I. MADLEN KROG
Das Findelkind vom Kranwitthof Roman eines aparten Mädchens
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I. MADLEN KROG
Das Findelkind vom Kranwitthof Roman eines aparten Mädchens
VERLAG JOSEF BERG • MÜNCHEN
Umschlagzeichnung: Hasso Freischlad Alle Rechte beim Verlag/
Verlagsnummer 73 Copyright 1956 by Verlag Josef Berg, München Gesamtherstellung: Richard Pflaum Verlag, München
Groß und stattlich lag der Kranwitthof auf einer kleinen Anhöhe über dem Dorf Hellesried. Es war der bei weitem ansehnlichste und älteste Hof der ganzen Gegend. In der starken Frühlingssonne blitzten blanke Fensterscheiben, rote Geranien und bunte Petunien blühten üppig in den Blumenkästen, und prallgefüllte Federbetten waren zum Lüften über die Altane gehängt. Das Ganze war ein Bild geordneten Wohlstandes und gesicherten Friedens. Die haben es gut, dachte ein vorbeiwandernder, arbeitsloser Handwerksbursche, und ein kleiner, neidischer Seufzer entrang sich seiner schmalen Brust. Sein Magen erinnerte ihn mit energischem Knurren daran, daß er schon lange keine ordentliche Mahlzeit mehr bekommen hatte. Soll ich hineingehen und um ein Glas Milch und ein Stück Brot bitten? überlegte er zögernd. Seine Erfahrungen gerade mit den reichen Bauern waren nicht allzu erfreulich. Jetzt trat eine große, starkknochige Frau aus dem Haus; es war vermutlich die Bäuerin. Sie ging auf den eingezäunten Küchengarten zu, wohl um ein paar Salatköpfe oder etwas Suppengrün für das Mittagessen zu holen. Der Handwerksbursche betrachtete verstohlen ihr Gesicht. Es war noch nicht alt, aber so herb und hart, daß dem armen Burschen das Herz in seine fadenscheinige Hose fiel. Nein, bei der war nichts zu wollen, das war eine von der harten Sorte, die ihn mit scharfen Worten abweisen 5
würde. Grollend und mit einem bitteren Zug um den Mund schlich er davon. Doch mit diesem Groll tat er der Bäuerin vom Kranwitthof unrecht. Ein Glas Milch und ein Stück Brot hatte sie immer für einen Bedürftigen übrig. Regina Kranwitt sah älter aus als ihre zweiunddreißig Jahre. Und der harte Zug in ihrem Gesicht kam nicht von einem harten Herzen, sondern von einem, wie ihr schien, allzu harten Geschick. Das äußere friedliche Bild des Kranwitthofes täuschte, innen herrschte kein Friede. Der Bauer, untersetzt und dunkel, ging übelgelaunt herum, herrisch gegen das Gesinde, mürrisch und wortkarg gegen seine Frau. In den Wirtshäusern konnte er freilich mächtig aufdrehen, prahlen und den Teufelskerl spielen. Nicht selten kam er mit einem Mordsrausch heim. Auch die stolze Regina wurde immer wortkarger, und ihr Gesicht wurde immer herber. Aber sie war zu gerecht, um ihren Groll an dem Gesinde auszulassen. Das mußte tüchtig arbeiten, sie ging darin mit gutem Beispiel voran, es wurde aber anständig behandelt. Woher der Unfriede auf dem Kranwitthof kam, war ein offenes Geheimnis. Es trippelten keine Kinderfüße über die Dielen des alten Hofes, der doch Platz für viele Kinder gehabt hätte. Und daß kein Erbe da war, nicht einmal ein einziges Kind, das fraß an Matthias Kranwitt, das verletzte seinen Mannesstolz. Man hänselte ihn in den Wirtshäusern damit, denn man freute sich, dem vielbeneideten reichen Bauern, der wegen seiner Prahlsucht und Rechthaberei nicht eben beliebt war, eins auswischen zu können. 6
Aber viel mehr als der Bauer litt Regina unter ihrer Kinderlosigkeit. Sie war nun neun Jahre verheiratet und hatte von Jahr zu Jahr immer wieder gehofft, der ersehnte Erbe würde sich doch noch einstellen. Sie war bei Ärzten und „weisen Frauen" gewesen, hatte diese und jene Kur versucht, Wallfahrten und Bittgänge unternommen, auch auf „Maria im Eis" war sie gewesen, aber nichts, gar nichts hatte geholfen. Heute hatte es einen häßlichen Streit mit ihrem Mann gegeben. Regina war ebenso hartköpfig wie ihr Mann, aber klüger, geistig beweglicher, und bei Wortgefechten zog er meist den kürzeren. Am Nachmittag war er zornentbrannt ins Dorf hinuntergegangen und sie ahnte schon, daß er stockbetrunken heimkommen würde. Im Grunde hatte er immer ein wenig Angst vor ihr, denn er fühlte ihre Überlegenheit, aber wenn er einen Rausch hatte, schwoll ihm gewaltig der Kamm und dann legte er los. Um dem zu entgehen, nahm Regina ihr Bettzeug und legte sich in einer Kammer schlafen. Aber es nützte ihr nichts. Sternhagelvoll kam er endlich heim und begann wüst zu schimpfen, als er sie im ehelichen Schlafzimmer nicht vorfand. Mit Fäusten und Füßen donnerte er gegen die verschlossene Kammertür. „Gleich machst auf", schrie er, „ich hab' mit dir zu reden!" Er erhielt keine Antwort. Das erboste ihn noch mehr. „Hörst mich nicht? Aufmachen, sag' ich und das gleich, sonst kannst was erleben." 7
Nichts rührte sich. Da packte ihn eine sinnlose Wut, und in seinem Jähzorn trat er die Kammertür ein. Hochrot und gedunsen war sein Gesicht, und mit seinen blutunterlaufenen Augen sah er gefährlich aus, wie ein gereizter Stier. Aber Regina war nicht die Frau, die sich leicht fürchtete. Sie war mit einem Satz aus dem Bett gesprungen. Nun stand sie hochaufgerichtet vor dem Wütenden, etwas größer als er, und blitzte ihn mit ihren braunen Augen drohend an. Wie Feinde standen sie sich gegenüber. Und was sich dann zwischen den Eheleuten abspielte, sollte weitreichende Folgen haben.
Die Großmagd Zenzi, eine verläßliche, ältere Person und die rechte Hand der Bäuerin, war schon lange auf dem Hof. Ihr gab Regina am Morgen darauf Weisungen für die nächsten Tage. Dann radelte sie, mit einem kleinen Handkoffer versehen, zu dem dreiviertel Stunden entfernten Bahnhof. Hellesried lag etwas abseits vom Verkehr, es war noch ein richtiges Dorf, und wer Ruhe suchte, kam gern in die Sommerfrische hierher. Ganz anders war es in dem ein paar Stationen entfernten Schweigenreuth. Das war ein großer Ort, der sich in den letzten Jahren, dank seinen Moorbädern, zu einem aufblühenden Kurort entwickelt hatte. Diesen Aufschwung verdankte Schweigenreuth hauptsächlich seinem Bürgermeister, und das war Peter Törwing, der um zehn Jahre ältere Bruder von Regina. Diesen heute aufzusuchen, war ihre Absicht. 8
Peter Törwing war nicht nur der Bürgermeister, ihm gehörte auch der große Törwinghof und das Hotel Törwing. Das Kurhotel hatte er wohlweislich einem gewandten Kurdirektor überlassen, der aber gut daran tat, sich nach den Weisungen des Bürgermeisters zu richten. Peter Törwing herrschte in seinem Bereich wie ein Autokrat. Er war ein Hüne von Gestalt und wenn er seinen dröhnenden Baß ertönen ließ, verstummte alles. Aber es hatte immer Hand und Fuß, was er sagte. Er sagte es auch kernig und mit Humor, kurz, er verstand es, seine Schweigenreuther zu nehmen. Er war ein hochangesehener Mann, fortschrittlich gesinnt und mit praktischem Verstand. Gegen diesen Kraftkerl war Mathis Kranwitt ein in jeder Beziehung geringerer Mann und er war sich dessen auch in seinem Innern mit einigem Unbehagen bewußt. Zwischen Regina und ihrem älteren Bruder hatte immer eine große Zuneigung bestanden. Sie hatten beide einen ausgeprägten Familienstolz, aber Peter war ein viel fröhlicherer Mensch als die schwerblütige Regina. Er war ein Lebenskünstler, der dem Dasein immer die beste Seite abgewann. „Ja, sieht man dich auch mal wieder", begrüßte er die Schwester herzlich, „machst dich ja arg rar in letzter Zeit." Prüfend schaute er ihr ins Gesicht. Wie abgehärmt und alt sie aussah, die Arme, und war doch bei ihrer Hochzeit eine stattliche, nicht unhübsche Braut gewesen. Es stand wohl nicht zum Besten auf dem Kranwitthof, das hatte er längst bemerkt. Nun kam auch Rosl, die Schwägerin, in die behagliche Wohnstube des Törwinghofes. Sie war immer guter Laune, immer mit einem Lächeln im hübschen, frischen Gesicht. 9
Die kann gut lachen, dachte Regina neiderfüllt, hat fünf schöne, gesunde Kinder, drei Buben und zwei Mädel, und sie lebt gut mit ihrem Mann, das kann man sehen. Peter Törwing hatte die schöne Rosl, wie sie allgemein hieß, gegen den Willen des damals noch lebenden Vaters geheiratet und es keine Minute bereut. Sie war zwar arm an irdischen Gütern gewesen, aber ein Schatz und eine Freude für ihren Mann. Rosl, gutmütig und aller Welt wohlgesinnt, kam auch der herben Schwägerin immer herzlich entgegen. Sie ahnte natürlich, warum es Regina nicht allzu oft in ihren elterlichen Hof zog. Es schnitt ihr wohl ins Herz, die fröhliche Kinderschar und das ganze muntere Treiben auf dem Törwinghof zu sehen. „Mach dir's bequem, Regina", rief sie, „ich hol' dir geschwind eine Brotzeit." „Dank' dir schön, Schwägerin, jetzt nicht. Weißt, ich hätt' was mit dem Peter zu reden." „Hab's schon gespannt, daß dich was druckt", fiel der Bruder ein. „Aber jetzt hab' ich leider keine Zeit, ich muß rüber ins Amt." „Jetzt geht er zum Regieren", lachte Rosl spitzbübisch. Peter gab ihr einen freundschaftlichen Klaps. „Aber du bleibst ja ein paar Tage da, gelt?" fuhr Rosl eifrig fort, „ich seh', du hast dein Köfferl mit; das ist recht, da habt ihr nachher Zeit zum Reden." „Ist schon recht", sagte Regina, „laßt euch nur nicht aufhalten, auch du nicht, Rosl. Wirst sicher drüben im Hotel gebraucht, es ist ja bald Mittag." „No ja, weißt schon, wie's ist. Ich hab' ja tüchtige Leut', aber man muß halt doch hinterher sein, gelt? Gehst halt 10
derweil zur Mutter nauf, der ist es arg leid, daß sie dich so selten sieht." Also stieg Regina hinauf in die freundliche große Stube, wo die Mutter mit Strümpfestopfen beschäftigt war. Theres Törwing war eine rüstige Frau, der man ihre bald siebzig Jahre nicht ansah. Sie hatte helle, schalkhafte Augen, war immer zu einem treffenden Scherzwort bereit und es war nicht schwer zu sehen, woher ihr Ältester seine Schlagfertigkeit und seinen Humor hatte. Regina, die ihr noch nie Kummer verursacht hatte, machte ihr in letzter Zeit Sorgen, und daß es jetzt bei ihr zu einer Krise gekommen war, sah sie sofort. Sie sagte es ihr auch auf den Kopf zu. „Ja, ja, es ist schon so, Mutter, du hast recht", gab Regina bitter zu. „Aber ich mag nicht alles zweimal erzählen, ich wart', bis der Peter dann dabei ist." „Recht hast. Und der Peter wird dir schon einen Rat wissen. Ich wüßt' dir ja vielleicht auch einen, aber meine Kinder waren schon immer rechte Dickköpf', die haben nie viel auf meinen Rat gegeben." „Aber Mutter, wie kannst denn so reden? Wo so viele zu dir kommen und sich einen Rat holen, weil sie sagen, die Theres Törwing weiß halt immer einen Ausweg, das ist eine gescheite Frau." Theres lachte. „Ja, was wÄr' jetzt das? Fängst am End gar an, mir Komplimente zu machen? Was dich heut besonders druckt, weiß ich natürlich nicht, Regina, aber daß es bei euch nicht stimmt, hab' ich schon lang erraten. Eins muß ich dir schon sagen, bist ein bisserl gar zu herb und streng worden die letzten Jahr'. Du glaubst, wenn du nur arbeitest und dich plagst von früh bis spät auf die Nacht, 11
dann ist schon alles recht. Freilich, eine Bäurin soll fleißig sein und auf ihre Sach schaun; aber immer bloß schinden und rackern ist halt auch nix. Ein bisserl Freud muß schon auch dabei sein. Freud daheim und Freud an seinem Weib, das braucht ein Mann, sonst läuft er erst recht in die Wirtshäuser. Verstehst mich?" „Versteh' dich schon, Mutter. Kann halt nicht jede so lustig sein wie die Rosl." „Mußt nicht eifersüchtig sein auf die Rosl, die ist schon recht. Aber du bist doch mein Kind, Regina, mein einziges Dirndl; es tut mir schon arg weh, wenn ich seh', wie dich dein Leben so gar nicht freut und daß du so gar nicht verstehst, es dir ein bisserl gut einzurichten." Die hellen Augen der Mutter ruhten mit so liebevoller Besorgnis auf Regina, daß die einen Knödl in den Hals bekam. Sie drückte wortlos die Hand der alten Frau. Dann sagte sie: „Laß gut sein, Mutter. Wirst nachher schon hören, warum mich mein Leben nicht freut." Sie sprachen dann von anderen Dingen, bis die muntere Stimme der Rosl zum Mittagessen rief. Nun waren auch alle fünf Kinder heimgekommen und sagten der Tante Grüß Gott. Peter Törwing hatte das „Regieren" hinter sich und man sah ihm an, daß er sich auf sein Mittagessen freute. Es gab eine kräftige Leberknödelsuppe, Kalbsnierenbraten mit Beilagen und einen Kirschstrudel. Regina schmeckte es. Sie wunderte sich selbst darüber, welchen Appetit sie hatte. Allerdings hatte sie seit einem dürftigen Frühstück daheim nichts mehr zu sich genommen. 12
Jetzt sitzt der Mathis allein am Tisch, fuhr es ihr durch den Kopf. Vermutlich hat er einen Riesenkater und keinen rechten Appetit. Ob er auch einen moralischen Kater hat, nach der letzten, bewegten Nacht? Nach dem Essen ging Peter mit Regina und der Mutter hinauf. Rosl hielt sich taktvoll zurück. Was die dort redeten, war eine interne Angelegenheit der Törwings und die hielten zusammen wie Pech und Schwefel. Rosl wußte, sie würde zu gegebener Zeit schon das Nötige erfahren. Oben in Mutters Stube zündete sich Peter zunächst gelassen eine Zigarre an und schenkte drei kleine Gläser mit Enzian voll. „Es redet sich leichter bei so einem Schnapserl", sagte er. „So und jetzt schütt dein Herz aus, Regina. Daß ich für dich einsteh', brauch' ich ja nicht erst zu sagen." „Nein, Peter, deshalb komm' ich ja zu dir. Es ist auch schnell gesagt. Mit mir und dem Mathis geht es nicht länger so weiter." Bruder und Mutter sahen Regina ernst an. „Bist ja keine von denen, die so was leichthin sagen", meinte Peter dann bedächtig. „Was hat er denn angestellt, der Halodri, der windige? Ich weiß, daß er zu viel in die Wirtshäuser läuft und dann leicht zu streiten anfängt; aber das allein kann's wohl nicht sein?" „Nein, das allein nicht, obwohl's die letzte Zeit immer schlimmer geworden ist damit." Regina erzählte dann, wie der Mathis am frühen Morgen stockbetrunken heimgekommen war und in seinem Jähzorn die Kammertür eingetreten hatte. „So wüst hab' ich ihn noch gar nie gesehen", sagte sie, 13
„ganz schrecklich hat er ausgeschaut und gebrüllt hat er wie ein Wilder." „Der Hirsch, der damische", sagte Peter ärgerlich, „was hat er denn gebrüllt?" „Daß er's satt hat, sich immer in den "Wirtshäusern bespötteln zu lassen, weil er keine Kinder hat. Und weil der Hof halt doch einmal einen Erben braucht und weil's doch ganz so ausschaut, als ob wir keine Kinder mehr kriegen, will er jetzt den Bub von der Babett — weißt, von seiner Halbschwester in der Stadt drin, er ist jetzt vierzehn Jahr' — zu sich nehmen und als Hoferben aufwachsen lassen. Und das leid' ich nicht, daß mir der Mathis das antut; wenn er das macht, geh' ich auf und davon." Peter war rot vor Zorn geworden. „Ja, das tust, Regina. Jetzt so was, was fällt denn dem Bazi ein? Ausgerechnet der Bub von der Babett! Die hat schon einen recht schlechten Ruf, und was ihr Bub ist, von dem hat man auch noch nie was Gutes gehört. Also da wird nix draus, das garantier' ich dir." Auch die Mutter war empört. „Wär' ja noch schöner. Ihr seid doch noch junge Leut' und könnt selber noch Kinder kriegen. Was nicht ist, kann noch werden." Aber da meinte Regina verzagt: „Ich glaub's bald selber nimmer, Mutter. Meinst, es könnt' sein, weil wir doch in Verwandtschaft sind? Denn fehlen tut mir ja nix, das haben alle Doktor gesagt." Die Mutter von Theres, also Reginas Großmutter, war eine Tochter aus dem Kranwitthof gewesen. Da war damals die kleine Regina oft auf den Kranwitthof gekommen, und es hatte ihr über die Maßen gut dort gefallen. 14
Bäuerin auf so einem alten, schönen Hof zu werden, schien ihr ein beneidenswertes Los, und sie nahm dafür einige Mängel des Bräutigams in Kauf. Die beiderseitigen Väter hatten die Heirat unter sich ausgemacht. Aber Reginas Vater war sich der Schwächen des zukünftigen Schwiegersohnes wohl bewußt. Vorsichtig und mißtrauisch, setzte er es in zähen Verhandlungen durch, daß Reginas Mitgift auf ihren Namen geschrieben wurde. Seine Tochter kannte er als tüchtig und zuverlässig, sie sollte auf jeden Fall gesichert sein, wenn später eine Schwierigkeit auftrat. Nun erwies sich diese Voraussicht als ein großer Segen. Sie besprachen die Sache hin und her, und Regina wurde es unter dem Zuspruch der Ihren viel leichter ums Herz. Nein, es konnte ihr eigentlich nicht viel passieren. Der hünenhafte Peter stand auf, schaute auf die Uhr, und da er immer dafür war, alles möglichst bald zu erledigen, sagte er: „Ich fahr' jetzt gleich zu dem Lackl hin! Ich bin grad in der richtigen Stimmung; und ich denk', ihm wird's recht elend sein, nach so einem Mordsrausch. Ich glaub', daß er klein und häßlich dastehn wird, und wenn nicht, werd' ich ihn schon klein kriegen, das kannst mir glauben." Sie glaubte es ihm aufs Wort. Dieser Kraftkerl hatte schon ganz andere Brocken klein gekriegt. Er holte seinen Opel aus der Garage und sauste los. Der Besitz eines Autos war damals noch nicht so alltäglich wie heute und trug nicht wenig zur Erhöhung des Ansehens bei. Außerdem warf er aber Peter auch einen schönen Nebenverdienst ab, denn er vermietete ihn zu Ausflügen an Kurgäste. 15
Nach einer halben Stunde war er schon beim Kranwitthof angekommen. Da lag er, schön und stattlich. Hohe Jasminbüsche blühten in dem dahinterliegenden Garten, der Reginas ganzer Stolz war. So ein schönes Sach, dachte Peter, und drin nix wie Unfrieden. Die Menschen sind schon recht blöd. „Grüß dich, Zenzi", sagte er zur Großmagd. „Wie geht's? Bist alleweil noch fesch beieinander. Ist der Bauer zu Haus?" „Das schon", gab sie zögernd zu. „Aber er hat sich hingelegt, weil's ihm nicht gut ist." Der Törwinger lachte spöttisch. Da konnte auch Zenzi ein Kichern nicht unterdrücken. „Ich werd's ihm halt sagen, daß du da bist, Törwinger", sagte sie und ging hinauf. Der Mathis fuhr die Zenzi grantig an. „Was willst? Meine Ruh' will ich haben. Hast es gehört?" „Der Törwinger ist da, er möcht' dich sprechen, Bauer." Ein heißer Schreck durchfuhr den Mathis. Hatte er es nicht geahnt? Aber daß sie ihm so rasch auf den Leib rücken würden, hatte er doch nicht geglaubt. Ihm war hundsmiserabel zumute. Nein, heute fühlte er sich diesem großkopfeten Schwager in keiner Weise gewachsen. Er wollte ihn nicht sehen, diesen aufgeblasenen Tropf, der immer glaubt, alles müsse nach seiner Pfeife tanzen. „Sagst ihm, ich bin nicht zu sprechen. Hast mich verstanden? Nicht zu sprechen!" Mathis sagte dies sehr betont und sehr hochdeutsch. Aber als die Zenzi sich schon zum Gehen wandte, besann er sich. Am Ende glaubt der eingebildete Wicht, ich fürcht' mich vor ihm. Nein, das darf nicht sein. Ich muß mich zu16
sammennehmen. Schließlich bin ich ja der Kranwittbauer und brauch' mir von dem Büffel gar nix sagen zu lassen. „He, Zenzi!" rief er der Magd nach, „ich hab's mir überlegt. Ich komm' runter. Muß mich aber erst anziehen. Stellst ihm einen Kranwitter hin." „Schon recht, Bauer." Die Zenzi zog ab. Kranwitten heißen in dieser Gegend die Wacholder, und daher hatte auch der Hof und das Geschlecht seinen Namen. Unweit des Hofes gab es auf felsigem Grund von alters her ein Wacholdergebüsch, und aus den Beeren wurde nach vererbtem Rezept ein scharfer, würziger Wacholderschnaps gebrannt, der Kranwitter. Mathis schüttete sich reichlich kaltes Wasser über seinen Brummschädel und kleidete sich von Kopf bis Fuß frisch an. Darauf hin fühlte er sich für den Augenblick etwas wohler, und es gelang ihm einigermaßen, eine überlegene Miene anzunehmen, als er die große Wohnstube betrat. „Grüß Gott, Schwager", sagte er spöttisch. „Mußt ja viel Zeit haben, wenn du am frühen Nachmittag spazierenfahren kannst." Er hatte sehr wohl den blauen Opel durch das Fenster erspäht, diesen Wagen, um den er Peter schon lange sehr beneidete. „Bin nicht grad auf einer Spazierfahrt", gab Peter kalt zurück. „Wär' aber immer noch besser, als am frühen Nachmittag einen Rausch auszuschlafen." „Das geht dich einen Dreck an", sagte Mathis grob und goß sich einen Kranwitter ein. Der tat einem verdorbenen Magen gut und putzte auch sonst tüchtig durch. „Geht mich schon was an, wenn es so weit kommt, daß 2 Findelkind vom Kranwitthof
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du meine Schwester in deiner Besoffenheit wie ein Saubär behandelst." „Höh! Was hast gesagt? Saubär? Tu dich fein ein bißl halten, gelt? Oder-möchtest Streit anfangen? Das kannst haben." Das schon vorher gedunsene Gesicht des Mathis war blaurot angelaufen. Er riß seine verquollenen Augen auf, soweit es ging. „Hier auf meinem Hof bin ich der Herr und lass' mir von gar niemand was sagen. Hörst mich? Und die ganze hochnäsige Blase von den Törwingern kann von mir aus der Teufel holen." „Der holt schon eher dich, wenn du so weitersäufst", sagte Peter verächtlich. Dem Mathis gab das innerlich einen Ruck. Hatte er sich das heute in seinem Katzenjammer nicht schon selbst gesagt? „Ich kann schon selber auf mich aufpassen, brauch' keine Kindsmagd", sagte er, aber es klang nicht mehr ganz so selbstsicher, wie er es wohl gewollt hätte. Peter, der ein feines Gespür dafür hatte, hakte sofort ein. „Brauchst dich nicht aufzumanndln, ich kenn' dich schon, du windiger Bruder", sagte Peter gelassen. „Ich bin nämlich nicht zum Vergnügen zu dir gekommen, sondern weil ich ein ernstes Wörtl mit dir zu reden habe, ein sehr ernstes." Mathis lachte höhnisch. „Kann's mir schon denken. Weil die Regina zu dir gerannt gekommen ist und hat dir was vorgeflennt." „Geflennt hat sie nicht", sagte Peter mit derselben eisernen Ruhe, die aber doch einen bedenklich drohenden Unterton hatte; es klang wie fernes Grollen in dem tiefen Baß, so, als ob jeden Augenblick ein Unwetter los18
brechen könnte. Unwillkürlich duckte der Mathis sich ein wenig. Sein Gewissen war alles andere als rein. „Nein, Regina flennt nicht", fuhr der tiefe Baß fort. „Aber sie hat mir erzählt, wie du dich in der vergangenen Nacht aufgeführt hast, und daran hat sie sehr recht getan. Und jetzt sollst du hören, was wir beschlossen haben: Es handelt sich um den Sohn von der Babett, die in der Stadt drin ein liederliches Frauenzimmer geworden ist; wird dir ja nicht unbekannt sein, wie sie sich herumtreibt. Und der Bub ist ihr nachgeraten. Also wenn du den als Erben hierherbringst, dann geht die Regina fort, von dir und vom Kranwitthof, daß du's weißt." In Mathis' vernebeltem Hirn schoben sich die Gedanken durcheinander, teils Schrecken, teils Schadenfreude. „Hehe, ja das ist ihr wohl in die Nase gestiegen, der stolzen Regina, gelt? Weggehen möcht' sie? Ja, anbinden kann ich sie nicht." Der Mathis sagte es prahlerisch. Glaubt der hochmögende Schwager, er kann ihn mit der Drohung, daß Regina weggeht, einschüchtern? Das hält er nur für leere Sprüch'. „Ja, dann geht sie weg, darauf kannst dich verlassen. Scheiden laßt sie sich nicht, weil das gegen ihre Religion ist. Aber sie nimmt alles mit, was ihr gehört und was notarisch ausgemacht ist, alles Bargeld und das eingebrachte Heiratsgut, und sie zieht dann auf den Hollerhof, der ja auch ihr gehört." Der Hollerhof war ein großes Obstgut. In der Gegend gediehen vor allem die blauen. Zwetschgen vorzüglich, und davon gab es auf dem Hollerhof große Mengen, die eine gute Einnahme brachten. Am Rande dieses freundlichen Obstparadieses stand ein nettes Landhaus, das an 2*
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Sommergäste vermietet wurde. Dieses Obstgut grenzte südlich an die Felder des Kranwitthofes und hatte ursprünglich dazugehört. Es war einer der Hauptgründe für das Zustandekommen der Heirat gewesen, denn es rundete den Kranwittbesitz so schön ab. Bei Bauern spielen eben derartige Erwägungen eine große Rolle. Und diesen Hollerhof sollte der Mathis nun verlieren? Es krampfte sich etwas in seinem Innern zusammen. Nein, alles, nur das nicht. Und überhaupt, wohin hatte er sich da verirrt? Er wollte ja gar nicht im Ernst diesen vierzehnjährigen Bengel auf seinen Hof nehmen. Es war kein Staat zu machen mit dem mickrigen Kerl; er hatte etwas Falsches im Blick, und der Bäcker, bei dem er in der Lehre war, hatte ihn wegen einiger kleiner Diebstähle hinausgeschmissen. Das schlechte Blut der Mutter zeigte sich. Nein, das war kein Erbe für den Kranwitthof. Er hatte doch nur Regina eins auswischen wollen, sie wußte ja nicht, wie wenig Ehre mit dieser Verwandtschaft einzulegen war. Peter Torwing durchschaute seinen Schwager vollkommen. Aber er schwieg und gab ihm Zeit, etwas Ordnung in seine widerstreitenden Gefühle zu bringen. Schließlich zwang sich Mathis einen Lacher ab. „Herrschaftseiten, was die damischen Weiberleut' gleich immer für einen Wirbel machen! Ist ja nicht zum Glauben. Was redet man nicht alles zusammen, wenn man einen sitzen hat, und einen Mordsrausch habe ich gehabt, alles was recht ist. Da geht sie hin, die blöde Urschl, und nimmt das alles für blutigen Ernst. So was Saudummes!" „So, saudumm nennst du das? Wenn du dich aufführst wie ein wütiger Stier?" 20
„Eine Stinkwut hab' ich halt gehabt. Aber sie hat mich schon auch gereizt, die Regina, das darfst mir glauben. Die trägt ihre Nase schon damisch hoch, und manchmal redet die mit mir, als ob ich der Garniemand wär'. Soll ich mir das vielleicht gefallen lassen? Wär' ja noch schöner! Sind die Kranwitter vielleicht weniger als die Torwinger? Da, schau hin! Was steht da über der Tür? 1697! Und vorher hat's auch schon Kranwitter hier auf dem Hof gegeben." „Wer sagt denn etwas gegen die Kranwitter?" entgegnete Peter ruhig, und diesmal mit einem freundlicheren Unterton. „Ich schon gar nicht, war doch unsere Großmutter eine Kranwitt. Aber schau, Mathis, grad weil du aus so einem guten alten Geschlecht bist, solltest du es dir genau überlegen, wem du einmal den Hof vermachst. Und übrigens hat das ja noch gute Weil'." „Da hast ausnahmsweise recht. Ich bin ja erst sechsunddreißig. Und was du vorhin gesagt hast, der Teufel wird mich holen, wenn ich so weitersauf', da wirst dich schneiden. Ich werd' nämlich die viele Sauferei aufgeben, jawohl. Nicht weil die Törwinger mir das anschaffen, sondern weil ich's selber will. Mir war nämlich heut in der Früh speiübel, aber schon wirklich hundsmiserabel, und mein Herz hat gepumpert, daß ich glaubt hab', mich trifft der Schlag. Nicht daß ich jetzt so ein — Dingsda, so ein Abstinenzler werd', nein, davon kann keine Red' sein. Peter lachte. „Ja, woher denn gar, wäre ja auch wieder übertrieben. Was ein gestandener Mann ist, der soll sich nur sein Bier und, wenn er mag, ein Schnapserl dazu schmecken lassen, ich halt's nicht anders. Aber daß du die 21
ganz wüste Sauferei aufgeben willst, ist vernünftig. Wär' ja auch schad um den alten Kranwitthof, so ein schönes Sach. Denn daß der dabei auf den Hund käm', das weißt selber. Und da wirst schon auch so vernünftig sein und die saudumme Idee mit der Babett ihrem Sohn aufgeben." „Ja mei, bist du denn so schwer von Begriff? Ich hab' dir's doch schon gesagt, daß ich das so in meinem Rausch und in der Wut hingeredet hab'. Die Regina ist doch sonst so gescheit, oder sie bildet sich's wenigstens ein — daß die jetzt auf so was reinfallt!" Peter Törwing hatte so seine eigenen Gedanken über diese Rückzugsgefechte des Schwagers, aber die behielt er für sich. Er kannte den Hochmut des Kranwitters, er durfte ihn nicht weiter demütigen, mußte ihn sein Gesicht wahren lassen. Er schwieg. Mathis schielte ihn etwas unsicher an. „Ist doch wahr", fuhr er wie in Selbstverteidigung fort. „Kann einen schon mal die Wut packen. Man hofft und hofft, und es wird nix. Das verstehst du freilich nicht, hast fünf Kinder." Plötzlich kam ein mißtrauisches Glitzern in seine Augen. „Meinst vielleicht gar, ich soll einen von deinen Buben als Erben auf den Kranwitthof einsetzen?" Da lachte Peter dröhnend. „O mei, du spinnst ja. Bis du einmal übergibst, wär der ja alt und grau. Wir haben's nicht nötig, auf deinen Hof zu spekulieren, für meine Buben ist gesorgt. Peter, der Älteste, kriegt den Hof, der Andreas das Hotel und den Jüngsten, den Michel, lass' ich studieren, der hat nämlich einen gescheiten Kopf, der wird Doktor." „Soso", sagte Mathis säuerlich. „No, man meint ja 22
bloß." Er hatte nicht die Absicht, sich mit dem einflußreichen Schwager endgültig zu überwerfen. Und dann — den Hollerhof verlieren, das wäre so was! Der Schreck war ihm tüchtig in die Glieder gefahren. Und Bargeld herausrücken, jetzt, da er sich gerade einen neuen Diesel angeschafft hatte, war natürlich auch ausgeschlossen. Er ging zur Tür und schrie hinaus: „He, Zenzi, machst einen Kaffee, aber einen guten, verstehst mich? Und schau, daß du was dazu herbringst." „Hab' den Kaffee eh schon fertig", sagte die tüchtige Zenzi und brachte ihn gleich darauf auf einem sauber hergerichteten Tablett. Dazu einen Hefezopf mit Nußfülle. Sie schenkte ein und die Männer langten zu. Regina hatte den Zopf gebacken, er schmeckte vorzüglich, stellte Mathis fest, der plötzlich Appetit hatte. Zu Mittag hatte er nichts essen können. Backen konnte die Regina, alles was recht ist, sie war überhaupt ein verflixt tüchtiges Frauenzimmer, so wie die den ganzen Haushalt in Schwung hatte und das Gesinde dazu! Dem Mathis war auf einmal viel wohler zumute. „Ich habe mir denkt", sagte er, während er nach einem weiteren Kuchenstück langte, „daß ich mir auch so einen modernen Boiler anschaff', wie ihr einen im Hotel habt. Dann hat's ein Bad, die Regina, wie sie's von zu Haus gewohnt ist, und immer warmes Wasser in der Küch'." Peter verstand wohl, daß dieser Boiler so eine Art von Friedenspfeife war. „Da hast recht, Mathis. Weißt, man muß nicht rückständig sein, sondern mit der Zeit gehen. Das predig' ich auch immer meinen Schweigenreuthern. Mein Lieber, die 23
haben ja vielleicht harte Köpfe, da nützt auch der Holzhammer nix. Bis ich bei denen die modernen Einrichtungen durchgesetzt hab', damit aus Schweigenreuth erst ein richtiger Kurort wird, das war schon ein schweres Stück. Und jetzt, wo sich's rentiert und alle daran verdienen, und das nicht schlecht, jetzt sind sie so stolz auf ihr modernes Bad wie ein Hund mit zwei Schwänzen." Mathis lachte. „Und jetzt fressen s' dir aus der Hand", sagte er etwas neiderfüllt. „No ja, jetzt setz' ich schon eher was bei den Quadratschädeln durch. Weißt, unsere Bäurinnen schinden sich viel zu viel ab, denen muß man halt auch die Arbeit durch moderne Einrichtungen ein bißl erleichtern. Sonst werden s' frühzeitig alt. Schau meine Rosl an, die ist fünfunddreißig, aber noch bildsauber, weil ich's nicht leid, daß sie sich abrackert. Sie soll neben der Arbeit auch ihre Freud haben, und ich meine an ihr. Siehst, das ist ein Eherezept, das kriegst gratis von mir." Er lachte und trank dem Schwager mit einem Kranwitter zu. „Hast leicht reden", meinte der Mathis etwas verkniffen. „Die Rosl ist freilich ein sauberes Weiberl und immer gut aufgelegt. Da könnt' sich die Regina ein Beispiel dran nehmen. Die lauft oft rum wie acht Tag' Regenwetter, da sollst noch deinen Humor behalten, wenn sie so ein ellenlanges Gesicht macht. Ich schaff's ihr nicht an, daß sie sich so schindet von früh bis auf die Nacht, das tut's schon ganz von selber, als ob ihr der Gottseibeiuns im Gnack sitzen tät. Stocknarrisch ist's mit der ewigen Arbeiterei." „Da hast recht, Mathis, wir haben's ihr auch schon gesagt. Hat die doch gar nicht nötig. Mußt nicht glauben, daß ich blind bin, bloß weil sie meine Schwester ist. Hat 24
sich sehr verändert, die Regina. Aber das kann ja wieder anders werden. Ihr müßt beide ein bisserl anders werden, freundlicher miteinander, dann wird's schon gehen." „Hättst Pfarrer werden sollen", sagte Mathis spöttisch. „Meinst? Nein, ich glaub', ich bin schon auf meinen richtigen Platz im Leben gekommen. So, und jetzt geh' ich wieder, Schwager. Ich werd's der Regina sagen, was wir geredet haben. Auch das mit dem Boiler", fügte er mit einem Schmunzeln hinzu. „Ist schon recht. Kannst ihr auch sagen, vor so einem besoffenen Geschwätz braucht man nicht gleich davonzulaufen." „Ich werd' ihr lieber sagen, daß es kein so besoffenes Geschwätz mehr geben wird." „Meinetwegen. Sie soll halt kommen." „Wirst sie auch nett empfangen?" „Meinst vielleicht, ich soll die Fahne rausstecken?" Als Peter Törwing heimwärtsfuhr, war er innerlich recht erleichtert, daß es über Erwarten glimpflich abgegangen war. Freilich war er sich bewußt, daß es hauptsächlich die Angst war, Reginas Mitgift zu verlieren, die Mathis hatte einlenken lassen. Die wahre Liebe war es eben nicht zwischen den beiden, und so würde es nie das ganz Richtige sein. Aber warum sollten sie nicht verträglich miteinander hausen? Das war nicht einzusehen. Der Törwinger fuhr in raschem Tempo heim. Er hatte plötzlich Sehnsucht nach seiner Rosl. Kaum war Peter Törwing zur Tür hinaus, um dem Schwager den Kopf zurechtzusetzen, sah Theres auf die Uhr und sagte zu ihrer Tochter: „Weißt, eigentlich hab' ich mit dem Drei-Uhr-Zug nach 25
