Terra Astra 499
Der Kaiser von Louden ARNDT ELLMER 2. Teil Die Hauptpersonen des Romans: Lavynna von Dorhagen - Regier...
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Terra Astra 499
Der Kaiser von Louden ARNDT ELLMER 2. Teil Die Hauptpersonen des Romans: Lavynna von Dorhagen - Regierungschefin von Veran. Helder von Anceynt - Sonderbeauftragter des veranischen Ministeriums für Sicherheit Der Kaiser von Louden Ein Mann wird als Verbrecher entlarvt Mira Alcanter Eine Kommandantin in unerbittlichem Einsatz Professor Dan R Ross Ein Wissenschaftler hat den ersehnten Erfolg.
Am 4. Arvil des Jahres 1861 wurde das Ausbildungsschiff TITIUS der veranischen Raumflotte von einem unbekannten Gegner vernichtet. Es stellte sich heraus, daß das Schiff mit der geheimgehaltenen, nie gebauten Gammawaffe beschossen worden war. Alle Insassen waren eines grauenhaften Todes gestorben. Die Imperiumsregierung auf Veran wurde informiert. Lavynna von Dorhagen, die Regierungschefin, und Helder von 2
Anceynt, Sonderbeauftragter des Ministeriums für Sicherheit, erfuhren davon, als sie von einem gemeinsamen Urlaub zurückkehrten. Sie kümmerten sich um den Vorfall. Helder suchte die Unglücksstelle auf. Als einzige Spur hatte er den Ort, an dem der Überfall geschehen war. Er lag in der Nähe des Pentasystems. Während auf dem Planeten Kayshyrstan die Bevölkerung Rat bei ihren Weisen suchte, landete Helder auf Gernot, der dritten Welt der Sonne Penta. Er traf auf einen Tramp, der sich Baron Müllner nannte und Helder einen Hinweis verkaufte. Von Anceynt fand jedoch in Tarags Valley dann nichts außer einem Ring und einem merkwürdigen Geruch, der in der Höhle hinter dem Wasserfall hing. In die Hauptstadt Planck zurückgekehrt, erfuhr er von der Ermordung Müllners. Da er keine Spur fand, die ihm weiterhelfen konnte, verließ Helder schließlich das Pentasystem und kehrte nach Veran zurück. Inzwischen beriet sich auf Kayshyrstan Fürst Yshgonyr mit seinen Landgrafen. Die Weisen machten sich Gedanken über die Zukunft des Planeten und ihres Volkes, das die Grenzen der engen Heimat zu sprengen drohte. Die beiden Welten der Sonne Kay waren so mit sich selbst beschäftigt, daß sie wohl nicht erfuhren, daß ein Handelsschiff die Zustände auf dem Planeten Damrijan entdeckt hatte. Die NASSAU stellte fest, daß dessen Bewohner sich in einem tranceähnlichen Zustand befanden. Die NASSAU gab Sijdon-Alarm. Veran reagierte diesmal schnell. Helder von Anceynt kam nach Damrijan und fand die Bevölkerung im Drogenrausch. Die Menschen nahmen keine Nahrung mehr zu sich. Die ersten waren bereits verhungert. Eine großangelegte Rettungsaktion lief an. Die Wissenschaftler machten sich auf die Suche nach dem Gegenmittel. Helder von Anceynt nahm mit Erfolg die Spurensuche auf. Die Substanz der Droge, in Pulverform vorliegend, erinnerte 3
ihn an den Geruch in der Höhle von Tarags Valley. Kurz darauf entdeckte sein Schiff, die VOLANDRA, einen verdächtigen Schiffspulk in der Nähe der Doppelsonne Tergantil-Pfalz. Helder flog hin. Das Schiff geriet in eine Falle und wurde mit der Gammawaffe beschossen. Die Besatzung starb. Helder von Anceynt, dessen Schädel merkwürdigerweise nicht von der Strahlung betroffen war, hätte vielleicht gerettet werden können. Als aber seine Organe versagten, blieb nur noch ein einziger Ausweg. Der Kaiser von Louden, von dessen Existenz bisher niemand wußte, traf hinter den Kulissen bereits die Vorbereitungen für weitere Aktionen. Unsichtbar zog der Mann mit der Maske seine Fäden. Er wußte, daß er nichts zu fürchten hatte. Er hatte den ersten Kampf gewonnen. 1. Die Bänke der Abgeordneten waren voll besetzt. Das war eine Seltenheit auch in diesem Parlament, das über ein ganzes Imperium zu wachen hatte. Das Hauptthema auf der Tagesordnung brachte die Notwendigkeit einer vollzähligen Anwesenheit allerdings mit sich. Es ging um Damrijan und die vernichtete VOLANDRA. Oben, in den Reihen der Regierungsmitglieder, saß Lavynna von Dorhagen. Ihre Augen auf die vor sich liegenden Unterlagen gerichtet, erweckte sie den Eindruck geistiger Abwesenheit. Sie war nicht bei der Sache. Erst als Wreden Abonmey, der Führer der Volkspartei Verans, das Rednerpult betrat und in gewohnter Weise auf die Mikrofonmembran klopfte, sah sie auf. Abonmey, ein kleiner Mann mit rundlichem Bauch und dazu passendem Glatzkopf, hustete herausfordernd. Er hob eine Hand. 4
„Meine Damen und Herren" begann er lautstark, „Veran hat zwei Parlamente. Eines verwaltet den Planeten, das andere ist für das Imperium zuständig. Selten gibt es Gelegenheit, daß Mitglieder des regionalen Parlaments hier sprechen dürfen. Es ist mir eine Ehre. Gleichzeitig ist diese Tatsache ein Zeichen dafür, daß etwas faul ist im veranischen Imperium, und die Schuld daran trägt diese Regierung!" Er deutete auf Lavynna von Dorhagen. Sie beobachtete seine Mimik und stellte fest, daß er gerade umschaltete. Die theatralischen Einleitungsworte waren vorüber. „Das Imperium ist in Gefahr und mit ihm unser Planet", fuhr Abonmey fort. „Erinnern wir uns, daß am 4. Arvil das Schulschiff TITIUS von einem unbekannten Gegner mit der Gammawaffe vernichtet wurde. Dazu hätte es nie kommen dürfen. Nur einem engsten Kreis von Mitarbeitern und Politikern war bisher bekannt, daß diese Waffe vor Jahren bereits auf dem Papier entwickelt wurde. Damals sorgte die Regierung dafür, daß man sie nie bauen würde. Der führende Konstrukteur, ein Mann namens Xumataka Ern, zog sich zurück und starb." Mehrere Abgeordnete ließen ihrer Überraschung freien Lauf. Sie riefen dazwischen. Der Parlamentspräsident brachte sie mit seiner Glocke zum Schweigen. „Sie haben ganz recht!" rief Abonmey. „Die beteiligten Wissenschaftler mußten damals eine Erklärung unterschreiben, daß sie von ihrem Wissen keinen Gebrauch machen würden. Mehr nicht. Und heute sind wir mit dem Gammastrahler konfrontiert und wissen nicht, wer ihn gebaut hat." Die Regierung hatte in den letzten Wochen seit der Vernichtung des Schulschiffs und dem Fall Damrijan versäumt, die Öffentlichkeit über diese Waffe aufzuklären. Die Presse hatte besser gearbeitet und alte, zum Teil unveröffentlichte Dokumente ausgegraben, die sich mit der Entwicklung des Gammastrahlers befaßten. Die Bevölkerung war beunruhigt. 5
„Wir fordern eine Antwort!" verlangte Abonmey. „Bevor es zu spät ist. Die Regierung hat ihre Unfähigkeit schon genug unter Beweis gestellt." Abonmey verließ das Pult. Der Sprecher der Abgeordneten des Louden-Sektors meldete sich zu Wort. „Wir möchten wissen, was die Regierung bis zur jetzigen Stunde getan hat, um eine weitere Eskalation zu verhindern!" sagte er laut. „Wie es scheint, ist der Louden-Sektor als einziger betroffen. Dort wurde die TITIUS überfallen und auch die VOLANDRA vernichtet Die Vorgänge auf Damrijan erfüllen uns mit Furcht!" Lavynna schickte Hoimand, ihren Regierungssprecher, an die Mikrofone. Sie fühlte sich nicht imstande, eine überzeugende Antwort zu geben. Die Regierungschefin Verans trug schweren persönlichen Kummer mit sich herum. Das Schicksal ihres Freundes belastete sie. Der Regierungssprecher umriß die Maßnahmen, die getroffen worden waren. Er strich heraus, daß sich mehr nicht tun ließ, da der Gegner nicht bekannt und somit unverwundbar war. Er konnte zu jeder Gelegenheit an einem anderen Ort zuschlagen. „Wir können nicht den Louden-Sektor gegen das übrige Imperium abriegeln", sagte Hoimand. „Das hieße, den Sektor in jeder Hinsicht zu isolieren. Jedes einfliegende Schiff müßte von oben bis unten kontrolliert werden. Und selbst dann wäre die Gefahr nicht gebannt. Bisher liegen keine Anzeichen darüber vor, ob der Gegner von innerhalb oder außerhalb Loudens kommt." „Soll das heißen, Sie ziehen die erste Möglichkeit in Betracht?" fragte der Sprecher der loudenischen Abgeordneten von seinem Platz aus. „Louden ist ein friedlicher Sektor. Mit Ausnahme des Spielerplaneten Garnes gibt es so gut wie keine Kriminalität." Und nach einer Pause fügte er hinzu: „Im Unterschied zu Veran." Nach dem Zwischenfall mit der VOLANDRA hatte die 6
Regierung eine umfangreiche Suche nach dem Schiffsverband begonnen, der in der Nähe der Doppelsonne Tergantil-Pfalz beobachtet worden war und dem Patrouillenschiff den Untergang gebracht hatte. Sie war ergebnislos verlaufen. Wie bei der TITIUS war der Gegner spurlos verschwunden. „Das mag der Fall sein", entgegnete Hoimand. „Seit acht Wochen ist es ruhig im Louden-Sektor. Die verstärkten Patrouillenflüge erbrachten keine neuen Aktivitäten des Gegners. Hoffen wir, daß es so bleibt." Das größte Problem waren die Zustände auf Damrijan. Die eingesetzten Helfer, sie hatten die Besatzungen der Handelsschiffe inzwischen abgelöst, konnten nicht für immer dort bleiben und die Bevölkerung ernähren wie kleine Kinder. Eine Aussicht, das Gegenmittel zu finden, bestand ebenfalls kaum. Die Wissenschaftler waren nicht weitergekommen. Der Regierung fehlte ein Trumpf, ein Mittel, das Aufsehen erregte und die Gemüter der Menschen beruhigte. Hoimand sah zur" Regierungsbank hinüber. Der Platz der Regierungschefin war leer. Lavynna von Dorhagen hatte die Sitzung verlassen. Irgendwo in den Weiten des Gebäudetrakts war das Weinen einer Frau. Aber er hörte es nicht. Sein Bewußtsein war weit weg von dem Ort, wo die Männer und Frauen in ihren weißen Kitteln und dem Mundschutz aufgeregt umherrannten, sich auf dem Flur Anordnungen und Ergebnisse zuriefen, dann wieder in Zimmern verschwanden. Aus einem Gebäudeflügel, an dessen Eingang ein großes Schild „Zutritt verboten" hing, ertönte das Ticken und Klicken vieler Uhren. Einen Raum von der Größe eines Büros nahmen allein die Zusatzgeräte in Anspruch. Drei Ärzte und zwei Helferinnen waren allein mit dem Ablesen der Werte der Anzeigen dieser Geräte beschäftigt. Über Funk wurden sie weitergegeben in die Etage darüber, wo ein Team aus dreißig Spezialisten mit der schwierigsten Operation zu tun hatte, die 7
in der Geschichte der Klinik je durchgeführt worden war. Zwei Operationen derselben Art hatte es schon in anderen Krankenhäusern gegeben. Sie waren schiefgegangen. Die Ärzte wußten, daß sie sehr viel Glück und Geschick benötigten, sollte ihnen Erfolg beschieden sein. Kein Fehler durfte ihnen unterlaufen. Selbst die geringste Unaufmerksamkeit konnte den Tod herbeiführen. Seit sechs Wochen waren sie mit dieser Operation beschäftigt. Fast mechanisch liefen ihre Teile nacheinander ab. Die dauernde Konzentration, nur von Schlafpausen unterbrochen, zerrte an den Nerven der Ärzte und Helfer. Die Nervosität übertrug sich auf die ganze Klinik. Außerhalb des abgeschirmten Traktes murrte das Kantinenpersonal, das Überstunden für das Operationsteam machen mußte, da dieses seine Mahlzeiten nur unregelmäßig einnehmen konnte. Die Wachmänner mußten den Rhythmus ihrer nächtlichen Kontrollgänge umstellen, da sie den abgeschirmten Trakt nicht betreten durften. Dann aber schien alles vorüber. Die Hektik und die Aufregung schwanden. Eine kurze Zeit der Ruhe trat ein, in der der Patient hauptsächlich der Überwachung durch die Geräte anvertraut war. Nichts deutete darauf hin, daß die Ärzte einen wochenlangen Kampf gegen den Tod geführt hatten. Wie es aussah, hatten sie ihn gewonnen. Helder von Anceynt war noch immer bewußtlos. Das Zimmer, in dem er lag, war abgedunkelt. Alle zehn Minuten kamen zwei Männer, kontrollierten die Meßgeräte, die rings um sein Bett standen, notierten sich die Werte, trugen sie hinaus in ein anderes Zimmer, verglichen sie mit den über zwanzig Diagrammen, die dort an der Wand hingen, und warfen sich ihre Bemerkungen dazu zu. Und dann nickten sie, legten ihre Notiztafeln weg und gingen zum Schreibtisch, wo das Telefon stand. Sie informierten die neun Professoren, die die Operation geleitet hatten, die zwölf Doktoren und 8
Doktorinnen und das Pflegepersonal. Der Mann, der den adligen Namen Helder von Anceynt trug, der ihn als hohen Beamten eines Ministeriums auswies, erwachte. Der erste Gedanke war Unverständnis. Nichtbegreifen einer Wahrnehmung gegenüber, die es nicht geben durfte. Da war weit in der Ferne ein kleiner, heller Fleck, der langsam größer wurde und sich teilte. Ein Reizimpuls irgendwo in einem Körper, den es nicht mehr geben konnte. Es war eine Vision. Ein gleichmäßiges Summen erfüllte die neue Welt. Es schwoll an, je größer die beiden weißen Flecke wurden, die immer näher kamen, immer schärfer wurden und einen zuckenden Rand bildeten. Das Summen verwandelte sich in gleichmäßiges Brummen. Dann tauchten in den weißen Flecken die ersten Schatten auf, farblose Schemen, die nicht zu dem gehörten, was er empfand. Er kam zu sich und formulierte einen Gedanken. Es war der Gedanke an eine Frau, und es war ein Name: Lavynna. Jetzt eilten die weißen Flecke mit rasender Geschwindigkeit auf ihn zu, füllten seinen Gesichtskreis aus. Verschwommen sah er helle und glitzernde Gegenstände, die sich bewegten. „Ich bin Helder von Anceynt", sagte das Bewußtsein in seinem Innern. Helder begann zu sehen. Er schlug nicht die Augen auf. Sein Sehvermögen kehrte langsam, aber stetig zurück. Immer deutlicher wurde die Umgebung vor seinen Augen, bis die Bilder in seinem Gehirn in einer Schärfe und einem Kontrast entstanden, daß er geblendet die Augen schließen wollte. Es ging nicht, lediglich die Lichtfülle nahm ab. Aus dem Nebenraum las jemand Meßwerte vor. „Adaptionsschwierigkeiten mit der Sehschärfe", sagte einer der Ärzte. „Der Computer zeigt an, daß er Tönungsblenden eingeschoben hat. Erste Bewährungsprobe." Helder begann vorsichtig, die Bilder zu verarbeiten, die er sah. Er sah unbekannte Gesichter, die ihn aufmerksam 9
anstarrten. Sie schienen erwartungsvoll und doch zugleich zweifelnd. Was sollte er von ihnen halten? Dazwischen das Gesicht einer Frau, die er kannte. Dr. Ja Sankaroy. „Ich lebe", dachte Helder und erkannte, daß er voll bei Bewußtsein war. Er erinnerte sich an die letzten Eindrücke vor seinem Tod. Da war die glimmende Konsole gewesen, die Metallstütze eines Sessels. Und der Schmerz einer elektrischen Entladung, die seinen Körper gestreift hatte. Eine warme Woge durchflutete ihn. Er war gerettet worden. Von Ja Sankaroy, die ihn jetzt vorsichtig anlächelte. Ihre Gesichtsfalten traten streng hervor. Früher hatte er das gar nicht wahrgenommen. Er bewegte leicht den Kopf. Es fiel ihm nicht schwer. Mühelos drehte er ihn von einer Seite auf die andere. Die Augen der Menschen folgten ihm. Er wollte die Hände haben. Er spürte den Widerstand. Sie waren festgebunden. Die VOLANDRA! Die Gammastrahlung! Was war geschehen? Eine Gestalt beugte sich vorsichtig über ihn. Es war Ja Sankaroy. „Können Sie mich hören, Helder?" fragte sie leise. Von Anceynt nickte. „Sie sind gerettet, Helder", sagte sie weiter. Langsam begann sie zu berichten. Schonend erzählte sie von seiner Rettung, von den Problemen und dem einzigen Ausweg, der geblieben war. „Sie hat gekämpft wie eine Löwin für ihr Junges", flüsterte die Ärztin und meinte Lavynna. In wenigen Worten bereitete sie Helder darauf vor, daß er vor einer Entdeckung stand, die ihn schwer belasten würde. Und je schwerer sie es ihm darstellte, wußte sie, desto leichter würde es ihm fallen, die Realität zu akzeptieren. „Sie haben mich gerettet, auf welche Weise auch immer", dachte Helder und gab keine Antwort. Langsam richtete er seinen Oberkörper auf. Das Kinn sank auf die Brust. Leblos starrten die Augen auf den stählernen 10
Rumpf, aus dem das leise Summen kam. Das war also er, der gerettete Helder, der neue von Anceynt. Ein Metallkörper. Wie von fern hörte er die Stimme der Ärztin, die schonungslos weitersprach. Sie erzählte von der wunderbaren Rettungsaktion, von der Operation und allem, was sie für ihn getan hatten. „Und sie haben mein Gehirn in eine Nährlösung gelegt, Millionen künstlicher Nervenfasern mit meinem Gehirn und einem Computer verbunden, der mich steuert", wiederholte er in Gedanken ihre Worte. „Und sie haben mich wiedererweckt. Jetzt bin ich in der Lage, zehnmal schneller zu reagieren als ein Mensch." Halb aufgerichtet begann er zu reden. Er erschrak vor der Stimme, die nicht die seine war, aber der Computer in seinem Innern gab den Impuls nicht an den Körper weiter. Es bestand keine entsprechende Verbindung. Helder konnte nicht zusammenfahren wie ein Mensch, den man erschreckte. „Ich lebe, das allein ist wichtig", sagte er. Man hatte versucht, die mechanische Stimme der seinen anzugleichen, aber sie klang trotzdem künstlich und metallen. Ja Sankaroy redete weiter auf ihn ein. Er legte sich zurück. Sie stellte Fragen. Seine Antworten wurden mit der Zeit übersichtlicher, zusammenhängender. Helder von Anceynt begann, gezielt zu fragen. Zwei Stunden sprach er mit Ja Sankaroy, und nach und nach mischten sich auch die anderen Ärzte in das Gespräch ein. Schließlich entfernten die Pfleger die Stahlklammern, die den blinkenden Körper an das schwere Metallbett fesselten. Sie taten es staunend. Zum erstenmal war es gelungen, ein menschliches Gehirn in einen Körper aus Metall und Plastik zu verpflanzen. Der erste vollprothetische Mensch lebte. Langsam erhob sich Helder von Anceynt. Jede Bewegung, die der Körper auf seinen Gedankenbefehl hin ausführte, berührte ihn seltsam. Es war, als führte ihn eine unsichtbare 11
Hand aus dem Jenseits. „So kommt man sich vor, wenn man von den Toten aufersteht", murmelte er. Unsicher versuchte er die ersten Schritte. Dann ging er im Zimmer auf und ab. Langsam gewöhnte sich sein Verstand an die Schärfe der Bilder, die seine Augen übermittelten, an die schmerzenden Grenzen zwischen Licht und Schatten. Er ließ sich von Ja Sankaroy in einen Testraum führen. Die Ärzte wollten mit der Überprüfung seiner Funktionen und Reaktionen beginnen. Was sie ihm nicht sagten: Es handelte sich nicht nur um medizinisch-technische Routineuntersuchungen, sondern um eine bis ins kleinste Detail ausgeklügelte Psychotherapie, die ihn langsam an den neuen Zustand gewöhnen sollte. Helder machte mit. Noch hatte der zwangsläufige Konflikt zwischen Rettung und Dasein in einer Maschine von ihm keinen Besitz ergriffen. „Doktor Ja Sankaroy, Doktor Ja Sankaroy, bitte sofort in die Sperrzone!" dröhnten die Lautsprecher von den Wänden der Klinik. Nach zehn Sekunden und einer weiteren halben Minute wurde die Durchsage wiederholt. Zu diesem Zeitpunkt hatte Ja Sankaroy aber bereits Funkkontakt zu den hermetisch abgeriegelten Zimmern, in denen Helder von Anceynt untergebracht war. „Was gibt es?" fragte sie ahnungsvoll. „Es ist eingetreten, was Sie vorausgesagt haben", teilte ihr Winsow Vosolow, der Kopf Chirurg, mit. „Ich komme!" antwortete sie und eilte davon. Es war passiert. Ziemlich früh zu Beginn der Therapie war der Punkt eingetreten, den sie so weit wie möglich vor sich her zu schieben versuchte. Die Therapie war nicht so vorangeschritten, den Patienten von seiner unüberlegten Tat abzuhalten. Von Anceynt hatte die Einrichtung des Zimmers demoliert. Ja Sankaroy stürmte in die bewachten Zimmer hinein. Auf 12
dem Bett, auf dem er erwacht war, saß Helder von Anceynt, ein Häufchen Elend. Den Kopf in die Hände gestützt, seufzte die Maschine leise vor sich hin. Keine Tränen rannen aus ihren Augen. Doktor Ja Sankaroy setzte sich daneben. Sie legte den Arm um das kalte Metall. „Helder", sagte sie laut. „Helder, kommen Sie zu sich. Sie dürfen uns jetzt nicht im Stich lassen!" Langsam ruckte der Kopf des Roboters zur Seite. „Lavynna", sagte er. „Ich muß an Lavynna denken. Und je mehr ihr Bild vor meinen Augen steht, desto mehr wird mir bewußt, daß ich kein Mensch mehr bin." Wie beschwörend hob er die metallenen Arme. „Können Sie fühlen, was es bedeutet, kein Mensch mehr zu sein? Keiner mehr sein zu können?" Die Stimme klang hart und kreischend. „Versuchen Sie, an etwas anderes zu denken, Helder", vermittelte Ja Sankaroy. „Überlagern Sie das Bild Lavynnas!" „Es geht nicht!" schrie die Vollprothese. „Ich kann diese Frau nicht vergessen!" Langsam sanken seine Arme herab. „Mein Gott", vibrierte er, „ist es so schwer zu verstehen, daß ich sie nicht aus meiner Erinnerung löschen kann? Sie ist schon ein Stück von mir." „Trotzdem sollten Sie versuchen, vernünftig zu bleiben, Helder", sagte die ehemalige Bordärztin der VOLANDRA eindringlich. „Sie können es nicht ändern." „Es ist der Preis für mein Leben, ich weiß," antwortete er. „Er ist hoch, sehr hoch. Ich weiß nicht, ob ich mich damit abfinden kann." Sie betrachtete die Gestalt, die hoch aufgerichtet neben ihr saß. „Versuchen Sie es, Helder. Ich helfe Ihnen dabei!" Lag es daran, daß die beiden Frauen unter sich waren? 13
