Die phantastischen Abenteuer des Raumschiffes ORION – mit Oberst Cliff McLane und seiner Crew.
Erfahrene Weltraumpioni...
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Die phantastischen Abenteuer des Raumschiffes ORION – mit Oberst Cliff McLane und seiner Crew.
Erfahrene Weltraumpioniere, die in geheimer Mission für Terra tätig sind, werden auf rätselhafte Weise ermordet. Alle bisherigen Ermittlungen haben keine Hinweise auf den oder die Täter erbracht. Das läßt den Schluß zu, daß unbekannte extraterrestrische Intelligenzen für die Mordanschläge verantwortlich sind. Aber Oberst Cliff McLane, der als Spezialist für Extraterrestrier in den Fall eingeschaltet wird, glaubt nicht an die Extraterrestrier-Theorie. Er beschäftigt sich mit der irdischen Vergangenheit, übt sich im Umgang mit antiken Waffen und gibt eine Party, um die Mörder anzulocken, die ihm und der ORION den Weg zum Giftplaneten weisen sollen.
Alle Romane nach der großen Fernsehserie RAUMSCHIFF ORION erscheinen als Taschenbuch im MOEWIG-VERLAG.
Vom gleichen Autor erschienen bisher folgende Raumschiff-Orion-Romane: 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 13 14 15 17 18 19 20 21 22 23 24 25 26 27 28
Angriff aus dem All (T 134) Planet außer Kurs (T 136) Die Hüter des Gesetzes (T 138) Deserteure (T 140) Kampf um die Sonne (T 142) Die Raumfalle (T 144) Invasion (T 146) Die Erde in Gefahr (T 152) Planet der Illusionen (T 154) Wettflug mit dem Tod (T 156) Schneller als das Licht (T 158) Die Mordwespen (T 160) Kosmische Marionetten (O 13) Die tödliche Ebene (O 14) Schiff aus der Zukunft (O 15) Verschollen im All (O 17) Safari im Kosmos (O 18) Die unsichtbaren Herrscher (O 19) Der stählerne Mond (O 20) Staatsfeind Nummer Eins (O 21) Der Mann aus der Vergangenheit (O 22) Entführt in die Unendlichkeit (O 23) Die phantastischen Planeten (O 24) Gefahr für Basis 104 (O 25) Die schwarzen Schmetterlinge (O 26) Das Eisgefängnis (O 27) Bohrstation Alpha (O 28)
HANS KNEIFEL
RAUMSCHIFF ORION
DAS TEAM DER SELBSTMÖRDER Zukunftsroman Deutsche Erstveröffentlichung
E-Book by »Menolly«
MOEWIG-VERLAG MÜNCHEN Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!
Für den Moewig-Verlag nach Ideen zur großen Fernsehserie RAUMPATROUILLE, produziert von der Bavaria-Atelier GmbH, geschrieben von Hans Kneifel
Copyright © 1970 by Arthur Moewig-Verlag Printed in Germany 1970 Titelfoto: Bavaria-Atelier GmbH. Umschlag: Ott & Heidmann design Gesamtherstellung: H. Mühlberger, Augsburg Der Verkaufspreis dieses Bandes enthält die gesetzliche Mehrwertsteuer.
1 Es war einer jener wenigen Tage, die schon restlos verdorben waren, nachdem man sich die Zähne geputzt hatte – es würde sich lohnen, in der Wohnung zu bleiben und bestenfalls noch die Sonnenterrasse aufzusuchen. Wobei Cliff voraussetzte, daß er sich in der Wohnung mindestens das Schienbein anschlagen würde und auf der Terrasse nicht ohne einen schmerzhaften Sonnenbrand davonkommen würde. Man sollte solche Tage verschlafen. Als gegen zehn Uhr Ishmee kam und etwas von ›Frühstück‹ sagte, stellten Cliff und das schwarzhaarige Mädchen fest, daß der Kühlschrank der Miniküche so leer war wie... Es war wirklich ein miserabler Tag: Cliff fehlten sogar die Vergleiche. »Liebster...«, begann Ishmee. »Muß das sein?« fragte Cliff halblaut. Er sehnte sich zurück zwischen die gekühlten Decken seiner Schlafgrube. »Es muß sein, fürchte ich«, sagte Ishmee mit unschuldiger Miene. »Wir verhungern sonst. Wem nützt das?« Cliff spürte noch jetzt den Sonnenbrand des Planeten, auf dem er nach vollrobotischen Teilen eines merkwürdigen Kontrollsatelliten gesucht hatte. »Niemandem, außer vielleicht dir, falls du mich überlebst und beerbst«, sagte er mißmutig. »Was planst du?« Ishmee legte ihren Arm um seinen Hals und murmelte, während sie ihm ins Ohrläppchen biß: »Wie wäre es, wenn wir nach unten führen und
dort einkauften. Dann kochen wir zusammen Omeletts.« Cliff erklärte verdrossen: »Erstens werden diese Teigsachen gebraten. Und zweitens finde ich das gar nicht komisch. Ich schleudere diese fahlgelben Gebilde höchstens hinunter in den Swimming-pool, wenn ich versuche, sie in der Luft zu drehen.« »Komm!« sagte sie. »Wir engagieren einen Taucher.« Cliff deutete anklagend auf den leeren Kühlschrank. »Nichts ist da, woraus wir Omeletts braten könnten«, sagte der Kommandant. »Außerdem ist dieser Raumfahrer ermordet worden. Ich ahne Schlimmes.« Ishmee zog ihre Kreditkarte aus der Tasche und fächelte Cliff damit Luft zu. »Ich werde auch Schinken kaufen und Champignons, und dazu kreiere ich eine fabelhafte Sauce Bernaise. Einverstanden?« »Der Tag ist ohnehin verdorben, und du wirst ihm den Rest geben. Ich werde mich am Nachmittag vermutlich ins Bett verkriechen und Seneca lesen, oder etwas von diesem Pieter-Paul Ibsen, dem Größten aller Unterhaltungsautoren.« Schließlich brachte Ishmee Cliff dazu, sich seinen weißen Anzug anzuziehen und mit ihr hundertundzwei Stockwerke im Schnellift hinunterzufahren. Cliff war zum erstenmal hier; obwohl er wußte, welche Dienstleistungsbetriebe in den submarinen Stockwerken von ORION-Island untergebracht waren, zog er es vor, in der Stadt oder in den Läden der Basis 104 einzukaufen. Es entsprach mehr seinem Standard.
»Hier ist einer der schicksten Supermärkte, die ich kenne«, sagte Ishmee, und Cliff wußte, daß sie die Wahrheit sprach. Eine Turceed log niemals. »Du kaufst, ich zahle!« bestimmte Cliff. Vor ihnen, sie standen auf einer erhöhten Rampe, an deren Wand die Auslagen kleinerer Abteilungen dieser geradezu futuristisch anmutenden Verkaufsanlage leuchteten, breitete sich ein Raum von vierhundert zu vierhundert Metern Kantenlänge aus. Zwischen den einzelnen Blöcken der Warenangebote befanden sich breite Straßen, auf denen sich farbig lackierte und chromglitzernde Robotwagen bewegten. Die Kunden saßen vor den Einkaufskörben aus Draht und steuerten diese Maschinchen. Cliffs Augen leuchteten eine Sekunde lang auf, dann drehte er sich neugierig um. Dicht vor seiner Brust war in der Wand aus Klinkersteinen eine große weiße Steintafel eingelassen, in der in lateinischen Versalien Buchstaben, Worte und Ziffern eingelassen waren. »Komm! Die Omeletts warten auf uns!« sagte Ishmee und griff nach seiner Hand. Cliff sagte: »Einen Moment. Ich muß nur noch die Tafel ansehen.« Verwundert las er: IM GEDENKEN AN FRANK HOIUM DOUGHERTY 1. 4. 1970 bis 28. 1. 2105 ER WAR ES, DER WÄHREND DER 23. MARSEXPEDITION TARDIGRADA SPUMOSA MARS ENTDECKTE. Kopfschüttelnd und sich verwünschend, während
des Geschichtsunterrichtes nicht genügend aufgepaßt zu haben, folgte Cliff dem goldäugigen Mädchen die Rampe hinunter. Ein Robotwagen kam angefahren, bremste selbständig, und eine wohlmodulierte Stimme sagte leise und einschmeichelnd: »Die Zweigniederlassung der DoughertyCompagnie begrüßt Sie, meine Dame und...«, der Mechanismus zögerte ein wenig und fuhr fort: »... mein Herr. Einen guten Einkauf wünschen wir.« »Das hätte von Ibsen sein können«, murmelte Cliff und schwang sich hinein, nachdem er Ishmee hochgehoben hatte, »der schreibt solche Sachen.« Der Wagen fuhr an, und Cliff trat den Beschleunigungshebel voll durch. Die Maschine wimmerte auf, und nach einigen Sekunden einer wilden Zickzackfahrt rief Ishmee: »Halt! Wir sind an den Frischeiern schon vorbei!« Cliff machte dieses Wägelchen großes Vergnügen; der Tag schien gerettet zu sein. Als von links ein anderer Wagen auf sie zukam, von einer älteren Dame gesteuert, reagierte das Abstandsradar und schaltete die Antriebsmotoren beider Wagen aus. »Sie sollen doch nicht fahren, wenn Sie getrunken haben, Madame«, sagte Cliff vorwurfsvoll und unbewegten Gesichtes, während Ishmee zwei Liter Milch einpackte und auf die Ladefläche ablegte. Cliff drückte den Sicherungsknopf hinein, und die Fahrt ging weiter, vorbei an der entrüsteten Kundin. Nacheinander kauften sie alles ein, was sie für die nächste Woche brauchten. Vor der automatischen Kasse bremste der Wagen automatisch. »Dieser Dougherty«, sagte Cliff sinnierend. »Kennst du ihn?«
»Nein«, antwortete Ishmee. »Wenn du ihn nicht kennst?« Als sie, mit vier riesigen Plastiktüten bewaffnet, den Supermarkt verließen, hörte Cliff über Lautsprecher seinen Namen. Er blieb stehen, sagte: »Man ruft mich!« und ging zurück. Die Musik, die sonst verkaufsfördernd aus den Lautsprechern gerieselt war, hatte aufgehört. Eine markante Stimme, vermutlich der Verkaufsleiter dieser Filiale, sagte: »... wiederhole: Falls Cliff McLane unter unseren Kunden ist, wird er gebeten, sich mit seinem direkten Vorgesetzten in Verbindung zu setzen. Es ist dringend. Ich wiederhole...« Cliff und Ishmee sahen sich an. »Wamsler!« sagten sie wie aus einem Mund. Wamsler fand ihn überall. Im Weltraum, im Schlaf und auch im Supermarkt. Cliff verwünschte den Tag, sich, seinen Berufsentschluß und Colonel Beristains seltsamen Tod. Er fuhr schweigend und mit noch schlechterer Laune nach oben, schleppte die Nahrungsmittel in die Küche und schaltete dann in seinem Arbeitszimmer den Videophonschirm ein. Er wählte Wamslers Nummer, kämpfte sich durchs Vorzimmer und wurde schließlich mit dem Raummarschall verbunden. Wamslers Gesicht war ernst, als er Cliff begrüßte. »Cliff McLane. Ich sagte Ihnen bereits am Strand, daß der Colonel ermordet worden ist.« Cliff hob abwehrend beide Arme. »Ich habe ein Alibi!« beteuerte er. »Und Urlaub.« »Das Alibi glaube ich Ihnen. Was tun Sie jetzt?« Cliff sagte schnoddrig: »Ich hungere, und Sie haben mich beim Kauf von
Grundnahrungsmitteln aufgestöbert. Ist es etwa schon wieder einmal ernst?« Wamslers Mitgefühl war deutlich zu spüren, aber falsch wie... Cliff fehlte auch jetzt ein Vergleich. »Noch nichts gegessen?« fragte Wamsler halblaut. »Nein.« Wamsler sagte: »Essen Sie! Sie werden es nötig haben, mein Junge. Aber essen Sie schnell, und kommen Sie dann hinunter zum stählernen Baumhaus. Sie wissen, wo das ist?« Cliff spürte etwas hinter dem unbewegten Gesicht des Raummarschalls. Er kannte Wamslers Charakter, dank Bishayr, so gut wie kaum jemand, und er wußte gefühlsmäßig, daß Wamsler sehr beunruhigt war. »Ich weiß es. Aber dort gibt es vierhundert Wohneinheiten, Marschall.« »Kommen Sie in Nummer 340!« Cliff nickte. Wamsler hob die Hand und sagte abschließend: »Sie sollten vorher einen gewaltigen Schluck Schnaps trinken, um Ihr seelisches Gleichgewicht nicht zu verlieren. Es ist verdammt ernst.« »Mein seelisches Gleichgewicht leidet viel mehr unter Anrufen wie diesem, Marschall. Außerdem ist der Tag schon verdorben. Ich habe mir bereits beim Zähneputzen eine Wimper herausgerissen.« Wamsler schaltete kopfschüttelnd ab. Cliff ging langsam in die Küche zurück. Innerhalb von dreißig Minuten stellten Ishmee und er acht Omeletts her. Die Füllung bestand aus dünnem Schinken, gebundenen Champignons und einigen leckeren Küchenkräutern. Dazu gab es jene vorzügli-
che Sauce, von der Ishmee gesprochen hatte. Cliff verzehrte schweigend nur drei Omeletts; er hatte auf seine Linie zu achten. Dann setzte er die dunkle Brille auf und klemmte das Armbandfunkgerät ans Handgelenk. Er verabschiedete sich von Ishmee und fuhr mit dem Lift hinunter, passierte den langen Unterwassertunnel und blieb dann stehen. Zum stählernen Baumhaus führte die unterirdische Röhrenbahn. Er benutzte sie, erhielt eine Kabine für sich allein und sah auf die Digitaluhr. Es war zwölf Uhr dreißig, und über Groote Eylandt brannte die Sonne des australischen Sommers. Sechs Minuten später stieg er aus der Station aus, die sich fast direkt am Strand befand, und vor ihm ragte das stählerne Baumhaus in den wolkenarmen Himmel. »Einer der wenigen Vorzuge dieses Jahrhunderts«, murmelte er mißmutig, »ist, daß man wirklich wagemutig baut. Und nicht nur diese niederträchtigen Einfamilienhäuser! Ich bin neugierig, was Wamsler in Nummer 340 zu tun hat. Sehr geheimnisvoll!« Er ging auf den Schaft, den stählernen ›Stamm‹ des Hauses zu. Rundherum hatte man einen Park von Bäumen angelegt; sogar Eukalyptus war angepflanzt worden. In den Ästen tummelten sich Koalas und fraßen die Blätter. Aus diesem Wald ragte etwa hundertfünfzig Meter hoch das Haus empor. Es bestand aus einem Stamm, einer gewaltigen stählernen Röhre, verziert mit sollrostenden Stellen und eingeätzten Linien. Ferner aus Ästen – waagrecht verlaufenden Trägern, die ebenfalls hohl waren. Und aus Ästchen, tragenden Elementen, die wiederum in rechten Winkeln von den Ästen ausgingen. Die Wohnungen waren die
Blätter. Vierhundert flachgedrückte Kugeln mit einem Fensterband rundherum saßen außen an den Ästchen. Vierzig davon dienten den Versorgungseinheiten und den Geschäften, der Rest war reiner Wohnraum. Jedes ›Blatt‹ enthielt eine luxuriöse EinRaum-Wohnung von knapp zweihundert Quadratmetern Wohnfläche. Cliff erreichte den Stamm und blieb stehen. Dort war ein stählerner, molekular eingefärbter Barockrahmen angeschweißt, in dessen Zentrum eine Inschrift stand. Cliff las: Dem Andenken an Frank Hoium Dougherty gewidmet, dem ersten, der sich an einen biologischen SpontanRegenerator anschließen ließ. »Verdammt!« sagte er. Ihm fiel noch immer nicht ein, was und wer dieser Frank Hoium gewesen war. Jedenfalls schien ihm ein gebührender Platz in Terras moderner Geschichte zu gebühren. Cliff fuhr nach oben, er hatte die Ziffern 340 gedrückt. Der Lift bewegte sich zunächst senkrecht nach oben, dann waagrecht nach Süden, schließlich im rechten Winkel nach Westen. Cliff stieg aus und befand sich vor einer runden Wohnungstür. 340 stand darauf. Darunter ein Name: Joy Mandellini. Cliff erinnerte sich jetzt. Mandellini war einer der Männer, der aus der militärisch gebundenen Raumfahrt ein Verkehrsmittel gemacht hatte, das zumindest theoretisch jedermann zugänglich war. Die Zahlen von Militärschiffen und privaten Schiffen verhielten sich immerhin zehn zu sechs. Auf zehn Schnelle Kreuzer kamen sechs Handelsschiffe oder Verkehrsschiffe für Passagiere. Mandellini war ein hochdekorierter Veteran des letzten Krieges, ein integrer Mann, der sich aus der militärischen Raumfahrt zurückgezogen und eine private Charterlinie
aufgezogen hatte, gegen die Widerstände der Militärs. Aber er hatte sich durchgesetzt. Zwar waren Raumfahrer noch immer eine besondere Gruppe von Menschen, aber die Raumfahrt war nicht mehr einer kleinen, ›elitären‹ Minderheit von Majoren und Obersten vorbehalten. Cliff schluckte eine Verwünschung herunter; er begann zu ahnen, was ihn hinter der Tür erwartete. Dann legte er die Handfläche auf die Kontaktplatte. Die Anfangstakte von Mozarts Türkischem Marsch erklangen. Wamsler öffnete die Tür. »Kommen Sie herein«, sagte er. Cliff ging neben Wamsler langsam bis in den Mittelpunkt des runden Raumes hinein. Hier waren außer ihnen noch zehn Männer. Genauer: Neun Männer und eine männliche Leiche. Ein Fenster stand offen, die neun Männer gehörten zum GSD, zum Galaktischen Geheimdienst. »Ich habe es in den letzten Minuten geahnt«, murmelte Cliff. Wamsler legte ihm die Hand auf die Schulter und fragte: »Mandellini. War er Ihr Freund?« Cliff schüttelte den Kopf und sagte leise, als wolle er den Toten nicht wecken: »Wir kannten uns flüchtig; er war so etwas wie ein Vorbild für mich. So etwa wie Colonel Beristain.« »Ich verstehe.« Cliff sah sich genauer um. Joy Mandellini war mit seinem hochlehnigen, antiken Sessel nach links gekippt. Entweder umgefallen oder umgeworfen worden. Sein Schreibtisch an dem er gearbeitet hatte, war nicht aufgebrochen worden. Der Tod war vermutlich
in der Nacht eingetreten. Die Schreibtischlampe, eine Anordnung von schlanken Stahlröhren, brannte noch. Keine Spuren eines Kampfes waren zu sehen. Der übrige Raum war teilweise aufgeräumt, teilweise unordentlich – ein normaler Eindruck bot sich den Männern. »Tot!« stellte Wamsler fest. »Tot seit gestern nach ein oder zwei Uhr.« Die anderen Männer suchten den Raum seit drei Stunden nach Spuren ab. Sie schienen bisher nichts gefunden zu haben, was auf den Täter oder die Ausführung der Tat schließen ließ. Die Tür war abgeschlossen gewesen, und das Schloß zeigte keinerlei Beschädigungen. Da es zudem ein elektronisches Schloß war, ließ sich genau feststellen, daß es gegen neun Uhr abends betätigt und seitdem nicht mehr angerührt worden war. »Wer könnte Interesse daran haben, Mandellini umzubringen?« fragte Cliff laut. Er kniete jetzt auf dem alten, wertvollen Teppich und sah Joy an. Der Mann, etwa sechzig Jahre alt und gutaussehend, sonnengebräunt und mit kurzem, weißem Haar, lag auf dem Rücken und hatte beide Arme angewinkelt und hochgehoben. Es hatte den Eindruck, als habe sich Joy gegen etwas gewehrt, das von der Raumdecke auf ihn herabgestürzt war. Über die Stirn, durch die rechte Augenbraue und über die Wange zog sich ein feiner, tiefer Schnitt, an dessen Rändern jetzt geronnenes Blut zu sehen war. Am Hals, nahe der Schlagader, entdeckte der Kommandant drei tiefe Löcher. An jedem hing ein winziges Blutströpfchen. »Sie haben es gesehen, Cliff – die gleichen Merk-
male wie bei Colonel Beristain. Was sagen Sie dazu?« Cliff murmelte: »Das ist eine Aufgabe der örtlichen Mordkommission, nicht der Raumpatrouille. Abgesehen davon, daß ich einen guten Mann gesehen habe, der nun tot ist, abgesehen auch davon, daß ich diesen Mord zutiefst bedaure – was habe ich damit zu tun?« Wamsler knurrte: »Mehr als Sie denken. Mandellini war der zweite ermordete Raumfahrer aus den ersten Jahrzehnten, in denen die Raumfahrt zum Besitz der Allgemeinheit wurde. Er ist sozusagen einer Ihrer Ahnen, Cliff. Außerdem... aber darüber müssen wir uns in Ruhe unterhalten.« Cliff warf einen letzten Blick auf den Toten. »Er scheint sehr schnell gestorben zu sein, nicht wahr?« fragte er. »Ja. Zu schnell. Und um ein Vierteljahrhundert zu früh!« Wamsler nickte den Beamten des Sicherheitsdienstes zu, berührte Cliff kurz an der Schulter und ging mit ihm hinaus. Schweigend fuhren sie hinunter und gingen langsam zu Wamslers Dienstwagen, einem schweren, schwarzen Turbinenfahrzeug, dessen Fahrer wartete. Wamsler öffnete die Tür. »Steigen Sie ein und schweigen Sie, damit ich besser überlegen kann.« Cliff erstarrte mitten in der Bewegung. »Da steckt doch mehr dahinter.« »Ja. Das werten Sie in meinem Büro erfahren. Nicht jetzt und nicht hier.« Die Türen glitten fast lautlos zu, und der Wagen
fuhr an. Beide Männer schwiegen, bis sie endlich in Wamslers Büro waren. Wamsler ließ, ganz gegen seine Gewohnheit, Kaffee und Cognac bringen. * Raummarschall Winston Woodrov Wamsler betrachtete, während er den Cognac in seinem Glas kreisen ließ, den Mann, der drei Meter entfernt vor ihm in einem der schwarzen Ledersessel des Büros saß. Einige Punktscheinwerfer verbreiteten eine halbe, ausgerichtete Helligkeit. Cliff saß schweigend da, schaukelte leicht mit dem Sessel und sah Wamsler unverwandt in die Augen. Dann hüstelte Cliff diskret und fragte in die lähmende Stille hinein: »Es wird gleich ›Plop!‹ tun, und dann bin ich vor Neugierde geplatzt. Sollten Sie endlich mit dem Getränk da fertig sein, wurde ich eine kleine Ansprache begrüßen.« Wamsler setzte ein schiefes Lächeln auf und erklärte knurrend: »Mein Erfolg ist meine Schüchternheit. Ich wage es nicht, Ihnen zu sagen, was wir wissen.« »Also waren Beristain und Mandellini in irgendwelche geheimen Machenschaften verstrickt, nicht wahr?« fragte Cliff. »Nicht ganz. Sie beide waren ausgesuchte Männer. Zwei von fünfundzwanzig, die unabhängig voneinander operierten. Keiner wußte vom anderen. Verrat ist also auszuschließen.« »Ich sprach nicht von Verrat«, sagte Cliff, jetzt schon etwas mehr beunruhigt. »Woran arbeiteten diese fünfundzwanzig Raum-
fahrer?« fragte Cliff. Wamsler war besorgt. Er wußte, daß dadurch, daß er Cliff ins Vertrauen zog, der Kreis der Mitwisser größer wurde. Und daß gleichzeitig Cliff seine Aufgabe mit jener Menge an vorsichtiger Entschlossenheit angehen würde, für die er bekannt und berühmt war. »Sie sind in der Lage, den Charakter eines Menschen ziemlich schnell bis auf den Grund zu durchschauen?« »Dank Bishayr!« sagte Cliff. Wamsler entschloß sich offensichtlich, nun doch mit der Sprache herauszurücken. Er stellte das Glas ziemlich hart auf die spiegelnde Tischplatte und beugte sich vor. Dann fragte er mit leiser, eindringlicher Stimme: »Keiner von der ORION-Crew kennt Carrere Theta Xi?« »Nein!« Cliff kannte diesen Begriff wirklich nicht. »Auch nicht die Sonne Louwreena?« »Auch nicht. Was haben...?« Wamsler hob die Hand und unterbrach Cliff. Er sagte hart: »Carrere Theta Xi ist ein Planet, der die Sonne Louwreena umkreist. Beide befinden sich nicht innerhalb der Neunhundert-Parsek-Raumkugel. Aber sie sind ziemlich nahe an deren Außenrand Der Richtwert ist Zehn/Ost 999.« Cliff drehte sich herum und sah auf der dreidimensionalen Projektion der Raumkugel nach der betreffenden Position. Er sah die Sonne nicht; sie war wirklich außerhalb, denn zumindest in seinem Gedächtnis
waren die Namen aller Sonnen vorhanden, die Planeten besaßen, auch wenn er sie nicht auswendig hersagen konnte. Aber diese beiden Begriffe hatte er noch nie in seinem Leben gehört. Ebensowenig wie Frank Hoium Dougherty. »Was gibt es dort?« fragte er. »Rätsel.« »Rätsel welcher Art, Marschall?« Wamsler sagte leise: »Der Planet wurde, als eines der Pionierschiffe sich über diese Distanz hinauswagte, flüchtig untersucht. Eine Giftatmosphäre, die sogar das Material leichter Raumanzüge anfrißt. Aber in dieser Giftatmosphäre wachsen Pflanzen, bewegen sich Tiere. Das wurde einwandfrei beobachtet. Und außerdem stellten Schiffe, die in der Nähe operierten, Funksignale fest. Verschlüsselt oder aus einer fremden Kultur. Wir konnten trotz Einsatz der Zentralen Rechenanlage nichts über deren Bedeutung herausfinden. Daraus mußten wir schließen, daß dieser Planet bewohnt ist.« Cliff nickte. »Besiedelt von einer Rasse, die sich in dieser Giftatmosphäre wohlfühlt. Also kann diese Rasse nicht menschlich sein. Folglich sind es Fremde. Um einigermaßen sarkastisch zu sein: Warum hat die Flotte diesen Planeten noch nicht bombardiert? Das war doch einmal die beste Methode der Diskussion?« Wamslers Gesicht rötete sich vor Ärger. »Wir sind nicht hier, um über die Sünden verdienstvoller Politiker zu sprechen, sondern über die Realitäten. Alle fünfundzwanzig Männer arbeiteten daran, diesen Planeten anzufliegen und herauszufinden, welcher Art die Fremden sind. Einer von ihnen
kam nicht mehr zurück – er versuchte, mit einer LANCET dort zu landen. Dann wurden wir vorsichtiger. Jetzt arbeiten wir an einem Programm, das uns helfen soll, mit dem Fremden in irgendeine Art von Verhandlungen oder zumindest in Kontakt einzutreten.« »Und wurden zum Lohn für ihre Arbeit umgebracht.« Wamsler korrigierte oder berichtigte: »Vergiftet!« Cliff goß sein Glas wieder voll und sagte, mehr zu sich selbst, um das auszusprechen, was er dachte und sich die Umstände dadurch voll bewußt zu machen: »Zuerst fünfundzwanzig, jetzt, nach einem Unfall und zwei Morden nur noch zweiundzwanzig Männer versuchten, ohne Aufsehen zu erregen, mit den Bewohnern dieses giftigen Planeten in Kontakt zu kommen. Ich setze dabei voraus, daß Schiffe aus dem All über die Fernbeobachtungen den Planeten inzwischen vermessen und photographiert haben werden. Einer stürzte ab und erstickte vermutlich, zwei andere wurden ermordet. Mit Gift, das durch Wunden an ihrem Hals eindrang – oder an ihrem Gesicht. Also hat jemand Interesse, nacheinander alle Männer, die sich mit Carrere Theta Xi beschäftigen, umzubringen, auszuschalten, aus dem Weg zu räumen. Soweit alles klar. Warum hat der Planet diesen merkwürdigen Namen? Theta Xi verhält sich im griechischen Alphabet wie 8 und 14. Carrere hieß der Kommandant des Schiffes. Der Planet wurde an seinem achthundertvierzehnten Tag im All entdeckt.« »Bizarr und apart«, sagte Cliff. »Die Fremden von
Carrere stellen im Moment noch keine Gefahr dar?« Wamsler war noch immer unsicher, ob er Cliff hätte einweihen sollen oder nicht. Aber schließlich siegte bei ihm die Überlegung, daß er kaum jemanden finden konnte, bei dem solche Geheimnisse besser aufgehoben wären. »Wir kennen jetzt zwei Monate dieses Problem. Sie werden gemerkt haben, daß wir alte und längst inaktive Männer gebeten haben, sich einzuschalten. Wer würde es sonst schaffen, wenn nicht sie? Ohne brennenden Ehrgeiz, mit kühlem Kopf und mit endloser Geduld. Um auf Ihre Frage zurückzukommen – nein, wir haben keinen Grund, anzunehmen, daß uns diese Fremden überfallen werden wie seinerzeit die Extraterrestrier.« Cliff trank einen Schluck und lehnte sich zurück. Er dachte nach. Er versuchte, alle seine Erlebnisse und die Erkenntnisse, die er glücklicherweise daraus gezogen hatte, zu verwerten. Drei der ältesten und zugleich besten Raumfahrer der Erde waren umgekommen. Zwei von ihnen durch blanken Mord. Sie waren Angehörige eines stellaren Programmes, wußten nichts voneinander, wußten aber, daß sie eine Gruppe bildeten, aus der nichts nach außen dringen durfte. Cliff kannte den Charakter der meisten verantwortlichen Raumfahrer. Sie mochten alle nicht gerade frischpolierte Engel sein, aber bei Unternehmen dieser Größenordnung und dieses Schwierigkeitsgrades war Verrat tatsächlich ausgeschlossen. Also mußte jemand starkes Interesse haben, zu verhindern, daß das Projekt Carrere Theta Xi weiter untersucht und verfolgt wurde. Wie er davon Kenntnis erhalten haben mochte, war mehr als dunkel und un-
klar. Jedenfalls kannte er zwei – oder drei – der Männer. Und brachte sie um... oder ließ sie umbringen. Cliff hob den Kopf und sah seinen Vorgesetzten an. »Eigentlich besteht kein Grund, warum Sie mich nicht als dreiundzwanzigsten Mann verpflichten sollten«, sagte Cliff. »Ich ahnte es ja – es ist ein Tag des Schreckens geworden.« »Wie Sie schon sagten: eigentlich gibt es keinen Grund. Halten Sie sich für fähig, beim Projekt Carrere mitzumachen?« Cliff antwortete ärgerlich: »Sie haben manchmal eine Art, Fragen zu stellen, die ist derartig beleidigend, daß ich den Dienst kündigen möchte! Sage ich Nein, dann denken Sie, dieser McLane macht's mal wieder mit Unterstatement, sage ich Ja, dann meinen Sie, ich wäre größenwahnsinnig. Sie werden vermutlich nicht einmal lachen... aber ich halte mich für fähig, nicht nur mitzumachen, sondern Ihnen vermutlich auch den Mörder zu liefern. Ich habe etwas gegen Menschen, die Raumfahrer umbringen. Ich habe aber auch etwas gegen solche, die ihre Opfer unter anderen Bevölkerungsgruppen suchen und finden. Darf ich jetzt um die Unterlagen bitten?« Wamsler stand schweigend auf, ging zu einem Safe, ließ seinen Tischkomputer die Kodierung für diesen Tag errechnen und tippte die Zahlen ein. Lautlos schwang die Tür auf. Wamsler entnahm ihr eine Mappe. Er warf sie knallend auf den Tisch vor seinem Platz. »Die Daten sind in einem versiegelten Umschlag. Wenn Sie ihn einmal geöffnet haben, dann vernichten sie sich innerhalb von achtundvierzig Stunden. Sie brauchen sie also nicht mehr zurückzugeben.«
»Irrsinnig komisch«, sagte Cliff. »Sie sollten ein Stück schreiben und alle Ihre Bemerkungen im Laufe eines Jahres dienstlicher Gespräche hineinbringen. Terra wird zittern, so werden die Zuschauer lachen. Ich werde Ihnen in genau achtundvierzig Stunden sagen können, wo ich ansetze und wie ich vorzugehen versuche. Ist das in Ihrem Sinn?« Wamsler schob ihm einen Umschlag aus versiegelter Silberfolie über den Tisch. »Streng geheim. Nicht einmal Bela Rover weiß davon.« Cliff grinste. »Wovon?« »Keine Ahnung!« Wamsler zuckte seine breiten Schultern. Er brachte Cliff bis zur Lichtflutbarriere, schaltete sie aus, besann sich und schaltete sie wieder ein. Er sprach ungewohnt ernst, und eine Spur von echter Sorge war in seiner Stimme. Wamsler flüsterte heiser: »Sie wissen, daß Sie ab jetzt in Lebensgefahr sind? Wenn der Wahnsinnige wußte, woran Beristain und Mandellini arbeiteten, weiß er auch bald, daß Sie zu dem Team der Selbstmörder gestoßen sind. Meiden Sie dunkle Ecken und größere Menschenansammlungen.« Cliff lächelte eiskalt. »Ich bin weder Eckensteher, noch gehe ich gern ins Theater. Ich kann mir keinen neuen Anzug leisten. Erhöhen Sie meine Bezüge?« Wamsler erwiderte grollend: »Werden Sie nicht unverschämt, sonst sorge ich in Zukunft dafür, daß Michael Spring-Brauner hier ist, wenn Sie mich besuchen.« Cliff rief, als er die Lichtflutbarriere passiert hatte,
über die Schulter zurück: »Sie sind wirklich wie ein Vater zu mir, Marschall!« Dann verließ er, den dicken Umschlag unter der Jacke, die Basis 104. Ihm fiel, als er langsam und nachdenklich in einem offenen Robottaxi zum Eingang von ORION-Islands unterirdischer Röhrenbahn fuhr, nicht auf, daß an diesem Tag keine Vögel in der Luft waren. Nicht einmal die Strandvögel, die sonst ständig schrien und umherflatterten. Er dachte an einen Mann, der mit entweder sehr neuartigen oder sehr alten Methoden Giftmorde verübte. Zuerst in einem Hochhaus, dann in einer Zelle des stählernen Baumhauses. * Der Raum war dunkel, und der Wind von der See kam durch die Jalousien der Fenster herein, mild und salzig. Im Hintergrund war Musik zu hören: Strawinskys Sacre du Printemps in einer Bearbeitung von Tomas Peter; eine sehr esoterische Umschreibung für zwei Cembali und Schlagwerk. Cliff saß mit geschlossenen Augen in seinem drehbaren Sessel. Vor sich auf der Schreibtischplatte stapelten sich Lesespulen und vergilbte und stockfleckige Bücher, echte Bücher aus Leder, Leinen und Papier. Über dem Schreibtisch und all den technischen Einrichtungen hing Cliffs Waffensammlung. Sie bestand aus teuren Waffen aller Epochen und Kulturkreise und war eine der wertvollsten Sammlungen dieser Art. Ishmee lag auf dem riesigen Schaumstoffrechteck, das mit einem langflorigen Kunstfaserfell bespannt war und las schweigend in einem Lesewürfel.