Selbing gewollt, die Oberin besuchen. Du bist wohl schon lang nicht mehr dort gewesen? Kommst mit?" „Ich? Was soll ich denn dort?" „Ist doch eine sehr gescheite Frau, die Oberin. Bist ja ein paar Jahr' bei ihr in die Schul' gegangen. Weißt nicht mehr, wie du damals für sie geschwärmt hast?" Regina lächelte trüb. „Ja damals, wie halt junge Mädel so schwärmen. Weil sie halt eine vornehme Dame war und eine Studierte und ich so was nicht kennt hab'. Überglücklich bin ich gewesen, wenn sie mich einmal gelobt hat. O mei, das ist lang her. Jetzt hab' ich an anderes zu denken." „Solltest aber vielleicht manchmal an die Zeit denken. Warst so ein nettes Mädel damals, sauber auswendig und inwendig, jeder hat dich gelobt und gern gehabt." „Ich hör' dich schon. Du meinst, jetzt bin ich ein altes, grantiges, verbittertes Weibsbild, eine rechte Zuwiderwurzen, die keiner mehr ausstehen kann." „Geh, red doch keinen Schmarrn. Wir, deine Familie, dich nicht ausstehen können? Das glaubst ja selber nicht! Aber weißt, ein bisserl darfst schon aufpassen, daß du nicht wirklich einmal eine Zuwiderwurzen wirst. Also ich denk' mir halt, ein kleiner Plausch mit der Oberin und ein Wiedersehen mit der ganzen Umgebung, wo du so gern gewesen bist, könnt' dir recht gut tun. Meinst nicht?" „Ja, Mutter, ich geh' schon mit, wenn dir so viel dran liegt." Die alte Törwingerin lächelte verschmitzt, ihre kleine List war geglückt. Sie hatte gar nicht die Absicht gehabt, die Oberin zu besuchen. Aber sie besaß, gleich ihrem Sohn, diplomatisches Geschick. 26
Sie hatten nur ein paar Stationen bis in die Kreisstadt Selbing zu fahren, in der sich das Kloster befand. Die Schwestern unterhielten eine Schule mit Internat, pflegten Kranke und hatten auch ein paar Dutzend Waisenkinder in Obhut. Es waren gutausgebildete Frauen und keineswegs weltfremd. Dies galt vor allem für die Oberin. Sie entstammte einer sehr alten rheinischen Grafenfamilie. Ein Bruder von ihr hatte am früheren kaiserlichen Hof einen hohen Staatsposten gehabt. Sie war sicher nie schön gewesen, aber sie hatte einen ausgeprägten Rassekopf mit einer kühnen Nase, und die großen Augen blickten die Menschen so durchdringend an, als ob sie auf dem Grund der Seele zu lesen verstünden. Mit zunehmendem Alter glich ihr ausdrucksstarkes Gesicht einer Landschaft mit Höhen und Tiefen. Es zeigte einen Seelenfrieden, der sicher nicht ohne innere Kämpfe errungen war. Ab und zu blitzte ein angeborener rheinischer Humor durch die ehrfurchtgebietende Würde, und dann hatte sie einen unwiderstehlichen Charme. Zu ihrer Sprechstunde, zwischen vier und fünf, kamen immer eine ganze Menge Leute, die bei ihr Rat suchten. Theres und ihre Tochter mußten eine Weile warten. Dann ging die Mutter zuerst allein hinein. „Sieh da, Frau Törwing", sagte die Oberin freundlich, denn sie mochte die schlichte Bäuerin mit ihrer natürlichen Lebensklugheit wirklich gern, „das ist nett, daß Sie mich wieder einmal besuchen. Wollen Sie sich nach Ihrer Enkelin Rosemarie erkundigen? Nun, sie ist ein aufgewecktes 27
und liebes Kind, nur an der nötigen Aufmerksamkeit läßt sie es oft fehlen." „Ja, ich weiß, ein rechter Irrwisch", seufzte die Großmutter. „Nein, ich komme nicht wegen Rosemarie, Frau Oberin, mit der werde ich schon fertig." Die Oberin lächelte. „Ich glaube es gern. Wie ich höre, sind Sie es hauptsächlich, die die fünf Törwingkinder aufgezogen hat und noch erzieht." „Ja, das stimmt, Frau Oberin. Meine Schwiegertochter hat genug im Hotel und in der Wirtschaft zu tun. Ich habe Zeit und freu' mich, wenn ich noch zu was nütze bin." Die Oberin nickte ihr anerkennend zu. „Also was haben Sie für ein Anliegen, meine Liebe?" „Es handelt sich um Regina, Frau Oberin, sie macht mir Sorgen." Theres erzählte in kurzen Zügen von dem Ehezerwürfnis auf dem Kranwitthof. „Sie ist recht verbittert, die Regina. Und da hab' ich mir halt gedacht, Frau Oberin, Sie könnten ihr ein bisserl einen Zuspruch geben, weil Sie das doch so gut verstehen." „Also bei einem ehelichen Zerwürfnis soll ich guten Rat geben?" Humoristisch-ironische Lichter blitzten in den grauen Augen auf. „Glauben Sie denn, daß Sie da bei einer Klosterfrau an der richtigen Stelle sind?" „Doch, Frau Oberin, das mein' ich schon", sagte die Törwingerin so überzeugt, daß die Oberin lächeln mußte. „So? Na, dann lassen Sie Ihr Sorgenkind nur eintreten." Und dann saß Regina vor der Oberin und fühlte sich von den grauen Augen wie von Röntgenstrahlen durchleuchtet. Theres hatte die beiden allein gelassen. Regina 28
kam sich plötzlich wieder wie ein Schulmädchen vor, aber dieses Gefühl war durchaus nicht unangenehm. Eigentlich war sie damals, in jenen unschuldsvollen Tagen, sehr glücklich gewesen. „Nun, Regina", begann die Oberin mit ihrer schönen, klingenden Stimme — „das heißt, ich muß wohl jetzt Frau Kranwitt sagen?" „Aber nein, Frau Oberin. Und sagen Sie bitte doch auch noch du zu mir." „Gern, liebe Regina. Ich betrachte ja meine früheren Zöglinge alle noch ein wenig als meine Töchter. Also deine gute Mutter hat mir schon von deinem Kummer berichtet. Er besteht hauptsächlich darin, daß ihr keine Kinder habt und deine Ehe dadurch in Gefahr ist?" „Ja, Frau Oberin. Aber hauptsächlich geht es eben um den Hof, der braucht nötig einen Erben, damit er nicht in fremde Hände kommt. Ich habe alles versucht, alles. Auch Wallfahrten. Ich habe gebetet und gebetet. Aber nichts hat genützt." „Und da bist du jetzt verbittert und machst dir und wohl auch anderen das Leben sauer, wie es scheint. Ich glaube dir schon, daß du viel gebetet hast. Aber hast du auch richtig gebetet? War es nicht vielmehr ein recht selbstsüchtiges Gebet, Regina? Du hast ein Kind erfleht, weil dein Mann sonst ungut zu dir ist und in die Wirtshäuser läuft. Aber hauptsächlich, wie du sagst, weil der Hof einen Erben braucht. Dieser Hof scheint dir das Wichtigste zu sein. Reginas braune Augen blickten verwundert und verständnislos. Aber sie schwieg. Der Oberin widersprach man nicht. 29
Es zuckte ironisch um den festen Mund der Oberin. „Ja, Regina, ich weiß, was du jetzt denkst. Du meinst, was versteht denn so eine Klosterfrau von diesen Dingen. Die hat keinen eigenen Besitz, keinen Hof, keine Kinder, die weiß nicht, was für Bauersleute das Wichtigste ist. Habe ich recht?" Regina wurde ein bißchen rot. Die Oberin hatte wieder einmal in ihr gelesen wie in einem offenen Buch. „Nun ja, Frau Oberin, nichts für ungut, aber das ist doch auch sehr wichtig. Ich meine das mit dem Hof." „Nicht gar so wichtig, wie ihr immer denkt, Regina. Es gibt sehr viel wichtigere Dinge." Die Oberin seufzte ein bißchen. Sie wußte, da predigte sie tauben Ohren. Trotzdem fuhr sie fort. „Mußt dein Herz nicht allzusehr an irdischen Besitz hängen, meine Tochter. Und wenn es dir nicht vergönnt sein sollte, ein Kind zu haben, so darfst du dich nicht auflehnen, nicht mit deinem Geschick hadern, du mußt dich in Gottes Willen schicken. Oder glaubst du, er weiß nicht besser, was gut für dich ist?" Regina senkte den Kopf. Dann sagte sie leise: „Ich muß halt versuchen, es so anzusehen, Frau Oberin." „Ja, das mußt du, meineTochter", sagte die Oberin mit Nachdruck. „Aber du kannst auch versuchen anders, richtiger, besser zu beten. Weniger selbstsüchtig. Ich kann dir da kein Rezept geben, das mußt du schon selber finden. Versuche in deinem Herzen wahre Opferbereitschafb zu erwecken. Ich meine damit nicht wohltätige Gaben allein, so nützlich und verdienstvoll sie auch sein mögen, ich meine es anders. Ich will für dich beten, Regina, daß dir 30
ein Weg gezeigt wird. Und dann — vielleicht, Regina, wird dir dein Herzenswunsch erfüllt werden." Regina saß da und hörte wie gebannt zu. Ihr Gesicht sah plötzlich verinnerlichter und weicher aus. „Ach, Frau Oberin, wenn das möglich wäre —" stammelte sie. „Bei Gott ist kein Ding unmöglich. Aber sei nicht bitter, Regina, verhärte dich nicht. Bedenke, wieviel dir gegeben wurde. Deine Familie, die dich liebt, der schöne Hof, Gesundheit. Deine Mutter ist ein prächtige Frau, nimm dir ein Beispiel an ihr, sei ein wenig heiterer. Ein fröhliches Herz hat der Herr lieb. So die richtige, innere Heiterkeit, weißt du, die aus einem guten Herzen kommt. Arbeiten allein tut es nicht. Denke an Maria und Martha. Sei ein wenig mehr Maria, denn die Liebe ist das Größte von allem, vergiß sie nicht. Sei auch nicht allzu streng gegen dich selber, gönne dir eine Ausspannung, eine Freude. Du warst doch eine gute Schülerin. Liest du manchmal ein gutes Buch?" „O mei, Frau Oberin, dazu hat eine Bäuerin doch keine Zeit." „Ach Unsinn, das bildet ihr euch bloß ein. Es würde dir bestimmt sehr gut tun. Na und sonst? Hast du keine Liebhaberei? So etwas ist nämlich auch sehr gut gegen trübe Gedanken." Da leuchtete es etwas in Reginas herben Zügen auf. „Ich habe schon eine Liebhaberei, Frau Oberin. Nämlich einen Ziergarten hinter dem Haus. Der Schloßgärtner von Sabinenhöhe hat ihn dazumal angelegt, der Garten war aber inzwischen arg verwildert, der Schwiegervater selig hat es fast hoffärtig gefunden, so einen Herr31
schaftsgarten bei einem Bauernhof. Also ich hab' die Taxushecken wieder beschneiden lassen, das Rosarium neu angepflanzt und schöne lange Staudenbeete angelegt, lauter wunderschöne Blumen, ich hab's ja bei der Schwester Serafina gelernt." „Bei unserer Schwester Serafina, ja, das ist eine sehr gute Gärtnerin, die versteht was von Botanik; sie kommen von nah und fern, um etwas von ihr zu lernen. Also das freut mich sehr, Regina, Blumen sind schon ein ganz besonders wunderbares Meisterstück des himmlischen Vaters, da freue dich nur recht daran." Sie sprachen noch ein weniges darüber. Dann hob die Oberin ihre schöne, edle Hand und legte sie für einen Augenblick auf Reginas Stirn. „Geh in Frieden, meine Tochter." *
Regina blieb noch einige Tage bei ihrer Familie in Schweigenreuth. „Laß ihn nur noch ein bisserl warten, den Mathis", hatte die Mutter mit verschmitztem Lächeln gesagt. „Soll's nur merken, wie's ist, wenn du nicht da bist. Ein bisserl Zappeln hat noch keinem Mann geschadet." Einmal fuhr Regina mit Rosl nach Selbing, die wollte sich dort ihren blonden Bubikopf neu herrichten lassen. Als Hotelwirtin und Bürgermeisterin mußte sie repräsentieren und immer adrett aussehen. „Und der Peter will's auch so haben", sagte sie. „Dir selber ist's wohl sehr zuwider", neckte Regina. 32
Rosl lachte nur. „Laß dir halt auch die Haar waschen, sonst ist dir 's Warten zu fad." Frau Nanni Niedermeier war Regina seit ihrer Kindheit bekannt, und sie war nun die Inhaberin des Frisiersalons. „Was du für schöne Haare hast, Regina", sagte die Nanni und wog die schweren dunkelbraunen Zöpfe in den Händen. „Aber aufstecken tust du sie schon schauderhaft unkleidsam. Schau, trag sie doch so." Mit geschickten Fingern machte sie Regina aus den frischgewaschenen glänzenden Zöpfen ein Diadem. „So, jetzt hast eine Krone, bist ja auch Regina, die Königin", lachte Nanni. Rosl war begeistert. „Nicht zum Glauben, was für einen Unterschied das macht", sagte sie. „Und für deine Haut könntest auch ein bisserl was tun", fuhr die energische Nanni fort. „Ist ja voller Risse und ganz ausgetrocknet. Hast doch als junges Madel eine gute Haut gehabt." „Das ist schon lang her", sagte Regina trocken. „Glaubst, ich hab' Zeit oder Lust, mir stundenlang Salben ins Gesicht zu schmieren, wie die spinneten Weiber in der Stadt?" Jetzt wurde die Niedermeier Nanni beinahe böse. „Red doch keinen Schmarrn. Euer Leder- und Sattelzeug, das schmiert ihr mit Fett ein, damit's keine Risse kriegt, gelt? Aber die eigene Haut abends nach dem Waschen mit einer guten Fettcreme einzureiben, das braucht's wohl nicht? Und dabei dauert's doch höchstens eine halbe Minute. So, und jetzt geh her." So sehr sich Regina auch sträubte, es half ihr nichts, 3
Findelkind vom Kranwitthof
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sie bekam eine Gesichtsbehandlung. Übrigens war die ganz angenehm. „Aber wenn du glaubst, daß ich jetzt öfters so einen Krampf mitmach', dann wirst dich täuschen", meinte sie halb lachend. Frau Niedermeier gab ihr eine Dose Fettcreme mit. „Da", sagte sie ironisch, „ich schenk' dir's. Aber wenn alle Leute so wären wie du, könnt' ich verhungern." Regina machte in Selbing noch einige Einkäufe für den Haushalt, alles gute und solide Sachen, wie es ihrer Art entsprach. Aber Rosl überredete sie, auch ein neues Gewand für sich selber zu kaufen. Es paßte gut und kleidete sie vortrefflich. Als sie damit auf dem Törwinghof ankam, wurde sie von ihrer Familie mit Schmunzeln und beifälligen Ausrufen empfangen. Die übermütigen Törwingkinder tanzten einen Ringelreihen um sie. „Da schau her, die Regina macht sich", rief Peter, baß erstaunt. „Da sieht man, daß sie noch ein ganz sauberes Frauenzimmer ist, wenn sie sich nicht grad mit Fleiß verschandelt." „Recht hast, Peter", stimmte die Mutter Theres zu. „Mußt mehr auf dich halten, Dirndl. Die Frisur paßt dir gut." „Jetzt hört aber auf", rief Regina halb lachend, halb ärgerlich. „Ihr tut ja grad, als ob ich die reine Vogelscheuch' gewesen wär'." „So und jetzt wißt ihr was?" sagte Peter, „jetzt gehn wir rüber ins Trinkstübel, da wirst schau'n, Regina, da ist's fein zünftig." Peter hatte das Trinkstübel im Hotel neu herrichten 34
lassen, als Bauernstube, mit schönen, sandgeblasenen Möbeln, Vorhängen mit Handdruck in Volkskunstmotiven, alten Krügen und Schüsseln, Hinterglasbildern und schmiedeeisernen Leuchtern. Es war wirklich ein anheimelnder Raum und erfreute sich allgemeiner Beliebtheit. Noch war die Saison nicht in vollem Gange, aber einige Kurgäste waren doch schon da und tanzten zu der flotten Musik einer Oberländlerkapelle. Peter ließ seinen beiden Damen, der Rosl und der Regina, einen extra guten Tropfen kommen. Ein Volkssänger sang muntere Schnadahüpfl, Peter erzählte lustige Schnurren, darin war er groß, die Stimmung stieg. Rosl und Peter wurden sehr fröhlich und rissen Regina unwillkürlich mit. Kein Zweifel, hier war es wirklich zünftig! Ihre Wangen begannen zu glühen, ihre Augen zu leuchten. Sie fühlte sich um zehn Jahre jünger und sah auch beinahe so aus. Rosl, die schöne Törwingwirtin, wurde fleißig zum Tanz geholt, sowohl von Kurgästen wie auch von einigen Einheimischen. Und schließlich ließ sich auch Regina überreden, mit ihrem Bruder einen Walzer zu wagen. Etwas verlegen betrat sie die Tanzfläche. Würde sie sich nicht rettungslos blamieren? Aber siehe da, es ging! Es ging sogar sehr gut, sie hielt tapfer Schritt und schwebte dahin wie in ihren besten Jugendtagen. Es machte richtig Spaß. Und als sie sich nach dem Tanz zu ihrem Platz begeben wollte, stand schon ein neuer Tänzer vor ihr. Es war ein Bekannter aus ihren Mädchentagen, ein Holz3*
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händler, der ihr einmal ein bißchen den Hof gemacht hatte. „Was sehe ich da, die Regina!" rief er verwundert. „Ja, gibt's denn das auch? Tanzt da herum wie ein junges Füllen. Gut schaust du aus. Also komm, drehn wir halt auch einen miteinander." Nach dem Tanz geleitete er sie zu ihrem Tisch und nahm mit daran Platz. „Eigentlich wurmt es mich ja ein bisserl, daß du so gut ausschaust", sagte der Holzhändler mit verschmitztem Augenzwinkern. „Aber geh, warum denn?" „Weil du es nicht verdienst. Ja, ja, schau mich nur an. Da lauf ich immer noch einschichtig herum, weil du mich damals hast abblitzen lassen. Jawohl! Herzlos und saukalt hast mich einfach stehenlassen. Und das frißt an mir." Regina lachte. „So, so, das frißt an dir. Aber weißt, äußerlich merkt man dir nix an. Bist ganz schön wampert." „Das ist Kummerspeck", sprach der Holzhändler düster. „Mein Herz ist gebrochen." „Was nicht gar! Wie man nur so angeben kann? Also ich bin bestimmt nicht schuld, daß du noch einschichtig bist, wird dir halt keine gut genug sein." „Natürlich nicht. Die Regina oder keine, hab' ich mir gesagt." „Geh, das glaubst doch selber nicht, Wastl. Warst halt schon immer ein Sprüchmacher." „Das sind keine Sprüch'. Frag den Peter, der weiß es." Er zwinkerte Peter, der soeben mit Rosl zum Tisch 36
zurückkam, verschwörerisch zu, und Peter hakte auch prompt ein. „Das weiß doch jeder, Regina, daß der Wastl ganz narrisch in dich verliebt war." „Was heißt hier ,war'?" rief Wastl feurig. „Alte Liebe rostet nicht, sagt ein Sprichwort." Regina schüttelte nur lachend den Kopf zu diesem Unsinn. Da griff auch Rosl ein. „Sei doch froh, daß du so einen feschen Verehrer hast, Regina, ich beneide dich schier darum." Es gab noch viele Neckereien in derselben Tonart, Regina ließ sie sich gutgelaunt gefallen. Aber Peter und Rosl zwinkerten sich heimlich zu. Sie wußten, das tat Regina gut, war wie Medizin für sie nach dem ehelichen Zerwürfnis. Es hob ihre Stimmung und gab ihr erhöhtes Selbstvertrauen. Denn es läßt sich nun einmal nicht leugnen, daß es jeder Frau ein beruhigendes und angenehmes Gefühl gibt, wenn sie als Frau noch etwas vorstellt und noch einem Mann gefallen kann. Auch die herbe Regina machte da keine Ausnahme. Sie fühlte sich so wohl in der freundlichen Atmosphäre des Törwinghofes, mit seinen heiteren, gutartigen Menschen, daß sie gern noch einige Tage blieb. Als sie schließlich auf den Kranwitthof zurückkehrte, geschah dies ohne jeden dramatischen Aufwand, ohne Szenen und ohne weitere Aussprache. Die Vorkommnisse der damaligen Nacht wurden mit keinem Wort erwähnt. Regina teilte kleine Geschenke aus, die sie allen Hausgenossen mitgebracht hatte, und dann ging das all37
tägliche Leben seinen gewohnten Gang weiter, als ob nie etwas gewesen wäre. Aber Regina merkte wohl, daß Mathis sie heimlich von der Seite musterte. Eine neue Frisur hat sie und ein neues Gewand, stellte er fest, und sogar das Gesicht schien ihm verändert, weicher, jünger, geradezu hübscher. Der Aufenthalt in Schweigenreuth hatte ihr offenbar gut getan. Eigentlich war sie gar nicht so übel, seine Alte. Peter Törwing hatte dem Mathis mit der Drohung, ihm Reginas Mitgift zu entziehen, einen heilsamen Schreck eingejagt. Nein, die wollte er nicht hergeben, um keinen Preis. Und Regina eigentlich auch nicht. Eine bessere Bäuerin konnte er für den Kranwitthof nicht finden. Also nahm er sich zusammen, war umgänglicher, freundlicher, und wenn er überhaupt ins Wirtshaus ging, kam er früh und ohne Rausch wieder heim. Und Regina? Ach, sie hing mit allen Fasern am Kranwitthof, es hätte sie tief geschmerzt, ihn verlassen zu müssen. Auch sie war freundlicher und entgegenkommender gegen ihren Mann. Kurz, es war eine spürbare Wandlung zum Besseren eingetreten. Aber dann trat ein Ereignis ein, so unerhört und unvorhergesehen, daß es eine ganz neue Wendung in ihr Leben brachte. *
Als die Stallmagd Lisi frühmorgens den Kuhstall betrat, hörte sie ein klägliches Winseln. Erstaunt hob sie den Kopf. War es eine kleine Katze, die da miaute? Neugierig 38
ging sie dem Ton nach, der aus einer Ecke kam. Und dann tat sie einen Aufschrei. Denn da stand ein großer Henkelkorb und darin lag ein kleines Menschenwesen und schrie. Sie stürzte in voller Aufregung in die Küche. „Bäurin, komm geschwind in den Stall, da steht ein Körbl und —" Es verschlug ihr vor Aufregung die Stimme. Regina sah Lisl mißbilligend an. Das junge Ding war oft lächerlich schreckhaft. „Was denn für ein Körbl und warum bist denn so erschrocken? Schaust ja aus, als hättst ein Gespenst gesehn." Sie ging aber doch rasch der Lisl nach, die ihr in den Stall vorauslief. Und dann sah sie es selber. Ein winziges Menschenkind, gut und sauber angezogen und weich in ein Federbettchen gebettet. Eine gefüllte Säuglingsflasche hing am Henkel und ein Brief. Außerdem befand sich unter dem Henkelkorb eine große Pappschachtel, die eine vollständige und gute Babyausstattung enthielt. „Jetzt so was!" rief Regina, nahm den Korb und trug ihn in die Küche, um bei besserem Licht diesen merkwürdigen Fund näher zu besichtigen. Sie rief auch Zenzi herbei. Mathis war mit den Knechten auf dem Feld. „Ja, was wär' denn jetzt das?" rief Zenzi verwundert und hob das kläglich schreiende Menschlein aus dem Korb. „Frische Windln braucht's halt und Hunger wird's auch haben", sagte sie. Die Zenzi hatte selber mal ein Kind gehabt und kannte sich aus. „Ein Madel ist's", sagte sie dann noch. „Oh mei, ist die schiech", meinte die Lisl, „und das feuerrote Haar, wo's hat." 39
„So kleine Wutzerl sind oft schiech", sagte die erfahrene Zenzi, „das wachst sich aus." Aber auch sie mußte innerlich zugeben, daß sie nie ein häßlicheres Kind gesehen hatte. „Wem kann's denn bloß gehören?" wunderte sich die Lisl. „Wer hat's denn nur bei uns abgestellt?" Sie blickten beide erwartungsvoll auf Regina, die noch kein Wort geäußert hatte, sondern nur mit verblüfftem Ausdruck in den geöffneten Brief starrte. „An die Bäuerin vom Kranwitthof", stand da in Blockschrift. „Nehmt das kleine Waisenkind bei Euch auf, Gott wird es Euch lohnen. Ist am 31. Mai 1932 geboren. Tauft sie Barbara Maria Eis. Unter diesem Namen liegen beim Notar Ernst Hefter, München, 7000 Mark für sie bereit." In Reginas Brust kämpften widersprechende Gefühle. Aber äußerlich blieb sie gelassen. „Ein Findelkind ist's halt", sagte sie schließlich den beiden neugierig auf sie blickenden Mädchen. „Jetzt so was!" rief Lisl mit weit aufgerissenen Augen. „Wirst es denn dabehalten, Bäurin?" „Das weiß ich noch nicht, wirst es schon erfahren. Geh jetzt lieber an deine Arbeit." Lisil gehorchte nur widerwillig. Sie hätte zu gern erfahren, was in dem Brief stand. Zenzi, als Vertrauensperson, bekam ihn vorgelesen, als Lisl gegangen war. Sie hatte inzwischen das Kind gesäubert, ihm frische Windeln gegeben und die in der Säuglingsflasche befindliche Milch aufgewärmt. Zufrieden lutschte das Baby nun an seinem Fläschchen. „Was du nicht sagst", rief die Zenzi, „siebentausend 40
Mark hat's? Muß also schon was Besseres sein. Und die Jackerln und Windeln sind auch sehr schön, lauter gute War'. Vielleicht ist's ein feines Fräulein, das heimlich ein Kind kriegt und zu dir hergestellt hat, meinst nicht?" „Ja, kann schon sein. Aber wie ist die denn gerade auf mich gekommen? Das kann ich nicht verstehen." „Sie muß dich eben kennt haben. Gewußt haben, daß du eine reiche Bäuerin bist, daß ihr keine Kinder habt und das Kleine es gut bei euch haben tät'." Regina hatte bei diesen Worten zu schlucken. Natürlich hatte sie sich schon selbst etwas Derartiges zusammengereimt. Sollte dies die Erfüllung ihrer Wünsche sein? So hatte sie sich das allerdings nicht vorgestellt. „Das muß ich mir noch sehr überlegen, ob ich das Kindel behalt'", meinte sie, „und ich weiß ja auch nicht, ob's dem Bauer recht ist." Die Zenzi schwieg. Aber sie dachte sich, wenn's der Bäuerin recht ist, wird es der Bauer schon leiden müssen. „Auf jeden Fall müssen wir's vorläufig behalten. Armes Hascherl, es kann ja nix dafür, daß es ausgesetzt worden ist." Da sie sich beide mit der Flaschenzubereitung nicht recht auskannten, beschlossen sie, die Hebamme des Ortes herbeizurufen. Die dicke Steffi Höcherl kam auch bald angeschnauft, besah sich das Kind, erklärte es für gesund und in jeder Weise normal. Behaglich faltete sie die Hände über dem runden Bäuchlein, ließ sich den extra starken Kaffee und die Schmalznudeln schmecken und genoß die Neuigkeit. Das war doch mal eine Sensation für Hellesried! 41
„Siebentausend Mark hat's?" sagte sie überlegend. „"Weißt, dafür tät' ich selber das Kindl nehmen. Ich sag's, wie's ist." Da warf Regina den Kopf in den Nacken. „Wenn ich das Madel behalt, rühr' ich das Geld nicht an. Das soll sie haben, wenn sie groß ist." „Ja du!" rief die Höcherl mit einem Gemisch aus Hochachtung und Neid. „Da tatst geschwind zu was Kleinem kommen, gelt?" Aber diese Bemerkung schien ihr, kaum geäußert, nicht gerade taktvoll zu sein. Hurtig setzte sie hinzu: „Es wäre halt ein gutes Werk, das ist gewiß, und die wo's hergebracht hat, hat schon gewußt, in was für ein gutes Haus das Kindl kommt. Aber weißt, so schnell geht das nicht, das muß durch die Behörden gehen", sagte die Höcherl wichtig. „Die müssen nachforschen, ob s' keine Verwandten finden, wenn die Mutter vielleicht tot ist. Weil das nämlich eine Kindesaussetzung ist und strafbar." „Ja, ja, das hab' ich mir eh schon denkt", sagte Regina. „Wir müssen halt den Notar in München fragen, vielleicht weiß der was davon. Aber vorderhand müssen wir's Kindl eben versorgen." Die Hebamme gab ihnen die nötigen Anweisungen. „Und wenn's euch zu viel wird, nehm' ich 's Kindl gern in Pflege", setzte sie hinzu, „ich sag's, wie's ist." „Ich könnt's auch zu mir in die Kammer nehmen", sagte Zenzi, „ich mein', wenn's euch vielleicht in der Nacht stört, Bäuerin." Sie wiegte das kleine Wesen zärtlich im Arm, bis es einschlief. Gerade weil es so „schiech" war, hatte sie Mitleid mit ihm. „Jaja, das sehn wir nachher schon", entschied Regina, „zuerst muß ich mit dem Bauer sprechen." 42
Heimlich graute es Regina ein bißchen vor dieser Unterredung. Sie zog Mathis in das eheliche Schlafzimmer. Das Gesinde brauchte es nicht zu hören, wenn er einen Zornesausbruch bekam. Tatsächlich schwoll ihm auch gleich die Zornesader, als sie ihm von dem Findling berichtete. Er empfand es fast wie einen Hohn auf seine Kinderlosigkeit. Ob sie ihm vielleicht zumutete, so einen fremden Bankert aufzuziehen, wollte er wissen. „Mußt nicht zornig werden, Mathis", sagte Regina merkwürdig sanft, „ich weiß schon, wie dir zumut ist, geht mir selber nicht anders. Wir müssen halt ruhig überlegen, gelt? Ich denk', ich fahr' morgen zu dem Notar nach München. Kommst mit?" „Ja freilich, wegen so einem Bankert auch noch die Arbeit versäumen. Aber meinetwegen, fahr zu, damit eine Ruh wird." Also fuhr Regina am nächsten Tag nach München. Der Notar Hefter, ein würdiger, älterer Herr, empfing sie freundlich. „Ja, liebe Frau Kranwitt, ich weiß bis jetzt auch nichts. Ich fand nur gestern einen dicken Brief in meinem Kasten stecken, da waren die siebentausend Mark in bar darin und die Weisung, sie den Pflegeeltern des Kindes zu übergeben. Sie sehen, es ist dieselbe Blockschrift, wie in Ihrem Brief. Außer dem Geld war noch ein goldenes Kreuz in dem Umschlag", sagte er und holte es hervor. Es war ein schlichtes Kreuz aus massivem Gold. „Deutet alles darauf hin, daß das Kind von guter Abstammung ist", meinte der Notar, und das könnte Ihren Entschluß, das Mädchen zu behalten, vielleicht erleichtern." 43
Er erklärte ihr dann noch die Schritte, die das Gesetz für solche Fälle vorschrieb, und versprach, sich der Sache anzunehmen. „Aber sagen Sie mir bloß, Frau Kranwitt, hat denn niemand auf dem Hof etwas gehört?" „Nein, Herr Notar. Wir schlafen halt alle recht fest und unser Hofhund ist vor ein paar Wochen eingegangen. Der Bauer hat auch schon gesagt, es muß gleich wieder einer her, denn das ginge doch nicht, daß sich jemand so bei Nacht einfach in den Kuhstall schleicht." „Nein, da hat Ihr Mann sicher recht. Und hat sonst niemand etwas beobachtet? Leute im Dorf? Der oder die Betroffene muß das Kind natürlich bei Nacht gebracht haben. Und auf dem Bahnhof? Ist da niemand mit so einem Henkelkorb ausgestiegen?" „Nein, niemand, wir haben uns schon erkundigt. Aber der alte Kohlgruber hat ein Auto gehört. Er ist krank und liegt oft wach in der Nacht. Da hat er gehört, daß ein Auto durch das Dorf gefahren ist, so gegen drei Uhr früh." „Aha, ja, das klingt einleuchtend. Und das ist auch gewöhnlich die allerstillste Zeit. Die Leute scheinen mit Umsicht vorgegangen zu sein und alle Spuren gut verwischt zu haben. Da werden wir sie wohl schwerlich finden." Mit diesem vorderhand recht mageren Bescheid reiste Regina zurück und machte in Selbing Zwischenstation, um mit der Oberin zu sprechen. Ihr schilderte sie die merkwürdige Begebenheit so kurz und sachlich wie möglich. Die grauen Röntgenaugen der Oberin sahen Regina unverwandt an. „Also gut, Regina, wenn dein Mann das Findelkind 44
nicht behalten will, kann es auch zu uns ins Waisenhaus kommen." Sie machte eine kleine Pause und sagte dann langsam: „Wir tun, was wir können, für die Kinder, aber ein wirkliches Heim und eine Familie kann ein Waisenhaus natürlich nicht ersetzen, das weißt du." Regina nickte. „Ja, Frau Oberin. Und deshalb haben wohl die Verwandten, oder wer es nun war, das Kind auch nicht im Waisenhaus abgegeben." „So ist es. Nun, Regina?" Die grauen Augen ließen die Kranwitterin nicht los. „Hast du dir nicht schon einige Gedanken über diese merkwürdige Sache gemacht?" „Ja, Frau Oberin, das habe ich. Ich meine, das Kind ist mir ganz persönlich anvertraut worden und da kann ich eigentlich nicht gut nein dazu sagen. Finden Sie nicht auch?" „Ich mische mich da nicht ein, Regina. Dein eigenes Herz muß dich beraten. Aber natürlich muß dein Mann seine Zustimmung geben." „Ich glaube, den kann ich schon dazu bringen, Frau Oberin. Es ist nämlich jetzt besser zwischen uns geworden." „Das freut mich aufrichtig, Regina", sagte die Oberin herzlich. „Ich habe es dir übrigens gleich angesehen, du siehst viel besser aus, nicht mehr so verhärmt, beinahe verjüngt." Regina wurde fast ein wenig verlegen. Dann sah sie der Oberin eine Weile stumm in die Augen. Plötzlich sagte sie: „Barbara Maria Eis soll sie getauft werden. Ist das nicht sehr sonderbar? Muß eine Frau gewesen sein, die auf Maria im Eis zu einem Bittgang war, denk' ich mir. H a t 45
ein Kind bekommen und ist dabei gestorben. Weil's doch in dem Schreiben heißt, es ist ein Waisenkind." „Ja, Regina, das ist sehr, sehr merkwürdig. Beinahe wie ein Zeichen. Das meinst du doch sicher, nicht wahr?" „Ja, das mein' ich, Frau Oberin", sagte Regina leise, fast scheu. „Und wo Sie doch gesagt haben, ich soll ein Opfer bringen, ein wirkliches Opfer — — —" „Eben, Regina. Und jetzt ist dir eine Gelegenheit gegeben." „Ja, Frau Oberin", sagte die Kranwitterin plötzlich mit festem Entschluß. „Und deshalb will ich bald nach Maria im Eis und geloben, daß ich das arme Waisenkind behalt'. Und dann vielleicht —" Die Oberin sah sie bedeutungsvoll an. „Ja, Regina- Vielleicht — — —" *
Daheim berichtete Regina ihrem Mann. Er hörte ihr ziemlich ungnädig zu. Zenzi hatte ihm inzwischen die Kleine gezeigt. „Ausschaun tut's wie ein kleiner Teufel, mit dem roten Haarbüschel", meinte er spöttisch, „die ist nicht wenig schiech." Regina widersprach nicht. Sie blieb gelassen, fast sanft. Sie hütete sich, auch gleich mit ihrem Entschluß, das Kind zu behalten, herauszurücken. „Ja, schiech ist sie freilich, aber die Hebamm' sagt, das wächst sich aus. Die Höcherl tät's gleich nehmen, aber der geb' ich's nicht. Und ich mein', ins Waisenhaus dürfen wir's auch nicht tun, sonst hätten s' es doch dort abgegeben, gelt? 46
Dann schon besser beim Peter. Ja, ich hab' ihn auf dem Bahnhof in Selbing getroffen und ihm die Geschivht' erzählt. Er sagt, bei ihnen kommt's nicht drauf an, wenn noch eins mehr mitißt. Also dort hätt's das arme Hascherl ja bestimmt gut." Das fuhr dem Mathis in die Krone. „Soso, bei dem hätt' sie's gut, bei dem hochnoblen Herrn Schwager. No, ich denk', solche notigen Hungerleider sind wir wohl auch nicht, daß bei uns nicht eins mitessen könnt'. Also dann in Gottes Namen, soll sie halt hierbleiben derweil, wenn sie sonst niemand auf der Welt hat." Da tat die Regina etwas, das bei ihr höchst ungewohnt war, sie streichelte dem Mathis die Wange. „No also, bist doch im Grund ein ganz guter Kerl. Und eigentlich sind wir's uns ja auch schuldig. Uns haben s' das Kindl anvertraut, sonst niemand. Und du weißt schon, was auf dem Zettel steht: Gott wird es Euch lohnen." „Jaja, schon gut, das sehn wir nachher schon", brummte Mathis. „Aber von Adoptieren kann keine Rede sein, das sag' ich dir gleich." „Aber geh, wer redet denn davon. Dazu sind wir doch überhaupt noch viel zu jung und das möcht' ich auch selber nicht." Regina hatte mit Peter verabredet, daß er sie bei schönem Wetter am übernächsten Tag mit seinem Wagen abholen sollte, um mit ihr ins Dorf Deisenzell zu fahren. Von dort stieg man nach Maria im Eis hinauf. Der Törwinger hatte zwei seiner Kurgäste hinzufahren, es traf sich also gut und war natürlich bequemer als die umständliche Bahnfahrt. Das Ehepaar Tietjen stammte aus Lübeck. Es hatte von 47
