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Roy Palmer 1.
Nebelstreifen krochen wie Spukwesen flach über die nur mäßig bewegte See. Die Dämmerung stahl sich als Vorbote der Dunkelheit von Osten heran. Vom nicht mehr allzu fern liegenden Cornwall nahte die Nacht. Handiger Wind aus Westen drückte die spanische Dreimast-Galeone „Asturias“ zu weit nach Lee - zu dicht auf Legerwall, in die gefährliche Nähe der Insel. Steil fielen die schwärzlichen Granitfelsen der Insel ins Meer ab. Sie schienen unterhalb des Wasserspiegels unverändert vertikal in große Tiefe hinabzustoßen. Aber eben dieser Eindruck war trügerisch, denn in der näheren Umgebung des Eilandes wimmelte es von tückischen Untiefen und Riffen Schiffsfallen. Kapitän Fernando Tarrega hatte die skelettartigen Wrackteile gesehen, die aus der Bucht einer anderen, weiter südlich liegenden Insel aufragten. Die Ebbe legte die Relikte vergangener Katastrophen frei und warnte alle Heransegelnden vor dem Schicksal, das auch sie treffen konnte. Tarrega hatte de la Osas Entscheidung insgeheim verflucht. Aber Lopez de la Osa war der Kommandant und hatte den Oberbefehl. An seinen Beschlüssen gab es nichts zu rütteln. Er hatte es sich in den Kopf gesetzt, getreu seinem Auftrag auf einer der felsigen, unwirtlichen ScillyInseln zu landen und die Mission zu einem erfolgreichen Ende zu führen. Eine Galeone hatte der Verband, der ursprünglich aus drei Schiffen bestanden hatte, bei einem Sturm in der Biskaya eingebüßt. Aber dieses Unglück hatte de la Osa nicht von seinem Vorhaben abbringen können. Er hatte die wenigen Überlebenden der gesunkenen Galeone „Paraiso“ an Bord genommen, die Sturmschäden an dem Flaggschiff „Santissima Trinidad“ und der Galeone „Asturias“ ausbessern lassen und die Reise mit unverändertem Ziel fortgesetzt. Jetzt schickte das Flaggschiff „Santissima Trinidad“ sich an, auf der Suche nach einer Bucht zum Ankern das Nordufer der Insel
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zu runden - und Fernando Tarrega hatte die Order, seinem Befehlshaber zu folgen. „Profos!“ rief Tarrega seinem Zuchtmeister von der vorderen Schmuckbalustrade des Achterdecks aus zu. „Wir luven an und gehen über Stag. Wir fahren einen Kreuzschlag, um mehr Abstand zu der verdammten Insel zu gewinnen. Wir sind zu nah dran, verstanden?“ Der Profos wandte sich auf der Kuhl um und blickte zu seinem Kapitän auf. „Si, Senor.“ „Ganz meine Meinung“, sagte der erste Offizier der „Asturias“ hinter Tarrega, als der Zuchtmeister jetzt seine Befehle rief. „Wir riskieren noch Kopf und Kragen, ehe wir die Insel im Norden gerundet haben.“ „Kreuzen ist da die einzige Möglichkeit“, entgegnete Tarrega und drehte sich zu dem Mann um. „Wir verlieren zwar etwas Zeit, aber das nehme ich lieber in Kauf als die Gefahr, jeden Moment auf Grund zu laufen.“ „Wir verlieren nur den Kontakt zur ,Santissima Trinidad', Senor“, gab der Erste zu bedenken. „Sie ist schon mehr als eine Kabellänge von uns entfernt und fällt in diesem Moment ab. Gleich ist sie hinter den Felsen der Nordküste verschwunden. Sie ist kaum noch zu erkennen, so schlecht wird jetzt die Sicht.“ Tarregas Züge waren verkniffen. Das ganze Unternehmen zehrte erheblich an seinen Nerven. „Lassen Sie dem Comandante signalisieren, zum Teufel noch mal, damit er sich keine unnötigen Sorgen bereitet. Und schicken Sie einen Mann auf die Galionsplattform, er soll die Wassertiefe ausloten und ...“ Tarrega wurde unterbrochen, denn eine Urgewalt schien in diesem Augenblick die Galeone hochzuheben und zu schütteln. Der Schiffsrumpf dröhnte, knirschte und schien auseinander zu brechen. Tarrega und sein erster Offizier klammerten sich an der Handleiste der Balustrade fest und blickten voll Entsetzen auf die Männer, die auf dem Hauptdeck durcheinander geworfen wurden. Das war ein bunter, fluchender Haufen von Leibern und
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Gliedmaßen, und mittendrin steckte der Profos, der keine Chance hatte, Disziplin in das Getümmel zu bringen. In einer Art von gewaltigem Stöhnen krängte die „Asturias“ ein Stück ,nach Steuerbord und lag dann still. Tarregas Finger verkrampften sich um die hölzerne Handleiste. „Allmächtiger Gott im Himmel“, sagte er. „Ich habe es geahnt. Ich habe gewußt, daß es so kommt, al diablo, ich habe mich wie ein Narr benommen und kriege jetzt die Rechnung dafür präsentiert.“ Er atmete einige Male tief durch, dann hatte er etwas von seiner Fassung wiedererlangt. „Erster, lassen Sie um Himmels willen der ‚Trinidad' signalisieren.” „Zwecklos, Senor. Sie hat sich unserer Sicht ganz entzogen. Die Felsen liegen zwischen uns und ihr.“ „Verflucht! Der Comandante hat von unserem Mißgeschick nichts mitgekriegt?“ „Anscheinend nicht.“ Fernando Tarrega sah erschüttert in den dichter werdenden Nebel und die Schatten der schleichenden Abenddämmerung. Eine Barrikade schien ihn jetzt von dem Flaggschiff zu trennen, eine Barriere der Unruhe und Ungewißheit. Eine gefährliche Situation, so dicht in der Nähe des Feindes — eine Begebenheit, die den Spaniern leicht zum endgültigen Verhängnis werden konnte. Tarregas Blick glitt zurück zum Deck. „Profos!“ rief er. „Ist jemand verletzt?“ „Nein, Senor, aber wir sind aufgelaufen und sitzen offenbar hoffnungslos fest.“ „Als ob ich das nicht wüßte. Schicken Sie ein paar Leute ins Schiff hinunter und lassen Sie die Lecks abdichten. Lassen Sie ein Boot abfieren, ich will mir die Bescherung von außen ansehen, solange es noch nicht ganz dunkel ist.“ „Si, Senor!“ Kurze Zeit später war Tarrega mit dem ersten und dem zweiten Offizier sowie dem Bootsmann in Lee des Schiffes in das Beiboot abgeentert und ließ sich an der Bordwand entlangpullen. Einer der Rudergasten lotete die Wassertiefe aus. Sie betrug in Bugnähe nur noch knapp einen
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Faden, so daß ein ausgewachsener Mann hier Grund unter seinen Füßen hatte, wenn er aus dem Boot ins Wasser stieg. „Tauchen“, sagte Tarrega. Zwei Decksleute erhoben sich auf einen Wink des Bootsmanns hin von den Duchten und entledigten sich ihrer Kleidung bis auf ihre dreiviertellangen Hosen. Sie kletterten ins Wasser und konnten tatsächlich stehen. Das Seewasser war in diesen Breiten zwar nicht so warm wie um dieselbe Jahreszeit vor Spaniens und Portugals Küsten, aber die Temperatur war immer noch hoch genug, um ein angenehmes Schwimmen zu ermöglichen. Rasch zogen die Männer sich unter die Oberfläche zurück und begannen mit der Untersuchung. Als der eine wieder auftauchte und auf das Bootsheck zuhielt, blickte Tarrega ihn in einer Mischung aus Spannung und Furcht an. „Nun?“ „Senor, das Licht unter Wasser ist sehr schlecht, aber wir haben trotzdem noch etwas feststellen können“, antwortete der Mann etwas außer Atem. Er verharrte neben dem Boot und konnte nun wieder auf dem Grund stehen. „Unser Schiff hat keine nennenswerten Beschädigungen.“ „Keine Lecks?“ „Ich glaube nicht.“ „Glauben, glauben“, sagte der Kapitän zornig. „Glauben ist nicht wissen.“ Der zweite Taucher war jetzt ebenfalls zurückgekehrt, und Tarrega richtete an alle beide die Frage: „Besteht die Möglichkeit, daß die ,Asturias` aus eigener Kraft wieder von diesem dreimal verfluchten Felsenriff freikommt? Ich will die Wahrheit wissen.“ „Es ist unmöglich, Senor“, erwiderte der eine Taucher. „Bei Ebbe völlig ausgeschlossen“, fügte der andere hinzu. Tarrega schaute an der Bordwand der Galeone hoch. Er hakte die Daumen in seinen ledernen Leibgurt und fuhr mit der Zungenspitze über die spröde gewordenen Lippen. Was jetzt? fragte er sich, dann sah er das Gesicht des Zuchtmeisters über dem Schanzkleid auftauchen.
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„Keine Lecks“, verkündete dieser stolz. „Kein Wasser, das in die Schiffsräume dringt, Senor. Wir haben mächtiges Glück gehabt.“ „Ja, das kann man wohl sagen“, erwiderte Tarrega sarkastisch. „Es besteht also wenigstens nicht die Gefahr, daß die ,Asturias` bei auflaufendem Wasser absäuft.“ Er wandte sich zu seinen Offizieren um. „Senores, wir hoffen also auf die Flut — und daß unser Schiff sich dann freisegelt. Etwas anderes bleibt uns ja nicht übrig.“ „Sechs Stunden warten“, sagte der Erste ziemlich zerknirscht. „Aber wir werden das schon überstehen, Senor.“ „Wir haben den Befehl, auf der Insel zu landen“, entgegnete der Kapitän. „Und das tun wir auch. Nur ein kleiner Trupp Männer bleibt unter dem Kommando des Profos an Bord und ist gefechtsklar, damit wir für den Ernstfall gerüstet sind. Der Rest der Mannschaft pullt unter meiner Führung in den zwei Beibooten an Land. Wir begeben uns zu Fuß nach Norden und treffen dann hoffentlich mit dem Comandante und dessen Männern zusammen. Irgendwelche Aufenthalte wird es nicht geben, denn die Insel scheint unbewohnt zu sein, soweit unser Ausguck feststellen konnte.“ „Ja, offenbar ist sie ein einziger öder Felsen“, sagte der erste Offizier, der bei dem Gedanken an die Landung nicht die geringste Begeisterung empfand und sich in diesem Augenblick in die liebliche Mittelmeerlandschaft zurücksehnte, die seine Heimat war. * Als das Schiff plötzlich wie ein Gespenst aus Dämmerung und Nebel erschien, erschrak Arthur Nolan zutiefst. Seine nächste Reaktion war, daß er die Augen zusammenkniff, graue Augen in einem verwitterten Gesicht, und den Dreimaster etwas genauer musterte. Dann fuhr er zu seinem Sohn herum. Harry kauerte weiter achtern zwischen zwei Duchten der einmastigen Schaluppe
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und blickte mit offenem Mund und anscheinend völlig entgeistert zu dem Schiff hinüber. „Harry“, sagte Nolan. „Zieh das Netz hoch, na los, beeil dich! Himmel, bist du schwerhörig?“ „Pa — nun sieh dir das an!“ „Ja, sieh dir das an.“ Nolan stieg über die Duchten und griff selbst zu dem Netz, das sie erst vor einer halben Stunde ausgebracht und ein Stück durch die Nordostbucht der Insel geschleppt hatten. „Zum Teufel, hast du noch nie ein Segelschiff gesehen?“ Jetzt wurde Harry aktiv. Er war erst sechzehn Jahre alt und riskierte immer noch, sich eine Ohrfeige einzuhandeln, wenn er die Anordnungen seines Vaters nicht rechtzeitig genug befolgte. Seine Hände packten das Netz und beförderten es Zug um Zug binnenbords. Immer wieder sah sich Harry nach dem großen Segler um, der hoch am Wind mit prallen Segeln in die Bucht segelte. „So ein großes, herrliches Schiff noch nicht“, antwortete Harry auf die Frage seines Vaters. „Wirklich nicht, das weißt du doch. Mein Gott, was will denn der hier bloß?“ „Ich habe nicht die geringste Ahnung.” Arthur Nolan schaute kurz auf. Sein Blick huschte zu den beiden anderen Schaluppen hinüber. Die Harveys und die Crapes folgten seinem Beispiel, sie holten ebenfalls ihre Fischernetze ein, denn man konnte nicht wissen, ob die Ankunft des fremden Seglers Gutes oder Böses verhieß. Makrelen, Heringe, ein paar verirrte Taschenkrebse und anderes Getier zappelten in der sackförmigen Ausbuchtung des Netzes, die Nolan und sein Sohn in die Schaluppe hoben. „Anbrassen und an den Wind“, sagte Arthur Nolan etwas zu hastig. „Wir kehren an Land zurück.“ Harry folgte der Anweisung. Sein Vater kletterte über die Duchten nach achtern zurück und bediente die Ruderpinne der Schaluppe. Die Schaluppe drehte mit dem Bug nach Süden. Das gleiche taten auch die beiden
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anderen Schaluppen, in denen Kay Harvey und sein greiser Vater Bertrand sowie Jonathan und Frank Crape saßen. Vor der heranrauschenden Galeone steuerten die drei Schaluppen zum Ufer der Bucht — ihre Flucht hätte nicht offensichtlicher sein können. „Pa!“ rief Harry. „Hast du etwa Angst?“ „Ich habe Angst, wir kriegen Ärger.“ „Warum denn?“ „Das ist kein englisches Schiff, Sohn.“ „Aber es weht keine Flagge in seinem Topp!“ „Und es baumelt auch kein Holzkreuz unter seinem Bugspriet“, erwiderte Arthur Nolan mit galliger Miene. „Aber sieh dir genau an, wie der Kahn gebaut ist.“ „Er sieht einfach prächtig aus.“ „Prächtig“, murmelte sein Vater. „Man braucht kein Hellseher zu sein, um rauszukriegen, woher das Schiff kommt, wirklich nicht. Er ist kein Holländer und auch kein Franzose, und die Iren haben nur ein paar armselige Kähne. O Himmel, das ist ein Don, Sohn. Der Teufel soll ihn und seine Mannschaft holen.“ Harry hatte nur die letzten Worte verstanden und rief gegen den summenden Wind und das Plätschern der Wellen an: „Was, ein Don? Ein Spanier, Pa?“ „Ja.“ Harry wurde wachsbleich im Gesicht. „Der Herr steh uns bei. Die sind doch nicht hier, um uns um Trinkwasser und Proviant zu bitten. Die haben was anderes vor.“ Arthur Nolan griff mit einer Hand unter die Heckducht und vergewisserte sich, daß die Muskete an ihrem gewohnten Platz lag. Sie war geladen, und er wußte sie auch zu benutzen, wenngleich er bisher damit auch nur auf die großen Graugänse und Enten gefeuert hatte, die sich im beginnenden Frühjahr auf der Heimreise vorn Süden in den Norden auf der Insel niederließen. Arthur Nolan war ziemlich sicher, daß er die Muskete mit dem Steinschoß an diesem Abend zum ersten Mal in seinem Leben gegen einen Menschen verwenden würde. Denn so abseits und verloren die Insel Bryher auch lag, die Nolans, die Harveys und die Crapes waren durch die
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Besatzungen von Küstenseglern unlängst über die zunehmenden Spannungen zwischen England und Spanien unterrichtet worden. Sie hatten auch von Drakes Überfall auf Cadiz erfahren. All das konnte einen halbwegs klug denkenden Mann nur davon überzeugen, daß der Feind früher oder später zu einem Gegenschlag rüsten würde. War es jetzt soweit? Sollte die Invasion wirklich hier, auf den Scilly-Inseln, beginnen? Es war schon einige Zeit her, daß die drei Familien von Bryher ein annähernd großes Schiff wie diese Dreimast-Galeone gesehen hatten. Das letzte Mal vor zwei Jahren war es eine stolze englische Galeone gewesen, die mit Kurs auf den St.-Georgs-Kanal und die Irische See an den Scilly-Inseln vorbei geglitten war. Sie war ein Meisterwerk der Schiffbaukunst gewesen, diese Galeone, der Inbegriff von Macht und Stärke und menschlichem Genie. Nolans zutiefst patriotisch empfindendes Herz hatte damals höher geschlagen, denn auch die wenigen Menschen, die auf Bryher und den anderen Scilly-Inseln lebten, waren vaterlandstreue Engländer - oder vielleicht gerade wegen der Abgeschiedenheit, in der sie lebten, besonders gute Engländer. Selten geschah es, daß sich ein Schiff bis nach Bryher verirrte, es sei denn, es handelte sich um einen der Küstensegler, die das Eiland zwei- bis dreimal im Jahr mit dem versorgten, was sich die Nolans, die Harveys und die Crapes auf den Felsen nicht selbst beschaffen konnten. Galeonen, Karavellen und Karacken, die sich von oder nach England bewegten, passierten die Scilly-Inseln eigentlich nie, und das aus gutem Grund. Die klippenreichen Gewässer vor der Südwestspitze Englands wurden tunlichst gemieden. Auch diejenigen Kapitäne, die Cornwall rundeten, gerieten mit ihren Schiffen allenfalls bei ungünstigem Wind oder gar bei Sturm bis zu den Scilly-Inseln. Freiwillig begab sich kaum jemand in die Gegend zwischen Bryher und Bishop Rock, in die Nähe der felsigen Eilande St. Martin's, St. Mary's, St. Agnes oder
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Tresco. Schon viele Schiffe waren hier aufgelaufen und gesunken - Dramen, von denen noch hier und da die Wrackteile zeugten, die bei Ebbe mahnend aus den Fluten ragten. Normalerweise rundete ein kluger Kapitän also Runnel Stone und Land's End, wenn er in den St.-Georgs-Kanal hinaufwollte, und achtete darauf, daß er ja nicht zu weit nach Westen abgetrieben wurde. Auch die Spanier hatten Karten, auf denen die Scilly-Inseln eingezeichnet waren. Ja, sie kannten sich in dieser Gegend aus, denn sie hatten Irland mit Waffen beliefert, kämpften mit Irland gegen den englischen Feind und hatten ihre Spione, die entlang der englischen Küste auskundschafteten, was der Gegner trieb und plante, wie seine Gewässer beschaffen waren. War es Zufall, daß die Galeone nun in die Nordostbucht von Bryher einlief? Arthur Nolan war nicht so naiv, daran zu glauben.. Das ist Absicht, dachte er, und der Henker mochte wissen, warum sie ausgerechnet hier landen wollten. Er hatte mit seiner einmastigen Schaluppe fast das steinige Buchtufer erreicht, und auch die Harveys und die Crapes waren nicht mehr weit davon entfernt. Harry barg auf einen Wink seines Vaters hin schon das Großsegel und die kleine Fock - da geschah es. Die Galeone war ein drohendes Ungetüm hinter ihnen, ein Gigant, der sie niederzuwalzen drohte. Doch dies war nur der Anschein, in Wirklichkeit mußte das Schiff seine Fahrt verlangsamen, denn im flacher werdenden Wasser der Bucht wuchs die Gefahr, auf eine Untiefe zu geraten. Die Schaluppen entglitten der Galeone. Die Nolans, die Harveys und die Crapes schienen sich an Land retten und irgendwo in Höhlen und Schluchten verstecken zu können, dort im zerklüfteten Felsland, wo ein Eingeweihter einem Ortsunkundigen hundert Fallen stellen konnte. Plötzlich entließ eins der Buggeschütze der Galeone jedoch Feuer und Rauch. Es donnerte gewaltig in der Felsenbucht, es dröhnte und heulte auf die Schaluppen zu.
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Harry schrie auf, ließ sich fallen und schützte instinktiv seinen Kopf mit beiden Händen. Ein Wasserturm wuchs zwischen der Schaluppe der Nolans und der Harveys hoch. Seine rauschende Krone besprühte die Insassen mit Gischt. Arthur Nolan kauerte sich zwischen die Duchten und umklammerte mit den Händen die Muskete, stieß einen Fluch und ein flehendes Wort aus und dachte, dies wäre nun das Ende. Seine Schaluppe schwankte heftig und drohte zu kentern. Aber das geschah nun doch nicht, und auch der Tod kam nicht so schnell, wie Nolan es in seinem ersten Entsetzen geglaubt hatte. Es gab noch eine Hoffnung¬, und Nolan klammerte sich mit der Verzweiflung eines Ertrinkenden daran. Die Wasserfontäne fiel in sich zusammen. Arthur Nolan erhob sich mit einem Ruck, hatte die Muskete in den Händen, stelzte in nahezu grotesk wirkender Weise über die Duchten seiner Schaluppe und schrie Harry an: „Weg! 'raus aus dem Scheißkahn, zum Ufer, Herrgott, renn, Junge, renn, so schnell du kannst!“ Harry sprang über das Dollbord, landete ziemlich unbeholfen im Wasser und strauchelte, war plötzlich aber wieder sehr schnell auf den Beinen. Dann befand sich auch sein Vater in den Fluten neben ihm. Er hielt die Muskete mit beiden Fäusten über dem Kopf. Sie war ein wenig naß geworden, aber Nolan war sicher, sie trotzdem noch gebrauchen zu können. Ein Steinschloß war bei weitem nicht so empfindlich wie ein Luntenschloß, die Hauptsache war, daß das Zündkraut keinen Spritzer abgekriegt hatte. Die beiden Harveys und die Crapes ließen ihre Schaluppen und die Netze und die Fische ebenfalls im Stich und versuchten, zur selben Zeit wie die Nolans das Ufer zu erreichen. Sie schafften es, legten die letzten Schritte im Wasser zurück, waren dann durch die flache Brandung hindurch und schlossen sich Arthur und Harry Nolan an, die über die Steine weg zu jenem Einschnitt im
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Felsen hetzten, durch den man in die höher gelegene Inselregion aufsteigen konnte. Sie waren sechs Schemen im fließenden Nebel. Ihre Konturen verschwanden in Dunst und Dunkelheit. 2. Der Kommandant Lopez de la Osa hatte längst das Achterdeck seiner DreimastGaleone verlassen und war auf die Back geeilt, um von dort aus das Geschehen besser verfolgen zu können. Er ballte die Hände in grenzenloser Wut, denn er war sich im klaren darüber, daß er einen groben Fehler begangen hatte, aus dem sich eine ganze Reihe von Kalamitäten ergab. Immer tiefer mußte er sich von jetzt an in diese Verwicklungen verstricken, es war nicht mehr aufzuhalten. Mit seiner anfänglichen Umsicht und. Besonnenheit war es vorbei. Er hätte sich gründlicher vergewissern sollen, ob die Insel auch wirklich unbewohnt war. Die Spione, mit denen er in Vigo, seinem Heimathafen, gesprochen hatte, hatten es ihm immer wieder versichert, aber er hätte sich eben nicht darauf verlassen dürfen. Auch der Ausguck der „Santissima Trinidad“ hatte nicht den geschärften Blick eines Adlers, auch er war nicht unfehlbar. Er hatte beim Heransegeln an die Insel kein menschliches Lebewesen und keine Behausung erkennen können, aber die Dämmerung und der Nebel mußten ihm einen üblen Streich gespielt haben. Und schließlich, beim Einlaufen in die Nordostbucht, hatte niemand an Bord des Flaggschiffes die drei Schaluppen der Fischer so rechtzeitig bemerkt, daß ein Umkehren noch möglich gewesen wäre. Sie hatten die „Santissima Trinidad“ gesehen, diese Männer in den einmastigen Schaluppen, und Lopez de la Osa hatte keine andere Wahl mehr: Er mußte bis zur letzten Konsequenz gehen. Er hatte, als die Schaluppen die Flucht zum Ufer hin angetreten hatten, keinen anderen Rat gewußt, als einen Warnschuß auf sie abzugeben. Gut gezielt war dieser Schuß
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mit dem einen Neunpfünder-Buggeschütz gewesen, ein Beispiel an Präzision mit einer Wirkung, die die sechs Engländer eigentlich vor Schreck hätte erstarren lassen müssen. Aber de la Osa war jetzt bewußt, daß er wieder einen Fehler begangen hatte. Diese Leute dort ließen sich nicht so leicht erschrecken, wie er gedacht hatte. Sie waren zäh. Der Kanonenböller konnte dem spanischen Kommandanten außerdem Schiffe auf den Hals hetzen, die sich zufällig gerade in der Nähe aufhielten. Gewiß, der kleine Archipel wurde wegen seiner tückischen Riffe gemieden, aber das hieß noch lange nicht, daß er stets gottverlassen und unberührt war. De la Osa malte sich vielmehr in diesen Sekunden aus, daß er es — wenn seine Pechsträhne anhielt — bald mit der halben englischen Flotte zu tun haben würde. Er war der englischen Sprache mächtig. Aus diesen und anderen Gründen hatte man ihn als den richtigen Mann für diese geheime Mission ausgewählt und bestimmt. De la Osa legte die Hände als Schalltrichter an den Mund und schrie auf englisch: „Halt, stehen bleiben! Dreht euch um, hebt die Hände und ergebt euch, wenn euch euer Leben lieb ist!“ Die „Santissima Trinidad“ schob sich mit stark verringerter Fahrt auf das südliche Ufer der Bucht zu. Ihre sämtlichen Segel hingen jetzt im Gei. Der Rudergänger legte auf Befehl des Zuchtmeisters den Kolderstock so, daß sich der Vorsteven der Galeone in den Wind drehte. Die sechs Gestalten hetzten am Ufer in der gleichen Richtung, in der sich der lange Bugspriet der spanischen Galeone bewegte. Sie befanden sich praktisch ständig in der Zielposition der Buggeschütze. „Stehen bleiben!“ schrie de la Osa noch einmal, aber seine Rufe verhallten ergebnislos in der fallenden Dunkelheit. „Die entwischen uns“, wetterte unten im Vorkastell der Geschützführer. „Verdammter Mist, die Dreckskerle gehen uns durch die Lappen.“ Trotz der Gefahr, von unerwünschten
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Dritten gehört zu werden, gab Lopez de la Osa in diesem Moment wieder den Feuerbefehl. „Feuer!“ Das zweite Buggeschütz wummerte los, die Neunpfünder-Kugel raste mit einem gelben, gestanzt wirkenden Feuerblitz aus dem Rohr, jagte den Engländern nach und schien sie auch wirklich noch einzuholen. De la Osas Männer lachten und stießen schadenfrohe Äußerungen aus. Aus schmalen Augen spähte der Kommandant zum Ufer. Viel erkennen konnte er nicht, aber er glaubte, eine der verschwommenen Gestalten stolpern, fallen und reglos liegen bleiben zu sehen. Was die arideren taten, konnte er nicht mehr feststellen. Auch der Ausguck im Hauptmars der Galeone schien nichts beobachtet zu haben, sonst hätte er sich gemeldet. „Direkt scheint die Kugel nicht getroffen zu haben, Senor“, sagte der erste Offizier der „Santissima Trinidad“, der sich zu seinem Kommandanten gesellt hatte. „Aber sie ist gegen die Felsen gedonnert und daran zersprungen, und ich hoffe, daß ihre Eisensplitter möglichst viele dieser englischen Bastarde erwischt haben.“ „Sehen wir nach, ob Ihr Wunsch in Erfüllung gegangen ist“, entgegnete de la Osa. „Wir ankern, fieren beide Boote ab, bewaffnen uns bis an die Zähne und setzen mit zehn Mann pro Boot zum Land über.“ „Si, Senor.“ Der Erste drehte sich zum Hauptdeck hin um und rief: „Fallen Anker!“ „Fallen Anker“, wiederholte der Profos zum Zeichen, daß er verstanden und den Befehl weitergeleitet hatte. Dann hasteten mehrere Männer der Galeone auch schon zum Spill, um den Anker ausrauschen zu lassen. Kurze Zeit später enterte der Kommandant in das für ihn bereitliegende Boot ab. Er wollte bei dieser Landung selbst dabei sein. Er begab sich in den Bug der Jolle und verharrte aufrecht und mit erhobenem Kopf,. während die Bootsgasten das Boot von der Bordwand der „Santissima Trinidad“ abstießen und. zu pullen begannen.
