DAS
HÖLZERNE
PFERD
DIE SAGE VOM
UNTERGANG TROJAS UND
VON DEN IRRFAHRTEN
DES ODYSSEUS
NACH HOMER
UND AND...
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DAS
HÖLZERNE
PFERD
DIE SAGE VOM
UNTERGANG TROJAS UND
VON DEN IRRFAHRTEN
DES ODYSSEUS
NACH HOMER
UND ANDEREN QUELLEN
NEU ERZÄHLT VON
FRANZ FÜHMANN
VERLAG
NEUES LEBEN
Mehrfarbige Linolschnitte von Eberhard und Elfriede Binder
© Verlag Neues Leben, Berlin 1968
4. Auflage, 1976
Lizenz Nr. 303 (305/130/76) . LSV 7001
Graphische Gestaltung:
Eberhard Binder . Gerhard Schulz
Gesamtherstellung: Karl-Marx-Werk Pößneck V 15/30
Bestell-Nr. 641 897 1
EVP 18,- Mark
eun Jahre hatte der Kampf um Troja schon getobt; neun Jahre lang hatten Griechen und Trojaner in rasendem Metzeln die Erde mit so viel Blut getränkt, daß die Flüsse und Bäche diesen Landstrich nur widerwillig und in höchster Eile durch strömten; neun Jahre lang hatte Volk gegen Volk in wildestem Grimm gewütet, und nun waren sie beide, Angreifer wie Verteidi ger, des grausamen Handwerks müde und sehnten sich nach Frie den und stillem Glück. Denn der Anlaß des männerverzehrenden Schlachtens war ja ein Nichts gewesen: Ein griechischer Stamm hatte, wie es zu jener Zeit beinah Brauch war, den Trojanern eine Tochter ihres Königs Priamos geraubt, worauf der troische Prinz Paris sich Helenas, der Gemahlin des Spartanerkönigs Menelaos, bemächtigt und sie übers Meer in seine Vaterstadt am Fuß des Ida entführt hatte, und dieses Frauenraubes wegen war denn ein Krieg entbrannt, der neun Jahre schon dauerte und dessen die Völker nunmehr müde waren. »Warum für Helena sterben?« so fragten sie. Immer heftiger drängten die griechischen Krieger zur Heimkehr, denn den Schiffen begann das Holz stockig zu werden, und Seile wie Segel drohten zu vermodern, und immer heftiger drängte auch das Volk Trojas, das unter der harten Belagerung ächzte, seine Fürsten, den Kampf abzubrechen und die Geraubte herauszugeben. Dem Willen der Völker nach Versöhnung und Frieden hätte schließlich nichts mehr widerstanden; Zeus aber, der König der Götter, dieser urbösen oberen Wesen, die in ihren blinden Launen mit Menschen spielen wie ein Knabe mit gerupften Käfern und 7
Fliegen, Zeus hatte, um seinem Eheweib Hera gefällig zu sein, den Untergang Trojas beschlossen und wollte von seinem Beschluß nicht mehr lassen. Er reizte darum die Heerführer der Griechen, vor allem ihren Oberbefehlshaber Agamemnon, zu wilder Gier nach Beute und Schätzen an. »Was willst du dich von der Stadt wenden und in die Heimat zurückkehren, mächtiger König«, so redete Zeus Agamemnon im Traum an, »was willst du zurückkehren, ehe du nicht alle Güter des üppigen Troja erobert hast? Höre auf mein Wort und rüttle die Völker der Griechen noch einmal zum Kampf auf; das stolze Troja ist reif zum Fall, ein kraftvoller Ansturm genügt, seine Mauern niederzustürzen!« So redete Zeus zu Agamemnon; in Trojas Burg Ilion aber erschien Ares, der ungeschlachte stierwütige Gott des Krieges und der Vernichtung, der im Wachen wie im Schlafen stets den ehernen Helmbusch trägt, und versprach Hektor, dem Führer der Trojaner, den Ruhm und die Ehre eines Sieges mit dem Schwert. »Ihr werdet den Feind niederwerfen, seine Schiffe verbrennen und all sein Hab und Gut nach Troja schleppen, wenn ihr nur tapfer streitet«, so redete er. Denn auch die unsterblichen Götter waren in Zwietracht geraten und nahmen je für die Griechen oder die Troer Partei. Mit einem Streit unter ihnen, den Oberen, hatte, wie so mancher Krieg, einst auch dieses Unheil begonnen, und so soll denn von dem bösen Ursprung berichtet sein.
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DER APFEL DER ERIS
Das Urteil des Paris uf einem Fest in der Felsenburg Pelion – es war dies die Hochzeitsfeier der Meergöttin Thetis mit dem Myrmidonenkönig Peleus, dem künftigen Vater des hochberühmten Helden Achilles –, auf dieser Hochzeitsfeier also, zu der alle Gott heiten außer einer, der Eris, geladen waren, rollte ebendiese Eris, die schlangenhaarige Göttin des Neids und der Zwietracht, Tochter der Nacht und Schwester des völkerwürgenden Ares, einen goldenen Apfel mit den eingegrabenen Worten »Der Schönsten!« unter die fröhlich Zechenden und stahl sich sogleich mit hämischem Lachen wieder davon. Sofort sprang Hera, die Schwester und Gattin des Zeus und Königin aller Unsterblichen, von ihrem Sitz und wollte den Apfel ergreifen, doch gleichzeitig mit ihr streckten Pallas Athene, die eulenäugige Göttin der Weisheit, des Webstuhls, der Kampflist und vieler anderen Künste, und Aphrodite, die aus dem Silberschaum des zyprischen Meeres geborene Göttin der Liebe, ihre Hand nach dem Geschenk der Zwietrachtstifterin aus. Vergebens berief sich Hera auf ihre Königinnenwürde; keine der Unsterblichen wollte der anderen weichen, ja die Göttinnen drohten schon, wie es oft ihre Art war, einander in die Haare zu fahren und mit ihren scharfen Nägeln Wangen und Brust der Nebenbuhlerinnen zu zerfleischen, da gebot Zeus aufgebracht mit hallender Stimme Ruhe und wies, da er sich scheute, selbst einen Schiedsspruch zu fällen, auf die Erde hinab nach jenem kleinasiatischen Küstenstrich nahe den Dardanellen, wo Paris, ein Sohn des Troerkönigs Priamos, die Rinderherde seines Vaters in einem schattigen, nach süßem Gras und Klee duftenden Tale des Hoch 9
gebirges Ida weidete. »Dieser edle, wohlgestaltete Jüngling, dessen aufrechten Sinn ich kenne, soll euer Schiedsrichter sein«, bestimmte Zeus, »seinem Spruch habt ihr euch ohne Murren zu fügen, als wäre er mein eigenes Wort! Hermes, der Götterbote, mag euch geleiten; handelt nun ungesäumt, damit dieser widrige Zwist rasch überwunden sei und unser Fest wieder fröhlich werde!« Also befahl Zeus, und die Göttinnen waren einverstanden, denn jede war von sich überzeugt, des jungen Paris Herz und Urteil zu gewinnen. So eilten sie denn, schneller als der Blitz niederfährt und dennoch leiser und sanfter als der Fall einer Flocke, zur Erde hinab, und Hermes, der göttliche Herold mit den geflügelten Schuhen und dem geflügelten flachen Wanderhut, geleitete sie. Paris erstarrte vor Schreck, als plötzlich aus dem rauschenden Nichts der Luft vier Himmlische vor ihn hintraten; er erbleichte, sein Haar sträubte sich, und er stürzte auf die Knie und berührte mit der Stirne den Boden. Hermes hieß ihn mit freundlichen Wor ten aufstehen und sich nicht ängstigen, dann berichtete er dem Prinzen vom Streit im Olymp und der Entscheidung des Götter königs und überreichte dem Verschreckten den goldenen Apfel. »Ich bin doch aber nur ein Sterblicher«, erwiderte Paris voll Furcht und Grauen, »wie könnte ich da über die Oberen richten, und gar über drei der Allerhöchsten! Ich werde mich bemühen, den goldenen Apfel möglichst genau in drei Teile zu teilen, und jeder der Herrinnen ein Drittel überreichen; mehr kann unmöglich meine Pflicht sein!« So stammelte Paris; Hermes aber fuhr ihn mit barschen Worten an. »Widersetze dich ja nicht dem Willen des Allvaters«, so sprach der Götterbote, »gehorche prompt und hüte dich, daß dir der Allgewaltige nicht grolle! Er hat befohlen, daß du der Schönsten den Preis zusprichst; suche also keine dummen Ausflüchte, sondern handle nach seinen Worten!« Der arme Paris verfluchte sein Geschick. Er wagte nicht, die Augen zu den Göttinnen zu erheben, und wußte nicht, was er tun und wie er urteilen sollte. Wie immer er sich auch entschied, so dachte er, ob für Hera, Athene oder Aphrodite, er würde in jedem Fall den 10
unauslöschlichen Zorn der beiden ausgeschlagenen Göttinnen auf sich ziehen; und weigerte er sich, ein Urteil zu fällen, würde er sich Zeus zum Feind machen, und das hieße günstigstenfalls sein junges Leben verlieren, wenn nicht gar zu ewigen Qualen verurteilt sein. Hera merkte die Verzweiflung des prinzlichen Hirten sehr wohl. Sie legte ihren Arm um seine Schulter, führte ihn, der sich von ihr willenlos leiten ließ wie ein loses Blatt vom Wind, ein Stückchen abseits und sprach: »Ich weiß wohl, daß du dich längst für mich entschieden hast, Paris, jedoch zugleich den Zorn meiner Nebenbuhlerinnen fürchtest. Nun, vergiß nicht, daß ich neben Zeus auf dem Götterthron sitze und immer meine schützende Hand über dich halten werde. Wenn du mir den Erisapfel zusprichst, gelobe ich dir mit meinem Göttereide, dich zum Reichsten aller Irdischen zu machen und zum Herrn aller Lande ostwärts von Troja bis hin zum Ozean, also über den Erdteil, den man Asien nennt! So sei denn ohne Furcht und Sorgen und erkenne mir ungesäumt den Preis zu!« So sprach Hera, und ähnlich redete Athene zu Paris, der, obwohl doch sonst nicht blöde, noch immer nicht wagte, seine Augen zu den Göttinnen zu erheben und hilflos mit gesenktem Haupt vor den strahlenden Schönen stand. »Vergiß nicht, daß mich keines Weibes Schoß geboren hat, sondern daß ich waffenklirrend dem Haupt des Zeus entstiegen und darum seine Lieblingstochter bin«, so sprach die eulenäugige Pallas, »meine Widersacherinnen werden, sosehr sie sich auch spreizen und dich einzuschüchtern versuchen, dir kei nen Schaden zufügen können, auch Hera nicht! Gib mir den Preis, und ich will dich zum weisesten Manne der Welt und zum Sieger in allen Schlachten machen, so daß dein Ruhm bis in die Ewigkeit erklingen wird!« So redete Athene, und Paris stand noch immer unentschlossen, da faßte Aphrodite, die Göttin der Schönheit und der Liebe, nach sei ner Hand, und als sie ihn berührte, durchschauerte den Prinzen ein Zauber; er fühlte Aphrodites Hand wie ein süßes Feuer auf der seinen und hob das bisher gesenkte Haupt und sah Aphrodites Angesicht und schaute ihr Lächeln wie das Morgenrot über dem 11
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weißen geschweiften Inselstrand, und Aphrodite beugte sich zu seinem Ohr und flüsterte: »Paris, wenn du mich als Siegerin krönst, will ich dir die schönste Frau der Welt zur Gemahlin geben: Helena, die Gattin des Menelaos, die alle Männer der Erde und des Olymp im Wachen wie im Traum begehren. Was frommt dir Weisheit, und was nützt dir Macht, wenn die Liebe dich flieht! Darum lausche auf die Stimme deines Herzens und rufe mich als Siegerin aus!« »Aber wie könnte Helena mein Weib werden, da sie doch schon einem Gemahl gehört?« fragte Paris, und Aphrodite lachte hellauf und sprach: »O Hirt des Idagebirges, wie töricht du fragst! Ich bin doch die Göttin der Liebe, Paris, und diese Macht hat bisher noch jedes atmende Geschöpf bezwungen! Vertraue nur meiner Kunst und suche eine Gelegenheit, ein Schiff nach Sparta zu führen, alles andere überlaß getrost meinem Wirken!« Da Paris dies vernahm und da die Göttin ihr Versprechen be schwor, reichte der Troerprinz ihr den goldenen Apfel und sprach: »Der Schönsten!« Triumphierend hob die Göttin der Liebe den Apfel hoch, daß er in der Sonne blitzte; Hera und Athene aber wandten sich zornentbrannt um und gingen Arm in Arm davon, und Hera sprach: »So soll denn um dieses Tölpels willen Troja verflucht sein und im Krieg verbrennen; seine Mauern sollen ge schleift werden, seine Söhne sämtlich in den Staub sinken und seine Kinder und Frauen als wehrlose Beute den Feinden zufallen! Fluch jenem Sterblichen, der mir, der Götterkönigin, diesen Schimpf angetan; Fluch der Stadt, die ihn beherbergt, und Fluch dem Volk, das ihn aufgezogen! Die Hunde mögen sein Fleisch und das seiner Brüder fressen und die Geier seine Knochen über dem Schlachtfeld zerstreuen; nicht ungestraft soll ein Erdenwurm Heras Schönheit mißachtet haben!« So zürnte die Götterbeherrscherin, und Athene stimmte in ihre Verwünschungen ein; Aphrodite aber segnete Troja, und Ares, der wüste Geselle, der die Schaum geborene ungestüm liebte, trat an ihre Seite und versprach dem Priamosvolk Beistand und Schutz. Zeus wiederum, von dem die grollenden Göttinnen blutige Genugtuung ob ihrer Schmach gefor 14
dert hatten, beschloß Trojas Untergang. Denn böse und unbeküm mert um menschliches Glück planen und handeln die Oberen, das sollten die Griechen wie die Trojaner nur allzubald erfahren: Griechen aus Salamis, von Athene angestiftet, entführten eine trojanische Prinzessin; der Königssohn Paris erbot sich, diese Schmach zu rächen, und rüstete eine stattliche Kriegsflotte aus, doch er steuerte mit ihr nicht Salamis, sondern Sparta an, wo König Menelaos, damals ein guter Freund des mächtigen und reichen Troja, herrschte. Acht Tage weilte Paris als geehrter und viel gefeierter Gast in der Königsburg; in der neunten Nacht aber ent führte er Helena, die Gemahlin des Menelaos, die, von Aphrodites Zauber geschlagen, sich schon beim ersten Blick blindlings in den jungen Troerprinzen mit den langen Augenwimpern und dem ge kräuselten schwarzen Haar verliebt hatte und nur darauf brannte, ihm anzugehören. So floh sie denn, nachdem sie noch einen großen Teil des Königsschatzes an sich genommen hatte, willig mit ihrem Entführer zur Flotte und gab sich ihm noch auf dem nordostwärts stürmenden Schiff, an dessen Bug die Galionsfigur der nackten Aphrodite prangte, hin, und als die Geraubte Troja betrat, waren alle Männer dermaßen von ihrer Schönheit geblendet, daß sie den feierlichen Schwur ablegten, diese betörendste aller Erdentöchter niemals den Griechen zurückzugeben, was für Folgen auch immer aus dieser Haltung erwachsen sollten.
Die Atriden sammeln ein Heer ls Menelaos am nächsten Morgen die Schmach gewahr wurde, die sein Gastfreund ihm an getan, eilte er nordwärts über das Pelopsland zu seinem Bruder Agamemnon, dem König von Mykene, und forderte ihn auf, ihm Beistand zu leisten und ein Heer wider Troja aufzustellen. Sparta, über das Menelaos 15
herrschte, war zu jener Zeit die stärkste Macht der Griechen, die ein Volk waren, aber, in Stämme geteilt und jeweils von einem König regiert, voneinander abgeschieden in bergumschlossenen Tälern oder auf meerumwogten Inseln lebten. Wie Menelaos über Sparta, so herrschte Agamemnon über Mykene, das nahe dem Golf von Korinth gelegen war. Agamemnon scheute einen Krieg mit dem wohlbefestigten, mit vielen asiatischen Reichen verbündeten Troja; er schickte eine Gesandtschaft aus, um über Helenas Rück gabe zu verhandeln, doch seine Boten wurden, getreu jenem Schwur, den die Troer bei Helenas Einzug in die Stadt geleistet
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hatten, mit Schmähworten abgewiesen und zurückgeschickt. Da entschloß sich Agamemnon zum Krieg. Die Brüder, nach ihrem Vater Atreus auch Atreussöhne oder Atri den genannt, zogen nun durch die griechischen Lande und warben um Beistand, und da alle Stämme ihnen freundschaftlich verbun den waren und beider Macht auch fürchteten, war die Reise erfolg reich. Als ersten gewannen sie den hochbetagten König Nestor aus Pylos, der als weisester aller Herrscher galt. Mit seinem helfenden Rat gelang es den Atriden, fast alle Könige der Griechen zum Heerzug gegen Troja zu bewegen, so Tlepolemos von Rhodos, der
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neunzig Schiffe mit Kriegern zu senden versprach, sodann den hünenhaften und bärenstarken Ajax von Salamis, der zum Unter schied vom hurtigen Ajax von Lokris der Große Ajax genannt wurde; weiter gewannen die Brüder Menestheus von Athen, Ido meneus von Kreta, Diomedes von Argos und all die Könige von Orchomenos, Böotien, Phökis, Euböa, Elis, Ormenion, Syma, Argisse, Kyphlos und zahlreichen anderen Städten und Inseln, und jeder Herrscher führte sein Kriegsvolk samt reichen Vorräten an Getreide, Schlachtvieh, Öl und Wein auf rotgeschnäbelten Schiffen zur Sammelstelle. Sammelplatz des vereinten Expeditionsheeres war die Hafenstadt Aulis an Böotiens Küste gegenüber der langgestreckten Insel Euböa. Das Meer vor Aulis' Mauern wogte von Masten wie ein Wald, und wenn Wind aufkam und in die Segel fuhr, knatterte ihr vieltausendfaches Flügelschlagen wie Donner über die Wogen. Scharen von Geiern kreisten, ohne die Schwingen zu rühren, stundenlang über der schwimmenden Stadt, um sich dann jählings auf die Reste des Mahles zu stürzen und sich dabei mit Bussarden und Raben im Kampf zu hacken. So lagerten schließlich fünfhunderttausend Griechen in Aulis; auch der anfangs widerspenstige König Odysseus von Ithaka war mit zwölf Schiffen zu ihnen gestoßen, und es fehlte nur noch ein ein ziger König: Achilles von Phthya in Thessalien, der Führer der schlachterfahrenen Myrmidonen, ein erst sechzehnjähriger, doch schon von solchem Ruhm bekränzter Held, daß die Griechen ohne ihn nicht in das ungewisse Abenteuer ziehen wollten. Phthya war denn auch eine der ersten Städte gewesen, die Agamemnon und Menelaos aufgesucht hatten, um Kämpfer zu werben, allein sie hatten dort erfahren müssen, daß der junge König über Nacht spurlos verschwunden war. »Niemand anderes als seine Mutter, die Meergöttin Thetis, kann ihn entführt haben«, hatte der völlig verstörte Vater des Achilles, der greise Myrmidonenfürst Peleus, erklärt, »sicher fürchtet sie, daß ihr, die schon sechs Söhne im Krieg verloren hat, nun auch noch das geliebte jüngste Kind genommen 18
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werden könne, denn Zeus selbst hat unserem Sohn einst die Wahl zwischen einem langen, friedvollen Alltagsdasein und einem kurzen, aber taten- und ruhmreichen Heldenleben gewährt, und der Unbändige hat sich ohne Zögern für das letzte entschieden! Nun ist er seit gestern nacht verschwunden, ohne eine Spur hinterlassen zu haben, und ihr müßtet schon, mächtige Könige, ins blaue Meer zum Muschelpalast der Göttin hinuntersteigen, wenn ihr nach ihm forschen wollt!« So hatte Peleus gesprochen, und es war in der Tat Thetis gewesen, die ihren Sohn entführt hatte, um ihn vor dem drohenden Verder ben zu retten, denn seit sie Achill unter dem Herzen getragen, wußte sie, daß ihm, wenn er nach Troja ziehe, der Schlachttod im fernen Land bestimmt war. Sie hatte darum sofort nach ihrer Niederkunft versucht, dem Neugeborenen Unsterblichkeit zu ver leihen und ihn sechs Nächte hindurch in einem himmlischen Feuer gebadet, um alles aus seinem Fleisch auszubrennen, was vom Vater her sterblich an ihm war; in der siebten Nacht jedoch, als die Göt tin ihr Werk fast vollendet glaubte, war Peleus aus dem Schlaf gefahren und hatte entsetzt das nackte Knäblein im Feuer sich winden gesehen, und ehe die überraschte Göttin dem Gemahl ihr seltsames Tun hätte erklären können, war Peleus, die grausame Mutter verfluchend, ans Feuer gesprungen und hatte den Säugling mit einer Zange aus den Flammen gezogen und damit wider Wil len einen verwundbaren Teil an ihm belassen: die von der Zange berührte Ferse des rechten Fußes. Die Mutter war betrübt von ihrem unverständigen Gemahl gewichen und hatte sich in ihr schimmerndes Meerreich zurückgezogen; der junge Achill aber war vom Vater zu dem berühmten Arzt Cheiron in Pflege gegeben und von diesem ausschließlich mit dem Mark von Bären, den Herzen von Löwen und den Schlegeln der schnellsten Hirsche genährt worden, so daß der Knabe sich schon mit sechs Jahren als küh ner Jäger und Krieger beweisen und mit fünfzehn Jahren von dem alternden und nach Thetis' Scheiden auch menschenscheuen und vergrämten Peleus zum König berufen werden konnte. Nun 20
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aber war er verschwunden, und niemand kannte seinen Aufent haltsort. Schon drohte das Griechenheer sich aufzulösen, da erschien Athene Agamemnon im Traum und enthüllte ihm, daß Thetis ihrem Sohn Achill mädchenhafte Anmut verliehen, ihn in Frauengewänder ge hüllt und unter der Mägdeschar des ihr befreundeten Königs von Skyros, einer gebirgigen Marmorinsel im Nordmeer, verborgen hatte. Sofort schickte Agamemnon den listigschlauen Odysseus, den weisen Nestor und den Großen Ajax nach Skyros, den jungen Helden zur Teilnahme am Kriegszug zu bewegen. Die Gesandten durchstöberten Stadt, Palast und Hafen, doch sie fanden Achilles, der seiner geliebten Mutter keine Bitte abschlagen konnte, und sich, wenn auch zähneknirschend, ihrem Willen beugte, nicht aus den Dienerinnen heraus. Da hieß Odysseus die Mägde sich versammeln und breitete eine Fülle von Schätzen und Schmuckstücken vor sie hin: juwelenbestickte Gürtel, kunstvoll gefärbte Sandalen aus weichestem Leder, wollene Mäntel, Purpurgewänder, Krüge aus Gold, Armspangen, Ringe, Ketten und anderes Silbergeschmeide, und, halb unter Tüchern und Schalen verborgen, auch einen Schild und ein Schwert. »Nehmt euch, ihr Mägde, ein Stück, das euer Herz begehrt«, rief Odysseus, gleichzeitig aber hieß er vor dem Palast Alarm schlagen und Waffen wider Waffen haun. Als die Mägde das Kampfgetöse vernahmen, ließen sie ihre rasch errafften Schätze fallen und flohen erschrocken in eine Ecke, ein Mädchen jedoch bückte sich nach dem Schwert und dem Schild und schickte sich an, vor den Palast zu eilen. So ward Achilles erkannt und vermochte sich nun dem Werben der Könige nicht mehr zu entziehen; er kehrte nach Phthya zurück, rüstete ein Heer und steuerte mit seinen Myrmidonen, dem Schrecken der Schlachten, auf fünfzig schwarzgestrichenen, mit schwarzen Masten und schwarzen Segeln bestückten hochbordigen Schiffen nach Aulis zum griechischen Sammelplatz.
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Die Griechen landen vor Ilion a nun die Streitmacht vereint war, wählten die Könige vor der Abfahrt Agamemnon zum Oberbefehlshaber über Heer und Flotte, doch Idomeneus, der stolze König der Kreter, drohte mit seinen hundert Schiffen wieder zur Heimat zurückzu kehren, wenn Agamemnon den Oberbefehl nicht mit ihm teile. Agamemnon konnte den Kreter, der das größte Kontingent aller Stämme stellte, nicht missen und fügte sich, dafür übernahm er noch zusätzlich den Befehl über das Landheer und bestimmte Odysseus und Diomedes zu seinen Stellvertretern; den Befehl über die Flotte erhielt Achill, und sein Gehilfe wurde der Große Ajax. Bei günstigem Wind stach die Flotte in See, durchquerte mit knat ternden Segeln die windgepflügte Ägäis und landete schließlich an einem flachen Küstenstrich, von dem sich eine grasbewachsene, von einem hufeisenförmigen Gebirgszug und zwei breiten Strömen, dem Skamandros und dem Simoeis, eingefaßte Ebene zwei Weg stunden weit bis zu Trojas mauerumwehrter Festung Ilion zog. Hier wurden die Schiffe an Land gebracht und wohl ausgerichtet in die Ebene hinein, aber auch den Hang hinauf aufgestellt, so daß es aussah, als ständen sie sowohl neben- als auch übereinander, und zwar in solcher Ordnung, daß zwischen ihren Blöcken schnurgerade Straßen und Gassen sich zogen, durch die man wandern konnte wie durch die Straßen einer hügelansteigenden Stadt. Unter jedes Schiff waren Steinplatten gelegt, daß sein Rumpf auf dem feuchten Boden nicht modre, und vor diesem stadtartigen Schiffsblock wurde nun in die Ebene hinein das Heerlager aufgeschlagen, das einer volkreichen Metropole in nichts nachstand. So weit das Auge nur blicken konnte, reihten sich, stammweise gegliedert, die Gevierte der schilfgedeckten Lehmhütten um die festen Häuser der Fürsten 23
und Könige; Vorratshallen und Scheunen schlossen sich an; Keller und Brunnen waren gegraben, Opferaltäre rund um den geräumi gen Ratsplatz gebaut und sogar eine Arena war angelegt worden, weil die Achaier, wie Griechenlands Söhne sich gern nannten, selbst im Feld die gewohnten sportlichen Spiele und Wettkämpfe wie Wagenrennen, Schnellauf, Bogenschießen, Diskuswurf, Rin gen, Faustkampf und Speerschleudern nicht missen wollten. Schließ lich schützten ein Erdwall und eine Brustwehr und davor ein tiefer, mit spitzen Pfählen bestückter und nur vor dem Tor zu einer pas sierbaren Furt aufgeschütteter Graben die Lagerstadt, aus der neun Jahre lang das Griechenheer sich ergossen hatte, die Festung Ilion zu stürmen, und neun Jahre lang war so viel Blut in das stöh nende Erdreich, auf dem kein einziger Halm mehr gedieh, ge sickert, daß die früher so sanften Wasser des Simoeis und des Skamandros nur zornschäumend diesen Landstrich durchströmten und eilten, ins friedliche Meer zu münden. Neun Jahre lang war Krieg gewesen, und das Volk war des Schlachtens schon dermaßen müde, daß die Griechen im zehnten Frühjahr in See gestochen und in die Heimat zurückgekehrt wären, hätte Zeus nicht ihre Führer und hätten die Führer nicht ihre Stämme tollgierig nach Beute und Reichtum gemacht. So rüsteten nun die Achaier, nachdem sie Monate hindurch ihr Lager nicht verlassen hatten, wieder zum Großangriff auf Trojas Tore, und Agamemnon, ihr Oberbefehls haber, und einige andere Könige, darunter Achilles, Diomedes. Idomeneus und der Große Ajax waren so wildgelüstig nach Meh rung ihres Besitzes, daß sie einige Tage vor dem angesetzten Sturm das fernab am Meer gelegene, neutrale und bislang vom Krieg verschont gebliebene Städtchen Chryso überfielen, die völlig über raschten Männer niederhieben, die Häuser verheerten und alles Hab und Gut der kleinen Stadt zu den Schiffen schleppten. Wie es Brauch war, teilten die Krieger die Beute sofort unter sich auf; dem Achilles wurde die schöne Jungfrau Briseïs samt vier goldenen Schüsseln und Pokalen zugesprochen; Agamemnon aber begehrte, nebst reichem Tempelgeschirr, die wider alles Herkommen und 24
wider alle Sitte geraubte Tochter des Apollonpriester Chryses, Chryseis mit Namen, als sein Eigentum und führte die bitterlich weinende und um Schonung flehende Priesterstochter als Sklavin in sein Haus aus Holz und Stein.
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DER GROLL ACHILLS
Der Streit der Könige ls Chryses, der Priester des blauhaarigen Apollon, aus der Betäubung erwacht war, in die ihn der Raub seiner Tochter gestürzt hatte, wand er eine Lorbeerranke, das Zei chen der Unverletzlichkeit, das Herolden und Gottesdienern zu kam, um seinen Priesterstab, trug an Gold und Schmuck zusam men, was er in dem ausgeplünderten Städtchen noch vorfand, und machte sich auf den weiten Weg zu den Griechen. Dort angekom men, warf er sich Agamemnon zu Füßen und flehte ihn an, ihm die Tochter auszulösen. Agamemnon aber, von Habsucht besessen und auch in den Liebreiz der Chryseis vergafft, entriß dem Priester die mitgeführten Lösegüter und wies ihn mit Schmähworten aus dem Haus. »Wage nicht, dich jemals wieder hier blicken zu lassen und um das Mädchen zu jammern, störrischer Alter«, so herrschte er ihn an, »ein nächstes Mal würden dich weder Stab noch Lorbeer vor einem Strafgericht schützen!« Chryses wandte sich wortlos ab und ging trauernd an der Küste zu seiner zerstörten Heimatstadt zurück, und über das Brausen der Wogen hin sandte der Vater flehende Worte zu Apollon und beschwor ihn, den Frevel zu rächen, der seinem Tempel und Priester widerfahren war. »Erhabener Gott der Bogenkunst, des Gesangs und des Feldbaus, o Apollon Smintheus, der du die schädlichen Mäuse und Ratten vertilgest«, so betete der Alte, »höre auf mein Flehen und sende, nie Fehlender, deine Pfeile ins Heer der Ruchlosen, daß sie schändlich verenden wie Ungeziefer, das man mit den Füßen zertritt!« Apollon hörte seinen Priester flehen, und als er dann den aus 26
geraubten, verwüsteten Tempel erblickte, runzelte er voll Zorn die Brauen, versah seinen Köcher mit gefiederten silbernen Pfeilen und eilte vom schneebedeckten Olymp zur Erde hinab. Unsichtbar, ein düsterer Schatten im Abenddämmern, so schritt er durchs Lager der Griechen, jedoch die Pfeile in seinem Köcher klirrten, und die Männer, an denen er vorüberging, kam Grauen an. Hinter den Schiffen ließ der rachedürstende Gott sich auf einem Hügel nieder, legte den ersten Pfeil auf die Sehne, spannte sie und sandte das Geschoß in den Leib eines streunenden Hundes. Das Tier fiel auf der Stelle in den Staub und heulte vor Schmerzen, seine Nüstern und Lefzen wurden trocken und schwarz wie Teer, und dort, wo das unsichtbare Geschoß in seinen Körper eingedrungen war, stülpte sich eine harte Beule, die bald aufbrach und einen stinkenden Eiter entleerte, aus dem Leib. Wenig später starb das Tier, doch da heulte schon wieder ein Hund auf und dann auch ein Pferd und dann ein Maultier, und schließlich wälzten sich die ersten getroffenen Krieger im Straßenstaub. Die Pest war ins Lager der Griechen eingebrochen. Pfeil um Pfeil ließ Apollon vom Bogen schnellen, und wen immer er traf, den raffte die Seuche hinweg: Hunde, Maultiere und Pferde zuerst, dann Krieger um Krieger und schließlich auch einen Königssohn. Darum berief, als alle Opfer und Gebete die wütende Verderbnis nicht einzudämmen vermocht hatten, Achilles eine Versammlung des ganzen Heeres zu den Schiffen und gebot dem Priesterpropheten Kalchas, dem die Unsterblichen die Gabe verliehen hatten, verborgene und künftige Dinge zu erspähen, ungescheut kundzutun, welchen Gott man erzürnt habe und was getan werden müsse, seinen Groll zu stillen. »Ich will es dir sagen, Sohn des Peleus«, erwiderte Kalchas, »je doch du mußt mir versprechen, mich zu beschützen, denn mein Spruch wird einen Mächtigen sehr erregen!« Achilles versprach dies, und Kalchas erklärte, Apollon plage das griechische Heer ob des Frevels an seinem Priester Chryses; Agamemnon möge die ge raubte Jungfrau mit einem reichen Sühnegeschenk ihrem Vater 27
nach Chryso zurücksenden, dann werde Apollon wohl von seinem Strafgericht lassen und gnädig sein. Als Agamemnon dies hörte, fuhr ihm die schwarze Galle ins Blut, und sein Herz kochte auf wie ein brodelnder Kessel. »Du Un glücksseher«, so fuhr er den Priester an, »du Unheilsphrophet, der du noch nie ein gedeihliches Wort für mich und mein Haus ausgesprochen, du faselst auch jetzt nur daher, um mir zu schaden! Du weißt sehr wohl, daß Chryseis mir teuer ist und daß ich im Sinn habe, sie neben mein Eheweib Klytaimestra zu stellen! Neid spricht aus dir, sonst gar nichts, und voll Haß und Gift sind deine Worte! Doch um des Volkes willen mag nach deinem Spruch geschehen; ich will Chryseis herausgeben, doch es ist dann nur recht und billig, daß mir, zum Ersatz, ein andres Beutegut als Ehrengeschenk zugesprochen wird, denn wie käme ich dazu, als einziger den Schaden davonzutragen!« »O höchst ruhmvoller und höchst habgieriger Feldherr«, erwiderte Achilles, »woher sollte dieses Ehrengeschenk denn genommen wer den? Wir sind doch seit vielen Jahren davon abgekommen, einen Teil der Beute als Gemeineigentum aufzubewahren! Was wir aus Chryso gebracht, ist längst verteilt, und was dem einzelnen gehört, ist sein Eigentum, und keiner, auch du nicht, kann es ihm jemals wieder nehmen! Schicke dich also so lange drein, Agamemnon, bis wir Troja erobert haben; das Volk wird dir dann sicher einen drei fachen Anteil gewähren und dich fürstlich für den geringen Verlust entschädigen!« Die Krieger riefen ihr zustimmendes Wort, allein Agamemnon erwiderte heftig: »Ich kenne deine Schläue und Durchtriebenheit, Achilles, du hast ja nur vor, mich um meinen Anteil zu prellen! Nichts da von morgen und übermorgen! Heute, jetzt, sofort will ich mein Beutestück, und wenn es das Volk mir nicht zusprechen mag, so gehe ich hin und nehme es mir mit eigener Hand! Viel leicht nehme ich den Anteil des Ajax oder den des Odysseus oder vielleicht auch deinen eigenen, Peleussohn, und du wirst die Hand nicht wider mich heben! Doch jetzt ist keine Zeit, darüber zu 28
schwätzen! Wählt zwanzig Ruderer, zieht ein Schiff ins Meer und stattet es reichlich mit Opfergaben aus, ich will meinetwegen die Jungfrau samt den Sühnegeschenken an Bord bringen, das Schiff aber mag dann ein andrer nach Chryso steuern, Odysseus oder Ajax oder Idomeneus, was kümmert mich das, darüber soll Achil les befinden, der ja Befehlshaber der Flotte ist!« Nach diesen Worten erhob sich Agamemnon und wollte die Rats versammlung auflösen; Achill aber sah ihn mit einem finsteren Blick an und sagte drohend: »Du Unverschämter, auf nichts sinnst du als auf deinen eigenen Vorteil! Es ist ein Wunder, daß dir über haupt noch einer der Achaier gehorcht! Freiwillig, um dir und dei nem Bruder gefällig zu sein, und nicht Ilions wegen habe ich meine Myrmidonen in den männermordenden Krieg geführt; kein Troer hat mir ein Leid angetan oder auch nur ein einziges Stück Vieh geraubt, denn so viel Land und Meer hat Zeus zwischen unsere Völker geschoben, daß wir für alle Zeiten in Frieden miteinander leben können! Nur um Menelaos und dich zu rächen, du Schänd licher, habe ich mein Volk vor Trojas Tore gebracht, und nun drohst du mir meine wohlerworbene Beute zu entreißen! Ausge rechnet du und ausgerechnet mir! Ich trage jedesmal die härteste Kampflast und bin immer im dichtesten Getümmel zu finden, indes du dich aus allen Gefahren heraushältst und im Lager herumlun gerst; kommt es aber zur Teilung der Beute, schleppst du den Löwenanteil weg, während ich, vom Kampf erschöpft, mich willig mit wenigem begnüge. Aber des bin ich nun satt! Ich werde meine Flotte rüsten und mit meinem Volk nach der Heimat zurückkehren; du magst ja sehen, wie du ohne mein Schwert zu Ruhm und Reich tum kommst!« »So flieh nur, flieh, du Feigling!« schrie Agamemnon aufgebracht, »mir bleiben hier Helden und wackere Kämpfer genug, um Troja zu nehmen! Froh sein werden wir alle, wenn wir dich nicht mehr ertragen müssen! Schon längst bist du mir der verhaßteste aller Gekrönten geworden, immer nur liebst du Zank und Streit und Zwietracht und Stänkerei! Geh denn mit deinen Myrmidonen, geh 29
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und geh schnell, wir werden dir keine Träne nachweinen! Doch damit du begreifst, wer du vor mir bist, werde ich mit eigener Hand die schöne Briseïs von deinem Zelt fort auf mein Nachtlager führen, und du wirst nicht wagen, mir, deinem Feldherrn, zu trot zen, du störrischer Wicht!« Da entflammte Achilles in Wut, seine Augen glänzten in gelbem Fieber, und er griff nach dem Schwert und hätte es aus der Scheide gerissen und dem Widersacher durch die Brust gestoßen, wäre Athene nicht vom Olymp auf die Erde geeilt, des Helden Groll mit heimlichen Worten zu beschwichtigen und ihm dreifache Beute zu versprechen, wenn er sich jetzt mäßige. So stieß denn Achilles das Schwert in die Scheide zurück, seine Zunge aber vermochte er nicht mehr zu zügeln. »Du Trunkenbold mit der Ehre eines Hunds und dem Mut eines Hasen«, schrie der Pelide, »nie hast du in der Schlacht deinen Mann gestanden, immer nur hast du andere ins blutige Treffen geschickt, völkerfressender König, doch länger wirst du nicht mehr an mir gefrevelt haben! Höre also, Hundsfott: So wahr dies mein erzgeschäftetes Zepter nimmermehr grünen kann wie lebendiges Holz, so wahr werden Achill und sein Volk nicht mehr gegen Ilion ziehen, und wenn Hektor dein ganzes Heer wie Asseln zermalmt, werde ich ihm vom Bord meines Schiffs aus freudigen Beifall klatschen!« Mit diesen Worten erhob sich der junge König und schmetterte sein Zepter auf die Erde, und auch Agamemnon sprang auf, und das weitere Schmähen hätte gewiß nicht unblutig geendet, wäre es dem weisen Nestor nicht gelungen, den aufgepeitschten Sinn der beiden Ha dernden so weit zu sänftigen, daß sie einander wenigstens einen ehrenvollen Abgang gewährten. »Er ist ja einer der besten Lan zenwerfer, das muß ich schon zugeben«, erklärte Agamemnon. »aber soll es ihm darum erlaubt sein, seinen Feldherrn derart ungezügelt zu beleidigen?« – »Meinethalben mag ihm Briseïs gehören«, murrte Achilles, »mir ist wenig an ihr gelegen, sie ist träg und stumpf, also soll er sie haben! Allein«, so fuhr der Pe lide, erneut vom Zorn übermannt, fort, »er möge sich ja nicht erdreisten, außer Briseïs auch nur eine Mantelspange aus meinem 32
Besitz anzutasten, meine Lanze würde sonst seinen Leib nicht ver fehlen!« Mit diesen Worten gingen die beiden auseinander; Agamemnon hieß seine Krieger ein Schiff für Chryseis rüsten und reich mit Sühnegütern beladen, und Achilles gebot seinem Herzensfreund Patroklos, der ihm so lieb wie ein leiblicher Bruder war, Briseïs ins Haus Agamemnons zu führen. Dann schritt der Held hinunter ans Meer, setzte sich auf einen Felsblock inmitten der Brandung und weinte laut ob seiner Schmach, denn zu jener Zeit schämten sich die Helden ihrer Tränen ebensowenig wie ihrer nackten Lust. Dies Jammern und Schluchzen hörte die Meergöttin Thetis, die seit ihrer Trennung von Peleus in einer Grotte aus Muscheln tief unter der salzigen Flut ihr Leben verbrachte. Sie stieg aus dem Meer, setzte sich auf den Felsblock und tätschelte sanft die im Zorn ver krampfte Hand ihres lieben Sohnes. »Weh mir unseligen Mutter«, so seufzte Thetis, »daß ich das einzige Kind, das mir geblieben, so in Tränen aufgelöst sehen muß! So kurz ist dein Leben, Söhnchen, und ach, so tränenvoll und erfüllt von Gram. Ich weiß, welch schreiendes Unrecht dir widerfahren ist; du jammerst mich sehr, und ich will zu Zeus gehn und mein Knie vor ihm beugen und ihn um Beistand bitten, obwohl ich mir durch solch heimliches Tun den Zorn der Götterkönigin Hera zuziehen werde! Zwar weilt der hohe Gebieter jetzt bei den Äthiopiern, die ihn zu einem Gastmahl geladen haben, doch nach drei Tagen kehrt er zurück, dann fahre ich zum Olymp auf und bitte ihn, deine Schmach zu rächen. Bis dahin, mein Kind, entzieh dich dem Kampf und bleib auf den Schiffen!« So sprach Thetis, dann versank sie in der gekräuselten Flut. Achilles erhob sich und sah, wie ein Schiff Agamemnons mit Chryseis an Bord durch die Startrinne ins Wasser gezogen wurde, und da wußte er, daß der Oberbefehlshaber ihm Briseïs genom men, und er wiederholte seinen Schwur. Dann ging er zu seinen Kriegern und verbot ihnen, was immer auch geschehe, am Kampf der Griechen teilzunehmen. »Und wenn sie zertreten werden wie Schaben und Läuse, wir werden keinen Finger für sie krümmen«, 33
so redete er, »sie haben geduldet, daß der Lumpenkönig meine Beute geraubt hat, also sollen sie dafür Buße bluten!« So sprach Achill, den die Geschichtsschreiber den herrlich strahlenden Helden nennen, dann begab er sich mit seinem Lieblingsfreund Patroklos zum Morgenmahl. Der Streit auf dem Olymp rei Tage waren vergangen, die Pest war er loschen, all ihre Opfer waren verbrannt und die Vorbereitungen zum letzten Sturm auf Ilion zu Ende gediehen, da kehrte Zeus, der Göttervater, der den Blitz und den Donner in seiner Linken trägt und auf dessen rechter Schulter ein riesiger Adler horstet, vom Gastmahl bei den dunkelhäutigen Äthiopiern zum Olymp zurück und setzte sich, ehe er den Götterpalast betrat, nach einer alten Gewohnheit auf eine Felsnase des Gipfels, um gelassen und be lustigt das wimmelnde Treiben der ameisenkleinen Menschlein anzuschauen. Dies wußte Thetis, und so hatte sie Zeus denn vor dieser Felsnase erwartet, und als er nun nahte, warf sie sich vor ihm zu Boden nieder, umschlang, wie Schutzflehende es zu tun pflegen, mit ihren weichen Armen seine Knie und bat, sich an ihn schmiegend, den Allmächtigen mit beschwörendschmeichelnden Worten, ihr liebes, so früh dem Tod bestimmtes Kind zu rächen und den Griechen so lange den Sieg zu verweigern, bis Agamem non dem beleidigten Achill Genugtuung gegeben habe. Zeus sah voll Wohlgefallen auf die schöne Bittende zu seinen Füßen; doch als sie geendet, saß er lange und schwieg, und seine Stirn war von tiefen Falten gefurcht. Eine Stunde hielt Thetis dies Schweigen aus, dann begann sie erneut zu sprechen und den Allwaltenden zu bedrängen, doch der Götterkönig verwies ihr verärgert die Rede und sagte voll Unmut: »Du weißt doch genau, Thetis, daß ich Hera versprochen habe, den Achaiern zu helfen, und nun quälst du mich, 34
sie um deines Achills willen zu verderben! Ich habe mit Hera Zank und Streit wahrhaftig genug, du kennst ihre Eifersucht und ihre Launen, und nun bürdest du mir noch weitere Sorgen auf! Geh drum, eh die Argwöhnische dich erspäht, ich will deine Bitte über denken; jeder anderen Himmlischen hätte ich sie rundweg abge schlagen; dir aber, die du immer treu zu mir gehalten hast, will ich sie vielleicht gewähren, doch hoffe ich, Schöne, daß du dich dafür erkenntlich zeigst!« Bei diesen Worten jubelte Thetis' Herz; sie glitt wie ein Mond strahl in das schimmernde Meer hinunter, und Zeus betrat den Götterpalast. Alle Unsterblichen erhoben sich von ihren Sitzen, ihn ehrenvoll nach Gebühr zu begrüßen; Hera aber war die Heimlich keit der Thetis nicht entgangen, und so empfing sie ihren Gemahl mit düsterer Miene. »Was hast du wieder für Vertraulichkeiten«, zischte sie ihm beleidigt zu, »willst du mich denn nicht, wie es mir zukommt, in deine Geschäfte einweihen? Immer handelst du hin ter meinem Rücken, das ist unerträglich! Oder sinnst du etwa dar auf, mich mit diesem ältlichen Meerwesen, der verstoßenen Frau eines Sterblichen, zu betrügen?« So sprach die hocherhabne göttliche Königin, die oberste aller un sterblichen Frauen, vor denen die Völker einst fromm ihre Knie beugten, allein Zeus entgegnete ihr grob, sie möge sich ja nicht in seine Angelegenheiten mischen; wenn er ihr etwas enthüllen wolle, werde er dies aus freien Stücken tun und sie als erste Vertraute vor allen anderen heranziehen; was aber seine Geheimbeschlüsse an gehe, so möge, dies rate er gut, auch das Eheweib sich nicht er frechen, sie auszukundschaften, es werde ihr sonst übel ergehen! Zeus hatte dies mit solchem Nachdruck gesprochen, daß Hera be schloß, einen Pflock zurückzustecken. »Ferne liegt es mir, in deine Pläne zu dringen«, so sprach sie, »es geht mir nur darum, daß dich diese zudringliche Alte nicht beschwatze und dir etwa das Wort abpresse, um ihres halsstarrigen Achilles wegen den Griechen zu schaden, die uns beiden doch allzeit die köstlichsten und reichsten Opfer bringen!« 35
»Durch solche Worte, Weib, entfernst du dich von meinem Her zen«, erwiderte der Götterkönig ungeduldig, »ich bin dir in die ser Sache keine Rechenschaft schuldig, und selbst wenn ich den Griechen zu schaden beschlossen hätte – und ich sage dir grad heraus, ich habe es getan –, so ist es noch immer mein königlicher Beschluß und Wille, und du hast ihn schweigend hinzunehmen! 36
Du sollst mich, Aufsässige, nicht lange mehr so wohlmeinend fin den!« Hera bebte bei diesen Worten vor Zorn, denn sie hörte ihre Be fürchtung bestätigt, allein sie wagte nichts zu erwidern, und auch die anderen Himmlischen schwiegen betreten ob ihres Königs Groll. Dies Schweigen wiederum brachte Zeus nur noch mehr auf: er nahm es als heimlichen Widerstand und unausgesprochenes Pak tieren mit Hera, und er hätte seinen Blitz unter die Unsterblichen geschleudert, wäre nicht Hephaistos, der Gott des Feuers und der Schmiedekunst, gewitzt genug gewesen, sich in gespielter Beflissen heit an seine Mutter Hera zu wenden. »Vergiß nicht, geliebte Mut ter«, so sprach er mahnend, »daß du deinem erhabnen Gemahl und Gebieter unbedingten Gehorsam schuldest; beeile dich also, ihn mit schmeichelnden Worten wieder zu versöhnen, denn nichts ist so schrecklich als unsres Königs lohender Zorn. Hat doch«, so setzte der Feuergott fort, »hat doch der Allgewaltige selbst mich, seinen eigenen Sohn, als ich ihm einmal starrsinnig zu widersprechen ge wagt habe, an der Ferse gepackt und über seinem Kopf gewirbelt und mit solchem Ungestüm in die Lüfte geschleudert, daß ich den ganzen Tag wie ein Komet den Himmel durchflogen habe und erst mit der sinkenden Sonne auf die Insel Lemnos niedergepurzelt bin, bei welchem Sturz ich mir so elend die Hüfte verrenkt und die Beine zerschmettert habe, daß ich, trotz Apollons Heilkunst, noch heute drum lahme! Nimm also, geliebte Mutter, diesen Becher voll Nektar und leere ihn auf das Wohl unseres Herrschers, und auch ihr anderen Himmlischen trinkt ihm zu!« So sprach Hephaistos, und er stellte die Krücken, deren er sich sonst beim Gehen bediente, zur Seite und humpelte mühsam auf seinen schwachen, halblahmen Beinen von Stuhl zu Stuhl und schenkte den duftenden, Unsterblichkeit verleihenden Nektar in goldne Pokale, und als die Götter das erbärmliche Entengehumpel des krückenlosen Krüppels sahen, lachten sie unbändig und schlu gen sich brüllend vor Lachen auf die feisten Schenkel und freuten sich ihrer graden, gesunden Glieder, und Zeus Hera, die 37
Eltern, lachten lauthals mit über den watschelnden Hinkefuß, der da den Einfaltspinsel spielte und doch der klügste und anständigste in dieser verrotteten Runde war. »Das ist mein Werk!« rief Zeus, der wie ein Wolf prustend bellte; er rang nach Luft und zeigte mit dem Finger nach dem Lahmen und keuchte vor Lachen: »Das ist mein Werk«, schrie er über den Tisch hin, »so habe ich ihn gepackt und so über meinem Kopf gewirbelt und so in die Lüfte geschleu dert, daß er wie ein Komet einen ganzen Tag durch den Himmel geflogen und erst mit der sinkenden Sonne auf die Insel Lemnos niedergepurzelt ist!« Der Göttervater wirbelte, da er dies sprach, einen goldenen Pokal über seinem Haupt und wies mit dem Finger auf seinen Sohn und lachte, und die Götter tranken ihm zu, und Hera huldigte ihm, und der Gekränkte war wieder versöhnt. Die Himmlischen schmausten bis zur sinkenden Sonne, und Apollon verschönte ihr Mahl mit Leierspiel und wohllautenden Liedern, in denen er die Heldentaten der Unsterblichen pries. Er rühmte, wie sie die Menschen verwirrt und verführt und betrogen und wider einander gehetzt; er feierte Heras Macht und Athenes listigen Sinn und des Ares unbändige Stärke, am eindringlichsten aber besang er die Allgewalt des Götterkönigs, der alle seine Feinde in den finsteren Tartaros, den Kerker noch tief unter der Unterwelt, geworfen, und Zeus hörte den Sänger wohlgefällig zu und nickte manchmal zustimmend mit dem Haupt. Als die Sonne dann in der Meerflut versunken war, brach jeder der Götter, Zeus und Hera voran, nach ihren rings auf den Höhen des Olymps gelegenen Wohnstätten auf, nur Hephaistos hinkte müde und erschöpft in seine kunstvoll aus Gold und Silber geschmiedete Burg im Innern der Erde, denn er, der Beherrscher des Feuers, wohnt in den brodelnden glühenden Tiefen, und die rauchenden Vulkane sind Essen seines Göttersitzes.
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Der Kampf zwischen Paris und Menelaos m nächsten Morgen ordneten sich die Grie chen zum Sturm, und auch die Trojaner tra ten mit all den Hilfstruppen, die im Lauf der Jahre aus ganz Kleinasien zu ihnen gestoßen und deren wichtigste die Dardaner, Thrakier, Paphlagonier, Phry ger, Karer und Lykier waren, vor den Mauern Ilions zur Entschei dungsschlacht an. Agamemnon und Hektor hatten die Krieger vor dem Ausrücken noch zum leidenschaftlichen Kampf angefeuert, doch nun, da sich die Heere, zwei lebendige helmbuschüberflatterte Blöcke aus Erz und Grimm, einander gegenüberstanden und der Ströme von Blut und Berge von Leid gedachten, die der unselige Krieg sie schon gekostet, wurden sie wieder verzagt und müde, und alle hätten am liebsten die Waffen hingelegt und wären aus einandergegangen, die einen zu den Schiffen, die anderen in ihre friedlichen Städte. Diese Stimmung fühlte Hektor, einer der fünf zig Söhne des Königs Priamos und Anführer des trojanischen Hee res, sehr gut. Er trat deshalb vor die Front, hielt den Speer mit beiden Händen hoch über das Haupt als Zeichen, daß er zu reden begehre, und schritt auf die Reihen der Griechen zu. Die griffen nach ihren Lanzen, und die Bogenschützen im letzten Glied spann ten ihre Sehnen und zielten auf die Brust des gefürchtetsten und tapfersten Feindes, aber Agamemnon rief laut: »Haltet ein, Achaier, seht ihr denn nicht, daß Hektor uns eine Botschaft über mitteln will?« So senkten denn die Griechen ihre Waffen, und Hektor trat vor sie, die einen Halbkreis um ihn bildeten, hin und schlug vor, daß ein Zweikampf zwischen Paris und Menelaos den Krieg entscheiden solle; um Helena, so redete der Prinz, sei der Streit einst entbrannt, und mit dem Waffengang ihrer beiden Gatten möge er darum 39
endlich beschlossen sein. Wer Sieger bleibe, dem solle Helena samt all ihren Schätzen endgültig gehören; die versöhnten Völker aber würden einander die Hände zum Bund reichen und einen ewigen Frieden schwören. Diese Rede wurde von beiden Parteien mit Jubel aufgenommen, nur Paris, der Hektor selbst diesen Vorschlag gemacht hatte, er schrak, da er sich nun zum Kampf stellen sollte, und versteckte sich hinter einem Feigenbaum. Menelaos bedachte den Vorschlag Hek tors lange, dann trat er vor die Reihen und tat sein Einverständnis kund, falls König Priamos bereit sei, den Vertrag gemeinsam mit Agamemnon zu beschwören und die Götter zu Zeugen des Paktes anzurufen. Dies wurde zugestanden; man sandte eilends nach dem greisen Priamos, der von den Zinnen der Burgmauer herab die Heere musterte, und Hektor suchte indes seinen Bruder Paris. Endlich fand er ihn hinter dem Feigenbaum. »O Paris, du Held von Gestalt, doch voll Feigheit im Herzen«, redete er den Jüngeren an, »was verbirgst du dich hier, anstatt dich zum Zweikampf zu rüsten! Ich wünschte, du hättest nie das Licht der Welt erblickt oder wärest gestorben, bevor du ein Weib berührt! Sollen die Achaier noch ihren Enkeln berichten, wie der trojanische Königs sohn dem Kampf entlaufen ist und sich wie ein läppisches Kind hinter einem Baumstamm versteckt hat? Ja, mit deinem schönen Leib vor den gaffenden Weibern prahlen, das kannst du trefflich, und auch des Menelaos Ehefrau zu blenden und übers Meer zu ent führen ist dir gelungen, nun aber, da du das Schwert um ihren Besitz schwingen sollst, versagst du wie ein kläglicher Tropf! Doch die Troer werden sich nicht alles von dir bieten lassen; wenn ihnen einmal die Geduld reißt, wirst du schmählich im Hagel ihrer Stein würfe verbluten!« So schmähte Hektor, und Paris seufzte tief und sprach: »Ach Hek tor, tapferer, stolzer Bruder, du Genius der Feldschlacht, vergiß nicht, daß auch die Schönheit eine Gabe der Götter ist! Dem einen haben sie einen kräftigen Arm, dem anderen ein mutiges Herz und mir nun einmal eine berückende Gestalt verliehen. Aber ich will 40
mich bezwingen und gegen Menelaos antreten: Möge in diesem unseligen Krieg zum letztenmal nun Blut vergossen sein!« So sprach Paris, und Hektor umarmte ihn ob dieser Worte, dann legte er dem Bruder, der als leichtbewaffneter Bogenschütze ins Feld gekommen war, die eigene Rüstung an. Er band ihm die Beinschienen um und schnallte den silbernen Knöchelschutz dar unter, deckte Brust und Unterleib mit dem zweiteiligen eisenbe schlagenen Lederharnisch, schirmte das Haupt mit dem roßschweif geschmückten Goldhelm, hängte dem Bruder sodann das scharfe Schwert mit dem silbernen Buckelgriff um die Schulter, wappnete ihn mit einem mächtigen Turmschild und drückte ihm schließlich die gewaltige Eschenschaftlanze in die Hand. Dann schritten die beiden zu den Heeren zurück, wo Priamos und Agamemnon sich bereits mit den Opfergaben, je einem untadeligen weißen Lamm und einem Schlauch Wein, eingefunden hatten. Herolde mischten den Wein in einem bauchigen Krug, besprengten die Hände der Könige mit klarem Wasser und reichten ihnen die Lämmer hin. Beide ergriffen ein Opfertier, schnitten ihnen das Schädelhaar ab und verteilten, zum Zeichen, daß beide Parteien gemeinsam das Opfer darböten, es gleichermaßen unter den griechischen wie troja nischen Heerführern, dann legten die Könige die gebundenen Tiere auf einen flachen Feldstein und flehten mit erhobenen Hän den den Götterkönig Zeus, den Sonnengott Helios, der bei seiner täglichen Fahrt über den Himmel alles irdische Treiben schaut, und schließlich die Erde selbst mit all ihren ziehenden Strömen und rollenden Meeren an, Zeugen des Paktes zu sein, den die Völ ker der Griechen und Troer jetzt zu schließen gedächten: Paris und Menelaos würden im Zweikampf den Streit um Helena entschei den; wer Sieger bleibe, solle die Schöne samt ihren Schätzen end gültig und unangefochten besitzen; die Heere aber würden, wie immer der Zweikampf auch ende, versöhnt und in Frieden von einander scheiden und jedes nach seiner Heimat ziehen. So schworen die Könige, und die Völker hörten ihren Eid mit Freude, manche der Götter aber, vor allem Hera und Athene, voll 41
Grimm. Agamemnon zerschnitt dem Lamm die Kehle, so daß es zappelnd sein Leben verhauchte, dann schöpfte er mit einem golde nen Becher Wein aus dem Mischkrug und goß ihn über dem Opfer aus, und König Priamos handelte ebenso. »So wie dieser Wein hier die Erde netzt, so soll dessen Blut und Gehirn den Boden feuchten, der wider den Eidschwur handelt und den feierlich geschlossenen Pakt verletzt!« sprach Priamos, und Agamemnon entgegnete: »Zeus ist unser Zeuge, so soll es geschehen!« Die geschlachteten Lämmer wurden nun, wie es Brauch war, ver graben; die Befehlshaber reichten einander die Hände, und Grie chen wie Troer, schon friedlich vereint, schlossen einen weiten Kreis um die beiden Gewappneten. Hektor und Odysseus, zu Kampfrichtern gewählt, steckten indes die Arena mit Fähnchen ab, dann warfen sie zwei Lose, einen weißen Stein für Paris und einen schwarzen für Menelaos, in einen Helm, daß das Glück ent scheide, wer als erster die Lanze schleudern dürfe. Hektor schüt telte mit abgewandtem Kopf den Helm, und der weiße Stein sprang heraus. »So möge denn der Kampf beginnen!« riefen Odys seus und Hektor, doch als der greise Priamos seinen Sohn gegen den streitbaren griechischen Recken antreten sah, schlug er klagend die Hände vor die Augen und ließ sich in die Burg zurückfahren, um dort für den Sieg seines lieben Kindes zu beten. Die beiden Helden wandelten zunächst voreinander auf und ab und schüttelten drohend Schild und Speer, den Gegner einzu schüchtern, und warfen, dieweil sie scharf nach einer Blöße späh ten, einander schmähende und höhnende Worte zu. Schließlich glaubte Paris eine ungeschützte Stelle an Menelaos' Hals entdeckt zu haben; er riß die Lanze hoch, nahm einen kurzen, schnellen An lauf und schleuderte sie mit voller Kraft wider den Griechen, der die Waffe aber mit dem Buckelschild abfing und nun seinen Speer entsandte, und dieses Geschoß durchdrang Schild, Harnisch und Rock des Troerprinzen, der nur durch eine jähe Drehung des Leibs verhindern konnte, daß ihm das scharfe Erz die Weiche zerschnitt. Paris blieb kaum Zeit, die Lanze aus der Rüstung zu reißen, da 42
war Menelaos schon über ihm und hieb mit dem Schwert zu, doch die Klinge zerklirrte am Roßschweifbügel des Helms, und ihre Stücke fielen in den Staub: »Grausamer Zeus!« rief Menelaos, »willst du mich um den Sieg betrügen? Aber ich werde den Frech ling auch waffenlos bändigen!« So rief er und packte den vom mächtigen Schwerthieb Betäubten am Helm und schleifte ihn über den steinigen Boden zum jubelnden Achaierheer hinüber, und der stierlederne Helmriemen hätte den Schönen erwürgt, wäre nicht Aphrodite vom Himmel geeilt, den atemabschnürenden Strang mit unsichtbarem Dolch zu zerschneiden. Menelaos hielt plötzlich den leeren Helm in der Hand und schleuderte ihn wutentbrannt zur Seite, dann stürzte er sich auf den Gegner, ihn mit blanken Hän den zu erdrosseln, doch Aphrodite hüllte ihren Schützling in eine Nebelwolke und entführte ihn durch die Lüfte in sein Schlaf gemach auf Ilions Burg. Brüllend und höhnend eilte Menelaos durch die troischen Reihen, den Entschwundenen zu erspähen und ihm den Garaus zu machen; Aphrodite aber trat zu Helena, die in einem Turmgemach saß, um, von Grauen und Lust zugleich durch bebt, den Ausgang des Zweikampfes abzuwarten. Die schöne Un treue war gänzlich unentschieden, wem sie den Sieg wünschen solle: Sie liebte Paris noch immer und liebte zugleich Menelaos aufs neue; sie fürchtete den Sieg und die Rache des Mannes, den sie so schmählich betrogen, und konnte doch kein Auge von seiner Hel dengestalt lassen; sie fühlte sich schuldig an all dem verströmten Blut und war mit der Reue darüber zugleich von einem Gefühl heimlichsten Stolzes erfüllt, daß all die grausamen Schlachten um ihrer Schönheit willen geschlagen worden waren, und der Wider streit all dieser Gefühle und Gedanken hatte die Fürstin derart aufgewühlt, daß sie den Kampfabbruch gar nicht gewahrte und auch nicht hörte, wie Aphrodite – in der Gestalt einer alten Schaff nerin – ihr Gemach betrat. Die Göttin zupfte die fast Ohnmächtige, die nun erschreckt auffuhr, am Gewand und sagte: »Mein Töchter lein, Held Paris ist vom Schlachtfeld zurückgekehrt und ruht nun auf seinem Lager; geh doch und sorge dich um ihn, mein Liebes!« 43
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Helena sah erstaunt auf die Amme, doch als sie in deren zerfurch tem Gesicht die anmutstrahlenden Mandelaugen und die granat apfelfarbnen Lippen und die schimmernde Haut der Wangen und des Kinns erblickte, erkannte sie die verwandelte Göttin, und sie sank schluchzend vor ihr auf die Knie. »Grausame«, so sprach sie, »warum, ach, willst du mich wieder zwingen, weiterhin Voll streckerin deiner Pläne zu sein! Ich ahne, auch dieser Tag bringt kein Ende des Krieges! Gram genug lastet auf meiner Seele; sollen mich abermals die Völker verfluchen und männerverderbende Buhlerin nennen? Ich habe doch gesehen, wie Menelaos im Vorteil gewesen und Paris, vom Schwertschlag betäubt, zu Boden gesunken ist; sicher hat mein einstiger Gemahl indes den Sieg erfochten, warum wehrst du ihm da, Unversöhnliche, die Beute, die er sich zu Recht erkämpft hat! Wenn du Paris so zugetan bist, so entsage doch dem Olymp und bleibe für immer bei ihm; mich aber, ich flehe dich an, mich lasse zu Menelaos eilen und mit ihm nach Sparta segeln, und sollte es mir bestimmt sein, von ihm getötet zu werden, so will ich auch dieses Schicksal dulden, wenn nur dies gräßliche Schlachten einmal ein Ende hat!« So flehte Helena und berührte den Gewandsaum der Göttin; die himmelentstammte Aphrodite aber sprach voll Unmut: »Törichte, reize mich nicht, auf daß mein Zorn dich nicht doch einmal treffe! Wehe, wenn meine Liebe zu dir in Mißgunst umschlagen sollte; ich hetzte dann Troer wie Griechen dermaßen auf, daß sie zuerst dich und sodann einander selbst bis zum letzten Blutstropfen zer fleischen!« So sprach die Göttin und entzog sich menschlichen Blicken; Helena aber wandte sich trauernd ab und ging mit gesenktem Haupt nach des Paris Ruhegemach. Sie fand den Gemahl auf dem Lager aus gestreckt und wollte ihn schelten, daß er, der Feigste der Feigen, nicht im Kampf seinen Mann gestanden und schändliche Flucht dem Feldtod vorgezogen habe, allein die zyprische Göttin rührte mit ihrem unwiderstehlichen Zauber Helenas Herz an, und Helena vergaß den Krieg und vergaß die Völker und vergaß den Zwei 46
kampf und vergaß Menelaos und sah nur den schönen Paris, der ihr auf dem Lager verlangend seine Arme entgegenstreckte, und Helena, von Aphrodite betört, vergaß die Welt und sich selbst in Paris' Armen. Menelaos aber durchstürmte, einem Panther gleich, noch immer brüllend das Heer der Troer und forderte den ehr losen Gegner auf, sich endlich zu stellen, und schließlich gebot Agamemnon Schweigen und tat diesen Spruch: »Völker Trojas und Hellas'«, so redete er, »ihr habt den Kampf gesehen und auch seinen Ausgang: Offenbar hat Menelaos gesiegt, denn sein Her ausforderer ist schändlich geflohen und hält sich verborgen, gebt also Helena samt dem geraubten Schatz und einer gebührenden Buße heraus, auf daß wir in Frieden scheiden und nach unsern Heimatstädten zurücksegeln!« So redete Agamemnon, der Ober befehlshaber der Griechen, und seine Krieger riefen ihm laut ihre Zustimmung zu, und auch die Trojaner konnten nichts dagegen sagen, denn der Ausgang des Zweikampfes war nicht wegzu leugnen! Die Pallas stiftet Pandaros zum Vertragsbruch an uf dem Olymp aber saßen indes die Götter und zechten Nektar aus goldenen Bechern und sahen hinab auf die Walstatt vor Ilion, die nun von den Troern, die sich zur Bera tung in die Burg zurückgezogen hatten, geräumt worden war; und während Aphrodite mit heller Stimme frohlockte, Paris gerettet zu haben, verfluchten Athene und Hera die friedliche Einigung. »Nun denn, Unsterbliche«, hob Zeus zu reden an, »ihr habt das Gelöbnis gehört und den Kampf und seinen Ausgang gesehen; an uns wird es jetzt liegen, ob wir in die Verständigung der Völker einwilligen oder die Heere weiter anpeitschen. Was mich betrifft, so sage ich offen, daß mich eine Laune ankommt, die Troja mich 47
dauern läßt: Es birgt ein frommes Volk in seinen Mauern, das uns in blindem Gehorsam und Glauben allezeit geehrt und vor allem mir und meinem Ehweib stets reichlich Opfer gespendet hat. Ich sähe es darum gern noch ein Weilchen erhalten; möge also Mene laos mit seiner Helena nach Sparta segeln und Troja sich endlich des Friedens freuen!« So redete Zeus, und Athene hörte es voll Abscheu, doch sie wagte nicht, wider die Worte des Vaters aufzubegehren; Hera aber konnte ihren Zorn nicht länger mehr bändigen und rief empört: »Was für ein schreckliches Wort, Zeus, hast du da eben ausge sprochen! Soll denn all meine Arbeit zunichte sein? Wieviel List, wieviel Fleiß, wieviel Kraft und Kunst haben Athene und ich in den letzten neun Jahren verwendet, um die Griechen immer wie der gegen das lästerliche Ilion aufzustacheln, und nun soll diese unsre Mühe für nichts vergeudet sein? Daran will ich nicht einmal denken! Gewiß, dir steht es zu, die letzte Entscheidung zu fällen, doch glaube ja nicht, Gebieter, daß dein Rat von den anderen Göt tern als gerecht angesehen wird und daß du dich ewig so über uns hinwegsetzen kannst!« »Ach du Herzlose!« erwiderte Zeus, »wie ist dein Sinn doch ver stockt und fühllos wie Erz! Wenn es nach dir ginge, würdest du mit eigener Hand alle Troer erwürgen und sie hinunterschlingen, unbarmherziges Weib! Doch meinetwegen soll es nach deinem stör rischen Sinne geschehen, aber das eine sage ich dir: Wenn ich ein mal einer Stadt zürne, die dir so am Herzen liegt wie mir Troja, dann versuche mir ja nicht in den Arm zu fallen, sondern bedenke dann, wie ich um deines Grimms willen Ilion preisgegeben habe!« Da jubelte Hera triumphierend auf und sprach: »Meine Herzens städte sind Sparta, Argos und Mykene, doch sollte dich, aus wel chem Grunde auch immer, einmal das Gelüst ankommen, sie zu verheeren, so werde ich dir nicht einmal mit einem Wort zu wider stehen versuchen, denn viel zu nichtig ist dies Menschengezücht, als daß wir uns darüber erregen sollten! Doch vorwärts jetzt, Töchter chen Pallas, spute dich, eile zur Erde, Liebes, und stifte irgend 48
einen Troer an, den beschworenen Pakt zu brechen; ich fürchte, der redliche Hektor könnte Helena schließlich doch herausgeben, dann würde die Achaier nichts mehr zurückhalten, und wir wären in der letzten Minute noch um unsere Rache geprellt!« Athene hatte nur auf dieses Wort gewartet; sie stürzte zur Erde und flog wie ein Komet in schrecklichem Feuer glühend über die Heere hin, und auch Ares fuhr, ein schwarzes Gewölk, vom Him mel und kreischte vor Lust, den Frieden bald wieder vernichtet zu sehen. Troer und Griechen erschauerten, als Geheul und unge schlachtes Feuer die Lüfte durchstürmte, und Thersites aus Kreta, ein verständiger Mann, der in seinem Leben nichts als Fron und Leid und Kriegsnot erfahren und dessen Züge der Griffel der bitteren Jahre mit tiefen Kerben gezeichnet hatte, schlug vor, man möge auch dann in die Heimat zurückziehen, wenn die Troer Helena nicht herausgeben wollten, denn unsinnig sei das Sterben so vieler Erdgeborener um eines Weibes willen. Der Große Ajax hieb Thersites für diese Worte mit dem Feldherrnstab über Schädel und Schulter, doch er erntete ob dieser rohen Tat nicht den Beifall des Volkes. Inzwischen war Athene in Gestalt eines tro ischen Kriegers auf Ilions Zinnen angekommen und hatte sich Pandaros, dem König der Lykier, eines mit Troja verbündeten Steppenvolkes, genaht. »Was meinst du, hochedler und weiser Pandaros«, so redete die verwandelte Göttin den Fürsten an, »wie sehr müßte dir wohl Held Paris und alle tapferen Troer zu Dank verbunden sein, sähen sie den wilden Menelaos sich jetzt in seinem Blute wälzen! Schau doch, dort drüben steht er, barhaupt, den Helm in der Hand, und wendet dir die offne Stirn zu! Flugs drum den Pfeil aus dem Köcher gezogen und den Bogen gespannt, un fehlbarer Schütze; du wirst dein Ziel nicht verfehlen, und ewiger Ruhm wird dir sicher sein!« Pandaros, ein ebenso mordlustiger wie einfältiger Mann, fühlte sich von diesen Worten geschmeichelt; er zog einen Pfeil aus dem Köcher, spannte den Bogen und schnellte das Geschoß nach Mene laos' Stirn. Der Pfeil hätte den Arglosen auch in die Schläfe ge 49
troffen; Athene aber flog unsichtbar neben dem schwirrenden ge fiederten Tod her, und so, wie die Mutter eine lästige Fliege vom Antlitz des schlafenden Säuglings wegscheucht, wedelte sie das Geschoß ein wenig tiefer und lenkte es derart genau zur goldenen Spange des Leibrocks, daß die erzene Spitze zwar durch das Schnallengelenk des Gürtels und den unteren Saum des Brust harnischs fuhr, jedoch nur die äußere Hautschicht zertrennte, ohne daß der Widerhaken ins Fleisch drang. Menelaos schrie auf; er spürte quellendes Blut die Schenkel hinabrinnen und fühlte einen stechenden Schmerz, doch mehr als das verletzte Fleisch grimmte ihn die Empörung über den schnöden Eidbruch und die feige Hinterlist des Schützen. Noch während der Arzt Machaon, der Sohn des weithin berühmten Heilkundigen Äskulap, die Wunde aussog, mit Salbe kühlte und mit Leinen verband, rief Menelaos seinen Kriegern zu, sich zum Angriff zu rüsten, und Agamemnon gelobte dem Bruder, nunmehr so lange zu kämpfen, bis das treu brüchige Ilion in den Staub gesunken sei. »Die Wunde spüre ich schon nicht mehr, Bruder!« rief Menelaos, »und siehe, auch meine Kampfreihen ordnen sich schon; eile du zu den Königen im Feld und sporne sie an, ihre Scharen zu sammeln, daß wir uns blutig an den wortbrüchigen Schurken rächen!« Das tat Agamemnon, denn so wollte es die Pflicht des Oberbefehls habers; er hetzte mit seinem Kampfwagen durch die Reihen der sich rasch ordnenden Achaier, pries hier den Mut und schalt dort die Verzagtheit, lobte den Eifer dieses und tadelte die Saumselig keit jenes Kriegers, und Athene schritt unsichtbar neben ihm her und senkte Haß und Grimm in die Seele der Griechen, und siehe, da stieß die Riesenfaust des Ares auch schon Ilions Tor auf, und das trojanische Heer, das nach dem unseligen Schuß des Pandaros wußte, daß es auf keine Schonung mehr rechnen konnte, brauste, Kampfrufe in vielen Zungen Asiens ausstoßend, in die Ebene hin aus. Wie zwei rollende Fluten, so rasten, von Ares und Athene angetrieben, die Wogen aufeinander und prallten mit solchem Ge töse zusammen, daß die Vögel tot aus den Lüften stürzten; Wagen 50
krachte an Wagen, Schild an Schild und Panzer an Panzer; Schwert hieb auf Schwert und Streitaxt auf Streitaxt, und stundenlang war die erbitterte Schlacht in einer einzigen Linie erstarrt. Die Heere standen ineinandergekeilt und rangen, wenn die Schwerter zerspellt waren, mit den bloßen Händen, und über den Sinkenden schlossen sich sofort wieder die ehernen Reihen, so daß die gefällten, im Staub verblutenden Krieger nur Erz sahen, das über ihren Häuptern tobte und so dicht ineinander verschränkt war, daß die brechenden Augen kein Stückchen des Firmaments mehr erblickten und Hadesnacht sie schon auf Erden deckte. Diomedes verwundet zwei Himmlische ls Athene sah, daß die Schlacht stockte und die Griechen keinen Fußbreit Boden gewan nen, eilte sie zu Diomedes, dem König von Argos, und verlieh ihm göttergleiche Kraft. Ihre Wahl war auf diesen jungen Fürsten gefallen, weil er sich als wagemutigster und leidenschaftlichster aller griechischen Krie ger erwiesen hatte, als Mann, der, wie nur noch Achill, zum grauen vollen Schlachthandwerk geboren schien. Die Göttin übergoß Helm und Schild ihres Erwählten mit gleißendem kaltem Feuer, ähnlich dem, das in mancher Herbstnacht vom Sirius strahlt; die Troer vor ihm wurden dadurch geblendet und wichen zurück, und Diomed stieß mit seinem Wagen in die Lücke und zerhieb jeden, der ihm entgegentrat. So war die Front der Troer aufgerissen; der Strah lende drang mit grimmigen Lanzenstichen und Schwerthieben un aufhaltsam vorwärts; Agamemnon mit seinen Mykenern und Ido meneus mit seinen Kretern dehnten die Bresche in der feindlichen Kampflinie weiter aus, und als Athene feststellen konnte, daß das Blatt sich zugunsten der Griechen gewendet hatte, faßte sie Ares, der die Troer durch wildes Lärmen zum Kampf trieb, jedoch un 51
fähig war, ein Schlachtfeld zu überblicken, am Arm, zog ihn aus dem Getümmel und sprach: »Bruder, bluttriefender Männerver nichter, laß uns den Kampf doch lieber meiden, auf daß wir nicht etwa Zeus erzürnen! Die Kräfte sind gleich, keine Partei ist im Vorteil, da mag es der Vater nicht dulden, wenn sich ein andrer außer ihm einmischt. Wollen wir es ihm doch überlassen, wem er den Sieg zu verleihen gedenkt!« Ares folgte dem Rat der Schwester, und so setzten sich die bei den, Schemen aus flirrender Luft, ans Hügelufer des Skamandros; die Griechen aber nützten den gewonnenen Vorteil und drängten auf der ganzen Linie die Troer gegen die Stadtmauer zurück. Agamemnon warf dem fliehenden König der Halizonen, Hodios, den Speer in den Rücken; Idomeneus durchstieß Fürst Phaistos aus Sardes die Schulter; Menelaos streckte den Skamandrios, einen der berühmtesten Weidmänner Ilions, nieder, und Meriones zerstach dem Phereklos, der Paris einst die helenaentführende Flotte gebaut hatte, Becken und Blase, so daß der Zimmermannskundige heu lend in den Staub fiel. Krieger um Krieger sank ins purpurschwarze Nichts, mit zerspelltem Schädel dieser und jener mit abgehauenem Arm und ein dritter mit gespaltetem Nacken, und am wildesten wütete der feuerüberschüttete Diomedes, bis schließlich auch ihn ein Pfeil, von Pandaros' Bogen geschnellt, in die Schulter traf. Der Schwertarm des Verwundeten erschlaffte; sein Wagenlenker Sthenelos zog mit beiden Händen das widerhakige Geschoß aus dem Fleisch, und das Blut sprudelte nun so heftig durch die Panzer ringe, daß Diomed den Kampfplatz hätte verlassen müssen, wäre nicht Athene zu ihm geeilt, seine Wunde zu versiegeln und ihrem Erkorenen neue Kraft zu verleihn. »Stürze dich getrost wieder ins Getümmel, herrlicher Held«, so redete die Eulenäugige, »doch sei auf der Hut, dich mit einem Unsterblichen zu messen, denn manche der Unsern weilen heute hier unter euch!« Diomed fragte bestürzt, wie er die hohen Himmlischen, die ja auf Erden nur in der Gestalt von Irdischen erscheinen, denn erkennen solle, und Athene strich ihm mit dem Zeigefinger sacht über das Augenlid und sprach: 52
»Nun wirst du jeden der Unsern an dem lodernden Feuer, das seine Stirne umwogt, erkennen und kannst ihm, wie es dir Sterb lichem gebührt, mit gebeugtem Haupt aus dem Weg gehn, nur Aphrodite magst du, wenn sie sich dir zeigt, mit dem spitzen Erz verwunden, dieser eitlen Dirne gebührt ein tüchtiger Denkzettel!« So sprach Athene und hauchte ihren Schützling mit göttlichem Atem an, und Diomeds Herz begann aufs neue in Rachedurst und Kampfgier zu erglühen. Wie ein Berglöwe in eine Lämmerherde einbricht, so stürzte er sich nun wieder über die Troer; er tötete den Helden Astynoos und darauf den König Hypeinor, stieß den Abas und den Polyidos nieder und beraubte beide, die noch in der Nacht zuvor von ihrem Sieg geträumt hatten, ihrer Rüstung, dann hieb er den Xanthos und gleich darauf den Thaon zusammen und warf schließlich mit einem einzigen Lanzenstoß die Priamossöhne Chro mios und Echemin von ihrem gemeinsamen Streitwagen und er beutete beider Rüstung und Wagen und Pferde obendrein. Dieses Gemetzel blieb Aeneas, einem der obersten Feldherrn Tro jas, der ein Sohn der Aphrodite war und das Volk der Dardaner regierte, nicht verborgen. Er eilte zu Pandaros, der, nach Kampfart der Bogenschützen, von Deckungen im Gelände aus seine Geschosse versandte, und befahl ihm, den rasenden Diomed niederzustrecken. »Ich habe ihn schon einmal in die Schulter getroffen, Feldherr, und die Wunde müßte ihn kampfunfähig gemacht haben«, erwiderte Pandaros, »gewiß hat ihm einer der Unsterblichen Beistand ge leistet, ja vielleicht kämpft gar ein Gott in des Griechen Gestalt! Doch wie sich das auch immer verhalten mag – sieh nur, wie weit der Feuerumflammte schon entfernt ist! Ich bin ja, allein meinem Bogen vertrauend, ohne Kampfwagen ins Feld gezogen, und nun reicht mein Geschoß nicht mehr zu dem Stürmenden hin!« »So steige bei mir auf!« rief Aeneas, und Pandaros schwang sich auf das Trittbrett; Aeneas peitschte die Rosse mit scharfer Geißel, und der Wagen schoß über das steinige Schlachtfeld Diomed zu. Als Sthenelos das Gefährt erblickte, erbleichte er und wollte die Pferde zur Flucht wenden, denn er fürchtete Aeneas als einen 53
Sohn Aphrodites und Enkel des Zeus; Diomed aber zwang seinen Rosselenker, den Troern entgegenzujagen. »Mit dem ersten Pfeil habe ich dich nicht bezwungen, Diomed, Sohn des Tydeus«, rief Pandaros, »nun magst du die Kraft meines zweiten Geschosses spüren!« Er spannte den Bogen und ließ einen Pfeil wider den Gegner schwirren, und das bronzene Blatt durchschnitt auch den oberen Schildrand des Griechen und prallte gegen dessen Panzer: Pandaros jubelte laut und wähnte den Widersacher überwunden, allein nun entsandte Diomed seine Lanze, und die traf den eid brüchigen Fürsten zwischen Mund und Nase, zerstieß ihm Gaumen, Zähne und Zunge und trat oberhalb des Halses wieder hervor. Rasselnd stürzte Pandaros zu Boden; Diomed und Sthenelos spran gen in voller Fahrt ab, die Rüstung des Getöteten zu rauben: Aeneas aber, der ebenfalls abgesprungen war, umkreiste schild bewehrt den Leichnam des Gefährten und schüttelte drohend seine Lanze, doch ehe er zum Wurf ausholen konnte, hatte der Grieche schon einen kopfgroßen Felsblock ergriffen und zerschmetterte dem Dardanerkönig damit das Hüftgelenk. Aeneas stürzte in die Knie; vor seinen Augen wurde es finster, und Menelaos hätte des Hilflosen Seele nun mit einem Schwertstreich ins Schattenland hinuntergesandt, wenn nicht Aphrodite, die noch nicht in den Olymp zurückgekehrt war, ihren Sohn mit Lilien armen umschlungen und in ihr schirmendes Silbergewand gehüllt hätte, um ihn sicher aus dem Kampf zu tragen. »So billig wirst du mir nicht entrinnen, Aeneas!« rief Diomed und jagte, selbst die Zügel führend, der Göttin nach und verwundete ihr zartes Hand gelenk mit seiner Lanze, so daß, ein quellklarer Strahl, ihr unsterb liches Blut zur Erde rann. Die Göttin schrie auf und ließ ihren Sohn fallen; sie stand völlig verwirrt in der malmenden Schlacht und fühlte den heftigen, noch nie erfahrenen Schmerz der Wunde und sah ratlos das wütende Erz um sich blitzen und dachte nicht mehr an ihren Sohn, den nun Apollon mit einer undurchdring lichen Wolke deckte. »Weiche zurück aus dem Kampf, vermessene Tochter des Zeus«, rief Diomed der jammernden Göttin zu, »weiche 54
zurück und wage nicht mehr, dich ins Werk der Männer zu mischen, sonst wird mein Schwert dich so verstümmeln, daß du in aller Zukunft schauderst, wenn du das Wort ›Krieg‹ auch nur von ferne hörst!« So rief Diomed, der erste des Menschengeschlechts, der einen der Unsterblichen verwundet hatte; Aphrodite aber, durch diese Worte aus ihrer Betäubung gerissen, floh schluchzend durch die pfeildurchsirrten Lüfte zum Himmel, und als sie die olympi schen Gefilde betrat, schloß sich die harmlose kleine Wunde von selbst, und der Schmerz verflog. Hera aber hatte Aphrodites Aben teuer voll hämischer Freude mit angesehen und verhöhnte die Schöne jetzt mit grausamen Spott. »Hast du Weibische etwa dein Händchen an einer goldenen Spange geritzt, als du Helena ge streichelt?« so stichelte sie; Zeus aber schloß die holde Göttin, an der er Vaterstelle vertrat, begütigend in die Arme, tröstete sie und riet ihr, fortan das rohe Männerhandwerk zu meiden und statt dessen ihrer anmutigen Arbeit, Herzen in Liebe zu entflammen und Hochzeiten zu stiften, nachzugehen. Indes hatte unten Diomeds götterberührtes Auge Aeneas unter der schirmenden Wolke Apollons erspäht; dreimal rannte der Toll kühne wider den Schild an, mit dem der lichtumwogte Gott den Gefällten deckte, und dreimal prallte er wie von einer Felswand zurück; als er jedoch ein viertes Mal zum Sturm ansetzte, warnte ihn Apollon, sich zu vergessen und seine Hand gegen einen der Oberen zu erheben, und Diomed, wenn auch zögernd, gehorchte und wich. Apollon entführte seinen Schützling aus dem Getümmel in einen nahegelegenen Tempel, legte ihn dort auf den Altar und setzte mit behutsamer Hand die Splitter und Trümmer der Kno chen zu festem Gebein zusammen, dann renkte er den Schenkel kopf in die Hüftpfanne ein, fügte die zertrennten Sehnen, Muskeln, Adern und Fleischfibern wieder aneinander, tupfte das gestockte Blut weg und zog schließlich die Haut von Schenkel, Gesäß und Lenden über der Wunde zusammen, so daß an dem so wunderbar geheilten Leib nicht einmal eine Narbe blieb. »Kehre nun in den Kampf zurück, guter Held«, sprach Apollon, »die Stunde ist 55
