Von der Serie MAGIC. Die Zusammenkunft™ erschienen in der Reihe HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY: 1. Band: William R. Fo...
65 downloads
653 Views
1MB Size
Report
This content was uploaded by our users and we assume good faith they have the permission to share this book. If you own the copyright to this book and it is wrongfully on our website, we offer a simple DMCA procedure to remove your content from our site. Start by pressing the button below!
Report copyright / DMCA form
Von der Serie MAGIC. Die Zusammenkunft™ erschienen in der Reihe HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY: 1. Band: William R. Forstchen, Die Arena • 06/6601 2. Band: Clayton Emery, Flüsterwald • 06/6602 3. Band: Clayton Emery, Zerschlagene Ketten • 06/6603 4. Band: Clayton Emery, Die letzte Opferung • 06/6604 5. Band: Teri McLaren, Das verwunschene Land • 06/6605 6. Band: Kathy Ice (Hrsg.), Der Gobelin • 06/6606 7. Band: Mark Summer, Der verschwenderische Magier • 06/6607 8. Band: Hanovi Braddock, Die Asche der Sonne • 06/6608 9. Band: Teri McLaren, Das Lied der Zeit • 06/6609 10. Band: Sonia Orin Lyris, Der schlummernde Friede • 06/6610 11. Band: Kathy Ice (Hrsg.), Ferne Welten • 06/6611 (in Vorb.)
SONIA ORIN LYRIS
Der schlummernde Friede ZEHNTER BAND Deutsche Erstausgabe
WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN
HEYNE SCIENCE FICTION & FANTASY Band 06/6610
Besuchen Sie uns im Internet:
http: //www.heyne.de Titel der Originalausgabe MAGIC THE GATHERING™ AND PEACE SCHALL SLEEP Übersetzung aus dem Amerikanischen von Birgit Oberg Das Umschlagbild malte Steve Crisp
Umwelthinweis:
Dieses Buch wurde auf chlor- und säurefreiem Papier gedruckt.
Redaktion: Daniela Franke Copyright © 1996 by Wizards of the Coast, Inc. Erstausgabe bei HarperPaperbacks. A Division of HarperCollinsPublishers, New York Copyright © 1997 der deutschen Ausgabe und der Übersetzung by Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 1997 Umschlaggestaltung: Atelier Ingrid Schütz, München Technische Betreuung: M. Spinola Satz'. Schaber Satz- und Datentechnik, Wels Druck und Bindung: Presse-Druck, Augsburg ISBN 3-453-12695-5
Für Devin - alles Liebe. *schlurp*
DANKSAGUNG
Ich weiß, daß einige Autoren ganz allein schreiben. Ich nicht. Ich wühle mich durch die Gedanken der Menschen, die ich kenne, und suche nach Ideen und verzwickten Einfällen, aus denen ich Geschichten machen kann. Dann überrede ich viele dieser unglücklichen Leute, meine ersten Manuskriptentwürfe zu lesen. Um diesen guten Seelen meine Dankbarkeit zu beweisen, benenne ich die Charaktere in meinen Erzählungen nach ihnen (oder verspreche, es nicht zu tun), überhäufe sie mit Lob und höre mir manchmal sogar ihre Kommentare an. Jetzt möchte ich ganz kurz ein paar Menschen danken, die mich bei diesem Buch mit Zeit, Wissen und Zuspruch unterstützten. Herzlichen Dank meinen ersten Lesern: Liesl, Elizabeth Lawhead Bourne, Martitia M. Dell, John E. Johnston III und Glen A. Slate. (Ein Kopfnicken gebührt Shannon Slate, die Schuld daran ist, daß ich MAGIC überhaupt verfiel. Oh, ich stehe tief in deiner Schuld.) Ein ganz besonderes Dankeschön geht an David Kell Fox, nach dem ich Reod Dai benannte, der mir mit Ausdauer und Optimismus zur Seite stand, die Einzelheiten und das Kernstück der Geschichte zu erarbeiten - nicht nur einmal, sondern immer, immer wieder. Worte reichen nicht aus, um meinem Freund und Partner Devin Ben-Hur zu danken, der von Anfang an - seit vielen Jahren - an mich glaubte und besser als ich wußte, wie gut ich schreibe und mir be-
hilflich war, den Mut zu finden, der sich zwischen den Ersatzbatterien und den wissenschaftlichen Experimenten im Kühlschrank verkrochen hatte. Ich verdanke ihm jedes Wort, das je von mir gedruckt wurde. Sonia Orin Lyris Februar 1996
P ROLOG
Immer wieder wird die Eiszeit als Grund für den Fall des sarpadischen Reiches angegeben. Obwohl das kälter werdende Klima mit ein Grund für den Kampf um die Bodenschätze war, der schließlich zu den großen Kriegen führte, werden andere wichtige Einzelheiten, meistens übersehen. Tausende von Jahren, geprägt von Spannungen zwischen den verschiedenen Rassen, erzeugten Mißtrauen, und Mißverständnisse wurden zu Streitigkeiten aufgebauscht, die wiederum zu Kriegen führten. Berichte aus jenen Jahren zeigen, daß selbst in der kältesten Zeit genügend Nahrung vorhanden war, um alle Kinder Sarpadias zu ernähren, wenn die einzelnen Reiche zusammengearbeitet hätten, was sie natürlich nicht taten. Während sich die Obersten Gerichtshöfe des Landes an die traditionellen Fehden hielten, hallten die Kriegsrufe und Schreie der Hungernden vom Meer bis in die Berge und trugen eine schreckliche Kunde durch das Land. Trotz blumiger Worte der Könige und Räte, die bis zum bitteren Ende an ihrer Politik festhielten, stand es außer Frage, daß jede Rasse ihren Besitz fest umklammerte, als der Frost und die Hungersnöte hereinbrachen. Und alle waren sicher, daß die anderen mehr besaßen als sie selbst. Einzelne Kreaturen zählten in jener Zeit nicht viel, da sie der Rasse nur als ein weiteres Paar Hände oder Füße dienten und später dann als hungriges Maul galten, das gestopft werden mußte. Wenn solcher Mangel, solches Mißtrauen und solche Not herrschen, kann das nur ein Ende bedeuten: 9
Die großen Kriege begannen, und die großen Reiche zerfielen. - Sarpadische Reiche, Folge I, Einleitung -
Man darf nicht erwarten, daß jene, die in den letzten Jahren Sarpadias lebten, ihre Epoche so gut verstanden, wie wir es heute können. Denn wir haben die Pläne der Kriegsherren und die Tagebücher der Könige gelesen. Aber ich möchte euch, die ihr jene Zeit studiert, warnen, euch nicht von einzelnen Individuen ablenken zu lassen. Sie erscheinen uns sehr romantisch, die Helden und Schurken, die in den letzten Tagen des sarpadischen Reiches lebten, aber sie waren nichts als Schauspieler in einem Drama, aus dem es kein Entrinnen gab. Seht genau hin, und ich bin davon überzeugt, daß ihr zu dem Schluß kommt, daß eine einzelne Person niemals großen Einfluß auf die Schwankungen eines Reiches hat. Auch in den Fällen, wo anscheinend ein Mann oder eine Frau für gewisse Geschehnisse entscheidend war, müßt ihr nachforschen. Dann werdet ihr entdecken, daß es andere gab, die ohne Umschweife die gleiche Rolle hätten spielen können. In der Geschichte gibt es keine wahren Helden und keine wahren Schurken. Geschichte reißt die Leute mit - und nicht umgekehrt. - Lady Ornder, Einleitung zu den Briefen: Die Geschichte Sarpadias -
Ihr habt die Kommandeure in Kenntnis zu setzen, daß er des Hochverrates beschuldigt und inhaftiert wird, wenn man ihn findet. Erinnert sie daran, welche Verluste uns sein Verrat zufügte. Ich gestatte ihnen, ihn auf der Stelle hinzurichten, damit er nicht noch einmal flieht. 10
Niemand darf von ihm sprechen. Sorgt dafür, daß sein Vater und seine Mutter sich so verhalten, als wäre er nie geboren worden. Löscht seinen Namen aus allen Berichten. Geht gründlich vor. Ich will nicht, daß man sich seiner erinnert. - Auszüge eines Briefes, der unter den Trümmern von Trokair gefunden wurde. Mit >HJ< unterschrieben. Entspricht der Handschrift König Heinrich Josephs I. Nagelt das Rotkehlchen hoch oben fest, damit es keine Lügen mehr erklingen läßt. Haltet den Verräter von uns fern. Bleib weg! Hier sieht man dich nicht gern! Preist den König, preist die Armee. Der Verräter singt nicht länger - juchhe! (im Flüsterton:) Robin, bring uns Fleisch und Brot und halte fern die Dämonen und den Tod Robin, flieg in die Nacht hinaus aber komm wieder zurück nach Haus! Robin, wir verraten dich nicht Der König ist tot, alle anderen werden gericht'. - Kinderreim aus Icatia -
11
»Ich handle lieber mit Elfen als mit Schweinen, aber eigentlich besteht da nicht viel Unterschied.« – Kaufmann aus Icatia
Es war einen Monat hin bis zum Winteranfang, und Reod Dai war es leid, immerfort zu frieren. Selbst in den dicken Stiefeln schmerzten ihm die Zehen. Irgend jemand sollte den Purpurgipfeln mitteilen, daß der Winter nur eine von vier Jahreszeiten war. Hin und wieder drang schwaches Sonnenlicht durch die Lücken zwischen den dichten Wolken, aber es reichte nicht aus, um dem eisigen Wind, der Schneeflocken um die reetgedeckten Häuser tanzen ließ, ein wenig von seiner Schärfe zu nehmen. Eishaufen und gefrorener Schnee rahmten die Straßen des Dorfes ein, und die hohen Fichten glitzerten unter der kalten Pracht. Reod Dai zog einen Zipfel seines schweren Wollumhangs höher und wickelte ihn fest um die Schultern, um besser eingehüllt zu sein, Dann wischte er sich mit den behandschuhten Fingern frisch gefallene Schneeflocken aus dem Bart. Mitten auf dem gepflasterten Platz blieb er stehen und ließ sich von der Wärme anlocken, die das glühende Kohlenbecken versprach, um das sich ein paar Zwerge scharten. Nach vier Tagesreisen auf schneebedeckten Straßen konnte seine Verabredung ruhig noch ein paar Minuten warten. Die Zwerge sprachen den ausgeprägten Dialekt des Gebirges und unterhielten sich über das Holzfällen, die Lagerung des Korns und darüber, wer 12
wem im nächsten Frühling wohl versprochen werden würde. Kein Wort über den außergewöhnlich kalten Herbst. Also begnügte sich Reod mit dem Trost, den rotgefrorene Zwergennasen bieten. Im letzten Jahr hatte man in einem anderen Dorf über seine Handschuhe gelacht, aber inzwischen gab es sie überall, und die Kinder trugen Kapuzen und Schals. Auch wenn diese dickschädeligen Bergbewohner die Kälte nicht erwähnten, so fühlten sie sie doch. Er atmete aus, und der Atem stand weiß in der Morgenluft. Ein Zwerg rückte ein wenig beiseite, um ihn besser anschauen zu können, und nun starrten ihn auch die anderen an. »Was macht das denn hier?« fragte einer den anderen und dachte, er könne sie nicht verstehen. »Tja, ein Mensch hier oben, im Winter? Muß sich verirrt haben.« »Es muß frieren. Arme dürre Menschen.« Um nicht aufzufallen, hatte er sich in grobe Gewänder gehüllt und sah wie ein armer Händler aus. Jetzt lächelte er sie zaghaft an, als teile er ihr Vergnügen über seine Armseligkeit. Sie schwiegen, da sie unsicher waren, ob er etwas mitbekommen hatte. Die Wärme des flackernden Feuers strich ihm über das Gesicht. Noch einmal sog er die warme, rauchige Luft ein und setzte dann den Weg durch das Dorf fort. Trotz der rauhen Gegend, wo der Winter mehr als die Hälfte des Jahres anhielt, würde Reod hier oben in den einsamen Dörfern der Purpurgipfel auf mehr Gastfreundschaft stoßen als in den menschlichen Siedlungen im milderen Norden. In Wahrheit handelte es sich bei dieser Gebirgsregion um eine Zufluchtsstätte. Er bezweifelte, daß die Zwerge wußten, wie glücklich sie sich schätzen durften, an einem Ort zu leben, der so weit von 13
den wärmeren Landstrichen entfernt lag, in denen Zwietracht herrschte. Kinder und Erwachsene starrten ihn unverhohlen an, als er an ihnen vorüberschritt. Das lag nicht nur daran, daß er ein Mensch war und an seiner Größe - sie reichten ihm nur bis an die Brust - oder an der schlanken Gestalt und den nachtschwarzen Haaren, die in diesem Meer aus strohfarbenen Mähnen ausgesprochen seltsam wirkten. In dieser Jahreszeit sah man kaum Menschen hier oben, aber in jedem Frühling reisten Kaufleute in die Berge südlich der Grenze Icatias, um Handel zu treiben. Nein, sie alle hatten schon einmal Menschen gesehen. Daran lag es also nicht. Es lag an Reods blauen Augen, die selbst unter den Angehörigen seiner eigenen Rasse auffielen. »Wie Rotkehlcheneier«, flüsterte ein Junge seiner Mutter zu, als sie an ihm vorübergingen. Beide blickten sich nach ihm um. Wie Rotkehlcheneier. Er konnte das Haar unter einer Kapuze verbergen, sich die Haut färben oder seinen Dialekt verändern, aber die Augen blieben immer blau. Reod stieß die Tür des Gasthauses >Zum tapferen Kaninchen auf und schloß sie schnell hinter sich. Der alte Zwerg hatte immer einen Eintopf über dem Feuer brodeln. Mal handelte es sich um Kaninchenfleisch, mal war es ratsam, nicht nachzufragen. »Das Kaninchen, das zuerst in den Topf springt, ist das tapfere«, sagte der alte Zwerg, nachdem er Reod begrüßt hatte. »Möchtest du was essen?« Mißtrauisch beäugte Reod den Napf, in dem Fleischstücke und Gemüse schwammen. »Gerne. Vielen Dank.« Am anderen Ende des Raumes saß die Frau, die er hier treffen wollte. Wenn sein Aussehen schon einen Lichtblick an diesem grauen Tag im Dorf der Zwerge bedeutete, so mußte 14
ihres wie der hellste Mond in einer wolkenlosen Nacht wirken. »Kalt genug, Kistefar?« fragte er auf elfisch und setzte sich mit seinem Napf ihr gegenüber. Sie sah ihn aus Augen an, die so hellgrün waren wie die nördlichsten Meere. »Ja. Kalt.« Der Zufluchtwald lag noch viel, viel weiter nördlich als Icatia. Sie war an ein wärmeres Klima gewöhnt und mußte sich in dieser Kälte ebenso unbehaglich fühlen wie er. Bestimmt noch schlimmer, da sie so dünn wie alle Elfen war. Der alte Zwerg brachte ihm heißen Wein, und hastig leerte Reod den Becher und die Schale mit dem Eintopf. Die Kälte machte ihn hungrig, fortwährend hungrig. Kistefar betrachtete ihn mit ausdruckslosem Gesicht. Als er schließlich fertig war und sich zurücklehnte, beugte sie sich vor und zog eine Kette unter den Gewändern hervor, von der er wußte, daß sie sie immer um den Hals trug, wenn sie im Auftrag der alten Druiden reiste. Helles, grünes Licht blitzte kurz auf und wurde gleich wieder unter dem Hemd verborgen. Er zuckte die Schultern und bemühte sich, sein Unbehagen zu verbergen. »Warum sollte ich an dir zweifeln?« Sie hatte ihr Erkennungszeichen nicht mehr benutzt, seitdem sie sich vor vielen Jahren zum ersten Mal unterhalten hatten. Er wußte, daß sie die Interessen der alten Druiden vertrat. Es war völlig unnötig, das noch einmal zu beweisen. »Dein Vertrag wird gelöst«, verkündete sie. »Was?« »Man hat mir aufgetragen dir mitzuteilen, daß du alles, was du in unserem Auftrag unternimmst, sofort beenden mußt.« »Der Vertrag wahrt noch ein Jahr, Kistefar. Dreimal im Jahr erhalte ich eine Bezahlung, zum Beispiel heute.« 15
»Keine Bezahlung, Reod.« »Aber wir haben eine Abmachung, einen Vertrag ...« »Keine Bezahlung.« »Kistefar, hör zu: Ich kann jetzt nicht aufhören. Ohne Geld wird diese Angelegenheit wie ein Stück Glas zerbrechen, und überall liegen scharfe Splitter herum.« »Ich bin nicht hier, um zu verhandeln. Ich bin nur die Botin.« »Ich kann das nicht einfach hinnehmen.« Mit den Fingern tippte sie sich auf die Brust, wo der Stein unter dem Gewand verborgen war. Eine Mahnung. Sie sprach für die Ältesten, aber inwieweit waren sie von ihr abhängig? Wahrscheinlich gar nicht, vermutete er. »Ich zweifele nicht an deinen Worten, Kistefar. Warum ist es der Wunsch der Ältesten?« »Das weiß ich nicht.« »Was haben sie gesagt?« »Der Mensch Reod Dai muß alle Unternehmungen sofort beenden. Sage ihm, der Vertrag ist nicht länger gültig. Von diesem Augenblick an erhält er kein Geld mehr von uns.« In Gedanken sah Reod die Pfade des Bündnisses vor sich, die er während der vergangenen Jahre sorgfältig angelegt und gepflegt hatte, wie die Reben eines Weinberges. Ohne seine fortwährende Aufmerksamkeit würden einige der Reben verdorren und absterben. Andere würden wachsen und sich ungehindert ausbreiten, bis es zu spät war. Er beugte sich vor, sah ihr in die Augen und senkte die Stimme. »Weißt du, was ich in den letzten Jahren für deine Ältesten gewagt habe? Weißt du, wie oft ich das Land der Goblins und der Orks betrat, in ihre Höhlen schlich, um mit ihnen zu verhandeln und nie wußte, ob ich das Tageslicht wieder erblicken würde? Ich habe gefährliche Grenzen überschritten. Ich gab Versprechen. Weißt du, was geschehen wird, wenn diese Versprechungen nicht eingehalten werden?« 16
»Das ist nicht mein Problem.« Als sich Reod vor Wochen mit Tirraturranum getroffen hatte, mußte er sich sehr anstrengen, um den Goblinkönig davon abzuhalten, die neuen Waffen sofort auszuprobieren. Da die Herrscher des Goblinthrones einander schnell und auf gewalttätige Weise ablösten, war der König begierig, die neue Macht anzuwenden, so lange er es noch konnte. Das wiederum beunruhigte die Orks. Normalerweise waren sie verfeindet, aber inzwischen waren die Herrscher beider Rassen bereit, sich von Reod zu einem Bündnis überreden zu lassen - jedenfalls für kurze Zeit da ihnen dieser Gedanke noch nie von allein gekommen war. Die ganze Sache war äußerst schwierig. Die Druiden hätten sich keinen ungünstigeren Zeitpunkt aussuchen können. »Drei Monate«, sagte er. »Gib mir drei Monate. Nur noch eine Zahlung. Ich will tun, was ich kann, um den Schaden möglichst gering zu halten und einen Abschluß suchen.« »Nein.« Sie erhob sich, um die Schenke zu verlassen. Er versuchte, seine Enttäuschung zu verbergen und ihr gegenüber Ruhe und Gelassenheit an den Tag zu legen. Mit nach oben gedrehten Innenseiten legte er die Hände ausgestreckt auf den Tisch. Die Geste war bei jeder Rasse gleich und bedeutete Frieden, konnte aber auch heißen, daß man eine Gefälligkeit erbat. Sie war so ungewöhnlich für ihn, daß sie zögernd stehenblieb. Er nahm seine >GeschichtenerzählerSitzenden Ente< wohnte. Sie gab viel Geld aus, um ihm Unmengen heißen Weines zu kaufen, denn sie hatte gehört, daß die Menschen nichts anderes tranken. Dann fragte sie ihn, was er über Drachen wußte. »Ich empfehle dir, sie zu meiden«, sagte er. »Und was ist, wenn jemand ein paar ...« Sie zuckte die Achseln. »... ein paar Eier findet? Könnte man sie verkaufen? Normalerweise verkaufen wir bloß Stoffbilder, aber wenn...« 26
Sein Blick veränderte sich, wurde durchdringend. Er beugte sich vor und senkte die Stimme. »Nimm dich in acht, wenn du über diese Dinge sprichst. Solche Sachen sind sehr wertvoll, aber auch gefährlich.« »Wegen der Jungen?« »Ja.« Als ihre Älteste noch ein Kind gewesen war, war ein Drachenjunges mit einem gebrochenen Flügel ins Dorf gekommen und hatte versucht, Würste von einem Marketenderwagen zu fressen. Das Kleine hatte ein halbes Dutzend Männer blutüberströmt zurückgelassen, als diese es mit bloßen Händen überwältigen wollten - typisch für Zwergenmänner. Immer übertraf ihr Mut ihre Klugheit. Erst als mit Speeren bewaffnete Frauen auf das kleine Biest einstachen, wurde es getötet. Wer hätte gedacht, daß etwas so Kleines so bösartig sein konnte? An jenem Abend hatte sie sich beim Verzehr des Dracheneintopfes viele Geschichten erzählt. Sie erinnerte sich noch an den eigenartigen Geschmack des Essens. Der Mensch beobachtete sie eingehend. »Ich habe noch nie gehört, daß sie so weit im Norden legen«, meinte er bedächtig. »Sie mögen die Kälte. Aber möglich wäre es natürlich.« Sie warf ihm einen bösen Blick zu. »Das ist es! Aber was ist mit den Eltern?« Er lehnte sich zurück, nahm noch einen Schluck Wein und starrte sie an. »Die Weibchen legen die Eier auf den höchsten Berggipfeln ab. Sie scharren Schnee, Eis und Felsbrocken zusammen, um ein Nest zu bauen, aber damit ist es dann auch genug. Sie sind schlechte Eltern. Zu lüstern, um dazubleiben. Sie legen die Eier und fliegen zurück in die warmen Länder, zu den Männchen. Dann treiben sie es miteinander, bis sie wieder Eier legen müssen.« 27
Sie grinste über seinen rauhen Ton. »Sprechen alle Menschen die Zwergensprache so gut wie du?« »Das bezweifele ich.« »Und die Eltern bewachen die Eier nicht?« »Nicht nötig. Die Schalen sind hart wie Metall, und die Jungen können für sich selbst sorgen.« »Die Jungen - was fressen sie?« »Kinder und Jungfrauen.« Er beobachtete, wie sie entsetzt die Augen aufriß; dann lachte er und erhielt dafür einen bösen Blick. »Wenn es irgendwie möglich ist, nichts, was größer ist als sie selbst, und sie sind so groß wie ein Dorfköter. Sicher, wenn sie Angst haben, greifen sie an, aber sie ziehen kleine Beute vor und fressen eigentlich alles. Gras, Blätter, Tannenzapfen, abgefallene Äste, verrottende Bäume. Abfall. Alles. Genau wie Orks.« »Die Weibchen legen nur einmal im Jahr?« Zwergenfrauen konnten zweimal im Jahr schwanger werden. Er nickte. »Einmal im Jahr, jedes Jahr, aber nur während weniger Jahre, wenn sie die Hitze haben. Genau wie deine Rasse.« Sie dachte über seine Worte nach, dachte noch einmal darüber nach und fand, daß sie ihr nicht gefielen. »Drachen sind Tiere«, sagte sie. »Glaubst du, daß wir auch Tiere sind?« Er war so dünn. Sie hätte ihn mit Leichtigkeit in der Mitte durchbrechen können. Einmal zupacken, drehen und ziehen, und es wäre aus mit ihm. Sein Blick mied den ihren und glitt schnell durch den Schankraum um festzustellen, ob sie belauscht wurden; dann starrte er sie wieder an. »So habe ich es nicht gemeint.« Menschen, dachte sie angewidert. Aber seine Worte hatten sie neugierig gemacht. »Was tun die Eltern, nachdem sie sich gepaart haben?« »Sie verschwinden. Es gibt Legenden, die von alten Drachen erzählen, die über das Brutalter hinaus sind 28
und sehr stark sein sollen. Aber das weiß niemand so genau, denn Drachen sind sehr scheu, und jene, die nachforschen, kehren für gewöhnlich nicht zurück. Die Jungen sind bösartig, wenn sie ausschlüpfen, und sie werden mit jedem Jahr gefährlicher. Man sollte nicht in der Nähe sein, wenn sie aus den Eiern schlüpfen.« Er beugte sich zu ihr vor und flüsterte: »Das solltest du wirklich nicht. Deine ... Bilder interessieren mich. Stickereien. Ich nehme alle, die du kriegen kannst. Wie viele und wann?« Melelki blinzelte verwirrt, ehe sie begriff, daß er die Eier meinte. Sie dachte an das eine Ei, daß sie mitgenommen und im Wald unweit der Hütte versteckt hatte. Beinahe wäre sie auf dem Rückweg vom Nest einer Gruppe Bergleute begegnet, die auf dem Weg zur Grube waren. Sie würden die Eier bei Nacht fortschaffen müssen. In Gedanken wob sie schon die Tragegurte. »Wieviel?« fragte sie. »Zwei Goldstücke pro Ei.« Sie hielt den Atem an. Er sagte es so beiläufig, als habe er täglich derartige Ausgaben. Vierzehn Eier. Das bedeutete viel Gold. Mehr, als ihre Familie in einem Jahr erarbeiten konnte. Sie verabredete einen Treffpunkt mit dem Menschen, wo sie ihn mit den Eiern und er sie mit seinem Wagen erwarten sollte. Und mit dem Gold. Mit sehr viel Gold. Dann war sie mit ihren Töchtern zum Nest empor gestiegen. Nachdem sie eine Nacht lang geklettert waren und die Eier fortgeschafft hatten, waren sie so zerschlagen, daß sie sich kaum rühren konnten. Dann hatte ihnen der Mensch das Gold für die Eier gegeben, und der Anblick der Münzen ließ die Muskelschmerzen beinahe verschwinden. Sie hatten ihre Schulden bezahlen und neue Winterkleider kaufen können. Im Frühling hatten sie auf halber Höhe des Berges eine kleine Hütte gebaut. 29
Dichter bei den Eiern. Würden sie auch im nächsten Jahr dort oben liegen? Das taten sie, und auch in diesem Jahr. Seit zwei Jahren verkauften sie dem Menschen die glänzenden, farbig schimmernden Dracheneier, und es ging ihnen besser als je zuvor. Und jetzt... Tamun hielt ein feuchtes Leintuch in den Wind und hängte es dann an die Leine. Melelki dachte über ihre Kinder nach. Sekena war fast erwachsen, Tamun stark wie Krieger und neigte dazu, sehr schnell recht unruhig zu werden. Die Eier lagen im Keller, sorgfältig auf dickes Stroh gebettet, was völlig unnötig war, aber sie konnten es nicht ertragen, so wertvolle und gefährliche Dinge auf den harten Steinboden zu legen. In wenigen Wochen würden die Jungen ausschlüpfen, was sie wegen der immer dichter werdenden Tupfen auf den Schalen vermutete. Aber das war nur geraten, denn sie hatten noch nie einen Drachen schlüpfen sehen. Wenn es um Drachen ging, durften ihr keine Fehler unterlaufen. Deshalb machte sie sich trotz ihrer Müdigkeit auf den Weg ins Dorf. Wenn sie Glück hatte, war der blauäugige Mensch bereits in der >Sitzenden Ente< eingetroffen. Wenn nicht, würde sie ihm eine Nachricht hinterlassen, daß er kommen sollte, um die Stickereien zu kaufen. Stickereien.
Er würde mit seinem Wagen und dem Gold kommen und die Eier mitnehmen. Ehe die Jungen ausschlüpften. Aber der Mensch war nicht da. Er hatte ihr eine Nachricht hinterlassen: Sie sollte ihn am nächsten Tag in dem Rasthaus an der einsamen, hochgelegenen Bergstraße treffen. Also ging sie wieder nach Hause. Am folgenden Morgen erwachte sie bei Sonnenaufgang, zog sich einen in Öl getränkten Umhang über und wappnete sich gegen 30
den stetigen Schneeregen, ehe sie sich auf die eisverkrustete Bergstraße wagte. Stunden später öffnete sie die knarrende Holztür, betrat das kleine Rasthaus und schüttelte sich das Wasser aus dem Umhang. Der Raum stank nach nassen Menschen. Er saß auf der hölzernen Bank in der Mitte der Hütte, das lange schwarze Haar fiel ihm über die Schultern und das bärtige Gesicht und verdeckte die unwahrscheinlich blauen Augen. Melelki nickte ihm zu. »Naß da draußen«, sagte er. Verwirrt runzelte sie die Stirn. Natürlich war es naß. Es war Winteranfang, und dann war es immer naß. Vielleicht machte er einen menschlichen Scherz. »Ja«, antwortete sie. »Ich habe die... Stickereien für dich.« Sie sprachen nicht mehr über Eier, nicht einmal dann, wenn sie - so wie jetzt - meilenweit vom Dorf entfernt waren, für den Fall, daß doch einmal jemand mithörte. Aber >Stickereien< war ein so menschliches Wort. Sie kannte ein paar menschliche Worte, aber sie waren schwer auszusprechen. Sie waren lang und schlüpfrig und hatten immer mehr als nur eine Bedeutung. Warum konnten sie nicht einfach >Bilder< sagen und gut damit? Natürlich redeten sie gar nicht von Bildern sondern von Dracheneiern. »Wie viele?« wollte er wissen. Sie verbarg ihre Spannung unter einem ungeduldigen Seufzer. »Genau wie immer.« Er wartete, die Brauen fragend hochgezogen. »Zwei Goldstücke für jedes«, sagte sie verwirrt. Vielleicht hätte er gern gehabt, daß sie ihm auch noch den Frühlingstanz vorführte! »Ich glaube nicht.« »Was? Natürlich. So war es immer.« »Dieses Mal nicht. Mein Auftraggeber hält deinen Preis für zu hoch. Er bietet dir weniger an.« 31
Sie fühlte Bestürzung in sich aufsteigen. Wieso bot er weniger? »Letztes Jahr...« »Letztes Jahr war letztes Jahr.« »Und das Jahr davor?« »Die Vergangenheit ist vergangen.« »Wieviel weniger bietet er?« »Zwei Goldstücke für alles, was du hast.« Sie war entgeistert. »Menschenverrückt! Das ist absurd.« »So lautet das Angebot.« »Aber - warum?«
»Das weiß ich nicht. Vielleicht braucht er sie nicht mehr. Vielleicht hat er einen anderen Lieferanten gefunden.« »Ich glaube dir nicht.« Er zuckte die Schultern. »Ich bin nur der Bote.« Irgend etwas an der Art, wie er es sagte, machte sie mißtrauisch. Aber schließlich war er ein Mensch, und alle seine Antworten erregten ihr Mißtrauen. Sie überlegte. Was tat der Auftraggeber mit den Eiern? Seit Jahren grübelte sie darüber nach und hatte entschieden, daß es sich um einen Zauberer handeln mußte. Wer sonst wollte Dracheneier haben? Wer sonst wußte, wie man mit den geschlüpften Jungen umgehen mußte? Aber was fing er mit so vielen Drachen an, Jahr um Jahr? Das mußte mit den Kriegen im Norden zusammenhängen, für die man im Zwergendorf Waffen schmiedete und zwergische Söldner anheuerte. Wer wußte schon, was ein Zauberer alles mit Dracheneiern anstellen konnte? Vielleicht hatte er wirklich genug? Aber warum war dann Blauauge hier und unterhielt sich mit ihr? Nein, er wollte sie noch immer und dachte wohl, er könne sie billiger bekommen. Und wenn er sie wollte, dann brauchte er sie. Er wollte nur nicht dafür bezahlen. Sie schnaubte belustigt. »Ich könnte bedeutend mehr 32
verdienen, wenn ich nur die Schalen verkaufen würde.« Es war ihr gleich, ob jemand mithörte. Vielleicht hörte man sie und machte ihr ein besseres Angebot. Ihre Blicke kreuzten sich, blieben fest. Dieses Blau dieses unnatürliche Blau - wie lebendiges Eis. Das war es: Menschen hatten Eis in den Augen, Eis in den Köpfen. Eis konnte nicht denken. »Dann tu es doch«, meinte er. »Viel Spaß mit den Jungen.« Sie schauderte innerlich. Melelki mißfiel der Gedanke an sechzehn junge hungrige Drachen. War es möglich, daß noch jemand Eier verkaufte? Sie konnte sich kaum vorstellen, daß noch jemand so viel Glück, eine so gute Nase und ebenso so gutes Klettervermögen wie sie selbst hatte. Sie fällte eine Entscheidung. »Tja, wirklich schade«, sagte sie und tat, als wäre sie nur wenig enttäuscht. Sie beachtete die innere Stimme nicht, die ihr sagte, daß er sich mit diesen Spielchen besser auskannte als sie und ihre gespielte Gelassenheit bestimmt durchschaute. »Ich denke, ich muß das Nest an jemand anderen verkaufen.« Sein Lachen jagte ihr kalte Schauer über den Rücken, denn ihre Worte schienen ihn wirklich zu belustigen. Dadurch wurde ihr Entschluß ein wenig erschüttert, aber sie war wütend auf den Menschen, auf seinen betrügerischen Täuschungsversuch und darauf, daß er sie so lange hatte warten lassen, nur um ihr das mitzuteilen. Sie schüttelte den Rest des Wassers, das sich auf dem Umhang gesammelt hatte, ab, warf ihn sich um die Schultern, knotete die Bänder zusammen und warf ihm noch einen Blick zu. Er sah nachdenklich aus, aber bei einem Menschen wußte man ja nie so genau ... »Das Angebot gilt noch«, sagte er und richtete den eiskalten Blick auf sie. »Zwei Goldstücke für alles zusammen?« Sie lachte 33
spöttisch, und ihr Ärger überdeckte die Furcht und die bloße Versuchung. Sie würden einen anderen Weg finden. Melelki drehte sich um und ging; dabei schloß sie die Tür so heftig, daß das kleine Gebäude erbebte. Melelki hegte finstere Gedanken über den Menschen, als sie durch schlammige Pfützen nach Hause stapfte. Einerseits wäre sie gern umgekehrt und hätte ihm gesagt, ja, sie wolle die beiden Goldstücke nehmen, wenn er nur mit dem Fuhrwerk käme und die Dracheneier mitnähme. Aber diesen Gedanken verdrängte sie sofort wieder, denn sie besaß einen seltenen Schatz: sechzehn Dracheneier! Irgend jemand würde sich bestimmt dafür interessieren und ebenso gut dafür zahlen, wie der Mann es getan hatte. Sie mußte sich einen Karren kaufen - natürlich ohne daß man ihr Fragen stellte. Den konnten sie selbst ziehen, oder etwa nicht? Sie war sich nicht sicher. Dann mußte sie einen anderen Käufer finden, und zwar schnell, denn in ein paar Wochen würden die Jungen ausschlüpfen und ... Es blieb kaum Zeit mehr dafür. Sie war eine Närrin. Die letzten Jahre hindurch war sie davon ausgegangen, daß Eisauge sie haben wollte und dafür zahlen würde. Statt dessen hätte sie ... Was hätte sie tun sollen? Statt dessen hätte sie einen neuen Käufer finden sollen. Statt dessen hätte sie herausfinden sollen, wozu die Eier nütze waren. Soviel zur Neugierde der Zwerge, dachte sie wütend über sich selbst. Wo war die Neugierde im letzten Jahr gewesen, wo im Jahr davor, als das Wetter so gut war, daß sie nach Norden hätte gehen können um zu sehen, was der blauäugige Mensch mit den Eiern anfing? Sie hätte auch bei dem letzten Frühlingsfest auf dem Markt in Kalitas fragen können, wo vielleicht irgend jemand mehr gewußt hätte als sie selbst. Statt dessen war sie das 34
ganze Jahr über daheim geblieben, war im Berg herumgeklettert, hatte bei ihren Töchtern gesessen, Geschichten erzählt, Körbe geflochten und lange geschlafen. Und manchmal Bilder gestickt. Nie wieder. Von nun an würde sie alles herausfinden. Aber zuerst mußte sie die Eier loswerden, ehe die Brut ausschlüpfte. Er würde sie nicht kriegen. Nicht dieser stinkende, eingebildete Mensch. Nicht für zwei Goldstücke und nicht für vier. Nicht einmal, wenn ihr nichts anderes übrig blieb, als sie zurück ins Nest zu tragen, ehe sie schlüpften. Langsam atmete sie aus. Der Atem sah in der kalten Luft wie Rauch aus. Genau das mußten sie tun. Die Eier wieder auf den Berg bringen und zurück ins Nest legen. Für alles andere blieb keine Zeit. Nicht in diesem Jahr. Der Gedanke war bitter, denn bald war tiefer Winter, und die Marktleute waren während der kalten Monate geizig, daher brauchten sie das Gold. Sie war froh, daß sie in den vergangenen Jahren etwas gespart hatte, aber es war nicht viel. Bis zum Frühling konnten sie damit auskommen, wenn sie sehr sparsam waren, und dann mußten sie Arbeit finden. Vielleicht konnten sie wieder Bilder verkaufen. Wenigstens war das Haus solide genug gebaut, um Schnee und Kälte abzuwehren. Sie mußten eng zusammenrücken und viel schlafen. Sehnsüchtig stellte sie sich einen riesigen Kessel vor, in dem sie alle Dracheneier hartkochen konnte. Dann hätten sie den ganzen Winter über genug zu essen. Aber wahrscheinlich waren die Schalen zu dick oder irgend etwas Fürchterliches würde geschehen. Der Gedanke an den erneuten Aufstieg zum Berggipfel, bei dem jedes Ei in einem Tragegurt über die schlüpfrigen Ränder hoher Felsnasen geschleppt werden mußte, behagte ihr gar nicht. Aber sie mußte die Eier doch nicht genau an den Ort 35
bringen, an dem sie gelegen hatten, oder? Einfach nur weit genug von der Hütte entfernt. Und weg von den Minen. Wenn die Jungen in die Minen gerieten ... Weit weg. Wütend stapfte sie durch die Lehmpfützen, ungeachtet ihrer kalten Füße und des Regens, der ihr übers Gesicht strömte, und auch ungeachtet der Erinnerung an den Menschen, der sie auslachte. Sekena stand in dem winzigen dunklen Keller. Die sechzehn Eier, die auf dem strohbedeckten Boden lagen, schimmerten im flackernden Licht der Lampe. Oben schliefen Tamun und Mama tief und fest. Sie hatten sich nicht einmal geregt, als Sekena aus dem gemeinsamen Bett schlüpfte und nach unten schlich. Sie hatten beschlossen, die Eier zurück in das Nest zu legen. Sie waren nicht besonders glücklich darüber, aber Mama hatte recht: Es gab keine andere Möglichkeit. Allerdings hatte der Sturm anderes im Sinn, und man konnte bei diesem Schneetreiben nicht auf den Berg klettern. Daher mußten sie warten, bis das Unwetter vorüber war. Vielleicht morgen. Sekena war enttäuscht. Es war nicht allein die Arbeit, die gräßliche, eiskalte, anstrengende Kletterei, sondern auch das Zurückbringen der Eier... Wie eigenartig, daß der Mensch diesmal nicht bezahlen wollte. Menschen! Da die Eier zurück auf den Berg gebracht wurden, mochte Sekena dem Drang nicht länger widerstehen. Sie hockte sich hin und fuhr mit zitternden Händen über eine der gefleckten, leuchtenden Schalen. Glatt wie Glas und hart wie Eisen. Mama hatte gesagt, daß man an manchen Orten Schmuck und Waffen aus den strahlend weißen Schalen der Dracheneier anfertigte. Waffen aus Dracheneierschalen. Die würde sie gern einmal sehen. Mama meinte, daß es den Menschen ähnlich sah, Schmuck aus Eiern anzufertigen, die andere für sie be36
sorgten. Es verlieh ihnen das Gefühl, tapfer zu sein, sagte sie, als seien sie anwesend gewesen, als die Jungen ausschlüpften und hätten ihnen gegenübergestanden. Natürlich hatte das noch niemand getan. Wer wollte schon in der Nähe sein, wenn ein Drache das Ei verließ? Sekena wollte es. Sie dachte am Tage daran und träumte des Nachts davon und fragte sich, wie die Kleinen aussahen. Sie hatte das Drachenjunge damals im Dorf nicht gesehen, aber alles "darüber gehört und wollte es immer wieder hören. Wenn man einen kleinen Drachen sehen könnte, dachte sie, wäre das natürlich hundertmal besser. Sie schlief nie besonders gut, wenn die Eier im Keller lagen. Während die anderen schliefen, lag sie wach und kämpfte gegen die Versuchung an, in den Keller zu steigen und eine Schale zu zerbrechen. Manchmal klammerte sie sich am Bettrand fest und hoffte, ihre Schwester und die Mutter würden rechtzeitig aufwachen, um sie aufzuhalten, falls sie die Beherrschung verlor. Aber warum machte sie sich Sorgen? Sie wäre gar nicht in der Lage, ein Ei allein zu öffnen, nicht wahr? Trotzdem verspürte sie den verzweifelten Drang, es zu versuchen. Natürlich lag diese seltsame Neugierde den Zwergen im Blut, trieb sie an. Dieselbe Neugier brachte ihre Mutter dazu, in den Bergen herumzuklettern und hatte sie schließlich zu dem Nest auf dem Gipfel geführt. Dieselbe Neugier trieb Tamun dazu, den Waldboden nach toten Tieren abzusuchen, die sie mitnahm, aufschnitt, trocknete und dann ihrer Knochensammlung einverleibte. Sekena betrachtete die wundervoll glänzenden Eier und sog den wilden Duft ein. Die Neugier brannte gleich einem Schmiedefeuer in ihr, aber sie kämpfte dagegen an und besiegte sie. Sie war kein Kind mehr, das wie ein Blatt im Wind herumgeworfen wurde; sie war beinahe erwachsen. Jetzt stand sie hier, von einem inne37
