Matthew Pearl
Der Dante Club Roman Aus dem Amerikanischen von Rudolf Hermstein
Für Lino, meinen ...
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Matthew Pearl
Der Dante Club Roman Aus dem Amerikanischen von Rudolf Hermstein
Für Lino, meinen Professor, und Ian, meinen Lehrer
Warnung an den Leser Ein Vorwort von C. Lewis Watkins, Baker‐Valerio‐Professor für Kultur und Literatur Italiens sowie Rhetorik Pittsfield Daily Reporter, »Community Network«, 15. September 1989 ZEHNJÄHRIGER AUS LEXINGTON MIT FLIEGENLARVEN INFIZIERT Suchtrupps entdeckten am Donnerstagnachmittag den zehnjäh‐ rigen Kenneth Stanton aus Lexington in einer entlegenen Regi‐ on der Catamount Mountains. Der Fünftklässler wurde im Berkshire Medical Center wegen schmerzhafter Schwellungen behandelt, die davon herrührten, dass zunächst nicht identifi‐ zierbare Insekten Eier in seinen Wunden abgelegt hatten. Nach Aussagen des Entomologen Dr. K. L. Landsman vom Harve‐Bay Institute Museum in Boston war die Schmeißfliege, von der vor Ort Exemplare sichergestellt wurden, in Massachu‐ setts bisher unbekannt. Noch interessanter ist nach Landsmans Worten, dass die Insekten und ihre Larven offenbar einer Spe‐ zies angehören, die unter Entomologen seit fast fünfzig Jahren als ausgestorben gilt. Cochliomyia hominivorax, die in der Neuen Welt heimische Schraubenwurmfliege, wurde 1859 von einem französischen Arzt auf einer südamerikanischen Insel entdeckt und klassifiziert. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts erreichte die Verbreitung dieser gefährlichen Art epidemische Ausmaße. Hunderttausende von Haustieren der westlichen Hemisphäre
fielen ihr zum Opfer, und angeblich waren auch einige Men‐ schen betroffen. In den 1950er Jahren wurde die Art durch ein von den Vereinigten Staaten initiiertes Programm ausgerottet: Mit Gammastrahlen behandelte sterile Männchen wurden in die Population eingeführt, was die Fortpflanzungsfähigkeit der weiblichen Fliegen blockierte. Kenneth Stantons schreckliches Erlebnis wird möglicherweise zu einer so genannten laborgestützten »Wiederbelebung« der Insekten für Forschungszwecke führen. »Die Ausrottung der Spezies war zwar aus gesundheitspolitischer Sicht gut und rich‐ tig«, sagt Landsman, »aber unter kontrollierten Bedingungen können wir mit Hilfe neuer technischer Untersuchungsverfah‐ ren nützliche Erkenntnisse gewinnen.« Auf die Frage, wie er diesen taxonomischen Glücksfall sehe, antwortete Stanton: »Mein Biologielehrer findet mich toll.« Sie werden sich im Hinblick auf den Titel dieses Buches viel‐ leicht fragen, in welchem Zusammenhang dieser Zeitungsar‐ tikel mit Dante stehen könnte, doch wie Sie bald sehen werden, besteht durchaus ein sehr realer ‐ und bestürzender ‐ Zusam‐ menhang. Als anerkannte Autorität für die Rezeption von Dan‐ tes Göttlicher Komödie in Amerika hat mich der Verlag Random House im Sommer vergangenen Jahres gebeten, gegen das üb‐ liche kärgliche Honorar ein paar einleitende Worte zu diesem Buch zu schreiben. Der Text Matthew Pearls befasst sich mit den allerersten An‐ fängen von Dantes Präsenz in unserer Kultur. Im Jahre 1867 vollendete der Dichter H. W. Longfellow die erste amerikani‐
sche Übersetzung von Dantes revolutionärem Werk über das Jenseits, der Göttlichen Komödie. Heute existieren von Dantes Dichtung mehr Übersetzungen ins Englische als in irgendeine andere Sprache, und die Vereinigten Staaten bringen mehr Dante‐Übersetzungen hervor als jedes andere Land. Die Dante Society of America in Cambridge, Massachusetts, kann sich rühmen, die älteste Gesellschaft der Welt zu sein, die sich der Dante‐Forschung und der Förderung Dantes widmet. Wie T. S. Eliot einmal sagte, teilen Dante und Shakespeare die moderne Welt unter sich auf, und Dantes Anteil wird von Jahr zu Jahr größer. Vor Longfellows Übersetzung war Dante hierzulande nahezu unbekannt. Wir sprachen die italienische Sprache nicht, und sie wurde auch kaum unterrichtet; nur wenige Amerikaner reisten damals ins Ausland, und umgekehrt lebte in den gesam‐ ten Vereinigten Staaten nur eine Hand voll Italiener. Kraft meines unbestechlichen kritischen Verstandes stellte ich fest, dass über diese Grundtatsachen hinaus die höchst erstaun‐ lichen Begebenheiten, von denen dieses Buch erzählt, eher dem Reich der Fabel als der Geschichte entstammen. Als ich jedoch zur Bestätigung dieser meiner Einschätzung die Datenbanken von Lexis‐Nexis durchsuchte, entdeckte ich den oben wiederge‐ gebenen beunruhigenden Artikel aus dem Pittsfield Daily Re‐ porter. Ich nahm sofort Kontakt mit Dr. Landsman auf und konnte mir so ein etwas genaueres Bild von dem Vorfall ma‐ chen, der jetzt fast vierzehn Jahre zurückliegt. Kenneth Stanton hatte bei einem Angelausflug seiner Familie in den Berkshires auf eigene Faust die Umgebung erkundet und war auf einem überwachsenen Weg auf eine merkwürdige Rei‐
he toter Tiere gestoßen: einen Waschbären, dessen Nabel dick mit Blut verkrustet war, einen Fuchs und schließlich, etwas weiter weg, einen Schwarzbären. Hinterher erzählte er seinen Eltern, er habe sich beim Anblick dieser Kadaver wie hypnoti‐ siert gefühlt. Er verlor das Gleichgewicht und stürzte auf eine Ansammlung scharfkantiger Steine. Als er bewusstlos und mit gebrochenem Knöchel im Wald lag, machten sich die Schrau‐ benwurmfliegen über ihn her. Fünf Tage später ‐ Kenneth Stan‐ ton war inzwischen gerettet worden und erholte sich zu Hause im Bett ‐ starb der Zehnjährige, nachdem ganz plötzlich heftige Krämpfe eingesetzt hatten. Bei der Obduktion wurden zwölf Maden der Schraubenwurmfliege Cochliomyia hominivorax ge‐ funden, eine der gefährlichsten Insektenarten der Welt, die seit fünfzig Jahren als ausgestorben galt. Die wiederbelebte Fliegenart, die offenbar über eine fast bei‐ spiellose Fähigkeit verfügt, auch einen schroffen Klimawechsel zu überleben, ist seither, vermutlich durch Frachtlieferungen, in den Nahen Osten eingeschleppt worden und dezimiert gerade Viehherden im Irak. Auf der Grundlage von Forschungsergeb‐ nissen, die voriges Jahr in den Abstracts of Entomology veröf‐ fentlicht wurden, diskutiert man mittlerweile die Theorie, die abweichende Evolution dieser Fliegen habe möglicherweise um 1865 im Nordosten der Vereinigten Staaten ihren Ausgang ge‐ nommen. Auf die Frage, wie es zu dieser Abweichung kam, findet sich keine Antwort ‐ außer, wie ich inzwischen glaube und fürchte, im Text dieses Buches. Seit über fünf Wochen überprüfen nun acht meiner fünfzehn Lehrkräfte Pearls Manuskript aufs Ge‐
