SUS AN SON TAG Das Leiden anderer betrachten
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SUS AN SON TAG Das Leiden anderer betrachten
Hanser
Susan Sontag Das Leiden anderer betrachten Aus dem Englischen von Reinhard Kaiser
Carl Hanser Verlag
Die amerikanische Originalausgabe erschien erstmals unter dem Titel Regarding the Pain of Others bei Farrar, Straus and Giroux in New York.
ISBN --- © by Susan Sontag Alle Rechte der deutschen Ausgabe: © Carl Hanser Verlag München Wien Satz: Satz für Satz. Barbara Reischmann, Leutkirch Druck und Bindung: Ebner & Spiegel, Ulm Printed in Germany
Für David
»... aux vaincus!« Baudelaire »The dirty nurse, Experience ...« Tennyson
Im Juni veröf-
fentlichte Virginia Woolf unter dem Titel Drei Guineen ihre ebenso mutigen wie unerwünschten Gedanken über die Wurzeln des Krieges. Das Buch war während der beiden voraufgegangenen Jahre entstanden, in denen sie und die meisten ihrer Freunde und Schriftstellerkollegen mit Spannung verfolgten, wie sich der faschistische Aufstand in Spanien entwickelte, und es hatte die Form einer verspäteten Antwort auf einen Brief, in dem ein prominenter Londoner Anwalt die Frage gestellt hatte: »Wie sollen wir Ihrer Meinung nach Krieg verhüten?« Woolf beginnt mit der scharfen Bemerkung, daß ein wirklicher Dialog zwischen ihnen vielleicht gar nicht möglich sei. Denn auch wenn sie beide der gleichen sozialen Schicht, »der gebildeten Klasse«, angehören, seien sie durch eine tiefe Kluft getrennt: der Anwalt sei ein Mann und sie eine Frau. Männer führen Krieg. Männer (die meisten Männer) schätzen den Krieg, denn für sie liegt »eine gewisse Glorie, eine gewisse Notwendigkeit, eine gewisse Befriedigung im Kämpfen«, die Frauen (die meisten Frauen) nie empfunden oder genossen haben. Was weiß denn schon
eine gebildete – lies: privilegierte, wohlhabende – Frau wie sie vom Krieg? Kann ihr Zurückschrecken vor der Verlockung des Krieges dem seinen gleichen? Lassen Sie uns diese »Verständigungsschwierigkeit« prüfen, schlägt Woolf vor, indem wir uns gemeinsam Bilder vom Krieg ansehen. Es sind Fotos, die die bedrängte Regierung der Spanischen Republik eine Zeitlang zweimal wöchentlich verschickt hat; in einer Fußnote heißt es dazu: »Geschrieben im Winter -«. »Lassen Sie uns also sehen«, erklärt Woolf, »ob wir, wenn wir dieselben Fotografien betrachten, dieselben Dinge fühlen.« Sie fährt fort: Die Auswahl des heutigen Morgens enthält die Fotografie von etwas, was der Körper eines Mannes sein könnte oder einer Frau; er ist so verstümmelt, daß er auch der Körper eines Schweines sein könnte. Aber das hier sind ganz gewiß tote Kinder, und das da ist unzweifelhaft der Schnitt durch ein Haus. Eine Bombe hat die Seite aufgerissen; immer noch hängt ein Vogelkäfig in dem, was vermutlich das Wohnzimmer war … Am schnellsten und nüchternsten läßt sich die innere Bewegung, die von diesen Fotografien ausgelöst wird, in der Feststellung vermitteln, daß man nicht immer erkennen kann, was auf ihnen zu sehen ist, so verheerend ist die dargestellte Zerstörung, die über Leiber und Steine gekommen ist. Von hier aus gelangt Woolf rasch zu ihrer Schlußfolgerung: »Wie unterschiedlich
die Erziehung und die Traditionen hinter uns auch sein mögen, unsere Empfindungen sind dieselben«, erklärt sie dem Anwalt. Ihr Beweis: »Wir« – mit diesem »Wir« sind die Frauen gemeint – und »Sie« (der Anwalt) reagieren mit den gleichen Worten. Sie, Sir, nennen sie [die Empfindungen] »Entsetzen und Abscheu«. Wir nennen sie ebenfalls Entsetzen und Abscheu … Krieg, sagen Sie, ist eine Abscheulichkeit; eine Barbarei; Krieg muß um jeden Preis verhindert werden. Und wir sprechen Ihre Worte nach. Krieg ist eine Abscheulichkeit; eine Barbarei; Krieg muß verhindert werden. Wer glaubt heute noch, der Krieg lasse sich abschaffen? Niemand, nicht einmal die Pazifisten. Wir hoffen allenfalls (und bisher vergebens), dem Völkermord Einhalt gebieten und diejenigen vor Gericht stellen zu können, die schwere Verstöße gegen das Kriegsrecht begangen haben (denn auch im Krieg gibt es Gesetze, an die sich die Kombattanten halten sollen), und wir hoffen darauf, bestimmten Kriegen ein Ende zu machen, indem wir auf dem Verhandlungsweg Alternativen zur bewaffneten Auseinandersetzung finden. Vielleicht fällt es uns heute schwer, jene verzweifelte, aus dem Schock über den Ersten Weltkrieg resultierende Entschlossenheit zu würdigen, die sich einstellte, als man zu erkennen begann, welche Verwüstungen Europa sich selbst zugefügt hatte. Es schien damals nicht ganz aussichtslos, den Krieg als solchen im Gefolge der
Papierphantasien des Kellogg-Briand-Pakts von zu ächten, in dem fünfzehn Großmächte, unter ihnen die Vereinigten Staaten, Frankreich, Großbritannien, Deutschland, Italien und Japan, dem Krieg als einem Instrument nationaler Politik feierlich abschworen; sogar Sigmund Freud und Albert Einstein beteiligten sich an dieser Debatte, indem sie unter der Überschrift »Warum Krieg?« einige offene Briefe wechselten. Woolfs Essay Drei Guineen, der am Ende von fast zwei Jahrzehnten vehementer Plädoyers gegen den Krieg erschien, war insofern originell (und wurde daher weniger positiv aufgenommen als alle ihre anderen Bücher), als er sein Augenmerk auf einen Aspekt richtete, der so offenkundig oder so unangebracht zu sein schien, daß man ihn keiner Erwähnung und erst recht keiner Überlegung für wert hielt: auf die Tatsache nämlich, daß der Krieg Männersache ist – daß die Kriegsmaschinerie ein Geschlecht hat und daß sie männlich ist. Bei aller Kühnheit, durch die sich Woolfs Beitrag zu der Frage »Warum Krieg?« auszeichnet, bleibt ihr Abscheu vor dem Krieg in seiner Rhetorik und seinen an Wiederholungen reichen Zusammenfassungen jedoch durchaus konventionell. Und Fotografien von Kriegsopfern sind selbst eine Art von Rhetorik. Sie insistieren. Sie vereinfachen. Sie agitieren. Sie erzeugen die Illusion eines Konsensus. Unter Berufung auf dieses hypothetische gemeinsame Erleben (»wir sehen mit Ihnen dieselben toten Menschen, dieselben zerstörten Häuser«) bekundet Woolf ihre Überzeugung, daß die Erschütterung, die
von solchen Bildern ausgeht, unweigerlich zwischen Menschen guten Willens Einigkeit stiften muß. Aber tut sie das? Gewiß, Woolf und der nicht genannte Adressat dieses Briefes von Buchlänge sind keine x-beliebigen Personen. Auch wenn sie durch die uralten Empfindungs- und Handlungsmuster ihres jeweiligen Geschlechts voneinander getrennt sind, wie Woolf gleich eingangs deutlich macht, ist der Anwalt doch kein typischer, kriegslüsterner Vertreter seines Geschlechts. Seine Ablehnung des Krieges steht genauso außer Frage wie ihre eigene. Schließlich lautete seine Frage nicht: »Wie denken Sie über die Verhütung von Krieg?«, sondern: »Wie sollen wir Ihrer Meinung nach Krieg verhüten?« Gerade dieses »Wir« stellt Woolf zu Beginn ihres Buches in Frage: sie will ihrem Gesprächspartner ein solches selbstverständliches »Wir« nicht durchgehen lassen. Aber nach den Passagen, in denen sie ihren feministischen Gesichtspunkt darlegt, fällt sie selbst in dieses »Wir« zurück. Wo es um das Betrachten des Leidens anderer geht, sollte man kein »Wir« als selbstverständlich voraussetzen.
Wer sind die »Wir«, an die sich solche erschütternden Bilder richten? Zu diesem »Wir« gehören nicht nur die Sympathisanten eines eher kleinen Landes oder eines Volkes ohne Staat, das um seine Existenz kämpft, sondern auch das sehr viel größere Publikum all derer, die
sich, ohne direkt in Mitleidenschaft gezogen zu sein, davon betroffen fühlen, daß in einem anderen Land ein schmutziger Krieg stattfindet. Die Fotografien sind ein Mittel, etwas »real« (oder »realer«) zu machen, das die Privilegierten und diejenigen, die einfach nur in Sicherheit leben, vielleicht lieber übersehen würden. »Hier auf dem Tisch vor uns liegen also Fotografien«, beschreibt Woolf das Gedankenexperiment, das sie dem Leser und dem schemenhaften Anwalt vorschlägt, der immerhin so prominent ist, daß er, wie sie erwähnt, ein K.C. – für »King᾽s Counsel« oder »Kronanwalt« – hinter dem Namen führt und vielleicht eine reale Person ist oder auch nicht. Man stelle sich also einen kleinen Stapel einzelner Fotos vor, die man einem mit der Morgenpost gekommenen Umschlag entnommen hat. Sie zeigen verstümmelte Körper von Erwachsenen und Kindern. Sie zeigen, wie der Krieg die gebaute Welt entleert, zertrümmert, einreißt, einebnet. »Eine Bombe hat die Seite aufgerissen«, schreibt Woolf über das Haus auf einem der Bilder. Zwar besteht eine Stadt nicht aus Haut, Fleisch und Knochen. Doch aufgeschlitzte Häuser sind fast genauso beredt wie Leichen auf den Straßen. (Kabul, Sarajevo, Ost-Mostar, Grosny, sechs Hektar in Lower Manhattan nach dem . September , das Flüchtlingslager Jenin …) Sieh her, sagen die Fotos, so sieht das aus. Das alles richtet der Krieg an – und auch das hier. Der Krieg zertrümmert, läßt bersten, reißt auf, weidet aus, versengt, zerstückelt. Der Krieg ruiniert. Wem diese Bilder nicht weh tun, wer vor ihnen nicht
zurückschreckt, wer sich bei ihrem Anblick nicht gedrängt fühlt, die Ursachen für diese Verwüstung, dieses Blutbad aus der Welt zu schaffen – der reagiert nach Woolfs Meinung wie ein moralisches Monstrum. Wir seien aber keine Monster, so gibt sie uns verstehen, sondern Angehörige der gebildeten Klasse. Versagt haben unsere Vorstellungskraft und unser Mitgefühl: wir sind dieser Realität geistig nicht gewachsen gewesen. Aber ist es denn wahr, daß diese Fotos, die nicht den Zusammenstoß zweier Armeen, sondern das Abschlachten unbeteiligter Zivilisten zeigen, nur zur Ablehnung des Krieges anregen können? Sie könnten doch auch für mehr Militanz zugunsten der Spanischen Republik werben. Und sollten sie nicht gerade das tun? Die Einigkeit zwischen Woolf und dem Anwalt scheint nur auf Mutmaßungen zu beruhen, und die grausigen Fotos bestätigen sie nur in einer Meinung, die sie schon vorher teilten. Hätte die Frage gelautet: Wie können wir am besten zur Verteidigung der Spanischen Republik gegen die Kräfte des militaristischen und klerikalen Faschismus beitragen? – dann hätten diese Fotos sie vielleicht in ihrem Glauben an die Rechtmäßigkeit dieses Kampfes bestärkt. Die Bilder, die Woolf heraufbeschwört, zeigen in Wirklichkeit nicht, was »der Krieg«, der Krieg als solcher, anrichtet. Sie zeigen eine bestimmte Art von Kriegführung, die damals oft als »barbarisch« bezeichnet wurde, weil sie sich gegen Zivilisten richtete. General Franco bediente sich der gleichen Taktik, die er schon in den zwanziger Jahren als Befehlshaber in Ma
rokko perfektioniert hatte: Bombardements, Massaker, Folter, Töten und Verstümmeln von Gefangenen. Damals war sein Vorgehen für die herrschenden Mächte eher hinnehmbar gewesen, denn es richtete sich gegen spanische Kolonialuntertanen von dunklerer Hautfarbe, die obendrein ungläubig waren; nun jedoch waren die eigenen Landsleute seine Opfer. In den Bildern nur das zu sehen, was einen allgemeinen Abscheu vor dem Krieg als solchem bestätigt, wie es Woolf tut, bedeutet, auf eine Auseinandersetzung mit Spanien als einem Land mit eigener Geschichte zu verzichten. Es bedeutet, die Politik außer acht zu lassen. Für Woolf, wie für viele andere, die gegen »den Krieg« zu Felde ziehen, ist Krieg ein allgemeiner Begriff, und die Bilder, die sie beschreibt, zeigen anonyme Opfer – Opfer »im allgemeinen«. Man könnte den Eindruck gewinnen, die Regierung in Madrid habe die Bilder ohne Erläuterungen verschickt, was jedoch unwahrscheinlich ist. (Vielleicht war Woolf auch einfach der Meinung, ein Foto solle für sich selbst sprechen.) Wo es darum geht, den Krieg als solchen zu verurteilen, sind Informationen darüber, wer wann wo was getan hat, nicht erforderlich; das willkürliche, gnadenlose Gemetzel ist Aussage genug. Doch wer davon überzeugt ist, daß das Recht nur auf einer Seite, das Unrecht und die Unterdrückung aber auf der anderen Seite zu finden sind und daß der Kampf fortgesetzt werden muß, für den kommt es darauf an, wer von wem getötet wird. Für einen israelischen Juden ist das Foto eines Kindes, das bei dem Anschlag auf die Sbarro-Pizzeria in der In
nenstadt von Jerusalem zerrissen wurde, in erster Linie das Bild eines jüdischen Kindes, das von einem palästinensischen Selbstmordattentäter getötet wurde. Für einen Palästinenser ist das Foto eines Kindes, das von einer Panzergranate in Gaza zerrissen wurde, in erster Linie das Bild eines palästinensischen Kindes, das von einer israelischen Granate getötet wurde. Für den Kämpfenden ist Identität alles. Und jedes Foto wartet auf eine Bildlegende, die es erklärt – oder fälscht. Während der Kämpfe zwischen Serben und Kroaten zu Beginn der jüngsten Balkankriege wurden von der serbischen und der kroatischen Propaganda die gleichen Fotos von Kindern verteilt, die bei der Beschießung eines Dorfes getötet worden waren. Man brauchte nur die Bildlegende zu verändern, und schon ließ sich der Tod dieser Kinder so und anders nutzen. Bilder von toten Zivilisten und zerstörten Häusern können den Haß auf den Feind schüren, wie es zum Beispiel im April geschah, als der in Qatar beheimatete arabische Satellitensender AI Jazira im Stundentakt die Bilder von der Zerstörung des Flüchtlingslagers Jenin wiederholte. So groß die Empörung bei vielen Zuschauern in der ganzen Welt war – über die israelische Armee sagten ihnen diese Aufnahmen nichts, was ihnen nicht schon vorher beigebracht worden war. Dagegen werden Bilder, die im Widerspruch zu den eigenen liebgewordenen Überzeugungen stehen, unweigerlich mit dem Hinweis abgetan, sie seien gestellt. Auf die fotografische Bestätigung von Greueln, die die eigene Seite verübt hat, reagiert man in der
Regel mit der Behauptung, die Bilder seien eine Fälschung – die Greueltaten hätten nie stattgefunden, es handele sich um Leichen, die die andere Seite auf Lastwagen aus dem örtlichen Leichenschauhaus herbeigeschafft und auf der Straße verteilt habe. Oder es heißt: jawohl, die Greuel seien vorgefallen, aber verantwortlich sei die andere Seite, sie habe sie sich selbst zugefügt. So behauptete der Propagandachef der von Franco geführten nationalistischen Rebellenregierung, die Basken selbst hätten am . April ihre einstige Hauptstadt, das alte Guernica, mit Dynamit in der Kanalisation (einer späteren Version zufolge: mit im Baskenland hergestellten Bomben) zerstört, um die Empörung im Ausland anzuheizen und den Widerstandswillen der Republikaner zu stärken. So behauptete auch eine Mehrheit der in Serbien und im Ausland lebenden Serben bis zum Ende der serbischen Belagerung von Sarajevo und selbst nachher noch, die Bosnier selbst hätten das grauenhafte »BrotschlangenMassaker« im Mai und das »Markt-Massaker« im Februar angerichtet, indem sie selbst großkalibrige Granaten aus den Außenbezirken im hohen Bogen ins Zentrum ihrer Hauptstadt gefeuert oder Minen gezündet hätten, um den Kameras der ausländischen Journalisten einige besonders grausige Motive zu liefern und mehr internationale Unterstützung für die bosnische Seite zu erlangen. Fotos von verstümmelten Körpern können natürlich so genutzt werden, wie Virginia Woolf dies tut – um der Verurteilung des Krieges Nachdruck zu verschaffen. Sie
können denen, die keine eigenen Kriegserfahrungen haben, für eine gewisse Zeit etwas von der Wirklichkeit des Krieges vor Augen führen. Wer jedoch der Auffassung ist, daß der Krieg in einer zerrissenen Welt wie der heutigen unvermeidlich und sogar gerecht sein kann, der könnte erwidern, daß die Fotos durchaus nicht dafür sprechen, dem Krieg grundsätzlich abzuschwören – oder daß sie dies allenfalls in den Augen derer tun, für die Begriffe wie Tapferkeit und Opferbereitschaft ihren Sinn und ihre Glaubwürdigkeit völlig verloren haben. Der zerstörerische Charakter des Krieges – anders als die totale Zerstörung, die nicht Krieg, sondern Selbstmord ist– taugt aus sich heraus nicht als Argument gegen das Führen von Kriegen, es sei denn, man glaubt (wovon allerdings nur wenige Menschen überzeugt sind), Gewalt lasse sich nie rechtfertigen, sondern sei immer und unter allen Umständen falsch – falsch, weil sie, wie Simone Weil in ihrem wunderbaren Essay über den Krieg »L᾽Iliade ou le poeme de la force« (Ilias: Dichtung der Gewalt) von schreibt, jeden, der mit ihr in Berührung kommt, in ein Ding verwandelt.* Nein, erwidern diejenigen, die in einer bestimmten Si*
Ungeachtet ihrer Ablehnung des Krieges wollte Simone Weil an der Verteidigung der Spanischen Republik und am Kampf gegen Hitler-Deutschland teilnehmen. schloß sie sich als nichtkämpfende Freiwillige einer Internationalen Brigade in Spanien an; und Anfang , nachdem sie nach London geflohen und schon erkrankt war, arbeitete sie noch im Büro des »Freien Frankreich« und hoffte, man werde sie zu einer Mission in das besetzte Frankreich schicken. (Sie starb im August in einem englischen Sanatorium.)
tuation keine Alternative zum bewaffneten Kampf sehen, Gewalt kann den, der mit ihr in Berührung kommt, auch zum Märtyrer oder zum Helden erheben. Die unzähligen Gelegenheiten, bei denen man heute das Leiden anderer Menschen – aus der Distanz, durch das Medium der Fotografie – betrachten kann, lassen sich auf vielerlei Weise nutzen. Fotos von einer Greueltat können gegensätzliche Reaktionen hervorrufen. Den Ruf nach Frieden. Den Schrei nach Rache. Oder einfach das dumpfe, ständig mit neuen fotografischen Informationen versorgte Bewußtsein, daß immer wieder Schreckliches geschieht. Wer könnte die drei Farbfotos von Tyler Hicks vergessen, die die New York Times am . November in der oberen Hälfte der ersten Seite ihres täglich unter dem Titel »A Nation Challenged« erscheinenden Sonderteils über Amerikas neuen Krieg brachte? Dieses Triptychon stellt das Schicksal eines verwundeten Taliban-Kämpfers in Uniform dar, der von Soldaten der Nord-Allianz bei ihrem Vormarsch auf Kabul in einem Straßengraben aufgespürt wurde. Erste Tafel: zwei der Soldaten, die ihn gefangengenommen haben, schleifen ihn auf dem Rücken über eine steinige Straße – der eine hat einen Arm, der andere ein Bein gepackt. Zweite Tafel (die Kamera ist dem Geschehen sehr nah): von den anderen umringt, voller Entsetzen aufblickend, wird er hochgezerrt. Dritte Tafel: der Augenblick des Todes. Mit ausgebreiteten Armen liegt er auf dem Rücken, die Knie angezogen, von den Hüften abwärts nackt und blutüberströmt, und wird von der Soldateska, die sich um
ihn zusammengerottet hat, erledigt. Es bedarf eines beträchtlichen Maßes an innerer Ruhe, allmorgendlich das New Yorker Weltblatt durchzusehen, wenn man damit rechnen muß, auf Bilder zu stoßen, über denen einem die Tränen kommen können. Aber das Mitgefühl und der Abscheu, mit dem Bilder wie die von Hicks den Betrachter erfüllen, sollten niemanden davon abhalten, die Frage zu stellen, welche Bilder, wessen Grausamkeiten, welche Tode nicht gezeigt werden.
Manche Leute haben lange geglaubt, wenn man das Grauen nur anschaulich genug darstelle, würden die meisten Menschen die Ungeheuerlichkeit und den Wahnsinn des Krieges schließlich begreifen. Im Jahre , zum zehnten Jahrestag der deutschen Mobilmachung am Beginn des Ersten Weltkriegs und vierzehn Jahre vor der Veröffentlichung von Drei Guineen, brachte der Kriegsdienstverweigerer Ernst Friedrich sein Buch Krieg dem Kriege! heraus. Fotografie als Schocktherapie: hundertachtzig größtenteils aus militärischen und medizinischen Archiven in Deutschland stammende Fotos, unter ihnen viele, die, solange der Krieg andauerte, von der Zensur als nicht zur Veröffentlichung geeignet eingestuft worden waren. Es beginnt mit Bildern von Spielzeugsoldaten, Spielzeugkanonen und anderem Kriegsspielzeug, mit dem sich Jungen auf der ganzen Welt vergnügen, und endet mit Aufnahmen von Soldatenfriedhöfen. Zwischen den Spielsachen und den Gräbern legt der Leser eine quä
lende Fototour durch vier Jahre Zerstörung, Gemetzel und Verfall zurück: zerstörte, geplünderte Kirchen und Schlösser, ausradierte Dörfer, verwüstete Wälder, torpedierte Passagierdampfer, zertrümmerte Fahrzeuge, erhängte Kriegsdienstverweigerer, halbnackte Prostituierte in Militärbordellen, mit dem Tode ringende Soldaten nach einem Giftgasangriff, bis auf die Knochen abgemagerte armenische Kinder. Für fast jedes Kapitel von Krieg dem Kriege! gilt, daß es schwerfällt, hinzusehen – vor allem bei den Bildern von toten Soldaten aus den verschiedenen Armeen, die haufenweise auf Feldern und Straßen und in den Schützengräben an der Front verwesen. Aber gewiß am unerträglichsten in diesem Buch, das als Ganzes darauf angelegt war, zu erschrecken und zu demoralisieren, sind die Bilder in dem Abschnitt »Das Gesicht des Krieges« – vierundzwanzig Nahaufnahmen von Soldaten mit massiven Gesichtsverletzungen. Und Friedrich machte nicht den Fehler zu glauben, Bilder, bei denen sich dem Betrachter der Magen umdreht, würden für sich selbst sprechen. Jedes Foto ist mit einer leidenschaftlichen Bildunterschrift in vier Sprachen (Deutsch, Französisch, Holländisch und Englisch) versehen, und die Niedertracht der militaristischen Ideologie wird auf jeder Seite bloßgestellt und verhöhnt. Während staatliche Stellen, Veteranenverbände und andere patriotische Organisationen Friedrichs Kriegserklärung gegen den Krieg sofort verurteilten – in manchen Städten durchsuchte die Polizei Buchhandlungen, und es wurden Prozesse gegen die öffentliche Ausstellung der Fo
tos angestrengt –, wurde sie von linken Schriftstellern, Künstlern und Intellektuellen sowie von den Mitgliedern der zahlreichen Antikriegsverbände begrüßt, die dem Buch einen entscheidenden Einfluß auf die öffentliche Meinung voraussagten. Bis hatte Krieg dem Kriege! in Deutschland zehn Auflagen erlebt und war in viele Sprachen übersetzt worden. Im Jahre , in dem auch Virginia Woolfs Essay Drei Guineen erschien, rückte der große französische Begisseur Abel Gance am Ende der Neufassung seines Films J᾽accuse die Gruppe der von der Öffentlichkeit meist ignorierten, grausam entstellten Kriegsveteranen mit Großaufnahmen ins Bild – les gueules casséees (zerschlagene Fressen), wie sie in Frankreich genannt wurden. (Eine erste Fassung dieses unvergleichlichen Antikriegsfilms war unter dem gleichen ehrwürdigen Titel schon / entstanden.) Wie das Buch von Ernst Friedrich endet auch der Film von Abel Gance auf einem neu angelegten Soldatenfriedhof – nicht nur, um daran zu erinnern, wie viele Millionen junger Männer zwischen und , in einem Krieg, den man als den »Krieg, der allen Kriegen ein Ende macht« gefeiert hatte, dem Militarismus und der Unfähigkeit zum Opfer fielen, sondern auch um zu verdeutlichen, wie diese Toten über die Politiker und die Generäle Europas urteilen würden, wenn sie erführen, daß zwanzig Jahre später ein neuer Krieg drohte. »Morts de Verdun, levez-vous!« (Ihr Toten von Verdun, steht auf!) ruft der Protagonist des Films, ein geistesgestörter Veteran, und wiederholt seinen Appell dann auf deutsch
und englisch: »Eure Opfer waren umsonst!« Und plötzlich speit das riesige Leichenfeld seine Massen wieder aus – eine Armee schlurfender Gespenster, die sich aus ihren Gräbern erheben und in vermoderten Uniformen mit entstellten Gesichtern in alle Himmelsrichtungen davonwanken und Panik unter der Bevölkerung auslösen, die schon für einen neuen europaweiten Krieg mobilisiert ist. »Füllt eure Augen mit diesem Schrecken! Nur das kann euch noch aufhalten!« ruft der Verrückte den flüchtenden Massen der Lebenden zu, die ihn dafür mit dem Märtyrertod belohnen, woraufhin er sich seinen toten Kameraden anschließt: ein Meer von teilnahmslosen Gespenstern, die die am Boden hockenden Kämpfer und Opfer im »Krieg von morgen« überfluten. Die Apokalypse schlägt den Krieg zurück. Doch im Jahr darauf kam der Krieg.
