GÜNTER KOCH
Der Bürgermeister von Wilmersdorf
MILITÄRVERLAG DER DEUTSCHEN DEMOKRATISCHEN REPUBLIK
Nach Tatsachen ge...
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GÜNTER KOCH
Der Bürgermeister von Wilmersdorf
MILITÄRVERLAG DER DEUTSCHEN DEMOKRATISCHEN REPUBLIK
Nach Tatsachen gestaltet Fotos: Koch (1), Fuchs (1)
l .—70. Tausend Die Tatsachenreihe erscheint monatlich Militärverlag der Deutschen Demokratischen Republik Berlin 1973 Cheflektorat Militärliteratur Lizenz-Nr. 5 ES-Nr. 14 E Lektor: Joachim Warnatzsch Umschlag: Harri Förster Vorauskorrektor: Johanna Pulpit Korrektor: Hanne-Lore Marteus Hersteller: Ingeburg Zoschke Printed in the German Democratic Republic
Gesamtherstellung: 140 Druckerei Neues Deutschland Berlin
Ein Großvater taucht auf Aus unruhigem Schlaf schreckte der Mann hoch. In dem Verschlag war es stockfinster. Vor der halbrunden Bodenluke zuckten manchmal Lichter auf. Dröhnen und Donnern erfüllte die Luft, als tobe ein Gewitter. Die Täuschung währte nur Bruchteile von Sekunden. Der Mann richtete sich steil auf und stieß mit dem Kopf an die schräge Wand der Mansarde. Fluchend rieb er sich die schmerzende Stelle. Jetzt war er hellwach. „Scheint schweres Kaliber zu sein", murmelte er vor sich hin. Dazwischen hörte er das dumpfe Hämmern von Maschinengewehren. Das kam vom S-Bahn-Ring herüber. Und dann vernahm er deutlich sich schnell nähernde, rumorende Geräusche, spürte, wie das Haus bis auf die Grundmauern erzitterte. Panzer! Da trommelte jemand an die Tür. Es war nicht das vereinbarte Zeichen. Der Mann tastete nach der Pistole, entsicherte sie und hielt den Atem an. „Gerhard, mach auf!" vernahm er von draußen die Stimme seiner Frau. „Hör doch, die Russen sind da!" Die Morgendämmerung des dreißigsten April neunzehnhundertfünfundvierzig blendete Gerhard Fuchs. Auf der Treppe wollten ihm die Beine nicht gehorchen. Seine Frau mußte ihn stützen. Niemand begegnete ihnen. Die Bewohner des Hauses Koblenzer Straße 9 und die im gesamten Schmargendorfer Kietz zwischen Fehrbelliner Platz und Hohenzollerndamm hockten in den Kellern oder hatten im Bunker des Hindenburgparks Zuflucht gesucht. Die Schlacht um Berlin tobte schon seit Tagen.
Die beiden trafen niemanden. Wäre ihnen aber jemand aus dem Haus begegnet, hätte jener in dem gebrechlichen alten Mann mit dem grauen, struppigen Vollbart bestimmt nicht den bislang verschwundenen Nachbarn erkannt. Zum anderen hatten sich die Leute im Wohnviertel in den vergangenen zwölf Jahren daran gewöhnt, diese Familie besser nicht zur Kenntnis zu nehmen. Die Wohnung der Familie Fuchs — Küche, Stube, Kammer — lag im ersten Stock des Hinterhauses. Wie durch ein Wunder waren die Scheiben heil geblieben. Die Frau klopfte herabgefallenen Putz vom Sofa. „Leg dich lang, mein Lieber, ruh dich aus." Gehorsam setzte er sich hin. Er betrachtete das vertraute Gesicht mit den sehr hellen Augen, die schmalen Schultern, die Kleid und Strickjacke nicht mehr recht ausfüllten. Wie ein Mädchen kam sie ihm in diesem Augenblick vor, wie ein Mädchen, das die Sachen einer Erwachsenen trägt. Nur das im Nacken verschlungene, von unzähligen grauen Strähnen durchzogene Haar wollte nicht zu diesem Bild passen. Müde sieht sie aus, mein Gretchen, dachte er. Er legte die Arme um ihre Hüften und preßte seinen Kopf an ihren Schoß. So hielt er sie fest. Ihre Hände strichen über seinen Scheitel. In dieser stummen Geste lag unendliche Erleichterung, das Versinken in wohltuende Geborgenheit, die sie so lange Jahre schmerzlich entbehrt hatten. Mit der Flucht in der Nacht der Reichstagsbrandstiftung hatte es begonnen: das Ungewisse Leben eines Illegalen im
faschistischen Deutschland. In wie viele andere Personen hatte er sich verwandelt, als er mit falschen Papieren die Grenze überquert hatte; nach Paris, nach Basel. Seine Identität war ausgelöscht. Gerhard Fuchs, den Leiter der deutschen Sektion der Internationalen Arbeiterhilfe, gab es nicht mehr. Unter unvorstellbaren Schwierigkeiten wurden Solidaritätsaktionen für Familien verhafteter Genossen organisiert. Kaltblütigkeit und Angst bei unzähligen Kontrollen. Jede konnte die letzte sein. Dann kam die Verhaftung. Verhöre folgten, die Tortur der Folter, das Warten auf den Prozeß. Margarete Fuchs mußte freigesprochen werden, man konnte ihr nichts nachweisen: Umsicht und revolutionäre Disziplin zahlten sich aus. Das Urteil für Gerhard Fuchs jedoch lautete: Vier Jahre Zuchthaus wegen Vorbereitung zum Hochverrat. Und dann die Zuchthäuser Waldheim, Brandenburg-Görden. Nach der Haft Polizeiaufsicht, das Verbot, in Großbetrieben zu arbeiten. Erneut Aufnahme der illegalen Arbeit, später „Bewährung" bei der Organisation Todt; dann begann wieder das Leben als Illegaler. Auf dem Boden seines Hauses suchte er schließlich Unterschlupf. „Nach so vielen vergeblichen Kontrollen bei dir werden sie mich hier nun nicht mehr suchen", sagte er, bemüht, die Bedenken seiner Frau zu zerstreuen. Eine vage Hoffnung, an die sie sich klammerten. Wo hätte er auch noch hingehen können, ohne Genossen oder Bekannte von einst zu gefährden? Für wen gab es überhaupt noch Sicherheit in der Hauptstadt, die
immer mehr in Trümmer und Asche zerfiel. Das alles hatte nun für sie beide ein Ende. Ungewöhnlicher Lärm riß sie aus ihren Gedanken. Im Hof hörte man schrille Frauenstimmen; dazwischen russische Laute, Kommandos; Traben von Pferden, Hufeisen schlugen auf das Pflaster. Schnell trat Fuchs ans Fenster. Er sah einen sowjetischen Offizier, der laut auf einige Deutsche einredete, die zusammengedrängt in der Kellertür standen. Mehrere Soldaten hoben verwundete Rotarmisten von einem Wagen. Manche stellten sie mit Tragen auf die Erde. Einige Verwundete saßen auf der Erde oder lehnten erschöpft an der Hauswand. Gerhard Fuchs gab sich einen Ruck und ging nach unten. In seiner Arbeitskluft, eine zerdrückte Mütze auf dem Kopf und mit Bart überraschte er im Hof die Leute. „Was glotzt ihr und steht da, als könntet ihr nicht bis drei zählen?" Seine markante Stimme, deren Schärfe durch den rheinländischen Dialekt gemildert wurde, bildete einen verblüffenden Kontrast zu seiner greisenhaften Gestalt. „Seht ihr nicht, daß hier Hilfe nötig ist?" Während er auf den jungen Offizier zuging, versuchte er sich an russische Sätze zu erinnern, die ihm vor fünfzehn Jahren auf einer Schule der Komintern geläufig gewesen waren. Doch so sehr er auch überlegte — ihm fiel nichts ein, was in dieser Situation nützlich sein konnte. So streckte er dem Uniformierten einfach die Hand hin und sagte: „Drushba, Towaristsch!" Der Leutnant zögerte. Dann schien er Vertrauen zu fassen. Er drückte die magere
Hand und begleitete diese freundschaftliche Geste mit einem Redeschwall, von dem Fuchs leider keine Silbe verstand. Immerhin war ihm soviel klar, daß die Verwundeten untergebracht werden mußten. Fuchs wandte sich den Nachbarn zu, die sich noch immer an der Kellertür zusammendrängten. Ängstlich lauschten sie auf den vom Kurfürstendamm herüberdringenden Kriegslärm und starrten betroffen auf die sowjetischen Soldaten. „Wir werden die ersten beiden Etagen des Vorderhauses räumen und ein provisorisches Lazarett einrichten", erklärte Fuchs in einem Ton, der keinen Widerspruch aufkommen ließ. „In allen Zimmern werden Betten, Sofas und andere Liegemöglichkeiten für die Verwundeten aufgestellt. Die betroffenen Mieter können solange zu den Familien in die oberen Stockwerke ziehen. — Frau Wuttke und Frau Schleiermacher, Sie stellen heißes Wasser bereit und sorgen für saubere Tücher. Möglicherweise muß hier auch operiert werden. In spätestens einer Stunde kann alles bereit sein. Gibt es noch Fragen?" Niemand meldete sich. Ängstlich blickten sie auf den Nachbarn, von dem alle wußten, daß er von den Faschisten ins Zuchthaus geworfen worden war und der nun vor ihnen stand wie ein Geist. „Dann 'ran an die Arbeit!" Wie aufgescheucht rannten die Leute los. Eine blonde, stattliche Frau in maßgeschneidertem dunklem Kostüm kam zögernd näher. „Herr Fuchs", stammelte sie und strich verlegen über den Pelzkragen ihrer Jacke. „Wie freue ich mich, Sie wiederzusehen.
Es tut mir ja so leid, was mit Ihnen passiert ist, aber glauben Sie mir, mein Mann hatte damals nichts mit Ihrer Verhaftung zu tun, ich weiß..." „Darüber werden wir später reden", schnitt ihr der Bärtige das Wort ab. „Jetzt kümmern Sie sich bitte um heißes Wasser, und zwar sofort." Sie ging ein paar Schritte, blieb dann stehen und wandte sich um. „Kein Tropfen kommt aus dem Hahn, Gas gibt es auch nicht." „Dann machen Sie Feuer im Herd der Waschküche, verdammt noch mal, und Wasser wird von der Pumpe geholt!" Die Frau zuckte mit den Schultern und verschwand im Haus. Augenblicke später kam sie wieder. An ihren Händen baumelten zwei Eimer. Doch aus ihrem hochmütigen Gesicht war jede Spur von anbiedernder Freundlichkeit gewichen. „Ich gehe nicht!" erklärte sie und stellte geräuschvoll die Gefäße ab. „Schließlich stehen wir Deutschen noch im heldenhaften Kampf. Noch hat das Schicksal nicht entschieden. Zu so etwas lasse ich mich nicht zwingen, das ist..." Sie verschluckte das Wort Verrat. Fuchs war wütend, doch er beherrschte sich. Jetzt war nicht der rechte Zeitpunkt für eine Auseinandersetzung mit der Frau des Ortsgruppenleiters Ferdinand Schleiermacher. Sie wich zurück, als er energisch einen Schritt nach vorn trat. Wortlos nahm Fuchs ihr die Eimer ab und verließ den Hof. Vor der alten Schwengelpumpe, ein paar Straßenzüge weiter, staute sich eine Schlange. Etwa zwanzig Menschen standen in einer Reihe. Ausgebrannte
Militärfahrzeuge säumten die Fahrbahn. Einige Leute machten sich an einem Pferdekadaver zu schaffen. Sie schnitten Fleischfetzen heraus und stritten sich um die besten Stücke. Überall lagen Tote herum, deutsche und sowjetische Soldaten, auch Zivilisten, die von verirrten Kugeln oder Granatsplittern getroffen worden waren. Die Pumpe ächzte und stöhnte bei jedem Hub. Es wäre nicht gerade angenehm, dachte er beim Geräusch der Pumpe und beim Anblick der Toten, wenn es mich jetzt noch erwischen würde! Entschlossen löste er sich von dem Gedanken. Auf dem Weg zum Hof schoß faschistische Artillerie blindlings in die Häuserzeilen. Dieser verbrecherische Widerstand konnte den Untergang der Faschisten nicht mehr aufhalten; dennoch setzten sie jetzt noch immer skrupellos das Leben Tausender Menschen aufs Spiel. Tückisches Jaulen erfüllte die Luft. Fuchs stellte die Eimer ab und warf sich hinter eine Litfaßsäule. Die Granate schlug hinter dem nächsten Grundstück ein. Mühsam rappelte er sich hoch und klopfte den Staub von seinen Sachen. Da sah er direkt vor seinen Augen ein Plakat. „Der Panzerbär, Kampfblatt für die Verteidiger Groß-Berlins" — stand da in großen Lettern. Und darunter der Text: „Merkt Euch! Jeder, der Maßnahmen, die unsere Widerstandskraft schwächen, propagiert oder gar billigt, ist ein Verräter. Er ist augenblicklich zu erschießen oder zu erhängen." Fuchs stieß einen Fluch aus und fetzte den Bogen herunter. Dann nahm er seine Wassereimer und ging erleichtert davon.