Endlich hob das Mädchen den Kopf, schaltete den Würfel ab und sagte halblaut: »Du störst mich, Liebster.« Cliff öffnete die Augen, richtete sie anklagend zur Decke und goß etwas Sekt in sein Glas. »Das ist unlogisch. Ein ›Liebster‹ stört niemals, Liebste!« sagte er kurz. »Es sind deine Gedanken. Sie irren ziellos herum, du bist erregt, und du fühlst dich wie ein Mann, der weiß, daß er kurz vor einer Entdeckung steht, diese aber nicht sieht.« »Nietzsche hat einmal geschrieben: ›Selten denkt ein Frauenzimmer. Denkt es aber, taugt es nichts.‹ Ich bin kein Anhänger dieses Philosophen. Aber – warum mußt du mich beim Denken unterbrechen, Liebste?« Er schwang seinen Stuhl herum und richtete eine schwere, doppelläufige Reiterpistole auf sie. »Eine Philosophin sagte auch, daß eine gescheite Frau Millionen Feinde habe, nämlich alle dummen Männer«, antwortete Ishmee leichthin. »Willst du mir nicht sagen, was dich unruhig macht? Wir kennen uns schon zu lange, sonst müßte ich annehmen, meine Gegenwart macht dich unruhig.« Cliff hielt es unter allen Umständen für das Klügste, zu lächeln wie eine Sphinx und zu schweigen wie ein fernöstlicher Weiser. Zur Abwechslung trug Cliff heute nicht seinen weißen Sarong mit dem großen, goldenen Medaillon, sondern einen riesigen selbstleuchtenden Bademantel, der ihm bis zu den Knöcheln reichte. Er sagte nachdenklich: »Ich suche ein Verfahren, das jemanden in die Lage versetzt, einen anderen Menschen umzubringen. Und zwar vermutlich durch verschlossene Wohnungstü-
ren, in großer Höhe eines Hauses und mit Gift als auslösendem Faktor. Pfeile scheiden aus – es wurden keine gefunden. Giftnadeln waren es auch nicht, man hätte sonst keine langen, scharfen Kratzer gefunden.« »Fliegende Roboter?« fragte Ishmee. »Stählerne Bienen? Mordwespen?« Cliff schüttelte den Kopf. »Ist eigentlich das letzte Omelett, das ich nicht gegessen habe, noch da?« »Kalt geworden«, antwortete das Mädchen. »Warum nichts aus dieser Kollektion?« »Alle drei Methoden hinterlassen andere Spuren. Holst du mir bitte dieses letzte Erzeugnis meiner unvergleichlichen Koch- und Bratkunst?« Sie stand auf. »Das Geheimnis deiner Erfolge liegt an deiner gewinnenden Art und deiner absoluten Bescheidenheit«, sagte sie. »Wenn es nicht fliegende Roboter waren – warum könnten es nicht Vögel sein?« Cliff ließ die beiden Hähne der Pistole zuschnappen; es gab zwei scharfe, metallisch knackende Geräusche. Dann kletterte er auf den Tisch und befestigte die Pistole wieder zwischen den Halteklemmen. Cliff murmelte verblüfft: »Auf Vögel würde ich nicht tippen. Wie kann man mit diesen dummen, unintelligenten Tieren jemanden umbringen?« Ishmee blieb an der Verbindungstür stehen und sagte: »Denke an Range, den Planeten der mutierten und dressierten Panther! Auch hier war ein dummes Tier in der Lage, sehr genau zwischen Turceed und Terra-
nern zu entscheiden. Erstere sollte es umbringen, letztere verschonte es.« Cliff schlug mit der Hand auf den Bücherstapel. Staub flog auf. »Ein blindes Huhn findet nicht selten auch einen Koch!« sagte er. »Das ist die Idee! Aber wer verfügt über das Wissen, Tiere zu dressieren. Vögel abzurichten, daß sie bestimmte Menschen töten oder angreifen? Und welche Vögel könnten das sein?« Einige Sekunden später stellte Ishmee einen Teller mit Besteck und dem letzten Omelett zwischen die Bücher, Folianten und Lesewürfel auf Cliffs Schreibtisch. Sie sah zu, wie er schnell aß, dann lachte sie auf und sagte: »Die besten Ideen kommen beim Essen. Welche Vögel sind wohl von Natur aus für einen solchen Zweck eingerichtet und förmlich prädestiniert? Sicher keine fischfangenden Kormorane oder Tauben, die Körner picken. Sondern Vögel, die sich von selbstgejagtem Fleisch ernähren.« Cliff zerknüllte die Serviette und sagte hart: »Also Raubvögel!« Ishmee nickte. »Ich habe versucht, durch logisches Vorgehen deinen Raumfahrerverstand in geeignete Bahnen zu lenken. Als Filmschauspieler magst du recht brauchbar sein, aber als Kenner der Geschichte der Waffentechniken bist du ziemlich matt. Du weißt nicht einmal, wer Dougherty war.« Cliff murmelte: »Es gibt drei Menschen, die nicht Vollmenschen sind: Frauen, Sklaven und Barbaren. Das sagte schon Aristoteles. Ich weiß nicht, warum ich dich nicht
schon längst aus der Sonne meines Angesichts verjagt habe! Weißt du, wer dieser verdammte Dougherty war?« Mit ihrem reizendsten Lächeln sagte Ishmee, das goldäugige, schwarzhaarige Mädchen aus der Rasse der wahrheitsliebenden Turceed: »Nein, ich weiß es nicht.« Cliff nahm ihre Hand und küßte ihre Fingerspitzen.
2 Am nächsten Morgen ging Cliff an die Arbeit. Er hatte sich aus dem Archiv der Schnellen Raumaufklärungsverbände nach langer Suche ein faksimiliertes Buch bringen lassen. Es war Brehms Tierleben in einer Ausgabe aus dem Jahr 1927; das Original war eine gehütete Rarität. Band 3: Raubvögel. Hasso Sigbjörnson war bei ihnen, und Ishmee half, wo immer sie konnte. Noch war der versiegelte Umschlag nicht erbrochen worden. Cliff versuchte, die Problematik von der anderen Seite anzupacken. »Raubvögel«, sagte Hasso, der weißhaarige Raumschiffingenieur, einer der ältesten und besten Freunde des Kommandanten. »Es ist, nach allem was ich weiß und was du mir erzählt hast, selbstverständlich möglich, einen Menschen umzubringen, indem man einen wilden oder hungrigen Vogel auf ihn hetzt. Aber diese Kunst ist um das Jahr Zweitausend ausgestorben, Cliff! Hauptsächlich im alten Europa versuchten noch ein paar Romantiker und einige wissenschaftliche Stationen, mit Vögeln zu jagen. Man nannte diese Vögel Beizvögel.« Ishmee notierte, schaltete dann selbständig den Videophonschirm ein und verlangte das Archiv der Zentralen Rechenanlage. Ein Nebenspeicher dieser riesigen Maschine hatte einige Milliarden Bücher gespeichert. Während Ishmee alle Angaben über diesen Begriff verlangte, »Natürlich! Mit persönlichem Boten zu Kommandant McLane! Und es eilt – fragen Sie bitte
beim Büro Wamsler zurück!«, diskutierten Hasso und Cliff weiter. »Hier«, sagte Cliff. »Ich habe sämtliche Stellen unterstrichen, die mir wichtig vorkamen. Ich bin immer mehr der Meinung, daß wir es hier mit einem raffinierten Traditionalisten zu tun haben.« Hasso sagte warnend: »Keine zu schnellen und zu frühen Schlüsse. Uns fehlt jeder Beweis. Was wir hier zu erarbeiten versuchen, ist bestenfalls eine recht einleuchtende Theorie.« Cliff schob ihm die unterstrichenen Passagen aus dem Faksimile-Bogen zu. »Ich verstehe. Aber hier – lies selbst!« Hasso trank Ishmees guten Kaffee, während er las: »... unter den Sinneswerkzeugen ist vor allem das Auge beachtenswert. Es ist immer groß, bei den Nachtraubvögeln besonders, gestattet ein gleichscharfes Sehen in verschiedenen Entfernungen und stellt sich für diese mit größter Leichtigkeit ein... Gehör ebenfalls hochentwickelt... geistige Beschränkung wird nur bei wenigen Raubvögeln beobachtet... die Eigenschaften, wegen denen sie gerühmt werden, sind Mut und Selbstbewußtsein, Gier, Grausamkeit, List und Tücke... welch hoher Ausbildung sie fähig sind, beweisen am schlagendsten am besten die Edelfalken, die vorzüglichsten Räuber, die sich zum Dienste des Menschen heranbilden lassen... prachtvolle Wendungen, pfeilschnelle Angriffe, glänzende Abwehr und mutiges gegenseitiges Verfolgen, sowie mutiges Standhalten sind kennzeichnend...« Hasso sagte leise, fast verblüfft: »Diese Vögel können hervorragende Waffen sein. Jemand hat diese Beizjagd wiederentdeckt und an-
gewendet. Ich muß dieses Kapitel zu Ende lesen, Cliff, um mir ein Urteil bilden zu können.« »Gut. Ich warte inzwischen auf die Beiträge, die unter dem Stichwort Beizvögel gespeichert sind.« Cliff ließ Hasso allein und ging in seinen Wohnraum zurück. Dort schloß er das tragbare Videophon an, wählte eine Nummer und verlangte Marschall Wamsler zu sprechen. Er mußte einige Minuten warten und auf die Dringlichkeit seines Anrufs hinweisen, dann kam Wamsler vor die Linsen. »Was gibt es? Haben Sie etwas Neues?« fragte er aufgeregt. »Ja und nein!« sagte Cliff. »Ich wollte mich nur erkundigen, was die Experten des GSD und die Wissenschaftler ermittelt haben.« Wamsler zupfte an seinem Ohrläppchen und sagte: »Jedenfalls haben sie nichts Aufregendes herausbekommen. Beide Männer sind mit einem Gift getötet worden, das sämtliche Herzmuskeln sofort lähmte. Es wirkte so ähnlich wie die Gasdruckwaffen, ist aber schnell und tödlich. Das Gift ist durch die Wunden in den Kreislauf eingetreten. Was übereinstimmend betont wird, ist, daß niemand in die beiden Wohnungen eingedrungen war. Der Täter kam durch die Luft.« »Wie ein Vogel...«, sagte Cliff. »Was sagten Sie?« fragte Wamsler verblüfft. »Wir versuchen gerade, herauszubekommen, ob jemand die Morde mit dressierten Raubvögeln versucht haben könnte. Aber diese Kunst ist um das Jahr Zweitausend ausgestorben.« »Ausgerechnet bei Verbrechen schlägt der Phantasiereichtum gewisser Menschen geradezu wilde Kreise. Möglich ist alles. Brauchen Sie Hilfe?«, fragte Wamsler.
Cliff erinnerte sich der Worte, die Wamsler beim letzten persönlichen Treffen geäußert hatte. »Wieviel Tage vor ihrem Tod arbeiteten Beristain und Mandellini am Projekt?« erkundigte er sich. »Jeweils etwa fünfunddreißig Tage«, sagte Wamsler. »Warum?« Cliff grinste und schloß: »Weil ich mir dann ausrechnen kann, wieviel Tage es dauert, bis man mich angreifen wird.« Wamsler hob beide Arme und rief: »Sie machen schon wieder Ihre dummen Scherze, Cliff!« Cliff lächelte zögernd und sagte: »Diesmal, fürchte ich, bin ich der Wahrheit ziemlich nahe gekommen. Leben Sie wohl, Marschall – ich wende mich wieder an Sie, wenn ich Hilfe brauche. Ich denke, ich bin auf einer verdammt heißen Spur.« Er schaltete das Videophon aus und ging zurück zu Hasso. Der Ingenieur las noch immer. Cliff betrachtete die Waffensammlung und fragte sich, auf welche Methoden Menschen kommen konnten, wenn sie anderen Menschen Schaden zufügen wollten. Oder war alles nur ein großes Mißgeschick? Zwei Tote sprachen dagegen. * Am Nachmittag wußten sie mehr. Sie erfuhren aus fünf verschiedenen Quellen, wie sich die Sache wirklich verhielt. Bis zum Jahre Zweitausend hatte es an verschiedenen Orten der Erde genügend Männer gegeben, die sich mit der Beizjagd beschäftigten. Sie taten dies meist mit viel Idealismus,
um den aussterbenden Vögeln Gelegenheit zu geben, sich unter besten Bedingungen zu vermehren. Als die Erde endlich daran ging, ihren Planeten wieder zu entgiften und Fauna und Flora wieder die richtige Bedeutung zu geben, hörten diese Versuche binnen eines Jahrhunderts auf. Einige der Raubvogelarten starben tatsächlich aus, die anderen vermehrten und verteilten sich. Es gab jetzt überall dort wieder Tiere aller Arten, wo sie früher gelebt hatten. Frei gelebt. Und es gab keine Falkner mehr und keine Männer, die Raubvögel abrichteten. Am längsten hatten sich in Europa die Bestrebungen, die ›königliche Jagd‹ auszuführen, gehalten. Besonders in Deutschland und in England. Dort gab es auch noch – die Geschichte dieser Länder war vergleichsweise alt, und die Zeugen dieser Geschichte hervorragend restauriert worden – Gutshöfe aus der Zeit der Falkner. Klöster, Dorfschaften und freiwillig bewohnte, echt historische Stätten. Es gab dort Menschen, die in mittelalterlichen Vogteien lebten, in Renaissance-Klöstern oder in alten Residenzen. Oder in englischen Jagdschlössern, inmitten einer Umgebung, die sich seit Jahrtausenden grundsätzlich nicht geändert hatte. »Es ist eine faszinierende Theorie, Cliff«, sagte Hasso Sigbjörnson und klappte das Buch zu. »Jemand mordet diese Männer mit Hilfe von Raubvögeln.« Cliff stapelte die Faksimile-Seiten übereinander und sah zum Fenster hinaus. »Kennst du einen einzigen Menschen in Australien, der Vögel dressiert?« »Nein.«
»Wo erfahren wir etwas darüber? Die Theorie mag richtig sein, aber wir müssen jemanden finden, der uns weiterhilft.« Sie hatten sich im Laufe des Nachmittags über sämtliche Vogelarten, die zur Beizjagd abgerichtet werden konnten, informiert. Sie kannten das Verfahren und wußten, wie die Vögel dressiert werden konnten. Was sie stutzen ließ, waren folgende Umstände: Wenn ein Baumfalke, beispielsweise, oder ein Jagdfalke der Gattung Falco arcticus einen Hasen schlug, so handelte es sich um ein Tier, das von den Treibern oder dem Hund aus der Deckung herausgetrieben worden war. Also ein klar erkennbares Ziel. Aber es war einem Jagdfalken unmöglich, auf Befehl aus einem Haufen von durcheinanderrennenden und hakenschlagenden Hasen einen bestimmten auszusuchen – und zwar genau den, den sein Herr geschlagen haben wollte. Wie stellte dieser wahnsinnige Jäger es an, falls ihre Theorie stimmte, genau einen Mann auszusuchen und verwunden zu lassen? Der Schnabel und die Fänge des Falken waren mit Gift präpariert oder mit winzigen Mordinstrumenten besetzt – das war des Verfahrens einfachste Seite. Aber das eben erwähnte Rätsel blieb. »Wenn das stimmt, was wir uns erarbeitet haben und was wir annehmen, Hasso«, sagte Cliff, »dann sind jene Männer, zu denen auch wir jetzt gehören, ein Team von potentiellen Selbstmördern.« Hasso sagte: »Ich verstehe. Wie kann man sich gegen einen Angriff von Jagdfalken wehren? Sie jagen sowohl am Tag und auch in der Nacht, wenn der Abrichter geschickt war und ihre natürliche Anlage ausgenutzt hat.«
Cliff lachte sarkastisch. »Man schützt sich am besten dadurch, daß man sämtliche Fenster schließt und nicht ans Tageslicht hinausgeht. Und auch nicht in der Nacht die hermetisch verschlossene Wohnung verläßt. Denke an Mandellini – nur ein einziges Fenster stand offen, hoch oben im stählernen Baumhaus.« »Also gibt es keinen wirksamen Schutz, denn niemand von uns kann sich leisten, nur im Haus zu bleiben. Außerdem ist es ebenso ungesund wie ein tödliches Gift.« »Doch!« sagte Cliff. »Es gibt eine Möglichkeit.« Hasso kratzte sich verzweifelt im Nacken. »Wir haben gelesen, daß beim Fang von freilebenden Falken sich die Falkner eines Tricks bedienten. Sie stellten in ihrer Nähe einen Käfig frei auf, in dem sich ein Raubwürger befand, ein Vogel der Gattung Lanius excubitor. Er ist sehr scharfsichtig und fängt an zu zetern, wenn er einen Falken sieht. Dann brauchen wir nur noch ein paar sehr gute Schrotflinten und genügend Munition. Ich werde Wamsler bitten, uns zu helfen.« Hasso deutete auf die Waffensammlung an der Wand. Dort hing eine prächtige antike Schrotflinte, die so gut wie neu war – eine der Waffen, die Cliff nach Borden's Welt mitgenommen hatte. »Wir brauchen Waffen und Munition«, sagte er. »Und Schießtraining. Woher bekommen wir die drei Dinge?« Cliff schrieb eine Nummer auf und gab sie Hasso. »Rufe hier an«, sagte er. »Tery Hoobcins SafariShop. Er wird sich ebenso an dich erinnern wie umgekehrt. Die Rechnung über fünf Waffen und jeweils
dreihundert Schuß Munition soll er an Wamsler schicken. Ich gehe ins Nebenzimmer und rufe den Marschall an.« Hasso salutierte scherzhaft und sagte: »Wird ausgeführt, Kommandant. Ich habe den Eindruck, daß endlich der gebührende Schwung in die Sache kommt. Warum sind die Leute vom GSD noch nicht so weit wie wir?« Cliff blieb ernst, als er antwortete: »Das kann ich dir genau sagen! Weil sie nicht ein Zehntel der Erfahrungen mit exotischen Planeten und noch viel mehr exotischen Vorkommnissen haben, die wir besitzen.« »Das ist klar. Ich spreche mit Hoobcin, und du sagst Wamsler, er soll Vögel fangen.« Cliff verließ sein Arbeitszimmer und setzte sich auf den Boden. Langsam tippte er die Nummer Wamslers in den Apparat. Der Schirm wurde hell. * Hasso Sigbjörnsons Erinnerung funktionierte vorzüglich. Auf der Fläche des Videophons in Cliffs Arbeitszimmer war eine leibhaftige Sekretärin erschienen. In dieser Zeit konnten sich nur wenige Leute einen Anachronismus dieser Art leisten; es war einfach zu teuer. Und diese Sekretärin trug ein Kleid, das offensichtlich aus dem Fell eines der Leoparden von Captain Borden's World geschneidert worden war. Sie erkannte Hasso, aber sie wußte seinen Namen nicht mehr. »Hier Safari-Shop Tery Hoobcin«, sagte sie und runzelte ihre Stirn. »Sie kommen mir bekannt vor, Mister...«
Hasso lächelte gewinnend. »Sigbjörnson. Ich war es, der Sie auf einer Party vor etwa einem Jahr mit spanischen Oliven beworfen hat!« Sie lachte. »Richtig! Der Bordingenieur aus der Mannschaft dieses verrückten Raumfahrers. Sie wollen Tery Hoobcin sprechen?« »So ist es.« Sie schaltete sofort um. Hasso blickte jetzt in ein Büro, dessen Wände voller exotischer Trophäen hingen. Hoobcin, fünfzigjährig, grauhaarig und schmalköpfig, wedelte mit der Hand. Sein Gebiß war zweifellos das Teuerste an seinem Kopf. »Hasso Sigbjörnson! Man liest viel von euch, sieht euch aber selten. Wie geht es dir, mein Lieber?« Hasso hob die Hand, spreizte die Finger ab und begann aufzuzählen. »Tery«, sagte er eindringlich, »wir brauchen etwas von dir. Und zwar sehr gute Waffen, mit denen wir uns gegen den Angriff sehr schneller, sehr wendiger und auch nachts angreifender Kleinstsaurier erwehren können. Ein neues Abenteuer der alten ORIONCrew.« Hoobcin grinste breit und sagte: »Cliff war mit der Waffe, die er benutzte, sehr zufrieden. Wieviel braucht ihr?« »Fünf. Dazu fünfzehnhundert Schuß Munition. Schrotfinten, Tery.« Nach einigen Sekunden intensiven Nachdenkens sagte Hoobcin halblaut: »Ich werde euch fünf Schrotflinten von Browning, Typ Labour action schicken. Zwei aufgebockte Läufe,
davon einer ein Schußlauf, der andere ein Ladelauf. Fünfzehn-Schuß-Magazin, Kaliber 12, maximale Zielsicherheit sechzig Meter. Wohin?« Hasso sagte: »Sind das vollautomatische Waffen? In Cliffs neue Wohnung, ORION-Island.« Hoobcin stopfte seine Pfeife; ein riesiger Mechanismus mit metallenem Kopf und hölzernem Stiel. Die Stimme des Großwildjägers war heiser und rauh von Drinks und eiskalten Winden. Sein Körper enthielt mehr Prothesen als der Ausstellungsraum eines Orthopäden. Er fragte mißtrauisch, über die Flamme eines fingerlangen Zündholzes hinweg: »Wozu braucht ihr diese Musketen, Freund Hasso? Auf keinen Fall für Saurier. Ich glaube, ich kann mir da ein Urteil erlauben.« Hasso blieb fest. »Kein Kommentar, Tery. Ich bin verpflichtet, nichts zu sagen. Schicke uns die fünfzehnhundert – nein, für Cliff auch dreihundert, also die achtzehnhundert Schuß Munition und die fünf Waffen nach ORIONIsland. Noch etwas...« Hoobcin stieß eine Rauchwolke aus und brummte: »Ja? Sei ehrlich, frage viel – Hoobcin weiß für jeden und für alles einen Rat.« »Dann kannst du mir auch sagen, woher ich sechs europäische Raubwürger bekomme? Lateinischer Name Lanius excubitor. Mit Käfigen und Gebrauchsanweisungen.« Hoobcin fragte trocken: »Ihr wollt doch nicht etwa Jagdfalken fangen, Hasso? Das ist ein Geschäft, von dem Raumschiffer nichts verstehen.«
Hasso beherrschte sich mustergültig und sagte keinen Ton. Er schaltete nur den Kassettenrecorder ein, der zwischen den Papieren, Lesewürfeln und Blättern des Schreibtisches lag. Dann sagte er mit falscher Freundlichkeit: »Keine Jagdfalken... was sollten wir mit Falken, die wir jagen, Tery? Also – woher bekommen wir diese Laniusse?« »Ich habe einen Sportsfreund in Großbritannien«, murmelte Hoobcin und suchte in seiner Kartei. »Einen Moment... hier ist er.« Er las die Adresse vor. Dann hob er den Kopf, sah Hasso neugierig an und fragte: »Hast du dir die Adresse nicht aufgeschrieben?« Hasso grinste und erwiderte: »Herzlichen Dank, Tery. Solche Adressen merke ich mir ohne Zettel.« Hoobcin zog an der Pfeife, stieß einen Rauchring aus und hustete entsetzlich Dann hob er die Hand und murmelte: »Ich habe zu tun, Hasso – braucht ihr noch etwas? Die Waffen sind in zwei Stunden bei euch.« »Danke, Tery«, sagte Hasso. »Wie geht es der Charter-Jagd?« »Hervorragend«, sagte Hoobcin. »Ich bin auf dem besten Weg, ein Monopolkapitalist zu werden.« Sie trennten die Verbindung. Hasso ließ das Band zurücklaufen, notierte die Adresse des englischen ›Sportsfreundes‹ und ging hinüber zu Cliff. Er sah Wamslers großflächiges Gesicht auf dem Bildschirm und setzte sich neben Cliff in den Teppich. Dann unterbrach er und sagte:
»Marschall Wamsler – die Vögel, die wir brauchen, bekommen Sie mit größter Wahrscheinlichkeit bei dieser Adresse. Es ist aber besser, die Leute vom GSD beschlagnahmen zur Tarnung die Vögel und noch etwas mehr unter einem möglichst stichhaltigen Vorwand. Projekt Suizid beginnt bereits jetzt, im Untersuchungsstadium, Wellen zu schlagen.« Wamsler grollte mit seiner Baßstimme: »Wie nannten Sie dieses Projekt?« Hasso antwortete ruhig: »Suizid. Selbstmord. Denn in Wirklichkeit sind alle, die an diesem Projekt arbeiten, gefährdet. Wir wissen es immerhin und versuchen uns zu schützen, so gut es geht. Schon allein aus diesem Grund sollten wir die Raubwürger sehr schnell bei uns haben.« Wamsler hatte sich die Adresse notiert und hatte auch begriffen, worum es ging. Er versprach, schnell zu handeln und alles andere zu veranlassen. Die Verbindung wurde getrennt, und Hasso legte, als der Schirm stumpfsilbern geworden war, Cliff seine Hand auf die Schulter. »Mein Freund«, sagte er ernst, »heute abend werden wir beide Tery Hoobcin besuchen und ihn hochnotpeinlich verhören.« Cliffs Unterkiefer sank herab. Er fragte entgeistert: »Hoobcin? Tery Hoobcin, der Großwildjäger? Was hat er mit den Jagdfalken zu tun?« »Das werden wir ihn fragen. Als ich mich erkundigte, woher wir diese warnenden Vögel bekämen, fragte er mich sofort, ob wir Jagdfalken fangen wollten. Ich konnte mich noch rechtzeitig beherrschen – aber es war eine Frage, die ich nicht erwartet hatte.« »Ich hätte sie auch nicht erwartet, Hasso. Einver-
standen. Wir besuchen Tery und fragen ihn... aber ich bin sicher, er hat mit den Morden nichts zu tun.« Hasso blieb skeptisch. »An deiner Stelle wäre ich nicht sehr sicher, Cliff. Es geschehen manchmal unglaubliche Dinge; niemand weiß dies besser als wir.« Sie standen auf, nickten sich zu und wußten, daß zwei Tage genügt hatten, Projekt Suizid in ein gefährliches, tödliches Stadium treten zu lassen. Von jetzt ab waren sie ebenso gefährdet wie Mandellini und Beristain. * Die beiden großen, schlanken Männer standen im Schatten neben dem Liftausgang; es war sehr unwahrscheinlich, daß jemand um diese Zeit noch den Lift benützen und auf der Ebene des Dachgartens aussteigen würde. Über der Insel im Carpentariagolf standen die funkelnden Sterne, strahlten und erloschen wieder im Rhythmus der Heißluftschlieren, die von der Landschaft und vom Meer aufstiegen. Es war eine heiße, fast schwüle Nacht ohne jeden Wind. Beide Männer hielten den Atem an. Sie waren in halbhohe Stiefel und enge Hosen aus Kunstleder gekleidet. Jacken aus demselben Material lagen um die Oberkörper. Unter den Jacken hingen breite Patronengurte von den Schultern bis zum Gürtel, und in den Händen hielten beide Männer die schweren automatischen Schrotflinten. Die Gasdruckwaffen steckten entsichert im Gürtel. »Los!« wisperte Cliff. »Im Schatten bleiben!« flüsterte Hasso zurück.
Zwischen den von verborgenen Lichtern angestrahlten Plastiken zwischen den kunstvoll arrangierten Kleinbäumen, Büschen und Hecken und den plätschernden Springbrunnen huschten die beiden Mitglieder der ORION-Crew auf lautlosen Sohlen auf den Eingang des Safari-Shop-Büros zu. Dahinter, auf der anderen Seite des Flachbaus auf dem Dach dieses Hochhauses, lagen die Privaträume von Hoobcin. »Er ist auf alle Fälle hier?« fragte Hasso. »Ja. Zwei Beamte des GSD haben es bestätigt.« Sie schlichen entlang einer Hecke, tauchten schnell in den Schatten einer Fünfergruppe von Zierbäumen unter und blieben hinter einer Plastik stehen. Sekundenlang brach sich das Licht an den langen, blauschimmernden Doppelläufen der Flinten. Beide Männer wußten nicht genau, mit welchen Geräuschen der Angriff eines Jagdfalken verbunden war – aber der Tod der beiden Männer ließ ahnen, daß der Überfall blitzartig und ohne viel Geräusche vor sich gegangen sein mußte. Vermutlich ein Schwingengeräusch, das Pfeifen der Luft durch die Federn, besonders durch die Schwungfedern der Flügel. Sie kamen an der glatten Wand vorbei, duckten sich unter einem Lichtband und verschwanden in der Finsternis eines Umganges, der wie eine Pergola ausgebildet war. Pflanzen hingen, betäubend duftend, von den Holzbalken und über die Stahlröhren hinunter. Cliff hielt an und streckte den Arm aus. Sie hatten die Waffen bereits am Lift entsichert und die Hähne gespannt. Hasso prallte gegen den Arm und blieb stehen. »Ja?« flüsterte er dicht an Cliffs Ohr.
»Die Tür ist offen – vielleicht erwartet er uns?« Sie kamen nicht auf die Idee, Tery Hoobcin zu unterschätzen. Er taugte als Jäger mehr als doppelt soviel wie sie beide. Aber auf ihrer Seite lag vermutlich die Chance der Überraschung. Sie gingen weiter, jetzt die Gasdruckwaffen schußbereit in den Händen. Vor ihnen, nur wenige Schritte entfernt, standen beide Flügel einer Jalousientür offen. Auf ein Zeichen Cliffs warfen sich beide Männer durch die Öffnung und rechts und links von der Tür zu Boden. Alles geschah fast geräuschlos. Cliff robbte drei Meter und versuchte sich zu erinnern, wo er während der Party vor einem Jahr die Kontakte für die Beleuchtung gefunden hatte. Endlich fand er den Schalter. Klick. Der Raum wurde an fünf Stellen gleichzeitig hell; Tiefstrahler beleuchteten Tischflächen, einen Teil des Teppichs und ein riesiges, aufgeschlagenes Buch. Hasso und Cliff standen auf, kamen aus der Deckung heraus. Tery Hoobcin saß bequem in einem aufgeklappten Sessel, hatte in der Hand ein fast leeres Glas und grinste kalt. »Ihr habt mich verdammt warten lassen«, sagte er mit seiner heiseren Stimme. »Das Eis ist geschmolzen. Es gibt nichts Schlimmeres in einer solchen heißen Nacht als warmen Whisky. Was wollt ihr, Freunde?« Cliff warf seine Schrotflinte auf eine Couch. Die Gasdruckwaffe behielt er mit der Hand. »Tery«, sagte er ernst und nachdrücklich, »es ist wahrscheinlich, daß ich dir bitter unrecht tue. Aber zwei, vielleicht auch drei Raumfahrer sind ermordet worden. Ich bin nicht hier, um sie zu rächen, sondern
um dich zu fragen.« Tery grinste und fragte seinerseits: »Whisky?« »Nein, danke. Woher weißt du, Tery, daß es Falken gibt? Jagdfalken? Es ist eine Kunst, die seit langem ausgestorben ist.« Hoobcin deutete mit dem Daumen nach rechts, auf das riesige Buch, das auf einem Pult lag. Ein handbesticktes Lesezeichen aus Stoff lag zwischen den Seiten. Cliff ging, ohne Tery aus den Augen zu lassen, hinüber und schlug das Buch zusammen. Er las den Titel: De Arte Venandi Cum Avibus. »Verfasser ist Kaiser Friedrich der Zweite«, sagte er leise. »Das Original dieses wertvollen Photonachdruckes ist in Augsburg, im Jahre 1596 gedruckt worden.« Tery Hoobcin schob seine Hand zwischen die Säume seines schwarzen Frotteemantels und kratzte sich auf der Brust. Hasso verfolgte diese Bewegung mit der Waffe. Tery grinste. »Du bist ein Idiot, Cliff McLane, und Hasso hat sich von dir anstecken lassen. Wann ist der erste Mensch auf Luna, dem irdischen Mond gelandet?« Ohne zu zögern, antwortete Cliff: »Neil Armstrong mit ›Eagle‹, einundzwanzigster Juli 1969. Der Mond wurde betreten um fünf Uhr sechsundfünfzig Minuten zwanzig Sekunden. Warum fragst du?« »Ich sagte es schon: Du hast dich unsterblich blamiert, Cliff.« Tery stand auf und deutete mit der Hand auf Cliff. »So wie du jedes wichtige Datum aus der Geschichte der Raumfahrt kennst, einfach deswegen,
weil du ein guter Schiffsführer bist, so muß ich jedes wichtige Ereignis aus der Geschichte der Jagd kennen. Kennst du Ortega y Gasset? Er schrieb über die Jagd. Kennst du natürlich nicht. Es wäre gerade eine Beleidigung, wenn ich nicht eine ganze Menge über die Beizvögel wüßte.« Hasso knurrte: »Er hat recht, Cliff.« Der Kommandant sagte scharf: »Sehr ungewöhnlich ist es nicht, zugegeben. Die Tatsache ist folgende, Tery: Jeder, der etwas über Beizvögel weiß, macht sich verdächtig. Zwei Raumfahrer sind mit Hilfe solcher Raubvögel ermordet worden.« Terys Gesicht blieb unbewegt. Er sagte: »Mandellini und Beristain?« »Richtig. Weißt du, wer ihn umgebracht hat? Wer hält Beizvögel? Wer jagt mit ihnen? Wer züchtet Raubwürger, diese Warnvögel, und warum? Wo finde ich den Mann, der Vögel derartig perfekt dressieren kann, daß sie unweigerlich ihr Ziel finden und einen Mann ermorden, indem sie ihn mit Schnäbeln oder Krallen verwunden? Das sind die Fragen, die uns bewegen – da blamiere ich mich notfalls auch.« Tery drehte sich um, nahm Eis aus einem Kühler, füllte drei Gläser und reichte Cliff und Hasso je eines davon. Er winkte lässig ab, als Cliff zu neuen Fragen ansetzte. »Cliff! Glaubst du allen Ernstes, ich könnte etwa von Mördern wissen und schweigen? Oder etwa sogar mitverantwortlich für die Morde sein? Du bist komplett verrückt. Ich habe erst eben erfahren, daß Beizvögel auch als Mordinstrumente eingesetzt worden sind – aus der Geschichte ist mir nichts bekannt.«
Cliff hielt in einer Hand das Glas, in der anderen noch immer die Gasdruckwaffe. Er fragte: »Woher kennst du den Mann, der die Alarmvögel züchtet?« Augenblicklich antwortete Tery: »Es ist der Chef einer Vogelwarte. Ein uralter, weißhaariger Mann, ein stiller Wissenschaftler. Er züchtet neben den Raubwürgern noch zweihundert andere Vogelarten. Außerdem beschäftigt er sich als Präparator – vier der ausgestopften exotischen Flugsaurier und Vögel in meinem Büro sind von ihm präpariert worden. Das ist die Lösung des Geheimnisses.« Hasso steckte seine Waffe zurück und setzte sich. Leise murmelte er: »Und wo wird heute noch mit Beizvögeln gejagt?« Tery erwiderte: »Soweit mir bekannt ist, nur an einer Stelle. Im ehemaligen Großbritannien, in der historisch erhaltenen Stadt Wallance.« »Wer hält diese Vögel?« »Ein alter Raumfahrer. Der Earl Arys of SvendWallance. Er hat drei oder vier Jagdfalken und einen reichlich alten Adler. Der Adler ist fast so alt wie Arys Adel.« Jetzt steckte auch Cliff die Waffe zurück und lehnte sich neben Tery an die Holzwand. »Verdammt!« sagte er ausdruckslos. »Ein Raumfahrer! Ausgerechnet. Hältst du es für möglich, daß Earl Arys in die Mordsache verwickelt ist?« Tery schüttelte entschieden den Kopf. »Das ist vollkommen unmöglich, Cliff. Beristain und Mandellini müßten etwa sein Jahrgang gewesen
sein. Alles Männer der ersten Jahre, hochdekoriert, tüchtig und ehrlich. Arys ist auf keinen Fall in diese Sache verwickelt.« Cliff fragte: »Wenn es etwas gibt, das in deine Kompetenzen fällt – wurdest du uns dann helfen?« »Selbstverständlich, Raumfahrer!« sagte Tery. Sie tranken langsam ihre Gläser leer. Cliff hatte zwar das Gefühl, eine Niederlage erlitten zu haben, gleichzeitig aber freute er sich darüber, weil sich Terys Unschuld herausgestellt hatte. Trotzdem blieb er mißtrauisch. Er würde auf alle Fälle nicht aufhören und zunächst einmal sich Wallance ansehen, mit dem Earl reden und zusehen, wie er mit seinen Falken jagte. Aber er ahnte sehr deutlich, daß die Gefahr jetzt eher noch zugenommen hatte. Langsam stand er auf und stellte das leere Glas ab. »Danke, Tery«, sagte er. »Übrigens: Ab jetzt bist du Mitwisser. Und ebenso gefährdet wie wir. Nimm dich in acht, am Tag und in allen anderen Stunden. Und übe fleißig mit der Schrotflinte.« Tery lachte nur. »Komm«, sagte Hasso zu Cliff. »Gehen wir schlafen. Morgen sehen wir weiter – wir fangen erst an. Diesmal hatten wir glücklicherweise keinen Erfolg. Kannst du uns das Mißtrauen verzeihen, Tery?« Hoobcin grinste sarkastisch. »Da ihr meine Freunde seid, schmerzt es mich zutiefst... aber im Vertrauen: Ich hätte das gleiche unternommen wie ihr. Ich habe sehr viel übrig für wagemutige Männer. Mörder verachte ich. Wenn ihr mich braucht, und ich bin nicht gerade auf Safari... Anruf genügt. Klar?«
»Verstanden, Tery«, sagte Cliff. »Gehen wir.« Sie nahmen ihre Waffen, schüttelten Tery Hoobcin die Hand und gingen auf dem gleichen Weg zurück, den sie gekommen waren. Diesmal blieben sie nicht im Schatten, achteten aber darauf, ob sich über ihnen etwas durch die Luft bewegte. Außer einem startenden Diskusschiff, dessen Triebwerke zwischen den Sternen aufleuchteten, sahen sie nichts. Nur einen besonders großen Stern: das Große Schiff der Dara, noch immer unbeweglich über Australien stehend im Sonnenlicht. »Mist, verdammter!« sagte Cliff, als sie auf den Wagen Hassos zugingen. Das Verdeck war geschlossen. Hasso sagte beschwichtigend: »Sei nicht niedergeschlagen. Lieber ein Mißerfolg als tot.« Der weißhaarige Ingenieur setzte sich an die Steuerung und schaltete die Turbinen ein. Langsam rollte der Wagen an, die Scheinwerfer beleuchteten die Piste, und durch die geöffneten Seitenfenster kam der frische, kühlende Fahrtwind herein. Cliff knurrte verdrossen: »Ich trage einen Sarong, und du verbreitest fernöstliche Weisheiten. Aber du hast recht. Morgen früh lassen wir uns nach England bringen. Wohlgemerkt: bewaffnet!« »Ohne Zweifel!« schloß Hasso. Er nahm den äußeren Ring und setzte Cliff an der Brücke ab, auf die eine breite Wendeltreppe hinaufführte. Es war drei Uhr nachts. Cliff verabschiedete sich, holte seine Browning von den Rücksitzen und ging die Wendeltreppe hinauf, überquerte die Brücke
und verschwand endlich in der langen, schwach erleuchteten Transportröhre. Kurze Zeit später war er auf der riesigen, unterteilten und in mehreren Ebenen angelegten Terrasse im hundertsten Stockwerk des Inselturms. Er ging langsam über die weißen Steinquadern, blieb einen Moment nachdenklich stehen und starrte auf das Meer hinaus, auf dem die Sicheln der Wellen zu sehen waren. Nichts sonst. Überall waren die Lichter längst ausgeschaltet worden, nirgends war mehr Musik zu hören. Cliff ging weiter, eine kleine Treppe hinauf und kam am Swimming-pool vorbei, in den sich zwanzig Wohnungsinhaber teilten. Er hörte etwas, schaltete blitzschnell und blieb stehen. Sein Daumen schob den Sicherungsflügel herum, Cliff spannte den Hahn der Waffe. »Nichts...«, flüsterte er. Hatte er bereits Halluzinationen? Sah und hörte er eingebildete Vögel und Geräusche, wo es keine gab? Da, wieder. Cliff lief langsam auf seine Wohnungstür zu, hielt aber die Waffe schußbereit. Über ihm, völlig unsichtbar, ertönte ein schwirrendes Geräusch, als ob ein großer Vogel auf der Stelle schwebte und ›rüttelte‹, wie es in der Fachsprache hieß. Aber – Cliff, der sich bemühte, die Quelle des Geräusches zu lokalisieren, sah nichts. Er tastete in seiner Brusttasche nach dem Schlüssel und fand ihn nach endlosen Sekunden. Er drehte sich nicht um, als er ihn gegen das Schloß preßte. Die Tür schwang langsam auf. Im gleichen Moment wurde das Sausen und Pfeifen, dieses unheimliche Schwirren lauter und näherte sich. Cliff sah noch immer nichts, machte einen Sprung in den Korridor hinein und hob das Gewehr.