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günstig, nutze sie!« Mit diesen Worten verließ er Aeneas und eilte zu Ares, der, träge und schwer von Entschluß, noch immer untätig am Skamandros saß. »Was sitzest und sinnest du hier, lieber Bru der«, rief Apollon, »indes der schändliche Diomed die Troer wie Schlachtvieh metzelt; denk dir, der Freche hat es sogar gewagt, die holde Aphrodite zu verwunden, willst du solch einen Frevel un gerächt lassen?« Da Ares dies hörte, schrie er auf und stürzte sich in der Gestalt eines thrakischen Heerführers ins Getümmel und mähte mit seinem langen Schwert die Griechen wie Kornhalme nieder; vom linken Flügel her stieß Hektor vor, und als dann auch der totgeglaubte Aeneas plötzlich wieder unter den Seinen erschien und sie ins Ge fecht führte, drückten nun die Männer Ilions, so tapfer sich die Griechen auch wehrten und so viele Feinde wie etwa den hünen haften Pylaimenes, den König der Paphlagonier, sie auch in den Tod sandten, das Achaierheer auf der ganzen Front nach dem Lager und den Schiffen hinunter. Hektor allein tötete in kurzer Zeit sieben Helden; des Aeneas Schwert raffte Dutzende hin, und Ares fällte die Griechen in hellen Scharen. Da entschloß sich Athene direkt in den Kampf einzugreifen. Sie eilte ins Schlaf gemach des Götterkönigs, streifte dort ihr feingewirktes buntes Gewand ab, schnallte die schwarze Rüstung des Zebis um und wappnete sich mit dem grauenerregenden Aigisschild, der beim Schütteln Blitz und Donner entsendet und in seiner Mitte das noch lebende Schreckenshaupt der Gorgo, des entsetzlichsten Unge heuers, das je die Erde behaust hat, trägt. Dann setzte sich die Göttin Zeus' goldenen Helm auf, dessen Kuppel mächtig genug ist, Fußkämpfer aus hundert Städten zu überdachen, schwang sich auf ihren achtfach bespannten Wagen und eilte zu Diomed, den, seit er vor Apollon zurückgewichen, wieder die Pfeilwunde und mit ihr verzehrender Durst quälte. »Nun, Sohn des heldenhaften Tydeus«, rief die Göttin ihm zu, »warum weichst du schmählich zurück? Hat dich die Speerarbeit schon ermattet, oder lähmt die Furcht dein tapferes Herz?« – »Es ist dein Gebot, hehre Athene«, 58
so redete Diomed, »das mich zurückhält; du selbst hast mich doch gewarnt, mit einem Unsterblichen außer Aphrodite zu kämpfen, wie sollte ich da dem Blutsäufer Ares widerstehen? Auch verhehl ich dir nicht, daß mein Schwertarm lahm ist, die Wunde plagt mich arg, und mein Schlund ist ausgedörrt!« – »So komm und fürchte dich nicht!« sprach Athene und stieg neben Diomed auf den Wagen; die Achsen ächzten und bogen sich unter der Last, und die Pferde scheuten; Diomed aber spürte weder Wundschmerz noch Durst mehr; er packte die Lanze und wog sie in der Hand, und sie schien ihm leicht wie eine Feder, und Athene ergriff Zügel und Peitsche und lenkte, durch ihre Tarnkappe allen Blicken ent zogen, das Gefährt in sausender Fahrt dem schlachtenden Ares zu. Der Kriegsgott, der soeben den aitolischen Krieger Periphas niedergehauen hatte, ließ, als er den heranjagenden Diomed sah, den Leichnam, dem er gerade die Rüstung rauben wollte, liegen und schleuderte seine Lanze wider den Angreifer; Athene aber drückte das Geschoß aus ihres Bruders Hand zur Seite und lenkte dann Diomeds Speer durch den Panzer des Kriegsgottes hindurch tief in die Weichteile seines Unterleibs. Nachtschwarzes rauchendes Blut gurgelte in Strömen aus der klaffenden Wunde; der Getrof fene brüllte wie zehntausend Männer im Streit; die Burg und das Feld und alle Berge ringsum erbebten bei diesem furchtbaren Brül len, und Troer wie Griechen ließen erschrocken vom Kampf ab. Ares versuchte mit beiden Händen das maßlos quellende Blut zu stauen und brüllte ohne Unterlaß und fuhr brüllend, die Hände vorm Gedärm, in einer Gewitterwolke auf zum Himmel, dort schleppte er sich zu Zeus und klagte ihm sein Leid. »Willst du etwa diesen ungeheuren Frevel ungerächt hinnehmen, Allvater«, so ächzte Ares, »und willst du dulden, daß dieses Schandweib, die Pallas, Irdische gegen uns Götter hetzt und Erdenwürmer derart verblendet, daß sie es wagen, die Lanze nach mir und Aphrodite zu stoßen? Sende doch endlich deinen Blitz und vertilge dieses Pack!« So redete Ares, und sein schwarzes Blut besudelte den Edel stein-Estrich; Zeus aber blickte finster und sprach unwillig: »Hör 59
doch auf, Ares, mir die Ohren vollzuwinseln und gegen Athene zu lästern, die meinem Herzen lieb und teuer ist. Wahrlich, du gleichst ganz deiner Mutter Hera, da du nur Zank und Fehde und blutiges Morden liebst! Du bist mir darum der verhaßteste von allen Olym piern; doch da du nun einmal zu uns gehörst, soll auch dir Hilfe zuteil werden; Apollon mag deine Wunde mit Balsam schließen und es fügen, daß dein Leib ungenarbt bleibt. Nun aber scher dich fort, eh meine Milde mich reut!« Ares entwich; Apollon heilte ihn mit goldgelbem Balsam; Athene aber wurde vom König der Unsterblichen zum Olymp zurückgeru fen. »Du weißt, Ungehorsame«, so fuhr Zeus sie an, »daß ich ent schlossen bin, den Griechen meinen Beistand zu entziehen, setze dich also nicht meinem Willen entgegen und halte dich aus dem Kampf heraus!« Athene nickte ergeben, doch die Angriffswucht des Troerheeres war durch ihr Eingreifen schon gebrochen; die Achaier drängten in unersättlichem Hauen und Stechen das Priamosheer wieder zur Stadt zurück, und da der weise Nestor geraten hatte, den Getöteten die Rüstungen erst nach der Schlacht abzuziehen, um die Verfolgung nicht zu verzögern, standen die Troer bald wieder mit dem Rücken an der Mauer, und es schien, als würde es den Angreifern gelingen, noch vor Einbruch der Nacht das Tor einzu drücken und stürmend in die Burg zu ziehn. Frieden im Waffengang n dieser äußersten Not suchte Helenos, der Oberpriester Trojas, der die Gabe besaß, aus dem Flug der Vögel und den Eingeweiden der Opfertiere geheime Botschaften der Göt ter an die Menschen zu lesen, seinen Bruder Hektor auf und gebot ihm in die Burg zu eilen und seine Mutter, die Königin Hekabe, zu beschwören, ihr vielgeliebtes kostbares Purpurgewand der zürnen 60
den Göttin Athene zu opfern und ihr zwölf untadelige Kühe zu ge loben, wenn sie sich der Stadt erbarme und den furchtbaren Dio medes von Ilion abwehre. »Was allein helfen kann, ist das Schwert«, entgegnete Hektor; doch Helenos drang so flehentlich in den Bruder, daß der Troer prinz der Bitte nachgab und in die Burg eilte. »Die Schlacht ist gewonnen, Hektor flieht!« rief Diomed und wollte dem Troerprin zen nachsetzen, doch Glaukos, ein mit Ilion verbündeter Fürst, trat ihm in den Weg. Diomed erstaunte ob der kraftvoll erhabnen Ge stalt seines Gegners. »Bist du ein Himmlischer, du Fremdling, den ich nie noch gesehen?« so redete Diomed den Unbekannten an, »bist du ein Himmlischer, dann gib mir ein Zeichen, damit ich dir in Demut begegne; bist du aber einer der Erdensöhne, dann bereu deinen Mut und stell dich zum Kampf!« – »Was fragst du nach meinem Geschlecht, edler Sohn des Tydeus«, erwiderte Glaukos, »es ist irdisch und den Obern so viel wie fallendes Laub im Wind! Meiner Väter Stamm ist in Korinth aufgewachsen, der Stadt des Sisyphos, des schlauesten unter den Menschen, der selbst die Himm lischen getäuscht und zur Strafe dafür in alle Ewigkeit im Hades einen Marmorblock, der ihm kurz vor dem Ziel immer wieder entrollt, einen Steilhang hinanwälzen muß. Sein Enkel ist der herr liche Bellerophon gewesen, der, von einem tyrannischen König aus dem Land getrieben, in Lykien sich niedergelassen und den Schrek ken des Landes, die furchtbare feuerspeiende Chimäre, getötet hat. Dieses Bellerophon Enkel bin ich, und mein Vater hat mich an gehalten, König Priamos tapfer zu dienen und für unser Geschlecht stets Ehre einzulegen. Daran will ich mich auch jetzt halten, mach dich also zum Kampf auf Tod und Leben bereit!« Mit diesen Worten hob Glaukos seinen Speer; Diomed aber stieß seine Lanze in den Boden und rief: »Gesegnete Stunde, Glaukos, die mich nach deinem Namen und Geschlecht fragen hieß! Aus Väterzeiten bist du mir ein Gastfreund; mein Ahne Oineus hat einst den hochberühmten Bellerophontes zwanzig Tage lang unter seinem Dach beherbergt; Gastfreunde seien auch wir und wollen 61
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im Kampf uns meiden, es gibt ja für jeden von uns wahrhaftig andre Arbeit genug!« So sprach Diomed und sprang vom Wagen, und auch Glaukos stieg ab, und die beiden Helden eilten aufeinander zu und um armten sich und gelobten einer dem andern Freundschaft, und Glaukos war so bewegt, daß er ohne Besinnen seine goldene Rüstung, wohl hundert Farren an Wert, ablegte und sie gegen die eherne des Diomed tauschte, die für noch nicht neun Farren feil gewesen wäre. Als Hektor Troja betrat, war er im Nu von Frauen umdrängt, die ihn nach dem Stand der Schlacht und nach dem Schicksal ihrer Männer, Söhne, Brüder und Väter befragten, und Hektor sah man ches Ehweib vor sich, das schon Witwe war und es noch nicht wußte, und er sah manches Kind, dem nie ein Vater mehr übers Haar streichen würde und das nun ahnungslos fragte, ob der ge liebte Beschützer auch wohlbehalten sei. Die Augen wurden ihm feucht, und er sagte mit heiserer Stimme nichts als: »Betet innig zu den Göttern, ihr guten Frauen, und fleht sie an, uns gnädig und gewogen zu sein!« Da wußten die Frauen, daß Troja bedrängt war, und sie gingen wortlos auseinander und schritten vor die Altäre und hoben die Hände zum Himmel und flehten zu Zeus und Hera und Athene um Beistand und hätten ebensogut Wasser in Siebe schöpfen oder Sonnenstrahlen in Säcke füllen können. Da die Frauen und Kinder ihre Arme zu den Göttern erhoben, hatte Hektor des Priamos Palast erreicht, der neben den Königs gemächern und der geräumigen Ratshalle fünfzig Wohnungen für die Söhne und Schwiegertöchter des Herrschers und zwölf für des sen Töchter und Eidame umschloß. Im Gemach der holdesten Toch ter, der lieblichen Laodike, traf der Troerprinz seine Mutter He kabe an. »Hektor, mein liebes Kind!« rief die Greisin beglückt, »bist du doch heil aus der grausamen Feldschlacht zurückgekehrt! Dank sei den gnädigen Göttern, daß sie dir das Leben erhalten haben! Aber nun setz dich, mein Söhnlein, setz dich und streck deine 63
müden Glieder, ich will eilen, dir einen Becher roten Weins zur Stärkung aufzutischen!« – »Keinen Wein, beste Mutter«, versetzte Hektor, »ich muß zurück in den Kampf, und Wein macht müde; ich hin nur gekommen, Liebste, dir eine Bitte Helenos' zu übermitteln. Die Schlacht steht schlecht, die Griechen berennen schon das Skä ische Tor; säume darum nicht, dein kostbares Purpurgewand der Göttin Athene zu weihen und ihr zwölf untadelige einjährige Kühe zu geloben, wenn die Hohe uns beisteht und den furchtbaren Dio med von der Stadt abhält. Dies ist meine Botschaft gewesen, teure Mutter, nun entlaß mich wieder in den Kampf zurück!« Hekabe drückte den Sohn an ihr Herz, dann eilte sie in ihr Schlaf gemach, hob dort das Purpurgewand, das von sidonischen Frauen, den Meisterinnen dieser Kunst, gewirkt und gefärbt worden war und heller als ein Stern erstrahlte, aus einer Truhe von Gold und Elfenbein, trug es in den Tempel Athenes, legte es dort vor dem Standbild der Göttin nieder und flehte die Unsterbliche an, die Stadt, die ihr immer getreu geopfert hatte, zu schützen. »Fälle den furchtbaren Diomed, erhabene Göttin«, so betete die greise Fürstin, »zerbrich seinen Speer und sein Schwert und wirke, daß er ent seelt in den Staub stürzt, und ich will dir, Erhabene, auf der Stelle zwölf untadelige einjährige Kühe zum Opfer bringen; gib mir nur ein Zeichen, mildtätige Pallas, daß du meine Bitte gehört hast!« Dies betete Hekabe und wartete auf einen Wink der Göttin; einen Augenblick lang war es still im Tempel, dann trug ein plötzlicher Windstoß Schwertergeklirr und Siegesgeschrei der Griechen an der Königin Ohr. Da wußte Hekabe, daß ihr Flehen vergebens geblie ben und ihr Opfer verschmäht war, und schneidendes Weh durch zuckte ihre Brust. Indes war Hektor in den Palast seines Bruders Paris geeilt, den sich dieser einst neben der Königburg hatte erbauen lassen. Hektor traf den Bruder in der Waffenkammer, wo der Vielbewunderte sich am Geblink der Rüstungen und am stumpfen Hornglanz der Bogen ergötzte. Als Hektor den Säumigen erblickte, schalt er ihn hart, daß er müßig in seinen Gemächern verweile, während drau 64
ßen der Kampf schon um das Skäische Tor tobe. »Ich bin ja schon dabei, lieber Bruder, mich für den Kampf zu rüsten«, erwiderte Paris, und seine Stimme klang beschämt; »geh nur voraus, ich werde dir eilends folgen!« Mit diesen Worten schnallte er sich den Harnisch um; Helena aber, die bisher im Frauengemach am Web stuhl gesessen und nun zu den Brüdern getreten war, Helena aber seufzte tief und sprach: »O hätte mich doch am Tag meiner Geburt ein Sturmwind gepackt und in ein ödes Gebirge getragen, oder wäre ich von einer Welle in die Tiefe des Meeres gerissen worden! Wie still und glücklich schuldlos würde ich nun ruhen! So aber ist all mein Leben nur Schande, Unheil mein Los und übel die Folge all meiner Taten!« – »Wie solltest du Schuld tragen, liebes Weib?« entgegnete Paris, »die Götter haben ja alles gefügt, und hätte Va ter Zeus mich nicht zum Schiedsrichter über den Erisapfel bestimmt, wären unsere Schicksale anders verlaufen!« »So müßte ich also den Göttern fluchen!« sprach Helena, aber Hek tor verwies ihr diese Worte und sprach: »Erfreche dich nicht, solche Frevelreden zu führen, Schwester; uns Irdischen kommt es nicht zu, über die Himmlischen und ihre Entschlüsse zu richten; sie sind allweise und allgütig und lenken die Dinge der Welt nach Plänen, die wir nicht zu überschauen vermögen und die wir darum nie tadeln dürfen. Manches, in dem wir ein Übel wähnen, ist in Wirk lichkeit zu unserem Heil bestimmt; es ziemt uns daher, geduldig und fromm unsre Bahnen zu gehen und den Göttern für ihre wal tende Umsicht zu danken! Doch ich muß mich schelten«, fuhr Hek tor fort, »daß ich mich schon viel zu lange der Schlacht entziehe; die Sonne neigt sich, und das Siegesgeschrei der Griechen gellt schon über die Mauer; ich will mich nur noch von den Meinen ver abschieden, denn niemand weiß, ob es mir vergönnt sein wird, sie wiederzusehen!« Mit diesen Worten eilte Hektor davon, doch er fand seine Gemah lin nicht in ihren Gemächern; sie war zum Turm geeilt, nach dem Gatten zu spähen, und nun begegnete er der Rückkehrenden hinter dem Tor. In Andromaches Augen standen helle Tränen; das Haar 65
hing ihr wirr um das Haupt, und eine schluchzende Dienerin trug ihr erstgeborenes Knäblein, dem Hektor den Namen Astyanax, das heißt Stadtbeschirmer, gegeben hatte. »O Hektor, Hektor, du furcht barer Mann«, rief Andromache und umfaßte die Hand ihres Gat ten, »dich tötet noch einmal dein Mut, und verwaist läßt du dein Knäblein zurück und im bitteren Schmerz deine Ehfrau! Sieh, mei nen Vater und meine sieben Brüder hat mir der grausame Streiter Achilles erschlagen, und der Zorn der Göttin Artemis hat einst meine Mutter hinweggerafft! Du allein bist mir geblieben, du bist für mich Vater und Mutter und Bruder und Gatte zugleich! Verliere ich dich, habe ich alles verloren, darum erbarme dich mei ner, ich flehe dich an, und meide die Schlacht! Ach Hektor, Hektor, könntet ihr harten Männer doch nur verstehen, wie es einem hilflosen Weibe ums Herz ist!« So sprach Andromache und setzte zugleich unter Tränen fort: »Aber wenn du schon in den Kampf zurückkehrst, unbändiger Mann, so ziehe das Heer vor dem Feigenbaumhügel zusammen; ich habe beobachtet, daß der Feind von dorther versucht, die Mauer zu über steigen – aber was rate ich dir da, Liebster? Nein, bleibe bei mir und verlasse dein Söhnchen nicht!« »Liebste«, sprach Hektor und drückte Andromaches Hand, »Lieb ste, auch mich härmt all der Greuel des Krieges, aber ich müßte mich ja vor den Männern und Weibern Ilions schämen, feige ab seits im Kampf zu stehen und die Stadt nicht zu schützen! Und selbst wenn ich der Schmach nicht achten wollte: Mein Herz ver bietet es mir, dem Getümmel auszuweichen, denn ich habe gelernt, redlich zu sein und in der ersten Reihe zu kämpfen. Zwar weiß ich, daß einst der Tag kommt, da Ilion hinsinkt und die Achaier uns Männer töten und euch Frauen unters harte Joch der Gefangen schaft beugen werden, denn unaufhaltsam vollzieht sich, was das Schicksal einmal beschlossen hat. Doch dann möge meinen entseel ten Leib schon die Erde bedecken, daß mein Ohr euer Weinen nicht hört noch das Wimmern der Kinder; dir aber sei dann in den fin stren Tagen ein Trost, wenn man von dir sagt: ›Sie ist einst das 66
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Eheweib Hektors, des Tapfersten der Trojaner, gewesen und hat sich ihres Mannes niemals schämen gemußt!‹« So sprach der Priamossohn und wollte sein Knäblein ans Herz drücken, aber das Kind, vom flatternden Helmbusch erschreckt, schrie bange auf und sträubte sich. Lächelnd legte der Vater den Helm ab, und nun küßte er sein Söhnlein und wiegte es sanft in den Armen und flehte laut zu Zeus und den anderen Mächtigen, sie möchten seinen Knaben gleich ihm mit Mut und Kampfkraft begaben, dann reichte er das Kind der Mutter, umarmte sie und gebot ihr, an ihre Frauenarbeit zu gehen. Andromache gehorchte, doch wandte sie sich auf dem Weg oftmals nach ihrem Gemahl um, der klirrend zur Mauer hinunterschritt, und auch Paris hatte indes seine Rüstung angelegt und eilte schnellfüßig dem Bruder nach. Unterm Tor noch holte er ihn ein, und beide warfen sich mit Unge stüm in die Schlacht, ihren Kriegern voran, die sie schon so sehn lich erwartet hatten wie Seefahrer auf dem glatten Meer einen günstigen Wind. Hektor kämpft mit dem Großen Ajax ektor hatte das Jammern und Flehen der Frauen und Kinder Ilions und Paris hatte noch die Scheltworte seines Bruders im Ohr; wie grimmige Löwen brachen beide aus dem Skäischen Tor, das schon von der griechischen Sturmspitze be drängt war, und warfen die Angreifer weit zurück. Das gewahrte Athene, und sie stürmte, dem Gebot des Allmächtigen trotzend, zum Schlachtfeld hinunter und grübelte, wie sie den Griechen am besten beistehen könne, ohne von Zeus entdeckt zu werden. Da trat Apollon vor sie hin und schlug vor, gemeinsam auf ein Mittel zu sinnen, den Kampf für heute abzubrechen. Athene war ob dieses Vorschlags verblüfft, denn sie sah die Troer im Vorteil, und das 68
Angebot Apollons kam ihr höchst gelegen, und Apollon wiederum hatte befürchtet, die Griechen könnten doch noch die Stadt stür men, und wollte deshalb den Kampf unterbrechen. So kamen denn die beiden Himmlischen schnell überein, die Schlacht durch einen Zweikampf wenn nicht zu entscheiden, so doch hinauszuziehn. »Wir wollen Hektor gewaltigen Mut in die Seele hauchen«, schlug Apollon vor, »auf daß er es wagt, einen der Achaier zum Kampf zu fordern, dann werden wir weitersehen, wie die Dinge sich ent wickeln!« Athene war einverstanden; die beiden Oberen verwan delten sich in zwei gebärtete Geier und hockten sich auf den Ast einer uralten, vor dem Skäischen Tor hochragenden Rotbuche; der Priester Helenos aber, der mit seinem inneren Ohr dies Gespräch belauscht hatte, eilte zu Hektor und bestürmte ihn, vor die Front zu treten und einen der Griechen zum Zweikampf aufzufordern; er könne dies, so redete Helenos, unbesorgt tun, denn die Unsterb lichen hätten seinen Tod noch nicht beschlossen. Diese Worte labten Hektors Herz; er hob seinen Speer mit beiden Händen über den Scheitel und trat zwischen die Fronten, die, da sie den Redeheischenden gewahrten, voneinander ließen, und der Trojanerfürst hob an zu sprechen und schlug einen Zweikampf zu der Bedingung vor, daß der Sieger wohl die Rüstung des Unter legenen rauben und seinen Schätzen zuführen dürfe, den entseelten Leichnam aber zur feierlichen Bestattung den Angehörigen zurück geben müsse. Erwartungsvoll musterte Hektor das Rund der Achaier, wer sich ihm wohl zum Kampf stellen werde, allein die Griechen senkten das Haupt und verharrten voll Furcht in ratlosem Schweigen, bis schließlich der greise Nestor aufstand und den Ver lust seiner Jugendkraft jammernd beklagte; er würde, so mahnte er mit geißelnden Worten, sonst nicht die Schmach erdulden, von den Feinden als Feigling geschmäht zu werden. Da sprangen be schämt neun der tapfersten Fürsten, darunter die beiden Ajax, Diomedes, der Kreterkönig Idomeneus und der listenreiche Odys seus auf, so daß nun das Los entscheiden mußte. Jeder der Helden nahm einen Stein, grub ihm ein Zeichen ein, und Nestor sammelte 69
die Lose in seinem Helm, den er so lange schüttelte, bis ein Los heraussprang: der Stein des Großen Ajax. Hektor warf als erster die Lanze; sie traf den siebenhäutigen Schild des Hünen, durchdrang die oberste Eisenschicht und zerschnitt sechs der sieben Stierhäute, im letzten Leder aber ermattete sie. Nun schleuderte Ajax den Speer, und er durchstieß Schild und Harnisch
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Hektors, fuhr jedoch an dessen Weiche vorbei. Beide Helden ris sen die Speere aus dem Schild und rannten, zwei raublustige Pan ther, widereinander; Hektors Lanze prallte auf dem Schildbuckel des Griechen ab, dessen Speerblatt aber ritzte des Gegners Hals so daß dunkles Blut der Wunde entströmte. Hektor schrie auf, doch er griff tapfer zum Schwert und wandte sich wider den Gegner;
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Apollon aber bat die Göttin der Nacht, ihren Mantel früher als sonst über das Schlachtfeld zu decken, und sie, die gütige dunkle Mutter und Freundin der Sterblichen, entsprach der Bitte des gött lichen Jünglings. Jäh breitete sich die Dämmerung aus, und die beiden Kampfherolde trennten die Streiter und mahnten sie, der Göttin der Nacht, der erhabenen Nyx, die Himmlische wie Irdische besänftigt und bändigt und die den Waffenlärm haßt, zu gehor chen und voneinander zu lassen. So hingen denn die Helden die Schwerter wieder über die Schulter, und jeder, noch keuchend und nach Atem ringend, pries, wie es in alten Zeiten Brauch war, den Mut und die Kraft seines Gegners, und schließlich tauschten sie, auch hier einer alten Überlieferung folgend, Geschenke aus. Hek tor überreichte Ajax ein silbernes Schwert und Ajax dem Hektor einen purpurnen Leibgurt, dann drückten sie, indes das Dunkel hereinbrach, einander die Hände und schieden in Ehren. Es war dies silberne Schwert aber die Waffe, die Ajax sich einmal ins Herz stoßen, und es war der purpurne Gürtel der Riemen, an dem Achilles den Leichnam Hektors dereinst durch den Staub schleifen sollte. Doch davon zu gegebener Zeit. Der Waffenstillstand achdem die Krieger ins Lager und zur Burg zurückgekehrt waren und sich bei einem reich lichen Mahl gestärkt und gesättigt hatten, hielten die Könige beider Völker für sich Rat, was weiter zu tun sei. Nestor schlug vor, mit den Trojanern einen Waffenstillstand auszuhandeln, damit beide Parteien ihre Toten bergen und bestatten konnten, auch solle, so riet er, die Zeit ge nutzt werden, die Brustwehr, der die Troer bei ihrem Gegenstoß schon gefährlich nahe gekommen waren, zu verstärken. Zu gleicher Zeit saßen die Krieger zu Ilion und berieten, und Antenor, einer 72
ihrer tapfersten Kämpfer, beschwor sie, Helena samt allen geraub ten Schätzen den Griechen zurückzugeben, sollten nicht Burg und Volk verloren sein. Paris aber wollte von Helena nicht lassen; die Schätze herauszugeben, so erklärte er, sei er bereit, ja er wolle seine gesamte Habe als Buße hinzufügen, nur von Helena sich trennen, das könne er nicht! Diese Botschaft des Paris wurde am nächsten Tag von einem Herold den griechischen Fürsten überbracht und auf der Stelle von Diomed zurückgewiesen. »Selbst wenn du uns Helena herausgeben wolltest, edler Herold«, so redete er, »würden wir nach eurem Treubruch niemals die Schiffe besteigen und in die Heimat segeln; Ilion zu vernichten und seines gesamten Gutes zu berauben ist unser Ziel, und wir sind ihm gestern schon sehr nahe gewesen!« Diesen Worten jubelten alle die Könige zu, und Agamemnon erhob sich und unterbreitete dem Herold den Vorschlag, einen Tag lang die Waffen ruhen zu lassen, um die Toten ordentlich zu bestatten, auf daß ihre armen irrenden Seelen Einlaß in den Hades fänden, denn die Menschen der alten Zeiten glaubten, daß die Verstorbenen nicht eher durchs Tor des Schattenreichs ziehen durf ten, ehe nicht Erde, und sei es auch nur eine Handvoll Staub, ihren Leib bedecke. Also trafen sich am nächsten Morgen die Männer ohne Panzer, Schwerter und Speere auf der Walstatt; Troer wie Griechen wuschen die leblosen Körper ihrer Gefallenen von Staub und verkrustetem Blut rein, türmten mächtige Scheiterhaufen, hin ter der Burg am Fuß des Ida den einen und nahe den Schiffen den anderen, betteten die Toten auf die harzigen Kloben, und die ganze Nacht hindurch prasselten die Flammen zu den milden Ster nen am samtschwarzen Firmament, bis dann am Morgen die Asche bestattet wurde. Ein Teil der Achaier aber nutzte Tag und Nacht, die mancherorts schon zerfallene Brustwehr zu verstärken und Vor räte an Wurfsteinen auf ihre Zinnen zu schichten. Zeus sah ihr hastiges Mühen; er dachte an die Hilfe, die er der schönen Meer göttin versprochen, und er beschloß, nunmehr den Kriegern Ilions den Sieg zu verleihen. Indes war für die Griechen Nachschub von 73
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ihrer Versorgungsbasis, der nahegelegenen Insel Lemnos, ein getroffen: acht Schiffsbäuche voll lebendigen Viehs, tausend Maß süßen Weins und dazu erzene Waffen, Stierhäute für Schilde und blinkendes Metall. So wurde, als wäre der Sieg schon errungen, ein gewaltiges Festmahl gerüstet; die ganze Nacht hindurch schmausten und zechten die Achaier, und von jedem Becher Weins, den sie tranken, schütteten sie Zeus einen Opferschluck auf den Boden und flehten den Allvater um Beistand an. Der Götterkönig aber schüt telte lächelnd das Haupt ob dieser Gebete und Opfer, und da er sein Haupt schüttelte, hallte der Donner über das schweigende Schlachtfeld, und in den lohenden Scheiterhaufen vor den Schiffen fuhr zischend ein Blitz. Hektor schlägt die Griechen m nächsten Morgen versammelte der all mächtige Zeus alle Himmlischen, auch die Götter der Berge, Flüsse und Haine, denen der Olymp sonst nicht zugänglich ist, ja sogar die dienenden Gottheiten, wie die Horen, die das Tor der Götter burg öffnen und schließen, oder die der schönen Künste und der Wissenschaften kundigen Musen, und redete in heftigen Worten solcherart zu ihnen: »Hört meinen Spruch, Götter und Göttinnen«, also begann er, »keiner der Unsterblichen möge es wagen, meinem Willen zu trotzen und sich in den Kampf vor Ilion einzumischen, wie immer er auch ausgehen wird! Wer sich unterfängt, den Grie chen oder den Troern Hilfe zu leisten, den will ich in das Dunkel des Tartaros schleudern, in die schreckliche Schlucht, die tief noch unter dem Totenreich liegt, und ihre eiserne Pforte will ich so fest verschließen, daß der Unselige für alle Ewigkeit in der heulenden Finsternis schmachten soll, um endlich zu begreifen, wer der mäch tigste unter den Göttern ist! Versucht es doch, ihr Himmlischen 75
alle, und befestigt eine goldene Kette am Himmelsgewölbe und hängt euch insgesamt daran; es würde euch, sosehr ihr auch eure Kräfte anspanntet, niemals gelingen, mich, den Ordner der Welt, zu Boden zu ziehen, aber ich höbe euch samt der Erde und dem Meer in die Höhe und schlänge die Kette um den höchsten Zacken des Olymp, daß die Welt und ihr alle frei in Lüften schwebtet! Also hütet euch, meinem Wort zuwiderzuhandeln!« So redete Zeus und blickte dabei fast unverwandt auf Hera; dann hüllte er sich in seine goldene Rüstung, bestieg sein Achtergespann und jagte zum Berg Ida hinter der Priamsburg hinunter, wo er einen Hain und einen Altar besaß. Dort ließ er sich, in eine Wolke gehüllt, nieder und weidete sich am Anblick der Heere, die nun aufeinanderprallten und mit Schwertern, Lanzen, Äxten und Pfei len ihr blutiges Handwerk verrichteten. Bis zum Mittag wogte die Schlacht unentschieden; als der Sonnenwagen aber auf dem höch sten Punkt seiner Fahrt stand, erhob sich Zeus, ergriff die Schick salswaage und legte in jede ihrer Schalen ein Los, und siehe: Die Schale mit Ilions Los schwebte zum Himmel auf und das Los der Griechen senkte sich dem Hades zu. »So sei, da es auch das Schick sal so will, deine Bitte erhört, liebreizende Thetis«, rief Zeus. »Verderben soll die Achaier schlagen, bis dein lieber Sohn dort auf den schwarzen Schiffen seine Rache bis zur Neige gekostet hat!« Mit diesen Worten ergriff er einen Blitz und schleuderte ihn nach dem Heer der Griechen, die entsetzt den feurigen Strahl vom Gipfel des Ida in den wolkenlosen Himmel und von dort in ihre Reihen fahren sahen. Ein nie gefühltes Grauen überkam die Achaier, und selbst ihre tapfersten Helden: Idomeneus, die beiden Ajax und Odysseus, ja Diomed begannen zurückzuweichen; einzig der greise Nestor mußte mit seinem Kampfwagen ausharren, denn eines seiner Rösser war, von einem Pfeil des Paris in die Stirn getroffen, gestürzt und hatte in Fall und Todeskampf die Stränge zu einem Knäuel verheddert. Nestor hieb, um das Nebenroß frei zu bekommen, die verstrickten Riemen mit dem Schwert durch, da brauste der schreckliche Hektor auf seinem Gefährt heran, und der 76
tapfere Greis wäre verloren gewesen, hätte nicht Diomed, der sich seines Wankens schämte und als einziger wieder angriff, ihn auf den eigenen Wagen gerissen. »Nun soll Hektor sehen, was meine Lanze vermag!« rief der junge König und stürmte dem Troer prinzen entgegen, und sein Speer durchstieß Hektors Wagenlenker die gepanzerte Brust; Zeus aber sandte einen zweiten Blitz, der mit solch ohrenbetäubendem Donner die Erde vor Diomeds Kampf wagen spaltete, daß die mutigen Rosse sich erschrocken bäumten und voll Todesangst an den Strängen zerrten. »Laß ab, Diomed«, rief Nestor, »Zeus hat sich gegen uns entschieden, wir dürfen nicht wagen, ihm zu trotzen!« – »O Nestor!« erwiderte Diomed, »so wird es also von nun an heißen: Schimpflich und feig ist des Thydeus Sohn vor den Troern geflohen!« Nestor aber hatte das Gefährt schon herumgerissen, und in rasender Flucht strebten die Helden dem Feldlager zu, und ihnen nach jagten Hektors Gespann und schneidender Hohn. Dreimal gedachte Diomed, den Wagen zu wenden und den Spottenden mit dem Schwert zu antworten, doch jedesmal, da er nach den Zügeln griff, donnerte Zeus vom Ida her seine Warnung. Hektor begriff die Gunst der Stunde. »Vorwärts, Freunde, treue Verbündete!« so rief er den Seinen zu, »vorwärts, der Allmächtige ist mit uns, wir wollen kühn über den Graben setzen und das Lager stürmen, die Schiffe der Feinde verbrennen und das fremde Ge zücht vom heiligen Heimatboden verjagen!« Also jauchzte der Held, und die Wagen der Troer rasselten in stürmischer Jagd über das Schlachtfeld; Hera aber jammerte dies Bild, und sie wandte sich an Poseidon, den Beherrscher des Meeres, der seit altersher ein besonderer Gönner des seetüchtigen Griechenvolkes ist. »Mächtiger Gott, du Lenker der Wogen und Erschütterer aller Gestade«, so redete Hera, »willst du nicht vom Olymp eilen und deinen Schütz lingen helfen, ehe ihnen Vernichtung droht? Siehe, sie sind schon bis an den Graben gedrängt, und dort eilen sie schon durchs Tor ins Lager! Ach, und auch Diomed flieht, und auch der Große Ajax, der trotzige Turm jeder Schlacht, steht schon hinter dem Graben! 77
Säume nicht länger, mächtiger Bruder, errege das Meer und laß eine brüllende Woge die Troer verschlingen, wahrlich, sie stecken sonst heute noch die Schiffe in Brand!« So eiferte Hera, und Poseidons Herz jammerte im Einklang mit ihren Lippen; er wog den gewaltigen erzenen Dreizack, mit dem er die Meere aufwühlt und die Erde erschüttert, begierig in Händen und war voll Lust, damit das troische Heer wie Körner in einem Mörser zu zerstampfen, doch Angst vor des Bruders schrecklichem Zorn lähmte seinen Arm. »Verwegene Hera«, sprach er, »ver sündige dich nicht durch solche Worte; ich werde meine Hand keinem Werk leihen, daß wider den Willen unsres Gebieters ge richtet ist, denn wahrlich, er ist doch der mächtigste von uns allen!« Dies sprach Poseidon entgegen der Stimme seines Herzens; Hera aber wandte sich voll Verachtung von ihm ab und eilte zur Pallas, die trauernd den Triumph der Troer verfolgte. »Töchterlein, lie bes«, so sprach die Königin, »da Poseidon zu feig ist, dem Unheil zu wehren, so rette du das sterbende Hellasvolk! Wenn Hektor die Furt überquert, ist es verloren, und mit ihm ist's auch um unsre Rache geschehen!« »Wie oft habe ich dem grausamen Vater Gutes getan«, entgegnete ihr Athene finster, »wie oft habe ich seinen Lieblingssohn Herakles vor dem Untergang bewahrt, und nun vergilt mir der Unbarm herzige meine Dienste mit solch schnödem Undank und folgt den Einflüsterungen dieser verbuhlten Thetis, die seine Knie geherzt und ihm mit honigsüßen Worten und sanften Liebkosungen zu schmeicheln verstanden hat. Auf denn, Hera, schirre mir ein Ge spann, indes ich mich rüste, wir wollen ja sehen, wie es diesem frevelhaften Hektor zumut sein wird, wenn ich plötzlich in den Reihen der Griechen auftauche! Und was den Groll des Götter königs angeht – er wird zwar fürchterlich toben und schelten, doch einmal wird er mich schon wieder sein liebes blauäugiges Töchter lein nennen!« So sprach die Pallas, und Hera eilte, den Wagen anzuschirren; 78
Athene aber warf ihr buntes Gewand ab und hüllte sich, da sie als weibliche Gottheit keinen eigenen Panzer besaß, in ihres Vaters schwarze Rüstung, faßte den Speer und schwang sich auf den Wagen; Zeus jedoch hatte voll Grimm den Ungehorsam seiner Tochter und seiner Ehfrau angesehen und sandte nun seine Botin, die goldgeflügelte Iris, die auf dem vielfarbenen Regenbogen dahingleitet, aus, den Unbotmäßigen zu bestellen, er werde, wenn das Gefährt das Himmelstor verlasse, den Wagen mit seinem Blitz zerschmettern und die Leiber der Aufsässigen derart zeichnen, daß die Wunden nach zehn Jahren noch nicht vernarbt sein würden. So kehrten die streitbaren Göttinnen denn zum Saal zurück und setzten sich mit stummem Gemurr abseits der Tafel auf ihre gol denen Stühle, und nichts mehr hätte jetzt die Troer abgehalten, das Lager zu stürmen und Feuer an die Schiffe zu legen, doch nun war es Zeus in eigener Person, der, ein Liebhaber blutiger Kämpfe, den Troern den Sieg nicht gar so mühelos schenken wollte. Als darum Agamemnon, den purpurnen Mantel des Oberbefehlshabers über die Rüstung geworfen, von des Odysseus Schiff aus die Griechen mit flammenden Worten zum Widerstand spornte, sandte ihm der Allwaltende ein günstiges Zeichen: Sein Adler schlug eine Hirsch kuh, kreiste, das zuckende Wild in den Fängen, über dem Heer der Achaier und ließ die Beute schließlich auf den Opferaltar in der Mitte des Ratsplatzes niederfallen. Die Griechen jubelten ob dieses wunderbaren Orakels und warfen sich mit neuem Mut den Troern, die schon durch die Furt stießen, entgegen; Diomed durchbrach als erster die feindlichen Sturmreihn; ihm folgten Agamemnon und Menelaos, Idomeneus, Meriones und die beiden Ajax, und der berühmte zielsichere Bogenschütze Teukrer erschoß, vom Schild seines Halbbruders, des Großen Ajax, gedeckt, in kurzer Zeit zehn troische Krieger, darunter den zweiten Rosselenker Hektors. Der Troerprinz erspähte den Bogenschützen, sprang vom Wagen und schleuderte dem Griechen, der, seinen Bogen spannend, die Deckung vernachlässigte, einen zackigen Feldstein wider das Schlüsselbein; Teukrer brach zusammen, und der Bogen entglitt 79
seiner Hand, doch Ajax schützte den Schwerverwundeten so lange mit seinem Schild, bis zwei Gefährten den Stöhnenden nach hinten gebracht hatten. Dadurch war der griechische Gegenstoß ins Stocken geraten, und die Troer drangen abermals vor und trieben die Griechen erneut bis zum Graben, doch die erneute Gefahr er neuerte wiederum den Kampfmut der Bedrängten, und so schwan gen, ein furchtbarer Zeitmesser, die Schlachtreihen vor und zurück, bis die Nacht hereinbrach. Die Troer hatten ihr Nahen mit Un willen angeschaut und die Griechen voll Hoffnung: Sie dachten, daß sich die Feinde nun nach der Burg zurückziehen würden, allein zum erstenmal in den zehn Jahren dieses Krieges schlugen die Trojaner auf Hektors Rat ihr Nachtlager auf dem Schlachtfeld auf. Sie fuhren Brot und Wein und Fleisch und Gerste aus der Stadt heran, spannten die Pferde aus, tränkten und fütterten sie und rüsteten dann eine üppige Mahlzeit; rings um das Schlachtfeld aber und auf den Zinnen der Burg und auf allen Türmen hieß Hektor Feuer anzünden, damit die Achaier nicht unbemerkt die Schiffe lösen und fliehen oder im Schutz der Finsternis die Ruhen den überfallen konnten. Also geschah es; ringsum im Feld und auf den Zinnen und Türmen lohten prasselnde Feuer, tausend allein auf der Walstatt, und um jedes Feuer saßen fünfzig Helden, und ihre Rosse, mit Spelt und goldgelber Gerste genährt, rasteten bei den Geschirren. Hektor aber stand, nachdem er den Göttern Dank opfer gebracht und Zeus um weiteren Beistand angefleht hatte, inmitten des Heeres und redete zu seinen Kriegern. »Morgen«, so sprach er, »werden wir zum Sturm auf die Schiffe antreten und die wütenden Hunde hinwegtreiben, die das Meer an unsere Küste gespült hat. Dann wird in Ilions Mauern endlich wieder Jubel herrschen!«
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Die Griechen senden nach Achill m Lager der verwirrten und verschreckten Griechen hatte indes Agamemnon, leise, da mit die nahen Troer nichts hörten, das Volk zur Versammlung auf den Ratsplatz ent boten. Schweigend ließen sich die Männer im Rund nieder, und der Oberbefehlshaber redete, während Tränen seine Augen feuch teten, mit heiserer Stimme die Männer an. »Krieger und Freunde«, so begann er, »in eine harte Schuld hat mich Zeus gestürzt! Auf seine Versprechungen bauend, habe ich euch übers stürmische Meer vor die Priamosburg geführt, doch nun verweigert mir der All vater den Sieg, den er mir erst noch vor Tagen im Traum ver hießen. Ich schlage euch daher vor, den sinnlos gewordenen Kampf abzubrechen und mit unseren Schiffen heimwärts zu fliehen, denn nimmermehr werden wir wohl das feste Troja erobern!« So sprach Agamemnon, und die Krieger schwiegen und sahen die Feuer der Troer lohen und dachten an die ferne Heimat, und Thersites wollte schon anheben zu reden und Agamemnons Vor schlag zu unterstützen, da sprang, von Kampflust berauscht wie von süßem Wein, Diomedes mit heftiger Gebärde auf. »Du hast uns zum Rat herbeigerufen, Atreussohn«, so wandte er sich an Aga memnon, »zürne mir darum nicht, wenn ich frei von der Leber weg rede und deinem unbedachten Wort entschieden widerspreche. Wohl, wir haben dich zu unserem Anführer gewählt, da du der mächtigste König bist und über die größte Streitmacht gebietest, doch was Tapferkeit heißt, das hast du wohl nie erfahren. Glaubst du im Ernst, die Männer Achaias seien verschreckte Kinder? Wenn es dich nach der Heimat gelüstet – wohlan, dort wartet dein Schiff, niemand wird dich und deine Argiver hindern, es zu besteigen und ehrlos zu fliehen! Wir aber, wir werden ausharren, und wenn auch 81
die anderen Könige mit ihren Stämmen zu flüchten begehren, so werden ich und Sthenelos unverzagt weiterkämpfen, bis Trojas Schicksal vollzogen sein wird!« So prahlte Diomed vor dem Volk und den Fürsten, und der greise Nestor rühmte denn auch nach Gebühr den Mut und die Beredsam keit des tapferen Streiters, dann aber schlug er vor, die Versamm lung aufzulösen und im engeren Kreis der Könige, denen Aga memnon ein Mahl rüsten möge, weiter Rats zu pflegen; das Fuß volk solle, so riet er, sich indes zur Ruhe begeben, eine auserwählte Schar der jüngsten und kräftigsten Krieger aber zwischen Brust wehr und Graben Posten beziehen. Dies geschah; das Volk ging müde auseinander; sieben speerbewaffnete Hundertschaften be setzten den Graben, und die Könige folgten Agamemnon in sein Haus und ließen sich an der Tafel nieder, und noch ehe die Spei sen aufgetragen wurden, setzte Nestor seine Rede fort. »Auch ich muß dich tadeln, Befehlshaber«, sprach der Greis, »doch wollte ich dies nicht vor allem Volk tun. Hier aber, unter uns, hat jeder nach seinem Gewissen zu handeln und nicht an das Ansehen einer Per son zu denken. Ich habe, du entsinnst dich sicher, damals mit gro ßem Ernst abgeraten, Achilles zu erzürnen und ihm wider alles Recht und Herkommen sein Beutegut, die holde Briseïs, zu rauben; du hast aber dann doch deinen Willen durchgesetzt, und seit jener Stunde verfolgt uns das Unheil. Überdenke nun, wie wir den Zür nenden versöhnen und mit welchen Geschenken und Worten wir seinen verhärteten Sinn wohl brechen können. Er und seine Myr midonen müssen wieder am Kampf teilnehmen, das ist der einzige Weg zu unserer Rettung, alles andere sind Hirngespinste und Windbeutelein!« »Du sprichst nur allzu wahr, wenn du mich schiltst«, entgegnete Agamemnon, »ich selbst mache mir ja schon lange die bittersten Vorwürfe ob meiner Unbesonnenheit, denn dieser göttergleiche Mann ersetzt im Kampf ja ganze Völker! Ich habe mich deshalb entschlossen, ihm ein Sühnegeschenk ohnegleichen anzubieten: zehn Barren Gold, sieben vom Feuer noch nie berußte dreifüßige Kes 82
sel, zwanzig schimmernde Becken aus Silber, zwölf ausgesuchte Rosse, alle Sieger in Wettrennen, sieben blühende Frauen von der Insel Lesbos und natürlich Briseïs selbst, die, das beschwöre ich mit dem heiligsten Eide, von mir noch nicht berührt worden ist. Doch dem nicht genug: Wenn die Götter uns Ilion zu stürmen gewähren, soll er sein Schiff bis zum Rand mit Gold und Erz beladen; er selbst darf seinen Beuteanteil bestimmen und sich zwanzig der schönsten Troerinnen vor allen andern zu Mägden wählen, und wenn wir nach Hellas heimgekehrt sein werden, will ich ihm eine meiner drei Töchter zur Frau geben; er soll mir ein lieber Schwiegersohn und meinem Herzen so nah wie mein einziger Sohn Orestes sein und als Hochzeitsgeschenk sieben meiner reichsten Städte zu Steuerzins und Tribut erhalten! Dies ist mein Sühnegebot, und es ist an Groß zügigkeit wohl schwerlich zu übertreffen!« »So laßt uns ungesäumt Botschafter zu dem Grollenden entsenden«, erwiderte Nestor erfreut, »ihm dein wahrhaft königliches An gebot zu unterbreiten! Am geeignetsten erscheint mir dafür der edle Phönix, der ja ein greiser väterlicher Freund und Land nachbar des Peliden ist; der Große Ajax und Odysseus mögen ihn begleiten; wir wollen indessen zu Zeus beten, daß er der Gesandt schaft seinen Segen verleihe!« Die drei Könige machten sich eilends auf den Weg zu dem Myr midonen, und sie fanden Achilles und seinen Lieblingsfreund Patroklos beim Leierspiel. Ehrerbietig blieben Phönix und seine Begleiter unter der Tür stehen; Achill aber und Patroklos er hoben sich, und der Pelide begrüßte seine Gäste mit freudigem Handschlag, bat sie in sein Gemach, hieß sie sich setzen und berei tete ihnen eigenhändig ein festliches Mahl. Er steckte einen Schafs und einen Ziegenrücken samt einer fetttriefenden Mastschwein schulter auf den Spieß und briet die Stücke über einem Holzkohlen feuer, würzte den Braten mit Salz und Kräutern, zerlegte ihn in duftende Scheiben, verbrannte die besten Stücke zu Ehren der Götter und setzte, nachdem Patroklos Brot in Weidenkörbchen ausgeteilt hatte, das zerschnittene Fleisch den Gästen vor. Die 83
aßen hastig, um schnell zur Sache zu kommen, und sofort nach dem Schmaus erhob sich Odysseus, trank seinem Gastgeber zu und ent ledigte sich dann in wohlgesetzten Worten seines Auftrags. Er beklagte die Not der Achaier, und Tränen glänzten in seinen Augen; er pries die Kraft und den Kampfmut Achills, und seine Stimme schmetterte wie Metall; er schilderte die Schätze, die Aga memnon dem Grollenden zur Versöhnung anbot, und seine Arme breiteten sich aus, als könne das Gemach die Fülle des angetrage nen Sühnegutes nicht fassen, und nachdem Odysseus seine Rede beendet hatte, streckte er dem Peliden die Rechte zum Handschlag hin. »Es schmerzt mich, deine Bitte abschlagen zu müssen, Odys seus, du guter Freund«, erwiderte Achilles lächelnd, und er er klärte, Agamemnon sei ihm verhaßt wie die Hadespforte; er habe ihm, Achill, als einzigem Fürsten im griechischen Heer das bereits zugesprochene Beutestück wieder abgenommen, und er möge sich jetzt seine höhnenden Worte sparen. »So wie die Mutter ein nack tes Vögelchen im Nest Tag und Nacht atzt und füttert und ihm Bissen darbietet und ihrer selbst nicht achtet, so habe ich diesen Unwürdigen versorgt«, sprach der junge Krieger erbittert, »zwölf Städte habe ich ihm während der Meerfahrt gestürmt und elf in Kleinasien ihm zu Füßen gelegt; alle Beute habe ich diesem Mann übereignet, der während des Kampfes faul und feig bei den Schif fen gelungert; er hat sich den Löwenanteil ausbedungen und mich mit dem kargen Rest abgespeist, und ich habe es neun Jahre lang willig und gehorsam geduldet, aber nun dulde ich's nimmermehr! Mag er doch jetzt überlegen, der Kluge, wie er sich der Trojaner erwehren kann! Manches hat er ja schon getan, der große Feldherr, er hat eine Brustwehr gebaut und einen Graben mit Pfählen ge spickt, das wird Hektor ja wohl bändigen! Ja, als ich noch im Kampf gestanden, da hat sich Hektor nie weit vor das Skäische Tor, nur bis zum Feigenbaumhügel und allerhöchstens bis zur Rotbuche gewagt, nun aber nimmt er seine Abendmahlzeit vor eurem Lager ein, und ich lache eurer Not! Sieh, meine Flotte ist segelbereit, morgen flehe ich Vater Zeus um günstigen Wind an, dann werde 84
ich fröhlich dem Hellespont den Rücken kehren und mich nach der Heimat wenden! So richte denn Agamemnon, dem unverschämten Patron aus: Ein Greuel sind mir seine Geschenke und seine Worte, ein Greuel ist er mir und ist mir sein ganzes Haus, und hätte er mir selbst das Zwanzigfache geboten, ja böte er mir ganz Theben und Ägypten und so viel Gold wie Sand am Meer: Abschlagen würde ich es dem hündischen Frevler, dem ausgekochten, schandmäuligen Hundesohn! Ja glaubt er denn, mein Heimatland habe keine prächtigen Frauen hervorgebracht, daß er mir eine seiner Bastard töchter anbietet; meint er vielleicht, in Phthya verstehe man nicht, Rosse zu züchten oder Dreifüße und Becken zu hämmern, da er mir seinen Krempel anträgt? Wahrlich, sein Dünkel kennt keine Gren zen; morgen will ich abziehen, mag er mich ruhig auch feige schel ten! Denn wisse, Odysseus, noch immer kann ich zwei Lebenswege wählen: Harre ich vor Ilion aus, so ist mir ewiger Ruhm ebenso gewiß wie ein früher Tod in der Fremde, kehre ich aber in die Heimat zurück, wird mir ein langes, wenn auch nicht hochberühm tes Leben beschieden sein, und dieses letzte wähle ich nun. Geht also und überbringt den Fürsten der Achaier meine Worte, der edle Phönix aber mag gerne hierbleiben und, wenn er will, morgen mit mir in die Heimat fahren, grenzt doch sein Reich Doloysia an mein waldiges Phthya!« So sprach der Held, und vergebens versuchte Phönix den Sinn des Zürnenden zu wenden; vergebens hielt der väterliche Freund dem Abweisenden vor, daß, wie manche Sage berichte, sogar der Groll der Götter zu sänftigen sei; vergebens flehte der Greis den jungen Helden an, sich nicht von einem Rachedämon den klaren Verstand verwirren zu lassen – Achill gestand ihm nur zu, am frühen Morgen noch einmal mit ihm und Patroklos zu überlegen, ob man schon mor gen in See stechen oder noch ein paar Tage abwarten solle. »Ach, lassen wir doch diesen unbarmherzigen Mann«, so wandte sich der Große Ajax an Odysseus, »er muß ja ein Herz aus Marmor in der Brust tragen! Wir wollen zurückgehen und dem Rat der Könige sein Unheilswort überbringen, auf daß sie nicht länger nutzlos 85
warten! Ach, du Grausamer«, so redete Ajax nun dem Grollenden zu, »wie haben wir dich, das weißt du, doch immer so hoch geehrt, und nun verweigerst du uns deine Hilfe in bitterster Not. Doch wenn dich die innigsten Bitten deiner Freunde nicht umzustimmen vermögen, wem sollte es denn sonst gelingen? Sieben blühende Jungfrauen bieten wir dir mit dem einen Mädchen, die anderen Geschenke gar nicht gerechnet, und du rümpfst deine Nase, als böten wir dir eine Handvoll Staub! Gastfreunde sind wir unter deinem Dach, bedenk das – sollte ihr Flehen wirklich dein Herz nicht milder stimmen?« »Ach Ajax, ach Odysseus«, erwiderte Achill, »ihr sprecht mir ja aus der Seele, aber die Galle schießt mir ins Blut, wenn ich an die sen hündischen Menschen denke! Nein, nein, ich kann meinen Groll nicht bezwingen, er verdient es nicht, der Lumpenkönig! So bringt denn dem Rat der Fürsten diese Botschaft: Wenn Hektor mit seinen Scharen mein Lager und meine Schiffe bedrängt, werde ich den Kampf wiederaufnehmen und die Troer hinter den Gra ben, aber keinen Schritt weiter, zurücktreiben, nur baut nicht dar auf, daß der Priamossohn sich ausgerechnet in meine Nähe wagen wird!« Mit diesen Worten erhob sich Achill und ging mit Patroklos zu den Schiffen hinunter, wo beide mit ihren Frauen zu nächtigen pflegten. Phönix nahm das Quartier an und legte sich in einem weichen Bett aus Schaffell nieder, und Odysseus überbrachte mit Ajax den schon ungeduldig harrenden Königen die traurige Kunde. Lange schwiegen die Helden, dann sprach Diomed: »Ach, hättest du dem Peliden doch keine Geschenke angeboten, Aga memnon! Stolz ist jener schon immer gewesen, nun aber hast du ihn in seinem Hochmut derart bestärkt, daß mit ihm überhaupt nicht mehr zu reden sein wird. Ich schlage daher vor, wir lassen endgültig von ihm und machen uns keine unnützen Hoffnungen; mag er heimfahren, mag er bleiben, es soll uns nicht scheren, wir müssen uns eben einrichten, ohne ihn auszukommen. Laßt uns daher jetzt noch ein paar Stunden schlafen; morgen erwartet uns ein schwerer Tag.« 86
So gingen denn die Könige auseinander und legten sich zur Ruhe, allein sie fanden keinen Schlaf, und ihr Sinn war von Kummer und Sorge so düster wie die Nacht über Schlachtfeld und Meer. Die Troer siegen abermals eim ersten Morgenrot flog Eris, die schlangen haarige Göttin der Zwietracht, vom Olymp, stellte sich auf das Schiff des Odysseus und rief, die Hände als Schallrohr um den Mund gelegt, mit machtvoll entsetzlicher Stimme die Griechen zum Kampf. Agamemnon, der die Nacht in rastlosem Grübeln durch wacht hatte, mahnte die Achaier, sich rasch in Kampfordnung auf zustellen, dann legte er die hochberühmte Rüstung an, die Kinyras, der König von Zypern, ihm einst als Gastgeschenk verliehen und die unter den Wehren der Griechen und Troer nicht ihresgleichen hatte. Ringsum auf dem Unterleder des Harnischs wechselten zehn blauschimmernde Ringe aus Stahl mit zwölf Ringen aus Gold und zwanzig aus Zinn; den Halsschutz bildeten drei glänzende eiserne Drachen; das Schwert war aus Bronze, seine Scheide aus Silber, sein Griff aus Gold; den zwanzigmal gebuckelten Schild umliefen zehn eherne Kreise; auf dem vierkuppligen Helm prangte zum Schrecken der Feinde ein mächtiger Busch aus rotem Roßhaar, und die scharfen Blätter der beiden gewaltigen Lanzen blitzten schnei dend im Morgenlicht. Als Hera und Athene den griechischen Feld herrn so herrlich gewaffnet erblickten, jauchzten sie schamlos laut und wild und sahen den König im Geist schon als Sieger durchs Skäische Tor stürmen. So hob denn der Kampf wieder an, und Zeus eilte, wie am Vortag, auf den Gipfel des Idagebirges, lagerte sich in seinem geweihten Hain und sah voll Freude dem gräßlichen Morden zu. Die Griechen nützten den Schwung des Angriffs und drängten die Troer, die 87
sich, in sechs Heersäulen formiert, erbittert wehrten, vom Graben weg ins Schlachtfeld hinein. Jedes der Heere mähte im andern wie ein Schnitter im Roggenfeld; im Zentrum, allen voran, kämpfte Agamemnon; er fällte die Feinde wie ein ausgeruhter Holzhauer die ragenden Stämme des Hochwalds und sandte sieben Wagen mit erbeuteten Waffen und Rüstungen ins Lager. Die troische Schlachtordnung zerklaffte, und wie verheerendes Feuer ins dürre Gehölz, so brachen die Achaier mit ihrem Oberbefehlshaber in die Reihen des Gegners; Hektors Heer war erschüttert; sein Fußvolk floh; führerlose Kampfwagen, von scheuenden Rossen blindlings fortgerissen, polterten über die steinige Ebene, und hinter der un aufhaltsam vorstürmenden Front ließen sich Geier und Raben nieder und begannen hackend und schlingend ihr grausiges Mahl. Agamemnon hatte schon viele Kämpfer zerhauen, doch er achtete sein Tagwerk als ein Nichts, wenn er Hektor nicht in den Staub strecke, der aber war nach hinten geeilt und versuchte die Fliehen den aufzuhalten. So lenkte Agamemnon seinen Kampfwagen gegen Iphidamas, einen thrakischen Krieger, dem es das Schicksal bestimmt hatte, unmittelbar nach der Hochzeit mit einer lang um worbenen Schönheit in König Antenors Heer nach Ilion zu ziehen. Iphidamas richtete seinen Speer auf Agamemnons Leibgurt und stieß, seiner Kraft vertrauend, zu; das Blatt krümmte sich jedoch an der Silberschnalle, und Agamemnon riß den Thrakier, der die Lanze noch fest gepackt hielt, am Schaft vornüber und hieb ihm mit dem Schwert den Kopf ab. Das sah Koon, der Bruder des Geköpf ten, und überschäumender Schmerz erfüllte seine Brust. So mußtest du, geliebter Bruder, von der Hand dieses Grausamen fallen, eh du dein lang umworbnes Weib berühren durftest! dachte er und er stahl sich an Agamemnon heran und stieß ihm von hinten die Lanze dicht unter der Ellenbeugung in den linken Arm. Ein Schauer überrann den Getroffenen; er riß die Waffe aus seinem Fleisch und drang, des strömenden Blutes nicht achtend, mit dem Schwert auf Koon ein und enthauptete auch ihn. Solange das Blut noch heiß aus der Wunde quoll, setzte der Verletzte sein Mordwerk 88
fort, doch als das Blut zu stocken begann und die Wunde ver krustete, war es Agamemnon nicht mehr möglich, den Schild zu halten, und es quälte ihn solch schneidender Schmerz, daß er sei nem Rosselenker befahl, ins Lager zurückzufahren. Da Hektor dies gewahrte, erkannte er, daß nun sogar ein Gegenstoß möglich war, und wie ein wütender, hauerbewehrter Eber in eine Hundekoppel einbricht, so stürzte er sich wieder ins Getümmel und riß die wan kenden und flüchtenden Trojaner zu neuem Vorsturm mit. In kür zester Zeit hatte er neun Gegner umgebracht: den Asaios, den Autonoos, den Opites, den Dolos, den Opheltios, den Agelaos, den Oros, den Aisymnos und schließlich den kampffreudigen Hippo noos; die Achaier begannen sich zur Flucht zu wenden, doch Odys seus und Diomed suchten mit äußerster Kraft Hektor aufzuhalten. Sie stritten Schulter an Schulter und töteten manchen tapfren Feind, und Zeus sah es mit großem Wohlgefallen, und als Hektor wahrnahm, daß sich um Odysseus und Diomed, diese Felsen in der Brandung, die Front wieder festigte, stürmte er laut schreiend wider die beiden an. Diomed sandte ihm seine Lanze entgegen; sie prallte zwar am hohen, dreikantigen Helm, einem Geschenk Apol lons, ab, doch ihr Schwung war so groß, daß er Hektor aus dem Wagen warf und ihn betäubt ins Knie brechen ließ. Einen Herz schlag lang trat Nacht vor Hektors Augen, doch als Diomed mit dem Schwert sich einen Weg zu dem Gestürzten bahnen wollte, kam der Prinz wieder zu sich und rettete sich ins Getümmel, das den noch halb Ohnmächtigen an den linken Flügel spülte. »Grausamer Apollon«, rief Diomed wütend, »immer betrügst du mich um die Früchte meiner Mühen! Wieder ist dieser Hund dem Tod entronnen; nun, sollen darum andere für ihn mein Eisen kosten!« Also haderte Diomed, und während er mißmutig und fast mecha nisch einem Getöteten die Rüstung abzog, schoß Paris ihm einen Pfeil durch den Spann, der den Fuß des Argoskönigs an den Boden heftete. Da Paris den also Festgebannten schaute, sprang er hinter seiner Deckung, einem mächtigen Steinblock, hervor und verhöhnte 89
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seinen hilflosen Gegner; Diomed aber rief: »Paris, du Weichling und Weibling, prahlender Mädchenbeäugler, bald kommt die Stunde der Rache, dann werden nur mehr Geier und Krähen dei nen weißen Leib umschwärmen!« »Ich glaube eher, deine Stunde ist gekommen, festgenagelter König!« rief Paris lachend und spannte erneut die Sehne zum tod bringenden Schuß; Odysseus aber hatte den Freund schon mit sei nem Turmschild gedeckt, so daß Diomed, wenn auch vor Schmerz schreiend, den Pfeil samt Widerhaken aus dem Fuß reißen konnte. Odysseus trug seinen Kameraden auf den Kampfwagen, doch die zerfleischte Fußwurzel quälte Diomed derart, daß er gleich Aga memnon ins Lager zurückkehren mußte. So hielt denn Odysseus tapfer allein im Mittelfeld aus, und er streckte noch sechs seiner Feinde nieder, bis ein Speerwurf auch ihn verletzte und ihm das Fleisch von den Rippen schälte. Als die Troer sein Blut schießen sahen, bedrängten sie den Verwundeten in hellen Scharen; Odys seus rief dreimal mit löwengleicher Stimme seine Freunde zu Hilfe, und der dritte Ruf erreichte denn auch das Ohr Menelaos', der auf dem rechten Flügel Seite an Seite mit dem Großen Ajax focht. Beide hieben sich zu Odysseus durch; Ajax deckte den Verletzten, und Menelaos führte ihn aus der Schlacht. Nun war Ajax in großer Gefahr, eingeschlossen zu werden; er schlug wie ein Rasender um sich und trieb, den Doryklos tötend und den Pandakos, den Lysandros, den Pyrasos und den Pylartes, noch einmal einen Keil in die Reihen der Troer. Auch am linken Nachbarabschnitt, nah dem Skamandros, wo die Truppe des grei sen Nestor und Idomeneus mit seinen Kretern wider Hektors Kern schar kämpften, drangen die Griechen noch einmal vorwärts, bis ein Pfeilschuß den unentbehrlichen Arzt Machaon, der den Ver wundeten in der vordersten Reihe Hilfe erwies, in der Schulter traf, und Nestor den heilkundigen Mann, den ihrer hundert nicht hätten ersetzen können, auf seinem Streitwagen nach hinten fuhr. Als die pylischen Krieger ihren König sich zurückziehen sahen, wurden sie verwirrt, und die Troer gewannen Raum. »Hier sind 91
wir nicht mehr nötig, Hektor«, sprach Kebriones, sein Wagen lenker, »laß uns dorthin eilen, wo der unbändige Ajax wütet!« Hektor nickte, und der Kampfwagen rasselte über zerhauene Schilde und entblößte Leichen zur Mitte hinüber. Blut troff von der Achse und spritzte von den malmenden Rädern; laut schreiend schwang Hektor den Speer und rüttelte ihn über dem Haupte, und nun sandte Zeus die gliederlähmende Furcht in des hünenhaften Ajax Herz. So wie ein Löwe vor lohendem Feuer zurückschrickt, so kam nun den Riesen ein Schauer vor Hektor an; er hakte seinen Schild auf den Rücken und floh, vom Hagel der Speere und Pfeile umschwirrt, zur Furt hinunter. Dreimal versuchte Ajax die Angst zu besiegen; dreimal wandte er seinen Verfolgern die Stirn zu, doch jedesmal bezwang die Furcht den Helden und führte ihn rückwärts bis an den Graben, wo sich die Seinigen noch einmal zu sammeln versuchten. Achill, der vom Hinterdeck seines Schiffes aus mit grimmiger Ge nugtuung die Niederlage der Achaier beobachtete, sah, daß Nestor einen Verwundeten in seinem Wagen zurückbrachte, und er sandte seinen Lieblingsfreund Patroklos aus zu erkunden, wer dieser Ver wundete sei. Patroklos eilte zu Nestors Haus und gewahrte, daß der Verletzte kein anderer als der Arzt Machaon war. Nestor, der gerade einen Imbiß aus Zwiebeln, Wein und geriebenem Ziegen käse zu sich nahm, lud den Myrmidonen ein, Platz zu nehmen und das bescheidene Mahl zu teilen; Patroklos aber fürchtete den Zorn Achills und lehnte ab. »Ach, wenn doch der Grausame nur von unseren Verlusten wüßte«, seufzte Nestor, »Hunderte der besten Krieger liegen gefällt; Diomed, Odysseus und der Oberbefehls haber sind verwundet, die Troer stehen schon vor dem Graben, aber all das rührt das Herz des erbarmungslosen Mannes nicht an! Ach, wäre mir noch einmal meine Jugendkraft beschieden, nichts würde mich hier im Lager halten! Darum eile, Patroklos, Lieber, ich flehe dich an, und rede deinem Freunde zu, daß er wenigstens dich und das Myrmidonenheer in die Schlacht schickt, wenn er schon selbst nicht kämpfen will!« 92
»Ich werde ihm zusetzen, so gut ich's eben vermag«, erwiderte Patroklos, »denn wahrlich, das Leid der Achaier dauert mich!« Mit diesen Worten stand er auf und machte sich auf den Weg zu Achilles, doch ein verwundeter Krieger, Eurypylos mit Namen, dem ein Pfeil von Paris' Bogen im Schenkel steckte, rief den Kame raden an, ihm doch zu helfen, und Patroklos führte den Humpelnden in dessen Zelt, schnitt ihm mit dem Dolch den Pfeil aus dem Fleisch, bestreute die Wunde mit zerstoßenem bitterem Heilkraut und tröstete den Schmerzgeplagten mit ermunternder Rede. Der weil aber verging die Zeit. Die Troer dringen ins griechische Lager ndes hatte Hektor Ilions Heer bis an den Graben herangeführt, aber vor den abschüs sigen Wänden und den drohend starrenden, spitzen Pfählen scheuten die Rosse zurück, und Hektor erkannte, daß es unmöglich war, mit den Kampfwagen den Graben zu durchfahren. Er wandte sich darum zur Furt, die zum Tor führte, doch als er sich anschickte, sie zu überqueren, flog, von links her, dem Westen, der Richtung, die Unheil bedeutet, ein Adler mit einer zappelnden blutroten Schlange in den Fängen heran, und da er gerade rüttelnd über dem Heer in den Lüften verharrte, schnellte die Schlange hoch und schlug ihren Giftzahn in die Brust des mächtigen Vogels, der aufkreischend seine Fänge öffnete, so daß das Gewürm neben Hektors Kampfwagen fiel und sich dort im Staub wand, während der Adler, jammervoll schreiend, nach Westen zurückflog. Dies war ein Unheilszeichen, und einige troische Führer drängten ihren Feldherrn, vom Sturm auf das Lager abzusehen und in die Burg zurückzukehren, allein Hektor rief unwillig: »Zeus hat mir den Sieg versprochen, soll ich einem Vogel mehr Glauben schenken als dem König der Götter? Mag der 93
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Adler rechtsher oder linksher geflogen sein, wir haben keinen Grund, dem Allwaltenden zu mißtrauen, und es gibt für uns auch nur ein Wahrzeichen: die Rettung der Vaterstadt! Doch ich weiß jetzt«, fuhr Hektor nachdenklich fort, »welche Botschaft mir der Erhabene schicken wollte: Er warnt uns, hier über die Furt zu setzen! Sicher haben die Feinde all ihre Verteidigungskraft an die ser engen Stelle zusammengezogen und würden uns einzeln mit Pfeilen und Lanzenwürfen abschießen, denn die Furt ist nicht breit, und es könnten nicht mehr als drei Wagen nebeneinander fahren. Wir Schwerbewaffneten wollen daher absteigen, als erstes Glied des Fußvolkes den Graben durchschreiten und das Lager an der ganzen Front angreifen, so daß die Verteidiger sich ausein anderziehen müssen. Dann erst werden wir den Hauptstoß aufs Tor führen!« So sprach der Feldherr; die Lanzenträger stiegen ab; Hektor ordnete sie in fünf Kolonnen, und Schild an Schild durch maßen die Krieger, während ihre Rosselenker bei den Kampfwagen zurückblieben, den Graben und setzten mit markerschütterndem Geschrei zum Sturm auf den Wall und die Brustwehr an. Da der troische Angriff begann, donnerte Zeus ihm freudigen Bei fall und sandte vom Idagebirge herab einen Sturmwind, der den Griechen den Staub des Schlachtfeldes mit solcher Macht um die Köpfe wirbelte, daß sie, fast blind, schon mutlos wähnten, die sanfte Nacht selbst habe sich erzürnt und stürze mit beißendem Grimm auf sie nieder. Wie Hagel prasselten Staub und Steine auf ihre Schilde, die sie schützend vor die Gesichter hielten; die Troer aber beflügelte der Sturm; er trug sie den Wall hinauf vor die Brustwehr, wo sie versuchten die Zinnen einzustürzen und mit hebelnden Brechstangen die Türme ins Wanken zu bringen. Die Griechen wehrten sich mit verzweifeltem Mut und überschütteten die Angreifer mit einem Schauer von Pfeilen und Steinen, der so dicht flog wie ein Schneetreiben von Nordost. Viele Troer stürzten getroffen in den Graben, und auch den König Glaukos verwundete ein Geschoß Teukrers am Arm; er mußte aus dem Gefecht schei den, doch Zeus beflügelte den Kampfgeist seines, des Göttervaters, 96
Sohns Sarpedon, daß dieser sich gelobte, nun für zwei zu kämpfen. Er durchstieß den tapfren Griechen Alkmaon und andere Ver teidiger und riß dann mit bloßen Händen ein mächtiges Stück der Brustwehr ein. Die Lykier drängten in die offene Lücke; der Große Ajax und sein Bruder Teukrer warfen sich ihnen entgegen; Teuk rer traf Sarpedons Panzer, verwundete ihn aber nicht, des Großen Ajax' Lanzenstoß hingegen durchstach den goldgerandeten Schild des Königs und warf den Anstürmenden ein Stück zurück. Allein die Lykier verloren den Mut nicht; immer wieder berannten sie die Lücke in der Mauer, darin mit ihrem Erz gekeilt nun die Grie chen die Steine ersetzten. So tobte der Kampf lange Zeit auf der Stelle; den Lykiern gelang es nicht durchzubrechen und den Achaiern nicht, die Angreifer in die Flucht zu schlagen, und auch an den anderen Kampfplätzen längs der Brustwehr stand die Schlacht unentschieden, bis schließlich Zeus dem Helden Hektor übermenschliche Kraft verlieh. Der Troerprinz ergriff einen Feld stein, wie ihn zwei kräftige Krieger nicht einmal hätten am Boden wälzen können, stemmte ihn hoch über das Haupt und schmetterte ihn gegen das zweigeflügelte, mit dicken Balkenriegeln gesicherte Tor. Dumpf krachte der Marmorblock wider das Holz, das zer spellte; die schenkelstarken Riegel zerknickten wie dürres Geäst unter dem Fuß eines Wanderers; das Tor flog auf, und Hektor, von Zeus in schrecklichen Erzglanz gehüllt und wie eine Gewitterwolke furchtbar, sprang, in jeder Hand eine Lanze, mit mächtigem Satz in das Lager hinein. Seine Krieger drängten nach und gewannen mit gewaltigen Schwerthieben und Lanzenstößen rasch Boden, und da die Lykier um Sarpedon ihre Bundesgenossen schon innerhalb des Lagers sahen, rafften sie all ihre Kraft zusammen und brachen durch die Lücke, die Ajax vergeblich zu verteidigen suchte, und vereinigten sich mit Hektors Schar. Wie ein Fluß durch einen zer trümmerten Staudamm strömte nun das Priamosheer durch die beiden offenen Stellen; die Griechen aber stürzten in wilder Flucht den Schiffen zu, um sich dort, wo kein Raum für einen weiteren Ruckzug mehr war, zur letzten Verteidigung zu sammeln. 97
Hera überlistet Zeus oll unbezähmbarem Groll hatte Hera vom Olymp herab die Siege der Troer ansehen müssen, und nun, da der Kampf schon fast bei den Schiffen tobte, war sie entschlossen, den Griechen zu helfen. Sie wagte zwar nicht, dem Götterkönig, der immer noch auf dem Ida saß, offen zu trotzen, sondern sann auf eine List. Sie bat Poseidon, sich unsichtbar zu den Griechen zu gesel len und dort ihr Zeichen abzuwarten, dann eilte die Hohe in ihr Gemach, wusch ihren unsterblichen Leib mit duftender Ambrosia und salbte ihn mit den köstlichsten Narden- und Rosenölen, kämmte und ordnete ihre goldenen Locken und flocht sie kunstvoll um Stirn und Nacken, legte darauf das silberschimmernde, von Athenes Hand gewirkte Gewand an, schloß es über der Brust mit einer gol denen Spange, schmückte sich mit Ohrgehängen, Ringen und einem Stirnreif, und so, schleierumhüllt, im Glanz ihrer Schönheit nur der Sommersonne vergleichbar, trat sie vor Aphrodite und bat sie um eine Gefälligkeit. »Aber vielleicht, liebes Töchterlein«, so setzte die Himmelskönigin sofort nach diesen Worten hinzu, »vielleicht zürnst du mir, da ich den Griechen beistehe, derart, daß du mir die Bitte im vornherein zu verweigern gedenkst; wenn dies so ist, Liebes, will ich sie gar nicht erst aussprechen, um dich nicht zu behelligen!« So schmeichelte Hera, und die in allen Listen der Liebe so wohl erfahrene, in den Dingen des Kriegs und Streites jedoch arglose Schönheitsgöttin schüttelte eifrig den Kopf. »Fern sei es von mir«, erwiderte sie, »dich, die gefeierte Herrscherin, zu erzürnen; sprich, was du von mir begehrst, und wenn es nur irgendwie in meiner Macht steht, will ich dir jeden Wunsch erfüllen!« »So leihe mir«, sprach Hera, »deinen berühmten Zaubergürtel, der die Herzen aller Götter und Menschen mit unstillbarer Liebe zu 98
beseelen und sie jeden Groll vergessen zu lassen vermag. Ich will zu meinen alten Pflegeeltern, dem Okeanos und der Thetis, eilen, die, was mich schmerzt, in heftigem Zwist widereinander hadern; es drängt mich, ihre Herzen zu versöhnen, denn nichts hasse ich mehr als Zank und Streit.« So sprach Hera, und Aphrodite reichte ihrer Freundin willig den berühmten buntgestickten Gürtel, in den alle Zauberreize der Liebe eingeflochten sind: das schmachtende Verlangen, der sehnsüchtig flehende Blick, die schmeichelnde Bitte, das kosende Wort und die heißlodernde Inbrunst, die selbst den Weisesten und Abgeklär testen berückt. Heras Herz jubelte, da sie den Zauber anlegte; sie dankte Aphrodite mit heuchlerischen Worten und eilte vom Olymp zur Erde hinab. Dort wanderte sie von Bergzug zu Bergzug und von Insel zu Insel, ohne jemals mit ihrer geweihten Sohle das steinige Land oder die salzige Meerflut zu berühren, und suchte Hypnos, den Gott des Schlafes und Zwillingsbruder des Todes, in seinem Tempel zu Lemnos auf. »Mächtiger Schlaf, der du die Göt ter wie die Sterblichen alle beherrschest«, so redete Hera den Jüng ling mit der Mohnblüte im schwarzen Haar an, »du könntest mich dir zu ewigem Dank verpflichten, wenn du mit mir nach dem Ida eilest, den Götterkönig ein wenig einzuschläfern. Ich will dir für diesen geringen Dienst einen Sessel und einen Schemel aus purem Gold schenken, daß deine Füße beim Mahl recht behaglich aus ruhen können!« So sprach die Königin, doch der Gott des Schlafes erschrak, als er ihre Bitte hörte. »Jeden Wunsch will ich dir erfüllen, hohe All walterin«, erwiderte er ehrerbietig, »jeden anderen der Unsterb lichen, selbst Okeanos, den Ewigflutenden, der rastlos die Erd scheibe umspült, würde ich auf deinen Wunsch ins Reich der Träume hinüberschicken, nur Zeus wage ich mich nicht ungerufen zu nahen, denn ich fürchte seinen maßlosen Zorn. Einmal schon hast du, Königin, mich beredet, den Allgewaltigen einzuschläfern, damit du seinem Sohn Herakles schaden und ihn von einem wüten den Nordwind auf die Insel Kos wehen lassen konntest; ich habe 99
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nach deinem Willen gehandelt, und das ist mir, wie du weißt, höchst übel bekommen: Der Erwachte ist mir zornbebend nachge stürzt und hätte mich in Stücke gerissen und ins Meer geworfen, wäre meine Mutter, die Nacht, nicht gerade zur Stelle gewesen, mich unter ihrem allesverhüllenden Mantel zu bergen! Nun willst du mich, Königin, ein zweites Mal zu solch unheilvollem Werk anstiften?« Dies erwiderte Hypnos, doch er bestand nicht mehr auf seiner Wei gerung, als Hera versprach, ihm die schöne Jungfrau Pasiteia, eine der drei Göttinnen der Anmut, die von dem schüchternen Hypnos schon lange, doch bislang vergeblich, umworben wurde, als Ehe gemahlin zuzuführen. Feierlich beschwor die Götterkönigin dieses Gelöbnis, dann schritten die beiden, in Nebel gehüllt, dem Ida zu, wo sich der Gott des Schlafes in Gestalt eines Nachtvogels auf einer Tanne niederließ, um Heras Zeichen abzuwarten. Als Hypnos sich derart verborgen hatte, trat Hera aus der Wolke, und der Blick des Göttervaters fiel auf sie, die Gesalbte und herrlich Geschmückte, und da Hera den Zaubergürtel Aphroditens trug, achtete der All walter nicht mehr der Schlacht vor den Schiffen, er war nur noch von dem glühenden Verlangen erfaßt, seine Ehegemahlin in die Arme zu schließen. Er fragte, wohin sie sich begebe, und Hera trug ihm leichtzüngig das Märchen vor, das sie schon Aphrodite auf getischt hatte; sie redete in unbefangenem Plauderton und tat, als wolle sie weitereilen; Zeus jedoch trat ihr bärisch plump und un gestüm in den Weg und versuchte sie zu umfangen und an sich zu ziehen. Die Himmlische sträubte sich heftig, seine Umarmung vor den Blicken aller Unsterblichen zu dulden; sie redete dem in un gestümer Leidenschaft Entflammten zu, zum Olymp zurückzukeh ren, wo sie, so flüsterte sie in Zeus' Ohr, dem Gatten im Schlaf gemach keinen Wunsch versagen werde; Zeus aber, in nackter, tier hafter Lust vergehend, hüllte eine undurchdringliche Wolke um den Gipfel des Ida, und in dem Augenblick, da sein Verlangen gestillt war, träufelte der Spender des Schlafs Mohntau auf die Lider des Götterkönigs, und willenlos schlummerte der Allmäch tige in den Armen des listigen Ehweibs ein. 101
Poseidon führt die Griechen zum Gegenstoß ls der Götterkönig solcherart in tiefen Schlaf gesunken war, schoß Hypnos auf Heras Ge heiß zu Poseidon und meldete dem Gott des Meeres die gelungene List. Dies war der Augenblick, auf den Poseidon gewartet hatte; er schrie wie ein ganzes Heer auf und stürzte sich in seiner göttlichen, den Ida über ragenden Gestalt ins dichteste Getümmel. »Vorwärts, Achaier«, schrie er, in der Linken den Dreizack und in der Rechten sein Schwert, das einem flammenden Blitz gleicht, schwingend, »vor wärts, Achaier, ich selbst, Poseidon, werde euch führen! Nehmt unerschrocken die mächtigsten Lanzen und Schwerter und folgt mir zum Sieg!« So rief der Gott mit erderschütternder Stimme, und das Meer don nerte wild an das Gestade, da es das Wort seines Gebieters hörte, und die Seeungeheuer tauchten aus ihren smaragdenen Tiefen und peitschten mit schuppigen Flossen und Schweifen die kochende Flut. Von neuem Mut beflügelt, sammelten sich die Reihen der Griechen, und auch die verwundeten Könige traten geheilt und gekräftigt an ihren Platz. Mit Schwert und Dreizack stürzte sich Poseidon in die Reihen der Troer, die, obwohl sie vor dem schwarz gelockten Oberen schauderten, den Griechen tollkühnen Wider stand leisteten. Hektor schleuderte seinen Speer auf den Großen Ajax; der Wurf war gut gezielt, doch die Lanze blieb im dichten Leder, dort, wo der Schildriemen mit dem Schwertriemen sich kreuzte, stecken, und noch ehe der Troerprinz sein Schwert ziehen konnte, traf ihn ein Stein, von Ajax geschleudert, über den Schild rand hinweg an die linke Brust. Hektor taumelte zurück; er drehte sich wie ein Kreisel und stürzte dann, ein entwurzelter Eichbaum, betäubt in den Staub; Schwert und Schild entklirrten seiner Hand; 102
und auch der Helm löste sich von seinem Haupte. Die Achaier jauchzten voll Freude und sandten ihre Speere nach dem Liegen den, aber Agenor, Sarpedon und Aeneas schützten den Feldherrn so lange mit ihren Schilden, bis der hilflose Leib Hektors aus dem Gefecht getragen worden war. Ein Wagen brachte den Verletzten ans Ufer des Skamandros, dort bettete man ihn ins Gras und be netzte Brust und Angesicht des Leblosen mit Wasser; für einen Augenblick kam Hektor auch wieder zur Besinnung: Er richtete den Oberkörper auf und spie schwarzes Blut aus, doch als er ver suchte sich aufs Knie zu zwingen, umfing ihn abermals finstere Nacht, und er lag wie tot. Nun, nach Hektors Fall, kämpften die Griechen mit verdoppeltem Eifer; der Große Ajax mähte seine Feinde in Schwaden dahin: Dem Sadnios schlitzte er die Weiche auf, dem Archilochos zer schnitt er mit der Lanze die Wirbel und Sehnen des Halses, und dem Hyrtios durchstach er Auge und Gehirn. Der junge, schnell füßige Nestorssohn Antilochos tötete den Mermeros und den Phal kes, Meriones den Hippotion und den Morys, Teukrer den Pro theon und den Periphetes; die Troer wehrten sich heldenmütig und sandten manchen der Achaier in den schaurigen Hades, jedoch Poseidons männervertilgendem Schwert, der todbringenden Lanze des Großen Ajax und den schnellen, blitzgleichen Angriffen seines lokrischen Namensvetters hielten sie nicht lange stand. Sie mußten das Lager räumen und wurden von den Griechen über Mauer und Graben hin zu ihren Kampfwagen zurückgedrängt, wo sie sich verzweifelt bemühten, eine geschlossene Abwehrfront zu errichten. Da aber erwachte Zeus auf dem Ida aus seinem Schlaf.