In der Koblenzer Straße 9 war man dabei, die ersten beiden Etagen zu räumen und das provisorische Lazarett einzurichten. Ein Soldat mit semmelblondem Lockenkopf eilte auf Fuchs zu. Er schien nicht älter als achtzehn Jahre zu sein. „Ich bin Sascha, der Dolmetscher. Genosse Leutnant Meshdunow will Sie dringend sprechen, Großvater", sagte er in ausgezeichnetem Deutsch. „Er hat Sie schon gesucht." Fuchs deutete auf die Wassereimer. „War gar nicht so einfach, das Zeug aufzutreiben. Ich bringe es nur noch zur Waschküche." Der Dolmetscher nahm ihm die Last ab. „Nicht nötig, Großvater, wir haben schon Wasser geholt. Kommen Sie, schnell!" Der junge Offizier schrie gerade in ein Feldtelefon. Dem Eintretenden bedeutete er, Platz zu nehmen. Er notierte noch etwas, drehte abschließend an der Kurbel und wandte sich dem Deutschen zu. „Hitler kaputt!" dröhnte sein Baß. Der Dolmetscher erläuterte, daß der „Führer" im Bunker der Reichskanzlei Selbstmord verübt habe. „Hitler kaputt!" wiederholte der Leutnant. „Karascho!" „Otschen Karascho!" antwortete Fuchs bewegt. „Nemetz i Russki — Mir!" Er schämte sich etwas seiner geringen Sprachkenntnisse wegen und nahm sich vor, bei nächster Gelegenheit Russisch zu lernen. Aber der Offizier hatte sein Gestammel verstanden. „In Ordnung", ließ er durch seinen Dolmetscher erklären, „aber vorher bleibt noch viel zu tun." Er
brauche zuverlässige Frauen, die vorläufig für die Verwundeten und das Lazarettpersonal kochen sollten. Das Versorgungsdepot sei getroffen worden, deshalb könne man von dort im Moment nicht viel erwarten. Eine Bäckerei in der Nachbarschaft müsse deshalb sofort mit der Arbeit beginnen und das Lazarett versorgen; darüber hinaus könne dann auch Brot an die deutsche Zivilbevölkerung verteilt werden. „Ein paar Sack Mehl sind zu uns unterwegs", fügte der Leutnant hinzu. „Aber lassen Sie streng kontrollieren, ob der Bäcker selbst keine Vorräte mehr hat. Gegenüber Saboteuren werden wir hart durchgreifen. Dann noch etwas: Katinka ist eingetroffen." Der Dolmetscher grinste in das ratlose Gesicht des Deutschen. „Katinka ist unsere Kuh, die zu unserem Troß gehört. Frische Milch für verwundete Soldaten ist wichtig. Wo können wir sie unterbringen?" Ein geeigneter Platz wurde schließlich unter dem Nußbaum im Hof des Nebenhauses gefunden, in dem die Mauer einen schützenden Winkel bildete. Als Dach wurde eine Zeltbahn gespannt. Eine Ordonanz meldete die Ankunft von Verwundeten aus dem Kampfgebiet am Hohen-zollerndamm. Der Leutnant unterbrach mitten im Satz und rannte hinaus.
Nächtlicher Besuch Ein langer, aufregender und turbulenter Tag ging für Gerhard und Margarete Fuchs zur Neige. Fuchs hatte sich davon überzeugt, daß alle seine Weisungen exakt
befolgt worden waren. Dabei hatte er sogar Zeit für ein ausführliches Gespräch mit Frau Schleiermacher gefunden, die in der Nachbarschaft herumposaunte, Hitlers Tod sei eine Erfindung der bolschewistischen Propaganda. Den alten Klose konnte er bewegen, den Backofen wieder anzuheizen. Und dann fielen sie ins Bett, müde und zerschlagen. Spät in der Nacht klopfte es an die Tür. Aus alter Gewohnheit flüsterte die Frau dicht an seinem Ohr: „An der Tür ist jemand." Der Mann rieb sich die Augen. „Moment!" rief er laut und zog den Bademantel über. Der Wecker auf dem Nachttisch zeigte die zweite Morgenstunde. Fuchs lächelte seiner Frau zu. „Weshalb sollen wir nicht aufmachen?" Ihr Gesicht blieb ernst. „Aber um diese Zeit?" Von der Küche nebenan ging es direkt auf den Treppenflur. Als Fuchs die Tür öffnete, steckte Sascha seinen blonden Wuschelkopf zur Tür herein. „Großvater, ein deutscher Genosse will dich sprechen." Und mit wichtiger Miene fügte er hinzu: „Er hat einen Propusk vom Genossen Bersarin." Fuchs wußte damals noch nicht, daß Generaloberst Bersarin erster sowjetischer Stadtkommandant von Berlin war, noch klang ihm das Wörtchen „Propusk" bedeutsam genug. Da trat ein Mann in den Lichtkreis — hohe Gestalt im sowjetischen Soldatenmantel ohne Rangabzeichen, hageres, schmales Gesicht, tiefliegende Augen, eine auffallend hervorspringende Nase. Das war keine Sinnestäuschung, das war... ,,Fritz!" rief er laut. „Fritz! Mensch, bist du's
wirklich?" Vor Aufregung verfiel Fuchs in seinen rheinländischen Dialekt. „Also, ich würde 'nen Freund nach so langer Zeit erstmal in die gute Stube bitten und kein Palaver zwischen Tür und Angel veranstalten", antwortete der Ankömmling im gleichen Tonfall. Die Männer umarmten sich. Dann zog Fuchs den Mann in die Küche, schob ihn weiter ins Schlafzimmer und rief: „Grete, schau mal, wen ich da bringe. Fritze Erpenbeck aus Mainz!" „Aus Moskau", korrigierte der Hagere. Belustigt sah Sascha, daß die Frau aus dem Bett sprang und im Nachthemd den Genossen begrüßte. Der Dolmetscher zog sich leise zurück. Aus dem Militärmantel holte Fritz Erpenbeck eine rote Nelke hervor. „Im Namen des Zentralkomitees der KPD und auch im Namen des Nationalkomitees ,Freies Deutschland' beglückwünsche ich euch zum Ersten Mai!" „Hör auf", sie lachte unter Tränen, „das ist ja wie im Märchen." Bald saßen sie um den Küchentisch. Muckefuck dampfte in bauchigen Tassen. Sie überfielen sich gegenseitig mit Fragen. Die Erlebnisse des illegalen Kampfes und während der Emigration, das Schicksal von bekannten Genossen, Gedanken zur Lage in Deutschland, zur Situation in Berlin... Doch nach einer halben Stunde unterbrach Fritz Erpenbeck die Unterhaltung. „Schön ist's bei euch, sicher könnten wie noch
tagelang so reden und würden trotzdem nicht fertig", erklärte er. „Zunächst muß es uns genügen. Ich freue mich jedenfalls, daß ich euch beide so ungebrochen und gesund angetroffen habe. Wie ihr euch sicher denken könnt, habe ich ein besonderes Anliegen." Er kramte in seiner Jacke, nahm die Brieftasche heraus und zog einen Zettel hervor. Margarete und Gerhard Fuchs beobachteten ihn arglos. Die ständige Ungewißheit, die Angst, die ihr Leben in den letzten Jahren bestimmt hatte, brachte es fast automatisch mit sich, daß sie hinter jeder Neuigkeit etwas Unerfreuliches vermuteten. Fritz Erpenbeck reichte Fuchs das Blatt. „Hier, Gerhard, dein vorläufiger Ausweis. Ausgestellt in deutscher und russischer Sprache. Der Text bescheinigt, daß du beauftragt bist, in Wilmersdorf eine antifaschistisch-demokratische Verwaltung aufzubauen. Als Kommandant des Stadtbezirks hat Gardeoberst Saizew unterschrieben. Er erwartet dich morgen", er blickte zur Uhr, „das heißt heute um zehn Uhr zu einer ersten Beratung. Ein Kübelwagen wird dich abholen. Viel Glück bei deiner neuen Aufgabe." Fuchs war sprachlos. Er starrte auf das Papier, sah den unverhofften Besucher an und fuhr sich unschlüssig über seinen Bart. „Übrigens, was deinen Sauerkohl da betrifft", meinte Erpenbeck grinsend, „den würde ich mir vorher abrasieren. Die Partisanenzeit ist ja nun vorbei." Er machte Anstalten, sich zu erheben. „Entschuldige, aber ich muß weiter. Ich hab noch andere Besuche auf meinem Programm." Fuchs hielt ihn
zurück. „Moment mal", warf er ein, „hier steht: ist Bürgermeister von Wilmersdorf!" „Das sagte ich doch schon. Erst mal provisorisch." „Wieso Bürgermeister? Ich habe Maschinenschlosser gelernt. Davon verstehe ich etwas. Aber Bürgermeister?" Erpenbeck schien mit solchen Einwänden gerechnet zu haben. Er lehnte sich auf dem Stuhl zurück. „Nun höre mal gut zu, mein Lieber. Von Jugend an warst du Funktionär in der Gewerkschaft und in der Partei, als Kommandant des Durchgangslagers der Roten Ruhrarmee in Essen hast du am Kampf gegen Kapp teilgenommen, und als die Separatisten um Adenauer in Düsseldorf die ,Rheinische Republik' ausrufen wollten, hast du Jugendhundertschaften und andere bewaffnete Gruppen befehligt. Stimmt doch?" Fuchs nickte. „Hattest du das gelernt? Na, siehst du. Aber weiter. Neunzehnhundertachtundzwanzig und neunundzwanzig hat dich die Partei in Dortmund in den ,Kämpfer' gesteckt, und du wurdest Redakteur. Später übergaben dir die Genossen des Zentralkomitees zusammen mit dem Genossen Oberdörster die Leitung der deutschen Sektion der Internationalen Arbeiterhilfe. Wurde so etwas vielleicht in deiner Schlosserlehre unterrichtet? Und als die Nazis ihr Unwesen trieben, hast du dich vielfach im illegalen Kampf bewährt. Hattest du das vorher gelernt? Sollen wir die alten Nazibeamten weiter wirtschaften lassen?" Fuchs schüttelte verneinend den Kopf. Erpenbeck fuhr fort: „Na siehst du. Wir müssen jetzt dafür sorgen, daß die katastrophale Lage überwunden wird. So schnell wie
möglich, damit nicht noch mehr Menschen verhungern oder krepieren." Seine Stimme klang müde und trotzdem eindringlich. „Wenn ich Bedenken anmelde", lenkte Fuchs ein, „dann bestimmt nicht aus Bequemlichkeit oder aus Angst vor Verantwortung. Aber ausgerechnet dieses verdammte Wilmersdorf, dieses Millionärsviertel! Hier wohnen die großen Nazis. Kaum eine Fabrik gibt es hier, und Arbeiter kannst du hier suchen!" „Gerade deshalb ist hier ein Mann wie du richtig am Platze. Außerdem bist du nicht allein." Erpenbeck gähnte verstohlen. „Du weißt doch, es wächst der Mensch mit seinen höher'n Zwecken!" Fuchs lauschte den letzten Worten nach. „Klingt gut, sollte man sich merken. Ist das von dir?" fragt er seinen Genossen, von dem er wußte, daß er schon einige literarische Arbeiten veröffentlicht hatte. „Leider nicht", räumte Erpenbeck ein. „Von Schiller." Nun stand der nächtliche Besucher endgültig auf und drängte zum Aufbruch. Schon an der Tür, hielt Fuchs ihn am Arm fest. „Noch eine Frage, Fritz", sagte er. Erpenbeck spürte, daß der Genosse nun etwas wollte, was ihn schon die ganze Zeit beschäftigt hatte. „Wie du sagtest", erinnerte Fuchs, „seid ihr erst gestern aus der Sowjetunion gekommen und in Bruchmühle bei Strausberg gelandet. Keine vierundzwanzig Stunden später hast du schon bei mir geklopft und machst mich zwischen Nacht und Morgengrauen zum Bürgermeister von Wilmersdorf." Fuchs kraulte seinen Bart. „Woher wußtest du eigentlich, wo ich wohne, ob ich überhaupt noch lebe, ob es den Nazis
nicht gelungen ist, mich umzukrempeln?" Erpenbeck lächelte. „Ich weiß, worauf du hinaus willst. Aber du siehst ja, die Partei hört niemals auf zu existieren. Obwohl wir zu den meisten Genossen zwölf Jahre lang keinen direkten Kontakt hatten, war das Zentralkomitee doch über viele illegale Widerstandsaktionen informiert und auch über das Schicksal von Tausenden Genossen. Bei dir bin ich allerdings auf gut Glück vorbeigekommen, wir wußten zwar nicht, was aus dir geworden war, aber wo du gewohnt hast, das wußten wir." Fritz Erpenbeck drückte beiden zum Abschied die Hand. „Daß ich heute bei euch geklopft habe, war also kein Zufall. Ich wünsche dir Erfolg. Sicher sehen wir uns bald wieder. Unsere Zentrale befindet sich in Friedrichsfelde, Prinzenallee achtzig. Falls sich das inzwischen nicht schon wieder geändert hat."
Überall Anfang Fuchs wurde sofort vorgelassen. Im Büro des Stadtkommandanten saßen zehn, zwölf Offiziere an einem ovalen Tisch aus Eichenholz. Der Oberst stand auf, begrüßte Fuchs und führte ihn in einen Nebenraum. Saizew war etwa fünfzig Jahre alt, hatte breite Schultern, eine untersetzte Figur und ein volles Gesicht mit wachen, flinken Augen. Wenige hellblonde Haare säumten den mächtigen Schädel. Fuchs war von der lebhaften, verbindlichen Art des Kommandanten überrascht.
