Das grausame Spiel
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Derek Hyde-Chambers
Das grausame Spiel Originaltitel: THE ORGY OF BUBASTIS Aus ...
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Das grausame Spiel
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Derek Hyde-Chambers
Das grausame Spiel Originaltitel: THE ORGY OF BUBASTIS Aus dem Englischen übertragen von Eva Wagner Copyright © 1974 by Derek Hyde-Chambers Titelbild: C.A.M. Thole Deutsche Erstveröffentlichung Germany August 1975 2
Der Motor fing an zu stottern und zu husten. Der Wagen machte plötzlich einen Satz nach vorn, dann brummte er wieder ruhig und gleichmäßig durch den dunklen Oktoberabend. Eben war die enge, sich durch die Talsohle windende Landstra‐ ße noch deutlich zu erkennen, im nächsten Mo‐ ment verschwand sie hinter dichten Nebelschwa‐ den. Ich brachte den Wagen zum Stehen und zog die Handbremse an. »Glaubst du nicht, wir sollten zu‐ erst einmal feststellen, wo wir eigentlich sind? Es dürfte wenig Sinn haben, einfach ins Blaue weiter‐ zufahren, Jeremy.« Der neben mir sitzende Jeremy Casement knipste die Taschenlampe an und fuhr mit dem Finger über die auseinandergefaltete Straßenkarte. »Ich würde sagen, daß wir uns auf halbem Wege zwi‐ schen Payrac und Rocamadour befinden. Das be‐ deutet, daß wir noch ungefähr fünfzehn Meilen vor uns haben, bevor wir die Klinik erreichen. Oder wenn du die Entfernung in Kilometern wis‐ sen willst...« »Zum Teufel mit den Kilometern«, knurrte ich mißmutig. »Wir hätten besser daran getan, die Nacht in Bordeaux zu verbringen ...« 3
»Wir haben für diese Nacht bereits in der Klinik bezahlt, und zehn Pfund sind kein Pappenstiel, Myles. In einer Stunde sind wir da, und der gute Dr. Frantzius wird uns ein herzliches Willkommen bereiten.« »Sicher. Mit einem Glas lauwarmem Wasser und einer Dörrpflaume.« Ich bemühte mich, mein Feuerzeug in Gang zu bringen, um mir eine Ziga‐ rette anzuzünden und sah mich dabei nach den beiden Mädchen um, die auf dem Rücksitz zu‐ sammengerollt lagen und schliefen. »Mareta und Lois haben offenbar die richtige Vor‐ stellung davon, wie man einen gemütlichen Abend in derDordogne verbringt. Man kriecht so früh wie möglich ins Nest.« »Dabei ist dies eine der schönsten Gegenden Frankreichs«, versicherte Jeremy Casement. »Du wärst begeistert, wenn du diese Berge bei Tages‐ licht und im Sommer sehen könntest.« »Mag sein«, sagte ich brummig, und blies den Rauch in den überheizten Wagen. »Nur haben wir weder Tageslicht noch Sommer, sondern eine ver‐ dammt ungemütliche Oktobernacht. Und deine Berge sind im Nebel verschwunden.«
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»Wir sind ja auch nicht hergekommen, um die Landschaft zu bewundern, sondern um uns zu er‐ holen und dabei ein paar überflüssige Pfunde los‐ zuwerden...« Ein dumpfer Schlag ließ ihn abrupt verstummen. »Um Himmels willen, was war das? Es klang, als ob etwas auf die Kühlerhaube gefal‐ len wäre.« »Da hast du recht.« Ich versuchte, durch die Wind‐ schutzscheibe etwas zu erkennen, aber der Nebel war noch dichter geworden und schloß uns voll‐ ständig von der Außenwelt ab. Die eingeschalteten Scheibenwischer verschmierten nur noch die oh‐ nehin schon angelaufene Scheibe. »Ich will mal nachsehen«, sagte ich. »Vielleicht ist Geröll von den Felsen heruntergekommen.« »Mir kam es so vor, als ob etwas den Wagen ge‐ troffen hätte«, sagte Jeremy. Ich bedachte ihn mit einem unfreundlichen Blick, nahm die Taschenlampe, stieg aus und schloß die Wagentür hinter mir. Die Schwaden hatten sich inzwischen in eine dichte Nebelwand verwandelt, die so schwefelig roch, daß meine Kehle brannte. Ich hielt mich nahe an der Böschung, ging nach vorn und richtete den Lichtstrahl auf die Vorder‐ räder und die Stoßstange des Volkswagens. Nichts 5
zu sehen. Jenseits der Nebelbank kam sogar für ei‐ nen Augenblick die graue, verschlammte Land‐ straße zum Vorschein. Ich wandte mich von neuem dem Auto zu und leuchtete etwas höher. Da saß etwas vorn auf der Kühlerhaube, unmittelbar über dem Grill. Es starr‐ te mich mit großen, weit aufgerissenen Augen an, die durchsichtig grün mit einem Stich ins Gelbliche schillerten. Es war eine kleine, langhaarige schwarze Katze. Inzwischen war auch Jeremy ausgestiegen und näherte sich von der anderen Seite. Die Katze drehte langsam den Kopf in seine Richtung. Im Licht der Taschenlampe sah ich sein lachendes Ge‐ sicht. »Das darf doch nicht wahr sein«, sagte er. »So ein kleines, schwarzes Biest!« »Sie muß von der Straße auf den Kühler gesprun‐ gen sein.« Ich sah an den Felswänden hinauf. »Von da oben kann sie auf keinen Fall kommen. Vermut‐ lich gehört sie zu einem Bauernhof in der Nähe, zumindest sieht sie wohlgenährt aus.« »Vielleicht hat sie sich verlaufen«, sagte Jeremy mitleidig. »Armes Ding!« Als er sich dem Tier nä‐ hern und es anfassen wollte, machte es einen wei‐ ten Satz und verschwand auf der Straße. Jeremy 6
lief hinterher und wurde gleich darauf vom Nebel verschluckt. Ich folgte langsamer, wobei ich mich mit einer Hand an den Felsen entlangtastete. Mei‐ ne Fußtritte klangen auf dem matschigen Boden merkwürdig dumpf und schwer. Als ich einmal über die Schulter zurückblickte, waren die Scheinwerfer des Wagens nur noch wie gelbe Stecknadelköpfe zu erkennen. Der Wind hatte sich gelegt. Kein Laut war zu hören. Ich blieb stehen, um festzustellen, ob ich seine Schritte vor mir auf der Straße hören konnte. »Je‐ remy! Wo bist du?« rief ich laut. Es kam keine Antwort. Der Ort hatte etwas Bedrückendes. Ein unbehagliches Gefühl beschlich mich, das ich nicht definieren konnte. »Jeremy!« Ringsum herrschte Schweigen. Nur oben in den Felsen tropfte ir‐ gendwo Wasser. Ich ging langsam weiter. Hinter mir waren die Scheinwerfer unseres Wagens inzwischen nicht mehr zu sehen. »Jeremy! Wo bist du, um Himmels willen?« Langsam wurde ich ungeduldig. Durch den Nebel und die Dunkelheit erscholl plötzlich ein Schrei, zuerst leise, dann langsam an‐ schwellend, wie von einem Menschen in höchster Todesangst. 7
»Jeremy!« Ich brüllte seinen Namen förmlich in die Nacht hinaus. »Jeremy!« Da ich inzwischen zu rennen begonnen hatte, schwang die Taschenlam‐ pe in meiner Hand wie wild auf und nieder. Was ich zu sehen erwartete, weiß ich nicht. Jedenfalls nicht den Anblick einer schattenhaften Gestalt, die aus Nacht und Nebel auf mich zutaumelte. Ich blieb stehen und richtete den Strahl der Taschen‐ lampe nach vorn. Jeremy torkelte wie ein verwun‐ detes Tier und hielt sich beide Hände vor das Ge‐ sicht. Rotes, klebriges Blut bedeckte seine Finger und rann über seine Handgelenke. »Um Himmels willen, was ist passiert?« fragte ich, packte ihn an den Armen und zog seine Hände he‐ runter. »Dort hinten war etwas«, sagte er und bemühte sich um ein Lachen. »Tut mir leid, daß ich so ge‐ schrien habe, aber ich bin zu Tode erschrocken. Mein Gesicht, Myles, was ist mit meinem Ge‐ sicht?« Ich leuchtete ihn an. Von den Augen bis hinunter zum Kinn liefen tiefe Kratzer quer über seine Wangen. Vorsichtig berührte ich mit dem Taschen‐ tuch zuerst die eine, dann die andere Seite. »Das ist nicht so schlimm, es wird wieder heilen. Du 8
brauchst dir keine Sorgen zu machen«, sagte ich beruhigend und hoffte insgeheim, daß ich recht hatte. »Dem Himmel sei Dank«, stöhnte er. »Einem Schauspieler mit vernarbtem Gesicht sind in bezug auf die Rollen, die er spielen kann, ziemliche Grenzen gesetzt.« »Komm zurück zum Auto.« Ich nahm ihn am Arm, und wir machten uns auf den Weg. »Im Arz‐ neikasten habe ich ein blutstillendes Mittel. Und die Schnitte sind nicht sehr tief, sie dürften keine bleibenden Narben hinterlassen.« »Du kannst dir gar nicht vorstellen, was für eine Todesangst ich bekam, als das Biest mich plötzlich ansprang ...« »Was ist denn eigentlich passiert?« schnitt ich ihm das Wort ab. »Das kann doch unmöglich die kleine schwarze Katze angerichtet haben.« Er schüttelte den Kopf. »Nein, das ist ja gerade das Merkwürdige an der Geschichte. Das Tierchen rannte vor mir her und verschwand plötzlich in der Dunkelheit. Gleichzeitig attackierte mich etwas vom Straßenrand her. Es war aber so stockdunkel, daß ich nichts erkennen konnte. Ich stürzte zu Bo‐ den und schrie los.« 9
»War es ein Tier, oder« – der Gedanke überfiel mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel – »ein menschliches Wesen?« »Nein. Ich habe ein Fauchen und Knurren gehört, wie von einer Raubkatze. Aber ich bin mir dessen nicht sicher. Alles geschah so schnell, daß mir gar nicht richtig klar wurde, was mit mir passierte. Ich war vor Entsetzen wie gelähmt und konnte nur noch schreien.« »Könnte es nicht eine Art Luchs gewesen sein, ähnlich wie die Wildkatzen, die es in Schottland gibt? Ich weiß allerdings nicht, ob solche Tiere auch in diesem Teil Frankreichs leben.« »Etwas ist mir aufgefallen«, sagte Jeremy. »Ein fau‐ liger Geruch wie nach verdorbenem Fleisch ...« Da wir uns inzwischen in Blickweite unseres Wa‐ gens befanden, blieben wir gleichzeitig wie ange‐ wurzelt stehen. Der Nebel hatte sich gelichtet, und die Szenerie wurde von den Scheinwerfern hell er‐ leuchtet. Alles war, wie wir es verlassen hatten, nur eines nicht. Die beiden hinteren Autotüren standen weit offen. »Die Mädchen!« rief Jeremy entsetzt. Er vergaß sein blutiges Gesicht, und wir rannten los. Ich glaube, ich wußte schon, was wir finden würden. 10
»Lois! Mareta!« hallte meine Stimme durch die Stil‐ le der Nacht. Niemand lag auf dem Rücksitz zu‐ sammengerollt und schlief. Der Wagen war leer. Wir starrten uns von beiden Seiten durch die offe‐ nen Türen an. Das Blut auf Jeremys Gesicht war inzwischen etwas angetrocknet, was sein Ausse‐ hen nicht erfreulicher machte. »Wo mögen die bei‐ den sein? Was geschieht hier mit uns, Myles?« fragte er entsetzt. »Nimm dich zusammen und sei nicht so pathe‐ tisch. Du stehst nicht auf der Bühne«, fuhr ich ihn an, obwohl mir selbst nicht besser zumute war. »Im Handschuhfach muß noch eine Taschenlampe sein. Hol sie raus. Dann sehen wir uns um. Ver‐ mutlich gibt es eine ganz einfache Erklärung für das Verschwinden der Mädchen. Sie sind aufge‐ wacht, vielleicht von deinem Schrei, und haben sich auf die Suche nach uns gemacht.« »Eine liegt da unten im Straßengraben«, sagte Je‐ remy gleich darauf und deutete mit der Lampe hinter den Wagen. »So etwas gibt es hier nicht.« Ich beeilte mich, um das Auto herumzukommen. Lois Bata lag mit dem Gesicht nach unten direkt neben der Böschung. Ih‐ re Jacke fehlte, und ihr blaues T‐Shirt war zerfetzt. 11
Quer über ihren Rücken liefen tiefe, blutige Kratzwunden. Jeremy wolle schon zu ihr hinstürzen, als ich ihn zurückhielt. »Bleib, wo du bist, deine Verfassung ist schon schlimm genug.« Ich schob meine Arme unter das Mädchen und hob sie hoch. Als ich sie zum Wagen trug, stöhnte sie leise vor sich hin. Auf ihrer linken Wange be‐ fand sich ebenfalls ein tiefer Schnitt, der von der Nase bis zum Ohrläppchen reichte. Das Blut war bereits leicht angetrocknet. Im Wagen legte ich sie vorsichtig auf den Rücksitz. Sie schien zwar einigermaßen gleichmäßig zu at‐ men, hatte aber offenbar das Bewußtsein verloren. »Setz dich neben sie«, befahl ich. »Wir brauchen jetzt erst einmal einen Cognac zur Stärkung.« Ich fand die Flasche im Arzneikasten unter dem Vordersitz und goß etwas von der braunen Flüs‐ sigkeit in den aufgeschraubten kleinen Becher. »Versuche, Lois etwas davon einzuflößen und nimm auch einen Schluck.« Ich kroch hinter das Steuerrad und schloß die Wagentüren von innen. Dann setzte ich selbst die Flasche an den Hals. »Und was tun wir jetzt?« fragte ich nach einiger Zeit. 12
»Wir wissen, daß Mareta nicht an uns vorbeige‐ kommen ist, also muß sie sich weiter hinten auf der Straße befinden – wenn sie überhaupt noch lebt.« Jeremy schwieg einen Augenblick und fragte dann mit schwacher Stimme. »Was meinst du damit?« »Kannst du dir das nicht selbst ausmalen?« Ich deutete auf das Mädchen neben ihm auf dem Hin‐ tersitz. »Gib ihr noch einen Schluck Cognac.« Lois würgte, als er ihr die Flüssigkeit durch die Lippen zwang. Dann rollte sie von einer Seite auf die andere, zuerst langsam, dann immer schneller. Ihre Augenlider zuckten. »Helft mir.« Die Worte waren kaum zu verstehen. »Bitte helft mir. Bitte ...« »Leg deinen Arm um sie, damit sie deine Nähe spürt. Vielleicht hilft ihr das, wieder zu sich zu kommen.« »Woher weißt du, ob sie nicht eher einen Arzt braucht?« fragte Jeremy. »Verdammt noch mal, tu was ich dir sage!« fuhr ich ihn grob an. »Und schau nach hinten. Ich wer‐ de diese verfluchte Straße im Rückwärtsgang zu‐ rückfahren, da ich hier nirgends wenden kann.«
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Ich warf einen Blick auf sein blutverkrustetes Ge‐ sicht. »Brauchst du etwas Alkohol, um dein Ge‐ sicht zu säubern?« »Nein, danke. Es geht schon wieder.« Lois stöhnte laut; ihr Atem kam in rasselnden Stö‐ ßen. Jeremy zog sie höher und lehnte sie in die Ecke, so daß sie jetzt von ihm und von der Wa‐ genwand gestützt wurde. »Ich werde ihre Hand halten. Dabei kann ich auch leichter durch die Rückscheibe sehen.« »Also los«, sagte ich, fand den Rückwärtsgang und fuhr an. »Paß gut auf, Jeremy. Mareta kann überall sein, auf der Straße, neben den Felsen oder ...« »Halt!« Er schlug mir mit der Faust auf die Schul‐ ter. »Halt an, Myles. Ich sehe etwas ...« Er ver‐ stummte, drehte sich entsetzt um und starrte mich an. Sein Gesicht schien um Jahre gealtert. »Sie ist da draußen. Der Himmel sei uns gnädig. Was mag ihr zugestoßen sein?« Ich stellte den Motor ab, zog die Handbremse an und öffnete die Wagentür. Und dann bot sich mir hinter dem Heck des Volk‐ swagens, wo die Rücklichter den dünnen Nebel rötlich färbten, ein Bild, das mir das Blut in den Adern gefrieren ließ.
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Die große, schlanke Mareta di Palma schritt uns entgegen, wobei sie sich mit der Grazie einer Afri‐ kanerin bewegte. In der rechten Hand trug sie ei‐ nen Dreizack mit dünnen, geschliffenen Klingen an einem kurzen, polierten Holzschaft. Auf ihren Wangenknochen zeigten sich Flecke, die wie Blut aussahen. Ihre Lippen waren zu einem irren Lä‐ cheln verzerrt. Um ihren Nacken hing wie ein Ro‐ senkranz eine Kette aus kleinen Knochen. Ihre blasse, samtige Haut glänzte unter der Feuchtig‐ keit des Nebels. Neben ihrem rechten Bein ging mit vorsichtigen Schritten die kleine schwarze Katze. Mareta war nackt – vom Scheitel ihres langen, goldblonden Haares bis zu den Sohlen ihrer schlanken Füße. Als ich jetzt aus dem Wagen stieg, hörte ich ir‐ gendwo über mir zwischen den Felsen ein tiefes Heulen, das zu einem verzerrten Kreischen an‐ schwoll und dann langsam in der Schwärze der sternlosen Nacht verebbte. Jeremy hatte die Wagentür auf seiner Seite geöff‐ net. Unter den blutverkrusteten Striemen war sein Gesicht aschfahl. Seine blauen Augen quollen ihm
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vor unaussprechlichem Entsetzen fast aus den Höhlen. »Myles, schau sie dir an. Myles, sie hat...« »Ihr werdet mir zuhören!« unterbrach ihn Mareta mit einer Stimme, wie ich sie so tief und ein‐ drucksvoll an ihr noch nie vernommen hatte. Eini‐ ge Schritte vor dem Wagen blieb sie stehen und streckte uns beschwörend den Dreizack entgegen. »Ich bin die Allmutter Natur und eins mit Ptah! Die Herrscherin über alles Lebende zu Lande und im Was‐ ser! Die Mutter der Welt, die man in Theben anbetete! Ich bin Bastet, die Göttin der Katzenwesen! Die Zeit von Bubastis ist gekommen!« »Schau, was sie in der linken Hand hält«, stieß Je‐ remy mit erstickter Stimme hervor. Ich erstarrte. Mareta umklammerte ein menschli‐ ches Ohr. Jetzt wiederholte sie mit eindringlicher Stimme. »Ich bin Bastet, die Göttin der Fruchtbar‐ keit!« Dann sank sie in sich zusammen und blieb mit ge‐ spreizten Gliedern im Straßenmatsch liegen. Einen Augenblick verharrte die kleine schwarze Katze. Ihre großen grüngelben Augen bewegten sich nicht. Dann machte sie einen Satz und verschwand lautlos in der Dunkelheit. 16
Die Klinik lag fast eine Meile von der nach Lacave führenden Landstraße entfernt am Ende einer Al‐ lee. Um sie zu erreichen, überquerte man auf einer moosbedeckten, kleinen Brücke, die sicher schon der französische Sonnenkönig gesehen hatte, einen munter plätschernden Nebenfluß der Dordogne. Das riesige graue Chateau mit den vielen Zinnen und Türmen stammte offensichtlich aus der Zeit der Spätrenaissance und ragte düster vor einem Hintergrund aus teilweise mit Wald bedeckten, uralten schwarzen Steinhügeln auf. Der aufgeschüttete Kies vor dem Haus lag in sanf‐ tes gelbes Flutlicht gebadet, das von zwei gezack‐ ten Türmchen links und rechts des Einganges he‐ runterstrahlte und dem ganzen einen etwas ge‐ spenstischen Eindruck verlieh. Als ich unseren Wagen zum Stehen gebracht hatte, erschien am Fuß der breiten steinernen Freitreppe, die zu einer massiven, metallbeschlagenen Tür hi‐ naufführte, ein großer, schlanker Mann. »Ich bin Dr. Peter Frantzius«, stellte er sich mit ei‐ ner förmlichen Verbeugung vor. »Ich freue mich, Sie in der Klinik Sante begrüßen zu dürfen.« Seine schwarzen Augen glitten unruhig über mich hin. »Sie fahren einen Volkswagen K 70«, stellte er be‐ 17
friedigt fest. »Das ist einer der zuverlässigsten deutschen Wagen.« Ich schüttelte die schlanke, feste Hand, die er mir entgegenstreckte. »Mein Name ist Myles Donnen, Doktor. Wir hatten auf unserem Weg von Bor‐ deaux gewisse Schwierigkeiten...« »Mit dem Wa‐ gen?« Er sprach mit einem leichten, aber unüber‐ hörbaren Akzent. »Das überrascht mich ...« »Nicht mit dem Auto«, sagte Jeremy, der zu uns getreten war. »Wir wurden auf der Straße angeg‐ riffen.« »Wie ist das möglich?« fragte der Arzt bestürzt. »Die Einwohner unseres Tales sind gesetzestreue Menschen. Sie sind stolz darauf...« Er verstummte beim Anblick von Jeremys Gesicht mit den bluti‐ gen Kratzspuren. »Sie sind Mr. Casement, nicht wahr? Wer hat Sie denn so zugerichtet?« »Vermutlich eine Wildkatze«, erwiderte Jeremy und deutete zum Auto. »Wenn Sie sich die Mäd‐ chen einmal ansehen würden, Doktor. Sie leiden noch unter der Nachwirkung des Schocks.« Frantzius hatte bereits die Wagentür geöffnet. »Ich habe selbst Augen im Kopf«, sagte er kurzange‐ bunden. »Die Damen sind krank, das ist kein Schock.« Er winkte zur offenen Eingangstür hi‐ 18
nauf, wo inzwischen zwei weißgekleidete Männer erschienen waren. »Georges, Christian«, rief er mit befehlsgewohnter Stimme. »Kommen Sie schnell.« Dann wandte er sich wieder mir zu. »Lassen Sie uns hineingehen, Mr. Donnen. Ich werde die Da‐ men untersuchen, sobald man sie zu Bett gebracht hat.« Christian und Georges rannten bereits mit einer Bahre die Treppe herunter. Jeremy und ich folgten dem Arzt in die holzgetäfelte Halle des Schlosses, in der es nach der ungemütlichen Temperatur draußen angenehm warm war. Dort öffnete er zur Linken eine Tür und winkte uns hinein. »Mr. Casement, Ihr Gesicht muß sofort behandelt werden, sonst kann leicht eine Infektion entstehen. Gesichtswunden bei einem Schauspieler darf man nicht auf die leichte Schulter nehmen.« Damit setzte er Jeremy auf einen Stuhl neben ei‐ nem Glastisch und knipste eine einarmige, beweg‐ liche Lampe an. »Und Sie behaupten, daß diese Verletzungen von einer Katze stammen?« »Ich nehme es jedenfalls an«, erwiderte Jeremy. »Ich bin bei dem plötzlichen Überfall in solche Pa‐ nik geraten, daß ich es nicht genau weiß.«
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»Eine Katze war das nicht«, bemerkte der Doktor, nachdem er die Wunden gereinigt hatte. Er tränkte einen Wattebausch mit Flüssigkeit aus einer klei‐ nen Flasche, die er vom Tisch nahm. »Wenn eine Katze ihre Krallen an menschlicher Haut auspro‐ biert, verursacht sie dünne und manchmal sehr tie‐ fe Kratzer.« Mit sanfter Hand betupfte er mit dem Wattebausch die verletzten Stellen. »Ihre Wunden sind anderer Natur, nämlich ziemlich breit und flach.« »Meiner Meinung nach handelte es sich um eine Katze«, sagte Jeremy beharrlich. »Sie sprang mich aus der Dunkelheit von der Seite her an ...« »Was immer es war, Mr. Casement, eine Katze je‐ denfalls nicht.« Der schlanke Arzt warf den be‐ nutzten Wattebausch in eine Abfallschale auf dem Tisch. »Und jetzt ziehen Sie bitte Ihre Jacke aus und rollen den Hemdärmel hoch. Wir wollen lie‐ ber ganz sichergehen, falls schon Giftstoffe in Ih‐ ren Blutkreislauf gelangt sind.« Frantzius war gerade mit seiner Injektion fertig, als sich leise die Tür öffnete und der Mann namens Christian ins Zimmer trat. Er war stark gebaut, hatte ein breites, plumpes Gesicht, wasserblaue Augen und einen vollen Mund. Zuerst warf er Je‐ 20
remy einen mißbilligenden Blick zu, dann wandte er sich an den Arzt. »Die beiden Damen sind be‐ reit. Schwester Puchert hat alles vorbereitet. Übri‐ gens liegen sie in tiefer Betäubung.« Stirnrunzelnd fragte Dr. Frantzius: »Sind Sie des‐ sen ganz sicher, Christian?« »Schwester Puchert hat das nachgeprüft. Außer‐ dem sind sie offenbar mehr als rauh behandelt worden. Eine von ihnen trug auf der blanken Haut nur einen Lammfellmantel, auf ihrem Körper sind Spuren von Mißhandlungen zu erkennen. Die Kleider der anderen sind zerrissen, und sie hat auf dem Rücken und an den Rippen tiefe Schnittwun‐ den, ebenso quer über die Wange. Die Verletzun‐ gen sind inzwischen behandelt worden.« »Was soll das heißen?« zischte Dr. Frantzius und sah mich mit seinen schwarzen Augen durchdrin‐ gend an. »Ich wünsche eine Erklärung, Mr. Don‐ nen. Wir haben hier keine Klinik für Rauschgift‐ süchtige. Ihre Theatergewohnheiten können wir hier nicht brauchen, das werden Sie wohl verste‐ hen.« Dann wandte er sich an Jeremy. »Und nun zu Ihnen, mein Herr. Können Sie mir sagen ...« »Ich wurde von einem Tier angefallen«, stellte Je‐ remy ruhig fest, »das ich für eine Katze, genauge‐ 21
nommen eine Raubkatze, gehalten habe. Ich hörte ein Knurren und Fauchen und spürte Aasgeruch.« »Ich schlage vor, daß Sie in meinem Arbeitszim‐ mer bleiben, bis ich die beiden – Damen unter‐ sucht habe«, sagte der Doktor. »Hinterher werden wir weitersehen.« Als sich die Tür hinter den beiden Männern ge‐ schlossen hatte, sah ich Jeremy an. »Wir scheinen uns ja bei Dr. Peter Frantzius gut eingeführt zu ha‐ ben.« Mein Freund brachte seinen Hemdärmel in Ord‐ nung und zog die Jacke an. »Er hält uns offenbar für eine Bande blutrünstiger Drogenabhängiger. Am liebsten hätte ich diesem überheblichen Kerl eine gelangt.« Ich zog eine Zigarette aus einem zerdrückten Päckchen in meiner Tasche und zündete sie mit dem Feuerzeug an. »Glaubst du nicht, daß Lois und Mareta gestern abend etwas genommen haben können? Ich meine irgend etwas mit Langzeitwir‐ kung ...« »Und was hätte das sein können? Marihuana? He‐ roin? LSD? Du weißt genausogut wie ich, daß alle diese Mittel sofort wirken. Das hätten wir doch merken müssen, bevor wir London verließen.« 22
Ich setzte mich in einen Lehnstuhl neben der Tür. »Jeremy, ich bin völlig durcheinander. Kannst du mir erklären, was Mareta da für ein wirres Zeug von sich gegeben hat? Ich meine, daß sie eins mit Tah ist...« »Soviel ich weiß, buchstabiert man das vorne mit einem P«, sagte Jeremy. »Wenn mich meine Erin‐ nerung nichttäuscht, war Ptah eine altägyptische Göttin. Ich kenne mich aber bei den antiken Göt‐ tern nicht so genau aus.« Ich zog an meiner Zigarette und versuchte einen klaren Gedanken zu fassen. Irgend etwas ist da auf der Straße passiert, für das es keine logische Erklä‐ rung gibt. Außer deinen Schnittverletzungen, die scheinen mir als einziges real zu sein.« Jeremy fuhr sich mit spitzen Fingern über die Wange. »Das kann man wohl sagen. Mir fiel ein Stein vom Herzen, als der Doktor versicherte, sie seien nicht tief und gefährlich.« Er runzelte die Stirn. »Wie meinst du das, daß sie als einziges real sind?« Ich wedelte mit der Zigarette in der Luft herum. »Ganz einfach. Dich hat eine Bergkatze oder ver‐ wilderte Hauskatze angefallen, ganz egal was der Doktor dazu meint.« 23
Jeremy kreuzte die Arme vor der Brust. »Und was ist deiner Meinung nach mit den Mädchen gesche‐ hen?« »Eine simple Frage, auf die ich keine Antwort ha‐ be.« Jeremy versank in nachdenkliches Schweigen. »Und wenn sie doch versehentlich eine Überdosis von irgend etwas genommen haben?« fing ich wieder an. »Weißt du, Jeremy, je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr komme ich zu dem Schluß, daß die beiden Mädchen unter dem Einfluß von Drogen gestanden haben müssen. Es kann gar nicht anders sein.« Die Tür ging auf und Dr. Frantzius trat wieder ins Zimmer. Er durchquerte langsam den Raum und setzte sich in einen Drehsessel hinter seinem mäch‐ tigen Schreibtisch aus Ahornholz. »Ich habe Ihre Freundinnen untersucht ...« Er verstummte und starrte nachdenklich auf einen in Leder gebunde‐ nen Schreibblock, der vor ihm auf der Platte lag. »Meine Herren, ich muß gestehen, daß mir der Zu‐ stand, in dem sie sich befinden, Kopfzerbrechen bereitet. Sie liegen tatsächlich, wie schon die Schwester festgestellt hat, in tiefer Betäubung. Wodurch diese aber verursacht wurde ...« Er zuck‐ 24
te die Achseln. »Vielleicht kann einer von Ihnen mir da weiterhelfen.« »Es muß geschehen sein, nachdem ich von dieser... Katze angegriffen wurde«, sagte Jeremy. »Wir standen mit dem Wagen auf halber Strecke zwi‐ schen Payrac und Rocamadour. Es fing ganz harm‐ los an. Irgend etwas schien auf die Kühlerhaube gefallen zu sein. Wie sich gleich darauf herausstell‐ te, eine Katze ...« »Schon wieder eine Katze, Mr. Casement?« fragte Frantzius erstaunt. »Oder war es dasselbe Tier, von dem Sie glauben, angegriffen worden zu sein?« »Nein, es war eine andere. Eine kleine schwarze Katze saß auf der Kühlerhaube unseres Wagens. Als wir ausstiegen, um nach dem Rechten zu se‐ hen oder sie dort wegzunehmen, verschwand sie.« Frantzius lehnte sich in seinen Sessel zurück. »In Ihrer Geschichte scheinen Katzen eine große Rolle zu spielen. Aber bitte fahren Sie fort.« »Ich lief hinter dem Tier her«, erzählte Jeremy. »Kurze Zeit sah ich es auf der Straße vor mir, plötzlich war es weg. Und das war der Moment, wo mich etwas seitlich ansprang und ich die Kral‐ len in meinem Gesicht spürte.« Er lächelte den 25
Mann hinter dem Schreibtisch an. »Gleich darauf traf ich auf Myles, der mich zum Auto zurückhol‐ te.« »Wo waren die Mädchen während der ganzen Zeit?« »Wir hatten sie schlafend im Wagen zurückgelas‐ sen«, warf ich ein. »Und als Sie zurückkamen?« »Die hinteren Autotüren standen weit offen, Lois und Mareta waren spurlos verschwunden. Wir machten uns sofort mit Taschenlampen auf die Su‐ che – es war stockdunkel – und fanden Lois am Straßenrand. Ihre Kleidung war zerrissen, sie selbst bewußtlos. Wir brachten sie schnell ins Auto zurück und schauten uns nach Mareta um. Zu die‐ sem Zweck fuhren wir mit dem Auto ein Stück rückwärts, bis wir sie plötzlich sahen. Sie war völ‐ lig nackt und auf eine Weise...« Ich verstummte und sah dem Mann hinter dem Schreibtisch ins Gesicht. Seine schwarzen Augen waren ruhig auf mich gerichtet. Geraume Zeit herrschte absolutes Schweigen im Raum. »Bitte fahren Sie fort, Mr. Donnen«, sagte Frantzius schließlich.