einer Nichte von dieser seltsamen Kapelle mitten im Gletscher und von der überragenden Schönheit des Bildwerkes gehört und wollte es gern sehen. Es war eine schöne Fahrt durch das frühsommerliche Land, das festlich und blumengeschmückt an ihnen vorüberglitt. Sie kamen immer tiefer in die Berge, das Tal verengte sich und nach einer Fahrt von einundeinhalb Stunden hatten sie Deisenzell erreicht. Hoch darüber schimmerte der Gletscher wie ein riesiger Kristall. Ursprünglich war Deisenzell ein abseitiges, ziemlich ärmliches Dorf gewesen, aber dank Maria im Eis hatte es sich zu einer ansehnlichen Gemeinde entwickelt und war für den Fremdenverkehr entdeckt worden. Große Reiseomnibusse und Privatwagen aus allen deutschen Gauen und sogar aus dem Ausland standen vor stattlichen Gasthöfen und es ging äußerst lebhaft zu. Regina betrachtete mit Unwillen diese Betriebsamkeit. „Wenn ich denk', wie schön und ruhig es früher hier war", sagte sie zu ihrem Bruder, „und jetzt dieselbe Gaudi wie überall. Alles dreht sich bloß ums Geschäft." „Ja mei", sagte Peter, „Geschäft und Geldverdienen wird halt heut groß geschrieben, da kannst nix machen. Aber droben soll's schon noch so sein wie früher, da wird streng drauf geachtet, daß da kein Jahrmarkt draus wird." Regina verabschiedete sich von dem Ehepaar Tietjen. Es schienen recht nette Leute zu sein, aber Regina wollte doch unbehelligt von Gesprächen und Fragen ihren Weg antreten. Der war immerhin ziemlich beschwerlich. Zwei Stunden dauerte der Aufstieg, ehe man an den Gletscher kam, und 48
das letzte Stück ging über Eis. Man hatte es zwar den Besuchern durch eingehauene und sandbestreute Stufen bequemer gemacht, es war also nicht gefährlich, aber doch ziemlich anstrengend. Man sah auch meist nur jüngere Leute auf dem Weg und die Frauen waren bei weitem in der Mehrzahl. Das hatte seinen besonderen Grund. „Ist es eigentlich ein alter Wallfahrtsort?" fragte Frau Tietjen, als sie im „Goldenen Lamm" bei einem Imbiß saßen. „Weder alt noch eigentlich ein Wallfahrtsort", erwiderte Peter Törwing. „Aber das erzählt Ihnen Herr Auringer besser, das ist der Lehrer hier vom Ort und ein Spezialist dafür." Er winkte den zufällig anwesenden Lehrer herbei. „Mich entschuldigen Sie wohl", setzte Peter hinzu, „ich habe geschäftlich zu tun. Wir sehen uns dann gegen Abend zur Heimfahrt wieder." Der Lehrer Auringer, ein freundlicher, älterer Herr, nahm bei Tietjens Platz, bekam einen Tiroler Spezial vorgesetzt und war gern bereit, Auskünfte zu erteilen. „Nein, eigentlich alt ist Maria im Eis noch nicht", sagte er. „Am besten gibt eine kleine Schrift darüber Auskunft, die ein Amtsvorgänger von mir, der damalige Lehrer von Deisenzell, nach den Angaben des alten Pfarrers verfaßt hat. Das ist die einzige authentische, wirklich wahrheitsgetreue Beschreibung von der Entstehung von Maria im Eis. Alles andere, was in den Zeitungen und Illustrierten darüber zusammenfabuliert worden ist, entspricht nicht den Tatsachen, ist pure Phantasie. Da sind sie angebraust gekommen, diese geschäftigen Herren Reporter, haben ihre Leicas und ihre Bleistifte gezückt und wollten eine 4 Findelkind vom Kranwitthof
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handfeste, spannende Story, eine Sensation für ihr immer sensationshungriges Publikum. Aber was sie fanden, diese schlichte und doch merkwürdig ergreifende Geschichte von Maria im Eis, das genügte ihnen nicht. Sie mußten alles vergröbern, das Geheimnis seines Reizes berauben, kurz, eine grobe Sensation daraus machen." Herr Auringer hatte sich in Zorn geredet und seine Stirn war vor Unwillen gerötet. „Ja, leider ist es so", stimmte Frau Tietjen zu, „daß diese Leute vor nichts mehr Ehrfurcht haben und alles in den Staub zerren. Wo kann man denn diese Schrift, von der Sie sprachen, bekommen?" „Ich habe das Heft zufällig bei mir", sagte der Lehrer „und wenn Sie wollen, lese ich es Ihnen vor. Es ist nicht lang." Das Ehepaar versicherte, daß es ihm dafür sehr dankbar sein würde. Man sah, daß Herrn Auringer diese Sache mit Maria im Eis eine Herzensangelegenheit war, und so begann er mit gutem Vortrag seine Vorlesung: „Es begab sich im Jahre 1883, daß eine kleine Reisegesellschaft den Gletscher von Deisenzell aus besteigen wollte. Das war damals noch kein so alltägliches Vorhaben wie heute. Die Gesellschaft bestand aus einem vornehmen Ehepaar, es gehörte dem Hochadel an. Der Name ist nicht bekannt und soll auch für immer verborgen bleiben. Die Frau nannte sich immer nur Barbara. Außerdem war noch eine jüngere Dame dabei und Barbaras Bruder. Aus dem vorderen Teil des Gletschers ragte seit jeher ein Felszacken heraus, der auf der Südseite eine grottenartige Öffnung, eine Aushöhlung hatte. Dort angekommen, sagte Barbara, daß sie sich ermüdet fühle und rasten 50
wolle. Die anderen gingen also allein weiter, und Barbara blieb, in trübe Gedanken versunken, zurück. Ihre Ehe war unglücklich. Die großen Güter ihres Gatten waren Majorat und ein Erbe daher dringend erwünscht. Aber der war ihnen in ihrer fast zehnjährigen Ehe leider versagt geblieben. Die Liebe des Gatten war darüber erkaltet, er dachte sogar daran, sich scheiden zu lassen und die jüngere Dame zu heiraten, die sich in ihrer Gesellschaft befand. Barbara war darüber so unglücklich, daß sie am liebsten gestorben wäre. Hier oben, in dieser großartigen Einsamkeit, schien ihr der Himmel näher. Sie betete inbrünstig um Erlösung, denn sie vermeinte das Leben nicht mehr ertragen zu können. Mitten in diesem aus tiefster Seele kommenden Gebet muß sie eingeschlafen sein. Und da wurde es plötzlich ganz hell um sie, es war eine blauleuchtende strahlende Helle, wie es sie in Wirklichkeit gar nicht gab, ein überirdisches Licht. Und in diesem leuchtenden Blau kam etwas über den Gletscher geschritten, zuerst nebelhaft, dann wurde es immer deutlicher, und einige Augenblicke war es ganz klar zu sehen. Es war eine wunderschöne Frauengestalt, von überirdischer Lieblichkeit, sie war in einen blauen Mantel gehüllt und sie hielt ein kleines Kind auf ihren halbausgestreckten Armen, als ob sie es Barbara reichen wollte. Für einige Sekunden ruhten die Augen der holden Gestalt liebreich auf Barbara. Dann wurde sie wieder nebelhaft, wurde größer und immer größer und entschwand schließlich im Azur des Himmels . . . Als der Gatte Barbaras mit den andern zurückkehrte, fand er seine Frau noch schlafend vor. Ein Abglanz ihres 4*
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wundersamen Traumes lag noch auf ihren Zügen, die merkwürdig verklärt, wie von innen erleuchtet, schienen. Ein paar Tränen hingen an ihren Wimpern, und als sie die Augen aufschlug, schien ihr Blick wie aus weiter Ferne zu kommen. ,Was ist dir, Barbara?' fragte der Gatte betroffen. ,Ich hatte einen Traum, einen wunderschönen Traum', sagte sie und lächelte in der Erinnerung daran so weich und glücklich, wie seit langem nicht. Dieses schöne und innige Lächeln rührte an des Gatten Herz. Es war, als ob er seine Frau plötzlich mit anderen Augen sähe, und seine Liebe zu ihr erwachte aufs neue. Im Jahre darauf wurde ihnen der langersehnte Stammhalter geschenkt, und es kamen dann noch mehrere Kinder. Barbara hat zur Erinnerung an ihr wundersames Erlebnis und zum Dank für die Erfüllung ihres Herzenswunsches eine Kapelle in den Fels aushauen und ein Standbild der Himmelsmutter errichten lassen. Es ist ihrem Traum nachgebildet, so gut sich das eben verwirklichen ließ. Barbara hat immer wieder nachdrücklich betont, daß ihr Erlebnis nur ein Traum war, keine Erscheinung. Sie hat sich nicht zu den Auserwählten gezählt, die solche Wunder erleben. Sie wollte nur den Menschen, die hier heraufkommen, einige Minuten der Andacht und der inneren Einkehr schenken und ihnen vielleicht etwas Trost mitgeben auf ihren Weg, den Weg durch die Wirrsal des Lebens, der schwer ist für uns alle. Barbaras wundersames Erlebnis war aber kein gewöhnlicher Traum, es war mehr, sehr viel mehr, es reicht in mystische Bezirke, da wo das göttliche Geheimnis beginnt . . . 52
Maria im Eis ist kein "Wallfahrtsort im gewöhnlichen Sinne, das sollte er nach dem Willen der Stifterin auch gar nicht sein, nur eine Stätte der Andacht. Aber eines ist sicher: Wer sein Herz dem Himmel öffnet, dem kann jeder Ort zu einem Gnadenort werden. Und dort oben, wo die Maria in der großartigen Gletscherwelt thront, ist eben die Luft reiner, die Sicht weiter. Man ist dem geschäftigen Getriebe des Alltags entrückt und dem Himmel, wie es scheint, ein Stückchen näher." Der Lehrer hatte seine Vorlesung beendet, und es entstand ein kleines Schweigen. Das Ehepaar Tietjen, sonst eher nüchtern veranlagt, fühlte sich seltsam angerührt. „Recht schönen Dank, Herr Auringer, das ist wirklich eine seltsame Geschichte", sagte Herr Tietjen dann. „Wir werden Maria im Eis jetzt noch mit größerem Interesse betrachten." „Ja, das ist sicher", stimmte seine Frau zu. „Und ich kann mir jetzt auch denken, warum so auffallend viele junge Frauen hierherkommen. Es ist wohl, um Kindersegen zu erbitten?" Der Lehrer lächelte etwas verhalten. „Ja, es läßt sich nicht leugnen, daß es sich so eingebürgert hat. Mit der Zeit hat sich eben die Legende herausgebildet, daß Maria im Eis in solchen Fällen helfen kann." Herr Tietjen blickte den Lehrer forschend an. „Sie selber glauben aber nicht daran?" fragte er. „Das ist schwer zu sagen", meinte Herr Auringer zurückhaltend. Nach einer kleinen Pause fügte er hinzu: „Ich denke mir halt, daß viele, die hierherkommen, doch einen starken, inneren Eindruck mitnehmen, daß sie eine Erhebung erfahren, vielleicht sogar eine Wandlung. 53
Möglich, daß dies Einfluß auf den ganzen Menschen haben und sogar bis in den physischen Leib einwirken kann. Wer will das wissen? Auch die Mediziner kommen ja immer mehr zu der Überzeugung, daß eine wirkliche Heilung ohne den Geist, ohne das seelische Element, nicht möglich ist. Daß der Geist es ist, der den Leib aufbaut und zusammenhält. Warum sollte also der Geist nicht auch eine Umstellung der inneren physischen Vorgänge, der Drüsenfunktionen oder was weiß ich, bewirken können?" „Ja, da haben Sie weiß Gott recht", meinte Tietjen, „wenn man es so betrachtet —" „Eben", sagte Auringer. „Ich reime es mir so zusammen." Dann setzte er leise und ganz schlicht hinzu: „Aber so viel ist gewiß, hier wie überall liegt die Erfüllung unserer Wünsche in Gottes Hand." „Und es ist gut so, daß es so ist", fiel Frau Tietjen ein. „Wo kämen wir hin, wenn alle unsere törichten Wünsche erfüllt würden! Wir danken Ihnen sehr, Herr Auringer. Aber, was uns betrifft", fügte sie lächelnd hinzu, „wir machen natürlich keinen Bittgang. Wir haben schon drei erwachsene Kinder und auch bereits einige Enkel. Unser Besuch gilt nur Maria im Eis an sich, das ja von eigenartiger Schönheit sein soll." „Ja, das ist es", sagte Auringer einfach, „es gibt nicht seinesgleichen." „Und hat man tatsächlich nie erfahren, wer die Stifterin der Kapelle war?" fragte Tietjen. „Nein, niemals. Was die schon erwähnten Illustrierten darüber zusammengefaselt haben, hat sich alles als Lüge herausgestellt. Nur der damalige Pfarrer hat gewußt, 54
wer Barbara wirklich war. Ihm hat sie ihr Traumerlebnis erzählt, den Bau mit ihm besprochen und die Mittel zur Verfügung gestellt." „Muß ein schönes Stück Geld gekostet haben", meinte der praktisch gesinnte Herr Tietjen. „Oh, Barbara war eine sehr reiche Dame. Und ihr Geheimnis hat der alte Pfarrer mit ins Grab genommen." „Ja, aber die Statue? Weiß man nicht einmal, wer die ausgeführt hat?" „Auf jeden Fall ein hochbegabter Künstler. Da ist natürlich auch viel daran herumgedeutelt worden, man hat auf diesen und jenen Meister geraten, es aber nie ganz sicher herausbekommen." Die Eheleute Tietjen nahmen herzlichen Abschied von dem freundlichen Lehrer und machten sich dann auf den Weg. Auf halber Höhe befand sich ein Blockhaus, wo sie rasteten und eine Erfrischung zu sich nahmen. Dann ging es immer steiler empor, bis sie endlich am Fuße des Gletschers ankamen. Dort stand ein aus roten Steinen gefügtes, einfaches Unterkunftshaus. Eine robuste Frau mit wettergebräuntem Gesicht, in ein weißwollenes, kuttenartiges Gewand gekleidet, begrüßte sie und bot ihnen mit Eisenspitzen versehene Stöcke an. Man konnte sie leihen und hatte dadurch einen besseren Halt auf dem nun beginnenden Eis. Ein großer, nordischer Spitz mit weißgelblichem Fell, ein sogenannter Samojedenhund, war an der Seite der Frau und blickte alle Ankommenden mit sehr aufmerksamen Augen an. „Sind das Ordensschwestern?" fragte Frau Tietjen eine Dame, die sich ihnen angeschlossen hatte und anscheinend ortskundig war. 55
„O nein, sie nennen sich zwar Schwestern von Maria im Eis, aber es ist kein religiöser Orden. Es sind freiwillige Helferinnen und sie wohnen hier oben." „Immer? Das ganze Jahr?" wunderte sich Herr Tietjen. „Aber im Winter muß der Weg hier herauf doch oft unpassierbar sein." „Das ist er schon manchmal. Aber meist können sich die Schwestern schon mit ihren Skiern helfen. Es sind alles sehr kräftige und sportgestählte Frauen, und Lawinengefahr besteht hier nicht. Sie halten die Kapelle in Ordnung und sorgen dafür, daß die Besucher sich anständig benehmen. Das ist schon nötig. Zum Schutz haben sie die Samojedenhunde, mit denen nicht zu spaßen ist. Jede der fünf Schwestern hat einen eigenen Hund als ständigen Begleiter. Außerdem haben sie auch eine Zucht und verkaufen die jungen Hunde. Und ihre geringen Bedürfnisse bestreiten sie hauptsächlich durch eine Handweberei. Sie weben Stoffe, schöne Teppiche und dergleichen mehr." Dann durften sie selbst eintreten. Es empfing sie ein geheimnisvolles, blaues Licht. Fast wie in der Blauen Grotte auf Capri, dachte Frau Tietjen. Es wurde durch in den Fels eingehauene und mit dickem, blaugrünem Glas gefüllte Öffnungen erzielt. Von rückwärts ganz in dieses blaue Licht getaucht, vom Beschauer einige Meter entfernt und etwas erhöht, stand eine Statue der Maria. Sie war überlebensgroß, ganz aus weißem Marmor und in ruhigen, edlen Linien gehalten. Das Gesicht war von unbeschreiblich holdem Liebreiz. Mit einer sanften Gebärde hielt sie auf halbausgestrecktem Arm dem Beschauer 56
das Kind entgegen, demütig und hoheitsvoll zugleich. Von vorn war sie von dem Licht vieler Wachskerzen beschienen, die in schön getriebenen Leuchtern vor ihr brannten. In ihrem milden Glanz bekam der weiße Marmor Leben, es schien, als ob ein gütiges Lächeln um Marias Mund schwebe . . . Vor dem Standbild waren große Blöcke aus blaugrünem Glas in schräger Linienführung angebracht. Sie sollten den Gletscher symbolisieren. Es war aber keine kitschige Nachahmung, sondern alles war mit vollendetem künstlerischem Geschmack gestaltet. Ein wirklicher Künstler war hier am Werk gewesen. Die Stifterin hatte angeordnet, daß keine noch so gut gemeinten kleinen Opfergaben und Danksagungen für Gebetserhörungen hier in der Kapelle aufgehängt werden durften. Die Himmelsmutter sollte allein in lieblicher Würde inmitten des ewigen Eises thronen. Trotzdem hatten vulgäre Hände früher einmal versucht, auch dieses reine Standbild zu besudeln. Jim Wilkins aus Chikago — Emmy Setermann aus Leipzig — Irma Wascheska aus Lodz hatten ihre belanglosen Namen auf den reinen Marmor geschmiert. Man hatte sie entfernt und vor den Glasblöcken noch ein Gitter mit Spitzen angebracht. Das Standbild war, weil erhöht, trotzdem noch frei zu sehen. Außerdem war jetzt immer eine der Schwestern von Maria im Eis als Aufsicht anwesend. Das Ehepaar Tietjen verließ nach einer Weile schweigend die Kapelle. Es kehrte in dem Wohnhaus der Schwestern ein. Eine Bewirtung gab es dort nicht, aber Frau Tietjen kaufte ein 57
Stück des weißen, handgewebten Hirtenlodens, wie die Schwestern ihn trugen, für ihre jüngste Tochter. Tietjens und die Dame zogen es nach kurzer Rast vor, weiter in den Gletscher hineinzuwandern. An diesem klaren Tag war eine herrliche Aussicht von hier oben. „Wirklich, hier fühlt man sich dem Himmel ein Stück näher", sagte Frau Tietjen und sog tief die leichte, reine Luft ein. „Es ist schon ein ganz eigenartiger Einfall, hier mitten im ewigen Eis so eine Kapelle zu errichten", meinte Tietjen. „Kein Wunder, daß es viele Menschen hierherzieht. Und es würden sicher noch mehr sein, wenn der Aufstieg nicht etwas beschwerlich wäre." „Ein Glück, daß dem so ist", sagte die Dame. „Geschäftstüchtige Unternehmer wollten schon eine Bergbahn hier herauf bauen. Aber dann wäre die Weihe des Ortes zerstört, und es würde ein richtiger Rummel daraus. Nun, Gott sei Dank, haben die Deisenzeller alle solchen Projekte abgelehnt." Als sie zurückkehrten, sahen sie Regina eben die Kapelle verlassen. Sie nickte ihnen freundlich zu, hielt sich aber nicht bei ihnen auf. Dann traten Tietjens den Rückweg an, und im „Goldenen Lamm" fanden sie schon Peter Törwing und Regina wartend vor. „Mich hat selten etwas so tief beeindruckt wie Maria im Eis", sagte Frau Tietjen. „Wir haben auf unseren Reisen ja schon viele berühmte Kunstwerke gesehen, aber diese Kapelle ist eben doch etwas ganz Besonderes." Regina zeigte ein schönes, handgewebtes Tuch, das sie bei den Schwestern von Maria im Eis gekauft hatte. Ihr 58
kleines Pflegekind sollte es als Decke haben. Sie hieß ja auch Barbara Maria Eis, und etwas vom Geheimnis dieses Ortes war auch um sie. Man würde sie aber kurz Barb rufen. Regina war es ganz sonderbar zumute. Sie war froh und ein tiefer, innerer Friede erfüllte sie. Was sie heute gelobt hatte, war eine gute Tat, eine von der richtigen Sorte, das fühlte sie. Und jede wirklich gute Tat birgt ihren Lohn in sich, wenn es die Menschen auch nicht immer einsehen wollen. Es war ein schöner, milder Abend. In den letzten Strahlen der Sonne fuhren sie heim. *
Die Nachforschungen nach der Herkunft des kleinen Findlings waren erfolglos geblieben. Das kleine Mädchen wurde nun den Eheleuten Kranwitt in aller Form als Pflegekind zugesprochen und auf den Namen Barbara Maria Eis getauft. Viele Neugierige kamen, um das kleine, merkwürdige Wesen zu sehen. Es war inzwischen gewachsen und gediehen, aber mit seinem feuerroten Haarbüschel und dem komischen Clowngesicht noch genau so häßlich wie zuvor. Nach einigen Monaten wurde es Regina zur Gewißheit, daß sie selbst ein Kind haben würde. Es erfüllte sie mit tiefem innerem Glück, wenn sie auch äußerlich nichts davon merken ließ und es zunächst verschwieg. Um so mehr Aufhebens machten die Leute im Dorf davon, als es sich dann herumsprach. War es nicht auch höchst sonderbar? Jetzt, nach so vielen Jahren, sollte die 59
Regina doch noch ein Kind haben, und gerade als sie ein Pflegekind angenommen hatte! Es mußte eben doch etwas dran sein an Maria im Eis! Mathis hörte sich diese Reden zwar mit einem überlegenen Lächeln an, denn er hatte immer gemeint, diese Geschichten über Maria im Eis wären nichts als ein Weiberglaube, aber ein bißchen unsicher wurde er nun doch. Zwar war Regina ja schon früher dort gewesen, und hatte es da genützt? Nicht die Spur! Sollte es vielleicht etwas damit zu tun haben, daß sie nun das zunächst unwillkommene Findelkind aufgenommen hatten? Sein Kopf, an solche Gedankengänge nicht gewöhnt, konnte das nicht verarbeiten. Und man soll auch nichts verschreien. Noch war das Kind nicht da. Wenn nur alles gut ging! In seiner etwas rauhen und unbeholfenen Art war er besorgt darum, daß sich Regina nur ja keinen Schaden tat. Aber sie lachte ihn aus. „Geh, ich bin doch keine Porzellanpuppe, ich bin pumperlgesund." Es stimmte. Sie sah so gut aus wie seit langem nicht und fühlte keinerlei Beschwerden. „Was wirst aber sagen, wenn's kein Bub, sondern ein Mädel wird?" fragte Regina. „Dann schmeiß' ich's auch nicht an die Wand", gab er gutgelaunt zurück. „Und überhaupt, ich hab' doch die Mädeln gern. Dann suchen wir uns eben einen tüchtigen Schwiegersohn." „Na alsdann, nachher ist's schon recht", sagte sie und lachte. Sie lachte jetzt oft, sie konnte gar nicht anders, weil sie so voll froher Erwartung war. 60
Es war wirklich ein Mädchen, und Frau Höcherl behauptete, daß sie so ein Staatsmädel schon lange nicht zur Welt gebracht hätte. „Da kannst du stolz drauf sein; ich sag's, wie's ist", meinte sie, zum Vater gewandt, „auch wenn's nur ein Madel ist." Sie schielte ihn unsicher an. War er sehr enttäuscht, daß es kein Bub geworden war? Wenn er es war, so zeigte er es jedenfalls nicht. Er schien froh und stolz, jetzt überhaupt ein Kind zu haben, noch dazu ein so gesundes und kräftiges. Zungengewandt fuhr die Höcherl fort: „Jetzt, wo's angefangen hat, deine Bäuerin, werden schon noch mehr kommen. Ja, zehn kann die noch kriegen. Leicht; ich sag's, wie's ist." Das Mädchen war dunkelhaarig, wurde nach der Großmutter Anastasia getauft und Stasi gerufen. Als Stasi auf die Welt kam, war die kleine Barb gerade elf Monate alt. Ein und ein halbes Jahr darauf wurde der Stammhalter geboren, ein blonder Junge, den sie Florian nannten. Und wieder nach zwei Jahren kam noch ein kleines Mädchen an, das sie Walburga tauften und Burgl riefen. Sehr bald mußte Barb helfen, die kleineren Kinder zu betreuen. Sie war groß für ihr Alter, mit feinem Knochenbau, aber sehr mager. Dabei aber quicklebendig und von rascher Auffassungsgabe. Mit der sehr viel kräftigeren, aber langsamen Stasi gab es manches Scharmützel. Einmal wurden sie bei einer Rauferei handgreiflich. Durch einen etwas kräftigen Nasenstüber bekam Stasi Nasenbluten und lief heulend zum Vater, dessen Liebling sie war. Das verstand sie schon recht gut auszunutzen. 61
Mathis kümmerte sich sonst überhaupt nicht um Barb. Aber als nun Stasi mit ihrer blutenden Nase ankam und wild schluchzend von Barbs Schlechtigkeit berichtete, packte ihn der Zorn. Dies um so mehr, als das Kind zwar leichenblaß, aber trotzig dastand und kein Wort der Verteidigung äußerte. „Dir werd' ich's zeigen, du Malefizdirndl, du miserab-iges", schrie er und holte die Rute. Stasi grinste hämisch, während der kleine Flori heulte. Er war ein stilles Kind, und mit ihm vertrug sich Barb am besten. Dem Pflegevater ging sie aber in Zukunft aus dem Wege und erreichte eine große Geschicklichkeit darin, sich unsichtbar zu machen, wenn er sich nahte. Doch alles ging einigermaßen gut, bis Barb in die Dorfschule kam. Da wurde sie wegen ihrer feuerroten Haare, ihrer vielen Sommersprossen und der dünnen Beine besonders von den Buben arg gehänselt. „Rothaariger Bankert", schrien sie ihr nach und „grausliche rote Hex". Ihr ärgster Peiniger war der Alois Schneithuber vom Unterbräu, ein roher, zehnjähriger Bengel, der sie auf alle Weise quälte. Dabei war sie die beste Schülerin, lernte alles spielend leicht; doch daß der Lehrer, der gute Herr Zierlein, sie den andern als Vorbild hinstellte, trug nicht dazu bei, sie beliebter zu machen. Stasi stimmte schadenfroh in diese allgemeine Hetze ein, froh, der ihr in vielen Dingen überlegenen Pflegeschwester eins auswischen zu können. Die Mutter hätte dies freilich nicht wissen dürfen, und sie erfuhr es auch nicht, denn Barb klatschte nicht. Sie litt heimlich unter diesem Gefühl des Ausgestoßenseins. Manchmal wurde es 62
ihr zuviel, da fuhr sie wie eine Wildkatze auf ihre Quälgeister los, kratzte und biß wie rasend um sich. Sie war auf dem besten Wege, böse und verstockt zu werden. *
Eines Tages gab es eine Sensation in dem sonst nicht eben lebhaften Dorf. Eine Filmgesellschaft war zu Aufnahmen hergekommen. Sie wohnten in den beiden Gasthöfen von Hellesried und wurden von den Einheimischen bestaunt wie Wesen von einem andern Stern. „Wie man sich nur grad so anschmieren kann", meinte die dürre Leishoferin mißgünstig, „und wie der ihr Blusen ausgeschnitten ist, so ein ausgeschämtes Frauenzimmer, ein ganz verdächtiges." Damit meinte sie den Star, die schöne, vielbewunderte Erika Glonn. Barb lauerte gleich den andern Dorfkindern vor den Gasthöfen, um möglichst viel von dieser fremdartigen Welt zu sehen. Sie bewunderte Erika Glonn über die Maßen. Noch nie hatte sie so eine hübsche Dame gesehen. Wie ihr Haar golden in der Sonne glänzte, was für schneeweiße Zähne sie hatte, ach, sie war überhaupt wunderbar! Ein großer, breitschultriger Herr kam heute mit ihr aus dem Gasthof. „Das ist der Regisseur, der Fritz Tönning", sagte der Wirt von der „Post". Barb wußte natürlich nicht, was ein Regisseur war, aber er schien ein wichtiger Mann zu sein, das merkte man. Sein Blick flog kurz und scharf in die Runde und blieb dann plötzlich an Barb hängen. 63
„Erika!" rief er aus, „sieh dir die dort an, ja, das kleine Scheusal, mit den vielen Sommersprossen und den abstehenden feuerroten Zöpfchen. Die ist ja erschütternd komisch. Wir müssen sehen, die mit ins Bild zu bekommen." Barb hatte kaum ein Wort verstanden, denn der Herr sprach sehr schnell und in einem Deutsch, das ihr fremd war, und als er rief: „He, Kleine, komm doch mal her!" blieb sie stocksteif stehen. Da ging Tönning auf sie zu und beugte sich zu ihr nieder. „Wie heißt du denn, Kleine?" „Barb", sagte sie, „Barbara Maria Eis." „Nun sieh mal an, das ist aber ein hübscher Name." Erika Glonn lächelte ihr freundlich zu und da lächelte Barb unwillkürlich zurück. „Donnerwetter!" rief Tönning, „Zahnlücken hat sie auch, das kleine Scheusal! Die ist ja wirklich umwerfend komisch. Nun höre mal, Kleine, möchtest du nicht gern filmen? Warst du schon mal im Kino?" Barb schüttelte den Kopf und sah ihn böse an. Sie verstand ihn nun besser, da er direkt zu ihr und langsamer sprach. Der hatte sich gar nicht über ihre Zahnlücken lustig zu machen. „Guck bloß, Erika, wie sie aussieht", rief Tönning. „Wenn wir ihre drolligen Zöpfchen noch ein bißchen steifer und abstehender machen und die Sommersprossen ein bißchen dunkler, kann sie eine herrliche Type abgeben für die Volksszenen vor dem Brunnen. Hör mal, Kleine! Möchtest du fünf Mark verdienen? Du brauchst gar nichts zu tun, nur ein bißchen zu grinsen, so wie vorhin. Das 64
geht ganz schnell, und denk mal, was du dir alles für fünf Mark kaufen kannst." Aber Barb war nun wütend. Sie wußte selbst, daß sie häßlich war, das brauchte ihr dieser hergelaufene Mensch nicht noch extra zu sagen. „Schau, daß du weiterkommst, du spinneter Uhu!" rief sie schrill, „glaubst, ich mach' dir einen Kasperl?" Sie streckte ihm die Zunge heraus, so lang es ging, und in diesem Augenblick kam Regina, die beim Krämer gewesen war, sozusagen mit vollen Segeln aufgekreuzt. Sie hatte den letzten Teil des Gespräches mit angehört. „Lassen Sie sofort das Mädel in Ruh!" rief sie Tönning böse zu, „was fällt Ihnen denn ein?" Sie nahm das nun heulende Kind, wischte ihm die Tränen ab, ergriff es bei der Hand und wandte sich schroff zum Gehen. „So eine Unverschämtheit!" rief sie noch dem verdutzten Tönning zu. Da kam ihr Erika Glonn nachgelaufen. „Bitte seien Sie nicht böse, Herr Tönning hätte natürlich nicht so reden dürfen, er hat wohl geglaubt, die Kleine versteht ihn nicht. Aber trotzdem —", Erika lächelte Regina so gewinnend an, daß diese unwillkürlich ein wenig den Schritt verhielt. „Ist es Ihr Töchterchen?" „Nein, bloß mein Pflegekind, aber auslachen lass' ich sie deshalb doch nicht." „Da haben Sie auch vollkommen recht." Erika beugte sich zu Barb herunter und strich ihr über die Haare. „Weißt du, Barb, das ist nämlich alles gar nicht wahr, was der dumme, dicke Mann gesagt habe. Du bist gar 5 Findelkind vom Kranwitthof
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nicht so häßlich. Du hast ein sehr hübsches Näschen und hübsche Augen, und deine Haare sind wundervoll." Wollte das schöne Fräulein sie verhöhnen? Barb blickte Erika Glonn mißtrauisch an. Nein, sie lächelte gut und freundlich, es war eine nette Dame. „Doch ja, wirklich, Barb, du bist bloß jetzt in einem ungünstigen Alter. Aber es ist ja ganz gleich, wie du jetzt aussiehst, später wirst du einmal sehr hübsch sein. Kannst es mir schon glauben, ich verstehe mich darauf." Das glaubte Barb zwar nicht, aber daß die schöne Dame es gut mit ihr meinte, das fühlte sie, und sie sah sie mit so tiefer Dankbarkeit an, daß die gutmütige Erika ganz gerührt davon wurde. „Ich habe selber so ein kleines Mädchen zu Hause", sagte sie zu Regina. „Darf ich Barb das geben?" Sie holte eine Tafel Schokolade aus ihrer Handtasche und überreichte sie dem strahlenden Kind. Dann beugte sie sich nieder, gab Barb einen Kuß und ging ihres Weges. „Hoffentlich habe ich deine Taktlosigkeit, gelinde gesagt, wieder etwas gutgemacht", sagte sie zu Tönning. „Ein Gemüt hast du wie ein Fleischerhund." Tönning sah so schuldbewußt aus wie ein Schuljunge mit einem schlechten Gewissen. „Himmel, ich wollte doch das kleine Wurm nicht kränken. Ist mir halt so im Eifer des Gefechtes herausgerutscht, du weißt doch, wie impulsiv ich bin. Hm, was machen wir denn da? Weißt du was, ich werde ihr ein süßes Päckchen schicken, als Pflaster auf die Wunde." Er ging zum Krämer, erfuhr dort die Adresse und ließ eine große Bonbonniere in den Kranwitthof senden. 66
Dazu schrieb er einen Brief: Liebe kleine Barb, sei mir nicht böse, ich wollte Dich wirklich nicht kränken. Und wenn Du jetzt ein bißchen komisch aussiehst, das macht gar nichts. Da hättest Du mich als Junge sehen sollen, was für ein spindeldürres Gestell ich war. „Storch im Salat" haben mir die Schulkinder nachgerufen, und ich bin dann doch ein schöner, dicker Mann geworden, nicht wahr? Und Du wirst auch ein hübsches Mädchen sein, wenn Du erst groß bist, und ich wette, daß Du Dich dann gern von mir filmen lassen wirst. Es grüßt Dich herzlich Dein Fritz Tonning. Erika Glonn sendet dir einen Kuß. Dieser Brief und die große, sehr teure Bonbonniere erfüllten Barb mit nicht geringem Stolz. Großmütig gab sie der neidisch dreinblickenden Stasi auch etwas von dem süßen Segen ab. Barb vergaß dieses kleine Erlebnis nie. Und den Brief, den ersten ihres Lebens, hob sie sorgfältig in der schönen bunten Pralinenschachtel auf. Und noch etwas erfüllte sie mit Genugtuung. Zwar hatte Regina gesagt, sie ist n u r mein Pflegekind, aber sie war doch für Barb eingetreten. "Wie schön müßte es erst sein, wenn sie Reginas wirkliches Kind wäre, dachte sie sehnsuchtsvoll beim Einschlafen. *
Es kam der Krieg. Alois Schneithuber, der schlimmste Lausbub von Helles5*
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ried, war nun, da sein Vater hatte einrücken müssen, noch rüpelhafter als zuvor. Beim Indianerspielen band er mit Vorliebe Barb an den Marterpfahl und ersparte ihr keine Quälerei und keine Demütigung. Die andern stimmten teils feige, teils roh in sein Hohngelächter ein. Der gute alte Lehrer Zierlein war machtlos gegen diesen brutalen Flegel, und der Pfarrer hatte bereits Regina geraten, Barb in eine andere Schule zu schicken, weil sie sonst noch bösartig würde. Es war kein Wunder, daß Barb auf Rache sann, als Alois sie einmal besonders infam quälte. Sie ergriff plötzlich einen größeren Stein und schleuderte ihn ihrem Peiniger mit voller Wucht an den Kopf. Der Stein traf ihn so unglücklich, daß er nicht nur eine stark blutende Stirnwunde, sondern auch eine Ohnmacht davontrug. Da gab es einen großen Aufruhr. Barb rannte davon und versteckte sich im Pferdestall, wo sie sich immer gern aufhielt. Die Pferde waren ihre Freunde, sie liebte sie. Aber dann kam die Mutter des Alois, die dicke Wirtin vom Unterbräu, wutschnaubend auf den Kranwitthof gerannt. „Da hast dir ja einen schönen Satansbraten ins Haus getan", schrie sie Regina zu. „So einen Trumm Stein auf meinen Buben zu schmeißen — er könnt' ja tot sein — das ist ja eine ganz gefährliche Hex — wer weiß, was für einen Verbrecher die zum Vater hat. Aber man braucht sie ja bloß anzuschauen, die Schlechtigkeit steht ihr ja im Gesicht geschrieben und schlagt oben beim Kopf heraus mit die feuerroten Haar. Der reinste Teufel." 68
„So, jetzt bist aber stad", sagte Regina scharf, und wenn sie wollte, konnte sie außerordentlich scharf sein. „Ich weiß vom Lehrer, wie die Buben die Barb geschunden und gequält haben, und dein Alois war der allerschlimmste. Jawohl, und es geschieht ihm schon ganz recht, dem Rohling; ist doch eine Gemeinheit, so über ein armes Mädel herzufallen, das ihm nix getan hat. Dem sein Kopf halt schon was aus, der ist aus Eisen. Wär' aber schon besser, wenn ein bisserl was anderes drin wäre als bloß Roheit und Freud am Quälen." „Jetzt so was! Ja wie redst du denn daher?" schrie die dicke Wirtin empört, „nimmt die das Lausdirndl, das ganz schlechte, auch noch in Schutz! Ja glaubst denn du, ich lass' mir das gefallen, daß die rothaarige Wildkatz' meinen Buben mit Steiner blutig schmeißt?" „Da brauchst dir gar nicht den Kopf zerbrechen. Dein Lausbub wird gar keine Gelegenheit mehr haben, die Barb zu quälen. Weil ich nämlich das Mädel von der Schul' nehm' und nach Selbing in die Klosterschul' schick'." „So? Ah, da schau her!" sagte die Wirtin verblüfft. Das hatte ihr den Wind aus den Segeln genommen. „Gibst's ja sehr nobel mit dem hergelaufenen Bankert. Na, die werden eine Freud haben, die Schwestern, wennst ihnen so ein Lausdirndl bringst." Ohne Gruß rannte sie davon, mit dem unklaren Gefühl, nicht besonders gut abgeschnitten zu haben.
