Antonio José Ponte
Der Ruinenwächter von Havanna
scanned 12/2008 corrected 01/2009
Buena Vista Social Club, Sartre, d...
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Antonio José Ponte
Der Ruinenwächter von Havanna
scanned 12/2008 corrected 01/2009
Buena Vista Social Club, Sartre, die Beatles, Graham Greene, Europa, Berlin und immer wieder Havanna – wer wissen will, wie das zusammengeht, wie es in Havanna und in den Kubanern aussieht, der sollte dieses Buch lesen. Roman, Tragikomödie, Satire, politisches Brevier? Sicher das Ungewöhnlichste, was die kubanische Literatur in den letzten Jahren hervorgebracht hat. ISBN: 978-3-88897-511-0 Original: La fiesta vigilada Aus dem kubanischen Spanisch von Sabine Giersberg Verlag: Antje Kunstmann Erscheinungsjahr: 2008 Umschlaggestaltung: Michel Keller unter Verwendung eines Fotos von Westend 61
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Buch Havanna, Stadt der Liebe und der Musik, Schauplatz einer einst hoffnungsvollen Revolution und ihres unaufhaltsamen Niedergangs – sie ist Antonio José Pontes Heldin. Hier wohnt der Protagonist dieses Buchs, so wie es aussieht der letzte, der auf Kuba eines Tages das Licht ausmacht. In Havanna läuft es nicht gut für ihn: Die Behörden halten ihn für einen Agenten, der Schriftstellerverband hat ihn ausgeschlossen und für die Kollegen im europäischen Exil ist er ein Idiot, weil er von seinen Reisen in den Westen immer wieder heimkehrt in die vertrauten Ruinen. Er aber bleibt – Ruinenwächter und Chronist des äußeren und inneren Zerfalls. Sein roter Faden ist die heimliche Wiederkehr der Fiesta nach Havanna: Die alten Männer aus dem Buena Vista Social Club spielen die Musik dazu, und nachts, wenn der Strom ausfällt, sammeln sich um die leuchtenden Dollarhotels die Habenichtse und bringen den Sex und das Verbotene zurück. Für ein paar Dollar mehr machen sie die Perle der Karibik wieder zu dem, was sie einst berüchtigt werden ließ.
Autor
Antonio José Ponte, geboren 1964, ist Ingenieur, Professor für Literatur, Drehbuchautor, Schriftsteller. 2003 aus dem kubanischen Schriftstellerverband ausgeschlossen, lebt Ponte seit 2006 im Exil in Madrid. Er ist Herausgeber der Exilzeitschrift »Encuentro de la cultura habana« und veröffentlicht seit 1997 regelmäßig Essays, Gedichte und Erzählungen.
ANTONIO JOSÉ PONTE
DER RUINENWÄCHTER VON HAVANNA Aus dem kubanischen Spanisch von Sabine Giersberg
Verlag Antje Kunstmann
© der deutschen Ausgabe: Verlag Antje Kunstmann GmbH, München 2008 © der Originalausgabe: Anagrama, Madrid 2007 Titel der Originalausgabe: »La fiesta vigilada« Umschlaggestaltung: Michel Keller unter Verwendung eines Fotos von Westend 61 Satz: Schuster & Junge, München Druck und Bindung: Clausen und Bosse, Leck ISBN 978-3-88897-511-0 1 2 3 4 5 • 11 10 09 08
Inhalt
»UNSER MANN IN HAVANNA« (Remix) 9 FIESTA BLACK BOX 93 PARENTHESE DER RUINEN 196 EIN BESUCH IM GEHEIMDIENSTMUSEUM 283
Die Wolken rasten von Osten her heran, und Wormold hatte das Gefühl, ein Teil der langsamen Erosion von Havanna zu sein. Graham Greene, Unser Mann in Havanna
»UNSER MANN IN HAVANNA« (Remix)
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»Und ganz besonders erinnern wir uns an Dich«, schrieb mir M. Und er erzählte weiter in seinem Brief, wie sie sich während der ersten Frühlingstage in einem Café irgendwo in Europa vorgestellt hätten, wie es mir wohl so ginge, in Havanna. »Wie sonderbar das sein muss«, wollte er sagen. Anderthalb Jahre war es her, seit er das Land verlassen hatte, und es fiel M. bereits schwer, sich zu erinnern. Der Frühlingseinbruch hatte ihn mit seinen Freunden auf der Caféterrasse überrascht, und in ihrem Übermut hatten sie sich ein paar Löffelchen Zucker zu viel in den Kaffee geschüttet, ein wenig mehr Sahne als üblich hinzugegossen und sich Gedanken an jemanden erlaubt, den sie aus der Ferne überlebten. Genauso wie ich glaubte, sie überlebt zu haben. M. und die anderen. Ich glaubte, sie zu überleben, indem ich in Havanna geblieben war. Dank des Gesetzes der minimalen Anstrengung, ohne einen Finger zu krümmen. Ich siegte aus Feigheit, weil ich keinen Schritt 10
über bestimmte Grenzen hinaus gewagt hatte. Grenzen, die ich ebenso zeremoniös abschritt, wie sie sich dort auf der Terrasse eines Cafés in Positur warfen und den frisch aus ihren Mänteln geschlüpften Passanten hinterherblickten. Natürlich wäre es mir nie in den Sinn gekommen, M. von meinem Triumphgefühl zu schreiben. Womit hätte ich ihm imponieren können? Was hätte ich in meinem Antwortbrief Neues beschreiben können? Er kannte doch schon alles. Ich nahm also seine Frühlingsbravade, seine Zuwendung hin und ergab mich ohne Murren in die Rolle, die er mir zuwies. »Immer wenn ich daran denke«, endete sein Brief, »denke ich an dich.« (Mit daran war die Stadt gemeint, die er vor anderthalb Jahren verlassen hatte.) M. nannte mich, im Namen von drei oder vier Bekannten, »unser Mann in Havanna«. Den Brief brachte mir eine Freundin von ihm. Die beiden schienen eine Liebesaffäre zu haben. Techtelmechtel wäre im Fall von M. passender. Er war groß und schlank, mit einer Nase, die sich fast über das ganze Gesicht hinunterzog, und er hatte immer eine Brille mit dicken Gläsern getragen, die er wohl, sobald er konnte, durch ein flotteres Modell ersetzte (leichte Metallbügel von Armani traten an die Stelle des schweren sowjetischen Gestells); seine 11
Stimme, mit der er über Bücher sprach und einen nicht geringen Teil der Menschheit verachtete, klang stark nasal. M. hatte sich stets elegant gekleidet und war den Frauen mit einstudierter Gleichgültigkeit begegnet. Diese Form der Nichtbeachtung musste in ihnen die Vorstellung von einem Geheimnis wecken, das sie in ihm personifiziert sahen, der so gewandt war, wenn er den Intellektuellen gab. (Ich will damit nicht sagen, dass bei ihm Heuchelei im Spiel war, er ist ein sehr guter Leser und schnappt schnell auf, was es an Neuerscheinungen und literarischen Nachrichten gibt.) Für einen nicht geringen Teil der Damenwelt schien es ausschlaggebend zu sein, das Intellektuelle in dieser stets erkältet klingenden Stimme zu hören. Oder besser gesagt, dass seine Stimme ihnen den Zugang zu bestimmten Gedanken verweigerte, die er sich für seine einsamen Spaziergänge reservierte. Für die elegante und geheimnisvolle Gestalt, die er darstellte. Die Tatsache, dass ein Rätsel wie das seinige durch die Grippe beeinträchtigt wurde, weckte in den Frauen eine zärtliche Regung. Und sobald er sich seiner Beute sicher war, zeigte M. umgehend seine Verzweiflung darüber, dass sie an seiner Seite weilte. Dann benahm er sich, als müsse er eine unverzichtbare intellektuelle Aufgabe verschieben, er schnaubte, als steckte er im Stau. 12
Die anfängliche Gleichgültigkeit hatte sich dann bereits in Hass verwandelt, nicht weniger erotisierend. Mir war sofort klar, dass die Überbringerin des Briefs bei ihm bereits in Ungnade gefallen war. Der Umschlag war geöffnet, weil der Zoll es verlangte, aber es war bestimmt auch nicht allzu gewagt, zu vermuten, dass sie den Inhalt gelesen hatte. Sie hielt sich beruflich in Havanna auf. Die Reise hatte sie genau in dem Moment angetreten, in dem beide eine Verschnaufpause, Abstand brauchten, um übereinander nachzudenken. Sie bat mich, sie zu der Wohnung zu begleiten, in der M. gewohnt hatte, sie wollte den Ort sehen, wo wir unsere Treffen abgehalten hatten. Hatte M. ihr von dem Teesalon erzählt? Sie verneinte. M. sprach kaum über sein Leben hier. Und jetzt sollte ich ihr erzählen, ihr als Zeuge dienen. Unser Mann in Havanna. Ich traf M. fünfzehn Jahre, nachdem ich diesen Brief erhalten hatte, wieder. Er war immer noch schlank, noch eleganter, und sein Gesicht war trotz des Kieferbruchs, den ihm ein gehörnter Ehemann verpasst hatte, immer noch das alte. (Er hatte sich einer Operation und einer Nachbehandlung unterziehen müssen, bei der er sich wochenlang nur über einen Strohhalm ernähren konnte.) 13
Er sprach über die Prügelei, ohne sich mit Einzelheiten aufzuhalten, und redete weitschweifig über die Behandlung, aber kaum über den eigentlichen Kampf (als ich ihm zuhörte, dachte ich, wie sein Bericht wohl geklungen hätte, wenn er die Schlägerei gewonnen hätte). Er versuchte, so schnell wie möglich bei dem Moment anzukommen, als er vom Krankenhaus aus einen Rechtsanwalt mit dem Rachefeldzug beauftragte. Alle, die Bescheid wussten, versicherten mir, er habe die Prügel verdient. M. hatte die Angewohnheit, den Partnerinnen seiner Freunde nachzustellen. Die Frauen der anderen lösten dieselbe Verzweiflung in ihm aus wie die Nachricht, dass ein Bekannter ein neues Buch veröffentlicht hatte. Es konnte sich auch um einen einfachen Artikel in einer bedeutenden Zeitschrift handeln. Er war der erste, der ihn las, um die Haken darin zu finden. Fremde Texte kritisierte er mit der gleichen Impulsivität, mit der er den Frauen der anderen den Hof machte. So wunderte es mich nicht, dass unser Wiedersehen seinerseits von Misstrauen geprägt war. Wann immer ein Buch von mir erschienen war, hatte er dagegen gewettert. Und jetzt, als er mich in seiner Nähe hatte und wir diskutieren konnten, schien er über nichts anderes sprechen zu wollen. 14
An dem Abend nutzte ich einen kurzen Moment, in dem er etwas zu essen machte, um mir seine Bücherregale anzuschauen. Was am meisten ins Auge fiel, war die strikte Trennung zwischen den Büchern, die er im Exil gekauft, und denen, die er aus Kuba hatte mitnehmen können. Aber mehr noch als nach neuen Titeln zu schauen, interessierte ich mich für das, was M. aus seinem Leben in Havanna gerettet hatte, jene Bücher, die er (in Umkehrung der bekannten Interviewfrage) glaubte, unbedingt von der einsamen Insel mitnehmen zu müssen. Er stellte keine Fragen über die Insel. Sein Exil war ein Kieferbruch mit Operation. Zum ersten Mal wieder beißen, wie ein Neuling die Frauen küssen, die sich erobern ließen, mit den Lippen das Glas spüren. (Er legte einen Finger auf die Unterlippe, um mir zu zeigen, in welchem Bereich sich die frühere Sensibilität nicht wieder eingestellt hatte.) Hätte er sich mit Freunden auf die Terrasse eines Cafés setzen wollen, wäre der Tisch nicht mehr so voll gewesen wie damals in dem Brief. Ihm war kein Freund mehr geblieben. Also redeten wir von Feindschaften. Von literarischen Feindschaften und darüber, wie enttäuschend viele von den Seiten sind, in denen Schriftsteller ihre persönlichen Differenzen miteinander austragen. Von der wenig feuergefährlichen Feindschaft, die 15
Paul Theroux V.S. Naipaul in einem dicken Band entgegenbrachte. Von den spärlichen Informationen, die man dem Text entnehmen konnte, in dem Thomas de Quincey seine Entfernung von William Wordsworth gesteht. Und da wir schon einmal darüber sprachen, kam nun die Kehrseite des von ihm vor fünfzehn Jahren geschriebenen Briefs hervor. M. wollte wissen, warum ich nicht im Ausland blieb, warum ich unbedingt nach Havanna zurückwollte. Er schien nicht mehr bereit, meiner Beharrlichkeit in diesem Punkt einen romanhaften Sinn zuschreiben zu wollen. Er wollte von dem Vergleich mit Mr. Wormold aus Unser Mann in Havanna nichts mehr wissen. »Warum willst du in dieses Land zurück?« Und wie immer, wenn man mir die Frage stellte (ich hatte sie auf der Reise oft gehört), wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Ich konnte nur die Gegenfrage stellen, ob M. die Geschichte von Maupassant und dem Eiffelturm kannte. Nein, er erinnerte sich nicht. Guy de Maupassant hatte sich dem Bau des Eiffelturms widersetzt. Gemeinsam mit anderen Künstlern hatte er einen Protestaufruf dagegen unterzeichnet, dass sich der Schatten dieser zusammengeschraubten Säule zwanzig Jahre wie ein Tintenfleck ausbreiten würde. Der Vertrag mit der Stadtverwaltung enthielt 16
die Garantie, dass der Turm zwanzig Jahre stehen bleiben sollte. Nicht einmal das so industriebegeisterte Nordamerika wollte diesen riesigen Fabrikturm. (Ein Jahr zuvor waren in den Werkstätten von Gustave Eiffel die verschiedenen Teile der in New York eingeweihten Freiheitsstatue gegossen worden.) Der Bau war erst bis zum ersten Stock gediehen, und so kritisierten Maupassant und die anderen Unterzeichner die Giraffe allein anhand ihrer Beine. »Pompösen Schrott« nannte er das Ganze. Er verließ Paris, um den Turm nicht wachsen zu sehen, ans Meer, auf seine Jacht Bel Ami, um in der Ferne das Missfallen zu vergessen, das eine Stadt in ihm auslöste, die sich zu schnell und zum Schlechten veränderte. Dann sah er sich zum Erscheinen von Stark wie der Tod gezwungen, nach Paris zurückzukehren, und seine Rückkehr fiel mit der Eröffnung der Weltausstellung zusammen. Der Eiffelturm war die Hauptattraktion der Ausstellung. Maupassants Roman hatte großen Erfolg. In fröhlicher Gesellschaft ließ er sich dazu hinreißen, im Restaurant im ersten Stock des Turms zu essen. In einem Brief schimpfte er, wie lange man zwischen dem einen und dem anderen Gang warten musste. Das Essen bezeichnete er als widerlich. Aber nachdem die Festivitäten vorbei waren und das Pari17
ser Leben wieder in seine gewohnten Bahnen zurückgekehrt war, wurden mehrere Journalisten Zeugen seiner Besuche in dem geschmähten Restaurant des geschmähten Turms. Sie gingen an seinen Tisch und fragten, ob es nicht ein wenig unpassend sei, ihn hier anzutreffen. Maupassant beruhigte sofort den Argwohn der Presse. Natürlich bestand zwischen seinen beiden Reaktionen keinerlei Widerspruch. Er hatte richtig gehandelt, als er Widerstand gegen den Bau leistete, und er handelte jetzt richtig, wenn er den Turm besuchte. Man dürfe aus seiner Anwesenheit nicht den Schluss ziehen, an seiner Verachtung für dieses skurrile Bauwerk habe sich auch nur das Geringste verändert. Der Eiffelturm habe allerdings einen Vorteil: Er sei der einzige Punkt in der Stadt, von wo aus man den Eiffelturm nicht sehen könne. Und wenn er ihn so eifrig aufsuche, so tue er das einzig und allein aus dem Wunsch, seine Existenz zu vergessen. (Eiffels Erfindung tauchte später in seinen Halluzinationen wieder auf. Als er unter psychiatrischer Beobachtung stand, vermutete Maupassant ein ärztliches Komplott gegen ihn. Er misstraute den Machenschaften seines Sekretärs, der angeblich einen Brief an Gott geschrieben hatte, in dem er ihn des Analverkehrs mit einer Henne und einer Ziege bezichtigte. Der Schriftsteller glaubte, man könne seine 18
Stimme, nur mehr ein Flüstern, in China hören. Dass alle Katholiken künstliche Mägen hätten und der seinige kaputtgegangen sei, weil er nicht mit dem obligatorischen Ei jede halbe Stunde versorgt worden wäre. Er verlangte nach seinen Kleidern, um den Zug ins Purgatorium zu nehmen. Er wollte, dass sein Urin in einem Tresor aufbewahrt werde. Er beschäftigte seinen Geist damit, die Grundlagen einer ganz neuen Wissenschaft zu entwickeln, der Reisemedizin. Und er behauptete, Gott habe ihn von der Spitze des Eiffelturms aus zu seinem Sohn erklärt.) Genau wie bei Maupassant in der Anekdote, war mein Verbleiben in Kuba von dem Wunsch diktiert, zu vergessen. In Kuba sah ich Kuba nicht. M. war wenig überzeugt. »Man wird dich dort fertigmachen«, prophezeite er. Es war inzwischen so weit, dass die Kulturbehörden mich nicht mehr als Schriftsteller anerkannten. Und M. prophezeite, sie würden noch weitergehen, bis ich endgültig zum Gespenst geworden sei. »Sie haben dich ausreisen lassen, damit du nie mehr zurückkehrst. Begreifst du das nicht?« In Unser Mann in Havanna hatte Graham Greene die folgende Warnung für seinen Protagonisten aufgeschrieben: »Es war an der Zeit, dachte Wormold, seine Sachen zu packen und die Ruinen von Havanna zu verlassen.« 19
2
»Du solltest reisen«, riet mir B., um seine Meinung über meinen ersten veröffentlichten Gedichtband abzuschließen. »Dich in einer anderen Sprache unterhalten, zusehen, wie es am anderen Ende der Welt Abend wird.« Von dort kam er, vom anderen Ende der Welt. Hin und wieder besuchte er Havanna. Er schaute bei der Familie vorbei und schlief ein paar Nächte in dem kleinen Holzhaus, das sein Vater in den fünfziger Jahren gebaut hatte. Er hatte dieses Haus unter dem Vorwand verlassen, in Sibirien Ingenieurswissenschaften studieren zu wollen, und hatte dort geheiratet. Seine Frau, blass, blond und blauäugig, begleitete ihn selten auf seinen Reisen. Sie fand keinen Gefallen am Leben in Havanna, konnte die Hitze, den Lärm, das Gesindel nicht ausstehen, und auch B. hatte, obwohl dort geboren, eine Abneigung gegen das Durcheinander in den Straßen und den ständigen Lärm entwickelt. Und was war mit den Gedichten? Konnte er sich ein Urteil darüber erlauben? Dass er einige wichtige Dichter aus dem Russischen übertragen hatte, sagte wenig darüber aus. Russische Lyrik ist so weit weg, dass sie den Gesetzen eines anderen Genres zu gehorchen scheint. Im Unterschied zu einem klassi20
schen chinesischen oder einem japanischen Gedicht, das wir als zeitgenössisch akzeptieren, ist das Gedicht eines russischen Autors meist unzugänglich für den, der die Sprache nicht kennt. B. war imstande, den Geist dieser Gedichte zu erfassen und in seiner Übersetzung zu vermitteln, aber war er deshalb gleich ein guter Leser? Auf dem Gebiet lebte er am anderen Ende der Welt. Und dank der Empfehlung, die er mir gab, als er mein Buch zu Ende gelesen hatte, wurde mir klar, dass er so weit fortgegangen war, weil er eine literarische Bestimmung suchte, weil er anders werden wollte. Ein anderer als Schriftsteller, so wie Henry James. Denn so wie der amerikanische Erzähler seinen Landsleuten durch europäische Länder folgte, erzählten die ersten von B. veröffentlichten Erzählungen Geschichten von Kubanern in Russland. In der Sowjetunion hatte er die exotische Umgebung oder den Abstand gefunden, aus denen das Schreiben entsteht. (An dieser Stelle könnte man sich fragen, wo denn seine Geschichten vor den ersten veröffentlichten Erzählungen spielten. Wenn es sie überhaupt gibt. Wenn sein Leben als Schriftsteller nicht erst nach seiner Ankunft in Russland begann.) Es gab in diesen Erzählungen einen Protagonisten, der immer B. war, jemand, der als Ausländer in Russland Fuß fasst. Manchmal gab er zu, Kubaner zu 21
sein, und manchmal blieb die Herkunft ausgeblendet. Das Thema Geld, wie man da rankam, und wie man es mit vollen Händen ausgab, tauchte in diesen kleinen Geschichten unvermeidlich immer wieder auf. Und es wurden sentimentale Abenteuer mit russischen Frauen beschrieben, Frauen, für die der Protagonist (so dachten wir) so viele tausend Meilen zurückgelegt hatte. Aber von den beiden Motiven, die diese immer wiederkehrende Gestalt Umtrieben (B. selbst wurde noch von einem weiteren getrieben: dem Ruhm), trat der Sex im Vergleich zu den finanziellen Gelüsten eher in den Hintergrund. B. hatte die Frivolität zu seinem Thema gemacht. Er erklärte sie so, als ginge es um eine Art mozartianisches Abkommen mit der Welt, und er wurde bei dem Thema pompös wie ein Dandy. Als solchen sah ich ihn an jenem Nachmittag, als wir die Rolltreppe eines großen Kaufhauses (nicht in Kuba, auch nicht in Russland) hinunterfuhren, nachdem er mir die Ferne angeraten hatte. »Lass uns das Kunstmuseum des Westens besuchen«, sagte ich und lud zu einem Einkaufsbummel ein. Damals verdiente er seinen Lebensunterhalt als Russologe in der akademischen Forschung. Sein Gehalt hätte nicht ausgereicht für einen der schönen Artikel, die wir bewunderten. Aber sein Besitzden22
ken war viel ausgeprägter als meines – offensichtlich wähnte er die Möglichkeit, eines dieser Gegenstände habhaft zu werden, doch in greifbarer Nähe – und so verglich er Preise, ließ seine Finger über die Ware gleiten, auf der Suche nach dem Schild, dem Etikett, dem Markenlogo. Er hatte sich diese Handgriffe längst zu eigen gemacht (eine Gewohnheit vieler Sowjetbürger, wie man mir versicherte). Es konnte passieren, dass man ihn jahrelang nicht gesehen hatte und nach einer Umarmung sein erster Griff dem Hemdkragen galt, den er nach außen drehte, bis er den Markennamen fand. Wie es einem ging oder den Freunden, die er ewig nicht gesehen hatte, schien nicht so wichtig. Vor allem wollte er wissen, in welchem Geschäft man diese Schuhe bekommen hatte. Gab es nichts von dieser Art zu bereden, lief man Gefahr, dass es ein einsilbiges Gespräch wurde, bei dem B. mit den Gedanken woanders war. Peinlich genau in der Übertragung eigener Wesenszüge, wurde der größte Teil seiner Figuren anhand der Kleidung beschrieben, die sie trugen. (Nach den Kleidungsstücken wurden sie durch irgendeinen Trick charakterisiert, mit dessen Hilfe sie an Geld oder Prestige kamen. Oder, womit wir wieder beim Thema wären, an noch begehrtere Klamotten.) B. fuhr mit mir die Rolltreppe des großen Kaufhauses hinunter und schwor wie ein leicht exaltierter 23
Rastignac, dass er dereinst alles haben würde, was sein Herz begehrte. »Wir sprechen uns noch!«, schien er den ganzen Laden herauszufordern. Folglich machte er sich nicht nur Gedanken ums Geldausgeben. Er war ein Rastignac, der Das Kapital las. Er hatte vor, mit der Literatur ein Vermögen zu verdienen, mit ein paar Kassenschlagern an den Büchertischen. Seine Seiten würden ähnlichen Gewinn abwerfen, wie die der Bestsellerautoren, in deren Werke er sich vertiefte, um den Schlüssel für das Roulette zu knacken, das Geheimnis, wie man die Spielbank von Baden Baden sprengt. Von diesen englischsprachigen Autoren schien B. das Rezept übernommen zu haben, in verschiedenen Büchern immer wieder auf dasselbe Handlungsschema zurückzugreifen. Aber was bei jenen ein erprobtes Erfolgsrezept war, brachte bei ihm nur gute Literatur und Lob bei der Kritik hervor. Das Geld entzog sich seinem Kalkül. Oder zumindest in den Mengen, von denen er träumte. Ein Ausländer in Russland oder in dessen Umfeld nutzt eine Bresche in der sozialistischen Wirtschaft (oder eine kapitalistische Ader in den geologischen Schichten des Sozialismus), um ein Vermögen zu machen und damit ein russisches Mädchen zu erzie24
hen. Eine Schönheit, man muss es nicht extra erwähnen. Fast schon ein Model, aber ihr fehlen ein paar Kleinigkeiten, die der Protagonist, der aus der Ferne kommt und sich damit auskennt, sich erbietet, ihr beizubringen. Und so werden Boutiquenbesuche, Aufenthalte in Badeorten, das Entkorken bestimmter Flaschen unvermeidlich. In dieser Handlung, die B. von Erzählung zu Roman und von Roman zu Roman wiederholte, trafen Education sentimentale, Pygmalion und Verschwendungssucht aufeinander. Den Sturz des sowjetischen Imperiums (dessen Zeuge er gewesen war) erklärte er gern mit dem Mangel an Frivolität und Lebensfreude. Die Schaffung einer gewaltigen Schwerindustrie, Weltraumflüge und andere schwere Brocken hatten dazu geführt, dass die Regierenden die leichten Industrien, die elementarsten Träume, vernachlässigt hätten. Weil sie unbedingt eine noch nie von Menschen betretene Parzelle im Weltall haben wollten, übersahen sie, dass eine neue Modesaison mit anderen Gesetzen angebrochen war. Genau wie seine Figuren hatte B. eine perfekte Reise im Kreis gemacht, als er in die Sowjetunion ging: Er suchte dort die Spuren westlichen Lebens, um vor Ort festzustellen, dass er für den größten Teil dieser Spuren selbst sorgen musste. Erzählungen, Romane und ein Reisebericht be25
zeugten diesen Kreis, den seine Schritte und Argumente beschrieben. Und dann hatte B. die ehemalige Sowjetunion verlassen (natürlich ohne nach Havanna zurückzukehren), und wir, seine Leser, durften uns fragen, was nun käme. Obwohl wir wussten, dass er über genügend Scharfsinn verfügte, um sich einen Platz als Schriftsteller zu erobern. Zwei Empfehlungen hatte er mir gegeben: »Du solltest reisen«, war sein Urteil, als er mein Buch gelesen hatte. Seiner Meinung nach fehlte den Gedichten eine Patina, die man nur in der Ferne finden, die man sich nicht ausdenken konnte. (Nimmt man sein eigenes Werk, scheint B. nicht sonderlich viel auf die Kräfte der Fantasie zu geben.) Eine zweite Empfehlung widersprach der ersten. Seiner Meinung nach hatte ich einen Modus gefunden zu bleiben, während der Rest das Land verließ, und befand mich am besten aller Orte für einen kubanischen Schriftsteller, im Zentrum. Ausländische Verleger, Journalisten und Literaturagenten würden sich für mich interessieren. Sie würden sogar weniger gute Leute nehmen, nur um in Havanna herumzuschnüffeln, das sagte ihm sein perfekter Spürsinn für Moden. »Rühr dich auf keinen Fall von der Stelle«, riet er mir. Er hatte seinen ersten Roman noch nicht im Aus26
land veröffentlicht, und sein einziges Buch (ein Band mit Erzählungen) war in einer hässlichen, billigen Ausgabe in Havanna erschienen. Wenn er nicht wieder versuchte, in Havanna zu bleiben, dann, weil es ihm in der Sowjetunion gereicht hatte, und auch, weil seine Theorie von der Rolle der Frivolität beim Zerfall der Imperien hier nicht so gut funktionierte, wie es vonnöten gewesen wäre. Und dann waren da noch die Taxifahrer von Havanna, die auf jede Anweisung wütend reagierten und überhaupt, die Leute schienen sich dauernd zu streiten, keine Spur von Liebenswürdigkeit weit und breit. Die kommende Mode (die er vorauszusagen wagte), würde ihn nicht in Havanna erreichen. Auch nicht irgendwo im Ausland. Nachdem er fast zwanzig Jahre aus Kuba weg war und kein Interesse an den literarischen Folkloren mehr hatte, würden seine Romane in dieser Modeströmung kaum eine Rolle spielen. Seine Welt würde immer die Sowjetunion bleiben, das Schicksal von Ausländern, die in Russland Fuß fassen, was dort sein Studentenleben gewesen war. Ihn müsse man am Wert seines Werkes messen, nicht an dem Ort, wo er schrieb. Sicher war es von einem gewissen Punkt an egal, wo das Pult des Schriftstellers stand, und B. versprach, diesen Punkt so rasch wie möglich zu erreichen, der Rest war alberner Feng-Shui-Kram. 27
Nachdem das beschlossene Sache war, begann er sich wieder für mein obstinates Verharren in Havanna zu interessieren. Anlass war die Vorstellung eines meiner Bücher in einer Buchhandlung in MexikoStadt. Eine liebenswürdige Geste, die ich schätzte, denn dieselbe Knauserei, die ihn über eine Rechnung im Restaurant murren ließ, das strenge Haushalten mit den Kräften, das ihn daran hinderte, mehr als zwei Zeilen als Antwort auf eine Mail zu verschwenden, ließ ihn davon Abstand nehmen, in das Werk von Freunden, Landsleuten, Zeitgenossen zu schauen. (Man muss dazu sagen, dass er zur Vorbereitung seiner Bücher immer ungeheuer viel las.) Nur selten war B. also geneigt, sich anzusehen, was andere schrieben. Und ein Buch mit Essays über alte kubanische Schriftsteller wie das meinige musste ihm wenig interessant erscheinen. Aber er lehnte nicht ab, es vorzustellen, und sprach bei der Präsentation über den einzigen Text aus dem Buch, den er vorher gelesen hatte. Er versicherte den Anwesenden, dass er es nicht geschafft hatte, den Rest zu lesen. Er behauptete, viele der Werke, mit denen ich mich beschäftigte, gar nicht zu kennen (Russland rechtfertigte ein solches Unwissen), und er lobte das Erzählerische, den romanhaften Anfang des einzigen Textes, der ihm vertraut war. Aber er wolle nicht zum Schluss kommen, ohne deutlich zu machen, wie dankbar er meine Leiden28
schaft für die alten kubanischen Schriftsteller zur Kenntnis nehme. Er verglich meine Geduld mit der von Kindern, die zu Hause bleiben und sich um die alten Eltern kümmern. Es war die Dankbarkeit des Bruders, der in die Welt hinauszieht und darauf vertraut, dass das Elternhaus (B. wird vielleicht an das kleine von seinem Vater gebaute Haus denken) in sicherer Obhut war. Die Dankbarkeit eines älteren Bruders, nicht weil er der Erstgeborene, sondern weil er bereits erwachsen war. »Du solltest reisen«, hatte er mir empfohlen, um später die Vorzüge meines Ausharrens zu loben. (Ein eigennütziges Lob, so als wolle er mir wirklich die Pflege der alten Eltern aufbürden, bevor er verschwand.) Er genoss die Freiheit neuer Ideen, ich war in der Wiederholung der Geschichten dieser alten Väter stecken geblieben, in der ewigen Wiederkehr des Arteriosklerotischen. Ich war in Kuba geblieben, um eine Nationalliteratur zu pflegen. Aus den Kaufhäusern, die wir einst besucht hatten, konnte B. sich nehmen, was er wollte. (Zu dem Zeitpunkt richteten sich seine Luxuserwartungen bereits auf andere Geschäfte.) Genau wie M. fragte er nicht nach dem, was er zurückgelassen hatte, er hatte 29
sich sogar eine andere Vergangenheit zugelegt: Er hatte Russland und nicht eine Insel verlassen. Es gab für ihn also noch weniger Grund als für M. zu fragen, warum ich in die alte Heimatstadt zurückkehrte. Die Last einer Tradition, die zu analysieren er sich nicht die Mühe machte (es hätte ihm für seinen neuen Roman nichts gebracht), war meine Sache. In seine Dankbarkeit bei der Präsentation eines Buches hätte so auch Mitleid mit mir einfließen können. Wenn B. nicht so geizig gewesen wäre. 3
Meine Großmutter mütterlicherseits stand nach dem Tod ihres Mannes und ihrer Geschwister bereits allein da, als der erste Schlaganfall kam (es wurden mehr als vierzehn) und sich die ersten Anflüge von Altersdemenz einstellten. Sie war die einzige Überlebende ihrer Generation. Weder meine Mutter noch ich wussten genau, wie alt sie war. Die Ehe mit meinem Großvater, der jünger war als sie, und ein Brand im Standesamt, bei dem von ihrer Geburtsurkunde nur noch Asche übrigblieb, waren wohl die Gründe für diese chronologischen Ungenauigkeiten. Über ihre Gesundheit konnte sie sich eigentlich nicht beklagen: Eine leichte Diabetes und ein grauer 30
Star, dessen Operation erfolgreicher verlaufen war, als sie zugab (die Gründe für ihre Angst, auf die Straße zu gehen, hatten schon nichts mehr mit ihren Augen zu tun). Und so lebte sie friedlich vor sich hin, ohne das Haus zu verlassen. Die Nächte verbrachte sie vor dem Fernseher, vorzugsweise bei Musikprogrammen. Dabei hatte sie nicht einmal besonders viel übrig für die Musik. Ihre Freude als Zuschauerin beschränkte sich darauf, jeden Sänger und jeden Ansager wiederzuerkennen, herauszufinden, wer sich hinter einem neuen Gesicht verbarg, zu entscheiden, wer gut angezogen war und wer nicht, Vermutungen über das Alter der betagten Sängerinnen anzustellen und zu überprüfen, welche Spuren die Zeit an ihnen hinterlassen hatte. Ob sie den Ton trafen oder nicht, war ihr egal. Was sie als Zuschauerin von sich gab, hätte auch von einem Beleuchter stammen können. Und der tägliche Umgang mit den Gestalten aus dem Fernsehen ließ sie, schon wirr im Kopf, den Gruß höflich erwidern, den ihr ein paar Schatten vom Bildschirm zuwarfen. Die einzige Verbindung zur Welt, die sie bis ans Ende aufrecht hielt, war die zu dem Baby, dessen Kopf im Fernseher auftauchte. Mit Mühe schloss sie dann die Finger der rechten Hand, rieb Zeigefinger und Daumen aneinander, um es zu sich zu rufen wie eine Katze. (Tieren hat sie nie Zuneigung entgegengebracht. Pflanzen auch nicht, auch wenn sie viel von 31
einem Haus ihrer Kindheit sprach, mit einem überdachten Gang ringsum und einem Garten, bei dem sie sich an Farne erinnerte.) Wurden ihre Lieblingsprogramme verschoben oder nicht ausgestrahlt, weil sich der Staatschef zu Wort meldete, dann behandelte sie ihn wie einen der vielen Sänger. Ohne sich um Text oder Musik zu kümmern, beschränkte sie ihre Bemerkungen auf Zeichen des Alterns im Gesicht und an den Händen. (Durch seine Uniform erübrigten sich Kommentare über die Kleidung.) Ihre Art der physiognomischen Identifikation ähnelte einem abgespeckten Lombrosianismus. »Dabei sieht er gar nicht so übel aus«, fasste sie es einmal zusammen. (Die Tante eines Bekannten, ungefähr so alt wie meine Großmutter und ebenfalls lebenslänglich im Haus eingeschlossen, hatte die Ordensregel aufgestellt, das Bild des Staatschefs zu verdrängen. Sie sah sich keine Fernsehsendungen an, ihr kam keine Zeitschrift ins Haus, und die einzige Präsenz dieses Mannes in ihrem Umfeld war der eine oder andere Redefetzen, von dem sie überrascht wurde, wenn sie am Radio nach dem richtigen Sender suchte. Sie machte dann ein angewidertes Gesicht, als hätte sie mit dem Kaffee eine Fliege verschluckt, und drehte schnell weiter. Ihre Träume nährte sie mit ausländischen Zeitschriften, die ihr eine Verwandte besorgte, die als 32
Stewardess arbeitete. Wenn ein neues Exemplar ankam, schloss die alte Dame sich in der Toilette ein, um in den langen Stunden des Wartens auf ein glückliches Ende ihrer Verstopfung das Schicksal der Berühmtheiten durchzublättern. Eines Abends stürzte die Familie ins Bad, weil sie einen Schrei des Entsetzens ausgestoßen hatte. Dort, wo sie ihn nie und nimmer erwartet hatte, prangte er, in prachtvoller Militäruniform, neben einem Topmodel und hatte den Platz eines Prinzen besetzt, wie er mit seinen Monologen den Platz der Telenovelas besetzte. Fünfzehn, zwanzig Jahre hatte sie ihn nicht mehr gesehen, da stand er plötzlich vor ihr, und sie fand ihn schrecklich gealtert – das war der Hauptgrund für ihr Entsetzen.) Meine Großmutter hätte sich verlaufen, wenn sie hinausgegangen wäre. Wir hatten sie in die Hauptstadt geholt, als sie schon nicht mehr den Mut hatte, es mit neuen Straßenecken aufzunehmen. Manchmal holte sie eine Spazierfahrt im Auto oder eine Woche am Strand aus ihrer Routine. Bis es auch für solche Unterbrechungen zu spät war, denn ein paar Tage am Meer genügten, um sie unerbittlich von ihrem Ufer fortzureißen. In diesen Ferientagen befreite sie sich von den frühesten erlernten Kontrollmechanismen, sie ließ Kot und Urin freien Lauf. Sie löste sich von den meisten ihrer vertrauten Bezugspunkte und erkannte ihre eigene Tochter und ihre Enkel nicht mehr. Ihr 33
Wirklichkeitssinn stellte sich erst wieder ein, wenn sie nach Hause zurückkam. Allerdings nicht ganz. In die Bresche, die der erste Schlaganfall geschlagen hatte, schlugen weitere ein. Schließlich traten sie so gehäuft auf, dass sie für uns, die wir sie pflegten, schon nicht mehr wahrnehmbar waren. Ihr Mund blieb verzerrt, und dieser Ausdruck von Unwillen wurde nur in den besseren Stunden ihrer Rekonvaleszenz etwas sanfter. Ihre einst schönen Hände wurden zu Klauen. Aber sie ließ sie weiterhin feilen und lackieren, als würde sie der Maniküre eine große Gunst erweisen. Ihre einst üppigen Brüste schrumpften. Ihre Beine wurden extrem dünn. Die Fußnägel erhoben sich zum Himmel wie die Spitzen orientalischer Schuhe. Und ihre Haut war am Ende so dünn wie Bibelpapier. Sie brauchte sich nur zu kratzen, schon war da ein Loch, das blutete, und wenn wir sie eine Weile nicht im Blick hatten, kam es vor, dass wir sie voller blutiger Löcher fanden, ähnlich einer Korkeiche. Monate nach dem ersten Anfall war ein herunterfallendes Glas das Zeichen für uns geworden, dass sie wieder heimgesucht wurde. Die Krankheit hatte sie auserwählt, versicherten die Ärzte. Und um sie herum begann das Loslassen, nichts würde von ihr bleiben, außer der alten Schlangenhaut, der Muschelschale, dem Panzer. 34
Durch die aufeinanderfolgenden Sendungen dieser Krankheit gewann sie immer klarere Bilder von dem von einem Gang umgebenen Haus, von dem Garten mit den Farnen. Ohne ihre Wohnung in der Hauptstadt zu verlassen, wohnte sie wieder in dem Haus in der Provinz. Dafür vergaß sie das meiste aus ihrer direkten Umgebung. Als sie noch gehen konnte, nahm sie die Gewohnheiten einer Elster an. Sah man sich in ihren Sachen um, fand man zwischen viel zu großer Unterwäsche verschimmeltes Brot, das sie ein paar Wochen zuvor dort versteckt hatte. (Sie hatte Angst, nichts zu essen zu bekommen. Ihre Vergesslichkeit ließ sie ständig nach Frühstück verlangen. Sie aß und vergaß, dass sie gegessen hatte.) Und der beißende Geruch, den kein Schweiß zuvor in diese Wäscheteile gebracht hatte, kam jetzt aus den darin eingepackten Happen. Ihre Erinnerungen wurden von den Winden irgendeines Zufalls zerstreut. Auf den Fotografien hinterließ sie mit den Fingernägeln gemachte Unterstreichungen, die so unverständlich waren wie die Nazca-Linien, sie selbst hätte nicht sagen können, warum sie das gemacht hatte, ihre Hand muss ihr so fremd gewesen sein wie das dort Abgebildete. Wir hatten bereits dafür gesorgt, dass sie mit Geld nicht mehr in Berührung kam. Meine Mutter holte auf ihren Namen die Witwenpension ab, die nicht einmal gereicht hätte, um den Körperpuder und das 35
Eau de Cologne zu bezahlen, mit dem wir den Geruch des Todes zu überdecken versuchten. Sie wurde auch davon befreit, ein Gebiss zu tragen. Die letzte Prothese hatte in ihrem Mund getanzt wie die Unterhosen auf ihren dürren Hüften. Ihre Schritte zu überwachen, kam für uns, die wir sie begleiteten, einer Tortur gleich, und immer noch vermischen sich in meiner Erinnerung die Dinge, die ich zu der Zeit gelesen habe, mit den Verpflichtungen, die sich aus den Pflegediensten ergaben. (Der Schlaf meiner Mutter ist seitdem nicht mehr derselbe. Sie kann die Nacht nicht mehr durchschlafen, schreckt immer wieder hoch.) Meine Großmutter lag bis zum Morgengrauen wach, ein Leinenband über ihrem Oberkörper fixierte sie ans Bett, damit sie nicht im Dunkeln schlafwandelte. Wir mussten verschiedene Fesselungstechniken ausprobieren, aber trotzdem gelang es ihr, sich zu befreien, bereit für das Abenteuer, für die gebrochene Hüfte. Und im Morgengrauen fanden wir sie, verwickelt in Laken und Kissen, wenige Schritte von dem Ort entfernt, von dem sie fliehen wollte, wie eine Braut, zu sehr vom Schlaf übermannt, um geraubt zu werden. Die Medikamente hatten ihr die Lust zu weinen genommen, sonst hätte sie vor Wut geweint. Sie wurde den ganzen Tag bewacht, unmöglich, sie auch nur für einen Moment allein zu lassen. (Einmal fan36
den wir sie auf dem Boden im Hof, voller Erde von einem Blumentopf, an dem sie sich bei ihrem Sturz festgeklammert hatte. Sie und der Blumentopf wie zwei betrunkene alte Frauen, die auf der Kirmes getanzt hatten, bis sie umgefallen waren.) Als sie schließlich auch nachts bewacht werden musste, verbrachten meine Mutter und ich abwechselnd die Nächte an ihrem Bett. Unser Geld reichte nicht für Wegwerfwindeln und man musste sie ins Bad schleppen, damit die Matratze nicht ruiniert wurde. Es war die reinste Folter: das Licht der Glühbirne über dem Spiegel, meine Großmutter auf der Kloschüssel und ihr gegenüber ihr Wächter, der ihr nicht erlaubte aufzustehen, bis sie uriniert hatte. Aber es war eine Folter, bei der der Scherge vor Müdigkeit umfiel. »Willst du zurück ins Bett?«, wurde sie gefragt. »Dann pinkel doch endlich.« Es war wie die Umkehrung des Kindheitserlebnisses, bei dem sie meiner Mutter (und mir) beigebracht hatten, Körperflüssigkeiten der Kloschüssel vorzubehalten. Der Hahn am Waschbecken war aufgedreht, vielleicht konnte das Geräusch des laufenden Wassers sie überzeugen. Sie kratzte an den Wänden, versuchte aufzustehen, was dadurch erschwert wurde, dass sie wie eine Stoffpuppe schlotterte, und scherte sich wenig um das Geräusch. 37
»Pinkel endlich!«, schrie ich sie an, als ich sah, dass sie auf der Toilette einschlief. (Eines Abends bedrängte ich sie mit einem Besen, wie bei Ratten.) So vergingen die Nächte, und am Ende kam das angenehme Geräusch, mit dem der Strahl ins Klo floss. Aber die Strapazen Nacht für Nacht laugten uns so aus, dass wir uns an den Gedanken gewöhnen mussten, sie in ein Heim zu geben. Ein Pflegeheim, wie es mit institutionellem Feingefühl genannt wird. Damit wir unser Leben weiterführen konnten, mussten wir sie an einen Ort schicken, wo sie überwacht von anderen starb, in ein Lager, wo Pfleger und Hilfspersonal ihr gerade so viel Aufmerksamkeit widmen würden, wie man sie eben der Arbeit widmet. Wir versuchten, das beste Heim zu finden, und versprachen, sie jeden Tag zu besuchen. Das heißt, meine Mutter und ich versprachen uns das, nicht ihr, sie bekam schon nicht mehr mit, was mit ihr passierte. Meine Mutter hielt sich genau an ihr Versprechen. Ich nutzte jede Ausrede, die ich finden konnte, um sie nicht Wiedersehen zu müssen. Aber ich musste sie hinbringen. Eine Freundin kam mit ihrem Auto, ich zahlte das Benzin. Ich trug meine Großmutter. Ich legte die Nachthemden, die Pantoffeln und die Unterwäsche neben 38
sie, alles, was ihr später die Heimmitarbeiterinnen stehlen würden. Das Heim war ein Gebäude, das aus der Zeit Mussolinis hätte stammen können. Wir gingen hinauf bis zur Frauenabteilung, wo derselbe Geruch herrschte wie in ihren Schubladen. Ich sah zwei lange Reihen von Eisenbetten. Durch die Fenster kam viel Licht, und man sah die Äste von ein paar Bäumen. Sie brachten für den Neuankömmling einen Rollstuhl, und es näherten sich die ersten Neugierigen, noch rüstige Frauen, die früh von ihren Familien abgeschoben worden waren. Sie fragten nach ihrem Namen, aber ich wollte ihnen den Namen meiner Großmutter nicht nennen. Später erfuhren wir, dass man sie muñequita, Püppchen, nannte. Wegen der gepflegten Fingernägel, wegen des Haars, das meine Mutter jeden Tag kämmte, wegen des Puders an ihrem Hals, der im Heim den Wert von Juwelen hatte. Eine Sozialarbeiterin half mir, das Formular auszufüllen. Jetzt bekamen sie die Witwenrente, eine Quote mehr im Rationierungsheft. Dafür würden sie uns dann später den Leichnam übergeben. »Hier wird es ihr gut gehen«, versprach die Sozialarbeiterin. An der Wand hingen Bilder von gesunden, lachenden alten Menschen, die dort überhaupt nicht hinpassten. 39
Ich kehrte in den Frauensaal zurück, wo zwei Heimbewohnerinnen sich bereits lauthals in Mutmaßungen über ihren Lebenslauf ergingen, als sie merkten, dass meine Großmutter ihre Fragen nicht beantwortete. Als ich kam, gingen sie weg. Mir konnten sie ja nicht das Essen wegnehmen oder die Sachen klauen, die ich trug. Zu Hause fühlten wir uns sehr allein. Es wurde dunkel, und wir fragten uns, wie sie die Nacht überstand. Wie sie die nächste Zeit überstehen würde. In den frühen Morgenstunden, ich konnte nicht schlafen, setzte ich mich auf ihr Bett. Ich hatte den einzigen noch lebenden Großelternteil in eine staatliche Institution gesteckt, ihn ins Gefängnis gebracht. Ich hatte ihn der Irrenanstalt, dem Sterbehaus der Straßenhunde ausgesetzt. Der Junge, der ich gewesen war, als ich ins Internat kam, war jetzt sie. Noch schwächer als dieses Kind. Der erste lange Abend, die erste lange Nacht in diesem Internat war für sie der erste Tag im Heim, der Gewalt der anderen, den Plünderungen, dem Bandentum ausgeliefert. Sie wurde weggesperrt, als es an ihr nichts mehr zu erziehen gab, als sie sich an nichts mehr anpassen konnte, zum kleinen Mädchen geworden, nur ohne dessen Geschicklichkeit. Jede freundliche Geste des Hilfspersonals und der Krankenschwestern musste meine Mutter bei ihren 40
täglichen Besuchen bezahlen. Wir zahlten nicht dafür, dass sie gut behandelt wurde, sondern dass ihr nichts Schlimmes widerfuhr. Damit sie sie leben und einigermaßen ungestört sterben ließen. Was die verschwundenen Sachen der anderen anging, drückten wir beide Augen zu. Meine Mutter nahm ein wenig mehr Essen für die Bewohnerinnen mit. Aus Mitleid, aber auch aus Angst, dass man ihr nicht wehtat. Damit die alten Leute während der Nacht nicht herausfielen, wurden die Betten zusammengeschoben. Kot und Urin wurden am Morgen entfernt, der Tag begann mit dem Waschen der Körper und dem Auskochen der Bettwäsche. (Ich stelle mir die dicht an dicht liegenden Körper in der Verzweiflung der Schlaflosigkeit vor, den Urin, wie er über die Ebene der zusammengeschobenen Betten floss, den Geruch der alten Frauen.) Bei einer ihrer Besuche entdeckte meine Mutter auf der Haut ihrer Mutter Spuren von Schlägen. Die Nacht, in der meine Großmutter von einer anderen Bewohnerin geschlagen wurde und sich nicht einmal durch Schreien verteidigen konnte, kommt mir immer wieder in den Sinn. Diese Nacht und die Nächte, in denen ich sie auf die Toilettenschüssel setzen musste, bis sie urinierte. Am Ende holten wir sie wieder nach Hause. Ihr vorübergehender Aufenthalt im Heim hatte 41
sie gezähmt. Es war die Aufgabe von Fremden gewesen, sie zu bürsten, ihr die Stacheln zu nehmen (für eine solche Dressur geht nichts über eine staatliche Einrichtung), und fortan wurde es leichter, sie zu pflegen. Bis zu ihrem Tod. Was B. bei der Vorstellung meines Buches des Dankes würdig fand, war die Arbeit, die ich bis zum Verschwinden von ein paar alten kubanischen Schriftstellern geleistet hatte. »Unser Mann in Havanna« hatte M. mich genannt, und wenn die ganze Mission darin bestand, ein paar alten Menschen beim Sterben zu helfen, dann war es Zeit, das Büro zu schließen und zu verschwinden. Zeit, die Ruinen von Havanna zu verlassen. Denn es ist bekannt, dass der Bruder, der auf die Eltern aufpasst, viel Wertschätzung einbüßt, wenn sie tot sind. 4
Als bürgerlichen Tod hatte einer der alten kubanischen Schriftsteller, mit denen ich mich in dem Buch beschäftigte, seine letzten Lebensjahre beschrieben. Sein Werk war aus allen Bibliotheken und Buchhandlungen des Landes entfernt worden, sein Name 42
tauchte in den Studienplänen für Literatur an Schulen und Universitäten nicht auf, seine Theaterstücke durften nicht aufgeführt werden (sie hatten in den bedeutendsten Theatern Havannas ihre Premiere erlebt), und mit über siebzig musste er sich seinen Lebensunterhalt als Übersetzer verdienen. (Auch in Moskau hatte man Boris Pasternak diese Möglichkeit gelassen. Das literarische Übersetzen ist der Berufskrümel, der den bestraften Schriftstellern bleibt. Des eigenen Wortes beraubt, dürfen sie sich als Bauchredner betätigen.) Sie überwachten den alten Mann auf Schritt und Tritt, sie verhinderten, dass die Jungen mit ihm Kontakt hatten, ihn Meister nannten. Es war ihnen gelungen, ihn für die meisten seiner Bekannten auszulöschen. Die trauten sich nicht einmal mehr, ihn zu grüßen, wenn sie ihm auf der Straße begegneten. Ein lebendes Gespenst. Auswandern kam für ihn nicht in Frage. Die Briefe, die er erhielt, schon beim Abschicken ziemlich dünn, wurden von den Briefzensoren noch weiter benagt. Seine Telefongespräche wurden abgehört, bis sie von parasitären Geräuschen durchsetzt waren. Und am Flughafen wurde jeder Besucher verhört, der mit ihm gesprochen hatte, denn man befürchtete, Manuskripte von ihm könnten ins Ausland gelangen. 43
In seiner Abwesenheit brachen sie in seine Wohnung ein (oder waren das Erfindungen der Paranoia?), um in dem Geschriebenen herumzuwühlen. Sie besuchten ihn, um ihn auszufragen, ihn zu bedrohen und ihm vage irgendwelche Entschädigungen in Aussicht zu stellen (oder waren das Erfindungen einer glücklicheren Paranoia?). Er hatte sich angewöhnt, sich mit anderen bürgerlichen Toten zu treffen, den einzigen Wesen, die sich trauten, mit ihm zu verkehren. Sie waren wie Verdammte unter sich, ein jeder darauf wartend, dass ein Detail des Gespenstes neben ihm wieder leibhaftig wurde. Denn mit einem Finger, der wieder fassbar wurde, oder einem Knie, das wieder aus Knochen bestand, hätte für den Ersten von ihnen das Verzeihen begonnen. Und dann immer so weiter, wie durch Ansteckung. Bei ihm hatte sich nichts wieder materialisiert, als er starb. Im Bestattungsinstitut musste eine Handvoll Freunde warten, bis die Polizei seinen Leichnam freigab. Die gewissenhafte Autopsie, die man den unwirklichen Toten zuteil werden lässt, zog die Trauerfeier in die Länge. Bis die Trauernden meinten, dass sie ein Lächeln auf dem Gesicht des Verstorbenen sahen, etwas Spöttisches, Engelhaftes, ein untrügliches Zeichen, dass er den Status als lebendes Gespenst hinter sich ließ. 44
»Vom bürgerlichen Tod erlöst uns einzig der Tod«, hatten die wenigen versammelten Freunde sich gesagt. Die Beerdigung wurde streng überwacht. Während sie stattfand, ging eine Polizeibrigade in die Wohnung des Verstorbenen, nahm seine unveröffentlichten Manuskripte mit und versiegelte die Tür, damit ihnen kein Grabräuber Konkurrenz machte. Bei der Verabschiedung des Toten sprach jemand von der unbestrittenen Cubanidad, die der Verstorbene gezeigt hatte. (Jahre später bewies derselbe Redner, dass man den Status des bürgerlichen Toten auch hinter sich lassen konnte, indem man den eines regierungstreuen Schriftstellers annahm.) Er rühmte, dass es dem alten Freund, den sie dort zu Grabe trugen, nicht in den Sinn gekommen war, das Vaterland zu verlassen, er sang ein Loblied darauf, dass er sich als Beute zum Fraß angeboten hatte. Denn er hatte sich nicht von den Sirenengesängen der Leute im Exil täuschen lassen, sich nicht um die Warnungen gekümmert, die seine Verwandlung in ein Gespenst ankündigten. »Gespenst, Milde der Seele, größtmögliche, mit Augen (und unserem Hunger nach Wirklichkeit)«, hatte Marina Tsvetaeva geschrieben, ebenfalls durch offizielles Dekret zum Gespenst erklärt. Wie der alte kubanische Schriftsteller harrte auch sie in der Heimat aus. Bewusst. Trotz allem. 45
Tsvetaeva, zur Strafe Übersetzerin (Puschkin ins Französische, Baudelaire und García Lorca ins Russische) und später nicht einmal das, bettelte um eine Stelle als Küchenhilfe in einer armseligen Kantine, wo Schriftsteller aßen, die etwas mehr Gunst genossen als sie. (Ihre letzten Worte, im Sommer 1941 lauteten: »Ich bitte um die Stelle einer Tellerwäscherin in der neuen Kantine von Tschistopol.«) Mir war es gelungen, im Ausland ein Buch über kubanische Gespenster zu veröffentlichen. Ich hatte es geschafft, zur Vorstellung des Buchs ins Ausland zu reisen und ähnliche Warnungen zu hören bekommen wie die, die der alte tote Schriftsteller gehört (und missachtet) hatte. In gewisser Weise schienen meine Lebensumstände eine verwandtschaftsbedingte Ähnlichkeit mit seinem Freundeskreis vor dreißig Jahren aufzuweisen. Ich begann seine Ticks und verhängnisvollen Fehler bis zu dem Grad zu wiederholen, dass man ihn und die Schriftsteller aus seiner Gruppe für meine Großväter hätte halten können. Ein Teil meiner Annäherung lässt sich auch als Versuch verstehen, sie zwischen Baum und Borke in die Enge zu treiben. Als wollte ich sie dazu bringen, auf meinen Befehl hin zu pinkeln.