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Ich zog an meinem Zigarettenende. »Sie hatte kei‐ nen Fetzen am Leibe und trug in der Hand eine Art Speer, mehr einen Dreizack, würde ich sagen. Um ihren Hals hing eine Kette aus Knochen. Beide Gegenstände befinden sich im Wagen. Und dann faselte sie wirres Zeug. Sie sprach von Bastet, wer immer das sein mag, von Theben, Ptah und Bubas‐ tis. Mehr habe ich nicht behalten.« »Was geschah weiter, nachdem Sie sie gefunden hatten? Ich möchte gern alle Einzelheiten wissen, Mr. Donnen.« »In der anderen Hand hielt sie ein menschliches Ohr.« Ich stand auf und ging zum Schreibtisch hi‐ nüber. »Der Anblick war widerwärtig, Doktor. Es sah so aus, als ob man es einem Menschen gewalt‐ sam abgerissen hätte ...« »Haben Sie das Ohr ebenfalls im Auto mitgeb‐ racht?« Jeremy schüttelte den Kopf. »Ich habe das ekelhaf‐ te Ding weggeworfen.« Frantzius runzelte die Stirn. »Und wie benahm sich Miß di Palma dann?« »Sie wiederholte noch einmal, was sie über Bastet gesagt hatte, dann stürzte sie bewußtlos zu Bo‐ den«, fuhr ich fort. »Ich weiß, daß das in Ihren Oh‐ 27
ren absurd klingen muß, Doktor, aber genauso war es. Wir hüllten Mareta in meinen Lammfellmantel, legten sie auf den Rücksitz neben Lois und fuhren so schnell wie möglich weiter. Sie können sich vor‐ stellen, daß wir es nach diesen Vorfällen eilig hat‐ ten, die Klinik zu erreichen.« Frantzius stützte einen Ellbogen auf den Schreib‐ tisch und legte sein Kinn in die Hand. »Keine wei‐ teren Katzen?« »Doch. Noch einmal die kleine schwarze Katze«, sagte Jeremy schnell. »Sie lief neben Mareta her. Einen Augenblick war sie noch da, dann nicht mehr ...« Frantzius seufzte. »Also eine Katze, die sich un‐ sichtbar machen kann.« Jetzt mischte ich mich wieder ein. »Was immer Sie davon halten mögen, Doktor, so und nicht anders ist es passiert. Vielleicht sind wir in Ihren Augen Verrückte, aber...« »Keineswegs, Mr. Donnen«, beeilte sich Frantzius zu versichern. Er lehnte sich wieder in seinen Ses‐ sel zurück und starrte auf die blankpolierte Schreibtischplatte. Plötzlich deutete er auf eine schön verzierte Holzdose. »Wenn einer von Ihnen noch eine Zigarette rauchen möchte, wäre jetzt der 28
richtige Zeitpunkt. Ich verbiete meinen Patienten während der Kur grundsätzlich das Rauchen.« Ich nahm eine Zigarette aus meiner eigenen Pa‐ ckung. »Was halten Sie von der ganzen Angele‐ genheit, Doktor?« »Zu meiner Tätigkeit hier gehört auch die Behand‐ lung von Rauschgiftsüchtigen«, sagte er gleichmü‐ tig. »Ich will Ihnen nicht verhehlen, daß ich zuerst den Eindruck hatte, daß Sie alle vier gerade von einem Trip zurückgekommen waren. Wir haben schon viele Patienten aus der Welt des Theaters hier gehabt, die deswegen bei uns Hilfe suchten. Aus diesem Grunde und auch wegen des Zustan‐ des der beiden Damen habe ich in der Zwischen‐ zeit Ihr Auto durchsuchen lassen. Ich wollte si‐ chergehen, daß Sie nicht Drogen versteckt hatten, um sie während Ihres Aufenthaltes hier zu kon‐ sumieren. Zu meiner Befriedigung konnte ich aber feststellen, daß mein Pfleger Georges nichts fand.« »Das war sehr freundlich von ihm«, sagte Jeremy säuerlich. »Allerdings ist ihm auch sonst nichts Außerge‐ wöhnliches aufgefallen«, fuhr Frantzius fort. »We‐ der ein Dreizack, noch eine Kette aus Knochen.«
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»Ich habe das verdammte Ding persönlich ver‐ staut«, sagte ich und ließ Asche in einen Silber‐ aschenbecher auf seinen Schreibtisch fallen. »Und ich habe zugeschaut, wie Jeremy die Kette in das Handschuhfach legte.« »Nichts Derartiges wurde in Ihrem Auto gefun‐ den«, erwiderte der Arzt. »Es tut mir leid, Mr. Donnen, aber so stehen die Dinge.« »Und welche Folgerung ziehen Sie daraus?« fragte Jeremy. »Drogen, vor allem im Übermaß eingenommen, bewirken in vielen Fällen Halluzinationen. Dabei ist es ohne weiteres möglich, daß ein davon Ab‐ hängiger kleine Tiere wie Katzen und Hunde se‐ hen kann. Wobei ich keinesfalls mit Sicherheit be‐ haupten möchte, daß ich das von Ihnen glaube. Bevor wir aber mit der Behandlung anfangen, müssen wir sicherstellen, daß Sie sich körperlich in guter Verfassung befinden. Ich schlage deshalb vor, daß Sie jetzt Schlafengehen und morgen eine gründliche Untersuchung über sich ergehen las‐ sen. Bis dahin können wir auch hoffen, daß die jungen Damen wieder in die Welt der Realität zu‐ rückgekehrt sind.« Ich stützte mich mit beiden Händen auf die Schreibtischplatte, beugte mich vor und starrte in 30
sein ausdrucksloses Gesicht. »Mit anderen Worten wollen Sie uns andeuten, daß Sie uns alle vier für süchtig halten. Ist es nicht so? Sie sind nach wie vor der Meinung, daß wir gerade einen Trip hinter uns haben.« Frantzius erhob sich. »Das ist eine Tatsache, die wir erst morgen früh mit völliger Sicherheit klären können. Kaffee und Salat wird Ihnen in den Zim‐ mern serviert.« In seinen schwarzen Augen stand eine Frage, die wir nicht beantworten konnten. »Und jetzt meine Herren, wünsche ich Ihnen eine gute und erholsame Nacht in der Klinik Sante«, verabschiedete er sich. Mein Zimmer befand sich am äußersten Ende der ersten Etage direkt unter einem der hohen, schlan‐ ken Türme und hatte deshalb eine gewölbte Au‐ ßenwand. Die Decke war sehr hoch und stuckver‐ ziert. An den bis zur halben Höhe eichengetäfelten Wänden streckten sich wie Baumstämme ausse‐ hende Stützen nach oben, deren Kronen in die Or‐ namente der Decke übergingen. Eine Wand nahm ein vierpfostiges, breites Him‐ melbett ein, das an den beiden Enden Kopf‐ und Fußstützen hatte. Die grüne Samtdecke und die 31
Draperien paßten in Farbe und Material zu den schweren Vorhängen vor dem Fenster. Der Raum wurde durch drei elegante Stehlampen erhellt, ei‐ ne Deckenbeleuchtung fehlte. Neben dem Bett war noch eine kleine Leselampe angebracht, eine wei‐ tere stand auf dem Schreibtisch, der gegen eine In‐ nenwand gerückt war. Auf dem dunkelbraunen, glänzend polierten Holzboden lagen dicke Teppi‐ che. Der Rest des Mobiliars bestand aus einem Ses‐ sel mit hoher Lehne, einem tieferen Sessel, zwei Hockern und einem Tisch. Die Wand neben der Tür wurde von einem großen Kleiderschrank aus Nußbaumholz eingenommen, der zu dem schwe‐ ren Schreibtisch paßte. Auf dem Tisch stand ein Tablett mit meinem Abendessen: eine kleine Kanne Kaffee, eine Schale mit ein paar Salatblättern, eine zerschnittene To‐ mate und eine einsame saure Gurke. Ich schenkte eine Tasse Kaffee ein und zündete mir eine Zigarette an. Zwischen den Zügen aß ich den Salat und die Gurke. Dann setzte ich mich in den Lehnsessel und beschäftigte mich mit der Tomate. Während ich noch Kaffee trank, öffnete sich die Tür, und Jeremy trat ein. Mißmutig musterte er meinen leeren Teller. »Du hast wirklich alles auf‐ 32
gegessen. Ich hatte schon die Hoffnung, du hättest wenigstens die Gurke aufgespart.« »Nimm dir einen Stuhl«, sagte ich. »Ich muß mit dir reden.« Statt dessen warf er sich auf das Bett und ver‐ schränkte die Hände hinter dem Kopf. »Das hat wenig Sinn. Ich kann im Moment nur an eines denken, an ein richtiges, dickes Steak, aus dem der Saft herausläuft...« »Wir sind hier, um wieder in Form zu kommen! Wie der gute Doktor Frantzius sagt...« »Laß mich mit dem in Ruhe«, erwiderte Jeremy. »Sein Gerede über die Mädchen, Trips und mein Gesicht gehen mir auf die Nerven. Er hat kein Wort von dem geglaubt, was wir gesagt haben. Und mit Sicherheit hat er die Geschichte von der Katze für ein Hirngespinst gehalten.« Er stemmte sich auf die Ellbogen hoch und sah zu mir herüber. »Ich bin völlig durcheinander. Wäre es nicht mög‐ lich, daß uns jemand heimlich LSD verpaßt hat?« »Darüber habe ich mir auch schon den Kopf zer‐ brochen«, sagte ich nachdenklich. »Andererseits wissen wir beide, daß die kleine schwarze Katze existiert. Wir haben sie schließlich mit eigenen Au‐ gen gesehen. Was deine Verletzungen betrifft, so 33
glaube ich immer noch, daß sie dir von einer Wildkatze oder einem Luchs beigebracht worden sind. Mit den Mädchen ist es freilich eine andere Geschichte. Sie standen ganz offensichtlich unter dem Einfluß von Drogen. Könnte es nicht möglich sein, daß Mareta während unserer Abwesenheit erwacht und auf Lois losgegangen ist? Dann ließ sie sie am Straßenrand liegen...« » ... zog sich aus, fand zufällig einen Dreizack, be‐ mächtigte sich eines menschlichen Ohres und dek‐ lamierte diese merkwürdigen ägyptischen Din‐ ge...« Jeremy schüttelte den Kopf. »Nichts davon ergibt einen Sinn, und das weißt du auch, Myles.« »Nein, so habe ich das nicht gemeint. Hör mir mal eine Minute zu, Jeremy. Ich könnte mir nur vor‐ stellen, daß Mareta auf Lois losgegangen ist. Wei‐ ter gehe ich nicht. Die Gegenstände muß ihr je‐ mand gegeben haben. Aber das würde bedeuten, daß der Betreffende einen Grund hatte ...« Es klopfte leise an die Tür. Bevor ich noch antwor‐ ten konnte, öffnete sie sich und eine Frau trat ins Zimmer. Sie wirkte ungefähr wie dreißig, aber das konnte auch an dem gedämpften Licht liegen. Ihre Haut war olivfarben getönt. Sie hatte große, dunk‐ le Augen und einen schöngeschwungenen Mund. 34
Ihr braunes Haar war am Hinterkopf mit einer großen schwarzen Samtschleife zu einem Pferde‐ schwanz zusammengebunden. Sie trug eine hoch‐ geschlossene weiße Uniform mit bis über die Ell‐ bogen aufgekrempelten Ärmeln. »Dr. Frantzius dachte sich schon, daß ich Sie zu‐ sammen finden würde.« Ihre Stimme klang tief und melodisch. Ihr deutscher Akzent war unüber‐ hörbar. »Ich bin Schwester Angela Puchert. Unter der Oberleitung von Dr. Frantzius bin ich für Ihre Behandlung in der Klinik zuständig.« Sie reichte jedem von uns ein Schälchen mit drei runden, grünen Pillen. »Nehmen Sie diese und ge‐ hen Sie dann gleich schlafen.« Jeremy schluckte die Dinger ohne Wasser herunter und gab ihr die kleine Schale zurück. »Wie geht es den beiden Mädchen, Schwester?« fragte er. Sie sah ihn mit ihren dunklen Augen nachdenklich an. »Sie schlafen jetzt. Die Wirkung des Mittels, das sie eingenommen haben, hat offensichtlich nachgelassen. Morgen dürften sie wieder auf den Beinen sein.« Sie füllte aus einer auf meinem Nachttisch stehenden Karaffe ein Glas mit Wasser. »Und jetzt Sie, Mr. Donnen.«
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Gehorsam schluckte ich die Pillen herunter und spülte mit Wasser nach. »Was haben sie genom‐ men, Schwester?« Sie runzelte die Stirn. »Wissen Sie das denn nicht?« Ich gab ihr das Glas zurück. »Nicht die leiseste Ahnung, Schwester.« »Dr. Frantzius meint, vielleicht eine Verdünnung von Roggenschwamm.« »Ist das nicht die Basis für LSD ?« »Im landläufigen Sinne ja.« »Hören Sie, Schwester, wenn der Doktor auch der Meinung ist, Mareta und Lois wären auf einem Trip gewesen. Ich sage Ihnen, das ist unmöglich.« Schwester Angela Puchert, die schon auf die Tür zugegangen war, blieb stehen. »Nichts ist unmög‐ lich, Mr. Donnen. Ihre beiden Freundinnen sind sehr nervös, man könnte sie als high bezeichnen.« Sie lächelte. »Ich würde mir an Ihrer Stelle keine unnützen Gedanken machen. Wir sind hier in der Klinik an die Behandlung von Süchtigen ge‐ wöhnt.« Jetzt sah sie uns beide an. »Gute Nacht, meine Herren, schlafen Sie gut. Morgen werden wir mit der Behandlung beginnen.« Nach einem scharfen Blick in meine Richtung fuhr sie fort. »Sie sollten hier nicht rauchen, Mr. Donnen.« Die Tür 36
schloß sich leise hinter ihr. Jeremy setzte sich auf und schwang die Beine vom Bett. »Die Frau ist verrückt. Ich glaube einfach nicht, daß Lois und Mareta Rauschgift genommen haben. Das haben sie bisher doch noch nie getan!« »Wissen wir nicht«, unterbrach ich ihn. »Wenn wir es nicht wissen, wer dann?« fragte er. Ich lehnte mich in meinen Sessel und schlug die Beine übereinander. »Weiß ich denn alles von dir oder du von mir?« »Ich kenne dich gut genug, Myles, und umgekehrt ist es dasselbe.« »Das ist aber nicht alles«, versicherte ich. »Ich könnte durchaus ein Anhänger der fröhlichen Bruderschaft sein, ganz im geheimen natürlich. Du weißt nicht, ob ich das nicht bin, oder?« Jeremy saß jetzt auf der Bettkante und lachte. »Ich kann dir nur auf Treu und Glauben abnehmen, daß ich nicht alles von dir weiß. Andererseits bin ich ziemlich sicher, daß du nicht dazugehörst. Du bist nämlich ein ziemlich gradliniger und leicht zu durchschauender Mensch, Myles.« Ich drückte meine Zigarettenkippe aus und angelte nach einem neuen Glimmstengel aus der Packung. »Jeder von uns, und damit meine ich wirklich je‐ 37
den, hat Geheimnisse vor der Allgemeinheit, die er zu verbergen sucht. Und deshalb könnte durchaus der Fall sein, daß Mareta und Lois Drogen neh‐ men, ohne daß wir davon wissen.« »Glaubst du das wirklich?« fragte Jeremy seuf‐ zend. »Ich stelle lediglich fest, daß ich es für möglich hal‐ te.« »Und wie erklärst du dir dann alles übrige wie den Dreizack, das menschliche Ohr, die kleine schwar‐ ze Katze und die Kratzwunden in meinem Ge‐ sicht?« »Das weiß ich doch auch nicht.« Nach einem tiefen Zug an meiner Zigarette fuhr ich fort: »Aber eini‐ ges ergibt doch einen Sinn, wenn man es recht be‐ denkt. Die Mädchen können zum Beispiel gewalt‐ tätig geworden sein, als sie aufwachten. Immerhin haben sie seit Bordeaux ungewöhnlich lange ge‐ schlafen. Was allerdings die anderen Dinge an‐ geht, darauf kann ich mir auch keinen Reim ma‐ chen.« Jeremy erhob sich langsam von meinem Bett. »Ich will dir mal was sagen, Myles. Ich bin todmüde. Vielleicht liegt das an der französischen Luft oder an der Aufregung, ich weiß es nicht. Jedenfalls bin 38
ich am Umfallen. Zum Teufel mit den Geheimnis‐ sen, wir werden sie heute doch nicht mehr lösen.« Er ging zur Tür, wandte sich noch einmal um und schwenkte den Arm. »Gute Nacht, mein Freund. Ich wünsche dir einen tiefen, erholsamen Schlaf und angenehme Träume.« Plötzlich runzelte er die Stirn. »Hast du eine Ah‐ nung, wann hier der Tag anfängt?« »Wenn Schwester Angela Puchert zu bestimmen hat, vermutlich beim ersten Hahnenschrei.« Jeremy öffnete die Tür. »Da mache ich nicht mit.« Ich sah ihm nach, hob noch einmal die Zigarette an die Lippen und wurde mir plötzlich ebenfalls mei‐ ner völligen Erschöpfung bewußt. Meine Arme waren bleischwer, mein Körper fiel förmlich in sich zusammen, und es bedeutete die größte Ans‐ trengung, überhaupt aufzustehen. Ich ließ die Kippe in die Kaffeetasse fallen und griff nach mei‐ nem Schlafanzug. Das letzte, was ich hörte, war eine Reihe scharfer Akkorde wie von einer elektrischen Harfe, ab‐ wechselnd anschwellend und dann wieder leiser werdend. Die Welt stellte sich auf den Kopf. Ich fiel mit dem Gesicht nach unten auf das Bett.
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Das Zimmer war fast dunkel. Ich konnte keine Einzelheiten der Wände, der Decke oder des Fuß‐ bodens erkennen. Selbst das Bett schien sich ver‐ ändert zu haben. Die vier Pfosten, die Kopf‐ und Fußstützen waren verschwunden, ebenso wie die grünen Samtdraperien. Ein einzelnes Licht schim‐ merte irgendwo über meinem Kopf und war als dünner, kalter Strahl direkt auf mein Gesicht ge‐ richtet. Ich konnte den Kopf nicht drehen, weder Arme noch Beine bewegen und auch meinen Kör‐ per nicht erheben, plötzlich tauchte aus dem Nichts ein Mädchen auf, groß und schlank und mit langen schwarzen Haaren, die in weichen Wellen auf ihre Schultern fielen. Ihr Gesicht lag teilweise im Schatten, so daß ich nur die blauen Augen und ihre feuchten, halb geöffneten Lippen deutlich er‐ kennen konnte. Als ich ihr entgegendrängte, war nichts mehr da, nur säuerlicher, schaler Atem, der langsam zu einem durchdringenden Gestank nach verdorbenem Fleisch wurde. Und da sah ich das Mädchen wieder, doch schien es nicht mehr dasselbe zu sein. Die schwarzen Haarwellen, die nackten Schultern und die blauen Augen hatten sich verwandelt. Ich starrte entsetzt auf einen großen Mund fast ohne Zähne, um‐ 40
schlossen von grauem, faltigem Fleisch, Die mir entgegengestreckten Arme waren jetzt dünn und verrunzelt. Die krallenartigen Finger wuchsen aus skelettartigen Handflächen heraus. Und wieder nichts außer dem Bett, das keines mehr war. Dazu die Dunkelheit und der bleistift‐ dünne Lichtstrahl. Ich schloß die Augen. Der Ge‐ stank war verschwunden. Das Licht schimmerte rötlich durch meine Augenlider. Wenn ich die Au‐ gen öffnete, war es weiß, schloß ich sie, wurde es rosa. Als ich nach geraumer Zeit die Augen aufmachte, sah ich plötzlich die Katze. Klein, schwarz und langhaarig sah sie mich mit großen, grüngelben und unergründlichen Augen an. Meine Lider fie‐ len zu, das Licht wurde wieder rosa. Gleich darauf erschien das Mädchen in seiner ers‐ ten Gestalt. Sie hatte wieder blaue Augen, schwar‐ zes Haar und rote, feuchte Lippen. Auch die Hän‐ de waren nicht mehr skelettartig. Der Atem war süß und rein, nichts war mehr von dem üblen Ge‐ stank zu spüren. Ich schloß die Augen, und das Licht wurde rosa. Dann war da gar nichts mehr, nur noch die Nacht. »Guten Morgen, Mr. Donnen, es ist Zeit 41
zum Aufstehen«, weckte mich eine fröhliche Stimme. Zugleich wurden die Vorhänge zurück‐ gezogen, und die Sonnenstrahlen schienen mir di‐ rekt ins Gesicht. Ich bemühte mich die Augen zu öffnen und hob mich auf die Ellbogen. »Ihr Frühstück steht auf dem Tisch.« Das Mäd‐ chen, das neben meinem Bett stand, war groß und etwas üppig, mit kurzgeschnittenem blondem Haar, blauen Augen und einem breiten, gesunden Gesicht. »Haben Sie gut geschlafen?« »Ja – nein – ich glaube schon.« Mein Kopf war noch nicht wieder ganz klar. »Ich hatte einen merkwürdigen Traum.« Die Sonne machte mich blinzeln, als ich mir das Mädchen jetzt genauer an‐ sehen wollte. Sie trug einen grünen Trainingsan‐ zug und Segeltuchschuhe mit Kreppsohlen. »Ich hatte einen bösen Traum«, wiederholte ich. Das Mädchen lächelte und deutete auf den Sessel. »Ihr Trainingsanzug liegt dort. Halten Sie sich nicht erst mit Waschen oder Rasieren auf. Wir be‐ ginnen den Tag mit einem leichten Dauerlauf. Es‐ sen Sie jetzt schnell Ihr Frühstück und kommen Sie in einer Viertelstunde auf den Hof.« »Was gibt es zum Frühstück? Eine Backpflaume?«
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Sie stand schon in der offenen Tür. »Den Saft da‐ von, Mr. Donnen, und dazu Ihre Weizenkeime.« Als sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, schwang ich die Beine aus dem Bett. Mein Schlaf‐ anzugoberteil lag auf einem Hocker, ich trug nur die Hosen. Obwohl ich krampfhaft versuchte, mich ans Ausziehen zu erinnern, hörte ich in Gedanken immer nur die Akkorde einer elektrischen Harfe. Ich trank den Pflaumensaft und entschloß mich, die Weizenkeime zu vergessen. Als ich gerade ge‐ lbe Shorts und das Oberteil eines roten Trainings‐ anzuges angezogen hatte, öffnete sich die Tür und Jeremy trat ein. Ich brummte ihn übellaunig an. »Mach die Tür hinter dir zu. Wie hast du geschlafen?« »Wie ein Toter. Ich war völlig weggetreten. Von dem Augenblick, als ich ins Bett fiel, bis gerade eben, als mich die blonde Puppe mit dem üppigen Busen weckte, um mir mein opulentes Frühstück zu bringen, kann ich mich an nichts erinnern.« Ich zog die zur Jacke passende rote Hose an und zwängte meine Füße in die Segeltuchschuhe. »Hast du keine bösen Träume gehabt?« »Warum sollte ich?« fragte er erstaunt. »Wie ich schon sagte, war ich ...« 43
»... völlig weggetreten, ja ich weiß.« Ich warf mich in einen Sessel. »Du hattest also keine schweren Glieder und fühltest dich nicht wie betäubt?« Er setzte sich auf die Bettkante und sah mich neu‐ gierig an. »Was ist eigentlich los mit dir? Du siehst so komisch aus. Was soll dein Gerede über Träu‐ me?« Ich seufzte. »Lieber Himmel, ich habe mich doch nur erkundigt, ob du eine gute oder schlechte Nacht verbracht hast.« »Hätte gar nicht besser sein können«, versicherte Jeremy. »Vielleicht liegt das an der Luft hier oder an den Pillen, die uns Schwester Angela einget‐ richtert hat. Hast du übrigens vorhin die blonde Puppe nach den beiden Mädchen gefragt?« »Nein, du?« »Ich habe es vergessen.« Er betastete mit den Fin‐ gern seine Kratzwunden. »Wie sieht mein Gesicht aus?« »Du könntest ohne weiteres das Phantom in der Opfer spielen. Wenn eine Rolle allerdings gutes Aussehen verlangt, kann ich für nichts garantie‐ ren.« »Du Schuft!« Er stand vom Bett auf und begab sich vor den dreiteiligen Spiegel auf dem Frisiertisch. 44
»Sieht gar nicht mehr so schlimm aus«, sagte er be‐ friedigt. »Der alte Frantzius versteht offenbar sein Geschäft. Das Zeug, das er mir drauf geschmiert hat, hat die Wunden vollkommen geschlossen.« Er wandte sich um und sah mich nachdenklich an. »Hast du denn eine so schlechte Nacht verbracht, Myles, oder was ist mit dir los?« Ich versuchte mir darüber klarzuwerden, sah aber nur ein wirres Durcheinander und ein Mädchen mit langen, dunklen Haaren. »Ich muß einen Alp‐ traum gehabt haben«, erwiderte ich. »Komischer‐ weise kann ich mich aber nicht mehr daran erin‐ nern. Ich weiß nur, daß ich eine gräßliche Nacht hinter mir habe.« »So geht es einem nach Alpträumen meistens. Sie hinterlassen ein unbehagliches Gefühl.« Er ging zur Tür. »Ich glaube, wir verschwinden jetzt lieber, sonst kommt die Puppe und holt uns eigenhän‐ dig.« Wir gingen die breite Treppe hinunter, die in den Hof führte. Unten warteten etwa zwanzig Perso‐ nen, die meisten Männer und Frauen mittleren Al‐ ters, die jeweils einige Kilo Übergewicht hatten. Der eine oder andere warf uns einen flüchtigen Blick zu, die meisten ignorierten uns. 45
Mir wurde plötzlich fast übel vor Hunger. »Ich wünschte, ich hätte dieses Weizenzeug gegessen«, murmelte ich. Jeremy zog die Unterlippe zwischen die Zähne. »Es schmeckt nicht so schlimm, wie es aussieht, und nimmt einem das Hungergefühl...« »Das weiß ich«, sagte ich ungeduldig. »Deshalb ja meine Bemerkung. Ich hätte jetzt Verwendung für eine große Platte Schinken mit Ei, Toast und Kaf‐ fee...« »Sie sind gestern abend erst angekommen?« Ein großer, dünner Mann mit schwarzen Augenbrau‐ en, der ein wenig mumienhaft aussah, hatte sich uns unbemerkt genähert. Er erinnerte mich lebhaft an eine Figur aus Oliver Twist. »Das ist am Anfang immer so, müssen Sie wissen. Während der ersten Tage kann man an nichts anderes denken als ans Essen. Das gibt sich aber. Mein Name ist Schultz«, stellte er sich vor. »Ich komme zweimal im Jahr für eine Generalüberholung her.« Er strich sich mit der Hand über den flachen Bauch. »Die Diät brauche ich nicht, wie Sie ja selbst sehen können.« In diesem Augenblick erschien das blonde Mäd‐ chen oben auf der Treppe. Sie hatte eine Pfeife an einer Schnur um den Hals hängen und stieß jetzt 46
einen kurzen Pfiff aus. »Vorwärts, meine Damen und Herren! Unseren üblichen Weg. Jeder in dem Tempo, das ihm am besten bekommt.« Die Gesellschaft setzte sich in Richtung auf eine Gruppe Nadelbäume in Bewegung. Wir verließen den Hof, überquerten eine große Wiese und liefen dann einen schmalen Pfad unter Bäumen entlang. Es ging mitten durch das nasse Unterholz. »Laß die anderen ruhig vor«, sagte ich zu Jeremy. »Ich glaube, ich kann diese Diät, geschweige denn alles übrige nicht lange ertragen ...« »Kommen Sie, Mr. Donnen!« Das blonde Mädchen tauchte plötzlich neben uns auf. Sie sollten vorn sein. Die meisten sind mindestens doppelt so alt wie Sie.« »Ich fühle mich niemals wohl an der Spitze«, sagte ich ein wenig schnippisch und sah ihr nach, wie sie sich nach einiger Zeit zwischen den laufenden Ge‐ stalten verlor. Jetzt verlangsamte ich meine Schritte noch mehr, und Jeremy paßte sich meinem Tempo an. Nach einiger Zeit holte ich eine Zigarette aus der Tasche und zündete sie mit einem kleinen italienischen Wachsstreichholz an. Die Laufenden waren mitt‐ lerweile zwischen den Bäumen verschwunden. 47
»Dr. Frantzius hat das Rauchen verboten«, stellte Jeremy fest. »Zur Hölle mit ihm«, erwiderte ich wütend. »Reg dich nicht auf«, sagte Jeremy. »Mir ist völlig klar, daß es meine Idee war, hierher zu kommen. Und weißt du was, Myles?« »Du wünschtest bereits, du hättest es nicht getan«, antwortete ich. Nach einigen tiefen Zügen an mei‐ ner Zigarette beruhigte ich mich langsam. »Wenn man es recht bedenkt, war es vielleicht doch keine so schlechte Idee. Wir haben eine Erholung drin‐ gend nötig – außerdem können wir sie uns leis‐ ten.« »Wenn ich nur dieses blonde Biest nach den Mäd‐ chen gefragt hätte. Ich fühlte mich ausgesprochen schuldbewußt. Mir war völlig entfallen, daß sie krank sind«, sagte Jeremy nach einer Weile. »Der Arzt hielt sie für berauscht und uns für eine üble Bande von Theaterleuten, die nichts anderes im Sinn haben, als seine Klinik auf den Kopf zu stellen. Er hat nicht ein Wort von dem Dreizack und den anderen Dingen geglaubt. Seiner Mei‐ nung nach waren wir high, nur daß die Mädchen noch zusätzlich krank geworden sind.«
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»Merkwürdig – die Geschichte mit dem Dreizack. Ich war der festen Überzeugung, ich hätte ihn in den Wagen gelegt.« Er sah mich fragend an. »Oder hast du es vielleicht getan?« »Ich dachte du, aber vielleicht bin ich es auch selbst gewesen.« »Weißt du es denn nicht mehr?« »Nein, zum Teufel. Und hör endlich auf, dir darü‐ ber den Kopf zu zerbrechen.« »Was ist denn das?« fragte er und deutete zwi‐ schen die Bäume. »Sieht wie eine Kapelle aus.« Ein Stück vom Weg entfernt lag ein langes, niedri‐ ges Gebäude, fast verdeckt von den eng stehenden Tannen und dem dichten Unterholz. Am hinteren Ende konnte man einen niederen Turm erkennen. Ich kämpfte mich bereits durch das Gebüsch. »Das wollen wir uns mal von der Nähe ansehen. Viel‐ leicht kann man sich dort irgendwo hinsetzen, ich bin völlig erschöpft.« »Für was hältst du das, Myles?« »Wie du richtig gesagt hast, für eine Kapelle. In diesem Teil Frankreichs stehen sie an jeder Ecke. Das meiste Land hier gehörte früher zu großen Be‐ sitztümern.«
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Jeremy mühte sich neben mir durch das Gebüsch. »Diese Zweige scheinen wie aus Stacheldraht ge‐ macht«, keuchte er. »Meine Kondition ist offenbar noch schlechter als ich dachte.« »Wir benutzen vermutlich nicht den üblichen Weg. Sicher war da vorn irgendwo eine Abzweigung.« Die Blätter an den Büschen ringsum zeigten keine Spur von Goldgelb, nur dumpfes, totes Braun. Der säuerlichmodrige Geruch des verrotteten Unterg‐ rundes stieg uns in die Nase. Alles machte einen bedrückenden Eindruck. Als wir schließlich die Lichtung mit der Kapelle erreicht hatten, atmeten wir beide schwer vor Ans‐ trengung. Ich fühlte, wie sich mein Körper unter dem Trainingsanzug mit kaltem Schweiß bedeckt hatte. Jeremy rieb sich mit einem Ärmel das Gesicht tro‐ cken. »Wir hatten recht, es ist wirklich eine Kapel‐ le. Sie scheint aber schon seit langem nicht mehr benutzt worden zu sein.« Wir traten in eine kleine Vorhalle mit zwei Stein‐ sitzen zu beiden Seiten der kreuzweise mit Metall beschlagenen Tür. Auf den großen Steinfliesen un‐ ter unseren Füßen waren Schmutzspuren zu sehen, die von einem Menschen zu stammen schienen. 50
»Da ganz offensichtlich jemand herkommt, muß das Haus wohl doch irgendeinem Zweck dienen«, sagte ich und griff nach dem eisernen Ring an der Tür. »Mal sehen, ob wir hineinkommen.« Die Tür gab nach und schwang auf wohlgeölten Angeln geräuschlos nach innen. In dem Gebäude war es vollständig dunkel. Ich suchte nach einem Lichtschalter und fand gleich vier ganz moderne, einer über dem anderen. Als ich versuchsweise den obersten betätigte, wurde der große Raum von oben aus vier Kuppeln beleuchtet. Neben mir zog Jeremy hörbar den Atem ein. »Was hat das zu be‐ deuten?« »Ich nehme an, daß man hier früher den Gottes‐ dienst abgehalten hat. Wozu man das Gebäude heute benutzt, entzieht sich meiner Kenntnis.« Von innen wirkte der Raum riesig. Man hatte alle religiösen Gegenstände und das Mobiliar entfernt und die schmalen, hohen Fenster mit Brettern ver‐ nagelt. Der hintere Teil war durch ein hohes, eiser‐ nes Gitter abgetrennt, das bis hinauf in die Kuppel reichte. Auf dem steinernen Fußboden standen Scheinwerfer auf dreibeinigen Ständern, die aus einem Fotoatelier hätten stammen können, hier aber völlig deplaciert wirkten. Auch im Innern 51
bemerkte ich auf den Steinfliesen Schmutzspuren, einige schon trocken, andere ganz frisch und noch feucht. An der gegenüberliegenden Wand stapel‐ ten sich bis zur Decke große weiße Säcke, wie sie in der Landwirtschaft Verwendung finden. In der Mitte des Raumes lagen ein paar Taurollen, von denen einige noch ganz neu, andere aber schon ziemlich gebraucht wirkten. Sonst war der Raum leer, bis auf ein paar Zweiliter‐Benzinkanister und Zwanzigliter‐Öltonnen. Jeremy legte mir plötzlich die Hand auf den Arm. »Myles, der Geruch! Erinnerst du dich, was ich dir erzählt habe?« »Nach verdorbenem Fleisch! Du hast recht, genau wie auf der Straße.« Hinter dem eisernen Gitter ertönte ein wildes Knurren, einmal, und dann noch einmal. Es be‐ gann tief, schwoll langsam an und verstummte dann abrupt. »Dasselbe Geräusch habe ich gehört, bevor ich auf der Straße angegriffen wurde«, flüsterte Jeremy und umklammerte meinen Arm. »Ich sage dir, My‐ les, es ist dasselbe Geräusch.« »Okay, ich habe dich verstanden.« Ich befreite mich aus seinem Griff. »Und ich habe es auch ge‐ 52
hört, es kam vom Gitter. Laß uns nachsehen. Ver‐ mutlich hat sich da ein Luchs oder eine Wildkatze verkrochen.« Aber es war kein Tier. Die Gestalt, die da aus dem Schatten nach vorn schlingerte und bei jedem Schritt schwankte, war kein Tier, sondern ein men‐ schliches Wesen. Als wir uns jetzt langsam und vorsichtig dem Git‐ ter näherten, blieb es stehen und sah uns mit sei‐ nen blauen Augen durchdringend an. Mich packte bei dem Anblick das blanke Entsetzen. Ich wollte weg von diesem Ort, und zwar sofort! Weg von diesen blauen Augen, dem Gestank und der gro‐ tesken Gestalt, die vor uns kauerte. Weg und hi‐ naus in die klare, frische Herbstluft. Jeremy umklammerte wieder meinen Arm. »Ein Mensch, Myles, eine Mißgeburt.« »Ein Zwerg«, verbesserte ich, »und auch nur gera‐ de eben menschlich.« Ich schüttelte Jeremys Hand ab und trat einen Schritt näher an das Gitter heran. Das Geschöpf auf der anderen Seite starrte mich an. Seine Augen bewegten sich ununterbrochen. »Er ist ein Zwerg«, wiederholte ich. Der Kopf war fast von normaler Größe, aber wie eine Birne geformt. Über den abstehenden Ohren 53
war die Hirnschale sehr groß und wurde von ei‐ nem Schopf wirrer Haare bedeckt, die bis zu den nackten, mißgebildeten Schultern reichten. Unter den blauen Augen stand eine flache Nase mit höh‐ lenartigen Nüstern über einem dicken, feuchten Mund. Und aus diesem Mund drang zusammen mit dem Aasgeruch das gefährliche Knurren einer Raubkat‐ ze. Plötzlich schob sich ein Arm durch die Gitter‐ stäbe, der vom Handgelenk bis zur Schulter gleich dick war, und versuchte mit der Klaue mein Ge‐ sicht zu erreichen. Als ich erschrocken zurückfuhr, deutete Jeremy auf die Hand. »Myles, schau dir die Finger an.« Die dicken, gefurchten Nägel an jedem Finger, auch am Daumen, wuchsen zu einer Spitze zu‐ sammen. Das war keine normale Hand, sondern eine fleischige Masse mit Krallen, die so aussahen, als ob sie ohne weiteres verstümmeln, ja sogar tö‐ ten konnten. »Dieses Geschöpf hat gestern abend mein Gesicht so übel zugerichtet«, flüsterte Jeremy. »Es kann nicht anders sein.« Der Zwerg knurrte und zog sich auf seinen kur‐ zen, dicken Beinen, die unter der Last seines miß‐ 54
gebildeten Körpers gekrümmt waren, wieder in den Schatten zurück. Die Füße waren merkwürdig flach und die Zehen nach unten gekrümmt wie bei einem Menschenaffen. Ich wirbelte Jeremy an den Schultern herum. »Komm schnell hier weg. Das langt mir auf nüch‐ ternen Magen.« Ich sah noch einmal durch das Git‐ ter. Der in die Fetzen eines Flanellhemdes geklei‐ dete Zwerg kauerte im Schatten und beobachtete uns. Mit schnellen Schritten ging ich zum Aus‐ gang, machte das Licht aus und schlug die Tür hinter mir zu. Draußen empfing uns das kalte Sonnenlicht eines Oktobermorgens. Vor uns lag ein schmaler Pfad, der zwischen den Bäumen in Richtung Klinik zu führen schien. »Laß uns hier gehen«, schlug ich vor. »Ich glaube nicht, daß ich das verdammte Buschwerk noch einmal durchqueren möchte.« Wir wanderten schweigend dahin, jeder mit seinen unerfreulichen Gedanken beschäftigt. Plötzlich standen wir vor einer kleinen Brücke. Auf der an‐ deren Seite lag eine große Wiese und dahinter in der herbstlichen Sonne in all ihrer dunklen Schön‐ heit und Größe die Klinik Sante. Zu unserer Rech‐ ten bewegte sich in ziemlicher Entfernung, geführt 55
von dem Mädchen im grünen Trainingsanzug, die Schlange der übergewichtigen Läufer. »Am besten lassen wir sie ein Stück vor und schließen uns dann an«, sagte ich. »So kann uns niemand unangenehme Fragen stellen.« »Myles, was sollen wir tun?« fragte Jeremy. »Ich meine in bezug auf das Geschöpf in der Kapelle.« »Im Augenblick ist es sicher am besten, wenn wir zu niemand darüber sprechen. Vielleicht weiß Dr. Frantzius gar nichts davon.« Jeremy runzelte die Stirn. »Das kann ich nicht glauben. Wir befinden uns doch auf seinem Grund und Boden.« »Voraussetzung ist, daß die Kapelle wirklich noch zur Klinik gehört. Das wissen wir aber nicht. Wir kennen doch die Grenzen des Grundstücks nicht.« »Deiner Meinung nach sollen wir also nicht sagen, daß mich der Zwerg attackiert hat?« »Das können wir nicht mit Bestimmtheit behaup‐ ten.« »Aber die Nägel! Du hast sie doch selbst gesehen, Myles.« »Allerdings. Aber jetzt hör endlich auf, dich wie ein aufgeregt gackerndes Huhn zu benehmen.« »Und der Gestank ...« 56
»Mich interessiert nicht nur der Zwerg. Ich wüßte auch gern über die Bedeutung der Scheinwerfer und der SäckeBescheid. Leider sind wir gar nicht dazu gekommen, sie uns aus der Nähe anzuse‐ hen.« Jeremy setzte sich mit dem Rücken gegen einen Baumstamm auf den Boden und starrte mißmutig vor sich hin. »Ich weiß nicht, was plötzlich in dich gefahren ist. Mir wurde das Gesicht zerrissen ...« »Zerkratzt«, verbesserte ich milde und entnahm dem Päckchen in meiner Tasche eine Zigarette. »Warum bist du plötzlich so aus der Fassung gera‐ ten? Wir haben einen Zwerg gefunden, der halb menschlich ist...« »Einen Zwerg, der nichts mehr mit einem Men‐ schen zu tun hat, Myles«, wandte Jeremy ein. »Das glaube ich nicht«, unterbrach ich ihn und zündete mir die Zigarette an. Der Rauch machte mich schwindelig. Plötzlich war ich unendlich müde. »Nenne es, wie du willst«, sagte Jeremy. »Jeden‐ falls bin ich sicher, daß er mich auf der Landstraße überfallen hat, und deshalb will ich etwas unter‐ nehmen. Sobald ich wieder in der Klinik bin, wer‐ de ich mit Dr. Frantzius sprechen und im übrigen 57
die örtliche Polizei verständigen. Sie sollen hier Nachforschungen anstellen ...« Seine Worte schienen vom leichten Westwind weggeweht zu werden. Ich sah, daß sich seine Lippen bewegten, aber das war auch alles. Er saß direkt vor mir und sprach, trotzdem konnte ich nichts hören außer einem hohen singenden Ge‐ räusch, das offenbar aus den Bäumen hinter mir kam. Plötzlich gaben meine Beine unter mir nach. Die Knie sackten unter meinem Körper zusammen, ohne daß ich etwas dagegen tun konnte. Das pfei‐ fende Geräusch hatte eine Höhe erreicht, die mei‐ nen Ohren weh tat. Mein Blick verwirrte sich. Ich fiel wie eine Marionette auf dem Boden zusam‐ men. Mit dem Rücken lag ich an einem dünnen Baum, die Arme ausgespreizt zu beiden Seiten meines Körpers. Der Schmerz in meinen Ohren wurde unerträglich, ich konnte nichts mehr sehen. Jeremy hatte aufgehört zu existieren. Ich hätte al‐ lein in der Mitte eines riesigen leeren Raumes lie‐ gen können, in der ich weder sah noch riechen konnte. Nur das immer noch anschwellende Ge‐ räusch in meinen Ohren brannte sich langsam ei‐ nen Weg in mein Gehirn. 58
Und dann gab es nichts mehr, nur noch ein Gefühl des Fallens und eine große Leere, die die Grenzen meines Seins bedeutete. Und dann gar nichts mehr. Ich erwachte in einer mir fremden Umgebung, und meine ersten Wahrnehmungen bestanden in einer weißen Decke, kaltem, hartem Licht und dem Ge‐ ruch nach Desinfektionsmitteln. Jeremy, die herbstlichen Blätter und die kühle Herbstsonne waren verschwunden. Dafür erschien Schwester Angela Puchert langsam in meinem Blickfeld und sah mit professionellen, prüfenden Augen auf mich herunter. »Wie fühlen Sie sich, Mr. Donnen?« Offenbar befand ich mich wieder im Besitz meiner gesunden fünf Sinne; ich konnte sehen und auch hören. Die dunklen Augen waren fest auf mich gerichtet. »Verstehen Sie mich, Mr. Donnen?« Ich versuchte ein Kopfnicken. »Ja, Schwester.« »Fühlen Sie sich kräftig genug, um zu reden?« Ich spürte, daß das Leben in meine Finger, meine Zehenspitzen und meine Beine zurückgekehrt war, und bewegte mich. »Ich glaube schon.« Dann hob
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ich mich etwas mühsam auf die Ellenbogen. »Was ist mit mir passiert, Schwester?« »Bleiben Sie ganz ruhig liegen, Mr. Donnen.« Das Kopfende des Bettes hob sich unter mir, und ich hörte das Summen eines Motors. »Sie sind auf Ih‐ rem Morgenlauf zusammengebrochen. Ihr Freund, Mr. Casement, kam zur Klinik, um Hilfe zu ho‐ len.« »Wo ist Jeremy jetzt?« »Er ruht sich in seinem Zimmer aus. Nachdem man Sie hergebracht hatte, fühlte er sich ebenfalls elend und verfiel in ein Delirium, wobei er ständig von einem Zwerg und einer Kapelle unter den Bäumen phantasierte.« »Und was ist mit dem Zwerg, Schwester?« Das Bett stand jetzt so, daß ich aufrecht sitzen konnte. Die Frau mit dem olivfarbenen Teint runzelte die Stirn. »Es gibt keinen Zwerg und auch keine Ka‐ pelle, nur eine Scheune mit Geräten für die Farm. Wir ziehen das meiste Gemüse selbst, halten ein paar Milchkühe, einige Schweine und sechs Pferde für die Patienten, die reiten wollen.« Ihre Stirn glättete sich wieder. »Aber wir leisten uns keinen Zwerg, Mr. Donnen.«
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Ich sah mich in dem Raum mit den weißen Wän‐ den um. »Wo bin ich eigentlich, Schwester? Und wie spät ist es?« Angela Puchert lächelte. »Eines nach dem anderen. Sie sind in der Krankenabteilung der Klinik, und es ist fast acht Uhr abends. Sie sind seit heute mor‐ gen bewußtlos, also fast zwölf Stunden.« »Was ist denn eigentlich mit mir passiert?« »Ich sagte Ihnen schon, daß Sie während des Mor‐ genlaufes zusammengebrochen sind. Und jetzt werde ich Dr. Frantzius rufen, er möchte mit Ihnen sprechen.« »Wie geht es den beiden Mädchen, Schwester?« Miß Lois Bata ist wieder auf den Beinen und hat heute nachmittag bereits einen Spaziergang ge‐ macht. Miß di Palma liegt leider immer noch im Bett. Der Doktor hofft aber, daß sie morgen aufste‐ hen kann.« Das Reden hatte mich angestrengt. »Könnte ich ei‐ ne Zigarette haben, Schwester, oder ist das ...« »Ich werde Ihnen eine anzünden. In Ihrem Falle dürfte Dr. Frantzius nichts dagegen haben.« Ich hörte das kratzende Geräusch, mit dem ein Streichholz angemacht wurde, und dann stieg mir
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der anregende Geruch des brennenden Tabaks in die Nase. Als ich die Zigarette entgegennahm, zitterten mei‐ ne Finger. »Wäre es wohl möglich, daß Sie mir et‐ was zu essen bringen?« »Sie bekommen ein vollständiges Abendessen, so‐ bald Dr. Frantzius Sie gesehen hat. Wir müssen al‐ les tun, um Sie wieder in Form zu bringen.« Als sie das Zimmer verlassen hatte, lehnte ich mich in die Kissen zurück und rauchte in tiefen Zügen. Es gibt keinen Zwerg, hatte die Schwester gesagt, aber Jeremy und ich hatten diese groteske Mißgeburt zu Gesicht bekommen. Ich richtete mich auf und betrachtete eine Vase mit einer Orchidee, die auf einem Tischchen neben meinem Bett stand. Als ich mich vorbeugte, um die Asche in einem ebenfalls dort stehenden Aschenbecher abzustreifen, sah ich eine Katze. Sie saß auf einem Sessel am Fenster und beobachtete mich mit oran‐ gefarbenen Augen. Aber sie war nicht klein und schwarz, sondern groß und ingwerfarben, mit dunkelbraunen Streifen und einer rosigen Nase. Plötzlich sprang sie auf den Boden, kam zu mei‐ nem Bett herüber und machte einen Satz auf das Fußende. Von dort aus warf sie mir noch einen 62
Blick zu und rollte sich dann über meinen Füßen zusammen. Als ich mich etwas vorbeugen wollte, um die Kat‐ ze zu streicheln, bemerkte ich, wie schwach ich in Wirklichkeit war. Ich fiel sofort in meine Kissen zurück. Auf meiner Stirn stand der kalte Schweiß, und ein Schauer lief über meinen ganzen Körper. Einige Minuten lag ich ruhig da, betrachtete das zusammengerollte Tier und versuchte Kräfte zu sammeln. Es gab gar keinen Grund für meine Schwäche, redete ich mir ein. Ich griff wieder nach meiner Zigarette, rauchte ein paar Züge und drückte sie aus. Dann warf ich die Bettdecke zu‐ rück. Ich tat alles in Etappen. Nach ein paar Minuten Ruhe setzte ich vorsichtig die Beine auf den Boden. Der Schweiß drang durch meinen Schlafanzug. Ich klebte förmlich am ganzen Leibe. Die Katze sah mir mit zusammengezogenen Augen zu, als ob sie sagen wollte: Hundert zu eins, daß du es nicht schaffst. Ich schaffe es, dachte ich, erhob mich und machte ein paar wackelige, taumelnde Schritte in Richtung Tür. Als ich schon nach der Türklinke greifen woll‐ te, gaben die Beine ohne Vorwarnung unter mir 63
nach. Eben stand ich noch aufrecht da, im nächsten Augenblick lag ich flach auf dem gebohnerten Holzboden. Mein Kopf fühlte sich wie ein Ballon an, der jeden Moment platzen konnte. Plötzlich hörte ich, wie die Tür geöffnet wurde. Kühle Hände griffen nach meinem Körper. Obwohl ich die Stimme von Dr. Frantzius und einem anderen menschlichen Wesen hören konnte, vermochte ich kein Wort zu verste‐ hen. Ich wurde hochgehoben und durch den Raum getragen. Dann lag ich wieder in meinem Bett, und jemand zog die Decke über meinen kalten, beben‐ den Körper. Ich spürte den Stich einer Injektionsnadel über meinem Ellenbogen. Der kleine Schmerz war sehr real, und seltsamerweise freute ich mich darüber. Danach überkam mich ein Gefühl der Taubheit. Und auch das war angenehm. Es breitete sich schnell von meinem Nacken über meinen ganzen Körper aus. Ich konnte gerade noch die schwarzen Augen von Dr. Frantzius ausmachen, der auf mich heruntersah, und dahinter eine verschwommene Gestalt in weißer Uniform. Das war alles. Meine Augen schlossen sich, und es lag nicht mehr in meiner Macht, sie zu öffnen. Ich war allein. 64
Aber nicht ganz. Von allen Seiten drangen Stim‐ men auf mich ein. »Er ist ein schwieriger Mensch, unser Mr. Donnen. Einer von den renitenten.« Das war Dr. Frantzius, der da sprach, und doch war er es auch wieder nicht. Seine Stimme klang flach und tonlos. »Er hat eine außergewöhnlich starke Widerstandskraft lysergischen Drogen gegenü‐ ber«, fuhr er fort. Jemand sagte etwas, was ich nicht verstehen konn‐ te. Und dann hörte ich wieder Dr. Frantzius. »Ja, natürlich, das ist alles. Er wird jetzt einige Stunden fest schlafen. Und jetzt sollten wir uns wieder mit dem di Palma Mädchen befassen.« »Mareta! Abwehrkraft gegen lysergische Drogen! Schwieriger Mensch! Die Begriffe wirbelten in meinem Kopf herum. Der Raum wurde nur von einer Leselampe mit weinrotem Schirm, die auf einer Frisierkommode stand, erleuchtet. Meine Augen taten weh und meine Kehle war ausgetrocknet. Das Bett stand jetzt flach, und ich hatte Schwierigkeiten, mich in eine sitzende Position aufzurichten. Jemand hatte meinen Schlafanzug gewechselt und mein Körper
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fühlte sich trocken und warm an, wenn ich mich auch immer noch furchtbar schwach fühlte. Ein einziges Gefühl beherrschte mich – ich hatte unbezähmbaren Hunger. Die ingwerfarbene Katze lag nicht mehr auf meinem Bett. Als ich jetzt auf meine Armbanduhr sah, stellte ich fest, daß es we‐ nige Minuten nach drei Uhr morgens war. Im Zimmer herrschte die ungemütliche Atmosphäre der frühen Morgenstunden. Ich gähnte, schob die Bettdecke zurück und schwang vorsichtig die Beine über die Bettkante. Zu meiner Erleichterung war ich nicht mehr so schwach, wie ich gedacht hatte. Ich machte ein paar behutsame Schritte und blieb dann einige Minuten bewegungslos mitten im Zimmer stehen. Mein Trainingsanzug lag auf einem Stuhl, die Se‐ geltuchschuhe standen davor. Beides anzuziehen dauerte unverhältnismäßig lange. Als ich endlich fertig war, schwitzte ich ein wenig. Aber etwas von meiner alten Kraft schien langsam in meine Arme und Beine zurückzufließen. Nur das elende Gefühl im Magen blieb. Ich mußte end‐ lich etwas essen. Torkelnd ging ich zur Tür und öffnete sie.