Lavynna von Dorhagen weinte hemmungslos. Ja Sankaroy umarmte sie, versuchte, sie zu trösten. Auf dem schnellsten Weg war sie in einen benachbarten Gebäudeflügel geeilt, wo sie die Regierungschefin wußte. Über zwölf Stunden wartete Lavynna schon. „Es geht ihm gut", beruhigte sie das schluchzende Nervenbündel. „Er spricht und geht umher." „Er wird nie wieder ein richtiger Mensch sein", weinte Lavynna. „Wir haben alles getan, sein Leben zu erhalten. Darum sind wir von mehreren Seiten gebeten worden. Auch von Ihnen." „Ich weiß. Ich bin Ihnen dankbar! dafür. Aber ich brauche Zeit, mich darauf einzustellen." „Auch Helder benötigt diese Zeit. Es ist vielleicht günstig, wenn ich Ihnen erkläre, was wir mit ihm gemacht haben. Die Einzelheiten lassen Sie besser verstehen, was mit Helder von Anceynt jetzt los ist und was aus ihm werden kann." Ja Sankaroy machte den Vorschlag spontan. Sie hielt es für richtig, die Regierungschefin zunächst einmal von ihren Problemen abzulenken und von ihren Gedanken, wie sie es auch bei Helder gemacht hatte. Mehrmals hatte er bis ins kleinste Detail erfahren, wie er zu seiner Vollprothese gekommen war. Die Nüchternheit der Darstellung hatte bei Helder geholfen, auch bei Lavynna würde sie nicht verfehlt sein. Ja Sankaroy eilte hinaus und besorgte Bilder und Diagramme, um ihre Worte zu veranschaulichen. „Das schwierigste war die Isolierung des Gehirns von allen Nervenleitern und dem Rückenmark", erklärte sie Lavynna dann. „Dazu mußte der Schädel gevierteilt werden. Vierunddreißig Stunden wurden dazu benötigt. In dieser Zeit mußte das Gehirn wie bisher durchblutet und mit Sauerstoff versorgt werden. Der Robotkörper mit seinen zwei Millionen künstlicher Nervenfasern stand schon bereit. Das Gehirn wurde verpflanzt. Es wurde in die offene 14
Schädelhöhle der Prothese gelegt. Die künstlichen Fasern drangen sofort in das Gehirn ein und verschmolzen mit den Nervenknoten. Das geschah willkürlich. Vierundfünfzig Tage, in denen das Gehirn mit Medikamenten in Tiefschlaf gehalten wurde, mußte mit dem Computer experimentiert werden, bis feststand, welche Fasern welche Impulse übertrugen. Die Gefahr, daß wichtige Nervenstränge etwa des Sehvermögens nicht von den Fasern erschlossen wurden, war sehr klein. Aber eine Fehlübertragung auf den Computer hätte dazu führen können, daß sich beim Gedankenimpuls des Sprechens ein Arm hob oder ein Fuß bewegte. Das mußte ausgeschaltet werden." Lavynna von Dorhagen nickte. „Das ist alles recht und gut", sagte sie. „Aber wie sieht es mit den anderen Dingen aus, die einen Menschen ausmachen? Was macht sein Gefühlsleben? Kann er wie ein Mann empfinden?" „Der Geschlechtstrieb des Bewußtseins ist natürlich blockiert", gab die Ärztin zu verstehen. „Vom Gehirn geht zwar ein Reizimpuls aus, aber der Computer filtert ihn aus. Haß, Reue, Gefühle allgemein werden aber weitergeleitet. Sie drücken sich in Verhalten und Bewegung aus, wie beim menschlichen Körper auch." „Aber er ist eben doch - verglichen mit einem normalen Menschen - ein Krüppel. Wie wird er seelisch damit fertig?" „Bisher gab es nur einen Rückschlag. Als er Ihren Namen ausrief, verlor er die Beherrschung. Sein psychischer Momentzustand ist die einzige Unbekannte. Wir arbeiten darauf hin, eine anhaltende Stabilität auch in dieser Beziehung zu erreichen." Dr. Ja Sankaroy schob Lavynna von Dorhagen weitere Schaubilder hinüber. „Der neue Zustand hat auch Vorzüge gegenüber einem normalen Menschen. Bei der Verbindung des Gehirns mit dem künstlichen Rückenmark ist der Hypothalamus nicht in 15
Mitleidenschaft gezogen worden. Das Gehirn hat sich seine Instinktfähigkeit bewahrt. Es verarbeitet mit Hilfe des Computers seine Wahrnehmungen viel schneller und kann dementsprechend schneller reagieren." Lavynna wischte sich Tränen aus dem Gesicht. „Bezüglich meiner Bitte", sagte sie langsam. „Konnten Sie etwas unternehmen?" „Ja. Es ist uns gelungen, aus dem Körper Helders einwandfreies Material zur Züchtung einer Samenzelle zu gewinnen. Wir werden Sie rechtzeitig informieren. Im Augenblick fehlt uns die Zeit." Lavynna von Dorhagen faßte sich. Sie schöpfte neuen Mut, wenn sie sich auch bewußt war, daß Helder nie mehr der sein würde, der er vorher war. Ein Mensch mit allen Vorzügen und Nachteilen. Aber eben ein Mensch. 2. „Sie sind unruhig. Ich kann sie nicht mehr lange hinhalten!" Rendendag, der Blaulandgraf, deutete auf das Meer von Menschen vor der Stadt. Wild wogten die bunten Kleider über die Straßen und überfluteten die Felder und Wiesen, teilten sich in zwei Ströme, zogen dem Meer und den Bergen zu. „Was nun?" fragte der Graf. Lotho Ulmas beobachtete den rituellen Marsch der Bewohner Ramallahs mit besorgtem Gesicht. „Ich habe zu ihnen gesprochen", antwortete er. „Sie haben auf mich gehört. Aber es liegt Wochen zurück. Heute ist der siebzehnte Aschraf." „Ist es ein besonderer Tag?" „Erinnere dich an die Überlieferung, mein Graf. An diesem Tag kam unser Volk nach Kayshyrstan." „Es muß lange her sein, ich kenne die Überlieferung genau." 16
„Verzeih, es steht in den Büchern der Weisen, die du nicht kennst." Rendendag deutete auf die Menschenmassen, die über die Ebene quollen und in der Ferne verschwanden. „Wo werden sie hingehen?" „Sie erinnern sich des bedeutsamen Tages und werden einen Weg suchen, dorthin zu pilgern, wo sie einst hergekommen sind." „Niemand weiß, woher wir stammen, wo unsere Urheimat ist", betonte der Landgraf. „Woher will es das Volk wissen?" „Es läßt sich vom Instinkt leiten. Vielleicht findet es seinen Weg." Lotho Ulmas beobachtete das Verhalten der hunderttausend Bürger Ramallahs, die ihre Stadt verließen. „Mit Sicherheit besitzen sie so etwas wie einen Herdeninstinkt", fuhr der Weise fort. „Sie benutzen ihn, um ein größtmögliches Maß an Gemeinsamkeit und Wunschdenken zu produzieren." . „Sie sehnen sich nach der Befreiung, sagen sie. Was verstehen sie unter Befreiung? Ich sehe sehr wohl, daß die Entwicklung unseres Planeten an einer Grenze angekommen ist, die durch die Elemente Luft und Wasser bestimmt wird. Wohin soll es gehen?" „Irgendwohin. Sieh sie dir an. Sie haben kein festes Ziel. Sie wollen nur fort. Es ist ein seelisches Bedürfnis dem sie nachkommen. Niemand! kann sie aufhalten." „Sie werden in den übrigen Ländern Kayshyrstans einfallen und Verwirrung stiften", stellte Rendendag betroffen fest. „Die Grafen werden mich beschimpfen, wenn ich es nicht zu verhindern weiß." „Sie werden nichts Böses tun. Die Bewohner anderer Städte Blaulands und anderer Länder werden sich ihnen anschließen, bis sich alle auf dem großen Marsch rund um den Planeten befinden." 17
„Niemand kann sie aufhalten. Wir haben versagt!" Rendendag sah zu Boden. „Es gibt noch eine Möglichkeit!" rief Lotho Ulmas. Mit beiden Händen zwirbelte er seinen Schnauzbart zu kräftigen Spiralen. „Wir müssen uns nur beeilen." Und unter den zweifelnden Blicken des Blaulandgrafen sagte er: „Sie ziehen um den Planeten und werden dabei durch die Hauptstadt kommen. Wenn die Weisen und Landgrafen zusammen dort einen Kreuzzug ausrufen, werden sie das Volk wieder hinter sich haben und die Entwicklung lenken können!" Rendendag machte ein skeptisches Gesicht. „Es ist die letzte Möglichkeit", beschwor ihn der Blaulandweise. „Komm, wir müssen die Grafen und Weisen benachrichtigen!" Fast alle waren sie zu Hause. Gander, der Rothofweise, der in einer Laube aus Rosenbüschen lebte, lächelte sie überlegen an. „Ich habe bei der Abstimmung einen schwarzen Zettel geworfen", sagte er. „Geht zu Helm Shepar, dem Rothofgrafen. Er wird euch weiterhelfen." Aber der Rothofgraf war verreist. In Grünsenke wimmelte es von Lurchen und Reptilien. Sie verwehrten den eilig Reisenden den Durchgang. Lotho Ulmas mußte sich an das Ufer des Anemonensees stellen und laut nach Ten Leuhe rufen. Das Warten dauerte eine Ewigkeit. Endlich erschien ein kleines Boot, in dem der Weise der Grünsenke saß. Sein schwankendes Gefährt wurde von einem Kranz junger Krokodile eskortiert. „Sie gehorchen mir. Ich habe sie aufgezogen und dressiert", begrüßte er die leichtfüßigen Boten. „Was führt euch her?" Sie erklärten es ihm. „Dann ist Eile geboten. Ich werde die Drachen satteln. Wir finden Balsterdal in seinen Pflanzungen." „Gut, daß wir dich getroffen haben", meinte Rendendag. „Da hätten wir den Grafen der Grünsenke lange in seiner Hauptstadt suchen können." 18
Sie folgten Ten Leuhe in die Schlammgruben, wo seine Drachen weideten. Er sattelte drei, dann brachen sie auf. Für den Blaulandgrafen und seinen Weisen war es das erste Mal, daß sie auf einem der sagenhaften Tiere ritten. „Beeilen wir uns!" rief Ten Leuhe, der mit dem Leittier voranritt. „Bald kommt die Flut. Dann ist dieser Weg unpassierbar." Sie erreichten die Pflanzungen und unterrichteten Balsterdal. Dieser schwang sich auf seinen Tamper und folgte den drei Männern zurück durch die Sümpfe, bis sie die Reittiere des Blaulands vor sich sahen. „Wir bleiben zusammen", schlug Lotho Ulmas vor. „Wir rollen alle Länder bis Gondyr von hinten her auf. So verlieren wir keine Zeit." Sie jagten davon. Ginsterlandgraf Gassner trafen sie unterwegs an der Hauptstraße. Er schloß sich ihnen kommentarlos an. Seinen Weisen mußten sie allerdings suchen. Syrwinkel lag auf zwei Arnikabrettern in der Sonne und meditierte vor sich hin. „In Gondyr sind drohende Wolken!" rief Lotho Ulmas ihm zu. Augenblicklich erhob sich der Ginsterlandweise und eilte nach Hause, wo er sein Reittier hatte. „Wo Wolken sind, müssen sie vertrieben werden", rief er über die Schulter zurück. Wie der Wind ritten sie nach Rebland hinein. Noch immer war es Tag. Rendendag überschlug die Stunden. Wenn sie die übrigen Weisen und Grafen sofort erreichten, konnten sie vor Mitternacht fertig sein. Fraawe Uß erwartete sie bereits. Zu ihm war die Kunde von den Vorgängen in Blauland bereits vorgedrungen. Er führte sie zu Fragoler. Der rundliche Reblandgraf lag zu Bett. „Ich leide unter der Hitze", flüsterte er schwach. „Reitet ohne mich." „Es geht ihm nicht gut", flüsterte Fraawe Uß hinter 19
vorgehaltener Hand. „Sein Leibarzt Mullo befürchtet, daß er bald das Zeitliche segnet." Die Weisen verneigten sich und verharrten zwei Minuten schweigend. „Möge er gesund werden", sagte Ulmas dann. Ihr Weg führte an Felsland vorbei nach Hügelhain. Von weitem sahen sie die Herden, die in den Hügeln weideten. Sie erreichten die Holzhöhle, in der Wolketon seine wissenschaftlichen Versuche unternahm. In einer Glocke aus Dunst, Staub und Pulverdampf sahen sie den Weisen knien. „Bald habe ich es", dozierte er und schüttete eine sandfarbene Flüssigkeit zu Boden. „Demenga Fraisin wird sich freuen." Graf Fraisin hatte ihn beauftragt, für das nächste Reiterfest neue Überraschungen zu erfinden. Die Flüssigkeit war eine davon. Sie hatte sich inzwischen am Boden verteilt. Langsam nahm sie eine helle Farbe an, begann zu leuchten. Nach mehreren Minuten entzündete sie sich und brannte, bis ihre Substanz aufgebraucht war. Lotho Ulmas, der heilige Scheu vor dem Umgang mit solchen Dingen besaß, benutzte die Gelegenheit. Er trat ein und sprach mit Wolketon. Sie benachrichtigten Demenga Fraisin, den sie nicht antrafen, und ritten jetzt hinauf nach Felsland. Dort teilten sie sich. Lotho Ulmas trommelte Bardybar und Ericman aus dem Schlaf des Vorabends, während Rendendag und die anderen Felsland überquerten und zur Rückseite des Planeten nach Wolwerhöhe ritten. In Toromyn wurden sie jedoch abgewiesen. Foxyarden scheute die weite Reise bei Nacht, Wardhes Eduer sah keinen Sinn in dem Vorhaben des Blaulandweisen und verschwand grußlos in seiner Unterkunft. In Pilzwälder trafen die beiden Gruppen zusammen und legten die letzte Wegstunde bis nach Gondyr zurück. Sie hatten die Menschenmassen Ramallahs und drei weiterer 5 Städte überholt. 20
„Sie kommen!" Laut hallte die Stimme über den Schloßhof Gondyrs. Yshgonyr trat aus dem Wohnflügel des Palasts heraus. Er trug den silbernen Mantel der Entscheidung. Langsam schritt er die Reihen seiner Grafen und Weisen ab. Die von Sonnenebene, Rothof, Wolwerhöhe und Erntereich fehlten. Wasserland und Pfahlstädte waren rechtzeitig eingetroffen. Sie hatten das Schiff benutzt. Von Süden her wälzte sich eine ungeheure Woge pilgernder Menschen der Hauptstadt entgegen. Sie bildete einen vielfarbigen Teppich, der das Grün der Landschaft überlagerte und keine Begrenzung hatte. Der Herrscher Kayshyrstans trat an die Balustrade. „Sie werden zum Teil durch Gondyr ziehen", sagte er zu Ulmas. „Oder sie schicken eine Abordnung zum Palast." „Wenn Ihr erlaubt, mein Fürst, werde ich mit ihnen reden", bot Ulmas an. Yshgonyr nickte. „Meine Entscheidung ist gefallen", sagte er. „Bald wird es soweit sein, daß ich meinen Mund auf tun kann. Solange müßt Ihr, Weiser Ulmas, das Volk ablenken. Nichts könnte mehr schaden als ein seelisches Chaos. Wenn ich die Menschen Kayshyrstans und Hojans rufe, müssen sie gesund sein." Die Spitze der Menschen woge hatte die Stadt erreicht. Sie kam zur Ruhe. Ihr Stimmengewirr lag wie die Brandung des Ozeans über den Zinnen des Schlosses. „Etwa zweitausend Menschen betreten die Stadt und kommen zum Schloß", rief jemand vom Südturm herunter. In Gondyr selbst war es seltsam ruhig. Der Fürst hatte den Einwohnern befohlen, in ihren Häusern zu bleiben. Schweigend wartete er, bis die Menschen die Straße vor dem Schloß erreicht hatten. Dann gab er dem Blaulandweisen einen Wink. Lotho Ulmas redete. Er sprach von der Vergangenheit, von den Anfängen, sagte Dinge, die in den Büchern der Weisen standen und den meisten Menschen nicht geläufig waren. Er erzählte ihnen vom Werden und Vergehen des Universums und 21
des Menschen. Er berichtete ihnen von den Zuständen draußen in der Milchstraße, auf anderen Planeten, und führte ihnen vor Augen, welch ein Paradies Kayshyrstan dagegen war. „Und dieses Paradies wollt ihr verlassen?" fragte er. Die Menschen antworteten. Zuerst vereinzelt, dann gemeinsam. In einem einzigen tönenden Sprechchor gaben sie ihre Antwort. Sie mußten hinaus. Sprachen doch die Anzeichen der Seele dafür. Daß es ihnen den Brustkorb einschnürte, wenn sie sich gedanklich damit befaßten. Daß es vielen unerträglich geworden war, in den Wänden einer Wohnung in einem Haus einer engen Stadt zu leben. Daß sie mehr Freiraum benötigten, wenn sie nicht verkümmern wollten. Lotho Ulmas warf einen scheuen Blick zu Yshgonyr hinüber. Es ging nicht anders. Er mußte die Initiative ergreifen. „Ihr habt recht!" rief er laut. „Und weil es so ist, rufe ich hier und in dieser Minute den heiligen Kreuzzug aus. Laßt uns aufbrechen, unseren Planeten umwandern und dann hinaus in die Ferne gehen, zu neuen Zielen, wie es uns zusteht!" Seine weiteren Worte gingen im tosenden Jubel der Menschen unter. Lotho Ulmas, der Weise unter den Weisen, zog sich zurück. Er wußte, daß es nicht anders ging. Aber er zweifelte innerlich, ob der Weg in die Zukunft der richtige war, den sie begehen wollten. Was plante der Fürst? Unbarmherzig sandte die weiße Sonne Warschauz ihre Strahlen auf die Oberfläche des siebten Planeten, der sich innerhalb des engen Bereichs der Ökosphäre des Systems befand. Sie beleuchtete eine trostlose, menschenleer gewordene Welt. Professor Dan Ross stand händeringend auf dem reflektierenden Belag des Raumhafens, auf dem die Zeltlaboratorien errichtet worden waren. Er sprach mit Mira Alcanter, die noch immer auf Damrijan weilte und die Einsatzkoordination leitete. „Es ist wie verhext", sagte der Professor. „Seit Tagen treten 22
wir auf der Stelle. Es muß einen Weg geben, die Droge in allen ihren Bestandteilen zu analysieren. Warum es nicht gelingt?" Ross zuckte hilflos mit den Schultern. Er zählte die Wochen nicht mehr, die er schon im Zelt zwischen Reagenzgläsern, Kochern, Polymerisaten und Abstrichen lebte. „Nach den neuesten Schätzungen dürfte die Hälfte der Bevölkerung des Planeten ums Leben gekommen sein", antwortete Mira Alcanter. „Wir haben inzwischen Anzeichen dafür, daß sie nicht nur verhungert und verdurstet sind. Auch ein Teil der von uns zwangsverpflegten Menschen neigt mit der Zeit zu Siechtum und Absterben. Es muß eine Langzeitwirkung der Droge sein. Deshalb, Professor, liegt uns soviel daran, daß Sie und Ihre Mitarbeiter bald zu einem Ergebnis kommen. Heute morgen habe ich mit Veran gesprochen. Man sichert uns weitere Unterstützung zu. Es ist an eine Verdoppelung des Forschungspersonals gedacht." „Hat man eine Mitteilung gemacht, wie die Untersuchungsergebnisse auf Veran aussehen?" Nach der Vernichtung der VOLANDRA waren Proben in die Laboratorien nach Veran gebracht worden. Eine kleine Menge des Drogenstoffs wurde auf Gernot untersucht. „Es sind keine Fortschritte erzielt worden", antwortete Mira. „Auch von Gernot treffen täglich negative Ergebnisse ein. Zwar hat man auf beiden Planeten mit anderen Untersuchungsreihen begonnen, ist aber auch zu keinem Ergebnis gekommen. Die Chance, daß das Gegenmittel dort früher gefunden wird als hier, ist eins zu hunderttausend." Dan Ross nickte. „Wenn wir weiter keine Ergebnisse erzielen, ist es unter diesen Gesichtspunkten nur eine Frage von Wochen, bis Damrijan ausgestorben ist. Wenn wir nur ein Lager der Droge finden würden oder den Urheber ihrer Verbreitung auf Damrijan!" Professor Dan Ross zog sich in sein Zelt zurück. Nach einer 23
kurzen Verschnaufpause stürzte er sich wieder in die Arbeit. Mira Alcanter ging hinüber zu den sechs Lazarettschiffen, die in den letzten fünf Wochen nach Damrijan abgestellt worden waren. Die Besatzungen befanden sich ohne Unterbrechung im Samaritereinsatz. Längst war der Sijdon-Alarm abgeblasen. Die Routine war eingekehrt auf Damrijan, und darin lag das Gefährliche. Die Politiker hinkten zwar mehrere Wochen hinterher, was die Aktualität ihrer Debatten zu diesem Thema betraf, aber auch bei ihnen würde es nicht mehr lange dauern, bis der „Fall Damrijan" aus den Tagesordnungen verschwand. „Als ein Problem, das nicht gelöst werden kann", dachte Mira mit Bedauern. Da draußen, jenseits der Stadt, lag die Natur des Planeten, eine üppig vor sich hin wuchernde Pflanzenwelt mit exotischen Tieren. Jetzt gab es keine Menschen mehr, die sich um die Pflege dieser Natur bemühten. Sie würde sich wild entwickeln, die einst lebenden Städte zurückerobern und sie sich zu eigen machen. Der Planet wäre verlassen, ein jungfräuliches Paradies für den, der später einmal hier landen würde. Daß sich vorläufig kein Siedler nach Damrijan und auch in den Louden-Sektor trauen würde, davon war Mira überzeugt. Kein Mensch war so vermessen, sich in die Höhle des Löwen zu begeben. Mira sah erwartungsvoll der landenden Gleitscheibe entgegen. Sie kam zwischen zwei Raumern hervor, orientierte sich kurz, landete dann etwa vierzig Meter von der Koordinatorin entfernt. Zwei Frauen kletterten herunter und kamen herübergerannt. „Kommandantin", keuchte sie, Mira bei ihrem Rang nennend, „in Teflisa ist der Teufel los. Da sind ein paar dieser Typen von Kayshyrstan eingesetzt, die im Rahmen der Hilfstruppen des Louden-Sektors herkamen. Die sind völlig übergeschnappt." „Was ist vorgefallen?" 24
„Sie haben Nahrung für etwa hundert Personen einfach vernichtet. Mit ihren Strahlern verbrannt!" „Sind die verrückt?" rief Mira entsetzt. „Das fehlt noch, daß auch die eingesetzten Helfer durchdrehen. Wozu tragen sie Waffen? Bringt mich hin!" Die Meldung wirkte wie ein eiskalter Wasserguß. Lavynna von Dorhagen stand steif vor dem Videokom und rührte sich immer noch nicht, als der Beamte längst kopfschüttelnd die Verbindung unterbrochen hatte. Die Regierungschefin schien erstarrt. Ihre Gedanken jagten sich. Langsam nur lösten sich ihre Augen von der blinden Fläche des Bildschirms. Sie wandte sich um und eilte in die Küche ihrer Wohnung. Sie benötigte einen kühlen Schluck. Danach rief sie Waltor von Pensa, ihren Stellvertreter, an. „Simfal im Louden-Sektor", erklärte sie ihm. „Dieselben Symptome wie auf Damrijan. Die ganze Bevölkerung in Trance. Können Sie mich vertreten und alles veranlassen? Ich fühle mich außerstande, die Amtsgeschäfte wahrzunehmen." Waltor von Pensa nickte und verabschiedete sich. Lavynna kehrte in die Küche zurück, wo ihr Glas mit eisgekühltem Fruchtsaft stand. Von Pensa konnte nicht viel tun. Er würde einen genauen Bericht von Simfal anfordern, einen erneuten Sijdon-Alarm ablehnen und Schiffe schicken, die nicht mehr als auf Damrijan ausrichten konnten. „Das Schiff, das die Zustände auf Simfal entdeckt hat, hat erst gar keinen Alarm ausgelöst. Als sei es etwas Gewöhnliches, wenn ein Planet in Dämmerschlaf versinkt", murmelte sie. Mehrere Anrufe trafen ein. Sie verwies sie an Waltor von Pensa und sperrte ihren Anschluß. Lavynna war ratlos. Die Kolonialwelten und Sektoren würden auf schnelle Maßnahmen der Regierung drängen. Solange es aber keine Hinweise auf die Verbrecher gab, konnten keine wirksamen Maßnahmen ergriffen werden. Andererseits war Simfal gut dazu geeignet, eigensüchtige Oppositionspolitiker auf den Plan zu rufen. Das 25