Zuschauer bei Kata-
strophen sein, die sich in einem anderen Land ereignen, ist eine durch und durch moderne Erfahrung, zu der uns seit mehr als hundertfünfzig Jahren jene spezialisierten Berufstouristen verhelfen, die wir Reporter nennen. Kriege – das sind inzwischen auch Bilder und Töne, die uns im Wohnzimmer erreichen. Informationen über etwas, das anderswo geschieht, »Nachrichten« genannt, zeigen Konflikt und Gewalt – »If it bleedes, it leads« (Blut zieht immer), lautet seit jeher die Faustregel der Massenpresse und der Nachrichtenkanäle, die rund um die Uhr ihre Schlagzeilen versenden –, und bei jedem Unheil, das ins Bild kommt, verspürt der Zuschauer Mitleid oder Empörung, Sensationskitzel oder Zustimmung. Die Frage, wie man mit der stetig wachsenden Flut von Informationen über die Leiden des Krieges umgehen soll, ist schon am Ende des . Jahrhunderts erörtert worden. schrieb Gustave Moynier, der erste Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz:
Heute wissen wir, was Tag für Tag an jedem Ort der Welt vor sich geht… die Schilderungen der Journalisten stellen den [Zeitungs-]Lesern jene, die auf Schlachtfeldern Qualen leiden, gleichsam vor Augen, und ihre Schreie klingen uns in den Ohren … Moynier dachte an die rasch wachsende Zahl von Verwundeten und Gefallenen auf allen Seiten, deren Leiden das Rote Kreuz unparteiisch lindern wollte. Durch neue, kurz nach dem Krimkrieg (-) eingeführte Waffen wie den Hinterlader und das Maschinengewehr hatte die Tötungskapazität kämpfender Armeen eine neue Dimension erreicht. Aber auch wenn die Qualen des Schlachtfelds für diejenigen, die sie durch die Presse zur Kenntnis nahmen, so gegenwärtig waren wie nie zuvor, war die Behauptung, nun wisse man, »was Tag für Tag an jedem Ort der Welt vor sich geht«, im Jahre offenkundig eine Übertreibung. Und heute, da die Leiden in entfernten Kriegen unsere Augen und Ohren im Augenblick des Geschehens selbst bestürmen, ist sie immer noch eine Übertreibung. Was im Nachrichten Jargon »die Welt« genannt wird – »Sie schenken uns zwanzig Minuten, und wir geben Ihnen die Welt«, verkündet eine Radiostation mehrmals in der Stunde –, ist (anders als die wirkliche Welt) geographisch wie inhaltlich ein sehr kleiner Ort, und das, was im Hinblick auf diesen Ort als wissenswert gilt, soll sich obendrein auch noch in knappen, vollmundigen Schlagzeilen übermitteln lassen. Die Vorstellung von einem Leiden, das sich in einer
Anzahl ausgewählter, anderswo stattfindender Kriege nach und nach anhäuft, ist ein Konstrukt. Vor allem in der Form, in der Kameras dieses Leiden festhalten, wird es für einen kurzen Augenblick sichtbar, stößt auf die Anteilnahme vieler Menschen und verschwindet dann wieder aus dem Blick. Anders als ein geschriebener Bericht, der sich, je nach seiner gedanklichen Komplexität, seinem Kontext und seinem Wortschatz, an einen größeren oder kleineren Leserkreis richtet, verfügt ein Foto nur über eine einzige Sprache und ist im Prinzip für alle bestimmt. In den ersten großen Kriegen, die von Fotografen im Bild festgehalten wurden, im Krimkrieg, im amerikanischen Bürgerkrieg und in allen anderen Kriegen bis zum Ersten Weltkrieg, blieb das Kampfgeschehen selbst für die Kamera unerreichbar. Auch die Kriegsfotos, die zwischen und größtenteils anonym publiziert wurden, bedienten sich – soweit sie überhaupt etwas von den Schrecken und Verwüstungen vermittelten – einer epischen Bildsprache und schilderten meist ein Nachher: die mit Leichen übersäten Schlachtfelder und die Mondlandschaften, die der (Grabenkrieg hinterließ; die ausgeweideten französischen Dörfer, durch die der Krieg gegangen war. Der fotografische Kriegsbericht, wie wir ihn heute kennen, wurde erst einige Jahre später möglich, nach einer gründlichen Erneuerung der Berufsausrüstung des Fotografen: leichte Kleinbildkameras wie die Leica, mit denen man Aufnahmen machen konnte, bevor ein neuer Film eingelegt werden mußte. Damit ließen
sich, sofern die Militärzensur es erlaubte, Bilder im dichtesten Kampfgewühl oder auch Nahaufnahmen von zivilen Opfern und erschöpften, verdreckten Soldaten machen. Der Spanische Bürgerkrieg (-) war der erste Krieg, über den auf diese moderne Weise berichtet wurde: von einem ganzen Trupp Berufsfotografen in der Nähe der Kampflinien und in den bombardierten Städten, deren Bilder von Zeitungen und Zeitschriften in Spanien und im Ausland sofort gedruckt wurden. Der Krieg, den Amerika in Vietnam führte, der erste Krieg, der Tag für Tag auch von Fernsehkameras beobachtet wurde, erzeugte an der Heimatfront eine neue teleintime Nähe zu Tod und Zerstörung. Seither sind Aufnahmen von Kämpfen und Massakern, die während des Geschehens selbst gemacht wurden, ein fester Bestandteil im Unterhaltungsprogramm des häuslichen Pantoffelkinos. Damit bei Zuschauern, die aus allen Richtlangen mit dramatischen Bildern bombardiert werden, von einem bestimmten Konflikt überhaupt etwas hängenbleibt, müssen Tag für Tag Aufnahmen aus diesem Konflikt gesendet und wiederholt werden. Die Vorstellung, die sich Menschen ohne eigene Kriegserfahrung vom Krieg machen, erwächst heute im wesentlichen aus der Wirkung solcher Bilder. Manches wird real – für diejenigen, die es anderswo als »Nachricht« zur Kenntnis nehmen –, indem es fotografiert wird. Aber eine Katastrophe, die man wirklich erlebt, wirkt nun oft auf unheimliche Weise wie ihre eigene Darstellung. Über den Angriff auf das World Trade Center am . September sagten viele, die
sich aus den Türmen hatten retten können oder die in der Nähe gewesen waren, in ihren ersten Berichten, er sei »unwirklich« gewesen, »surreal«, »wie im Kino«. (Nach vierzig Jahren aufwendiger Katastrophenfilme aus Hollywood scheint der Ausspruch »Es war wie im Kino« an die Stelle jener anderen Formel getreten zu sein, mit der Überlebende von Katastrophen das zunächst Unfaßbare dessen, was sie durchgemacht haben, früher auszudrücken versuchten: »Es war wie im Traum.«) Nonstop-Bilder (Fernsehen, Video, Kino) prägen unsere Umwelt, aber wo es um das Erinnern geht, hinterlassen Fotografien eine tiefere Wirkung. Das Gedächtnis arbeitet mit Standbildern, und die Grundeinheit bleibt das einzelne Bild. In einer Ära der Informationsüberflutung bietet das Foto eine Methode, etwas schnell zu erfassen und gut zu behalten. Darin gleicht es einem Zitat, einer Maxime, einem Sprichwort. Jeder von uns hat Hunderte von Fotos in seinem Gedächtnis gespeichert, die sich auf Anhieb abrufen lassen. Man braucht das berühmteste Foto aus dem Spanischen Bürgerkrieg nur zu erwähnen, den republikanischen Soldaten, dessen Bild die Kamera von Robert Capa in dem Augenblick »geschossen« hat, als er von einer feindlichen Kugel getroffen wird, und schon sieht fast jeder, der von diesem Krieg je gehört hat, das körnige Schwarzweißbild von einem Mann in weißem Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln vor sich, der auf einer kleinen Anhöhe nach hinten fällt, den rechten Arm ausgestreckt, während das Gewehr seiner Hand ent
gleitet und er im Begriff ist, tot auf den eigenen Schatten zu fallen. Das Bild schockiert – und darum geht es. Nachdem die Bilder ins Arsenal des Journalismus aufgenommen waren, sollten sie fesseln, bestürzen, überraschen. Getreu dem alten Slogan der gegründeten Illustrierten Paris Match: »Le poids des mots, le choc des photos« (Das Gewicht der Worte, der Schock der Fotos). Die Jagd nach möglichst »dramatischen« Bildern (wie sie oft genannt werden) treibt das fotografische Gewerbe an, und gehört zur Normalität einer Kultur, in der der Schock selbst zu einem maßgeblichen Konsumanreiz und einer bedeutenden ökonomischen Ressource geworden ist. »Schönheit ist erschütternd, oder sie ist nichts«, verkündete Andre Breton und nannte sein ästhetisches Ideal »surrealistisch«. Aber in einer Kultur, die durch die zunehmende Verbreitung kommerzieller Wertvorstellungen von Grund auf umgemodelt wurde, zeugt die Forderung nach grellen, schrillen, verblüffenden Bildern eher von solidem Realismus und gesundem Geschäftsgeist. Wie anders soll man Aufmerksamkeit auf das eigene Produkt, die eigene Kunst lenken? Wie anders soll man bei Leuten einen Eindruck hinterlassen, die einer ununterbrochenen Flut teils neuer, teils ständig wiederkehrender Bilder ausgesetzt sind? Das Bild als Schock und das Bild als Klischee sind zwei Seiten des gleichen Phänomens. Vor fünfundsechzig Jahren waren alle Fotos bis zu einem gewissen Grade Neuigkeiten. (Für Virginia Woolf, die tatsächlich auf einem Titelbild von Time erschien, wäre es unvor
stellbar gewesen, daß ihr Gesicht eines Tages zu einer massenhaft reproduzierten Ikone auf T-Shirts, Kaffeebechern, Büchertaschen, Kühlschrankmagneten und Mauspads würde.) Greuelbilder waren im Winter / eine Seltenheit; fast scheint es, als handele es sich bei den Fotos von den Schrecken des Krieges, die Woolf in Drei Guineen bespricht, um Geheimwissen, Unsere heutige Situation ist eine völlig andere. Das unendlich vertraute, unendlich berühmte Bild – von Qual oder Zerstörung – ist ein unvermeidlicher Bestandteil unseres kameravermittelten Wissens vom Krieg. Seit ihrer Erfindung im Jahre pflegte die Fotografie Umgang mit dem Tod. Weil das mit einer Kamera hergestellte Bild tatsächlich die Spur von etwas ist, das man vor das Objektiv gerückt hat, waren Fotografien als Erinnerung an eine entschwundene Vergangenheit und die lieben Verstorbenen jedem gemalten Bild überlegen. Den Tod im Augenblick seines Eintritts festhalten war demgegenüber etwas ganz anderes: die Reichweite der Kamera blieb beschränkt, solange sie herumgeschleppt, aufgebaut, eingestellt werden mußte. Doch sobald sich die Kamera vom Stativ emanzipiert hatte, sobald sie wirklich tragbar, mit einem Entfernungsmesser und einer Vielfalt von Objektiven ausgestattet war, die selbst aus der Entfernung ungeahnte Wunder bei der Herstellung von Nähe vollbrachten, wuchs der Fotografie bei der Vermittlung des Schrekkens von massenhaft produziertem Tod eine Unmittelbarkeit und eine Autorität zu, die jeder sprachlichen
Darstellung überlegen war. Wenn es ein bestimmtes Jahr gab, in dem Fotos mit ihrer Fähigkeit, die abscheulichsten Realitäten nicht nur aufzuzeichnen, sondern regelrecht zu definieren, alle noch so komplexen Erzählungen übertrumpften, dann war es sicherlich das Jahr mit den Bildern, die im April und Anfang Mai in den Tagen nach der Befreiung der Lager Bergen Belsen, Buchenwald und Dachau aufgenommen wurden, und jenen anderen, die japanische Zeugen wie Yosuke Yamahata Anfang August in den Tagen nach der Verbrennung der Einwohner von Hiroshima und Nagasaki machten. Das Zeitalter des Schocks begann – für Europa – drei Jahrzehnte früher, im Jahre . Der »Große Krieg«, wie man ihn eine Zeitlang nannte, war noch kein Jahr alt, da wirkte vieles, was man bisher für selbstverständlich gehalten hatte, brüchig und unhaltbar. Der Alptraum einer selbstmörderischen militärischen Auseinandersetzung, aus deren Verstrickung sich die kriegführenden Länder nicht mehr zu lösen vermochten – vor allem das tägliche Blutbad in den Schützengräben an der Westfront –, ging nach Meinung vieler Zeitgenossen weit über das hinaus, was sich mit Worten beschreiben ließ.* Es war ausgerechnet jener Schrift *
Am ersten Tag der Somme-Schlacht, dem . Juli , wurden sechzigtausend britische Soldaten getötet oder schwer verwundet – davon dreißigtausend in der ersten halben Stunde. Nach den Kämpfen, die viereinhalb Monate dauerten, waren auf beiden Seiten Soldaten gefallen und die britisch-französische Front war um acht Kilometer vorgerückt.
steller, der sich wie kaum ein anderer darauf verstand, die Wirklichkeit in Sprache einzuspinnen und durch Wörter zu verzaubern, Henry James, der im Jahre gegenüber der New York Times bekannte: »Bei alledem fällt einem die Annäherung mit Hilfe der eigenen Worte genauso schwer wie das Festhalten an den eigenen Gedanken. Der Krieg hat die Wörter verbraucht; sie haben ihre Kraft verloren, sie sind verdorben …« Und der amerikanische Publizist Walter Lippmann schrieb : »Heute besitzen Fotos für unsere Vorstellungskraft jene Autorität, die gestern noch dem gedruckten Wort und davor dem gesprochenen Wort zukam. Sie erscheinen über die Maßen wirklich.« Fotos hatten den Vorteil, daß sie zwei gegensätzliche Merkmale miteinander verbanden. Die Garantie für ihre Objektivität war »eingebaut«. Trotzdem waren sie immer und notwendigerweise aus einem bestimmten Blickwinkel aufgenommen. Sie waren eine Wiedergabe von etwas Realem, so unanfechtbar, wie es keine noch so unvoreingenommene sprachliche Darstellung je sein konnte, denn die Aufzeichnung wurde von einer Maschine besorgt. Und gleichzeitig bezeugten sie dieses Reale – denn jemand war zugegen gewesen, um sie aufzunehmen. Fotografien, so behauptet Virginia Woolf, »sind kein Argument; sie sind einfach eine nackte Feststellung von an das Auge gerichteten Tatsachen«. In Wirklichkeit sind Fotos gar nicht »einfach«, und als Tatsachen können sie schon gar nicht gelten – auch nicht in den Augen von Woolf oder von sonst irgendwem. Denn,
so schreibt sie gleich anschließend, »das Auge ist mit dem Gehirn verbunden; das Gehirn mit dem Nervensystem. Dieses System schickt seine Botschaften blitzartig durch jede vergangene Erinnerung und jedes gegenwärtige Gefühl.« Dank diesem Kunststück können Fotos beides zugleich sein: objektive Wiedergabe und persönliche Aussage, genaues Abbild oder getreue Transkription eines ganz bestimmten Augenblicks von Wirklichkeit und Interpretation dieser Wirklichkeit – etwas, worum die Literatur sich lange bemüht hat, ohne es je in diesem buchstäblichen Sinne zu erreichen. Diejenigen, die die Beweiskraft von Kamerabildern hervorheben, neigen dazu, der Frage nach der Subjektivität dessen, der diese Bilder macht, aus dem Wege zu gehen. Denn bei Greuelfotos wollen die Leute das Gewicht der Zeugenschaft ohne jede Beimischung von Kunst, die sie mit Unaufrichtigkeit oder Erfundenem gleichsetzen. Bilder von grauenhaften Ereignissen wirken authentischer, wenn ihnen das gute Aussehen abgeht, das sich aus »richtiger« Beleuchtung und »richtigem« Bildaufbau ergibt – sei es, weil der Fotograf ein Amateur ist, sei es, weil er sich, was genausogut funktioniert, eines der bekannten antikünstlerischen Stile bedient hat. Weil sie künstlerisch nicht hoch hinauswollen, wirken diese Bilder weniger manipulativ, weniger darauf angelegt, billiges Mitgefühl und vorschnelle Identifikation zu erzeugen – ein Verdacht, dem heute alle weitverbreiteten Bilder, die Leiden zeigen, ausgesetzt sind.
Weniger perfekte Bilder sind nicht nur wegen ihrer besonderen Art von Authentizität willkommen. Manche von ihnen können sich auch mit den besten messen – so großzügig lassen sich die Maßstäbe für die Bewertung denkwürdiger, aussagekräftiger Fotos auslegen. Das zeigte sich auch bei einer exemplarischen Ausstellung von Fotos, die in einer Ladengalerie in Manhattan Ende September die Zerstörung des World Trade Center dokumentierte. Die Initiatoren von Here Is New York, so der Titel der Ausstellung, hatten in einem Aufruf alle, die Bilder während des Angriffs oder in der Zeit danach gemacht hatten, Profis wie Amateure, eingeladen, ihre Aufnahmen einzureichen. In den ersten Wochen meldeten sich mehr als tausend Personen, und von jedem, der seine Fotos vorlegte, wurde zumindest ein Bild für die Ausstellung angenommen. Ohne Urheberangabe und ohne Bildlegende hingen sie in zwei kleinen Räumen oder liefen in einer Diaschau auf einem der Computerbildschirme (und auf der Website der Ausstellung), und alle konnte man als hochwertigen Computerausdruck zu einem einheitlich niedrigen Preis von Dollar erwerben. (Die Erlöse gingen an einen Hilfsfonds für Kinder, deren Eltern am . September ums Leben gekommen waren.) Nach dem Kauf konnte der Käufer erfahren, ob er vielleicht ein Bild von Gilles Peress (der zu den Organisatoren der Ausstellung gehörte) oder von James Nachtwey erworben hatte oder das Bild einer pensionierten Lehrerin, die sich mit ihrer Pocketkamera aus dem Schlafzimmerfenster ihrer Sozialwohnung in Greenwich Village ge
beugt und den Nordturm bei seinem Einsturz festgehalten hatte. Der Untertitel der Ausstellung, »A Democracy of Photographs«, gab zu verstehen, daß sich hier Amateuraufnahmen fänden, die genausogut seien wie die Arbeiten der erfahrenen Profis, die sich beteiligt hatten. Und solche Arbeiten gab es tatsächlich – womit nicht unbedingt etwas über kulturelle Demokratie, wohl aber etwas über die Fotografie gesagt ist. Die Fotografie ist die einzige bedeutende Kunst, in der Berufsausbildung und jahrelange Erfahrung keinen uneinholbaren Vorsprung gegenüber denen gewähren, die weder über eine Ausbildung noch über Berufserfahrung verfügen. Dafür gibt es viele Gründe – unter anderem die große Rolle, die der Zufall (oder das Glück) beim Fotografieren spielt, und die Vorliebe für das Spontane, Grobe, Unvollkommene. (Ein Spielfeld von vergleichbarer Offenheit gibt es in der Literatur nicht, wo sich fast nichts dem Zufall oder dem Glück verdankt und das Streben nach sprachlicher Verfeinerung im allgemeinen nicht sanktioniert wird; ebensowenig in den darstellenden Künsten, wo echte Leistungen ohne strapaziöse Ausbildung und tägliche Übung nicht zu erreichen sind; und auch nicht beim Film, der von den antikünstlerischen Tendenzen, die in der zeitgenössischen Kunstfotografie eine so große Rolle spielen, kaum berührt wird.) Gleichgültig, ob ein Foto als naives Objekt oder als Werk eines erfahrenen Könners gesehen wird, seine Bedeutung – und damit auch die Reaktion des Betrachters – hängt davon ab, wie das Bild, ob richtig
oder falsch, identifiziert wird, also von Worten. Ihre Grundidee, der besondere Augenblick, der Ort und das engagierte Publikum machten diese spezielle Ausstellung zu einer Ausnahme. Die zahlreichen New Yorker, die im Herbst mit ernsten Gesichtern in der Prince Street Schlange standen, um Here Is New York zu sehen, waren auf Bildunterschriften nicht angewiesen. Sie wußten eher schon zuviel über das, was sie sich da Gebäude für Gebäude, Straße für Straße ansahen – die Brände, der Schutt, die Angst, die Erschöpfung, der Schmerz. Aber eines Tages werden Bildunterschriften natürlich nötig sein. Und durch Fehldeutungen, falsche Erinnerungen und neue ideologische Inanspruchnahmen werden sich die Bilder verändern. Normalerweise, wenn eine Distanz zum Motiv vorhanden ist, läßt sich das, was ein Foto »sagt«, auf mehrere Weisen deuten. Und am Ende liest man in ein Foto das hinein, was es sagen soll. Lew Kuleschow, der erste Filmtheoretiker, hat in den zwanziger Jahren des . Jahrhunderts in seinem Moskauer Atelier gezeigt, was geschieht, wenn man in eine lange Einstellung, die ein vollkommen ausdrucksloses Gesicht zeigt, kurze Passagen mit völlig andersgeartetem Material montiert – einen Teller dampfender Suppe, eine Frau in einem Sarg, ein Kind, das mit einem Teddybären spielt: die Zuschauer staunen über Raffinesse und Reichtum der mimischen Möglichkeiten des Schauspielers. Bei Standfotos halten wir uns an unser Wissen über das Geschehen, dem das Bildmotiv zugehört. »Landverteilung in der Estremadura, Spanien «, das häufig repro
duzierte Foto von David Seymour (»Chim«), auf dem eine hagere Frau mit einem Baby an der Brust (aufmerksam? furchtsam?) in die Höhe blickt, erscheint vielen Betrachtern in der Erinnerung als Darstellung einer Frau, die den Himmel ängstlich nach angreifenden Flugzeugen absucht. Ihr Gesicht und die Mienen der Menschen um sie herum wirken besorgt. Die Erinnerung hat Chims Bild nach ihren eigenen Bedürfnissen verändert und ihm einen Symbolwert verliehen, der sich nicht etwa aus dem ergibt, was das Bild seiner Unterschrift zufolge darstellt (eine politische Versammlung unter freiem Himmel, vier Monate vor Ausbruch des Krieges), sondern aus dem, was sich wenig später in Spanien erst noch ereignen sollte und ungeheuer folgenreich wurde: Luftangriffe, die nur den einen Zweck hatten, Städte und Dörfer vollständig zu zerstören, und die hier erstmals in Europa als Waffe im Krieg eingesetzt wurden.* Wenig später erschienen tat*
Nichts hat sich von Francos barbarischer Kriegführung dem Gedächtnis so tief eingeprägt wie diese Luftangriffe, an die Picasso mit seinem Bild Guernica erinnert hat. Ausgeführt wurden sie hauptsächlich von einer Einheit der deutschen Luftwaffe, der Legion Condor, die Hitler zur Unterstützung Francos nach Spanien geschickt hatte. Aber diese Luftangriffe waren nicht die ersten ihrer Art. Schon während des Ersten Weltkriegs hatte es hier und da einige nicht besonders effektive Bombenangriffe gegeben; so hatten die Deutschen zunächst mit Zeppelinen, später mit Flugzeugen eine Reihe von Städten angegriffen, unter anderem London, Paris und Antwerpen. Mit sehr viel verheerenderer Wirkung hatten einige europäische Nationen ihre Kolonien bombardiert – erstmals bei einem Angriff italienischer Kampfflieger in der Nähe von Tripolis im Oktober . Soge-
sächlich Flugzeuge am Himmel, die Bomben auf landlose Bauern abwarfen, wie sie auf diesem Foto zu sehen sind. (Sehen Sie sich die stillende Mutter jetzt noch einmal an, die gerunzelte Stirn, die zusammengekniffenen Augen, den halbgeöffneten Mund. Wirkt sie immer noch ängstlich? Hat es jetzt nicht eher den nannte »Luftkontrolloperationen« waren für Großbritannien eine günstige Alternative zur kostspieligen Errichtung großer Garnisonen, um besonders aufsässige Auslandsbesitzungen unter Kontrolle zu halten. Zu diesen gehörte auch der Irak, der bei der Aufteilung des Osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg als Teil der Siegesbeute (zusammen mit Palästina) an Großbritannien fiel. Zwischen und nahm die neugegründete Royal Air Force regelmäßig irakische Dörfer unter Beschuß, häufig abgelegene Siedlungen, in denen die rebellischen Einheimischen Unterschlupf hätten finden können – wobei die Angriffe nach dem Bericht eines Oberstleutnants der RAF »kontinuierlich stattfanden, tagsüber und nachts, gegen Häuser und ihre Bewohner, Anpflanzungen und Vieh«. Was die öffentliche Meinung in den dreißiger Jahren des letz ten Jahrhunderts vor allem erschütterte, war der Umstand, daß sich die aus der Luft angerichteten Blutbäder unter Zivilisten in Spanien ereigneten. So etwas durfte hier einfach nicht geschehen. David Rieff hat darauf hingewiesen, daß eine ähnliche Haltung die öffentliche Aufmerksamkeit auch auf die Greueltaten lenkte, die die Serben in den neunziger Jahren in Bosnien verübten – angefangen bei Todeslagern wie dem von Omarska zu Beginn des Krieges bis hin zu dem Massaker von Srebrenica, wo der größte Teil der männlichen Bewohner, die nicht hatten fliehen können – mehr als achttausend Männer und Jungen –, zusammengetrieben, erschossen und in Massengräber geworfen wurden, nachdem die Stadt von dem niederländischen Bataillon der UN Schutztruppe geräumt und dem General Ratko Mladic überlassen worden war: solche Dinge darf es hier – in Europa – nicht mehr geben.