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Der lange Korridor draußen wurde nur von einer einzigen Deckenlampe schwach erhellt. Ich schlich hinaus, bis ich zum Treppenhaus kam, und stieg langsam und vorsichtig Stufe für Stufe hinunter, bis ich in der Haupthalle stand. Sie lag im Halb‐ dunkel, die einzige Beleuchtung bestand aus einer elektrischen Kerze, die in einer Wandnische befes‐ tigt war. Unmittelbar neben dem Fuß der Treppe entdeckte ich eine massive Holztür. Dahinter führ‐ te wieder eine Treppe nach unten, die ebenfalls nur schwach erleuchtet war. Ich ging die Stufen mit der grimmigen Entschlossenheit eines Men‐ schen hinunter, der sich um jeden Preis etwas zu essen verschaffen wollte. Bei dem bloßen Gedan‐ ken daran lief mir das Wasser im Munde zusam‐ men. Unten angekommen bildete ich mir ein, die Lebensmittel förmlich riechen zu können. Ich tastete an der Wand nach einem Lichtschalter, bis meine Finger endlich Kontakt bekamen. Als der vor mir liegende Raum plötzlich in hellem Licht erstrahlte, mußte ich blinzeln. Die Küche der Klinik grenzte direkt an das Treppenhaus und hat‐ te die Form eines länglichen Vierecks. An einer Wand befanden sich nebeneinander drei Spülbe‐ cken und ein riesiger elektrischer Herd, die beiden 67
anderen wurden vom Boden bis zur Decke von Vorratsschränken eingenommen. An der vierten Wand standen aufgereiht mehrere Kühlschränke. Auf einem Stahltisch in der Mitte des Raumes lag wie ein weiches, pelziges Bündel die zusammen‐ gerollte ingwerfarbene Katze und schlief. Vier Kühlschränke enthielten nur frisches Obst, Gemüse, Eier und Milch. Als ich den fünften öffne‐ te, sank ich vor Dankbarkeit fast in die Knie. Er wurde offenbar dazu benutzt, um die Nahrungs‐ mittel für die Angestellten der Klinik aufzubewah‐ ren. Begeistert entdeckte ich ein dickes Brathuhn, die Überreste von kaltem Braten, Butter, Käse und ei‐ ne große Platte mit dünn geschnittenem Schinken. Als erstes riß ich einen Hühnerschenkel ab und nagte wie ein Verrückter das Fleisch von den Kno‐ chen, während ich gleichzeitig den Schinken und ein großes Stück gelber Butter aus dem Schrank nahm. Jetzt brauchte ich nur noch ein Messer, Brot und Senf. Das Brot fand ich schnell in einem Brot‐ kasten und ein Messer in einer Schublade. Als das erste Sandwich fertig war, hatte ich das Hühnerbein bereits abgenagt. Ich hätte vor Freude weinen mögen und biß gierig in mein Schinken‐ 68
brot. Der hausgeräucherte Schinken zerging mir fast auf der Zunge. In wilder Hast machte ich mir sofort noch ein zweites und drittes Brot. Die in‐ gwerfarbene Katze sah mir dabei mit schläfrigen Augen zu. Schließlich belegte ich noch ein letztes Sandwich mit vier Scheiben Schinken auf einmal. Als ich es gerade zum Munde führte, hörte ich ei‐ nen lauten Schrei wie von einem Mädchen in To‐ desangst.Während ich die Ohren spitzte, biß ich noch einmal ab. Die Katze sah mich an und begann sich zu putzen. Jetzt war nur noch das leise Singen einer elektrischen Uhr an der Wand und das Schmatzen zu hören, mit dem die Katze mit der Zunge ihr Fell bearbeitete. Ich hatte zu essen aufgehört, um besser hören zu können. Es kam nichts mehr. Auch die Katze hörte mit Putzen auf und streckte sich auf dem Tisch aus. Ich begann wieder zu kauen und schenkte mir ein Glas Milch ein. Plötzlich umgab mich der wohlbekannte Geruch nach verdorbenem Fleisch. Das Licht ging aus, und ich hörte nur noch meinen lauten Atem. Ich stellte die Milchkanne und das Glas auf den Tisch. Mit äußerster Vorsicht bewegte ich mich rückwärts um
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den Tisch herum, damit sich für alle Fälle etwas zwischen mir und der Tür befand. Der Geruch wurde stärker. Ich versuchte, mich in der Dunkelheit an den Schränken entlangzutasten. Sobald ich die Tür erreicht hatte, konnte ich viel‐ leicht ungehindert die Treppe zur Haupthalle hi‐ nauflaufen. Endlich berührten meine ausgestreck‐ ten Finger den Türrahmen. Da begann die Katze leise, aber gefährlich zu knurren. Ich holte tief Atem und rannte los. Einmal stolper‐ te ich, fing mich wieder, stolperte noch einmal, konnte mich aber gerade noch mit schweißnassen Fingern am Treppengeländer festhalten. Und dann raste ich mit letzter Kraft durch die obere Tür in die Halle. Hier war alles dunkel. Stockfinstere Nacht umfing mich. Ich begann mich mit den Fü‐ ßen vorwärtszutasten. Und wieder stieg mir der Gestank in die Nase, diesmal ganz aus der Nähe. Im selben Augenblick hörte ich ein Mädchen spre‐ chen, laut, fest und ohne Furcht. »Ich bin die Große Katze«, sagte Mareta. Einen Moment klang ihre Stimme ganz nahe, im näch‐ sten weit entfernt. »Ich bin Bestet, das Flammende Auge der Sonne!«
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Alles verwirrte sich um mich. Der Gestank nach fauligem Fleisch. Das Geräusch von rennenden Füßen und ein tief aus der Kehle kommendes Knurren. Krallen bohrten sich durch meinen Trai‐ ningsanzug und zerrten und rissen an der Haut meines Rückens. Ich machte noch zwei taumelnde Schritte, dann fiel ich mit dem Gesicht nach unten auf den Boden. Ein scharfer Schmerz durchzuckte meinen Körper. Die Welt schien in Flammen zu stehen. »Ich bin Bastet«, tönte es jetzt ganz dicht neben meinem Ohr. Und dann spürte ich nur noch Kral‐ len, Schmerzen und die Dunkelheit. Schließlich kam das Nichts. Um mich herum war nur noch gähnende Leere. Als ich diesmal erwachte, war die Umgebung mir schon einigermaßen vertraut. Ich schloß die Au‐ gen, um mich zu vergewissern. Nichts hatte sich verändert. Da war die weiße Decke, das kalte Licht und der Geruch nach Desinfektionsmitteln. Meine kalte Hand wurde von einer warmen um‐ schlossen. Ich bewegte den Kopf vorsichtig hin und her, um besser sehen zu können. Ein schma‐ les, koboldartiges Gesicht mit Stupsnase und kornblumenblauen verängstigten Augen beugte 71
sich über mich. Über die Wange zog sich ein noch nicht ganz verheilter Schnitt. »Lois!« »O Myles!« Sie nahm mich in die Arme. »Dein ar‐ mer Rücken«, sagte sie mitleidig. »Wir sind alle so froh, daß du dir nichts gebrochen hast. Das war ein schrecklicher Sturz in die Dornenhecke. Dr. Frant‐ zius glaubte schon...« »Lois!« Ich packte sie an den Schultern. »Wovon redest du? Was meinst du mit der Dornenhecke?« Das Mädchen deutete auf das offene Fenster, das halb von den Vorhängen verdeckt war. »Erinnerst du dich nicht? Du bist heute nacht aus dem Fens‐ ter gefallen – mitten in die darunter wachsenden Dornenbüsche.« »Lois, hör mir einmal zu.« Ich stemmte mich müh‐ sam auf die Ellbogen. »Was du da sagst, stimmt nicht. Nachdem ich vor Hunger fast umkam, ging ich hinunter in die Küche, um mir ein Sandwich zu machen. Während ich aß, vernahm ich seltsame Geräusche. Jemand schrie in den höchsten Tönen. Und dann hörte ich auch Maretas Stimme. Plötz‐ lich ging das verdammte Licht aus, und ich bekam es mit der Angst zu tun. So schnell ich konnte rannte ich hinauf in die stockdunkle Halle. Und 72
dort wurde ich angefallen. Es roch widerlich nach verdorbenem Fleisch, und ich spürte, wie sich Krallen in meinen Rücken bohrten. Vermutlich war das der Zwerg.« »Aber Myles!« Lois runzelte die Stirn. »So kann es nicht gewesen sein. Christian hat dich heute mor‐ gen in den Dornenbüschen unmittelbar unter die‐ sem Fenster gefunden. Laut Dr. Frantzius mußt du dort einen Großteil der Nacht gelegen haben. Das Fenster dieses Zimmers stand offen, und du lagst in der Hecke. Du hättest ohne weiteres tot sein können, sagt der Arzt.« »Zum Teufel mit ihm!« fuhr ich hoch. »Was ich dir gerade erzählt habe, entspricht den Tatsachen. Ich ging hinunter in die Küche, um mir etwas zu essen zu beschaffen ...« »Myles, sei doch vernünftig. Du wurdest heute morgen gegen sieben Uhr unter diesem Fenster ge‐ funden. Aber Dr. Frantzius hat uns bereits ge‐ warnt, daß du vielleicht noch unter einem Schock leidest, wenn du aufwachst. Du würdest mögli‐ cherweise nicht ganz du selbst sein, meinte er. Deshalb haben Jeremy und ich abwechselnd bei dir gewacht.«
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»Hat Jeremy nichts über den Zwerg gesagt?« un‐ terbrach ich sie. »Er muß doch zumindest ange‐ deutet haben ...« »Was für einen Zwerg meinst du eigentlich, My‐ les?« Sie sah mich mit besorgter Miene an. »Ich weiß wirklich nicht, wovon du sprichst.« Ich richtete mich wieder auf. »Gestern morgen bei dem blödsinnigen Querfeldeinlauf fanden Jeremy und ich in einer Art Käfig einen Zwerg ...« »Jeremy hat nur berichtet, daß ihr auf eine alte Ka‐ pelle gestoßen seid. Das scheint der Ort gewesen zu sein, wo du zusammengebrochen bist. Jeremy mußte den ganzen Weg zurücklaufen, um Hilfe zu holen.« »Willst du damit sagen, daß er von dem Zwerg und den seltsamen Studiolampen nichts be‐ richtet hat?« »Nein. Er erwähnte die alte Kapelle, weil du dort angefangen hast, über Übelkeit zu klagen. Dr. Frantzius ist der Meinung, es handele sich einfach um Überarbeitung. Du und Mareta, ihr hättet euch in letzter Zeit zuviel zugemutet. Deshalb hat er auch strenge Bettruhe verordnet.« »Wo ist Mareta?« Ich packte sie wieder an den Schultern. »Hat einer von euch sie seit unserer An‐ kunft gesehen?« 74
»Nein, dazu war sie bisher nicht fähig. Dr. Frant‐ zius glaubt aber, daß sie morgen wieder aufstehen kann, wenn sie kräftig genug ist.« »Was fehlt ihr denn eigentlich nach Ansicht des Doktors?« »Sie hat einen völligen körperlichen und geistigen Zusammenbruch erlitten. Ihr psychischer Zustand ist ziemlich schlecht, und sie braucht absolute Ru‐ he.« »Lois, bitte sag mir eines. Ehe wir London verlie‐ ßen, wärst du da je auf die Idee gekommen, daß Mareta einem Nervenzusammenbruch nahe war?« Sie schüttelte so heftig den Kopf, daß ihr die blon‐ den Locken ums Gesicht flogen. »Nein, Myles. Ich hielt sowohl Mareta als auch dich für ziemlich fer‐ tig mit der Welt. Aber das waren wir wohl alle. Deshalb haben wir ja auch die Klinik aufgesucht.« »Lois, ich möchte dir noch eine Frage stellen. Was ist in jener Nacht im Auto geschehen? Wie bist du zu den Schnitten auf deinem Rücken gekommen? Hat der gute Arzt darüber vielleicht auch eine Theorie?« Sie nickte. »Aber ja, Myles. Seiner Meinung nach war das der Augenblick, da Maretas Krankheit zum Ausbruch kam. Während eurer Abwesenheit 75
vom Auto hat sie vermutlich mich angegriffen. Er behauptet es zwar nicht mit Gewißheit, scheint aber zu meinen, daß sie irgendein Medikament eingenommen hat.« »Und was soll das gewesen sein? Du kennst doch Mareta seit langem. Sie hat immer nur Valiumtab‐ letten genommen, und auch das hatte sie inzwi‐ schen aufgegeben, seit sie nicht mehr unter so starkem Lampenfieber litt.« »Ich habe ja nur wiederholt, was Dr. Frantzius ge‐ äußert hat.« Als ich ihr kleines, ängstliches Gesicht sah, griff ich beruhigend nach ihrer Hand. »Das weiß ich doch, Lois. Nimm meine Worte nicht zu ernst. Ich mache mir einfach Sorgen um Mareta, und außerdem bin ich wütend. Eins mußt du mir aber glauben. Ich bin aus keinem Fenster gefallen, und das ist die Wahrheit, egal was Dr. Frantzius sagt.« »Was könnte er denn für einen Grund für seine Behauptung haben?« »Das werde ich noch herausfinden«, erwiderte ich entschlossen. Lois legte mir beschwichtigend die Hand auf die Schulter. »Myles, das kannst du nicht, wenigstens jetzt noch nicht. Du darfst noch nicht wieder auf‐ 76
stehen. Dein Rücken ist ziemlich übel zugerichtet. Wenn du dich zuviel bewegst, können sich die Wunden nicht richtig schließen, sagt der Arzt.« »Bitte Lois, sprich nicht ununterbrochen, während ich nachdenke.« Ich lächelte sie an. »Hast du eine Zigarette für mich?« »Ein ganzes Päckchen.« Sie suchte in ihrer Handta‐ sche herum. »Meinst du, daß es gut für dich ist, wenn du jetzt schon wieder rauchst?« »Bitte zünde mir einen Glimmstengel an und hör gut zu.« Ich lehnte mich in die Kissen zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Bei dieser Bewegung wurden die Muskeln meines Rückens in Mitleidenschaft gezogen. Ein scharfer Schmerz durchzuckte meinen Körper. »In einer Beziehung hat der Arzt recht«, stöhnte ich. »Mein Rücken brennt wie Höllenfeuer.« Langsam holte ich meinen Arm wieder herunter, da sie mir jetzt die brennende Zigarette entgegen‐ hielt. Als ich den Rauch inhalierte, verschwamm für kurze Zeit das Zimmer vor meinen Augen. »Nehmen wir einmal an, daßmeine Geschichte der Wahrheit entspricht. Welchen Schluß kann man daraus ziehen? Ich wurde in der Halle überfallen und verlor dort das Bewußtsein. Dann legte mich 77
jemand in die verdammten Dornenbüsche, wo mich am Morgen Christian fand. Die Frage ist, wer hat mich dorthin geschleppt?« Lois runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Ich kann mir nur vorstellen, daß es dieselbe Per‐ son war, die dich angriff.« »Augenblick, Lois, nicht so schnell. Deine Annah‐ me muß nicht unbedingt stimmen. Vielleicht hat mich auch jemand einige Zeit später in der Halle liegen sehen. Der Betreffende bekam einen Schreck, packte mich und legte mich dorthin, wo man mich später fand.« »Warum hätte er das tun sollen?« »Um Schwierigkeiten in der Klinik zu vermeiden.« »Dann kämen doch eigentlich nur Dr. Frantzius oder Christian in Frage, nicht?« »Jeder von beiden oder auch beide zusammen. Je‐ denfalls erschien mir das einigermaßen logisch. Hätte ja durchaus der Fall sein können, daß ich durch das Zimmer zum offenen Fenster getaumelt und hinausgefallen wäre.« Lois zündete sich jetzt ebenfalls mit nervösen Fin‐ gern eine Zigarette an. »Nur daß dem nicht so war, sondern in der Halle ein Überfall auf dich statt‐ fand.« 78
»Meinst du das als Feststellung oder als Frage?« »Ich muß dir wohl glauben, Myles, und damit wä‐ re es also eine Feststellung. Nur daß ich nicht ge‐ nau weiß, ob dir wirklich ganz klar ist, was ge‐ schehen ist.« Ich starrte den grauen Rauchspiralen nach. Plötz‐ lich hatte ich eine Art Eingebung. »Lois, stell dir das Ganze einmal umgekehrt vor.« Sie schüttelte zweifelnd den Kopf. »Ich weiß nicht, wie du das meinst.« »Nimm die zwei Fakten, die mich hierhergeführt haben. Als erstes die Tatsache, daß ich auf den Zwerg gestoßen bin. Frantzius allerdings behaup‐ tet und hat da die Rückendeckung von Jeremy, daß diese Gestalt lediglich in meiner Einbildung existiert. Angeblich bin ich im Wald plötzlich zu‐ sammengebrochen, und Jeremy mußte in der Kli‐ nik Hilfe holen. Ich will dir mal was sagen, Lois. Jeremy und ich haben uns über diesen verdamm‐ ten Zwerg unterhalten, zuerst vor der Kapelle und dann an dem Ort, wo mir wirklich schlecht wurde. Jeremy war der festen Überzeugung, daß diese Mißgeburt ihn auf der Landstraße angesprungen hatte. Ich kann mich an unsere Diskussion noch Wort für Wort erinnern. Und jetzt behauptet er 79
plötzlich, keine Ahnung von einem Zwerg zu ha‐ ben. Behalte das im Gedächtnis und füge die zwei‐ te Tatsache hinzu. Nachdem man mich hierhergeb‐ racht hatte und ich zwölf Stunden lang bewußtlos war, kam am Abend Schwester Angela Puchert zu mir ins Zimmer. Sie erzählte mir, daß es Jeremy ebenfalls schlechtgeworden sei und er sich jetzt ausruhen müsse. Nach ihren eigenen Worten phantasierte er ständig von einem Zwerg.« Lois starrte mich verblüfft an. »Das hat die Schwester gesagt?« »Sie tat es, wobei sie ebenfalls steif und fest be‐ hauptete, es gäbe keinen Zwerg und wir sähen beide Gespenster. Aber, Lois, die Hauptsache ist, daß auch Jeremy den Zwerg erwähnt hat, als er von unserem Morgenlauf zurückkam. Und jetzt gibt er plötzlich an, mir sei bei der alten Kapelle übelgeworden und bestreitet noch dazu, je ein Wort über einen Zwerg gesagt zu haben.« Lois schüttelte hilflos den Kopf. »Ich verstehe nicht, was das alles zu bedeuten hat.« »Ich wohl schon. Laut Schwester Angela hat Jere‐ my von einem Zwerg phantasiert, und ich weiß bestimmt, daß wir beide ein solches Geschöpf ge‐ sehen haben. Wir sprachen ja darüber, als wir die 80
Kapelle verließen. Wenn du diese beiden Tatsa‐ chen zusammennimmst, dann ...« »Aber ich versuche es ja, Myles, sehe aber immer noch nicht, worauf du hinauswillst.« »Laß mich ausreden. Meiner Meinung nach kann das nur bedeuten, daß man dieses Wissen aus Je‐ remys Kopfverdrängt hat, aus meinem nicht.« »Es tut mir leid, daß ich so dumm bin, Myles, aber ich verstehe kein Wort.« »Jemand hat sich die größte Mühe gegeben, die Erinnerung an den Zwerg sowohl aus Jeremys als auch aus meinem Gedächtnis zu tilgen. In Jeremys Fall hatte er Erfolg.« Ich sah, wie in Lois’ Augen langsam das Verstehen aufblitzte. »Aber nicht bei dir.« »Stimmt.« »Und dieser Jemand kann niemand anders als Dr. Frantzius sein.« »Der Meinung bin ich auch, und ich will dir auch den Grund nennen. Nachdem Schwester Angela mein Zimmer verlassen hatte, unternahm ich den Versuch, aufzustehen. Es gelang mir nicht, ich brach auf dem Fußboden zusammen und wurde wieder ins Bett getragen. Dabei hörte ich Dr. Frantzius sprechen. Er meinte, ich besäße eine 81
starke Widerstandskraft gegen Drogen oder so et‐ was Ähnliches. An mehr kann ich mich leider nicht erinnern.« »Das genügt doch«, sagte Lois aufgeregt. »Jeremy wurde ebenfalls bearbeitet, und bei ihm ist es ge‐ lungen – bei dir nicht.« Ich zog an meiner Zigarette. »Wenn du das alles als gegeben annimmst, mußt du doch auch zuge‐ ben, daß meine Geschichte von dem Überfall in der Halle der Wahrheit entsprechen dürfte.« »Ich verstehe«, sage Lois. »Man hat dich nach dem Überfall gefunden und in die Büsche gelegt, um diese Tatsache zu verschleiern.« Ich sah in ihr kleines, ängstliches Gesicht. »Und nun, kleine Lois, was sollen wir tun?« »Am besten verschwinden wir noch heute nacht.« »Was fangen wir mit Mareta an? Nach den Worten von Dr. Frantzius scheint es ihr nicht besonders gut zu gehen. Wenn sie wirklich morgen zum ers‐ tenmal aufstehen darf, dürfte sie heute bestimmt nicht reisefähig sein.« »Myles, können wir sie nicht einfach ins Auto legen und wegfahren?« Ich drückte meine Zigarette aus. »Nein, ich glaube, das Risiko wäre zu groß. Wir wissen nicht, was ihr fehlt. Außerdem würde ich mich gern hier noch 82
etwas umschauen, um herauszufinden, was in die‐ ser Klinik vor sich geht.« »Du hast recht. Davon wissen wir im Grunde lei‐ der gar nichts.« »Würdest du jetzt wohl gehen und Jeremy aufzu‐ treiben versuchen? Bring ihn her, damit wir ge‐ meinsam einen Plan aushecken können. Ich möch‐ te in den frühen Morgenstunden gern ein paar Nachforschungen anstellen und habe keine Lust, alles allein zu tun.« An der Tür hielt ich sie noch einmal zurück. »Könntest du dich auch nach Schwester Angela oder sonst jemand umsehen, ob man mir nicht et‐ was zu essen bringen kann. Ich bin fast am Ver‐ hungern.« Als sie gegangen war, lehnte ich mich in die Kissen zurück. Das Zigarettenpäckchen, das Lois hatte liegen lassen, steckte ich in die Brusttasche meines Schlafanzugs. Ich versuchte nachzudenken, Irgend etwas, was mit Zigaretten zusammenhing, hatte für die Affäre eine Bedeutung. Ich konnte aber nicht herausfinden, was. Kopf und Rücken taten mir weh. Als die Schmerzen etwas nachließen, fie‐ len mir die Augen zu. Aber vielleicht war es auch
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umgekehrt, daß die Schmerzen nicht mehr zu spü‐ ren waren, weil ich einschlief. Ich fühlte mich entspannt und angenehm warm. Wie lange ich schlief, weiß ich nicht mehr. Das Klappern von Geschirr weckte mich. Als ich die Augen öffnete, stand Schwester Angela Puchert vor meinem Bett. »Fühlen Sie sich wieder besser, Mr. Donnen?« Ich lächelte gewollt müde. »Ja, danke schön, Schwester, nur noch ein wenig schwach.« »Sie müssen Hunger haben. Ich habe Ihnen etwas zu essen gebracht. Aber lassen Sie mich zuerst ei‐ nen Blick auf Ihren Rücken werfen.« Sie half mir aus der Schlafanzugjacke und drehte mich herum. Ich fühlte, wie ihre kühlen Finger den Verband entfernten. »Wenn Sie das nächste Mal aus einem Fenster fallen wollen, dann suchen Sie sich eines aus, unter dem keine Dornenbüsche stehen.« Ich stützte das Kinn in die Hand. »Wie sieht es aus, Schwester?« »Recht ordentlich. Die Gefahr einer Infektion scheint gebannt. Wir müssen noch ein paar Tage ein wachsames Auge darauf haben, dann sind Sie wieder so gut wie neu.« Sie drehte mich mit sanf‐ ter Hand um und half mir in meine Jacke. »Und 84
jetzt bekommen Sie Ihr Abendessen. Ich werde das Bett hochstellen, dann haben Sie es leichter.« Der Motor summte, und ich spürte, wie sich das Kopfende unter mir hob. Das Tablett wurde auf einem fahrbaren Tisch über mein Bett geschoben. Es gab Schinken und Salat, dünne, braune Brot‐ scheiben mit Butter, Kaffee und die unvermeidli‐ chen Dörrpflaumen, diesmal in einer Sauce. Au‐ ßerdem lagen eine Packung Zigaretten und Streichhölzer da. »Lassen Sie es sich schmecken, Mr. Donnen. Ich schicke Ihnen später Christian, damit er das Tab‐ lett wieder abholt.« Lächelnd sah sie mich an. »Sie dürfen auch ruhig ein oder zwei Zigaretten rau‐ chen.« »Schwester, was ist Ihrer Meinung nach gestern nacht mit mir passiert?« »Vermutlich sind Sie im Schlaf gewandelt, haben das Fenster geöffnet und sind hinausgefallen.« »Können Sie sich noch daran erinnern, daß Jeremy Casement von einem Zwerg phantasiert hat, den wir in einer alten Kapelle gefunden haben?« Sie runzelte die Stirn. »Ich weiß nur, was Sie mir davon erzählt haben, Mr. Donnen. Ich glaube
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nicht, daß Mr. Casement etwas Derartiges geäu‐ ßert hat.« »Ihrer Meinung nach bin ich also der einzige, der über den Zwerg gesprochen hat.« »Ich bin mir meiner Sache völlig sicher. Und jetzt essen Sie und schlafen sich hinterher richtig aus.« Nachdem sie verschwunden war, machte ich mich über den Schinken und den Salat her. Ich hatte ge‐ rade die Pflaumen verzehrt, als Lois und Jeremy ins Zimmer traten. Ich deutete auf die Tür. »Schließt bitte ab.« Lois schüttelte den Kopf. »Es gibt keinen Schlüs‐ sel.« »Ist da wenigstens ein Riegel?« »Nichts dergleichen. Schließlich ist dies ein Kran‐ kenzimmer, und ich könnte mir vorstellen, daß man vermeiden will, daß die Patienten sich ein‐ schließen.« »Dann klemmt einen Stuhl unter die Klinke, kommt her und setzt euch auf das Bett.« Jeremy tat, wie ihm geheißen, und Lois setzte sich neben mich. Jeremy nahm am Fußende Platz. »Was hat das alles zu bedeuten?« fragte er. »Ich muß sagen, seit wir diese hochgerühmte Klinik be‐
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treten haben, habe ich mich noch nicht einen einzi‐ gen Moment richtig wohl gefühlt.« »Das geht uns allen so«, bemerkte ich. »Insbeson‐ dere aber Mareta, und das ist auch der Grund, warum ich euch heute abend hier haben wollte.« Ich nahm eine Zigarette aus Lois’ Packung und zündete sie an. »Meine wohlbegründete Meinung ist, daß wir alle seit unserer Ankunft hier unter ei‐ nen bestimmten Einfluß geraten sind genauge‐ nommen schon vorher, wenn man die Ereignisse auf der Straße nach Rocamadour mit einbezieht.« Jeremy runzelte die Stirn. »Meinst du damit, daß wir unter Drogen stehen?« »Ich weiß es nicht genau. Eins aber ist klar, daß je‐ der von uns auf die eine oder andere Weise krank geworden ist.« Ich zog die Knie an und legte die Arme darum. »Am besten machen wir uns noch heute nacht auf die Suche nach Mareta, um fest‐ zustellen, wie es ihr wirklich geht. Hinterher möchte ich eine Inspektionstour durch das Haus unternehmen, will das aber nicht allein tun nach dem, was mir letzte Nacht passiert ist.« Lois nickte. »Da hast du recht, Myles. Wir sollten uns wirklich um Mareta kümmern und auch das Haus unter die Lupe nehmen.« 87
Jeremy lächelte. »Dabei müssen wir aber größte Vorsicht walten lassen, damit wir nicht Dr. Frant‐ zius, Christian oder diesem anderen Affen, Geor‐ ges, über den Weg laufen.« Ich schob den Tisch über meinem Bett zur Seite. »Verdammt, ich habe etwas vergessen. Christian kann jeden Moment hier auftauchen, um das Ge‐ schirr abzuholen. Am besten kommt ihr zurück, wenn er wieder weg ist.« »Und woher sollen wir das wissen?« fragte Jeremy. »Gedankenlesen ist nicht gerade meine Stärke.« Ich sah auf die Armbanduhr. »Es ist fast halb elf .Wenn ihr in einer Stunde wieder da sein ...« »Also um halb zwölf, gut.« Lois zog den Stuhl un‐ ter der Klinke weg. »Das war wohl ziemlich unnö‐ tig.« Ich grinste. »Es tut mir aufrichtig leid, daß ich Christian vergessen habe. Zieht euch Schuhe mit leisen Sohlen an, wenn Ihr wiederkommt, damit man uns nicht mit einer Herde Elefanten verwech‐ selt.« Sie verschwanden. Ich lehnte mich zurück, rauchte und dachte nach. Die Gedanken, die mir durch den Kopf schössen, waren mehr als unerfreulich.