Imperium lief nicht zuletzt Gefahr, einer geschlossenen Front von Welten gegenüberzustehen, die unter dem Mantel der Schutzlosigkeit ihr eigenes Süppchen kochten. Viele würden versuchen, aus dem wirtschaftlichen und politischen Herrschaftsbereich auszuscheren, weil sie sich allein stark genug fühlten. Das mußte unter allen Umständen verhindert werden. Lavynna erinnerte sich an die letzte Parlamentsdebatte zu diesem Thema. Sie hatte sie nicht bis zum Ende mitverfolgt, da es in ihren Augen keinen Sinn hatte, zu reden, wenn nichts dabei herauskam. Sie hätte sich gewünscht, Helder könnte helfen. Aber Helder von Anceynt hatte zur Zeit andere Probleme, als sich um Dinge zu kümmern, die in den Bereich der Menschen fielen. Er mußte zuerst zu sich selbst finden. 3. „Ich lebe, das allein ist wichtig!" hatte er zuerst gesagt. Jetzt starrte er in die getönten Fensterscheiben auf sein Spiegelbild und dachte: „Das also bist du!" Seine Augen hatten sich an das neue Sehen gewöhnt. Das war aber auch das einzige. Die veränderte Gewichtslage seines Körpers war ihm ungewohnt, und alles andere war nicht so wie früher. „Körper ist nicht gleich Körper", sprach er zu sich selbst. Er war allein in der Zimmerflucht. Niemand hörte ihm zu. Er war froh darüber. Er wußte, daß die Therapie, die sie mit ihm machten, nichts nützte, wenn er nicht selbst den Willen hatte, in die Zukunft zu sehen. Vorsichtig fuhr er mit den metallenen Fingern über die Oberfläche der Glasscheibe. Er erkannte, daß er die Scheibe durchschlagen konnte, ohne sich zu verletzen. Ja, daß er sogar aus dem zweiten Stockwerk des Gebäudes springen könnte, 26
ohne Schaden davonzutragen. Seine Gedanken waren erst der Anfang. „Was kannst du noch?" fragte er sich. „Mit einem einzigen Schlag deiner Faust den Schädel eines Menschen zertrümmern. Du kannst die gewaltigen Körperkräfte, die dir mitgegeben sind, im guten und im bösen einsetzen. Es liegt nur an dir, welchen Weg du wählst." Er suchte einen Fensterriegel und fand ihn nicht. Das Fenster ließ sich nicht öffnen. Er wandte sich ab und ging durch das Zimmer. Er untersuchte den Schreibtisch, wog den Stuhl in seiner Hand. Sein Gewicht vermittelte ihm einen anderen Eindruck, als er ihn von Stühlen in seiner Erinnerung hatte. Tief in seinem Innern spürte er Angst aufsteigen. „Du bist anders als die Menschen!" In den meisten Dingen unterschied er sich von ihnen. Manches konnte er besser als sie. Die Gemeinsamkeiten konnte er an einer Hand aufzählen. „Die Menschen draußen, wie werden sie sich verhalten, wenn du ihnen gegenübertrittst?" fragte er sich. Und: „Mein Gott, ich beginne schon, mich nicht als Mensch zu betrachten!" Weiter führte ihn sein Weg durch die Zimmerflucht. Eine ganze Etage war ihm zugänglich, stellte er fest. Nur den Ausgang fand er nicht. Eine der Türen, die verschlossen waren. Die Etage war abgeriegelt. Keiner hatte ihm etwas gesagt. Keiner machte ihm Mitteilung. Jetzt wußte er es. Sie hielten ihn gefangen wie ein Versuchstier. „Ich bin ein Stück Experiment. Mehr nicht!" rief er und setzte sich auf einen Stuhl. Helder von Anceynt wollte die Augen schließen. Der Computer gab den Befehl des Gehirns weiter, die Augen verdunkelten sich. Es war die absolute Finsternis. Nicht das leichte Durchscheinen der Helligkeit durch die Augenlider. „Ich wünsche mir das gleichmäßige Pochen eines Herzens, 27
nicht das ununterbrochene Summen der Motoren, die meinen Körper funktionsfähig erhalten", betete er. „Ich möchte nicht das Kraftwerk in meinem Innern, ausgestattet mit Brennstäben, die regelmäßig ausgewechselt werden müssen. Ich will nicht als Außenseiter leben und von den Menschen angestarrt werden." Helder kannte die Vorbehalte, die viele Menschen selbst den einfachen Haushaltsrobotern gegenüber mitbrachten. Wie würden sie erst reagieren, wenn sie es mit ihm zu tun hatten! Er mußte sich auf einiges gefaßt machen. „Eigentlich bin ich dankbar, daß sie mich versteckt halten. Eines Tages muß der Zeitpunkt erreicht sein, an dem ich allen Unbilden der Welt draußen mit einem besseren Schutz gegenübertreten kann." Nach eigener Einschätzung war es noch nicht soweit. Er dachte an etwas anderes, versuchte, sich abzulenken. Er trug all das zusammen, was er bis zu seinem Unglück erlebt hatte, sammelte die Fakten, die den Louden-Sektor betrafen, und stellte fest, daß alle Ereignisse miteinander zusammenhingen, wie er es immer wieder vermutet hatte. Der Überfall auf das Schulschiff und der Untergang der VOLANDRA. Er ertappte sich bei dem Gedanken, daß jetzt fünftausend Menschen wie er herumlaufen könnten, mit vollprothetischen Körpern und einem eingelagerten Gehirn, in einem Einmachglas mit all den schönen und schrecklichen Erinnerungen. Irgendwo draußen war ein Blitz. Helder nahm ihn mit seinen empfindlichen Augen wahr, die Verdunkelung hatte er entfernt. Kurz darauf hörten seine Ohren das Grollen des Donners. Das Gewitter war sehr weit weg. „Im Regen stehen und rosten." Helder lachte in einem Anflug von Selbstverachtung. Dann aber sah er wieder an seinem weißblau schimmernden Körper aus hochverdichtetem Edelstahl hinab, einen Meter neunzig hoch, wie sie ihm gesagt hatten, und von humanoider Gestalt. Ein Körper von Eleganz 28
und Vollendung, samkar oder samskritam, etwas kunstvoll Geschaffenes. Aber doch kein menschlicher Körper. Ein Körper, der dazu verdammt war, immer für sich zu bleiben, sich mit sich selbst zu beschäftigen, wenn er erst aus der Klinik entlassen war. Ein Körper, der keinem anderen Menschen gehören konnte, der nur oberflächliche Neugier und Aufmerksamkeit erregen würde. Kurzum, ein Körper ohne Wert. „Was wird sie sagen, wenn sie mich sieht?" fragte Helder sich laut. „Wird sie es übersehen können?" Und dann die natürliche Erkenntnis: „Nein. Kein Mensch kann so selbstlos sein, daß er seine Gefühle zu einer Gestalt aufrechterhält, die kein Mensch mehr ist. Bei aller Zuneigung und Liebe. Lavynna!" Der Name wurde ausgerufen, klang verzweifelt. Helder von Anceynt sank in sich zusammen. Sein Oberkörper knickte nach vorn, bis er auf den waagrecht liegenden Oberschenkeln ruhte. Die Motoren hielten den Körper im Gleichgewicht. Die Pause bis zur nächsten Therapiestunde verstrich schleppend. Ihm kam sie wie eine Ewigkeit vor. Und dieser Gedanke trieb ihn fast zur Verzweiflung. „In dir gefangen, du Körper, für fünfhundert Jahre und noch länger. Und wenn du verbraucht bist, nimmt man dir den Kopf ab und steckt ihn auf ein neues Unterteil." Und er schrie es in die Stille des Zimmers hinein: „Wo ist bis dahin der Unterschied zwischen meinem Gehirn und dem Computer in meiner Brust?" Bis dahin würde er wahnsinnig sein. Vielleicht zu seinem Glück. Wo war der Unterschied, seinem Leben jetzt ein Ende zu bereiten oder in fünfhundert Jahren, in tausend Jahren? Für einen Unsterblichen spielte es keine Rolle. Während der nächsten Therapie achtete er peinlich darauf, wie sich die Ärzte und Pfleger ihm gegenüber verhielten. Er stellte fest, daß der Umgang mit ihm auch für sie ungewohnt war. Sie bemühten sich, ihn zu akzeptieren, als sei er ein 29
vollwertiger Mensch. Aber manchmal erkannte er auch ihre Distanz, gepaart mit der Neugier des Wissenschaftlers, der an seiner Erfindung studiert und hundertmal herumbastelt, bis er eine bessere Idee hat. „Also ist es erwiesen, daß die Menschen mich nie als Mensch akzeptieren werden", dachte er und ging in sein Zimmer zurück, tat das, was er als Mensch öfter getan hatte. Er ging unruhig hin und her, wechselte die Räume, um sich abzulenken. Noch waren seine Gedanken bei der Therapie, bald aber kehrten sie zu seinen Problemen zurück. Er mußte Gewißheit haben. Jemand mußte ihm Gewißheit geben, womit er in Zukunft zu rechnen hatte, wenn er Menschen begegnete. Und dafür gab es nur eine Person, die in der Lage war, durch ihr Verhalten diese Frage zu beantworten: Lavynna von Dorhagen. „Ich muß Lavynna sprechen. Bringt Lavynna zu mir", sagte er und suchte einen Kommunikationsanschluß. Es gab keinen. Sollte er warten bis zur nächsten Therapiestunde oder versuchen, sich bemerkbar zu machen? Helder von Anceynt erkannte, daß der Zeitpunkt gekommen war, eine Antwort auf die Grundfrage zu finden, die sein ganzes Existieren bestimmen würde. Sein „Weiterleben". Er ging den Flur entlang, durch alle Zimmer hindurch bis zu einer jener Türen, die den Abschluß seines Lebensraums bildeten. Zurückhaltend klopfte er eine Weile. Nichts rührte sich. Die Welt dahinter blieb stumm. Von Anceynt klopfte stärker. Er polterte an der metallenen Tür. Einmal vermeinte er, Geräusche gehört zu haben. Aber sie wiederholten sich nicht. Noch einmal versuchte er sein Glück. Er hämmerte gegen die Türfüllung, daß sie Beulen bekam. Endlich öffnete sich die Tür. „Sie benehmen sich wie ein kleines Kind, Helder", sagte Doktor Ja Sankaroy energisch. „Bitte schonen Sie die Einrichtung der Klinik. Viele Patienten nach Ihnen werden es 30
Ihnen danken!" „Entschuldigen Sie", stammelte Helder blechern. „Ich wollte die Tür nicht beschädigen. Ich habe nur einen Wunsch." Er fragte sich, ob die Reaktion der ehemaligen Chefärztin der VOLANDRA aufrichtig war oder ob sie ihn nur wie ein Kind behandelte, um ihm vorzuspielen, daß sie ihn für einen Menschen hielt. „Sie brauchen mir nichts vorzumachen", sagte er spontan. „Ich weiß, was Sie über mich denken. Über mich Maschine." „Sie reden Unsinn, seien Sie vernünftig!" herrschte Ja Sankaroy ihn an. „Schließlich kenne ich Sie noch ganz gut in Ihrer vorigen Gestalt! Ich weiß, daß Sie ein Mensch sind!" „Aber die anderen wissen es nicht. Sie werden es auch nicht akzeptieren." „Es wird zu Mißverständnissen kommen, aber die Menschen werden Sie anerkennen. Nicht jetzt, aber in weiter Zukunft. Es wird einer langen Zeit der Gewöhnung bedürfen." „Ich will jetzt wissen, was ich zu denken und zu tun habe", begehrte Helder auf. „Ich möchte Lavynna sehen. Warum hat man sie bisher nicht zu mir durchgelassen?" Aha, daher weht der Wind, dachte Ja Sankaroy. Sie holte tief Luft. „Wir müssen erst eine gewisse Zeit verstreichen lassen, damit die Begegnung Sie nicht aus dem Gleichgewicht bringt, Helder. Verstehen Sie das bitte." „Sie meinen also auch, daß sie von meinem Anblick entsetzt wäre, daß sie gehen würde und ich ihr bald gleichgültig wäre, nicht wahr?" „Selbst wenn es so wäre, was würde es ändern?" Ja Sankaroy wußte, daß es eines Tages zwangsläufig zwischen den beiden zur Entfremdung kommen mußte. Nach der ersten Begegnung. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß die Regierungschefin sich auf die Dauer mit einem Maschinenmenschen abgeben mochte. Obwohl? Sie dachte an 31
die Zellentnahme und das, was daraus entstehen konnte. Lavynna war vor vier Tagen behandelt worden. „Es wird nicht so sein", bekräftigte sie. „Ich habe mit Lavynna von Dorhagen gesprochen, Helder. Sie werden überrascht sein, wenn Sie sie sehen. Aber es ist zu früh." „Für mich ist es bald zu spät", antwortete er dumpf. „Ich kann nicht länger warten. Ich will die Gewißheit. Jetzt!" „Es geht nicht!" „Warum nicht?" Er bemerkte ihr Ausweichen und verstummte. Sie war nicht aufrichtig zu ihm, sie hielt ihn hin. „Sprechen Sie aus, was Sie denken, Helder", sagte sie nur. Aber der Metallmensch gab keine Antwort mehr. Er verschwand in den Räumen, die er bewohnte. Was war draußen? Der Blick durch die Fenster zeigte einen der Innenhöfe der Klinik. Einen Rasen und Spazierwege und Menschen, die sich bewegten. Aber die Fenster ließen sich nicht öffnen. „Wie werden mich diese Menschen sehen, wenn ich vor sie trete und sage: ,Seht, ich bin Helder von Anceynt. Man hat mein Gehirn in einen Robotkörper verpflanzt. Werden sie lachen oder sich ekeln? Was würde Bings Oläfä sagen, wenn ich ihm als sein Gläubiger gegenübertreten würde? Würde er mich auslachen und sagen: ,Ich habe mir bei keiner Maschine Geld geborgt.'?" Helder von Anceynt drehte sich auf den Absätzen um. „Ich muß hinaus. Egal, was die Folgen sind!" Wieder klopfte er. Wieder kam Ja Sankaroy. Er forderte, hinausgelassen zu werden. Sie verweigerte es ihm. Erneut versuchte er, ihr seine innere Not klarzumachen, daß er Gewißheit benötigte, wenn er nicht zugrunde gehen wollte. „Ihr Zustand ist noch nicht stabil genug, Sie sehen es selbst", antwortete sie. Es klang endgültig. Mehrere Pfleger kamen heran und traten zu ihr. 32
„Mir drängt sich die Frage auf, was ihr glaubt, was ich bin", sagte er langsam. „Ein Mensch in seiner persönlichen Freiheit oder eine Maschine, die nur bestimmte Dinge kann und tun darf?" Er erhielt keine Antwort. Vor seiner Nase schob sich die Tür in ihre Verankerung. Ein Knirschen an allen Türen verriet, daß sie automatisch verriegelt wurden. „Also doch ein Ausgestoßener der Gesellschaft. Ein Ungeheuer, das man unter Verschluß hält. Ab jetzt bin ich allein. Nie werden sie mich hinauslassen", flüsterte er und weinte innerlich. Helder von Anceynt steigerte sich in die gewonnene Antwort hinein. Die Frage nach seiner Identität verursachte ihm Kopfschmerzen. Sein sehnlichster Wunsch, trotz seines Körpers ein vollwertiger Mensch zu sein, war nie so groß gewesen wie in diesen Augenblicken. Laut begann er ein Selbstgespräch zu führen. Die Entscheidung fiel. Helder von Anceynt brach aus. Mit wenigen Schlägen und dem Stoß seines Körpers zerfetzte er die Blechtür, die seine Zimmerflucht von der übrigen Klinik abriegelte. Im Laufschritt rannte er den Flur entlang, bestieg einen Aufzug, der ihn nach unten trug. Hinter ihm heulten Alarmsirenen auf. „Man hat vorgesorgt, daß der Kranke auf keinen Fall entkommt!" brüllte er. Der Aufzug hielt im Erdgeschoß. Helder trat in den Flur. Eine Gruppe bewaffneter Pfleger erwartete ihn. Sie hielt ihn in Schach. Er zögerte. Er wußte nicht, wieweit sein Körper den Waffen standhalten konnte. Ja Sankaroy erschien. Sie versuchte, ihn zum Rückzug zu bewegen. Er stellte verbittert fest, daß sie ihn für krank hielt. Nie würde er zurückkehren. Nur weit weg von hier! Jemand flüsterte, man solle dieses Monstrum nicht auf die Menschheit loslassen. Die empfindlichen Ohren Helders hörten es. Er verlor die 33
Nerven. In einer Anwandlung von Todesmut warf er sich auf die Pfleger, schmetterte sie zur Seite, stieß ihre Waffen davon. Mehrere Menschen gingen zu Boden und blieben liegen. Helder stürzte auf die Straße hinaus. Die Passanten blieben verwundert stehen und sahen ihm nach. Dann hörten sie die Lautsprecherdurchsagen und rannten schreiend davon. Von Anceynt verlor den Kopf. Jetzt wußte er endgültig, welche Zukunft ihm unter den Menschen bevorstand. Er rannte blindlings durch die Stadt. Was ihm im Weg stand, zerstörte, zertrampelte er. Er war ein zur Maschine gewordener Mensch. Tag und Nacht rannte er weg vor den Menschen und vor sich selbst. Die Menschen ließ er hinter sich. Aber sich selbst wurde er nicht los. Längst befand er sich in einer Wüste ohne Leben, ohne Wasser. Er benötigte beides nicht mehr. Nur allein sein, das wollte er. Das zählte. Er war gefangen in einer stählernen Hülle und suchte fieberhaft nach einem Weg, mit seinem qualvollen Dasein Schluß machen zu können. Helder von Anceynt war am Ende. Wreden Abonmey war weiß im Gesicht. Die Stirnadern traten hervor. So hatte Lavynna den Abgeordneten noch nie gesehen. Der Mann stand kurz vor einem Kollaps. Trotzdem wagte der Parlamentspräsident nicht, einzuschreiten. „Diese Regierung ist unfähig", sagte Abonmey keuchend. „Ich fordere sie hiermit auf, zurückzutreten. Sollte sie dieser Aufforderung nicht Folge leisten, werde ich die Vertrauensfrage stellen." Tumult erhob sich in den Reihen der Abgeordneten. Alle redeten durcheinander. Der Eklat war perfekt. Ohne Aufforderung trat einer der Vertreter des Kolonienverbands an das Mikrofon, schob Abonmey zur Seite und verschaffte sich Ruhe. „Das Imperium steht vor der Zerreißprobe", verkündete er. „Alle wissen es. Niemand tut etwas dagegen. Schon gar nicht die Regierung. Warum sollten wir den Zerfall aufhalten? 34
Lassen wir die Sache sich doch entwickeln. Bis in zwei Monaten wird es in Louden nur noch Chaos geben, die Regierung wird auf Veran sitzen und Däumchen drehen, die Sektoren und ihre Planeten werden ihre eigenen Süppchen kochen. Etwas Besseres kann ihnen gar nicht passieren!" Das Chaos im Saal war perfekt. Die Abgeordneten sprangen auf. Reden und Widerreden gingen durcheinander. Ein Wort gab das andere. Es kam zum Handgemenge. Erst jetzt schritten die Saalordner ein. In ihren weißen Fräcken kamen sie zu Dutzenden aus den Türen und räumten unter den Tobenden auf. Wreden Abonmey war hinter dem Rednerpult zusammengesunken. Lavynna sah es und sprang auf. Sie eilte hinüber und half dem Mann auf die Beine. „Es mußte gesagt werden", keuchte der Führer der Volkspartei. Lavynna schleppte ihn mit Unterstützung eines Ordners zu seinem Platz, Die Zerreißprobe war da. Hätte die Sitzung noch eine Stunde gedauert, wäre es vermutlich zu dem Mißtrauensantrag gekommen. Lavynna von Dorhagen war den hitzigen Gemütern dankbar, daß sie die Sitzung gesprengt hatten. Sie ließ es sich jedoch nicht anmerken. Mit ihren Ministern und Sekretären zog sie sich in einen Konferenzraum zurück. Die Ministerrunde beriet. „Wir kommen nicht mehr darum herum", sagte die Regierungschefin. „In Louden herrscht Kriegszustand. Auch wenn im Fall Simfal kein Sijdon-Alarm gegeben wurde, müssen wir davon ausgehen. Ich bin mir fast sicher, daß weitere Planeten in ähnlicher Lage gefunden werden." „Dann bleibt uns nur ein Weg", stellte der Sicherheitsminister des Imperiums fest. „Wir verhängen das Kriegsrecht über Louden. Der Sektor wird von unserer Flotte hermetisch von der Außenwelt abgeriegelt. Niemand kommt hinein oder hinaus, ohne gründlich kontrolliert zu werden. Nur die hermetische 35
Abschirmung hilft. Anders werden wir der Bedrohung nicht Herr", stimmte Lavynna zu. „Was aber geschieht, wenn die Bedrohung nicht von außerhalb Loudens kommt?" fragte der Gesundheitsminister. „Auch diese Möglichkeit muß in Betracht gezogen werden", antwortete von Dorhagen. „Persönlich glaube ich weniger daran." „Gut. Es wird Zeit, abzustimmen und dem Parlament das Ergebnis bekanntzugeben." Die Abstimmung erfolgte einstimmig. Dann ging Lavynna hinüber in den Parlamentssaal. Ohne zu zögern, schritt sie zum Mikrofon und bat um Ruhe. Langsam ebbte der Lärm der debattierenden Abgeordneten ab. Sie starrten herüber, um zu hören, was Lavynna von Dorhagen ihnen zu sagen hatte. „Die Regierung des Veranischen Imperiums hat mit sofortiger Wirkung das Kriegsrecht über den Sektor Louden verhängt", begann Lavynna mit gleichmäßiger Stimme. „Louden wird von der Flotte hermetisch abgeriegelt. Ab sofort sind für Diplomaten Passierscheine erforderlich." Sie wandte sich ab und ging hinaus. Hinter ihr im Saal war es totenstill. 4. Die Schiffe kamen bei Nacht. Sie wurden nicht bemerkt. Antriebslos fielen sie dem Planeten entgegen und drangen in seine Atmosphäre ein. Erst im letzten Augenblick zündeten sie ihre Triebwerke, die sie hinab zur Oberfläche brachten. In unbewohnten Gebieten der Nachtseite setzten sie auf, über den halben Planeten verteilt. Keines verfehlte den angepeilten Landeplatz um mehr als fünfzig Meter. Anstrengende Wochen der Vorbereitung waren vergangen. Der Planet war ausgekundschaftet worden. Städte und 36
Siedlungen hatte man fotografiert, Wälder, Lichtungen und anderes festgehalten. Alles war unter dem Deckmantel des Tourismus geschehen. Niemand hatte etwas gemerkt. Jetzt war es soweit. Aus den Bodenluken der sechzehn Schiffe eilten Hundertschaften in das Gelände hinaus. Sie führten Lagepläne und Flugtornister mit sich. In alle Himmelsrichtungen strebten sie auseinander. Immer in Bodennähe fliegend, verteilten sie sich über die dunkle Hälfte des Planeten. Zu zweit trugen sie jeweils einen Kanister zwischen sich. Er enthielt eine Flüssigkeit. Orlog kreiste als dritter von neun Planeten um seine gelbe Sonne. Politisch und wirtschaftlich war er völlig unbedeutend. Die Zahl seiner Bewohner betrug nicht mehr als einhundert Millionen. Bei einem Planetendurchmesser von über zwölftausend Kilometern war das wenig. Das einzige, was den Namen Orlog in der Vergangenheit bekannt gemacht hatte, war seine Lage. Wenn sich der Planet auf seiner Bahn um die Sonne in dem Bereich befand, in dem er dem Brennpunkt seiner Bahnellipse, in dem die Sonne stand, am weitesten entfernt war, bildete er exakt den mathematischen Mittelpunkt des Louden-Sektors, der durch eine gedachte Kugelschale begrenzt war. Bald würde Orlog wieder im Mittelpunkt des Interesses stehen. Davon wußte jetzt allerdings noch niemand. Die fremden Eindringlinge arbeiteten völlig unauffällig. Fanden sie in einer der Stationen oder Anlagen Personal, betäubten sie es mit Gas, das jede Erinnerung an den Vorgang auslöschte. Die Männer fühlten sich so sicher, daß sie ihrer Freude über diese Arbeit laut Ausdruck gaben. Nach Beseitigung aller Hindernisse verteilten die Männer den Inhalt ihrer Kanister auf die Trinkwasserspeicher und die Zufuhrleitungen. Sie leerten die Flüssigkeit in die Reservoire, die Sammelbecken, die Hochbehälter und in die Bäche und 37