Anschein, als würde sie blinzeln, weil die Sonne sie blendet?) Für Virginia Woolf sind die Fotografien, die sie mit der Post bekommen hat, wie ein Fenster auf den Krieg: klare, unzweideutige Ansichten dessen, was sie darstellen. Es interessierte sie nicht, daß jedes Foto einen »Urheber« hatte und die Ansicht von jemandem wiedergab, obwohl sich gerade in dieser Zeit, Ende der dreißiger Jahre des . Jahrhunderts, der Beruf des Bildberichterstatters oder Fotoreporters herausbildete, der als einzelner mit der Kamera den Krieg und seine Greuel dokumentierte. Früher waren Kriegsfotos vor allem in Tages- und Wochenzeitungen erschienen. (Zeitungen druckten Fotos seit etwa ab.) Neben den im späten . Jahrhundert gegründeten populären Zeitschriften wie dem National Geographic und der Berliner Illustrirten Zeitung, die Fotos als Illustrationen verwendeten, kamen dann später die wöchentlich in hohen Auflagen erscheinenden Illustrierten auf – in Frankreich vor allem Vu (), in den Vereinigten Staaten Life () und in Großbritannien die Picture Post () –, die fast ausschließlich Bilder (mit kurzen Begleittexten) und »Bildberichte« brachten – mindestens vier oder fünf Bilder vom selben Fotografen, gefolgt von einem Artikel, der den Bildern zusätzliches Gewicht verschaffte. In der Zeitung war es umgekehrt: dort begleitete das Bild – und nur ein Bild – den Artikel. Mehr noch, in einer Zeitung war das Kriegsfoto von Worten umgeben (von dem Artikel, den es illustrierte,
und anderen Artikeln), während es sich in einer Illustrierten oft in der Nähe eines konkurrierenden Bildes befand, das für irgend etwas Reklame machte. Als Capas im Augenblick des Todes aufgenommenes Bild von dem republikanischen Soldaten am . Juli in Life erschien, nahm es dort eine ganze rechte Seite ein; ihm gegenüber, auf der linken Seite, war eine ganzseitige Anzeige für »Vitalis«, eine Pomade, plaziert – mit einem kleinen Bild von einem Mann, der sich beim Tennis verausgabt, und einem großen Bild desselben Mannes in weißer Smokingjacke, der einen Kopf mit sauber gescheiteltem, perfekt geglättetem, glänzendem Haar zur Schau trägt.* Heute wirkt diese Doppelseite – bei der jede Hälfte stillschweigend mit der Unsichtbarkeit der anderen rechnet – nicht nur grotesk, sondern seltsam altmodisch. Ein System, das darauf beruht, daß Bilder möglichst viel Raum und möglichst weite Verbreitung finden, ist auch darauf angewiesen, daß einige Berichterstatter zu Starreportern erhoben werden, die sich durch ihren Mut und ihren Einsatz bei der Beschaffung wichtiger, *
Capa hatte sein schon damals allgemein bewundertes Bild nach eigener Aussage am . September aufgenommen. erstmals veröffentlicht wurde es am . September in Vu, und zwar über einem zweiten Foto, das aus dem gleichen Blickwinkel und im gleichen Licht einen anderen republikanischen Soldaten zeigt, dem sein Gewehr aus der rechten Hand gleitet, wahrend er an der gleichen Stelle auf dem Hügel zusammenbricht; dieses zweite Foto ist nie wieder gedruckt worden. Das erste Bild erschien wenig später auch in der Tageszeitung ParisSoir.
bestürzender Bilder einen Namen gemacht haben. Eine der ersten Ausgaben der Picture Post (. Dezember ), die eine Folge von Capas Bildern aus dem Spanischen Bürgerkrieg brachte, zeigte auf ihrer Titelseite den gutaussehenden Fotografen im Profil, wie er sich gerade eine Kamera vor das Gesicht hält: »Der größte Kriegsfotograf der Welt: Robert Capa«. Die Kriegsfotografen erbten den letzten Rest von Glanz, den das Inden-Krieg-Ziehen bei den Gegnern des Krieges noch besaß – vor allem dann, wenn der betreffende Krieg zu jenen seltenen Konflikten gezählt wurde, in denen ein Mensch mit Gewissen zur Stellungnahme verpflichtet schien. (Der Krieg in Bosnien, fast sechzig Jahre später, weckte unter den Journalisten, die eine Zeitlang im belagerten Sarajevo lebten, ähnliche Regungen.) Und im Gegensatz zu dem Krieg von bis , der in den Augen vieler Sieger ein kolossaler Fehler gewesen war, betrachtete man den Zweiten »Weltkrieg« auf der Seite der Sieger einhellig als notwendig, als einen Krieg, der geführt werden mußte. Seine eigentliche Geltung erlangte der Fotojournalismus in den frühen vierziger Jahren des . Jahrhunderts – im Krieg. Der am wenigsten umstrittene Krieg der neueren Zeit, dessen Rechtmäßigkeit endgültig besiegelt wurde, als nach seinem Ende im Jahre das ganze Ausmaß der Nazi-Verbrechen offenkundig wurde, verschaffte dem Fotojournalismus eine neue Legitimität – eine Legitimität, die dem linken Dissidententum kaum noch Raum ließ, das den ernsthaften Umgang mit Fotos in der Zwischenkriegszeit geprägt
hatte, bei Friedrichs Buch Krieg dem Kriege! ebenso wie bei den frühen Bildern von Capa, dem prominentesten Vertreter einer ganzen Generation politisch engagierter Fotografen, die den Krieg und das Leiden der Opfer zum Mittelpunkt ihrer Arbeit machten. In dem Maße, wie sich die liberale Überzeugung durchsetzte, daß akute gesellschaftliche Probleme angepackt werden müßten, kam auch die Frage nach der materiellen Lage und der Unabhängigkeit der Fotografen selbst auf die Tagesordnung. So geschah es, daß Capa und einige Freunde (unter ihnen Chim und Henri CartierBresson) in Paris eine Kooperative gründeten die Fotoagentur Magnum. Der unmittelbare Zweck der Agentur Magnum, die rasch zur einflußreichsten und angesehensten Vereinigung von Fotojournalisten wurde, war ein praktischer: mutige, frei arbeitende Fotografen gegenüber den Illustrierten zu vertreten, in deren Auftrag sie unterwegs waren. Gleichzeitig formulierte die Charta von Magnum – in einem ähnlich moralischen Ton, wie er in den Gründungsurkunden anderer internationaler Organisationen und Verbände anklang, die kurz nach dem Krieg entstanden – einen umfassenden moralischen Auftrag für die Fotojournalisten: als Chronisten ihrer Zeit, ob im Krieg oder im Frieden, ohne chauvinistische Vorurteile fair und aufrichtig Zeugnis abzulegen. Mit der Stimme von Magnum erklärte sich die Fotografie zu einem globalen Projekt. Die Nationalität des einzelnen Fotografen und sein Verhältnis zur Presse seines eigenen Landes waren im Prinzip irrelevant.
Auf seine Herkunft kam es nicht an. Sein Revier war »die Welt«, und Kriege von besonderem Interesse (denn es gab viele Kriege) waren ein bevorzugtes Ziel seiner Streifzüge. Doch die Erinnerung an den Krieg ist, wie alle Erinnerung, vor allem lokal. Die Armenier, die heute mehrheitlich in der Diaspora leben, halten die Erinnerung an den Genozid wach, dessen Opfer ihr Volk wurde; die Griechen vergessen den blutigen Bürgerkrieg nicht, der in den späten vierziger Jahren des . Jahrhunderts in ihrem Land wütete. Damit jedoch ein Krieg über die unmittelbar Betroffenen hinaus internationale Aufmerksamkeit findet, muß er, verglichen mit anderen Kriegen, als Ausnahme erscheinen, muß mehr sein als ein Zusammenprall der Interessen zweier kriegführender Parteien. Die meisten Kriege erlangen diese »höhere« Bedeutung nicht. Zum Beispiel der Chacokrieg (–) – ein Gemetzel zwischen Bolivien (eine Million Einwohner) und Paraguay (dreieinhalb Millionen Einwohner), bei dem hunderttausend Soldaten den Tod fanden und über das von dem deutschen Fotojoumalisten Willi Rüge berichtet wurde, dessen großartige Nahaufnahmen von den Kämpfen heute so vergessen sind wie dieser Krieg selbst. Dem Spanischen Bürgerkrieg dagegen, den Kriegen der Serben und Kroaten gegen Bosnien und der dramatischen Zuspitzung der Auseinandersetzungen zwischen Israelis und Palästinensern seit dem Jahr – all diesen Konflikten war die Aufmerksamkeit zahlreicher Kameras sicher, weil man ihnen eine
grundsätzliche Bedeutung beimaß; dem Spanischen Bürgerkrieg deshalb, weil es hier um die Auseinandersetzung mit dem Faschismus ging und weil er (im Rückblick) als Generalprobe für den bevorstehenden europäischen oder »Welt«-Krieg erschien; dem Bosnienkrieg, weil sich hier ein kleines, eben entstandenes südosteuropäisches Land, das sich seinen multikulturellen Charakter und seine Unabhängigkeit bewahren wollte, der dominierenden Macht in der Region und ihrem neofaschistischen Programm der ethnischen Säuberung widersetzte; und dem immer noch andauernden Konflikt um den Status und die Verwaltung der sowohl von den israelischen Juden als auch von den Palästinensern beanspruchten Territorien aus einer ganzen Reihe von Gründen: wegen des guten oder auch schlechten Rufs, der dem jüdischen Volk nach wie vor anhaftet, wegen der unauslöschlichen Spuren, die die Vernichtung der europäischen Juden durch die Nazis in der Erinnerung hinterlassen hat, wegen der massiven Unterstützung, die die USA dem Staat Israel gewähren, und wegen des Vorwurfs, Israel sei ein Apartheid-Staat, der die eroberten Gebiete mit brutaler Gewalt unter seiner Kontrolle behalten wolle. Unterdessen hat es weit grausamere Kriege gegeben, bei denen Zivilisten schonungslos aus der Luft angegriffen oder am Boden niedergemetzelt wurden (der jahrzehntelange Bürgerkrieg im Sudan, die irakischen Einsätze gegen die Kurden, die Besetzung Tschetscheniens durch die Russen), die jedoch nur relativ selten im Bild festgehalten wurden.
Die denkwürdigen Schauplätze des Leidens, die in den fünfziger, sechziger und frühen siebziger Jahren des . Jahrhunderts von hochgeschätzten Fotografen dokumentiert wurden, lagen meistens in Asien und Afrika – Werner Bischofs Fotos von Hungernden in Indien, Don McCullins Bilder von Opfern des Krieges und der Hungersnot in Biafra, W. Eugene Smith᾽ Fotos von Opfern der todbringenden Vergiftung eines ganzen Fischerdorfes in Japan. Die Hungersnöte in Indien und Afrika waren keine bloßen »Naturkatastrophen«; sie waren vermeidbar; sie waren ein großes Verbrechen. Und ¦was in Minamata geschah, war ganz offenkundig ein Verbrechen: die Chisso Corporation wußte, daß sie quecksilberhaltige Abwässer in die Bucht leitete. (Nachdem Smith ein Jahr lang dort fotografiert hatte, wurde er von Schlägern der Chisso Corporation, die die Anweisung bekommen hatten, seinen fotografischen Nachforschungen ein Ende zu machen, schwer verletzt und behielt bleibende Schäden zurück.) Aber der Krieg ist das größte Verbrechen, und seit Mitte der sechziger Jahre des . Jahrhunderts haben die meisten namhaften Fotografen, die Kriege dokumentierten, ihre Aufgabe darin gesehen, das »wirkliche« Gesicht des Krieges zu zeigen. Larry Burrows᾽ Farbaufnahmen von geschundenen Vietnamesen in ihren Dörfern und verwundeten amerikanischen Wehrpflichtigen, die Life seit veröffentlichte, haben den Protest gegen die amerikanische Präsenz in Vietnam sicherlich gestärkt. ( wurde Burrows zusammen mit drei anderen Fotografen in einem Helikopter der amerikanischen Ar
mee über dem Ho-Chi-Minh Pfad in Laos abgeschossen. Und Life stellte sein Erscheinen ein – zur Bestürzung vieler, die, wie ich, mit seinen eindringlichen Bildern aus dem Krieg und aus der Welt der Kunst aufgewachsen waren.) Burrows war der erste bedeutende Fotograf, der einen ganzen Krieg in Farbe fotografierte – auch das ein Gewinn an Wirklichkeitsnähe, das heißt an Schockwirkung. In der derzeitigen politischen Stimmungslage, die dem Militär so wohlgesinnt ist wie seit Jahrzehnten nicht mehr, können Bilder von deprimiert vor sich hin starrenden GIs, die früher den Militarismus und den Imperialismus zu untergraben schienen, womöglich inspirierend wirken. Ihr revidiertes Thema: ganz normale junge Amerikaner erfüllen ihre unerfreuliche, ehrenvolle Pflicht. Außer im heutigen Europa, das für sich das Recht in Anspruch genommen hat, grundsätzlich gegen den Krieg zu optieren, gilt nach wie vor, daß die meisten Menschen die Begründungen nicht in Frage stellen, die die Regierungen ihrer Länder anführen, wenn es darum geht, einen Krieg zu beginnen oder fortzusetzen. Es müssen schon einige besondere Umstände zusammenkommen, damit ein Krieg wirklich unpopulär wird. (Die Aussicht, in diesem Krieg ums Leben zu kommen, gehört nicht unbedingt dazu.) Wenn dies geschieht, ist das Material, das die Fotografen zusammengetragen haben und mit dem sie den Konflikt vielleicht entlarven wollten, von großem Nutzen. Wo aber solcher Protest ausbleibt, läßt sich das gleiche Antikriegsfoto auch ganz anders deuten – als Darstellung
von Pathos oder als Darstellung eines bewundernswerten Heldentums in einem unvermeidlichen Kampf, der nur in Sieg oder Niederlage enden kann. Die Absichten des Fotografen bestimmen die Bedeutung des Fotos nicht, das vielmehr zwischen den Launen und Loyalitäten der verschiedenen Gruppen, die etwas mit ihm anfangen können, seinen eigenen Weg geht.
Was bedeutet es, ge-
gen Leiden zu protestieren, und worin unterscheidet sich solches Protestieren von der Anerkennung der Tatsache, daß es Leiden gibt? Die Ikonographie des Leidens hat eine lange Geschichte. Als besonders darstellenswert gelten meist jene Leiden, in denen man ein Werk göttlichen oder menschlichen Zorns erkennt. (Leiden, die sich auf natürliche Ursachen, etwa auf eine Krankheit oder die Geburt eines Kindes, zurückführen lassen, werden in der Kunst nur vereinzelt dargestellt; und Leiden aufgrund von Unfällen so gut wie gar nicht – als würde es Leiden infolge von Fahrlässigkeit oder Mißgeschick nicht geben.) Die Statuengruppe des sich windenden Laokoon und seiner Söhne, die unzähligen Darstellungen der Passion Christi in Malerei und Bildhauerei und der unerschöpfliche Bilderkatalog teuflischer Quälereien an christlichen Märtyrern – sie alle sollen gewiß berühren und erregen, belehren und Beispiel geben. der Betrachter mag für den Leidenden Mitleid empfinden – oder sich im Falle der christlichen Heiligen
ermahnt und durch ihre vorbildliche Glaubens- und Seelenstärke erbaut fühlen, aber alle diese Geschicke liegen jenseits dessen, wogegen man sich empören oder was man bekämpfen könnte. Anscheinend ist der Appetit auf Bilder, die Schmerzen leidende Leiber zeigen, fast so stark wie das Verlangen nach Bildern, auf denen nackte Leiber zu sehen sind. In der christlichen Kunst boten Höllendarstellungen jahrhundertelang eine Möglichkeit, diese beiden elementaren Bedürfnisse zu befriedigen. Gelegentlich liefern die Erwähnung einer Enthauptung in der Bibel (Holofernes, Johannes der Täufer) oder Berichte von einem Blutbad, das als reales historisches Ereignis und unerbittliches Schicksal aufgefaßt wird (die Ermordung der neugeborenen Knaben zu Bethlehem, der Martertod der elftausend Jungfrauen) einen willkommenen Vorwand. Auch die klassische Antike verfügt über einen Bestand an Grausamkeiten, deren Anblick schwer erträglich ist. In noch größerem Maße als die christlichen Geschichten haben die heidnischen Mythen für jeden Geschmack etwas zu bieten. Die Darstellung dieser Grausamkeiten ist nicht moralisch befrachtet. Es geht nur um die Provokation: Schaffst du es, hinzusehen? Es gibt die Befriedigung, ein Bild ansehen zu können, ohne zurückzuschaudern. Es gibt das Vergnügen des Zurückschauderns. Über Goltzius᾽ Kupferstich Der Drache verschlingt die Gefährten des Kadmus () zu erschauern, auf dem einem Mann das Gesicht vom Kopf abgebissen wird, ist etwas ganz anderes, als angesichts eines Fotos
von einem Veteranen aus dem Ersten Weltkrieg zu erschauern, dem das Gesicht weggeschossen wurde. Der eine Schrecken ist in einem komplexen Bildthema verankert – Gestalten in einer Landschaft –, das den genauen Blick und die geschickte Hand des Künstlers offenbart. Der andere besteht in dem aus nächster Nähe gemachten Kamerabild der unsäglich schrecklichen Verstümmelung eines wirklichen Menschen und sonst nichts. Ein erfundener Schrecken kann durchaus überwältigen. (Mir zum Beispiel fällt es schwer, Tizians großartiges Bild von der Schindung des Marsyas oder auch andere Bilder mit dem gleichen Thema anzusehen.) Aber in die Erschütterung beim Betrachten der Nahaufnahme eines wirklichen Schreckens mischt sich Beschämung. Vielleicht haben nur jene Menschen das Recht, Bilder eines so extremen Leidens zu betrachten, die für seine Linderung etwas tun könnten – etwa die Chirurgen des Militärhospitals, in dem die Aufnahme gemacht wurde, oder Menschen, die aus ihr etwas lernen könnten. Wir anderen sind, ob wir wollen oder nicht, Voyeure. In jedem Fall lädt uns das Grauenhafte ein, entweder Zuschauer zu sein oder Feiglinge, die nicht hinsehen können. Jene, die es verkraften, hinzusehen, spielen eine Rolle, der von zahlreichen bedeutenden Leidensdarstellungen ihr eigenes Recht zugebilligt wird. Martern, ein kanonisches Thema der Kunst, werden in der Malerei oft als Spektakel dargestellt, bei dem andere Leute zuschauen (oder wegschauen). Die unausgesprochene Botschaft lautet: Nein, ändern läßt sich daran
nichts – und die Vermischung von unaufmerksamen und aufmerksamen Zuschauern unterstreicht dies. Die Darstellung grauenhaften Leidens als einer Gegebenheit, gegen die man sich empören und die man, wenn möglich, abschaffen sollte, tritt in der Geschichte der Bilder zusammen mit einem bestimmten Thema in Erscheinung: den Leiden, die eine Zivilbevölkerung unter einer siegreichen, marodierenden Armee zu erdulden hat. Dieses ganz und gar weltliche Thema taucht im . Jahrhundert auf, als die Machtverschiebungen dieser Zeit auch zum Stoff für Künstler werden. brachte Jacques Callot unter dem Titel Les Misères et les Malheurs de la Guerre (Elend und Unglück des Krieges) eine Serie von achtzehn Radierungen heraus, auf denen er die Greueltaten schilderte, die französische Soldaten Anfang der dreißiger Jahre des . Jahrhunderts bei der Besetzung seiner lothringischen Heimat an der Zivilbevölkerung verübt hatten. (Sechs kleinere Radierungen zum gleichen Thema, die Callot vor der großen Serie anfertigte, erschienen , im Jahr nach seinem Tod.) Diese Blätter zeigen weite, in die Tiefe reichende Ansichten. Es sind große, figurenreiche Szenen eines historischen Geschehens, und jede Bildunterschrift liefert in Versen einen sentenziösen Kommentar zu den Kräften und Verhängnissen, die auf den Bildern dargestellt werden. Callot beginnt mit einem Blatt, das die Rekrutierung von Soldaten zeigt; dann rückt er wildes Gefecht, Massaker, Plünderung, Vergewaltigung, diverse Folter- und Hinrichtungsverfahren (Wippgalgen, Galgenbaum, Er
schießung, Scheiterhaufen, Rad) und die Rache der Bauern an den Soldaten ins Bild; und schließt mit einer Verteilung der Belohnung. Wie er dabei Blatt für Blatt auf der Barbarei einer siegreichen Armee insistiert, ist erstaunlich und ohne Beispiel. Doch die französischen Soldaten sind in dieser Gewaltorgie nur die größten, nicht die einzigen Übeltäter. In Callots christlich-humanistischer Wahrnehmung ist nicht nur Platz für ein Klagelied auf das Ende des selbständigen Herzogtums Lothringen, er hält auch das Nachkriegselend der Soldaten im Bild fest, wie sie, an der Straße hockend, um Almosen betteln. Callot hatte Nachfolger, etwa Hans Ulrich Franck, einen weniger bekannten deutschen Künstler, der , gegen Ende des Dreißigjährigen Krieges, eine Serie von Radierungen begann, die dann (bis ) auf fünfundzwanzig Blätter anwuchs – lauter Darstellungen von Soldaten, die Bauern umbringen. Doch niemand hat sich mit solcher Intensität auf die Schrecken des Krieges und die Bösartigkeit einer entfesselten Soldateska eingelassen wie Goya zu Beginn des . Jahrhunderts. Los Desastres de la Guerra (Die Schrecken des Krieges), eine Folge von numerierten, zwischen und entstandenen Radierungen (die, bis auf drei Blätter, erstmals veröffentlicht wurden, fünfunddreißig Jahre nach Goyas Tod), schildern die Greueltaten der Soldaten Napoleons, die in Spanien eindrangen, um den Aufstand gegen die französische Herrschaft niederzuschlagen. Goyas Bilder führen den Betrachter dicht an den Schrecken heran. Alles Bei
werk ist weggelassen: die Landschaft ist nur Atmosphäre, Dunkelheit, kaum angedeutet. Der Krieg ist kein Spektakel. Und Goyas Radierfolge erzählt keine Geschichte: jedes Blatt, versehen mit einer kurzen Bildunterschrift, die die Bösartigkeit der Eindringlinge und die Ungeheuerlichkeit der von ihnen verursachten Leiden beklagt, steht für sich. Die Gesamtwirkung ist niederschmetternd. Die Grausamkeiten in Los Desastres de la Guerra sollen den Betrachter aufrütteln, schockieren, sie sollen ihm weh tun. Goyas Kunst scheint, wie die Dostojewskis, einen Wendepunkt in der Geschichte des moralischen Empfindens und des Kummers zu markieren – genauso tief, genauso neuartig, genauso fordernd. Mit Goya tritt innerhalb der Kunst ein neues Maß an Empfänglichkeit für Leiden in Erscheinung. (Und neue Motive, die sich an das Mitgefühl wenden: etwa das Gemälde, auf dem ein verletzter Arbeiter von einer Baustelle getragen wird.) Die Darstellung von Kriegsgreueln wird als Attacke auf die Sensibilität des Betrachters vorgetragen. Die expressiven Formulierungen in Schreibschrift unter jedem Bild kommentieren die Provokation auf ihre Weise. Während das Bild, wie jedes Bild, eine Aufforderung zum Hinsehen ist, betont die Bildunterschrift immer wieder, wie schwierig es ist, ebendies zu tun. Eine Stimme, vermutlich die des Künstlers, läßt dem Betrachter keine Ruhe: Kannst du diesen Anblick ertragen? Eine Bildunterschrift lautet: Man kann gar nicht hinsehen (No se puede mirar). Eine andere verkündet: Das ist schlimm (Esto es malo). Eine
andere erwidert: Das ist schlimmer (Esto espeor). Wieder eine andere ruft: Das ist das Schlimmste! (¡Esto es lo peor!) Eine verkündet: Barbaren! (¡Barbaros!) Welcher Wahnsinn! (¡Que locuraf ) ruft eine andere. Und noch eine andere: Das ist zuviel! (¡Fuerte cosa es!) Und wieder eine andere: Warum? (¿Por qué?) Die Bildunterschrift zu einem Foto ist meist neutral und informativ: Datum, Ortsangabe, Namen. Ein Erkundungsfoto aus dem Ersten Weltkrieg (dem ersten Krieg, in dem Kameras in größerem Umfang zur militärischen Aufklärung verwendet wurden) hätte man kaum mit der Bildunterschrift versehen: »Man kann es kaum erwarten, diese Stellung zu überrennen« – und genauso unwahrscheinlich wäre eine Röntgenaufnahme von einem Splitterbruch mit der Bemerkung: »Dieser Patient wird wohl später hinken!« Es wäre auch nicht nötig, mit der Stimme des Fotografen über das Foto zu sprechen und seine Wahrheit zu beteuern, wie es Goya in Los Desastres de la Guerra tut, wenn er einem Blatt die Unterschrift beigibt: Ich habe das gesehen (Yo lo ví). Und einem anderen: Das ist die Wahrheit (Esto es lo verdadero). Selbstverständlich hat der Fotograf es gesehen. Und sofern an seinem Bild nichts verfälscht oder gefälscht wurde, ist es die Wahrheit. Im Englischen wird ein deutlicher Unterschied gemacht zwischen Zeichnungen und Gemälden, die »gemacht«, und Fotos, die »aufgenommen« werden. Aber das fotografische Bild, auch wo es tatsächlich eine Spur ist (und kein Konstrukt aus verschiedenen fotografischen Spuren), kann doch kein einfaches Abbild,
kein »Durchschlag« von etwas Geschehenem sein. Es ist immer ein Bild, das jemand gewählt hat; Fotografieren heißt einen Ausschnitt wählen, und einen Ausschnitt wählen heißt Ausschließen. Im übrigen sind Bilder auch schon lange vor dem Zeitalter der Digitalfotografie und der »Photoshop«-Effekte manipuliert worden: Fotos konnten den Betrachter schon immer täuschen. Ein Gemälde oder eine Zeichnung gilt als Fälschung, wenn sich herausstellt, daß sie nicht von dem Künstler stammt, dem sie zugeschrieben wurde. Ein Foto – oder ein gefilmtes Dokument im Fernsehen oder im Internet – gilt als Fälschung, wenn sich herausstellt, daß es den Betrachter in bezug auf das, was es angeblich darstellt, täuscht. Daß sich die von den französischen Soldaten in Spanien verübten Greuel nicht exakt so abspielten, wie Goya sie dargestellt hat – daß also dieses Opfer nicht genauso aussah wie auf der Radierung, daß jene Szene sich nicht neben einem Baum ereignete –, nimmt den Desastres de la Guerra nichts von ihrem Wert. Goyas Bilder bilden eine Synthese. Ihr Anspruch lautet: solche Dinge sind geschehen. Im Gegensatz dazu erhebt ein einzelnes Foto oder eine Filmaufnahme den Anspruch, genau das wiederzugeben, was sich vor dem Objektiv der Kamera abgespielt hat. Von Fotos erwartet man, daß sie zeigen, nicht andeuten. Deshalb können sie auch, im Unterschied zu Bildern, die mit der Hand »gemacht« wurden, als Beweise dienen. Aber als Beweise für was? Daß Capas Foto »Tod eines republikanischen Soldaten«, das in der maßgeblichen Ausgabe seines
Gesamtwerks unter dem Titel »Der fallende Soldat« erscheint, womöglich nicht zeigt, was es angeblich zeigen soll (eine der Hypothesen lautet, es sei bei einer Militärübung in der Nähe der Front entstanden) – dieser Verdacht geistert nach wie vor durch viele Gespräche über die Kriegsfotografie. Wo es um Fotos geht, wird jeder zum Buchstabengläubigen.