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Zeus greift ein eus, vom Kampfgetöse geweckt, erwachte und fand sich, von Finsternis umwölkt, in Heras Armen. Er sprang auf, zerblies mit heftigem Atem den selbstgeschaffenen Nebel, und sein Adlerauge sah die von Poseidon geführten Griechen das Troerheer über den Graben werfen, und der Blick des Allgewaltigen erspähte auch Hektor, der am Ufer des Skamandros bleich in seinem aus geworfenen, gestockten Blut lag. Da verdüsterte sich das Antlitz des Himmelskönigs, und mit drohender Stimme wandte er sich an sein Eheweib. »Arglistige tückische Hera«, so redete er, »mit bösem Betrug hast du meinem erklärten Willen zuwidergehandelt und den Achaiern Beistand geleistet! Eben noch habe ich die Troer vor den Schiffen erblickt, und nun sehe ich sie geschlagen und auseinandergesprengt bei ihren Kampfwagen vor dem Graben, und dies alles ist dein ruchloses Werk! Denkst du denn nicht mehr daran, wie ich dich Aufsässige, die schon einmal mit Poseidon eine Verschwörung wider mich anzetteln gewollt hat, mit meinem Gürtel gezüchtigt und an den Händen ans Himmelsgewölbe gekettet habe, wo du, jedes Bein mit einem Amboß beschwert, zehn Tage lang hilflos zwischen Himmel und Erde schwebend geächzt und gebrüllt hast und keiner der Götter der Heulenden zu Hilfe geeilt ist! Nun sehe ich abermals eine Verschwörung: Poseidon ist wider meinem Wil len im Feld, der Schlaf hat mich ungerufen übermannt, und du scheinst den bösen Plan zu lenken: Gelüstet es dich nach einer noch härteren Strafe? »O grimmiger Gebieter«, erwiderte Hera, »was tust du mir doch für ein bittres Unrecht an! Ich schwöre dir beim Himmel, bei der Erde, bei deinem heiligen Haupt und deiner geweihten Lagerstatt, 104
daß nicht ich es gewesen bin, die Poseidon zum Kampf angetrieben; sein eigenes Herz muß ihm dies eingegeben haben; ich jedenfalls habe keinen Anteil daran. Und außerdem wirst du dich ja wohl erinnern, daß nicht ich es gewesen bin, die diese Wolke um uns geschaffen hat!« So redete die Göttin, und Zeus vermochte ihr nicht gut zu wider sprechen; mürrisch hieß er sie in den Olymp zurückkehren und rief gleichzeitig Iris und Apollon zu sich: die Götterbotin, damit sie Poseidon den Befehl seines Königs überbringe, auf der Stelle das Schlachtfeld zu räumen, und Apollon, daß er den verwundeten Hektor heile und wieder kriegstüchtig mache. »Nimm meinen Aigisschild und führe die Troer bis zu den Schiffen«, sprach der Göttervater, »dann zieh dich zurück und überlasse das weitere Walten mir!« Apollon eilte, das Gebot des Königs zu erfüllen, und ebensoschnell überbrachte Iris Poseidon den Befehl. Der Meergott, der gerade den Graben durchqueren und weiter unter die Troer fahren wollte, hieb zornig mit dem Schwert auf den Boden und sprach: »Das heißt mir aber sehr hochmütig befohlen; was erlaubt sich eigentlich Zeus, mir seinen Willen aufzuzwingen? Drei Söhne hat Mutter Rhea einst dem Vater Kronos geboren: den Zeus, den Hades und mich, und als Gleichberechtigte haben wir die Welt untereinander aus gelost: Die Oberwelt mit ihren luftigen Höhen ist Zeus zugefallen, mir das rauschende, fischdurchwimmelte Meer und Hades die schaurige Unterwelt; die Erde mit ihren Menschen jedoch besitzen wir alle gemeinsam. Also regiere er sein Dritteil und mische sich nicht in die Sachen der anderen!« – »Soll ich, du Zürnender, Schwarzgelockter, dem Allvater deine Worte so überbringen, wie du sie ausgesprochen hast?« fragte Iris, »oder möchtest du sie etwas freundlicher fassen? Bedenke, daß Zeus der Erstgeborene ist und daß es dem Jüngeren ziemt zu gehorchen, mag dies auch manchmal schmerzlich sein!« – »Es ist, Iris«, erwiderte Poseidon, »verständig von dir, den Grollenden zu besänftigen und ihn zum Nachgeben zu ermahnen! Ich will mich, wenn auch unwillig, jetzt zurückziehen, 105
doch eines sage ich dir unmißverständlich: Wenn Zeus es wagt, meinem Willen und dem Heras, Athenes und Hephaistos' auf die Dauer zu trotzen und Ilion doch noch den Sieg zu geben, wird er in uns allen einen unstillbaren Zorn erregen! Er soll's nicht auf die Spitze treiben!« Also sprach Poseidon zur dienenden Iris Worte, die er zu Zeus nie gesprochen hätte, danach verließ er gehorsam das Schlachtfeld, und als die Griechen ihn plötzlich vermißten und andrerseits den wun derbar geheilten Hektor wie einen Löwen wieder in den Kampf stürmen sahen, begriffen sie, daß sie den Göttervater selbst wider sich haben mußten, da kein anderer den Meergott von der Wal statt hätte zurückrufen können. Verzagt wollten sie zu den Schiffen fliehen, allein Thoas, ein mutiger und kaltblütiger Krieger, be schwor die Tapfersten aller Stämme, sich zu sammeln und eine feste Phalanx hinter dem Graben zu bilden; die Troer würden, so versicherte er, zurückschrecken, wenn sie solcherart die besten Helden Schwert an Schwert vor sich erblickten. Also reihten sich Ido meneus, Meriones, Teukrer, Menelaos und die anderen Könige und Fürsten um die beiden Ajax; das Fußvolk aber zog sich bis zum Lager zurück. Der Kampf um die Schiffe ektor, auf seinem Kampfwagen, flog dem Heer voran, und neben ihm stand, unsichtbar, Apollon, und deckte seinen Erwählten mit dem graueneinflößenden Aigisschild. Die Achaier überschütteten die Stürmenden mit einem Schwall von Speeren, Steinen und Pfeilen, doch Apollon sprang, am Graben angelangt, vom Gefährt und ebnete, mit den Füßen stampfend und mit dem Aigisschild schaufelnd, in Sekundenschnelle Graben, Wall und Brustwehr ein. In breiter Front stürmten die troischen Kampfwagen vorwärts und zersprengten in wenigen Minuten die 106
Phalanx der Verteidiger, und so wie die Meereswoge im brüllen den Orkan klatschend über das verfolgte Boot zusammenschlägt, stürzten sich die Troer nun über das Lager, die letzte griechische Bastion. Die Verteidiger hatten sich Schild an Schild vor den Schiffen ge sammelt und kämpften, so wie Eber um sich hauen, die von speer schwingenden Jägern eingekreist sind; mit kraftvollen Lanzen stößen und Schwerthieben wehrten sie alle Angriffe der Troer ab, die Apollon wieder verlassen hatte, und wenn es ihnen auch nicht gelang, den Feind zurückzuschlagen, so gelang es den Troern trotz allen Anfeuerungen Hektors ebensowenig, die Front zu durch brechen und Feuer an die Schiffe zu legen. Der große Ajax kämpfte mit einer zweiundzwanzig Fuß langen Schiffslanze vom Deck der Schiffe herab; so wie ein Reitkünstler im Viergespann von dem Rücken eines dahingaloppierenden Pferdes auf den eines anderen springt, so sprang er von Schiff zu Schiff dahin, wo die Not am größten war, und drängte mit grimmigen Lanzenstößen die Stür menden zurück. Er tötete Laodamas, den Führer des Fußvolkes, einen Sohn Antenors, und Hektor wieder erstach den Griechen Schedion; Menelaos tötete den Dolops, der Troer Polydamas den Otos, und so ging das Gemetzel fort, und Kroismos fiel und Me lanippos und viele andere, und Hektor, Schaum vor den Lippen, rannte wie ein Besessener wider die Schiffe, einen Einbruch zu erzwingen, aber die Schilde der Griechen, dichtgefügt wie ein Fels, trotzten all seinem Wüten. Da drückte Zeus selbst mit gewaltiger Hand den Troerprinzen und dessen Heerschar durch den Block der Verteidiger bis zum vordersten Schiff, das einem Fürsten namens Protesilaos gehörte, so daß Hektor das Steuerruder fassen konnte. Teukrer, der vom Deck herab seine Geschosse versandte, spannte seinen Bogen, einen Pfeil in die ungeschützte Hand zu jagen, allein Zeus zerriß die Sehne, die der Schütze am Morgen erst frisch ein gezogen hatte. Weinend vor hilfloser Wut, warf Teukrer den Bogen fort und griff nach der Lanze, und auch der Große Ajax war zu dem bedrohten Schiff geeilt und machte allein zwölf der 107
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Stürmenden nieder; alles Erz aber, das wider Hektor gezückt wurde, stieß Zeus zur Seite. »Wir sind verloren, Bruder«, rief Teukrer mutlos, »der Götterkönig selbst hat sich gegen uns ver schworen!« So sprach der Grieche verzagt und ließ die Lanze sin ken; Hektor aber schrie mit weithin hallender Stimme nach Fackeln und Helmen voll Kohlenglut, das Schiff, an das seine Hand sich noch immer klammerte, in Brand zu stecken. Achill schickt die Myrmidonen ins Feld atroklos saß, indes der Kampf um die Schiffe tobte, am Lager des verwundeten Eurypylos, und er war eben dabei, den Stöhnenden mit tröstenden Reden und dem Erinnern an ge meinsame Heldentaten von seinen heftigen Schmerzen abzulenken, doch als er sah, wie Hektor die Phalanx vor den Schiffen durch brach, hielt es ihn nicht länger an der Seite des Freundes, und er stürzte zu Achill, der auf dem Vorderdeck seines schwarzgetakelten Seglers saß und voll grimmiger Genugtuung dem Wüten der Troer zusah. »Warum weinst du, Patroklos?« sprach Achill zu seinem Gefähr ten, dem in der Tat Tränen in den Augen standen, »du gleichst ja einem Mädchen, das heulend der Mutter nachläuft, sie an der Schürze zupft und quengelt, auf den Arm genommen zu werden! Was ist dir denn widerfahren, Lieber? Sind schlechte Nachrichten von der Heimat eingetroffen? Aber dann müßte ich ja auch davon wissen! Oder dauern dich etwa diese Griechen, die da so pracht voll von Hektor gezüchtigt werden?« So sprach Achill, obwohl er genau wußte, weshalb die Tränen des Freundes strömten. »O Achilles«, erwiderte Patroklos, »zürne mir nicht, wenn ich dir das Elend des Heeres vor Augen führe! Fast alle der Tapfersten sind gefallen oder liegen verletzt; pfeilwund 110
ist Diomed, lanzenwund Odysseus und auch, verzeih, Agamemnon, ja selbst der Arzt Machaon ist schwer getroffen. Keiner als du kann nun mehr die Rettung bringen, du aber, du Grausamer, bleibst unbeugbar! Wahrlich, nicht Peleus und Thetis können dich gezeugt und geboren haben, die finstere, kalte Meerflut allein muß, als sie donnernd an die ragende Felswand angeschmettert, dein Erschaffer gewesen sein! Sende darum wenigstens mich und die Myrmidonen den Brüdern zu Hilfe, leih mir deine Rüstung, daß ihr Anblick die Troer erschrecke, vielleicht ist es uns dann vergönnt, die Feinde aus dem Lager zu jagen!« So flehte Patroklos und wußte nicht, daß er um den eigenen Tod bat, und der herrliche Achill sprach wieder von der Schmach, die Agamemnon ihm angetan, da er ihm als einzigem aller Könige das Beutegut, die holde Jungfrau Briseïs, abgenommen, und er zählte abermals auf, wie viele Städte er dem Habgierigen zu Füßen gelegt und mit welch schnödem Undank ihm dieser all die Mühen ver golten, und draußen tobte der Kampf um das Schiff des Protesilaos, und Achill schüttelte die Fäuste und schrie: »Wie einen ungeachte ten Fremdling hat mich dieser Mann behandelt; nein, ich kann ihm das nicht vergessen! Es bleibt dabei, ich werde erst kämpfen, wenn meine Schiffe in Gefahr sind, da du aber so inständig bittest, Pa troklos, so nimm denn meine Rüstung und meine Waffen und führe die Krieger ins Gefecht! Wahr ist's, die Griechen sind arg bedrängt, aber das ist nur ihre eigene Schuld, sie haben es ja ge duldet, daß mir Agamemnon mein Ehrengeschenk gestohlen, ach, dieser Hundsfott von Oberbefehlshaber! So eile denn, Lieber, zögre nicht länger, stürze dich den Troern entgegen, aber höre auf mein Wort: Treibe sie nur aus dem Lager und kehre dann sofort zurück! Ich will ja, daß sie nach mir senden und daß Agamemnon selbst mich bittet; auf den Knien soll er vor mir rutschen und mich anflehn, das soll meine Genugtuung sein! Doch Schluß mit den Worten, spute dich, Guter, aber lasse dich ja nicht von Ruhmsucht verleiten, die Troer bis Ilion zu jagen; wende nur die äußerste Gefahr ab und ziehe dich dann augenblicklich zurück! Vor allem 111
aber hüte dich, mit Hektor zu kämpfen, das sei einzig mir vor behalten!« Da Achilles dies sprach, sah er, daß dem Großen Ajax der Kampf immer schwerer fiel; Lanze um Lanze krachte an seinen Panzer so wie Axthieb um Axthieb an eine ragende Eiche prallt, den zähen Stamm schließlich doch zu fällen; der Riese keuchte, und der Schweiß troff ihm vom Gesicht, doch er widerstand noch immer, wenn er auch nur noch mit Mühe den riesigen Schiffsspeer führen konnte. Er stieß gerade wieder zu, da hieb Hektor mit einem ge waltigen Schwertstreich die blutige Lanzenspitze vom Holzschaft; klirrend fiel das Erz zu Boden; nochmals und nochmals stach der Hüne mit der verstümmelten Waffe auf den Feind ein, der nun seiner Ohnmacht lachte, dann hatte der Große Ajax, der Turm in der Feldschlacht, wohl erkannt, daß Zeus den Sieg der Troer be schlossen haben mußte, und diese Erkenntnis lähmte ihn derart, daß er, das stumpfe Holz in Händen, wie versteint auf dem Deck stand und nicht vermochte, zum Schwert zu greifen. In diesem Augenblick schleuderten die Trojaner lohende Pechfackeln auf das Schiff, dessen ausgedörrtes Holz im Nu in Flammen stand; Feuer wogte ums Steuer und fraß sich über die Ruderbänke, und Achill trieb Patroklos zur Eile an. In fünf Kampfscharen ordnete der Pelide seine Myrmidonen, die wie gierige, Fraß und Beute wit ternde Wölfe eilends in Rudeln zusammenströmten, und Patroklos legte indes die berühmte Rüstung Achills an, ergriff anstatt der Lanze mit dem Eichenbaumschaft, die der junge Held nicht zu heben vermochte, zwei mächtige Speere, dann flog sein Wagen, von den unsterblichen Rossen Xanthos und Balios, Geschöpfen des Sturmwinds, gezogen, seinen Kriegern voran ins Gefecht. Wie ein Schwarm wilder Wespen, deren Nest ein mutwilliger Knabe zer stört hat und die nun brausend ausschwirren, sich zu rächen, so stürzten sich die Myrmidonen über den völlig verwirrten Gegner. »Achill greift an!« – »Achill ist erschienen!« so schrien einander die Troer zu, und Patroklos in des Achilles Rüstung jagte ins Getüm mel um das brennende Schiff und durchstieß dem König Pyraich 112
mes, dem Führer der Paionen, die auf seiten Königs Priamos kämpften und die Brandfackel geschleudert hatten, das rechte Schulterblatt. Pyraichmes stürzte zu Boden; sein Volk floh kopflos und riß die andern Troer mit sich, und die Myrmidonen trieben, indes die Griechen das prasselnde Feuer löschten, die überrumpel ten Feinde von den Schiffen zurück. Dieser Vorstoß entflammte die Kampfwut der anderen Achaier: Menelaos drang mit heftigen Lanzenstößen in die feindlichen Reihen; Ajax hatte sich wieder gefaßt und zum Schwert gegriffen; Idomeneus rannte mit Speeren wider die Troer, die Hektor vergeblich noch einmal zum Gegen angriff zu führen versuchte. Wie eine Wolke, die der Sturm zer fetzt, so zersprengte nun der griechische Angriff das Priamosheer, und als Hektor erkannte, daß das Kriegsglück herumschwang und eine Katastrophe drohte, rief er die Seinen zur Flucht auf und raste, allen voran, gen Ilion. An Widerstand war nicht mehr zu denken; in zügelloser Flucht jagte das Troerheer über das Schlachtfeld; hier und dort stürzte mancher Wagen im steinigen Gelände; die nachfolgenden fuhren auf; Geschirre verwirrten, Gestelle verschränkten sich; scheuende Pferde rasten, Gestrauchelte niederstampfend, in sperrige Deich seln; Räder lösten sich von den Achsen und holperten, gespenstische rumpflose Glieder, über die Walstatt, und aus den Trümmern zerschellten Holzes scholl das gräßliche Schreien der Gestürzten und das wilde Gewieher der verwundeten Rosse. Staub wirbelte zum Himmel, und Patroklos flog, von den unsterblichen lang mähnigen Rennern, die in mächtigen Sätzen die Knäuel der zer trümmerten Wagen übersprangen, fast über das Erdreich gehoben, den Flüchtenden nach; er hatte im Kampfrausch den Auftrag Achilles', sofort umzukehren, völlig vergessen, und sein Sinn stand ihm nur danach, Hektor einzuholen. Im Dahinrasen tötete er, wer ihm vor die Lanze kam; er wütete wie ein Wolf unter den ratlos durcheinanderquirlenden Schafen, bis endlich Sarpedon, der Lykierkönig, erkannte, daß seine Männer allesamt verloren waren, wenn sie sich so widerstandslos abschlachten ließen. Er sprang von 113
seinem Wagen, fing eine Schar der Fliehenden auf und versuchte eine Abwehrfront zu bilden, und als Zeus dies gewahrte, erfüllte Wehmut sein Herz. Denn Sarpedon war ja sein Sohn – den all mächtigen Oberen gefiel es oft, mit sterblichen Frauen Kinder zu zeugen, und auch die hehren Göttinnen gaben sich ungescheut nach ihren Launen und Lüsten manchem Erdensohn hin –, und der All waltende dachte schon daran, den Bedrohten zu retten und aus der Schlacht zu tragen, allein da in diesem Krieg bereits viele Söhne anderer Unsterblicher gefallen waren, entschloß er sich, dem Ver derben seinen Lauf zu lassen, und er hatte kaum diese Entschei dung getroffen, da raffte auch schon Patroklos den Lykierkönig durch einen Lanzenstoß ins Zwerchfell dahin. Die Phalanx, die sich um Sarpedon gebildet hatte, wurde durch des Königs Tod rasch wieder aufgelöst, und Patroklos wütete wie zuvor unter den Flüchtenden, um schließlich zum Sturm auf die Stadtmauer anzusetzen. Da nun Apollon erkannte, daß die Grie chen die Burg zu erobern drohten, hüllte er sich in Nacht und schritt auf Patroklos zu. Der zog sein Schwert, seine Krieger zum ent
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scheidenden Angriff zu führen, da schlug ihm der unsichtbare Gott mit der flachen Rechten zwischen die Schultern, so daß der Held zu wanken begann und Schwindel ihn ankam, und der strahlende Gott hieb dem Wehrlosen das Schwert aus der Hand und stieß ihm den Helm vom Kopf und zerbrach ihm die Lanze und zerriß ihm Schild- und Panzerriemen, so daß der Taumelnde ungerüstet im Feld stand. Die Griechen wollten ihrem Führer zu Hilfe eilen, allein Apollon drängte sie mit dem Aigisschild zurück, so wie eine Knabenhand Käfer wegfegt; Patroklos wankte und brach in die Knie, und Hektor sah ihn stürzen und sprang herbei und rannte dem Hilflosen den Speer durch Bauch und Rücken, und als die Trojaner das sprudelnde Blut ihres ärgsten Feindes erblickten, schrien sie mit Hektor ihren Triumph zum Firmament. »Frohlocke nicht allzu laut, Hektor!« stöhnte der Sterbende, dem nun, wie allen Erdensöhnen in der Minute, da die Seele enteilt, ein Blick in die Zukunft verliehen war. »Frohlocke nicht allzu laut«, sprach Patroklos, »bald wirst du, von Achilles gefällt, wie ich hier im Staube liegen und den scharfen Stachel des Todes spüren!«
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Nach diesen Worten verstummte der Mund des jungen Helden für immer; Hektor jedoch achtete nicht auf diese Worte; er setzte dem Verröchelnden die Ferse auf den Schenkel und riß mit einem Ruck den Speer aus dem sterbenden Leib. Dann raubte er des Toten Waffen und die Rüstung Achills und trug sie zurück, sie sich selbst anzulegen, und die Troer schickten sich schon an, auch den Leich nam des Patroklos fortzuschleppen, um ihn den Hunden zum Fraß vorzuwerfen, da waren die Griechen wieder bis zu dem entseelten Körper ihres Helden vorgedrungen, und Menelaos umkreiste, schildbewehrt, das Schwert in der Rechten, den toten Freund und streckte jeden nieder, der sich dem Leichnam zu nahe wagte. Indes war Hektor in der Rüstung Achills ins Getümmel zurück gekehrt, und als Menelaos den Stürmenden in dem schwarzschim mernden Harnisch erblickte, rief er den Großen Ajax um Beistand an. Ein wilder Kampf hob an; die herrlichsten Helden versammel ten sich zur Schlacht, den Leichnam Patroklos' zu schützen oder zu rauben, und wieder zogen, wie Fledermäuse flatternd und mit ihren stummen Mündern unhörbar klagend, die Seelen der Ge fallenen in Scharen dem finsteren Hades zu. Schließlich aber begannen unter den Schlägen Hektors und Aenas' die Reihen der entmutigten Griechen zu wanken; Idomeneus, der Kreterkönig, wandte sich schon zur Flucht, da hieß Menelaos den schnellfüßigen Antilochos zu den Schiffen eilen und Achill die Kunde vom Tode seines Lieblingsfreundes und von der Gefahr, die dessen entseeltem Leib drohte, überbringen. Antilochos jagte davon; Ajax aber warf sich mit wütenden Schwerthieben noch ein mal unter die Troer und drängte sie so weit zurück, daß Menelaos und Meriones den umkämpften Leichnam an Armen und Beinen fassen und aus dem Getümmel schleppen konnten. Unter der Last keuchend, rannten die beiden dem Lager zu, und Ajax schritt hin ter ihnen und deckte sie mit Schwert und Schild wie ein wandernder Hügel; die Reihen ringsum aber lösten sich auf, und die Achaier stoben in wilder Flucht davon wie vor dem niederstoßenden Habicht eine schwirrende Finkenschar. 116
Jammer um Patroklos chill stand vor seinem Schiff und blickte voll Unruhe auf das Schlachtfeld, wo er nun die Griechen, von den Troern verfolgt, dem Lager zueilen sah. Er erspähte auch seine schwarze Rüstung, und sein Herz frohlockte, daß Patroklos lebe, doch gleich darauf verwunderte er sich, daß der Träger dieses Har nischs in den Reihen der Feinde focht. In diesem Augenblick nahte atemlos und mit Tränen in den Augen Antilochos, und als der schnellfüßige Jüngling den Myrmidonenkönig erblickte, fiel er ihm zu Füßen und stieß schluchzend die Worte hervor: »Jammer geschick vernimmst du, Achilles; Hektor hat den teuren Patroklos getötet und der Rüstung beraubt, und nun kämpfen die Griechen um den nackten Leichnam des Heldenjünglings!« So sprach Antilochos, und Achilles stand, vom Blitz dieser Botschaft getroffen, eine Weile bewegungslos; schließlich beugte er sich stumm nieder und raffte zwei Hände voll schwarzen Staubes und Asche und streute sie über sein Haupt und beschmierte sich damit Gesicht und Gewand, dann stürzte er zu Boden und lag stöhnend auf der steinigen Erde und raufte das gelockte Haar. So sahen ihn die Mägde, die ihm und Patroklos einst zur Beute gefallen waren, und sie begriffen, was sich ereignet hatte, und jammerten um den milden, guten Herrn und schlugen sich mit der Hand vor die Brust und sanken schluchzend ins Knie und umringten so den Helden, der im Staub lag, und die Bäche ihrer Tränen strömten wie Quel len. Antilochos faßte Achills Hände; er fürchtete, der Trauernde könne sich mit dem Dolch die Kehle durchtrennen, und Achilles litt es, und Tränen stürzten aus seinem Auge, und dann heulte er im tiefsten Schmerz auf wie ein Hund. Dies hörte seine Mutter Thetis, die wieder bei ihrem Vater Nereus im Gewölbe aus schimmernden 117
Muscheln saß, und nun schluchzte, da ihr lieber Sohn dermaßen wehklagte, auch die Unsterbliche in herzzerschneidendem Leid. Sie zu trösten eilten all die Göttinnen herbei, die das funkelnde Meer bewohnen und die man Nereiden nennt: Glauke und Kymodoke und Thaleia und Speio; Nesaia, Thoe, Halia, Limnoreia und Melite; Jaira kam und Agaue, Doto, Dynamene, Protho, Kallia neira, Dexamene, Amphinome, Pherusa, Doris und Panope; die herrliche Galateia fuhr in ihrem Muschelwagen zu der Schluch zenden, und ihr folgten Nemertes, Apseudes, Kallianassa, Janaira, Klymene, Janassa, Maira und Oreithya und schließlich auch die schönumlockte Amatheia, die eine Mondsichel aus Bernstein in ihrem Schwarzhaar trägt. Diese Göttinnen und alle ihre Gespielinnen und Bediensteten füll ten die silberne Grotte und umringten Thetis, die jammernd sprach: »Wehe mir armen, unglückseligen Mutter, der es bestimmt war, einen Helden zu gebären; kurz nur, eine knappe Spanne Zeit, währt das Leben meines geliebten Kindes, und doch ist es ange füllt von Jammer und Qual! Was für ein Herzeleid mag ihm wohl nun widerfahren sein, dem Söhnchen? O trauriges Los einer Mut ter, die Helden zur Welt gebracht hat!« So sprach die Göttin und fuhr durch das funkelnde Meer und wanderte zu den Schiffen, und da sie ihr Kind heulend im Staub sah, beugte sie sich zu ihm nieder und fragte nach dem Quell seines Leids. »Rede, mein Kind«, so sprach sie zu ihm, »welch Kummer dich quält! Geschah nicht alles, was du erbeten; hat Zeus nicht unsere Bitte erhört? Sind die Achaier nicht schimpflich geschlagen, ist Agamemnon nicht gedemütigt, ist ein Schiff seiner Flotte nicht in Brand gesteckt worden? Jubeln müßtest du und triumphieren, da alles nach deinem Willen verlaufen ist, und nun schluchzest und klagest du!« – »Ach, was frommt mir die Genugtuung noch, liebste Mutter«, entgegnete Achill, »wenn mein Patroklos dafür als Preis in den Hades gefahren ist! Hektor hat ihn erschlagen, Mutter, Hektor hat ihn der herrlichen Waffen und der Rüstung beraubt, die Vater Peleus mir einst geschenkt hat, und ich habe sie dem 118
Freund noch mit eigenen Händen angelegt! Nicht mehr leben will ich, wenn es mir nicht vergönnt ist, an diesem hündischen Troer Rache zu üben und den Verruchten niederzustrecken!« Da seufzte Thetis tief auf und sagte: »Söhnlein, herzallerliebstes Söhnlein, bald ist, wenn du so redest, dein Leben verwirkt! Das Schicksal hat deine Sterbestunde wenige Tage nach Hektors Ende angesetzt; bedenke drum: Wenn du Hektor tötest, so sprichst du dir selbst das Todesurteil aus!« So warnte die besorgte Mutter, allein Achilles umfing ihre Knie und sagte, er wünsche auf der Stelle zu sterben, wenn ihm das Schicksal die Rache mißgönne, und der Held schlug seine Brust mit den Fäusten und sprach: »Nie werde ich mich von dem Vorwurf reinigen können, Patroklos im Kampf nicht zur Seite gestanden zu haben! Verflucht sei der Zorn, der selbst den Weisen zu unsinnigen Taten hinreißt! Nun sitz ich hier jammernd am Saum des Meeres, eine unnütze Last der Erde, ein waffenloser, müßiger Mann! Wahrlich, verblendet und töricht bin ich gewesen, als ich mich die ses Hundfotts Agamemnon wegen vom Kampf zurückgezogen habe! Doch nun will ich wieder in die Schlacht gehen; einem jeden ist ja die Schicksalsstunde bestimmt, und wenn mein Leben nicht mehr lang währt, so will ich es doppelt und dreifach nützen, den Hades mit Troerseelen zu bevölkern. Wehre mir das, liebste Mut ter, nicht länger; ich müßte sonst deinem Gebot zuwiderhandeln!« Da seufzte Thetis abermals, doch da sie den festen Sinn ihres Soh nes kannte, strich sie ihm sacht übers Haar und sprach: »Nun denn, mein Kind, so handle, wie dein Herz es dir eingibt, doch warte, Liebes, noch bis zum Morgen; ohne Waffen bist du ja und ohne Rüstung, und selbst der Tapferste kann nicht mit blanken Fäusten wider Gepanzerte ziehn! Ich will zu Hephaistos eilen und ihn bit ten, dir eine Wehr zu schmieden, wie sie kein Sterblicher noch besessen, so lang noch halte dich zurück, geliebtes Kind!« Mit diesen Worten löste sich Thetis von ihrem Sohn und glitt mit ihren Begleiterinnen ins Meer zurück; Achilles aber verharrte wei terhin voll stummem Leid im Staub. 119
Achill erscheint im Feld ndes hatte die Spitze der fliehenden Achaier die Schiffe erreicht; die Schützer des toten Patroklos aber, Ajax, Menelaos und Meriones, waren noch ein gutes Stück vom Graben ent fernt. Dreimal hatte Hektor Ajax zur Seite gestoßen und nach dem nackten Fuß des Gefällten gegriffen, und dreimal hatte der Große Ajax, zu dem sich nun auch sein Namensvetter durchgekämpft hatte, den Troerprinzen zurückgeschlagen. Doch alle vier, die bei den Totenträger und ihre beiden Verteidiger, waren schon sehr ermattet, und Hektor hätte sich zweifellos des Leichnams bemäch tigt, wäre Iris nicht auf Heras Geheiß zu Achilles geeilt. »Was säumst du, Peleussohn!« so rief sie ihm zu, »was säumst du und jammerst und klagst, indes Hektor sich jetzt vielleicht schon an schickt, Patroklos den Kopf abzuhauen, sein Hirn den Raben vor zuwerfen und den Schädel auf einen Pfahl vor euer Lager zu pflan zen! Dein wird die Schmach sein, wenn der Leichnam verstümmelt wird!« »Wie soll ich denn ungerüstet in die Schlacht gehn?« erwiderte Achill, »meine Mutter ist zu Hephaistos geeilt, ihn um neue Waffen zu bitten, und sie hat mir geboten, so lange hier im Lager zu war ten; meine Männer sind alle im Feld, und von den Verwundeten hier wüßte ich keinen, dessen Rüstung mir paßte! Was kann ich da anderes tun als auf die Kraft des Ajax zu hoffen!« So redete Achill voll Bitterkeit; allein Iris stärkte seinen Mut. »Geh nur getrost, Achill«, so sprach die Götterbotin, »gehe getrost und zeige dich am Graben; Hera wird dir beistehen, vielleicht vermag schon dein bloßer Anblick die Troer zu schrecken!« Da erhob sich Achilles und war entschlossen, auch mit nackten Fäusten in den Kampf zu gehen; Athene aber fuhr vom Olymp zur 120
Erde nieder und hängte dem Helden den Aigisschild mit den lohenden Augen der Gorgo um die Schulter, sein Haupt aber krönte sie mit Feuer, das heller glühte als ein Goldhelm im grell sten Sonnenlicht. Also gewappnet stürmte Achill dorthin, wo einst der Graben sich gezogen, und er stellte sich hinter die zertrümmerte Brustwehr und schrie von dort mit donnerdröhnender Stimme ins Troerheer hinab, und Athene verstärkte den Hall seiner Kehle, daß sein Ruf wie hundert Trompeten klang. Löwenhaft schmetterte die Stimme des Helden über das Schlachtfeld, und ein Entsetzen kam die Troer an, da sie den gefürchtetsten Feind mit lohender Feuerkrone hinter der Brustwehr sahen; ihre kampferprobten, schöngemähnten Rosse bäumten sich auf und wichen entsetzt zu rück, und dreimal brüllte Achill übers Schlachtfeld, und dreimal flüchteten die Trojaner in solcher Verwirrung, daß durch scheu ende Pferde und malmende Räder zwölf ihrer Krieger getötet wurden. So ward denn der Leichnam des Patroklos unversehrt zurück getragen und sogleich auf eine Bahre gebettet. Indes war die Nacht hereingebrochen, und die Trojaner fanden sich, noch ehe sie sich zum Mahle begaben, zu einer Ratsversammlung ein, und die Furcht vor Achill steckte ihnen noch derart in den Gliedern, daß sie sich nicht niederzusetzen wagten, um jederzeit fluchtbereit zu sein. Ste hend also hielten sie Rat, und Hektors Freund Polydamos, der mit dem Troerprinzen zur gleichen Stunde geboren worden war, be gann als erster zu sprechen und riet, eine Feldschlacht fortan zu vermeiden und sich auf die Verteidigung der Stadt zu beschränken; Hektor aber wandte ein, daß Zeus ihm den Sieg verheißen habe und es unbillig und frevelhaft sei, dem Wort eines der Unsterb lichen, und nun gar des Götterkönigs, zu mißtrauen. »Seht doch«, rief Hektor, »das feindliche Heer ist doch schon mächtig ange schlagen; Graben und Brustwehr bieten kein Hindernis mehr; wir haben schon den Brand in die Schiffe geschleudert, und wenn wir die Achaier unter Patroklos besiegt haben, werden wir sie auch schlagen, wenn Achill sie führt! Drum Schluß mit dem Geschwätz 121
vom Rückzug; morgen im ersten Dämmern des Frührots wird der Sturm auf die Schiffe fortgesetzt, und wer etwa hofft, sich seiner Pflicht durch feige Flucht entziehen zu können, der möge ja nicht glauben, heil davonzukommen: Mein eigenes Schwert wird ihm das Leben kürzen!« So redete Hektor, und die Troer spendeten seinen Unheilsworten jubelnden Beifall. Dann nahmen sie ihre Abendkost ein und schlu gen ihr Lager vor der Stadtmauer auf. Sie verdoppelten ihre Wachen, denn sie fürchteten einen nächtlichen Überfall, jedoch Achilles und seine Myrmidonen sorgten sich unermüdlich um den toten Freund. Sie wuschen den Leichnam mit heißem Wasser, salbten ihn mit Öl, bestrichen seine Wunden mit neun Jahre lang gelagerter Salbe, hüllten dann den gereinigten Leib in schim mernde Leinwand und bahrten ihn feierlich auf mehrere neben einandergestellte Betten auf. Schweigend umstanden sie das letzte Ruhelager des Gefällten, und Achilles hob die Hände zum Himmel und schwor: »Wahrlich«, so sprach er, »auch mir ist es bestimmt, hier vor Troja zu fallen, und das gleiche Erdreich wird dereinst mich wie den lieben Gefährten bedecken, doch ehe dies geschieht, Patroklos, werde ich das Haupt dieses mördrischen Hundes zu deinen Ehren auf den Scheiterhaufen legen, und zwölf trojanische Jünglinge, die Blüte Ilions, will ich zu deinem Gedenken schlachten und dir als Totenopfer weihn! Doch bis sich dies vollzogen hat, Lieber, ruhe hier auf den geschnäbelten Schiffen!« So schwor Achill, und dann klagte er mit all seinen Kriegern die ganze Nacht hindurch an der Bahre des Freundes, und die kalten, schweigenden Sterne sahen seinen Schmerz, und er jammerte auch sie.