Flüsse an Stellen, wo sich Aufbereitungsanlagen befanden. Nach eineinhalb Planetenumdrehungen hatten sie ihre Arbeit beendet. Die Menschen auf Orlog waren bereits fest dabei, die Droge mit dem Trinkwasser einzunehmen. Wohl keiner würde von der Wirkung des Traumstoffs verschont bleiben, denn Wasser benutzte jeder Mensch, und sei es nur für den Tee. Nach und nach starteten die Schiffe wieder. Sie beschleunigten in Bodennähe mit Maximalwerten, katapultierten sich nach Überschreiten der Fluchtgeschwindigkeit antriebslos in den Weltraum hinaus und zündeten ihre Triebwerke dann nur kurz, um den durch die Atmosphäre bedingten Geschwindigkeitsverlust auszugleichen. Danach drifteten sie hinaus ins All, bis sie das System hinter sich gelassen hatten. Wieder wurden sie von den planetaren Stationen auf Orlog nicht geortet. Das einzige, was auf ihr Vorhandensein hinwies, waren regional begrenzte Wirbelwinde, die durch die Luftschichten jagten. Das Projekt Orlog war abgeschlossen. Die sechzehn Schiffe strebten einem neuen Ziel entgegen. Ihre Besatzungen freuten sich über den reibungslosen Verlauf des Unternehmens. Kein glücklicheres Zeichen konnte es geben als die Reibungslosigkeit, mit der alle Unternehmen durchgeführt werden konnten. Und doch sollte im Fall Orlog etwas anders sein. Nicht alle Menschen tranken von dem Wasser. Denver Torpes verließ seine Hütte in dieser Nacht früher als gewöhnlich. Er hatte nicht geschlafen. Immer war ihm das Einhorn im Kopf herumgegangen. Er mußte es endlich erwischen. Es war das einzige Exemplar, das man in den vierzig Jahren, in denen er lebte, gesehen hatte. Immer wieder war es aufgetaucht. Die Berichte von Gleiterpiloten hatten phantastisch geklungen, wenn sie es beschrieben. Sie hatten es gejagt, aber immer war es entkommen. Es hatte sich in die 38
friedlichen Wälder der Sumpfzonen zurückgezogen. Denver Torpes schulterte seine Büchse, nahm die Schrotflinte in die Hand und machte sich auf zu seinem Ansitz. Er sicherte die Haustür mit einem Keil, der jedem unbefugten Eindringling widerstand. Dann schritt er den ausgetretenen Pfad entlang, der ihn zum Moor brachte. Er war einer der wenigen privaten Jäger, die es auf dieser Seite des Planeten gab. Sein Revier bestand aus mehreren kleinen Waldungen, einer großen Nadelholzschonung und einem Morastgebiet, so groß wie ein Kontinent. In mühsamer Arbeit hatte der Jäger Knüppeldämme gebaut, die kreuz und quer durch das Moor führten; kleine, vier Fuß breite Brücken, die großenteils von Wasser und Pflanzen bedeckt waren und ertastet werden mußten. Torpes schritt aus. Seit elf Tagen bereits verfolgte er die Spur des Einhorns. Er glaubte jetzt zu wissen, wo es seine Futterstelle hatte. Dort ging er hin. Er wollte das Tier überraschen, in das Moor hineintreiben, bis es aufgab. Dann würde er es mit dem Seil einfangen und zu seiner Weide führen. Er kam an einer seiner Boxen vorbei. In ihnen bewahrte er auf das Revier verteilt alles auf, was er draußen benötigte: Munition, Holzkeile, eine Axt und Stricke. Auch ein langes Hanfseil war dabei. Er nahm es aus einem der Verschlage und hängte es sich über die Schultern. Er ging weiter und hielt nach den gekreuzten Bohlen Ausschau, die den Beginn des Knüppeldamms markierten. Mit seinen geübten Augen fand er sie leicht in der fast vollkommenen Finsternis. Langsam, Schritt für Schritt, tastete er sich in das Moor hinaus. Eine Dreiviertelstunde bewegte er sich lautlos vorwärts. Mitten in einer Wasserfläche blieb er stehen. Hier irgendwo zweigte ein Damm ab. Er fand ihn, folgte ihm. Er sah links von sich die Eschen in 39
den Himmel ragen und wartete. Endlich, eine Stunde mochte vergangen sein, sah er das Einhorn. Es trippelte am Ufer der Wasserfläche entlang. Seine Hufe versanken im morastigen Boden. Es blieb stehen und sah hinüber zur anderen Seite des Sumpfes, wo große Büsche des Lanzenkohls wuchsen, eine Lieblingsspeise aller Huftiere. Der Körper des Tieres stach hell gegen den schwarzen Hintergrund der Bäume ab. „Es muß ein Schneeschimmel sein", flüsterte Torpes erregt. „Welch eine Seltenheit!" Vorsichtig schritt er weiter durch das glucksende Wasser. Das Einhorn hatte die Wasserfläche betreten und näherte sich jetzt langsam der Mitte des Morasts. Torpes ging dem Tier entgegen. An der Stelle, wo nach rechts und links weitere Knüppelstege abzweigten, hielt er an. Regungslos wartete er, bis das Einhorn vorüber war. Dann trat er hinaus auf den Seitendamm und in den Wind. Der Schneeschimmel bekam Witterung und warf sich herum. Die hochgezogenen Vorderbeine und der erhobene Körper verschmolzen in der Dunkelheit für einen Moment zu einem starren Fels, der in den Himmel ragte. „Jetzt habe ich dich!" flüsterte Torpes. Er nahm das Seil herab, ringelte es in der Hand und hängte es über den linken Unterarm. Ein Bein vor das andere setzend, näherte er sich dem Tier. Das Einhorn fauchte. Es versuchte auszuweichen. Der Jäger kam immer näher. Schließlich, in einem Anfall von Panik, drehte sich das Tier nochmals auf den Hinterbeinen und machte einen Satz in die Nacht hinaus. Genau dahin, wo der Jäger es haben wollte. Zorniges Gewieher erklang. Der Kopf mit dem spitzen Dorn über der Stirn fuhr herum. Der Körper zuckte, die Beine staken fest. - Das Einhorn saß in der Falle. Torpes trat von hinten an das Tier heran und fesselte ihm die Hinterbeine mit einem Strick zusammen. Mit dem Seil, das er warf, zog er den Kopf nach hinten, damit er an die Vorderbeine 40
herankam. Das Seil befestigte er am Knüppeldamm. Nachdem er auch die Vorderbeine gefesselt hatte, riß er das Tier in die Knie und zog das Seil fester. Das Einhorn war gefangen und rührte sich nicht. Denver Torpes eilte nach Hause und holte seine Lastenscheibe. Mit ihr zog er das Tier aus dem Sumpf heraus und flog es bis zu dem Stall, der hinter seinem Haus stand. Er zog es hinein, befreite es vorsichtig von seinen Stricken und rannte hinaus ins Freie. Er hörte das Einhorn mit den Hufen gegen die Wände donnern und herumrasen. Nach einer Weile beruhigte es sich jedoch. Torpes holte im Haus einen Eimer voll Wasser und stellte ihn in den Korral. Dann öffnete er die Stalltür zum Gehege. Zunächst geschah nichts. Plötzlich aber stürzte das Einhorn in die beginnende Morgendämmerung hinaus und tobte in der Einfriedung umher. „Ein Wundertier, wahrhaftig", flüsterte Torpes ergriffen. Er konnte es immer noch nicht fassen, daß es ausgerechnet ihm gelungen war, jenes Tier einzufangen, das im Bewußtsein der Menschen nur noch als Legende vorhanden war. In der beginnenden Helligkeit schimmerte das edle Tier noch weißer. Es war tatsächlich ein Schneeschimmel. Als es begriffen hatte, daß es aus der Umzäunung kein Entrinnen gab, blieb es stehen. Mißtrauisch beäugte es den Eimer, schnupperte und trank. Zufrieden beobachtete Torpes die Reaktion. Er sah zu, wie das Einhorn den halben Eimer leerte, danach an den Gattern entlangjagte. Es überquerte mehrmals das Gelände, kam wieder zu Torpes heran. Erneut trank es und rannte herum. Immer langsamer wurden seine Bewegungen dabei. Schließlich blieb es stehen, die Augen zornig auf seinen neuen Besitzer gerichtet. Dann brach es lautlos zusammen. Denver Torpes stand wie vom Schlag gerührt. Er sah das edle Tier stürzen und reglos liegen, die Augen verdreht. Eine 41
Alarmglocke schrillte in dem erfahrenen Jäger. Er beugte sich über den Zaun und griff nach dem Eimer. Kritisch roch er daran. Einem Stadtmenschen wäre vielleicht nichts aufgefallen. Denver Torpes aber brachte sein Leben in der Wildnis zu. Er trank oft aus klaren Bächen, und er kannte den Unterschied im Geschmack zu dem Wasser, das aus der Versorgungsleitung im Haus kam. Er stellte fest, daß das Wasser aus dem HinoeReservoir anders roch als sonst. „Der Tierarzt muß her, sofort", stöhnte Torpes, „sonst stirbt das edle Tier noch." Eine halbe Minute später war er unterwegs zur nächsten Stadt. Die Gleitscheibe schoß wie ein Pfeil durch den Morgenhimmel. In einem Behälter führte Torpes eine Probe des Wassers mit sich. In Posania herrschte für diese Tageszeit ungewöhnliche Betriebsamkeit. Aus der Luft sah Torpes Tausende von Menschen auf den Straßen. Er setzte zur Landung an. Kein Mensch kümmerte sich um den Lärm, den er verursachte. Die Menschen saßen oder lagen herum. Denver Torpes sprang von der Scheibe und schritt auf eine Gruppe von Männern und Frauen zu, die mitten auf der Straße saßen. Er erblickte ihre verträumten Gesichter, stellte fest, daß sie ihn gar nicht wahrnahmen. Sie antworteten auf keine Fragen, lächelten nur abwesend und bewegten lautlos die Lippen. Torpes rannte durch die Stadt. Überall waren die Menschen gleich. Ihm kam ein furchtbarer Verdacht. Was, wenn die Menschen von dem Wasser getrunken hatten? Er eilte in ein Haus und öffnete einen Wasserhahn. Er meinte, eine leichte Spur des Geruchs wahrzunehmen. „Es ist etwas Furchtbares passiert", sagte er laut vor sich hin. Er mußte handeln. Für einen Zeitraum von mehreren Stunden vergaß er das wertvolle Einhorn völlig. Er suchte die 42
Funkstation der Stadt auf und rief die anderen Städte des Kontinents an. Keine meldete sich. Deshalb versuchte er, mit Hilfe der Gebrauchsanweisung den Hypersender in Betrieb zu setzen. Nach langem Probieren gelang es ihm. „Hier Planet Orlog!" sprach er in den Äther und hoffte, daß irgendwo jemand mithörte. „Wir sind in Not!" 5. Lavynna von Dorhagen schalt sich eine Närrin, daß sie auf Ja Sankaroy gehört hatte, die in Übereinstimmung mit den Ärzten und Psychologen einen Kontakt zwischen ihr und Helder abgelehnt hatte. Aus medizinischen Erwägungen, wie sie sagte. Helder sei noch zu labil, um den Anblick der Frau, die er liebte, verkraften zu können. Die Ärztin hatte bei ihr angerufen, als es geschehen war. „Wir haben uns möglicherweise geirrt", sagte Ja Sankaroy und schilderte den Vorfall. „Helder von Anceynt hat den Klinikbereich verlassen. Er ist nicht mehr in der Stadt." „Wohin wendet er sich?" Lavynna war schockiert. „Unsere Gleiter sind gestartet und beobachten ihn aus der Luft. Er rennt über die Kuhrtebene. Er scheint kein Ziel zu haben. Ansiedlungen geht er aus dem Weg." „Um Gottes willen!" Lavynna sah die Ärztin durchdringend an. „Verheimlichen Sie mir auch nichts, Doktor? Ist Helder verrückt geworden? Wie steht es mit seinem Geisteszustand?" „Als verrückt würde ich ihn nicht bezeichnen, eher als verwirrt. Er hat sich noch nicht so in der Gewalt, wie wir es gehofft hatten. Er ist desorientiert." „Sie sprechen von ihm, als sei er eine Maschine!" „Sie dürfen bei allem nicht vergessen, daß es das erste Mal war, daß in dieser Klinik eine solche Operation durchgeführt wurde. Es gibt keine Erfahrung. Wir können uns nur auf unser 43
Wissen und unsere Eindrücke verlassen und auf das, was wir von den Ärzten wissen, die vor uns zwei Gehirnverpflanzungen ohne Erfolg durchführten." „Besteht die Möglichkeit, daß er bleibende Schäden davonträgt?" fragte die Regierungschef in zitternd. „Seelischer Art. Er läuft Gefahr, tatsächlich in Umnachtung zu fallen." . „Ich muß etwas tun", sagte Lavynna entschlossen. „Wenn er nach mir verlangt hat, hatte das seinen Grund." „Wir waren nur vorsichtig." „Er liebt mich!" „Halten Sie es für möglich, daß die Bindung der Maschine zu Ihnen auf die Dauer hält?" forschte Ja Sankaroy. Lavynna von Dorhagen antwortete nicht. Sie sah die Ärztin nur verachtungsvoll an und unterbrach die Verbindung. Dann ließ sie alles liegen und stehen, bestieg ihren Privatgleiter und flog in die Ebene hinaus. So tief es ging, ließ sie sich über Felder und Wälder tragen, aber von Helder fand sie keine Spur. Nach über einer Stunde traf sie auf die Suchgleiter der Klinik und holte sich von den Piloten Auskünfte ein. Sie hatten seine Spur verloren. „Es ist eine Maschine, die äußerst leistungsfähig ist. Im Spurt entwickelt sie eine Geschwindigkeit bis zu sechzig Stundenkilometern", sagte der Mann, mit dem sie sprach. Lavynna schlug die Hände vors Gesicht. „Jetzt reden auch Sie von ihm wie von einer Maschine", schluchzte sie. „Was ist nur in euch gefahren! Er ist ein Mensch wie alle anderen auch. Er hat Gefühle!" Es wurde dunkel. Die vierzehnstündige Nacht brach herein. Lavynna gab trotzdem nicht auf. Sie schaltete die Scheinwerfer des Gleiters ein und begann den weiteren Verlauf der Ebene abzuleuchten. Bis Mitternacht. Ergebnislos landete sie schließlich an einem Weidezaun. Sie würde hier draußen übernachten und die Suche morgen fortsetzen. 44
Sie versuchte, sich in die Gedankenwelt Helders zu versetzen, spürte seinen Empfindungen nach, wie sie sie kannte, hoffte, daß er sich nicht so verändert hatte, daß er nicht mehr berechenbar war. Sie schloß die Augen, sah ihn im Geist die Ebene durchqueren. Wohin würde er sich wenden, wenn er Probleme hätte? „Wenn ich dich nicht hätte, würde ich Einsiedler werden", hatte er einmal zu ihr gesagt. Das war die Antwort. Helder suchte die Einsamkeit auf, die er in dieser Gegend nicht finden konnte. Höchstens in der zweihundert Kilometer südlich beginnenden Wüste. Lavynna sank auf die Nackenstütze des Pilotensessels, dann fiel sie in einen tiefen Schlaf, aus dem sie erst aufschreckte, als es draußen bereits hell war. Im Eiltempo flog Lavynna zur Fendra-Wüste. Sie überquerte den dünnen Gürtel sich bekriegender Vegetation, das letzte grüne Fleckchen verschwand. Unter ihr lag feiner, gelber Sand. Und darin zeigte die Vergrößerungsoptik eine Spur. Lavynna beschleunigte den Gleiter. Sie flog immer der noch unverwehten Fährte nach und hielt Ausschau. Wieder verging eine halbe, eine ganze Stunde. Hatte Helder sich versteckt? „Er kennt meinen Gleiter", beruhigte sie sich. „Er wird ihn nicht vorbeiziehen lassen." Am Horizont vor sich glaubte sie einen Blitz gesehen zu haben. Etwas glitzerte dort. Sand. Aber nein! Es bewegte sich. Das mußte er sein. Es war ein metallener Körper, der dort unten durch den Sand rannte und dem Gleiter entgegenkam. „Er ist es, es ist Helder!" jubelte Lavynna. Sie winkte aus der Kanzel aus Plexiglas und drückte die Maschine steil nach unten, wo der Mann lief, den sie so sehr liebte. Sie mußte es ihm mitteilen, daß sich ihrer beider Leben verändern würde. Sie spürte, daß die Mitteilung ihn retten würde. In ihrem Hals brannte die Sehnsucht. Und dort unten rannte der Roboter durch den Sand auf den 45
Gleiter zu und trug etwas in seinen metallenen Armen. Da war nur der Sand, und mitten darin lag etwas, was aussah wie ein weggeworfenes Stück Metall oder der Überrest einer Katastrophe. Es war ein Mensch in einem Körper aus Stahl, ein Gehirn in einem Gefängnis, das sich den Verstand zermarterte, wie es seinem Leben ein Ende bereiten konnte. Helder von Anceynt hatte mit sich und der Welt abgeschlossen. Er war hierhergekommen, um zu sterben. Er wollte Schluß machen. Er spürte die Impulse des Computers, die für die ordnungsgemäße Funktion aller Elemente sorgten, die das Gehirn am Leben hielten. „Dieser Körper behindert mich, meinen Entschluß zu verwirklichen, also ist er mein Feind", stellte Helder schließlich nüchtern fest. „Und einen Feind muß ich bekämpfen. Aber wie?" „Sand soll eindringen in deine Gelenke!" flüsterte er und schlug sich gegen die Knie, daß es krachte. Sein Kopf lag mit den Augen nach unten. Jetzt drehte er ihn etwas, so daß er in die Wüste hinausschauen konnte. „Am jenseitigen Ende gibt es ein Felsgebirge, das hoch genug sein müßte, diesen Körper zu zerschmettern. Ich werde mich aufmachen und es besteigen." Müde Bewegungen der Arme folgten. Langsam richtete sich der Oberkörper auf. „Also auf, Geächteter in einer Welt intelligenter Wesen. Ziehe deine Lehren aus deinem Zustand und führe dein Vorhaben au..." Er hielt inne. Hatte er nicht soeben ein Geräusch vernommen, als würde jemand rufen? Er lauschte, aber es blieb still. Er stand auf. „Du Narr", sagte er sich. „Laß dich nicht von Schreckgespenstern jagen. Es können doch nur die Menschen sein, die dich suchen. Verfluche sie." Wieder vernahm er ein Wehen wie von einer Stimme. Er 46
folgte langsam der Richtung. Wieder war es da. Und dann hörte er ein leises Wimmern, das ihn mit einem Schlag aus den Wahnbildern riß, die er in seinen Gedanken mit sich herumtrug. Nur seinen empfindlichen Ohren hatte er es zu verdanken, daß er die Stimme registrierte. Mitten in der Wüste war das Weinen eines Kindes! Helder rannte los. Über einen Kilometer legte er zurück. Dann stand er erschüttert vor dem kleinen, zappelnden Bündel eines ausgesetzten Säuglings, der herzzerreißend wimmerte. Helder kniete nieder. In ihm wurde es plötzlich hell. „Ein Kind", flüsterte er, „ein kleines, wehrloses Geschöpf. Sie haben es ausgesetzt. Sie gehen mit dem menschlichen Leben um wie mit einer Ware!" Er nahm das Bündel auf und drückte es an sich. Der Kontakt ließ das Kleine verstummen. „Gefühle. Es sind Gefühle!" rief Helder von Anceynt laut, und in diesen Sekunden erkannte er in ungewohnter Deutlichkeit, daß er immer ein Mensch bleiben würde, auch wenn die anderen es nicht wahrhaben wollten. Er fühlte und dachte wie ein Mensch. Seine Emotionen waren dieselben, nur besaßen sie fast keine Möglichkeit mehr, sich nach außen zu zeigen. „Das ist es, was die Menschen unbewußt an mir fürchten. Mein starres Gesicht ist ihnen unheimlich." Helder von Anceynt erhob sich, das Kind auf den Armen. Er streichelte es, barg es im Schatten seines Körpers. Und langsam tauchten Gedanken an die Oberfläche seines Bewußtseins, die ihn seit seiner Wiedererweckung fast nicht beschäftigt hatten. Er wußte, daß er jetzt erst recht eine Aufgabe hatte. Die Pflicht, für die Menschheit da zu sein, nachdem ihre Genialität es ihm ermöglicht hatte, zu überleben, obwohl er so gut wie tot war. Er erinnerte sich der Probleme und Vorkommnisse im Louden-Sektor. Ja, er würde dorthin zurückkehren und seine Arbeit fortsetzen. 47
Das Kind fest an sich gepreßt, rannte er los, auf der Spur zurück, die er gekommen war. Sie war es. Sie suchte ihn. Er hatte den Gleiter erkannt. Dieser landete. Lavynna sprang heraus. „Helder!" rief sie. Vorsichtig legte von Anceynt das Bündel nieder, das er trug, und nahm Lavynna in seine kalten Arme. „Ich habe vergeblich versucht, dich zu sehen. Man hat dich nicht zu mir gelassen", entgegnete er düster und beobachtete sie, wie sie mit den Fingerspitzen über seinen metallenen Körper fuhr. „Ich liebe dich noch immer", sagte er. „Aber ich kann nicht verlangen, daß du dich ein Leben lang an mich bindest. Ich bin nur noch ein Metallkörper, mit dem du nichts anfangen kannst. Wenn du willst, trennen wir uns." Er sah zu Boden. „Sieh dich an, wie schwer es dir fällt, das zu sagen", schluchzte Lavynna. „Du willst mich nicht unglücklich machen. Du brauchst keine Angst zu haben. Ich werde glücklich." „Wer könnte an meiner Seite glücklich sein? Meine Wege führen in eine andere Richtung. Ich habe eine Aufgabe." „Wir bleiben zusammen!" Der energische Ton ihrer Stimme ließ ihn aufblicken. Über ihr nasses Gesicht huschte ein Lächeln. „Ich erwarte ein Baby, Helder!" Der Vollprothetiker machte zwei Schritte rückwärts. Sein Lautsprecher starrte Lavynna an, und die Frau erzählte ihm, was die Ärzte gemacht hatten. „Und mir haben sie kein Wort gesagt", erklärte Helder erbittert. „Haben mich behandelt wie ein unmündiges Kind." „Die Mediziner haben versagt", stimmte Lavynna zu. „Weil sie eine Beziehung zwischen einer Frau und einem Vollprothetiker von vornherein ausschlössen. Aber jetzt wird alles gut werden." 48
„Ich habe in der Wüste ein Kind gefunden", sagte Helder und hob das Bündel auf. Vorsichtig schlug er die Zipfel des Tuches zurück. Ein schwarzgelocktes Gesicht sah ihnen entgegen. Die kleinen Augen blickten zutraulich. „Wir nehmen es mit", sagte Lavynna und nahm das Kleine entgegen. Sie bestiegen den Gleiter und kehrten in die Hauptstadt zurück. Helder ging mit Lavynna in seine bisherige Wohnung. Und dort setzte ihn die Regierungschef in vom neuesten Stand der Entwicklung in Louden in Kenntnis, erzählte ihm von Simfal, der Abriegelung des ganzen Sektors. Helder nickte. Er hatte etwas Ähnliches befürchtet. „Sobald es geht, werde ich nach Louden zurückkehren", sagte er. „Ich habe mir vorgenommen, dieses Problem zu lösen. Irgendwann einmal muß der Gegner sich eine Blöße geben." An der Seite Lavynnas gelang es ihm, sich in der folgenden Zeit zurechtzufinden. Nochmals unterzog Helder sich einem Psychotest. Nach drei Monaten kehrte er an seine Arbeit zurück. Er hatte die Krisenzeit überstanden. Hunderte von Stiefelsohlen traten den Boden des Stollens. Die Erschütterung setzte sich bis in die unterste Etage des ausgehöhlten Berghangs fort. Die Männer rannten den Stollen entlang hinaus unter den Boden des Raumhafens, wo sie an die Oberfläche stiegen und in einem Raumschiff verschwanden. Fünf Minuten später spielte sich der Vorgang in umgekehrter Richtung ab. Mit Hilfe der Monitoren beobachtete der Mann mit der Maske die Übung. Neben den Bildschirmen lief eine Stoppuhr mit. Sie nahm die Zeiten, die die Männer für den Weg zwischen Aufenthaltsräumen und ihren Dienstplätzen im Schiff brauchten. Der Kaiser von Louden hatte sein unterirdisches Versteck geöffnet, die Wohnanlage im Hang des Berges, den man vom 49