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Im Vorwort zu einer 1937 erschienenen Sammlung von Gespenstergeschichten, spricht Edith Wharton von der Schwierigkeit, die ein Autor mit solcher Art von Geschichten hat. Wharton widmete das Buch Walter de la Mare, als wären sie die Einzigen auf der Welt mit genügend Fantasie, um noch an Erscheinungen zu glauben. »… es ist das warme Dunkel der pränatalen Flüssigkeit tief unterhalb der Ebene unserer Vernunft, wo die Fähigkeit ruht, der Geister inne zu werden, die zu sehen wir vielleicht nicht die Gabe haben«, schrieb sie. Die Aufmerksamkeit der Leser wurde damals von anderen Gestalten in Anspruch genommen (»Gangster, Gewohnheitstrinker, notorische Eigenbrötler«, zählt Wharton auf), und dem Schriftsteller fantastischer Erzählungen stellten sich zwei große Feinde der Fantasie als Hindernisse in den Weg: das Kino und das Radio. Dass ein Kasten fähig war, ein Zimmer mit körperlosen Orchestern zu füllen, oder dass eine Wand so lebendig werden konnte, dass sich auf ihr Geschichten abspielten, absorbierte das Erstaunen, das bis dahin phantasmagorischen Wesen vorbehalten war. Es banalisierte dieses Erstaunen, machte es zur Gewohnheit. 47
(Die Beziehung zwischen technischen Neuerungen und Gespenstererscheinungen zeigte sich schon bei den ersten großen Erfindungen der Neuzeit. Als er seine Stimme auf der ersten Tonbandaufnahme hörte, empfand Edison ein Gefühl des Grauens, nicht unähnlich dem, welches das Übernatürliche weckt. Ein Kollege bezeichnete den Phonographen als »Geräuschpräparator«. Und viele amerikanische Zeitungen, die die Erfindung priesen, bedauerten, dass sie so spät gekommen sei. Der Phonograph kam zu spät, denn man konnte die Stimmen kurz zuvor Beerdigter nicht mehr bewahren. Jede aufgenommene Stimme war verdächtig posthum.) Wie viel Respekt konnte eine Erscheinung noch erwarten, so übernatürlich sie sein mochte, wenn sie auf ein Telefon oder ein Radio stieß? Die neuen Apparate wurden als Streikbrecher des Phantasmagorischen eingestuft. Osbert Sitwell fand, das elektrische Licht habe die Natur des Gespenstischen grundlegend verändert. Mit der Elektrizität verschwanden die Gespenster. Laut Edith Wharton verringerten Radio und Kino die Anforderungen an die Fantasie. Sie schenkten dem Publikum vieles, während die Literatur immer viel zu hohe Anforderungen stellte. (Ein paar Jahrzehnte zuvor hatte man sich gefragt, wie viele Leser die Mode des Fahrradfahrens kosten würde, wie sehr das Buch durch das Erscheinen des Fahrrads beeint48
rächtigt würde.) Radiosendungen und Filme machten Kranken und Gebrechlichen das Abenteuer zugänglich. Fortan würden die Leser ihre schöpferischen Fähigkeiten vernachlässigen, sie würden faul werden. Seiten umzublättern würde zu einer ermüdenden Tätigkeit. Künftige Leser könnten die Ereignisse einer Seite nicht mehr mit dem in Verbindung bringen, was auf der davor geschah. Und Gespenstergeschichten wären als Erste davon betroffen. Die Literatur hätte sich zu dem Zeitpunkt längst in ihr eigenes Gespenst verwandelt. Als jemand, der sich einer anderen Art von Geschichten verschrieben hatte, war auch John Le Carré durch geschichtliche Veränderungen gezwungen, sich über die Zukunft seiner literarischen Tätigkeit Gedanken zu machen. Spionageromanen verdankte er seine Karriere. In seinem Werk beanspruchten sie weit größeren Raum als die Gespenstergeschichten im Werk von Edith Wharton. Aber als die Berliner Mauer fiel, verschwand zunächst auch die Chance für einen großen Weltkrieg. Bis dahin hatte die besondere Aufgabe der Geheimagenten im Roman darin bestanden, diesen Weltenbrand aufzuhalten, oder ihn, wenn das schon nicht möglich war, doch für die eigene Seite möglichst vorteilhaft zu gestalten. Und jetzt, wo es dazu nicht mehr kommen konnte, konnte eigentlich auch 49
niemand mehr Interesse daran haben, eine solche Gefahr zu schüren. Le Carrés Karriere (ob er wohl einer jener Bestsellerautoren war, in denen B. herumstöberte?) hatte mit dem Bau der Mauer begonnen. In die britische Botschaft nach Bonn entsandt und Autor zweier wenig erfolgreicher Bücher, in denen schon sein Held George Smiley auftauchte, war er 1961 nach Berlin geflogen, um die frisch erbaute Mauer in Augenschein zu nehmen. »Das widerwärtigste Symbol politischen Scheiterns, das ich je gesehen habe«, bekannte er. Aber er war auf der Suche nach einem Thema für ein Buch, und diese Grenzlandschaft verschaffte es ihm. (»Wir Schriftsteller sind Opportunisten, weiter nichts«, gestand er später.) Der Spion, der aus der Kälte kam wurde frühmorgens geschrieben, zur Frühstückszeit auf der Fähre von Königswinter nach Bad Godesberg. Jede freie Minute, die er von seiner Arbeit in der Botschaft abzweigen konnte, schrieb er an seinem Roman. Und abends dienten ihm Empfänge und Abendessen im Diplomatenkreis als Erholung und Anreiz. Denn bei diesen Feierlichkeiten wurde über nichts anders gesprochen als über die Mauer und was auf beiden Seiten passierte. Trotz seiner Tätigkeit für den Geheimdienst wusste Le Carré sehr wenig über das, wovon er erzählte: 50
den Fall eines perfekten Doppelagenten. Er war nie auf der anderen Seite der Mauer gewesen, und seinem Umfeld nach zu urteilen, war die britische Spionage nicht so spitzfindig und skrupellos, um so eine Operation zu betreiben, wie er sie sich ausgedacht hatte. Alles in seinem Buch war reine Fiktion, und so verstanden es auch die Mitarbeiter des Geheimdienstes, als sie die Veröffentlichung genehmigten. Die Kritik nahm den Roman mit Jubel auf, und auch die Leser schenkten ihm ihre Gunst. Graham Greene sagte sogar Der Spion, der aus der Kälte kam sei die beste Spionagegeschichte, die er kenne. War dieses erste erfolgreiche Buch von Le Carré durch einen Besuch an der Berliner Mauer inspiriert, so wurde seine weitere literarische Arbeit von einem anderen wichtigen Schauplatz des Kalten Krieges beeinflusst: der Schweinebucht an der Südküste Kubas. Le Carrés nächster Roman Krieg im Spiegel erntete nicht die ungeteilte Bewunderung bei Öffentlichkeit und Kritik, die seinem Vorgänger noch zuteil geworden war, schon gar nicht beim britischen Geheimdienst, der seiner Wut in der Presse freien Lauf ließ. Le Carré hatte eine ganze Abteilung der Lächerlichkeit preisgegeben, er sprach von der Kriegsnostalgie der Geheimdienstler und was er erzählte, schien viel Wahres zu enthalten. Die Bestätigung kam von Allan Dulles, der, kurz nachdem er seinen 51
Posten als CIA-Chef verlassen hatte, erklärte, Krieg im Spiegel entspräche genau der Realität. Bestätigungen dieser Art und Streifzüge zu den Orten des Kalten Krieges machten Le Carré in den nächsten Jahren zum bekanntesten Spionageschriftsteller der Welt. Bei jeder Neuerscheinung war der Erfolg vorprogrammiert. Die Geschichten, die er sich ausdachte, waren fesselnd, weil in Berlin, wie ein ex libris für ihn, die Mauer stand. Bis er aus sprachlicher Ermüdung oder politischem Spürsinn beschloss, George Smiley zum letzten Mal nach Berlin zu schicken und den mit seinem Namen verbundenen Zyklus zu beenden. Smileys Mission endete im dritten Band der Karla-Trilogie mit einem Treffen am Fuß der Mauer. Hier erklären Smiley und der sowjetische Agent, sein Todfeind der vorangegangenen dreißig Jahre, die Partie für beendet, ohne dass sich Smiley für den Sieger hält. Sie brechen den Kampf ab. Aber das bauliche Zeichen dieses Kampfes bleibt weiter in Berlin stehen. Die Kritik schien Le Carrés Abschied von Szenarien und Motiven des Kalten Krieges nicht zu bemerken. Mit der Euphorie der deutschen Wiedervereinigung aber wurde seiner Arbeit als Schriftsteller der Totenschein ausgestellt. Die Trümmer der Mauer von Berlin fielen auf das Ansehen des britischen Romanciers. Die unheilverkündende Faszination eines Gefängnisbaus hatte die Begeisterung der Leser 52
für seine Bücher geweckt, nachdem jedoch die Festung weggefegt war, entdeckte man, wie sündhaft diese Begeisterung gewesen war. Mehr oder weniger offen wurde Le Carré nun eine vage Komplizenschaft mit der Teilung Deutschlands und der Welt unterstellt. Er hatte die Komplizenschaft der Opportunisten gezeigt, solange die Mauer stand. Er hatte darüber geschrieben. Der erfolgreiche Autor wurde zu einem Gespenst im Licht der Glühbirnen. Die Spionageromane würden verschwinden wie es mit den Ritterromanen geschehen war. Oder, wollte man Edith Wharton glauben, mit den Gespenstergeschichten. Furcht vor der politischen Verschrottung der Welt galt fortan so wenig wie die Angst vor Gespenstern. Erzählungen von Spionage und Gegenspionage empfand man ihrer politischen Anmaßung wegen als unerträglich. Ihnen winkte das Schicksal der historischen Romane. Die Suche nach nuklearen Geheimnissen würde dieselbe Art von Lesern interessieren, die sich für die Intrigen rund um das Halsband der Königin erwärmten. Der Zerfall der Grenzen nahm dem Erzählen seinen Schub in Richtung Zukunft. Für Historiker und Politologen war das Verschwinden der Mauer gleichbedeutend mit historischem Sinnverlust. So wie einst der Tod Gottes wurde nun das Ende der Geschichte gepredigt. 53
Was aber tatsächlich vor der Auslöschung stand, war ein bestimmter Entwurf: eine Teleologie, eine Kategorie von Gespenstergeschichten, eine Art von geheimen Ränkespielen. Um sein literarisches Todesurteil abzuwenden, musste John Le Carré seine Totengräber daran erinnern, dass Spionagegeschichten nicht erst mit dem Kalten Krieg aufgetaucht waren. Und dass neue politische Katastrophen, neue Weltbrände, ihm und seinen Kollegen Szenarien in Hülle und Fülle liefern würden. »Das wirklich Mitreißende wird daher kommen, woher es immer kam«, stellte er fest. »Aus dem Zusammenspiel von Wirklichkeit und Selbstbetrug, der Grundlage so vieler geheimer Lebensläufe. Aus der subtilen Beziehung zwischen Geist und Dummheit. Aus dem blinden Vertrauen, das die Politiker, aus Verzweiflung oder aus Ungeduld, in vermeintlich unantastbare Geheimdienste legen, mit katastrophalen Folgen. Aus der uns allen eigenen Fähigkeit, ganz gleich welcher Nation wir angehören, die Wahrheit zu foltern, bis sie uns sagt, was wir hören wollen. So wie eine Spionagegeschichte uns in das Zentrum irgendeines Konfliktes führt und sich herausstellt, dass der Konflikt in uns selbst tobt. Aus der unerschöpflichen Vielfalt von Motiven für Treue und Verrat und der Art, wie das Motiv des Verräters wie ein Spiegel die Moral unserer Zeit wiedergibt.« 54
Spion und Gespenst weigerten sich also zu verschwinden. Sie weigern sich immer noch. 6
Da ich wieder nach Hause zurückfuhr, sollte auch ich mich schon bald danach in einer Geschichte aus Spionen und Gespenstern wiederfinden. Am Flughafen wurde jeder Artikel aus meinem Gepäck durchsucht, Buch für Buch durchgeblättert. Der diensthabende Offizier redete mir ein, alles sei reine Routine: Ein Passagier würde zufällig für die Überprüfung ausgewählt, und diesmal sei eben ich derjenige. Wie ich feststellen konnte, war er nicht von dem Wunsch getrieben, etwas an sich zu nehmen. Er verfiel nicht auf das Spiel, bei irgendeinem Kleidungsstück Empörung zu mimen, um es dann zu behalten. Aber er wollte über jedes Buch Bescheid wissen und hatte genügend Zeit, in jedem Exemplar zu blättern, das seine Aufmerksamkeit erregte. »Warum so viele?«, wollte er wissen, und als ich ihm sagte, ich sei Schriftsteller, suchte er nach einem Werk von mir. (»Nichts eigenes und nichts von Exilautoren«, hatte die Regel gelautet, als ich meine Koffer packte.) Da er in keinem meiner Bücher herumstöbern 55
konnte, fragte er mich, was meine Themen seien. Ob ich einen Roman geschrieben hätte. »Im Ausland werden viele Romane von Kubanern veröffentlicht«, bemerkte er. Ich versicherte ihm, das sei wie ein Fieber. »Von Autoren, die alles Mögliche erfinden«, klagte er und ließ schon wieder ein Buch auf den Stapel der bereits kontrollierten fallen. »Sie erzählen, was hier passiert«, erklärte er. »Diese Art von Literatur interessiert mich nicht.« Er läse nur auf Englisch geschriebene Romane. Er hatte einen Abschluss in Anglistik. »Mein erstes Diplom«, fügte er hinzu, und ich traute mich nicht zu fragen, was er noch studiert hatte. Wenige Tage später informierten mich auf der Terrasse des Schriftstellerverbandes zwei Funktionäre über meine Vertreibung aus der gebildeten Stadt, der ciudad letrada, wie Angel Rama sie genannt hatte. Fortan könnte keine meiner Arbeiten in Zeitschriften und Verlagen des Landes erscheinen, jede öffentliche Präsentation würde verhindert, und da man meine Bewegungen im Ausland nicht kontrollieren könne, hätte ich von keiner Institution Hilfe bei Ausreiseformalitäten zu erwarten. Man ließ mich im bürokratischen Labyrinth allein. Ein Tisch und vier Plastikstühle schienen während eines Regenschauers auf diese Terrasse gefallen zu sein. Die Blüten eines Baumes, dessen Äste zum 56
Greifen nah waren, bedeckten Tisch und Boden. Eine Sekretärin kam, um abzuwischen, aber im Verlauf unseres Gesprächs gewann der Baum wieder die Oberhand. Es waren Blüten mit getigerten Blättern und voller Staubfäden. Angesichts der Nachmittagshitze hätten die beiden gern aus der Kneipe unten ein Bier bestellt. Stattdessen brachte man uns einen Schluck Mangosaft und einen überzuckerten Kaffee, bei dem meine Gesprächspartner sich die Lippen leckten. Als hätte uns ein Trinkspruch zusammengeführt, wurde die Mappe erst geöffnet, als ausgetrunken war, jetzt schien die Zeit für die wichtigen Angelegenheiten gekommen. Der ältere der beiden war Musiker, ein Mulatte, dessen Haut an den Armen einige depigmentierte Stellen aufwies. Wenn er sprach, bliesen sich seine Backen auf, als würde er Trompete spielen. Er trug einen Ring mit einem Stein. Im vorherigen Leben hätte er Flötist bei einem nicht sonderlich bekannten Orchester gewesen sein können. Eine Arbeit, um die ihn sein Mitstreiter beneidet hätte, ein Schriftsteller, der seine Musikleidenschaft in seine Erzählungen hineinzwängte und während der Präsentationen seiner Bücher Beatles-Songs trällerte. Die Faszination für Musik und die Beatles, die er mit vielen anderen Erzählern seiner Generation teilte, resultierte aus der repressiven Atmosphäre, in der 57
er aufgewachsen war. Da die Musik des englischen Quartetts offiziell verboten war, mussten ihre Lieder für die kubanischen Jugendlichen der sechziger Jahre den Wert des Heimlichen gehabt haben. Sie hatten sich in Katakomben treffen müssen, um sie zu hören, und jetzt, mit fünfzig, waren sie immer noch diese Jugendlichen. In ihren Erzählungen ging es darum, ob man die Möglichkeit hatte oder nicht, einen Song zu hören, der in Mode war. In ihren Diskussionen verglichen sie nicht mehr Sowjets und Amerikaner oder ergingen sich in Mutmaßungen, wer von beiden siegen würde, wenn der Konflikt hochkochte. Aber über das Auftauchen von Yoko Ono im Leben von John Lennon und die Qualität der verschiedenen Beatles-Platten konnten sie sich immer noch endlos verbreiten. Er hatte sich dafür eingesetzt, dass in einem Park von Havanna eine Statue von John Lennon aufgestellt wurde, weil er glaubte, auf diese Weise etwas wiedergutmachen zu können, und fand nichts dabei, dass die Verantwortlichen für das einstige Verbot der Enthüllung der Gestalt beiwohnten. Im Gegenteil, er schien es toll zu finden, dass sie so viele Jahre danach beteuerten, wie viel Solidarität sie mit dem verstorbenen Musiker im Hinblick auf den Vietnamkrieg empfanden. Süßes Verzeihen. Am Ende also hatten sie Lennon in einen Park im Stadtteil Vedado verfrachtet und für das verordnete Stillschweigen von 58
einst entschädigt. John Lennon wurde vom Gespenst zur Skulptur, und da saß er, erreichbar für jeden, der die Bank mit ihm teilen wollte (oder den es nach seiner Brille gelüstete, weshalb man in der Nähe einen Wächter postieren musste.) Lennon als vergnügter Einwohner Havannas, wie Fernando Pessoa auf dem Chiado in Lissabon vor dem Café A Brasileira. Man stelle sich vor, wie dieser Funktionär ein anspielungsreiches Liedchen neben der Statue seines Idols anstimmt, leise mit ihm spricht und am Ende sogar in die Liste der Verdächtigen aufgenommen wird, die beschuldigt werden, sie wollten die Brille der Statue stehlen. »Und warum haben sie sich nicht für die Rolling Stones begeistert?«, musste man sich fragen, wenn man sich für den Musikgeschmack dieser Sorte Schriftsteller interessierte. Denn es kam einem wie eine verschenkte Gelegenheit vor, dass sie sich in eine Katakombe zurückgezogen hatten, um solche naiven Lieder wie die der Beatles zu hören. Das klang nach Überfall auf eine Bank, in der nichts zu holen war. Aber sie brauchten diese Naivität. Sie erlegten sich selbst Leichtgläubigkeit auf, sie wollten weiter glauben, trotz der veränderten Umstände. Sie vertrauten auf die Illusion, und die Jungs aus Liverpool lieferten dazu die Musik: Modeballaden, die das Versprechen der Ewigkeit weiter trugen als andere, mit 59
denen sie die Hitliste teilten. Diese Musik erlaubte es ihnen, die Denunziationen weiter zu ertragen (wenn sie nicht selbst denunzierten), die Hexenjagden unter den Studenten, sie tröstete sie über den eigenen Schmerz und die Gewissensbisse hinweg. Es gab keine Niederträchtigkeit, von der diese Musik einen nicht erlöste. Lennon war getötet worden, um eine Generation zu erlösen und all die, die es danach verstanden, sich an ihn anzuhängen. Also musste man ihm eine Statue errichten. Aber die Naivität dieser über Fünfzigjährigen bröckelte. Oder das Exemplar, das ich vor mir hatte, war ein schlechter Schauspieler. Mit der Diktion eines Lehrers ging er in die Zeit zurück, als wir uns kennengelernt hatten, er erinnerte sich an einen Freund von mir (längst im Exil), der damals sein Schüler war und von dem er zum ersten Mal meinen Namen gehört hatte. Und dann begann er, in allen Einzelheiten von einem Mittagessen zu reden, das wir vier oder fünf Jahre zuvor gemeinsam eingenommen hatten. Er zählte eines nach dem anderen die Gerichte auf, fast hätte er sich die Finger geleckt, und erwähnte die Freundschaft, die uns verbunden hatte. Die uns immer noch verband, wenn man seinen Reden Glauben schenkte. Währenddessen bewegte der Flöten spielende Mulatte nicht einmal den Finger mit dem Ring. Wenn 60
sein Kollege in sentimentale Gefilde vordrang, musste er den vernünftigen Part übernehmen. Aber er hatte es nicht eilig, beide nahmen ihre Aufgabe seelenruhig in Angriff wie die Mörder in der berühmten Erzählung von Hemingway. (Hemingway, auch so eine Leidenschaft dieser Fünfzigjährigen. Die Suche nach Naivität führte sie zu dem amerikanischen Schriftsteller, Hemingway war der Harte unter den Naiven.) Die Blüten mit den getigerten Blättern bedeckten immer noch den Tisch, und einer der beiden Funktionäre erging sich in alter Freundschaftsduselei. Sergeant Pepper’s Lonely Heart’s Club Band spielte für uns. Es schmerze ihn, in diesen Fall verwickelt zu sein, gestand er. Er machte ein paar Gesten, die Schmerz ausdrückten. Die Lider senken war die eine, das Kinn in die Brust bohren, die andere. Zucken von Schultern und Armen, Kopfschütteln, sein Gebaren erinnerte an eine Marionette, die von einem Parkinson-Kranken bedient wird. Bis es ihm endlich gelang, das Bündel an Sanktionen über die Lippen zu bringen, die er mir mitteilen sollte. Dann schwor er, sollte mein »Seelenleben« (wie sehr das nach Selbsthilfehandbuch klang!) durch diese Maßnahmen beeinträchtigt werden, würde er sein Amt im Schriftstellerverband niederlegen. Er täusch61
te Empörung, Ärger, Unbehagen auf seinem Plastikstuhl vor. Er tat, als müsse er weinen, er stand auf, um die Träne zu verbergen, die nicht kommen wollte, er gestikulierte, als wolle er gegen die Blüten kämpfen. Der Musiker neben ihm war bemüht, diesen dramatischen Moment herunterzuspielen. Mit volltönender Stimme wollte er mir eine Prise Schönwetter mit auf den Weg geben: die Sanktionen könnten abhängig von meinem künftigen Verhalten aufgehoben werden, ich könne direkt Einspruch einlegen. Diesen Einspruch müsse ich dem Vorsitzenden des Schriftstellerverbandes schriftlich zustellen. Die Institution hingegen würde die Benachrichtigung über die Strafe nicht schriftlich zusenden. Es reiche aus, dass man sie beauftragt hatte, mich davon in Kenntnis zu setzen. Die Mappe war also nur ein Element aus der Requisite, sie würden kein Dokument hervorziehen. »Es entspricht nicht der Tradition des Schriftstellerverbandes, Sanktionen schriftlich mitzuteilen«, befanden meine Gesprächspartner. Ich müsste meinen Einspruch auf die in die Luft gesprochene Sanktion schriftlich einreichen. Es hatte den Anschein, als ob die Institution ihre Archive schon jetzt weiß wusch. Jeder künftige Forscher, ganz gleich wie argwöhnisch, könnte die aufbewahrten Dokumente durchgehen. 62
»Der Schriftsteller, von dem Sie sprechen, soll verboten gewesen sein?«, würden sich die Verantwortlichen dumm stellen. »Und wo steht das?« Meine Zeit als Gespenst begann ohne Beweis. »Siehst du diesen Zensurbefehl gegen dich?«, sagten mir die beiden Funktionäre. »So wirst auch du beschaffen sein.« Der Befehl, das offizielle Dokument, das Papier, existierte nicht. Es war Luft in ihren Händen, eine dumme Ballade der sechziger Jahre, ein ChachachaPresto für Flöte. In einem Anflug von Boshaftigkeit fragte ich den Schriftstellerfunktionär noch, bei welchem Grad an Beeinträchtigung ich ihn informieren sollte, damit er in Erwägung zöge, sein Amt niederzulegen. (Undenkbar, dass er sich von seinen Pfründen verabschiedete und sich mit einem einfachen Schriftstellerleben zufriedengab.) Aber als unser Treffen beendet war, begriff ich, was er meinte, als er von Beeinträchtigungen sprach: es hätte alles auch ganz anders verlaufen können. Ohne Terrasse im idyllischen Vedado, ohne diesen Hauch von Anmut durch herabfallende Blüten, ohne Mangosaft, ohne Kaffee. Es hätte wie früher sein können, wie im Fall des toten Schriftstellers. Polizeilicher. Sie beide, weder er noch der Schriftsteller hätten 63
ein Interesse, dass diese Zeiten samt dem zugehörigen Prozedere zurückkehrten. Wenn sie noch im Amt waren, dann um zu vermeiden, dass so unangenehme Dinge geschahen, um das Widerwärtige auf ein Minimum zu reduzieren. Stellvertretend für den Schriftstellerverband verhandelten sie die Schnittlinie zwischen Notwendigkeit und Ekel. Gewiss, es war unvermeidlich, dass Maßnahmen gegen mich ergriffen wurden, aber sie sollten konstruktiv sein, und darauf vertrauten sie. Sie könnten das vor Lennon beschwören, dessen Statue allem sozialistischen Realismus zum Trotz die Allegorie einer Epoche war, die den Missstand der vielen Verbote hinter sich ließ. Doch der Schriftstellerverband war immer noch derselbe wie in den letzten Jahren des alten Schriftstellers. Nur dass er jetzt nach außen wie ein Nichtregierungsorgan wirkte, in seiner neuen Rolle so überzeugend, dass sogar Spenden aus dem Ausland sein Überleben ermöglichten. Als Gegenleistung sah man sich zu taktvollem Umgang gezwungen, den man früher einem lästigen Kerl (so hatte mich der Kulturminister bei einem Treffen bezeichnet, zu dem ich nicht geladen war) nicht hätte angedeihen lassen. Die Zeiten hatten sich geändert. Jetzt wurde das Werk des alten Schriftstellers vollständig publiziert, Theaterensembles spielten seine Stücke und die un64
veröffentlichten Manuskripte, die in den Händen der Polizei gelandet waren, waren wieder aufgetaucht. Mir schickte man ein paar liebenswürdige Funktionäre. Ich sollte höflich sein, die Hand geben, mich gesittet verabschieden. »Sei auch du naiv!«, schien die in ihrer musikalischen Komödie versteckte Aufforderung zu lauten. Es blieb mir noch das Mittel der Beschwerde, verbunden mit einem weiteren Mittagessen für die Freundschaft, als Gipfel des Wohlwollens. Dankbar sollte ich sein, dass ich in der besten aller Welten leben durfte. In den nächsten Tagen erfuhr ich, dass ein Agent der Geheimpolizei mehrere meiner Bekannten ausgefragt hatte. Ich erfuhr anhand der gestellten Fragen, dass meine Telefongespräche abgehört wurden. Sie wollten wissen, mit wem ich mich traf, wen ich besuchte, wer mit mir schlief. Sie schlichen in meiner Straße herum, besuchten das Nachbarschaftskomitee. Und eines Abends bekam ich mehrere Anrufe von Freunden, die mir sagten, ich solle schnell den Fernseher einschalten. Wie an jedem Abend debattierten politische Kommentatoren in einer Runde über irgendein aktuelles Thema. Die Kommentatoren versuchten den Abend ohne Diskussion herumzubringen, sie vermieden jeglichen Konflikt. Wenn einer vom anderen abwich, dann nur, um im Grunde dieselbe Meinung 65
zu vertreten und ein wenig zu übertreiben, was der andere sagte. Und drum herum wurden Reihen von Zuschauern gesetzt, militante Kommunisten, verdiente Arbeiter, denen man vertrauen durfte und die keine Fragen stellten, passiv wie wir, die wir von zu Hause aus zusahen. An dem Abend saßen in der Runde neben dem Vorsitzenden des Schriftstellerverbandes die Urheber der kubanischen Verlagspolitik und ein paar regierungsnahe Schriftsteller. Einer der geladenen Gäste zeigte das aufgeschlagene Exemplar einer bedeutenden Zeitschrift des kubanischen Exils. In roter Farbe waren die Druckfehler auf ein paar Seiten markiert und von Weitem sahen die Seiten aus, als seien sie mit Blut getränkt. Die politischen Fehler der Leute im Exil schienen auf die Typografie übergegriffen zu haben. Das Alphabet weigerte sich, von diesem Pack benutzt zu werden. Da die Exilanten dort, wo sie vor sich hinvegetierten, gezwungen waren, fremde Sprachen zu radebrechen, hatte sie nicht nur das Vaterland, nicht nur die Muttersprache, sondern auch das Alphabet verlassen. Die Kommentatoren der Runde kamen auf die Finanzierung der Publikation zu sprechen. Sich gegenseitig ins Wort fallend, denunzierten sie die Hauptgeldquelle, mit deren Hilfe eine kleine radikale Organisation außerhalb des Landes diese Zeitschrift druckte. 66
»Unter Umgehung unserer Verlagspolitik«, schüttelten sie alarmiert den Kopf. Und alles deute auf den amerikanischen Geheimdienst hin. Alles war der reinste Kalte Krieg, die Kehrseite des Goldes aus Moskau. Die im Fernsehstudio versammelten Schriftsteller und Funktionäre beriefen sich jetzt auf die Autorität einer englischen Spezialistin, die Verbindungen zwischen dem amerikanischen Geheimdienst und Intellektuellen während des Kalten Krieges aufgedeckt hatte. Und sie redeten über die Zeitschrift, als sei sie ein Teil der Untersuchung der englischen Historikerin. (Später sollten sie die Engländerin nach Havanna einladen, und wie unter Hypnose fing sie an, über die Zeitschrift zu reden, ohne je ein Exemplar gesehen zu haben.) Sie erwähnten, was es kostete, im Ausland diese Zeitschrift herausgeben zu können und überlegten, wo all das Geld hinfloss. Wenn man sich bei dieser Nummer keinen Korrektor leisten konnte, dann musste doch ein anderer Posten einen Großteil des saftigen Budgets verschlingen. Ermittlungen über den Ursprung und den Verbleib von Geldern beschäftigten die Runde. Und bei einigen Teilnehmern merkte man, wie verschnupft sie waren, dass dieses Geld nicht dem Verlagssystem des Landes zugute kam. Es war für nationale Zwecke, ja, aber leider am feindlichen Ufer. 67
Dann kam die Runde zur Herkunft der Inserenten. Ein ausländischer Kulturminister, ein paar Verlage wurden verdächtigt. Wenn sie als Sponsoren mit den amerikanischen Geheimdiensten auf du und du standen, dann konnten sie nur deren Komplizen sein. Nachdem das Thema Finanzen und Schuldzuweisung erschöpft war, und die Stunde der Zusammenfassung nahte, ergriff der Vorsitzende des Schriftstellerverbandes zum letzten Mal das Wort. »Man sollte nicht vergessen«, verkündete er, »dass diese Leute ihren Mann in Havanna haben.« Er schaute drohend in die Kamera, und einen Moment lang sah es so aus, als würde er meinen Namen nennen. Aber das verkniff er sich, denn so verlangt es der Kodex für den Umgang mit Gespenstern. 7
James Wormold, geboren am 6. Dezember 1914 in Nizza, Brite in den mittleren Jahren, geschieden (seine Frau hatte ihn wegen eines Amerikaners verlassen), lebt seit zwanzig Jahren in Havanna. »Es war eine Stadt für Besucher, keine Stadt zum Leben«, werden wir gewarnt, »aber es war die Stadt, in der sich Wormold zum ersten Mal verliebt hatte, und sie hielt ihn fest wie der Schauplatz einer Katastrophe.« 68
Dieser Wormold besitzt dank des Films von Carol Reed die Züge von Alec Guiness. In dem Roman von Graham Greene erfährt man lediglich, dass sein Gesichtsausdruck von Sorgenfalten gezeichnet ist. Und dass er hinkt, weshalb er vom Kriegsdienst befreit wurde. Früher konnte er mit den Ohren wackeln, aber das gelingt ihm jetzt nicht mehr. Er ist ein trauriger Kerl, meistens denkt er, dass die anderen ihn auf den Arm nehmen. Er erwartet nicht, in Erinnerung zu bleiben (»es kam ihm immer seltsam vor, dass er für andere weiterexistierte, wenn er nicht da war«), und in einem autobiografischen Anlauf stellt er fest, dass der Schlüssel für alles künftige Misstrauen in der Kindheit liegt. Wormold erinnert sich an die Qualen in einem Internatsschlafsaal und an die Gestalt eines kleinen, in ein nasses Handtuch eingehüllten Jungen. Wenn die Schule dazu da ist, alle Kanten abzuschleifen, bis der Charakter geformt ist, dann wurde in seinem Fall geglättet, ohne dass viel dabei herausgekommen wäre. Wormold hat ein Geschäft für elektrische Staubsauger in Lamparilla 37, Habana Vieja. Er spielt Dame, trinkt Daiquiris für achtzig Centavos in der Wonder Bar und im Sloppy Joe’s, er sammelt Miniaturflaschen, und er ist kein religiöser Mensch. Seine Tochter Milly geht auf eine Klosterschule in Havanna, und er würde sie gern auf ein Schweizer Internat schicken. 69
Zwei Hauptbeschäftigungen treiben das Mädchen um: Reiten und der Umgang mit den Heiligen. Diese Verbindung zwischen Trab und Religion macht aus ihr, dank Greenes Witz, eine bockige Katholikin. Ihr religiöser Fimmel als Kontrapunkt zur mangelnden Religiosität des Vaters ist jedoch das Langweiligste an dem Roman. Unser Mann in Havanna beginnt mit einem Tag unbequemer Wahrheiten. James Wormold, in der gewohnten Bar sitzend, muss sich eingestehen, dass seine Tochter herangewachsen ist und dass das Leben in den Tropen sie erwachsener gemacht hat, als wenn sie in England geblieben wäre. Und Wormold muss sich auch eingestehen, dass sein Geschäft schlecht läuft, denn in Havanna holen sich die Leute keine elektrischen Staubsauger ins Haus. »Was nutzt ein Staubsauger, wenn der Strom abgeschaltet ist?«, fragt er sich. Seine Sorge gilt dem bevorstehenden Erwachsenwerden seiner Tochter und dem Zustand seines Bankkontos, der Zukunft und den Ersparnissen. In einem Land ohne Teppiche, mit einem Klima, das keine Auslegeware zulässt, und ohne geregelte Stromversorgung ist es ein unmögliches Unterfangen, Staubsauber zu verkaufen. Dass er zudem seiner Tochter eine Stute mit Stammbaum kaufen und ihr die regelmäßigen Aufenthalte im exklusiven Havana Country Club bezahlen soll, macht die Sache nicht 70
gerade leichter. Und aus dieser wirtschaftlich angespannten Lage am Anfang des Romans befreit ihn ein Vorschlag des britischen Geheimdienstes. Henry Hawthorne, der für das karibische Netz zuständige Agent mit Sitz in Kingston, kommt nach Havanna, um ihn zu kontaktieren. Wormold ist perplex. »Das klingt wie der Geheimdienst.« »Das ist der Geheimdienst, alter Junge, jedenfalls nennen ihn die Romanautoren so«, bekommt er zur Antwort. Hawthorne ist entschlossen, ihn zu rekrutieren und appelliert an den britischen Patriotismus seines Gesprächspartners. »Wir müssen auf unseren Mann in Havanna zählen können.« Und er macht ihm mit einem historischen Beispiel Mut: Während der Dreyfus-Affäre war die Hauptquelle des französischen Geheimdienstes eine Hausangestellte, die die Papierkörbe in der deutschen Botschaft in Paris durchsuchte. Es zählt nicht, dass er sich dazu nicht imstande sieht, selbst einfachste Menschen können spionieren. Und so wird Wormold der fünfte Punkt des britischen Geheimdienstnetzes, er wird zu Agent 59200/5. Er bekommt ein Gehalt von einhundertfünfzig Dollar monatlich und weitere einhundertfünfzig für 71
Spesen mit Beleg, ein Budget für das Gehalt der Unteragenten, die er rekrutieren muss, und den Mitgliedsbeitrag für den Havana Country Club (fünfhundert Pfund Sterling, zehnmal so viel wie für den Club von London). Worin die geheime Mission von Mr. Wormold besteht, erfährt man nie genau. »Ist denn in Kuba irgendetwas so wichtig, dass es einen Geheimdienst interessieren könnte?«, fragt jemand im Roman. Der denkbar unmöglichste Spion an dem denkbar unmöglichsten Ort für eine Spionagegeschichte: dem Havanna Ende der fünfziger Jahre. Obwohl die Stadt nach anderer Ansicht eine geopolitische Schlüsselposition hat: im Londoner Geheimdienstquartier sagt man, die Kommunisten seien immer dort, wo es Ärger gibt. Graham Greene wird auch nicht lange erklären, welche Mächte gegen den Agenten 59200/5 kämpfen. Wer spioniert den Spion aus? Welche Regierung macht den Londonern Wormolds Berichte streitig? Ob der amerikanische, der sowjetische, der westdeutsche oder sogar der rumänische Geheimdienst, bleibt offen. Mit Unser Mann in Havanna hat Greene einen komischen Roman geschrieben. Als Märchen bezeichnet er ihn in einem Vorwort. Er gibt ihm den Untertitel An Entertainment. All diese Hinweise 72
verhindern, dass der Leser Wormolds Taten mit Heldentum verwechselt oder auf den Gedanken kommt, der nichtssagende Staubsaugerverkäufer könne sich in den Retter der Welt verwandeln. Weder geistig noch körperlich ein Athlet, lässt sich James Wormold darauf ein, Spion im Dienst der britischen Regierung zu werden, genauso wie er die Handelsvertretung für neue skurrile Artikel übernommen hätte. Der Roman erzählt, was einem Vater geschieht, der zum Spion wird, um seine Familienangelegenheiten auf die Reihe zu bringen. Der Kalte Krieg und die mit einem solchen Konflikt verbundenen patriotischen Interessen wiegen weniger als die Tatsache, dass der Protagonist eine Möglichkeit gefunden hat, die Schulausbildung seiner Tochter zu bezahlen. Und Beatrice, Wormolds Sekretärin, die seine Komplizin und Geliebte wird, fasst alle Abenteuer des Buches in dieser Moral zusammen: »Ich kann an nichts Größeres glauben als an ein Zuhause, an nichts Vageres als an ein menschliches Wesen.« Unser Mann in Havanna singt Lobeshymnen auf den Familiensinn, der Roman hat etwas von einem Weihnachtsmärchen. (Nicht umsonst hat Wormold jahrelang Apparate verkauft, mit denen man das traute Heim vom Staub befreit.) Und er erzählt, was diesem Spion und Vater widerfährt, als er versucht, seine Mission zu erfüllen, ohne das Haus zu verlas73
sen. Wormold hat kein besonders schlechtes Gewissen, wenn er die Regierung seines Landes mit zugespielten Falschinformationen betrügt, während er sich das Budget einer erfundenen Gehaltsliste in die eigene Tasche steckt. Und wenn irgendein Unschuldiger wegen seiner falschen Berichte zu Tode kommt, wird das Thema Schuld locker gehandhabt. Die Tochter mit dem religiösen Fimmel lässt zu, dass Hauptmann Segura, kubanischer Polizeichef und notorischer Folterer, sie in seinem Auto von der Klosterschule abholt. »Er singt beim Fahren nur traurige mexikanische Lieder. Über Blumen und den Tod«, erzählt Milly, um die väterlichen Sorgen zu zerstreuen. Als er einmal gezwungen ist, mit Hauptmann Segura zu sprechen, erlebt Wormold in seiner Gegenwart erinnerungsloses Glück: »Sie lachten beide und tranken Daiquiris. Nichts leichter als an einem sonnigen Tag über den Gedanken an Folter zu lachen.« Die Tochter kann mit einem Folterer Umgang pflegen, der Vater kann betrügen, beide handeln mit Dispens. Greene ist weit davon entfernt, eine kompakte Illusion von Wirklichkeit anzustreben, diesmal will er nicht, dass der Leser vergisst, dass er sich in einem Trugbild befindet. Eher im Gegenteil: Unser Mann in Havanna ist keine Spionagegeschichte, eher ein Buch darüber, wie man eine Spionagegeschichte erfindet. Wie ein Trugbild lebendig wird. 74
Agent 59200/5 entnimmt dem Verzeichnis des Havana Country Club die Namen einiger Mitglieder und setzt sie auf die Gehaltsliste für geheime Unteragenten. Diesen fügt er einen Schiffsmaschinisten hinzu, den er bei einer Reise in die Provinz kennenlernt. Und er trägt eine Tänzerin aus dem Teatro Shanghai, einen Piloten der kubanischen Luftfahrtgesellschaft und den Oberkellner des Hotel Nacional ein. Jedem Namen teilt er einen Auftrag zu. Er stattet sie mit Charakterzügen und Schrullen aus und kassiert in ihrem Namen: Wormold tut nichts anderes als ein Verfasser fiktiver Werke. Auch Hawthorne, der Chef des karibischen Agentennetzes, bedient sich bei seiner Arbeit der Fiktion. Im Unterschied zu Wormold aber erfindet er seine Agenten nicht, er schönt nur ihre Biografien. Er befördert den Staubsaugervertreter zum Maschinenimporteur und will die Leute in der Londoner Zentrale glauben machen, dass James Wormold ein bedeutender Mann ist. Zum Glück für seine Erfindungen hat er in seinem direkten Vorgesetzten einen Komplizen. Die Verdienste des Agenten 59200/5 werden von diesem Staffellauf abhängen, in dem nicht nur Wormold fabuliert, sondern auch Hawthorne und der Londoner Chef. Der glaubt genau zu wissen, was für ein Musterexemplar dieser Wormold sein muss, und beschreibt das Geschäft in Havanna so großartig, 75
dass Hawthorne erleichtert aufatmet: »Der kleine Staubsaugerladen war rettungslos in der Flut der literarischen Fantasie des Chefs untergegangen.« »Unser Mann in Havanna«, heißt es in der Zentrale, »gehört sozusagen dem Zeitalter Kiplings an.« Und man bringt ihm bei, wie man Botschaften zwischen Havanna und Kingston vermittels zweier Exemplare von Charles Lambs ShakespeareErzählungen chiffriert. Allzu verdächtig ist Wormold von Gestalten mit literarischen Namen umgeben: Hawthorne, Cooper, Marlowe … (Einmal ist von einem Verdächtigen die Rede, dessen Schottentum nach Fälschung riecht wie Ossian.) Der Agent in Havanna nimmt Namen aus dem Mitgliederverzeichnis eines Clubs, stattet diese Namen mit Zeilen von einem durch Lamb vermittelten Shakespeare aus, und als exaktes Pendant versieht Graham Greene mehrere Gestalten mit Namen aus dem englischsprachigen Literaturverzeichnis. Kipling wird von Greene anscheinend genauso zusammengefasst wie Shakespeare bei Lamb, der »die ganzen Boten, Lakaien und die Verse« weglässt. Rudyard Kipling schreibt vor Greene über Abenteuer von Engländern in den Kolonien (die Ferne erlaubt eine Gleichstellung von Havanna und Kalkutta), und ein anderer berühmter englischsprachiger Autor ist ihm, was den Schauplatz des Romans angeht, zuvorgekommen. 76
Auf den ersten Seiten von Hemingways Haben und Nichthaben überquert Harry Morgan die Plaza de San Francisco de Asís in Havanna und betritt das nur wenige Meter von Wormolds Geschäft entfernte Café La Perla de San Francisco, in dem er von einer Schießerei überrascht wird. (Das Café wurde in der Calle Oficios 32 eröffnet, ging in den vierziger Jahren bankrott und wurde 1953 abgerissen.) Dafür dass er ihm zuvorgekommen ist, rächt Greene sich, als eine seiner Romanfiguren jemandem gegenüber auftrumpft, der so heißt wie Hemingways Figur. Doktor Hasselbacher, Wormolds Saufkumpan, der mit ihm in der Bar des Hotels Sevilla-Biltmore sitzt, droht einem anderen Gast namens Harry Morgan, der sie anspricht, damit, ihn verschwinden zu lassen. Er brauche nur einen Moment auf die Straße hinauszugehen, die Tür der Bar hinter sich zu lassen, und schon könne er Morgan seiner Existenz berauben. Wenn Morgan existiert, dann weil Doktor Hasselbach ihn erfunden hat, so wie der Saufkumpan des Doktors eine ganze Gehaltsliste an Spionen erfunden hat. Es hilft nichts, dass der Kerl ein Immobiliengeschäft in Miami hat und zu Hause Frau und Kinder auf ihn warten, Hasselbacher findet diese Realitätsbeweise so armselig, dass er Morgan eine ganze Palette an besseren Schicksalen offeriert: Maler, Dichter, oder ein abenteuerliches Leben als Schmuggler oder Geheimagent. 77
Großbritannien ist nicht mehr das, was es zu Kiplings Zeiten war, Harry Morgan ist kein Mann der Tat, wie ihn Hemingway zwanzig Jahre früher gezeichnet hatte: ohne Empire ist auch das Abenteuer nicht mehr machbar. Ein Mitgliedsverzeichnis eines Clubs dient als Agentennetz, die Pläne für das letzte Staubsaugermodell als strategisches Ziel. Und Doktor Hasselbachers Protzereien in der Bar werden bestraft, als James Wormold sie in die Tat umsetzt: seine Erfindungen bekommen ein Eigenleben, seit einer der Besitzer der usurpierten Namen tot aufgefunden wurde. Zuverlässigere Spione als der Staubsaugerverkäufer sind bereit zu morden. Agent 59200/5 stellt fest, dass literarische Erfindungen gewöhnlich Vorwarnungen sind. Mit dem Tod bedroht, gelingt es ihm, der Gefahr bei einem Bankett der European Trader’s Association im Hotel Nacional zu entkommen (das ihm zugedachte Gift wird von einem Dackel gefressen, der sofort stirbt), aber er muss die Leiche von Doktor Hasselbacher identifizieren, der in derselben Bar ermordet wurde, in der sie so viele Drinks gemeinsam zu sich genommen hatten. Der Wunsch, den Tod des Freundes zu rächen und sich die vom Hals zu schaffen, die ihn töten wollen, zwingt ihn zu tun, was er bis dahin immer vermieden hatte. Und weil die Sache ernst geworden ist, und das, was als Erfindung begonnen hatte, allmäh78
lich Wirklichkeitscharakter annimmt, muss er dem Geheimdienst, der ihn rekrutiert hatte, eine wertvolle Information geben. Zu diesem Zweck spielt Wormold eine originelle Damepartie mit Hauptmann Segura. Als Steine verwenden sie die von ihm über lange Zeit gesammelten Miniflaschen. Einer der Spieler zieht mit den Bourbonfläschchen, der andere mit den Scotchfläschchen (amerikanischer Whisky gegen britischen Whisky, man kann das als versteckten Machtkonflikt ansehen), und wer einen gegnerischen Stein nimmt, muss den Inhalt austrinken, was dazu beiträgt, das Kräftegleichgewicht der Kontrahenten wieder herzustellen. Die Partie ist eine Hommage an den toten Hasselbacher, der sich das einmal ausgedacht hatte. (1953 fanden die Interviewer von The Paris Review in Greenes Londoner Appartement eine Sammlung von vierundsiebzig Whiskyminiaturflaschen. »Die einzige Andeutung einer Obsession«, fanden sie.) Hauptmann Segura, der bessere Spieler, ist zuerst betrunken und schläft ein, und Wormold nutzt die Gelegenheit, um ihm die Pistole und eine Liste mit in Havanna operierenden Spionen verschiedener Nationalität zu entwenden. Mit der Pistole entledigt sich Wormold seines Verfolgers, der auch die Schuld am Tod von Hasselbacher trägt. Und die erbeutete Liste der Spione wird sein einziger Trumpf sein, den er dem Londoner Bü79
ro entgegenzuhalten hat, damit man ihm alle seine Betrügereien verzeiht: falsche Unteragenten, aus Artikeln der Lokalpresse zusammengestückelte Berichte, Pläne einer merkwürdigen Militäreinrichtung, die in Wahrheit nur ein enorm vergrößerter Staubsauger ist … Wormold wird aus der Stadt ausgewiesen, in der er zwanzig Jahre gelebt und (zwei Mal) die Liebe kennengelernt hatte, und kehrt nach London zurück. Er und seine Sekretärin und Geliebte überlegen bei einem letzten Treffen, welches Schicksal sie wohl erwartet. Sie wird man mit Sicherheit an einen fernen Ort wie Basra oder Djakarta versetzen. Er hingegen wird in England bleiben müssen. Sie treiben die Voraussagen sogar noch weiter und malen sie sich aus, wie Wormold seinen Lebensunterhalt ohne das Geschäft in Havanna verdienen könnte. Beatrice empfiehlt ihm, etwas Neues zu versuchen, einen Scherzartikelladen aufzumachen, in dem die blutige Daumenattrappe, scheinbar verschüttete Tinte und die unechte Fliege auf dem Zuckerstückchen aufeinandertreffen. Was als Staubsaugergeschäft angefangen hatte, könnte auf diese Weise in einem Scherzartikelladen enden. Die Leere (vacuum cleaner heißt der Staubsauger auf Englisch), die ein Spion romanhaft füllt, endet als Illusion im Spielzeugmaßstab. Das Blut am Daumen hätten, im Falle ihres Todes, die Spione aus 80
dem Reitclub vergossen. In einem einzigen Individuum könnten Geschichtenerzähler, Spion und Scherzartikelverkäufer perfekt nebeneinander bestehen. Doch auf den letzten Seiten des Romans wird James Wormold ein anderes Schicksal beschert. In das Hauptbüro bestellt, fragte sich Ex-Agent 59200/5, ob er im Morgengrauen erschossen wird. Man befiehlt ihm, Platz zu nehmen, er erwidert, er würde das Gespräch lieber im Stehen führen, und seine Worte klingen für den Chef, als handele es sich um einen Satz aus dem Amateurtheater. (Nach der Plagiierung einer Mitgliederliste und eines Haushaltsgeräts war jede Äußerung Wormolds mit Anführungszeichen versehen.) Und dann, so unglaublich es klingen mag (obwohl, was kann an einem Spionagemärchen unglaublich sein?), bekommt Wormold einen Posten als Ausbilder. Er soll den Neulingen des Geheimdienstes beibringen, wie man eine Station im Ausland leitet. Und er bekommt für seine geleisteten Dienste den Orden des British Empire. Tochter Milly kann auf das Schweizer Internat gehen, wo man ihr den letzten Schliff geben wird. Denn an Charakter mangelt es ihr nicht.
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Lässt man die nur flüchtig auftauchenden falschen Unteragenten von Wormold weg, gibt es in Unser Mann in Havanna nur eine einzige kubanische Figur. Es ist der Polizeichef des Stadtteils Vedado, ein auf Folter spezialisierter Hauptmann namens Segura, genannt »Der rote Aasgeier«, und er ist stolz auf diesen Spitznamen: »In Kuba ist das eine Art Kompliment.« Hauptmann Segura sagt von sich, er könne unterscheiden, ob jemand zur Klasse der Folterbaren gehört. Denn seiner Meinung nach gibt es Leute, die damit rechnen, gefoltert zu werden, und andere, die bei dem Gedanken empört wären. »Man foltert immer nur in einer Art von gegenseitigem Einverständnis«, sagt er. Für ihn ist die Folter ein intimer Pakt. Wie bei dem sadomasochistischen Pakt mag man, was zwischen Folterer und Gefolterten passiert, als Abnormität, als Verirrung betrachten, aber man kann es nicht vor Gericht bringen. Denn es ist nicht die Aufgabe der Justiz, sich in das einzumischen, was zwei Erwachsene im gegenseitigen Einverständnis in einem abgeschlossenen Raum tun. Und so können vor der Weltöffentlichkeit bei einem Regime wie dem kuba82
nischen kriminelle Handlungen durchgehen, solange nicht der falsche Personenkreis beteiligt ist, solange die Opfer aus der Klasse der Folterbaren kommen. Trotzdem ist die Pistole von Hauptmann Segura stets geladen und sein Blick nach Miami gerichtet, für den Fall, dass eine Revolution siegen sollte. Wormold fragt ihn, was den Geheimdienst einer ausländischen Macht dazu bringen könnte, sich für die Insel zu interessieren, und Seguras Hellsicht in politischen Dingen gestattet es ihm vorherzusagen, welchen Kurs das kubanische Exil nehmen wird, und welch Schlüsselrolle das kleine Land vier Jahre später als sowjetische Speerspitze gegen die Amerikaner spielen wird. »Trotzdem, er war gar nicht so übel«, fasst Wormold seinen Eindruck zusammen, bevor er das Flugzeug nimmt und den kubanischen Schergen aus den Augen verliert. Segura ist gekommen, um sich von Vater und Tochter zu verabschieden, um sich zu vergewissern, dass der gegen sie verhängte Ausweisungsbefehl erfüllt wird. Seine Macht über die ausländischen Bürger, in Mehrheit nicht folterbar, konzentriert sich auf die Aufenthaltsgenehmigungen im Land. In der Verfilmung von Carol Reed droht der Hauptmann Wormold mit Abschiebung, falls er nicht bereit sei, ihm geheime Informationen zu geben. Der Film, der drei Monate nach dem Sieg der Re83
volution von 1959 gedreht wurde, dämpft die Wertschätzung, mit der Wormold sich von Segura im Roman verabschiedet. Er gesteht ihm höchstens einen von plumpen Witzen geprägten Sinn für Humor zu, einen Humor, wie er zu einem Henker passt. Als er das Drehbuch schrieb, fügte Graham Greene der knappen Biografie von Hauptmann Segura ein paar Jahre an der Klosterschule hinzu, auf die auch Wormolds Tochter geht. Und um das Ganze noch brisanter zu machen, war der Polizeichef ein Klassenkamerad der jetzigen Mutter Oberin der Schule. Was seine Schulzeit angeht, erinnert er sich vor allem daran, wie er die Mädchen angesehen und sich geschworen hatte, eines Tages ihren Klassendünkel zu besiegen. Seine Annäherung an Milly resultiert also aus diesem kindlichen Vorhaben. Aus seiner Vergangenheit hat der Hauptmann ein Zigarettenetui aufbewahrt, ein ausgesprochen seltsames Stück. Wormold interessiert sich dafür und bittet ihn zu dementieren, was Teil seiner schwarzen Legende als Polizeichef sein muss. Aber Segura bringt diesem Zigarettenetui aus Menschenhaut offensichtlich genauso viel Wertschätzung entgegen wie dem Spitznamen roter Aasgeier. Es handelt sich in gewisser Weise um eine Familienreliquie, ein Erbstück seines Vaters. Der war, vielleicht weil er zu der geeigneten Klasse gehörte, 84
gefoltert worden. Aber selbst wenn es eine Übereinkunft zwischen seinem Folterer und ihm gab, selbst wenn die Permissivität seitens des Opfers zu weit ging, dem Sohn ist das herzlich egal: das Zigarettenetui, mit dem er spielt, während er sich unterhält, ist mit der Haut des Mannes überzogen, der seinen Vater folterte, es erzählt von einer zyklischen Geschichte, in der der Folterer von heute sich an dem Folterer von einst rächt. Es ist auch denkbar, dass Segura sich mit der Praxis körperlicher Qual vertraut gemacht hat, um nicht dasselbe Schicksal zu erleiden wie sein Vater. Folterer, um nicht gefoltert zu werden, roter Aasgeier, um der Klasse der Folterbaren zu entkommen – die Familienrache hat ihn zum Nachfolger des Peinigers seines Vaters gemacht, sie hat ihm dies Zigarettenetui beschert und zwingt ihn, seine Pistole stets geladen zu haben, aus Furcht, ein Stück seiner Haut könnte als Kofferfutter enden. Heute selbst Folterer, rächt er sich an dem ehemaligen Peiniger, und er fürchtet die Revolution, die makabre Spielchen mit seinem Körper anordnen könnte. (Sollte das politische Regime stürzen, das er mit seinen Gräueltaten stützt, müsste er rasch fliehen. Er wird ein Land hinter sich lassen, das gezwungen ist, immer dieselbe Episode zu wiederholen, in der die Rollen wechseln, das Repertoire aber begrenzt ist: Opfer oder Mörder.) 85
Unser Mann in Havanna erschien 1958. Eine erste von Greene geplante Version spielte 1938 in Tallin, der Hauptstadt von Estland, »ein angemessener Ort für die Spionage«. Anstatt der Tochter mit Faible für Rassepferde hatte Wormold da eine verschwenderische Ehefrau, die er zufriedenstellen musste. Aber dieses Projekt ging nicht über eine Skizze von einer Seite hinaus. Mehrere Reisen nach Havanna veranlassten Greene, den Schauplatz der Geschichte zu verlegen. In einer 1970 zu dem Roman verfassten Einführung, sagt er, er habe die Atmosphäre in Havanna sehr genossen, und er gesteht, dass keiner seiner ersten Aufenthalte lang genug war, um sich wirklich ein Bild von der Lage im Land zu machen, von den willkürlichen Verhaftungen, den Folterungen. Er hatte noch keine Kubaner kennengelernt und er kannte keine Ecke der Insel außerhalb von Havanna. Die berühmten Daiquiris des Floridita, die im selben Restaurant servierten Krebse, das Bordellleben, das Roulette in den Hotels, das Teatro Shanghai, wo man für einen Dollar fünfundzwanzig (damals ein Peso und fünfundzwanzig kubanische Centavos) Pornofilme und Revuen sehen konnte – all das zog Graham Greene nach Havanna. »In search of pleasure for my punishment«, erinnert er sich mit einem Satz des viktorianischen Orientalisten Wilfred Scawen Blunt. In seiner Einführung aus dem Jahr 86
1970 gibt Greene bescheidene Verluste beim Roulette, den Konsum von Marihuana und einem harmlosen Pulver zu, das man ihm als Kokain verkaufte, den Besuch einer Darbietung von Superman und einer Mulattin im Shanghai, und die eines Lesbenpaares im Blue Moon. Bei einem dieser Aufenthalte dämmerte ihm, dass diese außergewöhnliche Stadt, in der jedes Laster erlaubt war, wo jedes Geschäft machbar war, der wahre Schauplatz für seinen Roman sein konnte. Da fing er an, von seiner Unkenntnis des kubanischen Lebens zu genesen: er gewann Freunde, mietete ein Auto, reiste in den Osten der Insel. (Der Fahrer des Autos, der in der Sache mit dem falschen Kokain mit drinsteckte, würde ihn in die Symbolik der Lotterie einweihen, die sich Doktor Hasselbacher dann im Roman zu eigen macht.) Havanna tritt also an die Stelle von Tallin. Und der Roman spielt nicht 1938, zu einer Zeit, in der die Geschichte eines betrügerischen Spions alles andere als ein Spaß gewesen wäre, sondern zwanzig Jahre später. Graham Greene fragte sich, wer sich das Überleben des westlichen Kapitalismus zur Herzenssache machen würde und schätzte, dass Wormold als Agent und Clown in der Absurdität des Kalten Krieges seinen Platz finden würde. Ein Jahr nach Veröffentlichung des Romans kam es in Kuba zu der von Hauptmann Segura befürchte87
ten Revolution (demjenigen, der als Modell für die Figur diente, gelang tatsächlich die Flucht nach Miami.) Und drei Jahre nach dem Sieg der Revolution wurden sowjetische Atomraketen auf kubanischem Gebiet stationiert. Obwohl zu dem Zeitpunkt das Überleben des westlichen Kapitalismus für viele keine Herzensangelegenheit mehr war, hatte das Thema doch viel von der Leichtigkeit verloren, von der Graham Greene ausgegangen war. Havanna hatte eine geopolitische Schlüsselposition. Die Kommunisten (»die Kommunisten sind immer da, wo es Ärger gibt«) hatten sich im Land niedergelassen. Und da das von Agent Wormold entdeckte vorgetäuschte strategische Ziel dem sowjetischen Atomraketenlager entsprach, konnte man Unser Mann in Havanna für einen Prolog der Raketenkrise halten. Im Oktober 1962 wurden aus der kubanischen Hauptstadt alle Kinder evakuiert (zumindest machte die Stille in der Stadt einen das glauben), das Heer hatte sich verschanzt und wartete, und man hörte gespannt die Nachrichten auf Kurzwelle. Jeden Moment konnte es zur Apokalypse kommen. Aber ein Zeuge all dieser Zeichen, der Schriftsteller Antonio Benítez Rojo, wusste, dass keine Gefahr drohte. Er wusste es, seit er unter seinem Balkon zwei schwarze alte Frauen gesehen hatte, die, wie er sagt, »auf eine bestimmte Art« vorbeigingen. 88
Benítez Rojo hat versucht erklären, was er damit meinte: »Da war güldener, uralter Staub zwischen ihren knorrigen Beinen, ein Geruch nach Basilikum und Minze in ihren Kleidern, eine symbolische, rituelle Weisheit in ihren Gesten und ihrem Geplauder.« Er brauchte Hoffnung, und so legte der Augenzeuge in die Kleider der Frauen einen Geruch, den er unmöglich von seinem Balkon aus hatte wahrnehmen können. Er stattete sie mit einer Weisheit aus, die man allenfalls ihren Kaffeesatz lesenden Ahninnen zugeschrieben hätte. (In vorgerücktem Alter, wieder zurück in Dänemark sprach Isak Dinesen [= Tania Blixen] vor einer Damengesellschaft über die Quellen der Macht der alten Frauen, denen sie in Afrika begegnet war: »Den alten Frauen dort bleibt der Trost der Zauberei; ihre Begabung für die Hexerei ist vergleichbar mit ihren Verführungskünsten. Ich verstehe nicht, wie wir, die wir mit Zauberei nichts am Hut haben, es ertragen können, alt zu werden.«) An einem Tag während der Raketenkrise 1962 spazieren zwei Zauberinnen unter dem Balkon von Antonio Benítez Rojo entlang. Töchter von Göttern oder selbst Göttinnen, die die Kriegsbedrohung nicht anficht. Sie überqueren den für die Schlacht bestimmten Ort, als ob die Vorbereitungen und Ängste vollkommen unwichtig seien. Sie machen die heißeste Episode des Kalten Krieges zur Nichtigkeit. 89
Sie könnten Diktaturen, Revolutionen und Weltkriege überleben, sie würden trotzdem ihr Gespräch, die Plauderei, den Spaziergang durch die Stadt fortsetzen, ob in Ruinen oder nicht. Die Ungerührtheit dieser beiden Frauen erlaubte es Benítez Rojo, die Stationierung der sowjetischen Raketen in Kuba so zu beschreiben, als handele es sich um die Inbetriebnahme einer russischen Maschine, einer Erd-, einer Steppenmaschine, gemacht für die Weite und nicht für die Küstenlandschaft Kubas. Oder um einen elektrischen Staubsauger sowjetischen Fabrikats, ersonnen vom Protagonisten Graham Greenes. Und auch Wormold erlebte eine Art Epiphanie angesichts der Apokalypse: »Die Grausamen kommen und gehen wie Städte, Throne, Mächte und lassen ihre Verwüstungen zurück. Sie waren nicht von Dauer. Aber der Clown, den er letztes Jahr mit Milly im Zirkus gesehen hatte – dieser Clown war von Dauer, denn seine Nummer änderte sich nie.« Zwei schwarze Frauen und ein Clown lehrten, das Flüchtige vom Dauerhaften zu trennen. Die Geschichte könnte so zyklisch und schrecklich sein, wie es das Zigarettenetui aus Menschenhaut und die immer geladene Pistole von Hauptmann Segura glauben machen wollten. Aber etwas mehr schien es dahinter doch zu geben. Davon zeugen einige Details, die im Verlauf des 90
Green’schen Romans zur Sprache kommen. Wenn man es fast ein halbes Jahrhundert nach Erscheinen in Kuba liest, dann sind es gerade diese scheinbar unwesentlichen Zeilen aus Unser Mann in Havanna, die jetzt größeres Interesse wecken. Sie entsprechen den Außenansichten der Stadt in Carol Reeds Film, den Minuten, in denen wir in das Sloppy Joe’s hineinschauen können, während Alec Guiness und Nöel Coward sich unterhalten. Jahrzehntelang schien das von Graham Greene beschriebene Havanna literarisch, fern, archäologisch. Kurz nach dem Sieg der Revolution 1959 wurden das Teatro Shanghai geschlossen und die Prostitution verboten. Die Spielsalons wurden geplündert und die öffentliche Lotterie abgeschafft. Die Drogen wurden so weit in den Untergrund gedrängt, dass sie aus dem Blick verschwanden. Beim Sloppy Joe’s und anderen Bars wurden die Rollläden geschlossen; sie wurden zu Ruinen. Auf der Straße Musik zu machen, wurde als eine Form von Müßiggang betrachtet, und es wurde ein Gesetz erlassen, das alle bestrafte, die nicht arbeiteten. Wenn in Havanna noch das ein oder andere Cabaret betrieben wurde, dann für ausländische Delegationen, die die Stadt besuchten. Das Land schloss seine Strände und konzentrierte seine gesamte Aufmerksamkeit auf die geheimen Arsenale: Raketen oder Radaranlagen. Die Kriegsindustrie ersetzte die 91
Fremdenverkehrsindustrie, Kriegsvorbereitungen traten an die Stelle des Touristengeschäfts. Die Musik wurde durch Reden ersetzt, die Prostitution durch eine gänzlich andere Zurschaustellung der Körper. Havanna wurde zum Schauplatz eines Krieges erklärt, der Jahrzehnte dauern sollte. Bis heute. Denn nachdem die Raketenkrise vorbei war, lohnte es sich, weiterhin auf die militärische Bedrohung aus dem Ausland zu setzen. (Was gibt es Besseres als einen guten Feind, das schweißt zusammen und verleiht Persönlichkeit.) Die kubanische Hauptstadt begann, unter einer mehr oder weniger flexiblen Sperrstunde zu leben. Der Elan, der darauf verschwendet wurde, einen Körper in einem Bordell oder Cabaret in Szene zu setzen, der Wettstreit der Zahlen in der Lotterie oder beim Roulette, all das wurde fortan auf die Kampagne konzentriert, eine kleine Insel politisch unvergesslich zu machen. Die Verlockungen des Fremdenverkehrs dienten, entsprechend recycled, der Politik. Bis man aus dem Ausnahmezustand, der Sperrstunde, touristischen Gewinn zog. Bis man Kuba zu einem Themenpark des Kalten Krieges gemacht hatte und es gelungen war, auf irgendeine Weise das von Graham Greene beschriebene Havanna mit dem Havanna einer Kriegserinnerung von Antonio Benítez Rojo zu versöhnen.