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Hephaistos schmiedet Achill eine neue Wehr hetis hatte Hephaistos in seinem Palast an getroffen und ihn, den Kunstsinnigen und Unermüdlichen, am Blasebalg schwitzend ge funden, wo er gerade zwanzig räderbestückte goldene Dreifüße schuf, die fähig waren, von selbst durch die Runde der Gäste zu rollen und ihnen einen belebenden Trunk an zubieten. Die Gefäße waren beinah fertig; nur noch die goldenen Henkel fehlten dem Wunderwerk, und Hephaistos hämmerte ge rade die feinen Nägel, mit denen sie an die gebauchten Schalen geheftet werden sollten, doch als er die anmutige Göttin in seiner rußigen Werkstatt erblickte, legte er die Arbeit zur Seite und bot ihr einen Stuhl aus getriebenem Silber an. Dann reinigte er mit einem Schwamm Hände, Gesicht und auch die zottige Brust, legte sein Schurzfell ab und zog sich den Leibrock über, und schließlich reichte er der hohen Besucherin die Hand und fragte nach ihrem Wunsch. »Ich werde es dir nie vergessen, Thetis«, so sprach er, »daß du mir damals, als Zeus mich aus dem Himmel geschleudert, zur Seite gestanden bist und mich neun Jahre lang vor seinem wütenden Zorn verborgen hast. Sprich darum ungescheut aus, was du begehrest; wenn es in meiner Macht steht, will ich's erfüllen.« »Ich bitte für meinen lieben Sohn«, sprach Thetis, und sie berichtete dem Beherrscher des Feuers von der Not Achills und bat ihn, dem geliebten Kinde neue Waffen und eine Rüstung zu schmieden, und Hephaistos erhob sich sofort und humpelte auf seinen schwachen Beinen zur Esse. Zwanzig Blasebälge, von künstlichen Silber händen bewegt, entfachten und dämpften nach Bedarf die Glut der Öfen, und der göttliche Schmied stellte Eisenerz und Gold und Sil ber und Zinn getrennt in Tiegeln in die sausenden Flammen, rückte den Amboß zurecht, ergriff mit der Rechten den Hammer 123
und mit der Linken die Zange und begann sein Werk. Zuerst schmiedete er den schützenden Schild: Den Rand flocht er aus drei blanken Goldsträhnen zusammen und fügte daran das Silber gehenk; das Schildrund selbst schuf er aus fünf erzenen kreisrunden Platten, die in ihrer Größe jedoch nach der Mitte zu abnahmen, so daß nur die mittelste – sie war von Gold – als volle Scheibe, die darunterliegenden kupfernen und zinnernen aber jeweils als Ringe erschienen. Auf dem mittelsten Rund bildete Hephaistos die Erde ab und das wogende Meer und den Himmel mit Sonne und Mond und allen seinen Gestirnen; den ersten Gürtel schmückte er mit dem Abbild zweier reich bevölkerter Städte: des holden Friedens sich erfreuend die eine, von Kriegsvolk belagert und in offener Feldschlacht umkämpft die andere. Auf dem zweiten Gürtel pries der kunstreiche Schmied in prachtvollen Szenen die Mühe des Ackerns, des Mähens und der Weinlese; den dritten Ring zierte er mit Bildern aus dem Hirtenleben, und auf dem äußersten Gürtel prangte der erdumfließende Ozean. Als der Schild in solch kunst voller Schönheit vollendet war, schmiedete Hephaistos einen Har nisch, der im Glanz lebendigen Feuers strahlte, hierauf einen mäch tigen Helm mit Schläfenschutz und einem goldenen Bügel für den Haarbusch; Bein- und Knöchelschienen aus feinem Zinn, und schließlich ein Schwert von der Schärfe des Blitzes, und Thetis nahm alle die Wehrstücke in ihren Arm, als ob es Flaumfedern wären, und flog damit durch die Esse der Schmiede zur Erde empor. Achilles wird versöhnt m nächsten Morgen traf Thetis den Sohn noch immer trauernd vor der Bahre des Patroklos an. Schweigend legte die silberfüßige Göttin Rüstung und Waffen vor ihrem Kind nieder, und als der Held das schimmernde Erz sah, mischte sich in seiner Seele die Trauer mit wilder Freude zu grimmigem Zorn. Seine 124
Augen strahlten unter den dichten Wimpern wie Gluten; er wog jedes Schmiedestück in seiner Hand und setzte sich den Helm aufs Haupt und fand ihn so genau passend, als wär er nach Maß ge arbeitet worden, und er schloß bewegt die Mutter in die Arme und sprach: »Wahrhaftig, diese Waffen hat ein Gott geschmiedet, kein Sterblicher könnte so ein Wunder von Schönheit und Trefflichkeit schaffen! Ich will sogleich die Rüstung anlegen, doch eine Bitte hat dein Kind noch, beste Mutter: Die Nacht über habe ich gewacht und alle Fliegen vom Leichnam des lieben Freundes abgewehrt, nun aber fürchte ich, daß sie ihn, wenn ich im Kampf stehe, befallen und ekles Gewürm in seinen Wunden brütet; wenn du dies abzu wenden vermagst, dann tue das deinem Sohn zuliebe!« »Siehe, hier sind Nektar und Ambrosia, liebes Kind«, sprach The tis, »ich will sie dem Toten in die Nase tropfen, dann wird, so lang er auch liegen möge, sein Leib nicht in Verwesung übergehn.« Sie handelte sogleich nach ihren Worten, und Achill rüstete sich nun unbesorgt, dann ging er ans Meer hinunter und rief mit hallender Stimme die Griechen zur Ratsversammlung. Alles Volk, auch die Ruderer und Steuermänner, ja selbst die Bäcker, Köche und Hirten, strömte zusammen; es erschienen die Fürsten, und auch Diomed und Odysseus humpelten, auf ihre Speere sich stützend, zur Küste, und zuletzt fand sich selbst der wundkranke Agamemnon ein. Als die Griechen versammelt waren, erhob sich der Pelide und sprach: »König Agamemnon, der du unser vereinigtes Heer führst, wir haben töricht gehandelt, uns eines Mädchens wegen zu zanken und zu zerstreiten: Daran haben nur Hektor und seine Trojaner Ge fallen gefunden, die Achaier aber hat dieser unselige Hader viel Blut und Jammer und Schmerzen gekostet! Vergangen sei daher das Vergangene; es hat mich zwar bitter gekränkt, daß du mir als einzigem meine wohlverdiente Beute genommen hast, doch nun ist mein Groll besänftigt, laß uns darum nicht mehr länger reden! Be fiehl den Achaiern, sofort ins Feld zu ziehen, und wir werden sehen, ob es die Feinde noch einmal gelüstet, nah unseren Schiffen der Ruhe zu pflegen!« 125
So sprach Achilles, und Agamemnon erhob sich. »Freunde und Krieger«, so redete der Oberbefehlshaber, »Freunde und Krieger, Genossen des Ares, oft habe ich mich wegen dieses Vorfalls gerügt, aber die Hauptschuld trage nicht ich, sie trägt wohl die schreckliche Eris, die Göttin der Zwietracht, die mich damals in der Versamm lung verblendet haben muß. Ihr unheilvolles Wirken ist ja be kannt, und jeder weiß, daß sie selbst Zeus so manches Mal ver leitet hat, mit Hera zu streiten; ist solcherart selbst der Vater der Götter von ihr bezwungen worden, um wieviel leichter hat da einer der Irdischen ihr erliegen können! Doch sei dem wie immer: Ich will dir, Achilles, alle versprochenen Güter treulich übereignen; schon sind meine Herolde gesandt, sie hierher zu schaffen und Briseïs, die, ich wiederhole meinen Schwur, ich nicht berührt habe, samt sieben anderen blühenden Jungfrauen ehrenvoll in dein Haus zu führen!« So sprach Agamemnon, und er sprach es verlegen und stockend und mit niedergeschlagenem Blick; Achilles aber erwiderte, es stehe dem Oberbefehlshaber zu, Geschenke zu gewähren oder auch zu verweigern, und er möge handeln, wie er es für richtig halte; jetzt aber sei keine Zeit für große Reden, nun hätten nur mehr die Schwerter und Lanzen das Wort. Voll Eifer wollte er die Achaier schon ins Feld rufen, Odysseus aber riet, vor der Schlacht noch ein Frühmahl zu nehmen, dies sei, so meinte er, auch die schicklichste Gelegenheit für Agamemnon und Achilles, ihre Versöhnung zu beschwören. So geschah es denn auch; Agamemnon ließ einen Eber herbei schaffen, schnitt dem Opfertier das Stirnhaar ab und verteilte es unter den Kriegern und Königen, dann betete er zu Zeus um Ge hör und Segen, zertrennte dem Tier die Kehle und schwor, während das rauchende Blut zur Erde schoß, in aller Form Versöhnung, und ein gleiches tat Achill. Das geschlachtete Tier wurde, wie es bei solcherlei Eidschwüren Brauch war, ins Meer versenkt, und die Herolde, die unterdessen eingetroffen waren, stellten vor allem Volk Agamemnons Sühnegeschenke aus: sieben dreifüßige Kessel, 126
zwanzig Becken, zehn Barren lauteren Golds, zwölf Rosse und sie ben untadelige, vieler Handwerkskünste kundige Frauen, und schließlich führte Odysseus selbst die holde Briseïs vor Achill. Dann setzten sich die Helden zum Mahle, doch Achilles erklärte, er werde solange Speise und Trank verweigern, ehe er nicht seinen Freund gerächt und den mördrischen Hektor zum Hades gesandt habe. »Haß sei meine Nahrung und Rachgier meine Labe«, so sprach der Held und begab sich in sein Gemach und legte die neugeschaffene Rüstung an, die sich so genau um seine Glieder und Gelenke schloß, daß er ihre Last kaum spürte und glaubte, zum Reigentanz anstatt ins Gefecht zu gehen. Sein Wagenlenker Automedon hatte die Rosse schon angeschirrt und saß, Zügel und Geißel in der Rechten, auf dem Vordersitz; Achilles, im Erz strahlend wie der Sonnen gott, schwang sich hinter ihm aufs Trittbrett, doch ehe Automedon die Zügel anzog, redete Achilles die beiden unsterblichen Rosse an. »Xanthos und Balios«, so sprach er, »ihr treuen Gefährten, möge es euch heute beschieden sein, euren Herrn nach der Schlacht wohl behalten ins Lager zurückzubringen und ihn nicht wie seinen lie ben Freund tot im Feld vor dem Feind zu lassen!« Da neigte Xanthos, dem es gegeben war, mit menschlicher Zunge zu reden, sein Haupt so tief, daß die üppige Mähne niederwallend die Erde berührte und sprach: »Heute bringen wir dich wohl noch als Lebendigen heim, Achilles, aber der Tag deines Verderbens ist nahe. Und schilt uns nicht, herrlicher Held, ob des Tods deines Freundes! Apollon selbst hat ihn mit der Hand auf den Rücken geschlagen, so daß er ohnmächtig hingestürzt ist; wir haben's nicht hindern und wehren können! Denn wenn wir auch schneller sind als der wirbelnde Westwind: dem Schicksal vermögen wir dennoch niemanden zu entführen, auch dich nicht, vielgeliebter Herr!« So redete Xanthos voll Trauer; Achill aber entgegnete unmutsvoll: »Was, Xanthos, treibt dich, mir den nahen Tod zu weissagen? Willst du mich schrecken? Das wird dir nicht gelingen; ich weiß ja längst von meiner Mutter, daß es mir bestimmt ist, vor Troja zu fallen; bis dahin aber will ich noch manche tapfere Arbeit tun!« 127
So sprach Achill, dann lenkte Automedon das Gefährt in die be ginnende Schlacht, zu der die Achaier so dichtgeballt und stürmend eilten wie Schneeflocken im scharfen, schneidenden Nordost. Achill sucht Hektor ie ein fressender Brand durchs ausgedörrte Gehölz braust, so jagte das griechische Heer übers Schlachtfeld, und vor ihm her flog, leib haftiges Feuer, Achill. Die Troer, eine Woge aus schimmerndem Erz, zogen ihnen entgegen, und durch die Lüfte rauschte unsichtbar, doch schrecklicher als aller blinkender Stahl der Lanzenblätter und Klingen die Schar der Himmlischen, denen Zeus nun erlaubt hatte, sich nach ihrem Belieben in den Kampf ein zumischen. Ares und Apollon eilten sofort ins Lager der Troer und Hera wie Pallas Athene zu den Griechen; eine Gruppe anderer Götter aber, die später am Kampf teilzunehmen begehrten: He phaistos, Aphrodite, Poseidon, Hermes und Artemis, die Göttin der Jagd, ließen sich, vorerst noch abwartend, in Gestalt von schwarzen Krähen und Raben auf den Tannen am Fuße des Ida nieder. In Achill brannte nur die Begierde, Hektor zu finden. Wie ein Bergmann einen Schacht ins Gestein treibt, so grub er sich eine Bahn durch das Erz des feindlichen Heeres: Er durchstieß dem Iphition den Kopf und ebenso dem Antenorsohn Demoleon, stach im Vorbeirasen dem Hippodamas den Speer durch den Rücken und tötete dann den Polydoros, den jüngsten der fünfzig Priamos söhne, der zum erstenmal in der Schlacht stand, durch einen Speer stoß ins Gedärm. Heulend brach der Jüngling in die Knie, und diesen Todesschrei hörte sein Bruder Hektor. Er verließ den lin ken Flügel, wo er bisher gekämpft hatte, und stürmte gegen den Peliden an. »Näher heran, du elender Mörder!« schrie Achill ihm entgegen, »näher heran, daß du eilends das Totenreich schaust!« 128
Hektor schleuderte die Lanze, doch Athene, die schützend hinter Achilles stand, hauchte das Geschoß an, so daß es einen Augenblick flatternd in der Luft stand und zurück vor Hektors Füße trieb. Nun holte Achill zum Stoß aus, und nun behütete Apollon seinen Schütz ling: Er trug ihn zum linken Flügel zurück und zauberte vor Achil les ein Trugbild aus Nebel, das der Myrmidone dreimal mit dem Speer durchstieß, ehe er die Täuschung wahrnahm. »So bist du Hund mir wieder entronnen!« brüllte der Genarrte, »Apollon hat dich noch einmal gerettet, erbärmlicher Feigling, und dennoch wirst du meinem rächenden Schwert nicht entgehen!« Mit diesen Worten stürzte sich der Held wieder in den Kampf, und er zerhieb erst den Dryops, dann den Laogonos, dann den Dardanos, dann den Mu lios, den Echeklos und den Rhigmos; der junge Tros fiel ihm vor die Füße und flehte, sich ergebend, um sein Leben, doch Achill zerschnitt ihm mit dem Schwert die Leber und tötete dann den Deukalion und dann den Areithoos, und so wie breitstirnige Stiere im Joch über das Feld stampfen, weiße Gerste zu dreschen, so all zermalmend drang Achilles ins Heer der Trojaner, und seine Rosse trabten über zerspelltes Erz und die Körper der Toten, und Achill durchmaß, immer auf der Suche nach Hektor, wie eine Seuche die Reihe des Feindes, bis er an das Ufer des Flusses Skamandros stieß. Achilles kämpft mit dem Flußgott in Teil der Trojaner war stadtwärts geflohen, um Achills Wüten zu entgehen; ein anderer hatte sich ans Ufer des mächtigen Flusses Skamandros geflüchtet und dort unter der überhängenden Böschung wie Fische unter vorspringenden Steinen Schutz gesucht. Als Achilles das Gewimmel am Flußufer sah, lehnte er die Lanze an einen Tamariskenstrauch, zog sein Schwert und begann nun, das Ufer abwandernd, ein gräßliches Schlachten; er 129
hieb auf alles ein, was sich bewegte; Geschrei und Geröchel über hallte das Tosen der Fluten, und das Wasser wurde rotes Blut. Der Held hieb und stach so lange mit dem Schwert, bis sein Arm er schlaffte, und als er das Schwert nicht mehr heben konnte, fing er mit bloßen Händen zwölf Jünglinge, fesselte sie mit ihren eige nen Schwertriemen und gebot seinen Myrmidonen, die Gefange nen ins Lager zu bringen und wohl zu verwahren, sie seien zur Opferung am Scheiterhaufen des lieben Freundes Patroklos be stimmt. Da Achilles mit den Gefangenen beschäftigt war, versuchten einige der Troer, die das Gemetzel überlebt hatten, schwimmend das andere Ufer zu erreichen, doch die schwere Rüstung zog sie alle auf den Grund; andere wieder begannen den Uferhang zu erklimmen, um ihr Heil in der Flucht nach Ilion zu suchen, doch als Achilles dies bemerkte, nahm er seine Lanze auf und rannte den Empor kletternden entgegen. Der erste, der das Hochufer erreicht hatte, war Lykaon, ein Sohn des Priamos, den Achill schon vor Jahren gefangengenommen und als Sklaven nach Lemnos verkauft hatte, von wo zu entkommen es dem Königssohn vor wenigen Tagen ge lungen war. Ohne Helm, Schild und Lanze, schweißüberströmt und völlig erschöpft, hatte der Prinz das feste Land erreicht, und nun sah er sich plötzlich dem Fürchterlichen gegenüber, der ihn an starrte, als sähe er einen Spuk. »Was für ein Wunder erblick ich da«, sprach der Pelide, »nun werden ja wohl auch alle die Troer, die ich niedergemetzelt habe, aus dem Hades zurückkehren, wenn der nach Lemnos Verkaufte plötzlich den Fluten des Skamandros entsteigt! Gut also: Wollen wir sehen, ob er auch aus dem Toten reich heil wieder hierherfindet!« So redete Achill und hob den Speer und schleuderte ihn nach dem Waffenlosen; Lykaos jedoch unterlief das Geschoß, warf sich vor seinem Gegner nieder und umschlang schutzbittend dessen Knie. »Erbarme dich meiner und schone mich, edler Achilles«, so flehte der Kniende, »bin ich doch als Gefangener einst dein Schützling gewesen und habe ich doch viele Nächte unter dem Dach deines Hauses verbracht! Für hun 130
dert Stiere hast du mich damals verkauft; das Dreifache will ich dir geben, wenn du mir nur das Leben läßt. Erst zwölf Tage weile ich wieder in Ilion, und schon wieder bin ich in deine Hände ge fallen; ach, nur für allzu kurze Zeit hat meine Mutter mich Ärm sten geboren!« So flehte der Jüngling, und seine Rede bewegte Achill; der Pelide mußte an die Worte seiner eigenen Mutter, die auch des Sohnes allzu kurzes Leben bejammert hatte, denken, und er hätte dem Jüngling jetzt wohl auch ohne Lösung das Leben geschenkt, wäre dem Troerprinz nicht die Torheit angekommen, gerade in diesem Augenblick den verhaßtesten Namen auszusprechen. »Schenke mir das Leben, herrlicher Held«, so hatte er fortgesetzt; »schenke mir das Leben, denn wisse: Ich bin gar kein leiblicher Bruder Hektors, der dir den Freund erschlagen hat, ich entstamme einer anderen Mutter Schoß!« So unbedacht hatte der Flehende geredet, und als Achill jenen Namen hörte, schoß ihm wieder die schwarze Galle ins Blut und schwemmte all sein Mitleid fort. »Schwatze mir nicht von Aus lösung, Narr«, so herrschte er den Wehrlosen an, »bevor Patroklos ermordet worden ist, hat man durch solche Bitten mein Herz noch rühren können, und ich habe jeden, der sich ergeben hat, auch ge schont; nun aber muß jeder Troer, der in meine Hand gerät, und gar erst ein Priamossohn, in den Hades hinunter! Also stirb denn auch du, Lieber, da Patroklos gestorben, der doch weit herrlicher und kraftvoller als du gewesen ist!« Mit diesen Worten stieß Achilles dem Jüngling das Schwert durch die Kehle, dann packte er den Erlegten am Fuß und warf ihn in die wandernden Fluten. »Fahre du hin als Nahrung der Fische!« rief er höhnend, »mag dich Skamandros in den Hellespont tragen! Denn nichts, so zeigt sich, nützen euch Troern all die stattlichen Stiere und Rosse, die ihr dem Flußgott so viele Jahre geopfert habt! Er wird mich nicht abhalten, euch allesamt auszurotten!« So höhnte Achilles, und dem Flußgott Skamandros – denn alle Flüsse und Bäche und Quellen und Grotten und Teiche waren ja 131
damals von Göttern bewohnt – schwoll zornig das Herz. Du sollst nicht länger mehr meine Wässer mit Blut und Verwesung füllen, dachte der Gott, da war Achill schon gegen einen zweiten Troer, der sich an der Böschung hinaufgearbeitet hatte, den Asteropaios, angerannt; der aber floh nicht wie sein Gefährte, sondern stellte sich, in jeder Hand einen Speer – er wußte die Waffe gleicher maßen mit der Linken wie mit der Rechten zu führen –, dem Myr midonen zum Kampf. »Wer bist du, Unglücklicher, der du mir zu widerstehen wagst?« fragte Achill verwundert, und Asteropaios schleuderte mit seinem Namen zugleich beide Lanzen auf den Gegner, doch beide prallten von Hephaistos' Schild ab, und das eichengeschäftete Geschoß, das Achill nun sandte, verfehlte den Gegner und drang bis zur halben Länge ins Erdreich ein. Der tapfere Troer versuchte verzweifelt, die gewaltige Lanze aus dem Boden zu ziehen, doch er vermochte die riesige Waffe keinen Fingerbreit zu bewegen, und der Pelide hieb ihn über dieser Arbeit mit dem Schwert zusammen, beraubte den Gefallenen seiner Rüstung, warf den Körper wieder in den Fluß und setzte sein Gemetzel unter den Überlebenden, die ver suchten sich ins Erdreich der Böschung einzuwühlen, fort. Er schlachtete den Thersilochos und den Mydon und den Astypylos, den Thrasios, Mnesos, Ainios und Ophelestes und zählte die Zahl der Gefällten nicht mehr und löschte nur noch Leben und Leben und Leben, bis der Flußgott in Menschengestalt aus der strudelnden Tiefe tauchte und dem Helden mit dröhnender Stimme zurief: »Du mörderischer Mensch, wenn dir schon Zeus die Macht ver liehen, alle Trojaner auszurotten, so achte doch wenigstens die Flu ten! Kämpfe auf dem freien Feld, wie es der Brauch ist, und wende dich von meinen Gestaden ab! Das Flußbett ist verstopft mit Toten, kaum vermag ich meine Gewässer ins Meer zu ergießen, laß ab von mir, ich gebiete es!« »Der Unsterblichen einer bist du, Skamandros«, entgegnete Achil les, »also will ich dich auch nach Gebühr ehren, zuerst aber muß dies Ungeziefer da samt und sonders ausgemerzt sein!« Mit diesen 132
Worten sprang der Held den Uferhang hinunter, denn sein Schwert vermochte die Troer, die sich in die Böschung eingegraben hatten, nicht mehr zu erreichen; als aber Achill den Strom berührte, schwoll dieser wütend an und warf alle seine Wasser nach dem Myrmi donen und umwogte sein Haupt mit wirbelnder Flut. Der Pelide stand inmitten des rostbraunen Strudels; der Grund unter seinen Füßen schwamm weg; Achill taumelte; Leichen umspülten sein Haupt; er spürte keinen Boden mehr und griff in letzter Not nach dem niederhängenden Ast einer Ulme, doch eine Woge unterspülte die Wurzel des Baumes und ließ ihn in den Strudel krachen, und wieder packte der gischtende Sog den Helden und drehte ihn wie ein Laubblatt im Kreise, da gelang es dem Todnahen, sich auf den schrägen Ulmenstamm zu schwingen und mit einem mächtigen Satz das Festland zu erreichen. Erschöpft nach Atem ringend, wähnte Achilles sich endlich gerettet, jedoch der Fluß trat über die Ufer, und wieder umrauschte die rote Brandung die Knie des Peliden, und nun floh Achill, und ihm nach, so wie die geschwollenen Bäche im Frühjahr und Herbst ihr reißendes Wasser von den Bergen stürzen, schwoll tosend der erzürnte Strom. Achilles rannte um sein Leben, und der Fluß gurgelte um seine Hüften und spülte die Erde weg, und Achill spürte die Steine am Grunde eilen; es zog ihn hinab, und er rannte auf Rennendem, und er lief und vermochte kein Land mehr zu gewinnen, und er streckte die Arme aus den brüllenden Wogen und schrie zu Zeus, ihm den Tod in der Schlacht zu gewähren und ihn nicht wie einen Hirtenknaben im Bach zu ersäufen. Skamandros aber rief dem Nachbarstrom zu: »Wohl an, Bruder Simoeis, laß uns diesen Spötter jetzt bändigen; über schütte du ihn mit Geröll und Steinen, ich aber will ihm einen Sumpf wühlen, daß niemand seine Gebeine mehr zu finden ver mag!« So schrie der schreckliche Strom und wirbelte Schaum und Leichen um Achills Brust, und der Gischt drohte schon den Mund des Helden zu füllen, und Simoeis polterte schon steinebeladen dem Ska mandros zu; Hephaistos aber, der schwarze Rabe auf einer Tanne 133
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nahe Ilion, hatte den Schrei gehört, und er eilte dem Helden zu Hilfe in höchster Not. Er riß die Erde auf und ließ eine Lavaglut über die Ebene sich ergießen, die alles verbrannte, was ihr im Weg stand: das Gras und die Sträucher und Bäume und die Körper der Toten und selbst die Steine und den Staub, und die Lava wälzte sich zischend Skamandros entgegen und umschloß ihn ganz, so daß die Flut des Stromes zu sieden begann. Voll Angst warfen sich die Aale und Fische und Krebse aufs trockene Land, wo sie sofort zu Asche zerstäubten; Feuer und Wasser rangen widereinander; das Feuer durchglühte die Flut, und die Flut fraß das Feuer; Dampf wallte tosend bis in die Höhen des Himmels, endlich aber erlag der Flußgott und bat um Gnade für sich und alle Wesen, die seine Tiefen behausten. Hephaistos zog die Lava ins Innre der Erde, und der Fluß bettete sich – Simoeis war schon geflohen – wieder zwi schen seine Ufer; die Götter um Ilion aber, die diesen Kampf mit angesehen, entbrannten nun in geiler Streitlust, und sie, die schwarzen Krähen und Raben, strichen von den Tannen ab und schwangen sich kreischend auf das Brachfeld, um auch einmal, im sichren Bewußtsein, unsterblich zu sein und also nichts verlieren zu können, ein Gefecht widereinander zu führen, und auch Hera und Athene und Apollon und Ares verließen die Reihen der Griechen und Troer und stürzten sich in die Götterschlacht. Die Schlacht der Götter a nun die Himmlischen widereinanderrann ten, erbebte die Erde in ihren Festen, und Hades, der Herrscher der Unterwelt, fuhr erschrocken von seinem goldenen Thron auf und fürchtete, die Decke seines Palastes stürze ein. Als erster trat Ares gegen Pallas Athene an und schrie: »Schamlose Fliege, was mischst du dich in Männersachen! Du hast Diomedes angestachelt, 136
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seine Lanze nach mir zu stoßen und mir unendliche Schmerzen zu bereiten, nun magst du es büßen, du Hundeäugige!« So schrie Ares und schleuderte seinen Speer nach dem Aigisschild Athenes; die Göttin aber, dem Geschoß ausweichend, ergriff einen Feldstein und traf damit die Halsschlagader des Wütigen. Ares stürzte hin und bedeckte im Liegen siebenhundert Fuß Land, und das Erz seiner Rüstung klirrte, als zerbreche der Ida. Athene aber lächelte und sprach: »Törichter, liege nun da und bedenke meine Stärke; ich will dich lehren, verwünschter Bruder, Partei für die Frevler von Troja zu nehmen!« Die holde Aphrodite, die dem furchtbaren Kriegsgott zugetan war, eilte zu dem Gestürzten, ihn in den Olymp zu tragen; Athene aber schlug der Liebesgöttin mit der flachen Hand vor die Brust, so daß die Schöne über Ares fiel. »Sieh, da liegen die beiden in ihrer Schande!« sprach Hera frohlockend, »hoffentlich sieht der ganze Olymp, wie es denen ergeht, die Troja beschützen!« Die hohe Herrin blickte dabei herausfordernd auf Apollon, dieser aber wandte sich an Poseidon und sprach: »Beherrscher des Meeres und Bruder des Götterkönigs, es ziemt sich mir nicht, mit dir um Irdischer willen zu streiten, wollen wir uns beide des Kampfes ent halten und die Sterblichen ihr Geschick erdulden lassen!« Poseidon war des zufrieden, allein Artemis, die schnellfüßige Göttin der Jagd, schmähte den blauhaarigen Bruder und schalt ihn einen er bärmlichen Feigling; Hera aber, die ehrwürdige Königin aller Oberen und Lagergenossin des strahlenden Zeus, Hera trat vor Artemis und schrie: »Wie, schamlose Hündin, du wagst es, dich mir zu widersetzen? Du tätest besser daran, durch die Wälder zu strei fen und dem Wild nachzustellen; hier, nimm das für deinen Trotz!« Mit diesen Worten ergriff die Unsterbliche mit der Linken beide Handknöchel der Jägerin, mit der Rechten aber riß sie ihr den Köcher vom Rücken und schlug ihn der Göttin um die Ohren, daß die Pfeile zersplitterten und die Gezüchtigte heulend zum Himmel entfloh. So war denn die weit- und hochberühmte Schlacht der 138
Oberen geendet, und sie war der Unsterblichen würdig gewesen, und nun fuhren die hohen Götter wieder zum Olymp und stärkten sich nach dieser gewaltigen Arbeit mit Nektar und Ambrosia. Apollon aber brach das Wort, das er Poseidon gegeben hatte, und stahl sich still nach Troja zurück. Ilion schließt seine Tore er greise Priamos, nicht mehr fähig, ein Schwert zu schwingen oder einen Bogen zu spannen, hatte während der Schlacht auf dem Turm gestanden und tränenden Auges auf das Gemetzel unter den Seinen herniedergeblickt, und als er nun den grausamen Achilles vom Skamandros her vor die Burg ziehen sah, stieg er, so schnell es ihm seine Füße erlaubten, herab und befahl die Tore zu öffnen, daß alle Trojaner sich in die Burg zurückziehen konnten, und gleichzeitig beflügelte Apollon den Helden Agenor, Antenors Sohn, die nachdrängenden Achaier abzu wehren. Agenor hatte eigentlich im Sinn gehabt, bis hin zu den Wäldern des Ida zu fliehen, in ihrem Dickicht unterzutauchen und seinen ermatteten Leib in einem Bergbach zu erfrischen, doch nun, von Apollon entflammt, schritt er, ein unerschrockener Panther, Achilles entgegen und stellte sich dem Peliden zum Kampf. »Sicher hast du gehofft, Törichter«, so rief Agenor, »heute Ilion zu stür men, nun aber soll dich dein Geschick ereilen, du bist ja auch nur ein Sterblicher!« So sprach er und schleuderte seinen Speer nach Achilles und traf ihn am Schienbein; die Waffe durchschlug den zinnernen Schutz, prallte aber an der feuergehärteten Haut wie an einem Felsblock ab. Achill riß sein Schwert heraus und drang auf Agenor ein, doch Apollon hüllte, wie so oft, nun auch diesmal seinen Schützling in einen Nebel, nahm selbst Agenors Gestalt an und lockte, eine 139
Flucht vortäuschend, den Peliden von der Burg bis an das Ufer des Skamandros zurück. Indes flüchteten alle Troer in den Bezirk der schützenden Mauer und bestiegen, nachdem sie in hastigen Zügen den quälenden Durst gelöscht und die glühenden Gesichter ein wenig gekühlt hatten, die Brustwehr. Hektor aber blieb allein vor der Burg. Seine Schicksalsstunde war gekommen, jedoch das wußte er nicht. Er blieb trotz des flehenden Bittens der Eltern vor den Toren, weil er seinen verderblichen Rat durch einen Kampf mit Achilles wettmachen wollte. »Hätte ich auf Polydamos gehört und das Heer kampflos in die Stadt geführt«, so sprach er, »wären viele der Toten des heutigen Tages nicht gefallen. Ich habe darauf be standen, im Feld zu bleiben, also muß ich es auch jetzt tun. Ich will den Kampf mit dem Peliden wagen; mag sich daran nun Ilions Schicksal entscheiden!« Achill tötet Hektor ndes war Achill, nachdem sich Apollon dem Getäuschten enthüllt hatte, wieder vor die Stadt gekommen; Feuerglanz flammte auf seinem Panzer, und unter seinen Schritten bebte das Land. Als Hektor ihn, der wie ein Stern heraufzog, er blickte, überkam den Troerprinzen ein Schauern; er dachte einen Augenblick daran, Schwert und Speer an die Mauer zu lehnen, Achill entgegenzugehen und ihm Helena und die Hälfte aller Güter Ilions als Preis für einen Friedensschluß anzubieten, doch kaum hatte er dies gedacht, wußte er, daß Achill ihn als Antwort höhnend zerhauen werde, und er faßte den Speer fest und stellte sich zum Kampf. Priamos und sein Weib, die droben auf den Zin nen standen, wehklagten und rauften sich die Haare und zerrissen ihre Gewänder, da sie ihren liebsten Sohn dem Schrecklichen ent gegentreten sahen, doch Hektor achtete ihres Jammerns nicht und 140
ging Schritt für Schritt auf Achill zu, als er aber das Weiße im Auge des Feindes erblickte, kam ihn wieder Furcht an, und er wandte sich um und floh. Er lief, gleichmäßig schnell und im glei chen Takt die Füße setzend, immer der Mauer entlang; dreimal umkreiste er die Burg und lief die Mauer entlang, vorbei am Feigenbaumhügel und vorbei an den warmen Quellen, wo in Frie denszeiten die Mägde die Wäsche gewaschen, und den Wiesen, darauf sie die Linnen gebleicht, und er rannte am Isthmischen und am Skäischen Tor vorbei und an der Blutbuche und wieder am Feigenbaumhügel und wieder an den warmen Quellen, und er lief ein drittes Mal die Mauer entlang, und Achill folgte ihm, wie ein Bergfalke einer fliehenden Taube folgt. Die Oberen aber saßen indes auf ihren goldenen Stühlen und schauten gespannt dem Ausgang des Kampfes zu, und über ihnen, in unermeßbaren eisigen Höhen, schwebte Moira, das Geschick, das alles bestimmt, auch das Tun und Lassen der Himmlischen. »Nun, ihr Unsterblichen«, so redete Zeus, der Allvater, »an uns liegt es jetzt, die Entscheidung zu treffen: Soll Hektor in den Hades hinab gehen, oder sollen wir ihm noch eine Weile Leben gönnen? Was mich anbelangt, so muß ich eingestehen, daß Hektor ein prächtiger Bursche ist, der mir immer pünktlich und reichlich Opfer gebracht hat; wollen wir ihn nicht noch eine Spanne Atemluft schenken?« Er hatte dies kaum ausgesprochen, als Athene schon aufsprang und rief: »Vater, Schwarzwolkiger, Herr des strafenden Blitzes, was ficht dich an, solche schrecklichen Worte zu reden? Dem Tod ist Hektor geweiht, und der Tod soll ihn diese Stunde noch ereilen! Wenn du anders zu handeln gedenkst, so tu es, aber glaube ja nicht, daß die Götter deinen Ratschluß billigen werden!« Da erhob sich Zeus und ergriff stumm eine goldene Waage und legte zwei Todeslose hinein, ein Los für Hektor und eines für Achilles, und siehe, Moira drückte die Schale Hektors nach unten, dem Hades zu. Augenblicklich schoß Athene zur Erde und nahm die Gestalt des Deiphobos, eines Bruders Hektors an, und als der Troerprinz das drittemal am Isthmischen Tor vorbeilief, trat 141
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Athene zu ihm, als wäre sie gerade aus der Stadt geschritten, packte Hektor an der Schulter und hemmte seinen Lauf. »Deiphobos!« rief Hektor erstaunt und erfreut, »du bist mir doch immer der liebste Bruder gewesen, der einzige bist du nun auch, der es gewagt hat, vor die Mauer zu kommen und mir beizustehen!« So redete Hektor, und Athene in des Deiphobos Gestalt drängte den schwer Atmen den, sich Achill zu stellen, indes sein Bruder ihn mit dem Schild decken und ihm nach dem Wurf neue Lanzen reichen werde. »Zum Kampf denn, Achill!« rief Hektor, »jetzt wird sich entscheiden, wer auf dem Felde bleibt, aber ehe wir zu kämpfen beginnen, laß uns feierlich bei den Göttern schwören, daß der Sieger den Leichnam des Gefallenen zur würdigen Bestattung freigibt. Ich werde es so halten, wenn ich dich besiege, versprich auch du mir, ein Gleiches zu tun!« Achill aber schüttelte, finster blickend, sein Haupt und sagte: »Nichts von Verträgen geschwätzt, Hektor; sowenig es einen Ver trag zwischen Löwen und Menschen oder zwischen Wölfen und Lämmern geben kann, sowenig gibt es einen Vertrag zwischen mir und dir! Du hast mir den Patroklos, den liebsten aller Freunde, ermordet, wie könnte ich dich da schonen wollen! Den Hunden und Geiern bist und bleibst du, der du selber ein Hund bist, zum Fraße bestimmt!« So sprach er und sandte seine Lanze; der Troerprinz wich ihr be hende aus und schleuderte seinen Speer nach Achill, der das Ge schoß mit dem Schild abfing. Hektor streckte die Hand aus, eine zweite Lanze von Deiphobos zu empfangen, aber die Hand blieb leer, und Hektor wandte sich um und sah bestürzt, daß er allein war. »So hat Athene mich getäuscht«, rief er aus, »nun ist mein Tod nahe, doch ich will mich dem Schicksal nicht feige ergeben!« Er zückte sein Schwert und stürmte gegen Achill; der aber spähte eiskalt und scharf nach einer Blöße Hektors und fand zwischen Halsansatz und Schlüsselbein eine Stelle, die ungeschützt war. Hek tor hob das Schwert; Achill deckte mit weit ausgestrecktem Schild arm sein Haupt und stieß gleichzeitig die Lanze so heftig in den 144
ungeschirmten Hals des Feindes, daß die Spitze aus dem Genick hervortrat. Hektor stürzte vornüber in den Staub; Achilles stieß einen Triumphschrei aus und beugte sich über den Gespeerten, ihm die Rüstung abzuziehen, und als Hektor mit verlöschender Stimme noch einmal um Schonung seines Leibes bat, fragte Achilles, wäh rend er den Helmriemen des Prinzen löste, ob dieser ihn noch hören könne, und auf Hektors Nicken sprach der Myrmidone: »So erfahre denn als letzte Kunde auf dieser Erde, Mörder, daß du zum Tierfraß bestimmt bist; mit dieser Botschaft im Ohr magst du nun hinab in die Hadesnacht fahren!« So redete Achill und riß Hektor, dessen Augen brachen, die Lanze aus dem Hals, dann schälte er den Entseelten aus der Rüstung und zog ihm auch den Leibrock ab, und während die Achaier herbeieilten, den hohen Wuchs und die kraftvolle Gestalt ihres ärgsten Gegners zu bewundern, durch bohrte Achilles die Füße seines Feindes hinter den Sehnen zwi schen Knöchel und Ferse, durchzog sie mit dem roten Gürtel, den der Große Ajax dem Troerprinzen nach ritterlichem Zweikampf einst geschenkt hatte, schnürte den Gürtel an seinen Kampfwagen, schwang sich auf den Führersitz und hieb auf die beiden unsterb lichen Rosse ein. Das Gespann jagte über das Schlachtfeld und schleifte Hektors Leib über Steine und Dorngehölz, und Priamos und sein Weib Hekabe, sie sahen's und standen auf den Zinnen und rauften sich die Haare und jammerten zu den Göttern hoch droben im Himmel, und mit dem greisen Paar wehklagten die Troer und beweinten mit Hektors Tod Ilions kommenden Fall. Dieser Lärm schreckte Andromeda auf, die gerade ein Bad für ihren Gatten, den sie jeden Augenblick zurückkommen wähnte, gerüstet hatte; von zwei Mägden begleitet, stürzte sie auf die Zin nen, und als sie den armen Leib ihres lieben Gemahls im Staub schleifen sah, brach sie ins Knie und schlug die Hände übers Gesicht und schluchzte in ohnmächtigem Leid. Achill aber trieb die Pferde zu jagenderem Lauf, und oben die Unsterblichen tranken aus gol denen Bechern, und Hera blickte mit Athene frohgemut zur Erde hinunter und kostete ihre Rache aus. 145
Achill bestattet den Patroklos ls die Myrmidonen zu den Schiffen zurück gekehrt waren, hieß Achilles sie gerüstet bei sammen bleiben. »Laßt uns, Kameraden, zu nächst unseren lieben Toten ehren«, so sprach er, »wir wollen seine Bahre dreimal im feierlichen Zug umkreisen und uns dann gemeinsam zum Trauermahl setzen!« So sprach Achill und raufte sich das Haar und sprach vor des Patroklos Bahre Worte bittrer Wehklage, in die alle Myrmidonen einstimmten, dann schwangen sich die Krieger auf ihre Kampfwagen und zogen, sich ihrer Tränen nicht schämend, langsam drei Runden um den aufgebahrten Leichnam, und Achill schleifte dreimal Hektors Kör per um das Lager des toten Freundes. Hierauf setzten sich die Myrmidonen zum Mahl und sprachen, da sie speisten, von nichts anderem als von den Heldentaten des Gefallenen. Nach dem Mahle bettete sich Achill an den Strand, und als er ent schlummert war – und dies geschah rasch –, erschien ihm die Seele des Freundes als Traumbild. Herrlich von Gestalt wie einstmals auf Erden, so nahte sich der gefallene Krieger dem Peliden und redete ihn also an: »Liebster«, so sprach er, »im Leben hast du mir keinen Wunsch unerfüllt gelassen; des Toten aber scheinst du schnöde vergessen zu haben! Schaufle mir doch endlich, ich flehe dich an, ein Grab, oder bedecke meinen Leichnam wenigstens mit einer Handvoll Erde, daß ich in das Totenreich einziehen darf und nicht wie ein Bettler vor dem Tor des Hades herumlungern muß !« So sprach die arme Seele, dann seufzte sie tief und sagte: »Achill, Achill, du Lieber, bald werden wir gemeinsam im Schattenreich hausen, denn nah ist die Stunde, da du vor den Mauern Ilions fallen wirst! Drum lege mein Gebein nicht ferne von dem Ort 146
nieder, den du dir zum Grabe gewählt hast, und heiße die Ka meraden unsere beiden Gräber mit einem einzigen Hügel über wölben!« Seufzend streckte Patroklos die Hand nach dem Freund aus, und Achill wollte sie fassen und den Lieben ans Herz ziehen, doch die Erde tat sich auf, und wie ein quirlender Rauch fuhr das Traum bild in die Kluft, die sich rasch hinter ihm wieder schloß. Da er wachte Achill und sprang auf und schlug die Hände vor sein Ge sicht und durchwachte den Rest der Nacht an der Bahre des Toten, auf dessen Brust er eine Handvoll Staub gehäuft hatte. Kaum war, ein flirrender Hauch von Rot, der Morgen genaht, be fahl Agamemnon, mit allen Wagen, Schultern und Maultierrücken Holz aus den Wäldern des Ida zusammenzubringen, um einen Scheiterhaufen von solchem Ausmaß zu errichten, wie ihn bislang noch keines Menschen Auge gesehen. Bald hallten die Lüfte vom Schlagen der Äxte und Krachen der stürzenden Bäume wider; die Könige fuhren die mächtigen Stämme auf ihren Kampfwagen die wurzelübersponnenen schmalen Waldpfade hinunter, und das Fuß volk schleppte, ächzend durch Dickicht und Wildnis stapfend, die massigen Kloben hinab ans Meer, wo Achill die Grabstätte für Patroklos schon bezeichnet hatte. In weitem Geviert, hundert Fuß jede Seite, wurden die Stämme nun übereinandergeschichtet, und als der Scheiterhaufen Mannshöhe erreicht hatte, wappneten sich die Myrmidonen und bestiegen ihre Wagen, und das Fußvolk folgte ihnen in dichten Reihen. So zogen sie zur Bahre des Patro klos, schoren sich dort das Haupthaar und legten es als Traueropfer auf den Leichnam nieder, und auch Achill schor seinen Schädel und spendete die üppigen blonden Locken dem gefällten Freunde. Dann geleiteten die Krieger den Leichnam zum Totengerüst, und Achill bettete jammernd den entseelten Leib in die Mitte des Schei terhaufens über einen Rost aus Eichenholz. Die anderen Griechen entfernten sich nun auf das Gebot Agamem nons, und die Myrmidonen vollendeten ihr leidvolles Werk. Sie schlachteten Dutzende Schafe und Stiere, enthäuteten sie und 147
schichteten das Fleisch auf die untersten Stämme; mit dem ab gezogenen Fett aber deckten sie den Leichnam des Helden zu. Zwischen die Kloben wurden Krüge mit Öl und Honig gestellt; zu dem geschichteten Fleisch legte Achilles noch zwei der neun Hunde seines Freundes; auf den mittleren Holzkranz wuchtete er vier hochbeinige Rosse, und schließlich ergriff der Pelide das Schwert, köpfte die zwölf gefangenen troischen Jünglinge und reihte ihre Körper um die Außenseite des Gerüsts. Als der Scheiterhaufen also bereitet war, ergriff Achill eine brennende Fackel und redete, von ihrem Schein überstrahlt, ein letztes Mal den toten Freund an. »Juble«, so rief er, »juble, Lieber, auch jetzt noch im finsteren Hades, denn siehe, ich halte mein Wort und sende dir zwölf edle troische Jünglinge als Begleitung ins Schattenreich! Deinen Mörder Hektor aber werde ich nicht verbrennen, der möge den Hunden zum Fraße dienen!« So rief Achilles und scheuchte mit der Fackel eine geifernde Meute gezähmter Wölfe zu Hektors Leichnam, doch die Hunde wichen knurrend und mit gesträubtem Fell zurück und wagten nicht, sich dem Toten zu nahen, denn Aphrodite hatte den entseelten Leib des Troerprinzen mit Ambrosia gesalbt, um ihn vor der Verwesung zu schützen, und der Duft aus der Sphäre einer Himmlischen machte die Tiere erschauern. Achill jedoch achtete jetzt nicht dar auf; er rief die Winde Boreas und Zephyr zu Hilfe, die Glut an zufachen, dann schleuderte er die Fackel in die Mitte des Scheiter haufens. Heulend kamen die Winde herangeflogen; das Meer bro delte Gischt unter ihren eilenden Schwingen, und ihr Atem ent fachte die Glut im Nu zum fressenden Feuer. Eine turmhohe Lohe stieg himmelan; die Nacht blieb hell wie ein Tag, und Achill durch wachte auch diese Stunden und stand am prasselnden Scheiter haufen und goß Becher um Becher Weins dem Toten zu Ehren in die sausenden Flammen, die sich allmählich selbst verzehrten. Am Morgen dann brach das Gerüst in Asche zusammen; die beiden Windgötter eilten übers Meer in die Heimat zurück, und Achill bat die Könige, die sich indes versammelt hatten, die Glut mit Wein zu 148
löschen und dann die Gebeine des verbrannten Freundes zu sam meln, sie von Asche und Staub zu reinigen, in eine Doppelschicht Fett zu hüllen und in einer goldenen Urne zur Ruhe zu betten, und als dies geschehen war, lud, wie es bei Totenfeiern Brauch war, der Pelide die Könige und Fürsten zu Kampfspielen ein. Im Wagenrennen, Faust- und Schwertkampf, Ringen, Wettlaufen, Diskuswurf, Bogenschießen und Speerwurf sollten die Helden ihre Kräfte messen, und Achilles setzte kostbare Preise für alle Beteilig ten, auch für die Unterliegenden aus. Das Volk aber ging zu den Schiffen hinunter und setzte sich dort zum Mahl aus Käse, Brot und gewässertem Wein, und viele dachten an die Heimat und sehnten sich nach dem Ende des blutigen Krieges. Thersites erzählt von Prometheus m Thersites, der, wie schon berichtet wurde, immer zum Friedensschluß und zur Rückkehr in die Heimat geraten, versammelte sich, während die Könige im Stadion ihre Kräfte maßen, eine Schar von Griechen der verschiedensten Stämme. »Oft hast du treffliche Worte gesprochen, guter Thersites«, so redete einer der Achaier, »und immer verständigen Rat gegeben, drum hilf mir auch jetzt. Die Götter, so sagt man, seien bedacht, das Menschengeschlecht zu beschützen und ihm Gutes zu tun; warum fügen sie dann den Lauf der Dinge so oft nicht zum beglückenden Frieden, sondern zum männermordenden Krieg?« »Die Götter sind grausam und böse und den Menschen feind«, erwiderte Thersites, »erinnert euch an die Sage von Prometheus!« – »Erzähle!« baten die Krieger, und Thersites begann. »Zur Zeit, als die Erde noch nicht von Menschen bevölkert war und die Familie der Titanen, die heute im finsteren Tartaros schmach tet, den Olymp regierte«, so berichtete Thersites, »geschah es, daß 149
Zeus sich mit seinen Brüdern und Schwestern gegen den eigenen Vater Kronos, der damals König der Götter war, erhob, ihn nach zehn Jahren Kampf vom Throne stürzte und selbst die Herrschaft über den Himmel, die Erde und die Unsterblichen an sich riß. In diesem Kampf stand der weise und, wie sein Name schon sagt, weit in die Zukunft blickende Prometheus, obwohl er von Geburt selbst ein Titan war, dem Zeus zur Seite, denn er hatte dessen Sieg vorausgesehen. Nachdem Zeus mit des Prometheus Hilfe Kronos entmachtet und die Titanen in den Tartaros verbannt hatte, setzte er sich auf den goldenen Thron an der Spitze der Göttertafel und behielt sich auch die Herrschaft über den Himmel vor. Das Meer reich überwies er seinem Bruder Poseidon und die Unterwelt sei nem Bruder Hades; seine Schwester Hera nahm er zur Frau, und jedem seiner Söhne, Töchter oder Schwestern übergab er ein be sonderes Wirkungsfeld: dem Apollon den Leiergesang und das Bogenschießen, der Athene die Weisheit, der Artemis die Jagd, der Hestia die Häuslichkeit, dem Hephaistos die Schmiedekunst, der Aphrodite die Liebe und dem grimmen Ares den würgenden Krieg. Von den niederen Göttern sprach er dem einen Fluß zu, jenem einen Berg oder eine Grotte oder einen bewaldeten Hügel; die noch niederern Unsterblichen wie die Horen, die Grazien oder die Musen setzte er in dienende Ämter, doch alle Gottheiten waren und sind gleichermaßen seinem selbstherrlichen Gebot und seiner tyrannischen und grausamen Willkür untertan. So war ein Regiment über Erde und Himmel errichtet, das dem edlen Prometheus mißfiel. Er schuf darum aus Lehm und Ton die Menschen und hauchte ihnen mit seinem göttlichen Atem eine unsterbliche Seele ein, um ein Geschlecht heranzuziehen, das, edler und verständiger als die bösen und launischen Götter, die Erde einst in Besitz nehmen sollte. Als Zeus jedoch vom hohen Olymp herab das Gewimmel der Aufrechtgehenden erblickte, lachte er hellauf und sprach: ›Hast du diese Wesen, die du Menschen nennst, schon einmal wider meinen Willen geschaffen, Prometheus, so sol len sie in ewiger Kälte und Finsternis hausen, unkundig jeglicher 150
Kunst und Arbeit, und vor allem ohne die Wohltat des leben spendenden Feuers, denn Würmer hast du hervorgebracht, du Vor witziger, und Würmer sollen sie auf ewige Zeiten auch bleiben!‹ So sprach Zeus, denn er fürchtete insgeheim diese neuerschaffenen Wesen, die aufrecht gingen und nicht auf vier Füßen nach Art der Hirsche und Füchse, die eine hohe Stirn trugen und in deren Augen ein Glanz schimmerte, den kein Tierauge kannte. Darum entschloß sich der König der Götter eines Tages, die Menschen, die ohne Feuer lebten und sich von Früchten und rohem Fleisch nährten, durch eine Wasserflut zu vernichten, und er hatte auch schon die Schleusen des Himmels geöffnet und die Meerflut über die Küsten gesandt, allein Prometheus bat so eindringlich für seine Geschöpfe und erinnerte Zeus so mahnend an die geleistete Hilfe im Kampf gegen Kronos, daß der Allvater dem Bittsteller nachgab und die Menschen verschonte. ›Mögen sie aufrecht gehen und doch nichts anderes als gehetzte und leidgeplagte Tiere sein!‹ so redete er. Prometheus aber beschloß, seine Geschöpfe zu bilden. Er lehrte sie heimlich die Kunst des Webens und des Körbeflechtens, auch lockte er sie aus ihren Erdlöchern und Höhlen, darin sie wie Ameisen hausten, hervor und unterwies sie, feste Hütten aus Lehm und Schilf zu bauen; er schenkte ihnen, den dumpf und tierhaft Bellen den, eine Sprache, fügte ein Alphabet aus Lauten zusammen und lehrte sie auch zählen und ihre Wege nachts nach den Sternen be stimmen; er zeigte ihnen die heilkräftigen Kräuter und Steine und Salze, doch trotz alledem blieb das Menschengeschlecht ohne Feuer noch roh und den Tieren nahe verwandt. So bat denn Prometheus – er war zwar ein Unsterblicher, doch wurde er nicht für würdig befunden, auf dem Olymp zu wohnen – eines Abends Athene, die gerade auf der Erde wandelte, ihm nachts ein Tor der Götterburg zu öffnen, und die Pallas, die den klugen und höflichen Prometheus gerne litt, erfüllte seinen Wunsch. Der Menschenfreundliche schlich sich in den Himmel ein, entzündete am flammenden Sonnenwagen eine Fackel, dämpfte ihr Feuer zur Glut und barg ein Bröcklein davon in der Markhöhle eines Riesenfenchels, so wie wir ja heute 151
noch das Feuer über das Land tragen, wenn die Herdflamme er loschen ist. Dann verließ er den Göttersitz und brachte seinen Ge schöpfen das unentbehrliche Feuer, und in abgelegenen Höhlen, den Blicken des Allgebieters entzogen, lehrte er seine Schützlinge die Kunst des Schmiedens und des Speisebereitens, und nun, im Besitz von Werkzeugen, Pflugscharen und schützenden Waffen, lernten unsere Urahnen schnell alle Künste, die wir heute so selbst verständlich üben, und wurden damit erst wahrhaft zum Men schen.« »Aber warum«, so unterbrach ihn ein Zuhörer, »warum hat Zeus denn dies geduldet und die Menschheit nicht vertilgt, wie er es geplant?« »Weil«, so erwiderte Thersites, »auch Zeus nicht allmächtig ist und gegen den Spruch der dreifaltigen Moira, der Schicksalsgottheit, die jeden Lebensfaden spinnt, mißt und schließlich abschneidet und die sich damals für die Fortdauer des Menschengeschlech tes entschieden hat, nichts ausrichten kann. Doch er hat sich da für an den Irdischen grausam genug gerächt, davon spreche ich gleich. Als nun eines Tages«, so fuhr Thersites fort, »der Götterkönig doch gewahrte, daß die Menschen das Feuer besaßen und be herrschten, da wußte er, daß kein anderer als Prometheus ihnen die Himmelsgabe überbracht haben konnte. Er raste vor Zorn und befahl seinen Henkersknechten, der Kraft und der Gewalt, zwei rohen, abgestumpften Gesellen, den Unglücklichen zu ergreifen und nach dem wilden, sturmumsausten Kaukasus zu tragen, wo Hephaistos, obwohl mit Prometheus verwandt, den Feuerbringer so fest an den Felsen schmieden mußte, daß es ihm unmöglich war, auch nur den Kopf zu rühren, und man meinen konnte, er sei nichts als ein Stück des Gesteins. Doch selbst hier noch, über den schwar zen schaurigen Schründen hängend, bekannte sich Prometheus vor den Wellen des Meeres und den Winden des Himmels zu seinen Geschöpfen. Da sandte Zeus einen bärtigen Geier, dem Ärmsten Tag um Tag die lebendige Leber, die nachts immer wieder nach 152
wuchs, aus der Bauchhöhle zu hacken, und jeden Morgen, da diese Pein aufs neue anhob, wandte der Götterkönig seinen Blick nach Osten, um sich an der Qual seines Widersachers zu erfreun.« »Also hängt der, dem wir alles verdanken, was uns zu Menschen gemacht hat, noch immer am Fels des Kaukasus und brüllt sein Leid in die düsteren Nebel?« fragte einer der Zuhörer; Thersites aber schüttelte den Kopf und sprach: »Es gab einen einzigen, der es wagen konnte, Zeus zu trotzen, und das war sein Lieblingssohn Herakles. Der schoß denn auch, als er im Skythenland zu Füßen des Kaukasus weilte, den mörderischen Geier aus den Lüften und befreite Prometheus, der sich seitdem verborgen hält. Doch hört nun den Fortgang der Geschichte!« Die Krieger rückten dichter um den Sagenkundigen, und Thersites fuhr fort. »Prometheus«, so erzählte er, »hatte einen Bruder, der Epimetheus, der Nachschauende, hieß, da er seine Handlungen nie im voraus überlegte, sondern sie erst nach getaner Tat übersann. Diesen seinen Bruder hatte Prometheus immer gewarnt, nichts, was auch immer es sei, aus Zeus' Hand als Geschenk entgegenzu nehmen, und Epimetheus hatte dies auch zugesagt. Nun bildete aber der Allwalter aus Ton ein Weib, dessen Herz die schlangen haarige Eris mit allen Ruchlosigkeiten und dessen Leib Aphrodite mit solchem Liebreiz und solcher Wohlgestalt begaben mußte, daß, wie dies ja auch sonst manchmal der Fall ist, die berückendste Er scheinung den verderbtesten Sinn umschloß. Dieses Weib, Pandora mit Namen, sandte Zeus zur Erde, daß es um Epimetheus werbe, und er gab ihr als Hochzeitsgeschenk ein goldenes Kästchen mit, in dem alle Übel der Welt eingesperrt waren: die Habgier, der Neid, die Sucht, über andre zu herrschen, die Bosheit, der Argwohn, der Dünkel, die Tücke, die Prahlsucht, die Zügellosigkeit, das rasende Verlangen nach Besitz und Gütern, die Faulheit, die Mordlust, die Grausamkeit, die Lüge, die Feigheit, die Unterwürfigkeit, das Gleißnertum, kurz alles, was dem Menschen hier auf Erden das Leben immer wieder zur bitteren Plage macht. Pandora stieg auf die Erde hinab und warb um Epimetheus, der sie beim ersten An 153
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blick schon mit allen heißen Sinnen begehrte, und Pandora gab sich ihm zur Ehfrau und überreichte dem Hochentzückten das goldene Kästchen und sagte auch noch, daß es ein Hochzeitsgeschenk des Götterkönigs sei, und der törichte Epimetheus nahm, betört, das Kästchen und öffnete es, und wie ein Schwarm von giftigen Stech mücken schwirrten die Plagen heraus und warfen sich mit ihren Stacheln über die Menschheit, die bis dahin glücklich und unent zweit in tätigem Frieden gelebt hatte. Im Nu entbrannte Zwie tracht und Habgier; jeder neidete dem anderen das Gut, das doch gemeinschaftlich war, und begehrte es für sich allein, und die Mächtigsten, die einmal die Besten gewesen waren und nun nichts anderes mehr wollten als mächtig bleiben und noch mächtiger wer den, schwangen sich zu Königen auf und machten sich ihre Mit menschen untertan und hetzten die Völker in blutige Kriege, und so lebt denn die Menschheit mit all ihren wunderbaren Künsten dahin wie ein reißendes Raubtier und könnte aus der Erde ein Traumreich schaffen und haust doch ärger als eine Hyäne oder ein Wolf!« Die Zuhörer schwiegen lange. »Und Prometheus hält sich verborgen?« fragte schließlich einer der Krieger. »Prometheus hält sich verborgen, bis seine Stunde gekommen ist«, erwiderte Thersites. »Welche Stunde?« fragte ein anderer. »Die Stunde, da Zeus' Zorn verraucht ist, und Prometheus sich dem Allwaltenden nahen kann, auf den Knien demütig um Gnade zu bitten«, sprach Thersites; in seinem Herzen aber dachte er: Der Feuerbringer wartet auf die Stunde, da er die Menschen zum Kampf gegen ihre Unterdrücker und Entzweier und schließlich gegen die Götter selbst führen wird! Aber das behielt er im Herzen und sprach es nicht aus; die frommen Griechen hätten solche Worte für einen ungeheuerlichen Frevel gehalten und den Lästerer zu Tode gesteinigt, denn daß die Götter furchtbar und grausam und menschenverachtend sind, das durfte ausgesprochen werden, denn 156
solches sagten ja auch die Priester und Seher, doch daß die Götter gestürzt werden können, wie Zeus selbst den Vater Kronos und dieser vorher den Vater Uranos gestürzt hat, das auszusprechen, ja auch nur zu denken, war jedem verwehrt. Priamos und Achill kommen überein ährend Thersites erzählte, hatten die Könige ihre Kräfte im Wettkampf gemessen; Diomed hatte das Wagenrennen gewonnen, der Preis im Ringkampf war zu gleichen Teilen dem Großen Ajax und dem Odysseus zugesprochen worden, als schnell ster Läufer hatte sich Odysseus und als bester Bogenschütze Merio nes erwiesen, und im Speerwurf war Agamemnon kampflos mit dem Preis des Siegers geehrt worden, da, wie Achilles erklärte, die Überlegenheit des Oberbefehlshabers in dieser Kampfart so groß sei, daß es sinnlos wäre, gegen ihn anzutreten. Den Kämpfen war ein Festmahl gefolgt, und nun ruhten die Helden auf ihrer Lager statt von den harten Wettspielen aus, Achill aber schritt zum Leich nam Hektors, den er den Hunden zum Fraß vorgeworfen hatte, und als er sah, daß die Meute nicht einen Zahn in den Toten ge schlagen, trat und schlug er die jaulenden Tiere und schmähte sie eine feige Brut. Dann schnallte er den toten Leib wieder an seinen Wagen, drehte den Leichnam so, daß das Gesicht auf den spitzen Steinen lag, und jagte in sausender Fahrt mehrere Male um das Grab des Freundes, doch durch die wundertätige Kraft der Am brosia blieb der Körper des Troerprinzen unversehrt, und sein Antlitz war nicht durch die winzigste Schramme entstellt. Dies erzürnte Hera und Athene, die voll wilder Freude Achills grau samer Fahrt zugeschaut hatten. »Was denn«, sprach Hera, »soll der verfluchte Troer im Tode noch unser spotten? Soll einer aus dem Priamospack, ein Bruder des verruchten Paris, seiner Strafe 157
entgehen?« – »Wir wollen Hermes bereden, den Leichnam zu ent führen«, erwiderte die göttliche Pallas, »dann wollen wir ihn irgendwohin in ein schwarzes Nichts versenken, denn es darf ein fach nicht geschehen, daß die Troer Hektor bestatten und seine Seele Frieden im Hades findet! In alle Ewigkeit sollen er und Paris am Tor des Schattenreiches stehen und heulen, ohne jemals Einlaß zu finden und damit für alle Zeiten offenbaren, wie furchtbar unsere Rache ist!« So redeten die Göttinnen untereinander, und Achill schleifte Hek tors Leichnam erneut um den Hügel über der goldenen Urne, in Ilion aber erhob sich König Priamos, der drei Tage lang inmitten der klagenden Troer gesessen, und sprach: »Nicht länger ertrage ich es zu denken, daß der Leib meines geliebten Kindes den Hun den Achills zum Fraß dient, während seine Seele frierend und flehend am Hadestor lehnt. Ich will zu den Schiffen hinuntergehen, Hektor auszulösen; die Griechen sind Menschen wie wir und wer den ihr Ohr den Bitten eines gebrochenen Greises nicht verschlie ßen, und auch das Herz des Achilles kann nicht aus Stein sein. Er hat seine Rache gestillt; nun wird er Milde walten lassen!« So sprach Priamos, und vergebens suchte sein Ehweib Hekabe ihn von diesem Schritt abzubringen; sie hielt ihm alle gräßlichen Taten des Myrmidonen vor die Augen, doch Priamos sprach: »Nichts, liebste Frau, kann mich mehr aufhalten, die Sehnsucht, Hektor noch einmal zu sehen, ist übermächtig, und sollte mich der rasende Pelide auch ermorden, wohlan, dann ist es mir Trost genug, den geliebten Sohn noch einmal in den Armen gehalten zu haben!« So sprach der greise König, und dann befahl er seinem Herold, einen Wagen reich mit Lösegeschenken zu beladen, und die bei den, mit den Binden Schutzflehender umwunden, fuhren dem Lager der Griechen zu. Der Abend war gekommen; fern schimmer ten die Wasser des Skamandros durch die langsam sich verdich tende Dunkelheit, und die Geier und Raben hüpften, vom üppigen Mahl übersättigt, träg vor dem rasselnden Wagen zur Seite. Der 158
Weg war kaum mehr kenntlich, doch die Lagerfeuer der Feinde wiesen die Richtung. Schließlich kam die kleine Gesandtschaft ans Tor und fand es unverschlossen und die Wächter in tiefem Schlaf, denn jeder der Griechen wußte, daß der Mut der Trojaner durch Hektors Tod gelähmt und ein Angriff, und gar noch zur Nacht, nicht zu erwarten war. So kamen die beiden unangefochten bis vor das Haus des Peliden, und Priamos hieß den Herold bei den Geschenken bleiben und betrat, so heftig sein Herz auch pochte, Achills Gemach. Der Pelide hatte soeben gespeist und ruhte schon auf seiner Lagerstatt, zwei seiner Unterführer aber saßen noch an dem reich gedeckten Tisch. Priamos trat ein; Achill fuhr auf und blickte überrascht und mit rasch wachsendem Grimm auf den Troerkönig, der aber warf sich vor dem Mörder seines Sohnes auf die Erde und umschlang dessen Knie und nahm die Hand, die ihm so viele Söhne und Krieger geschlachtet, und führte sie an seine welken Lippen und küßte sie um des geliebten Sohnes willen. Achills Zorn wich, da er den Greis vor seinen Füßen sah, sein Auge blickte milder auf den Alten, und Priamos hob das Haupt und sprach: »Göttergleicher Achill«, so redete der Greis, »gedenke dei nes Vaters, der wie ich an der traurigen Schwelle des Alters steht und vielleicht ebenfalls von Krieg und Sorge bedroht ist! Und doch, wie glücklich wäre er selbst dann noch zu preisen, da er ja hoffen kann, sein geliebter Sohn kehre einst heil in die Heimat zurück! Ich aber habe fünfzig Söhne gezeugt, und nun ist mir fast keiner mehr geblieben, und mein bester und kühnster Sproß, der Schirm Ilions, ist durch deine Hand gefallen! So bin ich denn, dei ner Großmut vertrauend, mit reichen Geschenken genaht, Achil les, und flehe dich an, mir Hektor zurückzugeben! Gedenke deines Vaters, herrlicher Held, wenn du mich Jammernden hörst, und bedenke, daß ich mich so weit erniedrige, selbst jene Hand an meine Lippen zu pressen, die meine lieben Söhne getötet hat!« So flehte der König und küßte abermals die Hand des Schlächters; Achill aber wehrte ihm dies und zog den Greis mit sanfter Gewalt empor und drückte ihn an die Brust, und Tränen quollen nun auch 159
aus seinen Augen. »Ärmster«, so sprach er, »fürwahr, allzuviel Herzeleid hast du schon erduldet! Wie tapfer du doch bist, allein ins Lager des Feindes zu pilgern und dich dem Töter deines Sohnes zu nahen; wahrhaftig, du mußt ein ehernes Herz in der Brust tra gen! Aber nun setze dich, König, laß deinen Schmerz ein wenig abklingen und bedenke, wieviel Leid und Gram und Trauer die Götter über das Menschengeschlecht verhängt haben; du bist der einzige nicht, dessen Seele wund ist. Also laß uns sitzen und ein Weilchen ruhen!« So redete Achill, doch Priamos, der befürchtete, die Milde des Myr midonen könne ebensoschnell wieder verfliegen, wie sie über ihn gekommen war, flehte Achilles an, ihm zuerst Hektor auszulösen, und da der Pelide seine Einladung solcherart abgeschlagen hörte, verfinsterte sich sein Blick, und er sprach mit drohender Stimme: »Hüte dich, Alter, mich zu reizen, und handle nach meinem Gebot! Ich bin gewillt, dir Hektor herauszugeben, doch wann und wie ich es tue, das überlasse mir!« So setzte sich denn Priamos bangend und zagend auf die Kante des Sessels; Achilles aber, den nun seinerseits Furcht ankam, sein Herz könne sich wieder verhärten und sein Ohr taub für die Bitten des Flehenden werden –: Achill sprang wortlos auf und winkte den beiden Kriegern, die sein Mahl geteilt hatten, ihm zu folgen, und die drei eilten zu Priamos' Wagen, musterten die Löseschätze und befanden sie als ein würdiges Geschenk von hohem Wert. Achilles befahl, die Güter in sein Haus zu tragen, und lud auch den Herold zu Gast in sein Gemach, dann schritt er zum Grab des geliebtesten Freundes hinunter, berührte den Hügel mit den Fingerspitzen und sprach: »Zürne mir nicht, Patroklos, teuerster Freund, daß ich Hek tors Leichnam dem Vater zurückgebe. Er hat eine würdige Lösung geboten, und auch du sollst deinen reichen Anteil davon haben!« So sprach Achill, und er hörte das nahe Meer rauschen, und es war ihm, als vernehme er mit der Brandung die Stimme des Toten, die der Lösung zustimmte, und Achill befahl, den Körper Hektors zu waschen, zu salben, in einen Leibrock zu hüllen und würdig auf 160
zubahren, dann trat er vor Priamos, legte seine Hände in die des Greises und sprach: »So höre denn, König, Hektors Leichnam ist durch deine Geschenke gelöst; er wird gesalbt und geschmückt und aufgebahrt, wie es sich für einen edlen Helden geziemt, und mor gen früh magst du ihn sehen und nach Ilion überführen. Nun aber laß uns an die Abendkost denken; ich will euch Schultern und Lenden eines feisten Widders braten, und die Mägde sollen euch indes ein Lager im Nebenraum bereiten, denn oftmals kommt einer der Könige hierher zu mir, meinen Rat einzuholen, und wenn der Oberbefehlshaber von deiner Anwesenheit erfährt, könnte es – die ser Mann muß sich nämlich in alles mischen – doch noch längere Verhandlungen geben, und die Auslösung würde verzögert wer den. Aber ruhe ganz unbesorgt; morgen soll dich eine Myrmidonen schar sicher durchs Lager geleiten, und ich verspreche dir auch, eine Waffenruhe von elf Tagen zu erwirken: Ich werde einfach so lang nicht ins Feld ziehen; die andern Achaier werden sich ohne mich nicht vor Ilion wagen, und so wird dir genügend Zeit bleiben, lieber Greis, deinen Sohn mit allen Ehren zu bestatten. Am zwölf ten Tag aber werden dann wieder die Waffen sprechen, und dann wehe dir, stolze Priamosburg!« So sprach Achill, und wieder umarmten sie einander: der leid gebeugte Vater und der Töter seines geliebtesten Sohnes, und mit dieser Umarmung wurde der Racheplan der beiden Göttinnen durchkreuzt, und Menschen hatten, wenn sie es auch nicht wußten und nie erfuhren, über Unsterbliche gesiegt. Im frühesten Morgen dämmern lud Priamos dann Hektors Leib auf seinen Wagen; das Myrmidonengeleit brachte ihn ungefährdet an den Torwächtern vorüber, und des Königs Kampfwagen jagte, mit der kostbaren Last beladen, der Morgenröte entgegen, Ilion zu. Neun Tage lang wurde ein Scheiterhaufen errichtet, indes Achilles, wie versprochen, vom Kampf abstand; am zehnten Tag entzündeten Fackeln das Totengerüst, doch die Flammen vermochten, so wild sie auch loh ten, den unzerstörbar gewordenen Leib nicht zu verbrennen, und so wurde denn Hektor in einem goldenen Schrein in die Erde ge 161
bettet, und ein mächtiger Rundbau aus Feldsteinen überwölbte des Helden Gruft. Dies war das Werk des elften Tages, am zwölften Tag aber stürmten, von Achill geführt, die griechischen Kampf reihen wieder gegen die troische Burg.
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DAS PFERD DES ODYSSEUS
Der Tod Achills
ls die Griechen wieder vor die Burg rückten, beschlossen die Troer, daß, während die Masse des Kriegsvolks von der Mauer herab mit Steinwürfen und Bogenschüssen die Feinde abwehren solle, eine auserlesene Schar der besten Helden, so Antenor, Paris, Glaukos, Aeneas, Polydamos und andere kühne Streiter, einen plötzlichen Ausfall mit dem einzigen Ziel, Achill zu töten, wagen müsse. Rasselnd, eine Staubwolke hinter sich her schleifend, raste die blitzende Front der achaischen Kampfwagen über das Feld nach der Festung; das Poltern der Hufe und das Schnauben der vorwärtsjagenden Rosse scholl drohend in das Ohr der Verteidiger, und als die Mauer erreicht war, sprangen die Schwergewaffneten in voller Fahrt von den jählings wenden den Wagen und setzten zum Sturm auf Ilion an. Vom Feigen baumhügel her versuchten sie die Mauer zu ersteigen; ein Hagel von Pfeilen und Steinen prasselte auf sie hernieder und warf sie zurück, und in diesem Augenblick flog das Skäische Tor auf, und die troische Heldenschar warf sich in die Flanke des Griechen heeres. Dieser unerwartete Vorstoß überraschte die Achaier; ihre Kampfreihen gerieten in Verwirrung, und ein Lanzenwurf von Antenors Hand durchstieß die Brust des jungen Helden Antilochos. Als Achilles den Jüngling in den Staub sinken und dessen Vater Nestor in hellem Schmerz sich die schütteren Haare raufen sah, warf er sich ins dichteste Getümmel und wütete wie einst am Ska mandros; er mähte die Feinde hin, wie ein Knabe Distelköpfe abhaut, und er hatte sich bald eine Bresche zur Mauer geschlagen und rüttelte, von seinem Wagenlenker, der ihm gefolgt war, 163
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gedeckt, so gewaltig an den Flügeln des Tores, daß seine Riegel zu splittern begannen. Hera und Athene sahen es mit Freude; Apol lon aber fuhr, umwölkt, ein flatterndes schwarzes Verhängnis, zum Schlachtfeld hinunter, trat hinter Achilles, der sich schon anschickte, die Torflügel aus den Angeln zu heben, und schoß ihm einen ver gifteten Pfeil in die rechte Ferse, die einzige Stelle, die verletzbar war. Der Getroffene brüllte mit Stierstimme auf und stürzte, ein Turm, dessen Erdgrund wegsackt, zu Boden; ein siedender Schmerz raste durch seine Adern; seine Augäpfel verdrehten sich, und kal ter Todesschweiß trat auf seine Stirn. »Oh, du Hund, du Hund, du hinterhältiger Hund!« brüllte der Vergiftete und hieb im Liegen mit dem Schwert um sich; »komm her, elende Ratte, die mir das angetan hat, und miß dich mit dem Sterbenden im offenen Kampf!« So schrie Achilles und hieb um sich und biß vor Schmerz und Wut in den steinigen Boden; dann griff er nach der Ferse, den Pfeil herauszuziehen, doch als seine Hand ins Leere griff und er kein Eisen in der Wunde faßte, wußte Achill, daß er dem Geschoß eines Unsterblichen erlegen war. »Du hast es getan, Apollon!« schrie er und knirschte mit den Zähnen, »O elendes Menschenlos, daß es uns nicht vergönnt ist, an euch feigen Göttern Rache zu nehmen! O wenn ich jetzt zum Olymp auffahren könnte, ich würde euch alle samt in den Tartaros schleudern!« So schmähte Achill, und er fühlte schon seine Stimme schwinden und seinen Puls ermatten, da zwang er sich noch einmal auf und ergriff die Lanze und stürzte sich auf die Troer, die in hellen Scharen aus dem Tor geströmt waren, und er durchstieß noch den Orythaon, einen Freund Hektors, und den Hipponoos und den Alkathoos, und er sah noch einmal die Feinde entsetzt vor seinen Waffen fliehen, doch er vermochte nicht mehr sie einzuholen. Seine Glieder wurden kalt und schwer; er stützte sich auf die Lanze und keuchte offenen Mundes, seine Knie knickten ein, die Lanze entglitt seiner Hand, und er stürzte ein zweites Mal zu Boden, und die Erde bebte bei seinem Fall. Da jubelte Ilions Volk und Heer, und auch die Götter, die Trojas Partei ergriffen hatten, Aphrodite vor 166
an, sprangen jauchzend von ihren goldenen Stühlen; Hera und Athene aber verließen die Tafel und schlugen die Tür der Götter burg hinter sich zu. Um Achills Leichnam entbrannte ein wütender Kampf. Paris ver suchte als erster, sich des entseelten Leibes zu bemächtigen, doch der Große Ajax vertrieb ihn mit wuchtigen Schwerthieben und tötete jeden, der es wagte, sich dem Toten zu nahen. Bis zum Mit tag behaupteten die Griechen die Stellung; König Glaukos fiel durch einen Schwertstreich des Großen Ajax, und Odysseus ver wundete Aeneas an der Schulter, und dennoch drängten die Troer am Nachmittag das entmutigte Heer der Griechen zurück. Ajax warf sich den Leichnam Achills, der noch in der Rüstung steckte, über die Schulter und schleppte, von Odysseus gedeckt, die gewal tige Last aus dem Feld. Die Troer, von Paris zu wilder Kampfes lust aufgepeitscht, versuchten den beiden den Weg abzuschneiden, allein Zeus, der an die schöne Meergöttin dachte, schreckte sie mit Donner und Blitz zurück. Als es Abend war, hatten die Achaier die Schiffe erreicht, und während sie den Leichnam ihres kühnsten Kriegers wuschen und salbten und in Teppiche und Tücher hüllten, jammerten sie laut ob ihres unersetzbaren Verlustes und schoren sich ihre Häupter kahl, und auch das Meer mit all seinen Unge heuern und Delphinen und Rochen und Haien und wimmelnden Fischen klagte um den Tod des Helden, und Mutter Thetis, die Leiderfahrene, fuhr mit der Schar der Nereiden zur Küste empor. Als die Griechen die vom silbernem Mondglanz umflossenen Göt tinnen, die in ihrem Schmerz vergessen hatten, menschliche Gestalt anzunehmen, plötzlich dem schäumenden Meer entsteigen sahen, flohen sie verschreckt zu ihren Schiffen und verbargen sich dort bis zum nächsten Morgen. Die Nereiden schritten, wandelnde Ge stirne, über den Strand und umringten in stummem Schmerz die Bahre, und Thetis warf sich schluchzend an die Brust ihres toten Sohnes. »Kindlein, geliebtes Kindlein, so bist du denn der mäch tigen Moira doch nicht entgangen«, wehklagte die Göttin, »doch 167
eines will ich dir schwören, Söhnchen, deine Seele wird nicht im Hades seufzen, ich will dir eine Insel im fernen Nordmeer schen ken, ein Eiland mit lieblichen Hainen und sprudelnden Quellen, die du noch als Schatten beherrschen sollst!« Sechzehn Tage und Nächte trauerten die Griechen gemeinsam mit Thetis und ihren Schwestern um den Helden, dann wurde sein Leichnam auf einen Scheiterhaufen, mächtiger noch als der des Patroklos, gehoben, und Agamemnons Fackel entzündete das har zige Holz. Die ganze Nacht hindurch fachten die hilfreichen Winde das Feuer zur himmelaufragenden Lohe, und am Morgen dann betteten die Myrmidonen den sterblichen Überrest ihres jungen Königs in einer Truhe aus Silber und Gold neben die Urne mit dem Gebein des geliebtesten Freundes in die Erde, und ein riesiger Hügel überwölbte die Ruhestatt der nun im Tode Wiederverein ten. Noch einmal versammelten sich die Griechen zur gemeinsamen Klage; die schöne Briseïs schnitt sich ihre goldenen Locken ab und opferte sie ihrem dahingegangenen Herrn, und auch die beiden unsterblichen Rosse Balios und Xanthos traten ans Grabmal und ließen ihre Tränen auf die frisch aufgeworfene Erde tropfen, dann aber rissen sie sich von den Strängen und entrannten, Söhne des Sturmwinds, den Achaiern in die freie Steppe, denn es war ihnen leid, länger den mördrischen Menschen dienstbar zu sein. Athene schlägt den Großen Ajax mit Wahnsinn m nächsten Morgen tauchte Thetis ins Meer, Siegestrophäen für die Kampfspiele, die nun zu Ehren ihres geliebten Kindes stattfinden sollten, herbeizuschaffen, und so schnell wie die weiße Woge der Brandung ans Land rollt, kehrte sie wieder und breitete am Strand eine Fülle der herrlichsten Preise aus: Dreifüße, Becken, goldene Becher, getriebene Schalen, Milchkühe, 168
feurige Rosse und kunstverständige, holde Jungfrauen, alles Beute güter des gefallenen Helden, die er seiner Mutter einst übereignet hatte. Der begehrteste Schatz jedoch waren die Rüstung und die Waffen Achills selbst, und sie sollten, so bestimmte Thetis, dem Krieger zufallen, der die größten Taten bei der Bergung des Leich nams ihres Sohnes vollbracht hatte. Die Kampfspiele währten den Vormittag über; Diomed gewann den Wettlauf, der Große Ajax den Diskuswurf, Teukrer das Bogenschießen und ein Fürst namens Eumelos das Wagenrennen, und nun warteten alle Achaier begierig, wem der unübertreffliche fünfschalige Schild, der schwarzleuchtende Harnisch, der ragende roßbuschgekrönte Helm, das Schwert mit dem Buckelgriff aus Sil ber, die Lanze mit dem Bergeichenschaft und die zinnernen Beinund Knöchelschienen zufallen sollten, und jedermann war für sich der Meinung, es gebe nur einen Würdigen, diese Wehr zu tragen, und das sei der Große Ajax, der den Leichnam des Peliden einen Halbtag lang wie ein Löwe verteidigt und ihn schließlich auf den Schultern aus der Schlacht geschleppt hatte. »Wie soll dieser Kampf ausgetragen werden, unsterbliche Göttin des silberflutenden Meeres?« fragte Agamemnon, und Thetis trock nete ihre Tränen, die während der Wettkämpfe noch unaufhörlich geflossen waren, und schlug vor, daß Agamemnon zwei weitere Könige zu einem Gericht bestimmen und jeder Bewerber dann vor dieses Forum treten und seinen Anspruch begründen solle, worauf die drei Fürsten ihr Urteil fällen würden. Agamemnon berief den greisen Nestor sowie den Kreterkönig Idomeneus, die beide nicht am Kampf um Achills Leichnam beteiligt gewesen waren und sich daher nicht selbst um den Preis bewerben konnten, als Richter neben sich, und kaum war dieser Gerichtshof gegründet, sprangen auch schon zwei der Helden vor: Odysseus und der Große Ajax. Agamemnon gab als erstem Ajax das Wort, und der Hüne schil derte, wie er, die Troer abzuwehren, durch Stunden das Schwert über dem entseelten Körper geschwungen und ihn samt Rüstung und Waffen, eine Last, die kein anderer Achaier hätte aufheben 169
können, schließlich von Trojas Tor bis hin zu den Schiffen ge schleppt hatte. Er erinnerte auch an all seine übrigen Taten, doch die Kunst der Rede war ihm nicht verliehen; er setzte die Worte schwer wie Feldsteine, seine Sätze waren ungeschlacht, und die Gesten, die seinen Vortrag begleiteten, plump und grob. Odysseus konnte nur darauf hinweisen, daß er den schleppenden Ajax mit dem Schild gedeckt hatte, doch er tat dies so beredt und fand so einleuchtende Gründe und überzeugende Argumente dafür, daß diese seine Leistung weit größer als die des Ajax gewesen sei, und er verstand es auch so geschickt, hier ein Schmeichelwort auf Aga memnon, da eine Lobpreisung Nestors und dort einen Ruhmes spruch auf den Kreterkönig in seine Rede zu flechten, daß das Ge richt, das anfangs, um keinen der unersetzbaren Helden zu krän ken, die Rüstung und die Waffen zu gleichen Teilen hatte vergeben wollen, nun ihm, dessen Taten doch wahrhaft weniger wogen als die des Ajax, den Preis zuerkannte. Da Ajax diesen Spruch vernahm, verfärbte er sich; schwarze Galle schoß ihm ins Blut, und seine Augen begannen finster zu glühen; zugleich aber lähmte ein schneidender Frost seine Glieder, und die Stimmen ringsum mischten sich in seinem Ohr zu einem unver ständlichen Geheul. Seine Knie bebten; er mußte sich auf seine Lanze stützen; eine Zeitlang stand er so da, und hinter seiner Stirn hämmerte ununterbrochen der Wortlaut des Spruches, und schließ lich schleppte er sich in sein Haus, wo er auf der Ruhestatt nieder sank. Seine Lieblingssklavin Tekmessa, die mit ihm das Lager teilte, erkannte, daß ihrem Herrn etwas Unsagbares widerfahren sein mußte; sie wollte ihn nach dem Grund seiner Verdüsterung fragen, jedoch der Hüne blickte derart drohend, und seine Kiefer mahlten so grauenvoll aufeinander, daß Tekmessa ihn nicht an zureden wagte und forteilte, um Teukrer, den sie im Gebirge jagen wußte, zu Hilfe zu holen. Als die Nacht eingebrochen war, erwachte Ajax aus dem dumpfen Hindämmern; er entsann sich des kränkenden Schiedsspruches und sprang vom Lager, und er vermochte wieder zu denken, und seine 170
Knie bebten nicht mehr. »Sie müssen sterben, alle müssen sie ster ben«, so murmelte er vor sich hin, und er überlegte einen Augen blick, ob er nur Agamemnon, Nestor, Idomeneus und Odysseus niederstrecken und die übrigen Griechen verschonen sollte, doch schnell war diese milde Regung wieder gewichen, und er sagte laut: »Alle müssen sie sterben, alle, denn sie haben's, die verruchten Hunde, geduldet; ich will sie drum alle niederhaun und danach ihre Schiffe verbrennen!« So redete der Große Ajax zu sich selber, dann ergriff er sein Schwert und trat hinaus in die sternklare Nacht. Athene aber hatte die ganze Zeit hinter dem Grollenden gestanden und seine Pläne mitangehört, ja sie war es eigentlich gewesen, die dem Odysseus solche Beredsamkeit verliehen und das Gericht vom ursprünglichen Entschluß, den Siegespreis zu teilen, abgebracht hatte. Die hohe Göttin haßte, obwohl sie auf seiten der Griechen stand, den Hünen unbändig; er hatte ihr nämlich einmal, als sie ihn zum Kampf anspornen wollte, abweisend bedeutet, sie möge ihre Kraft einem anderen Krieger leihen, er, Ajax, habe ihren Bei stand nicht nötig: Wo er stehe, wanke die Reihe nicht; und ein anderes Mal war ihm sogar das Wort über die Zunge gegangen, daß jeder, der sich auf Götterhilfe verlasse, im Grunde ein Tauge nichts sei, da dem wackeren Krieger noch allemal der eigene Mut genügen müsse. Diese beiden Reden konnte ihm die Unsterbliche weder vergessen noch vergeben; sie hatte schon lange auf eine Ge legenheit gewartet, Ajax ein schimpfliches Leid anzutun, und nun, da er mit dem blanken Schwert in der Hand ins Lager hinauf schritt, den wehrlosen Schlafenden die Kehlen abzuschneiden, sah Athene die Stunde ihrer Rache gekommen. Mit der Rechten packte sie das Haupt des Hünen und grub ihre spitzen Finger in seine Schläfen, und in diesem Augenblick kam den Helden der Wahn sinn an. Er wandelte wie im Traum im Lager umher und sah nicht Hütten noch Häuser und hörte keinen der tiefen Atemzüge der Schläfer; mit glotzendem Blick und blöde grinsend tappte er durch die Straßen und schritt zu den Koppeln am Ufer des Skamandros 171
hinüber, wo das gesamte unverteilte Vieh des Fußvolks: Schafe, Schweine, Ziegen und Rinder, die Nahrung des Heeres für viele Monate, eingepfercht auf der Weide stand. Als die Hirten den Lallenden mit dem blanken Schwert erblickten, bargen sie sich entsetzt unter der Uferböschung; Ajax aber trat vor die Herden, und plötzlich brüllte er dumpf wie ein Stier und zückte das Schwert und stach auf das Vieh ein, das sich in Todesängsten zusammen drängte, und Ajax durchhieb zwei feisten Widdern die Kehle und rief mit gellendem Hohngelächter: »Nun, wie behagt euch das, Nestor und Idomeneus? Ist das nicht eine treffliche Art, euch ein richtiges Urteil fällen zu lehren? Wiederholt doch, ihr Hunde, euren Spruch, daß Odysseus den Schild des Achill verdient hat!« So redete er meckernd und lallend, dann brüllte er ein zweites Mal auf, und nun fuhr er schlachtend und metzelnd unter die Herden und tötete, wo er noch zuckendes Leben sah; er köpfte einen Ziegenbock aus Lemnos und durchstieß einem thrakischen Ochsen die Rippen und speerte einen Widder aus Samos und ein Rind aus kilikischem Stamm; sein Leibrock troff von Blut, sein Gesicht war verkrustet und seine Haare zu Schlangen zusammengeleimt. So schwang er das Schwert, bis ihm der Arm erlahmte, und mordete alles Vieh bis auf zwei Hammel, die schnürte er mit Stricken zu sammen, warf sie sich über die Schulter und schleppte sie durchs Lager in sein Gemach. »Nun zu dir, Odysseus«, murmelte er, »nun zu dir, du prahlender, feiger Hund, und zu dir, du Lumpenkönig Agamemnon; ihr sollt jetzt erfahren, wie Ajax seine Freunde will kommen heißt!« Mit diesen Worten band er einen der Widder an einen Säulenpfosten und drosch ihm mit der Geißel das Fleisch vom Rücken; dann zerstückelte er das mißhandelte Tier und streute die blutigen Fetzen in seinem Gemach umher. Da er dies tat, er schien ihm Athene und fragte den Rasenden, was er da vollbringe. »Große Heldentaten, unsterbliche Pallas, und strenge Gerichte«, murmelte der Unselige, und er ergriff den noch lebenden Widder am Maul, hob ihn hoch, ließ ihn in den Lüften zappeln und brüllte 172
dabei: »Da habe ich den verruchten Odysseus, den will ich züch tigen, wie er es verdient!« – »Willst du nicht Milde walten lassen und ihm nur die Gurgel abschneiden, ohne ihn vorher zu quälen?« fragte die Göttin mit heuchlerischer Milde, doch Ajax schüttelte grimmig den Kopf. »So handle denn, wie du es für richtig erach test«, sagte die Göttin, und Ajax schnürte den zweiten Widder an den Pfosten und zerstäubte ihm mit der Geißel die Lenden, und als er gerade zum letzten Schlag ausholen wollte, berührte die Göt tin lächelnd die Schläfe des Blutbesudelten und entschwand. Ajax erwachte aus seinem Wahnsinn; er sah vor sich den zerfleischten Widder und sah im Gemach verstreut die zerschlitzten Gedärme und zerstückelten Knochen, und er sah an sich herab und sah sich triefend und starrend von Blut, und er hielt die Geißel in seiner Hand, und jählings wußte er, was er getan. »O Götter, Götter, wie habt ihr mich grausam verblendet!« schrie er in wildestem Schmerz. Da hörte er draußen im Lager schon das Brodeln von drohenden Stimmen und rasch sich nähernde Schritte einer großen Menge: Die Hirten hatten Agamemnon von dem Gemetzel berichtet, und der Oberbefehlshaber hatte entsetzt festgestellt, daß das gesamte Schlachtvieh zusammengehauen war und morgen würde verscharrt werden müssen, und nun eilte er mit ein paar rasch geweckten Fürsten zu Ajax' Haus, sein Strafgericht zu halten. Da der Blut besudelte die Schritte und Stimmen hörte, stahl er sich rasch aus dem Haus, floh hinunter ans Meer, suchte eine verborgene, mit dichtem Gestrüpp bewachsene Bucht auf, hob dort die Hände zum Himmel und flehte Zeus um die geringe Wohltat an, dem lieben Bruder Teukrer Kunde von diesem Ort zu schaffen, damit sein, des armen, verstoßenen Ajax' Leib bestattet werden könne, dann grub er den Knauf und die halbe Klinge des Schwertes, das Hektor ihm einst nach beider Zweikampf überreicht hatte, in die Erde, ent blößte seine Brust und stürzte sich in das geschliffene Erz. So fand ihn sein Bruder Teukrer am Mittag desselben Tages, und Teukrer erwirkte auch mit Hilfe des Odysseus, der sich am Wahn des Hünen nicht schuldlos fühlte, daß gegen die Meinung der anderen 173
Könige, die den Leichnam als den eines Schädlings und Feindes des eigenen Volkes den Fischen im Meer zum Fraß vorwerfen woll ten, der riesenhafte Körper des Ärmsten zu den Schiffen getragen und dort verbrannt und bestattet wurde. Odysseus bereitet eine List vor urch die Wahnsinnstat des Großen Ajax war das hellenische Heer von einer Hungersnot bedroht: Der gesamte Fleischvorrat war ver nichtet; die Ortschaften nah und fern lagen längst ausgebrannt und öde; die Jagd in den Wäldern schaffte kaum Wild für die Tafel der Könige, und es konnte noch viele Monate dauern, bis wieder Nachschub aus Lemnos kam. So blieb den Griechen nur noch der Versuch eines letzten Großangriffes auf Ilion, und, als dieser im Hagel der Geschosse und Steine zusammen brach, schließlich nichts als die Fahrt in die Heimat. Das Volk begann schon die Schiffe zu rüsten; der Rat der Könige aber grübelte ohne Unterlaß nach einem Ausweg, und schließlich kam Odysseus ein rettender Gedanke. »Laßt uns«, so sprach er, »ein riesiges Pferd aus Holz bauen und in dessen gehöhlten Leib dreißig der tapfersten Griechen einschließen; danach soll das Heer seinen Abzug vortäuschen, nachts das Lager räumen und nieder brennen, absegeln und hinter dem nächsten Kap vor Anker gehen. Gewiß werden dann die Troer das zurückgelassene Pferd als will kommene Beute in die Stadt schaffen, und wenn Ilions Volk dann sorglos und freudetrunken im Schlaf liegt, werden wir dreißig dem Versteck entsteigen, durch ein Flammenzeichen die Flotte zurück rufen und dann den ahnungslosen Feind überwältigen!« So sprach Odysseus, aber Agamemnon schüttelte bedächtig das Haupt. »Der Plan ist schlau und kühn und deiner würdig, Odys seus«, erwiderte er, »wie aber, wenn die Troer uns mißtrauen und 174
das Pferd zerschlagen oder in Brand stecken? Dann sind die besten Helden und Könige zugleich mit jeder Siegeshoffnung sinnlos da hingeopfert worden! Nein, dieser Vorschlag ist zu gefährlich!« »Ich habe auch dies bedacht, Oberbefehlshaber«, entgegnete Odys seus, »du bist mir nur vorschnell in die Rede gefahren! Damit die List gelinge – und sie muß gelingen –, ist es notwendig, daß sich ein beherzter und redegewandter Mann, der aber den Troern nicht bekannt sein darf, findet, der, von uns gefesselt, ebenfalls zurück bleibt und sich am Ufer verborgen hält. Wenn die Troer dann ins verlassene Lager strömen, muß er sich ihnen nahen und erklären, wir hätten ihn vor unserer Abfahrt Athene zu Ehren opfern wol len, doch es sei ihm im letzten Augenblick noch gelungen, dem Stahl des Opferpriesters zu entfliehn. Kein Wort darf ihm zu widrig und zu schmutzig sein, uns zu beschimpfen; er darf auch nicht davor zurückschrecken, seine Vaterstadt zu verfluchen und vor dem Feind auf die Knie zu fallen und um Aufnahme ins Volk der Troer zu bitten, und wenn er sich dann auf diese Weise das Ver trauen der Priamoskrieger erworben hat, muß er ihnen einreden, wir hätten das hölzerne Pferd absichtlich so breitbeckig gebaut, daß die Troer es nicht durchs Tor in die Stadt schaffen könnten, denn ein Orakel habe kundgetan, daß Athenes Gunst für immer dem gehören werde, der im Besitz dieses Weihegeschenkes sei. Sicher werden die Feinde dann alles daransetzen, das Pferd in die Burg zu ziehen, und wenn wir erst einmal in der Stadt sind, wird alles so geschehen, wie ich es geschildert habe!« »Das ist vortrefflich!« rief Diomed; die anderen Könige zollten diesem Plan ebenfalls ihren Beifall, und schließlich erklärte sich auch der zögernde Agamemnon mit ihm einverstanden. So wurde denn rasch an dieses Riesenwerk geschritten, und Odysseus teilte die Arbeit dafür umsichtig ein: Eine Gruppe fällte Bäume, eine zweite fuhr Stämme ins Lager, eine dritte entrindete und entästete sie, und eine vierte zersägte sie zu Brettern, eine fünfte hieb Keile und Nägel zurecht, eine sechste formte Kufen und Reifen und eine siebte den Schweif und die Mähne aus Roßhaar, und als der dritte 175
Tag zu verdämmern begann, stand ein Wundergebilde im griechi schen Lager: ein hölzernes Pferd, mächtig sein Leib auf vier säulen gleichen Beinen, kühn geschwungen der Hals und von einer wilden Mähne überflattert der grimmige Kopf mit den großen gläsernen Augen, und wer das fertige Werk von weitem sah, mochte tatsäch lich glauben, hier stehe ein lebendes Roß von gigantischer Gestalt. Als die Arbeit getan war, hieß Odysseus die Krieger vortreten, die es wagen wollten, sich dieser finsteren Holzgruft anzuvertrauen, und siehe, es meldeten sich ihrer so viele, daß das Los entscheiden mußte, das dann auf Menelaos, Odysseus, Diomedes, Sthenelos, Thoas, den lokrischen Ajax, Idomeneus, den jungen Epeios und manchen andren kühnen Helden fiel. Für das Amt des angeblichen Überläufers jedoch fand sich lange Zeit niemand, bis sich schließ lich ein Ziegenhirt namens Sinon bereit erklärte, das noch nie Er probte zu unternehmen. Als die Nacht einbrach, stiegen die dreißig auf einer Strickleiter ins hohle Gehäuse, zogen die Leiter zu sich empor und verschlossen die Tür; Sinon ließ sich die Hände auf den Rücken schnüren und verbarg sich in einem nahen Sumpfdickicht, und die Achaier rissen die Häuser und Hütten und Ställe und Scheunen, die ihnen zehn Jahre lang Heimat gewesen waren, ein und brannten sie nieder, dann segelten sie hinter das öde und doch einst so blühend gewesene Kap Tenedos und warfen dort die Anker aus. Die Troer aber, die sich, da sie ja von Ajax' Tod und der Viehkatastrophe der Griechen nichts wußten, noch nicht wieder ins Feld gewagt hatten, standen auf den Zinnen ihrer Burg und blick ten verwundert auf das brennende Lager und sahen manchmal, wenn der Wind das Feuer schürte, ein weißes Segel auf der schim mernden See.