Raumhafen aus deutlich vor sich sah. Der Zeitpunkt war gekommen. Der Kaiser trug noch einmal alles zusammen, was bisher geschehen war. Vier Planeten unter Drogen, der vierte und letzte, Orlog, kam für die heimliche Invasion als erster in Frage. Während sich die Kräfte des Imperiums auf Damrijan, Simfal und den dritten Planeten konzentrierten - er zweifelte nicht daran, daß der dritte Planet bald entdeckt wurde -, würde sein Unternehmen unbemerkt ablaufen. Er hatte keinen Fehler gemacht. Jetzt war der Louden-Sektor abgeriegelt, aber es würde nichts nützen. Vorläufig würden seine Schiffe nicht fliegen. „Bis sie dahinterkommen, warum die Handelsschiffe meines Planeten Louden nicht mehr mit Waren verlassen, ist es zu spät", sagte er laut. Das Flaggschiff trug die Gammawaffe, die dem Kaiser unter schwierigsten Umständen in die Hände gefallen war. Vor langer Zeit, es war etliche Jahre her, hatte er erfahren, daß diese Waffe entwickelt worden war und sich ihr Erfinder nach Hojan zurückgezogen hatte. Damals war der Plan des Kaisers noch nicht reif. Aber die Waffe konnte eines Tages nützlich werden. Er hatte den alten Xumataka Ern unter Drogen setzen und ihn die Konstruktionspläne neu anfertigen lassen. Der Strahler war gebaut worden. Ern war seit Jahren tot. Er hatte den Einsatz nicht mehr erlebt. Er hätte ihn nicht begriffen. Ern war in geistiger Umnachtung gestorben. Er hatte nichts mehr verraten. Der Mann hinter der Maske rieb sich zufrieden die Hände. Die Wissenschaftler des Imperiums hatten das Gegenmittel immer noch nicht gefunden. Vielleicht entdeckten sie es gar nicht. Dann oblag es ihm allein, es dort einzusetzen, wo er es für richtig hielt. Eines mußte allerdings klappen. Bis Veran im Besitz des Gegenmittels war, mußten zwei der verseuchten Planeten unterwandert und mit Menschen aus seinem Volk 50
besiedelt sein. Heimlich. Diesem Zweck diente auch die laufende Übung. Die Männer kehrten in das Etagensystem zurück und suchten ihre Wohnräume auf. Dreitausend Freiwillige waren es. Mit Begeisterung waren sie bei der Sache. Der Kaiser von Louden ging hinüber in seinen Funkraum in der untersten Etage. Er besprach sich mit seinen Agenten, die überall auf dem Planeten unterwegs waren und den Menschen mitteilten, daß es soweit war. Ganze Dörfer und Städte meldeten sich. Sie wurden angewiesen, sich bereit zu halten, wenn das Signal eintraf. Die Umsiedlung mußte schnell und ohne Aufsehen vor sich gehen. Die Schiffe würden bis an die Grenzen der Belastbarkeit mit Menschen beladen und nach Orlog gebracht werden. Der Kaiser rechnete sich aus, daß vier Flüge pro Tag vertretbar waren. Das Flaggschiff mit seinen überlegenen Waffen würde dafür sorgen, daß es keine Zeugen gab. Nochmals ging der Kaiser den Zeitplan durch. Er konnte jetzt langsamer treten, denn er hatte einen deutlichen Vorsprung herausgeholt. Aus dem Imperiumsparlament wurden hitzige Debatten und eine Krise nach der anderen gemeldet. Die Regierungschefin machte einen unglücklichen, resignierenden Eindruck, wenn sie Interviews gab. Die Reporter erzählten mit erhobener Stimme, daß Waltor von Pensa, der Stellvertreter Lavynna von Dorhagens, die Regierungsgeschäfte führte. Der Kaiser spielte sich die Aufzeichnungen der Meldungen der letzten Wochen vor und prüfte, ob er auch nichts übersehen hatte. Es war ruhig geworden. Seit der Vernichtung der VOLANDRA hatte es keine aufregenden Meldungen mehr gegeben bis zur Entdeckung Simfals. Was aus der Besatzung des Patrouillenschiffs geworden war, hatte man nicht erfahren. 51
Der Kaiser wußte, warum. Er hatte die Wirkung des Strahlers bei einem Test mit Tieren erlebt. Die Besatzung der VOLANDRA war tot. Ebenso wie die des Schulschiffs, obwohl es sich dabei wahrscheinlich um ein Mißverständnis gehandelt hatte. Der Mann mit der Maske erinnerte sich, daß sein Flaggschiff plötzlich unter Beschuß genommen worden war. Es hatte die Flucht in den Zwischenraum ergriffen und den Gegner kampfunfähig gemacht. Um jede Spur zu verwischen, hatte er sich mit seinen Schiffen sofort entfernt. Es klopfte an der Tür zum Funkraum. Ein verwegen aussehender Bursche trat ein. „Wir waren zwei Minuten schneller als beim letzten Mal", sagte der Mann stolz. „Reicht das aus?" „Es reicht." Der Kaiser lächelte. „Wir werden morgen eine weitere Übung mit allen dreitausend zur Verfügung stehenden Besatzungsmitgliedern der sechzehn Schiffe durchführen. Bereite die Leute darauf vor. Denke daran, daß nur ein Stollen und ein Kühlungsschacht als Ausstieg zur Verfügung stehen. Länger als eine halbe Stunde darf die Sache nicht dauern. Und jetzt lasse mich allein. Ich habe noch wichtige Dinge zu erledigen." In der Tat hatte er ein Problem. Bis auf die Männer, die schon in seinen Diensten standen, wußte niemand über das Unternehmen Bescheid. Zwar wurde jetzt überall von einem Exodus gesprochen, wie er verkündet worden war, die Agenten reisten umher und versetzten die Bevölkerung in Euphorie, aber die wichtigsten Männer des Planeten wußten immer noch nicht, worum es im einzelnen ging. Ihnen konnte er es nicht sagen, da er mit Widerspruch rechnen mußte. Die Ansichten seiner Berater und Verwalter waren doch zu verschieden. Er würde sie zuletzt einweihen. Der Kaiser von Louden trat zu einem Wandsafe und öffnete ihn. Er nahm ein kleines, goldgeschnittenes Buch heraus und 52
schlug es auf. Lautlos begann er vorzulesen. Es war die Überlieferung des Quumran. 6. Die vierzig Personen starke Gruppe kämmte die bewaldeten Hügel durch. Sie war auf der Suche nach Menschen, die außerhalb der Städte und Siedlungen lebten. Es war der letzte Versuch der Hilfskräfte, alle Menschen zu erfassen, sie in die Städte zu bringen, damit sie ernährt werden konnten. Die Gruppe bestand aus Angehörigen verschiedener Schiffe. Ein Arzt war dabei. Drei Männer trugen medizinische Ausrüstung mit sich, falls sie auf Verhungernde stießen. Dann mußten Infusionen gemacht werden. Einer der Arzthelfer hielt ständigen Funkkontakt zu dem Lander, der oberhalb des undurchdringlichen Blätterdachs des Waldes schwebte und der Gruppe folgte. Ein Rascheln im Gebüsch lenkte die Männer ab. Es knackte, ein Knurren erklang. Die Blätter der Baumäste zur Linken zitterten. Dann brach aus dem Dickicht ein krokodilähnliches Tier hervor. Es war bräunlich geschuppt und zeigte unverkennbar die Merkmale eines Echsenwesens. Mit zwei, drei Sprüngen war es heran und stürzte sich auf die Männer. In diesem Augenblick durchschnitten die Strahlen mehrerer Laserwaffen die Luft. Sie trafen das Tier in den Rumpf, rissen es von den Beinen und warfen es drei Meter zurück. Zuckend blieb die Raubechse liegen. Aus starren Augen funkelte sie die Menschen an. Langsam erschlafften ihre Muskeln. Unbeweglich blieb sie liegen. „Ein fleischfressender Riesenlurch!" stellte Bill Hayden fest. „Wir lassen ihn liegen. Sein Fleisch ist nicht genießbar. He, was macht ihr denn da?" Sein Ausruf galt den sechs Männern, die sich von der Gruppe 53
gelöst hatten. Sie packten den verwundeten Tierkörper, rollten ihn auf den Rücken. Die Echse wehrte sich schwach. Mit den Füßen begannen die Männer auf dem Tier herumzutrampeln. Fassungslos sahen die anderen zu. Schließlich platzte Hayden die Geduld. „Seid ihr verrückt? Hört auf. Wir marschieren weiter!" „Ein Bewohner dieses Planeten, ha?" fragte einer der Männer und ließ von dem Kadaver ab. „Gibt es bei uns auf Kayshyrstan nicht." Wilde Jagdlust leuchtete aus seinen Augen. Hayden schüttelte den Kopf und ging weiter. Die sechs Männer von Kayshyrstan schlossen sich wieder der Gruppe an. Sie taten, als sei nichts geschehen. „Merkwürdig", dachte Hayden. „Ein komisches Volk. Ich werde nachforschen, was mit denen los ist!" Er rief sich ins Gedächtnis, was er über Kayshyrstan wußte. Viel war es nicht. Erster Planet der Sonne Kay, zweite Welt Hojan ebenfalls besiedelt. Er grübelte vergeblich, weil er genau wußte, daß Kay ihm bekannt vorkam, weil es irgendwie aus dem Rahmen fiel. Er kam nur nicht darauf, was es war. Das Sonnensystem lag an der Nordseite des Sektors unter der Hauptebene. Selten flog ein Patrouillenschiff dorthin. Hayden wußte aber, daß im Kaysystem Landwirtschaft groß geschrieben wurde. Die Gruppe entdeckte auf ihrem dreitägigen Marsch durch die wilden Gegenden Damrijans keine Menschen mehr. Sie fand nur ein paar leerstehende Hütten. Die Gruppe rief den Lander herbei und ging an Bord. In kurzem Flug kehrte sie zum Haupthafen des Planeten zurück, von wo sie aufgebrochen war. Nichts hatte sich verändert. Zwanzig Schiffe standen da. Zwischen ihnen erhoben sich wie kleine Pyramiden die Zelte, in denen die Laboratorien untergebracht waren. Irgendwo zwischen den Schiffsrümpfen stieg Dampf auf. Hayden löste die Gruppe auf. Die Mitglieder schickte er zu 54
ihren Schiffen und Kommandanten zurück. Er selbst begab sich hinüber in die FAYENCE, der derzeitigen Zentrale der Rettungsaktion. Er ließ sich bei Mira Alcanter melden und berichtete. „Es dürfte wohl keinen Sinn haben, weiter zu suchen", stellte die Kommandantin dann fest. „Wir werden auch bald nicht mehr über genügend Personal verfügen." Hayden zog die Augenbrauen in die Höhe. „Ja, es ist nicht zu ändern", fuhr Alcanter fort. „Simfal hat es auch erwischt. Die Hälfte der Schiffe, die auf Damrijan stehen, werden noch innerhalb der nächsten Stunde nach Simfal fliegen." „Dieselben Symptome?" fragte Hayden erschüttert. „Dieselben. Wenigstens hat Veran diesmal schneller reagiert. Der Louden-Sektor ist von oben bis unten abgeriegelt. Kein Schiff kommt mehr hinein oder hinaus." Ein Offizier trat heran und salutierte. „Es ist Zeit, Kommandantin", meldete er. „Die FAYENCE wird in einer halben Stunde starten." „Es ist gut, danke. Ich werde an Bord meines Hospitalschiffs zurückkehren und dort auf neue Anweisungen warten." Mira Alcanter lächelte säuerlich. „Von einem Schiff zum anderen ziehe ich um. Und wenn Ross mich erreichen will, muß er meist eine Suchmeldung loslassen." Sie entließ Hayden, suchte ihre persönlichen Sachen zusammen und verließ das Schiff, das ihr bisher als Zentrale gedient hatte. Sie ging an Bord der DUANT, ihres eigenen Schiffes, das einen uralten Namen trug, den nicht einmal die Historiker recht deuten konnten. Dann ließ sie eine Nachricht über ihren neuen Standort verbreiten. Noch immer war das Gegenmittel nicht gefunden. Ross und die Stäbe aus über vierzig Wissenschaftlern arbeiteten wie die Besessenen an der Lösung des Problems. 55
„Wenn wir einen Schritt nach vorn machen, gehen wir kurz darauf zwei zurück. Es ist wie verhext", hatte der Professor Mira vor wenigen Stunden gesagt. Auch von Veran und Gernot, wo ebenfalls experimentiert wurde, kamen keine erfolg versprechenden Nachrichten. Und jetzt war auch noch ein zweiter Planet entdeckt worden, dessen Bevölkerung dieselben Symptome zeigte. Mira Alcanter wurde sich plötzlich bewußt, daß die Gefahr viel größer war, als sie bisher angenommen hatte. In den letzten Wochen hatte sie sich immer so verhalten, als ginge es darum, die Einwohner eines Planeten zu betreuen, die von einer Seuche befallen waren. Jetzt, erkannte sie, daß der unbekannte Gegner keine .Grenzen kannte, daß er die Macht besaß, alle Planeten Loudens heimzusuchen und die Menschheit zu vernichten. Raymond Garner atmete unwillkürlich auf, als der letzte der Soldaten die Schleuse betrat und das Innenschott sich schloß. Er wartete, bis das Boot abgelegt hatte und die Signallampen anzeigten, daß auch das Außenschott ordnungsgemäß verriegelt war. Dann kehrte er in die Zentrale seines Schiffes zurück. „Es geht weiter", verkündete er. Langsam nahm das Schiff Fahrt auf, überquerte die gedachte Linie, die sich zwischen den zehn Lichtminuten voneinander entfernt stehenden Einheiten der Imperiumsflotte befand, und steuerte sein neues Ziel an, den Planeten Simfal. Drei Stunden hatte die Durchsuchung des Schiffes gedauert. Buchstäblich das Unterste war nach oben gekehrt, alles mit tragbaren Geräten durchleuchtet worden. Sogar die Strahlenschutzverkleidungen der Steuerautomaten in der Zentrale hatten entfernt werden müssen, damit die Soldaten nach versteckten Aggregaten suchen konnten. Sie hatten kein Blatt vor den Mund genommen. „Wir suchen nach der Gammawaffe", sagten sie. Garner 56
brauste auf. „Wir sind selbst ein Imperiumsschiff!" rief er. „Das spielt keine Rolle. Sie wissen so gut wie ich, daß wir den unbekannten Gegner noch nicht entlarvt haben. Sie können es so gut sein wie ich", erhielt er zur Antwort. Der Anruf hatte die VIVELT auf dem Flug von Esterhazy nach Veran erreicht. Sofort hatte das Schiff den Kurs geändert. „Letztes Zwischenraummanöver vor Simfal in vier Minuten", erklang jetzt die Stimme des Piloten. „Wir erreichen Simfal in einer Viertelstunde." „Danke", sagte Garner. Er ging zum Getränkeautomaten hinüber und zapfte sich einen Becher Raggun. Das schäumende Gebräu erfrischte und hatte keinen Alkohol. „Was erwartet uns auf Simfal?" fragte er sich. Natürlich wußte er, was auf ihn zukam. Er hatte die Berichte über Damrijan studiert und die Entwicklung dort verfolgt. Er wußte, daß die Situation auf Simfal nicht besser sein würde. Kam es zur Konfrontation mit dem Gegner? „Vermutlich sind wir eines der ersten Schiffe", sagte er. Der Pilot blickte kurz von den Instrumenten auf. „Zwischenraummanöver in dreißig Sekunden", sagte er. Garner starrte auf die Bildschirme. Sie zeigten die Sterne des Zielgebiets, einen Ausschnitt von Louden. Die kleineren Punkte waren Sterne, die weit hinter dem Sektor und jenseits der Imperiumsgrenze lagen, Sonnen, die noch nie ein Schiff erreicht hatte. Das dort draußen war der unbekannte Teil der Milchstraße. Plötzlich verschwanden die Sterne. Graurotes Leuchten flimmerte über den Schirm, die optische Darstellung eines Vorgangs, mit dem die Kameras aufgrund seiner Andersartigkeit nicht fertig wurden. Das Schiff befand sich im Zwischenraum. „Rücksturz in dreieinhalb Minuten", sagte der Pilot. Garner setzte sich in den Sessel des Kommandanten, den er 57
vertrat. Abdul Akhmer hatte auf Poplar zurückbleiben müssen, da er an einer gefährlichen Virusinfektion litt. Übergangslos veränderten sich die Bildschirme wieder. Das Schiff befand sich im Normalraum. Weit abseits leuchtete der kleine Ball einer roten Sonne. „Was ist los? Wo ist der Zielstern?" rief Garner. Der Pilot fingerte umständlich am Programmierer. Der Schiffscomputer spuckte die Position aus. Die Daten erschienen auf dem Bildschirm. „Die rote Sonne ist Goliath", sagte Garner mißbilligend. „Wir haben einen Fehlsprung!" „Die Ursache liegt in einem Programmfehler", bekannte der Pilot kleinlaut. „Ich werde das sofort korrigieren." „Berechnen Sie den neuen Kurs", sagte Garner. „Während unsere Zwischenraumprojektoren abkühlen, fliegen wir die rote Sonne an und sehen uns um. Vielleicht entdecken wir einen Hinweis auf den Gegner. Er kann sich überall versteckt halten." Die VIVELT flog Goliath an und zog die Planetenbahnen entlang. „Nichts", rief der Orter. „Keine Aktivitäten. Das ganze System ist energetisch tot." „Was?" Garner dehnte es. Er wußte zu genau, daß einer dieser Planeten bewohnt war. Die im Bordcomputer gespeicherten Daten bestätigten es. „Es ist der äußerste der vier Planeten", sagte er. „Wir sehen nach, was los ist!" Eine halbe Stunde später jagte der Alarm in das All hinaus. Mira Alcanter spurtete blitzschnell zur Seite, als der Lander wie ein Raubvogel auf sie hinabstieß. In Gedanken versunken hatte sie völlig überhört, daß ein Boot zur Landung ansetzte. Atemlos blieb sie an einem der hundert Säulenbeine stehen, die den schweren Rumpf der FAYENCE stützten. Damrijans Haupthafen Lux lag entblößt in der weißen Sonne. 58
Nur sechs Schiffe standen eng beieinander auf dem hellen Belag. Wie Äste ragten die Zeltreihen zwischen ihnen hervor. Der Lander setzte auf. Ein Mann sprang aus der Bodenschleuse und eilte zu Mira hinüber. „Wir haben Sie überall gesucht, Kommandantin!" rief er. „Sie haben sich über Ihr Armband nicht gemeldet. Ist es beschädigt?" Mira Alcanter lächelte schuldbewußt. Sie war unter den Platanen, die den Park der nahegelegenen Stadt säumten, eingeschlafen. Die Müdigkeit hatte sie überwältigt. „Ich war in der Stadt", antwortete sie. „Es ist geschehen, was wir vermutet haben", fuhr der Mann fort. „Soeben haben wir eine Alarmmeldung des Schiffes VIVELT erhalten. Es hat auf dem vierten Planeten des GoliathSystems ebenfalls Symptome der geheimnisvollen Droge gefunden. Der Alarm besteht noch." „Haben Sie eine Meldung nach Veran geschickt?" „Man ist auf dem Regierungsplaneten bereits informiert. Kommandant Garner hat das Imperium sofort benachrichtigt." Mira stieß hörbar die Luft aus. „Das fehlt uns noch", sagte sie. „Veran wird weitere Schiffe von Damrijan abziehen. Das erschwert die Situation. Wie sieht es überhaupt aus? Was wird aus den übrigen Städten des Planeten gemeldet?" „Bisher sind keine Meldungen eingegangen." „Kommen Sie!" Mira Alcanter schritt zur Bodenschleuse und ließ sich mit dem Aufzug nach oben bringen bis zur Schiffsmitte, wo die Zentrale lag. Mit geübten Fingern nahm sie Verbindung mit den Schiffen auf, die auf den Raumhäfen rund um den Planeten standen. Eine Parallelschaltung ermöglichte es, daß sie mit allen gleichzeitig sprechen konnte. „Mira Alcanter an alle", sagte sie und starrte auf die zwölf Bildausschnitte, die verschiedene Schiffsführer zeigten. „Wir 59
haben soeben erfahren, daß neben Simfal ein dritter Planet entdeckt wurde, auf dem sich die Menschen in Trance befinden. Es handelt sich offenbar um ein großangelegtes Manöver des unbekannten Gegners. Die Entwicklung ist absehbar, er will den gesamten Louden-Sektor außer Gefecht setzen. Bisher können wir nichts dagegen unternehmen. Die Raumortung ist ab sofort zu verstärken." „Die Wissenschaftler sind immer noch nicht weiter?" fragte jemand. Mira verneinte. „Wir werden eine Dringlichkeitsanfrage an die Laboratorien auf Veran und Gernot stellen", sagte sie. „Das Ergebnis kann ich Ihnen bereits jetzt verraten," Sie machte eine Pause. „Unsere Aufgabe liegt auf Damrijan. Wir müssen dafür sorgen, daß der Rest der Bevölkerung weiterhin versorgt wird. Es ist uns noch nicht gelungen, die Sterblichkeitsquote auf Null zu senken, aber wenigstens können alle Menschen ernährt werden. Wie sieht es in den übrigen Städten mit Personal aus?" Nacheinander antworteten die Kommandanten. Ihre Antworten waren nicht zufriedenstellend. Durch den Abzug weit über die Hälfte der Schiffe hatten alle eingesetzten Soldaten und Helfer voll zu tun. Sie konnten die Aufgaben, die sie zu bewältigen hatten, gerade noch schaffen. „Ein Abzug weiterer Kräfte kommt also nicht in Frage!" stellte die Kommandantin und Koordinatorin fest. „Wir werden das betonen müssen, falls Veran etwas Ähnliches von uns verlangt." Eine halbe Stunde später hatte sie die verbindliche Zusage Verans, daß sich auf Damrijan nichts ändern würde. Mira fragte sich, wie es inzwischen auf Simfal aussehen mochte und auf Goliath IV, einem Planeten, dessen Eigenname ihr nicht geläufig war. Dort stellten sich jetzt dieselben Probleme und Fragen wie auf Damrijan vor über einem Vierteljahr. Ja, so lange waren sie schon hier. Wie sah die Lösung aus? Die Kommandantin überlegte, daß die verantwortlichen 60
Stellen auf Veran viel zu lange gezögert hatten. Helder von Anceynt hatte damals gefordert, daß die Flotte in Alarmbereitschaft versetzt wurde. Man hatte seinen Rat nicht befolgt. „Die Regierung ist aus ihrer selbstgewählten Lethargie gerissen worden", sagte Mira zu sich. „Sie hat inzwischen erkannt, daß der Gefahr nicht mit friedlichen Mitteln beizukommen ist." Irgendwo in diesem Bereich lag der Fehler im System. Ein Imperium, das Hunderte von Jahren oder länger in tiefem Frieden lebte, ohne gefordert zu werden, verlor das Bewußtsein für richtiges Verhalten in Krisensituationen. Es brauchte nur ein Gegner zu erscheinen, der genug Tatkraft besaß, dann konnte er das ganze System lahmlegen. Ein solcher Fall war eingetreten. Zu spät hatten große Einheiten der Flotte den Sektor abgeriegelt. In Louden selbst hatte sich dadurch nicht viel geändert. Ein Planet nach dem anderen wurde heimgesucht. Mira wußte genau, daß es nicht bei dreien bleiben würde. Sie verdrängte den Gedanken daran und widmete sich der Arbeit, die sie fortwährend in Atem hielt. Sie flog in die Stadt, verteilte sich mit den Angehörigen ihrer Gruppe in einer Straße und begann die Menschen zu füttern. Sie stellten fest, daß in diesem Stadtabschnitt seit dem Morgen zwölf Personen gestorben waren, gut genährt, aber apathisch und ohne Lebenswillen. Gegen Abend landeten drei Versorgungsschiffe, die neue Nahrungsmittel brachten und die geleerten Lagerräume der Schiffe auffüllten. Als die weiße Sonne Warschauz unter den Horizont sank und ihre Strahlen wie bizarre Blitze durch den Dunstschleier des Himmels schössen, fielen die Menschen erschöpft auf ihre Lager. Fast ebenso lethargisch wie die Kranken draußen schliefen sie dem nächsten anstrengenden Tag entgegen. 61