Angesichts der weiten Verbreitung, die Bilder von Kriegsleiden heute finden, vergißt man leicht, daß solche Bilder erst seit relativ kurzer Zeit von bekannten Fotografen erwartet werden. In der Vergangenheit haben sie meistens positive Bilder vom Soldatenleben und den Freuden des Kriegshandwerks geliefert. Sofern es nach den Regierungen ging, hat die Kriegsfotografie, genau wie der größte Teil der Kriegspoesie, vor allem für die Unterstützung des aufopferungsvollen Tuns der Soldaten geworben. Tatsächlich beginnt die Kriegsfotografie mit einer solchen Mission – und einer solchen Schande. Es ging um den Krimkrieg, und Roger Fonton, den man später immer wieder als ersten Kriegsfotografen bezeichnet hat, war nichts Geringeres als der »offizielle« Fotograf dieses Krieges, nachdem ihn die britische Regierung auf Betreiben von Prinz Albert Anfang auf die Krim geschickt hatte. Sie hatte erkannt, daß den beunruhigenden Zeitungsberichten über die unerwarteten Gefahren und Entbehrungen, denen die im Jahr zuvor entsandten britischen Soldaten ausgesetzt waren, et
was entgegengestellt werden mußte, und hatte deshalb einen bekannten Berufsfotografen aufgefordert, andere, positivere Eindrücke von diesem immer unpopulärer werdenden Krieg zu vermitteln. In seinen unter dem Titel Vater und Sohn erschienenen Erinnerungen an eine englische Kindheit um die Mitte des . Jahrhunderts beschreibt Edmund Gosse, wie der Krimkrieg bis in die Abgeschiedenheit seines streng religiösen, vom Sektengeist der evangelischen »Plymouth-Brüder« geprägten Elternhauses vordrang: Die Kriegserklärung an Rußland brachte zum erstenmal einen Luftzug von Außenwelt in unser kalvinistisches Kloster. Meine Eltern abonnierten eine Tageszeitung, was sie nie zuvor getan hatten, und Geschehnisse an pittoresken Orten, die mein Vater und ich auf der Landkarte ausfindig machten, wurden eifrig erörtert. Der Krieg lieferte die faszinierendsten – und pittoreskesten – Nachrichten, und das tut er (neben dem internationalen Sport, diesem unschätzbaren Kriegsersatz) noch heute. Der Krimkrieg jedoch lieferte nicht einfach nur Nachrichten – er lieferte schlechte Nachrichten. Die maßgebliche und übrigens bilderlose Londoner Zeitung, der Gosses Eltern schließlich nicht hatten widerstehen können, die Times, attackierte die militärische Führung, die mit ihrer Unfähigkeit dafür verantwortlich war, daß sich der Krieg unter riesigen
britischen Verlusten so sehr in die Länge zog. Die Opfer aufgrund nicht mit den Kampfhandlungen zusammenhängender Ursachen, die dieser Krieg unter den Soldaten forderte, waren ungeheuerlich – zweiundzwanzigtausend starben an Krankheiten; Tausende verloren bei der Belagerung von Sewastopol während des langen russischen Winters durch Erfrierungen Arme und Beine, Hände und Füße – und eine Reihe von Gefechten nahm einen katastrophalen Ausgang. Es herrschte noch Winter, als Fenton zu einem viermonatigen Aufenthalt auf der Krim eintraf, nachdem er zuvor vertraglich vereinbart hatte, die Fotos nach seiner Rückkehr (in Form von Holzstichen) in einer weniger ehrwürdigen, weniger kritischen Wochenzeitung, den Illustrated London News, zu veröffentlichen und sie außerdem in einer Galerie auszustellen und als Buch zu vermarkten. Das Kriegsministerium hatte ihn angewiesen, Tote, Verstümmelte oder Kranke nicht zu fotografieren, und bei den meisten anderen in Frage kommenden Motiven hinderte ihn seine sperrige Apparatur am Fotografieren. So kam es, daß sich der Krieg auf Fentons Aufnahmen wie ein Gruppenausflug von lauter würdigen Männern ausnimmt. Da für jede einzelne Aufnahme zunächst eine Platte in der Dunkelkammer chemisch vorbereitet werden mußte und die Belichtungszeit fünfzehn Sekunden betrug, konnte Fenton nicht einmal britische Offiziere, die im Freien miteinander plauderten, oder einfache Soldaten beim Reinigen ihrer Kanonen fotografieren, ohne sie vorher zu bitten,
für ihn zu posieren, seine Anweisungen zu befolgen und stillzuhalten. Seine Bilder sind Genreszenen aus der Etappe; der Krieg – Bewegung, Unordnung, Dramatik – bleibt der Kamera unzugänglich. Ein einziges Foto, das Fenton auf der Krim machte, geht über dieses betuliche Abschildern hinaus. Sein Titel, »Das Tal des Todesschattens«, beschwört die Tröstungen des biblischen Psalmisten ebenso wie die militärische Katastrophe des voraufgegangenen Oktobers, als auf der Ebene oberhalb von Balaklava sechshundert britische Soldaten in einen Hinterhalt gerieten. In seinem Gedicht »Der Angriff der Leichten Brigade« nannte Tennyson diesen Ort das »Tal des Todes«. Fentons Foto ist ein Porträt der Abwesenheit, des Todes ohne die Toten. Es ist unter all seinen Bildern das einzige, das keiner Inszenierung bedurft hätte, denn es zeigt nur eine breite, von Wagenspuren zerfurchte, mit Steinbrocken und Kanonenkugeln übersäte Straße, die sich durch eine sanft gewellte Ödnis in die leere Ferne windet. Eine kühnere Folge von nach dem Kampf aufgenommenen Bildern des Todes und der Zerstörung, die nicht von erlittenen Verlusten, sondern von der drakonischen Anwendung britischer Militärgewalt zeugen, stammt von einem anderen Fotografen, der ebenfalls den Kriegsschauplatz auf der Krim besucht hatte. Felice Beato, ein in Venedig geborener naturalisierter Engländer, war der erste Fotograf, der an mehreren Kriegen teilnahm: nachdem er sich auf die Krim begeben hatte, wurde er / Zeuge des Sepoy-Aufstandes (den die Briten als »indische Meuterei« be
zeichneten), erlebte den Zweiten Opiumkrieg in China und schließlich die Kolonialkriege im Sudan mit. Drei Jahre nachdem Fenton seine harmlosen Bilder von einem für England äußerst ungünstig verlaufenen Krieg aufgenommen hatte, feierte Beato den brutalen Sieg der britischen Armee über eine Meuterei von einheimischen Soldaten, die unter ihrem Kommando gestanden hatten – die erste große Herausforderung der britischen Vorherrschaft über Indien. Auf dem schauerlichen Foto, das Beato in Lucknow aufgenommen hat, ist der Hof des von britischen Kanonen zerstörten Sikandarbagh-Palastes übersät mit den Gebeinen der Aufständischen. Den ersten Versuch, einen Krieg ausführlich mit der Kamera zu dokumentieren, unternahm wenige Jahre später im amerikanischen Bürgerkrieg eine Gruppe von Fotografen aus dem Norden. Sie arbeiteten für das Studio von Mathew Brady, der mehrere offizielle Porträts von Präsident Lincoln aufgenommen hatte. Die Brady-Bilder – zum größten Teil aufgenommen von Alexander Gardner und Timothy O᾽Sullivan, obwohl sie immer wieder ihrem Arbeitgeber zugeschrieben wurden – zeigten auch konventionelle Motive wie Feldlager, in denen es von Offizieren und Infanteristen wimmelte, Städte, die der Krieg heimgesucht hatte, Artilleriegeschütze und Schiffe, doch das größte Aufsehen erregten die Bilder von toten Soldaten der Nordund der Südstaaten auf den von Kugeln zerwühlten Schlachtfeldern von Gettysburg und Antietam. Den Zutritt zum Kampfgebiet bekamen Brady und sein
Team zwar nur aufgrund einer Sondergenehmigung von Lincoln selbst, aber sie arbeiteten nicht, wie Fenton, in öffentlichem Auftrag, sondern, wie es der amerikanischen Haltung eher entsprach, als selbständige Fotografen und freie Unternehmer. Die erste Rechtfertigung für die drastischen Bilder, die tote Soldaten zeigten und damit offenkundig ein Tabu verletzten, war einfach die Pflicht des Berichterstatters. »Die Kamera ist das Auge der Geschichte«, soll Brady gesagt haben. Und die Berufung auf die Geschichte als letzte Instanz von Wahrheit verband sich mit der Idee, bestimmte Themen und Motive verdienten eine vermehrte Aufmerksamkeit – eine Vorstellung, die unter dem Stichwort »Realismus« immer mehr Ansehen gewann und unter den Romanschriftstellern bald mehr Befürworter fand als unter den Fotografen.* Im Namen des Realismus war es gestattet, *
Der ernüchternde Realismus der Fotografien von gefallenen Soldaten auf dem Schlachtfeld begegnet uns auch in dem Roman The Red Badge of Courage (Das rote Tapferkeitsabzeichen), der ganz aus der verstörten, erschrockenen Perspektive eines jungen Marines geschrieben ist, der sehr wohl selbst einer dieser Toten hätte sein können. Stephen Cranes stark visueller, von einer einzigen Stimme getragener Antikriegsroman, der , dreißig Jahre nach dem Ende des Krieges, erschien (Crane wurde geboren), ist emotional und mit seiner vereinfachenden Perspektive weit entfernt von der Vielschichtigkeit, mit der Walt Whitman als Zeitgenosse das »rote Geschäft« des Krieges behandelt. In Drum-Taps (Trommelschläge), einem Gedichtzyklus, den Whitman veröffentlichte und später in Leaves of Grass (Grashalme) aufnahm, kommen zahlreiche Stimmen zu Wort. Whitman empfand zwar keine Begeisterung für diesen Krieg,
ja geradezu geboten, unliebsame, harte Tatsachen zu zeigen. Solche Bilder vermittelten außerdem »eine nützliche Moral«, indem sie »den nackten Schrecken und die Wirklichkeit des Krieges statt seines Schaugepränges« zeigten, schrieb Gardner in einem Begleittext zu O᾽Sullivans Bild von gefallenen Soldaten der Südstaaten mit qualverzerrten, dem Betrachter zugewandten Gesichtern, das in den von ihm und anderen Brady-Fotografen nach dem Krieg herausgegebenen Bildband aufgenommen wurde. (Gardner gab seine Stelle bei Brady auf.) »Hier sieht man die grauenhaften Einzelheiten! Mögen sie dazu beitragen, daß nie wieder solches Unheil über die Nation kommt.« Aber die Direktheit der denkwürdigsten Bilder in Gardner›s Photographic Sketch Book of the War () bedeutete nicht etwa, daß er und seine Kollegen ihre Motive immer so fotografiert hätten, wie sie sie vorfanden. Fotografieren bedeutete Komponieren (bei lebenden Personen: Posieren), und der Wunsch, Bildelemente zu arrangieren, erlahmte auch dort nicht, wo das Motiv unbeweglich war oder sich nicht mehr regen konnte. Eigentlich kann es nicht überraschen, daß viele kanonische Bilder der frühen Kriegsfotografie inszeniert sind oder daß an dem, was sie abbilden, oft Veränderungen vorgenommen wurden. Nachdem Fenton mit den er als großen Brudermord ansah, und war tief bekümmert über die Leiden auf beiden Seiten, dennoch war er für das Drama und die heroische Musik dieses Krieges durchaus empfänglich. Sein Ohr sorgte dafür, daß er soldatisch gesinnt blieb, wenn auch auf seine großzügige, komplexe, liebevolle Weise.
seiner in einem Pferdewagen untergebrachten Dunkelkammer das Tal in der Nähe von Sewastopol erreicht hatte, das Monate vorher unter so heftigen Beschuß geraten war, machte er von der gleichen Stativposition zwei Aufnahmen: auf der ersten Version des berühmten Fotos, dem er dann den Titel »Das Tal des Todesschattens« gab (obwohl die Leichte Brigade nicht an dieser Stelle zu ihrem verhängnisvollen Sturm angesetzt hatte), liegen die Kanonenkugeln in einem Graben links neben der Straße dicht beieinander; doch bevor er das zweite Bild machte – das seither fast immer reproduziert wird –, sorgte Fenton dafür, daß die Kanonenkugeln auf der Straße verteilt lagen. Für eine der ersten fotografischen Darstellungen des Grauens im Kriege, Felice Beatos Bild des verwüsteten Sikandarbagh-Palastes, in dem tatsächlich sehr viele Menschen ums Leben gekommen waren, wurde das Bildmotiv sehr viel stärker verändert. Der Angriff hatte im November stattgefunden, und nachher hatten die siegreichen britischen Soldaten und loyale indische Einheiten den Palast Zimmer für Zimmer durchkämmt, hatten die achtzehnhundert noch lebenden Sepoy-Verteidiger, die jetzt ihre Gefangenen waren, mit Bajonetten niedergemacht und ihre Leichen in den Hof geworfen; Geier und Hunde besorgten das übrige. Für das Foto, das er im März oder April aufnahm, inszenierte Beato die Ruine als Schädelstätte, ließ ein paar Eingeborene an den Säulen im Hintergrund posieren und verteilte auf dem ganzen Hof Menschenknochen.
Immerhin waren es ältere Knochen. Heute weiß man, daß das Team von Mathew Brady in Gettysburg die Leichen einiger soeben gefallener Soldaten umgebettet und umgruppiert hat: das Bild mit dem Titel »Unterstand eines Scharfschützen der Rebellen, Gettysburg« zeigt in Wirklichkeit einen toten Soldaten der Konföderierten, den man von dort, wo er auf dem Schlachtfeld gefallen war, an einen aus Sicht des Fotografen interessanteren Platz geschafft hatte: in eine Nische aus zwei Felsblöcken, zwischen denen eine Barrikade aus Steinbrocken errichtet war. Auf dem Bild ist auch ein Requisit zu sehen – ein Gewehr, das Gardner neben der Leiche an die Barrikade lehnte. (Wahrscheinlich handelt es sich dabei nicht um eine Spezialwaffe, wie sie ein Scharfschütze verwendet hätte, sondern um ein gewöhnliches Infanteriegewehr; Gardner wußte dies nicht, oder es war ihm gleichgültig.) Es ist eigentlich nicht verwunderlich, daß so viele eindringliche Reportagefotos der Vergangenheit, unter ihnen auch einige der Bilder aus dem Zweiten Weltkrieg, die sich der Erinnerung besonders tief eingeprägt haben, offenbar gestellt waren. Merkwürdig ist vielmehr, daß wir, wenn wir davon erfahren, überrascht und immer enttäuscht sind. Besonders heftig ist unsere Bestürzung, wenn sich Fotos als arrangiert erweisen, die intime Höhepunkte festzuhalten zu scheinen, vor allem solche der Liebe und des Todes. Entscheidend an dem Bild »Tod eines republikanischen Soldaten« ist, daß es einen wirklichen, zufällig festgehaltenen Augenblick wiedergibt; es ver
löre jeglichen Wert, wenn sich herausstellen würde, daß der fallende Soldat vor Capas Kamera nur posiert hat. Robert Doisneau hat nie ausdrücklich behauptet, das Foto für Life, das er von zwei jungen Leuten gemacht hat, die sich auf einem Gehsteig in der Nähe des Pariser Hôtel de Ville küssen, sei ein Schnappschuß gewesen. Trotzdem hat die Enthüllung, daß es sich um eine arrangierte Aufnahme handelte und daß hier ein Mann und eine Frau eigens angestellt worden waren, einen Tag lang für Doisneau zu knutschen, selbst mehr als vierzig Jahre nachher noch für heftige Verstimmung bei vielen gesorgt, denen dieses Bild als eine Vision der romantischen Liebe und des romantischen Paris lieb und teuer war. Wir wünschen uns, daß sich der Fotograf im Haus der Liebe oder des Todes wie ein Spion bewegt und daß diejenigen, die er fotografiert, von der Kamera nichts ahnen, daß sie nicht auf der Hut sind. Kein noch so ausgeprägtes Bewußtsein davon, was Fotografie ist oder sein kann, wird jemals der Faszination etwas anhaben können, mit der uns ein Bild erfüllt, das ein wachsamer Fotograf im richtigen Augenblick von einem unerwarteten Geschehen festhält. Wenn wir als authentisch nur solche Fotos gelten lassen, die zustande gekommen sind, weil der Fotograf mit schußbereiter Kamera im richtigen Augenblick zur Stelle war, dann würden die meisten fotografischen Darstellungen von Siegen ausscheiden. Nehmen wir das Aufrichten einer Flagge auf irgendeiner Anhöhe, während ringsum die Schlacht langsam abflaut. Das berühmte Foto von der Aufrichtung der amerikani
sehen Fahne am . Februar auf Iwo Jima erweist sich als eine »Rekonstruktion«, bei der ein Fotograf von Associated Press, Joe Rosenthal, die Flaggenaufrichtung am Morgen unmittelbar nach der Einnahme des Mount Suribachi im Laufe des Tages mit einer größeren Fahne noch einmal wiederholen ließ. Die Geschichte hinter dem nicht weniger symbolträchtigen Siegesfoto, das der sowjetische Kriegsfotograf Jewgenij Chaldei am . Mai von russischen Soldaten gemacht hat, die auf dem Reichstag, hoch über dem noch brennenden Berlin, die rote Fahne hissen, handelt davon, daß diese Heldentat überhaupt nur für die Kamera vollbracht wurde. Bei einem oft gedruckten Foto, das während der deutschen Luftangriffe auf London gemacht wurde, liegt der Fall komplizierter, weil der Fotograf und damit auch die Umstände, unter denen dieses Bild entstand, unbekannt sind. Durch eine fehlende Wand der völlig verwüsteten und ihres Daches beraubten Bibliothek des Holland House zeigt es drei Herren inmitten der Trümmer, die jeder für sich vor zwei wunderbarerweise fast unversehrten Regalwänden voller Bücher stehen. Einer der drei läßt seinen Blick über die Bücher gleiten; der zweite hat einen Finger in den Rücken eines Buches gehakt und will es gerade aus dem Regal ziehen; der dritte hält ein Buch in der Hand und liest. Bei diesem sorgfältig komponierten Tableau muß ein Regisseur seine Hand im Spiel gehabt haben. Es macht aber Spaß, sich vorzustellen, daß dieses Bild vielleicht doch keine bloße Erfindung eines Fotografen ist, der nach einem Luftangriff durch
Kensington streifte, inmitten der klaffenden Ruinen des jakobitischen Hauses die verwüstete Bibliothek entdeckte und dann die drei Männer herbeiholte, um sie die Rolle der unerschütterlichen Bücherwürmer spielen zu lassen, sondern daß diese drei Herren in dem zerstörten Haus tatsächlich ihrer Bücherleidenschaft frönten und der Fotograf sie nur etwas anders plaziert hat, um ein prägnanteres Bild zu erzielen. So oder so bleibt diesem Foto sein zeitbedingter Reiz und die Authentizität erhalten, mit der es die inzwischen verblaßte britische Tugend der durch nichts zu erschütternden Seelenruhe zum Ausdruck bringt. Viele arrangierte Fotos verwandeln sich im Laufe der Zeit wieder in historische Zeugnisse zurück, auch wenn sie dabei – wie die meisten historischen Zeugnisse – an Reinheit verlieren. Erst seit dem Vietnamkrieg kann man einigermaßen sicher sein, daß keines der besonders bekannt gewordenen Fotos gestellt war. Für die moralische Autorität dieser Bilder ist dies von entscheidender Bedeutung. Das Foto von Huynh Cong Ut aus dem Jahre , das zum Inbegriff der Schrecken des Vietnamkrieges geworden ist – Kinder aus einem soeben mit amerikanischem Napalm angegriffenen Dorf, die schreiend vor Schmerz eine Straße entlanglaufen –, gehört zu jener Art von Aufnahmen, die sich unmöglich stellen lassen. Das gleiche gilt für die bekannten Bilder aus den meisten Kriegen, die seither fotografiert wurden. Daß es seit dem Vietnamkrieg nur so wenige gestellte Kriegsfotos gegeben hat, läßt darauf schließen, daß von den Foto
grafen heute ein höheres Maß an journalistischer Redlichkeit erwartet wird als früher. Zum Teil erklärt sich dies vielleicht auch daraus, daß in Vietnam das Fernsehen erstmals zum maßgeblichen Medium für die Übermittlung von Kriegsbildern wurde und daß der unerschrockene einsame Fotograf, der mit seiner Leica oder seiner Nikon früher die meiste Zeit allein unterwegs gewesen war, nun mit ganzen Kamerateams zu konkurrieren und ihre Nähe zu ertragen hatte: heute ist Kriegsberichterstattung nur noch selten ein einsames Wagnis. Technisch gesehen, sind die Möglichkeiten zur Verfälschung und elektronischen Manipulation von Bildern heute größer denn je – fast unbegrenzt. Aber dramatische Reportagefotos zu erfinden und vor der Kamera zu inszenieren ist inzwischen anscheinend eine aussterbende Kunst.
Einen gerade eintre-
tenden Tod festhalten und für alle Zeit bewahren – das können nur Kameras. Und Bilder aus dem Feld, die den Augenblick des Todes (oder den Moment unmittelbar davor) zeigen, gehören zu den berühmtesten und besonders häufig reproduzierten Kriegsfotos. Es besteht kein Zweifel an der Authentizität dessen, was sich auf dem Bild ereignet, das Eddie Adams im Februar aufgenommen hat: der Chef der südvietnamesischen Polizei, Brigadegeneral Nguyen Ngoc Loan, erschießt auf einer Straße in Saigon einen der Zugehörigkeit zum Vietcong verdächtigten Mann. Und doch ist dieses Foto gestellt – von General Loan selbst. Er führte den Gefangenen, dem die Hände hinter dem Rücken gefesselt waren, auf die Straße, wo sich einige Journalisten versammelt hatten; er hätte ihn dort nicht kurzerhand exekutiert, wenn die Journalisten nicht anwesend gewesen wären und zugeschaut hätten. Loan stand neben seinem Gefangenen, so daß sein eigenes Profil und das Gesicht des Gefangenen für die Kameras hinter ihm sichtbar waren, während er aus kürze
ster Entfernung schoß. Adams᾽ Bild zeigt den Augenblick, in dem die Kugel soeben abgefeuert worden ist; der tote Mann mit dem verzerrten Gesicht hat noch nicht zu fallen begonnen. Was indessen den Betrachter, was diese spezielle Betrachterin angeht – nun, auch nach all den Jahren, seit dieses Bild gemacht wurde, kann man die Gesichter darauf lange ansehen und vermag doch das Rätselhafte – und Anstößige – solcher Komplizenschaft beim Zuschauen nicht zu ergründen. Noch bestürzender ist es, wenn man Gelegenheit bekommt, Menschen zu betrachten, die wissen, daß sie zum Sterben verurteilt sind: etwa die Sammlung von sechstausend Fotos, die zwischen und in einem geheimen Gefängnis in einer ehemaligen Schule in Tuol Sleng, einem Vorort von Phnom Penh, aufgenommen wurden. Hier sind unter dem Vorwurf, sie seien »Intellektuelle« oder »Konterrevolutionäre«, mehr als vierzehntausend Kambodschaner ermordet worden und die Dokumentation dieser Greuel verdanken wir den Archivaren der Roten Khmer, die jedes ihrer Opfer, kurz bevor sie es hinrichteten, vor einer Kamera Platz nehmen ließen.* Eine Auswahl dieser Bilder in einem Buch mit dem Titel The Killing Fields macht es möglich, den Blick dieser in die Kamera – also auf uns – *
Politische Gefangene und angebliche Konterrevolutionäre kurz vor ihrer Hinrichtung zu fotografieren war in den dreißiger und vierziger Jahren des . Jahrhunderts auch in der Sowjetunion üblich, wie sich in jüngster Zeit bei der Durchforschung von NKWD-Akten in baltischen und ukrainischen Archiven sowie im Zentralarchiv der Lubjanka in Moskau gezeigt hat.