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Eine Dreiviertelstunde später kam Christian. Er war ein untersetzter, grobknochiger Mann mit breitem Gesicht, kalten blauen Augen und einer gebogenen Nase über dicken Lippen. »Wie geht es Ihnen, Mr. Donnen?« fragte er. »Viel besser, danke schön.« Ich sah ihn einen Mo‐ ment lang fest an. »Ich hoffe, daß Sie mich nicht morgen früh wieder aus den Büschen ziehen müs‐ sen.« Er lächelte ausdruckslos. »Der Blitz schlägt selten zweimal in dieselbe Stelle.« Er stellte ein Weinglas auf meinen Nachttisch. »Hier ist etwas für Sie, wenn Sie nicht schlafen können.« Ich betrachtete mißtrauisch die blaßgelbe Flüssig‐ keit. »Was ist das?« »Ein Extrakt aus Kräutern, die hier in der Gegend wachsen. Soll sehr wirkungsvoll sein.« Er öffnete die obere Hälfte des Fensters und zog die Vorhän‐ ge zu. »Und jetzt atmen Sie noch etwas die frische Luft der Dordogne.«Ich sah ihn durch den Zigaret‐ tenrauch neugierig an. »Woher stammen Sie ei‐ gentlich, Christian?« Er machte die Deckenbeleuchtung aus und ließ nur meine Lampe neben dem Bett brennen. »Ich
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komme aus Bremen, Mr. Donnen.« Er nahm das Tablett. »Kann ich sonst noch etwas für Sie tun?« Ich schüttelte den Kopf. »Danke schön, nein.« Er zögerte einen Augenblick, dann neigte er den Kopf. »Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht, Mr. Donnen. Schlafen Sie wohl.« »Danke, Christian.« An der Tür blieb er einen Augenblick stehen und warf mir noch einen Blick zu, wobei er das Tablett mühelos auf einer Hand balancierte. »Versuchen Sie, heute Nacht das Bett nicht zu verlassen. Mr. Donnen.« Als er gegangen war, nahm ich das Glas und be‐ trachtete mir die gelbe Flüssigkeit noch einmal ge‐ nau. War es wirklich nur ein harmloser Schlaf‐ trunk? Die Herrschaften hatten sich getäuscht, wenn sie glaubten, ich würde es darauf ankommen lassen. Unwillkürlich mußte ich lachen, als ich das Glas auf den Nachttisch zurückstellte. Es war fast halb eins, als Lois und Jeremy zurück‐ kamen. Ich saß auf der Bettkante und fühlte mich schon beinahe wieder normal, als sie endlich durch die Tür schlüpften. Mit einem bedeutungsvollen Blick auf die Uhr sagte ich: »Es spielt zwar keine Rolle, aber Ihr seid eine Stunde zu spät dran.« 90
Lois schloß vorsichtig die Tür. »Im Haus herrschte ein Betrieb wie auf dem Piccadilly Circus. Dieser gräßliche Christian schien sich an einem Dutzend Orten gleichzeitig aufzuhalten. Unten in seinem Arbeitszimmer saß Dr. Frantzius bei offener Tür, und eine amerikanische Familie lief ununterbro‐ chen die Treppe rauf und runter.« »Schon gut, Lois. Es ist ja nicht weiter tragisch. Wie sieht die Lage im Haus jetzt aus?« »Alles ist so ruhig wie in einem Grab«, sagte Jere‐ my. »Gut. Am besten besuchen wir zuerst Mareta und sprechen mit ihr. Anschließend machen wir einen Rundgang durch die Klinik.« Plötzlich fiel mir et‐ was ein. »Ach du lieber Himmel! Ich habe nicht die leiseste Ahnung, in welchem Zimmer Mareta liegt.« Lois deutete zur Decke. »Oben, gleich neben dem Turm, von dem aus man auf die Wiese sieht.« »Dann also los!« Ich übernahm zunächst die Füh‐ rung. Der Korridor draußen war nur schwach von einer einzigen Deckenlampe erhellt. In der näch‐ sten Etage angekommen, gab ich Lois einen Schubs. »Du kennst den Weg, also gehst du vo‐ ran.« 91
Maretas Zimmer befand sich am äußersten Ende eines breiten Korridors. Lois öffnete vorsichtig die Tür, die geräuschlos nach innen schwang. Wir schlüpften hinein, und Jeremy machte Licht. Der Raum war sehr gemütlich eingerichtet. Auch hier stand auf vier Pfosten ein Himmelbett, dies‐ mal mit einem Tüllvorhang. Die Bettdecke war or‐ dentlich zurückgeschlagen und Maretas grünes Seidennachthemd lag am Fußende. Ansonsten war das Zimmer leer. Von Mareta keine Spur. Lois ging zum Bett und nahm das Nachthemd in die Hand. »Wo ist sie, Myles?« fragte sie ängstlich. »Wo kann Mareta sein?« Ich stieß einen tiefen Seufzer aus. »Wenn ich das wüßte. Hat jemand von euch sie eigentlich zu Ge‐ sicht bekommen, seit wir die Klinik betreten ha‐ ben?« Jeremy warf sich in einen lederbezogenen Armses‐ sel. »Nein, keiner von uns. Frantzius erklärte, sie sei zu krank, um Besuch zu empfangen. Sie könne morgen wieder aufstehen, und dann dürften wir alle mit ihr sprechen.« Ich setzte mich an ein Ende des Bettes und hielt mich an einem Pfosten fest. »Als ich mich unten in der Küche aufhielt, um mir ein Sandwich zu ma‐ 92
chen, erklang von irgendwoher ihre Stimme. Ich konnte sie ganz deutlich hören. Später in der Halle wiederholte sie all diese unverständlichen Dinge über Bastet und Ptah. Das war der Augenblick, wo ich angefallen wurde – und alles war aus.« Lois erschauerte und legte das grüne Nachthemd auf das Bett zurück. »Meine Angst, wird immer größer. Ich will so schnell wie möglich hier weg. Wir müssen Mareta finden und sie von einem Spe‐ zialisten untersuchen lassen.« »Lois, hör auf.« Ich fragte Jeremy: »Was sagst du dazu?« »Meiner Meinung nach hat Lois recht. Ich will auch fort, sobald wir Mareta haben.« Er warf mir einen ängstlichen Blick zu »Vielleicht hältst du mich für einen kompletten Idioten, aber dieser Ort hat etwas Unheilschwangeres. Ich habe das Ge‐ fühl, daß der Satan hier umgeht.« Ich zündete nacheinander drei Zigaretten an, und wir rauchten in tiefen Zügen, als ob unser Leben davon abhinge. Schließlich stand ich auf und ging im Zimmer auf und ab. »Laßt uns die Angelegen‐ heit einmal nüchtern betrachten. Angenommen wir finden Mareta, bezahlen unsere Rechnung und begeben uns zur nächsten Polizeistation. Wenn wir 93
da mitten in der Nacht auftauchen, was sollen wir den Leuten sagen?« Jeremy runzelte die Stirn. »Wir berichten, was ge‐ schehen ist, ganz einfach. Mareta ist auf der Straße fast Amok gelaufen, ein Tier hat mich angefallen, dann die Sache mit dem Dreizack ...« »Das war alles vor unserer Ankunft und steht nicht offen im Zusammenhang mit der Klinik oder Dr. Frantzius. Im Wagen fand sich keine Spur von dem Dreizack, und Mareta stand laut Aussage des Doktors unter Drogen. Wenn wir dann zu den hie‐ sigen Vorfällen kommen, werde ich erzählen, ei‐ nen Zwerg gesehen zu haben, was Jeremy bestrei‐ tet. Ich behaupte, daß man mich im Haus angefal‐ len hat, und Frantzius hält dagegen, ich wäre aus dem Fenster in eine Dornenhecke gestürzt.« »Ich weiß, was du meinst«, sagte Lois leise. »Für die Polizei sind wir Schauspieler, und jedes Kind weiß schließlich, daß Schauspieler Drogen neh‐ men. Außerdem kommen wir aus England, was die Sache noch verschlimmert. Man wird uns für eine Bande von Verrückten halten.« »Dann sind wir uns also einig, daß wir uns nicht an die Polizei wenden können. Wenn wir irgend etwas unternehmen wollen, müssen wir das auf 94
eigene Faust erledigen.« Ich sah sie abwechselnd an. »Okay, und womit sollen wir anfangen? Eines steht fest. Wir können nicht von einem Zimmer ins andere gehen, da noch mindestens zwanzig weite‐ re Gäste im Haus wohnen. Was sollen wir also ma‐ chen?« Jeremy kreuzte die Arme über der Brust. »Hast du uns nicht erzählt, daß du Maretas Stimme von der Küche aus hören konntest? Das kann doch nur be‐ deuten, daß sie sich in der Nähe befunden haben muß. Warum fangen wir nicht dort an?« »Vergiß nicht den Angriff auf mich«, sagte ich. »Vielleicht wäre es besser, sich irgendwie zu be‐ waffnen.« »Messer!« rief Lois plötzlich. »Küchenmesser oder langzackige Gabeln. Die sollten wir doch auftrei‐ ben können.« Einer hinter dem anderen schlichen wir uns durch das Riesenhaus nach unten. Ich hatte die Führung übernommen, und Jeremy bildete den Schluß. Als wir die Küche der Klinik erreichten, sah alles fast genauso aus wie bei meinem ersten Besuch. In den großen Kühlschränken standen Schalen voll Obst, dazu Salat, Säfte und die sonstigen Delika‐
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tessen, die in einer Gesundheitsklinik Verwendung finden. Jeremy setzte sich auf den Tisch und baumelte mit den Beinen. »Wie geht es jetzt weiter?« fragte er. »Nur zu deiner Information«, sagte ich. »Du sitzt genau auf dem Platz, an dem ich durch den durchdringenden Schrei aufgeschreckt wurde.« Er zeigte vor sich auf den Boden. »Meinst du diese Stelle?« Ich versuchte mich an jede Einzelheit zu erinnern. »Da ich mit meinem Schinkenbrot beschäftigt war, stand ich unmittelbar neben dem Tisch, auf dem du jetzt sitzt. Und genau da hörte ich ein Mädchen schreien.« »War das auch der Augenblick des Überfalls?« fragte er. »Nein, das nicht. Ich rannte aus der Küche in die Halle hinauf. Erst dort vernahm ich deutlich Mare‐ tas Stimme,spürte wieder den Aasgeruch und wurde angegriffen.« Lois beschmierte gerade einen Zwieback, den sie in einer Dose gefunden hatte, mit Butter. »Worauf warten wir dann noch? Nichts wie hinauf in die Halle.«
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Wir machten das Licht aus, erklommen die Treppe und betraten die Halle. Ein dreiarmiger Kerzen‐ leuchter brannte in einer Wandnische und warf ein sanftes Licht über den braunen Holzboden. »Ich kenne die angrenzenden Zimmer«, flüsterte Lois. »Und keines enthält irgend etwas Aufregen‐ des oder Außergewöhnliches. Dort ist ein Behand‐ lungsraum, wo alle in kleinen Dampfkabinen sit‐ zen, ein Gymnastik‐ und ein Fernsehzimmer, der Aufenthaltsraum für die Schwestern und Dr. Frantzius’ Büro. Aber das kennt Ihr ja schon vom ersten Abend.« Jeremy lehnte sich mit dem Rücken gegen eine Wand. »Woher kam denn Maretas Stimme, wenn du sie wirklich hier gehört hast?« »Hör zu, Jeremy.« Ich flüsterte unwillkürlich. »Du kannst mir glauben, daß ich noch alle fünf Sinne beisammen habe. Ich habe Mareta gehört, und zwar von hier aus, kurz bevor mich dieses Biest anfiel.« Lois steckte das letzte Stück Zwieback in den Mund. »Mir ist gerade etwas eingefallen. Könnte es nicht sein, daß du ihre Stimme durch einen Lautsprecher gehört hast? Ich meine eine Sprech‐
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anlage oder etwas Ähnliches, die vielleicht jemand aus Versehen eingeschaltet hat.« Ich küßte begeistert ihre Nasenspitze. »Nehmen wir einmal an, daß es sich wirklich so verhält. Wo könnte er sich dann befinden?« Ich blickte mich nach allen Seiten um und betrachtete die Stuckde‐ cke und das geschnitzte Treppengeländer. »Wie sollen wir nur in all diesem Firlefanz den Standort eines Lautsprechers finden?« Jeremy stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich will euch mal was sagen. Mir ist langsam verdammt egal, ob Myles mit seinen hübschen rosigen Ohren einen Lautsprecher oder Stimmen gehört hat. Die‐ ser ganze Scheißort hängt mir zum Halse heraus. Ich weiß, daß wir auf meine Veranlassung herge‐ kommen sind, trotzdem stinkt’s mir. Ich will hier weg, und das sofort. Laßt uns Mareta holen und dann abhauen.« Lois und ich starrten ihn bestürzt an. »Das alles haben wir doch gerade in Maretas Zimmer bespro‐ chen. Was ist mit dir, Jeremy?« Ich ging zu ihm hi‐ nüber und packte ihn am Arm. »Jerry, was hast du plötzlich?« »Was soll ich haben, du verdammter Besserwis‐ ser?« Die Augen, die mich anstarrten, gehörten 98
nicht mehr meinem alten Freund Jeremy Case‐ ment. Sie waren kalt und graugrün und hatten ei‐ nen rötlichen Schimmer. Seine Stimme klang tiefer als gewöhnlich, die Finger, die meine Hand von seinem Arm streiften, fühlten sich hart und stäh‐ lern an. »Hau ab, du Schweinehund.« Er holte mit der Faust aus und traf mich mit einem Haken di‐ rekt neben dem Mund. Der Schlag warf mich zu Boden. »Du Lump!« Er spuckte aus, lief weg und verschwand im Hintergrund der Halle, wo wir ihn nicht mehr sehen konnten. Lois half mir auf. »Myles, Liebling«, flüsterte sie entsetzt. »Was ist nur plötzlich in Jeremy gefah‐ ren?« »Das kann ich dir sagen.« Ich lehnte mich an die Wand und tupfte mit dem Taschentuch das Blut aus meinem Mundwinkel. »Jemand hat Jeremy in der Gewalt. Offensichtlich war die Geschichte schon einige Zeit im Gange und ist jetzt ausgebro‐ chen. In diesem Augenblick ist er nicht mehr unser vertrauter Freund Jeremy Casement, sondern ein Fremder.« Ich sah in ihr kleines, verängstigtes Ge‐ sicht. »Ja, sogar unser Feind.« Ich ergriff ihre Hand und hielt sie fest. »Lois, ich glaube, man hat dasselbe auch bei mir versucht, 99
vermutlich auf diesem blödsinnigen Morgenlauf, als wir den gräßlichen Zwerg entdeckten. Dann wurde der Versuch wiederholt, als ich attackiert wurde und angeblich aus dem Fenster gefallen bin. Offenbar hat es bei mir aus irgendwelchen Grün‐ den nicht geklappt. Um so besser ist es bei Jeremy gelungen.« »Und was ist mit Mareta?« »Ich weiß es nicht, genauso wenig wie ich weiß, wo Jeremy hingelaufen ist. Und noch schlimmer – ich habe nicht die leiseste Idee, was wir jetzt tun sollen.« »Myles, laß uns den Wagen nehmen und die Poli‐ zei holen. Sie muß uns einfach zuhören. Wir brin‐ gen sie her und veranlassen sie dazu, das Haus zu durchsuchen. Dann finden wir auch Mareta.« Ich packte sie am Arm und zog sie zur Eingangs‐ tür. Das starke Schloß wirkte gut geölt. Der Schlüs‐ sel ließ sich ohne Mühe herumdrehen. Ich löste die Sicherheitskette. Draußen war die Luft sehr kühl und zeigte bereits den nahenden Winter an. Die in den Türmen an‐ gebrachten Scheinwerfer waren außer Betrieb. Das einzige Licht kam von dem halb zwischen den Wolken versteckten blassen Mond. Man hatte of‐ 100
fenbar die früheren Ställe zu einer Garage umge‐ baut. So war ein langes, niedriges Gebäude ent‐ standen, das zur kiesbeschütteten Einfahrt hin of‐ fen war. Unser Volkswagen stand zwischen einem Ford Mustang und einem Mini‐Cooper. Mich beschlich ein angenehmes Gefühl, als ich unser verläßliches Fahrzeug sah. Ich ließ Lois’ Arm los und packte den Türgriff. »Komm, spring hinein, damit wir diese ungastliche Stätte verlassen. Wir sollten in einer halben Stunde in Brive sein ...« Ich verstummte, als ich bemerkte, daß ich zu mir selber sprach. Neben mir stand niemand mehr. Lois war verschwunden, als habe die dunkle Nacht sie verschluckt. Ich setzte mich trotzdem in den Wagen und steckte den Schlüssel ins Zündschloß. Als ich den Schein‐ werfer einschaltete, geschah nichts. Auch der Mo‐ tor war tot. Es kam kein Geräusch, nicht einmal ein Stottern. Ich saß auf der Sitzkante und ließ die Bei‐ ne nach draußen hängen. Entweder war die Batte‐ rie leer, oder man hatte sie herausgenommen. Der Gedanke daran ließ mich erstarren, weil ich Angst vor der Bedeutung dieser Tatsache hatte.
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Plötzlich wurde ich von schrecklicher Todesangst geradezu überwältigt. Mein ganzer Körper be‐ deckte sich mit kaltem Schweiß, selbst meine Ach‐ selhöhlen wurden naß. Mein Magen krampfte sich zusammen und ich hatte das Gefühl, mich in der nächsten Minute übergeben zu müssen. Und dann wehte wieder der üble Gestank durch die kühle, klare Nachtluft auf mich zu. Ich verließ das Auto, schlug die Tür hinter mir zu und bewegte mich vorsichtig um den Wagen he‐ rum. Die Einfahrt lag verlassen im schwachen Licht des verblassenden Mondes. Während ich mich vorwärts tastete, streifte mich etwas. War es Haar oder Fell? Ein durch und durch tierisches, tief aus der Kehle kommendes Knurren ließ mich hochfahren. Ich lief los und rannte wie ein Wahn‐ sinniger über den taunassen Rasen auf die dunklen Umrisse einer Baumgruppe zu. Ich brach förmlich mit Gewalt durch das Gebüsch und stürzte wie gejagt weiter. Dann blieb ich mit dem Rücken gegen einen Baumstamm stehen und lauschte. Wenn mich irgend etwas verfolgt hatte, so war jetzt jedenfalls nichts mehr zu hören. Die Nacht war ruhig, bis auf eine Stimme. Eine Stim‐
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me, die mir zwar vertraut war, die ich aber jetzt fast nicht mehr wiedererkannte. »Thot, der Affengott ist mir erschienen«, rief Mareta. »Ich bin die Zwillingsschwester von Sekhmet, die die Große Katze, die Göttin aller Katzenwesen ist. Ich bin Bastet, die man im Großen Tempel der Sonne anbetet. Ich bin die Geliebte von Pasht. Ich bin Bastet, die Schreckliche. Die Zeit von Bubastis ist gekommen. Ich bin die Katze der Katzen. Ich bin Bastet.« Plötzlich war außer den Geräuschen der Nacht und dem leisen Rauschen der Bäume, die sich in der frischen Brise hin und her bewegten, nichts mehr zu hören. Ich kämpfte mich durch das Ge‐ büsch, wobei ich mir die Arme vor das Gesicht hielt, um nicht von Dornenzweigen getroffen zu werden. Jetzt wußte ich wieder, wo ich mich befand. Der schmale Pfad zu meinen Füßen, der vom blassen Mondlicht nur schwach erhellt wurde, führte di‐ rekt zu der steinernen Kapelle, die Jeremy und ich an unserem ersten Morgen in der Klinik entdeckt hatten. Die viereckigen Umrisse des Gebäudes la‐ gen unmittelbar vor mir. Am anderen Endeerhob sich wie ein buckliger Riese der Turm.
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Die Beine taten mir weh, und ich taumelte kur‐ zatmig wie ein alter Mann in die kleine Vorhalle. Hinter der Tür war ein an‐ und abschwellendes Geräusch zu hören, eine Stimme, die keine war. Unter der Wolle meines Pullovers war mir eiskalt, die Haare standen mir zu Berge. Ich zog den Tür‐ riegel zurück und stieß vorsichtig die Tür auf. Der Innenraum der Kapelle lag in tiefes, grünes Licht getaucht und duftete betäubend nach San‐ delholz. Fast hätte ich ihn nicht mehr wiederer‐ kannt. Quer über eine Wand hingen in schweren Falten rote Samtvorhänge, die durch den grünli‐ chen Schimmer gespenstisch wirkten. Vor dem ro‐ ten Samt stand wie eine Statue eine nackte Gestalt mit langen, schlanken Gliedern. Goldblondes Haar fiel auf weiße Schultern und berührte die hochge‐ reckten, straffen Brüste. Maretas Arme hingen zu beiden Seiten des Kör‐ pers herunter, die Fingerspitzen waren leicht nach außen gedreht. Davor bewegte sich die unbeklei‐ dete, groteske Gestalt des Zwerges, die riesigen Arme dem schlanken Mädchen entgegengestreckt. Ich schloß leise und vorsichtig die Tür hinter mir und schlich mich an der Wand entlang, bis zu ei‐ ner Stelle, die im tiefen Schatten lag. Von irgendwo 104
hinter mir aus dem Gebäude ertönte jetzt mit mo‐ notonem Rhythmus eine fremdartige Musik. Mare‐ ta und der Zwerg begannen sich langsam im Kreis zu bewegen, wobei sie sich vor‐ und zurückbeug‐ ten. Ihre nackten Füße schlugen den Takt zu dem dumpfen Trommelklang. Ich verkroch mich noch tiefer im Dunklen, bis es mir gelang, mich teilweise hinter einigen an der Wand lehnenden Holzstangen zu verbergen. End‐ lich wurde mir die Rolle klar, die die Studiolam‐ pen spielten. Sie standen in allen vier Ecken. Vor jedem Scheinwerfer war eine sich drehende, farbi‐ ge Scheibe angebracht, die offensichtlich von ei‐ nem verdeckten Motor bewegt wurde, da ich nie‐ mand in der Nähe entdecken konnte. Plötzlich dröhnte aus der Kuppel oben im Dach mit dump‐ fem Klang eine große Glocke. Der Nachhall war so kräftig, daß die Steinmauern zu erbeben schienen. Mareta stieß einen lauten Schrei aus, der so hoch und schrill war, daß er nichts Menschliches mehr hatte. Der Zwerg fiel mit ausgebreiteten Armen zu Boden, und das Mädchen bewegte sich langsam und graziös rückwärts auf den roten Samtvorhang zu. Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihr Mund
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stand offen, und ihr ganzer Körper glänzte vor Schweiß. Aus dem Schatten der gegenüberliegenden Wand trat plötzlich eine zierliche Gestalt. Es war ein Mädchen, das von dem kurzgeschnittenen Haar bis zu den Fußsohlen rot bemalt war. Sie zerrte am Ende eines kurzen, goldenen Strickes eine kleine verängstigte Ziege hinter sich her. Nachdem sie mit dem Tier zweimal den auf dem Boden liegen‐ den Zwerg umkreist hatte, ließ sie die Kordel los. Er ergriff im gleichen Moment mit seinen unge‐ schlachten Armen das kleine Geschöpf bei den Vorderbeinen. Mareta erschien wieder im Vordergrund und rief mit lauter Stimme: »Ich flehe dich an, o Geist von Asar und Nefer. Ich beschwöre dich, der du das Meer, den Tag und die Nacht erschaffen hast. Höre mich an, mich, die Dienerin Ptahs. Ich bringe dir das reine, weiße Licht der Wahrheit. Nimm dieses Opfer gnädig an!« Der Zwerg hatte sich erhoben, hielt die zappelnde Ziege einen Augenblick über dem Kopf erhoben und riß ihr dann die Kehle auf. Das Blut spritzte Mareta ins Gesicht und rann an ihrem schweißnas‐ sen Körper herunter.
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»Khentamentio!« Das Wort drang wie ein Schrei von den dicken Lippen des Ungeheuers. »Khen‐ tamentio!« Er warf den Tierkörper auf den Boden. Ohne es zu wollen, hatte ich mich bewegt. Mein Fuß rutschte, und ich faßte nach den dünnen Stan‐ gen neben mir, aber es war zu spät. Mit gewalti‐ gem Krach, der die Musik und den Trommelklang übertönte, brach das Holz zusammen, und ich stürzte auf den Steinboden. Mit einem Schlag gingen die Lichter aus, und der Raum lag im Dunkeln. Nur der allesbeherrschende Gestanknach faulem Fleisch hüllte mich ein. Ich tastete mich mit vor Angst zitternden Fingern an der Wand entlang. Mit Mühe erhob ich mich und brachte es irgendwie fertig, mich mit bleischweren Füßen zum Eingang zu schleppen. Immer noch war alles ruhig. Keine Bewegung, nicht einmal ein Atmen war zu hören. Mit äußers‐ ter Vorsicht öffnete ich die Tür und schob meinen schwitzenden Körper langsam durch die Öffnung in die willkommene Kühle der Nachtluft. Die nackte Angst hatte von mir Besitz ergriffen. Ohne einen klaren Gedanken fassen zu können, rannte ich den schmalen Pfad entlang. Die dünnen Zweige schlugen mir ins Gesicht und schienen 107
mich an Armen und Beinen festhalten zu wollen. Der Geruch des modrigen Untergrundes und der feuchten Tannennadeln stieg mir in die Nase. Und dann hatte ich den Gipfel des Hügels erreicht. Der blasse Mond schien gerade hell genug, um den Weg erkennen zu können, der über die große Wie‐ se hin zur Klinik führte. Ich ging jetzt in normalem Tempo weiter. Meine beiden Beine taten fast unerträglich weh, und mein Atem rasselte nach der überstandenen Anstren‐ gung. Nach einigen Minuten mußte ich eine Pause einlegen und lehnte mich gegen einen Baum. Ich fühlte mich alt und müde, und jeder Nerv in mei‐ nem Körper schien zum Zerreißen gespannt. Da zuckte ich entsetzt zusammen. Ich hörte das Geräusch von Schritten auf dem Weg hinter mir. Ein trockener Zweig knackte im Ge‐ büsch. Jemand schlurfte durch den Dreck. Da löste ich mich von meinem Baum und lief so schnell wie möglich auf die Klinik zu. Schon der kleinste Schritt bedeutete eine ungeheure Anstren‐ gung. Das beengende Gefühl in meiner Brust er‐ reichte seinen Höhepunkt. Meine Kehle fühlte sich wie verdorrt an. Nach und nach verlor ich jegli‐ chen Willen, mich zu bewegen. Einen Augenblick 108
lang war der Weg zu meinen Füßen so schmal, daß er kaum einer Katze genügt hätte, im nächsten so breit, daß es mir nicht gelang, die Baumstämme auf beiden Seiten im Auge zu behalten. Plötzlich erstrahlte am Boden ein gleißendes Licht mit hartweißem Kern und einer goldenen Scheibe darum herum. Es wurde heller und heller. Mit der zunehmenden Intensität des Lichts schien ich mein Gehör zu verlieren. Ich war allein in einer toten Welt. »Laß die Leuchtenden nicht Gewalt über dich ge‐ winnen!« dröhnte eine Stimme tief und überlaut in die Stille. Das Atmen war unmöglich geworden. Ich versuchte mit den Fingern an meiner Kehle zu zerren, aus der kein Laut drang. Das goldene Licht hatte mich von allen Seiten eingeschlossen. »Heil, Khentamentio! Heil!« Der Prankenhieb traf mich direkt im Nacken, und die Wirkung war überwältigend: Schmerz, Dun‐ kelheit und eine alles einschließende Leere, aus der es kein Entkommen gab. Ich wachte in dem Zimmer auf, das mir inzwi‐ schen schon ziemlich vertraut war, mit dem harten Licht, der kalten weißen Decke und dem Geruch nach Desinfektionsmitteln. Das Kopfende des Bet‐ 109
tes war leicht nach oben gestellt, so daß ich mich ohne Schwierigkeiten umsehen konnte. Das durch das Fenster hereindringende Herbstlicht wurde durch vorgezogene Tüllstores leicht gedämpft. Ein Mädchen stand mit dem Rücken zu mir an dem kleinen Tisch mit der Glasplatte. Sie war groß und schlank und trug einen einteili‐ gen Anzug aus gelbem Satin. Die Hose war so hau‐ teng, daß die mittlere Naht ihre Hinterfront deut‐ lich sichtbar teilte. An den Beinen trug sie eng an‐ liegende Silberstiefel mit Plateausohlen und hohen Absätzen. Ihr weiches honigfarbenes Haar war hinten im Nacken mit einer zum Anzug passenden gelben Seidenschleife zu einem Pferdeschwanz zu‐ sammengebunden. Ich erhob mich auf die Ellbogen und summte: »Knüpf ein gelbes Band um meinen Birkenbaum ...« Das Mädchen wirbelte auf dem Absatz herum. Ihr Gesicht wirkte härter als erwartet, und ihre braunen Augen paßten nicht recht zur Haarfarbe. »Hallo, Mr. Donnen. Sind Sie endlich aufge‐ wacht?« »Was habe ich denn diesmal angestellt? Mich in einem Blumentopf auf den Kopf gestellt?« fragte ich. 110
Das Mädchen schüttelte den Kopf. »Leider etwas viel Dramatischeres. Man hat Sie bewußtlos und von oben bis unten schmutzbedeckt bei den Ställen gefunden.« Langsam fielen mir gewisse Dinge wieder ein. »Was ist mit Lois Bata?« »Sie nimmt am Morgenlauf teil, von dem die Herr‐ schaften noch nicht zurückgekehrt sind.« »Und Jeremy Casement?« »Er hat sich angeschlossen, Mr. Donnen.« Das Mädchen lächelte mich an. »Und Ihre andere Freundin, Miß di Palma, darf heute wieder aufste‐ hen. Es geht ihr anscheinend endlich besser. Bleibt also nur noch die Aufgabe, Sie wieder auf die Bei‐ ne zu bringen.« Sie trat an mein Bett und zog die Decke zurück. »Ihnen steht jetzt eine gründliche Behandlung bevor. Sie brauchen sich aber keine Sorgen zu machen, es steht nicht allzu schlecht um Ihre Gesundheit.« Ich deutete auf den gelben Anzug und die Silber‐ stiefel. »Und was für eine Art von Behandlung wollen Sie mir in dieser Aufmachung verpassen?« Sie lächelte. »Die Stiefel sind absolut rutschfest be‐ sohlt. Den Grund dazu werden Sie später feststel‐ len können, und das Material des Anzuges ist so 111
beschaffen, daß es fast jede Flüssigkeit abstößt.« Sie faßte nach meiner Hand. »Gefällt er Ihnen? Hat er seine Wirkung auf Sie nicht verfehlt?« »Sie meinen, ob Sie mich darin auf Touren bringen können? Das kann man wohl sagen. Ich finde Sie ausgesprochen verführerisch.« »Dann ist es ja gut. Ich glaube nicht, daß es lange dauert, bis wir Sie wieder in Form haben.« »Wie heißen Sie eigentlich?« fragte ich. »Elsa Schneider.« »Gut denn, Miß Elsa Schneider, erzählen Sie mir etwas über Ihre Person. Sind Sie ausgebildete Krankenschwester?« »Ich habe mein Diplom«, erwiderte sie. »Übrigens haben alle Angestellten der Klinik die entspre‐ chenden Qualifikationen. Ich war in einem Kran‐ kenhaus in Bremen tätig, bevor ich zum Team der Klinik Sante stieß, um für Dr. Frantzius zu arbei‐ ten.« »Was hat der gute Doktor über mich zu sagen? Woran leide ich seiner Meinung nach, Schwester?« Sie nickte zu unseren verschlungenen Händen hi‐ nunter. »Halten Sie mich fest, Mr. Donnen, viel, viel fester als jetzt. Packen Sie richtig zu. Versu‐
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chen Sie, meine Hand zu zerdrücken und mir weh zu tun.« Ich öffnete meine Finger und betrachtete ihre darin liegende schlanke Hand. Dann drückte ich sie zu‐ sammen. Es geschah gar nichts. Ich hatte nicht die geringste Kraft in meinen Fingern, obwohl ich mich so heftig anstrengte, daß mein ganzer Arm schmerzte. Als ich mich in die Kissen zurücklehn‐ te, entzog sie mir ihre Hand. »Und was wollen Sie damit beweisen, Schwester?« »Zumindest, daß Sie sich in reichlich geschwächter Verfassung befinden, Mr. Donnen.« Sie stand auf. »Aber machen Sie sich keine übertriebenen Sorgen. Ich kenne Dr. Frantzius und seine Arbeit. Er hat schon die besten Erfolge bei Drogenabhängigen er‐ reicht. Es dauert nicht lange, und es geht Ihnen besser.« »Was meinen Sie damit?« Ich stemmte mich wie‐ der auf die Ellenbogen. »Wovon soll ich abhängig sein?« Elsa Schneider trat wieder neben mein Bett. »Das muß ich Ihnen doch wohl nicht erst sagen, Mr. Donnen.« »Ich würde es aber gern von Ihnen erfahren, Schwester.« 113
»Sie sind Schauspieler. Dr. Frantzius hat das größ‐ te Verständnis für Ihre Situation, und ich natürlich auch.« »Und wovon soll ich abhängig sein?« beharrte ich auf meiner Frage. »Sagen Sie’s mir endlich, ver‐ dammt noch mal!« »Sie haben Pillen zum Aufputschen benutzt«, be‐ merkte sie kühl. »Laut Dr. Frantzius besteht Ihre ganze Krankheit darin, seit langem ständig Über‐ dosen von Amphetaminen genommen zu haben.« »Das glauben Sie also!« »Allerdings, Mr. Donnen. Sie leiden unter einer sogenannten Überreizung. Einerseits verfallen Sie in Lethargie und sind geistig verwirrt, andererseits zeigen Sie Zeichen von Aggression und haben Hal‐ luzinationen.« »Zum Beispiel einen Zwerg, meinen Sie das?« »Je weniger Sie über ihn sprechen, desto besser ist es für Sie«, erwiderte sie kühl. Ich fiel in die Kissen zurück. »Und was ist mit den anderen, Jeremy und Lois?« »Ich kann über andere Patienten nicht mit Ihnen diskutieren, Mr. Donnen.« Sie holte aus einer Ecke einen leichten Rollstuhl, den ich bisher noch nicht gesehen hatte, und schob ihn in die Mitte des 114
Zimmers. »Setzen Sie sich hinein, damit ich Sie zum Behandlungsraum bringen kann.« Ich starrte sie fassungslos an. »Das darf doch nicht wahr sein. Wer braucht denn einen Rollstuhl?« »Sie, Mr. Donnen«, stellte sie fest. »Sie sind näm‐ lich weit schwächer auf den Beinen als Sie den‐ ken.« »Ich werde mich nur auf meinen eigenen Beinen vorwärts bewegen!« versicherte ich im Brustton der Überzeugung und schwang die Beine über die Bettkante. »Was sagen Sie dazu?« Ich stand auf, aber nicht lange. Plötzlich drehte sich das Zimmer vor meinen Augen, meine Beine gaben nach, und ich fiel auf das Bett zurück. Was immer mir auf meinem nächtlichen Spaziergang passiert war, of‐ fensichtlich hatte man mir etwas eingegeben, was mich meiner Kraft beraubt und meinen Geist bis zu einem gewissen Grade verwirrt hatte. Elsa Schneider reichte mir einen Bademantel und half mir in den Rollstuhl, gegen den ich mich jetzt nicht mehr wehrte. Mein Kopf fiel nach vorn, und ich fühlte mich wie betäubt. Das Mädchen schob mich in einen kleinen Aufzug mit einer einzelnen Gittertür. Ich spürte zwar, daß der Stuhl sich vor‐ wärts bewegte, nahm aber sonst nicht viel von 115
meiner Umgebung wahr. Eine Tür öffnete und schloß sich wieder, und plötzlich wurde ich mit einem Schlag hellwach. Der Stuhl kam in einem kleinen, leeren Raum zum Stehen. Der Boden bestand aus Steinplatten, in der Mitte war eine Abflußvorrichtung angebracht. Das einzige Licht rührte von einem Scheinwerfer her, der an der Decke unmittelbar über dem Abfluß angebracht war. In den Ecken des Raumes, die nicht von dem Lichtkegel erreicht wurden, herrschte undurchdringliches Dunkel. Vor dem Abfluß waren zwei stählerne Stützen in den Boden eingelassen, die an den oberen Enden mit einer fla‐ chen Stahlstange verbunden waren. Ich deutete entsetzt auf das Gestell. »Was soll das bedeuten? Es sieht ja fast wie eine Art Galgen aus.« Elsa Schneider schob den Rollstuhl direkt vor das Gestell. »Seien Sie nicht so dramatisch, Mr. Don‐ nen. Das Ganze dient nur dazu, Sie aufrecht zu halten, während Sie mit Wasser behandelt wer‐ den.« Sie trat neben mich. »Und wenn Sie jetzt den Bademantel und die Schlafanzugsjacke ausziehen, werde ich Ihnen helfen, sich aufzurichten.« Als ich bis auf die Pyjamahose nackt war, zog sie mich in die Höhe und führte mich zu dem Gerüst. 116
»Halten Sie sich fest, damit ich Sie in dieser Stel‐ lung festbinden kann.« Ich hob die Arme und umklammerte die Querstüt‐ ze. Wenn ich nach oben sah, tat mir der Rücken weh, so daß ich den Kopf senkte. Zuerst wurde mein rechtes, dann mein linkes Handgelenk mit einem Lederriemen befestigt, so daß ich jetzt buch‐ stäblich ans Kreuz gefesselt war. »Was, zum Teufel, stellen Sie da mit mir an?« frag‐ te ich mit wachsendem Entsetzen, als sie sich jetzt an meiner unteren Hälfte zu schaffen machte. »Ich ziehe Ihnen die Hose aus, Mr. Donnen.« Da das Mädchen mir gerade die Schlafanzugshose über die Füße streifte, war ich jetzt vollkommen nackt. »Eine Wasserkur in bekleidetem Zustand dürfte kaum das richtige sein«, fügte sie hinzu. Ich zerrte an meinen Handfesseln. »Und wozu soll das gut sein?« »Sie können leider nicht aus eigener Kraft stehen. Diese Riemen sollen Sie nur aufrecht halten.« Gleich darauf war sie im Halbdunkel verschwun‐ den, und da wechselte auch schon das Licht über meinem Kopf in Purpurrot. Wasser rauschte wie unter starkem Druck. Und dann stand Elsa Schneider mit einem weißen Wasserschlauch in 117
der Hand vor mir. Der gegen den Boden gerichtete Strahl wirkte spärlich und schäumte. Das Mädchen hob den Schlauch. Ich merkte, daß ich mich ge‐ täuscht hatte. Die Wucht des Wassers preßte mich zurück, so daß die Riemen um meine Handgelenke sich spannten. Der Strahl bewegte sich langsam über Magen, Brust, Hals und dann direkt in mein Gesicht. Dort traf er meinen Mund und meine Na‐ se, ging über die Augen und wanderte dann zu‐ rück. Das Mädchen stand ganz dicht vor mir. Das schäumende, angenehm warme Wasser rann an meinem ganzen Körper herunter. Immer wieder fuhr mir der Strahl abwechselnd über Arme und Beine. Das Licht hatte erneut gewechselt, jetzt war es grün. Plötzlich preßte das Mädchen sich mit einer schnellen Bewegung an mich. Sie legte einen Arm um meine Taille und zog mich näher an sich. Der Strahl lag auf meinem Gesicht und besprühte Mund und Nase. Das Licht wurde violett. Dann ging das Licht ganz aus, und der Wasser‐ strahl verschwand. Plötzlich war das Mädchen über mir. Ihr Mund suchte den meinen, ihre Zähne
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bohrten sich tief in meine Lippen, und ich spürte Blut. Genauso schnell war es wieder vorbei. Ich hing er‐ schöpft an den Stahlstützen, und nur der leicht bit‐ tere Blutgeschmack erinnerte mich daran, daß sie dagewesen war. Eine Nadel bohrte sich in meinen Oberschenkel. Die eindringende Injektionsflüssig‐ keit verursachte einen pochenden Schmerz in mei‐ nem Körper. Als die Nadel zurückgezogen wurde, breitete sich ein warmes Gefühl des Wohlbehagens in mir aus, das bis in die äußersten Fuß‐ und Fin‐ gerspitzen reichte. Hände, die ich nicht sehen konnte, befreiten mich von meinen Fesseln. Meine Arme fielen herunter, ich wurde hochgehoben und auf ein Ruhebett ge‐ legt. Ein Bademantel umhüllte meinen Leib. Ich spürte nur Wärme und Entspannung. Kühle Fin‐ ger wischten sanft das Blut von meinen Lippen. Ich sank in einen Schlaf, der gar kein Schlaf war. Doch da ging das weiße Licht wieder an, und ich starrte mit weit aufgerissenen Augen auf das sich mir bietende Bild. Aus einer Ecke wurde Mareta in die Mitte des Raumes geführt. Sie trug ein knöchellanges Ge‐ wand aus leuchtend grüner Seide und war barfuß. 119
Ihr langes, blondes Haar war zu einem dicken Zopf geflochten, der an der linken Seite ihres Ge‐ sichtes herunterhing. Ihre Handgelenke waren vorn zusammengebun‐ den. Rechts und links von ihr standen zwei Gestal‐ ten mit schwarzen Kopfmasken, nacktem Ober‐ körper und eng anliegenden schwarzen Hosen, die bis auf die Füße reichten. Sie hielten Mareta an den Armen fest. Ich sah wie geistig umnachtet zu, wie die zwei maskierten Männer sie vor das Gestell führten und ihre Handgelenke so daran befestigten, daß sie auf den Zehenspitzen stehen mußte. Einer der Männer packte den Ausschnitt ihres Kleides und riß es bis zum Saum auseinander, so daß sie jetzt nackt das‐ tand. Der andere Maskierte band die Fußgelenke unten an die Stahlstützen. Und dann wurde das Licht blau. Jetzt hob man mich von meinem Bett und zog mir den Bademantel wieder aus. Man stellte mich dicht vor Mareta, so daß wir uns ins Gesicht sahen. Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihr Mund halb ge‐ öffnet. Sie zeigte nicht das geringste Anzeichen, daß sie mich erkannte.