Gerhard Fuchs in den Tagen nach der Befreiung Berlins durch die Sowjetarmee
Gründlich las Saizew die Legitimation, sah dabei den Fremden nachdenklich an. Schließlich streckte er ihm die Hand hin. „Gut, Genosse Fuchs, wollen wir es also miteinander versuchen. Einigermaßen hat man mich über ihre Entwicklung informiert, aber das ist Vergangenheit. Jetzt zählt die Gegenwart. Der Krieg ist so gut wie zu Ende. Das Hitlerregime liegt bereits am Boden; ein neues Deutschland muß aufgebaut werden." Der Oberst verstummte, ging zum Fenster und blickte hinaus. Das Grün einer jungen. Birke verdrängte für einen Augenblick den trostlosen Anblick der zerstörten Stadt. „Ich glaube", sagte der Kommandant hinausschauend, „nein, ich bin sicher, daß dieser Kampf nicht weniger anstrengend sein wird als die militärische Auseinandersetzung mit verhältnismäßig klaren Fronten." Er wandte sich um. „Suchen Sie Kommunisten, Sozialdemokraten, von den Faschisten gemaßregelte Lehrer, Ärzte, Künstler, die Humanismus und Fortschritt bejahen. Wir brauchen alle antifaschistischen Kräfte! Legen Sie mir übermorgen einen Vorschlag für die wichtigsten Posten der neuen Bezirksverwaltung vor. Die Arbeit muß sofort beginnen. Von jetzt an entscheidet jede Stunde über die Zukunft. Das wichtigste ist: Wir müssen Herr über Seuchen und Hunger werden! Hunderte Leichen liegen in den Straßen. Die Versorgung ist zusammengebrochen. Mich erreichten Meldungen über Plünderungen. Handeln Sie! Der Sieg über den Faschismus wird erst dann vollständig sein, wenn es gelingt, die Über-
lebenden zu retten und sie für ein sinnvolles Dasein zu gewinnen." Dann stellte der Oberst dem Deutschen einige Offiziere vor, mit denen die künftige Bezirksverwaltung zusammenarbeiten sollte. Den Weg zurück ging Fuchs zu Fuß. Das Gespräch mit Saizew hatte ihn sehr beeindruckt. Mit diesem sowjetischen Genossen würde er gewiß gut auskommen. Ihm gefiel die Art des Obersten, direkt auf sein Ziel loszugehen. Ein bequemer Partner schien er nicht zu sein. Vom ersten Augenblick an vertraute er dem russischen Kommandanten; insgeheim hatte er sich auf eine detaillierte Befragung vorbereitet, auf eine Art Verhör. Aber nichts von alledem. „Wollen wir es also miteinander versuchen", hatte der Oberst einfach gesagt. Im Zentrum der Reichshauptstadt, in der Wilhelmstraße und Unter den Linden, wurde jedoch noch gekämpft. Dort starben noch immer Menschen, weil Fanatiker auch jetzt noch Widerstand leisteten. Und in Wilmersdorf konzentrierte die Siegermacht schon ihre Kräfte darauf, die bedrohte deutsche Zivilbevölkerung zu retten. Mittag war längst vorbei, als Fuchs wieder in der Koblenzer Straße eintraf. Er fühlte sich müde und zerschlagen. Die ungewohnte Lauferei machte ihm zu schaffen; zudem war die beschwerliche Suche nach ehemaligen Gefährten ziemlich erfolglos gewesen. Die meisten waren gleich nach 1933 oder im Jahr darauf unbekannt verzogen. Er selbst hatte ja damals auch seinen Wohnsitz gewechselt. Das war eine
Weisung der Parteiführung. Sie schaffte bessere Voraussetzungen für den illegalen Kampf. Weitere Adressen waren hinfällig geworden, weil die Häuser inzwischen zerbombt waren. Überall Schulterzucken und gleichgültige Gesichter. Er wunderte sich nicht darüber, denn fast jeder, der das Inferno überlebt hatte, suchte jemanden. An den Ruinen hingen Zettel. Hilferufe, oft in ungelenker Handschrift, vom Regen verwittert. Zu viele waren vermißt, galten als verschollen. Sascha störte ihn aus seinen trübseligen Gedanken auf. „Oh, Deduschka", rief der Dolmetscher und stemmte die Fäuste in die Hüften. „Wo ist der Bart?" Fuchs machte die Geste des Rasierens. Der Blondschopf lachte. „So gefallen Sie mir besser. Jetzt sind sie nicht viel älter als mein großer Bruder. Grüßen Sie Ihre Frau von mir." Auf dem Hof begegnete ihm Meshdunow. Der junge Leutnant ließ es sich nicht nehmen, den „Towaristsch Burgomister" persönlich zu begrüßen. Die Neuigkeit hatte sich also schon im Haus herumgesprochen. „Wie geht es Katinka?" erkundigte sich Fuchs. Meshdunow zeigte zum Stall. „Katinka i moloko karascho, spassiwa, Towaristsch Burgomister." Er war offenbar verwundert und stolz zugleich darüber, daß der hilfreiche Großvater, der das Lazarett mit eingerichtet und sogar für die Kuh eine Unterkunft gefunden hatte, sich über Nacht nicht nur verjüngt hatte, sondern gleichzeitig mit so einem verantwortungsvollen Amt betraut worden war. Inmitten der Verwüstungen ringsum war das Schölerschlößchen am Rande des Hindenburgplatzes
noch einigermaßen unbeschädigt. Ende des 19. Jahrhunderts gebaut, war es mit Figuren und Stuckornamenten reichlich verziert. Mehrarmige schmiedeeiserne Kandelaber säumten die breite Freitreppe. Im Erdgeschoß fand Gerhard Fuchs einen Raum mit noch heilen Fenstern. Stühle, Tische und anderes Mobilar waren demoliert worden. Auf Feldbetten und in Spinden lagen leere Flaschen, schmutziges Geschirr und weiteres Gerumpel herum. Papierasche überzog den Fußboden. Offenbar hatte hier jemand in großer Eile Dokumente verbrannt. „Eine schöne Sauerei ist das hier!" fluchte einer, dessen Gesicht von Brandnarben entstellt war. Er riß ein Hitlerbild von der Wand und warf es auf die Erde. Das Glas zersprang in tausend Scherben. „Das gehört auch in den Müll." Da öffnete sich die Tür. Ein älterer Mann kam herein, dessen eleganter grauer Mantel nicht recht in diese schäbige Umgebung passen wollte. Anscheinend enttäuscht von dem Empfang, drehte der Fremde unschlüssig den Hut in seinen Händen. • „Darf ich vorstellen", half ihm Fuchs aus der Verlegenheit, „das ist Herr Carl Sauer aus meiner Nachbarschaft. Oberstudienrat Sauer ist neunzehnhundertsechsunddreißig von den Nazis aus dem Schulamt entfernt worden." Der Mann mit den Brandnarben rieb sich den Staub von den Fingern und reichte dem Lehrer die Hand. „Leonhard Zaklykowski", stellte er sich von
„Arbeiter." Der Lehrer verbeugte sich. „Sehr angenehm." „Herr Zaklykowski gehörte zum Betriebsrat der AEG", fügte Fuchs hinzu, „bis zum Februar dreiunddreißig. Später wurde er in einem Hochverratsprozeß zu zwei Jahren Zuchthaus verurteilt, saß anschließend in Oranienburg und Buchenwald..." Leo unterbrach ihn mit einer schroffen Handbewegung und drückte dann dem Fremden noch einmal herzlich die Hand. „Auf gute Zusammenarbeit, Genosse!" Der Oberstudienrat schaute etwas irritiert um sich, ehe er antwortete: „Da scheint ein Mißverständnis vorzuliegen, meine Herren. Gewiß sympathisierte ich mit jedem Gegner Hitlers, aus naheliegenden Gründen, aber ich — ich bin kein Kommunist, wissen Sie..." „Das macht doch nichts", unterbrach ihn Zaklykowski und klopfte ihm freundlich auf die Schulter, „was nicht ist, kann ja noch werden, stimmt's?" Carl Sauer war es anzusehen, daß ihn der Verlauf des Gesprächs höchst unangenehm berührte. Einerseits genierte er sich gegenüber diesen Männern, die Kerker und Folter auf sich genommen hatten, während er sich die Jahre über passiv verhalten hatte. Andererseits ernüchterte ihn diese Zusammenkunft. Als Gerhard Fuchs ihn zu dieser Begegnung einlud, hatte er ein Gefühl der Genugtuung empfunden; glaubte er doch, nun würde ihm Gerechtigkeit widerfahren werden. Und nun? Höchst ungewohnt behandelte ihn dieser Arbeiter als seinesgleichen. Carl Sauer verspürte Lust, wieder wegzugehen.
Der Bürgermeister fand vermittelnde Worte. Er bat, Platz zu nehmen, würdigte dann ihre Zusammenkunft und erläuterte die Lage im Stadtbezirk. „Soweit es sich zur Stunde überblicken läßt", faßte Gerhard Fuchs am Ende zusammen, „liegt alles restlos am Boden. Keine Kleinigkeit, was wir uns da auf den Buckel laden. Oberst Saizew, der Kommandant — Sie werden ihn bald kennenlernen —, sagte mir gestern, der Sieg über Hitler wird dann endgiiltig sein, wenn es gelingt, die Überlebenden für ein sinnvolles Dasein zu gewinnen. Danach müssen wir handeln!" Eine Weile blieb es still. Dann äußerte der Lehrer nachdenklich: „Bei Gottfried Keller zählen wenigsten sieben zum Fähnlein der Aufrechten. Wir sind nur drei." „Bald werden wir dreißig, was sage ich, dreihundert sein", erklärte der Bürgermeister mit Überzeugung. „Hauptsache ist, daß angefangen wird. Die Öffentlichkeit muß informiert, die Straßen müssen geräumt werden, das ist wichtig." „Ich werde zum städtischen Fuhrpark gehen", regte Leonhard Zaklykowski an. „Es gibt keine Zeitungen und nichts, da müssen wir eben mit Pferd und Wagen durch die Straßen fahren und die Neuigkeiten wie Anno dunnemals mit einer Bimmel ausrufen. Vielleicht findet sich auch noch ein Lautsprecher." Gerhard Fuchs notierte. „Gut, Leo, kümmere du dich um den Fuhrpark. Wenn möglich, stelle Kommandos zusammen, die die Leichen wegräumen. Seuchen sind
das letzte, was wir jetzt noch gebrauchen könnten." Fuchs brachte auch die Rede auf die vielen Flüchtlinge. „Ich denke vor allem an die Kinder und Jugendlichen. Wir müßten möglichst in jedem Kietz öffentliche Spielplätze schaffen, wo sie beschäftigt und zugleich beaufsichtigt werden können. Das wäre eine dankbare Aufgabe vor allem für Frauen — und für Lehrer natürlich." Der Oberstudienrat nickte. „Meiner Ansicht nach wäre eine Inspektion aller Schulen erforderlich. Man müßte an die Beamtenschaft der bisherigen Bezirksverwaltungen appellieren. Das sind doch eingearbeitete Fachleute..." ,,... und Erzfaschisten!" unterbrach ihn Zaklykowski. „Nicht alle gehörten der NSDAP an", hielt der Lehrer besonnen dagegen. „Außerdem — und wenn schon, weshalb sollten wir auf deren Kenntnisse und Fähigkeiten verzichten. Ich selbst weiß von vielen, daß sie nur unter Zwang in die Partei eingetreten sind." Der ehemalige A EG-Betriebsrat sprang auf. „Gemeinsame Sache mit den Nazis! Das fehlte noch! Mit Mördern und Banditen friedlich in einem Büro! Aber nicht mit mir!" Die Narben in seinem Gesicht glühten. Unter den mahnenden Blicken des Bürgermeisters zwang sich Zaklykowski zur Ruhe. Mühsam rang er nach Atem. „Sie mögen Oberstudienrat sein, Herr Sauer, aber gelernt haben Sie aus all den Jahren nichts", sagte er, „so gut wie nichts." Gleich darauf fiel er auf seinen Stuhl zurück. Sauer war bestürzt. „Aber verehrter Herr", murmelte
er, „so war das doch nicht gemeint." Zaklykowski lächelte gequält. „Von mir auch nicht. Entschuldigen Sie." Von draußen hörte man Schritte, dann wurde an die Tür geklopft. Kurz darauf humpelte ein junger Soldat ins Zimmer. Er stützte sich auf zwei Krücken. Unter dem Militärmantel war ein Hosenbein über der Wade umgeschlagen. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn und zeigte auf Fuchs. „Sie waren gestern bei uns zu Hause. Dabei hörte ich zufällig von dieser Zusammenkunft. Ich war Student, bis man mich im Krieg", er tippte mit einem Stock an das leere Tuch, „etwas vorzeitig zum Invaliden gemacht hat. Ich würde gern mithelfen, damit wir aus dem Schlamassel wieder rauskommen. Übrigens, ich heiße Krause, Dietmar Krause. Besonders interessieren mich Fragen der Ordnung und Sicherheit." Die optimistische Voraussage von Gerhard Fuchs erfüllte sich zwar nicht ganz, doch innerhalb von vierundzwanzig Stunden fanden sich immerhin weitere zwanzig Leute bei ihm ein. Einige alte Genossen meldeten sich und eine resolute Ärztin in mittleren Jahren, deren Mann Verbindung zum Kreis der Verschwörer vom 20. Juli 1944 gehabt hatte. Auch ein Mann namens Rohrbach wollte mithelfen. Schlohweißes Haar bedeckte den kantigen Schädel des 55jährigen Verwaltungsfachmanns aus Liegnitz in Schlesien. Schon in den Jahren der Weimarer Republik, so berichtete er, habe die Brutalität und Kulturlosigkeit der Hitleranhänger seinen Abscheu erregt. Er sei jedoch auch nach 1933 mit dem Vorsatz