starrenden Gesichter Jahrzehnte später zu erwidern. Der Soldat der Spanischen Republik ist soeben gestorben, wenn wir dem glauben dürfen, was in bezug auf das Bild behauptet wird, das Robert Capa aus einiger Entfernung aufgenommen hat: wir sehen darauf nicht mehr als eine verwischte Gestalt, Körper und Kopf, und eine Kraft, die den Mann im Fallen nach hinten schleudert. Die kambodschanischen Frauen und Männer aller Altersgruppen, auch viele Kinder, die aus geringem Abstand meist in Halbfigur fotografiert wurden, sehen – wie Marsyas auf Tizians Bild »Die Schindung des Marsyas«, wo das Messer Apolls auf ewig im Begriff ist, niederzufahren – für immer ihrem Tod entgegen, für immer stehen sie kurz vor ihrer Ermordung, und für immer geschieht ihnen Unrecht. Der Betrachter befindet sich ihnen gegenüber in der gleichen Position wie der Henkersknecht hinter der Kamera – eine grauenvolle Erfahrung. Der Name dieses Gefängnisfotografen ist bekannt – Nhem Ein –, ihn kann man nennen. Diejenigen, die er fotografiert hat, mit ihren wie betäubt wirkenden Mienen, ihren ausgemergelten Oberkörpern, das Schildchen mit der Gefangenennummer am Hemd, bleiben Masse: anonyme Opfer. Und selbst wenn man sie mit ihren Namen benannt hätte, wären sie »uns« doch wahrscheinlich unbekannt. Virginia Woolfs Bemerkung, auf einem der Fotos, die man ihr geschickt hatte, sei die Leiche eines Mannes oder einer Frau so verstümmelt, daß sie auch der Körper eines toten Schweines sein könnte, will
deutlich machen: Krieg ist so mörderisch, daß er auch das zerstört, was Menschen als einzelne oder überhaupt als Menschen erkennbar macht. So sieht der Krieg natürlich nur für jemanden aus, der ihn aus der Ferne, als Bild sieht. Opfer, trauernde Verwandte, Nachrichtenkonsumenten – sie alle haben ihre spezifische Nähe oder Distanz zum Krieg. Die unverhohlensten Darstellungen aus dem Krieg oder von Katastrophenopfern gelten Leuten, die besonders fremdartig wirken und daher mit der größten Wahrscheinlichkeit unbekannt sind. Wenn uns die abgebildeten Menschen näher sind, wird vom Fotografen mehr Diskretion erwartet. Als die Fotografien von Gardner und O᾽Sullivan im Oktober , einen Monat nach der Schlacht von Antietam, in Bradys Galerie in Manhattan ausgestellt wurden, schrieb die New York Times: Den Lebenden, die sich auf dem Broadway drängen, mögen die Toten von Antietam ziemlich gleichgültig sein, aber wir glauben, sie würden nicht so sorglos und nicht ganz so munter diese belebte Straße entlangschlendern, wenn man dort direkt vom Schlachtfeld einige bluttriefende Leichen niedergelegt hätte. Da gäbe es ein eifriges Röckeraffen und vorsichtiges Herumstaksen … Auch wenn der Journalist hier das alte Klagelied anstimmt, daß diejenigen, die vom Krieg verschont bleiben, auf die Leiden außerhalb ihres Gesichtskreises
nur stumpf und gleichgültig reagieren, bleiben seine Gefühle gegenüber der Unmittelbarkeit des fotografischen Bildes doch zwiespältig. Selbst in unseren Träumen suchen uns die Toten des Schlachtfeldes nur sehr selten heim. Wir sehen die Liste der Gefallenen beim Frühstück in der Morgenzeitung und verbannen sie mit dem Kaffee aus unseren Gedanken. Mr. Brady jedoch hat etwas getan, womit er uns die furchtbare Wirklichkeit und den Ernst des Krieges vor Augen führt. Zwar hat er keine Leichen mitgebracht und sie in unsere Vorgärten und auf unsere Straßen gelegt, aber er hat etwas ganz Ähnliches getan … Diese Bilder sind von einer erschreckenden Deutlichkeit. Mit Hilfe eines Vergrößerungsglases kann man die Gesichtszüge der Erschlagenen genau erkennen. Wir würden wohl kaum in der Galerie zugegen sein wollen, wenn eine der Frauen, die sich über die Bilder beugen, in den starren, leblosen Umrissen der Körper, die vor den klaffenden Schützengräben liegen, womöglich den Gatten, den Sohn oder den Bruder erkennt. In die Bewunderung mischt sich Mißbilligung wegen des Schmerzes, den die Bilder den weiblichen Angehörigen der Toten bereiten könnten. Die Kamera bringt den Betrachter oder die Betrachterin nah heran – zu nah; nimmt er oder sie ein Vergrößerungsglas zur Hand – denn hier geht es um die doppelte Wirkung zweier Linsen –, so liefert die »erschreckende Deut
lichkeit« der Bilder überflüssige, anstößige Informationen. Aber während der Journalist der Times den unerträglichen Realismus des Bildes tadelt, kann er selbst doch dem melodramatischen Effekt bloßer Wörter (»bluttriefende Leichen« – »klaffende Schützengräben«) nicht widerstehen. Im Zeitalter der Kameras soll die Wirklichkeit neuen Anforderungen genügen. Es kann sein, daß das Wirkliche nicht erschreckend genug ist und daher noch betont werden muß; oder es muß nachgestellt werden, damit es überzeugender wirkt. So zeigt der erste jemals von einer Schlacht gedrehte Wochenschaufilm nicht die wirkliche Erstürmung der Höhen von San Juan auf Kuba – eine bekannte Episode aus dem SpanischAmerikanischen Krieg von –, sondern einen Sturmangriff, den Oberst Theodore Roosevelt und seine Kavallerie-Einheit, die Rough Riders, kurz nach den eigentlichen Ereignissen für die Vitagraph-Kameraleute nachstellten, weil man zu der Auffassung gelangt war, dem wirklichen Angriff, der ebenfalls gefilmt worden war, habe es an Dramatik gefehlt. Unter Umständen sind die Bilder auch allzu schrecklich und müssen mit Rücksicht auf Anstand oder Patriotismus unterdrückt werden – etwa Bilder, die eigene Tote ohne die gebotene Teilverhüllung zeigen. Schließlich ist die Zurschaustellung der Toten etwas, das der Feind tut. Im Burenkrieg (–) glaubten die Buren nach ihrem Sieg bei Spion Kop im Januar , die Verbreitung eines grauenvollen Fotos, auf dem tote britische Soldaten zu sehen waren, könnte die Moral der eige
nen Truppe weiter festigen. Es wurde zehn Tage nach der Schlacht, in der die Briten dreizehnhundert Soldaten verloren hatten, von einem unbekannten Fotografen der Buren aufgenommen und zeigt einen langen, nicht sehr tiefen Schützengraben voller Leichen. Besonders aggressiv wirkt dieses Bild durch das Fehlen aller landschaftlichen Umgebung. Das Durcheinander der Leichen im Graben füllt die gesamte Bildfläche. Die britische Empörung über diese neueste Schandtat der Buren war groß, auch wenn sie nur in steifen Worten zum Ausdruck kam: derartige Bilder zu veröffentlichen, so erklärte der Amateur Photographer, »dient keinem nützlichen Zweck und appelliert allein an das Morbide im Menschen«. Zensur hat es immer gegeben, aber lange Zeit erfolgte sie nur sporadisch, blieb dem Gutdünken von Generälen und Staatschefs überlassen. Erstmals wurde die Fotoberichterstattung von der Front im Ersten Weltkrieg systematisch reguliert; sowohl das deutsche wie das französische Oberkommando ließen nur wenige ausgewählte Militärfotografen in die Nähe der Kampfzone. (Die Zensur des britischen Generalstabs war etwas flexibler.) Aber es dauerte weitere fünfzig Jahre und bedurfte des Nachlassens der Zensuranstrengungen während des ersten, kontinuierlich durch das Fernsehen vermittelten Krieges, bis erkennbar wurde, wie schockierende Fotos auf die Öffentlichkeit in der Heimat wirken können. In der Vietnam-Ära war Kriegsfotografie fast immer zugleich auch Kritik am Krieg. Das mußte Konsequenzen haben: den Main
stream-Medien geht es nicht darum, bei den Leuten Unbehagen an jenen Kämpfen zu wecken, auf die sie eingestimmt werden sollen, und Propaganda gegen den Krieg wollen sie erst recht nicht verbreiten. Seither hat die Zensur – sowohl die weitestgehende, die Selbstzensur, als auch die vom Militär verhängte Zensur – zahlreiche einflußreiche Befürworter gefunden. Zu Beginn des Falklandkrieges im April ließ die Regierung Margaret Thatchers nur zwei Fotojournalisten zu – unter denen, die abgelehnt wurden, war auch der bedeutende Kriegsfotograf Don McCullin –, und vor der Rückeroberung der Inseln im Mai gelangten nur drei Sendungen mit Filmmaterial nach London. Seit dem Krimkrieg hatte es keine so weitgehende Einschränkung der Berichterstattung über eine britische Militäroperation mehr gegeben. Den zuständigen amerikanischen Behörden fiel es schwerer, eine ähnlich strenge Kontrolle bei ihren eigenen Auslandsabenteuern zu gewährleisten. Das amerikanische Militär verlegte sich im Golfkrieg von auf die Verbreitung von Bildern aus dem Technokrieg: der Himmel über den Sterbenden, erfüllt von den Leuchtspuren der Raketen und Granaten – Bilder, die die absolute militärische Überlegenheit Amerikas gegenüber dem Feind veranschaulichten. Was die amerikanischen Fernsehzuschauer nicht zu sehen bekamen, waren von NBC beschaffte (und dann nicht ausgestrahlte) Aufnahmen, die zeigten, was diese Überlegenheit anrichten konnte: das Schicksal Tausender irakischer Wehrpflichtiger, die gegen Ende des Kriegs, am . Februar , aus Ku
wait City flohen und auf ihrem Weg nach Norden, in Konvois oder zu Fuß, auf der Straße nach Basra mit Sprengbomben, Napalm, radioaktiver DU-Munition (depleted uranium – abgereichertes Uran) und Streubomben belegt wurden – ein Massaker, das einer der amerikanischen Offiziere damals als »Truthahn-Schießen« bezeichnete. Auch zu den meisten amerikanischen Operationen Ende in Afghanistan hatten Pressefotografen keinen Zugang. Die Regeln für den nichtmilitärischen Einsatz von Kameras an der Front sind sehr viel strenger geworden, seit die Kriegführung selbst sich zum Aufspüren des Feindes auf immer präzisere optische Instrumente stützt. Ernst Jünger, dieser bemerkenswerte Ästhet des Krieges, stellte schon fest, daß es Krieg ohne Fotografie nicht mehr gibt, und lieferte damit eine neue Version der fast unwiderstehlichen Gleichsetzung von Kamera und Gewehr, von »Bilder-Schießen« und »Menschen-Schießen«, von »Schnappschuß« und »Fangschuß«. Kriegführen und Fotografieren sind kongruente Betätigungen: »Es ist derselbe Verstand, der den Gegner über große Entfernungen hinweg auf die Sekunde und auf den Meter genau mit seinen Vernichtungswaffen zu treffen weiß, und der das große geschichtliche Ereignis in seinen feinsten Einzelheiten zu bewahren sich bemüht.«* *
Ernst Jünger, »Krieg und Lichtbild«, in: ders. (Hrsg.), Das Antlitz des Weltkrieges. Fronterlebnisse deutscher Soldaten, Berlin: Neuenfels & Henius , S. . – Im Jahre , dreizehn Jahre vor der Zerstörung von Guernica, beschrieb Arthur Harris,
Die von Amerika heute bevorzugte Kriegführung hat sich aus diesem Modell entwickelt. Das Fernsehen, dessen Zugang zum Schauplatz durch staatliche Kontrolle und Selbstzensur beschränkt ist, serviert den Krieg in Gestalt von Bildern. Aber auch der Krieg selbst wird soweit wie möglich aus der Distanz geführt durch Bombenangriffe, deren Ziele dank der neuen Technologien zur blitzschnellen Informations- und Bildverarbeitung auf einem anderen Erdteil ausgewählt werden können: Die täglichen Bomberoperationen in Afghanistan Ende und Anfang wurden vom amerikanischen Central Command in Tampa, Florida, gesteuert. Das Ziel besteht darin, dem Feind hinreichend schmerzhafte Verluste zuzufügen und gleichzeitig seine Möglichkeiten zu minimieren, den eigenen Kräften überhaupt Verluste zuzufügen; amerikanische und verbündete Soldaten, die bei Fahrdamals noch ein junger Staffelführer im Irak, während des Zweiten Weltkriegs dann Chef des Bomberkommandos der Royal Air Force, die Lufteinsätze, mit denen die aufständischen Bewohner dieser neuerworbenen britischen Kolonie vernichtet wurden, und blieb auch die fotografischen Beweise für den Erfolg seiner Mission nicht schuldig: »Der Araber und der Kurde wissen jetzt, welche Verluste an Menschen und welche Schäden mit wirklichen Bombenangriffen verbunden sind; sie wissen jetzt, daß es möglich ist, binnen fünfundvierzig Minuten ein großes Dorf (siehe die beigelegten Fotos von Kushan-Al-Ajaza) praktisch auszuradieren und ein Drittel seiner Bevölkerung zu töten – und dies mit vier oder fünf Maschinen, die ihnen kein wirkliches Ziel und keine Gelegenheit bieten, ihren Kriegsruhm zu vermehren, und denen sie praktisch auch nicht entkommen können.«
zeugunfällen oder durch Beschüß aus den eigenen Reihen, sogenanntes »friendly fire«, umkommen, zählen und zählen zugleich auch nicht. Auch in der Ära des ferngelenkten Krieges gegen die unzähligen Feinde der amerikanischen Macht werden noch Regeln darüber aufgestellt, was die Öffentlichkeit sehen darf und was nicht. Tag für Tag treffen die Nachrichtenredakteure von Fernsehsendern und die Bildredakteure von Zeitungen und Zeitschriften Entscheidungen, aus denen sich ein schwankender Konsensus über die Grenzen des öffentlichen Wissens ergibt. Oft kleiden diese Leute ihre Entscheidungen in Urteile über den »guten Geschmack« – ein Maßstab, der dort, wo sich Institutionen auf ihn berufen, immer repressiv ist. Die »Grenzen des guten Geschmacks« lieferten auch die wichtigste Begründung dafür, die grausigen Bilder der Toten nicht zu zeigen, die unmittelbar nach dem Angriff vom . September an der Stelle, wo das World Trade Center gestanden hatte, aufgenommen wurden. Die Massenpresse ist beim Abdruck von schauerlichen Bildern im allgemeinen weniger zaghaft als die seriöseren Zeitungen; tatsächlich brachte eine Abendausgabe der in New York erscheinenden Daily News kurz nach dem Angriff das Bild einer abgetrennten Hand im Trümmerschutt des World Trade Center; anscheinend ist es nirgendwo sonst erschienen. Die Fernsehnachrichten, die sich an ein sehr viel größeres Publikum richten und daher auch sensibler auf den Druck von Werbekunden reagieren, arbeiten unter noch strengeren, größtenteils selbstauferlegten
Beschränkungen im Hinblick auf das, was sich »schicklicherweise« senden läßt und was nicht. Dieses neue Beharren auf »gutem Geschmack« in einer Kultur, die ansonsten überreich ist an kommerziellen Tendenzen, die auf eine Absenkung der Maßstäbe zielen, mag auf den ersten Blick verwundern. Es wird jedoch verständlich, wenn man sich vor Augen führt, wie auf diese Weise ein ganzes Knäuel nicht benennbarer Besorgnisse und Ängste in bezug auf die öffentliche Ordnung und die öffentliche Moral im unklaren belassen wird, und wenn man bedenkt, wie wenig wir imstande sind, auf herkömmliche Weise zu trauern oder neue Formen des Trauerns zu finden. Was gezeigt werden kann und was nicht gezeigt werden darf– es gibt wenige Fragen, die in der Öffentlichkeit heftiger umstritten sind als diese. Das zweite Argument, mit dem die Unterdrückung von Bildern oft gerechtfertigt wird, verweist auf die Rechte der Angehörigen. Als ein Bostoner Nachrichtenmagazin ein in Pakistan hergestelltes Propagandavideo für kurze Zeit im Internet publizierte, in dem das »Geständnis« (daß er Jude sei) und der anschließende Ritualmord an dem entführten amerikanischen Journalisten Daniel Pearl in Karatschi Anfang gezeigt wurde, entbrannte eine heftige Debatte über den Konflikt zwischen dem Recht von Pearls Witwe, daß ihr weiteres Leid erspart bleibe, dem Recht der Zeitschrift, alles zu veröffentlichen, was ihr geeignet erschien, und dem Recht der Öffentlichkeit auf Information. Das Video wurde wenig später aus dem Netz genommen. Interessanterweise sahen beide Seiten in
den dreieinhalb Minuten Horror nur einen Snuff-Film. Niemand, der nur die Debatte verfolgte, wäre auf den Gedanken gekommen, daß das Video auch andere Aufnahmen enthielt, eine Montage stereotyper Anschuldigungen (z. B. Bilder von Ariel Scharon und George W. Bush im Weißen Haus, von palästinensischen Kindern, die bei israelischen Angriffen getötet wurden), daß es eine politische Botschaft transportieren sollte und mit allerlei finsteren Drohungen und einer Liste konkreter Forderungen endete – lauter Aspekte also, die darauf hindeuten, daß es sinnvoll sein könnte, sich auf dieses Video (sofern man es denn erträgt) einzulassen, um nachher desto besser für eine Auseinandersetzung mit der spezifischen Bösartigkeit und Unversöhnlichkeit jener Kräfte, die Pearl ermordet haben, gerüstet zu sein. Leichter ist es allerdings, sich den Feind einfach als Wilden vorzustellen, der mordet und den Kopf seines Opfers dann hochhält, damit alle ihn sehen. In bezug auf unsere eigenen Toten bestand schon immer ein strenges Verbot, sie mit unverhülltem Gesicht zu zeigen. Die Aufnahmen von Gardner und O᾽Sullivan wirken noch heute so schockierend, weil sie Soldaten sowohl der Nord- als auch der Südstaaten zeigen, die auf dem Rücken liegen und deren Gesichter bisweilen deutlich erkennbar sind. Amerikanische Gefallene wurden dann während vieler Kriege in allgemein zugänglichen Veröffentlichungen überhaupt nicht mehr gezeigt – bis die Zeitschrift Life im September dieses Tabu brach und ein von der Militärzensur zunächst zurückgehaltenes Bild von George Strock
brachte, das drei bei der Landung auf Neuguinea gefallene Soldaten an einem Strand zeigt. (Es wird zwar immer wieder gesagt, »Tote GIs am Buna Beach« zeige drei Soldaten, die mit dem Gesicht nach unten im nassen Sand liegen, doch einer der drei liegt auf dem Rücken, sein Kopf ist allerdings aufgrund des flachen Winkels, aus dem das Bild aufgenommen wurde, verdeckt.) Bis zur Landung in der Normandie – am . Juni – erschienen dann noch weitere Fotos von anonymen amerikanischen Gefallenen in mehreren Zeitschriften, aber immer lagen diese Toten auf dem Bauch, oder ihr Gesicht war abgewandt oder verhüllt. Anderen diese Würde zu lassen hielt man nicht für nötig. Je weiter entfernt oder exotischer der Schauplatz, desto größer die Wahrscheinlichkeit, daß wir die Toten und Sterbenden unverhüllt und von vorn zu sehen bekommen. So besteht das postkoloniale Afrika im öffentlichen Bewußtsein der reichen Länder – wenn man von seiner Musik einmal absieht – hauptsächlich aus einer Abfolge unvergeßlicher Fotos von Opfern mit weit aufgerissenen Augen – angefangen bei den Hungergestalten im Biafra der späten sechziger Jahre bis zu den Überlebenden des Völkermords an fast einer Million ruandischer Tutsis im Jahre und den Kindern und Erwachsenen, denen im Zuge des Massenterrors der aufständischen Truppen der RUF in Sierra Leone einige Jahre später die Gliedmaßen abgehackt wurden. (In neuerer Zeit zeigen die Fotos ganze Familien armer Dorfbewohner, die an Aids zugrunde gehen.) Von all diesen Bildern geht eine doppelte Botschaft aus.
Sie zeigen ein Leiden, das empörend und ungerecht ist und gegen das etwas unternommen werden sollte. Und sie bekräftigen, daß solche Dinge in dieser Weltgegend eben geschehen. Die Allgegenwart dieser Fotos und dieser Schrecken nährt wie von selbst die Überzeugung, solche Tragödien seien in den rückständigen – das heißt, armen – Teilen der Welt eben unvermeidlich. Vergleichbare Greuel und vergleichbares Unheil hat es jedoch auch in Europa gegeben; vor nur sechzig Jahren haben sich in Europa Greuel ereignet, deren Ausmaße und deren Grauenhaftigkeit alles übertreffen, was man uns heute aus den armen Gegenden dieser Welt zeigen könnte. Inzwischen scheint sich allerdings der Schrecken aus Europa zurückgezogen zu haben zumindest so weit, daß der Eindruck entsteht, der gegenwärtige friedliche Zustand sei selbstverständlich. (Daß fünfzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg auf europäischem Boden wieder Todeslager errichtet wurden, daß Städte belagert und Zivilisten zu Tausenden abgeschlachtet und in Massengräber geworfen wurden, verschaffte dem Krieg in Bosnien und der Mordkampagne der Serben im Kosovo ihr spezifisches, anachronistisches Interesse. Aber viele, die sich einen Reim auf die während der neunziger Jahre des . Jahrhunderts in Südosteuropa verübten Kriegsverbrechen zu machen versuchten, nahmen Zuflucht bei der These, der Balkan habe schließlich nie wirklich zu Europa gehört.) In der Regel stammen die grausam verstümmelten Körper, die in Gestalt von Fotos veröffentlicht werden, aus Asien oder Afrika. Diese journalistische
Gepflogenheit steht in der Tradition der jahrhundertealten Praxis, exotische – also kolonisierte – Menschen auszustellen: Afrikaner und die Bewohner fernöstlicher Länder wurden vom . bis zum frühen . Jahrhundert in London, Paris und anderen europäischen Hauptstädten in ethnologischen Ausstellungen wie Zootiere vorgeführt. Als der Spaßmacher Trinculo in Shakespeares Sturm dem Caliban begegnet, ist sein erster Gedanke, daß man ihn in England ausstellen könnte: »Jeder Pfingstnarr gäbe mir dort ein Stück Silber … jedes fremde Tier macht dort seinen Mann; wenn sie keinen Deut geben wollen, einem lahmen Bettler zu helfen, so wenden sie zehn dran, einen toten Indianer zu sehn.« In der fotografischen Vorführung von Grausamkeiten, die Menschen mit dunklerer Hautfarbe in exotischen Ländern zugefügt wurden, setzt sich diese seltsame Spendenpraxis fort und schert sich nicht um die Erwägungen, die uns von einer ähnlichen Zurschaustellung unserer eigenen Gewaltopfer abhalten; denn der andere, selbst wenn er kein Feind ist, gilt uns nur als jemand, den man sehen kann, nicht als jemand, der (wie wir) selbst sieht. Doch auch der verwundete, um sein Leben flehende Taliban-Kämpfer, dessen Schicksal die New York Times an prominenter Stelle abbildete, hatte eine Frau, hatte Kinder, Eltern, Schwestern und Brüder, die eines Tages vielleicht auf die drei Farbfotos stoßen werden, auf denen ihr Gatte, ihr Vater, ihr Sohn, ihr Bruder zerfleischt wird – wenn sie sie nicht schon längst gesehen haben.
Zentral für unser Welt-
verständnis und unser ethisches Empfinden ist heute die Überzeugung, daß der Krieg ein Irrweg sei, wenn auch ein unvermeidlicher. Daß der Frieden die Norm sei, wenn auch eine unerreichbare. So hat man den Krieg im Laufe der Geschichte natürlich nicht immer gesehen. Früher war der Krieg die Regel und der Frieden die Ausnahme. Genaue Beschreibungen davon, wie Körper im Kampf verletzt und getötet werden, bilden innerhalb der Geschichten der Ilias immer wieder einen Höhepunkt. Der Krieg wird als etwas gesehen, was Männer, einer tief verwurzelten Gewohnheit folgend, betreiben, ohne sich von dem Ausmaß der dabei verursachten Leiden abschrecken zu lassen; und zur Darstellung des Krieges in Worten oder Bildern bedarf es einer entschiedenen, unerschütterlichen Distanz. In seiner Anleitung zur Herstellung von Schlachtengemälden betont Leonardo da Vinci, Künstler müßten den Mut und die Vorstellungskraft aufbringen, den Krieg in seiner ganzen Abscheulichkeit zu zeigen:
Stelle die Besiegten und Geschlagenen bleich dar, mit hochgezogenen oder zusammengezogenen Augenbrauen, die Haut über den Brauen von Schmerz zerfurcht … die Münder offen, als stießen sie Klageschreie aus … Stelle die Toten teilweise oder ganz mit Staub bedeckt dar … und mache das Blut durch seine Farbe sichtbar, wie es sich als Rinnsal aus der Leiche in den Staub schlängelt. Zeige andere im Todeskampf mit knirschenden Zähnen, rollenden Augen, die Fäuste gegen den Körper gepreßt und mit verdrehten Beinen. Sorge bereitet hier die Vorstellung, die entstehenden Bilder könnten nicht aufwühlend genug ausfallen: nicht konkret, nicht detailliert genug. Aus Mitleid kann ein moralisches Urteil erwachsen, sofern uns Mitleid als jene Gefühlsregung erscheint, die wir, wie Aristoteles behauptet, nur denen schulden, die unverdientes Unglück erleiden. Doch Mitleid ist in den Dramen katastrophalen Unheils keineswegs der natürliche Gefährte der Angst, sondern wird, so scheint es, durch die Angst verwässert, abgelenkt, wenn nicht die Angst (die Furcht, der Schrecken) das Mitleid sogar unter sich begräbt. Leonardo redet hier dem buchstäblich mitleidlosen Blick des Künstlers das Wort. Das Bild soll entsetzen, und in dieser terribilità liegt eine provozierende Schönheit. Daß eine blutrünstige Schlachtszene schön sein kann – so wie das Erhabene, das Ehrfurchterregende, das Tragische schön sein können –, ist im Hinblick auf
Kriegsdarstellungen von Künstlerhand ein Gemeinplatz. Mit Kamerabildern verträgt sich diese Vorstellung jedoch schlecht: an Kriegsfotos Schönheit zu entdecken wirkt gefühllos. Und doch ist die verwüstete Landschaft immer noch eine Landschaft. Auch Ruinen haben ihre Schönheit. In den Fotos der Ruinen des World Trade Center die Schönheit wahrzunehmen, schien in den Monaten nach dem Angriff frivol oder wie ein Sakrileg. Allenfalls getraute man sich zu sagen, die Fotos seien »surreal« – aber auch hinter diesem eilfertigen Euphemismus verbirgt sich natürlich nichts anderes als die in Ungnade gefallene Idee der Schönheit. Und die Fotos waren tatsächlich schön, jedenfalls viele von ihnen – die von erfahrenen Fotografen stammten, von Gilles Peress, Susan Meiselas, Joel Meyerowitz und anderen. Der Ort selbst, das Massengrab, dem man den Namen »Ground Zero« gegeben hatte, war natürlich alles andere als schön. Aber Fotografien neigen dazu, was immer sie abbilden umzuformen; und etwas kann als Bild schön oder erschreckend oder unerträglich oder sehr wohl erträglich sein, was im wirklichen Leben alles dies nicht ist. Kunst tut ebendies: sie formt um – aber Fotografie, die von Katastrophen und anderen Übeln Bericht erstattet, wird oft kritisiert, wenn sie »ästhetisch«, das heißt, zu sehr wie Kunst wirkt. Das Doppelpotential der Fotografie – daß sie imstande ist, Dokumente hervorzubringen und Bildkunstwerke zu schaffen – hat Anlaß zu einigen erstaunlichen Übertreibungen hinsichtlich dessen gegeben, was Fotografen tun oder las
sen sollen. Die Übertreibung, die uns in letzter Zeit am häufigsten begegnet, besteht darin, die beiden Potentiale der Fotografie als gegensätzliche Kräfte zu betrachten. Fotografien, die Leiden darstellen, sollen nicht schön sein, so wie Bildlegenden nicht moralisieren sollen. Ein schönes Fotos entzieht nach dieser Auffassung dem bedrückenden Bildgegenstand Aufmerksamkeit und lenkt sie auf das Medium selbst, wodurch der dokumentarische Wert des Bildes beeinträchtigt wird. Von einem solchen Foto gehen unterschiedliche Signale aus. Es fordert: Schluß damit. Aber es ruft auch: Was für ein Anblick! * Nehmen wir eines der eindringlichsten Bilder aus dem Ersten Weltkrieg: englische Soldaten, die durch Giftgas ihr Augenlicht verloren haben, schlurfen hintereinander – jeder die linke Hand auf der Schulter des Vordermannes – zu einem Verbandsplatz. Das Bild könnte aus einem der erschütternden Filme stammen, die über den Krieg gedreht wurden – King Vidors The *
Die Fotos, die im April und Mai von anonymen Berichterstattern und Militärfotografen in Bergen-Belsen, Buchenwald und Dachau aufgenommen wurden, scheinen mehr Gültigkeit zu besitzen als die »besseren« Bilder, die zwei gefeierte Berufsfotografinnen, Margaret Bourke-White und Lee Miller, damals gemacht haben. Aber die Kritik am professionellen Aussehen von Kriegsfotos ist nicht neu. Schon Walker Evans zum Beispiel verabscheute die Arbeiten von Bourke-White. Aber Evans, der die in Armut lebende amerikanische Landbevölkerung für ein Buch mit dem ironischen Titel Let Us Now Praise Famous Men fotografierte, hätte auch niemals irgendeine Berühmtheit fotografiert.
Big Parade () oder G.W. Pabsts Westfront , Lewis Milestones All Quiet on the Western Front oder Howard Hawks᾽ The Dawn Patrol (alle ). Daß ein Kriegsfoto nicht nur als Anregung zur Rekonstruktion einer Schlachtenszene in einem großen Kriegsfilm dienen, sondern im nachhinein selbst wie eine rekonstruierte Szene aus einem solchen Film wirken kann, hat wiederum Rückwirkungen auf die Arbeit der Fotografen. Die vielgelobte Nachschöpfung der Landung am Omaha Beach in der Normandie in Steven Spielbergs Film Saving Private Ryan () bezog ihre Authentizität unter anderem daraus, daß sie sich auf die Fotos stützte, die Robert Capa mit ungeheurem Mut während der Landung gemacht hatte. Aber ein Kriegsfoto, an dem nichts gestellt ist, wirkt dennoch unauthentisch, wenn es wie ein Standbild aus einem Film aussieht. Der Fotograf Sebastião Salgado, der sich auf das Elend dieser Welt (zu dem für ihn auch die Auswirkungen des Krieges gehören) spezialisiert hat, war das Hauptangriffsziel in dem neuen Feldzug gegen die Inauthentizität des Schönen. Vor allem im Zusammenhang mit seinem auf sieben Jahre angelegten Projekt »Migrationen: Menschheit im Übergang« hat man Salgado immer wieder seine spektakulären, schön komponierten großen Bilder zum Vorwurf gemacht, die nun als »filmisch« bezeichnet werden. Die frömmelnde »Family of Man«-Rhetorik, die Salgados Ausstellungen und seine Bücher umgibt, hat sich, so unfair das sein mag, zum Nachteil der Bilder ausgewirkt. (In dem, was manche bewundernswerten
»Gewissensfotografen« über sich und ihre Arbeit verlauten lassen, besteht an Unsinn, den man tunlichst übersieht, kein Mangel.) Salgados Bilder sind auch deshalb oft mißgünstig aufgenommen worden, weil seine Elendsporträts meistens in einem stark kommerzialisierten Umfeld zu sehen sind. Aber das Problem ergibt sich nicht daraus, wie und wo sie ausgestellt werden, sondern aus den Bildern selbst: daraus, wie sie sich auf die Machtlosigkeit der Ohnmächtigen konzentrieren. Bezeichnend ist, daß diesen Ohnmächtigen in den Bildunterschriften keine Namen gegeben werden. Ein Porträt, das es ablehnt, die abgebildete Person zu benennen, macht sich, wenn auch vielleicht unabsichtlich, zum Komplizen eines Prominentenkults, der ein unersättliches Verlangen nach Fotos der entgegengesetzten Art schürt: wer nur den Berühmten ihre Namen läßt, degradiert alle anderen zu Fallbeispielen für ihren Beruf, ihre ethnische Zugehörigkeit, ihre Notlage. Die Migrationsbilder, die Salgado in neununddreißig Ländern aufgenommen hat, fassen unter dieser einen Überschrift eine Vielzahl unterschiedlicher Nöte und deren Ursachen zusammen. Fotos, die das Leiden durch Globalisierung überhöhen, mögen manchen Betrachter anspornen, sich mehr zu »kümmern«. Sie können ihn aber auch auf den Gedanken bringen, Elend und Leiden in der Welt seien so verbreitet, so unabänderlich, so dramatisch, daß sich durch gezielte politische Eingriffe an einzelnen Orten nicht viel ändern läßt. Wo ein Thema aus dieser Perspektive betrachtet wird, muß das Mitgefühl ins Schwimmen kommen
und sich ins Abstrakte verflüchtigen. Politik und Geschichte sind jedoch immer konkret. (Allerdings wird niemand, der über die Geschichte gründlicher nachdenkt, die Politik noch ganz ernst nehmen können.) Zu einer Zeit, als ungestellte Schnappschüsse noch etwas Besonderes waren, glaubte man, Betrachter ließen sich einfach dadurch zu tieferen Gefühlen anregen, daß man ihnen vorführte, was nach Aufmerksamkeit verlangte, daß man ihnen die schmerzliche Realität nahebrachte. In einer Welt, in der die Fotografie vor allem zu konsumistischen Manipulationen dient, kann man sich der Wirkung keines noch so bedrückenden Fotos mehr sicher sein. Fotografen und Theoretiker der Fotografie mit einem Gespür für ethische Fragen haben sich deshalb in zunehmendem Maße mit der Frage der Ausbeutung von Gefühlen (Bedauern, Mitgefühl, Empörung) in der Kriegsfotografie und mit der Problematik der routinemäßigen Auslösung von Gefühlsreaktionen beschäftigt. Manche Fotoberichterstatter halten es für moralisch korrekter, das Spektakuläre unspektakulär zu machen. Aber das Spektakuläre ist ein wesentliches Element der religiösen Erzählungen, in denen sich das Abendland über weite Strecken seiner Geschichte mit dem Leiden auseinandergesetzt hat. Wenn man in Fotos aus Kriegs- oder Katastrophenzeiten gelegentlich den Pulsschlag der christlichen Ikonographie zu spüren glaubt, so ist das keine sentimentale Projektion. In W. Eugene Smith᾽ Bild einer Mutter aus Minamata, die ihre blind, t aub und mit Mißbildungen zur Welt gekommene Toch
ter auf dem Schoß hält, sind die Anklänge an eine Pietà ebensowenig zu übersehen wie das Bildschema der Kreuzesabnahme auf manchen Bildern, die Don McCullin von sterbenden amerikanischen Soldaten in Vietnam gemacht hat. Aber solche Wahrnehmungen, die die Aura und die Schönheit der Bilder steigern, werden sich möglicherweise bald verlieren. Die deutsche Historikerin Barbara Duden berichtet über ein Seminar zur Geschichte der Darstellung des Körpers, das sie vor einigen Jahren an einer großen amerikanischen Universität abhielt, von den zwanzig teilnehmenden Studenten habe kein einziger das Thema der kanonischen Geißelungsbilder benennen können, die ihnen als Dias gezeigt wurden. (»Ich glaube, es ist ein religiöses Bild«, getraute sich einer zu sagen.) Es gab nur eine Szene aus dem Leben Jesu, die die meisten Studenten zu bestimmen vermochten: die Kreuzigung.