ren Feuer fast verzehrt, und berührte kein einziges Ei mehr. Mama wäre stolz auf sie, wenn sie es wüßte, aber Sekena würde nie darüber sprechen. Dies war ihr ureigenster Kampf, ihr ganz persönlicher Triumph. Sie war eine starke Frau. Nicht wie Tamun. Es erfüllte Sekena mit Furcht, Tamuns fieberhaftes Benehmen mitanzusehen. Die ältere Schwester sprach davon, ins Dorf zu ziehen und redete über Häuser, Kinder und Männer. Sicher würde Tamun eine gute Mutter sein, aber Sekena wollte ein anderes Leben führen und nicht hinter ihrer Brut herlaufen. Der Gedanke ließ sie erschauern. Nein, das war kein Leben für sie. Sie würde auch nicht im Dorf bleiben, irgendwelche Arbeiten verrichten und bei ihrer Mutter leben. Sie würde ihr Geheimnis bewahren: Sie hatte sich entschieden, eine Söldnerin zu werden, wenn sie erst einmal die Hitze erreicht hatte. Sie nahmen Frauen, die sich in der Hitze befanden, weil sie dann stärker als die Männer waren, aber sie mußten versprechen, nicht schwanger zu werden. Das Versprechen konnte sie halten. Gleichgültig, wie sehr ihre Leidenschaft sie antrieb, sie würde sich nie davon überwältigen lassen. So stand sie da, prüfte sich, spürte das Zucken in den Fingern, noch einmal ein Ei zu berühren und einen Hammer zu nehmen, um herauszufinden, wie stark die Schalen waren. Heute erprobte sie sich an den Eiern, aber eines Tages würde sie ein fein gearbeitetes Zwergenschwert in der Hand halten. Sie konnte sich schon alles genau ausmalen. Leichte Rüstung kam ihrer Schnelligkeit entgegen. Und das Schwert - sie spürte den Knauf, das Gewicht, wenn sie ausholte und hörte das >Klang!Warum< unklar, aber er wußte, gegen wen sie vorgingen: Gegen jeden. Aus den verschiedensten und verworrensten Gründen, die sogar einen Historiker verwirren würden, schien die Rassen Sarpadias gegeneinander Krieg führen zu wollen. Jeder fand einen Grund zu kämpfen - wie Geschwister, die fortwährend Streit suchten. So war es in Icatia. Ob sich ein Dorf weigerte, den Zehnten abzugeben oder ob die Landbevölkerung das Mittwinterfest der Schwarzen Hand feierte - die Herrscher Icatias waren schnell bereit, ihre Armee einzusetzen. Und warum? Weil sie einen Feind brauchten. Daher hatte Reod dazu beitragen wollen, ihnen einen Feind zu liefern. Die Orks und Goblins, die er mit Waf179
fen und Strategien versorgt hatte, wären eine selbstbewußte, hartnäckige aber im Endeffekt zahnlose Truppe gewesen und ein passender Feind für jedes Land, daß nach Krieg lechzte. So wäre das Militär Icatias mit Schwierigkeiten von außen beschäftigt gewesen. Vielleicht hätte die Armee dann jene Menschen unbehelligt gelassen, die nicht zu Leitbur beten wollten oder mit der Schwarzen Hand übereinstimmten. Aber nun handelten die Orks und Goblins auf eigene Faust und waren schlagkräftiger und weniger einschätzbar, als sie es unter Reods Führung gewesen wären. Ohne ihn würden sie alles angreifen, sogar kleine Dörfer ohne Verteidigung. Jetzt konnte er nicht mehr viel dagegen unternehmen. Der Goblinkönig war geizig und gewalttätig, und Reod konnte sich ihm nicht ohne Gold und Waffen nähern. Die Orks könnte er überlisten, aber auch nur ein einziges Mal. Vielleicht gab es in Teedmar ein paar Zwerge, die auf seine Warnungen hören würden. Wahrscheinlich würden sie aber nur darauf beharren, daß ihre Rekruten ausreichten, um die Stadt zu verteidigen. Er beschloß, die geeigneten Zwerge zu suchen, wenn er Tamun gefunden hatte, damit Teedmar die Gelegenheit bekam, sich auf die Orks und Goblins vorzubereiten, wenn sie angreifen würden. Und das würden sie. Suchend blickte er in die Gesichter aller Zwerge, die an ihm vorübergingen und suchte nach ihnen. Seine Schritte klangen auf dem Holz- und Steinpflaster der Stadt hohl, und er fröstelte in der Abendkühle. Tamun und ihre Familie waren hier. Sie mußten hier sein. Er würde sie finden. Der nächtliche Himmel war mit funkelnden Sternen übersät. Drei Frauen, wollte er sagen. Vielleicht auch zwei. Er war vorsichtig, ging gebückt und hielt nach Menschen Ausschau. Reod sprach nur einzelne Zwerge 180
an. Er bemühte sich, sein Zwergisch mit südlichem Dialekt zu sprechen und hoffte, daß sich niemand für das unter der Kapuze verborgene Gesicht interessieren würde. Jetzt erwies sich das mangelnde Mißtrauen der Zwerge als vorteilhaft. Aber er fand sie nicht. Schließlich begab er sich in eine überfüllte, laute Taverne, in der niedrige, langgestreckte Holztische standen. Mit Stroh gefüllte Kissen luden zum Ausruhen ein. Überall erblickte er die strähnigen Haarschöpfe der Zwerge. Der Geruch nach Schweiß und Bier hing schwer im Raum, aber es war warm, und der Duft eines Eintopfes ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Er schritt zu einer großen Feuerstelle, die sich am anderen Ende des Raumes befand. Die lodernden Holzscheite lagen zischend und knackend inmitten der leckenden Flammenzungen. Das Feuer verjagte die Kälte, die ihm bis in die Knochen gedrungen war und die Verzweiflung, die ihn zu überwältigen drohte. Während er sich das Gesicht und die Hände wärmte, blickte er sich suchend nach den beiden vertrauten Gestalten um. Das Ruhebedürfnis seines Körpers ärgerte ihn, denn er war sicher, daß sich Tamun in der Stadt befand, vielleicht nur wenige Schritte von ihm entfernt. Sie waren hier. Sie mußten hier sein. Selbst wenn sie zu Fuß gegangen waren, mußten sie mit Hilfe der Elfeneskorte vor ihm eingetroffen sein - mindestens einen oder zwei Tage früher. Morgen, sagt er sich. Morgen finde ich sie. Eine Frauenstimme drang an sein Ohr. »Robin?« Der Magen krampfte sich ihm zusammen. Eingelullt durch die Unaufmerksamkeit der Krieger und die Sorglosigkeit der Zwerge hatte Reod die Kapuze abgesetzt, als er sich vor dem Feuer aufbaute und sich - gut sichtbar für alle Anwesenden - im Raum umgeschaut. Er war ein Idiot! 181
Reod rührte sich nicht und tat so, als habe er nichts gehört. Vielleicht entschied die Sprecherin, daß dieses zerlumpte, bärtige, magere Individuum, das sich am Feuer wärmte, keinesfalls der berüchtigte icatianische Verräter sein konnte. Aber schon blieb jemand neben ihm stehen. Sie trug die helle Uniform des Ordens und den hohen Kragen einer Offizierin. Es hätte kaum schlimmer kommen können. Es war gefährlich, in einem überfüllten Raum einen Zauberspruch zu sprechen. Wer weiß, vielleicht befand sich ein neugieriger und der icatianischen Obrigkeit ergebener Magier in der Taverne und bemerkte den Zauber? Trotzdem konzentrierte er sich auf einen einfachen Spruch, der sein Aussehen leicht verändern würde. Meine Haut wird dunkler, dachte er und konzentrierte sich mit aller Macht. Die Nase breiter und die Augen auf gar keinen Fall blau ... Eine Hand legte sich ihm auf die Schulter. Dann drehte ihn die Frau zu sich herum. »Robin! Du bist es wirklich!« Die Stimme klang fest, war aber leise. Er vergaß den Zauberspruch. »Eliza?« Sie war die Tochter der Freunde seiner Eltern. Innerhalb des Ordens hatten ihre unterschiedlichen Meinungen sie auseinandergetrieben, und sie hatten gelernt, nur über bestimmte Dinge miteinander zu reden, um die alte Freundschaft nicht zu gefährden. Zum Schluß endete es damit, daß sie sich kaum mehr unterhielten. Als er sie zum letzten Mal sah, hatte sie gerade den Hauptmannsrang verliehen bekommen. Ein unfreiwilliges Lächeln huschte über seine Lippen. »Was machst du in Teedmar?« »Ich finde, ich sollte dich danach fragen!« Hastig schweifte sein Blick umher. Sie lächelte ebenfalls. »Ich bin allein. Außerdem habe 182
ich nicht nach dir gesucht, obwohl ich sicher bin, daß dich Farrel liebend gern sehen würde.« Sie faßte ihn am Arm und führte ihn zu einem seitlich stehenden Tisch, wo sie ihm ihre Schüssel mit Eintopf zuschob. »Du siehst hungrig aus. Du hast auch schon früher immer wieder vergessen, zu essen.« Er nahm einen Schluck Brühe zu sich und fischte mit einer Scheibe Brot nach Rüben und Fleischstücken, die er sich gierig in den Mund stopfte. Allmählich fühlte er ach wieder besser. »Du bist jetzt bei Farrel?« Sie nickte. »Kommt jetzt der Augenblick, in dem ich zugeben muß, daß du recht hattest?« Reod schnaubte verärgert. »War es jemals so einfach?« »Inzwischen steht der größte Teil des Ordens hinter Farrel obwohl wir nicht öffentlich darüber reden. Es ist ihm ernst mit der Vernichtung der Hand. Dem König gefällt es nicht, aber das ist seine eigene Schuld. Wenn er nur halb so viel Zeit damit verbringen würde, die Anhänger Tourachs zu verfolgen, wie mit der Unterdrückung der von Hungersnöten bedrohten Grenzstädte ...« »Und du glaubst, Farrel sei besser?« »Ich finde, Farrel überblickt die Lage klarer. Er ist bereit, sofort zu handeln. Der König zieht lange Ratsitzungen vor. Aber dafür bleibt uns keine Zeit.« »Da stimme ich ausnahmsweise mit dir überein.« »Und jetzt kommen die Orks und die Goblins.« Er schwieg und leerte die Schüssel mit dem Eintopf. »Ich habe dich vermißt, Robin.« Sie erinnerte ihn an daheim und an die Zeit, in der er noch ein zu Hause gehabt hatte. Er seufzte. »Eliza, in den letzten Jahre habe ich Dinge getan ...« Sie lachte kurz und grimmig auf. Er war überrascht. »Haben wir das nicht alle? Leitbur muß wünschen, daß wir unser Heil im Blutvergießen suchen. Vielleicht rede ich lästerlich, aber ich frage mich, ob zwischen uns und Tourachs Verlorenen ein Unterschied besteht?« 183
»Kein sehr großer.« Sie sah ihn neugierig an. »Du warst dir dessen immer sehr sicher. Man sagt, daß du während deines Aufenthaltes bei der Schwarzen Hand zu Tourachs Eigenen gehört hast.« »Nicht wirklich. Aber wie gesagt, ich habe Dinge ...« »Will ich das wirklich hören?« »Wahrscheinlich nicht.« Ihre Blicke begegneten sich. Sie ergriff seine Hand, »Egal was du getan hast, sage mir eines: Was geschah mit jenen, die dir zur Hand gefolgt sind?« »Wirst du mir glauben?« »Ich versuche es.« »Dann hör zu: Ein paar der Leute, die mir folgten, waren Lügner. Sie schlichen sich davon und kehrten zu ihren Familien zurück. Andere gingen ...« Er zuckte die Achseln, »...sonst wo hin. Viele folgten mir freiwillig zur Hand und fanden es dort so furchtbar, wie man es ihnen in den Geschichten der Kindheit geschildert hatte. Es blieben wenige übrige, sehr wenige, die mir zum Herzen der Schwarzen Hand folgten und dort ihre Heimat fanden.« »Und du?« flüsterte sie. »Was fandest du?« »Eliza, ob du dich nun auf Farrel oder Leitbur berufst, du bist immer noch Hauptmann der icatianischen Armee, nicht wahr?« »Robin...« »Reod.« »Ach ja, der Name, den du bei der Hand erhieltest. Ich werde dich nicht zurückschleppen, Reod. Jetzt nicht mehr. Es gibt so viele Verfahren des Kriegsgerichtes, daß es ein Wunder ist, daß noch Leute übrig sind, um Trokair zu verteidigen.« »Ist es so schlimm?« »Ja. Du bist übrigens berühmt, weißt du das? Jedenfalls bei denen, die darüber zu reden wagen. Man wird schon bestraft, wenn man nur deinen Namen ausspricht. 184
In den Dörfern nageln sie Vögel mit rotem Brustgefieder über die Haustüren, um sich gegen Verrat und Täuschung zu schützen.« Sie lächelte, um die Worte freundlicher klingen zu lassen, aber Reod sah sie ernst an, und ihr Lächeln verschwand. »Es ist angebracht, daß sie so an mich denken.« »Die Zeiten sind schlecht, Robin. Soll ich über das, was du getan hast, richten? Ich bin seit längerer Zeit unsicher, was richtig und was falsch ist.« »Gut. Ich mißtraue Leuten, die sich ihrer zu sicher sind.« »Du willst mir also nicht erzählen, was bei der Schwarzen Hand mit dir geschah?« »Nein.« »Was suchst du denn dann in Teedmar?« »Willst du die Wahrheit hören?« »Warum nicht?« Er atmete tief durch. »Ich suche drei weibliche Zwerge. Eine von ihnen ist... nun ...« Plötzlich begriff Eliza. Sie lachte schallend, hielt aber inne, als sie seinen Gesichtsausdruck bemerkte und schüttelte den Kopf. »Oh, Robin! Das ist unglaublich. Was für Zeiten doch herrschen!« »In der Tat.« »Willst du ihr einen Antrag machen?« »Ich weiß nicht.« Wie sollte er erklären, daß er sich seiner Sache nicht sicher war? »Es ist alles ein wenig ungewöhnlich.« »Mehr als bloß ein wenig, würde ich sagen. Hast du...« »Das geht dich nichts an.« Sie lächelte. »Hör mal, ich habe ein wenig Zeit. Ich kann dir morgen bei der Suche helfen.« »Eliza, reiß dich zusammen! Weißt du, was du wagst, wenn du nur hier neben mir sitzt?« 185
»Ich weiß, wie gefährlich es für dich ist, in Teedmar herumzulaufen, wo sich so viele Krieger aufhalten. Man kennt mich hier. Wenn wir zusammen sind, wird dich niemand verdächtigen. Diese Zwergin - wenn sie dir so viel bedeutet - ich will tun, was in meiner Macht steht. Morgen vormittag habe ich frei, aber ab Mittag muß ich bei den Schmieden sein, um eine Einschiffung anzukündigen. Morgen kehre ich mit meiner Truppe nach Icatia zurück.« »Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Wir hatten in der Vergangenheit unsere Meinungsverschiedenheiten, aber...« Sie unterbrach ihn lachend. »Aber nun handele ich aus reinem Großmut, da ich eine ehrbare Icatianerin bin. Leitbur wäre stolz auf mich und...« Plötzlich verdunkelte sich ihre Miene. »Ich glaubte, ich würde dich nie wiedersehen. Und in diesen blutigen Zeiten mag es das letzte Mal sein. Also schenke mir diesen gemeinsamen Morgen.« »Es wird mir eine Freude sein. Ich danke dir.« Sie schüttelte den Kopf. »Danke mir, wenn wir sie finden.« Sie frühstückten hastig und traten hinaus auf die Straße. In den Städten Icatias bestand das Pflaster der Straßen aus Stein, aber hier, wo das Wetter noch unfreundlicher war, hatten die Zwerge hölzerne Fahrspuren für die Wagen gebaut, die ein Stück höher als das Pflaster lagen. Diese Fahrspuren mußten fortwährend ausgebessert werden, aber die Zwerge, die auf dem Boden hockten und mit ihren Werkzeugen, Nägeln und Brettern hantierten, schienen trotz der eisigen Kälte zufrieden zu sein. Typisch für Zwerge - sie waren so eigenartig! »Wenn deine Zwerginnen gestern eingetroffen sind«, sagte Eliza, »könnten sie noch in den Unterkünften sein. Die Stadt bietet jedem Zwerg, der sich zum Soldaten oder Helfer ausbilden läßt, freie Unterkunft und Ver186
pflegung. Sie suchen verzweifelt nach Freiwilligen zur Unterstützung der Wachen in den umliegenden Dörfern, die sich mit den Überfällen der Goblins und Orks herumschlagen müssen.« »Das nennt man Krieg.« »Wenn es ein Krieg wäre, müßten beide Seiten Armeen haben. Die gibt es aber nicht. Hier siehst du einfaches Volk, das glaubt, es gebe keinen Unterschied zwischen einem Schwert und einer Axt. Ich habe sie bei den Übungen beobachtet, und es handelt sich nur um einen großen, ungeordneten Haufen Zwerge.« »Das ist bei den Orks und Goblins genauso.« »Sie sind nicht mehr so ungeordnet wie früher.« »Stimmt.« Sie standen vor den Unterkünften. Eliza erkundigte sich nach den Frauen, und Reod hielt sich im Hintergrund, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen. Sie suchten mehrere Stunden lang. Zuerst in den Schlafräumen, dann in den Küchen, den Handwerkerschuppen und Waffenschmieden. Während Eliza sich in den Waffenschmieden aufhielt, wo sie als Käuferin willkommener war als er, wartete Reod draußen. Karren wurden mit Schwertern und Speerspitzen beladen. Er starrte die Vorübergehenden suchend an. Schließlich kehrte Eliza zurück. »Vielleicht, vielleicht auch nicht.« »Was meinst du damit?« Sie zuckte die Achseln. »Die Hälfte aller Zwerge in Teedmar ist weiblich. Aber heute morgen haben hier zwei unbekannte Zwerginnen gearbeitet.« Er wollte gerade losstürmen, als sie ihn am Ärmel festhielt. »Sie sind fort.« »Fort? Wohin?« »Das weiß er nicht und ist nicht sehr froh darüber. Hier sind alle überarbeitet, und die beiden sind seit 187
Stunden weg. Er nimmt an, daß es ihnen zu langweilig wurde und sie in die Stadt gegangen sind.« Sanft berührte sie Reod an der Schulter. »Nur Geduld.« Er atmete langsam auf und versuchte, sich von ihren Worten trösten zu lassen. Das waren sie; das mußten sie sein. Sie waren hier. Er glaubte, Tamuns Augen vor sich zu sehen und vermeinte, Melelkis Frage zu hören, weshalb er so lange gebraucht hatte. Er mußte weitersuchen. Er wandte sich Eliza zu, um ihr zu danken und sie dann zu ihrer Verabredung gehen zu lassen, während er weitersuchte. Dann wurde es schwarz um ihn herum, als habe ihnen jemand eine schwere Decke übergeworfen. Er hörte Eliza keuchen. Eine tiefe Stimme durchdrang die Dunkelheit. »Reod Dai.« Ein weißer Fleck tauchte vor ihm auf und wurde zu einem Gesicht. Drei gelbe Augen bildeten ein Dreieck und starrten ihn an. »Laß mich raten«, sagte Reod und zwang sich, trotz der eisigen Kälte, die sich in seinem Inneren ausbreitete, belustigt zu klingen. »Du bist einer von Leitburs Auserwählten?« Ein weißes Kinn bewegte sich auf und ab, als gehöre es nicht zu dem Rest des weißen Gesichtes. »Wir möchten dir unsere Glückwünsche aussprechen«, fuhr die Stimme in der Ersten Tempelsprache der Schwarzen Hand fort, die dem Icatianischen ähnlich war. »Du hast viel erreicht, seitdem du das letzte Mal von Tourachs segnender Hand berührt wurdest.« Reod dachte angestrengt über die Worte des Magiers nach. »Ich danke dir.« Eliza schwieg und war offensichtlich verwirrt. Obwohl sie die Anhänger Tourachs seit Jahren bekämpfte, bezweifelte Reod, daß sie jemals einem von ihnen begegnet war. 188
»Wir freuen uns ganz besonders über den Schaden, den du den Waldbewohnern zugefügt hast.« Er mußte das Feuer meinen. Wenn die Hand bereits davon wußte, mußte der angerichtete Schaden sehr groß sein und sich überall im Wald der Elfen ausgebreitet haben. Aber woher wußten sie, daß Reod dafür verantwortlich war? Hatten die Elfen es ihnen gesagt? Und warum sollten die Elfen Verbindung zur Schwarzen Hand aufnehmen? Er hatte nicht vor, irgend etwas zuzugeben. »Was glaubst du denn, was ich getan habe?« »Sie lehnen sich gegen ihre Herren auf, da sie nicht länger von ihren Wurzeln gehalten werden. Wir sind mit deiner Arbeit zufrieden.« »Wer lehnt sich auf?« »Du brauchst dich uns gegenüber nicht dumm zu stellen. Wir wußten, daß du im Zufluchtwald weiltest, als sie erwachten und ihr Erdgefängnis verließen. Niemand außer dir hätte Magie auf diese Weise und zu diesem Zweck angewandt.« Reod kämpfte mit den Worten des Magiers und suchte nach ihrer wahren Bedeutung. »Die Thallide?« fragte er ungläubig. Der Magier beachtete die Frage nicht, da er überzeugt war, daß Reod sein Erstaunen nur heuchelte. »Uns ist bewußt, daß Tourach sich deiner Hände bedient, um die Elfen zu strafen. Leben darf nur durch Tourachs Weisheit und Wissen geschaffen werden. Das werden sie jetzt begreifen.« Jetzt verstand Reod, was in dem Thallidfeld mit den kleinen Drachen geschehen war. Die Pilzwesen hatten die Magie aufgesogen, die für die Jungen bestimmt gewesen war. Die Drachen waren nicht gesprengt worden, aber die Magie hatte die Thallide grundlegend verändert. Sie waren beweglich und sich ihrer selbst bewußt geworden. Dann hatten sie beschlossen, sich gegen jene aufzulehnen, die sie verzehrten. Das ergab einen Sinn. 189
Außerdem erklärte es den Schatten, den er in der Dunkelheit in der Elfenfestung gesehen hatte: Ein Thallidstengel mit Füßen. Der Magier fuhr fort. »Die Elfen haben es selbst verschuldet, weil sie die von uns Geschaffenen gestohlen haben, um aus ihnen eigene Wesen zu bilden. Wir boten ihnen Tourachs Wissen an, aber sie wiesen es zurück. Jetzt haben sie die Folgen zu tragen.« Reod wußte, daß der Magier log; niemand konnte die Schwarze Hand bestehlen. Wenn die Elfen die beschaffenem - die Bezeichnung der Hand für die Trulle - benutzten, um Thallide zu bilden, geschah es mit Zustimmung der Anhänger Tourachs. Also bezahlte jemand aus dem Zufluchtwald die Schwarze Hand, und gewiß bezahlte er sie besser, als es bei Reod der Fall gewesen war. Und nun leistete die Nahrung Widerstand. Das erschien ihm einleuchtend. »Wieviel haben sie euch gezahlt?« fragte er mit grimmigem Lächeln. Es erlosch jedoch augenblicklich, als ihm bewußt wurde, wie die Bezahlung ausgesehen haben mußte. Die Elfen hatten dafür gesorgt, daß die südliche Grenze Icatias bedroht wurde, damit sich die Armee dort versammelte und die übrigen Grenzen geschwächt zurückblieben. Ganz besonders die westliche Grenze, wo der Einfluß der Schwarzen Hand am größten war. »Jetzt benötigt die Schwarze Hand deine Hilfe, um die Icatianer zurückzuwerfen.« Wenn er genug Geld bekam und die Zeit ausreichte, konnte er die Orks und Goblins vielleicht wieder im Zaum halten. »Ich höre.« »Wir werden den endlosen Kämpfen zwischen den Anhängern Tourachs und den Ungläubigen ein Ende bereiten. Du wirst mitkommen und die gleichen Sprengkörper anfertigen, die du den Goblins gegeben hast.« 190
Reod spürte Elizas fragenden Blick auf sich ruhen. »Ja, das kann ich hier in Teedmar machen. Aber ich brauche Geld.« »Du wirst nach Achtep kommen und dort arbeiten.« »Das geht nicht.« »Die Zwerge haben nichts, das wir nicht auch haben.« »Ich muß hier bestimmte Dinge erledigen.« »Du arbeitest jetzt für die Schwarze Hand.« Reod zuckte die Achseln. »Dann kann ich euch leider nicht helfen.« »Wie schade. Der Berg, der über uns aufragt, wird in Kürze zerstört werden und die Stadt unter sich begraben. Ich nahm an, du würdest die Gelegenheit begrüßen, dich zu verabschieden, ehe das geschieht.« »Zerstört?« »Diese geschäftigen Zwerge mit ihren vielen Waffen verärgern uns. Die Icatianer haben genügend Waffen.« »Was heißt zerstört? Wie?« »Wir haben den Berg wütend gemacht und Feuer in seinem Herzen entzündet. Schon bald wird es ausbrechen. Du kannst hierbleiben, wenn du es wünscht.« Tamun! Reod sah ihre goldbraunen Augen vor sich. Wenn auch sie... Er spürte, wie seine Furcht jeden klaren Gedanken zu verdrängen drohte und zwang sich, ruhiger zu werden. »Ich möchte, daß ihr eure Plane ändert.« »Die Anhänger Tourachs sind bereits dabei, den großen Zauber zu weben. Willst du hierbleiben und sterben?« »Nein. Hör zu. Es gibt Leute in Teedmar, die ich finden muß.« »Wie bedauerlich. Sie werden bald tot sein.« »Ich will mit dir gehen. Ich werde für die Hand arbeiten und euch Sprengkörper und anderes anfertigen. Aber nur, wenn ihr den Berg unversehrt laßt.« »Wir denken nicht daran, den Berg oder die hier lebenden Ungläubigen zu verschonen. Vielleicht erzählst 191
du mir, wer die Kreaturen sind, die dir so wichtig erscheinen. Wir können sie für dich suchen. Ich schlage vor, du beeilst dich.« Eliza tippte ihm auf die Schulter. »Nicht, Robin. Was werden sie mit ihr anstellen?« »Alles ist besser als der Tod.« »Ist es das?« »Drei Zwerge«, sagte Reod. »Weibliche.« »Irgendwelche?« »Nein. Eine Mutter und zwei Töchter. Sie heißen Melelki, Tamun und Sekena. Normale Zwergengröße, aber die Haare sind ein wenig dunkler, da sie aus den Bergen des Südens stammen. Als ich sie zuletzt sah, trugen sie Ölhäute.« Er wies auf seinen Umhang. »So wie diese hier.« Sein Herz klopfte wild und kummervoll. Wenn ihn der Magier betrog, dann hatte Reod gerade die Namen derer genannt, die ihm am meisten bedeuteten, aber wahrscheinlich bot sich hier die einzige Möglichkeit, sie zu retten. Die gelben Augen starrten ihn eine Weile an, ein Nicken, und das Gesicht verschwand. Eliza Stimme klang bedrückt. »Robin.« Er seufzte tief. »Sie machen einen Vulkan aus dem Berg.« »Können sie das?« »Ja.« »Oh, bei Leitbur, wir müssen sie aufhalten.« »Das haben wir gerade versucht.« »Wo zur Hölle sind wir?« »Wir befinden uns in einer - einer finsteren Kugel. Es handelt sich um eine Art magische Tasche.« Er spürte die Magie wie eine starke, feste Steinmauer rings um sich herum. »Eliza, du mußt mitkommen. Wenn du hierbleibst, stirbst du.« »Ich kann nicht weg. Meine Soldaten sind hier.« Wieso starben die Leute, egal, wohin er sich wandte? Er rieb sich die Stirn. 192
»Entweder begleitest du mich oder kommst um.« »Verdammt, Robin! Du hast einst zu ihnen gehört. Du lebtest bei der Schwarzen Hand. Du mußt doch Einfluß haben. Unternimm etwas!« »Ich hatte weniger Einfluß, als du glaubst.« Vielleicht auch mehr, aber darüber wollte er nicht sprechen. »Und noch etwas, Eliza - du mußt mich Reod nennen.« Er sah sie an. »Ich bin schon seit langer Zeit nicht mehr Robin Davies.« Ihr Blick war mißtrauisch geworden. »Ja, das merke ich gerade.« »Es tut mir leid.« Seine eigenen Worte erschienen ihm hohl und barsch, deshalb wiederholte er sie, aber noch immer klangen sie unecht. Eliza schwieg, und sie warteten schweigend. Reod starrte in die Dunkelheit und hoffte, Tamun würde auftauchen. Die gelben Augen erschienen wieder. »Reod Dai. Wir haben versucht, die Zwerge zu finden, die du suchst. Es gibt unzählige Zwerge hier, die nicht leicht auseinanderzuhalten sind. Meine Diener haben überall Ausschau gehalten und konnten die von dir beschriebenen Zwerginnen nicht finden. Vielleicht sind sie gar nicht in Teedmar.« »Sie sind hier. Entweder findet ihr sie oder ihr unterbrecht den Zauber.« »Das geht nicht.« »Ich bestehe darauf.« »Du bestehst darauf?« Reod konzentrierte sich und grub seine ganze Leidenschaft aus. Tamun war da draußen. Sie würde sterben, wenn er jetzt nicht handelte. Er spuckte in die Hände, baute ihr Bild in sich auf und schoß einen magischen Pfeil auf den Lebensfunken des Zauberers ab. Der Magier machte eine abwehrende Handbewegung. Der Pfeil wurde von der Dunkelheit verschluckt. 193
»Ich freue mich, daß du nicht alles verlernt hast, Reod Dai.« Reod war verzweifelt. »Bitte.« Überraschenderweise fiel es ihm leicht, die Worte auszusprechen. »Ich bitte dich. Ich kann euch viel bieten. Wollt ihr Icatia? Ich kann es euch geben.« Er sah Eliza nicht an, denn er konnte sich ihren Gesichtsausdruck jetzt gut vorstellen. »Zweifellos«, nickte der Zauberer, »und genau das erwarten wir auch von dir. Aber der Berg wird seine Wut zeigen, und niemand kann ihn aufhalten.« »Oh, Leitbur!« stöhnte Reod, dem auch diese Worte leicht über die Lippen glitten, als sich seine Augen mit Tränen füllten. Die gelben Augen beobachteten ihn neugierig. »Die Zeit naht. Wir werden zusehen.« Plötzlich wurde es wieder hell um sie. Sie standen noch auf dem gleichen Platz, auf dem sie sich befanden, als sie die dunkle Kugel umschloß. Die Sonne stand tiefer, aber es war hell, und der Himmel leuchtete strahlend blau. Zwerge schritten die Straße entlang, als sei alles in bester Ordnung. Im Rinnstein hockte ein Zwerg, der einen Abfluß instand setzte. Der lange Bart lag zusammengebunden über seine Schulter. An diesem Winternachmittag ging alles in Teedmar den gewohnten Gang. Eliza hielt den Atem an, trat einen Schritt vor und drückte sich gegen die unsichtbare Wand der Kugel. Der Boden erbebte. Ringsherum blieben die Zwerge stehen, sahen sich um und blickten dann zur Spitze des Berges empor, wo sich hoch oben Felsbrocken von den steilen Hängen lösten. Steine rollten herab, sie schienen ganz langsam näherzukommen. Wolken aus Schnee stoben dahinter auf, die nur so winzig aussahen, weil der Gipfel des Berges so hoch über ihnen lag. Dann regnete es faustdicke Steine, die viele Zwerge zu Boden warfen. Blutlachen breiteten 194
sich auf der Straße aus. Der Steinhagel prallte wie Regen von der Kugel ab. Reod wollte die Augen vor dem Anblick verschließen. Er konnte nicht zusehen, aber er konnte sich auch nicht abwenden. Einen Augenblick lang verspürten sie ein Beben, das aus weiter Ferne zu stammen schien. Die Zwerge, die noch auf den Beinen standen, hockten sich hin und machten sich auf einen Stoß gefaßt. Statt dessen qualmte der Berg und spuckte dunkle Rauchschwaden und Felsbrocken aus. Die Zwerge schrien vor Angst und Schmerz. Häuser erbebten und fielen in sich zusammen. Dächer brachen unter dem Gewicht prasselnder Steine ein. In der Kugel erreichte sie weder das Beben noch irgendein Laut. Sie starrten auf das Unheil, das sich vor ihnen ausbreitete. Die Bilder verschwammen Reod vor den Augen, und seine Wangen waren feucht. Lava wälzte sich in roten, feurigen Kaskaden den Berg hinab, als ströme das Blut aus den Wunden eines verletzten Tieres. Das Lebensblut des Berges spritzte umher und setzte Häuser, Bäume und die hölzernen Fahrspuren der Straßen in Brand. Die Lava, die auf die Kugel fiel, verdampfte zischend und hinterließ keine Spuren. Vielleicht war es auch Blut. Reod konnte es nicht mehr auseinanderhalten. »Gut«, murmelte der Magier mit den gelben Augen. »Sehr gut.« Dann wurde es erneut dunkel um sie. Die Kugel hüpfte, fiel, hielt an und löste sich allmählich auf. Sie standen in einem langen Gang mit einer sehr hohen Decke und schwarzen Steinsäulen. In dem Dämmerlicht sahen sie den Magier ein wenig besser als zuvor in der Kugel. Reod wußte, daß er einst ein Mensch 195
gewesen sein mußte. Jetzt spannte sich die Haut zu straff über den Knochen, und auf der Stirn hatte man zusätzliche Haut eingepflanzt, in der das dritte Auge ruhte, das noch nicht ganz zum Leben erwacht war. Reod hatte eine solche Einpflanzung schon einmal mitangesehen. Der Anblick hatte ihn bis in seine Träume verfolgt. Um sie herum standen dunkle, unförmige Gestalten, die sich jetzt in Bewegung setzten und zu Wesen mit langen Zähnen und stachelbewehrten Rücken wurden. Die Geschaffenen. Reod erinnerte sich, wie der erste Trull vor vielen Jahren entstanden war und entsann sich der qualvollen Schreie, als die Versuche begannen. Hier sah er das Ergebnis vor sich. Der Magier erteilte den Trullen mit leiser Stimme Befehle in der Zweiten Tempelsprache und wies sie an, ihr Zimmer aufzusuchen. »Sind wir ...«, begann Eliza flüsternd und brach ab, da sie nicht wagte, den Satz zu beenden. »Ja,« antwortete Reod. »Wir sind in Achtep.«
196
»Sei vorsichtig, wenn du etwas auslachst. Es könnte zurücklachen.« - Reod Dai
Sekena beobachtete, wie eine dünne Rauchfahne hinter einem weit entfernt sichtbaren Berggipfel aufstieg. Der Berg lag im Westen, unweit von Teedmar. Vielleicht war es auch der Gipfel, der genau über der Stadt aufragte. Leichte Übelkeit und Angst befielen sie. Sogar auf diese große Entfernung war es noch sehr viel Qualm. »Ich muß gehen«, sagte sie laut vor sich hin. »Ich muß nach Teedmar. Meine Leute brauchen mich.« Schon vor Tagen hatte sie aufbrechen wollen, aber irgendwie wurde sie immer wieder abgelenkt. Wie konnte das nur geschehen? Jetzt war sie wütend auf sich selbst. Wenn ihr Mama und Tamun gefolgt waren, hätten sie angenommen, Sekena sei in Teedmar und wären dorthin gegangen, um sie zu suchen. Dort, wo der Rauch aufstieg. »Oh, Land und Himmel! Ich muß sie finden.« Lautes Zischen erklang hinter ihr. Sie drehte sich um, blickte auf und sah den rotgrünen Kopf des Drachens vor sich, der sich zu ihr hinabbeugte. Noch immer erschrak sie ein wenig, wenn ihr bewußt wurde, daß er so groß war, daß sie den Kopf drehen mußte, um ihn im Ganzen sehen zu können. Es war, als blicke man in ein Tal und mache sich bewußt, wie tief man fallen würde, wenn man abstürzte. Drachengeruch haftete ihr an, hatte Reod gesagt. Sie 197
sog den Duft des großen Drachen ein und entspannte sich. Wenn er sie ebenso wohlriechend empfand wie sie ihn, war es kein Wunder, daß er sie nicht fressen wollte. Sie mußte sich zwingen, wieder zu der Rauchwolke zu sehen. Sie war nicht hierhergekommen, um Drachenduft einzuatmen. Sie wollte ihrem Volk bei dem Kampf gegen die Orks und Goblins beistehen, und sich nicht von dieser schuppigen, gehörnten Kreatur, die in einer Höhle lebte und mittags Bäume verspeiste, wie ein Haustier behandeln lassen. Seltsam - bisher hatte sie noch nicht gesehen, daß er etwas fraß, das größer als ein Kaninchen war, aber an den Knochen von Kühen und anderen großen Tieren, die in der Höhle herumlagen, war das deutlich zu erkennen. Meistens fraß er Pflanzen und kleineres Wild, wenn er für Sekena auf die Jagd ging. Vielleicht aß er nur hin und wieder große Mahlzeiten. Aber wieso? Mama und Tamun, erinnerte sie sich. Wieder zischte der große Drache. Sein Zischen gehörte zu seiner Sprache, dessen war sie sich inzwischen ganz sicher. Sie konnte beinahe verstehen, was er sagen wollte. »Teedmar«, erklärte Sekena. »Mein Volk braucht mich. Vielleicht sind meine Mutter und meine Schwester in Schwierigkeiten. Ich kann nicht hierbleiben. Tut mir leid.« Er zischte unwillig. Ein großes, goldenes Auge sah sie \ an. Sie zuckte die Achseln. »Dann gehe ich zu Fuß. Schließlich bin ich schon bis hierher gewandert.« Goldene Augen blickten sie an. »Ich komme wieder.« Wenn sie konnte. Sie sog den Duft ein und dachte daran, wie es ohne diesen Geruch sein würde. Der Gedanke an diesen Verlust schmerzte. Vielleicht würde sie vergessen, weshalb sie hiergeblieben war, wenn sie erst einmal fortging oder sich nur an das erinnern, was ihr Furcht einjagte. 198
Aber nun ließ sie der große Drache nicht zur Höhle zurückgehen, wo ihr Bündel und ihr Wasserschlauch lagen. Ein starker schuppiger Arm hielt sie zurück. Die andere Richtung wurde durch einen Flügel versperrt, der überraschend hart war, obwohl die Haut dort dünn und beinahe durchsichtig aussah. Sekena seufzte enttäuscht. Teedmar lag nur einen Tagesmarsch entfernt. Na gut, dann würde sie ihre Habseligkeiten eben hier lassen. Die Jungen standen hinter dem Drachen und starrten sie mit weit aufgerissenen Augen an. Die niedlichen Köpfe hielten sie zur Seite geneigt, als wollten sie Sekena fragen, ob sie wirklich gehen müsse. »Verdammt...« Mama und Tamun, ermahnte sie sich. Dann machte sie auf dem Absatz kehrt und lief zum Rand des Plateaus. Der Weg nach unten war steinig und schneebedeckt, aber der Wildpfad war deutlich zu sehen. Sie machte sich an den Abstieg. Riesige Schwingen entfalteten sich hinter ihr und verursachten einen Windstoß. Ein lauter, schriller Schrei, eine Mischung aus Heulen und Kreischen, ertönte und jagte ihr Schauer über den Rücken. Nur ein jammernder Drache, sagte sie sich und versuchte, die zitternden Hände ruhig zu halten, während sie sich entlang der schneebedeckten Felsen tastete. Wieder ertönte der Schrei, den sie unmöglich unbeachtet lassen konnte. Er durchfuhr ihren Körper wie ein eiskaltes Messer und drohte, ihre Füße am Boden festfrieren zu lassen. »Nein!« sagte sie wütend und zwang sich, weiterzuklettern. Aber jetzt zitterte sie so sehr, daß jeder Schritt auf dem schlüpfrigen Boden eine Gefahr bedeutete. Ein Schatten verdeckte die Sonne. Ein Drachenbein stellte sich ihr in den Weg, der gehörnte Kopf erschien genau vor ihrem Gesicht, und sie spürte den süßen, warmen Atem. Das Zischen klang jetzt beinahe zärtlich und 199
hörte sich fast wie ein gut verständliches Wort an. Er rief ihren Namen. Und er roch so gut. Warum sollte sie weggehen? Nein, so ging es nicht. Sie kämpfte mit sich und suchte nach einem Grund, sich zu ärgern. Er sagte ihren Namen gar nicht richtig, auch wenn er jede Silbe sorgfältig zischend betonte. »Nicht >ee-triEe-na
200
»Irgend jemand überlebt immer.« - Genkr Nik
Als der Weg nicht mehr mit Fichtennadeln, sondern mit Steinchen bedeckt war und die Berge sich hoch und zerklüftet am Horizont abzeichneten, verließen die Elfen Melelki und Tamun und wandten sich nach Norden, um in den Zufluchtwald zurückzukehren. Die hochgewachsenen, bewaffneten Krieger gaben ihnen Wünsche für eine gute Reise mit auf den Weg. Vielleicht meinten sie es sogar ehrlich. Wer konnte das bei Elfen schon wissen? Ehe sie verschwanden, teilten die Elfen den Zwerginnen mit, daß Teedmar nur noch einen Tagesmarsch westlich von ihnen lag. Gestern waren sie an eine Weggabelung gekommen, die ihnen die Wahl zwischen den Gebirgen im Süden, wo sie bisher heimisch gewesen waren, und Westen ließ, wo sich die größten Städte und Festungen der Zwerge befanden. Sie schritten auf die untergehende Sonne zu. Die Straße schlängelte sich am Fuß der Berge entlang. Zarte Wolken leuchteten rosig im Sonnenlicht und logen sieh quer über den Horizont. Dem, der sie zählen konnte, verhießen sie Glück. »Wie viele sind es, Mama?« Dieses Spiel wurde von allen Zwergenmüttern und ihren Kindern gespielt. Melelki schwieg ein Weile. »Fünf.« »Sechs«, widersprach Tamun. Während ihrer Wanderung hatten sie nicht ungestört 201
