft», sagte Mr. Burroughs, «sollte er sich lieber auf eine längere Zeit gefaßt machen.» «Immerhin», meinte Mrs. Bell, «es war nett von ihm, uns so schnell zu benachrichtigen.» 334
«Er wollte nicht, daß Sie sich auch nur eine Minute Sorgen machen», sagte Mr. Bearden, und verabschiedete sich katzbuk kelnd. «Heh, Jay-Jay», rief Mr. Rampey ihm nach, «wie kommt's, daß Bobo zu schüchtern war, uns damals wissen zulassen, daß er das Haus gekauft hat?» Mr. Bearden kam noch einmal zurück. «Nun ja, im Vertrauen», sagte er, «er war sich nicht ganz sicher, wie Sie es aufnehmen würden, bei einem . . . äh-hm, bei ihm zur Miete zu wohnen. Sie wissen ja, wie das ist.» «Ja», sagte Mr. Rampey. «Jedenfalls hat er mich gebeten, alles zu tun, damit Sie sich hier wo hl fühlen.» «Wir würden uns noch viel wohler fühlen, wenn er die Miete nicht raufgesetzt hätte», rief Mr. Jürgen. Mr. Bearden ging auf seinen Wagen zu und blieb plötzlich stehen, als erinnerte er sich an etwas. «Ah ja», sagte er und warf einen Blick auf Ruby Lampham, «ich verstehe nicht recht. . . » «Wegen unserer Hilfsköchin?» sagte Mr. Burroughs. «Machen Sie sich keine Sorgen, Jay-Jay, die kostet Sie keinen Cent.» «Aha . . . » «Sklavenarbeit, richten Sie's Bobo aus, das wird ihm gefallen.» «Aha, nun . . . wie auch immer.» Mr. Bearden stieg in seinen Wagen. «Falls Sie irgend etwas brauchen, rufen Sie mich an.» Damit rollte er rückwärts die Einfahrt hinunter. Plötzlich wurde mir klar, daß Em und ich auch weiterhin in unserer Garage im Wald würden wohnen können, und ich rannte hinauf in die Stadt, um Em die gute Nachricht zu überbringen. Em interessierte sich mehr für seine Billardpartie. Er nahm sich Zeit, zielte sorgfältig, ließ langsam das Queue über Daumen und Finger gleiten. Er stieß zu - und fehlte. Der Fremde am anderen Ende des Tischs lachte. «Das war große Klasse, besten Dank für die Vorlage.» Der Fremde, ein sehniger Farmerbursche in weißem Hemd, Khakihose und mit einem Cowboyhut auf dem Kopf, beugte sich über den Spiel tisch und versenkte mühelos seine Kugel. Em holte sich noch ein Bier und schaute mit finsterer Miene zu, wie der Mann eine 335
Kugel nach der ändern wie auf magnetischen Bahnen in die Löcher dirigierte. «Da seid ihr ja, ihr beide. Ich hab euch schon überall gesucht.» Es war Jayell, verschwitzt und verschmutzt, die Drillichjacke weiß von Zementstaub. «Em, ich bau gerade eine Schutzmauer um den Garten. Helft ihr mir Steine ranschleppen, du und Earl ?» Em grinste. «Die Dame verlangt jetzt also eine Mauer um ihr Schloß?» Jayell achtete nicht weiter auf den Spott. «Da oben brauchst du eine Mauer, sonst wäscht der Regen den ganzen Garten fort. Also, was meinst du?» «Weiß nicht», sagte Em und kratzte sich am Kopf. «Die junge Dame hat gesagt, ich soll mich da nicht mehr blicken lassen.» «Brauchst du ja auch nicht. . . Wir arbeiten draußen im . . . Ach, verdammt, ich brauche nicht dein großes Maul, sondern deinen breiten Buckel. Wenn du den Job nicht willst, dann sag's!» Em kreidete geduldig sein Queue und studierte die Lage der restlichen Kugeln. «Klar wollen wir den Job, Jayell, laß mich nur die Partie beenden.» Die Tür ging auf, und Walt Moody kam herein , ein starres Grinsen im Gesicht. Er zupfte Em am Ärmel. «Magst du Brat hähnchen?» Em nickte, ohne aufzublicken. «Bratensoße ist gut, was?» Walt Moody blieb abwartend stehen. Als er keine Ant wort erhielt, torkelte er weiter und stellte dem nächsten die gleichen Fragen. Einer der Spieler, das Queue schußbereit zwi schen den Fingern, wartete geduldig, bis Walt sich verdrückte. Walt stellte allen Anwesenden seine zwei Fragen, dann ging er wieder. Walt Moody sprach nie etwas anderes. Seine beiden ewigen Fragen brachten ihm manchmal eine Mahlzeit im Drugstore ein, gelegentlich ein Bier und für die Nacht ein Bett in der Polizeista tion. Vor ein paar Jahren hatte jemand bemerkt, daß Walt Frauen öfter grüßte als Männer, und da hatten sie ihn fortgeschickt, zur Operation. Danach konnte die Stadt aufatmen, und die Oben Schülerinnen blieben stehen und schwatzten mit ihm auf der Straße, Im Stadion hatte er einen Freiplatz auf der Bank der 336
Club-Freunde. Jetzt hörte ich, wie er draußen auf der Straße die kichernden Schwestern Pierce ansprach. «Was ist mit ihm los?» fragte der Fremde am anderen Ende des Tischs. «Nichts», sagte Em, «er ist nur seiner Zeit ein bißchen voraus.» Damit setzte er einen Vierteldollar gegen den Stoß des Fremden ins Seitenloch. Der Fremde versenkte die Kugel. «Tja, das war's wohl», sagte ich. «Jetzt sind wir pleite.» «Unmöglich, ihn zu schlagen», sagte Em. «Und weißt du warum, Early-Boy? Weil dieser Farmerbursche ein fauler Bil lardprofi ist. Ja, Sir, einer von denen, die immer auf Achse sind und die Trottel in den Kleinstädten ausnehmen. Oder nicht, Farmerbursche? Hast deinen Cadillac wohl draußen vor der Stadt geparkt?» Der schlaksige Fremde grinste und stellte sein Queue fort. «Wenn du dir das Spiel nicht leisten kannst, dann laß es!» «Oh, ich kann's mir leisten», sagte Em, «solange ich weiß, mit wem ich's zu tun hab. Hab nur keine Lust, mich für dumm verkaufen zu lassen.» «Du mußt zahlen, sobald du diese Welt betrittst, Freundchen.» Der Fremde schob sich den Hut ins Genick und vergrub die Hände in seinen Hosentaschen. «Nur, manche kostet's mehr als andere.» Plötzlich klatschte Ems Pranke auf die Hosentasche des Frem den nieder und umklammerte seine Hand. «Keine Bewegung, Farmer, oder ich drück zu, bis ich 'n paar Fingerknöchel knak ken hör.» Der Fremde gab nach, behielt aber den Indianer scharf im Auge. Em lächelte, und mit einem plötzlichen Ruck riß er die Tasche und das halbe Hosenbein des Mannes ab und stand da und hielt die Hand des Fremden umklammert, in der eine klein kalibrige Pistole lag. «Ahnte ich's doch, daß du da eine Knarre hast», sagte Em stolz. «Und wie gut, daß ich's richtig geahnt hab, wie? Denn wenn ich mich geirrt hätte, wenn du nur mit dir rumgespielt hättest, dann täte dir da jetzt was ganz schön weh hab ich recht, Farmer?» Der Falschspieler erbleichte bei dem Gedanken. 337
Em drehte ihm die Pistole aus der Hand, packte ihn am Genick und drückte ihn auf den Spieltisch. «Hast du eine Münze zum Werfen?» fragte er mich. Ich schüttelte den Kopf. «Na, vielleicht leiht er uns eine. He, Farmer, hast'n Vierteldol lar, den du uns leihen kannst? Der junge Mann hier soll ihn werfen. Bei Kopf brech ich dir den Arm, bei Zahl laß ich dich laufen. Komm schon, gib dem Jungen einen Vierteldollar.» Dem Kerl traten die Augen aus den Höhlen. Er griff in seine Tasche und ließ mit zitternden Fingern eine Münze auf meine hingestreckte Hand fallen. Em schaute sie an und runzelte die Stirn. «Schätze, ich würd ihn nicht mit dieser Münze werfen lassen, wenn ich an deiner Stelle war. Die bringt Kopf - garantiert. Wenn du klug bist, läßt du ihn eine andere werfen.» Der Bursche kapierte und zog einen anderen Vierteldollar aus der Tasche, und noch einen und noch einen, bis Em nickte. Ich hatte acht Dollar in der Hand, den Betrag, den Em beim Spiel verloren hatte. Ich warf eine Münze, und Em fragte: «Na, was ist's?» Der Falschspieler musterte ängstlich mein Gesicht. «Zahl», sagte ich grinsend. «Schon wieder verloren! Na gut.» Em ließ den Mann los und schlug ihm auf die Schulter. «Verdammt, gegen dich kann man einfach nicht gewinnen.» Mit einem Satz war der Spieler durch die Tür, und wir sahen ihm nach, wie er mit flatterndem Hemdenzipfel und zerrissener Hose über den Platz hastete. Jayell stand ungeduldig auf. «Um Himmels willen . . . können wir jetzt endlich die Steine holen?» Wir fuhren zu einem Steinbruch und machten uns an die Ar beit. Skeeter und Carlos waren auch dort, außerdem mehrere der Werkstattjungen. Einer hatte eine Tüte gekochte Kartoffeln und Bratenkrusten mitgebracht, und so verbrachten wir einen mun teren Nachmittag, wuchteten Felsblöcke auf die Wagenpritsche und lachten über Ems lange Geschichten. Es war beinahe wie in alten Zeiten. Als der Laster beladen war, kam Em Jojohn, der schon die 338
ganze Zeit Carlos wegen seiner Kräfte gerühmt hatte, auf die Idee, ihn zu fragen, ob er nicht mal den Trick mit dem Vor schlaghammer versuchen wolle. Der Trick bestand darin, daß man mit einer Hand den schweren Hammer packte, ihn hochstemmte und dann langsam sinken ließ, bis er die Stirn berührte, und dann wieder hochstemmte. Ich hatte noch nie erlebt, daß ein anderer als Em dieses Kunststück fertigbrachte. Aber Carlos, aufgebläht von dem vielen Lob, mußte es versuchen! Und natürlich schlug er sich eine stattliche Beule. Skeeter kugelte sich vor Lachen am Boden. «Genug!» sagte Jayell. «Laßt uns losfahren!» Oben in Marble Park sahen wir schon von weitem eine Men schentraube im Garten vor Jayells Haus. Gwen stand auf den Stufen und sprach erregt mit den Nachbarn. «Mein Gott», seufzte Jayell, «was ist jetzt?» Aber da kam sie schon angerannt. «Jay», sagte sie mit vorwurfsvoller Stimme, «beinahe wäre heute nachmittag eine Katastrophe passiert!» «Was ist denn los?» fragte Jayell und sprang vom Trittbrett. «Der Ast da», sagte sie und deutete auf die mächtige, abgestorbene Eiche, die an der Grenze zu dem Grundstück der Hendersons stand, «hätte um ein Haar den kleinen Harvey Henderson erschlagen. Dabei war's völlig windstill, kein Lüftchen regte sich. Er brach einfach so und krachte genau da runter, wo zwei Minuten vorher noch der kleine Harvey gespielt hatte.» «Ich hatte ihn eben ins Haus gerufen», warf Eleanor Henderson ein. «Ich weiß nicht, wieso - ich schaute aus dem Küchenfenster, und plötzlich hatte ich dieses Gefühl. Eine innere Stimme befahl mir . . . » Sie hob für uns Neuankömmlinge die Stimme. «Und kaum war der Junge im Haus, da hörte ich es krachen! Karr-rump! Meine Güte, ich fürchtete schon, das Haus stürzt über uns zusammen!» Die aufgeregte Schar versammelte sich um den wuchtigen Kloben: ein mannsdicker Ast, grau und rissig, vom Alter verwittert. Ringsumher lagen Borkensplitter und dürre Zweige im Gras verstreut. Gwen wurde blaß. «Jayell, du hattest doch versprochen, den Baum fällen zu lassen!»
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«Ich weiß, ich weiß, ich werde dafür sorgen.» «Ja, aber bitte, bevor noch ein Unglück geschieht!» Jayell bückte sich nach einem Holzsplitter und schob ihn sich nervös zwischen die Lippen. «Ganz bestimmt, Gwen, ich werde mich darum kümmern.» Harold Henderson versuchte der Peinlichkeit ein Ende zu ma chen. «Wir haben doch diese Holzfällerfirma in der Stadt, Jayell.» «Ich hab's dort schon versucht», sagte Jayell, «aber die sind mit einem Auftrag für die Telefongesellschaft voll ausgelastet.» Ein anderer Nachbar mischte sich ein: «Könnte das nicht dieser Neger machen, der sich um Ihren Garten kümmert, Richter?» Alle Augen richteten sich auf Richter Strickland. Der nahm seine Pfeife aus dem Mund, überlegte und schüttelte den Kopf. «Nein, unmöglich. Er hat nicht die nötige Erfahrung und auch nicht die Helfer, die man dazu braucht.» «Aber da ist doch noch der Junge, der ihm manchmal zur Hand! geht?» Der Richter war leicht irritiert. Er war es nicht gewohnt, daß man seinem Urteil widersprach. «Nein, das Risiko wäre zu groß. Er ist ein alter Mann - denken Sie an die rechtlichen Konsequenzen, falls ein Schaden entstehen oder jemand sich verletzen würde. Nein, nein, da kann ich nur abraten.» Alles schwieg. Da ertönte eine Stimme, es war wie ein Donnerschlag. «Verdammt noch mal! So was hab ich noch nie erlebt!» Köpfe fuhren herum, und da stand Em Jojohn, die Hände in die Hüften gestemmt, und schüttelte verächtlich den Kopf. «Da stehen ein Dutzend erwachsene Männer herum und regen sich auf über einen alten Baum! Warum hacken wir ihn nicht einfach um?» Harold Henderson fing sich als erster. «Das ist gar nicht so einfach», sagte er. «Bäumefällen ist eine riskante Sache.» «Riskant - quatsch! Du hackst eine Kerbe in den Stamm und zack! knallt der Wipfel auf die Erde. Hab ich schon oft gesehen. Und du, Jayell, du hast doch selbst Wald gerodet und Holz für die Papierfabrik geschnitten . . . Was ist mit dir los?» «Die Häuser sind sehr nahe, und der Baum ist so hoch, daß wir 340
ihn von der Krone her kappen müssen. Da brauchen wir Leitern, Gurte, Seile, Steigeisen, Baumsägen . . . » «Zum Teufel, wir brauchen nichts weiter als ein paar Leinen und Flaschenzüge!» Betretenes Schweigen. Einige der Leute waren sichtlich beleidigt. Was hatte dieser verschwitzte Arbeiter hier zu suchen? Die Frauen wandten sich langsam ab. Gwens Augen sprühten Funken. «Jayell, jetzt reicht's, so kommen wir nicht weiter», zischte sie durch ihre zusammengebissenen Zähne. «Komm», meinte Jayell. «Wir sprechen später darüber.» Er wandte sich den Hendersons zu: «Tut mir aufrichtig leid, Eleanor, daß das passiert ist. Ich werde mich sofort um die Sache kümmern.» «Gut», sagte Eleanor Henderson. «In der Zwischenzeit sollte man vielleicht eine Absperrung, einen Zaun um den Baum ziehen, damit die Kinder hier nicht mehr rumlaufen.» «Wird gemacht, Eleanor, ich versprech's dir.» Die Hendersons gingen, Klein Harvey im Schlepp, zu ihrem Haus hinüber, und auch die anderen Nachbarn zogen ab. Gwen machte auf dem Absatz kehrt und ging wortlos ins Haus. «Das war's für heute, Leute», sagte Jayell zu den Werkstattjungen. «Montag früh sehen wir uns wieder.» «Morgen ist Samstag», sagte ich. «Wir könnten morgen kommen.» Jayell seufzte. «Übers Wochenende sollen wir zu den Hendersons kommen, in ihre Jagdhütte.» Em warf das Motorrad an. «Aufsteigen, wer mitfahren will!» Den Rest des Tages war Em miserabler Laune. Das Essen schmeckte ihm nicht, und an allem hatte er etwas auszusetzen. Die Handtücher waren schmutzig, der Tee bitter, im Salat war zuviel Mayonnaise, die Fischfrikadellen waren voller Gräten. Er ging im Zimmer auf und ab. Ich kniete vor der Feldkiste und gab mir alle Mühe, mein Hemd zu bügeln. Meine Knie taten mir weh, und Schweiß tropfte mir von der Stirn. «Dieser Idiot!» tobte Em. «Er wird nie etwas lernen!» 34l
Ich kämpfte mit den widerspenstigen Kragenspitzen. «Mir soll's egal sein, ich misch mich nicht ein, ich hab damit nichts zu schaffen . . . Wie man sich bettet. . . » «Hör auf, Em. Ich brenn mir noch Löcher ins Hemd!» Ich machte einen neuen Versuch. «Was zieht er auch zu den feinen Leuten rauf, wo er nicht hingehört? Jetzt ist er schon so zahm, daß er nicht mal mehr 'nen Baum umhauen kann. Er kann mir gestohlen bleiben!» «Okay, du hast deine Meinung gesagt. . .» «Was geht's mich an? Verdammt! Wer sich mit Leuten einläßt, mit denen er nichts zu schaffen hat, ist selber schuld!» «Em, wenn du nicht sofort. . . » «Zum Teufel, nein! Ich zerbrech mir jedenfalls nicht mehr den Kopf. Soll er doch schwitzen! Soll er doch verfaulen! Mir soll's egal sein. Ich kümmere mich nur noch um michl» Ich knallte das Eisen auf die Kiste. «Um Gottes willen, Em, halt endlich den Mund oder verschwinde!» Mit einem wütenden Tritt ließ er das Feldbett gegen die Wand krachen und schnappte sich seinen Hut vom Haken. Gott sei Dank, dachte ich. In dieser Stimmung war er unerträg lich. Wenn er betrunken war, wurde ich mit ihm fertig. Auch wenn er krank war. Aber diese Nörgelei war nicht auszuhalten! Er blieb vor der Tür stehen. Ich spürte es, daß er dort stand. Aber ich bügelte weiter, ich dachte nicht daran, klein beizu geben. Und dann hörte ich Ems Stimme, leise, behutsam, tröstend. «Ja, du lieber Gott, Kleine . . . Komm rein!» Es war Phaedra Boggs. In einem blütenweißen Partykleid stand sie in der Tür. Ihre Augen waren gerötet, die Wangen von Tränen verschmiert. Sie sah so aus, als hätte sie lange geweint. Sie setzte sich auf den Stuhl, den Em ihr hinschob. Phaedra Boggs - mit dem Blick eines verängstigten und verlassenen Kin des. Sie hatte Flecken vorn auf dem Kleid. Braune Flecken, wie ich sie mir im Sommer beim Holzsammeln holte . . . Und dann nahm ich den Geruch wahr.
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«Wir brauchen Hilfe, Em», sagte sie schluchzend. «Papa ist nicht in der Lage . . .»Sie brach in Tränen aufgelöst zusammen. Der Indianer kniete sich neben sie, nahm sie sacht in die Arme und strich ihr unbeholfen über die Schulter.
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Am Sonntag beerdigten wir Mrs. Boggs. Es war eine schlichte Feier am Grab. Reverend Reese von der Rehobath-Pfingstge meinde hielt die Ansprache. Er kannte die Familie gar nicht, aber Em hatte ihm 5 Dollar in die Hand gedrückt, und da war er gekommen. Phaedra stand neben ihrem Vater und hielt seinen Arm umklammert. Marvin Boggs, ein dürres Männchen in brau nem Sakko, mit einem schmutzigen Overall darunter, weinte und rieb sich sein strähniges Haar in die Augen. Wir drei bildeten das ganze Trauergeleit. Em war, wie ich erwartet hatte, nicht erschienen. Ich sollte dem Prediger den Weg zeigen, hatte er gemurmelt und war verschwunden. Nach der Zeremonie wartete ich noch, bis Phaedra ihren schluchzenden Vater wegführte. Dann rannte ich los, rannte so schnell ich konnte, riß mir Jacke und Schlips vom Leib und genoß den prickelnden Wind im Gesicht. Das Begräbnis hatte mich härter mitgenommen, als ich gedacht hatte. Vor dem offe nen Grab hatte mich plötzlich die Erinnerung an jene andere Beerdigung - die mit den zwei Särgen - überfallen. Als ich atemlos meine Schritte verlangsamte, fand ich mich auf der Hauptstraße des Ape Yard wieder. Ich wartete, bis das Pochen in meinen Ohren nachließ, dann schlenderte ich - Jacke und Schlips lässig über die Schulter geworfen - zu Mr. Teagues Laden hinauf. Und da war Tio, mein Freund. Und der Laden war offen, am heiligen Sabbath! 343
«O Gott!» Ich stieß die Tür auf und trat ein. «Sehen Sie nur, Mr. Teague, wer da kommt! Einer unserer besten Kunden. Sie wünschen, mein Herr?» Der gute alte Tio! Er wußte, wie mir zumute war. Und seine Späße halfen mir darüber hinweg. «Bitte, ein Pfund Käse», sagte ich. «Sehr wohl, ein Pfund Käse für den Herrn.» Tio schnitt eine Ecke aus dem großen, runden Käse. «Und dazu ein paar frische Gänseeier? Heute frisch reingekommen! Aber anscheinend will niemand sie kaufen. Müssen wohl den Preis runtersetzen.» Mr. Teague warf ihm einen strengen Blick zu. «Nein, danke, Eier haben wir reichlich. Aber ich hätte gern ein paar von diesen Pasteten. Ich könnte sie mit Käse überbacken, als Nachtisch heute abend.» «Pfirsichpastete? Oder Apfel. . .?» Tio stand vor dem Regal mit dem Backwerk. «Nimm lieber Apfelpasteten, die Pfirsich dinger sehen nicht mehr ganz frisch aus.» «Also gut, Apfel», sagte ich. «Die hier ist zerdrückt. Mr. Teague, geben wir diese zerdrückte Pastete zum halben Preis ab?» Der Alte schaute von der Zeitung auf und nickte: «Zum halben Preis, zum halben Preis.» Dann vertiefte er sich wieder in seine Zeitung. «Wie viele wolltest du?» «Zwei.» Tio zerdrückte noch eine Pastete. «Hier, bitte sehr. Sonst noch was?» «Nein, und einzupacken brauchst du's nicht. Ich muß mich beeilen. Em wird schon knurren, wo das Essen nur bleibt.» «Wegen Em brauchst du dich nicht zu beeilen», sagte Tio. «Der ist nicht zu Hause.» «Was? Woher weißt du das ?» «Hab ihn vorhin gesehen. Er war unterwegs nach Marble Park.» «Marble Park? Bist du sicher?» «Klar, absolut sicher. Er hatte den Anhänger mit Werkzeug und Seilen vollgeladen. Carlos und Skeeter waren auch dabei. 344
Ich hab ihm nachgeschrien, aber anscheinend hat er mich nicht gehört.» Wie der Blitz war ich durch die Tür und rannte den Seitenweg hinter dem Laden hinauf. Marble Park lag in sonntäglicher Stille da. Die Bewohner der Häuser mit den gepflegten Rasenflächen waren auf dem Golf platz oder an den Ufern des Lake Lorraine. Noch ehe ich in Jayells Straße einbog, hörte ich bereits dumpfe Axthiebe. Atemlos erreichte ich den Garten. Em drehte sich um, sah mich grinsend an und holte mit der Axt aus. «Em, hast du den Verstand verloren?» «Der geborene Störenfried! Ja, das bist du, weißt du das?» Splitternd fuhr die Axt in den Stamm. Vom Wipfel des Baumes waren in alle Richtungen Seile ge spannt, zu den benachbarten Bäumen, zum Wagenunterstand, zu der steinernen Briefkastensäule, zum Hydranten, zu einem Telegrafenmast auf der anderen Straßenseite. Das oberste Seil lief über einen Flaschenzug, der am Stamm der Magnolie in Hender sons Garten verankert war. Das Ende des Seils hielt Carlos in der Hand. Ein anderes Seil lief, ebenfalls über Flaschenzugrollen, zu Skeeter, der einfältig grinsend aus dem Schlafzimmerfenster im ersten Stock winkte. «Em, warum ziehst du die Jungs mit in die Sache hinein?» «Sie wollten mitkommen, und ich brauche Hilfe.» Er stützte sich auf die Axt und wischte sich den Schweiß von der Stirn. «Hast du eine Ahnung, wie spät es ist?» «Hör auf, Em, wir landen allesamt im Gefängnis. Ist dir das klar? Nie wieder werden wir das Tageslicht sehen!» «Langsam, Early-Boy, langsam. Ich weiß schon, was ich tue.» «Woher hast du überhaupt das ganze Gerät?» «Hab ich mir ausgeborgt.» «Wo?» «Auf der Baustelle, wo sie den neuen Wasserturm bauen.» «Uberleg's dir, Em. Wir landen im Gefängnis!» «Ich bring das Werkzeug zurück, ehe sie merken, daß es fehlt.»
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«Ach, Em, warum bist du nicht zu Hause geblieben. Ich hab Käse für dich mitgebracht, und . . . » «Der geborene Störenfried», sagte er und schüttelte den Kopf. «Jetzt hau ab, aus dem Weg!» Wieder schwang er die Axt, und mit jedem Hieb spritzten dicke Spreißel aus der immer breiter klaffenden Wunde im Stamm. Eine quälende halbe Stunde verging, und dann geschah etwas Seltsames. Em unterbrach ohne ersichtlichen Grund die Arbeit mit der Axt und machte sich anderweitig zu schaffen. Er prüfte die Spannung der Seile, schätzte die Höhe des Baumes ab. So verging eine weitere halbe Stunde. Skeeter hockte oben im Fen ster und ließ sein Seilende herabbaumeln. Carlos döste im Schatten der Magnolie vor sich hin. Plötzlich wurde Em, der zuletzt rauchend am Zaun gelehnt und so getan hatte, als betrachtete er sein Werk, wieder lebendig. Er warf die Kippe fort und griff nach seiner Axt. In diesem Moment sah ich Hendersons Kombiwagen die Straße entlangkommen. Als er vorm Haus vorfuhr und hielt, hieb Em wieder wie wild mit der Axt in die Kerbe. Gwen keuchte vor Zorn: «Dazu hast du kein Recht. . . wer hat dir gesagt. . . » Jayell hinkte herbei. Nachbarn kamen angelaufen. Em machte ein enttäuschtes Gesicht. «Es sollte eine Überra schung sein», murmelte er. «Eine schöne Überraschung!» kreischte sie. «Du Wahnsinni ger! Bist du denn von allen guten Geistern . . . » Sie zeigte mit bebendem Finger zu Skeeter hinauf. «Du da oben, verschwinde aus meinem Schlafzimmer!» «Nun mal langsam», sagte Em. «Ist doch kein Grund für so 'ne Aufregung.» «Aber warum tut denn niemand etwas!» schrie Gwen. «Ha rold, euer Haus ist doch auch in Gefahr!» Angesteckt durch Gwens Panik rannte Harold Henderson los, um sich eines der Zugseile zu bemächtigen. Em packte ihn an der Schulter und riß ihn zurück. «Jetzt mal alle aus dem Weg!» Die anderen starrten ihn an und wichen zurück. «Jayell, komm doch mal!» Jayell humpelte zu 346
ihm hin. Em beugte sich herab und sagte so leise, daß die Umste henden es nicht hören konnten: «Phaedra Boggs' Mama ist tot.» Jayell blickte zu ihm hoch, versuchte die Miene des Indianers zu erforschen. «So, und jetzt hör zu. Siehst du die Seile da oben?» Er zeigte zum Wipfel hinauf. «Da. Und da . . . siehst du, wie ich es angelegt habe? Das da sind die Haltetaue, und die Seile ganz oben, auf denen die größte Spannung liegt, laufen über Flaschenzüge - die Jungs halten sie fest. Mit diesem Takelzeug könntest du einen Lastwagen hochhieven. So, und jetzt sieh dir den Baum an. Siehst du die Kerbe? Okay? Paß auf. Wenn wir die Zugleinen straff halten und Skeeter sich voll ins Seil wirft, dann kann der Baum nur in eine Richtung fallen.» Er fuhr mit der flachen Hand durch die Luft - «Wumm! Genau zwischen Wagenunterstand und Straße. Aber Vorsicht!» sagte er und sah Jayell eindringlich an. «Wenn du die Zugleinen da und da durchhängen läßt und Carlos zu kräftig anzurrt -» er schwenkte den ausgestreckten Arm in Richtung des Hauses -«dann sorg lieber dafür, daß Skeeter rechtzeitig verschwindet!» Damit drückte er Jayell die Axt in die Hand und ging zum Zaun. Jayell sagte nichts. Er stand da und sah blinzelnd in die Sonne. Dann schlenderte er langsam über den Hof, betrachtete die Seile, überlegte. Im Hof herrschte gebanntes Schweigen. «Los, Skeeter, straffen!» rief Em. Und der Junge stemmte den Fuß gegen das Fensterbrett und legte sich ins Seil. «Alles aus dem Weg!» Das brauchte er den Leuten nicht zweimal zu sagen. Sie liefen über die Straße und versammelten sich in Richter Stricklands Garten. Alle außer Gwen, die wie in Trance stehenblieb. Jayell drehte sich um und sah Jojohn an, und in diesem schnellen, wilden Blick lebte der andere, alte Jayell wieder auf, Jayell der Narr. Ich hörte ein lautes Knacken. Ein Mann, der eine mit Angelhaken gespickte Baseballkappe trug, riß sich die Sonnenbrille von der Nase und deutete auf den Baum. «Paß auf, Jayell, gleich fällt er!» Jayell war sofort auf dem Posten. Er lief auf das Haus zu und rief zu Skeeter hinauf: «Wirf mir das Seil runter und hau ab da oben!»