Jetzt hatte er eine Chance. Wenn dieser verwünschte Vogel – denn nichts anderes lauerte in der Luft auf ihn – sich gegen das Rechteck der Tür abzeichnete, konnte er ihn treffen. Cliff hob die Flinte hoch und zielte. Alles, was er sah, war ein schneller Schatten auf den hellen Steinen, dann wurden die Geräusche der Schwingen lauter, schneidender, brachen ab. Mit einigen harten, fast knatternden Flügelschlägen entfernte sich der Vogel. Die Geräusche wurden leiser, der sichelförmige Schatten war verschwunden. »Das war der lautlose Tod«, sagte Cliff. »Und er war sehr nahe.« Mit einem wütenden Fußtritt warf er die Tür zu, machte in sämtlichen Räumen Licht und schloß die Fenster. Er stellte die Klimaanlage auf einen höheren Wert ein und wünschte, daß Wamsler endlich einen großen, stählernen Käfig mit einem Raubwürger beschaffen würde. Selten war Cliff dem Tod so nahe gewesen wie vor einigen Minuten.
3 Noch immer war der Umschlag mit den Daten über Carrere Theta Xi verschlossen. Selbst jetzt, als sich die ORION-Crew in Cliffs großer Wohnung getroffen hatte, wußte nicht einmal Hasso Sigbjörnson von dem Rätsel dieses Planeten. Cliff hatte, was selten geschah, eine einsame Entscheidung gefällt und sich entschlossen, durch provokative Handlungen den Fluß der Dinge zu beschleunigen. Er war bereits als Ziel identifiziert und angenommen worden. Jetzt saßen sechs Personen auf dem hohen Teppich in Cliffs Wohnraum. Sechs Flinten lagen herum, die Plastikschachteln mit den Patronen stapelten sich. Und die Gesichter der Crew waren ziemlich angespannt – sie wußten nicht genau, worum es ging. Sogar Atan Shubashi trug Zivilkleidung; farbige Akzente herrschten vor. »Ich darf doch mit Recht annehmen, daß wir hier sind, weil es sich um einen Einsatz handelt?« Etwas mißtrauisch und ziemlich ungeschickt griff Helga Legrelle nach dem Schaft des automatischen Schrotgewehres. »Du hast recht«, sagte Mario. »Cliff würde niemals seinen edlen Kaffee an uns verschwenden, wenn wir nicht in offizieller Mission hier wären.« »Sehr richtig«, bemerkte der Kommandant bitter. »Ich freue mich, wenn dumme Bemerkungen ausschließlich auf meine Kosten gemacht werden. Nun zum Programm. Das hier ist für uns, außer Hasso und mir, denn wir waren schon früher daran beteiligt, ein Auftrag. Ein Auftrag, der uns erst später in
den Weltraum bringen und in den nächsten Tagen oder Wochen hier, auf der Erde, festhalten wird. Zunächst eine deutliche Warnung. Wir sechs sind ein Team der Selbstmörder. Der Auftrag heißt Projekt Suizid. Zwei Raumfahrer wurden ermordet, auf mich wurde gestern um zwei Uhr dreißig nachts ein Mordversuch unternommen. Deswegen auch die sechs Vögel in den Käfigen, deswegen auch diese furchterregende Waffensammlung. Wir...« Er schilderte ihnen genau, was vorgefallen war, sparte aber alles aus, was sich mit dem merkwürdigen Giftplaneten verbinden ließ Die erste Aufgabe bestand darin, zu lernen, mit den Waffen umzugehen. Während Cliff und Hasso ihr Vorhaben wahrmachten, sollten Ishmee, Helga, Atan und Mario auf der Insel, die Tery Hoobcin gemietet hatte, Schießübungen auf Tontauben abhalten. Zwei Tage lang. Nebenbei, wie unbeabsichtigt, sollte Mario de Monti alles für eine große, lustige Party vorbereiten und dieses Vorhaben gebührend laut kundtun. Cliff hörte auf zu sprechen und rührte in seinem Kaffee. »Begriffen?« fragte er. »Nein«, meinte Atan ironisch. »Inzwischen habe ich mich zum Analphabeten zurückentwickelt.« Helga sagte nach einem langen Seitenblick auf Atan, der das Haar seines Toupets aus der Stirn strich und den Schaft der Waffe streichelte: »Alternde Astrogatoren sind wie Zigaretten: zuletzt sammelt sich das ganze Gift im Mundstück.« Ungerührt gab Shubashi zurück: »Unter den Nichtssagenden ist die Eintönige Kaise-
rin, sagte einmal jemand. Wirst du auch mit dem Gewehr treffen, wenn nachts die Falken kommen?« »Vermutlich«, sagte Helga. »Wann fliegt ihr?« Cliff antwortete: »In einigen Stunden. Wamsler hat alles eingerichtet. Wir alle werden überall erwartet. Jeder von euch nimmt einen Vogel mit und bleibt in seiner Nähe. Wenn der Raubwürger zu schreien anfängt, ladet ihr am besten durch und fangt an, ein Ziel zu suchen.« »Verstanden«, sagte Mario und stand auf. »Danke für den Kaffee.« »Bitte«, sagte Ishmee. Sie verabschiedeten sich voneinander. Zwei der Warnvogel blieben hier in Cliffs Wohnung, die anderen wurden mitgenommen. Die vier Personen wurden abgeholt, ein Helikopter brachte sie auf die kleine Insel, auf der sie schon einmal trainiert worden waren. Drei Tage lang sollten sie dort provozierend Schießübungen abhalten. Zwei Reporter waren bereits verständigt worden; nichts würde unbemerkt bleiben. Und Mario würde hier oben, auf der Terrasse von ORION-Island, die Party ausrichten. Zwar sah das sehr nach einem makabren Scherz aus, aber anders konnten sie nicht hoffen, den Mörder anzulokken – beziehungsweise seine tödlichen Raubfalken. * Ein modifiziertes LANCET-Modell, für schnellen, interatmosphärischen Flug eingerichtet, erwartete Hasso und Cliff auf dem kleinen Startplatz an der Oberfläche, nahe einem Liftschacht, der hinunter in das Betonlabyrinth der Basis 104 führte. Und Wamsler
erwartete sie ebenfalls. Er schüttelte beiden Männern die Hände und sagte: »Ich habe die Vögel besorgen können. Mit Villa zusammen sind wir das Dossier von Arys of SvendWallance durchgegangen. Nichts. Geradezu auffallend sauber. Der Graf ist vor zwanzig Jahren aus der Flotten-Raumfahrt ausgeschieden und lebt seit dieser Zeit auf seinem Sitz in Wallance. Er ist Bogenschütze, züchtet alle möglichen Tiere und setzt sie in den Wäldern aus, jagt sie mit Falken und widmet sich dem kontemplativen Leben. Übrigens: er hat einen Essay über Dougherty geschrieben.« Cliff streichelte die silberne Hülle der LANCET und fragte ungläubig: »Über wen?« Wamsler machte eine geradezu ehrfürchtige Geste. »Über den großen Frank Hoium Dougherty, Cliff. Sie haben Funkgeräte mit, die Waffen; ein Vertrauensmann wird sich melden, sobald Sie beide in Wallance angekommen sind. Brauchen Sie sonst noch Unterstützung?« »Nein«, sagte der Kommandant. »Ich denke nicht. Haben Sie sich mit de Monti in Verbindung gesetzt?« Wamsler lächelte kalt. »Ja. Auf der Party werden mehrere Mitglieder des Selbstmörderteams anwesend sein. Auch Villa und ich. Alles wird ganz groß herausgebracht. Die Kosten übernimmt die T.R.A.V.« »Meine Seelenruhe während des Fluges ist gesichert«, sagte Cliff zufrieden. »Leben Sie wohl, Marschall.« Sie stiegen ein. Es gab nur drei Passagiersessel; einer davon blieb leer und nahm das Gepäck auf.
Selbstverständlich waren die Schrotflinten dabei. Und einige Geräte, die man nicht als Waffen bezeichnen konnte. * Die Insel war ganz anders, als Cliff und Hasso sie sich vorgestellt hatten. Zwar sah grundsätzlich alles so aus, wie man es von Europa oder den anderen Erdteilen gewohnt war – also unterirdische, abgasarme Fabriken, neue Aufforstungen, frische Flüsse und wohltuend saubere Wohngebiete, aber hier schien wirklich die Wurzel der Tradition dicker zu sein als in anderen Teilen der Erde. Wo immer ein Gebäude stand, das von historischem Wert war, hatte man es sorgfältig und mit großem Aufwand restauriert. Cliff und Hasso wohnten in einem Gasthof, der älter als zwei Jahrtausende war. Außen war die Fassade unbedingt historisch – innen vermißte man keinen Luxus. »Einige Kontinente näher am Feind«, sagte Hasso und packte seine Reisetasche aus. Er legte das gesicherte Gewehr unter die Klappliege. Cliff sah aus dem Fenster und studierte die Einzelheiten der englischen Landschaft. Sie war, wie alles hier, so gänzlich verschieden von der gewohnten Umgebung Australiens. Ruhiger, ausgewogener, als sei sie schon seit Äonen so und nicht anders gewesen. »Zuerst steht vor dem Feind und vor uns noch ein Abendessen«, murmelte Cliff. »Schreiten wir also hinunter in den historischen Gastraum. Essen wir.« Sie machten sich zurecht. Langsam fingen sie an, sich in der veränderten Umgebung wohlzufühlen.
»Keine Angst?« fragte Hasso kurz. »Nein. Noch nicht«, antwortete Cliff. »Nicht vor dem Essen.« Hasso grinste ein wenig. »Wir werden nach dem Essen einen Wagen mieten und Earl Arys besuchen. Wir sind Raumfahrer, er auch – also gibt es eine Verbindung. Eine zweite wird meine Frage nach Frank Hoium Dougherty sein.« »Ich verstehe«, sagte Hasso. »Wenn uns hier ein Jagdfalke belästigt, dann ist Svend-Wallance der Mörder.« »So ist es«, antwortete Cliff. Sie aßen in einem Raum, in dem schon Shakespeare gesessen sein könnte; alt, dunkle Täfelung und eine langsame Kellnerin. Das Essen schien kaum von einer Robotküche zu stammen. Es war so wie die Umgebung, wie der Kamin, der brannte, trotz des frühen Nachmittags. Schwer, würzig und sehr sättigend. Sie waren hier wirklich in einer anderen Welt. Mit der Kellnerin, die Cliff nicht einmal ansah, begann Hasso eine kurze Unterhaltung, und dabei erfuhr er, daß eine der Beschäftigungen des Earls, den hier jeder zu kennen schien, das Reparieren und Unterhalten uralter Fahrzeuge war, die man ›Automobile‹ nannte. Hasso bestellte, als er seine Rechnung abzeichnete, einen Wagen. Es würde zehn Minuten dauern, erfuhren sie. Cliff sagte beunruhigt: »Wir haben einen zweiten Flug mit der Zeitmaschine unternommen, Hasso. Das ist eine Welt, wie es sie vor fünfzehnhundert Jahren gab. Sie ist nicht wirklich!« »Es sieht so aus, als hättest du recht«, meinte Hasso.
Sie gingen in ihre Zimmer zurück, steckten sicherheitshalber die HM 4 ein und schnallten die Taschen mit der Gasdruckwaffe unter die Jacken. Dann erhellte sich der Videophonschirm, und der Mann vom Empfang sagte, daß der gemietete Wagen eingetroffen sei. »Wir kommen.« Cliff blieb am Empfang stehen und erkundigte sich nach dem Weg zum Gutshof des Grafen. Er fragte zweimal nach, um sich Einzelheiten besser merken zu können und ging dann mit Hasso zusammen aus dem Raum. Einige Bewohner des Dorfes, in fast anachronistische Kleidung gehüllt, sahen den beiden modern gekleideten Fremden nach und widmeten sich dann wieder einem grünlichbraunen Getränk, von dem Hasso wußte, daß man es ›Tee‹ nannte. Vor dem Hotel war eine große Kiesfläche, einige Wagen waren darauf geparkt. Es waren Modelle von Turbinenfahrzeugen, die Cliff und Hasso tatsächlich in technischen Museen gesehen hatten – exzellent gepflegt und wie fabrikneu aussehende Kopfschüttelnd bestiegen die Raumfahrer ihren Wagen; ein neues, aber kleines und wie ein Kasten wirkendes Modell. Fünf Minuten lang brauchte der Kommandant, bis er die verschiedenen Hebel und Knöpfe entschlüsseln konnte. Dann stob der Wagen mit durchdrehenden Rädern und wild aufheulender Turbine aus dem Hof hinaus, über eine schwarze, gewundene Asphaltstraße und eine Brücke voller Schlaglöcher, die den Wagen hochwarf und bocken ließ. Hasso klammerte sich an zwei Handgriffen fest und stöhnte: »He! Du bist nicht in der ORION. Gib dem Earl
noch eine Chance und bringe uns nicht schon vorher um.« »Vergiß nicht«, sagte Cliff. »Wir sind von Wamsler angemeldet.« »Nein, bestimmt nicht. Ich werde mich daran erinnern, wenn ich lebend auf Gut Wallance angekommen bin.« Sie fuhren durch ein Stückchen Wald, dann um einen Hügel herum, hielten mehrmals vor Wegweisern, auf denen in alten Lettern die Orte und die Entfernungen angegeben waren. Cliff steuerte den kleinen, wendigen Wagen und erkannte sehr rasch, daß es einer ganz anderen Fahrweise bedurfte, um nicht sämtliche Meilensteine mitzunehmen. Einmal fuhr er schlitternd in eine Schar Hühner hinein, die wild gakkernd nach allen Seiten davonstoben. Schließlich kamen sie an eine Mauer, die absolut gerade war. Sie verlief, von ihrem Standort aus gesehen, wie die Mauern auf expressionistischen Gemälden – irgendwo am Horizont verschwanden sie und auch die Straße dicht daneben. Zwischen Mauer und Straße verlief ein heimtückischer Graben voller Gräser und kleiner Büsche. Einmal sahen sie einen Fuchs davonschnüren. »Geradeaus, Sir!« sagte Hasso. Cliff trat den Beschleunigungshebel hinunter und bremste erst wieder, als ein hohes, schmiedeeisernes Tor in Sicht kam. Das Tor blieb geschlossen, trotz zweimaligen Betätigens der Sirene. »Also doch über die Mauer klettern«, sagte Hasso. »Ich habe es mir gedacht.« Er blieb sitzen, während Cliff auf eine der gemauerten Torsäulen zuging und dort zu seiner grenzenlosen Verblüffung eine hochmoderne Zweischirm-
Gegensprechanlage sah. Er drückte die Taste, ein Bild baute sich auf, und er sah in eines der ältesten Gesichter, an die er sich erinnern konnte. Der uralte Mann – war es der Earl? – fragte mit geschulter, aber brüchiger Stimme: »Sie wünschen, mein Herr?« Cliff nahm sich zusammen und erwiderte in gemessenem Tonfall: »Mein Name ist Cliff McLane, bei mir ist Hasso Sigbjörnson. Raummarschall Wamsler sprach mit Earl Arys of Svend-Wallance. Mir dünkt, wir sind angemeldet.« Eine der weißen Brauen zog sich hoch wie ein gotischer Spitzbogen. »Der Herr beliebt sarkastisch zu sein? Ich werde den Earl verständigen. Bitte warten Sie.« Der Schirm wurde schlagartig dunkel. Cliff murmelte fassungslos: »Ja... sind wir denn hier auf einem anderen Planeten? Hier ist wirklich die Zeit stehengeblieben!« In gewissem Sinn war es so. Hasso rief aus dem geöffneten Seitenfenster des brummenden Wagens heraus: »Läßt Seine Durchlaucht bitten, Cliff?« »Er läßt sich lange bitten!« gab Cliff zurück. Der Schirm wurde hell, das Gesicht des Butlers war wieder zu erkennen. Aus dem Spitzbogen war inzwischen ein romanisches Halbrund geworden. »Sie werden zwar erwartet, meine Herren«, sagte der Butler höflich, aber äußerst kühl, »trotzdem darf ich Sie ersuchen, das Tor hinter sich zu schließen.« »Selbstverständlich«, sagte Cliff, der inzwischen mit Erfolg an sein Training in fernöstlicher Geduld
gedacht hatte. »Wenn wir es nur schon geöffnet hätten!« »Einen Moment, bitte.« Während die Torflügel auseinanderglitten und in den Angeln kreischten wie ein Vogelschwarm, löste sich das faltige, kleine Gesicht des Butlers auf. Hasso rückte auf den anderen Sitz, zog die Kupplung und fuhr langsam durch die Säulen hindurch. Cliff sah das Tor an, seufzte und schob es wieder zusammen. Dabei sah er, daß ein einfaches Relais eine Sperre ausgelöst hatte, die zwei Gewichte nach unten schweben ließ. Über einen Mechanismus aus rostenden Rollen und ausgefaserten Drahtseilen zogen die Gewichte das Tor auf – aber nichts gab es, außer den Besuchern, was das Tor wieder schließen konnte. Auf Groote Eylandt wäre ein solches Tor, handwerklich eine Meisterleistung, von einem erstklassig funktionierenden Robotmechanismus auf- und zubewegt worden. Cliff schwang sich ans Steuer und murmelte gekränkt: »Erzähle das ja niemandem weiter, Hasso! Cliff McLane, Oberst der Raumflotte, als Türschließer!« Hasso antwortete trocken: »Immer noch besser als eine Leiche!« Nach dem Kilometeranzeiger des Wagens fuhren sie genau dreitausend Meter, bis vor ihnen ein zweistöckiges, langgestrecktes Gebäude aus weißen Mauern, farbigen Vorsprüngen und dunkelrotem Dach auftauchte. Es war an einigen Stellen bis zur Unkenntlichkeit mit Efeu überwachsen. Auf dem Rasen stolzierten unbekannte Vögel. Und am oberen Ende einer breiten, schneeweißen Steintreppe lehnte an ei-
ner Steinschale, aus der wie ein Wasserfall dunkelrote Pflanzen sich nach unten ergossen, eine imponierende Erscheinung. »Seine Hoheit scheinen würdevoll zu sein«, bemerkte Hasso. »Denke daran! Nicht im Ohr bohren, wenn er dir Tee anbietet.« »Danke für den Rat.« Sie stiegen aus, wobei Cliff beim Bremsen zwei tiefe Spuren in den weißen Kies schürfte. Dann gingen sie langsam die Freitreppe hinauf und blieben vor Arys stehen. »Ich hoffe«, sagte Cliff, »daß ich einen ehemaligen Kollegen nicht mit dem vollen Namen anreden muß; unsere Zeit ist begrenzt.« Der Earl war ein fast zwei Meter großer Mann, sehr hager und in einen dunkelbraunen, altmodisch geschnittenen Anzug gekleidet. Nur wirkte dieser Anzug schon fast wieder avantgardistisch. Eine Löwenmähne silberweißen Haares bedeckte den schmalen, aristokratischen Schädel. Tiefliegende blaue Augen standen in einem faltigen, sonnengebräunten Gesicht. Der Earl rauchte an einer kurzen, dicken Zigarre. »Bitte, nehmen Sie nicht Maß an Peter, meinem Butler. Er ist ein wenig konservativ, nicht so aufgeschlossen wie beispielsweise ich oder Sie.« Die Männer wechselten einen kühlen Händedruck. »Ich darf Sie hineinbitten. Whisky oder Tee? Ihre Zeit ist begrenzt, sagten Sie?« »Danke. Wir ziehen Whisky vor – schließlich sind wir traditionslose Australier. Unsere Zeit ist, leider, sehr begrenzt. Nett haben Sie es hier, Earl!« Sie betraten durch eine Halle, in der man bequem drei LANCETS hätte reparieren können, eine Biblio-
thek. In ihr stand ein Schreibtisch, dessen Platte kaum weniger als zehn Quadratmeter groß war. Darüber befand sich eine ultramoderne Lampe. Alle Möbelstücke wirkten so alt wie der Gasthof, das Tor oder fünfzehnmal das Alter ihres Gastgebers. »Leidlich, etwas beengt, würde ich sagen. Ziehen Sie schottischen, irischen oder herkömmlichen Whisky vor?« Cliff sagte aufs Geratewohl: »Schottischen, bitte. Sie züchten Beizvögel, Earl?« »Sie beweisen vorzüglichen Geschmack. Ja. Ich unterhalte mich ein wenig, indem ich versuche, alte Traditionen zu pflegen. Recht gelehrig, diese Vögel.« Während Cliff den Mann genau musterte, ging Hasso provozierend gelassen durch den Raum und betrachtete alle Einrichtungsgegenstände sehr genau. Schließlich blieb er an einer halbgeöffneten Terrassentür stehen und sah hinaus auf den runden Teich, in dem sich seltene Vögel tummelten. Der Teich war ziemlich genau sechzig Meter durchmessend. »Man sagt es«, bemerkte Cliff und lehnte ab, als der Earl fragend ein Stück Eis hochhob. »Es wäre Sünde wider den Geschmack, schottischen Whisky mit Eis zu trinken«, sagte er auf gut Glück und handelte sich damit zumindest das Prädikat ein, ein Mann von nicht alltäglichem Geschmack zu sein. Es schien, als ob der Earl dies zu schätzen wisse. Cliff wurde von einer merkwürdigen Stimmung befallen – er war im Umgang mit Vorgesetzten von einer faszinierenden Unbekümmertheit, aber dieser Mann wirkte wie ein Koloß aus Granit. Er bot ihm, bisher wenigstens, keine Angriffsfläche.
Der Earl verteilte die Gläser, und die Raumfahrer warteten stur, bis er sie zum Sitzen aufforderte. Es herrschte in diesem Raum eine merkwürdige Gespanntheit, als ob sich drei Männer mit gezogenen Waffen gegenüberstünden. »Ich habe eine Frage«, begann Cliff. »In den letzten Tagen stieß ich immer wieder auf den Namen Dougherty. Frank Hoium Dougherty. Ich hörte, Sie hätten einen Essay über diesen Mann geschrieben?« Arys wedelte mit der Hand. »In der Tat. Ich habe versucht, mich ein wenig als Historiker zu beschäftigen. Es ist mir gelungen, eine der faszinierendsten Studien zu schreiben, die je über Dougherty veröffentlicht wurden. Und dann hat sich auch dieser Stümper daran gewagt und natürlich jämmerlich versagt... wie hieß er doch?« Hasso sagte leise: »Sie meinen Pieter-Paul Ibsen?« »Richtig. Dieser Zeilenschinder hat die wahre Persönlichkeit dieses Mannes sehr verkannt. Sie interessieren sich für die Beizjagd, Herr McLane?« »Ich fürchte, ja«, sagte Cliff und roch an dem Whisky. Der Geruch und ein wenig später der Geschmack waren wie eine Offenbarung. Einen solchen Whisky hatte er in seinem Leben noch niemals getrunken. Hasso ging es ebenso. »Aus welchem Grund? Die heutigen Raumfahrer zeichnen sich, wie ich weiß, durch ein ausgeprägtes Fachidiotentum aus. Sollten Sie die Ausnahme sein?« Cliff dachte an diesem Tag ein zweitesmal an fernöstliche Beherrschung. Er zwang mit einem ergiebigen Schluck Whisky ein Bündel scharfer und ebenso beleidigender Äußerungen hinunter und sagte scharf:
»Es ist in der Tat so, Earl Arys of Svend-Wallance, daß Sie in der Crew der ORION die beste Besatzung kennenlernen würden, die je durch das All geflogen ist. Mindestens dreißig Abenteuer, die bessere Männer glatt umgebracht hätten, sind von der ORIONCrew bestanden worden. Und über mich berichtet die Weltpresse – ich interessiere mich aus mehreren bestimmten Gründen für Jagdfalken der Gattung Falco arcticus.« Der Earl schien beeindruckt, Cliff freute sich. Kein Muskel in seinem Gesicht rührte sich. Nur eine wohltuende Wärme breitete sich in seinem Magen aus. »Was wären die einzelnen Gründe?« fragte der weißhaarige Riese mit lässiger Ruhe. Cliff merkte ziemlich schnell, daß dieser Mann kein vertrottelter Adeliger war, der hier seinen Hobbys frönte. Er sah dies unter anderem auch an den Muskeln, die zum Vorschein kamen, wenn der Earl seinen Arm vorstreckte und sich dabei der Rand des Jackenärmels verschob. »Der erste ist, daß Marschall Wamsler um Ihr Leben fürchtet.« Die einzige Antwort war ein mitleidiges Lächeln, in das sich deutliche Verachtung mischte. So etwa würde ein Halbgott lächeln; Cliff kannte es von den Dara, von Zeupter. »So?« »Ja. Die zweite ist, daß mehrere Männer, Kollegen von Ihnen, durch Beizvögel ermordet worden sind.« Cliff sprach ganz ruhig. Täuschte er sich, oder hatte der Earl bei dem Wort Mord eine Reaktion gezeigt? »Wamsler verdächtigt mich etwa?«
»Die erste Erklärung schließt meine mögliche Antwort auf diese Frage ein«, erwiderte Cliff. Hasso übernahm seinen Part und fragte. »Sie sind der einzige mit diesem ausgefallenen, antiken Hobby, mein Herr?« »Vermutlich. Ich kenne niemanden, der sich dies leisten könnte«, sagte Arys. »Im übrigen bin ich Earl.« »Wir sind Demokraten, keine Royalisten«, konterte Cliff. »Außerdem kommen wir aus Australien.« »Das entschuldigt vieles, wenn auch nicht alles«, erwiderte Arys. »Es gibt also nur zwei Möglichkeiten. Entweder werde ich in Kürze ermordet, oder ich bin der Mörder, weil ich Beizvögel züchte. Ist das nicht ein wenig pauschal gedacht?« Cliff sagte: »Nicht, wenn Sie Joy Mandellini oder Colonel Beristain gesehen hätten. Uns ist niemand bekannt, der auf diesem Planeten solche Mordmaschinen dressiert. Auch wird es in Zukunft für Sie etwa nur zwei Möglichkeiten geben.« Höflich erwiderte der Earl: »Sind Sie sicher, daß ich interessiert bin, sie zu hören?« »Völlig sicher«, sagte Cliff ruhig. »Entweder werden Sie in Schutzhaft genommen, weil der Verdacht stärker wird, oder Sie helfen uns. Es war blanker Mord in zwei Fällen.« Der Earl zuckte die Schultern. »Ist das die offizielle Meinung?« Cliff antwortete mit einer Gegenfrage. »Ist es Ihnen gleichgültig, daß zwei Männer in Ihrem Alter, aus Ihrer Akademiegruppe und aus Ihrem geistigen Kreis ermordet wurden? Von einem wahn-
sinnigen, feigen Mörder, der sich nur im Schutz der Dunkelheit vorwagt? Das sollte Sie rühren, wenn nichts anderes.« Arys stand auf, nahm die kostbare Whiskykaraffe und goß in jedes der drei Gläser vier Finger hoch Whisky nach. Dann setzte er sich in einen hochlehnigen Holzstuhl, der so aussah, als habe in ihm schon John Dowland komponiert. Schließlich, nach einem Schweigen, das vier Minuten dauerte, sagte er: »Ich schätze Menschen, die ihre Meinung deutlich sagen. Besonders dann, wenn dies auch meine Meinung ist. Nicht in diesem Fall. Ich erinnere mich deutlich an Beristain und Mandellini und noch an andere Männer. Insgesamt zweiundzwanzig Männer aus meiner Akademiegruppe. Viele von ihnen sind erstklassige Raumfahrer geworden. So auch Mandellini und Beristain. Vielleicht denken Sie, denkt auch Wamsler mit diesem Zwerg Villa zusammen darüber nach, ob es nicht einen Feind gibt, der gegen uns etwas hat. Es ist wenig Kunst dabei, sich einer Waffe zu bedienen, die auf mich zielt. Aber tiefergehende Überlegungen sind leider in Ihrer Generation, Oberst, nicht mehr üblich. Leider. Ich habe mehrere Hobbies. Eines davon sind alte Automobile. Ein zweites ist mein Besitz hier und die Beizvögel. Ein drittes ist das Bogenschießen und Dowlands Musik. Und die Lebensgeschichte von Männern wie Dougherty. Er war einer der Unseren. Ich bin einundneunzig Jahre alt. Glauben Sie, einem Mörder gegenüberzusitzen?« Cliff sagte: »Nein. Aber es ist vollkommen unwichtig, was ich glaube. Ich glaube...« Er schwieg.
Der Earl stand auf. »In zwei Tagen, also übermorgen abend, findet bei mir eine kleine Party statt. Sollten Sie über einen angemessenen Anzug verfügen, sind Sie herzlich eingeladen. Ich muß mich jetzt wieder meinen Studien widmen. Würden Sie so freundlich sein, mich allein zu lassen?« Cliff trank ruhig seinen Whisky aus. »Ungern, aber notwendigerweise«, sagte er. »Übrigens – wissen Sie, daß sich einige Ihrer Kameraden einer ehrenvollen, würdigen und außerordentlich gefährlichen Arbeit widmen?« »Nein.« Hasso stand jetzt neben Cliff und hatte die flache Hand, wie Napoleon Bonaparte, zwischen die Säume seiner Jacke geschoben. Die Fingerspitzen waren nur Zentimeter von der kleinen, stumpfnasigen Waffe entfernt. »Sie erweitern die Grenzen«, sagte Cliff. Der Earl nickte, und ein Lächeln voller Erinnerungen erschien in dem harten, kantigen Gesicht mit den wasserhellen Augen. »Das taten die Männer unserer Gruppe schon immer. Das zeichnete sie aus«, sagte er etwas zu selbstgefällig. Cliff wandte sich zum Gehen. Als er die Tür zur Terrasse aufstieß und in den riesigen, dunkelroten Ball der abendlichen Sonne blickte, sagte er über die Schulter: »Sie fliegen außerhalb der Neunhundert-ParsekRaumkugel.« »Ich nahm es an.«
Mitten auf der Freitreppe schloß Cliff: »Sie versuchen, den Planeten Carrere Theta Xi und die Sonne Louwreena zu erforschen. Ein Mann starb bereits, als er mit einer LANCET landen wollte.« Cliff registrierte mit Befriedigung, daß sich beim Wort Carrere die Hand des Mannes auf das steinerne Geländer der Treppe legte, und daß sich bei der Erwähnung des dritten Toten die Augen zu schmalen Schlitzen schlossen. Der Earl bemerkte nur: »Das ist sehr bedauerlich. Tut man etwas für die Hinterbliebenen?« »Ja«, sagte Hasso, der ausgezeichnet reagierte und mitspielte, obwohl er nichts wußte. »Wamsler und der Zwerg Villa kümmern sich wie Väter um sie. Besonders die Kinder haben es ihnen angetan.« Der Earl lächelte zurückhaltend und sagte mit starrer Miene: »Vergessen Sie nicht: Übermorgen abend. Acht Uhr, Inselzeit.« Cliff legte die Hand auf die Lenkung des Wagens und fragte zurück, während er sich in den bequemen Schalensitz schwang: »Dunkler Anzug. Werden wir Waffen brauchen?« »Die Waffen des Geistes werden meinen Gästen genügen.« Während der kleine Wagen losbrummte, stand der Earl wie aus Stein gemeißelt auf der Freitreppe, wie ein Denkmal aus einer längst vergangenen Zeit. Zwischen dem Gutshof und dem Tor wandte sich Hasso an den Kommandanten und fragte leise: »Du bist ziemlich scharf herangegangen, mein Freund. War das nötig?«
Cliff bremste den Wagen ab. Er stieg aus und öffnete langsam beide Torflügel. Wieder war jener grauenhafte, kreischende Laut zu hören. Als sie sich einige hundert Meter von der Ausfahrt entfernt hatten, sagte Cliff laut: »Es war nötig. Wenn auch nicht ganz stilvoll; solch direkte Angriffe schätzt Seine Hoheit nicht. Drei Dinge waren es, die mir aufgefallen sind.« Hasso antwortete: »Mir nur zwei. Welche?« »Als ich den Namen dieses Planeten erwähnte, zuckte er zusammen. Als ich sagte, ein Raumfahrer sei beim Landungsversuch gestorben, berührte es ihn ebenfalls. Und schließlich verriet er, daß er von der Gruppe der fünfundzwanzig noch lebenden Raumfahrer seiner Akademieklasse nur noch zweiundzwanzig kennt. Er wußte also mehr, als er zugab.« Hasso nickte langsam. Er persönlich glaubte auch nicht, daß Arys der Mörder war, aber nichts konnte mit Sicherheit gesagt werden. Jedenfalls würden sie zur Party kommen. Das bedeutete allerdings, daß die Party Marios auch verschoben werden mußte. Hatte Arys schon davon gehört? Auf beiden Festen sollten Männer aus Arys' Akademiegruppe erscheinen... es versprach spannend zu werden. Die zwei Raumfahrer erreichten das Hotel, schlossen den Wagen ab und gingen in ihre Zimmer hinauf. Einige Zeit später trat Cliff in Hassos Zimmer ein, fand seinen Freund in einem Sessel ausgestreckt über der Landkarte gebeugt. Hasso suchte auf der Spezialkarte mit einer Lupe nach interessanten Einzelheiten. »Ich habe hier gelesen, daß der Earl vor drei Jahren seinen Gutshof mit einem gewaltigen Geldaufwand restauriert und modernisiert hat. Und der Park um
das Gelände wird durch eine kilometerlange Mauer abgegrenzt. Es sieht so aus, als ob der gute Mann nichts sehnlicher wünscht als in Ruhe gelassen zu werden.« »Ja«, sagte Cliff. »Das gilt nicht für mich. Ich werde heute nacht dem Gut einen Besuch abstatten.« Hasso deutete auf das kleine, schwere Funkgerät, das auf dem Tisch stand und dessen Antenne ausgefahren war. »Das melde ich an Wamsler!« murmelte er. »Genau das solltest du tun. Ich verlasse das Zimmer vor der Dämmerung. Wenn es Tag geworden ist, bin ich am Schloß. Oder am Gutshof, wie immer man das nennen will. Hoffentlich hat er nicht auch dressierte Hunde, die mich jagen.« Hasso lachte gutgelaunt. »Von denen viele McLanes Tod sein dürften – im Ernst: Ich habe nachgedacht. Unschuldig und nichtsahnend ist Earl Arys auf keinen Fall. Er weiß viel. Natürlich kann das, wie bei Tery, durchaus normale und vernünftige Gründe haben, aber ebenso auch andere.« Cliff antwortete: »Auf alle Fälle ist Arys verdächtig. Ob er ein Mörder ist, wird sich herausstellen. Und ich werde heute nacht und morgen früh Informationen sammeln.« Hasso stand langsam auf und faltete die Karte zusammen. Cliff nahm sie ihm aus den Fingern und faltete sie sorgfältig wieder auf. Er sagte nachdenklich: »Ich nehme ein Armbandfunkgerät mit. Du wartest mit dem Gegengerät und gut bewaffnet in diesem Miniwagen. Wenn ich schreie, kommst du zur Hilfe, einverstanden?«
»Mit Vergnügen.« »Und mit einer geladenen Labour action von Browning.« Sie stellten ihre Wecker, legten sich schlafen und waren früh um drei Uhr hellwach und ausgeschlafen.