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FIESTA BLACK BOX
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Ich will erzählen, wie das Vergnügen und das Feiern zu Beginn der neunziger Jahre nach Havanna zurückkehrten. Und wie es dreißig Jahre zuvor verbannt wurde. So wie man eine Black Box öffnet und die Aufnahmen einer Katastrophe untersucht. Ich muss mit den apagones, den Stromausfällen, beginnen, sodass die Geschehnisse förmlich aus dem Dunkeln sprießen. Denn so manches kann man im Dunkeln am besten sehen. Da wäre also eine Hauptstadt im Dunkeln, mit häufigen Stromausfällen. So viele wie ein Selbstmörder Narben hat, der davon besessen ist, dem Ende jedes Mal ein wenig näher zu kommen, ein asymptotischer Selbstmörder sozusagen. (Welch andere Vorstellung vom Fortschritt als der einer sukzessiven Annäherung an den Selbstmord sollte man von einem Stromausfall nach dem anderen, von tagelanger Dunkelheit, gewinnen? Und wo soll das Ganze erst hinführen, wenn nicht von Ausfall, sondern von Lichtphasen die Rede ist?) Anfangs hielten sich die Stromversorger noch an die in der Zeitung angekündigten Unterbrechungen. Doch dann erklärten sie die Ankündigungen für 94
überflüssig, und diese blieben weit hinter den Beeinträchtigungen zurück. Die Bürokraten rechtfertigten sich: Wie sollte man denn auch ein genaues Verzeichnis künftiger Unfälle erstellen? Es sei doch besser, wenn die Leute die Ausfälle als natürlichen Zwischenfall hinnehmen, wie den Einschlag eines Meteoriten auf nationalem Territorium. Wo gab es das schon, das Hin und Her psychologischer Folter, à la carte angekündigt? Anfang der neunziger Jahre war Havanna eine tote Stadt. In Erwartung weiterer Bombenangriffe, obgleich sie Derartiges noch nie erlebt hatte. Die Straßen verwandelt in die finstere Höhle des Löwen. Der Einbruch der Nacht hatte mit dem Fall der Mauer in Berlin begonnen. Oder mit dem Abbruch der Beziehungen zu den Vereinigten Staaten. Oder mit dem Ausbleiben des sowjetischen Öls. Doch warum sich unnötig den Kopf über die Ursachen zerbrechen? Es gab sie einfach, diese Stromausfälle. Das verlassene Havanna, ohne umherfahrende Autos, ohne öffentliche Verkehrsmittel. Nur hier und da, aus Respekt gegenüber den ausländischen Besuchern, strahlten die Hotels wie beleuchtete Aquarien in der Nacht. Es waren die Hotels aus Greenes Roman, mitten im finsteren Tal der Kuba-Krise. Auf sie konzentrier95
te sich das Partyleben, und wer das nicht verpassen wollte, flüchtete vor dem Stromausfall in die Aquarien. Man gab sich durch einen bestimmten Kleidungsstil zu erkennen: Eng anliegende Kleidung, bein- und bauchnabelfrei bei den Frauen und nackte Arme bei den Männern. Der weibliche Bauchnabel weist nämlich relativ eindeutig auf die Körperöffnung hin, und die Beine versprechen, den zu umklammern, der in diese Öffnung eindringt. Auch die männlichen Arme spielen, wie die Beine der Frauen, auf die Umarmung an, und in zweiter Linie auf den Penis. Sie kleideten sich vorzugsweise schwarz. Das Schwarz diente ihnen in der Dunkelheit, auf dem Weg von einem Hotel zum anderen, als Tarnung. Sie trugen Schuhe, die sie erhoben und die der Figur schmeichelten. Hohe Absätze bei den Frauen. Stiefel mit Schnallen und versilberten Beschlägen für die Männer. Der Vamp und der Stadtcowboy. Man sollte sie später als Jineteros bezeichnen, oder vielleicht gaben sie sich auch selbst diesen Namen. Wenn es dunkel wurde und es in ihren Wohnungen kein Licht gab, prostituierten sie sich in der Nähe der Kriegshotels. Es genügte ihnen, ein paar Stunden vor einem Glas oder in einer erleuchteten Lobby sitzen zu können, zumindest von außen betrachtet schienen sie nicht sonderlich am Geschäft interessiert. 96
In einem Hotel zu sein war an sich schon etwas Wunderbares. Wie elektrischer Strom. Als beträte man eine andere Welt. Ein Bier, ein bequemes Sofa, gut gekleidete, gesund aussehende Leute waren Grund genug, das Haus zu verlassen. Und wenn sie auf einen Ausländer trafen, der nicht abgeneigt war, dann gab es keine Hektik, kein aufs Zimmer hetzen. Stattdessen ein sich Schlängeln, mäandernde Prostitution. Ein wenig Hetärentum, aufgeklärtes Hurentum. Das uralte Gewerbe kehrte nach Havanna zurück, aber ein Großteil seiner Mechanismen schien auf dem Rückweg verloren gegangen zu sein. Denn unter dem Gesichtspunkt der Effizienz betrachtet – berücksichtigte man den Aufwand, das Herausputzen, das Umgehen der polizeilichen Überwachung, den Getränkekonsum, um nur wenig oder vielleicht nichts aus der Nacht herauszuholen –, war diese Prostitution so ineffektiv wie die wirtschaftlichen Unternehmungen der Regierung. Selbst nicht allzu strenge Zuhälter hätten über die Arbeit dieser Prostituierten den Kopf geschüttelt. Warum verloren sie ihre Zeit mit Vorgeplänkel und Warten und indem sie die Minute hinauszögerten, in der sie den Aufzug nahmen? In einem Land, das durch einen Krieg zerstört wurde, der nie stattfand, verwechselten diese Wesen Launen und Bedürfnisse. 97
Sie konnten sich auf ihre langsame Art nur für ein Bier prostituieren. Sie hatten eine neue Sentimentalität entdeckt, eine erbitterte Liebe für Artikel, die es nur in Hotels für ausländisches Geld gab. Sie spielten Lust vor, um sie zu schenken, so wie es das Gewerbe seit Babylon erfordert. Aber sie gingen weiter, sie täuschten sogar persönliche Zuneigung und ein relativ zweitrangiges Interesse am Geld vor. Sie überraschten ihre Freier mit einer völlig neuen Art der Tarifgestaltung. Sie blieben auch noch, nachdem sie die vereinbarte Summe eingestrichen hatten, wenn das Taxameter nicht mehr lief. (Zu Hause gab es keinen Strom, viele Leute schliefen in einem Zimmer, oder es gab gar keine Wohnung.) Und wenn jedes Grundbedürfnis auf den Rang einer Luxuslaune gehoben wurde, wurde es schwierig, Beziehung und Prostitution voneinander abzugrenzen. »Worauf warten sie denn noch?«, fragte sich die Kundschaft, nachdem sie befriedigt war. Es waren metaphysisch angehauchte Huren und Stricher, der größte Teil von ihnen maß der körperlichen Wirkung wenig Bedeutung bei. Als uralte Vertreter des Gewerbes waren sie über Sex erhaben. Ihren Freiern schenkten sie vor allem eines: Zeit. Sie baten, man möge sich mit einer Reise revanchieren. Als Gegenleistung für Geografie boten sie Geschichte. 98
Sie belagerten Hotels, weil sie das mit Botschaften und Konsulaten nicht länger machen konnten. Das Geld hätte vor ihren Augen herumflattern können, sie hätten es phlegmatisch hingenommen. Was war schon ein Geldgeschäft, wenn man es mit diesem anderen verglich, bei dem sie Zeit gegen Raum tauschten? Wenn sie die angestrahlten Aquarien betraten, umgingen sie die Apartheid, die Einheimischen die Anwesenheit in den Hotels untersagte. Sie bestachen die Portiers und die Empfangschefs. Sie waren mit Goldkettchen und Ringen behangen, und wenn die Polizei sie geschnappt hätte, hätten sie den Hunden goldene Knochen vorgeworfen. Gold auf Schwarz, so kultivierten sie in ihrer Kleidung die melancholische Eleganz der Habsburger. Sie setzten auf die Schönheit, ein anderer Name für die fiesta. »In Havanna zu leben war wie das Leben in einer Fabrik, menschliche Schönheit, am Fließband produziert«, hatte Graham Greene über die Stadt in den fünfziger Jahren geschrieben. Ein Bier, ein Lied, ein Parfum, jede dahingleitende Schönheit war ein mächtiges Symbol. Sie sahen die Hotels als Verheißung eines kommenden Lebens. Sie suchten verzweifelt einen Ausgang dorthin, wo ein Leben im Hotel nicht die große Ausnahme war. Und während die offizielle Rhetorik behauptete, die Wür99
de im Land sei unverletzt, tat die neue Prostitution das ihre, damit auch die Schönheitserwartungen nicht unberücksichtigt blieben. Ihr Clan-Stolz bestand darin, eine unverzichtbare Dosis an Schönheit zu verteidigen. Die Jineteras und die Jineteros waren die einzigen Ästheten in dem, was regierungsseitig »Sonderperiode in Friedenszeiten« genannt wurde und eine nicht unbedeutende Krise in der Krise war, die wir seit Jahrzehnten mit uns herumschleppten. 2
»Heute, an einem wolkenlosen Morgen, sitze ich an meinem Tisch und sehe durch das Fenster den statischen Tumult der rechteckigen Quader, und ich fühle mich von dem bösartigen Leiden geheilt, das mir beinahe Kubas Wahrheit verschleiert hätte: die Retinitis Pigmentosa.« Es ist ein Tag im Jahr 1960. Dem Schreibenden zu Füßen liegt das Stadtviertel Vedado. Der da schreibt, ist Jean-Paul Sartre. Es ist seine zweite Reise nach Kuba. Die erste, die er hin und wieder zu Vergleichen heranzieht, fand im Jahre 1949 statt. Bis zu dem Morgen hatte Sartre noch nie etwas von Retinitis Pigmentosa gehört. Er hat die Trübung des Sehvermögens nicht bemerkt, auch wenn er be100
hauptet, darunter zu leiden. (Er schielt, das ja.) Er hört den Namen der Krankheit in der Rede eines kubanischen Beamten und beschließt, ihn sich anzueignen. Diesem Beamten zufolge leidet jeder, der ein glückliches Bild vom vorrevolutionären Kuba hat (zum Beispiel Graham Greene bei seinem ersten Urlaub) an Retinitis Pigmentosa oder dem Verlust des periphären Sehfeldes. Er sieht die kubanische Wirklichkeit von vorn, wie durch einen Tunnel, aber der Seitenblick ist ihm verwehrt. Und genau dieses Stück Wirklichkeit ist ihm entgangen. Jean-Paul Sartre machte die ophtalmologische Anmerkung am Anfang von Ouragan sur le sucre. Er stimmt sein Instrument, den Blick, bevor er eine lange Suite mit kubanischen Themen à la Gottschalk oder Gershwin anstimmt. Der ärztliche Hinweis dient ihm als Warnung, dass ihm auf seiner vorhergehenden Reise die periphäre Sicht nur eingeschränkt zur Verfügung stand. Elf Jahre später, 1960, nimmt er sich vor, nichts zu übersehen. Man muss nur einen Blick auf die Fotos werfen, die ihn bei seinem zweiten Kuba-Aufenthalt zeigen. Immer im Anzug, eine Zigarette in der Hand, scheint sein schielender Blick alles erfassen zu wollen. Wie bei den Reptilien, die beide Augen unabhängig voneinander bewegen und rundum alles einfangen können. 101
Im Glaskasten seiner Brille, genau wie eines dieser Reptilien. Sartre liest in einem Exemplar der Zeitung Revolución, und unter der Anzeige, dass Kuba einen Vorstoß macht, die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten wieder aufzunehmen, erscheint im Vordergrund ein großes Bild von ihm. Er studiert im Sitz eines Flugzeugs eine Landkarte der Insel. Man fotografiert ihn am Mausoleum von José Marti auf dem Friedhof von Santiago de Cuba. Er besucht eine Zuckerfabrik und eine im Bau befindliche Stadt auf dem Land. Er nimmt, gemeinsam mit dem Revolutionsführer, an der Aufführung seines Theaterstücks La putain respectueuse (»Die anständige Hure«) in Havanna teil. Es ist das erste Mal, dass der Revolutionsführer einer Theateraufführung beiwohnt. Als der Vorhang fällt, wagt eine Schauspielerin es, ihn zu fragen, ob es stimme, dass er der Prostitution ein Ende machen wolle. Worauf der Führer mit Ja antwortet: Er wird die Prostituierten zu Taxifahrerinnen machen. Sartre hält ein Treffen mit kubanischen Schriftstellern ab, bei dem er ausführlich über den sowjetischen sozialistischen Realismus und das politische Engagement des Schriftstellers spricht. Er isst in einer Kneipe, deren Tafel chinesisches 102
und kubanisches Essen zu jeder Tages- und Nachtzeit verspricht. Er nimmt an einer der großen politischen Versammlungen teil. (Dort wird zum ersten Mal die Losung »Vaterland oder Tod!« ausgerufen und das bekannteste Foto von Ernesto Guevara geschossen. In ihren Memoiren aus der Zeit zwischen 1944 und 1962 nennt Simone de Beauvoir diese Versammlung in einem Atemzug mit einer Opernaufführung in Peking, einem Stierkampf in Huelva, Candomblé in Bahia, dem Anblick der Wüste, den weißen Nächten von Leningrad, einem orangefarbenen Mond über Piräus und den Glocken am Kriegsende.) »Sartre, das ist Sartre!«, rufen die Taxifahrer, wenn sie ihn sehen. Bei seinem Besuch im Büro von Comandante Guevara tauscht er die Zigarette gegen eine Havanna. Der andere gibt ihm Feuer. Sie trinken einen Kaffee zusammen. Guevara sitzt auf einem höheren Sessel als seine Besucher. Ein Büro wie aus einem TV-Szenario. »In diesem Büro wird es niemals Nacht«, beschreibt es Sartre. Als sei dieses Büro eine Reproduktion für ein Wachsfigurenkabinett. Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre sitzen nicht der Person selbst, sondern einem getreuen Abbild von Guevara gegenüber. Wegen der perfekt polierten Stiefel? Wegen der plastikartigen Textur seines Waffenrocks? Man 103
merkt jedenfalls, dass das Franzosenpaar und der argentinisch-kubanische Militär nicht zusammensitzen. (Und wenn doch, dann in einer misslungenen Fotomontage.) Sartre isst in denselben Restaurants, in denen sich vorher Graham Greene vergnügte. Er spaziert über den Paseo del Prado. Untergebracht hat man ihn in einem Zimmer im Hotel Nacional, in das sein gesamtes Pariser Appartement passen würde. Bei der Beschreibung des Zimmers erwähnt er Seide, Paravents, gestickte Blumen und Blumendekors auf Krügen, zwei Doppelbetten für ihn allein. (Simone de Beauvoir hat ein eigenes Zimmer, so wie jeder der beiden auch in Paris seine eigene Wohnung hat.) Sartre kommt zum ersten Mal in den Genuss einer Klimaanlage. Er betrachtet die Stadt von einem ihrer schönsten Aussichtspunkte aus. »Ich brauchte nur die Vorhänge aufzuziehen, als ich ankam: Ich sah, wie lange grazile Gespenster zum Himmel aufstiegen.« Die modernen Gebäude des VedadoViertels setzt er mit der vorhergehenden politischen Erniedrigung Kubas gleich. Die Nachtclubs sind zahlreicher als bei seinem letzten Besuch. »In El Prado wimmelt es nur so davon: Über den Eingängen ist der Strom in seinem Element, lockende, blinkende Namenszüge verletzen 104
das Auge des Betrachters.« (Wieder die Augenprobleme.) Er sieht die Menschentrauben an den Spieltischen des Tropicana, aber die nächtliche Stadt ist nicht mehr die, durch die Graham Greene streifte. Spielautomaten sind verboten. Die Lotterie gibt es nach einigen Anpassungen noch. Die Kasinos der großen Hotels sind noch geöffnet, aber ihre Einnahmen wandern in die Staatskasse. Dem nächtlichen Havanna bleibt nur noch wenig Zeit. Sartre hatte den Auftrag, ein paar Artikel über die Ereignisse auf der Insel zu schreiben. Er ist der Mann in Havanna von L’Express. Aber bei seinem Besuch in Kuba beklagt er sich über geringe Auflage und das wöchentliche Erscheinen des Blattes und wechselt zu France Soir, wo er sich verbreiten kann. Er schreibt Ouragan für ein Millionenpublikum, aber auch das erklärt nicht das Dümmliche einiger Fragmente. So zum Beispiel, wenn er über die Bärte und die langen Mähnen der kubanischen Revolutionäre schreibt: »Ich habe schwarze Flüsse die Brust bis zum Zwerchfell bedecken sehen, und ich habe glatte Gesichter gesehen, bei denen verzweifelt ein paar Haare am Übergang vom Kinn zum Hals gezüchtet werden. Gerade noch bewunderte ich den Fächer eines Bartes, da setzte der Besitzer seine Militärmütze ab und 105
zeigte mir eine frühe Glatze. Bei den blutjungen Helden der letzten Kämpfe ist das Gesicht glatt, haarlos wie das eines jungen Mädchens, aber die Mähne fällt ihnen bis auf die Schulter.« Da es Sartre ist, darf die philosophische Schlussfolgerung nicht fehlen: »Die extrem verschiedenen Kombinationen zeugen, bei aller Disziplin, von einem tiefen Individualismus.« Er gibt zu, seit seiner Ankunft in Kuba weniger Bärte gesehen zu haben als an einem Nachmittag in Saint Germain des Prés. Wozu also der ganze ModeSchnickschnack bei der Beschreibung neuer Haartrachten? Exotismus, die Suche nach Erklärung fremder Schönheit – das ist es, was hinter diesen und anderen Fragmenten von Sartres Kuba zu stehen scheint. Bezeichnend sind auch einige seiner scharfsinnigeren Gedanken: »Gäbe es die Vereinigten Staaten nicht, würde die kubanische Revolution sie vielleicht erfinden, sie konservieren ihre Frische und Originalität.« Und sybillinisch beschließt er den öffentlichen Dialog mit kubanischen Schriftstellern mit folgenden Worten: »Vergessen Sie nicht, dass die Intellektuellen nirgends glücklich sind. Kuba ist Ihr Paradies, und ich wünsche Ihnen, dass das so bleibt, dass es immer so sein wird.« Im Havanna von 1960 stellt Sartre fest, dass einige 106
Bordelle geschlossen wurden und andere nach wie vor betrieben werden. Nach einem Jahr Revolution an der Macht gibt es noch die staatliche Lotterie, sind Kasinos und Bordelle noch geöffnet. Und da angeblich eines der Charakteristika einer jeden Revolution die Sittenstrenge ist, fragt er sich, wo bitte die in Kuba zu finden ist. Die politische Macht schien sich nach dem Sieg der Revolution in zwei Lager gespalten zu haben. Im Präsidentenpalast in der Altstadt versammelt sich der Ministerrat, dem ein Mann des Gesetzes vorsteht. »Die Legalität in Person in ihrer formellsten und tyrannischsten Universalität«, beschreibt ihn Sartre. In einer Suite des gerade eröffneten Hotels Havanna Hilton dagegen hat das Kommando des Revolutionsheeres sein Hauptquartier aufgeschlagen. Von dort regiert der das Land, der seitdem nicht damit aufgehört hat. Der Präsident des Ministerrats wurde von ihm ernannt. Die Minister haben seine Zustimmung. Aber der Rat besteht darauf, die Staatsgeschäfte auf die alte Art zu führen. Und die jungen Leute im Havanna Hilton sind aus der Modernität jenes Ambientes geschnitzt, in dem sie residieren. Vedado contra Habana Vieja. Jede Fraktion stellt mit ihrem Gebäude das Gegenteil dessen zur Schau, was sie ist: Die aus dem alten 107
Palast behaupten, fest im Sattel zu sitzen, der Gast der Hotelsuite tut so, als wäre er nur auf der Durchreise. Unterdessen überfällt der Mob im Namen der Revolution Cabarets und Kasinos. »Wo bleibt die kubanische Sittenstrenge?«, fragte Sartre. Der Mob verwüstet die Spielsalons der Hotels Deauville und Plaza. Sie versuchen in das Hotel Capri einzudringen, als sie auf den Hollywoodschauspieler George Raft treffen. Raft, der über die Interessen von Verbrecherboss Meyer Lansky im Kasino und im Cabaret des Capri wacht, hält der Menge eine Rede gespickt mit revolutionären Parolen, bis sich die Zerstörungswut abgekühlt hatte. Der Auftritt seines Lebens, sagen Zeugen. Jean-Paul Sartre ist sprachlos, dass der Präsidentenpalast nur ein paar Straßen entfernt vom größten Rotlichtbezirk der Stadt liegt. Gleich um die Ecke. Und der Präsident des Ministerrates hatte ein Dekret unterzeichnet, das die Schließung anordnet. Für jedes Bordell, jeden Spielsalon. Damit am nächsten Tag eine Menschenmenge die Aufzüge des Havanna Hilton verstopft, die Treppen hinauf rennt und die Suite der Kommandantur stürmt. Es sind die Angestellten der Spielsalons und ihre 108
Angehörigen. Von der Zigarettenverkäuferin bis zum Croupier, alle, die das Dekret des Präsidenten arbeitslos macht. Die Prostituierten, die sich nicht trauen, im Hotel aufzutauchen, schreiben dem Oberbefehlshaber. Würdige Briefe, befindet Jean-Paul Sartre, in denen sie das Recht verlangen, ihr Gewerbe ausüben zu dürfen. Lauter anständige Huren. Die in der Kommandantur lesen und rufen sofort die Minister, die ihren Präsidenten im Stich lassen, um dem wahren Herrscher des Landes gegenüber Rechenschaft abzulegen. Blass vor Wut, so beschreibt ihn Sartre. Der Ministerrat sei verantwortlich für einen schwachsinnigen Moralismus, der die Revolution in Gefahr bringe. Sie wollen das Spiel abschaffen? Auch der Kommandant will das. Aber unter der Bedingung, dass alle, die durch eine solche Maßnahme auf der Straße landen, Arbeit finden. Und im Moment gibt es nicht genug Arbeitsplätze, um so viele Leute beschäftigen zu können. Andererseits kommt der größte Teil der Prostituierten in der Stadt vom Land. Diesen Frauen zu befehlen, sie sollen ihren Körper nicht verkaufen, ist ungeheuer naiv. Und ihnen den Prozess zu machen ein Verbrechen. Nur, wenn das Elend auf dem Land beseitigt wird, kann auch die Prostitution abgeschafft werden. 109
Die Minister machen denselben Fehler wie die Regierungen zuvor. Um sich nicht mit den Ursachen auseinandersetzen zu müssen, bekämpfen sie die Wirkungen. Und anstatt etwas gegen Arbeitslosigkeit und Armut zu unternehmen, ziehen sie gegen Glücksspiel und Prostitution zu Felde. Die Zeit für Schließungen ist noch nicht gekommen. Die Revolutionsregierung muss sich um staatliche Lotterie, Spielhöllen und Kasinos kümmern. (Die Präsidentschaftswahlen werden verschoben, solange Arbeitslosigkeit und Analphabetismus nicht abgeschafft sind.) Die Spielautomaten können abgeschafft werden, da sie niemandem einen Arbeitsplatz geben, aber es muss darauf geachtet werden, dass keiner seine Arbeit verliert. Was die Prostituierten angeht, so muss man gegen diejenigen vorgehen, die daran verdienen, Zuhälter und korrupte Polizisten, aber das Geschäft mit dem Sex soll nicht angetastet werden. Harte Hand bei den Zuhältern, Augen zu bei den Huren. Das vom Ministerpräsidenten unterzeichnete Dokument sei in Ermangelung anderer Maßnahmen verfrüht und ungültig. Die Minister täten gut daran, den Ministerpräsidenten von seinem Irrtum zu überzeugen. Der aber weigert sich, zu widerrufen. Er hat seine Unterschrift unter das Dekret gesetzt, sein Wort ge110
geben. (Sartre hat den Verdacht, dass er mit dieser Unnachgiebigkeit sein Zögern in der Stunde des Handelns verschleiern will.) Die Spaltung der politischen Macht im Land wird immer prekärer. In sartrescher Formel: »Die wahre Macht war nicht legal; die legale Macht war nicht die wahre.« Es ist Zeit, offen die Zügel in die Hand zu nehmen. Zeit, dass der Ministerrat sich von der Last seines Präsidenten befreit. Zeit, das Hotel zu verlassen. Der Gast des Havanna Hilton verkündet seine Entscheidung, sich aus dem öffentlichen Leben zurückzuziehen. Er sieht keinen besseren Ausweg angesichts der Verblendung des Präsidenten. Mit einem Auge darauf schielend, dass die Massen ihn daran hindern, tritt der Kommandant einen Scheinrückzug an. Und sein Kalkül geht auf. Simone de Beauvoir berichtet, dass sich eine Million Bauern in der kubanischen Hauptstadt versammelt und »mit ohrenbetäubendem Lärm ihre Macheten aufeinander schlagend gefordert hätten, der Kommandant solle an der Spitze des Landes bleiben.« Wer sich zurückziehen muss, ist der Präsident, verlangt der Volkswille. Und in einer Pressekampagne wird er der unrechtmäßigen Bereicherung bezichtigt. So hat der Kommandant am Ende die totale Kontrolle. Kein Umherziehen, keine Umschweife mehr. 111
Die Bestätigung seines Schicksals kommt aus dem Volk selbst. »Endlich wird aus der Befreiung eine Revolution«, atmet Sartre freudig auf. Der abgesetzte Präsident muss politisches Asyl suchen. Mehr als zwei Jahre wird er in der Botschaft von Mexiko eingesperrt bleiben, bis man ihm erlaubt, das Staatsgebiet zu verlassen. Croupiers und Prostituierte müssen jetzt von der Bühne abtreten – als Instrumente der Machtergreifung haben sie ausgedient. Die Vorstellung ist vorbei. Ohne dass eine industrielle Entwicklung in Sicht ist, ohne dass das Elend auf dem Land beseitigt ist, ordnet die Revolutionsregierung die Schließung der Spielsalons und Bordelle an. Und setzt so ein Dekret um, dass sie eben noch inakzeptabel fand. Die staatliche Lotterie verkündet die Nummer des letzten Gewinnloses, und die überlebenden Roulettetische landen in einem Lager der neu gegründeten Filmindustrie. Sie werden sich wieder drehen, aber in Szenen aus einer Epoche, die man hinter sich gelassen hatte. Ihnen winkt dasselbe Schicksal wie den Spindeln im Reich von Dornröschen. »Das Vergnügen war vorbei. Der Kommandant kam und befahl, dass Schluss damit sei«, heißt es in einem Lied der damaligen Zeit. 112
Wo sich das Kasino des Hotels Capri befunden hatte, öffnete der Salón Rojo seine Türen, ein neues Musiklokal. Das Havanna Hilton wird enteignet und heißt ab sofort Habana Libre. Der Präsidentenpalast in der Altstadt wird zum Museum für Revolutionsepik. (Dort kann man ein lebensgroßes Abbild von Comandante Guevara bewundern, das einer Jahrmarktsbude würdig wäre.) Ein Jahr nach seinem ersten Aufenthalt im revolutionären Kuba, macht Sartre mit Simone de Beauvoir auf einer Rückreise von Brasilien einen kurzen Zwischenstopp in Havanna. In der Stadt gibt es keine Nachtlokale mehr, wo man sich amüsieren könnte. Keine Spielsäle, keine amerikanischen Touristen. Im halbleeren Hotel Nacional findet ein Kongress von Milizleuten statt. Milizleuten beiderlei Geschlechts. Sehr jung, wie die französische Schriftstellerin findet, die sie bei Manövern in der ganzen Stadt beobachtet. Das Land, so versichert man dem französischen Paar, stehe kurz vor einer Invasion. Bei einem Fabrikbesuch spricht Sartre mit einer Gruppe von Arbeitern. Er stellt ihnen eine Frage, die Arbeiter fangen an zu reden, aber ein Gewerkschaftsführer unterbricht sie und antwortet für alle. Jean-Paul Sartre will wissen, welche Vorteile der 113
Regimewechsel ihnen gebracht hat. Aber die Frage wird von einem Funktionär beantwortet, eine Version gilt jetzt für alle. Sie sprechen mit dem Dichter Nicolás Guillén, der versichert, jedes Formexperiment sei konterrevolutionär. Im Privaten gestehen einige Schriftsteller Sartre und seiner Gefährtin, sie hätten Angst, keine echten Revolutionäre zu sein. Die Selbstzensur hat schon begonnen. Simone de Beauvoir vergleicht, was sich zwischen den beiden Aufenthalten in Kuba, von einem Jahr zum nächsten, getan hat: »Weniger Fröhlichkeit, weniger Freiheit, aber in anderen Punkten große Fortschritte.« Diese Fortschritte schreibt sie der landwirtschaftlichen Produktion zu, einem Bereich, der kurz darauf (wenn nicht damals schon) von einem Desaster zum nächsten taumelt. Zur gleichen Zeit besucht Susan Sontag Havanna. Sie geht an einem Abend zu einem Auftritt von La Lupe im Club La Red, weil sie die kubanische Sängerin in ihren camp-Katalog aufnehmen will. Die Erinnerungen an Kuba kommen ihr acht Jahre später, bei einer Reise durch Vietnam, wieder in den Sinn. Reise nach Hanoi, geschrieben in den Monaten Juni und Juli 1968, ist die Erinnerung an ihren ersten Ausflug »in die Welt außerhalb der Prämissen der westlichen Kultur«. Das Beispiel der kubanischen 114
Revolution dient ihr als Annäherung an die vietnamesische. Aber sie will nicht zwanghaft verstehen. »Möglicherweise verstehe ich hier nichts, bis ich Kuba aus meinem Kopf verbannt habe«, gesteht sie in einer Parenthese ihres Tagebuchs. Wer die Art von Illusionen kennt, die ein Besuch im revolutionären Kuba bei Sartre ausgelöst hatte, darf sich erlauben, dem zu misstrauen, was Susan Sontag von der vietnamesischen Wirklichkeit wahrnimmt. Reise nach Hanoi enthält eine behutsamere Sichtweise als die in Ouragan. Sontag ist skeptischer, ihr Schritt ist weniger bestimmt. Das Befremden ist sehr viel größer, und zum Glück hinterfragt sie die Dinge. Vielleicht geht es ihr weniger darum, Lektionen zu erteilen, und sie zieht die intime Betrachtung vor. (Die Jovialität, mit der Sartre die Leser in seinem Hotelzimmer empfängt, ist äußerst unglaubwürdig.) Sontag erzählt, 1954 habe das vietnamesische Befreiungsheer nach der Vertreibung der Franzosen aus Hanoi vor einer Stadt mit einer Fülle ungelöster Probleme gestanden. Eines der dringlichsten war das Schicksal der überlebenden Prostituierten aus dem Krieg. Die Anzahl der Frauen, die sich im Vergnügungsviertel von Hanoi zwischen Restaurants, Kneipen, Opiumhöhlen und Tanzlokalen drängen, ging in die Tausende, und sie würden alle auf der Straße stehen, wenn die Bordelle schlossen. 115
Sie verlören ihren Lebensunterhalt, sobald ihr Gewerbe unter Strafe gestellt würde. Man ging also dazu über, sie umzuschulen. Das neue Leben in der Stadt bot Anlass zu Optimismus, eine Chance, noch einmal von vorn anzufangen. Und wenn Susan Sontags Informationen stimmen, dann hat keine andere Revolution das Umerziehungsprogramm so weit vorangetrieben. Die Prostituierten von Hanoi wurden unter die Vormundschaft der Frauenunion gestellt. Die Vereinigung schuf Rehabilitationszentren auf dem Land und schickte ihre Mündel dorthin. Man holte sie aus den alten Netzen von Zuhältern und Freiern. Dort waren sie weit weg von der Stadt, die nach revolutionärem Denken (und für viele andere Denkweisen) sittenverderbend war. In diesen Zentren wurden die Frauen in den ersten Monaten verwöhnt. Man behandelte sie wie kleine Mädchen. Aufs Land geschickt, um die Wunden zu heilen, die die Großstadt ihnen zugefügt hatte, ging die Reise noch weiter, bis in die Kindheit. In den ersten Monaten sah der Lehrplan das Lesen von Märchen und Kinderspiele vor. Die Therapie zielte darauf ab, die Kindheitserinnerungen zu überschreiben, die Biografie über die erste Vergewaltigung, den ersten Freier, die erste Nacht im Bordell hinausgehen zu lassen. Um ein neues Leben anfangen zu können, brauch116
te man eine neue Kindheit. Erst nach dieser therapeutischen Kindheitsphase bekamen die Schülerinnen Unterricht in Lesen und Schreiben, sie erlernten einen Beruf, mit dem sie sich fortan ihren Lebensunterhalt finanzieren konnten, und kehrten in das Erwachsenenleben zurück. Oder kamen zum ersten Mal dorthin. Als letztes gab man ihnen eine Mitgift, die es ihnen ermöglichte, in der hierarchischen vietnamesischen Gesellschaft einen Mann zu finden. Diese Mitgift, zusammen mit den Märchen und der Alphabetisierung, bettete die ehemaligen Prostituierten in die Tradition ein. Aufarbeitung der Vergangenheit und Zukunftschancen schien der Titel des vietnamesischen Programms zu lauten. Das der kubanischen Revolution, weniger feinsinnig, konzentrierte sich auf die Geheimnisse des Nähens. Die Revolution wollte aus den ehemaligen Prostituierten Schneiderinnen machen. Schneiderinnen und Taxifahrerinnen. Gelbschwarze Taxis gehörten zur »Nationalen Gemeinschaft der Revolutionären Mietchauffeure«, der Asociación Nacional de Chóferes de Alquiler Revolucionarios (ANCHAR, in der neuen Gesellschaft gab es für alles Abkürzungen), in den violetten Taxis aber arbeiteten die umgeschulten Prostituierten. Wieder auf der Straße, nur anders. TP lautete das 117
Zeichen an ihren Autos: Transporte Popular, Volkstransport. Todas Putas, alles Huren, nannten es die Leute. Und sehr bald bekamen die Fahrerinnen wegen der Farbe ihrer Autos den Spitznamen violetera. Alles wirkt wie ein behördlich organisierter Scherz. Nach der Schließung von Kasinos und Bordellen führten Spiel und Prostitution ein scheues, defensives, heimliches Leben. Jeder, der Wetten verwaltete, entwickelte eine besondere Fähigkeit, die Liste sofort herunterzuschlucken, bevor sie in die Hände der Polizei fiel. Wenn man in Havanna wetten wollte, musste man sich an das halten, was das Los in Venezuela und Südflorida verkündete: Es war ein Spiel fremden Glücks. In den neunziger Jahren aber, drei Jahrzehnte nach seiner Enteignung, ging das Hotel Habana Libre (zum Teil) wieder in ausländischen Besitz über. Nachdem sie es bis zur Verbannung bekämpft hatte, förderte die Revolutionsregierung nun die Rückkehr von ausländischem Kapital. Nach einer in Osteuropa ziemlich verbreiteten Definition war der Sozialismus der längste Weg von Kapitalismus zu Kapitalismus. Dem einstigen Gast im Havanna Hilton, der immer noch Staatsoberhaupt war, blieb nichts anderes übrig, als die Rückkehr einiger ausländischer Unternehmen zu akzeptieren. 118
Die Berliner Mauer war gefallen, das Sowjetimperium auseinandergebrochen. Vom Kalten Krieg war nicht mehr viel übrig. Das konnte natürlich nur eine Rückkehr mit Beschränkungen sein. Die ausländischen Kapitalisten sollten nicht alles übernehmen. Es handelte sich um Joint Ventures mit teils staatlichem und teils ausländischem Kapital, der Staat behielt die Mehrheit, bis die kubanische Wirtschaft wieder erstarkt sei, und sie würde wieder erstarken. Wenn der Kapitalismus nicht vorher unterging, wie es der Führer der kubanischen Revolution in seinen Reden prophezeite. Und so gingen, inmitten der Stromausfälle, die Lichter der Hotels wieder an. Es war der Aufruf, der Heerscharen von Insekten anlockte, die sich um diese Scheinwerfer versammelten. Auf der Suche nach Licht, auch wenn sie sich die Köpfe am Glas stießen. Sogar auf die Gefahr hin zu verbrennen. Die Prostitution kehrte zurück, und der, dem es am Anfang seiner langen Regierungszeit gelungen war, sie zu verbannen, sträubte sich dagegen. Im Westen der kubanischen Hauptstadt waren fortschrittliche genetische Forschungslabors in Betrieb. Ernesto Guevara hatte vorausgesagt, dass aus der Revolution ein neuer Mensch hervorgehen werde. Was für ein Fehler hatte sich ins Alchimistenviertel eingeschlichen, dass sich der von Guevara 119
angekündigte Homunkulus auch vierzig Jahre später immer noch nicht vom Vivisektionstisch erhoben hatte? Die Ergebnisse der Experimente mit Menschen waren eben nicht vorhersehbar. Eine Hure bekam eine Ausbildung und konnte ihr Leben ändern, Schneiderin oder Taxifahrerin werden. Und in einer spitzfindigen Umkehrung flüchteten sich ausgebildete junge Ärzte und Ingenieure in die Prostitution. Der, der unter anderem mit Hilfe einiger Briefe von Prostituierten die Macht an sich gerissen hatte, vereinte jetzt umstandslos den Mythos Guevaras vom neuen Geschöpf mit der Rückkehr der Prostitution nach Kuba. Am Ende würde er der Öffentlichkeit stolz präsentieren, dass das Land die Prostitutierten mit dem weltweit höchsten Bildungsstand besaß. Mythologien werden hin und wieder einer Revision unterzogen, und so war jetzt nicht länger der neue Mensch angesagt, sondern die neue Prostitution. Der neue Mensch, die neue Prostitution, der dienstbare Kapitalismus … Wie immer in einem Konflikt, griff das revolutionäre Denken auf die Pädagogik zurück. Brachte der notwendige Rückbau der Zuckerindustrie ein Heer von Arbeitslosen, musste man die ehemaligen Arbeiter eben ohne Rücksicht auf ihr Alter in eine Umschulungsmaßnahme schicken. 120
Die Arbeitslosigkeit wurde verschleiert, indem man neue Klassenräume einrichtete. Ein neues Bildungssystem für Arbeitslose wurde als großer philantropischer Sieg gepriesen. Und gestandene Männer sahen sich gezwungen, in die Studentengaloschen einer der Tschechow’schen Figuren zu schlüpfen, die sich so vor dem Erwachsenwerden fürchten, dass sie die Lehrjahre so lange wie möglich hinauszögern, wie zum Beispiel Trofimow im Kirschgarten, der mit Brille und in einer abgetragenen Studentenuniform herumläuft und jammert, er »werde wohl ewiger Student bleiben«. Student bleiben, in der Schwebe leben, alles aufschieben. Und sich in langen Reden über die Zukunft der Menschheit und Russlands verbreiten, obwohl er persönlich gar nichts dazu beitragen kann. Über vierzig Jahre Revolution haben in Kuba bemerkenswerte Ergebnisse im Bereich der Bildung und eine nie versiegende Quelle an brillanten Fachleuten und Technikern hervorgebracht. Aber in all der Zeit ist es nicht gelungen, dieses Fachpersonal so einzusetzen, dass die Leute davon leben können. Was also anfangen mit denen, die sich, nachdem sie jahrelang die Schulbank gedrückt hatten, in der Prostitution versuchten? Was waren die geeigneten Maßnahmen im Umgang mit der Prostitution mit dem höchsten Bildungsstand der Welt? Einfach allen die Doktorwürde verleihen? 121
Nach dem in Kuba gültigen Strafrecht stellen Prostitution und Zuhälterei an sich keine Straftatbestände dar. Sie können jedoch geahndet werden, wenn man von Gefährlichkeit ausgehen muss. Gefährlichkeit ist nach Artikel 72, Gesetz 62 des 1988 verabschiedeten Strafgesetzbuches definiert als »besondere Neigung einer Person, Straftaten zu begehen, die sich in Verhalten zeigt, das in offenkundigem Widerspruch zu den Normen der sozialistischen Moral steht«. Also eine reine Möglichkeit, auf Beweise wird verzichtet. Der erste revolutionäre Ministerrat hatte den Fehler gemacht, Wirkungen anstelle von Ursachen zu bekämpfen. Mehrere Jahrzehnte später suchte die Revolutionsregierung in ganz ähnlicher Weise ihr Heil in der Repression, etwas Besseres als Polizeieinsätze fiel ihr nicht ein. Nueva Delicia, neue Wonne, tauften die Behörden, vermutlich ohne jede Spur von Ironie, das Gefängnis, das die wegen Gefährlichkeit verurteilten Aktivisten der neuen Prostitution aufnahm. Und Sartre hatte sich nach der Sittenstrenge der kubanischen Revolution erkundigt. Zehn Jahre nach ihrem letzten Besuch in Havanna unterzeichneten Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre gemeinsam mit anderen Intellektuellen, darunter auch Susan Sontag, einen offenen Brief, in dem sie die Misshandlungen einer Gruppe kubani122
scher Schriftsteller durch die revolutionären Behörden anprangerten. Jahre nachdem der französische Schriftsteller von seinem Hotelzimmer aus einen rechteckigen, zum Himmel strebenden Quader erblickt hatte, sollte dort ein Gesundheitszentrum einziehen, in dem die Capricen einer besonderen Augenkrankheit bei ausländischen Patienten bekämpft werden sollten: der Retinitis Pigmentosa. Zunächst mit einer besonderen Form der Schieläugigkeit geschlagen, war Sartre am Ende seines Lebens erblindet. 3
Wenn man heute in Havanna in einer Bar ein paar Bier bezahlt, zeigt der Angestellte auf eine gekühlte Auslage hinter dem Gast und fordert ihn auf, sich zu bedienen. Sehr merkwürdig, denn eine solche Einrichtung lädt dazu ein, ein paar Flaschen mitgehen zu lassen. Und ungewöhnlich ist es, wenn sich ein Verkäufer in Havanna bei all seiner Erfahrung mit Diebstählen so lax verhält, obwohl er doch eigentlich niemandem trauen darf. Als guter Dieb müsste er wissen, was anderen Dieben nützt. Das Two Brothers in Habana Vieja muss die letzte 123
oder eine von wenigen Kneipen sein, wo solch ein Übermaß an Vertrauen noch gepflegt wird. Allerdings ist das noch nicht lange so. Das Lokal hat zahlreiche Besitzerwechsel erlebt. Die Gründer, zwei Brüder aus Spanien, hatten in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts (notgedrungen) den Namen des Lokals auch ins Englische übersetzt, um amerikanische Seeleute anzulocken. An der Fassade prangt er auch noch immer in beiden Sprachen, obwohl die Leute die Bar meistens beim englischen Namen nennen. Vor der Bar macht die Avenida del Puerto eine Kurve und von der anderen Straßenseite aus könnte man die Bucht sehen. Wäre da nicht das elefantöse Gebäude des Hafenzollamtes, immerhin mit toskanischen Türmen, die ihm eine gewisse Anmut verleihen. Nachts, wenn kaum Verkehr herrscht, ist es sehr angenehm, dort zu sitzen. Es ist nicht die Art von Lokal, wo eine Touristengruppe sich hinverirren würde (außer, es legt ein Kreuzfahrtschiff an, der Terminal liegt ganz in der Nähe), und um diese Zeit ist in der Altstadt wenig los, ohne dass sie gefährlich wäre. Es sei denn, man entschließt sich zu einem Spaziergang ein Stückchen weiter, unter den Eisenbahnüberführungen. Am Tage ist es nicht empfehlenswert, dem Two 124
Brothers einen Besuch abzustatten. Die Sonne knallt auf die Wände, und drinnen herrscht dieselbe drückende Hitze wie auf der Straße, vielleicht ein paar Grad weniger. Es dringt der Geruch von auf der Straße verdampfendem Benzin herein, und die einzige Waffe gegen die Hitze und Gestank sind ein paar alte Deckenventilatoren. Musiker kommen hier seltener vorbei als in den anderen Bars, wofür man ihnen dankbar ist, und der Gast darf sich selbst das Getränk nehmen. Ich war Anfang der Achtziger zum ersten Mal im Two Brothers, als es ziemlich heruntergekommen war. Sie verkauften für kubanische Pesos einen abscheulichen Rum, und im Lokal drängelten sich Stauer, Seeleute auf Landgang und Leute von der anderen Seite der Bucht, die noch etwas trinken wollten, bevor sie die Fähre nahmen. Seeleute von russischen Schiffen waren auch häufig da. Die Gäste machten Witze über den schlechten Geruch, den sie ausströmten, und nahmen das zum Vorwand, um ihnen das Geld aus der Tasche zu ziehen und sie nach Strich und Faden übers Ohr zu hauen. Damals gab es noch keine Straßenmusiker, höchstens den einen oder anderen Gitarristen, auf den die Polizei nicht weiter achtete. (Ich erinnere mich, dass einer ständig Boleros spielte, in denen der Mond vorkam: Noche de ronda: »Mond, der sich über der Finsternis in meinem Herzen bricht.« Confidencia: »Ich 125
wollte dich lieben, aber ich machte einen Rückzieher, der Mond sah mich an, und ich verstand.« Vieja Luna, Luna sobre Matanzas, Los aretes que le faltan a la luna, und andere mehr. Ein ganzer Lunario Sentimental, wie es bei Leopoldo Lugones heißt.) Die Kneipenbesitzer ließen ein sowjetisches Radio laufen, das all die Musik in den nationalen Sendern spielte, und wenn ein entscheidendes Baseball-Match anstand (vorzugsweise eines zwischen Occidentales und Orientales), hörte das ganze Lokal zu. Die Nähe der Hafenlager war der Grund, dass im Two Brothers der Schwarzmarkt blühte und die Polizei ein häufiger Gast war. Es war bekannt, dass das Lokal von Spitzeln wimmelte, und weil man schreien musste, um sich verständlich zu machen, strotzten die Dialoge nur so vor ausweichenden Pronomina. »Ist das bei dir gelandet?«, fragte jemand. »Deins hab ich da«, könnte die Antwort gelautet haben. Auch die Liedtexte machten allerhand Umwege, um das wahre Thema nicht anzusprechen. »Was du mit mir gemacht hast, Süße, hat mir gefallen«, heißt es in einem alten Son von Arsenio Rodríguez. Oder ein mexikanischer Balladensänger schmachtete: »Gefangen von deiner Art, das zu tun, was man Liebe nennt.« Anscheinend konnte im Two Brothers kein Geschäft beim Namen genannt werden. 126
C., ein Erzähler, der so gar nicht in die kubanische Literatur zu passen scheint, war gegen Ende seines Lebens damit beschäftigt, einen Katalog der Kneipen in Havanna zu erstellen. Jede neue Erzählung spielte in einer Bar, ob das Two Brothers auch dabei war, weiß ich nicht mehr. Die Leser seiner ersten Bücher reagierten mit Verwirrung auf diese neuen Werke. Sie hatten sich auf das Fantastische, alchimistische Bilder, Miniaturen aus einem Stundenbuch gefreut (C. hatte eine Stelle als Restaurator im Museo de Bellas Artes), stattdessen gaben seine letzten Erzählungen Gespräche in Kaschemmen wieder, Sorgen und Nöte kleiner Figuren, Durchschnittsmenschen, ja verachtenswerter Individuen. Ich kann nicht mit Sicherheit sagen, ob er häufig trank. Wir sind uns nur zwei Mal begegnet, und dabei tranken wir Rum. Vom Äußeren her wäre C. als Trinker durchgegangen. Er erinnerte sich jedes Mal der vielen verschwundenen Bars, beschwor die Vielfalt an Getränken, die von den Spiegeln verdoppelten Flaschenreihen. »Achtzehn verschiedene Sorten Scotch«, wundert sich im Sloppy Joe’s in Havanna eine Figur von Graham Greene, »darunter Black Label. Die Bourbons habe ich noch gar nicht gezählt. Ein wundervoller Anblick. Wundervoll. Haben Sie je so viele Whiskys gesehen?« 127
(Ich habe die Ruinen dieser von Greene beschriebenen Bar gesehen. Die Metallrollladen, die sie verschlossen, waren hochgezogen worden, damit ein Filmteam dort eine Szene für einen Dokumentarfilm drehen konnte. Jahrzehntelange Verwahrlosung hatte aus dem Sloppy Joe’s eine Höhle gemacht. Flüssigkeiten waren durch die Decke gesickert und hatten Stalaktiten gebildet, die Ratten liefen herum, als würde alles ihnen gehören, und von dem Spiegel war keine einzige Scherbe mehr übrig. Aber die Bartheke stand noch, ein Prachtstück. Einer vom Team säuberte mit einem Dampfstrahler den Eingangsbereich. Da kam, wie der Mond, die Anzeige auf dem Boden zum Vorschein. Für einen Moment lang war das Lokal wieder geöffnet. Der Arm der Jukebox griff sich eine Platte von vielen. Die fiesta kehrte zurück. Später versicherte mir ein Bekannter, er habe bei sich zu Hause als Bar ein gutes Stück von der Theke des Sloppy. Wenn das stimmt, hatten die Grabräuber bei uns Einzug gehalten und die Theke war verkauft worden wie das Heilige Kreuz oder die Mauer von Berlin. Splitter für Splitter, Stein für Stein, wie eine Reliquie.) C. nahm sich einer Straßenecke an, Prado y Neptuno zum Beispiel, und startete von dort aus seinen Monolog oder Spaziergang. Für ihn als diskreten Erzähler eigentlich eine viel zu zentrale Ecke. Aber er nahm Prado y Neptuno als Ausgangspunkt wegen 128
des Schreckens, der sich an jener Kreuzung breitgemacht hatte. Die Kreuzung, einst eine der großen Vergnügungsecken von Havanna (wenn nicht die größte), hatte ein Unglück nach dem anderen erlebt. Und C. übernahm ihre Verteidigung, wie er die einer seiner Zeitgenossinnen übernommen hätte, der man irgendwann ihren einstigen Status als Schönheit aberkennen will. Wo jetzt ein ungarisches Restaurant betrieben wurde und früher das Restaurant Miami stand, hatte ein Fahrzeug eine Säule umgefahren. Das Hotel Telégrafo war eine geschlossene Ruine. Das Rialto-Kino, geschmückt mit den Plakaten von Griffiths Stummfilmklassiker Intolerance und metallenen Treppenstufen, auf denen noch die Schritte der Besucher hallten, war seit Jahren geschlossen. Sogar die wenige Meter von der Ecke entfernt stehende Büste des modernistischen Schriftstellers Manuel de la Cruz war durch einen Verkehrsunfall zerstört worden. (Diese Nachricht hatte ich in der sowjetischen Buchhandlung in der Calle Obispo aufgeschnappt, und ich, ganz Pygmalion, rannte hinaus, um den Schauplatz zu besichtigen, denn mir hatte der Kopf von Manuel de la Cruz, mit seinen beiden durch einen Mittelscheitel getrennten Haarhälften und den 129
aufgerichteten Spitzen seines Schnurrbartes immer gefallen. Als ich ankam, stand dort schon ein Kreis von Schaulustigen, die sich das Spektakel nicht entgehen lassen wollten. Ein wenig enttäuscht, weil es nicht gebrannt hatte und weil es keinen Toten gab, nicht einmal einen Verletzten. Klar, eine Statue war mehr als die beschädigte Säule des Restaurants an der Ecke, aber eben doch keine Leiche, und sie konnte sich auch nicht in einen schreienden Prozesshansel verwandeln. Ein paar der Schaulustigen näherten sich dem Sockel, um den Namen des Guillotinierten zu lesen. So wie sie in den Taschen der Toten gewühlt hätten, bis sie seinen Ausweis gefunden hätten. Die Polizei kümmerte sich unterdessen um den schuldigen Autofahrer. Überall lagen zerstreut die Teile des Kopfes von Manuel Cruz. Ich hatte einen Koffer dabei und stieß zufällig auf die Nase. Der Aufprall des Fahrzeugs hatte sie sauber abgetrennt und in ihr musste sich noch der Geruchssinn jenes alten Schriftstellers befinden, also wollte ich sie an mich nehmen. Aber eine Passantin verhinderte das. Sie lief zu den Polizisten. Da wäre ein Dieb, der die Statue stehlen wolle. Sie zeigte auf meinen Koffer, und ich musste die Nase von Manuel de la Cruz zurückgeben, zum Glück ohne größere Folgen.) Ein paar Monate oder ein Jahr später kehrte die Büste wieder auf den Sockel zurück. Die Nase war 130
wieder angeklebt, aber insgesamt hatte das Konterfei einen Großteil seiner Anmut verloren. Auch die Gebäude an der Ecke wurden mit der Zeit wiederhergestellt. Das Hotel sollte unter seinem alten Namen wieder aufmachen, in dem ungarischen Restaurant sollte eine Trattoria einziehen, im Kino eine Firma. Alles in Dollars transferiert. Rund um die Statue hatte man mit Ketten abgesperrt, um zu verhindern, dass jemand an sie herankam. Im Geiste an der Ecke Prado y Neptuno stehend und zugleich in der Stadt Ende der fünfziger Jahre unterwegs, katalogisierte C. das untergegangene Havanna. Er zählte Bars, die sich von der Schließung nie erholt hatten, Lokale, die zu Regierungsbüros oder beengten Familienbehausungen geworden oder einfach eingestürzt waren. Als er starb, hinterließ er einen unveröffentlichten Roman, in dem eine Gewalttat mit ewiger Verdammnis bestraft wird, aber dank einer Pause oder Zäsur der Ewigkeit durften die Figuren aus der Hölle zurück nach Havanna, sie kehrten in ihre geliebten Stammkneipen zurück und stopften sich in den Restaurants mit Pizza voll, wo ein befreundeter Kellner sie bevorzugt behandelte. Ich habe C. nie mehr gesehen. Er nahm nicht am literarischen Leben teil, und die beiden Male, als wir uns trafen, endeten nicht mit dem Versprechen eines Wiedersehens. 131