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Der erste Offizier blieb mit beinahe der Hälfte der Besatzung an Bord zurück. De la Osa hatte ihm für die Zeit seiner Abwesenheit das Kommando über das Schiff übertragen. Kurz darauf schoben sich die Jollen auf das steinige, geröllübersäte Ufer der Bucht. De la Osa sprang als erster an Land und schritt mit gezücktem Degen und schußbereiter Pistole durch die Dunkelheit voran. Man konnte ihm so manches nachsagen, eine gewisse Überheblichkeit beispielsweise, aber Feigheit bestimmt nicht. Nie schickte er andere. vor, um sich die Kastanien aus dem Feuer holen zu lassen. Er war ein Mann der ersten Linie. Seine besten Männer folgten ihm, hinter ihnen schloß der Rest des Trupps auf. De la Osa hatte seinen Blick überall und war darauf vorbereitet, aus dem Hinterhalt angegriffen zu werden. Kompromißlos wollte er darauf reagieren, wie er überhaupt hart durchzugreifen gedachte. Hier mußte es zwangsläufig mehr Tote als Gefangene geben, wenn er seinen Auftrag mit Erfolg zum Abschluß bringen wollte. Aber es tauchte niemand aus der Dunkelheit auf. De la Osa fand auch an dem Platz, an dem die Neunpfünder-Kugel gegen den Felsen geprallt und zersprungen war, niemanden, der von den Eisensplittern verletzt oder getötet worden war. Nur nacktes Gestein war da - und Stille und die Verblüffung der nachrückenden Männer. „Das gibt es doch nicht“, flüsterte der zweite Offizier der „Santissima Trinidad“. „Ich habe ganz deutlich jemanden stürzen sehen“, fügte der Geschützführer der Neunpfünder hinzu, der ebenfalls mitgekommen war. „Por Dios, dieser Kerl kann sich doch nicht in Luft aufgelöst haben.“ „Wir finden ihn, das versichere ich euch“, sagte der Kommandant etwas gepreßt. „Wir steigen in die Felsen auf. Ein Mann kehrt zum Schiff zurück und meldet dies dem Ersten. Falls wir innerhalb der nächsten zwei Glasen kein Zeichen geben, sollen uns zwölf Mann folgen.“ „Si, Senor“, antwortete der zweite Offizier.
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„Und ich will wissen, ob Tarrega mit der ,Asturias` in der Bucht eingetroffen ist. Weitergeben.“ Die Männer hinter ihm verständigten sich, und der letzte Mann in , der Reihe drehte sich um, lief bis zur Brandung und blieb dort stehen. „Ich kann unser Schiff noch sehen“, sagte er. „Aber ich sehe nirgendwo die ,Asturias`.“ De la Osa hatte es verstanden. „Himmel, wo bleibt Tarrega denn bloß so lange?“ murmelte er. „Geht heute abend alles schief? Aber, verdammt noch mal, ich kann mich um die ,Asturias` jetzt nicht kümmern, die Verfolgung der Ingléses geht vor. Segundo, sagen Sie dem Mann am Ufer, er soll zu unserem Schiff pullen, meine Order an den Ersten weitergeben und dann dort bleiben.“ „Si, Senor.“ „Wenn Tarrega endlich aufkreuzt, soll er mit fünfzehn bis zwanzig Mann landen und uns folgen. Man weiß ja nicht, welche Überraschungen uns auf dieser Insel noch erwarten.“ „Si, Senor.“ Der zweite Offizier wandte sich an den wartenden Seemann am Ufer, und dieser vernahm die Befehle, zeigte klar und setzte sich in eine Jolle. Mit flinkem Schlag pullte er zur „Santissima Trinidad“. „Gehen wir“, sagte Lopez de la Osa. Er schritt weiter voran und hielt nach einer Möglichkeit Ausschau, in die schroffen, zerklüfteten Felsen aufzusteigen. * Old O'Flynn horchte auf, als der erste Kanonendonner über die See rollte. Er legte eine Hand hinters Ohr und grinste listig. Der zweite Schuß ertönte, und Donegal nickte, als hätte er genau gewußt, daß es bei dem ersten nicht bleiben würde. „Das ist der Auftakt eines Gefechts“, sagte er. „Ich hab's ja geahnt. Wir kehren in die Heimat zurück, aber, hol's der Henker, die Dons haben es irgendwie schon geschafft, Cornwall zu erreichen, und schießen jetzt alles zusammen. Der Krieg hat begonnen, Männer, und wir brauchen uns keinen
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Hoffnungen mehr hinzugeben. Aus einem Besuch in Plymsons ,Bloody Mary' wird nichts, ehe wir da sind, ist alles kaputt, sind alle tot, und die Dons richten ihre Kanonen auch auf uns.“ Er grinste nicht mehr, als er das sagte. Hasard, der in seiner Nähe auf dem Achterdeck der „Isabella VIII.“ stand, spähte in die Richtung, aus der der zweifache Böller erklungen war. Aber da war nichts, kein Mündungsblitz, kein Feuer, kein Rauch in der einsetzenden Dunkelheit. Warum konnte man nichts sehen, wenn die Schußgeräusche doch so nahe gewesen waren? „Donegal“, sagte der Seewolf. „Ich habe nichts gegen Witze, aber ich finde, diesmal gehst du zu weit. Ich mag es nicht, wenn du so sprichst.“ „Ich scherze nicht. Es ist mein voller Ernst.“ „Um so schlimmer.“ „Hasard, du weißt, daß meine Weissagungen etwas für sich haben.“ „Keiner kann in die Zukunft sehen. Es gibt nur einige überraschende Zufälle im Leben, das ist alles“, erwiderte der große schwarzhaarige Mann. „Diesmal vertust du dich glatt, denn wir sind noch zu weit von Cornwalls Küste entfernt, um ein dort stattfindendes Gefecht hören zu können. Wir haben auch Wind von Westen, vergiß das nicht.“ „Nein, ich vergesse es nicht. Aber du wirst noch einsehen, daß es richtig von mir war, den Teufel an die Wand zu malen.“ Hasard trat dicht vor ihn hin. „Die Spanier müssen sich erst von dem Schlag in Cadiz erholen, ehe sie etwas gegen England unternehmen. Sollten sie je vorhaben, Vergeltung zu üben, dann können sie es nicht jetzt tun. Die ,unüberwindliche Armada' hat zu viele Schiffe eingebüßt. Die müssen erst neu gebaut werden. Mit unvollständigen Geschwadern trauen sich die Dons nicht bis hierher, du kannst es mir glauben.“ Old O'Flynn blickte fast lauernd drein. „Vielleicht haben sie irgendwo heimliche Reserven.“ „An Schiffen?“
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„Ja. In den letzten Jahren haben sie doch wohl hinzugelernt, oder?“ Hasard mußte lachen. „Hirngespinste. Niemals traue ich den Brüdern einen solchen Weitblick zu.“ „Na schön“, grollte der Alte. „Bleib du bei deiner Meinung, ich bleibe bei meiner. Im übrigen geht uns die ganze Knallerei ja auch einen feuchten Kehricht an. Wir segeln drum herum und sehen zu, daß wir so bald wie möglich Plymouth erreichen, stimmt's?“ Big Old Shane hatte die Hände in die Hosentaschen gestopft und marschierte vom Backbordniedergang her auf sie zu. „Also, ich für mein Teil bin heilfroh, wenn ich in Plymouth endlich mal für einige Stunden von deiner Gesellschaft erlöst werde, Donegal. Man hält dieses ewige Gemecker und Gelaber einfach nicht mehr aus.“ Ferris Tucker erschien jetzt auch und trat grinsend zu seinem Kapitän und dem Alten. „Also, wenn ich richtig verstanden habe, juckt es Old O'Flynn mal wieder kräftig: Er möchte am liebsten nachsehen, was es mit dem Kanonendonner auf sich hat.“ „Wißt ihr, was ihr mich könnt?“ sagte der Alte. Shane baute sich vor ihm auf und verschränkte die mächtigen Arme. „Nein, wissen wir nicht. Ist das ein bekannter Spruch, den du jetzt loslassen willst?“ Ferris Tucker konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. „Ihr könnt mich alle mal ...“ Hasard war an die Querbalustrade getreten, unterbrach den Alten, beugte sich vor und rief zum Quarterdeck hinunter: „He, Ben, bist du im Ruderhaus, oder wo steckst du?“ Ben antwortete tatsächlich aus dem Ruderhaus: „Hier, Sir.“ „Bring bitte die Karte herauf!“ „Sofort.“ Ben Brighton löste die See- und Landkarte. die von Pete Ballie an der achteren Innenwand des Ruderhauses festgepinnt worden war, rollte sie zusammen und ging zum Steuerbordniedergang. Er nahm je zwei Holzstufen mit einem Schritt, langte
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auf dem Achterdeck an und folgte Hasard, Old O'Flynn, Ferris und Shane. die jetzt in den Lichtkegel der Hecklaterne traten. Ben rollte die Karte wieder aus, und der Seewolf suchte mit dem Zeigefinger nach der Position, die er am späten Nachmittag berechnet hatte. Er verfolgte ihren südöstlichen Kurs weiter. Nachdenklich schob er die Unterlippe vor. In Irland waren sie gewesen und in ein Abenteuer verwickelt worden, dank dessen sie jetzt einen neuen Freund hatten Seamus Behan. Der Gedanke an das Erlebte, an Glandore Castle und die Konflikte, denen Seamus und seine Angehörigen in so ohnmächtiger Hilflosigkeit gegenübergestanden hatten, hatte die Seewölfe noch einige Zeit begleitet. Jetzt aber lagen schon wieder Tage zwischen Irland und der „Isabella“, und die Gedanken schweiften zu anderen Dingen ab - vorwiegend natürlich zu der Ankunft in Cornwall, die endlich bevorstand. Hasards Zeigefinger ruhte auf einem wirren Haufen fragmentarischer Gebilde vor dem südwestlichen Zipfel Cornwalls. „Wir sind den Scilly-Inseln nahe. Von dort kamen die Schußgeräusche.“ „Soso“, sagte der alte O'Flynn. „Sollten sich die Dons auf die Riffe verirrt haben? Recht geschähe es ihnen ja.“ „Aber warum feuern sie dann mit ihren Geschützen?“ wollte Big Old Shane wissen. „Ich sehe da keinen Zusammenhang.“ „Um Hilfe zu rufen, das ist doch klar“, versetzte der Alte in seiner gewohnt giftigen Art. „Einer oder mehrere sitzen auf den Felsen fest, und sie versuchen, den Rest ihres Verbandes zu verständigen. Leuchtet das nicht ein?“ „Ich möchte wirklich wissen, wie du da so sicher sein kannst, Donegal“, sagte Ben Brighton. „Ich kenne die Scillys!“ „Wir auch“, erwiderte Ferris Tucker. „Aber ich höre immer Dons. Wer sagt uns denn, daß da wirklich ein elender Spanier geschossen hat? Hat dir das eine schöne Fee geflüstert, Donegal, oder hast du
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wieder mal eins von deinen verdammten ‚Gesichten' gehabt?“ „Paß auf, was du gleich für ein verdammtes Gesicht kriegst, wenn ich dir eine feure“, zischte der Alte. Hasard rollte die Karte zusammen und reichte sie Ben Brighton zurück. „Gehen wir einmal von anderen Voraussetzungen aus. Jemand könnte wirklich unsere Hilfe nötig haben. Wer weiß, was sich dort drüben abspielt. Eine Tragödie vielleicht, in die Unschuldige verwickelt sind. Dürfen wir das dulden?“ „Hasard“, antwortete Shane. „Soll das heißen, daß du so kurz vor Cornwall wieder auf anderen Kurs gehen willst? Willst du das wirklich riskieren?“ „Würdest du jemandem, der in Not ist, deine Hilfe versagen?“ „Wir wissen nicht, ob jemand in Not ist“, erwiderte der graubärtige Riese. „Aber wir sollten zumindest nachsehen, was es mit dieser Knallerei auf sich hat“, sagte der Seewolf. „Los, wir gehen vor den Wind und steuern die Scilly-Inseln an. Es müßte schon mit dem Teufel zugehen, auf eine Untiefe zu laufen. So eine Schlappe wollen wir uns doch wohl nicht leisten, was? Ich kenne die Inseln auch und weiß, daß man mit einigem Geschick zwischen den tückischen Felsen hindurchlavieren kann. Hauptsache, man kennt die wichtigsten Markierungspunkte.“ „Man kann sie bei Nacht nicht sehen“, gab Shane zu bedenken. „Außerdem haben wir ablaufendes Wasser, dadurch wird die Sache noch gefährlicher. Von dem einsetzenden Nebel will ich gar nicht erst reden.“ Hasard musterte ihn scharf. „Sag mal, Shane, fühlst du dich irgendwie nicht wohl?“ „Wie? Ich? Ich bin putzmunter, wieso?“ „Du bist ganz sicher, daß du nicht krank bist?“ „Sir“, sagte Big Old Shane. „Ich sehne mich nach Cornwall - genau wie die anderen Holzköpfe, die es ja bloß nicht offen zugeben wollen. Das ist mein einziges Leiden, wenn du so willst.“
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Hasard lächelte und entblößte dabei die Zähne. „In Ordnung, Shane. Wir haben uns schon verstanden. Wir werden aber trotzdem den Scilly-Inseln einen Besuch abstatten.“ „Ist das ein Befehl, Sir?“ „Ja.` „Aye, aye, Sir“, murmelten Shane und die anderen Männer auf dem Achterdeck. „Vielleicht sind die wenigen Bewohner der Inseln überfallen worden, möglicherweise von Piraten“, sagte der Seewolf. „Wir machen auf jeden Fall gefechtsklar.“ „Alle Mann an Deck!“ rief Ben Brighton von der Schmuckbalustrade zum Hauptdeck hinunter. „Alle Mann an Deck!“ ertönte nun auch die Stimme des allgewaltigen Ed Carberry auf der Kuhl. „Bewegt die müden Knochen, ihr Rübenschweine! Sitzt ihr auf euren Ohren, oder was ist los? Muß ich euch erst wieder auf Trab bringen, ihr steifen Heringe, ihr krummbeinigen Kakerlaken? Oh, ich werde euch schon den Marsch blasen.“ Dan O'Flynn erschien soeben im Vordecksschott und rieb sich die Augen. Er gähnte und meinte zu den nachrückenden Männern: „Hört ihr das? Das sind die Trompeten von Jericho.“ „Eine verfluchte Scheißmusik ist das“, murrte Matt Davies. „Der kann einem die ganze Stimmung versauen, so kurz vor Cornwall.“ Shane war aufs Quarterdeck hinunter gestiegen, trat an die vordere Balustrade und rief über die Kuhl: „He, die Zwillinge sollen im Logis bleiben, weil es Krawall geben könnte. Befehl vom Seewolf!“ „Philip und Hasard dürfen nicht an Oberdeck“, sagte Dan O'Flynn zu den Männern im Dunkel des Vordecks. „In Ordnung, aber gib endlich den Weg frei“, erwiderte Smoky. Dan lief auf die Kuhl, die Männer folgten ihm. Sie begaben sich auf die Gefechtsstationen und Manöverposten. Es herrschte emsige Betriebsamkeit, und nur wenige Worte wurden gewechselt. Stenmark war auf Smokys Geheiß hin zum Mannschaftslogis zurückgekehrt. Er blieb
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in der offenen Tür stehen und hob die rechte Hand. Philip und Hasard, die Söhne des Seewolfs, waren schon von ihren Kojen aufgestanden, verharrten jetzt aber und blickten den Schweden fragend an. „Rührt euch nicht vom Fleck, Kameraden“, sagte Stenmark. „Ihr bleibt unter Deck, klar?“ „Unter Deck“, wiederholte Philip. „Au, verdammt.“ „So ein Mist“, fügte nun auch Hasard bekräftigend hinzu. Beide hatten inzwischen genug Englisch gelernt, um sich mit den Männern der „Isabella“ verständigen zu können. Sie konnten Freude und Mißfallen hervorragend zum Ausdruck bringen — im Moment taten sie letzteres. Stenmark zuckte mit den Schultern. „Tut mir leid, aber das ist ein Befehl. Es könnte Verdruß geben, und zwar dicken. Denkt an die Straße von Gibraltar und daran, was euch passieren könnte.“ Er drehte sich um und eilte an Oberdeck. Philip und Hasard sahen sich verdrossen an und setzten sich schließlich auf den Rand einer Koje. Jeder stieß einen ellenlangen Seufzer aus, mehr gab es nicht zu tun, denn ein Befehl war ein Gesetz, und jedes Zuwiderhandeln wurde streng bestraft. Das galt auch für die Zwillinge. Carberry, Shane, Smoky, Stenmark oder jeder andere Mann durfte ihnen den Hintern versohlen, falls sie noch einmal so etwas Törichtes unternahmen wie kurz hinter Tanger, zwischen Afrika und Spanien. Dort war Philip über Bord gegangen und im Sturm fast ertrunken. Die „Isabella“ fuhr eine Halse und steuerte mit neuem, nach Ostnordost führendem Kurs die Scilly-Inseln an. Auf dem Achterdeck löschte Ben Brighton das Licht der Hecklaterne. Die Silhouette des Schiffes verwuchs mit der Finsternis. 3. Kapitän Fernando Tarrega. war wie vom Donner gerührt am südlichen Ufer der Insel Bryher stehen geblieben, als in der Nordostbucht geschossen worden war.
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„Der Comandante gibt uns ein Zeichen“, hatte einer der Männer seines Landtrupps gesagt. „Nein, das glaube ich nicht.“ „Capitan, man sucht uns.“ „Nein. Da ist etwas passiert. Ein verdammtes Mißgeschick.“ „Sie wollen sagen, daß die ,Trinidad' auch aufgelaufen ist?“ „Gar nichts will ich sagen“, hatte Tarrega grob erwidert. „Laufen wir. Überqueren wir die Insel. Sie ist nicht sehr groß. Wir müssen es schaffen, zum Comandante und dessen Männern vorzustoßen und nach dem Rechten zu sehen.“ So waren sie die Felsen hinaufgeklettert und gelangten auf eine Art Plateau, das von wenigen verkrüppelten Bäumen bestanden war und sonst einen trostlosen Eindruck erweckte. Von hier aus konnte man nichts sehen, weder die weitere Umgebung noch die Küste, noch die „Asturias“ oder die „Santissima Trinidad“. Da waren nur die knorrigen Bäume, die Felsen und der Dunst in der Nacht, der alles zuzudecken schien. Tarrega eilte weiter. Seine Männer hatten Mühe, ihm zu folgen und ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Tarrega erreichte einen Hang, der abwärts führte. Er betrat ihn, ohne zu zögern. Immer steiler wurde dieser Hang. Er war mit Geröll bedeckt, auf dem Kapitän Tarrega ausrutschte. Er landete auf dem Hosenboden, setzte seinen Weg ein Stück in dieser höchst lächerlichen Haltung fort, rappelte sich dann wieder auf und strebte dem Fuß des Hanges zu, um zu erkunden, was daran anschloß. Nach seinen Schätzungen befanden sie sich jetzt ungefähr im Zentrum der Insel. Eine Hauswand wuchs so unvermittelt aus der Dunkelheit und dem Nebel hervor, daß er beinah dagegen prallte. Im letzten Augenblick stoppte er ab, streckte die Hände vor, berührte mit den Fingern die Mauer aus schroffem, grob behauenem Gestein, drehte sich um und gab seinen näher rückenden Männern ein Zeichen, sie sollten sich still verhalten.