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Skeeter zögerte und blickte zu Em hinüber. «Tu, was ich dir sage!» Da warf Skeeter ihm die Leine zu, ließ sich aufs Vordach herunter und sprang von dort auf den Rasen. «Und du, Em, mach die Leine am Briefkasten los.» «Ich würde das nicht tun, Jayell!» «Keine Diskussionen! Dies hier ist jetzt allein meine Sache, verstanden? Und alle tun, was ich sage!» Jayell nahm SkeetersSeil, schlang es sich um die Schulter und ging ein paar Schritte, zurück. «Earl, mach die Lein e am Hydranten los, und du, Em, die beiden ändern!» Wir sprangen, um seine Befehle auszufüh ren. Mir war inzwischen klar, was er vorhatte. Em wiegte sich hin und her und summte leise vor sich hin. «So, Carlos, den Rest jetzt machen wir beide! Wenn ich's dir sage, läßt du das Seil los und rennst, so schnell du kannst. Klar?» Carlos nickte, keuchend vor Anstrengung. «Jetzt, Earl, das Seil an der Straße, schnell!» Ich rannte zum Telegrafenmast und zerrte fieberhaft an dem Knoten. Mit einem Knall sprang das Seil vom Mast, peitschte über den Hof, ließ die Rollen des Flaschen zugs surren. «Jetzt, Carlos! Laß looos!» Carlos ließ das Seil fahren und rettete sich mit langen Sätzen auf die Straße. Jayell warf sich mit aller Kraft in die Leine, seine Stiefel gruben sich knirschend in den Kies. Ein lautes, gleichmäßiges Knacken hallte durch die Luft. Der Baumriese neigte sich, stand dann einen Atemzug lang regungs los, der Schwerkraft trotzend, wie von geheimnisvollen Wurzel im Wind gehalten. Dann lief ein Zittern durch den Stamm, bis in die äußersten Zweige der Krone, die gewaltige Eiche dreh te sich splitternd und langsam, schwebend, begann sie zu stür zen. Gwens Gesicht erstarrte, ihr Mund formte einen lautlose Schrei - da packte Jayell sie am Arm und riß sie fort. Wie ein Keil fuhr der mächtige Stamm durchs Dach, durch die tragenden Wände. Balken splitterten, das obere Stockwerk gab nach, und mit berstenden Wänden und splitternden Fenster stürzte das Haus ein. Totenstille. Niemand bewegte sich. Nur der Indianer drehte 348
sich langsam kreiselnd auf der Straße und summte seinen dumpfen Singsang. «Uh-hah, uh-hah, uh-hah.» Jayell kletterte über den schräg liegenden Stamm hinauf und blickte hinunter in die verwüsteten Zimmer. Ein irres Lächeln zuckte um seine Mundwinkel. «Glatt durchgebrochen», murmelte er. «Alles zum Teufel!» Ich kletterte hinauf. Es war ein Bild wie aus einem Alptraum. Sparren ragten in die Luft, Teppiche waren mit Holzsplittern und Gipsbrocken übersät. Die Porzellanvitrine hing flachgedrückt an der Wand, Bilder und Lampen lagen am Boden, Möbel waren unter Schuttbergen begraben, aus dem Bad schoß eine Wasserfontäne. Jayell richtete sich auf. «So, Leute, das war's wohl. Die Vorstellung ist zu Ende. Harry, ich weiß selber nicht, wie's mit den Hypotheken weitergehen soll, aber sprich doch mal mit Charley wegen der Versicherung. O ja, und sag Christine bitte, daß wir am Dienstag nicht zum Bridge kommen. Du, Wendell, wirst verstehen, daß ich deine Tollwut-Schutzimpfungs-Kampagne nicht mehr fördern werde, und ich will auch für den Wohlfahrtsfonds nicht mehr sammeln. Eleanor, Harold, hiermit trete ich aus dem Freizeitverein Marble Park aus. Ihr könnt das Boot und das Angelgerät behalten, und wer's schafft, sich bis zur Besenkammer vorzuarbeiten, kann die Golfschläger haben. Ihr könnt die preisgekrönten Rosensträucher ausgraben und mitnehmen, wenn ihr wollt. Mir sind sie nicht ans Herz gewachsen, obwohl ich sie mit bestem, durch meine eigenen Nieren gefiltertem Wasser begossen habe. Und jetzt zu dir, Em, du verfluchter Hurensohn!» Er hüpfte den Baum hinunter. Em wich zurück, drehte sich um und rannte los. Jayell hetzte ihn über den Hof, erwischte ihn schließlich mit einem Sprung und riß ihn zu Boden. Em, anfangs noch unsicher,wehrte ihn mit den Fäusten ab. Dann fingen sie beide an zu lachen, rangen und knufften sich, kugelten über die Straße. Eleanor Henderson führte Gwen fort. Jemand fächelte einer im Gras liegenden Dame Luft zu. Jayell sprang aufs Motorrad und trat den Kickstarter durch. «Los, Em, komm. Wir müssen was trinken!» Mit der Hand 349
seinen Hut festhaltend, ließ Em sich krachend in den Anhänger purzeln, und dann rasten sie los, kurvten den Hang hinunter und ließen Marble Park hinter sich. Gwen blieb noch zwei Tage bei den Hendersons. Dann packte sie ihre Koffer und kehrte nach Atlanta zurück.
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Es vergingen über zwei Wochen, bis wir von Em und Jayell wieder etwas hörten. An einem Donnerstagabend, zur Essens zeit, kam Em die Treppe herauf gestampft. Allein. Und auf alle meine Fragen nach Jayell, und wo sie überhaupt gesteckt hatten, kniff er nur das eine Auge zu und machte «Schschsch!» Phaedra Boggs hatte unsere Garage anscheinend scharf im Auge behalten, denn kaum hatte Em die Beine unter den Abend brottisch gestreckt, kam sie auch schon angeschossen. «Wo ist Jayell?» fragte sie atemlos. Em rührte im Eiskübel und füllte sein Teeglas. «Sag - was hast du mit ihm gemacht?» «Nichts hab ich mit ihm gemacht», sagte Em. «Aber die Poly pen in Carolina, die machen jetzt was mit ihm.» Er tat so, als könnte er sich nicht entscheiden, welchen Eiswürfel er nehmen sollte. Phaedra riß ihm das Glas aus der Hand und schleuderte es aus dem Fenster. «Ich hab jetzt nicht den Nerv für deine Blödeleien, Indianer!» «Nichts Ernsthaftes, um Gottes willen! Wir waren beim Tanz in Greenville, und da gab's 'ne Rauferei wegen irgend 'ner dum men Gans, und sie haben ihn eingelocht, das ist alles.» «Und du bist abgehauen und hast ihn sitzenlassen?» «Wieso, er hat mich nicht mehr gebraucht, oder? Wäre doch 350
sinnlos gewesen, mit ihm in den Knast zu gehen. Darum hab ich mich, als die Bullen kamen, verdrückt. Außerdem, was bedau erst du ihn? Er hat seine drei ordentlichen Mahlzeiten am Tag, und ich kann hier nicht mal eine Mahlzeit zu mir nehmen, ohne daß mir jemand mein Glas aus dem Fenster schmeißt!» «Drei Mahlzeiten am . . . Wie lange sitzt er schon?» «Oh, drei oder vier Tage, ich hab's vergessen. Hab nämlich nicht regelmäßig gegessen. South Carolina schlägt einem schwer auf den Magen. Was die dort brauchen . . . » «Warum bist du nicht gekommen und hast Bescheid gesagt?» «Wieso, ich hab versucht, 'ne Kaution aufzutreiben und so. Aber der Sklaventreiber dort konnte seine Frau nicht erreichen, und ich konnte denen nicht klarmachen, daß ihm das Haus eingestürzt und daß er wegen alldem ein bißchen durcheinander ist, und so ging's hin und her . . . es war ein einziges Schlamassel, sag ich dir. Bis sie mir zum Schluß sagten, ich sollte verschwin den.» Em schüttelte traurig den Kopf. «So geht's mir immer. Gerade wollte ich dem Jungen hier erzählen . . . » Die Tür knallte ins Schloß und Phaedra polterte die Treppe hinunter. «Ich hab auf ihn eingeredet, daß er sich freikaufen sollte», fuhr Em fort, «und er hatte das Geld. Aber die Wahrheit ist, daß der gute Jayell einfach nicht nach Hause wollte.» Er durchwühlte das schmutzige Geschirr im Ausguß und suchte nach einem Glas. «Klar, wenn die richtige käme und nach ihm sähe . . .» Er hielt den Kopf schief und horchte. Das Motorrad jaulte auf und donnerte aus der Garage. «Verflucht, Junge, kein einziges sauberes Glas zu finden! Wenn du scho n zu faul bist, einmal in der Woche abzuwaschen, dann lüpf wenigstens deinen Arsch und wasch mir das Mayonnaiseglas hier aus!» Am nächsten Tag brachte Phaedra ihn nach Hause, das heißt, in die verlassene Werkstatt am Twig Creek. Em hatte die Jungs zusammengetrommelt, und wir hatten den ganzen Vormittag lang aufgeräumt. An Möbeln war nicht viel da, aber das machte den beiden anscheinend nichts aus. Wenn es jemals zwei Leute
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gab, die sich nur füreinander interessierten und für nichts sonst, dann waren das Phaedra und Jayell. Als Mr. Wyche bei Smithbilt von Jayells Rückkehr erfuhr, suchte er ihn in der Werkstatt auf, und Jayell und er hatten ein langes Gespräch. Jayell bat ihn nicht herein, und er hob auch nicht ein einziges Mal die Stimme. Und er ließ seinen ehemaligen Arbeitgeber mitsamt seiner goldenen Zukunft abziehen, als wäre er ein Hausierer. Mr. Burroughs und Mr. Rampey fuhren mit ihrer Klapperkut sche bei ihm vor und entluden Decken und Konserven. «Da ihr zwei in Sünde miteinander lebt, fanden die Damen es nicht schicklich, euch zu besuchen», erklärte Mr. Burroughs kichernd. «Apropos Schicklichkeit - sie selber finden nichts dabei, mit Niggern am Tisch zu sitzen.» Phaedra fiel beinahe rückwärts von der Treppe. «Wobei mir einfällt», sagte Mr. Rampey, «daß Farette euch alle am Sonntag zum Essen erwartet.» Skeeters Mutter brachte zwei Kleider, die sie für Phaedra ge schneidert hatte, und die Familien der anderen Werkstattjungen steuerten ein Sortiment Küchengeräte bei und was sie aus ihren Speisekammern entbehren konnten. Tag für Tag klopften Leute an, schüttelten Jayell die Hand, brachten eine Kleinigkeit mit und zeigten den beiden, daß sie sie schätzten und sich freuten daß Jayell wieder zu Hause war. Jayell und Phaedra gingen nur selten aus. Manchmal sah ich siel wenn sie gegen Abend von einem Spaziergang am Fluß zurück kehrten oder wenn sie in der Dämmerung draußen an einem Gartenfeuer saßen und schwatzten und Kartoffeln brieten, die Tio mitgebracht hatte. Em und ich schauten hin und wieder bei ihnen vorbei, und eines Abends kletterten wir vier mit einer Kruke Buttermilch und ein paar Schuhkartons frischer Krapfen in Jayells Lieferwagen und fuhren zu einer Country Music Show auf dem Messegelände. Aber meistens ließen wir sie allein. Es verging über ein Monat, bis Gwen zurückkehrte. Sie hatte mehrmals geschrieben, aber ich bezweifle, daß sie je eine Ant 352
wort erhielt. Es war an einem Nachmittag, und ich sichelte gerade die erste Unkrauternte am Bachufer, als sie in schwung vollem Bogen vor der Werkstatt vorfuhr. Phaedra trat ihr vor der Tür entgegen. «Er ist nicht da», sagte sie. «Fahren Sie nur gleich weiter.» «So, das ist also das neue Arrangement! Ich weiß zwar, daß Thoreau zum einfachen Leben nach Waiden zurückkehrte, aber anscheinend hat man mir eine Kleinigkeit verheimlicht.» «Reden Sie nicht so geschwollen daher, Sie übergebildete, lau nische Hexe! Und verschwinden Sie hier!» Gwen verschränkte die Arme. «O ja, jetzt sehe ich klar, immer hin. Die Erkenntnis kommt etwas spät, aber sie kommt mit blendender Klarheit. Auftritt der kleinen blonden Gossen schlampe, Johanna der Affenhöfe, und neues Licht erstrahlt am trauten Herd.» «Blödsinn», sagte Phaedra. «Wenn Sie einen Funken Verstand hätten, würden Sie mir nicht immerzu mit Ihren bücherschlauen Anspielungen kommen. Aber ich will Ihnen was sagen, was wir beide verstehen können: Sie haben Jayeil Crooms nicht verdient, und ich nehme ihn Ihnen weg. So einfach ist das.» «Oh, wirklich? Sind Sie sich Ihrer Sache so sicher? Sie, eine dumme Kleinstadtgöre, die nichts als eine gute Figur vorzuweisen hat?» Phaedra stemmte die Hände in die Hüften. «Eine Frau mit einem guten Körper ist sich immer ihrer Sache sicher. Wer zu bedauern ist, das sind die großkopfigen Weiber mit ihren Böhn chenärschen wie Sie.» «Ich habe schon als Kind gelernt, daß man mit der Dummheit nicht streiten soll», sagte Gwen. Sie wandte sich ab, aber da packte Phaedra sie plötzlich am Arm und riß sie herum. «Ich will Ihnen mal was erzählen», sagte sie mit ruhiger Stim me. «Sie haben Jayell nicht verloren. Sie haben ihn nie gehabt. Sie sind nicht besser als die Damen, die Weihnachtspäckchen in den Ape Yard bringen, damit sie einen Blick in die Hütten der Armen tun können. Jayell war für Sie eine Neuheit, eine wilde Pflanze, die Sie beschneiden und pflegen und in ein Treibhaus stellen
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wollten. Aber ich sage Ihnen, Jayell Crooms saugt seine Schön heit aus der Not, der Armut, dem Mangel. Der Schlamm des Ape Yard hat ihn genährt. Der Kampf läßt ihn wachsen. Sie und Ihr Marble Park, Sie haben ihn erstickt.» Gwen starrte sie an. Sie wollte was sagen, aber sie konnte nicht sprechen . . . Endlich erholte sie sich von ihrer Überraschung. «So, jetzt reicht's mir. Richten Sie meinem Mann aus, wenn er mir noch etwas zu sagen hat, kann er mic h bei meinem Vater erreichen.» «Nichts werde ich ihm ausrichten», sagte Phaedra. «Wenn Sie Jayell was zu sagen haben, schreiben Sie ihm. Und vergessen Sie nicht, mit Vor- und Zunamen zu unterschreiben. Noch eine Nacht mit mir, und er hat womöglich vergessen, wie Sie heißen.» Gwen hängte sich ihre Handtasche über die Schulter und ließ ihren Blick über die Szenerie gleiten - das Mädchen, den verwit terten Schuppen, die vom Wind aufgewirbelten Blätter im Hof. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und schritt zu ihrem Wagen zurück. Ein großer Tag, dachte ich, als ich sie davonfah ren sah.
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Der Exodus aus den kleinen, blechgedeckten Häusern an den Hängen um Mr. Teagues Laden ging weiter. Einmal oder auch zweimal in der Woche sah man eine der armen schwarzen Fami lien ihre Habseligkeiten auf einen Lieferwagen oder einen der Lastwagen aus Doc Bobos Fabrik laden und über die kurvenrei che, unbefestigte Straße zu den hastig errichteten, oft noch un fertigen Hütten am Südrand der Senke fahren. «Gefällt mir gar nicht», sagte Em, als wir zusahen, wie Speck Turner, der schwarze Klempner, seinen Hausrat in seinen Kom biwagen lud. Seine Freundin kam gerade mit einem Koffer die 354
Treppe herab. «Gefällt mir gar nicht, was sich da zusammen braut.» «Nach dem, was man so hört, gefällt's denen, die fort müssen, auch nicht», sagte ich. Es war kein Geheimnis, daß viele von ihnen, besonders diejeni gen, die jahrelang von den Hungerlöhnen, die sie in Bobos Fabrik bekamen, ihre Blockhäuschen abbezahlt hatten, verbit tert darüber waren, daß sie an die sonnendurchglühten, baumlosen Hänge auf der anderen Talseite übersiedeln und dort wieder zur Miete wohnen mußten. Bobo verkaufte im Ape Yard keinen Grundbesitz mehr. Die Leute murrten. Aber am Ende verkauften sie und zogen aus. Niemand wagte es, sich Doc Bobo zu widersetzen. «Warum ziehen Sie fort, Byrd?» fragte Mr. Teague einen ehe maligen Vorarbeiter aus der Baumwollfabrik, der über zwanzig Jahre ein Stück weiter unten an der Straße gewohnt hatte. Der alte Mann biß ein Stück Kautabak ab und schaute zur Seite. «Doc Bobo hat mir einen guten Preis gemacht.» Er zögerte. Da war noch etwas anderes. Schließlich zog er seine speckige Brief tasche heraus. «Ich will mal lieber meine Schulden bezahlen, solange ich noch hier bin.» «Was, mitten im Monat? Meine Güte, Sie ziehen doch nicht in einen anderen Staat. Kommen Sie vorbei, wenn Sie die Rente für den nächsten Monat gekriegt haben.» Der andere blickte verlegen zu Boden. «Werde wohl nicht mehr herkommen», sagte er. «Verstehen Sie?» Mr. Teague verstand. Und im Laufe der Zeit merkte er mit wachsender Besorgnis, daß es mit den anderen alten Kunden das gleiche war. Es gab noch einen Weißen in der Nachbarschaft, der Grund und Boden besaß, und das war Paulie Mangum. Er hauste ne benan in der verfallenen Arbeiterbaracke. «Verdammt, Alvah, ich hab zwanzig mal vierzig Meter auf diesem Felsen. Vorher war's keinen Pfifferling wert, aber weißt du, was er mir dafür geboten hat?» «Wahrscheinlich eine Menge mehr als den anderen», sagte Mr. Teague. 355
«Aber er sagt, es hat für ihn keinen Sinn, unser Land zu kaufen, solange du nicht bereit bist, auch zu verkaufen. Ehrlich gesagt, ich will die Chance nicht verpassen, endlich hier rauszukom men! Weißt du was? Biete mir den gleichen Preis wie er, und ich verkaufe an dich. Ja, sogar lieber an dich als an diesen Nig ger.» «Ich will dein Grundstück nicht, selbst wenn ich das Geld hätte. Aber ich hab keins. Und bestimmt könnte ich niemals mit ihm mithalten, denn da du der einzige Weiße bist außer mir, gibt er dir einen überhöhten Preis, damit du hilfst, Druck auf mich auszuüben. Sicher, du gewinnst ein paar Dollar beim Verkauf, aber gleichzeitig verlieren alle anderen, auch ich. Bring mir einen einzigen Zeugen, der sagt, daß du's wert bist, du versoffener Fuselkopf, und ich schlage ein!» «Du bist wütend», sagte Paulie, «weil wir ab und zu aneinander geraten sind. Aber ich rede hier vom Geschäft, Alvah.» «Ich rede auch vom Geschäft! Von meinem Geschäft! Das ich in fünfzig langen Jahren aufgebaut habe. Es geht darum, ob ich mein Geschäft aufgebe, nur damit ein anderer Profit machen kann. Er verdient das große Geld, ich das kleine, aber habe ich deshalb weniger Rechte als er? Die Kettenläden haben mich nicht kleingekriegt, und auch Doc Bobo und seine Grabsteinhö ker werden es nicht schaffen! Niemand wird mich von hier vertreiben.» Mr. Teague riß einen Zettel vom Nagel. «So, mein Lieber, über Geschäfte haben wir zwei nichts weiter zu bereden, es sei denn, du willst einen Teil deiner Schulden begleichen!» Eines Nachmittags, als Em und ich bei der Werkstatt ankamenPhaedra, die sich als eine erstaunlich gute Köchin entpuppte,, hatte uns zum Essen eingeladen -, beobachteten wir von ferne, wie Jayell mit seinem Laster an der Brücke über den Twig Creek eine turmhoch beladene alte Kiste überholte. «Jesus», sagte er, als er den Lastwagen im Hof abgestellt hatte, «habt ihr euch schon mal die Mausefallen angeschaut, in die diese Leute ziehen? Das Holz ist so grün, daß die Balken sich jetzt schon biegen! Und wißt ihr, was die da kriegen? Hört euch das an: zwei Zimmer, innen noch nicht einmal fertig . . . » Jayell hielt 356
mitten im Satz inne. Ein Auto bog von der Landstraße ab und fuhr vor der Werkstatt vor. Mr. J. J. Bearden, der Immobilienhändler und Makler, kam lächelnd und buckelnd die Treppe herauf. «Gott, was für ein Verkehr hier unten. Ich dachte schon, ich komme nie durch dieses Gewühl. Guten Abend, Jayell, guten Abend, allerseits.» «Ja, was denn, Jay-Jay, was führt Sie nach Niggertown?» «Oh, ich muß Ihnen sagen, ich hatte sogar mächtig viel hier zu tun! Nie im Leben bin ich so herumgehetzt. Die Textilarbeiter ich hab ihnen Häuser gezeigt. Zwölfhundert neue Familien zie hen in den nächsten sechs Monaten hier zu, stellen Sie sich das vor! In Lennox County machen auch zwei neue Fabriken auf. Wir kriegen das ja nur am Rande mit, aber da drüben, ich sage Ihnen, die drehen völlig durch. Heutzutage können Sie für 'n Hühnerstall 20000 Doller rausholen!» «Ja, ich hörte schon», sagte Jayell, und sein Blick glitt über den fernen Hügelkamm. «Aber was ich sagen wollte . . . Oh, guten Abend, Ma'am!» Er riß sich den Hut vom Kopf, als Phaedra mit einem Korb voll nasser Wäsche in der Tür erschien. Sie nickte ihm zu und ging vorbei zur Wäscheleine. «Nun ja, Jayell, ich . . . ich dachte im mer, diese Werkstatt gehörte Ihnen . . . äh, ich wußte nicht, daß Sie diesen . . . Na, Sie wissen schon, was ich meine . . . » «Jay-Jay, was zum Teufel wollen Sie?» Mr. Bearden schob sich ein Pfefferminz in den Mund und zupfte nervös an seiner Nase. «Also ja, nun, Tatsache ist, Jayell ich fürchte, Sie müssen hier ausziehen.» «Was?» Jayell sprang auf. Mr. Bearden zog ein Schriftstück aus seiner Aktentasche. «Und zwar spätestens bis zum nächsten Ersten. Sie wissen doch, Har ley Bobo will auf dieser Seite . . . » «Wovon zum Teufel reden Sie da? Ich hab die Werkstatt von Luther Pierce gemietet!» «Ganz richtig . . . bis gestern. Verstehen Sie, Bobo hat ihm gestern das Grundstück abgekauft.» «Um Christi willen! Wir sind hier eine halbe Meile von der Stelle, wo er mit seinem Steinbruch beginnen will, entfernt.» 357
«Ich weiß, Jayell, aber so will er es nun mal. Verstehen Sie, es ist eine sehr peinliche Situation. Deshalb hat er auch mich beauf tragt, statt selbst zu kommen. Bobo will keine Schwierigkeiten, kein böses Blut, das ist ihm wichtig - überaus wichtig, sagte er. Falls Ihnen eine Frist von einem Monat nicht reicht. . . » «Bearden, was zum Teufel geht hier vor?» Der Makler zermalmte krachend sein Pfefferminz. Er schob seine Hände in die Hosentaschen. Er zog sie wieder heraus. «Ich weiß nicht, Jayell, ich weiß es wirklich nicht, ich habe nichts damit zu tun, verstehen Sie, meine Firma, meine ich. Ich erhalte mein Honorar dafür, daß ich dieses Grundstück frei mache, mit Mangum da oben handelseinig werde und - äh . . .» Seine Ner vosität steigerte sich noch, als er sich plötzlich nach Em und mir umdrehte. «Und dafür, daß ich den Abbruch des Cahillschen Hauses veranlasse. Ihr zwei werdet aus der Garage ausziehen müssen; sie soll ebenfalls abgerissen werden.» Ich war wie vom Blitz getroffen. «Aber warum? Sie sagten uns doch . . . » Mr. Bearden zuckte mit den Schultern. «Aus irgendeinem Grund wünscht er, daß alle Weißen aus dem Tal ausziehen.» Em richtete sich auf. «Was? Dieser Hurensohn nennt mich weiß?» «O nein! Nicht daß - es ist nur, weil . . . nun . . . Sie sind nicht schwarz, wie ich annehme . . . hören Sie zu -» Mr. Bearden ging rückwärts zu seinem Wagen. «Ich muß weiter. Setzen Sie sich doch selbst mit ihm ins Benehmen. Ich würde sagen, das ist ein Argument, ein sehr gutes Argument, aber . . . nun, ja.» Er fum melte mit dem Zündschlüssel herum und ließ den Motor an. «Ich denke, ich habe getan, was man von mir verlangte. Weiß schwarz - du lieber Himmel, ich bin Immobilienhändler!» Er winkte Phaedra zu und fuhr davon. Niemand sagte etwas. Die Sonne versank hinter den Hügeln im Westen des Tals. Am Straßenrand stand ein Lastwagen, der eine Panne hatte, die schwarze Familie lud geduldig ihre schäbigen Habseligkeiten ab. Hinter ihnen, auf der schmalen, unbefestigten Straße, staute sich der Verkehr.