Ich erfuhr, dass er keinen Alkohol mehr trank. Damals müssen seine Depressionen angefangen haben. Der Stromausfall hat ihn allmählich zermürbt. Eine seiner letzten Erzählungen handelt vom Triumph der verschlüsselten Sprache. Zwei Freunde treffen sich in einer Bar, aber man versteht nur sehr wenig von dem, was sie sagen. Ihre Namen, Naranjo und Lucas, entstammen einem Chachacha, den das Orquesta Aragón in den fünfziger Jahren populär machte. Obwohl sie dort Zuckerwasser tranken und keinen Alkohol. Die beiden Figuren reden, sturzbetrunken, als wäre die Bar voller Polizeispitzel oder als würden sie, als alte Freunde, ihre eigene Sprache sprechen. Um was geht es? Ein illegales Geschäft? Eine Liebesbeziehung? Familienprobleme oder ein Traum? Wer weiß … Andererseits wusste man auch in den vorhergehenden Erzählungen von C. nie so genau, worum es ging. Naranjo und Lucas sprechen dieselbe Sprache, die ich so oft im Two Brothers gehört hatte: ein Pronominalhavanesisch. Um sich das Leben zu nehmen, stach sich C. eine Matratzennadel ins Herz. Er wurde noch ins Krankenhaus gebracht, und man kämpfte ein paar Tage vergeblich um sein Leben. Eines Abends zog ein Kerl im Two Brothers eine 132
Pistole und schoss zwei Mal auf jemanden, mit dem er zusammen einen getrunken hatte. Dieser Mord führte dazu, dass ich lange Zeit nicht mehr dorthin ging. Dann war das Lokal geschlossen, und wie das in diesen Fällen so ist, wusste man nicht, ob wegen Geschäftsaufgabe oder Renovierung. Als es wieder aufmachte (Verzehr nur gegen Dollar), waren die Wände sauber, frisch gestrichen, und es hingen Bilder aus Havanna vor hundert Jahren daran. In einem Rahmen prangte ein Artikel aus einer Madrider Zeitung, in dem die Wiedereröffnung angekündigt wurde, und das Two Brothers rühmte sich damit, dass illustre Gäste dort eingekehrt waren. Federico García Lorca hatte ihm einen Besuch abgestattet, und sein Bild hing neben einem Faksimile von einem Brief, den er Jorge Guillen geschrieben hatte, in dem aber weder von der Stadt die Rede war noch von der Bar, es ging nur um die Handschrift. Anstelle des sowjetischen Radios gab es eine moderne Musikanlage, die der Angestellte nach seinem Geschmack bediente. Und nicht eines der Bilder, die dem Lokal historisches Flair verliehen, verwies auf das Two Brothers der letzten drei Jahrzehnte, auf die Bar mit dem abscheulichen Rum. Auf einem der Fotos sah man amerikanische Marines. Aber es fehlte jede Spur von den Besatzungen der sowjetischen Schiffe. Auf ähnliche Weise war die Inneneinrichtung der 133
neu eröffneten Trattoria in Prado y Neptuno eine Hommage an das Restaurant aus der Zeit vor der Revolution, keine Erinnerung mehr an die ungarische Zeit oder andere prägende Momente aus der jüngeren Vergangenheit des Lokals. An eben dieser Ecke, die C. so sehr mochte, an der Fassade des restaurierten Hotels Telégrafo, erinnerte ein Schild an den Aufenthalt des deutschen Archäologen Heinrich Schliemann, der Aktionär der kubanischen Eisenbahn gewesen war. Bei seinen Ausgrabungen entdeckte Schliemann neun übereinanderliegende Städte, aufeinanderfolgende Trojas. Die jüngste Archäologie Havannas, all die Memorabilien an den renovierten Wänden der Bars, kündeten von der Vorliebe für ein ganz besonderes Troja; die anderen Städte, die Havanna auch gewesen war, fanden keine Beachtung. Die Schließung von Bars und Clubs Ende der sechziger Jahre sollte jede Spur eines angenehmen Lebens vor der Revolution auslöschen. (»Wer nicht vor der Revolution gelebt hat, hat die Süße des Lebens nicht kennengelernt«, behauptete Talleyrand aus seinem bequemen Sessel.) Und auf Beschluss derselben revolutionären Behörden sollten einige Lokale ein paar Jahrzehnte später wieder aufmachen. Man versuchte dem Vergnügen per Edikt wieder Leben einzuhauchen. Man versuchte es am selben Punkt wieder aufzu134
nehmen, an dem man es gestoppt hatte, und was gäbe es für eine bessere Bilderwelt als die der Fifties, um alle glauben zu machen, die fünfundzwanzig Jahre Pause hätte es nie gegeben. (Da in der Ära des neuen Menschen Vergnügungen offensichtlich nicht vorgesehen waren, musste man in die Zeit vor der Revolution zurückgehen.) Die in der Filmindustrie gelagerten Utensilien sollten für diese Rekonstruktionen als Modell dienen. Die platonische Idee vom Barhocker, der jahrelang in einem Lager vor sich hin schlief, wurde jetzt haufenweise kopiert. Um eine Fortsetzung für die fiesta zu finden, musste man über zweieinhalb Jahrzehnte hinweggehen. Aber was war schon ein Vierteljahrhundert verglichen mit dem Stück Geschichte, das vorher gestrichen worden war? Minderschwerer Diebstahl ohne Zweifel. 4
Es ist unmöglich wiederzuerkennen, welche Bars im Hafen von Havanna in P.M. auftauchen. Nicht einmal ein ehemaliger Stammgast könnte genau sagen, in welchen Lokalen (mit Ausnahme des Chori Club) die dreizehn Minuten dieses Dokumentarfilms spielen. 1961, nachts in Havanna. Ein Winter ohne Mäntel, obwohl viele Männer Hüte tragen. Eine Fähre startet 135
im Vorort Regia und überquert die Bucht Richtung Innenstadt. Im Unterschied zu heute sitzen die Reisenden. (Durch die immer größere Zahl an Fahrrädern sah man sich in den achtziger Jahren gezwungen, die Bänke aus den Fähren zu entfernen. Es wurde verboten, sich über das Heck hinauszulehnen, Gitter wurden montiert, um unkontrollierten Zutritt zu verhindern. Seit eine Gruppe eine der Fähren entführt hatte, um nach Florida zu fliehen, musste man einen Metalldetektor passieren und jedes Gepäckstück von der Polizei untersuchen lassen. Für einen Seeweg von nur zehn Minuten waren Kontrollmaßnahmen wie auf einem internationalen Flughafen nötig.) In den ersten Minuten des Films fahren die Reisenden nach Havanna, weil sie sich amüsieren wollen. Nicht, dass es in Regia zu dieser Zeit an offenen Bars mangeln würde, die gibt es in Hülle und Fülle, sondern weil man an einem Abend, an dem man was erleben will, davon träumt wegzugehen, sich nach Kythera einzuschiffen. Die Lichter der Avenida del Puerto glitzern auf der Wasseroberfläche. (Lichter des Los Marinos, heute eine zugemauerte Ruine, des Two Brothers und anderer mehr, deren Namen ich nie erfahren habe.) Und kaum gehen die Reisenden an Land, ist die Kamera auch schon in einer dieser Bars. Eine Gruppe von Musikern bringt Stimmung in das Lokal. Eine Schwarze mit einem Bier in der Hand 136
tanzt mit einem betrunkenen Weißen. Die beiden schwanken, ohne aber aus dem Rhythmus zu kommen, und bei jeder Drehung schwappt ein wenig Bier über den Rücken des Mannes. Die Bewegung dieses Bierglases wirkt hypnotisierend. Bei den Drehungen des Paares verfolgt man es, genauso wie man beim Glücksspiel eine bestimmte Karte nicht aus den Augen verlieren darf. Das verschüttete Bier macht den Rücken des Mannes nass, und er nimmt der Frau das Glas ab und stellt es auf die Theke. Sein Blick ist weggetreten, aber er hält gut durch. Ihm stehen vielleicht noch Stunden der Schwankerei bevor. Bei der nächsten Bar ist das Tempo deutlich schneller. Als ob die Nacht darin bestünde, eine Fähre zu verlassen und die nächste zu besteigen. Die Musik rast. Man hört das Stimmengewirr, aber es ist kein Satz deutlich zu verstehen. Und die Bewegungen der Leute an der Bar sind so hypnotisierend wie das Pendel eines Glases kurz vor dem Verschütten. Ein Lichtstrahl fällt auf eine Frau mit Pferdegesicht, der Stich des Alkohols geht ihr bis ins Mark, und sie beugt sich nach vorn, um den Rumba zu tanzen, von dem sofort auch andere Tänzer angesteckt werden. Eine Mulattin schlängelt sich vor einem ganz in Weiß gekleideten Schwarzen. Sie lockt ihn auf die Tanzfläche, damit er sie verfolgt. Die Nacht schreitet fort, und die Reise geht weiter 137
nach Westen, von der Bucht zum offenen Strand bis zum Chori Club. (Das Viertel Vedado und seine eleganten Nachtbars kommen in der Rundfahrt von P.M. nicht vor. Auch nicht die Lokale mit der Festbeleuchtung, die Sartre in der Nähe des Prado vorgefunden hatte.) In ein berüchtigtes Lokal wie den Chori Club geht man wohl am besten, wenn man schon torkelt. Der Chori spielt gelangweilt, als hätte man ihn aufgeweckt, während er gerade seinen Rausch ausschlief. Er begleitet den Danzón der Musiker mit Stockschlägen gegen eine Flasche. Ein gleichgültiges Tick-Tick, und die Paare tanzen wie chinesische Schattenrisse vor den Musikern. Am Ende bleibt nur noch das unterseeische Licht der Stände mit Frittiertem. Das knisternde Fett ist die einzige Musik. »Gib mir eine Portion«, kann man an den Lippen eines Schwarzen ablesen. In einem leeren Lokal hört man die Stimme von Vicentico Valdés: »Ein Lied am Morgen, das an dein Fenster dringt …« Von der Fähre aus verkündet ein alter Mann mit Baskenmütze, dass es zurück nach Regia geht. Und die Lichter des Hafens zittern auf der Wasseroberfläche, bis sie endgültig ausgehen. P.M., dreizehn Minuten Nachtleben in Schwarzweiß, gefilmt mit der Nachlässigkeit oder Spontanei138
tät des free cinema, wurde nicht in Kinosälen, sondern im Fernsehen ausgestrahlt. Néstor Almendros, damals Filmkritiker, widmete ihm eine lobende Kritik in der wichtigsten Zeitschrift Kubas. Und nach der Premiere im Fernsehen wollten die Produzenten den Kurzfilm in einem Kinosaal zeigen. Sie einigten sich mit dem Besitzer eines auf Dokumentarfilme spezialisierten Kinos (einige Kinos in Havanna befanden sich immer noch in privater Hand), und es fehlte nur noch die Erlaubnis der Kommission für die Untersuchung und Klassifikation von Filmen. Diese Kommission wurde von einem Kulturfunktionär des alten Regimes geleitet. Die abrupten politischen Veränderungen hatten ihn nicht von seinem Platz vertrieben. Voll von revolutionärem wie bürgerlichem Moralin, war er empfänglich für die Vorurteile egal welcher Gesellschaft, so neu sie auch sein mochte. Bestimmt war er der Ansicht, über Anstand könne man nicht diskutieren, und seine Mission auf Erden sei es, ihn zu verteidigen. Nachdem er die dreizehn Minuten in den Bars in Augenschein genommen hatte, stufte er P.M. als obszön und konterrevolutionär ein. Das heißt sexuell sowie politisch obszön. Entsprechend untersagte die Kommission jede öffentliche Aufführung des Werks. Und auf Befehl von oben wurden alle vorhandenen Kopien beschlagnahmt. 139
Néstor Almendros verlor seinen Posten bei der Zeitschrift, wo er seine Lobeshymnen veröffentlicht hatte, die Zeitungsbeilage, die die Ausstrahlung des Dokumentarfilms im Fernsehen gefördert hatte, wurde eingestellt, und die politischen Autoritäten verfügten die Gründung einer Vereinigung, in der Schriftsteller und Künstler zusammengeschlossen wurden. (Auf einer Terrasse dieser Vereinigung hatte ich mein letztes Gespräch mit den beiden Funktionären.) Wegen des Skandals, den dieser Dokumentarfilm ausgelöst hatte, wollte der Revolutionsführer sich mit Intellektuellen treffen und mit ihnen ein paar Worte wechseln. Für das historische Treffen wurde das Theater der Nationalbibliothek ausgewählt. Unter dem Anschein, dass die Mächtigen großzügig Freiraum gewährten, ging es in Wahrheit um die regierungsoffizielle Beschränkung künstlerischen Denkens. Mit der Revolution, alles. Gegen die Revolution, nichts. (La nostra formula é questa: tutto netto Stato, niente al di fuori dello Stato, nulla contra lo Stato * , hatte 1925, ebenfalls in einem Theater, der Mailänder Scala, Benito Mussolini verkündet.) P.M. landete in den Kellern, die ein paar Jahre zu*
»Unsere Devise ist die: alles im Staat, nichts außerhalb des Staates, nichts gegen den Staat.« Anm. d. Übers. 140
vor von den Revolutionären Streitkräften saniert worden waren. Die im Theater der Nationalbibliothek verkündete Erklärung hatte zur Folge, dass diese alten Keller wieder nutzbar gemacht wurden, dass ein neues System der Geheimhaltung geschaffen wurde. Eines der größten Glücksgefühle, die jeder revolutionäre Sieg mit sich bringt, ist die Befreiung von der alten Geheimhaltung. Keller und Archive werden gleichzeitig mit den Verliesen im Rausch, Gerechtigkeit walten zu lassen, aufgebrochen. Und der Druck, mit dem das lange Zurückgedrängte an die Oberfläche sprudelt, ist so ansteckend wie Tanzmusik. So schrecklich die neuen Enthüllungen sein mögen, sie erzeugen dennoch eine gewisse Euphorie. Zeitungs- und Zeitschriftenredaktionen verkünden, was vorher nicht publiziert werden durfte, sie widmen der Wahrheit Doppelausgaben. Kurz nach dem Sieg der Revolution 1959 wurde in den Kellern des Geheimdienstes eine vollständige Kopie des Films El Mégano (Das Köhlerdorf) gefunden, der von den vorrevolutionären Behörden zensiert worden war. Die Nachricht von der Entdeckung drang bis zu Comandante Guevara, und um dessen Neugier für das Werk, das einst Kontroversen ausgelöst hatte, zu befriedigen, wurde eine Vorführung in der Festung La Cabaña vorbereitet. Der Regisseur des Films sollte auch anwesend sein, denn damals wurde gerade die Schaffung eines 141
Filminstituts der Regierung vorangetrieben. Das Werk berichtete in einer Mischung aus Fiktion und Dokumentarfilm über die miserablen Lebensbedingungen der Menschen auf dem Land. Comandante Guevara war ein eifriger Fotograf. Als er mit sechsundzwanzig Jahren in Mexiko nicht als Arzt praktizieren konnte, hatte er sich seinen Lebensunterhalt als Straßenfotograf mit einer 35 mm Retina verdient. Er fotografierte die Panamerikanischen Spiele 1955 für die Agencia Latina de Noticias, Argentiniens offizielle Nachrichtenagentur. Und zum Wanderbotschafter der kubanischen Revolution ernannt, hatte er auf seiner Rundreise durch Asien und Afrika immer eine Kamera dabei. Seine Tätigkeit als Minister für Industrie (im Februar 1959 war er zum Kubaner erklärt worden) führte dazu, dass er immer noch häufig zur Kamera griff. Seine Bilder konzentrierten sich, abgesehen von ein paar Familien- und wenigen Selbstporträts, auf die Archäologie und die Industrie: Buddhas und MayaTempel, Nickelminen, Trockenlegungen von Sümpfen und Fabrikbauten. Seine Momentaufnahmen aus dem asiatischen Südosten, die durch eine Patina älter wirken, gehören zu den besten Ergebnissen dieser Liebhaberei. Obwohl der Hauptwert dieser Fotos in der historischen Bedeutung des Fotografen liegt. Von seinem Kommandoposten in der Festung La Cabaña aus leitete Ernesto Guevara eine Zeitschrift, 142
die Militärkapelle, eine Zeichengruppe, die Filmabteilung des Heeres und die Erschießungskommandos. Seine Neugier für den wieder ausgegrabenen Film richtete sich offenbar weniger auf das Werk selbst als auf das Verbot, das auf ihm gelastet hatte. Er interessierte sich weniger für die Vorstellungskraft von ein paar Regisseuren als für die Beschränkungen des Zensors. Guevara fragte nach den Grenzen der Fantasie des vorherigen Regimes. Den Vorführungsraum von La Cabaña betrat er so, wie er das Schlafzimmer und das Büro des abgesetzten Tyrannen betreten hätte. Und am Ende der Vorführung zeigte er sich verblüfft darüber, dass dieses Werk einen solchen Wirbel verursacht hatte. »Vor diesem Film hat Batista so viel Angst gehabt?« Er war schlicht enttäuscht von dem Film. Er besaß wenig Sprengkraft, er stellte nur die Nerven des vorherigen Regimes auf die Probe. Hatte das aufständische Heer etwa über eine Diktatur gesiegt, die sich vor einem solchen Film in Acht nehmen musste? Dem Regisseur von El Mégano blieb nichts anders übrig, als über die Reaktion des militärischen Befehlshabers von La Cabaña zu lächeln. Er hatte sich so viel von dieser Vorführung versprochen, und jetzt war es ein Reinfall. Mehr als der Film an sich – der hätte genauso gut 143
nicht wieder auftauchen und im Reich der Legende verbleiben können – zählten für seinen Regisseur die Wechselfälle seiner Entstehung, die polizeilichen Repressalien nach seiner Uraufführung. Er hielt El Mégano für das Ergebnis kollektiver Schaffenskraft (aus den Filmemachern sollten die Leiter des revolutionären Filminstituts hervorgehen). Unter unendlichen Mühen hatten sie es geschafft, ihn in der Aula der Universität von Havanna zu zeigen. Sie konnten ihn noch ein zweites Mal zeigen, ehe die Kopie beschlagnahmt und der Regisseur vom militärischen Geheimdienst verhaftet wurde. »Ihr Film ist der reinste Mist, ist Ihnen das klar?«, hatte ihn beim Verhör der Chef dieses Dienstes angeblafft. In einem Dialog unter so ungleichen Bedingungen fiel dem jungen Regisseur nichts anderes ein, als nachzufragen, ob sein Gegenüber vielleicht schon vom italienischen Neorealismus gehört habe. Er erbot sich sofort, dem Oberst ein paar Grundlagen zu vermitteln. (Er war ein glühender Anhänger des Neorealismus und gerade erst von einer Studienreise zum Centro Sperimentale di Cinematografía in Rom zurückgekehrt.) Aber der Offizier unterbrach ihn. »Nicht nur Ihr Film ist Mist«, urteilte er, »Sie reden auch viel Mist.« Der Regisseur von El Mégano musste die Beleidi144
gungen des Geheimdienstchefs über sich ergehen lassen. Ihm war klar, dass er keine Filme mehr machen konnte, solange es keine Veränderung im Land gab. Also schloss er sich dem Kampf gegen die Diktatur an und ging in den Untergrund. Um die Fantasie zu befreien, um wieder filmen zu können. (Ende 1956 tötete ein Geheimkommando den Chef des militärischen Geheimdienstes im Cabaret Montmartre.) Wer allerdings die offizielle Reaktion auf P.M. kennt und sich eine Kopie besorgt, wird sich zu derselben Reaktion berufen fühlen wie Comandante Guevara. Er wird sogar noch erstaunter und enttäuschter sein, denn El Mégano mochte als Anklage gegen das ländliche Elend durchgehen, er zeigte, was das Hauptstadtleben vergessen ließ, was Fest und Vergnügen verschleierten. Das Enthüllungspotenzial von P.M. dagegen war gleich Null. Er zeigte, was jeder Nachtschwärmer in Havanna sah: das fröhliche Leben in den Hafenbars. Was für eine Waffe konnte das sein, ein Film, in dem nur ganz gewöhnliche Leute auftauchten, die sich amüsieren, ohne jeden Dialog und völlig unkommentiert? Aber sowohl der eine wie der andere Film waren unter unterschiedlichen Bedingungen unpassend. Der kubanische Film der fünfziger Jahre, der stolz die neu errichteten Gebäude der Hauptstadt präsentierte, entfernte sich nur selten aus Havanna. Wenn Bilder 145
vom Land eingefangen werden sollten, wählte er (im Unterschied zu El Mégano) die weniger verarmten, pittoreskeren Gebiete. Schöne Haciendas, statt Bauernhütten, Bukolisches. Das Land war in diesen Film ein Ort für Fressgelage und Hallodri, ein Szenario für gegrilltes Spanferkel und Dichterwettstreit mit Gitarrenbegleitung. Nach 1959 versuchte das neue kubanische Kino die Abenteuer des Rebellenheeres bis zum Erreichen der Metropole mit den hohen Gebäuden historisch zu dokumentieren. Es wollte Themen behandeln, die die Filmkunst der vergangenen Ära außer Acht gelassen hatte. Fest und Vergnügen, fester Bestandteil des alten Kinos, mussten zwangsläufig dafür büßen, indem man es ausblendete. In der Bilderwelt der Revolution wurde dem Feiern derselben Raum zugestanden wie in der vorangegangenen Diktatur dem in El Mégano eingefangenen Elend: Ränder, Außenbezirke, wo das Auge nicht beleidigt wurde, so weit weg wie möglich. P.M. 1961 in einem Kinosaal zu zeigen, wäre ein Akt der Unterwanderung der neuen sozialen Ordnung gewesen, eine Missachtung der strengen Regeln, die fortan das Leben in der Stadt beherrschten. Wirft man einen Blick auf die Produktion des revolutionären Kinoinstituts aus der Zeit der Zensur von P.M., so könnte man meinen, dass darin viele Bilder aus dem Repertoire des Kurzfilms vorkom146
men. Die ersten revolutionären Modelle bedienen sich nämlich noch der Tricks vorausgegangener Filme, sie wiederholen Stereotype des alten kommerziellen Kinos. (Anfang der sechziger Jahre fotografierte das kubanische Kino zum letzten Mal völlig ungezwungen Frauenkörper, durfte die Kamera noch offen den Hintern erwandern, und die Rumbatänzerin war ein perfektes Geschöpf, das Pobacken und Orchester verband. Einem der vorrevolutionären Regisseure, eine Art Ed Wood, der in Kuba und Mexiko Filme gemacht hatte, gelang es einmal, die Kamera den Gang einer Schauspielerin verfolgen zu lassen, sodass die Hauptakteure der Szene nicht mehr zu sehen waren und an den Rand des Geschehens rückten. Dem Credo dieses Regisseurs zufolge verlangte die Bildwirksamkeit gewisse Opfer.) Die ersten Filme der Revolutionszeit hingegen bemühten sich, Karnevalsumzüge oder tanzende Mengen durch Vor- oder Abspann zu rechtfertigen. Sie nutzten irgendeinen Vorwand, egal wie weit hergeholt, um sich in einen Club zu schleichen, wo eine Rumbatänzerin ihre unanständigen Körperteile vor die Kamera rückte. Die im Vor- und Abspann massenhaft auftretenden Namen, die Figur am Tisch des Nachtclubs, ein bisschen Handlung, reichten, um vor der Prüfungskommission das Auftreten der Rumbatänzerinnen, Revuegirls, Big Bands und tanzenden Massen zu rechtfertigen. P.M. verzichtete auf solche 147
Alibis, griff nicht auf einen Vorwand zurück, um das Vergnügen darzustellen. Die fiesta war die ganze Handlung. Weit über die Auseinandersetzung zwischen ästhetischen Schulen hinaus, die in diesem durch dreizehn Minuten Film ausgelösten Skandal stecken mochte, musste das offenkundig Fragmentarische des Films viele der Begutachtenden ins Grübeln bringen. Sie waren es gewöhnt, dass Feiern den Rahmen für den Konflikt einer Figur bildeten, und der fehlte jetzt. Weil der Kurzfilm selbst eines der musikalischen Elemente war, die normalerweise den Filmen die Würze gaben, vermisste man hier den Rest. Was sollte man aus den Bildern lernen? Als Freecinema-Übung mochte er in den Zuschauern den Eindruck erwecken, dass so etwas ganz leicht zu bewerkstelligen sei. Jeder mit einer Kamera bewaffnete Verrückte konnte das und noch ganz anderes zustande bringen. Es handelte sich um ein gefährlich leichtes Unterfangen, umso mehr, wenn man es mit der gerade erst gegründeten Filmindustrie verglich. Das war potenzielle Filmguerilla. Einige der an der Entstehung von El Mégano Beteiligten, die inzwischen Führungsposten am offiziellen Filminstitut einnahmen, zogen ihren Vorteil aus der Zensur von P.M. Sechs Jahre nachdem sie wegen ihres Filmens verfolgt worden waren, waren sie selbst zu Verfolgern geworden. Hier taucht, wie ein 148
Emblem, das Zigarettenetui aus Menschenhaut von Graham Greenes Hauptmann Segura wieder auf. »Wissen Sie, dass Ihr Film der reinste Mist ist?«, mochten diese neuen Mitglieder der Hierarchie die Macher von P.M. fragen. Orlando Jiménez Leal und Sabá Cabrera Infante mussten ihnen nichts über die neue aus England kommende Kinobewegung erzählen. Denn im Unterschied zu dem erwähnten Oberst des militärischen Geheimdienstes waren sie selbst Filmleute und wussten sehr gut, was sie herausschnitten. (Zwei Jahre später mussten sie Federico Fellinis La dolce vita gegen die Attacken alter kommunistischer Chefs verteidigen, die verhindern wollten, dass dem Publikum von Havanna diese festlich rauschende Bilderflut aus dem Ausland gezeigt wurde.) Die Macher von P.M. verließen das Land. Einer von ihnen, Jiménez Leal, hat seine Filmkarriere im Exil fortgesetzt. Auch Néstor Almendros emigrierte und arbeitete später für Eric Rohmer, Terrence Malick, François Truffaut und andere. Sieben Jahre nach der Zensur von P.M. wählte Tomás Gutiérrez Alea für Anfangsszene und Abspann des Films Memorias del subdesarrollo (Erinnerungen an die Unterentwicklung) einen Tanz unter freiem Himmel mit dem Orchester Pello el Afrokán. Die Musik, viel Schlagzeug, begleitet von Blech149
trommeln, fragte unermüdlich nach einem Frauennamen. Und Gutiérrez Aleas Talent setzte eindrucksvoll dramatisch um, was in anderen Filmen bestenfalls ein prickelndes Detail geblieben wäre. Während des Tanzes sind Schüsse zu hören, und das Fest ist auf einmal vom Tod gezeichnet, der eine Bresche in den Festreigen schlägt. Und das Orchester spielt weiter. Zwei Tänzerinnen zeigen dem Publikum die Schritte des von Pello el Afrokán skandierten mosambikanischen Rhythmus. Ein Tap mit Absatz und Stiefelspitze, Taille etwas steif, Hände in die Seiten gestützt: ein Mambo, getanzt von Marionetten. Die Polizei kommt, um den Leichnam abzutransportieren, sie schaffen es, ihn rauszuholen, und das Publikum schwingt weiter die Hüften, als wäre nichts geschehen. Eine junge Schwarze schaut in die Kamera, während sie mit einem Männerhut auf dem Kopf tanzt. Ihr Bild wird angehalten, der Vorspann ist zu Ende, im Gesichtsausdruck des Mädchens spiegelt sich Angst. Später im Film kommt das Fest wieder, aber mehr erfährt man nicht. Weder die Identität des Opfers noch die des Mörders. Das Geschehene ist etwas, das der Hauptdarsteller, der bei dem Tanz zu Gast ist, wahrgenommen hat. (Wäre der Film für eine Frau geschrieben, wäre Monica Vitti für die Hauptrolle von Memorias del subdesarrollo perfekt gewesen. Die Monica Vitti aus Die mit der Liebe spielen.) 150
Entsprach diese Szene der Bemerkung Stendhals, der Politik im Roman mit Schüssen bei einem Konzert verglich? Memorias del subdesarrollo wurde im selben Jahr abgeschlossen, in dem Bars, Clubs und andere Nachtlokale im Zuge einer moralischen Sanierungskampagne zugemauert wurden. Als »Große revolutionäre Offensive« bezeichneten die Behörden diese Kampagne (es klingt chinesisch, maoistisch). Die Zensur von P.M. war eine Warnung gewesen, die Verdammung der fiesta, gewissermaßen in effigie. Zuerst kamen die Bilder dran, und dann die Bars, die Nachtclubs und Lokale selbst. Im Unterschied zu El Mégano, musste der Kurzfilm von Jiménez Leal und Cabrera Infante nicht auf einen erneuten Regierungswechsel warten, um aus den Kellern hervorzukommen. Es genügte ein Stimmungswechsel derselben Bürokraten, die einst seine Beschlagnahmung veranlasst hatten, damit er drei Jahrzehnte später wieder gezeigt werden konnte. Ein paar Mal war er in der Kinemathek zu sehen, bevor er wieder von der Bildfläche verschwand. Als Leiter des offiziellen Filminstituts zeigten sich die Macher von El Mégano aber auch ihrem eigenen Werk gegenüber großzügig. Vier Jahrzehnte nach diesem Erstling fiel ihre Aufmerksamkeit auf ein kleines Kino in der Nähe des Kapitols, des alten Parlamentsgebäudes im Herzen des republikanischen 151
Havanna. Sie ordneten an, es solle künftig nicht mehr Capri heißen, und gaben ihm den Namen des Films, der Comandante Guevara so enttäuscht hatte. P.M. fand schließlich eine Nische im Abspann von Before Night Falls, Julian Schnabels Film über das Leben von Reinaldo Arenas. Da ist es wieder, während die Namen von Technikern durchlaufen: das Glas der tanzenden Schwarzen. 5
Zum ersten Mal sah ich Buena Vista Social Club in der Abendvorstellung eines Kinos in Porto. Es regnete, und ich war der einzige Zuschauer. Vielleicht war um diese Zeit auch noch jemand an dieser Geschichte von alten kubanischen Musikern interessiert, eine Frau in den Fünfzigern, die aussah wie eine Bibliothekarin, die ich jetzt ausblende, um allein zu sein. Denn selbst in einem vollen Kinosaal wäre ich der einzige Zuschauer für diesen Film gewesen. Seit Wochen regnete es ohne Unterlass. Meine nassen Schuhe bildeten eine Reihe am Eingang des Appartements. Ich trug den denkbar besten aller Regenmäntel, der aber trotzdem kaum etwas nützte, und als im Saal das Licht ausging, befreite ich mich von ihm und legte ihn neben den zweiten Schirm. Der erste war unbrauchbar geworden. Am Ende einer 152
Gasse, auf dem Weg nach Hause, lagen die Regenschirmskelette, die der Wind regelmäßig zur Strecke brachte – es sah aus wie nach einem Massaker. Zwei Mal in der Woche kam eine Putzfrau, um in meinem Appartement ein wenig Ordnung zu schaffen. Dourinda hieß sie. Sie hatte ein Glasauge, einen Ehemann, der für sie die Verhandlungen führte und zwei Kinder im schulpflichtigen Alter. Sie lebte im Armenviertel am Ufer des Douro, und ihr Name leitete sich von dem Fluss ab. Bei unseren Gesprächen redete sie oft über die großen Überschwemmungen. Bei vielen einfachen Restaurants und Geschäften waren die Spuren noch sichtbar, ich könnte sie mir ansehen. In den besseren hatten sie sich die Mühe gemacht, sie von den Wänden zu entfernen. Bei ihrem ersten Besuch zeigte ihr Mann mir die Putzmittel, die ich für sie kaufen sollte. Genau diese, keine anderen. Der Mann, etwas gehemmt in seinen Bewegungen, genau wie sie, stellte eine Reihe leerer Verpackungen auf den Tisch. Er und ich vereinbarten die Arbeitszeiten, ohne dass Dourinda daran beteiligt war. Als ich ihnen die Verpackungen zurückgeben wollte, ließ das Misstrauen des Ehepaars das nicht zu. Dass ich mir alles aufgeschrieben hatte, schien ihnen nicht zu genügen. Wenn ich in einem der Geschäfte des Viertels mit ihr zusammentraf, kam Dourinda vorsichtig näher 153
und warf nach der Begrüßung einen Blick (nie war der Ausdruck zutreffender) in meinen Einkaufskorb. Sie machte sich klein, suchte Deckung unter meinem Kinn, und dann riet sie mir im Flüsterton, damit keine ihrer Bekannten es hören konnte, von den gewählten Produkten ab. Ihrer Meinung nach war das Ufer des Douro eine Ansammlung von Touristenfallen. Diese Restaurants, die es so eilig hatten, jede Spur der Katastrophe von ihren Wänden zu entfernen, und dann bei den Preisen zuschlugen. Schuhläden, in deren Schaufenster ein Paar einfacher Pantoffel auf wunderliche Weise ihren Wert vervielfachten, als könne man darin besser laufen. Und auf keinen Fall sollte ich Fleisch dort kaufen. Hatte ich einmal in einer der Bars gegenüber am Fluss ein Bier getrunken? Nun ja, war wohl eine Laune gewesen. Aber ich müsste ja nicht für meine täglichen Bedürfnisse so viel zahlen, als wären es Extrawürste. Ich mochte von weit hergekommen sein und mich in der Landessprache ungeschickt verständigen, aber eine solche Behandlung hatte ich nicht verdient. Meine Wohnung ging auf den Douro hinaus, sie befand sich auf dem Hügel, auf dem auch der Bischofspalast thronte. Als Katholik hatte ich, nur ein paar Schritte von der Brücke Dom Luis Primeiro entfernt, eine Kirche in der Nähe. Und um die Ecke war der Fußballverein, den ich anfeuern konnte, Os Passarinhos da 154
Ribeira (die Ribeira-Vögelchen; nirgendwo sonst würde man einem Sportverein einen solchen Namen geben). Man konnte mich nicht mehr mit den Touristen auf Durchreise verwechseln. Entweder hatte ich mich eingelebt oder sie betrogen mich weiter. All das sagte ich wortlos. An den Nachmittagen, an denen Dourinda kam, zog ich es vor, auszugehen. Es war noch zu früh, um das Café in der Avenida dos Aliados anzusteuern, wo man mich kannte, und ein Besuch im Buch- oder Plattenladen hätte mir am Monatsende Probleme bereitet. Und da an einen Spaziergang am Meer oder in den Gärten des Palácio de Cristal bei dem Regen nicht zu denken war, blieb nur das Kino. Dass in der ganzen Stadt kein Bekannter wohnte, den ich besuchen oder um ein Treffen bitten könnte, gab mir ein merkwürdiges Gefühl von Freiheit. Ich hatte die langweiligste und menschenleerste Stadt für mein Stipendienjahr ausgewählt. Ich hatte mich vergewissert, dass es dort keine kubanische Kolonie gab und dass sie keine Wegkreuzung der Inselkarawanen bildete. Das ganze Jahr über tauchten dort nur eine Delegation von Bürokraten, eine Sportmannschaft und die alten Musiker einer Folklorekapelle auf, die ich auf einer Einkaufsstraße traf und denen ich half, Hüte und Krawatten zu kaufen. Mein Hauptanliegen, abgesehen von dem Buch, an dem ich arbeitete, war, ein Jahr allein zu sein. Es 155
ist mir zwar nicht ganz gelungen, aber doch zum größten Teil. Ich habe wochenlang nicht mehr als Guten Tag gesagt und über das Wetter gesprochen. Nur die eine oder andere Bestellung bei dem Kellner des Cafés oder beim Zeitschriftenverkäufer, kurze Gespräche mit dem Briefträger an der Tür. Und, während des Wartens auf das Wechselgeld, hörte ich die Klage einer Ladenbesitzerin über einen trinkenden Sohn, der auf ein noch nicht bezahltes Motorrad stieg. Abgesehen von meinen Gesprächen mit Dourinda. Ein Jahr ohne alles Überflüssige. Was ich in diesem Zeitraum zustande brachte, zählte wenig, und es passierte auch wenig, nur Jahreszeiten und Feste, Blütezeiten, Vogelwanderungen, Regierungswahlen. Das Beachtlichste war das Verstreichen der Tage, Wochen und Monate. Neunzehnhundertneunundneunzig an sich, das Jahr als Gefäß. Wie die leeren Gefäße, die Dourindas Mann mir hingestellt hatte, damit ich keine Fehler beim Einkaufen machte. Das Jahr hatte Anfang Dezember mit dem Weihnachtsschmuck in den Straßen angefangen. An Weihnachten bekam ich als Geschenk eine Flasche alten Wein und einen bolo rei, einen Kranzkuchen mit Früchten. N., der aus Madrid gekommen war, fand die Glück bringende Bohne. Der Januar kam sehr langsam. Der Karneval war traurig, die Feste waren traurig. Kurz bevor der 156
Frühling kam, schloss ich mich einer Familie an, meinen einzigen Freunden, um Mimosensträuße zu pflücken, die ersten Blüten. Da verschwand die schwarze Kleidung und machte der nicht weniger strengen grauen Platz. Die Jahresabschlussfeste der Uni belagerten mit ihren Umzugswagen die ganze Stadt. Und es gab Bier unterm Regenschirm. Am Abend des Johannistages peitschten sich die Leute gegenseitig mit langen Knoblauchtrieben aus. N., der wieder gekommen war, entdeckte in der Menge einen bedeutenden Politiker. Für das Fest wurde die Brücke Dom Luis Primeiro mit Feuerwerk illuminiert. Ballons aus Papier stiegen angetrieben von der warmen Luft der Flammen gen Himmel. Das obligatorische Mahl: gebratene Sardinen. Und am nächsten Tag gaben die Zeitungen zu, das Feuerwerk sei nicht so prächtig ausgefallen, weil die Stadt sich bei der Siegesfeier für ihr Fußballteam aus demselben Budget bedient hatte. Der Sommer war herrlich, und der Nachsommer übertrieb es vielleicht sogar. Denn eines Nachts verschwanden der Fluss und die Leuchtreklamen vom anderen Ufer, Vila Nova de Gaia. Eine atlantische Nebelbank zog landeinwärts und löschte auf ihrem Weg den Douro aus. Sie drang durch die Fenster hinein. Die Möbel verschwanden genau wie die Ufer. 157
Das Haus versank für ein paar Stunden im Nichts. Es war der Höhepunkt des Jahres. Hätte ich verschwinden wollen, einen besseren Zaubertrick hätte es nicht geben können. Der Nebel war aber auch eine Vorankündigung des Winters, ein Hinweis, dass sich mein Aufenthalt dem Ende zuneigte. »Wenn du in all der Zeit nicht zu der Überzeugung gelangt bist, dass du ins Exil gehen solltest, dann kehrst du am besten nach Kuba zurück«, meinte N. Er war nach Porto gekommen, um sich zu verabschieden. Wir setzten einen Topf mit schwarzen Bohnen auf und gingen hinunter in die Kneipe. Durch das Fußballspiel im Fernsehen erfuhren wir, dass in Lissabon schönes Wetter war. Wir hatten davon geträumt, gemeinsam nach Lissabon zu reisen, wir hatten es uns in Havanna versprochen. Und so nahmen wir den Topf mit den Bohnen vom Feuer und machten uns auf den Weg. In eineinhalb Tagen zeigte ich ihm die Stadt, und dort verabschiedeten wir uns. Die im Kuchen gefundene Bohne war sein Schatz, N. musste den nächsten bolo rei kaufen, und ich wäre nicht mehr da, ihn mit ihm zu teilen. Als ich eines Abends aus meinem Stammcafé kam, sah ich ein paar Lastwagen, die Weihnachtsschmuck 158
in den Straßen verteilten. Dourindas Mann wollte wissen, ob nach mir ein anderer Schriftsteller käme. »Es kommt jemand aus China«, versprach ich, ohne dass es einen Beweis dafür gab. Und am Ende dieses Jahres ging ich ins Kino, wo Buena Vista Social Club gezeigt wurde. Der Gitarrist und Musikproduzent Ry Cooder war nach Havanna gekommen, um in einem Aufnahmestudio kubanische Musiker und afrikanische Künstler zusammenzuführen. Von einem früheren Aufenthalt hatte er bereits Aufnahmen mit nach Hause genommen. Seine neueste CD, zusammen mit Ali Farka Touré, war sehr erfolgreich gewesen und hatte ihn auf die Idee gebracht, beide Musikrichtungen zusammenzubringen. Er wurde begleitet von seinem Sohn Joachim, der das Schlagzeug übernehmen sollte. Die kubanische Musikertruppe in Havanna stand bereits in den Startlöchern, sie warteten nur noch auf die Leute aus Afrika, aber von dort kamen schlechte Nachrichten: Die Delegation afrikanischer Künstler hätte Probleme in Paris und könne nicht rechtzeitig da sein. Sie sollte nie in Havanna ankommen. Diese tote Zeit, in der ein Musikproduzent und die Hälfte seiner Musiker auf die andere Hälfte warten, hatte das Interesse des Filmemachers Wim Wenders geweckt. Die Vorgeschichte zu der Aufnahme von Buena Vista Social Club schien sein Thema zu sein, 159
noch bevor Ry Cooder ihm vorschlug, einen Dokumentarfilm über kubanische Musiker zu drehen. Der deutsche Regisseur war fasziniert von der Flaute. Einer seiner Filme, Der Stand der Dinge, erzählt von der erzwungenen Arbeitspause eines Filmteams in einem Badeort bei Lissabon. Techniker und Schauspieler, die kommen und gehen, bei wechselnder Laune, während sie darauf warteten, dass der Regisseur von einem Treffen mit Produzenten in San Francisco zurückkehrt. Der Toningenieur, der die Hauptrolle in einem anderen seiner Filme, Lisbon Story, spielt, wird von einem befreundeten Regisseur eingeladen, um gemeinsam an einer Hommage für die Hundertjahrfeier des Kinos zu arbeiten. Unterwegs kommt es zu einem Unfall, und der Toningenieur erreicht sein Ziel nur mit knapper Not und einem Bein im Gips. Nur um festzustellen, dass sein Freund, der Regisseur, verschwunden, möglicherweise sogar getötet worden war. Während des Wartens lernt er die Geräusche Lissabons kennen, einige davon einzigartig (die der Straßenaufzüge von Bica oder Glória). Er teilt die Unterkunft mit den Musikern von Madredeus, die das Repertoire für ihre nächste Tournee einüben. Und unter den Habseligkeiten des verschwundenen Freundes findet er Bilder von dem geplanten Film. Die missliche Lage, in die Ry Cooder in Havanna 160
geraten war, passte also perfekt zu Der Stand der Dinge oder Lisbon Story. Aber es sollten die Lebensgeschichten der kubanischen Musiker sein, die Wim Wenders die größten Reserven an toter Zeit bescherten. Denn Cooder mochte Wochen auf die von ihm unter Vertrag genommenen Künstler gewartet haben, die kubanischen Musiker aber hatten Jahrzehnte ihres Lebens darauf gewartet, dass ein Ry Cooder oder ein anderer Produzent sie rettete. Rubén González, bereits in fortgeschrittenem Alter, hatte schon fast zehn Jahre lang kein Klavier mehr angerührt. Nach ein paar herben Enttäuschungen hatte Ibrahim Ferrer beschlossen, nie mehr zu singen, und verdiente seinen Lebensunterhalt als Schuhputzer. Als Ry Cooders Leute ihn fanden, traktierte er gerade ein paar Schuhe mit der Polierbürste. Man gab ihm nicht einmal Zeit zu duschen, er musste gleich mit ins Aufnahmestudio. Compay Segundo, der älteste von allen, war vor nicht allzu langer Zeit dank eines spanischen Produzenten ins Rampenlicht gerückt. Nur Omara Portuondo war immer als Sängerin aufgetreten, wenn auch nur auf nationaler Ebene. Jahrelang war es ihre einzige Beschäftigung gewesen, die Hymne Siempre es 26 (Es ist immer der 26.) anlässlich von Regierungsfeierlichkeiten zu singen. Und sie hat den bedeutendsten nationalen Musikwettbewerb mit einem 161
nicht weniger hymnischen Lied gewonnen: Junto a mi fusil, mi son (Bei meinem Gewehr meinem Son). In Wim Wenders’ Lisbon Story war auch Manoel de Oliveira zu sehen. Den alten Filmemacher zu treffen wäre für jeden Toningenieur Grund genug gewesen, anlässlich der Hundertjahrfeier des Kinos nach Portugal zu reisen. De Oliveira war der einzige Filmemacher auf der ganzen Welt, der immer noch Filme machte, obwohl sein Erstlingswerk schon in der Stummfilmzeit entstanden war. In gewisser Weise war er das Kino. Die Festakte zur Hundertjahrfeier waren seine. Compay Segundo (eigentlich Francisco Repilado) war ein ähnlicher Überlebender. In seiner musikalischen Laufbahn hatte er sämtliche Aufnahmetechniken erlebt. Er war erst spät zu Ruhm gelangt, und seine größte Stärke bestand darin, andere zu überleben. Er war Klarinettist beim Conjunto Matamoros und zweite Stimme im Duo Los Compadres und verkörpert somit mehr oder weniger die kubanische Volksmusik in ihrer besten Zeit. Diese Ehre gebührt ihm, weil er sich nicht hatte unterkriegen lassen. Er musste es denn auch sein, der im Viertel Buenavista den Club findet, dem Orestes López seinen Danzón widmet. (Bevor es sich Ry Cooder aneignete, war das Stück Buena Vista Social Club ein Steckenpferd des blinden Pianisten Frank Emilio Flynn gewe162
sen, der es mehrfach auf Platte eingespielt hatte. Der traditionellen Einspielung fügte Cooder slide guitarEinschübe hinzu. War das Stück ein Seidenstrumpf, so erzeugte die Gitarre unweigerlich ein paar Laufmaschen, die ein so feines Gewebe zerstören mussten, aber dafür konnte man den Blick auf ein Stück Haut erhaschen.) Mit Hut, Anzug und Krawatte, Zigarre im Mund und den Körper majestätisch ausgebreitet wie ein Bauer in der Badewanne, sucht Compay Segundo in einem Cabrio der fünfziger Jahre nach dem Haus, in dem sich der ehemalige Club befand. »Man muss die alten Männer fragen«, schlug er vor. Als ob jemand, der noch älter ist als er, dabei helfen kann. Ein paar Männer, die vor den leeren Geschäften herumstehen, kommen an das Auto heran. Sie sind jünger als Compay Segundo, aber er nimmt sich heraus, sie wie Greise zu behandeln, denn mit dem Cabrio ist das Glück auf seiner Seite. Der Musiker zeigt auf eine Schwarze, bestimmt hat sie früher in dem Club getanzt, die Frau bestätigt: ja, sie habe einst dort getanzt bis zum Umfallen, sie könne ihnen den Weg zeigen. Jeder gibt seinen Senf dazu. Viele kennen den Club nicht, aber um nichts in der Welt würden sie den Mund halten. Natürlich erinnern sie sich, in ih163
ren guten Zeiten waren sie in Lebensgröße bei den Festen im Club von Buenavista dabei gewesen. Als die Kamera den Ort findet, macht sich Enttäuschung breit. Aus dem ehemaligen Club ist ein Wohnhaus für Familien geworden, und das Gebäude ist weit weniger beeindruckend als der einstige Tanzclub. Jetzt kann sich der Musiker, den sie als Detektiv eingesetzt haben, zu den zwei oder drei Neugierigen gesellen. Sie haben ihm den Weg zum Club gezeigt, nun verrät er ihnen im Gegenzug das Geheimnis seines langen Lebens. In allen Einzelheiten verrät er das Rezept einer Suppe, die er immer gern aß, und fachsimpelt mit ihnen über richtige Ernährung. Buena Vista Social Club, der Film, erzählt, wie dank der Vision eines Produzenten eine Gruppe zum Stillstand verurteilter Musiker in einem der Länder mit dem größten Stillstand weltweit am Ende im Madison Square Garden auftritt. Statt Engel in Berlin alte Männer in Havanna. Compay Segundo sucht und findet die Ruinen des Club Social von Buenavista, die Gruppe wird Musiker für Musiker interviewt, man erlebt die Aufnahme eines neuen Albums, und der Film findet seinen Höhepunkt mit der Reise der Kubaner nach New York und dem triumphalen Abend auf der Bühne. Der Weg in das zerfallene Aufnahmestudio Havannas führt durch von Ruinen gesäumte Straßen. 164
Ein Großteil der kubanischen Filmkritik warf Wenders vor, sich an einer bombardierten Landschaft zu weiden. Als befände sich Centro Habana nicht in einem viel schlimmeren Stadium des Verfalls als im Dokumentarfilm gezeigt. Als wäre es Wenders, der, indem er es fotografiert, das Elend erst erzeugt. Diese Kritiker vergaßen, dass sich Wim Wenders bei seinen Filmen in Portugal denselben Obsessionen hingab, wie als er Havanna ablichtete. Zur Entlastung von Wenders und der Stadt ist außerdem zu sagen, dass Buena Vista Social Club während der Regenzeit gefilmt wurde, wenn die Straßen Havannas besonders heruntergekommen aussehen. Es ist der Betrieb auf den Straßen, was dem deutschen Regisseur bei seinen Abenteuern in Havanna wohl am meisten gefallen hat. Genüsslich verfolgt er alte nordamerikanische Autos und vollbesetzte, zu Bussen umgebaute Lastwagen. Er widmet Leuten Filmzeit, die eine Tür oder einen Kühlschrank durch die Straßen tragen, er filmt eingehend auf der Straße spielende Kinder und versucht auf diese Weise, den alten Musiker ein wenig Geschwindigkeit zu geben. Immer wieder kreist die Kamera um die Künstler, während sie singen. So schwindelerregend wie beim Filmen der Gruppe Madredeus in Lisbon Story. Im riesigen Saal der ehemaligen Sociedad de Dependientes spielte Rubén González Klavier. Der alte Pianist ist umgeben von tanzenden Mädchen (das 165
Gebäude, einst eine Sportschule, beherbergt inzwischen eine Ballettschule), und Wenders macht sich die rhythmische Dynamik filmisch zunutze. Joachim und Ry Cooder fahren Motorrad, was der Sequenz unbestreitbar etwas Kriegerisches verleiht. Vater und Sohn fahren über ein Schlachtfeld, mit dem Auftrag, eine Botschaft zu überbringen. Der Krieg geht gegen die Zeit, was der Inhalt der Botschaft ist, weiß man nicht. Oder wir erfahren es, sobald er aus dem verfallenen Aufnahmestudio in der Calle San Miguel in Centro Habana kommt. Noch ein anderer, friedlicherer Moment zeigt die beiden Cooders. Auf einer Mole spielen drei Musiker, einer von ihnen Joachim Cooder. Sein Vater schaukelt in einem Sessel oder in einer Hängematte. (Der alte Cooder hatte die Hawaii-Gitarre an die kubanische Musik herangeführt, und Joachim spielte die aus Nigeria stammende, in Kuba unbekannte Udu-Trommel.) Das Rauschen der Wellen und die Musik ergeben eine einlullende Melodie. Und die Stimme des alten Cooder erzählt, wie es dazu kam, dass er Produzent dieser Musik wurde, sie berichtet von seiner jahrzehntelangen Faszination für Musiker, die er vom Hören kannte, nicht aber mit Namen. Die Musik zusammen mit dem prächtig ruhigen Meer führt zu einer Abfolge paradiesischer Bilder. Ry Cooders Mission als Plattenproduzent war es, das Paradiesische des Krieges gegen die Zeit zu verteidi166
gen. Anfänglich ratlos, was er mit diesem Erbe anfangen sollte, hatte er zu einer Strategie gefunden, die in mehreren aufeinanderfolgenden Alben ihren Ausdruck fand. Seiner Definition zufolge war es der Versuch, die Musik eines Orchesters aus den sechziger Jahren wieder zu erschaffen, das es nie gegeben hatte. Mit einem Reichtum konfrontiert, mit dem er zunächst nichts anfangen konnte, hatte er mithilfe seines musikalischen Spürsinns eine riesige Lücke entdeckt. Er kannte inzwischen genug musikalische Himmelskörper, um sagen zu können, dass es hier einen bisher unsichtbaren Planeten gab. Jeder Musiker aus Buena Vista Social Club taucht in seinem Kästchen des Periodensystems auf, allein in einem leeren Festsaal oder einer Bar. Keine heruntergekommenen Lokalitäten, obwohl man auch nicht mit Sicherheit sagen kann, dass sie sich nach Einbruch der Nacht belebten. Man hat das Gefühl, sie hätten immer leer gestanden. Dass die fiesta sie schon vor langer Zeit verlassen hat. Sie wirken wie Salonfluchten in einem Geisterhotel. Die Töne der slide guitar im Titelsong Buena Vista Social Club wirken wie Irrlichter, quietschende Kreide auf einer Tafel, Eis, das auf ein Loch im Zahn trifft. Ein Danzón wie aus dem Soundtrack eines Horrorfilms. Das unwirkliche Orchester der Sechziger sorgt im Hotel Overlook in Kubricks The 167
Shining für die musikalische Untermalung. War P.M. die Vorankündigung der Schließung des Festes, dann war Buena Vista Social Club das Zeichen seiner Rückkehr. Sehr bald würden sich die Bars von Habana Vieja mit Musikern füllen, die bereit waren, immer wieder dieselben musikalischen Themen von dem Album und dem Film zu spielen. Das Zimmer von Tula, das durch eine Unachtsamkeit seiner Besitzerin in Flammen aufgeht, soll am Ende das Lied ersetzen, das einen anderen Verlust beweint: den von Comandante Ernesto Guevara. 6
In einer seiner Notizen für ein Buch über das Pariser Leben, das er nicht mehr vollenden konnte, wies Walter Benjamin darauf hin, dass die Uhren an den Fassaden das bevorzugte Ziel der revolutionären Schüsse während der Pariser Kommune waren. Angeblich wurden sämtliche öffentlichen Uhren von den Kugeln angehalten, und einige verloren bei der Schießerei ihre Zeiger. Was für einen Sinn das haben soll, ist nicht ganz klar. Vielleicht gar keinen. Es geschah im Taumel, wie wenn während einer Fiesta Mexicana ausgelassen Schüsse in die Luft abgefeuert werden. Wenn sich aber Schüsse in die Luft so verstehen lassen, dass 168