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Sie standen da, atmeten schwer und betrachteten das Haus, in dem kein Licht brannte. Dieses Haus hätte nicht vorhanden sein dürfen. Nach Fernando Tarregas Ansicht hatte es kein Existenzrecht auf der Insel, denn durch seine Entdeckung wurde jetzt alles schwerer und komplizierter. Bryher war nicht unbewohnt. Tarrega sah an dem Zustand des Hauses, daß es sich um keine verlassene Hütte handelte. Auf Bryher gab es also Menschen, von denen man von See her nichts sehen konnte. Die beiden Kanonenschüsse, zweifellos von der „Santissima Trinidad“ abgegeben, schienen mit dieser Tatsache im Zusammenhang zu stehen. Tarrega befand, daß kein allzu großer Scharfsinn dazu gehörte, zu dieser Ansicht zu gelangen. Er pirschte an der Hausmauer entlang, fand aber keine Tür und kein Fenster. Es schien sich um die rückwärtige Wand zu handeln. Er erreichte ihr Ende, beugte sich ein Stück vor und konnte erspähen, was hinter der Ecke lag. Da waren, trotz des Nebels deutlich genug zu erkennen, noch zwei andere Häuser mit einigen Nebengebäuden und ein Platz, auf dem Büsche und Bäume wuchsen. Das alles sah gut gepflegt aus und schien eine Oase der Friedfertigkeit und Geborgenheit inmitten der rauhen Inselwelt zu sein. Ein geschützter Platz, ein Hort der Ruhe und Unveränderlichkeit - besser hätte man diese winzige Siedlung nicht anlegen können. Fernando Tarrega drehte sich zu den Männern um. Durch eine Gebärde bedeutete er ihnen, sie sollten ausschwärmen. Sie wußten, was sie zu tun hatten. Lautlos bewegten sie sich — durch die Nacht. Es war eine geradezu ungeheuerliche Entdeckung. Tarrega war überzeugt, daß von de la Osa eine andere Insel angesteuert worden wäre, falls er rechtzeitig genug bemerkt hätte, daß diese hier bewohnt war. Denn was sollten die Spanier mit den Leuten anfangen? Sie waren ihnen im Weg bei dem, was sie planten. Ihre Mitwisserschaft war gleichsam fatal und gefährlich.
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Tarrega duckte sich etwas, schlich um die Hausecke und begab sich auf den Weg zur Vorderfront des Gebäudes. Er sah ein kleines, quadratisches Fenster, dessen Steinbank sich in Brusthöhe in der Seitenwand befand, an der er jetzt entlang pirschte. Er beugte sich tiefer, um unter dem Sims zu bleiben. Auf diese Weise verhinderte er, daß etwaige Beobachter im Inneren des Hauses ihn entdecken konnten. Er befand sich unter dem Fenster, als dieses plötzlich aufschwang. Jemand lehnte sich heraus, richtete etwas auf seinen Rücken und sagte mit sehr heller Stimme: „Keine Bewegung, Bursche, oder ich schieße dich nieder. Glaubst du, wir hätten dich nicht bemerkt?“ Tarrega war des Englischen nicht so mächtig wie sein Vorgesetzter de la Osa, aber er verstand doch sehr viele Worte und wußte sich im Notfall auch mit Engländern zu verständigen. Er begriff also jedes Wort und zweifelte auch nicht daran, daß sein Gegner wirklich eine Waffe hatte. Tarrega dachte trotzdem nicht daran, der Aufforderung Folge zu leisten. Er blieb zwar wie angewurzelt stehen, aber nur, um den Feind zu täuschen. Dann fuhr er herum, und gleichzeitig flogen seine Hände hoch. Sie schlugen dem Gegner die Waffe aus den Fingern. Eine sehr alte, sehr rostige Pistole flog ein Stück durch die Luft und blieb dann auf dem Boden liegen, ohne daß sich der gespannte Hahn löste. Der Schuß ging also nicht los, und das war gut so, denn er hätte durch puren Zufall irgendjemanden verwunden können. Tarrega packte den Arm, der die Pistole gehalten hatte, zerrte daran und holte den Angreifer zu sich ins Freie heraus, ehe dieser sich in das schützende Innere des Hauses zurückziehen konnte. Ein Aufschrei tönte in Kapitän Tarregas Ohren, dann sah er die schlanke Gestalt über die Fensterbank weg auf sich zurutschen und erkannte, daß er es mit einem Mädchen zu tun hatte. Er war verblüfft und betroffen. Er riß das Mädchen neben sich zu Boden und stieß eine Drohung aus. Aber das Mädchen wehrte sich erbittert. Tarrega
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blieb nichts anderes übrig, als ihr eine Ohrfeige zu verpassen. Sie schrie entsetzt und wich zurück. Tarrega rückte ihr nach, hielt ihre beiden Arme fest und zerrte sie zu sich hoch. Er ließ ihr keine Chance, sich zu befreien. „Lassen Sie mich“, zischte sie. „Was habe ich Ihnen getan? Was wollen Sie? Wer sind Sie?“ Viele Fragen auf einmal, auf die Tarrega keine Antworten geben wollte. Er preßte den schlanken Leib des Mädchens an sich und raunte ihr ins Ohr: „Sei still. Wir gehen jetzt in das Haus, und du wirst keine Dummheiten anstellen.“ „Du – du bist kein Engländer!“ „Wie viele Leute sind im Haus?“ „Das geht dich einen Dreck an.“ Tarrega ließ sie mit der einen Hand los und riß die Pistole aus dem Gurt, denn er hatte eine neue Bewegung in dem Fenster registriert. Er hob die Pistole neben der Hüfte des Mädchens, spannte den Hahn und zielte auf die Gestalt, die im Quadrat des Fensters sichtbar wurde. Beim metallischen Knacken des Waffenhahns erstarrte die Gestalt. „Phyllis“, sagte sie. „Gott im Himmel, Phyllis ...“ Noch eine Frau, dachte Tarrega, das kann ja heiter werden. Gibt es hier nur Frauen? „Mom, das ist ein Ausländer“, flüsterte das Mädchen. „Bleiben Sie ruhig, und zwingen Sie mich nicht, auf Sie zu schießen“, sagte Tarrega in seinem holprigen Englisch zu der Mutter des Mädchens. „Lassen Sie Phyllis los“, erwiderte sie. „Ich gebe Ihnen alles, was wir haben, aber lassen Sie sie los – bitte.“ „Ich bin kein Seeräuber.“ „Was dann?“ „Wer befindet sich außer Ihnen noch im Haus, Madam?“ Tarrega wußte nicht, wie er sie anreden sollte, die Sache berührte ihn peinlich, und er verfluchte den ganzen elenden Auftrag, der sie hierher geführt hatte. Sie schwieg, Phyllis sprach auch nicht mehr. Tarrega sagte eine Spur schärfer zu der Mutter: „Reden Sie. Sie sehen doch,
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daß ich mit dem Mädchen tun kann, was ich will. Sie ist in meiner Gewalt. Sind Sie wirklich so dumm?“ „Außer mir ist hier nur noch mein Sohn Fred“, erwiderte sie hastig. „Wie alt ist Fred?“ „Fünf Jahre.“ „Jesus, Maria und Josef“, sagte Fernando Tarrega. „Wo stecken hier die Männer? Wollen Sie mir das endlich verraten?“ In diesem Augenblick ertönte ein halblauter, erstickter Ruf, und gleich darauf stolperten durch die Dunkelheit und die Dunstschleier drei Gestalten auf das Haus zu. Tarrega legte auf sie an, sah dann aber, daß er es mit zwei seiner Soldaten von der „Asturias“ zu tun hatte, die einen Gefangenen heranzerrten. „Senor“, sagte ein Soldat. „Diesen Burschen hier haben wir gepackt, als er fortlaufen wollte. Die anderen Bewohner der Häuser sind in unserer Hand.“ „Sind es — Frauen?“ „Ja, woher wissen Sie das?“ „Ich habe es mir gedacht“, sagte Tarrega in seiner Muttersprache. Er wandte den Kopf und sah, wie die Mutter von Phyllis ihn mit halb geöffnetem Mund anstarrte. „Diese Sprache“, murmelte sie. „Diese Uniformen. Das sind Spanier.“ „Ganz recht, Madam“, erwiderte Tarrega. Er deutete auf den Gefangenen, der sich unter dem Griff der Soldaten wand. „Und jetzt verraten Sie mir bitte, wer dieses Individuum ist.“ „Lassen Sie Angus los, er tut keinem was.“ „Angus — und weiter?“ „Angus Harvey. Er tut wirklich keinem was.“ „Ist er der einzige Mann in dieser Siedlung?“ „Im Moment ja.“ „Und wo stecken die anderen?“ Wieder schwieg die Frau im Fenster verdrossen. Tarrega drängte das Mädchen Phyllis auf die Soldaten zu und sagte barsch: „Bringt sie zum Schiff und überlaßt den Burschen mir. Das Mädchen ist unsere Gefangene und unser Faustpfand gegen diese Dickschädel, paßt auf sie auf und laßt sie um keinen Preis entwischen.“
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„Halt!“ sagte die Frau, deren Name Janet Crape war. „Unsere Männer sind heute abend im Ebbstrom mit den Schaluppen ausgelaufen, weil sie sich einen günstigen Fang erhoffen. Bitte, bringen Sie Phyllis nicht fort.“ „Haben Sie den Geschützdonner gehört?“ fragte der Kapitän. „Ja.“ „Könnte er mit Ihren Männern im Zusammenhang stehen?“ „Die Geräusche kamen aus der Nordostbucht“, erwiderte Janet Crape gepreßt. „Dort fischen sie — mein Mann und die anderen — mit ihren Schaluppen. Was haben Sie ihnen getan?“ „Warum haben Sie nicht nach dem Rechten gesehen?“ „Wir Frauen haben die Anweisung, uns nicht von hier fortzurühren — was immer auch geschieht. Und daran halten wir uns.“ Ihr Blick war stumpf und feucht-verklärt, wie Tarrega in der Dunkelheit zu erkennen glaubte. Sie konnte ihre Tränen kaum noch zurückhalten. Er deutete wieder auf den Gefangenen. „Warum ist dieser Mann nicht mit zum Fischen hinausgefahren?“ „Angus ist dazu nicht fähig“, sagte das Mädchen. „Er ist - geistig umnachtet.“ „Auch das noch“, sagte Fernando Tarrega. „Frauen, Kinder, ein Verrückter. Einen feinen Haufen haben wir da aufgestöbert. Männer, wir durchsuchen jetzt die Häuser und sehen nach, ob sich irgendwo jemand versteckt hält und ob es Waffen gibt. Dann sehen wir weiter.“ Er hob plötzlich den Kopf. Schüsse krachten, aber diesmal handelte es sich nicht um das schwere Grollen .von Kanonen, sondern um das Belfern von Handfeuerwaffen. „Musketen“, sagte Tarrega. „Sollte der Comandante nicht mit diesen Fischern fertig geworden sein? Los, zehn Mann brechen sofort zur Nordostbucht auf! Sargento! Sargento!“ „Senor“, antwortete der Unteroffizier. „Soll ich den Trupp führen?“ „Ja. Nehmen Sie Ihre besten Leute mit.“
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Der Sargento hatte die Soldaten schnell ausgewählt und setzte sich mit ihnen in Marsch. Ihre Schritte trappelten durch die Nacht davon. Fernando Tarrega blickte zu Angus und den beiden Soldaten, die ihn immer noch festhielten, dann zu Phyllis und ihrer Mutter, und er fragte sich, wie es angehen konnte, daß eine, Handvoll englischer Querköpfe sie derart in Atem hielt. 4. Arthur Nolan und sein Sohn Harry, Kay und Bertrand Harvey und Jonathan und Frank Crape hatten gerade eine Schlucht in dem schroffen Felsenland hinter sich gebracht; da war Arthur etwas eingefallen. „Wir müssen ihnen eine Falle stellen“, hatte er schwer atmend ausgestoßen. „Sie folgen uns und entdecken unsere Häuser, wenn wir ihnen nicht Einhalt gebieten. Sie bedrohen unsere Frauen und unsere Kinder.“ „Was hast du vor?“ hatte Kay Harvey gefragt. „Die Schlucht ist ein idealer Hinterhalt. Du hast doch auch eine Muskete.“ „Ja. Sie ist auch geladen.“ „Jonathan?“ „Ihr kennt meinen Schießprügel“, hatte Crape geantwortet. „Ich habe ihn hier bei mir, und im Rohr steckt gehacktes Blei. „Wir drei erledigen das“, hatte Arthur daraufhin gesagt. „Harry, Frank und Grandpa Bertrand, ihr lauft weiter, so schnell ihr könnt. Warnt die Frauen, Angus und Fred, versteckt euch auf den Dachböden und verhaltet euch mucksmäuschenstill.“ „Pa“, hatte sich Kay Harvey an seinen fünfundsiebzig Jahre alten Vater gewandt. „Hast du auch wirklich keine Schwierigkeiten mehr? Kannst du laufen?“ „Aber sicher doch.“ „Du bist unten am Ufer gestürzt.“ „Gestürzt? Hingeworfen habe ich mich, sonst hätte mich die verfluchte Kanonenkugel in Fetzen gerissen, oder ihre Splitter hätten mich erwischt, als sie gegen den Felsen knallte. Dann habe ich mich ja
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auch selbst wieder aufgerappelt, nachdem ich ein Stück gekrochen war, oder?“ „Pa, ich bin nur besorgt um dich“, hatte Kay erwidert. „Verschwindet jetzt“, war von Arthur befohlen worden. „Haut ab!“ „Ich will bei dir bleiben“, hatte Harry zu seinem Vater gesagt. Es hätte nicht viel gefehlt, und Arthur Nolan hätte seinem sechzehnjährigen Sproß eine Maulschelle verabreicht. Daraufhin waren Harry, Frank Crape und Bertrand Harvey sehr rasch in der Dunkelheit verschwunden, in Richtung auf das winzige, geschützt liegende Tal der Insel, in dem die Fischer ihre Häuser errichtet hatten. Arthur Nolan, Kay Harvey und Jonathan Crape kehrten in die Schlucht zurück, verhielten ihren Schritt etwa im vorderen Drittel und kauerten sich hin. Die Musketen hielten sie im Anschlag. Der natürliche Pfad, der von der Nordostbucht ins Zentrum der Insel führte, durchquerte' die Schlucht. Die Spanier mußten diesen Weg zwangsläufig nehmen, wenn sie Nolan und ,dessen Freunden auf den Fersen bleiben wollten. Lopez de la Osa erschien als erster in der düsteren Schlucht. Seine Gestalt war für die Fischer nur ganz schwach zu erkennen. Jonathan Harvey wollte sofort auf den Mann mit dem säuberlich gestutzten Vollbart abdrücken, aber Arthur legte ihm die Hand auf den Unterarm und bedeutete ihm dadurch, es nicht zu tun. Hinter de la Osa drangen die anderen Männer der „Santissima Trinidad“ in die Schlucht ein - der zweite Offizier, der Geschützführer der NeunpfünderBuggeschütze, ein paar Decksleute und Soldaten. Sie schritten mit vorgehaltenen Musketen und Tromblons und hatten Nolan, Harvey und Crape fast erreicht. In diesem Augenblick gab Arthur Nolan das Zeichen zu schießen. Kurz hintereinander krachten die Musketen. Sie streuten ihre tödliche Saat zwischen die Felsenwände, und nur der spanische Kommandant hatte genügend Geistesgegenwart. Er ließ sich sofort
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zwischen das Geröll fallen, das den Boden der Schlucht bedeckte. Hinter ihm schrien seine Leute auf, aber dann feuerten auch die Soldaten und Decksleute der Galeone. Die Schüsse hallten geradezu ohrenbetäubend, das Krachen raste aus der Schlucht, drang zu den Häusern, hallte über Bryher weg bis zur „Asturias“ und ihren ratlosen Besatzungsmitgliedern und erreichte auch das Schiff, das durch die Nacht auf die Scilly-Inseln zusegelte, obwohl der Wind aus Westen die Laute schließlich nach Osten wehte... Die Spanier hielten zu hoch, weil sie Angst hatten, die eigenen Kameraden und den Kommandanten zu verletzen. Das war Nolans, Harveys und Crapes Chance. Sie konnten gebückt laufend aus der Schlucht fliehen. Ihre Schritte knirschten davon. Lopez de la Osa sprang auf, riß die Pistole hoch und feuerte. Dumpf rollte der Schuß durch den Hohlweg, traf Jonathan Crape und fuhr ihm in die Schulter. Crape stöhnte auf und strauchelte. Arthur Nolan und Kay Harvey packten zu und zerrten den Freund mit sich fort. Sie waren jetzt alle drei aus der Schlucht heraus und bogen sofort nach links ab, um aus der Schußlinie der Spanier zu geraten. „Die Verletzten versorgen!“ rief Lopez de la Osa. „Der Rest mir nach!“ Er stürmte mit langen Sätzen voran. Soeben hatte er dem Tod in seiner ganzen Häßlichkeit ins Gesicht geblickt, die drei gelben Feuerblitze unmittelbar vor sich gehabt und den Gluthauch der Verdammnis haarscharf über sich gespürt. Und doch riskierte er wieder seine Haut und setzte alles auf eine Karte. Der Gegner konnte ihm draußen vor der Schlucht auflauern und ihm den Rest geben. Aber de la Osas Wut und Verbitterung waren zu groß, als daß er sich jetzt durch solche Erwägungen hätte aufhalten lassen. Als er unversehrt in der Region. jenseits des Schluchtausganges anlangte, wußte er, daß die Fischer keine Schußwaffen mehr haben konnten. Mit diesen drei Schüssen hatten sie ihren Trumpf verfeuert, zum Nachladen hatten sie weder die Zeit noch -
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aller Wahrscheinlichkeit nach - die Munition. Er spähte in die Nacht. Von den Feinden war nichts mehr zu sehen und nichts zu hören. Sie kannten sich hier vorzüglich aus und waren mit jedem Stein und Strauch vertraut. Das war ein weiterer Vorteil, den sie jetzt weidlich ausnutzten. De la Osa blickte sich irritiert um. In welche Richtung sollte er sich jetzt wenden? „Segundo“, sagte er gedämpft. „Zum Teufel noch mal, melden Sie sich!“ „Senor“, antwortete eine Stimme, die nicht dem zweiten Offizier gehörte. „Ich bin es, der Bootsmann.“ „Wo steckt der Segundo?“ „In der Schlucht. Und er kann sie nicht hören. Nicht mehr.“ „Dios“, sagte de la Osa. „Haben wir noch mehr Tote zu beklagen?'' „Nein. Nur fünf Verletzte.“ „Nur! Und Sie?“ „Ich habe mächtiges Glück gehabt und nur einen Kratzer abgekriegt, Senor.“ „Kommen Sie, bereiten wir diesem Teufelsspiel ein Ende. Die Verwundeten müssen vorläufig in der Schlucht bleiben, wir können sie jetzt nicht zum Schiff tragen. Ich brauche jeden Mann.“ „Si, Senor.“ Der Bootsmann gab diese Order weiter, und nur der Feldscher, der mit zum Trupp gehörte, blieb in der Schlucht bei den Verletzten und dem toten zweiten Offizier, während de la Osa und seine unversehrten Männer weiterhasteten und nach den widerspenstigen Bewohnern der Insel forschten. De la Osa überlegte sich, ob er den zwölf Mann starken Resttrupp teilen solle, aber dann ließ er es. Je kleiner die einzelnen Gruppen waren, desto leichter ließen sie sich in eine Falle locken. De la Osa stolperte über rauhes Gestein. Er folgte lediglich seinem Instinkt, der ihn weiter nach Süden führte, hatte aber nicht die geringste Ahnung, ob er sich auf dem richtigen Pfad befand. Es war schon lange her, daß er sich derart hilflos und erniedrigt gefühlt hatte.
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Für kurze Zeit fächerten die Nebelschwaden auseinander und gaben den Blick auf einen wuchtigen Felsen frei, der wie ein schlecht behauener, gigantischer Menhir aus dem Wasser aufragte. „Bishop Rock“, sagte der Seewolf. Er stand am Steuerbordschanzkleid des Achterkastells und beobachtete aus schmalen Augenschlitzen, wie das Gebilde an der Galeone vorbeizog. „Ein Schiff ist da aber nicht zu entdecken.“ „Es sei denn, es befindet sich auf der anderen Seite der Insel“, meinte Ben Brighton. „Aber es ist verdammt gefährlich, um den Brocken herumzusegeln. In seiner näheren Umgebung wimmelt es nur so von verflixten Riffen.“ „Ja, das weiß ich.“ „Sir“, meldete sieh Bill, der Moses, aus dem Großmars. „Ich kann keine Schiffe sehen.“ Hasard blickte zu ihm hoch. „Aber hinter den Felsen kannst du auch nicht schauen, oder?“ „Nein, Sir.“ „Auf Bishop Rock wohnt niemand“, sagte Hasard. „Warum sollte dort jemand mit Kanonen in die Gegend feuern, wenn er nicht auf einem Riff festsitzt und auf sich aufmerksam machen will? Ich glaube, hier werden wir nicht fündig.“ „Wir segeln also weiter?“ fragte Ben. „Wohin, nach St. Agnes?“ erkundigte sich der alte O'Flynn. „Das ist doch wohl die am nächsten gelegene Insel. Oder weiß das auch wieder jemand besser?“ „Nein“, erwiderte Big Old Shane. „Aber sei mal still.“ „Was, du willst mir ...“ „Pst!“ zischte der graubärtige Riese. Er wies nach Norden, und von dort drangen eigentümliche Geräusche herüber, die etwa so klangen, als habe der Kutscher in der Kombüse Fleischbrocken in siedendes Öl geworfen. „Schüsse“, sagte der Seewolf. „Diesmal von Musketen, Arkebusen oder
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irgendwelchen anderen Flinten. Donegal, woher kommen die wohl?“ „Ganz bestimmt von Bryher. Die Insel liegt doch am weitesten westlich. Nein, von St. Agnes kommt das nicht.“ „Dann wissen wir ja, wohin wir uns zu wenden haben“, sagte Hasard mit einer gewissen Genugtuung. „Ben, wir setzen auch den letzten Fetzen und klüsen, was das Zeug hält.“ „Aye, aye. Halten wir den Kurs?“ „Noch weiter anluven und auf Nordnordost gehen.“ „Aye, Sir.“ Ben gab die Befehle weiter, Carberry fluchte, es wurde angebraßt und hantiert, und Pete Ballie legte das Ruder weiter nach Backbord-. Bishop Rock blieb Steuerbord achteraus zurück. Der Nebel schmiegte sich wieder um die „Isabella“, hüllte sie ein und raubte den Männern die Sicht und damit jede Möglichkeit einer genauen Orientierung. Die Entfernung nach Bryher war jedoch nicht sehr groß. Daher tastete sich der Seewolf „über den Daumen gepeilt“ voran. Vorsichtshalber schickte er Gary Andrews auf die Galionsplattform - der lotete von nun an ständig die Wassertiefe. Er sang sie aber nicht aus, denn wenn irgendwo weiter nördlich ein Gegner lag, dann konnte er allein durch die Stimmen an Bord der „Isabella“ über das Nahen des Schiffes unterrichtet werden. Die Männer der „Isabella“ schwiegen. Selbst Carberry war klar, daß er nicht mehr herumpoltern durfte. Er stand an der Kuhlgräting, blickte stumm und ernst in den Nebel und steckte Sir John, den karmesinroten Aracanga, in die Wamstasche, als dieser zu wettern anfangen wollte. Die Spannung wuchs. Sie steigerte sich fast ins Unerträgliche, aber dann, nach Minuten, die die Männer nicht gezählt hatten, tauchte unversehens vor ihnen im Nebel ein Lichtfleck auf. Dan war neben den Seewolf getreten. „Die Hecklaterne eines Schiffes“, raunte er. „Ich wette eins zu tausend, daß es eine Laterne und nichts anderes ist.“
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„Sir“, zischte Bill aus dem Großmars. Sein Laut war gerade noch zu verstehen. „Dan, entere bitte zu Bill auf und sag ihm, daß wir das Licht auch gesehen haben. Wenn du willst, bleib gleich oben. Vier Augen im Großmars sind mir jetzt lieber als zwei.“ „In Ordnung.“ Dan wollte sich abwenden, blieb dann aber doch noch einen Moment stehen und fixierte seinen Kapitän. „Findest du nicht auch, daß sich der Fremde dort ziemlich dumm verhält? Er muß ein Narr sein, daß er mit der Laterne durch die Gegend funzelt.“ „Vielleicht fühlt er sich sicher. Vielleicht hat er nichts zu verbergen. Oder er will nicht, daß jemand wie wir mit voller Fahrt auf ihn zuhält und ihn rammt.“ „Richtig, das könnte sein.“ Dan grinste und verschwand in Richtung Kuhl. Er schwang sich in die Luvhauptwanten und enterte zu Bill auf. „Ben“, sagte Hasard. „Wir nehmen Kurs auf das Licht. Alle verfügbaren Männer auf Gefechtsstation. Gib das an Ed weiter.“ „Aye, aye, Sir.“ „Hasard“, flüsterte Ferris, der gerade vom Quarterdeck heraufstieg. „Gary meldet, daß wir immer noch fünfzehn Faden Wasser unter dem Kiel haben.“ „Das kann sich schnell ändern. Wir müssen uns jetzt in der Nähe von Bryher befinden, und auch hier ist die Gefahr groß, auf eine Untiefe zu laufen.“ „Wenn du hier ankerst, ankerst du immer über Wracks“, sagte der alte O'Flynn düster. „Wir müssen mächtig auf der Hut sein“, erwiderte der Seewolf. „Wir geien Segel auf und bewegen uns nur noch mit Großsegel, Fock und Blinde voran.“ „Aye, aye“, erwiderten Ben Brighton und Ferris Tucker gleichzeitig. Ben hastete zum Hauptdeck. Ferris stieg nur bis aufs Quarterdeck hinunter. Hier hantierte er an seiner grandiosen „Höllenflaschenabschußkanone“, einer Vorrichtung, mit der er Flaschenbomben zum Feind hinüberbefördern konnte, wenn sich die „Isabella“ im Gefecht befand.