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Der Tod des Poseidonpriesters m nächsten Morgen sandten die Troer Späher ins niedergebrannte griechische Lager aus, und als die Kunde durch Ilion eilte, die Feinde hätten das Feld geräumt und seien mit ihrer gesamten Flotte abgesegelt, da flogen die Tore der Burg wie von selbst auf, und in buntem Gewimmel strömten die zehn Jahre lang Bedrängten auf die Ebene hinaus, und es schien allen, als liege der Krieg, schon fast ein Schemen, in wüster, weiter Vergangenheit. Oder war er gar nur ein Alp, eine Chimäre, eine Spiegelung der Luft gewesen und nie geschehen, oder war dieser plötzliche Friede nur ein holder Traum, der alle umfing? Kein Waffengeklirr, kein Schlachtruf, kein Todesröcheln – aber hier war doch der Ort, wo Hektor, und dort, wo Achilles gefallen; hier zogen sich der zusam mengestampfte Graben und die zertrümmerte Brustwehr hin; über dieser schwelenden Asche hatte sich einst das Haus des Agamemnon erhoben, und durch diese Rinnen waren die Schiffe ins Meer ge zogen worden – es war die Wirklichkeit, und doch schien alles ein Trugbild, denn riesig, höher als ein Palast und breiter als jedes Tor, stand da ein Wundertier: ein Pferd aus Holz, einem lebenden Rosse täuschend ähnlich, seine Beine glichen vier ragen den Säulen, seine Brust wölbte sich trotzig wie ein Wehrturm, über dem grimmigen Haupt flatterte im Wind die Mähne, und im Glanz der Sonne blitzten die großen mandelförmigen Augen wie Karneol. Staunend umringten die Troer das Pferd, doch keiner wagte es anzutasten; sie schritten zögernd und scheu um dies noch nie ge schaute Weihegeschenk, das auf seinem eichenen Leib den Namen der Göttin Pallas Athene trug, und betrachteten fast andächtig die kunstvolle Fügung der Rund- und Langhölzer, und schließlich 177
schlug einer der Bürger vor, Rollen zu bauen, sie unter das Pferd zu schieben und die Beute auf den Ratsplatz der Burg zu ziehen, wo man sie dann täglich bestaunen könne. Das Volk stimmte zu, da aber eilte der Poseidonspriester Ilions, ein weiser Mann namens Laokoon, der seinem Gott auf einer Höhe nahe der Ebene geopfert hatte, quer über das Feld und schrie, seinen Speer schüttelnd, schon von weitem: »Haltet ein, Bürger, haltet ein! Seid ihr von Sinnen? Wer hat euch verblendet? Glaubt ihr wirklich, die Griechen könn ten ein Werk verrichten, das nicht mit Betrug und Bosheit im Bunde ist? Vielleicht ist das eine Kriegsmaschine, die unsere Mauern zerstören soll, vielleicht haben sie einen Feuerbrand drin verborgen, den das Maul dann auf unsere Dächer speit, vielleicht – doch wir werden ja gleich sehen, welch Unheil dieses Gebilde birgt, denn das eine weiß ich gewiß: Was immer auch sei, ich mißtraue den Griechen, auch wenn sie Geschenke bringen!« Mit diesen Worten packte der Priester seine Lanze und trieb sie mit kraftvollem Arm zwischen zwei Rippen, so daß die Bauch höhlung dumpf erdröhnte und die Waffen der verborgenen Helden aneinanderklirrten. »Die Schwerter heraus und das Pferd zer haun«, schrie Laokoon, »hier klirrt das Verderben!« In dieser Mi nute wäre es um Odysseus' Schar geschehen gewesen, und Troja stünde noch heutigen Tages schimmernd am Hellespont auf Klein asiens Höhen, wenn Sinon nicht aus seinem Verskeck gekrochen wäre. »Ein Grieche! Ein Grieche!« rief der erste, der ihn erblickte, und sofort wandten sich alle Augen dem Gefesselten zu, der nun auf die Troer zuging und vor ihnen in die Knie sank. »Zerfleischt ihn für alle Missetaten seines schändlichen Volkes!« schrie eine Stimme, und: »Steinigt ihn!« – »Zertretet ihn wie einen Wurm!« – »Ver brennt ihn!« so eiferten andere; König Priamos aber, der indes mit seinem Kampfwagen zum hölzernen Pferd gefahren war, gebot Ruhe, und Sinon rief: »O unseliges Geschick, das mich, den die Griechen aus ihren Reihen gestoßen haben, nun so grausam ins schwarze Verderben schleudert! Die hündischen Achaier haben mich zum Sterben bestimmt; mit Mühe bin ich ihnen entronnen – 178
muß ich Unseliger nun den Tod von den frommen und tapfren Troern erleiden?« Diese Rede besänftigte die erhitzten Gemüter und erregte jeder manns Neugier; die Ilionssöhne drängten sich um Sinon, und Pria mos gebot dem Knienden sich zu erheben und unverzagt sein Ge schick zu erzählen. »Ich will es ja gar nicht leugnen, Sproß eines griechischen Fürsten zu sein und diesem verruchten Volk zu ent stammen«, begann der listige Hirt seine Rede, und er nannte dieses sein Volk lügnerisch, ränkevoll, verderbt, rachsüchtig, heuchlerisch, doppelzüngig, diebisch, grausam und blutgierig und nur auf des Nächsten Schaden bedacht, und er erzählte, daß sein, Sinons, edler und grader Sinn unmöglich mit dieser Rotte von Lügnern und Betrügern habe auskommen können, so daß er schon seit den ersten Tagen des Krieges vom unauslöschlichen Haß des Odysseus, dessen Unterschleife und mörderische Ränkespiele er vor allem Volk auf gedeckt und getadelt habe, verfolgt worden sei. »Mit dem Schwert ist dieser feige und prahlerische Schuft nie vor mich hingetreten«, sprach Sinon, »nun aber, vor der Stunde der Heimreise, da hat er sich mit dem Hundsfott Kalchas, diesem schurkigsten aller Priester, zusammengetan und ihn mit Beutegut bestochen, aus der Leber eines Opfertieres zu weissagen, daß die Götter, wenn sie der grie chischen Flotte Schutz auf dem stürmischen Meer gewähren sollten, ein Menschenopfer verlangten und zwar nicht das Blut eines Skla ven oder Gefangenen, sondern das eines schlachterprobten Kriegers, nämlich das meine! So hat man mich gefesselt und ist schon dabei gewesen, mir die Augen zu verbinden, da habe ich mich losgerissen, mit den Füßen die Schurken zur Seite gestoßen und mich in einem nahen, unzugänglichen Sumpf versteckt, wo ich fast umgekommen wäre. Doch nun verfluche ich dieses Volk der Ottern und Wölfe und werfe mich dir, großmächtiger und weiser König Priamos, des sen Ruhm alle Sänger des Erdkreises singen, vertrauensvoll zu Füßen: Versage, König, mir Ärmsten deine Gnade nicht!« Wieder kniete Sinon, und wieder hieß Priamos ihn aufstehen, und der greise König gab Befehl, die Hand- und Armfesseln dessen zu 179
lösen, der Grieche gewesen war und es nun nicht mehr sein wollte. »Vergiß, woher du stammst«, sprach Priamos freundlich, »nun bist du einer der Unsern geworden, und darum gib uns jetzt redlich Auskunft: Was hat es mit dem Pferd da auf sich? Was birgt es in seinem Leib? Einen Segen oder ein Verderben?« Sinon atmete tief, hob die befreiten Arme zum Himmel und sprach: »Euch, unsterbliche Feuer, die keiner straflos beleidigt, und auch dich, ruchloser Altar, darauf ich geschlachtet, und dich, verderb liches Schwert, mit dem ich zerhauen werden sollte, euch alle rufe ich zu Zeugen meiner Rede an: Nicht mehr hemmen mich die Ge setze der Heimat, meine Zunge ist frei und nicht mehr gebunden, und sie wird alles verkünden, was ich weiß! So hört denn, troische Brüder und Schwestern: Vor einigen Tagen hat der freche Odys seus gewagt, die hehre Athene zu verhöhnen, und seit dieser Zeit sind schreckliche Zeichen im Lager geschehen: Eine Pallasstatue auf dem Altar hat sich in Tränen aufgelöst, eine andere ist flammen umwogt durch die Straßen geschritten und hat sich dann in der Ödnis verloren, und schließlich hat eine donnernde Stimme – habt ihr sie denn nicht gehört? – verkündet, daß die Griechen allesamt vor Ilion untergehen würden. Daraufhin ist vom Rat der Könige die Heimfahrt beschlossen worden. Da hat die Göttin abermals kundgetan, sie werde die Flotte in alle Winde zerstreuen und sämtliche Krieger elend ersäufen, wenn ihr nicht ein Weihe geschenk aus Eichen- und Ahornholz errichtet werde, wie es kein andrer der Unsterblichen, nicht einmal Zeus, sein eigen nennen kann. So ist denn dieses Pferd gebaut worden, und man hat ihm absichtlich derart riesige Maße gegeben, daß wir Troer es niemals in die Stadt schaffen und den Segen der hohen Himmlischen nicht auf unser Ilion ziehen können!« So redete Sinon, und die Troer jubelten ob dieser Botschaft; Lao koon aber wandte sich mit beschwörenden Worten an Priamos. »O glaube dem Griechen nicht, edler König«, so rief er, »mißtraue die ser glatten, gespaltenen Zunge, die da ›wir Troer‹ sagt, aber ›wir Griechen‹ meint! Laß mich Poseidon opfern, auf daß er unser Werk 180
segne, dann wollen wir mit unseren Schwertern dies Unheilsbild zerhauen und uns mit eigenen Augen überzeugen, was es in seinem Innern birgt!« So rief der Priester und eilte, Poseidon ein Stieropfer darzubringen, zum Meeresstrand, wo seine beiden Söhnlein an den Startrinnen der griechischen Schiffe spielten, doch er hatte kaum das Ufer er reicht, da schnoben, mit Sturmesschnelle auf den Wogenkämmen reitend, zwei riesige geflügelte Schlangen, Geschöpfe der Pallas, von Tenedos her an die Küste und stürzten sich, fürchterlich zischend und ihre Zähne im blutroten Rachen bleckend, auf den Priester und dessen Kindlein, und während die Troer, vor Schreck erstarrt, sich nicht zu rühren wagten, umringelte eine Schlange die Söhne, preßte mit ihrem schuppigen Leib die beiden kleinen Leben zusammen und grub ihre Zähne in die ungeschützten Hälse ein. Der Vater eilte brüllend und die Streitaxt, die den Stier hatte fäl len sollen, in der Rechten schwingend, den Söhnen zu Hilfe, doch ehe er sie erreichte, hatte ihn schon die andere Schlange umwunden wie ein Schlinggewächs einen Baumstamm und begann nun ihre rippenzermalmenden Ringe zusammenzuziehn. Die Axt fiel dem Jammernden aus den Händen; sein Brüllen erstickte in der würgenden Umarmung; das Untier spie dem Verröchelnden gelben Geifer ins Gesicht und drückte ihm die Luft und das Blut aus den Lungen, und als das grausame Werk vollbracht war, wälzten sich die beiden riesigen Würmer zum Tempel der Pallas vor den ragenden Wäldern und ließen sich dort zu Füßen der Gottheit nieder. »So richtet die hohe Athene den Frevel, den Laokoons Lanze ihrem Weihegeschenk angetan«, rief Sinon, und alles Volk erkannte die Schlangen als Gotteszeichen, und nun wurden in Eile Räder unter die Füße des Pferdes gesetzt und ein Stück Mauer ausgebrochen, das Tor zu vergrößern; Kränze aus Blumen, Lorbeer und Eichen laub wurden dem Pferd um den Nacken gewunden, und so, von Knaben und Mädchen umringt, mit frommen Hymnen und Götter gesängen, wurde das Unheilsgeschenk zur Festung gezogen und 181
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schließlich durchs erweiterte Tor gedrückt. Viermal stockte das Pferd unterm Torbogen; viermal klirrten die Waffen in der Höh lung des Bauches, viermal erscholl das Zeichen der Warnung, aber die Verblendeten hörten es nicht, und hätten sie es gehört, so hät ten sie es gewiß als Götterbotschaft gedeutet, daß Trojas Waffen ruhm blühen werde bis zum Ende der Welt. Die Griechen zerstören Troja as Pferd war in die Burg gezogen, die Troer saßen beim Festmahl und zechten, nur Kas sandra wanderte einsam und klagend durch die mondhellen Straßen der Stadt. Sie war eine Prophetin: Apollon hatte ihr einst versprochen, sie mit der Gabe der Weissagung zu beschenken, wenn sie sein Lager teile, und Kassandra hatte zugesagt; doch dann, als der Gott ihr schon mit magischer Hand über Augen und Schläfen gestrichen und sie plötzlich weit in die rinnende Zeit schauen konnte, hatte sie sich ihrer Zusage geschämt und dem Gott das Beilager verweigert. Dar über erzürnt, hatte Apollon sie wenigstens um einen Kuß gebeten und ihr, als sie dies gewährte, in den Mund gespien und damit seiner Gabe, in die Zukunft blicken zu können, den Fluch hinzu gefügt, daß niemand ihre Gesichte ernst nehmen würde. So wan derte denn Kassandra jetzt durch die Straßen und rief in den aus gelassenen Lärm des Zechens ihr: »Wehe, wehe, Ilion brennt! Es brennt die Burg, und es brennen ringsum die Häuser, Blut fließt in Strömen durch die Gassen wehe dir, Ilion, wehe dir!« Und sie rief's, und ihr antwortete brüllendes Gelächter, und König Priamos schüttelte den Kopf und sprach: »Töchterlein, armes, verwirrtes Töchterlein, die du immer nur törichte Dinge faselst – diesmal liegt es doch klar auf der Hand, daß du unrecht hast: Die Griechen sind übers Meer gezogen, ihr Lager ist niedergebrannt, ihr Weihtum 184
von uns übernommen – was sprichst du da von Unheil, Närrin!« – »Das Pferd, das Pferd«, rief Kassandra voll Schmerz, »ich sehe den Bauch des Pferdes sich auftun, Eisen um Eisen klirrt heraus und wirft sich auf Ilion, seine Männer zu morden, und übers Feld rast der griechische Sturm und sprengt unsre Tore. – Wehe dir, Ilion, wahre dich!« »Geh weiter, du heulende Äffin, und verdirb uns die Festfreude nicht«, rief Paris und scheuchte mit einer Handbewegung seine Schwester von dannen, und Kassandra wandelte fort und schrie ihre Gesichte durch die Straßen, aber die Trunkenen hörten sie nicht. Indes kauerten die Männer im Bauch des Pferdes, und das Ausharren fiel ihnen bitter schwer: Die Luft war stickig; ihre Glie der erlahmten im regungslosen Hocken, und Furcht, im letzten Augenblick doch noch entdeckt zu werden, peinigte sie. Die Stun den rannen endlos dahin wie volle Tage; die Finsternis hatte die Zeit ausgelöscht, so daß niemand mehr wußte, ob es Mittag oder Abend war; da endlich hörten die Eingeschlossenen das Stimmen gewirr der Zecher verstummen, und auch die müde Stimme Kas sandras erscholl nicht mehr. Wie eine Meereslast lag die Stille auf den harrenden Kriegern, und der junge Epeios, den die Lanzen spitze Laokoons am Morgen beinah getötet hätte, war nahe daran, vor Erregung zu schreien, da endlich klopfte es dreimal an den Nabel des Pferdes: Sinon hatte, nachdem er die Wachen nieder gemacht und die Flotte mit einer geschwungenen Fackel zurück gerufen, das verabredete Zeichen gegeben. Leise schob Odysseus den Riegel zurück und warf die Strickleiter aus; Epeios wollte sich als erster auf die Strickleiter schwingen, doch er stolperte und fiel durch die Luke auf den steinernen Boden und verspritzte sein Hirn und sein Blut. Nun drängten die Helden rasch hinunter, und wie sich ein Wolf auf die eingepferchte wehrlose Schafherde stürzt, so warfen sich die dreißig über die unter Schlaf und Wein begra bene Stadt. Die Mitternacht war schon vorübergegangen, als der Angriff be gann; drei Stunden währte die Nacht noch bis zur ersten Morgen 185
röte, in diesen drei Stunden aber waren Kampf und Qual und Grimm und Tod so dicht zusammengepreßt wie in drei Jahren der offenen Feldschlacht. Die ersten hundert schlachteten die Griechen, ohne einen Tropfen ihres eigenen Blutes zu vergießen; das Stamp fen der Schritte und das Sausen der Schwerter und das Geröchel der Sterbenden weckte die Ilionssöhne, die im leichtesten Schlum mer lagen; sie fuhren auf und stellten sich, jäh ernüchtert, zum Kampf, und nun riß das Waffengeklirr und Wehgeschrei jeden Troer aus dem so kurzen Schlaf. Doch da war das achaische Heer schon über die Ebene gejagt und in die Stadt eingedrungen, und die Lage der Troer war hoffnungs los. Die Überfallenen wehrten sich mit allem, was ihnen gerade zur Hand war, mit Äxten, Sägen, Bratspießen, Fleischhaken, Holz scheiten, Stühlen, Riemen, Krügen und Steinen; sie krallten sich in den Hals der Feinde, stürzten Feuerbrände auf die Eindringlinge oder versuchten sie in Netzen zu fangen; sie fügten den Griechen noch manche Verluste zu und erschlugen sieben der dreißig Helden des hölzernen Pferdes, doch aller Widerstand war vergeblich, und die tapferste Abwehr blieb umsonst: Haus um Haus wurde ge stürmt und Straße um Straße genommen, und wie die Lohe eines gigantischen Scheiterhaufens schlug Ilions Brand zum Nachthim mel auf. Aeneas hatte lang und treu an der Spitze seiner Krieger gekämpft und mit grimmigen Lanzenstichen und Schwerthieben versucht die Angreifer zurückzuwerfen; doch nun, da er sah, daß Stadt und Burg in Flammen standen und ihre Verteidiger erschlagen im Staub lagen, sprach er zu sich: Nicht heldenhaft, sondern töricht wäre es, den Kampf jetzt halsstarrig fortzusetzen und als einzelner eine Schlacht gewinnen zu wollen, die nie mehr gewonnen werden kann. Das Schicksal hat entschieden, Troja ist gefallen, nun muß ich die Meinen zu bergen versuchen! Mit diesen Worten lud er sich seinen greisen Vater Anchises auf die Schulter, nahm sein Söhnlein Askanion unter den Arm und stapfte über die Leiber der Toten hinweg durch Rauch und Brand dem Westen zu, im fernen Land 186
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eine neue Stadt und ein neues Königsgeschlecht zu gründen. Davon aber handelt ein andrer Gesang. Die Verteidiger Trojas waren gefallen; dem greisen König Pria mos hatte Diomedes mit leichtem Schwerthieb das Haupt vom welken Rumpf getrennt; Paris aber, der in seiner Schicksalsstunde heldenhaften Widerstand geleistet und mit einem Stoßtrupp die Griechen sogar noch einmal bis ans Skäische Tor zurückgejagt hatte, war in seinen Palast geeilt und versteckte sich dort, nachdem er das Tor verrammelt hatte, im Gewinkel der Gänge und Flure. Er war allein; seine Pfeile waren verschossen, nur noch ein Dolch war ihm geblieben, und da nahte auch schon das Verhängnis: Me nelaos rannte, erbitterte Racherufe ausstoßend, mit den Schultern das Tor zu Paris' Palast ein, und sein Brüllen drang in alle Ge mächer. Da Paris es vernahm, schwang er sich auf einen Deck balken und hielt den Dolch bereit. »Paris, du Feigling, stell dich zum Kampf!« brüllte Menelaos, und Paris, der hoffte, seinen Geg ner durch einen jähen Überfall zu verwirren, sprang ihm von der Decke aus plötzlich in den Rücken; allein Menelaos, der das Knak ken des Balkens vernommen hatte, zückte im Herumfahren sein Schwert, und es zerschlitzte den Troer vom Nabel bis zum Kinn. »Da liege, bis ich dich den Geiern zum Fraß vorwerfe, Elender!« schrie Menelaos mit Donnerstimme, und als Helena in ihrem Ge mach diese Worte hörte, wähnte sie ihre letzte Stunde gekommen. Sie zerriß ihr Gewand und schmiegte sich, Bergung suchend, in die äußerste Ecke ihrer Kammer und flehte Aphrodite um Hilfe an: ihre Worte verwirrten sich zu einem hilflosen Gestammel, und sie flehte und wimmerte und hörte die nahenden Schritte und sah, wie die Tür aufflog, und sah Menelaos, das bluttriefende Schwert in der Rechten, in ihr Gemach dringen, und Menelaos erblickte nun nach zehn Jahren zum erstenmal wieder seine Gemahlin und sah sie, die innig Vertraute und dennoch Fremde, die Vielgeliebte und über alles Gehaßte, die um zehn Jahre Gealterte, die nun in ihrer Todesangst einem scheuen, unberührten Mädchen, das vor dem Mann geflohen ist, glich: er sah sie in die Ecke der Kammer ge 188
schmiegt und sah ihr goldenes Haar und ihre berückende Gestalt, und er dachte, daß diese Schönheit den Tod so vieler tapferer Helden verschuldet, und er trat vor sie hin und hob das Schwert, ihr den Kopf zu spalten, und ließ es in halber Höh wieder sinken, und er dachte, daß er der Ungetreuen den Tod geschworen, und hob das Schwert ein zweites Mal, und da sah er ihre entblößte Brust und vermochte ein zweites Mal nicht zuzuschlagen, und er wandte seine Augen ab und holte, zum tödlichen Stoß nun fest entschlossen, zum drittenmal mit dem Schwert aus, da hörte er, nach zehn Jahren, ihre, der Vielgeliebten, der Nie-Vergessnen Stimme seinen Namen flüstern, und da warf er das Schwert auf den Boden und hob sein Eheweib in die blutigen Arme und trug sie, da der Palast nun auch zu brennen begann, ins Freie hinaus. Vor dem Palast aber rief ihn ein Herold zur Ratsversammlung. Die Griechen treten die Heimfahrt an or der Abfahrt trat der Rat der Könige auf den Zinnen des brennenden Troja noch einmal zusammen, um über zwei Fragen zu ver handeln: über das Verbrechen des lokrischen Ajax und über das Schicksal des Hektorsöhnleins, und in jedem Fall fiel ein Rechtsspruch schwer. Der lokrische Ajax hatte wider Pallas Athene gefrevelt, und zwar auf folgende Weise: Nach der Niedermetzlung der Troer waren, wie es als ihr Recht galt, die Helden ausgeschwärmt, um Beute jedweder Art zu machen: pures Gold, Silber, Zinn, Erz und Juwelen und Edelsteine; Becken, Pokale, Schalen, Dreifüße und anderen Hausrat; lebendes Vieh; Säcke voll Korn und Krüge voll Wein oder Öl oder Honig; das wertvollste Beutegut aber war der Schöpfer jeglicher Schätze und allen Reichtums: der Mensch. Um manches arbeitskundige und kräftig gebaute Mädchen und manchen muskelstarken Knaben 189
wurden sogar die Klingen gekreuzt, und auch im Fall des lokrischen Ajax war es um solch ein Beutegut gegangen: um Kassandra, die schöne Seherin. Ajax hatte sie im Palast des Priamos aufgespürt und war ihr, da sie ihm entlief, im Tempel der Athene Schutz zu suchen, in die geweihte Stätte, die ja nur Priester oder Schutz flehende betreten dürfen, nachgeeilt, hatte die Widerstrebende ge packt und an sich gerissen und dabei das Standbild der Pallas, das die Verfolgte umklammert hielt, in den Staub gestürzt. Dies galt nun als außerordentlicher Frevel, und die hohe Göttin Athene hatte auch, als ihr von der hämischen Eris diese Missetat eifernd zugetragen worden war, empört gerufen, der ruchlose König möge sich nicht zu sehr auf die Heimkehr freuen: Sein Schiff werde noch am ersten Tag der Fahrt in den Wellen versinken und keiner der Seinen jemals die Vaterstadt wiedersehen. Über diesen Vorfall saßen nun die Könige zu Gericht, und Odys190
seus, der selbst Kassandra begehrte, schlug vor, den Frevler zu steinigen, um dadurch den Zorn der Himmlischen vom Griechen heer abzuwehren; Ajax jedoch trat Kassandra sofort an Agamem non ab und gelobte, nach seiner Rückkehr der beleidigten Göttin einen herrlichen Altar zu errichten und ihn mit den erlesensten Beutestücken zu schmücken, und auf diesen Eid hin stand nach heftigem Wortwechsel die Mehrheit der Fürsten schließlich von einem Todesurteil ab. Der zweite Spruch war ebensoschwierig zu fällen: Was sollte mit dem Söhnlein Hektors, dem Säugling Astyanax, dem Städte beschirmer, geschehen? Er war der letzte männliche Sproß aus Pria mos' Geschlecht, und er war ein hilfloses Würmchen, das nun schlummernd in seinen Windeln lag und als einziger Bürger Ilions fröhlich lächelte. Die meisten der Könige waren nach dem endlich errungenen Sieg von Mitleid ergriffen; ein Teil schlug vor, das 191
Knäblein mitzunehmen und es als Griechenkind großzuziehen; eine andere Gruppe riet, das Geschick des Säuglings in die Hände der Götter zu legen und ihn in Ilions Trümmern zurückzulassen; Aga memnon und Odysseus aber widersetzten sich hartnäckig all diesen Vorschlägen und beschworen die Könige, das Todesurteil zu fällen, denn niemals, so sagten sie, seien die Griechen vor kommender Rache sicher, ehe sie nicht Priamos' Stamm vollständig, bis auf den letzten Samen, vernichtet hätten. Die Versammlung jedoch zögerte, sich dieser Meinung anzuschließen; schon schien die Milde den Sieg davonzutragen, da packte Agamemnon den Säugling am Knöchel, schmetterte sein Köpflein wider die Mauer und warf ihn dann aufs Schlachtfeld hinunter. »So sei denn der Streit geendet, wie die Ver nunft es gebietet«, rief der Oberbefehlshaber den murrenden Für sten zu, und Hera, die voll Sorge befürchtet hatte, daß doch noch einer der verhaßten Brut am Leben bleiben könne, nickte erfreut zu dieser Untat. Die Griechen bestiegen ihre Schiffe; auf dem Deck sangen und lärmten die zechenden Sieger, und aus dem Schiffs raum drang das Schluchzen der gefangenen Kinder und Frauen. Günstiger Wind; die Schiffe glitten leicht über die gekräuselte Flut, vorbei an Kap Tenedos und südwestwärts zur Insel Lemnos, und bald war von Troja nichts mehr zu sehen als eine schwarze Säule Rauch, die in den Lüften wie ein Schirm sich verbreiterte, ehe sie im hellen Himmel verging. Frische See, guter Wind; die Schiffe jagten, die Segel gebläht, über das Meer hin, und Ajax der Lokrer lachte und jubelte am fröhlichsten von allen griechischen Königen, wäre er doch vor einer Stunde noch um ein kleines mit Steinwürfen in den Hades getrieben worden. So sang er denn laut und pries die Güte und das sorgende Walten der Oberen, und der Himmel war strahlend blau und wolkenlos, und Ajax hob einen Pokal süßen Weins an die Lippen, da sandte Athene einen Blitz, der das Meer spaltete und das Schiff des Mannes, der ihr Standbild umgestoßen hatte, in den Abgrund riß. Voll Schauer sahen es die Griechen, und ihr Weisester sprach: »Gebt euch nicht zu früh der Freude hin, Achaier, noch sind wir nicht in der geliebten Heimat, 192
und noch wissen wir nicht, welche Fährnisse und Plagen die Un sterblichen uns zugedacht haben!« Der dies aber ausgesprochen hatte, war kein anderer als Odysseus gewesen, und er sollte nur zu furchtbar Recht behalten: Zehn Jahre, so lang wie der Krieg vor Troja gedauert, war es dem Ärmsten bestimmt, vom Zorn des Poseidon verfolgt durch die Meere zu treiben, ehe er seinen Fuß wieder auf Ithakas Boden setzen durfte. Zehn Jahre ungewisser Fahrten – aber davon handelt unser nächstes Buch.
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dysseus, Sohn des Laertes, Gatte der Pene lope, war König auf Ithaka. Sein Land, eine Insel im Ionischen Meer, war steinig und überstürmt von rauhen Wettern, jedoch der Fleiß und die Kunst seiner Bewohner hatten dem kargen Boden Korn, Oliven und Wein zur Genüge entsprießen und auf saftigen Weiden vielhundertköpfige Herden prächtigen Viehs: Rinder, Schafe, Schweine und Ziegen heranwachsen lassen. So lebte das Volk Ithakas in harter Arbeit und herbem Glück. Es liebte Odysseus, seinen König, der umsichtig, klug und verständi gen Sinnes und wie schon sein Vater Laertes um einen guten Rat nie verlegen war. Ob seiner Schläue nannte man ihn allerorts Odysseus den Listenreichen. Als die griechischen Stämme, zu denen auch die Bewohner Ithakas zählten, sich zum Krieg gegen Troja rüsteten und ihr Anführer auch von Ithakas König verlangte, ein Heer aufzustellen und mit ihnen zu Felde zu ziehen, weigerte sich Odysseus, sein Volk ins Schlachten zu führen. Er stellte sich wahnsinnig, als der Herold kam, ihn zum Kriegszug zu fordern. Er spannte eine Kuh und ein Schaf vor den Pflug – denn damals arbeiteten ja die Könige gleich den andern –, trieb das Gespann mit lächerlichen Reden an und säte Salz in die aufgeworfenen Furchen. Der Herold aber ließ das soeben geborene Söhnlein des Odysseus und der Penelope, Tele mach mit Namen, in den Weg der Pflugschar legen. Als Odysseus dies sah, hielt er erschrocken den Pflug an. Da wußte der Herold, daß Odysseus nicht wahnsinnig war. Odysseus rüstete also ein Heer, die Mannesblüte der Inseln – denn 197
neben Ithaka gehörten auch die kleineren Eilande Same, Dulichion und Zykanthos zu seinem Reich –, und stach mit seiner Flotte in See. Zehn Jahre währte der blutige Kampf um Ilion, die Festung Troja, dann war, durch eine List des Odysseus, Troja besiegt, und die Überlebenden kehrten heim. Mit zwölf Schiffen und den fünf hundert Kriegern, die ihm nach dem männermordenden Schlachten um Ilion noch geblieben waren, begab sich auch Odysseus auf die Heimfahrt, doch da er und seine Gefährten zweimal den Zorn der Götter erregten – wir werden davon noch vieles berichten –, war es ihm nicht wie den anderen griechischen Fürsten vergönnt, seine Mannschaft in die Heimat zu führen. Zehn Jahre lang mußte er von Fährnis zu Fährnis durch alle Schrecken und Greuel und Lei den treiben, die ein Mensch nur ertragen kann, und dabei all seine treuen Kameraden und all seine Schiffe verlieren, um schließlich, zu einem Zeitpunkt, den die Götter zu bestimmen sich vorenthielten, elend und nackt als Fremder sein Vaterland wiederzusehn. Von den Abenteuern der qualvollen Heimkehr handelt dieses Buch.
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ODYSSEUS KOMMT ZU DEN PHAIAKEN
Die Versammlung der Götter ehn Jahre waren vergangen, seit Odysseus mit seinen Gefährten von Troja die Heim fahrt angetreten, und noch immer war es ihm nicht gelungen, zu seinem Weib Penelope und seinem Sohn Telemach zurückzukehren. Das jammerte schließlich auch die Götter, denn wenn sie auch Unsterbliche waren, so fühlten sie doch ebenso wie Menschen fühlen, und Jammer und Erbarmen waren ihren Seelen nicht fremd. Der einzige Unerbittliche war der Meergott Poseidon, der mit dem dreizackigen Speer alle Salzflut der Welt beherrschte. Er konnte Odysseus nicht verzeihen, daß er seinen, Poseidons, Lieblingssohn, den einäugigen Riesen Polyphem, geblendet hatte – auch davon wird noch vieles und Grausames zu berichten sein. Aus welcher Not auch immer Odysseus bei dieser Blendung gehandelt hatte. Poseidon war nicht zu versöhnen; er hatte gelobt, Odysseus bis ans Ende seiner Jahre durch die schäumende See in immer neue und immer qualvollere Irre zu hetzen und ihn schließlich in Verzweif lung sterben zu lassen. Nach seinem Willen hätte Odysseus die Heimat nie wiedergesehen. Nun fügte es sich, daß eines Tages im fernen Äthiopien, wo das Ende der Welt lag und die Menschen einen schwarzgelockten Dop pelkopf trugen, Poseidon ein prachtvolles Opfermahl von hundert Stieren und Widdern bereitet wurde. Frohgestimmt eilte der Meer gott dorthin und erfreute sich des duftenden Bratens, denn die Götter Griechenlands aßen und tranken wie die sterblichen Men schen auch, und sie aßen und tranken gern und viel und konnten, wenn der Opfervorrat reichte, eine Woche lang an der Tafel sitzen. 199
Diesen günstigen Umstand nützte Zeus, der oberste aller Götter, der den Donner schüttelt und den Blitz auf die Erde hinabwirft und auf dessen Schultern der mächtige Adler sitzt, um eine Rats versammlung aller Götter einzuberufen. So kamen denn die Himmlischen in ihrer Halle aus Wolken und Luft auf dem Gipfel des hohen Olymp zusammen, um über das weitere Schicksal des Odysseus zu beraten. Pallas Athene, die Tochter des Zeus, die Schirmherrin der Stadt Athen und aller Künste und Wissenschaften, die dem verständigen und klugen Odysseus besonders zugetan war und ihm beistand, wo immer sie es vermochte, nahm als erste das Wort. »Seht, ihr Un sterblichen«, so sprach sie und teilte mit einer Bewegung der Rech ten den Nebeldunst, der die Erde und das Meer bedeckte, »seht, Unsterbliche, hinab auf die Insel Ogygia! Schon sieben Jahre schmachtet dort der unglückliche Odysseus in der Gefangenschaft der zauberkundigen Nymphe Kalypso, die ihn zum Mann begehrt und so lang um ihn zu werben gedenkt, bis er sie endlich erhören wird! Sieben Jahre schon widersteht der edle Dulder ihrem Be gehren und sehnt sich heim zu seinem Weib und seinem Sohn und seinem Volk und sitzt am Strand und birgt den Kopf in die hohlen Hände und klagt und schluchzt, daß es die stummen Fische jam mert – vermögt ihr solch Elend ohne Mitgefühl anzuschauen, ihr, die ihr doch Götter seid? Und seht nun, Unsterbliche, hinab auf die Insel Ithaka! Leer steht der Thron im Königspalast; verwaist liegt das Land und verödet die Fluren; eine Schar von wüsten Freiern, die zuchtlose Jugend des Königreiches, hat sich in Pene lopes Palast niedergelassen und wirbt um die Hand der Gebieterin und damit um den Herrschersitz, denn alles Volk hält ja Odysseus für tot! Vier volle Jahre schon vergeuden diese Lotterbuben in schamlosen Gelagen den Reichtum des Landes, schlachten das Vieh ab, leeren den gehüteten Keller, zwingen Knechte und Mägde, ihnen zu dienen, und bald werden sie auch die edle Penelope, die ihnen vier Jahre tapfer widerstanden hat, zwingen, mit einem der Freier das Lager zu teilen. Erbarmt euch, Unsterbliche, wenigstens 200
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Penelopes, wenn ihr schon Odysseus mit Zorn verfolgt. Erbarmt euch des Jünglings Telemach, erbarmt euch des Volkes von Ithaka! Erbarmt euch auch des Dulders selbst!« So sprach Athene, und die Götter hörten sie an, und Tränen traten in ihre Augen, denn die Götter Griechenlands litten und liebten wie Menschen auch. Sie alle sprachen für die Heimkehr des Odys seus, und schließlich erhob sich Zeus, das Urteil zu sprechen. »Poseidon wolle seinen Groll bezähmen und unserem Willen ge horsam sein«, verkündete er. »Odysseus soll nun in die Heimat zurückkehren und die Freier vertreiben, darum möge meine Toch ter Athene nach Ithaka eilen, um Telemach Mut und Kraft zu geben und ihn auf die Rückkehr des Vaters vorzubereiten; Hermes aber, der Götterbote mit den geflügelten Schuhen, möge nach Ogygia reisen und der Nymphe Kalypso unser Gebot überbringen, Odysseus freizugeben und ihm zur Heimkehr zu verhelfen. So soll es unser Wille sein!« Telemach s geschah, wie Zeus es ausgesprochen. Athene eilte nach Ithaka und suchte in der Gestalt eines Sterblichen, des väterlichen Freundes Mentor, Telemach auf, der traurigen Herzens unter den zechenden Freiern weilte, die in der hohen Halle auf Schaffellen hockten und sich mit Brettspielen die Zeit vertrieben. Als der Jüngling den Fremden unterm Tor stehen sah, sprang er auf und eilte zu ihm, ihn in den Palast zum Mahl zu laden. Die Göttin in Mentors Gestalt folgte der Einladung gern. Telemach reichte dem Gast von den besten Speisen und würzigsten Weinen und beklagte dabei bitterlich den Tod des Vaters und das Hausen der Freier; Athene aber bedeutete ihm, es sei wohl möglich, daß sein Vater noch lebe und zurückkehren und seinem Sohn im Kampf gegen die Freier beistehen werde, den Telemach mit eigener Kraft 202
nun beginnen müsse. Da sie dies sprach, berührte sie die Schulter des Jünglings, und Telemach fühlte einen Strom von Mut und Zuversicht in sein Herz fließen; es war ihm, als spannten sich all seine Muskeln und Nerven, und er atmete tief und hob das Haupt. »Ermanne dich, Telemach«, sprach Athene, »du bist doch schon in dem Alter, da man zu den Kriegern zählt! Warte drum nicht taten los ab, ob der Vater zurückkehrt, rufe schon morgen das Volk zur Beratung zusammen und verlange, daß die Rotte der Freier den Palast räumt und, statt herumzuprassen, die Felder und Äcker bestellt! Dann aber rüste noch zur Nacht ein Schiff und eile nach Pylos und von dort weiter landein nach Sparta, um nach deinem Vater zu forschen. Vielleicht erfährst du von seinem Schicksal, wenn nicht, so fahre getrost nach Ithaka zurück, ich werde dir immer Beistand leisten!« Dies aber sprach sie nicht nur, weil sie wußte, die Freier würden Telemach töten, wenn er jetzt daheim bliebe; sie wollte vor allem, daß der Jüngling auf der Meerfahrt und in fremden Landen zum Manne reife. Dann verwandelte sie sich aus der Gestalt Mentors in einen Vogel und flog durch den Kamin himmelwärts. Da wußte Telemach, daß es ein Gott gewesen war, und er fühlte sich gestärkt und gekräftigt wie nie zuvor. Am nächsten Tag rief er – was zwanzig Jahre nicht mehr geschehen war – das Volk zur Ratsversammlung zusammen und forderte dort die Räumung des Königspalasts und das Ende der Gelage. Der Freier aber waren über hundert, und so verlachten und verhöhnten sie den jungen Eiferer und kehrten zu Gesang und Tanz und Flötenspiel zurück und befahlen, das Doppelte an Hornvieh zum Festschmaus zu schlachten, als es an andern Tagen üblich war. Am Abend stach Telemach heimlich mit zwölf Getreuen in See und steuerte den Hafen von Pylos an. Als die Freier am nächsten Mor gen die Flucht Telemachs gewahrten, schrien sie Verrat, und Anti noos, der lärmendste und frechste von ihnen, sprang auf und rief: »Ein Schiff gerüstet, Freunde, und dem Treulosen nachgesetzt! Gestern hat er das Volk wider uns aufgewiegelt; heute fährt er umher, ein Heer gegen uns zu sammeln; morgen bricht er mit frem 203
den Kriegern ins eigene Vaterland ein! Und seine Mutter, die schöne Penelope, ist die Treuloseste von allen: Hat sie sich nicht als Frist bis zur Hochzeit die Zeit ausbedungen, die sie braucht, ihr Brautkleid fertig zu weben, und haben wir sie nicht vier Jahre lang Tag um Tag weben und dennoch nicht fertig werden sehen und um Gründe für solch ein Wunder gerätselt? Nun liegt alles klar auf der Hand: Eine Magd, die mir sehr zugetan ist, hat die Herrin beobachtet, wie sie zur Nacht heimlich wieder auftrödelte, was sie am Tage gewebt hatte – Freunde, ringsum ist schnöder Verrat am Werk, und der sei nun zu Ende!« Die Freier schrien vor Empörung auf, als sie dies hörten. Von einem arglosen Schwätzer hatte Antinoos bald erfahren, daß Tele mach nach der Hafenstadt Pylos und dann weiter landein nach Sparta reisen und selben Wegs zurückkehren wolle. Telemach jetzt nachzusetzen sei nicht mehr möglich, meinte Antinoos, der Wind wehe jetzt aus ungünstiger Richtung; man möge aber, so riet er, in die Meerbucht, die Ithaka von Same trennt, einen Segler auf Lauer legen und den Jüngling samt seinen Begleitern auf der Rückfahrt überfallen und erbarmungslos in Stücke haun. Penelope aber wolle man noch eine Frist von vierzig Tagen zugestehen, sich zu ent scheiden; habe sie bis dahin ihre Wahl nicht getroffen, möge statt ihrer das Los bestimmen, wer den Platz auf ihrem Nachtlager und Ithakas Königsthron einnehmen solle. Bei Kalypso ermes eilte, wie die Götterversammlung ihm aufgetragen, zur Nymphe Kalypso. Wie eine Möwe über die Wasser fliegt und von Zeit zu Zeit ihr Gefieder in den Wellen netzt, so flog der Götterbote in Windeseile über das Meer hin, und seine geflü gelten Schuh streiften oftmals die Wogenkämme, daß der Gischt 204
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bis zu den Wolken sprühte. In den Händen trug Hermes den be rühmten, von zwei Schlangenleibern umwundenen Flügelstab, der ihm als Führer diente und der ihn nun über die Unendlichkeit der Wasserwüste zur fernen Insel Ogygia zog. Als Hermes das Ufer betrat, war es ihm, als ob er ein Schluchzen und Klagen höre, allein er achtete nicht darauf und drang rasch ins Innre der Insel, bis er vor der Behausung Kalypsos stand. Er fand die Nymphe vor ihrer Wohngrotte sitzen; ihr langes braunes Haar wallte in schöngeschwungenen Locken bis auf die Schultern, und mit ihren schmalen schneeweißen Händen wirkte sie, den Faden von einer goldenen Spule abhaspelnd, ein Festgewand. Auf einem dreifüßigen Herd zu ihren Füßen brannte ein offenes Feuer aus Zedern- und Zitrusbaumscheiten, das ebenso köstlichen Duft wie Wärme spendete. Rings um die Grotte erhob sich ein Hain von Pappelweiden, Zypressen und Erlen, in deren grünenden Kronen Habichte, Eulen und Falken nisteten, und über der Grotte sproß, sie überwuchernd, ein Weinstock, der schwere purpurfarbene Trau ben trug. Vier Quellen ergossen sich aus dem Felsen und strebten zum Meer hin, und wo immer sie über die Erde flossen, keimten an ihren Rändern Klee, Eppich und Rosmarin. Staunend stand Hermes vor dieser blühenden Pracht, und als nun die Nymphe mit ihrer silbernen Stimme zu singen anhob, hätte er noch gern eine Weile lauschend gestanden, allein Kalypso hatte ihn schon gewahrt und fragte ihn nach seinem Begehr. Sie lud ihn an einen Tisch im Freien und reichte ihm auf goldenen Schüs seln Ambrosia, die Lieblingsspeise der Götter, und schenkte röt lichen Nektar aus, einen Wein, den die Himmlischen allen andern Getränken vorziehn, da er ihnen Unsterblichkeit verleiht. Hermes, von der langen Wanderung erschöpft, aß und trank nach Herzens lust, dann unterbreitete er der Nymphe Zeus' Gebot. Kalypso erschrak, da sie diese Worte hörte. Sie barg ihr Gesicht in den Händen, seufzte tief auf und sprach: »Ach, wie grausam und nei disch seid ihr doch, ihr thronenden Götter da droben! Keiner der euren gönnt ihr das Glück der Liebe mit einem Sterblichen und 206
vergnügt euch doch selbst ohne Scham mit den Töchtern der Erde! Aber was bleibt mir übrig, als das Gebot des Herrschers zu erfül len. Furchtbar wäre sonst seine Rache. Möge Odysseus denn nach Ithaka reisen – ich will ihm sogar Rat und Tat zur glücklichen Heimfahrt leihn!« Sie sprach dies und eilte zum Strand hinunter, wo, wie alle Tage, Odysseus weinend und schluchzend saß und über die schimmernde Flut sehnsuchtsvoll in die Richtung blickte, in der die unerreichbare Heimat lag. Die Göttin – denn auch die Nymphen gehörten zu den Unsterblichen, wenngleich sie auch im Rang weit niederer waren als die Himmlischen, die den Olymp bewohnten – reichte ihm eine doppelt geschwungene Axt aus gehärtetem Eisen, an einem Stiel aus Olivenholz befestigt, und sprach: »Sieh hier, Odysseus, ich überbringe dir das sichere Unterpfand deiner Heimkehr! Zeus hat mir befohlen, dich freizugeben, und stärker als meine Liebe zu dir ist die Furcht vor dem Zorn des Göttervaters! Laß darum ab zu jammern, nimm die Axt zur Hand und mach dich ans Werk und fälle Pappeln und Tannen, schäle die Stämme dann ab und ver klammere sie zu einem Floß, wälz es mit Hebeln und Rollen an die Küste und steche getrost in See, ich will dir günstige Winde senden, die dich wohlbehalten zu deinem Vaterland bringen wer den!« Des Odysseus Herz jubelte, als er diese Worte vernahm; er ergriff die Axt und fuhr prüfend mit dem Nagel über die Schneide, dann machte er sich sogleich an die Arbeit und mühte sich rastlos vier Tage und vier Nächte lang. Er fällte zwanzig Bäume, zehn Pappeln und zehn Tannen, hieb die Äste ab, kappte Wurzeln und Kronen, entrindete die zu gleicher Länge gehauenen Stämme und verband sie dann mit eisernen Nägeln und Klammern, hierauf zog er einen Bord von Pfählen um das so gewonnene Verdeck und nagelte um dies Gerüst fugenlos Bretter zu einer festen Brüstung, und schließ lich richtete er in der Mitte des Floßes den Mastbaum mit der Rahe auf, bestückte ihn mit einem Segel aus schwarzem Leinen, be schwerte das Deck mit Ballast aus Steinen und Sand, setzte das 207
Steuerbrett ein und wälzte darauf mit Hebeln und Rollen das Schiff zur Küste. Dann aber eilte er zur Nymphe Kalypso in die wein laubverhangene Grotte, und wenn er, ihrem Willen zu trotzen, sieben Jahre lang Nacht um Nacht neben der Göttin geruht hatte, ohne sie zu berühren, schloß er sie nun zum Abschied in die Arme, und seine wettergehärtete Wange lag auf der ihren wie die Last eines Schiffs auf der weichen seidenen See. Der Schleier der Leukothea m nächsten Morgen – es war dies der zwölfte Tag nach der Beratung der Götter, und Tele mach war gerade in Sparta eingetroffen – schob Odysseus sein Floß in die See. Die Nymphe hatte ihn mit einem Gewand aus Purpur und Goldstaub bekleidet und zwei Ziegenfellschläuche kräftigen Weins, einen Schlauch klaren Quellbrunnens und einen geflochtenen Korb voll der herrlichsten Speisen aufs Deck gelegt, und nun befahl sie dem lockren Südwest, das Segel mit vollen Backen zu blähen, und sie mahnte ihn auch, nicht zu erlahmen, ehe Ithaka erreicht wor den sei. Leicht glitt das Floß in die silberne Meerflut hinaus, und siebzehn Tage lang schwamm, vom gleichmäßig wehenden Wind getrieben, Odysseus über die unendliche, sanft gekräuselte Weite dahin und konnte am achtzehnten Tag das Land der Phaiaken, das Zwischenziel seiner Fahrt, am Horizont dunkel und wie ein Schild knauf gebuckelt erblicken, da kehrte mit gewaltig ausholenden Schritten Poseidon, der Herrscher des Meeres, aus dem fernen Äthiopien in die heimatliche Ägäis zurück. Er stutzte, als er Odys seus – er erkannte ihn sofort – auf einem Segler erblickte, und das Herz grimmte ihn, und er schüttelte zornig das Haupt. Also haben die Götter mich übertölpelt, da ich in dem fernen Äthiopien weilte, dachte er wütend, aber ich bin, mein Odysseus, gerade zur rechten 208
Zeit gekommen; du sollst, elender Frevler, wahrhaftig noch Jam mers die Fülle kosten! Also dachte er und griff mit der Linken in den Himmel und fegte alles Gewölk zusammen; zugleich rührte er mit der Rechten, in der er den Dreizack hielt, das Meer wie einen Topf, bis es wallte und siedete, und er preßte die Wolken aus wie Schwämme, daß die stürzende Flut den Tag verdüsterte, und zugleich brüllte er nach allen Winden, und sie schnoben und brausten und heulten gehor sam heran, und Meer und Sturm und Sturzflut vom Himmel misch ten sich ineinander und klatschten mit einem ungeheuren Schlag über Odysseus' Floß. Da wußte der Dulder, daß Poseidon ihm nachstellte, und wollte mit bittren Worten sein Schicksal verfluchen, aber er hatte die Lippen noch nicht geöffnet, da donnerte die tosende Woge schon auf ihn nieder und schlug ihm das Steuer aus den Händen, und da krachte auch schon der Mastbaum zusammen und zerknallte das Segel und zersplitterte den Bord; bald in die Höhe geschleudert, bald in die Tiefe gedrückt, trieb das Floß hilf los zwischen Wasser und Wasser in düsterer Nacht, und das pur purne, mit Goldstaub durchwirkte Gewand sog sich voll Salz und Flut und wurde schwer wie ein Stein. Wie der Herbststurm ver dorrte Disteln über die Steinhalden wirbelt, so wirbelten die Stürme den Schwergeprüften, und er wäre verloren gewesen, wenn nicht Leukothea, eine der zahlreichen Meeresgöttinnen, die sich in der Ägäis mit Delphinen und muntren Seepferdchen tummeln, ob des Sturmes verwundert aus der Tiefe getaucht und bei dem An blick des Ärmsten von Mitleid angerührt worden wäre. Wie ein Wasserhuhn schoß sie aus den strudelnden Schnellen, setzte sich auf das Floß und sprach mit menschlicher Stimme: »Unseliger, wie sehr mußt du unsern mächtigen Herrscher Poseidon beleidigt haben, daß er dir also zürnt? Aber die Himmlischen haben ja be schlossen dich zu retten, und also will auch ich mich an diesen Spruch binden, wenngleich mir Poseidon dann zürnen wird. Wirf deine Kleider ab, sie ziehen dich ja nur in die Tiefe, und nimm statt ihrer diesen Schleier und schwimme getrost und tapfer dem 209
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Land zu; der Schleier wird dich tragen, als wär er ein Gürtel von Kork! Wenn du aber das Ufer erreicht hast, wirf ihn ins Meer zurück; die Wellen werden ihn mir dann wiederbringen!« So sprach die Göttin und löste den Schleier von ihrer Brust und fuhr wie ein Wasserhuhn wieder zurück in die gurgelnde Tiefe; Odysseus aber dachte, sie, die Meeresgöttin, stehe trotz ihrer Rede auf Seiten Poseidons und wolle ihn mit einer List verderben. Er harrte drum auf dem mast- und brüstungslosen Floß aus; Poseidon aber, der in seinem Wüten Leukothea nicht bemerkt hatte, stieß mit dem Dreizack nach dem Wrack und zerspellte es zu tausend Splittern, die das Wasser hinwegschwemmte, wie der Wind die Spreu von der Tenne fegt. So blieb Odysseus nichts anderes übrig, als, auf einem Balken reitend, die Kleider vom Leib zu streifen und, als auch der Balken unter ihm wegglitt, sich in die rasende Flut zu stürzen und, mit kräftigen Stößen die Wogen teilend, dem Land zuzuschwimmen. Als Poseidon ihn so schwimmen sah, da lachte er wild und schrie: »Immer versuche dein Heil mit Schwimmen, du Narr! Es wäre besser, du ließest dich gleich von den Wassern begraben und fän dest einen schnellen Tod! So aber schwimme denn, schwimm, bis die Kräfte dir schwinden! Ich glaube, diese Stunde wird die bit terste deines Lebens sein!« Dann brauste er, ohne sich weiter um das Menschlein zu kümmern, seiner Wohnung aus Kristall und Korallen am Meeresgrund zu. Athene aber, die heimliche Schützerin des Weitgereisten, stieg eilends vom Himmel herab und stillte die Winde bis auf den Nord wind, der Leukotheas Schleier wie ein Segel blähte und den Leid geprüften zwei Tage und Nächte lang durch die langsam sich glät tende See vor sich herblies und ihn schließlich an den steinigen Strand des Phaiakenlandes warf. Der Schiffbrüchige wäre von den messerscharfen spitzen Kieseln zerschlitzt worden, hätte Athene ihn nicht aufgefangen und sanft in den weißen Sand hinter der Kiesel küste gebettet, wo er, zu Tod erschöpft, eine Zeitlang liegenblieb, ohne sich rühren zu können. Das Salzwasser troff ihm aus Mund 212
und Nase, sein Atem ging kurz, und seine Haut war vor Kälte erstarrt. Als er endlich wieder zur Besinnung kam, küßte er die Erde, dankte den Göttern für die glückliche Rettung und warf Leukotheas Schleier ins Meer zurück, das ihn sofort in die Tiefe zog. Dann raffte er all seine Kräfte zusammen und wankte bis zu einem Wäldchen, um sich vor dem schneidenden Nordwind zu schützen, und dort, im Wurzelgewirr zweier ineinander verwachse ner Ölbäume, richtete sich der übermüdete ein Lager aus Moos und Laub, deckte sich mit abgefallenen Blättern zu und schlief, die be gütigende Hand Athenes auf seiner Stirne spürend, nach der wil den Fahrt friedvoll und ruhig ein. Odysseus vor Nausikaa ls Athene sah, daß ihr Schützling unbehelligt schlummerte, eilte sie zur Stadt der Phaiaken – denn die meisten Völker waren damals nur in einer Stadt versammelt – und schwebte ins Schlafgemach der schönen Nausikaa, der Tochter des Königs Alki noos. Das Schlafgemach war wohlverschlossen, allein Athene durchdrang die Mauern, so wie das Licht das feste Fenster durch dringt. Sie nahm die Gestalt der Lieblingsgespielin Nausikaas an, beugte sich über den Kopf der Schlafenden, berührte leicht ihre Augen, so daß das Mädchen nun durch die geschlossenen Lider sehen konnte, und sprach: »Was bist du doch für ein lässiges Mäd chen, Nausikaa! Sieh nur, wie schlampig und verschmutzt deine kostbaren Kleider herumliegen, und dabei ist dein Hochzeitstag doch schon so nahe! Laß uns gleich in der Früh zum Strand fahren und tüchtig waschen; ich will dir auch ordentlich zur Hand gehn!« Also redete Athene zu der Schlafenden, dann kehrte sie zum Olymp zurück. Am Morgen entsann sich Nausikaa ihres seltsamen Traumes und 213
eilte zu ihrem Vater Alkinoos. »Väterchen, liebes«, sprach sie und kraulte seinen weißen Bart, »laß mir doch einen Wagen bespan nen, daß ich meine Hochzeitskleider zum Strand fahre und einen Waschtag halte; ich will auch deine Wäsche und die meiner Brüder mitnehmen, das geht dann schon in einem hin!« Alkinoos freute sich über den Fleiß seiner Tochter und gewährte ihr gern, was sie verlangte. Schnell war ein Wagen bespannt und beladen, und rasch war auch eine Schar von Gespielinnen zur Stelle, denn die Arbeit sollte ja fröhlich verrichtet und die Ge legenheit zum Baden wohl genutzt werden. Die Mutter legte den Mädchen einen Weidenkorb voll Honiggebäck und Obst auf den Hemdenstapel und stellte eine Flasche Olivenöl dazu, damit sich das junge Volk nach dem Bad salben und vor dem Sonnenbrand schützen könne. Dann ergriff Nausikaa die purpurnen Zügel, zog die Peitsche durch die Luft, daß es schnalzte und knallte, und mit Geschwätz und Gekicher und hellem Lachen, denn es waren ja alle noch halberwachsene Mädchen, ging die Reise durch einen Hain von Mandelbäumen hinab an den Strand. Dort angekommen, spannten die Mädchen die Zugochsen aus und ließen sie in einem nahen Kleefeld weiden, dann trugen sie die Wäsche in eigens dafür ausgehobene und mit Steinen ausgelegte Kuhlen, wässerten sie, bestreuten sie mit Asche und Lauge und stampften sie dann kräftig mit den Füßen, so wie manche Wein bauern die Maische mit ihren Füßen treten. Dann spülten sie die gereinigten Stücke im Meer und breiteten sie schließlich, mit Kie seln beschwert, zum Trocknen aus. So war denn die Arbeit getan, und es begann das Vergnügen; die Mädchen legten ungescheut, denn sie wußten ja keinen Beobachter nahe, ihre Kleider ab, sprangen nackt ins Wasser und tummelten sich dort wie die Delphine, schwammen und tauchten und haschten und neckten einander oder ließen sich von den sanften Wogen schaukeln wie weiße Seerosen, und als sie genug gebadet hatten, schwammen sie an Land und salbten sich den Leib von der Stirn bis zum Fuß. Dann wurde das Weidenkörbchen geplündert, und es 214
wurde geschmaust und gelacht und geschwatzt und gesungen, und zum guten Beschluß wurde Ball gespielt. Als Athene, die sich wieder eingefunden hatte, aber sah, daß Odys seus immer noch schlief, während einige der Mädchen schon die Wäsche auflasen und falteten und andere die Ochsen schon wieder anschirrten, lenkte sie den Ball, den Nausikaa gerade einer Ge spielin zuwarf, zu einem Meerstrudel hin, der ihn schmatzend ver schlang. Da kreischten die Mädchen auf, denn der Ball war mit Goldfäden durchwirkt und überaus kostbar, und dies Gekreisch und Geschrei weckte Odysseus auf. Weh mir, dachte er sofort, zu welchem Volk bin ich wieder verschlagen worden? Sind es gottlose Räuber und fürchterliche Riesen, oder hat mich das Geschick end lich zu einem frommen Volk geführt, dem das Gastrecht heilig ist? Ich höre Gekreisch und Geschrei von Mädchen – bin ich bei den Nymphen gelandet oder etwa bei den grausamen, männer mordenden Amazonen? Einerlei; ich muß selbst sehen, woran ich bin! Er raffte sich auf, brach einen Ölzweig ab, seine Blöße zu decken, denn er hatte ja seine Kleider im Meer verloren, und als er so aus dem Gebüsch trat: nackt, den Ölzweig in der Faust, Gesicht und Körper schlammverschmiert, mit wirren verfitzten Haaren und die Augen vom Salzschaum gerötet und triefend, da entsetzten sich die Mädchen und entflohen. Auch Nausikaa wollte enteilen, doch die Göttin Athene legte unsichtbar ihren Arm um die Schulter der Königstochter und hauchte ihr Mut ins Herz, so daß sie stehenblieb und den Fremdling tapfer erwartete, obwohl ihre Knie vor Angst zitterten. Es war Sitte, daß ein Schutzflehender sich vor jener Per son, um deren Beistand er bitten wollte, niederwarf, ihre Knie umschlang und in dieser demütigen Stellung seine Rede begann, allein Odysseus dachte, daß er das holde Mädchen mit solch dreister Berührung nur schrecken könne, und so blieb er stehen, wo er stand, und hob an zu reden: »Hohe«, so sprach er, »wer immer auch du seiest, eine Göttin oder ein Kind der Erde, hilf mir elend Gestrandetem, ich flehe dich an!« 215
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Er pries, wie es üblich war, ihre Schönheit und ihren Liebreiz und schilderte der Jungfrau dann seine zwanzigtägige Fahrt durch die Wüste des Meeres, und seine Worte rührten ihr Herz, so daß ihre Angst verflog und sie freundlich nickte, als der Schiffbrüchige sie um ein Tuch bat, damit er sich bedecken und sie ihn zu einer menschlichen Behausung führen könne. Nausikaa versprach dem Unglücklichen alle Hilfe. Sie rief ihre Gefährtinnen herbei und gebot ihnen, den schlammüberkrusteten Fremdling zu waschen, zu salben und schließlich mit dem kostbar sten Leibrock und Mantel ihres Vaters zu bekleiden, denn die Phaiaken waren ein frommes Volk und ehrten über alles den Wil len der Götter, der das Gastrecht heilig hieß. Die Gespielinnen aber hatten noch immer ihre Furcht nicht überwunden, und Odys seus, der das wohl sah, wollte sie nicht weiter ängstigen. Er nahm die Kleider und den Ölkrug, den Nausikaa in seiner Nähe nieder gestellt hatte, dankbar auf und zog sich in eine abgeschirmte Bucht zurück; dort säuberte er sich von Salz und Schlamm, glättete das Haar und salbte Gesicht, Brust und Glieder, und schließlich legte er Leibrock und Mantel des Königs an, und als er sich nun den Mädchen wieder zeigte, erschien er ihnen, die sie doch noch eben ein Meerungeheuer in ihm gewähnt hatten, nun wie ein Gott, und sie staunten über diese wundersame Verwandlung. Nausikaa aber bot dem Gast Speise und Trank an, dann bestieg sie den Wagen mit dem hochgetürmten Wäschestapel und sagte Odysseus, sie werde seine Ankunft ihren Eltern melden; er selbst möge ein Weil chen noch warten und ihr erst in geziemendem Abstand folgen, damit er keinen Klatsch unter dem Volk errege. Dann aber möge er ungescheut den Palast betreten und als Schutzflehender der Königin Arete Knie umschlingen; die freundlichste Aufnahme werde ihm sicher sein. Nachdem sie dies gesprochen, nickte sie dem Gast freundlich zu und trieb dann das Gespann an; Odysseus aber kniete nieder, dankte der Göttin Athene für die glückliche Fügung und flehte sie um weiteren Beistand an. Athene wollte schon zur Erde hinabfahren und sich Odysseus offenbaren, allein ihr Bruder Posei 218
don stand mit gerunzelten Brauen und zornblitzenden Augen neben ihr und sah grollend auf seinen Feind hinunter, und so wagte Athene es nicht, dessen Flehen zu beantworten, und stand und schwieg. In der Stadt der Phaiaken achdem Odysseus eine Weile gewartet hatte, machte er sich auf den Weg zur Phaiaken stadt. Athene hüllte ihn in eine Wolke un durchdringlichen Nebels, damit keiner ihn sehen und etwa durch Schmähungen kränken oder gar zum Kampf herausfordern könne, und als Odysseus solcherart dem Blick Po seidons entzogen und dieser von Athenes Seite gewichen war, eilte die Göttin zur Erde hinab und nahm die Gestalt eines Phaiaken mädchens an, das am Brunnen vor der Stadtmauer Wasser schöpft. Odysseus erblickte sie und fragte sie nach dem Palast des Herr schers, und als sie ihm freundlich antwortete, begehrte der Held Näheres über das Volk der Phaiaken zu erfahren. »Wir sind den Himmlischen verwandt«, sagte das Phaiakenmäd chen, »Poseidon ist einer unserer Urahnen, und da wir ein frommes Volk geblieben sind, wollen uns die Unsterblichen wohl. Einst leb ten wir nahe den Kyklopen; wir wurden von diesen fürchterlichen turmhohen Kolossen ständig bedrängt und bedroht und vermoch ten uns ihrer grausamen Überfälle nicht zu erwehren, und da wir ein friedsames Volk sind und den Waffengebrauch scheuen, hat Zeus unsere Bitte erhört und unser Volk: Männer, Weiber, Greise, Kinder, und dazu all unser Vieh und unsere Schätze und unsere kunstvollen Werkzeuge hierher nach Scheria geführt, der seligen Insel, die weder Kriege noch Raubzüge kennt und wo darum die Menschen kein Schwert, ja nicht einmal einen Dolch an ihrer Seite tragen. Hier leben wir in glücklichem Frieden und geben uns ganz den Künsten des Schiffbaus, der Weberei, der Töpferei, des Gold 219
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und Silberschmiedens und mancher anderen Fertigkeit hin und haben es darin zur Meisterschaft gebracht; allein dies alles wirst du mit eigenen Augen bewundern können!« So sprach das Phaiaken mädchen, das die Göttin Athene war, und geleitete Odysseus über den Markt bis zum Königspalast, dann entschwand sie. Odysseus aber blieb noch immer in die Wolke aus Nebel gehüllt. Staunend betrachtete er den Palast; er war ein weitgereister Mann und hatte viele wundersame Stätten schon schauen dürfen, allein solch ein Anblick hatte sich seinem Auge noch nie geboten. Die Wände des Palastes waren zur Gänze aus gehärtetem Eisen, und ein aquamarinblaues Gesims krönte ihr metallenes Schimmern. In den innern Palast führte ein goldenes, von silbernen Säulen ge tragenes Tor mit schöner Wölbung; zu beiden Seiten des Tors hockten goldene und silberne Hunde, fähig zu bellen, die Zähne zu fletschen und sie ins Fleisch eines Feindes zu schlagen und doch nur Gebilde aus Metall und also unvergänglich und weder alternd noch jemals krankend. Im Thronsaal, so war es durch das offene Tor zu sehen, reihte sich Säule an Säule und davor, mit kostbaren Tep pichen ausgelegt, Hochsitz an Hochsitz, und neben jeder Säule stand auf einem Altar ein Jüngling aus purem Gold, der eine Fackel in Händen trug. Im Herde prasselte wärmendes Feuer, und aus dem Innenhof hörte man das Rasseln der Kornmühlen und das Geklapper der Spindeln; der Außenhof um den Palast aber war mit den prächtigsten Obstbäumen, Weinstöcken, Heilkräutern und Zierblumen bestellt. Lange stand Odysseus in diesen Anblick versunken, dann trat er an den goldenen und silbernen Hunden vorbei in die Halle und fiel vor der Königin nieder und umschlang ihre Knie, und erst in die sem Augenblick zerstreute Athene den Nebel, so daß plötzlich zu Füßen der Herrscherin ein Fremdling lag. Die Gespräche ver stummten mit einem Schlag, und alle Zechenden hielten in ihrer Bewegung inne und blickten verwundert auf den Mann, der nun im Saal lag wie vom Himmel gefallen, und der nun zu sprechen anhob, den Schutz des Herrscherpaares und ihren Beistand zur 222
Heimreise erflehte und sich, nachdem er geendet hatte, wie die Bettler es tun, in die Herdasche setzte. König Alkinoos aber stieg vom Thron, hob seinen Gast aus der Asche, hieß seinen ältesten Sohn aufstehen und dem Fremdling seinen Platz abtreten, dann wusch er, wie es die Sitte beim Mahl verlangt, dem Gastfreund die Hände und labte ihn mit Speise und Trank. Als Odysseus gegessen, zogen sich die andern Gäste zurück; der König aber und die Köni gin blieben, denn sie waren begierig, etwas von dem Schicksal ihres Gastes zu erfahren, der, wie sie sehen mußten, in des Alkinoos bestem Leibrock an ihrer Tafel saß. »Wer gab dir diese Gewänder?« fragte Arete, die Königin. »Sag test du nicht, du seiest vom Sturm hierher an unsere Küste ver schlagen worden?« »Die Kleider borgte mir eure hochherzige und schöne Tochter Nau sikaa«, erwiderte Odysseus, »ich preise euch glücklich, edles Königs paar, solch ein holdes und wackres Kind zu besitzen!« Der König lächelte, als er dies Lob hörte, und bat Odysseus, von seinen Abenteuern zu erzählen. »Das ist eine so lange Geschichte, daß ich gar nicht weiß, wo ich beginnen soll«, erklärte Odysseus, »es ist ja schon spät, und der Bericht von meiner Irrfahrt würde in dieser Nacht sicher nicht be endet sein. Laßt mich für heute denn nur sagen, daß ich ein König bin, der sein Heer und seine Flotte in den wilden Fluten verlor und sieben Jahre lang bei der Nymphe Kalypso gefangen lag, bis Zeus ihr steinernes Herz zu Mitleid rührte!« Und Odysseus erzählte von Hermes' Ankunft und vom Bau des Floßes und der Begegnung mit dem Erderschütterer Poseidon und vom rettenden Schleier der Leu kothea und schließlich endete er wieder mit einem Dank an die tapfre Nausikaa. Indes war die Nacht gekommen, und das Königs paar ließ dem Gast ein Lager aus Pelzen und Wolltüchern berei ten, und Odysseus schlummerte traumlos bis in den hellen Morgen hinein.