4 Auch die Nacht war anders als über Australien. Cliff kletterte vom Dach des Wagens auf die Mauer, ließ sich die Flinte nachreichen und hob dann kurz die Hand. Er schwang sich mit einem vorsichtigen Satz hinunter auf den weichen Boden des Waldes. Murmelnd sagte er in das Mikrophon seines Armbandgerätes: »Hasso – ich melde mich, sooft es geht. Du wartest bitte hier... über alles andere haben wir gesprochen.« »Verstanden, Cliff.« Cliff entsicherte die Flinte, vergewisserte sich, daß die Gasdruckpistole ebenfalls entsichert war, und huschte davon. Eine schwarzgekleidete, schlanke Gestalt, in Leder gekleidet und mit einer Infrarotbrille auf der Stirn, glitt von der Mauer weg, zwischen den Stämmen von Fichten und Tannen und zwischen Büschen mit stark riechenden Beeren. Die Nacht war kühl, ein leichter Wind kam von Westen. Östlich von hier lag der Gutshof des Earls, Cliff hatte die Karte genau studiert und genau im Gedächtnis behalten, wo sich die einzelnen Geländemarken befanden. Er hatte etwa drei Kilometer zu gehen. In ungefähr einer Stunde würde die Sonne aufgegangen sein. Jetzt war es noch dunkel. Die fremden Geräusche des Waldes waren zu hören. Schreie, Tappen von Füßen und das Rascheln vieler kleiner Tiere im alten Laub. Cliff bemühte sich, mit den weichen Sohlen seiner leichten Stiefel vorsichtig aufzutreten, ging schnell, aber nicht hastig weiter. Zehn Minuten lang konnte er im Hochwald fast geradeaus gehen –
er glaubte, keine Geräusche hervorzurufen. Er blieb stehen, zwischen den zusammengewachsenen Stämmen einer riesigen Buche. Leise klickte ein Kontakt, und Cliff flüsterte: »Alles in Ordnung, Hasso.« Er preßte den Lautsprecher ans Ohr, und Hasso antwortete ebenso leise: »Auch bei mir. Nichts.« Cliff hatte kurz vor seinem Aufbruch Hasso genau geschildert, was er von Wamsler über den rätselhaften Planeten Carrere Theta Xi erfahren hatte. So kannte Sigbjörnson nun auch die Zusammenhänge zwischen den Morden und dem Giftplaneten. Cliff war im Augenblick aber sehr sicher, daß er der Gefahr durch Jagdfalken nicht ausgesetzt war. Wenn ihn ein Falke angriff, dann war dies gleichzusetzen mit einem Indizienbeweis gegen den Earl. Das würde Svend-Wallance nicht wagen. Cliff ging ruhig weiter. Die Brille vermittelte ihm ein ziemlich scharfes Bild des Waldes und des Bodens. Cliff war jetzt zwei Kilometer weit gegangen, und der Himmel über ihm wurde fahl. Fast unsichtbar zeichnete sich im Osten die kommende Helligkeit ab. Er lief entlang an Wiesen und einem kleinen Bach, tauchte wieder im Wald unter und bahnte sich einen Weg durch dichte, feuchte Büsche. Vor ihm wurde es heller, und er erkannte schon ohne Brillen die meisten Konturen. Er kam jetzt, nach seiner vierten Meldung an Hasso zu dem breiten Ring aus Mischwald, der wie ein breites Tuch über sämtlichen Unebenheiten, Höhen und Tiefen der Landschaft lag. Im Zentrum dieses Ringes lag der Gutshof Arys'. Cliff fühlte den
Tau und den aufgefrischten Wind im Gesicht und schlug einen leichten, federnden Trab an. Er hielt sich im Schatten und sah die ersten Tiere auftauchen; Rudel von Rehen, einen Fuchs und einen Taubenschwarm. Dann, als er wieder im Wald verschwand, in der Deckung großer, dunkler Flächen, stob ein Strich Rebhühner auf. Cliff lief im Zickzack durch den Wald und hielt an, als er durch ungefähr hundert Meter Gehölz die weißen Flächen des langgestreckten Hauses auftauchen sah. »Hier Cliff. Ein ausgesprochen idyllischer Friede liegt augenblicklich noch über allem.« »Auch hier. Ich habe nichts gesehen, nicht einmal einen Jagdfalken«, gab Hasso sehr leise zurück. »Ich erwarte auch nicht, einen zu sehen – wenigstens nicht im Sturzflug.« »Gut. Wann bist du zurück?« Cliff flüsterte: »Drei bis vier Stunden schätzungsweise.« »Ende.« Cliff nahm die Infrarotbrille ab, die ihm bisher beste Dienste geleistet hatte. Er balancierte über einen breiten Baum, der schräg über einem Tümpel lag und bis auf halbe Höhe an einen Monolith heranführte, der von oben bis unten mit Grünzeug bedeckt war. Cliff nahm einen kurzen Anlauf, benützte das Gewehr als Balanceausgleich und warf sich gegen den Stein. Der aufrecht stehende Felsen lehnte halb an einem langgestreckten Hügel, der ebenfalls mit allen Arten von Büschen und Bäumen bewachsen war. Von der Stelle zwischen Felsen und einigen Büschen aus hatte McLane einen hervorragenden Blick auf die gesamte Vorderfront des Gebäudes. Er setzte sich auf
einen faulenden Baum und steckte das zusammenschraubbare Fernglas zusammen, drehte die Verschlüsse zu. Dann warf er einen Blick hinüber, stellte das Objektiv ein und beobachtete das Haus. Er sah – nichts. Eine Viertelstunde verstrich. Cliff war allein; mit sich, dem langsam erwachenden Wald ringsum, dem Sonnenaufgang und den weißen Mauern des langen, schloßähnlichen Gutshofes. Er betrachtete aufmerksam alles, was er sehen konnte. Einmal öffnete sich ein Fenster im zweiten Stock, und der Kopf des Butlers wurde sichtbar. »Noch immer nichts?« fragte Hasso flüsternd. »Nein«, wisperte Cliff. Je heller es wurde, desto mehr Geräusche gab es. Mit flatternden Flügelschlägen stoben unweit von ihm einige Tauben durch die Äste und flogen auf. Dann sah Cliff den Earl. Der überschlanke, sehnige Mann trug hohe Stiefel und einen kleinen grünen Hut mit einer langen Feder. In einer Hand hielt er einen Bogen, der fast so groß war wie Arys selbst. Ein Köcher voller Pfeile und ein metallener Armschutz vervollständigten das fremdartige Bild. Der Earl bewegte sich absolut geräuschlos von links heran, glitt durch Unterholz und Büsche und kam in etwa einhundert Metern Entfernung auf Cliff zu. Die Tauben ließen sich unweit der freien Fläche nieder, und eine davon löste sich aus dem Verband und flatterte aufgeregt auf Cliff zu. Cliff nahm seine Waffe hoch, blieb regungslos sitzen und drehte dann langsam den Kopf. Die Sonne blendete ihn von links, und rechts auf dem Moos über dem Felsen zeichneten sich die Schatten von Cliffs Kopf und Oberkörper ab.
Die Taube flog unruhig hin und her. Was hat das zu bedeuten? fragte sich der Kommandant. Ich darf Arys nicht aus den Augen verlieren. Arys zog mit einer geschmeidigen Bewegung einen Pfeil aus dem Köcher und legte ihn an die Sehne. Dann hörte Cliff andere Geräusche – ein großes Tier schob sich aus den Büschen hervor. Zwei Meter unterhalb von Cliff, der leicht fröstelnd dasaß, bewegte sich ein Reh. Es sah Arys nicht, aber der Earl schien das Tier genau zu sehen. Cliff wartete. Das Reh überquerte eine freie Fläche, und Arys blieb stehen und spannte den Bogen. Der Mann in der altertümlichen Kleidung bot ein Bild aus einer anderen Zeit. Cliff verfolgte die Gerade, die der Pfeil jetzt andeutete, und er glaubte, daß das Reh das Ziel von Arys sein würde. Dann hörte Cliff ein kurzes, pfeifendes Heulen, und instinktiv duckte er sich. Er erschrak, als ein harter Schlag seinen Nacken traf, gleichzeitig mit einem häßlichen Geräusch, das entstanden war, als sich die metallene Spitze des Pfeiles am Stein verbogen hatte. Cliff hob seine Waffe, sah, wie das Reh in gewaltigen Sprüngen nach rechts verschwand und erkannte gleichzeitig, daß der Earl ihn gesehen haben mußte. Aber der Mann dort, etwa siebzig Meter entfernt, zeigte weder Überraschung, noch hatte er vor, Cliff zu Kenntnis zu nehmen. Das war ein glatter Mordversuch, denn ein hervorragender Schütze wie Arys, der seinen Braten mit dem Bogen schießen konnte, verschätzte sich auf diese Distanz nicht um zwei Meter in der Höhe. Cliff betrachtete den Pfeil, dessen stählerne Spitze sich
vorn verbogen hatte – eine vierkantige Klinge, haarscharf geschliffen; Cliff kannte die mörderische Durchschlagskraft eines solches Geschosses, abgeschossen von einem Hundertzwanzig-Pfund-Bogen. Die Tatsache, daß Earl Arys of Svend-Wallance dies alles offen und mit einer geradezu verblüffenden Lässigkeit getan hatte, trug dazu bei, daß Cliff sich seiner Vermutungen sicher war. Er beobachtete den Mann, der jetzt langsam dem Weg des Tieres folgte, aufmerksam und schweigend. Die Muskeln des Kommandanten waren gespannt. Cliff robbte langsam in die Deckung des Steines und verbarg seinen Körper. Er sah, wie Arys in guter Ruhe einen zweiten Pfeil auf die Sehne legte und den Bogen spannte. Dann ging der hagere Mann in Position und zielte, schoß. Wieder heulte der Pfeil durch die Stämme des Waldes, durch das Unterholz. Das Reh sackte mitten im Sprung zusammen, mit einem herrlichen Blattschuß. Jetzt fühlte Cliff, wie sich die Härchen im Nacken und auf den Unterarmen aufstellten – er war haarscharf dem Tod entgangen. Der Taubenschwarm war aufgeflattert und kreiste in einer wilden, aufgeregten Serie paralleler Manöver über dem Waldstück. Cliff rammte den Pfeil in einen Baumstamm und lief schnell und geräuschlos etwa zweihundertfünfzig Meter nach Norden, weg von der Stelle, an der Arys jetzt das Wild aufbrach und ausweidete. Cliff schaltete das Funkgerät ein und sagte leise: »Hasso!« Er bekam augenblicklich Antwort. »Was gibt es? Hat sich Arys bewegt?«
»Außerordentlich perfekt«, antwortete Cliff. »Er wartete auf einen Moment, in dem ein Reh an mir vorbeikam und schoß dann einen Pfeil nach mir. Er verfehlte mich buchstäblich um Haaresbreite.« Hasso zögerte etwas, dann fragte er: »Was willst du weiter unternehmen?« Cliff sah sich um und entdeckte rund um sich keinerlei Bewegung. Nur der Schwarm der aufgeregten Tauben flatterte noch über dem Waldstück. »Ich schleiche mich ans Haus heran und sehe zu, was ich aus der Aktion herausholen kann.« »Verstanden. Ich warte weiter.« Cliff hatte in seinen Einsätzen eine solche Situation noch niemals erlebt. Er holte tief Luft und schlug einen langsamen Trab ein, der ihn in einem großen, im Norden durchgeführten Bogen von der Rückseite her an den Gutshof heranbrachte. Das Haus war in einem sehr ordentlichen Zustand, doch nur wenige Robots schienen hier eingesetzt worden zu sein, um den Rasen zu pflegen und den Park instand zu halten. Glatte Mauern, saubere Fenster – und über allem lag ein Hauch einer Jahrtausende währenden Tradition. In der Deckung einer langen Hecke schlich Cliff an einen flachen, modernen Anbau des alten Hauses heran. Niemand war zu sehen, keine Alarmanlage schrillte – es sah ganz danach aus, als ob sich der Earl nicht darum kümmerte, daß sich Cliff innerhalb der Mauern des Besitzes befand. Oder er glaubte, Cliff sei tot. Der Kommandant schob die Tür auf, Morgenlicht fiel vor ihm durch milchige Glasbausteine. Drei uralte Automobile standen nebeneinander und glänzten. Cliff ging um die Fahrzeuge herum und las die Aufschriften.
Jaguar... Marcos... Triumph... Der Wagen der Marke Triumph erregte seine Aufmerksamkeit. Es war ein offener Zweisitzer. Schwarzes Leder, schimmernde Armaturen, der Lack war feuerrot und mit zwei breiten weißen Querstreifen über der Motorhaube verziert. TR 4 stand auf dem Heck zu lesen. Sechs riesige Scheinwerfer, ein Lenkrad aus Holz und glänzendem Stahl... und auf einem Lederpolster, auf der oberen Kante des Beifahrersitzes festgeklemmt, der auf der linken Seite der Fahrgastzelle auf Schienen montiert war, sah Cliff, was er suchte. Die Spuren von Vogelkrallen. Als sei auf vielen Fahrten dieses Wagens ein Beizvogel an der Seite des Fahrers gesessen. Cliff zog die winzige Kamera aus der Tasche, machte schnell ein paar Aufnahmen und verließ den Raum. Er sicherte in der Tür, aber offensichtlich war er nicht entdeckt worden. »Immerhin – eine erste schmale Spur«, murmelte er. Einige Sekunden später stand er in einem alten Stallgebäude, an dessen Rückseite der schmale Bach vorbeifloß. Das Wasser war dunkel, und als Cliff von der schmalen Brücke aus versuchte, den Grund des Bachbettes zu erkennen, sah er, daß dieses Rinnsal mindestens drei Meter tief war. »Interessant!« Er drang durch ein offenes Fenster in den Stall ein. Er ging den undefinierbaren Lauten nach und dem fremdartigen Geruch, der in seine Nase drang. Stroh lag herum, ein paar riesige hölzerne Wagenräder und antike Werkzeuge zur Ackerbestellung. Im Sonnenlicht flimmerten die Staubteilchen, die Cliffs Stiefel
aufwirbelten. In einer Ecke des Stalles, in der ein rätselhaftes Dämmerlicht herrschte, sah Cliff auf einer langen Stange zehn der Beizvögel sitzen. Sie wurden unruhig, je näher er kam. Es waren zehn Jagdfalken, herrliche, wilde Tiere, die ihn aus stechenden Augen musterten. Wieder nahm Cliff auf, was er sah. Um sich herum bemerkte er Frischfleisch, die Kappen, die man den Vögeln aufsetzte, einige Federspiele und andere Geräte, Lederriemen und kunstvoll hergestellte Falknerhandschuhe. Er fotografierte auch dies. Dann wandte er sich nach rückwärts, machte einen schnellen Rundgang durch den niedrigen Stall und fluchte unterdrückt, als er mit dem Kopf einen verwitterten Balken rammte. Durch das Fenster schwang er sich hinaus ins Freie. Natürlich war all das, was er gesehen hatte, kein Beweis für die Täterschaft von Arys. Er lief über die Brücke zurück, wollte gerade im Schatten der Hecke zurücklaufen, als er das Summen hörte. Er fuhr herum. Vom Haus raste ein kugelförmiger Roboter auf ihn zu. Das Gerät schwebte auf zwei kleinen Maschinen, die so ähnlich arbeiteten wie das Abstandsfeld der ORION. Ein großer Satz Linsen starrte Cliff an, und zwei lange Greifarme waren ausgestreckt. Der Roboter hatte ihn gesehen und vermutlich als unerwünschten Eindringling erkannt. Der Kommandant lief zehn Meter weit in einem rasenden Spurt zwischen die Hecken hinein und drehte sich um. Cliff feuerte, ohne die Flinte an die Schulter zu nehmen. Krachend entlud sich die Waffe. Der Schuß rief ein dröhnendes Echo zwischen den Mauern des Gutshofes hervor, und kreischend rasten Hühner herum.
Der Roboter wurde getroffen. Die Linsen splitterten, aber die Konstruktion raste weiter. In einer Schraubenlinie kam der Robot mit gierig vorgestreckten Greifarmen auf Cliff zu. Der Kommandant blieb ruhig stehen und feuerte ein zweitesmal. Pfeifend rasten querschlagende Schrotkörner nach allen Seiten. Noch zehn Meter Abstand. Cliff ließ die Flinte fallen, zog den Strahler aus der Tasche und richtete die schlanke HM 4 auf den Robot. Der gleißende Strahl traf das Energiemagazin, eine dritte Explosion ließ die Luft erzittern, und der Robot schwirrte schräg nach rechts, zog hoch und fiel in das aufklatschende Wasser des Baches. Cliff nahm die Flinte, steckte die Strahlwaffe zurück und rannte davon. Er hatte wieder provoziert, diesmal aber, ohne daß er es wollte. Jetzt wußte auch der Butler, daß Cliff in der Nähe des Gutshofes gesehen worden war. Vielleicht konnte Cliff dadurch, daß er sich so weit vorwagte, den Earl zu einer Reaktion zwingen, die ihn belastete. Obwohl... Cliff konnte noch immer nicht daran glauben, daß dieser Mann seine Kameraden aus alter Zeit umbrachte oder umbringen ließ. Trotzdem war er bei der Erwähnung des streng geheimen Projekts der T.R.A.V. zusammengezuckt. Fast eine Stunde lang lief Cliff vorsichtig und langsam auf seiner eigenen Spur zurück. Als die Sonne bereits im frühen Mittag stand, erreichte er die Stelle an der Mauer, hinter der Hasso wartete. Cliff schwang sich, Aste als Leitersprossen benützend, über die Mauer und riß die Tür des kleinen Wagens auf. Hasso steckte eben die Gasdruckwaffe weg, da er Cliff erkannt hatte.
Der Motor startete. »Wie sind die Ergebnisse?« fragte der Bordingenieur. Cliff lehnte sich erschöpft in den kleinen Sitz zurück und räusperte sich, dann öffnete er das Fenster, um sein schweißnasses Gesicht vom Fahrtwind kühlen zu lassen. Der Kommandant sagte nachdenklich: »Auf alle Fälle reichhaltig.« »Wie darf ich das verstehen?« Hasso fuhr langsamer als Cliff und wesentlich konzentrierter. Die Männer hatten sich den Weg genau gemerkt, und eine knappe Stunde später kam das Hotel in Sicht. »Ich habe provoziert und bin sicher, erkannt worden zu sein. Wenn Arys meint, ich sei auf seiner Spur, wird es sich zeigen, was er unternimmt. Hat er etwas zu verbergen, ist dies ein Beweis. Wenn nicht, dann kann er seine Unschuld beweisen.« Hasso schloß: »Ehe wir uns in wilden Vermutungen ergehen, sollten wir erst einmal essen und ausschlafen. Anschließend sollten wir an Wamsler berichten und dort auch gleich die neuesten Entwicklungen abhören.« Cliff legte Hasso die Hand auf die Schulter, als sie vor dem Hotel ausstiegen. »Du hast die Gabe, genau das auszusprechen, was ich denke. Ich habe heute ein sehr nettes Lokal gesehen, wo wir im Freien essen können.« »Einverstanden.« Sie gingen an dem erstaunten Mann vorbei, der hinter der Empfangstheke stand und zogen sich in ihre Zimmer zurück. Sie badeten ausgiebig, sahen ihre Waffen durch und aßen eine Kleinigkeit, dann erfuh-
ren sie von Wamsler, daß nichts Neues passiert war. Der Raummarschall drängte sie, schneller vorzugehen, wußte aber, daß sich die Männer in Gefahr befanden. Vorläufig aber, in der Sicherheit ihrer Zimmer, konnten sie sich ausschlafen. * Cliff erwachte langsam. Er ließ die Augen geschlossen und überlegte. Seit drei Tagen befaßte er sich mit diesem Projekt, und seit der gleichen Zeit häuften sich die Geschehnisse um ihn herum. Er hatte, zusammen mit Hasso und den anderen, unzählige kleine Steinchen in einem gewaltigen, in allen Teilen noch nicht sichtbaren Gebäude gelockert. Jetzt konnten sie warten, ob nicht ein Pfeiler dieses Bauwerks zusammenbrach. Cliff war alles andere als sicher, ob der Earl reagieren würde. Dieser Mann durfte nicht mit den gewohnten Maßstäben gemessen werden. Er konnte und würde sie alle überraschen. Cliff hatte, auch für Arys, eine Verbindung zwischen den Morden und dem Planeten Carrere herzustellen versucht. Wenn Arys über dieses Projekt Bescheid wüßte, dann war er einer aus einem sehr kleinen Personenkreis. Aber er durfte eigentlich nichts wissen. Cliff seufzte und vertröstete sich auf die Party bei dem merkwürdigen Grafen. Dort würde er mehr sehen und erfahren. Jedenfalls war er hundertprozentig sicher, daß Arys den Vorfall – oder besser die Vorfälle – mit keiner Silbe erwähnen würde. Das Videophon summte. Cliff langte mit der linken Hand aus dem Bett und drückte die Ernpfangstaste. »McLane hier.« »Das ist mir neu, Kommandant. Los! Anziehen, ra-
sieren und essen kommen!« Cliff murmelte: »Du lebst noch?« »Ja«, sagte Hasso. »Ich habe bereits einen Spaziergang unternommen und mich etwas umgehört. Interessante Dinge erfahren.« »Über den Earl?« »Ja.« Sie trafen sich fünfzehn Minuten später in der Halle des Hotels; ausgeschlafen und voller Tatendrang. Sie hinterließen, wo sie zu finden wären und gingen langsam durch den kleinen Ort Closter, ein Städtchen von etwa zehntausend Einwohnern. Sie schritten durch eine Vergangenheit, mit der sie nicht warm werden konnten. In einem kleinen Park, der sich zwischen zwei uralten Fachwerkhäusern befand, gab es ein Restaurant. Weiße Tische und leichte Stühle standen unter den ausladenden Ästen alter Bäume. Jetzt, in der Dunkelheit des Abends, brannten große Windlichter auf den Tischen. »Sehr gemütlich«, stellte Cliff fest. »Hast du deine Waffe eingesteckt?« »Selbstverständlich«, sagte Hasso. »Hoffentlich bekommen wir hier etwas von dem ausgezeichneten Whisky, den der Earl hatte.« Sie bekamen einen großen Tisch am Rand der Terrasse, deren Oberfläche sich dicht an die Bäume anschmiegte. Ein höflicher, alter Ober bediente sie. Sie bestellten zuerst Kaffee und Whisky, dann fragte Cliff leise: »Was hast du herausgefunden, Hasso?« Hasso sah dem Kellner nach, beugte sich vor und sagte leise:
»Ich habe mit einigen Menschen gesprochen, meist mit jungen Leuten. Sie berichteten mir, daß seit zwei Jahren hier mehr Besuch für den Earl eingetroffen ist als in Jahrzehnten bisher, abgesehen von den Ferienmonaten.« »Interessant. Weiter?« Sie bekamen einen unerwartet starken Kaffee und einen Whisky, der nicht an den des Earls heranreichte. Sie hoben die Gläser, stießen mit den Rändern gegeneinander, und Hasso murmelte weiter: »Arys ist nicht immer da. Sein Butler vertritt ihn, und es gibt eine Menge deutlicher Zeichen dafür, daß an mindestens acht Monaten im Jahr, zusammenhängend oder auseinandergezogen, der Earl nicht geruhen, auf seinem Gut zu weilen.« Cliff stürzte aufgeregt seinen Whisky hinunter. »Das ist eine echte Neuigkeit!« flüsterte er. »Wo ist er?« »Das weiß niemand!« behauptete Hasso Sigbjörnson. Das Essen kam. Sie schwiegen, solange der Ober in Hörweite war. Von einem Nebentisch aus beobachtete ein alter Mann, der einen verkrüppelten Arm hatte, die beiden Raumfahrer. Langsam aßen die Männer, tranken den Kaffee aus. Als sie fertig waren, nahm der verkrüppelte Mann sein Glas vom Tisch, humpelte näher und fragte ausnehmend höflich: »Sie gestatten, daß wir uns kennenlernen?« Cliff stand auf, zog einen Stuhl heran und antwortete: »Selbstverständlich. Dies ist Hasso Sigbjörnson, Raumschiffingenieur, und ich bin McLane, Kommandant. Nehmen Sie Platz!«
Zögernd setzte sich der alte Mann. Er betrachtete beide Männer lange und sehr intensiv und sagte dann: »Sie sind hier, um etwas über den Earl zu erfahren?« Cliff starrte in die alten, von Falten und Runzeln umgebenen Augen des Mannes und sagte behutsam: »Woher wissen Sie das?« »Sie könnten hier kein anderes Ziel haben. Ich habe Sie beobachtet, als Sie das Gut Svend-Wallance zweimal besuchten. Ich hörte auch, wie Ihr Ingenieur die Leute befragte. Ich selbst war Schiffsingenieur in Arys' zweitem Schiff.« Hasso bestellte eine Runde Whisky nach, seine Augen leuchteten auf, und er legte dem alten Mann die Hand auf den Unterarm. »Erzählen Sie«, forderte er ihn auf und bemühte sich, seine Neugierde nicht allzu offen zu zeigen. Schlagartig erwachte in den beiden Mitgliedern der Crew das alte, vertraute Jagdfieber. Sie warteten gespannt auf die ersten Worte dieses Mannes. Cliff murmelte: »Was ist Arys für ein Mensch?« »Der beste, wenn alle Dinge so laufen, wie er es sich vorgestellt hatte. Er hat die feste Überzeugung, die ganze Welt ließe sich in acht Klassen einteilen, und von dieser obersten Klasse, in der nur ganz wenige Menschen leben, ist er einer der Besten. Seine Mannschaft und alle, die mit ihm arbeiteten, hatten diese Überzeugung zu teilen. Sonst feuerte er sie unerbittlich, und wenn er sie nicht feuerte, dann versäumte er es, ihnen zu helfen. Ich erlitt damals einen Unfall und wäre umgekommen, wenn es nach ihm
gegangen wäre. Jetzt aber kümmert er sich um mich. Zu spät.« Er hob seinen steifen Arm und ließ ihn wieder fallen. Es knackte trocken. »Könnte Arys jemanden umbringen?« fragte Hasso leise. »Ohne weiteres. Aber nicht aus Jähzorn, sondern dann, wenn er seine Pläne gestört weiß. Er ist ungeheuer klug und rücksichtsvoll, ein hervorragender Organisator, aber störrisch.« »Jagt er mit Falken?« »Ja«, sagte der Mann. »Er hat zehn Vögel. Einmal sind sie schwarz, dann weiß, und kein Hase und kein Huhn ist vor ihnen sicher. Außerdem ist Arys ein ausgezeichneter Bogenschütze.« »Das kann ich bestätigen«, sagte Cliff trocken. »Ganz hervorragend.« Hasso fragte: »Sind hier, von uns abgesehen, schon einmal Raumfahrer aufgetaucht?« »Ja. Sie kommen meistens nachts. Ich habe auch schon einmal ein Raumschiff gesehen, nachts. Aber ich kann nicht sagen, ob es in der Nähe des Gutes gelandet ist oder nicht.« Cliff und Hasso nahmen aus den Augenwinkeln fast jenseits des kleinen Parkes eine undeutliche Bewegung war. In der gleichen Sekunde ertönte ein Heulen – Cliff kannte es. Er warf sich nach hinten und kippte mit dem Stuhl hintenüber, schlug hart in den Kies. Ein Pfeil schlug durch den Hals des alten Mannes und nagelte ihn an den Tisch, und als sich der Körper aufbäumte und zur Seite sackte, brach der Schaft des Projektils ab.
»Bleibe hier, kümmere dich um alles!« rief Cliff, rollte sich über den Kies und kam auf die Beine. Er rannte im Zickzack zwischen den Tischen bis zum Ende der Terrasse. Dann lief er hakenschlagend über den freien Platz, der nur wenig erleuchtet war. In der Hand des Kommandanten lag die Gasdruckwaffe. Cliff hielt an, drehte sich langsam. Seine Augen versuchten, die Schatten und die Dunkelheit zu durchdringen, aber er konnte nichts erkennen. Der Schütze mußte hier gestanden haben. Cliff ging langsam weiter. Seine Sohlen machten keine Geräusche, und Cliff lauschte konzentriert. Er hörte keinen Laut, der die normalen Geräusche einer schläfrigen kleinen Siedlung unterbrochen oder übertönt hätte. Wieder ein Mord – gezielt, kaltblütig und hinterhältig. Cliff stand jetzt in einem bewachsenen Durchgang zwischen zwei der kleinen Häuser. Von hier aus sah er, wenn er sich umdrehte, in zwanzig Metern Entfernung, die Menschengruppe, die sich um den Tisch drängte. Hier hatte der Schütze gestanden – und er war verschwunden. Cliff machte einen letzten Versuch. Er rannte geradeaus weiter und blieb hundert Meter hinter den Häusern am Rand eines kleinen Platzes stehen. Durch das feuchte Gras des Platzes zog sich eine Spur. Sie endete irgendwo auf oder hinter dem Hügel, der sich an den Platz anschloß. Cliff fluchte innerlich und schüttelte den Kopf. Diese Partie ging glatt an den Unbekannten. Langsam ging der Kommandant zurück. Als er an den Tisch kam, waren bereits Vertreter der örtlichen Polizei anwesend und nahmen ein Protokoll auf. Cliff bezahlte die Rechnung, gab ein groß-
zügiges Trinkgeld und ging dann mit Hasso zurück ins Hotel. Sie blieben in Cliffs Zimmer und schalteten das schwere Funkgerät ein, das sie mit Wamsler und später mit Villa verband. Unabhängig von dem Videophonnetz, das öffentlich war und unter Umständen abgehört werden konnte, verlangten sie, daß einige Beamte des GSD sich um die Vorkommnisse kümmern sollten, und Villa sicherte schnellste Arbeit zu. »Der Verdacht gegen den Earl erhärtet sich«, sagte Cliff. »Ja«, sagte Hasso, »ich schlage vor, wir wappnen uns mit einigem kriminalistischen Eifer und mit entsprechenden Schußwaffen und wagen einen zweiten Vorstoß in die Höhle des Löwen.« Cliff zuckte die Schultern. »Ich weiß nicht, ob dies im Augenblick das Richtige wäre. Was hat uns der alte Mann gesagt?« Hasso zählte auf: »Er hat öfters Besuch von Raumfahrern. Dies ist kein stichhaltiges Argument, denn Besuche sind nicht strafbar. Daß sie ausschließlich nachts kamen, macht ihn wieder verdächtig. Raumschiffe wurden gehört und gesehen, aber weit und breit ist hier kein Raumhafen. Die Schilderung seines Charakters deutet darauf hin, daß er zu Morden fähig wäre, beweist aber nicht, daß er gemordet hat. Daß er Hühner mit Jagdfalken jagt, mag den Farmer ärgern, ist aber auch kein Indiz.« Cliff unterbrach laut: »Die Fotos müßten inzwischen entwickelt sein. Ich hole sie.« Nach einigen Minuten hatte das kleine Gerät, an das
Cliff seine Mikrokamera angeschlossen hatte, große, farbige und gestochen scharfe dreidimensionale Bilder ausgeworfen. Cliff tippte mit dem Finger darauf. »Hier! Sämtliche zehn Beizvögel – und ich bin überzeugt, er hat nicht mehr – sind weiß mit den charakteristischen düster schwarzbraunen Flecken. Der alte Mann sprach von weißen oder schwarzen Vögeln.« »Merkwürdig!« Cliff starrte Hasso an. Dies war ein wichtiger Punkt. »Das könnte bedeuten, daß sich hier noch jemand befindet, der mit Beizvögeln arbeitet. Aber schwarze Jagdfalken... wer hat davon schon gehört?« Hasso zuckte die Schultern. »Wir werden, sobald sich die GSD-Leute gemeldet haben, den Gutshof von oben bis unten durchsuchen. Ich bin sicher, daß sie uns hervorragende Leute schicken werden.« »Zum Beispiel Tamara Jagellovsk!« sagte Hasso. Cliff verzog das Gesicht und zupfte nachdenklich an seinem scharf ausrasierten Bart. Mitten in diese Beschäftigung hinein summte das große Videophon. Cliff schaltete es ein, und ein ihm nicht bekanntes Gesicht tauchte auf. »Entschuldigung«, sagte der Mann in der hellen Uniform, »ich störe ungern, aber ich habe einiges herausgefunden.« »Sie sind Polizist?« fragte Hasso ruhig und drehte seinen Sessel um neunzig Grad. »Ja. Superintendent Del Marne.« Die beiden Raumfahrer stellten sich vor, was allerdings überflüssig war: der Mann kannte sie und ihre
Mission inzwischen. »Sie sind, nachdem Brokhuse ermordet worden war, dem Schützen nachgerannt, Kommandant«, sagte Del Marne. »Sie scheinen ein sehr mutiger Mann zu sein.« »Danke«, sagte Cliff. »Es geht.« »Das Holz des Pfeiles ist, wie wir inzwischen herausgefunden haben, nicht auf der Erde gewachsen. Fliegen, die sich auf den Schaft niederließen, starben an Vergiftung. Dieses Holz ist auch nicht Holz im eigentlichen Sinn, sondern scheint eine Graspflanze zu sein, Bambus nicht unähnlich. Durch einen Kanal, der vom Mark des Schaftes aus durch die stählerne Spitze führt, gelangt ein pflanzeneigenes Gift sehr schnell in den Körper des Opfers und tötet es selbst dann, wenn der Pfeilschuß keine tödliche Wunde verursacht.« »Verdammt!« murmelte Cliff. »Das verändert das Ziel, Del Marne. Danke. Haben Sie noch mehr solcher kleinen Alarme für uns?« »Ich fürchte, ja. Sie glauben, daß Earl Arys SvendWallance der Todesschütze war?« Cliff nickte, und Hasso antwortete wahrheitsgemäß: »Wir müssen es allmählich annehmen, Sir. Obwohl uns die Vorstellung, ein Raumfahrer brächte andere Raumfahrer um, alles andere als angenehm ist. Trotzdem werden wir diese unsere Meinung mit einer gehörigen Portion Skepsis betrachten.« Del Marne nickte zufrieden. »Genau das wollte ich Ihnen eben nahelegen, meine Herren. Earl Arys of Svend-Wallance, sein Butler und ich saßen bis zum Anruf meiner Beamten in Svend-Wallances Arbeitszimmer, spielten dreidimensionales Go-Spiel, tranken Whisky und diskutierten
über Frank Hoium Dougherty.« »Das freut mich für Arys«, sagte Cliff. »Wir werden morgen dies alles genau prüfen lassen. Der Galaktische Sicherheitsdienst hat sich eingeschaltet.« »Ausgezeichnet. Wissen Sie auch, daß unser Gebiet vor zwei Stunden von einem Diskusschiff im Niedrigstflug überflogen wurde?« »Nein«, sagte Cliff. »Das wußten wir nicht.« Der Polizist hob grüßend die Hand. »Wir ermitteln weiter, meine Herren, und morgen früh werde ich Sie besuchen. Einverstanden?« Cliff sagte: »Selbstverständlich«, und schaltete den Apparat aus. Dann drehte er sich mit dem Ausdruck großer Verwunderung nach Hasso um und murmelte: »Wir haben es hier mit dem raffiniertesten und schnellsten Mörder zu tun, der uns in unserer Karriere über den Weg gelaufen ist, Hasso. Meine relativ gute Laune beginnt zu leiden. Das ist immer der erste Vorbote dafür, daß ich rücksichtslos zu werden beginne.« Hasso schob nachdenklich die Antenne des Funkgerätes ins Gerät zurück, zog sie wieder hervor und wiederholte diesen Vorgang mehrmals. Dann sagte er: »Die Pfeilschäfte stammen also deiner Meinung nach von Carrere, dem Giftplaneten?« »Jawohl. Von keinem bekannten Ort im Kosmos sonst. Der Mörder hat sich verraten – es geht um diesen Planeten. Damit ist Earl Arys zu einer bedeutungslosen Figur geworden, vorausgesetzt, sein Alibi stimmt.« »Wer könnte Brokhuse ermordet haben, Cliff?«
fragte Hasso leise. »Fast jeder Mann hier in dieser Grafschaft, und darüber hinaus übt sich jeder Mann auf dieser Insel in dem traditionellen Sport des Bogenschießens. Einige Männer werden sicher das Maß an Treffsicherheit erreichen, das dazu gehört, einen Mann auf fünfundzwanzig Meter Distanz durch den Hals zu schießen. Wenn der Polizist die Wahrheit sagt...« »... und es ist kaum anzunehmen, daß er dies nicht tut!« unterbrach Hasso. »... dann war es nicht Arys. Gehen wir schlafen – in sieben Stunden sind die GSD-Leute da.« »Einverstanden.« Cliff legte die gesicherte Strahlwaffe unter sein Kissen und streckte sich im Bett aus, nachdem Hasso gegangen war. Er konnte lange nicht einschlafen. Er dachte an die einzelnen Beobachtungen und Vorkommnisse und versuchte sie in ein logisches Schema zu bringen. Gegen Mitternacht hörte er im Halbschlaf das typische Geräusch eines startenden Raumschiffes Mit einem Satz war er aus dem Bett, riß das Fenster auf und suchte den Himmel ab. Er entdeckte den Flugkörper, der Südostkurs flog, erst in sehr großer Höhe. Da es so gut wie unmöglich war, daß die Flugüberwachung ein Schiff nicht registriert hatte, würde er morgen früh genau erfahren, was dieses Schiff hier zu suchen hatte. Er ging wieder zu Bett und träumte von Bogenschützen, von Gift ausatmendem Holz und von verschiedenfarbigen Jagdfalken, die über ihm kreisten und mit spitzen Schnäbeln nach ihm hackten. *
Immer mehr schob sich der Giftplanet in den Vordergrund. Um ihn kreisten die Gedanken nicht nur der beiden Männer inmitten der merkwürdigen Umgebung. Wamsler und Oberst Villa wußten ebenso, wie groß die Gefahren aus dem Raum werden konnten, und waren unruhig. Nichts konnte die Sachlage so schnell und so gründlich klären wie eine Landung durch eine erfahrene Crew. Bevor es aber zu dieser Landung kam, mußten erst die Natur und das Motiv dieses hinterhältigen Mörders erkannt werden. Auf schnellstem Weg waren drei Fachleute des Galaktischen Sicherheitsdienstes in Marsch gesetzt worden. Auch sie flog eine der AtmosphärenLANCETS von der Insel im Carpentariagolf hinüber nach England. Nach wie vor arbeiteten die Raumfahrer, von denen drei bereits angekommen waren an dem Projekt Carrere. Sie standen, ohne daß sie es wußten, inzwischen unter schärfster Bewachung; man wollte einen weiteren Mord verhindern. Der Rest der ORIONCrew trainierte noch immer mit den Schrotflinten und kümmerte sich um die Ausrichtung der Feier. Die winzigsten Einzelheiten wurden geprüft und berücksichtigt, um keine Panne aufkommen zu lassen. Sämtliche Vorbereitungen wurden unter größter Geheimhaltung getroffen, denn jedermann konnte sich ausrechnen, daß der Mörder sich diese fabelhafte Gelegenheit nicht würde entgehen lassen. Und während Cliff und Hasso schliefen, landete die LANCET und ließ die drei Beamten aussteigen; die Zimmerreservierungen waren bereits erfolgt. In den ersten Stunden der Morgendämmerung kamen die GSDLeute auf ihre Zimmer, zogen sich um und machten
sich mit Hilfe eines Polizisten mit den näheren Umständen bekannt. Auch sie unterlagen denselben Eindrücken: Sie waren inmitten einer Szenerie, die sich in Wirklichkeit nicht in der Gegenwart befand, sondern weit in der Vergangenheit. Genau in diesem Moment erwachte Cliff McLane. Er sah auf die Uhr, gähnte mehrmals ausgiebig und öffnete dann das Fenster. Er putzte sich die Zähne, schaltete das Videophon ein und rief hinunter zum Empfang. Der Hotelchef meldete sich. »Nur eine Frage«, sagte Cliff. »Sind eben einige Gäste aus Australien angekommen?« »Jawohl«, war die Antwort. »Einer von ihnen ist gerade auf dem Weg zu Ihrem Zimmer, Sir.« »Danke«, sagte Cliff, schaltete aus und hörte im gleichen Augenblick den Türsummer. Er ging zur Tür und öffnete das Schloß. »Guten Morgen«, sagte sie, lächelte und trat an ihm vorbei ins Zimmer. Sie sah sich um und setzte sich endlich. »Ich habe miserabel geträumt«, sagte Cliff, »aber ich weiß nicht mehr, wovon ich geträumt habe.« »Sicher von emanzipierten Jagdfalken«, sagte sie. »Wir sind da, um euch zu helfen, Cliff.« Der Kommandant nickte. »Ich fürchte, wir brauchen noch mehr Hilfe«, sagte er. »Mir ist gerade eingefallen, daß keine einzige Beobachtung isoliert betrachtet und durchdacht werden darf. Sie ist stets ein mehr oder weniger großer Teil eines Ganzen.« Tamara lächelte zurückhaltend und warf ihre Handschuhe auf den Tisch. »Ich schweige«, sagte sie gutgelaunt. »Denn
Schweigen ist die Ehre des Sklaven. Jedermann ist, wenn du dozierst, Sklave deiner hervorragenden Redegewandtheit. Worum geht es?« Cliff sah ihr ernst in die Augen. Dann sagte er langsam: »Menschen, die in einer solchen Umgebung wie hier leben, haben bestimmte Überzeugungen. Diese Überzeugungen lassen sich nicht von der Zeit und der Umwelt trennen. Das gilt sicher ebenso für den Versuch, eine überholte Zeit am Leben zu erhalten. Ich glaube jetzt, daß der Earl die Zentralfigur ist. Auch der Mörder. Und ich weiß auch, warum.« Tamara Jagellovsk wußte, daß Cliff McLane auf einer heißen Spur war. Das, was er eben ausgeführt hatte, war natürlich richtig. Aber die Frau hatte keine Ahnung, warum Cliff nur aus diesem Grund Arys stärker verdächtigte als noch kurz vorher. Sie sollte erfahren, daß er recht behalten würde – wenn auch auf ganz andere Weise, wie er jetzt vermutete.