miteinander reden können, da die Elfen immer in der Nähe weilten. Melelki war sich sicher gewesen, daß sie Sekena unterwegs einholen würden, aber sie hatten sie nicht gesehen, und Melelki wurde von Stunde zu Stunde beunruhigter. Jetzt, da die Elfen fort waren, konnten sie wieder ungehemmt miteinander sprechen. Aber worüber? Tamun versuchte, sie aufzuheitern. »Sieh mal, es sind zwei kleine Wolken, die neben der großen, die wie Schlange aussieht, schweben.« »Gut, daß die Elfen weg sind«, meinte Melelki. »Sie sind ziemlich eigenartig, Mama.« »Tja, die ganzen Lieder, die wir unser Leben lang kennen, erzählen von ihrer Schönheit und Freundlichkeit.« Melelki schüttelte den Kopf. »Ich glaube, sie haben diese Lieder selbst geschrieben.« »Sie erinnern mich an Vögel, denn sie zucken und zappeln fortwährend und machen ängstliche Gesichter.« »Ja, als ob sie jeden Augenblick gefressen werden sollten«, lachte Melelki. Sie blieb stehen und sah sich um. »Vielleicht sollten wir hier unser Nachtlager aufschlagen.« Sie verließen die Straße und bahnten sich einen Weg durch die Büsche, deren Blätter im Dämmerlicht eher schwarz als grün aussahen. Sie fanden einen ebenen Platz zwischen den dichtstehenden Fichten und ließen sich dort nieder, fühlten sich aber unwohl. Während der letzten Nächte hatten die Elfen wärmende Feuer entzündet, sie vor dem Regen geschützt, Wache gehalten und sich um alles gekümmert. Heute waren sie ganz allein. Abwechselnd hielten sie Wache, um die lange Nacht gut zu überstehen. Jedes Geräusch erinnerte Melelki an Kalitas und mischte sich in ihre beängstigenden Träume, in denen sie durch die zerstörte Stadt wanderte, um einen alten Mann zu suchen. Sie suchte überall nach ihm, aber manchmal waren die Leichenhaufen so hoch, daß sie nicht darüber hinwegsehen konnte. 202
Erleichtert begrüßte sie den Morgen. Ohne den ununterbrochenen Regengüssen ausgesetzt zu sein, kamen sie gut voran. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als Melelki sich unbehaglich zu fühlen begann. Etwas Bedrohliches lag in der Luft. Es erinnerte sie an Kalitas und an die Reise zum Zufluchtwald. Sie blieb unvermittelt stehen, die Hand auf Tamuns Arm gelegt. »Was ist, Mama?« »Es liegt etwas in der Luft.« Tamun runzelte die Stirn und schnüffelte mit erhobener Nase. »Was denn?« »Ich weiß es nicht genau.« Plötzlich wußte sie es. Ihr Herz klopfte wild. »Orks«, flüsterte sie. Blitzschnell verließen sie die Straße und verschwanden zwischen den Bäumen. Sie gingen leise und so schnell wie möglich, damit der Wind ihren Geruch nicht zu den Orks hinübertrug. Als Melelki endlich nichts Verdächtiges mehr roch, hielten sie an, hockten sich hinter ein dichtes Gebüsch und hielten sich an den Händen. Sie wagten kaum zu atmen. In Gedanken malte Melelki sich aus, was sie tun wollte, wenn sie entdeckt wurden. Sie würde kämpfen, treten und beißen. Aber immer endete der Zusammenstoß unglücklich für sie. Also schüttelte sie den Kopf und beschloß, sich etwas anderes auszudenken. Die Sonne war zwei Handbreit weitergerückt, als sie zurück zur Straße schlichen. Dort war der Orkgeruch noch spürbar, wenngleich er schwächer geworden war. Fußabdrücke waren zu sehen. Unzählige. Sie führten nach Osten. »Da!« flüsterte sie. »Sie gehen zum Zufluchtwald.« »Oder zu den Purpurgipfeln.« Sie eilten die Straße entlang nach Westen und sahen sich immer wieder ängstlich um. 203
In der Ferne erblickten sie Teedmar und setzten ihren Marsch beim Licht des Mondes und der Sterne fort. Am Stadttor lächelte ihnen der Wächter zu und winkte sie hindurch. Tamun war der Schlüssel zur Stadt. Ihre Zeit war gekommen, und alle Männer beachteten sie. Alle, an denen sie vorübergingen, blieben stehen, runzelten verblüfft die Stirn und sahen ihnen mit verwirrtem Blick nach, als seien sie nicht sicher, weshalb sie stehengeblieben waren. Besonders den jungen Männern passierte es fortwährend, daß sie nicht merkten, warum Tamun sie so interessierte. In dem ersten Gasthof, den sie betraten, bot ihnen der Wirt ein beinahe kostenloses Zimmer und Essen an. Zwei Zwerginnen waren damit beschäftigt, Tische und Becher abzuwaschen. Sie sahen den alten Mann an, verdrehten die Augen und warfen Melelki und Tamun ein wissendes Lächeln zu. Frauen wußten gleich Bescheid. Und männliche Zwerge hatten schlichte Gemüter. »Folgt mir«, sagte der Wirt und führte sie die Treppe hinauf. Er warf den beiden kichernden Frauen einen bösen Blick zu. »Wir freuen uns, wenn wir es den Nachbarn aus dem Süden gemütlich machen können. Man sieht kaum welche von euch in Teedmar. Elfen und Menschen kommen hierher. Aber Verwandte aus dem Süden nicht.« Er zuckte die Achseln und sah Tamun liebevoll an. »Woher stammt ihr?« »Aus Tigaden.« Um deutlicher zu werden, warf Melelki ein: »Unweit von Kalitas.« Der Wirt knurrte unwirsch. »Verdammt sollen die Untiere sein! Und die Icatianer auch. Sie haben eine Armee. Warum wird sie nicht eingesetzt? Unsere Waffen brauchen sie, aber ist es ihnen egal, wenn man uns ausblutet? Ist das etwa richtig?« Er sah zu Tamun hinüber. »Wir kriegen sie schon. Jeden einzelnen kriegen wir!« »Deshalb sind wir hier«, antwortete Tamun. »Wir wollen mitkämpfen.« 204
Er hob die buschigen, rötlichen Brauen. »Sie werden euch schon nehmen. Suchen ganz verzweifelt nach Leuten.« Er schüttelte den struppigen Kopf. »Ich glaube nicht, daß das recht ist. Du solltest dich in Sicherheit befinden und Nachwuchs haben. Dich nicht in Gefahr begeben.« Melelki fragte sich, was der Mann denken würde, wenn er wüßte, wessen Nachwuchs Tamun zu haben beabsichtigte. »Tja«, meinte Tamun, »wenn wir aber nicht bald handeln, wird es keinen sicheren Ort mehr geben, an dem ich meine Kinder aufziehen kann.« Der Wirt seufzte tief und öffnete die Tür zu einem kleinen Zimmer. »Man wird euch in den Schmieden anstellen. Da brauchen sie immer fleißige Hände. Aber...« Seine Stimme bekam einen bittenden Unterton, als er Melelki ansah. »Laß sie nicht zu den Waffen greifen. Wir brauchen unsere jungen Frauen. Und zwar in Sicherheit.« Melelki sah den Schmerz und die Trauer in seinem Blick und fragte sich, wen er verloren haben mochte. Sie nickte. »Die Zeiten sind schlecht.« Immer wieder schüttelte er den Kopf. »Oh, sehr schlechte Zeiten!« Den nächsten Tag verbrachten sie mit der Suche nach Sekena. »Komm schon, Mama«, sagte Tamun, als es Abend wurde. »Morgen gehen wir zu den Schmieden und suchen uns Arbeit. Man braucht uns dort. Wenn Reod kommt...« Ihre Stimme schwankte leicht. »Wenn Reod kommt, wird er wissen, wie wir Sekena finden können.« Melelki schwieg und nickte nur, während sie alle Vorübergehenden hoffnungsvoll betrachtete, obwohl ihr das Herz vor Kummer schwer war. Am folgenden Morgen meldeten sie sich in aller Frühe bei den Schmieden, und man teilte sie zum Polieren der 205
Schwerter ein. Die schmutzige Arbeit war anstrengend und eintönig, und nach ein paar Stunden waren sie froh als sie Vorräte und Waffen auf die wartenden Wagen laden mußten. Allerdings war es nicht weniger mühselig, als Dracheneier zu schleppen, dachte Melelki erbittert. In der letzten Wochen hatte sich ihr Leben völlig verändert. Einst besaßen sie ein Haus und einen Keller voller Eier. Jetzt hatten sie nichts mehr. Und Sekena. Wo steckte sie? Melelki schüttelte die finsteren Gedanken ab. Sie würden auf Reod warten, wie Tamun es gesagt hatte. Sie würden warten und hoffen. Tamun und Melelki schleppten ein Bündel nach anderen aus der raucherfüllten Schmiede in den von Sonnenlicht erhellten Hof und dann durch das langgestreckte Lagerhaus, das zur Straße führte, wo die Wagen aus Icatia warteten. In diesen Bündeln steckten Schwerter. Wenigstens nahmen sie das an, nach den Geräuschen in der Schmiede zu urteilen. »Wir sollten ein paar davon für uns behalten«, hatte Melelki einen der Zwerge sagen hören. »Aber die Icatianer bezahlen gut!« »Nun, was nützt uns das ganze Geld, wenn die Orks und die Goblins hierherkommen? In Teedmar leben nur Zwerge, zu seiner Verteidigung. Und wir sind keine Krieger.« »Dann sollten wir das Kämpfen lernen, wie?« Seit Jahrhunderten waren die Menschen Freunde der Zwerge. Jetzt ging das Gerücht um, daß sie mit ihren eigenen Schwierigkeiten zu beschäftigt waren, um den Purpurgipfeln zur Hilfe zu eilen. Aber sie waren nicht zu beschäftigt, um Truppen nach Teedmar zu schicken, die Waffen abholten. So verärgert die meisten Zwerge darüber auch waren, Teedmar konnte es sich nicht leisten, keine Geschäfte zu machen. Die Zeiten waren für alle Völker hart, sag206
die icatianischen Offiziere. Und die Zwerge wiederIten ihre Worte leise und verbittert, wenn sie den sehen nachsahen, die mit ihren Waffen davongin-gen. Nachdem einer der Wagen beladen war, ging ein icatianischer Soldat darauf zu und prüfte nach, ob die hölzernen Türen geschlossen und verriegelt waren. Ein neben Melelki stehender Zwerg spuckte hinter ihm aus. anderer zog ihn zurück. Melelki vernahm ihr Flüstern. »Willst du sie uns zu Feinden machen?« »Ich kann nichts aus ihnen machen, was sie nicht schon längst sind.« »Solche Sätze werden sie vertreiben. Würdest du Freund helfen, der hinter dir ausspuckt?« sind nicht unsere Freunde. Sie gehen heute und nehmen die Waffen mit, die wir für sie angefertigt haben. Was ist, wenn morgen die Orks kommen?« »Die Menschen kehren zurück, wenn wir sie brauWenn die Zeiten wahrlich schlecht werden.« »Das sind sie doch schon.« »Du bist ein Narr!« »Du wirst mich nicht länger einen Narren schimpfen, wenn Teedmar in Trümmern liegt und die Menschen in Icatia bleiben. Dann wirst du gar nichts mehr sagen, Denn dann bist du tot.« Melelki und Tamun gingen zurück durch den Lagerauf die Schmiede zu. Als sie die Halle zur Hälfte durchquert hatten, kam ihnen ein Trupp zwergischer Soldaten entgegen. Sie wichen in eine Nische zurück, um ihnen Platz zu machen. Zwergensoldaten. Heute hatte Melelki sie zum ersten Mal aus der Nähe gesehen, die Zwerge, die sich zum Kampf ausbilden ließen und sich auf den Krieg vorbereiten. Melelki beschlich ein ungutes Gefühl. Wie viele von ihnen hatten erst vor kurzer Zeit ein Schwert ergriffen? Wer von ihnen hatte bisher Hühner gezüchtet, am 207
Amboß gestanden oder Kleider genäht? Wer hatte Verwandte in Kalitas gehabt? Melelki hatte nie geglaubt, daß sie erleben würde, daß Zwerge zu Schwertern greifen mußten, um gegen Goblins und Orks zu kämpfen. Goblins! Man mußte bloß mit einer Fackel fuchteln, und schon rannten sie davon. Und Orks waren noch größere Feiglinge. Früher jedenfalls. Auch hätte sie sich nie träumen lassen, daß es einmal eine Zeit geben würde, in der sie nicht wußte, wo sich Sekena aufhielt. »Wir finden sie«, flüsterte Tamun und legte ihr beruhigend die Hand auf die Schulter. Gerade wollte sich Melelki mit tröstlichen Worten an. die Tochter wenden, als ihr ein seltsamer Geruch in die Nase stieg, der durch die Ritzen der Tür drang, die hinter ihr lag. Eigenartig und sehr vertraut, aber sie konnte sich einfach nicht entsinnen, woran er sie erinnerte. Sie probierte den Knauf, der sich herumdrehen ließ. »Mama, was machst du da?« Melelki öffnete die Tür und schlüpfte hindurch. Tamun folgte ihr und zog die Tür vorsichtig hinter sich zu. Ein paar hohe, schmale Fensteröffnungen ließen genügend Licht herein, um ihnen einen staubigen Lagerraum zu zeigen, auf dessen Boden Decken und Körbe lagen. »Ich rieche etwas.« »Mama, du hast vielleicht eine Nase! Eines Tages wird sie uns noch in Schwierigkeiten bringen.« »Hat sie das nicht schon?« »Was riechst du denn, Mama?« Melelki ging dem Geruch nach, der sie zur Wand führte. Sie kniete nieder und tastete den Boden davor ab. »Es kommt aus diesem Spalt«, erklärte sie und untersuchte den feinen Riß, der plötzlich abknickte und sich bei genauem Hinsehen als in den Boden eingelassenes Rechteck enthüllte. Eine Tür! Zuerst versuchte sie, die Tür nach unten zu 208
drücken, dann bemühte sie sich mit aller Kraft, die Finger unter den Rand zu stecken, um sie anzuheben. Beides war vergebens. »Verschlossen?« fragte Tamun. »Ja.« In der Wand, genau neben der Tür, befand sich eine kleine Öffnung, so groß wie ein Mauseloch. Dort war der Geruch am stärksten. Melelki zögerte, aber die Neugier war stärker als die Vorsicht. Außerdem paßte ihr Finger haargenau in das Loch. Sie tastete darin herum, fühlte Widerstand und drückte dagegen. Ein Klicken ertönte, und die Tür zu ihren Füßen hob sich ein wenig an, so daß Melelki sie bequem öffnen konnte. Hölzerne Sprossen führten in die Dunkelheit. »Mama!« »Laß uns nachsehen, was da unten ist.« Brennende Neugier hatte Melelki erfaßt. »Mama!« Melelki ertastete die oberste Sprosse mit den Zehen und belastete sie vorsichtig mit ihrem ganzen Gewicht. Dann ließ sie sich ebenso langsam zur zweiten Sprosse hinab. Tamun folgte ihr. Während sie in die Tiefe kletterte, zählte sie mit: Zehn, zwanzig, dreißig. Dreißig! Dann spürte sie festen Boden unter den Füßen. Es war stockdunkel. Das leise Geräusch ihrer Schritte verriet ihr, daß die Wände dicht beieinander standen. Sie taste sich vor und fand eine Laterne und einen Feuerstein. Nachdem es ihr gelungen war, den Docht der Laterne anzuzünden, blickte sie sich um. Sie standen in einem kleinen Raum. An den Wänden befanden sich aus dem Fels gehauene Regale. Die verschiedensten Waffen lagen darauf: Schwerter, Messer, Speere und andere, wie Stäbe aussehende Gegenstände, die sie noch nie gesehen hatten. Hier unten war der Geruch viel deutlicher wahrzunehmen. Melelki lächelte und tippte mit dem Finger auf die helle, steinharte Schneide eines Messers. 209
»Dracheneierschalen!« sagte sie. Tamuns Finger glitten über die Knäufe verschiedener Waffen, ehe sie ein Schwert ergriff und prüfend in der Hand wog. Melelki nahm sich ein langes Messer und die dazugehörige Scheide aus festem Leder. Ein altes zwergisches Sprichwort war in die Lederhülle gebrannt worden. Sie hielt die Scheide ins Licht und las die Worte laut vor. »Schneide nur das, was auch geschnitten werden soll, aber dann schneide tief genug.«
»Sie sind hervorragend gearbeitet, Mama. Nicht wie die Waffen, die wir den Icatianern verkaufen.« »Tja, hier liegen nur die besten Stücke.« Rings herum glänzten die Reste der Eierschalen. Sogar die Pfeile und Armbrustbolzen hatten Spitzen, die weiß leuchteten. Hier hätte sie ihre Dracheneier verkaufen können. Vielleicht wollten sie auch bloß die Schalen und hätten nicht gewußt, wohin mit den schlüpfenden Jungen. Sie schüttelte den Kopf. Nun ja, es war sowieso zu spät. Ihr Blick blieb an einem Griff haften, der aus dem Boden ragte. Noch eine Tür. Aber sie war nicht versteckt und von innen verriegelt. »O nein, Mama, wir sind schon weit genug vorgedrungen. Wir dürften gar nicht hier sein. Mama!« Aber Melelki war bereits dabei, die Tür zu öffnen. Sie schob das Messer in die Scheide und befestigte sie an ihrem Gürtel, um die Hände für die Laterne frei zu haben. »Wir arbeiten seit Stunden, oder etwa nicht? Wir machen nur eine Pause. Was glaubst du, was da unten ist?« »Mama, ich finde, wir sollten umkehren.« Die Tür öffnete sich, und im Licht der Laterne erblickten sie noch mehr Sprossen, die nach unten führten. »Sieh nur, wie tief es ist!« »Mama!« 210
Melelki machte sich an den Abstieg. »Nur ein kleines Stück«, erklärte sie Tamun. »Bloß eine kleine Pause von dieser ewigen Schlepperei.« »Wir dürfen diese Waffen nicht einfach mitnehmen, Mama.« »Dann legen wir sie auf dem Rückweg zurück. Wer sollte sie denn vermissen? Komm schon, Tochter, gehen wir auf Erkundungsreise.« Tamun seufzte verzweifelt, aber Melelki wußte, daß Sie es nicht ernst meinte. Schließlich hatte ihre Tochter einen Menschen erwählt. Das allein war Beweis genug, daß sie Melelkis ausgeprägte Neugier geerbt hatte. Am Fuß der Sprossen befand sich ein zwergenhoher Gang. In diesem schmalen Tunnel klangen die Geräusche anders, dumpf und erstickt. Die Decke befand sich dicht über Melelkis Kopf. Das Licht flackerte auf den grob aus dem Berg gehauenen Wänden und warf seltsame Schatten darauf. Sie schritten tapfer voran, in die Finsternis hinein. Man sagte, daß Menschen an Orten wie diesem von Platzangst befallen wurden und sie deshalb so wenig in Bergwerken arbeiteten und die besten Metallwaffen bei den Zwergen kaufen mußten. Was genau war Platzangst? Angst vor dem Eingeschlossensein? Melelki merkte nichts davon. Wenn sie daran dachte, wie hoch der Berg über ihnen aufragte, spürte sie freudige Aufregung in sich aufsteigen. Dieser Gang war für einen Bergwerksstollen zu schmal. Wahrscheinlich hatte man ihn vor sehr langer Zeit gegraben und verlassen, als er sich als nutzlos erwies. Aber wohin führte er? Das war ein spannendes Geheimnis. Nach geraumer Zeit fragte sich sogar Melelki, ob sie nicht lieber umkehren sollten. »Vielleicht«, sagte sie, und ihre Stimme wurde von 211
den Wänden zurückgeworfen, »sollten wir bald zurückkehren.« »Aber wir sind erst ein kleines Stück weit vorgedrungen. Wir haben bloß diesen Gang gesehen. Es muß doch noch mehr geben.« »Tja, dann gehen wir eben noch ein Stück weiter.« »Ja, nur ein kleines Stück.« Und so gingen sie weiter. Plötzlich hörten sie das Dröhnen. Sie blieben wie erstarrt stehen. Es klang dumpf und weit entfernt, schien aber gleichzeitig von allen Seiten zu kommen. Melelki und Tamun standen angespannt und unsicher da, jederzeit bereit, davonzulaufen. Aber wohin? Hinter ihnen brachen Steinbrocken aus der Tunneldecke und fielen krachend zu Boden. Das dumpfe Dröhnen steigerte sich zu einem ohrenbetäubenden Getöse. Melelki packte Tamun bei der Hand, und sie liefen, so schnell sie konnten, den Gang hinunter. Das Licht der Laterne flackerte heftig, erlosch aber nicht. Als der Lärm nach einer Weile nachließ, verlangsamten sie ihre Schritte. »Ein Erdbeben?« fragte Tamun atemlos. »Anscheinend.« »Wenn wir nur ein kleines Stück weiter hinten gestanden hätten! Mama, wenn...« »Ich weiß, Blume, ich weiß. Aber wir sind unversehrt.« »Wir können nicht zurück.« »Nein, aber der Gang muß irgendwohin führen. Er muß einfach!« Sie hoffte es inbrünstig. Also gingen sie weiter. Melelki war noch nie so dankbar für eine Laterne gewesen wie jetzt. Die flackernde Flamme erhellte die Wände und erinnerte sie daran, daß es noch genügend Luft zum Atmen gab. Und wo Luft war, mußte auch ein Ausgang sein. Nach einiger Zeit neigte sich der Gang, wurde aber 212
hinterher wieder eben. Außer ihren Schritten war nichts zu hören. Sie erreichten eine Weggabelung, von der aus ein neuer Gang in der Finsternis verschwand. Lange Zeit verharrten sie dort und versuchten, eine Entscheidung zu fällen. »Dies scheint der Hauptgang zu sein«, sagte Melelki. »Wir sollten ihm folgen. Er ist größer und besser ausgetreten.« Tamun kniete nieder und strich mit der Hand über den Boden. »Der Seitengang ist voller Staub.« Also setzten sie ihren Weg fort. Sie unterhielten sich wenig und achteten auf jede Veränderung des Ganges. Melelki wurde immer hungriger und durstiger. Tamun bestimmt auch. Aber wenn sie darüber sprachen, würde es sicher noch schlimmer; also schwiegen sie. Endlich führte der Gang aufwärts. Urplötzlich standen sie vor Sprossen, die nach oben führten und durch ein Loch in der Decke verschwanden. Nach oben. Sie sahen sich schweigend an, und Melelki machte sich an den Aufstieg, gefolgt von Tamun. Über ihren Köpfen befand sich eine Falltür, die bedeutend kleiner war als die vorherige. Melelki drückte dagegen. Schmutz rieselte herab, und schnell hielt sie die Hand schützend über die Laterne. Dann zog sie sich hoch, durch die Tür in einen kleinen Gang hinein. Als Tamun nachgekommen war, schlossen sie die Falltür wieder. Sie befanden sich in einem schmalen, mit Brettern verkleideten Gang. Dicke Spinnweben hingen überall in den Ecken, und Käfer krochen in den Erdhaufen zu ihren Füßen herum. Durch die Ritzen der groben Bretter drangen Licht und eigenartige Geräusche. Melelki drückte das Auge gegen einen der kleinen Schlitze und wich entsetzt zurück. Sie preßte den Mund gegen Tamuns Ohr und flüsterte kaum hörbar: »Goblins!« Tamun riß erstaunt die Augen auf. Melelki löschte 213
das Licht der Laterne und spähte noch einmal durch die Lücke zwischen den Brettern. Sie wußte, daß es Goblins in zwei verschiedenen Größen gab, aber erst jetzt, als sie die Kreaturen dicht vor sich und ohne Rüstung sah, erkannte sie, daß die weiblichen Goblins dunkler und größer als ihre Gefährten waren. Die meisten der Goblinweibchen hielten Junge an die Brust gepreßt. Ein Goblinnest - hier, so nah an der Stadt? Wußte jemand davon? Nun, bestimmt kein einziger Bürger Teedmars! Sie mußten zurückkehren und den Zwergen Bericht erstatten. Wenn die Stadtbewohner die durch das Erdbeben herabgestürzten Steine wegräumten, konnten sie hierherkommen und ... Und was? Natürlich würden sie das Nest zerstören. Sie sah noch einmal durch die Ritze. Goblins, grün und übelriechend und scheußlich. Teedmar mußte dafür sorgen, daß alle vernichtet wurden, damit sie sich nicht immer weiter vermehrten. Der Gedanke gefiel ihr nicht. Sie erinnerte sich an Lieder aus ihrer Kindheit, in denen angedeutet wurde, daß Goblins und Zwerge vor langer Zeit beinahe Freunde gewesen waren. Warum gab es nur die Wahl zwischen Freundschaft und Krieg? Ein Junges kroch von seiner Mutter weg und genau auf den Platz zu, an dem sie stand. Sie zog den Kopf zurück. Konnte man sie sehen? Bestimmt nicht. Aber sie waren so eigenartig - wer wußte schon, was sie sehen konnten? Egal wie gemischt ihre Gefühle auch waren, Goblins bedeuteten eine echte Gefahr, und sie mußten sofort nach Teedmar zurück. Leise schlichen sie den Gang an der Längsseite des Raumes entlang. Dann stießen sie auf eine Tür, die in einen breiteren Gang führte, in dem viel Unrat herumlag, der teilweise erst vor kurzem hierher geworfen worden war. 214
»Was jetzt?« flüsterte Tamun. Es wäre töricht, den größeren Gang zu betreten, wo sie jederzeit einem Goblin begegnen konnten. Ihr jetziger Aufenthaltsort wurde anscheinend nie von den Feinden betreten und war deshalb bedeutend sicherer. »Ich weiß nicht.« »Sollen wir zurückgehen?« »Aber der Tunnel ist doch eingestürzt. Es geht nicht.« »Vielleicht gelangen wir durch den Seitengang zurück.« »Oder verirren uns. Und was sollen wir essen und trinken?« Das Bedürfnis nach Nahrung und Wasser wurde immer dringlicher. »Wir müssen Teedmar von dem Nest in Kenntnis setzen«, flüsterte Melelki. »Goblins, und das so dicht bei der Stadt. Welches Unheil sie über Teedmar bringen könnten!« »Dann ... dann müssen wir da hinausgehen!« Melelki holte tief Luft, drückte Tamuns Hand und küßte sie sanft. »Wir schaffen es.« Sie hoffte es sehr. Leise und vorsichtig stahlen sie sich in den Gang und schlichen an der Tür des Raumes vorbei, in den Melelki vorhin geblickt hatte. Am Ende des Ganges befand sich eine Treppe nach oben. Behutsam setzte sie den Fuß auf die unterste Stufe und fragte sich besorgt, was sie dort oben wohl erwarten mochte. Wenn sie nur eine Waffe hätte! Dann schalt sie sich eine Idiotin und zog das Messer aus der Scheide. Tamun zückte ihr Schwert. Was für ungeschickte Kriegerinnen wir abgeben, dachte Melelki. Die Treppen bestanden aus unebenen Steinen. Mit klopfendem Herzen nahm Melelki die nächste Stufe. Ihr Verstand sagte ihr, daß ihr das Messer im Ernstfall überhaupt nicht nützen würde. Sie schob den Gedanken beiseite. 215
Zieht euch wieder in den engen Gang zurück, befahl ihr die Stimme der Angst. Und was dann? Wieder in die Sicherheit des ersten Ganges zurück? Um zu verhungern? Nichts da, sie mußten weiter. Bei jedem Schritt lauschte sie angestrengt. Von unten drangen die leisen Stimmen der Goblins und ihrer Jungen an ihr Ohr. Noch ein Schritt. Noch einer. Plötzlich sah sie einen winzigen Lichtfleck vor ihren Füßen. Tageslicht. Sie schaute nach oben und erblickte weit über ihrem Kopf ein kleines Loch in der Decke. Es gab einen Ausweg. Auf halber Höhe der Treppe schlichen sie an einer geschlossenen Tür vorbei, hinter der sie gedämpfte Stimmen und unverständliches Gerede vernahmen. Weiter, nur weiter. Endlich erreichten sie die letzte Stufe. Tageslicht strömte durch den Höhleneingang. Niemand war zu sehen, weder Wachen noch sonst jemand. Tageslicht und Freiheit. Hinter ihnen erklang ein Laut. Eine Frage, ein Ausruf und Geschrei. Melelki umklammerte ihr Messer und schrie: »Lauf!« Und sie liefen los. Die Nachmittagssonne blendete sie, als sie aus der Höhle stürmten, und sie nahmen die Goblins kaum wahr. Hinter ihnen steigerte sich das Geheul. Melelki blickte über die Schulter und versuchte, mit tränenden Augen etwas zu erkennen. Sie waren durch eine Horde von Goblins gestürmt. Die meisten von ihnen starrten sie einfach nur verwirrt und überrascht an, aber einige der Kreaturen hefteten sich an ihre Fersen. Die Straße, die sich vor ihnen erstreckte war steinig, aber frei. Sie trieben sich gegenseitig an und liefen immer schneller. Hinter sich hörte Melelki eine wahre Stampede kleiner Füße. Tamun verlangsamte ihr Tempo ein wenig, und Me216
lelki, die ihre Tochter kannte, wußte, daß Tamun langsamer lief, um bei ihr zu bleiben. Die Hitze ermöglichte es ihr, viel schneller rennen zu können als Melelki. Die Goblins holten auf. »Warte nicht auf mich!« stieß sie keuchend hervor. »Lauf!« Tamun schüttelte den Kopf, faßte nach der Hand der Mutter und zerrte sie weiter. Melelkis Angst trieb sie voran. Sie hätte nicht geglaubt, so schnell rennen zu können. Sogar Tamun rang jetzt keuchend nach Luft. Sie roch die Goblins schon, hörte das Kreischen und Schnattern, das Rascheln der zerlumpten Gewänder und das Klirren der Rüstungen und Waffen. Es war, als krabbelten ihr Ameisen den Nacken hinunter. Und wenn die Biester sie einholten? Was dann? Folter und Tod? Was sollte aus Sekena werden? Ihre Jüngste würde nie erfahren, was geschehen war. Es machte sie wütend, wenn sie überlegte, daß sie so weit gekommen waren und nun so elend sterben sollten. »Lauf weiter!« schrie sie Tamun zu. »Du mußt nach Teedmar. Hast du mich verstanden?« »Mama!« »Hast du verstanden?« »Mama!« »Sag, hast du verstanden?« »Ja!« Melelki befreite die Hand aus Tamuns Griff, blieb unvermittelt stehen und wirbelte herum, um der näherrückenden Horde ins Auge zu sehen. Sie hoffte, daß Tamun weiterlief. Die Goblins wurden langsamer und blieben dann verwirrt stehen. Gut. Jeder Augenblick, den sie die Horde aufhalten konnte, gab Tamun Vorsprung. Melelki schrie so laut sie konnte. Wut und Furcht vermischten sich in einem Schrei. Sie fuchtelte drohend mit dem Messer. Ein paar der Kreaturen wichen zurück. 217
Sie sprang vor - immer noch laut schreiend. Jetzt drehten sich einige der Goblins um und flohen. Andere blieben unsicher stehen. Aber ein paar kamen näher. Die wenigen Goblins, die Schwerter bei sich trugen, hielten sie so, als ob sie damit umgehen könnten, und die Waffen waren bedeutend länger als ihr Messer. Es gab kein Entkommen, aber vielleicht war es so am besten. Wenn sie im Kampf starb, konnte man sie nicht mehr foltern. Und sie würden nichts von ihr erfahren. Wild hieb sie mit dem Messer durch die Luft. Die bewaffneten Goblins zögerten - aber nicht lange. Bald war sie umzingelt. Das war es also. Sie würde Sekenas Hitze nicht erleben und nicht erfahren, ob Tamun es schaffte, nach Teedmar zu gelangen, und sie würde nie wissen, ob ihr Volk die schweren Zeiten überlebte. Als ihr bewußt wurde, wie nah das Ende war, überkam sie ein Frösteln und eine Woge von Trauer überspülte sie. Aber das ging vorbei, und plötzlich verspürte sie solche Wut wie nie zuvor. Sie fühlte sich, als habe auch sie die Hitze ergriffen. Was hatte sie schon zu verlieren? Gar nichts. Sie grinste die Goblins an, denn sie wußte, daß sie einige mit in den Tod nehmen würde. Sie näherten sich einander - die Goblins mit ihren langen, schlecht gearbeiteten Schwertern und Melelki mit dem glänzenden Messer aus der Schale eines Dracheneis. Egal was geschah, sie schwor sich, daß die Klinge in Kürze mit Goblinblut besudelt sein würde. Und dann blieb ein Goblin nach dem anderen stehen und starrte hoch zum Himmel. Melelki stolperte vorwärts und fühlte, wie ihr starker, süßer Rachedurst ins Wanken geriet. Verwirrt sah sie ihre Feinde an und blickte dann ebenfalls nach oben. Ein riesiger Schatten hatte sich vor die Sonne geschoben. Die Goblins drehten sich um und flohen. Alle. Wovor - vor einer Wolke? Sie waren ängstlich und feige, 218
aber doch nicht so! Wieder sah sie zum Himmel und erhaschte einen Blick auf ein grünes, geflügeltes Etwas. Ein Feuerstrahl ergoß sich über die fliehenden Goblins. Sie spürte die Hitze und wich taumelnd zurück. »Mama!« Tamun stand ein Stück hinter ihr und deutete nach oben. Die Goblins, die nicht in Flammen standen, rannten in die Höhle. Die übrigen heulten und rollten sich auf dem Boden herum, um die Flammen zu ersticken. Der Schatten kreiste über ihnen und schickte noch einen Flammenstrahl zu ihnen hinunter. Melelki spürte, wie ihre Knie weich wurden. Sie setzte sich auf den Boden. Tamun war schon bei ihr. »Mama? Haben sie dich verletzt? Mama?« Melelki konnte nicht sprechen. Sie starrte in den Himmel auf ihre jüngste Tochter, die lachend auf einem Wesen hockte, bei dem es sich nur um einen großen Drachen handeln konnte. Sekena schlug wütend auf den Nacken des Drachen ein, während ihr der Wind die Haare ins Gesicht wehte. »Runter habe ich gesagt, du dummes Biest!« Sie mußte schreien, um das Brausen des Windes zu übertönen und die Entfernung vom Rücken bis zu seinen Ohren zu überbrücken. Er kreiste gemächlich über dem Höhleneingang. Mama saß auf dem Boden, und Tamun hockte neben ihr. Was hatten sie ihr angetan? Sekena war verzweifelt. Wieder schlug sie auf den Drachen ein. Oben auf dem Berggipfel hatte sie das Gefühl gehabt, sie könnten sich miteinander verständigen. Sie hatte ihm von ihrer Mutter und ihrer Schwester erzählt und warum sie nach Teedmar gehen mußte. Er hatte sie aufgehoben und auf seinen Rücken gesetzt, wo die Schuppen einen unbequemen, aber brauchbaren Sattel bildeten. Dann verließ er den Gipfel, und sie klammerte sich 219
verängstigt an die Schuppen, während er über Berg und Tal flog. Was sie alles gesehen hatte! Die Welt war so klein Berge so klein wie schneebedeckte Maulwurfshügel, Straßen schrumpften zu Ameisenpfaden zusammen. Der Drache flog auf den Berg zu, von dem der Rauch aufstieg. Plötzlich hatte sie unter sich eine Horde Goblins erblickt, die zwei Gestalten jagte. Zuerst hatte Sekena geraten und dann - selbst aus dieser Höhe - Tamun und Melelki erkannt. Sie hatte dem Drachen zugerufen, tiefer zu fliegen, und er gehorchte, flog an Tamun und Mama vorbei, spuckte Feuer und setzte die Goblins in Brand. Jetzt waren die meisten dieser Kreaturen in der Höhle verschwunden. Die übrigen lagen verkohlt auf dem Boden. Einen Augenblick lang stieg ihr der Geruch verbrannten Fleisches in die Nase, und sie empfand Mitleid. Kalitas, murmelte sie vor sich hin, Kalitas. Was sie da unten sah, gehörte zum Krieg. Die Goblins hatten mit den Gewalttaten begonnen. Jetzt wurden sie für einiges von dem, was sie angerichtet hatten, bestraft. Aber vielleicht hatte Reod Dai auch Schuld daran. Wer weiß, was er ihnen alles beigebracht hatte? Trotz Tamuns Zuneigung zu dem Menschen vertraute Sekena ihm nicht ganz. Aber Reue? Nein. Sie würde alles tun, um die Goblins zu vernichten. Und die Orks. Als sie über die Untiere hinwegflogen und der Drache Feuer spuckte, hatte sie geglaubt, er wolle ihre Familie beschützen. Aber nun kreiste er über der Höhle und entfernte sich von den Zwerginnen. Sekena fühlte sich plötzlich ob seiner Absichten unsicher. In einem großen Bogen flogen sie noch einmal über die Höhle, dann über Felsen und Büsche bis zu der Stelle, wo Tamun und Mama saßen. Der Drache flog immer tiefer hinab. Sie hielt sich gut fest, und er warf 220
sich ruckartig zur Seite, ehe er landete. Mit gesenktem Kopf schnüffelte er am Boden, fand die verkohlten Überreste eines Goblins und begann genüßlich daran zu kauen. Sie hätte es wissen müssen. Der Drache wollte ihr weder helfen noch ihre Familie schützen. Er suchte nur nach einer kleinen Zwischenmahlzeit. Schmatzend verzehrte er seine Beute. »Ich steige auch ohne deine Hilfe ab, keine Bange«, meinte sie bissig. Von dem Platz auf seinem Rücken bis zum Erdboden maß die Entfernung ungefähr zweimal ihre Körperhöhe. Sie zuckte zusammen, schwang beide Beine auf eine Seite und machte sich zum Sprung bereit. Plötzlich hielt er ihr die Klaue unter die Füße, die Krallen gespreizt. Es sah aus wie ein kleines Podest. Sie ließ sich darauf hinabgleiten und umklammerte einen der schuppigen Zehen, als er sie vorsichtig auf den Boden setzte. Mit leicht zitternden Knien ging sie ein paar Schritte weiter. »Vielleicht bist du doch nicht so blöd wie ich dachte«, murmelte sie. Er hatte den ersten Goblin mit Haut und Knochen verschlungen und wandte ihr den Kopf zu. Die Zunge glitt vor und zurück, das Maul war mit Goblinblut verschmiert, und er zischte sie an. Sie verstand kein Wort. Zumindest redete sie sich das ein, drehte sich um und lief auf ihre Mutter und ihre Schwester zu. Sekena umarmte die beiden so fest sie konnte. Melelki zitterte. »Mama, geht es dir gut?« »Ja, mein Schatz«, antwortete Melelki und küßte sie. »Daß ich dich wiedersehe, wo ich schon glaubte ...« Sie sah stirnrunzelnd zu dem Drachen hinüber, der noch 221
einen verbrannten Goblin fraß. »Tochter, erzähl mir, wieso du mit...« Sie deutete auf den Drachen. »Tja«, meinte Sekena. »Ich weiß nicht so genau.« »Wo sind die kleinen Drachen?« warf Tamun ein. »Oben auf dem Berg, in der Höhle des Großen. Sie fangen gerade an zu fliegen. Sie konnten uns aber noch nicht folgen.« »Das da...«, sagte Mama und starrte wieder zu dem Ungetüm hinüber. »Was ist das?« »Ein Drache, Mama.« Melelki sah sie durchdringend an. »Sein Name besteht aus vielen Zischlauten. Ich kann ihn noch nicht richtig aussprechen.« Tamun blickte zur Höhle hinüber. Die Goblins lugten durch die Öffnung. »Wir sollten besser nicht hierbleiben.« Melelki nickte. »Wir müssen nach Teedmar zurück.« Der Drache kam auf sie zu. Sekena ging ihm entgegen, sog seinen Geruch ein und erklärte ihm, daß sie zur Stadt fliegen mußten. Er schien sie zu verstehen und war anscheinend einverstanden, sie alle hinzufliegen. Zumindest deutete sie seine Antwort als Einverständnis. Aber ihre Mutter weigerte sich, auf den Drachen zu klettern. »Mama, es ist völlig ungefährlich«, erklärte Sekena. »Und sehr schnell. Ich bin den ganzen Weg von unserem Berggipfel geflogen, der mehr als einen Tagesmarsch entfernt liegt. Wenn wir erst in der Luft sind, ist Teedmar nur noch wenige Minuten entfernt.« »Ich gehe gern zu Fuß.« »Ich auch«, bekräftigte Tamun und warf dem Drachen einen beunruhigten Blick zu. »Es ist gar nicht weit.« Sekena sah von einer zur anderen. Was war bloß mit ihnen los? Der Drache starrte zu ihnen hinunter. Die Pupillen in den goldenen Augen waren zu schmalen Schlitzen geworden. Er zischte. 222
Schnell wichen Melelki und Tamun ein paar Schritte zurück. »Keine Angst«, beruhigte sie Sekena. »So redet er nun -einmal. Er sagt...« Sie war sich nicht ganz sicher. »Er begrüßt euch.« Wieder zischte der Drache. Sie drehte sich zu ihm um. »Das reicht«, zischte sie zurück. »Jetzt hör auf, sie zu erschrecken.« Zisch.