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Reglos wie Wachsfiguren saßen die Alten im gelblichen Licht der Wohnzimmerlampen und starrten auf den Boden. Mr. Bearden hatte zu Ende gesprochen. Er nahm seinen Hut vom Haken. «Also, Sie können sich reichlich Zeit lassen, und selbstverständlich bin ich jederzeit bereit, Ihnen behilflich zu sein. Meine Karte liegt auf dem Kaminsims. Bitte, rufen Sie mich nur an.» Schließlich, nachdem er gegangen war, seufzte Mrs. Metcalf und beugte sich vor: «Ja, so ist es, nicht wahr? Das ist das Ende unserer Pension.» «Bei Gott», murmelte Mr. Burroughs, «erst aus dem eigenen Haus vertrieben, und jetzt schon wieder.» Mrs. Cline war den Tränen nahe. «Eines sage ich, bei meiner Tochter werde ich nicht wieder leben.» «Na», kläffte Mr. Jürgen, «sieht mir nicht danach aus, als ob Sie groß wählen könnten.» «Kann ich doch! Ich will es einfach nicht!» Mrs. Porter drehte ihr Taschentuch mit zitternden Fingern. «Gott der Herr wird sorgen. Wir müssen auf Gott bauen und ihm vertrauen . . . » «Na, bisher hat er ja n icht allzuviel gesorgt!» sagte Mr. Rampey. «Lester Rampey, Sie haben keinen Grund zu lästern . . . » «Also, jetzt nur keine Zankereien», rief Mr. Burroughs, «die kriegen wir noch früh genug!» «Ja, bitte», sagte Mrs. Bell, «lassen Sie uns jetzt nicht. . .» Sie verstummte. Ich schaute zu Em hinüber, der rittlings auf einem Stuhl in der Ecke saß und sein Bier zwischen den Händen drehte. Er zwinkerte mir unsicher zu, dann sah er weg. Um uns her war gelbliche Stille. Ich weiß nicht, wie lange wir so saßen, fünf oder vielleicht auch zehn Minuten, aber irgendwann mischte sich in dieses hallende Schweigen ein anderes Geräusch, das lauter werdende Geknatter eines löchrigen Auspuffs und dazwischen Rufe aus der Ferne. 359
Scheinwerferlichter huschten über die Gardinen, eine Tür schlug, dann Schritte auf der Veranda, und im nächsten Moment kam Jayell von der Halle hereingestürmt, Phaedra an der Hand. Er stand da und blickte in die Runde der erschrockenen Alten. Seine Augen funkelten. «Auf, bewegt euch, ihr verdammten alten Maiskolben, wir bauen uns unser eigenes Haus!» Sie saßen da und starrten ihn an. Mr. Burroughs beugte sich über seinen Stock, als hätte er nicht richtig gehört. «Jayell», sagte Mrs. Porter, «was ist über dich gekommen?» Jayell tanzte auf sie zu, zog sie vom Stuhl hoch und wirbelte sie durchs Zimmer. «Kopf hoch, Herzchen!» schrie er. «Hu huuuuh!» «Er ist betrunken», schnaufte Mrs. Cline. «Beachtet ihn gar nicht!» «Miss Boggs», sagte Mrs. Metcalf, «wie können Sie ihn in diesem Zustand . . . » «Er hat keinen Tropfen getrunken, meine Liebe», sagte Phaedra. Jayell beruhigte sich und klatschte in die Hände. «Hören Sie zu, hören Sie mir zu. Ich habe zehn Acres Land drüben am Wolf Mountain, Lilly Waugh hat es gestiftet, und bei meiner Werk statt liegen Berge von Brettern und Balken herum, genug, um drei oder vier Häuser zu bauen! Lassen wir ihnen doch dieses Haus, die Garage und meine Werkstatt! Sollen sie doch alles abreißen und dem alten Bobo in den Arsch schieben . . . » «Um Gottes willen!» zeterte Mrs. Porter. «Sie sind nicht bei Trost!» «Junge, bist du sicher?» sagte Mr. Rampey aufgeregt. «Bist du sicher, daß wir das schaffen?» Jayell wirbelte herum und packte Phaedra bei den Schultern . «Und dem Mädchen bau ich ein Schloß, ein Luftschloß in der Wolken!» Phaedra lachte ihr tiefes, kehliges Lachen. «Ein Schrottschloß, Jack, ein Schloß aus Schrott.» Jayell wandte sich Em und mir zu: «Und eine Dachbude für euch beide fällt dabei auch ab.» 360
«Jetzt mal langsam», sagte Mr. Jürgen und rückte auf die Sofa kante vor. «Sie wollen uns weismachen, Sie könnten ein Haus bauen, groß genug für die ganze Bande hier - und aus dem Schrott und den alten Brettern und Balken auf Ihrem Hof? Ich bin kein Baumeister, aber sogar ich kann erkennen, daß das Wahnwitz ist.» Jayell schwieg. Die anderen starrten beklommen vor sich hin. «Haben Sie Rohre, elektrische Leitungen, Installationen? Ha ben Sie Farben, Stuck und Beschläge, haben Sie Fensterglas, haben Sie Mörtel und Ziegel für die Fundamente? Haben Sie das auch alles auf Ihrem Hof? Sie bauen Ihre kleinen Häuschen auf den Hügeln und in den Wäldern, für drei oder vier Personen, gut, aber hier haben Sie's mit einer ganzen Gruppe zu tun. Ich will kein Spielverderber seih, aber ich meine, wir müssen alle Aspekte eingehend betrachten . . . Sie sind ein feiner Kerl, Jayell, und ich weiß, Sie meinen es gut, aber jeder hier weiß auch, daß Sie dazu neigen, sich von Ihrer Begeisterung fortreißen zu lassen.» Jayell beugte sich über ihn. «Mr. Jürgen», sagte er leise, «Sie haben einen Kopf auf den Schultern.» Mr. Jürgen lächelte. «Und der ist aus purem Granit!» brüllte Jayell. «Bilden Sie sich ein, ich verstehe nichts von meinem Geschäft? Natürlich brau chen wir Geld!» Er zog einen Zettel aus der Brusttasche. «Aber mit dem Material, das ich schon habe, denke ich, daß wir, alles in allem, mit knapp 6000 Dollar auskommen müßten.» «Oh», sagte Mr. Jürgen und lachte in bitterem Triumph, «ist das alles? Warum sagen Sie nicht gleich sechs Millionen?» «Jayell, soviel Geld haben wir nicht», sagte Mr. Rampey. «Dann müßt ihr's eben auf treiben!» «Und wie, bitte sehr, sollen wir das machen?» sagte Mrs. Porter. «Ganz einfach, ihr legt zusammen, was ihr habt, und den Rest sammelt ihr bei euren Kindern.» Mr. Rampey stieß langsam die Luft aus. «Falls Sie auch nur eine Sekunde meinen, die schenken uns . . . » «Schenken! Zum Teufel! Ich habe nichts von Schenken gesagt! 361
Ich rede von einem klaren Geschäft. Ich sage, verkauft eure Ansprüche, und kauft euch eure Freiheit!» Jayell blickte in die sich verhärtenden Gesichter. «Einen Moment, bitte», sagte er, «ich weiß, ihr werdet das wieder für eine Wahnsinnsidee halten, aber laßt mich ausreden, hört mir bitte zu.» Er lief von einem zum ändern, bat um Gehör, «Betrachtet es doch einmal so: nehmen wir an, zwei junge Leute wollen heiraten. Mama und Papa wollen sie aus dem Haus haben, also rackern sie sich ab, um ihnen ein eigenes Haus hinzustellen. Sie geben ihren letzten Dollar, schenken ihre eige nen Möbel her. Sie wollen die jungen Leute loswerden, aber sie haben deswegen Schuldgefühle. Okay, nun zu euch. Eure Kin der wollen euch los sein, also zahlen sie, damit ihr hier wohnen könnt. Aber sie behandeln euch wie Dreck. Sie kommen fast nie zu Besuch, und wenn sie sich mal sehen lassen, machen sie ein Gesicht wie beim Zahnarzt und sehen zu, daß sie so schnell wie möglich wieder fortkommen. Warum? Sie haben Schuldgefühle. Jeder, der seine Freiheit will, hat deswegen Schuldgefühle. Also, wenn sie jetzt erfahren, daß dieses Haus geschlossen wird, krie gen sie's mit der Angst. Sie fürchten, daß ihr ihnen so oder so zur Last fallen werdet. Solange sie sich einreden können, dieses Haus sei eine , solange sind Mama und Papa immerhin noch nicht im Altersheim! Jetzt aber müssen sie euch ins Heim geben oder euch zu sich nehmen. Da sitzen sie zwischen Schuldgefühl und Freiheit gefangen. Und jetzt seid ihr an der Reihe. Ihr müßt dieses Schuldgefühl zu Geld machen. Schließt mit ihnen ein Abkommen, und gebt ihnen dafür die Freiheit.» «Ich begreife das nicht», sagte Mrs. Metcalf und schüttelte den Kopf. «Ich begreife das alles nicht. Aber nehmen wir an, sie würden uns das Geld geben, damit wir das Haus bauen können, oder sie würden es für uns finanzieren - wie sollen wir leben?» «Genauso wie alte Leute seit jeher leben. Zusammenkratzen, zusammenscharren . . . Schmeißt eure Renten zusammen, eure Fürsorgegelder, legt einen Garten an, näht eure Decken, ver dingt euch als Babysitter, versilbert eure Sterbekasse - was braucht ihr ein Begräbnis mit Pomp und Trauermarsch? Was zählt ist das Leben, das euch bleibt. Verhungert meinetwegen,
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aber wenn schon, dann verhungert in Unabhängigkeit. Oder laßt das Gequatsche und zieht zu euren Kindern. Packt die Koffer fürs Siechenheim!» Wieder lag Schweigen über dem Salon. Plötzlich sprang Mr. Burroughs auf, japsend vor Lachen. «Bei Gott!» prustete er und klatschte in die Hände. «Beim allmächti gen Gott dort oben!» «Er ist verrückt», sagte Mrs. Porter, «ich hab noch nie so was Verrücktes gehört.» «Verrückt, ja das ist er», schrie Mr. Burroughs und schoß zum Telefon. «Ich werde euch mal zeigen, wie verrückt er ist. . . falls ich meine Lieben an die Stippe kriege.» Er griff nach dem Hörer. Mr. BuiTouglis erreichte seinen ältesten Sohn, und nachdem er volle fünt Minuten in die Muschel gebrüllt hatte, knallte er den Hörer auf die Gabel. «Rasch jetzt, bevor es denen einfällt, zu rückzurufen!» Die Alten standen vor dem Telefon Schlange. Einer nach dem ändern riefen sie unter Mr. Burroughs anfeuernden Sprüchen ihre Kinder an, und dann zogen sie sich, erhitzt und aufgeregt wie Buben, die jemandem einen gewaltigen Streich gespielt ha ben, in ihre Zimmer zurück. Schon am nächsten Morgen kamen Kinder und Kindeskinder der Alten aus allen Himmelsrichtungen an. Der Salon glich einem Bienenhaus. «Aber Mama», wimmerte Alice Porter. «Bist du denn von allen guten Geistern verlassen?» «Ich habe mit unserem Anwalt gesprochen», sagte Henry, der älteste Sohn von Mr. Burroughs. «Diesmal machen wir nicht mehr mit. Ich rufe sofort das staatliche Altersheim an!» «Ganz richtig!» pflichtete seine Frau ihm bei. «Wir haben uns das lange genug mitangesehen. Sie sollten alle entmündigt wer den, Henry, die ganze Horde!» «Was sitzt du da und schaust uns so traurig an, Papa», sagte Mary Rampey. «Wir wissen, ihr habt euch das alles so schön ausgedacht. Aber schlagt es euch lieber gleich aus dem Kopf. Was würden denn die Leute von euch sagen? Ihr macht euch ja zum Gespött der ganzen Stadt!» 363
Am lautesten aber führten sich Mrs. Beils Kinder auf. Sie be stürmten ihre alte Mutter und redeten abwechselnd auf sie ein. Schwiegersohn Morris war Geschäftsführer einer Grabsteinfir ma. Sie wohnten in einem neuen Haus in Marble Park. Und hatten zwei Autos - zwei Kabrioletts im Partnerlook. «Hätten wir dich doch damals auf der Farm gelassen, wo du hingehörst», sagte er. «Ich hab zu Eva gleich gesagt: Aber wenn du dir einbildest, daß ich für die halbgaren Ideen eines Irren auch nur einen Cent ausgebe, hast du dich geirrt!» «Aber ihr habt doch bisher für meine Unterbringung hier ge zahlt», sagte Mrs. Bell leise. «Und wie lange soll es noch so weitergehen? Ich will euch doch nicht ewig zur Last fallen.» «Sienst du», sagte die Tochter, «siehst du, wie sie ist? So ist sie immer gewesen. Mama, du bist nun mal eine Last, bist immer eine Last gewesen! Begreif das doch endlich.» «Sie begreift das schon», sagte Morris. «Und begreif auch end lich dies, Frau, daß wir eine Hypothek abzuzahlen haben und die Kinder ihre Ausbildung brauchen . . . » «Ach, Morris, gib dir keine Mühe mit ihr. Du siehst ja, sie sitzt einfach nur da, wie sie es immer tut. Wir hätten sie längst ins Asyl in Milledgeville bringen sollen. Mama, du bist eine Plage, für mich, für Morris, für alle. Hast du vergessen, wie schwer es für mich war, von der dreckigen Farm wegzukommen? Weißt du überhaupt, wovon ich rede, Mama? Hör zu, Mama, das habe ich nicht verdient, und Morris auch nicht. Das haben wir nicht verdient, Mama, hörst du?» «Ich höre!» Der Kohlenkasten wirbelte scheppernd durchs Zimmer, und Mr. Burroughs ergriff seinen Stock und schwankte in die Mitte des Zimmers, asthmatisch keuchend und die Faust an die Brust gepreßt. Hoch aufgerichtet vor der entsetzt zurück weichenden Frau, brüllte er: «Hörst du? Und ob! Sie schreien ja so laut, daß den Chinesen das Trommelfell platzt! Hörst du! Meilenweit splittert der Putz von den Wänden ab, Brücken stürzen ein von Ihrem Geschrei! Unter dem Getöse dieses Vul kans von einem Mund müssen ja die Balken des Himmels bre chen und die Engel wie Billardkugeln auseinanderprallen! Hörst
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du! Ja! Gesegnet, sag ich, sei der Planet für den Augenblick, in dem wir euch mal nicht hören! Still jetzt, Frau- und lassen Sie die Erde durch ein Erdbeben sprechen!» In Tränen aufgelöst flüchtete Mrs. Beils Tochter auf die Veranda hinaus. Morris, blau angelaufen, kam protestierend an, und Mr. Burroughs zielte mit seinem messingbeschlagenen Stock auf seinen Kopf. Er verfehlte das Ziel und riß die Lampe von der Decke. Morris lief hinter seiner Frau her, um sie zu trösten. Aber Mr. Burroughs gab noch nicht auf. Mit hoch erhobenem Stock griff er abermals an. Morris zog seine Frau zum Wagen. Als er sah, daß der alte Herr immer noch nicht ablassen wollte, sondern wütend angelaufen kam, ließ er den Motor an und fuhr davon. Mr. Burroughs verfolgte sie, so weit sein Atem reichte, und beschleunigte ihren Aufbruch noch, indem er brüllend mit seinem Stock auf den Kofferraum eindrosch. Jetzt kam er wieder in den Salon und stolzierte auf dem Teppich im Kreis herum. Mit rotem Gesicht und zitterndem weißem Schnurrbart hielt er nach weiteren Gegnern Ausschau. Aber offensichtlich wollte es niemand mit ihm aufnehmen. Als er wieder zu Atem gekommen war, donnerte er: «Wir sind eure Eltern, bei Gott. . . Und wir verlangen ein Minimum an Respekt! So, und nun setzt euch . . . Wir haben euch einen geschäftlichen Vorschlag zu machen!» Er ließ sich Zeit, erläuterte ausführlich den Plan, wie Jayell ihn vorgeschlagen hatte, und ergänzte ihn um Details, die die Alten am Vorabend untereinander ausgehandelt hatten. «Solange ihr jung seid, steht ihr unter der Fuchtel eurer Eltern, dann seid ihr gebunden durch eure eigenen Kinder, und wenn die aus dem Haus sind, fallen euch eure alten Eltern wieder zur Last. Gott-o-Gott, wann werdet ihr jemals frei? So, und jetzt bieten wir euch diese Freiheit an. Wir wollen unseren eigenen Weg gehen. Ist das nicht etwas wert? Zum Teufel, in dem, was ihr uns gestohlen habt, steckt eine Menge mehr Geld, als wir von euch verlangen!» «Also, ich bin dagegen», sagte der älteste Sohn von Mr. Bur roughs rundheraus. Mr. Burroughs beugte sich zu ihm hinüber. «Halt's Maul,
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Henry! Wir fragen nicht nach eurer Meinung dazu, verstanden? Wir teilen euch mit, was wir zu tun gedenken!» Henry wollte protestieren, aber sein Vater brachte ihn zum Schweigen. «Und droh mir nicht noch einmal mit dem Asyl in Milledgeville. Ihr werdet es nicht wagen, mich einzusperren. Außerdem, wenn einer von uns ins Heim gesperrt wird, dann müßt ihr uns schon alle einsperren. Das ist die Bedingung. Könnt ihr mit dieser Schuld leben, meine Lieben?» Alice Porter schneuzte sich. «Es ist, als ob ihr alle für immer weggehen, als ob ihr sterben würdet.» «Und was haben wir hier gemacht?» brauste Mrs. Porter auf. «Spar dir das Wasserpumpen, Alice. Du kannst uns jederzeit besuchen, aber zu unseren Bedingungen. Schluß mit dem Fami lienhickhack und Gezänk. Ihr werdet uns wieder wie Menschen behandeln! Ich habe ein gutes Gefühl dabei.» «Also gut», sagte Mr. Burroughs, «und jetzt zum Geschäftli chen. Wir müssen 6000 Dollar aufbringen. Und Ruby und Faret te haben keine Familie, also wird meine Familie ihren Anteil übernehmen, sagen wir, 2000 Dollar für uns drei.» «Was?» schrie Henry und sprang auf. «Wo sollen wir 2000 Dollar hernehmen . . .?» «Aus dem Verkauf von Haus und Hof, um die meine lieben Erben mich beraubt haben», sagte Mr. Burroughs. «Ihr habt den rechtmäßigen Besitzer nie gefragt, falls ihr euch erinnert.» «Aber Papa, warum sollen wir auch noch für die beiden ande ren hier aufkommen?» jammerte Henry. «Das ist mein Bußopfer», brüllte Mr. Burroughs. «Dafür, daß ich die Sünde auf mich geladen und euch verräterische Satansbrut in die Welt gesetzt habe! Und jetzt sei still, Henry, und setz dich hin, oder ich packe sofort die Koffer und ziehe morgen bei euch ein! Wäre dir das lieber, Henry?» Henry setzte sich. «Das war's, wer ist der nächste?» «Nun ja», seufzte Mrs. Clines Tochter. «Damit wir endlich aus diesem trostlosen Loch rauskommen. Wenn meine Mutter un bedingt auf den Berg ziehen will, weil sie meint, sie wird sich dort wohler fühlen, könnten wir wohl etwas dazu beitragen. 366
Obwohl sie uns, weiß Gott, willkommen ist und auch bei uns leben könnte . . . » «Herrgott, Frau, wieviel?!» Sie warf einen Seitenblick auf ihren Mann. «Vier-, sagen wir fünfhundert Dollar.» «Was? Schon das Leben hier in der Pension kostet für ein Jahr mehr als das, und Sie wollen doch, daß Ihre Mutter noch länger lebt, nicht wahr, meine Liebe? Bedenken Sie, es ist eine letzte Zahlung. Erhöhen Sie auf achthundert.» «Soviel haben wir gar nicht auf dem Konto!» «Dann regeln Sie es mit Ihrer Bank. So, und jetzt die Rampeys mit ihrem schönen Haus in Marble Park.» So wurde rundherum gehandelt und gefeilscht, die einzelnen Familien kamen zögernd zu einem Kompromiß, zogen sich zu weiteren Verhandlungen in andere Zimmer zurück. «Du balancierst da auf einem dünnen Ast, Papa», sagte Henry Burroughs. «Warum nicht», sagte der alte Mann, auf den Absätzen wip pend, «da hängen die besten Früchte.» «Ihr werdet es nie schaffen.» «Und ob wir das werden. Falls einer von uns stirbt, holen wir uns einfach einen anderen alten Knacker. Wir werden es schaffen.» Als die erforderliche Summe beisammen war-Mrs. Bell setzte ihren Anteil im Namen ihrer abwesenden Tochter fest -, reichte Mr. Burroughs Mrs. Bell galant den Arm. «Ich glaube, Madam, es ist Zeit fürs Mittagessen.» Später, als ich zur Garage hinaufstieg, sah ich Em auf dem Dachfirst sitzen, das eine Bein angezogen und den Kopf aufs Knie gestützt. Er ließ eine Zitronenscheibe im Teeglas kreisen und starrte schweigend ins Tal. «So, jetzt ist alles geregelt», sagte ich, als ich zu ihm hinaufklet terte, «sie haben das Geld beisammen.» Em drehte sich um und schaute mich an. «Junge», sagte er, «was hältst du davon, du und ich, wir wählen die Straße.» 367
Erschrocken sah ich ihn an, um mich zu vergewissern, ob er es ernst meinte. Er beobachtete mich mit reglosem Gesicht. «Du und ich?» «Ja, du und ich. Wir ziehen über Land und schauen, wie die Welt hinter dem Hügel aussieht.» Jetzt war es raus. So klar und einfach, als hätte er mich nach der Uhrzeit gefragt. Etwas, das ich mir jahrelang in meinen Tagträu men ausgemalt hatte. Und obwohl ich immer gewußt hatte, daß ich ihn nie danach fragen durfte, hätte ich glücklich meine Seele verschenkt für dieses Angebot und wäre ihm bis in den Schlund der Hölle gefolgt. Aber jetzt war's, als spräche eine andere Stimme zu mir, und ich schreckte zurück. «Aber - wohin sollen wir gehen? Was werden wir tun?» «Wohin wir wollen. Tun, was uns gefällt.» «Hm, ich weiß nicht, Em . . . » «Was hast du? Ich dachte, das ist's, was du immer gern gewollt hast.» «Ja sicher, das ist es, oder war es . . . Ich weiß einfach nicht. Und was wird mit der Schule?» «Schule! Laß dir mal was sagen, Junge. Als du auf die Welt kamst, da warst du komplett und brauchtest nichts anderes. Aber danach . . . Alle Veränderungen, die in dir vorgehen, be deuten Zwang und Opfer. Hier ein Stückchen von dir im Aus tausch für dies, da ein Stückchen von dir im Austausch für das. Du verlierst deine Gesundheit beim Geldverdienen und endest am Schluß krank und reich. Und was dann? Du stirbst in einem Berg von Unordnung, in deinem Kopf ist nichts als Unordnung. Verwandte, die du nie gemocht hast, machen sich über deinen Besitz her, und die Würmer über dein Hirn. Nein, du mußt deine Wünsche niedrig halten. Auf lange Sicht bedeutet das weniger Zwang und Hetze, und dir bleibt mehr von dem, womit du angefangen hast. Sieh mich an. Ich komme von dem größten Indianerstamm östlich des Mississippi her, und niemand kennt ihren richtigen Namen, nicht einmal sie selbst. Sie sprachen schon Englisch, als der erste Weiße zu ihnen kam. Sie wohnten in Häusern, hatten 368
keine eigene Sprache, keine Religion, manche hatten lockiges Haar, blaue Augen. Gehörten zu keinem bekannten Stamm. Die Weißen glaubten, wir seien Indianer, aber niemand wußte es genau. So wurden wir Croatans genannt oder die Indianer von Robeson County, die Cherokesen von Robeson County, und heute nennt man uns Lumbees. Ich habe nie gewußt, wer oder was ich wirklich bin. Aber bei uns zu Hause, da wußten wir, was wir sind. Wir waren Abschaum. Nichts. Also gut, hab ich mir gesagt, ich bin kein Indianer, ich bin kein Weißer, ich bin kein Schwarzer. Ich will nur Em Jojohn sein. Und will frei sein. Und das kannst du auch haben, Junge. Was könnte dich abhal ten? Du hast keine richtige Familie. Du hast nichts, was dich in dieser Stadt festhält. Zieh los und nimm dein Leben fest in die Hand, bevor sie anfangen, dich so zu formen und umzumodeln, wie sie dich haben wollen. Du hast noch dein ganzes Leben lang Zeit, zur Schule zu gehen. In ein paar Jahren, wenn du das Herumziehen satt hast und meinst, du willst was lernen, dann bleibst du einfach irgendwo und gehst wieder zur Schule.» Ich schüttelte den Kopf. «Ich weiß nicht, Em. Ich muß es mir überlegen.» Er schaute mich noch eine Weile forschend an, dann schwang er sein Bein über den Giebel, rutschte hinunter auf das Schup pendach und warf noch einmal einen Blick über das Tal. «Uber leg's dir», rief er mir über die Schulter zu und kletterte durchs Fenster.