naueste. Sie haben die philologischen und historiographischen Details Zeile für Zeile analysiert und katalogisiert und auch ein paar belanglose Fehler gefunden, die allein auf das Konto des Autors gehen. Täglich finden wir weitere Beweise für die Reali‐ tät der Nöte und Freuden, die Longfellow und seinen Helfern im Jahr von Dantes sechshundertstem Geburtstag widerfuhren. Ich habe auf mein Honorar verzichtet, denn dies hier ist kein Vorwort mehr, sondern eine Warnung. Kenneth Stantons Tod hat das Tor zu Dantes Ankunft in unserer Welt, zu den Ge‐ heimnissen, die auch heute noch im Verborgenen lauern, sperr‐ angelweit geöffnet. Vor diesen Geheimnissen wollte ich Sie, lieber Leser, warnen. Wenn Sie weiterlesen, vergessen Sie bitte nicht: Auch Worte können bluten. Professor C. Lewis Watkins Cambridge, Massachusetts
Erster Teil
I John Kurtz, der beleibte Chef der Bostoner Polizei, machte sich so dünn wie möglich, um besser zwischen die beiden Haus‐ mädchen zu passen. Auf der einen Seite leierte die Irin, die den Leichnam gefunden hatte, heulend und schniefend Gebete her‐ unter, die ihm unbekannt (weil katholisch) und unverständlich (wegen des Geheules) waren und die Haare in seinem Gehör‐ gang prickeln ließen, auf der anderen Seite saß in stummer Verzweiflung ihre Nichte. Der Salon war reichlich mit Sesseln und Sofas ausgestattet, aber die beiden Frauen hatten sich zum Warten neben ihn gezwängt. Er musste aufpassen, dass er sei‐ nen Tee nicht verschüttete, so sehr zitterten die beiden. Kurtz hatte als Polizeichef schon öfter mit Mord zu tun ge‐ habt, wenn auch nicht so oft, dass es schon Routine geworden wäre ‐normalerweise ein‐ bis zweimal jährlich. Oft verging in Boston ein ganzes Jahr ohne ein nennenswertes Tötungsdelikt. Da die wenigen Opfer meist aus den untersten Schichten stammten, hatte es bis jetzt nicht zu Kurtzʹ Obliegenheiten ge‐ hört, die Hinterbliebenen zu trösten. Er hätte dabei auch keine gute Figur abgegeben, denn für Gefühlsaufwallungen hatte er kein rechtes Verständnis. Sein Stellvertreter Edward Savage, der in seiner freien Zeit Gedichte schrieb, hätte es sicher besser gekonnt. Das da ‐ anders wagte der Polizeichef diesen grässli‐ chen Vorfall, der das Leben einer ganzen Stadt verändern sollte, noch nicht zu benennen ‐ war nicht irgendein Mord. Es war der
Mord an einem Bostoner Patrizier, einem Angehörigen der klassenbewussten, in Harvard ausgebildeten unitaristischen, großbürgerlichen Elite Neuenglands. Überdies war das Opfer der höchste Richter des Staates Massachusetts. Und in seinem Fall war nicht einfach nur getötet worden, wie es gelegentlich durch einen Mord fast barmherzigerweise geschieht, nein, hier war es dem Mörder darum gegangen, jemanden ganz und gar zu vernichten. Die Frau, auf die sie im besten Salon von Wide Oaks warteten, hatte in Providence den ersten erreichbaren Zug genommen, nachdem das Telegramm eingetroffen war. Die Erste‐Klasse‐Waggons ratterten mit unerträglicher Gemäch‐ lichkeit dahin, aber die Reise kam ihr ohnehin ganz unwirklich vor, wie auch alles, was vorher gewesen war. Mrs. Healey hatte mit sich ‐ und mit Gott ‐ eine Art Wette abgeschlossen: Falls der Familiengeistliche noch nicht eingetroffen war, wenn sie zu Hause ankam, würde das bedeuten, dass das Telegramm auf einem Irrtum beruhte. Sie war nicht unbedingt vernünftig, die‐ se nur halb ausformulierte Wette mit dem Schicksal, aber Ed‐ nah Healey musste sich irgendetwas ausdenken, woran sie glauben konnte, etwas, was sie davor bewahrte, auf der Stelle in Ohnmacht zu fallen. Den entsetzlichen Verlust vor Augen, starrte sie ins Leere. Als sie ihren Salon betrat, sah sie nur, dass der Geistliche nicht da war, und überließ sich einem unsinnigen Triumphgefühl. Kurtz, ein stattlicher Mann, dessen buschiger Schnauzer am unteren Ende senfgelb verfärbt war, merkte, dass nun auch er zitterte. Auf der Fahrt mit der Kutsche nach Wide Oaks hatte er sich zurechtgelegt, was er sagen würde. »Madam, es tut uns allen sehr Leid, dass wir Sie aus einem so tragischen
Grund zurückholen mussten. Offenkundig ist Oberrichter Hea‐ ley ...« Nein, erst noch ein paar einleitende Worte. »Wir dach‐ ten, es sei das Beste, Ihnen die unglückseligen Umstände hier in Ihrem eigenen Hause darzulegen, wo Sie am ehesten Trost fin‐ den werden.« Er hielt das für eine großzügige Geste. »Aber der, den Sie da gefunden haben, kann gar nicht Richter Healey sein«, sagte sie und befahl ihm, sich zu setzen. »Tut mir Leid, dass Sie sich umsonst herbemüht haben, aber es kann sich nur um einen schlichten Irrtum handeln. Der Oberrichter wollte ... er hält sich in Beverly auf, um ein paar Tage in aller Ruhe zu arbeiten. Ich war unterdessen mit unseren beiden Söhnen in Providence. Ich erwarte ihn nicht vor morgen zurück.« Kurtz war froh, dass es nicht seine eigenen Erkenntnisse wa‐ ren, die das widerlegten. »Ihre Hausangestellte«, sagte er und zeigte auf das größere der beiden Dienstmädchen, »hat seinen Leichnam gefunden, Madam. Draußen, nicht weit vom Fluss.« Nell Ranney, das Hausmädchen, war untröstlich, dass ausge‐ rechnet sie den toten Richter gefunden hatte. Sie bemerkte nicht, dass sich in ihrer Schürzentasche noch ein paar blutige Maden befanden. »Es ist allem Anschein nach schon vor einigen Tagen passiert. So Leid es mir tut, Ihr Gatte ist gar nicht aufs Land gefahren«, sagte Kurtz. Es war ihm peinlich, dass seine Worte so gefühllos klangen. Ednah Healey weinte zunächst nur leise vor sich hin, wie eine Frau um ein totes Haustier weinen mag ‐ nachdenklich und ge‐ fasst, ohne Groll. Die olivbraune Feder an ihrem Hut wippte in würdigem Widerstreben.