eigentlich in den Himmel geschossen wird, in die Leere oder die Fülle, je nach Ansicht, Nichts oder Gott, warum sollten dann nicht auch Schüsse gegen die Uhren einen Sinn beinhalten? Zumindest versucht man eine Stunde für immer festzuhalten, man unterbricht den Fluss der Zeit. (Man sollte ihr den Namen aus einer Zeit geben, in der man noch den Göttern vertraute, und sie Chronos nennen.) Die Schüsse waren Ausdruck des maßlosen Erstaunens der revolutionären Streitkräfte über die Leichtigkeit im Augenblick des Sieges. Chronos war schon wieder unterwegs und widmete ihm nur einen Moment. Als ob der Sieg einer Revolution nur ein Ereignis unter vielen und nicht das Ereignis wäre. (Thomas Carlyle sollte sich wundern, dass während des Sturms auf die Bastille die große Uhr im Hof ungerührt weiterlief, als ob nichts geschähe.) Einmal an der Regierung, würden die revolutionären Heerscharen schon dafür sorgen, dass solche Frechheit bestraft wurde, und die aristokratische Leichtigkeit von Chronos, seine göttliche Launenhaftigkeit mit aller Macht bekämpfen. Sie würden zur Wiedergutmachung eine Lawine von Gedenkfeiern lostreten, und die weihevollen Reden würden immer wieder den schönen, unvergesslichen Moment des Sieges in Erinnerung rufen, ihn zu Geschichte machen, der Minute Dichte verleihen. Ein neues Zeitalter, das wahrhaftigste von allen, das mehr Gerechtig169
keit bringt, hatte in diesem Moment angefangen. Es war der Kilometer Null aller Autobahnen. Sie würden Chronos zwingen, immer wieder zu diesem Moment zurückzukehren, den er zu übergehen versucht hatte. Damit er die Lektion lernte, würde man ihn mit der Schnauze in seine eigene Scheiße stoßen, wie einen kleinen Hund. Er müsste, unter Peitschenhieben, im Kreis umhertraben. Das größte Projekt der Revolution war es, die Zeit zu zähmen. Jedes Jahr bekam einen Namen, durch den ihm eine besondere Aufgabe zugewiesen wurde. »Jahr der Agrarreform«, »Jahr der Bildung«, »Jahr der Planung« bezeichnete die kubanische Revolution die auf 1959 folgenden. Diese Bezeichnungen, die auf dem Briefkopf eines jeden offiziellen Dokuments, eines jeden Geschäftsbriefs und über jeder Klassenarbeit stehen mussten, hatten das Herausfordernde und zugleich Schmeichelnde von Modellsätzen in Selbsthilfehandbüchern. Es waren Beschwörungsformeln für ein besseres Ich, eine bessere Gesellschaft. Als man genug von so viel Motivation hatte, reduzierten die Bezeichnungen sich auf das rein Akkumulative: »Dreißigstes Jahr der Revolution«, »Einunddreißigstes Jahr der Revolution«, und so weiter, mit trockenem Humor. Was als offenes Abenteuer begonnen hatte, wurde zur Institution. Der Marsch der Truppe endete für 170
jeden Führer in einem Büro, wo er die Launen an seinen Untergebenen ausließ, nach anderen Abteilungen schielte, und der Eins gegenüber willfährig war. Konspirationen auf den Gängen ersetzten die früheren Hinterhalte. Da war kein Platz mehr für eine Invasion, es ging nur noch um Aufstieg und Amtsenthebungen. An die Stelle des Schlachtplans trat ein Organigramm. Das Land, vorher weit verzweigt und voller Erwartung, war zu einer Karriereleiter geschrumpft. (In seinen letzten Jahren schreibt Comandante Ernesto Guevara einen Brief an seine Mutter. Er passt nicht mehr nach Kuba, wo er Befehlshaber, Botschafter, Minister in verschiedenen Sparten, Bankpräsident gewesen war. Die Arbeit in der Regierung befriedigt seine Ungeduld nicht mehr so wie einst der Guerilla-Krieg. Er, der den Kontinent mit Floß und Motorrad durchquert hat, scheint nicht mehr viel Raum in der Welt zu finden. Er spielt mit dem Gedanken, nach China zu gehen. Stattdessen landet er erst im Kongo und dann in Bolivien, wo er den Tod findet. Er hatte verkündet, es sei notwendig, viele Vietnams zu schaffen, und er würde sein revolutionäres Nomadentum bis zur letzten Konsequenz fortsetzen. Er schreibt über seinen Horror vor jedem Zuhause, es ist der Brief eines Piraten an seine Mutter. Eines erschöpften Piraten, der immer weitermachen muss, ein umherirrender Geist auf einem verwünschten Schiff.) 171
Die Müdigkeit des Bürokraten aber ließ sich mit der Vorstellung bekämpfen, dass innerhalb der Revolution eine Revolution stattfand. Die Sehnsucht nach Gewalt nistete in dieser mathematischen Teilmenge. Das Tagesgeschäft des neuen Regimes zu stemmen, erforderte ebenso viel Energie wie die Machtergreifung. Die Friedensarbeiten bedurften derselben Emphase wie eine Maschinengewehrsalve. Bei diesen jesuitischen Übungen war jeder Tag ein neuer Siegestag. Jeden Tag bei Null beginnen, immer sorgfältig darauf achtend, dass man die Grenzen der Revolution nicht verließ (innerhalb der Revolution alles und gegen die Revolution nichts), zwang zum Gedenken, zu ständigen Exkursionen zurück zu den Schüssen gegen die öffentlichen Uhren. Ein enttäuschender Ausflug, der vor verschlossenen Türen endete. Innerhalb der Revolution alles. Aber wer schaffte es, drin zu sein? Von Ravenna aus hatte Lord Byron Thomas Moore eingeschärft: »Man muss den Menschen begreiflich machen, dass Dichtung Ausdruck einer überschwänglichen Leidenschaft ist und dass es kein Leben in permanenter Leidenschaft gibt, so wie es kein fortdauerndes Erdbeben oder ewiges Fieber gibt. Außerdem, wer könnte sich in einem solchen Zustand rasieren?« (Die Revolution war eine Sache von Bärten.) Schon als die revolutionären Kämpfer auf die Zei172
ger der Uhren zielten, war das elegisch. Hier treffen zwei Epitaphe zusammen, das des alten Regimes und das der Revolution. Nach Ansicht von Cioran siegte eine Revolution nur, wenn sie eine unwirkliche Ordnung bekämpfte. Die Verblüffung von Comandante Guevara nach der Vorführung von El Mégano kam aus der blitzartigen Erkenntnis dieser Unwirklichkeit des früheren Regimes. Alarich hatte nicht Rom erobert, sondern eine Leiche. Ihm gebührte, genau wie den Jakobinern, nur das Verdienst, eine gute Intuition gehabt zu haben. Die Revolution besiegte eine unwirkliche Ordnung, um gleich danach selbst unwirklich zu werden. Aus dem Zusammenstoß zwischen Alarich und Rom gingen zwei Leichen hervor. Die Schüsse auf die Uhren bezeichneten eine ganz schmale Trennlinie zwischen der abgeschafften unwirklichen Ordnung und der nicht weniger unwirklichen, die sich herausbildete. Die Revolution ereignete sich wie ein Schiffbruch, und alle blieben außen vor. (Die Märtyrer auf dem Weg zum Sieg waren die einzigen über jeden Zweifel erhabenen Teilnehmer.) Karl Marx, zitiert von Georges Sorel, der seinerseits von Isaiah Berlin zitiert wird, behauptete, wer Pläne für die Zeit nach der Revolution schmiede, sei ein Reaktionär. Wer die Schüsse auf die Uhren überlebt hatte, dem haftete automatisch etwas Negatives an. Immer stand man unter Verdacht. Unter Beobachtung. Bes173
pitzelung und Tribunale zeugten von revolutionärer Wachsamkeit. In Versammlungen zur kommunistischen Erziehung wurden Verratsvorwürfe wie Psychodramen eingebunden, und Reden zur Selbstbezichtigung, in einer schlechten Mischung aus Agora und Beichtstuhl, waren obligatorisch. Die Polizei filzte umstandslos jedes Gepäckstück, das ihr bei Passanten verdächtig erschien. Die Revolutionsregierung verfügte die Einrichtung von Schulund Arbeitsakten. Lehrer oder Fabrikverwalter brauchten nur zu drohen, wie endgültig ein Fleck in diesen Akten sein konnte. Schuld wurde unter der Herrschaft der Revolution fortan genetisch vererbt. Die Revolutionäre hatten während des alten Regimes aus der Festkultur ein obsessives Angriffsziel gemacht. Ende der fünfziger Jahre forderte die Untergrundpropaganda die Einwohner Havannas zu einem Boykott auf, der publizistisch unter der Formel drei C zusammengefasst wurde: cero cena, cero cine, cero cabaret, Null Abendessen, Null Kino, Null Kabarett. (Ein ebenso alphabetisch geordneter Groll entlud sich später in den siebziger Jahren in der Kampagne gegen Prostituierte, Päderasten und proxenetas [Zuhälter], die drei P.) Revolutionskommandos denunzierten Vergnügen als Müßiggang, schleusten Krawallmacher unter die Nachtschwärmer und ordneten allgemeine Trauer an. Die Sabotage machte auch vor Kinos und Nacht174
clubs nicht halt. Solange Märtyrer fielen, durfte keine frivole Musik erklingen. Müßiggang war ein krimineller Erfüllungsgehilfe. Als sie schließlich an der Macht waren, schlossen die Revolutionäre die Lokale, deren Betrieb sie zuvor gesprengt hatten. Zwar war das große Märtyrersterben vorbei, aber die Kampagne gegen fiesta und Vergnügen lief immer noch reibungslos. Die neue Wirtschaft organisierte Schlangen vor den Bankschaltern. Im Kampf gegen die Zeit wurden Geld und Kalender ausgetauscht. Das alte Geld wurde verbrannt, und neue Scheine erinnerten an die neuen Daten. Geld wurde ausgeteilt ohne Gegenleistung, man tat so, als sei es rechtmäßig verdient, brachte es in Mengen unters Volk, ließ zugleich alle Waren verschwinden, für die es hätte verwendet werden können, und ließ es dann knapp werden, als Handel und Geschäfte sich erholten: Techniken wie aus einem Folterhandbuch – rasante Wechsel, Störung des Zeitgefühls, Kappen des Zusammenhangs und aller Brücken zwischen Ursache und Wirkung. Als Indikator der Zeit wurde das Geld degradiert. Die revolutionäre Wirtschaft sollte zeigen, dass die ausgegebenen neuen Scheine nicht mehr als Flugblätter waren, mit denen man das Verschwinden des Geldes feierte. Was man sich als Ersatz ausdachte, war allerdings noch lächerlicher. 175
Moralische Anreize wurden diese Ersatzmittel genannt. Anstelle von Scheinen, Ehren. Ein Diplom, eine Erwähnung bei der Arbeiterversammlung, ein Beifallssturm, die Ernennung zum Delegierten. Nachdem das Geld desavouiert war, wurde die Errichtung der neuen Gesellschaft zur moralischen Aufgabe, zu der man nicht in Erwartung eines Lohnes am Ende vom Monat getrieben wurde. Der Müßiggang sollte seinen Reiz einbüßen. Auf dem Weg zur Fabrik (unter dem neuen Puritanismus der Ersatz für den Weg zur Kirche) konnten keine Kneipen ihre Türen öffnen. In die Fabrik ging man aus Gewissensgründen, nicht in der Hoffnung auf künftige Annehmlichkeiten. »Es ist sehr viel vorhanden auf einem beschränkten Raum, und die vielen, die sich auf diesem gewissen Areal bewegen, können alle daran teilhaben«, so beschreibt Elias Canetti das Fest. »Die Erträgnisse, welcher Kultur immer, werden in großen Haufen zur Schau gestellt. Hundert Schweine liegen in einer Reihe gebunden da. Berge von Früchten sind aufgetürmt. In mächtigen Gefäßen ist das beliebteste Getränk zubereitet worden und wartet auf alle Genießer. Es ist mehr vorhanden, als alle zusammen verzehren können, und um es zu verzehren, strömen immer mehr Menschen hinzu. Solange etwas da ist, nehmen sie davon zu sich, es sieht aus, als würde es 176
nie ein Ende nehmen. Es ist ein Überfluss an Weibern da für die Männer und ein Überfluss an Männern für die Weiber. Nichts und niemand droht, nichts treibt in die Flucht; das Leben und der Genuss während des Festes sind gesichert. Viele Verbote und Trennungen sind aufgehoben; ganz ungewohnte Annäherungen sind erlaubt und begünstigt.« Im Gegensatz zu den Schüssen auf die Uhren, will das Fest die Stunden nicht festhalten, sondern verstreichen lassen. Canetti merkte an, dass beim Fest kein einheitliches Ziel existiert, kein Ziel, das alle als Masse erreichen müssen. »Das Fest ist das Ziel, und man hat es erreicht.« Allzu offenkundig waren Fest und Vergnügen Rivalen jener politischen Versammlungen, auf denen der fixen Idee eines Führers gehuldigt wurde. (»Allein die Stimme zeigt uns, in ihrer Müdigkeit und Bitterkeit, ihrer Kraft die Einsamkeit des Mannes, der für sein Volk entschied, unter dem Schweigen der fünfhunderttausend Zuhörer«, beschrieb JeanPaul Sartre eine politische Versammlung in Havanna.). In P.M. hatte die Filmkommission einen Haufen Herumtreiber entdeckt, die ihre Zeit totschlugen, während auf den Zuckerrohrfeldern dringend Arbeiter gebraucht wurden. (1971, offiziell »Jahr der Produktivität« genannt, wurde ein Gesetz gegen Müßiggang verkündet. In Kuba gab es anscheinend mehr 177
Parasiten und Nichtstuer als in den gesamten russischen Romanen des 19. Jahrhunderts.) Was konnte man aus diesem Paar, dem Betrunkenen und der sich an das Bier klammernden Frau, lernen? Geschichte schien für die beiden nicht stattzufinden. Gegen den Sieg der Revolution trugen sie eine fast göttliche Leichtigkeit zur Schau. Für das in diesem Dokumentarfilm versammelte Gesindel existierten keine unerbittlichen Prozesse. Sie feierten, und sie würden nie damit aufhören. (In seinen Erinnerungen hat Bohumil Hrabal den Kneipen von Prag für die Lektionen gedankt, die er dort gelernt hatte, denn durch diese Winkel war die wechselvolle Geschichte seines Landes mit einer gewissen Leichtigkeit gezogen.) Genau wie die Prostitution kehrte auch das Geld Anfang der neunziger Jahre nach Havanna zurück. Man musste es aus einem anderen Land holen, damit es wieder Glaubwürdigkeit erhielt (ausländische Geldscheine waren die einzigen, die noch eine Aura besaßen). Die nationale Währung sollte von diesem Import profitieren. Sie war dem Dollar gleichgestellt, wie auch immer diese Entsprechung aussehen mochte, also existierte sie. Die Behörden gaben ihre Einwilligung, solange durch diese Rückkehr niemand reich werden konnte. Und was waren das für armselige Dinge, die schon als Zeichen des Reichtums galten. Schon der Ver178
dacht, dass jemand über seine Verhältnisse lebte, reichte für Anzeigen und Prozesse. Der Dollar betrat wieder die Bühne, und der Ausweg der Regierung bestand darin, ihn abzuschwächen, so wie man die Wirkung von Kaffee oder Bier abschwächt. Ein entkoffeinierter, alkoholfreier Dollar für den empfindlichen Organismus. Fest und Vergnügen wurden wieder erlaubt, aber nur beschränkt: Um Mitternacht schloss das Two Brothers, und auch die anderen Bars machten zu. Wie das Geld war auch das Vergnügen ein Trugbild – eine Bar voller Spitzel, die Tanzfläche umstellt von Uniformierten. 7
Die Metamorphose einer Hafenbar, die Chronik eines Havanna-Besuchs von Jean-Paul Sartre, die wechselvolle Geschichte der Ecke Prado y Neptuno, der Bar-Katalog aus den Erzählungen von C., die Nachforschungen eines amerikanischen Produzenten in Havanna und das Schicksal eines zensierten Kurzfilms, all das sind Spuren, die helfen, das Fest zu bergen, Hinweise zur Rekonstruktion einer Katastrophe, Daten aus der Black Box. Eine weitere Spur sollte nicht fehlen. 28. Dezember 1978. Schnee liegt auf den Straßen, 179
denn wir befinden uns in New York, in der Avery Visher Hall des Lincoln Center. An diesem Abend tritt eine Gruppe kubanischer Musiker von der Insel auf. Seit langer Zeit hat man in New York keine Künstler mehr gehört, die direkt aus Havanna kommen. »Von Havanna nach New York« ist der Abend angekündigt. Das Publikum, mehrheitlich kubanische Exilanten, ist schon euphorisch, bevor das Konzert angefangen hat. New Yorker Salsamusiker sind gekommen, um das Geheimnis der Musiker von der Insel zu entschlüsseln, sie trinken Rum und ergehen sich in Spekulationen. Zur selben Zeit hat der amerikanische Jazzmusiker Dizzy Gillespie dieselbe Reise angetreten wie die kubanischen Künstler, nur in umgekehrter Richtung: er befindet sich an Bord des Kreuzfahrtschiffs Daphne, in Begleitung von Stan Getz, Earl Hines und anderen auf dem Weg nach Havanna. (Ry Cooder ist als Mitglied der Band von Earl Hines dabei. Buena Vista Social Club geht auf diese Fahrt zurück.) Es handelt sich um die größte Botschaftsdelegation an Jazzmusikern, die seit Jahrzehnten auf der Insel empfangen wird. Gillespie erklärt, er habe sich den Traum erfüllt, die Heimat seines geschätzten Freundes und Partners Chano Pozo zu besuchen. David Amram spielt ein Stück, das dem kubanischen 180
Schlagzeuger gewidmet ist. In der Reisechronik in der Zeitschrift Down Beat steht, dass die Musik, wie die Liebe, alle Unterschiede überwindet. Die Musiker der Daphne geben ein Konzert in einem Theater in Havanna und eine Jam Session mit der kubanischen Gruppe Irakere in einem Saal des Hotels Habana Libre. Aber die Kulturpresse der Insel verschweigt sämtliche Nachrichten über das Kreuzfahrtschiff mit den Musikern. Und die Verwaltung des Theaters bekommt Anweisung, keine Eintrittskarten für das Konzert zu verkaufen. Als sich der Vorhang hebt, ist der Saal voll mit Funktionären und ihren Familien, ein ungefährliches Publikum. Künstler und Kenner bleiben draußen. »Nur mit Einladung«, sagt man ihnen zur Begrüßung. Monate später wird ein Treffen von kubanischen und amerikanischen Musikern organisiert, bei dem ausschließlich Künstler von CBS auftreten. Die kubanischen Behörden überlassen ihnen das größte Theater der Hauptstadt, den Saal, in dem die bedeutendsten politischen Versammlungen stattfinden. Und auch diesmal wahren die lokalen Zeitungen Stillschweigen. Als handele es sich um politische Gespräche, deren Verbreitung verfrüht, kontraproduktiv ist. In den Genuss des Abends kommen dieselben, die sich dort zu den Versammlungen der einzigen politi181
schen Partei treffen. Das interessierte Publikum bleibt wieder auf der Straße. Abgerundet wird dieses Panorama der Willkür durch einen Auftritt von Mongo Santamaría vor Publikum in Havanna. Es ist das erste Mal, dass seit dem Sieg der Revolution ein in den USA lebender kubanischer Künstler in seinem Herkunftsland spielt. (Während Carol Reed im Sloppy joe’s und anderen Lokalen in Havanna Szenen aus dem Roman von Graham Greene drehte, nahm Mongo Santamaría ein Album mit dem Titel Our Man in Havanna auf. Wenig später ging er ins Exil.) Der Austausch einer Handvoll Musiker geht weiter, und im Sommer 1979 gibt es wieder Flugverbindungen zwischen beiden Ländern, die achtzehn Jahre zuvor unterbrochen worden waren. Die Regierung der Insel lässt Exilkubaner einreisen und ihre Familien besuchen. So lässt sich der Auftritt des Orquesta Aragón, von Elena Burke und Los Papines im Lincoln Center als Teil eines Programms politischer Annäherung verstehen. Und so spürt man denn auch in der LiveAufnahme vom Auftritt der Kubaner in New York den Optimismus jener Zeit. Für die Anwesenden im Lincoln Center wie für die Musiker von der Insel waren die politischen Wolken im Begriff, sich aufzulösen. Die Wünsche für das neue Jahr (es waren nur noch wenige Tage bis Ende 182
Dezember) gingen, wenn auch verhüllt, in diese Richtung. Zu Beginn stellt Rafael Lay, der Leiter des Orquesta Aragón, seine Musiker vor. Einer nach dem anderen werden die Solisten und ihre Instrumente genannt, Richard Egües als Letzter. »Richard und seine Zauberflöte!« Das Publikum bricht in Ovationen aus. No me interesa que me critiquen / cuando me escuchen cantar / ritmos de antaño (Es ist mir egal, ob sie mich kritisieren / wenn sie mich die alten Rhythmen spielen hören), so legt das Orchester los. Die Leute vom Aragón wissen, dass sie hauptsächlich für Exilanten spielen, die trotz der Kälte gekommen sind, um Musik aus ihrem Heimatland zu hören. Aber man muss vorsichtig sein, denn eben diese Landsleute könnten auch Feinde sein. Teile des kubanischen Exils planten zu jener Zeit immer noch Sabotageaktionen. Aber die Kubaner aus New York und Umgebung haben sich versammelt, weil sie Bestätigung suchen. Man muss nur den Beifall hören, mit dem sie jedes Stück aus dem Repertoire der fünfziger Jahre belohnen. Vielleicht sind diese selbstbewussten Anfangsworte ja auch an die Adresse der New Yorker Salsamusiker gerichtet, die man der Industriespionage verdächtigt. Die Beziehungen zwischen Salsamusikern und 183
Musikern von der Insel strotzen um diese Zeit nur so vor gegenseitigen Attacken und Denunziationen. Die Inselkubaner scheinen ein Geheimnis zu verteidigen, das jedem Ausländer verwehrt ist und das auch der verliert, der sich entschließt, die Insel zu verlassen. Es ist der genius loci, der aus Stimmen und Instrumenten spricht, und der nicht bereit ist, über die Küsten hinauszusingen. Nicht wenige Salsamusiker behaupten denn auch, die kubanische Musik sei stehen geblieben. In ihrem Urteil berufen sie sich auf Nachrichten, die aus einem geschlossenen Land herausdringen, und gelegentlich geht ihre Anmaßung so weit, sich für die einzigen Restaurateure einer verlorenen Kunst zu halten. Nur um von den Verteidigern einer geschlossenen Cubanidad der Piraterie beschuldigt zu werden. Der Krieg um ein musikalisches Erbe ist in Wirklichkeit ein Streit um Marktanteile, Patente. Beweis dafür ist, dass nach dem Erscheinen von Buena Vista Social Club diese hohlen musikwissenschaftlichen Debatten nachgelassen haben, es gibt keinen neueren Liedtext, der dafür plädiert, die kubanische Musik abzuschotten. Die Musiker überlassen die Theorie lieber den Produzenten. Ausländischen, vorzugsweise. An dem Abend im Lincoln Center bestand die kubanische Truppe nicht nur aus Musikern. Mitge184
reist waren, vielleicht sogar in noch größerer Zahl, Offizielle und Funktionäre, die in den Hotelzimmern herumschnüffelten. Sie unterbanden jeglichen Kontakt der Künstler, achteten darauf, dass niemand flüchtete. Hinzu kamen der eine oder andere Musiker, der bereit war, seine Kollegen zu überwachen. Davon handelt der Fall einer anderen Cabaretfigur aus Havanna. Es ist ihr erster Auftritt vor nordamerikanischem Publikum. Sie ist eine fantastische musikalische Exzentrikerin, und die Leute kommen aus dem Lachen nicht heraus, als sie auf der Bühne steht. Sie tanzt gut für ihr Alter, wie alt auch immer sie sein mag, und ihre Witze sind berühmt. Ihre erste Tournee durch die USA läuft gut, und eines Abends nach ihrem Auftritt kommt Celia Cruz zu ihr in die Garderobe. Die eine von der Insel, die andere im Exil, sie haben sich seit Jahrzehnten nicht gesehen. Als die Tür aufgeht und Celia vor ihr steht, huscht Erstaunen über das Gesicht, das geschminkt eine Maske ist und abgeschminkt eine noch schlimmere. Celia Cruz hat ihr Blumen mitgebracht. Sie küssen sich unbeholfen. Celia will in die Garderobe, muss aber feststellen, dass ihre alte Bekannte nach beiden Seiten den Flur entlang späht und sie, obwohl niemand da ist, davon abhält. 185
»Gib mir die Blumen und hau ab«, befiehlt sie ihr leise. Der Strauß wandert von der einen zur anderen. »Eine von uns beiden muss für den Geheimdienst arbeiten«, erklärt sie Celia Cruz. »Entweder du oder ich.« Und dann schließt sie sich wieder in ihrer Garderobe ein. Kein Scherz, wie man vielleicht meinen könnte, auch nicht die Caprice einer Exzentrikerin. Es war die Paranoia, die in der Luft lag. Hört man die Aufnahme vom 28. Dezember 1978 im Lincoln Center, ist man versucht, den Auftritt der Musiker von der Insel so zu verstehen, als handele es sich um eine fernöstliche Theatertruppe, eines von diesen Theatern, wo die kleinste Geste, die kürzeste Silbe mit Bedeutung aufgeladen ist, sodass man sie auf alle möglichen Arten einordnen kann, nur nicht als unschuldig oder spontan. Ein potenziell gefährliches Publikum, Wachhunde an jedem Ende der Bühne und im Orchester der eine oder andere Kollege, der bereit ist, zu denunzieren, das alles erzwingt ein solches paranoid reglementiertes Theater. Wahrscheinlich hat vor dem Aufbruch zu der Tournee ein Kommissar die Künstlerdelegation auf die historische Bedeutung der Mission eingeschworen. Sie werden Kuba im Ausland repräsentieren, das Vaterland ist stolz auf seine Kinder, und sie müssen den Namen der Revolution hochhalten. 186
Aber trotz der Fülle an Spionen ist Kaffeesatzlesen an diesem Abend in New York zwecklos. Die Ouvertüre des Orquesta Aragón ist der Schlachtruf aus dem Krieg der Orchester im Havanna der vierziger Jahre. »Vor Ihnen steht das Orquesta Aragón aus Kuba!« verkündet sein Leiter. »Aragón, Aragón, Aragón«, legen die Sänger nach. Und danach die Erkennungsmelodie: Si oyes un son sabrosón / ponle el cuño: es Aragón. / Si tu escuchas un rico danzón / ponle el cuño: es Aragón. (Hörst du einen tollen Son / gib ihm den Stempel: Aragón. / Hörst du einen herrlichen Danzón / gib ihm den Stempel: Aragón.) Jeder Kubaner kennt das vom Hören, wenn nicht von Tanzveranstaltungen, dann von einem der Radioauftritte des Orchesters. Es ist eine Beschwörungsformel, um das Publikum darauf einzustimmen, was ihm bevorsteht. (Das Orchester hat noch einen anderen, besseren Spruch parat: La Aragón te invita / a que cojas aire. / Lo que viene ahora / es para que te bailes (Das Aragón fordert dich auf: / tief Luft holen. / Jetzt ist Tanzen angesagt.) »Schön«, verkündet der Sprecher des Orchesters, »hier sind wir, um Ihnen ein Repertoire aus neununddreißig Jahren zu präsentieren.« Für die Eröffnung haben sie keinen ihrer Ohr187
würmer gewählt, sondern ein ganz neues Lied, das niemand im Publikum kennt. Nachdem sie gesagt haben, dass sie alte Musik spielen und wie viel Jahre Erfahrung sie haben, wollen sie zeigen, dass die Zeit auch für das Aragón nicht stehengeblieben ist und das Repertoire immer noch wächst. »Fragt mich, wie es mir geht!«, fordert eine raue Stimme das übrige Orchester auf. »Wie geht’s?«, fragen die anderen gehorsam. »Sehr gut!« »Fragt mich, warum es mir gut geht!« Und das Orchester: »Warum, warum?« Folgt man dem Text, reduzieren sich die Gründe auf zwei: Erstens ist es ihm gelungen, sein kleines Haus zu streichen. »Mit Plakaten sieht’s ganz toll aus.« Gestrichene oder tapezierte Wände waren im Land des Orquesta Aragón immerhin eine Seltenheit. Zweitens kann er abends ausgehen, ohne Krach mit seiner Frau zu bekommen. Die Pinselstriche haben die Furie besänftigt. Dass er sich die Hausarbeit mit ihr teilt, hat sie endgültig versöhnt. Er kocht, wäscht, putzt, trocknet ab und scheint allen Machismo abgelegt zu haben. Begeistert hat er ein paar Vorurteile über Bord geworfen. Neue Farbe überdeckt die alte an den Wänden seines Hauses, so wie Veränderungen an ihm selbst alte Ängste weggefegt haben. Sich Hausarbeiten zu widmen, hat ihn nicht 188
weniger männlich, sondern zu einem neuen Menschen gemacht. (Soviel Belehrung wäre unerträglich, wäre das Stück an sich nicht so gut.) Der Abend beginnt also mit einem Stück, in dem es um Veränderungen auf der Insel in den letzten Jahren geht. »Hören wir mit der Augenwischerei auf. Nichts wird mehr wie früher sein«, scheint das Orchester die Kubaner im Publikum warnen zu wollen. Damit durch die Rückkehr zu alten Liedern kein falscher Eindruck entsteht. Richard Egües tritt mit seiner Flöte auf. Der Reaktion im Publikum nach zu urteilen hat einer der Sänger, vielleicht Bacallao, angefangen zu tanzen. Den Rest der ersten Konzerthälfte bestreitet Elena Burke. Das Orquesta Aragón begleitet sie beim ersten Lied und lässt sie dann mit einem Gitarristen allein. Das Ambiente wird intimer. Elena versteht sich auf die Kunst der Annäherung. Sie freue sich, bei diesem Publikum sein zu können, wünsche allen ein gutes neues Jahr. Sie werde Stücke von kubanischen Komponisten singen, egal, welchen Weg sie genommen haben, wo sie leben, ob sie leben oder schon tot sind. Sie singt sie wie Klassiker. Und dank ihrer Stimme sind sie es. So vertraut ist sie bald mit dem Publikum, dass sie zwischen den Liedern Intimes preisgibt. Wie lange sie schon keinen Sex mehr hatte. 189
»Seit einem Monat hat kein Vögelchen in mir geflattert.« Gelächter und Applaus. »Lacht ihr etwa über mein Pech?«, spielt sie die Beleidigte. Und dann schnappt sie sich einen aus dem Publikum und fragt ihn, ob er gerade dasselbe durchmacht. Sie verkündet, noch vor Jahresende müsse Schluss damit sein. Drei Nächte bleiben ihr noch, um einen Liebhaber zu finden, und dann geht sie. Applaus und Beifallrufe, während sie die Bühne verlässt. Die Aufnahme des Konzerts bringt nur wenig vom zweiten Teil. Von den Musikern, die an diesem Abend im Lincoln Center auftreten, sind Los Papines damals die bekanntesten. Seit Jahren treten sie als Botschafter der kubanischen Musik auf, einer von ihnen spricht für die vier Brüder und begrüßt das Publikum in beiden Sprachen. Nachdem er, ein wenig unbeholfen, englisch geredet hat, gibt es Ovationen. Das Percussionquartett widmet seine erste Nummer allen Müttern auf der Welt, den Müttern im Saal und insbesondere der eigenen Mutter. »Sie wissen, dass wir vier Brüder sind.« Die Bewunderung im Saal wächst mit der Verwandtschaft. »Und sieben Schwestern sind noch in Havanna.« 190
Elf Geschwister, alle von derselben Mutter, eine große Familie, Männer, die ständig unterwegs sind, und Frauen, die auf ihre Rückkehr warten: das Publikum ist begeistert von dieser Familiensaga. Englisch konnte der Ansager nur gebrochen, aber es gibt noch eine andere Sprache, die er und seine Brüder perfekt beherrschen. Und so demonstrieren sie den Anwesenden, wie sich die einzelnen Trommeln klanglich unterscheiden, sie erteilen eine Lektion in jenem Esperanto, mit dem sie sich überall verständlich machen. Nach Los Papines beendet das Orquesta Aragón das Konzert mit einer langen Fassung von Pare cochero. Die Geräusche im Saal verklingen, und draußen warten die nächtliche Kälte von New York, der wirbelnde Schnee, der sich in den Wimpern festsetzt, der Heimweg zu dem, was man ein paar Stunden zuvor für sein Zuhause hielt. Ich setze den Kopfhörer ab und bin auch draußen. Aber draußen von wo? Musik ist es nicht, was mir fehlt. Musik habe ich genug gehört. Auch nicht die Verabschiedung der Musiker, die nicht auf der Platte ist und die so lang sein dürfte, wie immer, wenn Kubaner sich treffen. Geräusche. Es sind Geräusche, die ich vermisse. (Wer hat noch geschrieben, dass er vorhabe, die Biografie des Hustens zu schreiben, den man zwischen zwei Sonatensätzen hört?) Ich würde gern 191
hören, wie die Menge den Saal verlässt, um dann der Stille zu lauschen. Letztlich habe ich die meiste Aufmerksamkeit Ausrufen, Gelächter und Applaus gewidmet. Von diesem Abend im Lincoln Center höre ich mehr das Publikum als die Künstler. Als handelte es sich um ein Foto, höre ich das Negativ einer Aufnahme. Der volle Saal im Lincoln Center und das leere Kino von Porto, in dem ich Buena Vista Social Club sah, sind für mich kommunizierende Röhren. Was ich aus einer Aufnahme in einem New Yorker Konzertsaal ausgrabe, ist dem viel zu ähnlich, was mir die Erinnerung an die Kinovorstellung beschert. Während meines Stipendienjahres in Portugal begann die kubanische Musik die Musikläden zu überschwemmen. Ich hörte sie in einem Plattenladen und tauchte jedes Mal lange ein. Über die Kopfhörer und in der Dunkelheit des Kinos existierten diese Lieder nur für mich, der ich so weit weggegangen war, dorthin, wo ich keinen Landsmann treffen konnte. Und wenn ich sie hörte, achtete ich darauf, nicht zu weinen und nicht zu sehr die Beine zu bewegen. In der Nähe des Plattenladens in Porto befand sich eine Parfümerie. In beiden Geschäften konnte man Probe hören bzw. riechen, und ein in Parfum getauchter Papierstreifen konnte einen so weit weg entführen wie eine Melodie. Musik und Parfum hatten die Macht trügerischer Erinnerungen. Welcher 192
Körper, den man nie in seiner Nähe gespürt hatte, welcher Garten, in dem man nie gewesen war, duftete auf diese Weise? Die Musik ließ Situationen entstehen, die es nie gegeben hatte. Ich erblickte meine Augen nach einer tagelangen Sause im Wasser einer Quelle, in der sich nicht wiederzuerkennende Sterne spiegelten. Oder ich war, nachdem ich den Drang lange unterdrückt hatte, hinausgegangen, um an einem Baum zu pinkeln, der befreiende Strahl floss, hinter mir ging eine Tür auf, und von drinnen hörte man Musik. Was für ein Fest fand dort statt? Wäre es mir eingefallen, wäre das im Schlaf geschehen. Ein Duft oder eine Musik brachten Erinnerungen an die Zeit, als man nicht unter den Lebenden weilte. Frauen und Männer betrachteten die Schaufenster in der Umgebung und verglichen den Inhalt. Was sie so unentschlossen machte, war nicht nur der Preis der Kleidungsstücke, sondern deren Wirkung. Ihre Angst davor, sie anzuziehen, war die Angst vor einer nicht vorhersehbaren Beziehung. Bestimmt wollten sie das Alter abwerfen, so wie eine Schlange ihre Haut zurücklässt, wollten unternehmungslustig wirken und suchten Kleider, hurtig wie Schnellzüge. Sie bestellten Kleider, die ihnen etwas zuriefen, wie aus einem Abgrund, sie kämpften gegen eine unliebsame Rundung. Diäten, Sportprogramm, Schönheitschirurgie … 193
Und wenn der Körper nicht mehr viel hergab, konnte man es mit Parfum versuchen. Bestimmt gab es eines, das den Körper ersetzte, wenn man ihn aufgegeben hatte. Wenn sich der Flug der Gedanken über die Gebäude im Straßenviertel erhob, dann zählten Seele, Geist, Astralkörper, Reinkarnationen, Träume, und darum kümmerten sich eher betrügerische Einrichtungen. Hielt man sich dagegen an das Bodenständige, waren die erdverbundenen Parfums das letzte Mittel, wenn kein Körper mehr da war, wenn das, was man darunter verstand, im Kater einer irreparablen Ehe aufgegangen war, anstatt in der Lust, unter frischen Laken die Beine auszustrecken. Dann ging man in die Parfümerie wie in einen Operationssaal. Statt Verführung von Angesicht zu Angesicht Duftmarken, Fallen. Damit sich Augenblicke, nachdem man einen Ort verlassen hatte, das Parfum verbreitete wie ein böses Gerücht. Wichtig war allein, zu überdauern, wenn auch nur als Erinnerung. Eine Erinnerung, beunruhigend wie die Schönheit. Die Musik, so wurde mir zwischen dem einen und dem anderen Geschäft klar, war das Parfum eines Landes, das Mittel, das diesem verfallenen Körper geblieben war, um irgendwie präsent zu sein. Sie konnte sich in etwas Nichtssagendes verwandeln, bis man sie nicht mehr wahrnahm. Sie würde mit ihrem 194
Verschleiß kokettieren, und in einem bestimmten Moment würde sie sich uralt erheben und zustechen. »Direkt ins Herz«, wie das Credo einer Bande. Wissenschaftler mochten versuchen diesen Zeitpunkt zu berechnen, ein Nationales Institut zur Erforschung des Enthusiasmus gründen, aber seinen Vorhersagen war wenig zu entnehmen. Begeisterung war unvorhersehbar, entzog sich der Planung. Überließ man ein Land den Wirkungen seiner Musik, dann konnte dabei nur ein diffuser Nationalismus herauskommen: ein Grund mehr, ein wachsames Auge auf festliche Vergnügungen zu behalten. Ich sah Buena Vista Social Club noch einmal in einer Vorstellung der Kinemathek in Havanna. Die Zuschauer waren mehrheitlich Ausländer. Der Rest gehörte zu der hier häufig anzutreffenden Mischung aus Kinofreaks und Vagabunden. Als ich ihn zum zweiten Mal sah, verwies der Film auf eine Stadt, die ich beim Verlassen des Kinos nicht wiederfand. Genau wie in Porto. Ry Cooder hatte ein nicht existierendes kubanisches Orchester aus den sechziger Jahren erfunden. Aber warum hatte es so ein Ensemble nicht gegeben? Und warum musste man sich, wenn es nie existiert hatte, dreißig Jahre später danach zurücksehnen? Wie das Parfum weckt auch die Musik reichlich trügerische Erinnerungen.
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PARENTHESE DER RUINEN
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Die Ankunft des ausländischen Fotografen schlug ein wie ein Stein in das reglose Wasser einer Pfütze. Ohne jemanden zu benachrichtigen, landete er in Havanna mit der Absicht, Schriftsteller zu porträtieren. Er hatte eine Liste mit Namen bei sich und versuchte, sie so sorgfältig abzuarbeiten wie ein Serienmörder oder ein einkaufender Ehemann. Aus Anlass seines Besuchs geizte der Verband der Verleger und Literaturagenten nicht mit Höflichkeitsbekundungen. Handelte es sich nicht letztlich um einen Anthologisten, der Gesichter anstelle von Texten wählte? Von einem alten Schriftsteller hörte ich das Gerücht, der Fotograf sei nur in die Stadt gekommen, um ein Foto von ihm zu machen. Ich traf den alten Mann in einer Buchhandlung, in der ein paar seiner Titel verstaubten. Man hatte ihm gerade einen Preis für sein Lebenswerk verliehen. Die Zahl der aus diesem Grund erschienenen Bücher war so alarmierend wie die seiner Reisen in die Provinz. Gemeinsam mit anderen prämierten Künstlern selben Alters bildete er das Gefolge des Kulturministers; ein Areopag, der Zuckerrohrfelder, Flüsse und Berge überquerte, um die Weisheit in alle Ecken der Insel zu tragen. 197
Manchmal wachte er in einem Hotel auf und konnte sich nicht mehr daran erinnern, dort eingecheckt zu haben. Von seinem Zimmer aus erblickte er einen Pool ohne Badegäste, er stolperte über den Flur, und manchmal klopfte er ängstlich an fremde Türen, auf der Suche nach jemandem, den er um Hilfe bitten konnte. Es dauerte nicht lange, bis er auf einen anderen Alten traf, mit Preisen ausgestattet wie er und fröhlich auf dem Weg zum Frühstück. Das beruhigte; er war Teil einer Delegation, er reiste in offizieller Mission. Bevor sie ihr Lager abbrachen, ließen er und die anderen sich vom Chauffeur noch ein Fläschchen besorgen, mit dem sie sich bis zum nächsten Empfang stärken konnten. Dann ging es weiter, rumgestärkt auf die Straße und auf zum nächsten Hotelzimmer, das er beim Aufwachen nicht wiedererkannte. Bei diesen Reisen wurde er mit Stapeln seiner Bücher konfrontiert, auf denen der Staub der Provinz lag. Da man ihn in Begleitung des Ministers sah, trauten die Buchhändler sich nicht, sie wegzuräumen (und durch andere, ebenso unverkäufliche zu ersetzen), die Nähe zur Macht aber schien auch die Leser zu entmutigen. Am Ende eines der Literatur gewidmeten Lebens, hoch dekoriert, stellte sich der Ruhm als eine verfängliche Sache heraus, angewiesen auf Nichtigkeiten wie exklusive Fotoshootings. 198
»Wollte er denn niemand anderen fotografieren?«, fragte ich. Mit dem Rücken zu den Büchern, auf denen sein Name stand, atmete der Alte tief durch. »Nun ja, wo er schon mal da war, warum nicht die Gelegenheit nutzen? Er musste noch andere Bilder machen, und ich habe ihm ein paar Namen gegeben.« Ich stand also vor dem Autor der Liste des ausländischen Fotografen. Wenn es einen Anthologisten gab, dann war es der Alte. »Sie wollte das Kreuz, der Triumphbogen, Napoleon sein«, bemerkte Abbé Mugnier über die Comtesse Anna de Noailles. »Die Hypertrophie des Ich. Sie kennt keine Grenzen. Sie könnte in Alexandrien, in Byzanz gelebt haben. Das Extrem einer Rasse. Sie wollte jeden Mann, der in eine andere verliebt war. Sie hätte sich mit der Sonne, dem Wind, den Elementen gepaart.« »Übrigens«, sagte der Alte schnell, »ich hatte gedacht, du seist noch im Ausland.« »Mich hat er auch angerufen«, log ich. »Ah, dann habe ich dich wohl doch erwähnt!« Es gab keine Situation, die er nicht für sich ausschlachtete. Und eines schönen Tages fand ich unter der Tür eine Nachricht des Fotografen. Er sei nicht mehr lange im Land und wolle sich mit mir treffen. 199
Es war Regenzeit. Das überall stehende Wasser ließ eine Epidemie befürchten, oder sie war bereits ausgebrochen und die Gesundheitsbehörden wollten es nicht wahrhaben. Jedenfalls rief eine regierungsoffizielle Kampagne dazu auf, alles Nutzlose wegzuwerfen, und all der über Jahre hinweg angesammelte Plunder tauchte auf. Es fiel schwer, diesen Gegenständen aus unserem Leben adieu zu sagen. Aus Angst vor Entbehrung hatten wir uns von dem Müll nie getrennt. Eierschalen, kaputte Laternen, Schuhsohlen: einst waren sie uns von Nutzen gewesen, also sollten sie uns als Reste weiter begleiten. Vielleicht würden sie einst wiederauferstehen. Bei den staatlichen Geschäften hatte sich offenbar dieselbe Elstergesinnung breit gemacht. In der Calle Muralla landeten Waren auf der Straße, die in keiner Inventurliste standen. Die Calle Bernaza war von einem Spielkartenteppich bedeckt, eine Art Trivial Pursuit des dialektischen Materialismus, das sich nie durchgesetzt hatte. (Jetzt mischte der Wind die Karten.) Und da man in den Wohnungen durch die giftigen Dämpfe nicht mehr würde atmen können, gingen auch wir, die Bewohner, hinaus auf die Straße. »Da fanden all die während des Tages weggeworfenen Dinge, die tagsüber schwiegen, eine Stimme«, schrieb Lord Dunsany. In einer seiner Geschichten sprechen einer nach dem anderen die Gegenstände 200
aus einem Abfalleimer: ein in den Wäldern Andalusiens gewachsener Korken, ein unversehrtes Streichholz, eine kaputte alte Teekanne, ein Stück eines von Anfang an verdammten Stricks, ein Holzpferdchen namens Blagdaross. Wenige Meter vor meiner Tür erhob sich ein nicht weniger sprechender Abfallberg. Zwei Nachbarn, die auf der Suche nach etwas Brauchbarem darin herumwühlten, sahen aus wie Gestalten von Brueghel. Und wie bei Brueghel war zu vermuten, dass sich im Hintergrund Wichtigeres ereignete. Der Sturz eines Ikarus, verdeckt von Schlittschuhläufern, Jägern, Johannisfeuern oder einer vom Wein belebten Kneipe. Ich stellte mir eine andere Abfalllandschaft außerhalb der Stadt vor, einen Ort, wo eine Stille herrschte, die eines Pascal würdig wäre, die Art Stille, die man nur im Labor gewinnt. Ich dachte an die sowjetische Basis von Lourdes, an die Abhörstation, die dem kubanischen Geheimdienst jahrzehntelang Informationen über Ziele in den Vereinigten Staaten lieferte. Nur ein paar Kilometer von der Stadt entfernt, verwandelte sie sich allmählich in eine Landschaft aus rostigem Eisen, seit die russische Regierung aufgehört hatte, ihren ehemaligen Feind zu bespitzeln. Zuerst wurden die Raketen abgeholt und dann die Abhöranlagen. Jahrzehntelang enthielt einer der ersten Artikel der Verfassung den Schwur 201
der Sozialistischen Republik Kuba auf die ewige, unzerstörbare Freundschaft mit der Sowjetunion. Die abgetragene Basis von Lourdes und der Müll, der sich zur gleichen Zeit in den Straßen von Havanna stapelte. Wie in einem Bild von Brueghel vereinigten sie mythische und alltägliche Zeit. Ich wartete auf der Straße darauf, dass sich die Giftwolken verzogen, und da sah ich den ausländischen Fotografen, geradezu unverschämt pünktlich, den Rauchschwaden entsteigen. »Ich könnte dich hier fotografieren«, überlegte er. In der Nähe des aufgetürmten Abfalls, wollte er sagen. Die beiden Kerle, die den Abfallhügel untersuchten, fanden ihn plötzlich interessanter, und ich musste ihn warnen, er solle seine Kamera hier besser nicht auspacken. Der Fotograf stieg begeistert die Treppe hinauf. »Werden sie ihn abholen?«, wollte er wissen. Er meinte den Müll. Der muffige Geruch verband sich mit den Dämpfen. Und jeden Moment musste es anfangen zu regnen. Er wollte auf die Dachterrasse. Richtung Norden, inmitten einer weniger dichten Bebauung erblickte man das Bacardi-Gebäude mit der Fledermaus, das nachts wie eine Leihgabe aus Gotham City wirkte, im Süden die Türme des Bahn202
hofs, weiter hinten ein Stück Bucht und am Ufer die ewige Flamme einer Ölraffinerie. Im Osten schloss ein hohes Gebäude das Panorama ab. Vor der Revolution die größte Hemdenfabrik des Landes, war es seit Jahren geschlossen. Die Wände bildeten eine Steilwand, von der man hätte annehmen können, sie gäbe den viel älteren Häusern der Umgebung Halt. Aber weil das Gebäude nicht benutzt wurde, hatte sich die Zerstörung beschleunigt. Seine wenigen Lebenszeichen bestanden aus einer im Wind klappernden Metallplatte, einer Katze in der ehemaligen Kantine und einem Schwarm Tauben, die soeben, aufgescheucht von ein paar Jugendlichen auf einem Dach, vor den Fenstern abdrehten. Wenn man ein Mäuerchen übersprang, war man schon an der Ecke der Calle Sol. Keines der Dächer durfte mehr von den Bewohnern betreten werden. Regenpfützen glitzerten als Sendboten des Verfalls. Das Dach war immer wieder repariert worden, ohne dass sie es dauerhaft wasserdicht machen konnten. Früher oder später musste wieder Wasser hereindringen, und wenn irgendwann wieder etwas Geld da war, konnte man erneut Hand anlegen. Ich ging mit dem Fotografen dorthin, wo ein Stück Dach eingebrochen war. Durch den offenen Krater konnte man in das Innere einer Wohnung sehen. Die Familie, die dort wohnte, musste die heruntergefallenen Stücke zusammenkehren und ihre 203
Habseligkeiten umräumen. Mit dem Loch mussten sie weiterleben, der Himmel war in die Wohnung eingebrochen. Auf der anderen Seite der Straße hatte es einen größeren Einsturz gegeben. Den Bewohnern des Gebäudes war mitgeteilt worden, dass sie in eine staatliche Herberge aufgenommen würden. Viele zogen es jedoch vor, diese Gastfreundschaft zu ignorieren. Entschlossen, die eigenen vier Wände nicht zu verlassen, versteckten sie sich vor den Polizisten, die sie überreden wollten mitzukommen. Eines Morgens dann hatte sie in aller Herrgottsfrühe der Einsturz überrascht. Solange sie konnten, hatten sie verzweifelt ihre Intimsphäre verteidigt. Sie lebten lieber in Gefahr als in der anarchischen Promiskuität eines Heims, aus dem es für sie kein Entrinnen mehr gegeben hätte. Das eingestürzte Haus, das sie alle begraben hatte, war eine andere Art von Promiskuität. »Dein Haus ist dein Grab«, lautet ein kabylisches Sprichwort. Als das Gebäude in sich zusammenfiel, krachten zwei Säulen in das Fenster des Hauses gegenüber. Wäre es eine Stunde früher passiert, hätten sie die Familie vor dem Fernseher erschlagen. Der Nachtwächter der Metzgerei im Untergeschoss (in den frühen Morgenstunden, wenn ich aufhöre zu schreiben und auf den Balkon hinausgehe, höre ich sein 204
Radio) sah vor seinen Augen einen Vorhang aus Steinen fallen. Es dauerte, bis die Staubwolken sich gelegt hatten. (In Habana Vieja schwebt der Pollen der Zerstörung überall in der Luft.) Ein Geruch wie der von dem Abfallhaufen, den der Fotograf und ich unten zurückgelassen hatten, hielt sich, bis es Tag wurde. Wochen später wurde alles weggeräumt und eine Freifläche daraus gemacht. Parkflächen zu schaffen, wo ein Gebäude einstürzt, ist ein beliebtes Mittel in einer Stadt, in der die Gewohnheit zu bauen verloren gegangen ist. Die steigende Zahl von Warteeinrichtungen, Plätzen und Freiflächen lässt die gewagte Hypothese zu, dass Havanna auf irgendetwas wartet. Jede durch Einsturz entstandene Lücke neigt eher dazu sich auszubreiten als gefüllt zu werden; wenn die kubanische Hauptstadt sich weiter entwickelt, dann Richtung Einebnung. An jenem Nachmittag hinderte der Regen den Fotografen daran, seine Arbeit zu beenden. Aber er versprach, mir die gemachten Bilder zuzusenden. Auf dem Weg zum Flughafen fuhr er an dem Abfall in den Straßen vorbei, Barrikaden einer Revolution, die nicht den geringsten Anreiz bot, die von Anfang an aus aufgetürmtem Mist bestand. Als ich schon nicht mehr an unser Treffen dachte, bekam ich seine Porträts. Eine athletisch gebaute Walküre, Anthropologin von Beruf, brachte sie mir. 205
Sie passte sich blitzschnell der neuen Umgebung an, warf ihren Rucksack auf das Sofa und huschte durch die Wohnung. Sie und der Fotograf waren ein Paar. »Diese Stadt hat ihn tief beeindruckt.« Ihre Worte klangen, als spräche sie von einer Rivalin, vor der man sich in Acht nehmen musste. Und als ich fragte, wann er zurückkäme, lachte sie nervös. »Nie mehr.« »Nie mehr?« »Er hat dir die Gründe geschrieben.« Jetzt sah ich erst, dass den Fotos ein Brief von ihm beilag. Der Fotograf schrieb mir auf Italienisch, und ich musste seine Zeilen mehrfach lesen, bis ich sie verstand. Er bedauerte, nur so kurz in der Stadt gewesen zu sein und mir nur einen Blitzbesuch abgestattet zu haben. »Ich hoffe, man hat den Müll in deiner Straße inzwischen abgeholt«, scherzte er. Vor seiner Abreise hatte man ihn am Zoll stundenlang festgehalten. Wegen des vielen Fotomaterials, hieß es. Es hatte nicht viel genützt, dass er die Namen der regierungstreuen Schriftsteller ins Feld führte, die auch unter den Abgelichteten waren. Sehr unangenehm, aber das war es nicht, was er mir schreiben wollte. Er bat mich um Entschuldigung, dass er mir in seiner Sprache schriebe, aber die 206
Nachricht, die er mir übermitteln wolle, sei so vage, dass er jedes Missverständnis ausschließen wolle. Sein Besuch bei mir hatte einen Eindruck hinterlassen, der ihm erst später klar geworden sei. Er persönlich hielte sich nicht für abergläubisch, und er litte auch nicht unter Visionen. So sei das, was er mir sagen wolle, nicht als Vorahnung zu sehen. Es sei keine Warnung. Er wolle mir nur mitteilen, dass er an jenem Nachmittag das Gefühl hatte, vor dem einzigen Bewohner einer Stadt zu stehen, aus der alle geflohen waren. Er hoffe, dass die Fotos, die er mir sandte, mir gefielen. Ein Griff und ein paar Verrenkungen, und schon saß der Rucksack wieder auf dem Rücken der Anthropologin. Sie fragte, ob die Familie, bei der sich die Decke geöffnet hatte, immer noch in der Nachbarschaft lebte. Ich erwiderte, für die Leute habe sich nichts geändert. Die Fotos waren gut. Auf allen beobachtete uns im Hintergrund ein Mann vom Balkon eines nahe gelegenen Gebäudes. Ich hatte ihn noch nie zuvor gesehen. Er hatte entfernte Ähnlichkeit mit Gene Hackman. Auf einem Foto hätte es Neugier sein können, was ihn dort festhielt, aber dass er auf allen zu sehen war, ließ einen gewichtigeren Grund vermuten. 207