im Amt geblieben, seine Stellung zu benutzen, um Gegnern des Naziregimes zu helfen. Tatsächlich habe er lange Zeit jüdische Geschäftsleute schützen, verfolgte Antifaschisten rechtzeitig warnen können. Erst im vierten Kriegsjahr habe man sein Doppelspiel durchschaut. Er sei verhaftet, öfter verhört und in Sicherheitsverwahrung genommen worden. Zu einem Prozeß wäre es aber nicht gekommen, denn Rotarmisten hätten ihn befreit. Als Legitimation hatte Rohrbach einen Entlassungsschein aus einem Nebenlager des Konzentrationslagers Theresienstadt. An Experten fehlte es in der neuen Bezirksverwaltung also nicht. Dennoch: Irgend etwas gefiel Fuchs an diesem ehemaligen Häftling nicht. Ein unbestimmtes Gefühl ließ ihn nur zögernd zustimmen. Gewiß, Rohrbach sah blaß und übernächtigt aus. Andererseits befand er sich in einer für einen Häftling erstaunlich guten körperlichen Verfassung. Doch berechtigte ihn das, mißtrauisch zu sein? Gerhard Fuchs legte Oberst Saizew eine Liste mit den Namen und Kurzbiographien der für die neue Bezirksverwaltung von Wilmersdorf vorgesehenen Personen vor. Dabei wurde empfohlen, den parteilosen Demokraten, Oberregierungsrat Doktor Bruno Willenbücher, als Bezirksbürgermeister einzusetzen. Fuchs sollte als dessen operativer l. Stellvertreter fungieren. Neben weiteren bewährten Kommunisten, früheren Sozialdemokraten und Gewerkschaftern wurden auch ehemalige
Zentrumsleute, Deutschnationale und parteilose Bürger wie Oberstudienrat Sauer und auch Rohrbach zur verantwortlichen Mitarbeit gewonnen. Das entsprach den Prinzipien einer angestrebten antifaschistisch-demokratischen Einheitsfrontpolitik. Oberst Saizew stimmte zu. Als vorläufiges Domizil für die Wilmersdorfer Bezirksverwaltung wurde das zentral gelegene Haus Berliner Straße 40 bestimmt; ein ehemaliges Sparkassengebäude. Kehrschaufel, Besen, Scheuerlappen und Eimer waren die ersten wichtigen Arbeitsgeräte der neuen Stadtväter. Pappe ersetzte zersprungene Fensterscheiben. Gips — irgendwo aufgetrieben — machte die ärgsten Risse in den Wänden unsichtbar. Die Männer und die Frauen arbeiteten täglich sechzehn Stunden und länger. Wirksam unterstützt von den Genossen des Kreisvorstandes der KPD Wilmersdorf, inspizierten Beauftragte des Bezirksamtes die Einrichtungen des Gesundheitswesens, trafen Maßnahmen, um beispielsweise die Säuglingsberatungen und die Lungenfürsorge bald wieder zu eröffnen. Krankenhäuser richteten Notdienste für die Erste Hilfe ein. Unermüdlich wirkte Oberstudienrat Sauer als Verantwortlicher des neu geschaffenen Volksbildungsamtes. Nach einem Rundgang durch die Schulen schlug er vor, zunächst die Aula in der Gasteiner Straße herzurichten. Das war der erste wieder verfügbare Saal im Bezirk Wilmersdorf. Der Studienrat ordnete an, die Kinos wieder zu eröffnen. Die Männer des von Dietmar Krause organisierten
Sicherheits- und Ordnungsdienstes besetzten die Polizeireviere. Da die alten Unterlagen fast alle vernichtet worden waren, entwarfen sie Formulare für eine neue Einwohnerkartei. Ausgestattet waren sie lediglich mit weißen Armbinden, später wurden an sie, wenn sie gegen kriminelle Elemente vorgehen mußten, als „Bewaffnung" Holzstöcke ausgegeben. Die Zahl der Verbrechen stieg nämlich beängstigend an. Sie reichten vom einfachen Diebstahl bis zu Plünderungen, schweren Einbrüchen, Vergewaltigungen und Raubmorden. Im Geschäftsviertel Brandenburgische Straße, Ecke Kurfürstendamm überwältigte der Ordnungsdienst plündernde Halbwüchsige. Bei dieser Aktion sichergestellte Waffen wurden der sowjetischen Kommandantur übergeben. Mit falschen Papieren ausgestattete Faschisten konnten in der Kufsteiner Straße 53/54 aufgestöbert werden. Ein umfangreiches geheimes Lebensmittellager in diesem Block ließ darauf schließen, daß sie sich auf ein längeres Verschwinden im Untergrund vorbereitet hatten. Die Frauen und die Männer waren täglich sechzehn Stunden und mehr auf den Beinen. Doch kaum war eine Aufgabe erledigt, drängten zehn andere Probleme auf Lösung.
„Konkurrenzunternehmen" für Fuchs Ohne anzuklopfen humpelte Dietmar Krause zu Fuchs ins Zimmer. Er schwenkte ein Blatt Papier; die Schrift glänzte, schien gerade aus dem Vervielfältigungsapparat zu kommen. Der Vizebürgermeister staunte.
Aber er kam nicht dazu, etwas zu sagen, denn Krause fragte ihn: „Stimmt es, daß Mikojan in Berlin eingetroffen ist?" „Ja." „Das geht aber schnell. Gestern unterzeichneten die Nazis die Kapitulationsurkunde, und heute ist schon ein Vertreter der Sowjetregierung hier." „Genau so ist es. Aber was bringst du mir denn da?" „Meinen ersten Druck, Gerhard." „Wo hast du denn das Gerät aufgetrieben?" „Kurfürstendamm hundertsechs, ehemalige Gestapodienststelle, stand da im Keller rum." „Das ist ja Gold wert." Fuchs freute sich. Die erste Bekanntmachung der Bezirksverwaltung lag gedruckt vor ihm. Durch sie wurde angeordnet, sämtliche Ruinen nach Leichen und Tierkadavern abzusuchen; Gefallene seien in Vorgärten, Grünanlagen und an anderen dafür geeigneten Stellen sofort zu beerdigen; frühere Mitglieder der NSDAP sollten sich mit Picken und Schaufeln vor dem Stadthaus melden, um Sperren wegzuräumen sowie Straßen und Bürgersteige frei zu machen. „Wie soll der Aufruf bekannt werden?" fragte Fuchs. „Wir haben dreihundert Exemplare, mehr gaben die Matrizen nicht her", erläuterte Krause, „außerdem sind Papier und Druckerschwärze knapp. Wir schlagen sie im Bezirk an." Fuchs erhob sich und ging zum Stadtplan, der einen Großteil der Wand hinter dem Schreibtisch bedeckte. „In diesem Fall einverstanden, Dietmar", sagte er. „Generell müssen wir eine andere Lösung finden. Wir paar Leute rennen uns sonst tot. Wir brauchen ein
Netz von freiwilligen Mitarbeitern der Bezirksverwaltung, die schnell zu benachrichtigen sind und die auch uns informieren, wenn in ihrer Gegend etwas Besonderes anliegt. Ich dachte an Straßen- und Hausobleute. Denk mal darüber nach, und laß dir was einfallen. Aber wohlgemerkt: Das sollen keine sein, die nur auf Befehle reagieren, sondern Vertrauens-leute der Bürger, möglichst von den Einwohnern selber benannt." Ein dumpfes Schnarren unterbrach die Unterhaltung. Über das Feldtelefon, das die sowjetische Kommandantur mit dem provisorischen Rathaus verband, rief Saizew den 1.Stellvertreter des Bürgermeisters dringend zu sich. Fuchs ging sofort los. „Sie haben Konkurrenz bekommen", begann der Oberst ohne Umschweife. „In Grunewald, in Schmargendorf und sogar im Zentrum", er schaute auf einen Zettel, „in der Xantener Straße sind illegale Bürgermeistereien von Wilmersdorf entstanden. Was sagen sie dazu?" Diese Mitteilung berührte Fuchs unangenehm. „Ich werde das überprüfen lassen", versicherte er. „Tun Sie das. Den Berichten zufolge beschäftigen sich da einige Leute hauptsächlich mit Hausdurchsuchungen, und sie beschlagnahmen, was ihnen in die Hände fällt. Sie verbreiten Angst und Unsicherheit. Dabei berufen sie sich auf angebliche Anweisungen der Bezirks-behörde, und in bisher zwei Fällen wurden Schreiben benutzt, die Ihre Unterschrift tragen." Fuchs spürte, wie ihm das Blut in den Kopf schoß. Er traute seinen Ohren nicht. Der Oberst sah ihn aufmerksam an. Wartete.
Nach einer Pause, die ihm endlos vorkam, erklärte Fuchs: „Ich weiß im Augenblick nicht, was ich dazu sagen soll. Sie können mir glauben, Genosse Oberst, daß ich keine Ahnung hatte..." Saizew winkte ab. „Ich werde die Dinge noch heute überprüfen", sagte Fuchs, „und weiteren Mißbrauch unterbinden." „Tun Sie das", wiederholte der Oberst. Damit schien diese unerfreuliche Angelegenheit für ihn zunächst erledigt zu sein. Er erkundigte sich nach der Versorgungslage. Fuchs berichtete, besondere Kommandos seien angewiesen, Trümmerholz zu bergen und es in die betriebsfähigen Bäckereien zu schaffen. Allerdings gehe der Mehlvorrat bedenklich schnell zur Neige. Eine Brotfabrik in Moabit könnte für Wilmersdorf täglich 5000 Brote liefern. Es fehle jedoch an Transportraum. Durch akuten Mangel an Frischmilch sei die Ernährung der Kleinkinder gefährdet. Gegenwärtig werde noch beschlagnahmtes Milchpulver aus Wehrmachtsbeständen verteilt. Der Aufbau von Volksküchen gehe schnell voran. Bald könne man wenigstens an die Arbeitskommandos und an die Mitarbeiter der Bezirksverwaltung täglich eine warme Mahlzeit ausgeben. Der Oberst machte sich Notizen. Er beriet mit Fuchs den günstigsten Standort einiger Feldküchen der Roten Armee, die künftig Essen ausgeben sollten. Zugleich ordnete er an, dem neuen Gesundheitsamt von Wilmersdorf Arzneimittel aus Armeebeständen zur Verfügung zu stellen. „Es ist kein Geheimnis", erläuterte der Oberst, „in ganz Berlin ist die Ernährungslage zur Zeit katastrophal.
Offenbar sind die deutschen Lebensmittelreserven noch spärlicher, als wir ursprünglich angenommen hatten. Heute ist Genosse Mikojan in der Hauptstadt eingetroffen. Er will sich an Ort und Stelle von der Situation überzeugen. Obwohl die Menschen bei uns auch nicht genug zu essen haben, bin ich sicher, daß Genosse Mikojan wirksame Hilfsmaßnahmen für die deutsche Bevölkerung einleiten wird." Nach vierzehn harten und anstrengenden Tagen erlebte Fuchs eine Stunde ungetrübter Freude. Ein Kurier brachte ihm die Zeitung der Roten Armee für die deutsche Bevölkerung, die „Tägliche Rundschau", die am 15. Mai zum erstenmal erschien. In ihr las er auch die Nachricht über sowjetische Lebensmittellieferungen. Mit dem druckfrischen Blatt überreichte ihm der Genosse auch einige Stapel Lebensmittelkarten. Gerhard Fuchs atmete tief durch. Das Schwerste schien überstanden. Allmählich gelang es, die Verhältnisse zu normalisieren. Erst dieser Tage hatte der antifaschistische Berliner Rundfunk seine erste Sendung ausgestrahlt. Nun gab es die erste Zeitung, Lebensmittelkarten, feste Rationen — das alles bedeutete Hoffnung, neuen Lebensmut für Hunderttausende. Fuchs griff zum Telefon. Er lauschte auf das schwache Tuten wie auf eine Lieblingsmelodie. Seit dem 12. Mai waren auch einige Postämter wieder in Betrieb. Briefträger trugen die noch aus der Zeit vor den Kämpfen in der Stadt lagernden Sendungen aus. In den Straßen ließen die Leute Kreuzhacken und Schaufeln einen Moment
sinken und betrachteten die bepackten Frauen und Männer wie Geistererscheinungen. Fuchs ließ die Straßenobleute für den Nachmittag bestellen und die Lebensmittelkarten zur Verteilung vorbereiten.