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Meine Arme wurden ebenfalls wieder an die Querstange und meine Füße unten an die Stützen gebunden. Das Licht wechselte in ein dunkles Grün. Jemand verband unsere Taillen mit einem breiten Ledergürtel. Weitere Riemen legten sich um unsere Oberschenkel und um die Brust. Un‐ sichtbare Hände schoben meinen Kopf in eine Po‐ sition, daß meine Lippen auf denen des Mädchens lagen. Ein Riemen um den Hals schnürte uns noch enger zusammen. Wir waren wie eine einzige Person und doch mei‐ lenweit voneinander entfernt. Unsere Lippen be‐ rührten sich ohne das geringste Gefühl. Wieder machten sich fleißige Hände an die Arbeit. Ein Klip wurde an meinem rechten Ohr befestigt. Ein Draht reichte zu einem zweiten Klip an Maretas Ohrläppchen. Eine weitere Elektrode legte sich um unsere Hüften. Jetzt standen wir Mund an Mund, Brust an Brust, Hüfte an Hüfte. Und doch spürte ich nichts als völlige Gleichgültigkeit. Das Licht glich einem Regenbogen, der sich schnell und schneller bewegte und die Nässe zu unseren Füßen in allen Farben schillern ließ. Und da war auch wieder das Wasser und lief von oben bis un‐ ten über unsere zusammengepreßten Leiber. Ein 121
Ruf, und ein elektrischer Stromkreis wurde ange‐ schlossen. Ein reißender Schmerz durchfuhr mich von Kopf bis Fuß. Jetzt waren wir nicht länger pas‐ siv, sondern bewegten uns in wilden Zuckungen. Tausend Empfindungen wirbelten durcheinander: Schmerz, Ekstase, Verzückung und dann das Nichts. Zum erstenmal wachte ich nicht in dem gräßlichen Krankenzimmer, sondern in meinem eigenen Bett mit den grünen Samtdraperien auf. Das Sonnen‐ licht drang gedämpft durch die halbgeschlossenen Vorhänge. Ich hatte nicht die leiseste Vorstellung, wie spät es sein konnte und wie lange ich schon hier lag. Nachdem ich eine Weile auf der Bettkante gesessen hatte, wagte ich vorsichtig ein paar Schritte. Ich fühlte mich noch etwas benommen, aber das war auch alles. Ich schlüpfte in den Ba‐ demantel, holte mir ein Handtuch und begab mich auf die Suche nach einem Badezimmer. Ein paar Türen weiter fand ich eines. Der große alte Raum mit den getäfelten Wänden wirkte zwar etwas vor‐ sintflutlich, aber die Badewanne war modern, und sogar eine Duschecke fehlte nicht. Ich verbrachte fast eine Stunde in dem dampfend heißen Wasser, duschte kurz und rubbelte mich 122
fest ab. Jetzt fühlte ich mich wie neugeboren. In meinem Zimmer angekommen, sah ich meine Uhr auf dem Nachttisch liegen. Es war kurz nach drei Uhr. Ich rasierte mich, zog leichte Hosen und ein Sporthemd an und machte mich auf die Suche nach Dr. Peter Frantzius. Ihn zu finden war nicht besonders schwer, da er sich in seinem Arbeitszimmer aufhielt. Als er mich sah, stand er auf und kam mir mit einem Gesichts‐ ausdruck entgegen, der alles und nichts bedeuten konnte. »Mr. Donnen! Wie schön, Sie wieder auf den Beinen zu sehen. Es tut mir leid, daß Sie so spät dran sind. Sonst hätten Sie die anderen bei ei‐ nem Ausflug in die Umgebung begleiten können.« »Ich mache mir nicht allzuviel aus solchen Dingen, Doktor. Außerdem habe ich im Moment andere Sorgen. Ich will Miß di Palma sprechen.« Er runzelte die Stirn, und seine dunklen Augen zogen sich zusammen. »Das dürfte ein wenig schwierig sein, wie Sie vielleicht verstehen können. Ihre Freundin ist immer noch sehr schwach und hat sich noch nicht wieder so gut erholt, wie ich das gern gesehen hätte.« »Es ist mir verdammt gleichgültig, wie schwierig Ihnen das scheinen mag, Doktor. Ich will sie sehen, 123
und zwar sofort. Ich hoffe, Sie können auch das verstehen.« Er konnte nur nachgeben. »Wie Sie wünschen!« Er führte mich aus seinem Büro, die breite Treppe hi‐ nauf. »Eine Bitte habe ich an Sie. Wollen Sie mir versprechen, alles zu vermeiden, was sie aufregen könnte?« »Machen Sie sich deshalb keine Sorgen, Doktor.« Er zögerte einen Augenblick, bis ich di‐ rekt neben ihm ging. »Und wie fühlen Sie sich nach der gestrigen Palpus‐Behandlung?« Ich hielt mich erstaunt am Treppengeländer fest. Einen Augenblick schien der weißgekleidete Mann neben mir vor meinen Augen zu verschwimmen. Dann klärte sich meine Sicht wieder. »Palpus‐ Behandlung? Ich verstehe nicht recht, was Sie da‐ mit meinen.« »Wirklich nicht, Mr. Donnen?« Lächelnd legte er die Hand auf meinen Arm. »Miß Schneider hat Ih‐ nen doch eine vollständige Kur angedeihen lassen. Sie hat mir bereits berichtet, wie gut Sie darauf an‐ gesprochen haben, aber das würde ich gern auch von Ihnen selbst erfahren.« Ich sah ihn fragend an. »Meinen Sie die Wasserdu‐ sche?«
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»Nicht Wasser, Mr. Donnen. Palpus! Das ist eine Lösung, die ich für besonders hartnäckige Fälle von geistiger Verwirrung entwickelt habe ...« »In welcher Beziehung meinen Sie das?« Sein Lächeln paßte sich dem ausdruckslosen Blick seiner Augen an. »Ich glaube doch, daß wir inzwi‐ schen ein Stadium erreicht haben, wo es nicht mehr nötig ist, mit Worten zu spielen. Ihre Krank‐ heit rührt von einer ständig dem Körper zugeführ‐ ten Überdosis von Amphetaminen her. In der Welt der Medizin nennt man das Überreizung. Wenn Sie nicht in die Klinik gekommen wären, hätten Sie über kurz oder lang eine dauernde Schädigung des Gehirns davongetragen. Wie die Sache aussieht, haben wir das gerade noch im richtigen Zeitpunkt aufgefangen. Die Palpus‐Behandlung ist eine Art Schock‐Therapie, in Ihrem Falle das letzte Mittel. Jetzt müssen wir Sie nur noch mit einer gesunden Diät, viel frischer Luft und Trimm‐Dich‐Übungen wieder in Form bringen.« »Verehrter Doktor, Sie selbst haben mich an mei‐ nem ersten Morgen auf einen Querfeldeinlauf ge‐ schickt.« »Das weiß ich und habe mir schon genügend Vorwürfe deshalb gemacht. Ich hätte Sie sofort 125
nach Ihrer Ankunft genau untersuchen müssen. Andererseits hatte ich nicht die leiseste Ahnung, daß Sie in solchem Maße von Drogen abhängig waren, Mr. Donnen. Wenn Sie sich nur an den Zwerg erinnern, den Sie gesehen zu haben glauben, Ihren Sturz aus dem Fenster und jetzt wieder ...« »Gehören alle diese Einzelheiten etwa zu den typi‐ schen Krankheitssymptomen?« »Leider ja, Mr. Donnen.« Sein Griff um meinen Arm wurde fester. »Ich glaube aber nicht, daß Sie sich jetzt noch Sorgen machen sollten. Sie sprechen auf meine Behandlung sehr gut an. Morgen vor‐ mittag werde ich Sie noch einmal auf Herz und Nieren untersuchen. Für mich besteht kein Zweifel daran, daß unsere Klinik wieder einmal ein kleines Wunder bewirkt hat.« Er deutete mit der freien Hand nach oben. »Wollen wir jetzt nicht Miß di Palma einen Besuch abstatten?« Ich zögerte einen Moment und nickte dann. »Ge‐ hen Sie voraus, Doktor.« Mareta lag in tiefem Schlaf. Sie trug das grüne Sa‐ tinnachthemd, und ihre Haare bildeten eine gol‐ dene Wolke auf dem Kopfkissen. Die Arme lagen entspannt. Ihre Augen waren fest geschlossen. Das 126
Heben und Fallen ihrer Brüste zeigte deutlich, wie ruhig und gleichmäßig sie atmete. Dr. Frantzius nahm eines ihrer Handgelenke zwi‐ schen Daumen und Zeigefinger und sah auf die Uhr. Während er ihren Puls zählte, ging ich zum Fenster. Zum erstenmal bemerkte ich die starken Gitterstäbe an der Außenwand. Als ich mich jetzt umsah, hatte Frantzius das Handgelenk losgelas‐ sen und nickte zur Tür hinüber. Ich folgte ihm nach draußen. »Mein lieber Mr. Donnen. Ich freue mich, Ihnen die angenehme Mitteilung machen zu können, daß Miß di Palmas Pulsschlag zum erstenmal seit ihrer Ankunft fast wieder normal ist.« »Doktor, was fehlt ihr denn eigentlich? Ich meine, leidet sie ebenfalls an Drogensucht, oder ...« »Es gehört im allgemeinen nicht zu meinen Ge‐ wohnheiten, über einen Patienten mit anderen zu diskutieren. Aber da Sie Freunde sind, kann ich vielleicht im Fall von Miß di Palma eine Ausnah‐ me machen. Sie hat seit geraumer Zeit zu große Dosen von Lysergischen Drogen eingenommen. Seit sie sich in der Klinik aufhält, war das zumin‐ dest zweimal der Fall.«
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Ich lehnte mich gegen die Wand und sah ihn ers‐ taunt an. »Sie wollen damit sagen, daß sie sich seit unserer Ankunft ständig auf einem Trip befunden hat?« »Ich würde sagen, auch schon vorher. Erinnern Sie sich nur an die Geschehnisse auf der Landstraße von Rocamadour, von denen Sie mir erzählt ha‐ ben.« »Lassen wir das einstweilen auf sich beruhen, Doktor«, sagte ich. »Im Augenblick würde ich gern eine kleine Fahrt durch die Umgebung machen. Ich muß nachdenken und mir über verschiedenes klar werden, auch was meine Person angeht. Ha‐ ben Sie Einwände? Oder glauben Sie, daß ich nicht fahren kann ...« »Das dürfte Ihnen jetzt keine Schwierigkeiten mehr bereiten. Nachdem Sie noch etwas schwach sind, würde ich allerdings ein geringes Tempo vorschlagen. Ansonsten sind Sie absolut imstande, auf sich selbst aufzupassen. Ihr Wagen steht in der Garage. Eine Spazierfahrt dürfte Ihnen guttun.« Ich machte ein paar Schritte auf die Treppe zu. »Danke schön.« »Mr. Donnen!« Seine Stimme stoppte mich. »Ich würde Sie gern gründlich untersuchen, wenn Sie 128
zurückkommen, und nicht bis morgen früh war‐ ten. Wären Sie so freundlich, mich dann in meinem Arbeitszimmer aufzusuchen?« Aus den Augenwinkeln konnte ich beobachten, daß er mir nachsah, als ich die breite Eichentreppe hinunterging. Ich verließ das Haus durch den Vordereingang und schlenderte zu den umgebau‐ ten Ställen hinüber, ohne eine Menschenseele zu Gesicht zu bekommen. Unser Volkswagen stand immer noch zwischen dem Ford Mustang und dem Mini‐Cooper. Ich setzte mich hinter das Steu‐ er, steckte den Zündschlüssel ins Schloß und dreh‐ te ihn herum. Der Motor hustete zweimal und brummte dann gleichmäßig vor sich hin. Einen Augenblick lang blieb ich ruhig sitzen, weil ich nicht wußte, was ich tun sollte. Am liebsten hätte ich Lois an meiner Seite gehabt, aber das war of‐ fensichtlich unmöglich. Schließlich fuhr ich aus der Garage heraus, passierte das schmiedeeiserne Tor und bog dort links in die schmale Landstraße ein, die in vielen Kurven und Kehren über die Hügel nach St‐Cere führte. Die kleine Stadt mit ihren vierhundertjährigen al‐ ten Häusern schien von Touristen verlassen. Ein 129
kalter Ostwind wehte, und vom Himmel rieselte ein bis auf die Knochen dringender, ungemütlicher Landregen. Der örtlichen Gendarmerie war eine kleine Abteilung der Kriminalpolizei angeschlos‐ sen. Ich mußte fast eine halbe Stunde auf einer Holzbank in einem dunklen Korridor warten, bis ich in einen winzigen Raum geführt wurde, in dem ein dicker Mann hinter einem altmodischen Schreibtisch residierte. Er deutete auf einen Stuhl. »Es kommt nicht oft vor, daß wir einen Engländer zu sehen bekommen, Mr. Donnen. Was kann ich für Sie tun?« Ich durchwühlte meine Taschen nach Zigaretten. »Zuerst möchte ich Ihnen zu Ihrem ausgezeichne‐ ten Englisch gratulieren, Lieutenant...« »Mein Name ist Maurac.« Er nahm die ihm ange‐ botene Zigarette und sprach weiter. »Joseph Mau‐ rac. Während des Krieges habe ich drei Jahre in London zugebracht, daher mein Englisch.« Er stand auf, zog die Jacke aus und zwängte seinen fetten Hintern wieder in den Armsessel. »Was kann ich also für Sie tun?« Das Ganze ist eine ziemlich merkwürdige Ge‐ schichte ...«, begann ich.
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»Dann unterscheidet sie sich nicht von den meis‐ ten Geschichten, die ich zu hören bekomme.« »Ich halte mich in der Klinik Sante bei Dr. Frant‐ zius auf«, versuchte ich es noch einmal. »Ah ja. Sind Sie zur Behandlung dort?« »So hatte ich mir das ursprünglich vorgestellt. Eine Generalüberholung und natürlich Diät. Wir sind zu viert...«»Also eine ganze Gesellschaft, die sich der Obhut des guten Doktors anvertraut hat. Was tun Sie beruflich, Mr. Donnen?« »Wir sind Schauspieler, Lieutenant. Eines der Mädchen, Lois Bata, tritt außerdem noch als Tän‐ zerin auf, und ich schreibe gelegentlich. Wenn ich mich entspannen will, wenn Sie verstehen, was ich meine.« »Was schreiben Sie?« fragte Maurac. »Komödien, Gags, Szenen, alles was ich verkaufen kann.« Maurac zog an seiner Zigarette. »Und was hat Sie dazu veranlaßt, sich an die Polizei zu wenden, Mr. Donnen?« »Die Situation in der Klinik bereitet mir Kopfzerb‐ rechen. Anscheinend hat Dr. Frantzius für uns alle die gleiche Diagnose gestellt. Seiner Meinung nach sind wir rauschgiftsüchtig.« 131
Maurac starrte mich mit seinen kleinen, von Speck‐ falten eingerahmten blauen Augen an. »Sind Sie süchtig?« Langsam stieg in mir ein gewisser Ärger gegenü‐ ber der unförmigen Gestalt hinter dem Schreib‐ tisch auf. »Nein! Ich kann Ihnen versichern, daß keiner von uns jemals Rauschgift genommen hat.« »Ich habe bisher mit der Vorstellung gelebt, daß Schauspieler ungeheuer abhängig von künstlichen Stimulans sind. Premierenfieber, und alles was damit zusammenhängt.« Ich ließ die Asche meiner Zigarette auf den Boden fallen. »Das sind wir nicht, genausowenig wie Sie, Lieutenant.« »Ich verstehe.« Maurac zog seine feuchte Unter‐ lippe zwischen die Zähne. »Ich kenne den Doktor persönlich, da ich ihn schon ein paarmal in der Klinik aufgesucht habe. Eine Frage, Mr. Donnen. Das Personal dort besteht zum größten Teil aus Deutschen, wenn ich recht informiert bin.« »Jeder einzelne, soweit ich das beurteilen kann«, erwiderte ich. »Wenn es dort Menschen mit einer anderenStaatsangehörigkeit gibt, habe ich sie noch nicht kennengelernt.«
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»Kommen wir zur Sache. Was hat Sie veranlaßt, sich an die Polizei zu wenden?« »Ich habe Angst, Lieutenant. Vielleicht kommt Ih‐ nen das bei einem Erwachsenen kindisch vor, aber es entspricht der Wahrheit. In der Klinik gehen Dinge vor, für die ich keine Erklärung habe.« »Ich verstehe Sie nicht ganz, Mr. Donnen. Bitte drücken Sie sich etwas deutlicher aus und erklären Sie mir genau, was Sie meinen.« Als ich meine Geschichte beendet hatte, wußte ich bereits, daß es mir nicht gelungen war, ihn von der Wahrheit meiner Worte zu überzeugen. Der Polizist stieß einen tiefen Seufzer aus, faltete die Hände über seinem dicken Bauch und sah mich nachdenklich an. »Mr. Donnen, ich bin als vernünftiger Mann bekannt und habe mir ange‐ hört, was Sie zu sagen hatten. Ich habe Ihre Aussa‐ ge keinen Augenblick in Zweifel gezogen und mir von Ihnen alles so erzählen lassen, wie es sich in Ihrer Phantasie abgespielt haben mag. Das müssen Sie doch zugeben ...« »Aber Sie glauben mir nicht, Lieutenant«, schnitt ich ihm das Wort ab. »Sie glauben kein einziges Wort.«
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»Versetzen Sie sich mal in meine Lage. Wie wür‐ den Sie auf solche Informationen reagieren?« Seine kleinen Augen waren durchdringend auf mich gerichtet. Ich sah, daß er den Kopf schüttelte. Da gab ich auf. »Ich bin Ihnen dankbar, daß Sie mir soviel von Ihrer kostbaren Zeit geopfert haben, Lieutenant. Und jetzt will ich Sie so schnell wie möglich von meiner Gegenwart befreien und Sie nicht länger aufhalten.« »Seien Sie kein Narr«, sagte Maurac kurzangebun‐ den und winkte mich auf meinen Stuhl zurück. »Es gibt an Ihrer Geschichte etwas, was ich in mei‐ ner Eigenschaft als Polizist nicht außer acht lassen darf. Sie haben mir erklärt, Sie hätten Angst. Wie alt sind Sie, Mr. Donnen?« »Fünfundzwanzig«, erwiderte ich etwas verwirrt. »Aber was hat mein Alter mit...« »Ein Mann von fünfundzwanzig Jahren kommt nicht zur Polizei, wenn er nicht schwerwiegende Gründe für seine Befürchtungen hat. Außer viel‐ leicht, wenn er unter einem Schuldkomplex leidet, verrückt ist oder unter dem Einfluß von Alkohol oder Drogen steht. Wenn auch Ihr Bericht über die Vorfälle in der Klinik Sante wie die Fieberphanta‐ sien eines Rauschgiftsüchtigen klingen, so kann ich 134
mich doch nicht ganz zu der Vorstellung durch‐ ringen, daß das in Ihrem Falle stimmt. Und des‐ halb werde ich Nachforschungen anstellen.« Er verzog seine feuchten Lippen zu einem Lächeln. »Sie werden wieder von mir hören, dessen können Sie gewiß sein.« Ich stand auf und schüttelte seine plumpe Hand. »Ich danke Ihnen, daß Sie mir Ihre Aufmerksam‐ keit geschenkt haben.« »Das Los eines Polizisten!« Jetzt grinste er. Ich trat auf die vom Regen leergefegte Straße und stieg in den Volkswagen. Ich war bedrückt und müde und hatte außerdem von der Klinik und Dr. Frantzius die Nase voll. Mühsam suchte ich mir meinen Weg durch ein Gewirr von engen Gassen, bis ich endlich die Straße fand, auf der ich ge‐ kommen war. Was mich am meisten beunruhigte, war mein völ‐ liges Unvermögen, mich zu konzentrieren. Ich konnte mich zwar gerade noch vage an die Was‐ serkur und das Mädchen im gelben Anzug erin‐ nern, wußte aber bereits nicht mehr, ob ich dem Lieutenant davon erzählt hatte. Der Scheibenwischer surrte mit gleichmäßigem Geräusch über die Windschutzscheibe und ver‐ 135
suchte des vom Wind dagegengepeitschten Regens Herr zu werden. Die Straßenlaternen hatte ich nach kurzer Zeit hinter mir gelassen. Ringsum herrschte Finsternis. Halbvergessene Erinnerungs‐ fetzen gingen mir im Kopf herum und verfolgten und quälten mich, während ich auf der kurvenrei‐ chen Straße zurück zur Klinik fuhr. Nachdem ich den Volkswagen an seine alte Stelle in der Garage gestellt hatte, blieb ich einen Augen‐ blick lang stehen, um die kühle Nachtluft ein‐ zuatmen, die vom Tal der Dordogne herüberweh‐ te. Ich war zwar enttäuscht aber kaum überrascht über den Empfang, den mir Lieutenant Maurac be‐ reitet hatte. Wenn man die Angelegenheit aus der Sicht eines französischen Landpolizisten betrachte‐ te, waren wir vier wirklich nur eine Horde ver‐ rückter englischer Touristen, und unsere Probleme mußten ihm wie die Halluzinationen von Rausch‐ giftsüchtigen vorgekommen sein. Ich zündete eine Zigarette an und machte mich auf den Weg zum Vordereingang der Klinik. Da löste sich plötzlich Christian aus dem Schatten und ging neben mir her. Seine Schuhe verursachten ein schlurfendes Geräusch auf dem Kiesboden. »Gu‐ ten Abend, Mr. Donnen«, begrüßte er mich. 136
»Was gibt es, Christian?« fragte ich. Ohne den ge‐ ringsten Grund regte sich wieder die Angst in mir. »Dr. Frantzius würde Sie gern sehen, bevor Sie in Ihr Zimmer hinaufgehen.« »Ich war bereits auf dem Weg zu ihm«, erwiderte ich. »Gut. Das war alles.« Die untersetzte Gestalt des Mannes verschwand genau so geräuschlos aus meinem Blickfeld, wie sie gekommen war. Ich ging langsam weiter, bis ich am Fuß der breiten Freitreppe stand, die zu der schweren Eingangstür der Klink hinaufführte. Dort blieb ich noch einen Moment stehen und rauchte meine Zigarette zu Ende. Das Gefühl der Angst hatte jetzt solche For‐ men angenommen, daß ich nur den Wunsch hatte, mich sofort wieder ins Auto zu setzen und diesen verfluchten Ort für immer zu verlassen. Andererseits mußte ich Lois, Jeremy und’ ganz be‐ sonders Mareta in Betracht ziehen. Als ich ent‐ deckte, daß ich im Grunde nicht die geringste Lust hatte, Rücksicht auf meine Freunde zu nehmen, bedeutete das einen ziemlichen Schock für mich. Sie lebten ihr Leben und ich das meine. Und ich war krank vor Angst und sehr, sehr müde.
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Schließlich schleppte ich mich mit bleischweren Füßen die Stufen hinauf und drehte an dem Tür‐ knopf aus Messing. Innerlich schickte ich ein Stoß‐ gebet zum Himmel, die Tür möge sich nicht öff‐ nen. Ich hatte keinen Erfolg und trat gleich darauf in die weite Halle. Der ganze Raum war strahlend hell erleuchtet. Je‐ de einzelne Wandbeleuchtung war eingeschaltet, und der riesige Kronleuchter an der Decke wirkte wie ein glitzernder Ball aus Kristall. Zum ersten‐ mal wurde mir die ganze Schönheit der holzgetä‐ felten Wände und der eleganten geschwungenen Freitreppe richtig bewußt. Hinter einer Tür hörte ich laute Musik, offensichtlich aus dem Fernseh‐ apparat. Dazwischen mischte sich Stimmengewirr und das Klirren von Gläsern, die mit Sicherheit den obligatorischen Dörrpflaumensaft enthielten. Wie angewurzelt blieb ich stehen. In halber Höhe stand auf dem Treppenabsatz Mareta. Wie lange sie sich schon dort aufhielt, wußte ich nicht. Sie war barfuß und trug nur das grüne Satinnacht‐ hemd. Ihr langes Haar hing zerzaust herab. Sie starrte mit leeren Augen zu mir herunter, als ob sie mich noch nie gesehen hätte. Plötzlich schwankte
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sie, faßte nach dem Treppengeländer und klam‐ merte sich dort fest. Ich lief so schnell ich konnte an der Tür des Arztes vorbei und nahm gleich zwei Stufen auf einmal. Oben angekommen packte ich das Mädchen am Arm und zog sie in den Hintergrund, damit man sie von unten nicht sehen konnte. »Mareta«, flüs‐ terte ich, was machst du hier? Wo ist...« »Ich bin Bastet!« Sie sprach ganz leise und mit aus‐ drucksloser Stimme. Ganz offensichtlich erkannte sie mich nicht. »Ich bin Bastet. Der Tag wird kommen ...« Ich schob sie an beiden Armen vor mir her. Sie bewegte sich merkwürdig hölzern und ohne die geringste Spur von Geschmeidigkeit. Bei jedem Schritt stieß sie mit den Füßen gegen die Holzstu‐ fen. Schließlich zog ich sie fast gewaltsam die Treppe hinauf. Im Gegensatz zu der unten herrschenden Hellig‐ keit war es auf dem Korridor vor ihrem Zimmer ziemlich dunkel. Ich öffnete die Tür, trug sie hi‐ nein und legte sie auf das Bett. Als ich mich nach einem Schlüssel umsah, fand ich an der schweren, massiven Tür nur eine dekorative Messingklinke. Es gab weder Schloß noch Riegel. Wieder einmal blieb mir nichts anderes übrig, als einen Stuhl un‐ 139
ter die Klinke zu klemmen. Dann setzte ich mich neben Mareta aufs Bett. »Mareta! Kannst du mich hören? Ich bin Myles«, beschwor ich sie. Sie starrte mich an und runzelte die Stirn, als ob sie sich zu erinnern versuchte. Zum erstenmal glaubte ich in ihrem Blick einen Funken des Erkennens aufblitzen zu sehen. »Myles! Du bist Myles!« sagte sie mit schwacher Stimme. Ich beugte mich über sie. »Mareta, was ist mit dir geschehen? Warum redest du ständig von Bastet? Und was geht in der Kapelle im Walde vor sich? Weshalb behauptet Dr. Frantzius ...« Bei diesem Namen fuhr sie halb hoch und sah mit wilden Blicken an mir vorbei. »Frantzius ist Apep, wußtest du das nicht? Myles, du mußt alles erfah‐ ren, damit du es aufschreiben kannst, wenn die Zeit gekommen ist.« »Mareta!« Ich schrie jetzt ihren Namen fast. »Mare‐ ta, hör auf damit.« Ein paar Sekunden lang blickte sie mich mit gro‐ ßen, leeren Augen an, dann fiel sie mit einem Seuf‐ zer in die Kissen. »Es tut mir leid, Myles, wirklich, es tut mir leid.« Ihre Stimme wurde immer leiser. »Du mußt alles aufschreiben. Du mußt...« 140
Ihre Lippen bewegten sich noch, als ihre Augen schon zufielen und sie in einen tiefen, ruhigen Schlaf sank. Ich setzte mich in einen Sessel neben das Fenster und zündete mir eine Zigarette an. Jetzt war die Zeit gekommen, einen Plan zu schmieden und etwas zu tun. Zum erstenmal in meinem Leben als Erwachsener wußte ich weder, was ich denken, noch was ich tun sollte. Zum Teil ahnte ich durch ein paar Worte, die Dr. Frantzius zu mir gesagt hatte, die Wahrheit. Lysergische Drogen lautete seine Diagnose, auf alle Fälle aber Rauschgift, vielleicht LSD. Ich fühlte mich nicht kompetent genug, um das entscheiden zu können. Langsam hatte ich überhaupt das Gefühl, daß mir die Fähigkeit zum klaren Denken abhanden ge‐ kommen war. Ich zog an meiner Zigarette, blies den Rauch in die Luft und sah auf das glühende Ende. Frantzius ist Apep, hatte Mareta behauptet. Apep war nicht nur ein Name für mich, sondern hatte eine Bedeutung. So hieß der altägyptische Gott der Nacht, Apep, die Schlange, der künftige Zerstörer der Sonne. Apep, der Todfeind von Bastet, der Göttin der Sonne. Bastet, die Leben und Licht schenkte.
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Mareta und Frantzius gleich Bastet und Apep. Die Gleichung erschien mir ein wenig zu simpel. Und trotzdem konnte das die Erklärung sein, wenn sich auch mein Verstand dagegen sträubte. Hier han‐ delte es sich um ein unerklärliches Zurückgleiten in längst vergangene Zeiten und Geschehen. Ich nahm den Stuhl unter der Tür weg und verließ das Zimmer. Zu allem entschlossen ging ich die Treppe hinunter. Mein neu erwachtes Wissen ver‐ dankte ich einer kleinen Stadt an der Nordostküste Englands. Am dortigen Theater hatte ich, nachdem ich mein Diplom erhalten hatte, mein erstes Enga‐ gement angetreten. Ich war Regieassistent und als zweite Besetzung für die führende männliche Hauptrolle vorgesehen. Leider kam ich nicht zum Zuge, da mein Kollege keine einzige Vorstellung versäumte. Dadurch hatte ich viel freie Zeit zur Verfügung. Um mich zu beschäftigen, lieh ich mir in der örtlichen Bibliothek Bücher aus. Eines davon war die Übersetzung des Werkes eines französi‐ schen Ägyptologen, der Papyrusrollen entziffert und einen vollständigen Bericht über die allnäch‐ tlichen Kämpfe zwischen Bastet, der Göttin von Bubastis, und Apep, dem Herrscher der Finsternis, niedergelegt hatte. 142
Ich lief mit großen Sprüngen die Treppe hinunter und klopfte energisch an die Eichentür des Ar‐ beitszimmers von Dr. Frantzius. Sie wurde sofort von dem großen, schlanken Deutschen geöffnet. »Hallo, Mr. Donnen. Ich hoffe, Sie haben Ihren Be‐ such in unserer hübschen Stadt St‐Cere genossen.« Ich ging an ihm vorbei ins Zimmer. »Das scheint mir im Moment nicht besonders wichtig, Doktor. Ich möchte mit Ihnen über Mareta di Palma spre‐ chen.« Er schloß die Tür und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. »Zuerst wollten Sie sich doch einer gründlichen Untersuchung unterziehen, war es nicht so?« »Das können wir im Moment vergessen, Doktor, wenn es Ihnen nichts ausmacht.« Er zuckte die Achseln und setzte sich hinter seinen Schreibtisch. »Ich bin hier, um Ihnen zu helfen. Aber morgen ist auch noch ein Tag.« Seine dunk‐ len Augen glichen unergründlichen Teichen. »Was wollen Sie von mir wissen? Sie haben Ihre Freun‐ din ja selbst gesehen und kennen ihren Zustand. Ich mache mir Sorgen um sie, wie ich schon früher sagte ...«
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»Hören Sie, Doktor. Als ich von der Garage kam, fand ich sie auf dem Treppenabsatz in der Halle. Ich brachte sie in ihr Zimmer ...« »Was meinen Sie damit, daß Sie sie gefunden ha‐ ben?« »Genau wie ich es sage. Ich fand sie auf dem Treppenabsatz. Sie starrte zu mir herunter, ihr Geist war offensichtlich verwirrt. Ich führte sie in ihr Zimmer und legte sie dort auf das Bett. Bevor sie in eine Art Schlummer hinüberglitt, redete sie mit mir.« »Was hat sie gesagt?« Frantzius zischte mir die Frage fast entgegen. »Wie kommt es, daß Sie mich nicht gleich informiert haben?« »Weil ich es für richtiger hielt, sie erst ins Bett zu bringen!« fauchte ich zurück. »Ich verstehe.« Er trommelte mit seinen schlanken Fingern auf die Schreibtischplatte. »Da ist es wohl besser, wenn ich sofort nach ihr sehe. Seien Sie doch bitte so freundlich und warten einstweilen hier auf meine Rückkehr, Mr. Donnen.« »Wenn Sie wollen. Falls Sie es nicht für besser hal‐ ten, wenn ich Sie begleite.« »Wie kommen Sie auf die Idee?« Er ging zur Tür. »Es dauert höchstens eine Viertelstunde.« Er zeigte
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auf seinen Schreibtisch. »Zigaretten finden Sie dort in der Dose.« Ich warf mich in einen Sessel. »Wenn ich mich recht erinnere, hatten Sie doch etwas gegen das Rauchen einzuwenden, Doktor?« »In Ihrem Falle dürfte das meiner Meinung nach keine Rolle spielen«, sagte er kühl, verließ den Raum und schlug die Tür krachend hinter sich zu. Jetzt war ich ernstlich besorgt. Frantzius und seine Klinik wurden mir immer unerklärlicher. Zuviel war seit unserer Ankunft geschehen. Mareta, die noch bei der Abfahrt in London ein ganz normales Mädchen gewesen war, hatte sich in ein verwirrtes Wesen verwandelt, das offensichtlich im alten Ägypten lebte. Jeremy war launisch und angriffs‐ lustig. Nur Lois hatte bis jetzt kein verändertes Wesen gezeigt. Ich nahm eine Zigarette aus der Dose des Arztes und zündete sie mit seinem eleganten Tischfeuer‐ zeug an. Anscheinend galt das Rauchverbot nur für seine Patienten und nicht für ihn selbst. Ich rauchte langsam vor mich hin, während mir tau‐ send Gedanken durch den Kopf schössen. Schließ‐ lich konnte ich nicht länger ruhig sitzen bleiben und schlenderte ziellos in die Halle hinaus. Aus 145
dem Aufenthaltsraum tönte die abgehackte Stim‐ me des Ansagers. Plötzlich fiel mir ein, daß sich Lois möglicherweise dort aufhielt. Das Zimmer war leer bis auf eine schlafende Gestalt am Fenster und zwei Männer und eine Frau, die ich noch nie gesehen hatte. Mit einer Entschuldigung zog ich mich wieder zurück. Als ich wieder in das Büro des Arztes trat, klingelte das schwarz‐goldene Te‐ lefon auf seinem Schreibtisch. Ich schaute es ein paar Sekunden zweifelnd an, bevor ich den Hörer abnahm und mich meldete. »Hier das Büro des Arztes.« »Sind Sie das, Mr. Donnen?« Ich erkannte die Stimme von Schwester Angela Puchert. »Hallo, ist dort...« »Hier spricht Myles Donnen, Schwester.« »O gut. Ich soll Ihnen von Doktor Frantzius etwas ausrichten.« »Schießen Sie los, Schwester.« »Pardon, wie meinen Sie das?« »Verzeihung, das war nur eine Redensart. Was wollten Sie mir sagen?« »Der Doktor möchte sie in fünf Minuten vor der Garage treffen.«
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»Ich werde dort sein.« Wir hängten gleichzeitig auf. Ich sah auf meine Armbanduhr, es war acht Uhr fünfunddreißig. Während ich noch das Zifferblatt betrachtete, schienen die silbernen Zeiger und die weißen Zahlen sich langsam wie bei einem Zeitlu‐ penfilm zu verschieben und ich sah zwei Ziffer‐ blätter nebeneinander. Verwirrt schloß ich die Au‐ gen. Als ich sie wieder öffnete war nur noch ein Zifferblatt vorhanden und es war acht Uhr neu‐ nunddreißig. In der Halle hatte man inzwischen die Festbeleuch‐ tung abgedreht. Nur noch ein paar elektrische Kerzen in den Wandnischen warfen kleine, weiche Lichter in den sonst dunklen Raum. Ich öffnete die Vordertür und ging langsam die Stufen hinunter. Es war kälter, als ich gedacht hatte. Der Regen hat‐ te aufgehört und die Luft war klar und rein. Bei der Garage angekommen, bummelte ich gemäch‐ lich an der Reihe der geparkten Wagen entlang. Von Dr. Frantzius war nichts zu sehen. Ich ging so weit, bis der Kies aufhörte und einem kleinen, schmutzigen Pfad Platz machte, der offensichtlich zu einer hohen Tannengruppe führte.