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Hasard trat an die vordere Schmuckbalustrade der „Isabella“, verfolgte die Tätigkeit seiner Männer und sah zu, wie das Schiff etwas abfiel und mit verringerter Segelfläche auf den Lichtkreis zusteuerte. Das Licht war ein gelblicher Tupfer mit zerfaserten Rändern. Es schien in der Nacht zu zittern, aber dies war eine optische Täuschung. Plötzlich erlosch der Schein. „Verdammt“, flüsterte Big Old Shane. „Sollten die uns bemerkt haben? „Jetzt haben wir den Salat“, erklärte Old O'Flynn. Er unkte immer fürchterlich und glaubte, alle Widrigkeiten vorauszusehen. Wenn es dann aber wirklich hart auf hart ging, zeigte er seinen wahren Kampfgeist. „Wir segeln ohne Licht“, raunte Hasard. „Wir haben uns durch kein einziges Geräusch verraten. Nein, das muß ein Zufall sein. Vielleicht hat der Kapitän dort ausgerechnet in diesem Moment eingesehen, daß es vernünftiger ist, die Laterne auf dem Achterdeck auszublasen.“ „Sir“, meldete Carberry gedämpft. Er stand unten am Backbordniedergang und schaute zum Achterdeck hinauf. „Nur noch dreizehn Faden Wassertiefe.“ „Dreizehn“, murmelte der alte Donegal Daniel O'Flynn. „Das ist eine Unglückszahl.“ „Zwölf“, berichtigte sich der Profos. „Blacky hat eben an mich weitergegeben, was Gary gemessen hat.“ „Na also“, wisperte Shane neben Old O'Flynn. „Dann brauchen wir ja keine Befürchtungen zu haben. Zwölf ist keine Unglückszahl.“ „Du bist ein richtiger Witzbold“, zischte der Alte. „Du bist der erste, der heute nacht über die Klinge springt, das schwöre ich dir.“ Elf, neun, acht Faden — die Wassertiefe nahm von jetzt an rapide ab. Hasard ließ auch die Fock wegnehmen, schließlich die Blinde, und die „Isabella“ glitt nur noch mit dem Großsegel auf die Position des fremden Schiffes zu, das man in Nebel und Dunkelheit jetzt nur noch ahnen konnte. Es schien in einer bedenklich flachen Wasserregion zu liegen — und somit
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gewann eine von Old O'Flynns Vermutungen wieder Gewicht. „Da scheint es unseren unbekannten Freund also tatsächlich auf ein Riff geworfen zu haben“, sagte Hasard leise zu den bei ihm stehenden Männern. „Er wartet jetzt die Flut ab, die ihn vielleicht wieder aufschwimmen läßt. Etwas anderes kann er nicht tun. Kein anderes Schiff scheint sich in der Nähe zu befinden. Außerdem ist es noch fraglich, ob ihn ein anderer Segler vom Riff ziehen könnte.“ „Wenn er es durch. Schleppen mit den eigenen Beibooten nicht schafft, dann klappt es auch anders nicht“, raunte Old O'Flynn. „So, jetzt sind wir schon ein Stück weiter. Wir brauchen bloß noch aufzupassen, daß wir nicht auch auflaufen, und dann erforschen wir, was es mit den dreimal verfluchten Schüssen auf sich hatte.“ Der Nebel schien sich wieder etwas zu lichten — und plötzlich stockte den Seewölfen der Atem. Der fremde Segler wuchs vor ihnen aus dem dunklen, ungewissen Nichts. Er entpuppte sich als groß und solide gebaut, als eine prunkvolle Galeone mit drei Masten und einem üppig verzierten Achterschiff. „Hol's der Henker“, hauchte Shane. „Das ist unverkennbar ein Don. Mann, es war doch richtig, hierherzusegeln. Was hat der Bursche hier verloren?“ „Es scheint sich niemand an Bord zu befinden“, sagte Hasard. „Ein Geisterschiff“, flüsterte Old O'Flynn. Mehr sagte er aber nicht, denn Shane blickte ihn so drohend an, daß jeder weitere Kommentar in dieser Richtung nicht nur unangebracht, sondern sogar gefährlich zu sein schien.. „Beidrehen“, raunte der Seewolf seinen Männern zu. „Weg mit dem Großsegel, wir nehmen jetzt ganz Fahrt aus dem Schiff. Längsseits können wir bei dem Bruder nicht gehen, weil wir riskieren, uns neben ihm auf das Riff zu setzen, das ihm mit größter Wahrscheinlichkeit zum Verhängnis geworden ist.“ „Was hast du vor?“ fragte Shane.
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„Ich will ein Beiboot abfieren, zu der Galeone pullen und sie mir ansehen“, erwiderte Hasard. 5. „Weiter“, drängte Grandpa Bertrand Harvey. „Nicht stehen bleiben. Harry, bist du denn wahnsinnig?“ „Ich habe die Schüsse gezählt“, erklärte Harry. „Das waren nicht nur die Schüsse aus Vaters Waffe und aus den Musketen von Kay und Jonathan.“ „Natürlich nicht“, zischte der alte Mann. „Natürlich feuern die Dons zurück. Sie haben uns doch schon in der Bucht bewiesen, daß sie schießen können, oder?“ „Ja. Aber ich habe das Gefühl, da ist, was schiefgegangen.“ „Vorwärts“, raunte jetzt auch der zweiundzwanzig Jahre alte Frank Crape. „Wie immer das ausgegangen wir müssen die Frauen, meinen kleinen Bruder und Angus warnen. Das ist vordringlich.“ Harry sah es halbwegs ein. Sie liefen weiter und gelangten auf die steinige Anhöhe, von der aus es ins Tal hinunterging. Sie wollten hastig mit dem Abstieg beginnen, da vernahmen sie Schritte und Männerstimmen — vor, nicht hinter sich. Harry vernahm die Laute als erster. Er hielt seine Begleiter zurück und wies sie darauf hin. Ihnen schlug das Herz bis zum Hals, und Grandpa Harvey dachte in diesem Augenblick, der Schlag müsse ihn treffen, denn er spürte es nicht nur, er wußte, daß diese Schritte auf keinen Fall von den Frauen herrühren konnten, die sie in den Häusern zurückgelassen hatten. Arthur Nolan, der bei den drei Familien so etwas wie ein Dorfschulze war, hatte wie üblich angeordnet, daß die Frauen, der kleine Fred und der geistesgestörte Angus während des Fangzuges der Männer in den Häusern blieben und sich von dort nicht wegrührten. Wenn Arthur so etwas befahl, dann wurde es auch strikt eingehalten.
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Die Männerstimmen formulierten fremdartige Laute. Frank hielt Harry entsetzt am Arm fest. „Ich verstehe kein Wort“, hauchte er. „Aber ich nehme an, das ist Spanisch.“ „Ja, ich glaube es auch“, flüsterte Harry. „Mein Gott, wie kann das angehen ...“ „Daß sie uns umzingelt haben?“ „Ja.“ „Ich weiß es nicht“, raunte Harry dem Freund zu. „Aber vielleicht haben sie unsere Häuser noch nicht entdeckt.“ Er wußte selbst, daß dies sehr unwahrscheinlich war, aber er klammerte sich an dieser Hoffnung fest. Die Schritte stapften näher, die Stimmen der Spanier wurden lauter und klangen bedrohlich in der Undurchdringlichkeit der Nacht und des Nebels. „Die Kerle versuchen, zu dem anderen Trupp zu stoßen“, zischte Harry. „Das heißt, sie müssen auch Pa, Kay und Jonathan entdecken. Verdammt, wenn wir das nur verhindern könnten! Wir müssen die drei warnen. Ich übernehme das. Ihr beiden schlagt einen Bogen um die Dons herum, lauft dann zu den Häusern und verfahrt wie besprochen.“ Frank war sechs Jahre älter als Harry, aber er hatte nicht dessen unbändigen Tatendrang, dessen Mut und Energie. Bevor Frank einen Einwand erheben konnte, war Harry Nolan von seiner Seite verschwunden. Und dann waren da die Spanier, die jede Sekunde aus der milchigen Dunkelheit auftauchen konnten, die Gefahr, die Frank und dem alten Mann das Blut heiß in den Adern pulsieren ließ. Frank schlich zu Grandpa Harvey hinüber, sie stießen sich kurz und verschwörerisch an, dann verließen sie den Pfad, den sie normalerweise zu den Häusern hinunter zu benutzen pflegten, duckten sich hinter Felsen und eilten die Anhöhe über einen spärlichen Moos- und Grasteppich hinunter. Wenige Augenblicke später marschierten die Spanier von der „Asturias“ unter der Führung ihres Sargentos über die Stelle, an der Harry, Frank und der alte Mann eben noch gestanden hatten. Sie strebten nach
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Norden, in der Hoffnung, rasch auf de la Osas Männer zu stoßen und eine Klärung der verworrenen Situation herbeizuführen. Harry Nolan lief ihnen voraus, ohne daß sie es bemerkten. Harry befand sich zwischen den Feuern. Waren sein Vater, Kay Harvey und Jonathan Crape in der Schlucht überwältigt und festgenommen oder getötet worden, dann bedeutete dies, daß er, Harry, den von Nordosten anrückenden Spaniern geradewegs in die Arme laufen konnte. Sein Herz klopfte heftiger, sein Atem ging unregelmäßig. * Ein Contramaestre - so nannte man den Profos eines Schiffes auf spanisch - war keineswegs immer daran gewöhnt, einsame Entscheidungen zu treffen und völlig selbständig zu handeln. Wieweit er dazu in der Lage war, hing in erster Linie von seinen geistigen Fähigkeiten und der Gewandtheit seines Denkens ab. Der Profos der „Asturias“ zählte zu der in dieser Hinsicht benachteiligten Kategorie. So gesehen hatte Kapitän Fernando Tarrega nicht gerade eine glückliche Entscheidung getroffen, als er die auf dem Riff festsitzende Galeone dem Kommando seines Zuchtmeisters überlassen hatte. Aber Tarrega hatte eben gedacht, sein Profos könne kein Unheil anrichten, weil die „Asturias“ aufgelaufen war und es an Bord nichts weiter zu tun gab, als Deckswache zu gehen. Zudem hatte Tarrega großen Wert darauf gelegt, daß ihn seine besten Männer an Land begleiteten, denn dort brauchte er sie. Wer hatte denn ahnen können, daß es auf See weitere Komplikationen geben würde? Der spanische Profos war durch die Kanonen- und Musketenschüsse irritiert und unruhig gestimmt worden. Er befürchtete, daß Tarrega und seine Begleiter in eine böse Sache geraten waren, und sah sich daher vor eine dringende Entscheidung gestellt. So hatte er beschlossen, ein drittes Boot, des auf der Kuhl der „Asturias“ festgezurrt
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gelegen hatte, loszulaschen und abzufieren, sich mit vier Männern hineinzusetzen und zum Ufer der Insel zu pullen. Nur einen Mann hatte er als Wachtposten auf der Galeone zurückgelassen, und diesem Soldaten hatte er vor seinem Vonbordgehen auch befohlen: „Lösch die Hecklaterne. Man kann nicht wissen, was kommt. Vielleicht haben irgendwelche gottverdammten Ingléses den Comandante und den Capitan aus dem Hinterhalt überfallen, vielleicht pirschen sie sich auch noch an uns heran. Mit dem Licht geben wir ein gutes Ziel ab.“ „Si, Senor“, hatte der Soldat geantwortet. „Ich puste es sofort aus.“ Jetzt kroch der Profos mit seinen vier Begleitern zwischen den Uferfelsen herum und suchte nach einem Aufstieg, der ihn ins Innere der Insel führte. Er fand ihn nicht, und es gab auch keine Spur von Tarrega und den anderen Männern der „Asturias“. Man konnte stundenlang nach ihnen suchen, ohne sie zu finden, man konnte sich auf der elenden Insel sicherlich auch verirren — all dies fiel dem Profos jetzt ein, und er sagte sich im stillen, daß er eine recht schlechte Entscheidung getroffen hatte. „Es hat keinen Sinn“, sagte er. „Wir vergeuden hier nur unsere Zeit.“ „Wir könnten nach dem Capitan rufen, Senor“, schlug einer der Männer vor. „Bist du verrückt? Willst du uns den Feind auf den Hals locken?“ „Ist es denn sicher, daß hier Ingléses sind?“ fragte ein anderer. Der Zuchtmeister erwiderte nur mühsam beherrscht: „Glaubst du denn, unsere Leute feuern auf Fliegen? Oder auf Eulen vielleicht? Wir haben uns getäuscht, als wir dachten, hier gäbe es keine Menschen.“ Er wußte nicht, wie treffend seine Feststellung war, denn er hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. „Es wird nicht mehr geschossen“, murmelte einer der Männer. „Vielleicht ist jetzt alles in Ordnung.“ „Uns bleibt nur eins übrig“, sagte der Profos. „Wir kehren zum Boot zurück und pullen zur ,Asturias`. Es ist gut, daß wir
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schon gefechtsklar sind. Ich schätze, wir tun gut daran, weiterhin die Augen offen zu halten.“ Er setzte sich an die Spitze seines kleinen Trupps, stolperte zwischen den Felsen auf die Brandung zu und war ziemlich beruhigt, als er sich wieder auf der Heckducht der Jolle niederlassen konnte, die auf den Wellen schaukelte. Er wußte nicht, ob Tarrega sein Handeln gebilligt hätte. Es war mehr als ratsam, wieder die Galeone aufzusuchen und sich von dort nicht mehr wegzurühren. Die Männer lösten die Leine, mit der sie die Jolle an einem Stein befestigt hatten. Sie nahmen auf den. Duchten Platz, griffen zu den Riemen und pullten los. Der Zuchtmeister legte die Ruderpinne herum. Die Jolle glitt in weitem Halbkreis vom Inselufer fort und ließ die anderen beiden Beiboote der „Asturias“ hinter ihrem Heck zurück. Der Profos blickte gespannt voraus. Die Sichtverhältnisse waren noch schlechter geworden. Die „Asturias“ schien nicht mehr zu existieren. Fort war sie, von der See verschlungen. Für einige Augenblicke kriegte der spanische Profos einen Schreck. Hatte er etwa den falschen Kurs eingeschlagen? Nein, das Schiff war natürlich noch da. Aber er atmete doch unwillkürlich auf, als er jetzt die Umrisse der „Asturias“ aus der dunstigen Finsternis auftauchen sah. Da war das imposante, nach hinten stark aufragende Achterkastell mit der aufwendig gearbeiteten Heckgalerie, da war das fast wie der Turm einer Festung wirkende Vorkastell mit dem Bugspriet und der Galion, und zwischen den Kastellen erstreckte sich das Hauptdeck mit der Figur des Wachtpostens darauf. Der Mann stand immer noch am Steuerbordschanzkleid, so, wie er bei der Abfahrt des Bootes Zur Insel dagestanden hatte. Er schien seinen Platz die ganze Zeit über nicht verlassen zu haben. Der Profos legte wieder Ruder. Die Jolle schob sich längsseits der Bordwand der Galeone, dann glitt die Jakobsleiter heran, die von der Kuhl herunterbaumelte.
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Der Profos erhob sich als erster und griff nach ihren Sprossen. Er enterte auf, während seine vier Männer noch damit beschäftigt waren, die Riemen im Boot zu verstauen und die Heißstropps anzuschlagen, mit denen die Jolle über den Galgen wieder an Bord der Galeone gehievt wurde. Der Wachtposten stand dort am Schanzkleid, wo die Jakobsleiter belegt war, und schien auf seinen Profos zu warten. Der Profos klomm hoch, stieg über das Schanzkleid und sagte zu dem Wachgänger: „Du stehst da wie ein Ölgötze. Was ist, hast du die Knochenstarre? Rück zur Seite, damit ich dir nicht auf die Füße trete, du Schlafmütze.“ Der Posten befolgte diese Aufforderung nicht, und darum trat der Profos dicht neben ihn und rempelte ihn mit der Schulter an. Jetzt geschah etwas Unglaubliches, völlig Unerwartetes. Der Posten sank zur Seite und kippte der Länge nach auf die Planken. Der spanische Profos erkannte erst jetzt, daß ein sehr schlanker Mann, eine fast als schmächtig zu bezeichnende Gestalt, hinter dem Wachgänger gekauert und diesen festgehalten hatte. Diese Gestalt schwang hoch und hielt etwas in der rechten Hand. Ehe der Profos einen Laut ausstoßen, handeln und eine Waffe zücken konnte, huschte dieses Etwas auf ihn zu und entpuppte sich als ein solider Belegnagel. Wie hart ein solcher Belegnagel wirklich war, noch dazu, wenn er aus englischer Eiche gefertigt war, kriegte der Profos nun zu spüren. Er hörte Kanonen donnern, Bronzeglocken zerschellen, Kriegstrommeln dröhnen - das alles spielte sich in seinem Schädel ab, und er quittierte dies mit einem tiefen Seufzer, den er selbst schon nicht mehr vernahm. Der Kutscher fing die zusammensinkende Gestalt auf. Blacky, der jetzt hinter einem der 17pfünder der Steuerbordseite auftauchte, eilte ihm zu Hilfe. „Das war ein sauberer Hieb“, raunte er.