Mira Alcanter trat ihren Schichtdienst in der Zentrale an, verkürzt zwar, das Schiff würde den größten Teil der Nacht nur von einer Wache an der Ortung besetzt sein, alle übrigen Besatzungsmitglieder gerieten in den Genuß des Schlafes. Spätestens nach Mitternacht würde auch die Kommandantin sich zur Ruhe begeben. Damrijan war ein Friedhof. Und sie die Friedhofswärterin. Die Gärtnerin, die dafür sorgte, daß die wenigen Lebenden ein kühles Grab bekamen, wenn es soweit war. Der Einsatz war sinnlos geworden. „Wenigstens haben wir es zu Anfang nicht gewußt, daß es so enden wird", flüsterte sie, während sie mit geübten Augen die Routinekontrollen durchführte. Um den Raumhafen herum war es still, nichts rührte sich. In den Luftschichten des Planeten war keine Bewegung festzustellen, und auch der Raum zwischen den Planeten und um das System herum war leer. Aber irgendwo da draußen gab es einen Gegner. Bisher unsichtbar operierte er von unbekannter Basis aus. Nirgends entdeckte man seine Spuren. Man bemerkte nur ab und zu, wo er bereits gewesen war. Die Spekulationen hörten nicht auf. Mitten in diese Stille hinein blinkte das rote Licht des Hyperfunkgeräts. Mira schaltete ein und sah das Gesicht des zur Zeit wichtigsten Mannes im Imperium, das Gesicht des Sicherheitsministers. Von Bowmans Gesicht drückte Entschlossenheit aus. „Bitte gehen Sie auf Kanal vier sieben", sagte er. „Wir empfangen eine sich ständig wiederholende Sendung vom Planeten Orlog. Ein Mann ruft dort um Hilfe." Das Pfeifen des Oszillators veränderte seine Frequenz und schwoll zu einem nachtönenden Orgeln an. Es hallte bis zum Ende der Zeltreihe. Dan Ross störte sich nicht daran, wenn auch mehrere seiner Mitarbeiter aufsahen und fragende Blicke zu dem Professor hinüberwarfen. 62
Ross blätterte in ein paar Bögen, Ausdruckformularen des Bordcomputers der FAYENCE. Sie beinhalteten die bisherigen Arbeitsergebnisse der Labors auf Veran und Gernot. Als Vorbemerkung prangte jeweils die handschriftlich gemachte Eintragung: Keine Fortschritte. „Kommen Sie herüber, Jeremy", rief Ross geistesabwesend. Sanders, einer der Biologen des Forscherteams, legte seine Pipette weg und kam hinter seinem Tisch hervor. „Sehen Sie", sagte der Professor, „ein Vergleich der Aufzeichnungen gleicher Experimente bringt Unstimmigkeiten an den Tag." Er hielt ihm die Bögen hin. Tatsächlich wiesen die Kurven geringe Unterschiede auf, die sich an der sechsten und siebten Stelle hinter dem Komma befanden. „Ein Hinweis?" fragte Sanders. „Vielleicht!" Ross wirkte nachdenklich. „Wir müssen unsere eigenen Ergebnisse hinzuziehen. Vielleicht sind es nur Meßungenauigkeiten. Dann nützen sie uns nichts. Wenn die Schwankungen andere Ursachen haben, müssen wir nachforschen." Er legte die Bögen zur Seite und trat zum Oszillographen. Er riß die Folie des Meßgeräts ab und überflog sie. Danach verglich er sie mit acht anderen Folien, die an demselben Gerät erstellt worden waren. Das Episkop zeigte, daß keine der Folien sich von der anderen unterschied. Alle Meßkurven waren hundertprozentig gleich. Wieder nahm Ross die Werte von Veran und Gernot zur Hand und studierte sie. Die Abweichungen ließen ihm keine Ruhe. Er schritt nachdenklich hin und her. Schließlich faßte er einen Entschluß. Er ging hinüber in die FAYENCE und führte mehrere Gespräche mit dem Hauptplaneten des Imperiums und mit Gernot. Er erfuhr dabei auch, wie es auf den Planeten Loudens aussah. Alle rechneten damit, früher oder später Besuch des unbekannten Gegners zu erhalten. 63
Bezüglich der Meßwerte erfuhr Ross nichts Neues. Er beschloß, weiterzusuchen, sobald die laufende Experimentenreihe abgeschlossen war. Er kehrte in sein Zelt zurück und kümmerte sich um die Versuche. „Wo mag diese Droge hergestellt werden?" überlegte er. Irgendwo mußte man eines Tages eine Fabrik entdecken oder ein Depot. „Wir sollten eine Gruppe in die Städte schicken, die uns Blut bringt", sagte er zu Sanders. „Veranlassen Sie das bitte. Wir benötigen neuen Stoff für weitere Untersuchungen." Eines Tages würde die Bevölkerung Damrijans ganz ausgestorben sein, wenn sich die Prognosen Mira Alcanters bewahrheiteten. Dann würde auch kein Blut mehr zur Verfügung stehen. Die Wissenschaftler würden zwangsläufig nach Simfal oder Goliath IV umziehen müssen, falls sie bis dahin keine Ergebnisse besaßen. Es war Zeit, daß etwas geschah. Dan Ross hoffte es inbrünstig, während er die Werttabellen der eigenen Untersuchungen heranzog und mit den anderen verglich. Die Abweichungen auf Gernot und Veran waren ähnlicher Art, mit ein wenig Phantasie konnte man eine gewisse Regelmäßigkeit erkennen. Ross beschloß, die Werte mit ihren Schwankungen vom Computer durchrechnen zu lassen. Zum zweiten Mal an diesem Tag suchte er die FAYENCE auf. Mira Alcanter stürmte auf ihn zu. „Bringen Sie brauchbare Ergebnisse, Professor?" rief sie von weitem. Sein Gesicht sagte nein. „Wir hätten sie bitter nötig", fuhr die Kommandantin fort. „Wir haben einen vierten Fall. Und der fünfte wird sich nicht verspäten." Ross schien in den Boden zu versinken. „Entweder ist die Nuß wirklich so hart, die man uns zu knacken gibt, oder wir sind allesamt verblödet", entgegnete er. Und er erzählte ihr von den Meßabweichungen der drei 64
Laboratorien. „Viele Dinge können dabei eine Rolle spielen", sagte er. „Sogar die Schwerkraft eines Planeten." Ungeduldig wartete er auf die Ergebnisse des Computers. Sie waren nicht einwandfrei, dazu hätten mehr Meßwerte vorliegen müssen, die Regelmäßigkeit der Schwankung war jedoch ersichtlich. Das war ein Ansatzpunkt und besser als gar nichts. „Hier werde ich ansetzen", erklärte er Mira. „Tun Sie es, nur tun Sie es bald", beschwor ihn die Kommandantin. Ross nickte. Er gab sich keinen Illusionen hin. Je gefährlicher und bedrohlicher die Lage in Louden sein würde, desto eher würde man geneigt sein, Damrijan mit seiner auf ein Drittel geschrumpften Bevölkerung aufzugeben oder als zweitrangigen Fall zu behandeln. Erneut vergingen Stunden des Schweigens in der abendlichen Kühle der Zelte. Mehrere zusätzliche Untersuchungen und Versuche wurden unternommen. Vierunddreißig Wissenschaftler arbeiteten gleichzeitig in einer Gruppe daran, die Gesetzmäßigkeit der Abweichung zu ergründen. Und es war nicht Ross, der die bahnbrechende Idee hatte. Sie ging vielmehr auf einen unbekannten Bordmediziner eines Schiffes zurück, das auf einem der anderen Häfen Damrijans stand. Dieser Mann schlug vor, die Verträglichkeit der Droge gegenüber Impfstoffen zu prüfen. Wie er auf die Idee kam, konnte er nicht sagen. Nach vierzig oder mehr Tests stellte sich heraus, daß die Droge mit allen Stoffen verträglich reagierte bis auf einen. Dieser wurde untersucht. Ross fand, daß er ähnlich strukturiert war wie die Droge. Er machte sich an die Arbeit. Der Impfstoff Conterminan wurde in seine Grundstoffe zerlegt. Ähnlich mußte auch die Droge aufgebaut sein. Dann stellte Ross betrübt fest, daß er vor Wochen schon einmal am selben Punkt angelangt war, ohne weitergekommen zu sein. „Stellen Sie fest, wie Conterminan entwickelt wurde, welche 65
Vorfälle zur Entwicklung dieses Impfstoffs führten, wo er benötigt wird!" trug er Sanders auf. Ungeduldig wartete er auf die Antwort. 7. „Ich muß ehrlich gestehen, ich war verblüfft", gestand Dan Ross, während er die Hand Mira Alcanters drückte. „Der Impfstoff ist ein Abfallprodukt eines Stoffes, der vor mehreren Generationen für geheime Untersuchungen erstellt worden ist. Von jenem Produkt gibt es wahrscheinlich keine Proben oder Reste mehr, aber meine Vermutung geht dahin, daß es sich dabei um ein Präparat handelte, das mit der uns bekannten Droge identisch oder fast identisch ist. Als Sanders dieses Ergebnis brachte, konnten wir die von uns bisher nicht entzifferten Strukturen erschließen." „Droge oder Impfstoff, wie soll man es nennen?" fragte die Kommandantin. „Nennen wir es weiterhin Droge. Die Wirkung auf Menschen ist schließlich unverkennbar. Mit Hilfe des neuen Wissens gelang es uns innerhalb von drei Stunden, den Gegenwirkstoff zu finden. Wir sind in der Lage, die Droge zu neutralisieren." Die Nachricht eilte durch das Imperium. Überall empfingen die Menschen die von Veran verbreitete Meldung. Sie ahnten nicht, daß diese Meldung auch den unbekannten Gegner erreichte und ihn zu schnellem Handeln trieb. Sie waren froh, daß das Gespenst des Untergangs sie nicht mehr bedrohte. Am meisten atmeten die Planeten Loudens auf. Von Gernot kam ein Schiff nach Damrijan, das Proben und das Rezept für das Gegenmittel aufnahm und sofort zurückflog. In den Laboratorien des Industrieplaneten lief die synthetische Produktion des Anticonterminans an, wie Ross das Gegenmittel nannte. 66
Der Professor erstellte mit den auf Damrijan vorhandenen Mitteln selbst eine kleine Menge des Neutralisatikums. In Begleitung seiner Kollegen und neugierigen Mitgliedern der Schiffsbesatzungen marschierte er dann in die Stadt. „Ich bin gespannt, wie die Süchtigen auf das Mittel reagieren", sagte er, während eine Filmkamera surrend um seinen Kopf herumflog und ihn von allen Seiten fotografierte. Die Bilder wurden in alle Welt übertragen. Dan Ross trat zu dem ersten der Träumenden, der am Stadtrand am Boden lag, und spritzte ihm das Gegenmittel. Gespannt wartete der Professor auf die Reaktion. Sanders legte dem Kranken einen EKG-Messer um. „Sein Herzschlag verlangsamt sich stetig", sagte er nach mehreren Minuten. „Die Blutdruckwerte sinken. Bald wird er zu sich kommen." Es dauerte etwa eine Viertelstunde, bis der Mann sich zu rühren begann. Unsicher sah er um sich. „Wo bin ich, was ist los?" fragte er stockend. „Sie waren krank und sind in Sicherheit", antwortete Ross vorsichtig. Der Mann nickte erleichtert. Sein Kopf sank zurück, er fiel in einen langen Genesungsschlaf, aus dem er erst sechsunddreißig Stunden später erwachte. Er war gesund. Ross behandelte weiter. Als sein Gegenmittel zur Neige ging, waren die ersten Ampullen von Gernot bereits unterwegs, so daß es nur zu geringfügigen Verzögerungen kam. Bald würde die Restbevölkerung wieder auf den Beinen sein. „Ihr Erfolg hat Wirbel gemacht", sagte Mira Alcanter anerkennend und erleichtert zugleich. „Veran hat ein Schiff losgeschickt. Es wird bald auf Damrijan eintreffen. Helder von Anceynt kehrt zurück!" „Helder von Anceynt?" Ross zog ungläubig die Augenbrauen hoch. „Der ist doch tot. Umgekommen in der VOLANDRAKatastrophe!" „Das glaubte ich auch. Aber ich mußte mich eines Besseren 67
belehren lassen. Er lebt." Sie sah den Professor vielsagend an. „Aber warten Sie, bis er hier ist. Sie werden überrascht sein!" Denver Torpes mußte eine halbe Stunde warten, bis er eine Antwort bekam. Ein Schiff der Flotte meldete sich, das den Louden-Sektor abriegelte. Jetzt erfuhr Torpes zum ersten Mal, was überhaupt in Louden los war. Er griff sich an den Kopf. „Ich glaube, ich bin der einzige der noch normal ist auf dieser Welt", sagte er. „Bitte schicken Sie so schnell wie möglich Unterstützung!" Sie wurde ihm zugesagt. Erleichtert verließ Torpes das Funkhaus, bestieg seine Scheibe und flog zu seiner Blockhütte zurück. Ein paarmal warf er bedauernde Blicke hinunter zu den Menschen, für die er nichts tun konnte. Man hatte ihm über den Hyperfunk erklärt, daß es sich um die Einwirkung einer Droge handle, gegen die soeben ein Mittel gefunden worden sei. Torpes flog nach Hause. Er dachte wieder an das Einhorn, das er zurückgelassen hatte. Es lag noch dort, wo es umgefallen war. Vorsichtig setzte er die Scheibe neben dem Korral ab, stieg hinein und untersuchte das Tier. Er stellte fest, daß es atmete und lebte, jedoch in eine unerklärliche Starre gefallen war. Das Tier war von der Wirkung der Droge stärker betroffen als der Mensch. „Was tue ich?" fragte Torpes laut. Liegen lassen konnte er das Tier nicht. Nachts würden es die Raubtiere holen. Liebevoll strich Torpes über das schneeweiße Fell, berührte das Horn an der Stirn. Ihm kam eine Idee. Aus Gurten und Seilen knüpfte er eine Halterung, zog die Gurte zwischen Gliedmaßen und Rumpf hindurch und hängte sie an den großen Haken ein, die hinten aus der Scheibe ragten. Langsam zog er mit der Scheibe das Tier empor. Unter dem Fahrzeug hängend, schwebte es in den Stall, wo Torpes die Gurtriemen an einem Deckenbalken befestigte. Das Tier hing jetzt sicher, die Hufe berührten den Boden. Torpes fuhr die Scheibe hinaus. 68
Für das Füttern mußte er sich noch etwas einfallen lassen. Das wertvolle Tier durfte nicht verhungern. Er ging in das Haus und wartete mehrere Stunden, in denen er vergeblich auf einen Gedanken oder eine Eingebung hoffte, die ihm dieses Problem gelöst hätten. Denver Torpes kehrte in die Stadt zurück. Er versuchte, sich mit den Menschen zu beschäftigen, erkannte aber schnell, daß es keinen Sinn hatte. Sollte er in die Häuser und Vorratskammern gehen und mit der Zwangsernährung beginnen? Er schritt wieder in das Gebäude, das er als Funkhaus bezeichnete. Er schaltete das Hyperfunkgerät auf Empfang und studierte die übrigen Anlagen. Er drückte mehrere Knöpfe, Bildschirme leuchteten auf. Sie zeigten die Tagseite des Planeten und den Himmel darüber. Auf einem Spezialschirm entstand ein Modell des Sonnensystems. Torpes wartete. Er wartete auf die versprochene Hilfe und darauf, daß bald ein Schiff kommen würde. Die Bildschirme blieben dunkel, eine Stunde nach der anderen verstrich. Ruhelos wanderte er im Funkhaus hin und her, immer mit den Augen auf den Schirmen. Endlich, nach langer Zeit, entdeckte er einen Reflex. Dann in Horizontnähe einen zweiten. „Orlog, können Sie mich hören?" klang eine Stimme aus den Lautsprechern. Torpes schaltete die Mikrofone ein. „Ich höre Sie gut", antwortete er. „Wer sind Sie?" „Schlachtschiff IMAGO des Imperiums. Geben Sie uns einen Landestrahl." „Ich kenne mich mit der Anlage nicht aus. Versuchen Sie, dort zu landen, wo Sie meinen Sender ausmachen. Wie heißt das zweite Schiff?" „Wir kommen allein, vorerst." „Auf meinem Schirm sind zwei Ortungsreflexe. Oh, jetzt ist der zweite verschwunden. Er muß unter den Horizont getaucht 69
sein." „Sind Sie sicher, daß es ein Schiff war?" kam die schnelle Frage. „Ich glaube schon. Die Geräte lieferten einen Reflex wie von Ihrem Schiff." „Wo war das?" Torpes gab die Beschreibung durch. Von Koordinaten verstand er nicht viel. „Von mir aus gesehen links, über dem Horizont der Tagseite, also im Osten. Wenn Sie auf Ihrem Anflugkurs der Verbindungslinie Sonne-Planet folgen, ist es für Sie rechts." „Danke, wir kümmern uns darum." Die Lautsprecher schwiegen. Torpes verfolgte, wie das Schiff seinen Kurs änderte und dem Horizont des Planeten zustrebte. Nach mehreren Minuten hörte er verzerrte Stimmen. „... identifizieren ... endlich!" sagte jemand. Dann herrschte wieder Ruhe. Dann erklang eine andere Stimme. „Wer ... Kaiser von Loud ... widersetzen ..." „Identifizieren ... sich!" Danach herrschte Funkstille. Die Schiffe befanden sich über der entgegengesetzten Planetenseite, wo es Nacht war. Denver Torpes hatte nicht die Möglichkeit, die Relais zu schalten, die die Aufnahmestationen dort in Gang setzten. Endlich senkte sich der mächtige Leib eines Kugelraumers auf die Felder vor der Stadt herab. Torpes kletterte auf seine Scheibe und flog hinüber. Er war froh, so unendlich froh. * Die Menschen begegneten der Gestalt mit Scheu und Zurückhaltung. Sie musterten sie mit unergründlichen Blicken. Sie war ihnen einfach unheimlich. Es war nicht nur das starre, ausdruckslose Gesicht. Es war auch der unbegreifliche Vorgang, daß in dieser Gestalt aus 70
Metall und Plastik ein menschliches Gehirn wohnte, das wie ein Mensch dachte, sprach und sich verhielt. Helder von Anceynt hatte sich fast daran gewöhnt, daß man sich ihm gegenüber nicht anders verhalten konnte. Er begann es zu akzeptieren, wußte, daß daheim auf Veran ein Mensch auf ihn wartete, dem das alles nichts ausmachte, der nach wie vor zu ihm hielt. Der Sonderbeauftragte des Veranischen Imperiums war wieder im Einsatz. Vor dreieinhalb Monaten hatte er seine Mission in Louden jäh abbrechen müssen, als er mit der VOLANDRA in die Gammafalle geflogen war. Jetzt kehrte er zurück, um Erfahrungen reicher und mit einem neuen Körper, der mit Mitteln ausgestattet war, von denen die Menschen, die jetzt in der Zentrale des Schiffes standen und der Landung auf Damrijan entgegensahen, nicht einmal träumen konnten. Das Schiff war die VOLANDRA II. Man hatte es Helder zuliebe umgetauft, um ihm das Gefühl zu geben, daß alles beim alten war. Er sollte zumindest daran denken, daß man in ihm weiter den Menschen sah. Das Gehirn in dem Robotkörper sah sich um. Es musterte die Einrichtung der Zentrale, die sich in nichts von der der VOLANDRA I unterschied. Nur die Besatzung war eine andere. Statt Mike Semrad war es Gwendolyn Silvester, eine in Ehren ergraute Raumfahrerin, die in der Uniform eines Obersten der Raumflotte das Schiff durch den unergründlichen Raum steuerte. „Eine Militärperson", dachte Helder. „Zum Kämpfen ausgebildet." Irgendwo hatte er in alten Archiven gelesen, daß es zu Beginn der Industrialisierung des Imperiums keine Frauen unter den Soldaten gegeben hatte. Noch nicht einmal bei der zivilen Raumfahrt. Inzwischen hatte sich das grundlegend geändert. Es wäre auch nicht gut gewesen, wenn sich in 1861 Jahren nichts geändert hätte. So lange existierte das Imperium in seiner 71
jetzigen Form bereits. Damals war eine neue Zeitrechnung eingeführt worden. Heute erinnerten sich nur noch die Historiker, wie lange vor dieser Zeit die Menschen schon gelebt hatten. „Wir landen in fünf Minuten", verkündete die Kommandantin mit einem Seitenblick zu der metallenen Gestalt. Helder von Anceynt nickte. Kurz vor dem Start von Veran hatten sie die Meldung erhalten, daß das Gegenmittel gefunden war. Es war der erste Lichtblick in der Louden-Affäre. Helder erschien es wie ein Zeichen des Himmels, daß er dieses Mal mehr Erfolg haben würde als bei seiner ersten Mission in diesem Sektor. Damals war er im dunkeln getappt. Er hatte das von der Gammawaffe vernichtete Schulschiff in Augenschein genommen, im nahen Pentasystem nach Spuren gesucht. Er hatte den Führer der Tramps, Baron Müllner, getroffen, der ihm einen Tip gegeben hatte. Müllner war ermordet worden. Helder hatte eine Höhle in Tarags Valley gefunden und einen Ring. Später, auf Damrijan, hatte sich herausgestellt, daß der Geruch in der Höhle mit dem Geruch der Droge identisch war, die Ross aus dem Blut der Kranken gewonnen hatte. Das war der erste brauchbare Hinweis gewesen. Helder von Anceynt war auf die Suche nach dem unbekannten Gegner gegangen und in die Falle geflogen. Er war einfach unvorsichtig gewesen. „Die ganze Louden-Affäre zeigt, daß wir zu unbeweglich reagiert haben", dachte er. „Niemand hat damit gerechnet, daß die Bedrohung so groß werden könnte, wie sie jetzt ist. Alle rechneten damit, daß Damrijan ein Einzelfall bleiben würde, der sich eines Tages doch als Folge eines natürlichen Ereignisses erklären ließe." Inzwischen war es jedem klar, daß zwischen den träumenden Menschen und dem geheimnisvollen Schiff mit der Waffe ein direkter Zusammenhang bestand. Offensichtlich lag dem unbekannten Gegner daran, einen Teil des Louden-Sektors 72