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Am nächsten Morgen vor Tau und Tag wachten Em und ich von einem furchtbaren Gepolter auf. Es waren Burroughs, Rampey und Jürgen, die alle in ihren Arbeitsklamotten die Treppe her aufgestampft kamen und uns aus dem Bett scheuchten. «Wollt ihr schlafen, bis sie euch die Bude unterm Hintern abreißen?» donnerte Mr. Burroughs. «Farette hat das Frühstück bereit, Jungs», sagte Mr. Rampey. Nachdem wir uns mit Wurst, Haferbrei und Spiegeleiern so vollgestopft hatten, daß wir kaum noch laufen konnten, wurden wir zusammen mit den Alten und mit genügend Lunchpaketen, um ein Regiment abzufüttern, in den Bus verladen und zu Jayell gekarrt. Jayell hatte bereits seine Jungs zusammengetrommelt und sprang zwischen den Stapeln von Brettern und Balken aus Ab bruchhäusern herum, riß Planen herunter, zog Bohlen heraus, suchte das Material aus, das bearbeitet werden sollte. Es waren schwere Eichenbalken von den abgebrannten Gebäuden der Maykorn-Plantage und alles mögliche an Material aus Kirchen, Schuppen, Läden, Scheunen, Ställen und Häusern, die irgendwann abgerissen worden waren. Der Bauplatz, den Jayell ausgewählt hatte, war eine Lichtung zwischen Eichen und Ahornbäumen am unteren Ende des ihm von Lilly Waugh überlassenen Geländes, etwas oberhalb des Ape Yard, dort, wo die weiten Hügel in den etwas steileren Hang des Wolf Mountain übergingen. Von dort blickte man nach Osten, weg von der Stadt, und hatte zur Linken den Ape Yard und eine Zufahrtsstraße, einen ehemaligen Holzweg, der vom Atlanta Highway, unmittelbar südlich der Brücke über den Litt-le Iron River, heraufführte. Wir fingen sofort an, nach den von Jayell mit Pflöcken und Schnüren abgesteckten Markierungen die Grube für das Fundament auszuschachten, mit Schaufel und Pickel, was an der felsigen Bergflanke eine mühsame Plackerei war. Von den ersten Schweißtropfen an war mir klar, daß wir hier nicht beim Pick
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nick waren. Außer mit Jayell mußten Em und ich es mit den Großvätern aus der Pension aufnehmen: Burroughs, Rampey, Jürgen und Woodall, die mächtig zupackten und sich gegenseitig zu immer größeren Leistungen anstachelten, während die Frauen uns dauernd mit eisgekühltem Tee von der Arbeit abhielten. Ich war überzeugt, daß wir bis Mittag mindestens drei Schlaganfälle zu beklagen haben würden. Aber bei Sonnenuntergang waren sie immer noch eifrig am Werk, und als Jayell den Feierabend ausrief und die Werkstatt jungs sich schon verdrückt hatten, suchten die Alten das Gelände nach liegengebliebenem Werkzeug ab und wollten von Jayell wissen, ob er zufrieden war und welche Pläne er für den nächsten Tag hatte. Als sie schließlich in den Bus kletterten und sich mit steifen Knochen auf die Sitze fallen ließen, scherzten sie, um ihre Erschöpfung zu verbergen. «Ich hab bisher noch nie körperliche Arbeit getan», sagte Mr. Jürgen, der kerzengerade dasaß und einen Krug Eiswasser zwi schen den Knien hielt. «Aber es hat mir gefallen.» Und dann, zu Mrs. Bell, die am Fenster saß: «Tut gut, die frische Luft, nicht?» «Und Sie haben sich gut gehalten», sagte sie. «Ich glaube, ja», nickte er. «Ich glaube, ich hab mich ganz gut gehalten. Mein Vater wäre heute stolz auf mich gewesen.» Nach und nach verstummten die anderen im Bus und wandten sich dem sonst so schweigsamen Mr. Jürgen zu, der plötzlich von seinem Leben erzählte, von seinen Jahren als Buchhalter bei den Blue Light-Gruben und wie er mit einfacher Grundschulbildung zum Bürovorsteher aufgestiegen war, und wie er seine Arbeit gehaßt hatte. «Ich hätte gern in einem Modesalon gearbeitet, aber mein Vater wollte nichts davon wissen. Das sei kein Beruf für einen Mann. Er war ein sehr strenger Mann, mein Vater, aber ein wunderbarer Mensch, Steinmetz war er. Einmal nähte ich für meine Schwester ein Kleid, oh, da ging er vielleicht an die Decke! Ich hatte immer eine Schwäche für Damenmoden - ich wette, mit der richtigen Ausbildung wäre ich ein guter Modeschöpfer geworden.» Ohne die ihm zugewandten Gesichter zu beachten, erzählte Mr. Jürgen weiter, von seiner Kindheit, und wie stolz sein Vater gewesen wäre, wenn er ihn heute mit der Spitzhacke 371
auf dem Berg erlebt hätte. An dem kalten Glaskrug zwischen seinen Händen klebten kleine wäßrig geronnene Blutstropfen. Am nächsten Morgen fingen wir wieder in aller Frühe an, und so Tag um Tag. Und bald schon wuchsen die Wände in die Höhe. Aber die beiden Häuser, das größere für die Alten, mit Räumen für Em und für mich im Obergeschoß, wollten - zumindest für meine Augen - noch immer keine erkennbare Form annehmen. Jayell baute jeden Tag in andere Richtungen, bis sogar Carlos, der erfahrenste der Werkstattjungen, stirnrunzelnd auf die Pläne blickte und den Kopf schüttelte. «Laß nur», sagte Jayell, «laß nur. Komm, hilf mir.» Und schon drückte er Carlos ein Werkzeug in die Hand und eilte davon, um den nächsten in Verwirrung zu stürzen. «Seht ihn euch an», sagte Phaedra, «seht nur, wie der Schuft es treibt!» Nach ein paar Wochen bekam unser Bautrupp einen neuen Mann. «Klar, kann ich dich brauchen, Tio», sagte Jayell. «Aber sag, kann Mr. Teague dich im Laden entbehren?» «Da ist nichts mehr los», sagte Tio. «Da sind nur noch ein paar Alte, und die sind zu krank, um Einkaufen zu gehen. Ich muß dazu verdienen. Wir kommen kaum noch zurecht.» «Du weißt, viel kann ich nicht zahlen.» «Etwas hilft's doch. Wir kratzen jeden Cent zusammen. Wir haben alles, was wir hatten, in den Laden gesteckt, und da sind noch Rechnungen fällig.» Die Arbeit auf der Baustelle am Wolf Mountain ging gut voran, und immer öfter kamen Jungen aus dem Ape Yard und sahen sich um und legten auch mal mit Hand an, wenn niemand hinschaute. Von einem mußte Carlos sich dreimal binnen einer Stunde seinen Zollstock wiederholen. Ein anderer, ein Zwölfjäh riger mit todernstem Gesicht und in einem zerlumpten Overall, starrte Mr. Burroughs so lange unverwandt an, bis diesem die Geduld riß und er den Jungen mit einer Schimpfkanonade ver scheuchte. Unten in der Werkstatt klagte Skeeter über ähnliche Schwierig
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keiten. Er konnte sich kaum zur Bandsäge durchkämpfen, und drehte er sich nur einen Moment um, machte sich irgendein fremder mit Sandpapier über die Schranktür her, die er gerade in Arbeit hatte, ein anderer rührte im Leimtopf, und zwei lauerten mit einem Korb vor der Hobelbank, um die Späne aufzufangen, bevor sie den Boden berührten, während ein Dritter mit dem Besen bereit stand. «Also gut!» rief Jayell, nachdem er sich das Treiben angesehen hatte. «Wenn ihr helfen wollt, dann lieber gleich richtig!» Er teilte die älteren Jungen in zwei Gruppen ein, eine, die unter Carlos oben am Wolf Mountain arbeitete, und eine, die bei Skeeter und Jackie James in der Werkstatt half. Die kleineren ernannte er zu freiberuflichen Wasserlieferanten. Einmal zählte ich 27 kleine Kerle, die mit Eimern zwischen den nächsten Brunnen im Ape Yard und den Bautrupps hin und her liefen. Eine unerwartete Hilfe kam, als ein alter Geschäftsfreund von Jayell, Werb O'Connell, der trotz der Konkurrenz der Firma Smithbilt ein erfolgreiches Baugeschäft betrieb, eines Tages vor beischaute und Jayell den Auftrag anbot, für seine Häuser die Einbaumöbel zu liefern. «Phantastisch, Werb, so etwas können wir brauchen», sagte Jayell und richtete sofort die Werkstatt darauf ein. Die Belegschaft dort war inzwischen auf ein Dutzend regelmäßig arbeitender Jungs zusammengeschrumpft, die je doch wirklich begabt waren, und so wurde bald auch wieder der Unterricht aufgenommen. «Nicht gegen das Holz ankämpfen, mit ihm arbeiten! Holzmetzger . . . nichts als 'ne Bande Holz metzger seid ihr!» Eines Nachmittags, an einem abgelegenen Straßenabschnitt, winkte uns ein Schwarzer, der mir irgendwie bekannt vorkam. Als wir neben ihm hielten, erkannte Jayell ihn wieder. Es war Willie Daniels. Gekrümmt und mit ausgemergeltem Gesicht stand er da, weit mehr gealtert als die drei Jahre, die er fort gewesen war. «Hallo, Willie», sagte Jayell. «Hab schon gehört, daß du wieder draußen bist. Warum läßt du dich gar nicht mal blicken?» Willie verschränkte die Hände unter dem Latz seines Overalls. 373
Er war schon immer Weißen gegenüber verlegen gewesen, sogar wenn er mit Jayell sprach. Zwei der ersten von Jayells Werkstattgehilfen waren Willie und Boyce Daniels. Sie gehörten zu jenen Zwillingen, die man immer beisammen sieht und von denen einer ein Spiegelbild des ändern ist. Beide waren stille, zurückhaltende und schüchterne, höfliche Jungen, die nie Schwierigkeiten gehabt hatten. Aber als 1951 der Autoschieberring aufflog und die Garage am Fluß durchsucht wurde, gehörten Willie und Boyce zu denen, gegen die Anklage erhoben wurde. Manche sagten, sie hätten sich Doc Bobos Zorn zugezogen. Andere meinten, sie seien lediglich statt zwei ande rer, die Bobos Gunst besaßen, verknackt worden. Jetzt hatte man Willie auf Bewährung entlassen. Boyce war im Gefängnis gestorben. «Ich hab gehört, du baust wieder.» Willies Augen waren auf einen Punkt irgendwo über der Motorhaube des Lasters fixiert. «Na ja, ich baue mir selbst ein Haus und mache außerdem etwas Schreinerarbeit. Aber einen guten Gehilfen kann ich immer brauchen.» Willie nickte. Er preßte die Lippen zusammen. Er war noch genauso schüchtern wie damals, ehe er ins Gefängnis kam, aber jetzt wirkte sein Blick irgendwie verstört. Er schien sich dessen bewußt und hielt den Kopf abgewandt. «Meinst du, du könntest mir helfen, einen Platz für Mama zu finden? Du weißt, ihr Haus steht auf dem Gelände, das . . . » «Ich weiß», sagte Jayell. «Sie muß da raus.» Willies Mutter war eine hochgewachsene, hübsche Frau mit hellbrauner Haut. Als ihre Söhne ins Gefängnis gesteckt wur den, zog einer der Bluthunde, «So-So» Clark, bei ihr ein. So-So war einer von Bobos bevorzugten Leuten. Seine Hauptaufgabe war die Kontrolle des Wettgeschäfts bei Hundekämpfen und Sportveranstaltungen und aller anderen Glücksspiele im Ape Yard. Doc Bobos Bluthunde führten sich im allgemeinen wie Herr scher auf: sie nahmen sich, was ihnen gefiel, ohne zu zahlen, und 374
hebten, wo und mit wem sie wollten. Und denen, die ihnen zuwillen waren, machten sie manchmal großzügige Geschenke: Kleider, Schmuck, ein Auto oder auch ein kleines Haus. Bevor So-so Clark im Frühjahr gestorben war, hatte er veranlaßt, daß die Hypothekenschuld, die Willies Mutter bei Doc Bobo hatte, aelöscht wurde. «Verdammt, das ist hart, Willie. Aber diese Fertighäuschen sind aar nicht so übel. Paß auf, wenn sie einzieht, komme ich rüber und helf dir, das Haus für sie herzurichten, okay?» Als Willie aufblickte, standen Wut und Verbitterung in seinem Gesicht. «Die geben ihr keinen Cent. Sagen nur, sie muß raus. Und heute morgen hat sie unterschrieben.» Jayell zündete sich mit zitternden Händen eine Zigarette an, «Tut mir wirklich leid, Willie», sagte er. «Ich wünschte, ich könnte dir helfen. Aber ich weiß kaum noch, wo mir der Kopf steht. Ich muß jetzt als erstes mein Haus fertig bauen. Laß mir ein bißchen Zeit zum Nachdenken. Wenn ich eine Idee habe, hörst du von mir, ja?» Er legte den Gang ein und fuhr ratternd los. Willie blieb enttäuscht am Straßenrand zurück. Knapp hundert Meter weiter trat Jayell so hart auf die Bremse, daß Skeeter und ich gegen die Fahrerkabine krachten. «Herrgott!» brüllte er. «Ich habe zehn Acres Land - und Holz genug, um drei Häuser zu bauen! Willie! He, Willie, komm mal!» Kopfschüttelnd lehnte er sich zurück. «Mann, was ist eigentlich los mit mir?» Phaedra lächelte. «Nichts, Jack», sagte sie. «Es ist alles in Ordnung.»
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An dem Tag, an dem wir mit dem Bau des Hauses für die Daniels begannen, etwas weiter oben am Hang, abseits von den beiden anderen, stellten sich noch mehr Zuschauer aus dem Ape Yard ein. Sie kamen und gafften, schlenderten zwischen den seltsamen Bauwerken umher und fragten Willie Daniels und seine Mutter witzelnd, wie sie es in einem so komischen Haus aushaken wollten. «Wo ist denn die Tür, Sarah?» fragte einer von ihnen Willies Mutter. «Etwa das da?» «Mr. Jayell baut keine Türen», sagte ein anderer. «Bei seinen Häusern steigt man durchs Fenster aus und ein.» «Immerhin brauchst du dich nicht vor Einbrechern zu fürch ten, Sarah. Außer sie kommen durch den Schornstein!» Eine Frau mit Wollmütze klatschte in die Hände. «Aber einen Schornstein hat es auch nicht.» Die Kinder kletterten zwischen den seltsamen geometrischen Formen und leuchtenden Farben der halbfertigen Bauten umher, etwas unsicher anfangs, als müßten sie sich in dieser phantasti schen Puppenhauswelt der Erwachsenen erst zurechtfinden, ein wenig verstört, wie Kinder es sind, wenn sie die Großen bei unerhörten Kindereien ertappen. Denn dies war eine Welt wie aus dem Bilderbuch, ohne Bezug zu der kargen grauen Existenz im Ape Yard. Aber in dieser Umgebung - und angespornt durch die Begeisterung der Alten und die Energie der Werkstattjungen brachen alte Verhaltenskrusten auf: nicht nur bei den Kindern, auch bei den Erwachsenen. Auch sie fühlten sich auf einmal leicht und beschwingt. Sie gingen umher, bestaunten und beta steten das Ungewohnte und lachten über Jayells Kapriolen, wenn er von Ha us zu Haus flitzte und überall gleichzeitig sein wollte. Sie verschwanden und kamen mit Freunden und Nach barn wieder, standen da und schauten, und abends erschienen Männer, die von der Arbeit kamen und auch das Neue sehen wollten, das hier entstand. Sie kamen noch immer, als wir end lich Feierabend machten.
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An diesem Abend war Em Jojohn unruhiger denn je. Der Gedanke, daß wir das Haus der Daniels bauten, behagte ihm nicht. «Da unten ist ein Dampfkessel am Kochen», sagte er und deutete auf das Tal, «und wir sind so dumm und stecken die Hand rein.» Wieder sprach er davon, fortzugehen. Er holte seinen Seesack aus der Kiste. «Em, red keinen Blödsinn. Hier wird's gerade etwas besser für uns, und du willst weg und alles im Stich lassen? Dieses Haus gehört uns, genauso wie es den Alten gehört, begreifst du denn nicht? Zum erstenmal im Leben werden wir ein eigenes Dach über dem Kopf haben - nicht mehr von anderen abhängig sein!» «Verdammt, du redest, als wolltest du demnächst in Rente gehen! Ich versteh die Welt nicht mehr . . . Die Alten springen rum wie Kinder, und du redest wie ein Greis. Das ist hier ja allmählich ein einziges Irrenhaus!» Und seine Laune verdüsterte sich noch, als an den folgenden Tagen immer mehr Menschen über die Hügel gewandert kamen und sich eine regelrechte Karnevalsstimmung ausbreitete. Er arbeitete verbissen vor sich hin, redete kaum ein Wort, antwortete mürrisch auf Jayells Bitten, fluchte auf Besucher, die ihm in den Weg gerieten, und vollends unleidlich wurde er nach Feierabend. Am Freitagmorgen wollte er nicht aus dem Haus. Tausend Vorwände fielen ihm ein: Er war müde, er fühlte sich unwohl, das verdammte Geröll auf der Baustelle hatte seine Stiefel ruiniert, er konnte seine linke Socke nicht finden . . . Er trödelte herum, bis wir den Bus der Alten verpaßten. Dann schrie er mich an. «Hau doch ab, lauf, wenn du's so eilig hast. Ich komm später nach!» Ich lief zur Werkstatt hinunter und erwischte Jayell noch. Er gab Skeeter und Jackie und ihren Helfern gerade die letzten Anweisungen. Dann fuhren er und Phaedra und ich zur Baustelle hinauf. Beim ersten Blick auf den Hang pfiff Jayell durch die Zähne: «Heiliger Christ!» Das Gelände wimmelte von Menschen, die zwischen den Bäu men standen und gafften. Als Jayell anhielt, drängte sich Speck Turner durch die Menge. «Morgen, Jayell.» 377
«Speck, was um Himmels willen geht hier vor?» «Sind ja prima Häuser, die du hier baust», sagte der Klempner mit breitem Grinsen. «Ja, ja, aber was soll das alles ?» «Laß uns mal geschäftlich reden. Hör zu, ich und Loomis und Simon hier, wir sollen alle in die kleinen Streichholzschachteln da drüben gesteckt werden, und - ja, wir dachten, reden wir mal mit dir, vielleicht kannst du hier auch für uns was bauen. Wie für Willie.» . «Hm.» Jayell sah Carlos an und überlegte. «Ich könnte die Klempnerarbeiten übernehmen, das ist klar, und wir alle haben das Geld, das Bobouns für unsere Häuser gegeben hat - ich weiß ja nicht, wie deine Preise jetzt sind oder was du für den Bauplatz verlangst. . . » «Wie viele seid ihr?» fragte Jayell und fing an zu rechnen. «Was wollen die anderen alle?» «Die wollen nur helfen», sagte Carlos. «Helfen?» sagte Jayell. «Ich kann doch keine Armee bezahlen!» «Sie sagen, du brauchst ihnen nichts bezahlen», fügte Carlos hinzu. «Oben am Cooper Corner ist zur Zeit nichts los.» Carlos kam einen Schritt näher heran. «Die meisten kommen vom Fletcher Bottom. Sie müssen demnächst ausziehen, wenn der Damm gebaut wird.» Jayell musterte die zerlumpten Ärmsten des Ape Yard, die Tagelöhner in ihren abgerissenen, verblichenen Hemden, gürtellosen Hosen und ausgetretenen Stiefeln. «Verstehen sie was vom Bau?» «Nein, aber sie tun alles, was du ihnen sagst.» Jayell zögerte, und Carlos fuhr fort: «Sie wollen helfen, Jayell. Sie haben sonst nichts zu tun.» «Also. . . » «Noch etwas», sagte Carlos. «Die meisten müssen, wie gesagt, weg, wenn der Stausee steigt. Falls du genug Altmaterial hättest, um noch ein paar Häuschen mehr zu bauen . . . » Jayell stand da und sah ihn nachdenklich an. Er ließ seinen Blick über die Reihen schwarzer Gesichter um ihn her gleiten, drehte sich um und sah Phaedra an, die noch im Lastwagen saß. Sie
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erwiderte seinen Blick, mit einem leichten Lächeln um die Mundwinkel. Jayell fuhr sich mit der Hand übers Gesicht. Er wandte sich um und seine Augen wanderten über sein Grund stück hin, von Grenzstein zu Grenzstein, und das felsige Gelände hinauf, das hinter den drei schon begonnenen Häusern steil anstieg. Er öffnete den Mund, um Carlos zu antworten . . . Da er hob sich in der Menge ein Gemurmel, und die Leute wichen zurück. Dann sahen auch wir es. Die grüne Limousine tauchte unter den Bäumen auf. Leise surrte sie an den Reihen der zurückwei chenden Menschen entlang, die schweigend das chromblitzende Gefährt vorübergleiten sahen, Furcht und Ehrerbietung in den Gesichtern. Der Wagen rollte bis zu dem Grashügel hinauf, wo Jayell stand. Doc Bobo stieg aus und blieb lächelnd stehen. «Oh, dann war es wohl doch kein Gerücht, was mir zu Ohren gekommen ist.» Er sah Phaedra und zog den Hut. «Guten Mor gen, Ma'am, guten Morgen.» «Was wollen Sie hier, Bobo?» fragte Jayell scharf. «Nun, ich hörte gerade, daß Sie wieder bauen, Mr. Crooms, und genau wie die Leute hier -» er wandte sich um und blickte in die Runde der jetzt zu Boden starrenden Gesichter - «mußte ich einfach kommen und sehen! Prachtvolle Häuser, kann ich nur sagen. Oh, Mr. Crooms, diesmal haben Sie sich selbst übertroffen. Aha, das große da ist vermutlich für die reizenden Herrschaften aus dem Cahillschen Haus, nicht wahr?» Er verbeugte sich in Richtung der Alten, die in der Nähe standen. «Ich hoffe nur, daß dieser ärgerliche Umzug nicht allzu lästig ist. Mr. Bearden versprach mir, alles zu tun, um Ihnen Unannehmlichkeiten so weit wie möglich zu ersparen. So, und das da, Mr. Crooms, ah - das kann doch nur Ihr eigenes Haus sein!» Er schüttelte bewundernd den Kopf. «Wirklich, Sie sind ein Mann von einzigartigem Talent. Und das dritte da, für wen könnte das bestimmt sein?» Es entstand eine Pause. Doc Bobo blickte Willie Daniels direkt ins Gesicht.
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Er fragte noch einmal, scharf, fast im Kommandoton: «Für wen ist das?» Willie Daniels fuhr sich nervös mit der Zunge über die Lippen? Er sah sich nach Jayell um. Schließlich sagte er leise: «Es ist meins.» «Was soll das heißen, Willie?» Der Junge räusperte sich. «Es ist für Mama - und mich.» «Aber Willie, wir bauen doch schon ein Haus für dich und deine Mama, ein hübsches Haus, drüben, an der anderen Seite des Tals. Du brauchst doch nicht zwei Häuser, oder, Willie?» Der junge Mann starrte den Bestattungsunternehmer mit zu rückgeworfenem Kopf an. Seine Nasenflügel bebten. «Oder, Willie?» Willie senkte den Kopf. «Nein.» «Natürlich nicht.» Doc Bobo lächelte. Jetzt faßte er Speck Turner, Simon Jesup und Loomis Freeman ins Auge. «Denkt noch jemand daran, zu den Weißen hier oben zu ziehen?» Ohne ein Wort drehten der Klempner und seine Freunde sich um und gingen davon. «Speck!» rief Jayell. «Hat sonst noch jemand hier etwas verloren?» Die Leute wandten sich ab und gingen langsam die steinigen Hänge hinunter. Doc Bobo wandte sich an Carlos und die Werkstattjungen. «Sonst noch jemand?» Und sogar sie ließen, einer nach dem ändern, ihr Werkzeug fallen, legten ihre Nagelschürzen ab und kletterten die Leitern herunter. «O Jesus», murmelte Jayell. Er ging zu seinem Lastwagen, stemmte die eine Hand in die Hüfte und lehnte sich an den Kotflügel. Phaedra stieg aus und stellte sich neben ihn. Mit funkelnden Augen schaute sie Carlos nach, der gesenkten Kopfes an ihnen vorbeiging. «Geht nur, ihr feigen Hunde!» Ich spürte, wie mein Herzschlag aussetzte. Es war Tio. Er stand auf dem Erdwall vor Daniels Haus und hielt die Hände trichterförmig vor den Mund. «Ihr habt ja ge
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hört, was er sagt, kriecht nur zurück in eure Löcher wie die Ratten! Laßt Jayell im Stich, wie ihr Mr. Teague im Stich gelassen habt! Haut ab, verkriecht euch in die Bruchbuden, die der große Mann euch zuweist, bis er kommt und noch mehr Blut von euch fordert!» Alle, sogar Doc Bobo, waren wie vom Donner gerührt. Die Leute blieben stehen und starrten herauf, als trauten sie ihren Ohren nicht. Doc Bobo trat auf den Jungen zu, der ihm mit trotzig erhobenem Kopf entgegensah. «Wieso bist du nicht im Laden, wo du hingehörst?» fragte er. «Weil es dort nichts zu tun gibt, dank Ihnen!» Doc Bobo wandte sich um und winkte mit dem Zeigefinger. Der Wagenschlag flog auf, und Clyde Fay glitt heraus. «Was, Sie gott-» Jayell holte aus, aber Carlos fiel ihm in den Arm, packte ihn und drückte ihn gegen den Lastwagen. «Nicht, Jayell, bitte nicht!» sagte er verängstigt. Alle wichen zurück, als Fay den Hang hinaufeilte. Geschmeidig, fast anmutig sprang er über die taufeuchten Grasbüschel. In der Hand schwang er seinen breiten Ledergürtel. Tio blieb stehen und beobachtete ihn. «Haltet ihn!» schrie ich. Doc Bobo, der nur ein paar Meter entfernt stand, fuhr herum. «Haltet ihn!» schrie ich noch einmal. Und da erinnerte ich mich an den Hammer, den ich umklammert hielt, und während der Bestattungsunternehmer noch dastand und mich wütend anstarrte, schleuderte ich ihm den Hammer ins Gesicht. Er taumelte, griff sich mit beiden Händen an die Nase, und im nächsten Moment wurde ich wie eine Fliege zu Boden gewischt. Eine eiserne Faust schloß sich um meinen Arm, und ich wurde hochgerissen, so heftig, daß meine Füße sich vom Boden hoben. Ich hörte Schreie, wurde gegen jemanden gestoßen, und da erst begriff ich, daß Clyde Fay uns beide, Tio und mich, hochgestemmt hielt. «Laß sie runter!» Die Stimme rollte wie Donner. Tio hörte auf zu zappeln, Fay reckte wachsam den Hals, und alle Köpfe drehten sich nach Em
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Jojohn um, der hinter Daniels Haus zum Vorschein kam. Mit schweren Schritten stampfte er über den Vorplatz und stellte sich vor Doc Bobo und Fay auf. «Laß sie los!» «Halten Sie sich da raus, Jojohn», sagte Doc Bobo, der ein Taschentuch an seine blutende Nase preßte. «Ich halte mich raus, wenn er die Jungen losläßt.» «Ich will mich nicht mit Ihnen anlegen», sagte Doc Bobo. «Aber ich mich mit Ihnen», erwiderte Jojohn. «Ich hab sechs Monate in Ihrem Sägewerk geschuftet. Ihr Aufseher hat mich für 50 Cents am Tag gekauft. Ich hab's bis heute dabei bewenden lassen, aber wenn Sie den Jungs was antun, werde ich rückständi gen Lohn eintreiben.» «Ich bin auf seiner Seite!» brüllte eine Stimme, und Horace Burroughs kam steifbeinig den Hang herab. «Da bin ich auch dabei», sagte Mr. Rampey und wog einen Stein in der Hand. Und Mr. Jürgen und Mr. Woodall bahnten sich einen Weg durch die Menge. Jayell befreite sich mit einem Faustschlag aus Carlos' Griff und rannte los. Phaedra hinterher. «Halt, halt - nein!» schrie Doc Bobo. Er rüttelte Fay am Arm, damit er uns losließ, und drängte den Riesen beiseite. Erschrok ken wich er vor den anrückenden Weißen zurück. Diese neue Wendung der Dinge hatte ihn sichtlich überrascht. Er wollte den Zusammenstoß mit ihnen nicht. «Steig ein, Fay, steig ein. Bitte», sagte er und hob die Hände, «bitte, ich will keine Schwierig keiten.» Die anderen folgten den beiden und blieben erst stehen, als er und Fay in den Wagen einstiegen. «Ich will keine Schwierigkei ten», wiederholte Doc Bobo furchtsam und knallte die Tür zu. Clyde Fay ließ den Motor an, und die Schwarzen, die sich unter die Bäume geflüchtet hatten, beobachteten wie in Trance, wie der grüne Wagen wendete und davonfuhr, den Berg hinab. Jayell lief zu Carlos. Er schwitzte, seine Augen leuchteten wild. «Schaff jedes Stück Holz von der Werkstatt her, alles, jedes Brett, das du findest.» Dann wandte er sich an die Menge: «Alle, die ein Fahrzeug haben, sollen den Ape Yard absuchen. Sucht auch in der Stadt und am Fluß, überall. Wer Bretter hat, die er 382
loswerden will, eine Bude, die er nicht mehr braucht, wenn ihr einen Balken am Straßenrand findet - bringt alles her! Tio, nimm du den Laster und such Mr. Tagg. Sag ihm, er soll kommen, wir müssen über Finanzierungen reden.» Wieder an die Menge ge wandt, rief er: «Ich weiß nicht, wie viele von euch hier bauen können, aber wir werden tun, was wir können. Kommt, packt mit an!»
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Am nächsten Morgen weigerte Em sich, auch nur einen Schritt aus der Garage zu tun. «Bleib weg von da, Junge! Wir haben dort nichts mehr zu suchen, hörst du?» «Mach du, was du willst», sagte ich und zog mich an. «Wir sind Bobo in die Quere gekommen, wir haben ihn gereizt, will das denn nicht in deinen Kopf?» «Und er hat gekniffen, oder etwa nicht?» sagte ich, stolz darauf, daß ich es ihm gegeben hatte. «Er ist nur ausgewichen. Er ist viel zu schlau, sich auf einen Streit mit Weißen einzulassen. Aber jetzt wird er arbeiten, um durch Weiße zu erreichen, was er will. Du ahnst nicht, wieviel Macht der Mann hat!» Ich schnürte meine Stiefel und ging zur Tür. Em packte mich am Arm und riß mich zurück. «Verflucht, ist die Sache es wert, sich dafür umbringen zu lassen?» «Em, ich weiß nur eines: da oben ist etwas Wunderbares im Gang. Jayell fühlt es, die Alten fühlen es - der ganze Ape Yard ist m Bewegung. Und ich gehöre dazu. Ich kann mithelfen. Ich habe dort einen Platz gefunden. Zum erstenmal-hab ich einen Platz gefunden! Und niemand, auch Doc Bobo nicht, kann mich von dort vertreiben. Tio hatte den Mumm, ihm zu trotzen. Und mir wird er keine Angst machen!» 383
«Du hast keinen Platz gefunden, Junge, komm zurück! Du hast keinen Platz gefunden», schrie er mir nach, aber ich war schon auf der Treppe, «genauso wenig wie ich!» Als ich zur Werkstatt kam, sah ich, daß ein Teil dessen, was Em vorausgesagt hatte, bereits geschah. Das Auto des Sheriffs war da, und ein Wagen vom Elektrizitätswerk. In der Werkstatt war der Strom abgestellt worden. Jayell stritt erregt mit dem Sheriff. «Jayell, beruhigen Sie sich», sagte Sheriff Carter Middleton, «Doc Bobo ist der Besitzer, und er will, daß der Strom abgestellt wird und daß Sie hier ausziehen - noch heute. Was kann ich dazu sagen?» «Sagen? Ich sage, Sie sind der windelweichste Hund, der mir je untergekommen ist!» «Jayell . . . » «Und ich baue die Häuser», brüllte Jayell, «auch ohne Maschi nen! Mit Handwerkszeug, wenn's sein muß mit dem Taschen messer!» Sheriff Middleton seufzte. Er nahm den Hut ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. «Jayell, ich kenne Sie von klein auf. Ich hab Ihren Daddy gekannt. Zum Teufel, wie oft hab ich ihn, wenn er betrunken war, nach Hause gefahren, um ihn nicht einsperren zu müssen. Ich war dabei, wenn Ihre Mama weinte und für ihn betete, und half ihr, ihn zu Bett zu bringen. Erinnern Sie sich? Ich bin nicht Ihr Feind, Jayell. Aber Sie müssen verste hen, wir sind in einer heiklen Situation. Die Jahrhundertfeier lichkeiten sind voll im Gange. Demnächst werden hohe Tiere aus Atlanta kommen und aus Washington auch, und jeder will nur, daß alles glatt über die Bühne geht. Ich hab meine Befehle, klar und eindeutig. Wir werden allen Besuchern eine Mustergemeinde vorführen. Na, und manche fragen sich besorgt, was hier unten vor sich geht. Der alte Teague bockt und will sein Stückchen Land nicht verkaufen, so daß Bobo mit dem neuen Stein bruch nicht beginnen kann, mit dem die Granit-Unternehmer große Reklame machen wollten, und mitten in all der Aufregung über das neue Schulgesetz wiegeln Sie die Nigger auf und holen sie aus dem Tal raus. Was zum Teufel haben Sie eigentlich da oben am Wolf Mountain vor?»