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„Glaubst du, daß es bei den anderen auch so glatt geht?“ flüsterte der Kutscher. „Na, das hoffen wir doch. Mehr als ein paar Beulen wollen wir ihnen schließlich nicht verpassen.“ „Senor“, ertönte in diesem Moment eine Stimme von außenbords. „Si?“ sagte Blacky. „Alles in Ordnung, Senor?“ „Natürlich. Was soll denn wohl nicht in Ordnung sein, wenn man fragen darf?“ Blacky gab sich Mühe, die Stimme des spanischen Profos' nachzuahmen. Spanisch konnten alle Seewölfe, Hasard hatte es ihnen lange genug eingepaukt. Blacky gehörte zu denjenigen, die mit dem geringsten englischen Akzent sprachen. „Ich habe einen dumpfen Laut gehört“, sagte der Spanier unten im Boot. „Blacky sah den Kutscher an. Der Kutscher begegnete seinem Blick und sah dann aber über Blackys Schulter zu den anderen, die hinter den Geschützen, hinter dem Großmast und der Kuhlgräting erschienen. Der Seewolf näherte sich dem Steuerbordschanzkleid und legte, den Männern zugewandt, den Finger gegen die Lippen. Dann gab er Blacky ein Zeichen, er solle weiterreden. Der Laut, den der Mann im Boot vernommen hatte, war durch das Hinfallen des bereits bewußtlosen Postens verursacht worden. Hasard und seine Männer hatten ihn beim Entern der Galeone ohne große Mühe überwältigen können. Der Kutscher als der schlankste von allen 'hatte sich dann hervorragend hinter dem besinnungslosen Wachmann verborgen und den spanischen Zuchtmeister überlistet. Nur hatte er den Ohnmächtigen nicht länger festhalten können, als er dem Profos den Belegnagel über den Schädel gezogen hatte. „Irgendein Idiot hat einen Ladestock gegen das Schanzkleid gelehnt“, erklärte Blacky mit mürrischer, etwas undeutlicher Stimme. „Das Ding ist umgefallen, weil ich dagegen getreten bin. Sonst noch Fragen?“ „Nein, Senor. Wir entern jetzt auf.“ Deutlich waren die Geräusche zu hören, die beim Aufentern der vier an der
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Jakobsleiter entstanden. Das Tauwerk knarrte, die Stiefel der Spanier scharrten auf den hölzernen Sprossen und stießen mit ihren Spitzen gegen die Bordwand. Hasard, der Kutscher, Ben Brighton und der Profos der „Isabella“ hatten die beiden Bewußtlosen von den Planken aufgehoben und zur Kuhlgräting getragen. Sie setzten sie jetzt auf den Rand, daß ihre Füße die Planken berührten, und stützten ihre Rücken mit Koffeynägeln gegen das hölzerne Gitterwerk ab. Die Spanier wollten immer wieder umkippen. Hasard blickte sich zu Blacky um. Blacky gab ihm durch einen Wink zu verstehen, daß es höchste Zeit war, sich wieder zu verstecken. Blacky zog sich hinter die Culverine zurück, hinter der er schon vorher gekauert hatte. Endlich saßen der spanische Zuchtmeister und sein Wachtposten aufrecht da. Hasard begab sich schleunigst hinter den Großmast, der breit genug war, um seine Gestalt zu verdecken. Ben Brighton und der Kutscher konnten gerade noch über die Gräting klettern und sich an ihrer Backbordseite flach auf die Kuhl legen, so daß auch sie von Steuerbord her nicht mehr zu sehen waren. Carberry war auf erstaunlich leisen Sohlen nach Steuerbord gehuscht und verbarg sich hinter dem 17-Pfünder-Geschütz in Blackys Rücken. Ferris Tucker und Big Old Shane, die ebenfalls zu dem Stoßtrupp zählten, mit dem Hasard sich zur „Asturias“ herübergewagt hatte, hatten ihre Stellungen hinter zwei weiter achtern stehenden Kanonen bislang nicht verlassen. Der erste Mann aus dem Boot kletterte über das Schanzkleid, tat zwei Schritte, blieb dann stehen und blickte verblüfft zu dem Zuchtmeister und, dem Wachtposten, die in scheinbar friedlicher Eintracht und Harmonie nebeneinander auf der Kuhlgräting saßen. „Senor“, sagte der Mann aus dem Boot zum Profos. „Sie – fühlen Sie sich nicht wohl?“ Der Kopf des Profos' ruckte zufällig in diesem Moment etwas vor, sein Kinn
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senkte sich auf die Brust, so daß es aussah, als nicke er. Hasard und seine sechs Männer hielten den Atem an. Sie hatten das Schiff bereits durchsucht, waren aber auf keine Menschen gestoßen. Hasard hielt es für ausgeschlossen, daß die Galeone mit lediglich dem Zuchtmeister, einem Soldaten und vier Decksleuten bemannt war — der Rest der. Besatzung mußte irgendwo stecken, vielleicht auf der Insel. Das bedeutete, daß kein Schuß, kein Kampflärm zum Ufer dringen durfte. Die Seewölfe mußten die Galeone lautlos in ihre Hand bringen. Der zweite Mann aus dem Boot stand nun hinter seinem Kameraden, und der erste Mann sagte, ohne sich umzudrehen: „Mit dem Profos stimmt was nicht. Seht doch, wie er da hockt.“ Der dritte Rudergast der Jolle erschien, und der erste Spanier wandte sich an den bewußtlosen Soldaten und sagte: „Manuel, he, Manuel? Bist du stumm? Was ist los?“. Manuel gab keine Antwort, und dies war der Anlaß für den ersten und den zweiten Mann aus dem Boot, auf ihn zuzugehen. Der dritte Spanier drehte sich mit ratloser Miene zu dem vierten um, der in diesem Moment gleichfalls die Kuhl betrat. Manuel sank zur Seite. Hinter ihm fiel klappernd der Belegnagel auf die Gräting. Eine Sekunde später geriet auch der spanische Zuchtmeister in Bewegung, etwa so, als folge er einem geheimnisvollen Impuls. Er kippte .vornüber, seinen Männern entgegen. Die vier Spanier griffen zu den Waffen. Aber jetzt hatten sich die Seewölfe aufgerichtet. Sie sprangen auf die Bootsbesatzung zu und griffen an. Hasard trat aus seiner Deckung hinter dem Großmast, hob einen Belegnagel und schleuderte ihn dem vordersten Mann genau gegen die Stirn, ehe dieser seine Pistole aus dem Waffengurt holen konnte. Der Kutscher stieg auf die Gräting und wollte sich den nächsten Gegner vorknöpfen, stellte aber fest, daß er zu weit von ihm entfernt stand. Er konnte mit dem
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Belegnagel nicht zuhauen wie bei dem Profos — er mußte ihn werfen. Ben Brighton hechtete in einem kühnen Satz von der Gräting auf die Spanier zu. Blacky, Carberry, Ferris Tucker und Shane warfen sich von zwei Seiten auf die drei, die noch aufrecht dastanden. Der erste Mann aus dem Boot war von Hasards Belegnagel auf die Planken geschickt worden. Sein Geist versank im Reich der Träume, er lag auf der Seite und rührte sich vorerst nicht mehr. Blacky, Ferris und Shane rangen mit zwei Spaniern. Carberry wollte sich gerade auf den dritten stürzen. Aber da flog der Belegnagel des Kutschers heran. Er glitt über die Rücken der beiden weg, mit denen Blacky, Ferris und Shane rangen, und war für einen diesen Gegner bestimmt gewesen, raste jetzt aber unglücklicherweise auf Edwin Carberry zu. Hasards Profos sah das Geschoß, konnte sich aber nicht mehr rechtzeitig ducken. Das Holz knallte ihm gegen den Schädel, und es gab einen trockenen, etwas hohlen Laut. Carberry wurden die Knie weich, in seinem Kopf dröhnte, brüllte und rauschte es fürchterlich. Fast raubte der Schmerz ihm die Sinne, aber dann war da der eine Spanier, der noch frei stand und seine Pistole ziehen konnte. Er traf Anstalten, den Hahn zu spannen und auf Shane anzulegen. Carberry tat einen wankenden Schritt, hob in grimmiger Wut den rechten Arm und rammte dem Spanier die Pranke gegen die Brust. Der Spanier keuchte und prallte zurück. Er verlor vor Schreck die Pistole, deren Hahn noch nicht gespannt war. Sie polterte auf Deck. Der Spanier stieß mit dem Rücken gegen Ferris Tucker, was zur Folge hatte, dass Ferris ihm noch einen Hieb verpaßte. Der Spanier streckte seine Arme und Beine auf den Planken aus und regte sich nicht mehr. Hasard brauchte in das weitere Kampfgeschehen nicht mehr einzugreifen. Seine Männer wurden mit den beiden letzten Spaniern auch allein fertig. Eben sackten die Begleiter des Profos'
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zusammen, ohne sich noch ihrer Waffen bemächtigen zu können. Ben Brighton schaute auf. „Das war's, Hasard. Ein Glück, daß wir die Jolle rechtzeitig gehört haben. Anderenfalls hätten wir uns wohl nicht auf einen angemessenen Empfang dieser fünf Figuren vorbereiten können.“ „Die Idee, den von uns niedergeschlagenen Posten am Schanzkleid aufzubauen, war wirklich gut“, sagte der Kutscher lächelnd zu seinem Kapitän. „Aber wir sollten Ausschau nach weiteren Booten halten“, meinte Big Old Shane. „Ich frage mich überhaupt, warum nur die eine Jolle aufgetaucht ist. Wo, zum Teufel, steckt denn der Rest der Mannschaft?“ Der Seewolf war selbst ans Steuerbordschanzkleid getreten und spähte in die Nacht. Nein, da waren keine anderen Boote. Dicht über der Wasseroberfläche zogen nur die Nebelschwaden dahin, die ineinander flossen und wieder zerliefen. Von Backbord konnte keine Gefahr nahen, denn dort lag das Beiboot der „Isabella“ mit Smoky an Bord neben der Galeone der Spanier, und nicht weit entfernt dümpelte die „Isabella“ auf den flachen Wellen. Jede Feindbewegung von dorther wurde rechtzeitig von Hasards Männern bemerkt und aufgehalten. „Ich kann es mir nur so erklären“, sagte der Seewolf. ,,Der Großteil der Besatzung ist auf der Insel Bryher gelandet, und dort findet der Kampf statt, dessen Lärm wir vorhin vernommen haben. Oder besser: dort hat es eine Auseinandersetzung gegeben, und jetzt schweigen die Waffen.“ Er drehte sich zur Kuhl um. „Vielleicht verrät uns ja einer unserer sechs spanischen Freunde, was hier läuft. Ich bin mittlerweile sehr gespannt darauf, Einzelheiten zu erfahren. Fesselt und knebelt die Männer vorsichtshalber. Es wäre dumm, wenn sie zu sich kämen und zu schreien oder zu türmen versuchten.“ Carberry, der sich immer noch etwas benommen fühlte, betastete die Beule, die auf seinem Kopf wuchs. „Kutscher“, sagte er mit dumpfer Stimme und einem wilden Blick auf das Gesicht
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des Übeltäters. „Komm her. Dein verfluchter Belegnagel liegt hier auf dem Deck herum, was ist das bloß für eine Unordnung! Also gut, ich hebe ihn sogar für dich auf, aber abholen mußt du ihn dir schon selbst. Verstanden?“ „Ed…“ „Das ist ein Befehl“, sagte der Profos grunzend. Der Kutscher drohte sich zu verschlucken. Nur mit Mühe konnte er sprechen. „Ed, das war ein Versehen. Das war nie und nimmer Absicht. Nimm's mir nicht übel.“ „Was denn?“ „Na, das mit dem Koffeynagel ...“ Carberry legte die Stirn in nachdenkliche Falten. „Was soll denn passiert sein? Ach, du meinst den kleinen Stups, den du mir verpaßt hast? Nicht der Rede wert. Darüber lachen wir doch bloß. Juckt nur ein bißchen; weiter nichts.“ Er hob den Belegnagel auf, hielt ihn in der rechten Hand und klatschte ihn mit dem anderen Ende ein paar Male auf die Fläche der geöffneten linken Hand. „Also, was ist, Kutscher? Willst du die Ausführung des Befehls verweigern? Bist du ein Meuterer?“ „Ich versichere dir noch einmal, daß es sich um ein Mißgeschick meinerseits handelte“, verteidigte sich der Kutscher ein wenig umständlich. Das war so seine Art. Je brenzliger die Situation, desto geschraubter drückte er sich aus. „Hört auf“, sagte Hasard. „Ed, der Kutscher verarztet jetzt deine Beule. Du läßt ihn in Ruhe, verstanden?“ „Ist das ein Befehl, Sir?“ „Ja.“ „Aye, Sir.“ Der Profos blickte den Kutscher, der sich endlich in Bewegung setzte, so freundlich an, als wollte er ihn in einem Stück verspeisen. Als der Koch und Feldscher der „Isabella“ aber eine bis zum Hals gefüllte Flasche aus dem Wams zauberte, änderte sich Carberrys Gesichtsausdruck. Mit einemmal sah er richtig fröhlich aus. Wäre die Beule nicht gewesen, hätte man ihn für einen zufriedenen Menschen halten können. „Gib her“, sagte er zum Kutscher.
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„Augenblick. Sir, soll ich nicht die Beule verarzten?“ „Allerdings, Kutscher“, antwortete der Seewolf. „Das geschieht durch Einreiben ...“ „Kutscher, noch einen Schritt weiter auf mich zu“, grollte Carberrys Baßstimme. „Komm, mein Junge, ich ziehe dir den Belegnagel über, daß deine Knochen knacken, und es ist mir scheißegal, ob ich dafür in die Vorpiek wandere oder ausgepeitscht werde.“ „Meinetwegen kannst du Ed auch oral behandeln“, sagte Hasard, der sich genau wie die anderen das Lachen kaum noch verkneifen konnte. Carberrys Augen weiteten sich in grenzenlosem Staunen. „Oral – was ist das?“ Der Kutscher seufzte und reichte ihm die Flasche. „Da, nimm hin und trink, Profos.“ „Die Sache tut dir leid, wie?“ „Und wie, Profos.“ „Schwamm drüber.“ Carberry nahm ihm die Flasche aus der Hand und hob sie an den Mund. Er hätte vor Durst den Atlantik aussaufen können. Gluckernd trank er die halbe Flasche leer, dann setzte er endlich ab, grinste und sah Hasard an. „Ein ausgezeichnetes Heilmittel, Sir. Ich fühle mich schon bedeutend besser.“ 6. Der spanische Soldat, der als einzige Wache an Bord der „Asturias“ geblieben war, als der glorreiche Trupp der fünf Männer am Inselufer nach dem Rechten gesehen hatte, wachte als erster der Überrumpelten wieder auf. Er stellte fest, daß er mit dem Rücken gegen die Wand des Vorkastells gelehnt saß, seine Beine streckte er auf den Kuhlplanken aus. Dem schwarzhaarigen Mann mit den eisblauen Augen, dem er ins Gesicht sah, hätte er gern seine Meinung gesagt, aber das konnte er nicht, weil er einen Fetzen Stoff zwischen den Zähnen stecken hatte. Bewegen konnte er sich. auch nicht. Tauenden schnürten in seine Haut. Man hatte ihn sehr gut verpackt, und er hatte
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nicht die geringste Chance, sich aus eigener Kraft zu befreien und etwas zu unternehmen. „Amigo“, sagte Hasard. „Du hast den Fehler deines Lebens begangen. Du hast versagt. Willst du wissen, wer ich bin? Nun, man nennt mich den Seewolf — el Lobo del Mar.“ Die, Augen des Spaniers weiteten sich. „Ich werde dieses Schiff versenken, denn es ist meine Lieblingsbeschäftigung, mit spanischen Schiffen die Fische zu füttern“, fuhr Hasard fort. „Dafür wird man dich zur Rechenschaft ziehen. Schließlich ist es deine Schuld, daß wir entern konnten, denn du hast auf deinem Posten geschlafen. Du hättest nicht nur nach Steuerbord, sondern auch mal nach Backbord schauen sollen.“ Unter seinem Knebel stöhnte der Soldat. Die Art, wie dieser Mann, der hervorragend Spanisch sprach, ihm die nackte Wahrheit sagte, behagte ihm ganz und gar nicht. Er wußte aber, daß El Lobo del Mar nicht übertrieb — jawohl, seine eigenen Landsleute würden ihn, den Soldado, bestrafen, hart bestrafen! „Aber ich gebe dir eine Chance“, sagte Hasard. „Mein Schiffszimmermann versieht die Jolle, die deine Kameraden benutzt haben, gern mit einem kleinen Mast, wenn ich ihm die Order dazu gebe. Auch ein Segel würden wir dir zurechtschneiden. Du könntest bei den guten Wetterverhältnissen mit einigem Glück bis nach Irland gelangen und dort untertauchen. Ja, auch Proviant und Wasser würden wir dir überlassen. In Irland ist jeder bereit, einen spanischen Soldaten zu verstecken und zu beköstigen. Nein, man würde dich dort nicht an die spanischen Freunde Irlands ausliefern, die sich in Dublin und anderswo herumtreiben. Die Iren sind große Dickschädel, aber keine Verräter. Sicherlich hilft dir dort jemand, eine neue Existenz aufzubauen.“ Hasard beugte sich vor. „Du brauchst mir nur zu sagen, wie dein Kapitän heißt und wo er sich befindet, wo der Rest der Mannschaft steckt und was hier vorgeht. Das ist alles. Wirst du reden?“
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Der Soldat überlegte eine Weile, dann siegte sein Selbsterhaltungstrieb gegen jedes patriotische und heldenhafte Empfinden. Er nickte. „Sehr gut“, erwiderte Hasard. „Ich lasse dich jetzt nach achtern bringen, da können wir ungestört reden. Wenn ich dir den Knebel abnehme, wirst du hoffentlich nicht schreien.“ Der Soldat schüttelte den Kopf. „Auch ich halte mein Wort“, versicherte Hasard ihm. „Ich habe gewußt, daß wir uns verstehen würden.“ * Harry Nolan blieb plötzlich stehen. Er schloß den Mund und bemühte sich, keine Atemgeräusche, kein Keuchen, kein Schnaufen von sich zu: geben. Das war nicht einfach, denn er war sehr schnell gelaufen und verspürte das Bedürfnis, tief Luft zu holen. Oberhalb des Pfades, den er benutzte, waren Geräusche — das Scharren von Schritten, das Murmeln einer Stimme. Waren das die Spanier, die von der Nordostbucht kamen? Himmel, sie durften ihn nicht bemerken, er durfte sich durch kein Geräusch verraten. Wo waren sein Vater, Kay Harvey und Jonathan Crape? Harry glaubte in diesem Moment, er müsse vor Verzweiflung und Sorge den Verstand verlieren, er wußte weder ein noch aus. Dann aber hörte er über sich ein geflüstertes Wort. „Kay .. . Nur sein Vater konnte es gesprochen haben, Harry wußte es jetzt. Er trat nach rechts, streckte die Hände vor, war zwischen Felsblöcken und tastete sich voran. „Pa“, raunte er. „Harry! Wo in aller Welt steckst du? Was ...“ „Pa, ich steige zu dir hinauf“, keuchte Harry. „Ist gut, aber sei still.“ Harry begann zu klettern und erkannte den Hang, auf dem er sich befand, wieder.
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Natürlich, er war hier schon öfter als einmal hochgestiegen! Er erinnerte sich an Einzelheiten. So schaffte er es, den Hang sicher und geräuschlos zu bewältigen. Oben fiel er seinem Vater fast in die Arme. „Junge“, flüsterte Arthur Nolan erregt. „Was ist denn los? Wo sind Grandpa Harvey und Frank Crape?“ Harry berichtete von den Spaniern, die am Hang des Tales auf sie zumarschiert waren, von seinem Entschluß, umzukehren und die drei Männer zu warnen. „So ein verdammter Mist“, raunte Arthur Nolan. „Der alte Bertrand und Frank sind doch jetzt hoffentlich in den Häusern, oder?“ „Natürlich sind sie das, Pa.“ „Wir müssen weiter“, drängte Kay Harvey. „Auf Umwegen gelangen wir zu den Häusern. Und dann bringen wir unsere Familien in Sicherheit. In den Häusern sind wir jetzt auch nicht mehr sicher. Wir müssen uns in die Höhlen zurückziehen.“ „Ja, mein Gott, ja“, sagte Jonathan Crape gepreßt. „In die Höhlen, sie sind unsere letzte Chance.“ „Was ist mit ihm?“ fragte Harry entsetzt. „Schulterverletzung“, erwiderte. sein Vater lakonisch. „Sonst ist uns aber nichts passiert. Wir kurieren das schon aus, Jonathan.“ „Sicher. Bereitet euch um mich bloß keine Sorgen.“ „Laufen wir“, zischte Kay Harvey. Sie setzten sich wieder in Bewegung. Arthur Nolan führte sie. Steil und steinig war die Strecke, die sie benutzten, manchmal auch moosbewachsen und schlüpfrig. Es ging hart an einem Abgrund vorbei, aber die gähnende Tiefe konnten die vier nicht sehen, weil sie mit Nebel ausgefüllt war — sie konnten sie nur ahnen. Mühsam arbeiteten sie sich voran. Kein Mensch außer ihnen konnte auf diese Weise die Insel überqueren, jeder Fremde mußte abstürzen und sich die Knochen im Leib brechen. Einmal verharrten sie für Minuten, denn sie konnten wieder die Stimmen von Spaniern vernehmen. Einen Steinwurf lag
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der Pfad entfernt, und man konnte mit dem Gehör recht gut verfolgen, wie der Trupp, der von Süden anrückte, darauf entlangschritt. Harry prägte sich ein Wort ein, das zweimal von einem Spanier ausgesprochen wurde — „Sargento“. Ein anderer Mann antwortete darauf. Sargento schien eine Anrede oder ein Name zu sein. „Die werden von einem Sergeant angeführt“, zischte Kay Harvey. „Soviel habe ich verstanden. Wie viele sind das wohl?“ Keiner wußte es, keiner stellte Vermutungen darüber an. Sie hetzten weiter. Die Sorge um ihre Familien trieb sie voran. Arthur Nolan, Kay Harvey und Jonathan Crape schleppten sich noch mit ihren Musketen ab, aber sie hätten sie genauso gut wegwerfen können, denn sie konnten nicht nachladen. Pulver und ein wenig Blei hatten sie in den Schaluppen zurücklassen müssen. Sie trugen keine Munition bei sich. Sie atmeten auf, als sie den Rand des Tales erreichten. Nirgends waren Stimmen zu vernehmen, nirgends marschierte der Feind. Ihre Hoffnung, ihre Familien unversehrt und wohlbehalten vorzufinden, wuchs. Sie liefen den Hang hinunter, gelangten auf die Talsohle und eilten auf die Gebäude zu, die von Generationen ihrer Vorväter errichtet worden waren. „In den Häusern brennt kein Licht“, sagte Harry schwer atmend. „Wir können es wegen des Nebels nicht sehen“, entgegnete Kay Harvey. „Trotz des Nebels müßte man wenigstens einen Schimmer erkennen“, keuchte Jonathan Crape, dem die Schulterverletzung immer ärger zusetzte. Wild tobte der Schmerz in der linken Seite seines Oberkörpers. „Nein, nein“, stieß Arthur Nolan aus. „Natürlich haben die Frauen das Licht gelöscht, weil sie die Spanier anrücken hörten. Das ist die richtige Erklärung.“ Die erste Hausmauer tauchte vor ihnen aus dem milchigen Dunkel auf. Jonathan Crape verlangsamte seinen Schritt und steuerte auf die Tür zu, die in der Mauer sichtbar wurde. Dies war sein Heim.
Der Hinterhalt
„Janet!“ rief er. „Phyllis! Fred! Frank!“ „Hier sind wir“, ertönte Janet Crapes Stimme aus dem Inneren des Baus. Jonathan bedeutete den Freunden, daß er auch allein zurechtkam. Er trennte sich von ihnen. Arthur und Harry Nolan und Kay Harvey hasteten zu ihren Gebäuden weiter. Sie glaubten die Spanier weit genug entfernt oben auf dem Pfad, der durch das Felsland zur Nordostbucht verlief, und deshalb erlaubten auch sie es sich, Rufe auszustoßen. „Mary-Anne“, stieß Harvey heiser hervor. „Angus! Grandpa!“ „Alles in Ordnung“, wurde ihm geantwortet, aber es war nicht der alte Bertrand, der es sagte, sondern merkwürdigerweise Angus. Kay Harvey stieß sich in diesem Augenblick nicht an dem eigentlich sonderbaren Umstand, er war viel zu froh, zu den Seinen zurückgekehrt zu sein. Harvey eilte zu seinem Haus. Arthur und sein Sohn steuerten auf das am weitesten südlich erbaute Haus zu. Den Eingang konnten sie noch nicht sehen, sie mußten erst um eine Ecke herum. Ihnen zugewandt erstreckte sich eine fensterlose Seitenmauer des Baus. Arthur lief jetzt schneller. Harry blieb hinter ihm zurück. Arthur umrundete die Gebäudeecke und stieß den Namen seiner Frau aus. Mildred Nolan gab eine Erwiderung, deren Inhalt nicht zu verstehen war, aber ihre Stimme schien normal zu klingen. Dann stand Arthur vor der Tür, und die Tür schwang auf und gab die Gestalt von Mildred frei. Mildred breitete aber nicht die Arme aus, wie sie das sonst immer tat, wenn sie ihren Mann und ihren Sohn empfing. Sie stand nur apathisch da. Hinter ihr erklang eine Männerstimme, die Englisch mit starkem Akzent sprach: „Nolan, deine Frau ist in unserer Gewalt. Wehre dich nicht. Laß die Muskete los!“ Arthur Nolan blieb stehen und ließ die Muskete ins Gras fallen. Er hatte das Gefühl, etwas Weißglühendes, Flüssiges ströme durch seinen Leib, aber dann wurde ihm eiskalt, und seine Nackenhaare stellten
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sich auf. Er glaubte, jeden Augenblick umfallen zu müssen, so schockiert war er. Harry verharrte beim Klang der fremden Stimme dicht vor der Hausecke und stand wie erstarrt. „Arthur“, sagte Mildred Nolan. „Die haben mich gezwungen, so zu tun, als ob nichts wäre.“ „Sie sind - in allen drei Häusern?“ „Jack, Arthur.“ „Und Grandpa Harvey und Frank Crape?“ „Die haben wir empfangen, als sie anrückten“, erklärte der Spanier hinter Mildred Nolan. „Es war nicht schwer, sie zu überwältigen. Grandfather Harvey hat sich dann zwar geweigert, mitzuspielen und euch Kerle in eine Falle zu locken, aber wir haben ihn gefesselt und geknebelt und dann doch jemanden bei den Harveys gefunden, der sogar ganz versessen darauf war, bei diesem Riesenspaß mitzuspielen.“ „Angus“, murmelte Arthur. „Dafür habt ihr ihn ausgenutzt. Ich hätte etwas ahnen müssen.“ Harry drehte sich langsam um und ging an der Seitenmauer des Elternhauses entlang. Er konnte in diesen Sekunden nicht klar denken, aber er folgte einem inneren Antrieb und entfernte sich von der ungeheuerlichen, alles vernichtenden Szene, die das Ende bedeutete. Er ging ganz einfach weg, und es war grotesker weise kein Mensch da, der ihn daran hinderte. „Wo steckt Harry?“ fragte Kapitän Fernando Tarrega aus dem Dunkel der Nolanschen Behausung. „Ich habe ihm sagen müssen, wer zur Familie gehört“, setzte Mildred Nolan ihrem Mann auseinander. Es klang unendlich traurig, und gleichzeitig schwang die Bitte um Verzeihung in ihrer Stimme mit. „Wo ist Harry?“ fragte Tarrega noch einmal. „Harry“, murmelte Nolan. „Mein Gott, ist ihm etwas zugestoßen?“ Mildred hatte die Stimme gehoben und preßte die Hände in hilfloser Geste gegeneinander.