Bei Guido Ceronetti ist nachzulesen, dass die Moskowiter aufgrund einer tiefen Unfähigkeit zu verstehen unaufhörlich spionieren müssen. Da sie weder die zeitgenössische Welt noch die Geschichte verstanden, die sie nach 1917 in die absolute Finsternis und auf den Gipfel des Grauens geführt hatte, spionierten sie. Aus Leere, aus Muße. Die Finsternis kann laut Ceronetti nicht verstehen. Sie kann nur bis in alle Ewigkeit jemanden entsenden, der spioniert. Einen Nachbarn zum Beispiel. Ein Double von Gene Hackman. 2
Das Schlimmste an der Fabrik hinter dem Haus, solange sie noch betrieben wurde, war nicht der Lärm der Maschinen gewesen. Auch nicht der der Entlüftungsapparate. Das Unerträgliche waren die Musik und die Reden, die die Arbeiter, mehrheitlich Frauen, über sich ergehen lassen mussten. Vom Morgengrauen an strahlte die Verwaltung über Lautsprecher Mitteilungen aus, die den Enthusiasmus der Arbeiterinnen steigern sollten. Am Vormittag waren sie gespickt mit Zahlen, damit die einzelnen Stockwerke gegeneinander kämpfen konn208
ten und die Flamme des sozialistischen Wettbewerbs entfacht wurde. »Stock drei, du bist im Rückstand«, hörte man über Lautsprecher. »Stock drei, denk an deine Verpflichtungen. Vorwärts! Auf!« Es war eine Frauenstimme, die ich gerne unter den Hunderten von Frauen erkannt hätte, die gerade arbeiteten oder mit dem Fahrrad kamen. Anstatt Ärmel anzunähen, bestand ihre Arbeit darin, zum Wettstreit anzufeuern. Niemand antwortete ihren Vorwürfen, aber sie musste nur die Zahl des vorne liegenden Stocks nennen, schon hagelte es spöttische Seitenhiebe. Die Musik durften die Frauen des in Führung liegenden Stockwerks auswählen. Und die Fabrikstimme widmete einige Lieder bestimmten Arbeiterinnen. Die Lieder wurden in allen Stockwerken mitgesungen. Wäre es ein Comicstrip, würden aus jedem Fenster des Gebäudes Sprechblasen mit Refrains kommen. Man konnte sich die Musikkomödie, die dort ablief, gut vorstellen: eine Fabrikhalle, Garnspulen, die sich von einem Moment auf den anderen wie Banderolen entfalten konnten, und von Hunderten von Arbeiterinnen mitgesungene Melodien. Manchmal ertönte dieselbe Musik wie aus den Fabriklautsprechern auch in der Reifenreparaturwerkstatt, einem kleinen Familienbetrieb ganz in der Nähe. Es war die Art von Musik, die man in der gan209
zen Stadt hörte. Sie hörte sich an wie Musik aus einem Winkel irgendwo an der mexikanischen Grenze. Die Musik in der Reifenreparaturwerkstatt wie in der Hemdenfabrik war dazu da, den Lärm der Maschinen zu übertönen und den Arbeiter von den immer gleichen Handgriffen abzulenken. Der Druckluftschlauch kroch über den Bürgersteig, und an der Tür ohne Fahne stand immer ein Fahrradtaxi, dem ein Reifen fehlte. Aus dem zur Werkstatt umfunktionierten Raum dröhnte Musik, und dazu kam noch die aus den zur Reparatur gebrachten Fahrradtaxis. Denn kein Fahrer machte sich die Mühe, die Musik abzudrehen, zu deren Begleitung er strampelte. So tönten vom Eingang der Reparaturwerkstatt fast immer drei oder vier furchtbare Lieder gleichzeitig herüber. Auf dieses Bombardement antwortete ein alter Plattenspieler aus dem Souterrain. Die Familie dort bestand aus Vater, Mutter und zwei Söhnen, aber nur das Familienoberhaupt war ermächtigt, den Apparat anzufassen. Er hatte ihn bezahlt. Er brachte ihn wieder zum Laufen, wenn er kaputtging. Mit seinen ungefähr fünfzig Jahren gehörte er zu der Art von Glatzköpfen, die sich eine Kappe aufsetzen, ohne die man sie fortan nie mehr sieht, und aus der ein paar Haarsträhnen heraushängen wie Maisstroh aus einem kaputten Sack. Als gelernter Elektriker war er oft ohne Arbeit. Er 210
machte hier und da einen kleinen Job, suchte aber auch nicht weiter. Wenn die Familie zusammensaß, prahlte er vor seiner Frau und seinen Söhnen mit seinem Arbeitseifer. Neben seiner Musik musste ich auch seine großspurigen Reden über mich ergehen lassen. Niemand traute sich, ihm zu widersprechen. Die Frau durfte nicht arbeiten gehen. Obwohl die Jungen schon fast erwachsen waren, nahmen sie lieber mit dem vorlieb, was der Vater herbeischaffte. Sie hatten die Schule abgebrochen, und kein Beruf reizte sie. Wenn der Jüngere etwas tat, dann stahl er höchstens eine Taube und verkaufte sie dort, wo sie der Besitzer nicht wiedererkannte. Oft einen Kerosinkanister in jeder Hand, hatte das Familienoberhaupt meinen Gruß mit der Miene eines geprügelten Hundes erwidert, als wir noch miteinander sprachen. Er brachte das Kerosin aufs Land und tauschte es gegen etwas zu essen ein. Wenn er nach Hause kam, erzählte er, wie er den Polizisten im Zug ein Schnippchen geschlagen hatte. Während seiner Abwesenheit hielten Mutter und Söhne Konklaven ab, auf denen sie ihm die Pest an den Hals wünschten. Die Jungen schworen Rache, wenn sie erst einmal erwachsen wären. Dass der Älteste drei Jahre Militärdienst hinter sich hatte und mit Waffen umgehen konnte, spielte keine Rolle. Er hatte sich wieder in die väterliche Tyrannei geflüch211
tet, als handele es sich um eine Ruhepause. Und wenn die Komplizenschaft der Mutter in einem Punkt nachzulassen begann, prophezeiten sie ihr ein Leben allein mit dem Ungeheuer. Sie würden sie verlassen und in die Welt hinausziehen, ihre eigenen Familien gründen, gut bezahlte Jobs finden, und es wäre ihnen egal, was der Vater mit ihr machte … sollte er sie ruhig schlagen. Er schlug sie. Die Bewohner der Wohnung nebenan hörten es durch die Wand. »Ihr seid zwei Schwuchteln, die gar nichts tun werden«, entwaffnete sie die beiden. Da schien ihre Bewunderung für das starke Männchen durch, das jeden Moment zurückkommen musste. Einmal redeten sie darüber, dem Vater ein Messer in den Rücken rammen zu wollen, aber besonders schaurig hörte sich das nicht an, keine Spur von Tragödie. Man hätte das Gespräch für eine Theaterprobe halten können, eine von diesen Radionovelas, die sie hörte (und ich mit ihr). Wenn sie sich einmal davonstehlen konnte, besuchte die Frau einen alten Freund, der in einer Fabrikkantine arbeitete. Sie trieben es in einem Lagerraum, dafür nahm sie ein paar Dosen mit. (An diesem Punkt muss ich zugeben, dass natürlich auch ich zu den Spionen gehörte. Immerhin hatten der Fotograf und ich, während uns Gene Hackmans Double beobachtete, in eine fremde Wohnung geschaut.) 212
Ihre Söhne begleiteten sie bei diesen Besuchen, damit sie etwas zu essen bekamen. Sie verbarg nicht, was für eine Art von Beziehung sie mit dem alten Mann hatte, und der war freundlich zu den beiden und schenkte ihnen Süßigkeiten. Sie vertrieben sich die Zeit in der Nähe des Lagers. Es gab eine Hündin, erfuhr ich. Sie passte auf die Schweine auf, die der Alte mit den Speiseresten aus der Kantine mästete. Diese Schweine hatten es der Mutter angetan, sie wollte sie jedesmal sehen. Ihre Söhne spielten mit der Hündin, die eines Tages fünf Welpen bekam, von denen der Alte den Jungen einen schenkte. »Ein geschlachtetes Schwein wäre besser gewesen«, giftete die Mutter. Die Jungen zeigten den kleinen Hund stolz der ganzen Nachbarschaft. Die Leute aus der Reifenwerkstatt kamen, um ihn zu bewundern, und die Brüder erfanden einen Preis, den sie angeblich für das edle Tier bezahlt hätten. Als der Vater zurückkehrte, versteckten sie ihn vorsichtshalber. »Soso, jetzt haben wir also einen Hund«, sagte er noch in der Tür. An der Ecke hatten sie ihm bereits von einem Rassehundwelpen erzählt, der eine ordentliche Stange Geld gekostet hatte. Er bringe das Geld nach Hause, und seine Söhne schleppten noch ein hungriges Maul an. Und mit der Geschichte, wie wertvoll der Hund war, zog man nur 213
die Blicke der ganzen Nachbarschaft an, schlecht für die Gaunergeschäfte mit dem Benzin. »Und du«, sagte er zu seiner Frau, »bist so blöd wie deine beiden Söhne.« Den Hund würdigte er keines Blickes. Sie sollten ihn wegschaffen, und zwar sofort, oder er würde ihm höchstpersönlich den Hals umdrehen. Erst ihm und dann ihnen beiden. »Bring ihn sofort zurück«, befahl er dem Jüngeren. Und als der mit dem Hund das Haus verließ, ging er ihm nach. Die Mutter wurde unruhig. »Dein Bruder merkt nicht, dass er hinter ihm ist.« Aber der Ältere vertraute darauf, dass er den Hund nicht zum Lager zurückbrachte. Eher würde er versuchen, ihn zu verkaufen. Und so war es. Der Vater wartete, bis der Junge das Geschäft gemacht hatte, und nahm ihm das Geld weg. »Für seine Scheißplatten hat er es ausgegeben«, erzählte der Jüngere, als sie wieder allein waren. Und wieder war die Rede von Rache und blitzenden Messern. Die Plattensammlung wollten sie verbrennen, den Plattenspieler mitten ins Feuer werfen. Und all das vor seinen Augen, damit er alles genau mitbekam. Das Messer im Rücken, den Blick auf die Flammen gerichtet. 214
Aber der Aufstand fiel aus, stattdessen wuchs die Plattensammlung. Er hätte mitten im Sommer die Ventilatoren verkauft, er hätte sich auch vom Kühlschrank getrennt, aber nie und nimmer von den Platten. Die Sammlung war eine entsetzliche Musterkollektion an Rancheras, Coplas und Boleros, gesungen von den miesesten Interpreten. Er hörte stundenlang Musik bei voller Lautstärke, das Plattenputztuch in der Hand, und betrachtete sich im Spiegel der schwarzen Scheiben. Ein anderer hätte sein Vermögen für Alkohol und Frauen ausgegeben, er nur für Platten. Die Sammlung war sein ganzer Stolz, sie rettete ihn vor dem grassierenden Stumpfsinn. »Schön«, seufzte seine Frau, wenn ein Stück ihr Herz berührte. Still war es nur, wenn sie schlafen gingen. Und nur um diese späte Stunde (jetzt, wo ich schreibe) könnte man mich für den letzten Einwohner einer verlassenen Stadt halten. 3
Durch meine schlaflosen Stunden in Portugal geisterte eine Brücke. Die Fenster des Appartements gingen auf die Eisenbrücke eines Schülers von Gustave 215
Eiffel hinaus (flussaufwärts stand noch eine, ein Werk des Meisters), und in den frühen Morgenstunden grübelte ich darüber nach, wie schwierig es sein würde nach dem Jahr im Ausland nach Havanna zurückzukehren. Wer seine schlaflosen Nächte mit Denken zubringt, wird kein besseres Bild finden, auf dem er seinen Blick ruhen lassen kann. Denn eine Brücke ist eine Verbindung über die Leere hinweg, wie die Arbeit des schlaflosen Kopfes. Ohne Ornamente, rein mathematisch, war die Brücke Dom Luis Primeiro die in Eisen gegossene geistige Nachtwache eines Ingenieurs, in ihr verfügte ich über die Gesellschaft eines Verstandes, der um diese Zeit arbeitete, eines anderen nächtlichen Flaneurs, eines Kameraden, den auch ein Gedanke quälte. Später, als ich die Brücke schon nicht mehr sehen konnte, erschien sie mir im Traum. Auch wenn man sich nur vage an das erinnert, was man träumt, weiß ich, dass wir uns in einer Nacht unterhielten. Und ich meine nicht den metaphorischen Dialog, während ich, den Blick auf sie gerichtet, mit mir selbst sprach, sondern ein Gespräch unter Menschen. Worüber wir geredet haben, vermag ich nicht zu sagen. So weit reicht meine Erinnerung nicht. Aber ich bin sicher, dass der Grundton unserer Verbindung derselbe war wie während meiner Zeit in Porto: Kameradschaft. 216
Wir unterhielten uns auf Portugiesisch, in der Mundart des Nordens, als hätte man Steine im Mund. Dann wurde mir klar, dass der ganze Traum eine Variation über das Thema des Doppelgängers war. Ponte, mein Nachname väterlicherseits, bedeutete auf Portugiesisch Brücke, und das Geschlecht war in dieser Sprache weiblich: a ponte. Das entsprach dem Anfangsbuchstaben meines Vornamens. Und so sprach ich im Traum mit einer anderen Gestalt meiner selbst. Die Brücke war in diesem verworrenen Szenario eines Traumes ein illusorischer Begleiter. Da war kein anderer, ich war allein. Wenn ich mit jemandem sprach, dann mit mir selbst. (Während der Schlaflosigkeit nehmen die Gedanken bevorzugt Doppelmotive auf. Der Schlaflose vergisst nicht, zu seinem eigenen Tadel, dass er in dem Moment eigentlich schlafen sollte. Er denkt sich als wach und zugleich schlafend, er leidet an Bilokation. Und während meiner Schlaflosigkeit in Portugal fügte ich dieser doppelten Natur weitere Verzweigungen hinzu. Hin- und hergerissen zwischen Exil und Rückkehr sah ich mich an einem Ort und auch am anderen.) Schlaflose Nächte können jeden armen Teufel zu einem Weltmeister im Denken machen. Sie fördern den Solipsismus, drängen zu philosophischer Kühnheit. 217
»Wo wäre die Welt, würde sie nicht von meiner Schlaflosigkeit gehalten?«, fragt man sich. Sie fängt beim nächstbesten und banalsten Gegenstand an (sagen wir einem Aschenbecher) und zieht sogleich ein Netz um das ganze Universum, in dessen Zentrum sich der Schlaflose befindet. Nächte, in denen man kein Auge zumacht, bringen so verworrene Gewissheiten hervor wie bestimmte Drogen. Und kaum dass es hell wird, schrumpfen sie zusammen und zeigen, wie haltlos das Gedachte war. (Die Verbindungen bekommen etwas Lächerliches. Mann und Brücke können ein so lächerliches Paar abgeben wie der Betrunkene und die Laterne, das abgedroschene Duo so vieler Witze.) Aber wenn ich einen Anspruch hatte, dann nicht den, zu glauben, dass die Welt mir ihre Existenz schuldete. Das Äußerste, zu dem ich in der trügerischen Hellsicht der Schlaflosigkeit gelangte, war die Vorstellung, ich sei der letzte Bewohner einer Stadt. Was der ausländische Fotograf, auch er bestimmt ein Schlafloser, klar gesehen hatte. Ich berufe mich also auf bescheideneren Solipsismus. Diese Stadt, durch die ich schlaflos streife, schuldet mir nicht ihre Existenz. Nicht einmal meine Straße, wenn ich zwischen dem einen und dem anderen Hahnenschrei in vollkommener Stille, das Radio der Metzgerei ist inzwischen aus, auf den Balkon hinaustrete oder über die Dachterrasse spaziere. 218
Der einzige Einwohner einer Stadt zu sein, bringt nicht die Anmaßung des Gründers mit sich. Andererseits müsste man schon sehr wenig Selbstliebe haben, um sich als Schöpfer von Ruinen aufzuspielen. Was nicht ausschließt, dass bestimmte Einstürze sich genau deswegen ereignet haben, damit ich sie sehe. Den ersten von einem Klassenraum aus. Ich war ungefähr siebzehn oder achtzehn Jahre alt, und das Gebäude lag gegenüber meiner Schule. Hundert Jahre vorher war es ein feines Hotel gewesen, das Pasaje. Es wurde so benannt, weil es eine Passage hatte, wie die, die Walter Benjamin als Vorwand für sein unvollendetes Buch über Paris verwendet hatte. Damals war das Gebäude schon nicht mehr als Hotel in Betrieb, und im unteren Stock war kein Geschäft mehr offen. Es hatte dasselbe Schicksal erlitten wie so viele enteignete Hotels, die in Wohnräume für viele Familien aufgeteilt wurden. Angefangen mit der Eingangshalle herrschte überall Verwahrlosung. Die Flure, an denen die Zimmer lagen, waren potenzielle Mülldeponien. Wo früher die Hotelleitung für das Wohl der Gäste gesorgt hatte, war jetzt Niemandsland. Wenige Monate vor dem Einsturz schien sich jedoch eine Wende für das Pasaje anzudeuten. Bei einem Besuch einer Kommission aus Architekten und 219
Ingenieuren schnappten die Bewohner nebenbei auf, das untere Stockwerk solle saniert werden. (Der Aufruhr, den die Nachricht erzeugte, legte sich nicht so schnell. Niemand konnte seiner Behausung sicher sein, denn wenn der Staat erst einmal Interesse an einem Gebäude bekundete, wurden die Bewohner fast immer rausgeworfen.) Eine Baubrigade schloss die ehemalige Passage. Schilder an beiden Fassaden des Gebäudes kündigten an, dass diese Männer sich um den Wiederaufbau des Hotels kümmern würden und ihrer Pflicht pünktlich und gewissenhaft nachkämen. (Die Abschlussarbeiten sollten mit einem Revolutionsjubiläum zusammenfallen.) Die ersten Lastwagen fuhren ab. Nicht mit Abrissmaterial, sondern mit dem Dreck aus dem unteren Stock. Die Bewohner nutzten die Gelegenheit, um alles loszuwerden, was sie nicht mehr brauchen konnten, sie machten ein Fest daraus, den Plunder auf die auf der Straße abgestellten Lastwagen zu werfen. Die Brigade riss Trennwände und Säulen ein, sie wollten erst einmal Luft schaffen in den bis dahin abgeteilten Räumen. Und dabei rissen sie irrtümlich auch ein paar falsche Säulen ein. Über Stunden widerstand das ehemalige Hotel Pasaje der Störung des Gleichgewichts. Das Leben schien eine Nacht und einen halben Morgen weiter220
zugehen wie bisher. Bis das Gebäude nicht mehr standhielt und pfeifend, einen Staubstrahl gen Himmel sendend, einstürzte. Der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, mochte das Schlagen einer Tür gewesen sein, jemand, der einen Kühlschrank zumachte, nachdem er sich Wasser herausgenommen hatte. Feuerwehrwagen waren sofort zur Stelle und riegelten den Ort ab. Da entschloss ich mich zu einer akademischen Laufbahn in einem Fach, das ich seither wenig praktiziert habe. Jedenfalls muss der Einsturz des Hotels Pasaje bei meiner Entscheidung, Ruinologe zu werden, eine Rolle gespielt haben, denn als solchen betrachte ich mich. Heinrich Böll hat in einem Interview davon berichtet, welchen Eindruck es bei ihm hinterließ, mit seiner Frau nach Kriegsende Städte wie Heidelberg oder Celle zu besuchen, die von den Bomben der Alliierten unberührt geblieben waren. »Wir konnten es fast nicht ertragen«, erinnert er sich. Das Ehepaar Böll empfand eine fast nihilistische Gleichgültigkeit für solide gebaute Dinge und fühlte sich von Trümmern angezogen. Sie sahen in den zerstörten Städten etwas Friedvolles, die Verheißung eines Neuanfangs. Nach der Katastrophe brauchten sie ein starkes Gefühl, das die unversehrte Architektur ihnen nicht geben konnte. Und so setzten sie ihre Hoffnung ausgerechnet auf die Ruinen. W.G. Sebald 221
hat erzählt, wie ihm 1952, bei seinem Umzug nach Sonthofen, nichts so verheißungsvoll erschien wie die Entdeckung, dass die Häuserreihen von Trümmerhaufen unterbrochen waren. »In einem Augenblick, in dem sich alles verschwört, um uns glauben zu machen, die Geschichte sei am Ende und die Welt sei ein Schauspiel, in dem dieses Ende aufgeführt wird, müssen wir wieder die Zeit finden, um an die Geschichte zu glauben. Das ist heute die Bestimmung der Ruinen«, schreibt Marc Augé. Seiner Meinung nach sind Ruinen mit einer Zeitreserve ausgestattet, die ausreicht, um eine Überzeugung zu stützen. Zu den Ruinen zurückzukehren, bedeutet, von der Schnelligkeit wegzukommen, mit der Absicht in die Vergangenheit zu reisen, das an einem Punkt verloren gegangene Vertrauen wiederzuerlangen. Und ich stieß mit der Ferse an die Ruinen, als ich nach Havanna zurückkehrte. Vielleicht hatte ich aus beschränkter Fantasie oder Feigheit einen Schritt zurück gemacht. (Wie der älteste Sohn der Familie von unten, suchte ich wieder Zuflucht unter der väterlichen Diktatur, nachdem ich ein wenig von der Welt gekostet hatte.) Ich setzte meine Hoffnung auf eine Verzögerung. Ich rechnete mir aus, diese Schritte zurück würden mir als Reserve dienen. 222
Wenn man nach meinem Ziel fragte – da war es ganz einfach: Es bestand darin, wieder Tritt zu fassen. Ich reiste zu den Ruinen, um in den Genuss des Vorteils von Phileas Fogg zu kommen, als er um die Welt reiste: Einen Tag zu gewinnen. »Denk daran, dass jeder Schriftsteller, der dort lebt, am Ende einen negativen Saldo hat, persönlich und was sein Werk angeht«, schrieb mir M. aus dem Ausland. Die Gründe dafür lägen in jedem Fall anders, und er wolle sich darüber in einem bald erscheinenden Artikel auslassen. Er würde ihn mir schicken, wenn er fertig sei. Phileas Fogg hat seine Wette gewonnen. Meine lief gegen eine Prognose wie die von M. Die Beziehung zwischen den Schriftstellern, die im Land blieben und denen, die ins Exil gingen, beruhte, ausgesprochen oder nicht, auf den schlimmsten Prognosen der einen über die anderen. Und so antwortete ich auf M.s Zeilen, ohne seinen Unkenrufen Bedeutung beizumessen. Ich bat nicht um Details über meinen Fall. Denn ich war der Erste, der zugegeben hätte, dass ich mit dem Ziel nach Havanna zurückgekehrt war, mich zu ruinieren.
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Zu anderen Zeiten glaubte man, dort, wo man ein Gebäude errichtete, würde man die Erde entehren. Weil jeder Bau die Natur verdrängte, musste man dem genius loci, den Göttern oder den auf besetztem Gebiet herrschenden Mächten etwas Lebendes (manchmal auch Menschen) opfern. Und das Blut musste fließen, bevor das Fundament gelegt wurde. Jahrhunderte später erlaubten widerstandsfähigere Baumaterialien, genauere statische Berechnungen und eine Logik, die nichts von Transaktionen mit dem Unsichtbaren hielt, die Rechte des Ortes, an dem man baute, zu ignorieren und auf jeglichen Pakt mit ihm zu verzichten. Von den alten Riten blieb nur (wenn überhaupt) die Sitte übrig, vor der Grundsteinlegung ein paar Reden zu halten, eine Anrufung, die sich an die vom Menschen aufgetürmten Steine richtete und nicht an den Boden, der sie zu tragen hat. Diesem ersten Stein legt man, in Vorahnung der Ruinen, eine Metallkiste mit Zeitungen und dem ein oder anderen Krimskrams für künftige Archäologen bei. Als er sich die Ruinen erklärte, lebte Georg Simmel schon in einer Epoche, die sich wenig um Gründungsriten scherte. Aber er gedachte wohl der 224
Forderungen, die die Natur an alle Bauten nach früherer Auffassung hatte, und ersann ein Ingenieurschema, in das diese Annahmen hineinpassten. In diesem Schema kämpfen zwei Kräfte gegeneinander: die menschliche Seele, die in jedem Bauwerk nach oben strebt, und die Schwerkraft, die alles zu Boden zieht. (Eine rein technische Argumentation hätte erstere sicher begrifflich anders gefasst.) Simmel leitete daraus ab, dass bei den Ruinen der erzielte Verhandlungserfolg zerstört wurde. Das mühsam in dem Gebäude fixierte Gleichgewicht gab nach, und die Natur fing an, sich für all die Gewalttaten zu rächen, die der Geist ihr angetan hatte. Simmel betrachtete Ruinen als Bestandteile der Bühnenszenerie für eine kosmische Tragödie. Im ersten Akt dieses Dramas verwendete das Gebäude die Natur als Rohmaterial. Von weither herbeigekarrte Steine bildeten einen bewohnbaren Raum, einen künstlichen Berg in der Ebene. Im Verlauf des zweiten Aktes kämpfte die Natur gegen diesen Raum. Und im dritten Akt kehrte sich die Schmach um, jetzt war es die Natur, die das Gebäude als Rohmaterial verwendete: unzählige Trümmer türmten sich zu Hügeln auf. Nach gutem alten Ius talionis: Stein um Stein und Pfahl um Pfahl. (Rache ist ein Begriff, der im Diskurs über Ruinen häufig vorkommt. Ein Großteil ihrer 225
Faszination liegt darin, dass Rachegeschichten so spannend sind.) Im letzten Akt erschienen die fressenden Pflanzen. »Es gibt keine Ruine ohne pflanzliches Leben; ohne Efeu, Moos oder Doppelsame, der in der Ritze des der Eidechse täuschend ähnlichen Steines sprießt, wie das Delirium eines Lebens, das aus dem Tode wächst«, stellt Maria Zambrano fest. Und Simmel wies drauf hin, dass viele alte Gebäude auf dem Land farblich so homogen mit dem Boden sind, dass sie sich in ihm aufzulösen scheinen. Zu dem Zeitpunkt verhält das Gebäude sich wie die Eidechse, es tarnt sich durch Mimesis. Als Schiedsrichter im Kampf zwischen Natur und Geist achtete Simmel, der deutsche Philosoph und Essayist, darauf, dass keine der beiden Kräfte die Grenzen überschritt. Trieb man die Rache der Natur zu weit, lief man Gefahr, dass die Ruinen ihren Reiz einbüßten. Er ging verloren, wenn nicht mehr genügend Material vorhanden war, das auf den aufstrebenden Geist verwies. Aus diesem Grund waren die über das Forum Romanum verteilten Säulen nur hässlich, während eine halb abgebröckelte Säule es erlaubte, dass man sich an ihrem Anblick ergötzte. Simmel bewunderte an den Ruinen ein Gleichgewicht ganz anderer Art als das des Gebäudes an sich, aber immerhin ein Gleichgewicht. Wie jeder Ruinologe hielt er sich an eine bestimmte Korrelation, er such226
te den Moment, in dem die stützende Kraft noch nicht ganz verdrängt war und die Gegenkraft noch keine größeren Fortschritte erzielt hatte. Wie bei der Umklammerung zweier erschöpfter Boxer, deren Angriffe nachlassen. Eine relative Ruhephase im Kampf. Ein sehr elementares Theaterstück, in dem die Handlung auf ein Minimum reduziert und die Bühne in ihrer ganzen Ausdehnung ins Blickfeld gerückt ist. Und wo findet sich eine essentiellere Dramaturgie als in der Linie des Horizonts, dem Ziel, dem alle Ruinen zustreben? Eine aus so wenig konkreten Tatsachen bestehende Tragödie muss vom Kosmischen handeln wie keine andere. Der Mensch stört nur, und Simmel erwähnt denn auch Orte in Rom, zu denen die Zerstörung durch die Menschen gebracht wurde, Orte, an denen man den besonderen Charme der Ruinen vermisst. Dort hatte der Mensch gebaut, um zu zerstören, er schwärzte die Sentenzen, die er zuvor geschrieben hatte, er nahm alles zurück. Es gab keine Rache, oder sie war zu intim, weil sie im Reich derselben Spezies stattfand. Blieben die Naturgewalten von dem Konflikt ausgeschlossen, ereignete sich in diesen Ruinen ein Bürgerkrieg Mann gegen Mann. Das Kosmogonische schrumpfte auf das Politische zusammen. Von der Entstehung der Welt ging man über zur reduzierteren Handlung einer Scheidung. 227
Die bewohnten Ruinen am Rande der großen modernen Straßen von Rom (Simmels Essay erschien am 22. Februar 1907 in einer Berliner Tageszeitung) gaben zu Überlegungen Anlass, wie unerträglich diese Orte waren, aus denen das Leben gewichen zu sein schien, um die der Mensch sich aber immer noch bemühte. Wären als Ruinen nicht ein paar architektonische Überreste vorzuziehen, mit Steineichen dazwischen, bestenfalls noch ein paar Ziegen? Warum Menschen hinzufügen? Simmel beschuldigte die Bewohner Roms, mit einer der beiden Parteien gemeinsame Sache zu machen. Als Söldner, die gegen das eigene Lager kämpften; sie verrieten die Menschen und zeigten, wie wenig Seele sie hatten. Sie zerstörten Gebäude bis zu dem Punkt, an dem sie nicht einmal mehr zur Ruine taugten. Sie verschenkten einen ästhetischen Effekt, sie trachteten nach derselben Versprengung von Marmor wie auf dem Forum. Georg Simmel starb 1918. Als Bewohner einer Epoche, die die Verheerungen durch die Luftwaffe noch nicht kennengelernt hatte, hielt er nicht viel davon, Ruinen wiederherzurichten. Ein paar seiner Zeitgenossen spielten mit dem Gedanken von neuen zerstörten Roms (in seiner Ode A l’Arc de Triomphe sprach Victor Hugo von einer Zeit, in der die Ufer der Seine wieder mit Binsen bewachsen wären und der Fluss Kuppeln fortschwemmt), aber in diesen 228
Zerstörungen kamen die Gestalten von Überlebenden nicht vor. Falls ein Mensch auftauchte, handelte es sich um das letzte lebende Wesen auf der Welt. (In Verney, der letzte Mensch hatte sich Mary Shelley eine Plage ausgedacht, die aus Konstantinopel kommt und fast die gesamte Menschheit auslöscht. Die Vegetation hat sich in den Straßen Londons ausgebreitet, Algen färben die überfluteten Paläste Venedigs schwarz, in Rom bemächtigen sich die Kühe des Forums. Der letzte Mann in dem Roman findet im ganzen Vatikan keine Menschenseele, und er würde jedes der Meisterwerke um ihn herum für ein bisschen Gesellschaft eintauschen. Er besteigt die Kuppel des Petersdoms und blickt von dort auf eine leere Landschaft herab. Er stellt fest, dass er allein in Rom, allein auf der Welt ist. Und dann fährt er den Tiber hinunter, auf der Suche nach dem Atlantik. Etwas mehr als ein Jahrhundert später, sollte auf der anderen Seite des Ozeans David Markson in Wittgensteins Mätresse den Monolog einer Frau niederschreiben, die überzeugt ist, der einzige noch lebende Mensch auf der Welt zu sein. Genau wie Mary Shelleys letzter Mensch, irrt auch sie durch leere europäische Hauptstädte, durch Kunstgalerien, in denen sie nächtigt und Bilder anzündet, um es warm zu haben.) Simmel hat nur Beispiele aus Rom erwähnt. Die großen Straßen, in deren Umgebung er bewohnte 229
Ruinen betrachtete, führten zu dem modernen Hotel oder dem alten Palazzo, wo er die Notizen seiner Feldforschung in Reinschrift übertrug. Sein Gang durch die Ruinen, von denen er schrieb, war ein Ausflug gewesen, am nächsten Morgen brach er zu weiteren, nicht minder produktiven auf. Aus der Sicherheit seiner Unterkunft (alt oder modern, jedenfalls unversehrt), erlaubte sich der Essayist, seiner Entrüstung über eine Handvoll Eindringlinge, die das Panorama der Dekadenz verschandelten, freien Lauf zu lassen. Wenig später sollten die massiven Zerstörungen in Europa Zweifel aufkommen lassen, ob seine Beobachtungen noch Gültigkeit hätten. Damals gab es keine sichere Unterkunft mehr, in die man hätte zurückkehren können, wo immer man hinging, stieß man auf Ruinen. Es blieb also nichts anderes übrig, als sie zu bewohnen. 5
Man war nie allein in der Stadt, so zerfallen sie aussehen mochte. Niemand durfte sich für den letzten Einwohner halten. Auf einem meiner Spaziergänge stieß ich auf Ruinen, die ich für unbewohnt hielt. Ich sah die halb geschlossene Tür, und obwohl es mich hätte stutzig 230
machen müssen, dass man sie nicht herausgerissen hatte, betrat ich das Zimmer ohne Dach. Der Boden des Zimmers (vier Wände aus morschem Mauerwerk) schien bis zur Pulverisierung zermahlen zu sein. Ein Niesen, und er wäre zerfallen wie die Decke. Ein weiteres Zeichen, das ich nicht beachtete: Das Zimmer war peinlich sauber. Und es führte zu einem weiteren, dessen Tür ich aufdrückte. Aber weiter kam ich nicht, denn ein alter Mann stellte sich mir in den Weg. Sein Gesicht direkt vor meinem, kniff er die Augen zusammen, bis ihm klar wurde, dass er mich nicht kannte. Da fragte er mürrisch, was ich dort zu suchen hätte. Ein Teenager (vielleicht sein Enkel) kam dazu und fragte, ob ich Ausländer sei. Ich verneinte, und nachdem sich so die Möglichkeit, ein paar Dollars zu verdienen in Luft aufgelöst hatte, warf er mich hinaus und schimpfte, ich würde mich als Tourist ausgeben, um in fremde Häuser zu gehen (nur jemand aus dem Ausland konnte sich für diesen Verfall interessieren). Wo hörte der Spaziergang auf und wo fing der Privatbesitz an? Für den, der sie besuchen will, lässt sich das bei den bewohnten Ruinen nicht ausmachen. Archäologische Stätten sind sorgfältig gegen Anachronismen und Plünderungen gesichert. Aber in bewohnten Ruinen gibt es solche Vorsichtsmaßnahmen 231
nicht. Wer sie besucht, wird keine Statue des Gottes Terminus finden, die dazu auffordert, den Rundgang an dieser Stelle zu beenden. Und wenn er weitergeht, wird ihn die Scham überkommen, er wird in die Privatsphäre von Fremden eindringen. Siegfried Giedion hat beobachtet, dass in den Ruinen Innen und Außen gleichzeitig zu sehen ist. Aber in den bewohnten Ruinen tauchen neue Wände auf, es wird eine spärliche Ökonomie des Schutzes betrieben. Und abgesehen von der Wut über den verwehrten Zutritt kann sich der, der dorthin reist, um sie zu betrachten, auch noch über Baumaßnahmen empören. Ungebetene Bewohner bringen den reinen Verfall durcheinander, stören die Ordnung. Sie maßen sich das Recht an, sich an den Quellen der Zeit zu laben und trüben das Wasser. Deshalb ist der erste Reflex beim Betrachter der Ruinen der, die Leute dort rauszuwerfen. Es ist der Versuch eines Erstschlags, um nicht selbst angegriffen zu werden. Denn er ahnt, dass man niemanden so wie ihn der Komplizenschaft mit den zerstörerischen Kräften beschuldigen könnte. Unter dem Träumerischen, das die Ruinen hervorrufen, fließt ein Strom von Gewissensbissen, wie die Flammen unter den lieblichen Auen in einem der Poeme von Keats. Jean Cocteau verstand Ruinen als Unfälle in Zeitlupe. Schließt man sich der Formulierung an, ist es verwerflich, vor ihnen zu stehen, solange sie als Un232
terkunft dienen. Wer Freude an bewohnten Ruinen findet, gehört zu denen, die bei Hinrichtungen zuschauen, in Leichenhallen stöbern und Anatomiehörsäle besuchen. Er gehört zu jenen zerstörungsverliebten Banden, zur Society of Connoisseurs in Murder. Unter dem Vorwand, aus dem Verstreichen der Zeit eine Lehre ziehen zu wollen (eine der abgedroschensten Rechtfertigungen unter Ruinologen), bekommt er einen zusätzlichen Lustgewinn, den Schauder, selbst auf der sicheren Seite zu sein. Man frühstückt mit kriminellen Themen, um sich als Überlebender der Nacht der langen Messer und der Schüsse zu fühlen. Der Milchkaffee schmeckt dann besonders gut. Dass solcher Schauder ästhetisch und pervers zugleich ist, Schönheit und Schaden voraussetzt, sorgt für die lieblichen Auen und für den Brennstoff, der sie in Brand setzt. Jede Betrachtung des Ruinologen ist von Vorwürfen durchzogen. Er stößt auf die für puritanische Gemüter bereits anstößige, gequälte Schönheit. Zerstörung zu preisen mag skandalös sein, problematisch, ist aber nicht totzukriegen. Zur Zeit der deutschen Luftangriffe auf Großbritannien im Zweiten Weltkrieg veredelte der Direktor der National Gallery, Kenneth Clark, die Zerstörungen durch den Feind, indem er sie zu Manifesten des picturesque erklärte, einer englischen Geschmackskategorie, die alte efeubewachsene Mauern, knochige 233
Eichenstämme, strohgedeckte Hütten und andere im nicht sehr strengen Sinne schöne Gegenstände einschließt. Normalerweise gilt die mit Leichen gespickte Lust als Laster. Das Erstaunliche im Fall der bombardierten englischen Städte ist, dass diese Schönheit eine öffentliche Angelegenheit war und dass ihr die britische Regierung höchstpersönlich Aufmerksamkeit widmete. Mit Lust die vom Feind begangenen Zerstörungen zu betrachten, scheint den nationalistischen Furor des Krieges zu dementieren, es sei denn, es handelt sich um einen geläuterten Nationalismus, der sogar die eigenen Narben schön findet. Selbst wenn man regionale Vorurteile außer Acht ließe, blieben doch allgemeinere, die sich nicht so einfach vom Tisch wischen lassen. Eines davon rät, beim Anblick von Verstorbenen nicht in Jubel auszubrechen. Entschlossen, die Schönheit bestimmter Bilder, so schrecklich sie auch sein mochten, zu retten, gründete Kenneth Clark in den Kriegsjahren ein beratendes Künstlerkomitee, das den sehr britischen Sinn des picturesque zu propagandistischen Zwecken einsetzte. Mit der Zustimmung des Informationsministeriums geschaffen, entsandte das War Artists Advisory Committee Künstler in die brennenden Städte. Im Ministerium ging man davon aus, dass die Maler wertvolle Zeugnisse aus schwierigen Zeiten hin234
terlassen würden, die dem britischen Volk als moralische Aufmunterung dienen mochten. (Kenneth Clark verfolgte ein drittes, nicht offen erklärtes Ziel: die Künstler vor dem Hungertod zu bewahren.) Eine erste Mission führte den Maler John Piper in die im November 1940 bombardierte Stadt Coventry. (In seinen Notizen über die Sprache des Dritten Reiches erinnert Victor Klemperer daran, dass die deutsche Presse und das deutsche Radio das Verb »Coventrieren« verwendeten, um das Schicksal zu beschreiben, das sie allen britischen Städten voraussagten.) Coventry war durch die deutsche Luftwaffe in Schutt und Asche gelegt worden. Die Häuser brannten, man suchte in den Trümmern nach Leichen, und inmitten dieser Tragödie musste John Piper sich wie ein Eindringling vorkommen, wie ein Nichtsnutz mit Zeichenblock. Er fand ein Büro und ging hinein. Eine Sekretärin tippte am Fenster vor sich hin, als sei nichts geschehen. Durch das Fenster konnte man die Ostseite der Kathedrale sehen, die noch immer in Flammen stand. (W.G. Sebald erzählt, wie kurz nach der Bombardierung von Halberstadt eine Angestellte für die Abendvorstellung den Schutt aus dem Kinoeingang wegräumte.) Piper grüßte die Sekretärin mit einem Satz über die widerwärtigen Zeiten. Sie antwortete, sie würde ihre Arbeit erledigen, und überließ ihm dann ihren 235
Platz, damit er eine Skizze anfertigen konnte. Coventry Cathedral, 15 November 1940, das Werk, das in diesen Stunden entstand, in denen eine Sekretärin tippte und ein Maler aus der Natur die Katastrophe des Krieges abzeichnete, hängt heute im Museum von Manchester. Es wurde im Jahr nach seiner Entstehung in der National Gallery gezeigt, und wie man im Informationsministerium vorausgesehen hatte, war es ein Hoffnungssymbol für die Briten. Abgesehen von den Auftragsarbeiten des War Artists Advisory Committee, malte John Piper Ruinen. Ein verlassenes Haus in Northumberland aus seiner Mappe kommt den Ruinen der feindlichen Bombardements gleich, beides sind Darstellungen des picturesque. Im April 1942 kam Piper nach Bath, das von der deutschen Luftwaffe als Rache für die britischen Luftangriffe auf das mittelalterliche Stadtviertel von Bremen bombardiert worden war. (Der Krieg nahm eine dezidiert ästhetische Gestalt an, wie bei einer Schlacht unter Galeristen. Es war also nichts Merkwürdiges daran, wenn die Maler sie einfingen.) In einem drei Jahre nach Kriegsende veröffentlichten Artikel versicherte Piper, die Zerstörung durch die Bomben hätten neue Schönheit, nie dagewesene Zusammenstellungen hervorgebracht. Als privilegierter Zeuge der Zerstörung war sein Bestreben, im Grauen Schönheit zu finden, ungebrochen. (Filippo Tommaso Marinetti hatte auf die potenzielle Kraft 236
des Krieges hingewiesen, neue Formen von Schönheit hervorzubringen, große Panzer, Formationen der Luftwaffe am Himmel, Rauchspiralen brennender Ortschaften …) War Piper, unbestreitbar ein Ruinologe, frei von den Gewissensbissen wegen seiner Passion? Ich vermute ja. Wenig Scham lässt sich in seinen Worten finden, er hat nicht die Absicht, sich vor seinen Lesern zu entschuldigen. Im Unterschied zu Simmel, der Ruinen jenseits der großen Straße besuchte, die ihn zu seinem Hotel zurückbrachte, war er direkt mit den Ruinen verbunden, er war einer ihrer Bewohner. Wenn seine Arbeit beendet war, diente ihm eines der von der Luftwaffe verheerten Gebäude als Unterkunft. (Ich selbst fühle mich, Bombardements einmal beiseite, Piper näher als Simmel. Das beweisen Versuche, ein Dach zu isolieren, durch das immer wieder Regenwasser eindringt, die überraschenden Aufwölbungen des Fußbodens, die Fliesen, unter denen es zu brodeln scheint, das Beben der Wohnung, wenn ein schweres Fahrzeug durch die Straße fährt.) Ich habe diese Informationen über England aus einem Buch von Christopher Woodward über die Ruinenfaszination, das auch ein paar kubanische Beispiele enthält. Das erste ist ein kleiner Palast, der eine Zuckerfab237
rik beherbergt hatte, das zweite ist die MoncadaKaserne mit den Einschüssen, die ihre Fassade zwecks Verewigung eines historischen Ereignisses verunzieren. Der Angriff auf die Kaserne von Santiago de Cuba, die Niederlage, mit der die siegreiche Revolution von 1959 begann, hatte Einschusslöcher in den Mauern hinterlassen. Nachdem die Angreifer festgenommen worden waren, wollten die Militärbehörden die Spuren auslöschen und betonierten die Löcher zu. Nachdem die Revolutionstruppen gesiegt hatten, wurden die Mauern wieder neu beschossen, der historische Überfall wurde für ein paar Schußlöcher zum Gedenken wiederholt. Bedauerlicherweise enthält der Band von Christopher Woodward über Ruinen keinerlei Information über Havanna. 6
Ich weiß nicht, in welchem Artikel ich auf das Konzept der wundersamen Statik gestoßen bin. In dem Artikel ging es um Gebäude in Havanna, die noch stehen, obwohl sie nach elementaren physischen Gesetzen einstürzen müssten. Mehrere Fachleute sind sich darin einig, dass die Existenz dieser Gebäude reiner Zufall ist, und Centro Habana ist der Ort, auf den sich der Hauptteil des Wunders zu kon238
zentrieren scheint: Mehr als die Hälfte der Häuser ist von der wundersamen Statik betroffen. Die Straßen, die in der Umgebung der ummauerten Stadt lagen (von diesen Mauern sind noch ein paar Teile vorhanden, die Ausnahmen waren, solange Havanna noch keine anderen Ruinen hatte), bildeten in den ersten dreißig Jahren des 20. Jahrhunderts das, was jeder Einwohner Havannas einfach Habana nannte, weil er glaubte, dort befände sich der Kern der Hauptstadt. Centro Habana muss in seinen Ursprüngen die Entdeckung von Nähe und Höhe gewesen sein. Der aus den Bodenpreisen resultierenden Notwendigkeit, viele Menschen auf engstem Raum unterzubringen, versuchte man zu begegnen, indem man in die Höhe baute. Und um das Gebaute zu veredeln, wurden Dekorelemente, ein wenig Stil in die Fassaden eingebracht. Die Zeit und die Last ihrer Bewohner haben diese Straßen in der Nähe des Meeres zerstört. Die Wände sehen aus, als hätten die Wellen den Putz angefressen. Das ursprünglich Karge wurde durch Unterteilungen bereichert wie bei einem orientalischen Teppich (man hat Centro Habana einmal die Kasbah genannt). Und so kommt es, dass, obwohl noch kein Jahrhundert seit der Erbauung verstrichen ist, es niemanden wundern würde, wenn es zu massiven Einstürzen käme. 239
Ich vermute, die Fachleute erwarten etwas Ähnliches. Der eingegrenzte Raum eines Bezirks und die Fülle an Bewohnern (Centro Habana ist das am dichtesten bevölkerte Gebiet des Landes) machen es zu einem idealen Untersuchungsgegenstand für Betrachtungen über das menschliche Einwirken auf die Architektur. Und die Experten verlangen von diesem Ballungsraum, dass er wieder ihren exakten Berechnungen gehorche, also ein Ende des Wunders, die Beachtung der physischen Gesetze; die alten Gebäude müssen zusammenfallen, damit die irdische Logik eingehalten wird. In ihren Untersuchungen greifen sie auf das Konzept der Barackisierung zurück, ein nützliches Werkzeug, wenn es darum geht, festzuhalten, wie aus einem anständigen Ort ein verkommenes Loch wird. Centro Habana erscheint wie ein Schlachtfeld zwischen Barackisierung und wundersamer Statik, zwei weitere Bezeichnungen für die beiden Kräfte, die Georg Simmel bei seiner Erklärung der Ruinen hätte verwenden können. Eheschließungen, Geburten und Einwanderungen gehen dort so schnell vonstatten, dass man nicht im Entferntesten mit dem Bau von neuem Wohnraum nachkommt. Es besteht ein erhebliches Wohnraumdefizit (Todesfälle und Exil setzen nur wenige Kapazitäten frei), und zu diesem Defizit kommt noch der Bedarf all derer hinzu, die ein eingestürztes oder für 240
unbewohnbar erklärtes Haus zurückgelassen haben, die Überlebenden der Ruinen. Nicht bereit, über ihre Grenzen hinauszudrängen oder in die Höhe zu schießen, hört die Stadt trotzdem nicht auf zu wachsen. Die Leute errichten Zimmer, wo es eben geht, sie verwandeln den erstbesten Raum in eine schäbige Baracke. Wenn alle Dächer besetzt und auf ihnen Hütten errichtet sind, von denen man nicht zu sagen vermag, ob darin Menschen oder Tauben hausen, wenn es also kein Außen mehr gibt, bleibt immer noch die Möglichkeit der Caja China, der Verschachtelung, wie bei russischen Puppen. Man kann Wände auf Balkonen errichten, Höfe überdachen, Zwischenwände einziehen: die Architektur geht den Weg des inneren Exils, sie schließt sich in sich ein, und am Ende verschlingt sie sich selbst. Im Gegensatz zu einer konstruktiven Explosion wagt die kubanische Hauptstadt die Implosion, sie pocht in Systolen. Es kommt zu Anhäufungen von Verwandten, übereinanderlagernden Generationsschichten, Zusätzen. Jede kleine Wohnung ist so dicht bevölkert, dass man sich in einem der Kapitel der Genesis wähnt, wo die Geschlechter aufgezählt werden. Das Pflanzliche, das Maria Zambrano zufolge die Ruinen beglaubigt, fängt mit einem Baum im Haus an, dem Stammbaum. Man empfindet es als unverschämt, wenn Jungverheiratete nicht unter 241
dem Dach ihrer Eltern leben wollen. Denn vor den beiden Turteltauben stehen lange Reihen von Geschädigten auf den Listen, die auch auf ein Eckchen warten. In den staatlichen Unterkünften kommen die vom letzten Hurrikan Betroffenen zu denen, die bei vorausgegangenen Hurrikans ihre Bleibe verloren haben. Zusammen bilden sie ein Lexikon der Katastrophen. Der einzige Ausweg besteht also darin, sich ein winziges Nest in der bis zum Rande vollen Familienbehausung zu bauen. Den Raum zu unterteilen und noch mal zu unterteilen, wie Einzeller, wenn sie sich vermehren. Jeder Neuankömmling legt den Keil an, versucht, sich Raum in der begrenzten Familienbehausung zu schaffen und arbeitet so zugunsten des Risses, der den Einsturz ankündigt. »Vielleicht hätte das Auge eines besonders geschulten Betrachters den kaum wahrnehmbaren Riss entdeckt, der, unter dem Dach der Frontseite beginnend, im Zickzack an der Mauer hinunterlief und sich schließlich in den widrigen Wassern des Teiches verlor«, beschreibt Edgar Allen Poe das Haus Usher ein paar Tage vor seinem Einsturz. In Havanna drängen sich die einsturzgefährdeten Gebäude wie Tattergreise, sie schweben, von wundersamer Statik aufrechterhalten. Sie bilden ein Bündel, das Halm für Halm bei der ersten Gelegen242
heit abknickt. Auf einen Einsturz folgt häufig der der Nachbarhäuser. Ab wann kann man ein Gebäude als Ruine betrachten? Robert Harbison hat geschrieben, Ruinen seien weniger Bauten oder Spuren von Bauten, sondern eine bestimmte Art zu sehen: So viel Gewicht hat die Haltung des Betrachters. Es bringt nichts, Schäden am Stein zu schildern, besser verlagert man die Suche nach einer Definition auf den Blick, auf die Stimmung des Beobachters. Es wird Zeit, dass sich eine kühlere Betrachtung durchsetzt. Man steht von dem Moment an vor einer Ruine, wenn die Schäden an einem Gebäude unwiderruflich sind. Wenn es nicht mehr das Verlangen nach Wiederaufbau weckt, hat das Gebäude angefangen, zur Ruine zu werden. Das Zeichen ist ein Sims, der unter allgemeiner Teilnahmslosigkeit am Boden landet, oder das nicht zur Kenntnis genommene Abfallen eines Balkons. Auch Graham Greene sammelte bei seinem Aufenthalt in Havanna in den fünfziger Jahren Eindrücke von Ruinen. Das Leben seines Protagonisten James Wormold war in Gefahr, und obwohl er die Stadt als seine empfand und er sich von ihr angezogen fühlte wie vom Szenario einer Katastrophe, dachte Wormold daran, die Koffer zu packen und die Ruinen von Havanna hinter sich zu lassen. Was für eine Katastrophe sich in der Stadt abspiel243
te, wird in dem Roman nicht gesagt. Vielleicht, dass die kubanische Hauptstadt eines Tages dasselbe Schicksal erlitt wie so viele andere Vorposten des Fortschritts in den Tropen, die den Angriffen der Vegetation ausgesetzt waren. Kerker und andere piranesische Gebäude untergruben ihre Fundamente, eine Militärdiktatur metastasierte in die Stadt hinein, der Schrecken konnte nicht verborgen bleiben, das Blut würde die Fassaden rot färben. Oder passender zu der religiösen Sensibilität des englischen Romanciers, die Strafe von oben würde über das neue Sodom hereinbrechen. Was für eine Gefahr auch immer die Stadt bedrohte, man spürte sie herannahen. Geheimagent Wormold witterte sie. (In einer der Straßenszenen des Films von Carol Reed erblickt man die von einem eingestürzten Gebäude hinterlassene Lücke an einer so zentralen Ecke wie dem Prado y Neptuno. Für den, der zu sehen verstand, kündete die Lücke von der wachsenden Anzahl an leeren Flächen, die noch folgen würden.) Unser Mann in Havanna spielt in einem Gebiet, das seinen Glanz verloren hat. Von allen Mitgliedern der European Trader’s Association of Havanna konnte nur ein armer Teufel wie James Wormold auf die Idee kommen, sein Geschäft in der Altstadt weiterzuführen und dort leben zu wollen, während alle Immobilienhoffnungen längst Richtung Osten gin244