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Plötzlich umgab mich der Geruch nach verfaultem Fleisch, vermischt mit dem Schweißgeruch eines menschlichen Wesens. Als ich erstarrte, schienen sich vor meinen Augen die Stämme der Tannen zu teilen, bis ich die doppelte Anzahl von Bäumen vor mir sah. Ich ging ein paar Schritte und faßte mit der Hand nach einer der Tannen, aus der so plötzlich zwei geworden waren. Meine Hand stieß auf kein Hindernis. Hier wuchsen überhaupt keine Bäume! Und dann hörte ich ein Geräusch. Das tiefe Heulen eines Wolfes erklang hinter mir in der Dunkelheit. Ich wirbelte herum und sah die Umrisse einer schlanken Gestalt. Vor Angst am ganzen Leibe bebend drehte ich mich wieder um. Jetzt schienen die Bäume ganz im Boden zu versinken und ein Stück weiter vorn wieder aufzutauchen. Hinter den dunklen Wolken am Himmel zeigte sich das Stück einer blassen Mondsichel. »Myles«, sprach mich eine weiche Stimme an. »Myles, wo bist du?« Das Herz klopfte mir bis zum Halse, und ich schwankte wie betrunken von einer Seite auf die andere. Immer noch konnte ich den Blick nicht von den merkwürdigen Bäumen wenden. 148
»Ich bin hier, Myles«, lockte die Stimme jetzt hinter mir. Bei dem Versuch, mich umzudrehen, stolperte ich über eine Wurzel und stürzte fast zu Boden. Mitten auf dem schmalen Pfad stand Elsa Schnei‐ der. Das blasse Mondlicht enthüllte die weiche Samthaut ihres nackten Körpers. Das honigfarbene Haar fiel in lockeren Wellen auf die schlanken Schultern. Mit leuchtenden Augen streckte sie mir die Arme entgegen. »Komm zu mir, Myles.« Dieser Einladung konnte ich nicht widerstehen. Torkelnd ging ich auf sie zu und legte meine Hän‐ de um ihre kühle, nackte Taille. Der üble Geruch nach Aas wurde plötzlich so stark, daß ich die bit‐ tere Galle, die mir in Kehle und Mund stieg, nur mühsam zurückdrängen konnte. Unter meinen schweißnassen Handflächen spürte ich, wie sich alles, was an dem schlanken Mädchen menschlich gewesen war, mit dichtem Fell bedeck‐ te. Ihr Atem, der mir zuvor so süß erscheinen war, glich jetzt dem eines Raubtieres, das eben ein fri‐ sches Opfer geschlagen hatte. Ich riß mich aus ihren Armen los, die keine mehr waren, sondern sich in die dicken Pranken mit messerscharfen Krallen eines grauen Wolfes ver‐ wandelt hatten. Vor mir stand ein mörderisches 149
Untier, ein Werwolf der Dordogne. Auch das Ge‐ sicht war verschwunden. Von dem Mädchen Elsa Schneider war keine Spur übriggeblieben. Nichts mehr erinnerte an den schlanken weißen Körper, das honigfarbene Haar, das etwas herbe Gesicht mit den großen braunen Augen. Aus einem gräßli‐ chen Maul mit spitzen Reißzähnen ertönte ein ge‐ fährliches Grollen. In diesem Augenblick begann ich den Pfad ent‐ langzurennen, der sich unter meinen Füßen zu strecken schien. Ich lief durch Büsche, die sich verdrei‐ und vervierfachten. Mein Kopf dröhnte, und meine Lunge drohte zu platzen. Und hinter mir rannte knurrend und heulend mit ausgestreck‐ ten Pranken die Wolfsfrau. Ich warf mich nach links und brach mit letzter Kraft durch das Unterholz. Die dünnen, blätterlo‐ sen Zweige schlugen mir wie Peitschenhiebe ins Gesicht. Plötzlich blieb ich mit dem Fuß in einer Baumwurzel hängen und stürzte hilflos mit dem Gesicht nach unten auf den nassen braunen Boden. Der gewaltige Leib des Werwolfes warf sich über mich, ehe ich mich wieder erheben konnte. Mein Kopf fiel auf den Boden zurück. Das Biest um‐ klammerte meinen Brustkorb und meine Ober‐ 150
schenkel. Das Maul mit den schrecklichen Hauern versuchte sich in meinem Nacken zu verbeißen. Ich litt unaussprechliche Qualen, als ich fühlte, wie mein Fleisch förmlich zerfetzt wurde. Blindlings tastete ich mit den Händen um mich. Plötzlich schlossen sich meine Finger um ein rostiges Stück Eisen. Es war kurz und scharf, mußte aber zum Töten genügen, wenn der Stoß an der richtigen Stelle saß. Ich spürte, wie sich die Zähne in meinen Nacken bohrten. Überall rann das warme, klebrige Blut an mir herunter. Der Aasgestank mischte sich mit dem Modergeruch des feuchten Bodens. Ich holte mit der Kraft der Verzweiflung aus. Der große Körper über mir bewegte sich gleichzeitig mit mir, und der Grund erzitterte unter unserem Kampf. Ich fuhr mit dem Eisenstück nach oben und betete, daß ich nicht auf einen Knochen des gewaltigen Brustkorbes stieße. Erst meine Hand wurde durch das dicke Fell aufgehalten. Das Ei‐ senstück war in ganzer Länge direkt in das Herz des auf mir liegenden Untiers gedrungen. Sein To‐ desschrei stieg hoch und schrill zum Himmel mit dem blassen Mond auf. Die Krallen lösten sich aus meinem Fleisch, der Biß in meinem Nacken wurde schwächer, kein übler 151
Atem wurde mir mehr ins Gesicht geblasen. Ich kroch unter dem Biest hervor, hob mich mühsam auf die Knie und zog mich an ein paar Zweigen hoch, bis ich endlich taumelnd auf den Beinen stand. Als ich zu Boden sah, stockte mir der Atem. Zu meinen Füßen lag kein riesiger grauer Wolf, wie es ihn zu Urzeiten gegeben hatte, sondern ein schlan‐ ker, mit Blut bedeckter Körper mit einer tiefen Wunde direkt über der linken Brust, wo nur noch der Rest eines rostigen Eisenstückes aus dem wei‐ ßen Fleisch ragte. Elsa Schneider lag tot zwischen dem niedergebro‐ chenen Gebüsch. Meine Hand hatte die rostige Klinge durch das nachgiebige Fleisch über ihrem Herzen gebohrt. Ungerührt fächelte die kühle Ok‐ toberbrise darüber hin. Ich warf mich auf den Boden und starrte voller Entsetzen auf den nackten Körper. Der Tod hatte die lebhaften braunen Augen ausdruckslos ge‐ macht. Die Lippen entblößten eine Reihe ebenmä‐ ßiger weißer Zähne. Die schlanken Hände lagen mit den Handflächen nach oben. Nur die Finger waren noch gekrümmt wie die Krallen des ang‐ riffslustigen Wolfes. 152
Tief aus meinem Unterbewußtsein drang ein Be‐ griff an die Oberfläche. Lycantropie! Die Verwand‐ lung eines menschlichen Wesens in die Gestalt ei‐ nes Wolfes. Aus meinen Verletzungen auf dem Rücken und am Brustkorb sickerte das Blut und rann an mei‐ nem Körper herunter. Ich war so erschöpft, daß ich Arme und Beine fast nicht mehr bewegen konnte. In meiner Umgebung teilten sich die Bäume nicht mehr. Selbst im Halbdunkel konnte ich jeden ein‐ zelnen Stamm erkennen. Was immer meine Sicht verändert hatte, hatte offenbar seine Wirkung ver‐ loren. Ich riß mich zusammen und trat mit einem großen Schritt über die Leiche Elsa Schneiders. Die Zweige schlugen mir ins Gesicht, als ich mich mühsam zu dem Weg zurückkämpfte, der zur Garage führte. Torkelnd und schwankend, wobei ich ein paarmal fast zu Boden stürzte und mich immer wieder im letzten Augenblick fing, erreichte ich endlich den Kies des Fahrweges. Vor der Garage traf ich auf eine Gestalt im weißen Anzug. »Mr. Donnen? Was ist passiert?« Ich blickte in das ausdruckslose Gesicht des Pfle‐ gers Georges. »Ich bin verletzt«, brachte ich mit 153
letzter Kraft heraus. »Ich glaube, schlimm ver‐ letzt.« Er legte mir stützend einen Arm um die Schultern. »Sie haben anscheinend viel Blut verloren. Ich werde mich darum kümmern ...« Seine Worte verhallten. Meine Beine trugen mich nicht länger. Als ich fiel, fing er mich auf. Und dann hatte ich das Bewußtsein verloren. Diesmal lag ich in einem Zimmer, das ich noch nie gesehen hatte. Die niedrige Decke bestand aus schweren Eichenbalken. Die Wände waren aus Stein, und es gab kein Fenster. Ich lag auf dem Bauch auf einem flachen Bett. Die Schmerzen in meinem Rücken waren fast unerträglich. Was Georges auch mit mir angestellt hatte, offensich‐ tlich hatte er sich die Mühe gespart, meine Wun‐ den zu verbinden. Ich erhob mich etwas und bewegte vorsichtig den Kopf. Mein Nacken fühlte sich völlig steif an. Über meinem Kopf, zwischen zwei Eichenbalken, be‐ fand sich eine kleine, viereckige Dachluke, die halb offen stand. Durch dieses Oberlicht lugte eine kleine schwarze Katze zu mir herunter. Ihre großen Augen beweg‐ ten sich nicht. Sie schien sich an meinen vergebli‐ 154
chen Bemühungen zu weiden, mich aufzusetzen. Plötzlich schob sich das Tier durch die Luke und landete leichtfüßig mit einem Satz auf meiner De‐ cke. Als ich instinktiv die Hand ausstreckte, um das Tier zu streicheln, wich es vor meinen Fingern zu‐ rück. Gleich darauf war es wieder da und bohrte seine Zähne in das weiche Fleisch über meinem Handgelenk. Dabei entstand ein messerscharfer Schmerz, der mich hochfahren ließ. Gleich darauf breitete sich ein angenehmes Gefühl in meinem Körper aus, das vom Kopf bis zu den Fußspitzen reichte. Da ich keine Spur von Energie aufbrachte, konnte ich eben noch den Kopf drehen und das kleine Pelzbündel betrachten. Die Katze verhielt sich ru‐ hig und machte nicht den leisesten Versuch, die Schnauze zu öffnen. Aber genauso schnell wie sie zugebissen hatte löste sie die Zähne aus meinem Arm und blieb aufrecht und reglos neben mir sit‐ zen. Mit großen Augen sah sie mich forschend an. Und da merkte ich erst, daß die Schmerzen in mei‐ nem Rücken und über meinen Rippen nachgelas‐ sen hatten. Selbst meinen Kopf konnte ich mühelos
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bewegen. Es war, als habe mir das kleine Biest auf unerklärliche Weise eine Injektion verabreicht. Als ich mich aufsetzte, machte die Katze einen Satz auf die andere Seite des Bettes. Erst jetzt entdeckte ich auf einem kleinen Hocker in der Ecke eine Sturmlaterne, die ein sanftes Licht verbreitete. Vorsichtig stand ich auf, spürte aber keinerlei Schmerzen mehr. Durch die Dachluke direkt über meinem Kopf sah ich trotz der schmutzigen Schei‐ be einen klaren nächtlichen Sternenhimmel. Ich drückte die Luke ganz auf, hielt mich mit beiden Händen am Rahmen fest und warf mich mit aller Kraft nach oben. Es machte mir jetzt keine Mühe mehr, mich zu bewegen. Nach einigem Zappeln saß ich auf dem Rand der Dachluke und ließ die Beine hinunterbaumeln. Die kleine Katze machte einen Satz und ließ sich neben mir auf dem Rah‐ men nieder. Für eine Herbstnacht war es draußen erstaunlich mild. Nur eine leise Brise umfächelte mich. Ich sah die kleine schwarze Katze an, und das Tier starrte mit seinen gelbgrünen Augen zurück, öffnete das Mäulchen und gab einen kleinen, maunzenden Laut von sich. Ich beugte mich herunter, worauf sie leicht mit dem Kopf gegen meinen Mund stieß. 156
Einmal und noch ein zweites Mal, dann stand sie auf und schritt langsam über das Dach, direkt ne‐ ben der schmalen Regenrinne. Ich tastete mit der Hand über meinen Rücken und berührte dabei die Fetzen und Streifen meines Hemdes. Zu meinem größten Erstaunen war die darunterliegende Haut heil und frei von jeder spürbaren Wunde. Über meinen Rippen war es nicht anders. Meine Klei‐ dung hing in Fetzen an mir herunter, während mein Körper unverletzt war. Es gab nicht den leisesten Zweifel für mich. Der Biß der kleinen schwarzen Katze hatte auf unerk‐ lärliche Weise mein zerschundenes Fleisch geheilt. Ich zog die Beine hoch, legte die Arme um die Knie und stützte das Kinn darauf. Sosehr ich mich auch bemühte, eine logische Erklärung für die Ge‐ schehnisse seit unserer Ankunft in der Klinik zu finden, sowenig gelang es mir. Vier völlig normale Menschen waren in Bordeaux eingetroffen – und was war inzwischen aus uns geworden! Mareta hatte ihr seelisches Gleichgewicht voll‐ ständig verloren und erlebte nur noch kurze Au‐ genblicke, in denen sie sich normal benahm. Jere‐ my, wenn man den Ausbruch mir gegenüber be‐ trachtete, schien auf dem besten Wege, in ihre 157
Fußstapfen zu treten. Nur Lois wirkte, als ob sie ihren gesunden Menschenverstand behalten hätte. Und wenn ich an mein Problem dachte, so schien es sich jeder logischen Erklärung zu entziehen. Trotzdem weigerte sich mein Gehirn, an übersinn‐ liche Dinge zu glauben. Es mußte einfach eine lo‐ gische Erklärung geben, auch wenn ich sie nicht finden konnte. An die außergewöhnlichen Fähig‐ keiten der schwarzen Katze durfte ich dabei aller‐ dings nicht denken. Als ich mich jetzt nach ihr umsah, konnte ich sie nirgends entdecken. Sie war verschwunden. Ich begann mich zu fragen, ob sie wirklich existierte oder ob ich das alles nur geträumt hatte. Doch die kleinen roten Male ihrer Zähne waren noch vor‐ handen. Das war der entscheidende Faktor. Ich konnte nicht länger in dieser Welt der Alpträume leben, in denen nichts real erschien und doch alles einen völlig greifbaren Eindruck machte. Ich stand auf und ging mit vorsichtigen Schritten die Dachrinne entlang, wobei ich mir die größte Mühe gab, nicht das Gleichgewicht zu verlieren, da ich keinesfalls über die moosbedeckte Mauer hinunterfallen wollte. Schließlich stand ich auf ei‐ ner eisernen Plattform mit einem schützenden 158
Holzgeländer auf der einen Seite. Nach unten führ‐ te nur ein Weg. Eine rostige, eiserne Leiter war in das Mauerwerk eingelassen und verschwand nach unten in der Dunkelheit. Mir blieb keine andere Wahl. Einen Fuß vor den anderen setzend kletterte ich vorsichtig hinunter und hatte nur die eine Hoffnung, daß keine der von Wind und Wetter mitgenommenen Sprossen zusammenbrach. Die Leiter endete auf einem flachen Dach, das auf drei Seiten von hohen Steinmauern umgeben war. Die vierte schloß ein niedriges Geländer ab. Vorsichtig sah ich hinunter. Es war weit heller, als ich gedacht hatte. Der Kiesweg vor der Garage war deutlich zu erkennen. Die Wand war mit dickem altem Efeu bewachsen. Ich stieg über das Geländer, fand mit dem Fuß einen Absatz, hielt mich an den dicken Ranken fest und suchte die nächste Stelle, die mir einen Halt geben konnte. Es dauerte zwar geraume Zeit, aber endlich kam ich unten an. Die Garage war kaum hundert Meter entfernt. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen. Die Nacht war ruhig, bis auf kleine, von Nachttie‐ ren verursachte Geräusche. Mit schnellen Schritten begab ich mich zu unserem Volkswagen. Zum Glück hatte ich die Autoschlüssel noch in der Ta‐ 159
sche. Ich öffnete die Tür neben dem Fahrersitz und schlüpfte hinter das Steuerrad. Sekunden später hatte ich die Garage mit solcher Geschwindigkeit verlassen, daß der Kies hinter dem Wagen aufspritzte. Das schwere schmiedeei‐ serne Tor zur Straße war geschlossen und mit einer Kette und einem starken Schloß gesichert. Zu meinen Fähigkeiten gehört, daß ich mit moder‐ nen und manchmal fast nutzlosen Schlössern fertig werde. Mit einem Verschluß aus der viktoriani‐ schen Zeit ist es etwas anderes. Dem bin ich nicht ohne weiteres gewachsen. Vermutlich konnte mir das höchstens mit Gewalt gelingen. Ich holte einen Hammer aus dem Werk‐ zeugkasten des Autos und schlug mit aller Kraft auf das Schloß. Wie durch ein Wunder flog es auf, und die Sicherheitskette rasselte zu Boden. Ich gab dem Tor einen Stoß, setzte mich wieder ins Auto und fuhr in Richtung St‐Cere. Die Straßen der malerischen kleinen Stadt lagen verlassen, und plötzlich wurde mir klar, daß ich keine Ahnung hatte, wie spät es eigentlich war. Das Zifferblatt an meiner Armbanduhr konnte ich nicht erkennen.
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Die Polizeistation war mit einem großen dünnen Angehörigen der Gendarmerie besetzt. Er saß auf einem Stuhl neben dem Heizofen und las in einem Buch. Als ich eintrat, senkte er es gerade weit genug, um über den Rand sehen zu können. »Was wollen Sie?« fragte er kurzangebunden. Nachdem ich mich erst stotternd an meinem Schulfranzösisch versucht hatte, gab ich es auf. »Ich bin Engländer«, erklärte ich. »Warum haben Sie das nicht gleich gesagt?« Ich lächelte gezwungen. »Kann ich wohl mit Lieu‐ tenant Maurac sprechen? Ich war heute nachmittag schon einmal bei ihm.« »Der Leutnant ist zu Hause. Er hat heute nacht keinen Dienst.« »Aber es ist sehr wichtig, daß ich ihn spreche. Ich bin sicher, er würde...« »Wie heißen Sie?« »Myles Donnen. Ich hatte eine Unterredung mit Lieutenant Maurac und habe jetzt eine wichtige In‐ formation für ihn.« Der Mann mit dem Buch zeigte ein ausdrucksloses Lächeln. »Und warum wollen Sie mir diese Infor‐ mation nicht geben?« 161
Ich seufzte. »Es geht um die Klinik Sante.« Der dünne Mann erhob sich von seinem Stuhl. »Warum haben Sie das nicht sofort gesagt?« Er deutete auf einen verschlissenen Sessel. »Setzen Sie sich. Ich will sehen, was ich für Sie tun kann.« Damit verschwand er durch eine Tür im Hinter‐ grund. Inzwischen war ich so müde, daß es mir schwer‐ fiel, die Augen offen zu halten. Ich sank tief in den Sessel und döste einen Augenblick. Nach wenigen Minuten war ich fest eingeschlafen. Ich erwachte erst, als mich jemand an der Schulter rüttelte. »Mr. Donnen, was ist passiert?« Als ich blinzelte, sah ich in das runde Gesicht von Joseph Maurac. »Oh, Lieutenant! Es tut mir leid, Sie um diese nächtliche Stunde gestört zu haben...« »Kommen Sie.« Er winkte mit dem Finger. Ich er‐ hob mich mühsam und folgte ihm in sein kleines, ungemütliches Büro. Er setzte sich hinter seinen altmodischen Schreibtisch, während ich auf dem‐ selben Stuhl wie heute nachmittag Platz nahm. »Und jetzt erzählen Sie, Mr. Donnen. Um was handelt es sich jetzt?« Ich bot ihm eine Zigarette an und steckte mir selbst eine in den Mund. Mein Blick wanderte von dem 162
abgetretenen, braunen Teppich hinauf zur Decke, wobei ich es ängstlich vermied, den durchdrin‐ genden Augen des fetten Mannes in dem alten Drehstuhl hinter dem Schreibtisch zu begegnen. »Mr. Donnen, es ist nach Mitternacht«, mahnte er. Die Müdigkeit in seiner Stimme war nicht zu überhören. »Ich bin in meiner freien Zeit hierher‐ gekommen, weil ich Sie für einen vernünftigen Mann halte. Was wollten Sie mir so dringend sa‐ gen?« Ich starrte ihn über den Schreibtisch an. »Ich bin hier, weil ich glaube, eine Frau getötet zu haben.« Maurac zog an seiner Zigarette und betrachtete nachdenklich die übermäßig benutzte Löschblatt‐ platte, die vor ihm auf dem Schreibtisch lag. »Sie waren heute schon einmal da, weil Sie Angst hat‐ ten, Mr. Donnen. Und jetzt handelt es sich plötz‐ lich um Mord. Können Sie mir das erklären?« Und wieder erzählte ich ihm meine Geschichte. Ich sprach von der nackten Gestalt Elsa Schneiders und wie sich das Mädchen plötzlich in einen ge‐ waltigen Werwolf verwandelt hatte. Ich beschrieb ihm meine Verletzungen auf Rücken und Brust‐ korb. Dann kam ich auf den Augenblick zu spre‐ chen, als ich in höchster Todesangst ein Stück Ei‐ 163
sen gefunden hatte, das mir die Rettung und dem Mädchen den Tod gebracht hatte. Als ich fertig war, kam ich mir wie ein Idiot vor. Lieutenant Maurac ließ keinen Blick von mir. »Es gibt in diesem Tal eine Legende«, begann er. »Über den Werwolf der Dordogne«, unterbrach ich ihn. »Wie es scheint, sind Ihnen die örtlichen Überliefe‐ rungen bekannt«, meinte der dicke Polizist. »Eigentlich nicht. Diese Erklärung ging mir nur im entscheidenden Augenblick durch den Kopf.« Maurac runzelte die Stirn. »Meinen Sie, als Sie mit dem Wolf kämpften?« »Ich glaube schon. Es kann gar nicht anders sein. Meines Wissens habe ich früher nie einen Gedan‐ ken an solche Fabelwesen verschwendet.« »Es gibt da einen Begriff, den Sie vielleicht schon gehört haben. Lycantropie! Das hat etwas mit der Verwandlung eines Menschen in die Gestalt eines Tieres zu tun. Übrigens stammen die Werwölfe aus dem Reich der Mythologie. In Wirklichkeit gibt es solche Wesen nicht.« »Ich bin mit einem ziemlich realen Exemplar zu‐ sammengestoßen«, stellte ich fest. »Er hat mir den
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Rücken und das Fleisch über meinem Brustkorb zerfetzt.« »Seien Sie doch vernünftig«, schnitt Maurac mir das Wort ab. »Ihre Kleidung, lieber Mr. Donnen, hängt zwar in Fetzen an Ihnen herunter. Ich kann aber keine offenen Wunden entdecken.« »Nein, denn sie wurden durch den Biß einer kleinen schwarzen Katze geheilt.« Maurac drückte seine Zigarette in einem großen, gläsernen Aschenbecher aus. »Sie haben anschei‐ nend eine blühende Phantasie«, murmelte er. »Ich weiß einfach nicht, was ich mit Ihnen machen soll.« »Ich habe mir das alles nicht eingebildet, Lieute‐ nant. Schließlich habe ich eine Menge Blut verloren und meine Verletzungen waren ziemlich übler Na‐ tur. Nachdem mich einer der Angestellten in der Klinik ins Bett verfrachtet hatte, tauchte die Katze auf ...« »Woher?« »Sie sprang aus einer Dachluke auf mein Bett he‐ runter ...« » ... wobei sie sich in eine wohltätige Fee verwan‐ delte und Ihre Wunden heilte.«
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»Wenn das auch in Ihren Ohren verrückt klingen mag, es entspricht der Wahrheit. Die Katze bohrte ihre Zähne in das Fleisch über meinem Handge‐ lenk, und die Wunden auf meinem Rücken waren wie durch ein Wunder verschwunden.« Maurac seufzte. »Ohne Zweifel können Sie mir die Spuren der Zähne zeigen, um Ihre Geschichte zu beweisen.« Ich streckte den Arm über den Schreibtisch und hielt ihn unter die Lampe. Dann deutete ich auf die kleinen roten Male. »Da sind sie, Lieutenant.« Der dicke Mann sog an seiner Unterlippe und stand auf. »Zuerst werden wir uns mal des Vor‐ falls mit dem Mädchen, dieser Elsa Schneider an‐ nehmen – Werwolf der Dordogne, wie Sie sagen.« In seinen halb unter Speckfalten verborgenen Au‐ gen stand eine gewisse Feindseligkeit. »Wenn Sie die Wahrheit gesprochen haben, Mr. Donnen, dann muß ja ihre Leiche zu finden sein.« »Sie liegt unter einer Baumgruppe auf dem Grundstück hinter der Klinik Sante.« Ich erhob mich. »Ich habe meinen Wagen draußen.« »Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich lieber meinen eigenen benutzen«, sagte Maurac. »Wenn wir allerdings wirklich eine Leiche finden, müssen 166
Sie einige nicht ganz einfache Erklärungen abge‐ ben, Mr. Donnen.« Erst jetzt wurde mir klar, worauf ich mich einge‐ lassen hatte. »Sie klagen mich also des Mordes an, Lieutenant?« »Ich erhebe keinerlei Beschuldigung, noch nicht.« Er kam um seinen Schreibtisch herum und öffnete die Tür. »Wie Sie sich vermutlich vorstellen kön‐ nen, braucht man bei einem Mordfall eine Leiche oder eine glaubhafte Erklärung dafür, warum die‐ se fehlt. Wollen wir gehen, Mr. Donnen? Jetzt un‐ ternehmen wir eine kleine Landpartie.« Ich sah ihn entsetzt an. »Das ist genau das, was ich brauche.« »Tut mir leid«, sagte der Beamte und folgte mir aus dem Zimmer. »Übrigens haben Sie Glück, Mr. Donnen. Bei mir wohnt zur Zeit Professor Etienne Dumas, ein alter Freund aus den Tagen der Wider‐ standsbewegung. Außerdem ist er eine Autorität auf einem Gebiet, das sich mit Werwölfen befaßt. Dazu gehören zweifelsohne auch Katzen, die durch den Biß ihrer Zähne heilen können.« Wir fuhren in einem schwarzen Polizei‐Citroen auf einer gewundenen Straße ungefähr fünf Meilen bis nach Souseyrac. Maurac überließ nichts dem Zu‐ 167
fall. Neben mir auf dem Rücksitz saß ein großer, dicker Gendarm. Er hatte die Arme über der brei‐ ten Brust gekreuzt und sagte kein Wort. Ein stren‐ ger Geruch nach Knoblauch und Camembert ging von ihm aus. Joseph Mauracs Heim war völlig anders, als ich erwartet hatte. Das kleine, hübsche Bauernhaus stand ein Stück von der Straße entfernt, am Rande eines ausgedehnten Weingartens. Die saubere Ein‐ fahrt wurde von zwei Scheinwerfern erleuchtet, die rechts und links in den Bäumen angebracht waren. Das Wohnzimmer erstreckte sich über die ganze Hausfront und war sehr gemütlich mit Möbeln eingerichtet, die aus der Zeit vor dem ersten Welt‐ krieg stammten. Im offenen Steinkamin prasselte ein gemütliches Feuer. Davor saß in einem Arm‐ sessel mit hoher Rückenlehne ein schlanker, großer Mann mit lebhaften, braunen Augen und einer ausgeprägten Hakennase. Sein Bart war auf alt‐ modische Art wie die der alten Hohenzollernkaiser gestutzt, und seine graue Mähne ließ mich ir‐ gendwie an Emile Zola denken. Ein Gedanke, den ich sofort verdrängte, als ich sein tadelloses Eng‐ lisch hörte. 168
»Mein Name ist Etienne Dumas«, stellte er sich vor. »Und hier bringe ich dir Mr. Myles Donnen«, sagte Maurac. »Er behauptet, von einem Werwolf ange‐ fallen worden zu sein.« Der schlanke Mann erhob sich aus seinem Sessel und ergriff meine Hand, die ich ihm entgegens‐ treckte. »Dann ist er ein Mann, dem man den Res‐ pekt nicht versagen kann. Wo ist dieser Überfall passiert, Mr. Donnen?« »Auf dem Grund und Boden der Klinik Sante. Ich wohne dort.« Dumas lächelte ein wenig. »Ganz offensichtlich hatte die Geschichte in Ihrem Fall keine tödlichen Folgen.« Seine braunen Augen musterten auf‐ merksam mein Gesicht. »Wie endete das Ganze?« »Ich rammte dem Werwolf ein Eisenstück in den Bauch und mußte dann zu meinem Entsetzen fest‐ stellen, daß ich ein Mädchen erstochen hatte, das in der Klinik arbeitet. Eine Deutsche namens Elsa Schneider.« Dumas nickte. »Das scheint mir geradezu ein klas‐ sischer Fall von Lycantropie zu sein. Ist Ihnen die‐ se Bezeichnung vertraut?«
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»Nennen Sie mich doch bitte Myles«, bat ich ihn. »Ja, ich kenne den Begriff.« Dumas deutete auf die herunterhängenden Fetzen meines Hemdes. »Der Angriff muß ziemlich ernsthafter Natur gewesen sein und doch haben Sie offenbar keine Verletzungen erlitten ...« »Mr. Donnens Wunden wurden durch den Biß ei‐ ner kleinen schwarzen Katze geheilt«, sagte Mau‐ rac spöttisch. »Und er kann als Beweis die Zahn‐ abdrücke zeigen.« Etienne Dumas zuckte die Achseln. »Eine schwar‐ ze Katze? Das klingt wie ein Rückgriff auf die Zeit der alten Ägypter. Damals schrieb man der Katze große Heilkraft zu.« Sein Lächeln war jetzt aus‐ gesprochen freundschaftlich. »Schon die Berüh‐ rung durch den Schwanz einer schwarzen Katze hielt man für außerordentlich wundertätig.« »Ich will mir jetzt endlich die Leiche dieses Schneider‐Mädchens ansehen«, sagte Maurac un‐ geduldig. »Wenn es dir nichts ausmacht, würde ich dich bitten mitzukommen, Etienne. Ich schätze deinen Rat.« »Den ich dir nur zu gern gebe«, sagte Dumas und wandte sich wieder an mich. »Ein echter Fall von Lycantropie bedeutet für mich einen Glücksfall. 170
Über die schwarze Katze können wir später noch einmal sprechen. Sie interessiert mich.« Der Polizeifahrer fuhr auf schnellstem Wege in Richtung Klinik. Bevor wir aber zu dem schmie‐ deeisernen Tor kamen, lenkte er den Wagen von der Hauptstraße. Wir holperten über einen schma‐ len Weg, der zwischen hohen Tannen hindurch‐ führte. Schließlich brachte der Fahrer seinen Wa‐ gen oberhalb der Klinik zum Stehen. Maurac deutete auf einen Fußpfad. »Ich kenne mich hier einigermaßen aus. Auf diesem Weg sto‐ ßen wir unmittelbar auf die Garage. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, erfolgte dort in der Nähe der Überfall. Der Weg dürfte uns also unmittelbar zum Tatort bringen.« »Glauben Sie nicht, daß wir zuerst mit Dr. Frant‐ zius sprechen sollten, bevor wir ...« »Eines nach dem anderen, Mr. Donnen.« Maurac nickte dem untersetzten Polizisten zu. »Auf geht’s!« Als wir uns im Gänsemarsch auf den Weg mach‐ ten, warf ich einen Blick auf meine Armbanduhr. Es war Viertel nach eins. Fünf Stunden waren ver‐ gangen, seit ich mit dem Geschöpf, das sich später als Elsa Schneider entpuppte, um mein Leben ge‐ 171
kämpft hatte. Ich war müde und niedergeschlagen. Plötzlich war ich mir nicht mehr sicher, ob Maurac uns auf den richtigen Weg geführt hatte. Langsam schlurften wir hinter dem stämmigen Gendarmen her durch heruntergefallene Blätter und abgebrochene Zweige. Die schwere Dienstta‐ schenlampe in seiner Hand schwang von einer Sei‐ te auf die andere. Ich erkannte auch nicht die kleinste Einzelheit wieder. Wir hätten uns auf je‐ dem beliebigen Weg durch die Wälder befinden können. Dies war für mich ein fremder Ort mit seltsamen Umrissen und Schatten, der vom Licht des abnehmenden Mondes, der hinter einer dunk‐ len Wolkenbank hervorlugte, nur schwach erhellt wurde. Als die Gruppe anhielt, trat Maurac neben mich. Er deutete nach vorn, an der Figur des Polizisten vorbei. »Mein Mann ist jetzt da, wo der unwegsa‐ me Pfad endet und der Kiesweg beginnt, der zu der Garage der Klinik führt. Bis jetzt haben wir nichts gefunden. Und jetzt frage ich Sie, Mr. Don‐ nen. Wo ist die Leiche des Mädchens? Wo ist Elsa Schneider?« »Wir müssen sie verpaßt haben, Lieutenant. Wenn wir langsam noch einmal zurückgehen ...« 172
»Angeblich haben Sie diesen Pfad benutzt, Mr. Donnen. Hier verließen Sie den Kiesweg und be‐ traten den Wald. Stimmt das nicht?« »So ist es. Aber ich ging nur ein paar Schritte, als mir auch schon der Geruch nach Aas in die Nase stieg.« »Und der Überfall fand links von diesem Pfad statt?« »Ja. Aber das habe ich Ihnen doch schon auf der Wache gesagt. Die Bäume schimmerten in einem merkwürdigen Licht und teilten sich ständig. Da‐ bei stellte ich fest, daß ich nicht mehr klar sehen konnte. Und dann umhüllte mich dieser widerli‐ che Gestank, und ich bekam den Wolf zu Gesicht.« »Sie haben den Wolf tatsächlich gesehen, bevor er Sie ansprang?« fragte Etienne Dumas interessiert. »Das ist mir bisher nicht klargewesen.« Trotz der Kühle der Oktobernacht schwitzte ich jetzt am ganzen Leibe. »Ja, das habe ich dem Lieu‐ tenant schon erzählt. Ich sah den Wolf beziehung‐ sweise die Umrisse des Wolfes. Und da rief plötz‐ lich eine Mädchenstimme meinen Namen. Das war Elsa Schneider, die mitten auf dem Fußpfad stand. Als ich mich ihr zuwandte, verwandelte sie sich in einen grauen Wolf und sprang mich an. 173
»Tat sie das sofort?« fragte Dumas. Ich versuchte mich an jede Einzelheit zu erinnern. »Nein, so war es nicht. Als ich die Verwandlung erkannte und die Wolfsumrisse sah, versuchte ich zu fliehen. Das war der Moment des Angriffs.« Maurac seufzte. »Als Sie losrannten, liefen Sie wei‐ ter in den Wald hinein und von der Garage weg. Stimmt das?« Ich nickte. »Ja, das ist richtig.« Maurac gab mit den Lippen ein schmatzendes Ge‐ räusch von sich. »Dann werden wir den Weg zu‐ rückverfolgen und noch sorgfältiger die linke Seite in Augenschein nehmen. Sie behaupten, wir müs‐ sen einen Körper finden, dessen Herz von einem Eisenstück durchbohrt ist – die Leiche Elsa Schnei‐ ders. Gut denn, wir wollen uns noch einmal auf die Suche machen. Es ist kalt und außerdem reich‐ lich spät.« Der Mann in Uniform übernahm wieder die Füh‐ rung und richtete den Strahl seiner Taschenlampe jetzt ständig nach links. Langsamen Schrittes gin‐ gen wir den ganzen Weg wieder zurück. Ich konn‐ te wieder nichts erkennen. Sogar die Bäume schie‐ nen größer und höher zu sein oder weiter ausei‐ nander zu stehen. Plötzlich stieß Etienne Dumas 174
einen gedämpften Ruf aus. »Halt! Ich glaube, ich habe etwas gefunden.« »Vorwärts, Mr. Donnen!« Maurac gab mir mit der Hand einen leichten Stoß. Dumas stand an einer Stelle, wo sich der durch das Unterholz führende Pfad auf beiden Seiten zu einer winzigen Lichtung weitete. Er deutete auf einen auf dem Boden lie‐ genden Gegenstand, ein kurzes, spitzes Eisen‐ stück. Maurac bückte sich und hob es mit dem Taschen‐ tuch auf. Als er es mir entgegenhielt, fragte er: »Ist dies die Waffe, von der Sie sprachen, Mr. Donnen? Erklären Sie mir das bitte.« Ich trat neben ihn und betrachtete das rostige Ei‐ senstück. »Ja, Lieutenant, das ist meine Waffe.« »Wenn dieses Eisenstück als Waffe benutzt wor‐ den wäre, müßte sich unweigerlich Blut darauf be‐ finden. Ich kann aber nicht die leiseste Spur davon entdecken. Natürlich werden wir noch genaue Un‐ tersuchungen im Labor anstellen. Mein erster Ein‐ druck ist aber, daß sich kein Blut darauf befindet.« Maurac deutete auf den Erdboden zu unseren Fü‐ ßen. »Dazu kommt, daß ich das Ding an dieser Stelle aufgehoben habe und dort befinden sich An‐ zeichen, daß es schon geraume Zeit unter den ver‐ 175
schiedensten Wetterbedingungen hier gesteckt ha‐ ben muß. Wie erklären Sie sich das?« »Ich glaube, ich weiß, was hier geschehen ist«, mischte sich Dumas ein. »Wenn wir wieder zu Hause sind, werde ich es dir erklären, Joseph.« »Wir fahren jetzt zurück. Und ich lasse im Labor Tests mit dieser sogenannten Waffe anstellen. Und dann muß uns Mr. Donnen noch einmal genau er‐ klären, was seiner Meinung nach mit seinem Werwolf oder dem Mädchen Elsa Schneider pas‐ siert ist.« »Ich habe Ihnen die Wahrheit gesagt, Lieutenant!« »Möglich. Aber die Tatsachen sprechen offensich‐ tlich eine andere Sprache.« »Ich bin kein Lügner«, sagte ich scharf, da ich langsam wütend wurde. »Meiner Meinung nach habe ich das Mädchen mit diesem Eisenstück ers‐ tochen.« »Selbstsicherheit ist eine schöne Sache«, sagte Maurac mit säuerlicher Miene. »Und sie ist eine Eigenschaft, die man in hohem Maße besitzen soll‐ te, wenn man einen Polizeioffizier zum Narren halten will.« Lieutenant Maurac schickte den Polizeiwagen mit dem Stück Eisen fort und nahm Etienne Dumas 176
und mich mit ins Haus. Dort plazierten wir uns je‐ der in einem Sessel, während der dicke Polizist uns Cognac einschenkte. Schweigend saßen wir ge‐ raume Zeit da, jeder mit seinen Gedanken beschäf‐ tigt. Schließlich streckte Maurac die Beine aus und warf Etienne Dumas einen Blick zu. »Also gut, Etienne, schieß los. Du hast jetzt genügend Zeit gehabt, dir ein Urteil zu bilden. Zu welchen Schlußfolgerungen bist du gekommen?« Dumas entnahm seiner Tasche ein schmales Le‐ deretui und zog eine dünne Zigarre heraus. Da ich mir ebenfalls gerade eine Zigarette anzündete, hielt ich ihm das brennende Streichholz hin. Er sah mich über die kleine Flamme an, runzelte die Stirn und zog an seiner Zigarre. »Rauchen Sie viel, My‐ les?« »So um die dreißig Stück am Tag, mal eine mehr, mal eine weniger«, erwiderte ich. »Macht Ihnen das Krebsproblem keine Sorgen?« Ich inhalierte tief. »Bis zu einem gewissen Grade ja, aber nicht genug, um mich davon abzuhalten.« »Man könnte also sagen, daß Ihnen das Rauchen Genuß bereitet?« Maurac bewegte sich unruhig in seinem Sessel. »Ich vermag nicht einzusehen, wohin uns diese 177
Unterhaltung führen soll, Etienne. Was haben Mr. Donnens Laster mit Werwölfen zu tun, geschweige denn mit toten Mädchen, die dann doch nicht tot sind?« »Darauf komme ich noch, Joseph, laß mir Zeit.« Dumas nippte an seinem Cognac. »Mir ist nämlich ein Gedanke gekommen, den ich gern etwas aus‐ spinnen möchte.« Er deutete mit der Zigarre auf mich. »Wenn man von der Geschichte mit dem Werwolf absieht, können Sie sich noch erinnern, in wie viele unerklärliche Vorfälle Sie verwickelt wurden, seit Sie zum ersten Mal die Klinik betra‐ ten?« Ich runzelte die Stirn. »Meinen Sie damit alles, was mir nicht ganz normal erschien?« »Genau«, bestätigte er. »Na gut.« Ich dachte nach. »In der ersten Nacht, die ich im Haus verbracht habe, hatte ich eine Art Alptraum, wobei ich merkwürdigerweise nicht die Fähigkeit des Riechens verlor. Ein widerwärtiger Gestank nach faulem und verdorbenem Fleisch stieg mir in die Nase.« »Um was ging es in Ihrem Traum?« »Ich sah ein Mädchen, das sich in eine Gestalt wie aus einem Horrorfilm verwandelte.« Nach kurzem 178
Nachdenken schüttelte ich den Kopf. »Tut mir leid, aber das ist wohl alles in dieser Beziehung.« »Und was geschah dann? Ich meine damit den nächsten Vorfall.« »Das war am anderen Morgen bei unserem Dauer‐ lauf. Zusammen mit meinem Freunde Jeremy fand ich mitten im Wald eine alte Kapelle, und ...« »Jetzt kommt wohl die Geschichte von dem soge‐ nannten Zwerg«, unterbrach mich Maurac. »Ich habe das bereits von Mr. Donnen gehört, Etienne. Es gibt keinen Zwerg in der Klinik Sante. Ich habe bereits die entsprechenden Ermittlungen anges‐ tellt.« Ich starrte den dicken Polizeileutnant ungläubig an. »Wie können Sie das so genau wissen, Mr. Maurac? Sie sind doch gar nicht im Haus gewe‐ sen.« »Selbstverständlich habe ich sofort mit Dr. Frant‐ zius telefoniert, nachdem Sie mich besucht hatten. Der Arzt versicherte steif und fest, nichts von einer solchen Mißgeburt zu wissen und nie eine gesehen zu haben. Seinem Bericht zufolge wurden Sie krank und waren stundenlang bewußtlos, als sie angeblich diesen Zwerg entdeckten. Auch Ihr
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Freund Jeremy Casement konnte sich an nichts erinnern.« »Dann wollen wir den Zwerg vergessen«, schlug Dumas vor, »und uns auf das Verhalten von Myles selbst konzentrieren. Sie wurden also beim mor‐ gendlichen Training krank. Was geschah dann?« Ich sah der Rauchspirale meiner Zigarette nach. »Irgend jemand erzählte mir, daß ich zwölf Stun‐ den lang das Bewußtsein verloren hatte. Anschlie‐ ßend versuchte man mich davon zu überzeugen, daß ich mir die Geschichte nur eingebildet hatte.« »Haben Sie den bewußten Zwerg anderen Perso‐ nen in der Klinik gegenüber erwähnt?« »Ich muß es wohl getan haben, kann mich aber nicht mehr daran erinnern. Etwas anderes, was damit zusammenhängt, weiß ich noch. Nachdem ich aus meiner Bewußtlosigkeit erwacht war, machte ich den Versuch, aufzustehen, wobei ich zu Boden stürzte. Bevor ich wieder einschlief, hörte ich die Stimme von Dr. Frantzius.« »Was sagte er?« Ich versuchte nachzudenken. Das alles schien schon so unendlich weit zurückzuliegen. Mir war wohl bewußt, daß Maurac mich ständig beobach‐ tete. Und plötzlich hatte ich das Gefühl, daß sich 180
Krallen in meinen Rücken bohrten und an meinem Fleisch zerrten. Vor Schreck hätte ich beinahe auf‐ geschrien. »Überanstrengen Sie sich nicht, Myles.« Dumas legte mir besorgt die Hand auf den Arm. »Erzäh‐ len Sie mir bitte das nächste Ereignis übernatürli‐ chen Ursprungs. Eines, an das Sie sich mit aller Klarheit erinnern. Können Sie das?« Ich wischte mir mit dem Taschentuch den kalten Schweiß vom Gesicht. »Ich will es versuchen, aber es fällt mir furchtbar schwer, mich an Einzelheiten zu erinnern.« »Dafür gibt es einen Grund, wenn meine Schluß‐ folgerungen korrekt sind«, sagte Dumas beruhi‐ gend. »Deshalb möchte ich andererseits, daß Sie mir soviel wie möglich erzählen.« »Ich bin in eine Dornenhecke gefallen«, fiel mir wieder ein. »Aber auch daran kann ich mich nicht wirklich erinnern. Meiner Meinung nach ging ich in die Küche, um mir ein paar belegte Brote zu machen.« »Um welche Zeit war das?« fragte Dumas. »Ich meine, wieviel Zeit war vergangen, seit Sie aus dem Bett fielen und die Stimme von Dr. Frantzius hörten?« 181
»Das weiß ich genau. Es war drei Uhr morgens. Und ich war so verdammt hungrig, ’daß ich mir um jeden Preis etwas zu essen verschaffen wollte. Ich war zwar noch ziemlich schwach, schaffte es aber doch bis in die Küche. Ich hatte mir gerade ein paar belegte Brote gemacht, als mich ein Schrei hochschreckte ...« »Was für ein Schrei? Von einer Frau oder einem Mann? Oder wissen Sie das auch nicht mehr?« »Meiner Meinung nach kam er von einer Frau. Als ich mir gerade ein Glas Milch einschenken wollte, spürte ich wieder diesen Aasgestank. Plötzlich ging auch noch das Licht aus. Ich suchte mein Heil in der Flucht und rannte die Treppe hinauf. Oben in der Halle wurde der Geruch noch betäubender. Es war stockfinster, und ich hörte die Stimme Ma‐ retas. Sie deklamierte irgend etwas über Bastet, was ich nicht verstand. Plötzlich sprang mir ein Biest auf den Rücken. Das ist alles, woran ich mich erinnern kann.« Maurac saß jetzt aufrecht in seinem Sessel. »Mr. Donnen, denken Sie genau nach. Es muß noch an‐ dere Einzelheiten geben, die Sie sich ins Gedäch‐ tnis zurückrufen können.«