5 Hasso fragte leise: »Gehen wir offen vor oder versteckt?« Cliff ließ den Knopf los, der die Gegenbildanlage in der Torsäule in Betrieb setzen sollte. Die Anlage funktionierte nicht. Die fünf Personen, die jetzt wartend vor dem geschlossenen schmiede eisernen Tor standen, sahen Cliff erwartungsvoll an. Del Marnes Schnurrbart sträubte sich förmlich, als er fragte: »Ausgefallen, Cliff?« Der Kommandant zog die Strahlwaffe. »Mit Sicherheit ausgeschaltet. Wir gehen offen und nachdrücklich vor, meine Dame und meine Herren! Etwas anderes wird uns auch ohnehin nicht übrigbleiben!« Dann trat er mehrere Schritte zurück, zielte sorgfältig und löste die Waffe aus. Ein bleistiftdünner Strahl spannte sich von der Spitze der schlanken Waffe bis zum Spalt zwischen beiden Torflügeln, und unter der Wirkung der Strahlen lösten sich die Verriegelungen. Ächzend und kreisend schwangen die beiden Torflügel nach innen auf. Hasso und Cliff, Tamara und zwei andere GSDOffiziere und der Polizeichef von Wallance waren in zwei schweren Dienstfahrzeugen vorgefahren. Ihr Versuch, den Earl zu besuchen, schien fehlgeschlagen zu sein, als Cliff merkte, daß die Anlage abgeschaltet war. Jetzt schwangen sie sich wieder in die schwarzen Turbinenwagen und fuhren los. Hintereinander schaukelten die schweren Wagen über den alten, ausgetretenen Weg, der durch den hervorragend ge-
pflegten Schloßpark führte. Schließlich bremste Cliff hart und sagte zu Hasso und Tamara: »Offensichtlich ist die Pumpe defekt. Der Schloßteich scheint etwas übergelaufen zu sein!« »Denn geregnet hat es nicht«, sagte Hasso. Sie fuhren langsam weiter, bis sie vor der Freitreppe anhielten. An mehreren Stellen zogen sich breite Spuren von Wasser oder bereits wieder verdunstender Feuchtigkeit über die Steine, über die Kieswege und die Grasflächen. Irgendwo lief tatsächlich eine Pumpe – sonst herrschte bis auf das häßliche Schreien einiger Pfauen eine verdächtige Stille. Sie stiegen aus. »Del Marne«, sagte Tamara halblaut, »Sie kennen den Earl am besten von uns. Sind Sie sein Freund?« Der Polizeimann blieb ungerührt und versicherte: »In gewisser Weise ja. Wir sind uns ein bißchen ähnlich, weil wir beide bedauern, daß sich nicht alles in sehr positiver Weise geändert hat. Einer unserer Vorbilder ist Frank Hoium Dougherty. Aber ich werde aus Freundschaft keinen Mörder decken, wenn Sie das meinen.« »Das zu hören, freut mich nicht unbeträchtlich«, sagte Cliff entschlossen. »Ich war nahe daran, Ihnen diese Vertrauensfrage zu stellen. Danke, daß Sie sie in dieser Weise beantwortet haben.« Die sechs Personen stiegen langsam die Freitreppe hinauf. Sämtliche Türen und Fenster des Hauses, wenigstens die der Südseite, waren geschlossen. Nirgends waren, abgesehen von dem rasenden Tempo der Pumpe, die Geräusche zu hören, die man von einem Haus voller Leben erwartete. »Vermutlich ist die Tor-Sprechanlage abgeschaltet
worden, weil niemand sie mehr brauchte«, sagte Tamara. »Wir sollten versuchen, ins Haus zu kommen. Ich habe einen Hausdurchsuchungsbefehl von der Erdregierung mitgebracht. Wollen Sie ihn sehen, Del Marne?« »Nein, es genügt, daß Sie ihn erwähnten. Gehen wir einmal rund um das Haus. Vielleicht finden wir eine offene Tür und können eindringen, ohne etwas zerstören zu müssen.« Plötzlich, ohne jeden Übergang, hörte das rasende Arbeiten der Pumpe auf. Die folgende Stille enthielt bereits den Keim der Überraschung. Die Personen gingen nach rechts und links auseinander, in zwei Gruppen. Sie blieben stehen, wann immer sie konnten, um ins Haus hineinzusehen. Alles, was sie erkennen konnten, waren dunkle, leere Räume, in deren hellen Flächen das Sonnenlicht gebrochen wurde. Es war sieben Uhr morgens. Die Stille war nervtötend, und die beiden Gruppen beschleunigten ihre Schritte. Sie liefen die gesamte Südfront ab und trafen sich schließlich vor dem Gebäude, in dem die drei uralten Automobile standen. Cliff öffnete die Tür und zeigte Del Marne das Lederpolster, auf dem die Vögel ihre Krallenspuren hinterlassen hatten. In diesem Raum, der nur einen Ausgang hatte, schien nichts verändert worden zu sein, nachdem Cliff hier eingedrungen war. Er selbst stieg in die Grabe hinunter, über der jener Wagen namens Marcos stand; hier gab es nur Werkzeuge, alte Lumpen und einen sorgfältig zusammengelegten Overall mit Ölspuren. »Ich wette, daß wir einen zweiten Raum ganz leer
finden werden«, sagte der Kommandant, als er mit Del Marne zusammen schnell auf das Stallgebäude zuging. Er hatte recht. »Hier waren die Vögel untergebracht«, sagte Del Marne. »Man riecht es.« Alles, was Cliff vor einem Tag photographiert hatte, war verändert. Keiner der zehn Falken saß mehr auf der Stange. Sämtliche Gegenstände, die mit der Beizvogeljagd zu tun hatten, waren verschwunden. Nur ein Teil des Fleisches lag noch da und stank. Sonst war die Szene unverändert – Cliff hatte sich genau gemerkt, an welcher Stelle sich die Dinge befanden. Die Wagenräder waren ebenso da wie das Stroh auf dem Betonboden. »Seine Durchlaucht scheinen ausgeflogen zu sein«, sagte einer der GSD-Beamten, die nach dem ersten Rundgang sich intensiv mit dem Haus beschäftigen würden. »Wir müssen ins Haus hinein!« beharrte Hasso. »Selbstverständlich.« Die zwei Gruppen gingen schnell entlang der kühlen, weißen Mauern, sahen die Schatten auf dem Hof und die Taubenschwärme, kamen bis an eine breite Schiebetür, die ebenfalls verschlossen war. Cliff öffnete sie mit einem einzigen Schuß aus der HM 4. Dann waren sie im Haus. Nach kurzer Beratung teilten sie sich in zwei Gruppen auf, und jede Gruppe übernahm ein Stockwerke. Eine Stunde später: In den Räumen unterhalb des Daches befanden sich kleine, aber sehr gut ausgestattete Gästezimmer. Sie waren unter Verwendung modernster Materialien
eingerichtet worden, aber die meisten Einrichtungsgegenstände waren uralt und von Fachleuten restauriert und verbessert worden. Zwischen den Zimmern lagen große Ateliers, die noch vor kurzer Zeit voller Zeichnungen gewesen waren. Man stellte anhand von Spuren im Staub und den Resten der Kunststoffolien fest, daß es sich hier um kleine ArchitektenArbeitsräume gehandelt hatte. Die Modelle, die teils an den Wänden hingen oder auf Wandbrettern gelegen hatten, waren in einem großen, freistehenden Kamin gesammelt und dort verbrannt worden, wobei Strahlenwaffen eingesetzt worden waren. Tamara sagte mit Entschiedenheit: »Wir haben viele Spuren gefunden, die wir in den nächsten Tagen noch auswerten müssen. Eines kann ich sicher sagen. Diese Räume dort oben dienten Gästen und waren zugleich Studios. Man hat dort in großem Stil Planungen durchgeführt. Alle Zimmer und Studios sehen so aus, als wären sie in Eile, aber ohne übertriebene Hast ausgeräumt worden, als sei jedes Beweismittel für die Art der Arbeiten vernichtet worden. Das ist immerhin etwas.« Im ersten Stock lagen die privaten Räume des Earls. Sie zeigten den Raumfahrern, daß hier ein Edelmann mit unendlich vielen Interessen gelebt hatte. Die Räume waren hervorragend ausgestattet. Reich gefüllte Barfächer, eine Waffensammlung, um die Cliff ihn beneidete, kostbare Teppiche und Bilder und immer wieder Bücher. Sie beschäftigten sich mit allen Themenkreisen, die man sich vorstellen konnte, und ein ganzes Regal aus schwerem Mooreichenholz war allein mit Werken über historische Persönlichkeiten
gefüllt. Lord Nelson, sehr viel über Napoleon Bonaparte, die Zaren und die afrikanischen Herrscher, die neue Geschichte mit den Erfahrungsberichten über Turceed, Dherrani oder Aashap – zwischen den Lesewürfeln befanden sich kostbare Lesezeichen, und als Cliff wahllos eine Spule herausgriff, zeigte sich, daß gerade das Kapitel über die Wohnräume im hohlen Berg, in denen sich die letzten Unsterblichen mit ihren mutierten Leoparden aufgehalten hatten, sehr häufig gelesen worden war. Kostbare Bäder, ein kleines Schwimmbassin mit allem erdenklichen Komfort, riesige Schränke voller Kleidung... der Earl mußte sehr reich gewesen sein. Oder er war es noch. Auf einem der prächtigen alten Schreibtische fand Cliff zwischen alten Folianten einen Bildwürfel. In einem durchsichtigen Würfel von zehn Zentimetern Kantenlänge war ein farbiges 3-D-Bild eingegossen. Es zeigte einen Planeten, ohne jeden Zweifel. Cliff drehte den Würfel zwischen den Fingern, und die Natur dieses Bildes, das aus sieben oder acht Aufnahmen komponiert war und daher die Vorzüge einer authentischen Photographie mit dem Trick verband, einen Planeten auf einmal von allen Seiten betrachten zu können, brachte ihn darauf, diesen Würfel mitzunehmen. »Vielleicht ist es das, was ich meine...«, murmelte er. Der Rest dieses Stockwerks war ebenso prächtig wie unergiebig. Cliff fand Raumanzüge, neu und gebraucht, eine Modellsammlung von Raumschiffen, ein benütztes Bett und eine vollautomatische Einrichtung, mit der man Kleidung reinigen und über-
holen konnte. Dann gingen Cliff und Hasso zurück in die Mitte des Hauses und benützten die breiten Treppen. Prächtige Schilderungen vom höfischen Leben des frühen England hingen in Form von dunklen Gemälden zwischen den schwarzen Balken des Fachwerks und zwischen den weißen, gotischen Steinverzierungen. »Er gehörte nicht zur darbenden Klasse!« sagte Hasso. »Er gehörte zu einer Klasse von Menschen, die es nicht mehr gibt und die es, wenn wir Glück haben, auch nicht mehr geben wird!« sagte Cliff mit merkwürdiger Betonung. Hasso blickte ihn überrascht an. »Und was habt ihr gefunden?« fragte er Del Marne und einen der GSD-Beamten, die das Erdgeschoß untersucht hatten. »Einige abgeschaltete Robots und einige Zimmer, die vor einem Tag zum letztenmal benutzt worden sind«, sagte Del Marne. »Unter anderem von mir.« Keiner der bisher erfaßten Eindrücke wurde verändert. Dieses Geschoß war die logische Ergänzung zu den beiden anderen. Nur einige Maschinen, die ebensogut zur Erreichung von Steuerquoten wie auch zum Ausrechnen von Schiffskurven dienen konnten, waren ausgeschaltet. Ihre Speicher waren gelöscht. In den langen Reihen von Büchern und Lesewürfeln klafften einige Lücken. Genau ausgesuchte Literatur war, als der Graf und sein Butler verschwunden waren, mitgenommen worden. »Del Marne?« Der Polizist drehte sich um und legte eines der Bücher, die er aus den Regalen genommen hatte, auf
den Schreibtisch. »Ja?« »Hatte Arys einen modernen Wagen?« Del Marne schüttelte den Kopf. »Nein. Er unternahm selten etwas, meist blieb er innerhalb der Grenzen seines Gutes. Lebensmittel wurden angeliefert, nachdem er sie durch Videophon bestellt hatte. Hin und wieder fuhren wir mit meinem Wagen zur Küste.« »Ich verstehe«, sagte Cliff. »Ich verstehe sehr gut. Gestern nacht hörte ich ein Raumschiff. Earl Arys of Svend-Wallance ist mit seinem Butler und seiner wichtigsten Habe, einschließlich der zehn Beizvögel, mit einem Raumschiff geflohen. Das beendet unsere Aufgabe hier, Hasso. Wir gehen zurück nach Groote Eylandt.« Del Marne sagte leise: »Viele Menschen in unserem Ort haben dieses Raumschiff gehört und mich angerufen. Das also war des Rätsels Lösung.« Cliff sah sich in der Bibliothek um und stemmte dann die Hände in die Hüften. Er ging die Bücherregale entlang und las die Titel. Nach einigen Minuten sagte Hasso verwundert: »Was suchst du?« Cliff murmelte zwischen den Zähnen: »Ein Buch über Frank Hoium Dougherty. Dieser Mann wird langsam zu einem Alptraum für mich.« Del Marne tröstete Cliff und bemerkte mit einem unterdrückten Grinsen: »Ich werde Sie von diesem Streß befreien, Kommandant. Ich besitze ein solches Buch, sogar mit einer Widmung Svend-Wallances. Ich lasse Ihnen das Ex-
emplar ins Hotel bringen.« »Danke«, sagte Cliff zufrieden und atmete auf. Dann winkelte er seinen Arm an und schaltete das Funkgerät ein. »Hier Cliff McLane«, sagte er. »Hier ist das Hotel. Ist Del Marne bei Ihnen, Kommandant?« »Jawohl«, sagte Cliff. »Moment. Ich gebe ihm das Gerät.« Del Marne horchte etwa eine halbe Minute lang wortlos, während sein Gesicht Entsetzen widerspiegelte. »Etwas Furchtbares ist geschehen!« sagte er. Für einige Sekunden breitete sich ein lastendes Schweigen in der Bibliothek aus. Dann flüsterte Del Marne: »Heute nacht sind unten im Städtchen zweihundert Menschen verschwunden. Meistens Personen zwischen zwanzig und vierzig!« Tamara sagte scharf: »Das Raumschiff!« »Sicher. Vielleicht haben sie freiwillig den Earl begleitet, damit er sich im endlosen All nicht so einsam fühlt«, bemerkte Cliff in offenem Sarkasmus. »Möglicherweise predigt Arys unterwegs die Lehre der Klassengesellschaft oder ähnlichen reaktionären Unfug.« Del Marne sah den Kommandanten verwirrt an. »Zweihundert Menschen, Cliff!« rief er. »Verstehen Sie das?« »Vielleicht«, gab Cliff zu. »Tamara... bleibst du mit deinen Beamten bitte hier? Setzt euch mit Villa in Verbindung und untersucht das Haus von oben bis
unten, jeden Millimeter. Quartiert euch hier ein; Lebensmittel sind genügend da. Und ich werde als Entschädigung für einen glatten Mordversuch an mir eine Flasche von diesem vorzüglichen Whisky stehlen. Sie haben nichts gesehen, Del Marne!« sagte er. »Was hätte ich sehen können?« fragte der Polizist. Sie öffneten die Tür der Bibliothek, die auf die breite Terrasse hinausführte. Der Tag begann, die Sonne stieg höher, und es wurde heller und wärmer. Cliff, Hasso und Del Marne stiegen in dessen Dienstfahrzeug und rasten los. Del Marne fuhr den Wagen so, wie Cliff die ORION steuerte: schnell, perfekt und hundertprozentig sicher. Sie rasten über den schmalen Weg, schleuderten nach beiden Seiten und waren zehn Minuten später im Ort. Dort herrschte helle Aufregung. Cliff ließ sich zum Hotel bringen und stieg aus. »Eines Tages«, sagte er leise, »komme ich wieder hierher, Del Marne. Dann werden wir eine lange, freundschaftliche Diskussion haben. Nehmen Sie diese Flasche und heben Sie sie auf – bis zu diesem Tag. Es geschieht noch dieses Jahr, mein Wort darauf.« Sie schüttelten sich die Hände. »Was haben Sie vor, Hasso... Cliff?« fragte Del Marne und verstaute die fast volle Flasche sorgfältig neben dem Fahrersitz. Cliff erwiderte kalt: »Nach einem kleinen Intermezzo, das aus einem Selbstmordversuch besteht, werde ich das tun, was ich schon immer gern getan habe. Ich werde mit der ORION einen unbekannten Planeten anfliegen.« »Viel Glück!« Hasso sagte mit rauher Stimme:
»Das werden wir verdammt nötig haben, Del!« Der Wagen raste schlingernd davon. Cliff und Hasso regelten die Bezahlung der Hotelrechnung, indem sie die Personalabteilung von T.R.A.V. als Rechnungsempfänger bezeichneten. Dann packten sie ihre Taschen und gingen an Bord der wartenden LANCET. Nachdem sie den Piloten aus dem Schlaf geweckt hatten, flogen sie los. Stunden später waren sie in der Basis 104 und erstatteten Villa und Wamsler Bericht. Wamsler schloß: »Alles wie ausgerechnet und geprüft, mein Junge. Sie haben hervorragende Arbeit geleistet.« Cliff meinte: »Wir haben lediglich passiv das registriert, was geschehen ist. Und geschehen ist ja allerhand.« »Und heute abend, auf dieser Selbstmörderparty, wird vermutlich noch einiges passieren. Sie sind bereit? Rechnen Sie ernsthaft damit, daß man einen von uns angreifen wird?« Cliff sah langsam von Wamsler zu Villa und wieder zurück. Dann meinte er leise: »Ich bin sicher, daß heute abend mindestens ein Angriff auf mich erfolgen wird, denn ich bin als Verfolger zu deutlich in Erscheinung getreten.« Wamsler versprach: »Ich bin pünktlich da. Erschrecken Sie nicht, wenn Sie Ihre Wohnung betreten.« »Kaum!« sagte Cliff. Auch hier irrte er wieder. * Grundsätzlich war diese Idee absurd: Man versam-
melte, dreihundertfünfzehn Meter über Meereshöhe, im hundertsten Stockwerk eines riesigen Wohnturmes, alle Menschen, die etwas über den verbotenen Giftplaneten wußten. Man richtete eine Party aus. Also eine lustige, unbeschwerte Zusammenkunft von Menschen bei alkoholischen Getränken und Musik, bei Gesprächen und unter dem warmen Himmel Australiens. Unter den Sternen der Nacht. Der Zweck war klar: eine Falle für den Mörder. Daß »nebenbei« noch viele Menschen in Gefahr gebracht wurden, nahmen die Beteiligten in Kauf. Leider würde man das Werkzeug des Mörders vielleicht, ihn selbst aber sicher nicht fassen können. Cliff blieb überwältigt stehen, als er aus dem Liftschacht heraustrat. Er lehnte sich gegen eine Wand aus durchbrochenen Plastiksteinen und sagte leise: »Dafür hat die T.R.A.V. Geld, aber die Raumschiffe lassen sie nicht versilbern!« Zwischen dem Liftausgang zog sich bis zu seiner Wohnungstür auf der einen und bis zum Swimmingpool auf der anderen Seite ein durchgehender Teppich hin. Auf diesem Teppich standen Würfel, mit einem silbern leuchtenden Stoff überzogen. Es mußten über einhundert sein, in einzelnen Gruppen zusammengestellt. Der Teppich war sehr teuer; sein Muster bestand aus Gräsern und Blumen, und Cliff war überzeugt, daß die einzelnen Teile dieses überwältigend farbigen Bildes in der Nacht selbsttätig leuchteten. Eine Batterie von kleinen Lautsprechern war aufgestellt worden, und die Kabel führten durch ein Fenster in Cliffs Wohnung. Eine zwanzig Meter lange Bar mit einem darübergespannten Baldachin verlief zwischen dem Schwimmbecken und der Woh-
nungstür und begrenzte die freie Fläche nach Westen zu. »Sie scheinen zuviel überflüssiges Geld zu haben!« sagte eine Stimme neben Cliff. »Es scheint nur so«, erklärte der Kommandant seinem Nachbarn. »Die Behörde feiert heute abend meinen hundertsten Geburtstag oder wahlweise mein dreißigstes Abenteuer.« »Bin ich eingeladen?« fragte der Nachbar, ein Architekt, grinsend. Cliff erwiderte: »Selbstverständlich! Sie könnten wegen des Lärms ohnehin nicht einen geraden Strich ziehen. Außerdem – Sie werden sich wundern, wer alles zu unseren Gästen zählt! Eine sehr illustre Gesellschaft wird das werden.« Der Architekt fragte: »Kommt Dougherty auch?« Er wunderte sich, als ihn Cliff mit einem vernichtenden Blick maß und schweigend davonstolzierte. Er erreichte, über den vielfarbigen Teppich gehend, seine Wohnung. Ishmee stand in der kleinen Küche und programmierte gerade einen Imbiß; sie wußte, daß Cliff kam. Der Kommandant warf seine Schrotflinte auf den Teppichboden, blieb mitten im Raum stehen und sagte laut: »Du siehst nicht gerade sehr heiter aus, Ishmee!« »Ich passe meinen Gesichtsausdruck deiner Laune an, Liebster!« sagte sie anzüglich. Cliff ging in die Küche, setzte sich auf den Kühlschrank und zog das Mädchen an sich. Er murmelte: »Ich hoffe, du hast dich In den vergangenen Tagen zu einer Meisterschützin entwickelt?«
»Es geht leidlich gut«, sagte sie. »Besonders gut schieße ich auf große, unbewegliche Ziele. Dabei ist die Chance, zu treffen, selbst für mich sehr gut.« Cliff lachte kurz und antwortete: »Es genügt, wenn du heute abend die bewaffnete Gastgeberin spielst. Das Schießen, falls es dazu kommen sollte, besorgen Mario und ich.« Ishmee erkannte die aufgeregten Gedanken Cliffs. Sie wußte, daß der Kommandant die heutige Nacht als Kulminationspunkt betrachtete. Heute sollte sich herausstellen, ob die Morde tatsächlich mit Hilfe von Beizvögeln ausgeführt worden waren. Vielleicht fing man dabei auch den Mörder. »Was hast du in England herausgefunden?« Cliff berichtete, während sie aßen. Bis zum Anfang der Party hatten sie noch sechs Stunden Zeit. In der Zwischenzeit überprüften die Techniker die versteckten Radaranlagen und das Warnsystem. Dies alles war derart gut getarnt, daß nicht einmal Cliff, der davon genau wußte, hätte sagen können, wo sich die einzelnen Geräte befanden. Man hatte sich darauf geeinigt. Marios Geburtstag zu feiern. Er wurde tatsächlich einen Tag später siebenunddreißig Jahre alt. Dieses Datum konnte nachgeprüft werden. »Wohin mag dieser Earl geflohen sein?« erkundigte sich Ishmee. Sie spürte, wie Cliff bei den Gedanken an Carrere von einer seltsamen Unruhe erfüllt wurde. Schlagartig war diese Gedankenströmung aufgetaucht, und nur langsam klang sie wieder ab. »Mit großer Sicherheit wartet das Schiff irgendwo auf der Erde auf ihn, oder im Weltraum. Sicher vorzüglich getarnt, als Frachter auf Warteposition oder
ähnlich. Vermutlich setzt er die Beizvögel mit einer LANCET ein, die irgendwo über dem Haus schwebt. Und nachher startet das Schiff zu einem Planeten, den wir kennen. Dorthin führt auch der zweite Teil unseres Einsatzes.« Ishmee sagte: »Dem Ausdruck deiner Gedanken nach erwartet uns dort nicht gerade der Garten Eden, nicht wahr?« Cliff lächelte kalt. »Das genaue Gegenteil«, sagte er. »Vermutlich die Vorhölle.« »Das läßt auf einige angenehme Tage hoffen«, schloß das Mädchen. »Der Rest der Crew hat sich für Punkt neunzehn Uhr angesagt. Um acht beginnt offiziell Marios Geburtstagsparty.« Cliff streckte sich auf dem Teppich aus und wünschte, er könne tatenlos dasitzen und meditieren. Jedenfalls beschloß er jetzt und hier, sich nach Ende dieses Einsatzes mit dem Phänomen Dougherty auseinanderzusetzen. Del Marnes Buch hatte er jedenfalls vor lauter Eile mitzunehmen vergessen. »Ich schlafe eine Stunde«, sagte Cliff, »dann kümmere ich mich um den Rest.« Ishmee streichelte seine Wange. »Bei dir lernt man jedenfalls eines mit Sicherheit: erfolgreich untertreiben. Ich weiß, in welche Richtung deine Gedanken gehen und mit welcher Intensität sie es tun. Und da kannst du schlafen?« Cliff grinste sie an. Er sagte kurz: »Gefährliche Lagen schärfen den Verstand. Und nur ein ausgeschlafener Kopf läßt zu, daß man den Verstand benützt. Was liegt näher?« »Schießübungen«, sagte Ishmee.