»O ja, das bist du. Hör auf.« Sie blickte zu ihrer Familie hinüber. Tamun und Melelki starrten sie entgeistert an. »Was habt ihr denn?« »Du redest mit ihm?« fragte Mama. »Natürlich nicht. Das heißt, nicht so ganz.« »Und er versteht dich?« »Ich denke schon. Aber ich bin nicht sicher.« »Und du willst, daß wir auf ihm reiten?« »Nur ein kleines Stück.« Hinter ihr lachte der Drache. Sekena spürte, daß sie errötete. »Sei still!« zischte sie ihm zu. Hinter ihrem Rücken schoß eine ausgestreckte Klaue mit nach oben gekehrter Innenfläche hervor. Dies war die Geste des Friedens und bedeutete, daß er keine Waffen trug. Von einem Drachen, dessen einzelne Krallen so lang wie der Arm eines Zwerges waren, wirkte diese Geste völlig unglaubwürdig. Langsam erwiderte Melelki das Zeichen. Der Drache zischte erneut. »Und jetzt«, erklärte Sekena mit einem seltsamen Gefühl im Magen, denn diesmal war sie sich ganz sicher, »begrüßt er euch wirklich.« Das Gewicht der drei Frauen schien dem Drachen nicht viel auszumachen. Sie hockten zwischen den Schuppen auf seinem Rücken und hielten sich gegenseitig fest. 223
»Manchmal ist er ein bißchen glatt«, warnte Sekena. »Aber wenn ihr euch gut festhaltet, kann nichts passieren.« Dann breitete die riesige Kreatur die Flügel aus und stieß sich vom Boden ab. Sie wurden durchgeschüttelt, fielen aber nicht herunter. Sie flogen. Plötzlich wurde alles unter ihnen sehr klein. Die Bäume sahen wie Sträucher aus, die Berge wie Hügel. Sekena schrie dem Drachen etwas zu, fuchtelte mit den Händen und versuchte ihm zu erklären, wo Teedmar lag. Sie lächelte ihrer Mutter und Schwester beruhigend zu und hoffte, daß er sie verstanden hatte und nach Teedmar bringen würde. »Er fliegt in die falsche Richtung«, brüllte Melelki von hinten. »Du fliegst in die falsche Richtung«, wandte sich Sekena an den Drachen. »Nach Westen, der Sonne entgegen!« Aber er flog trotz ihres Protestes nach Süden. Erst als sie im Westen Rauch aufsteigen sahen, drehte er ab und flog darauf zu. Schließlich kam die Stadt in Sichtweite. Melelki heulte auf. »Oh, was ist denn hier geschehen?« Der Berg war mit schwarzen Steinbrocken bedeckt, von denen die meisten noch qualmten. Teedmar war verschwunden. Wo die Stadt gewesen war, am Fuß des Berges, lag jetzt ein schwarzer See. Entsetzen und Grauen überkamen Sekena. Was war mit der Stadt geschehen? Wo waren die ganzen Zwerge? In der Ferne sah sie eine zusammengewürfelte Gruppe Zwerge die Straße entlang wandern, die aus Teedmar herausführte. Der Drache flog tiefer hinab, kreiste über ihnen und landete. Er half den drei Zwerginnen mit der ausgestreckten Klaue beim Absteigen. Sie gingen auf die Zwerge zu. Diese wichen zurück. Manche versuchten, Kinder wegzutragen. Einige humpelten. Andere lagen auf dem Boden und wimmerten. 224
Sie würdigten die Zwerginnen keines Blickes, sondern starrten nur auf das Ungeheuer. »Wartet!« rief Melelki. »Er ist zahm«, fügte Sekena hinzu und hoffte, daß der Drache sie nicht verstanden hatte. Die Gruppe zögerte, sah aber immer noch voller Angst zu dem Drachen hinüber. Sie waren nicht in der Verfassung, schnell fortzulaufen. »Sagt uns, was in der Stadt geschehen ist«, forderte Melelki sie auf. »Vulkan!« stieß eine alte Frau hervor. »Der Berg flog in die Luft.« »Das haben die Orks getan!« rief eine wütende Stimme. »Orks und Goblins«, murmelte ein Mann mit düsterer Miene. »Nein, nein!« widersprach die Alte und humpelte näher. »Die haben dergleichen Magie nicht. Müssen Zauberer gewesen sein. Bestimmt die Schwarze Hand.« Mißtrauisch sah sie die drei Frauen an. »Wer seid ihr? Wieso kommt ihr auf einem Drachen daher?« »Meine Tochter hat ihn gezähmt«, erklärte Melelki, und der Stolz in ihrer Stimme war nicht zu überhören. Die Alte trat so dicht vor Sekena, daß sie ihren Atem im Gesicht spürte. »Du hast einen Drachen gezähmt? Wie heißt du?« »Sekena«, antwortete sie leise und zwang sich zu einem Lächeln. Sie fühlte sich unwohl. Wenn er hörte, daß er angeblich zahm war - nun, sie glaubte nicht, daß es ihm gefallen würde. »Sekena«, wiederholte die Alte, die sie nicht richtig verstanden hatte. »Sekena, weißt du, daß meine Tochter heute umgekommen ist?« »Das tut mir leid«, sagte Sekena, die sich gar nicht gut fühlte. »Sie und ihre Kinder, alle fünf!« »Das ist schrecklich.« 225
»Wo sind alle anderen?« erkundigte sich Tamun. Die Alte blickte sie an. »Was glaubst du denn? Unter dem flüssigen schwarzen Feuer. Da drunter.« Sie senkte die Stimme. »Es gibt noch Suchtrupps. Sie hoffen auf Überlebende. Fast alle sind tot. Meine Tochter - wenigstens ist sie einen schnellen Tod gestorben.« Die Alte deutete auf einen großen Steinhaufen, der in einiger Entfernung lag. »Nicht wie diese dort. Mein Sohn ist auch dabei. Sie werden tagelang sterben, ganz langsam.« »Was meinst du damit?« fragte Melelki. »Einer der Stollen ist eingestürzt. Wir hören ihre Stimmen, aber es gibt keinen Ausgang mehr. Wir könnten weggehen und nach Gum gehen, wo wir Nahrung bekommen und in Sicherheit sind. Aber sollen wir sie allein lassen?« Sie schüttelte den Kopf. »Oh, Mutter«, stöhnte Melelki und ergriff die Hand der alten Frau. »Was für grauenhafte Zeiten.« Sekena blickte zum Eingang des Bergwerks hinüber. Dann sah sie den Drachen an, der die Zwerge ein wenig zu interessiert beobachtete. Sie ging zu ihm. Der große Kopf neigte sich zu ihr hinab, und die Zunge fuhr ihr über das Gesicht und den Hals und hinterließ eine duftende Schleimspur. »Oh, genau wie ein Hund«, sagte sie lächelnd und wischte sich ab. »Weißt du was, du warst heute wirklich - nun, wundervoll. Ich glaube, du verstehst mich besser, als ich dachte. Ich muß mich entschuldigen, weil ich dich unterschätzt habe. Nun ja ...« Zögernd streckte sie die Hand aus und streichelte ihn unter dem Kinn. Wieder erschien die feuchte Zunge, leckte ihr über die Hand und verschwand in dem riesigen Maul. »Nun ja«, begann sie noch einmal. »Da hinten ist diese Höhle. Und dann ist da noch der große Steinhaufen.«
226
»Diese Narren hätten niemals Trulle für den Kampf züchten dürfen!« - Jherana Rure, Kommandeurin der Truppen zur Rebellenbekämpfung
Dicke Fensterscheiben, auf denen sich deutlich sichtbare geometrische Muster abzeichneten, ließen wenig Tageslicht ein und warfen graue Schatten an die dunklen Wände. An der Decke hielten sich raschelnde Schatten zwischen den Balken verborgen, die aus hellen Augen blinzelnd zu ihnen herabstarrten. Reod warf Eliza einen Seitenblick zu, als sie dem Zauberer folgten. Sie hielt sich tapfer, und ihr Gesicht verriet nicht, an was sie gerade dachte. Sie war die beste Stellvertreterin der Elite Icatias, die man sich wünschen konnte, sie bekämpfte erfolgreich ihre Angst und benahm sich, als sei nichts Ungewöhnliches geschehen. So hatten sich einige der Männer, die ihm zur Schwarzen Hand gefolgt waren, auch verhalten und hatten doch den Tod gefunden. Verführt von Reods leidenschaftlichen Worten über die Heuchler und Unfähigen, die Icatia regierten, folgten sie ihm und hofften, an seiner Seite ein besseres Leben führen zu können. Statt dessen standen sie den ungeheuren magischen Passionen gegenüber, die die Antriebskraft der Schwarzen Hand bildeten, und das war das Eigenartigste, was ihnen je begegnet war. Die meisten Leute hatten sich das Leben genommen, da sie nicht in der Lage gewesen waren, ihre starre 227
Denkweise zu ändern - obwohl sie Icatia verlassen hatten, um dergleichen Zwängen zu entkommen. Sie vergossen lieber das eigene Blut, als sich der Schwarzen Hand anzuschließen. Er hatte ihnen abgeraten, ihn zu begleiten. Sie hatten nicht auf ihn gehört. Und jetzt war auch Tamun nicht mehr am Leben. Mit besorgter Miene berührte ihn Eliza. Verstohlen schüttelte er den Kopf und wandte den Blick ab. Wenn hier, bei der Schwarzen Hand, Blut vergossen wurde, war es nicht vergebens - im Gegensatz zu Icatia. Als Reods Gefolgsleute starben, wurde jeder Blutstropfen sorgsam gesammelt, um die Fundamente von Achtep zu nähren. Es hieß, daß sogar die Steine jeden Eindringling bekämpfen würden. Und das stimmte. Reod hatte es mit eigenen Augen gesehen. Ein paar dieser Blutstropfen hatte man Reod geschenkt. Es war undenkbar, das letzte und größte Opfer seiner Leute zurückzuweisen, also hatte er es angenommen und ihre Kraft der seinen hinzugefügt. Damals war aus Robin Davies Reod Dai geworden. Und nun war Reod Dai zurückgekehrt. Sie wurden durch dunkle Torbögen in einen Seitenflügel geführt. In den kleinen Zimmern wohnten die Höhergestellten, die auf Betten und nicht auf dem Steinboden schliefen. Vor langer Zeit hatte auch er hier gewohnt, als er noch glaubte, die Taten der Schwarzen Hand würden den Völkern mehr Segen bringen als die Taten Icatias. Damals, ehe Genkr Nik beide Hände verloren hatte. Der Magier klopfte an eine Tür. Als sie geöffnet wurde, trat er schnell ein und winkte ihnen, ihm zu folgen. Reod betrat den Raum; Eliza hielt sich vorsichtig im Hintergrund. Dann schloß sich die Tür hinter ihnen. Im Laufe der Jahre hatte Reod die fünf Ecken Sarpadias bereist und viele Kulturen mit all ihren Eigenarten und Feinheiten kennengelernt. Unter anderem wußte er, 228
daß jede Rasse unterschiedliche Arten der Begrüßung pflegte. Menschen tauschten Nettigkeiten aus. Zwerge kamen unverblümt zur Sache und ließen den eigentlich Gruß oftmals ganz weg. Goblins beschrieben einander eingebildete Schätze. Sogar hier bei der Schwarzen Hand, diesem Schmelztiegel aller Rassen, die sich unter der Flagge Tourachs vereinten, haftete jeder Begrüßung ein besonderes Ritual an. »Hast du nicht zugehört? Habe ich dir mein schmerzlich erworbenes Wissen für nichts und wieder nichts mitgeteilt?« Am anderen Ende des Zimmers saß eine Gestalt auf einem Bett, lehnte sich gegen die Wand und bewegte sich ein wenig unter den dunklen Decken. Ein einzelnes, haselnußbraunes Auge - das rechte - blinzelte Reod aus einem gebräunten, narbigen Gesicht an, das von kurzen grauen Haaren eingerahmt wurde. Die Gestalt hob einen Arm, der am Ellenbogen endete. Reod sah seinen alten Lehrer an. »Ich habe zugehört.« »Dann wiederhole es.« »Ich bin nicht hier, um mich unterrichten zu lassen.« Genkr verzog das Gesicht. »Sag es! Ich helfe dir beim Anfang, du vergeßlicher Bastard: >Das Wichtigste, an das ich mich erinnern muß, wenn ich die Schwarze Hand verlasse ...< Jetzt bist du dran.« »>Ich darf nie zurückkehren< Ich habe es nicht vergessen.« »Und warum zur Hölle bist du dann hier?« »Ich wurde entführt. Auf deine Anweisung hin, wie ich annehme.« »Es gibt immer einen Ausweg. Man hat immer eine Wahl. Ein Seitenausgang. Du bist ein Idiot.« »Hast du meine Entführung befohlen oder nicht?« »Natürlich. Aber ich hoffte, du seiest klug genug, dich nicht hier sehen zu lassen.« 229
»Nun, dann sei enttäuscht, Genkr.« »Das bin ich.« »Laß uns gehen.« »Nein.« Das narbige Gesicht nickte Eliza zu, die während des Wortwechsels reglos dagestanden hatte. »Bedeutet dir dieses Ding etwas?« »Ja.« »Du sammelst sie wohl neuerdings, wie? Ich hörte, dir seien ein paar Zwerginnen abhanden gekommen.« Tamuns Gesicht erschien vor Reods geistigem Auge. Er bemühte sich, seine Miene und die Stimme ausdruckslos zu halten. »Ja.« »Wenn du hiergeblieben wärest, Reod, hätten wir dir so viele Sklaven gegeben, wie du hättest haben wollen. Sogar weibliche.« »Wenn ich mich recht erinnere, hast du meinen Entschluß unterstützt.« Unwillig verzog er den Mund. »Natürlich. Du warst hier nicht glücklich.« Reod lächelte bitter. »Ich bin jetzt auch nicht glücklich. Was soll das alles, Genkr?« Der Alte nickte. »Also gut, kommen wir zur Sache. Man berichtete mir, daß du seit deinem Weggang interessante Dinge unternommen hast. Davon können wir einige gut gebrauchen. Wir wollen Goblineier.« »Das wurde mir bereits gesagt. Euer Magier konnte mir keinen guten Preis bieten.« »Ich lasse dir keine Wahl.« »Es gibt immer eine Wahl.« »In der Tat. Aber bist du sie findest, erwarte ich von dir, daß du alles tust, was in deiner Macht steht, um jenen zu helfen, die es dir ermöglichten, überhaupt eine Wahl treffen zu können.« »Ich habe nicht vor, euch zu helfen.« »Fühlst du dich uns nicht länger verpflichtet?« »Nein.« 230
»Angst?« Reod schüttelte den Kopf. Genkr lachte. »Dann werden wir diesen icatianischen Misthaufen foltern, bis sie uns anfleht, das Opfer ihrer Seele anzunehmen und ihr einen schnellen Tod zu gewähren.« »Eine plumpe Drohung? Ich bin enttäuscht von dir, Genkr.« Genkr atmete tief durch und schien ein wenig verlegen zu sein. »Nun ja. Die Zeiten sind nicht gut. Wie lautet deine Antwort?« »Selbst die Geschaffenen arbeiten härter, wenn man ihnen Nahrung anstatt Schläge verspricht. Du mußt mich bestechen.« »Erfülle unsere Wünsche, und wir lassen dich und dein Haustier frei.« »Kein gutes Geschäft.« Genkr zuckte kaum merklich die Achseln. »Wir können auch wieder mit Drohungen anfangen, wenn dir das lieber ist.« »Zuerst laßt ihr mein Haustier frei und schwört, daß sie ungehindert nach Icatia reisen darf.« »Nein.« »Gebt mir einen Monat, meine Angelegenheiten zu ordnen.« »Wir brauchen dich jetzt. Die Zeit läuft uns davon.« »Bietet mir eine Menge Gold.« Eine Augenbraue hob sich. »Gold? Du hast dich in der Tat verändert, Reod Dai. Na gut, Gold. Soviel du tragen kannst.« »Pferde. Unbehelligte Reise. Dein Wort.« »Natürlich.« »Trullarbeiter für mich. Mein Arbeitszimmer muß hergerichtet werden.« »Natürlich. Es ist schon fertig und wartet auf dich.« »Dann bin ich einverstanden.« »Du wirst uns Goblineier geben?« 231
»Ja.« »Das freut mich. Es ist schön, dich wiederzusehen, Reod.« Hinter ihnen öffnete sich die Tür. Eine Gruppe Trulle mit schwarzen, gepanzerten Rücken stand vor ihnen. Die Panzer waren härter als Stahl, und ihre Krallen waren scharf genug, um ein Pferd damit aufzuschlitzen. Reod hatte auch das schon miterlebt. »Sie bringen dich in dein Zimmer«, erklärte Genkr. »Arbeite gut für uns, Reod.« »Habe ich das nicht immer?« Genkr knurrte. »Sei vorsichtig, Reod.« Reod verneigte sich leicht. »Ich bewahre deine Worte in meinem Herzen.« »Sehr vorsichtig.« »Immer.« Der Trull öffnete die Tür und betrat den kleinen Raum, den man Eliza und Reod zugewiesen hatte. Er hielt einen großen Teller mit Speisen in den knochigen Händen, auf dem alles fein säuberlich angerichtet war. Reod wußte, daß die Anordnung der Speisen jedesmal gleich war, damit sofort auffiel, wenn ein Trull sich erdreistete, etwas von den Nahrungsmitteln zu stehlen. Inzwischen hatte man den meisten Trullen das Stehlen ausgetrieben, aber dergleichen Traditionen hielten sich lange. »Komm näher«, forderte Reod den Trull in der Zweiten Tempelsprache auf, die von den Trullen verstanden wurde. »Tritt näher und steh bequem.« Bei den unerwarteten Worten erstarrte der Trull. »Setz das Essen auf den Tisch und schließe die Tür.« Der Trull gehorchte. Anschließend warf er sich auf den Boden und rollte sich zu einer Kugel zusammen, da er eine Bestrafung erwartete. »Nein, nein. Steh auf!« Er streckte sich ein wenig, so daß er Reod ansehen 232
konnte. Der auf dem Rücken liegende Trull sah aus wie eine zur Hälfte verspeiste schwarze Melone. »Verstehst du mich?« fragte Reod. Das Wesen nickte hastig. »Hör mir gut zu. Ich brauche zwanzig Trulle für meine Arbeit. Aber nur Trulle wie dich, die mich verstehen können. Für diese Arbeit bekommst du Kornkuchen.« Der Trull streckte sich langsam ganz aus, blieb aber auf dem Boden liegen. Normalerweise wurden die Trulle mit einem Brei aus Schimmelpilzen ernährt, der in große Tröge gekippt wurde und niemals ganz ausreichte, um alle zu sättigen. Kornkuchen galten als seltene Leckerbissen. »Komm bald wieder und bringe zwanzig der klügsten Trulle mit, die du finden kannst. Schaffst du das?« Der Trull stand langsam auf. »Jaaa.« »Gut. Bei Anbruch der Dämmerung bist du zurück. Nicht später. Denn viel länger halten sich die Kornkuchen nicht.« »Jaaa, will es tun«, sagte der Trull und verschwand. Dichtgedrängt saßen die Trulle Reod zu Füßen. Sie kauerten und rollten sich zusammen, um einander Platz zu machen. Genau wie in den Gruben, in denen sie schliefen. Eliza hockte auf ihrem Bett und hatte die Beine angezogen, um sie außer Reichweite der Trulle zu halten. Das war die einzige Geste die verriet, daß sie sich unwohl fühlte. Vor Reod saß eine bunte Mischung der Geschaffenen. Einige waren bewaffnet, einige waren schwarz, bei anderen hoben sich Adern unter der blaßlila Haut ab, die ihnen ein zerbrechliches Aussehen verlieh. Aber Reod wußte, daß dieser Eindruck täuschte. Er nickte und ließ den Blick über die Trulle gleiten. »Ich weiß, daß die meisten von euch keine Namen 233
haben, daher werden wir, ehe wir mit der Arbeit beginnen, etwas spielen.« Mit ausdruckslosen Mienen, die sie immer aufsetzten, um ihre Herren nicht zu verärgern, starrten sie ihn an. »Ich habe Kornkuchen für euch alle.« Die Augen weiteten sich ein wenig; ein paar der Wesen blinzelten. Münder verzogen sich. Hälse wurden gereckt. »Ich erkläre euch die Spielregeln. Du ...« Reod deutete auf den Trull, der ihm vor einigen Stunden das Essen gebracht hatte. »Du fängst an. Du suchst einen deiner Gefährten aus und gibst ihm einen Namen. Dafür bekommst du einen Kuchen. Dann wird der von dir Erwählte jemand aussuchen, ihm einen Namen geben und erhält auch einen Kornkuchen. So fahren wir fort, bis ihr alle einen Namen und einen Kornkuchen habt.« Das waren gleich zwei Neuerungen: Namen und Essen, um das sie nicht kämpfen mußten. Er verlangte viel von ihnen. »Aber«, meinte der erste Trull leise. Die Trulle, die sprechen konnten, redeten stockend und unsicher. »Ja?« »Aber. Was ist ein Name?« »Irgendein Wort. Ein Wort, daß euch gefällt. >Stein< oder >BaumFreund< oder eine Eigenschaft wie >klugFlinketwas Besonderes< bezeichnet wurde, bedeutete das meistens nichts Gutes und war ein böses Vorzeichen. »Also seid euren Herren dankbar, die euch zu dem machten, was ihr seid.« Das hörte sich wieder besser an. Sie waren daran ge235
wohnt, die Gründe für den von ihnen erwarteten Gehorsam zu erfahren. »Seid stolz auf euch. Denkt ihr, so etwas wie euch gäbe es alle Tage? Ihr seid selten! Was selten ist, ist auch kostbar.« Die Trulle suchten nicht einmal mehr auf dem Boden nach Krümeln, da Reods Worte und sein Tonfall sie fesselten, und gespannt warteten sie auf das Ende dieser eigenartigen Rede. »Man hat viel von euch verlangt«, fuhr er fort. »Viele von euch mußten zum Ruhme Tourachs große Opfer bringen. Fragt ihr euch, was noch auf euch zukommt?« Er legte eine Pause ein. »Wißt ihr, wer ich bin?« Die meisten Trulle nickten. »Ich bin Reod Dai. Ich bin einer der Magier, die euch zum Leben erweckten. Daher seid ihr auch meine Kinder. Ich kenne die Pläne eurer Herren. Hört mir gut zu: Ich kehrte zur Schwarzen Hand zurück, weil eure Herren wollen, daß ich Goblineier für euch mache. Für euch. Aber ich will nicht.« Allgemeine Verwirrung. »Was sind Goblineier? Es sind Eier aus Metall und Keramik, die so groß sind, daß man sie euch auf den Rücken schnallen muß, damit ihr sie tragen könnt. Wenn sie aufbrechen, geschieht es mit Donnergetöse. Und sie fressen alles auf, was in der Nähe ist.« Die Trulle lauschten voller Spannung. »Was fressen sie? Alles. Bäume. Gras. Erde. Sogar Goblins. Stellt euch vor, dieser Raum sei viermal so groß wie jetzt. So viel fressen die Eier auf, ehe sie satt sind.« »Und was schlüpft aus den Eiern? Nichts. Man führt Krieg mit ihnen. Sie enthalten kein Leben; sie bringen den Tod.« Kein Trull rührte sich. Sie schienen den Atem anzuhalten. »Es gibt viele, viele Goblins. So viele, daß es den 236
Goblinherrschern völlig egal ist, wenn sie zu Hunderten im Kampf sterben. Jeder Goblin trägt ein Ei zu den Feinden hinüber. Wenn es aufbricht, sterben viele Feinde. Da aber nur ein Goblin stirbt, halten die Herrscher es für eine gute Sache. Aber dem Goblin werden die Gliedmaßen abgerissen, Blut und Haut lösen sich in Rauch auf. Hört zu.« Niemand bewegte sich. »Von Anfang an hat man euch gesagt, ihr wäret dumm. Ich habe Goblins in der Kriegskunst unterwiesen und kann euch sagen, daß ihr klüger seid als sie. Man hat euch auch gesagt, daß ihr euren Verstand nur benutzen sollt, um euren Herren zu dienen. Ich sage euch, daß es an der Zeit ist, euch zu fragen, was eure Herren von euch verlangen. Denkt daran, wie die Goblineier euch auffressen werden. Bald seid ihr alle tot.« Ein Trull stöhnte kaum hörbar, schwieg aber sofort wieder. Reod ließ ihnen Zeit zum Nachdenken und sah jedem einzelnen Trull in die Augen. »Aber warum? Warum sollt ihr sterben? Ihr, die ihr doch etwas Besonderes seid! Ihr, die ihr anders als alle anderen Wesen seid! Ihr seid die Geschaffenen! Meine Kinder!« Er senkte die Stimme. »Ihr sollt nicht sterben. Ich biete euch einen Ausweg.« Hoffnung keimte in ihnen auf. »Im Süden greifen die Goblins Zwerge und Menschen an. Aber was geschieht, wenn sie sich statt dessen gegen eure Herren wenden? Bei einer solchen Bedrohung würden euch eure Herren dringend benötigen. Einige von euch würden mehr Verantwortung tragen dürfen als je zuvor und die Gelegenheit bekommen, Pläne für die Rebellion gegen eure Herren zu schmieden.« Erstauntes Keuchen. »Wir werden bestraft«, sagte Schnarcher mit weit aufgerissenen Augen und schüttelte den Kopf. 237
»Ja, wenn nur wenige von euch es wagen. Ihr müßt zusammenhalten, wenn ihr am Leben bleiben wollt, sonst wird man euch nacheinander nehmen, euch Goblineier aufbürden und zu den Feinden schicken. Dann werdet ihr sterben.« »Aber!« meldete sich ein junger Trull namens Quieker. »Wenn nicht gehorchen, Strafe folgt.« »Ihr müßt entscheiden, ob ihr ein Wagnis eingehen wollt, um euer Leben zu retten. Es ist ganz einfach: Ungehorsam oder Tod.« »Aber!« rief Quieker erregt. »Gegen die Herren? Niemand es getan hat!« »Östlich von hier, im Zufluchtwald, gibt es die Thallide. Es sind Pilzwesen, von ihren Elfenherren geschaffen, um als Nahrung zu dienen. Die Thallide sind mit euch verwandt und wurden durch Verstand und Magie ins Leben gebracht. Seid ihr weniger mutig als ein Wald aus Pilzen?« Die Trulle tauschten verstohlene Blicke aus. Einer kaute so lange an seiner Lippe, bis sie blutete. »Ich werde euch helfen«, verkündete Reod mit freundlicher Stimme, »wenn ihr mir helft.« Er warf einen Blick zu Eliza hinüber. »Helft meiner Freundin und mir, vor der Schwarzen Hand zu fliehen. Dann schicke ich die Goblins hierher, um eure Herren zu bedrängen. Kämpft um euer Leben. Zeigt mir, was ihr könnt, und dann schicke ich euch Waffen.« »Ist zu schwer für uns«, warf Ißt-mein-Essen ein. »Wir können nicht. Nicht ohne dich.« »Doch, ihr könnt. Hört zu: Ihr braucht drei Dinge. Anführer: Wählt eure Anführer jetzt sofort und folgt ihnen. Sie sind eure neuen Herren. Mut: Bisher habt ihr darauf gewartet, für eure Herren zu sterben. Ihr seid sehr mutig. Jetzt müßt ihr diesen Mut mit euren Brüdern teilen. Schnelligkeit: Trefft schnelle Entscheidungen und handelt rasch. Beseitigt jene, die sich euch widersetzen, auch wenn es eure Brüder sind. Nennt sie 238
Verräter. Sorgt dafür, daß sie die ersten sind, die sterben.« Er schwieg und ließ ihnen Zeit, über seine Worte nachzudenken. Reod wußte, daß er ihnen viel zumutete, ihre Gedanken in neue und ungewöhnliche Bahnen lenkte und sie zu schweren Entscheidungen zwang. Die Zeit drängte, und sie durften nicht lange überlegen. Sie mußten bald handeln, so lange ihm die Anhänger Tourachs noch vertrauten. Zu seiner Zeit war die Schwarze Hand ein Ort gewesen, wo alles drunter und drüber ging, wo die Trulle nicht redeten und ihre Herren nicht zuhörten. Noch bestand die Möglichkeit, daß er mit Eliza fliehen konnte, ehe man seine Pläne aufdeckte. »Aber!« meldete sich Quiek noch einmal zu Wort. »Es nicht geht. Wer hat je gegen die Schwarze Hand gewehrt?« Reod sah, wie sich Hoffnung und Angst auf den Gesichtern der Trulle spiegelten. »Ich habe mich gegen sie gestellt«, sagte er leise. Reod wußte nicht, wie lange er geschlafen hatte, aber als die Tür krachend aufflog, wurde ihm klar, daß es nicht lange genug gewesen war. Er hütete sich, Gegenwehr zu leisten, als man ihm Hand- und Fußketten und einen eisernen Halsring anlegte. Diese Fesseln blieben ganz besonderen Gefangenen vorbehalten. Magiern. Wenigstens schätzten sie ihn als sehr gefährlich ein. Wenn seine Magie doch nur halb so stark wäre, wie sie befürchteten! Er wurde auf den Boden gestoßen, und die Geweihten, die ihn umringten, stimmten einen Opfergesang an, während sie ihn durch die Gänge schleiften. Das Lied war sowohl dem Ruhme Tourachs als auch dem Opfer, das zum Altar geschleppt wurde, gewidmet. 239
Aus Erde sind wir und zu Erde werden wir. Laß unseren Tod deinem Ruhm und deiner Ehre dienen. Oh, Tourach.
Eine Tür wurde geöffnet, und man schleuderte Reod in den dahinterliegenden Raum. Das Gewicht der Ketten drückte ihn auf die Steinfliesen, und mit zerkratzten Händen und Knien landete er vor den Füßen Genkr Niks. »Du hättest besser daran getan, meine Worte zu beherzigen.« Also hatten die Trulle geredet. Jemand hatte geplaudert, und jemand hatte zugehört. Er hatte sie zu schnell zu weit treiben wollen. Jetzt mußte er dafür büßen. Mit Mühe hob Reod den Kopf und zwang sich zu lächeln. »Es war mir einfach nicht möglich.« »Die Sache ist ernst, Reod.« »Das habe ich gemerkt«, antwortete er und klirrte mit den Ketten. »Du bist ein noch größerer Idiot, als ich angenommen habe. Dafür wird der Rat dein Blut und deine Knochen verlangen.« »Das will der Rat doch immer.« »Diesmal ist es wirklich ernst.« Genkrs Stimme klang sanft und wirkte dadurch viel bedrohlicher. Reod seufzte. »Nun, ich hielt es für eine gute Idee.« Anscheinend hatte er sich geirrt. Was würde mit Eliza geschehen? Noch ein Leben, das er nicht schützen konnte? »Du hast dich geirrt.« »Ich kann immer noch Goblineier für euch machen«, erklärte Reod mit gespielter Zuversicht. »Aber ihr müßt die Frau verschonen.« Genkr schüttelte den Kopf. »Sie ist hübsch, aber nicht 240
hübsch genug. Ihr Blut ist uns wichtiger als ihr Körper.« Zuerst Tamun und ihre Familie. Jetzt Eliza. So viele Tote, die er auf dem Gewissen hatte. »Ich kann euch viel mehr als nur Goblineier anbieten, Genkr.« »Das glaube ich dir. Wir bekommen alles, was wir wollen. Das weißt du doch, Reod. Ich wollte es nicht selbst tun, aber ich bin der Beste. Das weißt du ebenfalls, nicht wahr? Vielleicht findest du es recht interessant, es einmal von der anderen Seite aus zu erleben.« Die Hand verfügte über unzählige Foltergeräte und Methoden, um den Gefangenen ihre Geheimnisse, den Verstand und das Leben zu nehmen. Er hatte hin und wieder zugesehen und auch dabei geholfen. Hinterher blieb nichts außer dem Körper übrig. Das Gehirn wurde geöffnet und in Einzelteile zerlegt. Es war ein Todesurteil. Ein sehr unangenehmes Todesurteil. »Goblins und Orks kennen mich«, sagte Reod. »Ich kann sie dazu bringen, jeden anzugreifen, ganz wie ihr es wünscht.« »Aber wir vertrauen dir nicht mehr.« Der grauhaarige Kopf wiegte sich hin und her. »Bist du im Laufe der Jahre völlig verblödet? Ich weiß nicht, warum ich dir überhaupt jemals etwas beigebracht habe.« Genkr seufzte und strafte damit seine Worte Lügen. Ein kalter Schauer überlief Reod, als er die kummervolle Miene seines alten Lehrmeisters bemerkte. »Du wärest verrückt, wenn du mich töten würdest, Genkr. Mein Tod bringt dir keine Vorteile.« »Unter normalen Umständen würde ich dir zustimmen, aber jetzt... Nein. Der Rat hält dich für zu gefährlich, um uns von Nutzen zu sein, und ich kann ihm nicht widersprechen. Die Entscheidung ist gefallen. Ich kann nichts mehr für dich tun.« Mit kaum hörbarer Stimme fügte er hinzu: »Es tut mir leid.« 241
Der Schmerz war erträglich. Aber Reod spürte, wie er langsam stärker wurde. Mehrere Dutzend Fleischkäfer hatten sich in ihn verbissen. Noch ritzten sie die Haut nur auf. Es waren junge, noch schwächliche Käfer. Während sie sich langsam tiefer in sein Fleisch gruben, würden sie an Kraft gewinnen und fester zupacken, bis sie sich schließlich bis auf die Knochen durchgekämpft hatten. Wenn das geschah, war er bestimmt nicht mehr in der Lage, es zu spüren. Genkr stand neben ihm. Reod war so gefesselt, daß er den Kopf nicht drehen konnte, um seinen alten Lehrer anzusehen. Er erinnerte sich daran, wie Genkr ihm während des Folterunterrichts gesagt hatte, daß der Schmerz nie wahllos zugefügt werden durfte. Arme, Finger, Oberkörper und Kopf waren an das aufrechtstehende Brett gefesselt. Er konnte sich nicht rühren, aber die Fesseln verursachten ihm keine Schmerzen. »Deine Wahrheit ist ein schwacher Schatten«, sagte Genkr Nik. »Du glaubst an Dinge, die dir nichts nützen. Ansonsten wärst du nicht hier.« Der Trull, dessen Arme Genkrs fehlende Gliedmaßen ersetzten, beobachtete die beiden aufmerksam. Es war ein Ringtrull. Sein Hals war mit farbigen Ringen bemalt, die ihn als wertvollen Trull kennzeichneten. Man hatte ihn für die feinsten Arbeiten ausgebildet. Arbeiten, wie sie hier in diesem Raum ausgeführt werden mußten. Ringtrulle hatten keinen Mund, damit sie nichts von dem, was sie erlebten, ausplaudern konnten, aber sie hatten lange, schlanke Finger. Sie waren auf ganz besondere Weise an ihre Herren gefesselt: Ein seltenes Kraut erhielt sie am Leben. Wenn sie es nicht bekamen, wurden sie von Krämpfen ergriffen und starben einen langen, qualvollen Tod. Bei der gestrigen Versammlung waren keine Ringtrulle anwesend gewesen, aber das hatte Reod auch nicht erwartet. Die ungewöhnlich großen Augen des Trulls schienen 242
überall gleichzeitig hinsehen zu können. Genkr nickte ihm zu, und der Trull drehte die Kurbel ein kleines Stück herum. Ein lautes metallisches Klicken ertönte, und die Seitenwände des Kastens rückten dichter zusammen. Die langen Nadeln näherten sich Reods Gesicht. »Wahrheit?« fragte Reod. »Wollen wir das hier und jetzt besprechen?« »Wir besprechen, was ich für richtig halte«, erwiderte Genkr ruhig. Reod bemühte sich, gleichmäßig zu atmen, aber er konnte nicht verhindern, daß ihm der Schweiß über das Gesicht, den Hals und die nackte Brust lief. Er schauderte. Auch konnte er die Augen nicht von den spitzen Nadeln abwenden, die in den Seitenwänden des Kastens steckten, der um seinen Kopf herum angebracht war. Bei jeder Umdrehung der Kurbel rückten sie ein wenig näher, bis sie irgendwann in seine Augen, die Nase und den Mund eindringen würden. Noch ein Klicken. »Erzähl mir von der Wahrheit, Reod Dai.« Reod holte tief Luft, spürte, wie die Fesseln enger wurden und wie die Fleischkäfer ein wenig fester zubissen. »Wenn ich auf einem Berg stehe«, antwortete er, »scheinen die Wolken einen Teppich zu meinen Füßen zu bilden. Stehe ich an der Küste, formen sie ein weißes Dach über meinem Kopf. Aber immer sind es die gleichen Wolken.« Genkr schnaubte verächtlich. »Und was ist jetzt mit diesen Wolken?« Die Nadeln würden ihn nicht sofort töten. Er würde hier stehen, mit Nadeln im Mund, in der Nase, in den Augen. Aber er würde nicht sterben. Jedenfalls nicht sofort. Reod versuchte zu grinsen, aber er fühlte, daß es ihm mißlang. »Warum reden wir darüber?« 243
»Ehe du mir alles erzählst, was du weißt, möchte ich wissen, warum du versucht hast, die Geschaffenen gegen uns aufzuhetzen. Dann werde ich dir zeigen, wie dumm du gehandelt hast.« Genkr nickte, und der Trull näherte sich Reod mit einem Topf, aus dem er einen Käfer zog und ihm auf die Lippen setzte. Weitere Käfer landeten auf seiner Brust und zwischen den Zehen. »Du hast diese Maschine schon in Gebrauch gesehen«, fuhr Genkr fort. >Genial< hast du sie einst genannt. Erinnerst du dich daran?« Reod spuckte aus und versuchte, den Käfer von der Lippe zu schütteln. Das Tier klammerte sich fest und biß zu. Er unterdrückte einen Schmerzensschrei. Laß dir nichts anmerken.