gen. (Und auch der Westen profitierte bereits von dem neuen Tunnel unter der Bucht.) Zwei Jahre vor den im Buch erzählten Ereignissen, 1956, legte das amerikanische Architekturbüro von Josep Lluís Sert, Paul Lester Wiener und Paul Schulz im Auftrag der damaligen kubanischen Regierung einen Städtebauplan vor, der den Abriss eines großen Teiles von Habana Vieja vorsah. Von James Wormolds Geschäft und Wohnung wäre kein Stein mehr stehen geblieben. Die Straßen, durch die er immer spazieren ging, die Bar, in der er sich mit seinem Freund Doktor Hasselbacher traf, all das sollte verschwinden. Nicht nur Wormolds Tage in der Stadt, sondern die von Havanna, wie der englische Kaufmann es kannte, sollten gezählt sein. Wäre er fortgegangen, er hätte es später kaum noch wiedererkannt. Mehr als neunhundert Gebäude von historischem Wert sollten abgerissen werden, nur die monumentalsten sollten als kärgliches Denkmal der Vergangenheit übrig bleiben, ihre Zahl belief sich auf unter zehn. Die alten Fassaden sollten erhalten bleiben, aber die Gebäude vollständig entkernt werden. Die kolonialen Innenhöfe sollten als Parkplätze genutzt werden. Schnellstraßen sollten das Gebiet durchschneiden. An der höchsten Stelle am Ufer der Bucht sollte der Präsidentenpalast errichtet werden, ein Koloss von einhundertfünfzig Meter Länge und einundzwanzig Meter Höhe. 245
Moderne Türme sollten den Malecón säumen, ihnen gegenüber sollte eine künstliche Insel entstehen. Die Ankunft der revolutionären Streitkräfte im Januar 1959 verhinderte die Umsetzung des Plan Sert. Eine politische Revolution stoppte die städtebauliche. Dass man heute durch eine verfallene Kolonialstadt spazieren kann, ist diesem überraschenden Regierungswechsel zu verdanken. Die Vielfalt, der Reichtum an geologischen Schichten unterschiedlichen Alters, der die Architektur Havannas ausmacht, geht auf den von der Revolutionsregierung aufgezwungenen Stillstand zurück. Dank des Baustopps erfreut sich die kubanische Hauptstadt eines beneidenswert musealen Charakters. Und eines Verfalls, der ans Unlösbare grenzt: Havanna ist ein Museum in Ruinen. Historiker verweisen gern auf die Abrisse, die der Plan Sert mit sich gebracht hätte, und verzeihen die Nachlässigkeiten des Revolutionsregimes. Jede Kritik an dessen städtebaulicher Gleichgültigkeit wird mit dem Hinweis erstickt, wenn sich diese Gleichgültigkeit nicht durchgesetzt hätte, stünde in Habana Vieja kein Gebäude mehr, das einstürzen könnte. Die wachsende Zahl von sich in wundersamer Statik haltenden Gebäuden ist legitimiert, seit sich die einzige Alternative auf die 1956 geplante Zerstörung reduziert. Bestimmte Probleme, die seit einem halben Jahr246
hundert einer Lösung bedürfen, sind immer noch ungelöst. Dass die UNESCO Habana Vieja 1982 zum Weltkulturerbe erklärte, ist ein weiterer Schritt Richtung Immunität gegenüber der Spitzhacke. (Erst durch die Revolution paralysiert, dann sakralisiert.) Und seit den achtziger Jahren hat die Oficina del Historiador de la Ciudad einen Restaurierungsplan in Angriff genommen, den man als Gegenentwurf zu dem von Josep Lluís Sert betrachten kann. Dort, wo ein in viele Wohnräume zerstückelter kleiner Palast zerfällt, steht nach den Restaurierungsarbeiten ein Gebäude, das ein Museum oder eine Kultureinrichtung beherbergt. Es ist machbar, aus einem Ort mit vielen lärmenden Menschen einen unbewohnten Ort zu gewinnen. Ein Gebäude stürzt ein, und an seiner Stelle wird ein leerer Raum von scheinbarem Nutzen geschaffen, ein Platz oder Park. Aber falls es nicht einstürzt und man es noch irgendwie restaurieren kann, ist die Patentlösung die Eröffnung eines Museums. Museen zu eröffnen ist für die Oficina del Historiador de la Ciudad die optimale Form, Immobilien aufwerten zu können, ohne das Risiko eingehen zu müssen, dass sie bewohnt werden. So erreicht man Restaurierung und Keimfreiheit. (Für den Bezirk Habana Vieja gibt es spezielle Verfügungen, die den Zuzug von Bewohnern regeln. Bauliche und demografische Restriktionen verhindern die Barackisierung. Sie schlie247
ßen die gefährliche Grenze zu jenem Haiti-ähnlichen Gebilde, das Centro Habana darstellt.) Die Schaffung von Museen in der Altstadt verschleiert, dass man auf die Rückkehr der Immobilienspekulation wartet. Plätze und Freiflächen warten auf künftige Besitzer. All die Museen dienen außerdem als Rechtfertigung für den Tourismus. Denn für ein politisches Regime, das das Land nach außen abschottete und dann aus reinem Überlebenswillen die Einmischung von Besuchern zuließ, ist deren Belehrung von grundlegender Bedeutung: Man wünscht sich feierliche Touristen. Die Eröffnung neuer Museen rechtfertigt die wachsende Anzahl von Bars. Bars, die sich bei näherem Hinsehen selbst als Museen entpuppen. (Der Tourist verlässt die Altstadt ebenso ideologie- wie rumtrunken.) In diesen Lokalen dienen die Bilder und Anspielungen weniger der kommerziellen Werbung als dem historischen Diskurs. Sie hängen nicht dort, um zu Vergnügen und Konsum zu animieren, sie sind nicht mit der Absicht aufgehängt worden, den Gast gegen die Konkurrenz für sich einzunehmen. Das ist auch eine Erklärung für den Brief Federico García Lorcas im Two Brothers, für die apokryphe Verbindung, die ein Schild zwischen einem Café in Havanna und Eça de Queiroz herstellt, für die Statue von Ernest Hemingway in der Bar des Restaurants Floridita, wo bereits seit dem Jahr eine Büste 248
von ihm stand, in dem ihm der Nobelpreis verliehen wurde – von demselben Künstler, der Lennon in einen Park in Vedado setzte. Der Restaurierungsplan der Oficina de Historiador de la Ciudad kann, wie wirksam er auch sein mag, nicht den Berg an Problemen lösen, die sich über Jahrzehnte angehäuft haben. Die Grenzen der Oficina liegen weniger an zu knappen Finanzmitteln (die Einnahmen aus dem Tourismus dienen in diesem Stadtteil als finanzielle Plattform) als an dem Charakter des Unternehmens. In einer Stadt, die an allen Seiten leckt, zeigt sich deutlich, dass der Aktionsradius des Projekts zu beschränkt ist, dass er an den Grenzen der alten verschwundenen Stadtmauern haltmacht und sich nicht weiter hinauswagt. Centro Habana ist ihm, wie der Rest der Stadt, fremd. Passagen und Museen von Habana Vieja schließen abends ihre Tore. Das Dienstpersonal der öffentlichen Einrichtungen und staatlichen Unternehmen geht nach Hause. Kurz vor Mitternacht verkaufen die Bars den letzten Drink, und die restaurierten Straßen sind menschenleer. In ihnen schläft nichts. Hinter den Fassaden scheint die Lücke beheimatet zu sein, die Serts Plan in den fünfziger Jahren vorsah. Der Sieg der Revolution 1959 hat das nicht verhindert, sondern eher aufgeschoben. Und es ist zu vermuten, dass einige radi249
kale Einschnitte, die er beinhaltete, im Havanna der Zukunft umgesetzt werden. Die kubanische Hauptstadt wartet auf einen Abrisskünstler, als der sich Baron Haussmann selbst bezeichnete. Ich schreibe das in einem Haus, das in dieser Flut untergehen wird. Wenn ich an die Zukunft denke, ist meine Verzweiflung städtebaulicher Natur. Im Unterschied zu denen, die auf anderen Feldern die Natur dessen zu erkennen versuchen, was kommen wird, konzentriert sich meine Frage auf das Schicksal von ein paar Straßen. 7
Durch die Fenster sieht man das Meer, ein Schwimmbad. In der Bar gibt es eine Ecke, die den berühmten Gästen, den Memorabilien, gewidmet ist. Es ist ein Museum der fiesta. Man kann eine Wurlitzer Jukebox bewundern, die nicht in Betrieb ist, eine Schatztruhe, die erste Liste der Angestellten, bei denen neben kubanischen Namen auch nordamerikanische auftauchen … Und nach Jahrzehnten geordnet, die Gesichter von berühmten Leuten. An den Wänden kann man die Geschichte von Glanz und Verfall des Hotels verfolgen. Die dreißiger Jahre führten nicht nur Filmstars und Persönlichkeiten wie die Herzoge von Windsor ins Nacional, son250
dern auch amerikanische Mafiabosse, die dort regelmäßig ihr Winterquartier aufschlugen. Die nächsten beiden Jahrzehnte waren, nach dem Zulauf zu urteilen, die größte Blütezeit des Hotels. Und ab Anfang der sechziger Jahre, nach dem Sieg der Revolution, werden die Persönlichkeiten nicht mehr von Jahrzehnt zu Jahrzehnt, sondern in einem Zeitraum von zwanzig Jahren gebündelt. (Man braucht das Doppelte an Zeit, um Kontinuität im Zustrom an Gästen von Rang vorzuspiegeln. Aber nicht einmal so ist die Anzahl mit der in der Vergangenheit zu vergleichen.) In die ersten zwanzig Jahre der Revolution gehören der sowjetische Kosmonaut Juri Gagarin und Josephine Baker, die dort noch ein paar Jahre zuvor wegen ihrer Hautfarbe abgewiesen worden war. Gabriel García Márquez mit breitem Grinsen. Alejo Carpentier, aus Caracas zurück und noch ohne Diplomatenamt in Paris. Und obwohl ein Bild von Jean-Paul Sartre an der Wand hängt, sieht man nichts von Simone de Beauvoir, die man bei seinem Besuch in Havanna wohl nur als Begleiterin gesehen hatte. Die Sartre zugeteilte Suite ging auf die hohen Wohnhäuser von Vedado hinaus (die seiner Begleiterin auf die Altstadt), für den Schriftsteller eine der größten Überraschungen der Stadt. Sie waren aus einem Wettlauf entstanden. »Jedes reckt den Hals, um über die Schulter seines Nachbarn hinweg das Meer sehen zu können.« Aber das 251
Hotel, wo er logierte, war nicht daran beteiligt, und das adelte es vielleicht am meisten. Es war einfach nur auf einen Felsen gebaut, der die Küstenlinie beherrschte. (1962, während der Raketenkrise, dienten die Gärten des Hotel Nacional als Stellung für Luftabwehrwaffen, und es wurden dort Schutzkeller eingerichtet.) Diese modernen Gebäude Vedados waren eng mit der abgesetzten Diktatur verbunden, oder zumindest war Sartre stark geneigt, das so zu sehen. Im Unterschied dazu war das Hotel Nacional »vor der Dekadenz, vor der Resignation« gebaut worden und ein makelloser Aussichtspunkt. Als er diese Ausnahme machte, war Sartre wohl nicht bekannt, dass es im 20. Jahrhundert in Kuba mehrere Diktaturen gegeben hatte und dass sein Hotel in den zwanziger Jahren von General Machado y Morales eingeweiht worden war. (Die Memorabilienecke des Nacional zeigt kein Bild von der Einweihung. Aber eine Gedenktafel, die am Ende der Diktatur Machados herausgerissen wurde.) Für den illustren Gast war die Benutzung von Klimaanlagen eine ungeheure Neuheit. Kühle der Reichen, nannte er sie. Und er gewöhnte sich an niedrige Temperaturen. Für immer, wie Simone de Beauvoir in ihren Memoiren festhält: »Nachdem sich Sartre in Havanna für die künstliche Frische im Nacional begeistert hatte, mieteten wir in Rom zwei 252
nebeneinanderliegende Zimmer, die mit einer Klimaanlage versehen waren.« Ans Fenster zu treten und unbelastet von den Auswirkungen des Klimas zu beobachten, wie die Passanten schwitzten, löste in Jean-Paul Sartre wohligen Schauder aus. »Wohlige Schauder« hätte er auch die Hochhaustürme nennen können, die er für Wolkenkratzer hielt. Sie aus der Kälte durch die Scheiben zu betrachteten, machte sie so phantasmagorisch wie ein Schaudern. Und er erahnte ihre künftigen Ruinen, denn die Revolutionen lassen nur Milde bei den Gebäuden der Großväter walten. Trotzdem irrte Sartre sich bei seinen Voraussagen über die Stadtentwicklung ebenso wie bei seinen Schlussfolgerungen über die kubanische Politik. Er lag richtig bei der Prognose der Strafe, die die modernen Gebäude erleiden sollten, aber er ahnte nicht im Entferntesten, dass die ganze Stadt und andere Städte der Insel von der Sanktion betroffen wären. Denn so wie die neue Regierung die Musik zum Schweigen brachte, die Erinnerung an eine frühere Zeit weckte, so nahm sie sich auch vor, die Architektur zum Schweigen zu bringen. Hatte nicht jemand gesagt, diese sei nichts anderes als gefrorene Musik? Die alten Musiker nahmen den Weg des Exils oder des Schweigens, die Stätten des Amüsements wurden geschlossen, die Plattenspieler verschwanden. Und das Fest des Städtebaus wurde ebenfalls beendet. 253
Indem man Erinnerung und Architektur gleichsetzte, wurde jedwedes Gebäude zum Erinnerungsmonument. In den Augen der neuen Regierenden gehörte die Hauptstadt zur Erinnerung an die abgesetzte Diktatur und auch an die, die in diesen Straßen gegen die Diktatur gekämpft hatten und die nicht nach dem Geschmack der siegreichen Streitkräfte vom Land waren. Wenig Schonung hatten die Meilensteine der vorausgegangenen Geschichte zu erwarten. Alles, was vor 1959 errichtet worden war, das Werk der Väter und Großväter, war mit Schuld behaftet und sollte sich bis auf die Grundmauern schämen. Dank gnadenlos hochgezogener Plattenbauten entstand im Osten der Bucht von Havanna das größte Wohngebiet der letzten vierzig Jahre. Man widmete den neuen Vorort Alamar dem neuen Menschen und verzichtete auf jeden Tand. Der einzige Schmuck dort war der rechte Winkel. Für Gärten und Parks war später Zeit. Es war besser, wenn sich erst einmal kein Baum zwischen den Gebäuden erhob, zwischen den Genossen sollte Offenheit herrschen. Alamar repräsentierte wie der neue Mensch den Sieg der vorgefertigten Materialien. Ein kurzer Sieg, denn wenige Jahrzehnte nach seiner Errichtung ist es bereits ein Ruinenhaufen ohne jede Spur von Schönheit. »Bestimmte neue Techniken hinterlassen keine 254
schönen Ruinen«, merkte Auguste Perret an, der französische Architekt, der nach 1945 mit dem Wiederaufbau des bombardierten Le Havre beauftragt wurde. Sucht man in Alamar vergeblich nach Schönheit, so wird man dafür in den Escuelas de Arte von Cubanacán mehr als entschädigt. In dem Teil, der fertig geworden ist. Eines Abends im Januar 1961 skizzierte der Revolutionsführer auf der Terrasse des Havana Country Club vor seinem Gefolge seinen Plan, dem bürgerlichen Müßiggang eine Lehre zu erteilen. In dem Jahr hatte man noch Zeit zum Golfspielen, es gibt Erinnerungsfotos. Eine Handvoll Revolutionsführer hatte ein paar Stunden auf dem Golfplatz des Havana Country Club verbracht. Die nationale Alphabetisierungskampagne lief und sollte im Dezember abgeschlossen sein, da war es notwendig über die Ausbildung von Künstlern nachzudenken. Und welcher Ort war besser geeignet als der Golfplatz auf einem der teuersten Gelände der Stadt, um die dem neuen Menschen gewidmete Kunstschule zu bauen? Ein Jahr zuvor hatte Jean-Paul Sartre behauptet, die kubanische Revolution würde Städte entstehen lassen und eine schöne Architektur erfinden. Die Gebäude sollten Ende Dezember fertig sein, Architekten und Bauherren hatten etwas weniger als ein Jahr Zeit. Die Verantwortung für diese Blitzaktion wurde 255
dem kubanischen Architekten Ricardo Porro und seinen italienischen Kollegen Vittorio Garatti aus Mailand, und Roberto Gottardi aus Venedig übertragen. Sie legten sofort Hand an, und jeder entwarf die Pläne für ein oder zwei Schulen. Da Stahl und Portlandzement fehlten, entschieden sie sich für Ziegel. Ziegelsteine und der Einsatz eines erfahrenen Maurers ermöglichten es, eine bestimmte Bauweise verwenden zu können: das katalanische Gewölbe. Gumersindo (dessen Nachname offensichtlich nicht in Erinnerung geblieben ist), ein katalanischer Maurer, dessen Vater in Barcelona unter Antoni Gaudí als Maurer gearbeitet hatte, sollte der vierte Schöpfer der Kunstschulen werden. Er war nach Kuba gekommen, um die Restaurierung eines Klosters zu überwachen, und seit der Vertreibung des religiösen Ordens, der ihn unter Vertrag genommen hatte, arbeitslos. Seine Begegnung mit dem Architekten Porro war von der göttlichen Vorsehung bestimmt. Gumersindo sollte die kubanischen Maurer in die Technik des katalanischen Gewölbes einweihen. Und es oblag ihm ebenfalls, durch den Bau eines Modells die skeptischen Architekten und Ingenieure zu überzeugen. Nachdem die Haltbarkeit der Bauweise bewiesen war, blieb noch das Problem, dass sie viel Zeit in Anspruch nahm. Und so wurde es Dezember, und die Schulen waren nicht fertig, was die Behörden aber nicht sonderlich zu stören schien. 256
»Die schönste Kunstakademie der Welt«, verkündete der Regierungschef, als die Pläne für das Gebäude vorlagen. Der Unterricht fing noch während der Bauarbeiten an. Um die Basis einer der Kuppeln zu gießen, wurden Lehrer und Studenten zusammengerufen. Die Musiker spielten auf ihren Trommeln, um das Gießen zu beschleunigen. Sartres Prophezeiung einer schönen Revolutionsarchitektur schien sich zu erfüllen. Doch dann wurden auf Befehl der Regierung die Bauarbeiten an der Kunstschule gestoppt. »An einem Tag im Jahr 1964 zog das Bauministerium alle Arbeiter von dem fast fertigen Bau ab«, berichtet der Chronist. Die Behörden schoben finanzielle Gründe vor: die Kosten der Bauarbeiten, Initiativen, die das Land dringender brauchte. Der, der die schönste Akademie der Welt proklamiert hatte, kritisierte in einer Ansprache vor Architekten und Ingenieuren die Fachleute, die jedes Gebäude, mit dem man sie beauftragte, zu etwas Besonderem machen wollten. Das war mehr als deutlich. Gebäude, die geplant wurden, um das elitäre Denken des alten Regimes abzustrafen, förderten am Ende das elitäre Denken ihrer Planer. Dank eines Architektengrüppchens (zwei davon Ausländer), war heimlich die ewige bürgerliche Versuchung zurückgekehrt, noch ehe der 257
Sumpf ausgetrocknet war. Als würde der genius loci alles, was man auf diesem Golfplatz in Angriff nahm, durcheinanderbringen. Einige Architekturtheoretiker zeigten sich mit der Regierungssanktion einverstanden. Nach Meinung des offiziellen Chronisten hatten die Entwickler des Plans einem falschen Monumentalismus gefrönt. Keiner von ihnen war revolutionär genug. »Der traditionelle Monumentalismus impliziert Autorität, eine Befehlspyramide von oben nach unten. Aber kann diese Vorstellung von Monumentalismus den politischen Prozess in Kuba wiedergeben, der auf Dialog und stetiger Integration zwischen den Regierenden und der Masse beruht? Kann der Künstler sich aus dem Schoß der Gesellschaft herauslösen und in eine Art Arkadien eintauchen, kann man ihn um einen schöpferischen Akt bitten, der nicht aus dem alltäglichen Leben, aus dem revolutionären Prozess entsteht?« Das von Porro, Garatti und Gottardi Geplante setzte Einsamkeiten voraus, für die in der neuen Gesellschaft kein Platz war. Weder die Einsamkeit des Politikers noch die des Schöpfers, weder Diktatur noch Elfenbeinturmdenken. Was für neue Künstler sollten aus den von diesem Architektentrio erdachten Klassenräumen kommen? Anstatt sie zurückzudrängen, verwiesen ihre Pläne direkt auf die Erinnerung an den Ort. Die Kunst258
akademie brachte die Eitelkeit des Havana Country Club nicht zum Verstummen. Vor Rundungen, Kuppeln und labyrinthischen Gängen strotzend, scherten sich diese Gebäude nicht um die Dringlichkeit des rechten Winkels. Nach Ansicht der Behörden war Ricardo Porro der Umstrittenste aus dem Trio. Porro hatte nach eigener Aussage versucht, einige Konstanten des Landes sichtbar zu machen, unter anderem die Sinnlichkeit. Die von ihm erdachten Gebäude kamen dem festlichen Vergnügen gefährlich nah, und die Kritik des offiziellen Chronisten ließ nicht lange auf sich warten. »Wenn Sinnlichkeit der erotischen Welt entspricht, die im Müßiggang, im kontemplativen Leben entsteht und deckungsgleich mit dem unbesonnenen Impuls, dem Irrationalen ist, dann ist der Geist der Revolution ein ganz anderer: Die durch den permanenten Kampf gegen den Feind bedingte Strenge, die harte, beharrliche Arbeit, um aus der Unterentwicklung herauszukommen, die wissenschaftliche Ausbildung, um die in der zeitgenössischen Welt verfügbaren Ressourcen zu nutzen und die Gesellschaft auf die Zukunft hin zu entwerfen, verlangen aktive soziale Integration, und nicht individuelle Kontemplation in Abgeschiedenheit.« Porro hob das Nationale an einem Monument hervor, in dem jede Spur von Identität um eines Internationalismus willen ausgespart bleiben sollte, der eine direkte Verbindung zur Sowjetunion und 259
dem übrigen kommunistischen Block haben sollte. Für die sowjetischen Genossen waren die Escuelas de Arte de Cubanacán ein Rückschritt, eine Rückkehr zu den ersten Jahren, in denen man sich mit den Konstruktivisten, Tatlin und Konsorten, herumschlagen musste. Im Unterschied zu den Kunstschulen hätte Alamar in jedem anderen kommunistischen Land stehen können, es drückte sich perfekt in der neuen gemeinsamen Sprache aus. So unterschiedliche Städte wie Havanna und Moskau konnten in Fertigteilen bereits miteinander kommunizieren. (Nach dem Hurrikan Flora im Jahr 1963 fing die neue Sprache an, sich auf Befehl von oben durchzusetzen, als die sowjetische Regierung dem kubanischen Volk eine Fabrik für erdbebensichere Platten schenkte, die gerade für Taschkent geplant worden war, einer sowjetischen Republik mit zahlreichen Erdbeben. Die Fabrik, die 1700 Wohnungen jährlich erstellen konnte, wurde in Santiago de Cuba errichtet und nahm 1965 ihren Betrieb auf. Zehn Jahre später gab es im Land bereits 22 Plattenbaufabriken.) Die Kunstschulen wurden im Juli 1965 eingeweiht. Sie waren noch nicht fertig und sollten es auch nie werden. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Begeisterung der Regierung bereits in Missbilligung verwandelt. Die Gebäude wurden eingeweiht und zugleich lahmgelegt. Und so kam der revolutionäre 260
Baueifer zu seinen schönsten Ruinen, die nicht einmal von den verfallenden älteren Bauten übertroffen wurden. Nach der Zensur ihrer Werke bekamen auch die Schöpfer entsprechende Disziplinarmaßnahmen zu spüren. Zumindest wurden zwei von ihnen zu Strafarbeiten abgestellt, um so die Probleme des Landes und die Lösungen des neuen Menschen für diese Probleme begreifen zu lernen. Die offizielle Therapie verordnete denen, die Elfenbeintürme im Sinn hatten, Bodenständigkeit. Außerdem verhinderte sie jede Möglichkeit der Ansteckung: Die an dem Projekt beteiligten Studenten, Schüler der drei Architekten, wurden in die Umerziehung geschickt. Man musste ihnen wieder Demut beibringen, aus ihren Köpfen den Keim des Wahnsinns entfernen. Der Fachbereich Architektur der Universidad de La Habana verbot den Studenten, Cubanacán zu besuchen oder die Kunstschulen zu erwähnen. Diese Gebäude sollten für niemanden zum Beispiel erhoben werden, in der Baugeschichte kamen sie nicht vor. Verborgen wie die Maya-Ruinen. 1967 gehörte Vittorio Gatti noch zum Team, das den kubanischen Pavillon für die Weltausstellung in Montreal entwarf. Aber Mitte der siebziger Jahre wurde er unter dem Vorwurf der Spionage verhaftet und für drei Wochen inhaftiert. Man hatte lange ge261
braucht, um seinen Status als Ausländer gegen ihn zu verwenden. Aus dem Gefängnis entlassen, wurde er des Landes verwiesen. Ricardo Porro bekam einen weiteren Auftrag. Man bat ihn darum, die Plaza Central für eine neue Stadt zu entwerfen, und er entwarf ein Hauptgebäude aus Bajonetten, von vornherein von Ruinen umgeben. Vor dem Gebäude erinnerte ein Triumphbogen an die Form einer Guillotine. Irgendwo rollte der Kopf von José Martí herum, abgetrennt von einem riesigen Körper. Wie zu erwarten, wurde das nie gebaut. (Zu seinen Arbeiten der damaligen Zeit gehört auch der Entwurf für einen Geierkäfig im Zoo.) Nachdem er 1966 ins Exil nach Paris gegangen war, verfolgten ihn auch dort die Schmähreden des Chronisten der Revolution. In Büchern und Artikeln wurde er als Narziss, Eskapist, Bourgeois beschimpft. Dreißig Jahre nach seiner Ausreise erlaubten ihm die Behörden, zu einem Besuch nach Havanna zurückzukehren, wo ihm die Bewunderung jüngerer Generationen zuteil wurde. Sie hatten heimlich seine Bauwerke aufgesucht, die für sie längst legendär geworden waren. Zu dem Zeitpunkt zeigte sich der Hauptankläger ihm gegenüber gütig. Jean-Paul Sartres Verheißung bezüglich der schönen revolutionären Städte hatte sich nicht erfüllt, und nach fast einem halben Jahr262
hundert bot das Untersuchungsfeld dieses Chronisten wenig Anlass zum Frohlocken. Es war zu spät, um sich einem neuen Thema zuzuwenden, aber es winkte die Möglichkeit einer neuen geschichtlichen Version desselben. Ohne auf die früheren Urteilen einzugehen, selbstverständlich. Frei von mea culpa. Ob Opportunist oder nicht, jedenfalls zeigte er jetzt Bewunderung für das, was er zuvor verdammt hatte. Und er stimmte einen Klagegesang auf das Schicksal dieser Gebäude an: »Unfertig und halb leer, sind einige dieser Schulen allmählich fast vollständig zu Ruinen verfallen.« Unfertig boten die Kunstschulen von Cubanacán einen höchst dramatischen Anblick. Sie hätten das auch getan, wenn sie fertig geworden wären. Wer sie erforscht, kein anderes Gebäude in Havanna weckt solchen Abenteurergeist, kann sich die Frage stellen, welchen Sinn es hätte, sie jetzt zu vollenden. Warum die Schönheit zerstören, die sie besitzen, teils Architektur und teils Natur. Roberto Gottardi, der einzige aus dem Architektentrio, der in Havanna geblieben ist, weigert sich, sie als Ruinen zu betrachten. Er hat zu viel Energie auf seine Theaterschule verwendet, um sie dem Gestrüpp zu überlassen. Er betrachtet den Baustopp als vorübergehende Maßnahme. Nur mit einer solchen Entschlossenheit kann man wohl die Behörden überzeugen, dass vierzig Jahre Pause genug sind und es 263
jetzt Zeit ist, Material und Brigaden auf den ehemaligen Golfplatz des Havana Country Club zu entsenden. Bereits 1986, als er offiziell aufgefordert wurde, die Theaterschule fertigzustellen und die anderen Schulen zu renovieren, sah es so aus, als würde seine Geduld belohnt werden. Bedauerlicherweise wurden diese Wiederaufnahmepläne zu den Akten gelegt. Ein Jahrzehnt später nahmen zwei New Yorker Architekten auf Betreiben der kubanischen Kulturbehörden Verhandlungen auf, um die Kunstschulen von Cubanacán in den Katalog der Denkmäler aufzunehmen, für deren Erhalt sich der World Monuments Watch einsetzt. Die New Yorker stellten eine umfangreiche von vielen Urteilen bedeutender Architekten und Historiker der ganzen Welt gestützte Akte zusammen, aber als es darum ging, von kubanischer Seite die Unterschrift darunter zu setzen, war kein Bürokrat bereit, die Verantwortung zu übernehmen. Erst kürzlich, nach vielen Umwegen, sind die in Ruinen liegenden Schulen Teil dieses internationalen Katalogs geworden. Es sind die einzigen Werke noch lebender Architekten in diesem Katalog. In der Warteschleife durfte Roberto Gottardi ein Landwirtschaftsverwaltungszentrum im Süden Havannas bauen, und man beauftragte ihn mit dem Umbau des Lokals an der Ecke Prado y Neptuno, in dem sich in den fünfziger Jahren das Restaurant 264
Miami befunden hatte. Zwei Aufträge in vier Jahrzehnten – Zeit genug, sich wieder dem Projekt seiner Theaterschule zuzuwenden. Sein Hauptwerk beruht vielleicht auf der Weigerung, diese Schule als Ruine anzusehen. Er lebt in einem bescheidenen Appartement mit seiner Frau, er ist siebzig Jahre alt, und ohne je ein Wort mit ihm gewechselt zu haben, wage ich zu behaupten, dass die Beendigung dieses Baus eine für den Architekten Gottardi lebenswichtige Angelegenheit ist. Es geht darum, nicht ein ganzes Leben für ruiniert zu erklären. 8
»Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft« versprechen ein paar Werbeplakate am Eingang. Ich kenne keinen besseren Ort, um sich eine Vorstellung von der kubanischen Baupolitik der letzten Jahrzehnte zu machen als La Maqueta de la Habana. Im Westen der Stadt für den Fremdenverkehr geöffnet, dient die Miniaturstadt zugleich als Hilfsmittel, wenn es um städtebauliche Entscheidungen geht. Man braucht nur das Modell eines Gebäudes einzufügen und schon sieht man die Nachteile des Standorts oder des Designs. Da es sich um ein work in progress handelt, ge265
währt die Miniaturstadt jedem Zutritt, der sie ansehen will. Eine Rampe schlängelt sich um sie herum, und auf ihr stehen ein Halbdutzend Fernrohre. Der Besucher kann sich hinter einen dieser Apparate stellen und die Stadt als Möchtegerntopograf, als Komplize der Zukunftspläne für Havanna, untersuchen. (Bei meinem letzten Besuch war es fast unmöglich, die Straßen zu unterscheiden, die Beleuchtung war spärlich, und als ich mir die Miniaturen aus der Nähe ansah, stellte ich fest, dass sie voller Staub waren.) Mit einer Größe von ungefähr 220 Quadratmetern und einem Maßstab von 1: 1000 ist das Modell Havannas das zweitgrößte weltweit, nur übertroffen von The Panorama City of New York. (Das New Yorker Modell kann man im Queens Museum of Art bewundern. Es hat eine Ausdehnung von 867 Quadratmetern und die Häuser sind im Maßstab 1:1200 wiedergegeben. Es verfügt über Lichtspiele, die Tag und Nacht simulieren.) Fünf Modellbauer erschufen eine Miniaturversion von Havanna. Sie bauten die Gebäude aus jenem Zedernholz nach, das man für die Zigarrenkisten verwendete. Aus Pappmachée haben sie die Landschaft geformt, die Bäume aus Schaumstoff, und das Meer ist aus blauem Kunststoff. Sie verteilten auf diesem Meer eine optimistische Anzahl von Schiffen, und am Eingang der Bucht po266
sitionierten sie ein kleines Lämpchen, das im Leuchtturm des Morro, der Festung, blinkt. Als würde der Besucher auf die nächtliche Stadt blicken. (In dem Fall ist kein anderes Licht zu sehen – in Havanna herrscht mal wieder totaler Stromausfall.) Um den Arbeitern den Zugang in das Innere der Stadt zu erleichtern, wurde das Modell in Felder von zwei mal zwei Metern aufgeteilt, die auf verschiebbaren Metallgerüsten stehen. Wie jede Miniatur schenkt auch La Maqueta de Habana den Besuchern die Freude der Bestätigung. Es gehört zur Abteilung der Spielzeuge, zusammen mit den Puppenhäusern, den Bauernhöfen, den Burgen, den Baukästen und den Eisenbahnlinien, über die ein winziger Zug saust. Sie steht in einer Glaskugel, bei der es beim ersten Schütteln anfängt zu wogen oder zu schneien, sie hat viel von einem Briefbeschwerer. Und sie bietet Anlass zu Jubelrufen, wenn man feststellt, dass oben auf den Häusern und Gebäuden die Wassertanks nachgebildet wurden. »Ich habe dein Haus gesehen«, schrieb mir ein Freund aus Miami. »Ich habe das Dach gesehen und die drei Wassertanks.« Er war von dem Anblick auf einer Messe in Miami überrascht worden, die der Inselnostalgie gewidmet war, voller kubanischer Erinnerungen. Im Innern eines Stands konnte er Havanna über einen Satelliten 267
betrachten. Und der bewegende Hinweis, wenn es ihn tatsächlich gab, kam von diesen drei Wassertanks, die dort zu sehen waren. Am Eingang von La Maqueta de Habana zeigt eine Wandmalerei eine große kubanische Flagge, die eine mittelgroße enthält, die ihrerseits wieder eine kleine enthält. Alles eine Frage des Maßstabs, will man wohl damit sagen. Innen hängt eine riesige Flagge aus Stoff. Die Eintrittsgelder, für die einheimischen Besucher in Pesos, für die Ausländer in Dollar, enthalten einen Zuschlag für die Dienste eines Führers. Aber von dem ist wenig Hilfe zu erwarten, wenn man ihn fragt, warum die Miniaturen nach historischen Epochen eingefärbt sind. In seinem Vortrag erwähnt er die Miniaturstadt in New York, und wenn man ihn fragt, ob dort auch die verschiedenen Baualter durch Farben kenntlich gemacht sind, erwidert er, das könne er nicht sagen. Er sei noch nie dort gewesen und habe auch nie ein Bild von der New Yorker Miniaturstadt gesehen. Es ist die größte der Welt, das ist alles, was er weiß. Und die, in der er arbeitet, kommt gleich danach. Welche die drittgrößte sein könnte, ist für ihn ohne Interesse, vielleicht gibt es die gar nicht. Aber man soll sich von den Bäumchen und Wassertanks auf den Dächern nicht täuschen lassen, die Hauptabsicht von La Maqueta ist es nicht, ein naturgetreues Abbild darzustellen. Mehr Hilfsmittel zu 268
Planungs- und Kontrollzwecken als touristische Attraktion, nutzt man die Farbe zu didaktischen Zwecken. Eine effektive Lösung, wenn man Straßen nachbildet, bei denen nur bei wenigen Gebäuden eine Farbe erkennbar ist. Denn an was hätten die Urheber der Miniaturstadt sich sonst bei der naturgetreuen Nachbildung halten sollen? Die Fassaden in Havanna werden selten gestrichen. Nicht Verismus war das Ziel, sondern ein Schema. Braun entspricht der Kolonialzeit, Ocker der republikanischen Zeit und Elfenbein (der Stoßzahn eines langlebigen Tieres) der Ära der Revolution. Mit dieser Farbabstufung versuchte man die Vorstellung von einem Wachstum der Stadt zu erwecken, auf dem Weg Richtung Zukunft, dem Weißen, dem Licht, entgegen. Denn in Weiß werden die Projekte gezeigt, die noch gebaut werden sollten. Und die Monumente und Friedhöfe der Stadt. Ein und dieselbe Farbe vereint Zukunft, Gedenken und Tod, da ist man ratlos, welche Lehre man daraus ziehen soll. Sechs Jahrzehnte Republik prägen die Stadt zum größten Teil, und im Vergleich dazu wirkt der Beitrag der letzten fünfundvierzig Jahre spärlich. Havanna ist sehr wenig Elfenbein und viel Ocker. Aber man sollte nicht den Schluss daraus ziehen, dass die Republik den anderen Epochen überlegen ist, warnt der Führer sogleich. Die zahlenmäßige Überle269
genheit in der Miniaturstadt müsse man differenzierter betrachten. Das Land befindet sich nach wie vor im Kriegszustand. Es wird immer noch vom mächtigsten Land der Welt bedroht. Durch die wirtschaftliche Blockade sind die Importe verteuert und schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Kuba ist eine Nation mit begrenzten Mitteln, man hat getan, was man konnte und mehr. Schauen Sie sich nur den Gesundheits- und den Bildungsindex an. Es stimmt, dass seit 1959 der Bauindex deutlich abgenommen hat, räumt der Führer ein. Aber vieles von dem, was das Fernrohr als republikanische Stadt erfasst, wurde aufgrund ausländischer, vor allem amerikanischer Interessen gebaut. Die Vereinigten Staaten sind verantwortlich für den Glanz wie für den Verfall von Havanna, und die Miniatur Havannas könnte dem New Yorker Panorama als Satellit dienen. Trotzdem hat jahrzehntelang ganz oben an der Fassade des Bauministeriums eine Formel geleuchtet, die in den Miniaturen der Maqueta nicht auftaucht: »Revolution ist Bauen«. Werbebanden überall in der Stadt verkünden das ewige Leben des gegenwärtigen Zeitalters, und es lässt sich voraussehen, dass es eine hohle Ewigkeit sein wird, denn die offiziellen Reden verzichten darauf, etwas anderes als den reinen Fortbestand zu versprechen. (Spielten sie in den ersten Jahren auf biblische Flüsse von Milch und Honig an, 270
so beschränken sie sich jetzt darauf, von einer Zukunft ohne Inhalte zu sprechen.) Außer den Friedhöfen und den Denkmälern kann man in der Miniaturstadt wenig Weiß sehen. Die Arbeiter lassen die Miniaturen der künftigen Gebäude überall herumliegen. Das Geschäft verkauft Prospekte, in denen man kaum eine Ankündigung künftiger Projekte findet. Und indem sie alles Ruinöse weglässt, erzählt La Maqueta de Habana das wahre Städtewachstum dieser Jahre schlecht. Das größte Bestreben der Revolutionsregierung bildet sie nicht ab: den Bau von Ruinen. Es ist natürlich verständlich, dass keine Ruinen in einem Modell auftauchen. Wenn man es maßstabsgerecht überträgt, muss ein Gebäude fertig sein. Die Ruinen hingegen sind ein Übergang. Unfälle in Zeitlupe, mehr Prozess als Zustand, käme ihr Nachbau im Modell der Forderung gleich, über der Miniaturstadt ein Modell im Maßstab des Himmels schweben zu lassen. Aber auch so würde es dauern, bis man die Lücken in La Maqueta aufnimmt, wenn man es je tun sollte. (Vier Jahre nach seinem Einsturz konnte ich mit dem Fernrohr im Modell noch das Eckgebäude in der Nähe meines Hauses erkennen. Dort befindet sich jetzt eine Freifläche.) In einer Gesellschaft, in der die Nachrichten von Einstürzen, Verbrechen und Verkehrsunfällen nicht öffentlich bekannt gegeben wer271
den, vermeiden es die Miniaturenbauer, über Verluste zu berichten. Ein realistisches Miniaturmodell müsste sich dem Tod stellen. Es würde seine Farben darauf verwenden, die Masse von Gebäuden zu zeigen, die von wundersamer Statik gehalten werden, es würde die für unbewohnbar erklärten Häuser markieren, die leeren Hüllen, die auf den Hurrikan warten, der sie wegfegt. Aber nicht einmal wenn man dieses Spielzeug baute, würde man die hier unternommenen Verwüstungsarbeiten gebührend ehren. Denn die Schadenssuche müsste noch vor den Steinen, bei der allgemeinen Apathie ansetzen, die hier kultiviert wird, und die unter uns zulässt, dass jedes Gebäude zur Ruine wird. Die größte städtebauliche Leistung durch die Revolutionsregierung besteht darin, Havanna seinen Bewohnern zu entfremden. Derart fremd geworden, dass niemand sich für die Stadt verantwortlich fühlt, wird sie aus der Ferne vermisst, wenn ein Satellit ein Dach und drei Wassertanks erfasst. Und es ist paradox, dass wir auf Wegen an diesen Punkt gekommen sind, die durch scheinbar Erfolg versprechende Gesetze, inmitten von massenhaftem Optimismus, das Gegenteil versprachen.
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Eine der ersten Maßnahmen der Revolutionsregierung war die Einführung der Todesstrafe. (»Eine Revolution ohne Erschießungskommandos ist sinnlos«, sagte Wladimir Iljitsch Lenin einmal.) Dieser eilig, ohne Absprachen erfolgten Verfassungsänderung wurde gleich noch eine weitere hinzugefügt, die die Konfiszierung von Eigentum erlaubte, wenn man politischer Vergehen angeklagt war. Nachdem die neuen Hierarchen das Recht hatten, über Leben und Tod zu entscheiden, war es nicht weiter alarmierend, wenn sie auch den Immobilienpoker kontrollierten. Die Enteignung von Räumen entsprach der Vernichtung von Leuten. Und nicht nur die Urheber und Komplizen des alten Regimes verdienten, dass man ihr Vermögen konfiszierte, sondern jeder, der sich an Grund und Boden bereichert hatte, vom maßlosen Großgrundbesitzer bis hin zu allen, denen ein oder zwei Häuser gehörten. Der neue Staat spielte sich als Vermittler auf und schob sich zwischen Mieter und Vermieter. Als Vorgeschmack wurden die Mieten um die Hälfte gesenkt. (Die Sache war eilig, und es war das Einfachste, davon auszugehen, dass der Preis überzogen war und den wahren Wert um das doppelte überstieg. Wenn es überhaupt einen realen Wert gab. Wenn 273
man nicht fand, es gäbe sowieso ein Recht auf kostenlosen Wohnraum.) Der erste Schnitt in den gordischen Knoten des Geldes bestand in dieser Mietsenkung. Mir nichts dir nichts, so ungefragt wie die Genehmigung der Todesstrafe, wurde jede Wohnung um die Hälfte billiger. Und die neue Regierung ließ die Geldströme anwachsen, sie zeigte, dass sie Macht über die Elemente hatte. Nachdem man den Vermietern die Hälfte ihrer Einkünfte gestrichen hatte, wurden sie enteignet: Wer mehr als eine Immobilie besaß, musste sich mit einer einzigen begnügen, der Rest stand dem Staat zur Verfügung. (Natürlich gegen entsprechende Entschädigung, aber die musste sich nicht nach den alten Tarifen richten. Denn die Gaunerlogik betrachtet das zu Enteignende von vornherein als abgewertet.) Die neuen Gesetze zogen scharenweise Sympathisanten an, und auf der anderen Seite wuchs die Masse derer, die damit nicht einverstanden waren. Diese hatten für eine kurze Zeit die Möglichkeit, ins Ausland zu gehen. Jedoch nur unter bestimmen Bedingungen. Jedem Fachmann, der das Land verließ, wurde die Staatsbürgerschaft aberkannt, und er durfte nicht zurückkehren. Von denen, die gingen, konfiszierte man alles Hab und Gut, sogar Uhren und Erinnerungsstücke. Bald waren aus den größten herrschaftlichen Häusern die 274
Sitze von Ministerien, Regierungseinrichtungen, Botschaften geworden. Einige wurden dem Militärgericht unterstellt. Die neue Bürokratie erbte von der flüchtenden Bourgeoisie den schlechten Geschmack und die Prunksucht. Bilder und wertvolle Stücke wanderten in die nationalen Museen, und in den oberen Etagen machte sich Sammeleifer breit. Die im Wesentlichen aus der Provinz stammende Rebellentruppe schlug dort ihre Lager auf, sie holte sich ihre Kriegsbeute in Form von Gebäuden. Von da zog man weiter zu den klimatisierten Anlagen. In einer Suite des modernsten Hotels Havannas befand sich die Generalkommandantur. Und die junge Regierung zeigte sich freigiebig: Arme Leute wurden zu Wohnungseigentümern ernannt, sie holte junge Menschen in die Stadt, die studieren wollten. So brachte sie das an ausgegrabenen Schätzen reiche ländliche Imaginäre zur Deckung mit dem zum Horten neigenden bürgerlichen Imaginären. Und so fingen die neuen Stipendiaten hinter dem Rücken ihrer Pädagogen an, im Innern der Häuser zu graben und leiteten damit ihre Zerstörung ein. Bereits ein Jahr nach dem Sieg der Revolution war ein großer Teil von Havanna Staatseigentum. Kliniken, Hotels, Märkte, Kinos, Zeitungsredaktionen, Druckereien, kirchliche und private Schulen, Geschäfte, Nachtlokale, Bars sollten bald folgen. Passend zu diesem Expansionswahn wurde ein Metall275
schild herausgebracht, das dem Revolutionsführer das Recht über jede Wohnung zusprach. »Dies ist dein Haus«, erklärten die Schilder an Tausenden von Türen. Ein Angebot, das weit über die übliche Höflichkeit hinausging und das wörtlich zu nehmen war, denn es war eine Art Schuldschein gegenüber demjenigen, der für alle das Recht auf Raum erstritten hatte, dem Befreier der Nation. (Sein Bild konnte man hinter den Türen finden, direkt neben dem von Sagrado Corazón de Jesús. Später, als religiöse Neigungen verfolgt wurden, überließ Christus den ganzen Raum dem Helden.) Vielleicht zollte das Rotschwarz der Schilder Eleguá Tribut, einer afrikanischen Gottheit, die über Wege und Türen wacht. Jedenfalls stellten die Farben die Alternative dar, die auf die Flagge der Revolutionsbewegung genäht war: Leben oder Tod. Und jedes Schild war eine Flagge über erobertem Territorium. Aber die Gefahr war noch nicht gebannt. Der Immobilienhandel würde versuchen, neue Wege zu finden, und wenn die verdächtig waren, die ihre alten Wohnhäuser behalten hatten, dann waren es die nicht weniger, die zum ersten Mal über Wohneigentum verfügten. Man musste also dringend das Besitzdenken der Leute einschränken. Ohne dass die Regierung ihr Mäntelchen als großzügiger Spender einbüßte. 276
Beriefen sich nicht Hunderttausende von Schildern auf den Máximo Líder? Ein Zeichen, dass er und die durch ihn repräsentierte Macht das letzte Recht an jeder Wohnung hatte. So wurden Kauf und Verkauf von Immobilien per Dekret untersagt. Die einzige legale Art des Wechsels war der Tausch Wohnung gegen Wohnung unter dem Schiedsspruch des Staates. Man lebte also im Haus des anderen. In einer fremden Stadt. Denn war das Besitzdenken ausgehöhlt, ließ zwangsläufig auch das Gefühl von Zugehörigkeit nach. »Revolución es ostruir« * war an der Fassade des Bauministeriums zu lesen. Die neue Regierung konfiszierte, kaufte zu niedrigem Preis, vereitelte Aussichten auf Erbschaften. Sie ließ sich nicht in die Karten schauen und währenddessen ließ die Bautätigkeit nach. Genau wie beim Geld probierte man diverse Ersatzlösungen aus. Der Groll gegenüber den gewerblichen Bauherren führte zu der Gründung von improvisierten Maurerbrigaden, Arbeitern beiderlei Geschlechts, die das Versprechen von den eigenen vier Wänden antrieb, die größtmögliche Anzahl an Wohnungen herzustellen, bis sie ihre eigenen bekamen. *
Aus »construir« (bauen) ist durch einen Defekt »ostruir« (obstruir), also verstopfen, blockieren geworden. A.d.Übers. 277
Aber selbst mit diesen Appellen an den Individualismus konnten die geplanten Indizes nicht erreicht werden. Jedes Zeichen von Wohlstand hing ab vom Willen der Regierung. Die Zuteilung einer Wohnung sollte der Abschluss einer Folge von geleisteten Diensten sein, und das hatte den Vorteil, dass man an bestimmten Punkten der Stadt vertrauensvolle Leute hatte. Denn die Angst zwang dazu, Sicherheitsstreifen, eingefrorene Zonen zu schaffen. (Die katholische Inquisition hatte befohlen, jedes Haus niederzureißen, in dem ein Treffen von Ketzern stattgefunden hatte, und dort nicht mehr zu bauen. Es war ein Befehl, der kaum Anwendung fand, wie verschiedene Historiker anmerken, der aber von ähnlichen Ängsten belegt gewesen sein muss wie die Maßnahmen zum Städtebau in Havanna nach 1959.) Die Stadt gehörte auf lange Frist niemandem. Und mit der Absicht, über diese Exklusivität zu wachen, wurden die Nachbarschaftskomitees eingeführt, die ebenfalls pädagogische und gesundheitspolitische Aufgaben hatten. Denn seit das Strafrecht die reine Möglichkeit als Delikt ansah, musste man sich so nah wie möglich am Bewusstsein der Leute positionieren. In jeder Straße sollte es mindestens einen Bewohner geben, der bereit war, jedes verdächtige Moment in seinem Umfeld anzuzeigen. (Ein Bericht des na278
tionalen Koordinators für die Nachbarschaftskomitees behauptete, im Jahr 2003 hätte es 104.451 Anzeigen von Nachbarn gegeben, 83,76% davon polizeilich bestätigt. Ein schwaches Erntejahr, wage ich zu behaupten.) Der Einsturz eines Dachs allerdings fand bei den Überwachern wenig Interesse. Was hatten sie davon, wenn sie das den Behörden meldeten? Durch Anzeige eines weiteren unlösbaren Problems konnte man sich unmöglich beliebt machen … besser die Sache vertagen, bis jemand das Dach ersetzen wollte. (Da Baumaterialien nicht zum Verkauf standen und man sie nur auf dem Wege staatlicher Vetternwirtschaft bekommen konnte, war es sehr wahrscheinlich, dass Steine und Zement vom Schwarzmarkt stammten.) »Keinem soll es besser gehen«, schien das Motto dieser revolutionären Überwachungskomitees zu lauten. Das Leben in jedem Viertel war ein kollektiver Schiffbruch, die gegenseitige Überwachung der Nachbarn die Umarmung eines Ertrinkenden. Die Neugier für das, was der andere treibt, ließ wenig Raum für Mitgefühl mit den gefährdeten Gebäuden; wenn die Kapitelle zu Boden stürzten, war Gefühlskälte garantiert. Wozu sich für diese mineralischen Probleme interessieren, wenn es andere, fesselndere gab? Ein Spionagenetz, das seine Entsprechung in einem Netz von in Trümmern liegenden Gebäuden findet. War diese Form von Spionage nicht der Ver279
such, die Zimmer nach außen zu drehen, wie Strümpfe und Handschuhe? Laut Francis Bacon geht es bei der Überwachung von Glaubenssätzen darum, »Fenster in die Herzen und in die geheimen Gedanken der Menschen einzubauen.« Spionage strebt immer die Gleichzeitigkeit von Innen und Außen an, genau die Eigenschaft der Ruinen. Wie das Theater und die polizeilichen Durchsuchungsmaßnahmen greift auch die Spionage auf Zimmer mit nur drei Wänden zurück. Der Spion wird von der Dreistigkeit getrieben, mit der der Teufel Dächer abnimmt, um in den Wohnungen herumzuschnüffeln. Seine Arbeit setzt die Suche des Folterers am Körper des Gefangenen voraus, das Bemühen, Muskeln, Bänder, Eingeweide, Geheimnisse, Blut freizulegen … Vielleicht liegt die extremste Erklärung für die Faszination für Ruinen in diesem Punkt, wo Überwachung und Folter ein Geheimnis in dem Erbauten vermuten, ein Geständnis, das man gleich bekommen würde – Ruinen als gefolterte Architektur. In dem Album Buena Vista Social Club räumte Ry Cooder ein, etwas Nostalgisches erschaffen zu haben, den Klang eines Orchesters der sechziger Jahre, das es nie gab. Das gegenwärtige Havanna ist so eine Schöpfung. Mit der Krise von 1962 schienen sich der Stadt verschiedene Möglichkeiten zu eröffnen, sie wurde zur Hauptstadt der Bombardements, 280
der Invasion, der Aggression. Havanna ist der Schauplatz eines Krieges, der nie stattgefunden hat. Jean-Paul Sartre irrte nicht, als er spekulierte, wenn es die Vereinigten Staaten nicht gäbe, hätte die kubanische Revolution sie erfunden. Die gefährliche Nähe der Nordamerikaner wird in den revolutionären Ansprachen unermüdlich in Erinnerung gerufen. In einem solchen Denken existiert Havanna weniger als lebendige Stadt denn als eine Landschaft zur politischen Legitimation. Die durch die Bombardements der Zeit zerstörten Straßen sind das perfekte Szenario für einen Diskurs des Belagerungszustands. Havanna ist ein Ort wie geschaffen für eine solche Sehnsucht nach dem militärischen Angriff, den weder John F. Kennedy noch einer seiner Nachfolger im Präsidentenamt bis heute betrieben hat. Eher als Prophezeiung denn als Saudade taucht diese Invasion in einer 1959, sechs Monate vor dem Sieg, vom Revolutionsführer geschriebenen Botschaft auf. Dort teilte er seinem Hauptadjutanten mit, wenn der aktuelle Feldzug beendet sei, würde er einen weiteren, längeren und brutaleren gegen das Land im Norden anstreben. Diese zweite Mobilisierung sei der wahre Krieg. (Marx’ Hinweis, wer Pläne für die Zeit nach der Revolution schmiede, sei ein Reaktionär, scheint er nicht beherzigt zu haben.) Heute ziert diese Botschaft den Eingangsbereich jener ehemaligen katholischen Schule, die jetzt das 281
Gefängnis des Innenministeriums der Republik Kuba beherbergt. Wohl nur eine Botschaft für Verhaftete, aber sie könnte genauso gut, wie als riesige Flagge über einem Modell, über der ganzen Stadt wehen.