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Gast des Königspaares och ehe Odysseus erwacht war, erhob sich, kaum daß der Tag graute, Alkinoos von sei nem Lager und berief sein Volk zur Rats versammlung. Er berichtete von der Ankunft des Gastes und dessen Begehren. Dann schlug er den jungen Leu ten vor, eines der neuerbauten Schiffe, die weit und breit als die seetüchtigsten Segler galten, zur Ausfahrt zu rüsten und mit allem Nötigen an Speise und Trank zu versehen; die zeptertragenden Fürsten aber lud er in den Palast ein, zu Ehren des Gastes einen Festschmaus zu halten und die Kräfte im Wettkampf zu erproben. Also geschah es. Die Jünglinge rollten eines der schwarzplankigen Schiffe zum Strand und statteten es mit Mast und Segel und Ruder und Steuer aus, wie es not tat; das übrige Volk indes – und es war ja damals ein König nichts anderes als der erwählte Ratgeber und Anführer des Volkes und ein zeptertragender Edler nur der Älteste seines Geschlechtes – eilte zum Festmahl in den Palast. Nach Her zenslust wurde geschmaust und gezecht, und als der gröbste Mor genhunger gestillt war und sich die silbernen und goldenen Becher das dritte Mal gefüllt hatten, erhob sich der berühmte blinde Sän ger Demodokos, tastete nach der Harfe, die über seinem Haupt an einer Säule hing und hob an, die Tafelrunde mit einer Erzählung in Versen zu unterhalten. Aus den vielen Heldengesängen, die er in seinem Gedächtnis barg, wählte er den aus, den er für den schön sten und spannendsten hielt: die Geschichte vom Hölzernen Pferd. Sie berichtete, wie die Griechen zehn Jahre lang vergeblich Troja belagert und es nicht hatten einnehmen können, bis der listenreiche Odysseus auf den Gedanken kam, ein riesiges hohles Pferd aus Holz zu bauen und, nachdem man am Tag den Abzug des griechi schen Heeres vorgetäuscht hatte, es nachts, mit einer ausgewählten 224
Mannschaft angefüllt, heimlich vor das Tor der Festung zu rollen, worauf prompt geschah, was Odysseus vorausgesehen hatte: Die Troer, trunken vor Freude über den Abzug des feindlichen Hee res, schoben das Pferd, in dem sie ein Geschenk der Götter wähn ten, in die Burg; zur Nacht stieg die heimliche Besatzung hinaus, machte die Torwachen nieder, entriegelte die Festung, und das griechische Heer brach über die ahnungslos Schlafenden ein und hieb sie bis zum letzten Mann zusammen. Von all diesen Taten und Listen sang der blinde Demodokos, und immer, wenn er die Namen Troja und Odysseus aussprach, begann der Fremde tief zu seufzen und seine Augen wurden feucht, und er wischte sie mit dem Ärmel des Mantels ab. Dem aufmerksamen Alkinoos entging das nicht. »Unser lieber Gast scheint unwohl«, sprach er, »die Luft in der Halle ist auch stickig; gehn wir ins Freie, uns an Wettspielen zu ergötzen!« So wandelten alle hinunter zum Markt, und die Jüng linge des Phaiakenlandes maßen ihre Kräfte und durchrasten die stäubende Aschenbahn und schleuderten den Speer und die kup ferne Scheibe. Odysseus hielt sich zurück; er war müde und wollte die Kräfte für die Heimreise schonen, und der Sinn stand ihm auch nicht nach Wettstreit und Spiel, doch als einer der jungen Phaiaken ihn schmähte und ihn der Angst und der Schwäche zieh, da er sich nicht an den Spielen beteiligte, ergriff er zornig den Diskus und, von Athene gestärkt, warf er ihn weit über die Wurfmarke des kampftüchtigsten Phaiaken hinaus. »Wer seine Kräfte an mir erproben will, der möge kommen«, rief Odysseus, »ich bin bereit, mit den Fäusten, dem Schwert oder als Ringer zu kämpfen! Es soll mich hier keiner mehr einen Feigling schelten!« Er blickte herausfordernd um sich, doch niemand wagte sich mit Odysseus zu messen, und der Phaiakenkönig entschuldigte sich ob der vorwitzigen Worte eines der Seinen und erklärte, daß sie sich in solchen rauhen Kampfarten nicht zu üben pflegten, ge mäßer seien ihnen Ballspiel und Reigentänze und Lieder zur Laute, und die Jünglinge zeigten dem Gast auch Proben ihrer sanften und anmutigen Kunst. Zum Abschluß der Spiele aber übergab Alkinoos 225
seinem Gastfreund als Ehrengeschenk zwölf erlesene Mäntel und Leibröcke, einen Dreifuß und ein kunstvoll geschmiedetes Silber becken, einen Barren puren Goldes und ein Schwert mit erzener Klinge, silbernem Knauf und einer Scheide aus Elfenbein. So ehr ten die frommen Phaiaken den Gast und in ihm die Götter und sicherten sich also das Wohlgefallen der Himmlischen. Danach aber
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begab sich alles Volk in den Palast, umringte den weitgereisten Fremden, und Alkinoos bat ihn, nun einen getreuen Bericht seiner Fahrten und seiner Abenteuer zu geben; man sei, so sagte der König, geneigt, ihm bis zum Morgengrauen zu lauschen, und an Speise und Wein sich zu stärken und zu erquicken, werde gewiß kein Mangel sein.
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ODYSSEUS ERZÄHLT SEINE IRRFAHRT
Die Schlacht mit den Kikonen s war Stille im Saal, als der König geendet hatte, und nur das Herdfeuer prasselte. Odysseus aber stärkte sich mit einem Becher Wein für seine lange Erzählung, ließ seinen Blick über die lauschbereite Runde hin kreisen und begann also zu sprechen: »Es beliebt dir, mein König, mich nach meinen Fahrten und Fährnissen zu befragen, ach, ihrer sind so viele, daß ich nicht weiß, wo ich beginnen soll! Höre darum erst meinen Namen. Ich bin – «, und ein Raunen ging durch die Halle, als kund wurde, wer da an der Tafel saß –, »ich bin Odysseus, der Sohn des Laertes, Herrscher auf Ithaka, Same, Dulichion und dem waldigen Zykan thos, jede Insel ein rauhes Eiland in der stürmischen See, doch meinem Herzen teurer als alle Paradiese der Erde. Die schöne Göttin Kalypso und die betörende Zauberin Kirke haben mir ein süßes Leben an ihrer Seite angeboten, und beide Male habe ich ihren Antrag abgeschlagen, denn ich sehne mich über alle Maßen nach meiner Heimat und meinem Weib und Kind! Wie Troja fiel«, so erzählte Odysseus weiter, »habt ihr von Demo dokos, dem liedgewaltigen Sänger, vernommen, hört nun von mir den Bericht meiner qualvollen Heimfahrt. Als wir von Ilion stie ßen, trieb uns der Wind schnell nach Ismaros, der Stadt der Kiko nen, die mit Troja verbündet und also unsere Feinde waren. Wir fielen wie eine Feuersbrunst über sie her, erschlugen die überrasch ten Männer und führten die jungen Weiber samt reichen Schätzen als Beute mit. Die Klugheit hätte geboten, das unerkundete Land nun rasch wieder zu verlassen und weiter zu segeln, und ich riet das meinen Gefährten auch, allein sie begannen zu einem großen 228
Siegesschmaus zu rüsten, schlachteten ganze Herden von Schafen, Rindern und Ziegen ab und schleppten aus den Kellern Schläuche voll schweren Weins. Da sie fast trunken waren, trat ein, was ich befürchtet hatte. Eini gen Kikonen war es gelungen zu entkommen. Sie trommelten ihre Stammesbrüder, die verstreut in Bergdörfern lebten und im Waf fenhandwerk geübter waren als die verweichlichten Städter, zu sammen und führten sie gegen meine zechende Schar. So wie wir am Morgen über die Ahnungslosen hergefallen waren, so fielen sie nun am Mittag über uns her: Eine wütende Feldschlacht begann, der Himmel war verdunkelt von schwirrenden Lanzen, und als der Abend sich neigte, mußten wir der Übermacht weichen und flohen eilends hinaus aufs Meer. Vergessen bei den Lotophagen rauernd ruderten wir dahin: Sechs wohl geharnischte Krieger hatte ein jedes Schiff zu beklagen, und um unsern Gram zu mehren, sandte uns Zeus zur Nacht einen furchtbaren Sturm. Schräg, das Hinterdeck vom aufgewühlten Meer empor gehoben und also mit fast waagrecht gerichtetem Mast, an dem die Fetzen des Segels gleich einem Wimpel hingen, rasten wir, als ob eine Kampfschar von Lanzenträgern einen unsichtbaren Feind be renne, durch die siedende Finsternis. Die ganze Nacht stürmten wir so dahin; am Morgen endlich erspähten wir Land und ruderten in hartem Mühn an die Küste. Zwei Tage und Nächte lagen wir er schöpft auf den runden Kieseln; am dritten Tag endlich hatten wir die Kraft wiedergewonnen, in See zu stechen. Der Wind war gün stig, und wir hofften nun sicher auf schnelle Heimkehr, aber als wir das Schiff um das Kap von Malea lenkten, das Südkap des Landes, das man Pelopsland nennt, schlug der Wind um: Ein Orkan schnob 229
von Norden herab und drückte unsere Flotte neun Tage lang er barmungslos südwärts, und am zehnten Tag endlich legten wir im Hafen der Lotophagen, der Lotosesser, an. Diese Lotophagen bewohnen ein dürres, heißes Land, in dem in riesigen Küstenwäldern der wundersame Lotosbaum wächst. Seine Früchte, von denen allein dies Volk lebt, sind etwas größer als unsre Oliven; sie sind von einer klebrigen Haut überzogen und schmecken süßer als reife Feigen, ja süßer als ein Gemisch von Rosinen und Honig, und wer ihren lieblichen Geschmack einmal gekostet, vergißt Heimat, Familie und Vaterland und kennt nur mehr einen Wunsch: sich sein Leben lang dem Genuß dieser köst lichen Süße hinzugeben. Das mußten auch unsere drei Herolde erfahren, die wir ausgesandt hatten, den Lotophagen unseren Gruß zu überbringen: Sie wurden von den Einwohnern aufs freundlichste aufgenommen und sogleich mit Lotosfrüchten bewirtet, und als sie diese Speise verzehrt hat ten, vergaßen sie ihren Auftrag, vergaßen sie mich und die Schiffe und die Gefährten, ja, sie vergaßen selbst ihren Namen, lehnten sich an die rissigen Stämme des Lotosbaumes und blickten wie die Träumenden in die Weite und kauten im seligen Genießen die süße vergessenmachende Frucht. So fand ich sie, da ich schließlich nach ihnen suchte; die Lotophagen wollten auch mich freundlich bewirten, allein ich begriff, was meinen Gefährten widerfahren war, da ich sie so blöde hocken und kauen sah, und befahl, sie, die mich nicht mehr erkannten und auf meine Stimme nicht hörten, gewaltsam auf die Schiffe zurückzuführen. Weinend wehrten sich die drei und wollten nicht weichen, allein ich befahl, sie, da sie nicht gehen wollten, wie ein Bündel mit Strik ken zusammenzuschnüren und an Stangen gehängt zu den Schiffen zu tragen. Eilends stachen wir dann in See, und als das Land der Lotosesser aus unserer Sicht verschwunden war, stellte sich bei meinen gebundenen Gefährten auch die Erinnerung wieder ein.
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Auf der Ziegeninsel ir ruderten angestrengt und stießen, als die Sonne sank, aufs Land der Kyklopen. Die Kyklopen sind Riesen und besitzen, wie die meisten Riesen, nur ein Auge mitten auf der Stirn. Sie stammen allesamt von den Göttern ab, und darum haben ihnen die Himmlischen auch alles Nötige gegeben, ihr Leben zu unterhalten: den fettesten Boden, das trefflichste Vieh, das süßeste Wasser, den geschütztesten Hafen, die lieblichsten Winde und das mildeste Wetter; sie brauchen nicht pflügen noch säen, noch pflan zen, ja kaum zu ernten; die Sonne keltert den Wein in der Traube, und Roggen und Gerste reifen auf dem Halm zu Brot. So sind sie ungewohnt fast aller Arbeit geblieben und darum ungeschlacht und roh und tölpelhaft; sie kennen weder Gesetze noch öffentliche Ver sammlungen und leben für sich allein in Felsenhöhlen: Auch ver stehen sie weder Eisen zu schmieden noch Schiffe zu bauen und wis sen darum nichts von anderen Völkern und dem Wandel und den Sitten der weiten Welt. Ein Paradies könnte ihr Land sein, wenn sie es nur pflegten und bestellten; es könnte blühen und grünen und von Früchten überquellen; schneeweiße Städte könnten sich in den Tälern erheben und im Hafen die Schiffe aller Herren Länder wimmeln wie die Fische in der See. So aber ist trotz des reifenden Weines und Brotes ihr Land ein wüstes, wegloses Gelände: Die Wälder sind zu undurchdringlichen Hecken verfilzt, und nur das Gemecker der Bergziegen und das Brüllen der Rinder durchhallt die Öde, denn die Kyklopen kennen weder Tanz noch Lied, noch Musik. In diesem Land also legten wir an, da schon die Nacht einfiel. Wir zogen die Schiffe den Strand hinauf und schlummerten tief. Als das Frührot anbrach, entdeckten wir, daß wir auf einer Vor 231
insel gelandet und vom eigentlichen Land der Kyklopen noch durch einen Meerarm getrennt waren. Wir blieben zunächst auf der Insel, schlachteten von den Ziegen, die in Rudeln herrenlos herum liefen, soviel wir nur zu verzehren vermochten, und da wir uns in der geplünderten Kikonenfestung reichlich mit Wein versehen hat ten, verlebten wir den Tag mit fröhlichem Schmaus. Am nächsten Morgen aber stachelte mich die Neugier, zum Land der Kyklopen hinüberzufahren; mich reizte es zu erkunden, ob dieses Volk wahr haftig so wüst ist, wie sein Ruf es erzählt. In der Höhle des Kyklopen ch machte also mein Schiff flott und ruderte mit meiner Mannschaft zum anderen Strand hinüber. Dort angekommen, erblickten wir am Hang eines steinübersäten Berges einen Lorbeerhain, der mit einem mächtigen, mehr als burghohen Wall aus Felsblöcken und Stämmen umfriedet war, und in gleicher Höhe mit ihm gähnte im Hang die Öffnung einer riesigen Höhle. Ich wählte zwölf meiner tapfersten und erprobtesten Männer aus und gebot den andern, das Schiff abfahrbereit zu halten. Auf meine Schultern aber lud ich einen Schlauch aus Ziegenleder, der mit dem kostbaren Schwarzen Wein aus Troja gefüllt war, dem schwersten Wein, der auf Erden gekeltert wird und der so wirksam ist, daß ein einziger Becher davon, mit zwanzig Bechern Wasser vermischt, noch ein Getränk gibt, das jeden anderen Wein an betäubender Kraft übertrifft. Diesen Schlauch nahm ich vorsorglich mit, denn mir ahnte schon, daß wir einem Mann begegnen würden, der, grau sam, roh und nicht einmal der Gesetze der Gastfreundschaft kun dig, nur durch eine List gebändigt werden konnte. Wir stiegen also zur Höhle hinauf, trafen aber den Riesen, der irgendwo draußen sein Vieh weidete, nicht an. Wir traten ein und 232
fanden die Höhle bis zur Decke gefüllt mit den herrlichsten Spei sen; Weidenkörbe strotzten voll goldgelbem Käse, in Wannen und Eimern schwamm schneeweiße Sahne und Molke, und in den Stäl len, die tief in die Höhle sich erstreckten, drängten sich Lämmer, Zicklein und Kälbchen; sie lagen in kniehohem Kot und schienen dennoch gesund und trugen ein dichtes, glänzendes Fell. Meine Freunde bestürmten mich, von dem Käse zu nehmen, soviel wir nur tragen konnten, und uns dann schnell wieder zurückzu ziehen; als ich dies ablehnte, schlugen sie vor, das Jungvieh auf das Schiff zu treiben und abzusegeln, doch ich töricht Verblendeter ging auch darauf nicht ein. Wir zündeten ein Feuer an, opferten den Göttern, aßen von unsern Vorräten und nahmen auch, da uns gar zu sehr danach gelüstete, ein wenig von dem goldgelben Käse und warteten. Plötzlich begann der Boden zu dröhnen, die Felsen zit terten, und ein turmhoher Leib erschien im Höhlentor. Es war der Riese; er trug auf der Schulter ein Bündel von Eichenstämmen, die er ausgerissen hatte, um Feuer zu machen. Er warf es auf den Boden: Die Stämme rollten polternd auf uns zu, und wir flohen entsetzt in die innersten Winkel der Höhle. Der Riese hatte uns nicht gewahrt; er trieb das Milchvieh zum Melken herein, ließ die Widder und bärtigen Böcke draußen im Lorbeerhain weiden und verrammelte dann den Höhleneingang mit einem ungeheuren Fels pfropf, den hundert Stiere nicht von der Stelle hätten bewegen können. Dann molk er die Schafe und Ziegen, goß sich von der Milch einen mannshohen Kessel voll als Nachttrunk ab und zündete ein Feuer an, das einem Scheiterhaufen glich. Die Flammen flacker ten bis zur Decke; ihr Schein drang in die finstersten und entlegen sten Ritzen, und nun entdeckte der Kyklop uns Ärmste, die wir zitternd hinter den Kälbchen zusammengedrängt uns vergeblich zu bergen suchten. Verdutzt sah er uns an, sein Stirnauge glotzte, dann fragte er, und seine Stimme war ein löwenartiges Brüllen: ›Wer seid ihr, Fremdlinge, und was treibt ihr hier? Seid ihr Räu ber? Seid ihr hierhergekommen, mich zu bestehlen oder gar zu ermorden? Antwortet mir!‹ 233
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Unsere Herzen wollten vor Entsetzen brechen, allein ich ermannte mich und gab dem Ungeheuer die nötige Antwort, sagte ihm, daß wir Griechen seien und der Sturm uns an sein Gestade verschlagen habe; dann fiel ich vor ihm auf die Knie, hob schutzflehend die Arme und mahnte ihn, sich nicht durch eine Verletzung des Gast rechts den Zorn der Götter zuzuziehen. Ich fand die eindringlich sten Worte, die jeden andern Unhold bewegt hätten; der Kyklop aber lachte nur wild auf, daß die Luft klatschend an die Wände schlug, und sprach dann: ›Narr, was scheren mich die Götter! Ich bin ein Kyklop, das ist mehr als ein Gott!‹ In diesem Augenblick verstand ich, daß wir verloren waren, wenn es nicht gelänge, seine Riesenkraft durch eine List zu überwinden, und ich faßte rasch einen Plan, der rettungverheißend schien. Ob ich mit einem Schiff gelandet sei oder aber allein mit meinen Ge fährten hier weile, begehrte das Einaug zu wissen, und einer mei ner Freunde, der tapferste, tat schon den Mund auf, ihm zu ant worten, allein ich fiel ihm ins Wort und erwiderte rasch, der grim mige Poseidon habe mein Schiff zerschmettert, und nur mir und den Meinen hier sei es gelungen, uns schwimmend an Land zu ret ten. Das Ungeheuer nickte träg mit dem Kopf, da es das hörte, und sprach: ›Da hat Poseidon recht getan, euch Läuse zu vertilgen, er ist nämlich mein Vater!‹ Er sprach dies und lachte wieder auf; plötzlich aber streckte er die Hand aus, packte zwei meiner Gefähr ten an den Beinen, schmetterte sie mit dem Kopf an einen Felsen, wie man das mit jungen Hunden tut, riß ihre Leiber und Glied maßen auseinander und schlang sie samt Haaren, Flechsen, Kot und Knochen in sich hinein. Wir standen stumm vor Entsetzen und sahen es an und konnten's nicht wehren; der Riese rülpste und führte mit beiden Händen den Kessel mit Milch zum blutigen Maul und soff ihn aus bis zur Neige, und in diesem Augenblick hätte ich ihm das Schwert in den Rücken rennen können, genau dorthin, wo die Leber unter dem Zwerchfell sitzt, und ich griff auch schon nach der Waffe, den tödlichen Stoß zu tun, da kam mir jäh der Gedanke, daß wir dann endgültig verloren wären! Niemand anders als der 236
Kyklop konnte ja den Türstein beiseite räumen, und auch wenn unsre Mannschaft nach uns geforscht und bis zum Eingang der Höhle gedrungen wäre, hätte sie selbst mit vereinten Kräften nicht vermocht, den Stein auch nur einen Spaltbreit zur Seite zu schieben, ja, nicht einmal ein Heer hätte jenen Fels von der Stelle gerückt. Also mußte ich den Riesen am Leben lassen; zähneknirschend schob ich mein Schwert wieder in die Scheide, und als der Kyklop sich nach dem wüsten Mahl zur Ruhe gestreckt und über sein Ein aug das Lid sich grob und groß wie ein Sack gesenkt hatte, blieb uns trotz unserer guten Waffen nichts anderes übrig, als zitternd und noch immer vor Ekel und Elend stumm den Morgen abzu warten. Die Eingeschlossenen befreien sich n der Früh erhob sich der Riese, gähnte, zün dete wieder ein Feuer an, molk die Ziegen und Schafe und legte die Lämmer, Zicklein und Kälbchen an die Euter der Muttertiere, dann packte er wieder zwei meiner Kameraden und fraß sie zum Morgenmahl. Schließlich rückte er den Felsspund zur Seite, trieb die Herde ins Freie, ging selbst hinaus und schloß die Höhle. Wir hörten seine Schritte wie Erdstöße hallen und hörten sein gellendes Pfeifen, mit dem er sein Vieh lockte, dann blieben wir im Dunkel allein. Meine Gefährten begannen zu jammern; ich aber rief ihnen zu: ›Ans Werk, ans Werk, liebe Kameraden, laßt uns die Stunden für unsre Befreiung nutzen!‹ Dann unterbreitete ich ihnen meinen Plan. Wir durften den Riesen nicht töten, denn er mußte uns ja am nächsten Morgen wieder die Tür entriegeln, und da es unmög lich war ihm zu entwischen, solange er uns erblickte, mußten wir ihn blenden, und dies konnte nur geschehen, wenn er schlief. Alles Weitere würde sich dann finden. Wir nahmen also einen Hirten 237
stock, der in der Höhle herumlag, einen harten trockenen Ölbaum stamm von dreifacher Manneslänge, schabten und schnitzten eins seiner Enden zur stechenden Spitze, glühten und glätteten und schabten sie dann wieder, bis sie scharf und spitz wie eine Dolch klinge war. Schließlich deckten wir diesen ungeheuren Speer mit Mist zu, der in mächtigen Fladen zwischen Käse und Sahne sich türmte, und warteten auf des Riesen Rückkunft. Vorher aber hat ten wir, da es freiwillig keiner wagen wollte, das Los geworfen, wer den Stoß gegen das Auge des Riesen führen werde, und es war auf mich und vier meiner tüchtigsten Freunde gefallen. Dieses günstige Losorakel ließ uns hoffen. Am Abend kehrte der Riese mit der wohlgemästeten Herde heim. Diesmal trieb er, die Götter mögen wissen warum, mit den Milch tieren auch die Böcke in die Höhle, wälzte den Stein wieder vor und verrichtete seine gewohnten Abendgeschäfte, zu denen nun auch das Verzehren zweier meiner Männer zu gehören schien. Ich überwand Ekel und Furcht, trat beherzt vor den schmatzenden Unhold, hielt ihm den Schlauch mit dem Trojanischen Schwarzen Wein hin und sagte: ›Hier, Kyklop, nimm und tu einen guten Schluck, auf Menschenfleisch will nicht nur Milch getrunken sein! Viel solcher Schläuche hat mein zerschmettertes Schiff in seinem Bauch geborgen; diesen einen hab ich gerettet und spende ihn dir nun zum Opfer, denn ich sehe wohl, daß du mehr als ein Gott bist! Nimm es in Gnaden auf und vergönne uns dann freie Heim kehr!‹ So sprach ich und schenkte dem Menschenfresser einen Becher des unvermischten betäubenden Weins; das Ungeheuer trank ihn, rollte vergnügt sein Auge, schnalzte mit der Zunge, was wie ein Knall von tausend Peitschen klang, und sprach dann: ›Lieber, schenke mir noch einmal ein, nie trank ich solch einen köstlichen Tropfen! Schenk ein und nenne mir deinen Namen, daß auch ich dich gebührend bewirten kann!‹ Also sprach er, und ich sah sein Auge blitzen; dreimal schenkte ich ihm ein, und dreimal schüttete der Dummkopf den Wein hinunter, 238
und als ich vernahm, wie seine Zunge schon schwer wurde, sprach ich rasch: ›Du begehrst meinen Namen zu wissen, Kyklop? Höre dann, mein Name ist Niemand; es ist ein seltener Name, doch ich trage ihn mit Stolz, da schon mein Vater und mein Großvater Niemand hießen! Aber nun vergiß auch nicht, mich, wie du versprochen, zu be wirten.‹ ›O Niemand, Niemand‹, lallte der Kyklop, und sein Auge glühte wie im Fieber, ›dich werde ich als letzten fressen, mein lieber Nie mand, das soll deine Bewirtung sein!‹ Mit diesen Worten ließ er sich auf die Seite fallen, streckte die Beine aus und schlief schnar chend und schnaufend ein, vom Trojanischen Wein überwältigt, und im Schlafen erbrach er sich, und sein Schädel lag in einer Lache aus Blut und Speichel und Menschenfleisch. Nun gruben wir eilends die hölzerne Lanze aus dem Mist, machten die Spitze im Feuer glühen, doch da wir zum letzten, entscheiden den Werk Hand anlegen wollten, verließen uns die Kräfte, und wir vermochten vor Grauen kein Glied zu rühren und standen wie leblos vorm Feuer und krochen schließlich angstgepeinigt in un seren Winkel zurück. Nun aber drohte die so mühsam geschärfte und geglühte Lanze Feuer zu fangen und zu verbrennen; wir hörten den Schaft schon knistern und flehten in unsrer Ohnmacht die Götter an, uns Kraft und Mut zu schenken, und einer der Himmlischen muß uns auch erhört haben, denn plötzlich fühlten wir unsere Herzen geschwellt von Glauben und Zuversicht. Wir ergriffen den Stamm mit beiden Händen, hoben ihn aus dem Feuer, nahmen Anlauf und rannten ihn dem Kyklopen ins lidüberdeckte Auge und drehten, wie ein Mann den Bohrer dreht, Schiffsholz zu bohren, den Pfahl im Augapfel bis an den Knochen und drehten und preßten, daß Wimpern und Augenbrauen prasselnd verkohlten und mit unge heurem Zischen die Augwurzel selbst zu brennen anhob. Gestank erhob sich und Qualm; schwarzes Blut schoß wie ein Springquell aus der rauchenden Wunde; der Riese heulte auf, daß die Berge bebten; wir flohen wieder in den innersten Winkel, und das Un 239
geheuer riß sich den Pfahl aus dem blutbesudelten Augenloch, schleuderte ihn fort und brüllte unablässig jammernd die benach barten Kyklopen zur Hilfe herbei. ›Was für ein Leid geschah dir denn, Polyphem, daß du so heulst und uns aus dem Schlummer reißest?‹ hörten wir einen der Kyklo pen draußen fragen. ›Raubt dir jemand Ziegen und Schafe, oder greift ein Feind gar dein Leben an?‹ Polyphem aber brüllte: ›Niemand ist gekommen, liebe Brüder, Niemand greift mir ans Leben, Niemand stach mir das Auge aus, Niemand hat mir ein schreckliches Leid angetan!‹ ›Na, was brüllst du denn so, wenn niemand dir etwas getan hat?‹ sprach der Kyklop verärgert. ›Warum schreist du uns dann aus dem besten Schlaf, du Narr? Wahrscheinlich hast du zuviel ge trunken und einen bösen Traum gehabt!‹ Er sprach es grollend, und ich hörte mit jubelnder Freude am erdbebengleichen Trappen und Stampfen, wie sie sich trollten; der Kyklop schrie ihnen nach, zu bleiben und Niemand zu fangen und Niemand zu bestrafen, doch die andern scherten sich nicht um sein Geschrei und zogen davon. Nun begann der Riese auf gut Glück die Höhle nach uns abzu suchen; allein als er das dritte Mal mit der auglosen Stirn an eine Felszacke gestoßen war, gab er die Suche auf und setzte sich ans Höhlentor. Wimmernd und winselnd, bald wieder brüllend und fluchend saß er so da, bis der Morgen graute und die Tiere nach der Weide drängten: ›Geduldig, geduldig, liebe Tierlein‹, ächzte der Kyklop, ›daß mir die Läusebrut nicht auf eurem Rücken ent komme!‹ Mit diesen Worten wälzte er den Stein ein Stück zur Seite, so daß nur jeweils drei Tiere hinausgehen konnten, dann lockte er die Herde ins Freie und tastete sorgfältig Rücken um Rücken nach uns ab. Jetzt war unsere letzte Gelegenheit zur Flucht gekommen, denn Polyphem hätte zweifellos nach der Herde selbst die Höhle ver lassen und sie unlösbar verpfropft, so daß wir bis an unser Lebens ende Gefangene in Finsternis und Gestank geblieben wären. Auch 240
hätte er uns zu Tode räuchern können. Schneller Rat tat not; ich wälzte Pläne hin und wider, und endlich fiel mir die beste List ein. Seine Widder waren feiste, dickvliesige Gesellen, groß und stattlich von Wuchs und mit langhangender Wolle bekleidet; diese band ich unter dem Bauch mit Weidenruten aus der Schlafmatratze des Rie sen zusammen, daß sie eine Art Tragmatte bildeten, kräftig genug, einen Gefährten zu bergen; jedem dieser Böcke, in dessen Bauch haar ein Krieger hing, stellte ich einen zweiten und dritten zur Rechten und Linken zur Seite und trieb sie also an dem Riesen vorbei, der auch diese Rücken genau abfühlte, und doch nicht fand, was er so gierig suchte. Zum Schluß hing ich mich dann dem kräf tigsten Widder ins dichte Wollvlies. Er trug schwer an seiner Last und trabte als letzter aus der Höhle. ›Ach, mein Widderchen, mein liebes‹, sprach der Geblendete, in dem er ihm den Rücken streichelte, ›was gehst du, der du doch sonst immer an der Spitze der Herde ins Freie sprangest, nun so langsam und so mühvoll einher? Trauerst du, Treuer, um das Aug deines Herren? Ach, wenn du nur reden könntest, mein Lieber, du sag test mir gewiß, wo jener elende Kerl steckt, dieser hündische Nie mand, daß ich ihn packen und ihm alle Knochen zerknacken und seinen grindigen Schädel am Boden zerschmettern kann. Aber es soll keiner meiner Rache entgehen. Ich will mir eine neue Höhle suchen, diese aber will ich versperren in alle Ewigkeit, daß die Wichte lebendigen Leibs darinnen verfaulen!‹ So sprach der Riese und kraulte den Kopf des Widders, der nun stehnblieb, stehnblieb wie mein Herz, das im Schlagen stockte; ich fürchtete, der Riese werde den Widder umarmen und mich dabei entdecken, doch schließlich gab Polyphem dem Bock einen Klaps, und das gute Tier trug mich in die Freiheit hinaus. Als wir uns von der Höhle und dem Hain ein wenig entfernt hat ten, krochen wir aus unserem Versteck und trieben das wohl gemästete Vieh als willkommene Beute unserem Schiff zu. Wir stießen eilends ab und ruderten aufs Meer hinaus, und als wir ein gutes Stück vom Ufer entfernt waren, richtete ich mich am Mast 241
auf und rief in die Berge: ›Höre, Kyklop, deine Grausamkeit ist nun gerächt, Zeus selbst hat dich durch meine Hand gestraft, da du das Gastrecht so schnöde verletzt hast!‹ Da wankte der Kyklop aus der Höhle heraus und begann zu rasen; er riß die Gipfel der Berge ab und warf sie blindlings um sich, und wenn sie uns zum Glück auch gerade noch verfehlten, so machten sie doch das Meer brausen und schäumen, daß es das Schiff land wärts zurückriß und wieder ans Ufer warf. Ich stieß den Segler mit einer Stange vom Land ab, und wir ruderten im Wettkampf gegen die wirbelnde Flut wieder aufs Meer hinaus, und als wir dann dop pelt so weit wie beim ersten Ruf entfernt waren, wollte ich erneut den Riesen schmähen. Die Freunde versuchten zwar mich zum Schweigen zu bringen, allein mein Zorn war so lohend und heiß, daß ihn mein Herz nicht mehr ertragen konnte und ich ein zweites Mal den Kyklopen anrief. ›Höre, Kyklop!‹ so rief ich mit aller Kraft durch die gehöhlten Hände. ›Sollte dich einer fragen, wer dich bestraft und geblendet, so sag ihm: Odysseus, der Sohn des Laertes, der Fürst über Ithaka, hat das getan!‹ Als der Riese diese Worte vernahm, brüllte er wie eine Stierherde auf. ›Wahrlich, es ist mir geweissagt worden‹, so heulte er, ›ein Odysseus, Sohn des Laertes, Fürst über Ithaka, werde kommen und mich blenden, und ich habe seitdem immer auf einen ebenbürtigen Gegner gewartet, einen Kerl wie ich von Wuchs und Ansehn, mit dem ich im Kampfe mich messen könne, und nun ist ein Wichtlein gekommen, ein Würmlein, ein Menschlein, und hat mir das Auge im Schlaf ausgebrannt! Aber zittere, du Nichts, denn ich bin ein Sohn des Herrschers der Meere, Poseidons; er wird mich heilen, und ich werde dich finden, und sei es am Ende der Welt! Dann aber wird meine Rache furchtbar sein!‹ Als ich dies hörte, ergriff mich der Übermut, und ich schrie: ›Auch ein Poseidon kann dich nicht heilen, und wenn ich dich zum Hades hinabgesandt hätte, würde auch er dich nicht heraufholen können! Keiner der Götter vermag etwas gegen das allmächtige Schicksal.‹ Solche schmähenden Worte hörten die Himmlischen, und sie er 242
bosten sich, da sie an ihre Ohnmacht erinnert wurden: Sie können ja wahrhaftig keine ausgebrannten Augen beleben noch Seelen aus dem Hades zurückholen, wenn es das Schicksal, die mächtige Gott heit Moira, nicht will. So ergrimmten sie sich und beschlossen, daß ich all meine Schiffe und lieben Gefährten verlieren und als ein ziger am Leben bleiben solle, um die grausamsten Gefahren und Leiden zu durchdulden und also Schlimmeres zu erleiden als den Tod. Indes hatte der Kyklop noch einen Berg ins Meer geschleu dert, und dieser hätte uns um ein Haar auch zermalmt, doch da er eine Spanne hinter dem Schiffsrücken niederfiel, trieb uns die unge heure Welle, die er nun auslöste, in die offene See hinaus. Bald wa ren wir wieder an der Ziegeninsel angelangt und beeilten uns, Zeus den edelsten Widder zu opfern, aber der Rauch wollte nicht in den Himmel steigen, er lagerte sich über den Holzstoß und löschte die Flamme: Der König der Götter hatte unser Opfer verschmäht. Da ahnte ich, was uns Ärmsten an Übeln bestimmt war; mir ahnte viel Schlimmes, und doch war, was ich ahnte und fürchtete, ein Nichts gegen das, was dann eintraf. Hätte ich damals den ganzen Umfang meiner Qualen ermessen können, ich hätte mich wohl in mein Schwert gestürzt. Wir saßen am Strand, bis die Sonne sich neigte, und trauerten um unsere so elend zugrunde gegangenen sechs Kameraden. Dann stachen wir wieder in See. Zweimal auf Aiolia ir ruderten eifrig und stießen bald auf ein schwimmendes Eiland, ein glattes, spiegelndes Felsgestade, das ringsum von einer un durchdringbaren Mauer aus Erz umschlossen war. Hier herrschte Aiolos, ein Freund der Unsterblichen, den Zeus zum Wärter über alle Winde der Welt gesetzt hatte. Aiolos war 243
Vater von sechs lieblichen Töchtern und sechs blühenden Söhnen, und da die Insel, des ewigen Heulens und Schnaufens der Winde wegen, von allen andern Siedlern verlassen worden war, hatten die Geschwister einander zu Mann und Frau genommen. Täglich weilten sie bei ihren Eltern zu Gast, und kein Abend verging ohne Schmauserei und Flötenspiel. Wir wurden freundlich empfangen und gierig nach allen Neuig keiten ausgefragt. Einen ganzen Monat blieben wir in Aiolos' Palast, und ich erzählte dem Königspaar und seinen Kindern des langen und breiten von den Kämpfen um Troja und meinen Aben teuern zur See, und als ich geendet, sprach Aiolos mir Trost zu und versicherte, meine Irrfahrt werde nunmehr in Bälde geendet sein. Er nahm einen dichtgenähten, aus dem Leder eines neunjährigen Stiers gefertigten Schlauch und tat alle Winde hinein, die ich zur glücklichen Weiterfahrt etwa benötigen könnte. Die eingesperrten Lüfte heulten und pfiffen, allein Aiolos, ihr Herr, gebot ihnen zu schweigen, verschloß den Schlauch mit einem silbernen Seil und überreichte ihn mir zu guten Diensten. Dann hieß er einen sanften Westwind die Segel blähen, und unsere schwarzen Schiffe glitten in zügiger Fahrt über See. Wir hatten neun Tage und neun Nächte die Wogen durchmessen, und in der zehnten Nacht waren wir dem heimatlichen Ufer schon so nahe, daß wir die Wachfeuer am Strand erblicken konnten. Ich hatte während der Fahrt beständig das Steuer bedient und keine Ablösung geduldet, um so sicher und schnell wie möglich das Vaterland zu erreichen; nun aber, da ich die Wachfeuer glimmen sah, überwältigte mich der lang entbehrte Schlaf, und ich schlum merte ein. Darauf jedoch hatten einige meiner Gefährten schon lange ge lauert. Der mächtige, mit dem Seil aus Silber versiegelte Schlauch hatte ihre Neugier und auch ihren Neid geweckt; sie wähnten, ich hätte mir Reichtümer angehäuft und sei zu geizig, sie mit ihnen zu teilen, und also tuschelnd und munkelnd kam man überein, den vermeintlichen Schatz, da ich schlief, zu beäugen. Sie nestelten am 244
silbernen Seil, und kaum hatte sich der Knoten ein wenig gelockert, sausten mit einem Schlag die Winde heraus. Der wütigste Ost sturm schmetterte gegen die Segel, der Nordwest wühlte das schim mernde Meer auf, Orkane machten die Maste krachen, und fast die Lüfte durchfliegend brauste die Flotte, die Ithaka schon so nahe gewesen war, daß man die Rufe der Wachposten hatte vernehmen können, nach Aiolia zurück. Das Tosen der entfesselten Stürme riß mich jäh aus dem Schlaf; ich sah den geöffneten Schlauch und schwankte, ob ich mich in die wilden Wogen stürzen oder auch die ses Leid noch durchdulden sollte, und schließlich entschloß ich mich doch auszuharren und lag mit gramverhülltem Gesicht auf dem Deck und hörte lauter als den Orkan das Seufzen der Männer. Bald war Aiolia wieder erreicht; meine Gefährten begannen die Schiffe auszuschöpfen, ich aber eilte, von einem Herold begleitet, zum Herrscher, um seinen Schutz und Rat zu erflehn. Verwundert empfing er mich, den er doch längst in Ithaka wähnte. Ich versuchte mit aller Beredsamkeit mein Mißgeschick zu schildern, um ihn erneut zu Mitleid zu rühren, allein Aiolos unterbrach meine Rede, erhob sich und rief: ›Heb dich hinweg von der Insel, unseliger Mensch, der du den Göttern ein Greuel sein mußt! Zieh ihren Zorn nicht auf mein unschuldiges Haus!‹ Also sprach er und trieb mich mit harten Worten aus dem Palast, und wir ruderten schluchzend aufs Meer zurück, darüber noch immer die Winde tollten. Unter den Steinen der Laistrygonen echs Tage und sechs Nächte hatten wir, unsere Torheit verfluchend, die Wogen durchrudert, da landeten wir vor Telephylos, der befestig ten Stadt der Laistrygonen. In diesem Land sind die Nächte so kurz, daß der Hirt, der abends die Schafe heim treibt, schon die Rufe seines Gefährten hört, der morgens die Rin 245
der zur Weide hinausführt, und wer den Schlaf zu entbehren ver möchte, könnte hier leicht seinen Lohn verdoppeln. Der Hafen dieses Landes hat wohl nicht seinesgleichen: Himmel ragende Felsen umschließen ihn beinah zur Gänze, und nur durch eine schmale, von zwei vorspringenden Felsspitzen gebildete Pforte können die Schiffe einzeln ins Innere einfahren. Die See mag drau ßen brausen, so wild sie nur will, im Port erregt sie nicht die leise ste Welle, darum banden wir auch die Schiffe unbesorgt dicht an einander; meinen schwarzen Segler aber kettete ich, um schnell ein Schiff zur Verfügung zu haben, außerhalb des Hafens an einer Felszacke fest. Dann klomm ich auf einen hohen Gipfel, der mir gute Aussicht bot, gewahrte aber nirgends eine Spur von Pflügern oder Stieren; nur Rauch stieg fern in mächtigen Säulen von der Erde zum Himmel, als läge dort eine riesige Stadt. Ich sandte zwei Gefährten samt einem Herold aus, das Land zu erkunden. Sie folgten einer Straße hinauf in die Berge und stießen vor den Mauern der Stadt auf ein stattliches Mädchen, das Wasser aus einer Quelle schöpfte. Es war die Tochter des Königs der Lais trygonen, eines Mannes namens Antipathes. Das Mädchen zeigte sich meinen Freunden gewogen und führte sie in den hohen Palast ihres Vaters; dort fanden die Männer des Königs Weib, das war eine Riesin, einen gewaltigen Berggipfel groß! Meinen Gefährten graute, dennoch entboten sie Gruß und Segen; die Riesin kreischte: ›Antipathes, sieh, es sind Gäste gekommen‹, und Antipathes, riesig wie seine Gemahlin, polterte ungestüm in den Saal, packte ohne langes Federlesen einen der armen Gefährten und führte ihn zum Maul, wie man ein Stück Brot oder eine Scheibe Fleisch zum Mund führt. Die beiden andern rannten davon und flohen quer durch die Stadt zu den Schiffen; Antipathes aber begann zu brüllen, da bra chen die schrecklichen Laistrygonen, Riesen allesamt, von überall her aus Verstecken und Häusern, und sie schleuderten Felswände auf die Schiffe, und in das Krachen und Splittern der Planken mischte sich das Geschrei der zerschmetterten Männer, und es war noch ein gnädiges Los, von den Steinen zermalmt zu werden oder 246
im stillen Wasser der Bucht zu versinken, denn wen die Unholde griffen, den durchstachen sie wie einen Klippfisch, und also fädelten sie Leib an Leib auf eine Hanfschnur und schleppten, eben wie man eine Last Fische oder Nachtigallzungen zum Markt schleppt, die Ärmsten zum furchtbaren Fraß in den Königspalast. Den Kampf aufzunehmen wäre sinnlos gewesen, an eine List war nicht zu den ken, so kappte ich denn das Tau meines blauschnäbligen Seglers, des einzigen Schiffes, das mir nun noch verblieben war, und ruderte eilends mit meiner Mannschaft, fünfundvierzig Gefährten, davon. Ein Jahr auf Aiaia ir ruderten bange Tage, um unsere lieben Ge fährten trauernd, und kamen schließlich zur Insel Aiaia. Über sie herrschte – was wir da mals noch nicht wußten – Kirke, eine schön gelockte, mit lieblicher Stimme begabte Göttin, eine Tochter des Sonnengottes Helios. Wir stiegen an Land und ruhten, von Kum mer, Arbeit und Hunger erschöpft, zwei Tage und Nächte; am Morgen des dritten Tages raffte ich mich auf, hängte mein Schwert um die Schulter, ergriff eine Lanze und bestieg einen nahe gelege nen Hügel, um Ausschau zu halten. So weit das Auge reichte, sah ich Gebüsch und dichte Wälder, doch es war mir, als ob aus der Mitte der Insel eine dünne Rauchsäule stieg. Es drängte mich, dort hin zu gehen und Speise und Trank zu erbitten, allein ich hielt es, vom letzten Schrecken gewitzigt, für besser, zum Schiff zurückzu kehren und zunächst eine größere Zahl von Spähern auszusenden. Knapp vor dem Schiff erfreute ich mich noch der Gunst eines wohl meinendes Gottes: Ein riesiger, zur Tränke strebender Hirsch rannte mir in den Weg, und es gelang mir, ihm mit der Lanze das Rückgrat zu durchstoßen, und ich hatte die Waffe mit solcher Wucht geführt, daß ihr Blatt noch durchs Bauchfell des Tieres 247
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drang. Mit Weidenruten schnürte ich die Läufe des gewaltigen Bockes zusammen und bürdete mir die Beute auf die Schultern, doch wenn ich mich nicht auf die Lanze hätte stützen können, wäre ich unter der unmäßigen Last gewiß zusammengebrochen. Die Gefährten jubelten ob meines Jagdglücks; wir saßen den gan zen Tag am Ufer des wüsten Meers und brieten und schmausten; am nächsten Morgen aber berief ich die Gefährten zur Ratsver sammlung. Ich berichtete von der dünnen Rauchsäule in der Mitte des Eilands und schlug vor, unsere Schar zu teilen und auszulosen, welche Mannschaft den Spähgang wagen solle. Den einen Trupp wollte ich selbst führen, zum Gebieter des andern hatte ich meinen Schwager Eurylochos bestimmt, für dessen Schar denn auch das Los aus dem geschüttelten Helm sprang. Weinend, nichts Gutes ahnend, blieben wir bei den Schiffen zurück. Die Späher drangen, wie Eurylochos, ihr Anführer, mir später be richtete, vorsichtig und langsam zur Mitte der Insel vor und stießen dort auf einen prachtvollen Palast. Er war aus gehauenen Steinen gefügt und solcherart auf einem Hügel errichtet, daß man aus sei nen Fenstern nach allen Seiten weit übers Land blicken konnte. Kein Mensch war zu sehen, rings um den Palast aber tummelten sich Bergwölfe und mähnenbehangene Löwen, die, anstatt den Fremden mit wildem Geheul an die Gurgel zu springen, sich schweifwedelnd und schnuppernd an ihre Schenkel schmiegten, wie zahme Hunde, die ihren Herrn um einen Leckerbissen anbetteln. Die Männer standen erstaunt und erschreckt und sahen voll Furcht auf die seltsamen Ungeheuer, da hörten sie aus dem Palast einen lieblichen Frauengesang. Es war Kirke, die an einem Wunder teppich webte und sich ihre mühevolle Arbeit mit einem Lied er leichterte. Die holden Melodien machten den Gefährten Mut; sie riefen laut, das Tor zu öffnen, und kaum hatten sie gerufen, er schien auch schon Kirke vor dem goldschimmernden Tor. Sie winkte den Gefährten, ihr zu folgen, hieß die Männer auf prächtige, throngleiche Sessel sich niederlassen und richtete geriebe nen Käse mit Mehl und goldgelbem Honig zu einem Festessen an. 250
Dann mischte sie Pramnischen Rotwein mit betörend duftenden Essenzen und bot ihn den Gästen in silbernen Pokalen dar. Arglos und scherzend zechten die Männer, nur ihr Führer, mein Schwager Eurylochos, ein wägender und mißtrauischer Mann, hatte Böses geahnt und war auf dem Hof geblieben. Als die Gefährten die Tafel geleert hatten, lachte Kirke hell auf und berührte sie mit einer Rute, und siehe, die Männer sanken zu Boden und begannen auf allen vieren zu kriechen; ihre Münder wölbten sich zu rüßligen Schnauzen; Borsten brachen aus ihrer Haut, die sich zum schwarti gen Fell verdickte; ihre wohlgebildeten Füße und Hände schrumpf ten zu Klauen; Fett wucherte über ihr Angesicht und verdeckte fast völlig ihre Augen, und so, in Schweine verwandelt, wur den sie, die weinten, da ihnen der Menschenverstand noch geblie ben war, von der grausamen Zauberin in hölzerne Koben ge scheucht, und eine Schütte von Eicheln und Bucheckern war fortan ihr Mahl. Eurylochos stürzte zu uns, die gräßliche Verwandlung zu melden. Stammelnd nur sprach er das Ungeheuerliche aus, und eilends ergriff ich Bogen, Köcher und Schwert und forderte den Schwager auf, mich zu Kirkes Palast zu führen. Eurylochos aber fiel mir zu Füßen, umschlang meine Knie und riet flehend zur schleunigen Flucht. ›So bleibe denn, Feigling!‹ sprach ich, ›Bleibe denn beim Schiff und füll dir den Wanst an – mich freilich treibt die Sorge um die Gefährten!‹ Also rannte ich allein zum Palast, und ich sah seine ragenden Mauern schon durchs Buschwerk schimmern und hörte schon der Zauberin wundersamen Gesang, da trat mir plötzlich ein blühender braunwangiger Jüngling gebieterisch in den Weg. Er trug einen goldenen, von zwei Schlangen umwundenen Stab in der Rechten und geflügelte Halbstiefel an den Füßen, wie nur Hermes, der Götterbote, sie trägt. ›Was willst du wagen, Unseliger‹, sprach der Jüngling, ›wie willst du die Gefährten befreien, wenn du das Mittel nicht besitzest, um Kirkes Zauberkraft zu widerstehn!‹ Er sprach dies und reichte mir eine Pflanze, die er das Kraut Moly 251
nannte; es war eine kleine Blume, die Wurzel von tiefstem Schwarz, ihre Blüte aber milchweiß und ohne den geringsten Makel. ›Nimm dieses Kraut, das Sterbliche nicht aus der Erde zu graben vermögen‹, sprach Hermes, dann riet er mir noch, die Zau berin ohne Erbarmen mit dem Schwert zu bedrohen und so lange nicht auf ihr Flehen zu achten oder ihren Verlockungen zu folgen, ehe sie nicht feierlich geschworen, mir keinen Schaden zu tun. Mit diesen Worten entschwand der Gott und stieg auf zum Olymp; ich aber nahm das Kraut Moly an mich, verbarg es in den Falten mei nes Gewandes, und also gewappnet trat ich ohne Scheu vor den Palast. Sogleich eilte Kirke heraus und tat mir das strahlende Tor auf und lud mich zum Mahle; ich staunte ob ihrer unirdischen Schönheit und preßte das Zauberkraut fester an mich. Die Göttin
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wies mir einen silberbeschlagenen Thron zum Sitz an und mischte mir ein Getränk in einem Becher aus purem Gold. Ich sah sie den Zaubersaft in den Wein träufeln, doch ich trank, auf Hermes' Rat vertrauend, und als ich getrunken hatte und sie, wild lachend, mich mit der Rute anrührte und rief, ich möge mich zu meinen Gefährten in den Koben trollen, sprang ich vom Sessel, riß das blanke Schwert von der Hüfte und richtete es wider Kirkes Brust. Die Göttin er bleichte, da sie mich heil und unverwandelt erblickte, sie fiel mir zu Füßen, umschlang voll Angst meine Knie und rief klagend: ›Du bist kein Sterblicher, Freund, wenn dich mein Zauber nicht angreift! Oder bist du etwa Odysseus, dessen Kommen mir Hermes verkün det hat? Wenn du es bist, dann stecke doch, Liebster, dein Schwert weg und teile mit mir das Lager; Liebe soll dich versöhnen und unsere Leiber und Seelen vereinen, daß wir einander hinfort in Freundschaft vertraun!‹ Sie sprach's und schmiegte sich inniger an meine Knie, ich aber setzte das Schwert auf ihre Kehle und sagte mit drohender Stimme: ›Wie kannst du begehren, Kirke, daß ich dich freundlich umarme, da du an meinen Gefährten so Böses verübt hast! Glaubst du, ich weiß nicht, daß du mich nur auf dein Lager locken willst, um mich zu entwaffnen und mir meine Tugend und Mannesstärke zu rau ben? Nein, nicht eher will ich deinem Wunsch willfahren, ehe du nicht feierlich schwörst, mir kein Leid mehr zu tun!‹ Kirke schwor nach meinem Verlangen, und ich teilte mit ihr das Lager und schlief die Nacht in ihrem Arm. Anderntags weckten mich vier holdselige Jungfrauen, das waren Töchter der Quellen und heiligen Ströme, und ihre Väter waren die schattenspendenden Haine der Insel. Diese Jungfrauen standen in Kirkes Dienst und umsorgten mich nun; ich wurde von ihnen gebadet, gesalbt, mit Purpur bekleidet und schließlich zum Festmahl geführt. Kirke saß schon an der Tafel, darauf weißes Brot und Wein und köstliches Wild zum Schmaus bereitstanden; sie gebot mir nach Herzenslust zu essen, doch ich saß reglos am beladenen Tisch und aß keinen Bissen und blickte in trauriger Schwermut. 253
›Warum issest und trinkest du nicht, Geliebter‹, fragte die Zau berin, ›traust du vielleicht meinem heiligen Schwur nicht mehr?‹ ›Ach, Kirke, Kirke‹, sprach ich, ›wie könnte ich essen und trinken, da ich meine lieben Gefährten in Schweine verwandelt weiß! Gib sie, ich bitte dich, frei, wenn du willst, daß ich mich deiner Freund schaft erfreue!‹ Da nahm Kirke die Zauberrute und öffnete die Koben und trieb meine Gefährten, die nun neunjährige Eber waren, auf den Hof, bestrich jeden mit zaubrischem Saft, und siehe, die Rücken richteten sich wiederum gerade, das Fett und die Borsten schmolzen weg, die Schnauzen wandelten sich zu Mündern und die stumpfen Klauen zu Händen und Füßen, und so, als wären die Gefährten durch einen Jungbrunnen geschritten, traten sie schöner und jugend frischer und stattlicher als je zuvor aus der tierischen Gestalt, und sie umarmten mich alle und weinten vor Freude, daß es weithin durch die Wälder schallte. Ich eilte nun, die Kameraden, die beim Schiff zurückgeblieben waren, zu den glücklich Erlösten zu führen. Sie wurden gleich mir gebadet, gesalbt, mit köstlichen Gewändern versehen und fürstlich bewirtet; nach den vielen Kämpfen und Abenteuern genossen wir das Glück der Geborgenheit und des Überflusses; im Flug verging uns die Zeit, und schließlich weilten wir schon ein volles Jahr auf der Insel. Da wurde unser Herz von Heimweh schwer; ich bat Kirke, uns freizugeben, und die Göttin versprach auch gnädig, uns zu entlassen, nur müßten wir noch, so verlangte sie, über den Ozean hin zum Totenreich fahren, auf daß uns die Seele des blinden viel wissenden Sehers Teiresias die Zukunft weissage. Ob dieser Be dingung wollten wir schier verzweifeln; kein Sterblicher war ja bislang nach dem fernen Land der Entschlafnen gekommen, doch Kirke verhieß uns einen günstigen Wind und gab uns genauen Rat, wo der Eingang zur Unterwelt aufzufinden sei. Zudem schenkte sie uns zwei untadelige Schafe von ebenmäßiger Schwärze, ein männ liches und ein weibliches Tier, die wir den Göttern des Schatten reiches opfern und mit deren Blut wir die Seelen der Hingeschied 254
nen anlocken sollten, denn die Schatten im Hades dämmern im trägen Vergessen dahin, und nur durch frisches Blut können sie die Erinnerung an ihr vergangenes irdisches Leben zurück gewinnen. So brachen wir denn auf und begaben uns zum Schiff, da sahen wir plötzlich auf Kirkes flachem Dach Elpenor, den jüngsten unserer Schar, einen tapfren, aber nicht gerade unmäßig klugen Helden, aufspringen und, statt zur Treppe zu gehen, quer über das Dach zu uns eilen und über den Dachrand hinaus den Fuß in die Luft setzen und den zweiten Fuß dann nachziehen und also herabstürzen und sich kläglich den Nacken zerschmettern. Wir wollten den Gefährten bestatten, wie es Brauch ist, aber Kirke trieb uns zur Eile an. So ließen wir denn unsern Jüngsten vor dem Palast im Staube liegen und machten uns fertig zur schwierigen Fahrt. Am Eingang zum Totenreich ir brachten die Schafe aufs Schiff, dann stie ßen wir ab und durchglitten mit vollem Segel das Meer, bis die Sonne sank. An diesem einen Tag erreichten wir, dank Kirkes Hilfe, das Ende des Ozeans und legten vor dem Land und der Stadt der Kimmerer an. Dieses Reich im äußersten Westen, noch hinter dem Ort, wo täglich die Sonne versinkt, ist ständig in Nacht und Nebel gehüllt; tappend und mit den Händen tastend gehen dort die Män ner durch die Straßen, und niemals, selbst nicht am hohen Mittag, ist es ihnen vergönnt, die Sonne zu schauen. Wir zündeten also Fackeln an, zogen das Schiff auf den Strand, nahmen die Schafe und gingen am Ufer hin, bis wir den Ort gefunden, den Kirke uns beschrieben hatte: den Eingang ins Totenreich. In einem wüsten Hain voll unfruchtbarer Weiden und hochragender Erlen und Pap peln vermischten sich wirbelnd zwei schwarze Ströme und stürzten 255
durch einen Felsschlund in ein drittes Gewässer im Innern der Erde. Auf diesen Strömen fahren die Seelen der Abgeschiedenen zu Hades, dem Fürsten des Nichts und der Finsternis, der mit sei nem Weib Proserpina die Unterwelt regiert. An dieser düsteren Stätte angelangt, handelten wir weiter nach Kirkes Rat. Ich zog das geschliffene Schwert von der Hüfte und hob damit eine Grube aus, eine Armspanne lang und eine Armspanne breit. Dann gossen wir Honig, Milch und Wein als Totenopfer über die ausgeworfene Erde und bestreuten sie mit Wasser und weißem Mehl, und schließlich zerschnitt ich den Schafen die Gurgel und ließ ihr Blut in die Grube fließen. Da begann es unter dem Erdreich zu brausen und zu brodeln, Blasen wirbelten im Ge wässer, und aus den Strömen stiegen, vom süßen Blutgeruch an gelockt, die Scharen der Seelen herauf. Jünglinge kamen und Jung frauen, kummerbeladene Greise und erblühte, in jungem Gram verlorene Bräute, und hinter ihnen drängten, in blutbesudelter Rüstung, Krieger heran, Schlachtgefällte, vom Schwert Erschlagne, von Lanzen Durchstoßne, von Pfeilen Erlegte, und sie alle, junge wie alte, flatterten gierig stöhnend zur Grube und schnaubten und schrien mit heiserer Stimme nach dem nährenden Gut. Ich wurde bleich vor Entsetzen, mir graute, und ich wäre am liebsten weg gestürzt, allein ich zwang mich zu Ruhe und Besonnenheit und be fahl den Gefährten, den Schafen die Haut abzuziehn und das Fleisch als Hadesopfer in die Flammen zu werfen; mein blankes Schwert aber ließ ich über der Grube kreisen, um die blutheischenden Schatten so lange abzuwehren, bis des Teiresias Seele genaht war. Als erster der Schatten flatterte unser Gefährte Elpenor heran, des sen Körper wir ja noch unbestattet vor Kirkes Schwelle zurück gelassen hatten. ›O Elpenor, teurer junger Freund‹, rief ich mit zitternder Stimme, da ich ihn nahen sah, ›wie konnte es nur ge schehen, daß du dich am hellen Tage zu Tode stürztest?‹ ›Der Wein war mein Verderben, er soll verflucht sein!‹ erwiderte Elpenors Schatten schluchzend. ›Bezecht war ich auf Kirkes flachem 256
Dach eingeschlafen, und als ich, noch immer trunken, vom Lärm eures Aufbruchs erwachte, vergaß ich ganz, wo ich war, und eilte wie auf ebenem Markte zu euch und stürzte mich schmählich zu Tode! Doch nun fleh ich dich an, o Odysseus, begrabe meinen Leib gleich nach eurer Rückkunft, denn solange die Erde mein armes Gebein nicht deckt, muß ich hier ruhlos die Lüfte durchtaumeln!‹ Ich versprach es, da erblickte ich Teiresias, den vielwissenden blin den Seher mit dem goldenen Stab in der Rechten, und auch der blinde Teiresias spürte meine Nähe und schwebte zu mir. Da steckte ich das Schwert in die Scheide, Teiresias trank, und nach ihm tran ken, noch immer stöhnend und heulend, die armen Seelen. Tei resias aber sprach: ›Große Gefahren harren noch dein, o Odysseus; es zürnt dir Posei don, der Wogenerschüttrer, da du seinen Sohn Polyphem mit der glimmenden Stange geblendet hast! Hüte dich darum, dir noch andere Götter zum Feind zu machen! Du wirst auf der Heimfahrt zur Insel Thrinakia kommen; sie ist samt ihren herrlichen Herden dem Sonnengott Helios heilig, drum meide sie zu betreten und eile vorüber, Ithaka zu. Denn in bitterer Not und Bedrängnis lebt dein Weib Penelope, schamlose Freier umwerben sie voll frechen Übermuts und verwüsten zechend und schwelgend dein Hab und Gut, und es schweift dein tapferer Sohn Telemach in der Fremde, den Vater zu suchen, daß er heimkehre und die Schmach ende mit rächender Hand!‹ Ich knirschte mit den Zähnen, da ich solches hörte, doch Teiresias sagte: ›Harre aus, o Odysseus, und opfre den Göttern, so wirst du zu guter Letzt doch die Frechen bestrafen, und in friedlichem Glück geht dereinst auch dein Leben zu Ende!‹ Dann war er verstummt; die gierigen Schatten hatten vom schwar zen Blut getrunken und waren entwichen, und um die Grube ver sammelten sich die Seelen berühmter Frauen aus uralten Geschlech tern: Tyro, Alkmene, Jokaste, Chloris, Leda und viele andere, einst Geliebte der Götter und Mütter unsterblicher Helden, doch körperlose wallende Dünste auch sie. Sie nahten schweigend und tranken; eine jede berichtete mir mit tonloser Stimme ihr Schicksal, 257
dann glitten sie in die gurgelnde Tiefe zurück. Als letzte aber stie gen meine vor Troja gefallenen Kameraden herauf, Ajax, Achil les und die anderen herrlichen Helden, und an ihrer Spitze ge wahrte ich König Agamemnon, der doch zu gleicher Zeit mit mir von Trojas Küste abgesegelt war. ›Was ist dir widerfahren, mäch tiger König‹, redete ich Agamemnons Seele an, ›hat dich Poseidon, der Meererschüttrer, zu sich gezogen, oder bist du an Land Räubern in die Hände gefallen, oder hat eine kriegerische Schar deine Stadt überrannt?‹ ›Ach, mein Odysseus‹, seufzte Agamemnon, und seine Augen blick ten trübe vor Schmerz, ›viele Männer hast du schon sterben sehn, mein Odysseus‹, so sprach er, ›nie aber fiel ein Mann so grausam wie ich: Aigisthos, der Buhler meines Weibs, der tückischen Kly taimestra, hat mich am Tisch hinterrücks mit dem Dolch getroffen, so daß mein Blut sich mit Wein und Speisen vermischte und mein Leib zwischen Krügen und Schüsseln auf dem Tafelholz lag. Wie ein Stier an der Krippe ward ich erschlagen; der Götter Fluch lastet schwer auf meinem Geschlecht!‹ Jammer faßte mich an, da ich solche Kunde vernehmen mußte; der Schatten des Königs bat mich noch, nach seinem Sohn Orestes zu forschen und ihm von der ruchlosen Tat seiner Mutter zu berichten, dann wandte er sich um und verschwand in der Finsternis. Nun sprach ich Achilles an, der auch im Totenreich Erster unter den Seelen war; ich pries ihn drum glücklich, aber Achilles seufzte tief und erwiderte: ›O mein Odysseus, lieber wär ich ein Taglöhner, ja eines Taglöhners Knecht droben auf der Erde als hier im nacht schwarzen Reich der Fürst aller modernden Geister!‹ Schließlich entschwanden auch die Kameraden, die Grube war ge leert, der Auftrag Kirkes erfüllt, nun aber wandelte mich das tolle Gelüst an, lebendigen Leibs ins Totenreich einzudringen, und so ging ich mit den Flüssen ins Innre der Erde. Eine Asphodelen wiese tat sich auf, und Dunkelheit umfing mich, der Hades hatte mich aufgenommen. In der Ferne sah ich Minos, den Richter, auf einem goldenen Stuhl thronen und die Seelen der Abgeschiedenen 258
nach ihrem irdischen Tun mit Strafe oder Lohn bedenken. Ich konnte auch einige der Verdammten erblicken, so etwa den bejam mernswerten Tantalos, der ewig hungernd und ewig dürstend in einem Teich klarsten Quellwassers unter früchteschweren Bäumen, Granaten, Oliven, Birnen, Feigen und Äpfeln, stehen muß, und den Speise wie Trank jedesmal fliehen, sobald der Gequälte nach ihnen greift oder zum Schlürfen sich niederbeugt. Auch Sisyphos sah ich, den Ärmsten, der dazu verurteilt ist, einen schweren Marmorblock auf eine steile Berghöh zu wälzen, um ihn knapp vor dem Ziel wieder in die Tiefe stürzen zu sehen und die mühvolle schweiß treibende Arbeit keuchend aufs neue und so in alle Ewigkeit fort beginnen zu müssen. Mir schauerte vor solch grausamen Peinen, und ich wandte schnell den Blick ab, da erschaute ich den göttlichen Helden Herakles. Er stand, vom Rund der aufgescheuchten wie Vögel kreischenden Geister umflattert, so finster und ernst wie die Nacht und hielt den Bogen gespannt und den Pfeil zum Abschnel len bereit auf der Sehne; seine Brust deckte der hochberühmte goldene Schild, aus dessen Metall Bären und Eber und grimmig funkelnde Löwen samt Bildern von Kämpfen und Schlachten und Morden getrieben sind. Da wurde ich begierig, auch die berühmten Helden des Altertums zu erblicken, Theseus etwa oder die Argo nauten; ich strebte weiter ins Innre des Hadesreiches, da aber nah ten sich plötzlich unzählige Geisterscharen mit solch grauenvollem Getös und Gestöhn, daß ich entsetzt zur Oberwelt flüchtete und auch dort nicht innehielt, sondern, die Gefährten mitreißend, aufs Schiff floh, die Seile löste und mit aller Rudergewalt in den Ozean zu stoßen befahl.