Fotos objektivieren: sie machen aus einem Geschehen oder einer Person etwas, das man besitzen kann. Und obwohl Fotos immer wieder für ihre klare Wiedergabe von Wirklichkeit gepriesen werden, eignen sie sich zu allerlei alchimistischen Prozeduren. Oft sieht etwas auf einem Foto »besser« aus als in der Wirklichkeit, oder man hat das Gefühl, es sehe »besser« aus. Tatsächlich gehört es zu den Aufgaben der Fotografie, das gewöhnliche Aussehen der Dinge zu verschönern. (Deshalb ist man von einem Foto, das nicht schmeichelhaft wirkt, immer enttäuscht.) Das Verschö
nern gehört zu den klassischen Kameraoperationen und rückt eine moralische Reaktion auf das Gezeigte in den Hintergrund. Verhäßlichen, etwas möglichst unvorteilhaft darstellen, ist eine modernere, didaktische Funktion: sie will zur aktiven Auseinandersetzung auffordern. Wenn Fotos anklagen und womöglich Verhalten ändern sollen, müssen sie schockieren. Ein Beispiel: In Kanada, wo jährlich schätzungsweise fünfundvierzigtausend Menschen an den Folgen des Rauchens sterben, beschloß die Gesundheitsbehörde vor einigen Jahren, den auf jeder Zigarettenpackung stehenden warnenden Hinweis durch ein Schockfoto zu ergänzen – eine von Krebs befallene Lunge, ein mit Blutgerinnseln übersätes Gehirn nach einem Schlaganfall, ein geschädigtes Herz, ein blutiger Mund mit akuter Parodontose. Irgendwie war eine Studie zu dem Ergebnis gekommen, daß eine Packung, auf der die Warnung vor den Folgen des Rauchens durch ein solches Bild ergänzt würde, mit einer im Vergleich zu herkömmlichen Packungen sechzigmal höheren Wahrscheinlichkeit Raucher zum Aufgeben des Rauchens bewegen werde. Nehmen wir an, dies treffe zu. Dann kann man sich immer noch fragen: Für wie lange? Hat der Schock ein Verfallsdatum? Zur Zeit prallen die kanadischen Raucher angewidert zurück, wenn sie diese Bilder sehen. Aber werden sich diejenigen, die in fünf Jahren immer noch rauchen, ebenfalls getroffen fühlen? An Schocks kann man sich gewöhnen. Ihre Wirkung kann sich abnützen. Und selbst wenn dies nicht geschieht, kann
man immer noch nicht hinsehen. Es gibt Mittel und Wege, wie Menschen das, was sie erschüttern könnte, abwehren – in diesem Fall unangenehme Informationen für all jene, die weiterhin rauchen wollen. Anscheinend handelt es sich um einen normalen Anpassungsvorgang. Wie man sich an Schrecken im wirklichen Leben gewöhnen kann, so kann man sich auch an den Schrecken bestimmter Bilder gewöhnen. Es gibt aber auch Fälle, in denen sich eine tiefempfundene Reaktion durch wiederholte Konfrontation mit dem, was schockiert, bekümmert, erschüttert, nicht abschleift. Die Gewöhnung ist kein Automatismus, denn für (transportable, einblendbare) Bilder gelten andere Regeln als für das wirkliche Leben. Darstellungen der Kreuzigung werden für Gläubige, wenn sie wirklich gläubig sind, nicht banal. In noch stärkerem Maße gilt dies für manche Bühnendarstellungen. Bei einer Aufführung der Chushingura, wahrscheinlich der bekanntesten Erzählung der japanischen Kultur, kann man sich darauf verlassen, daß die japanischen Zuschauer zu schluchzen beginnen, wenn Herr Asano auf seinem Weg zu der Stelle, wo er seppuku begehen muß, die Schönheit der Kirschblüten bewundert – und sie schluchzen jedesmal, gleichgültig, wie oft sie die Geschichte (als Kabuki- oder Bunraku-Stück oder als Film) schon gesehen haben. Das ta᾽ziyah-Drama vom Verrat an Imam Hussein und von seiner Ermordung ruft bei iranischen Zuschauern unweigerlich Tränen hervor, egal, wie viele Inszenierungen seines Martyriums sie schon gesehen haben. Im Gegenteil: sie weinen
nicht zuletzt deshalb, weil sie es schon so oft gesehen haben. Die Menschen wollen weinen. Pathos, in Gestalt einer Geschichte, nutzt sich nicht ab. Aber wollen Menschen in Schrecken versetzt werden? Wahrscheinlich nicht. Trotzdem gibt es Bilder, deren Eindringlichkeit sich nicht abnutzt, zum Teil auch deshalb, weil man sie nicht oft ansehen kann. Bilder von zerstörten Gesichtern, die immer von etwas Ungeheuerlichem zeugen, das jemand um diesen Preis überlebt hat: die Gesichter der furchtbar entstellten Veteranen des Ersten Weltkriegs, die die Hölle der Schützengräben überlebten; die wie geschmolzen wirkenden, mit wulstigem Narbengewebe bedeckten Gesichter derer, die die amerikanischen Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki überlebten; die von Machetenhieben zerhackten Gesichter der Tutsi, die das mörderische Wüten der Hutus in Ruanda überlebt haben – kann man sagen, daß Menschen sich an solche Bilder gewöhnen? Tatsächlich ist der Begriff der Greueltat oder des Kriegsverbrechens mit der Vorstellung verknüpft, daß fotografische Zeugnisse vorhanden sind. Solche Zeugnisse erscheinen meistens nachträglich – sie zeigen Überreste: die Berge von Totenschädeln im Kambodscha des Pol Pot, die Massengräber in Guatemala und El Salvador, in Bosnien und im Kosovo. Und diese postume Realität liefert oft nur eine grelle Zusammenfassung. Hannah Arendt hat schon kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bemerkt, daß alle Fotos und Wochenschaufilme aus den Konzentrationslagern inso
fern in die Irre führen, als sie diese Lager im Augenblick des Einmarschs der alliierten Soldaten zeigen. Was diese Bilder so unerträglich macht – die Leichenberge, die zu Skeletten abgemagerten Überlebenden –, war gar nicht typisch für die Lager, die, solange sie funktionierten, ihre Insassen systematisch (durch Gas, nicht durch Hunger und Krankheit) ausrotteten und anschließend sofort verbrannten. Es kommt auch vor, daß in Fotos andere Fotos anklingen: so war es unvermeidlich, daß die Bilder der ausgemergelten bosnischen Gefangenen in Omarska, dem in Nordbosnien errichteten serbischen Vernichtungslager, an die in den Vernichtungslagern der Nazis aufgenommenen Fotos erinnerten. Greuelfotos veranschaulichen und bekräftigen. An den Debatten über die genauen (anfangs oft übertrieben hoch angesetzten) Opferzahlen vorbei liefert ein Foto das eine unauslöschliche Beispiel. Seine illustrative Funktion bleibt von Meinungen, Vorurteilen, Phantasien und Fehlinformationen unberührt. Die Meldung, daß bei dem Angriff auf Jenin erheblich weniger Palästinenser ums Leben kamen, als die palästinensischen Behörden behauptet hatten (während die Israelis stets von einer geringeren Zahl von Opfern gesprochen hatten), machte viel weniger Eindruck als die Bilder von dem völlig zerstörten Zentrum dieses Flüchtlingslagers. Und Greuel, die in unseren Köpfen nicht durch einprägsame fotografische Bilder verankert sind oder von denen wir einfach nur sehr wenige Bilder zu sehen bekommen haben, scheinen uns weiter entfernt zu
sein – die von der deutschen Kolonialverwaltung im Jahre angeordnete vollständige Ausrottung der Hereros in Namibia; der japanische Angriff auf China, vor allem das Nanking-Massaker im Dezember , bei dem fast vierhunderttausend Chinesen getötet und achtzigtausend Frauen vergewaltigt wurden; die von den befehlshabenden Offizieren entfesselte Vergewaltigung von etwa hundertdreißigtausend Frauen und Mädchen (von denen zehntausend Selbstmord begingen) durch die siegreichen sowjetischen Soldaten in Berlin – lauter Erinnerungen, deren sich nur wenige angenommen haben. Vertrautheit mit bestimmten Fotos festigt die Vorstellung, die wir uns von der Gegenwart und der unmittelbaren Vergangenheit machen. Fotos bahnen Pfade, schaffen Bezugspunkte, dienen als Totems für Zeitfragen: Empfindung verbindet sich eher mit einem Foto als mit einem Schlagwort. Und Fotos helfen uns, unsere Vorstellungen von einer ferneren Vergangenheit zu organisieren – oder zu revidieren: durch die postumen Schocks, die von der Veröffentlichung bisher unbekannter Fotos ausgehen. Fotos, die jeder erkennt, sind heute ein wesentlicher Bestandteil dessen, worüber sich Gesellschaften Gedanken machen oder worüber sie nachzudenken sich vornehmen. Solche Gedanken nennt man gern »Erinnerungen«, aber auf längere Sicht ist das eine Fiktion. Strenggenommen gibt es kein kollektives Gedächtnis – das Kollektivgedächtnis gehört in die gleiche Familie von Pseudobegriffen wie die Kollektivschuld. Aber es gibt die kollektive Unterrichtung.
Das Gedächtnis ist immer individuell und nicht reproduzierbar – es stirbt mit dem einzelnen. Was man als kollektives Gedächtnis bezeichnet, ist kein Erinnern, sondern ein Sicheinigen – darauf, daß dieses wichtig sei, daß sich eine Geschichte so und nicht anders zugetragen habe, samt den Bildern, mit deren Hilfe die Geschichte in unseren Köpfen befestigt wird. Ideologien schaffen fundierende Archive repräsentativer Bilder, die gemeinschaftliche Vorstellungen von dem, was bedeutsam sei, auf eine Formel bringen und voraussehbare Gedanken und Empfindungen auslösen. Fotos, die sich für ein Poster eignen – der Atompilz, Martin Luther King bei seiner Ansprache vor dem Lincoln Memorial in Washington, der Astronaut, der auf dem Mond herumspaziert –, bilden ein visuelles Äquivalent zum geflügelten Wort. Ähnlich plump wie Briefmarken erinnern sie an »historische Augenblicke«; und die triumphalistischen unter ihnen (ausgenommen das Bild von der Atombombe) werden letztlich auch zu Briefmarken. Glücklicherweise gibt es kein Bild, das zur optischen Chiffre für die Vernichtungslager der Nazis geworden ist. So wie man im Laufe von hundert Jahren Moderne die Kunst neu definiert hat als das, was in irgendeiner Art von Museum aufbewahrt werden soll, besteht auch das Schicksal vieler fotografischer Funde heute darin, daß man sie in museumsähnlichen Einrichtungen ausstellt und unterbringt. In diesen Archiven des Schrekkens ist die institutionelle Aufbereitung der Fotos zum Thema Völkermord besonders weit fortgeschritten. Für
diese und andere Reliquien werden öffentliche Aufbewahrungsorte geschaffen, um sicherzustellen, daß die dargestellten Verbrechen im Bewußtsein der Menschen weiterhin vorkommen. Man nennt das Erinnerungsarbeit, aber in Wirklichkeit ist es sehr viel mehr. Das Gedenkmuseum, das zur Zeit vielerorts Konjunktur hat, geht zurück auf eine bestimmte Art des Nachdenkens – und des Trauerns – über die Vernichtung der europäischen Juden in den dreißiger und vierziger Jahren des . Jahrhunderts, die vor allem in der .lerusalemer Gedenkstätte Yad Vashem, im Washingtoner Holocaust Memorial Museum und im Jüdischen Museum in Berlin institutionelle Gestalt angenommen hat. Hier wurden Fotos und andere Dinge, die an die Shoa erinnern, auf Dauer allgemein zugänglich gemacht, um zu gewährleisten, daß das, was sie zeigen, nicht in Vergessenheit gerät. Aber Fotos, die das Leiden und das Martyrium eines Volkes vor Augen führen, erinnern nicht bloß an Tod, Scheitern und Erniedrigung. Sie beschwören auch das Wunder des Überlebens. Wer den Fortbestand der Erinnerung sichern will, der hat es unweigerlich mit der Aufgabe zu tun, die Erinnerung ständig zu erneuern, ständig neue Erinnerungen zu schaffen – vor allem mit Hilfe eindringlicher Fotos. Die Menschen wollen ihre Erinnerungen besichtigen und auffrischen können. Viele Völker, die Opfer von Gewalt geworden sind, wünschen sich heute ein Gedenkmuseum, einen Tempel, der eine umfassende, chronologisch gegliederte, illustrierte Erzählung ihrer Leiden beherbergt. So fordern die Armenier seit lan
gem ein Museum in Washington, das die Erinnerung an den Völkermord institutionalisieren soll, den die osmanischen Türken am armenischen Volk begingen. Aber warum gibt es in der amerikanischen Hauptstadt mit ihrem überdurchschnittlich hohen Anteil an afrikanisch-amerikanischen Bewohnern nicht schon längst ein Museum zur Geschichte der Sklaverei? Tatsächlich gibt es nirgendwo in den Vereinigten Staaten ein Museum zur Geschichte der Sklaverei – eines, das sich, angefangen beim Sklavenhandel in Afrika, die ganze Geschichte vornimmt und nicht bloß einzelne, ausgewählte Kapitel wie die sogenannte »Underground Railroad«, das System, mit dem Gegner der Sklaverei im . Jahrhundert entlaufenen Sklaven bei der Flucht in den Norden und nach Kanada halfen. Die Erinnerung an die Sklaverei gilt offenbar als eine so große Gefahr für die gesellschaftliche Stabilität, daß man es nicht wagt, sie zu beleben und zu erneuern. Das Holocaust Memorial Museum und das künftige Armenian Genocide Museum and Memorial handeln von etwas, das sich nicht in Amerika zugetragen hat, deshalb besteht nicht die Gefahr, daß die Erinnerungsarbeit verbitterte Teile der einheimischen Bevölkerung gegen die staatliche Autorität aufbringt. Mit einem Museum, das das große Verbrechen der Sklaverei in den Vereinigten Staaten dokumentieren würde, wäre das Eingeständnis verbunden, daß sich das Böse hierzulande ereignet hat. Amerikaner malen sich jedoch lieber das Böse aus, das sich anderswo abgespielt hat und von dem die Vereinigten Staaten – dieses einzigartige Land, das
in seiner ganzen Geschichte keinen einzigen durch und durch bösartigen politischen Führer hatte – unberührt geblieben sind. Daß dieses Land, wie jedes andere, auch eine tragische Vergangenheit hat, will zu dem nach wie vor allmächtigen Glauben an die Ausnahmestellung Amerikas nicht passen. Der nationale Konsensus, der die amerikanische Geschichte als Fortschrittsgeschichte sieht, bildet eine neuartige Umgebung für beunruhigende Fotos – eine, die unsere Aufmerksamkeit auf solche Mißstände hierzulande und anderswo konzentriert, bei deren Beseitigung Amerika sich selbst für die beste Lösung oder das beste Heilmittel hält.
Auch im Zeitalter der Cyber-Modelle wird der Geist noch so gesehen, wie ihn sich schon die Antike vorstellte – als ein Innenraum, ähnlich einem Theater, in dem wir uns Bilder machen. Und es sind diese Bilder, die uns das Erinnern ermöglichen. Das Problem besteht nicht darin, daß Menschen sich anhand von Fotos erinnern, sondern darin, daß sie sich nur an die Fotos erinnern. Dieses Erinnern durch Fotos verdrängt allerdings andere Formen von Verstehen und Erinnern. Die Konzentrationslager – oder vielmehr die Fotos, die bei ihrer Befreiung gemacht wurden – sind schon fast alles, woran die Leute im Zusammenhang mit dem Nazismus und dem Elend des Zweiten Weltkriegs denken. Häßlicher Tod (durch Völkermord, Hunger, Seuchen) ist schon fast alles, was die Leute von all den Un
geheuerlichkeiten und Versäumnissen im Gedächtnis behalten, die im postkolonialen Afrika vorgefallen sind. Erinnern bedeutet immer weniger, sich auf eine Geschichte zu besinnen, und immer mehr, ein Bild aufrufen zu können. Selbst ein im literarischen Zeremoniell des . Jahrhunderts und der frühen Moderne so tief verwurzelter Schriftsteller wie W. G. Sebald hat in seine melancholischen Geschichten von verlorenen Schicksalen, verlorener Natur, verlorenen Stadtlandschaften Fotos eingestreut. Sebald war nicht bloß ein Elegiker, er war ein militanter Elegiker. Indem er sich erinnerte, wollte er auch den Leser dahin bringen, sich zu erinnern. Quälende Fotos verlieren nicht unbedingt ihre Kraft zu schockieren. Aber wenn es darum geht, etwas zu begreifen, helfen sie kaum weiter. Erzählungen können uns etwas verständlich machen. Fotos tun etwas anderes: sie suchen uns heim und lassen uns nicht mehr los. Nehmen wir eines der unvergeßlichen Bilder aus dem Krieg in Bosnien, ein Foto, über das John Kifner, ein Auslandskorrespondent der New York Times, schrieb: »Das Bild ist vollkommen nüchtern, eines der eindringlichsten aus den Balkankriegen: ein Angehöriger der serbischen Miliz versetzt einer sterbenden muslimischen Frau im Vorübergehen einen Tritt gegen den Kopf. Das sagt einem alles, was man wissen muß.« Selbstverständlich sagt uns dies nicht alles, was wir wissen müssen. Den Angaben des Fotografen Ron Haviv können wir entnehmen, daß dieses Foto im April in der Stadt
Bijeljina aufgenommen wurde, kurz nachdem das Wüten der Serben in Bosnien begonnen hatte. Von hinten sehen wir einen uniformierten serbischen Milizionär, eine jugendliche Gestalt, die Sonnenbrille ins Haar hochgeschoben, eine Zigarette zwischen dem zweiten und dem dritten Finger der erhobenen linken Hand, ein Gewehr in der Rechten, der mit dem rechten Fuß ausholt, um eine Frau zu treten, die mit dem Gesicht nach unten zwischen zwei anderen Leibern auf dem Gehweg liegt. Das Foto sagt uns nicht, daß sie eine Muslimin ist, obwohl sie kaum etwas anderes sein kann, denn warum sollten sie und die beiden anderen sonst dort unter den Blicken einiger serbischer Soldaten wie tot (warum »sterbend«?) auf der Straße liegen? Eigentlich sagt uns dieses Foto sehr wenig – allenfalls dies: daß der Krieg die Hölle ist und daß mit Gewehren bewaffnete, schlanke junge Männer imstande sind, dickliche ältere Frauen, die, hilflos oder schon getötet, auf der Straße liegen, gegen den Kopf zu treten. Sehen konnte man die Greuelbilder aus Bosnien, kurz nachdem sich die Ereignisse zugetragen hatten. Wie die Bilder aus dem Vietnamkrieg, etwa die Aufnahmen, die Ron Haberle im März von einem Massaker machte, bei dem eine Kompanie amerikanischer Soldaten in dem Dorf My Lai etwa fünfhundert unbewaffnete Zivilisten umbrachte, trugen sie wesentlich dazu bei, den Widerstand gegen einen Krieg zu stärken, der keinesweg unvermeidlich war, dem man keineswegs untätig hätte zusehen müssen und der sehr viel früher hätte beendet werden können. Insofern
konnte man sich verpflichtet fühlen, diese Bilder zu betrachten, so grausig sie waren. Denn gegen das, was sie zeigten, ließ sich in diesem Augenblick etwas tun. Andere Fragen kommen ins Spiel, wenn uns bislang unbekannte Fotos mit Schrecken aus einer weit zurückliegenden Vergangenheit konfrontieren. Ein Beispiel: Der Fund eines Konvoluts von Fotos schwarzer Lynchopfer, aufgenommen in amerikanischen Kleinstädten zwischen und , wurde für Tausende von Besuchern, die im Jahre die Ausstellung in New York sahen, zu einer erschütternden, aufschlußreichen Erfahrung. Diese Lynchbilder sprechen von menschlicher Bosheit. Von Unmenschlichkeit. Sie zwingen uns, über das Ausmaß an Bösartigkeit nachzudenken, das speziell der Rassismus zu entfesseln vermag. Und die Schamlosigkeit, mit der sie fotografiert wurden, ist selbst noch Teil dieser Schandtaten. Die Bilder dienten als Souvenirs, und manche von ihnen wurden als Postkarten verwendet; nicht wenige zeigen grinsende Zuschauer, brave Bürger, von denen die meisten den Gottesdienst am Sonntag nicht versäumt haben werden und die hier vor dem Hintergrund eines nackten, verkohlten, verstümmelten Leibes, der von einem Baum herunterhängt, für die Kamera posieren. Die Präsentation dieser Bilder macht auch uns zu Zuschauern. Wozu stellt man sie aus? Um Empörung zu wecken? Damit wir uns »schlecht« fühlen; das heißt, um uns zu erschrecken oder zu betrüben? Um uns beim Trauern zu helfen? Ist es wirklich notwendig, solche Fotos zu be
trachten, wenn diese Untaten doch so weit zurückliegen, daß ihre Strafbarkeit längst verjährt ist? Werden wir zu besseren Menschen, indem wir diese Bilder betrachten? Können sie uns überhaupt etwas lehren? Bestätigen sie nicht bloß, was wir schon wissen (oder wissen wollen)? Alle diese Fragen wurden gestellt, während die Ausstellung zu sehen war und als nachher ein Buch mit den Fotografien unter dem Titel Without Sanctuary erschien. Man könnte, so hieß es, gegen die Ausstellung dieser grausigen Fotos einwenden, daß sie möglicherweise voyeuristische Gelüste bediene oder das Bild vom Schwarzen als Opfer perpetuiere oder einfach bloß abstumpfe. Dennoch gebe es eine Pflicht, die Bilder zu »studieren« (das klinischere »studieren« trat hier an die Stelle des Wortes »betrachten«). Im übrigen würde uns die Qual der Auseinandersetzung mit ihnen helfen, diese Greuel nicht einfach als Akte von »Barbaren«, sondern als Ausdruck einer Denkungsart, des Rassismus, zu verstehen, die Folter und Mord rechtfertige, indem sie ein Volk für weniger menschlich als ein anderes erklärt. Aber vielleicht waren diese Leute Barbaren. Vielleicht sehen die meisten Barbaren so aus. (Nämlich wie alle anderen.) So betrachtet, ist der »Barbar« des einen für den anderen ein »Bürger, der bloß tut, was alle tun«. (Von wieviel Menschen darf man erwarten, daß sie mehr tun als dies?) Die Frage lautet: Wen wollen wir beschuldigen? Genauer gesagt: Wem glauben wir, berechtigterweise Schuld zuschreiben zu dürfen? Die Kinder
von Hiroshima und Nagasaki waren nicht weniger unschuldig als die jungen afrikanisch-amerikanischen Männer (und einige Frauen), die im kleinstädtischen Amerika abgeschlachtet und an Bäume gehängt wurden. Mehr als vierzigtausend, möglicherweise sogar hunderttausend Zivilisten, drei Viertel von ihnen Frauen, wurden bei den Bombenangriffen der Royal Air Force auf Dresden in der Nacht vom . auf den . Februar vernichtet; zweiundsiebzigtausend Zivilisten wurden binnen weniger Sekunden von der amerikanischen Bombe verbrannt, die über Hiroshima abgeworfen wurde. Die Liste ließe sich erheblich verlängern. Noch einmal: Wem wollen wir Schuld zuschreiben? Welches sind die Greuel in der unabänderlichen Vergangenheit, auf die zurückzukommen wir für unsere Pflicht halten? Als Amerikaner würden wir es wahrscheinlich für morbid halten, uns lange bei der Betrachtung der Bilder von verbrannten Atombombenopfern oder von Zivilisten aufzuhalten, die im Vietnamkrieg Opfer amerikanischer Napalmangriffe wurden, wohingegen wir es als unsere Pflicht ansehen, die Lynchbilder zu betrachten – jedenfalls, wenn wir zur Partei der Verständigen zählen, die in dieser Frage inzwischen sehr groß ist. Die Neubewertung der Ungeheuerlichkeit des Sklavensystems, das in den Vereinigten Staaten bestanden hat und von den meisten Leuten fraglos akzeptiert wurde, ist in den letzten Jahrzehnten zu einem nationalen Projekt geworden, das gutzuheißen viele Euroamerikaner sich verpflichtet fühlen. Dieses noch
längst nicht abgeschlossene Projekt ist in sich eine große Leistung, ein Meilenstein staatsbürgerlicher Redlichkeit. Demgegenüber ist eine Auseinandersetzung damit, wie Amerika seine Feuerkraft im Krieg immer wieder ohne Rücksicht auf die Verhältnismäßigkeit der Mittel (und unter Verstoß gegen eine der grundlegenden Bestimmungen des Kriegsrechts) eingesetzt hat, ganz entschieden kein nationales Projekt. Ein Museum zur Geschichte der Kriege Amerikas, das auch den tückischen Krieg gegen die Guerilleros auf den Philippinen zwischen und berücksichtigen würde (den Mark Twain mit vernichtendem Sachverstand kritisiert hat), das die Argumente für und gegen den Einsatz der Atombombe über japanischen Städten im Jahre ausgewogen darstellen und mit Fotos dokumentieren würde, was diese Waffe dann anrichtete, würde heute mehr denn je als ein höchst unpatriotisches Unterfangen angesehen.