Das hatte man ihn in Icatia gelehrt. Völlig nutzlos. »Ich glaube, du wolltest mich damals mit deiner Kaltblütigkeit beeindrucken, nicht wahr? Sogar als wir den Kasten schlossen und nur noch das Blut sahen, das dem Mann über die Brust lief. Erinnerst du dich an seine Schreie? An sein Flehen? Und dann gestand er. Obwohl es uns nicht interessierte, ließen wir ihn seine Worte unzählige Male wiederholen, denn er konnte wegen der Nadeln nicht richtig sprechen. Aber er gab sich große Mühe, und das Blut floß in Strömen. Du hast dich nicht ein einziges Mal abgewandt. Wolltest du mich beeindrucken?« »Ja.« »Ich kenne dich, Reod. Ich weiß, wann du die Wahrheit sprichst und wann du einfach aufgibst. Jetzt machst du Letzteres.« Er nickte dem Trull zu, der einen der Käfer von Reods Bein abriß und dabei ein Stück Haut mitnahm. Reod schrie auf. Der Trull untersuchte den Käfer und setzte ihn dann in Reods Kniekehle. »Keine Lügen, Reod.« »Keine Lügen«, wiederholte er hastig. 244
»Du hast einen Fehler begangen, nicht wahr? Deshalb bist du hier. Stimmt's?« Der Schmerz nahm zu. »Hast du einen Fehler begangen?« Die Kurbel wurde gedreht. Ein Klicken. Jetzt waren die Nadeln so nahe, daß er sie nicht mehr richtig sehen konnte. Stück für Stück würden sie ihn durchbohren. »Ja!« keuchte er. Ein Käfer wurde ihm von der Brust gerissen. Er schrie. »Ist das die Wahrheit?« Genkr befühlte die Stelle, an der der Käfer gesessen hatte. »Langsam dringen sie tiefer ein. Möchtest du noch ein paar haben?« Egal was er sagte, Genkr würde tun, was er für richtig hielt. Reod versuchte, den Gedanken an die Nadeln zu verdrängen. Jede Stelle seines Körpers schmerzte. Es fiel ihm schwer, überhaupt noch klar zu denken. Aber das war inzwischen nicht mehr wichtig. Es gab keine Gedanken mehr, nur noch Schmerzen. »Möchtest du mir sagen, wie man Goblineier macht?« fragte Genkr. »Das wäre der erste Schritt zu einem schnellen Tod. Wenn du mir die Wahrheit sagst und alles genau beschreibst.« Es kam nur auf seine Antwort an. Wenn er schwieg, würde er länger leben und noch mehr Qualen erleiden. Wenn er die Wahrheit sprach, würde Genkr vielleicht Wort halten und ihn erlösen. Natürlich würde seine Antwort den Lauf der Kriege verändern. Die Schwarze Hand würde siegen. Wollte er das? Er war sich nicht sicher. »Wo ist er, Genkr? Wo ist der Seitenweg jetzt?« »Ich werde dich vermissen, Reod.« Reod schluchzte auf. »Der Schmerz, den du jetzt empfindest, ist nichts im Vergleich zu dem, was noch folgen wird. Das weißt du doch, nicht wahr?« Genkr redete mit ihm, aber Reod konnte sich nicht konzentrieren. Er wußte auch nicht, was er sagen sollte. 245
»Weißt du, daß der Schmerz noch schlimmer werden wird? Antworte!« »Ja,, ich weiß es.« »Gut. Also liegt noch viel vor uns. Ja?« »Ja.« »Ich kann es dir leicht machen, wenn du alle Fragen ehrlich und ausführlich beantwortest. Verstehst du das?« »Ja.« »Gut. Ich glaube, ich kann deinen Antworten jetzt vertrauen. Kann ich das?« »Ja.« Genkr seufzte, streckte die Armstümpfe vor und sog an einem Strohhalm, der in einem Wasserkrug steckte. Der Trull stand reglos neben ihm, die Hand an der Kurbel. Die Zeit verrann, und Reod hörte nur seine eigenen, heftigen Atemzüge in der Welt aus Schmerzen, die ihn umgab. »Du, den wir Reod Dai nannten - hörst du mir zu?« »Ja.« »Dann erzähle mir eine Geschichte. Beginne bei Reod Dai, und sage mir, wohin er ging, nachdem er die Schwarze Hand verließ.« Eliza wußte nicht, was ihr bevorstand, als man sie durch die dunklen, vom Fackellicht spärlich erhellten Gange schleppte. Aber eines war sicher: Reods Glückssträhne war vorbei. Sie hatte das Messer vorsichtshalber griffbereit gehalten. Eigenartigerweise hatte man sie anfangs nicht nach Waffen durchsucht. Aber als die Tür aufgerissen wurde und die Trulle sie aus dem Bett zerrten, hatten sie ihr das Messer so schnell abgenommen, daß sie es kaum bemerkte. Kein Wunder, daß sich niemand deswegen den Kopf zerbrochen hatte. Nicht einmal die Stiefel hatte sie sich anziehen können. Jetzt lief sie mit bloßen Füßen über die kalten Steine. 246
Und Reod? Er war fortgebracht worden. Sie hatten nicht einmal einen letzten Blick wechseln können. Sie versuchte, die lähmende Furcht zu unterdrücken. Jetzt mußte sie nachdenken und Entschlüsse fassen. Wohin wurde sie gebracht und weshalb? Sie lauschte den Schritten ihrer Wärter, beobachtete ihre Mienen und achtete darauf, wohin sie sich wandten. Es sah nicht gut aus, soviel war sicher. Reods Rede vor den Trullen hatte offensichtlich nicht die gewünschten Ergebnisse gehabt. Die Sprache, die er gesprochen hatte, war ihr unbekannt, aber einige Worte klangen vertraut. Sie hatte verstanden, daß er von Rebellion redete und die ängstlichen Mienen der Trulle bemerkt. Jetzt drängten sie sechs Trulle mit stachelbewehrten Rücken durch die Gänge. Die spitzen Klauen, die wie scharfe, schwarze Messer aussahen, trieben sie voran. Sie redeten nicht mit ihr, erteilten keine Befehle. An der ersten Wegkreuzung stießen sie Eliza in die gewünschte Richtung. Wirkten sie nicht angespannt, warfen sie ihr nicht verstohlene Seitenblicke zu? So war es auch letzte Nacht gewesen, nachdem Reod seine Ansprache beendet hatte. Also führten die Wesen sie nicht einfach ohne Hintergedanken weg. Sie dachten nach. Vielleicht planten sie etwas. An der nächsten Kreuzung erhielt sie wieder einen Stoß. Sie wirbelte herum und starrte sie an. Überrascht blieben die Trulle stehen. Es war zu gefährlich, einen Fluchtversuch zu wagen - selbst wenn sie gewußt hätte, wohin sie rennen sollte. »Paßt auf!« sagte sie mit befehlsgewohnter Stimme. Sie hob die Hände und wies in verschiedene Richtungen. »So geht es auch. Versucht es mal.« Sie sah jeden einzelnen Trull an und merkte sich, wer ihrem Blick auswich und wer nicht. Dann drehte sie sich 247
wieder um und ging weiter. Die Trulle folgten ihr eilig und umringten sie. An der folgenden Kreuzung zögerten zwei der sechs Wesen, ihr einen Stoß zu versetzen. Statt dessen winkten sie mit den Klauen. Ein kleiner Fortschritt. Schließlich gelangten sie zu einer Tür, die in einen dunklen Raum führte, der von den Fackeln nur spärlich erhellt wurde. In der Mitte des Zimmers stand ein aus Stein gemeißelter Stuhl. Lederriemen hingen an den Seiten herab. Die Trulle schoben sie darauf zu und schienen Gegenwehr zu erwarten. Eliza blieb stehen, um den Stuhl genauer zu betrachten. Entlang der Armlehnen, dem Sitz und der Rückenlehne verliefen tiefe Einkerbungen. Sie führten bis zum Boden und endeten genau über dort aufgestellten Gefäßen. Gefäße. Rinnen. Blut. In Icatia erschreckte man die Kinder mit diesem Schauermärchen, damit sie gehorchten: »Seid brav, sonst schicken wir euch zur Schwarzen Hand. Da schneiden sie euch auf, bluten euch aus und trinken das Blut.« Offensichtlich war es kein Märchen. Eine Klaue stieß sie an. Noch eine. Eliza versuchte auszuweichen, aber sie schoben sie zum Stuhl. Sie drehte sich um und erhaschte den Blick eines der Trulle, der vorhin gezögert hatte. »Zurück!« befahl sie, fuchtelte mit den Händen und bemühte sich, ihre Angst zu unterdrücken. »Tretet zurück.« Trotz der verschiedenen Sprachen war sie sich sicher, daß die Wesen sie verstanden. Die Trulle starrten sie ausdruckslos an, »Rebellion«, flüsterte Eliza. »Die Zeit ist reif! Handelt!« Sie rührten sich nicht. Ihre Mienen blieben starr. Sollte sie weiterreden? Einer nach dem anderen schlug die 248
Augen nieder, und wieder schubsten sie Eliza zum Stuhl. Zwei Trulle stellten sich hinter den Stuhl - wahrscheinlich, damit sie nicht versuchte, über die Rückenlehne zu klettern. Ohne Rüstung stand sie den sechs Wesen mit ihren Rückenpanzern völlig wehrlos gegenüber. Aber sie würde kämpfen. Sie würde sich nicht einfach hinsetzen und auf den Tod warten. Wenn sie ihr Blut wollten, mußten sie es ihr entreißen und vom Boden auflecken. Es würde nicht fein säuberlich in die Gefäße tropfen. Sie zählte, wie sie es immer vor einem Kampf tat, um sich zu sammeln und nicht an Schmerzen oder Tod zu denken. Zwei der Trulle hielten sich ein wenig im Hintergrund, aber die übrigen vier standen dicht vor und hinter ihr und näherten sich langsam. Sie wich zurück und sprang auf den Stuhl. In diesem Augenblick stürzten sich die beiden abseits stehenden Trulle auf ihre Gefährten. Plötzlich bildeten die sechs Wesen ein unentwirrbares Knäuel. Eliza beobachtete sie starr vor Schrecken. Noch nie hatte sie Wesen gesehen, die sich so schnell bewegen oder so lautlos kämpfen konnten. Man hörte nur das Kratzen der Klauen, die auf die Rückenpanzer einhieben und das Seufzen, als einer nach dem anderen zu Boden glitt und aus zahlreichen Wunden eine dunkle Flüssigkeit verströmte. Nur zwei Trulle blieben übrig. Sie wandten sich Eliza zu. Der größere der beiden nickte ihr zu. »Rebellion!« flüsterte er. Es war anscheinend das einzige Wort, daß in beiden Sprachen gleich blieb. Und das reichte vollkommen. Sein ganzer Körper fühlte sich an, als stünde er in Flammen. Die Bisse der Käfer steigerten seine Qual ins Unermeßliche. Reod bemühte sich, den Kopf völlig ruhig zu 249
halten. Vielleicht blieben ihm noch eine oder zwei Umdrehungen der Kurbel, ehe die Nadeln in seine Augen eindrangen. Eine oder zwei Umdrehungen. Aber wer weiß, dachte er, von plötzlicher Panik ergriffen, vielleicht steckten sie schon in seinen Augen, und er hatte es nur noch nicht bemerkt. Er blinzelte verzweifelt. Schweißtropfen und der Schmerz ließen ihn nur verschwommen sehen, aber wenigstens konnte er noch blinzeln. Keine Nadeln. Noch nicht. Aber es war sinnlos, darüber nachzudenken. Auch die Käfer, die seinen Körper zerfleischten, waren keinen Gedanken wert. Nichts war mehr wichtig. Dennoch rasten die Gedanken durch seinen Kopf. Er fragte sich, was er tun würde, wenn die Nadeln ihn berührten. Eigentlich war es egal, aber würde ihm die Ausbildung etwas nützen? Würde er schreien? Auch wenn er sich vornahm es nicht zu tun, würde er laut schreien - dessen war er sich sicher. Würde er Genkr alles verraten und auf ein wenig Gnade hoffen können? Die Goblineier verschafften der Hand einen Vorteil gegenüber Icatia, und Icatia war nur der erste Gegner von vielen. Er hatte Genkr schon eine Formel für die Eier verraten. Der Alte hatte gemerkt, daß Reod log. Nun war sein ganzer Körper mit Käfern bedeckt. Genkr schwieg seit geraumer Zeit. Reod war nicht sicher, wie lange die Stille schon währte und was in der Zwischenzeit geschehen war. Er erinnerte sich, daß man ihm Wasser in den Mund geträufelt hatte. Eine freundliche Geste? Wohl eher eine grausame Erinnerung daran, daß es sich um das letzte Wasser seines Lebens handelte. Der Schmerz raubte ihm den Verstand. Es befand sich noch jemand im Raum. Mehrere Personen? Anscheinend litt er bereits an Wahnvorstellungen. Es wurde dunkel. Er hörte schlurfende Schritte. Dann trat Stille ein. Plötzlich ertönte das Klicken. Die Kurbel wurde gedreht. 250
Reod wimmerte vor Angst und wartete auf die Nadeln. Nichts geschah. Es war noch jemand im Raum. Er öffnete die Augen. Große dunkle Augen sahen ihn an. Die Augen des Ringtrulls, dessen Hand auf der Kurbel lag. Die Nadeln... Die Nadeln wichen zurück. Stück für Stück. Das Licht der Fackeln warf unruhige Schatten auf die Wände. Rings um ihn herum standen zahlreiche Trulle. Sie gössen eine Flüssigkeit über seine Arme, Beine und den Leib. Hinter ihnen stand ein Mensch. Eliza. Plötzlich verdoppelte sich der Schmerz, verdreifachte sich und drohte, ihn in Stücke zu reißen. Er heulte auf, bäumte sich in den Fesseln auf. Tränen strömten ihm über die Wangen und er schrie gellend. Allmählich ließen die Schmerzen nach. Sein Körper brannte, aber es war erträglicher geworden. Verzweifelt rang er nach Luft, und sein Herz klopfte zum Zerspringen. Langsam fühlte er sich besser. Jemand löste die Fesseln, und Reod sank auf den Boden. Eliza kniete neben ihm. »Die Käfer sind weg«, erklärte sie sanft. »Reod? Das Öl hat sie abfallen lassen. Das hat dir solche Schmerzen verursacht. Aber das Öl wird auch den Wunden guttun. Wenigstens glaube ich, daß die Trulle mir das sagen wollten. Jetzt verbinden sie dich. Mehr können wir im Augenblick nicht tun. Reod?« Er versuchte zu sprechen, konnte aber nur stöhnen. »Die Zeit drängt. Wir müssen fliehen. Kannst du aufstehen?« Aufstehen? Er wollte lachen, aber nicht einmal das gelang ihm. Die Trulle schmierten Salben auf die Wunden und verbanden sie. Es fühlte sich an, als bestehe sein ganzer Körper nur aus einer einzigen großen Verletzung. Vorsichtig zogen sie ihm Kleidung an. Nicht seine eigenen 251
Sachen, sondern die braune Tunika und die weiten Hosen, die jeder Diener der Hand trug. Irgend etwas wurde auf seinen Kopf gestülpt. Ein Trull zog ihm Stiefel an. Seine eigenen, vertrauten Stiefel. Er betrachte das abgetragene Leder und begriff erst jetzt, daß er nicht sterben mußte. Wenigstens nicht sofort. »Hoch!« rief Eliza. »Steh auf! Wir haben nicht viel Zeit.« Die Trulle zogen ihn hoch, und Eliza stützte ihn. Schlurfend bewegte er sich. Jeder Schritt bedeutete eine Qual. Die Trulle umringten sie. Seine Worte waren also doch nicht vergebens gewesen. Langsam bewegten sie sich vorwärts und betraten den Gang. »Wo ist Genkr?« flüsterte Reod mit heiserer Stimme. »Ich weiß nicht«, antwortete Eliza. »Als wir hereinkamen, stürzten sich die Trulle auf ihn. Er fiel hin und war plötzlich verschwunden.« Also war Genkr nicht tot. Er lebte noch und wußte nun, daß Reod einen Seitenweg gefunden hatte. Die Pferde waren unruhig und schreckhaft. Reod hielt sie für eine Kreuzung aus den schnellen Taltans und icatianischen Lundars. Stur, nervös und sehr klug. Er hatte keine Zeit, sich vom Boden aus mit ihnen anzufreunden. Das mußte er versuchen, wenn er im Sattel saß. Mit Elizas Hilfe stieg er auf. Er klammerte sich an der Mähne fest, um nicht sofort wieder herunterzufallen. Eliza sah ihn tief besorgt an, aber als Soldatin wußte sie, daß sie ihn nicht durch übertriebene Fürsorge beleidigen durfte. Er warf ihr ein - wie er hoffte - selbstsicheres Lächeln zu und versuchte, die Schmerzen nicht zu beachten. In Wahrheit wünschte er sich nichts sehnlicher, als sich hinlegen zu können. Überall standen Trulle herum. Außer ihren Rettern waren noch zahlreiche andere Wesen hinzugekommen. 252
Sie überprüften die Vorräte in den Satteltaschen und reichten ihnen Wasserschläuche und warme Umhänge. Ihre Mienen schwankten zwischen Angst und Hoffnung. Man merkte, daß es ihnen lieber gewesen wäre, Reod bei sich zu behalten, aber dennoch halfen sie ihm bei der Flucht. Eine Weile standen sie im blassen Licht der Sonne, die bald hinter dunklen Wolken verschwinden würde. Reod schaute zu den Trullen hinunter. Es blieb nicht viel Zeit für Abschiedsworte, denn in Kürze würde die Schwarze Hand hinter ihnen her sein. Sie mußten sich sputen. Trotzdem verweilte er und lächelte, als habe er keine quälenden Schmerzen. »Was wollt ihr?« fragte er mit lauter Stimme. »Essen, was immer ihr wollt? Die glänzenden Ringe und warmen Gewänder eurer Herren tragen? Achtep besitzen? Eure Herren sind wenige an der Zahl, und ihr seid viele. Denkt daran! Sie haben Magie? Ihr auch. Wenn sie Zaubersprüche anwenden, antwortet mit Klauen, Zähnen und Händen. Sie haben Waffen? Egal. Ihr seid die besten Waffen, die sie je hatten. Jetzt ist die Zeit gekommen, euch zu erheben und sie zu überwältigen. Wenn euch die Sklaverei nicht länger gefällt...« Er machte eine weit ausholende Handbewegung. »... dann beendet sie!« Damit ergriff er die Zügel des Pferdes und trieb es an. Vor lauter Schreck gehorchte das Tier. Eliza folgte ihm. Sie ritten den Pfad entlang, der hinter Achtep verlief, denn an der Straße vor dem Haupttor waren die meisten Wächter aufgestellt. Kurz bevor Reod eine Wegbiegung passierte, drehte er sich um und erwartete, die Trulle noch immer herumstehen zu sehen, weil sie auf seine Rückkehr hofften. Aber nur noch wenige der Wesen befanden sich im Innenhof vor den Ställen, und auch sie verschwanden, während er sie beobachtete. Vielleicht hatte er sie unter253
schätzt. Vielleicht eigneten sie sich so gut für eine Rebellion, wie er es erhofft hatte. An jedem Außenposten entlang des Weges lagen die Leichen der Wachen. Die Trulle hatten vorgesorgt. Sie lernten schnell. Als sie Achtep hinter sich gelassen hatten, ritten sie schneller, da sie möglichst viel Entfernung zwischen sich und die Schwarze Hand legen wollten, ehe man ihre Verfolgung aufnahm. Jedes Rütteln und jeder Stoß sandte unbarmherzige Schmerzen durch seinen Körper, bis es ihm immer schwerer fiel, sich aufrecht zu halten. Aber das hatte auch etwas Gutes, denn so mußte er nicht fortwährend an Tamun denken. Während der Folter hatte er sie völlig vergessen und nicht daran gedacht, daß sie tot war; von heißer Lava zu Asche verbrannt oder von einem herabfallenden Felsbrocken zerschmettert am Boden lag. Reod befürchtete, daß sie die Katastrophe nicht überlebt haben konnte, wollte sich aber vergewissern. Er würde nach ihrem Leichnam suchen. In der Zwischenzeit hatte er ihren Mördern ein Ei hinterlassen, daß denen recht ähnlich war, die er für sie hatte bauen sollen. Aber dieses Ei... Er lächelte. Dieses Ei war anders und würde sich vervielfältigen und zerspringen. Die Schmerzen raubten Reod immer wieder das Bewußtsein. Eliza beobachtete ihn besorgt. Es war ein Wunder, daß er sich überhaupt auf dem Pferd hielt. Aber schließlich war er Robin Davies. Wenn die Schwarze Hand sie verfolgte, dann erwiesen sich Reods Schleichwege als ausgesprochen sinnvoll. Seine Anweisungen führten sie teilweise im Kreis herum und schließlich gelangten sie sicher über die Grenze Icatias. Danach übernahm sie die Führung, denn er war viele Jahre nicht im Land gewesen. Sie wußte, wo Wachposten standen, die Fragen stellen würden. Also ritten 254
sie über Seitenstraßen, durch kleine Dörfer und umgingen die Grenzposten. Seine Wunden heilten langsam und quälten ihn, aber die ganze Zeit über gab er vor, sich gut zu fühlen. Tagelang war er nahe daran, vor Erschöpfung aus dem Sattel zu fallen. Sie ritten viel zu schnell und zu weit, als daß er sich hätte erholen können. Nachts wimmerte er im Schlaf. Dann legte sie ihm die Hand auf die Stirn, strich ihm übers Haar und irgendwann beruhigte er sich. Wenn er jemals bemerkte, wie sie ihn tröstete, ließ er es sich nie anmerken, und sie redeten nie darüber. Wer hätte gedacht, daß der große Robin Davies, der furchtbare Reod Dai, der Anführer der Rebellion und Verräter Icatias im Schlaf weinte? Niemand würde das glauben, und sie würde auch niemals davon sprechen. Während sie weiterritten, dachte sie an eine naheliegende Lösung: Sie konnte ihn in die Falle locken. Es wäre einfach. Sie wußte, in welche Armeestützpunkte man leicht hinein-, aber kaum wieder hinauskommen konnte. Befand er sich erst einmal in der Hand der icatianischen Soldaten, würde man ihn für seine Verbrechen zur Verantwortung ziehen. Gemäß den Gesetzen Icatias hatte sie nicht das Recht, über Reod zu urteilen, und noch weniger durfte sie ihm helfen, sich dem Gericht zu entziehen. Damit machte sie sich auch des Verrats schuldig. Aber heutzutage lebten die wenigsten Menschen gemäß dieser unbeugsamen Gesetze. Es war möglich, Strafen durch Bestechung zu entgehen. Trotzdem mußte sie sich fragen, warum sie ihn nicht auslieferte. Hing es vielleicht mit der Magie zusammen, die er bei der Schwarzen Hand gelernt hatte und die es ihm ermöglichte, Leute für sich einzunehmen? Nein, sagte sich Eliza und erinnerte sich an die Spiele aus Kindertagen, bei denen er meistens gewonnen hatte. Lange bevor er Icatia verließ, war er ein Überredungskünstler gewesen. 255
Täglich ritten sie viele Stunden lang schweigend hintereinander her. Sie überließ Reod jetzt wieder die Führung, denn angeblich hatte er schärfere Augen, aber in Wahrheit wollte ihn Eliza nicht unbeobachtet lassen. Während des Rittes wollte sie in Ruhe überlegen, was sie alles über ihn wußte. Wenn sie ihr Urteil fällte, würde es mit aller Sorgfalt geschehen. Wie viele Leute hatte er beeinflußt, die Armee zu verlassen? Bis heute weigerten sich Icatianer, für den König zu kämpfen, weil sie Reods Worten glaubten, die heimlich niedergeschrieben worden waren und von Hand zu Hand gingen. Natürlich nur in den abgelegenen Dörfern des Landes, wo die Menschen weniger gesetzestreu lebten. Und wer wußte schon, was er wirklich bei der Schwarzen Hand getrieben und welchen Schaden er Icatia zugefügt hatte? Er behauptete, keine Geheimnisse verraten zu haben, aber selbst wenn das stimmte - galt das auch für seine Gefolgsleute? Sie bezweifelte es, denn nun hatte sie die Foltergeräte der Schwarzen Hand mit eigenen Augen gesehen. Was war, wenn es stimmte, was der Magier in Teedmar gesagt hatte? Dann hatte Reod den Elfen, die Verbündete Icatias waren, großen Schaden zugefügt. Und was noch alles? Er hatte Sprengkörper für die Goblins angefertigt, die Feinde ihres Landes. Dann war er schuld an den Grenzkriegen und am Tod vieler Icatianer. Auf der anderen Seite redeten die Zwerge in Teedmar gut von ihm. In den vergangenen Jahren hatte er ihnen geholfen und wollte das auch weiterhin tun. Aber Teedmar war ein besonderer Fall, denn dort waren ihre Männer gestorben. Zwar hatte Reod ihr das Leben gerettet, aber fünfzig ihrer Leute waren umgekommen. Trug er auch daran die Schuld? War er der Hauptschuldige, der die Kriege angezettelt hatte? 256
Eliza runzelte die Stirn und sah Reod an. Inzwischen sah er ein wenig besser aus. Seine Haut war nicht mehr leichenblaß, und die Wunden heilten allmählich. Aber noch immer schien er fortwährend darum zu kämpfen, nicht im Sattel einzuschlafen. Das war der Mann, der die gefährlichsten Geschöpfe der Schwarzen Hand zur Rebellion getrieben hatte. Wenn die Hand keine Trulle mehr hatte, die für sie arbeiteten und kämpften, befand sich Icatia gegenüber den Anhängern Tourachs im Vorteil. Vielleicht hatte Reod in jener Nacht den Krieg zu Gunsten Icatias entschieden. In Gedanken legte sie die Gründe für und wider Reod auf die Waagschale. Was sie aus seinem Gebaren nicht entnehmen konnte, versuchte sie ihm vom Gesicht abzulesen. Noch war es Zeit, ihn auszuliefern und der Justiz zu übergeben. Sollte sie es tun? Sie dachte an die Zwergin, deren Leichnam er unbedingt finden wollte. Wenn er von ihr sprach, kam er ihr weniger wie der ehemalige Kommandeur der Armee Icatias sondern eher wie ein frischverliebter Jüngling vor. Seine Worte überschlugen sich, und von Zeit zu Zeit errötete er. Der große Robin Davies, den die Liebe zu einer Frau durcheinanderbrachte? Die Liebe zu einer Zwergin? Eliza bemühte sich, ihre Gedanken zu ordnen. Reod hatte den Verfall und den Niedergang Icatias vorhergesagt, der inzwischen auch von vielen anderen Leuten als unaufhaltsam angesehen wurde. Er hatte die Trulle zur Rebellion angestiftet. Er hatte den Goblins Sprengkörper gegeben, die gegen Icatia und seine Verbündeten angewandt wurden. Immer wieder hatte er sein Leben für die Zwergin aufs Spiel gesetzt. Wenn auch nur wenige wagten, seinen Namen auszusprechen, so war er doch überall bekannt. Wenn sie an ihn als Kommandeur dachte, dann war er 257
ein Deserteur und Verräter und mußte ausgeliefert werden. Lange Zeit bedachte sie die Tatsachen und rang mit sich. Schließlich erkannte die Frau Eliza, was die Soldatin nie gesehen hätte: Hier war ein Mann, der weiter dachte als gewöhnliche Sterbliche, und der sich auch die Sorgen anderer Rassen aufbürdete und zu eigen machte. Natürlich war das ungewöhnlich, aber wenn sie die Dinge aus diesem Blickwinkel sah, erschien ihr seine Handlungsweise beinahe verständlich. Es gab sogar Vorteile, die sie nicht leugnen konnte. Egal wieviel Schaden er Icatia zugefügt hatte - den Feinden Icatias schadete er in Freiheit bedeutend mehr, als er es im Gefängnis konnte. Oder wenn er tot war. Eliza brachte ihn nicht zum Orden Leitburs, der ihn den Leuten des Königs übergeben würde. Auch nicht zu Farrels Lager, der unter Umständen überredet werden konnte, ihn am Leben zu lassen, wenn Reod bestimmte Zugeständnisse machen würde. Statt dessen gingen sie nach Süden, den schneebedeckten Purpurgipfeln entgegen. Als die Vorräte, die ihnen die Trulle gegeben hatten, zur Neige gingen, machte Eliza kleine Abstecher in die umliegenden Dörfer. Wenn sie um Nahrung bat, erwies sich ihre Uniform als große Hilfe. Hin und wieder jagten sie gemeinsam, und sie bemerkte, daß Reod nichts von seiner Geschicklichkeit bei der Handhabung verschiedener Waffen eingebüßt hatte. Schließlich erreichten sie die bewaldeten Hügel an der Südgrenze Icatias. Vor ihnen reckten sich die mit Eis und Schnee bedeckten Gipfel des Gebirges. Die Kälte hatte Reods Wangen gerötet. Elizas Haare waren so lang geworden, daß sie ihr bis über die Augen hingen. Ihr Atem stand schwer und weiß in der eisigen Luft, und die Pferde schnaubten ungeduldig und tänzelten unruhig hin und her. Sie sehnten sich nach dem Gras 258
der Ebenen, da sie schon viel zu lange nur mit Hafer gefüttert worden waren. »So!« stieß Eliza hervor. Reod lächelte und wiederholte: »So.« »Hier trennen sich unsere Wege, Reod Dai.« »Ich verdanke dir viel, Eliza.« »Vielleicht. Aber ohne dich wäre ich wahrscheinlich in Teedmar umgekommen.« »Eine ganze Stadt«, flüsterte er traurig. »Manchmal glaube ich, daß ich mich gar nicht mehr an alle jene erinnern kann, die ich schon habe sterben sehen. Und dann wieder glaube ich, daß ich sie nie vergessen kann.« »Wir haben beide viel verloren.« »Ja.« Einen Augenblick lang schloß sie die Augen, um bei dem Gedanken nicht in Tränen auszubrechen. »Reod, willst du das Versprechen halten, die Trulle mit Waffen und Hilfe zu unterstützen?« »Ja.« Sie nickte. »Wenn ich zu meinen Generalen zurückkehre, werde ich ihnen erzählen, was du der Schwarzen Hand angetan hast, und wie du die Trulle zur Rebellion aufriefst und bereit warst, dein Leben zu opfern, ehe du das Geheimnis der Goblineier preisgeben würdest. Das werde ich ihnen mitteilen.« »Sie werden sich fragen, weshalb du mich nicht ausgeliefert hast.« .»Du wirst Icatia mehr nutzen, wenn du in Freiheit lebst.« »Und das willst du ihnen sagen?« »Nein.« Er lächelte wieder. »Sei vorsichtig, daß du nicht zu gut von mir sprichst, Eliza, sonst höre ich mich gar nicht mehr wie ein Verräter an. Wenn du so weitermachst, könnte der Eindruck entstehen, ich sei ein Held.« »Dafür halten dich viele Menschen schon jetzt.« »Narren.« 259
»Vielleicht. Aber man kann jeden als Helden oder als Narren hinstellen, wenn man eine Geschichte auf die eine oder andere Weise erzählt.« »Nun, dann bin ich auf deine Geschichte gespannt.« »Du hast den Trullen von den Thalliden erzählt, und da es die richtige Geschichte war, erhoben sich die Trulle.« »Das stimmt.« »Reod, wenn das alles vorüber ist, solltest du wieder nach Icatia zurückkehren. Dann wird sich viel verändert haben.« »Glaubst du das wirklich?« »Natürlich. Irgendwann haben alle diese Kriege ein Ende.« Er schüttelte den Kopf. »Ich befürchte, wir sind zu selbstsicher geworden, Eliza. Manchmal vergessen wir, daß wir nur Menschen sind, die mit einem trockenen Schlafplatz und genügend Essen und Trinken zufrieden sein sollten. Wir vergessen leicht, wie tief wir fallen können, ehe uns der Tod ereilt.« »Wahrhaft aufmunternde Worte!« sagte Eliza spöttisch. »Ich habe schon Besseres von dir gehört. Aber ich wiederhole: Wenn die Kriege beendet sind, mußt du zurückkehren. Vielleicht wird es dir gefallen, wieder inmitten deines Volkes zu leben.« »Vielleicht.« »Und dann werden wir beide miteinander trinken, über die Vergangenheit reden und herzhaft lachen,« »Lachen? Werden wir nicht um die Toten weinen?« Sie lachte. Tränen stiegen ihr in die Augen, und Gesichter tauchten vor ihr auf. »O ja, wir werden weinen. Wir weinen um alle unsere Toten, bis wir keine Tränen mehr haben. Und dann lachen wir, weil wir noch leben und wieder zusammen sind.« Sie beugte sich vor, und einen Augenblick lang reichten sie sich die Hände, als wollten sie gemeinsam in die 260
Schlacht ziehen. Dann neigte sie sich noch weiter vor, nahm sein Gesicht in beide Hände und küßte ihn auf die Stirn. »Paß auf dich auf, Robin«, sagte sie, riß ihr Pferd herum und trieb es den Pfad entlang, der sie zurück in die Heimat führte. Er sollte die Tränen nicht sehen, die sie nicht länger zurückhalten konnte.