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Tarrega schob seine Radschloßpistole an Mildreds Hüfte vorbei und zielte auf Arthur. „Wenn du nicht sofort den Jungen rufst oder sagst, was mit ihm los ist, Nolan, geschieht hier ein Unglück!“ schrie er, obwohl er seine Zweifel daran hatte, daß er seine Drohungen auch ausführen würde. Tarrega war kein skrupelloser Mensch, der auf Wehrlose feuerte, aber er gab sich große Mühe, seine schwachen Charakterseiten zu verbergen. Harry hatte sich aus der unmittelbaren Nähe des Hauses entfernt. Er kletterte jetzt den Südhang des Tales hinauf und konnte schon nicht mehr richtig verstehen, was die Männer sich zuriefen. Anderenfalls wäre er wohl umgekehrt und hätte sich den Spaniern gestellt. So aber klomm er weiter, dachte an die Höhlen, in denen er sich vorläufig verstecken konnte, und sagte sich, daß er jetzt der einzige war, der noch etwas gegen die spanischen Feinde unternehmen konnte. Der Platz, an dem die Höhlen sich befanden, galt als ein Geheimnis, das auf Bryher von Fischergeneration zu Fischergeneration weitergegeben wurde. Kein Außenstehender durfte davon erfahren - und keinem Eindringling würde es jemals gelingen, die düsteren Felsenlöcher zu finden, die den letzten Zufluchtsort der Nolans, Harveys und Crapes darstellten. Arthur Nolan begriff, daß Harry gerade noch rechtzeitig genug hinter der Gebäudeecke stehen geblieben war. Er zweifelte nicht daran, daß sein Sohn geistesgegenwärtig genug war, die Chance zu nutzen. Harry war klug genug, sich zu sagen, daß nichts damit gewonnen war, wenn auch er sich dem Feind auslieferte. „Arthur!“ stieß Mildred Nolan flehend aus. Und da legte Arthur los. Er brüllte, damit auch Harry und die Harveys und die Crapes ihn verstehen konnten. „Ihr spanischen Bastarde, es waren eure verfluchten Kumpane, die in der Bucht auf uns feuerten! Und sie haben Harry erwischt. Er wurde so schwer verletzt, daß wir ihn zurücklassen mußten!“
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„Nein!“ schrie Mildred Nolan. Sie schlug die Hände vors Gesicht und sank auf die Knie. Ihr Körper krümmte sich und bebte unter heftigem Schluchzen. Tarrega zielte immer noch auf Arthur. „Ich werde herausfinden, ob du die Wahrheit gesprochen hast, Nolan. Ich schwöre es dir. Und wenn du gelogen hast, dann gnade dir Gott.“ „Tu, was du willst, du Hund!“ brüllte Arthur zurück. „Ihr habt uns beschossen, gefangen genommen und erniedrigt— was könnt ihr denn noch Schlimmeres tun?“ „Und ihr?“ sagte Fernando Tarrega. „Habt ihr nicht mit euren Musketen auf unsere Leute geschossen? Willst du es abstreiten?“ Leiser werdend antwortete Arthur Nolan: „Nein, das will ich nicht. Aber wir haben uns verteidigt, weil wir angegriffen wurden. Anderenfalls würden wir keinem Menschen auch nur ein Haar krümmen. Du weißt, daß es die Wahrheit ist, Spanier.“ Tarrega hatte darauf nichts zu erwidern. 7. Hasard stand auf der Back der „Isabella“ und blickte der Jolle der „Asturias“ nach, die am Wind mit nördlichem Kurs davon segelte und in der nebligen Nacht verschwand. Der Soldat hatte alles gesagt, was er wußte, und der Seewolf hatte wirklich den Eindruck gehabt, nicht angelogen zu werden. Ferris Tucker hatte der Jolle einen einfachen Mast angepaßt, Will Thorne hatte für ein Segel gesorgt, und der Kutscher hatte dem Soldado nicht nur ein wenig Proviant und Trinkwasser ausgehändigt, er hatte ihm auch Kleidung gegeben, die er mit seiner Uniform vertauschen konnte, um an Irlands Küsten nicht sofort als Soldat Philipps II. aufzufallen. Der Spanier hatte versichert, daß er genügend seemännische Erfahrung hätte, um die Jolle, gegen den Wind kreuzend, quer über den St.-Georgs-Kanal zu steuern. Mit etwas Glück mußte er es schaffen.
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Hasard drehte sich zu den Männern um, die sich hinter ihm versammelt hatten. „So“, sagte er. „Was auf Bryher eigentlich genau vorgefallen ist, wissen wir immer noch nicht. Aber wir können es uns ganz gut ausmalen. Meines Wissens wohnen auf der Insel ein paar Fischerfamilien.“ „Stimmt“, sagte Old O'Flynn. „Sie sind mit den Spaniern aneinander geraten, soviel ist klar. Wir wissen jetzt, daß es ein zweites Schiff gibt, die ,Santissima Trinidad`.“ „Der Teufel soll sie /holen“, sagte Ferris Tucker. Hasard fuhr fort: „Sie hat die Insel im Norden gerundet, und der Kommandant Lopez de la Osa scheint nicht bemerkt zu haben, daß die ,Asturias` auf ein Riff geraten ist.“ „Im Nordosten der Insel gibt es eine große, geschützte Bucht“, erklärte Old Donegal Daniel O'Flynn. „Ich schätze, die haben die Dons mit ihrer ‚Trinidad' angesteuert.“ „Ja“, entgegnete der Seewolf. „Sie können dabei auf die Inselbewohner gestoßen sein, die sich ihren Lebensunterhalt größtenteils durch den Fischfang sichern. Wir haben eine ruhige Nacht, ideal für einen guten Fang, und Fischer laufen mit ihren Booten ja meistens am Spätnachmittag oder am Abend aus. Die Dons haben sie beschossen. Kein Wunder, daß wir die Mündungsblitze der Kanonen aus der Ferne nicht sehen konnten. Die Felsen der Insel lagen davor.“ „Mein Gott“, murmelte Ben Brighton. „Wenn das wahr ist ...“ „Es ist sehr wahrscheinlich“, meinte Big Old Shane. „Wir müssen was unternehmen, um den Leuten von der Insel zu helfen“, sagte Ben. „Das tun wir auch, und zwar unverzüglich“, erwiderte der Seewolf. „Ed, habt ihr unsere fünf Gefangenen, die wir von der ,Asturias` mit herübergebracht haben, ordentlich versorgt?“ „Ja, Sir. Wir haben sie ins Kabelgatt gesteckt und ihre Fesseln und Knebel geprüft. Die sitzen immer noch bombenfest. Matt Davies und die
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Zwillinge stehen vor der Tür zum Kabelgatt Wache.“ „In Ordnung. Wir. kehren jetzt kurz auf die ,Asturias` zurück und bohren ihr ein paar schöne Löcher in den Rumpf. Bei einsetzender Flut wird der Kahn vom Riff gehoben. Dann legt er sich auf die Seite und säuft ab.“ Old O'Flynn rieb sich kichernd die Hände. Er wirkte wie ein Wurzelgreis aus den Schauermärchen, die er immer erzählte. „Fein, fein“, sagte er. „Das geschieht den Dons recht, diesen Stinkstiefeln. Die werden vielleicht die Augen aufreißen.“ „Wir pullen anschließend zum Ufer der Insel, und ich führe meinen kleinen Trupp aufs Geratewohl ins Innere. Wir werden schon sehen, was es da für uns zu tun gibt.“ „Und wir runden Bryher im Norden?“ erkundigte sich der alte O'Flynn. „Genau das, Donegal.“ „Das ist nach meinem Geschmack.“ „Du solltest dich mit unserer Goldlady in die nordöstlich liegende Bucht pirschen“, sagte Hasard. „Falls die ,Santissima Trinidad' wirklich dort liegt, ist es sozusagen unsere heilige Pflicht, sie von dort zu vertreiben.“ Dan O'Flynn grinste. „Und Nacht und Nebel sind beim Anschleichen unsere Verbündeten, nicht wahr? Wir werden es aber wohl kaum schaffen, diese ‚Trinidad' so zu entern, wie ihr es bei der ,Asturias` fertig gebracht habt.“ Hasard blickte seine Männer der Reihe nach an. „Hört mir gut zu. Ich will nicht, daß ihr dieses Flaggschiff offen angreift. Ihr sollt euch aber auch nicht befeuern lassen, ohne Widerstand zu leisten. Wenn die Besatzung der ,Santissima Trinidad' zu schießen beginnt, zahlt ihr es ihr zu- . rück.“ „Und wer bedient meine Höllenflaschenabschußkanone — im Falle eines Falles, meine ich?“ fragte Ferris Tucker. „Die übernehme ich“, erwiderte Dan. „Na, meinetwegen. Um die Ohren wird sie dir wohl nicht fliegen.“
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„Sir“, sagte Ben Brighton zu seinem Kapitän. „Sollte der Profos wegen der Beule, die er dummerweise abgekriegt hat, nicht lieber hier an Bord der ,Isabella` bleiben?“ Carberry sah den Ersten und Bootsmann so freundlich an wie ein hungriger Hai. „Beule? Von welcher Beule sprichst du eigentlich, Mister Brighton?“ * Das Beiboot der „Isabella“ glitt auf das Südufer der kahlen, unfreundlich wirkenden Insel zu. Hasard hatte den Platz auf der Heckducht eingenommen, ihm gegenüber saßen und pullten Ben, Blacky, Ed Carberry, der Kutscher, Ferris Tucker, Shane und Smoky. Die „Isabella“ war fort, von der Dunkelheit und den dunstigen Schleiern verschluckt, und nur ganz schwach war achtern vom Boot die „Asturias“ zu erkennen. Sie war noch ein Stück weiter nach Steuerbord gekrängt, nachdem Ferris, Shane, Smoky und Blacky ihren Rumpf von innen durchlöchert hatten. Wasser drang jetzt leise gurgelnd, beinahe heimlich in das Schiff ein, aber vorläufig geschah weiter nichts, denn das Felsenriff verhinderte, daß der Dreimaster sank. Das Beiboot der „Isabella“ ließ auch die „Asturias“ im Nebel hinter sich zurück, und nun kam das Ufer in Sicht. Hasard entdeckte die zwei Boote, die von Kapitän Fernando Tarrega und dessen Männern benutzt worden waren. Er steuerte darauf zu und überlegte, ob er sie sofort versenken solle. Dann aber verwarf er den Gedanken, denn die Boote der Spanier konnten später noch von Nutzen sein. Der Bootsbug schob sich durch die Brandung und setzte schließlich knirschend auf Kieselsteinen auf, die den flachen Teil des Ufers bedeckten. Hasard und seine sieben Männer verstauten die Riemen, kletterten aus dem Boot und zogen es ein Stück an Land. Sie verbargen es zwischen zwei wuchtigen Felsen. Dann suchten sie nach einer Möglichkeit, in die drohend aufragenden Felsen aufzusteigen.
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Dem Seewolf erging es nicht so wie dem Zuchtmeister der „Asturias“ - er fand, wonach er suchte. An einer Stelle klaffte das Gestein ein wenig auf, und eigentlich wirkte es so, als könnte sich ein ausgewachsener Mann hier nicht hindurchzwängen. Hasard probierte es aber doch und stellte lächelnd fest, daß sich die Gesteinsnische hinter dem Einsteig etwas verbreiterte. „Ben“, raunte er. „Sag den anderen Bescheid. Ich glaube, jetzt beginnt der interessantere Teil unseres Unternehmens.“ Ben Brighton gab dem Kutscher, der ihm am nächsten stand, ein Zeichen, und der Kutscher verständigte die übrigen Männer durch Gebärden. Wenig später drangen sie alle in die Felsnische ein und kletterten über schartigen Granit und Gneis nach oben. Oben, das waren gut fünfzig Yards mächtiger Felsen, die sich hoch über dem Landeplatz des Bootes zu einem kleinen Plateau öffneten. Hasard zog vorsichtshalber seine doppelläufige sächsische Reiterpistole, dann schaute er sich auf dem Platz um. Er entdeckte keine Spanier. Keine Menschenseele. Man konnte gut den Eindruck gewinnen, die Insel Bryher sei völlig unbewohnt. In Hasard dämmerte die Erkenntnis heran, warum sich die Spanier ausgerechnet Bryher ausgesucht hatten. Er hatte auch schon eine Vorstellung davon, was sie hier . vorhatten, obgleich der spanische Soldat darüber nichts zu sagen gewußt hatte. Geheim sei das ganze Unternehmen, hatte er dem Seewolf verraten, nur der Comandante, Capitan Tarrega und die Schiffsoffiziere seien über alles informiert. Hasard geriet an einen sanft ansteigenden Hang, von dem aus man tiefer ins Innere der Insel gehen konnte. Er drehte sich um und winkte den Männern zu. Sie folgten ihm im Gänsemarsch, schwärmten aber später, als die Beschaffenheit des Geländes es zuließ, etwas aus und sicherten nach allen Seiten. überall konnten die Spanier lauern. Aber wo steckten sie wirklich?
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Ben Brighton hatte den RadschloßDrehling von Bord der „Isabella“ mitgenommen, eine Waffe mit einem drehbaren Zylinder, der über sechs Kammern verfügte. Blacky trug auf Hasards Geheiß hin den SchnapphahnRevolverstutzen bei sich. Auch diese Waffe hatten sie seinerzeit von den Diebes-Inseln mitgebracht, von jenen Ladrones, die jetzt so weit entfernt lagen. Bei dem Stutzen konnte man die sechsschüssige Trommel mit einer achtschüssigen vertauschen — und genau das hatte Blacky getan, bevor sie aufgebrochen waren. Ferris Tucker hatte einige seiner Flaschenbomben mitgenommen. Außer den herkömmlichen Waffen schleppte Big Old Shane noch Pfeil und Bogen mit, auch ein paar Pfeile mit pulvergefüllten Schäften, und Smoky trug einen der chinesischen Brandsätze, die sie aus dem Reich des Großen Chan mitgebracht hatten. Sie waren für jeden Eventualfall gerüstet, hofften aber, ihr Arsenal nicht konsequent einsetzen zu müssen. Hasard wollte jedes Blutvergießen vermeiden, er ließ sich nur auf einen Kampf ein, wenn dieser nicht mehr zu vermeiden war. Etwas Vegetation war zu sehen: Krüppelkiefern und geduckte Eichen, knorriges Strauchwerk. Später schritten die Männer der „Isabella“ über Moos und Gras, und sie gelangten sogar in einen Wald. In diesem Wald sah Hasard plötzlich die Gestalt. Sie bewegte sich huschend wie ein Schemen vor ihm zwischen den Stämmen und war mit einemmal so unvermittelt wieder verschwunden, wie sie aufgetaucht war. „Da ist jemand“, raunte der Seewolf seinen nachrückenden Begleitern zu. „Mal sehen, ob das ein Don ist. Versteckt euch, folgt mir so leise wie möglich!“ Sie gingen in Deckung. Hasard huschte geduckt voran und benutzte die Baumstämme und die wenigen Büsche als Schutz. Er glaubte schon, die fremde Gestalt im Nebel aus den Augen verloren
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zu haben, da erschien sie wieder zwischen zwei Stämmen, diesmal dichter vor ihm. Der Seewolf beschleunigte seinen Schritt. Der Fremde hatte ihn bemerkt, daran bestand kein Zweifel. Er griff nicht an, sondern trachtete danach, Distanz zwischen sich und die acht Männer zu bringen. Hasard lief, hob die Reiterpistole und stieß einen Warnlaut aus. „Stehen bleiben“, rief er auf spanisch, aber er wußte nicht, ob es richtig war, spanisch zu sprechen, denn noch hatte er den Fremden nicht als Feind Englands identifiziert. Der Kerl blieb nicht stehen, er lief nur noch schneller und schlug zwischen den Bäumen Haken wie ein Hase. Hasard sah ein, daß es keinen Zweck hatte, einen Schuß über dessen Kopf zu jagen. Er ließ die Pistole wieder sinken, hetzte hinter dem Flüchtenden her und holte auf. Er steckte die Waffe weg, setzte zum Sprung an und warf sich vor. Zusammen mit dem Mann ging er zu Boden. Sie überrollten sich, und der Seewolf registrierte, daß er es mit einem sehr jungen Gegner zu tun hatte, einem, der nicht älter sein konnte als Bill, der Schiffsjunge der „Isabella“. überdies sah der Junge ganz und gar nicht spanisch aus. Hasard preßte ihn auf den Untergrund und hielt seine Arme fest. Eine Waffe schien der Junge nicht zu haben. Er schrie nicht, er stieß nur gepreßt aus: „Laß mich los, du elender Hundesohn. Du Bastard von einem Don!“ „Hört, hört“, sagte Ben Brighton, der jetzt hinter dem Seewolf angelangt war. „Da haben wir ja einen Landsmann vor uns. Der erste Engländer, den wir seit Monaten sehen — und dann ein solcher Empfang.“ „Ihr wollt mich ja bloß reinlegen“, zischte der Junge. „Ich weiß, daß einige von euch Englisch können. Aber mich täuscht ihr nicht, aus mir kriegt ihr auch nichts 'raus.“ Blacky, der Profos, der Kutscher, Ferris, Shane und Smoky trafen nacheinander ein. Sie hatten die Worte des Jungen gehört.
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Carberry baute sich neben dem Jungen auf, stemmte die Fäuste in die Seiten und blickte ernst auf den Gefangenen hinunter. „Nun mal ehrlich“, brummte er. „Sehen wir vielleicht wie Spanier aus? Mann, willst du uns etwa beleidigen, was, wie? Ich will auf der Stelle tot umfallen, wenn ich ein Don bin:' Er fiel nicht um, er hatte lediglich eine imposante Beule am Kopf, die der Junge beim Aufschauen fixierte. „Woher kommt ihr? Was wollt ihr?“ fragte er zaghaft. „Alles der Reihe nach“, erwiderte Hasard. „Kann ich dich loslassen? Schreist du wirklich nicht? Versprichst du, nicht zu türmen?“ „Ich verspreche es - Sir.“ Hasard ließ seine Arme los, richtete sich auf und sagte: „Mein Name ist Philip Hasard Killigrew. Ich weiß nicht, ob du von den Killigrews schon mal etwas gehört hast, aber ...“ „Killigrew?“ flüsterte der Junge. „Das gibt es doch gar nicht! Und ob ich von den Killigrews gehört habe, aber von einem ganz besonderen - von dir - von Ihnen, Sir! O Mann, Sie müssen der Seewolf sein.“ „Ja, der bin ich. Und wie heißt du?“ „Harry. Harry Nolan.“ Harry glaubte, vor Ehrfurcht im Waldboden versinken zu müssen. Hatte er nicht immer mit offenem Mund und großen Augen zugehört, wenn die Männer der Frachtschiffe, die von Cornwall herübersegelten, von den Taten Drakes, Hawkins', Raleighs und Killigrews erzählten? Hatte er diesen Philip Hasard Killigrew, diesen sagenhaften Seewolf, in seinem noch recht kindlichen Geist nicht zu seinem erklärten Helden erhoben? Und jetzt stand dieser Mann in Fleisch und Blut vor ihm und erlöste ihn allein durch sein Erscheinen aus seiner tiefsten Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit. „Das kann nicht wahr sein“, flüsterte Harry. „Euch schickt der Himmel. Ist es so?“ „Harry“, sagte Hasard. „Nun reiß dich mal zusammen. Steh auf, klopf dir den Schmutz von den Kleidern und sprich klar. Wohin bist du so ganz allein unterwegs?“
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„Ich wollte zu den Höhlen.“ „Höhlen?“ fragte Carberry verblüfft. Harry biß sich auf die Unterlippe. „O verdammt, eigentlich ist das ja ein Geheimnis. Aber - aber Ihnen kann ich es wohl verraten, Sir Hasard.“ „Sag einfach Hasard zu mir, Harry.“ „Gern, Sir. Ich meine, Hasard.“ Harry hatte sich aufgerappelt und blickte jetzt staunend von Mann zu Mann. Ein toller Haufen hatte sich da um ihn versammelt, ein Stoßtrupp verwegener Abenteurer, und den einen oder anderen glaubte der Junge aufgrund von Schilderungen, die er über die Seewolf-Crew gehört hatte, wieder zu erkennen. Der da, der stämmig gebaute Mann mit dem klaren, ehrlichen Gesicht war das nicht Ben Brighton? Und der Rotschopf, dieser Riese von einem Kerl hieß der nicht Ferris Tucker? Und, richtig, der Gigant mit dem grauen Bartgestrüpp und dem wilden Blick, konnte das nicht der legendäre Schmied von Arwenack Castle über Falmouth sein - Big Old Shane? Harry glaubte zu träumen. Hasard legte ihm die Hand auf die Schulter und sagte: „Berichte ganz von vorn, was hier vorgefallen ist. Wir haben den Kanonendonner und die Musketenschüsse gehört, weil wir nicht weit entfernt segelten. Wir wollen hier helfen, falls es was zu helfen gibt, verstehst du?“ „Ja“, erwiderte Harry. „Wir brauchen wirklich dringend Hilfe, Sir, Hasard. Sie können sich nicht vorstellen, in was für einem furchtbaren Schlamassel wir stecken.“ Er begann zu erzählen und bemühte sich, den rechten Sinn und Zusammenhang in seine Worte zu bringen. Es gelang ihm, eine lückenlose Darstellung der Geschehnisse auf Bryher zu liefern. Hasard und Ben Brighton wechselten einen Blick. Da gab es jetzt keine schwerwiegenden Entscheidungen mehr zu treffen, sie wußten, was sie zu tun hatten, es lag klar auf der Hand. Nur mit Old O'Flynn und den anderen auf der „Isabella“ konnten sie sich nicht mehr verständigen, um sie über diese neuen, wichtigen Informationen zu unterrichten.
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Hasard befand aber schließlich, daß es auch ohnedem ging. Die Hauptsache war, der alte Donegal manövrierte die „Isabella“ so rasch wie möglich um das Nordufer der Insel herum und in die Felsenbucht. „Harry“, sagte Hasard. „Dein Vater hat den Spaniern gegenüber also behauptet, dich hätte es oben an der Nordostbucht erwischt?“ „Ja, ich hörte ganz deutlich, wie er schrie, eine der Kanonenkugeln hätte mich getroffen und schwer verletzt.“ „Das hat er absichtlich gebrüllt, damit auch die Crapes und die Harveys die gleiche Auskunft geben und sich nicht widersprechen.“ „Ja, das glaube ich auch.“ „Trotzdem dürfen wir keine Zeit mehr verlieren. Die Dons werden entsprechende Nachforschungen anstellen“, sagte der Seewolf. „Ehe sie herauskriegen, daß du flüchten konntest, müssen wir handeln. Zeig uns jetzt den Weg zu euren Häusern, Söhnchen.“ „Ja, Sir. Ich meine— ja, Hasard.“ 8. Kapitän Fernando Tarrega hatte nach zwei Männern der „Asturias“ rufen lassen. Sie betraten in diesem Augenblick den Hauptraum des Nolanschen Hauses und zeigten klar. Sie waren ein Soldat und ein einfacher Decksmann, die bislang im Haus der Crapes Wache gehalten hatten, jetzt aber von ihrem Kapitän hierher abgezogen worden waren. Fernando Tarrega hatte bis jetzt ganz allein auf die beiden Nolans aufgepaßt, aber er war es satt. Er wollte nach draußen gehen, Umschau halten und dann vielleicht eins der anderen Gebäude betreten. „Ihr bleibt hier, bis ihr keine anders lautende Anweisung erhaltet“, sagte er zu seinen beiden Leuten. „Achtet darauf, daß die Öllampe nicht erlischt. Legt die Musketen nicht aus den Händen und laßt das Ehepaar um Himmels willen nicht aus den Augen.“ „Nein, Senor“, entgegnete der Soldat.
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Arthur Nolan stand hinter seiner Frau und hatte ihr beide Hände auf die Schultern gelegt. Mildred Nolan saß auf einem Holzstuhl vor dem klobigen Eichenholztisch im Zentrum des Raumes, barg das Gesicht in den Händen und weinte. „Welche Chance haben wir denn, zu fliehen?“ sagte Arthur mit steinerner Miene. „Glaubt ihr, wir sind Selbstmörder?“ „Was sagt der Mann, Senor?“ wollte der Decksmann wissen. „Daß er nicht türmen wird, solange wir unsere Waffen auf ihn gerichtet halten.“ Tarrega sah Arthur Nolan an, während er das sagte. Nolan verstand offenbar kein Wort Spanisch, aber er hatte den Gebärden des Kapitäns der „Asturias“ entnommen, was dieser den beiden Männern auseinandergesetzt hatte. „Der Mann da ist ein gerissener Fuchs, glaube ich“, sagte Tarrega noch zu den Bewachern. „Laßt euch von ihm nicht hereinlegen. Ich würde euch schwer bestrafen.“ Damit ging er hinaus. Er schritt durch den Nebel auf das Haus der Crapes zu, in dem jetzt noch zwei Männer auf die komplette Fischerfamilie aufpaßten. Tarrega blieb stehen und atmete tief durch. Der Grund dafür, warum er es bei den Nolans nicht mehr ausgehalten hatte, war, daß die Frau unaufhörlich weinte. Sie weinte um Harry, den sie nicht für schwer verletzt, sondern für tot hielt. Tarrega ballte unwillkürlich die Hände. Oh, ich werde schon herauskriegen, was mit Harry los ist, sagte er sich. Zum Teufel, wo bleiben denn bloß der Sargento und die anderen Burschen so lange? Sind sie denn noch nicht zum Comandante und dessen Leuten vorgestoßen? Hat es noch mehr Schwierigkeiten gegeben? Langsam ging er weiter. Aus dem Haus der Harveys erklang fröhliches Gelächter. Sicherlich war zu diesem Zeitpunkt nur ein Mensch hier in der kleinen Siedlung fähig, so unbeschwert zu lachen — Angus, der geistig umnachtete Bruder von Kay Harvey.