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«Ich will Ihnen sagen, was ich vorhabe, Carter, ich will Häuser bauen. Mehr nicht. Häuser bauen, für mich und für andere, für alle, denen ich die Chance geben kann, aus dem verpesteten Loch wegzukommen.» «Sie wollen da oben mit den Negern zusammen leben?» «Ich lebe doch mit ihnen zusammen, so lange ich auf der Welt bin. Ja, nicht wahr, so lange wir in Niggertown blieben und unter Bobos Stiefel, da war das ganz in Ordnung, wie? Nun, ich hab eine gute Nachricht für Sie, Carter, und für die Stadtväter. Wir, die Nigger und ich, verlassen jetzt Niggertown! Ich werde den ganzen Hang dort oben mit Häusern vollstellen, mit meinen verrückten Häusern, guten, soliden kleinen Häusern, die sogar Schwarze sich leisten können. Eine Mustersiedlung wird das! Und wenn die Leute, die auf dem Highway vorbeifahren, erst sehen, was man aus Abfällen und mit ein bißchen Phantasie bauen kann, dann werde ich Diebe und Beutelschneider wie Smithbilt vom Markt vertreiben! Und wenn diese Vögel aus Washington kommen und von einem Siedlungsprojekt für die durch den Stausee Vertriebenen reden, dann werde ich ihnen was zeigen, dann hab ich nämlich eine ganze Anzahl dieser Leute in eigenen Häusern untergebracht, und nicht im Rahmen eines und nicht auf Kosten des Steuerzahlers!» «Herrgott, Jayell!» sagte der Sheriff. «Was tun Sie denn? Sie stechen in ein Wespennest! Mann, was glauben Sie denn, was das kostet, wenn Sie sich da einmischen!» «Die Politiker wollen eine Mustergemeinde», sagte Jayell. «Und wir werden ihnen die Mustergemeinde aller Zeiten vor führen. Eine Gemeinschaft von Jungen und Alten, Schwarzen und Weißen und sogar Roten, wenn ich Jojohn dazu bringen kann, mit einzuziehen. Eine Wohnstatt für alle Rassen, alle Altersgruppen, aufgebaut aus Schrott und Schweiß und Torheit und Hoffnung. Ein Traumdorf, Carter, denken Sie mal darüber nach!» Der Sheriff dachte nach. Er blies seine Backen auf, stieß die Luft aus und schüttelte den Kopf. «Jayell, Sie sind ein Träumer, ein Narr, daran gibt's keinen Zweifel. Es ist schwer, Ihnen Vorwürfe zu machen, denn Sie meinen es gut, ich weiß! Aber, Junge, Sie 385
handeln sich Schwierigkeiten ein, das steht fest. Sie waren schon immer ein wilder Kerl, und die Leute haben sich damit abgefun den, aber diesmal werden sie nicht mitmachen. Es steht zuviel auf dem Spiel.» Jayell stand angespannt vor ihm, die funkelnden Augen auf das Gesicht des Sheriffs gerichtet. «Wollen Sie mir den Hahn abdre hen, Carter? Wollen Sie mir mit irgendeiner Verordnung kom men und mich stoppen?» «Nein, ich unternehme nichts gegen Sie, Jayell, und dazu stehe ich. Dem Gesetz nach sind Sie im Recht. Aber Sie wissen wie ich, daß es andere Mittel und Wege gibt, und Bobo kennt sie alle, und ich warne Sie, ihn hält niemand auf! Er hat seine eigenen Helfers helfer, und es gibt viele Weiße, die gerade im Moment auf alle Extratouren der Schwarzen sehr gereizt reagieren würden. Und Bobo hat Einfluß auf sie. Er hat am Fiat Creek einen Klan am Zuschlagen gehindert, wußten Sie das? Er ist ein raffinierter Hund, und er ist schlau. Für ihn steht hier eine Menge auf dem Spiel, und wenn Sie den Kerlen oben in der Stadt das Jubiläum vermasseln und sie daran hindern, Doc Bobo als RenommierNigger Nummer Eins zu präsentieren, dann sind die imstande, ihn auf Sie loszulassen.» Der Sheriff stieg in seinen Wagen und schlug die Tür zu. «Wenn das passiert, sind Sie allein. Mir sind die Hände gebunden. Das wollte ich Ihnen nur sagen.» «Ich bin bereit», sagte Jayell, «Und vielen Dank.» «Für was?» murmelte Phaedra, während der Sheriff davonfuhr. «Der rückgratlose Hund!» «Ach, Liebling, Carter erfüllt nur die erste Pflicht jedes Sheriffs wiedergewählt zu werden. Komm, laß uns hier abhauen, wir können uns in ein paar Zimmern einrichten, bis das Haus ganz fertig ist. Skeeter, Jackie, sagt den Jungs, sie sollen die Maschinen auf den Lastwagen laden.» «Die Maschinen zuerst - natürlich», sagte Phaedra. Anfangs fanden sich nur die Jungen aus der Werkstatt und die Alten wieder am Wolf Mountain ein. Die anderen blieben wie Em aus Angst vor Zusammenstößen mit Doc Bobo fern. «Die kommen schon noch», sagte Jayell und nahm die Arbeit wieder
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auf, als sei nichts geschehen. Nach ein paar Tagen ohne weitere Zwischenfälle hob sich die Stimmung wieder. Am dritten Tag tauchte Willie Daniels auf. Er stand schweigend da und schaute zu. «Willie, hilf doch Carlos mal beim Schneiden der Querbalken», sagte Jayell im Vorbeigehen. Willie blickte ihm nach. Jayell drehte sich im Gehen um: «Und wenn du noch mal drei Tage blau machst, bist du fristlos entlassen!» Willie grinste, legte den Finger an die Mütze und ging an die Arbeit. Nach und nach kamen auch wieder Zuschauer. Und abends blieben meist ein paar Arbeiter auf ihrem Heimweg am Fuß des Hügels stehen, begutachteten untereinander die Arbeit am Bau und gingen weiter, wenn es Zeit war fürs Abendbrot. Und wenn wir durchs Tal gingen, kamen Männer und Frauen an den Lat tenzaun ihrer kleinen Gärten, um uns nachzuschauen. Sie warte ten. In den Läden an der Hauptstraße des Ape Yard ging alles seinen gewohnten Gang, aber zu Mr. Teague kam niemand mehr. Die Leute beobachteten unser Tun am Wolf Mountain und Mr. Teague, wie er die Stufen vor seinem Laden kehrte. Sie warteten auf Doc Bobos nächsten Schritt. Sie brauchten nicht lange zu warten. Am folgenden Montag, kurz nach Arbeitsbeginn, gab es am Rand der Baustelle einen Tumult. Jackie James rannte los, um Jayell zu holen. Die Jungen sprangen vom Feuer auf, wo sie gerade Kaffee kochten, und deuteten mit dem Arm auf eine Erscheinung am Waldrand. «Wer ist das?» fragte Jayell. «Wer ist da?» Die hochgewachsene Gestalt kam zwischen den dunklen, re gennassen Stämmen hervor. Es war Lilly Waugh. Sie schritt energisch auf das Feuer zu und hielt Jayell die Pistole unter die Nase. «Schaff die Nigger von meinem Grund und Boden weg!» «Es ist nicht Ihr Grund, Miss Lilly. Wir haben einen Handel gemacht, erinnern Sie sich?» «Ich hab nie eingewilligt, daß Nigger sich auf meinem Land breitmachen!» «Es ist mein Land, und wen ich auf mein Land mitbringe, ist meine Sache. Es ist meilenweit Wald zwischen hier und Ihrem Haus. Sie merken nicht einmal, daß wir hier sind. Und niemand 387
wird einen Fuß auf Ihren Grund setzen.» Sie stürzte sich auf die Werkstattjungen. «Fort! Verschwindet oder ich bring euch um!» Sie fuchtelte bedrohlich mit der Pistole herum. Die Jungen flüchteten sich in den Wald. Sie blieb vor Tio| stehen. «Worauf wartest du noch, Junge?» «Ich werde dafür bezahlt, daß ich hier meine Arbeit tue, und niemand schickt mich fort außer dem Mann, der mich eingestellt hat.» «So ist das also?» schrie sie. «So ist das?» Sie zielte auf ihn, aber Tio rührte sich nicht. Als sie sah, daß sie ihm keine Angst machen konnte, drehte sie sich um und richtete die Pistole auf Jayell. «Dann sagen Sie's ihm, Mister. Zwei Sekunden gebe ich Ihnen!» Jayell straffte sich und kam um die Feuerstelle herum. Sie standen einander gegenüber, die zwei stadtbekannten Wilden und maßen sich mit Blicken. «Lilly, Sie sind nicht verrückt, Sie sind nur eine verschüchterte alte Frau. Aber Sie haben zu lange die Verrückte gespielt, und jetzt glauben Ihnen die Leute. Wenn man Sie für normal hielte, und Sie würden mich erschießen, dann kämen Sie vielleicht nach einem Jahr wieder frei. Richter Strick land würde Ihnen vielleicht sogar die Hand schütteln und sagen es sei Notwehr gewesen. Aber bei der verrückten Lilly Waugh geht das nicht. Verrückte dürfen nicht morden. Man würde Sie für den Rest Ihres Lebens in eine Anstalt stecken. Ich habe allen Respekt vor einer Dame, die einen Weg gefunden hat, sich ihren Stolz und ihr eigenes Reic h zu bewahren und die Leute auf Distanz zu halten. Zerstören Sie das jetzt nicht alles! Stecken Sie Ihre Kanone weg und gehen Sie nach Hause.» Damit wandte sich Jayell ab und stieg ins Gerüst. «An die Arbeit, Jungs!» Zögernd wagten sich die Jungen aus dem Wald hervor. Miss Lilly blickte umher, und ihre blauen Augen schleuderten Blitze. «Ich steh für nichts ein», sagte sie wütend, «wartet nur ab, wartet nur ab!» Jayell verschwand hinter einer halbfertigen Wand, und man, hörte Brettergeklapper. Auf dieses Signal eilten auch die anderen an ihre Arbeit. Miss Lilly entschwand im Wald. Jackie James erhob sich hinter einem Bretterstapel. «Teufel». sagte er voller Stolz, «Jayell hat ihr aber gezeigt, was verrückt ist!» 388
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«Steh auf, Junge! Da ist irgendwas passiert!» Es war Em. Seine Silhouette zeichnete sich gegen das dämmerblaue Fensterviereck ab. Er stieg durchs Fenster auf das Schuppendach. Ich sprang aus dem Bett. Wir spähten in das morgendliche Halbdunkel des Ape Yard. Ich sah nichts Ungewöhnliches - ein paar Leute, ein paar Autos auf dem Weg zur Frühschicht, ein paar erleuchtete Kü chenfenster. «Ich sehe nichts. Was ist los?» «Es muß weiter weg sein», sagte er voller Unruhe. «Komm mit!» Ich zog mich rasch an, und wir liefen den Hügel hinunter und am Wald entlang zu der Straße, die im Bogen zu Mr. Teagues Laden führte. Em hielt mich plötzlich zurück und deutete nach vorn. Da sah ich sie, Weiße in zerbeulten alten Autos und Lastwagen, die unauffällig, die Scheinwerfer abgeschaltet, an verschiedenen Stellen, vor Geschäften und sogar in Einfahrten parkten. Sie saßen regungslos in ihren Autos. Em stieß mich an, und wir gingen weiter die Straße entlang, zum Laden. Ich spürte die Blicke der Männer im Rücken. Als wir uns einem schwarzen Chevrolet näherten, öffneten sich die Tü ren, und zwei Männer stiegen aus. «Wohin, Großer?» fragte der eine. Em blieb stehen. «Was geht's dich an?» «Ich glaube, ich an deiner Stelle würde nicht in diesen Laden gehen.» «Wieso?» «Ich würde mich da lieber raushalten», sagte der Mann. Em beugte sich herunter, bis er dem Mann direkt in die Augen blickte. «Gut, ich will's als freundlichen Rat auffassen. Denn wenn ich's als Drohung verstehen müßte, dann müßte ich dir alle Knochen im Gesicht knacken. Ich darf's doch als guten Rat verstehen, oder?» Der Mann warf seinem Partner einen Blick zu. Er schluckte. 389
«Darf ich-bitte?» Der Mann nickte. «Oh, das ist gut», sagte Em. «Du hast so ein hübsches Gesicht.» Damit richtete er sich auf, und wir setzten unseren Weg fort. Mr. Teague war allein im Laden. Er stand hinter dem Tresen im alten Teil des Ladens. «Was ist passiert, Mr. Teague, wo ist Tio?» Er antwortete nur mit einem finsteren Kopfnicken in Richtung der Treppe. Wir rannten die Stufen zur Wohnung hinauf. Carlos saß am Küchentisch, Schweißperlen standen auf seinem schmerzverzerrten Gesicht. Sein Kopf war mit einem schmutzi gen Taschentuch verbunden. Tio stand mit zusammengepreßten Lippen hinter ihm und pellte Carlos das Hemd vom Rücken. Sein Hinterkopf und sein Nacken waren übel zugerichtet und bluteten, aber die furchtbarsten Schläge hatte sein Rücken abge kriegt. Stoffetzen klebten in den offenen Wunden. Kreuz und quer über seinen Rücken liefen Striemen. «Doc Bobo», sagte Tio. «Er hat heute nacht die Runde gemacht. Alle Jungs aus der Werkstatt.» «Tio ist als nächster dran», sagte Carlos und krümmte sich, als Tio wieder ein Stück von dem Hemd ablöste. «Ich hab ihm gesagt, er muß von hier verschwinden!» «Okay», sagte Em, «jetzt ist's soweit. Wir hauen hier ab.» Tio antwortete nicht. Er ging zum Verbandskasten und holte eine Dose mit gelber Salbe. Em riß sie ihm aus der Hand. «Hörst du nicht? Wir müssen abhauen!» Tio stieß seinen Arm fort. «Du brauchst mir nicht zu sagen, was ich zu tun hab. Ich gehe nirgendwo hin!» «Und ob, verdammt!» Em riß ihn an der Schulter herum und schob ihn zur Tür. «Geh, oder ich schlepp dich, aber ich sag dir, du haust ab, und zwar jetzt!» Er packte Tio unter den Achseln und schleppte ihn zur Treppe. «Earl, lauf und hol das Mo torrad!» «Zu spät», sagte ich. Vom oberen Treppenabsatz aus sah ich die grüne Motorhaube des Continental am Randstein halten. Wir warfen uns flach auf den Treppenabsatz. Unten knarrte die
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Tür, und Doc Bobos dröhnende Stimme hallte durch den Laden. «Guten Morgen, Mr. Teague!» Mr. Teague blickte kurz auf und fuhr fort, Käse abzuwiegen. Hinter Doc Bobo drängten ein Dutzend Weiße herein, Paulie Mangum, Otis Barton und verschiedene andere, die ich bei der Klan-Versammlung auf Bartons Farm gesehen hatte. Die mei sten waren selbst erst in den letzten Jahren aus dem Ape Yard fortgezogen. Sie stellten sich hinter Bobo in einer Reihe an der Wand auf. Ein Schatten fiel durchs Fenster, und ich sah Clyde Fay, der auf den Fersen wippend vor der Tür stehenblieb. Doc Bobo, einen dicken Verband um die Nase, trat an den Tresen und wartete, aber Mr. Teague setzte unbeirrt seine Arbeit fort und spähte durch seine Bifokalgläser, als er das scharf geschliffene Messer durch den Käseleib zog. «Äh - hätten Sie einen Moment Zeit, Mr. Teague?» Der alte Mann wartete, bis der Zeiger der Waage stillstand, und wickelte einen Käseriegel in braunes Papier. Er musterte die Versammlung über den Rand seiner Brille hinweg. «Hm, an scheinend hat sich die Kunde von meinem Zwiebelsonderangebot rumgesprochen!» Die Männer wanden sich verlegen, als er ihnen zunickte. «Otis, Vern, Alf - hab euch ja kaum mal gesehen, seit ihr aus dem Ape Yard weggezogen seid. Wo habt ihr denn die ganze Zeit gesteckt?» «Mr. Teague», sagte Do Bobo, «es tut mir leid, aber wir kom men in einer unangenehmen Angelegenheit. Ist Ihr Botenjunge hier?» «Tio? Er muß wohl hier sein, warum?» «Wir haben ein Wörtchen mit ihm zu reden, wenn Sie nichts dagegen haben.» «Alles, was Sie mit ihm zu bereden haben», erklärte Mr. Tea gue, «können Sie ebensogut mir sagen.» Doc Bobo sah ihn ernst an. «Nun, es ist so, Mr. Teague, der Junge war gestern in einen kleinen Zwischenfall verwickelt, über den einige Leute entrüstet sind. Sie finden, es ist an der Zeit, daß jemand dem Jungen ein paar Dinge klarmacht. Verstehen Sie?»
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«Nein, äh . . .» Mr. Teague wischte sich die Hände an der Schürze ab. «Was soll ihm denn klargemacht werden?» «Anscheinend haben er und ein paar andere Jungen aus dem Yard sich gestern auf Miss Lilly Waughs Anwesen rumgetrieben, und als sie die Jungen fortschickte, wollten sie nicht gehen. Sie ist empört.» Doc Bobo deutete auf die Männer an der Wand. «Und natürlich sind die anderen Herrschaften auch etwas beunruhigt.» «Sie haben sich nicht rumgetrieben, und sie waren nicht auf Lilly Waughs Anwesen», sagte Mr. Teague. «Sie haben für Jayeil Crooms gearbeitet, auf einem Grundstück, das sie ihm abgetreten hat.» «Mr. Teague, Sie wissen so gut wie ich, daß das keinen Unter schied macht. Wir leben in schwierigen Zeiten, die kleinste Sache kann die größten Unannehmlichkeiten auslösen. Miss Lilly Waugh sagt, der junge Grant sei bockig gewesen und habe sie sogar bedroht.» «Verdammt, ihr kennt doch alle Lilly Waugh! Was die alles so erzählt! Dafür bin ich nicht verantwortlich . . . » «Mr. Teague, niemand macht Ihnen einen Vorwurf.» Doc Bobo beugte sich vertraulich vor und spreizte seine manikürten Finger auf dem Tresen. «Es war eine gute Tat von Ihnen, daß Sie den Jungen aufnahmen. Das erkennt bestimmt jeder an. Wenn es jemandes Schuld ist, dann meine. Ich hätte es kommen sehen sollen, Mr. Teague. Der Junge lebt schon so lange unter Weißen, daß er einfach vergessen hat, wo sein Platz ist. Nun, ich habe die anderen schon aufgesucht, und ich kann Ihnen versichern, daß wir von ihnen keine Schwierigkeiten mehr zu befürchten haben. Aber es ist wichtig, daß wir den jungen Grant nicht vergessen. Er wird allmählich erwachsen, und es ist Zeit, ihn daran zu erin nern, wer er ist. Zeit, dem Jungen die Lendensteaks abzugewöh nen und ihn wieder an Schweinsfüße und braune Erbsen zu gewöhnen.» Die Weißen kicherten anerkennend und traten von einem Bein aufs andere, die Hände in ihren Taschen vergrabend. Auch Doc Bobo lächelte über seinen Witz, behielt aber Mr. Teague im Auge. Das rettete ihm seine Finger. Mit erschrockenem Grunzen riß er sie gerade noch rechtzeitig
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zurück, als das Käsemesser dort, wo sie eben noch geruht hatten, eine Kerbe in den Tresen schlug. «Nimm deinen Hut ab, Nigger!» Im Laden war es so still, daß man die Ventilatorschraube leise in ihrem Lager wackeln hörte. Doc Bobo erstarrte vor Schreck. Mr. Teagues Stimme senkte sich zu einem schroffen Flüstern. «Was ist in dich gefahren, Junge? Was bildest du dir ein, deine schmutzigen Hände auf meine Theke zu legen? Und stehst hier in meinem Laden, vor all den weißen Herrschaften, und behältst den Hut auf deinem schwarzen, fettigen Kopf!» Die lange Klinge blitzte auf, und Doc Bobos Homburg kullerte über den Boden. «Fay!» Doc Bobos Befehl kam gerade noch rechtzeitig. Clyde Fay blieb am Ende des Tresens stehen, nur ein paar Schritt von Mr. Teague entfernt. Ich zitterte unwillkürlich. Tio und ich schauten uns an. Daß ein so großer Mann sich so leicht bewegen konnte, schien ein Ding der Unmöglichkeit. Es war wie im Trickfilm - eben stand er noch vor der Tür, und im nächsten Augenblick am Tresen. Mr. Teague hielt wie ein Vogel den Kopf schief und musterte ihn eine Weile. Dann trat er vor ihn hin, das Messer über den Tresen schleifend. Er verrenkte seine gebeugten Schultern, um in das hoch über ihm schwebende Gesicht zu blicken. «Was hast du hier zu suchen, Junge?» Fay warf Bobo einen Blick zu. Wieder spähte Mr. Teague hinauf und sein kahler Schädel bebte vor Wut. «Hörst du nicht, Nigger? Was ist los, Breitmaul, kannst du nicht reden?» Fay stand hoch aufgerichtet vor ihm, seine zusammen gekniffenen Augen starrten ins Leere. Mr. Teague verzog ver ächtlich die Lippen. Er senkte die Stimme, spottend, höhnend. «Du krausköpfiger schwarzer Hundesohn. Versuch's nur, die Hand gegen mich zu heben, du ausgewachsener Urwaldaffe. Komm schon, du schwarzer Holzkopf!» Fay rührte sich nicht, aber der Zorn kochte in ihm, pulsierte in den Muskeln seines Gesichts. Auch die anderen fühlten es. Es hing etwas in der Luft, der schwere, faulige Hauch des Todes. Nur Mr. Teague, der am Rand des Abgrunds tanzte, schien 393
nichts zu merken. «Und auch den Hut aufbehalten! Also wirk lich, Zustände reißen bei uns ein!» Die Messerspitze fuhr lang sam hoch und kippte die Mütze von Fays Kopf. Ich sah Tio an. Er kniff die Augen zu. «Ist dir vielleicht dein schmuckes Jäck chen zu eng, daß du mir deshalb nicht antworten kannst, Jun ge?» Mr. Teague säbelte einen Knopf von Fays Jacke. Einen Moment herrschte lähmende Stille, dann klapperte der nächste Knopf über den Boden. Plötzlich stand Doc Bobo neben ihm. «Geh hinaus, Fay.» Er legte dem Riesen die Hand auf den Arm. «Fay! Hörst du mich? Geh raus, warte draußen.» Ein Beben ging durch die breiten Schultern unter dem Jackett. Es war, als ob die Spannung einer zum Zerreißen gespannten Feder nachließ. Er hob seine Mütze und Doc Bobos Hut auf und schritt tänzelnd über die durchhängenden Bodendielen. In der Tür drehte er sich um und warf Mr. Teague einen kurzen Blick zu, dann glitt er ins Freie. «Sie haben einen Fehler gemacht, Mr. Teague.» Mr. Teague nickte. «Einen Fehler», sagte er bitter. «Auf einen mehr kommt's nicht an. Ich hab mein ganzes Leben in einem Geschäft verbracht, das mir nie Spaß gemacht hat. Aber es war das Geschäft meines Vaters, und er war stolz darauf. Das war ein Fehler. Und dann blieb ich dabei, auch als ich sah, wie die anderen wegzogen. Ich glaubte, die Leute brauchten mich. Ich glaubte, sie seien meine Freunde, und ein Mann hätte eine Pflicht gegen über seinen Freunden. Ich dachte, sie würden sich an die Körbe mit Lebensmitteln erinnern, die ich den Kranken schickte, an die Rechnungen, die ich vergaß, wenn sie arbeitslos waren, an die rationierten Lebensmittel, die ich ihnen zusteckte, wenn sie ihre Marken verspielt hatten. Zur Zeit der Depression standen er wachsene Männer weinend an diesem Tresen und bettelten um Essen für ihre Kinder, die vor Hunger Erde kauten. Und ich gab es ihnen. Aber das alles war ein Fehler. Dort hinter Ihnen stehen einige der Kinder aus diesen Familien, und sie warten nur darauf, in diesem Laden Blut fließen zu sehen. 394
Und dann, als ich alt und einsam war, kam eine schwarze Frau. Sie lachte gern. Sie brachte auch mich zum Lachen. Sie bügelte meine Hemden, bohnerte meinen Fußboden und machte mir Pasteten und Kaffee mit Honig. Und wir saßen am Nachmittag beisammen und sprachen. Sie war eine gute Frau. Es war eine gute Zeit. Und als sie starb, nahm ich ihren Jungen zu mir. Ich glaubte, ich könnte ihn, so gut ich's konnte, großziehen, ihm eine Ausbildung geben und, da ich keine Familie habe, ihm eines Tages den Laden vermachen. Ich dachte, ich könnte ihm viel leicht etwas geben, was andere schwarze Jungen nicht hatten. Aber jetzt, da alle meine Freunde mich verlassen haben, ist nichts mehr da, was ich ihm vermachen könnte. Also sehe ich, daß auch das ein Fehler war. Machen Sie weiter, Doc, saugen Sie Blut aus dem Elend im Ape Yard, aber lassen Sie den Jungen in Ruhe. Er ist das einzige, was ich habe auf der Welt. Und schleppen Sie mir nicht eine Horde weißen Abschaums ins Haus, um mir Angst zu machen. Ich bin zu alt. Ich hab zu viele Fehler gemacht, und mein Leben ist nichts mehr wert. Raus aus meinem Laden!» Als sie, einer nach dem ändern, gegangen waren, schleppte Mr. Teague sich müde zu seinem Stuhl und fuhr sich mit der Schürze über das Gesicht.