Auch sie fühlte sich ziemlich müde. Aber wenn sie an den Abend dachte, wurde sie sehr munter. * Mario de Monti stand, ein Glas mit kaltem Sekt in der linken Hand, nur zwei Meter von seiner Waffe entfernt. Sie befand sich, durch zwei kleine Klemmen gehalten, an einer stählernen Verstrebung des Baldachins. Über das Dach des Hochhauses donnerte und heulte die Musik. Gesprächsfetzen waren zu hören, Gläserklirren und Gelächter. Im Ohr des Mannes, der seinen Geburtstag feiern ließ, befand sich eine winzige Kapsel – sie würde aufsummen, wenn das Radar einen kleinen Körper über dem Haus melden würde. Es war dreißig Minuten nach acht Uhr. Cliff kam auf Mario zu. »Unruhig?« fragte er laut. Er mußte schreien, um sich gegen den Lärm verständlich machen zu können. »Natürlich. Und am meisten frustriert mich, daß ich heute, an meinem Geburtstag, ein Limit von zwei Glas Sekt habe.« Cliff versprach laut: »Wir werden anschließend den Abschuß feiern. Je Vogel hat uns Villa eine Flasche von echtem irischen Whisky versprochen!« Mario zog ein schiefes Gesicht. »Was ist das?« Cliff schlug ihm lachend auf die Schulter und bahnte sich durch die Menschen einen Weg bis zu Hasso Sigbjörnson. Der weißhaarige Bordingenieur hatte seine Familie zu Hause gelassen; er wollte seine Frau und die beiden Kinder nicht gefährden. Auch er
trug, wie die gesamte Crew und auch Tery Hoobcin, eine der winzigen Kapseln im Ohr. »Wann rechnest du mit dem Angriff?« fragte Hasso. Cliff fühlte einen harten Klumpen dort, wo sich sonst sein Magen befand. Er zog die Schultern hoch und schrie zurück: »Keine Ahnung! Wirklich nicht. Das bedeutet eine stundenlange, durchgehende Aufmerksamkeit.« Die Nacht war warm, und ein kaum wahrnehmbarer Wind wehte vom Meer heran. Auf der Terrasse befanden sich nicht weniger als hundert Gäste. Von ihnen wußten genau zehn Mann Bescheid. Zehn Waffen lagen versteckt in der Nähe dieser Männer, und im Augenblick hatte sich nur Cliff von seiner Waffe entfernt. Wamsler hatte ihm, nachdem er aufgewacht war, einen alten Archivfilm überspielen lassen. Der Film zeigte den Angriff eines Jagdfalken auf einen anderen Vogel, auf einen Hasen und einen Fuchs. Cliff wußte nun, daß eine blitzschnelle Reaktion ihn retten konnte – aber nur vorübergehend. »Ja. Sprich mit den anderen«, sagte Hasso und legte seinen Arm über die Lehne der überspannten Schaukel. Er fühlte die schußbereite Waffe, die dort befestigt war. Von dem kühlen Lauf ging eine fühlbare Beruhigung aus. Hasso fuhr fort: »Sprich mit ihnen. Beruhige sie! Besonders Atan scheint mir kurz vor der Explosion zu stehen.« »Es wird immer ein paar Leute geben«, sagte Cliff und lächelte einer unbekannten Blondine zu, die in der Nähe Villas stand und ein Glas leerte, dessen Inhalt einem Profi zur Ehre gereicht hätte, »die die schönsten Feste stören. Wo wir doch gar keine Falken
eingeladen haben.« Eine halbe Stunde später hatte er erstens seine Kameraden beruhigt und zweitens einen Querschnitt durch die geladenen Gäste erhalten. Er sah zehn der Männer, die an dem geheimnisvollen Projekt arbeiteten. Es waren alle Männer vom gleichen Typ: Der Earl, Mandellini oder Beristain sahen aus wie alte, einsame Wölfe, die ihre besten Jahre im Raum verbracht hatten, zu einer Zeit, da das Steuern eines Schiffes noch echtes Abenteuer war. Damals, als gerade die ersten Sektoren der Neunhundert-ParsekRaumkugel vermessen wurden. Cliff stand mit Tery Hoobcin in gefährlicher Nähe des Swimming-pools. Dies war die einzige Stelle, an der die Musik einige Dezibel leiser war. Beide Männer unterhielten sich halblaut. Tery sagte: »Dort drüben steht, zwischen den Zierpflanzen, einer der Käfige. Die anderen befinden sich in der Nähe derjenigen von uns, die mit Gewehren ausgerüstet sind. Die Raubwürger waren bis jetzt vollkommen ruhig. Ich stelle mir vor, daß wir im Morgengrauen, hoffnungslos betrunken, noch immer auf die Falken warten.« Cliff betrachtete traurig seinen Orangensaft. Er sah zwischen den Pflanzen den Vogel ruhig auf seiner Stange sitzen. Das Tier schien nicht aufgeregt zu sein, aber es drehte pausenlos seinen Kopf. War dies ein Zeichen? »Wie war es in England? Merkwürdige Leute, nicht wahr?« Cliff nickte Tery zu. »Ja. Ich fühlte mich in eine andere Zeit versetzt. Ich
denke noch jetzt daran, und dieser Gedanke wird stärker, je mehr ich darüber nachdenke.« »Worüber?« fragte der Großwildjäger. »Übrigens, hier unter dieser Tischplatte habe ich zwei Flinten festgeklemmt. Deswegen stehe ich auch hier wie angenagelt.« »Ich denke darüber nach«, begann Cliff, »daß der Earl unter Umständen deswegen so handelt, wie er unserer Meinung nach gehandelt hat, weil er die alten Traditionen mit aller Macht wieder einführen will. Vermutlich noch Leibeigene und den Zehenten...« »Wobei er vergißt, daß heute schon die Steuer wesentlich mehr verschlingt.« Der Summer in Cliffs Ohr schrillte. Augenblicklich begann der Raubwürger, sich in seinem Käfig zu gebärden, als stunde er unter Starkstrom. Der Summer ertönte dreimal kurz hintereinander – der Sicherheitsabstand war unterschritten. Dreißig Meter über den Köpfen der einhundert Personen befanden sich mehrere Jagdfalken. Alles geschah jetzt fast gleichzeitig. Die Musik brach ab. Über der Terrasse leuchteten starke Scheinwerfer auf. Sie strahlten in breiten Flächen zum Himmel. Die Gespräche verstummten, eine Frau schrie. Cliff ließ sein Glas fallen, Tery ebenfalls. Dann sprang der Großwildjäger nach vorn, kippte den Tisch mit rund dreißig Gläsern und einem prächtigen Blumenstrauß um und riß die Flinten an sich. Ishmee schrie gellend über die Köpfe der Menge hinweg: »Cliff! Über dir!«
Cliff wirbelte herum, tauchte unter den schwirrenden Schwingen hinweg und streckte die Arme aus. Dann sprang er mit einem Riesensatz, während der erste Schuß donnernd über die Terrasse krachte, in den Pool hinein. Er tauchte, kam wieder an die Oberfläche und sah, wie Tery ihm, während die Waffe in seiner Hand einen langen Feuerstrahl auswarf, eine zweite Büchse zuwarf. Cliffs Füße berührten den Grund, er fing die Flinte auf und drehte sich langsam, den Kolben an die Schulter gepreßt, Dann sah er den weißen Falken dicht über sich, ging mit dem Lauf mit und drückte ab. Ein Knall, ein leichter Rückstoß – die Automatik lud nach. Cliff sah alles wie durch einen Schleier, und seltsamerweise hatte er in den nächsten Sekunden den Eindruck, als sähe er mehrere Dinge gleichzeitig. Atan Shubashi stand neben einem Käfig, dessen Insasse kreischte, schrie und mit den Flügeln schlug, und feuerte gezielt einen Schuß nach dem anderen ab. Schrotkörner, die senkrecht nach oben geschleudert worden waren, prasselten auf die Köpfe der Gäste. Schreie wurden ausgestoßen. Ein blutüberströmter weißer Vogel fiel ins Wasser. Pulverdampf zog über den Boden dahin wie hellblauer Nebel. Schüsse krachten. Feuerzungen deuteten zum Himmel, und ein Mädchen schrie immer wieder: »Hilfe – ich ertrinke! Hilfe – ich ertrinke. Hilfe...« Cliff sah den zweiten Vogel, der wie ein Stein auf ihn zufiel, und gerade, als der Falke die Schwingen auseinanderriß und mit gespreizten Krallen auf Cliff zuschwang, traf ihn aus vier Metern Entfernung die
volle Ladung. Der Vogel fiel neben dem Kommandanten ins Becken. Jetzt sah Cliff den Großwildjäger, der sich wie eine Radarantenne drehte. Tery verfolgte zwei Falken, die am Rande der Lichtinsel flogen und sich offensichtlich auf die beiden alten Raumfahrer stürzen wollten, die auf Cliffs Wohnung zuliefen und kleine Gasdruckwaffen in den Händen hatten. Unaufhörlich rief eine befehlsgewohnte Stimme Anordnungen. Später sollte Cliff erfahren, daß dies Wamsler war, der seine Befehle herausbrüllte. Tery drehte sich, zielte sorgfältig und feuerte. Einmal, zweimal... dann setzte er sein Gewehr ab. »Zielschießen – so aufwendig wie noch nie!« knurrte Cliff und merkte, wie sich die lange aufgestaute Spannung in ihm löste. Er stand im Wasser, hatte den Kopf im Nacken und spähte nach oben. Langsam drehte er sich, und der mattschimmernde Lauf der Waffe drehte sich mit und zielte auf die Sterne. »Noch einer!« stöhnte der Kommandant. Gleichzeitig sah Mario de Monti diesen Vogel, der sich mit angelegten Schwingen auf sein Ziel fallen ließ. Dieses Ziel hieß Wamsler. Der Marschall stand mutig inmitten der Gäste, die unter den wenigen Tischen Schutz suchten und überhaupt nicht wußten, worum es ging. Gleichzeitig feuerten Cliff und Mario. Der Vogel fiel direkt vor die Füße des Marschalls. Wamsler brüllte laut: »Danke!«, und fuhr fort, seine Befehle zu rufen. Tery sprang neben Cliff ins Wasser und hatte ein
Paket Munition unter dem linken Arm. »Wieviel Vögel hatte der Earl?« schrie er. »Mit Sicherheit zehn!« brüllte Cliff zurück. »Fehlen noch drei!« erwiderte Tery. Im gleichen Moment kamen die drei letzten Vögel gleichzeitig aus dem Dunkel des Himmels. Einer nahm Ralf Agliani zum Ziel. Der andere raste wie ein geschleuderter Stein auf Ishmee zu. Der dritte breitete seine Flügel aus, ließ sich durchfallen und raste dicht über dem Wasser auf Cliff zu. Wenn Cliff jetzt schoß, traf er Tamara Jagellovsk in den Kopf; sie stand genau in der Schußbahn. Noch während Cliff zu überlegen schien, was er tun konnte – denn schon eine Berührung mit den Klauen war absolut tödlich –, handelte er rein automatisch. Er bewegte sich um genau die Distanz von Tery weg, die er benötigte, um seinem Freund nicht den Schädel zu spalten. Dann griffen seine Hände um den heißen Lauf der Flinte, schwangen den Kolben mit äußerster Wucht herum, und wie ein Baseballspieler schlug Cliff das Holz gegen den Vogel, knapp zwei Meter vor seinem Gesicht. Der Vogel prallte gegen den gekachelten Rand des Bassins und fiel ins Wasser. Tery Hoobcin fluchte laut in einer Sprache, die außer ihm nur seine Sekretärin kannte. Dann feuerte er dicht an Wamsler vorbei, zwischen Villa und einem schlanken, rothaarigen Mädchen hindurch und direkt neben Ishmee, deren Flinte ununterbrochen feuerte und nichts traf, in die Panoramascheibe von Cliffs Wohnzimmer. Der Vogel wurde einen Meter von Ishmees Gesicht aus der Bahn gerissen und in die scharfkantigen Splitter der berstenden Scheibe geschleudert.
Helga Legrelle, die hinter einem PlastikBlumenkübel lag und den Lauf des Gewehres aufgelegt hatte, feuerte. Sie traf den Vogel, der sich auf Agliani stürzte. Der Vogel, einen Meter schräg über dem Raumfahrer, hatte bereits zehn Nadeln der automatischen Gasdruckwaffe im Körper, aber noch als restlos Gelähmter blieb er in seiner Bahn. Die Krallen und der geöffnete Schnabel deuteten auf Agliani, der sich zur Seite warf. Der Vogel wurde voll getroffen, klatschte gegen die Bespannung über der Bar und fiel in einen Eiskübel. Drei Schrotkugeln drangen Agliani in den Oberarmmuskel, und für Sekunden glaubte der Raumfahrer, der Vogel habe ihn doch berührt. Dann schrie eine aufgeregte Stimme: »Der Luftraum ist frei. Ich habe zehn Objekte gezählt.« Cliff, die rauchende Büchse in der Hand, kletterte aus dem Swimming-pool und sah den Raubwürger an, der völlig ermattet und mit hängenden Flügeln auf der Stange saß und keuchte, als habe er Pfeffer gefressen. »Braves Tierchen!« sagte Cliff. Der Vogel schloß die Augen und widmete sich einer nicht feststellbaren verinnerlichten Tätigkeit. Vielleicht hatte er Heimweh nach der englischen Vogelwarte. Cliff beschloß, bei Wamsler mehrere gute Worte für die Vögel einzulegen. Sie hatten sich alle beruhigt, ihr Geschrei hatte schlagartig aufgehört – die Gefahr war vorbei. Als Ausgleich begannen dafür jetzt die meisten Gäste zu schreien.
6 Es dauerte nur eine Stunde, bis das Fest weitergehen konnte. Roboter und Männer der insularen Polizei, die auf Wamslers Funkrufe hin auf die Terrasse hinausgerannt kamen, räumten schnell auf. Viele Scherben wurden beseitigt, und der in verschiedenen Farben leuchtende Blumenteppich roch nach Alkohol sämtlicher Geschmacksrichtungen. Die zehn Vögel wurden eingesammelt. Sie kamen in zehn Blechbehälter und wurden von den Beamten des GSD, die nach den Polizisten gekommen waren, in die Labors abtransportiert. Cliff, Tery und zwei Damen, die in den Swimmingpool gesprungen waren – die Damen behaupteten zwar, Mario habe sie hineingeworfen, aus schierem Übermut, was glatt gelogen war –, vier Personen also wechselten die Kleidung. Cliff rief von seinem Arbeitszimmer eine Firma mit 24-Stunden-Service an, die Scheiben auswechselte, beziehungsweise neue einsetzte, denn an dieser Scheibe war nichts mehr auszuwechseln. Die Gewehre verschwanden wieder, man brachte einen neuen Barmixer, neue Gläser und volle Flaschen. Man brachte, nachdem der Mixer, der einen Nervenzusammenbruch erlitten hatte, ausgewechselt worden war, auch noch einen gewaltigen Toast auf Mario de Monti aus. Wamsler höchstpersönlich beförderte ihn zum Oberleutnant. Mario dankte mit mäßiger Begeisterung. »Oberleutnant verhält sich zu Leutnant wie Ober zu Oberin«, sagte er mißmutig. »Wie das?« wollte Wamsler erstaunt wissen.
»Die Macht aller drei endet an den Grenzen ihrer kleinen Welt. Das gilt für einen Ober: sein Restaurant. Die Oberin: Sie kann höchstens über die Mauern schauen. Und der Oberleutnant: Ich darf jetzt Helga Legrelle schikanieren. Ich frage Sie Marschall – ist es das wert?« Wamsler reagierte sauer und fragte: »Hätte ich abtreten und Sie zum Raummarschall machen sollen?« Mario schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Jetzt bin ich noch ein liebenswürdiger und beliebter Erster Offizier. Dann, als Raummarschall, wäre ich so wie Sie. Und das läßt sich mit meinen Lebenszielen nicht vereinbaren.« Wamsler schlug ihm resignierend auf die Schulter und verkündete laut: »Ich vergebe Ihnen Ihre Insubordination, weil Sie heute Geburtstag haben.« »Und weil ich Ihnen mehrfach das Leben gerettet habe, als diese lebenden LANCETS herunterfielen!« Ishmee warf sich mutig zwischen beide Männer und erstickte einen möglichen Streit im Keim. Je später es wurde, desto mehr Männer des Projektes Carrere fanden sich zusammen. Sie diskutierten die Ereignisse, und als später die Meldung kam, eine echte LANCET habe den Wohnturm auf dieser Insel dicht über dem Meeresspiegel angeflogen, habe dort die Vögel ausgesetzt und sei auf dem gleichen Weg wieder abgeflogen, war niemand von ihnen besonders überrascht. Cliff und Hasso erfuhren eine Menge über den Earl, und sie mußten ihre bisherige Meinung in nur wenigen Punkten revidieren. Der Earl Arys of Svend-Wallance war in jeder Hinsicht eine
außergewöhnliche Persönlichkeit. Und seit frühester Jugend trug er den Keim in sich, der heute voll aufgebrochen war. Gegen Morgen ging der letzte Mann. Hoffnungslos betrunken. Es war kein Raumfahrer, sondern jemand von GSD. Tamara Jagellovsk brachte ihn hinunter und ließ ihn in der Praxis des Arztes im vierten Stockwerk zurück. Dann war das Fest der tödlichen Vögel vorbei. Mit den Köpfen unter den Flügeln schliefen die Raubwürger. * Zeit: acht Uhr abends. Genauer – drei Minuten nach acht. Gleichzeitig zwei Stunden vor dem Start der ORION VIII nach Carrere Theta Xi. Ort: das Büro Wamsler. Die Frauen und Männer saßen in der alten, in langen Jahren eingebürgerten Ordnung um den großen spiegelnden Schreibtisch herum. Personen: die ORION-Crew in Borduniform. Ishmee und Tamara Jagellovsk. Oberst Villa und Raummarschall Winston Woodrov Wamsler. Michael SpringBrauner und zwei Wissenschaftler. Spring-Brauner, von feinem Taktgefühl und Situationsgefühl gleich weit entfernt, richtete sein Wort an Cliff McLane, der für ihn die Verkörperung des bösen Erbfeindes war. Die Ereignisse in der Basis 104, weit in einer jetzt unmöglich gemachten Zukunft, waren ihm nicht mehr gegenwärtig. Cliff und seine Partner hingegen konnten sich noch sehr genau an den langen Bart erinnern, den der Greis Michael einst getragen hatte.
Spring-Brauner sagte: »Sie sollten nicht zu sehr darauf drängen, Kommandant, daß der Marschall genau die Getränke besorgt, die Sie wünschen! Schließlich ist ein Whisky genausogut wie der andere.« Cliff lächelte sarkastisch, musterte den schönen Michael wie eine Zelle unter dem Mikroskop und sagte: »Der Unterschied zwischen zwei Whiskysorten ist so groß wie der zwischen einem Bonmot von mir und einem sogenannten Bonmot von Ihnen, Teuerster. Die Tragik im Leben besteht nicht so sehr darin, was man erleidet, sondern was man versäumt. Sie sind eine tragische Figur. Außerdem halten Sie uns auf. Marschall – was haben die Untersuchungen ergeben?« Wamsler deutete auf einen der Wissenschaftler, und Michael Spring-Brauner lehnte sich beleidigt zurück. Der Wissenschaftler, einer aus Oberst Villas Abteilung, war ein älterer Mann, der in einem wohltuend trockenen Ton sprach und auf bildhafte Ausschmückung verzichtete. Er sah Cliff an und sagte dann leise: »Schnabelspitzen und Klauen der Vögel waren in eine Art Lack getaucht. Der Lack wird an der Luft hart wie Stahl, in Gewebezellen oder in Blut, nicht aber in reinem Wasser, löst er sich fast augenblicklich auf. Wir haben Zeiten von einer hundertstel Sekunde gemessen, aber wir stehen mitten in den Untersuchungen. Die Vögel hatten um den Kopf eine Spange. Zwei winzige Sonden von dieser enden im Hirn der Tiere. In der Spange ist ein Relais, ferner befindet sich eine Mikrolinse daran. Wenn nun der Vogel sich sein Op-
fer heraussucht, wird er um sich blicken. Richtet sich sein Blick auf das gewünschte Opfer, Mensch oder Tier, überträgt die Automatik dies auf einen... ich nehme an, auf einen Bildschirm. Dann drückt der Operateur auf einen Kontakt, und gleichzeitig mit dem Identifizieren des Opfers wird ein Wutanfall des Tieres ausgelöst. Es wird dann bis zum letzten Funken Leben dieses Opfer verfolgen.« Hasso und Cliff sahen sich lange in die Augen. Der Wissenschaftler schaute kurz auf, nickte heftig, als wolle er seine Feststellungen bekräftigen und fuhr fort: »Die Vögel selbst sind reine Mutationen. Sie haben ein zusätzliches Erbmerkmal, das darin besteht, daß sie je nach Lichtverhältnis die Farbe ihres Gefieders wechseln können. Am Tag werden sie also weiß sein, in der Nacht pechschwarz, und zum Zeitpunkt ihres gewaltsamen Todes waren sie weiß, deshalb, weil die grellen Lampen eingeschaltet worden sind.« Tamara hob die Hand. »Ich bin unter anderem auch deshalb schon gestern aus England abgeflogen, weil wir im Verlauf unserer Suche ein zweites Kämmerchen entdeckt haben. Dort befanden sich vor kurzer Zeit noch zwei Vögel, vermutlich auch Jagdfalken.« Cliff registrierte auch diese Mitteilung. Tamara schob einige Photos über den Tisch, und während der Wissenschaftler der Laborabteilung des Galaktischen Sicherheitsdienstes weitersprach, betrachtete die Crew diese Bilder. »Gift, Lacküberzug und ›Fernsteuerung‹ der Tiere sind hiermit geklärt. Das verwendete Gift scheint von einem anderen Planeten z u stammen; es war uns vollkommen unbekannt. Es gibt darüber keine Literatur.
Haben Sie noch Fragen?« Mario de Monti erkundigte sich leise: »Wie lange halten sich diese Vögel in der Luft, und wieviel Kilometer legen sie zurück?« Hasso gab die Antwort: »Sie fliegen stundenlang, auf ihren Wanderungen noch länger. Sie können Hunderte von Kilometern zurücklegen.« Wamsler beugte sich vor und erklärte: »Wir haben natürlich alles überwachen lassen. Die LANCET war zu schnell, und unsere Leute zu langsam. Sie konnte entkommen und wurde in ein Diskusschiff, das nicht gemeldet war, eingeschleust. Es schloß sich eine sehr dramatische Verfolgungsjagd an, in deren Verlauf der Verfolgte vorzeitig in den Hyperraum ging und somit aus unseren Radargeräten verschwand. Das Schiff ist weg.« Cliff tröstete ihn: »Wir werden es finden. Was hast du noch zu berichten, Tamara?« Der weibliche Leutnant des Geheimdienstes zuckte die Schultern und sagte in fast bedauerndem Tonfall: »Alle Beobachtungen, die wir schon während des ersten, flüchtigen Rundganges machten, verstärkten sich und sind jetzt – und in einigen Tagen noch sicherer – zu beweisen. Jemand hat in diesem Schloß ein großes Besiedlungsprojekt in allen Einzelheiten geplant.« Atan flüsterte erschrocken: »Die zweihundert verschwundenen Menschen aus Wallance! Wer sonst sollte die Besiedlungspläne dieses Irren ausführen?« Oberst Villa streckte sich aus seinem Sessel und sagte scharf:
»Es wäre mir sehr angenehm, wenn Sie von Earl Arys nicht in diesen Ausdrücken sprechen würden, meine Herren. Er war einer meiner ersten Vorgesetzten, und, ich muß es deutlich sagen, auch einer meiner besten. Es ist außerdem nicht bewiesen, ob oder daß er irrsinnig geworden ist.« »Um Oberst Villas Gefühle zu schonen«, sagte Cliff energisch, »hoffe ich, daß sich diese mysteriösen Vorfälle mehr oder weniger harmlos erklären lassen. Ich persönlich, und diesmal schließe ich auch meine Mannschaft ein, glaube nicht daran. Der Earl ist ohne Zweifel ein hervorstechender Mann. Aber er ist nicht mehr das, was wir in Ermangelung anderer Bezeichnungen als normal identifizieren würden.« Michael Spring-Brauner schaltete sich ein. Er sagte: »Ich habe die ORION VIII ausrüsten lassen. Start ist in neunzig Minuten. Sind die einzelnen Punkte des Einsatzes geklärt?« »Ziemlich alle«, sagte Villa. »Ihnen, Cliff, wird ein Pulk von zehn Schiffen folgen. An Bord dieser Schiffe befinden sich zehn der Kapitäne, die Sie teilweise kennengelernt haben. Dies ist Ihre Verstärkung. Die erste Landung müssen Sie allerdings allein durchführen.« Cliff sagte kurz: »Ich habe verstanden.« Raummarschall Wamsler schloß den Safe wieder auf und reichte Mario de Monti eine schmale Karte, die in das Eingabeelement des Digitalrechners paßte. Auf ihr waren die kleingedruckten Reihen der Steuermanöver für den Anflug zum Giftplaneten eingestanzt. »Hier sind die Koordinaten von Carrere Theta Xi
vermerkt. Ihr Kommandant hat einen Umschlag, dessen Inhalt binnen kurzer Zeit gelesen und auswendig gelernt werden muß. Dann finden Sie alles Nähere über den Giftplaneten und Ihre Mission. Der Umschlag wird nach Übereinkunft zwischen mir und McLane erst an Bord geöffnet. Ist das klar?« Mario de Monti, jetzt Oberleutnant mit geringfügig erhöhten Bezügen, nickte und sagte: »Nie war etwas so klar, Marschall.« Ishmee fragte: »Ich erkenne an der Natur Ihrer Gedanken, daß Sie voll tiefer Sorge sind, Marschall. Das gilt ebenso für Oberst Villa. Wieviel Vollmachten hat die Crew der ORION in diesem Einsatz?« Wamsler sagte ungewohnt fest und ohne sein übliches Poltern: »Alle!« »Oberst Villa?« fragte Cliff schnell. »Sie haben es gehört. Alle. Wir bitten Sie nur, davon so sparsam wie nur möglich Gebrauch zu machen. Wir wissen noch immer nicht, ob die rätselhaften Vorgänge auf dem Giftplaneten auf die Aktivität von Fremden zurückzuführen sind oder auf die versponnenen und gemeingefährlichen Aktionen dieses verkalkten Edelmannes.« Ein nachdrücklicher Blick in Richtung auf Oberst Villa war Wamslers einzige Reaktion. »Auf keinen Fall sind es die altbekannten Extraterrestrier!« sagte Atan Shubashi. »Wir haben sie zuerst aus unserer Galaxis vertrieben, dann auf dem Vierzig-Planeten-System der Dara verjagt und schließlich in eine andere Milchstraße verbannt. Sie werden nicht mehr auftauchen. Weder in unserer Raumkugel noch
in den Büchern des allseits bekannten Freundes Pieter-Paul Ibsen. Das kann ich garantieren.« Helga Legrelle stand auf. »Wir fliegen hin und sehen genau nach!« versprach sie. Sie verabschiedeten sich von den Personen, die hier zurückblieben. Dann nahmen sie die schweren Bordtaschen auf und verließen das Büro. Dreißig Minuten später befanden sie sich unterhalb der startbereiten ORION VIII im Hangar der Basis 104. Der Flug zum Giftplaneten konnte beginnen. Cliff sagte nachdenklich: »Fangen wir an, Freunde. Zehn Tage und etwas mehr liegen vor uns. In dieser Zeit können wir uns überlegen, wie wir es anstellen, auch auf dem Giftplaneten Erfolg zu haben.« Sie fuhren mit dem Zentrallift ins Schiff, luden das Gepäck in ihren Kabinen ab und machten die ORION startfertig. Sie alle, sechs Personen, von denen eine nicht auf der Erde geboren war, empfanden in diesen langen Minuten das gleiche: Sie freuten sich, wieder zwischen den Sternen zu fliegen. Nichts gegen die Erde, nichts gegen die freundliche Natur des Kontinents, in dem sie lebten – aber sie waren Raumfahrer. Sie mußten immer wieder hinaus, mußten die Erde wie einen Ball kleiner werden sehen, konnten die Sicherheit der diskusförmigen Schiffszelle fühlen. Methodisch und mit der perfekten Handfertigkeit, in langen Jahren erworben, machten die vier Männer die notwendigen Handgriffe. Schalter klickten, Checklisten wurden abgehakt, Lichter flammten auf und flackerten, und leise Kommandos gingen zwischen Funkpult, Kommandantensessel, Astrogationspult,
Komputer und Maschinenraum hin und her. Ishmee war immer wieder fasziniert von den Minuten, in dem sich die Mannschaft und das Schiff vorbereiteten wie ein Raubtier, das die Muskeln zum Sprung anspornt. Cliff sagte: »Fertig. Helga – bitte um Starterlaubnis!« »Funkerin an Kommandant: Verstanden.« Langsam hob sich das Schiff, schwebte entlang der Scheinwerfer und gewann Höhe. Die rasenden Wasserwände des gigantischen Strudels zogen vorbei. Die Sonne prallte gegen die Linsensysteme, und von der runden Scheibe des zentralen Bildschirms ging ein starkes Leuchten aus. Unter dem Schiff schrumpfte Australien mit allen seinen Inseln und Buchten zusammen. Kleiner und kleiner wurde das Land, Wolken schoben sich ins Bild, dann dunkelte alles. Sie waren im Raum. »Richtwert Zehn/Ost 999 ist eingespeist. Ich übergebe an Autopilot!« sagte Mario von seinem Platz aus. Cliff sagte: »Verstanden. Wir verzichten auf die Aufzeichnungen. Wer übernimmt die erste lange Wache? Alle sind müde – die Party war in jeder Hinsicht erfolgreich.« Atan Shubashi hob die Hand. »Ich kann versprechen, acht Stunden lang nicht einzuschlafen. Los! Versteckt euch in den Kabinen.« »Angenommen!« sagte Mario. »Das ist sicher dein bisher vergessenes Geburtstagsgeschenk für mich, ja?« Hasso lachte, während Atan seinen Kopf senkte und sehr schuldbewußt tat. Die Mannschaft fuhr mit
dem kleinen Lift hinunter in den Ringkorridor, las die Listen der neu geladenen Ausrüstungsstücke durch und verteilte sich auf die Privatkabinen des Schiffes. Die erste Nacht, Bordzeiteinteilung natürlich, brach an. * Nach dem ausgiebigen Frühstück, das sie gemeinsam in der engen Kombüse einnahmen, sagte der Kommandant: »Atan... es tut mir leid, aber ich öffne jetzt Wamslers Umschlag. Du solltest wenigstens bei der ersten Sichtung noch dabei sein.« »Wie lange halten sich die Unterlagen?« fragte Atan. »Wenn ich den Umschlag aufreiße, dann haben wir noch achtundvierzig Stunden Zeit. Wir dürfen nur wenige Notizen machen – alles ist streng geheim.« »Ich verstehe!« sagte Shubashi und dekorierte seine Stirn mit den langen Haaren seines Toupets. »Los!« Sie gingen wieder in die Steuerkanzel des Schiffes zurück. Ein rascher Blick bewies Cliff, daß die ORION tadellos den Kurs hielt. Das Schiff raste durch den Hyperraum und auf den rätselhaften Planeten der Sonne Louwreena zu. Cliff setzte sich in den Kommandantensitz, warf den dicken Umschlag auf den zentralen Sichtschirm und riß dann die Packung auf. »Hier, die Fotos!« sagte Cliff. Die Mannschaft umstand seinen Sessel. »Neuigkeiten?« fragte Ishmee, die bisher geschwiegen hatte und die Stimmung der Mannschaft
in sich aufnahm. Eine neue Erregung bemächtigte sich der Terraner. Sie wollten möglichst schnell viel über Carrere Theta Xi erfahren, denn sie hatten in der langen und harten Schulung der letzten Jahre gelernt, stets das Unbekannte zu fürchten. »Ich glaube ja!« sagte Cliff. Der Planet sah einladend aus. Eine volle, grünliche Kugel mit dunkelgrünen, braunen und hellroten Flächen darauf. Die Wolken waren ausnahmslos langgezogene Streifen, wie nebeneinander gelegte Stricke aus grüner Watte. Die Meere waren hellrot;, die Inseln und Kontinente besaßen braune Flächen mit dunkelgrünen Rändern und Adernsysteme von der gleichen Farbe. Cliff sah sich um und sagte ruhig, fast ohne Betonung: »Das ist eine der Welten, die vom Raum aus einladend aussieht, und wenn man sie betritt, dann schlägt der Planet zu.« Es gab ungefähr zwanzig Fotos, die, aneinandergelegt, ein Bild der Oberfläche ergaben. Auf den Bildern waren die eingedruckten Bezeichnungen der ersten Vermessungsschiffe und die gesammelten Daten anderer Beobachter zusammengetragen. Cliff schob die Fotos zusammen und gab sie Ishmee. »Gehe bitte hinunter in meine Kabine. Auf dem Arbeitsbrett steht ein kleiner Vervielfältiger. Mache von jedem Bild zwei Kopien, ja?« »Jawohl. Sofort.« Cliff sichtete das Material schnell und gründlich. Er machte vier Stapel, je nach Aufgabenbereich. Dann verteilte er das Material und las schweigend
und konzentriert den Text dessen durch, was ihn zuerst zu interessieren hatte. Die Sonne Louwreena war ein Hauptreihenstern im Hertzsprung-Russell-Diagramm. Sie besaß den Spektraltyp K und weniger als 1, gemessen an der Helligkeitsskala und ausgedrückt analog zum Wert der irdischen Sonne. Das ergab einen Durchmesser von etwa 950.000 Kilometer und eine Oberflächentemperatur von rund 5000 Grad Kelvin. Also kleiner, aber nur unwesentlich kälter als die irdische Sonne. Der Planet umrundete den Stern in einer nahezu runden Bahn und drehte sich in dreißig Stunden einmal um seine Achse. Er war kleiner als die Erde, seine Oberflächenschwerkraft betrug rund neun Zehntel der gewohnten. Die Atmosphäre bestand aus Methan, Kohlendioxyd und war angereichert mit einer Menge von Gasen, die derart aggressiv waren, daß eine ausgesandte Instrumentensonde innerhalb von drei Tagen zerfressen worden war. Die Meere waren vergiftet. Die Kontinente bestanden aus Wüsten, und entlang der Wasseradern – oder jenen Geländeformen, die so aussahen wie irdische Stromlinien mit Nebenflüssen – wucherte etwas, das man vielleicht mit irdischen Dschungeln gleichsetzen konnte. »Das wird ein Vergnügen!« murmelte Cliff. Er las die Texte und betrachtete die Diagramme. Er hatte seinen Kopf in die Arme gestützt und arbeitete sich durch die Informationen, die für Mannschaft und Schiff lebenswichtig waren. »Verdammt!«
Atan Shubashi kommentierte auf diese Weise eine Textpassage. Innerhalb von fünf Stunden hatten sie das Wichtigste festgestellt und notiert. Es gab – und dies bekräftigte Cliffs Überzeugung noch mehr – unterhalb des großen wie eine verwachsene Hand geformten Kontinents riesige Höhlensysteme. Das hatten die Kartographenschiffe festgestellt. »Höhlensysteme... aber das ist doch glatter Wahnsinn!« sagte Cliff zu sich selbst. Der Planet war nicht nur gefährlich, sondern auch geheimnisvoll. Nach der Karte, die das vierte Vermessungschiff angefertigt hatte, gab es natürlich entstandene Höhlensysteme, die sich durch Gänge verbinden ließen. Diese Höhlen, vorausgesetzt, die Karten waren richtig angelegt, waren groß und ziemlich tief. Konnte man tatsächlich dort Menschen unterbringen? Und wenn – zweihundert entführte Menschen aus der Grafschaft Closter würden sich in diesen Systemen förmlich verlaufen. Cliff schüttelte den Kopf. »Ich habe den Eindruck, daß wir Earl Arys bisher unterschätzt haben. Nun – in neun Tagen werden wir mehr wissen.« Pausenlos notierte er sich die wichtigsten Einzelheiten, las alles noch mehrmals durch und zog sich dann in seine Kabine zurück, um alles durchzudenken. * Carrere Theta Xi. Ein geheimnisvoller Planet. Jetzt, als vor ihnen die Sonne Louwreena auftauchte, hatte Helga sämtliche Funkkanäle geöffnet, und die Antennen der ORION
horchten den Raum ab. Aber sie fingen kein einziges Signal auf, das von fremden Intelligenzen stammen konnte. Aber auch keines, das von Terranern stammte... Die zehn Schiffe waren zwei Tage hinter Cliff. Sie würden eine Warteposition beziehen und anfliegen, wenn Cliff sie um Hilfe bat. Atan Shubashi saß vor seinen Schirmen und unterzog den Raum einer genauen Prüfung. Er versuchte, den genauen Standort des Giftplaneten herauszufinden. Drei Lichtstunden vor der Sonne flog die ORION fast lichtschnell in das System ein. Carrere besaß keinen Mond, und unaufhörlich gingen die Daten zwischen dem Bordkomputer und Atans Pult hin und her. Schließlich sagte der Astrogator: »Shubashi an Kommandant: Ich habe den Standort des Giftplaneten.« Cliff hob den Kopf. »Ausgezeichnet. Projiziere die Daten zu mir herüber.« Er bewegte einen Schalter und nahm den Autopiloten aus dem Bordnetz heraus. Dann richtete er einen neuen Kurs ein, verwendete sämtliche Daten Atans. Die ORION kippte leicht und flog, in bezug auf die Ekliptik dieses Ein-Planeten-Systems, nach halbrechts weg. Genau auf den Planeten zu. »Warum eigentlich diese Geheimhaltung?« erkundigte sich Ishmee. Cliff zuckte die Schultern und versuchte, im Gewimmel der Sterne auf der Scheibe einen Planeten zu erkennen, also einen Körper, der nur das Licht der kleinen Sonne reflektierte.
»Keine Ahnung!« sagte er mit Nachdruck. »Niemand kann nur annähernd erraten, aus welchen Gründen für T.R.A.V. etwas geheim oder nicht geheim ist. Vermutlich rechnen sie noch immer mit einer Invasion von irgendwelchen Extraterrestriern.« »Hier!« Atan schaltete nacheinander einige Vergrößerungen ein und schaltete dann die Bilder auf Cliffs großen Schirm. Hasso meldete sich aus dem Maschinenraum. »Ich bin bereit«, sagte er, »und die Maschinen sind es ebenfalls.« Cliff knurrte: »Noch nicht. Wir gehen in einen Orbit.« »Verstanden.« Langsam näherte sich der Planet. Die Besatzungsmitglieder blickten wie gebannt auf die Schirme, die gestochen scharfe Abbildungen zeigten. Ein tiefes Schweigen trat ein, in dem nur die Arbeitsgeräusche der Maschinen und Schaltungen zu hören waren. Alle Augen waren auf Carrere gerichtet. Die ORION VIII war an der Sonne vorbeigerast, und jetzt näherte sich das Schiff mit dem Licht im Rücken der voll ausgeleuchteten Scheibe des Planeten. Er hing im Raum wie ein halbtransparenter Ballon, der mit grünem Gas gefüllt und mit unregelmäßigen Flecken verziert war. Natürlich war von hier aus nichts festzustellen. Falls es Sendeanlagen auf der Oberfläche gab, dann schwiegen sie. Cliff sagte: »Kommandant an Bordbuch – wir gehen in einen Orbit dreihundert Kilometer über Grund.« Die Spulen drehten sich, Worte und Schaltungen wurden aufgezeichnet. Je größer der Planet wurde,
desto höher kletterte die Spannung. Wenn alle Thesen, die Cliff mit seinen Leuten aufgestellt hatte, sich als richtig erwiesen, dann war das Raumschiff mit Earl Arys of Svend-Wallance rund einen Tag vor Cliff hier gelandet. Atan meldete: »Abstand einhunderttausend Kilometer.« »Danke!« Cliff zog den Bremshebel und gab die Fahrt wieder frei, als sich die Geschwindigkeit auf dreitausend Stundenkilometer verringert hatte. Plötzlich sagte Helga eindringlich: »Kontakt mit Relaisstation. Ein Hypergramm!« Cliff drehte sich nicht um, als er antwortete: »Ausdrucken lassen, ja?« »Verstanden.« Während brummend der Schnelldrucker anzulaufen begann, nahm Cliff eine der Kartennachzeichnungen und legte sie über das Bild, das der große Schirm zeigte. Er winkte nach hinten, und Hasso, Mario und Atan kamen heran. »Atan – schnell, ein Foto! Die Größenverhältnisse stimmen gerade!« Die Karte der angemessenen und ausgeloteten Höhlensysteme war im Augenblick gerade so groß wie die ›reale‹ Karte, die sich unter den dünner werdenden Wolkenfasern abzeichnete. Mit einer Polaroidkamera machte Atan schnell nacheinander zehn Aufnahmen. Das Raumschiff schoß weiter auf den Planeten zu, und Cliff schob die Karten zur Seite. »Danke«, sagte er. »Falls sich dieser Falkenjäger in einem der Labyrinthe befindet, so sollte unsere erste Aufgabe die Suche nach einem Eingang sein.«
Helga legte Cliff die Hand auf die Schulter und schob das Blatt mit dem Hyperraumfunkspruch vor Cliff auf das Pult. »Eine zusätzliche Information.« Cliff hob das Blatt und las laut vor. Die Bordsprechanlage übertrug jedes seiner Worte. »... dringend... high speed... T.R.A.V. Raummarschall Wamsler an Cliff McLane in ORION VIII. Via Relais: Im Gutshof Bild von Butler gefunden. Bild durch Zentrale Rechenanlage identifiziert. Butler heißt Sabestion Rebilly und ist vor dreißig Jahren mit seinem Schiff MONIQUE tödlich verunglückt. Kein Zweifel möglich. Also handelt es sich um einen fingierten Unfall, folglich benutzt Earl Arys die MONIQUE als Transportmittel. Achtung: Ebenfalls wurden Pläne für umfangreiche Verteidigungsanlagen gefunden. Der Planet ist also abwehrbereit. Können Sie etwas mit dem Ausdruck Intruder's candle anfangen? INTRUDER war eines der jetzt ausrangierten ersten Kartographenschiffe. Das ist alles. Viel Glück... gezeichnet Wamsler. Ende.« Ishmee sagte fassungslos: »Ein Schiff, das es nicht mehr geben sollte, ein Butler, der Schiffskommandant war und angeblich gestorben ist... vor dreißig Jahren. Und ein befestigter Planet!« Cliff erwiderte scharf: »Das Problem, dem wir uns gegenüber befinden, ist nicht eigentlich ein Problem, das auf den Planeten Terra, seine Menschen und seine Kolonien beschränkt ist. Es ist das Problem eines Individuums. Denkt an die letzten Aashap oder vergleichbare Persönlichkeiten. Es ist das Problem eines Mannes, der in der fal-
schen Zeit geboren wurde und der der Vergangenheit nachtrauert. Damals waren er und Leute seines Schlages Herrscher. Menschen voller Verantwortung, die sie nur selten in der richtigen Weise nutzten. Diese Zeit ist glücklicherweise vorbei. Aber der Earl hat es nicht begriffen. Er schuf sich zuerst in England seine eigene Phantasiewelt, die deswegen, weil sie nicht mit anderen Auffassungen kollidierte, stabil bleiben konnte. In dem Augenblick in dem Arys nach Carrere auswich, um seine Welt wieder auferstehen zu lassen, gab es Pannen. Er mußte sich nehmen, was er brauchte – mit Gewalt. Er begann jeden zu bekämpfen, der seine Idee ablehnte. Und schließlich mordete er. Und genau an dieser Grenze wird er scheitern.« Helga Legrelle warf nachdenklich ein: »Und unter Umständen wir mit ihm.« Cliff blieb ernst. »Unter Umständen. Wir sollten unseren Gegner nicht unterschätzen. Wir müssen alles, was wir gelernt haben, einsetzen. Mit kleinen Schritten kommen wir weiter als mit unseren gewohnten Pauschallösungen.« Mario de Monti knurrte: »Und auf alle Fälle sollten wir einen kleinen Schritt machen und einen ordentlichen Orbit einschlagen, sonst landen wir noch mitten im Kontinent – per Bruchlandung.« Cliff drehte seinen Sessel und griff nach den Hebeln der Handsteuerung. Der Planet war jetzt auf allen Seiten über den Schirm hinausgeflossen, und geradeaus tauchte die polare Gegend auf.