Auch Mathis hatte nun einrücken müssen, allerdings nicht an die Front. Regina führte nun den Hof, zusam69
men mit dem Großknecht Sepp, der schon lange bei den Kranwitters war. Sie konnte also alle Entschlüsse ganz selbständig fassen; übrigens hatte sich Mathis ohnehin nie um Barb gekümmert. Regina seufzte ein bißchen. Manchmal war es schon wirklich ein rechtes Kreuz mit dieser Barb. Sie paßte nicht recht zu den Kranwitts, und es würde nie eine richtige Bäuerin aus ihr werden. Sie taugte nicht gut zur Landarbeit, wenn sie auch die ihr übertragenen Arbeiten willig genug ausführte. Arbeiten mußten alle Kinder Reginas von klein auf, je nach Vermögen; das kannte sie gar nicht anders. Aber Barb war eben aus anderem Holz geschnitzt. Da sie einen hellen Kopf hatte, mußte man sie wohl etwas lernen lassen und auf einen anderen Beruf als den bäuerlichen vorbereiten. Daß sie mit Steinen warf, konnte man ihr natürlich nicht durchgehen lassen. Aber Regina versuchte gerecht zu sein. Barb kam mit einer strengen Ermahnung davon, als sie leichenblaß und zitternd vor Regina stand. Sie sah so erbärmlich aus. Regina war es nicht gewöhnt, bei Tisch aufzupassen, was jeder aß, das war nicht nötig. Sie hatten alle einen gesegneten Appetit. Aber bei Barb achtete sie nun darauf. „So iß halt", redete sie ihr zu. „Es ist ja eine Schand', wie dürr du bist. Die Leut' müssen rein glauben, du kriegst nicht genug bei uns zu essen." Aber Barb aß gar nicht so wenig, es schlug nur nicht recht bei ihr an. Sie wuchs nur in die Länge und war viel größer als ihre Altersgenossinnen. Sie war sehr erleichtert, daß sie nicht mehr in die Dorfschule gehen mußte. Nun standen die großen Ferien bevor 70
und im Herbst sollte sie dann in der Klosterschule beginnen. Aus Dankbarkeit arbeitete sie bei der Ernte so fleißig, wie sie es nur vermochte. Es gab für alle mehr zu tun, seit die jüngeren Knechte im Krieg waren. Am liebsten beschäftigte sich Barb in dem schönen Ziergarten, für den allerdings nur am Abend Zeit blieb. Regina sah es mit heimlicher Freude. Keines von den Ihren hatte so viel Liebe und Verständnis dafür wie Barb.
Im Herbst fuhr Barb jeden Tag mit dem Zug nach Selbing in die Schule und kam sich recht wichtig dabei vor. Sie lernte mit großem Eifer und versuchte auch, sich eine feinere Redeweise anzueignen. „Die hör an", spottete Stasi, „wie die angibt. Glaubst wohl, du bist was Feineres, wenn du in die Klosterschul' gehst, du blöde Gans." Stasi haßte es, sich irgendwie geistig anzustrengen und ihrer Meinung nach völlig überflüssiges Zeug zu lernen. Trotzdem gönnte sie Barb die höhere Schule nicht. „Es braucht ja nicht jeder so geschert zu sein wie du", gab Barb ihr heraus. „So? Ich wär' nachher geschert? Tu dich fein ein bisserl halten, hast gehört? Ich glaub' gar, die spinnete Amsel bildet sich wirklich ein, was Besseres zu sein." „Kann leicht sein, daß ich wirklich was Besseres bin. Das hat man an meinen Sachen gesehn. Die Zenzi sagt, 71
ich hab' eine schöne Ausstattung gehabt und ein goldenes Kreuz hab' ich auch mitbekommen." „Du mit deinem goldenen Kreuz, daß ich nicht lach'. Und überhaupt zahlt ja meine Mutter deine Schul', sonst " „Ach, die könnt' ich mir schon auch selber zahlen. Ich hab' doch Geld beim Notar in München." In diesem Augenblick trat Regina ein. „Daß ihr zwei euch immer streiten müßt", rief sie unmutig, denn sie hatte den Kopf wahrhaftig voll ernsterer Sorgen. Stasi zog den Kopf ein, sie hatte ein schlechtes Gewissen. Die Mutter wußte sehr gut, daß die Stasi es war, die das Sticheln nicht lassen konnte. Aber Barb sah Regina unerschrocken an. „Es ist doch wahr, Mutter, ich könnte mir ganz gut mein Schulgeld selber zahlen, von dem Geld in München." „Also das bestimme schon ich, wie's gemacht wird", sagte Regina scharf, „merkt's euch, alle beide. Schaut lieber, daß ihr an die Arbeit kommt." *
Im Hollerhof war die Zwetschgenernte eingebracht worden. Sie mußte zum Teil verschickt werden, zum Teil wurde sie eingekocht. Da man Zucker sparen mußte, wurde in dem großen Waschkessel dickes Pflaumenmus bereitet, das mußte stundenlang gerührt werden und verursachte viel Arbeit. Am Abend saß Regina todmüde ein kleines Weilchen in ihrem Blumengarten. Stasi steckte bei den jüngeren Mägden und hielt mit ihnen einen Klatsch über den neuesten 72
Dorfskandal ab. Die kleine Burgl saß neben Regina und schalt mit ihrer Puppe, die offenbar unartig gewesen war. Flori schlenderte in Gedanken versunken zwischen den Blumenbeeten herum, an denen Barb mit Ausschneiden und Aufheften beschäftigt war. „Darf ich morgen einen Strauß mit in die Schule nehmen?" fragte sie Regina. „Meinetwegen", kam es müde zurück. Aber als Barbara dann den Strauß zeigte, der aus lauter Herbstblumen in herrlichen, glühenden Farben bestand, nickte sie anerkennend. „Wird die Oberin freuen. Sagst einen Gruß von mir." „Ja, Mutter. Sie hat neulich gesagt, es ist schade, daß du so selten zu ihr kommst." Regina lächelte bitter. „Da hätte ich jetzt gerade Zeit dazu. Übrigens, weil ich gerad dran denk', kannst dein goldenes Kreuz jetzt am Sonntag in die Kirch' tragen. Aber daß du fein gut drauf aufpaßt." Barb wurde rot vor Freude. „Oh, da pass' ich schon sehr gut drauf auf, Mutter." Dieses goldene Kreuz war für sie ein Heiligtum, denn es stammte ja sicher von ihrer unbekannten Mutter. Ob sie wohl wirklich tot war? Barb hatte oft darüber nachgegrübelt, besonders wenn sie sich unglücklich und verlassen fühlte. Sie ging zu Zenzi auf die Kammer. Die hielt sich von dem Getratsch der jungen Mägde fern. Und Zenzi mußte ihr wohl zum zwanzigsten Male alles haargenau beschreiben, wie es damals zugegangen war, als man sie im Kuhstall gefunden hatte. „Ja, im Stall", bestätigte sie nochmals, „grad wie das liebe Jesuskind. Ausgeschaut hast freilich ein bisserl an73
ders!" Zenzi lachte gutmütig. „Aber das macht nix. Ja, ich glaub' dir's schon, Dirndl, daß du manchmal darüber spintisierst. War schon eine merkwürdige Geschichte." „Vielleicht kommt doch noch einmal jemand und holt mich ab?" „Ja ja, vielleicht. Aber wer weiß, ob es gut wär'. Im Leben geht's halt nicht so zu wie in den Romanbücheln. Mußt nicht glauben, ein Graf kommt, vierspännig, in einer goldenen Kutsche und holt dich ab." „Geh, Zenzi, du spinnst ja. Glaubst du denn, ich bin so blöd und glaub' an solchen Schmarrn? Nein, aber wissen möcht' ich schon, wo ich hergekommen bin." „Ja, das versteh' ich schon", sagte die Zenzi und gähnte. „Aber weißt, jetzt bin ich müd und leg' mich schlafen." Es war, alles in allem, trotz Krieg, vermehrter Arbeit und allerlei Einschränkungen, keine schlechte Zeit auf dem Kranwitthof, denn auch Stasi war ja durchaus nicht immer unleidlich. Das wurde anders, als Mathis heimkehrte. Er hatte die Gelbsucht bekommen, seine Leber war angegriffen und so hatte man ihn entlassen. Gelb, abgemagert und in übelster Laune kehrte er heim. Und statt ein Wort der Anerkennung für Regina zu finden, die ein Übermaß an Arbeit geleistet hatte, ging er nur und nörgelte an allem herum. Es war schwer zu ertragen für Regina, aber sie schob es auf seinen offensichtlich noch leidenden Zustand. Er mußte zunächst einmal aufgefuttert werden, dabei aber eine bestimmte Diät halten. Das paßte ihm gar nicht und er ließ seine schlechte Laune an seiner Familie aus. Und seine Begrüßung für Barb lautete: 74
„Bist auch noch da, feuerroter Teufel? Alleweil noch so schiech und dürr wie ein Haselstecken." Aber auch sonst mißfiel ihm alles. Regina sah durch die viele Arbeit abgerackert aus und zu alt für ihre Jahre. „Schöner bist auch nicht geworden", sagte er grob zu ihr, „nix als Knochen mit Haut drüber." Da hatte er als Landser ganz andere Frauen gesehen, üppige und lustige, mit denen ein Mann etwas Spaß haben konnte. Die kleine Burgl war ein hübsches Kind, ging ihm aber durch ihre zu große Lebhaftigkeit auf die Nerven. Flori war ihm zu still, gar kein richtiger Bub. Am ehesten ließ er noch Stasi gelten, die ihm nach dem Mund redete und ihm schmeichelte. Er nahm natürlich die Arbeit auf dem Hof wieder auf, so weit hatte er sich nicht aus seinem früheren Leben entfernt. Aber er tat alles gewissermaßen unlustig und oft war er unterwegs, in München oder an anderen Orten, in Geschäften, wie er sagte. Aber die Fahne, die er mit heimbrachte, verriet, daß es sich um sehr feuchtfröhliche Geschäfte gehandelt haben mußte. Dann kam er streitsüchtig heim und seine Leute hatten nichts zu lachen. Kein Wunder, daß auch Regina, überarbeitet wie sie war, oft ungeduldig, scharf und hart wurde. Es herrschte ein unguter Geist auf dem Kranwitthof und alle litten darunter. Am meisten wohl Barb, die sich seit der Heimkehr des Bauern wieder als ein unerwünschter Eindringling vorkam. Sie war immer erleichtert, wenn sie in den Frieden der Schule untertauchen konnte. Es gab da ein Mädchen, etwas älter als sie, dessen Schicksal dem ihren insofern glich, als es auch seine Eltern 75
nie gekannt hatte. Sie war im Waisenhaus aufgewachsen, das war ihr Zuhause und sie liebte es. „Ich werde selber Schwester, wenn ich groß bin", vertraute sie Barb an. „Was soll ich draußen in der Welt? Du mußt nicht denken, daß ich die nicht kenne. Ich bin in den großen Ferien schon an der See und in der Schweiz und in Schweden gewesen, durch wohltätige Verbände, weißt du, und es war ja auch recht schön, aber hier bin ich eben doch lieber. Ich werde mein Lehrerinnenexamen machen und dann hier eintreten. Die Frau Oberin will freilich, daß ich es erst draußen in der Welt versuche; sie sagt, so etwas muß man sich reiflich überlegen und nur wenige haben die Berufung. Ich werde natürlich tun, was sie sagt, aber ich weiß schon jetzt, daß ich hierher zurückkomme." Barb seufzte ein bißchen. „Eigentlich hast du es gut, du hast den richtigen Platz, wo du hingehörst. Dagegen ich . . ." „Liegt doch nur an dir. Das kannst du ja auch haben." Aber Barb schüttelte den Kopf. Nein, das war nichts für sie. Sie gehörte nicht hierher. Aber wo gehörte sie denn überhaupt hin? Als sie sich das einmal so recht überlegte und dies an einem Tag, als es auf dem Kranwitthof besonders unfreundlich zugegangen war — Regina hatte sie wegen einer Vergeßlichkeit böse und auch ungerecht angefahren —, schlich sie sich in die Kapelle des Klosters und glaubte sich dort allein. Da machte sie ihrem bedrückten Herzen in einem Tränenstrom Luft. Nach einer Zeit nahten Schritte, es war die Oberin. Sie 76
nahm das verstörte Kind sanft, aber fest bei der Hand und führte es mit sich fort. Und dann bekam Regina einen Brief der Oberin, mit der Bitte, sie doch möglichst bald einmal aufzusuchen. Was kann sie nur wollen? dachte Regina verwundert. Aber die Oberin äußerte so einen Wunsch sicher nicht ohne guten Grund. Also fuhr Regina am nächsten Morgen gemeinsam mit Barb nach Selbing und wurde von der Oberin empfangen. Diese hatte inzwischen einige Runen mehr in ihr charaktervolles Gesicht bekommen, aber es war zugleich noch milder und gütiger geworden. Die Jahre hatten es gereift, so wie es mit den edlen Weinen ihrer Heimat geschieht. Sie erschrak, als sie Regina erblickte, die Bäuerin sah noch hagerer und geradezu krank aus. „Ich glaube, du rackerst dich wieder etwas zu viel ab, Regina, du siehst nicht gut aus, du solltest dich mehr schonen." Regina lachte kurz auf. „Das ist unmöglich, Frau Oberin, bei der vielen Arbeit. Aber mir geht's übrigens ganz gut, mir fehlt nichts." Das schwindelst du, dachte die Oberin im stillen; aber sie wußte natürlich, wie schwer es die Frauen in dieser Zeit hatten, und Regina, mit ihrem strengen Pflichtbewußtsein, war gewiß keine, die sich vor irgendeiner Schwierigkeit drückte. „Also, Regina, kommen wir zur Sache, es handelt sich um Barb." „So? H a t sie am Ende was angestellt? Das fehlte gerade noch, ich hab' schon Ärger genug mit ihr gehabt." 77
„Wirklich, Regina? Nun, hier ist sie brav, eine sehr gute Schülern, das siehst du ja an den Zeugnissen. Wir sind auch sonst mit ihr zufrieden. Aber das Kind ist unglücklich." Die Oberin berichtete kurz von der Szene in der Kapelle. „Ich habe sie nicht leicht zum Reden gebracht; Barb ist scheu und auch stolz, sie ist es wohl gewöhnt, vieles, was sie bewegt, in sich zu verschließen. Aber schließlich ist es doch herausgekommen. Sie fühlt sich ausgestoßen, meint, daß kein Mensch sie mag — — —" „Jetzt so was!" fiel Regina entrüstet ein, „so eine Undankbarkeit! Hat sie es vielleicht nicht gut gehabt bei uns? Hat sie Hunger und Durst oder sonst eine Not gelitten? Sie hat immer dasselbe bekommen wie meine eigenen Kinder, an Essen und an Kleidern." „Der Mensch lebt nicht von Brot allein, Regina", sagte die Oberin mit sanftem Nachdruck. „Ein Kind braucht auch Liebe, oder zumindest etwas Güte." Regina ertrug nur schlecht einen Tadel, auch wenn er noch so vorsichtig gegeben wurde. „Ach was", sagte sie unwillig, „ich halt nichts vom Verzärteln. Auch bei meinen eigenen Kindern nicht." „Aber deine eigenen Kinder wissen doch, daß du sie liebst, das fühlen Kinder. Sie wissen, sie haben ein Recht auf dich, sind bei dir geborgen. Nun ja, Liebe läßt sich nicht erzwingen; glaube nicht, daß ich dir daraus einen Vorwurf mache." „Ich habe versucht, gerecht zu sein, Frau Oberin." „Sicher. Das glaube ich dir, Regina. Aber Barb ist jetzt in dem Alter, wo sie mal ein freundliches Wort, eine kleine Ermunterung braucht." Die grauen Röntgenaugen der 78
Oberin sahen Regina bis auf den Grund der Seele. Es wurde Regina unbehaglich. „Kann schon sein", meinte sie stockend, „daß ich in der letzten Zeit extra grantig war. Die viele Arbeit halt — und — ja, es ist eben nicht alles wie's sein sollte. Da geht mir schon manchmal der Gaul durch." Die Oberin wußte, welch großes Zugeständnis dies für Regina war. Sie wußte auch, daß es Konsequenzen haben würde. „Wie gesagt, liebe Regina, ich mache dir nicht etwa einen Vorwurf. Du hast gelobt, dieses Kind anzunehmen, dein Gelöbnis hat dir auch sichtbaren Segen gebracht, nicht wahr? Und du bist so ein braver Mensch, Regina, daß du dieses Gelöbnis so gut wie möglich halten möchtest, davon bin ich überzeugt. Nun also. — Das Kind sieht elend aus, das hast du sicher auch schon bemerkt." „Ja, und es ist mir schon recht arg, Frau Oberin. Ich sag' ihr immer, sie soll nur essen, essen." „Vielleicht ist ihr die Arbeit auf dem Hof manchmal zu anstrengend?" „Sie braucht nicht mehr zu arbeiten wie meine eigenen Kinder." „Ja, aber die sind viel robuster." Regina schwieg. Die Oberin hatte wieder einmal recht. „Vor lauter Arbeit denkt man halt nicht immer an so was." Die Oberin nickte und lenkte dann gewandt auf andere Dinge über. Barb bekam für den Rest des Vormittags frei. Regina fuhr mit ihr nach Schweigenreuth, um wieder einmal ihre 79
Familie zu besuchen. Zwei Törwingsöhne waren im Feld und es ging nicht ganz so heiter zu wie sonst auf dem Törwinghof, aber es herrschte doch eine gute, freundliche Atmosphäre. In Schweigenreuth gab es ein Kino und da wurde — o Wunder — gerade ein Film mit Erika Glonn gezeigt. Barbara deutete aufgeregt auf das Plakat. „Schau, Mutter, das ist die schöne Dame, weißt schon, die mir damals die Schokolade geschenkt hat und die so nett war." „Wohl, wohl. Na, ich seh' schon, du möchtest gern hinein. Also gut, sehn wir's uns halt an." Barb glaubte nicht recht zu hören. Was war denn nur über Regina gekommen? Überglücklich saß Barb im Kino. Nur einmal zuvor hatte sie einen Film gesehen, da hatte Peter Törwing sie mitgenommen. In ihrer Freude ergriff sie Reginas Arm und drückte ihn. Und siehe da, Reginas Hand strich ihr mit einer guten, mütterlichen Gebärde über die Haare. Es war übrigens ein guter Film, heiter, aber nicht dumm, auch Regina mußte das zugeben. Sie lebte förmlich ein bißchen auf. Es tat gut, einmal aus der Tretmühle herauszukommen. Die alte Theres Törwing redete der Tochter zu, sich doch öfters eine Ausspannung zu gönnen. Aber Regina war, wie sie war. So bald würde sich das wohl nicht wiederholen. Aber eines nahm sie sich fest vor: Bald nach Maria im Eis zu fahren. Allzu lange war sie schon nicht dort gewesen, und als die Oberin heute davon gesprochen hatte, daß das damalige Gelöbnis ihr Segen gebracht, war es ihr schwer auf die Seele gefallen. 80
„Im Frühjahr, wenn's Wetter besser ist, fahr' ich einmal mit dir nach Maria im Eis", sagte sie zu Barb auf der Heimfahrt. „O ja, Mutter!" Barb strahlte. Hörten heute die Wunder gar nicht auf? „Ich möcht' nur wissen und ich werd' auch oft danach gefragt, warum ich eigentlich Barbara Maria Eis heiße." „Ja, das möchte ich auch wissen." „Ich denke immer, daß ich's vielleicht doch noch einmal erfahre..." „Möchtest vielleicht, daß jemand kommt und dich holt?" „Oh — ich weiß nicht —", sagte Barb etwas verlegen. Aber Regina wußte plötzlich, daß sie das nicht gern möchte. Nein, sie wollte dieses arme, aus dem Nest gefallene Vögelchen unter ihren Fittichen behalten. Es schien fast so, als ob sie dieses kleine, magere, rothaarige Ding unversehens doch recht liebgewonnen hätte. *
Natürlich waren auch nach Hellesried schon Evakuierte gekommen, Menschen aus den zerbombten Städten, die ihr Heim verloren hatten. Mathis Kranwitt hatte sich bisher mit Händen und Füßen gegen eine solche Einquartierung gesträubt, aber im Herbst vierundvierzig half es ihm nichts, er mußte eine Dame aus Hamburg mit ihrem Sohn bei sich aufnehmen. Frau Engelke Brokenhorst hatte lange standgehalten, aber als auch ihr Haus in den Flammen aufging, war sie in Panik nach dem Süden geflohen, möglichst weit fort, 6 Findelkind vom Kranwitthof
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an einen abseitigen Ort, wo es keine Angriffe gab. Eine Bekannte hatte ihr Hellesried empfohlen. Engelke Brokenhorst war eine hochgewachsene, elegante Dame, die mehr nach einem mondänen Ort wie Garmisch zu passen schien, als in das bescheidene Hellesried. Ihr vierzehneinhalbjähriger Sohn Uwe sah ihr ähnlich und hatte dieselben hellblonden Haare. Abseits gelegen war Hellesried allerdings, stellte Frau Brokenhorst fest, daran war nicht zu zweifeln. Mathis war, wie jetzt so oft, „in Geschäften" unterwegs, also empfing Regina allein die Gäste. Nicht unfreundlich, aber doch mit einiger Zurückhaltung, denn diese elegante Städterin, die sehr verwöhnt aussah, flößte ihr unwillkürlich Mißtrauen ein. Sie wies Frau Brokenhorst ein größeres Zimmer im ersten Stock an und daneben eine Kammer für den Sohn. Frau Brokenhorst, die von der langen, beschwerlichen Reise erschöpft und auch sonst sehr nervös schien, mißfiel einfach alles. Die Zimmer waren ihr zu niedrig, die Fenster zu klein, die Betten zu schwer, es gab kein fließendes Wasser im Zimmer und das Bad war unten. Und würde der Ofen überhaupt richtig heizen? Wie war es mit der Bedienung? Es gab ja keine Klingel im Zimmer! Regina war schwer beleidigt. Kritik am Kranwitthof vertrug sie nicht. „Bedienung gibt es nicht", sagte sie sehr kurz, „dazu haben wir keine Zeit." „Ja, aber wie haben Sie sich denn das gedacht?" „Da haben wir uns überhaupt nichts gedacht. Wir sind gezwungen worden, die Zimmer abzugeben und wenn sie 82
Ihnen nicht passen, suchen Sie sich andere. Wir sind kein Hotel." Himmel, was für eine unfreundliche Person, dachte Frau Brokenhorst. „Für den Anfang könnten Sie mir doch wenigstens eine Ihrer Mägde zur Aufwartung überlassen", sagte sie zu Regina, die sich bereits zum Gehen wandte, „bis ich jemand gefunden habe. Ich zahle ja dafür." „Suchen Sie sich lieber gleich jemand, wenn Sie unbedingt eine Aufwartung haben müssen. So. Und ich habe jetzt keine Zeit mehr." Regina ging und machte nachdrücklich die Tür von draußen zu. Uwe war bei diesem Scharmützel nicht anwesend. Er war gleich gegangen, sich auf dem Hof „zu orientieren", wie er das nannte. Uwe war zweifellos ein netter Junge, sehr groß und kräftig für sein Alter. Er hatte ein hübsches Lächeln, das in den tiefblauen Augen begann und sich dann langsam in die Mundwinkel herunterzog. Das verlieh ihm einen großen Charme und die meisten Leute mochten ihn sogleich gern. Ihm gefiel es hier ganz gut, es war mal etwas anderes, und er gehörte außerdem zu den glücklichen Menschen, die sich überall einzurichten und aus jeder Lage das Beste zu machen verstehen. Seine Mutter erzählte ihm, wie unfreundlich die Bäuerin zu ihr gewesen war. Wie ihr überhaupt alles mißfiel, nicht zuletzt die Gegend. Sie stammte von einer der friesischen Inseln, war den weiten Blick übers Meer gewöhnt und fühlte sich hier, in diesem von Bergen eingeschlossenen Tal bedrückt, wie gefangen. „Diese unangenehme Person hat mir gesagt, wenn es 6*
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mir nicht gefällt, soll ich mir nur etwas anderes suchen. Ich denke, das werde ich auch tun. Am besten wird es sein, wenn wir gleich wieder abreisen." Uwe sah besorgt in das nervös-abgespannte Gesicht seiner Mutter und legte beruhigend einen Arm um sie. Er fühlte sich ihr gegenüber als männlicher Beschützer. „Aber, Engelke", sagte er, „du sollst dich doch nicht aufregen. Du bist erschöpft von der Reise und von all dem anderen, da sieht alles viel schlimmer aus. Wir wollen nichts übereilen. Wenn wir gegessen haben, reden wir weiter darüber. Ich habe nämlich einen Wolfshunger." Das gab Frau Brokenhorst einen Ruck. „Ach ja, Uwe, du Ärmster, natürlich mußt du hungrig sein. Also gut, gehen wir essen." „In die ,Post', sagt Uwe, „da ist es am besten. Das hat mir eine alte Magd gesagt, Zenzi heißt sie, und die ist bestimmt nicht unfreundlich, wenn ich auch vorderhand nur die Hälfte von dem verstehe, was sie sagt." Das Essen in der „Post" war tatsächlich, in Anbetracht der Zeiten, noch recht gut und reichlich, freilich für Uwes großen Appetit immer noch zu wenig. „Hat gut geschmeckt", sagte Uwe zu der Kellnerin Wally, „aber nach mehr." Wally lachte und brachte ihm eine weitere Portion Kartoffelschmarrn mit Kompott. „Na siehst du", sagte er sehr zufrieden zu seiner Mutter, „die sind gar nicht so übel." Wally bekam ein großes Trinkgeld und lachte breit. „Ich schau' schon drauf, daß ich die Herrschaften immer gut bedien'. In dem Alter von dem jungen Herrn hat man halt einen großen Appetit, gelt?"
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„Sie haben es erfaßt, Fräulein Wally", sagte Uwe und blinzelte ihr verschmitzt zu. Wally sah ihm wohlwollend nach. Uwe nahm seine Mutter beim Arm, als sie zurückgingen. „Schau, Engelke, wo sollen wir denn so rasch woanders hin? Du willst doch an einen kleinen, abgeschiedenen Ort, aber da findest du eben nirgends viel Komfort, das ist doch klar, wahrscheinlich ist es woanders noch viel primitiver. Der Kranwitthof ist in seiner Art nämlich wirklich recht schön und sogar ein Bad ist da." „Sogar!" rief Engelke ironisch, war aber doch nicht mehr ganz so abweisend wie vorher. „Am Nachmittag möchte ich gleich nach Selbing, um mich im Realgymnasium anzumelden." „Ach, Uwe, eigentlich paßt mir das gar nicht. Selbing ist eine Stadt, da wird es Angriffe geben; ich werde keine ruhige Minute mehr haben, wenn du fort bist." „Aber, Engelke, das glaubst du doch selber nicht. Du weißt doch, daß dein Sohn sehr gut auf sich selber aufpassen kann. Wäre ja gelacht. Und du willst sicher, daß er was gelernt hat, wenn Vater heimkommt." Ja, wenn Vater heimkommt! Aber wann wird das sein? Das war es, was Engelke mehr als alles andere quälte. Seit langem war keine Nachricht von ihm gekommen —. Als Mathis am Abend zurückkehrte, bekam er von allen Seiten spöttische Bemerkungen über die Fremden zu hören. „Engelke Brokenhorst heißt's", kicherte die Stallmagd Resi, „da brichst dir ja schier die Zung', wenn du das aussprichst." 85
„Engelke, soll das am End Engelchen heißen?" fragte ein Knecht. „So ein spinneter Name!" „Und dahersteigen tut's wie eine Gräfin, die hochnäsige Trutschen. Ist ihr alles nicht fein genug. Soll's halt nicht herkommen, wenn's ihr nicht paßt." „Ja mei", sagte die Zenzi friedfertig, „wenn doch ihr Haus und ihr ganzes Sach verbrennt ist —." „Recht hast, Zenzi", sagte plötzlich zur allgemeinen Verblüffung der Mathis. Er hatte sich am meisten gegen die Fremden gesträubt, aber jetzt, da eine allgemein feindliche Stimmung gegen sie zu herrschen schien, erwachte sein Widerspruchsgeist. Uwe hatte sich schon draußen mit ihm bekannt gemacht, und sie hatten sich wie zwei gestandene Männer über den Traktor, seine Vorzüge und Tücken unterhalten. Und der Junge hatte eine ganze Menge angeborenes technisches Verständnis gezeigt. Und dann war seine Mutter hinzugekommen und hatte den Bauern recht freundlich gefragt, ob sie wohl Milch, Butter und Eier von ihm haben könnte, natürlich zu angemessenen Preisen, und er hatte es zugesagt. „Die Frau ist gar nicht so übel", verkündete er, „die braucht bloß ein bisserl auffuttern, dann kann's ein ganz sauberes Weibsbild werden. Und deshalb soll's eine Milch und Butter kriegen, sie hat Geld, und das ist die Hauptsache." Er gab Anweisungen in dieser Beziehung und sah sich dabei so drohend im Kreise um, daß niemand zu mucksen wagte. Auch Regina sagte nichts. Milch und Butter wollte sie den Fremden gönnen, aber im übrigen waren sie Luft für sie. 86
Dabei blieb es zunächst. Selbst als Frau Brokenhorst wirklich krank wurde und Fieber bekam. Uwe rief den total überlasteten Arzt, der dann am Abend abgehetzt eintraf. Nach der Untersuchung sagte er: „Totale Erschöpfung und Zusammenbruch der Nerven. Mehr seelischer als physischer Natur. Etwas sehr Alltägliches in dieser Zeit." Er verschrieb Stärkungsmittel, viel Ruhe, Liegen, Milchtrinken, dann würde es schon wieder werden. Engelke hatte alle Gedanken an eine Abreise aufgegeben. Was waren auch schließlich einige Unbequemlichkeiten des Evakuiertendaseins, was war sogar der Verlust des Hauses und der Habe gegen die entsetzlich quälende Ungewißheit, die wegen ihrem Mann auf ihr lastete? Alles zusammen war eben schließlich zu viel gewesen. Nun lag sie da, war apathisch und erholte sich nur ganz allmählich. Uwe fuhr jeden Morgen nach Selbing, mit demselben Zug, den auch Barb benutzte. Barb interessierte sich sehr für die fremde Dame, wie für alles Neue, das in ihren Gesichtskreis trat. Uwe interessierte sie dagegen gar nicht. Sie hatte ihre Erfahrungen mit den Hellesrieder Buben; die genügten ihr. Uwe merkte wohl, daß sie ihm aus dem Wege ging und auch auf der Fahrt nach Selbing ihm auszuweichen versuchte. Er schob es auf die ländliche Unbeholfenheit, versuchte mehrfach mit ihr ein Gespräch zu beginnen, bekam aber nur patzige Antworten. „Wer wird denn so kratzbürstig sein", lachte er gutmütig, „habe ich dir was getan?" Sie gab keine Antwort. 87
„Sieh mal, das ist doch albern", fuhr er unbeirrt fort. „Schließlich sind wir Hausgenossen und könnten uns auf der täglichen Fahrt ein wenig unterhalten, findest du nicht? Ich möchte dich auch Verschiedenes fragen." Barb blickte einen Augenblick auf, gerade in die lachenden blauen Augen hinein, sie sah sein Lächeln, das, wie schon erwähnt, entwaffnend war und — auch sie war nicht gefeit dagegen. Ihr Trotz schmolz dahin, unwillkürlich lächelte sie zurück. „Na, dann frage halt. Was willst du denn wissen?" Er wollte vor allem wissen, wie es mit dem Skilaufen bestellt war. Er hatte es im Harz gelernt, meinte aber, er wäre sicher lange nicht so tüchtig, wie die Jugend hier. „Die Zenzi sagt, daß du eine Kanone bist. Da kannst du mir sicher einiges beibringen, vor allem die Schwünge. Temposchwung kann ich ja, aber bei Telemark und Christiania klappt es noch nicht so recht." Barb lachte. „Geh, eine Kanone! Das hat die Zenzi doch bestimmt nicht gesagt. Aber einen Telemark kann ich dir schon zeigen. Hoffentlich kommt bald Schnee." „Ich zeig' dir dafür im Sommer was beim Schwimmen, wenn du willst, da bin ich nämlich ziemlich gut drin." Es entspann sich nun eine gute Kameradschaft zwischen den Kindern. Für Barb war es nett, mal von anderen Dingen zu hören, als das Schulmädchengeschwätz im Kloster, das sie oft langweilte. Jetzt hörte sie von Segelschiffen, großen Ozeandampfern, von der See, der großen Hafenstadt Hamburg und vielen anderen, für sie fernen, unbekannten Sachen. Stasi war eifersüchtig, sie gönnte Barb den hübschen Uwe nicht. Er fand seinerseits die Stasi langweilig, und 88
das nahm sie ihm übel. Ganz bezaubert von Uwe war aber der kleine Flori, jetzt etwas über neun Jahre alt. Das sonst so stille Kind taute auf und lief ihm überallhin nach, sowie es ihn nur erblickte. Im Gymnasium in Selbing hatte Uwe zunächst einige Schwierigkeiten. Die Einheimischen hänselten ihn wegen seiner Sprache, die sie affektiert fanden, und versuchten, ihm allerlei Schabernack zu spielen. Einer der übelsten Rüpel der Schule schien es auf eine Rauferei anzulegen. Nun, wenn es nicht anders ging, die konnte er haben. Uwe erledigte diese Angelegenheit in einem harten, aber fairen Kampf. Uwes umstehende Klassenkameraden sahen kritisch und im ganzen unparteiisch zu. Einesteils gönnten sie dem großmäuligen Toni eine Niederlage, andererseits war Uwe ein Fremder, ein Hereingeschneiter. Als sie aber seine kämpferische Überlegenheit gewahrten und Tonis Kampfmethoden mit zunehmender Erbitterung nicht ganz einwandfrei waren, gönnten sie Uwe seinen schließlichen Sieg und erklärten ihn unter sich für einen pfundigen Kerl. Uwe kam mit einigen Hautabschürfungen, einem blauen Auge und herausgerissenem Ärmel heim. Seine Mutter war entsetzt. „Mußte sein, Engelke", erklärte er sachlich. „Jetzt fährt mir von den Brüdern keiner mehr an den Schlitten, jetzt habe ich meine Ruhe." Die hatte er allerdings. Aber so richtig anerkannt, ja auf den Schild gehoben und als „Held" gefeiert wurde er doch erst, als sich herausstellte, daß er ein As im Fußball war, ein Mittelstürmer, wie er im Buch steht, geradezu ideal. Und genau das hatte den Selbingern so sehr ge89
fehlt. Nur deshalb hatten sie den letzten Kampf gegen diese widerwärtige Blase vom Kreilitzer Gymnasium mit Pauken und Trompeten so unrühmlich verloren. Schmach und Schande! Aber das wurde nun anders, oh, sehr erheblich anders! Sie machten Uwe zum Mannschaftsführer, und er schliff seine Mannen, daß es nur so eine Art hatte. Er führte sie so überlegen, er riß sie derart zum Angriff hin, daß es eine Revanche gab, gegen diese lächerlich eingebildeten Kreilitzer, einen Sieg, wie ihn die Weltgeschichte nur selten gesehen hatte. Jedenfalls fanden das die Selbinger, ihr Jubel kannte keine Grenzen, schäumte über. Nur Uwe blieb gelassen bei diesem Triumphgeheul. „Na, was denn? War doch selbstverständlich", sagte er mit seiner hanseatischen Ruhe. „Oder was habt ihr euch gedacht, ihr Dösköppe?" Mit Uwe und seinen Mitschülern ging es also in Ordnung. Zu Weihnachten kam endlich der ersehnte Schnee, und Uwe war mit Feuereifer dabei, nachzuholen, was ihm beim Skilaufen noch an Können fehlte. Regina, der Mahnung der Oberin eingedenk, ließ Barb mehr als früher draußen herumtummeln. Schließlich gab es ja auch im Winter weniger Arbeit auf dem Hof. Vorderhand war Barb dem Uwe noch überlegen, besonders im Abfahrtslauf. Er erkannte dies auch neidlos an. Bald wurde aber auch er ein Pistenzischer von hohen Graden. Es war schon eine Lust und Freude, so im Schnee und in der köstlichen reinen Luft dahinzusausen, und es riß selbst Frau Brokenhorst ein wenig aus ihrer Lethargie. Engelke fand Gefallen an dem langaufgeschossenen 90
Mädchen mit dem roten Haar und nahm sich ihrer an. Sie schien aufgeweckt zu sein und hatte manchmal so einen sehnsüchtigen Blick in den grauen Augen. „Du bist so ganz anders als deine Geschwister", sagte Engelke zu Barb, „viel feinknochiger und überhaupt anders." Da erzählte ihr Barb, daß sie nur ein Findelkind sei und unter welchen Umständen man sie gefunden hatte. Engelke hörte ihr teilnehmend zu und zog sie dann zärtlich an sich. „Ich habe selbst ein kleines Mädchen gehabt", sagte sie, „sie wäre jetzt in deinem Alter. Leider ist sie früh gestorben." „So?" Barb blickte aufmerksam in das noch immer leidend aussehende Gesicht von Engelke. „Wie hat sie denn geheißen?" „Elke." „Elke? Das ist aber ein komischer Name, so heißt hier niemand. Aber —", fügte sie eilig hinzu, „ich finde den Namen sehr hübsch." Engelke lächelte. Sie hatte sich Bücher von Selbing kommen lassen und lieh Barb davon, was für sie paßte. Sie sprach auch mit ihr über das Gelesene. Barb fand Engelke wundervoll. „Was hast alleweil bei der droben zu stecken?" fragte Regina unwirsch. „Sind wir dir vielleicht nicht mehr fein genug?" „Geh, Mutter, wie kannst du denn so reden. Weißt, ich hab' doch jetzt Englisch, bei der Schwester Sybil, die ist aus Irland, sie sagt, ich hab' gute Anlagen dafür und daß Englisch sehr wichtig ist. Und Frau Brokenhorst kann auch gut Englisch, weil sie nämlich eine Schwester in Ame91
rika hat und schon drüben war. Also, die hört mir die Vokabeln ab und spricht auch englisch mit mir und Uwe. Das ist doch nett von ihr, und da lern' ich doch was." Dagegen war allerdings nichst einzuwenden, aber es paßte Regina trotzdem nicht. „Wird dir noch lauter überspanntes Zeug in den Kopf setzen", brummte sie. „Den ganzen Tag tut s' faul umeinandliegen und nix wie Romane lesen. Ich tät' mich schämen." „Aber, Mutter, sie ist doch krank." „Ach was, krank! Ein faules und verwöhntes Ding ist sie. Und von ihrem Buben laßt sie sich Engelke rufen, statt Mutter, wie sich's gehört. Wenn das nicht überspannt ist." „Ja, weißt Mutter, die sind halt wie zwei richtige Kameraden miteinander." „Kameraden! Haa!! Kannst du dir denken, daß ich mich von meinen Kindern Regina rufen lass'? Denen tät' ich kommen." Nein, das konnte Barb sich freilich nicht denken. Sie mußte unwillkürlich lächeln bei dieser Vorstellung. Aber wenn auch Frau Brokenhorst keine Gnade fand vor der strengen Regina, dem prächtigen Uwe konnte auch sie nicht widerstehen. Der stille scheue Flori war unter dem Einfluß Uwes viel forscher und bubenhafter geworden. Er wollte doch seinem Ideal nacheifern. Auch Mathis bemerkte es, mit einem bei ihm ungewohnten Wohlwollen. Regina steckte Uwe heimlich manches „Schmankerl" zu. Ein tüchtiges Trumm Geräuchertes oder ein paar Schmalznudeln, wenn es gerade welche gab. 92
„Iß nur", sagte sie dann, „das ewige Gasthausessen, das ist doch nix." Und Uwe kaute und ließ es sich schmecken. Er kam gut mit der strengen Kranwitterin aus und fand sie recht
nett.