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Kaum waren die Männer gegangen, rannten die kleinen Jungen, die vor der Tür herumgelungert hatten, davon. Wenige Minuten später riefen die Leute einander die Neuigkeit zu, und bald drängten sich die Neugierigen vor dem Laden. «Laßt mich durch, laßt mich vorbei», brummte Em und bahnte sich einen Weg durch die Menge. 395
«Wo willst du hin, Em?» rief ich, als ich ihn eingeholt hatte. «Runter zum Fluß. Laß mich allein!» «Wann kommst du wieder?» fragte ich. «Wenn ich besoffen genug bin, um mich abschlachten zu las sen», sagte er und stürzte davon. Die Nachricht, wie Mr. Teague Doc Bobo gedemütigt hatte, wurde überall mit ungläubigem Kopfschütteln und ehrfürchti gem Staunen begrüßt. Die Geschichte wurde immer mehr ausge schmückt und bescherte dem Laden einen plötzlichen Ansturm von Kunden. Aber Mr. Teague war nicht in der Stimmung, auf all ihre neugierigen Fragen einzugehen, und schließlich ließ er sie einfach stehen und ging hinauf in seine Wohnung. Wenn mich jemand fragte, erzählte ich, was geschehen war, so genau wie möglich und ohne aus Mr. Teague einen Helden zu machen. Ich wußte, das hätte auch er nicht gewollt. Tio hielt es ebenso. Er machte den Leuten klar, daß dies ein Kaufladen war und daß er keine Zeit zum Plaudern hatte, aber wenn alte Kunden etwas kaufen oder Schulden abbezahlen woll ten, hatte er eine gute Geschichte für sie parat. Am Nachmittag kamen die Leute aus allen Himmelsrichtungen zum Wolf Mountain; und schließlich hatte sich am Bauplatz eine Menge von weit über hundert Menschen versammelt. Was jetzt im Ape Yard regierte, war offene Rebellion. Verwirrt, besorgt schritt Jayell zwischen all den Leuten, die fröhlich auf ihn einredeten, umher. «Wir sind gekommen, um mit meinem Haus anzufangen», rief Speck Turner, «Loomis und Simon und ich.» «Still! Still! Laßt mich nachdenken!» Jayell rannte zum Lastwagen, wo einige Männer dabei waren, den verprügelten Werkstattjungen von der Pritsche zu helfen: Carlos mit einem dicken Kopfverband, Skeeter mit einem einge gipsten Fuß und Jackie James, der sich kerzengerade hielt, um seinen schmerzenden Rücken nicht zu bewegen. «Es sind zu viele», brüllte Jayell. «Wir können uns nicht rühren.» «Gib ihnen doch Arbeit», sagte Carlos. «Wenn du in Abbe
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ville die Bautrupps für Smithbilt aufstellen konntest, kannst du auch die Nigger hier einteilen.» «Wir brauchen Holz, Leute und brauchbares Altmaterial jeder Art», rief Jayell. «Du, Loomis, such dir ein paar Männer, die Äxte haben, und fäll mit ihnen die Bäume da oben . . . Carlos, du sägst den Stamm dort zurecht, den ich mit raufgebracht habe. Und du, Skeeter, sieh dir die Pläne an und teil die Werkstattjungs ein, Mauern verputzen, Wandleisten anschlagen . . . Wir brau chen - alle mal herhören - wir brauchen Handwerkszeug, Äxte, Sägen, Hämmer, Zangen, alles was ihr habt. . . » Jayell ging weiter und schob diejenigen, die im Weg waren, beiseite. «Ja, wir brauchen Baumaterial und Werkzeug. Was ihr nur finden könnt bringt es her! Und ihr hier, wartet bitte dort drüben, bis ihr gesagt bekommt, was ihr tun sollt. Die Kerle hier mit den Ver bänden haben das Kommando!» Wie Ameisen kamen die Menschen über die Hügel und schleppten Balken und Bohlen und Bretter und Latten herbei. Andere brachten Hämmer und Äxte und Sägen und Seile. So ging es den ganzen Tag. Mittags brodelten Eintopfgerichte in eisernen Waschkesseln über offenen Feuern, und schwarze Frauen schöpften Eierku chenteig in heiße, fettspritzende Pfannen. Die Mauern neuer Häuser wuchsen in die Höhe. Auf einem Baumstumpf hockte der Buchhalter I. V. Tagg mit seiner alten Rechenmaschine, drehte rasselnd die Kurbel, rech nete und schrieb, unterzeichnete Verträge, sprang in seinen Wa gen, um einen Packen Geldscheine zur Bank zu bringen, kam zurück und rechnete wieder. «Das ist das Chaos. Das ist Wahnsinn!» stöhnte er. Und Jayell war überall gleichzeitig, sprang Leitern hinauf, kletterte durchs Baugerüst, brüllte Befehle, schwang den Zoll stock, warf mittendrin Pläne um, kam mit hängender Hose aus dem Gebüsch gelaufen, schrie den Männern, die einen Firstbal ken hochzogen, seine Anweisungen zu und schoß wieder in Deckung, um sein Geschäft zu beenden. Die eifrigen Helfer mischten den Mörtel, hielten Balken in 397
ungewohnten Winkeln und warteten auf ein zustimmendes Nik ken; sie fragten und fragten - war dieses Fenster richtig gesetzt, war dort das Fach richtig angeschnitten, war die Wandfar be richtig gemischt? Schweigend beobachteten sie ein pendelndes Lot, ganz als herrschten auf diesem Bauplatz sogar andere Schwerkraftgesetze. So wuchsen die Bauten in der flimmernden Julihitze, so entfal teten sich überraschende Formen, die allen Regeln der Symme trie und allen Normen der Konstruktion und Formgebung wi dersprachen: schiefe Winkel, gekrümmte Wände, schwebende Veranden, bis auf den Boden herabgezogene Dächer, Kuppeln, aus denen schwingende Wendeltreppen zu kreisrunden Räumen hinabführten. Werb O'Connell, Jayells Freund und selber Baumeister, kam und staunte. Mr. Wyche erschien mit einigen Chefingenieuren von Smithbilt. Sie wollten Jayells Pläne sehen. «Die meisten stecken hier oben», lachte Jayell und tippte sich an die Stirn. «Ich weiß nicht — ist das nun eine Ansammlung kleiner Häuser oder ein einziges großes Haus, das sich über den ganzen Hang hin erstreckt?» wunderte sich Werb O'Connell. Junge Architekten aus der Gegend kletterten mit Wasserwaage und Bandmaß durch die Bauten. Sie beugten sich emsig über ihre Skizzenblöcke und versuchten immer wieder, mit Jayell ins Gespräch zu kommen. «Ist doch ganz einfach», sagte Jayell. «Jahrtausendelang fand der Mensch sein Obdach in Bäumen und Höhlen, den allernatür lichsten Gebilden der Umwelt - und ein angenehmerer Anblick als die Schachteln, in die wir ihn heute stecken. Die Umgebung des Menschen sollte ihn frei machen und nicht einschachteln! Auf den Raum kommt es an, wie Frank Lloyd Wright sagt, nicht auf die Wände! Gibt es einen Lebensraum, der freundlicher ist als der Baum? Gibt es eine freiere, natürlichere Wohnstatt als eine Höhle? Und jetzt meine Herren, entschuldigen Sie mich bitte!» Und je mehr die einzelnen Häuser wuchsen, um so deutlicher wurde der Gesamtplan: jede Einheit fügte sich anmutig und 398
harmonisch ins Ganze ein. Von den massiven Stützpfeilern unten am Hang bis hinauf zu den luftigen Nestern unterm sonnigen Himmel reihten sich die eigenwilligen, verschiedenartigen und doch zueinander passenden Gebilde aneinander - dem Gelände nicht aufgezwungen, sondern in gelungener Anpassung an die Landschaft. «Das Bauholz wird knapp!» brüllte Jayell. «Wir brauchen Holz, noch mehr Holz!» Und so kam es, daß die verlassenen Hütten rund um Mr. Teagues Laden sich geheimnisvoll in Luft auflösten; ganze Häuser verschwanden über Nacht. Es gab Gerüchte von Unruhen in Doc Bobos Sägewerk weiter oben am Little Iron River und daß die Sträflinge dort plötzlich schlampig geworden waren und in Mengen Holz verschwinden ließen. Jedenfalls trieben Abend für Abend ganze Balkenflöße den Fluß herab, und weiter unten an den alten Holzwegen, warteten Helfer mit Lieferwagen und Handkarren, um die kostbare Trift zu bergen. Am nächsten Morgen standen dann in der Sonne trocknende Holzstapel auf dem Bauplatz. Dann, an einem friedlichen Sonntagnachmittag - Jayell hatte um zwölf Uhr Feierabend machen lassen -, kamen Bürgermei ster Crowler, Mr. William Thurston von der Firma Blue Light Monuments, der zugleich Vorsitzender des Jubiläumskomitees war, und drei weitere Mitglieder des Komitees, heraufgefahren. Jayell, der neben Phaedra auf der Treppe saß, sprang auf und hinkte ihnen entgegen, in der einen Hand seine Bibel, in der anderen die Whiskey-Flasche, aus der er gerade getrunken hatte. «Das ist die richtige Kombination», sagte Bürgermeister Crowler lachend. «Unschlagbar, wie ich festgestellt habe! Eins verstärkt den Trost des ändern! Was kann ich für Sie tun?» Die Männer blieben stehen und betrachteten die halbfertigen Häuser, die sich an dem zerklüfteten Hang vor ihnen erhoben. Aus der Nähe betrachtet wirkten die Bauten noch verblüffender. «Es ist wie ein Traum», sagte Clarence Winthrop, der Präsident der Three Angels-Steinhütte. «Ja, das ist es», sagte Jayell leise. 399
«Mr. Crooms», sagte der Bürgermeister, «was Sie hier tun, erregt allerhand Aufmerksamkeit, aber leider die falsche Art Aufmerksamkeit und zum unpassendsten Augenblick! Das nächste Wochenende ist der Höhepunkt unserer Jahrhunderfei erlichkeiten . . . Wissen Sie, wer alles bei uns in der Stadt sein wird?» «Wir bauen nur Häuser.» «Ist Ihnen klar, daß zahlreiche Mitbürger eine Menge Arbeit investiert haben, damit. . . » «Auch hier wurde eine Menge Arbeit investiert, Mr. Crowler!» unterbrach ihn Jayell. «Und zwar teilweise von Leuten, die eigentlich beschaulich im Schaukelstuhl sitzen sollten. Und die Leute arbeiten, wie ich noch nie jemand habe arbeiten sehen. Da drüben, das Pensionshaus . . . » «Das ist es nicht, was ich meine. Das wissen Sie doch!» erklärte Bürgermeister Crowler mühsam beherrscht. «Was ich meine ist das da.» Er deutete mit weit ausholender Gebärde über das Tal hin. «Die ganze Gegend ist in Aufruhr!» «Ja, und das liegt an Ihnen und an Bobo, diesem Hund! Hätten Sie doch den alten Mr. Teague in Frieden gelassen! Hätten Sie doch die Menschen nicht wie Schlachtvieh herumgeschoben! Dann gäbe es diese Siedlung nicht, Mr. Crowler!» «Aber für die Leute ist doch gesorgt. Drüben, am anderen Ende des Tals, werden neue Häuser für sie . . . » «Nennen Sie's meinetwegen Häuser - ich jedenfalls nicht.» «Außerdem planen wir bereits ein Siedlungsprojekt für diejenigen, die durch den Staudamm obdachlos werden.» «Ein neuer Ape Yard. Und Leute wie Sie und Doc Bobo stecken die staatlichen Prämien in die Tasche! Bauen Sie Staudämme und Siedlungen, so viel Sie wollen, Bürgermeister. Ich werde so viele Menschen wie möglich hier oben ansiedeln.» «Aber Sie wissen doch», mischte Mr. Thurston sich ein, «daß Ihre Leute neuerdings überall in der Gegend Holz stehlen.» «Nein, davon weiß ich nichts. Ich habe den Leuten gesagt, sie sollen die Gegend nach verwendbarem Altmaterial absuchen.» «Wir haben Ihnen geholfen, Jayell», sagte der Bürgermeister. «Die ganze Stadt hat Ihnen geholfen. Sind Sie denn nicht bereit, 400
uns auch einmal behilflich zu sein?» «Aber ich helfe Ihnen doch! Begreifen Sie denn nicht? Ich helfe Ihnen.» Der Bürgermeister seufzte. «Gut, lassen wir das. Wir haben nur eine Bitte: machen Sie eine Pause, damit hier Ruhe einkehrt, eine Woche lang, wenigstens bis die Jubiläumsfeierlichkeiten vorbei sind. Lassen Sie uns einig zusammenstehen, solange die Presse und das Fernsehen und die Leute aus der Hauptstadt und aus Washington hier sind. Wollen Sie das für uns tun?» Jayells düstere Miene hellte sich auf, die Falten wichen einem breiten Grinsen. Er stand da, die Whiskey-Flasche und die Bibel in den Händen und fingen an zu zittern, zu schlottern. «Mir geht's da wie einem Mann, der dringend aufs Scheißhaus muß, Bürgermeister Crowler. Ich kann's nicht!» Jetzt prustete auch Phaedra los. «Ich kann's einfach nicht eine ganze Woche lang verhalten!» Da lachte auch ich lauthals los - vor allem über die Gesichter der Männer. Phaedra hielt sich die Seiten und wieherte wie ein Maultier, worüber wiederum Jayell lachen mußte. Er legte ihr den Arm um die Schulter, und je mehr sie lachte, um so mehr mußte er selber lachen. Die Männer gingen zu ihrem Wagen. Sie starrten uns an, als wären wir verrückt geworden, und stiegen ein. Türen schlugen, der Motor surrte - und wir drei kugelten uns vor Lachen und konnten nicht aufhören. Am Mittwochabend hatte ich noch immer kein Lebenszeichen von Em. Ich fing an, mir Sorgen zu machen, und beschloß ihn zu suchen. Am Donnerstag nahm ich mir frei und klapperte mit dem Motorrad alle Spelunken am Fluß ab. Er mußte noch in der Gegend sein, er war in allen Finten gesehen worden, und ich bekam Geschichten von wüsten Saufgelagen zu hören. Aber er war nirgends zu finden. Ich mußte an eine der wenigen «India nersachen» denken, die er mir von sich erzählt hatte: «Wenn ich jemand finden will, dann mag er sich verstecken, wo er will. Ich finde ihn trotzdem. Aber wenn ich nicht gefunden werden will, gibt's niemand, der mich finden kann.» 401
Und es war klar, daß Em gerade jetzt nicht gefunden werden wollte. Aber daß er noch in der Gegend war, beruhigte mich. Also machte ich mich auf den Heimweg. Auf der Fahrt durch Quarrytown hörte ich schon von weitem die Kapelle, die im Stadion hinter dem Rathaus probte, und als ich auf den Marktplatz kam, staunte ich, wie die Stadt sic h verwandelt hatte. Fahnen flatterten im Wind, vor dem Rathaus war eine Holztribüne errichtet worden, Feuerwehrleute liefen hin und her und schmückten die Laternenpfähle mit bunten Porträts der Poncini Brothers. Auf dem Rasen vor dem Postamt stand eine echte Postkutsche aus der Pionierzeit; ungeduldig bäumten die Rösser sich im Geschirr. In den Schaukästen vor der Redaktion des Star waren alte, vergilbte Karten und Fotografien ausgestellt, die den Betrieb in der einstigen Poncini-Grube zeig ten. Die Straßen waren verstopft von Autos, ein Polizist, unifor miert im Stil der Jahrhundertwende, bemühte sich verzweifelt den Verkehr zu regeln und zu verhindern, daß die Fernsehleute vom Sender Atlanta, die ein Kabel von der Tribüne quer über den Platz legten und auf dem Dach der Kreditbank an der Ecke eine Kamera installierten, unter die Räder gerieten. Menschen massen wälzten sich durch die Ausstellung der Granit-Unter nehmer in einem Zelt auf dem Platz, wo altes Werkzeug und Grabmonumente aus schlichtem, gemasertem Stein, wie der Poncini-Steinbruch ihn einst lieferte, zu sehen waren. In den Schaufenstern der Modegeschäfte waren Gehröcke, steife Melo nen, Kragenschleifen und Spazierstöcke aus der Zeit der Groß väter ausgestellt. Und überall sah man in der Menge Männer mit frisch gesprossenen Barten und Damen in langen Röcken, die matt ihre Fächer in der Julihitze schwenkten. Im Vorbeifahren winkte ich Mrs. Porter und Mrs. Cline zu, die auf dem Trödelmarkt vor Daisy Rileys Schönheitssalon ihre Patchwork-Decken verkauften. Das Jubiläumsfieber hatte die ganze Stadt erfaßt. Oben am Wolf Mountain ging es etwas stiller zu, aber nicht weniger eifrig. Die Häuser wuchsen. Auf dem Atlanta Highway hielten ständig Autos an, deren Fahrer verwundert die Baustelle
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betrachteten. Jayell hatte die Alten als Wachtposten eingeteilt, damit sie neugierigen Besuchern geduldig erklärten, daß dies kein öffentlicher Festpavillon sei. Doch inmitten all des hektischen Treibens gab es eine Straße im Ape Yard, in der eine unheilkundende Stille herrschte: hinter Trauerweiden und Magnolien verborgen erhob sich dort das weiße Gebäude mit der Glocken-Neonreklame - Doc Bobos Bestattungsinstitut, ruhig wie das Auge des Sturms.
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Am Freitagabend saß ich allein in unserer Dachbude und aß mein Abendbrot. Es war eine schöne, klare Julinacht. Vor dem Fenster funkelten die Sterne. Ein kühler Lufthauch wehte herein und ließ die Flamme der Öllampe flackern. Die Dachbude würde mir fehlen! Ihre Behaglichkeit, ihre ver trauten Gerüche - nichts in dem neuen Haus am Wolf Mountain konnte sie ersetzen. Ich betrachtete die rissigen Balken, die Wasserflecke, das leere Aquarium . . . Wieviel hatte dies alles mir bedeutet, nach den Jahren in der Pension, dieser düsteren Pension mit ihren fremden Räumen, ihren Schatten, ihren sonderbaren alten Gesichtern. Und ich dachte an Miss Esther . . . Ja, Miss Esther. Ich blickte auf den Brief vor mir auf dem Tisch. Mrs. Bell hatte ihn mir am Morgen gegeben. Ich nahm ihn und las noch einmal die lapidaren, flüchtig hingekritzelten Sätze: « . . . und wieder einen meiner Anfälle, vor einer Woche oder so. Bin seither in der Klinik. Der Arzt meint, es wird besser. Das sagt er jeden Tag. Dann muß es wohl stimmen. Er sagt, ich darf nächste Woche nach Hause. Es ist mir einerlei, ob ich in jenes Haus zurückkehre oder nicht. . . » Ich horchte auf. Nein, das war nicht der Wind. Auch nicht das Knarren des 403
Gebälks. Es war ein gleichmäßig knirschendes Stampfen hastende Schritte, im Graben hinter dem Haus. Jetzt das Poltern von Steinen an der Böschung, ein Rascheln im Gebüsch, die Schritte auf der Treppe, so heftig, daß die ganze Bude zitterte. Jetzt wußte ich, wer es war. Em stürzte herein, keuchend, mit angstvoll aufgerissenen Augen. «Was ist los? Wer ist hinter dir her?» «Bobos Männer! Sie suchen mich unten am Fluß!» Er riß seinen Seesack vom Haken und stürzte zur Feldkiste. «Ich hol mir schnell ein paar Sachen. Starte du schon die Maschine!» Ich rannte zur Tür. «Warte, ich hole Jayell und die anderen und -» Seine schwere Hand schloß sich um meinen Arm, riß mich zu Boden. Em beugte sich über mich, seine Lippen bebten. «Jetzt hör mir gut zu. Ich habe deine Kindereien satt! Du tust, was ich dir sage!» «Wenn du abhauen willst, hau ab!» schrie ich ihm ins Gesicht. «Ich jedenfalls werde nicht fortlaufen, irgendwohin.» «Das wirst du! Und wenn ich dich wegschleppen muß, Junge!» Ich sprang auf. «Nein - ich hab keine Angst. Hörst du? Ich hab keine Angst!» «Hör zu, Junge. Nur blinde Narren haben keine Angst. Wenn du mich fragst - ich habe jetzt Angst, mehr denn je. Ich will nicht sterben! Das Leben ist dir egal, bis du eines Tages merkst, daß es keinen höheren Sinn hat. Und dann bedeutet's dir plötzlich alles. Und wenn du nirgendwo hingehörst, wenn du zu nichts und niemanden gehörst und dein Leben das einzige ist, was du hast, dann ist dein Tod ein sinnloses Nichts - die Welt hört auf.» «Was redest du da? Wieso gehörst du nirgendwo dazu? Du hast doch die ganze Sache in Gang gebracht. Und jetzt, wo's Ärger gibt, willst du dich aus dem Staub machen?» «Ich? Ich bin nicht verantwortlich dafür!» «Doch, das bist du. Und es ist Zeit, daß du's begreifst. Du gehörst ebenso dazu wie jeder andere, und sogar noch mehr. Wie hätten sie alle tun können, was sie getan haben, wenn du nicht gewesen wärst!» 404
«Ich bin nicht verantwortlich!» schrie er und wich zurück wie Feuer. «Wer war's denn, der Jayell auf die Idee brachte, die alte Eiche auf sein Haus stürzen zu lassen? Und ohne dich hätte er nie mit den Häusern am Wolf Mountain begonnen. Wer war's denn, der die Alten davon überzeugt hat, daß sie es auch allein, ohne Miss Esther, schaffen würden? Und wer hat Mr. Teague Mut ge macht, den Kampf gegen den Supermarkt aufzunehmen? Und als ich meinen kranken Arm kaum bewegen konnte, wer hat mich damals angestachelt, auf die höchsten Bäume zu klettern? Du bist verantwortlich, Em Jojohn! Du bist verantwortlich für uns alle.» Er starrte mich mit wütend funkelnden Augen an. «Die Hände könnte ich mir abhacken», murmelte er, «dafür, daß ich dich damals aus dem Feuer holte.» Er wandte sich schwer atmend ab, bemüht, seinen Zorn nieder zukämpfen. «Feuer . . .? Em . . . » Ich streckte die Hand nach ihm aus, aber er schlug sie weg. «Em, wie war das mit dem Feuer?» Seine Stimme war heiser und bitter. «Ich wollte nie mehr als in Ruhe gelassen zu werden . . . » Er stützte sich mit der Faust auf den Tisch. Er atmete in kurzen Stößen. Alles wirbelte um mich herum - Bruchstücke, die Fetzen des Traums, die Riesenhände, die nach mir griffen . . . «Em, warst du es? Hast du mich aus den Flammen geholt?» Er blieb mit dem Rücken zu mir stehen und schwieg. Dann senkte er den Kopf und fing an zu sprechen. Längsam tropften seine Worte in die Stille: «Damals . . . ich kam die Straße lang und sah es brennen. Ich konnte sie nicht mehr rausholen . . . unmöglich . . . das Haus brannte wie Zunder. Sie waren im Schlafzimmer eingeschlos sen . . . eine lodernde Feuerwand. Der Mann versuchte es, wollte sich freikämpfen und konnte es nicht. Die Frau schrie . . . Und dann hörte ich dich schreien, in dem Zimmer auf der anderen Seite vom Flur. Ich stürzte hinein und riß dich aus dem Bett chen . . . es stand schon in Flammen . . . deine Kleider brannten, aber ich schaffte es. Ich holte dich raus . . . irgendwie. vor sengendem
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Und erst als ich dich draußen in den Grabe n tauchte und dastand und dich hielt, während die Nachbarn gelaufen kamen, und du wie von Sinnen brülltest und mich anschautest, mit wilden, anklagenden Augen . . . Da erst wurde mir klar, was ich getan hatte. Ich lungerte beim Krankenhaus herum, während sie versuch : ten, jemand zu finden, der dich aufnehmen würde. Und jeden Tag besuchte ich dich, sah dich in deinem Bettchen liegen, wie. du die Wand anstarrtest, nichts sagtest, dich nicht rührtest. Die Ärzte sagten, du würdest schnell wieder in Ordnung kommen, wenn dein Arm erst verheilt wäre, wenn du wieder bei deinen Leuten wärst. Aber ich wußte, es würde nicht so sein. Ich habe versucht zu vergessen. Ich hab alles getan, um zu vergessen. Oft dachte ich, war ich doch weitergegangen und hätte dich bei deiner Mama und deinem Papa gelassen. Aber ich ging rein und holte dich raus. Und nun war da ein kleines Kind, das wahrscheinlich zum Sterben bestimmt war, das Kind armer Pachtfarmer, das nie die richtige ärztliche Behandlung bekom men würde, für das niemand sorgen würde . . . verkrüppelt und im Kopf durcheinander, unfähig, in der Welt zurechtzukom men, und ich war verantwortlich. Der Gedanke verfolgte mich. Ich konnte ihn nicht abschütteln. Und als ich hörte, daß sie dich nach Georgia geschickt hatten, machte ich mich auf den Weg. Nur mal nach ihm sehen, dachte ich, sehen, ob es ihm gut geht. Und dann fand ich dich, und du warst wie ein verängstigtes kleines Tier, hocktest bis zum Morgengrauen an der Dachrinne, weil du jedesmal, wenn du einschliefst, schreiend auf wachtest . . . » Die Stimme des Indianers verebbte. Jetzt war es heraus. Meine Gedanken wanderten zurück. Des halb also all die unerklärlichen Wanderungen, das ziellose Um herschweifen im Land . . . Ems Fluchtversuche, Em auf der Flucht vor mir. Vor mir, dem einzigen Fehler in seinem freien, einsamen Leben. Ich dachte an die Tage nach seiner Rückkehr, an die Qual und den Haß in seinen Augen. Nie hatte ich geahnt,
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daß der Grund dieser Qualen, der Gegenstand dieser furchtba ren, kaum beherrschten Wut. . . Schlagartig wurde ich in die Gegenwart zurückgerissen. Ich sah durchs offene Fenster die Lichter des Ape Yard, die in trügeri schem Frieden heraufblinkten, und Panik ergriff mich. Ich sah in aller Deutlichkeit die Katastrophe kommen, und ich sah voraus, daß Em, der unschuldige Em, der zu keiner der streitenden Parteien gehörte, das Opfer sein würde. Und dafür war ich verantwortlich. Ich mußte ihn dazu bringen, daß er verschwand - aber so, daß er von selbst ging, seinem Instinkt folgend, denn das war seine einzige Chance. Ich klammerte mich an den Tisch, der zwischen uns stand, bemüht, meine Stimme zu beherrschen. «Na, meinetwegen», sagte ich. «Du hast mir geholfen, aber du hast mich auch ausgenutzt. Jetzt sind wir quitt. Geh nur, hau ab!» Em hob den Kopf und sah mich an. «Du hast mich ausgenutzt, Em. Als du das letzte Mal zurück kamst, hab ich's dir gesagt: ich brauche dich nicht. Aber du hängst immer noch hier rum. Und zwar deshalb, weil du nicht fortgehen willst. Ich war dir nur eine Ausrede!» Langsam straffte er sich. Bitterkeit und Schmerz verzerrten seine Züge. Er verstand nicht. «Du hast einen Fehler gemacht, Em. Du bist bequem gewor den. Bestimmt war's nicht leicht, draußen auf der Straße, einer allein im Kampf gegen die ganze Welt, nur um du selbst zu bleiben. Aber hier im Ape Yard war's bequem. Du hattest einen Schlafplatz, deinen gedeckten Tisch und kaum Ärger. Keiner legte sich mit dir an. Du hast aufgehört zu kämpfen. Wie lange ist es her, daß du an einer richtigen Rauferei beteiligt warst? Was ist mit dir los, hast du dich kleinkriegen lassen? Hast du den Mut verloren? Sicher, du bist gegen Bobo aufgestanden, weil du alle die Weißen hinter dir wußtest! Aber seither versteckst du dich. Du hast keinen Mut mehr, nicht wahr? Du hast Angst, wieder der alte Em zusein!» Er kam auf mich zu, aber er beherrschte sich. Sein zornrotes
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Gesicht schwebte über mir, er bebte, seine Hände ballten sich zur Faust und öffneten sich. Ich ging um den Tisch herum, beobachtete ihn. «Na, los, hau ab, kein Mensch hält dich hier zurück. Weißt du, warum der Collie oben in der Straße dich so gehaßt hat? Er hat wahrscheinlich gespürt, daß du frei warst. Aber du bist genauso gefangen wie er hinter seinem Zaun. Du hast gebellt und gekläfft und viel Lärm gemacht - nur daß für dich die Tür immer offen stand! Hau ab, wenn du noch den Mut hast.» Ich packte seinen Seesack und schleuderte ihn ihm ins Gesicht. «Lauf, kneif den Schwanz ein und lauf, du alter, geprügelter Hund!» Mit einem wilden Schrei stieß er den Tisch zur Seite. Der Fluchtweg zur Tür war mir abgeschnitten, und der Indianer kam drohend und mit häßlich verzerrtem Gesicht auf mich zu. Ich wich zurück, suchte nach einem Ausweg. Ich saß in der Falle. «Immer schön langsam, Mann!» Em wirbelte herum und blieb wie angewurzelt stehen. Es war ein junger Neger mit einem nietenbeschlagenen Gürtel. Er hielt eine doppelläufige Schrotflinte in Anschlag. Hinter ihm kam noch ein anderer herein, ein kleiner Dicker mit einem gutmütigen schwarzen Santa Claus-Gesicht. «Sieh mal an, sieh mal an», sagte Bubba White. Em richtete sich auf. Der Bluthund trat einen Schritt vor und hob die Waffe an die Schulter. Beide Hähne waren gespannt. «Nun mal ganz ruhig, Em», sagte Bubba White. «Ernie hat erst seit gestern einen neuen Schießprügel, und er brennt darauf, ihn auszuprobieren.» «Was willst du von mir, Bubba?» «Du sollst einfach nur mit zu mir kommen. Wir setzen uns an meine Bar und trinken einen.» «Schön, sehr gern, Bubba, aber wie ich dem Jungen eben erklärt hab: es wird Zeit für den alten Em, sich wieder mal die Welt anzusehen.» «Ach . . . reiß dir kein Bein aus, Em. Wozu plötzlich die Eile? Du hättest vor ein, zwei Wochen gehen sollen, ehe du deine Nase in Sachen reinsteckst, die dich nichts angehen. Jetzt haben 408
einige Leute großes Interesse daran, daß du bleibst . . . Und ich soll dafür sorgen.» «Lassen Sie ihn doch gehen, bitte», sagte ich. «Er wird be stimmt nicht . . . » Bubba White schlug mich auf den Mund und schob mich in die Ecke. «Du bleibst da stehen und hältst das Maul! Und laß dir nicht einfallen, wegzurennen. Das Haus ist von meinen Leuten umstellt.» Damit trat er auf Em zu und zog eine lange Kette mit ein paar Vorhängeschlössern aus der Tasche. «Sei vernünftig, Em, und komm mit, bis alles vorbei ist. Was mischst du dich auch dauernd in Sachen ein, die dich nichts angehen?» «Und was dann?» fragte Em. Er blickte besorgt zu mir herüber. Ganz vorsichtig und ganz langsam griff ich nach dem Hühner fänger in der Ecke. «Dann werden wir weitersehen», sagte Bubba White. Er ließ Em nicht aus den Augen. «So, und jetzt streck deine Pfoten vor. Und keine faulen Tricks, Em. Mir zuliebe.» «Uh-hah», brummte Em. «Uh-hah.» Jetzt schwebte die Drahtschlinge direkt über dem Kopf des Bluthunds. Ich ließ sie fallen und warf mich mit aller Kraft zurück. Em sprang geduckt zur Seite. Die erste Schrotladung zersiebte die Sperrholzwand und das Fenster und zerschmetterte das Aquarium. Ems Faust krachte gegen Bubba Whites Brust, Bubba torkelte japsend gegen den Bluthund - und beide gingen polternd zu Boden. Der zweite Schuß fegte die Lampe vom Tisch und zersplitterte alles Geschirr im Regal. Finsternis, klirrende Scherben. Dann hörte ich die Falltür auf klappen und gleich darauf einen dumpfen Aufprall unten in der Garage. Im nächsten Moment ließ der dröhnende Motor die Wände beben. «Achtung, er kommt!» brüllte Bubba White aus dem Fenster. «Er kommt!» Hastende Schritte vor der Garage, dann das Knarren des auf schlagenden Tors und die Schreie der zur Seite springenden, übereinander stolpernden Männer. Ich spähte durchs Fenster 409
und sah das Motorrad in ratternden Sprüngen auf die Pension zu rasen, jetzt krachte es durch die Hecke und wendete schleudernd unter der alten Weinlaube. Bruch. Aufheulend bäumte sich die Maschine unter Em Jojohn, der sich geduckt an den Lenker klammerte, aber die Ausfahrt zur Straße war von parkenden Autos verstellt. Scheinwerfer flammten auf, Männer sprangen vor, fuchtelten mit den Armen. Em Jojohn bremste, riß die Maschine herum, und der kreiselnde Anhänger jagte die Männer auf die Kotflügel ihrer Autos. Mit Vollgas raste die Maschine wieder über den Hof . . . Schatten flüchteten vor ihr ins Ge büsch. Es war, als sei das alte Benzinroß zu eigenem Leben erwacht. Ein sich aufbäumendes, angreifendes Tier, unberechen bar, so schoß es unter den Obstbäumen hervor, kreischte gefähr lich krängend an den Ziegelsteineinfassungen der Blumenbeete entlang, walzte splitternde Büsche nieder und wirbelte Garten stühle durch die Luft, scheute vor den von allen Seiten zugreifen den Händen zurück und entwischte immer wieder wie durch Zauberei der sicheren Katastrophe. Dann wendete die Maschine, kam rauschend durchs Unterholz und kurvte ein paarmal vor der Garage. «Wuh-huh, wuh-huh», sang der Indianer im Wind. Und schon waren Bubbas Männer da, rückten im Halbkreis von allen Seiten heran, aber Em Jojohn riß das Motorrad herum, jagte knapp an der Garage vorbei und tauchte in den Graben hinab. Gerade noch rechtzeitig sprang ich auf das Schuppendach und sah, wie er, hoch über dem Sattel schwebend, die Böschung hinab schoß, unten hart aufstauchte und schleudernd den Gegenhang nahm, die Kante erreichte und, scharf rechts haltend, durch die Büsche krachte. Im nächsten Moment donnerte er über die mond helle Lichtung und entschwand in den Gassen des Ape Yard. «Laßt ihn laufen!» brüllte Bubba White. «Nur keine Verfol gung. Hat schon zuviel Radau gegeben! Fangt euch den Jungen.» Hinter mir tauchte Ernie auf dem Schuppendach auf und stieß mich grob hinunter, in die wartend ausgestreckten Hände der Männer. «Und jetzt keine Faxen mehr», sagte Bubba White, «sonst stech ich dich ab wie ein Schwein!»