261
»Man kann jeden Kampf gewinnen.« - Orkische Redensart
An einem grauen regnerischen Morgen erblickte Reod die Stelle, an der Teedmar einst gestanden hatte. Aus der Ferne sah es aus, als sei eine riesige schwarze Kerze geschmolzen und habe sich über Häuser und Straßen gelegt, ehe das Wachs erkaltete. Dunkle starre Flüsse teilten den Berg und bedeckten die Stadt. Die glatte Lavaschicht glänzte vor Feuchtigkeit. Als er näherkam, bemerkte er, daß nicht alle Gebäude verschwunden waren. Hier und da erhob sich ein Haus und überragte die Lavafläche. Bei diesem Anblick keimte Hoffnung in ihm auf. Er kämpfte dagegen an und bemühte sich, ruhig zu bleiben, als sein Blick auf die Dächer fiel. Vielleicht hatte sie sich dort aufgehalten, als der Berg Lava ausspuckte. Sicher hatten ein paar Zwerge überlebt. Tamun konnte eine davon sein. Natürlich war das recht unwahrscheinlich. Die Überlebenden waren gewiß nicht zahlreich und hatten großes Glück gehabt. Aber konnte man wirklich von Glück sprechen, wenn sie nichts als das nackte Leben gerettet hatten? Schon oft hatte er solche Tragödien erlebt und wußte, wie zweifelhaft diese Glücksfälle sein konnten. Vor langer Zeit, als er noch zu den Anhängern Leitburs gehörte, glaubte er, daß die wirklich Guten jedes Unglück überlebten, da ihre Reinheit ein Schild gegen die Grausamkeiten der Welt bildete. Seit damals hatte er 262
unzählige dieser guten Leute sterben sehen, ohne daß ein Schild sie schützte, und die Feinde Leitburs lebten unversehrt weiter. Nein, wenn das Gute ein Schild wäre, würde er längst nicht mehr leben. Der Tod Tamuns und ihrer Familie war seine Schuld, denn sie hatten nichts als den Fehler begangen, ihm zu folgen. Er aber hatte versagt. Auch sein eigenes Leid war selbstverschuldet. Es war seine eigene Dummheit gewesen, sich der Magie der Zwergin zugänglich zu zeigen. Er hatte ihr in die goldbraunen Augen gesehen, ihren schlichten Zauber verspürt und nicht dagegen angekämpft. Ihr Einfluß war stärker gewesen, als er erwartet hatte, aber dennoch hätte er widerstehen können, wenn er gewollt hätte. Statt dessen hatte er sich ihr geöffnet und sein Schicksal besiegelt. Und auch das ihre. Tränen ließen seine Wangen in der Kälte erstarren. Er hätte sie niemals mitnehmen dürfen. Weder in den Zufluchtwald noch nach Teedmar. Vielleicht hatte Leitbur recht. Vielleicht gab es wirklich Gerechtigkeit auf Erden, und nun bezahlte er für seinen Mangel an Ehrlichkeit. In letzter Zeit wurde er immer öfter von Reue ergriffen. Eigentlich hätte er es besser wissen müssen. Manchmal starben Soldaten während der Schlacht, weil sie sich einem kurzen Moment der Reue ob eines getöteten Feindes gestatteten. Reue war schlimmer als alles andere. Man konnte daran zugrunde gehen. Er hatte nicht mehr viel, aber das Wenige wollte er nicht mit Reue vergeuden. Reod lächelte grimmig. Statt dessen würde er suchen bis er ganz, ganz sicher war, daß Tamun nicht mehr lebte. Die Hufe des Pferdes suchten sich einen Weg durch Geröll und Gestein, als er sich dem ehemaligen Stadtrand näherte. Drei Gestalten liefen am Rande der Lava herum. Einen Augenblick lang klopfte sein Herz schnel263
ler, und wilde Hoffnung erfaßte ihn. Dann sah er, daß zwei der Gestalten sehr klein waren. Kinder. Die größere Gestalt suchte auf dem Boden herum. Sie hatte ein paar Säcke über die Schulter geworfen. Die drei blieben stehen und blickten ihn an, als er sich ihnen näherte. Die Gesichter waren schmutzig und mit Schrammen bedeckt. »Mensch«, sagte der bärtige Zwerg, als wolle er einen Verdacht äußern. Die Kinder starrten Reod mit weitaufgerissen Augen ängstlich an. »Mein Beileid zu diesem Unglück«, erwiderte Reod auf Zwergisch. Er bemühte sich, seine Stimme sanft klingen zu lassen, aber es gelang ihm nicht. Der Mann grunzte. »Gibt es noch mehr Überlebende?« »Ein paar«, antwortete der Zwerg, und sein Tonfall verriet, daß es nur wenige waren. »Wo sind sie?« »In Gurn.« Er nickte in die Richtung, in der sich der graue Himmel etwas lichtete. »Ich suche nach einer Zwergin«, sagte Reod. »Es können auch zwei oder drei sein, die zusammengehören.« Wieder schnaubte der Zwerg. »Wenn sie nicht in Gurn sind, liegen sie da drunter.« Er deutete auf den Boden. »Unter der Lava.« Eines der Kinder hob einen Stein auf und schleuderte ihn gegen den Berg, der Teedmar unter sich begraben hatte. Das kleine Gesicht war zu einer wütenden Grimasse verzerrt. Reod nickte, denn er verstand die Verzweiflung und die Wut sehr gut. Er beobachtete, wie der Zwerg Balken und Steine beiseite schob. »Warum bist du noch hier?« fragte er den Mann. »Ich ging nach Gurn. Da ist sie nicht. Also ist sie hier. Wir wollen sie nur noch einmal sehen.« Reod nickte. Es fühlte sich an, als habe sich sein 264
Schmerz verflüssigt und rinne wie brennendes Öl über sein Herz. »Viel Glück«, würgte er hervor und zog das Pferd herum. Vielleicht sollte er besser nicht nach Gurn reiten und sich die Hoffnung erhalten, Tamun hätte es irgendwie geschafft. Vielleicht war es besser, den Glauben zu bewahren, sie sei am Leben als sich die Gewißheit zu verschaffen, daß sie tot war. »Waren es Grubenarbeiterinnen?« rief ihm der Zwerg nach. Reod zügelte das Pferd und wandte sich um. »Nein. Warum?« »Der Eingang zum Bergwerk war verschüttet. Keine Luft. Konnten sie hören, aber nicht rausholen. Mußten sterben. Aber plötzlich kam dieser Drache. Größte Ausgeburt der Hölle, die du je gesehen hast. Er ging hin und trat alle Felsbrocken weg, als seien es Kieselsteine. Trat sie einfach weg. Befreite alle Bergarbeiter. Dann flog er wieder weg, mit drei Frauen auf dem Rücken.« Reod riß die Augen auf. »Drei Frauen? Zwerginnen?« »Zwerginnen? Die auf einem Drachen reiten?« Der Mann schnaubte. »Natürlich nicht. Müssen Magierinnen gewesen sein. Menschen.« »Ein großer Drache, nicht zwei kleine?« »Riesig, wie man es in den Geschichten hört.« Er schüttelte den Kopf. »Aber er hat geholfen und niemand gefressen. Nach dem Vulkanausbruch hätte ich nicht gedacht, daß mich noch irgend etwas überraschen könnte.« Reod hörte schon nicht mehr hin. Drei Frauen auf einem Drachen. Jetzt gab es keinen Zweifel an seinem Ziel. Die Straße nach Gurn wurde häufig benutzt. Schlammspuren zogen sich über die von den Zwergen sorgfältig 265
gepflasterte Straße. Der Regen spülte sie allmählich fort. Reod sah die kleinen Fußabdrücke der Goblins und die großen der Orks. Außerdem gab es Stiefelabdrücke, die von den Zwergen stammen mußten. Es waren nicht viele. Er kratzte Zeichen in die Felsen, die er den Goblins beigebracht hatte, um weitere Kreaturen in die Irre zu führen. Nach einer Weile stieß er auf blutüberströmte Leichen, die teilweise halb aufgefressen waren. Die Goblinkörper beachtete er nicht, aber die Köpfe mit den hellen Haaren zog er aus dem Schlamm und betrachte sie eingehend. Am Straßenrand fand er ein Zwergenkind, das auf einem großen Felsbrocken hockte. Das braune Haar war verfilzt; getrocknetes Blut und Kratzer bedeckten das Gesicht. Es saß so still, als sei es schon tot und habe nur vergessen, vornüber zu fallen. Aber die Augen folgten jeder seiner Bewegungen. Zuerst wollte er anhalten und absteigen, um ihm zu helfen. Jedesmal, wenn er in solchen Zeiten auf eine hilflose Kreatur wie dieses Kind stieß, hegte er derartige Gedanken. Aber hier hatte es ebenso schlechte Uberlebenschancen wie dort, wohin er ritt. Und sein Schwert konnte das Mädchen nicht gegen die verteidigen, die seine Familie getötet hatten. Jedenfalls lauteten so die Gründe, die er sich immer bei solchen Gelegenheiten vorhielt. Aber vor seinem verlorenen Blick hielten sie nicht stand. Es hatte niemanden mehr. Niemanden außer ihm. Wenn er ihm nicht half wer sollte es sonst tun? Das Leben bestand aus bitteren Entscheidungen. Egal was er besaß - sein Schwert oder das Glück, noch am Leben zu sein - er konnte es mit ihm teilen und seinem Leben einen Sinn geben. Er konnte es auch lassen und auf das nächste einsame Kind warten. Oder alles, was er hatte, für Tamun aufsparen. Also mußte er eine Entscheidung treffen. 266
Das Kind sagte kein Wort und starrte ihn nur an. Endlich wandte er sich ab und sah auf die vor ihm liegende Straße. Immer gab es Kinder wie dieses. Sie brauchten ihre Familien, und die konnte er ihnen nicht ersetzen. Ohne Familie waren sie tot oder lagen bereits im Sterben. Nichts weiter als eine neue Leiche, die er auf dem überfüllten Leichenanger seiner Erinnerung begraben mußte. Nichts weiter als eine neue Leiche, an der er vorübergeritten war. Es war Jahre her, seitdem er diese Straße das letzte Mal benutzt hatte. Damals wollte er den Ältesten von Gurn von den Goblinnestern berichten, die er aufgestöbert hatte. Er hatte ihnen empfohlen, die Nester nicht zu zerstören, damit die Zwerge wußten, wo der Feind schlief. Später, als er seinen Vertrag mit den Elfen schloß, waren ihm diese Kenntnisse nützlich gewesen, um die Goblins zu finden, die er im Kampf unterwiesen hatte. Er kam an mehr und mehr Leichenhaufen vorbei. Vor jeder Wegbiegung packte ihn die Angst, noch ein lebendes Kind zu finden, das ihn aus furchtsamen und schmerzerfüllten Augen anstarrte und das er zurücklassen mußte. Es gab Zeiten, in denen sich Mitleid und Reue nur sehr schwer unterdrücken ließen. Er konnte Gurn riechen, ehe er es erblickte. Der Wind hatte sich gedreht, und es stand außer Frage, welcher Geruch ihm in die Nase drang. Es stank nach Goblins. Die Sonne ging gerade unter, als er die letzte Hügelkuppe überwand. Der Wind brachte nicht nur den Gestank von Verwesung und den Rauch der Lagerfeuer mit sich, sondern auch Rufe und Schreie waren zu hören. Die Festung Gurn erhob sich zwischen zwei riesigen, 267
hochaufragenden Felsen. Die kantigen Mauern hoben sich dunkel gegen die helleren Felsen ab. Die Ebene vor der Festung wimmelte von Orks und Goblins. Sie hatten sich so über den steinigen Boden verteilt, wie es Reod den Orkgeneralen beigebracht hatte, als er sie lehrte, wie die Zusammenarbeit mit dem Goblinkönig aussehen müsse. Daß sie sich daran erinnerten, ließ Bitterkeit in ihm aufsteigen. Der Same des Bündnisses war aufgegangen. Sehr viel Planung war dem vorausgegangen. Lange, weitschweifige Erklärungen vor dem Rat der Orks, wie ihre Vorsicht - ein sorgfältig gewähltes Wort - gemeinsam mit der Leidenschaft der Goblins - noch ein sorgfältig gewählter Begriff - eine starke Armee zum Sieg führen konnte. Gegen die Icatianer natürlich, die sich dieser Horde mit Leichtigkeit erwehren konnten. Reod hatte hart gearbeitet, um die Goblins und Orks nicht einfach nur zu Verbündeten werden zu lassen, sondern auch Unstimmigkeiten kaum merklich gefördert. Das war, ehe der Zufluchtwald ihm die Bezahlung verweigerte, mit der er sich die Aufmerksamkeit der Generale und Könige erkaufte. Goblins hatten unglaublich kurze Erinnerungen. Das war der Hauptgrund, weshalb sie sich so furchtlos in die Kämpfe stürzten. Die Orks vergaßen ihn nicht so schnell, erinnerten sich auch an die Versprechungen, die er gemacht hatte und nur mit Hilfe des Goldes halten konnte. Aber es lag nie in seiner Absicht, diese Armee vor den schlecht verteidigten Zwergenstädten stehen zu sehen. Goblinhorden lagerten auf dem schlammigen, steinigen Boden. Zelte waren aufgebaut und Abfallhaufen lagen herum. Die einzelnen Gruppen hatten sich um Flaggen geschart, auf die einfache Symbole gezeichnet waren, an die er sich erinnerte. Da waren Salamander, Fuchs und ganz hinten Rattenzahn. Wieder hatten sie sich an seine Anweisungen gehalten. Jeder Goblin unter268
stand einem Orkhauptmann, der sich im Hintergrund hielt, von wo aus er ungefährdet Befehle erteilen konnte. Ein paar Gruppen bestanden ausschließlich aus Orks. Die Eisenkrallen, Messingkrallen und Eiskrallen hielten sich in den hinteren Reihen, bis sie sicher waren, daß sie den Sieg erringen konnten. Reod stieg vom Pferd. Er versetzte dem Tier einen letzten Klaps und scheuchte es in die Richtung, aus der er gekommen war. Wenn er das Pferd hier ließ, würden es die Goblins fressen. Ein so starkes und kräftiges Tier hatte gute Chancen, heil und gesund nach Norden durchzukommen, in wärmere Gefilde. Reod hoffte es wenigstens. Dann betrat er die Ebene. Jetzt hörte er das Geschnatter der Goblins und die gebrüllten Anweisungen der Orks. Sie benutzten die einfache Sprache, die Reod für sie erfunden hatte und aus Grundbegriffen beider Sprachen bestand. Die beiden Rassen hatten wenig gemeinsam. Sie würden immer kämpfen und streiten. Die einzige Gemeinsamkeit bestand darin, daß beide nichts verschwendeten. Auf dem Feld lagen keine Leichen. Der Gestank wurde durch den Regen und die Kälte gemildert. Dennoch war er überwältigend. Reod nahm an, daß die Orks und Goblins seit einigen Tagen hier lagerten und sich keine Mühe gaben, ihre Exkremente zu beseitigen. Die Füchse ließen einen Windvogel steigen. Jedenfalls versuchten sie es. Sie warfen einen Windvogel mitsamt Goblin in die Luft und zerrten ihn wieder nach unten. Jedesmal landete er im Schlamm und wurde noch ein bißchen schwerer. Dennoch versuchten sie es immer wieder aufs neue. Dumpfes Trommeln ertönte irgendwo aus dem Gewühl und untermalte das schrille Kreischen und Schimpfen der Goblins. Er näherte sich einer Gruppe, die dem Kampf einer anderen zusah. Reod hatte sie bei269
nahe erreicht, ehe sie ihn bemerkten und sich sofort auf ihn stürzen wollten. »Nichts da!« sagte er in der Kampfsprache, die er sie gelehrt hatte. »Wer ist euer Anführer?« Die Goblins hielten inne und sahen einander unsicher an. »Denkt ihr, ich hätte Zeit zu verschenken? Ich bin Reod Dai. Sagt mir, wer der Anführer ist. Sofort!« »Das ist Groß-und-mächtig-mit-langen-Nasenhaaren«, erklärte einer der Goblins. »Er ist da drüben.« Reod war sicher, daß der Name des Anführers einen gemeinsam geschaffenen Kompromiß darstellte. »Eskorte!« befahl er, und die Goblins scharten sich um ihn. Anstelle ihrer Unsicherheit ist jetzt Überheblichkeit gerückt. Sie halfen ihm, sich einen Weg durch das Gewühl zu bahnen, bis sie eine Gruppe Orks erreichten. Dort stellte sich Reod dem Anführer vor und setzte hinzu: »Ich bin gekommen, um euren Sieg voranzutreiben. Bringt mich zum General.« Der Ork war vorsichtiger als die Goblins. Er sah Reod an und strich sich über das grüne Kinn. »Der Reod Dai?« »Ja.« »Ha! Ich glaube es nicht. Warum bringe ich dich nicht einfach um? Ich könnte es.« Reod erwiderte den grimmigen Blick des Orks. »Sehr schön«, sagte er ruhig. »Ich werde jene zur Beförderung vorschlagen, die sich so schlaue Gedanken machen. Dich werde ich ganz besonders empfehlen. Jetzt bring mich zum General!« Der Ork runzelte die Stirn. »Aber ...« »Er wird sicher sehr böse sein, wenn du mich noch länger aufhältst.« Der Hauptmann atmete tief durch, richtete sich auf und schubste die ihm im Weg stehenden Goblins beiseite. Die Zelte und Unterstände standen wahllos herum 270
und waren völlig ungeordnet errichtet worden. Der Ork schritt zwischen Abfallhaufen und Zelten hindurch. Reod nutzte die Zeit und sah sich eingehend um. Die Ebene war von Felsbrocken übersät, hier und dort erhoben sich kleine Hügel. Niemand war in der Lage, das ganze Feld genau zu überblicken. Nur aus dem Kommandoturm der Festung war ein solcher Überblick möglich. Inzwischen hatte sich der Himmel völlig verdunkelt und eine fast schwarze Färbung angenommen. Schon bald würde nur noch das Licht der Lagerfeuer die Nacht erhellen. Sogar dann war es kaum möglich, das Lager unbeobachtet zu verlassen. Er bückte sich und hob eine Handvoll Erde auf. »Halt!« befahl er dem Ork. »Was ist?« »Hier stimmt was nicht. Ich gehe vor, um Ausschau zu halten. Warte hier!« Er ging ein paar Schritte auf die Stadt zu. »Eskorte!« brüllte er. Die Goblins eilten herbei und umringten ihn. Der Orkhauptmann blieb murrend stehen. Reod warf ihm einen ungnädigen Blick zu. »Geduld gehört auch zu den von mir empfohlenen Eigenschaften für Offiziere!« Der Hauptmann schwieg, trat von einem Bein aufs andere und versuchte, zufrieden auszusehen, wirkte aber völlig verwirrt. Reod führte die Goblins um Felsbrocken und Zelte herum, in der Hoffnung, außer Sichtweite des Hauptmanns zu gelangen. Als sie den Rand des Lagers erreichten und nur eine Pfeilschußweite sie von den Festungsmauern trennte, blieben die Goblins stehen. Reod zog sich die Kapuze tief ins Gesicht. »Meldet euch beim Hauptmann zurück!« befahl er den Goblins. »Sagt ihm, ich hätte einen Plan.« Dankbar stoben die Goblins davon. Zweifellos würden sie vergessen, was er ihnen aufgetragen hatte, und 271
der Hauptmann würde sich über Reods Verschwinden wundern und ärgern. Es würde eine Weile dauern, bis der Ork einen Entschluß faßte. Das reichte ihm. Ich muß hier sein und doch nicht hier sein, dachte Reod, spuckte auf die Erde, die er noch in der Hand hielt und rieb die Handflächen zusammen. Er bat Licht und Schatten, durch ihn hindurchzugehen und die Dunkelheit, ihn zu verhüllen. Wenn ihn niemand genau ansah, konnte er unbemerkt über die freie Fläche gelangen. Aber jeder, der ganz genau aufpaßte und sich wunderte, was geschah, konnte ihn bemerken. Er zwang sich zu höchster Konzentration und überquerte das freie Feld zwischen dem Lager und der Festung. Hoch oben in der Mauer befanden sich schmale Schießscharten. Fast vermeinte er zu spüren, wie die Finger der Zwerge zuckten, um Pfeile und Armbrustbolzen abzuschießen. Nachdem er die halbe Strecke hinter sich gebracht hatte, lockerte er den Zauberspruch und hielt die Hände mit den Innenflächen nach außen gekehrt in die Höhe, damit die Wachen sahen, daß er nicht bewaffnet war. Sie würden keine Goblinhände und keinen Orkkörper sehen. Also würden sie sich wundern, wer er war. Auf diese Verwunderung baute Reod. Sie konnte ihn vor einem Pfeilhagel bewahren. Vor dem Haupttor befand sich ein tiefer, breiter Graben, über den eine Brücke führte. Schritt für Schritt tastete er sich vor. Das Tor war doppelt so hoch wie Reod und beinahe ebenso breit, aus schwerem Holz gefertigt und mit den kunstvollen Eisenbeschlägen versehen, die sie als Zwergenhandarbeit auswiesen. Die kleinere Innentür war mit zwergischen Symbolen verziert. Noch ein Schritt. Und noch einer. Kein Schuß wurde abgegeben. Er erreichte die kleine Tür und atmete erleichtert auf, während er mit der Faust dagegen schlug. 272
»Laßt mich ein!« rief er auf Zwergisch. »Ich muß den Ältesten Hamon sprechen!« Nach einigen Minuten wurde die Tür einen spaltbreit geöffnet. Eine gerunzelte Stirn und ein mißtrauisch blickendes Augenpaar wurden sichtbar. Dann öffnete sich die Tür weit genug, daß Reod von mehreren Händen hindurchgezerrt werden konnte. Als er in dem vom Fackellicht erhellten Gang stand, wurde die Tür sofort wieder geschlossen und verriegelt. Ein Dutzend bewaffnete und in Rüstungen gehüllte Zwerge umringte ihn mit gezückten Schwertern. Der unnachahmliche Geruch heißen Öls drang von oben herunter, wo die Wachen zweifellos auf ein Zeichen warteten, es durch die Schießscharten oder über die Mauerbrüstung zu kippen. Wohin er auch sah, überall standen Männer mit schußbereiten Waffen oder Schwertern. Er war schon früher hier gewesen, in friedlichen Zeiten. Reod erinnerte sich an ein Frühlingsfest, als alle Schießscharten mit Gänseblümchenketten geschmückt worden waren. Ziegen, Schafe, Rehwild und Pferde waren durch das Tor in den Innenhof gebracht worden, wo sie stolz vorgeführt wurden. Die Zwerge tanzten, musizierten und tranken sehr viel Bier. Jetzt überdeckte der Ölgeruch kaum den Gestank der ungewaschenen Krieger, die ihn umringten. Außer den Schwertern richteten sich auch unzählige Pfeilspitzen auf ihn, die nur darauf warteten, von den Sehnen zu schnellen. Es beruhigte ihn, die Zwerge so gut vorbereitet zu sehen. »Wer bist du?« fragte einer der Krieger. »Reod Dai«, sagte er und verbeugte sich leicht. Bei den Zwergen war es üblich, sich vor Freunden und bei Festlichkeiten zu verneigen. Reod wußte, daß die Geste unter diesen Umständen ein wenig zu familiär war, aber er hoffte, die Zwerge so zu überzeugen, daß er wirklich der war, für den er sich ausgab. 273
Der Soldat sah ihn nachdenklich an. Reod fand es beinahe belustigend, daß er dauernd versuchte, jemanden entweder davon zu überzeugen, daß er Reod Dai war, oder sich bemühte, es ihm auszureden. Aber meistens schenkte man ihm keinen Glauben. »Hol den Zweiten Wachoffizier!« befahl der Soldat seinem Kameraden. »Ich glaube, der Dritte hat jetzt Dienst.« »Verdammt, das ist mir egal. Hol den Offizier, wer auch immer es sein mag!« Der Krieger lief davon. »Ich habe von Reod Dai gehört«, bemerkte der erste Mann und starrte den Menschen an. »Eigentlich hätte ich nicht gedacht, daß er so...«, er zögerte und dachte nach, »... so dünn sein würde.« Reod bemühte sich, so höflich wie möglich dreinzublicken. Der Dritte Wachoffizier war ein großer Zwerg, der Reod ansah, nickte und vier Soldaten winkte, ihn zu begleiten. Er führte sie durch die erhellten Gänge der Festung. Der Gestank nach Schweiß war überwältigend. In den Gängen und an den Mauerecken hockten überall Zwerge. Keine Soldaten, sondern in Lumpen gehüllte Stadtbewohner, schmutzige, müde Flüchtlinge, die ihn teilnahmslos ansahen. Einige von ihnen waren sehr dünn - viel zu dünn für Zwerge, und ihre Gesichter waren blaß und eingefallen. Reod vernahm Husten, Weinen und Stöhnen. Oft mußten sich die Krieger einen Weg durch die Zwerge hindurchbahnen. Tamun. Wenn sie hier war, in welcher Verfassung mochte sie sein? Er wäre gerne stehengeblieben und hätte nach ihr gefragt, aber er zwang sich, weiterzugehen und ließ den Blick über jedes Gesicht schweifen, daß er sah. Vor ihm lag ein regloser Zwerg auf dem Boden. Der 274
Offizier rüttelte ihn. »Du kannst hier nicht liegenbleiben.« Der Zwerg rührte sich nicht. »Vielleicht ist er tot«, meinte einer der Krieger. Der Offizier wollte offensichtlich nicht genau nachschauen. »Kümmern wir uns später um ihn.« Einer nach dem anderen kletterte über den leblosen Körper. Eine Wendeltreppe führte zu dem kleinem Kommandoturm, der hoch oben über der Festung ragte. Kalter Wind drang durch die geöffneten Fenster, durch die man die Lagerfeuer der Orks und Goblins sah. Der Älteste Hamon saß an einem Tisch. Der lange, geflochtene Bart war braun, von grauen Strähnen durchzogen. Er stülpte die wulstigen Lippen vor. »Reod Dai? Was für eine Überraschung! Was machst du hier?« »Ich kam, um euch meine Hilfe anzubieten.« »In der Tat? Wie schön für uns.« Hamon runzelte die Stirn. »Aber wie bist du hergekommen?« »Zu Pferd und zu Fuß.« »Aber da draußen wimmelt es von Feinden.« Reod lächelte bescheiden und zufrieden. »Wenn ich irgendwo hin möchte, dann finde ich auch eine Möglichkeit, dorthin zu gelangen.« Diese Antwort hatte er schon oft gegeben. Der Älteste nickte. »Aber ich weiß nicht, warum du ausgerechnet hier sein möchtest.« »Um Zwergen in Not beizustehen.« »Setz dich bitte. Hast du Hunger? Durst? Du hast sicher eine weite Reise hinter dir.« Reod winkte ab. »Wie viele seid ihr? Da draußen müssen zehnmal mehr sein.« Der Älteste schnaubte unwillig. »Ich wünschte, wir wären weniger. Hier drinnen sind einfach zu viele Zwerge. Sie kamen von überall her. Bauern, Bergarbeiter, Handwerker, Schmiede, Mütter, Kinder, Ziegen, Flöhe - alle haben sich hier versammelt. Wir ertrinken in 275
Zwergen, Reod. Ich erinnere mich an das, was du vor Jahren für uns getan hast. Wenn du uns Hilfe anbietest, möchte ich zuerst wissen, welchen Preis du dafür verlangst.« Welche Summe war niedrig genug, um den Ältesten einwilligen zu lassen und hoch genug, damit er nicht an Reods Aufrichtigkeit zweifelte? »Einhundert Goldstücke. Wenn ich Erfolg habe.« Ansonsten würde niemand da sein, der bezahlte und nichts, um damit zu bezahlen. Wenn es um Leben ging, war es am besten, so über den Ausgang der Schlacht zu sprechen, als handele es sich um ein Verkaufsgespräch. Ansonsten machten sich die Leute zu viele Sorgen. Der Älteste spielte mit seinen Zöpfen. »Es hört sich recht annehmbar an.« Es war mehr als nur annehmbar, das wußte sowohl Reod wie auch Hamon. Aber die Krieger sollten nicht denken, daß der Älteste sich übereilt entschied. Hamon zupfte an seinem Bart und sah Reod nachdenklich an. »Na gut«, meinte er schließlich. »Einverstanden.« Ich muß mir die Festung ansehen, wollte Reod sagen. Ich will alle Gebäude und Lagerhäuser sehen. Und die ganze
Zeit würde er nach Tamun Ausschau halten. Aber nein, wenn sie und ihre Familie wirklich hier waren, mußte er sie tatsächlich beschützen und nicht bloß so tun. Das bedeutete eine Wartezeit. Morgen wollte er sich auf die Suche machen. Vielleicht war sie gar nicht hier. Nein. Sie mußte hier sein. Er konzentrierte sich wieder auf den Ältesten. »Erzähle mir alles ganz genau. Alles, was geschehen ist.« Der andere seufzte laut. »Alle Räume sind überfüllt. Die meisten kamen aus Teedmar - wenn sie an den Goblinbanden vorbeikamen. Vor drei Tagen trafen hunderte Zwerge aus den umliegenden Dörfern ein. Vor zwei Tagen kamen noch einmal hundert. Seitdem nie276
mand mehr. Es sind zu viele Orks und Goblins da draußen. Wir haben sogar die unterirdischen Gänge geschlossen, damit niemand mehr hineinkommt. Wir mußten es tun.« Er schüttelte den Kopf und rieb sich mit den Händen über die Wangen. »Wie viele Zwerge sind hier?« »Wann hätte ich sie zählen sollen? Ehe wir die Gänge schlossen, waren es beinahe zweitausend. Inzwischen sind es viel mehr. Reicht es nicht, daß sie jeden Raum und jeden Gang füllen? Nein, denn jeder will sich beschweren. Wir stehen so unter Druck, daß wir die Kranken und Verwundeten nicht versorgen können. Wir schieben sie nur beiseite, damit die Krieger weitergehen können. Haben wir Heilkundige? Wenige! Arzneien?« Er lachte grimmig. »Wir haben Glück, daß wir sie noch ernähren können. Unsere Lager waren reich gefüllt, als die Belagerung begann. Dem Himmel sei Dank für den Regen, sonst hätten wir kein Wasser.« »Wie lange können wir mit den Vorräten auskommen?« Absichtlich schloß sich Reod mit ein. Hamon schien sich ein wenig zu entspannen. Reod merkte ihm an, wie erschöpft er war. »Da wir nicht länger auf die Jagd gehen können, müssen wir von den Vorräten leben. Wenn wir sparsam sind, mag es eine Woche reichen.« Reod sah aus dem Fenster und zählte im Geiste die Orks und Goblins, bedachte ihr Temperament und die Schlachtpläne, die er während der letzten Jahre mit ihnen geschmiedet hatte. Eine Woche konnte ausreichen. »Kannst du uns helfen?« Für einen Zwerg war es ungewöhnlich, mit so sanfter und flehender Stimme zu sprechen. »Ich denke ja. Welche Angriffe haben sie bisher vorgenommen?« »Die Goblins stellen Leitern auf. Es scheint ihnen gleichgültig zu sein, ob sie leben oder sterben, daher 277
müssen wir sie alle mit Öl und Pfeilen umbringen, um sie überhaupt aufhalten zu können. Diejenigen, die es schaffen, über die Mauern zu klettern, sind so wenige, daß wir leicht mit ihnen fertig werden. Aber hast du gesehen, wieviele da draußen warten? Und Orks gibt es auch noch. Sie haben sich verbündet. Das ist noch nie geschehen. Wieso arbeiten sie zusammen?« Reod betrachtete die Lagerfeuer auf der Ebene. »Das ist eigentlich von Vorteil, denn sie vertragen sich nicht sehr gut.« »Aber sie besitzen neue Waffen. Gestern rannte ein Goblin gegen die Mauer an, obwohl wir ihn mit so vielen Pfeilen spickten, daß er unmöglich noch am Leben sein konnte, als er die Steine erreichte. Dann zuckte ein greller Blitz, und Donnergrollen erklang. Rauch stieg auf. Einer unserer Krieger wurde verletzt. Und der Goblin? Er war verschwunden. Das ist Magie.« »Keine Magie. Es handelt sich um Goblineier. Wurde die Mauer beschädigt?« »Nein. Aber heute kam noch ein Goblin. Und gestern, als der Wind aufkam, befestigten sie Flügel an einem Goblin - und er flog! Wie eine Fledermaus! Hoch in die Luft und über die Mauer. Er warf mit Exkrementen gefüllte Säcke auf uns. Wir haben schon genug Schwierigkeiten mit unseren eigenen Abwässern. Auf fünfhundert Bewohner, höchstens tausend sind wir eingerichtet. Jetzt sind es fast dreimal so viele. Die Zwerge werden allmählich erkranken.« »Werft euren Kot über die Mauern.« »Das tun wir. Aber die Goblins scheinen es nicht zu bemerken.« »Wie viele Windvögel habt ihr gesehen?« »Viele, aber nicht alle fliegen.« Die Windvogel wiesen einige Schwachpunkte auf, die Reod sich selbst ausgedacht hatte. »So etwas habe ich noch nie gesehen«, bekräftigte Hamon. »Noch nie.« 278
»Hast du Drachen gesehen?« fragte Reod. »Drachen? Wie sollten sie Drachen herbringen?« Reods Hoffnungsschimmer erlosch. Er beachtete die Schmerzen in der Brust nicht länger und zwang sich, ruhiger zu wirken, als er es in Wahrheit war. »Ich muß die Festung besichtigen. Alle Gebäude, Waffen und Lagerhäuser. Alles.« »Morgen früh«, meinte Hamon. »Wenn es hell ist und du dich ausgeruht hast.« Reod wollte aber nicht warten. Er konnte seine Erschöpfung unterdrücken, aber wenn Tamun hier war, mußte er sie so schnell wie möglich finden. Er suchte nach einem Grund, um auf einer sofortigen Besichtigung zu bestehen, fand aber keinen. »Morgen früh«, stimmte er schließlich widerwillig zu. Reod träumte. Im Traum versuchte Tamun, mit ihm zu reden. Er war gelähmt und nicht in der Lage, ihr zu antworten. Sie sah ihn böse an, wandte sich ab und lief davon. Er versuchte zu rufen und ihr zu folgen, konnte sich aber nicht rühren. Ein Geräusch an der Tür riß ihn aus dem schrecklichen Traum. Noch halb schlafend sprang Reod auf, zückte sein Kurzschwert und stellte sich hinter die Tür. Hamon trat mit einer Fackel in der Hand ein. Ihm folgten ein weiteres Mitglied des Ältestenrates und eine grimmig dreinblickende Frau, die das blonde Haar nach Kriegerinnensitte streng zurückgebunden trug. Wahrscheinlich handelte es sich um die Erste Wachoffizierin. Reod trat hinter der Tür hervor. Hamon zuckte erschreckt zusammen. »Was machst du da? Stimmt etwas nicht?« »Ich empfehle euch, demnächst anzuklopfen.« Der Älteste schüttelte den Kopf und schien nicht zu begreifen, was Reod meinte. Dann bewegte er den Kopf hin und her. »Hörst du sie?« 279
Also war es keine Einbildung gewesen. »Trommeln«, stellte Reod fest. »Ja. Was soll das nun wieder bedeuten?« »Es bedeutet, daß sie alle Kriegstrommeln zusammen- j getragen haben und sie jetzt ausprobieren.« Die Älteste, eine Frau namens Kai, schüttelte den Kopf, so daß ihre hüftlangen, silbrigen Zöpfe hin und her schwangen. »Diesmal hört es sich anders an als sonst. Es scheint eine Bedeutung zu haben.« »O nein. Sie wollen euch nur beunruhigen. Beachtet die Trommeln nicht.« »Bist du ganz sicher?« »Ja. Wie lange dauert es noch bis zum Morgengrauen?« »Die dritte Wache ist fast abgelaufen. Nicht mehr lange.« Reod nickte und vertrieb den letzten Rest des Schlafes und das Bild Tamuns. »Dann sollten wir mit der Besichtigung beginnen.« »Älteste, warte bitte!« flehte die Frau und wischte sich die Nase an ihrem schmutzigen Ärmel ab, während sie sich gegen die Soldaten wehrte, die sie beiseite schieben wollten. »Wir brauchen mehr Brot. Vater geht es sehr schlecht. Er bekommt nicht genug zu Essen. Die anderen haben viel mehr.« »Jeder bekommt gleich viel«, antwortete Kai. »Nein, die anderen kriegen mehr! Sie sagen, sie hätten noch ein Kind im Zelt, aber das stimmt nicht.« »Wir kümmern uns darum«, sagte Kai müde und ging weiter. Die Soldaten bemühten sich, die Ältesten vor den Zwergen abzuschirmen, die sich um sie herumdrängten. »Ältester, bitte!« »Älteste, hör uns zu!« Hamon schloß kurz die Augen. Dann warf er Reod einen gequälten Blick zu. »Da siehst du es!« »Das ist die Waffenkammer«, erklärte Kai, als sie an einer geschlossenen Tür vorübergingen. »Ist fast leer.« 280
Zwei kleine Kinder huschten unter den Armen der Soldaten durch und brachten die Ältesten beinahe zu Fall. »Verschwindet!« brüllte die Offizierin wütend. »Sie sind einfach überall!« seufzte Hamon verzweifelt. »Laßt sie arbeiten«, schlug Reod vor. »Arbeiten? Was denn?« »Das ist ganz egal, aber ihr müßt sie beschäftigen. Sie sollen kochen, aufräumen und alles in Ordnung halten. Wenn das nicht reicht, sollen sie Listen erstellen, wie groß ihre Familien sind, wer überlebt hat und wer nicht. Woher sie kommen, wie alt sie sind. Einfach jede Kleinigkeit.« »Wir haben kaum Platz genug, um uns fortzubewegen. Wenn jetzt auch noch alle anderen hin- und herlaufen, bricht eine Katastrophe aus.« Wieder mußten sie sich an einer Gruppe von Zwergen vorbeidrängen, die aus einer einzigen Schüssel aßen, die von Hand zu Hand ging. »Ältester!« rief einer der Zwerge. »In dem Essen sind Maden! Als wir hierherkamen, gaben wir euch alles, was wir besitzen. Schafe, Ziegen - einfach alles. Und das ist die Gegenleistung?« »Ihr dürft hier nicht stehenbleiben«, meinte einer der Krieger. »Geht in den Innenhof.« »Da ist kein Platz! Und nachts friert es. Wir haben einen Säugling.« Der Krieger sah Hamon unsicher an und wartete auf eine Entscheidung. »Geht weiter!« befahl der Älteste und wandte den Blick ab. »Maden!« murrte ein anderer Zwerg. »Sogar die Goblins haben bessere Mahlzeiten.« Als sie außer Hörweite waren, sagte Reod: »Gebt ihnen Arbeit, sonst zertrümmern sie in Kürze die ganze Festung.« Hamon nickte. 281
»Was ist mit den unterirdischen Gängen?« »Die sind voll«, antwortete Kai mit zusammengepreßten Lippen. »Genau wie die Vorratskammern.« »Von einigen Dörfern ist keine Seele hierhergekommen«, warf Hamon ein. »Vielleicht... vielleicht konnten sie sich verteidigen.« Reod dachte an Kalitas. »Vielleicht.« Er suchte die ganze Zeit über nach einem vertrauten Gesicht. Im dämmrigen Licht des Morgens waren die Zwerge schwer auseinanderzuhalten. Selbst wenn sie nur fünf Fuß entfernt stand, konnte er sie übersehen. Trotzdem gab er nicht auf und versuchte, irgendwie ihre Stimme herauszuhören. Der große Innenhof war noch überfüllter als die Gänge und Hallen der Festung. Familien scharten sich um die kleinen Lagerfeuer. Zelte und umgedrehte Wagen boten ein wenig Schutz vor Regen und Kälte. Säuglinge weinten, und überall liefen Kinder herum. Irgendwo rief eine Frau fortwährend einen Namen. Reod bemerkte keine Tiere. Zweifellos hatte man sie bereits verzehrt. Unter freiem Himmel war der Gestank erträglicher und vermischte sich mit den Essengerüchen. Dennoch konnte man auch hier die Luft kaum als frisch bezeichnen. Die Zwerge starrten ihn mit grimmigen Gesichtern an. Einige zogen böse Grimassen. Er kannte derartiges Benehmen zur Genüge. Die Zwerge, die alles verloren hatten, fürchteten um ihr Leben, waren aber nicht in der Lage, etwas zu unternehmen. Das machte sie wütend. Er war ein Fremder und ein Mensch. Natürlich fragten sie sich, was er hier zu suchen hatte und mißtrauten ihm. Nicht zu Unrecht. Die Soldaten schoben sich durch die Menge, um ihnen einen Weg zur Mauer zu bahnen. Dort löste gerade die erste Wache die dritte ab. Das dauerte recht lange, da sich jeder Krieger bei seinem Vorgänger erkundigen mußte, was während der Nacht vorgefallen war. 282