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Es war ein Föhntag im November und die Berge standen dunkelblau vor einem apfelgrünen Himmel. Da kam ein Mann mit einem jungen Airedaler von der Bahnstation nach Hellesried gegangen. Er war in Schweigenreuth gewesen, aber da war schon alles überfüllt. In Hellesried sollte es noch mehr Platz geben. Der Mann war mittelgroß, hatte einen runden Kopf, graue Haare, eine aufgeworfene Nase und buschige Brauen. Dazu einen Schnauzbart. Seine Bekannten sagten, er sieht aus wie eine Kreuzung zwischen einem Seehund und Sokrates. Er hatte einen schweren Rucksack auf dem Rücken, einen Handkoffer in der einen und einen derben Stock in der andern Hand. Man sah viele derartige Gestalten auf der Landstraße in jener Zeit. Nun sah er sich also in Hellesried um. Es gefiel ihm recht gut. Im Frühjahr mußte es hier zauberhaft sein, mit all den vielen blühenden Obstbäumen. Aber auch heute war es schön, warm wie im Sommer, fast zu schwül. Es blühten noch einige hohe Astern und verspätete Rosen in den Gärten. Dann kam er zu einem kleinen Haus, rosenumrankt, mit Spalierobst an der Südseite; es stand in einem gutgehaltenen Garten mit Obstbäumen und sah sehr anheimelnd aus. 93
Nun gewahrte er einen alten Herrn mit Silberhaar, der sich an einigen Bienenstöcken zu schaffen machte. Der Mann mit dem Rucksack lehnte sich an den Zaun und besah sich das friedliche Bild. „Nun guck dir das bloß an, Stepke", sprach er zu dem Airedaler, „diese Idylle; daß es so was noch gibt? Sieht das nicht aus wie eine Zeichnung von Ludwig Richter? Na, das verstehst du nicht, Stepke. Aber daß es hier gut riecht, das merkst du, nicht wahr? Ja ja, schnuppre. nur, hier riecht es nach ,guter Mensch'. Möchtest du hier wohnen?" „Wurf!" sagte Stepke. Die beiden waren aus dem brennenden Berlin geflohen. Der Mann hatte den immer fertig gepackten Rucksack und den Koffer ergriffen und war aus den Ruinen hinausgewandert. In den Außenbezirken hörte er aus einer zerstörten Villa ein klägliches Winseln. Er ging darauf zu und fand einen schönen, jungen, halbverhungerten Airedaleterrier in den Trümmern eingeschlossen. Die räumte er so weit weg, daß der Hund herauskonnte. „Na, dann komm, Stepke", sagte er und der Hund kam. Seither hieß er eben Stepke. Er fütterte ihn, der Hund fraß gierig und folgte ihm. Sie fanden ab und zu eine Fahrgelegenheit, manchmal ging ein Zug, der sie ein Stück weiter nach Süden brachte. Oft trug der Mann den jungen Hund im Rucksack, wenn er zu müde wurde. „Es war sehr merkwürdig", erzählte der Mann später, „die Menschen waren durch die vielen Schrecknisse abgestumpft und hart geworden, aber wenn sie Stepke sahen, wurden sie weich. Sie teilten ihren kargen Mundvorrat mit ihm und von den Bäuerinnen bekam er manchen guten 94
Bissen zugesteckt, manchmal sogar etwas Milch. Er gedieh dabei, wuchs kräftig heran und bewirkte durch sein drolliges, treuherziges Geschau, daß auch sein Herr nicht leer ausging." Herr und Hund standen also vor dem Gartenzaun des Lehrers Zierlein und blickten nicht ohne leisen Neid auf diese Idylle. Aber plötzlich krümmte sich der Mann zusammen, faßte sich an den Leib und schien heftige Schmerzen zu haben. Er konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten und mußte sich hinsetzen. Stepke schaute ihn aus goldbraunen Augen beunruhigt an. Dann bellte er. Bellte so laut und anhaltend, daß Herr Zierlein schließlich an den Zaun kam, um nachzuschauen, was denn eigentlich da los sei. Er sah einen älteren Herrn in guter, wenn jetzt auch etwas mitgenommener Kleidung, der offenbar starke Schmerzen litt. Und der Herr sah ein mildes Greisengesicht, das ihn besorgt und verwundert anblickte. „Beunruhigen Sie sich nicht", sagte er zu dem alten Lehrer, „es ist bloß ein plötzlicher Anfall von Gallenschmerzen, vielleicht gehen sie bald vorüber." „Aber Sie können doch hier nicht liegenbleiben", entsetzte sich Herr Zierlein, „kommen Sie, ich helfe Ihnen aufzustehen, dann legen Sie sich bei mir aufs Sofa und ich schicke um einen Arzt." „Ein Arzt ist nicht nötig, ich weiß, was ich zu tun habe. Aber wenn Sie mir gütigst gestatten wollen, mich ein wenig bei Ihnen hinzulegen, nehme ich das dankbar an." 95
Nach Einnahme eines Mittels, das er im Koffer bei sich führte, und nach warmen Umschlägen wurde es allmählich besser. „Komisch, habe ich lange nicht mehr gehabt. Na ja, war vielleicht doch etwas viel, die letzten Wochen. Man ist kein Jüngling mehr." Er erzählte Herrn Zierlein auf Befragen von seiner recht abenteuerlichen Flucht. Der gute Herr Zierlein war voller Mitgefühl. Stepke hatte inzwischen alle Ecken beschnüffelt. Es stimmte schon, hier roch es nach „guter Mensch". Mit Genuß schleckte er eine Schale Milch auf und legte sich dann befriedigt hin. „Was für ein schöner Hund", sagte Zierlein, „der ist wohl echt?" „Ganz reine Rasse. Er heißt Stepke. Und es wird wohl Zeit, daß ich mich auch vorstelle. Carsten. Dr. Folker Carsten." Da riß Herr Zierlein weit die Augen auf. „Doch nicht etwa der bekannte Dr. Carsten, der das Buch über die Inkas geschrieben hat?" Er ging zum Bücherregal und holte es hervor. Carsten lächelte schwach. „Ich muß mich schuldig bekennen." Herr Zierlein wurde ganz aufgeregt. „Nein, so etwas, welche Fügung, da freue ich mich aber sehr. Ich finde das Buch nämlich ganz großartig." Er schüttelte Carsten begeistert die Hand. „Ach, lieber Herr Zierlein, es sind schon so viele Bücher über die Inkas geschrieben worden. Niemand war erstaunter als ich, daß mein Buch solchen Erfolg hatte." „Verdient, Herr Doktor, vollauf verdient. Wissen Sie, solche kulturhistorische Werke sind mein Steckenpferd, 96
vor allem fremde Völker, verschollene Kulturen. Sie haben natürlich alles an Ort und Stelle studiert? Und überhaupt viele Länder bereist?" „Durch Jahrzehnte, Herr Zierlein. Aber es hat mich immer wieder in die Heimat gezogen. Übrigens sind wir beide, der Stepke und ich, augenblicklich heimatlos. Wissen Sie zufällig eine annehmbare Unterkunft für uns?" „Ja, die Gasthöfe sollen voll besetzt sein." „Ach, in die Gasthöfe möchte ich gar nicht so gern. Ich möchte lieber etwas Ruhigeres, Idyllisches haben, so wie bei Ihnen." „Würden Sie denn — ich meine, wenn es Ihnen nicht zu bescheiden bei mir ist —" „Wenn Sie ein Zimmer für mich haben, wäre ich sehr froh, das können Sie mir glauben. Ich würde gern gut dafür bezahlen." „Aber ich bitte Sie, das spielt doch keine Rolle, ich habe meine Pension und ein kleines Vermögen. Ich wäre überglücklich, wenn Sie mir manchmal von Ihren Reisen erzählen wollten." Er zeigte Carsten ein mit Biedermeiermöbeln reizend eingerichtetes Zimmer im ersten Stock. Blütenweise Tüllgardinen an den Fenstern, Aussicht auf den Garten und das Gebirge, ein einladend aussehendes Bett. Carsten fiel mit einem Seufzer der Erleichterung in den alten Ohrenbackensessel. „Hier bin ich, hier bleibe ich", erklärte er, säuberte sich vom Reisestaub und lud dann Herrn Zierlein ein, in der „Post" seinen Einstand bei einem guten Tropfen zu feiern. 7
Findelkind vom Kranwitthof
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Und dort wurde er gleich am ersten Tag mit Engelke Brokenhorst und Uwe bekannt. Carsten stammte ursprünglich aus Bremen, sie hatten also viele Berührungspunkte und unterhielten sich ausgezeichnet. Engelke hatte nun eine Ansprache, und gemütliche Teeabende bei ihr wurden zu einer festen Einrichtung. Sie hatte einen reichlichen Vorrat an Tee mitgebracht, eine Kostbarkeit in jenen Tagen, und sie verstand ihn auch vorzüglich zu bereiten. Bald durfte auch Barb manchmal an diesen Abenden teilnehmen, und es erschloß sich ihr eine neue Welt. Hatte der Umgang mit dem gescheiten und witzigen Carsten Engelke schon gut getan, so bewirkte eine Nachricht, die sie endlich von ihrem Mann erhielt, eine vollkommene Wandlung. Er war verwundet in Gefangenschaft geraten, jetzt in einem Lager in den USA wieder genesen, und es ging ihm verhältnismäßig gut. Gott sei Dank! Gott sei Lob und Dank, dachte Engelke, er lebte, er war gesund! Nichts anderes zählte. Plötzlich erwachte wieder ihre alte Energie, an der es ihr vor ihrem Zusammenbruch keineswegs gefehlt hatte. Sie besah sich ihr Bankkonto und erschrak. Sie hatte einfach immer ausgegeben und reichlich Geld verbraucht, jetzt fand sie es stark zusammengeschmolzen. Das ging nicht so weiter. Wenn ihr Mann heimkehrte, mußten Mittel für einen Neubeginn da sein. Von dem Geld durfte jetzt nichts mehr verbraucht werden. Sie hatte in Selbing bemalte Holzteller gesehen. Das konnte sie auch, das heißt, sie konnte es besser, denn sie hatte vor ihrer Heirat guten Malunterricht gehabt und besaß ein hübsches Talent fürs Malen. Sie malte einige Proben, und bekam bald mehr Aufträge, als sie bewältigen konnte. Dabei verdiente 98
sie sehr gut. Dadurch fühlte sie sich befriedigter, die Tage flossen nicht mehr so leer dahin. Sie ging aber an schönen Tagen auch Skilaufen, blühte auf, nahm zu und wurde wieder die hübsche Frau, die sie ursprünglich gewesen war.
Sobald es Frühjahr wurde und die Wege wieder passierbar waren, löste Regina ihr Versprechen ein und fuhr mit Barb nach Maria im Eis. Barb besah sich alles genau, sie fühlte sich seltsam angerührt, denn es hing ja in irgendeiner Weise mit ihrer unbekannten Mutter zusammen. Sie kehrten bei den Schwestern ein und brachten ihnen einige ländliche Gaben, wie Butter und Eier. Barb bekam dafür ein schönes, handgewebtes Kopftuch verehrt, und die Schwestern verwunderten sich sehr über den Namen Barbara Maria Eis. Aber ein Licht auf dieses Geheimnis zu werfen, vermochten sie auch nicht. Daheim stichelte Stasi: „Ein Getue ist das mit dieser Barb, als ob sie wunder was wäre. Jetzt ist die Mutter sogar mit ihr nach Maria im Eis gefahren", sagte sie mißgünstig. „Laß mich in Ruh mit der rothaarigen Hex", sagte Mathis grantig, denn er hatte einen Kater. „Einbilden tut sie sich nicht wenig", bohrte Stasi weiter, „alleweil hockt sie droben, bei den feinen Leuten. Jetzt ist auch noch der Dr. Carsten immer dabei. Da tut's so scheinheilig und redet so gescheit und geschwollen daher, damit s' nur ja einen Eindruck macht, vor allem auf den Uwe. Kannst du begreifen, daß der sich mit so einem dürren Gestell abgeben mag?" 7*
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„Geh, red doch nicht so blöd daher. Grad weil sie so schiech ist, muß sie halt auf andere Weis' einen Eindruck machen. Ein sauberes Madel hat's gar nicht nötig, so viel zu lernen." Stasi blickte den Vater höchst befriedigt an. „Gelt, das sagst du auch?" Ja, sie und der Vater verstanden sich, das stand fest. Und der Barb würde sie es schon versetzen. „Geh, das kannst mir doch nicht einreden", sagte sie hämisch zur Barb, „daß dir die damische Lernerei wirklich Spaß macht. Du mit deinem Englisch und den saublöden Büchern, wo du allweil liest, lauter so überspannter Mist. Das tust doch alles bloß, weil du dich einschmeicheln willst bei denen droben. Der Uwe muß schon auch recht blöd sein, daß er dir da drauf reinfallt. Aber mit deiner Schönheit kannst ihm freilich nicht imponieren, hihihi. Der Vater sagt's auch, wenn ein Madel sauber ist, hat sie's durchaus gar nicht nötig, so viel zu lernen." „Hahaha!" kicherte da Burgl dazwischen. Sie war ein hübsches, übermütiges Kind und immer zum Lachen bereit. „Die hör an! Am End bildet sich die Stasi ein, daß sie ein sauberes Madel ist." „Laß nur, Burgl, sie ist bloß eifersüchtig", sagte Barb mit aufreizender Ruhe. „Eifersüchtig?" kreischte Stasi erbost. „Das werde ich grad nötig haben. Auf dich vielleicht? Meinst, der Uwe ist am End gar dein Verehrer? Daß ich nicht lach'. Und überhaupt, ich brauch' keinen von da droben aus Hamburg, die Buben von hier sind mir eh die Lieberen, und ich habe Verehrer genug und —" 100
„Und der Schneithuber Alois hat dir erst gestern wieder ,fette Schmalznudel' nachgerufen", lachte die Burgl. „Stad bist, du Lausdirndl! Möcht' die auch schon mitreden —" Regina stand plötzlich im Türrahmen und runzelte die Brauen. „Stad seids jetzt alle miteinander mit eurem saudummen Geschwätz. Paßt sich das für solche Fratzen, wie ihr noch seid? Marsch runter in den Keller, alle drei, zum Kartoffelausklauben. Na, wird's bald?"
Uwe, Barb und Flori waren an einem Sonntag auf den Kracherkogel gestiegen, wo es auf der Nordseite noch genügend Schnee zum Skilaufen gab. Die Sonne brannte schon mächtig, es war herrlich da oben. Am Rande des Schnees blühten die tiefblauen Sterne der Enziane in großen Feldern. Uwe war stark braungebrannt, es sah prachtvoll aus zu den hellen Haaren. Sie rasteten auf einem schon schneefreien Fleck, aßen einen mitgebrachten Imbiß, dösten so vor sich hin und schliefen schließlich halb ein. Auf einmal fuhr Barb erschrocken hoch. Flori war weg. Sie rief: „Flori, wo bist du? Du sollst doch bei uns bleiben. Und geh ja nicht zu nahe an den Krachersee, das ist gefährlich." Aber gerade das mußte er getan haben, sie konnten seine Spur sehen, die über den noch halb zugefrorenen kleinen See führte. Dann kam ein Loch und die Spur verschwand. 101
Barb schlüpfte in ihre Skier und raste in halsbrecherischer Fahrt hinunter. Ohne weiteres Besinnen sprang sie in das eisige Wasser. Sie war eine gute Schwimmerin, tauchte unter die Eisfläche, und nach ein paar Minuten, die ihr wie eine Ewigkeit vorkamen, hatte sie den bewußtlosen Flori gefaßt. Aber dann verließen sie die Kräfte. Zum Glück kam Uwe ihr zu Hilfe. Er schob vorsichtig seine Skier bis an den Rand des Loches, legte sich flach darauf und zog mit einiger Mühe Barb empor, die Flori krampfhaft festhielt. Barb überwand rasch ihre Schwäche. Sie legte Flori aufs Gesicht, denn er hatte sicher viel Wasser geschluckt. Dann machte Uwe, unterstützt von Barb, kunstgerecht künstliche Atmung. Endlich, nach ungefähr zwanzig Minuten, als sie ihre Arme kaum noch fühlten, kam Flori zu sich. Da mußte Barb vor Erleichterung und wohl auch vor Übermüdung weinen. Auch Uwe wurde es eng in der Kehle. Er zog seine Joppe aus und wickelte Flori hinein. Dann machten sie eine Trage aus ihren Skiern, legten Flori darauf und trugen ihn zu Tal. Trotz der warmen Sonne froren Barb und Flori erbärmlich in ihren nassen Kleidern. Uwe war kaum naß geworden. Bei ihrer Ankunft auf dem Hof gab es natürlich eine große Aufregung, alles schrie wild durcheinander. Am ruhigsten war, wie immer, Regina, ein Fels in der Brandung, aber ihr Gesicht war leichenblaß. Sie zog Flori rasch aus, badete ihn heiß, gab ihm heiße Milch zu trinken und packte ihn mit Wärmflaschen ins Bett. Da schlief er dann 102
auch bald ein und trug, außer einem Schnupfen, keinen weiteren Schaden davon. Um Barb hatte sich zunächst niemand gekümmert, bis es Regina einfiel und sie in die Kammer der Mädchen ging. Da lag sie im Bett, Frau Brokenhorst hatte sie warm gerieben und ihr heißen Tee mit Kognak gebracht, den Barb gehorsam schluckte. Es gab Regina einen Stich. Die fremde Frau hatte sich also um die Lebensretterin ihres Kindes gekümmert. Und sie? „Ich danke Ihnen, Frau Brokenhorst", sagte sie förmlich, „jetzt werde schon ich nach Barb schauen. Leider kann ich ja nicht alles auf einmal machen. Ich muß auch noch Uwe danken, er hat ja geholfen, Flori zu retten." „Ohne Uwe wären wir jetzt alle beide tot", sagte Barb mit glühenden Backen. „Nein, nein, das Hauptverdienst gebührt schon dir", versicherte Frau Brokenhorst. „Uwe hat es mir genau erzählt. Du bist geradezu tollkühn sofort in das eisige Wasser gesprungen und hast Flori unter der Eisdecke hervorgeholt. Da gehört schon allerhand Mut dazu. Nun also, dann will ich jetzt gehen. Auf Wiedersehen, liebe Barb, und werde nur ja nicht krank." Sie gab Barb einen Kuß auf die Stirn und ging hinaus. Als sie gegangen war, nahm Regina das Kind fest in die Arme. Sie weinte. Das hatte Barb noch nie bei ihr gesehen, und es erschütterte sie. Und Regina gab Barb nun auch einen Kuß, das war ebenfalls noch nie vorgekommen. „Das vergesse ich dir nie, Barb, nie, solange ich lebe." 103
„Aber Mutter, da ist doch nix dabei, ein jeder hätte das getan." „Nein, nein, nicht ein jeder." Und Regina dachte an Stasi. Die wäre sicher heulend davongelaufen. Auch Mathis war mehr erschüttert, als er zeigen wollte. Er verbarg es unter Gebrumm. „So eine Dummheit von dem Buben! Fährt der runter zum Krachersee, wo's ihm extra noch gesagt worden ist, wie gefährlich das ist." „Ja, und wenn die Barb nicht gewesen wäre und der Uwe, dann hättest jetzt keinen Hoferben mehr", sagte Regina ernst. „Darfst dich schon recht schön bedanken bei den beiden." „Ich weiß schon selber, was sich gehört. Werde ihnen halt was schenken, den beiden." „Ja, das tust. Kannst aber auch der Barb ein gutes Wort geben, hat eh noch kaum eins von dir gehört, solang sie bei uns ist." „Tust ja gleich gar, als ob ich der reine Satan wäre. Alte, geh, hol einen Kranwitter, ist mir direkt in die Glieder gefahren, der Schreck. Schenk dir halt auch einen ein." Regina tat, wie geheißen. Sie tranken sich zu. Und es war seit langer Zeit wieder so etwas wie ein Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen ihnen. Dann ging Mathis zu Barb hinauf und setzte sich zu ihr ans Bett. „Bist brav gewesen, Dirndl", sagte er zu ihr, „ich dank dir halt recht schön dafür. Darfst dir auch was wünschen. Schon was Ordentliches, es darf was kosten, da lass' ich mich nicht lumpen. Na, was möchtest denn haben?" „Aber geh, das braucht's doch nicht", sagte Barb ver104
legen. Sie hatte gefährlich rote Backen und ihre Hände waren glühend heiß. „Ich glaube gar, du hast ein Fieber", rief Mathis erschrocken und schickte einen Knecht um den Arzt. Barb entwickelte eine Lungenentzündung und wurde gefährlich krank. Sie lag nun allein in einer Kammer, und Frau Brokenhorst bat die vielbeschäftigte Regina, die Pflege übernehmen zu dürfen. „Sie können mir das Kind ruhig anvertrauen, Frau Kranwitt", sagte sie, „ich habe einen Krankenpflegekurs mitgemacht und war auch bis kurz vor meiner Abreise aus Hamburg beim Roten Kreuz als Hilfsschwester tätig." Regina blickte sie verwundert an. Diese verwöhnte Dame, der sie kaum zutraute, einen Finger krumm machen zu können, war Hilfsschwester beim Roten Kreuz gewesen? Wie man sich doch täuschen konnte! Sicher würde Barb sie gern als Pflegerin haben. Aber sie wollte doch erst zusehen, ob die Fremde auch gewissenhaft diese Aufgabe erfüllte. „Haben Sie denn Zeit?" warf sie noch ein. „Ich denke, Sie müssen diese Holzteller malen!" Das war natürlich in Reginas Augen überhaupt keine Arbeit. „Die Holzteller können warten. Ein Menschenleben ist wichtiger." Engelke versah ihre Pflege gewissenhaft, da gab es nichts zu kritisieren. Aber natürlich wurde sie manchmal von Regina abgelöst, auch von Zenzi. Selbst die übrigen Mägde boten sich an, etwas von ihrer Freizeit zu opfern. Plötzlich fehlte ihnen Barb, dieser kaum beachtete Rot105
schöpf, und es wäre ihnen arg gewesen, wenn sie ihre opferbereite Tat hätte mit dem eigenen Leben bezahlen müssen. Es war nahe daran. Freund Hein stand schon bereit und lugte um die Ecke. Aber dann überstand sie doch die Krise, und alle atmeten auf. Als sie dann stundenweise aufstehen und auf einem Liegestuhl auf der Veranda liegen durfte, sah man erst, wie schrecklich dünn und schwach sie geworden war. Aber sie hatte etwas Rührendes und schien zu ihrem Vorteil verändert zu sein, man wußte nicht recht, woher es eigentlich kam. „Ja, da hilft nix", sagte der Arzt, der bodenständig und recht kurz angebunden war, „das Dirndl braucht eine lange und gründliche Erholung. Weißt was, Kranwitter, ihr habt doch die Rauscheralm. Also, da laßt ihr sie hinauf, sobald sie sich genügend erholt hat. Dort soll sie den ganzen Sommer bleiben, viel Ziegenmilch trinken und nichts arbeiten. Aber wirklich nichts; das müßt ihr der Sennerin ausdrücklich sagen, damit sie das Dirndl nicht zum Melken und zu allerhand Arbeiten anstellt. Auf der Alm hat sie gute Höhenluft und kann wieder zu Kräften kommen. Organisch fehlt ihr ja nichts." In der Zwischenzeit kamen viele Besuche. Dr. Carsten mit einer großen Bonbonniere, die er, weiß Gott wo, aufgetrieben hatte, und der alte Herr Zierlein brachte ein Glas seines guten Honigs. „Warst meine beste Schülerin", sagte er, „aber die bösen Buben haben dich von meiner Schule weggetrieben. Das hat mir sehr leid getan." 106
„Jetzt sind Sie wohl recht froh, daß Sie sich nicht mehr mit unartigen Kindern herumärgern müssen, Herr Lehrer?" „Nun ja, weißt du, vierzig Jahre im Amt, das ist auch genug." Es kam aber auch Stasi, mit ein paar Tränen in den Augen und einem selbstgestrickten Janker in der Hand. In diesen Dingen war sie recht geschickt. Am häufigsten kamen natürlich Uwe und Flori, die das große Abenteuer gemeinsam erlebt hatten. Aber davon sprachen sie nicht; sie waren froh, wenn die Erwachsenen nicht immer wieder davon anfingen. Sie hatten sich viele, ihrer Meinung nach viel interessantere Dinge zu erzählen. *
Bald darauf war Barb auf der Rauscheralm und merkte nichts von den Veränderungen, die das Ende des Krieges selbst für so einen stillen Ort wie Hellesried im Gefolge hatte. Auf der Alm ging das Leben weiter wie eh und je, seit vielen hundert Jahren. Die schönen fetten Kühe ließen sich das würzige Alpengras schmecken und g a b e . dafür schöne, fette Milch. Es gab auch die hübschen, braunen Gebirgsziegen, die beinahe wie Gemsen aussahen und aus deren Milch die Sennerin Kuni schmackhaften Käse bereitete. Barb hatte zuerst die Ziegenmilch nicht gemocht, aber nun trank sie sie sogar sehr gern. Im übrigen aß sie die einfache, kräftige Kost der Alm mit gesegnetem Appetit. Kuni, die Sennerin, war eine Frau von dreiundvierzig Jahren, von gewaltigem Körperbau, männlich tiefem Baß, Armen wie Baumstämmen und Händen wie Schiin107
ken. Sie trug blaue Leinenhosen, die nichts Verführerisches an sich hatten, und alle operettenhaften Vorstellungen von Romantik auf der Alm waren bei ihr unangebracht. Sie war im allgemeinen sehr wortkarg, aber wenn ihr einer dumm kam, konnte sie phantastisch grob werden. Doch sie verstand ihre Arbeit und scharrte von früh bis spät. Barb ließ sie ungeschoren, weil die Bäuerin es so wollte. Barb lag, wie vom Arzt befohlen, stundenlang in der Höhensonne, las oder dachte nach. Besuch bekam sie oft. Uwe und seine Mutter kamen an jedem Wochenende; oft schloß sich Dr. Carsten an, den sie jetzt „Sokrates" nannten, denn sie waren hinter seinen Spitznamen gekommen. Sie brachten ihr Bücher, und ihre Anwesenheit war jedesmal ein Fest. Aber auch die alte Emmerenz fand sich ein, ein Kräuterweiblein, runzlig und verhutzelt, mit stark gebogener Nase und zahnlosem Mund, einer Hexe im Märchen vergleichbar. Aber sie war, trotz gelegentlich boshafter Ausfälle, eher wie ein guter Waldgeist, beinahe eine Naturheilkundige, die mit ihren Kräutern und Tränklein schon viele Menschen und auch Vieh kuriert hatte. Man kam von weit und breit zu ihr ins Schweiberlhaus. Das war ein malerisches Häuschen, in dem sie wohnte, und es hieß so, weil unter dem alten Dache immer viele Schwalben ihr Nest hatten. Die kam also, um Kräuter zu sammeln, deren Wachstumsstätten nur sie kannte. Barb durfte sie begleiten. Es gab nichts im Wald, was Emmerenz fremd war, man konnte viel bei ihr lernen. Barb sammelte viele Beeren, die Uwe für die Kranwitterin mit hinunternahm, und 108
Pilze, die sie gleich trocknete. Es machte viel Spaß. Und weil sie der Emmerenz brav beim Sammeln geholfen hatte, bekam sie ein Fläschchen von ihr verehrt. „Jungferntau", kicherte die Alte. „Mußt dir davon am Abend aufs Gesicht tun, da wirst schön davon." „Jungferntau?" Barb lachte. „Klingt ja sehr schön, aber ich glaub', bei mir hilft alles nix." „So?" rief die Alte böse, „willst mich vielleicht beleidigen? Meine Sachen helfen immer, merk dir's. Versteht sich nicht ein jedes drauf, ist schon ein Zauber auch dabei, und wie man's zusammenkocht, und daß man's beim Neumond pflückt, und da duld' ich keinen Spott und keine Widerred'." Barb hatte alle Mühe, die Alte zu beschwichtigen, und sie versprach ihr, den Jungferntau gewissenhaft anzuwenden, obwohl sie an keine Wirkung und schon gar nicht an einen „Zauber" glaubte. Einmal war Uwe allein heraufgekommen, hatte der Kuni in einem Riesenrucksack allerlei von ihr benötigte Waren mitgebracht und dafür einen gewaltigen Schmarrn vorgesetzt bekommen. Am Abend war er in einen Heustadel gekrochen, um da zu übernachten, und hatte herrlich geschlafen. Der nächste Tag war ein Sonntag, die Sonne schien warm, unten im Tal läuteten die Kirchenglocken. Uwe lag im Gras und blickte in den seidigblauen Himmel. Neben ihm lag Barb in einem frischgewaschenen hellblauen Dirndl, das aber in allen Nähten krachte, denn sie war viel stärker geworden in diesen Monaten hier oben. „Schön ist's hier", sagte er nach einer Weile faul und 109
streckte sich wohlig. „Du hast's gut, daß du immer hier sein kannst." „Doch ja, mir gefällt es schon auch. So gut ist es mir noch nie gegangen. Und jetzt sind auch alle Leute freundlich zu mir." „Waren sie denn das früher nicht?" „Früher konnte mich kein Mensch leiden. Rote Hexe haben sie mich gerufen und schieches, dürres Gestell." Uwe lachte. „Ach, das haben sie doch nicht so gemeint." „Hast du eine Ahnung. Aber das kannst du ja nicht verstehen. Du bist —", beinahe hätte sie gesagt, du bist eben hübsch, aber so was sagte man doch einem Jungen nicht. „Na ja, ich meine, du bist eben kein dürrer Haselstecken, kein rothaariger Teufel, bist nicht — häßlich, wie ich." Uwe schaute sie verblüfft an. „Na, nun mach aber einen Punkt. Willst du am Ende Komplimente von mir hören?" Barb wurde rot. „Sei nicht blöd. Komplimente! Meinst, ich lass' mich von dir derblecken! Ich verlang' ja gar nicht danach, hübsch zu sein, aber wenigstens nicht abstoßend. Ich wäre schon zufrieden, wenn ich wenigstens so wär' wie die Stasi." Da brach Uwe in ein wildes Gelächter aus. „Die Stasi!" schrie er, „ausgerechnet!" Dann sah er Barb scharf an. Himmel, die meinte diesen Unsinn wirklich. Es war keine alberne Koketterie, wie sie selbst Mädchen in diesem Alter oft schon haben. Barb hatte während der Krankheit viele Haare verloren. Jetzt waren ihr neue gewachsen, dichte, kurze Lokken, heller als früher, in einem goldenen Tizianrot. En110
gelke hatte ihr die Haare oft gebürstet, und nun umstanden sie ihren Kopf wie eine goldene Gloriole. Kein Gedanke mehr an die unkleidsamen steifen Zöpfchen, zu denen ihr Haar sich nun einmal nicht fügte. Die Sommersprossen waren während der Krankheit abgebleicht und merkwürdigerweise trotz der Höhensonne nicht wiedergekommen. Uwe schaute sie so kritisch an, daß sie ganz verlegen wurde. Er hatte sie immer als einen netten und gescheiten Kameraden betrachtet und sich nicht weiter um ihr Aussehen bekümmert. Jetzt blickte er sie vielleicht zum ersten Male mit Bewußtsein an. Und er sah, daß Barb ein hübsches Mädchen geworden war. „Also, jetzt paß auf, Barb", sagte er mit männlicher Überlegenheit, „was du da redest, ist kolossaler Bockmist. Erstens bist du kein dürres Gestell mehr, das mußt du doch zugeben. Oder?" „Nein. Gott sei Dank, meine Figur ist jetzt wohl normal." „Na schön. Und weißt du, was Engelke neulich zum ,Sokrates' gesagt hat? Daß du wunderschöne Haare hast und jede Filmdiva dich darum beneiden könnte." Barb sah ihn maßlos verblüfft an. „Hat sie das wirklich gesagt? Ja, aber das verstehe ich nicht. Alle haben immer gesagt, meine Haare wären häßlich, so feuerrot — ich möchte, ich hätte blonde Haare wie du." „Himmel, hast du denn keinen Spiegel? Die sind doch nicht mehr feuerrot. Und deine Sommersprossen sind beinahe weg." „Ja, allerdings, wenn sie nur nicht wiederkommen." 111
Barb mußte plötzlich kichern und erzählte Uwe vom „Jungferntau" der Emmerenz. Aber er fand das gar nicht so abwegig. Warum sollten die Kräuterdestillate der alten Emmerenz nicht ebenso gut helfen wie teure kosmetische Salben? Die Emmerenz war ein geheimnisvolles Wesen und wohl vertraut mit geheimen Naturkräften. Barb war beeindruckt. Wenn Uwe das sagte, er, ein Großstädter, dem man so leicht nichts vormachen konnte? „Weißt, wir gehn die Emmerenz mal in ihrem Schweiberlhaus besuchen", schlug sie vor. „Da ist's nämlich ganz lustig, sie hat so alte Medizinbücher mit Abbildungen, die sind sehr originell. Überhaupt gefällt's mir im Schweiberlhaus riesig gut." Sie erzählte noch Weiteres vom Schweiberlhaus und war recht eifrig dabei; es war fast, als wollte sie etwas anderes übertönen. Nämlich eine Stimme in ihrem Inneren, die sie beglückte, der sie aber noch nicht recht zu glauben wagte. Vielleicht hatte Uwe das alles nur aus Mitleid gesagt, weil sie krank gewesen war, und vielleicht auch, weil er sie ganz gern mochte. Am liebsten wäre sie in Kunis Kammer gerannt, wo ein kleiner, halbblinder Spiegel hing, den Kuni für ihre Toilettenkünste für ausreichend hielt. Aber wie hätte denn das ausgesehn? Uwe fuhr fort, sie merkwürdig intensiv zu betrachten. Es war sonderbar, fast schien es, als sei nach diesem Gespräch etwas Neues zwischen sie gekommen, etwas Ungegewohntes, als ob sie im Begriff stünden, die schöne und reine Unbefangenheit ihrer Kinderjahre zu verlieren. Sie betrachteten sich fast scheu, als ob sie sich mit ganz neuen 112
Augen sähen. Eine bange Unruhe ergriff sie, beinahe ein Bedauern, eine unklare Trauer darüber, daß sie nun wohl bald von der sorglosen Kinderzeit Abschied nehmen mußten. War denn alles dem Wandel unterworfen? Konnte nichts so bleiben, wie es war? — Aber die Befangenheit, diese sonderbare Scheu, ging wieder vorüber. Am nächsten Wochenende kam Uwe zusammen mit seiner Mutter und Flori, und da war es wieder wie früher. Sie waren noch Kinder genug, um wie vordem herumzutollen, sich allerlei Spiele auszudenken und sich herrlich zu unterhalten.