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An den Sirenen vorüber er Wind war günstig; wir landeten bald wie der auf Kirkes Insel. Dort bestatteten wir eilends den Körper unseres Gefährten Elpe nor, damit er im Totenreich seine Ruhe finde. Wir verbrannten seinen Leib und seine Rüstung, überhäuften die Asche mit Erde und Steinen und pflanzten das Ruder, das er zu Lebzeit so wacker geführt, auf das ragende Grab. Dann bewirteten uns die Zauberin und ihre vier Jungfraun mit Fleisch, Gebackenem und rotem Wein. ›Ihr mußtet mitten im Leben schon das Toten reich schauen, in das die andern erst an ihrem Ende eingehen‹, sprach Kirke, ›nun erquickt euch und stärkt euch vor der Weiter fahrt, denn große Gefahren sind noch zu bestehen!‹ Wir aßen und tranken, bis die Sonne sich neigte, sodann führte mich Kirke ein letztes Mal zu ihrem Lager, doch ehe ich sie in den Arm schloß, beschrieb mir die Göttin alle Gefahren des künftigen Weges und gab mir Rat, wie ihnen zu begegnen sei. ›Hüte dich vor dem Gesang der Sirenen‹, sprach sie, ›kein Sterblicher hat noch bisher ihrem zaubrischen Lied widerstanden! Wer ihnen aber verfällt, hat zum letzten Mal das Licht der Sonne gesehen!‹ Also sprach die Göttin, und sie sprach: ›Hüte dich vor dem schlürfenden Maul der Charyb dis, hüte dich vor den Zähnen der schrecklich bellenden Skylla, vor allem aber hüte dich, in Thrinakia anzulegen, der Insel des Sonnen gottes, der mit seinem leuchtenden Wagen die Lüfte durcheilt! Auf Thrinakia weiden seine Herden, ihr wohlgemästetes Fleisch lockt zum Schmaus, doch wehe dem Frevler, der sich an ihnen vergriffe! Er würde gnadenlos von Zeus, dem Himmelskönig, dem Vater des Helios, gerichtet werden!‹ Am nächsten Morgen stach unser Schiff bei klarem Himmel in die fischdurchwimmelte See. Wir hatten, dank Kirkes Gunst, so guten 260
Wind, daß wir nicht zu rudern brauchten. Die Männer ruhten an Deck, ich aber überlegte, wie ich dem Gesang der Sirenen dennoch lauschen könne. Ich nahm eine Scheibe Wachs, zerschnitt sie, kne tete die Stückchen zu weichen Kugeln und hieß meine Gefährten, ihre Ohren damit zu verschmieren, auf daß sie gefeit gegen den Gesang der mörderischen Sirenen seien. Ich allein ließ die Ohren unverschlossen, doch ich befahl, mich mit den festesten Schnüren an den Mastbaum zu binden und, wenn ich bäte, die Fesseln zu lösen, mich nur noch fester anzuketten. Man tat nach meinem Geheiß, da hörte ich schon ein silbernes Hallen; ich bedeutete den Schiffern, trotz des heftigen Winds auch noch die Ruder zu gebrauchen, und so, das graue Meer wie ein Sturmwind furchend, nahten wir uns dem verrufenen Strand. Die Sirenen, zwei liebliche Jungfrauen mit Adlerflügeln, lagen auf einer blühenden Wiese, die sich hinter einem Wall von lanzen scharfen Riffen und Klippen erhob. Sie waren nackt und trugen Lorbeer im rötlich gleißenden Haar, und als sie uns erblickten, erhoben sie sich und streckten verlangend die Arme nach uns aus, und zugleich begannen sie einen Lobgesang mit solch süßeverhei ßender Stimme, daß mir wohlige Schauer durchs Mark liefen und ich nicht mehr Herr meiner Sinne war. Ehe sie ihr Lied be gannen, hatte ich Berge modernder Gebeine, zertrümmerter Schä del und abgezogener Häute um die beiden zaubrischen Schwestern gehäuft gesehen, und der stickige Hauch der Verwesung war mir in die Nüstern gefahren; nun aber, da ihr Lied ertönte, sah ich weder Knochen noch Klippen und witterte auch nicht mehr die würgende Luft; ich hörte den Gesang der Sirenen, und mein Herz raste, und das Blut brannte in meinen Adern; ich flehte meine Ge fährten an, die Fesseln zu lösen, damit ich zu den Jungfrauen schwimmen und in ihren Armen verweilen könne; ich wand mich am Mast und zerrte an den unnachgiebigen Strängen, meine Ge fährten aber, die unempfänglichen, tauben, ruderten mit verdop pelter Eile, und ihrer zwei warfen sich über mich, der ich mich am Mast wand, und schnürten mir noch einen Ledergurt um Schenkel 261
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und Brust. So steuerten wir glücklich an dem Verderben vorüber; leiser und leiser wurde der Zauberinnen Lied, und je leiser es wurde, um so ruhiger wurde auch mein Blut, und als der Gesang verhallt war, verstand ich mein Verlangen nicht mehr. Ich bedeu tete den Männern, das Wachs aus den Ohren zu nehmen; schließ lich wurden auch meine Bande gelöst. Einen Augenblick war es ganz still, dann aber hörten wir ein fernes dumpfes Getön, das rasch lauter wurde, und zugleich sahen wir vorm Horizont zwischen zwei mächtigen Felsblöcken eine Wand aus stäubendem sprühendem Schaum. Da wußte ich, daß wir uns den schrecklichsten See ungeheuern, der Skylla und der Charybdis, näherten. Zwischen Skylla und Charybdis ie Gefährten setzten, da sie die Gischtwand zwischen den Felsen gewahrten, mit einem Schlag mit dem Rudern aus. Der Wind trieb uns langsam näher; nun schäumte eine Bran dung, und wir sahen das Meer in gewaltigen Fluten hochwallen, als siede es. Die beiden gigantischen Felsen preßten die See zusammen; zur Linken tat sich ein gähnender Rachen auf, der gurgelnd das Meer in sich einsog; die Felswand rechts ragte schroff und marmor glatt bis in den Himmel, und hoch in ihrem Gestein drohte un heimlich ein torgroßes Loch. Die Freunde wollten die Ruder zu rückstemmen, doch ich wußte von Kirke, daß kein anderer Weg als der zwischen den beiden Ungeheuern möglich war: Wenn wir je nach Ithaka kommen wollten, mußten wir hier hindurch. Also rief ich schnell: ›Mut, Freunde, Mut, wir haben doch schon ganz andre Gefahren gemeistert! Sind wir nicht sogar dem mordgierigen Poly phem entronnen, als ein Entrinnen undenkbar schien? Vorwärts denn, Steuermann, zeig deine Kunst: Halte dich dem schlingenden Maul zur Linken, der meereschlürfenden Charybdis, fern und 264
steure kühn so knapp wie nur möglich am rechten Felsen vorbei, ihr andern aber schlagt mit den Rudern den Gischt und habt Hoff nung: Ein huldreicher Gott wird seinen Kindern schon beistehn!‹ So sprach ich und gab ihnen Mut, der Charybdis zu entrinnen, allein ich verschwieg, was Kirke mir mitgeteilt, daß nämlich in der torgroßen Höhle die mörderische Skylla hauste, das unverwund bare zwölfbeinige Krakenscheusal, das mit seinen sechs schwarzen, dreifach mit dolchspitzen Zähnen besetzten Köpfen an ihren sechs klafterlangen Hälsen im weiten Umkreis alles Lebendige aus dem Meer zu weiden pflegt: Thunfische, Seehunde, Haie, Delphine, am liebsten aber lebende Menschen! Ich wußte, daß sechs meiner Ge fährten dran glaubten mußten, wenn ich gebot, knapp am Skylla felsen vorüberzusteuern, aber wie hätte ich anders entscheiden sollen! Der Charybdis wären wir alle zum Opfer gefallen, und hätten wir das Schwellen der Flut – denn nun spie die Charybdis wieder das Meer aus – nicht ausgenützt, wären die raffenden Mäu ler der Skylla wohl zwei- oder dreimal ins Schiff gefahren. So schossen wir denn durch die donnernden Salzwogen hin; ich stand, in jeder Hand einen Speer, auf dem Vorderdeck, bereit, den Kampf mit der Skylla trotz aller Warnungen Kirkes zu wagen, allein so scharf ich auch spähte, ich konnte das Untier nicht erblicken. Das Meer wallte nun wie ein Kessel auf flammendem Feuer; der sie dende Strudel brauste mit solchem Ungestüm, daß sein Flocken schaum über die Gipfel der Felsen sprühte, und die Wasser wirbel ten solcherart wild, daß das Meer sich wie ein Trichter höhlte und wir tief unten am Grund die schwarzen Kiesel liegen sahen. Voll Todesangst blickten wir in den Abgrund; wir glaubten über un serem Grab zu schweben, und da, in diesem Augenblick, schossen die sechs Hälse der Skylla aus der Höhle, ihre sechs Mäuler packten sechs meiner erprobtesten und tüchtigsten Krieger, und als wir ihr Wehegeschrei vernahmen, schwebten sie schon unerreichbar in den Lüften über uns zu Tode Erschütterten, die wir hoch über dem Grund des Meeres schwebten! Wir sahen auf, und unsere Haare sträubten sich, da wir die lieben Gefährten zappelnd und um sich 265
schlagend in den Zähnen der Skylla schauen mußten; ich sah ihre Arme und Beine in den Lüften rudern und stand ohnmächtig und hörte die Freunde um Hilfe jammern und flehentlich meinen Namen rufen, und ich sah sie in der Höhle verschwinden und hörte ihr armes letztes Geschrei und das Krachen ihrer Knochen und das Schmatzen des Ungeheuers – ach, glaube mir, König, nichts Er bärmlicheres als dies habe ich je erlebt, so vieler Jammer mich auch im stürmenden Meer schon verfolgte! Auf der Insel des Sonnengottes achdem wir der Skylla und Charybdis ent kommen waren, stießen wir bald auf die Insel Thrinakia, und noch ehe wir sie erblickten, hörten wir schon das Gebrüll ihrer breitstir nigen Rinder und Stiere und das Geblök ihrer feisten Schafe. Ich dachte an die Warnung Teiresias' wie Kirkes und gebot, an der Insel vorüberzusteuern, aber die lieben Gefährten murrten, und mein Schwager Eurylochos sprach in hellem Zorn: ›Grausamer Mann, du mußt mit besonderer Kraft begabt sein und bist wohl aus unbeseeltem Stahl gebildet, daß du die Notdurft des Schlafs und der Ruhe nebst Speise und Trank zu entbehren ver magst! Wir aber sind erschöpft und entkräftet, miß uns nicht an deinem übermenschlichem Maße! Siehe, die Nacht sinkt hernieder, wie leicht ist's da zu kentern oder auf ein Riff zu laufen! Nein, wir verlangen an Land zu gehen und uns ins weiche Gras zu betten; morgen wollen wir dann ins offene Weltmeer steuern!‹ Also sprach Eurylochos, und alle klatschten ihm Beifall, da wußte ich, daß ein Himmlischer ihre Herzen verwirrt und Unheil ver hängt hatte. Allein es wäre zwecklos gewesen, dem Willen der Gefährten zu widerstreben, und so ließ ich sie denn den heiligsten Eid schwören, keines der Rinder oder Schafe anzutasten, sondern 266
sich mit dem Vorrat zu begnügen, den Kirke uns als Wegzehrung mitgegeben hatte. Sie taten so, wie ich verlangte, und schworen den Eid, dann lan deten wir nahe einer Quelle mit süßestem Wasser, bereiteten uns ein Mahl und beweinten die Freunde, die der gräßlichen Skylla zum Opfer gefallen. Endlich löste ein linder Schlummer unsere Trauer. Es war noch tief in der Nacht und das Morgenrot noch nicht am Himmel erschienen, da sandte uns Zeus eine furchtbare Winds braut; ein undurchdringliches Gewölk verhängte Meer und Erde, und Windsbraut und Gewölk dauerten über den Tag. Wir saßen verstört unter dem sausenden Dunkel, und Windsbraut und Ge wölk waren auch nach einer Woche und nach einem Monat nicht gewichen, und wir hätten schließlich der Finsternis doch zu trotzen gewagt, wenn nur ein anderer Wind als Ostwind geblasen hätte, da wir doch West- oder Nordwind brauchten. Schließlich waren die Vorräte verzehrt, und Gewölk und Windsbraut dauerten immer noch. Wir streiften die Insel ab, mit krummen Angeln Fische oder Vögel mit Netzen zu fangen, doch die geringe Beute, die wir erlegt, konnte unseren nagenden Hunger nicht stillen. Ohne der Himm lischen Hilfe waren wir verloren. Ich pilgerte zu einem windfreien Gestade, wusch mir dort, wie es heiliger Brauch ist, die Hände und flehte die Götter an, unsere Not zu enden, und sie schienen mir gnädig gesinnt, denn sie sandten mir einen tröstenden Schlaf. Mein Schwager Eurylochos aber reizte, da ich fern war, die Freunde zum Verderben. ›Ist es nicht gleich, wie wir zugrunde gehen, Ka meraden‹, so rief er aus, ›furchtbar ist jeder Tod, doch keiner grau samer als das langsame Hinsiechen im Hunger! Laßt uns auf brechen und die besten Sonnenrinder schlachten; sieben mal fünfzig feiste Rinder und sieben mal fünfzig strotzende Schafe weiden hier, da wird uns wohl noch eine Mahlzeit gestattet sein! Wenn wir dann glücklich in Ithaka sind, wollen wir Helios den herrlichsten Tempel bauen und ihn durch die prächtigsten Opfer schon wieder versöhnen!‹ 267
Also sprach er, und die Verblendeten jauchzten ihm zu und trieben die stattlichsten Rinder und Schafe zusammen, schlachteten sie ab, weihten die besten Lendenstücke und die Eingeweide den Göttern, das übrige aber schnitten sie klein und brieten es am Spieß. Ich erwachte zu spät. Ich witterte den Duft des gebratenen Flei sches, und da ich zu den Frevlern eilte, stieg schon Lampetia, die unsichtbare Hüterin der Herden, eilends zu Helios auf und brachte ihm die Unheilsbotschaft. Der Gott lohte im Zorn und beschwor Vater Zeus, den Frevel zu rächen; kämen, so drohte er, die Schläch ter seines Guts ohne Strafe davon, wolle er ins Totenreich hinab steigen und fortan den Schatten, nicht aber mehr den Göttern und Menschen leuchten! Da versprach der Vater dem zürnenden Sohn, die frevelnde Rotte bald zu bestrafen, und Helios kehrte zum Sonnenwagen zurück. Dies alles weiß ich von der Nymphe Kalypso, die wiederum die Kunde von Hermes, dem Götterboten, erfahren hat. Da ich den Bratenduft roch, eilte ich zu den Ruchlosen und sah entsetzt schon die racheverkündenden Götterzeichen: Die ausgewei deten Häute krochen umher, als wären sie lebendig, und schleiften blutige Spuren in den weißen Sand; das Fleisch an den Spießen brüllte nach Stierart, und die rohen Stücke im Kessel blökten, wie Schafe es tun. Die Freunde aber vernahmen weder Gebrüll noch sahen sie die Häute wandern; sechs Tage brieten und sotten sie und schwelgten sie im unersättlichen Schmaus, und sechs Tage krochen die Häute einher und brüllte das leblose Fleisch von den Spießen und aus dem Innern der wallenden Kessel. Am siebten Tag legte sich plötzlich der Sturm, und es schwanden die Wolken. Wir stiegen ins Schiff und ruderten kühn ins offene Meer.
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Querüber durchs Weltmeer ls wir das grüne Gestade Thrinakiens verlas sen hatten und ringsum kein Land, nur Meer und Himmel zu sehen war, breitete Zeus über unseren Häuptern eine dunkelblaue Wolke aus. Es war am hellen Mittag, und über dem laufenden Schiff wurde es plötzlich Abend; die Wolke senkte sich, ihr Blau wurde violette Schwärze, und mit einem Male fuhr brausend und mit fürchterlich zuckenden Wirbeln ein Westwind heran. Er stieß mit solcher Wucht das Segel, daß die beiden Taue des Mastbaums ris sen, der Mast krachend umbrach und dem Steuermann den Schädel zerschmetterte. Der Ärmste rollte ins Meer, und im gleichen Augenblick zuckte ein Blitzschlag nieder und zerspellte das Schiff. Schwefeldampf wallte über dem kochenden Wasser; Donner er schütterte die Meerflut; meine armen Gefährten versuchten noch sich wie Seemöwen auf die zertrümmerten Planken zu retten, aber die wilden Wogen rissen sie gnadenlos in die Tiefe hinab. Ich hatte mich an den Mastbaum geklammert, an dem noch die ge rissenen Taue hingen, so daß es mir gelang, den Mast an einen vorübertreibenden Teil des Kiels zu binden; mit letzter Kraft schwang ich mich dann auf dies elende Wrack und also wie auf einem Steckenpferd reitend trieb ich durch die tobende Flut. Schließlich legte sich der Westwind, und die See wurde glatt, doch nun erhob sich ein starker Südwind und trieb mich die ganze Nacht hindurch zum Strudel der wilden Charybdis zurück. Ich fürchtete Skyllas sechs gräßliche, die Lüfte durchweidende Häupter und wich ihrem Bannkreis aus, da faßte mich der Charybdis gieriger Schlund, der eben das Meer einschlürfte, und ich wäre verloren gewesen, hätte ich mich nicht an einen Feigenbaum über dem Felsmaul ge klammert, an dessen Geäst ich nun hilflos wie eine Fledermaus 269
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hing. Ich vermochte weder mit den Füßen Halt zu finden noch höher zu klimmen, und hing also am knackenden Feigenbaumast über der kochenden See und sah meinen Kielbaum im Strudel ver schwinden und wartete jeden Augenblick, das heiße Fauchen der zähnestarrenden Mäuler Skyllas zu spüren, und also hing ich, hilf los, an brennenden Händen und schmerzenden Sehnen ein volles Drittel des Tages, da endlich spie die Charybdis das Meer wieder aus und mein Kielbaum erschien. Ich ließ mich niederfallen, um klammerte den Mast und ruderte mit den Händen und konnte mich noch glücklich preisen, daß die schreckliche Skylla in ihrer Höhle geblieben war und mich nicht gewittert hatte. Neun Tage trieb ich durchs Meer, in der zehnten Nacht dann führ ten die Himmlischen mich nach Ogygia, wo Kalypso, die schön gelockte Göttin, wohnte – doch warum soll ich, o König, dies alles noch einmal erzählen?«
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O DY SS EU S A U F I T H AK A
Poseidons Zorn ie Mitternacht war vorbei, als Odysseus ge endet hatte, und obwohl sich nun alles zur Ruhe legte, konnte niemand schlafen, so sehr hatte der wundersame Bericht des Weit gereisten die Herzen bewegt. Als der Tag anbrach, wurden die Gastgeschenke ins Schiff getragen und Odysseus ein zweites Mal zum Festschmaus gebeten; im Hafen dann opferte man erneut den Göttern und flehte um eine günstige Heimfahrt, und zweiund fünfzig der edelsten phaiakischen Jünglinge setzten sich auf die Ruderbank, und das Schiff stieß von Land und flog über die See. Odysseus, vom Erlebnis mit dem Schlauch der Winde gewitzt, hatte wachen wollen, bis Ithaka erreicht war, doch er konnte seine Mü digkeit nicht überwinden und legte sich auf das Hinterdeck auf einen Pfühl von Polstern und leinenen Teppichen und schlief, vom gleichmäßigen Klatschen der Ruder ins dunkle Reich des Schlum mers geleitet, fest und tief bis zum nächsten Tag durch, und selbst die Wogen des offenen Meeres, die bald heftig tosten, weckten ihn nicht. Als der Morgen graute, hatte das Schiff Ithaka erreicht und legte in dem berühmten windgeschützten Hafen an, der dem göttlichen Meergreis Phorkys geweiht war. Dort betteten die Phaiaken Odys seus sanft an den Strand, denn sie brachten es nicht übers Herz, den Erschöpften, der immer noch schlief, zu wecken; hierauf schich teten sie sorgsam die Gastgeschenke in einem Kreis um den heim gekehrten Dulder und steuerten dann nach ihrer Heimat zurück. Sie sahen schon ihre Landsleute winkend am Hafenkai stehen und freuten sich auf die Ruhe nach der nächtlichen Reise, da tauchte 272
plötzlich vor ihnen Poseidon aus dem Meer, und sie fielen freudig auf die Knie, ihn zu begrüßen, da er doch ihr Urahn war. Poseidon aber rief mit donnerdröhnender Stimme: »Ihr habt meine Rache vereitelt, Kinder, und meinem Todfeind reichere Schätze übereig net, als er je aus Troja mitgeführt! Ihr wußtet, daß er mein Feind war, und habt ihm geholfen; wenn ihr auch meines Blutes seid, ich muß euch bestrafen!« »Aber das Gastrecht, das doch ein göttliches Gesetz ist, gebot uns, so zu handeln!« rief der Anführer der Jünglinge; Poseidon aber schüttelte wütend den Kopf und schlug mit der flachen Hand auf das Schiff, daß es Stein ward und im Meeresgrund wurzelte, und es ist noch heute als ein bekanntes Kap zu sehen. Als das Volk im Hafen dies Wunder schaute, schrie es auf und opferte eilends sei nem Urahn zwölf Stiere, um ein Verderben ganz Scherias abzu wenden, denn wenn die Götter in allem stärker und gewaltiger als die Menschen waren, so waren sie es auch in ihrer blinden Raserei und ihrem unbezähmbaren Groll. Odysseus erwacht in der Phorkysbucht ls Athene das Wüten Poseidons wahrnahm, hüllte sie ihren Schützling, der gerade er wachte, vorsorglich in einen undurchdring lichen Nebel, der Hafen und Bucht und Gast geschenke mit düsterem Grau verhüllte wie im kimmerischen Land. Als Odysseus die Augen auftat und nichts anderes schaute als wo gende Wolkenschwaden, da hob er bitterlich an zu weinen und wähnte sich am Eingang zum Hades ausgesetzt. Er schlug sich die Hüfte mit der Hand, wie es Klagende im maßlosen Jammer tun, und sprach: »Wehe mir, zu welchem Volk bin ich nun gekommen? An welchem öden Gestade hast du mich, unerbittliche Schicksals göttin, wieder ausgesetzt? Ach, hätte ich doch die Kraft gefunden, 273
die Fahrt zu durchwachen! Wie fest haben mir die phaiakischen Freunde versprochen, mich in die Heimat zu bringen, und wie bit ter haben sie, denen ich blindlings vertraute wie keinen andern, mich doch enttäuscht. Das ist nicht Ithaka, das ist nicht die liebliche windgeschützte Phorkysbucht, das kann nur der Eingang zur Unter welt sein!« Da er dies sprach und sich erhob und im Finstern umhertappte, stieß er an das silberne Becken und den Dreifuß und betastete beide mit den Händen und fand, weitertastend, sein Gut vollzählig im Kreis gelagert und jammerte, was ihm Gold und Silber und ein Leibrock aus Purpur denn nützen sollten an diesem unbehausten wüsten Strand. Athene aber war schon vom Olymp herabgestiegen; sie lichtete ein wenig den Nebel, daß Odysseus ein paar Schritte weit blicken konnte, und näherte sich dem Jammernden in Gestalt eines Hirtenknaben. Als Odysseus den Jüngling erblickte, fiel er nieder und umschlang seine Knie und fragte nach dem Namen des Landes, fürchtend, er werde hören müssen: Kimmerien. Der Hirt aber lächelte und erwiderte, ihn mache die Frage des Fremdlings staunen, denn derart unbekannt sei doch dies Land nicht, daß man seinen Namen erst erkunden müsse, drang doch, so sprach der Knabe, sogar bis ins ferne Troja der Ruhm Ithakas! Und die Göttin schob die Nebel auseinander, und Odysseus, noch immer auf den Knien, gewahrte die wohlbekannten Felsklammern, die um den Phorkyshafen sich beinah zur Kreismauer schlossen und ihn solcherart gänzlich windstill machten, und er schaute die ge schweiften waldigen Höhen, die sich hinter der Bucht erstreckten, und dann wandte er das Haupt und erblickte über dem Felsen einen uralten Ölbaum und in seinem Wurzelgerank eine Grotte, darin er als Knabe oft den Nymphen geopfert, und da er nach zwanzig Jahren nun sein Heimatland schaute und den Boden des Vaterlands unter den Füßen spürte, preßte er die Stirn auf die heilige Erde, und sein Herz wollte brechen vor jubelndem Glück. Athene aber richtete ihn auf und hieß ihn zuerst seine Schätze in die Höhle tragen, daß sie in Sicherheit lägen, und nachdem sie 274
dann die Grotte mit einem unlösbaren Stein verriegelt hatte, be richtete sie – und sie setzten sich, Erdensohn und Göttin, ins Wur zelgestrüpp des uralten Ölbaums – vom wüsten Regiment der Freier, von Telemachs Ausfahrt nach Pylos und Sparta und von Penelopes treuer ausharrender Hut. »Darum hüllte ich dich in Nebel, Odysseus«, sprach die Göttin, »daß du nicht blind in dein Verderben dich stürztest, denn es wird vieler List und hohen Mutes bedürfen, das Gesindel zu züchtigen und zu vertreiben und dem Land den Frieden zurückzugeben. Zunächst aber will ich dich un kenntlich machen!« Sie sprach's und hauchte Odysseus an, und siehe, da schrumpfte sein Leib in Runzeln und Falten und wurde fleckig und braun und von Flechten entstellt; sein Haar fiel vom Haupt, und seine Augen be gannen zu triefen und blöde zu blicken; anstatt des kostbaren Ge wandes umhüllte ihn ein besudelter Lumpen und ein räudiges Fell als Leibrock und Mantel; in Händen hielt er statt des blitzenden Schwerts einen knorrigen Stecken, und auf dem Rücken trug er einen Ranzen, der an einem geflickten Tragband hing. Allein sein Herz und seine Seele waren unverändert geblieben. Als Athene ihn so elend und bresthaft sah, nickte sie befriedigt und lächelte. »Niemand wird dich erkennen, Odysseus«, so sprach sie und trug ihm auf, zuerst zum Sauhirt Eumaios zu gehen, der sich als Treuester aller Treuen erwiesen und so innig wie kein andrer von den Göttern die Rückkehr des Königs erfleht habe, doch der nun, nach zwanzig Jahren, auch nicht mehr glaube, daß Odysseus am Leben sei. Sie aber, Athene, wolle nach Sparta eilen und Tele mach zur Rückkehr mahnen und auch dafür sorgen, daß die Rotte der Mörder, die in einem schwarzen Segler zwischen Same und Ithaka auf Lauer liege, ihr schmähliches Werk nicht vollbringen könne. Mit diesem Versprechen entschwand sie, und Odysseus machte sich auf den Weg zum Sauhirt Eumaios, und bei jedem Schritt, den er tat, pries er sich glücklich, denn er schritt ja nun über den Boden des Vaterlands. 275
Odysseus bei Eumaios ls Odysseus den Bergkamm überquert hatte, sah er die grüne und rote Ebene Ithakas vor sich liegen; er hielt im Schreiten inne und atmete tief und ließ seinen Blick über das Heimatland schweifen, und da gewahrte er Rauch, der aus einer Siedlung inmitten der saftigen Wiesen stieg. Dies wunderte ihn, denn er wußte nichts von diesem Lager; es war erst nach des Kö nigs Abfahrt vom getreuen Eumaios erbaut worden, um den Herden besseren Schutz zu bieten, denn die Insel war von Kriegern entblößt, und Seeräuber streiften umher und machten die Lande unsicher. Steinblock um Steinblock hatte der Hirt drum zum Wall geschichtet und dessen Zinnen mit Ketten scharfer Dornen umfloch ten, und diese Steinwehr war abermals von einem festen Zaun gespitzter Pfähle umpflockt. Innerhalb des Geheges waren zwölf Koben abgeteilt, in denen je fünfzig Muttersäue sich suhlten; die Eber aber waren im Freien untergebracht. Ihre Zahl war schon auf dreihundertsechzig gesunken, denn die unersättlichen Freier ver langten für ihre Gelage Tag um Tag den fettsten und stattlichsten Eber nebst einem Stier und zahlreichen Schafen und Ziegen. Als Odysseus die wehrhafte Stallung schaute, freute er sich über den treuen Eifer seines Hirten, und er beschleunigte seinen Schritt. Er hatte das Lager noch nicht erreicht, da stürzten ihm vier riesige Hunde entgegen, die Eumaios hielt, um Räuber abzuschrecken. Es waren Bluthunde und abgerichtet, jedem Eindringling an die Kehle zu fahren; sie sprangen nun heulend dem Bettler entgegen und fletschten ein furchtbares Reißzahngebiß. Als Odysseus sie erblickte, begriff er, daß er mit seinem Eichenknüppel sich niemals der Hunde würde erwehren können. Er blieb darum unbeweglich stehen und hoffte die Untiere solcherart zu besänftigen, allein sie hätten ihn 276
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dennoch zerfleischt, wäre Eumaios, der gerade Stierleder zu Sohlen zuschnitt, nicht aus seiner Hütte gestürzt und mit wütenden Rufen und Steinwürfen über die Koppel hergefallen. »Ach, Alter«, seufzte der Hirt, nachdem er die Hunde vertrieben hatte, und zog den Fremden in die geschützte Stallung, »ach du guter törichter Alter, was hättest du mir durch deinen Unbedacht wohl für ein herbes Leid angetan! Wie konntest du dich nur ungerufen und ungewapp net einem Schweinelager nahen? Ist's nicht genug, daß ich mich im Gram um meinen König Odysseus verzehre – hätte ich nun auch um dich, Väterchen, mein Leben lang jammern sollen?« So sprach Eumaios, dann schlachtete er zwei Ferkel, nahm sie aus, sengte und teilte sie und bestreute die Stücke mit Mehl und briet sie, opferte von diesem bescheidenen Mahl die fettumwickelten Knochen den Göttern und bewirtete den Gast mit Fleisch und Weißwein, und während Odysseus es sich schmecken ließ, hob Eumaios wieder an, um den dahingeschiedenen Herrn zu klagen und das wüste Treiben der Freier mit flammenden Worten zu gei ßeln. Odysseus war gerührt und ergrimmt zugleich; er hätte sich gern dem Wackren enthüllt, doch er wollte erst noch dessen Treue prüfen, und also stellte er sich an, als ob er noch nie den Namen des Königs, um den der Hirt trauerte, vernommen habe, und ließ sich ihn von Eumaios nennen. »Nimmer werde ich ihn sehen, der von allen Königen dieses Landes der beste und verständigste war!« seufzte der Sauhirt, und Tränen standen in seinen Augen. »Wie weise war doch sein Rat, wie blühend sein Land, wie stattlich sein Reichtum! Zwölf Herden Rinder, zwölf Herden Schafe, zwölf Herden Schweine und elf Herden schweifender Ziegen nannte er sein eigen; nun schmelzen sie zusammen wie der Bergschnee im Sommer, denn die Freier sind unersättliche Schlinger! Ach, kehrte er doch heim, sie zu strafen, der geliebte König, den ich immer nur meinen älteren Bruder nannte! Aber das wird wohl nimmer ge schehen!« »Alter, ich sage dir, noch ehe der Mond, der heute am Himmel ver lischt, sich wieder zur vollen Scheibe gerundet hat, wird der König 278
vor dir stehen!« erwiderte Odysseus. Eumaios aber schüttelte den Kopf. »Zu oft schon habe ich solche Orakel gehört«, erwiderte er, »und immer ist meine Hoffnung betrogen worden! Rechnet doch jeder auf eine gute Bewirtung, der vorgibt, Nachricht von dem Verschollenen zu bringen, und sich als dessen Freund und Bekann ter aufspielt! Jeder der Fremden, der hierherkam, will Odysseus gesehen haben: der eine in Ägypten, der andere auf Kreta, der dritte im wilden Asien; jedermann hat mit seiner Bekanntschaft geprahlt und ist reich beschenkt von dannen gewandert und hat doch nichts anderes getan als in den Wind gelogen und unsere längst erstorbene Hoffnung unnütz ein Weilchen wieder flackern gemacht! Siebenmal sind wir auf solche Lügner hereingefallen; nun aber glaube ich derlei Märlein nicht mehr!« – »Und ich wieder hole dir«, erwiderte Odysseus, »noch ehe der Mond sich zur vollen Scheibe gerundet hat, wird dein König vor dir stehen; habe ich aber gelogen, dann magst du mich vom höchsten Felsen der Phor kysbucht in die donnernde Brandung stürzen!« »Wer bist du, daß du so sprechen kannst?« fragte Eumaios. »Ich bin ein Bettler, der einst ein mächtiger König war, vor Troja kämpfte, deinen Herrn dort kannte wie sein eigenes Ich und der nach einer mühvollen quälenden Irrfahrt schließlich auf diese Insel verschlagen wurde«, erwiderte Odysseus. »Und woher willst du wissen, daß mein Herr zurückkehren wird, ehe sich der Mond zur vollen Scheibe gerundet hat?« fragte der Hirt. »Von den Göttern«, antwortete Odysseus. Indes waren die drei Gehilfen des Sauhirten gekommen, und Eumaios richtete ein Abendmahl. Er schlachtete ein Schwein, weihte die besten Teile den Göttern, briet dann das übrige am Spieß und teilte es redlich mit seinen Männern. Dem Gast aber setzte er den unzerschnittenen Rücken vor und schenkte ihm wieder Wein im hölzernen Becher. Zum Fleisch aßen sie Brot, das der Sauhirt für eigene Habe eingetauscht hatte, denn das wenige Korn, das auf der kaum bestellten Insel noch gedieh, verbrauchten die Freier für 279
sich allein. Dann bereitete Eumaios seinem Gast ein weiches Lager und deckte ihn sorgsam mit seinem einzigen Mantel zu. Es war eine stürmische Nacht, vom Westwind durchheult, regen triefend und finster. Odysseus legte sich zu den drei Hirten; Eumaios aber hüllte sich in ein Ziegenfell, hängte sich sein Schwert um die Schulter, nahm seinen scharfblattigen Speer in die Rechte und sprach: »Dies ist eine Nacht ganz nach dem Geschmack von Räubern; ich will mich hinaus zu den Ebern legen, damit kein Un berufener Telemachs Herden sich nahe!« Mit diesen Worten ging er hinaus in die sausende Regennacht und bettete sich unter einer Felszacke im Freien. Odysseus aber freute sich dieses Getreuen und beschloß ihn reich zu belohnen, wenn der Spuk der Freier geendet sein würde. Dann schlief er ein, die erste Nacht im endlich erreich ten Vaterland, und die Schweine grunzten im Schlaf, und der Wind heulte, und der Regen trommelte auf das hölzerne Hütten dach. Telemach in Sparta thene aber war indes nach Sparta gezogen, um Telemach in die Heimat zurückzurufen. Sie traf ihn, obwohl es tief in der Nacht war, wach und von Sorgen um seinen Vater ge quält. »Eile, Telemach«, so redete unsichtbar Athene den Jüngling an, der sofort begriff, wer da durch die stürmische Nacht zu ihm sprach, »eile übers Land zu deinem Schiff, und begib dich so schnell du kannst nach Ithaka! Die Freier haben beschlossen, Ernst zu machen und deine Mutter Penelope zur Vermählung mit einem der Ihren zu zwingen, und zwar mit dem reichsten und verschlagensten, mit Eurymachos. Eile drum, Telemach, aber sei wachsam; in der Bucht von Same lauert ein schwarzer Segler, der ist mit Mördern besetzt, die dir nach dem Leben trachten! Darum umschiffe Same und fahre auch nur in der Nacht; vertraue meiner Hilfe, doch mehr 280
noch deinem tapfren Herz! Bist du aber auf Ithaka angekommen, so gehe stracks zum Sauhirt Eumaios, dem Treuesten aller Treuen; von dort sende Botschaft zu Penelope, und melde ihr deine Rückkehr, dann begib dich selbst in den Palast. Hör auf mein Wort, und gehab dich wohl!« Die Göttin entschwand; Telemach aber sprang von seinem Lager und eilte in den Palast des Königs Menelaos, der im Schlafgemach neben seinem Weib Helena lag. Als Telemach die Schläferin sah, fuhr es ihm durch den Sinn, daß um ihrer Schönheit und Treulosig keit willen der Krieg um Troja getobt und so viele Helden, dar unter wohl auch seinen Vater, verschlungen hatte, und Unmut um wölkte seine Stirn. Menelaos aber erhob sich und trat zu dem Jüng ling, der in hastiger Rede bat, ihm einen Wagen zu rüsten, damit er zu seinem Schiff zurückkehren könne; äußerste Eile, so flehte er, tue not, Athene selbst habe ihn zur Heimfahrt aufgerufen. Menelaos verstand die Eile des Jünglings wohl. Er sagte ihm zu, ihn mit eigener Hand übers Land in die Hafenstadt Pylos zu fah ren, und ließ, bis der Wagen bespannt und geschirrt war, ein Mahl bereiten. Während das Fleisch im Kessel sott und die Tische und Sitze gesäubert wurden, wählte der König, von Helena begleitet, aus seiner Schatzkammer ein würdiges Gastgeschenk für den Schei denden aus. Er entschied sich für einen reichverzierten silbernen Becher mit goldenem Rand, ein kostbares Stück, das Hephaistos, der Gott des Feuers und der Schmiedekunst, geschaffen hatte, und das, von edlen Steinen geschmückt, heller strahlte als der Morgen stern. Helena aber beschenkte den Jüngling mit einem selbst gewirkten Gewand aus purpurgefärbter und weißer Wolle. Vor dem Mahle opferten sie den Göttern, dann aßen und tranken sie Gesottenes und Gebratenes und schritten dann über den Hof zu der Halle hin, wo die zweirädrigen Kampf- und Reisewagen stan den. Als sie aber den Hof betraten, stürzte ein mächtiger Adler durch die regenschwarze Nacht hernieder, schlug seine Klauen in eine gemästete Gans und trug sie davon. »Das ist ein Zeichen der Götter«, rief Menelaos, »die Gans sind die 281
Freier, der mächtige Adler aber ist dein Vater Odysseus, der heim gekehrt ist, das Gesindel zu züchtigen. Eile darum, Telemach, daß du ihm nach Kräften beistehst!« Mit diesen Worten hieß er den Jüngling den Wagen besteigen; er selbst ergriff Peitsche und Zügel, und die Rosse sausten in rasselnder Fahrt durch die Stadt und durchs gebirgige Land zur Hafen stadt Pylos. Zwei Tage waren sie unterwegs, und es war Abend, als sie im Hafen eintrafen, doch ohne Aufenthalt zu nehmen und sich zu erquicken, machte Telemach mit seinen Gefährten das Schiff flott und stieß von Land und umsegelte Same und kam in dieser Nacht noch glücklich nach Ithaka. Odysseus und Telemach dysseus hatte schon zwei Tage und Nächte lang die Gastfreundschaft des edlen Schweine hirten genossen, und er bereitete nun am drit ten Morgen das Frühmahl, da hörte er drau ßen Schritte, und zugleich hörte er die Bluthunde aufspringen und den Ankömmling, ohne ihn zu verbellen, mit freudigem Winseln und Japsen umhüpfen. »Sicher kommt ein Bekannter zu dir, Eumaios«, sagte er, »wer kann das sein?« Eumaios zuckte die Schultern. »Ich erwarte niemand«, sprach er, da wurde das Fell vor dem Hütteneingang zurückgeschoben, und Tele mach trat ein. Als Eumaios ihn sah, schrie er vor freudigem Schrek ken auf, und der Becher, in den er gerade Wein eingoß, fiel ihm aus der Hand. Er eilte auf den Jüngling zu, umarmte und küßte ihn und weinte laut und klagte: »Ach, Telemach, mein süßes Leben, warum nur bist du zurückgekommen! Weißt du nicht, daß die Freier beschlossen haben dich umzubringen? Ach, wärst du im siche ren Port von Pylos geblieben; halte dich nun wenigstens hier drau ßen bei mir auf und meide die schändliche mordgierige Rotte!« 282
»Ebendeswegen bin ich ja gekommen, liebes Väterchen«, entgeg nete Telemach, da gewahrte er den fremden Bettler. Odysseus hatte Mühe, sich zu beherrschen, da nun sein Sohn, den er zuletzt als Säugling in der Wiege gesehen hatte, vor ihm stand; er wollte aufspringen und ihn ans Herz drücken, aber er erhob sich nur von seinem Sitz und wandte sein Angesicht ab, die Tränen zu verber gen. »Bleibe doch sitzen, Fremdling«, sprach Telemach, »es wird sich für mich schon ein Plätzchen finden!« Da setzte sich Odysseus wieder, hielt aber das Haupt noch immer abgewandt und preßte den rechten Arm auf die Augen. »Wer ist dieser Fremdling, und wie kam er hierher?« fragte Tele mach den Hirten, der ihm indes mit grüner Spreu und einem Schaf fell am Tisch einen Platz bereitet hatte. »Er ist ein Bettler, der einst ein König war«, sprach Eumaios, »nach langer Irrfahrt hat ihn die kochende See an Ithakas Küste gespült; ich habe ihn gastlich aufgenommen, es ist ja Platz hier zur Ge nüge!« »Daran hast du wohlgetan, edler Eumaios«, erwiderte Telemach, »ich würde den Fremdling ja gern in meinem Palast aufnehmen, doch fürchte ich, daß die Freier ihn schmähen und kränken könn ten! Möge er denn bei dir verweilen, ich will ihm reichlich Speise und Wein und Kleidung schicken. Du aber, Väterchen, eile zu mei ner Mutter und berichte ihr, daß ich gerade aus Pylos zurückgekehrt bin, aber weihe niemanden anderen ein als sie!« Der Sauhirt fragte, ob er die Rückkehr denn nicht auch dem Groß vater Laertes melden solle, doch Telemach bat ihn, zu eilen und schnell wieder zurückzukommen; wenn die Mutter es für richtig halte, könne sie ja, so sagte er, eine Magd mit der frohen Botschaft zu Laertes senden, denn der Großvater wohnte außerhalb der Stadt auf seinem Landgut. Eumaios band sich die Sohlen aus Ochsenleder unter die Füße, nahm seinen Speer in die Rechte und ging aus der Hütte, und Odysseus kämpfte noch immer abgewand ten Gesichts mit seinen Tränen, da hörte er plötzlich draußen die Hunde erschreckt und ängstlich winseln und jaulen, und es war 283
ihm, als ob eine Stimme seinen Namen rufe. Er trat ins Freie, da sah er die Meute gesträubten Fells und bebend vor Angst in die Ecken des Pferches gedrängt; auf der anderen Seite des Hofes aber stand eine junge Hirtin, und da wußte Odysseus, daß Athene ihm wieder erschienen war. Die Göttin winkte ihm, und Odysseus trat zu ihr; sie berührte mit der Rechten leicht seine Schulter, und da war ihm wieder seine edle Gestalt und Gewandung verliehn. »Die Zeit ist reif, Odysseus«, sprach die Göttin, und die Bluthunde in den Winkeln krümmten sich schaudernd vor ihrer Stimme, »die Zeit ist reif; geh und gib dich deinem Sohn zu erkennen, damit ihr gemeinsam den Kampf gegen die Freier beraten und beginnen könnt! Vertraue auf mich, ich bleibe dir nah, auch mich drängt die Begierde zu kämpfen!« Die Göttin entschwand; Odysseus ging zur Hütte zurück, und die Hunde wichen nun auch vor ihm ängstlich zur Seite. Als Telemach den verwandelten Fremdling sah, fiel er auf die Knie, hob die Hände und rief: »Wahrlich, ein Gott hat unsere Hütte betreten! Sei uns gnädig, Unsterblicher, ob du Apollon, der Gott des Lichtes, oder Ares, der blutige Gott des Krieges, oder gar Zeus, der oberste König und Vater der Götter, bist! Sprich, du Himmlischer, was ist dein Verlangen!« So sprach Telemach und hielt die Augen in Frömmigkeit niedergeschlagen; Odysseus aber zog seinen Sohn an die Brust und gab sich ihm als Vater zu erkennen. Lange wollte Telemach dem Göttergleichen keinen Glauben schenken; dann aber, als die letzten Zweifel geschwunden waren, umarmten die Männer einander, und sie gingen hinaus ins Freie und setzten sich unter einen Ölbaum und sahen hin übers Land und weinten vor Glück und Grimm. Schließlich ermannte sich Odysseus. »Die Zeit ist reif zum Handeln!« sprach er. »Laß uns einen Plan ersinnen, gegen die Freier den Kampf aufzunehmen!« »Das kann doch dein Ernst nicht sein, lieber Vater«, sprach Tele mach, »es sind ja alles erprobte, kampferfahrene Krieger, und sie sind in der erdrückenden Übermacht! Zweiundfünfzig sind aus Dulichion mit sechs Knechten und dem Herold Medon gekommen, 284
vierundzwanzig aus Same, zwanzig aus Zakynthos, ja sogar zwölf Abtrünnige aus Ithaka sitzen mit ihnen vereint an der Tafel, wie willst du gegen diese Menge bestehen? Wir wollen uns fremde Hilfe suchen und draußen ein Heer rüsten, dann werden wir es wohl wagen können!« »Söhnchen«, erwiderte Odysseus, »ich will kein fremdes Heer ins Land ziehn! Sag, welche Hilfe dünkt dich wirksamer: die eines Heeres von hundert Streitern oder der Beistand eines der Himm lischen?« »Tausend Sterbliche vermögen nichts gegen einen Gott«, entgeg nete Telemach. »So vernimm denn, lieber Sohn«, sprach Odysseus, »daß an un serer Seite die Pallas steht, Athene, die als einzige neben Zeus den schrecklichen Aigisschild schütteln darf, vor dessen donnerndem Tosen allein ein Heer entsetzt die Flucht ergreift!« »Athene ist mit uns«, jubelte Telemach, »dann mögen wir den Kampf beginnen! Nun weiß ich auch, wer damals in Mentors Ge stalt zu mir trat und sich dann als Vogel in den Himmel schwang!« Da er dies rief, schoß ein taubenrupfender Habicht zu seiner Rech ten vom Himmel, zog einen Kreis um die Häupter der beiden und schwang sich dann wie ein Pfeil wieder zum Firmament. »Sieh das Zeichen der Göttin!« rief Odysseus. »Und nun höre meinen Plan. Du gehst in den Palast, sobald der nächste Morgen sich rötet; ich werde dir gemeinsam mit Eumaios in der Gestalt eines Bettlers folgen und mich auf den Stufen des Palastes niederlassen. Mögen die wüsten Gesellen mich auch kränken und schmähen und an mir ihr Mütchen kühlen – du mischst dich nicht ein, so tief ich auch er niedrigt werde. Wenn ich Athenes Nähe fühle, werde ich dir mit den Augen winken. Schaffe dann alle Waffen aus der Halle in den oberen Söller; sage den Freiern, die kostbaren Bogen und Lanzen seien schon schwarz von Rauch und Ruß geworden und müßten dringend gereinigt werden; nur zwei Schwerter laß stehen, zwei Speere und zwei stierlederne Koller, daß wir uns ihrer bedienen können, wenn es Ernst wird. Und hüte deine Zunge, mein Sohn; 285
niemand, auch nicht Penelope, auch mein greiser Vater Laertes nicht, darf wissen, daß Odysseus auf Ithaka weilt!« Nachdem er dies gesprochen hatte, erhob er sich, und da er sich erhob, war er wieder in einen Bettler verwandelt. Die Bluthunde aber mieden auch jetzt noch seine Nähe. Der Plan der Freier a die beiden also ihren Plan beredeten, waren des Telemachs Reisegefährten in den Palast zurückgekehrt, und die Freier sahen ihre Rückkunft mit Schreck und Zorn. »So ist Tele mach doch ein Meisterstück gelungen«, sagten sie, »sicher wird bald das Heer, das er geworben hat, landen, und ebensosicher wird er Ithakas Volk zur Ratsversammlung berufen und wider uns hetzen. Es bleibt keine Zeit, wir müssen den Aufsässigen töten! Laßt ihn in den Palast kommen, da wird sich schon ein Anlaß finden, mit ihm abzurechnen!« So sprachen Antinoos und Eurymachos; doch einer der Freier, ein edler Jüngling namens Amphinomos, der Telemach freundlich zu getan war, und sich auch bei den Prassereien zurückhielt, wandte sich gegen ihren Plan. »Es ist den Göttern ein Greuel, ein Königs geschlecht auszulöschen«, so sprach er; »bedenkt, Odysseus ist tot, und Telemach hat keinen Erben; mit ihm wäre das Geschlecht der Laertiden getilgt, und es war doch ein wackerer Königsstamm! Laßt uns darum die Götter befragen, ehe wir handeln! Liegt es in ihrem Vorsatz, daß Telemach falle, dann will ich der erste sein, der den tödlichen Streich wider ihn führt!« Dies aber sprach er, um Telemach zu retten, denn er dachte das Orakel so lange wie nur möglich hinauszuziehn. Sein Vorschlag fand den Beifall aller, und sie kamen überein, daß Amphinomos bald die Götter befragen solle. Indes war, durch eine treue Magd, 286
die Kunde von der Verschwörung zu Penelope gedrungen. Sie schritt aus ihrer Kammer, in der sie tagsüber weinend saß, trock nete ihre Tränen, trat hochaufgerichtet vor die überraschten Freier und hob mit heftigen Worten zu reden an. »Ist's nicht genug, daß ihr den Königspalast entehrt und schändet und wie eine Pest auf dem Land liegt!« schalt sie in loderndem Zorn. »Trachtet ihr nun auch danach, das Königsgeschlecht auszulöschen und meinen Sohn Telemach in den schwarzen Hades zu senden? Fluch über euch alle Fluch, Fluch, Fluch! Mögen die Himmlischen euch noch diese Stunde bestrafen!« Aber Eurymachos, der reichste und verschlagenste der Freier, erhob sich und sprach: »Töricht redest du, Penelope, töricht und unwahr, wer weiß, welcher Narr und Verleumder dir diese Lügen einge blasen! Niemand von uns hegt solche Pläne! Ja, ich sage dir, wenn einer es wagen sollte, Hand an meinen jungen Freund Telemach zu legen, so würde ich ihn auf der Stelle mit meinem Speer durch stoßen! Wie oft hat mir Odysseus doch Gastfreundschaft gewährt wie oft mich beschenkt und wie herzlich mich immer bewirtet Glaubst du, ich könnte ihm das jemals vergessen?« Also sprach er und schüttelte den Speer in der Rechten; insgeheim aber dachte er, wie süß es für ihn wäre, diese Waffe in Telemachs Herz zu senken. Penelope aber traute ihm nicht und stieg hinauf in den Söller und sann verzweifelt nach einer Rettung und fand sie nicht. Odysseus geht in die Stadt m nächsten Morgen stand Telemach auf, band sich die Sohlen unter die Füße und sprach zu Eumaios: »Väterchen, ich will in die Stadt gehn und der Mutter berichten! Dir aber befehle ich, auch den Fremdling in den Palast zu führen, möge er dort selbst seine Notdurft erbetteln! Auf mir lasten Sorgen 287
genug; ich kann mich unmöglich noch mit fremder Bürde bela den!« »Dies ist auch mein Wunsch, edler Jüngling«, rief Odysseus; »doch gestatte mir, Lieber, noch etwas zu verweilen und dir später zu fol gen; der Morgenfrost beißt grimmig, und ich habe nichts als meine Lumpen am Leib; laß mich die wärmende Sonne abwarten!« Telemach nickte Gewährung und machte sich auf den Weg in die Stadt. Im Palast angelangt, eilte er, ohne auf die Freier zu achten, zu seiner Mutter Penelope und berichtete ihr von seiner Reise nach Pylos und Sparta; daß Odysseus im Lande weilte, verriet er jedoch nicht. Als die Sonne am halben Himmel stand, hängte sich Odysseus sei nen geflickten Ranzen um die Schulter, bat Eumaios um einen Stab zur Stütze und ging mit ihm den kiesligen Pfad zur Stadt hinunter. Kurz vor den Mauern stießen sie auf den Ziegenhirten Melantheus, der mit seinen Männern von Odysseus und Telemach abgefallen war und sich den Freiern verschrieben hätte. Als Melantheus die beiden Alten auf ihre Stäbe gestützt die staubige Straße hinab wandern sah, lachte er schallend auf und rief: »Wahrlich, man sagt nicht mit Unrecht, ein Taugenichts leite den andern, und gleich zu gleich geselle sich gern! Wo hast du elender Sauhirt denn dieses Stück Dreck aufgetrieben? Laß dir ja nicht ein fallen, diesen Landstreicher in den Palast zu führen, daß er dort die edlen und mächtigen Freier durch sein Gebettel belästige! Sie würden ihm mit Recht nur Knochen und Holzscheite an den Glatz kopf werfen und ihm die Rippen im Leib zerbrechen!« Da er dies sagte, trat er mit aller Kraft Odysseus in die Leiste. Odysseus packte den Stab wie ein Schwert und wollte dem Frechen den Schädel zerschmettern, doch faßte er sich noch und stand ohne zu wanken. Melantheus aber lachte hämisch und ging seines Wegs.
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Odysseus vor den Freiern ls die beiden den Palast erreicht hatten, ging Eumaios in den Saal, wo die Freier zechten; Odysseus aber musterte Säule um Säule und First um First des prächtigen, mit einer dop pelten Flügeltür bestückten Palastes mit tränenfeuchtem Blick, dann setzte er sich, wie es Bettlern geziemt, an die Schwelle des Fest saales, um abzuwarten, bis er hineingerufen werde. Da er aber so saß und seine Blicke schweifen ließ, entdeckte er auf dem Dung haufen in der Ecke des Innenhofes seinen Hund Argos, den er selbst noch gezähmt und großgezogen hatte. Als er ihn verlassen, war das Tier das kräftigste und flinkeste der Koppel gewesen, ein unermüdlicher Jäger wilder Ziegen, Hasen und schnellfüßiger Rehe; nun aber lag er räudig und krank auf den Mist geworfen, und keiner kümmerte sich um ihn. Odysseus bebte das Herz vor Empörung, doch er blieb auf der Schwelle sitzen, denn er war ja ein Bettler; der Hund aber hatte die Nähe seines geliebten Herren gewittert und versuchte auf die Beine zu kommen, um zu ihm zu kriechen; da er aber schon zu geschwächt war, vermochte er nur noch mit dem Schweif und den langen Ohren zu wedeln und ein wenig den Kopf zu heben und den lieben Herrn mit treuen Augen anzublicken, dann erbarmte sich seiner der Tod und raffte ihn weg. Indes war Telemach zu den Freiern, die auf Odysseus nicht achte ten, zurückgekehrt, und da er den Bettler auf der Schwelle sitzen sah, ging er hinüber zu Eumaios, der auf dem Richttisch gesottenes Fleisch in Stücke teilte, und befahl ihm, dem Fremdling in einem Weidenkorb Brot und eine gekochte Lende zu bringen und ihn auf zufordern, selbst gabenheischend im Saal umherzugehn. Eumaios tat, wie ihm geheißen; Odysseus aß von dem Fleisch und dem Brot 289
und legte den Rest in den Weidenkorb, dann nahm er den geöff neten Ranzen in die Linke, streckte die gehöhlte offene Rechte aus und ging, gesenkten Kopfes, wie es Bettlern wohl ansteht, in den Saal hinein. Die Freier bedachten ihn mit kleinen Gaben; Melan theus, der Ziegenhirt, aber, der gerade in den Palast trat, rief laut: »Nun hat dieser elende Sauhirt den Taugenichts doch noch zu den edlen Freiern geführt, daß er sie bettelnd belästige!« Dies rief er, um sich bei den Freiern einzuschmeicheln, und Antinoos, der Wüsteste der Rotte, wandte sich, da er dies hörte, an Eumaios und sprach: »Was ficht dich Narren nur an, diesen Kerl hier hereinzu schleppen! Treibt sich nicht schon Gesindel genug im Palast herum? Soll jeder Nichtstuer hier an der Tafel sich spreizen und mästen?« »Es ist immer noch die Tafel Telemachs und der edlen Penelope«, antwortete der Schweinehirt ruhig. Antinoos schwieg mißmutig. Odysseus ging indes demütig von einem zum andern und empfing Fleisch und Brot; er wollte mit sei nen Gaben zur Schwelle zurückgehen, doch verwand er die Schmach nicht und trat vor Antinoos hin. »Beschenke auch du mich, Lieber«, so bat er, »du scheinst mir nicht der Geringste zu sein. Dein Ansehn ist königlich, darum solltest du mir auch mehr spenden, als ein anderer gegeben hat, auf daß du dir die Gunst der Himmlischen erhältst. Denn das Leben ist wechselvoll und führt nach den Höhen auch in Tiefen, mein Lie ber. Möge dir mein Beispiel als Warnung dienen: Ich, der ich nun bettelnd vor dir stehe, bin einmal ein König gewesen, doch Zeus hat mich gestraft; halte dir mein Los vor Augen, Gebieter, damit du erkennst, was der Zorn eines Himmlischen vermag!« So sprach Odysseus; Antinoos aber sprang auf und schrie: »Wel cher Unsterbliche straft denn unser Gastmahl mit solch einer Plage! Wahrhaftig, das ist der unverschämteste Bettler, den ich je ge sehen habe, und das will etwas heißen! Troll dich, rasch, ehe mein Zorn dich trifft!« »Nicht bevor du mir gegeben hast«, erwiderte Odysseus. »Nun, so nimm meine Gabe«, rief Antinoos und packte den Sche 290
mel, auf den die Männer beim Gastmahl die Füße stellen, und warf ihn mit voller Wucht Odysseus an die Schulter. Er traf ihn knapp über dem Halsgelenk, und jeden anderen hätte der Wurf zu Boden gestreckt; Odysseus aber stand aufrecht und wankte nicht. Er schüttelte nur schweigend den Kopf und ging dann zur Schwelle zurück. Die anderen Freier aber zürnten Antinoos, daß er das Gast recht verletzt und einen Hilfeflehenden unbeschenkt von der Tafel gewiesen hatte; die Götter, so redeten sie heimlich untereinander, könnten ihnen darob grollen und ihnen einen bestimmten Vorsatz wehren, und sie meinten damit die Ermordung Telemachs. Anti noos lachte zu ihren Worten; Telemach und Odysseus aber blickten einander in die Augen, doch Odysseus winkte noch nicht, denn es war noch zu früh. Dann setzte er sich wieder auf die Schwelle und sättigte sich. Indes war Eumaios zu Penelope gegangen und hatte ihr berichtet, ein fremder Bettler, der zusammen mit Odysseus vor Troja ge kämpft haben wolle, sitze unten an der Tür im Staub. Als die Fürstin das hörte, war sie sehr begierig, den Fremden zu sprechen, und wollte ihn sofort zu sich bitten lassen, allein Eumaios gab ihr zu bedenken, daß dies nur die Freier beunruhigen könne; sie möge, so riet er, die Nacht abwarten und sich dann mit dem Fremden heimlich unterreden. Das schien Penelope ein verständiger Rat, und sie handelte nach den Worten des Alten. Der Bettlerzweikampf ndes war Iros, ein weithin berüchtigter Viel fraß und Vagabund, der bettelnd und gau kelnd und Possen reißend die Straßen der Inseln zu durchwandern pflegte, in den Palast gekommen, um, wie immer, die zechenden Freier mit Späßen zu belustigen, und als er Odysseus auf der Schwelle im Staub sitzen 291
sah, dachte er, daß ihm dieser Alte eine gute Gelegenheit gebe, die Freier mit einem Bubenstück zu ergötzen. Er pflanzte sich also vor Odysseus hin, stemmte die Hände in die Hüften, blies die Backen auf, drückte die Brust heraus und schrie: »Gib den Weg frei, erbärmlicher Greis, und weiche von der Schwelle! Siehst du nicht, Unseliger, wie mir all die edlen Herrn ringsum zublinzeln, dich Wurm an der Ferse zu packen und durch den Staub zu schleifen, wie es Achill mit dem Leichnam Hektors getan! Mach dich fort, oder ich will dich mit Fäusten schlagen!« Er hielt Odysseus die geballte Rechte unter die Nase; dieser aber blieb ruhig sitzen und sprach: »Habe ich dich beleidigt, mein Freund, daß du solcherart zu mir sprichst? Mißgönne mir meine Gaben nicht und lasse dich neben mir nieder; auf der Schwelle ist ja auch Platz für zwei!« »Ha!« rief Iros und schlug sich mit der Faust auf den Brustkorb. »Hört an, edle Herren, was dieses Hungermaul plappert! Aber ich will ihm die Zähne links und rechts aus dem Maul haun; ich will ihn prügeln wie eine Sau, die fremde Saaten verwüstet, ich will ihn dreschen, daß ihm das Blut wie ein Springquell aus Lippen und Brust schießt! Auf denn, Alter, stell dich zum Kampf!« So zankten sie auf der Schwelle, denn auch Odysseus sparte nicht mit seinen Worten. Die Freier hörten das Schimpfgefecht mit hel lem Gelächter an und gedachten die beiden bis zum Faustkampf aufeinander zu hetzen. »Hört zu, ihr Helden«, rief Antinoos, »hier in den Kohlen rösten Ziegenmagen, mit Fett und Blut gefüllt, die uns zum Abend schmaus schmecken sollen; den größten davon mag der Sieger im Faustkampf in seinen Ranzen stecken, auch möge er unser ständiger Gast sein, und kein anderer Bettler außer ihm soll künftig die Schwelle überschreiten dürfen!« »Das nenn ich ein Wort!« jauchzte Iros. »Zum Kampf, du Schand maul, zum Kampf!« »So muß ich denn trotz meines Alters dir Jüngerem mich stellen«, sprach Odysseus und erhob sich, »allein ihr Freier müßt mir ge 292
loben, euch nicht einzumischen und Iros auch nicht an mir zu rächen, wenn ich ihn niederstrecken sollte!« Das beschworen die Freier mit lautem Johlen, und Odysseus streifte seine Lumpen zu einem Lendenschurz zusammen, denn die Faust kämpfe wurden zu jener Zeit mit entblößtem Oberkörper und un beschuhten Fäusten ausgetragen. Athene aber verlieh, als der Bett ler nun Schultern und Brust und Hüften enthüllte, ihrem Schütz ling ein Geringes von seiner wahren Gestalt, und Iros erschrak, als sich nun zeigte, wie gut der Alte noch bei Fleisch war. Er zitterte und wollte davonlaufen, aber die Freier hielten ihn fest und führ ten ihn mit Gewalt in den Ring, und Antinoos sprach: »Feigling, nun löffle die Suppe aus, die du dir selbst eingebrockt hast! Und das eine sage ich dir, du Prahlhans: Wenn der Alte dich überwindet und zu Boden streckt, dann wollen wir dich zur Strafe für deine Frechheit zum König Echetos nach Epiros, dem Schrecken des Menschengeschlechtes, senden, daß er dir Nase und Ohren auf schlitze und deine Scham abhaue und sie den Hunden zum Fraße vorwerfe!« Iros schlotterte; er bebte am ganzen Leib, und seine Hände und Füße flatterten wie Mottenflügel. Die Freier aber stießen ihn vor Odysseus und drängten sich, vor Neugier toll, in einem dichten Kreis um das Bettlerpaar. Odysseus überlegte einen Augenblick, ob er den Widersacher tödlich treffen oder ihn nur mit einem leich ten Schlag zu Boden strecken solle; schließlich dachte er, daß es nicht klug sei, durch einen allzu kräftigen Fausthieb die Freier un nötig stutzig zu machen. Indes hatte Iros all seine Kraft zusammen genommen und Odysseus auf die rechte Schulter getroffen; dieser jedoch, den klatschenden Schlag kaum spürend, hieb, seine Kräfte aufs äußerste zügelnd, den Iros unter das rechte Ohr, daß der Kie fer des Bettlers zerbrach und dieser, mit den Zähnen klappernd und eine Lache Blut aus dem Mund auswerfend, zu Boden stürzte und schreiend und heulend im Sande wie ein Käfer zappelte. Die Freier lachten aus vollem Halse, bis ihnen der Atem auszugehn drohte; Odysseus aber schleifte den Besiegten aus dem Palast in 293
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den Vorhof, richtete ihn auf, lehnte ihn mit dem Rücken gegen die Mauer, drückte ihm seinen Wanderstab in die Rechte und sprach: »So sitze nun hier, du Schandmaul, und scheuche Schweine und Hunde und hüte dich, künftig Armen und Fremden gebieten zu wollen, damit dir in Zukunft nichts Ärgeres widerfahre!« Dann nahm er wieder auf der Schwelle Platz. Antinoos aber be glückwünschte ihn als den Sieger und überreichte ihm auf einer Holzplatte den größten der lecker duftenden, mit Fett und Blut gefüllten Ziegenmagen, und einer der Freier, der edle Jüngling Amphinomos, der gegen Telemachs Ermordung gestimmt hatte, bewirtete Odysseus mit zwei Broten und einem Becher roten Wei nes. Odysseus goß die Hälfte des Weins den Unsterblichen zum Trankopfer aus; den Rest leerte er, und als er den Becher mit Dank zurückgab, redete er den Jüngling an. »Lieber«, so sprach er eindringlich, »frevle nie und genieße, was dir die Götter gewähren, in Demut! Schmerzt es dich nicht zu sehen, wie wüst fremdes Gut hier verpraßt wird? Möge ein Himmlischer dich rechtzeitig heimgeleiten, ehe der König zurückkommt und blu tige Rache nimmt!« Da seufzte der Jüngling, der sich schon oft des ruchlosen Treibens geschämt hatte, und er gelobte, sich von den Freiern zu trennen und in sein Vaterhaus auf Dulichion zurückzukehren. Athene aber verhärtete noch einmal sein Herz, so daß er blieb, denn sie war fest entschlossen, sie allesamt zu strafen und nicht einen entkommen zu lassen. Die Freier zechten nach dem erheiternden Wettkampf so ausgelassen und bei bester Laune; Penelope in ihrer Kammer aber hörte den Lärm aus der Halle dröhnen und sehnte heiß den Abend herbei.