Nell sah Mrs. Healey flehentlich an, dann sagte sie sehr freundlich zu Polizeichef Kurtz: »Bitte kommen Sie doch später noch einmal. Ich bitte Sie.« John Kurtz war dankbar, Wide Oaks verlassen zu dürfen. Ge‐ ziemend feierlich ging er auf seinen neuen Kutscher zu, einen jungen, gut aussehenden Streifenpolizisten, der diensteifrig den Tritt der Kutsche herunterklappte. Es gab keinen Grund zur Eile angesichts dessen, was sich mit Sicherheit zu diesem Zeit‐ punkt auf der Hauptwache bereits zusammenbraute zwischen den aufgelösten Stadträten und Bürgermeister Lincoln, der ihm ohnehin schon die Hölle heiß machte, weil er angeblich nicht energisch genug gegen die Spielhöllen und Freudenhäuser »durchgriff«, um die Zeitungen zum Schweigen zu bringen. Er war noch nicht weit gekommen, als ein furchtbarer Schrei die Luft zerriss. Kurtz drehte sich um und sah entgeistert zu, wie Ednah Healey mit davonfliegendem Hut und wild flatterndem Haar auf die Vortreppe gelaufen kam und etwas von sich schleuderte, das wie ein weißer Strahl genau auf seinen Kopf zuschoss. Hinterher erinnerte er sich, dass er geblinzelt hatte ‐ mehr, so schien ihm, konnte er nicht tun, um die Katastrophe abzuwenden. Er schickte sich in seine Hilflosigkeit: Der Mord an Artemus Prescott Healey hatte ihn schon genug mitgenom‐ men. Es war nicht der Tod als solcher. Der Tod war im Boston des Jahres 1865 so alltäglich wie eh und je: Säuglingskrankhei‐ ten, Schwindsucht und namenlose, unbarmherzige Fieber‐ krankheiten, Feuersbrünste, Unruhen, junge Frauen, die in so großer Zahl im Kindbett starben, dass es schien, als sei ihnen von Anfang an kein Platz auf dieser Welt beschieden gewesen,
und ‐ noch bis vor sechs Monaten ‐ der Krieg, der viele Tausen‐ de junger Bostoner Männer für ihre Familien auf schwarz um‐ randete amtliche Mitteilungen reduziert hatte. Aber die bis ins Kleinste geplante sinnlose Vernichtung eines einzelnen Men‐ schen durch einen Unbekannten ... Kurtz wurde jäh am Jackenärmel gepackt und zu Boden geris‐ sen, in den weichen, sonnenwarmen Rasen. Die Vase, die Mrs. Healey nach ihm geworfen hatte, zerbrach am dicken Stamm einer der Eichen, nach denen das Anwesen wohl benannt wor‐ den war, in tausend blaue und elfenbeinfarbene Scherben. Viel‐ leicht, dachte Kurtz, hätte er doch seinen Stellvertreter schicken sollen. Nicholas Rey, der Streifenpolizist, ließ den Arm seines Vorgesetzten los und half ihm wieder auf die Beine. Die Pferde am Ende der Auffahrt schnaubten und bäumten sich auf. »Er hat immer seine Pflicht getan! Wie wir alle! Das haben wir nicht verdient, da können Sie sagen, was Sie wollen! Jetzt bin ich ganz allein!« Ednah Healey rang die erhobenen Hände, und dann sagte sie etwas, was Kurtz verblüffte. »Ich weiß, wer es war! Ich weiß, wer das getan hat! Ich weiß es!« Nell Ranney schlang ihre fülligen Arme um ihre tobende Her‐ rin, redete beschwichtigend auf sie ein, streichelte sie und wieg‐ te sie, so wie sie vor vielen Jahren die Healey‐Kinder gewiegt hatte. Ednah Healey kratzte sie, schlug und spuckte nach ihr und versuchte sich loszureißen, sodass der schmucke junge Po‐ lizist sich zum Eingreifen genötigt sah. Doch die Wut der Witwe verrauchte, und sie drückte ihr Ge‐ sicht in die bauschige schwarze Bluse des Hausmädchens, in ihren üppigen Busen.
Das alte Herrenhaus hatte nie so leer geklungen. Ednah Hea‐ ley war mit den beiden Söhnen nach Providence gefahren, zu einem ihrer häufigen Besuche bei ihrer Familie, den geschäfts‐ tüchtigen Sullivans. Ihr Mann war daheim geblieben, er musste an einem Fall arbeiten, bei dem es um Besitzstreitigkeiten zwi‐ schen den beiden größten Bostoner Banken ging. Der Richter verabschiedete sich wie immer liebevoll brummelnd von seiner Familie und gab der Dienerschaft leutselig frei, kaum dass Mrs. Healey außer Sichtweite war. Anders als seine Frau, die nie auf das Personal verzichtete, genoss er es ab und zu, für kurze Zeit ganz sein eigener Herr zu sein. Außerdem trank er hin und wieder gern ein Gläschen Sherry, und die Bediensteten berich‐ teten ihrer Herrin unfehlbar von jedem Verstoß gegen das Mä‐ ßigungsgebot, denn ihn mochten sie, aber vor ihr hatten sie ei‐ nen Heidenrespekt. Tags darauf wollte er zu einem Wochenende geruhsamen Ak‐ tenstudiums nach Beverly aufbrechen. Der nächste Gerichts‐ termin, der seine Anwesenheit erforderte, war erst am Mitt‐ woch, dann würde er mit dem Zug in die Stadt zurückkehren. Richter Healey bemerkte nie etwas davon, aber Nell Ranney, Hausmädchen der Healeys, seitdem sie vor zwanzig Jahren durch Hungersnot und Krankheit aus dem heimatlichen Irland vertrieben worden war, wusste, dass eine tadellos aufgeräumte häusliche Umgebung für einen so bedeutenden Mann wie den Oberrichter unerlässlich war. Also kam sie am Montag zur Ar‐ beit, und da entdeckte sie die ersten Spritzer einer eingetrock‐ neten roten Flüssigkeit in der Nähe des Vorratsschranks und einen weiteren Schmierer am Fuß der Treppe. Wahrscheinlich
war ein verletztes Tier irgendwie ins Haus und auf demselben Weg wieder ins Freie gelangt. Dann sah sie eine Fliege auf den Vorhängen im Salon. Sie scheuchte sie mit einem zischenden Zungenschnalzen zum Fenster hinaus und fuchtelte dazu mit ihrem Staubwedel. Doch als sie den langen Mahagoni‐Esstisch polierte, war die Fliege plötzlich wieder da. Wahrscheinlich hatten die neuen farbigen Küchenmägde irgendwo ein paar Krümel übersehen. Diese Konterbande ‐ was die freigelassenen Sklavinnen in ihren Au‐ gen nach wie vor waren und immer bleiben würden ‐ nahm es mit der Sauberkeit nicht sehr genau, sie tat nur so. Das Insekt, so schien es Nell, röchelte so laut wie eine Loko‐ motive. Sie erlegte die Fliege mit einer zusammengerollten North American Review. Der platt gequetschte Plagegeist war etwa doppelt so groß wie eine Stubenfliege und hatte drei gleichmäßige schwarze Querstreifen auf dem bläulich grünen Rumpf. Und diese Fratze!, dachte Nell Ranney. Den Kopf des Insekts hätte Richter Healey bestimmt unter bewunderndem Murmeln inspiziert, bevor er es in den Papierkorb geworfen hätte. Die hervorquellenden kugelrunden Augen von grell o‐ rangeroter Farbe waren fast so groß wie der halbe Rumpf. Ein seltsam schillerndes Orange, fast ein Rot, etwas zwischen den beiden Farben. Auch etwas Gelbes und Schwarzes. Kupfer: wie Feuerschlieren. Sie kam am nächsten Morgen wieder, um im ersten Stock sauber zu machen. Als sie durch die Haustür trat, schoss abermals eine Fliege pfeilschnell an ihrer Nasenspitze vorbei. Wutentbrannt schnappte sie sich wieder eines von den dicken Journalen des Richters und verfolgte die Fliege die brei‐
te Treppe hinauf. Normalerweise nahm sie die Dienstboten‐ treppe, auch wenn sie allein im Haus war, doch dies war ein Ausnahmefall. Sie zog die Schuhe aus und tappte leichtfüßig die mit dickem Teppich belegten Stufen hinauf, hinter der Flie‐ ge her, bis in Healeys Schlafzimmer. Die Feueraugen glotzten höhnisch, der Leib bäumte sich auf, und das Gesicht des Insekts sah einen Moment lang aus wie das eines Mannes. Diese Momente, als sie dem monotonen Sum‐ men lauschte, sollten für viele Jahre die letzten sein, in denen Nell Ranney so etwas wie inneren Frieden kannte. Sie stürmte los und schmetterte die Review gegen Fensterscheibe und Flie‐ ge. Aber sie war während ihrer Attacke über etwas gestolpert, und jetzt schaute sie auf das Hindernis hinab, das sich um ihren nackten Fuß krümmte. Sie hob das sperrige Ding auf. Es war eine komplette Zahnreihe, die in einen menschlichen Oberkie‐ fer gehörte. Sie legte es sofort wieder hin und sah es respektvoll an, als könnte es sie für ihr schlechtes Benehmen zurechtweisen. Es waren falsche Zähne, kunstvoll von einem prominenten New Yorker Zahnarzt gearbeitet, der damit Richter Healeys Wunsch nach einem gefälligeren Äußeren bei seinen Auftritten vor Ge‐ richt erfüllt hatte. Der Richter war sehr stolz auf sie und klärte jeden, der ihm zuhörte, über ihre Herkunft auf, nicht beden‐ kend, dass die Eitelkeit, die Anlass der Verschönerung gewesen war, eigentlich Stillschweigen geboten hätte. Die Zähne waren ein wenig zu neu und zu weiß, als erstrahlten sie im Schein der Sommersonne zwischen den Lippen ihres Trägers. Aus dem Augenwinkel gewahrte Nell einen dicken Blutklecks, der auf