Barb blieb nicht den ganzen Sommer auf der Rauscheralm. Sie fühlte sich nun so gesund und gekräftigt, daß sie das Faulenzerleben satt hatte. Wohl ging sie jetzt Kuni mit einigen Hilfeleistungen zur Hand, aber schließlich wurde die auch ohne sie fertig, während auf dem Kranwitthof bei der Ernte jede Hilfe gebraucht wurde. Selbst Engelke half nun mit, wenn auch bloß beim Heuen, und bei Uwe war ein Zupacken ohnehin selbstverständlich. Frohgemut führte er den Traktor, und man sah ihm an, wieviel Spaß es ihm machte, daß er einen Jungknecht vollwertig ersetzen konnte. Zwischen Engelke und Regina bestand nun ein gutes Einvernehmen. „Am Anfang sind wir gewissermaßen auf ein falsches Gleis gekommen und konnten lange nicht zueinanderfinden", sagte Engelke zur Kranwitterin. „Man muß sich nur richtig kennenlernen, dann schwinden alle Vorurteile." 8 Findelkind vom Kranwitthof
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„Goldene Worte", lachte Uwe übermütig. „Deine Mutter hat recht", sagte Regina bedächtig. Dann flog ein kleiner Schalk um ihre Mundwinkel. „Ich glaub', sie schläft jetzt sogar ganz gut in unseren Betten, gelt? Und hat doch zuerst gemeint, die wären so schwer, daß sie drin ersticken müßt'." Engelke lachte. „Jaja, geben Sie es mir nur! Allerdings schlafe ich gut, kein Wunder bei ausgeruhten Nerven und in der guten Luft." Nach der Ernte kam Mathis plötzlich mit zwei funkelnagelneuen Fahrrädern an, für Barb und Uwe, als Dank für die Rettung Floris. Nein, er hatte sich wirklich nicht lumpen lassen, der Kranwitter! Das war in jenen Tagen ein pompöses Geschenk, das auf normalem Wege überhaupt nicht zu beschaffen war. Aber Mathis hatte gut gelernt, sich dies und jenes bei den hungrigen Städtern gegen Lebensmittel einzuhandeln. Diese hungrigen Städter kamen wie Heuschreckenschwärme aufs Land gezogen und da die Bauern kein Geld mehr nehmen wollten, boten sie alles, was sie noch gerettet hatten, zum Tausch an. Gute Leinenbettücher für ein paar Pfund Butter, silberne Löffel für einige Eier, Kleiderstoffe für etwas Schmalz. Sie baten und bettelten — bitte, bitte Bäuerin, hab doch ein Herz, meine Kinder hungern ! Reginas streng rechtlichem Sinn war dieser Schacher tief zuwider. Sie wollte nichts damit zu tun haben. Wenn wirklich eine halbverhungerte Frau mit eingefallenen Wangen und bleichsüchtigen Kindern kam, denen auch der Hunger aus den tiefumrandeten Augen glänzte, dann gab sie, was sie entbehren konnte. Aber die fetten Schieber 114
und Händler, die verdächtigen Gestalten, die oft kaum Deutsch konnten, die flogen bei ihr zur Tür hinaus. Oft besorgten sie freilich ihre Ware ganz umsonst. Sie überfielen einsamer gelegene Bauernhöfe, die Bauern waren wehrlos und mußten sich den vorgehaltenen Revolvern fügen. Oder wenn sie doch einen Widerstand wagten, wurden sie über den Haufen geschossen. Eine rechtlose, schlimme Zeit. Mathis hatte freilich nicht solche Hemmungen wie Regina. Die Kinder wuchsen heran und aus ihren Sachen heraus, und sollte der Hof vielleicht verkommen? Mußte nicht hier und da repariert werden, wurden nicht neue Geräte gebraucht? Was blieb also übrig, als diese normal nicht erhältlichen Dinge gegen Lebensmittel einzutauschen? Man mußte eben beide Seiten sehen. Jedenfalls waren Uwe und Barb hochbeglückt über ihre Fahrräder. Sie durchstreiften damit die ganze Gegend, und wie rasch konnten sie jetzt zum Krachersee zum Baden kommen! Diesen See liebten sie besonders. Er hatte im Sommer ein wunderbar klares Wasser und schimmerte in einer herrlichen, blaugrünen Farbe, wie ein riesiger Aquamarin. Einmal machten sie sich auf, die alte Emmerenz in ihrem Schweiberlhaus zu besuchen, und auch Engelke ging mit. Es war wirklich ein reizendes Häuschen, mit Kletterrosen umsponnen, Aprikosen, sogar Weinreben als Spalierobst an der Südseite, und unter dem vorspringenden Dach eine große Anzahl von Schwalbennestern, mit vielen „Schweiberln", die das trauliche Haus auf kühnen Schwingen umflogen und munter umzwitscherten. Die alte Emmerenz lugte mit schlauen Äuglein heraus. 3*
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„Was nicht gar!" krähte sie. „So vornehmen Besuch krieg' ich? Also, ich schau', daß ich den Penzingervater hinausbring', ist ein Kunde von mir, aber der vergißt immer leicht das Fortgehen. Gehts halt derweil hinein in die Stube." Sie betraten den peinlich sauber gehaltenen Wohnraum, in dem auch das Bett der Emmerenz stand, mit schön rosageblümtem Bettzeug, so ordentlich aufgebettet, daß es aussah, als werde es nie benützt. Barb wußte, wo die alten Medizinbücher lagen, und holte sie hervor. Engelke war ganz entzückt von den alten Stichen, die in wunderbar subtiler Art Heilkräuter und Beeren wiedergaben. „Wenn man sie alle gleichmäßig mit einer schmalen Leiste einrahmen ließe", sagte sie, „könnten sie ganz entzückend aussehen. Für eine Diele würden sie zum Beispiel wunderbar passen oder auch für ein Gartenzimmer." Sie hörten, wie Emmerenz den alten Penzinger zur Tür brachte. Sie gab ihm Verhaltungsmaßregeln. „Also, paß auf, Penzingervater, was da in dem Flascherl drin ist, das nimmst zum Einreiben. Hast mich? Zum Einreiben, nicht zum Saufen, da hilft's doch nicht." „Wohl, wohl", sagte der Alte. „Gut hat's geholfen, recht gut sogar. Ein bisserl harb ist er freilich, dein Schnaps. Aber schön stark auch. Wohl, wohl, der hilft schon." „Ja Kruzitürken, Penzinger, stell dich doch net gar so deppert an. Deine Haxen sollst dir damit einreiben. Fürs Reißen ist es, verstehst mich? Nicht für die Gurgel." „Ja, ja, ich verstehe dich schon. Hauptsach', es hilft, gelt? Also dann b'hüt Gott, bis auf die nächste Woch'. Das heißt, wenn 's Flascherl so lang reicht." 116
Die Emmerenz gab es auf. Mag er selig werden mit seinem Flascherl, der alte Depp, dachte sie sich. Dann kam sie in die Stube. „Also, was verschafft mir denn die Ehr'? Eine Kundschaft wird die gnä' Frau ja nicht sein?" sagte sie, zu Engelke gewandt. „Sagen Sie das nicht, Fräulein — — ja, jetzt weiß ich wirklich nicht, wie Sie eigentlich heißen, Sie müssen schon entschuldigen, ich habe immer nur Emmerenz gehört." „Unter dem Namen ist sie ja auch in der ganzen Gegend bekannt und berühmt", sagte Barb verschmitzt. Emmerenz grinste die Barb an. „Willst mich derblecken? Aber bekannt bin ich schon, das will ich meinen. Freilich, es laßt nach mit der Kundschaft, die alten Leut' sterben weg, ja, ja, gegen den Tod weiß halt auch ich kein Kräutl — und die Jungen, die sind ja so viel gescheit, daß sie an nix mehr glauben. Da hockt auch so eine", sie zeigte mit einem dürren Finger auf Barb, „hat gelacht, wie ich ihr selbigesmal den Jungferntau gegeben hab', und gemeint, das ist nur so ein blöder Aberglaube. Ganz gräußlich hat sie ausgeschaut mit den vielen Sommersprossen. Na und jetzt? Wo sind sie? Weg, ganz weg. Laß dir's von dem jungen Herrn da sagen, wie deine Haut jetzt ausschaut." „Wie ein Blumenblatt", fiel Uwe mit Schwung ein. „Aber, Fräulein Emmerenz, ich habe es der Barb gleich damals gesagt, daß solche alten Natur- und Hausmittel oft die besten sind." „Ja wirklich, Emmerenz, das hat er, und jetzt bin ich auch davon überzeugt. Kannst mir's glauben. Aber jetzt 117
sag einmal, wie heißt du denn mit Nachnamen? Ich weiß ihn nämlich auch nicht." „Ja, jetzt wirst lachen, Hüngerle schreib' ich mich. Aber so nennt mich ja kein Mensch und ist mir auch lieber. Bleibts nur bei Emmerenz." „In diesen alten Medizinbüchern stehn sicher noch viele gute alte Rezepte", sagte Engelke. „No, wissen S', ich geh' schon nach meinen eigenen Rezepten und wie ich's von der Mutter selig gelernt hab', und überhaupt, man muß halt ein Gespür dafür haben, wo's den Leuten fehlt, lernen laßt sich das nicht.' „Nein, da haben Sie recht, das ist sicher eine Naturbegabung. Aber sagen Sie, Fräulein Emmerenz, wenn Sie diese alten Bücher doch kaum noch benützen, würden Sie sie mir dann verkaufen? Ich finde nämlich diese Abbildungen so hübsch." Aber da schüttelte Emmerenz energisch den Kopf. „Nix da, die sind nicht zum Verkauf. Sind Erbstückln und gehören ins Schweiberlhaus. War schon einmal ein Herr aus der Stadt da, sogar einer, wo eine große Fabrik hat. Da machen s' so Pillenzeug für die Apotheken. Ja, der hätt's auch haben mögen. Oder ob er sich es wenigstens abschreiben dürft' und die Bildln photographieren? Er will's ja gar nicht nachmachen, hat er gemeint, weil das doch alles nicht mehr ja, nicht mehr zeitgemäß war', hat er gesagt, der Tropf, der depperte. Er möcht's halt so als Kuriosität. Na, ich hab' ihm heimgeleuchtet, das könnts glauben." „Ja, Fräulein Emmerenz", sagte Engelke, „wenn Sie so an den Büchern hängen, will ich bestimmt nicht weiter in Sie dringen. Aber vielleicht können wir ein anderes, klei118
nes Geschäft machen. Sie haben so besonders schöne Aprikosen, kann ich davon etwas kaufen?" „Ja freilich, soviel S' mögen. Der junge Herr und die Barb können s' runterholen, weil ich mich damit ein bisserl schwer tu'." „Übrigens, Emmerenz", sagte Barb, „hier in dem Körberl ist was für dich, die Mutter schickt dir's." Die Emmerenz zeigte sich beglückt. „Ich sag's ja, die Kranwitterin, die hat halt ein Herz für ein armes, altes Leut." Sie bekam einen sehr guten Preis für ihre Aprikosen, schickte der Kranwitterin einige gratis mit und war äußerst zufrieden mit dem Besuch, noble Leute, alles was recht ist! Auch Engelke und Uwe waren zufrieden. So ein Original wie die Emmerenz hatten sie noch nie getroffen. „Und was für ein wunderhübsches Haus", sagte Engelke. „Es ist auch schon oft gemalt worden, weil es ein so gutes Motiv ist. Und dabei riecht es im ganzen Haus so angenehm würzig nach den vielen Kräutern, die wohl seit fast hundert Jahren immer darin getrocknet worden sind. Emmerenz hat sie nicht nur in der Küche hängen, sondern auch der ganze Boden ist voll davon. Das hat sich dann in die Wäsche eingefressen —" „Und da muß das Häuschen eigentlich durchdrungen sein von all den heilkräftigen Pflanzen. Mir haben ja auch die vielen, vielen Schwalben Spaß gemacht, die fühlen sich offenbar bei dem alten Hexlein auch sehr wohl", sagte Uwe. Barb erzählte daheim Regina von dem Besuch und 119
schwärmte davon, wie gut ihr das Schweiberlhaus gefallen hatte. In Reginas Gesicht kam ein nachdenklicher Zug. *
Aber dann gingen die schönen Ferientage zu Ende und der Ernst des Lebens begann. Barb und Uwe fuhren wieder jeden Tag gemeinsam zur Schule, hörten sich gegenseitig Hausaufgaben ab und führten ab und zu tiefschürfende Gespräche über ihre Zukunft. „Du hast es gut, Uwe, ich möchte auch gern studieren, am liebsten Sprachen, aber daran ist natürlich nicht zu denken. Ich darf nur noch auf die Handelsschule und muß dann einen Bürostuhl drücken." „Na, du kannst doch gut Englisch, da wird es dir nicht schwerfallen, eine gute Stellung zu bekommen. Weißt du, mein Studium wird mir zunächst nicht viel nützen. Schiffe dürfen doch jetzt nicht gebaut werden und der Himmel weiß, wie lange das noch dauert." Uwes Vater war Schiffsbauingenieur und für Uwe stand es seit jeher fest, daß er dieselbe Laufbahn einschlagen würde. Schiffe und die See waren seine große Leidenschaft. Er hatte vor dem Krieg auch schon einige große Seereisen gemacht. Davon hatte er Barb so viel erzählt, daß sie auch geradezu Sehnsucht nach der See und fernen Ländern bekommen hatte. „Einmal werde ich auch mit einem großen Schiff fahren", sagte sie entschlossen. 120
Im nächsten Jahr war Barb mit der Schule fertig und besuchte nun die Handelsschule in Selbing. Sie war noch ein wenig größer geworden, gut entwikkelt, ein Backfisch, fast schon ein junges Fräulein. Die Burschen begannen ihr nachzusehen und sie wußte nun schon längst, daß sie wirklich kein häßliches Entlein mehr war. Im Sommer wurde auf dem Törwinghof eine große Hochzeit gefeiert. Der älteste Sohn, aus Kriegsgefangenschaft heimgekehrt, hatte gleich seine Jugendliebe geheiratet. Alle von Kranwitthof waren eingeladen, auch Engelke und Uwe. Engelke hatte Barb aus ihren immer noch reichlichen Beständen ein helles, geblümtes Kleid verehrt und es mit ein paar kleinen Änderungen für sie passend gemacht. Es stand ihr ganz entzückend. Sie kannte sich fast selbst nicht, als sie sich im Spiegel besah. „Donnerwetter", sagte Peter Törwing, als er sie erblickte, „hast du dich aber rausgemacht! Weißt du was, wenn du mit deiner Handelsschule fertig bist, kannst du zu mir aufs Bürgermeisteramt kommen. Da brauchen wir jetzt manchmal jemand, der Englisch kann. Und außerdem, wenn so ein sauberes Dirndl dasitzt, werden die vielen grantigen Leut', die mit allerhand Beschwerden zu mir kommen, gleich viel sanfter." Barb lachte. „Ich werde es mir überlegen." Sie wurde viel zum Tanz geholt. Stasi sah es mit Neid, Uwe mit einigermaßen gemischten Gefühlen. Ach was, dachte er dann ärgerlich, schließlich gibt es außer Barb noch andere hübsche Mädchen. 121
Die gab es wohl. Es waren außer den Einheimischen auch viele Kurgäste und Flüchtlinge in Schweigenreuth. Nicht immer ging es ohne Reibungen dabei ab und Fehler wurden auf beiden Seiten gemacht. Trotz der Ungunst der Zeiten verlief die Hochzeit glanzvoll, wie es sich für den Sohn eines Großbauern und Bürgermeisters geziemt. Die jungen Eheleute würden den Törwinghof übernehmen und die alte Mutter Theres hoffte noch Urenkel auf den Armen wiegen zu können. Sie war noch immer rüstig und guter Dinge, nur ihre Enkelin Rosemarie machte ihr Sorgen. „War ja immer schon ein rechtes Lausdirndl", sagte sie zu Regina, „ein unbändiges, übermütiges Ding, nix wie dumme Streich im Kopf. Ist halt überall und von allen immer verwöhnt worden, weil sie hübsch und lustig ist. Aber daß sie jetzt mit einem Ami herumzieht, das gehört sich eben nicht." „Was?" Regina war ehrlich empört. „Mit einem Ami hat sie angebandelt? Ja, was fällt denn der ein? Ist eine Törwingerin und führt sich auf wie ein Flitscherl!" „Gelt, das sagst du auch. Sind nämlich wirklich lauter nichtsnutzige Flitscherl, die da so ums Camp herumstreichen, weil sie Schokolade und Zigaretten und diese Dingsda, die Nylons, möchten. Ist wirklich eine Schand'. Eine einheimische Bauerntochter, hat die das nötig? Die sollte doch mehr auf sich halten." „So ein Lausdirndl, na, der tät' ich ja schön kommen. Warum verbietet's denn der Peter nicht? Die gehört doch eingesperrt und zwanzig hintendrauf hätt' sie auch verdient." „Ja mei, natürlich hat er's ihr verboten, aber was -
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willst machen? Sie ist mündig, da kannst sie nicht mehr einsperren. Die ist imstand und geht auf und davon." Regina nahm sich trotzdem den Bruder vor und sagte ihm unverblümt die Meinung. „Weiß ich doch alles", sagte er ungehalten, „kannst dir die Sprüch' sparen. Meinst, es kränkt mich nicht? Meine älteste Tochter, und so ein sauberes Mädel! Freilich, ganz so schlimm, wie die Mutter meint, ist es nicht. Sie sind verlobt, der Jim ist ganz vernarrt in die Rosemarie und möchte sie am liebsten gleich heiraten. Sie sagt, er ist ein grundanständiger Mensch. So, was sagst jetzt?" „Was? Verlobt sind s'? Ja, ist denn die narrisch? Verlobt mit so einem, von dem man gar nix weiß und von so weit her! Dabei könnt' das Mädel hier die besten Partien machen. Was ist er denn? Kennst ihn denn überhaupt?" „Freilich kenn' ich ihn. Ein Bauernsohn ist er halt, oder Farmer, wie sie drüben sagen. Haben eine Riesenfarm, ist alles mehr wie eine Industrie, weißt, also gestandene Leut' sind das schon, alles was recht ist. Ich kann ja nicht viel mit ihm reden, aber die Rosemarie hat schon ganz gut Englisch gelernt, sie plappert wie ein Papagei. Und sie sagt, die Farmersfrauen drüben täten sich nicht so schinden wie unsere Bäurinnen, überhaupt keine Feldarbeit machen, und im Haus haben s' für alles elektrische Maschinen. Am Abend ziehn sie sich fesch an und zum Wochenend fahren s' in die Stadt zum Tanzen oder sonst zu einem Vergnügen." „Soso", sagte Regina grimmig, „ja, das tät' freilich der Rosemarie pfeilgrad passen, die hat noch nie einen richtigen Gusto auf die Landarbeit gehabt. Ich bin halt mehr vom alten Schlag." 123
„Ja du", sagte Peter und schaute ihr aufmerksam in das hagere, viel zu faltige und gelbe Gesicht. „Siehst wieder einmal recht abgerackert aus, Regina. Ich glaub', du mutest dir zu viel zu. Bist wohl du es, die eigentlich den Hof führt, wie mir scheint." „Ich schau' schon auf mein Sach und das ist auch nötig. Der Mathis muß viel unterwegs sein, ist alles so schwer zu beschaffen, weißt es ja selber." Gewiß. Peter wußte noch viel mehr. Er wußte dies und jenes von dem sauberen Schwager, der ja schon immer ein Halodri gewesen war. Er wußte zum Beispiel, daß er sehr viel Zeit bei der Pächterin des Alpenhofes in Gschwending verbrachte, einer gewissen Kati Ritzauer. Das war eine ansehnliche Witwe von neununddreißig Jahren, geschäftstüchtig und durchtrieben, mit reschem Mundwerk, und sie verstand die Männer zu nehmen. Sie genoß nicht den besten Ruf, man munkelte von umfangreichen Schwarzhandelsgeschäften, in die sie verwickelt sein sollte. Wußte Regina etwas davon? Ganz verborgen konnte es ihr kaum geblieben sein. Aber sie war wohl zu stolz, sich darüber zu beklagen. Diese Ehe zwischen Mathis und Regina hatte eben von Anfang an unter keinem guten Stern gestanden. Wenn die rechte Liebe fehlt, ist es halt schwer, dachte Peter und blickte zu seiner Rosl hin, jetzt eine hübsche und würdige Bräutigamsmutter und noch immer sein Sonnenschein. *
Kurz vor Weihnachten kam auch Hans Brokenhorst aus der Gefangenschaft zurück. Er sah nicht eigentlich schlecht 124
aus, aber eine Erholung und kräftige Kost konnte der große schlanke Mann mit dem energischen Kopf schon brauchen. Da zeigte sich Regina nicht kleinlich. Übrigens bekam Engelke jetzt viele Pakete von ihrer Schwester aus Amerika und konnte sich bei den Kranwittern mit lange entbehrtem Kaffee und anderen Köstlichkeiten revanchieren. Nachdem die erste, tiefe Freude über das Wiedersehen mit der geliebten Frau und dem prächtig herangewachsenen Sohn vorüber war, wurde Hans Brokenhorst rastlos. Was nun? fragte er sich. Seine glänzende Stellung bei der Hamburger Werft war er natürlich los, denn die lag still; wer konnte wissen, wann sie wieder zum Leben erwachen würde? Hier in Hellesried war natürlich nichts für ihn zu finden, kaum in München, das noch arg zerstört war. Er wollte nach Hamburg zurück. N u r mit Mühe vermochte Engelke ihn dazu zu bewegen, noch einige Monate zur gründlichen Erholung zuzugeben. Schließlich willigte er ein, bis Ostern zu bleiben. Engelke, die einst mit solchem Widerwillen nach Hellesried gekommen war, fiel es jetzt beinahe schwer, sich davon zu trennen. „Ich werde Sie vermissen", sagte Regina, und das war ja ein großes Wort von dieser zurückhaltenden Frau. „Ich werde Sie vermissen", sagte auch ,Sokrates'. Sie liefen alle zusammen viel Ski in diesem Winter. Wenn sie auch nicht viel davon sprachen, war es doch oft schon wie eine leise Abschiedsstimmung bei diesen Touren. Am vorletzten Tag wollten sie noch einmal auf den Kracherkogel, denn der bot doch die bei weitem schönste Abfahrt. 125
Engelke nahm ihren Mann beiseite. „Wir wollen die beiden Jungen heute mal allein gehen lassen", sagte sie. Er sah sie an, zunächst verwundert. Dann verstand er sie. „Ach so — du meinst — ? " „Ja, es schwingt etwas zwischen den beiden, etwas sehr Schönes, eine erste Liebe. Sie wissen es nur noch nicht recht." Barb und Uwe, zwei junge Menschen an der Schwelle des Erwachsenseins, so rank und frisch, daß es eine Freude war, sie anzusehen. Es gab an diesem Tag nur wenige Skiläufer. Die Sonne brannte heiß. Sie machten an derselben schneefreien Stelle Rast, an der sie damals mit Flori gesessen hatten, streckten sich lang aus und dann legte Uwe seinen Kopf in Barbs Schoß. Sie ließ es geschehen. „Barb?" „Ja, Uwe?" „Es tut mir leid, von hier wegzugehen." „Mir tut es auch leid, daß du gehst, Uwe." „Es war eine schöne Zeit." „Ich werde sie nie vergessen." „Ich auch nicht. Wirst du mir schreiben?" „Klar, darauf kannst du dich verlassen." „Und wirst du einmal wiederkommen?" „Ich möchte schon." Kleine Pause. „Du gehst so weit weg, Uwe." „I wo, das ist doch nicht weit. Die Welt wird immer kleiner." „Und in der großen Stadt. Ich — meine " 126
Er blickte sie mit verhaltener Zärtlichkeit an und lächelte. „Ich weiß schon, was du meinst." Schimmerte es da nicht feucht zwischen Barbs Wimpern? Er setzte sich auf, legte den Arm um sie und küßte ihr ein paar Tränen von den Wimpern. Und dann küßte er auch ihren Mund *
Das Leben hatte viel an Glanz verloren, seit Uwe und Engelke fort waren. Dr. Carsten war nun fast der einzige, mit dem sich Barb über viele sie interessierende Dinge unterhalten konnte. Es war immer äußerst spannend und interessant, wenn er in seiner geistreichen Art von seinen Reisen und Abenteuern erzählte. Aber kann ein alter Sokrates, auch wenn er noch so weise und amüsant ist, einen jungen, hübschen Uwe ersetzen? Einen Uwe, mit dem man so herrlichen Spaß haben und alles besprechen konnte? Nein, das war natürlich unmöglich. Aber sie durfte es sich nicht merken lassen, um Stasis Sticheleien über den entschwundenen Verehrer nicht neue Nahrung zu geben. Briefe kamen aus Hamburg und wurden beantwortet. Aber was konnte sie ihm aus Hellesried schon groß schreiben? Oder aus Selbing? Was war da schon los? Nichts, was er nicht kannte, und alles in täglicher Wiederholung. Zum Sommer stand ihr Examen bevor. Sie mußte tüchtig lernen, aber dann bestand sie es mit Glanz. In den großen Ferien galt es, tüchtig auf dem Kranwitthof mit 127
zuzupacken. Dann würde man weiter sehen, was mit ihr geschehen sollte. Und dann trat in dem alltäglichen Einerlei etwas ein, was für Barb ein erschütterndes Erlebnis, für die Hellesrieder aber eine Sensation war. Eines Tages hielt ein Jeep vor dem Kranwitthof und ihm entstieg ein junger, amerikanischer Soldat. Er ging in das Haus, wo Regina zufällig allein anwesend war — alle anderen waren auf dem Feld bei der Ernte. Er grüßte höflich und fragte dann in geläufigem Deutsch, wenn auch mit stark amerikanischem Akzent: „Entschuldigen Sie bitte, wohnt hier ein Fräulein Barbara Maria Eis?" Regina sah ihn zuerst verblüfft und dann ungnädig an. Was wollte denn der hier? Sollte Barb es gewagt haben, sich von einem Ami ansprechen zu lassen? In Selbing vielleicht? Und sollte der die Frechheit haben, darauf hin hierherzukommen? Na, dem würde sie rasch ein Ende machen! „Was wünschen Sie denn?" fragte sie so kurz wie möglich. Der junge GI schien ihre Gedanken zu erraten. Er lächelte. „Nichts Unrechtes, Frau Kranwitt. Ich komme im Auftrag von einer Tante von Fräulein Eis und habe ihr etwas von Wichtigkeit zu übergeben." Regina bekam Herzklopfen. Das war es also! Nach all diesen Jahren meldete sich jemand von Barbs Verwandten. Du lieber Himmel, wer hätte das gedacht! Wollten die Barb nun beanspruchen? Hatten sie ein Recht darauf, nachdem sie sich so lange nicht um sie gekümmert hatten? Das alles raste Regina in Blitzesschnelle durch den Kopf. Dann besann sie sich auf ihre Wirtinnenpflichten. 128
„Das ist natürlich eine Überraschung", sagte sie, „auf die ich nicht gefaßt war. Kommen Sie doch bitte in das Wohnzimmer." Sie führte ihn in die schöne, zirbelholzgetäfelte Stube. Sie war der Stolz des Hauses, in altem Bauernbarock gehalten und so schön, daß sie schon in Kunstzeitschriften abgebildet worden war. Er sah sich neugierig um, so etwas hatte er noch nie gesehen. Es gefiel ihm; er hätte nie gedacht, daß so viel alte Kultur in einem Bauernhaus stecken könne. Eigentlich hat er kein unsympathisches Gesicht, mußte Regina fast wider Willen denken. Sie schenkte ihm einen Kranwittschnaps ein. „Barb ist nicht da", sagte sie und hatte sich inzwischen etwas gefaßt. „Sie ist draußen auf dem Feld — ich werde sie holen." „Danke, Frau Kranwitt, ich werde warten." Er stand auf und öffnete ihr höflich die Tür. Barb wurde trotz der Sonnenglut ganz weiß im Gesicht, als Regina ihr diese unglaubliche Nachricht brachte. „Was?" rief sie, „eine Tante habe ich? Und in Amerika? Und die hat sich die ganzen Jahre nicht um mich gekümmert?" Sie warf trotzig die Lippen auf. „Na gut, wir werden ja sehen, ich bin gespannt. Aber ich will mich rasch umziehen, Mutter, der soll nicht denken " „Daß du hier wie eine Magd arbeitest. Nein, nein, mach dich nur hübsch. Der braucht uns nicht für notige Hungerleider zu halten." Barb zog zwar kein Feiertagsgewand an, das wäre ihr übertrieben erschienen, aber sie nahm ein hübsches, frisches Dirndl aus dem Schrank, bürstete ihre Haare, tat ihr 129
goldenes Kreuz um und ging dann so gelassen, wie sie vermochte, in die Wohnstube. Der junge Soldat sprang auf und starrte sie an. Mein Gott, was für ein Mädchen, dachte er, die ist ja hübsch, sogar verteufelt hübsch. „Ich heiße Bill Spencer", sagte er, „und bin der Stiefsohn Ihrer Tante Elisabeth Spencer." „Und das ist wirklich eine Tante von mir?" „Nun, sie ist die Halbschwester Ihrer verstorbenen Mutter, wissen Sie." Barb schwieg einige Sekunden und blickte finster drein. „Und warum hat sie sich die ganze Zeit nicht um mich gekümmert?" „O bitte, Fräulein Eis, sehen Sie mich doch nicht so böse an. Ich kann ja nichts dafür. Nicht wahr?" Barb riß sich zusammen. „Verzeihen Sie. Aber Sie werden verstehen, daß ich ziemlich durcheinander bin." „Das verstehe ich sehr gut", sagte er mit einem netten Lächeln. „Also, um auf den Zweck meines Besuches zu kommen: ich habe nämlich einen Brief für Sie von Mammy, so nenne ich Ihre Tante, einen dicken Brief. Es war sicher nicht leicht, ihn zu schreiben. Ich muß Ihnen sagen, daß Mammy leider sehr krank ist. Und da — ja, wie soll ich mich ausdrücken — —" „Da hat ihr vielleicht das Gewissen geschlagen", sagte Barb ziemlich bitter. „Nun ja, vielleicht kann man es so nennen. Der Brief ist eine Art von Beichte, ein Rechenschaftsbericht. Sie hat mir den Brief vorgelesen. Ich hoffe, es ist Ihnen nicht unangenehm, aber Mammy sagte, ich solle nichts überbringen, was ich nicht kenne, und Sie würden vielleicht mit 130
mir darüber sprechen wollen und einige Fragen zu stellen haben. Das können Sie ruhig, Fräulein Eis, wir sind ja gewissermaßen Vetter und Kusine." Barb blickte ihn recht kühl an. Das mußte sie sich noch sehr überlegen, ob sie mit dem Vetter und Kusine sein wollte. „Nun, geben Sie den Brief nur her." „Ja, aber bitte, lesen Sie ihn ohne Voreingenommenheit. Nicht mit Groll. Versuchen Sie auch, Ihre Tante zu verstehen, oder, wenn Sie das nicht können, ihr wenigstens zu verzeihen." „Das überlassen Sie nur mir. Wollen Sie noch einen Schnaps? Hier sind auch Zigaretten." „Danke, ich habe selber. Ein guter Schnaps. Wollen Sie nicht auch ein Glas?" Nein. Barb wollte nichts haben. „Soll ich vielleicht hinausgehen, während Sie den Brief lesen?" schlug er vor, als er ihr das Schreiben überreichte. „Nein, bleiben Sie nur hier. Aber ich werde den Brief lieber auf meinem Zimmer lesen." Das war besser, fand sie. Er sollte nicht dabeisitzen und sie beobachten. Und wer konnte wissen, ob ihre Selbstbeherrschung durchhielt. „Ja, das verstehe ich", sagte er, stand auf und öffnete auch Barb höflich die Tür. Barb nahm den Brief mit sich in ihre Kammer. Es war dieselbe, die Uwe bewohnt hatte und die sie nun allein bewohnte. Da die andern Mädchen sie beim Lernen gestört hatten, war es so eingerichtet worden, zu Barbs großer Befriedigung. Einen Augenblick wog sie den schicksalsschweren Brief 131
noch in der Hand. Jetzt sollte sie also erfahren, was für eine Bewandtnis es mit ihrer Geburt hatte. Beinahe fürchtete sie sich ein bißchen davor. Dann riß sie entschlossen den Brief auf. Er war in einer feinen, etwas zittrigen Schrift geschrieben. Sie las: Liebe Barbara, dies ist eine Beichte und eine Aufklärung, die ich Dir schuldig bin. Ich will nichts beschönigen und alles genau so berichten, wie es sich zugetragen hat. Deine Mutter und ich waren Halbgeschwister, sie hieß Hildegard, war sechs Jahre älter als ich, wir hatten dieselbe Mutter, aber verschiedene Väter. Mit zwanzig Jahren heiratete Deine Mutter einen älteren, wohlhabenden Mann, Karl Bernt. Sie wünschte sich sehnlichst Kinder, aber sie blieben aus. Da wurde sie einmal von rheinischen Bekannten in das Schlößchen Sabinenhöhe bei Hellesried eingeladen. Dort fand am 29. August immer ein Volksfest statt, zu dem die Hellesrieder eingeladen wurden. Dabei lernte Hilde eine Regina Kranwitt kennen, die tüchtigste und angesehenste Bäuerin des Ortes. Sie war ebenfalls kinderlos. Hilde fand Gefallen an der braven Frau. Dann hörte sie von Maria im Eis und der Legende, die damit verknüpft ist. Sie fuhr hin, es machte einen großen Eindruck auf sie und sie erflehte inbrünstig Kindersegen. Aber er blieb ihr weiterhin versagt. Bald darauf starb ihr Mann. Er hinterließ nicht so viel, wie erwartet; immerhin ein kleines Vermögen. Die Eltern sind auch gleich darauf gestorben. Ich mußte mir als Stenotypistin mein Brot verdienen. Dann lernte ich einen jungen Mediziner kennen. Wir verlobten uns, 132
aber an eine Heirat war vorderhand nicht zu denken, wir hatten beide kein Geld und er war mit seinem Studium noch nicht fertig. Doch ich wollte gern warten, denn ich liebte ihn über alles. Da kam Deine Mutter dazwischen und zerstörte mein Glück. Sie kam, verliebte sich leidenschaftlich in ihn und er ließ mich sitzen. Hilde war viel schöner als ich, eine sehr verführerische Frau; es war also kein Wunder, daß sie ihn bezauberte, und außerdem konnte sie den Rest seines Studiums finanzieren. Kurzum, sie heirateten sehr bald und mir brach es fast das Herz. Ich haßte sie beide, Gott verzeih mir die Sünde! Er hieß, nun wirst du staunen, er hieß Martin Eis! Das ist also Dein richtiger Name. Deine Mutter nahm diesen Zufall als gutes Omen und sie hatte recht, nun wurde ihr Wunsch erfüllt, sie sollte ein Kind bekommen. Aber ehe es zur Welt kam, verunglückte Martin Eis bei einem Autounfall tödlich. So entsetzlich dies war, ich fühlte dabei eine gewisse Genugtuung. Nun sollte also auch Hilde ihn nicht haben, sie, die ihn mir geraubt hatte! Ich weiß, das war sehr häßlich von mir, ich habe mich dann auch geschämt und es kam eine Art von Versöhnung mit Deiner Mutter zustande. Sie war so mitgenommen von dem Schlag, daß sie sich ganz in die Einöde eines Eifeldorfes, zu ihrer ehemaligen alten Kinderfrau, zurückzog. Dort kamst Du zur Welt. Hilde fühlte, daß sie nicht mehr lange leben würde, sie rief mich zu sich und ich kam. Damals hatte ich schon den Plan, mit Verwandten meines Vaters nach den USA zu gehen. Deine Mutter sagte mir, ich solle mich davon nicht abhalten lassen. Am besten wäre es, wenn ich das kleine Mädchen zur Regina Kran133
witt nach Hellesried brächte. Die hätte keine Kinder und da würde das Kind es gut haben, besser als in einem Waisenhaus. Es sollte Barbara Maria Eis heißen. Ich schrieb mir die Adresse auf. Dann starb Deine Mutter, ich begrub sie und ordnete rasch den Nachlaß. Es war nicht allzuviel, was übrigblieb; im ganzen etwas über 10000 Mark. Ich habe davon 3000 behalten; ich weiß, daß ich dazu kein Recht hatte, aber ich brauchte Geld für die Reise und die erste Zeit drüben. Du bekommst das Geld mit Zins und Zinseszins wieder und mehr dazu, das ist längst testamentarisch festgemacht. Meine amerikanischen Verwandten drängten auf Abreise. Sie waren Deiner Mutter nie sehr gewogen gewesen und überredeten mich, das Kind so bald wie möglich auf den Kranwitthof zu bringen. Ich war jung, erst zweiundzwanzig Jahre, und unerfahren. Erst später ist es mir voll zum Bewußtsein gekommen, daß eine Kindesaussetzung eine strafbare Handlung ist. Meine Verwandten sagten, Deine Mutter habe es doch selbst so gewollt, und es ginge am raschesten, wenn ich das Kind den Leuten vom Kranwitthof einfach als Findelkind hinterließe. Die Verwandten fuhren mich im Auto nachts nach Hellesried und alles ging über Erwarten glatt. Kein Hofhund bellte und die Stalltür war nicht verschlossen. Da legte ich Dich hinein und wir fuhren rasch wieder davon. Das Geld warf ich bei dem Münchner Notar ein und dann sind wir schon am nächsten Tag von Hamburg aus nach Amerika gefahren. Von mir will ich nicht viel berichten. Ich habe zuerst hart arbeiten müssen. Jetzt bin ich zum zweiten Male verheiratet. Eigene Kinder habe ich nicht, vielleicht — nun lassen wir das. Mein zweiter Mann hatte zwei halbwüchsige Buben, als ich ihn heiratete; einer da134
von ist Bill, der Dir diesen Brief überbringt, ein braver Junge. Du kannst ihm voll vertrauen. Jetzt bin ich leidend, das Herz streikt und vielleicht habe ich nicht mehr viel Zeit. Ich hoffe aber, Gott wird mir noch eine kleine Frist geben, um mein Unrecht wieder etwas gutzumachen. Wenn ich auch hoffe, daß Du es auf dem Kranwitthof gut hattest, vielleicht besser, als ich es Dir hätte bieten können. Liebe Barbara, wir sind nicht reich; ein Leben in Luxus kann ich Dir nicht bieten, aber doch eins in angenehmen Verhältnissen und ein behagliches Heim. Ich habe einen guten Mann, er lädt Dich durch mich herzlich ein, zu uns zu kommen. Wir wohnen in einer hübschen, mittelgroßen Stadt in New Jersey, in Ellscourt. Da die Verhältnisse in Deutschland jetzt so schwierig sind, könntest Du Dich vielleicht leichter entschließen, zu kommen. Die Reise würden wir Dir natürlich bezahlen. Wir haben uns bei dem Münchner Notar erkundigt und erfahren, daß Du ein braves, hübsches Mädchen geworden bist und auch eine gute Schulbildung genossen hast. Damit könntest Du Dir hier sicher eine gute Zukunft schaffen. Aber natürlich hängt es nicht nur von Dir ab, sondern auch von den Leuten vom Kranwitthof, denen Du Dank schuldest und die wohl auch dem Gesetz nach ihre Einwilligung geben müßten. Ich bitte Dich herzlich, liebe Barbara, Dir alles gut zu überlegen und mich nicht zu hart zu verurteilen. Die Leidenschaften und Irrungen meiner Jugend liegen weit hinter mir. Ich möchte meinen Frieden mit Gott und mit Dir schließen, liebe Barbara. Deine Tante Elisabeth Spencer. 135
Barb ließ den Brief sinken und saß eine Weile tief in Gedanken versponnen da. Die überwiegende Empfindung war zunächst: Ich bin wirklich Barbara Maria Eis, kein „Bankert"! Es tat gut, dies zu wissen. Und ihre Tante? Nein, sie wollte sie nicht zu hart verurteilen. Wie konnte sie das, nach diesem Brief? Aber Verpflichtungen hatte sie natürlich keine gegen sie. Eine Verpflichtung, eine Dankesschuld hatte sie einzig und allein gegen Regina. Sie ging zu ihr, die äußerlich ruhig, aber innerlich gespannt auf Barbs Kommen gewartet hatte. „Da, Mutter", sagte sie nur einfach, „lies den Brief." Regina las bedächtig, sie nahm sich Zeit dazu und dachte wohl in ihrer überlegsamen Art gleich über das Gelesene nach. Dann blickte sie Barb an. „Ist schon gut, daß man jetzt Klarheit hat", sagte sie beherrscht. „Gut auch, zu wissen, daß du von rechtschaffener Herkunft bist. Also, Barb, wenn du fahren willst, ich werde dich nicht daran hindern und der Mathis sicher auch nicht." Barb schüttelte leise, aber bestimmt den Kopf. „Wenn du mich weiterbehalten willst, Mutter, bleibe ich lieber bei dir." Da leuchtete es in den müden Augen Reginas auf. Sie öffnete wortlos die Arme und Barb flog hinein. „Du bist meine Mutter", sagte sie unter Tränen, „und ich bleibe bei dir." „Und du bist mein Kind, bist mir ebenso lieb wie meine eigenen. Ganz gewiß, kannst es mir glauben." Sie hielten sich eine Weile stumm umschlungen, zu bewegt, um mehr zu sagen. Dann trocknete Barb ihre Tränen, 136
wusch ihr Gesicht und ging zu dem wartenden Bill in die Wohnstube. „Entschuldigen Sie, daß es etwas lang gedauert hat", sagte sie, und nun gelang ihr sogar ein Lächeln. „Ich danke Ihnen für die Überbringung des Briefes. Es ist mir lieb, endlich Bescheid über meine Herkunft zu wissen. Ich verurteile meine Tante nicht " „Oh, das ist gut, ich hatte es gehofft. Dann kommen Sie also zu uns? Mammy würde überglücklich sein und mein Vater würde sich auch sehr freuen. Ganz bestimmt." „Ich danke Ihnen, Mr. Spencer. Aber die Einladung kann ich nicht annehmen. Ich bleibe hier. Nicht bloß aus Pflichtgefühl und Dankbarkeit, sondern auch aus Liebe zu meiner Pflegemutter." Bills Gesicht wurde lang vor Enttäuschung. „Oh, das ist aber schade. Aber, nun ja, ich kann es andererseits auch wieder verstehen. Werden Sie Ihrer Tante schreiben?" „Gewiß, ich werde ihr schreiben und alles erklären." „Nehmen Sie ihr aber nicht jede Hoffnung, daß Sie später vielleicht einmal kommen. Vergessen Sie nicht, sie ist leidend." „Meine Pflegemutter ist auch nicht gesund, wir merken es alle schon lange. Sie schont sich zu wenig, daher muß man sie nach Möglichkeit etwas entlasten. Das ist auch ein Grund, weshalb ich jetzt nicht fahren könnte, selbst wenn ich möchte." „Oh ja, das ist etwas anderes. Aber schreiben Sie Mammy trotzdem, daß Sie später einmal kommen, wenn auch nur auf einen längeren Besuch. Das wird sie trösten." 9
Findelkind vom Kranwitthof
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„Nun ja, das kann ich ihr schon schreiben, es hängt aber alles von den hiesigen Umständen ab." Es entstand eine kleine Pause und Barb erwartete eigentlich, daß Bill sich jetzt empfehlen würde. Statt dessen sagte er: „Einen Augenblick, Fräulein Eis, ich habe etwas für Sie." Er ging hinaus und holte ein großes Paket aus dem Jeep. „Das schickt Ihnen Mammy", sagte er, „hoffentlich freut es Sie ein bißchen." Barb öffnete den Karton. Zum Vorschein kamen mehrere sehr gute und schicke Kleider, ein Mantel, schöne Wäschegarnituren, Nylonstrümpfe und vieles andere, was ein Mädchenherz erfreuen kann. Außerdem waren Kaffee, Tee, Schokolade und andere langentbehrte Genußmittel darin. „Mammy meinte, Lebensmittel gibt es auf einem Bauernhof genug; sie schickt Ihnen also, woran hier noch Mangel ist. Für Schuhe muß sie erst Ihre Größe haben, und wenn die Kleider nicht passen, tauschen wir sie gegen andere um." Barb verschlug es zunächst die Sprache. Aber sie hätte ja kein junges Mädchen sein müssen, um sich nicht schrecklich über diese für sie geradezu märchenhafte Pracht zu freuen. „Aber, das ist ja eine ganze Ausstattung", rief sie schließlich ganz benommen. „Wie wunderbar, aber viel zu kostspielig! Wie kann sich Tante Elisabeth nur solche Ausgaben machen?" „Halb so schlimm. Wir haben nämlich ein Modegeschäft. 138
Mammy besteht darauf, diese Sachen von ihrem eigenen Geld zu bezahlen, obwohl Vater das reichlich übertrieben findet. Sie wird Ihnen jetzt öfters Pakete schicken. Sie verstehen, das ist eine kleine Wiedergutmachung, und da können Sie es natürlich um so eher annehmen." Barb rannte mit ihren Schätzen in die Küche zu Regina und verehrte ihr gleich den Kaffee und Tee. „Da müssen wir wohl den Bill Spencer zum Kaffee dabehalten", meinte sie. Regina war geradezu aufgeräumt, es war alles so über Erwarten gut abgelaufen. Barb blieb bei ihr, sie war von anständiger Herkunft, das sollte nur ruhig unter die Leute kommen, da würden die Klatschmäuler von Hellesried was zu tun kriegen. Und es schadete gar nichts, wenn man Bill herzeigte, er war dann der lebende Beweis. „Natürlich bleibt er zum Kaffee da", entschied sie, „glücklicherweise habe ich gestern einen frischen Zopf gebacken. Wenn er Zeit hat, kann er auch bei uns übernachten. Ist ja gar kein so übler Bursche." Bill hatte Zeit, er blieb sehr gerne. Die andern kamen erst gegen Abend vom Feld heim und rissen Mund und Augen auf, als sie die große Neuigkeit hörten. Wenn Stasi neidisch war auf die schönen Sachen, die Barb bekommen hatte, so zeigte sie es nicht. Im Gegenteil, sie tat ihr recht schön. Von der konnte man jetzt etwas erben. Stasi war immer bereit, ihr Mäntelchen nach dem Wind zu hängen. Aber vorher trank Regina mit den beiden jungen Leuten allein den Kaffee in der schönen Wohnstube, und man wurde dabei besser bekannt. 9*
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„Wenn ihr doch gewissermaßen verwandt seid, könnt ihr auch du zueinander sagen und euch beim Vornamen nennen", meinte Regina. „Ja", sagte Bill, „das wollte ich auch schon vorschlagen. Und darf ich öfters wiederkommen? Ich finde es so gemütlich bei euch. Ich bin zwar in Stuttgart stationiert, aber von da kann man ja rasch herflitzen. Ich bekomme jetzt auch einen eigenen Wagen." Barbs Augen leuchteten. „Da flitze ich gern mal mit. Flori kann als Anstandswauwau mitfahren." Als alle schlafen gegangen waren, lag Barb noch lange wach. Sie las den Brief der Tante mehrmals durch und dachte über alles nach. So vieles war heute auf sie eingestürmt. Mit einem Gebet für ihre frühverstorbene Mutter schlief sie schließlich ein.