7 Vor dein Schiff breitete sich eine Landschaft aus, die von Gemälden Salvador Dalis stammen konnte, die man in Querstreifen geschnitten und willkürlich wieder zusammengesetzt hatte. Eine rotbraune Wüste, die aus Sand, Kies und Steinbrocken bestand. Alle drei Komponenten waren gleichmäßig über die Ebenen verteilt. Hinter den Felsen lagen lange Schattenzungen, und in der grünlich leuchtenden Lufthülle flimmerten Hitze und Sonnenstrahlen. Die ORION war nach zwei Orbits über der Polgegend eingeflogen, hatte sich durch einen Sturm gekämpft, der ein kleineres Schiff vernichtet hätte. Auf diese Weise war sicher auch der Raumfahrer umgekommen, der versucht hatte, durch dieses Inferno mit der LANCET zu landen. Jetzt flog die ORION zwanzig Meter über dem Boden mit dreihundert Stundenkilometern Geschwindigkeit nach Osten, der aufgehenden Sonne entgegen. Sie suchten etwas, von dem sie nicht genau wußten, wie es aussah. Einen Eingang in das Höhlensystem. Cliff saß angeschnallt vor den Kontrollen, und Mario stand hinter ihm und hielt sich an einer Verstrebung fest. Alle anderen waren auf ihren Posten, und Ishmee betrachtete das Bild der unter dem Schiff hinwegziehenden Landschaft auf dem Monitor an Marios Platz. Seit einer Stunde flogen sie schon so. Unter ihnen, mindestens zweitausend Meter tiefer, geschützt durch eine dicke Kruste aus Gestein und
Sand, Felsen und Geröll und festgebackenes Erdreich, zogen sich riesige Höhlensysteme hin. Der ganze Planet war dort, wo es die geologischen Formationen zuließen, voller Hohlräume. Cliff steuerte weiter. Ihm blieb keine andere Wahl. Ishmee beobachtete ihn von der Seite. Sie versuchte, im Zusammenhang mit seinen erbitterten Gedanken, seine Stimmung und die Absicht herauszubekommen, die ihn beherrschten. Cliffs Gesicht trug den Ausdruck, den ein unbarmherziger Jäger hatte, der erbarmungslos ein Wild verfolgte. Dieser Gesichtsausdruck war wie eine deutliche Warnung. Eine halbe Stunde lang jagte Cliff die ORION über die Ebene, die kein Ende zu nehmen schien. Ishmee fragte leise: »Cliff?« Dieser Laut wirkte wie ein Fremdkörper in der angespannten Stille. »Ja?« »Konntest du mit dem Ausdruck ›Intruder's candle‹ etwas anfangen, wie Wamsler fragte?« Stirnrunzelnd bewegte Cliff einen Hebel um einen geringen Betrag, und das Schiff schwang sich um zwanzig Meter höher. »Nein«, sagte er. »Bisher noch nicht. Die INTRUDER war eines der Pionierschiffe. Candle bedeutet Kerze. Was dieser Planet mit einer Kerze zu tun... einen Moment! Das könnte ein Oberflächenmerkmal sein! Die Karten!« Er flog weiter, während Mario die Karten brachte und durchsah. Cliff warf, unentwegt die Finger auf den Hebeln der Handsteuerung, hin und wieder einen Blick darauf. Nach zehn Minuten sagte Mario enttäuscht:
»Vermutlich doch kein Oberflächenmerkmal! Ich habe sämtliche Karten durchgesehen, und nirgends gibt es etwas, das auch nur annähernd wie eine Kerze aussieht.« Als er gerade das letzte Wort aussprach, bremste Cliff mit der gesamten Kraft der Maschinen. Das Tempo verringerte sich binnen eines halben Kilometers bis fast auf Null. Vor dem Schiff tauchten wieder lange Schatten auf. Sie sahen aus wie Striche, von einer Kugel ausgehend. Hasso fragte unsicher: »Warum hast du gebremst?« Cliff ließ das Schiff langsam weiterschweben und tippte mit dem Nagel des Zeigefingers auf das Glas vor ihm. »Deswegen, Hasso!« Zuerst sahen sie nur die Schatten, und dann, als das Schiff zur Seite auswich, sahen sie auch die Ursache. Eine LANCET. Oder besser das, was von ihr noch übrig war. Der Kappa-19-plus-Stahl, aus dem die meisten Teile des Raumbootes bestanden, hatte sich noch am längsten gehalten, aber alles andere war weiß, zerfressen und voller Löcher. Grünlicher Rost bedeckte die gesamte Konstruktion, die sich bei der Landung schräg in den Boden gebohrt hatte. Eines der Landebeine hatte sich in den Kies gerammt und war halb abgebrochen. »Rechts davon – hoffentlich starb er schnell!« sagte Mario düster. Ein Raumanzug wurde sichtbar. Er lag auf dem Boden, und an einer Seite wuchsen die Kristalle der Ablagerungen hervor. Die Sichtscheibe des schweren Schutzanzuges war geborsten, aber der Helm war
leer – mit Sicherheit hatte die aggressive Lufthülle das Fleisch und die Knochen längst zerfressen und aufgelöst. »Diese Frage ist auch geklärt«, sagte Cliff. »Entweder war dieser Mann mehr als tollkühn, oder er wollte ein Zeichen setzen. Bereits beim ersten Anflug hätte er merken müssen, wie heftig die Stürme sind.« »Ja!« sagte Atan nur. Hier, dicht über der Oberfläche merkte man nichts. Die Luft war nur in den oberen Schichten sehr bewegt. Über dieser trostlosen, deprimierenden Wüste gab es kaum einen Sturm. Im Augenblick herrschte fast völlige Windstille. »Eine Kerze...«, murmelte Ishmee. »Könnte es sich nicht um eine besondere Geländeformation handeln, die nur vom Boden aus sichtbar ist, nicht auf den Flugbildkarten?« »Das ist möglich«, sagte Cliff. Mario sagte scharf: »Der Tag hat nicht unendlich viele Stunden. Entweder finden wir ein Raumschiff, was Atan gleich lautstark als ›unmöglich‹ bezeichnen wird, denn er fand keine Metallkonzentrationen auf der Oberfläche des Giftplaneten. Oder wir finden eine Schleuse, die groß genug ist, um ein Schiff hindurchzulassen. Suchen wir immerhin einmal nach der ›Kerze‹!« Cliff hob die Arme und legte die Finger wieder auf die Steuerung weg, als sei sie elektrisch geladen. »Was gibt es, Kommandant?« erkundigte sich Helga ironisch. »Die Hand des toten Raumfahrers«, murmelte Cliff. Sie drängten sich um den Zentralschirm.
Im Gegensatz zu den leicht angewinkelten oder gekrümmten Beinen und dem anderen Arm war ein Arm, der rechte, gerade ausgestreckt. Die Faust, beziehungsweise der Handschuh war geballt, nur der Zeigefinger bildete eine genaue Verlängerung der Linie. Er zeigte nach Südosten. »Ein Wegweiser?« Cliff und Atan wechselten einen Blick schnellen Einverständnisses. »Es ist ebenso sinnlos oder sinnvoll, in dieser Richtung suchen zu wollen«, sagte Cliff und beschleunigte das Schiff. Er flog jetzt genau die Linie entlang, die ihm der Arm gewiesen hatte. Fünf Minuten. Nichts anderes als kahle, öde und trostlose Ebene. Zehn Minuten. Am Horizont tauchte ein schmaler dunkler Streifen auf. Es konnte ebensogut ein Gebirge sein wie auch einer dieser merkwürdigen, an den Rändern bewachsenen Flüsse. Fünfzehn Minuten. Übergangslos wuchsen vor einem breiten Streifen Dschungel Felsenformationen aus dem Boden. Sie waren im Gegensatz zu allen anderen bisher gesichteten Formationen farbig. Grelle, stechende Farben, die selbst durch die Umsetzung der Linsen noch in den Augen schmerzten. Cliff hielt mit unverminderter Geschwindigkeit auf den mittleren der Felsen zu. Jemand fragte: »Ist dies die Kerze?« »Unter Umständen. Ich weiß es nicht.« Sie kamen näher heran. Langsam lösten sich die vielfarbigen Formen auf und wurden zu erkennbaren Gegenständen. Der mittlere von fünf Felsen, die aus-
sahen, als habe die runzlige Hand eines Riesen versucht, vom Planeteninnern aus die Ebene zu durchstoßen, war die Kerze. Er sah aus wie eine sehr heruntergebrannte, sehr dicke Kerze, an deren Rändern sich breite Wachsschichten, Tropfen und Rinnen gebildet hatten, Überhänge und Tropfsteine. Alles bestand aus hellblauem Fels. Das Verblüffende daran aber war die Flamme, die genau im Zentrum des annähernd runden Felsens austrat. Sie wirkte wirklich wie eine riesige Kerzenflamme. Ihre Farbe: ein stechendes Purpur. Atan meinte: »Ich verstehe nur wenig von chemischen Reaktionen oder dem Verhältnis von Gasen zueinander. Aber eines ist für mich sicher: Hier tritt ein Gas aus, das aus der Tiefe des Planeten kommt und in der Giftatmosphäre diesen Effekt hervorruft. Der tote Raumfahrer ist bruchgelandet – er wollte genau hierhin.« »Er fand eine Spur, und er wollte nicht, daß sie verlorenging. Es war doch ein hervorragender Raumfahrer«, sagte Cliff. Inzwischen hatte die ORION die »Kerze« erreicht. Cliff hielt das Schiff an und bewegte es dann nach rechts. Von hier aus sahen sie den nahen Dschungel, eine dunkelgrüne, gelbgestreifte Mauer hinter den Felsen. Die Flamme brannte ruhig und unentwegt – vermutlich tat sie das seit Jahrhunderten oder länger. »Das also ist Intruder's Kerze«, meinte Ishmee. »Das ist sie. Folglich könnte sich in der Nähe eine Einflugmöglichkeit für ein Schiff dieser Größe befinden!« sagte Sigbjörnson. Mario schränkte ein: »Es wäre zu schön, wenn wir diesen Eingang fän-
den. Ich muß gestehen, mein Glaube an echte Wunder hat in den letzten Jahren etwas nachgelassen.« Cliff ließ die ORION in vierzig Metern Höhe über der Landschaft schweben, die zwar dramatische Formen offenbart hatte, aber ebenso trostlos war wie die leeren, waagrechten Flächen von vorhin. Er lehnte sich einen Moment lang zurück und schloß die Augen. Die Ereignisse der letzten fünfzehn Tage hatten ihn persönlich mit einem der dunkelsten Kapitel menschlicher Möglichkeiten konfrontiert – mit Mord und mit Mördern, die nur deswegen Menschen umbrachten, um ihre eigenen persönlichen Schwächen fortleben zu können. Seine Pflicht war es, diesen oder diese Mörder zu stellen. In den langen Tagen des Fluges hierher hatte er beschlossen, diese Pflicht auf sich zu nehmen. Er handelte hier stellvertretend für alle Menschen – auch wenn er Phrasen haßte wie kaum etwas anderes: Dies war sein Teil in diesem Spiel. Er würde versuchen, in die Höhlen einzudringen. Und was er finden würde, konnte er sich grob bereits vorstellen. »Freunde!« sagte er. »Wir suchen den Eingang. Und wenn wir hier verhungern... wir werden ihn finden.« Hasso bemerkte seine starke Erregung und sagte beschwichtigend: »Niemand von uns zweifelt daran, Cliff. Jeder wird dich schon allein deshalb unterstützen, weil wir eine Crew sind.« Cliff lächelte kurz und sagte: »Danke. Los!« Das Schiff bewegte sich. Cliff flog eine Kurve, deren Radius zweitausend Meter betrug. Die »Kerze«
wurde kleiner, und die senkrechte, spitze Flamme stand wie ein Rauchzeichen gegen den Horizont. Je höher die Sonne kletterte, desto stärker wurde das Purpur der Flamme. Das Schiff schwebte mit erweiterten Beobachtungsinstrumenten in fünfzig Metern Höhe über das Land. Der erste Kreis war beendet – sie hatten nichts anderes als Steine, Sand, den fernen Dschungel und die Felsen gesehen. Cliff leitete eine Spirale ein, die immer enger wurde. Schweigend und konzentriert starrten die Mitglieder der Crew auf die Schirme. »Natürlich haben wir keinen Grund, anzunehmen, daß der Hinweis des toten Raumfahrers uns genau ins Ziel bringt«, bemerkte Cliff nach einer halben Stunde. »Aber sicher hat sich der Mann etwas dabei gedacht. Daß Tamara und ihre Leute im Gutshof diesen Hinweis gefunden haben, deutet auch auf diese kerzenähnliche Formation hin. Suchen wir also weiter.« Sie waren jetzt insgesamt fünf Stunden dicht über der Oberfläche des Planeten. Um sie herum breitete sich eine gespenstische, lautlose und bewegungslose Landschaft aus. Sie sah aus, als sei hier niemals Leben entwickelt worden. Ein Planet des Todes, der Lähmung, der Ereignislosigkeit. Ein Mensch, hier an der Oberfläche ausgesetzt, würde binnen kürzester Zeit dem Wahnsinn verfallen. »Soll ich dich ablösen?« fragte Mario. Cliff winkte ab. »Noch nicht, Freund Mario. Danke...« Umgeben von einem tödlichen Medium, einer ätzenden, giftigen Gashülle, schwebte das blitzende Diskusschiff über den Boden. Der Schatten, ein run-
der Fleck von fünfundfünfzig Metern Durchmesser, schwebte unter dem Schiff wie ein eigenständiger Körper mit. Eine Stunde verging. Plötzlich sagte Atan Shubashi: »Ich möchte, daß wir alle glücklich lächeln! Dort vorn, zwei Strich vom Kurs, ist etwas. Steuere darauf zu, Kommandant!« Im gleichen Augenblick entdeckte Cliff das Oval. »Ich glaube, wir haben es.« Ein Trichter schob sich ins Bild. Er bestand aus glasiertem Stein; es schien, als sei irgendwann hier ein Meteor mit furchtbarer Wucht aufgeprallt und habe durch die Aufschlagsenergie die Wände des Trichters verglast. Oder in der Frühzeit dieses Planeten war hier kurz ein Vulkan ausgebrochen. Der Trichter war faszinierend genau, nahezu geometrisch. Die Neigung der Wände betrug mindestens fünfundvierzig Grad. Auf der nördlichen Seite, direkt im vollen Sonnenlicht, befand sich in der Wand ein Schlitz von ungefähr neunzig Metern Breite und zwanzig Metern Höhe. Der Trichter durchmaß am oberen Rand fünfhundert Meter. »Es war also doch ein deutlicher Hinweis!« sagte Cliff. »Hier ist der Eingang. Frage für intelligente Raumfahrer: Was ist das dümmste, was sie unternehmen können?« Helga Legrelle sagte sofort: »Sie berauben sich planmäßig der einzigen Rückzugsmöglichkeit, nämlich ihres Raumschiffs.« »Richtig.« Cliff grinste leicht. »Aus diesem Grund werden wir uns diskret zurückziehen.« Die Aufgabe und die wesentlichen Komponenten
lagen klar vor ihm; das hatte zur unmittelbaren Folge, daß er sich wohl zu fühlen begann. Er war ein Mann des Handelns, denn für ihn war Handeln eine wesentlich gemäßere Beschäftigung als Nachdenken, ohne von der Stelle zu kommen. In einem Anflug von entschuldbarem Größenwahn meinte er, für sich das Mittelmaß gefunden zu haben: Denken und Hanteln sinnvoll zu koordinieren. Die ORION kippte über eine Achse, drehte ab und verschwand hinter den Felsen. Cliff ließ sie zehn Meter über dem Boden anhalten, im Schutz einer Felswand, die zwischen dem Schiff und dem Eingang hochragte. Die Entfernung zum Kraterrand betrug etwa dreihundert Meter. »Wir gehen in mehreren Phasen vor«, sagte er. »Und mit genügend großen Sicherheitsreserven. Die erste Mannschaft bilden Hasso und ich. Wir kennen den Gegner am besten. Machst du mit, Hasso?« Hasso nickte nur. »Ausgezeichnet. Mario – du kümmerst dich um die LANCET Eins. Wir werden sie benutzen. Abwurf in fünfzehn Minuten. Hasso... kommst du?« »Dein Weg ist auch mein Weg, und sei er noch so steinig«, sagte der Bordingenieur leichthin. Ishmee fragte in leichter Unruhe: »Was habt ihr Helden vor?« Cliff erwiderte kalt: »Wir stellen seine Durchlaucht. Wir werden gegen die beiden letzten Vögel antreten, gegen die Illusion, ein Landvogt zu sein, gegen alle möglichen Dinge, die ein krankes Hirn aushecken kann. Ich werde vor Arys hintreten und fragen: Sein oder Nichtsein.« Mario flüsterte ergriffen:
»Die Gefahr hat ihn irrsinnig gemacht. Er spricht Unsinn. Schade – solange er normal war, war er uns allen ein lieber Vorgesetzter.« Cliff grinste ihn an. »Mit Ihrer Meinung, Oberleutnant de Monti, stehen Sie im Universum allein da.« Mario winkte ab. »Das bin ich nachgerade gewöhnt. Sicherheit für morgen – fliegt mit Cliff McLane!« Cliff und Hasso zogen sich in den Ringkorridor zurück und rüsteten sich für ihr Abenteuer. Sie vergaßen keine Sekunde lang, daß es sie das Leben kosten konnte. Und genau das wollten sie, verständlicherweise, vermeiden. * »Wer Sicherheit will, vertraut auf McLane!« sagte Hasso. »Es ist dies die offizielle Kontrolle der Funksprechgeräte. Kanzel, ihr hört uns?« Atan Shubashi antwortete über Funk: »Ich vermisse das Tiefe in deiner Stimme, Hasso. War es doch stets dein sonorer Baß, der mich so entzückte.« Hasso endete: »Vorzügliche Verständigung. Wir bewegen uns jetzt, hervorragend ausgerüstet und schwer bewaffnet, in die LANCET-Abschußkammer.« »Verstanden.« Beide Männer wirkten wie Fossilien. Sie steckten in den schweren, gepanzerten Raumanzügen, bei denen das Verhältnis Stoff zu Stahl eins zu eins war. Sämtliche Gelenke, die eingebauten Versorgungseinrich-
tungen und die Helme – das alles bestand aus StahlKunststoffverbindungen. Sie stampften klirrend und klappernd durch die Gänge des Schiffes, bis hinauf in die kleine Kammer der LANCET. Mit sich schleppten sie ein kleines Arsenal an Ausrüstungsgegenständen und Waffen. Die automatischen Schrotflinten waren über die Schultern geworfen und wurden durch doppelte Lederriemen gehalten. »Hasso an Mario: Fertig, Kamerad?« Sie kletterten die schmale Leiter hinauf und setzten sich vorsichtig in die Sessel des Beibootes. Cliff verriegelte die kleine Schleuse. Dann schaltete er die verschiedenen Maschinen, Geräte und Uhren an. Die LANCET war abschußbereit. Sie wollte eine der gefährlichsten Missionen unternehmen, denen sich die Crew gegenübersah. »Letzte Kontrolle«, sagte Mario. Auch er befand sich jetzt in der hermetisch abgeriegelten Abschußkabine. »Ihr startet, und jeweils einer von euch berichtet, was passiert. Wir starten und kommen euch zur Hilfe, wenn es gefordert wird. Das Ziel ist: den Earl unschädlich zu machen, wenn möglich zu lähmen und ins Schiff zu bringen. Dasselbe gilt für den angeblich verstorbenen Kommandanten-Butler.« »Roger!« sagte Cliff. »Alles klar. Start nach meiner Uhr in dreißig Sekunden.« »In dreißig Sekunden.« Die Segmente der Lukenöffnung schoben sich auseinander. Die beiden Männer schnallten sich fest. Dann zählte Mario langsam und im Takt der Sekunden. »... drei... zwei... eins... Los!«
Eine starke Booster-Treibladung schob das kugelförmige Beiboot aus dem Raumschiff hinaus. Als die LANCET die Grenze zwischen Schiff und Lufthülle passierte, schaltete der Kommandant die Maschinen ein, und aus der steilen Parabel wurde eine flache Kurve. Dicht über dem Boden, von Cliff meisterhaft gesteuert, schwebte das Beiboot auf den Krater zu. Hasso, dessen Gesicht hinter der rauchgrauen Helmscheibe nur undeutlich zu sehen war, erkundigte sich leidenschaftslos: »Zweifellos ist Arys mit seinem Schiff hier eingeschwebt.« Cliff ließ die LANCET über den Rand des Kraters absinken und näherte sich, dicht an der steilen Wand fliegend, der linken Ecke des Schlupfloches. »Ja. Aber er kennt die Verhältnisse. Wir kennen sie nicht. Versuchen wir erst einmal, einzudringen.« »Klar.« Die beiden Männer hatten ein kleines, tragbares Overkill-Gerät mitgenommen, das auf einem Dreifuß schwenkbar war und eine tödliche, vernichtende Waffe darstellte. Es war die Expeditionskonstruktion, das bedeutete, daß es wasserdicht war. Das Beiboot hielt an und tastete sich langsam um die Ecke. Hasso schilderte mit leiser Stimme den Schiffsinsassen, was vor sich ging. Aus seinen Worten konnte jeder an Bord heraushören, wie angespannt die Nerven des Bordingenieurs waren. Als die LANCET in dem Hohlraum schwebte, erwartete jeder, daß sie angegriffen wurde – aber nichts geschah. »Wir schalten in Kürze die Suchscheinwerfer an und stoßen weiter vor«, sagte Hasso leise. Cliff und er starrten aus den halbkugeligen Fen-
stern des Bootes hinaus. Sie befanden sich in einer riesigen Höhle, deren obere Seite bearbeitet worden war; man hatte offensichtlich kleinere Felsen und überhängende Steine weggesprengt oder mit einem Lasergerät weggeschweißt. Langsam und in der Nähe der Decke bleibend, die jetzt zusehends dunkler wurde, drang die LANCET ein. Sie waren überzeugt, auf der heißesten Spur zu sein, die sie in diesem Fall gefunden hatten. Zwanzig Meter – vierzig Meter. Nichts. Sie sahen niemanden, bemerkten keinerlei Geräte und wurden auch von niemandem gesehen. Jetzt begann sich die Decke abzusenken, und Cliff ahnte, was sie als nächstes entdecken würden. »Ich habe mir bisher immer Gedanken darüber gemacht, wie sich die zweihundert Entführten auf diesem Planeten bewegen können. Jetzt ahne ich es. Dieser Gang wird auf den nächsten tausend Metern einen Knick beschreiben. Schalte den Energieschutzschirm aus, ehe er durch die Flüssigkeit geerdet wird!« »Verstanden.« Hassos Hand, die in einem schwarzen, dicken Handschuh mit verstärkten Stellen steckte, kippte einen weißen Schalter. Die Decke fiel gleichmäßig ab, und als ihr die LANCET folgte, befand sie sich binnen einer kurzen Wegstrecke vor einem dunkel schimmernden Wasserspiegel. Es war offensichtlich das gleiche Wasser, angereichert mit allen möglichen giftigen Substanzen, das auch die Ozeane füllte. Hasso gab eine kurze Schilderung ab und fragte dann Cliff: »Hinein?« »Mit Kopfsprung.«
Sie lächelten sich undeutlich an, Cliff kontrollierte den Verschluß der Schleuse und steuerte das Beiboot ins Wasser. Wie eine dicke, ölige Flüssigkeit stieg das Wasser am Außenkörper des Bootes hoch, bedeckte schließlich auch die obersten Scheiben, und sämtliche Scheinwerfer des Bootes wurden eingeschaltet. Langsam begann eine Tauchfahrt, nach unten und gleichmäßig nach vorn. »Das Wasser ergibt einen Syphoneffekt, nicht wahr?« sagte Hasso leise. »Ganz ohne Zweifel. Eine flüssige Schleuse. Außen ist die giftige Luft des Planeten, innen womöglich eine erdähnliche Gasatmosphäre. Sehr geschickt. Ich traue dem Earl sogar zu, daß er diese raffinierte Schleuse selbst erfunden hat.« »Kein Kommentar«, sagte Hasso. Sie richteten sich nach dem Scheinwerfer, der die Wand über ihnen bestrahlte. Sie sanken tiefer; immer tiefer, vorbei an Vorsprüngen und durch irgendwelche treibende Substanzen, die wie Schnee im Wasser wirbelten, dann hob sich die Decke langsam wieder. Vorsichtig dirigierte Cliff den Antrieb, behutsam schwamm die LANCET weiter entlang der Decke. Als der Kommandant glaubte, er sei auf der anderen Seite des Knicks etwa ebensohoch gestiegen, wie der Punkt seines Eintauchens gelegen war, schaltete er die Scheinwerfer aus. »Langsam!« warnte Hasso. Er vergaß sogar seine Durchsage. Die LANCET tauchte langsam auf. Dicht über ihr befand sich der Fels, und das Wasser sank außen an den Scheiben entlang. Als die Männer genau hinsahen, bemerkten sie, daß auf dem Wasser selbst eine
etwa fünfzig Zentimeter dicke Schicht eines schweren, zähflüssigen Öles schwamm. Es verhinderte die Verdunstung des giftigen Wassers und somit auch die Vergiftung der Luft jenseits der Schleuse durch freiwerdende Gasmassen. »Noch immer sehr geschickt. Sogar an die Raumschiffe ist gedacht worden!« sagte der Kommandant in echter Bewunderung. Das Öl lief zwar langsam und zäh, aber ohne die geringsten Rückstände von der Außenhaut der LANCET ab. Die Kohäsion der Partikel mußte untereinander sehr hoch sein. »Ab jetzt höchste Gefahrenstufe!« sagte Hasso. »Allerdings.« Als sie die Felsbarriere, die vor ihnen als künstliche Ufer dieses Schleusensees lag, überstiegen, sahen sie in die strahlende Helle eines irdischen Tages. Vor ihnen erstreckte sich die Landschaft, die sie vor zwölf Tagen verlassen hatten. Es war der Gutshof von Earl Arys of Svend-Wallance. Mit seinen Wäldern, Wiesen, Äckern und allem übrigen Zubehör. Vor dreißig Jahren war angeblich der Butler tödlich verunglückt. Seit dieser Zeit mindestens wuchsen hier die Bäume. Die riesige Höhle, sicher nicht kleiner als fünf Kilometer in der Breite und fünfzehn in der Länge, war eine einzige, englische Landschaft. Eine Landschaft ohne erkennbares Leben. Hasso flüsterte: »Hättest du das erwartet, Cliff?« Der Kommandant gab zurück: »Ehrlich gesagt – nein, Nicht so groß und nicht so perfekt. Sie mußten mehr als dreißig Jahre Zeit gehabt haben.«
Noch immer schwebte die LANCET unbeweglich dicht hinter dem Felsenwall, auf dessen anderer Seite bereits der Bewuchs anfing. Durch die runden Fenster betrachteten beide Männer die verblüffende Szenerie, die sich ihnen bot. »Was jetzt?« Cliff drehte langsam seinen Kopf und kontrollierte von links nach rechts das vor ihnen liegende Gelände. Er sah keine Abwehreinrichtungen und keinen einzigen Menschen. Aber er sah einen Jagdfalken, der über den Bäumen kreiste und sich in Schraubenlinien immer mehr dem Ausgang näherte. »Hasso«, sagte Cliff leise, »ich versuche, in das Wäldchen rechts vom Gutshof zu kommen. Irgendwo dort steht auch das Schiff. Du klappst dieses Fenster nach innen und streckst den Lauf der Overkillwaffe hinaus. Natürlich nur schießen, wenn wir angegriffen werden.« Hasso nahm statt einer Antwort das kleine Gerät hoch und steckte die Energiekabel ein, löste den Strahler vom Dreifuß und öffnete eines der kleinen runden Kuppelfenster. Cliff sah über Hassos Kopf hinweg auf den Weg, der zwischen der Steinbarriere und dem Wäldchen lag und beschleunigte dann die LANCET mit aller Kraft, die er den Maschinen abverlangen konnte. Mit einem gewaltigen Satz, binnen kürzester Zeit zweihundert Stundenkilometer schnell, raste das kleine Beiboot über die grüne Landschaft hinweg. Aus den Augenwinkeln bemerkte Cliff, daß in der Decke mächtige Strahler untergebracht waren, die ein mit der irdischen Sonne identisches Licht erzeugten. Unter ihnen fegten Äcker und Wiesen vorbei, ein Feld
reifen Getreides und eine Maiskultur. Dann bremste Cliff hart ab und fuhr nacheinander die vier Landebeine aus. Die LANCET sank ab. Sofort öffnete Cliff die Schleuse, nahm sich seine Waffen und stieg die Leiter hinunter. Er nahm Hasso den Strahler ab und wartete, bis der Ingenieur neben ihm stand. Zwischen den Bäumen schimmerten die weißen Steine des Hauses hindurch, und sie zweifelten nicht daran, daß viele Robots, unterstützt von terranischen Baumeistern und programmiert von einem ausgezeichneten Architekten, dieses nur leicht gegenüber dem Original in England verkleinerte Herrenhaus gebaut hatten. Hasso fragte flüsternd: »Ins Schloß? Wir stellen ihn?« »Ja«, sagte Cliff. »Wir nehmen an, daß die zweihundert Menschen entführt worden sind und gegen ihren Willen hier festgehalten werden. Es scheint klar, daß eine kleine Kerngruppe diese Höhle regiert... und viele andere vermutlich auch noch Wenn wir in diesem Schloß sind, sind wir in der Schaltstation.« »Einverstanden. Los!« »Von aller Welt verlassen – nur nicht von der ORION-Crew«, sagte Cliff und bewegte sich in seinem schweren Anzug schnell zwischen den Baumstämmen auf das Haus zu. Hasso ging einige Meter hinter ihm und sicherte nach allen Seiten. Neben dem letzten Baum, einer wuchtigen, aber kleinen Eiche, blieb Cliff stehen und deutete auf den rissigen Stamm. »Irrsinn!« kommentierte er. In den Stamm war eine große, versilberte Plakette
eingelassen. Sie war oval und mit einem klassizistischen Ornament umgeben. Die Buchstaben und Zahlen konnte man nur lesen, wenn man sich ziemlich nahe dem Stamm befand. Cliff bückte sich und las: Das Höhlensystem ist ein Denkmal für Frank Hoium Dougherty (1970–2105), der in der japan-australischen Konföderation den Ideen-Rezeptor eingeführt hat. Hasso las es ebenfalls und meinte: »Wir sollten das Thema unseres Abenteuers umbenennen«, er drehte den Kopf und suchte das Gelände ab, »statt Projekt Suizid sollte es heißen: auf Doughertys Spuren.« »Du hast recht«, sagte Cliff. Sie holten tief Atem und liefen die hundert Meter über die freie Fläche. Der Rasen, in dem ihre Stiefel tiefe Spuren hinterließen, war grün und dicht. In der Mauer die der Ostfläche des englischen Schlosses entsprach, öffnete sich eine Klappe, und ein Robot mit einem Lasergeschütz wurde sichtbar. Hasso Sigbjörnson hielt kurz in seinem Laufen ein, hob den Strahler und zielte kurz, dann feuerte er. Vier Quadratmeter Mauerwerk brachen herunter, der Robot detonierte, und aus dem Laser wurde ein weißglühendes Etwas, das herunterkrachte und sich in den weißen Kies bohrte. Die zwei Männer liefen weiter, rasten die Freitreppe hoch und liefen geradeaus weiter, als die ersten Terrassentüren vor ihnen auftauchten. Unter dem Anprall der Panzeranzüge splitterte das Glas und brachen die leichtmetallenen Rahmen zusammen. Hasso und Cliff standen in der Bibliothek. Der Butler stand neben einem offenen Gewehrschrank, richtete eine schwere Büchse auf Cliff und sagte:
»Rühren Sie sich nicht, Raumfahrer!« Hasso und der Butler feuerten gleichzeitig. Das Gewehr donnerte auf, und die Innenlautsprecher klirrten übersteuert. Dann zischte der Lauf auf, wurde weißglühend, und mit einem Schrei ließ der Butler das Gewehr fallen. Das Geschoß prallte von Cliffs Anzug ab und schwirrte heulend davon, schlug in einen Tisch ein. »Sie haben zwei Möglichkeiten!« sagte Cliff. »Entweder kommen Sie freiwillig mit und stellen sich zusammen mit Ihrem phantasiebegabten Herrn unseren Behörden. Oder wir wenden den bekannten Zwang an, was ich, da wir uns unter Gentlemen befinden, gern vermeiden möchte. Wie hätten Sie es gern?« Der Butler war uralt, noch älter als der Earl. Er sah langsam und schweigend von Cliff zu Hasso und antwortete: »Sie sollten mit solchen Begriffen nicht allzu leichtfertig hantieren, Herr. Nicht jeder Raumfahrer ist automatisch deswegen schon ein Gentleman.« Cliff senkte seine HM 4 und zog die Gasdruckwaffe aus der Hülle. »Auch nicht jeder Raumfahrer beansprucht das Privileg, ein Mörder mit exotischen Waffen zu sein. Wo ist Arys?« Der Butler lächelte unverbindlich und sagte: »Suchen Sie ihn! Vermutlich ist er irgendwo auf seinen Feldern oder in den Stallungen.« Cliff zielte und jagte ihm drei Nadeln in die Brust. Der Mann sackte lautlos zusammen und würde sich in den nächsten achtzehn Stunden nicht mehr bewegen können. Die beiden Raumfahrer klappten die Helme nach hinten und arretierten sie, dann schalte-
ten sie die Versorgungsaggregate ab und die Funkgeräte. Cliff sagte: »Zuerst suchen wir am besten das Schiff. Es ist wichtiger als der Earl. Fiel dir schon auf, daß wir nicht einen einzigen Menschen erblickt haben?« Hasso sagte: »Diese Höhle hier ist vollkommen bewachsen, bepflanzt und eingerichtet. Die Ernte übernehmen sicher die Robots. Ich nehme an, daß der Earl eine weitere Höhle in Angriff genommen hat. Ich möchte nur wissen, wie er die zur Bearbeitung notwendigen Maschinen hierher transportiert hat.« Cliff sah sich im Raum um und sah, daß er ein getreues Abbild der Bibliothek im eigentlichen Schloß war. Jetzt fiel ihm auch der Unterschied zwischen den Einrichtungsgegenständen hier und auf Terra auf – damals, als der Earl sein Schloß hatte restaurieren lassen, waren die originalen Möbel und Täfelungen ersetzt worden durch Nachahmungen. Das hier war die echte, wirkliche Einrichtung. Cliff ging ein Bücherregal entlang, sah nach den Titeln und zog schließlich das Buch heraus, das er suchte. Es war die Geschichte von Frank Hoium Dougherty. Cliff steckte das Buch in eine der Taschen des Anzuges und drehte sich um. »Wir durchsuchen schnell das Haus. Vielleicht finden wir etwas, das uns weiterhilft. Übrigens glaube ich, daß ein Alarm längst den Earl erreicht hat.« »Richtig. Das glaube ich auch. Suchen wir also!« Die beiden Männer kannten den Grundriß des echten Schlosses, und als sie sich aus dem Raum hin-
aus ins Treppenhaus begaben, sahen sie, daß derselbe Riß auch hier galt. Sie stampften ins Obergeschoß hinauf und entdeckten zehn Minuten später eine Kommandozentrale, deren Schirme zur Hälfte aktiviert waren. Man sah einen Verbindungstunnel... ... und eine zweite, noch größere Höhle, in der sich mindestens eintausend Menschen bewegten. Sie steuerten riesige Maschinen, die den Boden aufrissen. Eine zweite Landschaft war unter den Strahlen einer sonnenähnlichen Riesenlampe im Entstehen. »Jetzt wissen wir, wo wir zu suchen haben!« sagte Hasso. Cliff orientierte sich schnell. »Zurück zur LANCET, Hasso!« sagte er. Er hatte etwas gesehen, das ihn alarmierte.