dem Teppich geronnen und angetrocknet war. Und nicht weit davon lag ein Stapel sorgsam zusammengefalteter Männer‐ kleider. Diesen Anzug kannte Nell Ranney so gut wie ihre wei‐ ße Schürze, ihre schwarze Bluse und ihren bauschigen schwar‐ zen Rock. Oft genug hatte sie Taschen oder Ärmel mit Nadel und Faden ausbessern müssen; der Richter orderte erst dann einen neuen Anzug bei Mr. Randridge, dem unvergleichlichen Schneider in der School Street, wenn es gar nicht mehr anders ging. Das Hausmädchen stieg wieder die Treppe hinab, um sich die Schuhe anzuziehen, und bemerkte erst jetzt die Blutspritzer auf dem Geländer sowie, kaum erkennbar, in dem flauschigen roten Teppich, der die Stufen bedeckte. Draußen vor dem gro‐ ßen, ovalen Fenster des Salons, jenseits des makellosen Gartens, wo Wiesen, Wald und Felder zum Ufer des Charles River abfie‐ len, erblickte sie einen Schwarm Schmeißfliegen. Nell ging hin‐ aus, um sich die Sache anzusehen. Ein großer Haufen Unrat hatte die Schmeißfliegen angelockt. Als sie näher kam, tränten ihr die Augen von dem furchtbaren Gestank. Sie holte eine Schubkarre, und dabei fiel ihr das Kalb ein, das der Stallbursche mit Erlaubnis der Healeys auf dem Grundstück aufgezogen hatte. Aber das lag Jahre zurück. Stall‐ bursche und Kalb waren Wide Oaks entwachsen und hatten es seinem unabänderlichen Einerlei überlassen. Es waren Fliegen der neuen feueräugigen Spezies. Auch ein paar gelbe Hornissen waren dabei, die offenbar ein morbides Interesse an dem fauli‐ gen Haufen hatten. Viel zahlreicher als die geflügelten Kreatu‐ ren waren jedoch die wimmelnden Massen weißer Kügelchen ‐ Würmer mit gezacktem Rücken, die in dicker Schicht auf etwas
Undefinierbarem herumkrochen, nein, nicht nur krochen, son‐ dern sich wanden und zappelten, sich hineinwühlten, hinein‐ fraßen ineinander und in das ... Aber woraus bestand denn nun dieser abscheuliche, mit weißem Schleim überzogene Klum‐ pen? Das eine Ende sah aus wie der borstige Busch kastanien‐ brauner und elfenbeinfarbener Strähnen von ... In dem Haufen steckte ein kurzer Holzstab mit einer zerfetzten weißen Fahne, die matt in der unschlüssigen Brise flatterte. Nells Ahnung wurde zur Gewissheit, doch in ihrer Angst hoffte sie inständig, das Kalb des Stallburschen vorzufinden. Vergeblich weigerten sich ihre Augen, die Nacktheit und den breiten, etwas krum‐ men Rücken wahrzunehmen, der in die Spalte des riesigen schneeweißen Gesäßes überging, schier überquellend von den krabbelnden, bleichen, bohnenförmigen Maden oberhalb der zu kurz geratenen Beine, die in entgegengesetzten Richtungen ab‐ standen. Ein dichter Schwärm Fliegen, Hunderte von ihnen, kreiste wie zum Schutz über dem Haufen. Der Hinterkopf war vollständig eingehüllt in die weißlichen Würmer, die nicht nach Hunderten, sondern nach Tausenden zählen mussten. Nell trat das Wespennest beiseite und hievte den Richter in die Schub‐ karre. Halb karrte und halb schleifte sie den nackten Körper über die Wiese, durch den Garten, durch die Halle und in sein Arbeitszimmer. Sie legte den Leichnam auf einen Stapel ju‐ ristischer Papiere und zog Richter Healeys Kopf auf ihren Schoß. Zu Dutzenden regneten die Würmer aus der Nase, den Ohren, dem schlaffen Mund. Sie fing an, die schillernden Ma‐ den aus seinem Hinterkopf zu zupfen. Die wurmartigen Kügel‐ chen waren feucht und heiß. Auch ein paar der feueräugigen
Fliegen erwischte sie, die ihr ins Haus gefolgt waren, zermalm‐ te sie mit der flachen Hand, riss sie an den Flügeln entzwei und schleuderte sie eine nach der anderen in ohnmächtiger Wut von sich. Doch erst was sie dann hörte und sah, ließ sie einen gel‐ lenden Schrei ausstoßen, der laut genug war, um durch ganz Neuengland zu hallen. Zwei Pferdeknechte, die aus der benachbarten Stallung her‐ beigeeilt waren, fanden Nell, wie sie haltlos schluchzend auf allen vieren aus dem Arbeitszimmer gekrochen kam. »Was ist denn, Nellie, was ist denn? Um Gottes willen, bist du verletzt?« Als Nell Ranney Ednah Healey erzählte, dass Richter Healey gestöhnt hatte, bevor er in ihren Armen verschied, da war die Witwe hinausgelaufen und hatte die Vase nach dem Polizeichef geworfen. Dass ihr Gatte womöglich die ganzen vier Tage bei Bewusstsein gewesen war, dass er auch nur das Geringste ge‐ spürt hatte, das zu glauben konnte niemand von ihr verlangen. Mrs. Healeys Behauptung, sie wisse, wer ihren Mann getötet habe, erwies sich als nicht sehr präzise. »Boston hat ihn umge‐ bracht«, eröffnete sie etwas später dem Polizeichef. »Diese gan‐ ze entsetzliche Stadt. Sie hat ihn bei lebendigem Leib aufgefres‐ sen.« Sie bestand darauf, von Kurtz zu dem Leichnam geführt zu werden. Die Assistenten des Coroners hatten drei Stunden ge‐ braucht, um die etwa sechs Millimeter langen, spiraligen Ma‐ den aus dem Inneren der Leiche herauszupulen; die winzigen, hornigen Mäuler mussten mit Gewalt losgerissen werden. Die Löcher und Gänge, die sie im Fleisch hinterlassen hatten, durchzogen alle frei liegenden Flächen; die schreckliche
Schwellung am Hinterkopf schien noch immer von wimmeln‐ den Maden zu pulsieren, obwohl bereits alle entfernt waren. Die Nasenlöcher waren kaum noch getrennt, die Achselhöhlen weggefressen. Ohne die falschen Zähne wirkte das Gesicht schlaff und eingesunken wie ein kaputtes Akkordeon. Doch das Demütigendste, Erbarmungswürdigste war nicht die Zerstö‐ rung, ja nicht einmal die Tatsache, dass der Leichnam von Ma‐ den durchsetzt und mit Schichten von Fliegen und Wespen be‐ deckt gewesen war, sondern der simple Umstand seiner Nackt‐ heit. Manchmal, so heißt es, sieht ein Leichnam aus wie ein ge‐ gabelter Rettich, dem man einen phantastisch geschnitzten Kopf aufgesetzt hat. Richter Healeys Körper war einer, der nicht dazu bestimmt war, von irgendjemand anderem als seiner Ehefrau jemals nackt gesehen zu werden. In der schalen Eises‐ kälte des Sezierraums nahm Ednah Healey den Anblick in sich auf und wusste im selbem Moment, was es bedeutete, Witwe zu sein, und welch gottlosen Groll dieser Zustand weckte. Mit einer jähen Bewegung schnappte sie sich die rasiermesserschar‐ fe Schere des Coronors von einem Regalbrett. Der Vase einge‐ denk, wich Kurtz zurück und prallte gegen den verblüfften, fluchenden Coroner. Ednah bückte sich und schnitt zärtlich ein Büschel Haare aus dem wirren Schopf des Richters. Sie sank in die Knie, und ihre voluminösen Röcke breiteten sich in alle vier Ecken des engen Raumes aus. Eine kleine Frau, über einen kalten, blau angelau‐ fenen Körper geworfen, umklammerte mit der einen weiß be‐ handschuhten Hand die Schere und hielt in der anderen das geraubte Haarbüschel, das dicht und trocken war wie Rosshaar.