Zeitig am nächsten Morgen war Bill abfahrtsbereit, er mußte nun fort, sein Urlaub war zu Ende. „Wie hast du denn geschlafen?" fragte Barb. „Wundervoll. Wie ein junger Gott. Kunststück, in der guten Luft. Es war überhaupt riesig nett." „Dann kommen Sie nur recht bald wieder", sagte Regina. „Das sollen Sie nicht umsonst gesagt haben, Frau Kranwitt. Ich kann schon auch immer etwas Kaffee und Zigaretten mitbringen." „Aber nein, das sollen Sie nicht. Sie haben schon viel zuviel mitgebracht." Bill lachte. Eine brave, rechtschaffene Frau, die Kran140
witterin. Ihr Mann schien von einem anderen Kaliber. Er nahm Bill beiseite. „Hören Sie einmal, Herr Spencer", flüsterte er, „könnten Sie mir zwei Paar von diesen Dingsda, diesen Nylons, bringen? Aber eine größere Nummer. Natürlich nicht umsonst", fügte er eilig hinzu. „Vielleicht gegen Schnaps? Unser Kranwitter hat Ihnen doch geschmeckt, gelt?" „Ich müßte mich danach umsehen", sagte Bill etwas zurückhaltend. Er war in vieler Beziehung ein noch recht naiver Junge, wie so viele von den amerikanischen Soldaten; aber so viel ahnte er doch, daß es mit diesen Nylons mit der größeren Nummer nicht ganz geheuer war. Tatsächlich lebte die Kati Ritzauer vom Alpenhof auf ziemlich großem Fuß, und sie hatte eine besondere Vorliebe für die damals noch so seltenen Nylons. Nein, Bill fand die brave Regina viel sympathischer. Die kleine Burgl war wild begeistert von Bill. Sie sprang an ihm hoch und umarmte ihn. „Bill, du bist jetzt mein Schatz", krähte sie, „ich will auch einen Schatz haben. Sag ja! Die Barb hat ihren Uwe und die Stasi den Schneithuber Alois. Das heißt, sie hat ihn nicht, aber sie möchte ihn gern haben, hihihi." Bill schwenkte sie im Kreis herum. „Was du nicht sagst? Du hast noch kein Sweetheart? So ein hübsches Mädel wie du? Das ist ja unerhört! Haben die Burschen hier keine Augen im Kopf?" Burgl hielt sich ihren kleinen Bauch vor Lachen. „Ach, Bill, du bist pfundig; gelt, du verstehst mich? Wann kommst du denn wieder?" „Bald. Ich werde die Tage zählen, das kannst du dir denken, jetzt wo ich ein Sweetheart habe." 141
Dann schüttelte er allen die Hände in der Runde, kletterte in den Jeep und sauste davon. Aber Regina fuhr auf die Burgl los. „Wie führst du dich denn auf, du Lausdirndl? Schämst du dich nicht? Dazu bist du doch schon zu groß, um solche Dummheiten zu machen." Aber Burgl sah keineswegs zerknirscht aus. Sie rannte davon, kicherte und tanzte auf einem Bein. Die Knechte und Mägde waren schon draußen auf dem Feld bei der Arbeit. „Wird Zeit, daß ihr auch aufs Feld kommt", sagte Regina zu ihren Kindern; aber es war klar, daß sie vor allem Mathis meinte. „Grad habe ich's auch sagen wollen", brummte Mathis und streifte seine Frau mit einem unfreundlichen Blick. Immer mußte sie wie mit der Hetzpeitsche hinter allen her sein. Das wußte er schon selber, daß die Ernte geborgen werden mußte, solange das schöne Wetter anhielt. Aber dann wollte er sich einige vergnügte Tage machen, er wußte schon wo. Die Kathi war kein so scharfer Besen. Bei der konnte sich ein Mann erholen und seines Lebens ein bißchen freuen. „Ich komm' dann auch naus, wenn ich im Haus fertig bin", sagte Regina. Barb schaute ihr besorgt in das müde Gesicht. „Mutter, das solltest du heute vielleicht lieber lassen. Du siehst abgespannt aus." „Ach, geh; das ist bloß die Hitz'." „Darf ich dir geschwind ein bisserl in der Küche helfen, eh ich hinausgeh'?" „Meinetwegen." Mit einem kleinen, geradezu ver142
schmitzen Lächeln blickt sie Barb an, als sie dann allein in der Küche waren. „Hab's schon gespannt, daß du mich was fragen möchtest, und ich weiß auch, was." „Weil du halt eine gescheite Frau bist, Mutter. Ja, du hast's schon erraten. Es ist wegen dem Brief. Da steht doch drin, daß dich meine Mutter auf dem Sabinenschlößl kennengelernt hat. Kannst du dich daran erinnern? Geh, sei so gut und denk scharf drüber nach und sag mir alles. Wie hat sie ausgesehen? Und was habt ihr geredet?" „Ja weißt, an viel kann ich mich nicht erinnern. Auf dem Sabinenfest war immer ein großer Trubel mit viel Leut. Man hat hier und da ein Wörtl geredet, wie sich's grad getroffen hat. Aber ich weiß schon noch, daß einmal eine junge Frau da war, mit Haaren, wie du sie hast." Barb lauschte atemlos. „War sie auch sonst wie ich?" Regina lächelte etwas ironisch. „Ja, so genau kann ich mich nicht erinnern, aber ich mein', sie wäre schon hübscher gewesen als du. Ja, ich glaub', sie war eine sehr hübsche Frau, aber traurig hat sie ausgeschaut. Sie hat gesagt, das muß schön sein, so einen alten Hof zu haben, aber wie schade, daß keine Kinder da sind. Und sie hätt' leider auch keine. Ja, das war eigentlich alles. Mehr kann ich dir beim besten Willen nicht sagen." „Schade. Vielleicht weiß der Kastellan vom Sabinenschlößl was, der Bichlmeier?" „O mei, bei den vielen Besuchen, wo die dort immer gehabt haben. Aber versuchen kannst es ja." „Ja, das tu ich heute abend. Was sind denn das eigentlich für Leute, denen das Sabinenschlößl gehört?" Aber nun wurde Regina ungeduldig. „Geh, jetzt laß 143
mir meine Ruh, ich hab' jetzt was anderes zu tun. Zieh die Bettwäsch' im Zimmer vom Spencer droben ab und trag s' in die Waschküch'." Barb tat, wie ihr befohlen. „Fragst den Lehrer Zierlein nach dem Sabinenschlößl", sagte Regina dann, „der weiß das alles viel besser als ich." Ja, das wollte Barb dann am Abend ebenfalls tun. Jetzt mußte sie zu den andern aufs Feld. Der silberhaarige Herr Zierlein pusselte an seinen Rosen herum, als Barb ihn am Abend aufsuchte. Auch „Sokrates" war anwesend, und der Hund Stepke begrüßte Barb freundlich. „Über das Sabinenschlößchen willst du etwas wissen?" fragte Herr Zierlein. „Das heißt, ich muß wohl jetzt eigentlich Sie sagen zu so einer jungen Dame, wie du jetzt schon bist." „Aber nein, Herr Lehrer, das würde mir von Ihnen ganz komisch vorkommen." „Ich dagegen", fiel „Sokrates" ein, „darf mir nicht länger diese Freiheit herausnehmen. Also, von heute ab Sie und Fräulein Barbara. Einverstanden?" „Wenn Sie es nicht anders wollen, Herr Doktor." „Schön. Aber nun soll Herr Zierlein mit seinem Bericht beginnen. Ich bin selber gespannt. Es ist ja ein recht anmutiges kleines Schloß. Echtes Rokoko." „Ja, ein Schüler von Zimmermann hat es gebaut. Wissen Sie, von dem Zimmermann, der die herrliche Wieskirche geschaffen hat." „Was Sie nicht sagen! Der Park scheint auch hübsch zu sein, wenn auch im Augenblick etwas verwildert. Eigent144
lich wundert man sich, in dieser Gegend plötzlich so ein Rokokoschlößchen zu finden. Wie kommt denn das hierher?" Herr Zierlein lächelte etwas verlegen. „Ja, das hat ein sehr hoher Herr, ein Fürst, für seine — hm — seine Favoritin gebaut. Aber das ist eigentlich kein Thema für ein junges Mädchen", sagte er und schielte Barb an. Doch die lachte. „Aber, Herr Lehrer, ich bin doch kein Kind mehr, und von Favoritinnen und solchen Sachen habe ich oft in Romanen gelesen und auch schon solche Filme gesehen, da ist doch nichts dabei." „Nein", fiel Dr. Carsten lächelnd ein, „ich glaube nicht, daß Fräulein Barbara davon Schaden an ihrer Seele nimmt. Also schön. Dieser Fürst und Lebemann hat also seiner Maitresse, so nannte man das damals, dieses reizende Liebesnest gebaut, und es war ihm wohl gerade recht, daß es so abseitig lag?" „Damals war es natürlich noch viel einsamer hier. Es gehört eine große Jagd dazu, und deshalb sind auch die jetzigen Besitzer immer gern zur Jagdzeit hergekommen." „Und die reizende Sabine? So hieß sie ja wohl? Was weiß man denn von der?" „Allerhand. Sie war ein Mädchen aus dem Volke, und wenn sie sich auch eine ziemliche Bildung und Manieren angeeignet hatte, so blieb ihr doch immer eine gewisse Urwüchsigkeit erhalten, und gerade die soll dem hohen Herrn gefallen haben." „Klar, ein erfrischender Gegensatz zu den gezierten Hofschranzen." 145
„Es sind zwei Bilder von Sabine auf dem Schloß, eins aus ihrer Jugend, da ist sie allerliebst und schelmisch, und eins als Matrone, da ist sie dick, jovial und immer noch schelmisch." „Scheint gar nicht unsympathisch gewesen zu sein, diese Sabine", meinte „Sokrates". „Nein, im Gegenteil. Sie hatte mehrere Kinder, und als die dann erwachsen waren und ihr eigenes Leben führten, zog sie ganz nach Sabinenhöhe, lud sich oft Gäste ein, auch Leute aus Hellesried, den Pfarrer, den Lehrer, und an ihrem Namenstag, dem 29. August, das ganze Dorf zu einem Fest, dem Sabinenfest. Da ging es hoch her. Sie war trotz ihrem etwas leichten Vorleben eine allseitig beliebte Persönlichkeit und hat dem Dorf auch viele Wohltaten erwiesen." „Ein Hoch der wackeren Sabine", sagte Dr. Carsten. „Und die jetzigen Besitzer haben also auch das Sabinenfest gefeiert?" „Richtiger gesagt, wurde der alte Brauch vor zirka fünfzig Jahren wieder aufgenommen. Er war lange in Vergessenheit geraten und ist jetzt natürlich durch den Krieg wieder unterbrochen worden." „Wie schade!" sagte Barb. „Wer sind denn die jetzigen Besitzer?" „Rheinische Großindustrielle, die Familie Huisken. Eigentlich gehört das Schlößchen der alten Frau Huisken, sie ist eine direkte Nachkommin der Sabine und trägt auch ihren Namen. Sie ist eine sehr nette Dame, auch jovial und lebensfroh und in Hellesried sehr beliebt. Im Krieg war das Schlößchen Erholungsheim für Verwundete und ist jetzt mit Flüchtlingen belegt. Zuvor aber haben plün146
dernde Horden wie Vandalen darin gehaust. Es ist ein Jammer." „Herr Lehrer", fiel Barb ein, „waren Sie auch immer auf diesen Sabinenfesten?" „Immer. Die habe ich mir nicht entgehen lassen. Ich weiß schon, was du fragen willst. Deine Geschichte ist natürlich wie ein Lauffeuer durch Hellesried gegangen. Zuerst hat sie Herr Doktor vom Mittagessen aus der ,Post' mitgebracht." „Stimmt", gab „Sokrates" zu. „Ich wollte nur nicht zuerst davon anfangen, wußte nicht, ob es Fräulein Barbara recht ist." Sie lachte. „Das war wohl ein gefundenes Fressen für die Klatschbasen beiderlei Geschlechts." „Nun, Sie sind in der Achtung der Hellesrieder kolossal gestiegen, und das kann ja niemals schaden. Oder?" Herr Zierlein konnte sich zu seinem großen Bedauern an keine Dame erinnern, die Hildegard Bernt geheißen hatte und Barbs Mutter gewesen war. Es war ja auch schon so lange her, und sein Gedächtnis ließ nach —. Aber Barb sollte es nur beim Schloßkastellan versuchen. „Ja, das hatte ich ohnehin vor, und ich will gleich hingehen." „Und ich begleite Sie", sagte „Sokrates". „Es fängt schon an zu dämmern, und da sollten Sie nicht allein unterwegs sein. Es treibt sich jetzt viel Gesindel herum." Barb nahm gern seine und Stepkes Begleitung an. Sie hatten eine halbe Stunde zu gehen, dann schimmerte Sabinenhöhe mit seinen Mauern aus rosa Granit zwischen Buchenstämmen hervor. Dahinter war ein Ziergarten mit 147
hohen Taxushecken, so wie auf dem Kranwitthof, nur natürlich viel größer. Herr Bichlmeier und seine Frau waren daheim. Barb trug ihr Anliegen vor. Herr Bichlmeier konnte ihr zwar selbst keine Auskunft geben, riet ihr aber, an Frau Sabine Huisken nach Bad Godesberg zu schreiben. Die würde sich bestimmt erinnern. „Wenn nur Frau Huisken mit ihrer Familie bald wieder selbst das Schlößchen beziehen könnte", sagte der alte Kastellan bekümmert. „Sie wollen ja versuchen, die Flüchtlinge umzusiedeln; hier haben diese keine Arbeitsmöglichkeit und sind selbst mit dem jetzigen Zustand unzufrieden." „Ist das Schloß arg zerstört?" fragte „Sokrates". „Die Spiegel und Stukkaturen sind mutwillig zerschlagen worden und in das große Deckengemälde im Saal haben sie hineingeschossen. Aber das läßt sich restaurieren. Die alten Rokokomöbel aus dem Saal hatte ich im Keller verstaut und eingemauert, die haben die Gangster zum Glück nicht gefunden. Alles andere haben sie zerstört oder mitgenommen, auch einige wertvolle Pelze und Teppiche, die die Herrschaften hierhergeschickt hatten, weil sie sie hier in Sicherheit glaubten." Frau Bichlmeier fiel ein. „Und als mein Mann sie daran hindern wollte, diese Wertsachen wegzuschleppen, haben sie auf ihn geschossen. Es ist nur ein Zufall, daß sie ihn bloß in das Bein getroffen haben, er könnte auch tot sein." „Na ja, schon gut, Mutter, reg dich nicht auf, das ist vorbei. Aber froh werde ich sein, wenn es hier wieder so wird wie in früheren Zeiten, hoffentlich erlebe ich es noch." 148
„Aber ja, Herr Bichlmeier, sicher. Die Familie Huisken ist ja eine weltbekannte Firma, die kann es sich schon leisten, den alten Zustand wieder herzustellen." „Nun ja, hoffentlich. Es sind sehr gute Herrschaften, und das Dorf hat auch immer gut an ihnen verdient, wenn sie da waren." „Und wird es dann wieder ein Sabinenfest geben?" fragte Barb. „Ja, das glaube ich bestimmt." Sie bedankten sich für die Auskunft und traten dann den Rückweg an. Als Barb heimkam, sah sie Stasi aus ihrer Kammer huschen. „Na, Stasi, interessieren dich meine Kleider so sehr?" fragte sie ironisch. „Möchtest wohl gern eins haben?" Stasi sah sie unsicher an. Wie meinte Barb das? Sollte sie wirklich so dumm sein, eins von diesen entzückenden Kleidern herschenken zu wollen? „Nun ja", sagte Barb, die ihre Gedanken erriet, „probiere sie halt an, vielleicht schenke ich dir eins." Das ließ sich Stasi nicht zweimal sagen. Aber während die Kleider Barb wie nach Maß gemacht saßen, paßte Stasi keins, sie war viel zu dick, vor allem in der Taille. Ärgerlich und enttäuscht mußte sie die Versuche aufgeben. „Schrecklich, wie dick ich geworden bin", klagte sie, „ich muß wirklich was von meinem Fett loswerden. Nicht, daß ich ein so dürrer Hopfenstecken sein möchte, wie du früher warst, das ist erst recht schiech. Ich werde bloß Buttermilch trinken und trockenes Brot essen." „Ein heldenhafter Entschluß", lachte Barb. Vielleicht 149
würde der Schneithuber Alois sie dann nicht mehr „fette Schmalznudel" rufen, das war wohl der Hintergrund von Stasis Gedanken. Barb schenkte Stasi zum Trost ein Paar Nylonstrümpfe. Hochbeglückt zog sie die sofort über ihre dicken Waden und lief hinunter, sich bewundern zu lassen. „Ein unsolides Gelump", meinte Regina sarkastisch, als sie die Nylons sah. „Aber in die Kirch' ziehst du mir die fein nicht an." „Geh Mutter, sei nicht gar so altmodisch", maulte Stasi. „Die Schneithuber Gretl zieht am Sonntag Nylons an und die Zirneder Mirl auch. Daß du jetzt gar keinen Sinn für ein bisserl was Modernes hast!" „Ich hab' einen Sinn dafür, daß ihr jetzt alle miteinander ins Bett geht. Morgen müßt ihr früh wieder heraus." Dagegen gab es keinen Einwand. Sie gingen. *
Als Bill auf der Autobahn gen Stuttgart fuhr, dachte er an Barb. Sie hatte also schon einen „Schatz", wie Burgl das nannte. Reichlich früh. Aber freilich, sie war so hübsch und reif für ihre Jahre, daß man sich nicht wundern konnte. Gut, daß er es wußte, sonst hätte er sich womöglich selbst in sie verliebt. Das hätte sehr leicht geschehen können, denn sie gefiel ihm über die Maßen. Das war etwas anderes als die allzu leicht zugänglichen Mädchen, die er bisher kennengelernt hatte und die ihm im Grunde mißfielen. Bill stammte aus einer ziemlich puritanischen Familie, und 150
das saß ihm doch noch in den Knochen, wenn er auch kein Spielverderber war und manchmal bei den kleinen Abenteuern der Kameraden mittat. Als die Ernte eingebracht war und alle ein wenig verschnaufen konnten, schrieb Barb an besagten Uwe einen langen Brief. Diesmal hatte sie ihm wirklich etwas Interessantes zu erzählen. Nun hatte nicht nur er eine Tante in Amerika, schrieb sie ihm, nein, jetzt könnte auch sie mit einer aufwarten. Sie schrieb ganz ohne Pathos und ohne Sentimentalität, denn ein junger Mann von heute, wie Uwe, hatte dafür natürlich nichts übrig. Aber man konnte doch zwischen den Zeilen lesen, daß es Barb stark bewegt hatte. Man konnte es herauslesen, vorausgesetzt, daß man mit Aufmerksamkeit las. Aber nach einer Woche kam eine Karte von Uwe mit einer Ansicht von Malmö. Er befände sich auf einer Segeltour mit der Jacht seines Vetters, es wäre herrlich, Wetter strahlend, ein kleiner Aufenthalt in Schweden wunderbar und so weiter. Und auf der andern Seite stand nur an den Rand gekritzelt: „Schönen Dank für Deinen Brief. Das mit der Tante aus USA finde ich pfundig. Gruß, Dein Uwe." Das war alles. Nun, vielleicht kommt noch ein Brief hinterher, dachte Barb, obwohl sie nicht recht daran glaubte. Uwe war kein Briefschreiber, das liebte er gar nicht, auch darin war er ein junger Mann dieser Zeit. Vorher hatte er geschrieben, daß er für das Abs büffeln müsse und sich daher angewöhnt habe, ab und zu bloß eine Karte zu schreiben. Und dabei blieb er. Nun gut, dachte Barb trotzig, dann will ich es auch so halten. Aber es tat ein bißchen weh, das läßt sich nicht 151
leugnen. Uwe fing wohl an, sie zu vergessen. In der großen Stadt Hamburg gab es sicher viele andere Dinge, die ihn mehr interessierten, gab es vor allem viele schöne Mädchen, die ihm besser gefielen als so ein einfaches Ding vom Lande. Nun wollte Barb auch an Frau Sabine Huisken nach Godesberg schreiben. Wie redet man so eine feine alte Dame an? Gut, daß sie „Sokrates" um Rat fragen konnte. Man schrieb also „Sehr verehrte gnädige Frau", und dann teilte man kurz und höflich sein Anliegen mit. Die Antwort von Frau Huisken kam rascher, als erwartet. Sie schrieb sehr nett, daß sie sich gut an Barbs Mutter erinnern könne, sie wäre eine reizende junge Frau gewesen, deren früher Tod sie damals erschüttert habe. Sie freue sich, daß eine Tochter da sei, das hätte sie nicht gewußt; sie hoffe, Barb einmal kennenzulernen. Dem Brief lag ein großes Foto bei, eine Gruppenaufnahme, und eine Person war angekreuzt. Barb wußte sofort, das war ihre Mutter. Wirklich ein schönes, reizvolles Gesicht. „Lassen Sie sich davon eine Einzelaufnahme machen", schrieb Frau Huisken, „da Sie ja, wie Sie mitteilten, kein Bild Ihrer lieben Mutter haben. Und schicken Sie mir das Gruppenbild dann wieder ein —." Barb freute sich sehr, zeigte das Foto Regina, und als die es sah, erinnerte sie sich nun deutlicher an die damalige Begegnung auf Sabinenhöhe. „Ich möchte gleich nach Selbing fahren und das Foto bestellen, Mutter, darf ich? Und dann schau' ich auch einmal bei der Oberin herein, um ihr von Bills Besuch zu erzählen." 152
„Ja, das ist recht, besuch sie wieder einmal, ich komm' ja doch nicht dazu. Nimmst ihr was mit, ich mach' dir ein Körberl zurecht." Das Körbchen gab Barb bei der Pförtnerin ab, dann ließ sie sich bei der Oberin melden. Die blickte sie wohlwollend und ein wenig überrascht an. Barb hatte eins der neuen amerikanischen Kleider angezogen. „Sieh einmal an, wie erwachsen unsere kleine Barb geworden ist. Fast schon eine junge Dame!" Barb lächelte. „Ach nein, Frau Oberin, zu einer jungen Dame gehört schon mehr." Dann erzählte sie ihr kurz von dem inhaltsschweren Brief und was er alles für Barb bedeutete. Sie sagte der Oberin auch, daß sie sich entschlossen habe, bei ihrer Pflegemutter zu bleiben. Die Oberin nickte anerkennend. „Das ist recht, Barb, ich habe es nicht anders von dir erwartet. Wie geht es denn deiner Mutter?" „Ja, Frau Oberin, darüber wollte ich gern mit Ihnen sprechen. Es geht ihr gar nicht gut, aber sie will es nicht wahrhaben. Sie sieht sehr schlecht aus, ab und zu wird ihr schwindlig und manchmal, wenn es niemand sieht, legt sie die Hand auf den Leib, als ob sie Schmerzen hätte." „Sehr beunruhigend. Ist sie denn bei keinem Arzt gewesen?" „Ach, sie geht doch nicht. Ich habe sie wieder und wieder darum gebeten. Sie sagt nur: ,Nun ja, ich bin eben nicht mehr die Jüngste, da zwickt es mal hier und da, aber das hat weiter nichts zu bedeuten' Und dann schuftet sie weiter. Sie schont sich kein bißchen." Die Oberin nickte grimmig. „Ja, sie hatte schon immer 10 Findelkind vom Kranwitthof
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einen harten Kopf, die Kranwitterin. Also paß auf, du sagst ihr — nein, ich schreibe ihr lieber ein paar Zeilen. Gehe solange in den Garten." Das tat Barb gern. Der Klostergarten war von einer hohen Mauer umgeben und eine Sehenswürdigkeit, für den sich viele Botanische Gärten interessierten. Und das kam daher, weil Schwester Serafina ein außergewöhnliches Talent für Blumenzüchtungen hatte. Sie war eine sehr kundige Botanikerin und hatte auch zweifellos den bekannten „grünen Finger". „Wenn Schwester Serafina ein dürres Reis in den Boden steckt", sagten sie von ihr, „dann schlägt es sofort Wurzeln, trägt Blüten und, wenn sie will, auch Früchte." Nun, das war eine freundliche Übertreibung, aber sicher ist, daß diese recht robuste Frau ein ganz besonderes Verhältnis zu den zarten Kindern Floras hatte. Die meisten von den schönen Stauden in Reginas Ziergarten stammten auch von Ablegern aus dem Klostergarten. Regina war eine Lieblingsschülerin der Schwester gewesen, und auch Barb war eine große Blumenfreundin. Sie fand Schwester Serafina damit beschäftigt, verblühte Dolden abzuschneiden und leise vor sich hinzubrummen. Das war so eine Eigenart von ihr, sie tat überhaupt gern recht brummig, es fiel ihr aber niemand darauf herein. Sie war untersetzt, hatte ein Gesicht, das aussah wie ein verschrumpelter Winterapfel, und grobe, rissige Hände. Aber niemand konnte so wie sie mit diesen groben Händen junge Pflänzchen behutsam und zart in die Erde setzen. Sie dankten es ihr mit üppigem Gedeihen. Sie blickte auf und schüttelte den Kopf. „Bist du das wirklich, Barbara? Hätte dich bald nicht 154
erkannt, so geschniegelt und fein herausgeputzt kommst du daher!" Barb lachte. „Fehlt nur noch, daß Sie sagen, eitel und hoffärtig wie ein Pfau! Schaun Sie mich nicht so mißbilligend an, Schwester Serafina, die Sachen sind alle geschenkt." Dann erzählte sie von den Paketen aus Amerika. „Und außerdem, bei Ihren Blumen freuen Sie sich doch an den schönen Farben, gelt? Und sollten junge Mädchen denn keine hübschen Farben tragen dürfen?" Da lächelte Schwester Serafina grimmig. „Hört, hört", brummte sie, „wie der der Schnabel geht! So ein spitzfindiges junges Ding. Der reinste Advokat!" „Schwester Serafina, ich habe so was läuten gehört von einem wunderschönen neuen Delphinium, einer Neuzüchtung von Ihnen — kann ich den mal sehen?" „Kannst du. Komm." Sie führte Barb zu einem Beet mit Ritterspornen, die ganz besonders großblütig und von einem unerhört leuchtenden Blau waren. „Herrlich", sagte Barb ehrlich entzückt. „Die einzelnen Blüten sehen fast aus wie tropische Schmetterlinge. An diesem Blau kann man sich gar nicht satt sehen." „Es ist die verklärteste, aber auch freudigste Farbe, die der ewigen Hoffnung", sagte die Schwester still. Dann setzte sie trocken hinzu: „Hat den ersten Preis bekommen auf der letzten Gartenbauausstellung." „O wie fein, Schwester Serafina, da gratuliere ich herzlich. Wie heißt denn dieser zauberhafte Rittersporn?" Da wurde die Schwester fast ein bißchen verlegen. „Seraphim", sagte sie geschämig. „Ja, die Frau Oberin 10
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wollte, daß er einen Anklang an meinen Namen hat. Und, na ja, der Name paßt ja auch recht gut." „Das will ich meinen. Dieses Blau hat wirklich etwas beinahe Himmlisches." Unwillkürlich mußte Barb an Maria im Eis denken. Dann fragte die Schwester nach Regina, und Barb teilte ihr ihre Besorgnis mit. „So, so, du meinst, sie ist krank? Tut mir sehr leid, wirklich. Hm — weißt du was? Ich bin zwar sehr geizig mit meinen neuen Züchtungen und habe auch schon mehr Bestellungen darauf, als ich ausführen kann, aber wenn deine Mutter leidend ist — na, also kurz und gut, nimm ihr halt so einen Seraphim mit." Ein Exemplar wurde vorsichtig mit einem Erdballen in einen Topf gepflanzt und Barb übergeben. Sie bedankte sich sehr. „Das wird Mutter eine große Freude sein", sagte sie. Dann ging sie zur Oberin zurück, um den inzwischen fertiggeschriebenen Brief zu holen, und empfahl sich. Als Barb ihrer Mutter den Brief der Oberin brachte und sie ihn gelesen hatte, runzelte sie mißmutig die Brauen. „Jetzt, da schau her. Wer hat dich denn geheißen, der Oberin lauter dummes Zeug über mich zu erzählen? Als ob ich Gott weiß wie krank wäre. Ein bisserl drücken tut's mich halt im Leib, aber das geht wieder vorüber. Ich bin nicht eine von denen, die immer gleich zum Doktor rennen. Jetzt schreibt die Oberin, es ist meine Pflicht, mich für meine Familie zu erhalten, und ich muß mich unbedingt untersuchen lassen! So ein Krampf! Sie sagt, weil ich mich vielleicht genier', zu einem Arzt zu gehen, empfiehlt sie mir eine sehr tüchtige Ärztin, die sie gut kennt, und da müßt' ich hin. Da hast mir ja was Schö156
nes eingebrockt, Barb. Wenn ich jetzt nicht zu der Doktorin geh', ist die Oberin bös mit mir." „Ja, Mutter", sagte Barb fest, „und sie hat recht, die Oberin. Wenn die Ärztin nichts findet, um so besser." Regina schaute sie nachdenklich an. Wie besorgt sie um mich ist, dachte sie. Keins der andern hatte sich groß darum gekümmert, wenn sie schlecht aussah. Außer Flori natürlich, der sehr an seiner Mutter hing. „Mutter, was ist denn mit dir?" hatte er neulich gefragt, „ich glaube alleweil, du bist krank." „Nun gut", sagte Regina nach einer Weile entschlossen, „wenn's schon so sein soll, dann lieber gleich, damit's überstanden ist. Fahr' ich halt morgen nach München und du kommst mit." „Ich, Mutter?" „Ja du. Bist ja doch meine Älteste." Meine Älteste. Es tat gut, dies zu hören. Sie war in Reginas Bewußtsein nun wirklich ihre Tochter geworden. Regina war mit einigen Vorurteilen und nicht wenig Mißtrauen zu Frau Dr. Kern gekommen, aber als sie das ruhige, kluge Gesicht der Ärztin sah, faßte sie Zutrauen. „Eigentlich geht es mir heute ganz gut, Frau Doktor", sagte sie. „Ja, ja, das kennen wir schon. Frau Kranwitt", sagte die Ärztin lächelnd. „Beim Zahnarzt vergeht auch immer das Zahnweh. Also, wollen mal nachsehen." Die Untersuchung war beendet. „Also Frau Kranwitt, es ist eine Geschwulst da " „Das habe ich mir schon gedacht. Ist es was Gefährliches?" 157
„Das kann erst die genaue Untersuchung ergeben. Vielleicht ist es nur ein ganz harmloses Miom." „Braucht's dann nicht geschnitten zu werden?" „Eine Operation wird sich auf alle Fälle empfehlen. Sie hätten schon viel früher kommen sollen", sagte Dr. Kern ernst. „Ich schicke Sie jetzt zu Professor Melius, das ist ein ausgezeichneter Chirurg, da sind Sie in den besten Händen." Regina wurde noch eine Schattierung blasser. „Gleich zu einem einem Chirurgen?" stammelte sie. „Muß denn das sein?" Die Ärztin sah sie mit gütigem Ernst an. „Es muß sein, Frau Kranwitt. Aber beunruhigen Sie sich nicht, es geht nicht gleich um Hals und Kragen. Und Sie sehen doch aus wie eine vernünftige Frau." Sie gab Regina die Hand und begleitete sie in das Wartezimmer. Dort ging sie auf Barb zu. „Das ist Ihre Tochter, Frau Kranwitt? Freut mich." Sie gab Barb einen langen Blick, der sie beunruhigte. Dieser lange Blick schien nichts Gutes zu verheißen. Auf der Straße sagte Regina nicht ohne eine gewisse Ironie: „Ich bin eine vernünftige Frau, hat sie gesagt, die Doktorin. No, sie schaut selber auch ganz vernünftig aus, wird wohl, was sie sagt, auch vernünftig sein. Gehn wir halt in Gottes Namen zu dem Professor." Nach längerem Warten bei dem vielbeschäftigten Mann war auch das überstanden. Professor Melius war von so freundlicher Sachlichkeit und so jovial dabei, daß alles gar nicht so furchterregend erschien, beinahe als ob es eben so und nicht anders sein müßte. Nach einigen Tagen kam der Bescheid: Operation Mitt158
woch nächster Woche. Krankenhaus und Operation, das sind Begriffe, die jedem Bauern Furcht und Schrecken einflößen — die Kranwitter waren nicht anders. Die Mädchen liefen mit verweinten Augen herum und auch Mathis zeigte sich betroffen. „Teufel, Teufel, wer hätt' jetzt an so was denkt!" sagte er wieder und immer wieder. Verhältnismäßig am ruhigsten war Regina selbst. Es lag ihr nicht, irgend etwas zu dramatisieren. Sie traf mit Umsicht alle Vorbereitungen für die Zeit ihrer Abwesenheit. Was sie fühlte, als sie den Kranwitthof verließ, um zur Operation zu fahren, vermochte niemand in ihrem wie versteinerten Gesicht zu lesen. Mathis begleitete sie, Professor Melius wollte mit ihm sprechen. „Ihre Frau hat viel zu lange gewartet, ehe sie zu uns kam. Sie hätten darauf dringen müssen, daß sie eher zum Arzt ging." Mathis glotzte verständnislos. „Sie hat doch nie was davon gesagt, daß sie krank ist", verteidigte sich der Kranwitter. „Nein, das ist typisch", sagte der Professor grimmig und sah Mathis abschätzend an. Und weil er ein Menschenkenner war, beschloß er, ihm lieber nicht die volle Wahrheit zu sagen. Als Regina aus der Narkose erwachte, war ihr zunächst so übel, daß sie gar nichts denken konnte, oder höchstens: Ich lebe also noch! „Die Operation ist gut verlaufen", sagte die Schwester, die ihr das Speibecken hielt. „Bald werden Sie sich wohler fühlen." 159