Diese verdammte Unabhängigkeit der Zwerge! Jeder dieser Soldaten hatte sich seinen Kommandeur ausgesucht, da von keinem Zwerg erwartet wurde, sich den Befehlen eines anderen zu beugen, den er nicht leiden konnte. Im Orden Leitburs hatte Reod oftmals Witze über die Regeln der Zwergenarmee gemacht. Jetzt kam ihm das Ganze nicht besonders komisch vor. Der Himmel wurde allmählich heller, und weiße Wolken zogen auf. In der Ebene regten sich jetzt auch die Goblins. Seit gestern waren noch mehr Karren hinzugekommen, die Waffen, Nahrung und noch mehr Trommeln brachten. Am Waldrand wurde eifrig gebaut. Sie errichteten Belagerungsharme. Es handelte sich um hohe, pyramidenförmige Gebilde, die mit Häuten bezogen wurden. Hinter diesen Aufbauten verbargen sich die Belagerer, um sich der Festung ungefährdet nähern zu können. Die Ältesten und die Offizierin warteten darauf, Reods Meinung zu hören. »Bald werden sie ernsthafte Vorstöße wagen. Morgen, schätze ich. Ihr habt gesehen, daß Goblins und Orks gemeinsam schreckliche Gegner sind, aber eines kann ich euch versichern: Wenn sie nicht schnell Erfolg haben, verlieren sie die Lust. Es ist wichtig, daß ihr die Mauern gut besetzt und stark verteidigt.« »Was ist mit den Trommeln? Wir bemühen uns, die Botschaften auszumachen, die sie sich gegenseitig zutrommeln. Die ganze Nacht geht das so.« »Die Soldaten können nicht schlafen«, klagte Kai. »Wir müssen Tücher in alle Ritzen der Schlafräume stopfen, um den Lärm abzuhalten.« »Es gibt keine Botschaften«, erklärte Reod. »Die Trommeln haben nichts zu bedeuten. Der Lärm kommt und geht in Wellen, nicht wahr?« »Ja.« »Ich kenne den Trick. Die Laute bedeuten nichts. Sie sollen euch nur verwirren und ängstigen.« Kai runzelte die Stirn. 283
»Ich bin eigentlich deiner Meinung«, sagte sie zur Offizierin, »aber er ist schließlich Reod Dai.« Es rührte Reod, daß seine Meinung so wichtig genommen wurde. Er ließ den Blick über das Feld schweifen, wo sich Orks und Goblins um die Flaggen geschart hatten, wie er es ihnen beigebracht hatte. »Seht euch das an«, sagte er und deutete auf das Bauwerk. »Sie bauen noch mehr Türme und Leitern. Ihr müßt sie davon abhalten, die Mauern zu erobern. Nur so können wir die Oberhand gewinnen.« »Haben sie denn keine Goblineier mehr?« erkundigte sich Hamon. »Die meisten Eier werden sie heute und morgen benutzen. Sie dürfen damit nicht in die Nähe der schwächsten Stellen der Mauer gelangen. Und erst recht nicht bis oben an die Wehrgänge.« »Was ist, wenn sie die Eier werfen?« »Das werden sie nicht.« Hamon schien zu zweifeln. »Warum nicht?« »Weil sie gar nicht auf den Gedanken kommen.« »Bist du sicher?« Reod hatte die Goblins darauf gedrillt, die Eier unbedingt zu tragen, da sie sonst nicht den gewünschten Erfolg haben würden. »Ich bin ganz sicher. Jetzt möchte ich die unterirdischen Gänge sehen.« »Die Gänge? Warum denn das? Was erhoffst du dir davon?« Reod bemühte sich, ruhig zu bleiben. »Woher soll ich das wissen, wenn ich nicht nachsehe?« Tamun befand sich nicht in den Gängen. Er suchte überall. Entlang der Wände hockten zerlumpte Zwerge im Halbdunkel, die Knie eng an die Brust gezogen, um ihnen Platz zu machen. Es gab kaum genug Luft zum Atmen, und Reod war froh, wieder an die Oberfläche zu gelangen. 284
Wo war sie? Während sie wieder zum Haupttor schritten, mußte er sich zusammennehmen, um Hamon zuzuhören. »Wir haben die Kranken und Verletzten in den Ställen untergebracht. Jetzt sind auch die Verletzten krank geworden. Aber wenigstens stecken sie so nicht den Rest der Festung an, und ...« Er fuchtelte wild mit den Händen. »... etwas Besseres fällt mir wirklich nicht ein.« Reod ließ die Finger nachdenklich über das feste Holz der Tür gleiten. Irgendwo. Sie mußte hier irgendwo sein. Wenn nicht, dann war sie tot, und daran glaubte er erst, wenn er ihre Leiche sah. »Haltet das Innentor gut bewacht«, sagte er, als sie die Stufen zur vorderen Mauer emporklommen. »Wenn sie versuchen, dort durchzubrechen, könnt ihr ...« Ein Kreischen erscholl, gefolgt von einem lauten Schrei. Die Goblins vor der Mauer heulten auf. Steine flogen über die Brüstung. Einer davon traf Reod am Bein. Der Offizier an der Westmauer brüllte Befehle, und das Geschrei verstummte ebenso schnell wie es begonnen hatte. Draußen auf dem Feld hatte sich die Gruppe Salamander bis zum Fuß der Mauer vorgearbeitet. Ein Goblin war tot, und ein Orkhauptmann brüllte Beschimpfungen und Befehle. Reod wandte sich an den Offizier. »Sie wenden sich zur Nordmauer. Warne deine Krieger.« Eine junge Soldatin winkte ihm zu. »Als du das letzte Mal hier warst, war ich noch ein halbes Kind!« rief sie. »Jetzt ist meine Zeit gekommen!« Sie grinste breit und winkte noch einmal. Die umstehenden Krieger lachten, beobachteten Reod und warteten auf seine Antwort. Tamun, schrie eine Stimme in seinem Herzen. »Verteidige die Mauer, dann hat Gurn einen Grund, dich nach dem Sieg zu feiern!« Stolz hob die Frau die Faust und nickte zustimmend. 285
Reod trat einen Schritt vor, warf ihnen verschwörerische Blicke zu und lächelte. »Kennt ihr ein paar Kampflieder?« »Natürlich!« »Dann singt sie. Zeigt diesen Biestern, daß ihr keine Angst habt. Und haltet aufmerksam Wache.« Die Soldaten brüllten beifällig und begaben sich wieder auf ihre Plätze, wo sie laut und falsch zu singen begannen. Reod wandte sich wieder an den Offizier: »Alle anderen Offiziere sollen ihren Soldaten befehlen, bekannte Kriegslieder zu singen. Dann müssen sie nicht dauernd auf die Trommeln hören.« »Ja, die Trommeln!« seufzte der Offizier. »Sie klingen so eigenartig. Was haben sie zu bedeuten?« »Reod sagt: Gar nichts!« mischte sich Hamon ein. »Wir sollen sie nicht beachten.« In diesem Augenblick bebte die Erde, und von der anderen Seite der Mauer ertönte ein Laut wie Donnergrollen. Schreie, Befehle und Fragen schwirrten durch die Luft. Oben auf dem Wehrgang hielten sich die Krieger die Hände vor die Augen. Einer von ihnen fiel mit blutüberströmtem Gesicht herab. Die junge Frau sprang herbei, um ihm zu helfen. Ein Goblinei war explodiert. Das Geheul und der Lärm verrieten Reod, daß die Goblins dabei waren, daß Tor zu stürmen. »Der Eingang!« brüllte er dem Offizier zu, der sofort kehrt machte und die Treppe hinunterrannte. Die Soldaten auf den Wehrgängen drehten sich um und sahen in den Innenhof hinunter. Dann machten sie sich daran, ihre Posten zu verlassen und dem Offizier zu folgen. Verflucht sei die Neugier der Zwerge! »Zurück!« brüllte Reod sie an. »Zurück auf die Wehrgänge!« Als er die Treppe hinunterstürmte, hielt er nur inne, um die Lage zu überblicken. Vom Eingang her drang 286
Geheul und Waffengeklirr. Der Geruch von brennendem Öl lag in der Luft und überdeckte den Gestank nach Unrat. Ein einzelner Goblin durchbrach die Reihe der Kämpfenden und rannte in den Innenhof. Blut lief ihm den Rücken hinunter, und er schrie aus Leibeskräften. Die entsetzten Zwerge kreischten voller Angst und jagten in wilder Hast davon, wobei sie Zelte und Karren umwarfen. Ein Bogenschütze versuchte vergeblich, eine klare Schußlinie zu bekommen, um den Goblin zu töten. Reod bemühte sich, den Lärm zu übertönen und rief auf Zwergisch: »Schlagt ihn auf den Hinterkopf!« Ein paar Zwerge hoben den Kopf und sahen zu ihm auf. Er hoffte, daß sie noch nicht zu verstört waren, um zu handeln. Am Tor metzelten die Zwerge die meisten Goblins nieder. Die erste Wachoffizierin tauchte neben Reod auf. »Sie trommeln immer noch«, stieß sie keuchend hervor. »Ich glaube, sie werden als nächstes an der Südmauer angreifen. Ich werde dort mehr Krieger aufstellen.« Reod hatte gesehen, daß die Goblins überall herumwimmelten. Sie überschätzte die Fähigkeit der Kreaturen, geordnet vorzugehen. »Nein, nein. Wir schaffen es schon. Deine Soldaten befinden sich alle am rechten Ort. Beachte die Trommeln nicht. Aber hör zu: Ihr müßt das Haupttor sofort ausbessern, wenn die Goblins vertrieben worden sind. Errichtet eine Barriere. Habt ihr Material?« »Bloß ein wenig Holz.« »Befiehl den Soldaten auf den Wehrgängen, daß sie vor allem das Haupttor verteidigen müssen. Sie sollen einen wahren Pfeilhagel abschießen, um die Goblins fernzuhalten. Dann müßt ihr die Barrikade bauen.« »Wir haben kaum Holz übrig, denn das meiste ist verbrannt worden.« Reod sah in den Innenhof hinunter. Der Goblin war tot. Die Zwerge hatten ihn getötet und standen nun 287
schreiend und aufgeregt um den leblosen Körper herum. »Karren«, sagte Reod. »Das haben wir schon versucht. Sie geben sie nicht her.« »O doch.« Reod betrat den Innenhof und kletterte auf einen umgedrehten Karren. Er hob die Arme und klatschte in die Hände. »Ihr habt einen Goblin mit eigenen Händen getötet!« rief er. »Ich bin beeindruckt.« Ein paar Zwerge wandten sich ihm zu. »Haben die Goblins jetzt begriffen, daß mit Zwergen nicht zu spaßen ist?« Zustimmendes Gemurmel erklang. Er lächelte und schüttelte den Kopf. »Nein, daß haben sie noch nicht. Aber sie werden euch noch kennenlernen, und zwar bald und sehr gut!« Immer mehr Zwerge hörten ihm zu. »Wollt ihr, daß euch die Soldaten vor den Horden da draußen beschützen?« Alle nickten. »Natürlich. Das werden sie auch. Aber sie brauchen eure Hilfe.« Jetzt gehörte ihm ihre ganze Aufmerksamkeit. »Hört zu: Ich weiß, daß ihr sehr viel Leid erdulden mußtet. Aber es wird noch viel schlimmer kommen. Die Festung Gurn wird standhalten. Sie fällt nicht!« Er ballte die Faust. »Mit eurer Hilfe. Eure Armee braucht eure Hilfe - und zwar sofort. Hört zu.« Reod half den Leuten, die Karren zum Haupttor zu zerren, wo die Krieger die Goblinleichen beiseite räumten. Schnell wurde eine Barrikade aus Holz und Körpern errichtet. Viele Karren wurden in Einzelteile zerlegt und so gut wie möglich in Lücken gestopft und aufgeschichtet. Soldaten schossen mit Bogen und Katapulten fortwährend in die Flut aus Orks und Goblins, die immer wieder vorwärtsstürmte. Ein zweiter Goblin schaffte den Durchbruch in den Innenhof. Durch ihren vorherigen Erfolg ermutigt, stürzten sich die Zwerge auf ihn und brachten ihn um. 288
»Hinauf mit ihm! Werft ihn über die Mauer!« brüllte die Menge. Reod kämpfte sich zur Treppe vor, um die Zwerge davon abzuhalten, die Wehrgänge zu besetzen. Plötzlich erbebte die Westmauer. Er taumelte und suchte nach Halt. Der tote Goblin war vergessen, und Stille senkte sich über die Flüchtlinge. Reod nahm jeweils drei Stufen auf einmal. Der nördliche Wehrgang war blutbefleckt. Zwei Leichen lagen dort, von anderen Kriegern beiseite geschoben, die ihre Plätze einnahmen. Der Offizier der Westwache rief nach Verstärkung. Reod packte ihn an der Schulter. »Die Mauer wird halten! Bleib ruhig!« Keuchend nickte der Mann. Leitern wurden aufgestellt, deren Enden über die Mauerbrüstungen ragten. Die Zwerge warfen Steine auf die Goblins und stießen mit langen Stangen nach ihnen. Ein Soldat stürmte die Treppe hinauf. »Die zweite und dritte Wache ist wach. Sie wollen wissen, was los ist und wollen auf die Wehrgänge. Ein paar sind schon da.« Hätte es sich um die Belagerung einer icatianischen Festung gehandelt, hätten die Soldaten aller Wachen auf ihren Posten geschlafen, denn die Menschen wurden durch die Kriegstrommeln nicht so sehr beunruhigt, daß sie nicht schlafen konnten. Außerdem hielten sich icatianische Krieger an Befehle. Ausnahmsweise vermißte Reod die Disziplin des Ordens. Der Offizier sah ihn fragend an. »Wir treiben auf stürmischer See«, erklärte Reod. »Wenn jetzt alle gleichzeitig rudern, werden wir schnell müde. Wenn sich der Sturm verschlimmert, sind wir zu schwach, um uns vor dem Ertrinken zu bewahren. Sie sollen in den Quartieren schlafen, wo sie die Trommeln nicht hören können.« »Aber sie wollen nicht unten bleiben.« Reod rang verzweifelt nach Luft. Verdammte Zwerge. 289
Zu stur, um Befehlen zu gehorchen und zu wenig herrschsüchtig, um sie zu erteilen. »Ich sage es ihnen«, teilte er dem Offizier mit. Der Mann nickte. »Ich komme gleich nach.« Reod eilte die Treppen hinunter. In den Gängen hielten sich nicht mehr so viele Zwerge auf. Die Angst vor den Goblins hatte die meisten Flüchtlinge in den Innenhof getrieben, wo sie sich in der Menge sicherer fühlten. Zwergisches Wutgeheul ließ ihn inne halten. In einem Seitengang umringte eine Handvoll Goblins eine Tür. Die meisten der Kreaturen trugen Tierhäute als Rüstung. Einige schwenkten schwere Keulen, andere trugen Schwerter. Sie mußten durch die Barrikade gekommen sein und hatten das Gebäude gestürmt. In wenigen Augenblicken würden die Soldaten da sein und sie töten. Inzwischen stand den Goblins nur eine Zwergin gegenüber. Blut lief ihr den Arm hinunter. Sie hielt ein Kurzschwert in der Hand und ein Strom von Flüchen ergoß sich aus ihrem Mund. Es war Tamun. Die Goblins rückten näher. Reod zögerte. Konnte Tamun die Bande so lange zurückhalten, bis er Soldaten geholt hatte? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Er wollte kein Wagnis eingehen. Er war nicht bis hierher gekommen, um dem Schicksal zu gestatten, sie ihm wieder zu entreißen. »Halt!« brüllte er in der Kampfsprache, die er sie gelehrt hatte und legte so viel Autorität wie möglich in den Ruf. »Aufhören und gehorchen!« Die Goblins erstarrten und drehten sich um. »Ich bin Reod Dai, und ihr seid Idioten. Was macht ihr hier? Ihr verschwendet Zeit! Die kleine Frau steht vor dem Abfallraum. Folgt mir. Die Schatzkammer ist da drüben. Man hat euch befohlen, dorthin zu gehen. Los jetzt!« 290
Sie folgten ihm ohne zu zögern und sahen sehr erfreut aus. Erleichterung ergriff ihn. »Tut uns leid, Herr«, murmelte einer der Goblins. »Schätze, Herr?« erkundigte sich ein anderer. »Schätze.« »Wo?« »Folgt mir!« sagte Reod mit barscher Stimme und schritt eilig voraus. Er gestattete sich einen Blick zurück. Melelki zog Tamun zurück in den Raum. Tamun blickte ihm nach. Anscheinend hatte sie ihn erkannt, aber er wußte nicht, ob sie froh darüber war. Vielleicht war sie schwer verletzt; vielleicht war sie krank. Mit Mühe richtete er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Goblins und trottete die Gänge entlang. Sie mußten sich anstrengen, um mit ihm Schritt zu halten. Tamun lebte. Freude und Erleichterung erfaßten Reod. »Zwergenschätze?« fragte ein Goblin. Was sonst sollte in der Schatzkammer einer Zwergenfestung liegen? Goblins waren wirklich nicht sehr klug. »Was ihr tragen könnt gehört euch. Weiter!« Die Goblins schnatterten fröhlich vor sich hin. Wieder bogen sie um eine Ecke, und Reod blieb stehen. Er brüllte ihnen Befehle zu, wie es die Orkhauptleute taten. »Geht zur Tür am Ende des Ganges. Dort stoßt ihr den Kriegsschrei zweimal aus und geht dann hinein.« Freudig rannten sie los und gehorchten. Vor der Tür hielten sie an, kreischten zweimal laut auf und rissen die Tür auf. Das Geschrei würde die Zwerge rechtzeitig warnen. Reod nickte zufrieden. Wenn die zweite und dritte Wache so wild auf das Kämpfen waren, bot er ihnen eine kleine Kostprobe mit diesen Goblins. 291
Er begab sich auf den Rückweg zu Tamun, als die Ältesten und ihre Wachen ihn aufhielten. »Sie stürmen das Haupttor«, berichtete Kai aufgeregt. »Immer wieder«, fügte Hamon hinzu. »Jeden Augenblick haben sie es geschafft.« »Das ist gut«, meinte Reod. »Ich denke, daß sie in kleinen Gruppen vorgehen. Da immer nur ein paar gleichzeitig durch die Öffnung passen, töten wir sie, so wie sie hereinkommen. Sie sollen ruhig denken, daß sie es schaffen, denn dann werden sie gar nicht nach anderen Möglichkeiten suchen, sondern sich euren Schwertern geradezu entgegenwerfen.« »Können wir sonst nichts tun?« »Wir bringen sie scharenweise um, Ältester. Sie haben mehr Mut als Verstand. Das habt ihr doch schon gemerkt. Haltet euch tapfer, und sie werden nicht durchkommen.« »Aber sie sind doch schon durchgekommen! Sie streunen durch die Gänge. Vor kurzem waren zwei im Innenhof.« »Sie sind beide tot. Getötet von Zwergen, die endlich begriffen haben, daß sie mehr tun können als nur herumstehen. Ein paar Goblins werden es schaffen, aber die bringen wir hier drinnen um. Es ist bloß ein Geduldsspiel, Ältester. Wir müssen aushalten. Und das werden wir auch.« »Die Trommeln«, meinte Kai. »Bist du sicher, daß sie keine Bedeutung haben?« »Ja.« »Vielleicht sollten wir die zweite Wache rufen«, schlug Hamon vor. »Du mußt die Soldaten gut einteilen. Wenn sie so wild darauf sind, dann laß sie eine Weile kämpfen, aber dann müssen sie sich wieder ausruhen. Wir müssen die Angreifer tagelang abwehren. Wenn wir zu früh ermüden, begehen wir später Fehler.« Ein Knabe näherte sich, der so jung war, daß er sicher 292
noch bei seiner Mutter lebte. Dieses Alter bezeichneten die Zwerge als >Fast-schon-wegHerr< an«, fuhr die Frau fort. »Das Wort ist mir bekannt. Sie nannten ihn Herr und gehorchten ihm.« Eine weitere Explosion erfolgte, und Reod war froh über die Ablenkung. »Ihr Ältesten, wir werden belagert. Haben wir Zeit für Geplauder? Laßt mich die Arbeit ver294
richten, für die ihr mich angeheuert habt und euch vor diesen Kreaturen schützen.« »Vielleicht bist du der Grund, daß sie überhaupt hier sind«, meinte Hamon nachdenklich. »Was?« Kai nickte. »Was wäre schlauer, um uns zu vernichten, als einen Spion auszuschicken, der sich für einen Verbündeten ausgibt? Das würde auch erklären, wieso es dir gelang, unverletzt durch tausend Goblins bis zu uns zu kommen.« »Ich bin kein Spion. Ihr beurteilt mich falsch. Ich bin gekommen, um euch zu helfen. Mit Orks und Goblins verbindet mich gar nichts.« »Warum folgen sie dir dann?« »Weil sie Schätze lieben.« »Vielleicht. Vielleicht auch nicht.« Reod bemühte sich, seine Verzweiflung nicht offen zu zeigen. Er mußte vernünftig mit ihnen reden. »Es stimmt, daß ich viel über Orks und Goblins weiß. Deshalb reden sie mich mit >Herr< an. Aber mein Wissen habe ich euch mitgeteilt, damit es euch zum Schutz dient. Deshalb kam ich hierher, setzte mein Leben aufs Spiel, und reiste quer durch das blutgetränkte Land, um Gurn zu retten.« Und um eine Frau zu finden. Aber er wollte Tamun nicht erwähnen. In Zeiten wie diesen wurde die Liebe eines Menschen zu einer Zwergin nicht gern gesehen. Aber vielleicht würde Tamun zu seinen Gunsten sprechen? Aber nein, die Mienen der Ältesten verhießen nichts Gutes. Ihr Vertrauen zu ihm schwand im Handumdrehen und wurde von Mißtrauen ersetzt. Unter den eisigen Blicken der Zwerge wurde Reod von jeglicher Zuversicht und allem Kampfgeist verlassen. Hatte er so viele Jahre hart gearbeitet, damit es so endete? Sein eigenes Volk sah ihn als Deserteur und Verräter an. Für die Elfen war er derjenige, der während der Hungersnot ihre Nahrung und Festung vernichtete. Die 295
Schwarze Hand würde ihn als Anführer der Trullrebellion ansehen. Und jetzt hielten ihn die Zwerge für einen Spion. Wenn ich überlebe, sagte er sich mit einem schwachen Anflug von Humor, unternehme ich eine lange Seereise nach Vodalia. »Du redest so doppeldeutig, wie es alle Menschen tun«, sagte Hamon. »Vielleicht sagst du die Wahrheit, vielleicht auch nicht. Auf jeden Fall kommandierst du die Goblins. Daher können wir dich nicht frei herumlaufen lassen.« Er wandte sich an die Wachen: »Bringt ihn in den Turm. Laßt ihn nicht allein, und hört nicht auf das, was er sagt.« Vier Soldaten ergriffen ihn. Reod wehrte sich nicht. Als man ihn fortbrachte, hörte er Kai sagen: »Da sind die Trommeln schon wieder. Ich glaube, er hat uns auch damit belogen. Sie trommeln sich Botschaften zu. Ich kann sie fast verstehen. Als nächstes werden sie von Süden her angreifen. Wir müssen unsere Krieger dort aufstellen. Hamon, du hörst es doch auch, nicht wahr?« Reod war schon zu weit entfernt, um Hamons Antwort zu verstehen.
296
Der Friede wird bei Türk' und Heiden schlummern, Und hier im Sitz des Friedens wilder Krieg Mit Blute Blut und Stamm mit Stamm verwirren, Zerrüttung, Grausen, Furcht und Meuterei Wird wohnen hier ...
- Shakespeare, Richard II
Durch das offene Fenster des Kommandoraumes wehte ein kalter, feuchter Wind. Trotzdem stand Reod am Fenster, blickte auf den Innenhof und die Ebene und beobachtete die Geschehnisse. Die Goblins hatten das Haupttor immer wieder gestürmt, und jedesmal hatte eine Handvoll von ihnen überlebt und war bis zur Innentür gelangt. Die zweite und dritte Wache hatten sich zur ersten gesellt, um gemeinsam gegen die Angreifer vorzugehen. Inzwischen hatten die Feinde die Belagerungstürme fertiggestellt und vor die Mauern der Festung getragen. Von dort aus ließen sie Windvögel steigen. Einige fielen sofort zu Boden, andere krachten gegen die Mauern der Beweis dafür, daß sich die Goblins an Reods Anweisungen hielten. Wenigen gelang es, über die Wehrgänge hinwegzufliegen, und die Goblins bewarfen die Zwerge zuerst mit Steinen, dann mit Kot und gegen Abend mit den zerkauten Überresten der eigenen Toten. Letzteres war Reods Idee gewesen. Auf diese Weise wurde der Feind zermürbt, jedoch kein weiterer Schaden angerichtet. Es beruhigte ihn eigenartigerweise, daß sich die Goblins an seine Vorschläge erinnerten und hielten. 297
Während er wartete, wandelte sich die anfängliche Erleichterung, Tamun am Leben zu wissen, erst in Unsicherheit und schließlich in Furcht. Inzwischen mußte sein Name in der ganzen Festung bekannt sein. Tamun wußte, daß er hier war. Wenn sie die Ältesten bat, ihn besuchen zu dürfen, würden sie es ihr sicher nicht verbieten. Vielleicht versuchte sie auch, ihn durch ihr Schweigen zu schützen. Oder sich selbst. Vielleicht war sie schwer verletzt. Die heilkundigen Zwerge waren so überarbeitet, daß es gut möglich war, daß sie irgendwo herumlag und litt. Er verstand sich auf Heilkunst. Wenn er doch nur zu ihr könnte ... Aber die drei Wachen ließen sich nicht erweichen. Vielleicht wollte sie ihn auch nicht sehen. Daran mochte er gar nicht denken. Leitern knallten gegen die Mauer. Goblins mit Rüstungen, in Lumpen gehüllt und oft sogar fast nackt, kletterten herauf und wagten erneute Vorstöße. Wieder und wieder war es das gleiche Spiel: Ein paar Goblins kamen durch und rannten durch die Wehrgänge und die Treppen hinunter, ehe man sie umstellte und tötete. Wenn sie bis in den Innenhof gelangten, stürzten sich die Flüchtlinge auf sie, die größtenteils die Furcht vor den grünen Wesen verloren hatten. Bei jedem neuen Ansturm versteckten sich ein paar Goblins in der Festung, um später aufzutauchen und dem gleichen Schicksal wie ihre Vorgänger zu begegnen. Wann immer das Dröhnen der Trommeln sich veränderte, verstummten die Lieder der Krieger, und die Zwerge liefen aufgeregt hin und her, um sich auf einen Angriff an anderer Stelle vorzubereiten, der aber nicht erfolgte. Gegen Nachmittag bemerkte Reod, wie die ersten Krieger ermüdeten. Sie hockten zusammengesunken in den Wehrgängen und zogen die Waffen weniger schnell. Weitere Goblins stürmten die Festung. Bei Einbruch der Dunkelheit begann es zu regnen. Die Ältesten kehrten in den Turm zurück und brachten 298
kleine Portionen Brot und Käse mit. Hamon reichte Reod seinen Anteil. Also war er noch nicht entbehrlich. Noch nicht. Nach einer Weile verließen alle bis auf Hamon und Kai das Zimmer. »Ich finde, wir schlagen uns tapfer«, meinte Hamon und sah aus dem Fenster. »Was meinst du?« »Soll ich sagen, was du hören willst oder was ich wirklich denke?« Reod war müde, enttäuscht, sorgte sich um Tamun und fror erbärmlich. Da war es nicht einfach, diplomatisch zu sein. Hamons Gesicht lief rot an. »Glaubst du etwa, wir bedürfen deines Zuspruchs, um für unser Leben zu kämpfen? Wir brauchen dich keineswegs.« »Tut mir leid«, antwortete Reod aufrichtig. »Ich bin genauso müde wie deine Truppen. Ältester, sieh dir deine Soldaten an. Sie brauchen mehr Schlaf. Heute macht sich das bei Kleinigkeiten bemerkbar. Ein verfehltes Ziel. Ein Zank zwischen Freunden. Aber morgen kann es mehr sein. Und bald ist es zu spät.« Kai grunzte abfällig. »Wie alle Menschen versuchst du, uns zu prophezeien, was wann geschehen wird. Woher willst du das wissen? Und selbst wenn du recht hast - zu wessen Gunsten sprichst du? Zu Gunsten der Angreifer? Hamon, wir sollten nicht auf ihn hören. Sein Gerede ist wie eine Krankheit, die unsere Kraft verzehren will, damit wir an uns selbst zu zweifeln beginnen.« Hamon seufzte. »Vielleicht hat er recht. Wir alle sind müde.« »Die Goblins reden ihn mit >Herr< an«, gab Kai zu bedenken. Die folgende Stille lastete schwer und drohend über dem Turmzimmer. »Du sagst ja gar nichts?« fauchte Hamon. Reod merkte, daß Hamon ihm gerne glauben wollte. »Was soll ich sagen? Daß ich unschuldig bin? Ich habe 299
auf eure Beschuldigungen bereits geantwortet. Wenn du mir vorher nicht geglaubt hast, wirst du es jetzt auch nicht, oder? In der Vergangenheit setzte ich mein Leben für dein Volk aufs Spiel. Wenn du mir trotzdem nicht vertraust, was soll ich da noch lange reden? Wie kann ich dir das Gegenteil beweisen, solange ich dein Gefangener bin? Indem ich nichts falsch mache?« Kai schüttelte den Kopf. »Menschengeschwätz. Wir brauchen es nicht. Wir müssen handeln. Da draußen, mit Schwertern, Steinen und Öl.« Reod holte tief Luft und versuchte es noch einmal. »Im kältesten Winter mag die Oberfläche eines Teiches fest genug aussehen, um darüberzugehen. Wenn nicht, merkt man es rechtzeitig und zieht sich zurück. Oder man versinkt in den eisigen Fluten.« »Genug!« rief Kai mit zorniger Stimme. »Wir haben genug von deinem Gerede!« »Es bleibt euch nicht mehr viel Zeit. Hört mir zu, ich bitte euch ...« Sie zog das Schwert und richtete die Spitze auf seine Kehle. »Schweig!« Er schwieg. Sie brachten ihm Decken und bewiesen damit, wie verwirrt sie in Wirklichkeit waren. Er hüllte sich ein und rollte sich in der Ecke zusammen, die am weitesten vom Fenster entfernt lag. Die ganze Nacht hindurch unterhielten sich die Zwerge über ihre Pläne, während Reod zu schlafen versuchte. Vor vielen Jahren, als er zum ersten Mal mit dem Orden in die Schlacht zog, um gegen die Schwarze Hand zu kämpfen, wunderte sich eine Kameradin, wie er vor einem Kampf so fest schlafen konnte. Er hatte sie angelächelt. »Was kann denn so wichtig sein, daß es mir den verdienten Schlaf rauben könnte?« »Der Tod«, lautete die Antwort. 300
Reod schüttelte den Kopf. »Ich gestatte der Angst nicht, mich zu beherrschen, nicht einmal der Todesangst. Wenn ich das zuließe, würde es nicht lange dauern, bis mich sogar das Atmen meiner Kameraden vom Schlaf abhielte. Was wäre das für ein Leben?« Sie hatte laut über seine Worte gelacht, über seine Überheblichkeit und Eigenart, und dabei hatte sie ihre eigene Furcht vergessen. In jener Nacht weckte das Schluchzen eines jungen Mannes Reod auf. Aber das gleichmäßige, leise Schnarchen der Soldatin wiegte ihn wieder in den Schlaf. Jetzt kamen ihm jene Worte wie die Ansichten eines sehr jungen Mannes vor, der nur sichere Zeiten kennt. Heute konnte er nicht einschlafen. Diesmal lag es nicht an der Angst vor dem Tod, sondern an der Furcht, Tamun nie wiederzusehen. Die Festung konnte fallen, und er würde mit ihr untergehen. Aber zuerst mußte er Tamun finden und alles tun, was in seiner Macht stand, um sie zu retten. Wenn es bedeutete, Goblins anzuführen, mit Orks zu verhandeln und Verbündete anzulügen und zu betrügen - nun, er war dazu bereit. Als er endlich einschlief, hatte er Alpträume, in denen das Blut in Strömen durch die Gänge floß. Ein Stoß in die Rippen weckte ihn. Die Offizierin der zweiten Wache hatte ihn mit der Stiefelspitze angestoßen. Die Ältesten waren verschwunden, aber die drei Wächter befanden sich noch im Raum. Er blinzelte sie schläfrig an und sah am Dämmerlicht, daß es noch nicht Morgen war. »Die ganze Nacht wurde über dich geredet«, sagte die Zwergin. »Man behauptet, daß du die Goblins befehligst, uns betrogen hast und der Kampf deshalb so hart ausfällt. Manche sagen, du verdienst den Tod. Bist du ein Verräter, Reod Dai?« Reod richtete sich auf und lehnte sich mit dem Rücken gegen die Mauer. 301
»Das hängt davon ab, wen du fragst.« Sie hockte sich vor ihn und sah ihm fest in die Augen. »Ich frage dich.« »Dann bin ich kein Verräter.« »Du behauptest, die Trommeln hätten nichts zu bedeuten, aber ich habe ihnen die ganze Nacht zugehört. Die Goblins greifen in Wellen an, sobald die Trommeln schneller schlagen. Wie kannst du da sagen, sie hätten keine Bedeutung?« »Das ist bloß Einbildung. Der Trommelklang ändert sich fortwährend. Wenn die Goblins angreifen, schlägt dein Herz schneller, und du meinst, es seien die Trommeln. Aber das stimmt nicht. Es ist nur ein Trick.« »Wie kannst du dir so sicher sein?« Was hatte er schon zu verlieren? »Weil ich sie diesen Trick lehrte.« »Du?« »Ja.« Sie starrte ihn eine Weile ungläubig an, schnaubte verächtlich, stand auf und ging. Aber er hatte den Zweifel in ihren Augen bemerkt. Vielleicht erinnerte sie sich später daran, wenn es darauf ankam. Vielleicht auch nicht. Reod stand auf und trat ans Fenster. In dem schwachen Licht erblickte er Fackelschein und Gestalten, die auf der Ebene herumliefen. Kleine Goblingruppen warfen die ersten Steine über die Mauern. Goblins konnten im Dunkeln recht gut sehen. Sie hätten auch nachts angreifen können, aber da ihnen Reod Dai vor Jahren erzählt hatte, daß ein nächtlicher Angriff unweigerlich fehlschlug, taten sie es nicht. Den Orks kam es seltsam vor, daß die Goblins nachts nicht kämpften, aber sie hatten sich damit abgefunden. Wieder ein Same, den Reod gepflanzt hatte, damit die Feinde nicht zu erfolgreich wurden. Jetzt brach der Morgen an und sie regten sich. Allmählich erloschen die Lagerfeuer. Blasses Sonnenlicht 302
drang durch die grauen Wolken. Weitere Belagerungstürme wurden vor die Mauern der Festung geschleppt. Auf den Wehrgängen liefen zu viele Zwerge herum, die Wache hielten, anstatt sich auszuruhen. Alle wirkten müde und erschöpft. Eine junge Zwergin betrat den Raum und brachte ihm einen Napf mit Brei und einen Krug Wasser. Sie verschwendeten immer noch kostbares Essen, um ihn am Leben zu erhalten. Die Zwerge hatten sich noch nicht an die grausamen Entscheidungen gewöhnt, die der Krieg mit sich brachte. Sie richteten ihn nicht hin, ließen ihn nicht verhungern und hörten ihm nicht zu. »Danke«, sagte Reod zu dem Mädchen. Erstaunt riß sie die Augen auf. Im Geiste sah er die Gesichter der Kinder vor sich, denen er im Laufe seines Lebens begegnet war. Dankbarkeit, Hunger und Furcht hatten sich darauf abgezeichnet. Seit vielen Jahren betrachtete er Kinder nur noch als die jüngsten tragischen Gestalten der Kriege. Tamun würde das bestimmt anders sehen. Sie wollte eigene Kinder haben und in diese unsicheren Zeiten hinein gebären. Sie stammten aus völlig verschiedenen Welten. Vielleicht war es gut, daß sie nicht zu ihm kam. Es wurde immer heller, und der Kampf um Gurn ging weiter. Nachdem im Laufe des Vormittags eine Weile Ruhe eingekehrt war, ertönte plötzlich lautes Geschrei. Ein Strom von Goblins ergoß sich über die Mauern. Soldaten stürmten ihnen entgegen und metzelten sie nieder. Die Wehrgänge färbten sich rot vom Blut. »Heute kommen mehr als gestern«, sagte Hamon, der plötzlich hinter Reod stand. »Genau wie du vorhergesagt hast.« War das eine Anschuldigung oder ein Eingeständnis? Reod schwieg. Vor dem Tor gab es eine Explosion. Soldaten verließen die Wehrgänge und eilten die Leitern hinab. 303
Hastig fragte Hamon: »Was glaubst du, wie lange es dauert, bis sie aufgeben?« »Mehrere Tage«, antwortete Reod. »Vielleicht auch eine Woche.« »Und dann verschwinden sie?« »Ich denke schon.« »Ich wünschte, ich könnte dir glauben.« Wieder ließ eine Explosion die Erde erbeben. Lautes Geheul folgte. Die Flüchtlinge im Innenhof drückten sich gegen die Ostmauer, die am weitesten vom Tor entfernt lag. Ihr Kampfesmut schien sie verlassen zu haben, denn nun quollen Dutzende Goblins durch die Tür zum Hof. Oben auf dem Wehrgang brüllte ein Offizier nach Verstärkung. Die Soldaten mußten gegen die Flüchtlinge ankämpfen, die sich jetzt auf die Mauern retten wollten. Hamon seufzte und verschwand eiligst. Reod beobachtete, wie der Älteste den Wehrgang entlangstürmte und sich rechtzeitig duckte, um einem Steinhagel auszuweichen. An der Westseite wachten zu wenig Soldaten. Drei Leitern lehnten an der Mauer, und ein Zwerg wurde von grünen Klauen gepackt und über die Brüstung gezogen, ehe seine Kameraden eingreifen konnten. Von unten erklangen Jubelrufe, die sich zu wildem Gebrüll steigerten. Jetzt sah es so aus, als stürmten die Goblins noch heftiger vor als bisher. Ihre Kriegsrufe erfüllten die Luft, und ein wahrer Regen aus Speeren segelte in den Innenhof hinunter. Wieder brüllte der Offizier nach Verstärkung, und diesmal klang seine Stimme verzweifelt. Einer von Reods Wärtern verließ den Raum. Die anderen beiden traten ans Fenster. Die Zwerge schleuderten mit ihren Katapulten Steine auf die Belagerungstürme, die jetzt dicht vor den Mauern standen. Die meisten Geschosse verfehlten ihr Ziel und fielen zwischen die wartenden Angreifer. Als ein Turm endlich getroffen wurde, schwankte er heftig, 304
blieb aber stehen. Die Feinde ließen Windvögel von den Türmen aufsteigen, die über den Innenhof segelten und die Flüchtlinge mit blutigen Goblineinzelteilen überschütteten. Reod sah genau hin und bemerkte, daß es sich auch um Körperteile von Zwergen handelte. Er seufzte und schloß die Augen. Das war genau das richtige, um die Zwerge noch verängstigter und mutloser zu machen. Reod hatte noch nicht viele Schlachten als Beobachter miterlebt. Seine Arme und Schultern schmerzten, so heftig klammerte er sich am Fensterbrett fest. So war es also, wenn man verteidigt wurde, anstatt selbst zu verteidigen. Es gefiel ihm nicht, einfach nur abzuwarten. Die Goblins, die in den Hof gelangt waren, wurden niedergemacht, während sich die Soldaten auf der Westmauer von Goblins überrollt sahen. Der Offizier wurde über die Mauer geworfen. Die Krieger verloren an Boden und mußten Schritt für Schritt zurückweichen. Reod beugte sich vor und brüllte den Soldaten im Hof zu, sich schleunigst auf die Westmauer zu begeben. Zu spät. Zwerge schrien und starben. Immer mehr Goblins kletterten über die Mauer. Überall brüllten Offiziere nach Verstärkung. Reods Wächter blickten einander an. »Du bleibst hier!« sagte einer der beiden und lief davon. Der andere trat von einem Bein aufs andere und beobachtete den Fortgang der Schlacht voller Entsetzen durch das Fenster. Reod hatte schon viele Kämpfe überlebt, und nicht alle waren siegreich ausgegangen. Die Zwerge würden die Festung nicht halten können. Irgendwo da draußen war Tamun. Reod warf dem letzten Wächter einen abschätzenden Blick zu. Er trug eine Rüstung und war schwer bewaffnet. Reod hatte nur die bloßen Hände zur Verfügung. Wieder schaute er aus dem Fenster und sah Zwerge 305
fallen. Die Goblins kreischten blutrünstig. Die Schreie der Flüchtlinge wurden immer schwächer. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die Festung fiel. Ein Schatten flog über Gurn. Sekena hielt sich am Hals des Drachens fest und starrte hinab auf die winzigen schneebedeckten Berggipfel. Der da? Nein, der war es nicht. Endlich waren sie auf dem Weg. Als der Drache sie vor ein paar Wochen nach Gurn geflogen hatte, war er außer Sichtweite der Festung gelandet, um die Zwerge nicht zu erschrecken. Mama und Tamun waren zu Fuß weitergegangen, und Sekena hatte gesehen, wie sie die Festung erreichten. Hunger, hatte ihr der Drache mit ärgerlichen Zischlauten mitgeteilt. »Wir können jetzt nicht einfach verschwinden!« Entweder fresse ich deine Freunde oder die Freunde von jemand anderen, antwortete er. Du darfst es dir aussuchen.