»Meine Güte, ich habe noch nie einen Mann gesehen, der so von Würmern ausgehöhlt war«, sagte Kurtz mit zittriger Stim‐ me in der Leichenhalle, nachdem zwei seiner Leute Ednah Hea‐ ley nach Hause begleitet hatten. Barnicoat, der Coroner, hatte einen unförmigen kleinen Kopf mit winzigen, grausamen Hummeraugen. Seine Nasenflügel waren durch Wattebäusche auf doppelten Umfang aufgebläht. »Maden«, sagte Barnicoat grinsend. Er hob eine der zuckenden weißen Bohnen auf, die auf den Boden gefallen waren. Sie wand sich auf seiner fleischigen Handfläche, bevor er sie in den Verbrennungsofen warf, wo sie zischend verschmorte und in Rauch aufging. »Normalerweise lässt man ja Leichen nicht auf einem Feld verwesen. Eigentlich geht das geflügelte Ungeziefer, das unser Richter Healey angelockt hat, nur auf Schaf‐ oder Ziegenkadaver, die im Freien liegen gelassen werden.« In Wahrheit war die schiere Zahl der Maden, die sich in den vier Tagen in Healeys Körper vermehrt hatten, unfassbar, aber Bar‐ nicoat verfügte nicht über ausreichendes Wissen, um sich dazu zu äußern. Coroner war ein politisches Amt, und es erforderte kein medizinisches oder naturwissenschaftliches Spezialwissen, sondern nur die Fähigkeit, mit Leichen umzugehen. »Die Hausangestellte, die den Körper ins Haus getragen hat«, erklärte Kurtz, »wollte die Wunde von den Maden reinigen, und sie meint, sie hätte ‐ obwohl ich mir wirklich nicht vorstel‐ len kann ...« Mit einem Hüsteln ermunterte Barnicoat Kurtz fortzufahren. »Sie hat Richter Healey stöhnen hören, bevor er gestorben ist«,
sagte Kurtz. »Behauptet sie jedenfalls, Mr. Barnicoat.« »Ausge‐ schlossen!« Barnicoat lachte herzlich. »Maden von Schmeißflie‐ gen ernähren sich nur von totem Gewebe.« Deshalb, so erklärte er, suchten sich die weiblichen Fliegen verdorbenes Fleisch, um ihre Eier darin abzulegen. Wenn sie trotzdem einmal auf die Wunde eines noch lebenden Wesens gerieten, das bewusstlos sei oder sich ihrer aus anderen Gründen nicht erwehren könne, würden die Maden nur die abgestorbenen Gewebeteile fressen ‐ was keinen großen Schaden anrichte. »Diese Kopfwunde hat sich allem Anschein nach gegenüber ihrem ursprünglichen Um‐ fang verdoppelt oder verdreifacht. Das heißt, das ganze Gewe‐ be war bereits abgestorben. Was beweist, dass der Oberrichter schon mausetot war, als die Insekten sich über ihn her‐ machten.« »Also der Schlag auf den Kopf«, fragte Kurtz, »der die ur‐ sprüngliche Wunde verursachte, der war demnach die Todes‐ ursache?« »Ja, höchstwahrscheinlich«, sagte Barnicoat. »Und er war so heftig, dass ihm das Gebiss aus dem Mund gefallen ist. Er hat im Garten hinter dem Haus gelegen, sagen Sie?« Kurtz nickte. Barnicoat äußerte die Vermutung, dass es kein vor‐ sätzlicher Mord gewesen sei. Bei Vorsatz hätte noch etwas da‐ bei sein müssen, was über einen bloßen Schlag hinaus den Er‐ folg garantiert hätte, etwa eine Pistole oder eine Axt. »Oder wenigstens ein Dolch. Nein, nein, das sieht mir mehr nach ei‐ nem gewöhnlichen Einbruch aus. Der Gauner zieht dem Ober‐ richter in dessen Schlafzimmer eins über und schafft den Be‐ wusstlosen aus dem Haus, um dann in aller Ruhe nach Wertsa‐ chen zu suchen. Wahrscheinlich hat er gar nicht gemerkt, dass
Healey so schwer verletzt war«, sagte er, und es klang, als hätte er fast so etwas wie Verständnis für den Dieb. Kurtz sah Barnicoat durchdringend an. »Aber es wurde über‐ haupt nichts gestohlen. Und nicht nur das. Der Oberrichter wurde ausgezogen, und seine Kleider wurden säuberlich zu‐ sammengefaltet, einschließlich der Unterhosen.« Er merkte, dass seine Stimme knarzte, als wäre jemand darauf getreten. »Seine Brieftasche und seine goldene Uhr samt Kette lagen ne‐ ben dem Kleiderstapel.« Barnicoat riss eines seiner Hummeraugen auf und fixierte Kurtz. »Er ist ausgezogen worden? Und nichts wurde entwen‐ det?« »Das war reiner Wahnsinn«, sagte Kurtz, und der Gedan‐ ke erschütterte ihn nun schon zum dritten oder vierten Mal. »Unfassbar!«, rief Barnicoat aus und blickte sich um, als suchte er nach weiteren Personen, denen er das sagen konnte. »Sie und Ihre Leute müssen die Sache absolut vertraulich behandeln. Anordnung des Bürgermeisters. Das wissen Sie doch, Mr. Bar‐ nicoat, nicht wahr? Kein Wort darf nach draußen gelangen!« »Aber natürlich.« Barnicoat lachte kurz auf, unbekümmert wie ein Kind. »Also, den alten Healey herumzuschleppen, so dick wie der war! Wenigstens können wir sicher sein, dass es nicht die trauernde Witwe war.« Kurtz appellierte auf jede erdenkliche Weise an Logik und Ge‐ fühl, als er in Wide Oaks erklärte, warum er Zeit für gründliche Ermittlungen brauche, bevor die Öffentlichkeit erfahren durfte, was passiert war. Aber Ednah Healey saß nur stumm im Bett und sah zu, wie ihre Zofe die Decke um sie herum glatt strich.