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Tarrega wußte, daß er es auch in jenem Haus nicht lange aushalten würde. Das Heim der Crapes schien der einzige Ort zu sein, an dem sein strapaziertes Nervensystem vorläufig nicht noch mehr gereizt wurde. Vorausgesetzt, der verletzte Jonathan, seine Frau Janet, Phyllis oder ihre Brüder Frank und Fred fingen nicht auch noch an, verrückt zu spielen. Eine Seeschlacht, dachte Tarrega, hundert Seeschlachten sind mir lieber als dieser elende Zustand. Wann nimmt das hier ein Ende? Er wurde in seinen weiteren Überlegungen unterbrochen. Schritte näherten sich durch die undurchdringliche Nacht, gewichtige Schritte von vielen Füßen auf geröllübersätem Untergrund. Sie kamen eindeutig von Norden. Tarrega wandte seinen Kopf in diese Richtung und zückte seine Radschloßpistole. Er spannte den Hahn und dachte: Jemand marschiert den Hang des Tales hinunter auf uns zu. Ein paar Atemzüge später ließ er die Pistole wieder 'sinken. Er hatte seinen Sargento erkannt, der vor einem starken Trupp anderer Männer herstiefelte. Die neun anderen Männer der „Asturias“, die er, Tarrega, losgeschickt hatte, und die Männer der „Santissima Trinidad“ unter der Leitung von Kommandant Lopez de la Osa rückten an. „Dios“, murmelte Tarrega. „Jetzt wendet sich wohl doch alles zum Guten.“ Sekunden darauf stand er seinem Kommandanten gegenüber. De la Osa war ein schlanker, ziemlich hochgewachsener Mann, der auf die Perücke verzichtete und sein Haar zurückgekämmt trug. Scharfe Züge beherrschten sein oval geschnittenes, von einem säuberlich gestutzten Vollbart umrahmtes Gesicht. „Fast hätten wir auf Ihre Leute gefeuert, Capitan“, sagte de la Osa. „Meine Leute sind bis aufs äußerste gereizt. Wir haben einen toten zweiten Offizier und fünf Verletzte zu beklagen, weil die Fischer, diese elenden Hunde, uns in einer Schlucht überfielen. Haben Sie diese Kerle wenigstens geschnappt? Sie sind doch
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sicherlich hierher, zu den Häusern, gelaufen.“ „Si, Senor. Wir haben sie. Bis auf ...“ „Warum sind Sie uns mit der ,Asturias` nicht in die Bucht gefolgt, Capitan? Was ist geschehen?“ Tarrega sagte es ihm und fügte auch gleich hinzu, daß er auf die Flut warte und hoffe, daß sie sein Schiff wieder von dem Riff lösen würde: „So ein verdammtes Pech“, sagte der Kommandant. „Na, es läßt sich ja nun nicht mehr ändern. In gewisser Weise müssen wir sogar dankbar sein, daß Sie aufgelaufen sind, Capitan Tarrega, und gezwungen wurden, am südlichen Ufer zu landen.“ „Ja. Anderenfalls hätten wir nicht die Häuser entdeckt, sie nicht besetzen und den Fischern keinen Hinterhalt legen können.“ De la Osa lächelte jetzt sogar. „Capitan, wir haben prächtig zusammengearbeitet, ohne Kontakt halten und uns abstimmen zu können. Ich finde, das ist eine Leistung. Ich werde Ihnen Ihren geschickten Einsatz nicht vergessen. „Danke, Senor Comandante.“ „Was wollten Sie eben noch hinzufügen? Ich habe Sie wohl unterbrochen.“ „Senor, wir haben alle Männer fassen können, bis auf Harry allerdings, den sechzehn Jahre alten Sohn der Nolans. Angeblich ist er auf dem Ufer der Nordostbucht verletzt liegen geblieben, als Sie die Engländer mit den Geschützen befeuerten. Er soll sehr schwer verwundet, vielleicht inzwischen sogar gestorben sein.“ „Da lag aber niemand.“ „Ist das — ganz sicher?“ „Tarrega“, versetzte der Kommandant. „Wir dachten zuerst auch, wir hätten einen dieser Burschen mit der zweiten Neunpfünder-Kugel erwischt.“ „Dieser Jonathan Crape ist an der Schulter verwundet ...“ „Wir dachten, die Kugelsplitter hätten einen der Kerle tödlich verletzt“, sagte der Kommandant. „Aber dann, an Land; waren
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die Kerle allesamt wie Spukwesen verschwunden. Wie erklären Sie sich das?“ „Harry könnte fortgekrochen sein.“ „Mit letzter Kraft, um hinter den Felsen zu sterben?“ „Ja, so meine ich das“, erwiderte Tarrega. Er versuchte, ernsthaft daran zu glauben. „Wir schicken wieder zehn Mann zur Nordostbucht hinüber“, entschied Lopez de la Osa. „Ich hätte das gleich tun sollen, als ich mich mit Ihren Männern getroffen habe, aber ich habe nicht daran gedacht. Die zehn sollen helfen, die Verletzten und den Toten aus der Schlucht zu bergen und an Bord der ‚Trinidad' zu bringen. Sie sollen außerdem nach diesem Harry forschen. Es wäre doch gelacht, wenn wir ihn nicht fänden.“ * Die „Isabella“ hatte das Nordufer der Insel Bryher fast ganz gerundet und lag jetzt platt vor dem immer noch aus Westen wehenden Wind. Old O'Flynn stand an der vorderen Querbalustrade des Achterdecks und blickte auf die Gestalt seines Sohnes hinunter. Dan kauerte auf der Steuerbordseite des Quarterdecks und hantierte an der sogenannten „Höllenflaschenabschußkanone“, die von Ferris Tucker zu dem Zweck erdacht und konstruiert worden war, die Flaschenbomben zu verschießen. Solange die Seewölfe Flaschen an Bord ihrer Galeone führten und solange sie sie leerten, würde es auch immer Nachschub an Flaschenbomben geben. Dan hatte ein halbes Dutzend dieser wirkungsvollen Sprengsätze neben sich auf den Planken liegen. Sie waren mit gehacktem Eisen, Blei und Glas gefüllt, mit Pulver und Lunten versehen und konnten - das war das Erstaunlichste - sogar unter Wasser hochgehen, sofern sich die Glut in der Zündschnur durch den Korken gearbeitet hatte, wenn solch eine Flasche in die See tauchte. Old O'Flynns Blick glitt weiter - über die Kuhl, wo die Männer bereit auf den Gefechtsstationen standen, zu Al Conroy,
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der als oberster Stückmeister und Waffenexperte nun den Profos vertrat, zu Batuti, der gerade mit Pfeil und Bogen in den Vormars auf enterte. Old Donegal gab ein Handzeichen, und diejenigen Männer der Crew, die für die Segelmanöver zuständig waren, holten jetzt mittels der Brassen und Schoten der Backbordseite die Rahen dichter. Die Segel schwenkten herum. Pete Ballie drehte das Ruderrad unter seinen schwieligen Seemannshänden. Die „Isabella“ luvte wieder an, nahm südlichen Kurs und fuhr in die Bucht hinein, deren Einfahrt Bill, der Moses, kurz vorher trotz des Nebels und der Dunkelheit erspäht hatte. Im übrigen kannte sich Old Donegal Daniel O'Flynn auf den Scilly-Inseln gut genug aus. Ausgesprochen flink begab er sich den Niedergang der Backbordseite hinunter, der aufs Quarterdeck führte. Er trat zu Pete Ballie ins Ruderhaus und sagte: „Selbst wenn ich blind wäre, würde ich hier mit der alten Lady auf keine Untiefe laufen.“ „Ganz bestimmt nicht?“ „Geh noch zwei Strich weiter Steuerbord, du Dorsch, ja, so, und stell das Ruder dann wieder gerade.“ „Aye, Sir.“ „Fein. Du kannst deinen Hintern darauf verwetten, daß wir den Dons jetzt geradewegs vor die Nase rauschen.“ „Lieber nicht“, sagte Pete. „Was denn nicht?“ „Ich wette nicht gern - Sir.“ „Meinetwegen“, brummelte der alte O'Flynn. Er wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. „Mann, was gibt das für eine herrliche Begegnung mit den Dons. Weißt du, das Ganze erinnert mich an eine Begebenheit, die wir seinerzeit mit der ,Empress of Sea` erlebt haben und ...“ „Sir“, fiel Pete Ballie seinem derzeitigen Kapitän ins Wort. Er stand steif da und verzog keine Miene. „Ich glaube dir alles aufs Wort. Wirklich alles.“ „Ja? Dann ist's ja gut“, gab der Alte irritiert zurück. Er hatte zwar noch nicht richtig
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losgelegt mit dem Erzählen alter Storys, aber jetzt war ihm der Faden gerissen, und er wußte nicht mehr weiter. Außerdem war keine Zeit mehr, von 'den wilden Fahrten der „Empress of Sea“ zu berichten. Pete Balle war heilfroh darüber, denn keiner an Bord der „Isabella” konnte diese haarsträubenden Geschichten ertragen, die sie alle schon mehr als hundertmal vernommen hatten. Old O'Flynn trat an die Balustrade, die den vorderen Querabschluß des Quarterdecks bildete, und teilte den Männern auf der Kuhl, die zu ihm aufschauten, durch Gesten mit, sie sollten jetzt alle Segel bis auf das Großsegel und die Blinde wegnehmen. Die Männer arbeiteten konzentriert. Es herrschte geradezu gespenstische Stille, was nicht zuletzt auch darauf zurückzuführen war, daß sich Carberry nicht an Bord befand. Arwenack, der Schimpanse, und Sir John, der Papagei, hielten sich unter Deck bei Philip und Hasard auf, die nach wie vor am Kabelgatt Wache schoben. Old O'Flynn hatte angeordnet, daß die Tiere dort blieben. Die Gefahr, daß sie den Feind durch irgendeinen Laut alarmierten, war zu groß. Matt Davies war vorn Kabelgatt abgezogen worden, weil Old O'Flynn jetzt jeden Mann an Oberdeck benötigte. Die Crew war ohnehin schon reduziert. Vierzehn Mann mussten genügen, um das Schiff zu manövrieren und nötigenfalls gegen die Spanier zu kämpfen. Dan richtete sich neben seinem Vater auf. „Dad, wo stecken die Dons denn bloß?“ „Die Bucht ist größer, als du denkst, Sohn.“ „Sie ankern wahrscheinlich dicht unter Land.“ „Ja.“ „Wir könnten sie rammen, wenn wir nicht ...“ „Überlaß das mir, klar? Wir krachen nicht mit ihnen zusammen, aber wir tauchen wie ein Geist dicht vor ihnen aus der Nacht auf, daß ihnen die Knochen zittern, daß sie mit den Ohren schlackern und den heiligen
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Strohsack beschwören. Wir rauschen so nah an ihnen vorbei, daß sie vor Schreck gar nicht dazu kommen, an die Geschütze zu springen. .Und sie werden es auch nicht wagen, auf uns zu feuern.“ „Das glaubst du wirklich?“ Der Alte kratzte sich am Kinn. „Tja... Mehr äußerte er nicht, und auch in den nächsten Minuten hatte er keine Gelegenheit mehr, das Gespräch mit seinem Sohn fortzusetzen. Grelles, weißgelbes Licht. blitzte urplötzlich in dem milchigen Vorhang der Nacht auf, zwei, drei und noch mehrere Male. Gleichzeitig rollte drohender Donner von der Insel heran. Auf Bryher schien das Inferno ausgebrochen zu sein, fast erinnerte dieses Dröhnen und Grollen an die Aktivitäten eines Vulkans. Die Seewölfe wechselten keine Worte miteinander. Sie wußten, was es mit diesen Detonationen auf sich hatte. Hasard hatte ihnen vor dem Verlassen der „Isabella“ gesagt, daß er eventuell die Flaschenbomben zum Einsatz bringen würde, um die Spanier abzulenken und zu verwirren. Vor der „Isabella“ tauchten die Konturen der dreimastigen spanischen Galeone als ein wuchtiges und imposantes Ganzes auf. Die „Santissima Trinidad“ lag quer zur „Isabella“ mit dem Bug nach Westen und bot den Seewölfen ihre Kanonenrohre dar, deren Mündungen aus den geöffneten Stückpforten der Steuerbordseite ragten. Old O'Flynn ließ weiter anbrassen. Er hatte vor, in den Wind zu laufen, dicht neben der „Santissima Trinidad“ auf den anderen Bug zu wenden und an dem Gegner vorbeizusegeln. Den Feuerbefehl gab er aber noch nicht, obwohl Al Conroy und Jeff Bowie, die sich auf der Back postiert hatten, die beiden vorderen Drehbassen jetzt hätten zünden können. Batuti hätte Brandpfeile auf das spanische Flaggschiff schießen können, es wäre ein gelungener Auftakt zum Kampf gewesen. Aber Hasard hatte dem alten O'Flynn eingeschärft, daß er nicht als erster feuern solle.
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Und dem Alten war ein verwegener Gedanke eingefallen. In kürzester Zeit änderte er seine Pläne und fällte eine neue Entscheidung, er brauchte nicht länger als eine oder zwei Sekunden dazu. Die Spanier an Bord der „Santissima Trinidad“ waren allesamt ans Backbordschanzkleid geeilt und spähten zur Insel hinüber. Auch, der Ausguck schien in seiner Aufmerksamkeit völlig durch das Feuerwerk gefesselt zu sein, das vom Seewolf und seinen Begleitern veranstaltet wurde. Sonst hätte der Ausguck nämlich spätestens in diesem Moment die herangleitende „Isabella“ entdeckt und Alarm gebrüllt. 9. Fernando Tarrega fuhr herum, blickte zum Fenster im großen Kaminzimmer des Crapeschen Hauses und sah den grellen Lichtschein, der draußen in Intervallen aufzuckte. Das Grollen der Explosionen tönte in seinen Ohren. Er hörte Angus' Lachen von drüben aus der Behausung der Harveys und hatte in diesem Moment entsetzliche, gleichsam apokalyptische Visionen. „Was geht da vor?“ stieß er fassungslos aus. „Al diablo, was hat das zu bedeuten?“ Er sagte es in seiner Muttersprache. Der fünfjährige Fred zupfte seine Mutter Janet am Rock und fragte immer wieder: „Mom, was sagt der Onkel, was sagt der böse Onkel?“ Tarrega sah zu Janet, Fred und Phyllis und schrie sie auf englisch an: „Wer ist für diesen Höllenkrach verantwortlich? Wer tut so etwas? Etwa Harry?“ „Vielleicht ist es der Weltuntergang“, antwortete Phyllis. „Geh doch raus und sieh selbst nach.“ Ihre letzten Worte fielen in ein neuerliches Krachen. Der Detonationsdonner schien in das Tal hinunterzupoltern und gegen die Mauern der Häuser zu prallen. „Wir sind auf alles gefaßt“, sagte Jonathan Crape von einer einfachen Liege in der Nähe des Kamins her. Er war von den Frauen verbunden worden: Der zweiundzwanzigjährige Frank kauerte
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neben seinem Lager und sah aus geweiteten, offen feindseligen Augen zu dem spanischen Kapitän. „Was kann uns denn noch Schlimmeres passieren?“ murmelte Jonathan Crape. Tarrega stürmte zur Tür, riß sie auf und stürzte ins Freie. Er hätte den Crapes am liebsten Verwünschungen an den Kopf geworfen und seiner Wut gern irgendwie Luft verschafft, aber was hätte das schon geändert? Tarrega lief auf den Platz zwischen den Häusern. Nur ein Bewacher blieb bei den Crapes, der zweite Mann folgte seinem Kapitän. Von allen Seiten eilten jetzt Tarregas und de la Osas Leute zusammen. Sie hoben die Köpfe und blickten ziemlich ratlos zu den Talhängen, weil sie keine Erklärung für die Explosionen hatten, die immer noch in Abständen erschallten und mit ihren Feuerblitzen die Umgebung erhellten. Aus allen vier Himmelsrichtungen schien ein unheimlicher Gegner zu nahen. Die spanischen Soldaten und Seeleute riefen durcheinander. „Por Dios, sind das Kanonen?“ „Wir sind umzingelt!“ „Rette sich, wer kann!“ Erst Lopez de la Osas barsche Befehle stellten ihre aus den Fugen geratene Fassung wieder her. „Ausschwärmen!“ schrie er sie an. „Sichert die Häuser! Schießt alles nieder, was sich euch in den Weg stellt! Bereitet diesem Spuk ein Ende! Je vier Musketenschützen nach Norden, Süden, Westen und Osten, .der Rest bildet die Nachhut!“ „Wir dürfen die Fischerfamilien nicht unbewacht lassen, Don Lopez“, gab Fernando Tarrega zu bedenken. „Je ein Mann bleibt in jedem Haus!“ rief de la Osa. Tarrega glaubte nicht, daß nur ein Mann genügte, um beispielsweise die fünf Köpfe zählende Familie Crape dauerhaft im Auge zu behalten und gegen jede List gewappnet zu sein, aber er hielt sich mit diesen Erwägungen nicht, weiter auf. Er zuckte Pistole und Degen und lief in südlicher Richtung zu jenem Hang, an dem die
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Bedrohung durch die Explosionen am massivsten zu sein schien. Auch de la Osa hatte seine gelinden Zweifel daran, daß die Häuser ausreichend bewacht waren, aber andererseits brauchte er jetzt jeden Mann, um gegen den „Spuk“ anzukämpfen. Ihm war bewußt, daß er zu wenige Männer hatte, und er bereute es zutiefst, zehn Leute zur Schlucht und zur Nordostbucht zurückgeschickt zu haben. Aber das ließ sich jetzt nicht mehr ändern. Hölle und Teufel, dachte der Kommandant, als er sich an die Spitze der nach Westen laufenden Musketengruppe setzte, in was sind wir hier nur hineingeraten? In ein Wespennest? Sein Selbstvertrauen war erheblich erschüttert, alle Strategie und Taktik schienen keinen Wert mehr zu haben. Er, de la Osa, hatte seinen wesentlichen Fehler begangen, als er die Insel Bryher für unbewohnt gehalten hatte. Die bitteren Folgen, die sich daraus ergaben, schienen nicht aufzuhören. Tarrega führte die Gruppe an, die die südliche Richtung eingeschlagen hatte. Er lief drei oder vier Schritte vor dem ersten Musketenschützen und sah, als er den Hang des Tales noch nicht zur Hälfte bewältigt hatte, zwei Gestalten vor sich aus Büschen auftauchen. Ein sehr großer Mann, der mehr als sechs Fuß messen mußte, und ein etwas kleinerer, stämmiger Mann mit einer Schiffermütze auf dem Kopf — sie richteten ihre Waffen auf die fünf Spanier, und einer von ihnen rief: „Stehenbleiben, keinen Schritt weiter! Werft eure Waffen weg, oder es passiert ein Unglück!“ Wie ausgezeichnet dieser Fremde Spanisch sprach! Fernando Tarrega war wirklich überrascht, fast hätte man glauben können, man hätte einen Landsmann vor sich. Aber dann wallte die Wut gegen alle Gegner, gegen die verdammten Leute von der verfluchten Insel unbändig in ihm auf, und er brachte die Pistole auf den Großen in Anschlag. Er drückte ab, der Schuß brach krachend, irgendwo ging wieder eine Bombe hoch, es dröhnte und grollte, und der Große stand nicht mehr an seinem
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Platz. Auch der Stämmigere war verschwunden. Tarrega wich nach links aus. Die Musketenschützen eröffneten das Feuer auf das Gebüsch, in dem die beiden Unbekannten sich verborgen hatten. Dumpf krachten ihre Waffen, der Pulverqualm breitete sich in dichten Schwaden aus. Etwas zischte und glitt auf Fernando Tarrega zu. Glut im Moos des Hanges — hatte der grüne Teppich Feuer gefangen? Tarrega steckte die leergeschossene Pistole weg. Er wollte mit dem Stiefel die Glut austreten, aber etwas schwer Definierbares rollte an seinen Füßen vorbei und zog die Glut mit sich. Tarrega glaubte eine Bewegung in einem weiter links stehenden Gebüsch wahrzunehmen und stürmte mit dem Degen darauf zu. Hinter ihm brach die Erde auf und verschlang alles, die Menschen und das Tal und die Häuser, jedenfalls hörte es sich so an. Das Donnern war ohrenbetäubend, eine glutheiße Woge raste hinter Tarrega her und riß ihn um. Er landete auf dem Bauch und konnte noch froh sein, daß er nicht in die Klinge seines Degens fiel. Hinter ihm hatte es die Viermanngruppe erwischt. Jetzt sprangen die beiden Gestalten wieder aus dem Dickicht hervor und stürmten auf ihn zu. In ohnmächtiger Wut erkannte Tarrega, daß die Kugel aus seiner Pistole nicht getroffen hatte und dieser große, breitschultrige Mann in seiner Reaktion viel zu schnell für ihn war. Tarrega wollte sich auf den Rücken wälzen und den Degen hochreißen, um den Kerl zu empfangen, aber der Gegner kniete bereits auf ihm, schlug ihm die Waffe aus der Hand und zischte ihm ins Ohr: „Streich die Flagge, Amigo. Gib auf! Willst du etwa auch sterben?“ „Ich — nein.“ „Du gehst mit mir zu den Häusern, und du wirst nicht schreien.“ „Wer bist du?“ „El Lobo del Mar.“ „Allmächtiger“, stöhnte Fernando Tarrega. Wer hatte denn nicht von diesem schwarzhaarigen Teufel gehört, wer kannte nicht die haarsträubenden Geschichten, die
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über seine Taten verbreitet wurden? El Lobo del Mar — kürzlich war er beim Angriff auf Cadiz dabei gewesen, so hieß es, und jetzt lauerte er ihnen hier auf. Hatte er das alles angezettelt? Ja, nur er schien dazu fähig zu sein. „Harry“, sagte Ben Brighton, der dicht hinter seinem Kapitän stand. „Du kannst jetzt herauskommen. Wir haben freie Bahn.“ Harry kroch aus einem Gesträuch hervor, das sich noch etwas weiter links von dem befand, in dem sich Hasard und Ben zuletzt vor den Spaniern versteckt hatten. Tarrega sah den Jungen und knirschte vor Wut mit den Zähnen. Mehr als das konnte er aber nicht tun, er war hilflos der Gewalt des Feindes ausgeliefert. Er mußte sich aufrappeln und vor ihnen herlaufen. Sie strebten den Hang hinunter, und Tarrega bemerkte bei einem flüchtigen Blick über die Schulter, daß El Lobo del Mar einen seltsamen Gegenstand in der einen Hand hielt, der wie eine Flasche aussah. Am Gurt des Seewolfs baumelte ein Stück glühende Zündschnur. Sie hatten die Häuser noch nicht erreicht, da nahten von links, also von Westen, ein paar spanische Soldaten. Tarrega stieß jetzt doch einen Warnlaut aus. Der Seewolf hieb mit der Reiterpistole zu, und Tarrega sank aufstöhnend zu Boden. Hasard, Ben und Harry ließen sich fallen. Die Spanier feuerten, die Musketen blafften in die Dunkelheit und den Nebel, doch dann zündete der Seewolf die Flaschenbombe und schleuderte sie zu den Gegnern hinüber. Sie ging hoch, und Ben Brighton brauchte den Radschloß-Drehling, den er in den Fäusten hielt, nicht sprechen zu lassen. Hasard stellte Tarrega auf die Beine. Tarrega war bei Besinnung und taumelte weiter voran. Kurz darauf stand er leicht wankend vor der Tür des Nolanschen Hauses. Er rief nach dem Soldaten, der als einziger Bewacher bei Arthur und Mildred geblieben war. Der Soldat öffnete die Tür und schritt auf seinen Vorgesetzten zu.