Man kann es für eine Pflicht halten, Fotos zu betrachten, auf denen Grausamkeiten und Verbrechen festgehalten sind. Man sollte es in jedem Falle für eine Pflicht halten, darüber nachzudenken, was es heißt, solche Bilder zu betrachten, und wie es um die Fähigkeit bestellt ist, sich das, was sie zeigen, tatsächlich anzueignen. Nicht alle Reaktionen auf solche Bilder unterstehen der Aufsicht von Vernunft und Gewissen. Die meisten Darstellungen von gequälten, verstümmelten Körpern erwecken auch ein laszives Interesse. (Die Desastres de la Guerra bilden hier eine bemerkenswerte Ausnahme: Goyas Bilder lassen sich nicht mit laszivem Blick betrachten. Sie verweilen nicht bei der Schönheit des menschlichen Körpers; die Körper sind schwer und dick eingehüllt.) Alle Bilder, die die Verletzung eines anziehend wirkenden Körpers darstellen, sind bis zu einem gewissen Grade pornographisch. Aber auch Bilder, die etwas Abstoßendes zeigen, können locken. Jeder weiß, daß es nicht bloße Neugier ist, die bei einem schweren Unfall auf der Autobahn den Verkehr auf der Gegen
spur ins Stocken bringt. Bei vielen kommt auch der Wunsch ins Spiel, etwas Grausiges zu sehen. Wenn man solche Wünsche als »krankhaft« bezeichnet, stellt man sie als eine seltene Verirrung dar – aber daß Menschen sich von solchen Anblicken angezogen fühlen, ist keine Seltenheit, und es ist seit jeher eine Quelle von Seelenqualen. Tatsächlich findet sich der erste Hinweis auf die Anziehungskraft verstümmelter Körper, den ich kenne, in einer frühen Begriffsbestimmung des psychischen Konflikts. In einem Abschnitt des Vierten Buches von Platons Politeia legt Sokrates dar, wie unsere Vernunft von einer unwürdigen Begierde überwältigt werden kann, die das Ich dazu bringt, sich über einen Teil seiner selbst zu empören. Piaton entwickelt hier eine Theorie des Seelischen, die von drei Seelenteilen ausgeht – Vernunft, Eifer oder Empörung und Begehren, wobei er das Freudsche Modell von Überich, Ich und Es vorwegnimmt (allerdings mit dem Unterschied, daß er der Vernunft den obersten und dem Gewissen, das hier in der Gestalt des Eifers oder der Empörung erscheint, den mittleren Platz einräumt). Um zu veranschaulichen, wie man, und sei es widerstrebend, der Anziehungskraft des Abstoßenden erliegen kann, erzählt Sokrates eine Geschichte, die ihm zu Ohren gekommen ist: wie nämlich Leontios, der Sohn des Aglaion, einmal aus dem Peiraieus an der nördlichen Mauer draußen heraufkam und merkte, daß beim Scharfrichter Lei-
chen lägen, er zugleich Lust bekam, sie zu sehen, zugleich aber auch Abscheu fühlte und sich wegwendete und so eine Zeitlang kämpfte und sich verhüllte, dann aber von der Begierde überwunden mit weitgeöffneten Augen zu den Leichnamen hinlief und sagte: da habt ihr es nun, ihr unseligen, sättigt euch an dem schönen Anblick! Platon, der nicht das geläufigere Beispiel einer anstößigen oder verbotenen sexuellen Leidenschaft wählt, um den Kampf zwischen Vernunft und Begierde zu veranschaulichen, hält es anscheinend für ausgemacht, daß in uns allen auch ein Verlangen nach dem Anblick von Erniedrigung, Schmerz und Verstümmelung vorhanden ist. Der Sog dieser allgemein verachteten Regung muß bei der Erörterung der Wirkung von Greuelbildern unbedingt berücksichtigt werden. Vielleicht war es in der frühen Neuzeit einfacher als heute, anzuerkennen, daß im Menschen auch eine Neigung zum Grauenhaften angelegt ist. Edmund Burke hat bemerkt, daß die Menschen gern Bilder des Leidens betrachten. »Ich bin überzeugt, daß wir ein gewisses Maß an Entzücken, und zwar kein geringes, angesichts der wirklichen Mißgeschicke und Leiden anderer empfinden«, schrieb er in A Philosophical Enquiry into the Origin of Our Ideas of the Sublime and Beautiful ()- »Kein Schauspiel verfolgen wir mit solchem Eifer wie das eines ungewöhnlichen, betrüblichen Unglücks.« In seinem Essay über Shakespeares
Jago und die Faszination der Schurkenhaftigkeit auf der Bühne fragt William Hazlitt: »Warum lesen wir in den Zeitungen eigentlich immer die Berichte über furchtbare Feuerbrünste und entsetzliche Morde?« Weil, so antwortet er, die »Liebe zum Unheil«, die Liebe zur Grausamkeit, genauso zur Natur des Menschen gehört wie das Mitgefühl. Einer der großen Theoretiker des Erotischen, Georges Bataille, hatte ein in China aufgenommenes Foto von einem Gefangenen, der gerade den »Tod der hundert Schnitte« erleidet, auf seinem Schreibtisch stehen und also ständig vor Augen. (Das inzwischen legendäre Bild ist in Batailles Buch Die Tränen des Eros von abgedruckt, dem letzten, das zu seinen Lebzeiten erschienen ist.) »Dieses Foto«, so schrieb Bataille, »spielte in meinem Leben eine entscheidende Rolle. Mich hat dieses ekstatische und zugleich unerträgliche Bild des Schmerzes nie losgelassen.« Für Bataille bedeutet die Betrachtung dieses Bildes zugleich Kasteiung der eigenen Gefühle und Befreiung von tabuisiertem erotischem Wissen – eine komplexe Reaktion, die für viele Betrachter nicht ohne weiteres nachvollziehbar sein dürfte. Den meisten erscheint dieses Bild einfach nur unerträglich: das rituelle Opfer mehrerer geschäftiger Messer, schon ohne Arme, im letzten Stadium der Häutung – ein Foto, kein Gemälde; ein wirklicher, kein mythischer Marsyas – und immer noch lebendig, mit einem Blick, dessen ekstatischer Ausdruck sich mit jedem heiligen Sebastian der italienischen Renaissance messen kann. Als Gegenstand der Kontem
plation können Bilder des Grauens unterschiedliche Bedürfnisse erfüllen. Sich gegen Schwäche abhärten. Sich betäuben. Sich vor Augen führen, daß es das Unabänderliche gibt. Bataille sagt nicht, daß ihm der Anblick dieser Quälerei Vergnügen bereitet. Aber er sagt, daß er sich extremes Leiden als etwas, das mehr ist als leiden, vorstellen kann – als eine Art von Transfiguration. Dieser Blick auf den Schmerz, auf das Leiden anderer ist im religiösen Denken verwurzelt, das den Schmerz mit dem Opfer und das Opfer mit Erhebung verbindet – eine Ansicht, wie sie dem modernen Empfinden fremder nicht sein könnte, das im Leiden stets einen Fehler, einen Unfall oder ein Verbrechen sieht. Etwas, das repariert, in Ordnung gebracht werden muß. Etwas Abzulehnendes. Etwas, das uns die eigene Ohnmacht spüren läßt.
Was soll man mit dem Wissen anfangen, das Fotos von fernem Leiden vermitteln? Menschen sind oft nicht imstande, die Leiden derer, die ihnen nahestehen, zu verkraften. (Sehr eindringlich dokumentiert dies der Film Hospital von Frederick Wiseman.) Allen voyeuristischen Lockungen zum Trotz – und trotz der Genugtuung, die sich vielleicht aus dem Wissen ergibt: Dies widerfährt nicht mir, nicht ich bin krank, nicht ich sterbe, nicht mich trifft dieser Krieg – ist es anscheinend normal, daß sich Menschen gegen das, was andere durchmachen, verschließen – selbst dann, wenn sie sich mit diesen anderen leicht identifizieren könnten.
Eine Frau aus Sarajevo, eine treue Anhängerin der multiethnischen Ideale des ehemaligen Jugoslawien, die ich kennenlernte, als ich im April zum erstenmal in die Stadt kam, sagte mir: »Im Oktober saß ich hier in dieser netten Wohnung im friedlichen Sarajevo, als die Serben nach Kroatien einmarschierten, und ich weiß noch, wie die Abendnachrichten Aufnahmen von der Zerstörung der Stadt Vukovar brachten, ungefähr hundertsechzig Kilometer von hier, und wie ich dachte: ›Ach, wie furchtbar!‹ – und dann ein anderes Programm einschaltete. Wie soll ich da jemandem böse sein, der in Frankreich oder Italien oder Deutschland Tag für Tag das Morden hier in den Abendnachrichten sieht und dann sagt: ›Oh, wie furchtbar!‹ und sich ein anderes Programm sucht. Es ist normal. Es ist menschlich.« Wo Menschen sich sicher fühlen – das war der bittere Kern ihrer auf einen Selbstvorwurf hinauslaufenden Aussage –, werden sie gleichgültig. Aber wenn eine Frau in Sarajevo den Bildern von schrecklichen Vorgängen in einer Gegend, die damals immerhin noch Teil ihres eigenen Landes war, auswich, so hatte sie dafür wohl doch ein anderes Motiv als die Fernsehzuschauer im Ausland, die sich um Sarajevo nicht weiter kümmerten. Das Desinteresse der Ausländer, für das diese Frau so viel Verständnis aufbrachte, erwuchs auch aus dem Gefühl, nichts tun zu können. Die Weigerung der Frau, sich auf die Bilder eines nahen Krieges und die von ihnen ausgehende Warnung einzulassen, war dagegen ein Ausdruck von Hilflosigkeit und Angst.
Die Leute schalten nicht nur deshalb ab, weil sie durch einen ständigen Strom von Bildern der Gewalt gleichgültig geworden sind, sondern möglicherweise auch deshalb, weil sie Angst haben. Jeder hat mitbekommen, wie sehr das Ausmaß von akzeptierter Gewalt, von akzeptiertem Sadismus in der Massenkultur gewachsen ist: im Kino, im Fernsehen, in Comics, bei Computerspielen. Bilder, bei denen vor vierzig Jahren das Publikum zurückgeschreckt und voller Abscheu weggeschaut hätte, sieht sich heute jeder Teenager im Multiplex an, ohne mit der Wimper zu zucken. Für viele Menschen in den meisten modernen Kulturen sind Chaos und Blutvergießen heute eher unterhaltsam als schockierend. Aber nicht alle Gewalt wird mit der gleichen distanzierten Gelassenheit betrachtet. Manche Katastrophen eignen sich besser als andere für eine ironische Reaktion.* *
Andy Warhol, dieser Connaisseur des Todes und Hohepriester der Freuden der Apathie, hat sich immer wieder von Nachrichten über ganz unterschiedliche Todesfälle, bei denen Gewalt im Spiel war (Autounfälle, Flugzeugabstürze, Selbstmorde, Hinrichtungen), faszinieren lassen. Aber der Tod im Krieg kommt in seinen Siebdrucken interessanterweise nicht vor. Ein Pressefoto von einem elektrischen Stuhl und die schrille Titelseite einer Boulevardzeitung: » Die in Jet«, ja. »Hanoi bombardiert«, nein. Das einzige von Warhol in Siebdruck reproduzierte Foto, das sich auf die Gewalt im Krieg bezieht, war selbst schon ein Symbol, das heißt ein Klischee: der Atompilz, den er wie auf einem Briefmarkenbogen vielmals wiederholt, um seine Unbegreiflichkeit, seine Faszination, seine Banalität zu veranschaulichen (ähnlich wie er es mit den Gesichtern von Marilyn, Jackie und Mao gemacht hat).
Wenn die Leute im Ausland die Schreckensbilder aus Bosnien abgeschaltet haben, so lag dies vielleicht auch daran, daß dieser Krieg einfach kein Ende fand und daß die führenden Politiker erklärten, die Situation sei ausweglos. Menschen können für Schrecken unempfänglich werden, weil sie den Eindruck gewinnen, dem Krieg – jedem Krieg – sei kein Ende zu machen. Mitgefühl ist eine instabile Gefühlsregung. Es muß in Handeln umgesetzt werden, sonst verdorrt es. Deshalb stellt sich die Frage, was man mit den geweckten Gefühlen, dem übermittelten Wissen tun soll. Wenn man den Eindruck bekommt, daß es nichts gibt, was »wir« tun könnten – aber wer sind diese »wir«? –, und auch nichts, was »sie« tun könnten – aber wer sind diese »sie«? –, fängt man an, sich zu langweilen, wird zynisch und apathisch. Rührung ist nicht unbedingt besser. Sentimentalität ist bekanntlich mit einer Neigung zur Brutalität und zu Schlimmerem durchaus vereinbar. (Man denke an das Beispiel des Lagerkommandanten von Auschwitz, der abends nach Hause kommt, Frau und Kinder umarmt und sich vor dem Essen ans Klavier setzt, um Schubert zu spielen.) Die Menschen verhärten sich wenn dies der richtige Ausdruck ist – gegen das, was man ihnen zeigt, nicht wegen der Quantität der Bilder, die ihnen vorgesetzt werden. Es ist vielmehr die Passivität, die abstumpft. Die Zustände, die man als Apathie, als moralische oder emotionale Taubheit bezeichnet, sind voller Gefühle: voller Wut und Frustration. Wenn wir nun darüber nachdenken, welche Gefühle statt des
sen wünschenswert sind, dann wäre es wohl zu einfach, sich für das Mitgefühl zu entscheiden. Die imaginäre Nähe zum Leiden anderer, die uns Bilder verschaffen, suggeriert eine Verbindung zwischen den fernen, in Großaufnahme auf dem Bildschirm erscheinenden Leidenden und dem privilegierten Zuschauer, die in sich einfach unwahr ist – nur eine Täuschung mehr, was unsere wirklichen Beziehungen zur Macht angeht. Solange wir Mitgefühl empfinden, kommen wir uns nicht wie Komplizen dessen vor, wodurch das Leiden verursacht wurde. Unser Mitgefühl beteuert unsere Unschuld und unsere Ohnmacht. Insofern kann es (unseren guten Absichten zum Trotz) zu einer impertinenten – und völlig unangebrachten – Reaktion werden. Das Mitgefühl, das wir für andere, vom Krieg und einer mörderischen Politik betroffene Menschen aufbringen, beiseite zu rücken und statt dessen darüber nachzudenken, wie unsere Privilegien und ihr Leiden überhaupt auf der gleichen Landkarte Platz finden und wie diese Privilegien – auf eine Weise, die wir uns vielleicht lieber gar nicht vorstellen mögen – mit ihren Leiden verbunden sind, insofern etwa, als der Wohlstand der einen die Armut der anderen zur Voraussetzung hat – das ist eine Aufgabe, zu deren Bewältigung schmerzliche, aufwühlende Bilder allenfalls die Initialzündung geben können.
Betrachten wir zwei
verbreitete Ansichten über die Wirkungsweise von Fotografie – Ansichten, die inzwischen fast zu Gemeinplätzen geworden sind. Da ich sie auch in meinen eigenen Essays über Fotografie wiederfinde – deren erster vor dreißig Jahren geschrieben wurde –, fühle ich eine unwiderstehliche Versuchung, mich mit ihnen auseinanderzusetzen. Der ersten Ansicht zufolge wird die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit durch die Aufmerksamkeit der Medien gelenkt – das heißt, hauptsächlich durch Bilder. Ein Krieg wird »real«, wenn es von ihm Fotos gibt. So wurde der Protest gegen den Vietnamkrieg durch Bilder mobilisiert. Die Meinung, daß gegen den Krieg in Bosnien etwas getan werden müsse, erwuchs aus der Aufmerksamkeit von Journalisten, die mehr als drei Jahre lang Abend für Abend Bilder aus dem belagerten Sarajevo in Millionen Wohnzimmer befördert haben. Man hat dies auch den »CNN-Effekt« genannt. Die Beispiele zeigen, wie stark uns Fotos darin beeinflussen, welchen Katastrophen und Krisen wir unsere Auf
merksamkeit schenken, worum wir uns kümmern und letztlich auch, wie wir diese Konflikte beurteilen. Der zweiten Ansicht zufolge – sie mutet fast wie eine Umkehrung des soeben Gesagten an – haben in einer mit Bildern gesättigten, nein, übersättigten Welt gerade jene Bilder, auf die es ankommen sollte, eine dämpfende Wirkung: wir stumpfen ab. Letztlich nehmen uns solche Bilder etwas von unserer Fähigkeit zu fühlen und die Signale, die von unserem Gewissen ausgehen, wahrzunehmen. Im ersten der sechs Essays meines Buches Über Fotografie () habe ich die Auffassung vertreten, zwar werde ein Geschehen, das wir durch Fotos kennenlernen, realer, als es ohne Fotos je sein könnte, doch verliere dieses Geschehen auch wieder an Realität, wenn wir es immer wieder abgebildet sehen. Sosehr Fotos Mitgefühl wecken können, schrieb ich, so sehr können sie es auch schrumpfen lassen. Stimmt das? Als ich dies schrieb, war ich davon überzeugt. Heute bin ich mir nicht mehr so sicher. Was spricht dafür, daß Fotos ihre Wirkung nach und nach einbüßen können, daß unsere Zuschauerkultur das moralische Potential von Greuelfotos neutralisiert? Die Frage lenkt den Blick auf das wichtigste Nachrichtenmedium von heute, das Fernsehen. Ein Bild wird seiner Kraft dadurch beraubt, wie es benutzt wird, wo und wie oft man es sehen kann. Fernsehbilder sind per definitionem Bilder, deren man früher oder später müde wird. Was wie Gefühllosigkeit aussieht, hat seinen Ursprung in der instabilen Aufmerksam
keit, die das Fernsehen mit seinem Übermaß an Bildern erzeugt und bedienen soll. Die Bilderflut sorgt dafür, daß die Aufmerksamkeit locker, beweglich und gegenüber den Inhalten relativ gleichgültig bleibt. Der Bilderfluß verhindert, daß eine Rangordnung zwischen den Bildern entsteht. Entscheidend beim Fernsehen ist, daß man umschalten kann, daß es normal ist, zwischen den Programmen zu wechseln, unruhig zu werden, sich zu langweilen. Die Grundhaltung des Konsumenten ist die Erschlaffung. Er braucht Stimulierung, Starthilfe, wieder und wieder. Der Inhalt ist dabei nur eines von mehreren Stimulanzien. Ein reflektierteres Sicheinlassen auf den Inhalt setzt ein gewisses Maß an intensiver Aufmerksamkeit voraus also das, was durch die Erwartungen gerade geschwächt wird, die wir den medienvermittelten Bildern entgegenbringen. Vor allem dadurch, wie der Inhalt nach und nach aus den Bildern herausgewaschen wird, tragen sie zur Gefühlsabstumpfung bei.
Die These, das moderne Leben bestehe aus einer Abfolge von Schrecknissen, die uns verderben und an die wir uns nach und nach gewöhnen, gehört zum Grundbestand der Kritik an der Moderne – und sie ist fast so alt wie die Moderne selbst. Schon im Jahre kritisierte Wordsworth in der Vorrede zu seinen Lyrical Ballads den Verfall des Empfindungsvermögens, der verursacht werde durch »die großen nationalen Tagesereignisse und durch die Zusammenballung von
immer mehr Menschen in großen Städten, wo die Einförmigkeit ihrer Betätigungen ein Verlangen nach außergewöhnlichen Vorfällen erzeugt, das durch die rasche Verbreitung von Nachrichten stündlich befriedigt wird«. Die allgemeine Überreizung habe zur Folge, daß »die Unterscheidungskräfte des Geistes abstumpfen« und er »in einen Zustand der Erschlaffung zurücksinkt, wie wir ihn von den Wilden kennen«. Der englische Dichter betont, wie der Geist durch »Tagesereignisse« und »stündliche« Nachrichten von »außergewöhnlichen Vorfällen« abgestumpft wird. Um was für Vorkommnisse es sich dabei im einzelnen handeln könnte, überläßt er diskret der Phantasie des Lesers. Rund sechzig Jahre später formulierte ein anderer großer Dichter und Kulturdiagnostiker – ein Franzose, der zur Übertreibung neigt, wo der Engländer eher untertreibt – die gleiche Kritik mit mehr Temperament. Nach notiert Baudelaire in seinem Tagebuch: Es ist unmöglich, irgendeine Zeitung durchzublättern, gleichgültig welchen Tages, welchen Monats oder welchen Jahres, ohne in jeder Zeile die erschreckendsten Merkmale der menschlichen Perversität zu finden … Jede Tageszeitung ist von der ersten bis zur letzten Zeile ein einziges Gewebe von Greueln. Kriege, Verbrechen, Diebstähle, Unzucht, Folter, Verbrechen von Fürsten, Verbrechen von Nationen, Verbrechen von Privatpersonen; ein allge
meiner Rausch von Gräßlichkeit. Und diesen ekelerregenden Aperitif nimmt der zivilisierte Mensch täglich beim Frühstück zu sich. Als Baudelaire dies schrieb, brachten die Tageszeitungen noch keine Fotos. Trotzdem ist seine Attacke gegen den Bürger, der sich mit seiner Morgenzeitung und den in ihr versammelten Schrecken dieser Welt zum Frühstück niederläßt, der heutigen Kritik an der Flut von abstumpfendem Horror, den wir uns täglich über das Fernsehen oder die Morgenzeitung einverleiben, sehr nahe. Modernere Technologie sorgt inzwischen dafür, daß die Zufuhr nicht mehr abreißt: wenn wir wollten, könnten wir alle verfügbare Zeit der Betrachtung von Katastrophen- und Greuelbildern widmen. Seit dem Erscheinen von Über Fotografie haben viele Beobachter darauf hingewiesen, daß Kriegsgreuel durch das Fernsehen zu einer allabendlichen Belanglosigkeit verkümmert seien. Unter einer Flut von Bildern, die uns früher erschüttert und empört haben, verlören wir die Fähigkeit zu reagieren. Das Mitgefühl werde ständig überfordert und erlahme deshalb. So lautet die bekannte Diagnose. Aber was wird hier eigentlich verlangt? Daß blutrünstige Bilder seltener gesendet werden – sagen wir, nur noch einmal die Woche? Allgemeiner: daß wir auf das hinarbeiten sollen, was ich in Über Fotografie eine »Ökologie der Bilder« genannt habe? Eine solche Ökologie der Bilder wird es nicht geben. Kein Wächterrat wird den Schrekken für uns rationieren, damit ihm seine Fähigkeit zu
schockieren erhalten bleibt. Aber auch die Schrecken selbst werden nicht abnehmen.
Die in Über Fotografie entwickelte Auffassung – daß unsere Fähigkeit, auf eigene Erfahrungen mit emotionaler Frische und ethisch angemessen zu reagieren, durch die ständige Verbreitung vulgärer, erschreckender Bilder untergraben wird – könnte man als eine konservative Kritik an der Verbreitung solcher Bilder bezeichnen. Konservativ nenne ich diese Auffassung, weil es ihr um den Hinweis geht, daß der Sinn für die Wirklichkeit ausgehöhlt wird. Eine selbständige Wirklichkeit gibt es nach wie vor – ungeachtet aller Versuche, ihre Maßgeblichkeit zu schwächen. Meine Argumentation zielt also im Grunde auf die Verteidigung der Wirklichkeit und der gefährdeten Maßstäbe für eine adäquate Auseinandersetzung mit ihr. Für die radikalere – die zynische – Variante dieser Kritik gibt es an dieser Stelle nichts zu verteidigen: der riesige Magen der Moderne hat die Realität verdaut und alles in Gestalt einer Masse von Bildern wieder ausgespuckt. Einer sehr einflußreichen Zeitdiagnose zufolge leben wir in einer »Gesellschaft des Spektakels«. Jede Situation muß in ein Spektakel verwandelt werden, damit sie für uns wirklich – das heißt, interessant – wird. Die Menschen selbst sind bestrebt, Bilder aus sich zu machen – Prominente mit einem »Image« zu werden. Die Wirklichkeit hat abgedankt. Es gibt nur noch Repräsentationen: die Medien.
Das alles ist phantasievolle Rhetorik. Die allerdings auf viele sehr überzeugend wirkt, denn auch dies gehört zu den Merkmalen der Moderne, daß den Menschen die Vorstellung gefällt, sie könnten ihr eigenes zukünftiges Erleben vorwegnehmen. (Diese Ansichten finden sich vor allem in den Schriften von Guy Debord, der glaubte, er habe es mit einer Illusion, einem Schwindel zu tun, und in denen von Jean Baudrillard, der behauptet, davon überzeugt zu sein, daß heute nur mehr Bilder, simulierte Realitäten existieren; es scheint sich hier um eine französische Spezialität zu handeln.) Oft heißt es, der Krieg, wie alles andere, was real zu sein scheint, sei médiatique. So lautete auch die Diagnose einiger bekannter Franzosen, die während der Belagerung von Sarajevo zu einer Stippvisite in die Stadt gekommen waren – unter ihnen André Glucksmann: gewonnen oder verloren werde dieser Krieg nicht durch etwas, das sich in Sarajevo oder in Bosnien ereigne, sondern durch das, was in den Medien vor sich gehe. Oft wird behauptet, die »westliche Welt« neige mehr und mehr dazu, den Krieg selbst als Schauspiel zu betrachten. Meldungen über den Tod der Realität wurden – ähnlich wie Meldungen über den Tod der Vernunft, den Tod des Intellektuellen, den Tod der Literatur – anscheinend ohne viel Nachdenken von vielen für bare Münze genommen, die herauszufinden versuchen, was in Politik und Kultur heute so falsch, so leer, so blasiert anmutet. Dabei ist die These von der Wirklichkeit, die zum Spektakel geworden sei, auf atemberaubende Weise
provinziell. Sie universalisiert die Sehgewohnheiten einer kleinen, gebildeten Gruppe von Menschen, die im reichen Teil der Welt leben, wo man die Nachrichten in Unterhaltung verwandelt hat – jenen ausgereiften Sehstil, der eine der großen Errungenschaften des »modernen« Menschen und eine Voraussetzung für die Demontage traditioneller Formen von Parteipolitik ist, in der es noch wirkliche Meinungsunterschiede und wirkliche Debatten gibt. Sie nimmt an, daß jeder Mensch Zuschauer ist, und suggeriert – absurderweise und völlig unseriös –, daß es wirkliches Leiden auf der Welt gar nicht gibt. Es ist aber unsinnig, die Welt mit jenen Zonen in den wohlhabenden Ländern gleichzusetzen, wo Menschen das zweifelhafte Privileg haben, die Rolle dessen zu übernehmen (oder auch abzulehnen), der zusieht, wie andere leiden. Genauso unsinnig ist es, irgendwelche allgemeinen Thesen über die Fähigkeit, auf die Leiden anderer zu reagieren, nur unter Berücksichtigung der Mentalität jener Nachrichtenkonsumenten zu entwickeln, die von Krieg, massenhaftem Unrecht und Terror aus eigener Erfahrung nichts wissen. Es gibt Millionen von Fernsehzuschauern, die dem, was sie auf dem Bildschirm sehen, keineswegs mit Gleichgültigkeit begegnen. Den Luxus einer Konsumentenhaltung gegenüber der Wirklichkeit können sie sich nicht leisten. Zu den Klischees kosmopolitischer Diskussionen über Greuelbilder gehört inzwischen auch die Annahme, daß solche Bilder wenig bewirken und daß ihrer Verbreitung etwas Zynisches anhaftet. So wichtig Kriegsbilder
heute den meisten Menschen zu sein scheinen – es bleibt ein Mißtrauen gegenüber dem Interesse, das sich ihnen zuwendet, und gegenüber den Absichten derer, die sie herstellen. Diesem Mißtrauen begegnet man vor allem an den beiden Endpunkten des Spektrums: bei den Zynikern, die nie auch nur in die Nähe eines Krieges geraten sind, und bei den Kriegsmüden, die das Elend, das da fotografiert wird, selbst erdulden. Moderne Weltbürger, Adepten der risikofreien Nähe, die Gewalt als Spektakel konsumieren, sind geübte Zyniker, wenn es um die Frage geht, ob Aufrichtigkeit möglich ist. Manche von ihnen versuchen, innere Bewegung um jeden Preis zu vermeiden. Es ist ja auch viel einfacher, aus dem eigenen Fernsehsessel, fernab der Gefahr, die Position dessen zu beanspruchen, der sich seine Überlegenheit bewahrt. Die Bemühungen derer, die in Kriegsgebieten Augenzeugen sein wollen, werden inzwischen so häufig als »Kriegstourismus« verspottet, daß davon auch die Diskussionen über die Kriegsfotografie als Beruf nicht unberührt geblieben sind. Hartnäckig hält sich die Vorstellung, das Verlangen nach solchen Bildern sei vulgär und speise sich aus niedrigen Instinkten – Gruselkommerz. In Sarajevo konnte man es in den Jahren der Belagerung bisweilen erleben, wie während eines Bombardements oder bei heftigem Scharfschützenfeuer ein Einwohner der Stadt den an ihrer Ausrüstung leicht erkennbaren Fotojournalisten zurief: »Wartet ihr auf einen Einschlag, damit ihr ein paar Leichen fotografieren könnt?«
Manchmal taten sie das, wenn auch seltener, als man vielleicht meinen sollte, denn der Fotograf, der bei einem Bombardement oder im Scharfschützenfeuer auf der Straße unterwegs ist, schwebt genauso ins Lebensgefahr wie die Zivilisten, die er beobachtet. Der Wunsch, eine gute Story zu bekommen, war außerdem nicht das einzige Motiv für den Eifer und den Mut der Fotojournalisten, die über die Belagerung berichteten. Während dieses Konflikts waren die meisten Journalisten, die aus Sarajevo berichteten, keineswegs neutral. Und die Einwohner der Stadt wollten, daß ihre Not auf Fotos festgehalten werde: Opfer haben ein Interesse daran, daß ihre Leiden dargestellt werden. Aber sie wollen auch, daß diese Leiden als etwas Einzigartiges dastehen. Anfang stellte der englische Fotojournalist Paul Löwe, der mehr als ein Jahr in der belagerten Stadt gelebt hatte, in einer teilweise zerstörten Kunstgalerie die Fotos aus, die er in dieser Zeit aufgenommen hatte, und dazu andere, die ein paar Jahre zuvor in Somalia entstanden waren. Die Bewohner von Sarajevo interessierten sich sehr für die neuen Bilder von der Zerstörung ihrer Stadt, aber die Einbeziehung der Bilder aus Somalia empörte sie. Löwe hatte sich die Sache einfach vorgestellt. Er war Berufsfotograf, und hier waren zwei Komplexe aus seiner Arbeit, auf die er stolz war. Für die Menschen aus Sarajevo war die Sache ebenfalls einfach. Ihre Leiden neben die Leiden anderer zu stellen hieß vergleichen (welche Hölle ist die schlimmere?), hieß das Martyrium von Sarajevo zu einem Fall unter anderen degradieren. Die Greuel in
dieser Stadt hätten mit dem, was in Afrika passierte, nichts zu tun, erklärten sie. Ihre Empörung hatte zwar auch einen rassistischen Unterton – Bosnier sind Europäer, so beteuerten sie unermüdlich gegenüber ihren ausländischen Freunden –, aber sie wären auch nicht einverstanden gewesen, wenn statt der Fotos aus Somalia Bilder von Greueltaten an Zivilisten in Tschetschenien oder im Kosovo oder in irgendeinem anderen Land in die Ausstellung einbezogen worden wären. Die eigenen Leiden neben die Leiden anderer gestellt zu sehen ist unerträglich.