lahmzulegen. „Oder vielleicht den gesamten Sektor!" sagte Helder vor sich hin. „Die Bedrohung des Imperiums war noch nie so groß." Er sah auf den Bildschirm. Der zeigte dieselben Bilder wie bei der ersten Landung auf dem siebten Planeten der Sonne Warschauz. Viel Wälder und Grünflächen, dazwischen als graubraune Punkte die Städte. Sie wurden schnell größer, wanderten auseinander, während die VOLANDRA II dem Haupthafen entgegenfiel. Der erste Kontakt mit den Schiffen unten erfolgte. Helder verglich Gwendolyn Silvester mit Mira Alcanter. Er stellte fest, daß beide gut aussahen. Silvester war älter als Alcanter. Die Erfahrung hatte ihr Gesicht gezeichnet, ihm einen Grad der Reife verliehen, der Alcanter noch fehlte. „Wir haben uns schon gesehen", sagte sie beiläufig. Von Anceynt nickte. Bei seinem ersten Besuch hatte er mit der energischen jungen Frau zu tun gehabt. „Ich hoffe, Sie wundern sich nicht zu sehr, mich so verändert wiederzusehen", sagte er. „Man hat Sie, glaube ich, vorbereitet." „Das stimmt. Trotzdem ist es unglaublich, was man mit Ihnen gemacht hat!" „Die Möglichkeiten von Medizin und Technik sind heute fast unbegrenzt", stellte Helder fest. „Eines Tages wird jeder diesen Weg beschreiten können." „Wohl dem, der es nicht tut", ertönte die volle Stimme Gwendolyn Silvesters. Sie stand neben von Anceynt. „Wir schlagen uns mit Gegnern herum, die wir nicht in den Griff bekommen, kämpfen mit sozialen und gesellschaftlichen Problemen, werden also nicht einmal mit den Dingen fertig, die am Anfang eines jeden Volkes stehen. Und auf der anderen Seite schwebt unser Geist in Sphären, die in krassem Gegensatz dazu stehen. Wir versuchen, unsere unbewältigten Probleme durch die Flucht nach vorn zu lösen. Das ist Feigheit. 73
Der Mensch kneift vor sich selbst!" Helder lächelte innerlich. Ähnliche Gedanken hatte er immer wieder, wenn er mit technischen Neuerungen konfrontiert wurde. Als er zum ersten Mal Gleitbänder benutzt hatte, war er regelrecht philosophisch geworden. Nur schade, daß er seine Gedanken damals nicht niedergeschrieben hatte. Sie hätten Ausgangspunkt einer zukunftsgerichteten Weltanschauung werden können. „Ich möchte Ihnen jetzt Professor Dan Ross und seine Mitarbeiter vorstellen", sagte Mira Alcanter und ließ die Antwort auf Silvesters Worte unausgesprochen. Die Gruppe der anwesenden Kommandanten verließ die VOLANDRA II. Unter der FAYENCE hindurch schritt sie auf die Zelte zu, vor denen Männer und Frauen mit dem Auspacken von Kisten beschäftigt waren. Diese enthielten die ersten Lieferungen des Anticonterminans. Mira Alcanter deutete auf einen hochgewachsenen Mann, der, leise vor sich hin murmelnd, Anweisungen gab. Es war Dan Ross. Der Wissenschaftler hatte die Nahenden entdeckt. Er kam herbei. „Ich gratuliere Ihnen zu Ihrem Erfolg, Professor", sagte Helder von Anceynt und versuchte, seiner Stimme einen weichen Klang zu geben. Der Professor sah ihn aus großen Augen an. „Das ist doch kein Roboter", stellte er fest. „Es ist Helder von Anceynt", eröffnete Mira Alcanter. Ross sog hörbar die Luft ein. Er musterte die hohe Gestalt aus Metall. „Danken Sie nicht mir", sagte er. „Es ist dem Team zu verdanken. Allein wäre ich nie so weit gekommen." In kurzen Sätzen berichtete er von Anceynt über die Anstrengungen, die sie unternommen hatten. Unbewegt hörte der Sonderbeauftragte zu. „Sie sagten, es müsse einen Stoff gegeben haben, der ähnlich 74
dem Conterminans war, möglicherweise identisch mit der Droge?" forschte Helder dann. Ross konnte es nicht ausschließen. Helder beschloß, auf Veran dieser Spur nachzugehen. Zunächst jedoch ließ er sich von der Wirkung des Gegenmittels berichten und sah den Impfungen zu. „Was sagen die geheilten Menschen?" wollte er wissen. „Können sie sich an Vorgänge erinnern, an Personen oder Gestalten, die mit der Droge in Verbindung stehen?" „Nein", erwiderte Mira. „Die Menschen erinnern sich bis zu dem Zeitpunkt, da die Droge zu wirken begann. Aber es ist ihnen nichts aufgefallen, was uns einen Hinweis geben könnte." „Dann müssen wir anderswo suchen. Es gibt mit Sicherheit eine Spur." „Woraus schließen Sie das?" Gwendolyn war die Fragerin. „Die Entwicklung in Louden deutet darauf hin, daß jede Unregelmäßigkeit, jede Kleinigkeit eine Bedeutung hat. Wir müssen nur danach suchen. Alles, was hier vorgeht, hängt mit den Aktivitäten unseres unbekannten Gegners zusammen. Er spekuliert damit, daß wir diese Dinge nicht beachten." „Da fällt mir etwas ein", rief Mira Alcanter. „Ich habe während meiner Tätigkeit ein paar Beobachtungen gemacht, die merkwürdig waren. Ich hielt sie nicht für nennenswert." „Erzählen Sie, es ist alles wichtig, wenn wir einen Erfolg ..." antwortete Helder, brach jedoch ab. „Soeben geht eine verspätete Meldung ein", sagte er laut. „Auf Orlog hat das Schlachtschiff IMAGO ein unbekanntes Schiff abgeschossen, das sich nicht identifizierte. In den Trümmern des Schiffes ist starke Strahlung entstanden. Die VOLANDRA II wird sofort hinfliegen." „Woher wissen Sie das?" Mira Alcanter wurde es unheimlich. „Ich habe die Funkbotschaft empfangen, die soeben auf Damrijan einging", sagte der metallene Mensch. 75
Die Umstehenden blickten ihn mit offenem Mund an. Der Metallmensch in seinem Strahlenschutzanzug bot einen gespenstischen Anblick. Helder von Anceynt stapfte zusammen mit einer Gruppe der beiden Schiffe VOLANDRA II und IMAGO in den Trümmern des abgeschossenen Wracks umher. Bei ihnen war ein Mann, der letzte Bewohner Orlogs mit klarem Verstand. Die anderen Bewohner befanden sich allesamt in dem tranceartigen Zustand wie die Bewohner der drei anderen Planeten. Das Gegenserum war hier noch nicht eingetroffen, obwohl die Produktion auf Gernot auf Hochtouren lief. Der Mann erzählte laufend etwas von einem Schneeschimmel, der sich in seinem Stall befand und dringend das Gegenmittel benötigte. Er sprach von einem seltenen Tier, das vielleicht das letzte im ganzen Imperium war. „Die Meßgeräte zeigen starke Gammaemissionen, Mister von Anceynt", sagte der Kommandant der IMAGO. „Ist das die Spür, die Sie suchen?" „Sie ist es. Wenn wir davon ausgehen, daß der Gegner lediglich ein Schiff mit dieser Waffe ausgerüstet hat, sehen wir hier die Überreste des Gammastrahlers." Er wandte sich an den Kommandanten. „Sind alle Besatzungsmitglieder ums Leben gekommen?" „Es fand niemand Gelegenheit, zu fliehen. Die Schlagkraft unseres Schiffes hat den Gegner in die Knie gezwungen. Das Schlimmste aber dürfte die Explosion innerhalb des Schiffes gewesen sein. Wir haben sofort danach die Strahlenemission angemessen." „Dann sind alle Zweifel beseitigt", stellte Helder von Anceynt fest. Er war erleichtert. Wenn es keine weiteren Gammastrahler gab, hatte die IMAGO dem Gegner die empfindlichste Niederlage beigebracht, die es geben konnte. „Wir müssen am Ball bleiben", sagte er. „Jetzt sind die 76
Trümpfe auf unserer Seite." Er verließ das Trümmerfeld und kehrte zum Landeplatz zurück. Der Mann namens Denver Torpes hielt sich ständig neben ihm. „Sie müssen unbedingt den Schneeschimmel ansehen", beschwor er von Anceynt. „Ein solches Tier gibt es kein zweites Mal im Imperium." „Also gut!" Helder gab dem Drängen des Mannes nach. Er konnte mit dem Jäger fühlen, der die Geschichte von dem Fang und der darauffolgenden Entdeckung der Zustände in der Stadt so mitreißend berichtet hatte. Und Torpes störte sich nicht an Helders Aussehen. „Vielleicht haben wir es dem Schneeschimmel zu verdanken, wenn wir den Gegner finden und ausschalten." Er ging durch die Strahlenschleuse, streifte den Schutzanzug ab und folgte dem Mann auf die Gleitscheibe. Denver Torpes brachte ihn zu seinem Blockhaus und zeigte ihm das wertvolle Tier, das in seinen Gurten hing. „Es darf nicht verhungern", flehte Torpes. „Bitte, sorgen Sie dafür, daß es bald das Gegenmittel bekommt!" Helder von Anceynt stand sprachlos. Zwei, drei Minuten wartete Torpes auf Antwort. Der Metallmensch starrte das schneeweiße Tier mit dem Hörn auf der Stirn an. Er erinnerte sich an das Wissen aus seiner Kindheit. „Wissen Sie, was Sie sind, Torpes?" fragte er schließlich. Der Jäger wußte nicht, was er denken und sagen sollte. „Sie sind ein Glückskind. Kennen Sie die Sage vom Einhorn nicht?" „Nein", bekannte Torpes. „Sie ist der Schlüssel zu unserer Vergangenheit. Die Sage berichtet, daß der Planet, auf dem dieses wunderbare Tier lebt, unsere Urheimat ist!" „Das ... ist unwahrscheinlich!" rief Torpes. „Das hätte man doch längst entdeckt. Orlog unsere Urheimat, die Wiege der Menschheit. Ich kann es nicht glauben!" 77
„Und doch scheint es so zu sein. Der dritte Planet einer gelben Sonne mit neun Begleitern planetaren Charakters, blauleuchtend. Das Einhorn ist der Beweis, daß es sich um die Urheimat handelt. Orlog ist der Planet im Zentrum des Peripheriesektors Louden, dem Rand unserer Milchstraße zu gelegen. Dieser Planet ist identisch mit der Welt, die unsere Vorfahren hervorgebracht hat. Es ist die Erde!" „Sind Sie sicher?" „Ich werde den Beweis erbringen, eines Tages. Verlassen Sie sich darauf. Und das Einhorn wird das Gegenmittel erhalten, so schnell es geht." 8. „Der Gegner hat seine Heimat in Louden, das steht fest", sagte Helder von Anceynt und starrte auf den Bildschirm, von dem ihm die Gesichter Alcanters und Ross entgegenstarrten. „Kein Schiff hat die hermetische Abriegelung um Louden passiert, weder im Zwischenraum noch im Normalraum. Trotzdem hat das Schiff im Sektor operiert." „Vielleicht hat der Gegner Stützpunkte in Louden", sagte Ross. „Das ist möglich. Allerdings gibt mir die Tatsache zu denken, daß er außerhalb des Sektors überhaupt keine nachweisbaren Aktivitäten entwickelt hat, während sie sich in Louden häufen." „Es haben sich Dinge ereignet, die uns helfen, dem Fremden auf die Spur zu kommen", erklang Mira Alcanters Stimme. „Nachdem jede Kleinigkeit von Wert ist, muß ich Ihnen endlich meine Beobachtungen mitteilen." Sie berichtete vom Verhalten der Helfer vom Planeten Kayshyrstan. „Wo sind die Helfer jetzt? Kann ich sie sprechen?" fragte 78
Helder. „Ich wollte sie loswerden und habe sie unter einem Vorwand nach Simfal geschickt." „Danke. Ich werde mir persönlich ein Bild von diesen Menschen machen. Sonst ist nichts vorgekommen?" Mira Alcanter verneinte und verabschiedete sich. Helder von An-ceynt erstarrte. Er schien in sich hineinzulauschen. „Noch sehe ich den Zusammenhang nicht", flüsterte er, so daß nur Gwendolyn Silvester es hörte. „Aber die Spuren mehren sich. Ich glaube, wir stehen kurz vor der Lösung des Geheimnisses. Hoffentlich ist der Feind bis dahin nicht ausgeflogen." Er suchte seine Kabine auf. Wenn es ihm gelingen sollte, den Fall zu lösen, mußte er systematisch vorgehen. Die schlimmste Gefahr war inzwischen gebannt. Das Gegenmittel Anticonterminan wurde hergestellt und führte dazu, daß Tausende von Menschen jede Stunde aus ihren Träumen erwachten und sich auf ihr Leben als Menschen besannen. Sie halfen den Ärzten und Pflegern der Hospitalschiffe bei der weiteren Arbeit. „Vielleicht ist der Einsatz dieser Menschen umsonst", überlegte von Anceynt. „Vielleicht hat der Feind längst irgendwo anders mit einer harten Waffe zugeschlagen, und wir wissen es noch nicht." Helder gewann immer mehr den Eindruck, daß die Taktik nach einem Ablenkungsmanöver aussah und die wahren Ziele des Gegners dort lagen, wo niemand sie vermutete. Veran? Der Mensch aus blinkendem Stahl glaubte es nicht mehr. Der Gegner würde nicht aus Louden hinauskommen, ohne aufgehalten zu werden. Das Netz der Schiffe war zu dicht. Jeder Flüchtling oder Eindringling würde sich darin fangen. Oder war Orlog das Hauptziel gewesen, die Urheimat der Menschen? Dort war die Gammastrahlung aufgetreten. Helder setzte sich mit der Zentrale der VOLANDRA in 79
Verbindung und ließ sich die Unterlagen, die er wollte, auf den Bildschirm übertragen. Aufmerksam blickten seine hochempfindlichen Augen auf die über den Schirm eilenden Zeilen. Nicht das geringste entging ihnen. „Das System der Taktik", flüsterte Helder. „Ich muß es finden!" Er nahm eine dreidimensionale Karte Loudens aus der Computerausgabe seines Videocomanschlusses und heftete sie an die Wand daneben. Dann trug er mit schwarzem Stift alle jene Welten ein, auf denen es zu Zwischenfällen gekommen war. Damrijan, Simfal, Goliath IV, Orlog und nicht zuletzt Gernot, wo Müllner erstochen worden war. Aufmerksam betrachtete von Anceynt die Eintragungen. Dann zog er einen Halbkreis um Louden herum, der die vier Planeten einschloß. „Orlog ist die Mitte", sagte er klirrend. „Und die vier anderen Planeten liegen alle in einem bestimmten Gebiet." Mit schneller Hand zeichnete er den Durchmesser Loudens mit Orlog als Mittelpunkt, von dem aus die Koordinaten des Sektors gerechnet wurden. „Ich hab's. Das ist ein Schritt zur Lösung!" rief er aus. Die Planeten befanden sich alle vier in der oberen Kugelhälfte. Wenn man die Verbindungslinien von Damrijan, Simfal und Goliath IV durch Orlog hindurch in die untere Kugelhälfte zog, umsäumten sie annähernd kegelförmig einen Bereich, in dem es nach von Anceynts Wissen noch nie Auffälliges gegeben hatte. Wieder eilten seine Finger über die Tasten seines Anschlusses. Erneut spuckte der Bordcomputer Daten aus. Helder riß den Ausdruck ab und überflog ihn. „Das ist es", sagte er. „Die beiden Kleinplaneten!" Das Gesicht lächelte. Für Helder bedeutete es sehr viel, und er war unendlich dankbar, jetzt, in dieser Phase seiner Arbeit, mit Lavynna sprechen zu können. „Ich habe Fortschritte erzielt", sagte der Vollprothetiker und versuchte, seine Begeisterung irgendwie deutlich zu machen. 80
Schließlich hob er die Arme mit gespreizten Händen empor. „Kannst du dir vorstellen, wie froh ich bin?" „Ich glaube, ich kann es", antwortete Lavynna von Dorhagen. „Ich wußte, daß du es schaffen würdest." „Eigentlich ist es nur alte, kriminalistische Spür arbeit, die ich mache", sagte Helder. „Kennst du das Verfahren eines Indizienprozesses? Genauso ist es hier. Du hast keine Anhaltspunkte außer dem, was du siehst und erlebt hast. Und daraus sollst du einen Gegner konstruieren." „Ist das schwierig?" „Nein, schwierig ist es nicht. Das Problem ist, den reellen Gegner zu finden, der zu dieser Konstruktion paßt." „Und du glaubst, ihn zu finden!" „Ich habe den Ring. Er muß jemandem gehören. Vergiß nicht die Hautfetzen, die daranhingen. Die Körperdaten sind ermittelt. Und sein Träger muß eine inzwischen verheilte, aber sichtbare Wunde am Finger haben." Lavynna nickte. Benötigst du noch etwas?" „Ja. Ich möchte, daß innerhalb von sechs Stunden fünfzehn Schiffe bei der VOLANDRA II eintreffen. Wir werden sie benötigen." „Gut, ich werde sehen, was sich tun läßt. Und, Helder, bitte sei vorsichtig!" „Ich werde kein zweites Mal in eine Falle fliegen", erwiderte Helder von Anceynt. „Außerdem glaube ich, daß das vernichtete Schiff das einzige war, das uns gefährlich werden konnte." Lavynna spitzte fast unmerklich den Mund. Nur die scharfen Augen Helders sahen es. Sie hob die Hand zum Gruß. Der Bildschirm erlosch. „Hätten Sie die Freundlichkeit, mich in Ihre Absichten einzuweihen?" Gwendolyn Silvester kam mit gewichtigen Schritten heran. 81
„Mit dem größten Vergnügen", entgegnete Helder ironisch. „Ich möchte Sie aber darauf hinweisen, daß das Kommando über dieses Schiff ab sofort in meinen Händen liegt." Die Offiziere starrten den Metallmenschen an. Sie wußten, daß er im Prinzip keine Maschine war. Aber es war nur noch sein Gehirn, das menschlich war. Von ihm mußten sie sich jetzt befehlen lassen. Helder von Anceynt ließ sich die Aufzeichnung der IMAGO vom Funkverkehr mit dem abgeschossenen Schiff vorspielen. Er horchte den Stimmen nach, die klar aus dem Lautsprecher kamen. Er stellte einen Funkkontakt zwischen dem überspielenden Computer und seiner eigenen, internen Funkanlage her und wiederholte den Vorgang. Die Wortfetzen der Antwort des Schiffes speicherte er. „Kaiser von Louden", rief er, „ich habe deine Spur aufgenommen. Sieh dich vor!" Dann dirigierte er das Schiff nach Simfal, wo er die Menschen in Augenschein nehmen wollte, die Mira Alcanter aufgefallen waren. Aus den Überlieferungen des Quumran: Vers 4: Nimm jeden Tag zweimal davon. Es wird deinen Geist stärken. Er wird wachsen. Vers 24: Deine Größe und Weisheit wird strahlen über alle Welt. Die Ebene des Aufbruchs war übersät mit Menschen. Hunderttausende standen in der sengenden Sonne und warteten, daß weit drüben die Tore der weißen Stadtmauern sich öffneten und der Mann heraustrat, der ihnen verheißen worden war. Endlich, der Nerys hatte seinen höchsten Stand erreicht, verschwanden die dunklen Pforten, die den Blick auf die Stadt versperrten. Mehrere Männer traten heraus und näherten sich dem hohen Podest, das man aus Holzgerüsten eilig aufgebaut hatte. 82
Palmwedel fächerten der geheimnisvollen Gestalt Kühle zu, die in ihrer Mitte wandelte. In ein langes, weißes Gewand der Botschaft gehüllt, näherte sich der Verheißene dem Podest und stieg mit entschlossenen Schritten die hochstufige Treppe empor. Stille kehrte ein. Die Ebene versank in Lautlosigkeit, unzählbare Augenpaare richteten sich auf die Gestalt mit der Maske. Der Kaiser von Louden hob beide Arme. Die Ringe an seinen Fingern funkelten im Licht der Sonne. „Meine Freunde, die Stunde ist da!" rief er in die Mikrofone, die seine Stimme in die ganze Welt hinaustrugen. „Die Stunde des Aufbruchs. Wir werden hinausfliegen in eine neue Zukunft, wie sie uns verheißen worden ist, wie ich sie euch verheißen habe. Freut euch!" Unbeschreiblicher Jubel brandete auf. Die Begeisterung der Menge entlud sich in einem einzigen, großen Schrei der Beifallsbekundung. Und dann wurde es schlagartig still. Jemand schlug seinen Nachbarn mit der Hand auf die Wange. Es war ein Sakrileg. Nur dem Fürsten und den Weisen gehörte dieses Zeichen der Ehrerbietung und Untertänigkeit. Niemandem sonst. Aber die Menschen hatten es gehört. Viele nahmen den Ton auf und führten ihn fort. Bald hallte die Ebene vom Klatschen der Ehrbezeigung. Ergriffen senkte der Mann mit der Maske sein Haupt. Eine Viertelstunde später, als es ruhiger geworden war auf der Ebene, hob er erneut die Arme. „Ich habe euch etwas versprochen", rief der Kaiser. „Ich habe euch gesagt, daß ihr mein Gesicht sehen würdet, wenn es soweit ist. Ihr sollt es sehen. Seht, wer hinter der Maske des Kaisers steckt. Es ist der zukünftige Herrscher Loudens!" Er zog sich die Maske vom Gesicht. Die Reaktionen der Menschen hatten es ihm bei seinen letzten Sätzen gezeigt. Sie hatten ihn jetzt an der Stimme erkannt, obwohl sie hinter der Maske dumpf klang. Wieder hüb 83
das Klatschen an. Die Menschen tobten in ihrer Begeisterung umher, und es kam zu Zwischenfällen. Nie war so etwas dagewesen. Nie war ein Tag größer gewesen als dieser. Der Kaiser von Louden verbeugte sich vor seinem Volk, zum ersten Mal in seinem Leben. Nie zuvor hatte ein anderer dem Volk diese Gunst erwiesen. Er winkte majestätisch vom Podest herab. Dann wandte er sich um und stieg die Stufen hinab zu den Männern, die ihn erwarteten. Diesmal waren die Landgrafen und die Weisen vollzählig versammelt. Kay kreuzte den Zenit. 9. Hochaufgerichtet stand Yshgonyr auf den Stufen seines Thrones. Seine Nasenflügel zuckten. Mühsam beherrschte er sich. Aus seinen Augen schössen Blitze auf die Gestalt zu seinen Füßen. Der Roboter namens Nemo blieb ruhig sitzen. Seine kühlen Augen sahen den Fürsten ununterbrochen an. Nichts bewegte sich an ihm. Wie eine Statue verfolgte er die Reaktion des Fürsten. „Die Beweise. Wo sind die Beweise!" rief Yshgonyr keuchend. Aber im nächsten Augenblick hatte er sich wieder in der Hand. „Sie dürften fehlen." Er lächelte. „Die Geschichte, ha, ersonnen von einem Roboter, der nicht normal ist, Nemo heißt und sich ... wie noch nennt?" „Die Beweise sind da!" Schneidend durchbrach die Stimme des Metallmenschen die Leere des Saales. Langsam zog er eine Hand hervor, die er seitlich am Körper gehalten hatte. Er streckte die Hand aus. Und in der Handfläche funkelte etwas. „Der Ring", sagte Helder von Anceynt kühl. „Es ist der Ring, der an deiner rechten Hand fehlt, Kaiser von Louden!" Yshgonyr setzte sich abrupt auf. 84
„Weise mir nach, daß er mir gehört!" forderte er von Anceynt auf. „Siehst du die sternförmige Narbe an deinem rechten Mittelfinger? Die Ärzte werden dir sagen, daß die Haut und die Fleischfetzen daran von eben diesem Finger stammen. Du bist überführt." „Du kannst mit diesem Ring nichts beweisen, Helder von Anceynt, oder wie immer du dich nennst. Wo hast du ihn gefunden?" Hätte Helder lachen können, hätte er es jetzt getan. So aber blieb sein Gesicht starr, aus seinem Mund drang ein Scheppern. „Du würdest sagen, du hättest ihn zufällig dort verloren. Nein, so kommen wir nicht weiter. Nicht einmal den Gammastrahler könnten wir dir nachweisen, weil er vernichtet ist. Höre deshalb, daß das Wrack identifiziert worden ist. Es ist die XAK, dein Lieblingsschiff, das du benutzt, wenn du als Fürst Yshgonyr durch den Raum zu anderen Planeten reist. Und das dir als Flaggschiff für deine todbringenden Überfälle diente. Es wundert mich, daß du nicht an Bord warst, als es vernichtet wurde. Wir hätten dich niemals gefunden!" Yshgonyr wich dem Blick des Metallmenschen aus. Er überlegte fieberhaft. Die Indizien waren erdrückend, und mit Hilfe veranischer Chemiker würde es ein leichtes sein, an dem Ring auch andere Spuren nachzuweisen. Die einer Droge zum Beispiel. Oder es war bereits geschehen. Trotzdem verlegte er sich aufs Leugnen. „Ich werde ein paar Zeugen benennen, die mir feste Alibis für die betreffenden Zeiten beschaffen", antwortete er. „Du wirst dich eines Tages bei mir entschuldigen müssen." „Bist du taub!" herrschte von Anceynt ihn an. „Hörst du nicht draußen das Volk? Es schreit nach Yshgonyr, dem Kaiser von Louden. Einen deutlicheren Beweis für deine Schuld gibt es nicht. Es wird Zeit für dich, die Wahrheit zu bekennen!" Die Lippen des Fürsten wurden zu schmalen Strichen. Wie 85