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Hasard und Ben, die die Tür außen flankiert hatten, griffen gleichzeitig an. Hasard riß dem Soldaten die Muskete aus den Fäusten, Ben landete einen Hieb, der genügte, um den Mann ins Reich der Träume zu schicken. Hasard stieg über den Körper des zusammengesunkenen Mannes, Ben hielt Tarrega in Schach, der sich in diesem Augenblick in einem Anflug blinden Hasses auf die Männer der „Isabella“ stürzen wollte. Hasard trat ins Haus und sah Arthur Nolan hinter seiner sitzenden, weinenden Frau stehen. Er fragte ihn: „Sind noch mehr Spanier hier?“ „Nein“, antwortete Arthur. „Aber wer, zum Teufel, bist du?“ Hasard gab keine Erwiderung. Er drehte sich nur um, trat wieder ins Freie und gab Harry einen Wink. Harry lief ins Haus. Ein Ausruf seines Vaters war zu vernehmen, dann ein Schluchzen von Mildred Nolan, danach ein doppelter Aufschrei, der in einem erlösten Lachen von Arthur endete. Hasard und Ben trieben Fernando Tarrega vor sich her. Sie stürmten auf das Crapesche Haus zu, um die Crapes mit dem gleichen Trick zu befreien. Sie hatten Erfolg und befreiten schließlich auch die Harveys, während an den Hängen Blacky, Ed Carberry, der Kutscher, Ferris Tucker, Shane und Smoky gegen die restlichen Spanier kämpften. Lopez de la Osa konnte sich nicht mehr halten. Eine Flaschenbombe war dicht neben seiner Gruppe explodiert, nur er und ein Soldat waren unverletzt geblieben, doch jetzt traf ein Schuß aus Blackys Schnapphahn-Revolverstutzen auch diesen Soldaten. De la Osa drehte sich um und floh zu den Häusern. „Rückzug!“ schrie er. „Zu den Häusern!“ Aber es war kaum noch jemand von den Besatzungen der „Santissima Trinidad“ und der „Asturias“ da, der seinem Befehl Folge leisten konnte. De la Osa stolperte über den freien Platz zwischen den Häusern und steuerte auf das Haus der Harveys zu. Plötzlich aber hatte er das instinktive Gefühl, daß etwas nicht
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stimmte. Er stoppte ab, wich zur Seite und strebte auf die Gebäudemauer zu, um daran entlang zu schleichen. Er hatte den Eingang zum Heim der Harveys fast erreicht, da schob sich eine Gestalt bis zur Hälfte aus der Tür. De la Osa sah einen schwarzhaarigen Mann in weißem Hemd vor sich, soviel konnte er im dämmrigen Licht erkennen, das aus dem Gebäudeinneren ins Freie fiel. „Die Waffen weg!“ sagte dieser Mann, den de la Osa zum erstenmal in seinem Leben sah, in tadellosem Spanisch. „Langsam herkommen!“ Die Radschloßpistole mit den zwei Läufen in seiner Faust war auf de la Osas Brust gerichtet. Auch ihre Sprache war unmißverständlich. Der Kommandant duckte sich, stieß sich von der Mauer ab, warf sich herum und hetzte hakenschlagend davon. Keine Macht der Welt konnte ihn zur Aufgabe zwingen, er war bereit, bis zum Tod zu kämpfen. Hasard jagte einen Warnschuß über seinen Kopf, aber auch das brachte keinen Erfolg. Ben Brighton wollte sich an seinem Kapitän vorbeischieben und mit dem Radschloß-Drehling auf die Beine des Spaniers zielen, aber es war schon zu spät. Die Dunkelheit verschluckte de la Osas Gestalt. „Das war er“, zischte Bertrand Harvey, der Vater von Kay und Angus Harvey. Er hatte hinter einem schmalbrüstigen Fenster gekauert und die Flucht des bärtigen Spaniers verfolgt. „Der Kommandant. Wir haben deutlich gehört, wie dieser Tarrega ihn mit ,Comandante` anredete. Er flieht zu seinem Schiff.“ „Ich folge ihm“, sagte Hasard. „Ich komme mit“, entgegnete Ben daraufhin sofort. Hasard lauschte dem verebbenden Kampflärm. Die Partie war entschieden — zumindest hier. „Einverstanden“, sagte er deshalb. „Versuchen wir also, unseren Freund Comandante einzuholen, bevor er die Nordostbucht erreicht und möglicherweise seine letzten Streitkräfte mobilisiert.“
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Kay Harvey trat vor. „Seewolf, ich führe euch. Nein, schlag das bitte nicht ab. Ich kenne einen Pfad, auf dem wir diesen Don überholen können, ohne daß er es merkt. Wenn man nicht aufpaßt, kann man leicht abstürzen, aber ...“ „Wir passen schon auf“, erwiderte Hasard grinsend. Er drehte sich noch einmal um und nickte Mary-Anne, Kays Frau, dem alten Bertrand und dem geistesschwachen Angus aufmunternd zu. Angus lächelte, es sah in diesem Moment richtig feinsinnig und hintergründig aus. Hasard eilte ins Freie. Ben und Kay folgten ihm. Ungefähr in der Mitte des freien, grasbewachsenen Platzes trafen sie auf Blacky und den Profos, die gerade vom Hang herüberliefen. „Alles in Ordnung?” rief Carberry. „Ja. Ich wollte dich das gleiche fragen, Ed“, erwiderte der Seewolf. „Sir!“ rief Edwin Carberry stolz. „Wir haben keine Verwundeten. Der Kutscher, Ferris, Shane und Smoky rücken auch gleich an. Ich habe bloß eine Beule abgekriegt und bitte darum, sie ora – ora ... ach, verdammt noch mal, mit einem kräftigen Schluck aus der Flasche behandeln zu dürfen.“ Hasard verharrte kurz vor seinem Profos. „Nachher gibt es eine Extraration für alle, Ed. Forscht jetzt noch die Umgebung nach weiteren Spaniern ab, beschützt die Familien Nolan, Harvey und Crape und bringt dann die verwundeten Spanier zum Landeplatz der Boote der ,Asturias`. Der Kutscher soll sie verarzten, bevor sie aufbrechen.“ „Wohin werden sie aufbrechen, Sir?“ „Vielleicht nach Frankreich.“ „Ja, könnte sein. Da sind wir mal wieder mächtig menschlich.“ „Ja“, fügte nun auch Blacky hinzu. „Die sollten dankbar sein, daß sie ihre Haut retten können.“ „Blacky, hast du den Stutzen nachgeladen?“ fragte Hasard. „Nein, Sir, dazu war keine Zeit. Aber ich könnte die sechsschüssige Trommel statt der achtschüssigen einsetzen, die ist nämlich fix und fertig geladen.“
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„Ja. Kannst du mir den Stutzen überlassen, Blacky?“ „Natürlich, Sir.“ Der Seewolf nahm den SchnapphahnRevolverstutzen an sich, drehte sich um und lief Kay Harvey und Ben Brighton nach, die schon auf den nördlichen Hang des Tales zuhielten. Im Laufen vertauschte er den leeren Achtkammerzylinder mit der geladenen Trommel. 10. Lopez de la Osa verfügte über einen ausgeprägten Orientierungssinn. Er hatte den Pfad, der das Tal der Fischer mit der Nordostbucht verband, sofort wieder gefunden und wurde etwas ruhiger, als er durch die dunstige Nacht voranhastete und immer wieder feststellte, daß sein Richtungssinn ihn nicht verließ. Der Weg, das erkannte er von Schritt zu Schritt, war der gleiche, den er auch vorher . in entgegengesetzter Richtung benutzt hatte. Die Schlucht, in der der überfall stattgefunden hatte, war nicht mehr fern. De la Osa vernahm jählings ein Geräusch vor sich. Er blieb stehen, preßte seinen Körper links gegen die Felsen und streckte die rechte Hand mit dem Degen vor. Er sah jetzt ein, daß es wohl besser gewesen wäre, unterwegs die Pistole nachzuladen. Aber er hatte nicht den Nerv gehabt, wertvolle Zeit zu vergeuden, sich irgendwo hinzukauern und diese umständliche Arbeit zu erledigen. Die Gestalt, die im Nebel vor ihm erschien, hätte er mit einem Schuß leicht niederstrecken können. So aber mußte er warten, bis sie ihm vor die Klinge lief. De la Osa erkannte die Gestalt, als sie wenige Fuß von ihm entfernt war, und sagte erleichtert: „Bootsmann! Madre de Dios, Bootsmann, was treiben Sie sich denn hier herum?“ „Senor Comandante! Sie sind das? Was ist geschehen? Wir wollten die fünf Verletzten und den toten zweiten Offizier gerade zur ‚Trinidad' hinunterschaffen, da ging das Kanonenfeuer los; das vom Tal zu kommen schien.“
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„Das war kein Kanonenfeuer.“ „Wir waren unschlüssig, und dann nahm ich mir vor, als Späher der Sache auf den Grund zu gehen“, sagte der Bootsmann. „Wo sind die anderen Männer?“ „Noch in der Schlucht.“ „Gut. Wir sind überfallen worden. Ich habe jetzt keine Zeit, Einzelheiten zu berichten. Wir müssen sofort an Bord der ,Santissima Trinidad' gehen. Nur dort sind wir sicher.“ „Rückzug? Aber Capitan Tarrega und alle anderen ...“ „Sie sind erledigt worden.“ „Dios! Wie konnte das passieren?“ stieß der Bootsmann entsetzt hervor. „Dies ist eine Insel des Teufels“, sagte Lopez de la Osa. „Aber wir werden sie mit unserem Flaggschiff beschießen, von allen Seiten, Tag und Nacht. Wir haben genug Munition an Bord, und wir werden auf alles feuern, was sich zwischen den Felsen bewegt. Außerdem haben wir noch die ,Asturias`, die mit einsetzender Flut wieder freischwimmt. Wir werden es diesen Hunden schon zeigen.“ Sie liefen über den steinigen Pfad und sahen in einem Augenblick, in dem die Nebelschwaden sich etwas lichteten, die grauen Wände der Schlucht aufragen. De la Osa stieß ein paar Worte aus, damit die Männer in der Schlucht sie nicht für Feinde hielten, dann waren sie bei der Gruppe, die bislang ratlos da gehockt hatte und nicht mehr wußte, was sie tun sollte. De la Osa sorgte für Initiative. Er gab nicht auf, hatte sich wieder einigermaßen gefaßt und sann auf Vergeltung. Er ließ die Verwundeten und den toten zweiten Offizier vom Boden aufheben, übernahm die Führung des ziemlich traurig aussehenden Trupps und hatte wenig später keine Schwierigkeiten, jenen steilen Pfad wieder zu finden, der zwischen den Felsen zum Ufer der Nordostbucht hinunterführte. „Wie ist das?“ fragte der Kommandant unterwegs den Bootsmann der „Santissima Trinidad“. „Ich habe meine Leute doch unter anderem auch zurückgeschickt, um nach diesem Harry suchen zu lassen. Haben Sie ihn gefunden?“ „Nein, Senor.“
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„Aber Sie haben das Ufer absuchen lassen?“ „Nein, nur die Gegend von der Schlucht bis hierher. Dann ertönten die Explosionen, und wir liefen zur Schlucht zurück, weil wir Angst wegen eines Angriffs hatten.“ „Halten wir also nach Harry Ausschau“, versetzte de la Osa grimmig. „Nach einem schwerverletzten sechzehnjährigen Jungen.“ * Kein Harry ließ sich blicken, keine verkrümmte Gestalt lag zwischen den Felsen, wohin die Spanier auch blickten. De la Osa begriff nicht, was mit dem Jungen geschehen sein mochte, aber er blieb abrupt und betroffen stehen, als er an der Brandung anlangte und nur noch das eine Boot der „Santissima Trinidad“ daliegen sah. Der Bootsmann und der Geschützführer der Bugkanonen traten neben ihn. „Verdammt, Senor, was hat denn das jetzt wieder zu bedeuten?“ sagte der Geschützführer. „Hier geht doch etwas nicht mit rechten Dingen zu...“ „Hör auf“, fuhr de la Osa den Mann an. „Es gibt für alles eine Erklärung. Harry hat sich zu dem einen Boot geschleppt und ist davongepullt. Es war seine einzige Chance, sich zu retten. Wegen des immer dichter werdenden Nebels konnten ihn Unsere Männer von Bord des Flaggschiffs nicht sehen.“ Der Bootsmann spähte zur „Santissima Trinidad” hinüber. In der Tat: Das Schiff war im Nebel und in der Dunkelheit kaum noch zu erkennen. So mußte man auch Harry, der sich nach einigem Warten zwischen den Felsen zum Boot geschlichen und dann heimlich davongestohlen hatte, völlig übersehen haben. „Wir sind zu viele, um in dem einen Boot Platz zu finden“, sagte der Kommandant. „Wir müssen zweimal fahren. Zuerst schaffen wir den Toten und die Verwundeten an Bord unseres Schiffes. Los, das Boot ins Wasser schieben!“
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Neun Mann einschließlich de la Osas, des Bootsmanns und des Feldsehers stiegen in die Jolle, und sie gelangten nur langsam voran, weil lediglich der Bootsmann und der Feldscher zum Pullen fähig waren. Es war ein Bild des Jammers, das sich de la Osa vom Bug aus bot, als er sich kurz nach seinen Männern umdrehte. Der zweite Offizier lag zwischen den Duchten und würde nie wieder aufstehen, die Verwundeten hockten und lagen da und stöhnten leise vor sich hin. De la Osa wandte sich rasch wieder nach vorn. Er konnte die „Santissima Trinidad“ jetzt sehen. Das Boot überbrückte die letzten Fuß Distanz, die es noch vom Schiff trennten. Einer der Verwundeten war wenigstens in der Lage, die Ruderpinne herumzudrucken. Die Jolle änderte ihren Kurs, glitt nach Osten und ging bei. der Galeone längsseits. „Erster!“ rief de la Osa nach oben. „Hier, Senor“, ertönte von oben die Antwort. De la Osa legte den Kopf in den Nacken. Er sah die Gestalt seines Ersten oben am Schanzkleid stehen. Etwas weiter rechts baumelte die Jakobsleiter. De la Osa streckte die Hände aus, griff nach den Sprossen und enterte auf, als die Jolle sich direkt unter der Jakobsleiter befand. Er dachte daran, wie man die Verwundeten am besten und am schnellsten an Bord der Galeone schaffen konnte. Aber plötzlich fiel ihm etwas anderes ein. „Erster“, sagte er. „Hatte ich nicht angeordnet, daß mir nach Ablauf von zwei Glasen zwölf Männer des Schiffes folgen — als Nachhut?“ „Ja, Don Lopez, aber ...“ „Ist diese Zeit nicht längst abgelaufen? Hätten Sie nicht spätestens in dem Moment handeln müssen, als der Feuerzauber auf der Insel losging?“ „Senor, ich kann Ihnen alles erklären.“ „Ja.“ De la Osa hatte die letzten Sprossen hinter sich gebracht, sein Kopf schob sich über das Schanzkleid, und er konnte auf die Kuhl blicken. Er wollte seinem ersten Offizier grob mitteilen, welche Disziplinarstrafe ihn für sein Versagen
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erwartete, aber diese Worte blieben dem Comandante im Hals stecken. Der Erste wich zurück, weil ihn eine andere Gestalt fortdrängte — eine Gestalt von hohem Wuchs und mit schwarzem Haar, die einen Degen hielt, einen Degen, dessen Klinge zweifellos vorher auf die Nackenpartie des ersten Offiziers gerichtet gewesen war. Die Spitze der Waffe schwang jetzt auf de la Osas Kehle zu und verharrte davor — ehe der Kommandant es fertig brachte, seine eigene Blankwaffe zu zücken. „Bitte nicht zaudern“, sagte dieser schwarzhaarige Teufel mit den eisblauen Augen. Ohne Erbarmen blickte er de la Osa an. „Steigen Sie jetzt ganz an Deck, Senor Comandante, und lassen Sie uns ein paar Worte miteinander wechseln.“ „Wer bist du?“ keuchte de la Osa. Er leistete der Aufforderung aber doch Folge, denn zu groß war die Gefahr, daß der gegen des Mannes seine Kehle durchbohrte. De la Osa war ein nüchterner Mann, er konnte sich ausrechnen, daß er diesmal bei aller Schnelligkeit seinem Schicksal nicht entging. Es war der Mann, der ihn aus dem Haus der Harveys heraus bedroht hatte, de la Osa erkannte ihn sofort wieder. Wie hatte dieser Kerl es schaffen können, vor ihm hier zu sein? „Ich lese dir deine Fragen aus dem Gesicht ab“, wandte sich Hasard mit dem vertraulicheren Du an den Spanier. Wenn der Don ihn duzte, dann konnte auch er getrost das gleiche tun. Er drängte den Kommandanten ein Stück auf die Back zu, als dieser vor ihm stand, 'und winkte dann seinen Männern zu, die jetzt aus Vor- und Achterdeck auftauchten. „Donegal, Dan“, sagte er verhalten. „Nehmt die anderen fest.“ Die Männer der „Isabella“ glitten ans Schanzkleid der Steuerbordseite, schoben Musketen und Tromblons darüber und richteten sie auf die Bootsbesatzung. Unten in der Jolle hoben der Bootsmann und der Feldscher betroffen die Hände. Die Verwundeten nahmen das Geschehen wie Unbeteiligte auf, sie hockten und lagen nur
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apathisch da und dachten nicht an Widerstand. „Sie haben sich ergeben“, sagte Ben Brighton zu Hasard. Er hatte sich inzwischen mit Kay Harvey ebenfalls ans Schanzkleid begeben. „Gut“, erwiderte Hasard. „Holt sie aus dem Boot, pullt dann an Land und überzeugt die anderen Dons, die dort warten, davon, daß es keinen Zweck hat, sich noch weiter mit uns herumzuschlagen. Nehmt von mir aus zwei von den Gefangenen mit, das wirkt besser.“ „Aye, aye, Sir“, sagte Ben. Old Donegal Daniel O'Flynn grinste wie der Teufel persönlich. Lopez de la Osa warf ihm einen schiefen Blick zu und musterte die ganz illustre Versammlung in einer Mischung aus tiefer Verachtung und Furcht vor dem Tod. „Und nun zu uns“, erklärte Hasard. „Wie gesagt, ich weiß schon, was du mich fragen willst, de la Osa. Nun, es gibt für alles eine Antwort.“ „Töte mich“, erwiderte de la Osa. „Warum sollte ich? Hör mir gut zu. Als ich an Land für das Feuerwerk sorgte, das euch Dons so sehr irritiert hat, pirschten sich meine Männer an dein Flaggschiff heran.“ „Deine Männer?“ wiederholte de la Osa überrascht. „Ja, die Männer der ,Isabella`.“ „Isabella` — dann bist du also ...“ „El Lobo del Mar.“ „Die Pest soll dich dahinsiechen lassen — dich und deine Bastarde“, sagte de la Osa. Drei Männer standen hinter Hasard und hatten zugehört. Es waren Luke Morgan, Sam Roskill und Bill, der Schiffsjunge. „Dein frommer Wunsch wird nicht in Erfüllung gehen“, sagte Luke aufgebracht. „Eher fährst du zur Hölle!“ „Ich bin bereit zu sterben.“ „Und ich mag keine dummen Helden“, erwiderte Hasard. „Aber laß mich weitererzählen. Deine fünfzehn auf der ,Santissima Trinidad' zurückgebliebenen Männer waren viel zu beschäftigt damit, zur Insel hinüberzuschauen und über die Ursachen der Feuerblitze zu rätseln. Als
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der Erste dann endlich den Entschluß faßte, ein Dutzend Männer an Land zu schicken, war es zu spät. Die ,Isabella` war heran, meine Männer enterten und überwältigten deine Leute, Amigo.“ „Santa Madre, sag mir, daß es nicht wahr ist“, murmelte der Kommandant. „Ist es aber, Senor“, sagte Bill, der Moses. „Ich ließ mich von den Häusern aus von einem der Fischer führen“, fuhr der Seewolf fort. „Wir erreichten über einen anderen, geheimen Pfad vor euch das Ufer der Südostbucht, nahmen ein Boot und pullten zu eurem Flaggschiff. Ich wunderte mich über die Totenstille, aber dann entdeckte ich meine Leute hier oben an Deck. Die ,Isabella' hatte sich inzwischen wieder von der ‚Trinidad' gelöst. Zwei meiner Männer haben sie ein wenig weiter in die Bucht hinauslaufen lassen — sie liegt dort drüben im Nebel, und so konntest du sie nicht sehen, als du erschienst.“ „Warum tut ihr das alles?“ „Du hast gehört, wer ich bin. Ich verteidige den Schwächeren, Comandante, England! Wann seht ihr endlich ein, daß es keinen Zweck hat, sich mit unserem Land anzulegen?“ „Wann hört ihr auf, unsere Silberschiffe auszuräubern?“ „Noch eine Frage“, sagte Hasard. „Warum seid. ihr Narren überhaupt hier, auf den Scilly-Inseln, gelandet?“ „Das werde ich dir nie verraten ...“ Hasard lächelte plötzlich und ließ den Degen ein wenig sinken. „Es ist die Nacht der Hinterhalte, Don Lopez, und ich habe auch einige Zeit überlegen müssen, um mir die Zusammenhänge zusammenzureimen. Aber jetzt weiß ich, um was es euch ging. Willst du es von mir hören? Nun, dann also ganz von vorn: Drei Schiffe wurden von Vigo in Spanien nach England in Marsch gesetzt, die ,Santissima Trinidad`; die ,Asturias' und die ,Paraiso`. Die ,Paraiso` sank im Sturm, aber der ehrgeizige Kommandant de la Osa setzte die Reise fort. Nach dem Überfall auf Cadiz sollte er sich vorsichtig an die englische Küste herantasten und auskundschaften, was dort vorgeht — was für ‚Bewegungen' es gibt,
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wie viele Schiffe an den Küsten zu sehen sind. Er soll aber noch mehr tun — nach Möglichkeit auf einer öden, verlassenen Insel einen Stützpunkt für Spanien errichten, eine Art vorgeschobenen Posten, von dem aus Spanien operieren kann — im Falle eines Angriffs auf England.“ Er holte tief Luft und fuhr fort: „Das also ist Don Lopez de la Osas geheime Mission, und er sucht sich die Scilly-Inseln aus, weil sie schwer zugänglich sind und gemieden werden. Er setzt hoch, riskiert viel — schafft es dann aber, sich an Bryher heran zu pirschen. Nur begeht er einen schwerwiegenden Fehler. Er glaubt, die Insel sei unbewohnt, und verläßt sich darauf ...“ „Aufhören!“ schrie de la Osa. „Ja“, sagte Hasard. „Ich höre jetzt auf. Ich verlasse sogar die Insel, Amigo, denn mein Ziel liegt woanders.“ Ben Brighton drehte sich am Schanzkleid zu seinem Kapitän um und meldete: „Wir haben die Verwundeten geborgen, und eben kehren Old O'Flynn und sein Stoßtrupp vom Ufer zurück. Donegal gibt uns ein Zeichen, daß er auch die anderen Dons geschnappt hat.“ „Sehr gut“, entgegnete der Seewolf. „Wir brauchen jetzt nur noch auf das Morgengrauen und auf die Flut zu warten. Wir haben noch ein wenig Zeit, uns von unseren Freunden, den Nolans, den Harveys und den Crapes, zu verabschieden.“ *
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Am frühen Morgen des folgenden Tages verflüchtigte sich der Nebel, und die Bewohner von Bryher könnten vom Ufer ihrer Insel aus verfolgen, wie die „Asturias“ von dem Riff glitt und in der steigenden Flut versank. Die „Santissima Trinidad“ war zu diesem Zeitpunkt bereits in der Nordostbucht verschwunden. Ferris Tucker und ein paar Helfer hatten ihr mehr als zwei Dutzend Löcher in den Rumpf gebohrt, nachdem Arthur Nolan versichert hatte, daß die Bucht tief genug wäre, um das Schiff für alle Zeiten neugierigen Blicken und etwaigen Nachforschungen zu entziehen. In vier Booten, die jetzt weit entfernt von Bryher auf den Kanal zutrieben, saßen die Spanier — de la Osa, Tarrega und ihre Mannschaften samt den Verwundeten und denjenigen, die kurzfristig im Kabelgatt der „Isabella“ eingesperrt gewesen waren. Kurze Masten mit einfachen Segeln hatte Hasard den Jollen anpassen lassen. Der Wind, der jetzt nicht mehr aus Westen, sondern aus Nordwesten blies, drückte die Boote zur Küste der Bretagne hinüber. Die „Isabella“ erreichte am übernächsten Tag ihr Ziel — den Hafen von Plymouth. Als sie am Wind in die Mill Bay steuerte, hatten sich Hasard und seine Männer fast vollzählig auf der Back versammelt. Sie blickten zu den Hafenanlagen, zu den Piers — und staunten nicht schlecht. Ihnen fehlten. in diesem Moment die Worte. An einer Pier lag ein ihnen nur allzu bekanntes Schiff vertäut. Es war die „Vengeur“ von Jean Ribault ...
ENDE