8 Es schien ziemlich ungewöhnlich zu sein, daß nur zwei Männer, wenn auch schwer bewaffnet, die eintausend Menschen in Schach halten konnten. Daß eintausend Gefangene schwer arbeiteten, um eine weitere Höhle zu kultivieren, schien auch ausgeschlossen. Ferner hieß das, daß der Earl und sein Butler, der angeblich gestorbene Raumschiffkommandant, über ein Mittel verfügten, die Gefangenen zu kontrollieren. Waren es die Falken? Vielleicht. Es muß weiter angenommen werden, daß nicht nur zweihundert Menschen aus der kleinen Stadt Wallance entführt worden waren, sondern etwa achthundert an anderen Orten. Da auf der Erde keine solche Massenentführung bekanntgeworden war, blieben nur die Planeten, die Kolonien. Also hatte der Earl vor, hier ein kleines unterirdisches Imperium zu gründen, das er mit Hilfe seiner tödlichen Jagdvögel beherrschte. Eintausend Untertanen und ein Herrscher mit seinem Diener. Eine mehr als paradoxe Situation. Cliff sah noch einmal die Bildschirme an und orientierte sich über den Weg, den sie zu fliegen hatten, dann verließen er und Hasso die kleine Schaltzentrale. Niemand hielt sie auf, als die zwei Männer die Treppe hinunterpolterten, den Weg durch die getäfelte Bibliothek nahmen und durch die zertrümmerten Türen ins Freie hinaustraten. Cliff sah in den künstlichen Himmel hinauf und sagte: »Die Helme schließen! Es sind Falken in der Luft.«
Die Luft war kühl und einwandfrei. Offensichtlich hatte sich durch eine Diffusion, deren Charakter später die Wissenschaftler herausfinden mochten, hier im Höhlensystem unter dem Kontinent eine atembare Gaskonzentration entwickelt. Die Höhlen waren von Svend-Wallance entdeckt und für seine abartigen Ideen benützt worden. Hasso und Cliff gingen, die Waffen in den Armen, zu der LANCET zurück und stiegen ein. Während Cliff steuerte, beobachtete Hasso die Gegend. »Zwei Falken greifen an«, sagte er ruhig. »Abschießen?« »Nimm die Schrotflinte«, meinte Cliff. Die LANCET flog in fünfzehn Metern Höhe über die Bäume hinweg, über einen idyllischen Bach und eine gepflasterte Straße. Da die Höhlen bis weit die Wände hinauf bewachsen waren, bot die Landschaft wirklich einen überraschend irdischen Eindruck. Dazu kam, daß die Wände der Kaverne weiß waren. Summend flog das Beiboot bis zu der Stelle, an der sich die erste Haupthöhle zu verengen begann. Dort, an dieser Grenzlinie, griffen die Falken ein. »Feuer frei!« knurrte Cliff. Hasso nahm die Flinte hoch und schoß viermal, dann stürzten die Vögel ab. Sie schlugen in ein Kornfeld, das sich in sanftem Schwung bis zum Höhlenende erstreckte. Cliff wurde unruhig. Der Earl war ohne jeden Zweifel alarmiert worden. Warum wehrte er sich nicht? Vielleicht schwebten sie geradewegs in eine Falle, die sich hinter ihnen schließen würde? »Durchsage an ORION!« sagte Cliff und bewegte einen Schalter. Er sprach, während das Beiboot tiefer ging und
dicht über der weißen Verbindungsstraße zwischen den beiden Höhlen weiter schwebte. Dann hatten die Insassen des wartenden Raumschiffes erfahren, was hier in der letzten halben Stunde vorgefallen war. Das Licht nahm ab, die Wände traten näher heran. Dann, einige Sekunden später, flogen die schweigenden Männer in ein dunkles Loch hinein, das nicht viel breiter als sechzig Meter und halb so hoch war. »Achtung!« schrie Hasso plötzlich und riß den Overkillstrahler hoch. Dies war die Falle! Aus dem Schlund brach voll beschleunigend und mit eingeschalteten Scheinwerfern das Raumschiff heraus und raste auf die kleine LANCET zu. Die Absicht war eindeutig: Svend-Wallance wollte das Boot rammen und die Insassen auf diese Weise umbringen. Hasso reagierte mit geradezu wunderbarer Schnelligkeit. Er drückte auf den Auslöser und richtete in einer einzigen gleitenden Bewegung den Strahler auf die verwundbarste Stelle des Schiffes. Auf das breite Gitterband zwischen den beiden Sphären, zwischen Oberschale und Unterschiff. Dort befanden sich sämtliche Linsen und alle Antennen der Geräte, die das Schiff und den Kommandanten in die Lage versetzten, zu sehen, was außerhalb des Schiffes geschah. Gleichzeitig handelte der Kommandant. Cliff riß die Hebel der Antischwerkraftregulatoren zurück, und wie ein Stein fiel das Boot nach unten. Mit einem wütenden Aufbrummen der Maschine fing Cliff den Sturz im letzten Augenblick wieder ab. Die LANCET setzte schwer auf der Straße auf und blieb nach einem winzigen Sprung wieder stehen.
Das Diskusschiff setzte seinen Flug taumelnd und wesentlich langsamer fort. »Verdammt knapp!« sagte Cliff und wollte sich die Stirn abwischen, schlug aber mit dem gepanzerten Handschuh krachend gegen die Sichtscheibe. Hasso turnte bereits die Leiter hinunter, zielte auf das Schiff und zerstörte die Reserveeinrichtung, die sich dem ersten Satz Linsen entgegengesetzt befand – auf der Rückseite des Schiffes, von ihm aus betrachtet. Cliff stand plötzlich neben ihm. »Das Schiff ist blind, ja?« fragte er zur Sicherheit, obwohl er nicht an diesem Umstand zweifelte. »Restlos. Er ist ein außergewöhnlicher Schiffsführer, wenn er mit dem Diskus nicht gegen die Wand donnert oder ihn in sein Eigenheim steuert«, sagte Hasso mit Zufriedenheit in der Stimme. »Und die Reparatur dauert im günstigsten Fall drei Stunden, sofern die Anschlüsse nicht zerstört sind, was vermutlich der Fall ist.« Cliff meinte: »Das gibt uns drei Stunden Zeit, uns mit den Entführten zu unterhalten.« »Gerade wollte ich das gleiche vorschlagen!« stimmte der Ingenieur zu. Sie bestiegen wieder die LANCET, schalteten zwei der Suchscheinwerfer ein und flogen die fünfhundert Meter durch den schmalen, niedrigen Tunnel, der sie mit der anderen Höhle verband. Den ersten Eindruck, abgesehen von dem Licht einer imitierten Mittelmeersonne, empfingen sie, als sie die Wände dieser Höhle sahen. Sie waren blau, hellblau wie der Himmel an sonnigen Tagen.
Und darunter erstreckte sich eine Landschaft, die gewisse Ähnlichkeit mit der des iberischen Halbkontinents hatte. »Für jeden Geschmack etwas. Vermutlich residierte der Herr hier in einem flachen Bungalow mit wassergekühltem Dach.« Cliff beschleunigte das Beiboot, und sie landeten in der Mitte einer Gruppe von Menschen, die mit Hilfe eines riesigen Bulldozers einen Sandstrand anlegten. Der See, der hier angelegt werden sollte, war in seiner Ausdehnung von hier aus nicht zu erkennen. Die Menschen betrachteten die landende LANCET nicht unfreundlich, aber sehr scheu und zurückhaltend. Der Grund war Cliff klar, sobald er seinen Fuß in den sorgfältig planierten weißen Sand setzte. Falken. Er schaltete die Anzuganlagen so, daß er durch die Schutzhülle hindurch mit den Gefangenen sprechen konnte. »Sie brauchen keine Angst zu haben«, sagte er, »wir sind die Verfolger des Earls. Wir haben seinen Butler bewußtlos zurückgelassen, und wir werden hier auch einige Ordnung schaffen.« Jemand gab zur Antwort: »Darunter leiden nur wir, wenn diese verdammten Vögel nicht...« Er warf sich zur Seite, als der erste Falke heranschwirrte. Das Verfahren war klar: Die Falken verhinderten jeden kleinsten Versuch der Meuterei. Hasso erledigte den ersten Vogel mit einem Schuß aus zehn Metern Entfernung. Das Echo brach sich Sekunden später an den Wänden der Höhle. »Wunderbar!« rief jemand. Ein anderer Mann
schien ebenfalls überzeugt zu sein und schaltete den riesigen Dozer ab. Cliff nahm seine Waffe hoch und suchte den Himmel ab. Hoch über ihm zogen mehrere Falken ihre Kreise und schienen sich bereits ihre Opfer auszusuchen. Cliff entsicherte die Waffe, zielte sorgfältig und schoß dreimal nacheinander, einen vierten Schuß gab Hasso ab. Dann gab es keine tödlichen Vögel mehr über ihnen. Der erste Menschenauflauf bildete sich. Nachdem Cliff den Helm zurückgekippt hatte, fragte er: »Zuerst das Wichtigste: Gibt es außer dem Earl und seinem ausgetrockneten Diener noch andere Aufsichtspersonen hier?« Ein Mann trat vor und grüßte knapp. »Ich bin Astrogator«, sagte er. »Entführt von Davenport II. Abgesehen von den Sympathisanten gibt es hier niemanden mehr. Aber wir haben mehr als zehn der Falken gezählt. Sie werden in zwei Schichten eingesetzt.« Cliff gab dem entführten Raumfahrer seine Waffe und seinen gesamten Patronenvorrat. Er sagte: »Halten Sie Ausschau nach diesen Vögeln. Schießen Sie erbarmungslos alles aus diesem merkwürdigen Himmel herunter, was Flügel hat.« »Verstanden, Kommandant, Wir sind noch nicht lange hier – holen Sie uns heraus?« Cliff versprach: »In einigen Tagen landet hier eine Flotte von zehn Schiffen. Sie wird alles evakuieren.« »Einverstanden.« Die Nachricht wurde weitergegeben, und langsam
löste sich der enge Ring von Menschen auf und bildete kleine, diskutierende Gruppen. Cliff und Hasso versuchten, durch einen langsamen Rundblick herauszukommen, was der Earl hier geplant hatte und wandten sich dann ab. »Zurück zum Gutshof?« »Ja«, sagte Cliff. »Unsere großherzige Befreiungsaktion wurde mit sehr wenig Jubelrufen begrüßt, findest du nicht auch?« Hasso grinste ihn an und sagte: »Sicher denkst du ungefähr das gleiche wie ich. Aber das sind Probleme für die nächsten Tage. Starten wir.« Als sie in ihren Sesseln in der LANCET waren und die Maschinen wieder einsetzten, sprang das automatische Funkgerät an. Eine bekannte Stimme sagte durch die Störungen eines schlecht ausgesteuerten Senders: »Hier spricht Arys of Svend-Wallance. Ich rufe Kommandant McLane.« Cliff startete das Beiboot und sagte ins Mikrofon: »Ich höre Sie, Arys.« Ohne besondere Betonung fuhr der Earl fort: »Ich sehe, daß ich offensichtlich am Ende meines Weges bin. Ich wäre Ihnen außerordentlich verbunden, wenn Sie mich in einigen Minuten in meiner Bibliothek aufsuchen würden. Allein, und in der angemessenen Form.« Cliff fauchte mit der LANCET durch den Tunnel, und Hasso feuerte mit dem Strahler auf einen Jagdfalken, der sich in besinnungsloser Wut auf das Beiboot stürzte. »Genügt ein Smoking?« fragte Cliff.
Die Stimme des alten Mannes war immer noch unbetont und leidenschaftslos, als er erwiderte: »Ich habe heute kein richtiges Verständnis für ironische Scherze.« Jetzt tauchte wieder die weiße Höhle auf. »Ich komme«, sagte Cliff. Er ahnte, daß tatsächlich der letzte Akt dieses Dramas angebrochen war. Wamslers Befürchtung hatte sich nicht bewahrheitet – hier auf dem Giftplaneten befand sich kein galaktischer Stützpunkt von Fremden, sondern ein verborgenes Imperium eines Phantasten. Das Beiboot schwirrte durch die riesige Höhle und senkte sich langsam vor den zersplitterten Fenstern der Bibliothek auf die Steine der Terrasse. Hasso und Cliff verständigten sich mit einem schnellen Blick, dann stiegen sie aus. Cliff glaubte genau zu wissen, welcher Art die Unterhaltung war, die er jetzt zu führen hatte und wer sie beendete. »Warte bitte hier. Notfalls nachdrücklich eingreifen!« sagte er zu Hasso. »Verstanden.« Dann ging Cliff mit seinem geschlossenen Raumanzug durch die zersplitterte Tür in die Bibliothek hinein. Er blieb stehen, als er den Earl in seinem hochlehnigen, alten Schreibtischsessel sitzen sah. Auf jeder Schulter des Mannes befand sich ein Jagdfalke. Der Earl trug ein dünnes, seidenes Hemd mit dem Wappen seiner Familie auf der linken Brustseite. Der Earl sagte leise: »Bitte, nehmen Sie Platz, Kommandant McLane.« Cliff ging um den Tisch hemm und setzte sich, noch immer mit geschlossenem Helm und der Strahlwaffe in der Faust, in den zweiten Sessel. Er
wartete. Nach einigen Minuten begann der Earl zu sprechen. * Es war wie eine Szene aus einem historischen Film. Im halben Dämmerlicht der Bibliothek saßen sich mit vier Metern Abstand zwei Männer gegenüber, die im wahrsten Sinn des Wortes Lichtjahre trennten. Die zwei Beizvögel, wild aussehende, unruhige Jagdfalken von hellbrauner Farbe, hockten auf den Schultern des alten Mannes. Vor dem Earl stand ein Glas Whisky, Cliff wartete schweigend; alle Anzugssysteme waren eingeschaltet. »Haben Sie Angst, daß einer der Vögel sich auf Sie stürzen könnte?« fragte Arys halblaut. Durch den Lautsprecher erwiderte Cliff kalt: »Ich habe jeden Grund zu dieser Annahme, Arys. Was wollten Sie mir sagen?« Er hatte das Funkgerät aktiviert, das ihn mit der Crew in der ORION verband. Die Besatzungsmitglieder hörten mit. Arys fragte: »Sie wissen, wie alles zusammenhängt?« Cliff erwiderte hart: »Ich weiß nur, daß Sie nicht in der Lage sind, gewisse Dinge einzusehen. Sie wollen nicht wahrhaben, daß die Zeit der Landedelleute bereits seit mehr als einem Jahrtausend unwiderruflich vorüber ist. Sie haben versucht, sich hier ein unsichtbares Imperium aufzubauen. Dagegen ist nicht viel zu sagen. Aber die Mittel, die Sie dazu verwendeten, waren verbrecherisch. Diebstahl eines Schiffes, vorge-
täuschte Totmeldungen, Entführung von Menschen und Terror durch Jagdfalken. Und dann, als man auf Carrere Theta Xi aufmerksam wurde, fingen Sie an, die Mitwisser zu ermorden. Das Ganze kulminierte, als Sie nach Ihrer Flucht von England versuchten, die Gäste von Marios Party zu töten. Auf welche Weise haben Sie eigentlich Brokhuse, Ihr ehemaliges Besatzungsmitglied umgebracht?« Cliff hob die Waffe, als Arys einen Knopf in der Sessellehne niederdrückte. »Etwa so!« sagte Arys in hoffnungslosem Ton. Ein Teil der Täfelung schob sich zurück, und ein kleiner Roboter schwebte heraus. Er sah so ähnlich wie jener aus, der Cliff über den Hof des Gutes verfolgt hatte und im Bach detoniert war. Der Robot trug in einem seiner metallenen Arme einen hundertfünfzig Zentimeter großen Bogen. Er zog aus einem eingebauten Köcher einen Pfeil heraus, legte ihn ein und spannte den Bogen. Dann jagte er den Pfeil auf eine Distanz von fünfzehn Metern quer durch die Bibliothek. Der Pfeil steckte genau in einem Buchstaben eines Buchrükkens. Cliff bewegte seine Hand, dann trennte er mit zwei schnellen Schüssen dem Robot die metallenen Gelenke durch. Stinkend und rauchend fuhr die Maschine in ihr Versteck zurück. »Das ist also geklärt«, sagte Cliff. »Wieviel Höhlen haben Sie kultiviert? Und aus welchem Grund?« Arys hob bedächtig sein Whiskyglas und trank einen Schluck. Seine blauen Augen starrten unverwandt Cliff an. »Es sind bis jetzt drei Höhlen. Ich wollte die Men-
schen wieder zu der natürlichen, naturgewollten Lebensweise zurückführen.« Cliff erwiderte mit ätzender Schärfe: »Und selbst in dieser naturgewollten Klassengesellschaft die Spitze einnehmen und behalten. Für wie jung halten Sie sich im Augenblick? Männern, die am Rand ihres Grabes noch versuchen, Heldentaten zu vollbringen oder Miniaturstaaten zu gründen, stand ich schon immer recht skeptisch gegenüber.« »Ich hatte eine harte, neue Welt gegen mich«, versuchte sich der Earl zu verteidigen. »Und außerdem geben Sie unserem letzten Gespräch eine Wendung, die nicht beabsichtigt oder stilvoll genug ist.« Cliff fragte: »Hätten Sie nicht versuchen können, die Leitung einer Kolonie zu bekommen? Dort hätten Sie Ihre Fähigkeiten, die im übrigen niemand in Zweifel gestellt hat, anwenden können.« Arys schüttelte den Kopf. »Ich bin ein Fossil, ein Relikt«, sagte er. »Damit haben Sie recht«, unterbrach Cliff. »Aber ein sehr mörderisches Fossil.« Der Earl trank den Whisky aus und warf das Glas achtlos hinter sich. Cliff zweifelte nicht daran, daß es auch aus der Zeit Shakespeares stammte. Dann sagte der alte Mann, dessen Gesichtsausdruck erst jetzt erkennen ließ, wie alt er wirklich war: »Sie haben mich gefunden, weil einer der Narren, die hier landeten, noch im Tod nach der ›Kerze‹ zeigte. Ich sehe nicht ein, daß ich durch meine Absichten der Welt geschadet habe. Aber ich sehe klar ein, daß mein Weg nicht richtig war. Es hat für mich keinen Sinn und würde auch nichts einbringen, versuchte ich
jetzt, mich zu verteidigen oder etwas zu erklären. Leute wie Wamsler oder Villa würden ohnehin nichts verstehen. Alles ist anders. Nichts ist mehr so, wie es war, als es sich noch zu leben lohnte. Die Fossilien sind ausgestorben, und ich bin deren letzte. Es ist gerecht, daß auch ich sterbe.« Er schwieg und sah Cliff unverwandt an. »Was ist mit diesen eintausend Entführten?« Der Earl beugte sich etwas vor und sagte mit beschwörender Stimme: »Sie haben die Arbeit von fast vierzig Jahren gesehen, denn seit dieser Zeit wachsen die Bäume dort unten. Es wäre schade, ja geradezu unverantwortlich, wenn diese Höhlen versiegelt würden. Alle Arbeiten wären umsonst gewesen – selbst mein bescheidener Beitrag. Darf ich eine Bitte äußern, Kommandant?« Cliff fragte abwartend zurück: »Sind Sie sicher, daß Sie in mir den geeigneten Fürsprecher gefunden haben?« Der Earl nickte. »Ich bin ganz sicher, denn Sie als Raumfahrer gehören zu den Männern, die einen schnellen und sicheren Blick für Qualität haben. Versprechen Sie mir, sich dafür einzusetzen, daß diese Höhlen nicht zerstört werden?« »Wer sich selbst betrügt, muß ein guter Verlierer sein«, sagte Cliff leise. »Ich werde T.R.A.V. einen Vortrag halten, wieviel sich die Behörde durch Ihre Arbeit erspart hat.« »Ich war sicher, daß Sie das tun, Kommandant.« »Das ist doch nicht etwa alles?« fragte Cliff verblüfft.
»Nein, keineswegs.« »Ich bitte Sie ferner, unter den eintausendundneun Leuten, die ich von den verschiedenen Planeten entführt habe oder entführen ließ, eine Umfrage durchzuführen. Viele von ihnen kennen die technischen und biologischen Einrichtungen hier sehr genau. Fragen Sie, ob ein Teil der Leute hier in diesem versteckten Vorposten bleiben will – natürlich als Vertreter der Terraner oder Ihrer Behörde.« Cliff erkannte natürlich die Vorteile dieses Stützpunktes. Aber er wußte auch, daß die Möglichkeit, in künstlich beleuchteten Höhlen zu leben, relativ reizlos war im Vergleich zu den Chancen, die erdgleiche Kolonialplaneten boten. »Ich werde sie fragen. Eine Entscheidungsbefugnis allerdings besitze ich nicht«, sagte er. Der Earl fragte: »Haben wir Zeugen für dieses Gespräch?« Cliff deutete auf Hasso, dann auf die Skala seines Funkgerätes in der vertieften Gürtelaussparung. »Für Ihre Mühen, denn Sie hatten vier sehr harte Wochen bis zum heutigen Zeitpunkt, möchte ich Sie entschädigen«, sagte der Earl. »Whisky?« fragte Cliff sarkastisch. »Nein. Ihnen gehört mein Besitz in England. Falls Sie einmal Lust haben sollten, mit Pfeil und Bogen zu jagen oder die Beizjagd wieder aufleben zu lassen, dann fahren Sie dorthin.« »Danke«, sagte Cliff. »Ich werde ein Erholungsheim für die Opfer Ihrer mörderischen Vögel einrichten lassen. Ich hätte gern etwas anderes.« »Bitte?« Cliff ahnte nicht, worauf der Earl hinauswollte. Es
schien eine Art Abschiedsvorstellung zu sein, die er hier gab. Vor kleinem, ausgesuchtem Publikum, das einen sehr hohen Eintrittspreis gezahlt hatte. »Das Buch über Dougherty!« Cliff winkelte den Arm an und wollte das Buch aus der Tasche ziehen, aber er merkte, daß er es irgendwo zwischen dem leeren Strand der blauen Höhle und diesem Raum hier verloren hatte. »Nein«, sagte er wütend und leise, »es war ein Scherz. Dougherty interessiert mich nicht.« »Schade«, antwortete der Earl. »Es ist ein Mann, der es verdient hätte, daß Sie ihn als Vorbild betrachten.« Cliff winkte ab und sagte: »Ich bitte Sie, jetzt mit mir zu kommen. Ich werde Sie und Ihren Butler in die Kühlzelle meines Schiffes bringen und dafür sorgen, daß Sie eine ordentliche Gerichtsverhandlung bekommen.« Der Earl stand auf und lächelte, wie es schien, traurig und trotzdem verächtlich. »Gegen einen Svend-Wallance wird nicht verhandelt«, sagte er. »Trösten Sie sich«, sagte Cliff scharf und hob die Waffe, »es gibt immer eine Ausnahme und immer jemanden, der entweder der erste oder der letzte in einer langen Reihe ist. In diesem Fall, Earl, sind Sie der letzte.« Arys klatschte in die Hände. »Der letzte. Der allerletzte!« sagte er. Die zwei Vögel auf seinen Schultern krümmten die Krallen und schlugen sie in die Schultern des Mannes. Mühelos durchstießen sie den dünnen Stoff, und das Gift an ihren Fängen tötete den Mann, noch ehe
er zu Boden fiel. Cliff feuerte und traf einen der Vögel, die sich auf ihn stürzen wollten, noch auf der Schulter des Mannes, den anderen erwischte er mit dem schweren Handschuh und brach ihm das Genick. Dann stand er auf und klappte den Helm nach hinten. Die Luft im Raum schien stickig zu sein und roch nach den Raubvögeln. »Auch dieses Ende hatte ich nicht erwartet«, sagte Cliff. »Er war ein Verbrecher, aber er verstand es immerhin, mit Würde zu sterben.« Hasso kam in den Raum und betrachtete den Toten. »Offiziell ist damit unsere Mission zu Ende«, sagte er leise zu Cliff. »Aber die Probleme werden erst anfangen, nachdem die Schiffe gelandet sind.« »Ich möchte nur eines wissen«, sagte Cliff. »Wo er in England das Raumschiff versteckt hatte.« Jetzt stand das Schiff mit ausgefahrenem Zentrallift zehn Meter über dem Boden im Hof des Gutes. »Vermutlich im Teich vor seinen Fenstern«, sagte Hasso. »Es ist kein anderes Versteck denkbar.« »Möglicherweise hast du recht«, sagte Cliff. »Fliegen wir hinaus, gehen wir zurück in die ORION und dirigieren die Flotte hier hinunter. Und einige Funksprüche an Wamsler sollten wir auch absetzen, damit er aufhört zu zittern.« Hasso schlug ihm auf die Schulter. »Schade – wir haben ihm sein Lieblingsspielzeug weggenommen. Wamsler meine ich. Er kann jetzt nicht mehr von einer drohenden Invasion der Fremden träumen.« Sie verließen die Bibliothek, und als sie an der letzten Tür vorbeikamen, sahen sie, daß jemand – mit
Sicherheit der Earl – den Butler umgebracht hatte. Auf der Wange des Mannes, den Cliff gelähmt hatte, zog sich ein feiner, roter Schnitt hin. Er stammte von einem der Jagdfalken. »Gräßlich«, sagte der Kommandant. »Gräßlich und von der Konsequenz des Absoluten. Wie in einem Drama von Shakespeare – am Schluß sind fast alle tot.« Hasso schloß: »Einschließlich der Mordfalken.« Sie bestiegen die LANCET und flogen den Weg zurück, auf dem sie hierher gekommen waren. Sie waren sehr froh, als sie die schweren, gepanzerten Anzüge ausziehen und sich strecken konnten. Helga setzte sich, nachdem Ishmee die strapazierten Nerven der Männer mit heißem Kaffee beruhigt hatte, an das Funkpult und gab eine Meldung an Wamsler durch. Dann stellte sie einen Kontakt mit den zehn Schiffen her. Die Jagd war beendet. * Die Müdigkeit zerrte an seinen Muskeln. Er kam unter der heißen und eiskalten Dusche hervor, trocknete sich langsam ab und benützte anschließend reichlich vom teuren Toilettenwasser. Er sah in den Spiegel... McLane mit grauen Schläfen und grauen Stellen im Bart. Ich werde alt, dachte er sarkastisch. Nun – er war niemals so recht jung gewesen. Wenn er an die heutige Jugend dachte... er lachte. Das war etwas, was er vermutlich irgendwann bedauern würde. Die Zeit, in der er es sich noch leisten konnte, echt und sorglos
zu sein und nicht daran zu denken, daß von jedem zweiten seiner Handgriffe etwas wie die Sicherheit Terras abhing. Er zog sich langsam seine Borduniform an, steckte seine Strahlwaffe ein und ging hinauf in die Steuerkabine. Helga hielt ihm, kaum daß er sich seinem Sessel genähert hatte, einen Streifen aus dem Schnelldrucker des Funkpultes entgegen. »Der Marschall hat gesprochen«, sagte sie. »Kurz, aber weise.« »Danke.« Cliff las schweigend. »T.R.A.V.... Wamsler an McLane in ORION VIII. Sie haben Vollmacht, die Entführten zu fragen, ob sie unter Verantwortung Terras diese Station weiter ausbauen wollen. Der Rest sollte auf die Ersatzschiffe verteilt werden – die Schiffe sollen auf den entsprechenden Planeten landen. Sehr erleichtert, daß keine Invasion geplant. Später mehr. Wamsler... Ende... high speed.« »Sehr weise!« sagte Cliff. Er sah Ishmee an und schaute dann auf den zentralen Bildschirm. Das Schiff war mit der eingeschleusten LANCET gestartet, hatte sich vorsichtig durch die Schleuse aus Wasser geschoben und stand jetzt vor dem Gutshof. Auf dem Rasen zwischen den alten Bäumen und unter dem Sonnenlicht aus strahlenden, hellen Leuchtkörpern. Von den Schiffen, die Cliff gefolgt waren, befanden sich bereits fünf hier – die Diskusse bildeten einen Halbkreis vor dem Gutshof. »Gehen wir hinunter«, sagte Cliff. »Die anderen Kommandanten warten schon.« Die Mannschaft verließ bis auf Hasso das Schiff.
Der Ingenieur schlief bereits, und auf der Freitreppe trafen sich die Kommandanten und Mannschaften. Cliff las laut den Text des Funkspruches vor und sagte dann: »Wir sollten unsere Aktion schnell durchführen. Die Leichen des Butlers und des Earls befinden sich bereits in den Kühlzellen der ORION. Die Befragung kann nicht lange dauern.« Einer der Kommandanten, ebenfalls ein Studienkollege von Svend-Wallance, fragte: »Er hat gekämpft bis zum Letzten, nicht wahr?« »So kann man es bezeichnen. Er verübte Selbstmord. Natürlich auf sehr stilvolle Weise.« Eine LANCET war mit eingeschalteten Lautsprechern durch das Höhlensystem geflogen und hatte vor einiger Zeit durchgesagt, daß sich alle Terraner vor dem Gutshof versammeln sollten. Jetzt kamen die ersten Fahrzeuge an, und die Menschen hingen an jedem Vorsprung. Etwa zwanzig verschieden große Maschinen hielten, und langsam bildete sich eine gewaltige Menschenmenge zwischen den Schiffen und umstand die Schleusenlifts. Ein anderer Kommandant erkundigte sich: »Wollen Sie die denkwürdigen Worte sprechen, Cliff?« »Meinetwegen«, sagte McLane. »Mein Baßbariton, hörte ich, sei für solche Durchsagen sehr geeignet.« Es gab leises Gelächter. Sie warteten noch einige Minuten, bis sie sicher sein konnten, daß sich alle Entführten hier befanden. Während sie warteten und den Gutshof inspizierten, kamen wieder zwei Schiffe durch die Syphonschleuse und schwebten langsam heran. Sie vergrößerten den
Halbkreis. Dann kletterte Cliff in die LANCET, nahm das Mikrofon in die Hand und sagte deutlich: »Hier spricht Kommandant McLane mit Vollmacht der Erdregierung. Sie alle sind von Earl Arys und seinem Butler und deren Robotmannschaft entführt worden. Einige von Ihnen sind schon Jahre hier, andere sogar Jahrzehnte, und die meisten erst einige Monate. Ich habe Ihnen folgende Mitteilung zu machen. Erstens: Diese Anlage mit allen technischen Einrichtungen wird von Terra übernommen, da sie einen Stützpunkt an der Grenze der Raumkugel gebrauchen kann und eingesehen hat, daß hier bereits zuviel investiert wurde, als daß man die Höhlen vernachlässigen könnte. Zweitens: Jeder der Entführten wird auf dem schnellsten Weg dorthin zurückgebracht, woher er entführt wurde. Dazu haben wir insgesamt elf Schiffe, das Boot von Arys eingerechnet. Die Einschiffung beginnt sofort nach dieser Durchsage – Schadensersatzansprüche sind an die Regierung zu richten. Drittens macht die Regierung allen Terranern, die hierbleiben und den Stützpunkt weiter ausbauen wollen, das Angebot, in den Dienst der Pioniertruppen einzutreten. Bezahlung und soziale Leistungen, das kann ich bestätigen, sind recht angenehm, und da Sie sich hier sehr weit von allen möglichen Vorgesetzten entfernt befinden, ist der Zustand erträglich. Die Abstimmung ist sehr einfach. Wer hierbleiben möchte, stellt sich bitte vor dem Gutshof auf. Der Rest setzt sich mit den Kommandanten der zehn Schiffe in Verbindung, die auch für
die Reparatur des Diskusschiffes verantwortlich sind. Hiermit ist die Ära des Earls beendet. Danke.« Cliff schaltete ab, kletterte aus der LANCET heraus und sah, daß sich einige Männer und Mädchen aus der Masse lösten und an den Schiffen vorbei auf die Freitreppe zugingen. Er hatte nichts anderes erwartet. Als sich Cliff von den zehn Kommandanten verabschiedete, stand es fest, daß dreihundert Terraner sich entschlossen hatten, die Arbeiten weiterzuführen. Sie taten nichts anderes, als was sie auch unter der Drohung der Jagdfalken getan hätten – aber die Voraussetzungen hatten sich verändert. Ein Kommandant fragte: »Was werden Sie jetzt unternehmen, Cliff?« Cliff legte seinen Arm um Ishmees Schultern und sagte lächelnd: »Ich werde mit diesem bezaubernden Mädchen hier nach der Landung in der Basis 104 nach Wallance fliegen. Dort warten Del Marne, der Polizeichef, und eine ungewöhnlich gute Flasche Whisky auf mich. Ich werde mich mit Del über die Mentalität des Earls unterhalten. Ich bin noch immer erstaunt darüber, was ein Mann in rund vier Jahrzehnten alles unternehmen kann. Und was mich geradezu fasziniert, ist, wie ein solcher Mann zum mehrfachen Mörder werden kann.« Ishmee ergänzte lächelnd: »Und außerdem wird Cliff versuchen, einen Alptraum loszuwerden. Er hat vor rund drei Wochen einen Namen gelesen. Dieser Name verfolgt ihn durch die halbe Milchstraße.« »Meinen Sie Wamsler?«
Cliff begann schallend zu lachen. »Nein, ich meine Frank Hoium Dougherty. Kennen Sie ihn?« Niemand kannte ihn. Cliff blieb als letzter seiner Mannschaft in der offenen Schleuse stehen und warf einen langen Blick auf die kulissenhafte Schönheit dieser gewaltigen, säulenlosen Höhle. Sie war, obschon eine Reproduktion des Originals, nichts anderes als ein Ersatz. Ein Traum, der wahr geworden wäre... wenn SvendWallance nicht kurz vor dem Ziel gestolpert wäre. Die ORION startete. Sie flog aus dem Vulkankessel hinaus, bremste kurz, als die Kerze in den Sichtbereich kam, und die Insassen bewunderten die steile, purpurne Flamme, die jetzt in dem dunkelgrünen, fast sternenlosen Nachthimmel brannte. Dann kippte die ORION, zog nach oben und raste davon. Wenige Minuten später befand sie sich außerhalb der Lufthülle. Das Ziel stand fest: Die Erde. Sie ist und bleibt meine Heimat, dachte Cliff. Und trotzdem werde ich bei der nächsten Gelegenheit wieder zwischen den Sternen fliegen. Er lehnte sich zurück, schloß die Augen und hörte auf die Arbeitsgeräusche des Schiffes.