beiläufig tasteten seine Finger über die Lehne seines Sessels und berührten einen Kontakt. „Vielleicht hast du recht, Helder von Anceynt", sagte er und drückte den in der Verzierung eingelassenen Sensor. „Es wird Zeit." Helder von Anceynt war bereits aus seinem Steinsitz emporgefahren. Hinter ihm bohrte sich einer der Stalaktiten in den Sitz. Der Stein wurde auseinandergespalten und zerbrach in tausend Stücke. Der Stalaktit zitterte leicht, dann fiel er um und riß die Rückenlehne mit. „Zwei Tonnen", stellte der Vollprothetiker nüchtern fest. „Du bist ein Scheusal. Kommt es dir auf ein paar Tote nicht mehr an?" Mit einem Satz stand er vor Yshgonyr und riß ihn aus seinem Sessel. Aber der Fürst hatte einen weiteren Sensor berührt. Schnell sah Helder sich um. Nichts geschah. Er lauschte in sich hinein. Um ihn herum in den Weiten des Palasts war es ruhig. Keine Kraftwerke liefen an, keine Signale verließen den Palast. Die verbleibenden Möglichkeiten waren wenige. Eine davon war ein Zeitzünder. Bleich hing der Fürst in den Armen des Metallmannes und schwieg. Er wartete auf etwas. Helder riß ihn die Stufen hinunter. „Wartest du auf dein Volk, auf deine Getreuen?" fragte er. „Die wissen nicht, was sich hier abspielt. Und wenn der Palast explodiert, werden sie unter den Trümmern begraben, falls sie nicht fliehen!" Er setzte einen kurzen Funkspruch zur VOLANDRA II ab. Dort wartete Gwendolyn Silvester auf sein Zeichen zum Eingreifen. Fünfzehn Schiffe befanden sich in ihrer Begleitung. Jetzt verließen sie den Ortungsschutz der Sonne Kay und näherten sich dem inneren der beiden Kleinplaneten, die um ihren Stern kreisten. Sie waren Wunderwerke menschlicher Fähigkeiten. 86
Helder von Anceynt zögerte. Er dachte an die Weltwunder, die er im Urlaub zusammen mit Lavynna besucht hatte. Er verglich sie mit den beiden Kleinplaneten. Was war der Grund, hier zu siedeln? Er schrak aus seinen Gedanken auf. Der Fürst nestelte an seinem Gewand. Helder faßte die Handgelenke des Mannes und drückte sie. Yshgonyr stieß einen Schrei aus. Er wollte ausweichen, weil die stählerne Faust Helders auf ihn zuraste. Er war zu langsam. Die Faust streifte ihn nur, doch Yshgonyr versank im Reich der Dämmerung. Helder warf ihn sich über die Schulter und eilte aus dem Palast. Draußen standen die Massen und riefen nach ihrem Kaiser und Fürsten. Er störte sich nicht daran. Mit Yshgonyr auf der Schulter drängte er sich hindurch, bis er vor der Stadt stand. Drüben auf dem Landefeld des Raumhafens am Fuß des Weißhallers sanken die Schiffe des Imperiums herab. Sie hüllten die Gemüseraumer Kayshyrstans in Fesselfelder und verdammten sie zur Wehrlosigkeit. Der Metallmensch blickte zurück. Er sah die Steinfontänen und hörte den Donner der Explosion, als der Palast in die Luft flog. Yshgonyr hatte alles versucht, seine Pläne doch noch zu verwirklichen. Helder fragte sich, warum. Der Fürst machte nicht den Eindruck eines Verbrechers, der aus Lust mordete. Der Gegner war überführt. Lediglich eines Funkanrufs und eines Vergleichs der Werte mit Yshgonyrs Körperdaten hatte es bedurft, um festzustellen, daß der Ring tatsächlich dem Fürsten gehörte. Die Nachricht, wer hinter dem unheimlichen Gegner steckte, ließ das Imperium erzittern und bereitete dem Wissenschaftsminister Kopfschmerzen. Eine Sensationsmeldung nach der anderen jagte durch das Weltall. Die Journalisten überboten sich an Schnelligkeit in der Beschaffung neuester Reportagen. Die ersten Schiffe mit Presseleuten erschienen im Kay-System. Noch aber erhielten sie keine Landeerlaubnis. 87
Yshgonyr war zusammengebrochen. Wie ein Häufchen Elend saß der Fürst in einem Sessel in der Zentrale der VOLANDRA II. Immer wieder durchlief ein Zittern seinen Körper. Er hatte endgültig erkannt, daß sein Spiel vorbei war. Mit unruhig flackernden Augen sah er von einem zum anderen, musterte die Gestalten der vier Männer, die ihn bewachten, sah die haßerfüllten Gesichter der Besatzung des Schiffes. Rufe hallten durch die Zentrale. Mörder und anderes nannten die Menschen ihn. Wie wenig sie doch alle wußten, wie kleingeistig sie waren. Mit den Augen suchte der Fürst weiter. Sie blieben an der Gestalt hängen, die Ruhe gebot. Die hohe Metallhülle Helder von Anceynts schob sich in den Vordergrund. Vor dem Sessel des Verbrechers blieb sie stehen. „Ich mache Sie darauf aufmerksam, Fürst Yshgonyr, daß jetzt das erste Verhör durchgeführt wird. Sie haben das Recht, sich einen Verteidiger zu beschaffen. Wenn Sie es wünschen, wird einer Ihrer Vertrauten aus Gondyr an Bord kommen!" sagte Helder. Der Fürst schüttelte müde den Kopf. „Niemand auf Kayshyrstan kann mich verteidigen. Niemand wird wissen, wozu. Es gibt in den Augen der Menschen auf unserem Kleinplaneten nichts, was man mir zur Schuld machen könnte." „Was ist geschehen. Wie kam es dazu?" Yshgonyr sah fest in die starren Augen der Maschine. Er wußte nicht, was hinter der harten Stirn vorging, aber sie trug nicht den offensichtlich mühsam beherrschten Haß zur Schau wie die Menschen um sie herum. „Unser Volk hat einen Zustand erreicht, in dem es auf den beiden Kleinplaneten nicht mehr leben kann", sagte er und hielt verwirrt inne, weil Helder von Anceynt ihm sofort schneidend eine Gegenfrage stellte. „Warum?" rief der Metallmensch. „Kayshyrstan und Hojan 88
sind nicht überbevölkert!" „Sie sind es wohl!" versuchte Yshgonyr sich zu rechtfertigen. „Nach unserem Empfinden sind sie es. Seit Jahrzehnten deutet es sich an. Gehen Sie hinaus auf unseren Kleinplaneten. Fliegen Sie hinüber nach Hojan, unserem Zweitplaneten. Erleben Sie die Menschen und Sie werden erkennen, daß niemand das Volk aufgewiegelt hat, einen Eroberungsfeldzug zu starten." „Was ist es dann, Yshgonyr. Weichen Sie nicht aus!" rief Gwendolyn Silvester. Des Fürsten Augen wanderten unsicher zur Bildübertragung, die das Verhör nach Veran und auf alle Welten des Imperiums übertrug. Er wußte, daß er sich wahrscheinlich nicht rechtfertigen konnte. Nicht nach ihrem Ermessen. Aber eines mußte er versuchen. Verständnis für die Situation seines Volkes zu erreichen. „Es ist das Volk selbst, seine Religion, sein Glaube, der ihm das gibt, was es braucht, um eine Lage wie die jetzige entstehen zu lassen. Die Menschen der beiden Kleinplaneten sind so beschaffen, daß es dazu kommen mußte. Es ist lediglich die Seele der Menschen, die aus ihrem Verhalten spricht. Ihr dürft uns deshalb keinen Vorwurf machen!" „Wenn ich es richtig verstehe, dann gab es für das Volk von Kay keine andere Wahl, als den Aufbruch zu anderen Planeten zu beginnen!" sagte Helder. „Es hat nur die Wahl zwischen dem Exodus und dem Selbstmord", fiel Yshgonyr ein. „Die Menschen auf Kayshyrstan und Hojan sind sofort einem Psychotest zu unterziehen!" kam die Anordnung des Gerichtshofs auf Veran, der dem Verhör über Hyperkanal beiwohnte. „Es muß geprüft werden, was los ist!" „Wie kommt es, daß die Menschen hier so veranlagt sind?" forschte Helder weiter. „Warum haben sie nicht einen anderen Weg beschritten?" „Es gibt für sie keinen anderen Weg", sagte der Fürst. Mit 89
leiser Stimme begann er die Überlieferung des Quumran zu zitieren. Ein Aufhorchen ging durch die Reihen der Zuhörenden. Helder von Anceynt sah zu der Kommandantin hinüber, dann wieder zum Fürsten. „Hier ist etwas vorgegangen, das wir gar nicht erfassen können, weil es jenseits unseres Begriffsvermögens liegt", dachte er und gab diesen Gedanken in die Funkanlage ein. „Wir stehen vor der Erkenntnis, daß die Menschen auf den beiden Kleinplaneten sich aufgrund uns unbekannter Einflüsse anders entwickelt haben, als es normal ist. Sie besitzen ein Weltbild, das wir nicht verstehen." Yshgonyr beendete das Zitat. Seine Augen waren geschlossen. Langsam öffnete er sie, als kehrte er aus einer anderen Welt zurück. „Vielleicht erkennt man früher oder später, daß die Menschen Kayshystans sich keines Verbrechens schuldig gemacht haben", sagte er leise. Hinter der Stirn des Metallmenschen arbeitete es. Eine Zivilisation, die ein Weltbild besaß, die das Leben anderer Menschen nicht achtete, widersprach dem, was allgemein als menschenwürdig verstanden werden mußte. Nie und nirgends hatte es einen ähnlichen Fall gegeben. „Wir stehen vor einer schwerwiegenden Entscheidung. Niemand weiß, wie die Menschen auf den beiden Kleinplaneten reagieren werden, wenn sie die Vorgänge erfassen. Bis jetzt, scheint es, befinden sie sich in einem Freudentaumel", erklärte Helder, für die Ohren des ganzen Imperiums bestimmt. „Niemand kann sich ein Bild machen, wie es um die Hauptstadt Gondyr steht, wenn er es nicht selbst gesehen hat." „Ich habe meinem Volk das Paradies verheißen", rief Yshgonyr. „Sie wollen dieses Paradies für sich in Besitz nehmen oder sie werden sterben. Auch ich werde bald den 90
Weg des Vergänglichen gehen und zu Xakarax hinabsteigen." „Doktor Menna!" Der Ruf kam von Helder. Der Schiffsarzt der VOLAN-DRA II eilte herbei. „Wir unterbrechen das Verhör und unterziehen den Fürsten zunächst einer genauen Gesundheitskontrolle", sagte Helder. Die Verbindung zur Außenwelt blieb bestehen. Der Arzt untersuchte den Fürsten mit seinen Analysegeräten. „Bis auf ein etwas vom menschlichen Typus abweichendes Körpersystem ist der Fürst gesund!" stellte der Arzt fest. „Was heißt das, .abweichendes Körpersystem'?" kam die Frage aus den Lautsprechern. Ein Lichtzeichen deutete darauf hin, daß die Anfrage von Veran aus dem Regierungsgebäude kam. „Es heißt, daß bei Yshgonyr geringfügige Unterschiede in Lage und Aussehen der inneren Organe vorhanden sind", erwiderte Menna. „Sonst gibt es nichts, was erwähnenswert wäre. Der Fürst ist gesund." „Halten Sie das nicht für wichtig genug?" fragte Helder verwundert. Er sah zu Yshgonyr. Der Fürst rührte sich nicht. Nur seine Augen irrten unkontrolliert umher. „Xakarax", flüsterte er, „ich werde kommen. Ich werde meinem Volk vorausgehen. Es wird mir nachfolgen." Und mit lauter Stimme an Helder gewandt, rief er: „Veran und die anderen Welten des Imperiums werden es nie begreifen, daß es für mein Volk nur einen Ausweg gibt und immer geben wird, nämlich die Besiedlung neuer Planeten, auf denen niemand wohnt. Das Volk von Kayshyrstan muß Xakarax dorthin tragen, damit er aufblüht wie eine Rose im warmen Wasser des Frühlings." „Der Exodus, gut", überlegte Helder. „Wer aber hat den Befehl gegeben, fremde Welten zu überfallen, die bereits bewohnt sind, ihre Bevölkerung auszurotten, Raumschiffe zu überfallen und Unheil über Milliarden Menschen zu bringen?" „Ich war es, ich habe den einzigen, noch möglichen Weg 91
beschritten, den unser Volk gehen konnte. Es gibt keine unbewohnten Planeten mehr im Reich der Milchstraße, die wir kennen." Helder von Anceynt wich zurück. In seinem Gehirn jagten sich Unglauben und Entsetzen. „Das also ist der Grund!" rief der Vollprothetiker schließlich aus. „Eine Selbsttäuschung über die Möglichkeiten des menschlichen Unternehmungsgeists!" Und an die Adresse Verans gerichtet, sagte er: „Mit den Menschen der beiden Kleinplaneten scheint vieles nicht in Ordnung zu sein. Ich empfehle der Regierung, die Quarantäne über das System Kay zu verhängen." „Es ist der Tod für die Menschen der beiden Welten!" schrie Yshgonyr. Die Angst um sein Volk riß ihn empor. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er in die Kameras. Er bäumte sich auf. Dann sank er in seinen Sessel zurück. Die Arme rutschten von den Lehnen. „Es ist soweit. Xakarax, ich ... komme ...", hauchte er nur für Helder hörbar. „... komme... jetzt..." „Doktor Menna, sofort!" rief Helder. „Der Fürst stirbt!" Die Bemühungen des Arztes kamen zu spät. Yshgonyr entschlief und stieg zu Xakarax hinab. Die Todesursache war unbekannt. Helder von Anceynt überlegte krampfhaft. Konnte es sein, daß ein Volk sich so weit vom üblichen Weg des Menschen wegentwickelt hatte, daß es in seiner Handlungsweise nicht mehr verständlich war? Was geschah jetzt? Folgten die Menschen ihrem Fürsten in den Tod, wie er es gesagt hatte? Helder zweifelte nicht daran, daß Yshgonyr die Wahrheit gesagt hatte. Es mußte alles getan werden, damit nicht noch mehr Menschen starben. Jetzt, wo der Gegner gebannt war, durfte es keine neuen Opfer geben. Helder sprach mit Veran. Die Regierung entschied, daß das Schiff mit der Leiche umgehend den Regierungssitz anflog. 92
Die VOLANDRAII machte sich auf den Weg. Kayshyrstan und Hojan blieben unter der Aufsicht der fünfzehn Schiffe des Imperiums zurück. Helder flog mit zwiespältigen Gedanken nach Hause. Einerseits freute er sich. Er wußte, daß jemand ihn erwartete: Lavynna mit dem Findelkind, das sie adoptiert hatten. Andererseits hatte er den Kopf voll mit Problemen seiner Mission. Viele Fragen waren noch ungeklärt. Wie groß war der Kontakt Baron Müllers zu Yshgonyr gewesen, was hatte er gewußt. Und warum war das Kadettenschiff angegriffen worden. Fragen, auf die der Fürst keine Antwort mehr geben konnte. Die meiste Sorge bereitete Helder jedoch die Mentalität der Menschen auf den beiden Kleinplaneten. Mit ihnen war etwas los, was bisher niemand wußte. Ein Geheimnis umgab sie, das gelöst werden mußte. Schnell, wenn es keine Katastrophe geben sollte. „Es geht weiter", dachte Helder. „Mit einem frühzeitig abgebrochenen Urlaub hat es begonnen. Wer weiß, womit es enden wird." „... gibt es keinen Zweifel, daß die Zustände auf Kayshyrstan und Hojan sofort untersucht werden müssen!" forderte von Bowman, der Sicherheitsminister. „Solange vom Kay-System eine Gefahr für das Imperium ausgeht, dürfen wir nicht ruhen, bis sie gebannt ist. Wie sollen wir vorgehen?" Vorschläge gab es viele in der Ministerrunde. Lavynna von Dorhagen akzeptierte alle. Sie war froh, in zweierlei Hinsicht. Für Helder war ein gefährlicher Einsatz glücklich zu Ende gegangen, die Regierung hatte ihre Lähmung abgelegt, von der sie zeitweise ergriffen gewesen war. Die vier Krisenplaneten waren fast völlig von der Wirkung der Droge befreit. Jetzt untersuchte man in den Laboratorien, wieso diese Droge Ähnlichkeit mit Conterminan besaß. Während die Minster in ihrer Vierzehnerrunde sich über den 93
genauen Ablauf ihres Programms Gedanken machten, entdeckten die Archivare die ersten Spuren. Leise Videocomgespräche wurden geführt, in denen nur das Wichtigste mitgeteilt wurde, um mögliche Zuhörer im dunkeln zu lassen. Männer und Frauen trafen sich zu einer Auswertung. Dann wurde die Regierung informiert. In einem gesicherten Fahrzeug wurden die Unterlagen in das Regierungsgebäude gebracht. Sie landeten auf dem Tisch des Sicherheitsministers. Von Bowman überflog sie prüfend, dann blickte er ernst auf. „Meine Damen und Herren", begann er. „Was mir meine Beauftragten in diesem kleinen Ordner übergeben haben, ist von solcher Brisanz, daß es unser ganzes imperiales und menschliches Weltgefüge durcheinanderwerfen kann. Die Spuren, die in tiefen Kellern gefunden wurden, ergeben ein Bild, das mich vor den Kopf stößt. Es ist unglaublich. Die Lage im Kay-System ist viel schlimmer, als wir es uns vorstellen können. Die Verantwortung, die wir für die dortige Bevölkerung tragen, schwerer als jede andere." Er hielt zwei Fotos hoch, die zwei ähnliche Wesen zeigten. Das eine war zweifellos ein Mensch von Kay. Das andere aber hatte nur wenig Ähnlichkeit mit einem intelligenten Wesen. „Das hier ist ein Kayshyrstaner", erklärte von Bowman eindringlich. „Und das ist ein Affe, ein Schimpanse, ein dem Menschen verwandtes, nicht intelligentes Tier!" Die Minister sprangen auf. Lavynna gebot Ruhe. „Heißt das, wir müssen die Entstehungslehre des Menschen umwerfen und neu fassen?" fragte sie. „Haben wir in einem Irrglauben gelebt?" Von Bowman blickte auf von Bardewyck, den Wissenschaftsminister. Dieser schüttelte den Kopf. „Nein", sagte er. „Es ist viel grandioser. Seit sechshundert Jahren gibt es ein wissenschaftliches Geheimprojekt Verans, das auf den beiden Kleinplaneten begonnen und die ganze Zeit über beobachtet wurde. Leider entging auch den 94
Wissenschaftlern, daß die Entwicklung dort Komponenten besaß, die nicht kontrollierbar waren und offenbar erst in letzter Zeit in Erscheinung getreten sind. Vorher hatte es nie Anzeichen für so etwas gegeben." Von Bardewyck sah die Minister der Reihe nach an. Er runzelte die Stirn. „Die einen wird die Wahrheit erschüttern, die anderen wird sie nur verblüffen. Eines aber wird allen gleichviel Kopfzerbrechen bereiten, und das ist die Entscheidung über die Zukunft. Lassen wir zu, daß ein ganzes Volk sich umbringt oder machen wir die Entwicklung rückgängig, stellen wir den ursprünglichen Zustand wieder her, falls es uns möglich ist?" Er sah die fragenden, ungeduldigen Blicke seiner Amtskollegen. Und mit einem bedeutungsvollen Blick von Lavynna von Dorhagen fuhr er fort: „Es geht nicht nur darum, ob ein menschliches Gehirn in einem Robotkörper noch als Mensch betrachtet werden kann. Es geht darum, ob der Mensch das Recht besitzt, einem menschlichen Wesen den wichtigsten Bestandteil seiner Existenz wegzunehmen, oder besser wieder wegzunehmen, nachdem er ihn ihm gegeben hat, nämlich seine Intelligenz!" 10. Jennifer Fafnir stürzte aus dem Labor und ließ einen lauten Jubelruf erschallen. Aus allen Abteilungen eilten Kollegen und Kolleginnen herbei. „Ich hab's geschafft!" rief die Wissenschaftlerin. „Ich hab's gefunden. Das synthetische Produkt steht! Kommt alle her und seht es euch an!" Sie folgten ihr, gespannt, was sie ihnen zeigen würde. Sie führte sie an das Mikroskop, ließ sie hindurchblicken. Sie sahen nichts als Moleküle, und das „Ah" der meisten klang 95
etwas enttäuscht. Nur ein paar Biologen, die sich auf diesem Gebiet auskannten, stießen leise Pfiffe aus. „Das ist es also, was du die ganze Zeit wie ein Geheimnis gehütet hast!" sagten sie zu ihr. „Wie wirkt es?" „Das bleibt vorläufig mein Geheimnis. Als erstes muß ich das Wissenschaftsministerium verständigen, das mich mit der Entwicklung betraut hat. Der Minister wird die Entscheidung treffen, was weiter geschehen soll." Freudestrahlend eilte sie in das Regierungsgebäude und legte ihre Unterlagen vor. Sie sah, wie die Mitarbeiter des Ministers die Unterlagen prüften. Mehrere von ihnen waren ebenfalls Wissenschaftler, das wußte Fafnir. Sie prüften nicht nur den geheimen Stoff, sondern auch das Abfallprodukt, das entstanden war. Schließlich ließ sie der Minister persönlich zu sich kommen. Er beglückwünschte sie und erkundigte sich, wann es möglich sei, einen ersten Versuch zu starten. Jennifer Fafnir, in dem Bewußtsein, die bedeutendste Erfindung in der Geschichte der Menschheit vollbracht zu haben, dachte nicht daran, daß die Philosophen dauernd davon sprachen, daß Gott den Menschen geschaffen habe. Sie sagte für den nächsten Morgen zu. Zum Schluß versicherte sich der Minister noch ihres Schweigens. Niemand sollte erfahren, was eigentlich geschehen würde. Natürlich waren die Mitarbeiter des Instituts gekränkt, daß Jennifer sich von da an in selbstquälerisches Schweigen hüllte. Sie versuchten, ihr mit allen Mitteln etwas zu entlocken. Zum Schluß gaben sie es auf. Als sie an ihrem Labor klopften, sahen sie nur, daß die Versuchsaufbauten teilweise unterbrochen waren. Und der Pförtner des Instituts konnte nur sagen, daß die Wissenschaftlerin am frühen Morgen mit einem sterilen Kanister weggegangen sei. Jennifer Fafnir suchte den Zoo Verans auf. Sie wurde von Angehörigen des Ministeriums erwartet. Sie waren ungeduldig, der Minister drängte. Ein Pfleger führte sie zum Affenhaus in 96
die Abteilung der Schimpansen. Fafnir betäubte ein isoliertes Weibchen mit ihrer Druckpistole, dann spritzte sie ihr vierhundert Milliliter des neuen Stoffes. Diese Prozedur wiederholte sie zwei Wochen lang jeden Tag. Aufmerksam beobachtete sie die Entwicklung der Schimpansin, studierte sie den ganzen Tag, fütterte sie, blieb nachts in ihrem Käfig. Immer sprach sie mit ihr und bereitete sie auf das vor, was zwangsläufig kommen mußte. Der Tag kam. Außer dem Minister gab es nur vier weitere Zeugen. Sie standen zwischen den Glaswänden und dem Geländer, an dem sonst immer Affen turnten. Jennifer Fafnir betrat den Käfig und setzte sich zu der Schimpansin, eine halbe geschalte Banane in der Hand. Langsam begann sie das Tier zu futtern. Und dann fielen die bedeutendsten Worte, die jemals in der Geschichte der Menschheit gefallen waren. Die Schimpansin sagte: „Mama! Mama!" ENDE
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