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EIN BESUCH IM GEHEIMDIENSTMUSEUM
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Der Sommer 2000 war kalt in Berlin. Perfekt für jemanden, der für ein paar Wochen der Hitze in Havanna entflohen war. Ich war zu zwei Lesungen eingeladen, die zweite davon in der Provinz. In Berlin würde mich ein Schauspieler begleiten, der die Texte auf Deutsch las. Ich sollte zwei oder drei Seiten lesen, damit die Zuhörer eine Vorstellung bekamen, wie sie in der Ursprungssprache klangen, und wenn der Schauspieler fertig war, sollte ich Fragen beantworten. In der Woche davor hatte sich auf demselben Podium ein Schriftsteller aus Sarajewo vorgestellt. Nach mir sollte einer aus Moskau kommen, dann einer aus Hanoi. Ich glaube, an keinem anderen Ort hat mir die Orientierung solche Schwierigkeiten bereitet wie in Berlin. Bei meiner Ankunft besorgte ich mir einen Stadtplan, aber er gab mir wenig Aufschluss. »Osten oder Westen?«, fragte ich am Empfang. Leicht irritiert teilte mir der Angestellte mit, das Hotel stünde auf ehemals kommunistischem Gebiet. Für den nächsten Morgen war ein Fototermin geplant. Als der Anruf des Fotografen kam, war ich gerade eingeschlafen. 284
»Sie sind bestimmt zu leicht angezogen«, warnte er mich. Er hatte zwanzig Jahre lang als Fotoreporter gearbeitet und kannte einige Länder Lateinamerikas. »Aber seltsamerweise war ich nie bei Ihnen«, gestand er. Was ich nicht bedauerte. Wir gingen am Spreeufer entlang, bis wir bei einem Denkmal ankamen. Er postierte mich vor eine Arbeit, deren einziger Wert darin bestand, dass in ihr Teile der Mauer verarbeitet waren: Sie hatten Beton darüber gegossen und die Mauerstücke darin eingeschlossen wie Mandelstückchen in einem Turrón. (Osten oder Westen?, fragte ich mich, aber dann gab mir die Architektur Aufschluss und die in Jahrzehnten verkommenen Fassaden dienten als sicheres Unterscheidungsmerkmal.) »In den Gebäuden da befand sich das Innenministerium«, erklärte mir der Fotograf. So erfuhr ich, dass mein Hotel ganz in der Nähe dieser schrecklichen Stätte lag. Die zweite Lesung führte mich nach Schwerin, wo der Sommer endgültig kalt wurde. Ich musste umsteigen, und der letzte Zug, in dem ich reiste, kam mir so bekannt vor, als wäre ich diese Strecke schon gefahren. Es handelte sich um dieselbe Art von Waggons wie bei der kubanischen Eisenbahn, hier war Orientierung kein Problem mehr. 285
In Schwerin wartete ein chilenischer Theatermacher auf mich. Er war der Organisator der Lesung in einem Theater. Danach gäbe es kubanische Musik, versprach er. »Wir haben hier einen Salsalehrer«, sagte er stolz. »Kubaner, natürlich.« Also waren wir schon zu zweit. »Der Saal wird voll. Die Leute wollen hören, was du zu berichten hast.« Ich hatte verstanden: mehr Lesen, weniger Dialog. Vor allem, wenn am Ende des Abends Musik wartete. »Du bist der erste Gast, den wir aus Berlin hierher holen.« Ich fragte nach dem Schriftsteller aus Sarajewo, der vor mir in Berlin war. »Ach, der lebt seit einigen Jahren in Graz. Sollten wir ihn einladen, damit er uns von seinem Leben in Österreich erzählt?« Obwohl er Chile vor zwanzig Jahren verlassen hatte, erzählte er mir lauter Dinge aus seinem Land. Auf der Fahrt wies er auf über die ganze Stadt verteilte gelbe Flecken. »Wir haben überall Plakate aufgehängt. So haben wir unser Theater bekannt gemacht.« An der Wand der Rezeption des kleinen Hotels hing ein halbes Dutzend davon. Sie sahen aus, als seien sie in der Angst hergestellt worden, ein süd286
amerikanisches Militärkommando könnte jederzeit den Druckvorgang unterbrechen. Dessen ungeachtet empfing man mich im Hotel wie einen bekannten Gast. Den Rest des Nachmittags verbrachte ich mit ein paar Spaziergängen und in der Betrachtung eines Hahns, der den von meinem Fenster aus sichtbaren Teil des Hofes beherrschte. Eine Stunde vor Beginn der Veranstaltung bekam ich Besuch von dem Salsalehrer. Entschlossen, mir seine Lebensgeschichte zu erzählen, lud er mich zu einem Bier ein. Seine Geschichte umfasste Jahre eines technischen Studiums in einem anderen der ehemaligen kommunistischen Länder, heimliche Grenzübertretungen, verlassene Frauen, mit denen er zusammen gelebt hatte, und einen Sohn, der ihn bald besuchen würde und den er lieben wollte, als wären sie nie getrennt gewesen. Seine jetzige Frau war Geschäftsführerin in einem der größten Geschäfte von Schwerin. Er selbst hatte diese Theatergruppe entdeckt, die ihm ein wenig Geld einbrachte. »Nicht viel«, gestand er, »und klar, das Einzige, was die Leute tanzen lernen, ist dominikanischer Merengue.« Er verließ den Tisch, um einen Bekannten zu grüßen. 287
»Kubanische Musik zu tanzen, das schaffen sie nicht.« Er fragte mich, ob ich tanze. »Na ja, du siehst nicht gerade so aus«, antwortete er, als ich die Frage bejahte. Obwohl er selbst schon so lange weg von der Insel sei, dass er das nicht mehr beurteilen könne. »Mein Plan ist, von hier zu verschwinden. Abzuhauen.« Beim zweiten Bier hatten wir die Vergangenheit hinter uns gelassen, um uns in die Zukunft meines Gesprächspartners zu vertiefen. »Aber das Problem ist, dass meine Frau woanders kaum so eine Stelle finden wird, wie sie jetzt hat. Und na ja, ich muss auch meine Müdigkeit berücksichtigen.« Es fiel ihm schwer, sich zwischen Müdigkeit und Langeweile zu entscheiden. »Hast du dich schon ein wenig umgesehen? Das ist hier wie auf dem Dorf.« Ich hätte ihm von dem Hahn erzählen können, den ich von meinem Zimmer aus gesehen hatte. »Diese Kubaner!«, grüßte uns der chilenische Theatermacher. Und er tadelte den Tanzlehrer wegen seiner Unpünktlichkeit. »Wenn das hier vorbei ist, gehen wir zum See«, flüsterte der mir zu. 288
Es gab eine kurze Lesung, ein Gespräch, eine Diskussion, ein wenig Tanz und ein Abendessen mit den Leuten von der Theatergruppe. Das Gespräch während des Abendessens, das mir teilweise übersetzt wurde, ging um das Elend in dieser Ecke Deutschlands nach der Wiedervereinigung. Das Leben war für sie viel härter geworden, und alle schienen sich nach der Zeit unter dem kommunistischen Regime zurückzusehnen. Die Frau des Salsalehrers war die Einzige, die bei dem Thema ruhig blieb, die anderen hatten sich in Rage geredet. Vielleicht sprachen sie oft über das Thema, aber ich hatte eher das Gefühl, sie wollten sich vor mir rechtfertigen, weil ich der Einzige war, der noch auf der Höhe der Zeit lebte. (Nach der Lesung hatten sie nachgefragt, ob ich in mein Land zurückkehrte. Ich bejahte das, daraus mussten sie wohl geschlossen haben, dass ich mich noch ein Weilchen länger in das flüchtete, was ich später noch einmal als Belle Epoque schätzen würde.) Die Schauspieler gaben mir eine Kostprobe ihrs Könnens. Einer stand auf und erklärte, wie wenig die Ostdeutschen mit den Westdeutschen gemeinsam hatten. Die Geschichte des vereinigten Deutschlands sei nicht einmal hundert Jahre alt. Und in Berlin hätten sie die Mauer niedergerissen, als würde damit eine uralte Sehnsucht gestillt! Eine Schauspielerin, die ununterbrochen mit ihren 289
Ketten und Armreifen spielte, machte die Bemerkung, alle hier am Tisch fühlten sich eigentlich den Tschechen viel näher. Und dass man sich also besser mit der Tschechoslowakei hätte vereinigen sollen. Ich bat darum, man möge übersetzen, dass ich so meine Zweifel hätte, ob die Tschechen einer solchen Vereinigung zugestimmt hätten. Ah, aber es ginge doch nicht um den Zweiten Weltkrieg, protestierten sie. Die gemeinsame Vergangenheit nach dem Krieg würde Ostdeutschland mit der Tschechoslowakei verbinden. »Kafka als Präsident«, merkte ich an. »Oh, das ist kompliziert, Bruder«, sagte der Salsalehrer zu mir. Der Ausflug an den See mit seiner Frau und dem Chilenen war ein eisiger Spaziergang ohne Mondschein. Und bevor ich ins Hotel zurückkehrte, blieb mir nichts anderes übrig, als auch noch mein Honorar einzufordern. Der Hahn grüßte mich am frühen Morgen, ich nahm den Nahverkehrszug zum Zug nach Berlin. Am Eingang des Schweriner Bahnhofs traf ich die Schauspielerin, die den Anschluss an die Tschechoslowakei vorgeschlagen hatte. Sie war extra gekommen, um mir ein Buch, ein Exemplar der Briefe von Kafka an Felice Bauer, zu schenken. Während der Fahrt blätterte ich in dem broschier290
ten Band mit den vergilbten Seiten. Er war voller Markierungen und Anmerkungen am Rand, aber meine völlige Unkenntnis der Deutschen Sprache verhinderte, dass ich den Inhalt dieser Hervorhebungen entschlüsseln konnte. Und so steckte ich die Korrespondenz von Präsident Kafka in meinen Koffer, ohne sein mutmaßliches Regierungsprogramm zu verstehen. Mit dieser öffentlichen Lesung waren meine Verpflichtungen beendet. Wieder in Berlin, checkte ich im Hotel aus und begab mich zum Studio eines Freundes in der Zionskirchstraße (ich befand mich immer noch im ehemaligen Osten), und die beiden markantesten Erinnerungen an den Rest meines Aufenthalts bestehen in einem Nachmittag in der Ruine eines von den Bornbardements der Alliierten im Zweiten Weltkrieg zerstörten Gebäudes und meinem Besuch bei G., einem Übersetzer lateinamerikanischer Literatur. Das Gebäude war 1909 als Kaufhauspassage gebaut worden. In den dreißiger Jahren wurde es von der Deutschen Arbeitsfront und später von der SS genutzt, es trotzte den Bombardements und blieb trotz mehrerer Angriffe von der restlosen Zerstörung verschont. Im ersten Stock gab es eine düstere Bar. Und man konnte auf einen großen Hof hinausgehen, der aussah wie eine Wüste oder eine Mülldeponie. Das alles ziemlich im Zentrum der Stadt. »Du musst G. treffen«, hatte mich eine Freundin 291
aufmerksam gemacht, die das Werk desselben Autors ins Französische übersetzte, den G. ins Deutsche übertrug. Man hatte ihn von meinem Berlinaufenthalt unterrichtet, und so kam G. mich mit dem Fahrrad abholen. So wie mich die Lage der Örtlichkeiten in Bezug auf die Mauer interessierte, war ich auch neugierig, zu erfahren, wer auf welcher Seite gelebt hatte. Konnte man die frühere Herkunft am Erscheinungsbild ablesen? Kaum hatte er sich vorgestellt, erzählte G., er habe auf der Ostseite der Mauer gelebt. Von daher könne er sehr gut nachvollziehen, was ich über mein Land erzählte, und er müsse sich nicht in Erklärungen ergehen, wenn er sich an das seinige erinnerte. Er zeigte mir auf dem langen Weg zu seiner Wohnung verschiedene Stellen, wo es zu Auseinandersetzungen mit der kommunistischen Polizei gekommen war. An einer war er selbst verletzt worden, seine Gefährten brachten ihn in ein Krankenhaus, und da die Polizei in den Krankenhäusern nach ihm suchte, beschloss das medizinische Personal, ihn für tot zu erklären. »Die BBC hat meinen Tod verkündet«, sagte G. und riss die Augen auf. Einige Fenster seiner Wohnung gingen auf einen Hof hinaus, aus dem Kinderstimmen herauftönten. 292
Wir gingen in die Küche, wo er Tee machte und Trockenfrüchte servierte, und wir sprachen über den Autor, dessen Werke er übersetzte, und über einzelne spanische Sätze, die ihm Schwierigkeiten bereiteten. Er sprach die ganze Zeit sehr leise, was ich merkwürdig fand. Überbleibsel einer alten Gewohnheit? Der Angst, abgehört zu werden? Mitten in unserem Gespräch tauchte in der Küche der wahre Grund für sein diskretes Verhalten auf, ein Zwanzigjähriger, der aussah, als sei er gerade aufgewacht. Wäre ich mit dem Deutschen vertraut gewesen, hätte ich gemerkt, dass der junge Mann mit ausländischem Akzent sprach. Er war Rumäne und wusste, wo in der Küche die Tassen standen. Er trank einen Schluck Tee und sah mich lange an. Jeder andere hätte diese Aufmerksamkeit mit einem Lächeln oder einer witzigen Bemerkung abgeschlossen. Er nicht. Er war schön und frech, und seine Einkünfte kamen aus dieser Art von Blick. »Er verbringt die Nacht in der Bar, auf der Jagd nach Freiern.« G. zufolge prostituierte er sich, um seiner Familie ein besseres Leben zu ermöglichen. Ein Bruder, den er aus Rumänien herausgeholt hatte, arbeitete bereits als Maurer in London. Und bald würde er dasselbe auch mit seiner Braut in Bukarest versuchen. 293
»Jinetero.« G. zwinkerte mir in sprachlicher Komplizenschaft zu. Es gab Kubaner in der Bar, in die er ging. Alle auf Trouble spezialisiert. Wir gingen in das Wohnzimmer voller Bücher, und ich setzte mich in die Nähe der Wörterbücher, eine wahre Elefantenherde. Der junge Rumäne tauchte herausgeputzt wieder auf, bereit loszuziehen. »Er fragt, ob du ihn mitnehmen willst«, übersetzte G. Ich lehnte das Angebot ab, und als wir allein waren, wollte der Hausherr mir etwas zeigen, das ich unbedingt sehen sollte. »Das wird dir die Augen öffnen«, versicherte er. »Wenn sie noch nicht offen sind.« Ich kenne viele Geschichten, in denen ein Buch aufgeschlagen wird, um das Leben eines Neophyten zu verändern, und deshalb dürfte keine der Seiten, die ich noch sehen werde, einen größeren Eindruck auf mich machen, als die aus den zwei Wälzern, die G. nicht aus einem Regal, sondern aus einem Schrank zog. Wenn ich je ein Buch gesehen hatte, das mir ein Gefühl von Macht gab, wenn ich je mit Größenwahn in Berührung gekommen war, dann muss es damals gewesen sein. Das ging so weit, dass ich, als ich mich von G. verabschiedet hatte und auf dem Weg zum 294
Studio in der Zionskirchstraße war, dachte, ich sei nur wegen dieses Treffens nach Berlin gekommen. Es waren zwei dicke Mappen mit kartoniertem Einband und offiziellen Stempeln. »Meine Akte«, schnaubte G., und ließ sie auf seine Schenkel fallen. Sie wogen so viel wie ein Enkelkind auf den schwachen Beinen des Großvaters. G. legte die beiden Bände auf den Tisch. Die Archive des ostdeutschen Geheimdienstes waren geöffnet worden für jeden, der seinem eigenen Fall dort nachgehen wollte. Nachdem der Deich der verfluchten Stasi-Bibliothek gebrochen war, fand man auf diesen Seiten den ganzen Saft, den die Behörden aus G.s Leben hatten herausholen können. Wie ich feststellen konnte, gab es mindestens drei Arten von Dokumenten in diesen Mappen. Einmal, für mich gleich zu erkennen, Fotokopien der Korrespondenz. Sowohl des Umschlags als auch der Botschaft selbst. Bei einer weiteren Sorte waren die Seiten wie ein Hörspieldrehbuch angeordnet, hier wurde auf die Gesetze des Dramas zurückgegriffen, um Telefongespräche mitzuschreiben. (Ich bat den Besitzer der Akte, mir eines zu übersetzen. Verbargen sie entscheidende Informationen? Er versicherte mir, dass dem nicht so war.) 295
Und dann waren da noch die Berichte der Nachbarn oder Bekannten des Überwachten. »Schau mal, was ich an dem Tag gemacht habe!« G. schien sich zu freuen. Dank einer Nachbarin, die alle seine Bewegungen ausspionierte, konnte er einen dreißig Jahre zurückliegenden Tag rekonstruieren. (Die Akte war voller Bloomsdays. Aber alle ohne Epiphanie, nur Langeweile à la Nouveau Roman.) Der überwachte G. kam von der Straße und trug sein Fahrrad bis zu dem Treppenabsatz, der zu seiner Wohnung führte. Er öffnete ein Fenster, zog sein Hemd aus (es war ein heißer Sommer im Bericht von jenem Tag) und lehnte sich hinaus. Kurze Zeit später kam ein Junge, und der Überwachte schloss das Fenster. Der Ekel drängte G., dasselbe mit den Seiten zu tun. Er legte beide Mappen wieder in den Schrank. »Eine Zeit, in der der Besuch eines Liebhabers einer Inszenierung bedurfte!«, protestierte er. 2
»Welch Geschenk an die Erinnerung, so eine StasiAkte«, schrieb der englische Historiker Timothy Garton Ash begeistert. Viel ergiebiger als Prousts Madeleine. 296
Im Juli 1978 war Garton Ash, genau an seinem Geburtstag, mit seinem neuen Alfa Romeo nach Berlin aufgebrochen. (Von diesem Wagen, nicht aus Shakepeares Tragödie, leitete sich sein Pseudonym bei der Geheimpolizei des Ostens ab: »Romeo«.) Er nahm die Autobahn bis zum Fährhafen Harwich und fuhr von Hoek van Holland, auf dem Kontinent, weiter bis zum Grenzübergang Helmstedt. In Westberlin angekommen, begab er sich zur Wohnung einer alten Dame, für die er ein Empfehlungsschreiben von einem gewissen Graham Greene besaß, einem Neffen des Romanciers. Als Student für zeitgenössische Geschichte in Oxford hatte ihn eine Doktorarbeit über das Berlin im Dritten Reich nach Deutschland geführt. Garton Ash sollte endlose Tage mit dem Sichten von GestapoAkten im Geheimen Preußischen Staatsarchiv und den Akten des Volksgerichtshofs im Berlin Document Center verbringen. Die Sichtung von sich in Regalen stapelnden, verstaubten, nicht katalogisierten Akten war seine erste Begegnung mit Denunziationen von Polizeispitzeln. Anfangs wunderte er sich über die Menge an Prozessen, die aufgrund von Denunziationen von ganz gewöhnlichen Leuten, nicht von Informanten der Geheimpolizei, ins Rollen gebracht wurden. Und es fiel ihm auf, dass viele dieser Prozesse mit der Todesstrafe endeten. 297
Am Ende seines Arbeitstages musste er schwimmen gehen. In einem Café etwas trinken. Das Gelesene vergessen. Er beschränkte seine Nachforschungen nicht auf Archive, er interviewte auch Überlebende des Nationalsozialismus und Veteranen des Widerstands. Ohne es zu wissen, tat er nichts anderes, als sich auf seine wahre Forschungsaufgabe vorzubereiten, bei der es von Anzeigen nur so wimmelte. Garton Ash hatte einst sämtliche formellen Anträge gestellt, um in den Geheimdienst seines Landes zu kommen. (»Nimm diesen Antrag mit in eine dunkle Ecke und fülle ihn mit unsichtbarer Tinte aus«, wird ein Anfänger in einem Roman von John Le Carré angewiesen.) Gefesselt von Geschichten über britische Spionage im Zweiten Weltkrieg und insbesondere vom Beispiel verschiedener Oxforder Fachgelehrter, die darin verwickelt waren, ließ Tim Garton Ash in einem Gespräch unter Freunden fallen, dass er den Wunsch hege, in einer Spionageabteilung zu arbeiten. Und kurz darauf erhielt er eine Einladung zu einem »Sondierungsgespräch«. Der Brief mit dem Termin war mit einem Namen unterzeichnet, den man in den Verzeichnissen der Diplomatic Service List problemlos finden konnte. Er wandte sich an ihn im Plural, der viele Leute im Hintergrund einschloss, und gab an, man werde ihm den 298
Zweite-Klasse-Fahrschein zwischen Oxford und London ersetzen. Diese Neigung des jungen Garton Ash für den Geheimdienst war kein (so würde er später bekennen) obsessives Interesse, wie es das zweifellos für den Romancier Graham Greene gewesen sein musste. Greene war so weit gegangen abzuwägen, wie viel ein Spion und ein Romancier gemein hatten, da beide heimlich beobachteten und mithörten, Motive suchten, Charaktere analysierten und in ihrem Bestreben, dem Vaterland oder der Literatur zu dienen, keinerlei Skrupel kennen. Im Unterschied zu ihm war Garton Ashs Faszination für die Spionage Teil breit gefächerter Interessen, zu denen auch Theater, moderne Architektur, Literatur und Politik gehörten. Von seiner ersten Begegnung mit den Werbern behielt er ein karges Büro in Erinnerung. Und einen kahlköpfigen, schäbig gekleideten Mann mit einer Narbe am Kinn, der akribisch bemüht war klarzustellen, dass eine Karriere dort ihm weder eine gute Position noch Ehren, Titel oder Orden einbringen würde. Träume von Ruhm und Ehre würden hier gewiss nicht in Erfüllung gehen, davon solle er ausgehen. Nach diesem entmutigenden Gespräch ließ der junge Anwärter etwas Zeit verstreichen, bis er sich erneut bewarb. Er beendete sein Studium, und als er fertig war, stellte er sich, wie unter Studenten üblich, den Beamtenprüfungen bei beiden Zweigen des Fo299
reign Service, dem diplomatischen Dienst und dem Geheimdienst. Diesmal hatte das Zimmer einen dicken Teppich, dunkle holzgetäfelte Wände, und es saß ein Komitee von Leuten darin, unter denen er einen Professor aus Oxford erkannte. Als wollte man testen, ob er schauspielerisches Talent habe, bat man ihn, ein Treffen mit einem möglichen Kontaktmann in Barcelona vorzuspielen. (Einer von ihnen würde die Rolle des Kontaktmanns übernehmen.) Man ließ ihn über Eurokommunismus und Libyen sprechen, und man stellte ihn vor die heikle Wahl, einen Freund oder das Vaterland zu verraten. Garton Ash bestand den Test. Er wurde Gesundheits- und Sicherheitschecks unterzogen, aber seine Begeisterung wurde während eines Mittagessens im Keim erstickt, als man ihm seinen lang gehegten Traum verbieten wollte, durch ein paar Länder des Ostblocks zu reisen. »Wir hätten Sie gern unter Kontrolle«, sagte sein Tischgenosse, ein Mann mit feinen Manieren. Der Satz, alarmierend und unheimlich, brachte den jungen Anwärter dazu, seinen Eintritt zu verschieben. Und frei wie er war, entschied er, stattdessen nach Ostberlin und sogar noch weiter zu fahren. Er gab ein paar letzte Briefe zur Post, und an einem nebligen Januarmorgen im Jahr 1980 verließ er seine Wohnung in der Uhlandstraße, passierte Checkpoint 300
Charlie und den DDR-Grenzübergang, fuhr Unter den Linden entlang, am Alexanderplatz vorbei und fand eine neue Wohnung im Arbeiterbezirk Prenzlauer Berg, wo er neun Monate bleiben sollte. Sechzehn Kilometer lagen zwischen der einen und der anderen Wohnung. Doch psychisch betrug die Entfernung Tausende von Kilometern. In der neuen Wohnung herrschte eisige Kälte, sie war schmutzig, die Wände waren ockerfarben, und es gab kaum Mobiliar. Für ein altes Haus war das Zimmer ungewöhnlich klein, aber es hatte immerhin ein Fenster zur Straße. Wenige Tage nach seiner Ankunft in dieser Welt, stellte Garton Ash fest, wie nichtig die Sorgen seiner Freunde im Westen im Vergleich zu den Schwierigkeiten der Menschen unter dem kommunistischen Regime waren. Auf der anderen Seite konnte man sich erlauben, über hausgemachte Probleme nachzudenken. Die erzwungene Nüchternheit in Ostberlin vereinfachte das Alltagsleben. Jetzt hatte er nur noch ein kleines Zimmer, anstelle von fünf, und es gab nur eine Sorte Brot. Und er redete sich ein (vielleicht nicht ganz zu Unrecht), dass diese Vereinfachung gut für seine Arbeit sei. Es gab keine Ablenkungen, und das Wesentliche ließ sich leichter erkennen. Ohne die Überfülle reduzierte sich das Panorama, es ließ sich besser denken. 301
Dank einer Vereinbarung zwischen der Regierung seines Landes und der Ostdeutschlands bekam Garton Ash einen Platz als Forschungsstudent an der Humboldtuniversität. Aber während das Alltagsleben an Last verloren hatte, sollten sich bei der Arbeit an seiner Dissertation die Schwierigkeiten häufen. Denn im Unterschied zu dem anderen Berlin, verweigerten ihm die Behörden im Osten den Zugang zu den wichtigsten Dokumenten. Seine Stellung als ausländischer Forschungsstudent sicherte ihm das Privileg, Zugang zu den Beständen zu haben, in denen sich Bücher und aktuelle Zeitungen und Zeitschriften befanden, die für den gemeinen Bürger unerreichbar waren. Aber es war ihm nur sehr eingeschränkt erlaubt, Dokumente aus der Nazizeit zu sichten. (Später sollte er die Hypothese vertreten, eine vollständige Einsicht in die Archive hätte zutage gefördert, wie schwach der kommunistische Widerstand gegen den Nationalsozialismus – einer der ostdeutschen Gründungsmythen – in Wahrheit gewesen war.) Schon bald geriet der junge Historiker unter Verdacht und wurde selbst Objekt von Ermittlungen. Die Berliner Geheimpolizei hatte schon eine ganze Weile keinen britischen Spion mehr enttarnt und musste zwangsläufig jeden Bürger dieser Nationalität verdächtigen, der in ihr Blickfeld kam. Und so wurden Ermittlungen gegen den englischen Forscher 302
eingeleitet, eine Akte wurde eröffnet, und mehrere Leute, die Garton Ash kennenlernte, spionierten ihn aus und füllten die Mappe »Romeo«. Wäre er Deutscher gewesen, hätte diese Aufmerksamkeit ihn zum Paria, zum Gefangenen oder Toten gemacht. Sie hätte seiner gesamten Familie Schwierigkeiten und Strafen eingebracht, und seine Frau und seine Kinder wären ebenfalls in das Spitzelsystem verwickelt worden. Aber als Ausländer und ohne Beweise, dass es sich um einen Spion handelte, wurde Garton Ash lediglich der weitere Aufenthalt in Ostdeutschland und, aufgrund eines Abkommens zwischen den Geheimdiensten der Bruderländer, den übrigen kommunistischen Ländern Europas untersagt. Was mit einer Verweigerung des Zugangs zu historischen Archiven angefangen hatte, endete mit einer Verweigerung des Zutritts zu einem ordentlichen Stück von der Welt. »Wie aus der Anlage ersichtlich«, schrieb ein mit dem Fall betrauter Oberstleutnant an einen Vorgesetzten, »hat Garton Ash seinen offiziellen Aufenthalt in der DDR zur illegalen Informationsbeschaffung ausgenutzt.« Er wurde beschuldigt, Artikel und Essays verfasst zu haben, die man unmöglich billigen könne (einige davon waren im westdeutschen Spiegel erschienen), nach Polen gereist zu sein und sich dort mit den Füh303
rern der Dissidentenbewegung Solidarnosc getroffen und auf deutschem Boden das Beispiel der polnischen Konterrevolution propagiert zu haben. Zum Glück befand sich der Angeklagte zu dem Zeitpunkt schon außer Landes. Sie konnten ihn jedoch in effigie verurteilen, und das Außenministerium bestellte einen Vertreter der britischen Botschaft ein, um einen offiziellen Protest wegen Einmischung von Garton Ash in die inneren Angelegenheiten der DDR vorzubringen. Die Verleumdungen, die er verbreite, widersprächen den Vereinbarungen der Akte von Helsinki und schädigten die guten deutsch-englischen Beziehungen. Es interessierte wenig, dass er Journalist war und (wie der Gesandte der englischen Botschaft zu erklären versuchte) von seinem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch gemacht hatte. Es sei ihm aufgrund einer von beiden Ländern unterzeichneten Kulturvereinbarung gestattet gewesen, sich mehrere Monate auf deutschem Gebiet aufzuhalten, und zwar nur zu einem spezifischen Forschungszweck: Berlin unter Hitler. Es obläge den britischen Behörden zu überwachen, dass diese Vereinbarung eingehalten werde. Nach seiner Abreise veröffentlichte Timothy Garton Ash in englischen Publikationen weitere Artikel über die deutsche Wirklichkeit. Er veröffentlichte ein Buch über die polnische Bewegung Solidarnosc, und trotz Verbots gelang es ihm, in andere kommunisti304
sche Länder Europas zu reisen. Aber bei den beiden Gelegenheiten, bei denen er versuchte, den Grenzübergang an der U-Bahnstation Friedrichsstraße zu überqueren, wies man ihn ab. Er stellte mehrere Visaanträge, die die ostdeutschen Behörden ihm pünktlich verweigerten, 1984 aber wurde ihm dank der Intervention des britischen Botschafters erlaubt, sich ein paar Tage zu offiziellen Feierlichkeiten in Ostberlin aufzuhalten. Im Jahr darauf gelang es Ash, im Gefolge des britischen Außenministers, der verschiedene Staaten Osteuropas bereiste, wieder ins Land zu kommen. (In diesem Fall hätte eine Einreiseverweigerung unvermeidlich zu einem diplomatischen Eklat geführt.) Bis eines Morgens im Sommer 1989, als er sich wegen der Wahlen, bei denen die SolidarnoscBewegung siegte, in Warschau aufhielt, in seinem Hotelzimmer das Telefon klingelte und der Sprecher eines Offiziers des ostdeutschen Außenministeriums ihm mitteilte, dass seinen Besuchen jetzt nichts mehr im Wege stünde. Im November 1989 hielt er sich im Hotel Metropol in Berlin auf. Vom Fenster, das auf die Südseite des Bahnhofs Friedrichstraße hinausging, sah Garton Ash die Menge, die sich dort drängte, wo es früher untersagt war, sich aufzuhalten. Und vier Jahre später, als die Schleusen der Archive der Abteilung für Staatssicherheit der verschwundenen DDR offen 305
waren, nahm sein früherer Berlinaufenthalt eine weitere Wende, als er seine Stasi-Akte studierte, mehr als dreihundert Seiten in den zweihundert Kilometern der jetzt von der Gauck-Behörde verwalteten Polizeiakten. Timothy Garton Ash beschreibt den Sitz der Gauck-Behörde wie ein Wahrheitsministerium, das im ehemaligen Angstministerium angesiedelt ist. Lange Flure mit neuer Beleuchtung und neuem PVC-Boden, in denen es noch immer schwach nach Ostberlin roch. In der Behörde mit einem Jahresetat von über zweihundert Millionen Mark (1996) arbeiteten mehr als dreitausend Vollzeitbeschäftigte. Und es gab strikte Regeln, was die Weitergabe von Information an die Antragssteller betraf, jede Akte musste erst vom Dienstpersonal gelesen, Namen von Unschuldigen mussten geschwärzt und die Seiten mit den Ausstreichungen fotokopiert werden. (Am Ende eines dieser Flure, in einem Raum voller Orden, Leninbüsten und Leistungsurkunden, standen eine Reihe von Glasflaschen, die mit der Sorgfalt eines Hightech-Labors etikettiert waren. Im Innern dieser Fläschchen befanden sich Textilfasern mit dem persönlichen Geruch, Proben für den Fall, dass man Spürhunde einsetzen musste. Der leichte Geruch des Ostteils der Stadt und die persönlichen Geruchsproben wiesen in einem der Erinnerung ge306
widmeten Zentrum auf die vorrangige Bedeutung des Geruchs hin.) Tausende von Angestellten bearbeiteten jetzt die von den neunzigtausend Angestellten und einhundertsiebzigtausend inoffiziellen Mitarbeitern des Ministeriums für Staatssicherheit des kommunistischen Deutschlands erstellten Dokumente. »Die Nazis hatten bei Weitem nicht so viele Spitzel«, sollte Timothy Garton Ash verkünden, der sich mit den Akten des Dritten Reichs wirklich auskannte. Es war das Übermaß an Schuld, die des kommunistischen Regimes addiert mit der des Nationalsozialismus, welches am Ende die Türen gesprengt hatte, hinter denen die Staatsgeheimnisse ruhten. Während der langen, erschöpfenden Tage, an denen er in die Archive der Gestapo eintauchte, hatte sich der junge britische Historiker immer wieder gefragt, was aus dem einen Menschen einen Widerstandskämpfer und aus dem anderen ein treuen Diener der Diktatur machte. Und vierzehn Jahre später, angesichts seiner eigenen Geheimakte und eines anderen Deutschlands, stellte er sich dieselbe Frage wieder. Er würde Exemplare der einen und der anderen Sorte treffen.
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»Die Wirkung einer solchen Aktenlektüre kann verheerend sein«, bemerkte Timothy Garton Ash. In Die Akte Romeo verglich er diese Lektüre mit der Wirkung einer Scheidung im Bösen. Es gab den Fall einer Frau, die von ihrem langjährigen Ehemann denunziert worden war, den eines Schriftstellers, der von seinem älteren Bruder überwacht wurde, und viele andere. Dank der geheimen Berichte war das Leben des Einzelnen ein kaputtes Gefäß. Ein kaputtes Gefäß, das man wieder archäologisch zusammensetzen konnte. Und so konnte man vielen Leuten die Enttäuschung darüber anmerken, nicht von der Geheimpolizei überwacht worden zu sein. Aktenneid, so katalogisiert es Garton Ash. Ein erster Glücksgrund bestand schon darin, nicht als Spitzel in den zweihundert Kilometern von der Gauck-Behörde gehüteten Akten aufzutauchen. (Wie bei einer klinischen Analyse werden die Beweise für Kollaboration mit der Stasi als Gauck-positiv und Gauck-negativ bezeichnet.) Glück aus Beherrschung, negativ definierte Freude. Ein größeres Glücksgefühl gründete sich darauf, dass einem die Aufmerksamkeit von Offizieren und Spitzeln zuteilgeworden war. Das Geheimnis machte jeden interessant. Die Studenten kokettierten mit 308
ihren Akten, sie erzählten von Abenteuern, wie jemand beim Friseur vom Kampf gegen einen Hai berichtet. Strampelnde Arme und Beine, herausgerissen aus der doppelten Zahnreihe. Timothy Garton Ash hat niemanden getroffen, den es gleichgültig ließ, wenn die ausgelöschte Geheimpolizei ihm lediglich Desinteresse zuteilwerden ließ. Falls keine Akte zu finden war, verwies man auf ein hypothetisches Moskau: Die in Deutschland erfolglos gesuchten Mappen ruhten seit einiger Zeit in sowjetischen Lagern. Der Fall, den sie beschrieben, sei so heiß gewesen, dass die Stasi sie dem KGB übergeben musste. »Opfer zu sein ist an sich keine Ehre«, schrieb Jean Améry in seinen Untersuchungen zu Schuld und Sühne. Und doch scheint die große Bedeutung, die man dem Besitz einer Geheimakte beimisst, diese Aussage Lügen zu strafen. Garton Ash fand den Profit aus der Opferhaltung in einer so schuldbelasteten Gesellschaft wie der deutschen verdächtig. Ehemalige Denunzianten stellten sich umstandslos als Opfer polizeilicher Erpressung dar. Eine Akte in den Archiven der Stasi war ein Alibi nicht nur für das, was man getan hatte, sondern auch für alles, zu dem es nicht gekommen war. So gingen auch vereitelte Möglichkeiten zu Lasten des Geheimdienstes. Ein paar dicke Aktenmappen zu haben, schmei309
chelt der Eitelkeit. (G. machte übrigens definitiv nicht diesen Eindruck, als er mir seine zeigte.) Anmerkungen von Spitzeln, fotokopierte Briefe, Aufnahmen und flüchtige Bilder machten einige Lebensläufe überhaupt erst vollständig. Als gefährlich eingestuft worden zu sein, entschädigte für die Monotonie, gab einem sesshaften Leben etwas Episches. Die Ankunft eines Briefes aus dem Ausland oder eine Indiskretion am Telefon verlieh allem eine romanhafte Dimension, man steckte mitten in einem Spionageroman. (Ganz zu schweigen von denen, die sich für die Autoren dieses Romans hielten.) Die Überraschung eines Überwachten beim Durchblättern seiner Akte lässt sich mit der eines Menschen vergleichen, der in eine soeben über ihn selbst erschienene Biografie voller Einzelheiten, intimer Details und Skandale hineinschaut. Die Angestellten der Gauck-Behörde hüteten kilometerweise nicht autorisierte Biografien. Wenn sie die Mappen aufschlugen, fingen die Personen an, sich selbst zu lesen. Eine Geheimakte war das große Stück Eisberg unter Wasser, von dem Hemingway in einem Interview sprach. Wer eine Akte hatte, schuldete einen großen Teil seiner Glaubhaftigkeit der staatlichen Fiktion, die darauf erpicht war, ihn zu erzählen,. Im Fall von Timothy Garton Ash begann für ihn, nachdem er dank des Personals der Gauck-Behörde 310
eine Kopie seiner Akte erhalten hatte, eine Besuchsrunde bei den ehemaligen Mitarbeitern der Geheimpolizei. Aber er musste jeden Einzelnen erst einmal identifizieren, denn sie waren durch Pseudonyme getarnt. (Einen nom de guerre zu wählen war eines der Initiationsrituale der angeworbenen Spitzel.) Ein erster Informant war in der Zeit, als der junge englische Historiker als Forschungsstudent eingeladen worden war, Leiter der Abteilung für ausländische Beziehungen der Humboldt-Universität gewesen. (Statistiken zufolge arbeitete einer von sechs Dozenten dieses Studienzentrums für die Geheimpolizei.) Vierzehn Jahre später konnte Garton Ash ihn dort nicht mehr finden. Von einem anderen Dozenten erfuhr er, dass der ehemalige Stasi-Mitarbeiter gezwungen worden sei, seinen Posten an der Humboldt-Universität aufzugeben, und niemand wisse, wo er abgeblieben sei. In der Akte »Romeo« tauchte auch eine Freundin als Informantin auf. Garton Ash besuchte regelmäßig ein Ehepaar in Weimar. Der Mann, ein alter jüdischer Kommunist, hatte die Zeit des Nationalsozialismus in London verbracht. Damals tauchte sein Name auf der Gehaltsliste der Journalisten von Reuters ebenso auf wie (das sollte Garton Ash erst später erfahren) auf der Gehaltsliste des sowjetischen Geheimdienstes. Die Frau, Direktorin der Kunstsamm311
lungen zu Weimar und wichtiges Rädchen im Getriebe des staatlichen Kunsthandels, war bereits eine hochrangige Stasi-Informantin, als der junge Ausländer an ihrer Tür läutete. Bei ihrem Wiedersehen beschrieb er sie als zweitklassige Marlene Dietrich. Der Mann war gestorben (noch auf dem Totenbett hatte er sein restloses Vertrauen in den Kommunismus bekräftigt), und sie wohnte in Berlin in einem grauen Wohnhaus, das man in der Ära des Kommunismus als elegant bezeichnet hätte. Sie benahm sich, als ob dieser unerwartete Besuch ihr willkommen wäre. Sie hörte die Anschuldigung aus dem Mund von Garton Ash und parierte gut. In ihrer früheren Position sei es unvermeidlich gewesen, mit der Polizei zusammenzuarbeiten. Kollaboration war Teil ihrer Arbeit. Monatlich seien Männer von der Geheimpolizei bei ihr in der Kunstsammlung aufgetaucht. Als Gegenleistung für die Informationen, die sie anzubieten hatte, halfen sie ihr bei ihrer Arbeit. In einer Welt der Ineffektivität wie die der DDR garantierte die Stasi, dass die Dinge vorangingen. Dank dieser Verbindungen konnte sie sich mit allem versorgen, was für eine zweitklassige Marlene lebenswichtig war. Als Gegenleistung erlaubte man ihr Reisen ins Ausland. Jetzt, konfrontiert mit den Berichten, die der Besucher ihr hinhielt, wurde ihr 312
übel, und sie hatte Angst, sich übergeben zu müssen. Sie entschuldigte sich für ihre Tränen in seiner Gegenwart. Gedachte er vielleicht ihren Namen in seinem Buch zu nennen? In dem Falle könne sie ihn verklagen und einen Haufen Geld verdienen. Im Unterschied zu ihrem Besucher war sie nicht bereit, bei der Gauck-Behörde einen Antrag auf Einsicht in ihre Akte zu stellen. (Jeder Spion wurde minutiös geprüft.) Es ginge ihr dabei weniger um sich selbst als um das, was sie über ihren verstorbenen Mann finden könnte. Mit der Absicht, eine Erklärung für die Motive dieser Frau zu finden, sollte Garton Ash ihre Akte dann selbst durchblättern. Und er fand heraus, dass seine eifrigste Denunziantin einmal dabei erwischt worden war, als sie Devisen aus dem Land schaffte. Ein Verbindungsoffizier garantierte ihr Straffreiheit, und im Gegenzug begann sie, ihre Angestellten, ihre Freunde, den Freund ihrer Stieftochter, die Exfrau ihres Mannes, einen Kellner des Hotel Elephant auszuspionieren. Hinweise und Auslandsreisen vermischten sich in diesen Mappen. Bis sie der zweitklassigen Marlene den Vaterländischen Verdienstorden verliehen. Der nächste Informant, den er besuchen wollte, war Dozent für englische Literatur gewesen, und Garton Ash hatte ihn im Garten der englischen Bot313
schaft bei einem Empfang aus Anlass des Geburtstags der englischen Königin kennengelernt. Als besonders penibler Denunziant musste er Stunden um Stunden damit zugebracht haben, die absurdesten Details zu übermitteln. Bei seinen Berichten erlangte ein Mittagessen, in dessen Verlauf er mit dem dritten Botschaftssekretär zusammengetroffen war, die Preziösität einer Gesellschaftschronik. (Hinter scheinbar trivialen Handlungen wie dem Tranchieren von Fleisch oder dem Verteilen einer Sauce verbargen sich womöglich ganz andere Absichten.) »Die Stasi war sein Brieffreund«, schloss Garton Ash. Mittleren Alters, langweilig, wenngleich mit dem einen oder anderen Funken Esprit gesegnet, hatte ihn seine Kenntnis der englischen Sprache als Dolmetscher zu einer Reise mit dem Vorsitzenden des Ministerrats geführt. Unter Alkoholeinfluss hatte er später gewagt, respektlose Details zum Besten zu geben. Das kam dem Geheimdienst zu Ohren, der seinerseits Einzelheiten von sexuellen Avancen des Professors gegenüber männlichen Studenten archiviert hatte. Und so hatte die Stasi zwei gewichtige Gründe, dass er mit ihnen kollaborierte. Wie Mallarmé (ebenfalls ein Englischlehrer) muss der Dozent den Wunsch verspürt haben, die Welt in ein Buch zu verwandeln. Sein Eifer ging weit über das Denunzieren von Kollegen, Studenten, Freunden 314
und Bekannten hinaus, seine Spezialität war es, auch noch kleinste Gesten und scheinbare Nebensächlichkeiten festzuhalten. Dank der Freundschaft, die ihn mit dem ersten Sekretär der englischen Botschaft verband (seine Akte enthielt Fotokopien aller Titelseiten der Bücher, die dieser ihm geliehen hatte), wurde der Dozent in den Augen seiner Vorgesetzten wichtig. Er bekam eine Bronzemedaille »als Zeichen der Anerkennung für ehrliche, gewissenhafte und treue Pflichterfüllung im Ministerium für Staatssicherheit«. Und kurz vor seinem Tod hörte man ihn (über in seiner Wohnung installierte Wanzen) mit einem Freund über den wachsenden Verfall des Landes reden. Er starb plötzlich, mit sechsundfünfzig Jahren. Garton Ash sah ihn nie wieder. Sein nächster Besuch führte ebenfalls zu einem Professor, einem gebürtigen Engländer. Mit einer deutschen Frau, seinen deutschen Kindern und einer Falschnachricht fing die Rekrutierung an: In Dokumenten eines Spionagedienstes von der anderen Seite der Mauer war seine Personenbeschreibung aufgetaucht. Um seine Unschuld zu beweisen, musste der Professor fortan bei Stasi-Missionen mitwirken. Nur so konnte er bei seiner Familie bleiben. Vierzehn Jahre später, seine Berichte auf dem Tisch, berichtete er Garton Ash, was man ihm für eine Falle gestellt hatte. Er machte sich Vorwürfe 315
wegen seines Verhaltens, obwohl er versicherte, über die von ihm überwachten Personen nur irrelevante Informationen weitergegeben zu haben. Später habe er geglaubt, seine polizeiliche Arbeit habe ihn in direkte Verbindung zu den höchsten Kreisen gebracht, und sich vorgestellt, mit jedem seiner Berichte nehme er Einfluss auf die Mächtigen, so gesehen hatte er ihnen wohlwollende Ratschläge geschickt. Seine Arbeit habe weniger in der Denunziation als in Hinweisen auf unbequeme Wahrheiten für die oberen Etagen bestanden. War die Geheimpolizei für den Professor für englische Literatur ein Brieffreund gewesen, für die Direktorin der Kunstsammlung eine Art Manager, warum dann nicht auch eine politische Lobby, das verzerrte Abbild der Zivilgesellschaft? Schließlich war er Brite und hatte versucht, der eisernen kommunistischen Gesellschaft etwas Parlamentarismus einzuimpfen. Seine Akte hingegen enthielt Dinge, die zu diesem Ansinnen nicht passen wollten: einen von ihm gezeichneten Plan der Bibliothek des British Council in Westberlin und einen weiteren von derselben Institution in London. Garton Ash beendete seine Informantentour mit einer alten Dame. Während seines Aufenthalts in Berlin hatte er sie auf Ausstellungen und bei Theaterabenden getroffen. Sie war Anfang sechzig, elegant und kultiviert und stammte aus einer reichen 316
deutsch-jüdischen Familie. Seit ihrer Jugend war sie Kommunistin gewesen, und nachdem sie aus der Schule geworfen wurde, floh sie vor Hitler und folgte ihrem Mann auf einer Reise nach Moskau, wo sie bald in den Strudel der Stalinschen Säuberungsaktionen geriet. Ihr Mann verschwand in sowjetischen Arbeitslagern, ihr Sohn wurde in ein Waisenhaus gesteckt. Sie selbst verbrachte einen großen Teil ihrer Zeit in Russland in einem Arbeitslager. Aber sie überlebten und konnten alle drei in den fünfziger Jahren nach Ostberlin zurückkehren. Von dort aus floh ihr Sohn in das andere Deutschland. Ihr Mann, der schon tot war, als Garton Ash die Dame kennenlernte, hatte sich von den Jahren im Gefängnis nie erholt. Sie hingegen ließ sich davon nicht unterkriegen. Sie war weiterhin davon überzeugt, der Kommunismus sei eine gerechte und großartige Sache und das Leid ihrer Familie sei ein Baustein auf dem Weg der Menschheit in eine sorglose Zukunft. Die ungewöhnliche Standhaftigkeit dieser Frau verblüffte Garton Ash, der sie für eine Freundin hielt. Als er sie wieder traf (»sehr alt, aber immer noch elegant und geistig rege«), stritt sie kategorisch ab, mit dem Geheimdienst zusammengearbeitet zu haben, und weigerte sich, die Beweise in Augenschein zu nehmen, die das Gegenteil bezeugten. Die Nachforschungen zur Akte Romeo endeten 317
mit mehreren Treffen mit ehemaligen StasiOffizieren. Sie befanden sich meist schon im Ruhestand, einer von ihnen hatte sich zum Versicherungsvertreter umschulen lassen, ein anderer verkaufte Gefrierschränke. Alt geworden und in geschmacklosen Jogginganzügen, sagten sie fast übereinstimmend, sie hätten eine schwere Kindheit gehabt, der Vater sei abgehauen und die Polizei sei für sie eine Art Vaterersatz gewesen. Keiner der von Garton Ash befragten Offiziere fühlte sich schuldig. Sie verwendeten dasselbe Beflissenheits-Alibi wie Hitlers Offiziere: Sie hätten nur ihre Pflicht erfüllt. Sie gingen sogar so weit zu behaupten, die Bürger der Deutschen Demokratischen Republik hätten keine Angst vor der Geheimpolizei gehabt. Im Gegenteil, sie wären für ihre Arbeit dankbar gewesen. Sie behaupteten (sofern sie überhaupt einräumten, unter dem kommunistischen Regime habe es keine Freiheit gegeben), dass die Leute gern auf eine gewisse Freiheit verzichten, um dafür Sicherheit zu bekommen, etwas, das man in der neuen deutschen Gesellschaft bereits anfing zu vermissen. Es dauerte bei diesen Gesprächen nur ein paar Minuten, dann zeigten sich die ehemaligen Offiziere entgegenkommend im Umgang, kaum ein Anzeichen von Reserviertheit. Einer bot dem Besucher an, ihn in seinem Auto mitzunehmen. Mehrere sagten, dass 318
sie regelmäßig Besuch von informationshungrigen Journalisten empfingen. Ein ehemaliger Offizier der Spionageabwehr erzählte, wie er und andere zwischen Ende 1989 und Anfang 1990 Archive vernichteten. Die großen Aktenvernichter waren schon außer Betrieb, aber sie verwendeten kleine Reißwölfe, um die heikelsten Informationen wegzuschaffen. Garton Ash sprach mit ihm in einem der oberen Stockwerke eines Hochhauses, wo sich die kleine Wohnung des Offiziers befand. Der Offizier wollte ihm sein Exemplar dieses kleinen treuen Geheimnisfressers zeigen, und da stand er wie ein Hund in einer Ecke des Wohnzimmers. Der Reißwolf gab der Wohnungseinrichtung eine persönliche Note. Alle ehemaligen Offiziere klagten über die Veränderungen und fantasierten von Restauration, bei ihren feuchtfröhlichen Zusammenkünften machten Pläne die Runde, wie der alte Zustand wiederherzustellen sei. »So kann es nicht weitergehen«, ereiferte sich ein ehemaliger Oberst Garton Ash gegenüber. »Und wenn man uns dazu aufruft, auf die Straße zu gehen, werden wir das tun.« In der Rückschau fanden sie immer einen Vorgesetzten, auf dem sie alle Schuld abladen konnten. Die alten Befehle gingen jetzt den umgekehrten Weg, sie kehrten zu denen zurück, die sie einst gaben. Oder alles fiel auf eine Abteilung zurück, mit der sie nichts zu tun hatten. 319
Timothy Garton Ash reiste durch das von Hanna Arendt entdeckte Niemandsreich. Wer sich diesen Männern auf der Suche nach Anerkennung näherte, verstand, dass das Böse, ist es erst einmal überwunden, die Konsistenz einer Wolke hat. Es konnte die bizarrsten Formen annehmen, man konnte darauf zeigen, aber es war nicht zu greifen. Nach Abschluss seiner Nachforschungen meinte der Historiker, er habe keinen eindeutig bösen Menschen getroffen. Das große Böse war die Summe von vielen Handlungen, es war auf fatale Weise auf unendlich viele Kleinigkeiten verteilt. Garton Ash hatte bei seiner Rückkehr nach Deutschland eine »umfassende Anthologie menschlicher Schwäche« vorgefunden. Nicht Mangel an Ehrlichkeit war es, was ihm bei den Beteiligten besonders auffiel, sondern eine grenzenlose Fähigkeit zum Selbstbetrug. Timothy Garton Ash hatte die Überreste eines zerstörten Machtapparats interviewt. Von der alten Eiche blieben ein paar Schaufeln Sägemehl, mit denen man einigermaßen leicht umgehen konnte. Blieb jedoch die Frage, ob die Schlussfolgerungen des britischen Historikers ebenso gelassen gewesen wären, wenn er selbst stärker betroffen gewesen wäre.
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Der Garten, der zum ersten der beiden Häuser führte, war besser gepflegt als der von vielen Botschaften und Konsulaten in der Umgebung. Trotz der bleiernen Sonne und der Meeresbrise war der Rasen frisch. Die Fußwege um ihn herum waren gründlich gereinigt. Allerdings hatte man sich auch nicht besonders angestrengt. Es handelte sich um einen perfekt militärischen Garten, ein Schlachtfeld en miniature: sauber geschnittener Rasen, hier und dort eine Artillerie aus blühenden Lilien, ein paar Rosensträucher. Blauer Himmel und ein paar Wolken, die über die Quinta Avenida langzogen. Nachts wurde der Ort von kleinen, auf dem Rasen postierten Scheinwerfern erleuchtet. Sie strahlten auch das Schild am Eingang an. »Museum des Innenministeriums« stand darauf. Schon oft war ich daran vorbeigelaufen, ohne dass meine Neugier geweckt worden war. (Wer kam schon auf den Gedanken hineinzugehen? Reichten nicht die Banner überall in der Stadt, reichte es nicht, den Fernseher anzumachen oder die Zeitung zu lesen? Ein Besuch des Geheimdienstmuseums konnte einem nur auf den Magen schlagen.) Aber ich hatte meinen Pass beim Zoll in Havanna abgegeben. Ich 321
war zurückgekehrt, trotz der Warnungen, ich würde mich bald in ein Gespenst verwandeln. »Warten Sie dort«, befahl mir die uniformierte Frau, nachdem sie die Daten in meinem Pass überprüft hatte. Früh am Morgen war am Flughafenterminal nicht viel los. An den übrigen Kabinen stand niemand. Leute in Uniformen kamen und gingen wie Schlafwandler. Und während ich hinter der auf den Boden gezeichneten gelben Linie wartete, begab sich ein Offizier in die Kabine, um mich abzufertigen. »Bis wann willst du zurückkommen?«, fragte er unvermittelt. Nach Kuba zurückkommen, wollte er sagen. Ich sah in das Gesicht der Frau. »So lange wie es mir erlaubt ist«, stammelte ich. Er nickte. Die Frau drückte den Stempel hinein und gab mir meinen Pass. Der elektrische Türöffner summte, und hinein ging’s ins überwachte Vergnügen. Dann wurden die Bücher überprüft. (Nicht dass sie sich auf mich eingeschossen hätten, sie mussten nur eine bestimmte Gepäcklotterie einhalten.) »Warum so viele?«, fragte ein Zöllner. Ich musste ihm erklären, was ich machte. »Im Ausland werden viele Romane von Kubanern veröffentlicht.« 322
Und er redete munter weiter. Auf der Terrasse der Schriftstellervereinigung, der einstigen Residenz eines reichen Kaufmanns, regnete es kleine getigerte Blüten. »Deaktiviert«, lautete die Diagnose der beiden Funktionäre. Und so teilte mir Monate später, als ich versuchte, zu einem internationalen Schriftstellertreffen zu reisen, eine junge Beamtin des Innenministeriums mit, ich bekäme keine Ausreisegenehmigung. Das Haus, wo die Genehmigungen erteilt wurden, befand sich im Umbau. Die verschiedenen Schlangen drängten sich im Hinterhof. Irgendein Alter brauchte nur zu vergessen, dass er an der Reihe war, und schon setzte sich ein Heer von Tausendfüßlern in Bewegung. Aber es bedurfte des alten Mannes gar nicht: In all der Verwirrung wusste keiner mehr, aus welchem Grund er eigentlich da war. Das war ihnen gut gelungen, jenen Beamten, ihren Vorgesetzten und all denen, die sich ausgedacht hatten, auf welche Weise jeder Kubaner, der das Land verlassen wollte, eine Erlaubnis einholen musste. Jedem Flüchtling hatten sie diese Unsicherheit eingeimpft: man war nicht Herr seiner selbst. Sie zwangen einen, jedes Stück Freiheit in Dollar zu bezahlen, und das Innenministerium behielt sich das Recht vor, Anträge abzuweisen. So war die Nervosität all der Leute nicht unberech323
tigt. Das nahe Beieinander so vieler verschiedener Schicksale machte gesprächig. Heute drängelten wir uns hier, aber mit etwas Glück bestieg jeder von uns schon bald ein Flugzeug, und wir würden uns über die Welt verteilen, all die Enge hinter uns lassen, all die mit Formalitäten vergeudeten Morgenstunden, die miese Behandlung durch die Behörden vergessen. Mehrere Tage hintereinander war ich dort. (Hatte man eine Formalität erfüllt, ergab sich daraus eine neue, die man erledigen musste. Hatte man einen Stempel, brauchte man eine bestimmte Unterschrift.) Bis ich eines Tages die Gelegenheit gekommen glaubte. Man bat mich in einen Raum, in dem mehrere Tische dicht nebeneinander standen. Die Beamten an den Tischen waren alles Frauen, und die jüngste bat mich, auf einem niedrigen Stuhl Platz zu nehmen. (Beim Hinunterbeugen konnte ich sehen, dass sie ein Knie verbunden hatte.) Sie legte zwei Finger auf meinen Ausweis und ließ den Jeton über den ganzen Tisch gleiten. »Den können Sie an sich nehmen.« Eine Frau am Nachbartisch beobachtete das Verhalten ihrer jungen Kollegin. Vielleicht war sie noch in der Probezeit. Jedenfalls verstand sie es, ihr Nein deutlich auszusprechen. Und als ich nach dem Grund fragte, verzog sie das Gesicht, als hätte sie einen Schlag gegen das Knie bekommen. »Den kennen Sie ganz genau«, kam ihre Antwort. 324
Sie warf einen verächtlichen Blick auf das ausländische Visum, klappte den Pass zu, drückte zwei Finger darauf und gab ihm einen kleinen Schubs, dass er bei mir landete. Zum Schluss erwähnte sie noch eine Möglichkeit, die so vielversprechend war wie ihr Blick auf das Visum: wenn ich etwas nicht verstanden hätte oder mich beschweren wolle, könne ich mich schriftlich ans Innenministerium wenden. »Muss das Esszimmer gewesen sein«, ging mir durch den Kopf, als ich das Büro verließ. Auf der Straße sah ich mir den Pass an. Wie bei meinem Rauswurf aus dem Schriftstellerverband, existierte kein schriftlicher Beweis, dass es mir verboten war, das Land zu verlassen. Ich konnte schriftlich Berufung einlegen. Die Regierungsinstanzen konnten sich den Luxus der Mündlichkeit erlauben, ohne Spuren zu hinterlassen. Wir Einzelpersonen hingegen mussten unsere Worte sorgfältig abwägen und auf Papier festhalten. Die Beweise würden in den Händen verantwortlicher Leute landen, die sich gut auf die Verwaltung von Erinnerung verstanden. Archivare und Beamte des Innenministeriums zum Beispiel. Deshalb nahm ich eines Nachmittags all meine Kraft zusammen und besuchte das Geheimdienstmuseum, wenige Blocks von La Maqueta de la Habana entfernt. 325
»Ich möchte wissen, was Sie über mich haben«, eröffnete ich der ersten Türhüterin. Und um ihre Überraschung zu lindern: »Man hat mich beschuldigt zu einem Netz zu gehören, das aus dem Ausland operiert. Man behauptet, dieses Netz stehe auf der Gehaltsliste des amerikanischen Geheimdienstes. Sie halten mich für einen Stipendiaten der CIA oder so ähnlich, und ich bin beim Schriftstellerverband deaktiviert worden.« Deaktiviert, ob sie verstand? Gehörten zu ihren Ausstellungsobjekten nicht auch ein paar alte deaktivierte Minen, nie explodierte Bomben? Unsere Berliner Mauer stand noch. Die Aktenkilometer wurden immer noch länger und länger, und eine Menge Spitzel verfassten noch ihre Werke. Ich verstand also die wachsende Angst, mit der die Wärterin mein Ersuchen anhörte. Natürlich war ich mit meinem Ersuchen zu früh gekommen. Es handelte sich ja um ein Ersuchen an eine erst noch ins Leben zu rufende Gauck-Behörde. Aber wenn ich auch zur falschen Zeit da sein mochte, der falsche Ort war es bestimmt nicht. Ein Gesuch wie das meine war hier genau an der richtigen Adresse. Wo sonst als in einem musealen Umfeld, welches das Ende des Revolutionsregimes anzukündigen schien? Aber lassen wir die Geschichten, meine Ankunft 326
beim Geheimdienstmuseum verlief in Wahrheit ganz anders. Am Eingang saß eine Wärterin. Sie schien in die Betrachtung der Bäume auf der Avenida jenseits des Gartens versunken und unterdrückte ein Gähnen. Sie verdaute ihr Mittagessen und zählte bestimmt schon die Stunden, bis sie nach Hause konnte. Wir wechselten ein paar Sätze, aber ich sagte ihr nicht, warum ich gekommen sei. Mir war von vornherein klar, dass ich mich an diesem Ort am besten als Ausländer ausgab, damit das Personal mich für einen dieser Sympathisanten hielt, die, verzückt von der Revolution, nach Kuba kommen, um sich einen alten Traum zu erfüllen. Sonst wäre mein Besuch nicht glaubwürdig gewesen, ich hätte wie jemand gewirkt, der etwas entweihen, vor einem wertvollen Stück in Gelächter ausbrechen will. (Nicht, dass ich mir Gedanken um das Protokoll machte, schließlich war ich ein Gespenst. Ich wollte eine bestimmte Landschaft am Rande der Straße betrachten, die weit weg führte: genau wie Georg Simmel. Ich suchte ein Auto, das mich rechtzeitig aus Ostdeutschland herausbrachte, jenen Alfa Romeo, der den Überwachern dazu diente, Garton Ash einen Namen zu geben.) Ich zahlte für den Eintritt in Dollar. Ein paar Frauen streckten ihre Köpfe zur Tür hinaus, als ich über den Flur ging, und die Wärterinnen brachen ihr Plauderstündchen ab. 327
Das Haus war früher das private Anwesen einer Familie gewesen. Bilder von Helden des Geheimdienstes hingen dort so, wie Gemälde von Vorfahren die Haupttreppe eines Schlosses zieren. Dieselben Gesichter wie in den Akten. Von einer Hand gemalt, die sich auf Vergrößerungen von Fotos verstand. Reihen über Reihen von Ölgemälden, so unfertig wie die abgebildeten Leben, größtenteils jung gestorben. Jeder Saal gab einen Überblick von den kolonialen bis zu den revolutionären Streitkräften. Hier die Polizei, die damit beschäftigt ist, Straßendemonstrationen zu unterdrücken, dort Polizeibeamte, die sich um eine alte Frau kümmern. Wasserwerfer, Gummiknüppel, Schüsse, das alles war jetzt nicht mehr nötig. Die Straße gehörte, wie der Leitspruch besagte, den Revolutionären. Die einst demonstriert hatten, waren ins Lager der Ordnungskräfte gewechselt. Keine Demonstrationen mehr, außer den offiziell organisierten. Wir waren alle Polizisten. Und es durfte das Bild nicht fehlen, das die Überwachung durch die Nachbarschaftskomitees mit der durch die Uniformierten in Verbindung brachte, ein gut geöltes Gelenk. Die alte Frau, die an dem Polizisten hing, war natürlich ein Spitzel. An vorrevolutionären Instrumenten wurden Stöcke und Fausthandschuhe ausgestellt. Neben einer Bilderfolge von gefolterten Körpern war die vollstän328
dige Uniform von Hauptmann Segura zu besichtigen. (Das Zigarettenetui aus Menschenhaut hätte auch nicht weiter gestört.) Die Gefängnisse wurden von der besten Seite ihres Schreckens gezeigt. Voller Optimismus: Sträflinge bei medizinischen und zahnmedizinischen Untersuchungen, freundliche Innenhöfe zum Empfang von Besuch, Klassenräume, Sportplätze, Laientheater, Bibliotheken, Werkstätten, von weiblichen Sträflingen hergestelltes Kunsthandwerk … Nichts von Kerkern und Strafzellen. Keine Erinnerung an die Erschießungsmauer, auf die Comandante Guevara von seiner Loge aus blickte. Nach den Folterszenen die Fälschungen. Falschgeld aus verschiedenen Ländern, gefälschte Kreditkarten, eine Maschine zur Herstellung von Münzen. Und Dan, der ausgestopfte deutsche Schäferhund. Er saß auf seinem Hinterteil, das Fell in gutem Zustand, mit den Augen einer in der Falle zerquetschten Maus. Ein Schild erzählte seine Lebensgeschichte. Dan stammte aus Prag (sein Hundeführer musste zu einem Ausbildungskurs dorthin) und war jahrelang der einzige Spürhund der Revolutionspolizei. Sein Einsatzrevier erstreckte sich über mehrere Provinzen. Von einem seiner ersten Einsätze blieb diese Zusammenfassung übrig: »Der Mörder bekannte sich in seiner Aussage schuldig und wunderte sich über die Intelligenz des Hundes.« 329
Das Leben dieses nützlichen Hundes fand dennoch ein trauriges Ende: »Dan wurde mit zehn Jahren geopfert, aber er hat unvergängliche Spuren hinterlassen, nicht nur, weil er der erste Hund war, der für die Polizei gearbeitet hat, sondern wegen seiner Gelehrigkeit, seiner Haltung, seiner Disziplin und seiner Leistungsfähigkeit bei der Arbeit, was ihm bei verschiedenen nationalen Wettbewerben zahlreiche Auszeichnungen einbrachte.« Die Wärterin in diesem Saal teilte meine Bewunderung. »Er ist unser Maskottchen«, sagte sie. »Hätten Sie ihn gern lebend kennengelernt?« Meine Frage schien sie zu überraschen. »Ja, natürlich.« In Prag (das hatte ich bei Libuše Moníková gelesen) gab es ein ganz ähnliches Museum. Dort wurden Waffen, eine Maschine zum Fälschen von Geldscheinen und Kunstwerke ausgestellt, die die Künstler den Sicherheitskräften vermacht hatten. Die Hauptattraktion aber war ein ausgestopfter Hund. Ein deutscher Schäferhund, vermutlich ein Verwandter von Dan. Besucher des Museums in Prag waren gehalten, Filzpantoffel anzuziehen. Jeder, der hereinkam, erfreute das Herz der Frau am Eingang (wenn weniger als fünfzehn Besucher täglich kamen, würde das Museum geschlossen), und sie empfahl allen das fantasti330
sche Beispiel für die Kunst der Präparatoren, welches der Heldenhund darstellte. An dem Tag in Havanna indes waren ich und ein Paar, das tatsächlich aus dem Ausland gekommen war, die einzigen Besucher. Durch den Garten führte ein Weg zu dem zweiten Gebäude, das der Arbeit der Geheimpolizei gewidmet war. Obwohl der Eingangsbereich noch feucht war, ließ die Putzfrau mich eintreten. Drinnen gab es eine Fülle von Waffen und Propaganda, die man konterrevolutionären Kommandos abgejagt hatte. »Für die wahre Revolution« stand auf ein paar Zetteln. »Kuba ja, Kommunismus nein« auf anderen. Ein Teil der Symbole der revolutionären Streitkräfte wurden von Gegnern aus ihren eigenen Reihen verwendet. Hohn und Spott war deshalb überall zu finden. Das Bild eines mit erhobenen Händen dastehenden konterrevolutionären Guerrillero wurde humoristisch erklärt: »Bandit im besten Moment seiner fehlgeschlagenen Revolte.« In den Vitrinen lagen gefälschte Pässe und gefälschte Visa. Britische, kanadische, kolumbianische, kubanische … Die Geschichte des Landes ließ sich mit Hilfe dieser Reisedokumente erzählen: ein kolonialer Pass, ein republikanischer und der aktuelle aus der Revolutionszeit. Sie zeigten kubanische Visa aus drei Epochen. Aber keine einzige Ausreisegenehmigung. Vielleicht 331
weil in Ermangelung von Vorläufern aus Kolonialzeit und Republik ihre fesselnde Neuheit aufgefallen wäre. (Suchte man etwas Verwandtes, hätte man schon ein paar Jahrhunderte zurückgehen müssen, zu den Freilassungsurkunden der Sklaven.) Die Säle in diesem Gebäude enthielten die Botschaft, die kubanischen Sicherheitskräfte kämpften gegen jede Gefahr, die das Land bedrängte. Sie wachten über den Schlaf ihrer Bürger, nicht über ihren Wachzustand. Im ganzen Museum war kein Hinweis auf Abhöranlagen oder ein Cabinet Noir zu finden. (Während der Regierungszeit von Louis XV. beschäftigte ein Büro zweiundzwanzig Mitarbeiter, die die verdächtigen Briefe auswählten, das Siegel öffneten, den Inhalt abschrieben und die Briefe wieder versiegelten.) Nach dem zu urteilen, was im Geheimdienstmuseum ausgestellt war, existierten keine Geheimakten. Der Nachmittag in der Berliner Wohnung von G. musste unbegründete Ängste in mir geweckt haben. Es handelte sich genau wie in Graham Greenes Havanna-Roman um vorgetäuschte Spionage. Nicht mehr als ein Spiel. »Möchten Sie sich in unserem Gästebuch eintragen?«, fragte mich die Wärterin, die mich auch schon empfangen hatte. Auf den Seiten des Albums fanden sich Zeichnungen von Fahnen, Skizzen für ein Porträt von Ernesto Guevara, von Touristen aufgeschnappte Parolen. Der 332
jüngste Eintrag, er stammte von dem ausländischen Pärchen, handelte vom Traumcharakter der Revolution. Ihrer Meinung nach träumten die Kubaner ihren Traum für die Menschen in der Welt. Ich klappte das dicke Buch zu und verschwand, ohne etwas hineingeschrieben zu haben. Den Ort verließ ich mit der Gewissheit, dass, selbst wenn sie existierte, ich nie in der Akte, in der man gegen mich ermittelte, herumblättern würde. Und zwar nicht etwa, weil ich nicht hingehen würde, sondern wegen einer überraschenden Passage auf den letzten Seiten von Die Akte Romeo. Dort erzählt Garton Ash, wie er in einer Computerdatei die mehr als dreihundert Seiten der ihm von der Gauck-Behörde zur Verfügung gestellten Akte komprimiert hatte. All diese Arbeitstage und Berichte reduziert auf Taschengröße – das brachte mich auf den Gedanken, wie nützlich es für die Stasi-Offiziere gewesen wäre (ich denke da vor allem an den Besitzer des Reißwolfs), wenn sie digitalisierte Archive gehabt hätten, die mit einem Tastendruck verschwinden, ohne Spuren zu hinterlassen. Und von da war der gedankliche Sprung nicht weit zu den kubanischen Kollegen jener Beamten, vielleicht ihre Schüler, denen noch wer weiß wie viel Zeit blieb, um all ihre angehäuften Informationen auf einen leicht manipulierbaren Datenträger zu übertragen. 333