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Die Männer schleppten mich zu einem der Autos, und jetzt sah ich auch, warum der nächtliche Aufruhr nicht die Alten auf den Plan gerufen hatte: stumm saßen sie um den Tisch im Salon. Einer der Bluthunde, das Gewehr im Anschlag, winkte Bubba White und zog den Fensterladen zu. Am Hügel blinkten nur einzelne gelbe Lichter, aber Mr. Teagues Haus war hell erleuchtet. Ringsumher herrschte tödliche Stille -da war nichts von der gewohnten Freitagabendfröhlichkeit. Man sah keine Passanten, keine Autos in der Straße. Bubba White führte uns über die hintere Treppe in Mr. Teagues Küche. Einer von Doc Bobos Bluthunden ließ uns ein. Ich wurde durch die Küche und den Flur und ins vordere Wohnzim mer gestoßen. Das erste, was ich sah, waren Jayell und Phaedra, die gefesselt und geknebelt auf Mr. Teagues Bett lagen. Mr. Teague hockte neben Tio auf dem Sofa, und hinter beiden stand ein Bluthund und drückte ihnen eine Pistole ins Genick. Doc Bobo saß im Lehnstuhl und stützte das Kinn auf seine manikürten Fingerspit zen. Hinter uns fiel die Tür leise ins Schloß. Ich drehte mich um und blickte in Clyde Fays Gesicht. «Ich habe doch gesagt, keinen Lärm», fuhr Doc Bobo Bubba White an. «Ich kann nichts dafür! Und der Indianer ist entkommen ...» «Was?!» «Dank dem da», sagte Bubba und stieß mich vorwärts. «Sieh mal an, die kleine Speicherratte!» Doc Bobo rieb sich die Nase. «Wie gut, ihn wollte ich haben.» Ich wunderte mich, daß er lächelte. «Der Indianer ist nicht so wichtig», sagte er. «Wie ich ihn kenne ist der inzwischen längst in Carolina.» Er beugte sich vor und sah Bubba scharf an. «Und die Alten?» «Die sind für die Nacht sicher untergebracht.» Doc Bobo nickte befriedigt. «Fein.» Er stemmte sich aus dem Sessel und blickte in die Runde. «Und jetzt, Mr. Teague, können wir beide hoffentlich das Geschäftliche hinter uns bringen.» Er knöpfte sein Jackett auf und zog einen Packen Papiere aus der
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Brusttasche. «Auf diesen Verträgen fehlt nur noch Ihre Unter schrift, dann sind wir miteinander fertig.» Er hielt ihm einen Füllfederhalter hin. Mr. Teague blieb sitzen und starrte zu Boden. «Seien Sie vernünftig, Mr. Teague. Ich will Sie von all diesen Sorgen befreien. In Ihrem Alter soll ein Mann sich ausruhen, seinen Lebensabend genießen.» Mr. Teague blickte auf. «Und dich, du lausiger Nigger, soll der Teufel holen.» Doc Bobo holte aus und schlug dem alten Mann mit dem Handrücken ins Gesicht. «Jetzt ist's genug! Du verdammter weißer Lump - mit dir werde ich nicht mehr meine Zeit vergeu den! Fay!» Clyde Fay tänzelte durchs Zimmer, packte Tio am Hals und hob ihn wie einen jungen Hund in die Luft. Er hielt ihn am ausgestreckten Arm und ließ ihn zappeln. Ich wollte mich auf ihn stürzen, aber harte Fäuste hielten mich fest. Als Mr. Teague aufspringen wollte, stieß Bobo ihn brutal aufs Sofa zurück und hielt ihm die Formulare unter die Nase. «Unter schreiben Sie, oder dem Jungen wird das Genick umgedreht wie einem Huhn! Und Sie dürfen zuschauen!» Mr. Teague, kalkweiß wie die Wand, legte die Papiere auf seinen Knien zurecht. Er nahm den Füllfederhalter und kritzelte seine Unterschrift hin. «Alle fünf Kopien.» Doc Bobo lächelte. Er stemmte die Fäuste in die Hüften und sah zu, wie der alte Mann die Urkunden unterschrieb. Tio strampelte und rang nach Luft. «Schade, daß ich nicht früher auf die Idee gekommen bin», sagte Bobo. «Das hätte uns allen eine Menge Scherereien erspart.» Mr. Teague unterschrieb die letzte Kopie und gab die Papiere Bobo. «Jetzt lassen Sie ihn um Gottes willen runter.» Sorgsam prüfte Doc Bobo die Unterschriften. Dann wandte er sich Clyde Fay zu und nickte. Fay ließ Tio zu Boden fallen. Mr. Teague sprang auf und lief auf Tio zu. Aber als er an Doc Bobo vorbeikam, sah der Bestattungsunternehmer augenzwinkernd Clyde Fay an. Starr vor Entsetzen sah ich, wie Fays Hände sich um den dürren 412
Hals des Alten schlössen. Er wirbelte ihn hoch und schleuderte ihn mit voller Wucht gegen die Wand. Wie eine zerstörte Gliederpuppe lag Mr. Teague am Boden. Um seinen Köpf breitete sich eine Blutlache aus. Ich konnte mich nicht rühren. Nach einem Augenblick ging Tio zu ihm hin und kniete sich neben ihn. Er hob den blutenden Kopf des Alten, drückte ihn an sich und beugte sich murmelnd über das kleine, eingefallene Gesicht. «Sie haben ihn ermordet! Warum?» schrie ich Doc Bobo an. «Ermordet? Wieso ? Der alte Herr ist die Treppe runtergefallen. Das kommt häufig vor. So wie es vorkommt, daß Jungen, die sich viel in der Gegend rumtreiben, eines Tages als Skelett in einem verlassenen Bachbett oder einem alten Brunnen aufgefun den werden. Und jetzt - schafft sie raus!» Tio und ich wurden gepackt und zur Tür geschleppt. Doc Bobo beugte sich über Jayell und Phaedra, die hilflos auf dem Bett lagen. «Keine Sorge, Ihnen beiden soll nichts geschehen. Sie und die Alten aus der Pension sollen lediglich ein ruhiges Wochenende verbringen, bis die Jubiläumsfeierlichkeiten vorbei sind. Dann können Sie ge hen, wohin Sie wollen - und erzählen Sie, was Sie wollen.»
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Still, wie mit angehaltenem Atem, lag der Ape Yard im rauchigen Morgenlicht. In der Nacht hatte es geregnet, und als die ersten Sonnenstrahlen durchs tropfnasse Laub der Bäume am Fluß funkelten, hingen im Süden noch schwere schwarze Wolken. Lautlose Blitze leckten über den Himmel. Doc Bobos Stimme hallte durch die Stille. «Holt sie raus, holt sie alle raus!» Tio und ich standen neben ihm auf den Stufen des Rainbow 413
Club. Wir sahen, wie seine Bluthunde von Haus zu Haus gingen, Türen mit Fußtritten aufstießen, Befehle brüllten, Menschen wie Vieh auf den Straßen zusammentrieben. Wir sahen, wie die Leute zögernd und verängstigt ins Freie stolperten, wie sie sich unter den sausenden Ledergürteln der Bluthunde duckten, wie sie sich über Trampelpfade und sandige Hänge auf uns zu be wegten, Hunderte, alte Menschen, verschlafene Kinder, die auf unsicheren Beinchen vorwärts tappten, Familien, die sich furcht sam aneinander klammerten, Männer und Frauen, die ihre ärmli chen Hütten verließen und sich durch Unkraut und Gestrüpp einen Weg bahnten. Von allen Seiten kamen sie herbei, standen dann wartend im rötlichen Frühlicht, unter den ersten Rauch fahnen, die aus den Schornsteinen der Hütten aufstiegen und langsam über die Hügel wehten. Die Bluthunde kamen zum Rainbow Club zurück und versam melten sich im Hof und auf der Veranda, ein gutes Dutzend kräftige, böse aussehende Kerle. Bei manchen zeichnete sich deutlich das Schulterhalfter unter der Jacke ab. Jenseits der Straße kamen jetzt noch zwei weitere den Hügel herab; sie trieben die Jungen aus Jayells Werkstatt vor sich her: Carlos, Skeeter, Jackie James und Willie Daniels. Simon und Loomis schleppten gemeinsam Speck Turner, der eine blutende Wunde am Kopf hatte. An der Straßenböschung mußten sich alle unter den Gürtelhieben der Bluthunde hinknien. Doc Bobo wartete, bis alles schwieg. Ich schielte zu Tio hinüber. Er blickte vor sich auf den Boden. Er schien alles, was hier geschah, kaum wahrzunehmen. Doc Bobo stellte sich auf die oberste Treppenstufe und erhob die Stimme. «Habt ihr geglaubt, Leute», rief er, «ich würde so leicht aufge ben? Habt ihr geglaubt, irgend jemand, ob schwarz oder weiß, könnte Doc Bobo aufhalten? Ich werde es euch zeigen! Ich werde euch zur Vernunft bringen!» Er zog die von Mr. Teague unterschriebenen Papiere aus der Tasche und schwenkte sie hoch über seinem Kopf. «Dies ist ein rechtskräftig unterschriebener Kaufvertrag - für das Grundstück, das Alvah Teague gehört hat.» Er wartete, bis das Gemurmel wieder verstummte. «Und 414
noch am heutigen Vormittag habe ich die Ehre, einem Anlaß von größter Bedeutung für unsere Stadt beizuwohnen, nämlich der offiziellen Feier zum hundertjährigen Bestehen unserer GranitIndustrie. Und bei dieser Gelegenheit werde ich unseren promi nenten Gästen als das erste schwarze Mitglied des Verbands der Granit-Unternehmer von Quarrytown vorgestellt. Am Montag früh werden wir dann einen neuen Steinbruch in Betrieb nehmen, direkt hier im Ape Yard, nicht weit vom ersten Steinbruch in unserer Gegend. Und es wird zugleich der erste in der Geschichte der Granit-Industrie sein, der einem Schwarzen gehört!» Doc Bobo schob die Papiere in seine Tasche. «Wahr lich, ein bedeutsamer Augenblick! Und als erstes werden wir am Montagmorgen den Laden abreißen und -» er drehte sich um und deutete zum Wolf Mountain hinauf - «diese lächerlichen Bauten dem Erdboden gleichmachen! Wir werden die Einmi schung von Fremden hier im Ape Yard nicht länger dulden! Doc Bobo ist euer Freund und Beschützer. Euer einziger Freund! Mögen sie in Washington ihre Gesetze machen, mögen sie uns ihre Versprechungen machen - hier wird es ihnen nicht mehr gelingen, falsche Hoffnungen zu wecken! Wie war es denn mit der Sklavenbefreiung? Angeblich gaben sie uns die Freiheit, bevor es eine Granit-Industrie in dieser Stadt gab. Das ist über hundert Jahre her!» Er ließ den Blick über die Menschen vor ihm schweifen. «Sind wir etwa frei? Zehntausende von Grabsteinen haben wir aus dieser steinigen Erde gehauen. Aber wenn wir jedem Versprechen, das der weiße Mann uns gegeben und gebro chen hat, einen Grabstein setzen wollten - sie würden nicht ausreichen! Die Weißen machen ihre Gesetze für ihre eigenen Zwecke - nicht für euch und nicht für mich. Wir hier im Ape Yard leben noch, weil wir uns unsere eigenen Gesetze gemacht haben. Weil wir für uns selbst gesorgt haben! Die Alten unter euch wissen, was ich meine. Sie haben Besseres zu tun, als sich an falsche Hoffnungen zu klammern. »Er machte eine Pause und blickte über die Straße hinweg auf die Böschung, wo die Jungen aus der Werkstatt im Gras knieten, und dann auf Tio, der vor ihm auf den Stufen stand. «Es sind die Jungen, die immer wieder auf den Traum hereinfallen. Aufgewachsen in dem 415
Frieden, den Doc Bobo euch allen brachte, wissen sie nichts mehr von den Zeiten, als unschuldige schwarze Männer auf dem Marktplatz gelyncht und verbrannt wurden. Sie wissen nichts mehr von den nächtlichen Reitern, die durch den Ape Yard galoppierten und nur zum Spaß in die Fenster schössen. Sie wissen nichts mehr von diesen Schrecken, weil so etwas heute nicht mehr vorkommt! Dank Doc Harley Bobo! Die Jungen sind bereit, sich über die Rassenschranken hinweg zusetzen, ja einen Schwarzen gegen seine Brüder aufzuhetzen -wie diese zwei hier! Das zeigt uns, wohin wir kommen, wenn wir so etwas einreißen lassen . . . Ein schwarzer Junge, von einem Weißen erzogen, verzogen und verführt durch eines weißen Mannes Lügen, ein geborener Unruhestifter, eine Schande für sein Volk - und ein armseliger weißer Junge, der sich einbildet, seine lilienweiße Haut sei eine Auszeichnung, die ihm das Recht gibt, jeden Menschen anzugreifen und zu demütigen, gleichgültig, welchen Rang oder welche Stellung er innehat, sofern nur seine Haut zufällig schwarz ist. Dergleichen werden wir im Ape Yard nicht mehr dulden! Und das will ich euch jetzt zeigen, ihr Jungen!» Er winkte die Bluthunde herbei, und sie kamen die Stufen zur Veranda herauf und schnallten sich ihre nietenbeschlagenen Gürtel ab, während sie in das Lokal hineingingen. «Ich will euch das ein für allemal zeigen, und wenn wir die Sache hinter uns haben, ziehen wir alle gemeinsam in die Stadt hinauf und nehmen an der Jubiläumsfeier teil. Ich erwarte, jedes schwarze Gesicht aus diesem Tal oben auf dem Marktplatz zu sehen und euch jubeln zu hören, wenn Doc Bobo für euch alle seinen Ehrenplatz einnimmt. Und sollten unter euch welche sein, die weiterhin Unruhe stiften wollen, so rate ich ihnen: Seht euch die zwei hier an, und seht euch die Kerle an, die da drüben knien - wenn wir mit ihnen abgerechnet haben! Und wenn sie euch künftig auf der Straße begegnen, schaut sie an und erinnert euch!» Doc Bobo. drehte sich um und wandte sich an die Männer im Innern des Lokals. «Macht die Fenster auf, damit sie alle es hören und nehmt euch Zeit!» Ja, so war er immer. Er scheute das Licht. Nur die gequälten
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Schreie sollten die Menschen hören - und mitnehmen, wenn sie anschließend folgsam zur Stadt hinaufgingen und wenn sie sich am Abend zu Bett legten. Die gequälten Schreie sollten in ihren Ohren gellen und in ihren Phantasien, ihren Angstträumen Bo bos Werk vollenden. Doc Bobo war ein Meister. «Den schwarzen Jungen zuerst!» bellte er. Clyde Fay packte Tio am Arm und zerrte ihn durch die Tür. Zwei Bluthunde bezogen auf beiden Seiten der Veranda Posten und spielten lässig mit ihren Pistolen. Ein dritter stand wartend bei der Tür. Totenstill war es im Ape Yard. Die Sonnenstrahlen, die jetzt in breiten Bahnen durch den Morgennebel brachen, wurden von den erzhaltigen Geröllhalden zurückgeworfen und tauchten das ganze Tal in rötliches Licht. Als keine Bewegung, kein Laut mehr an den Hängen wahrzu nehmen war, wandte Doc Bobo sich dem Bluthund an der Tür zu und nickte. Der Bluthund übermittelte das Zeichen nach drinnen. Im nächsten Moment begannen die Schreie. Tiefe und dann schrille, gellende Schreie, deren Echo von den Hängen der Berge zurückhallte und durch das Tal schallte. Und dann wurde mir klar, daß diese Schreie nicht aus dem Rainbow Club kamen, sondern von anderswoher. Einzelne in der Menge reckten die Köpfe, deuteten mit den Armen nach oben. Doc Bobo beugte sich über das Geländer und blickte zur Bergflanke am Rand des Ape Yard hinauf.
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Dort oben, hinter den letzten Häusern, huschte ein massiger Schatten durch das rötliche Licht, jagte über die Hänge, setzte in gewaltigen Sprüngen über Wassergräben, kam wie eine urzeit liche Bestie talwärts gestürmt und stieß dabei diese gellenden, unmenschlichen Schreie aus. Köpfe reckten sich aus den Fenstern des Lokals. Der am hinte ren Ende der Veranda aufgestellte Bluthund erholte sich von seinem Schock, hob seine Pistole und zielte. Doc Bobo fiel ihm in den Arm. «Nicht schießen! Nein, nicht schießen!» Und der Indianer kam näher, springend, über Lehmhalden abwärts schlitternd. «Haltet ihn fest, laßt ihn nicht durch!» brüllte Doc Bobo in die Menge, die erschreckt zur Seite wich. Aber Em Jojohn beschleunigte sein Tempo, raste durch die letzten Gärten und stieß die furchtsam und zögernd nach ihm greifenden Hände beiseite. Er brach durch das Dickicht am unteren Hang, sauste eine hohe Böschung herab, stürzte, überschlug sich, sprang wieder auf und rannte weiter, ein khakibrauner Schimmer zwischen den Krüp pelfichten. Er schlug einen Bogen um den Sumpf neben dem Rainbow Club, patschte durchs raschelnde hohe Schilf, kündigte mit heiserem Gebrüll sein Kommen an. Die Bluthunde drängten sich in der Tür. Doc Bobo warf einen flüchtigen Blick auf sie. Er winkte den Mann vom anderen Ende der Veranda heran. «Cannie!» Er befahl ihm, seine Jacke um den Pistolenlauf zu wickeln. Nervös blickte er in Richtung der Stadt. «Nur einen Schuß!» zischte er, den Finger erhoben. «Nur einen Schuß!» Der Mann hockte sich hin, stützte den Ellbogen aufs Knie und zielte. Jetzt kam Em Jojohn aus dem Schilf heraus. Der Bluthund senkte das Kinn, kniff ein Auge zu, und in diesem Moment wirbelte ich herum und warf mich auf ihn. Ein Schuß krachte.
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Der Indianer kam über den Hof gerannt, immer noch brüllend, nahm mit einem Sprung die Treppe zur Veranda und stürzte sich auf die Männer. Möbel splitterten mit Getöse. Ich hatte mich freigestrampelt, flüchtete mich hinein und beob achtete, wie der wütende Bluthund mir nachkam und gleichzeitig zögerte, sich in das Getümmel zu begeben. Dann sah ich durch das Fenster, wie Doc Bobo den beiden Männern auf der Veranda einschärfte, die Menge in Schach zu halten. Auf dem Tanzboden der ehemaligen Mühle tobte ein wilder Kampf. Und mitten in dem Gewühl von Armen und Beinen wehrte Em die wütend angreifenden Bluthunde ab, die ihn mit kehligen Lauten immer wieder anfielen. Es war, als würde der Indianer von einem vielarmigen Ungeheuer verschlungen. Aber er war auf der Hut, rollte weg, wich den von allen Seiten über ihn herfallenden Gegnern aus. Tische stürzten um, Gesichter blitzten in den schräg einfallenden Sonnenstrahlen auf. Plötzlich stieß ein Mann einen quiekenden Schrei aus, wie ich ihn bisher nur auf dem Schlachthof gehört hatte. Em Jojohn richtete sich auf. Er bot einen unheimlichen Anblick. Wütend, wie ich ihn noch nie gesehen hatte, kämpfte er, wie ich noch nie einen Menschen hatte kämpfen sehen. Die Angreifer um einen Kopf überragend stand er mit dem Rücken zur Bar und bewegte seinen mächtigen Körper in einem gleichmäßigen zerstörerischen Rhythmus, sein Kopf wippte, seine Füße suchten tänzelnd Halt, seine Fäuste trafen wie Dreschflegel auf die Köpfe unter ihm. Und immer wieder bran dete die Meute heran, warfen die Männer sich auf ihn. Andere stolperten über die hingestreckten Bluthunde, die sich am Boden wälzten und vor den Stiefeln davonzukrabbeln ver suchten; sie stürmten auf ihn ein, drängten sich heran und kämpften jetzt nicht mehr auf Befehl, aus Angst vor Bobo, sondern im Namen der nackten Gewalt: Ein Bluthund sprang hinter der Bar auf und schmetterte einen hölzernen Eiskübel, der neben Em Jojohns Kopf niederging. Der Indianer fuhr herum und trieb seine Faust zwischen die Rippen des Mannes. Ein anderer mit entstelltem Kinn, der wie
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ein Irrer kreischte, versuchte über die Rücken der anderen hin weg seine Schwinger zu landen. Jojohn erspähte ihn und zer schlug ihm die Fratze. Er torkelte gegen die Musikbox und riß sie mit sich zu Boden . . . Em hing das Hemd in Fetzen von den Schultern, über seinen Fingerknöcheln war die Haut aufgeplatzt, man sah die weiß schimmernden Knochen. Das rechte Auge war zugequollen, das Haar von Schweiß und Blut verklebt, aber noch immer wiegte er sich in seinem sonderbaren Kriegstanz hin und her, schlug mit den Fäusten die Köpfe der Männer weg, wie er in Dirseys Kneipe die Bierflaschen weggekickt hatte. Einer nach dem ändern sackten sie zusammen und krochen blutend vom Kampfplatz, auf der Flucht vor den hämmernden Fäusten und den stampfenden Stiefeln. Aber auch Em zeigte erste Anzeichen von Schwäche. Er mußte jetzt mehr Schläge einstecken, taumelte öfter betäubt zurück. Aber immer wieder stieß er sich von der Bar ab und warf sich in neuem Zorn auf die übriggebliebenen Männer. Brüllend und fluchend kämpfte er weiter. Zuletzt waren nur noch zwei Männer übrig, brutale, erfahrene Straßenkämpfer, rücksichtslose Schläger. Sie tänzelten vor und zurück, trugen abwechselnd Finten und Treffer vor, versuchten Em zu ermüden. Aber noch immer stand er hoch aufgerichtet vor ihnen. Kaum auf Deckung bedacht, fixierte er sie mit dem gesunden Auge und wehrte sie mit harten Hieben ab. So ging es mehre Minuten lang. Ems Kraft und sein Wille erlahmten. Er sackte leicht zusammen, zuckte zurück unter strafenden Fäusten, doch dann sprang er wieder mit seinen Schwingern vor. Er torkelte, suchte das Gleichgewicht zu halten, schlug zu. Schließlich ging der Mann links vor ihm in die Knie und stützte sich mit den Händen ab. Em Jojohns Stiefel traf ihn mit solcher Wucht in den Bauch, daß er ein Stück vom Boden abhob. Aber der von rechts angreifende Neger, ein massiger, untersetzter Mann mit der Statur eines Ringers, pendelte vor und zurück, grinste brutal und stumpf vor sich hin und schüttelte Ems Fäuste ab, als kenne er keinen Schmerz.