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Gespräche am Feuer er Tag war mit Tanz und Spiel und Gesängen dahingegangen; Odysseus hatte nach dem Kampf mit Iros auf der Schwelle seines Pa lastes gelegen und immer wieder den Plan seiner Rache überdacht, und als nun der Abend gekommen war, und fünf Mägde eifrig das Feuer schürten, damit es den immer noch Zechenden leuchte, trat er zu ihnen und sprach: »Es steht euch schlecht an, ihr Mägde, hier bei den Fremden her umzulungern; geht lieber in eure Kammern und webt und spinnt und mehrt den Reichtum des Hauses; das Feuer kann ich selbst hüten, um wenigstens durch diese bescheidene Arbeit den edlen Bewirtern meinen Dank abzustatten!« Da lachten die Mägde hellauf, und die Schamloseste unter ihnen, Melantho, die ganz offen mit dem reichen Eurymachos buhlte, höhnte ihn. »Elender Tor«, so lästerte sie, »du bist wohl deiner Sinne nicht mächtig, daß du dich nicht davonmachst und in der warmen Schmiedeesse ein Schlafplätzchen suchst! Glaubst du, dein Anblick erfreut die edlen Freier? Bildest du dir ein, man werde dir gestat ten, hier in der Halle am Herd zu nächtigen? Dir ist wohl zu Kopf gestiegen, daß du den blöden Iros besiegt hast, was doch sogar ein Weib vermöchte! Hüte dich, daß dir nicht einer der Krieger die Knochen zerschlägt, wie du jenem getan!« Da fuhr Odysseus auf und sagte den Mägden, er werde seinem Beschützer Telemach melden, wie ruchlos sie sprächen; sicher werde der edle Jüngling sie züchtigen. Da zogen die Mägde es doch vor, auf die Kammer zu gehen. Die Freier aber, als sie den Bettler am flackernden Feuer stehen sahen, gedachten weiter ihren Spott mit ihm zu treiben, und Eurymachos rief: 297
»Seht doch, welch Glanz heute in der Halle leuchtet! Mich dünkt, er kommt weniger vom Feuer als vielmehr von der stattlichen Glatze davor!« Die Freier johlten; Eurymachos aber trat zu Odysseus und sprach: »Fremdling, willst du dich nicht bei mir als Knecht verdingen, mir Dornzäune flechten und schattenspendende Bäume pflanzen? Du könntest durchaus mit ehrlicher Arbeit deine tägliche Nahrung und Kleidung verdienen, aber da du nichts als Bubenstücke gelernt hast und faul bist, wirst du wohl bis zu deinem Tod deinen Bauch mit Bettlerbrot füllen müssen!« Odysseus aber sah dem Lästernden ruhig ins Auge und sprach: »O Eurymachos, ich wollte mit dir wohl um die Wette arbeiten! Gingen wir beide doch im Frühling, wenn die Tage heiter und lang sind, nüchtern vor Sonnenaufgang hinaus auf die Wiesen, mit der geschwungenen Sichel ohne Rast bis zum sinkenden Abend Gras und Korn zu mähn! Oder trieben wir um die Wette die Rinder vorm Pflug an, Hufe um Hufe zu ackern; du könntest dann sehen, wie tief und schnurgerade ich meine Furchen ziehen würde! Oder stürmten wir, zwei blitzende Lanzen in den Händen, und Brust und Schläfen von Harnisch und Helm geschirmt, in die Schlacht, du solltest mich nur unter den vordersten Streitern erblicken und nimmer mich wanken und weichen sehen! Stolz bist du und hart herzig, Eurymachos, daß du meiner so spottest; ach, käme doch nur Odysseus zurück, dann würde dir das Tor, so weit es auch ist, viel zu eng sein, wenn du in hohem Bogen ins Freie hinaus flögst!« Diese kühne Rede ergrimmte Eurymachos; er bückte sich nach einem Schemel und schleuderte ihn auf Odysseus, der aber wich schnell dem Wurf aus, so daß der Schemel einen Weinkrug zer schlug. Die Freier sprangen auf und redeten lärmend durchein ander; Telemach aber überschrie sie alle und gebot ihnen, nun, ehe sie vollkommen trunken wären, nach Hause zu gehn und zu ruhn. Die Freier murrten; allein die Verständigsten unter ihnen, an der Spitze Amphinomos, fürchteten, daß sie im Rausch übereinander 298
herfallen könnten, darum unterstützten sie die Worte Telemachs, und so gingen sie denn alle in ihre Gemächer außerhalb des Königspalastes, und es war still in der Halle, und Telemach blieb mit Odysseus allein. Odysseus bei Penelope ls die Freier gegangen waren, schafften Tele mach und Odysseus alle Waffen aus dem Saal hinauf in den Söller; nur zwei Schwerter, zwei Speere und zwei Schilde, die in der Nähe des Tores hingen, ließen sie zurück. Telemach legte sich zur Ruhe; Odysseus aber setzte sich neben das Feuer und überdachte noch ein mal seinen Plan. Hier erblickte ihn Penelope, die aus ihrer Kam mer getreten war, nach dem Fremden zu sehen. Sie ließ sich von der Schaffnerin ihren schafsfellgepolsterten Sessel aus Silber und Elfenbein ans Feuer rücken, dann setzte sie sich neben den Fremd ling und begann ihn zu fragen, aus welchem Geschlecht er stamme und wie sein Name sei. Odysseus bat sie, nicht weiter in ihn zu dringen; die Erinnerung an sein verlorenes, einst so mächtiges Königreich schmerze ihn zu sehr und rühre ihn zu Tränen und mache seine Stimme zittern, sprach er, und er sprach dies mit zit ternder Stimme und war den Tränen nah. »So laßt uns denn, edler Fremdling, gemeinsam weinen und seuf zen und über Vergangenes jammern«, sprach Penelope, »denn auch mein Herz ist von Trauer erfüllt, wenn ich an die Zeit meines Glücks zurückdenke! Ach, der beste Gemahl war mein eigen, Odys seus, Sohn des Laertes, der tapferste aller griechischen Krieger und der gerechteste aller Könige! Vor zwanzig Jahren ist er nach dem fernen Troja gezogen, und nimmer kehrt er zurück, das Gesindel zu züchtigen, das sich in seinem Palast mit Prassen und Schwelgen und Schänden breitmacht und sein blühendes Königreich verheert! 299
Schäme dich denn nicht, deine Tränen strömen zu lassen, und gib mir ungescheut Kunde von deiner Herkunft und Art!« So sprach die Königin, und Odysseus erzählte ihr eine schnell er fundene Geschichte, in der er sich als kretischer König ausgab; er erzählte und hörte kaum, was er redete, so sehr mußte er sich be zwingen, seine Tränen nicht fließen zu lassen, und sein Auge blieb auch fest wie Horn oder Erz. Penelope aber weinte, als sie den erdichteten Jammer hörte, und ihre Tränen wurden zum Strom und rannen ihr über die Wangen wie die Schneebäche im Frühling über die Hänge der Berge, als der Bettler erzählte, er habe den göttergleichen Odysseus vor Troja getroffen und an seiner Seite gekämpft. »Zu viele haben dergleichen berichtet und mich doch schändlich betrogen«, sprach schließlich, nachdem sie ihre Tränen gestillt hatte, die Fürstin; »ich muß dich prüfen, Vater, ehe ich dir glauben kann. Sag mir darum: Wie war der Teure gekleidet, und wer waren seine Begleiter?« »Schwer ist es, Herrin, nach zwanzig Jahren sich solcher Einzel heiten noch zu entsinnen«, erwiderte Odysseus, »aber sofern mich mein Gedächtnis nicht täuscht, trug der König einen Mantel aus schwerem purpurgefärbtem Pelz, doppelt mit einer goldenen Spange geschlossen und mit seltsamem Stickwerk, einen Jagdhund und ein gerissenes Reh darstellend, verziert; unter diesem Mantel umschloß seinen Leib ein weißschimmernder Rock aus feinster schneeiger Wolle, und in seinem Gefolge gewahrte ich einen älte ren Herold, bucklig und schwarz von Gesicht wie ein Mohr und mit lockigem Haupthaar; Eurybathes war sein Name, und Odys seus schätzte ihn vor allen andern und suchte mit Freuden seinen Rat.« »O Götter«, rief Penelope aus, »die Beschreibung stimmt Wort für Wort: Ich selbst habe ihm diese Kleidung gewebt und die goldene Spange in den Mantel geheftet. Ach, warum kehrt er nicht wieder, der der Beste auf Ithaka war!« Und sie begann wieder zu jammern und zu schluchzen, allein der 300
Fremde schwor ihr mit einem heiligen Eid, er wisse aus eigenem Augenschein, daß Odysseus Schätze sammelnd auf Scheria bei den Phaiaken weile und nach Hause zurückkehren werde, noch ehe der Mond sich wieder zur Gänze gerundet habe. Allein Penelopes Hoffnung war zu oft betrogen worden, und so schenkte sie dem Fremden keinen Glauben mehr. Sie erhob sich und rief ihre Mägde, dem Gast ein prächtiges Bett zu bereiten und ihm ehrerbietig die Füße zu waschen, wie es der Brauch war; am Morgen dann sollten sie ihn salben und baden und mit den besten Gewändern beklei den, damit er, so sei es ihr Wille, in Ehren an Telemachs Seite zu Tische sitzen könne, auch wenn dies die Freier noch so sehr ver drießen mochte. »Edle Frau«, erwiderte Odysseus, »ich bin es nicht gewohnt, auf weichem Lager zu ruhen; laßt mich nur auf der Schwelle liegen, so schlafe ich besser als auf Pelzen und wollenem Tuch. Auch möchte ich nicht, daß junge Mägde mir Altem die Füße waschen; wirkt aber eine Schaffnerin im Haus, die so alt ist wie ich und gleichviel Kummer im Leben erduldet hat, so will ich es gerne von ihrer Hand leiden!« Da ließ Penelope die alte Amme Eurykleia rufen, die einst Odys seus gesäugt und gewiegt und großgezogen hatte. Die Fürstin be fahl ihr, die Wanne zu rüsten und dem Fremden die Füße zu waschen; Odysseus aber erschrak, als er seine alte Amme erblickte, denn es kam ihm die Wundnarbe unterm Knie in den Sinn, die ihm, da er ein Jüngling gewesen, ein wütender Eber einst auf der Jagd gerissen hatte und an der ihn die Amme unfehlbar erkennen mußte. Doch es war zu spät, sich zu weigern; die Alte mischte schon kaltes mit kochendem Wasser; Odysseus rückte ins Dunkel und dachte mit seinem Gewand die Narbe zu decken, doch da hatte die Amme die Lumpen schon hochgestreift, und als sie die fingerbreite, fast kreisrunde Narbe berührte, erkannte sie ihren Herrn. Sie schrie laut auf und ließ den angehobenen Fuß fahren und stammelte: »Mein Kind, mein Kind, mein Odysseus!« und erhob sich, das heimgekehrte Pflegesöhnlein zu umarmen, und dabei stieß sie die 301
Wanne um. Odysseus erschrak; es lag nicht in seinem Plan, sich so früh zu offenbaren; allein Athene verschloß in diesem Augenblick die Augen und Ohren Penelopes, so daß sie nichts von all dem Wirrwarr gewahrte und ruhig am Feuer sitzen blieb. Odysseus zog die Amme zu sich und gebot ihr flüsternd zu schweigen; er sei, so sagte er, mit dem Beistand Athenes gekommen, die ruchlosen Freier zu züchtigen, und er werde sogar seine geliebte Amme töten müssen, wenn sie schwatzend seinen Plan verderbe, jedoch die Amme verschloß ihm den Mund und gelobte, stumm wie ein Fels zu sein. Zum Beweis ihrer Verläßlichkeit hob sie an zu enthüllen, welche von den Mägden ihrem Herrn treu geblieben und welche Verräterinnen geworden waren, aber Odysseus hieß sie schweigen und sprach, er werde die Treue der Mägde und Knechte selbst überprüfen. Die Amme eilte, das Wasser zu erneuern, Penelope aber wandte sich an den Fremden und bat ihn, ihr einen Traum zu deuten, den sie gestern geträumt, während die Amme seine Füße wasche. Zwanzig Gänse seien, so habe sie im Schlaf gesehn, ihr eigen gewesen, was in der Tat auch zutreffe, und sie hätten sich im Hof getummelt und Hafer, vermischt mit Wasser, gefressen, da sei plötzlich ein krummgeschnäbelter riesiger Adler vom Himmel her untergefahren und habe alle die Gänse getötet und sich wieder in die heiligen Lüfte geschwungen, und da habe sie im Traum so bitterlich geklagt und gejammert, daß alles Volk zusammengelau fen sei, um sie zu trösten. Da aber, so erzählte Penelope weiter, das Volk sich tröstend und begütigend um sie geschart habe, sei der Adler vom Himmel wieder auf die Erde gekommen und habe sich auf den Zaun gesetzt und mit menschlicher Stimme zu ihr gespro chen, der Traum sei gar kein Traum, sondern bedeute die Zukunft: Odysseus werde kommen, dem Adler gleich, und sich auf die Freier, die Gänse, stürzen und sie ohne Erbarmen niedermachen. Dann sei, so endete sie ihren Bericht, der Adler wieder davongeflogen und da sei sie erwacht und hinausgeeilt und habe die Gänse heil auf dem Hofe sich tummeln gesehen. »Dies ist auch kein Traum, edle Königin, dies ist die Wahrheit!« 302
erwiderte Odysseus, da die Amme seine Beine trocknete und heim lich seine Narbe unterm Knie drückte, doch Penelope schüttelte traurig den Kopf. »Es gibt auch dunkle und unerklärbare Träume«, erwiderte sie, »und nicht alle verkünden dem Schläfer sein künftiges Schicksal! Es liegt doch klar auf der Hand, daß dieses Traumbild nur ein verworrenes Gespinst ohne jede Bedeutung gewesen ist, denn mor gen bricht ja schon der furchtbare Unheilstag an, da ich einen der Freier werde erhören müssen, und von Odysseus erblicke ich noch immer nicht die geringste Spur!« Odysseus fragte sie, welchen der Freier sie erwählen werde, und Penelope erwiderte, sie seien ihr alle gleichermaßen verhaßt, drum werde ein Wettkampf entschei den müssen. Odysseus habe, so berichtete die Fürstin, manchmal zwölf Äxte im Hof hintereinander in eine Reihe gestellt und dann mit seinem mächtigen Bogen einen Pfeil durch alle zwölf Ösen geschossen, ohne nur ein einziges Mal das Metall zu streifen; wer den Bogen also spannen und den Pfeil durch die zwölf Ösen schnel len könne wie Odysseus, dem wolle sie, wie ihr Herz auch blute, die Hand reichen; anders könne das Prassen und Vergeuden ja nicht beendet werden. Sie seufzte tief, da sie das sagte, und schritt dann in ihr Gemach, sich zur Ruhe zu betten; Odysseus aber legte sich vor dem Feuer nieder und lag wach und sann und sann. Die Nacht vor dem Wettkampf ls Odysseus so lag und sann, hörte er plötzlich lautes Gelächter und Geschwätz und Ge kreisch, das waren die Stimmen der lose Mägde, die zu den Freiern eilten und lästernd ihre Herrin verhöhnten. Da Odysseus die schamlosen Reden ver nahm, kam ihn das Gelüst an, hinauszulaufen und die Frechen mit dem Schwert zu züchtigen; dann aber dachte er, daß sie noch eine 303
Nacht, die letzte, mit ihren Buhlern schlafen mögen. Dennoch pochte sein Herz so heftig an seine Brust, daß er die Faust dagegen preßte und sprach: »Dulde, mein Herz, harre aus in Geduld! Denke, wie sehr du geduldet, als in der Höhle des Kyklopen das Ungeheuer deine liebsten Gefährten hinabschlang und du es an schauen mußtest und nicht wehren konntest und das Krachen ihrer Knochen vernahmst und dein gutes Schwert an der Seite fühltest und dir versagtest, es zu ziehn! Dulde, mein Herz, und harr aus, der Tag der Rache ist nahe!« Und er preßte die Faust gegen das dröhnende Herz, und draußen die Mägde lachten und kreischten, und dann verloren sich ihre Stimmen in der Ferne der Nacht. Odysseus aber wälzte sich auf seinem Lager und sann zum hundert sten Mal darüber nach, wie der Kampf gegen die Übermacht, die ihn und Telemach auch waffenlos mit den bloßen Fäusten erdrük ken konnte, am besten aufzunehmen sei. Er grübelte und sann und fand keinen Plan und war der Verzweiflung nahe, da plötzlich be gann die Luft in der Halle zu rauschen, und Odysseus erblickte eine edle Frau, die sich über sein Lager neigte, und er wußte, daß seine Schutzgöttin Pallas Athene zu ihm herabgestiegen war. Mit beredten Worten klagte er der Göttin seine Not. »Es sind ja nicht nur die Freier, die zu überwinden sind«, sprach er; »es kann wohl möglich sein, daß ich mit deiner Hilfe sie bezwinge, allein wie kämpfe ich danach gegen ihre Anhänger und Verwandten auf allen vier Inseln, ja, wie gelange ich nur heil aus der Stadt heraus? Und wenn du mich auch in Nebel hüllest – wo werde ich mich vor mei nen Feinden verbergen können? Wird mir ein Sieg über die Freier nicht eine neue Irrfahrt bringen?« So sprach Odysseus in der bittersten Not seiner Seele; Athene aber tröstete ihn. »Verlier den Glauben an meinen Beistand nicht, Odysseus«, sprach sie, »stünden auch fünfzig Heere wider dich bereit, du wirst sie bezwingen, wenn du nur deiner Kraft und meiner Hilfe ver traust! Nun aber schlafe, ein hartes Tagwerk steht dir bevor!« Sie hauchte ihrem Schützling auf die Lider, daß ihn ein 304
kräftespendender Schlummer befalle, dann schwebte sie wieder zum Olymp zurück. Odysseus schlummerte ein, er schlief jedoch nicht lange. Penelope, die die letzte Nacht ihrer Freiheit verbrachte, rief in ihrem Jammer die Götter um Beistand an; ihr lautes Klagen weckte den Schläfer am Feuer, und er ging in den Vorhof hinaus. Wieder dachte er an die Überzahl der Freier, und wieder war sein Herz von Sorge be drängt. »Vater Zeus«, so rief er und hob die Hände und sah in den kla ren sternflammenden Himmel, »gib mir, ich flehe dich an, ein Zeichen, daß du mir deinen Beistand nicht versagen wirst!« Da donnerte es vom wolkenlosen Himmel herunter; hallend und dröh nend krachte der Donner, und Odysseus faßte wieder Mut. Er hörte in der Nähe ein Malmen; er ging dem Schall nach und fand eine Magd die wuchtige Kornmühle drehn. »Hast du auch das Zeichen vernommen, Fremdling?« fragte die Magd. »Es ist eine sternklare Nacht, und dennoch machte ein Donnerschlag die Erde erzittern!« Odysseus nickte. »Möge Zeus mich hören und mir eine Bitte gewähren«, sprach die Magd und ließ den Mühlschwengel fahren, »mögen die schänd lichen Freier, die mich schon vier Jahre lang zu härtestem Manns werk an der Kornmühle zwingen, weil ich ihren lüsternen Anträ gen widerstanden habe, heute ihr letztes Gelage feiern!« »Zeus wird deine Bitte erhören!« sprach Odysseus ernst. Die Mitte der Nacht war schon überschritten, und es versammelten sich die Mägde, denen es oblag, den Saal zu säubern und das Ge schirr zu reinigen. Sie fegten den Boden und klopften die Teppiche und Sitzfelle, wuschen mit Schwämmen die Tische und spülten Pokale und Krüge mit klarem Quellwasser aus. Indes waren auch die Oberhirten in den Hof getreten und trieben zur Schlachtbank, was die Freier verlangt hatten: Eumaios drei fette Eber, die besten der Herde, der Ziegenhirt Melantheus sieben der trefflichsten Zie gen und der Rinderhirt Philoition eine Mastkuh und zehn zarte Lämmer mit flaumweichem Fell. Als Melantheus den Bettler er 305
blickte, begann er ihn wieder zu schmähen, allein der Rinderhirt verwies ihm die freche Rede und begrüßte den Gast und klagte um den verschollenen Herrn, an dem, so bekannte er trauernd, noch immer sein Herz hing. Also schieden sich von selbst die Getreuen und die Ungetreuen unter den Mägden und Knechten, und Odys seus grub die Namen der Guten wie der Schlechten fest in sein Ge dächtnis ein. Die Freier beim Frühmahl uch die Freier hatten sich noch vor dem Mor gengrauen versammelt; sie waren, trotz Amphinomos' Warnung, übereingekommen, Te lemach im Schlaf zu überfallen und niederzu machen, damit er nicht im letzten Augenblick die Hochzeit vereitle, doch als sie sich dem Palast genaht hatten, war ein Adler schreiend zu ihrer Linken niedergestoßen, und das galt als das größte Un heilszeichen, das die Götter senden konnten. So ließen sie denn von ihrem Plan, um so mehr, als sie Telemach schon wach erblickten: Er ging mit einer Lanze in der Hand über den Hof, um zu prüfen, ob dem schlafenden Vater keine Gefahr drohe. So rückten die Freier denn früh zum Mahl an. Odysseus aber lag schon auf der Schwelle. Die Freier wollten wieder wie gestern ihr Spiel mit ihm treiben, und einer von ihnen, ein tölpelhafter Lümmel namens Ktessipos, schleuderte einen Kuhfuß nach dem Greis; Telemach aber verwies ihnen solche Schändlichkeiten mit derartig heftigen Zornesworten, daß die Vorwitzigen verstummten und von dem Alten ließen. Athene aber fuhr vom Himmel herab und verwirrte ihre Gemüter; sie schrien irre Worte und schnatterten mit den Kiefern und zuck ten in den Gelenken; ein Krampf verzerrte ihre Gesichter zu wüsten Grimassen, und ihre Glieder schlenkerten und zappelten wie die von Besessenen. Sie lallten und lachten wie toll und schlangen rohes 306
Fleisch hinunter und fraßen's, wie die Löwen ihre Beute fressen; ihre Mäuler und Hände waren blutbesudelt, und sie würgten die rohen Brocken ohne zu kauen in sich hinein, und ihre Augen glotz ten blöd. Ein einziger unter ihnen, der sich in all den vier Jahren keines einzigen Frevels schuldig gemacht hatte, ein göttergleicher Mann namens Theoklymnos, erkannte ihre Verblendung und rief ihnen zu, daß ihr Geist schon umnachtet sei. »Unglückliche«, so rief er, »düstre Wolken umhüllen eure Häupter, aus euren Mäulern quillt Blut und Lüge, und wehe, Blut tropft von den Wänden, Blut schießt aus dem Boden, die Sonne verfinstert sich, Dunkel und Grabdunst bricht ein, und ein Zug von Schatten zieht heulend hin ab zum Hades – Freunde, besinnt euch, ihr steht vor dem Unter gang!« Also sprach der Seher; die Freier aber lachten laut und höhnten ihn, und schließlich floh er aus dem Palast, und ihn ließ Athene ent kommen. Odysseus aber stand hochaufgerichtet auf der Schwelle, und die Freier lachten und lärmten und zechten so übermütig wie nie und schrien zum Gemach hinüber, in dem Penelope reglos saß und verzweifelt ihr Hirn zergrübelte, wie sie sich in letzter Stunde noch retten könne, und Odysseus stand auf der Schwelle und maß jeden Freier mit richtendem Blick und dachte: Das ist euer Todes schmaus! Die Freier versuchen den Bogen ls Penelope keinen Ausweg fand und ihr das Geschrei der Zechenden unerträglich gewor den war, erhob sie sich, den Bogen des Odys seus aus der Waffenkammer zu holen. Ein mal muß es ja geschehen, dachte sie, und so stieg sie denn hinauf zum Söller, nahm den gewaltigen Bogen, einen Köcher und ein Dutzend Pfeile aus der edelsteingeschmückten Truhe und trat da mit vor die Freier hin, und die Schönheit Aphrodites und der Arte 307
mis, der göttlichen Schützerinnen der Liebe und der Jagd, ver einigte sich in ihrer edlen Gestalt und ihren hoheitsvollen Zügen. »Die Frist, die ihr mir gesetzt habt, ist abgelaufen«, sagte sie, »möge nun der Wettkampf euer Werben entscheiden! Eumaios, ramme zwölf Äxte, nach der Schnur gerichtet, hier ins Erdreich der Halle, und ihr Freier versammelt all eure Kräfte: Wem es gelingt, den Bogen zu spannen und den Pfeil durch alle zwölf Ösen zu schnellen, ohne daß er nur einmal das Metall streift, den will ich zum Gatten nehmen, und er soll Ithakas König sein!« Eumaios tat, wie ihm befohlen; die Freier aber schauten verängstigt auf den mannshohen Bogen, und sie zweifelten sehr, ob es ihnen gelänge, das fast armdicke Holz zum Schuß zusammenzukrümmen. Antinoos befahl darum dem Ziegenhirten Melantheus, eine Scheibe Stierfett zu beschaffen, um das Bogenholz einzureiben und über dem Feuer geschmeidig zu machen. Melantheus eilte, nach Anti noos' Wunsch zu handeln; da er aber den Saal verließ, gingen auch der Sauhirt Eumaios und der Rinderhirt Philoition auf den Hof. Als Odysseus sie hinausgehen sah, folgte er ihnen. »Ich will euch eine Frage stellen, getreue Hirten«, sprach er auf dem Hof zu ihnen, »wenn jetzt ein Gott den König Odysseus aus der Ferne hierher in die Heimat brächte und der König den Kampf mit den Freiern aufnähme, auf welche Seite würdet ihr euch stel len? Würdet ihr zum König halten oder zu den Eindringlingen? Dies beantwortet mir bitte freimütig, wie euer Herz es euch ein gibt!« Sogleich antwortete der Rinderhirt. »Zeus weiß«, so sprach er, »daß ich jeden Tag die Rückkehr des Fürsten erflehe. Er sollte nur den Fuß auf die Insel setzen, dann könntest du, Alterchen, sehen, daß meine Treue zu ihm kein leeres Wort ist!« Dasselbe versicherte Eumaios, der Sauhirt. Da streifte Odysseus die Lumpen übers Knie und zeigte ihnen die fingerbreite, fast kreisförmige Narbe der Eber zahnwunde. »Glücklich preise ich mich, solch treue Freunde zu haben«, so sprach er, »und wenn mir ein Himmlischer gewährt, die ruchlosen Freier 308
zu vertilgen, will ich euch edlen Männern ein Haus bauen und Land zum Eigentum geben und euch wie meine Brüder halten!« Er sprach dies und umarmte die Hirten, die auch ihn tränenden Auges in die Arme schlossen, dann fuhr er fort: »Freunde, es ist jetzt nicht Zeit zu reden und uns dem Glück des Wiedersehens hin zugeben! Wir wollen wieder in den Saal zurückkehren; zuerst ich, dann, einzeln, ihr beiden, und dies ist mein Plan: Den Freiern wird es mißlingen, sosehr sie sich auch mühen, den Bogen zu spannen; schließlich werde ich ihn zum Schluß begehren, und sie werden hef tig dagegen sprechen und es nicht leiden wollen und ein großes Geschrei erheben, doch du, Eumaios, sollst dich nicht darum scheren und mir den Bogen bringen. Ist das getan, dann begib dich zu den Weibern und befiehl ihnen, alle Türen des Hinterhauses fest zu verriegeln und danach ihre Kammern aufzusuchen und drinnen bei der Arbeit zu verweilen, was immer auch in der Halle geschehen möge: Du aber, edler Philoition, verriegelst die Hofpforte und bin dest sie zur Sicherheit noch mit einem starken Seil zu, dann wollen wir gemeinsam ans Werk der Befreiung gehen!« Er kehrte in den Saal zurück und setzte sich ans Ende der Tafel. Eurymachos tränkte gerade den Bogen mit flüssigem Stierfett und versuchte ihn dann zu spannen; sein Schultergelenk krachte, und die Kieferknochen sprangen aus dem Gesicht vor, so sehr strengte er seine Kräfte an, doch es gelang ihm nicht, den Bogen auch nur ein wenig zu krümmen. Schließlich setzte er ihn ab, und nach ihm versuchten sich Antinoos und andere Freier, und als es allen miß lang, sprach Eurymachos: »Freunde, wir haben ja ganz vergessen, daß heute das Fest des bogenspannenden Apollon, des Himmlischen mit dem dunkel blauen Haar, gefeiert wird! Sicher verwehrt heute der Unsterbliche allen Erdenkindern, sein Handwerk zu treiben. Wir wollen drum den Wettkampf auf morgen verschieben; die Äxte können ja ste hen bleiben, sie werden schon niemand stören! Den Bogen werde ich an mich nehmen, daß keiner ihn antaste; für heute aber laßt uns Gesänge hören und fröhlich zechen!« 309
Diesen Vorschlag machte er nur, weil er heimlich den Bogen ver tauschen wollte. Die Freier errieten seine Absicht und stimmten ihm zu. Schon schien ein neues Gelage zu beginnen; junge Mund schenke eilten, die Kelche zu füllen, aber ehe noch die Zügellosen zu trinken begannen, erhob Odysseus seine Stimme. »Laßt es mich einmal versuchen, ihr Lieben«, sprach er, »ich möchte doch sehen, ob die alte Jugendkraft auch noch heute meine Glieder belebt!« Wie Odysseus vorausgesagt hatte, erhob sich ein Sturm der Em pörung. Am lautesten von allen schrie Antinoos. »Der Lumpenkerl ist schon am frühen Morgen betrunken, daß er es wagt, uns gleich zutun!« rief er, doch Penelope gebot mit einer herrischen Hand bewegung Ruhe und sprach: »Laßt den Fremdling doch seine Kraft versuchen; ich habe ihm gewährt, am Tisch zu sitzen und zu zechen, da will ich ihm auch gestatten, den Bogen zur Hand zu nehmen! Ihr braucht keine Sorge zu haben, daß ich diesen Bettler statt eines der Euren zum Gemahl nehmen würde, wenn er den Bogen zu spannen und den Pfeil durch die Ösen zu jagen vermag. Er selbst wird wohl einsehen, daß das unmöglich ist. Besteht er die Probe, will ich ihm ein fürstliches Geschenk zur Belohnung geben und ihn dann bitten, weiterzuziehen.« Da lachten die Freier und hatten ihren Spaß an der Sache, und Telemach winkte Eumaios, dem Bettler den Bogen zu überreichen und sprach: »Der Bogen gehört meinem Vater, und kein andrer als ich werde bestimmen, wer ihn anrührt; auch du, liebe Mutter, hast dazu kein Recht. Was hier weiter geschehn wird, ist Manneswerk; drum geh du auf deine Kammer und verlasse sie nicht, ehe wir nach dir rufen! Du aber, edler Eumaios, übergib dem Fremden den Bogen!« Penelope ging, stolz ob der Umsicht und Würde, mit der ihr Sohn gesprochen hatte, auf ihre Kammer; Eumaios jedoch trug, sosehr Antinoos, der Unheil witterte, auch murrte und schalt, den Bogen zu Odysseus. Dann folgte er Penelope in das Obergeschoß und be fahl der Schaffnerin, das Hinterhaus wohl zu verriegeln und die Mägde streng zur Arbeit anzuhalten; Philoition verschloß indes das 310
Hoftor und sicherte es mit einem starken Seil. Odysseus aber war zur Tafelmitte getreten und hatte sich auf einem Sessel vor den Äxten niedergelassen; er nahm den Bogen zur Hand und drehte und wendete ihn hin und her und klopfte das Holz ab, ob es etwa vom Wurm befallen sei, und den Freiern kam eine böse Ahnung an, als sie den Bettler so waffenkundig hantieren sahen. »Ans Werk denn«, sprach Odysseus und zupfte die Saite, und sie klang hell wie ein Schwalbenschrei, und der Donner des Götterkönigs dröhnte wieder vom hellen wolkenlosen Himmel, und Odysseus legte den Pfeil in die Kerbe und spannte den Bogen und krümmte das Holz wie ein Pflugjoch zusammen, dann ließ er die Sehne schwirren, und der Pfeil stürmte wie ein Blitz durch die zwölf Ösen, ohne ein einziges Mal das Metall zu streifen, und fuhr noch tief in die gegenüberliegende Wand. Die Freier erstarrten; Odysseus aber winkte Telemach mit den Augen, und Telemach faßte Lanzen und Schwerter und Schild und eilte zur Mitte der Tafel und stand nun gewappnet neben seinem Vater, der in der Hand den Bogen hielt. Der Kampf dysseus warf seine Lumpen ab, packte Köcher und Bogen und eilte zum Tor, auf dessen Schwelle er einen Tag lang bettelnd gelegen hatte und das er nun mit seinem Leib den Freiern verschloß. »Der Wettkampf ist gewonnen, nun mag der eigentliche Kampf beginnen«, rief er, »das erste Ziel war ein Nichts, das zweite wird meinem Bogen würdiger sein! Gebe Apol lon, daß ich es nicht verfehle!« Mit diesen Worten schoß er dem Antinoos, der gerade seinen Becher zum Munde führte, einen Pfeil durch die Kehle; der Becher klirrte auf den Boden; Antinoos stürzte seitwärts vom Stuhl, sein Blut schoß in hohem Strahl aus der 311
Wunde, und die Freier sprangen wie grimmige Löwen von ihren Sitzen auf. Sie wollten Speere und Schilde von den Wänden reißen, aber sie fanden sie nicht mehr. Noch glaubten sie an einen unglück lichen Zufall und begannen, da sie der Pfeile und Lanzen erman gelten, drohende Reden gegen den Schützen zu schleudern; der aber reckte sich auf der Schwelle und spannte erneut den Bogen und rief: »Ah, ihr Hunde, ihr habt wohl gewähnt, ich werde nie mehr in die Heimat zurückkehren, und ihr könntet straflos Schande und Schmach auf mein Haus und mein Königreich häufen! Aber nun bin ich doch gekommen, und nun will ich das Fest meiner Rache feiern! Wisset, ich bin Odysseus, Herr über die Inseln von Ithaka!« Als die Freier das hörten, wurden ihre Gesichter bleich vor Ent setzen. Sie spähten nach einem Ausweg und sahen alle Türen ver schlossen, und da fühlten sie das Verderben nah. Eurymachos erhob sich darum und begann zu verhandeln; er sagte, eine Strafe sei nur gerecht, aber Odysseus habe sie ja schon vollzogen, als er Antinoos niederstreckte, denn dieser Mann sei eigentlich der Anstifter allen Übels und so der Schuldige an aller Verheerung gewesen; ihn habe nun die rächende Hand ereilt, die übrigen aber möge des Königs Groll verschonen! Sie wollten ihm ja auch getreulich ersetzen, was sie in den vier Jahren durchgebracht hatten, und ihm überdies jeder zwanzig feiste Rinder und Erz und Gold zur Versöhnung schenken, um ihm damit volles Genüge zu tun. So sprach Eury machos und sah, da er dies sprach, sich und die andern Freier schon an der Spitze eines Heeres den Königspalast stürmen; Odysseus aber fiel ihm in die Rede und sprach: »Und wenn ihr mir euer gan zes Vermögen übereignetet, Eurymachos, es könnte meinen heiligen Zorn doch nicht stillen! Mein Arm wird nicht rasten, bevor ihr euren Frevel nicht mit dem Leben gesühnt habt! Stellt euch zum Kampf oder versucht zu fliehen, ihr werdet mir so und so nicht ent rinnen!« Da riß Eurymachos sein Schwert aus der Scheide und rief: »Zum Kampf denn, Freunde, von diesem schrecklichen Mann ist Milde 312
nicht zu erwarten! Drum zieht eure Schwerter, nehmt die Schemel als Schilde; einmal hat er seinen letzten Pfeil verschossen, dann wollen wir ihn vom Tor vertreiben und alle unsere Freunde in der Stadt zum Aufstand rufen! Vorwärts zum Kampf!« Er rief's und lief brüllend und mit gezücktem Schwert wider den Helden, da traf ihn schon der Pfeil des Odysseus in die Leber, und Eurymachos taumelte gegen den Tisch und brach zusammen und mischte Speisen und Wein mit seinem Blut. Nun stürzte sich der edle Amphinomos auf Odysseus, aber Telemach rannte ihm die Lanze durch die Schulter, so daß er mit der Stirn auf den Boden schlug. Es war Telemach nicht mehr möglich, den Speer aus der Wunde zu ziehen, denn die Freier bedrängten ihn hart mit ihren Schwertern; er schlug sich darum zu Odysseus durch und rief ihm zu, er werde in die Rüstkammer nach Harnischen und Helmen eilen und auch die treuen Hirten bewaffnen. Odysseus nickte; er stand unterm Tor und sandte Pfeil um Pfeil in die Scharen der Freier, die sich nun hinter Tischen und Bänken zu verschanzen suchten; Telemach aber eilte in die Rüstkammer, raffte vier Harnische, vier Helme und acht Lanzen zusammen, wappnete sich und die getreuen Hirten, und nun standen sie zu viert auf der Schwelle des Tores. Odysseus hatte indes seine Pfeile verschossen; mit jedem Schuß hatte er einen der Freier in den Hades gesandt, und nun setzte er den Helm auf, warf sich den Harnisch über die Schulter und ergriff eine Lanze. Die kurze Kampfpause, da die vier sich wappneten, benutzte der trügerische Ziegenhirt, um über eine Treppe neben der Tür, die dem Schutz des Schweinehirten anvertraut war, hinauf zum Söller zu eilen, und da Telemach in seiner Hast die Rüst kammer nicht verschlossen hatte, brachte Melantheus zwölf Helme, zwölf Schilde und zwölf Lanzen herunter und stieg dann abermals hinauf. Dies bemerkten die treuen Hirten; sie stürzten ihm nach, überwältigten ihn und hingen ihn dann, wie ein Bündel verschnürt, an die Decke, daß er dem Gericht des Odysseus bewahrt bleibe, dann kehrten sie in den Kampf zurück. Odysseus war indes, da die zwölf Stärksten der Freier nun mit den 313
Lanzen heranrückten, in arger Bedrängnis und sah sich schon ver loren, da stand plötzlich Athene in Mentors Gestalt neben ihm unterm Tor. »Misch dich nicht ein, Mentor, das ist unsere Sache, es wird dir sonst übel ergehen!« riefen die Freier; Athene aber sprach dem Wankenden Mut zu und erinnerte ihn an seine früheren Hel dentaten. Dann schwang sie sich, in eine Schwalbe verwandelt, zur Esse empor. Sie hätte, wenn sie dazu willens gewesen wäre, die Freier durch ein Blitzen ihrer Augen töten oder ihnen durch das
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Schütteln des Aigisschildes, mit dem die Unsterblichen den Donner durch die Lüfte senden, den Sinn verwirren können; allein sie wollte, daß sich ihre Schützlinge selbst bewährten und ihrer eigenen Kraft vertrauten. So also entschwand sie ihnen und barg sich als Vöglein in den rußgeschwärzten Deckenbalken. »Seht, Freunde, Mentor hat ihn verlassen!« riefen die Freier. »Auf jetzt, und den Verhaßten niedergestreckt!« Mit diesen Worten schleuderten sie ihre Lanzen nach Odysseus, denn sie dachten, wenn
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sie ihn, den Erfahrensten und Kampftüchtigsten, erst einmal aus der Welt geschafft hätten, wäre es mit den andern ein müheloses Spiel. Athene aber lenkte ihre todbringenden Waffen ab, so daß sie alle ihr Ziel verfehlten; nur der Lanze des Ktessipos erlaubte sie, den Knöchel Telemachs zu verletzen, damit der Zorn des Jüng lings noch heftiger angestachelt werde. Er schleuderte denn auch seine Lanze voll Wut und traf Ktessipos tief in die Brust, daß er hinschlug, und auch die Lanzenwürfe seiner Kampfgefährten raff ten die Kühnsten der Freier hinweg. Der Rest wich zurück an die Wand; die vier aber zogen die Speere aus den Leibern der Hin gestreckten, und aufs neue begann die männerwürgende Schlacht, und nun schüttelte Athene auch den donnernden Schild, daß die Halle dröhnte, und nacktes Grauen zog in die Seelen der Freier ein. Wie aufgeschreckte Schafe irrten sie durcheinander und such ten einen rettenden Ausweg; Odysseus aber und Telemach und die Hirten wüteten mit dem Schwert und dem Speer unter ihnen wie ein Habichtssturm unter einer Finkenschar und schonten keinen, auch den Opferpriester der Freier, Leiodes, nicht. »Hast du auch keine Frevel verübt, so hast du doch für die Elenden gebetet«, rief Odysseus, »dies ist Frevel genug!« Dem Sänger Phemios aber, der von den Freiern mit Gewalt in den Königspalast geschleppt worden war, um ihnen beim Mahl die Zeit zu verkürzen, und der nun die Knie des Königs flehend umfaßte, schenkte Odysseus das Leben, ebenso Medon, dem Herold der Freier, der Telemach einst manches Gute getan. So war der Kampf beendet; die Halle war, wohin man auch blickte, mit Blut besudelt, und die Leiber der Gefallenen lagen überein andergestapelt wie die Fische im Netz, das der Fischer aus dem Meer zieht und in den Küstensand leert. Schweratmend und von Blut triefend standen die vier aneinandergelehnt wie ein Felsblock; die Mägde spähten nach dem Getöse des Kampfes verängstigt und scheu aus ihren Kammern; Penelope aber ruhte in süßestem Schlummer auf ihrem Lager und hatte vom Kampflärm, Gebrüll und Geröchel keinen Hall vernommen: Athene war ihr gnädig 316
gewesen und hatte ihr die Wohltat eines tiefen traumlosen Schlafes geschenkt. Odysseus rief nach der Schaffnerin und hieß sie alle Mägde zu sammentreiben, die ihrer Herrin die Treue gebrochen und die Für stin im Unglück geschmäht und verspottet hatten. Es waren ihrer zwölf, die die Schaffnerin nannte, und es waren jene zwölf, deren Stimmen Odysseus die letzte Nacht gehört. Er befahl den getreuen Hirten, die Schamlosen wie die Drosseln an ein Seil gereiht im obersten Söller aufzuknüpfen; den ungetreuen Hirten aber hieb er mit eigener Hand in Stücke und warf dessen Scham den Hunden vor. Dann gebot er den Knechten, die Toten aus der Halle zu tra gen und sie zum Verbrennen im Hof übereinanderzuschichten; die Mägde aber hielt er an, Wände und Tische und Sessel und alles Gerät gründlich mit Schwämmen zu reinigen, und die getreuen Hirten entfernten mit Schaufeln den blutigen Estrich und schütte ten reinen Sand auf den Boden der Halle. Schließlich nahm Odys seus ein Kohlebecken und beizenden Schwefel und räucherte mit eigener Hand Halle und Hof aus, und als auch dies Werk der Reinigung getan war, befahl er der alten Amme, sein Weib Pene lope zu ihm zu führen. Die Amme eilte; Odysseus aber setzte sich in einen Sessel gegenüber der Treppe und wartete und war noch immer in seine alten Lumpen gehüllt. Penelope und Odysseus ie Amme eilte in Penelopes Gemach; sie nahm, die Alte, die Stufen beinah mit stür menden Schritten, und ihre Beine bewegten sich fast so hurtig wie in ihren Mädchen jahren. »Wach auf, Penelope, geliebte Tochter!« so sprach sie. »Sieh selber mit Augen, was ich dir berichte: Odysseus, der herr liche Held, ist heimgekehrt und hat die Freier all im Palast erschla 317
gen; freue dich, Töchterlein, die Zeit der Schande und Not ist end lich vorbei!« Penelope aber rieb sich die Augen aus und erwiderte unwillig: »Mutter, dich haben die Götter mit Torheit geschlagen, daß du meiner so spottest und meinen Kummer verhöhnst! Was reißest du mich aus dem köstlichen Schlummer, der mein Leid so lieblich ge tröstet hat! Nie noch, seit Odysseus gen Troja zog, habe ich so fest geschlafen, und du hast mich mit kränkenden Lügen geweckt! Jede andere, die solchen bösen Scherz mit mir getrieben, hätt ich gezüch tigt; dir will ich um deines Alters willen verzeihen!« »Aber Töchterlein, Töchterlein, ich spotte doch nicht!« sagte die greise Amme. »Wie könnte ich je so grausam mit dir verfahren! Odysseus ist wirklich heimgekehrt, er ist jener Fremdling, den alle verhöhnten; Telemach wußte es längst, doch er mußte solange das Geheimnis hüten; fasse es, Töchterlein, dein Gemahl wartet in der Halle auf dich!« Da quollen der Fürstin Freudentränen aus den Augen; sie sprang vom Lager auf und umarmte die Alte; dann aber stutzte sie und fragte: »Wie ist es möglich, Mütterchen, daß er die Freier alle hat töten können? Sie waren doch in einer so mächtigen Überzahl! Nein, nicht du, liebes Mütterchen, ein Unsterblicher täuscht mich: Er hat die Freier hinweggerafft und dazu des Odysseus Gestalt angenommen; mein armer Gemahl aber liegt fern bei Troja be stattet!« »O Töchterlein, liebstes«, seufzte die alte Amme Eurykleia, »wie ungläubig doch dein Herz ist, mein Kind! Hab ich doch selbst mit eigenen Augen die fingerbreite, fast kreisrunde Narbe am Knie gesehen, die ihm der Eber einst mit seinem scharfen Hauer gerissen; dein Gemahl aber hat mich gebeten, zu niemandem, auch zu dir nicht, ein Sterbenswörtchen zu reden! Komm doch, er wartet auf dich in der Halle und wird nicht begreifen, warum du zögerst! Habe ich aber gelogen, Töchterlein, dann bin ich bereit, den kläg lichsten Tod zu erleiden!« »Mütterchen«, sprach Penelope, »den Ratschluß der Götter werden 318
wir Erdenkinder niemals verstehen, und nie werden wir ergründen können, ob sie uns aus Zuneigung oder Groll täuschen und narren! Aber ich will dennoch hinabgehen, die erschlagenen Feinde zu sehen und meinen Sohn Telemach in die Arme zu schließen.« Also stieg sie hinab, und ihr Herz war voll Zweifel, ob ein Gott sie versuche oder ein Fremder sie täusche und sie doch noch zuletzt der schändlichsten List erliegen könne, und sie war allein und ohne Rat. So ließ sie sich denn, in der Halle angekommen, am Herd nie der, von dem Bettler im blutigen Lumpengewand durch die ganze Breite der Halle getrennt. Lange saß sie schweigend und musterte den, der vorgab, ihr Gemahl zu sein; sie sah seine edle Gestalt, und sie sah seine Lumpen; sie erkannte Vertrautes in seinen Zügen und erblickte Verändertes nach zwanzig Jahren Kampf und Leid. So schwankte sie zwischen Furcht und Jubel und saß reglos wie ein Bildnis aus Erz und schwieg, bis Telemach endlich zu ihr sprach: »Mutter, du böse Mutter, du unempfindliche Seele«, so sprach er und blickte ihr betrübt in die Augen, »warum meidest du meinen Vater und setzest dich nicht neben ihn? Nach zwanzig Jahren ist er ins Heimatland zurückgekehrt, du aber empfängst ihn, als trügest du statt des Herzens einen Stein in der Brust!« »Lieber Sohn«, sprach die Mutter, »ich bin ganz im Erkennen ge fangen; lange vermochte ich kein Wort zu sprechen noch dem Fremden gerade in die Augen zu sehen. Aber nun will ich's tun; wir haben ja unsere geheimen Zeichen, die keinem andern bekannt sind, danach will ich forschen!« Da lächelte Odysseus, da er dies hörte und sprach: »Sicher sind es die Lumpen auf meinem Leibe, die Penelope verwirren; laß sie drum ruhig forschen, mein Sohn, ich will ihr schon Rede und Antwort stehen. Vorher aber gilt es eins zu bedenken: Wir haben hier viele Männer getötet, die Hun derte von Verwandten und Freunden auf den Inseln beklagen wer den; es sind ja die reichsten und stärksten Geschlechter gewesen, die sich um den Königsthron beworben haben. Die Kunde von ihrem Tod wird gewiß bald in die Stadt dringen und das Volk auf rühren. Legt drum bunte Gewänder an und laßt alle Mägde sich 319
festlich schmücken; Musik soll erklingen und der Reigen sich dre hen und allem Volk vortäuschen, daß im Palast Hochzeit gefeiert wird. So wird die Stadt ruhig bleiben, bis wir das Landgut unsres Väterchens Laertes erreicht haben; dort wollen wir aufs neue be raten und Zeus anflehen, uns seinen Beistand zu leihen.« So ward es getan; der Palast hallte wider von Liedern und frohem Saitenspiel und den stampfenden Schritten der Tänzer, so daß das Volk, das vorbeiging, die Köpfe schüttelte und sagte: »Sieh da, die ungetreue Penelope! Ist sie nun doch dem Ansturm der Freier erlegen! Wir hätten Besseres von ihr erwartet!« Odysseus hatte indes gebadet und sich gesalbt und seine Königs gewänder angetan, und als Penelope ihn nun betrachtete, war sie gewiß, daß ihr Gemahl zurückgekommen sei. Jedoch sie wollte – und sie tat dies aus Treue – den letzten quälenden Zweifel be heben, und so sagte sie denn zur Amme, die neben ihr stand: »Geh, gute Alte, und laß unser Bett aus dem Schlafgemach tragen; wir wollen es mit hinaus aufs Landgut nehmen, dort wird Mangel an guter Lagerstatt sein!« Dies sprach sie, um den, der vorgab, ihr Gemahl zu sein, noch ein mal zu prüfen, doch Odysseus erkannte dies nicht und sprach im Zorn: »Wie könnte jemals unser Bett das Schlafgemach verlassen? Selbst der erfahrenste Mann nicht, nur ein Himmlischer, könnte es von der Stelle rücken! In unserm Gehege wuchs einst ein mäch tiger Ölbaum; um seinen Stamm als Mitte baute ich den Palast und zog Säule um Säule und schichtete Steine, das Schlafgemach von den anderen Räumen zu sondern, und die Decke wölbte ich, daß sie die Krone überdache. Dann kappte ich die Äste und den Wipfel, be haute und glättete den Stamm von der Wurzel aufwärts, höhlte ihn, schnitzte ihm Füße und faßte seine Ränder mit schimmerndem Erz ein, schmückte die duftenden Masern mit Elfenbein, Silber und Gold, schließlich bohrte ich rings unter dem Oberrand Löcher, zog purpurgefärbte Riemen hindurch und polsterte dieses schwebende Netz mit den feinsten Pelzen und Tüchern zu unserer Liegestatt aus! Das ist das Bett, das ich kenne; doch ich weiß ja nicht, ob nicht 320
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einer der Freier dein Gemach entehrt und den Stamm abgehauen hat!« Da zitterten der Fürstin Herz und Knie, als Odysseus die Zeichen richtig wiedergab, denn das Geheimnis des Lagers war nur den beiden bekannt. Sie stürzte zu ihrem Gemahl und schloß ihn in ihre weißen Arme und küßte Hals und Antlitz des Heimgekehrten und bat um Verzeihung, daß sie ihn so lange schweigend gemustert und geprüft; es sei aus Treue geschehen, so sprach sie, und Odysseus verstand sie wohl. Es war ihm wie einem Schiffbrüchigen zumute, der nach wochenlangem Treiben durchs stürmische Meer endlich Festland betritt, und er nahm seine Gemahlin auf die Arme wie die See ein Boot aufnimmt und trug sie hinüber in das Gemach, wo das Bett im Stamm des gekuppten Ölbaums hing. Odysseus bei Laertes m nächsten Morgen rüsteten Odysseus, Tele mach und die beiden getreuen Hirten zur Reise aufs Landgut des alten Laertes; der Fürstin aber hatte Odysseus aufgetragen, sich im Söller einzuschließen und dort auszuharren, was auch geschehen möge. Athene senkte einen Nebel über die Wandernden, so daß sie unerkannt die Stadt durchqueren konnten, und neben ihnen schritt heulend und sausend wie der Wind ein andrer unsichtbarer Zug, das waren die Seelen der Freier, die Hermes ins Totenreich führte. Odysseus traf den Vater im Obstgarten an. Der Greis hatte eine Schaufel zur Hand genommen und lockerte die Erde um ein Nuß bäumchen. Er trug einen lehmverschmierten geflickten Rock aus grobem Leinen, seine Beine waren bis zu den Hüften mit rohen Fellen umhüllt, damit ihn die Dornhecken nicht ritzten; der Disteln wegen trug er Lumpen um die Hände, und seinen Scheitel deckte eine verschlissene Kappe aus Ziegenfell. 322
Als Odysseus den Vater erblickte, trat er zu ihm und sprach »Alter, es fehlt dir, man sieht es, nicht an Verstand und Kunst den Garten zu bestellen; wohlgereiht stehen die Reben, und präch tig gedeihen Oliven, Feigen und Birnen; jede Blume im Garten zeugt von sorgfältiger Pflege, du aber, Alterchen, läufst so abgeris sen und schmuddlig umher, wie kommt das? Kümmert sich denn dein Herr nicht um solche Dinge? Aber nein, du kannst ja kein Knecht sein, du bist edel von Gestalt und an Würde einem König gleich! Um so weniger verstehe ich deine Lässigkeit, mein Lieber!« »Ach Söhnchen, Söhnchen«, erwiderte Laertes und stützte sich auf die Schaufel, »es sind zu lang schon schlechte Zeiten im Lande; vor zwanzig Jahren ist mein einziger Sohn gegen Troja gezogen, und mein Auge wird ihn wohl nie mehr erblicken, denn er ist seit die sem Tag nicht zurückgekehrt! Doch nicht genug dieses Leids: Eine wüste Rotte ist in den Palast eingedrungen und wirbt um die Hand der Fürstin und vergeudet das Gut und verheert das Land – wie sollte ich, Söhnchen, da auf mich achten? Aber wer bist du, wie kommst du hierher, bringst du mir etwa Nachricht vom Tod meines Kindes?« Bei diesen Worten stürzten Tränen aus seinen Augen; er bückte sich und nahm eine Handvoll Staub und streute sie, wie es Brauch der Trauernden ist, auf seinen Scheitel und klagte und jammerte. Odysseus aber schloß ihn in seine Arme und sprach: »Ich bin's ja selbst, mein Väterchen, ich bin's, Odysseus, dein Kind, heil aus dem Krieg und zehn Jahren Irrfahrt heimgekehrt!« Und er zeigte Laer tes die fingerbreite, fast kreisrunde Narbe des Eberzahnstoßes und nannte die Bäume, die ihm, als er Kind war, Laertes geschenkt hatte: dreizehn Birnbäume und zehn Bäume mit rotbäckigen Äpfeln und fünfzig fruchtbare Rebenstöcke, und da Laertes dies hörte, sank er in Ohnmacht, und sein Sohn fing ihn auf und drückte ihn an das Herz, bis er wieder erwacht war. Dann aber wollte der Jubel des Glücks kein Ende nehmen.
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Kampf und Versöhnung n der Stadt lief indes das Gerücht um, die Freier wären allesamt schmählich erschlagen, und es erhob sich ein Lärm und wuchs zum Tumult. Das Volk lief im Palast zusammen, trug die Toten hinaus, und jeder bestattete klagend die Seinen, und auch die Fischer, die von den Inseln gekommen waren, um auf dem Markt ihre Fänge zum Tausch zu bieten, drängten sich um das Königshaus. Eupeithes aber, der Vater des Helden Antinoos, den Odysseus als ersten getötet hatte, trat vor die Versammlung und hob an zu reden. »Freunde«, so sprach er, »der trojanische Krieg hat uns der besten und kräftigsten Männer beraubt, und jetzt ist der Mann, der sie nach Troja geführt, allein zurückgekommen, hat die Blüte unserer Jugend in den Staub gesandt und glaubt nun, durch feige Flucht sich retten zu können! Eilen wir ihm nach und hauen wir ihn in Stücke, keiner von uns könnte ja sonst in Ehren weiterleben!« So sprach er, und das meiste Volk stimmte ihm zu und brüllte nach Rache, aber da traten Medon, der Herold, und Phemios, der Sän ger, denen Odysseus das Leben geschenkt hatte, aus dem Palast, und Medon sprach: »Handelt nicht vorwitzig, Freunde! Nicht aus eigener Kraft hat Odysseus die Freier besiegt, ein unsterblicher Gott hat ihm in Mentors Gestalt zur Seite gestanden; wie hätte er sonst die Schar der tapfren Jünglinge überwältigen können! Hütet euch, daß euch von den Himmlischen nicht ein Gleiches geschehe!« Entsetzen ergriff die Versammelten, und ein Greis, Halitherses, dem die Götter die Gabe des Blicks in die Zukunft geschenkt hat ten, trat vor sie und sprach: »Zu lange hast du die Greuel der Freier geduldet, Volk von Ithaka, Same, Zakynthos und Dulichion; zu lange hast du tatenlos zugesehen, wie sie das Gut des Königs 324
verpraßt und das Land verhehrt und die wehrlosen Mägde ge schändet haben; zu lange hast du geduldet, daß sie die edle Fürstin bedrängt und Odysseus geschmäht und Telemach gehöhnt haben, als sei er ein läppischer Tor! Hättet ihr euren Söhnen gewehrt, solche Frevel zu häufen, brauchtet ihr heute nicht um sie zu klagen und Staub auf eure Häupter zu streun! Geht darum auseinander, Volk der vier Inseln, ehe ihr euch selbst ins Verderben stürzt!« So sprach der greise Seher, und die Hälfte der Versammlung folgte betroffen seinem Wort und ging in die Häuser; die andern aber eilten zu ihren Rüstungen, wappneten sich und ordneten sich unter Eupeithes zur Streitmacht. Athene aber sah vom Olymp herab, wie sich die Rächer zusammenfanden, und sie bat Zeus, ihren Vater, den König der Götter, um einen Rat. »Ich will dir das Beste künden«, erwiderte Zeus, »da nun Odysseus die ruchlosen Freier bestraft hat, möge er als König auf Ithaka herrschen; dem Volk aber will ich die Erinnerung an all die ge töteten Brüder und Söhne nehmen, daß kein Herz und niemandes Ehre mehr verletzt sei und kein Rachegedanke die Sinne mehr trübe!« Indes hatte die Kampfschar schon fast das Landgut des greisen Laertes erreicht; man hörte schon das Klirren ihrer Kettenrüstung und ihr lautes Getrappel auf dem steinigen Pfad. Als Odysseus dies wahrnahm, rief er die Freunde zu den Waffen, und auch der greise Laertes legte die Rüstung an und mit ihm sechs Krieger, und so zogen sie, ein elfköpfiges Häuflein, tapfer dem übermächtigen Feind entgegen. Athene aber nahm wieder die Gestalt Mentors an und trat zu dem greisen Laertes und sagte: »Fasse die Lanze, Lieber, und erflehe von den Göttern noch einmal die Kraft deiner Jugend, dann schleudre die tödliche Waffe gegen den Feind!« Also sprach sie, und Laertes fühlte die Kraft seiner Jugend durch seine welken Adern strömen; er faßte die Lanze und schleuderte sie weit über die Ebene hin, dem Heer entgegen, das klirrend her anzog, und die Lanze traf den Eupeithes und durchstieß seinen 325
Helm und zerschnitt ihm den Kopf, daß er rasselnd zu Boden stürzte. Odysseus und Telemach und die getreuen Hirten berannten den führerlosen und völlig verwirrten Feind mit dem Schwert und wollten ein grausames Wüten beginnen, aber Athene nahm ihre göttliche Gestalt an und hob den verderbenbringenden Aigisschild, der heller leuchtete als die Sonne am Mittag, da standen alle ge blendet und wagten das Haupt nicht zu erheben, und Athene rief: »Haltet ein, Ithakas Söhne, laßt ab von dem unglückseligen Krieg! Schont euer Leben zum Glück des Landes, geht auseinander und vergeßt eure Zwietracht; ewiger Friede soll euch fortan beschieden sein!« So sprach die Göttin mit donnerhallender Stimme, dann stieg sie zum Himmel auf und entschwand in den Wolken. Die Söhne Itha kas aber legten die Waffen nieder und reichten einander die Hände zur Versöhnung, und es war Stille, als sie einander die Hände reichten, und nur der Wind brauste gewaltig über die steinigen Lande, und ferne rollte das Meer an die Küste, und das Meer brauste, und der Wind, und das Meer.
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Der Arbeit lag die Übersetzung Johann Heinrich Vossens zu grunde. Ich habe sie frei behandelt, habe weggelassen und an eini gen Stellen behutsam hinzugefügt. Das Buch kann die Lektüre Homers nicht ersetzen, es will zu ihm hinführen. F.F.
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NACHWORT Dieses Buch berichtet von den Helden des Kampfes um Troja, dem mächtigen Agamemnon, dem starken Achilleus, dem ›listenreichen‹ Odysseus. Erzählt wird ihre Geschichte von einem zeitgenössischen Dichter für junge Menschen von heute. Doch die Geschichte ist nicht neu. Sie folgt etwa 2700 Jahre alten Vorlagen, den griechischen Heldenepen ›Ilias‹ und ›Odyssee‹, Werken, die man dem großen Dichter und Sänger Homer zuschrieb. In ihrer Form unterscheidet sich die Nacherzählung vom Original. Die homerischen Epen sind Verserzählungen. Die ›Ilias‹, die Dich tung von den Ereignissen vor Ilion (ein anderer Name für Troja), besteht aus rund 16 000, die ›Odyssee‹ aus rund 12 000 Hexa metern. Rhapsoden trugen die Verszeilen in einer Art Sprech gesang vor, wobei die Kraft des Rhythmus die Wirkung des rezi tierten Wortes steigerte. Die Nacherzählung wahrt Elemente des rhapsodischen Erzählstils, soll aber wie eine Geschichte aus unserer Zeit gelesen werden, deshalb wurde sie in Prosa umgeschrieben. Eingeteilt sind ›Ilias‹ und ›Odyssee‹ in je 24 Bücher, das heißt sie waren auf 24 Papyrus-Buchrollen aufgezeichnet. Dabei stimmen Sinneinschnitte und Bucheinschnitte nicht immer überein. Die Nacherzählung bemüht sich durch eine neue Abschnittseinteilung um übersichtlichere Gliederung. In vielen Fällen wurde die Vor lage gekürzt, in einigen Fällen erweitert, gelegentlich sind Epi soden anders miteinander verknüpft. Aber alle Änderungen be zwecken, den Kern der Erzählung nur um so deutlicher hervor treten zu lassen. Deshalb führt dieses Nachwort zur Neufassung zugleich in die alten griechischen Epen ein. ›Ilias‹ und ›Odyssee‹ sind Gestaltungen des auch heute noch be 328
kanntesten griechischen Sagenkreises, der Troja-Sage. Eine weit ausgreifende Vorgeschichte eröffnete diesen Erzählkomplex. Die Erde beklagte sich, so hieß es, bei Zeus über die wachsende Last der Menschheit. Zeus verspricht, durch einen Krieg Abhilfe zu schaffen. Bei einem Fest läßt er einen goldenen Apfel mit der Auf schrift ›der Schönsten‹ unter die Göttinnen werfen. Hera, Athene und Aphrodite bewerben sich um den Preis und stellen sich dem Urteil des troischen Königssohnes Paris. Er entscheidet zugunsten der Liebesgöttin Aphrodite, die ihm Helena verspricht, die schönste aller Frauen, Gemahlin des Königs von Sparta, Menelaos. Paris raubt sie mit Aphrodites Hilfe. Menelaos wendet sich an seinen Bruder Agamemnon, König von Argos und Mykene, den mäch tigsten unter den griechischen Herrschern, auf dessen Geheiß alle griechischen Fürsten Truppenkontingente zu einem Vergeltungs feldzug stellen. Die griechische Flotte erreicht Troja, das in Klein asien nahe dem Südeingang der Dardanellen gelegen war, doch zehn Jahre lang bleibt der Kampf unentschieden. Achilleus, der stärkste Held auf seiten der Griechen, zieht sich, von Agamemnon beleidigt, vom Kampf zurück. Erst der Tod seines Freundes Patro klos veranlaßt ihn, wieder in den Krieg einzugreifen. Er tötet Hek tor, den stärksten Troer, den Äthiopenkönig Memnon, der den Troern zu Hilfe kommt, und die Amazonenkönigin Penthesileia. Doch schließlich fällt er durch einen Pfeilschuß des Paris, den der Gott Apollon lenkt. Bald darauf gelingt den Griechen durch eine List, den Bau des hölzernen Pferdes, die Einnahme Trojas. König Priamos und fast alle Einwohner finden den Tod, die Stadt wird vernichtet. Dann begeben sich die Sieger auf die Heimfahrt. Doch die Götter senden einen Sturm, der ihre Flotte zerstreut. Nur wenige Helden erreichen die Heimat ohne größere Mühe, unter ihnen Nestor, König von Pylos. Agamemnon wird bei der Heim kehr von seiner Gemahlin Klytaimestra, die inzwischen die Ehe mit Aigisthos gebrochen hatte, getötet. Menelaos, der Helena wieder zu sich genommen hat, wird nach Ägypten verschlagen, gelangt später aber nach Sparta zurück. Odysseus, der König der kleinen west 329
griechischen Insel Ithaka, erreicht erst nach zehnjähriger Irrfahrt und dem Verlust aller seiner Gefährten die Heimat, und auch dort muß er zunächst die Schar der Freier bezwingen, die seine Gemah lin Penelope zu neuer Ehe drängen, ehe er Penelope und die Herr schaft über Ithaka wiedererringt. Ein Kern historischer Ereignisse wurde in der Troja-Sage durch frei erfundene Motive teils ergänzt, teils verdrängt. So gerieten die Kriegsgründe und der Hergang der Zerstörung Trojas in Ver gessenheit, ein wirkungsvolleres Kriegsmotiv, der Frauenraub, und eine ungewöhnlichere Art der Kriegsentscheidung, die Geschichte vom hölzernen Pferd, traten an ihre Stelle. Aber daß wirklich in der griechischen Frühzeit ein durch die Herrscher von ArgosMykene geleiteter Kriegszug gegen Troja stattfand und zur Zer störung der Stadt führte, ist recht wahrscheinlich, denn die seit 187O durch Heinrich Schliemann begonnenen und in unserem Jahr hundert unter anderem durch den amerikanischen Archäologen Biegen fortgesetzten Ausgrabungen haben einerseits bestätigt, daß im 14./12. Jahrhundert v.u.Z. die Gegend um Mykene, also der Nordosten der Peloponnes, ein Machtzentrum bildete, während sich andererseits ergab, daß Troja wirklich existiert hat und in der Zeit um 1250–1200 v.u.Z. durch Kriegseinwirkung zerstört worden ist. Viele Einzelzüge der Kultur mykenischer Zeit gerieten bei den Griechen zwar frühzeitig in Vergessenheit. Doch im Goldreichtum der Phaiakeninsel, wie sie die ›Odyssee‹ schildert, und in der Be schreibung kostbarer Waffen und Gebrauchsgegenstände wie der Schilde des Aias (Ajax) und Achilleus und des Goldbechers des Nestor in der ›Ilias‹ wirken offenbar Erinnerungen an den Glanz der alten Zeit fort. Im 12. Jahrhundert v.u.Z. wurden Macht und Kultur der myke nischen Herrschersitze durch den neu eindringenden griechischen Stamm der Dorer vernichtet, der die ältere, gleichfalls schon grie chische Bevölkerung der Peloponnes verdrängte. Zweifellos wurde die Art, wie man nunmehr die Troja-Ereignisse in Griechenland erzählte, durch die neugeschaffenen politischen und gesellschaft 330
lichen Verhältnisse in starkem Maße mitbestimmt. So paßt das Bild der Königstochter Nausikaa in der ›Odyssee‹, die selbst zum Wäschewaschen an den Strand zieht, mehr zu der schlichteren Lebensform der Zeit nach dem Einbruch der Dorer. Das Königs amt besteht fort, aber in einfacherer Form. Für wichtigere Ent scheidungen holt der König in Friedenszeiten die Zustimmung der Volksversammlung, in Kriegszeiten die der Heeresversammlung ein. In der ›Odyssee‹ berufen Telemachos und der Phaiakenkönig Alkinoos Volksversammlungen ein, und auch in den Götterver sammlungen, wie sie die homerischen Epen erwähnen, spiegelt sich die gleiche Einrichtung wider. Sie setzt eine weitgehende Gleich berechtigung der Freien untereinander voraus, und da ihr Mit bestimmungsrecht seinen Ausdruck nicht zuletzt in der Organisation des Heerwesens findet, läßt dieser Zustand sich als ›militärische Demokratie‹ bezeichnen. Aber noch eine dritte Entwicklungsphase der griechischen Gesell schaft beeinflußt die Gestaltung der Troja-Erzählungen. Spätestens im 8. Jahrhundert v.u.Z. schwanden die genannten demokrati schen Züge aus dem Gesellschaftsbild Griechenlands, auf der Grundlage wachsenden Großgrundbesitzes bildete sich eine Adels schicht heraus. Dadurch erklärt sich das Interesse der ›Ilias‹ nicht nur für die großen Heerführer, sondern auch für die Vielzahl klei nerer Helden. Im Bild der Phaiakeninsel, in dem wir schon Züge der beiden älteren Gesellschaftsformationen fanden, hat diese dritte Phase ebenfalls ihren Niederschlag gefunden, denn die ›Gäste‹, die wir dort als Teilnehmer der Mahlzeiten des Königs paares antreffen, sind Vertreter des Adels; und auch die ›Freier‹, die Penelope zur Entscheidung drängen, entstammen weder dem einfachen Volk noch den alten Königsfamilien, sondern dem Adel. Ihr anmaßendes Auftreten, wie es die ›Odyssee‹ schildert, gibt Einblick in den Lebensstil, wie er sich unter den Bedingungen des Aufstiegs der Schicht der großen Grundbesitzer in Griechenland herausgebildet hatte. Die zuletzt gekennzeichnete Entwicklungsepoche Griechenlands ist 331
nun zugleich die Zeit, in der ›Ilias‹ und ›Odyssee‹ entstanden, die beiden großartigsten dichterischen Gestaltungen von Teilen der Troja-Sage, die Zeit, in der Homer gelebt haben muß, wenn wirk lich er der antiken Tradition entsprechend Schöpfer dieser Dich tungen war. Über das Leben Homers erfahren wir aus dem Alter tum eine Fülle von Einzelheiten, die aber fast durchweg unglaub würdig sind. Immerhin verdienen die Angaben Beachtung, die Homers Leben mit der Gegend von Chios und Smyrna, also mit dem Ostrand des damaligen griechischen Siedlungsgebietes in Ver bindung bringen. Das seit etwa 1000 v.u.Z. von Griechen besie delte Westkleinasien entwickelte sich gerade damals zum wirt schaftlich fortgeschrittensten Teil Griechenlands, und es scheint glaublich, daß auch die Dichtkunst hier günstigen Nährboden fand. Auch weist die Sprache, in der die homerischen Gedichte geschrie ben sind, am ehesten auf die bei Smyrna gelegene Grenzzone zwi schen ionischem und aiolischem Stammesdialekt. Andererseits ent halten die homerischen Gedichte so viele Widersprüchlichkeiten, daß in der modernen Forschung, vor allem seit Friedrich August Wolfs ›Vorrede zu Homer‹ von 1795, die Meinung aufkommen und sich zeitweilig durchsetzen konnte, ›Ilias‹ und ›Odyssee‹ seien keine einheitlichen Kunstschöpfungen, sondern Werke, an deren Gestaltung viele Dichter und Sänger mitwirkten, ja sogar nur Sammlungen kürzerer Epen und Lieder; die Gestalt Homers sei kaum mehr als ein Produkt der Legendenbildung. Die ›homerische Frage‹ kann nicht von biographischen Daten, sondern lediglich von genauen Werkuntersuchungen der homerischen Gedichte her gelöst werden. Lassen sich in der ›Ilias‹ Spuren der Wirksamkeit eines einzigen, bedeutenden Dichters nachweisen, so besteht kein Grund, diesen Dichter nicht mit Homer gleichzusetzen. Zeigt die ›Odyssee‹ die gleichen künstlerischen Prinzipien, das gleiche Weltbild, so steht der Weg frei, auch die ›Odyssee‹ Homer zuzuschreiben. Betrachten wir unter diesem Gesichtspunkt zunächst die Darstel lung der Kämpfe vor Troja, also den Teil des Gesamtgeschehens, der den Inhalt der ›Ilias‹ bildet. Nicht der ganze troische Krieg 332
wird hier geschildert, sondern in kunstvoller Auswahl ein Zeitraum von 51 Tagen des letzten Kriegsjahres. Der Ausbruch des Krieges liegt 10 Jahre zurück und wirkt nur als Erinnerung nach. Der Tod des Achilleus und die Eroberung Trojas sind lediglich in der Vor ahnung schon gegenwärtig. Von den Ereignissen, die über den Aus gang des Krieges entscheiden, ist nur ein einziges wirklich dar gestellt: die Tötung Hektors durch Achilleus. Ihren Anfang nimmt die ›Ilias‹-Handlung von einem für das Gesamtgeschehen, wie es zunächst scheint, belanglosen Konflikt zwischen Achilleus und König Agamemnon, dem Streit um die Sklavin Briseïs. Die Fülle der Episoden, die zwischen beiden Ereignissen liegt, hat auf den ersten Blick etwas Verwirrendes. Aber genauere Prüfung zeigt, wie die einzelnen Situationen sich auseinander entwickeln. Das erste Handlungsdrittel ist durch die Kampfenthaltung des Achilleus bestimmt, durch die er sich an Agamemnon rächt. Konse quent stellen die Griechen sich auf die neue Lage ein; sie versuchen durch einen Waffenstillstand Zeit zu gewinnen, und als ein Troer die Waffenruhe bricht, bemühen sie sich, durch verstärkten Kampf eifer jedes einzelnen das Fehlen Achills wettzumachen. Auf die Dauer verspricht diese Aufopferung freilich keinen Erfolg; Aga memnon muß versuchen, Achilleus durch Versprechungen zu einer Sinnesänderung zu bewegen. Die Folgen der Ablehnung dieses Angebotes zeigt das zweite Handlungsdrittel. Das Übergewicht neigt sich jetzt auf die Seite der Troer. In höchster Gefahr zieht Patroklos, der Freund des Achilleus, an dessen Stelle in den Kampf und es kommt zu drei großen Zweikämpfen, in denen das letzte Handlungsdrittel der ›Ilias‹ gipfelt: Patroklos tötet den ZeusSohn Sarpedon, Hektor tötet Patroklos, und Achilleus, vom Schmerz um Patroklos in den Kampf zurückgetrieben, tötet Hektor. Mit der nächtlichen Begegnung zwischen Achilleus und dem greisen König Priamos, der um die Herausgabe des Leichnams seines Soh nes bittet, endet das Epos in ruhigerem, versöhnlicherem Ton; eine Geste der Menschlichkeit, die Auslieferung des toten Hektors, be schließt das Geschehen. 333
Weist diese bei aller Vielsträngigkeit letztlich einfache Handlungs führung auf einen bedeutenden Gestalter, so ist dessen Wirksam keit ganz besonders auch in der Auswahl der entscheidenden Sze nen zu spüren. Nicht die Vernichtung Trojas, bei der List und Grausamkeit das heldenhafte Handeln überwiegen, wählt er zum Thema, sondern den Zweikampf zwischen den beiden stärksten Helden. Das gibt ihm Gelegenheit, Kampfentschlossenheit und körperliche Stärke, die beiden Grundzüge des Heldentums, in vol ler Entfaltung zu zeigen. Mit gleichem Nachdruck gestaltet der ›Ilias‹-Dichter den Konflikt zwischen Achilleus und Agamemnon. Hier geht es so wenig um Heldentum im herkömmlichen Sinn, daß Achilleus in zornigem Trotz sogar Tränen vergießt. Charakteri stisch ist, daß der Konflikt nicht den Krieg, sondern eine Frage der Ehrverletzung betrifft und damit letztlich an ein gesellschaftliches Problem rührt. Achilleus, der tapferste unter den Griechen, aber nur Führer eines relativ kleinen Aufgebots, gerät in Gegensatz zu Agamemnon, der ihm an persönlichen Eigenschaften unterlegen, als Führer des größten Truppenkontingents und Oberbefehlshaber ihm gegenüber aber befehlsberechtigt ist. Der Stärkste steht gegen den Mächtigsten. Die Sympathien des ›Ilias‹-Dichters sind auf Sei ten Achills, und in erster Linie dürften es die Vorkämpfer der im Aufstieg begriffenen Adelsschicht gewesen sein, die sich in der Ge stalt des seine Ehre gegen den König verteidigenden Achilleus wiedererkannten. Der ›Ilias‹-Dichter zeigt Achilleus aber nicht nur als Helden und trotzigen Kämpfer um seine Ehre. Ein Mensch, der sich gegen Nor men der alten Gesellschaftsordnung auflehnt, gerät in neuartige Konflikte und muß Entscheidungen treffen, für die es noch keine bewährten Muster gibt. Auch Achilleus steht immer wieder vor solchen Proben. Man kann nicht ohne weiteres sagen, daß er stets richtig entscheidet. Sein Entschluß zur Kampfenthaltung und seine Ablehnung des Vermittlungsvorschlags bringen vielen Griechen den Tod. Auch der Entschluß, Patroklos allein in den Kampf ziehen zu lassen, erweist sich als verhängnisvoll. Unausweichlich ist die 334
Entscheidung, Hektor entgegenzutreten, doch wendet gerade sie sich gegen Achilleus selbst. Denn vom Schicksal ist ihm bestimmt, ent weder alt und ruhmlos oder jung und ruhmvoll zu sterben. Durch den Sieg über Hektor besiegelt er also seinen eigenen Tod. Gerade in den Entscheidungssituationen freilich wachsen die Kräfte des Menschen, und so wird Achilleus nicht nur durch trotzige Ehrliebe und glanzvolles Heldentum, sondern vor allem auch durch die neu erlebte Schwere der Selbstverantwortung zu einer der eindrucks vollsten Gestalten der Weltliteratur. Wir zögern nicht, den Schöp fer dieser Achilleus-Gestalt und damit den Dichter der ›Ilias‹ mit Homer gleichzusetzen. – Der Aufbau der ›Odyssee‹ stimmt in wesentlichen Zügen mit dem der ›Ilias‹ überein. Der Bericht über die Irrfahrten bildet in ähn licher Weise einen Vorspann zur Schilderung der großen Be freiungstat wie der Anfang zum Schlußteil der ›Ilias‹. Auch im zweiten Teil der ›Odyssee‹ steigert sich die Handlung. Nur ist das Motiv der Dreistufigkeit verdoppelt. Odysseus besteht drei Kämpfe, den Ringkampf mit Iros, den Bogenwettstreit und den Kampf gegen die Freier. Erkannt wird Odysseus von seinem Hund Argos, von seiner Amme Eurykleia, von seiner Gemahlin Penelope. Die Zusammenkunft mit dem greisen Laertes, der Friedensschluß zwi schen den auf Ithaka streitenden Parteien läßt das Gedicht ähnlich verhalten ausklingen wie die ›Ilias‹. Eine in mancher Hinsicht kunstvollere Anlage der ›Odyssee‹, zum Beispiel das Zusammenraffen der Handlung mittels des Kunst griffs, Odysseus seine Irrfahrten nur berichten zu lassen, spricht nicht gegen die Verfasserschaft Homers, sondern lediglich für eine im Vergleich zur ›Ilias‹ spätere Entstehung. Auch daß den drei erwähnten Erkennungen eine vierte, die Begegnung zwischen Odysseus und seinem Sohn Telemachos, vorangestellt und damit der Grundsatz gleichmäßiger Steigerung preisgegeben ist, kann kaum als Argument gegen die Meisterschaft des ›Odyssee‹-Dich ters gewertet werden. Schwieriger ist es, die Rolle des Telemachos in den Anfangspartien der ›Odyssee‹ zu rechtfertigen (in der 335
Nacherzählung stark verkürzt). Die Motivierung seiner Erkundungs fahrt nach Pylos und Sparta scheint unzulänglich. Es entbehrt der Konsequenz, daß er Ithaka wegen der Mordpläne der Freier ver läßt, nach seiner Heimkehr aber kaum ernstlich gefährdet wird. Wenn die ›Odyssee‹ heute vorwiegend nicht mehr oder nur in ihren Kernpartien als Werk Homers angesehen wird, so ist das nicht zuletzt auch auf den Umstand zurückzuführen, daß das Inter esse des Lesers in der ›Odyssee‹ offenbar in eine andere Richtung gelenkt wird als in der ›Ilias‹. Was fesselt an den Erzählungen von Odysseus? Der Eindruck, der zunächst vorherrscht, ist der des Abenteuer lichen. In der Tat ist die ›Odyssee‹ eine der großen Abenteuer erzählungen der Weltliteratur. Verstärkt wird der Eindruck durch die großenteils phantastische Szenerie, vor der sich die Ereignisse vollziehen. Mit dem Sturm am Kap Malea, an der Südostspitze der Peloponnes, verlassen wir die reale Geographie, um erst mit Odysseus' Landung auf Ithaka wieder in sie einzutreten. Dabei ist die Streitfrage von untergeordneter Bedeutung, ob Ithaka mit der westgriechischen Insel identisch ist, die noch heute diesen Namen trägt, oder mit seiner größeren Nachbarinsel bzw. -halbinsel Leu kas; Ausgrabungen förderten an beiden Stellen Reste alter Hof anlagen zu Tage, aber es ist nicht erwiesen, daß damit der Palast des Odysseus wiedergefunden wurde. Bereits im Altertum fehlte es nicht an Bemühungen, die Örtlichkeiten, zu denen Odysseus auf seiner Irrfahrt gelangt, mit Punkten der realen Welt gleichzu setzen, wobei der Versuch, die Ungeheuer Skylla und Charybdis an die Meerenge zwischen Italien und Sizilien zu lokalisieren, sich harmlos ausnimmt, verglichen mit den Vorschlägen moderner For scher, die Abenteuer der ›Odyssee‹ in den westlichen Mittelmeer raum oder gar ins offene Weltmeer, nach heutigen Begriffen also in den Atlantischen Ozean, zu verlegen. Man hat gemeint, in den Wegstationen des Odysseus spiegele sich unsichere Kunde einer von der Seefahrt gerade erst in Umrissen zur Kenntnis genommenen, noch nicht erforschten Welt außerhalb des bis dahin engen geo 336
graphischen Horizonts der Griechen. Doch wird man sich dem gegenüber damit abfinden müssen, daß in die Irrfahrt-Berichte der ›Odyssee‹ im wesentlichen einfach Märchenvorstellungen und frei erfundene Seefahrergeschichten eingeflossen sind, wie sie sich ähn lich auch im arabischen Erzählzyklus von Sindbad dem Seefahrer finden. Im übrigen haben die Abwandlungen, die jede einzelne Station der Irrfahrt gegenüber der realen Welt aufweist, ihren Sinn nicht in sich selbst, sondern sie bieten dem Helden immer neue Gelegen heit, seine Fähigkeiten zu beweisen. Odysseus erlebt die Abenteuer nicht nur, sondern er bewährt sich in ihnen, und so ist der zweite wesentliche Eindruck der ›Odyssee‹ der des Heldischen, und zwar eines Heldentums ganz besonderer Art. Körperliche Stärke, der immer wieder gerühmte Vorzug der Krieger der ›Ilias‹, auch des Achilleus, ist eine seiner Komponenten; das zeigt sich am deutlich sten im Bogenkampf. Doch charakteristischer noch ist jene Art in tellektueller Überlegenheit, jene Fähigkeit, auch aus ausweglosen Situationen noch einen Ausweg zu finden, die Odysseus am glän zendsten in der Auseinandersetzung mit dem Kyklopen Polyphem entfaltet. Gelegentlich steigert sich diese Fähigkeit, der Odysseus seinen Beinamen ›der Listenreiche‹ verdankt, über das situations bedingt notwendige Maß hinaus, so, wenn Odysseus sich am Schiffs mast festbinden läßt, um ungefährdet dem Gesang der Sirenen lau schen zu können. Im allgemeinen macht Odysseus durch List und Klugheit aber nur einen Mangel wett, eine Schwäche seiner Posi tion, die ihm kein draufgängerisches Zupacken erlaubt. So wird er auf der Phaiakeninsel als Schiffbrüchiger an Land gespült, und sein eigenes Haus auf Ithaka betritt er als Bettler. Es widerstreitet die sem Bilde nicht, daß er aus Gefahren oft nicht durch eigene Kraft, sondern durch göttliche Hilfe gerettet wird. Denn alle genannten Züge lassen sich auf eine gemeinsame Wurzel zurückführen: die ›Odyssee‹ ist gespeist aus dem Empfinden von Menschen, denen sich das Leben als eine Kette von Schwierigkeiten darstellt, die voller Sympathie miterleben, wie Odysseus Notlagen fast ohne 337
Hilfsmittel meistert, und die ihre eigenen Wunschträume verwirk licht sehen, wenn sie von der göttlichen Hilfe hören, die Odysseus zuteil wird. Nicht so sehr die Angehörigen einer dem Höhepunkt ihrer Macht zustrebenden Adelsschicht werden es gewesen sein, die auf diese Weise mit Odysseus mitempfanden, sondern einfache Menschen. Und es stimmt mit dieser Annahme überein, daß Odys seus' Taten, anders als im Falle des Achilleus der ›Ilias‹, nicht durch eine so vergleichsweise schwierige Frage wie die der Ehr verletzung ausgelöst werden, sondern sich in schlichterer Weise als Entschlossenheit zum Überleben, als Wille zur Heimkehr, als Kampf um elementares menschliches Recht darstellen. Gerade in diesen Tendenzen offenbart sich aber auch zugleich der dritte Grundzug der ›Odyssee‹, ihre Menschlichkeit. Der gleiche Zug begegnet uns zwar auch schon in der ›Ilias‹, etwa im Abschied Hektors von seiner Gemahlin Andromache, einer der schönsten Szenen des homerischen Epos, ebenso in der Begegnung zwischen Achilleus und Priamos. Und doch weist die ›Odyssee‹ nicht nur eine größere Zahl solcher Stellen auf, sondern es ändert sich auch die Richtung, in die das Mitempfinden gelenkt wird. So ist es auf fällig und in der ›Ilias‹ ohne Parallele, wieviel Sympathie die Gestalt des Schweinehirten Eumaios auf sich vereint, mit wieviel Sorgfalt das Milieu geschildert wird, in dem er lebt. Der ›Odyssee‹ Dichter empfindet den Schmerz der Nymphe Kalypso nach, die durch Befehl der Götter gezwungen wird, Odysseus freizugeben. Er schildert die verhaltene Zuneigung der Nausikaa zu Odysseus und die Seelenhaltung der nach zu vielen betrogenen Hoffnungen kaum mehr aus ihren Zweifeln zu lösenden Penelope. Er zeigt Odysseus in der Niedergeschlagenheit der letzten Nacht vor dem Freierkampf, als er sein empörtes Herz nur mit Mühe bezähmt, wie im Hochgefühl des endlich erlangten Triumphes. Kein zweites Werk der griechischen Literatur ist in einem so umfassenden Sinne wie die ›Odyssee‹ zugleich Spiegel des menschlichen Lebens und Appell zur Parteinahme für das Gerechte und Gute. Es ist nur selbstverständlich, daß die ›homerischen‹ Epen, mit 338
denen die griechische Dichtung für uns ihren Anfang nimmt, unter allen Werken der europäischen Literatur auch die längste Wir kungsgeschichte haben. Im 5. Jahrhundert v.u.Z. begegnen wir den Helden des trojanischen Krieges auf der athenischen Tragödien bühne; allerdings werden hier Szenen bevorzugt, die in ›Ilias‹ und ›Odyssee‹ keine Gestaltung gefunden hatten, zum Beispiel die allerletzte Kriegsphase (Sophokles, ›Aias‹, ›Philoktet‹), das Schick sal der Troer nach Zerstörung ihrer Stadt (Euripides, ›Die Troerin nen‹), die Heimkehr Agamemnons (Aischylos, ›Agamemnon‹). Im 1. Jahrhundert v.u.Z. lehnt sich Vergil im römischen Nationalepos ›Aeneis‹ an das homerische Vorbild an. Während des Mittelalters gerät Homer in Vergessenheit, nicht aber der Troja-Stoff, der in epischromanartigen Gestaltungen fortlebt. Das Interesse an den homerischen Original-Epen weckt in Deutschland im 18. Jahrhun dert Johann Joachim Winckelmann, und noch im gleichen Jahr hundert, 1781 und 1793, veröffentlicht Johann Heinrich Voß Über setzungen der ›Odyssee‹ und ›Ilias‹, die klassische Geltung er langen. Doch schon vorher, seit der Renaissance- und Barockzeit, wächst die Zahl der Dramen, Opern, Romane und Novellen mit homerischen Themen, ein Prozeß, der auch in der Gegenwart noch nicht abgeschlossen ist. Dabei haben die einzelnen Gestalten Ho mers unterschiedliche Schicksale. Den wenigsten Wandlungen unterliegt Achilleus. Das Bild, das die ›Ilias‹ von ihm entwirft, ergänzt schon im 1. Jahrhundert u. Z. der römische Epiker Statius durch die Erzählung der Jugend des Helden; Goethe plant eine Fortführung der ›Ilias‹ bis zum Tod des Achilleus, vollendet von seinem Epos ›Achilleis‹ aber nur einen Teil (1799). Agamemnon wahrt in den meisten neueren Dichtungen, etwa in Gerhart Haupt manns Tragödie ›Agamemnons Tod‹ (1944), die Züge düsterer Tragik, auf die schon Aischylos diese Gestalt festgelegt hatte. Ganz im Gegensatz dazu wird das Paar Menelaos-Helena im Bereich der heiteren Muse heimisch, so in Jacques Offenbachs ›Schöner Helena‹ (1864) und in Peter Hacks' gleichnamiger ›Operette für Schau spieler‹, die sich ebenso gegen die Sinnlosigkeit des Völkermordes 339
wendet wie das Stück ›Der trojanische Krieg findet nicht statt‹ des Franzosen Jean Giraudoux (1935). Eine Lieblingsgestalt von Dich tern unterschiedlicher Weltanschauung und Kunstauffassung wird in unserem Jahrhundert Odysseus; während Gerhart Hauptmann (›Der Bogen des Odysseus‹, 1914) Teile der ›Odyssee‹ neu ge staltet, erfindet Lion Feuchtwanger (›Odysseus und die Schweine‹, 1948) einen zweiten Besuch des Odysseus bei den Phaiaken, der zum Bild vom Anbruch eines neuen Zeitalters wird. Aber mehr als alle Neugestaltungen wurden immer wieder ›Ilias‹ und ›Odyssee‹ selbst gelesen; und auch der Leser dieser Nach erzählung wird, wenn er später zu einer Übersetzung des Originals greift, neue Freude an der eingehenden Schilderung altgriechischen Lebens wie an der Größe der Menschendarstellung finden, die der homerischen Dichtung ihr unverwechselbares Gepräge geben. Ernst Günther Schmidt
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