Razzia Im Stadtbezirk der Millionäre waren es die „kleinen Leute", die Arbeiter und Angestellten und Handwerker, die die Karre aus dem Dreck zogen, mit knurrendem Magen und ohne Aussicht auf Lohn. Bis Ende Mai 1945 arbeiteten auch die Männer und die Frauen der Bezirksverwaltung Wilmersdorf ohne einen Pfennig Verdienst. Die danach festgelegten Gehälter entlockten den Schiebern und Spekulanten nur ein mitleidiges Lächeln. Vierhundert Mark erhielt beispielsweise der Bezirksbürgermeister. Dieses Monatsgehalt hätte nicht einmal ausgereicht, um auf dem Schwarzen Markt vier Brote einzuhandeln. Die Aufforderung an die ehemaligen Nazis, sich zu Arbeitseinsätzen zu melden, blieb im wesentlichen ohne Echo. Nur wenige Leute folgten unwillig den Anweisungen. Die meisten aktiven Parteigänger Hitlers waren wie vom Erdboden verschluckt. Ein unverhofftes Zusammentreffen mit ihnen gab es jedoch bei den Razzien in den „wilden Bürgermeistereien" in Grunewald, Schmargendorf und am Kurfürstendamm. Eine erste Überprüfung der festgenommenen Personen ergab, daß es sich zum Teil um Bürger handelte, die in Straßenzügen und
Wohnblocks, spontan und isoliert voneinander, begonnen hatten, Aufräumungsarbeiten zu organisieren, Lebensmittel gerecht zu verteilen und andere dringende kommunale Arbeiten zu erledigen. Unabhängig von diesen sich verantwortlich fühlenden Bürgern, die auch sofort wieder entlassen wurden, waren die meisten dieser „Ämter" mit zwielichtigen Gestalten besetzt. Faschisten mit falschen Papieren, ehemalige Offiziere, demoralisierte Soldaten, Abenteurer aller Schattierungen nutzten das allgemeine Durcheinander zur persönlichen Bereicherung. Um die Sache nach außen hin zu legitimieren, verbanden sie sich oft mit befreiten Häftlingen aus Zuchthäusern und Konzentrationslagern. Deren Papiere schienen echt. Doch nach gründlicher Untersuchung stellte es sich heraus, daß sich Kriminelle und Asoziale als politisch Verfolgte ausgegeben hatten. Unklar blieb zunächst, wie diese selbsternannten „Obrigkeiten" daraufgekommen waren, sich bei ihrem anarchistischen Treiben auf den Kommunisten Gerhard Fuchs zu berufen, woher die amtlichen Briefbogen mit der gefälschten Unterschrift des stellvertretenden Bürgermeisters stammten. Erst die weiteren Vorfälle sollten das klären... Das Telefon klingelte. Fuchs nahm den Hörer ab, meldete sich. Es war Dietmar Krause. „Tag, Gerhard", vernahm er die Stimme seines „Milizchefs". „Wenn du wissen willst, wer mit deiner Unterschrift hausieren geht, dann komm mit nach Grunewald."
„Ach richtig! Ihr wollt ja heute die letzte ,wilde' ausheben. Wann geht's denn los?" „In einer halben Stunde." „Ich komme mit." Die Aktion war geheim vorbereitet worden. Außer Krause und einigen Leitern des Ordnungsdienstes, Fuchs und Zaklykowski eingerechnet, wußten davon nur noch die sowjetischen Behörden. Der Zeitpunkt war erst am Morgen bestimmt worden. Die Razzia mußte für die Leute in der „wilden Bürgermeisterei" von Grunewald überraschend kommen. Als der Kübelwagen vor dem Gebäude hielt, gab Krause mit einer Trillerpfeife das Signal für die Männer des Ordnungsdienstes. Sofort sprangen diese von den Fahrzeugen, umstellten das Haus und durchsuchten die Räume. In einer Nebenstraße parkte eine Kolonne sowjetischer Militärfahrzeuge mit Mannschaften, die erst bei bewaffnetem Widerstand eingreifen wollten. Dann lief alles sehr schnell ab. Als Fuchs und Krause in das Gebäude traten, saßen schon mehrere Personen in einem der unteren Räume, von Männern des Ordnungsdienstes bewacht. Krause schickte schnell einen Mann zu den wartenden Sowjetsoldaten, die kurz darauf mit einem LKW die Festgenommenen in Untersuchungshaft brachten. Die Hausdurchsuchung brachte nicht nur große Mengen an Lebens- und Genußmitteln an den Tag, sondern auch Drucksachen mit dem Stempel des Bezirksamtes in Wilmersdorf, Kopfbogen und
amtliche Blankobescheinigungen mit der geschickt gefälschten Unterschrift des stellvertretenden Bürgermeisters Fuchs. Stundenlang mühten sich Krause und Fuchs, Sauer und Zaklykowski in Erfahrung zu bringen, wer die Drucksachen aus dem Rathaus Wilmersdorf entwendet und die Unterschrift gefälscht hatte. Nach langem Hin und Her, wobei die Festgenommenen sich gegenseitig ausspielten, fiel plötzlich der Name Rohrbach. Auf die Frage, was es mit diesem Angestellten des Bezirksamtes Wilmersdorf auf sich habe, schwiegen alle ausdauernd. Tage vergingen. Rohrbach tauchte nicht mehr im Amt auf. Alle Nachforschungen blieben erfolglos. Auch die Festgenommenen schwiegen beharrlich weiter, wenn die Rede auf Rohrbach kam. Langsam dämmerte es den Männern um Fuchs. Rohrbach mußte irgendwie mit der „wilden Bürgermeisterei" von Grunewald liiert gewesen sein. Da man ihn nicht fand, vermuteten sie, er habe sich in eine der Westzonen abgesetzt. So war das Ziel der weiteren Vernehmung, etwas über diese Verbindung zu erfahren. Es war schwer. Die hartgesottenen ehemaligen Parteigänger Hitlers schwiegen oder logen. Doch dann redete ein ehemaliger Häftling aus dem Konzentrationslager Theresienstadt, ein Krimineller. Die Männer erfuhren, daß Rohrbach zum zivilen Aufsichtspersonal des Zweiglagers gehört hatte. Der Kriminelle hatte ihn vor Wochen am Kurfürstendamm gesehen und darüber seinen Kumpanen berichtet. Sie
beschlossen, Rohrbach für sich arbeiten zu lassen. Von ihm stammten auch die Briefbogen, andere amtliche Drucksachen und die gefälschten Unterschriften aus dem Bezirksamt. Diese Geschichte machte Fuchs sehr zu schaffen. Er empfand sie als eine persönliche Niederlage und nahm sich vor, noch einmal alle Angestellten seines Amtes gründlich zu überprüfen.
Der Schatz im Vorgarten Fuchs mußte sich in den folgenden Monaten um alles mögliche kümmern, zumal der eigentliche Bürgermeister ihm den umfangreichsten Aufgabenbereich überließ. Es schien, als würde Fuchs zu Hause nur noch Gastrollen geben. Scherzhaft begrüßte ihn schon seine Frau als ihren „Schlafburschen". Aber auch Margarete Fuchs hatte viel zu tun. Ungestüm und optimistisch übernahm sie eine Fülle komplizierter Aufgaben. Sie gewann andere Frauen für die Aktion „Rettet die Kinder". Sie sorgte dafür, daß Villen ehemaliger Wehrwirtschaftsführer von der sowjetischen Besatzungsmacht beschlagnahmt und als Heime für elternlose Mädchen und Jungen eingerichtet wurden. Das weitläufige Gelände des Sportklubs Blau-Weiß mit seinen zahlreichen Anlagen wählten die antifaschistischen Frauen als künftiges Zentrum erholsamer Sommerferienspiele für Tausende Kinder aus. Dieses Projekt wurde sofort durch Oberst Saizew und seine Offiziere gefördert.
Margarete Fuchs half Nähstuben einzurichten, wirkte im provisorischen Rathaus als Sekretärin, stand am Herd der Volksküche, wenn es erforderlich war. Ihre Kraftreserven schienen unerschöpflich zu sein. Immer war sie gut gelaunt und verbreitete Heiterkeit. Es war, als wollte sie alles nachholen, worauf sie in den zwölf Jahren der Unsicherheit und Angst hatte verzichten müssen. Eines Tages kam Meshdunow im Hof auf sie zu. Er war aufgeregt und schien es eilig zu haben. Der Offizier überschüttete sie mit einem Redeschwall. Doch seine Miene war freundlich. Er gestikulierte heftig, wies öfter zum „Stall" hinüber, und mehrfach fiel das Wort Katinka. Plötzlich drückte er ihr beide Hände, salutierte und lief ins Vorderhaus. Erst jetzt fiel der Frau auf, was sich zutrug. Man brachte Verwundete auf die Straße, vor dem Haus hatte sich bereits ein Troß formiert. Und da begriff sie... Atemlos stand sie Augenblicke später am Bett ihres Mannes, der aufgeschreckt von dem Lärm, verdrießlich in den Sonntagvormittag blinzelte. „Gerhard, steh auf! Das Lazarett zieht aus. Und wenn mich nicht alles täuscht, hat Meshdunow uns eben die Kuh geschenkt." Fuchs war sofort hellwach. Als sie aber aus dem Haus traten, verschwand die Kolonne schon in der Kaiserallee. „Schade", sagte Fuchs, „ich hätte mich gern von ihnen verabschiedet. Denn schließlich haben der Leutnant und sein Zug uns beide befreit." „Und was wird nun mit Katinka?" Der Mann lächelte. „Ein fürstliches Geschenk. Es hängt davon ab, ob genug Futter da ist.
Notfalls muß ich mit Fleischermeister Grauer reden, dann veranstalten wir für das ganze Karree ein Schlachtfest." So geschah es auch bald darauf. Es gab noch eine andere Überraschung. Im Hausgarten der Ruhrstraße 18, nicht weit vom Fehrbelliner Platz und dem inzwischen bezogenen neuen provisorischen Rathaus am Hohenzollerndamm, gruben Mitarbeiter des Bezirksamtes Wilmersdorf Anfang Juni 1945 einen Waschkorb aus, in dem sich ein zerrissener Sack und zwei Munitionskisten befanden. Sie waren voller Geldscheine. Die stundenlange Zählung ergab einen Betrag von 475031 Reichsmark. Als Beutegut wurde der Fund von der sowjetischen Militärkommandantur beschlagnahmt. Tags darauf erschienen einige Offiziere. Sie kamen im Auftrag von Oberst Saizew und überreichten dem stellvertretenden Bürgermeister ein Schreiben. Dazu sagte einer der Offiziere: „Wir möchten die besondere Aktivität der Antifaschisten mit einer Geldspende anerkennen. Von der ersten Stunde an bemühten sie sich, die Ordnung wiederherzustellen und ein normales Leben wieder in Gang zu setzen. Ich übergebe Ihnen deshalb vierhundertfünfundsiebzigtausendeinunddreißig Mark als Geschenk der Roten Armee. Verwenden Sie das Geld nach Ihrem Ermessen für soziale und kulturelle Zwecke im Interesse der Bevölkerung von Wilmersdorf." Während sich Fuchs bedankte, dachte er daran, daß es nun möglich sein würde, das ehemalige SS-Gebäude in der Kaiserallee als Volkshaus einzurichten. Der
Gründung einer Volkshochschule stand nichts mehr im Wege, und die Baracken am Postfenn konnten nun als Landschulheim eingerichtet werden. Das Sozialamt benötigte dringend zusätzliche Gelder. Und auch der Plan des von den Faschisten verfolgten Malers Carl Hofer, in Wilmersdorf eine Hochschule für bildende Kunst ins Leben zu rufen, konnte jetzt auch finanziell unterstützt werden. Es war ein erfreulicher Tag. Doch bald sollte es anders werden. Wie im Abkommen von Jalta im Februar 1945 festgelegt worden war, sollte Berlin nun von den vier Hauptmächten der Antihitlerkoalition im antifaschistisch-demokratischen Sinne verwaltet werden. Die Tage der guten Zusammenarbeit mit der sowjetischen Militärkommandantur in Wilmersdorf gingen zu Ende. Am 4. Juli 1945 rückten die ersten Truppen der Westmächte in Berlin ein. Zusammen mit den Bezirken Tiergarten, Charlottenburg und Spandau wurde auch Wilmersdorf der englischen Besatzung unterstellt.