Wer eine Hölle als das
bezeichnet, was sie ist, hat damit natürlich noch nicht gesagt, wie man Menschen aus dieser Hölle herausholen und das Höllenfeuer eindämmen kann. Trotzdem scheint es schon an sich positiv zu sein, wenn man die eigene Wahrnehmung schärft und sich immer wieder klarmacht, wieviel durch menschliche Bosheit verursachtes Leiden es in der Welt gibt, in der wir mit anderen leben. Wer sich ständig davon überraschen läßt, daß es Verderbtheit gibt, wer immer wieder mit erstaunter Enttäuschung (oder gar Unglauben) reagiert, wenn ihm vor Augen geführt wird, welche Grausamkeiten Menschen einander antun können, der ist moralisch oder psychologisch nicht erwachsen geworden. Von einem gewissen Alter an hat niemand mehr ein Recht auf solche Unschuld oder Oberflächlichkeit, auf soviel Unwissenheit oder Vergeßlichkeit. Es gibt inzwischen einen umfangreichen Bestand an Bildern, die es schwieriger machen, in dieser ethischen Mangellage zu verharren. Lassen wir uns also von den
grausigen Bildern heimsuchen. Auch wenn sie nur Markierungen sind und den größeren Teil der Realität, auf die sie sich beziehen, gar nicht erfassen können, kommt ihnen eine wichtige Funktion zu. Die Bilder sagen: Menschen sind imstande, dies hier anderen anzutun – vielleicht sogar freiwillig, begeistert, selbstgerecht. Vergeßt das nicht. Es ist dies nicht ganz dasselbe, wie wenn man von Menschen verlangt, einen bestimmten, besonders monströsen Ausbruch von Bosheit in Erinnerung zu behalten (»nie zu vergessen«). Vielleicht mißt man dem Erinnern heute zuviel Wert bei – und dem Denken nicht genug. Erinnern ist ein ethisches Handeln, es hat schon an sich einen ethischen Wert. Die Erinnerung ist, so schmerzlich dies sein mag, das einzige, was uns mit den Toten verbinden kann. Deshalb ist der Glaube an den Wert des Erinnerns tief in uns verankert. Wir wissen, daß wir sterben werden, und betrauern jene, die, wenn die Dinge ihren gewöhnlichen Gang gehen, vor uns sterben werden – Großeltern, Eltern, Lehrer, ältere Freunde. Herzlosigkeit und Vergeßlichkeit gehören, so scheint es, zusammen. Wo es jedoch um das Erinnern über die sehr viel längeren Zeitspannen kollektiver Geschichte geht, werden die von der Geschichte ausgehenden Signale widersprüchlich. Es gibt einfach zuviel Ungerechtigkeit auf der Welt. Und zuviel Erinnerung (an alte Kümmernisse: die Serben, die Iren) verbittert. Frieden schließen heißt vergessen. Versöhnung macht es erforderlich, die Erinnerung einzuschränken und zu verformen.
Wenn es also darum geht, einen Raum zu schaffen, in dem jeder sein eigenes Leben leben kann, ist es wünschenswert, daß sich die auflistende Erinnerung an ganz bestimmte Ungerechtigkeiten in einem allgemeineren Bewußtsein davon auflöst, daß Menschen einander überall auf der Welt schreckliche Dinge antun.
Vor unseren kleinen Bildschirmen hockend – Fernseher, Computer, Palmtop –, können wir zu Bildern und Kurzberichten von Katastrophen in der ganzen Welt surfen. Man könnte meinen, es gebe solche Nachrichten jetzt in größerer Menge als früher. Aber wahrscheinlich täuscht dieser Eindruck. Es ist nur so, daß die Nachrichten »von überall« kommen. Und nach wie vor sind die Leiden mancher Menschen für ein bestimmtes Publikum (da sich ja nun nicht übersehen läßt, daß auch das Leiden sein Publikum hat) von sehr viel größerem Interesse als die Leiden anderer Menschen. Daß Nachrichten über Kriege heute weltweit verbreitet werden, bedeutet nicht, daß sich die Fähigkeit, über das Leiden weit entfernt lebender Menschen nachzudenken, nennenswert erweitert hätte. In einem modernen Leben, in dem es eine Unmenge von Dingen gibt, denen wir unsere Aufmerksamkeit schenken sollen, scheint es normal, daß man sich von Bildern abwendet, die man einfach nur als belastend empfindet. Die Leute würden noch viel mehr zwischen den Kanälen hin- und herschalten, wenn die Nachrichten
medien den Einzelheiten des Leidens, das durch Krieg und andere Ungeheuerlichkeiten verursacht wird, mehr Zeit widmen würden. Aber es trifft wahrscheinlich nicht zu, daß die Menschen weniger fühlen und schwächer reagieren. Daß wir uns nicht von Grund auf verändern, daß wir uns abwenden können, daß wir umblättern und umschalten können, tut dem ethischen Wert eines Bilderansturms keinen Abbruch. Es ist kein Fehler, kein Zeichen von Schwäche, wenn wir keine Verbrennungen davontragen, wenn wir nicht genug leiden, während wir diese Bilder sehen. Wir erwarten von einem Foto ja auch nicht, daß es unsere Unwissenheit hinsichtlich der Geschichte und der Ursachen der Leiden behebt, die es aufgreift und ins Bild rückt. Solche Bilder können nicht mehr sein als eine Aufforderung zur Aufmerksamkeit, zum Nachdenken, zum Lernen – dazu, die Rationalisierungen für massenhaftes Leiden, die von den etablierten Mächten angeboten werden, kritisch zu prüfen. Wer hat das, was auf dem Bild zu sehen ist, verursacht? Wer ist verantwortlich? Ist es entschuldbar? War es unvermeidlich? Haben wir eine bestimmte Situation bisher fraglos akzeptiert, die in Frage gestellt werden sollte? Dies alles – und obendrein die Einsicht, daß weder moralische Empörung noch Mitgefühl das Handeln bestimmen können. Die Enttäuschung darüber, daß man gegen das, was die Bilder zeigen, nichts zu unternehmen vermag, kann sich in den Vorwurf verwandeln, es sei anstößig, solche Bilder zu betrachten, oder die Art, wie sie ver
breitet werden, sei anstößig – zum Beispiel in unmittelbarer Nachbarschaft von Anzeigen für Kosmetika, Schmerzmittel oder Geländewagen. Könnten wir gegen das, was die Bilder zeigen, tatsächlich etwas unternehmen, wären uns solche Fragen wahrscheinlich viel weniger wichtig.
Man hat gegen Bilder gelegentlich den Vorwurf erhoben, sie machten es möglich, Leiden aus der Distanz zu betrachten – als gäbe es auch eine andere Art des Betrachtens. Doch auch wenn man etwas aus der Nähe betrachtet – ohne Vermittlung durch ein Bild –, tut man nichts anderes als betrachten. Manche Vorwürfe, die gegen Greuelbilder erhoben werden, beziehen sich auf die Grundbestimmungen des Sehens selbst. Sehen kostet keine Anstrengung; zum Sehen bedarf es der räumlichen Distanz; Sehen läßt sich »abschalten« (wir haben Augenlider, aber unsere Ohren sind nicht verschließbar). Gerade die Eigenschaften, um derentwillen den griechischen Philosophen der Gesichtssinn als der vorzüglichste, edelste aller menschlichen Sinne galt, werden ihm heute als Mangel angerechnet. Es entsteht der Eindruck, als sei etwas moralisch falsch daran, wie die Fotografie ein abstract, eine Kurzfassung der Realität, liefert; als habe man nicht das Recht, das Leiden anderer aus der Distanz wahrzunehmen, ohne selbst auch die rohe Gewalt zu spüren; als würden wir menschlich (und moralisch) einen zu hohen
Preis für die einst so bewunderten Eigenschaften des Sehens zahlen – das Abstandnehmen von der Aggressivität der Welt, das uns die Freiheit gibt, zu beobachten und unsere Aufmerksamkeit gezielt einzusetzen. Aber eigentlich ist mit alledem nur die Funktionsweise des menschlichen Geistes selbst beschrieben. Es ist nicht unbillig, Abstand zu nehmen und nachzudenken. Mehrere Philosophen haben es auf diese oder jene Weise zum Ausdruck gebracht: »Niemand kann gleichzeitig nachdenken und zuschlagen.«
Manche Fotos, die zu
Sinnbildern des Leidens geworden sind – etwa der Schnappschuß des mit erhobenen Händen dastehenden kleinen Jungen im Warschauer Ghetto, kurz vor dem Abtransport in ein Todeslager –, können als Memento mori dienen, als Objekte der Kontemplation, die uns helfen, unseren Wirklichkeitssinn zu vertiefen, als weltliche Ikonen. Aber daran scheint sich dann auch die Forderung nach einem Pendant zu einem geweihten, der frommen Andacht gewidmeten Raum zu knüpfen, der zu solcher Betrachtung besonders geeignet wäre. Doch Raum, der dem Ernst vorbehalten bliebe, ist in einer modernen Gesellschaft schwer zu finden, deren wichtigstes Modell für den öffentlichen Raum der Mega-Store ist (der zugleich auch Flughafen oder Museum sein kann). Quälende Fotos vom Leiden anderer Menschen in einer Kunstgalerie zu betrachten scheint deplaziert. Selbst die in den Konzentrationslagern aufgenommenen Bilder, deren Ernst und Eindringlichkeit ein für allemal gesichert scheint, wirken und wiegen
sehr unterschiedlich, je nachdem, wo man sie sieht: in einem Fotografiemuseum (etwa im Hôtel Sully in Paris oder im International Center of Photography in New York); in einer Galerie für zeitgenössische Kunst; in einem Museumskatalog; im Fernsehen; auf einer Seite der New York Times; auf einer Seite der Zeitschrift Rolling Stone; in einem Buch. Ein Foto, das man aus einem Bildband oder (wie die Bilder aus dem Spanischen Bürgerkrieg) aus einer auf rauhes Papier gedruckten Zeitung kennt, nimmt eine andere Bedeutung an, wenn es in einer Modeboutique ausgestellt wird. Jedes Bild, das wir sehen, sehen wir in einer bestimmten Umgebung. Und diese Umgebungen haben sich vervielfältigt. In einer umstrittenen Werbekampagne verwendete der italienische Modehersteller Benetton ein Foto, auf dem das blutige Hemd eines gefallenen kroatischen Soldaten zu sehen war. Werbefotos sind heute oft genauso anspruchsvoll, kunstvoll, gespielt zwanglos, provokant, ironisch oder ernst wie Bilder aus dem Bereich der künstlerischen Fotografie. Als Capas fallender Soldat in Life neben der »Vitalis«-Annonce erschien, bestand ein unüberbrückbarer Unterschied im Aussehen zwischen Reklamefotos und redaktionellen Fotos. Heute gibt es diesen Unterschied nicht mehr. Die Skepsis gegenüber den Arbeiten mancher »Gewissensfotografen« erschöpft sich heute nicht selten in einem Unbehagen daran, daß Fotos auf vielerlei Art in Umlauf gebracht werden; daß es keine Möglichkeit gibt, diesen Bildern ein Ambiente der Andacht zu garantieren, in dem sie mit der gebotenen Hingabe be
trachtet werden können. Abgesehen von den Räumen, die der patriotischen Verehrung politischer Führer gewidmet sind, gibt es heute anscheinend keine Möglichkeit, für irgend etwas eine der Kontemplation förderliche, Zurückhaltung fordernde Umgebung zu gewährleisten. Insofern Fotos mit besonders ernsten oder ergreifenden Motiven Kunst sind – und Kunst werden sie, allen entgegenlautenden Erklärungen zum Trotz, sobald sie an Wänden hängen –, teilen sie das Schicksal aller Kunst, die in öffentlichen Räumen, ob hängend oder stehend, ausgestellt wird. Sie werden zu Stationen eines Spaziergangs, den der Betrachter meist in Begleitung anderer unternimmt. Ein Museums- oder Galeriebesuch ist eine von vielfältigen Zerstreuungen durchsetzte soziale Veranstaltung, bei der Kunst betrachtet und über Kunst gesprochen wird.* In mancher *
Das Museum selbst ist im Laufe seiner Entwicklung immer mehr zu einem Ambiente der Zerstreuung geworden. Während es früher ein Ort war, an dem die schönen Künste der Vergangenheit aufbewahrt und ausgestellt wurden, ist das Museum heute zu einer riesigen Bildungsinstitution mit angeschlossenem Einkaufszentrum geworden, zu dessen Funktionen unter anderem auch die Ausstellung von Kunst gehört. Seine Hauptfunktionen sind Unterhaltung und Bildung in unterschiedlichen Mischungsverhältnissen sowie die Vermarktung von Erfahrungen, Geschmacksrichtungen und Imitaten. Das Metropolitan Museum of Art in New York organisiert eine Ausstellung der Kleider, die Jacqueline Bouvier Kennedy Onassis während ihrer Jahre im Weißen Haus getragen hat, und das Imperial War Museum in London, das für seine Sammlungen militärischer Gerätschaften und Bilder berühmt ist, bietet seinen Besuchern neuerdings
Hinsicht sind Bedeutung und Ernst solcher Fotos in einem Buch, das man, über den Bildern innehaltend, allein und ohne zu reden betrachtet, besser aufgehoben. Aber irgendwann kommt der Augenblick, in dem man auch das Buch schließt. Die starke Gefühlsregung erweist sich als eine vorübergehende. Zuletzt verblaßt das Besondere an den Anklagen, die von den Fotos ausgehen; aus der Kritik an einem bestimmten Konflikt, aus der Darstellung bestimmter Verbrechen wird eine Kritik an menschlicher Grausamkeit und Brutalität schlechthin. Welche Absichten der Fotograf mit seinen Bildern verfolgt, ist für diesen Vorgang unerheblich.
Gibt es ein Mittel gegen die so nachhaltig verführerische Wirkung, die vom Krieg ausgeht? Und kann es sein, daß diese Frage von einer Frau eher gestellt wird als von einem Mann? (Wahrscheinlich ja.) Kann man durch ein Bild (oder eine Gruppe von Bildern) dazu gebracht werden, sich aktiv gegen den zwei nachgebaute Erlebniswelten: aus dem Ersten Weltkrieg die »Trench Experience« (die Grabenkrieg-Erfahrung aus der Somme-Schlacht ), ein Spaziergang mit vom Band zugespielter Geräuschkulisse (explodierende Granaten, Schreie), aber geruchlos (keine verwesenden Leichen, kein Giftgas); und aus dem Zweiten Weltkrieg die »Blitz Experience«, eine Erlebniswelt, die die Verhältnisse während der deutschen Bombenangriffe auf London nachstellt, einschließlich der Simulation eines Luftangriffs, den man aus einem unterirdischen Bunker miterlebt.
Krieg einzusetzen – so wie man zum Gegner der Todesstrafe werden kann, indem man Dreisers Roman Eine amerikanische Tragödie liest oder Turgenjews Erzählung Troppmanns Hinrichtung, in der der damals schon in Frankreich lebende Schriftsteller berichtet, wie er in ein Pariser Gefängnis eingeladen wird, um dort die letzten Stunden eines berühmten Kriminellen vor seiner Guillotinierung zu beobachten? Wahrscheinlich ist eine Erzählung in dieser Beziehung wirksamer als ein Bild. Zum Teil hängt dies auch damit zusammen, wieviel Zeit man betrachtend, mitfühlend investieren muß. Kein Foto und keine Fotoserie kann sich so entfalten, kann so weiter- und immer weitergehen wie der Film The Ascent () der ukrainischen Regisseurin Larissa Shepitko, der ergreifendste Film über die Traurigkeit des Krieges, den ich kenne, oder der erstaunliche japanische Dokumentarfilm von Kazuo Hara, The Emperor›s Naked Army Marches On () – das Porträt eines »gestörten« Veteranen aus dem Pazifikkrieg, der sein Leben damit verbringt, japanische Kriegsverbrechen anzuprangern, indem er mit einem Lautsprecherwagen in Japan herumfährt und seinen früheren Vorgesetzten höchst unwillkommene Besuche abstattet, bei denen er sie auffordert, sich für bestimmte Verbrechen zu entschuldigen – zum Beispiel für die Ermordung amerikanischer Gefangener auf den Philippinen, die sie selbst angeordnet oder später gedeckt haben. Unter den für sich stehenden Antikriegsbildern scheint mir das riesige Foto von Jeff Wall aus dem Jahre
– Dead Troops Talk (A Vision After an Ambush of a Red Army Patrol near Moqor, Afghanistan, Winter ) – in seiner Nachdenklichkeit und Eindringlichkeit exemplarisch. Dieses Bild – ein auf einen Leuchtkasten montiertes Cibachrome-Diapositiv von Meter Höhe und rund Meter Länge – ist das Gegenteil von einem Dokument. Es zeigt Gestalten in einer Landschaft – einem zerschossenen Abhang –, die im Atelier des Künstlers aufgebaut wurde. Der Kanadier Wall ist nie in Afghanistan gewesen. Der Hinterhalt ist ein frei erfundenes Ereignis aus einem verbissen geführten Krieg, über den in den Medien viel berichtet wurde. Wall nahm sich vor, die Schrecken des Krieges (er selbst verweist auf die Anregung durch Goya) so zu imaginieren, wie die Historienmalerei des . Jahrhunderts und andere Formen historischer Spektakel dies taten, die im späten . und frühen . Jahrhundert, kurz vor der Erfindung der Fotokamera, aufkamen und die Vergangenheit, vor allem die unmittelbare Vergangenheit, auf verblüffende und verstörende Weise real machten – tableaux vivants, Arrangements mit Wachsfiguren, Dioramen und Panoramen. Die Gestalten in Walls visionärer Fotoarbeit sind »realistisch«, aber das Bild selbst ist dies natürlich nicht. Tote Soldaten sprechen nicht. Hier tun sie es. Dreizehn russische Soldaten in dicken Winteruniformen und hohen Stiefeln sind hier auf einem zerwühlten, mit Blutlachen übersäten Abhang zwischen Geröll und Kriegsabfall verteilt: Granathülsen, verbogenes Blech, ein Stiefel, in dem noch der untere Teil
eines Beins steckt … Die Szene wirkt wie eine Neufassung des Schlußteils von Abel Gance᾽ Film J᾽accuse, als sich die toten Soldaten des Ersten Weltkriegs aus ihren Gräbern erheben – aber diese russischen Wehrpflichtigen, die in diesem törichten Kolonialkrieg der Sowjetunion abgeschlachtet wurden, sind nie begraben gewesen. Einige tragen noch ihre Helme. Aus dem Kopf einer knienden, lebhaft sprechenden Figur schäumt rote Hirnmasse. Die Atmosphäre des Bildes ist herzlich, gesellig, brüderlich. Manche liegen zusammengekrümmt am Boden oder hocken, auf einen Ellbogen gestützt, da und plaudern, wobei ihre offenen Schädel und die verstümmelten Hände deutlich sichtbar sind. Einer der Männer beugt sich über einen anderen, der wie schlafend auf der Seite liegt – vielleicht will er ihn ermuntern, sich aufrecht hinzusetzen. Drei Männer vergnügen sich mit Schabernack: einer mit einer klaffenden Bauchwunde sitzt rittlings auf einem anderen, der auf dem Bauch liegt und einen dritten anlacht, der vor ihm kniet und einen Fetzen Fleisch vor seiner Nase baumeln läßt. Ein Soldat – mit Helm, ohne Beine – hat sich mit aufmerksamem Lächeln nach einem etwas entfernt hockenden Kameraden umgewandt. Unterhalb von ihm liegen zwei Männer, die von der Auferstehung anscheinend nichts mitbekommen haben – sie liegen auf dem Rücken, und die blutverschmierten Köpfe hängen nach unten. Wenn man sich in dieses Bild mit seiner massiven Anklage versenkt, könnte man auf den Gedanken kommen, daß sich die Soldaten uns zuwenden und zu
uns sprechen könnten. Aber nein, kein einziger blickt aus dem Bild heraus. Protest droht hier nicht. Sie rufen uns nicht zu, der Scheußlichkeit, die der Krieg ist, ein Ende zu machen. Sie sind nicht ins Leben zurückgekehrt, um weiterzutaumeln und diejenigen anzuprangern, die den Krieg begonnen haben, jene, von denen sie losgeschickt wurden, um zu töten und sich töten zu lassen. Und sie wirken, so wie sie dargestellt sind, auch auf andere nicht erschreckend – bei ihnen (am linken Bildrand) hockt ein afghanischer Plünderer in weißer Bluse, der in aller Ruhe eine Soldatentasche durchsucht und von dem sie keine Notiz nehmen. Und rechts oben kommen auf dem Weg, der den Hang hinunterführt, zwei Afghanen ins Bild, die vielleicht selbst Soldaten sind und die, nach den in der Nähe liegenden Kalaschnikows zu urteilen, den toten Soldaten ihre Waffen schon abgenommen haben. Diese Toten interessieren sich nicht im geringsten für die Lebenden: nicht für diejenigen, die ihnen ihr Leben nahmen; nicht für Berichterstatter – und nicht für uns. Warum sollten sie unseren Blick suchen? Was hätten sie uns zu sagen? »Wir« – zu diesem »Wir« gehört jeder, der nie etwas von dem erlebt hat, was sie durchgemacht haben – verstehen sie nicht. Wir begreifen nicht. Wir können uns einfach nicht vorstellen, wie das war. Wir können uns nicht vorstellen, wie furchtbar, wie erschreckend der Krieg ist; und wie normal er wird. Können nicht verstehen und können uns nicht vorstellen. Jeder Soldat, jeder Journalist, jeder Mitarbeiter einer Hilfsorganisation, jeder unabhängige Beobachter, der
eine Zeit unter Beschuß verbracht hat und das Glück hatte, dem Tod zu entkommen, der andere in seiner Nähe ereilte, denkt so und läßt sich nicht davon abbringen. Und sie haben recht.
Danksagung
Einige Überlegungen dieses Buches wurden in einer frühen Fassung erstmals im Februar als Amnesty Lecture an der Universität Oxford vorgetragen und nachher in einem Sammelband mit Amnesty Lectures unter dem Titel Human Rights, Human Wrongs (Oxford University Press, ) veröffentlicht; ich danke Nick Owen vom New College für die Einladung zu diesem Vortrag und für seine Gastfreundschaft. Ein Auszug aus diesen Überlegungen erschien als Vorwort zu einem dem Fotografen McCullin gewidmeten Bildband mit dem Titel Don McCullin, der im Verlag Jonathan Cape erschienen ist. Mein Dank gilt Mark Holborn, der die Fotobücher bei Cape in London als Lektor betreut, für seine Ermutigung; wie immer auch meinem ersten Leser, Paolo Dilonardo; auch diesmal Robert Walsh für seinen Scharfblick und Minda Rae Amiran, Peter Perrone, Be nedict Yeoman und Oliver Schwaner-Albright für den ihren.
Wertvolle Anstöße gaben mir ein Aufsatz von Cornelia Brink, »Secular Icons: Looking at Photographs from Nazi Concentration Camps«, in History & Memory, Bd. , Nr. (Frühling/Sommer ), und Barbie Zelizers ausgezeichnetes Buch Remembering to Forget: Holocaust Memory Through the Cameras Eye (University of Chicago Press, ), wo ich auch das Zitat von Walter Lippmann fand. Wertvolle Informationen über die Bombenangriffe der Royal Air Force auf irakische Dörfer zwischen und entnahm ich einem Aufsatz im Aerospace Power Journal (Winter ), dessen Verfasser, James S. Corum, an der School of Advanced Airpower Studies auf der Maxwell Air Force Base, Alabama, unterrichtet. Auskunft über die Beschränkungen, denen Fotojournalisten während des Falklandkrieges und während des Golfkriegs von unterworfen waren, geben zwei wichtige Bücher: Body Horrors: Photojournalism, Catastrophe, and War von John Taylor (Manchester University Press, ) und War and Photography von Caroline Brothers (Routledge, ). Brothers faßt auch die Argumente, die gegen die Authentizität von Capas Foto sprechen, auf den Seiten bis ihres Buches zusammen. Eine entgegengesetzte Auffassung vertritt Richard Whelan in seinem Aufsatz »Robert Capa᾽s Falling Soldier« in Aperture, Nr. (Frühjahr ). Er beruft sich dabei auf verschiedene unklare Verhältnisse und Bedingungen an der Front, in deren Verlauf Capa zufällig fotografiert habe, wie ein republikanischer Soldat getötet worden sei.
Informationen über Roger Fenton verdanke ich dem Aufsatz von Natalie M. Houston, »Reading the Victorian Souvenir: Sonnets and Photographs of the Crimean War«, in The Yale Journal of Criticism, Bd. , Nr. (Herbst ). Den Hinweis, daß es zwei Fassungen von Fentons Bild »Das Tal des Todesschattens« gibt, verdanke ich Mark Haworth-Booth vom Victoria and Albert Museum; beide sind abgedruckt in dem Band The Ultimate Spectacle: A Visual History of the Crimean War von Ulrich Keller (Routledge, ). Die Darstellung der britischen Reaktion auf das Foto nichtbegrabener britischer Gefallener bei der Schlacht bei Spion Kop stützt sich auf den Band Early War Photographs, herausgegeben von Pat Hodgson (New York GraphicSociety, ). William Frassanito hat in seinem Buch Gettysburg: A Journey in Time (Scribner᾽s, ) nachgewiesen, daß Alexander Gardner die Lage eines gefallenen Soldaten der Konföderierten für ein Foto verändert haben muß. Das Zitat von Gustave Moynier entnehme ich dem Buch von David Rieff, A Bedfor the Night: Humanitarianism in Crisis (Simon & Schuster, ). Nach wie vor lerne ich, wie schon seit vielen Jahren, aus Gesprächen mit Ivan Nagel.
Susan Sontag beschäftigt sich in ihrem entsetzlich aktuellen Essay mit der Kriegsfotografie, mit dem, was das Abbild eines leidenden Menschen im Betrachter auslöst, mit der Chance, daß das Bild zum Handeln aufrufen kann. »Auch in dem letzten ihrer vielen auch in Deutschland einflußreichen Bücher, Das Leiden anderer betrachten, ist Susan Sontag dem unverrückbaren Ethos treu geblieben, als Zeugin einer immer noch von Kriegen heimgesuchten Epoche mutig und verantwortungsbewußt auf dem Recht der Opfer zu beharren.« Aus der Begründung für die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels
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