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Em steckte knurrend die trockenen Schläge ein. Er selber konnte nur noch gelegentlich einen Treffer landen, doch dann zeigten das dumpfe Aufprallen seiner Fäuste und das Taumeln seines Gegners, welche Wucht noch dahintersteckte. Der andere aber trommelte unbeirrt drauflos, immer in Ems Magengrube, und der Indianer stand wie angewurzelt und ließ den Trommelwirbel über sich ergehen. Er wich nicht zurück. Er gab nicht auf. Und dann endlich ließ die Kraft des angreifenden Negers ein wenig nach, der Rhythmus seiner Schläge stockte, die Wut war jetzt gedämpft - und als Em dies bemerkte, erwachte etwas in ihm zu neuem Leben. Auf diesen Moment hatte er gewartet. Da war wieder das wilde Funkeln in seinen Augen, das Aufflackern unbändiger Lust. Er straffte sich, seine Fäuste fuhren wie Rammen in den Leib des Gegners. Der Neger taumelte, kippte nach vorn, griff nach vorn, griff nach dem Indianer, um ihn im Fallen mit zu Boden zu reißen. Em stieß den Arm unter sein Kinn, bäumte sich auf und brach ihm das Genick. Er ließ den schlaffen Körper zu Boden gleiten. Verwundert blickte er über die am Boden liegenden Gestalten hin. Er wandte sich zur Tür, hielt inne, umklammerte den Pfosten, sank in die Knie. «Em, paß auf!» Es war Tio, der um sich schlagend hinter der Treppe hervorkam. Taumelnd stürzte er zu Boden. Ein Schatten löste sich aus dem Dunkel des Treppenhauses, glitt durch den Raum, verharrte vor dem knienden Indianer. Em hob den Kopf, blinzelte, wischte sich das Blut aus den Augen. Vor ihm stand Clyde Fay, ein Grinsen um die hart zusammen gepreßten Lippen. Em stöhnte und versuchte sich aufzurichten. Ein schwerer Stiefel krachte gegen sein Kinn und streckte ihn zu Boden. Wieder wollte er sich aufrappeln, aber Fay umfaßte den Türpfosten und versetzte Em einen mörderischen Fußtritt. Der Indianer flog durch die Tür und schlug rücklings auf die Bohlen der Veranda. Und schon war Fay über ihm. Wieder schnellte sein Stiefel vor, aber diesmal konnte Em ihn mit der Armbeuge abfangen. Mit
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einem gezielten Tritt gegen das andere Bein brachte er Fay zu Fall. Von der murmelnden Menge her kamen jetzt Entsetzensschreie und anfeuernde Rufe. Fay rollte sich weg, sprang auf und schaute zu, wie Em sich mühsam am Geländer hochzog. Dann schnellte sein Arm vor, und ein langer, blutiger Schnitt klaffte in Ems Wange. Der Indianer blickte überrascht auf, fuhr sich mit dem Handrücken darüber, und jetzt erst schien er das Messer in Fays Hand zu bemerken. Wieder schnellte Fay vor, und von Ems Schulter sickerte Blut herab. Fay trieb ihn kreuz und quer über den Hof, schnitt ihm immer wieder den Weg ab. Em versuchte, dem blitzenden Messer aus zuweichen, aber Fay war zu schnell, war ein Experte. Und jedesmal, wenn die Klinge aufblitzte und neue Wunden in der rötlichen Haut hinterließ, brüllte der taumelnde Indianer laut auf. Fay umkreiste ihn tänzelnd, sprang vor und zurück, wich Ems plumpen Schlägen aus. Immer das maskenhafte Grinsen um die zusammengepreßten Lippen, genoß er das Spiel und dehnte es aus. Ein verzweifelter Schrei, Em schwankte zurück und preßte die Hand an seine blutende Kehle. Fay stampfte mit den Absätzen auf. Ein kleiner Freudentanz: das Spiel mit dem Tod erregte ihn. Em starrte auf die langsam vor ihm kreisende Klinge, die von seinem Blut troff. Der ungleiche Kampf zermürbte ihn. Er fuhr sich mit dem zerfetzten Ärmel über sein blutverschmiertes Ge sicht. Fay sprang geduckt vor und zog den Dolch quer über Ems Oberschenkel. Dann blickte er stolz in die Runde und wieder auf sein Opfer. Seine Augen glänzten vor boshafter Lust. Em stand da und erwiderte seinen Blick. Aber irgend etwas veränderte sich in seinem Gesicht. Dann hob er den Kopf, straffte sich, fixierte den Schwarzen mit seinem heilen Auge und bewegte sich langsam auf ihn zu. Fay wich mit federnden Schritten zurück. Aber der Indianer ging unbeirrt weiter. Den Blick auf das Messer gerichtet, die Arme locker herabhängend, kam er näher. Fay nutzte die Chance. Eine blutige Spur zog sich über Ems
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Stirn. Aber Em schüttelte nur den Kopf und schob sich weiter vorwärts. Fay tanzte leichtfüßig rückwärts, beobachtete verwirrt, wie der Indianer sich auf ihn zu bewegte, blieb auf den Zehenspitzen wippend stehen. Em drängte ihn weiter, über den Hof und in den Schatten des Restaurants. Als Fay mit dem Rücken das Veranda geländer berührte, erstarrte er. Das Grinsen fiel von ihm ab. Em stand vor ihm, sprungbereit, alle Muskeln gespannt. Fay spähte nach einem Fluchtweg. Doch der Indianer hob die Arme, kesselte ihn ein, als triebe er ein wildes Tier in die Enge. Fay reagierte blitzschnell. Er duckte sich, federte hoch . . . und die Klinge blitzte herauf auf Ems Kehle zu. Diesmal wich der Indianer nicht zurück. Breitbeinig dastehend, ohne Fay aus den Augen zu lassen, ließ er die offene Linke flach herüberschnellen. Die Klinge bohrte sich bis zum Heft durch seine Hand. Er schloß die Faust um das in seinem Fleisch verankerte Messer, entwand es Fay, richtete sich hoch auf, zog pfeifend Luft ein und ließ mit voller Wucht seine Rechte wie einen Hammer auf Fays Schädel niedersausen. Der Neger sackte in sich zusammen, tot, noch ehe sein Körper die Erde berührte. Zitternd, verausgabt, hing Em über Fays Leiche. Er wandte sich ab und sank auf die Knie, die Augen geschlossen, das blutüber strömte Gesicht zum Himmel erhoben. Ringsum war Stille. Die Schreie der Menge waren verstummt. Der Indianer kniete auf dem sonnenbeschienenen Hof und rang keuchend, mit tiefen Atemzügen, nach Luft.
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Ich nahm eine verstohlene Bewegung auf der Veranda wahr. Es waren die beiden Bluthunde. Erschrocken schoben sie sich ans andere Ende der Veranda. Plötzlich sprangen sie über das Geländer und rannten die Straße zum Fluß hinab. Doc Bobo stand mitten auf dem Hof und blic kte erschrocken umher, auf den toten Fay, auf Jojohn, auf die zwei hinter der Straßenbiegung entschwundenen Gestalten. Dann hörte man ein Rascheln, leise zuerst, dann immer lauter. Er drehte sich um und erstarrte. Von allen Seiten kamen sie langsam die Hügel, die Böschung herab, durch Gestrüpp und dürres Gras, Hunderte von grauen Gestalten mit ausdruckslosen Gesichtern. Doc Bobo drehte sich panisch im Kreis. «Hört mich an!» schrie er. «Hört mich lieber an!» Stimmen wurden laut, ein Chor von Stimmen. Und die Schritte wurden schneller. Ein schwarz-braun gefleckter Hund geriet vor die heranrückende Menge, sprang ängstlich umher, raste bellend und winselnd im Kreis, bis er endlich einen Ausweg fand und flüchtete. Doc Bobo brüllte, schrie Befehle. Dann gab er plötzlich auf und stürzte zu seinem Wagen. Darauf stürmten die Menschen los. Brüllend fielen sie von allen Seiten über die Limousine her, hämmerten mit Steinen und Knüppeln auf das Blech, traten mit den Füßen dagegen und hieben mit den Fäusten gegen die Fenster und Türen. Der Conti nental senkte sich platt auf die Reifen unter dem Gewicht der Menschen, die auf ihn kletterten und ihn mit ihren Leibern begruben und wie wild darauf einschlugen. Und noch immer mehr kamen von den felsigen Hügeln herab. Der Motor heulte auf. Hilflos drehten die Reifen im Lehm. Und jetzt fingen die Leute an, den Wagen hin und her zu schaukeln. Immer lauter schwoll ihr Gebrüll an, immer lauter wurde das Hämmern. Ich versuchte, mich zu Em Jojohn durchzukämpfen. Ich wurde 424
hin und her gestoßen und fiel hin. Plötzlich war jemand neben mir, riß mich hoch. Es war Tio. Wir klammerten uns aneinander, versuchten uns aufrecht zu halten in dem Gewoge der Leiber, das uns näher an den Wagen heranschob. Ich sah, wie die grüne Limousine hochgehoben, gewendet und auf die ausgefahrene Straße geschleppt wurde. Die Masse durchquerte den Bach, die sumpfigen Wiesen, zog hinauf zur Hauptstraße des Ape Yard und weiter durch die kleineren Straßen, vorbei an den windschiefen, baufälligen Hüt ten, vorbei am Fletcher Bottom und die steileren Hänge hinauf. Und der Wagen schaukelte hinkend und holpernd über Schlag löcher und Fahrrinnen hinweg. Jetzt hörte man noch ein anderes Geräusch, das Trara und Bumbum der Kapellen, die vom Messegelände losmarschierten. In der Ferne sah ich Trompeten in der Sonne blitzen, die schim mernden weißen Stiefel und die mit Federn geschmückten Takt stöcke der Tambour-Majoretten. Traktoren zogen die Fest wagen. Jetzt schlug die Stimmung der Menge um. Sie begann im Takt der Musik zu marschieren, und einige sangen die Melodien. Fröhlich, ausgelassen, lachend und johlend zogen wie weiter . . . Carlos und Speck Turner tanzten auf dem schwankenden Blech dach. An der Cabbage Alley bog die Prozession von der Straße ab und schob sich die lange, flach ansteigende Geröllhalde zu dem rostigen Drahtzaun hinauf, der die alte Grube der Poncini Bro thers umgab. Die Schritte wurden schneller, der wacklige Zaun wurde niedergetrampelt. Als wir an den Rand der Grube kamen, rümpften viele die Nase und Frauen wandten das Gesicht ab. Es war ein säuerlicher Gestand, der in der Kehle brannte. Unser Leben lang hatten wir ihn gerochen, aber nie war er uns so stark, so faulig, so ekelerre gend vorgekommen. Ich schaute hinab in das finstere Loch. Die Sonnenstrahle n hatten es noch nicht erreicht. Ein Aufstöhnen ging durch die Menge - der grüne Continental ragte mit der Nase über den Abgrund. Hinter dem dicken, 425
getöntem Glas sah man Doc Bobos verzerrtes, schweißglänzendes Gesicht, starr vor Entsetzen. Jetzt rollten die Vorderräder über die Kante, funkenschlagend scharrte das Bodenblech überden Fels. Das Seitenfenster wurde heruntergekurbelt. Doc Bobo versuchte sich hinauszuzwängen. Der Wagen neigte sich vornüber, hing einen Moment in der Schwebe, und dann, ein letzter Stoß, und er kippte hinunter in die dunkle, stinkende Nacht der Grube. Dann der Aufschlag, ein klatschendes Geräusch, Wasser, das anden Felswänden hochschwappte und das ohrenbetäubende Geschrei der am Rand der Grube versammelten Menge. Skeeter beugte sich über den Abgrund und fuchtelte mit dem Arm. Alle starrten hinunter. Beklommenes Schweigen breitete sich aus. Tief unten im Dämmerlicht sahen wir ein dunkles, schreiendes, um sich schlagendes Etwas. Wie durch ein Wunder hatte Doc Bobo den Sturz überlebt und kämpfte sich jetzt durch den fauligen Schlamm, kämpfte wild um sein Leben. Erschrocken beobachteten wir, wie er sich an den Felswänden entlangquälte, hilflos an dem nackten Granit kratzte, bis zuletzt seine Kräfte erschöpft waren und sein Kopf im blasigen Morast versank. Ich spürte eine Hand auf meiner Schulter. Es war Tio. Er deutete auf etwas. Ich brauchte einige Zeit, bis ich den Indianer entdeckte, so klein wirkte er in der Ferne. Ich sah, wie er an dem Steilhang am anderen Ende des Tales hing. Langsam, mühselig zog er sich hinauf, tastete sich durch düstere Spalten, immer wieder mit den Füßen nach Halt suchend und nach Wurzeln oder Grasbüscheln greifend. Schweigend standen wir da und beobachteten, wie er sich Meter um Meter hinaufkämpfte, bis er den Grat erreichte und sich über die Kante ins Gras fallen ließ, dann wieder schwankend auf die Beine kam und sich wie ein verwundetes wildes Tier zum Waldrand schleppte.
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Es war kurz nach Sonnenaufgang. Jayell, Phaedra und ich standen vor dem fast fertigen Haus, in das die Alten einziehen sollten, und warteten, daß sie ihren Besichtigungsgang beendeten. Mr. Burroughs, in seinem besten Sonntagsanzug, schritt im Hof auf und ab und schaute auf seine Uhr. Mr. Rampey saß dösend in dem vollbeladenen Schulbus hinter dem Steuer. Eine Woche war vergangen, und im Ape Yard gingen die Dinge mehr oder weniger ihren gewohnten Gang. Die Feierlichkeiten waren zu Ende - drei Tage lang waren bei uns im Tal unter den wachsamen Augen von Polizisten und Nationalgardisten fröhlich zechende Menschenmassen unterwegs gewesen. In der Stadt herrschte noch flatternde Nervosität, aber der Aufstand, von dem die Jubiläumsgäste gehört hatten, war in keinem Augenblick über das Tal hinausgeschwappt. Die Jahrhundertfeier war natürlich verdorben. Die rätselhafte Revolte wurde von der Presse zwar weidlich ausgeschlachtet, aber übereinstimmend als eine ausgeuferte Tanzbodenschlägerei gedeutet. Die Stadtväter waren bemüht, den Gerüchten ein Ende zu machen, Ruhe und Ordnung wiederherzustellen. Fragen nach Doc Bobos Verschwinden trafen auf leere Blicke, steinerne Gesichter. Sheriff Middleton und die Agenten vom FBI durchstreiften immer noch die Hügel und versuchten, die Geschichte zu rekonstruieren, kamen aber wegen unbestimmter Antworten und widersprüchlicher Aussagen zu keinem Ergebnis. Die Leute waren nur daran interessiert, ihre Arbeit in den Steinbrüchen und in der Fabrik wiederaufzunehmen oder in der Hoffnung auf einen Job zum Cooper Corner hinaufzuklettern. Frieden herrschte im Ape Yard. Die Menschen kamen und gingen, grüßten respektvoll die Polizisten, denen sie begegneten. Die Poncini-Grube lag still und schweigend da.
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Mr. Burroughs rang die Hände. Schließlich stürzte er in den Bus, drückte mit beiden Händen auf die Hupe, volle dreißig Sekun den lang. Mr. Rampey war zu Tode erschreckt. Nach und nach kamen die Alten aus dem Haus. «Machen Sie das nicht noch mal, Horace Burroughs», schalt Mrs. Cline, «ich bin schon nervös genug!» Mr. Rampey steckte den Kopf zur Tür heraus. «Hör zu, Ho race, der Fahrer bin ich. Wenn du unbedingt hupen willst. . . » «Einsteigen», drängte Mr. Burroughs, «einsteigen!» «Und ich sage Ihnen, Esther wird sich für das Eckzimmer entscheiden», sagte Mrs. Porter. «Wir sind uns doch einig», sagte Mrs. Bell, «Esther kann das Zimmer haben, das ihr am besten gefällt.» Sie wandte sich an die übrigen Alten: «Habt ihr's euch gründlich angesehen, damit wir ihr alles gut beschreiben können?» «Darum hab ich ja die Fotos gemacht», sagte Mrs. Cline und spannte wieder ihre Kodak. «Oh, ich hab ganz vergessen, das Haus von draußen aufzunehmen!» Sie tippelte die Straße hinab, um den rechten Blickwinkel zu finden. «Aber wir fahren gleich», sagte Mrs. Bell. «Wann wollen Sie denn den Film entwickeln lassen?» «Zeit genug», brummte Mr. Burroughs. «Es dauert bestimmt noch 'ne Woche, bis dieses Volk sich in Bewegung setzt!» «Jayell», sagte Mrs. Metcalf und drückte seinen Arm, «ich sag's ja nicht gern, aber vielleicht bin ich allergisch gegen die Farbe, die Sie da drinnen verwendet haben. Mir ist ganz schwindlig im Kopf.» «Oh, verdammt», sagte Jayell, «ich wette, die Kerle haben die falsche Farbe genommen. Ich hatte doch extra anti-allergische Farbe für dieses Haus besorgt! Aber keine Sorge, Mrs. Metcalf, bis Sie wieder da sind, wird alles neu gestrichen.» «Oh, ich danke Ihnen», sagte Mrs. Metcalf sichtlich erleichtert. «Wissen Sie, Jayell, es gibt Leute, die einfach kein Verständnis für meine Allergie haben.» «Ich ja.» Jayell nickte mitfühlend. «Ich ja.» Er half ihr in den Bus. Mr. Burroughs verbeugte sich vor Mr. Rampey. «Lester, hät test du vielleicht die Güte, die Hupe für mich zu betätigen?» 428
Mr. Rampey kam der Bitte nach und trat ein paarmal das Gas voll durch. Farette scheuchte Ruby Lampham in den Bus. «Steig ein, Ruby, ich halte diesen Radau nicht aus!» «Hast du auch wirklich die Lunchpakete gezählt?» «Ich habe sie gezählt», sagte Ruby. «Warten Sie mal, ich habe meine Handtasche auf der Treppe vergessen.» «Woody!» brüllte Mr. Burroughs. «Wo ist Woodall?» «Er sucht die Tür auf der verkehrten Seite», rief Mr. Rampey. «Lauf mal schnell rum und hol ihn.» «Jayell», sagte Mr. Jürgen, «ich will mich ja nicht beklagen, aber finden Sie nicht, daß die Stufen für uns alte Leute ein bißchen zu hoch sind?» «Ja, vielleicht haben Sie recht», sagte Jayell. «Ich werde mich darum kümmern.» So kletterten sie nacheinander in den Bus und ließen sich ir gendwo nieder. Alle bis auf Mrs. Porter, die mäkelnd von Platz zu Platz wanderte, um auszuprobieren, welcher ihr für die lange Fahrt am bequemsten war. Mr. Burroughs kam mit Mr. Woodall an der Hand um den Kühler herum. «Und du willst wirklich nicht mit uns kommen, Junge?» fragte mich Mr. Burroughs. «Nein, Sir», sagte ich, wobei ich es vermied, Jayell und Phaedra anzusehen, «aber bitte grüßen Sie Miss Esther ganz herzlich von mir.» «Und trotzdem finde ich's eine Dummheit», sagte Mrs. Cline, die mit ihrer Kamera die Steigung heraufgeschnauft kam, «so einfach, mir nichts dir nichts, loszufahren, ohne sich anzumelden!» «Sie werden es noch früh genug erfahren. Wenn wir da sind», sagte Mr. Burroughs. «Steigen Sie ein, bitte.» «Was sagen Sie da?» fragte Phaedra ungläubig und lachte. «Die wissen gar nicht, daß Sie kommen? Wenn nun der Sohn sie nicht gehen läßt. . .?» Mr. Burroughs Kopf schnellte vor, seine Augenbrauen zogen sich finster zusammen. «Der soll nur versuchen, uns zu hindern!» Er schwang sich aufs Trittbrett, während Mr. Rampey
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krachend den ersten Gang reinwürgte. «Ich bete nur darum», schrie er, um den Lärm zu übertönen, «daß der Hundesohn es versucht!» Und mit schwungvoller Scharfrichtergebärde knallte er die Tür zu. Der Bus ratterte davon, haarscharf an Bäumen und zur Seite springenden Arbeitern vorbei, und brauste hinaus auf den Atlanta Highway. Jayell schüttelte den Kopf. «Gott steh jedem bei, der sich dieser Bande in den Weg stellen will.» «Weißt du», sagte Phaedra, «ich glaube, ich kann es jetzt ver stehen . . . » «Was?» «Warum junge Mädchen sich so oft in alte Männer verlieben.» Sie ließ ein kehliges Gurren hören und zeigte dem verdutzten Jayell ein boshaftes Lächeln. Ich zog das Motorrad mit dem Anhänger hinter einem Balken stapel hervor. Jayell kam und half mir schieben. «Hm, Earl», sagte er, «hat wohl keinen Zweck, dich umzu stimmen?» «Nein», sagte ich und schwang mich auf den Sattel. «Trotzdem, ich verstehe nicht, warum du unbedingt fort mußt», sagte Phaedra, «gerade jetzt, wo alles so gut ausgegangen ist.» «Für euch ist's gut ausgegangen», sagte ich. «Ihr habt alles erreicht, was ihr wolltet. Ich weiß noch nicht, was ich will, und ich will eine Weile rumfahren und sehen, ob ich's rausfinde.» «Mit fünfzehn?» sagte sie. «Komm, Earl.» «Ich weiß . . . ich - ich will hier nicht länger bleiben.» Ich trat den Starter durch und ließ das Gas spielen, begierig, endlich wegzukommen. «Und was ist mit der Schule ? Du weißt, es gibt ein Gesetz . . . » «Dafür ist noch Zeit genug», sagte ich, «und ich weiß schon, wie ich dem Gesetz aus dem Weg bleibe.»Ich sah Jayell grinsend an. «Die werden nicht einmal wissen, daß ich am Leben bin.» «Na», sagte Jayell, «dein Leben war bisher so durcheinander, da ist's kein Wunder, daß du noch nicht weißt, was du willst. Fahr los, schau dich um, Early-Boy, das wird dir bestimmt nicht schaden. Es gibt eine Stimme in jedem von uns, die uns sagen 430
will, was wir sind. Horch gut auf deine. Du wirst es wissen, wenn es soweit ist. Aber vergiß die Schule nicht. Ich weiß nicht, was das Leben für dich bereithält, aber hier in den Steinbrüchen und Fabriken wirst du's bestimmt nicht finden. Vielleicht findest du es unterwegs. Außerdem», fügte er mit einem schiefen Grinsen hinzu, «eines kann ich dir versichern: mit den zwei Händen wirst du nie deinen Lebensunterhalt verdienen.» «Gut, ich werd dran denken», sagte ich lachend. Ich schüttelte Jayell die Hand und packte Phaedra bei den Schultern und küßte sie fest auf den Mund und rollte den Hügel hinunter. Der Laden war leer - alles war ausverkauft. Die Regale, die Fleischvitrinen, die Getränkebox, die Gemüsekörbe - alles leer. Tio schleppte einen Karton Lebensmittel an und verstaute ihn im Anhänger. «Das ist alles, was ich für dich beiseite legen konnte», sagte er. «Vielleicht langt's ein paar Wochen, wenn du knapp futterst und sparsam lebst.» «Die haben euch ja wirklich den Laden leergekauft, was?» Tio schüttelte den Kopf. «So was hab ich noch nicht erlebt. Die hätten uns noch den Küchenherd abgekauft, wenn er zu haben gewesen war. Es wird einen Monat dauern, bis alles wieder gefüllt ist. Brauchst du Benzin? Da, komm rüber zur Pumpe, sollst die letzten Tropfen haben.» «Danke, brauch ich nicht. Hab einen vollen Tank.» Tio musterte mich von Kopf bis Fuß. Er blickte in den Anhän ger. «Hast du einen Mantel? Du wirst frieren auf dieser Karre, wenn's Winter wird. Warte, ich hab oben einen, den ich sowieso nie trage.» «Nein, ich hab alles.» Ich holte Ems alte Army-Decke aus dem Anhänger und zeigte sie ihm. Ich hatte in der Mitte ein Loch hineingeschnitten und mir einen Poncho daraus gemacht. «Siehst du? Ich bin versorgt!» Er überlegte einen Moment, dann nahm er sein Markenzeichen, seinen Hut mit den eckigen Löchern, ab und setzte ihn mir auf den Kopf. Er trat zurück und klatschte in die Hände. «Mann, der reinste Schieber!» 43l
«Paß nur auf! In paar Tagen bist du erfroren, nackt wie du bist», sagte ich. «Okay», sagte er und verschränkte die Arme. «Und wohin geht's?» Darüber hatte ich noch gar nicht nachgedacht. Ich überlegte rasch, denn ich wollte Tio wenigstens eine Richtung angeben Ich schaute mich um und versuchte, mir die Welt jenseits der vertrauten Berge und Wälder vorzustellen, und dabei wurde mir zum erstenmal klar, wie eng die Grenzen meiner Kindheit gewe sen waren. «Nur weg, das langt fürs erste», sagte ich. Tio schüttelte den Kopf. «Hab ich's mir doch gedacht.» Er wollte gerade noch etwas sagen, da ertönte ein schriller Schrei hinten im Laden. «Tii-iooo!» Wir rannten um die Ecke und erblickten Mr. Teague, der kopfüber, mit lose herabflatterndem Kopfverband, mit den Bei nen im Gestänge des automatischen Ladenaufzugs hing, der zum zweiten Stock hinaufgefahren war. Tio stemmte die Hände in die Hüften. «Mr. Teague, Sie sollten doch im Bett bleiben!» Tio lief zum Kran, zog Hebel und entwirrte Ketten. «Ich habe Ihnen ja gesagt, Sie sollen die Finger von dem Ding lassen. Was wollten Sie überhaupt damit?» «Ich wollte die Gemüsesteige von der Rampe holen, ehe das Zeug verfault - wie ich dir schon vor einer Stunde aufgetragen habe!» «Ich habe Ihnen doch gesagt, ich mach's gleich», sagte Tio mürrisch, während er die Kette abrollen ließ. «Ich weiß wirklich nicht, was ich noch mit Ihnen anstellen soll.» «Umbringen wirst du uns noch, jawohl!» zeterte Mr. Teague, während er fuchtelnd nach dem Boden grabschte. «Was Bobo und seinen Totschlägern nicht gelungen ist - du wirst es schaffen! Da geb ich dir mein Wort!» «Na, ihr beide braucht mich wohl nicht mehr», sagte ich. «He», rief Tio mir nach, «falls du - äh - zufällig wen triffst, den wir kennen, sag ihm, ich laß ihn grüßen.» 432
«Mach ich», rief ich über die Schulter. Das Weggehen war schon schwer genug, und er machte es nicht leichter. «Und - falls du mal was brauchst - du weißt ja, wo wir zu finden sind.» Ich winkte und lief um die Ecke. Die Bäume am Fuß der morgendlichen Hügel peitschten vorbei und ließen die Sonne blitzen und funkeln, als sie in langen, tanzenden Strahlen über die Kämme der rauchverhangenen Hö hen kam. Die Straße schwang sich in gefährlich engen Kurven durchs Land, aber ich ließ das Gas voll aufgedreht, auch wenn es durch die weiß schimmernden Nebelschwaden ging, die noch in den Bodensenken hingen. Die klapprige alte Maschine bebte vor Anstrengung, als wir die dampfenden Hügel Georgias hinter uns ließen und in den Morgen brausten. Fort jetzt. Nur fort. Und schnell. Denn schon fingen sie an zu verblassen, die vergangenen Zeiten glücklicher Kinderspiele am Bach, der Grabenfestungen und rankenbedeckten Ufer, der stahlblau dämmernden Tage und bernsteinroten Abende. Waren sie Wirklichkeit gewesen, die strahlenden, fliehenden Bilder, die jetzt schon so fern vor meinem inneren Auge vor überzogen? Hatte es wirklich eine Zeit gegeben, da ich all dies anfassen, greifen konnte - und so sicher war, daß es nie enden würde? Oder waren es nur Träume - Fieberträume von Engeln, wie Jayell sagte, ein schönes Trugbild, das nur einen Augenblick aufblitzt und mit dem Echo ihrer Schreie vergeht? Nur Träume ? Träume, die Jayell den Mut gaben, sein utopisches Dorf zu bauen, sich seinen Platz zu schaffen inmitten einer Welt, die er nicht akzeptieren konnte? Die Mr. Teague und Tio den Glauben gaben, sie könnten sich ihre kleine Welt unversehrt erhalten, trotz des Umbruchs und Wandels rings um sie her? Die Miss Esther und ein Haus voll vergessener alter Leute anstachelten, den Kampf gegen die Zeit zu wagen? Nur Träume, mit denen ein Indianer Sonne und Abenteuer und Freude in das Leben eines verschüchterten Jungen brachte? 433
Wenn es so war, wie konnte ich dann bleiben und zusehen, wie all das verging? Wie konnte ich dort auf die Nachricht warten, vielleicht war sie schon unterwegs, daß mein Freund Em Jojohn tot war? Nein, ich mußte fort, solange noch die Häuser am Wolf Mountain standen, solange die Alten noch ihren Mut und Schwung bewahrten, solange der Laden von Mr. Teague noch blühte. Em Jojohn sollte immer frei sein in meinen Gedanken, er sollte über seine vom Regen gepeitschten Landstraßen wandern und seine dunklen Geister niederschreien, seinen listigen Magen verwöhnen und nach seinen Gesetzen kämpfen und lieben, er sollte schlafen, wo sich ihm ein Platz bot, und fortgehen, wenn ihm danach zumute war, er sollte seinen verrückten Tanz tanzen und seinen wortlosen Gesang singen, er sollte seine Stiefel abstreifen, unter dem passenden Vorwand, er wolle den Tau im Gras und die Erde unter seinen nackten Füßen spüren. Fort jetzt. Solange ich noch den Mut hatte, an Träume zu glauben. Solange ich noch die Engel weinen hörte.
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