»Wissen Sie, wenn jetzt ein Riesenzirkus gemacht wird und die Presse uns in der Luft zerreißt, was sie ja liebend gern tut ‐ was können wir dann noch groß herausfinden?« Ihre Augen, sonst sehr lebhaft und urteilsfreudig, waren erschreckend starr. Selbst die Hausmädchen, die ihren unbarmherzig tadelnden Blick fürchteten, weinten über ihren Zustand ebenso sehr wie über den Verlust von Richter Healey. Kurtz war angesichts die‐ ser beklagenswerten Umstände fast schon bereit, klein bei‐ zugeben. Ihm fiel auf, dass Mrs. Healey die Augen fest schloss, als Nell Ranney mit Tee ins Zimmer kam. »Mr. Barnicoat, der Coroner, ist der Ansicht, die vermeintliche Wahrnehmung Ihres Hausmädchens, dass der Oberrichter noch lebte, als sie ihn fand, sei aus wissenschaftlicher Sicht unmöglich ‐ eine Halluzi‐ nation. Barnicoat kann aufgrund der Anzahl der Maden mit Bestimmtheit sagen, dass der Oberrichter bereits tot gewesen sein muss.« Ednah Healey schaute mit einem rätselhaft offenen Blick zu Kurtz auf. »Es stimmt schon, Mrs. Healey«, fuhr Kurtz im Brustton der Überzeugung fort, »die Maden dieser Fliegen können sich von Natur aus nur von totem Gewebe ernähren, verstehen Sie?« »Dann kann er also nicht gelitten haben, als er da draußen lag?«, fragte Mrs. Healey in flehentlichem Ton. Kurtz schüttelte entschieden den Kopf. Noch bevor er sich verabschiedete, rief Ednah Nell Ranney und verbot ihr, jemals den entsetzlichsten Teil ihres Berichts zu wiederholen. »Aber, Mrs. Healey, ich weiß ganz bestimmt ...« Nell verstummte und schüttelte den Kopf. »Nell Ranney! Sie werden tun, was man
Ihnen sagt!« Aus Dankbarkeit gegenüber dem Polizeichef er‐ klärte sich die Witwe dann bereit, geheim zu halten, unter wel‐ chen Umständen ihr Mann gestorben war. »Aber eins müssen Sie mir versprechen«, sagte sie und zog ihn matt am Ärmel. »Sie müssen mir schwören, dass Sie seinen Mörder finden werden.« Kurtz nickte. »Mrs. Healey, wir versuchen alles, wozu unsere Mittel und der augenblickliche Stand der ...« »Nein.« Ihre blei‐ che Hand klammerte sich an seinen Rock, als müsste sie unbe‐ irrbar da hängen bleiben, wenn er jetzt aus dem Raum ging. »Nein, nicht versuchen. Tun. Finden. Geloben Sie es.« Sie ließ ihm kaum eine Wahl. »Ich verspreche hoch und heilig, dass ich es tun werde, Mrs. Healey.« Er wollte eigentlich nichts mehr hinzufügen, aber der quälende Zweifel in seiner Brust musste einfach zu Wort kommen. »Irgendwie.« J. T. Fields, der Verleger der Dichter, saß eingezwängt auf dem Fenstersitz seines Büros am New Corner und sah die Gesänge durch, die Longfellow für den Abend ausgewählt hatte, als ein Bürodiener klopfte und einen Besucher ankündigte. Die schmächtige Gestalt von Augustus Manning in einem steifen Gehrock tauchte aus dem Flur auf. Er kam in das Büro ge‐ schlendert, als hätte er nicht die leiseste Ahnung, warum er sich auf einmal im ersten Stock der frisch renovierten Villa an der Tremont Street befand, in der jetzt der Verlag Ticknor, Fields & Co. residierte. »Großartig, Ihr neues Domizil, Mr. Fields ‐ groß‐ artig. Obwohl Sie ja für mich immer der Juniorpartner bleiben werden, der am Old Corner hinter dem grünen Vorhang seiner
Autorengemeinde predigt.« Fields, inzwischen Chef des Hauses und erfolgreichster Verle‐ ger Amerikas, ging lächelnd an seinen Schreibtisch und trat flink auf das dritte von vier Pedalen ‐ A, B, C und D ‐, die unter seinem Sessel aufgereiht waren. In einem Zimmer am anderen Ende des Flurs ertönte ein Glöckchen mit der Aufschrift C und alarmierte einen Laufburschen. Bei Glocke C musste der Verle‐ ger nach fünfundzwanzig Minuten gestört werden, bei B nach zehn Minuten, bei A nach fünf. Ticknor & Fields war der Ver‐ lag, in dem exklusiv die offiziellen Schriften der Harvard‐ Universität erschienen ‐Abhandlungen, Denkschriften und Tex‐ te zur Geschichte des Colleges. Deshalb erhielt Dr. Augustus Manning, der Schatzmeister der Institution, an diesem Tag ein höchst großzügiges C. Manning nahm den Hut ab und fuhr sich mit der Hand über die kahle Furche zwischen den Wellen an‐ gegrauten Haars, die beiderseits seines Kopfes herabfielen. »Als Kämmerer der Harvard Corporation«, sagte er, »muss ich Sie auf ein potenzielles Problem hinweisen, dessen wir unlängst gewahr wurden, Mr. Fields. Es dürfte Ihnen bewusst sein, dass ein Verlagshaus, das für die Harvard‐Universität tätig ist, sich einer untadeligen Reputation erfreuen sollte.« »Dr. Manning, ich glaube sagen zu dürfen, dass es keinen zweiten Verlag mit so untadeliger Reputation gibt wie den uns‐ rigen.« Manning verschränkte seine krummen Finger zu einem Spitzdach und stieß ein langes, krächzendes Geräusch aus, das ein Seufzer oder auch ein Husten sein mochte. »Wir haben von einer neuen literarischen Übersetzung gehört, deren Veröffent‐ lichung Sie planen, Mr. Fields. Eine Arbeit von Mr. Longfellow.