Herr Oberst Bullock erklärt... Der erste Nachkriegswinter hatte sich mit zeitigen Frösten angekündigt. Doch was dann über die Stadt hereinbrach, übertraf die schlimmsten Befürchtungen. Eine Kältewelle löste die andere ab. DieTemperaturen sanken unter minus 25 Grad. Eisiger Wind wehte durch die menschenleeren Straßen. Die geringen Kohlenvorräte gingen bald zur Neige, Stromsperren
Genosse Fuchs in seiner jetzigen Wohnung in der Hauptstadt der DDR lahmten Industrie, Handel und Verkehr. Jegliches Leben schien zu erstarren. Tagelang schneite es. In Wilmersdorf häuften sich die Meldungen, daß kranke und alleinstehende alte Leute in ihren Betten erfroren seien. Oberst Bullock saß hinter einem geschmackvollen
Teakholzschreibtisch. Schütteres weißblondes Haar lag sorgfältig gescheitelt über dem harten Gesicht. Trotz der Jahreszeit war er braungebrannt. Die rechte Wange war von einer Narbe zerhackt. Andenken an eine Jahrzehnte zurückliegende blutige Auseinandersetzung mit rebellierenden Studenten in Kalkutta. Während der Oberst mit unbewegter Miene einen Bericht von Fuchs las, klopfte er mit dem zur Uniform gehörenden Rohrstöckchen unwillig auf die Schreibtischplatte. Der Deutsche saß auf einem Stuhl gleich neben der Tür. Endlich hatte Bullock den Bericht zu Ende gelesen. Er blickte zum stellvertretenden Bürgermeister. „Diese Nachrichten aus Ihrem Stadtbezirk sind kein gutes Renomee für das United Kingdom, Mister Fuchs", sagte er mit etwas nasaler Stimme. „Ich bin sehr unzufrieden mit Ihnen." Fuchs kannte diese Attacken, die Bullock gern gegen ihn ritt. Sobald der Oberst etwas zu bemängeln hatte — stets legte Bullock es darauf an, ihm Unfähigkeit, mangelnde Aufsicht, Schlamperei oder eigenmächtiges Handeln nachzuweisen. Der ehemalige Kolonialoffizier hatte erkannt, daß in Wilmersdorf der Stellvertreter des Bürgermeisters die Kommunalpolitik leitete, alle Fäden in der Hand hatte und der fähigste Mann war. Der Bürgermeister, Oberregierungsrat Doktor Willenbücher, war kurz nach Bullocks Amtsantritt mit vielen anderen Mitarbeitern des Bezirksamtes von dem Engländer ohne Begründung entlassen worden. Der neue Bürgermeister, Doktor Lichter, benannt von der SPD, war
dem Oberst anscheinend kein ebenbürtiger Partner. Dessen Aufgabe war es vor allem, täglich zum Rapport zu erscheinen und die Protokollauszüge von der Kommandantur am Fehrbelliner Platz zum Rathaus zu tragen. Nicht zuletzt diesem Doktor Lichter verdankte es Gerhard Fuchs, daß versucht wurde, ihn zum Sündenbock des Bezirksamtes zu stempeln. Die im Befehlston abgefaßten Verlautbarungen kursierten bei allen leitenden Angestellten und wurden stets mit dem kategorischen „Herr Oberst Bullock erklärt..." eingeleitet. Die Vertreter der seit Sommer 1945 zugelassenen Parteien, auch Stadtrat Rieck von der SPD, heuchelten nur in den allerersten Tagen etwas Entrüstung über die offensichtlichen Ungerechtigkeiten, die dem stellvertretenden Bürgermeister widerfuhren. Ihnen konnte es nur recht sein, daß der Kommunist Gerhard Fuchs, an dessen politischer Vergangenheit es leider ebensowenig zu rütteln gab wie an seinem untadligen Verhalten seit dem 2. Mai 1945, von Bullock als Sündenbock ausgewählt worden war. Nur der parteilose Oberstudienrat Carl Sauer bewies als einer von wenigen sowohl Gerechtigkeitssinn als auch Zivilcourage genug, um ungefragt in einem persönlichen Schreiben an den Kommandanten ungerechtfertigte Vorwürfe gegen Fuchs zu entkräften. Es ging dabei um die Sommerferienspiele und die Kinderlandverschickung. Um beides hatte sich der Vizebürgermeister besonders verdient gemacht und unter der Wilmersdorfer Bevölkerung dankbare Anerkennung
gefunden. In der Bezirksverwaltung erwartete man insgeheim die fristlose Entlassung Sauers durch den Kommandanten. Doch sie blieb aus. Mehr noch, Oberst Bullock korrigierte in einer der nächsten „Erklärungen" früher von ihm getroffene Feststellungen. Das kam einer Entschuldigung vor Fuchs gleich. Der ehemalige Maschinenschlosser hatte immer eine eigene Meinung gehabt und sie auch vertreten. Ohne wortreiche Erklärungen oder taktische Winkelzüge. Gardeoberst Saizew hatte diese Haltung akzeptiert. Bullock jedoch unterschied sich auch im persönlichen Umgang mit Untergebenen sehr von dem sowjetischen Kommandanten. Er behandelte seine eigenen Leute und erst recht die deutschen Besucher betont herablassend. Er legte Wert auf Etikette, seine Arroganz war gezielt demütigend. Gab er sich — was selten vorkam — jovial, konnte seine Stimmung unvermittelt umschlagen. Geradezu empfindlich reagierte der altgediente Offizier auf jede kritische Äußerung zur Politik Großbritanniens. Für ihn war die britische Armee die Inkarnation des Vollkommenen. Entsprechend tabu waren sämtliche Maßnahmen der britischen Militärregierung in Westberlin, für Wilmersdorf bedeutete das: sämtliche Maßnahmen von Oberst Bullock. Das alles wußte Fuchs. Dennoch fiel es ihm schwer, sich umzustellen. Diplomatie lag ihm nun einmal nicht. Aber er beschloß, vorsichtig zu sein. „Ich darf versichern, Sir, daß sich auch die deutsche Verwaltung über das alarmierende Anwachsen der Kriminalität Sorgen
macht", begann er ruhig. „Sechsundfünfzig Morde, dreihundertvierunddreißig Raubüberfälle und Hunderte Anzeigen von schwerem Diebstahl allein im November haben die Öffentlichkeit beunruhigt. Leider fällt auf den Bezirk Wilmersdorf ein beträchtlicher Anteil der Straftaten." Die kurze Pause unterbrach Bullock gelangweilt. „Das alles ist mir bekannt. Zur Sache." „Meiner Ansicht nach gibt es dafür verschiedene Ursachen. Seit die britischen Truppen bei uns eingezogen sind, werden die Polizeiorgane nicht mehr von Antifaschisten, sondern von Offizieren aus der Nazizeit kommandiert. Sie interessieren sich wenig für den Schutz und die Festigung der antifaschistischdemokratischen Ordnung. Statt Verbrechen zu bekämpfen, sind sie weit aktiver, wenn sie Menschen verfolgen können, die sich für die politische Einheit der Arbeiterklasse einsetzen. Das kann ich an Hand mehrerer Beispiele belegen." Anscheinend hatte Bullock nicht richtig zugehört. Als ihm nachträglich der Inhalt des Gesagten bewußt wurde, lief sein Kopf rot an. „Dafür könnte ich Sie sofort vor das Militärgericht stellen lassen!" sagte er erregt. Fuchs bemühte sich, Ruhe zu bewahren. „Sir, Sie hatten mich aufgefordert, meine Ansichten zu äußern." Da Bullock schwieg, fuhr er fort. „Bedenklich ist ferner, daß die Jugendkriminalität rasch ansteigt. Vor allem unter den Halbwüchsigen aus unserer städtischen Barackensiedlung.''
„Das ist nicht nur bedenklich, sondern ein Skandal!" warf Bullock ein. „Im Lager ist es kalt", hielt Fuchs dagegen. „Die elternlosen Jungen und Mädchen müssen unter primitivsten Verhältnissen leben. Kein Wunder, daß da viele in der Stadt herumstreunen und auf die schiefe Bahn kommen." Der Oberst wippte mit dem Stöckchen. „Wenn Sie das so genau wissen, weshalb sorgen Sie nicht für bessere Verhältnisse in den Unterkünften?" Du hättest Schauspieler werden sollen, dachte Fuchs, und wich den blauen Augen nicht aus. Bullock schien einen guten Tag zu haben und trieb mit ihm sein Spielchen. Laut sagte der Vizebürgermeister: „Aus eigenen Kräften ist das Bezirksamt dazu so schnell nicht in der Lage, Sir. In den Kinderheimen hatten sich die Jugendlichen wohlgefühlt. Da ist kaum einer ausgerückt. Aber auf Anordnung der britischen Militärregierung mußten sie ja die Gebäude über Nacht räumen." „Die Häuser waren von Ihnen unrechtmäßig beschlagnahmt worden!" Fuchs widersprach. „Es handelte sich ausschließlich um den Besitz führender Nazis und Kriegsgewinnler, Sir. Außerdem hatten wir die Einwilligung der sowjetischen Besatzungsmacht." Unwillig zuckte es um den schmalen Mund des Obersten. „Die britische Militärregierung folgt eigenen Entschlüssen, Mister Fuchs", wies er Fuchs zurecht. „Sorgen Sie in der Barackensiedlung für
Ordnung. Ich werde aus Armeebeständen einige Decken zur Verfügung stellen." „Danke, Sir." „Was wird getan, um die Alten und Gebrechlichen zu unterstützen?" wechselte Bullock das Thema. „Die Arbeitskommandos für die Holzaktion im Grunewald wurden verstärkt. Außerdem habe ich einige Straßen und öffentliche Anlagen benannt, in denen ebenfalls Bäume gefällt werden sollen. Die Brennmaterialien werden sofort verteilt. Leider wissen wir nicht, wo Hilfe am dringendsten benötigt wird." Fuchs hob die Stimme. „Ohne die Mitarbeit der Bevölkerung, Sir, ist zu befürchten, daß noch viele alte Bürger sterben müssen. Ich ersuche Sie deshalb erneut und nachdrücklich darum, Herr Oberst, das von der britischen Militärregierung im August erlassene Verbot der Tätigkeit der Straßen- und Hausobleute aufzuheben, denn es ist unmöglich..." Das Stöckchen federte auf den Schreibtisch. „Ich habe genug davon", schnitt ihm Bullock das Wort ab. „Im übrigen verlange ich, daß meine Anordnungen widerspruchslos respektiert werden!" Er schnippte mit dem Stock. Die Unterredung war beendet.
Das Kesseltreiben beginnt. Bullock war nicht der Mann, solch einen Vorfall auf sich beruhen zu lassen. Dieser Bürgermeister hatte sich zwar korrekt verhalten, aber dennoch — oder gerade deshalb — empfand der britische Oberst den Auftritt von Fuchs als eine Frechheit, als
Herausforderung. Noch niemand in Berlin hatte es gewagt, so mit ihm zu sprechen. Natürlich hätte er ihn auf der Stelle entlassen können. Es war nicht einmal nötig, dafür Gründe anzuführen. Doch ihm widerstrebte es in diesem Fall. Er wollte diesen aufsässigen Mann auf andere Art bezwingen. Soviel Charakter, fachliche Fähigkeiten, untadelige Amtsführung und dazu noch bemerkenswerte Zivilcourage — das paßte nicht zu seiner Vorstellung von einem Kommunisten. Er war fest davon überzeugt, daß auch dieser Mister Fuchs verwundbar war. Er würde dessen schwache Stellen schon aufzuspüren wissen. Von solchen Überlegungen ahnte Gerhard Fuchs nichts. Er ging den kurzen Weg vom Fehrbelliner Platz zum Rathaus zu Fuß. Die Bewegung tat ihm gut. Er fühlte sich erleichtert und dennoch unzufrieden. Noch viele Wahrheiten hätte er dem Offizier gern unter die Nase gerieben. Verderben konnte er nun sowieso nichts mehr. Und wenn er aus dem Amt gefeuert wurde, würde er auch das überleben. Mehr als einem Dutzend fortschrittlicher Kollegen in den anderen Bezirken der Westsektoren war es ja schon so ergangen. Die Engländer hatten die antifaschistischen Bürgermeister von Tiergarten und Spandau einfach abgesetzt, der stellvertretende Bezirksbürgermeister von Zehlendorf, Dr. Erdmann, wurde von den Amerikanern weggejagt, weil er die verbotenen Haus- und Straßenvertrauensleute mit einem Dankeswort für die selbstlose Arbeit verabschiedet hatte.
Stoff, gegen Bullock zu argumentieren, hatte er noch genug. Mit den Blau-Weiß-Anlagen hatte es begonnen. In mühevollen Einsätzen waren die Sportplätze, das Schwimmbad und der Gaststättenkomplex wieder hergerichtet worden, für die Sommerferienspiele der Kinder und für alle Einwohner. Doch die britische Armee beschlagnahmte das Gelände und verwandelte es in einen exklusiven Offiziersklub. Kaum hatte sich die neue Besatzungsmacht eingerichtet, tauchten aus allen Schlupfwinkeln die Faschisten auf. Hunderte kehrten aus den Westzonen nach Berlin zurück; führende Nazis, Offiziere, Wehrwirtschaftsführer und SS-Leute. Und sie blieben von den westlichen Besatzungsmächten meist unbehelligt. So hatte Fuchs den ehemaligen Ortsgruppenleiter der NSDAP, Schleiermacher, aus der Koblenzer Straße verhaften und den britischen Behörden übergeben lassen. Gegen ihn lagen viele Anzeigen vor: Auslieferung rassisch Verfolgter und Mißhandlung polnischer und sowjetischer Zwangsarbeiter. Die Engländer aber setzten Schleiermacher kurze Zeit später wieder auf freien Fuß. Dagegen wurde Dietmar Krause von der Militärbehörde fristlos entlassen. Ein ehemaliger Offizier übernahm das Kommando über die Polizeiinspektion. Während Fuchs durch den Schnee stapfte, nahm er sich vor, Dietmar in den nächsten Tagen anzurufen. Der junge Mann war inzwischen der KPD beigetreten und arbeitete als Neulehrer im Bezirk Friedrichshain. Im Amt wurde Fuchs schon
erwartet. „Sie haben Besuch", sagte die Sekretärin. „Eine Delegation aus der Firma Delbag." Einen der Männer kannte Fuchs bereits. Er selbst hatten den Elektroschlosser Springer mit Zustimmung der sowjetischen Genossen im Mai 1945 als Treuhänder für den ehemaligen Rüstungsbetrieb eingesetzt. Bald produzierten die Arbeiter Filter für Kraftfahrzeuge und Großfilter für Elektrizitätswerke. „Was ist passiert, Max?" fragte er den niedergedrückt dasitzenden Arbeiter. „Eine ganze Menge. Daß die Witwe des Nazis Wittemeier mit ihrem Sohn aufgekreuzt ist und Besitzrechte geltend gemacht hat, weiß du ja. Monatelang hat sich das Pack nicht blicken lassen. Wir haben die Bude wieder in Schwung gebracht. Nun kommen sie, um abzusahnen." Der Mann entfaltete ein Blatt Papier und reichte es herüber. „Unser Einspruch ist von der britischen Militärregierung abgewiesen worden. Und heute nun kam die erste Maßnahme des Kriegsverbrechersprößlings: Er hat die von uns im vergangenen Sommer verfügte Angleichung der Löhne der Jugendlichen und Frauen an die der Männer rückgängig gemacht. Was sollen wir tun?" Fuchs äußerte die Befürchtung, daß gegen diese Verfügung nichts zu unternehmen sei. „Aber ich werde an die Wittemeiers wenigstens einen gepfefferten Brief schreiben'', versprach er. „Vielleicht ist für euch in der Delbag noch etwas zu retten."