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»Ich lag im Bett, und Lois Bata saß bei mir. Sie be‐ hauptete, ich sei aus dem Fenster gefallen und in die darunter wachsenden Dornenbüsche gestürzt.« Hilflos sah ich Etienne Dumas an. »Ich weiß noch, daß ich mich geraume Zeit mit ihr unterhalten ha‐ be. Das Thema unseres Gespräches ist mir aller‐ dings entfallen. Sosehr ich mir den Kopf zermarte‐ re, es fällt mir nicht mehr ein.« Irgendwo im Haus klingelte das Telefon, und Maurac verließ das Zimmer. Ich wandte mich wieder an Dumas. »Es tut mir leid, aber ich scheine in dieser Angelegenheit keine große Hilfe zu sein. Ich verstehe mich selbst nicht mehr, aber ich bin so müde und durcheinander ...« »Machen Sie sich deshalb keine Sorgen«, beruhigte er mich. »Je mehr Sie sich nämlich aufregen, desto unwahrscheinlicher ist es, daß Sie Ihr Erinne‐ rungsvermögen zurückgewinnen. Sie sind unge‐ fähr in der Lage eines Menschen, der nicht schla‐ fen kann, sich über diese Tatsache den Kopf zer‐ bricht und deshalb logischerweise erst recht nicht schlafen kann. Das ist ein Teufelskreis, den nur Sie selbst durchbrechen können. Entspannen Sie sich, und Ihr Gedächtnis kehrt im Laufe der Zeit zu‐ rück.« 183
Soeben trat Maurac wieder ins Zimmer und ließ die Tür mit einem Knall hinter sich ins Schloß fal‐ len. »Verehrter Mr. Donnen, was immer sie getan haben mögen, das Mädchen Elsa Schneider haben Sie mit jenem Eisenstück nicht erstochen.« Ich fuhr hoch. »Wollen Sie damit sagen, daß kein Blut...« »Genau. Es findet sich nicht die leiseste Spur von Blut. Eben hat mein Beamter aus dem Büro ange‐ rufen. Man hat alle notwendigen Tests im Labor durchgeführt. Zu sehen sind offenbar nur die Spu‐ ren der Wettereinflüsse und die Zerstörung des Metalls durch Rost, aber kein Blut.« »Lieutenant, ich weiß, daß ich das Mädchen um‐ gebracht habe. Ich bin mir dieser Tatsache genauso klar bewußt, wie ich hier vor Ihnen stehe und mit Ihnen spreche.« »Myles!« Etienne Dumas erhob sich aus seinem Sessel. »Ich schlage vor, daß Sie sich in die Klinik zurückbegeben und schlafen gehen. Morgen ist auch noch ein Tag.« »Können Sie selbst fahren?« fragte Maurac. »Oder hätten Sie es lieber, wenn ich Sie mit dem Polizei‐ wagen zurückschicke?« »Ich kann fahren«, versicherte ich. »Ich werde die Fenster öffnen, die frische Luft wird mir guttun.« 184
»Sie wird die Müdigkeit vertreiben«, sagte der Be‐ amte. »Vergessen Sie alles, was mit Werwölfen, Fensterstürzen und derartigen Dingen zu tun hat. Gehen Sie in der Klinik sofort ins Bett. Morgen werde ich Ihnen dort einen offiziellen Besuch ab‐ statten.« Plötzlich fiel mir etwas ein. »Mein Wagen steht noch vor Ihrem Büro!« »Ich werde telefonieren und ihn herbringen las‐ sen.« Er wedelte seinen dicken Zeigefinger hin und her. »Alles, was Sie zu tun haben, ist langsam fah‐ ren und mit keinem Menschen über Ihren Besuch hier sprechen. Zu niemandem, haben Sie mich ver‐ standen?« »Keine Sorge, Lieutenant. Wenn ich den derzeiti‐ gen Zustand meines Gedächtnisses in Betracht ziehe, werde ich vermutlich bald vergessen, daß ich Sie kenne. Und was das Schlimmste ist, ich ha‐ be nicht das Gefühl, damit einen Witz gemacht zu haben.« Langsam fuhr ich mit heruntergedrehten Fenstern die Talstraße entlang. Ich war mehr als nur ein bißchen durcheinander über mein völliges Un‐ vermögen, mich an Dinge zu erinnern, die höch‐ stens einen Tag zurücklagen. Dazu kam, daß mich 185
Lieutenant Mauracs Zögern, offizielle Schritte zu unternehmen, beunruhigte. Innerlich mußte ich al‐ lerdings selbst zugeben, daß ich ihm nichts erzählt hatte, was eine polizeiliche Razzia in der Klinik rechtfertigte. Genau das Gegenteil war der Fall. Ich fing sogar an mich zu wundern, warum Maurac und Dumas soviel Geduld mit mir aufgebracht hatten. Als hinter einer Kurve das schwere, schmiedeei‐ serne Tor der Klinik auftauchte, hielt ich den Wa‐ gen an. Ich zündete mir eine Zigarette an, rauchte vor mich hin und dachte auf ziemliche nutzlose Weise über meine Lage nach. Keiner meiner Ge‐ dankengänge ergab einen Sinn. Maurac glaubte ganz offensichtlich weder an die Existenz des Zwerges noch an die Verwandlung Elsa Schnei‐ ders in einen Werwolf. Mir wurde auch langsam klar, daß Etienne Dumas mich mit seinen Fragen nach meinen Rauchgewohnheiten sicher als einen ständigen Konsumenten von Produkten der Can‐ nabis‐Pflanze eingestuft hatte. Ich mußte eingedöst sein, denn die Reste der Ziga‐ rette versengten mir plötzlich die Finger. Nach ei‐ nem letzten Zug warf ich die Kippe durch das of‐ fene Fenster. Genau in diesem Augenblick tauchte 186
hinter dem schmiedeeisernen Tor eine schlanke Gestalt auf und blieb mitten auf dem Weg stehen. Zuerst drehte sie den Kopf in die andere Richtung, dann entdeckte sie plötzlich den Wagen. Ich ließ kurz die Scheinwerfer aufleuchten und öffnete die Tür. »Lois, was ist?« fragte ich entsetzt. »Myles, o Myles!« Ihre Stimme klang vor Angst und Entsetzen wie verzerrt. Sie rannte auf mich zu, wobei ihre Holzsandalen laut klapperten. Als ich mich vorbeugte, warf sie sich mir in die Arme. »Myles, wo bist du nur gewesen? Es war ganz schrecklich! Ich lief in dein Zimmer, aber du warst nicht da.« »Ganz ruhig.« Ich führte sie zum Auto, schob sie hinein und setzte mich neben sie. »Dreh das Fens‐ ter auf deiner Seite hoch. Du zitterst ja wie Espen‐ laub.« »Myles, ich hatte solche Angst!« Ich zündete eine Zigarette an und steckte sie ihr zwischen die Lippen. Mit zitternden Fingern hielt sie sie fest. »Entschuldige bitte, daß ich so die Fas‐ sung verloren habe.« »Am besten nimmst du jetzt erst mal einen kräfti‐ gen Schluck Cognac aus der Reiseflasche. Wenn du ruhiger geworden bist, erzählst du mir alles.« Ich 187
holte die Flasche aus dem Handschuhfach, drehte den Verschluß ab und gab sie ihr in die Hand. »Das wird dir guttun. Und jetzt fang von vorn an und erzähl mir alles, was geschehen ist.« »Am frühen Abend ging ich hinauf in dein Zim‐ mer, du warst aber nicht da. Nachdem ich auch Maretas Zimmer leer fand, bekam ich es mit der Angst zu tun. Ich machte mich auf die Suche nach Jeremy. Ihn hatte ich zuletzt gesehen, als er sich ins Fernsehzimmer begeben wollte. Dort war er nicht, sondern nur ein paar Franzosen, die ich auf unse‐ rem Ausflug kennengelernt hatte. Du konntest ja leider nicht mitkommen ...« »Schon gut,« unterbrach ich sie, »ich war in St‐ Cere. Deshalb konntest du mich nicht finden. Als ich die Klinik verließ, wart Ihr schon unterwegs. Weshalb bist du denn eigentlich so durcheinan‐ der?« »Was hast du denn in St‐Cere gemacht?« Langsam wurde ihre Stimme wieder fester. »Ich war der Meinung, du lägest im Bett. Das hat jedenfalls das blonde Mädchen berichtet. Nach ihren Worten ging es dir noch nicht wieder gut genug, um an unserem Ausflug teilzunehmen.«
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»Vergiß endlich den Ausflug. Was hat dich in sol‐ che Panik versetzt, daß du wie eine Verrückte hier herumläufst?« »Ich machte mir deinetwegen Sorgen und hatte Angst um Mareta. Und dann konnte ich auch Je‐ remy nicht finden, der nicht in seinem Zimmer war ...« Sie unterbrach sich und brachte ein schwa‐ ches Lächeln zustande. »Ich schweife ständig ab, nicht wahr?« Sie seufzte, und ich sah, daß dicke Tränen ihre Wangen herunterrollten. »Ich will ver‐ suchen, dir klarzumachen, weshalb ich so aufge‐ löst bin.« »Du konntest keinen von uns finden«, sagte ich. »Okay, fang dort an.« Ich griff nach ihrer Hand und drückte sie zärtlich. »Jetzt bin ich hier, und das bedeutet, daß du keine Angst mehr haben mußt. Und jetzt fasse dich und berichte.« Sie seufzte tief auf. »Also gut. Ich ging in den Fern‐ sehraum, und dort war es schrecklich. Irgendein Politiker redete und redete, und das viel zu schnell. Ich konnte kein einziges Wort verstehen. Also ging ich wieder nach oben in mein Zimmer, aß dort das sogenannte Abendessen. Unsere Wan‐ derung hatte mich müde gemacht. Ich überlegte noch, ob ich mich hinlegen sollte, muß aber gleich 189
darauf schon eingeschlafen sein. Ich habe mich wohl unbewußt auf das Bett geworfen. Als ich aufwachte, stank es widerlich. Es war ziemlich dunkel, und ich hatte keine Ahnung, wie spät es war. Dazu kam der Geruch. Myles, jemand muß bei mir im Zimmer gewesen sein.« »Den Geruch kenne ich«, sagte ich. »Nach verdor‐ benem Fleisch, stimmt’s?« Ich sah in ihr kleines, ängstliches Koboldgesicht. »Wer war bei dir im Zimmer?« Sie schüttelte den Kopf. »Das weiß ich nicht. Ich sprang mit einem Satz vom Bett und rannte zur Tür. Zum Glück hatte ich meine Sandalen noch an. Auf dem Korridor vor dem Zimmer brannte nur eine kleine elektrische Birne. Ich lief die Treppe hi‐ nunter, durch die Halle und zur Vordertür hinaus. Myles, vielleicht klingt das verrückt, aber ich rann‐ te und rannte, bis du mich eben hier fandest, of‐ fensichtlich nicht ganz klar im Kopf.« Sie sah auf ihr Handgelenk und runzelte die Stirn. »Ich habe anscheinend meine Uhr liegenlassen. Wie spät ist es eigentlich?« Ich sah auf die Uhr. »Vier Uhr morgens, zehn nach vier, um genau zu sein.« Ich deutete auf einen hel‐ len Streifen am Horizont. »Das ist noch nicht die 190
Dämmerung. Es dauert noch eine ganze Weile, bis die Sonne aufgeht...« »Du redest nur um des Redens willen und um mich zu beruhigen«, schnitt sie mir das Wort ab. »Ist es nicht so?« »Allerdings!« Ich stieß einen tiefen Seufzer aus. »Wenn ich nur eine Ahnung hätte, was wir jetzt tun sollen!« Lois lehnte sich bequemer in ihren Sitz zurück. »Ich weiß nur, was ich auf keinen Fall tun werde. Mein Zimmer sieht mich nicht wieder, dorthin ge‐ he ich nicht zurück. Ich bleibe bei dir.« Ich trommelte mit den Fingern auf das Steuerrad und dachte nach; dann fragte ich: »Als du dich von Jeremy getrennt hast, hat er da geäußert, wo er hingehen und was er tun wollte?« Sie nickte eifrig. »Das ist es ja gerade. Er hatte die Absicht, sich das Fernsehprogramm anzusehen und anschließend schlafen zu gehen. Ich glaube, die Wanderung war fast zuviel für ihn und hatte ihn ziemlich mitgenommen. Mir ging es übrigens genauso. Die frische Luft und das viele Laufen ...« Kurzentschlossen öffnete ich die Wagentür. »Ich sehe mich jetzt mal um. Lois, du bleibst hier, Wenn du die Türen von innen schließt, dürftest du ziem‐ 191
lich sicher sein. Ich komme dann zurück und hole dich.« »Nicht um alles in der Welt.« Sie kletterte bereits aus dem Wagen. »Ich komme mit. Noch einmal bleibe ich nicht allein. Je schneller wir die Klinik Sante verlassen können, desto besser.« Ich schloß den Wagen ab und ging’ neben ihr her. »Darf ich dir eine Frage stellen? Die Antwort könnte sehr wichtig sein. Als du aus deinem Zim‐ mer ranntest, hattest du da den Eindruck, daß dir jemand folgte?« Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Ich lief wie eine Verrückte, ohne nach rechts oder links zu sehen. Wenn ich jetzt daran zurückdenke, glaube ich aber nicht, daß ich verfolgt wurde.« »Und wie war es auf dem Weg zum Tor?« »Da auch nicht. Ich war nur völlig verängstigt. Aber ich bin sicher, daß niemand hinter mir her war.« »Eine andere Frage, Lois. Kannst du dich daran erinnern, daß du mich mit Jeremy in die Küche be‐ gleitet hast? Ich wollte euch die Stelle zeigen, wo ich überfallen worden war...«
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»Davon weiß ich nichts«, sagte sie und starrte mich verblüfft an. »Wovon sprichst du eigentlich? Ich habe bisher keinen Fuß in die Küche gesetzt.« »Und wie steht es mit Jeremys plötzlichem Aus‐ bruch in der Halle? Er belegte mich mit allen mög‐ lichen reizenden Namen und schlug mich dann nieder. Weißt du das noch?« »Tut mir leid, nein.« Ihre Stimme klang jetzt völlig verängstigt. »Myles, sollte ich das wissen? Sag mir bitte, müßte ich mich daran erinnern?« Als ich sie jetzt am Arm nahm, fühlte ich, daß sie am ganzen Leibe zitterte. »Beruhige dich Lois. Weißt du wenigstens noch, daß du selbst den Vor‐ schlag gemacht hast, Jeremy und Mareta zurück‐ zulassen, den Wagen zu nehmen und die Polizei zur Hilf e zu holen ? » Sie wurde förmlich geschüttelt vor Entsetzen. »Nein«, sie schrie es fast. »O Myles, nichts von all diesen Dingen ist mir gegenwärtig! Meiner Mei‐ nung nach habe ich die Küche nie betreten, und ich habe keine Ahnung, daß Jeremy dich beschimpft und niedergeschlagen haben soll.« Sie klammerte sich an mich. »Myles, was ist nur mit uns gesche‐ hen?«
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Ich stieß einen tiefen Seufzer aus. »Wenn ich das wüßte! Aber laß dich nicht zu sehr von der Tatsa‐ che beunruhigen, daß dein Erinnerungsvermögen so stark gelitten hat. Ich habe genau dieselben Schwierigkeiten. Mir fallen immer wieder nur Ge‐ dankenfetzen ein. Ein bißchen mehr als dir, aber beileibe nicht alles.« »Myles, was geschieht hier mit uns?« wiederholte sie. »Das möchte ich auch gern wissen«, erwiderte ich, »leider ist dem nicht so.« Mit einem müden Lä‐ cheln fügte ich hinzu: »Aber eins kann ich dir ver‐ sichern. Ich werde alles tun, um es herauszufin‐ den.« Wir hatten das Auto hinter uns gelassen und gin‐ gen mit vorsichtigen Schritten am Straßenrand ent‐ lang auf das schmiedeeiserne Tor zu. Die dahinter‐ liegende Einfahrt war dunkel und machte keinen besonders einladenden Eindruck. In einiger Ent‐ fernung meldete sich aus dem Tal der Dordogne mit schrillen Ruf ein Sumpfvogel. Der helle Strei‐ fen am Himmel war verschwunden. Über uns stand eine dunkle, von einzelnen Sternen unterb‐ rochene Kuppel.
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Lois hielt sich krampfhaft an meiner Hand fest. Dicht nebeneinander gingen wir durch das Gras am Rande des Kiesweges. Die Umrisse des Schlos‐ ses ragten düster vor uns auf. Wir blieben einen Moment stehen, um uns umzuschauen. Als wir ge‐ rade weitergehen wollten, tauchte eine Gestalt aus dem Schatten der Garage auf, lief quer über die Einfahrt und verschwand seitlich im Haus. Lois stellte sich auf die Zehenspitzen und flüsterte ganz dicht an meinem Ohr: »Hast du sie gesehen? Das war das deutsche Mädchen ‐Elsa Schneider.« »Allerdings«, sagte ich grimmig, »die Expertin in Lycantropie.« Lois sah mich fragend an. »Was ist das?« flüsterte sie fast unhörbar. »Das erkläre ich dir, wenn wir uns auf dem Schiff befinden, das uns zurück nach England bringt.« Ich hielt ihre kleine Hand fest und ging langsam mit ihr über den Rasen, bis wir die Stelle sehen konnten, wo das Mädchen verschwunden war. Ei‐ ne Art steinernes Regendach ragte aus der Wand. Darunter befand sich eine niedrige Tür, die an di‐ cken Eisenangeln hing.
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»Diesen Eingang muß sie benutzt haben«, sagte ich leise. »Ich möchte gern wissen, wo er hinführt. Paß mit deinen Holzsandalen auf dem Kies auf.« So geräuschlos wie möglich überquerten wir den freien Kiesweg und schlichen dann die drei Stufen zu der Tür hinunter. Sie hatte kein Schloß, sondern nur einen Eisenring und einen Handriegel aus demselben Material. Als ich den Ring vorsichtig herumdrehte, öffnete sich gleichzeitig der Riegel. Die Tür ging auf, ohne ein Geräusch zu machen. Dahinter lag eine enge Wendeltreppe, die hinunter in die Finsternis führ‐ te. Ich tastete mich mit der rechten Fußspitze jede einzelne Stufe hinunter. Lois hielt sich so dicht ne‐ ben mir, daß sie mich bei jedem Schritt an der Schulter berührte. Wir drehten uns so lange im Kreis, bis wir uns meiner Meinung nach mehrere Meter tief unter der Erdoberfläche befinden muß‐ ten. Da hörte die Treppe auf, und unsere Füße be‐ wegten sich über ebenen Boden. Ich legte Lois den linken Arm um die Taille und streckte den rechten vor, bis ich mit den Finger‐ spitzen an den Holzrahmen einer Tür stieß. Lang‐ sam fuhr ich darüber hin, bis ich einen Eisenriegel zu fassen bekam. Nachdem ich ihn behutsam 196
hochgeschoben hatte, schwang die Tür nach der anderen Seite auf. Dahinter glühte eine einzelne elektrische Birne, die in einer unter der gewölbten Decke angebrachten Fassung saß. Zu unseren Füßen lag eine Art hölzerner Katzen‐ steg über einen unterirdischen Bach, der tief unten durch die Felsen rauschte. Die hier herrschende Atmosphäre war durch den völligen Mangel an frischer Luft und Tageslicht bestimmt; es roch muffig. Auf der anderen Seite des Steges sah ich die Umrisse einer in die Felsen gehauenen Tür. Ich fühlte, wie sich Lois noch enger an mich dräng‐ te. »Glaubst du, daß du es hinüber schaffst?« fragte ich. »Bis zu dem Wasser da unten ist es ganz schön tief.« Sie zögerte einen Moment und sagte dann ent‐ schlossen: »Ich ziehe die Sandalen aus. Mit nackten Füßen wird es gehen, wenn ich mich an dir festhal‐ ten kann.« Wir setzten vorsichtig einen Fuß vor den anderen. Es gab kein wie immer geartetes Geländer, nur die blanken Holzbohlen des Steges, die auf beiden Sei‐ ten auf dem Gestein auflagen, und tief unten den Bach, der munter dahinplätscherte. Wir hatten fast die Mitte erreicht, als Lois sich mit einer Zehe in 197
einem Loch verfing, stolperte und gegen mich stieß. Ich hätte um ein Haar das Gleichgewicht ver‐ loren und sah uns in Gedanken schon in das kalte Wasser stürzen. Aber irgendwie gelang es mir, mich zu fangen und Lois zu stützen. Als wir uns mühsam weiterbewegten, wagten wir nicht, auch nur ein einziges Wort zu sagen. Als wir den steinernen Vorplatz auf der anderen Seite erreicht hatten, war ich schweißgebadet. Die Züge des Mädchens neben mir hatten sich vor Anstrengung gehärtet; ich konnte jeden anges‐ pannten Muskel in ihrem Gesicht erkennen. Ich faßte nach dem Griff an der Tür. »Hier hätten wir also Nummer drei«, flüsterte ich mit einer Si‐ cherheit, die ich nicht empfand. Ein Stoß, und die Tür stand offen. Dahinter lag ein würfelförmiger Raum, der von Meisterhand so in die lebendigen Felsen gehauen war, daß die Wände wie gemauert erschienen. Wir traten ein. Da schlug uns ein Gestank entgegen, heiß und faul, wie von Fleisch, das zu lange gelagert hatte. Dicht an der gegenüberliegenden Wand kauerte im Schatten eine Kreatur. Unbekleidet und grotesk hockte sie mit gespreizten Beinen da und streckte mir die starken Arme entgegen. 198
Für eine Umkehr war es zu spät. Der Zwerg be‐ wegte sich mit der Schnelligkeit einer Antilope. Seine nackten Füße berührten kaum den Boden, als er einen Sprung machte, um uns den Rückweg ab‐ zuschneiden. Ich gab Lois einen Stoß, durch den sie gegen die Wand flog. Als die mißgebildete Kreatur sich jetzt langsam auf mich zu bewegte, wurde der Geruch geradezu betäubend. Verzwei‐ felt sah ich mich um, fand in diesem leeren Grab‐ raum aber nichts, was ich als Waffe benutzen konnte. Wenn mich diese Klauen in ihren Griff be‐ kamen, quetschten sie mich wie ein rohes Ei zu‐ sammen. »Bleib von mir weg, Lois«, brüllte ich, als ich mich mit dem Rücken gegen eine Wand preßte. »Renn zur Tür ...« Meine Hand fiel nach unten und berührte dabei zufällig meine Gürtelschnalle. Während ich mich immer wieder dem Griff des Monstrums entzog, das jetzt aus tiefster Kehle gefährlich knurrte, öff‐ nete ich die Schnalle und zog mir den Gürtel vom Leib. Wieder war das Knurren zu hören. Gleichzeitig maß das Ungeheuer mit den buschigen Brauen und den kleinenblauen Augen die Entfernung für 199
seinen tödlichen Sprung ab. Ich hielt den Gürtel fest in der rechten Hand. Die schwere Metall‐ schnalle hing fast auf dem Boden. Es war eine Chance, aber mehr als eine Gelegenheit hatte ich nicht. Und dann stießen sich die affenartigen Füße von den Steinen ab, und der birnenförmige Kopf flog mit weit geöffnetem Maul auf mich zu. Die Klauen krümmten sich auf eine Art, die meinen sicheren Tod bedeuten würde, wenn sie mich erreichten. Ich spürte förmlich, wie sie sich in mein Fleisch krallten. Als das Biest seinen Sprung machte, hob ich mich etwas auf die Fußballen, damit ich einen möglichst sicheren Stand hatte. Im letzten Augenblick schwang ich die Gürtelschnalle um die massige Kehle, fing mit der linken Hand das andere Ende des Gürtels und zerrte die Mißgeburt zur Seite. Wenn das Leder unter der ungewohnten Belastung riß, war ich verloren. Das tiefe Knurren in der Keh‐ le des Zwerges klang jetzt erstickt, während ich mich verzweifelt bemühte, das Gürtelende durch die Schnalle zu ziehen. Ich zog die Schlinge kräftig zusammen, wobei ich alles tat, um mir den birnen‐ förmigen Kopf vom Leibe zu halten. Meine Fin‐ 200
gerknöchel traten vor Anstrengung weiß hervor. Mit dem ganzen Körper bemühte ich mich, das Geschöpf auf dem Boden zu halten. Jetzt drang kein Knurren mehr aus dem Mund mit den dicken Lippen. Die ausgestreckten Greifarme faßten langsam nach oben, um den Druck des Le‐ derriemens zu mildern. Die klauenartigen Finger bohrten sich tief in die Fleischfalten am Hals. Die Füße trommelten vor Schmerz auf den Steinboden, während der Zwerg sich mit schwindenden Kräf‐ ten gegen meinen tödlichen Griff zu wehren such‐ te. Ich zog noch einmal zu, wobei der Gürtel tief in den braunen Hals einschnitt. Dann fiel der fellbe‐ deckte, mißgebildete Körper in sich zusammen. Wie lange ich neben dem schrecklichen Bündel kauerte, vermag ich nicht zu sagen. Die ganze Zeit über hatte Lois an der gegenüberliegenden Wand gestanden und mit vor Entsetzen weit aufgerisse‐ nen Augen unseren Kampf beobachtet. Beide Hände hielt sie gegen die glatten Felsen gepreßt. Schließlich stand ich langsam und erschöpft auf und wandte mich an das Mädchen. »Er ist tot, und ich bin der Mörder. Ein armes, mißgebildetes We‐
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sen, das nichts dafür konnte, daß es so war. Und ich habe es umgebracht!« Lois schlug mir mit der flachen Hand ins Gesicht. »Hör auf damit, Myles. Rede kein dummes Zeug. Du hast das Ungeheuer getötet, weil dir keine an‐ dere Wahl blieb, wenn wir am Leben bleiben woll‐ ten.« Ihre blauen Augen starrten mich flehend an. »Das mußt du dir immer vor Augen halten.« Ich rieb mir die Wange und griff nach ihrem Arm. »Und dabei hatte ich schreckliche Angst, kannst du dir das vorstellen?« »Was tun wir jetzt?« fragte sie mit etwas gezwun‐ gen wirkender Munterkeit. »Wie kommen wir hier wieder heraus?« Ich deutete in die Ecke, wo wir den Zwerg beim Betreten des Raumes entdeckt hatten. »Dort ist of‐ fenbar eine Öffnung. Wir können entweder wei‐ tergehen – auch das Schneidermädchen kann ja nicht vom Erdboden verschluckt worden sein – oder wir nehmen den Weg zurück, auf dem wir gekommen sind und rufen die Polizei in St‐Cere an.« Stirnrunzelnd sah sie mich an. »Was meinst du, was wir tun sollen?«
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»Da Mareta mit der Sache zu tun hat und vielleicht auch Jeremy, sollten wir weitermachen.« Wie zur Bekräftigung drückte sie meinen Arm. Hinter der wie eine Tür geformten Öffnung im Ge‐ stein lag ein direkt in die Felsen gehauener Gang, der ebenfalls nur von einer einzigen Glühbirne er‐ hellt wurde. Nach wenigen Schritten erweiterte er sich so weit, daß eine Metalltür Platz hatte, an der eine Klinke angebracht war. »Ich legte die Hand darauf und wartete eine Minu‐ te. »Wenn sie offen ist, müssen wir uns auf Schwierigkeiten gefaßt machen.« Das Lächeln, mit dem Lois mich ansah, wirkte ein wenig gequält. »Was für Schwierigkeiten?« fragte sie. Ohne zu antworten drückte ich die Klinke langsam und geräuschlos nach unten. Eine dicke, von innen gepolsterte Tür schwang uns entgegen, die mich an eine Tür in einem Tonstudio erinnerte. Dahinter lag ein Raum, dessen Wände mit einem groben, leinenartigen Material ausgeschlagen waren, Als wir vorsichtig eintraten, stellte ich fest, daß es sich eigentlich mehr um einen Gang handelte, der nicht breiter als die Tür war. Hinten wurde er von einem niedrigen hölzernen Geländer begrenzt. 203
Auf der anderen Seite des Geländers und ein paar Meter tiefer liegend erstreckte sich ein langer, schmaler Raum mit einer gewölbten Decke voller Rippenverstrebungen aus kleinen, bearbeiteten Steinen, die an den nackten Felsen angebracht waren. In den vier Ecken des Raumes hingen unter der Decke rechteckige Scheinwerfer mit blauen und gelben Filtern, die den Boden in ein weiches grünes Licht tauchten. In der Mitte des Raumes standen nebeneinander zwei roh behauene Holzbänke. Auf der einen ruh‐ te als zufrieden zusammengerolltes Pelzbündel die ingwerfarbene Katze, die ich zum letztenmal in der Klinikküche gesehen hatte. Auf der anderen lag lang ausgestreckt Mareta – in ein langes gelbes Gewand gekleidet. In die hintere Wand war ein Messingrelief einge‐ lassen, das eine Kobra in ihrer typischen, aufges‐ tellten Position zeigte, als ob sie gleich vorschießen wollte. Unter dem Schlangenbild stand Elsa Schneider, beide Arme am Körper herunterhän‐ gend, den Kopf gebeugt, so daß sie den Blick auf einem Punkt zwischen den beiden Holzbänken ruhen ließ. Sie war barfuß. Ihr blondes Haar lag ihr in Flechten wie eine Krone um den Kopf. Sie trug 204
eine kurze, blaue Tunika, auf der vom Halsaus‐ schnitt bis zum Rocksaum der lange, schlanke Körper einer ägyptischen Sonnenkatze abgebildet war. »Komm jetzt, o Bastet, ich bin hier!« Die tiefe Stimme schien von allen Seiten des Raumes gleichzeitig zu kommen. »Zeige dich in deiner ganzen Macht, denn ich, Apep, der Herrscher der Nacht, werde dich jetzt deiner Macht und Stärke berauben. Plötzlich trat Dr. Peter Frantzius vor. Er trug einen goldenen Kopfschmuck, der vom ägyptischen Sonnengott Amon Ra stammen mußte. Dazu um die Hüften eine Art Lendenschurz, der von einem Gürtel aus goldenen Kettengliedern gehalten wur‐ de. In jeder Hand hielt er einen silbernen, in einen dicken Holzgriff eingelassenen Zauberstab. »Sieh, welches Geschick dein Leibwächter erleidet!« Mit diesen Worten trat Frantzius zu der Bank, auf der die Katze lag und schlief. »Ich, Apep, bringe diesen Anhänger von Bubastis für immer zum Schweigen.« Elsa Schneider hob den Kopf und streckte die Ar‐ me aus. Im gleichen Moment stach Frantzius die Silberstäbe in den pelzigen Leib der Katze. Das Licht, das von ihnen ausstrahlte, glich an Intensität dem eines Blitzstrahls. Die Katze sprang mit allen 205
vier Beinen hoch und blieb dann einen Augenblick wie gebannt stehen, bis eine dunkle Qualmwolke, die von ihrem versengten Pelz und verbrannten Fleisch ausging, sie unseren Blicken entzog. Erst jetzt bemerkte ich einen dünnen Draht, der an jedem Zauberstab hing und über den Boden führ‐ te. Wo er endete, konnte ich von meinem Standort aus nicht sehen. Der irrsinnige Frantzius hatte die Katze unter Strom gesetzt und war jetzt dabei, Ma‐ reta dasselbe Schicksal angedeihen zu lassen. In dem kleinen Raum wurde der Geruch nach ver‐ branntem Fell und Fleisch fast unerträglich. Neben mir biß sich Lois in den Arm, um den Hustenreiz zu unterdrücken. »Und jetzt, o Göttin des Ostens«, echote gerade die tiefe Stimme von den Felswänden, »nehme ich dir die Macht, die dir Ra verliehen hat. Ich beraube dich der Weisheit des Osiris.« Elsa Schneider trat ein paar Schritte vor, bis sie ne‐ ben der Bank stand. Ihr hartes Gesicht wirkte in dem grünlichen Licht der Scheinwerfer fast durch‐ sichtig. Sie sah auf die Gestalt in dem gelben Ge‐ wand herunter. Frantzius hob die Arme über den Kopf. »Bereite die Katzengöttin auf ihre Zerstörung durch Apep vor.« 206
Elsa Schneider packte das gelbe Gewand und riß es mit einer schnellen Bewegung vom Körper des unbeweglich daliegenden Mädchens. Als Mareta nackt war, konnte ich erkennen, daß sie um den Hals, die Taille und die Fußgelenke an der Bank festgebunden war. »Das Geschöpf Bastet erwartet dein Urteil, o Apep, Zerstörer des flammenden Auges der Sonne.« Die Stimme der Deutschen klang flach und ausdrucks‐ los. Sie blickte noch einmal Peter Frantzius an, dann drehte sie sich um und begab sich wieder in ihre ursprüngliche Position vor das Schlangenre‐ lief. Dort kreuzte sie die Arme vor der Brust und blieb bewegungslos stehen. Lois zog mich zur Felswand zurück und flüsterte: »Myles, dieser Mann ist im Begriff, Mareta auf die‐ selbe Art umzubringen wie die Katze.« »Ich weiß«, sagte ich gequält. Ich suchte kramp‐ fhaft nach Worten. Mit schweißbedecktem Gesicht sah ich sie an. »Myles, was sollen wir tun?« Die kleine, jämmerli‐ che Stimme bedrängte mich. »Was wirst du tun? Du kannst sie doch nicht einfach vor unseren Au‐ gen sterben lassen.« »Ich weiß es ja, Lois. Um Himmels willen ...« 207
Ohne meinen Satz zu beenden, trat ich an das Ge‐ länder. Jetzt stand Frantzius direkt neben der Bank mit der gefesselten Mareta. Ich spürte, wie Lois sich neben mich schob. Frantzius hatte die Arme mit den elektrischen Zauberstäben erhoben. »Myles«, beschwor mich die Stimme neben mir. »Bitte, Myles!« Die Zauberstäbe verhielten ruhig. Frantzius richte‐ te sich auf und reckte den Kopf. Noch einmal drang seine Stimme von allen Seiten auf uns ein. »Bastet, gleich wird dein Leben und deine Macht beendet sein!« Ich stellte einen Fuß auf das Geländer. »Frantzius!« Das Wort kam wie ein Schrei aus meinem Munde. Der Mann zögerte und sah überrascht zu mir em‐ por. Ich hatte schon den zweiten Fuß nachgezogen. Einen Augenblick lang balancierte ich in meiner ganzen Größe auf dem schmalen Geländer, dann sprang ich, wobei ich mich mit den Füßen abstieß, so daß mein Körper nicht nur nach unten, sondern auch nach vorn fiel. Frantzius drehte sich um, die Zauberstäbe wie Waffen in den Händen haltend. Seine Bewegung unterbrechend, prallte ich gegen ihn, wodurch wir beide neben der Bank auf den Steinboden stürzten. 208
Ich hörte ihn entsetzlich aufschreien, dann schleu‐ derte mich eine gigantische Macht von seinem sich windenden Körper. Ich lag unbeweglich da. Meine Lungen bekamen fast keine Luft mehr. Dabei sah ich, wie er im übelkeiterregenden Geruch verbrannten Fleisches starb. Mein Aufprall hatte bewirkt, daß er sich die zwei elektrischen Stäbe in das ungeschützte Fleisch seines Unterleibes bohrte. Der Stromstoß, den er Mareta zugedacht hatte, hatte ihn getötet. Über mir hörte ich plötzlich eine bekannte Stimme. »Ihre Untersuchungen sind vorüber, Mr. Donnen«, sagte Polizeileutnant Joseph Maurac. »Alles ist vorbei.« Alles ist vorbei! Während ich diese Worte vor mich hin murmelte, versuchte ich vergeblich, auf die Be‐ ine zu kommen. Der Geruch verursachte mir Übelkeit in der Kehle. Dann hörte ich, wie schwere Stiefel über den Steinboden trampelten. Unsichtba‐ re Hände packten mich und hoben mich hoch. Ich verlor das Bewußtsein. »Sie bedeuteten ein ziemliches Problem für mich«, stellte Maurac fest. »Sie hatten eine ganze Menge Antworten, zu denen Sie die Fragen nicht wuß‐ ten.« Wir saßen im Fernsehraum der Klinik und 209
tranken schwarzen Kaffee und Cognac aus den Be‐ ständen des Hauses. Ich starrte den dicken Polizis‐ ten über den Rand meiner Tasse erstaunt an. »Und weshalb war ich ein Problem für Sie, Lieutenant ?« »Als Sie mich in meinem Büro aufsuchten, um mir von den außergewöhnlichen Ereignissen in der Klinik zu berichten, war ich gerade dabei, eine of‐ fizielle Polizeirazzia vorzubereiten. Ich wollte Dr. Frantzius unter der Anschuldigung verhaften, ille‐ gal Lysergische Drogen, im Volksmund LSD ge‐ nannt, herzustellen. Darin bestanden übrigens Ihre ganzen Schwierigkeiten, Mr. Donnen.« Er warf mir einen freundlichen Blick zu. »Man hat Ihnen stän‐ dig unbemerkt diese Droge eingegeben, und sie standen völlig unter ihrem Einfluß. Dabei habe ich den starken Verdacht, wenn ich mir meiner Sache auch nicht ganz sicher bin, daß man sich dabei Ih‐ rer Vorliebe für den Nikotingenuß bediente.« »Sie glauben also, daß meine Zigaretten mit die‐ sem Zeug geimpft waren?« »Genau. Natürlich nur in kleinen Dosen, gerade genug, um Sie völlig durcheinanderzubringen, aber nicht so viel, daß Sie einen richtigen Trip durchmachten.« Maurac seufzte. »Natürlich war mir das bei Ihrem ersten Besuch noch nicht klar. 210
Aber als Sie dann mit Ihrer Geschichte von dem erstochenen Werwolf ankamen, war ich meiner Sa‐ che sicher. Während wir unter den Bäumen nach der Leiche Elsa Schneiders suchten, teilten Sie mir beiläufig mit, daß Ihre Sicht nicht besonders klar gewesen war. Die Bäume schienen in einem merkwürdigen Licht zu leuchten und sich zu tei‐ len, so sagten Sie, wenn ich mich recht erinnere. Das sind geradezu klassische Symptome, die für die Einnahme von LSD sprechen.« Ich stellte die Tasse hin. »Und was ist mit dem Wolf? Den habe ich doch mit eigenen Augen gese‐ hen.« »Sie haben sich eingebildet, einen Wolf zu sehen«, mischte sich Etienne Dumas in das Gespräch. »Darin besteht eine der größten Gefahren bei Ly‐ sergischen Drogen. Menschen, die sowohl geistig wie körperlich durch dieEinnahme von LSD ge‐ schwächt sind, werden dazu gebracht, Dinge zu sehen und Handlungen zu begehen, die für ihr normales Leben völlig unüblich sind. Ich kann mir nur vorstellen, daß Elsa Schneider, als sie sich im Wald an Sie heranmachte, in Ihrem Gehirn die Vorstellung von einem Werwolf hervorgerufen hat. Und das genügte in Ihrem Falle, um Sie einen 211
solchen sehen zu lassen und Ihnen das Gefühl zu vermitteln, daß Sie angegriffen und übel zugerich‐ tet worden waren.« »Sie geben mir da ein paar dicke Brocken zu schlu‐ cken«, bemerkte ich. »Ich weiß doch schließlich, daß ich von einem Wolf angegriffen wurde, wobei mein Rücken böse Verletzungen davontrug. Und jetzt wollen Sie mir tatsächlich einreden, daß mir alle diese Tatsachen von dem Mädchen sozusagen ins Gehirn gepflanzt wurden? Damit kann ich mich einfach nicht abfinden.« »Sie waren nur eine Marionette, Mr. Donnen«, wurde ich von Maurac unterbrochen. »In den letz‐ ten Tagen hatten Sie nämlich gar nicht die Mög‐ lichkeit, die Vorgänge in Ihrem Gehirn unter Kont‐ rolle zu halten. Wie Etienne schon erwähnte, hat man Sie dazu gebracht, Dinge zu sehen und zu tun, die für Sie normalerweise unüblich sind.« Ich streckte den Arm aus, schob den Hemdärmel hoch und zeigte ihm die Male, die von dem Biß der kleinen schwarzen Katze herrührten. »Und was ist das?« Etienne Dumas schüttelte den Kopf. »Ihr zer‐ schundener Rücken wurde nicht durch einen Biß geheilt, Myles. Und zwar deshalb nicht, weil es 212
nichts zu heilen gab. Sie wurden von keinem Werwolf angegriffen, weil er nicht existiert hat...« »Und was ist mit meinem Hemd?« schnitt ich ihm das Wort ab. »Sie müssen doch zugeben, daß es in Fetzen an mir herunterhängt.« »Das wurde ohne Zweifel von dem Mädchen oder diesem Georges zerrissen.« »Wenn Sie sich erst einmal klar darüber werden, daß Dr. Frantzius lediglich einen aus Ihrer Gruppe für sein bizarres Experiment benötigte, dann ver‐ stehen Sie auch, warum die anderen drei unter Drogen stehen mußten«, sagte Maurac. »Vermut‐ lich entschied sich Dr. Frantzius für Mareta di Palma, weil sie ihm als die geistig am wenigsten stabilste erschien.« »Er war gerade im Begriff, sie umzubringen«, stell‐ te ich fest. »Ich kann mir wirklich nicht vorstellen, daß Sie Mord als bizarres Experiment bezeichnen, Lieutenant.« »Wenn man eine fünfundzwanzigjährige Erfah‐ rung als Polizeioffizier auf dem Buckel hat, fällt es einem nicht schwer, fast jeden Mord als ein solches zu sehen, Mr. Donnen. Was sollte es sonst sein? Eine solche Tat liegt jenseits aller Vernunft. Ob aus
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Gründen des Geldes oder aus persönlichem Anlaß, was ist sie anderes als ein bizarres Experiment?« »Warum wollte er es tun?« fragte ich seufzend. Jetzt lächelte Joseph Maurac. »Warum finden sich so viele respektable Bürger in England oder Frank‐ reich in Höhlen zusammen und nennen sich He‐ xen und Teufelsanbeter? Und das nicht nur dort, sondern auch in vielen anderen Ländern auf der ganzen Welt. Hexenkünste und Magie sind so alt wie die Menschheit selbst, Mr. Donnen. Warum wohnen die Menschen einer Schwarzen Messe bei? Voodoo‐Zauber, Hexenkraft, Magie – das sind Be‐ griffe, die es immer gegeben hat und wohl auch immer geben wird. Und all diese Dinge kann man doch wohl bizarr nennen.« »Was wird aus Elsa Schneider und Georges?« »Ich glaube nicht, daß ich eine Anklage gegen Georges zusammenbringe«, sagte Maurac mit lei‐ sem Bedauern in der Stimme. »Und was das Schneider‐Mädchen betrifft, so hat Ihre Einmi‐ schung zum richtigen Zeitpunkt sie davor be‐ wahrt, als Komplizin bei einem Mord angeklagt zu werden. Das war ein eindrucksvoller Sprung in die Höhle, wenn auch nicht ohne Risiko.«
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»Wie haben Sie es eigentlich fertiggebracht, rech‐ tzeitig zu erscheinen, Lieutenant?« »Wir waren schon seit St‐Cere hinter Ihnen. Als wir den halberstickten Zwerg in seinem Felsver‐ steck fanden, haben wir uns zu lange aufgehalten, das muß ich leider zugeben.« Ich sah den dicken Polizisten mit einem Gefühl der Erleichterung an. »Wie gut, daß er nicht tot ist. Was wird jetzt aus ihm?« »Zuerst müssen wir herausfinden, wer er eigent‐ lich ist«, sagte Maurac. »Kein Mensch in der Klinik scheint eine Ahnung davon zu haben. Bei diesem Problem hätte uns wohl nur Dr. Frantzius helfen können.« »Wie geht es mit der Klinik weiter?« »Dort wird man weiter übergewichtigen Menschen helfen, ihre Gelüste nach den vollen Fleischtöpfen zu bändigen«, sagte Maurac säuerlich. »Dr. Frant‐ zius war Angestellter einer Organisation, der diese Klinik gehört. Es wird also einen neuen Chefarzt geben und damit werden die bizarren Experimente zweifellos ein Ende haben.« Er sah mich nach‐ denklich an. »Werden Sie hierbleiben, nachdem die Umstände jetzt wieder normal sind? Schwester
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Angela Puchert würde das sicher als Kompliment für ihre Tüchtigkeit ansehen.« »Ich will weg von hier«, sagte ich. »Und ich bin si‐ cher, daß das auch Maretas Wunsch ist. Mit Lois und Jeremy muß ich noch reden. Wie geht es den beiden?« »Sie schlafen die Nachwirkungen der Drogen aus, die man ihnen verabreicht hat.« »Wie steht es mit Lois?« fragte ich. »Warum konn‐ te sie gestern abend Jeremy nicht finden? Sie hat angeblich zweimal in sein Zimmer gesehen ...« »Ich kann mir nur vorstellen, daß sie sich in den Räumen geirrt hat. Als wir uns auf die Suche be‐ gaben, lag er friedlich im Bett und schlief den Schlaf des Gerechten.« »Für meinen Geschmack gibt es immer noch eine Menge loser Fäden, Lieutenant.« Ich stand auf. »Das müssen Sie doch selbst zugeben. Was sollte zum Beispiel all das ägyptische Zeug? Warum sprach Mareta ständig von Bastet und warum nannte sich Frantzius Apep? Können Sie mir diese Fragen auch beantworten?« »Ich kann das nicht einmal versuchen.« Maurac ging zur Tür. »Sie leben, und auch Ihre Freunde leben. Und allein das zählt. Fahren Sie mit Ihren 216
Freunden nach England zurück und vergessen Sie alles, was mit der Klinik Sante zusammenhängt.« Er blieb einen Augenblick stehen und sah sich noch einmal nach mir um. »Und vor allem verges‐ sen Sie die bizarre Handlungsweise von Dr. Peter Frantzius.« Der Regen hatte aufgehört, und das Tal der Dor‐ dogne lag im klaren Licht des frühen Herbstes. Lieutenant Maurac war gegangen, nachdem er sich von uns das Versprechen hatte geben lassen, zu einer Aussage zurückzukommen, falls sich das als notwendig erweisen sollte. Wir wollten in unserem Wagen Etienne Dumas mit nach Bordeaux neh‐ men. Christian brachte unser Gepäck herunter, und Jeremy verstaute es im Wagen. Es gab nichts mehr, was uns in der Klinik Sante hielt. Ich ging noch einmal in das graue Haus, um Mare‐ ta zu holen. Sie saß in einem Sessel am Fenster. In ihren Armen hielt sie die kleine schwarze Katze. Als sie aufblickte, lächelte sie mich an und kraulte das kleine Tier zärtlich zwischen den Ohren. »Was hältst du davon, wenn wir die Katze mitnehmen?« Ich betrachtete die schnell heilenden Zahnabdrü‐ cke über meinem Handgelenk. »Nicht schlecht.