Selbstverständlich haben wir Mr. Longfellows jahrelanges Wir‐ ken am College sehr zu schätzen gewusst, und seine Gedichte sind in der Tat erstklassig. Es ist uns jedoch einiges über dieses neue Projekt zu Ohren gekommen, über seinen Gegenstand, und wir hegen gewisse Befürchtungen, dass derlei Unfug ...« Fields warf ihm einen kalten Blick zu, woraufhin Mannings ver‐ schränkte Finger auseinander glitten. Der Verleger betätigte mit dem Absatz das vierte, dringlichste Pedal. »Aber mein lieber Dr. Manning, Sie wissen doch, wie sehr die gebildete Öffent‐ lichkeit die Lyrik meiner Autoren schätzt. Longfellow, Lowell, Holmes.« Die Erwähnung des Triumvirats stärkte seine Positi‐ on. »Mr. Fields, wir sprechen ja gerade im Namen der Öffent‐ lichkeit. Ihre Autoren hängen an Ihren Rockschößen. Beraten Sie sie angemessen. Verschweigen Sie ihnen dieses Gespräch, wenn Sie es für richtig halten. Auch ich werde nichts darüber verlauten lassen. Ich weiß, wie sehr Ihnen der Ruf Ihres Hauses am Herzen liegt, und ich bezweifle nicht, dass Sie die zu erwar‐ tenden Weiterungen einer solchen Veröffentlichung bedacht haben.« »Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen, Dr. Manning.« Fields atmete in seinen breiten, spatenförmigen Bart und hatte Mühe, die Verbindlichkeit zu wahren, für die er berühmt war. »Ich habe die Weiterungen in der Tat gründlich bedacht und sehe ihnen getrost entgegen. Falls Sie nicht möchten, dass wir mit den laufenden Veröffentlichungen fortfahren, übereigne ich Ihnen gern die Druckstöcke, unverzüglich und ohne Berech‐ nung. Sie wissen hoffentlich, wie sehr Sie mich kränken wür‐ den, wenn Sie sich in der Öffentlichkeit in irgendeiner Weise abfällig über meine Autoren äußerten. Ah, Mr. Osgood.«
Fields Bürovorsteher J.R. Osgood kam hereingeschlurft, und Fields wies ihn an, Dr. Manning die Büroräume zu zeigen. »Das erübrigt sich.« Die Worte drangen durch Mannings steifen Pa‐ trizierbart, der so ehrwürdig war wie das Jahrhundert. Er erhob sich. »Ich nehme an, Sie sehen einer langen Reihe angenehmer Tage in Ihrem neuen Verlagsdomizil entgegen, Mr. Fields«, sag‐ te er mit einem kalten Blick auf die glänzend schwarze Nuss‐ baumvertäfelung. »Aber vergessen Sie nicht, es wird Zeiten ge‐ ben, in denen nicht einmal Sie in der Lage sein werden, Ihre Autoren vor ihrem eigenen Ehrgeiz zu schützen.« Er verbeugte sich übertrieben höflich und entschwand die Treppe hinunter. »Osgood«, sagte Fields und schloss die Tür. »Ich möchte, dass Sie in der New York Tribune eine Klatschnotiz über die Dante‐ Übersetzung unterbringen.« »Ach, ist denn Mr. Longfellow schon fertig?«, fragte Mr. Os‐ good freudig überrascht. Fields schürzte seine vollen, hochmütigen Lippen. »Wussten Sie, Mr. Osgood, dass Napoleon einmal einen Buchhändler er‐ schoss, weil er zu aufdringlich war?« Osgood überlegte. »Nein. Das war mir nicht bekannt, Mr. Fields.« »Es ist eine der schönen Seiten der Demokratie, dass sie uns gestattet, unsere Bücher so lauthals anzupreisen, wie es uns beliebt, ohne dass man uns einen Strick daraus drehen kann. Ich möchte, dass keine auch nur halbwegs respektable Familie mehr in Unwissenheit verharrt, wenn die Übersetzung zum Buchbinder geht.« Und niemand, der seine Stimme hörte, hätte den geringsten Zweifel daran gehegt, dass er dies auch errei‐
chen würde. »An Mr. Greeley, New York, zum sofortigen Ab‐ druck auf der Seite literarisches Bostons« Fields ließ seine Fin‐ ger in der Luft tanzen ‐ ein Pianist, der auf einem imaginären Klavier spielt. Da der Verleger beim Schreiben schnell einen Krampf im Handgelenk bekam, musste Osgood seine Äuße‐ rungen zu Papier bringen, einschließlich seiner poetischen Er‐ güsse. Fields hatte die Meldung schon fast druckfertig im Kopf. »>NEUES AUS DEN BOSTONER LITERARISCHEN KREISEN: Einem Gerücht zufolge bereitet man bei Ticknor, Fields & Co. die Drucklegung einer neuen Übersetzung vor, die beträchtli‐ ches Aufsehen erregen dürfte. Ihr Urheber ist dem Vernehmen nach ein Sohn unserer Stadt, dessen Lyrik seit vielen Jahren große Bewunderung diesseits und jenseits des Atlantiks hervor‐ ruft. Wie wir des Weiteren erfahren, hat dieser Gentleman die besten literarischen Köpfe Bostons .. .Neuenglands... die besten literarischen Köpfe Neuenglands für die Über‐ arbeitung und Vollendung seiner neuen, überaus poetischen Übersetzung gewonnen. Noch kennt niemand Autor und Titel des Originals, doch soll es sich um ein Werk handeln, das hier‐ zulande bislang völlig unbekannt ist, unsere literarische Land‐ schaft aber nachhaltig verändern wird.Anonyme Quelleideales ClubmaterialWelch ein Hass auf die ganze Menschheit! Welche Freude, welches Ergötzen an ewigen, nie zu lindernden Qualen! Wir halten uns beim Lesen die Nase, die Ohren zu. Wann hätte man jemals von solch schrecklichen Dingen gelesen: nichts als Gestank und Dreck, Exkremente, Blut, verstümmelte Körper, qualvolle Schreie, rächende mythische Ungeheuer! Ich kann nicht umhin, dieses Machwerk für das unmoralischste und gottloseste Buch zu halten, das jemals geschrieben wurde.Komödie
nennt sein Werk eine commedia, werter Herr Präsident, weil es in ländlichem Italienisch statt in Latein geschrieben ist und weil es im Gegensatz zur tragedia glücklich endet ‐ der Dichter steigt in den Himmel auf. Anstatt zu versuchen, ein großes Gedicht aus Fremdem und Künstlichem anzufertigen, lässt er das Ge‐ dicht aus seiner Person heraus entstehen.« Lowell bemerkte zu seiner Freude, dass der Präsident außer sich war. »Um Himmels willen, Professor, finden Sie denn nicht, dass jemand abgrundtief böse sein muss, um all jene, die bestimmte Sünden auf sich laden, erbarmungslosen Folterqualen auszuset‐ zen? Stellen Sie sich vor, ein Mann, der heute im öffentlichen Leben steht, würde darüber schreiben, in welchem Teil der Höl‐ le seine Feinde einst schmoren werden!« »Werter Herr Präsident, ich stelle mir das vor, noch während wir darüber sprechen. Und täuschen Sie sich nicht. Dante schickt auch seine Freunde dort hinunter. Das können Sie Au‐ gustus Manning erzählen. Erbarmen ohne Strenge wäre feiger Egoismus, bloße Rührseligkeit.« Die Mitglieder der Harvard Corporation, der Präsident und sechs gottesfürchtige Geschäftsleute von außerhalb des Col‐ leges, hielten standhaft an den überkommenen Studienplänen fest ‐ Griechisch, Latein, Hebräisch, alte Geschichte, Mathema‐ tik und Naturwissenschaften ‐ und dementsprechend auch an dem daraus folgenden Beschluss, dass die minderwertigen neuen Sprachen und ihre Literaturen Beiwerk bleiben würden, Fächer, mit denen sich die Vorlesungsverzeichnisse aufblähen ließen. Longfellow hatte nach dem Weggang von Professor Ticknor einige Neuerungen eingeführt. Unter anderem hatte er