Also hatte er sich auf die mehrere Tage andauernde Jagd begeben. Diesmal suchte er nach großen Mahlzeiten, nicht bloß nach kleinen Happen wie gerösteten Goblins. Die jungen Drachen beobachteten ihn und verzehrten die spärlichen Überreste seiner Beute. Sekena fiel es schwer, den Drachen beim Fressen zuzusehen. Dann waren sie zur Höhle zurückgekehrt, und die Drachen hatten geschlafen. Tagelang. Inzwischen war Sekena vollkommen sicher, daß der große Drache sie verstand. Als sie ihn weckte und darauf drängte, nach Gurn zurückzukehren, riß er einen Moment lang die Augen auf und schlief sofort wieder ein. Sie redete lange Zeit auf ihn ein, aber er beachtete sie überhaupt nicht und schnarchte vor sich hin. Mehrere Tage lang widerstand sie der Versuchung, ihn gegen die Nase zu treten, aber schließlich tat sie es 306
doch. Unwillig schubste er sie beiseite. Als sie nicht locker ließ, packte er sie, klemmte sie sich unter den Flügel und schlief zufrieden weiter. Irgendwann wachte der Drache auf. Nach dem erholsamen Schlaf streckte er sich stundenlang und überhörte Sekenas Fragen, Beschwerden und Beleidigungen. Dann setzte er sie auf seinen Nacken und flog davon, auf die Festung zu. Die Jungen folgten ihnen. Jetzt befanden sie sich endlich über der Festung. Da unten lag sie - winzig klein, nicht größer als ein Backstein. Aber irgend etwas stimmte nicht. Graugrüne Ameisen schienen über den Backstein zu krabbeln. Unzählige kleine Rauchfahnen stiegen auf. Sie brüllte den Drachen an. Vielleicht zischte sie auch, denn inzwischen war ihr seine Sprache vertraut. »Tu etwas! Wir müssen Mama und Tamun finden und sie mitnehmen. Oder die Festung beschützen!« Der Drache landete auf einem Berg nahe der Festung und setzte Sekena ab. Sie protestierte lauthals, denn sie wußte, daß er sie hierlassen wollte. Der Drache breitete die Flügel aus und flog auf die Festung zu. Die beiden Kleinen folgten ihm. Mit einem Atemzug setzte der Drache viele Goblins in Brand, die rückwärts von der Mauer stürzten. Gleich darauf erschienen neue Angreifer und wagten den nächsten Vorstoß. Der kleinste Drache sah sich plötzlich einem Windvogel gegenüber. Erst in der vergangenen Woche hatte er gelernt, Feuer zu spucken und zeigte den Goblins seine Kunst. Der Windvogel stand sofort in hellen Flammen und fiel taumelnd zur Erde. Der andere kleine Drache flog über die Ebene und spuckte an den Stellen Feuer, die der Große ausgelassen hatte. Die Goblins schleuderten Speere gen Himmel. Die meisten verfehlten ihr Ziel und fielen wieder zu Boden, aber ein paar bohrten sich in die Leiber der Drachen. 307
Eines der Jungen schrie gellend auf und versuchte einen Speer abzuschütteln, der sich durch seinen Flügel gebohrt hatte. Es konnte sich nicht länger in der Luft halten und stürzte ab. Die Goblins fielen über den Drachen her. Er tötete ein paar der Angreifer, aber sofort stürzten sich andere Goblins auf ihn und begruben ihn unter sich. Auch der große Drache mußte etliche Treffer hinnehmen. Als er zu Sekena zurückkehrte, tropfte Blut über seine Flanken. Zitternd vor Angst entfernte Sekena die Speere, während er vor Schmerz laut zischte und fauchte. »Dumm, dumm, dumm!« schimpfte sie vor sich hin und war ausgesprochen dankbar, daß er zurückgekehrt war. Der überlebende junge Drache landete neben ihnen. Zitternd stand er auf dem Felsen und stieß leise, zirpende Jammerlaute aus. Der große Drache befahl ihm zu schweigen. Der Kleine gehorchte und starrte traurig auf die Ebene hinunter, wo sein Bruder umgekommen war. Als Sekena den letzten Speer aus dem Leib des Drachens entfernte, weinte sie haltlos. Er beugte sich zu ihr hinab und blies seinen warmen Atem tröstend über sie hinweg. Langsam ließ das Zittern nach, und sie sog den herrlichen Geruch in tiefen Zügen ein, während sie sich fest an ihn drückte. Der Hoffnungsschimmer, der bei dem Angriff der Drachen entfacht worden war, erlosch wieder. Die Goblins faßten den Rückzug der geflügelten Wesen als Ermunterung auf. Wieder schwärmten sie über die Mauern, und diesmal konnten ihnen die Zwerge kaum Einhalt gebieten. Die junge Zwergin, die gestern mit Reod gescherzt hatte, stand immer noch auf dem Wehrgang, schien aber um Jahre gealtert zu sein. Sie gehörte zu den wenigen, 308
die bis vor kurzem Kampflieder gesungen hatten. Jetzt schwieg auch sie. Tamun. Der letzte Wächter warf Reod einen prüfenden Blick zu. Er hatte Ringe unter den Augen, tiefe Falten zeichneten sich auf der Stirn ab, und er zitterte vor Ungeduld, endlich handeln zu können. »Geh nur«, sagte Reod, und der Zwerg rannte davon. Reod folgte ihm kurz darauf. Zuerst mußte er Tamun finden. Er warf sich eine Decke über den Kopf und die Schultern, um die schwarzen Haare und das Gesicht zu verbergen. Als er den Wehrgang entlanglief, duckte er sich, um kleiner zu wirken und ein weniger deutliches Ziel abzugeben. Außer ihm befand sich niemand hier oben, der weder Helm noch Rüstung trug. Reod fühlte sich ausgesprochen verletzlich. Dicht vor ihm spießte ein Krieger einen Goblin mit seinem Schwert auf. Der Goblin kreischte, packte den Arm des Soldaten und zerrte daran, bis ihn die Kraft verließ und er die Augen verdrehte. Hartnäckig waren sie und so dumm, daß sie anscheinend nicht merkten, wenn sie tödlich getroffen wurden. Goblins vereinten die besten und die schlechtesten Eigenschaften einer angreifenden Horde in sich. Reod sprang über den zerfetzten Körper. »He!« brüllte ihn einer der Soldaten an. »Hier oben ist es viel zu gefährlich! Sieh zu, daß du nach unten kommst!« Im Innenhof lagen die Leichen unzähliger Goblins und Zwerge. Zuerst wollte Reod den Krieger fragen, wie er behaupten könne, daß es dort ungefährlicher sei, schwieg dann aber. Eilig stieg er die Treppen hinunter und hastete in das Hauptgebäude der Festung, wo er an zusammengekauerten Zwergen vorbeirannte, die sich in dunklen Ecken zu verbergen suchten. Überall wimmelte es von Goblins. Es gab keinen sicheren Ort mehr in 309
Gurn, und bestimmt boten auch die unterirdischen Gänge keine Zuflucht mehr. Einen Moment lang glaubte Reod, die Stimme eines Orkhauptmanns zu hören. Wenn die Orks bereits so weit vorgedrungen waren ... Er mußte über Leichen klettern. Bei den meisten handelte es sich um Goblins, aber das allein beruhigte ihn nicht allzu sehr. Es lagen kaum Waffen herum. Sicher hatten die Flüchtlinge sie an sich genommen. Als Reod um eine Ecke bog, stürmte ein Goblin auf ihn zu. Er bezweifelte, der Kreatur in diesem Augenblick Befehle erteilen zu können. Eigentlich hätte er kehrtmachen und weglaufen sollen, aber sein Instinkt ließ ihn vorspringen, so daß er neben dem Goblin landete. Mit einer Hand packte er den Schwertarm des Gegners, die andere umklammerte dessen Hals. Als der Goblin zu Boden fiel, hielt Reod die Waffe in der Hand und stürmte den Gang hinunter. Immer wieder begegnete er Zwergen und Feinden. Reod schlug zu, wo sich ihm ein Goblin zeigte. Die Tür, vor der er gestern auf Tamun gestoßen war, war von innen verriegelt. Er hämmerte dagegen. Niemand öffnete. Hoffentlich war sie noch dort. Die Festung wurde von einer Explosion erschüttert, und der Boden unter Reods Füßen erbebte. Er stemmte sich haltsuchend gegen die Tür und hörte, wie der Riegel zurückgeschoben wurde. Irgendwer da drinnen war neugierig oder ängstlich genug, um zu öffnen. Reod hielt den Türgriff fest, damit der Zwerg auf der anderen Seite glaubte, die Tür klemme. Tatsächlich wurde jetzt von innen stärker gezogen. Reod ließ den Griff los, schlüpfte blitzschnell in den Raum und schloß die Tür hinter sich. Der Gestank war überwältigend. Es befanden sich so viele Zwerge im Raum, daß sie dichtgedrängt stehen mußten. Die Luft war zum Schneiden dick. 310
»Raus mit dir!« zischte ihm ein Zwerg zu, dessen Gesicht blutbefleckt war. Reod hielt sich noch immer unter den Decken verborgen. Die Begrüßung hatte einem Zwerg gegolten. Wie würde man Reod Dai empfangen? Er flüsterte, um seine Stimme besser zu verstellen. »Ich suche Melelki und Tamun, die aus dem Süden stammen. Sind sie hier?« »Nein. Verschwinde!« »Ich habe eine Botschaft für sie. Von ihrer Schwester und Tochter Sekena.« Der Mann sah ihn unsicher an. Sie mußten hier sein. »Sag ihnen, daß ich draußen auf sie warte. Ich zähle bis zwanzig, dann gehe ich.« Er öffnete die Tür und ging bis zum Ende des Ganges. Dort drückte er sich in eine Ecke und lauschte den von draußen hereindringenden Schreien. Als er bei fünfzehn war, betraten sie den Gang. Er winkte ihnen, näherzukommen. Tamuns Arm war mit getrocknetem Blut bedeckt. Die Gesichter der beiden Frauen waren zerschunden. »Was für eine Botschaft?« flüsterte Melelki und sah sich nach allen Seiten um. Er winkte noch einmal. Vorsichtig näherten sie sich. Als sie nur noch wenige Schritte entfernt waren, zog sich Reod die Decke vom Kopf. Er ließ Tamun nicht aus den Augen. Sie sah erschrocken und überrascht aus, aber weder wandte sie sich ab noch zog sie das Schwert, das an ihrem Gürtel hing. Melelki kniff die Augen zusammen. »Du hast uns reingelegt!« »O nein. Sekena ist ganz in der Nähe und in Sicherheit. Hört zu: Gurn fällt. Wenn ihr hierbleibt, werden sie euch umbringen. Es gibt einen Ausweg. Kommt mit.« »Man sagt, du...« 311
»Ich weiß, was geredet wird.« Er streckte Tamun die Hand entgegen. »Bitte. Kommt mit.« »Aber du ...« Er schüttelte den Kopf. »Später haben wir Zeit zum Reden. Wollt ihr hierbleiben und sterben? Kommt endlich. Ich flehe euch an.« Die beiden wechselten einen Blick. Melelki nickte. Reod zog sich erneut die Decke über den Kopf, führte sie in den Innenhof und eine Treppe hinauf. Ein Goblin stellte sich ihm entgegen, und er warf die Kreatur die Treppe hinunter. Die Soldaten auf den Wehrgängen beachteten Reod und seine Begleiterinnen nicht. Sie hasteten schnell an den Kämpfenden vorüber. Windvögel flogen über sie hinweg, und etwas landete vor ihren Füßen. Reod versetzte dem abgerissen Fuß eines Zwerges einen Tritt und lief weiter. Weitere Sprengungen ließen die Mauern von Gurn erzittern. Steine, Speere und Windvögel kamen aus der Richtung der Belagerungstürme angeflogen. An der Nordmauer schleuderte Reod die Decken beiseite. Der kalte Wind ließ ihn in den schweißnassen Kleidern frösteln. Er stellte sich an den Rand der Brüstung und winkte mit den Armen. Hoffentlich bemerkten ihn die Zwergin und der Drache, die sich auf dem nächsten Berggipfel befanden. Statt dessen erregte er die Aufmerksamkeit der Goblins am Fuß der Mauer. Sie deuteten auf Reod, sprangen aufgeregt auf und ab und rückten die Leitern an die Stelle, wo er sich über die Brüstung neigte. Der Drache und seine Begleiterin schienen nichts bemerkt zu haben. Reod zog Melelki und Tamun fort. Aus dem Innenhof ertönte ein lautes Krachen, gefolgt von einem vielstimmigen Schrei. Das Innentor war endgültig gefallen. Einer der Offiziere schrie fortwährend. »Rückzug! Rückzug!« Reod fragte sich, wohin sich die Zwerge zurückziehen wollten. In die Gebäude der Festung? Das 312
wäre ebenso sinnlos, als würden sich Ratten auf einem sinkenden Schiff unter Deck verziehen. Jemand hielt seinen Arm fest. Die Erste Wachoffizierin stand mit schweiß- und blutüberströmtem Gesicht neben ihm. Mit der rechten Hand umklammerte sie ihr Schwert. Hinter ihr stand Hamon. Er zog das Bein nach und drückte die Hand auf eine blutende Wunde unterhalb der Rippen. »Was jetzt?« schrie die Offizierin. »Was sollen wir tun?« Hamon trat vor. »Hilf uns! Sag uns, was wir tun sollen!« Reod dachte an all die Dinge, die er bereits gesagt hatte, und eine scharfe Erwiderung lag ihm auf der Zunge. Statt dessen antwortete er: »Ihr habt die Wahl: Hierbleiben und sterben oder fliehen und leben. Lange könnt ihr nicht überlegen. Ich würde euch zur Flucht raten.« »Was Besseres weißt du nicht?« brüllte die Offizierin. Sie spuckte Reod vor die Füße, drehte sich um und lief zur Westmauer, wo die schlimmsten Kämpfe tobten. »Sag mir ruhig, was ich hätte tun sollen«, klagte Hamon verzweifelt und schuldbewußt. »Du hast getan, was du konntest. Es mußte so kommen. Die Feinde sind einfach zu zahlreich.« Hamon nickte gedankenverloren. Vielleicht glaubte er Reod. »Sicher kannst du mit den Goblins und den Orks reden. Sag ihnen, sie sollen verschwinden.« »Sieh doch nach unten, Ältester. Die Fahnen wurden eingeholt. Sie stehen nicht länger unter dem Befehl der Orks. Es gibt keine Kampfordnung mehr. Die Goblins greifen wahllos an. Egal was geschieht, sie werden nicht aufgeben.« Die Stimme des Zwerges klang bittend. »Versuche es doch bitte.« Reod trat an die Mauerbrüstung, wo die Leitern der 313
Goblins lehnten. Er hob das Goblinschwert und deutete in den Himmel. In der Kampfsprache rief er: »Das ist die falsche Stelle, ihr Idioten! Runter mit euch! Geht auf die andere Seite!« Sie zögerten, als würde eine Erinnerung wach, kletterten dann aber sofort weiter. Blutrünstig grinsende Goblingesichter umringten Reod. Eine Speerspitze richtete sich auf ihn. Reod wich zurück, und Zwergenkrieger stürzten sich auf die Angreifer. An dieser Stelle war die Reihe der Verteidiger noch kaum geschwächt. Auf der Westseite kletterten die Goblins über die Leichen der Zwerge, ehe sie die Körper kreischend in den Innenhof schleuderten. Hamon stöhnte auf und lief davon. Reod vermutete, daß er den Ältesten nicht wiedersehen würde. Schnell ergriff er die Hände Tamuns und Melelkis und zerrte sie so weit wie möglich von den Angreifern fort. Ein Blick zum Berg hinauf zeigte, daß sich dort oben nichts tat. Die Idee war nicht schlecht gewesen, aber der Drache kam nicht. Er mußte sich einen anderen Fluchtweg ausdenken. Drachenduft beruhigte Sekena, aber sie machte sich immer noch Sorgen um ihn. Es ist gut, tröstete er sie immer wieder. Als Sekena endlich wieder an die Festung dachte und hinuntersah, befiel sie Angst von neuem. Die Goblins waren überall. Überall! Wo waren die Zwerge? Das konnte doch nicht wahr sein! Tamun und Melelki waren da unten! Der Drache sah sie besorgt an und schnupperte. Sie redete schnell, mit Zischlauten und Gesten. Es war ihr völlig gleichgültig, daß sie seine Sprache anwandte, ohne sich komisch vorzukommen. Hauptsache, er verstand sie. Gemeinsam beobachteten sie die Festung. 314
Reod führte sie entlang der Ostmauer. Er hielt das Schwert in der Hand. Wann immer sich ihnen Goblins in den Weg stellten, brüllte er sie in der Kampfsprache an, um sie einen Augenblick lang aufzuhalten. Sie waren wirklich dumm und zögerten, bis er einen nach dem anderen niederschlug oder über die Mauer warf. Die Flüchtlinge im Innenhof hatten das kleine Tor in der rückwärtigen Mauer geöffnet. Sie drängten hinaus und versuchten, durch die Reihen der wartenden Goblins zu entkommen. Ein Orkhauptmann schwang eine klauenbewehrte Faust, und drei Zwerge sanken blutbesudelt zu Boden. Melelki schrie plötzlich auf. Es war der Schrei einer besorgten Mutter. Als Reod sich umdrehte, fuhr Tamuns Schwert durch die Luft und bohrte sich in den Leib eines Goblins. Sie bewegte sich langsam, aber mit Bedacht. Ihre Augen zeigten weder Unsicherheit noch Reue. Sie hatte sich verändert, seitdem sie die icatianischen Soldaten besiegt hatte. Tamun hatte gelernt, kaltblütig zu töten. Reod fiel die Schwertklinge auf, die seltsam funkelte. Die Waffe war eindeutig Zwergenarbeit, aber das Metall war ihm unbekannt. Auch Melelkis Messer war von der' gleichen Machart. Eigentlich sah es überhaupt nicht wie Metall aus. Was konnte es sein? Plötzlich begriff er: Es handelte sich um Dracheneierschalen. Kostbare Waffen! Die Schalen ließen sich viel schwieriger bearbeiten als Metall, aber wenn sie erst einmal fertig waren, blieben sie für immer in Form und verloren ihre Schärfe nicht. Er mußte an Sekenas Stück der Eierschale denken, das sie so gut aufbewahrt hatte. Sekenas Eierschale. »Gib mir dein Messer!« brüllte er Melelki an. Sie zögerte, hielt es ihm dann mit dem Griff voran entgegen. Reod wischte die Klinge an der Hose ab und hielt die Waffe hoch empor. Das Sonnenlicht spiegelte sich auf 315
der Klinge. Tamun nickte verstehend, wischte auch ihre Klinge sauber und folgte seinem Beispiel. Hinter ihnen hörten sie die letzten verzweifelten Schreie der Zwergenkrieger. Vielleicht klappt es, dachte Reod und bewegte das Messer hin und her, um die Aufmerksamkeit der kleinen Gestalt neben dem Drachen zu erregen. Vielleicht. »Da!« rief Sekena, als sie das Blinken bemerkte. Drei Gestalten standen auf der Mauer. Eine davon hatte dunkles Haar. Bleib hier, befahl ihr der Drache. »O nein, beim Mond - das werde ich nicht!« heulte sie und umschlang seinen Hals mit den Armen, ehe er den Kopf hochheben konnte. Er wollte sie mit der Kralle wegschieben, aber sie hielt sich noch fester und trat nach ihm. Dummes Tier, du wirst runterfallen und sterben. Tu, was ich dir sage.
»Du verschwendest deinen Atem. Flieg!« Der Drache zischte verärgert und versetzte ihr einen leichten Schlag. Dann breitete er die riesigen Schwingen aus und stieß sich zu einem Sturzflug auf Gurn ab, daß sich Sekena der Magen umdrehte. Als der Drache nach einem beinahe senkrechten Fall auf der Mauer landete, stieß er zwei Goblins in die Tiefe. Jedes seiner Beine war länger als ein hochgewachsener Zwerg. Nach der Landung setzte er die Hinterfüße auf die eine und die Vorderfüße auf die andere Mauer. Reod blickte in die Augen eines erwachsenen Drachens, der wahrscheinlich schon lange über die Fortpflanzungsjahre hinaus war. »Kommt rauf!« rief Sekena. Der Drache griff nach Tamun. Reod mußte sich zurückhalten, als er sah, wie sie von der klauenbewehr316
ten Hand gepackt und hochgehoben wurde. Das gleiche geschah mit Melelki, die zwar zusammenzuckte, sich aber nicht wehrte. »Verschwindet! Haut ab!« brüllte Reod die schnatternden Goblins an, die so blutrünstig waren, daß sie sogar den großen Drachen angreifen wollten. Noch immer hielt er Melelkis Messer in der einen und das Goblinschwert in der anderen Hand. Er konnte sie nicht lange aufhalten, aber er war sicher, daß er ihnen genügend Schwierigkeiten bereiten würde, um dem Drachen Zeit zum Abstoßen zu geben. Klauen umklammerten seine Schulter. Er wehrte sich heftig, bis ihm bewußt wurde, daß der Drache ihn gepackt hielt. »Nein!« schrie Reod. »Laß mich los! Verschwindet!« Plötzlich verlor er den Boden unter den Füßen. Die Festung blieb zurück, und er mußte sich zur Ruhe zwingen, denn er schwebte hoch in der Luft. Drachenkrallen umklammerten seinen Oberkörper und drückten ihm die Arme gegen die Seiten. Er schloß die Augen und betete. Als er sie wieder öffnete und nach unten schaute, konnte er den Untergang der Zwerge beobachten, während Gurn auf die Größe eines Ameisenhaufens zusammenschrumpfte .
317
»Gib niemals auf!« - Eingemeißelt in die Überreste einer icatianischen Mauer.
Reod hatte sehr viel Gelegenheit sich zu fragen, ob der Drache noch wußte, daß er ihn in den Klauen hielt. Er konnte nicht richtig atmen, und die orangefarbenen Nägel des Wesens, von denen jeder einzelne so lang wie sein Arm war, fügten ihm Schmerzen zu. Der Wind ließ Reods Haut zu Eis erstarren und wehte ihm das Haar in die Augen. Anfangs hatten seine Ohren geschmerzt, aber inzwischen spürte er sie nicht mehr. Die Kapuze flatterte nutzlos hin und her. Hätte er sie über den Kopf ziehen können, wäre ihm wohler gewesen. Dazu mußte der Drache jedoch die Krallen öffnen, und Reod würde fallen. Und der Weg nach unten war weit. Obwohl Reod ungewöhnliche Situationen nicht fremd waren, erlebte er heute etwas Außergewöhnliches. Nie zuvor war er geflogen. Nie zuvor hatte ihn ein Drache in den Krallen gehalten. Nie zuvor hatte er gehört, daß so etwas möglich war, und nie zuvor hatte er gewußt, daß es zahme Drachen gab. Die besten Magier der Welt wären zufrieden gewesen, einen Drachen wie diesen aus großer Entfernung zu beobachten. Als sie Gurn verließen, schien der Drache sich anstrengen zu müssen, um an Höhe zu gewinnen, aber danach flog er so leicht dahin, als sei er eine Wolke am Himmel, die über die höchsten Berge schwebte. Große 318
Flügel breiteten sich über Reods Kopf aus und trugen sie durch die Lüfte. Reod atmete die eisige Luft ein. Er war nicht sicher, ob er Melelkis Messer noch hatte. Seine Finger waren taub geworden. Das Goblinschwert hatte er in der Hoffnung fallenlassen, es möge einen der Feinde treffen. Tatsächlich war eine der Kreaturen zusammengesunken. Seine Hoffnung hatte sich erfüllt. Leider war dieser winzige Sieg nichts gegen den erlittenen Verlust. Eine Festung und alle ihre Bewohner waren gefallen. Inzwischen rannten die Orks und die Goblins überall herum, legten Brände, ermordeten die noch lebenden Soldaten und ergötzten sich an den Qualen der Flüchtlinge, die noch in ihren Verstecken geblieben waren. Zu diesem Zeitpunkt würde keines der Untiere darauf hören, was die Zwerge sagten und ob sie sich ergaben. Reod konnte sich alles genau vorstellen. Nur die Kälte und das Schwindelgefühl, das ihn ergriffen hatte, bewahrten ihn davor, sich die blutigen Einzelheiten auszumalen. Eine Hoffnung blieb ihm. Die siegreichen Goblins und Orks würden irgendwann gegeneinander kämpfen. Außerdem war die Hintertür der Festung offen gewesen, und vielleicht waren doch ein paar Zwerge durch die feindlichen Linien gekommen. Bestimmt hatte die Zwerge auch die unterirdischen Gänge geöffnet. Viele konnten überleben. / Viele waren bereits gestorben. Jeder Atemzug füllte seine Lungen mit eiskalter Luft. Bei jedem Ausatmen blieb Rauhreif in seinem Bart hängen. Seine Gedanken schweiften ab. Er vermeinte Schreie zu hören. Bilder, die von Blut durchtränkt waren, zogen an ihm vorbei. Genkrs böses Gesicht tauchte vor ihm auf. Tamun. Tamun. Sie saß ein Stück über ihm, auf dem Rücken des Dra319
chens, dieser Gedanke reichte aus, daß er sich besser fühlte. Egal was geschehen war und noch geschah: Er hatte sie aus der Festung gerettet. Sie würde nicht durch die Hände der Goblins umkommen. Allmählich flog der Drache tiefer. Sie näherten sich einem Gebirge und schwebten an schneebedeckten Gipfeln und schroffen Felsnadeln vorbei. Schließlich tauchte ein Felsplateau unter ihnen auf. Der Drache landete und setzte Reod vorsichtig ab. Sein ganzer Körper schmerzte und die Beine gaben unter ihm nach. Reod fiel vornüber, wurde aber von einer Kralle aufgehalten und sank langsam zu Boden. Dort lag er keuchend und biß die Zähne zusammen, um nicht laut aufzuschreien. Als die Schmerzen nachließen, schlug er die Augen auf. Die rechte Hand umklammerte noch immer Melelkis Messer. »Lebt er noch?« Das war Sekenas Stimme. Reod blinzelte. Melelki kniete neben ihm im Schnee und beugte sich über ihn. Der Wind fuhr ihr durch die strähnigen Haare. »He, was ist los? Bist du krank?« Reod wollte sprechen, brachte aber nur ein Krächzen heraus. Melelki strich ihm über das Gesicht. »Er friert«, sagte sie. »Menschen sind so empfindlich.« Irgend jemand breitete einen Umhang über ihn, und im Hintergrund hörte Reod, wie ein Feuer entfacht wurde. Tamun war in der Nähe. Er hörte ihre Schritte und ihre sanfte Stimme. »Sie frieren sehr leicht, Mama.« Das war wieder Sekena. »O ja, das tun sie.« Reod lachte, aber es hörte sich eher wie ein Krächzen an. »Ruh dich aus«, sagte Melelki. 320
Das Feuer rauchte und zischte. Allmählich spürte Reod die Wärme. Seine Lebensgeister kehrten zurück. Nach einer Weile half ihm Melelki, sich hinzusetzen. Sekena rollte einen Felsbrocken heran, gegen den er sich lehnte. Sie boten ihm Trockenfleisch und Wasser an. Reod nickte dankbar. Der große Drache lag ganz in der Nähe. Sein Kopf bewegte sich langsam hin und her, und die leuchtend rotgrünen Schuppen hoben sich grell gegen die weiße Schneedecke ab. Er beobachtete die Zwerginnen und den Menschen mit seinen starren Augen. Reod wurde wieder einmal bewußt, wie riesig dieser Drache war. Zweifellos konnte ihn das Wesen mit einer einzigen Bewegung verschlingen. Zum Glück lag es friedlich da und hielt ein wenig von dem beißenden Wind ab, der über das Plateau fegte. Der junge Drache saß in der Nähe und starrte sie an. Reod blinzelte ein paarmal und merkte plötzlich, daß Sekena neben ihm hockte und auf ihn einredete. Sie hatte sich das Haar abgeschnitten, und es war so kurz, daß es kaum bis zu den Ohren reichte. »Hast du verstanden?« sagte sie. »Was?« Reod fiel es schwer, sich zu konzentrieren. Sie atmete tief aus und begann erneut. »Wenn du versuchst, meine Drachen zu verzaubern, reiße ich dich in Stücke. Ganz langsam. Auch wenn du mächtig bist, Schlammzauberer, aber ich mache dich fertig.« Im Augenblick fühlte er sich ganz und gar nicht mächtig. »Natürlich«, flüsterte Reod. »Einverstanden.« Sekena sah ihn überrascht an. Harte sie etwa erwartet, er würde widersprechen? Jetzt? »Wie, einfach so?« Vor ihm hockte das wohl einzige Lebewesen in Sarpadia, das nicht bloß eine Begegnung mit einem Drachen überlebt sondern ihn auch noch zu einem Verbündeten gemacht hatte. Eine fünfzehnjährige Zwergin, die Dra321
chen zähmen konnte, warnte einen völlig entkräfteten Menschen, diesen Kreaturen nichts anzutun. Er lächelte. »Du hast dich gemacht, Sekena.« Sie sah ihn forschend an und überlegte, ob er es ernst meinte. Dann errötete sie. »Tja, ich wünschte, ich wäre als Kriegerin mit dabei gewesen. Ich kam so schnell ich konnte, aber dann mußte ich oben auf dem Berg stehen und zusehen, weil er mich nicht kämpfen lassen wollte. Ich hatte nicht einmal eine Waffe!« Reod sah zu dem Drachen hinüber und begegnete dem Blick der goldenen Augen. »Es war schon richtig so.« »Wir kamen zu spät. Wären wir früher ...« »Nein, ihr seid im rechten Augenblick erschienen.« »O nein. Wieso haben dann die Goblins gewonnen?« Er dachte an die Soldaten, an die Trommeln und die Anführer der Zwerge, die glaubten, das Richtige zu tun und statt dessen ihr Leben verloren haben. Wie immer fragten die Überlebenden nach dem Warum. »Es gibt viele Gründe, warum eine Schlacht verloren wird. Es ist nicht so einfach zu beantworten.« Plötzlich war Tamun neben ihm und schob Sekena beiseite. Sie sah ihn böse an. »Es ist ganz einfach. Sag uns, woher die Goblins wissen, wie man Eier explodieren läßt, Reod Dai. Sag uns, daß du nichts damit zu tun hast.« »Tamun!« »Gurn fiel durch deine Schuld. Du hast Goblins und Orks zusammengebracht, hast ihnen gezeigt, wie man Türme und Windvögel baut und ...« »Seit Generationen kämpfen sie gegen uns«, unterbrach sie Melelki. »Tochter, sie haben uns schon oft angegriffen.« »Aber sie kamen in kleinen Gruppen. Jetzt griff eine ganze Armee an! Wie viele sind heute umgekommen? 322
Reod, wie viele hast du heute getötet? Und wie viele waren es in Teedmar?« »Tamun, hör mir zu. Ich hatte nichts mit Teedmar zu tun.« »Das zu glauben fällt mir schwer. Ich mag nicht daran denken, daß ich mich mit so etwas wie dir vereinigen wollte!« »Nun, für deinen Geschmack, was Männer anbelangt kann ich gewiß nichts!« fauchte Reod. Er kam schwankend auf die Beine und schüttelte den Kopf, als Melelki ihm helfen wollte. Er fühlte sich unsicher und schwindlig, aber seine Wut half ihm, aufrecht stehenzubleiben. Die Füße taten ihm weh, aber die schlimmsten Schmerzen hatten nachgelassen. Vorsichtig trat er einen Schritt vor und sah der Frau in die Augen, um derentwillen er sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte. Sie machte ein böses Gesicht. »Ja«, sagte Reod, dessen Wut so plötzlich verrauchte wie sie entstanden war, »das alles habe ich getan. Es gibt keine Rasse in Sarpadia, der ich nicht geholfen oder geschadet habe.« »Der vollkommene Söldner«, sagte Sekena mit respektvoller Stimme. »Der vollkommene Verräter!« zischte Tamun. »Wieso?« erkundigte sich Melelki neugierig. Der große Drache blinzelte. Tamun wandte sich ab. Reod hatte immer geglaubt, er könne die Frage zufriedenstellend beantworten. Und nun? Er war müde, zu müde. »Ich hatte meine Gründe.« »Nenne sie«, forderte Melelki ihn auf. »Ich glaubte, meinem Volk einen gemeinsamen Feind geben zu können, damit es sich nicht länger untereinander bekämpft. Icatia zerfleischt sich wegen der Worte längst verstorbener Männer. Welche Schande und Dummheit! Ich wollte die Orks und Goblins auf mein Volk hetzen, denn es hätte sich ihrer gut erwehren kön323
nen. Die Zwerge sollten niemals angerührt werden, und das wäre auch nicht geschehen, wenn die Elfen mich hätten beenden lassen, wozu sie mich anheuerten. Also sorgte ich dafür, daß die Elfen eine Kostprobe ihrer eigenen Arznei erhielten, damit sie merkten, was auf dem Spiel stand.« Reod verstummte und dachte an den Jungen Andli und die brennende Festung. Er schüttelte den Kopf. »Aber so einfach war es nicht. Selbst die Anhänger Tourachs versuchen nur, so gut wie möglich zu überleben und gemäß ihren Grundsätzen zu handeln.« »Und die Zwerge?« fragte Tamun mit kalter Stimme. »Wofür mußten die büßen?« »Für gar nichts.« »Warum dann? Warum?« Tamun hatte Tränen in den Augen, und das erschreckte Reod mehr als alles, was sie gesagt hatte. Es war furchtbar. Wenn Zwerge traurig waren, blieben ihre Augen stets trocken. In all den Jahren, in denen er durch die Purpurgipfel gereist war, hatte er niemals einen Zwerg weinen sehen. Die Tränen liefen ihr über die Wangen. Reod sehnte sich danach, sie zu trocknen. »Weil ich glaubte, ich könne die Welt verändern«, antwortete er müde. In weiter Ferne, wo sich einst Gurn erhoben hatte, stieg eine Rauchsäule auf. »Und ich denke, ich habe es getan.« »Wir alle verändern die Welt«, meinte Melelki »Vielleicht ändert keiner von uns etwas«, sagte Sekena, die Holz aus der Höhle geholt hatte, um es auf das Feuer zu legen. »Gibt es Zwerge, die noch am Leben sind?« Es gibt Dörfer, die weit abgelegen sind und nicht mit Orks und Goblins in Berührung kamen. Auch aus Gurn mußte einigen Zwergen die Flucht gelungen sein. »Ja.« »Aber die meisten sind tot!« sagte Tamun. 324
»Ist das Reods Schuld?« fragte Melelki. »Denkt daran, wie zahlreich die Orks und Goblins sind. Sie hätten uns auf jeden Fall angegriffen.« »Nein.« Tamun schüttelte heftig den Kopf. »Er hat es ihnen beigebracht. Es ist seine Schuld.« Reod sah sie lange an und wandte sich schließlich ab. »Soviel ich weiß, liegt am Fuße dieses Berges eine Stadt.« »Scaza«, antwortete Sekena. »Wo ist der Weg nach unten?« Melelki und Sekena wechselten einen Blick. Sie schwiegen. »Egal, ich finde ihn auch allein.« Er drehte sich um und setzte vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Vielleicht schaffte er selbst in diesem Zustand den Abstieg, ehe die Nacht hereinbrach. Plötzlich war Sekena neben ihm und ging mit ihm bis zum Rande des Plateaus. »Geh nicht. Wir brauchen deine Hilfe. Da draußen sind immer noch Orks und Goblins. Unser Volk braucht dich.« »Ich werde es meinem Kommandeur ausrichten.« »Was? Du willst nach Icatia zurück?« »Ja.« »O nein! Sie werden dich töten!« »Wahrscheinlich.« »Bleib hier.« »Wozu? Ich bin doch schuld an den Qualen der ganzen Welt! Und trotzdem soll ich bleiben?« »Versteh doch Tamuns Zorn. Sieh dir an, was ihr und unserem Volk zugestoßen ist. Aber sie ist nicht nur wütend auf dich. Sie mag dich.« Er lachte. »Und wie! Die Närrin.« »Sie ist meine Schwester!« knurrte Sekena. »Es ist besser, ihr bleibt unter Zwergen.« »Wahrscheinlich hast du recht, aber das wird sie nicht glauben. Ich bin es, die ihr Gejammer ertragen muß, bis 325
ihre Hitze vorüber ist, und das wird Jahre dauern. Jahre! Bleib hier!« Er blieb stehen und sah Sekena an. Das kurze Haar war vom Wind zerzaust, und die braunen Augen sahen ihn beinahe flehend an. »Ich bin müde. Ich kann nicht mehr kämpfen. Die Zeit ist gekommen, um wieder zu den Menschen zurückzukehren. Sie mögen über mich richten.« Melelki gesellte sich zu ihnen. Tamun hockte am Feuer und hatte ihnen den Rücken zugewandt. »Orks und Goblins haben uns geplagt, ehe du dich eingemischt hast«, sagte Melelki, »aber du hast sie zu Verbündeten gemacht. Wahrscheinlich bist du der Einzige, der sie wieder auseinanderbringen kann, damit wir wieder in Frieden leben können.« »Da Gurn und Teedmar zerstört sind, kann sich euer Volk nicht mehr verschanzen. Es ist besser, wenn ihr euch weit in die Purpurgipfel zurückzieht. Goblins und Orks werden nicht sehr weit vordringen. Verteilt euch gut und haltet euch versteckt. Ihr könnt den Krieg überleben, wenn ihr ihnen ausweicht und abwartet.« Anscheinend konnte er nicht mehr tun als Ratschläge zur Flucht erteilen. Reod rieb sich die Augen und sah die drei Zwerginnen an, die er vor dem sicheren Tod gerettet hatte. Drei von Tausenden. Sie schwiegen. Dichte Wolken zogen über den strahlendblauen Himmel. »Vielleicht ist es sinnlos, wenn wir kämpfen«, meinte Melelki, »aber wir müssen es versuchen. Und du wirst uns helfen.« »Ich habe bereits versucht zu helfen«, antwortete Reod. »Immer wieder. Und sieh nur, was meine Bemühungen angerichtet haben.« Tamun stand auf und kam auf ihn zu. »Du hast meinem Volk die Höllentore geöffnet. Du!« Sie hatte ihr Urteil gefällt und ihn für schuldig befun326
den. Jetzt blieb ihm nur noch die Buße für seine Untaten. Dadurch würde er endlich Frieden finden, seinen ganz persönlichen Frieden, das Ende aller Unruhe. Dieser Friede erwartete ihn in Icatia. »Tja«, meinte Melelki nachdenklich. »Wir haben die Goblins und die Orks seit Urzeiten bekämpft.« »Aber jetzt ist alles schlimmer geworden als je zuvor!« rief Tamun. »Ja, aber Reod dafür die Schuld zu geben ...« Melelki deutete auf den kleinen Drachen, der sich die Sonne auf den Bauch scheinen ließ. »Ebenso könntest du den Kleinen da für schuldig erklären, weil die Eier explodierten. Die heutige Zeit verwandelte Dracheneier in Waffen. Was blieb dem Menschen anderes übrig?« Bei der Erwähnung der Eier verzog Sekena das Gesicht. Reod berührte ihren Arm. »Ich würde ihnen niemals etwas tun, solange sie mich nicht angreifen. Das schwöre ich dir.« Sie nickte und entspannte sich ein wenig. Eine solche Freundschaft hatte er noch nie erlebt. Wenn ihm mehr Zeit geblieben wäre, hätte er gerne mehr über Sekena und ihre Drachen gelernt. »Er hat sich freiwillig für die Zerstörung entschieden«, beharrte Tamun. »Deshalb ist er schuldig.« Melelki legte den Kopf auf die Seite und sah ihre Älteste an. »Glaubst du wirklich? Konnte er sich frei entscheiden? Und was war mit dir, als du ihn erwähltest?« Tamun schnaubte unwillig und stapfte zurück zum Feuer. Melelki wandte sich an Reod. »Ich will dir meine Meinung sagen. Ich denke, du bist auch nur ein Werkzeug des Krieges, so wie es die Goblineier und die Windvögel sind.« »Werkzeuge werden irgendwann überflüssig.« Sie zuckte die Achseln. »Kann ein Werkzeug das beurteilen? Ich glaube kaum.« 327
»Da stimme ich dir zu«, antwortete Reod. »Ich gehe nach Icatia zurück und lasse mein Volk über mich richten.« Er sah zu dem steinigen Wildpfad hinab. Da er sich immer noch unsicher auf den Beinen fühlte, kletterte er mit äußerster Vorsicht über die zum Teil mit Schnee und Eis bedeckten Steine. Dabei hielt er sich an Bäumen und Felsbrocken fest, um nicht zu stürzen. Eine Weile war nichts außer seinen eigenen Schritten zu hören. Sie hatten ihn gehen lassen. Reod spürte Erleichterung und gleichzeitig Trauer. Nein, sagte er sich. So ist es am besten. Plötzlich erklangen Schritte hinter ihm. Leichte Schritte, wie von Zwergenfüßen. Er drehte sich nicht um. »Hast du nie daran gedacht, daß die Goblins und Orks die Waffen nehmen könnten, die du ihnen gegeben hast, um sie gegen unsere Dörfer zu richten?« erklang Tamuns Stimme. Nach dem Vulkanausbruch hatte er sich wochenlang vorgestellt, wie sie zerschmettert und verkohlt unter dem Lavastrom lag und war mit der verzweifelten Hoffnung nach Gurn geritten, daß sie vielleicht überlebt hatte. Und so war es gewesen. »Vielleicht hätten uns auch die Elfen geholfen, gegen die Orks und Goblins vorzugehen, wenn du ihre Pilze nicht vernichtet hättest. Hast du daran mal gedacht?« In Gurn hatte er alles getan, was in seiner Macht stand, um sie zu retten und hätte mit Freuden sein Leben für sie hingegeben. »Mußt du dir überall Feinde machen, wohin du auch gehst, Reod Dai?« Jetzt entfernte er sich von ihr. Es war Belohnung genug für ihn, dachte Reod, daß Tamun noch lebte. »Denkst du überhaupt über irgend etwas nach?« brüllte Tamun wütend. Er würde sich nicht mit ihr streiten. In Icatia hatte 328
alles ein Ende. Nicht hier im Land der Zwerge, sondern bei den Menschen. Das Kriegsgericht würde seine Taten ausführlich anhören und schließlich ein Urteil fällen. Er wollte es seiner Rasse überlassen, ihn zu richten. Seiner eigenen Rasse und nicht einer unbezähmbaren Zwergin in der ersten Hitze. Die Schritte folgten ihm noch immer, und Reod wußte nicht, was er davon halten sollte. Wahrscheinlich lag auch das an den völlig verschiedenen Eigenarten der Rassen. Sie waren einander so ähnlich wie Vögel und Fische. Wie dumm er gewesen war, das nicht von Anfang an zu bedenken. Nun, das war vorbei. Er würde nicht den Rest seines Lebens damit verbringen müssen, sich abzurackern, um diese schwierige Zwergin zu begreifen. Trotzdem folgte sie ihm. Nach einer Weile erreichten sie eine Stelle, an der sich der Wildpfad nicht länger in die Tiefe schlängelte sondern gerade verlief. Dort überholte ihn Tamun und stellte sich ihm in den Weg. Reod blieb stehen. »Du läufst weg«, sagte sie anklagend. »Tja. Feigling. Bist du nicht einmal mehr mutig genug, dich dem Kampf zu stellen?« Nichts hätte ihn mehr überraschen können. Kämpfen? Gegen wen oder was? Gegen Tamun? Er würde sie nie verstehen. Nie. Nicht einmal ein bißchen. Jede Antwort wäre die Falsche, also schwieg er lieber. »Du mußt bleiben und uns helfen.« »Habe ich nicht schon genug Unheil angerichtet?« »Egal was du schon getan hast, es gibt noch mehr zu tun!« Er lachte ungläubig. »Nein.« »Hast du so wenig Mumm?« »Ja.« Sie verzog das Gesicht. »Ich glaubte, der Mann, den ich zum Gefährten erwählte, hätte mehr Mut.« 329
Zuerst stürzten ihn ihre Worte erneut in Verwirrung. Dann wurde ihm die Bedeutung immer klarer, und die Mauern, die er in seinem Innersten errichtet hatte, um das Leid abzuwehren, begannen zu bröckeln. Reod bemerkte plötzlich, wie erschöpft er war. Vollkommen erschöpft und am Ende. Er schob ein wenig Schnee mit dem Stiefel beiseite und setzte sich. Tamun kniete neben ihm. Die Kälte schien ihr nichts auszumachen. Froren Zwerge eigentlich nie? »Hörst du mir überhaupt zu?« fragte sie. Für einen Augenblick brach die Sonne durch die Wolken, und ein goldener Strahl verfing sich in Tamuns Haar. »Ach, Tamun. Wir passen nicht zusammen. Das mußt du doch einsehen.« »Ich will, daß du der Vater meiner Kinder wirst.« Diese Worte waren unmißverständlich. Er wußte nicht, was er sagen sollte. Schließlich schüttelte er den Kopf. »Tamun, es ist Krieg. Nicht bloß zwischen Orks und Goblins und anderen, sondern in ganz Sarpadia. Es wird sich auch nicht so bald ändern. Wenn du eine Familie gründest, solltest du bei deinem Volk leben.« »Willst du mir etwa vorschreiben, was ich zu tun habe?« »Hör zu: Es wird überall Krieg herrschen. In diesen Zeiten sollte man keine Kinder machen.« Sie packte ihn bei den Schultern, schubste ihn rücklings in den Schnee und küßte ihn leidenschaftlich. Er wehrte sich ein wenig, aber sie war stark, und ihre Lippen waren weich und warm. Lange Zeit verlor er das Gefühl für Zeit und Raum. »So!« sagte Tamun und richtete sich auf, hielt ihn aber immer noch auf den Boden gedrückt. »Die beste Zeit zum Kindermachen ist die, wenn die Welt rings umher zerbricht. Unser Volk braucht Kinder. Wir brauchen Hoffnung und Kinder.« 330
Reod rang nach Luft. »Kinder müssen behütet werden.« »Dann werden wir sie behüten.« »Tamun, du und ich - wir gehören verschiedenen Rassen an.« »Das habe ich bereits bemerkt.« »Ich weiß nicht einmal, ob es überhaupt geht.« Sie grinste. »Das Kindermachen oder die Rettung meines Volkes?« Es schien Jahre her zu sein, seitdem er sie das letzte Mal hatte lächeln sehen. Schien die Sonne heller? Plötzlich fühlte er sich wie befreit. »Kinder«, sagte er und ließ das Wort auf der Zunge zergehen. »Beides ist möglich, denke ich«, sagte Tamun. »Leicht ist es sicher nicht. Wir müssen es oft und ausdauernd versuchen, nicht wahr?« »Tamun, du weißt wer ich bin. Was ich getan habe. Du hast mir die Schuld an allem Unglück auf dieser Welt gegeben.« »Vielleicht war ich ein bißchen voreilig.« »Vielleicht auch nicht. Trotz alledem willst du, daß ich bei dir bleibe?« »Ich sehe dich recht nüchtern. Wenn du etwas versprichst, hältst du es auch. Also versprich mir, Kinder zu zeugen und sie gemeinsam mit mir zu beschützen.« Er überlegte und wollte die Hoffnung, die sich schwach in ihm regte, unterdrücken. Icatias Justiz handelte schnell und unnachgiebig. Er konnte heimgehen und sterben oder hierbleiben und leben. Mit Tamun. Eigentlich war es keine schwere Entscheidung. »Ein Versprechen.« »Gib es mir, und auch ich gebe dir ein Versprechen.« Er dachte an ihr gemeinsames Leben. Er würde mit Tamun und ihrer Familie leben, sich verstecken, kämpfen und sich abmühen, Kinder zu beschützen, die sie 331
unter Umständen in diese furchtbare und grausame Welt setzten. Außerdem waren da auch noch die Drachen. Sie hatte seine Miene genau beobachtet und setzte sich aufrecht hin. Auch Reod richtete sich auf. Schließlich sagte er: »Ich kann es dir nicht ohne weiteres versprechen. Deine Mutter, deine Schwester und sogar die Drachen deiner Schwester müssen einverstanden sein. Dann ... dann gebe ich dir mein Wort.« Sie lächelte wieder, und die Flamme der Hoffnung wärmte Reod. Tamun stand auf und zog ihn auf die Beine. »Warte, Tamun. Bist du ganz sicher?« »Tja - ja!« »Frau, du änderst deine Meinung oft und schnell! Wie oft muß ich diesen Berg noch hinauf- oder hinabsteigen?« Sie lachte und legte ihm die Hand auf die Brust. Reod wurde plötzlich warm. »Überhaupt nicht mehr, Reod. Das verspreche ich dir.« Er beugte sich über die kleine Frau, die kein Mensch war und küßte sie. Noch immer war er unsicher auf den Beinen und mußte sich auf sie stützen, um nicht hinzufallen. Noch ein Kuß und noch einer. Ihr Lächeln war ansteckend. »Bist du immer noch sicher?« »Ja.« Reod lachte. »Wie wäre es, wenn wir jetzt einen Versuch wagen?« »Mensch! Werde ich die je begreifen?« Sie kletterten den Wildpfad hinauf. Unterwegs sah Reod zu den umliegenden Berggipfeln hinüber und dachte über die Zukunft nach. Er dachte an seine noch nicht vorhandene Familie, die Schwierigkeiten der Zwerge und das Blutvergießen, daß nicht nur in den Purpurgipfeln, sondern in ganz Sarpadia stattfinden würde. 332
Außerdem erinnerte er sich an sein Versprechen, das er den Trullen gegeben hatte. Mit ein wenig Glück waren die Trulle bei seiner Rückkehr die Herren von Achtep. Tamuns Hand lag warm in der seinen. Sie war ebenso schwielig wie Reods Hand. Schwielen, die vom Schwingen des Schwertes und dem täglichen Kampf ums Überleben berichteten. Er mußte ihr von dem anderen Versprechen erzählen, damit sie verstand, weshalb er sie verlassen würde. Diesmal konnten ihn die Zwerginnen nicht begleiten. Auf gar keinen Fall. Bald. Bald würde er es ihr erzählen. Aber jetzt noch nicht.