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Das Tier könnte in Harley Street ein Vermögen verdienen.« Sie setzte das Tierchen zögernd auf die Fenster‐ bank. »Ist es wirklich nicht möglich, Myles? Gibt es keinen Weg...« »Es geht nicht, Mareta«, versicherte ich. »Das Tier müßte sechs Monate in Quarantäne verbringen, sobald wir in England sind. Wenn man es so lange einsperrt, geht es ein. Aber wenn du das Risiko eingehen willst...« »Nein«, sagte sie kurzentschlossen, stand auf und sah noch einmal aus dem Fenster zu den Hügeln hinüber. »Ich glaube, daß es uns vom Schicksal be‐ stimmt war, hierherzukommen. Trotz allem, was geschehen ist, ich bin froh darüber.« »Ja«, sagte ich ohne Enthusiasmus und fuhr dann fort: »Es war interessant, und vermutlich haben wir alle etwas an Gewicht verloren.« »Spotte nicht, Myles.« Sie stand schon an der Tür. »Ich möchte ihn sehen. Du weißt schon, wen ich meine. Nur ein einziges Mal, bevor wir fahren. Ich habe schon mit Schwester Angela gesprochen.« Zögernd folgte ich ihr. Die schwarze Katze war vom Fensterbrett gesprungen und lief vor uns her. Schwester Angela Puchert erwartete uns an der 218
Treppe. Sie warf mir einen ängstlichen Blick zu und wandte sich dann an Mareta. »Sind Sie auch ganz sicher, daß Sie ihn sehen wollen?« »Ich kann nicht anders«, sagte Mareta und ging weiter, während die kleine Katze an ihrer Seite blieb. Das Zimmer, das wir jetzt betraten, war kühl und ruhig. Die Sonnenjalousien waren herunterge‐ lassen. Das Bett mit der mit einem Laken zuge‐ deckten Gestalt lag in diffuses Licht getaucht. Ma‐ reta zog mit sanfter Hand das Leintuch von dem ruhigen Gesicht des Toten. Die schwarzen Augen standen offen und wirkten wie lebendig. Der leicht geöffnete Mund ließ die ebenmäßigen weißen Zähne erkennen und schien sich unter meinem feindseligen Blick zu einem verächtlichen Lächeln zu verzerren. Mareta berührte vorsichtig die kühle Stirn. »Ich, Bastet, Göttin der Katzen, begrüße dich Apep. Herr‐ scher der Nacht. Ich bin die Große Katze. Du sollst Tausend Tode sterben. « Ich packte sie entsetzt am Arm und zog sie vom Bett fort. »Was glaubst du eigentlich, wer du bist?« »Ist dir klar, daß er nicht tot ist?« fragte sie und sah mich mit großen Augen an. Ihr Gesicht war zu ei‐ ner Maske erstarrt. »Er wird zurückkehren, wir 219
werden ihn wiedersehen. Er ist Apep, der Herr‐ scher. Er stirbt erst, wenn...« »Er liegt dort, weil er tot ist.« Ich schrie sie ärger‐ lich an: »Verdammt noch mal, Mareta, kannst du das denn nicht verstehen? Mit Frantzius ist es aus und vorbei. Er war ein Teufel, und jetzt ist er tot.« Ich wirbelte sie herum, damit sie die kalte Maske des Todes mit eigenen Augen sehen konnte. »Schau ihn dir an, Mareta. Das ist sein Ende. Du mußt ihn vergessen – so schnell wie möglich!« Sie löste sich aus meinem Griff. »Lieber Myles. Du gibst dir solche Mühe und verstehst doch gar nichts.« Damit ließ sie mich stehen und ver‐ schwand. Die kleine Katze schritt leichtfüßig ne‐ ben ihr her. Mir war kalt geworden. Als ich jetzt nach dem Laken faßte und es über das unbewegte Gesicht des Toten zog, zitterte ich am ganzen Lei‐ be. Ich haßte die auf dem Bett liegende Gestalt mit ei‐ ner Intensität, die mir sonst fremd war. Im Tode schien Peter Frantzius eine noch stärkere Bedro‐ hung für Maretas geistige Verfassung zu sein wie zu seinen Lebzeiten. Ich warf mich in einen Sessel und zündete mir eine Zigarette an.
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»Wie kann m nur in Gegenwart eines Toten rau‐ chen, Myles?« Etienne Dumas stand in der offenen Tür und beobachtete mich.«Ich habe gerade auf der Treppe Mareta getroffen. Sie schien verwirrt...« »Das ist es ja gerade, es geht ihr nicht ein bißchen besser. Sie brachte mich dazu Sie hierher zu beglei‐ ten. Angeblich mußte sie ihn vor unserer Abreise noch einmal sehen.« »Das brauchen sie mir nicht zu erzählen. Ich habe etwas Ähnliches erwartet. Ich sah ihn voll Entset‐ zen an und erhob mich aus meinem Sessel, jetzt sagen Sie mir so einfach wie möglich, was mit Ma‐ reta ist. In einfachen Worten Etienne, damit ich Sie verstehen kann.« Dumas lächelte und lehnte sich gegen den Tisch. »Also gut, ich will es versuchen. Mareta hält sich für Bastet, die frühägyptische Katzengöttin. Unge‐ fähr dreitausend Jahre vor Christi war Bastet die am meisten verehrte Gottheit in ganz Ägypten. Ihr Tempel stand auf einer Insel inmitten der Stadt Bubastis. Und dieser Tempel war das Herz des Katzenkultes. Können Sie mir folgen?« »Ich glaube schon«, sagte ich. »Wie ich Ihnen schon sagte, habe ich einiges über Bastet und ihre nächtlichen Kämpfe mit Apep gelesen. Aber das 221
gehört doch alles der Mythologie an und hat nichts mit der Wirklichkeit zu tun.« Dumas zuckte die Achseln. »Wer weiß das so ge‐ nau?« fragte er gelassen. »Natürlich erscheinen uns dreitausend Jahre eine lange Zeit. In jener Pe‐ riode nahmen die ägyptischen Katzengötter und ‐ göttinen Gestalt an. Bastet stand auf der Höhe ih‐ rer Macht, bevor Christus auf die Welt kam. Aber auch heute noch gibt es Menschen, die glauben, daß sich ihre Macht bis zum heutigen Tage ständig ausgedehnt hat. Auf welche Weise Ihre Freundin Mareta mit diesem Kult in Berührung kam, ver‐ mag ich nicht zu sagen. Genausowenig wie ich weiß, wie Dr. Frantzius darin verwickelt wurde.« »Der ist tot«, sagte ich bestimmt, und ’was ge‐ schieht jetzt mit Mareta?« »Sie braucht psychiatrische Behandlung und zwar die beste, die sie kriegen kann.« »Meinen Sie eine Nervenheilanstalt?« ’ »Für eine gewisse Zeit bestimmt. Es gibt für sie gar keine andere Möglichkeit.« »Und was geschieht, wenn sie sich weigert?« »Dann würde die Verwandlung ganz von ihr Be‐ sitz ergreifen. Mareta di Palma würde für immer
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die Große Katze werden und es auch bleiben.« Dumas sah mich fest an. »Das heißt, sie wäre verrückt. Aber es gibt kei‐ nen Grund, warum sie nicht wieder völlig gesund werden sollte.« »Glauben Sie das wirklich?« fragte ich. »Natürlich kann ich es nicht mit Bestimmtheit vor‐ aussagen. Ich bin Ägyptologe und interessiere mich für den Okkultismus. Aber ich bin keine Ka‐ pazität auf dem Gebiet der Geisteskrankheiten.« Er sah auf die verhüllte Gestalt auf dem Bett. »Ich würde Ihnen gern eine Frage stellen, Myles. Die Antwort könnte wichtig sein, wenn wir die Ge‐ schehnisse hier begreifen wollen. Wer von Ihnen hat sich mit der Klinik Sante in Verbindung ge‐ setzt? Wer hat die Buchungen übernommen?« »Wenn ich mich recht erinnere, hatte Jeremy von einem Freund über diesen Ort gehört. Wir hielten Kriegsrat ab und beschlossen eine Kur zu machen, um einiges Übergewicht loszuwerden und uns gleichzeitig diesen Teil Frankreichs anzusehen. Anschließend rief Mareta Dr. Frantzius an und traf für uns alle die entsprechenden Vereinbarungen.« »Waren Sie bei diesem Telefongespräch zugegen?«
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Ich schüttelte den Kopf. »Nein, Mareta lebt in Chelsea und ich am anderen Ende Londons. Sie teilte uns nur die Daten, die Kosten und so weiter mit.« »Und jetzt würde ich Ihnen gern eine sehr persön‐ liche Frage stellen, Myles. Waren Sie und Mareta zu irgendeiner Zeit gefühlsmäßig verbunden?« Wieder schüttelte ich den Kopf. »Nein, niemals. Wir haben oft zusammengearbeitet, mit Gefühlen hatte das aber nichts zu tun.« Es gab keine Bettge‐ schichten. Mareta lebte ziemlich für sich allein. Ich wüßte nicht einmal, daß sie jemals einen festen Freund gehabt hätte.« »Dann wußten Sie also nichts von ihrem Interesse für ägyptische Mythologie?« »Nein, eigentlich nicht. Ich habe nur in ihrer Woh‐ nung ein paar entsprechende Antiquitäten gese‐ hen. Sie besitzt zum Beispiel eine heilige ägypti‐ sche Katze mit einer zusammengerollten Schlange auf dem Kopf, ein Musikinstrument, das sie Sist‐ rum nennt, und eine Figur, die halb Mensch und halb Katze ist.« Dumas hakte schnell ein: »Können Sie mir diese Figur näher beschreiben?«
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Ich versuchte mich daran zu erinnern. »Sie dürfte ungefähr dreißig Zentimeter groß sein. Das Wesen sitzt auf einer Platte, zu ihren Füßen mehrere klei‐ ne Katzen. Wie viele, weiß ich nicht mehr. Die Fi‐ gur selbst ist bis zum Hals menschlich. Der Kopf gleicht dem einer ziemlich sonderbaren Katze. Ich weiß nicht, ob das einen Sinn ergibt, Etienne, aber...« »Das erklärt eigentlich alles«, sagte er. »Sie haben mir soeben Bastet, die Katzengöttin, be‐ schrieben.« Ich glaube meinen Ohren nicht zu trauen. »Und wohin führt uns das alles?« »Wir wissen dadurch zum Beispiel, daß Mareta, lange bevor sie in die Klink Sante kam, mit der ägyptischen Götterwelt verbunden war. Vielleicht hat sie mit Dr. Frantzius über ihr Interesse gespro‐ chen, als sie ihn anrief, um die Zimmer zu bestel‐ len.« »Hat Lieutenant Maurac Ihnen eigentlich erzählt, was uns auf unserer Anreise zugestoßen ist?« Dumas schüttelte den Kopf. »Nein.« Ich erzählte ihm die Geschichte. Dumas warf der zugedeckten Gestalt einen Blick zu. »Dann können wir wohl sicher sein, daß Mareta über ihre ägypti‐ schen Ambitionen mit Dr. Frantzius gesprochen 225
hat. Vielleicht hat sie sogar über ihre Gefühle Bas‐ tet gegenüber gesprochen. Ich bin nämlich der Meinung, daß der Arzt die Vorfälle auf der Straße in Szene gesetzt hat, und zwar in der Absicht, das Mädchen in einen seinen Zwecken dienlichen Zu‐ stand zu versetzen, noch ehe sie die Klinik erreich‐ te.« Ich schüttelte den Kopf. »Ich sehe keine Möglich‐ keit, wie ihm das hätte gelingen können. Dazu ge‐ hörten zu viele Einzelheiten die er nicht vorausbe‐ rechnen, geschweige denn in Szene setzen konn‐ te.« Dumas hob die Hand und zählte an den Fingern ab. »Erstens hatte er die Mißgeburt von Zwerg, die Jeremy und möglicherweise auch Lois Bata angrei‐ fen konnte. Zweitens die Katze, die haben Sie ja selbst gesehen. Sie kann mit einem Biß Wunden heilen. Das ist allerdings ein Phänomen, das ich mir nicht erklären kann. Drittens ein Schrei und merkwürdige Geräusche. Die hätte Dr. Frantzius selbst verursachen können, oder auch Elsa Schnei‐ der. Wir dürfen nämlich Elsa, die Wolfsfrau, nicht vergessen. Sie ist Nummer vier. Und dann Mareta selbst. Um sie mußte sich Frantzius auf jeden Fall persönlich kümmern. Eine schnell verabreichte 226
Dosis LSD genügte, um Maretas Halluzinationen ins Ungemessene zu steigern. Dazu ein Dreizack und ein Gummiohr. Und damit haben Sie den ganzen merkwürdigen Zwischenfall auf der Straße nach Rocamadour. So betrachtetest er gar nicht mehr unerklärlich. Außerdem haben Sie mir ja selbst erzählt, daß sich weder Dreizack noch die Knochenkette im Wagen befanden, als Sie hier an‐ kamen. Dieser Dinge dürfte sich Elsa Schneider angenommen haben.« Mit müden Augen sah ich Etienne Dumas an. »Wenn Sie das so erklären, klingt alles ganz ein‐ fach.« Dumas erhob sich. »Wir sollten gehen, bevor Sie sich von diesem Ort völlig einfangen lassen.« An der Tür warf ich noch einen letzten Blick auf die auf dem Bett liegende Gestalt, dann folgte ich dem schlanken Mann durch den Korridor. Neben mir saß Etienne Dumas. Hinten lehnte Ma‐ reta zwischen Jeremy und Lois. Wir waren bereits zehn Minuten gefahren, als ich im Rückspiegel das kleine schwarze Pelzbündel auf Maretas Schoß entdeckte. »Du hast die Katze ja doch mitgenommen.« Ich konnte die Mißbilligung in meiner Stimme nicht 227
unterdrücken. »Mareta, ich habe dir doch gesagt, was passiert, wenn ...« »Ich weiß, was du gesagt hast«, erwiderte sie ru‐ hig. »Aber ich habe meine Meinung geändert. Ich will das Tier mitnehmen.« »Es dürfte nicht mehr lange dauern, bis wir ein Gewitter erleben«, unterbrach Etienne Dumas dip‐ lomatisch unsere beginnende Diskussion. »Da oben ballen sich ganz schöne Wolken zusammen.« Sie fegten uns, offensichtlich von der Küste kom‐ mend, entgegen, verdunkelten das Tal und be‐ deckten den blauen Himmel. Die Luft brachte eine erdrückende Schwüle. Wir fuhren auf einer engen Straße mitten durch die Felsen. Mit einem Schlag hatte das Gewitter uns erreicht. Grelle Blitze zuck‐ ten von den Wolken herunter und manchmal so‐ gar von Wolke zu Wolke. Der Donner grollte fast unaufhörlich. Der Regen trommelte los, als wir die Felsschlucht verließen und bergauf fuhren. Er rauschte zusam‐ men mit dem Wind durch das Tal. Die Scheiben‐ wischer kämpften einen vergeblichen Kampf ge‐ gen die Übermacht des gegen die Scheibe pras‐ selnden Wassers. Als sich jetzt die Straße gabelte, lenkte ich den Wagen vom Tal weg in die Hügel. 228
»Durch die Bäume bekommen wir wenigstens et‐ was Deckung«, meinte ich. »Auf der oberen Berg‐ straße hält nichts den verdammten Wind ab.« »Du bist der Fahrer«, brummte Jeremy. »Ich drü‐ cke nur die Daumen, daß nichts passiert.« Dumas runzelte die Stirn, beugte sich vor und ver‐ suchte durch die Windschutzscheibe zu blicken. »Hier gibt es ein anderes Problem. Die Straße ist nur teilweise geteert.« Plötzlich rutschte der Wagen im rechten Winkel weg und berührte mit der Stoßstange die Felsen, während die Hinterräder nur wenige Zentimeter vom Abgrund entfernt waren. Ich versuchte mich an das zu erinnern, was ein Fahrer mit schnellem Reaktionsvermögen tun soll, wenn alle vier Räder gleichzeitig durchdrehen. Ich nahm den Fuß vom Gashebel, berührte aber die Bremse nicht. Dann drehte ich das Steuer vorsich‐ tig herum und betete insgeheim, daß wir nicht so hart gegen die Felsen stoßen würden, daß der Wa‐ gen über den Abgrund getragen würde. Und dann faßten die Hinterräder wieder. Der Küh‐ ler rutschte dicht an den Felsen vorbei. Ein leichter Druck aufs Gas, kurz darauf ein Tritt auf die
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Bremse. Nach ein paar Sekunden, die mir wie eine Ewigkeit vorkamen, stand der Wagen. Wir saßen eine Weile schweigend da. Draußen schien die Kraft des Sturms ihren Höhepunkt er‐ reicht zu haben. Das Wasser rauschte durch die Äste und verwandelte die Straße in einen reißen‐ den Bach. Große Erdklumpen und Geröll wurden den Abhang hinuntergetragen. Hinter mir stieß Jeremy einen erleichterten Seufzer aus. »Das war ein richtiges Fahrkunststück, Myles. Aber ich glaube nicht, daß meine Nerven noch mehr ertragen.« Plötzlich löste sich Mareta aus ihrer Erstarrung. Sie faßte an Lois vorbei nach der Tür und stieß sie weit auf. Ehe wir sie daran hindern konnten, war sie mit der Katze unter dem Arm über Lois hin‐ weggeklettert und taumelte hinaus in die entfessel‐ ten Naturgewalten. Dumas war der erste, der sich wieder faßte. »Schnell, wir müssen sie aufhalten.« Durch die Bäume konnte ich gerade noch Mareta in ihrem gelben Hosenanzug sehen, die geschickt den Abhang erkletterte. Ich packte Lois am Arm. »Geh zurück ins Auto.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich komme mit!« 230
Da begann ich ebenfalls zu klettern. Mit Händen und Füßen klammerte ich mich an nassen Büschen fest, wobei ich bei jedem Schritt im klebrigen Matsch auszurutschen drohte. Weder von Jeremy noch von Etienne Dumas war etwas zu sehen. Lois kämpfte sich nur wenige Meter von mir entfernt durch Unterholz und Dreck und suchte nach Stel‐ len, wo ihre Füße einen Halt fanden. Der Sturm hatte jetzt eine Stärke erreicht, die es ei‐ nem fast unmöglich machte, Atem zu holen. Einen Augenblick lang lehnte ich mich mit dem Rücken gegen einen Baum, ergriff die Hand des erschöpf‐ ten Mädchens und zog sie neben mich. »Du solltest hierbleiben. Wenn du Jeremy oder Dumas siehst, kannst du ihnen sagen, daß ich weitergegangen bin«, stieß ich mühsam hervor. »Ich begleite dich, Myles.« Das kleine Koboldge‐ sicht war triefend naß und ihr blondes Haar an den Kopf angeklatscht. »Wenn Mareta hier he‐ raufgekommen ist, kann ich das auch.« Ich stellte sie mit dem Rücken gegen den Baum. »Warte wenigstens so lange, bis du Atem ge‐ schöpft hast. Dann arbeite dich von Baum zu Baum aufwärts, aber paß genau auf, wo du hint‐
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rittst. Wenn du einmal ins Rutschen gerätst, weiß ich nicht, wo du landest.« »Sie ist verschwunden!« Lois deutete nach oben. »Plötzlich ist sie weg.« Sie hatte recht. Als ich in die angegebene Richtung sah, war Mareta nicht mehr zu sehen – nur noch windgepeitschte Büsche und Bäume, den pras‐ selnden Regen und Erde und Steine, die den Ab‐ hang heruntergeglitten. Lois packte mich am Arm. »Myles, was war plötz‐ lich mit ihr los?« »Sie ist krank, Lois. Krank im Kopf, meine ich. Wir müssen sie finden, bevor sie in Gefahr gerät. Ich folge ihr jetzt. Komm nach, wenn du wieder dazu fähig bist. Und denk daran, daß dieser Matsch eine tödliche Falle werden kann, wenn du nicht auf‐ paßt.« Ich löste meinen Arm aus ihrem Griff und begann erneut meine Klettertour durch Wind und Regen. Meine Kleidung war schwer, da sie sich mit Was‐ ser vollgesogen hatte. Während ich mich aufwärts kämpfte, bemerkte ich plötzlich, daß offensichtlich meine Schuhe irgendwo steckengeblieben waren. Aber darum konnte ich mich nicht kümmern. Ich mußte weiter. Wenn ich jetzt eine Pause einlegte, 232
würde mir die Energie fehlen, mich noch einmal aufzuraffen. Endlich hatte ich den Abhang hinter mir. Das Ge‐ büsch unter den Bäumen wurde dichter. Nach we‐ nigen Metern konnte ich mich aufrichten. Vor mir erhoben sich die Ruinen eines gewaltigen Gebäudes mit den Überresten eines Turms, dessen glaslose Fenster wie Augen in die Gegend starrten. Der Boden war hier mit kniehohem Gras bewach‐ sen, das von dem Regen niedergedrückt war und es mir leichter machte, mich vorwärts zu bewegen. Die Wände des Gewölbes waren fast meterdick. Plötzlich fand ich eine Nische im Mauerwerk, die mich wenigstens einigermaßen vor der Gewalt des Sturms schützte. Ich blieb lange genug, um etwas Kraft aufzutanken, dann trat ich wieder in den Re‐ gen hinaus, um mich nach Lois umzusehen. Ich fand sie auf dem Boden liegend, einen Arm um einen Baumstamm gelegt, die Beine fast von der schlammigen Flut überdeckt. Das Kreischen des Sturms war so laut geworden, daß es unmöglich war, sich verständlich zu machen. Ich zog sie hoch und zerrte sie durch das niedergedrückte Gras bis zu der Mauernische.
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Wir saßen mit dem Rücken gegen die Mauer, als zwei schmutzbedeckte Gestalten um die Ecke taumelten und neben uns auf den Boden fielen. Es dauerte geraume Zeit, bis Etienne Dumas wie‐ der sprechen konnte. »Habt Ihr sie gesehen?« »Ganz am Anfang«, erwiderte ich. Sie kletterte ein ganzes Stück vor uns!« »Was tun wir jetzt?« Jeremy betrachtete mit düste‐ rer Miene seine zerschundenen Hände. »Sie muß doch hier irgendwo sein.« »Es bleibt uns nichts anderes übrig, als weiterzu‐ suchen«, sagte Etienne Dumas. »Eigentlich kann sie sich nur innerhalb dieser Mauern befinden.« Lois stöhnte und sagte mit völlig erschöpfter Stimme: »Gebt mir noch ein paar Minuten Zeit, ich kann einfach noch nicht weiter.« »Du bleibst hier.« Ich versuchte ihr schmutzbe‐ decktes Gesicht beruhigend anzulächeln. »Wenn du weiter hier herumrennst, holst du dir noch eine Lungenentzündung.« Sie schüttelte den Kopf. »Nein, Myles. Ich komme mit.«
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»Wir gehen alle zusammen«, sagte Dumas. »Das ist das Vernünftigste, da wir dann einander helfen können, wenn einer in Schwierigkeiten gerät.« Ich sah ihn fragend an. »Was ist Ihrer Meinung nach mit Mareta passiert? Warum hat sie plötzlich durchgedreht und ist weggelaufen?« »Ihr rationales Denken dürfte endgültig zusam‐ mengebrochen sein«, meinte er. »Den Anlaß dafür kann ich nicht beurteilen.« Er sah uns bekümmert an. »Ich fürchte, daß Ihre Freundin endgültig den Verstand verloren hat.« Mein Blick blieb auf meinen nackten Füßen haften, an denen noch die Überreste von zerfetzten Socken hingen. »Jetzt ist sie also verrückt und kann nicht mehr geheilt werden.« Nach kurzem Zögern seufzte Dumas. »Natürlich kann ich das nicht sicher sagen, Myles. Meine An‐ nahme beruht nur auf Vermutungen. Aber es be‐ durfte übermenschlicher Kräfte, um durch die ent‐ fesselten Naturgewalten diesen Abhang in solcher Schnelligkeit zu erklettern. Bisher war mir Mareta in körperlichem Sinne nicht als eine besonders starke Person erschienen. Und trotzdem war sie dazu fähig. Nur der Irrsinn kann sie mit solchen Kräften ausgestattet haben.« 235
Wir saßen nebeneinander und starrten geradeaus. Immer noch zuckten grelle Blitze über den gewit‐ terdunklen Himmel, und der Donner grollte. Nachdem wir fast zwanzig Minuten gewartet und gehofft hatten, daß der Sturm nachlassen würde, gaben wir es auf. Der Regen strömte weiter vom Himmel, und das Donnergrollen in den Wolken über unseren Häuptern wollte nicht aufhören. Da standen wir auf und liefen nebeneinander durch das klatschnasse Gras. Zwischen zwei Mauern entdeckten wir eine Öffnung und traten in das Gewölbe ohne Dach. Jeremy blieb als erster wie angewurzelt stehen. Mit offenem Munde, ohne ein Wort herauszubringen, deutete er nach oben. Hoch über unseren Köpfen auf einem schmalen Mauervorsprung über dem Fensterrahmen, vor dem sich einmal der Altar befunden hatte, stand Mareta. Sie war nackt und streckte dem stürmi‐ schen Himmel beschwörend die Arme entge‐ gen. »Ich bin Bastet, die Große Katze, die Herrscherin über alle Katzenwesen!« Ihre Stimme übertönte mühelos alle Naturgewal‐ ten. Neben mir zog Jeremy den Atem ein. Er sprach aus, was wir alle dachten: »Wie ist sie nur dort hinaufgekommen?« 236
»Ich bin Bastet!« Von allen Seiten hallte das Echo wider. »Ich bin Bastet, die Siegerin über Apep, den Herrscher der Nacht.« In diesem Augenblick sah ich, wie sich eine Gestalt aus den tiefen Schatten am anderen Ende des brü‐ chigen Mauersimses löste. Sie war nackt bis auf ein azurblaues Tuch um die Hüften und einen Silber‐ helm, der von einer zuschnappenden Kobra ge‐ krönt war. »Hier kommt Apep!« Der Widerhall seiner Stimme war so stark, daß er in den Ohren schmerzte. »Ich bin Apep, der Herr‐ scher der Nacht, der Schlangengott.« Die Worte mochten aus längst vergangenen Zeiten im alten Ägypten zu uns dringen, aber die Gestalt war die von Dr. Peter Frantzius, der, durch einen Strom‐ schlag getötet, auf einem Bett in der Klinik Sante lag. Wir standen wie festgefroren und starrten voller Entsetzen auf die beiden Verdammten, die sich hoch über uns im Mauerwerk befanden. »Apep, du Zerstörer des Tages!« Mareta bewegte sich mit gleitenden Schritten den schmalen Sims ent‐ lang auf Frantzius zu. »Ra wird seiner Tochter zu Hilfe kommen, und Bastet wird die Siegerin über den
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Herrscher der Nacht sein, denn ich bin die Geliebte der Könige, die Große Katze, und deine Zeit ist gekommen.« Frantzius trat ihr einen Schritt entgegen. Plötzlich griff Mareta nach dem Hals des Mannes, der jetzt dicht vor ihr gegenüber auf dem Mauervorsprung stand. Ihre Nägel krallten sich in seine Kehle. Die Gestalt des Mannes mit dem Silberhelm sank zu‐ sammen. Ein ohrenbetäubender Donner dröhnte durch das Gewölbe. In diesem Augenblick lösten sich die verwitterten Steine des Mauervorsprungs und pol‐ terten herab. »Der Himmel sei uns gnädig.« Das war Jeremy, der neben mir stand. Lois begann, von Panik er‐ faßt, schrill zu schreien. Plötzlich waren alle ande‐ ren Geräusche verstummt. Wind, Regen und Don‐ ner verschwanden wie auf einen Schlag. Die dunk‐ len Wolken brachen auseinander und zeigten ei‐ nen sanften, blauen Herbsthimmel. Die unterge‐ hende Sonne hüllte die nackte Gestalt des Mäd‐ chens, das mit zerbrochenen Gliedern zwischen Steinen und nassem Gras lag, in einen goldenen Mantel. Langsam traten wir näher. Keine zweite Gestalt war zu sehen, keine Spur von Apep, dem Herr‐ 238
scher der Nacht, kein Zeichen von Dr. Peter Frant‐ zius. Nichts außer dem toten Mädchen mit dem langen blonden Haar und den blutbedeckten Hän‐ den. Neben ihr im Gras lag der zerschmetterte Körper der kleinen schwarzen Katze. Es gab keine logische Erklärung, wie Etienne Du‐ mas sagte. Wer könnte etwas Unerklärliches erklä‐ ren wollen? Hauptsächlich den Bemühungen von Lieutenant Joseph Maurac war es zu verdanken, daß das Ergebnis der Untersuchung lautete: Tod durch Unglück. Mareta di Palma und Dr. Frantzius liegen auf dem kleinen Friedhof eines Dorfes begraben, das sich schon seit neunhundert Jahren im Tal der Dordog‐ ne an die Felsen klammert. Dort werden sie viel‐ leicht endlich Frieden finden. Etienne Dumas hatte uns noch folgendes zu erzäh‐ len. Eines der frühesten ägyptischen Feste war als die Orgie von Bubastis bekannt. Es fand im Tem‐ pel der Bastet statt, der in der Hauptstadt der Insel Bubastis stand, und war keine Orgie im üblichen Sinne, sondern ein Schauspiel, bei dem die Macht‐ kämpfe zwischen der Katzengöttin Bastet und Apep, dem Herrscher der Nacht, gezeigt wurden. Sie nahmen gigantische Ausmaße an und fanden 239
niemals ein Ende. Denn so sicher wie die Nacht dem Tag folgte, ging trotz der Bemühungen Apeps die Sonne am folgenden Morgen wieder auf, und Bastet triumphierte von neuem. Vielleicht verkörperten auf unerklärliche Weise Mareta und Frantzius die wieder auferstandenen Götter Bastet und Apep. Und eines Tages, irgend‐ wann, erscheinen sie vielleicht wieder, um ihren ewigen Kampf fortzusetzen. Dumas lächelte ein wenig traurig. »Eins müssen Sie zugeben. Es gibt mit Sicherheit keinen leben‐ den Menschen, der eine solche Theorie widerlegen kann.« Und in dieser Erklärung lag die Wahrheit! ENDE
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