Und der Vizebürgermeister schrieb. Tatsächlich zahlte darauf vier Wochen lang der Juniorchef an die jungen Arbeiter und Frauen weiter Männerlöhne aus. Der Respekt vor der Behörde zog noch, aber nicht lange. Fuchs wurde zum Chef der britischen Militärpolizei in Wilmersdorf, Oberstleutnant Norman, befohlen. Der erteilte dem stellvertretenden Bürgermeistereien strengen Verweis. Eigenmächtig habe er die rechtmäßigen Besitzer der Firma Delbag unter moralischen Druck gesetzt, damit seine Befugnisse überschritten und in Angelegenheiten eingegriffen, die allein der Entscheidung der Besatzungsmacht oblägen. Bürgermeister Dr. Lichter, eine nicht nur äußerlich schwammige, unangenehme Erscheinung — erst trat er der SPD bei, später schlug er sich auf die Seite der CDU —, war für Bullock der Zuträger. Jede kritische Bemerkung von Fuchs, zwanglos im Kollegenkreis oder während der Aussprache auf offiziellen Ratssitzungen geäußert, wurde Bullock hinterbracht, noch dazu verfälscht und übertrieben. Einmal befahl Bullock Fuchs sofort zu sich. Aus einer Beratung mit freiwilligen Sozialhelfern eilte Fuchs zum Fehrbelliner Platz. „Wie ich höre", begann der Oberst ohne Umschweife, „verbreiten Sie das Gerücht, daß bisher Hunderte britische Deserteure in der Berliner Unterwelt untergetaucht sind und sich teilweise zu ,gangs' zusammengeschlossen haben. Sie verunglimpfen das Ansehender Armee seiner Majestät!" „Bedaure, Sir", antwortete Fuchs gefaßt, „es handelt
sich um kein Gerücht, sondern um Angaben von Scotland Yard, die im ,Observer' veröffentlicht wurden." Einen Moment war Bullock sprachlos. „Sie können englisch lesen?" vergewisserte er sich. „Leidlich, Sir." Der Oberst überlegte. „Ich werde das überprüfen lassen." Offen blieb, ob er die Zeitungsmeldung oder die Sprachkenntnisse von Fuchs meinte. Fuchs wurde ungnädig entlassen. Doch von dieser Angelegenheit war später nie mehr die Rede. In den letzten Monaten des Jahres 1945 waren von den Genossen beider Arbeiterparteien große Anstrengungen unternommen worden, die Vereinigung von KPD und SPD vorzubereiten. Seit dem Sommer war es üblich geworden, daß zu Funktionärsberatungen der KPD oder der SPD jeweils Vertreter der anderen Partei eingeladen wurden und zur Diskussion sprachen. Für Gerhard Fuchs war die gemeinsame Feier der beiden Parteien zum 125. Geburtstag Friedrich Engels am 3. Dezember besonders beeindruckend. Doch von Beginn der Bestrebungen an, eine Einheitspartei der Arbeiter zu schaffen, gab es SPD-Führer, die mit allen Mitteln gegen eine geeinte Partei der Arbeiterklasse auftraten. In den Westsektoren war es besonders die Gruppe um Gustav Klingelhöfer, Franz Neumann, Otto Suhr und Arno Scholz, die von den westlichen Besatzungsmächten unterstützt wurde. Auch in Wilmersdorf mußten viele Versammlungen der KPD verschoben werden. Zusammenkünfte der Arbeiter,
die für eine geeinte Partei waren, wurden von der Besatzungsmacht nicht selten verboten. Außerdem inszenierten Schlägertrupps bei Versammlungen fortschrittlicher Bürger oder bei gemeinsamen Treffen der SPD- und KPD-Organisationen Krawalle. Auch in Wilmersdorf, dem Stadtbezirk der Millionäre, setzten sich die Genossen beider Parteien zusammen. In einer ihrer Beratungen trat auch Arno Scholz auf. Er gab sich zuerst den Anschein eines Kämpfers für die Arbeitereinheit, doch die Genossen durchschauten ihn bald, sahen, daß er ein doppeltes Spiel trieb. Später stellte es sich heraus, daß dieser Scholz Agent eines westlichen Geheimdienstes war. Eines Nachts wurde Fuchs durch das Telefon geweckt. Ein Genosse des Kreisvorstandes war am Apparat. „In Schöneberg hat man Gerhard Jurr und weitere Mitarbeiter der Stadtbezirksverwaltung verhaftet! Alles KPDMitglieder." „Mit welcher Begründung?" „Keine Ahnung. Ich wollte dich bloß informieren." Soweit ist es also schon wieder, dachte Fuchs erbittert. Er kannte seinen Freund Jurr als unerschrockenen Widerstandskämpfer, den zehn Jahre faschistische Kerkerhaft nicht brechen konnten. An Schlaf war nicht mehr zu denken. In der stundenlangen Unterhaltung fragte ihn seine Frau resigniert: „Kannst du dich noch an die Nacht zum Ersten Mai neunzehnhundertfünfundvierzig erinnern? Wir hatten gehofft! Und nun?" „Wir hatten uns das alles leichter vorgestellt", gab der Mann zu bedenken. „Wir dachten, daß die
Westmächte auch künftig im Geist der Antihitlerkoalition handeln würden. Das war ein Irrtum. Wenn die Arbeiterklasse getroffen werden soll, sind sich alle Imperialisten einig, ungeachtet aller sonstigen Meinungsverschiedenheiten. Wie sich Deutschland entwickelt, ist diesen Leuten keineswegs egal. Und das macht die ehemaligen Gegner zu Verbündeten." Am Morgen verkündeten der „Tagesspiegel" und andere westlich lizenzierte Blätter in fetten Schlagzeilen: „Kommunistische Verschwörung auf gedeckt!" Die für denselben Tag in Schöneberg angekündigte gemeinsame Kundgebung von Kommunisten und Sozialdemokraten kam nicht zustande. Die Nacht-und-Nebel-Aktion der amerikanischen Militärpolizei löste Unsicherheit aus und schüchterte viele Berliner Arbeiter ein. Genau diese Wirkung war offenkundig beabsichtigt worden. Ein amerikanisches Militärgericht verurteilte Gerhard Jurr und einen weiteren Genossen zu je fünf Jahren Gefängnis, wegen „feindlichen Verhaltens gegen alliierte Streitkräfte und Verletzung der öffentlichen Ordnung". Man warf ihnen lediglich vor, Räume der Bezirksverwältung Schöneberg nach Dienstschluß für Versammlungen der KPD genutzt zu haben. Wenige Wochen, nachdem die vollständige Vereinigung von KPD und SPD in den Westsektoren verhindert worden war und nur einige SPD-Mitglieder mit den Kommunisten den Weg zur Einheit gefunden hatten, wurden die beiden verurteilten Genossen aus der Haft
entlassen. Das hieß so viel: Der Zweck dieses politischen Rufmordes war von den Reaktionären erreicht worden. In diesen Tagen schlössen sich die wenigen Genossen in Wilmersdorf noch fester zusammen. Genosse Willy Rothe, Bezirkssekretär der Wilmersdorfer Parteiorganisation der SED, half dem Vizebürgermeister, wo er nur konnte. So gelang es gemeinsam, alle versteckten Angriffe frühzeitig zu erkennen und abzuwehren. Im Amt jedoch stand Fuchs sehr allein da; kaum einer der Angestellten traute sich noch, privat mit dem Kommunisten zu verkehren. Als einziger aus der Zeit des Anfangs war Leonhard Zaklykowski noch in seinem Amt geblieben. „Denkst du noch an das Schölerschlößchen?" fragte er, als sie nach einer Sitzung im Rathaus nach Hause gingen. „Das scheint Jahre her zu sein. Eine verdammt miese Gesellschaft hat sich hier inzwischen breitgemacht. Oft habe ich Lust, den ganzen Stall mal richtig auszumisten! Ich bewundere deine Geduld mit diesen Intriganten." Fuchs seufzte. „Was bleibt mir anderes übrig? Die warten ja nur darauf, daß ich die Nerven verliere und den Kram hinschmeiße. So einfach kann mich Bullock nicht entlassen. Dazu kenne ich den ganzen Laden hier zu gut. Und die Menschen von Wilmersdorf achten mich. Da kann er es sich nicht leisten, mich zu feuern!" „Stimmt'', meinte Zaklykowski, „in der Wilmersdorf er Bevölkerung hast du jedenfalls eine Menge Sympathien, auch bei
den Bürgerlichen. Du hast Charakter, und wir haben mit dir eine ganze Menge erreicht. Das weiß der Oberst. Und die Berichte mit denen der Telegraf und andere Revolverblätter dich in den Dreck zu ziehen versuchen, haben deinen guten Ruf eher gefestigt." Fuchs winkte müde ab. Zaklykowski spielte auf die Affäre an, die SPD- und CDU-Vertreter in der Wilmersdorfer Stadtbezirksversammlung um die sogenannte Russenspende zu inszenieren versucht hatten. Zu ihrem Pech waren Fuchs und die beiden anderen damals von der sowjetischen Kommandantur eingesetzten Genossen in der Lage, auf Heller und Pfennig zu belegen, daß die 475031 Reichsmark entsprechend der schriftlichen Verfügung korrekt angelegt worden waren. Viele Bürger erfuhren sogar erst durch die provozierte Debatte von dieser Geschichte und waren nachträglich begeistert von dem Geschenk der Roten Armee für den kulturellen und sozialen Fortschritt in Wilmersdorf. So erwies sich der Spektakel als Bumerang. Fuchs' Popularität nahm noch zu. Aber es ging nicht nur um diese Sache. In jedem Tag seiner Vergangenheit hatten die Quertreiber herumgeschnüffelt. Aus den Differenzen mit Frau Schleiermacher am Tag des Einmarsches der Roten Armee versuchte man ihm nun einen Strick zu drehen. Selbst das Schicksal der Kuh Katinka wurde zum Gegenstand einer Untersuchung, um ihm Unterschlagung und persönliche Bereicherung anzuhängen. Die Erinnerung an diese Ränke machte Fuchs wütend.
Aber es war angenehm für ihn, sich mit Zaklykowski auszusprechen. Der Freund hörte aufmerksam zu. „Wenn ich bei Bullock war", erzählte ihm Fuchs, „tat der Oberst, als wisse er nichts über diese Machenschaften. Immerhin verfolgten die Briten die Vorgänge in unserem Rathaus aus Distanz und mischten sich nicht in die Streitigkeiten. Aber das weißt du ja." Zaklykowski nickte. „Doch einmal schienen sie sehr sicher, mich aus dem Amt jagen zu können. Doch die Art und Weise, wie sie es machten, war schon mehr als durchsichtig. Davon weißt du nichts, Leo. Ich wurde zum Chef der britischen Militärpolizei unseres Bezirkes gerufen. Oberstleutnant Norman tat sehr interessiert, als er mich fragte, ob ich nicht Handschriften sammeln würde, solche von hohen Persönlichkeiten. Ich wußte damit nichts anzufangen und fragte ihn, ob er sich mit mir über meine Hobbys unterhalten wolle. Da merkte ich aber, daß es ein Verhör war, denn er betonte hart, er stelle die Fragen, ich hätte nur zu antworten. Nun, so sagte ich, mich würden Handschriften nicht im geringsten interessieren. — ,Und Autogramme?' fragte er dann. Da mußte ich lächeln. Aus diesem Alter sei ich schon einige Jährchen heraus, meinte ich. Doch Norman ging nicht auf den Scherz ein, sondern fragte scharf, ob ich einen Mister Rieck kennen würde. Ja, Leo, da dämmerte es mir." „Kann ich mir vorstellen, der gehört ja zu deinen hartnäckigsten Widersachern." „Und hat ziemlich viel in der SPD zu sagen." „Und wie ging es weiter?"