ein Dante‐Seminar durchgesetzt und einen italienischen Exilan‐ ten namens Pietro Bachi als Italienisch‐Dozenten engagiert. Sein Dante‐Seminar war stets das unbeliebteste ‐ zu wenige interes‐ sierten sich für das Thema und für die Sprache. Trotzdem er‐ freute ihn der Eifer der wenigen, die diesen Kurs absolvierten. Einer der Eifrigen war James Russell Lowell. Nachdem Lowell zehn Jahre lang Sträuße mit der Verwaltung ausgefochten hatte, stand nun ein Ereignis bevor, dem er entge‐ gengefiebert hatte und für das die Zeit reif war: die Entdeckung Dantes in Amerika. Aber nicht nur die Universität leistete eben‐ so rasch wie entschieden Widerstand, auch aus den eigenen Reihen erwuchs dem Dante Club ein Hindernis: in Gestalt von Holmes und seiner Unentschiedenheit. Lowell unternahm hin und wieder Spaziergänge in Cam‐ bridge mit Holmesʹ ältestem Sohn, Oliver Wendell Holmes ju‐ nior. Zweimal die Woche kam der Student aus dem Gebäude der Dane Law School, wenn Lowell gerade mit seiner Vorle‐ sung in der University Hall fertig war. Holmes konnte das Glück, einen Sohn zu haben, nicht schätzen, weil er es so weit gebracht hatte, dass sein Sohn ihn hasste. Wenn er dem Junior doch nur zugehört hätte, statt ihn immer nur zum Reden zu a‐ nimieren. Lowell hatte den jungen Mann einmal gefragt, ob Dr. Holmes zu Hause jemals vom Dante Club spreche. »Aber ge‐ wiss, Mr. Lowell«, sagte der gut aussehende und hoch gewach‐ sene Junior grinsend, »und vom Atlantic Club und vom Union Club und vom Saturday Club und vom Scientific Club und von der Historical Association der Medical Society ...« Phineas Jennison, einer der reichsten neuen Geschäftsleute
Bostons, hatte jüngst bei einem Abendessen im Saturday Club im Parker House neben Lowell gesessen, der von alldem recht bedrückt war. »Harvard setzt Ihnen wieder zu«, sagte Jennison. Lowell war verblüfft, dass man ihm seine Stimmung so ohne weiteres vom Gesicht ablesen konnte. »Kein Grund, so zu er‐ schrecken, lieber Freund«, sagte Jennison und lachte, dass das tiefe Grübchen in seinem Kinn wackelte. Jennisons nahe Ver‐ wandte sagten, sein flachsgoldenes Haar und sein königliches Grübchen hätten ihm schon als Knaben ein riesiges Vermögen verheißen, obwohl es genau genommen eher ein königsmörderi‐ sches Grübchen war, denn er hatte es angeblich von einem Ur‐ ahnen geerbt, der König Charles I. enthauptet hatte. »Ich habe neulich mit den Corporation‐Fellows gesprochen. Sie wissen ja, in Boston oder Cambridge geschieht nichts, was mir nicht zu Ohren kommt.« »Bauen Sie uns noch eine Bibliothek?«, fragte Lowell. »Die Fellows stecken sowieso gerade in einer hitzigen Debatte über Ihre Fakultät. Sie wirkten fest entschlossen. Ich will mich natürlich nicht in Ihre Angelegenheiten einmischen, nur ‐« »Unter uns gesagt, mein lieber Jennison, sie wollen mir das Dante‐Seminar abnehmen«, unterbrach ihn Lowell. »Ich fürchte bisweilen, sie sind bereits genauso unerschütterlich ge‐ gen Dante eingenommen wie ich für ihn. Sie haben mir sogar angeboten, die Einschreibungszahlen bei meinen Vorlesungen zu erhöhen, wenn ich mir von ihnen meine Themen vorschrei‐ ben lasse.« Jennison blickte besorgt. »Ich habe natürlich abgelehnt«, sagte Lowell. Jennison strahl‐ te. »Wirklich?« Sie wurden von mehreren Trinksprüchen unterbrochen, dar‐
unter, am meisten bejubelt, ein Stegreifgedicht, das die Zecher lauthals von Holmes gefordert hatten. Flink wie stets, schüttelte Holmes einen ebenso witzigen wie schlichten Zweizeiler aus dem Ärmel. Istʹs allzu glatt, so haftet schwerlich das Gedicht. Zum Rückenkratzen taugt die Billardkugel nicht. »Solche Reimereien würden jedem anderen Dichter Kopf und Kragen kosten«, sagte Lowell mit einem anerkennenden Grin‐ sen. Sein Blick verdunkelte sich immer mehr. »Manchmal glau‐ be ich, ich bin nicht aus dem Holz geschnitzt, aus dem Profes‐ soren gemacht werden, Jennison. Das hat seine Vorteile, aber auch einige Nachteile. Ich bin zu empfindlich und traue mir nicht genug zu ‐ körperlich, meine ich. Ich fürchte, das alles übersteigt meine Kräfte.« Er hielt inne. »Und wie sollte man auch nach so vielen Jahren auf dem Professorenstuhl noch emp‐ fänglich für die Welt sein? Was muss ein Handelsherr wie Sie von solch einer armseligen Existenz denken?« »Unsinn, mein lieber Lowell!« Jennison schien des Themas müde zu sein, doch gleich darauf erwachte sein Interesse von neuem. »Sie haben eine größere Verantwortung vor der Welt und sich selbst als jeder bloße Zuschauer! Was soll diese Ver‐ zagtheit! Ich würde Dante niemals verstehen, und wenn mein Seelenheil davon abhinge. Aber ein Genie von Ihren Gnaden, mein lieber Freund, übernimmt eine göttliche Verantwortung, für alle zu kämpfen, die aus der Welt verbannt sind.« Lowell murmelte etwas Unverständliches, aber zweifellos
Selbstkritisches. »Aber, mein lieber Lowell«, sagte Jennison. »Waren nicht Sie es, der den Saturday Club überzeugte, dass ein biederer Kauf‐ mann würdig ist, mit solch Unsterblichen wie Ihren Freunden an einem Tisch zu sitzen?« »Hätte man Sie denn noch zurückweisen können, nachdem Sie angeboten hatten, das Parker House zu kaufen?« Lowell lachte. »Sie hätten mich zurückweisen können, wenn ich nicht weiter darum gekämpft hätte, zu den großen Männern zu gehören. Um aus meinem Lieblingsgedicht zu zitieren: >Und was zu träumen, gar zu tun sie wagen.GehilfenEs wird dir hier nicht gefallen, denn es ist nicht BostonNel mezzo del cammin di nostra vita mi ritrovai per una selva oscura, ché la di‐ ritta via era smarrita.MisterDies, Sir, sind die Lieblingszigarren von Longfellow. Tja, dann muss ich sie wohl mal probierend Und dann erstand ich eine Kiste und bat ihn, sie mir zustellen zu lassen.« »Und, wie finden Sie sie nun, mein lieber Longfellow?« Lowell verschluckte sich vor Lachen fast an seinem Dessert. Long‐ fellow blies genüsslich den Rauch aus. »Der Mann hatte Recht. Sie sind wirklich gut.«
»>Deshalb ist es gut, dass ich mich mit Vorsicht bewaffne, so‐ dass ich, wenn mir der liebste Ort genommen wird ...io non perdessi li altri per i miei carmiʹ.« Lowells Italienisch war fließend und stets grammatikalisch korrekt. Mead, Harvard‐Student im vorletzten Jahr, fand jedoch insgeheim, dass man an Lowells überdeutlicher Aussprache jeder einzelnen Silbe, so als hinge keine mit der folgenden zu‐ sammen, eben doch den Amerikaner erkenne. »>Ich will nicht auch noch die anderen Orte durch meine Ge‐ dichte verlieren.... dass ich nicht durch mei‐ ne Lieder noch andere Orte verscherze.ein göttlicher Prophetanderenliebste OrtEgo dixi: In dimidio dierum meorum vadam ad portas ìnferi!Ich sprach: In der Mit‐ te meiner Tage werde ich zu den Pforten der Hölle gehen.Grad in der Mitte unsrer Lebensreise... befand ich mich in einem dunklen Walde.Was soll das Ganze, Wendy? Aus einem Juristen wird nie ein großer Mann, Wendy.Dai calcagni a le punteTod durch BadenGeneral Washingtons Hauptquartier zu besichtigen, wenn es gestattet ist