„Ich sagte Norman, daß ich den Wilmersdorfer Bezirksrat Rieck genau kenne. Daraufhin lächelte er hinterlistig und sagte mir auf den Kopf zu, aber ganz leise, daß mir dieser Rieck vor Monaten schon eine von ihm sichergestellte historisch wertvolle Handschriftensammlung übergeben habe. Das stimmte." „Davon hast du mir noch nie etwas gesagt." „Erstens hatte ich wenig Zeit, mich mit dir darüber zu unterhalten, und zweitens war die Sache für mich erledigt." „Was hast du denn mit dieser Sammlung gemacht?" „Warte, gleich wirst du es erfahren. Jedenfalls wußte ich nun Bescheid. Irgendwer hatte Norman diesen Hinweis zugespielt, um mich zu belasten. So viele berühmte Namen habe ich aber auch selten auf einem Haufen gesehen. Stell dir vor, da waren Schriftzüge von Metternich, von Garibaldi, Churchill und Roosevelt; Katharina die Zweite von Rußland war vertreten, auch Maria Theresia und Napoleon der Dritte; Maler, Bildhauer, große Komponisten und Interpreten, Schauspieler und Dichter. Also diese Sammlung war ziemlich wertvoll, für Kenner bestimmt noch wertvoller. Jedenfalls sagte Norman, diese Dokumente seien als Beutegut zu betrachten, doch ihm sei davon nichts gemeldet worden, auch nicht, daß die Sammlung irgendeiner Dienststelle der britischen Militärregierung zugegangen wäre. Er verlangte nun Rechenschaft von mir. Nach dem scharfen Anlauf hatte ich Schlimmeres erwartet. Ich erzählte ihm also, daß ich die Sammlung sofort nach
Erhalt an meine vorgesetzte Dienststelle, an den Magistrat von Groß-Berlin, weitergeleitet habe, und daß sie dort für die Bibliothek des Berliner Stadtarchivs bestimmt worden sei. Nach Durchsicht würde sie der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. „Das war wohl für Norman nicht gerade eine erfreuliche Auskunft." „Das kannst du mir glauben, der Oberstleutnant sprang von seinem Sessel auf und zischte mich an, ich hätte die Sammlung an die Russen ausgeliefert. — Noch einmal wiederholte ich, daß ich die Unterschriften an meine vorgesetzte Behörde weitergegeben habe und unterstrich, daß es sich dabei ausschließlich um Schriftstücke ziviler Bedeutung gehandelt habe. — Jedenfalls verlangte er Belege für die Weitergabe. Ich versprach, sie ihm vorzulegen. Allerdings wußte ich nicht genau, wo ich die Quittung überhaupt aufgehoben hatte. Wütend verabschiedete mich Norman. Ich ging." „Der wollte sich bestimmt die Sammlung unter den Nagel reißen. Schließlich wären diese Krakel ein wertvolles Souvenir aus Germany gewesen." „Das kannst du wohl annehmen. Die Quittung fand ich ziemlich schnell in meiner Ablage. Ein Dr. Hermann von der Abteilung Volksbildung des Magistrats von Großberlin hatte den Empfang bestätigt. Norman mußte sich zufriedengeben." „Ich bin sicher, Gerhard, dieses Mal hätte Norman zugeschnappt."
„Möglich, aber war es meinetwegen, oder weil er scharf auf die Sammlung war?" „Jedenfalls ist alles gut gelaufen, Gerhard." „Bisher, ja. Aber wie lange noch?" Die Männer trennten sich am Heidelberger Platz; Fuchs wohnte seit einigen Wochen in der Tölzer Straße in Schmargendorf. Es war eine mondlose Nacht; die Wolken hingen tief. Gerhard Fuchs liebte Spaziergänge durch nächtliche Straßen. Nach den turbulenten Stunden und all dem Ärger im Amt empfand er die Stille als besonders erholsam. Die Straßenbeleuchtungen funktionierten wieder. Die Lampen blieben aber während der Wintermonate aus Sparsamkeitsgründen ab , 21.00 Uhr ausgeschaltet. Als er am Stadiongelände in der Forckenbeckstraße vorbeikam, fing es an zu nieseln. Daran erinnerte er sich noch deutlich. Schnee vermischt mit Regen. Kurz darauf hörte Fuchs dicht hinter sich Schritte. Er drehte sich um. Für Bruchteile von Sekunden sah er noch einen Schatten, dann spürte er einen brennenden Schmerz an der Stirn und sackte zusammen.
Fuchs gibt nicht auf Die Frau trat leise in das verdunkelte Zimmer und stellte Blumen auf den Nachttisch. Sie sah, daß ihr Mann wach lag. „Jetzt habe ich dich geweckt", sagte sie bekümmert. Der Kranke beruhigte sie. „Ich war schon munter, Grete. Es geht einem zuviel im Kopf herum." Sie setzte sich an sein Bett, Der Verband entstellte das vertraute Gesicht.
„Ich fühle mich schon viel besser als gestern", versuchte er sie aufzuheitern. „Der Flieder duftet aber kräftig." „Sag 'mal, Gerhard, Ob Bullock mit dem Überfall etwas zu tun hat?" „Kann ich mir nicht vorstellen, Grete. Der bestimmt nicht." „Möglich", meinte Frau Fuchs, „aber die Hetze in den Zeitungen gegen die Kommunisten. Meinst du, das ist Zufall?" Sie überlegte eine Weile, dann sagte sie zögernd: „Ich halte es für sinnlos, Gerhard, daß du hier weitermachst. Von allen Seiten werden dir Knüppel zwischen die Beine geworfen. Du reibst dich auf und setzt dich unnötigen Gefahren aus." „Die Verletzung ist ja nicht so schlimm. Sonst hätten sie mich nicht gleich wieder aus der Klinik nach Hause geschickt." „Schlimmer hätte es ausgehen können", beharrte sie. „Das weißt du ganz genau." Die Frau erhob sich und schlug die Vorhänge am Fenster zurück. Sie konnte sich über den friedlichen Vorfrühlingstag nicht freuen. „Haben wir nicht das Recht, auch einmal ein bißchen an uns zu denken? Nach allem, was hinter uns liegt? Hast du die Nazizeit durchgestanden, damit dir jetzt irgendwelche Leute den Schädel einschlagen?" Sie weinte. Er nahm sich vor, Schluß zu machen mit diesem ungleichen Kampf. Was war das auch für eine Arbeit, was für ein Leben, wenn man ständig belauert, argwöhnisch beobachtet wurde. Wenn man jederzeit
hinterhältigen Angriffen, Verleumdungen und Intrigen ausgesetzt war. Wenn jedes Wort, jede Entscheidung dazu mißbraucht wurde, ihm Schwierigkeiten zu machen. Er hatte getan, was er konnte. Das sagte er auch seiner Frau. Doch so verlockend die Vorstellung auch für ihn war — noch während er solche Gedanken aussprach, wurde ihm klar, daß er sie nicht verwirklichen würde. Und auch seine Frau wußte das. Ihr Mann war nicht einer von denen, die schnell aufgaben. Ein paar Wochen später — Fuchs arbeitete wieder — wurde er zum Frühlingsfest der Wilmersdorfer Handwerkskammer eingeladen. Das kam ihm ungelegen, denn seine Frau hatte die Grippe. „Soll ich allein hingehen? Grete, dazu habe ich absolut keine Lust", meinte er. „Außerdem steht auf der Einladung: mit Gattin." Sie sah ihn ein wenig spöttisch an, denn sie wußte, daß er ein Freund von Geselligkeiten war und leidenschaftlich gern tanzte. „Geh nur und amüsiere dich gut." Sie lächelte. „Ein bißchen Abwechslung wird dir nicht schaden. Außerdem bist du nicht privat, sondern als Amtsperson eingeladen worden." Also ging Fuchs zum Fest. Das Grunewaldcasino war festlich dekoriert worden; Blumen und Girlanden in verschwenderischer Fülle; Preise der Tombola erinnerten an frühere Zeiten. „Es ist schön hier", bestätigte Fuchs dem Präsidenten der Kammer, der ihn zum Ehrenplatz geleitete. „Unser Handwerk hat wieder goldenen Boden."
„Zunächst nur Dublee, Herr Bürgermeister", schwächte der Gastgeber ab, „und auch das nur dank solcher Männer wie Sie." Man bat ihn, den Ball zu eröffnen. Fuchs tat dies mit kurzen, optimistischen Sätzen. Dann schwenkte er zum ersten Tanz eine Ehrendame über das Parkett, eine üppige Blondine mit sehr freizügigem Dekollete. „Sie werden sich erkälten", versuchte Fuchs zu scherzen. „Aber doch nicht in Ihren Armen, Herr Bürgermeister", konterte die Berlinerin schlagfertig. „Sie tanzen wirklich wie ein Junger." „Na, so alt bin ich ja auch noch nicht." Bald knallten die ersten Sektkorken. Es ging zu, als hätte der zweite Weltkrieg überhaupt nicht stattgefunden. Dabei war es wirklich ein fröhliches, beschwingtes Fest, zu dem sich, wie es schien, nur liebenswürdige Leute zusammengefunden hatten. Ohne weiteres traf dies auch auf viele Gäste zu. Doch als ihn auffallend oft völlig unbekannte Männer an die Bar einladen wollten und er feststellte, daß sein Glas am Tisch nie leer wurde, kamen Fuchs Bedenken; er wurde nicht zufällig so hofiert. Auch die Blondine wurde sehr zutraulich. Sie plapperte davon, daß sie so lustige Rheinländer wie ihn besonders gut leiden könne, und wollte partout mit ihm Brüderschaft trinken. Nun war Fuchs keineswegs ein Kind von Traurigkeit. Doch ihm waren zwei junge Männer nicht verborgen geblieben, die sich mit schußbereiten Kameras stets in seiner Nähe herumdrückten. In diesem Fall schien ihm Vorsicht geboten. Während einer Tanzrunde schlängelte sich aufgeregt ein Mann
zwischen den Paaren hindurch zum Tisch des Präsidenten. „Na, was gibt's, Wendel?" „Herr Präsident, Oberst Bullock ist eben eingetroffen." Der Präsident wunderte sich, denn es war schon weit nach Mitternacht. Obwohl der Oberst eingeladen worden war, hatte er jetzt nicht mehr mit dessen Erscheinen gerechnet. „Wo ist der Oberst jetzt?" fragte er den jungen Mann. „Als er aus dem Wagen stieg, bin ich sofort zu Ihnen gerannt." „Geleiten Sie ihn in den kleinen Salon, aber nicht gar so eilig." Schnell wurde ein Tisch im Salon gedeckt. Der Präsident informierte den Vizebürgermeister und einige Herren des Festkomitees. Mit mehreren Handwerkern erwarteten dann der Präsident und Fuchs den Oberst. Während der Begrüßung stellte es sich allerdings heraus, daß Bullock nur wegen Fuchs gekommen war. Er wollte mit ihm über dringende Angelegenheiten sprechen. Die anderen Herren zogen sich zurück. Der Oberst und der Vizebürgermeister waren allein. Wein wurde kredenzt, ein Imbiß gereicht. Aber während der Unterhaltung merkte Fuchs, daß es belanglose Dinge waren, über die gesprochen wurde. Sie hätten auch in den nächsten Tagen erörtert werden können. Der Oberst beobachtete den Bürgermeister sehr aufmerksam, stellte allerlei Fragen. Fuchs schien es, als sei der Oberst verwundert, ihn nicht als Schnapsleiche
zu sehen. Immerhin waren ja auch schon sechs Stunden feuchtfröhlichen Feierns vergangen. Bald entspann sich eine halb dienstlich, halb private Plauderei, wobei der Oberst zum erstenmal gegenüber Fuchs auch persönliche Töne anschlug. Sie gipfelten in Bullocks Bekenntnis: „Wenn Sie nicht Kommunist wären, Fuchs, könnte ich direkt so etwas wie Sympathie für Sie empfinden." Das Kesseltreiben ging weiter. Dennoch konnte sich Gerhard Fuchs bis zum Herbst 1946 als stellvertretender Bezirksbürgermeister von Wilmersdorf behaupten. Bei den Wahlen im Herbst 1946 gaben Tausende Wilmersdorf er Einwohner trotz zügelloser Hetze gegen die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands dem Kommunisten Gerhard Fuchs ihre Stimme. Die Mehrheit erzielten bei diesen Wahlen, unterstützt von der britischen Besatzungsmacht, jedoch die SPD und die CDU. Sie besetzten die Ämter im Rathaus. Gerhard Fuchs blieb bis zum Jahre 1948 Bezirksverordneter der SED-Fraktion in Wilmersdorf. Als der Kommunist aus dem Bürgermeisteramt ausschied, häuften sich auf seinem Schreibtisch Briefe. Kinder und Erzieher des Schulheims Postfenn schickten herzliche Dankesgrüße; der Arbeitsausschuß der Eisen und Metall verarbeitenden Industrie des Bezirks Wilmersdorf bedauerte "seinen Weggang und würdigte in einem Schreiben den antifaschistischen Bürgermeister als einen Mann der Tat, der „den Menschen in schwerster Zeit den ersten Ausblick auf eine bessere Zukunft gegeben" habe.
Die Hochschule für bildende Kunst und die Leitung der Volkshochschule Wilmersdorf dankten dem kommunistischen Politiker. Genosse Gerhard Fuchs lebt heute als Renter zusammen mit seiner Frau in der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik. An jene Zeit des schweren Neubeginns erinnert der Name des von Gerhard Fuchs errichteten Waldschulheims in Schildhorn-Sprungschanze: Die Arbeiter und die Angestellten des Wilmersdorfer Bauhofs gaben diesem Heim den Namen „Fuchsbau".
Urkunde über die Namensgebung des Waldschulheims