Damit hatte es zwar gute Weile, aber dann durfte doch Mathis auf einige Minuten herein. „Gut ist's gangen, Alte", sagte er und sah etwas scheu in ihr wachsbleiches Gesicht. „Jetzt bist die Geschwulst los und wirst wieder gesund." Regina nickte. „Wär' schon gut", sagte sie matt, „die Kinder —" „ Jaja, schon gut, jetzt laß einmal die Kinder, die kümmern sich schon. Jetzt denkst einmal an gar nix, als daß du wieder gesund wirst, hast mich gehört?" Regina lächelte schwach. „Ja, schon gut, Mathis." „Sie müssen jetzt gehen, Herr Kranwitt", sagte die Schwester. Die Kinder kamen sie auch bald besuchen und da es der Mutter offensichtlich recht gut ging, benützten sie die Gelegenheit zu einigen Vergnügungen in der Großstadt. Peter Törwing kam mit seiner Rosl, aber auch die alte Theres, Reginas Mutter, die jetzt schon im 86. Jahr war. „Ja, was machst denn für Geschichten, Dirndl", sagte sie zu ihrer Tochter. „Ich bin nur froh, daß alles gut vorüber ist. Wie geht's dir denn?" „Ja, gut geht's mir, das siehst ja. Ich lieg' faul im Bett und laß mich bedienen. Mach dir nur keine Sorgen, Mutter. Hast am End geglaubt, ich beiß' noch vor dir ins Gras?" „Was nicht gar", wehrte Theres erschrocken ab. „Von so was spricht man doch überhaupt nicht. Ausschauen tust recht gut, viel besser als früher." Es stimmte. Reginas Falten hatten sich geglättet, ihre lederne Haut war feiner und zarter geworden. 160
„Zwanzig Jahre jünger siehst du aus", sagte Barb, als sie einmal zu Besuch war. „Geh, jetzt hör aber auf. Willst mir womöglich gar schmeicheln? Erzähl mir lieber, wie's auf dem Hof ausschaut." „Da brauchst du dir keine Gedanken zu machen, die Zenzi kennt sich doch aus. Freilich, dasselbe ist's nicht, als wenn du da bist", fügte sie nachträglich hinzu, weil sie wußte, daß die Mutter das gern hören würde. Nach drei Wochen fühlte sich Regina so wohl, daß sie gern heim wollte. „Nix da", sagte der joviale Professor, „ich kenne euch Bäuerinnen. Kaum könnt ihr wieder kriechen, fangt ihr auch schon wieder zu werkeln an. Ich schicke Sie noch auf einige Wochen ins Krankenhaus nach Selbing, zur Nachbehandlung. Da haben Sie dann Ihre Familie ganz in der Nähe." Sie fügte sich, murrte aber über die Bestrahlungen, die sie in Selbing bekam. „Wozu denn? Wo es mir doch wieder ganz gut geht?" „Das ist nur, damit die Geschwulst nicht wiederkommt", wurde ihr gesagt. Dann durfte sie endlich heim, mußte aber noch öfters zu Bestrahlungen nach Selbing kommen. Sehr schlank war sie geworden, sah aber besser und jünger aus als zuvor. *
Das Leben kam wieder in seinen gewohnten Gang. Regina ließ es aber nun doch zu, daß man ihr diese und jene Arbeit abnahm. 161
Aus diesem Grunde hatte auch Barb die ihr von Peter Törwing angebotene Stellung auf dem Bürgermeisteramt nicht angenommen. Bill Spencer kam oft, war ein gern gesehener Gast und nahm Barb auf größere Autoausflüge in seinem neuen Buick mit. Es waren fröhliche Fahrten, an denen Flori meist teilnahm. Die Währungsreform hatte große Wandlungen mit sich gebracht, plötzlich war alles zu haben und die hungrigen Städter kamen nicht mehr wie Heuschreckenschwärme angeflogen. Auch die Verleger rührten sich wieder und machten Dr. Carsten den Vorschlag, eine Fortsetzung seines erfolgreichen Inkabuches zu schreiben. Er war gern dazu bereit, „organisierte" eine Schreibmaschine, obwohl die noch rar waren, und stellte Barb als Privatsekretärin ein. Das ließ sich sehr gut mit ihren Pflichten auf dem Kranwitthof vereinigen, sie arbeitete stundenweise, hatte einen äußerst gütigen, angenehmen Chef und war stolz auf ihr erstes, selbstverdientes Geld. Es hatte ja nun auch wieder Wert. Nach einem längeren Diktat gab es immer eine gute Tasse Tee mit Gebäck. Es war sehr gemütlich im Hause des Herrn Zierlein. „Wie ordentlich und gepflegt hier alles ist", sagte Barb eines Tages. „Ich dachte immer, bei alten Junggesellen herrsche eine malerische Unordnung." „Nun, erstens ist Herr Zierlein kein alter Junggeselle, seine Frau ist allerdings seit langem tot, und zweitens sind alte Junggesellen oft betulicher und akkurater als alte unverheiratete Damen." 162
Barb lachte und schien eine Frage auf der Zunge zu haben. „Jetzt möchten Sie gern wissen, ob ich auch ein alter Junggeselle bin. Die Antwort ist: nein. Auch ich war verheiratet. Sie war sogar jung, hübsch und viel zu reizend für so einen unansehnlichen Burschen wie mich. Und da ist sie mir eines Tages davongelaufen." „Oh, wie abscheulich! Wahrscheinlich war sie viel zu schlecht für so einen netten Menschen wie Sie. Überhaupt — als ob ein Mann schön zu sein brauchte!" „Ja, das sagt ihr immer so. Aber mit einem schwarzlockigen Tenor kann unsereins eben doch nicht konkurrieren." „Himmel! Mit einem schwarzlockigen Tenor ist sie getürmt? Wie entsetzlich banal." „Sie sagen es. Aber das Leben ist oft schrecklich banal." „Hoffentlich hat er sie sehr bald sitzenlassen." „Und sie ist dann im Elend verkommen? Nein, Ihre Hoffnung trügt. Es geht leider nicht immer mit poetischer Gerechtigkeit zu, wie in hochmoralischen Büchern und Theaterstücken. Er hat die Bühne aufgegeben, ein Hotel gekauft, drei Kinder in die Welt gesetzt " „Aha. Und dabei ist er dick geworden. Ich habe gehört, Tenöre werden immer dick." „Immer ist wohl übertrieben, aber in diesem Fall stimmt es, er wurde dick. Sie aber auch, meine Liebe, sie auch! Eine Tonne, ach was, eine Tonne eine Dampfwalze!" „Das geschieht ihr recht. Ich kann sie nicht leiden." „Seien Sie nicht gar zu streng. Offenbar ist sie auf ihren 163
richtigen Platz im Leben gekommen. Und ich befinde mich sehr wohl ohne eine weibliche Dampfwalze." „Nun ja, wahrscheinlich war sie blitzdumm und hat gar nicht zu Ihnen gepaßt. Zu so einem Philosophen und fröhlichen Weisen. Das ist nicht von mir, Frau Brokenhorst hat Sie so genannt." „Sokrates" lachte. „Sieh mal an,so redet man also hinter meinem Rücken, das ist ja heiter! Nun, Frau Brokenhorst ist eine sehr nette Frau. Wie geht es ihr denn? Haben Sie Nachricht?" „Sie hat Mutter einen reizenden Brief ins Krankenhaus geschrieben, ihr Mann und Uwe haben einige nette Zeilen hinzugefügt. Und sie haben ein Päckchen mit Kaffee und Süßigkeiten geschickt. Herr Brokenhorst arbeitet jetzt in der Import- und Exportfirma seines Bruders. Es behagt ihm aber nicht besonders." „Nein, kann ich verstehen. Schiffsbau wäre mir auch lieber." Bill kam weiterhin alle paar Wochen und holte Barb zu größeren Autotouren ab. Da sie noch nicht viel herumgekommen war, genoß sie diese Ausflüge besonders. An einem warmen Septemberabend saßen sie in dem schönen Ziergarten, der in den leuchtenden Farben der Herbstblumen glühte. Flori spielte auf seiner Ziehharmonika, worauf er sich gut verstand. Er war sehr musikalisch. „Machen wir einen kleinen Spaziergang", sagte Bill zu Barb. Sie stand etwas widerstrebend auf, sie ahnte, was kommen würde, denn es hatte schon einige Zeit in der Luft 164
gelegen. Aber vielleicht war es besser, es hinter sich zu haben und Klarheit zu schaffen. Er hakte sich bei ihr unter und sie gingen in dem kleinen Wacholderhain spazieren. Der Abend war stimmungsvoll, ein junger Mond stand am Himmel, es war ganz still und es roch süß und schwer nach Erde. „Sieh nur diese Säulenwacholder", sagte Barb, „hier heißen sie Kranwitten, sehen sie nicht aus wie verzauberte Wichtelmännchen ?" „Und du siehst aus wie eine verzauberte Prinzessin." Barb lachte. „Himmel, wie poetisch! Wer hätte gedacht, daß ein Yankee so romantische Anwandlungen haben kann?" „Oh, es ist ganz süß, manchmal ein bißchen romantisch und sentimental zu sein. Findest du nicht?" „Weiß nicht. Habe keine Erfahrung darin." „Nicht? Auch mit Uwe nicht?" „Mit Uwe? Wie kommst du denn darauf?" „Nun, Burgl sagte doch, daß er dein Schatz ist." „Das war doch nur Spaß. Nein, das mit Uwe war weiter nichts als eine Kinderfreundschaft." „Wirklich?" sagte er und es klang erfreut. „Dann ist dein Herz also frei?" „Es ist frei und wird es auch noch auf lange Zeit bleiben, Bill. Schließlich bin ich ja auch erst sechzehneinhalb Jahre, habe also noch viel Zeit." „Gar keine Chancen für mich?" „Hör mal, Bill", sagte sie herzlich und sah ihm dabei gerade in die Augen, „du bist so ein netter, anständiger junger Mann. Es kann dir doch nicht schwerfallen, auch 165
ein wirklich nettes Mädchen zu finden, wenn du das gern möchtest." „Oh, ich habe dieses wirklich nette Mädchen längst gefunden. Aber leider mag es mich nicht." „Ich mag dich sogar sehr gern, Bill, wirklich. Aber mehr ist es nicht und wird es nie sein." Er löste sachte seinen Arm aus dem ihren und war eine Weile ganz still. Schweigend blickte er über die sanfthügelige Landschaft. Dieses Schweigen bedrückte Barb. Wenn er doch nur etwas sagen würde, irgendetwas. Sie kam sich plötzlich sehr jung und unerfahren vor. Dann legte sie sanft ihre Hand auf seinen Arm. „Bill", sagte sie leise und es klang beschwörend. Er gab ihrer Hand einen kleinen Druck. „Allright", sagte er, „ich werde schon damit fertig. Es soll unser gutes Einvernehmen nicht stören." „Nein, das wäre wirklich schade und würde mir sehr, sehr leid tun, Bill." Sie gingen zu den andern zurück und dann nahm Bill bald seinen Abschied. Er blieb längere Zeit weg, aber dann war er doch wieder da und sie fuhren nach Schweigenreuth, wo Peter Törwing einen eleganten neuen Tanzsaal erbaut hatte. Dort erfuhren sie, daß Rosemarie ihren Farmer aufgegeben hatte. Er war ihr auf die Dauer zu langweilig gewesen. Außerdem wollte sie doch lieber in einer großen Stadt als auf dem Lande leben. Jetzt war sie verlobt mit einem jungen New Yorker, der viel Geld zu haben schien. Er hatte einen großen 166
Luxuswagen und verwöhnte Rosemarie mit allem, was gut und teuer war. Er hieß Bauer und seine Eltern waren aus Württemberg nach Amerika eingewandert. Sie wollten sehr gern eine deutsche Schwiegertochter haben und hatten Rosemarie sehr herzlich geschrieben. „Seht ihr, dann werde ich ja doch eine Bäuerin", sagte sie, auf den Namen des Verlobten anspielend. Die alte Theres konnte nur noch den Kopf schütteln. Und Rosemaries Eltern waren nun schon so weit, daß sie zu allem ja und amen sagten und nur wünschten, Rosemarie käme bald endgültig unter die Haube und damit hoffentlich zur Ruhe. *
Wie nicht anders zu erwarten, waren auch andern die Augen dafür aufgegangen, daß Barb ein hübsches Mädchen geworden war. Dazu gehörte vor allen Dingen ihr einstiger Feind und der Peiniger ihrer Kindheit, Alois Schneithuber. Er hatte die letzten Jahre in einer Münchner Großschlächterei gearbeitet und dabei günstige Gelegenheiten gehabt, gewinnbringende Schwarzmarktgeschäfte zu betreiben. Die hatte er nach Kräften ausgenützt. Das auf krumme Wegen erworbene Geld gab er in Nachtlokalen mit leichten Mädchen aus und fühlte sich ganz als Lebemann. Er hatte sich aber auch eine ganze Menge damals auf normalem Wege nicht erhältliche Sachen angeschafft, elegante, wenn auch auffallende Anzüge, Hemden, eine ganze Ausstattung und auch ein Motorrad. Damit machte er nun die ganze Gegend unsicher — ein 167
breitschultriger, bärenstarker Kerl von einundzwanzig Jahren, der sich anschickte, die Leitung des väterlichen Gasthofes und der Metzgerei zu übernehmen. Sein Vater war im Krieg gefallen. Barb mußte auf ihrem täglichen Weg zum Schullehrerhaus ihr Rad an einer steilen Stelle schieben. Dort überholte sie Alois mit seinem Motorrad und stieg ab. „Möchtest du nicht ein Stückl mitfahren?" lud er Barb ein und deutete auf den Beiwagen. „Bin ja mein eigener Herr und kann mir Zeit nehmen. Was willst du denn bei den altern Krachern, dem Doktor und dem Lehrer? Das ist doch kein Umgang für so ein sauberes Madel wie du." Barb tat erstaunt. „Jetzt so was! Ich denk', ich bin eine schieche, rothaarige Hex?" Alois hatte ein nicht unhübsches, aber brutales Gesicht, das einer gewissen Sorte von Mädchen gefiel. Er hielt sich für unwiderstehlich. „Die Zeiten ändern sich und wir mit ihnen", sagte er äußerst gebildet. „Also, wie ist's? Steig ein. Läuft gut, die Karre, auf der Autobahn habe ich leicht achtzig Sachen drauf." „Nein, danke, Alois. Ohne mich." Ein tückischer Blick streifte sie. „Ach so, ist der Gnädigen wohl nicht fein genug, gelt? Fährt lieber mit Amis im Auto spazieren. Mit dem sogenannten Vetter. Vetter, wer's glaubt, wird selig. Übrigens hab' ich das Motorradel auch nur provisorisch, ich kauf mir natürlich ein Auto, sobald ich eins kriegen kann." „Das wird dir sicher bei deiner Findigkeit nicht schwerfallen. So, ich bin angekommen. Grüß Gott." Er sah ihr mit gemischten Gefühlen nach. 168
Na ja, bei der würde es eben etwas länger dauern, ehe man sie einfing. Aber fangen würde er sie, das stand fest, und daß sie sich sträubte, machte die Sache nur spannender. Je mehr Barb sich ihm zu entziehen suchte, desto eifriger wurde er natürlich. Er war ein hartnäckiger Jäger, der auf seine Beute lauerte. „Was hast du eigentlich gegen mich?" fragte er sie eines Tages aufgebracht. „Trägst du es mir vielleicht noch nach, daß ich dich als Kind gefrozzelt hab? No ja, ich war ein rechter Lausbub und Jugend hat keine Tugend, das geb' ich zu. Aber was ein richtiges Mannsbild werden will, muß vorher ein Lausbub sein." „Interessant", sagte Barb und maß ihn von oben bis unten, „so sieht also ein richtiges Mannsbild aus." „Ja, jawohl, so sieht es aus", rief er hitzig „und das werd' ich dir schon noch beweisen. Und überhaupt, daß ich dich damals so gehänselt hab', war im Grunde schon ein heimliches Interesse. Jawohl, sonst hätt' ich mich gar nicht so viel mit dir abgegeben." Barb mußte über diese psychologische Schlußfolgerung nun doch lachen. „Da brauchst du gar nicht zu lachen, ich habe gemerkt, die kleine rothaarige Hex hat Temperament, das hat mich gereizt und ich glaub', daß du auch jetzt Temperament hast, siehst mir ganz danach aus." „Was du nicht sagst. Und was verstehst du darunter?" Alois grinste. „Das werd' ich dir schon erklären. Treff mich halt heute abend. Wir fahren dann wohin, wo wir allein und ungestört sein können, das wird sehr nett sein." Er war neben ihr hergegangen, sein Rad schiebend, und 11
Findelkind vom Kranwitthof
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als sie nun eine Strecke einsamen Weges vor sich hatten, sah er sie begehrlich an. „Ich bin nämlich ganz narrisch nach dir", sagte er heiß und versuchte, sie an sich zu ziehen. Aber Barb stieß ihn mit unvermuteter Kraft zurück. Sie war wütend, wollte aber doch kein großes Drama aus der Sache machen. „Was fällt dir denn ein? Untersteh dich! Wenn Stasi das wüßte!" „Die Stasi? Geh, laß mich doch in Ruh mit der fetten Schmalznudel. Vielleicht, daß ich die später mal heirat', aber das hat noch lang Zeit, die läuft mir nicht weg." „Soso. Aber ich wär' dir grad gut genug für ein Abenteuer, ein Gschpusi, gelt?" „Geh", er lachte etwas verlegen, „wer wird denn alles gleich so ernst nehmen. Liebe und Heirat, das ist halt zweierlei, das weißt doch selber. Und man ist nur einmal jung." „So, Alois", sagte Barb sehr ruhig, „ich habe dich heute mal ausreden lassen, damit ich über dich ganz genau Bescheid weiß. Du bist ein ganz gemeiner und schäbiger Kerl. Dich würde ich nicht mögen, und wenn du der letzte Mann auf der Welt wärst. Und wenn du mich nicht in Ruh läßt und mir noch einmal mit so unverschämten Vorschlägen kommst, dann kannst du von mir eine Watsche beziehn. So, jetzt weißt du es." Barb war sehr rasch ausgeschritten. Jetzt war sie auf der Höhe angekommen und schwang sich auf ihr Rad, gefolgt von einem höhnischen Gelächter und Schimpfworten des feinen Kavaliers. 170
Um sich zu rächen, versuchte Alois die Lüge zu verbreiten, Barb hätte mit Bill Spencer ein Liebesverhältnis. Aber er hatte kein rechtes Glück damit. Die Leute von Hellesried kannten Barb als ein anständiges Mädchen und den Schneithuber Alois als skrupellosen Angeber, es gab auch manche, die sich vor dem brutalen Burschen etwas fürchteten. Und wenn Barb wirklich eine Liebelei mit dem Ami hatte, nun, darüber regten sie sich auch nicht groß auf. Da hatten sie in letzter Zeit ganz andere Sachen erlebt. Die Zeiten ändern sich, damit hatte Alois zweifellos recht. *
Kurz darauf war Bills Dienstzeit um und er kehrte in die USA zurück. In den letzten Monaten war er nicht mehr oft gekommen, denn er hatte in Stuttgart nun doch ein nettes Mädchen kennengelernt und brachte sie einmal mit auf den Kranwitthof. Sie hieß Marianne Elger, war hübsch, blond und mit viel Schick gekleidet. Sie war eine Heimatvertriebene, bei einer amerikanischen Dienststelle beschäftigt, aber bestimmt keine „Amizone". Barb fand an der um zwei Jahre Älteren großes Gefallen. Die Kranwitter nahmen herzlichen Abschied von Bill und Burgl krähte: „Zu blöd, daß ich noch ein bisserl zu jung bin. Sonst hättest du mich jetzt gleich als deine Braut mitnehmen können, Bill. Das wäre doch pfundig gewesen, gelt?" Bill beteuerte, daß er den Umstand von Burgls zu großer Jugend ebenfalls sehr bedaure. 11*
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Zu Weihnachten war die alte Oberin heimgegangen, tief betrauert von unzähligen ihrer „Töchter", denen sie geholfen hatte. Bald darauf starb auch die alte Mutter Theres. Sie hatte noch die Freude gehabt, ihren Urenkel auf dem Arm zu halten und zu sehen, wie sich die Lichter des Weihnachtsbaumes in seinen erstaunten Kinderaugen spiegelten. Ganz still und sanft war sie eingeschlafen, hochbetagt, verehrt und von allen geliebt. Rosemarie, die ihr am meisten Sorgen bereitet hatte, heulte wie ein Kettenhund. Allen fiel es auf, wie hager und blaß Regina bei der Beerdigung aussah. Das konnte nicht nur an dem schwarzen Trauergewand liegen. Ihr Bruder nahm sie besorgt zur Seite. „Hör mal, Regina, du solltest dich mehr schonen, du siehst recht angegriffen aus." Sie lächelte schwach. „Ach, Peter, fang du nicht auch noch an. Die Barb und der Flori predigen mir das schon in einem fort. Ich lass' mir ja eh schon viel mehr helfen als früher." Peter blickte skeptisch drein. „Ich kenn' dich schon, du glaubst, es geht nicht, wenn du nicht überall dabei bist. Also sei gescheit, Regina, weißt, wir müssen halt alle ein bisserl bremsen, wenn wir älter werden."Ihn selbst aber, obwohl zehn Jahre älter als Regina, schienen die Jahre nicht zu drücken. Etwas grauer an den Schläfen, etwas breiter um die Mitte, das war alles. „Denk an die Mutter, Regina", fuhr Peter fort, „die war noch so rüstig und lebensfroh mit ihren achtundachtzig Jahren, daß die Leut sie gefragt haben, wie sie 172
das macht. Grad weil mich das Leben immer gefreut hat, bin ich noch so rüstig, hat sie gesagt. Sie war halt eine Lebenskünstlerin." „Freilich, das war sie. Ich bin wohl mehr dem Vater nachgeschlagen, und man kann nicht gut gegen seine Natur. Aber weißt, es ist bloß der Winter, der mir ein bisserl zusetzt, zum Frühjahr wird's schon wieder anders. Dann möcht' ich gern wieder einmal nach Maria im Eis. Fährst mich hin?" „Natürlich. Das tu' ich gern, Regina." *
Aber es wurde nicht besser zum Frühjahr, und es wurde auch nichts mit dem Ausflug nach Maria im Eis. Regina sah so schlecht aus und rastete ganz von selbst mehr als sonst, daß es auch Mathis auffiel. „Morgen oder übermorgen fährst nach München zum Professor Melius", sagte er ihr, „das will ich mir von dem nicht noch einmal sagen lassen, daß ich dich zu spät zum Doktor schick'." Nun gehörte die sehr selbständige Regina gewiß nicht zu denen, die sich irgendwohin „schicken" lassen, aber sie machte diesmal keine Einwände. Sie hatte sich seit einiger Zeit schon selbst mit dem Gedanken getragen, den Professor aufzusuchen. Sie wollte Gewißheit haben. Heilung? Nein, daran glaubte sie nicht mehr. Aber zunächst ging sie zu Frau Dr. Kern. Diese ruhige Frau mit dem klugen, gütigen Gesicht flößte ihr Vertrauen ein und manches redet sich eben doch leichter von Frau zu Frau. 173
Ja, die Schmerzen wären wieder gekommen, berichtete Regina, und es wäre wohl eine neue Geschwulst da. Nach der Untersuchung sagte Regina: „Bitte, Frau Doktor, ich möchte nun Gewißheit haben, machen Sie mir nichts vor, ich würde es Ihnen doch nicht glauben. Ich kann die Wahrheit schon ertragen." Dr. Kern antwortete nicht sofort, sah die Kranwitterin nur ernst an. „Also, es ist Krebs", sagte Regina sehr ruhig. „Ich habe es ja gewußt. — Ich hab vor dem Sterben noch manches zu ordnen, Frau Doktor. Wie lange hab' ich noch?" „Aber Frau Kranwitt, wer spricht denn schon vom Sterben " „Wie lange hab' ich noch?" „Das kann kein Mensch sagen, liebe Frau Kranwitt. Sie müssen auf alle Fälle noch zu Professor Melius, er wird Ihnen sagen, ob eine neue Operation möglich ist." Regina blickte eine kleine Weile schweigend vor sich hin. Frau Dr. Kern sah jeden Tag eine Fülle menschlichen Leides, aber diese Bäuerin flößte ihr durch ihre einfache Würde ein mit Bewunderung gemischtes Mitleid ein. „Sie sind ein starker Charakter, Frau Kranwitt", sagte sie ihr zum Abschied und drückte ihr warm die Hand. „Bringen Sie Ihre Angelegenheit in Ordnung, das wird Ihnen eine Beruhigung sein. Und ob Ihr Leben nun noch lange dauert oder nur kürzere Zeit, Sie können sich auf alle Fälle sagen: ich habe ein gutes Tagewerk getan." Regina ging. Frau Dr. Kern hatte sie bei Professor Melius telefonisch angemeldet und sie wurde bald vorgelassen. Nein, eine zweite Operation war nicht möglich, das 174
Herz würde sie nicht aushalten, es war zu stark angegriffen. Regina war beinahe erleichtert. „Am liebsten würde ich Sie in ein Genesungsheim schicken", sagte der Professor, „wo Sie sich ganz ruhig verhalten müßten und nichts arbeiten dürften." „Ach nein, Herr Professor, ich möchte lieber daheim sterben, bei meiner Familie, auf meinem Hof." „Sterben! Davon reden wir noch lange nicht. Aber Sie müssen sich jetzt wirklich schonen. Versprechen Sie mir das?" Er hielt ihr seine feinnervige Chirurgenhand hin und sie legte ihre arbeitsgewohnte Bäuerinnenhand hinein. „Also gut, Herr Professor, ich versprech' es Ihnen." „Und ich verständige den Kollegen in Selbing, daß er nach Ihnen schaut. Vor allem, haben Sie keine Angst. Wir helfen Ihnen schon nach besten Kräften." „Ja, ja, Herr Professor, ich weiß. Und ich danke auch schön." Regina ging. Das Herz ist also stark angegriffen, dachte sie. Es war gut, daß sie dies denen daheim sagen konnte. Sie brauchte sie nicht mit diesem anderen, diesem Unheimlichen zu erschrecken. Es war eben einfach nur das Herz, nichts anderes. Regina ging tief in sich versponnen die Straße entlang, bis sie an eine Kirche kam, da trat sie ein. Es waren zu dieser Stunde nur wenige Menschen anwesend, es herrschte eine wohltuende Dämmerung und der Straßenlärm drang nicht herein. Das war Regina recht. Sie saß da und es war ihr ganz wunderlich zumute. Auf einmal war sie ganz allein, jämmerlich verlassen, sterbens175
einsam. Der Hof, die Kinder, alles schien ferngerückt. Wenn es zum Sterben geht, ist man immer allein, dachte sie und nun war es also so weit. Bald war es so weit. Ein bißchen zu früh, sie war ja noch nicht einmal fünfzig. Aber nun war es also aus. Schluß, vorbei Wie lange sie hier so saß, hätte sie später nicht zu sagen vermocht, es war ja auch gleich. Plötzlich hatte sie Zeit, viel Zeit. Sie betete nicht, zuerst nicht, da war nichts als diese dumpfe Verlassenheit, die grenzenlose Einsamkeit um sie. Auch Gott war fern. Aber allmählich wurde sie ruhiger. Es strömte etwas auf sie ein, als sie so dasaß, ihre Hände falteten sich unwillkürlich und nun konnte sie beten. Als sie die Kirche verließ, war eine große Ruhe in ihr, ein innerer Friede. Nun war sie nicht mehr einsam * Sie war fast heiter, als sie daheim ankam. „So", sagte sie, „nun werdet ihr also euren Willen haben. Ich habe dem Professor in die Hand versprechen müssen, daß ich mich schon', bis das Herz sich wieder gekräftigt hat." Sie lag auf der Veranda und an warmen Tagen in dem schönen Ziergarten, den sie so liebte, las manchmal ein Buch, was sie seit vielen Jahren nicht getan hatte, oder ließ sich von Barb vorlesen. Das Ende kam rascher, als erwartet. Eine erfahrene Krankenpflegerin wurde aufgenommen, aber Regina hatte am liebsten Barb und Flori um sich. Mit ihrem Bruder Peter führte sie einige längere Gespräche. Mathis hatte seine vielen Geschäftsreisen und seine Be176
suche bei der üppigen Kati vom Alpenhof in letzter Zeit etwas eingeschränkt. Aber weder Peter noch Regina ließen sich davon täuschen. Ganz nüchtern sprach sie darüber: „Er wird sie wohl auf den Hof nehmen und vielleicht auch heiraten, das schlechte Weibsbild. Ist mir schon recht arg, aber ich kann's nicht ändern. Wenn sie ungut ist, nimm den Flori zu dir, Peter, der Flori hat so ein Gemüt, daß er sich's zu Herzen nimmt. Die Stasi ist anders, die richtet sich schon ein, aber um die Burgl hab ich ein bisserl Angst " „Ja, die ist genau so ein Unband wie meine Rosemarie war. Aber ich denk', sie wird schon zurechtkommen, wie die Rosemarie auch. Die scheint seit ihrer Heirat drüben recht froh und glücklich zu sein." „Gott sei Dank, Peter. Das freut mich sehr. Gott sei Dank auch, daß ich den Kindern mein eigenes Erbteil vermachen kann, das ihnen niemand nehmen darf. Ja, ich hab' alles beim Notar hinterlegt. Und die Barb nimmst auf dein Bürgermeisteramt. Für die hab' ich auch ein bisserl gesorgt." Sie erzählte es Barb am nächsten Tag. „Hast du eigentlich drüber nachgedacht, was aus deinem Erbteil geworden ist?" fragte sie. „Ja, du hast mir doch einmal gesagt, daß es mit den Zinsen ganz schön angewachsen ist. Aber jetzt wird wohl nach der Währungsreform nicht mehr viel davon da sein." Da erschien auf Reginas abgezehrtem Gesicht ein beinahe schelmisches Lächeln. „Freilich wär' das fast alles hin, wenn wir's auf der Sparkasse gelassen hätten. Aber weißt, ich als Bäuerin bin halt überhaupt mehr für ein Stückerl Grund 177
und Boden. Das bleibt da, da kann kommen, was will. Und der Notar hat mir recht gegeben. Kurz und gut, wir haben das Schweiberlhaus von der alten Emmerenz für dich gekauft, mit dem Obstgarten, und es auf deinen Namen schreiben lassen." Barb war maßlos verblüfft. „Das Schweiberlhaus von der Emmerenz? Das ich so gern mag? Mutter, das ist ja wunderbar! Aber die Emmerenz wohnt doch noch drin?" „Freilich. Sie wird auch weiter drin wohnen, bis zu ihrem Tode, das ist ausgemacht. Sie ist jetzt hoch in den Achtzig. Es hat sich eigentlich zufällig ergeben. Du weißt, ich schau' manchmal nach ihr und bringt ihr ein bisserl was, weil doch die arme alte Haut jetzt nicht mehr Kräuter sammeln kann und da hat ihre Kundschaft auch abgenommen. Sie tut sich schwer und hat mir vorgejammert und da habe ich ihr halt den Handel vorgeschlagen." „Ja. Mutter, mir verschlägt's ja fast die Sprache! So eine Überraschung. Wie lange ist denn das schon her?" Wieder flog ein kleines Lächeln über Reginas abgezehrtes Gesicht. „Eigentlich hast mich selber auf die Idee gebracht, wie du mir damals so vorgeschwärmt hast vom Schweiberlhaus, weißt schon, wie du mit dem Uwe und der Frau Brokenhorst dort warst. Also hab' ich mir gedacht, das paßt ja pfeilgrad, weil doch die Emmerenz keine Verwandten hat, denen sie ihr Häusl vererben könnt. Sie war froh um das Geld und hat bloß verlangt, daß vorläufig nix davon geredet wird. No und deshalb hab' ich auch bislang nix gesagt." „Ja, aber Mutter, hat denn mein Geld gereicht? Das Grundstück ist doch recht groß?" „Ich habe schon noch was draufgelegt. Sollst auch was 178
von mir haben. Das hatte ich dir schon bestimmt, seit damals die Geschicht' mit dem Flori passiert ist." „Geh, Mutter, das ist aber wirklich zu viel." Barb bekam einen Knödl in den Hals und feuchte Augen. „Geh, red keinen Schmarrn, hast es schon verdient. Ich hab mir halt gedacht, hierbleiben wirst ja wahrscheinlich nicht, aber es ist halt doch immer gut, irgendwo ein Stückl Heimat zu haben. Kannst es ja an Sommergäste vermieten oder später verkaufen, das behält immer seinen Wert." „Verkaufen? Nein, Mutter, das könnte mir nicht einfallen. Du hast recht, das ist wirklich ein Stück Heimat für mich; jetzt weiß ich doch, wo ich hingehöre. Ich danke dir halt recht schön —" Sie konnte nicht weiterreden und fiel statt dessen Regina um den Hals. „Jaja, schon gut, Dirndl. Bleib brav und wenn du kannst, schau ein bisserl auf den Flori. Die Burgl soll auf ein paar Jahr in die Klosterschul' ins Internat. Aber hierbleiben brauchst nicht, wenn die — vom Alpenhof herkommt und ungut zu dir ist." Barb wurde rot. Die Mutter wußte also davon! Die Ärmste! Sie tat ihr von Herzen leid. Sie ging in den Garten und brachte mehrere Stengel des wunderschönen Rittersporns „Seraphim" herauf. Den stellte sie in eine Vase, so daß der Blick Reginas darauf ruhen konnte. Regina nickte und lächelte ein wenig. „Ist schier, als ob man den Himmel selber sehen tät' —" Eine Woche darauf war Regina tot. Das Herz hatte versagt und so war ihr das letzte, bittere Ende erspart geblieben. Es war ein Begräbnis, wie die Hellesrieder es schon 179
seit langem nicht erlebt hatten. Die ganze Gegend strömte zusammen, und die Lobesworte für die Tote waren ausnahmsweise alle ehrlich gemeint. Barb band einen großen Kranz aus allen Blumen des Gartens, Blumen, die Regina zum größten Teil selbst gepflanzt hatte. Sie band aber auch einen zweiten, der nur aus Rittersporn Seraphim bestand, mit einigen Madonnenlilien dazwischen. Es kam durch die Fleurop ein prachtvoller, großer Kranz aus lauter gelben Rosen und dazu ein sehr herzlicher Brief von Brokenhorsts. Auch die Hamburger sprachen in warmen Worten von der Toten. Dadurch wurde der erlahmte Briefwechsel wieder etwas belebt. Barb erfuhr, daß Herr Brokenhorst nun wieder seine geliebten Schiffe bauen konnte und Uwe eifrig an der TH studierte. Es ging wieder aufwärts, sie waren froh und glücklich darüber und hatten nun auch eine hübsche, eigene Wohnung. Barb sollte sie nur bald einmal besuchen. Die Brokenhorsts besuchen? Schön wäre es ja, aber das war natürlich unmöglich. Jetzt war wieder einmal Erntezeit, alle Hände wurden gebraucht, und sie arbeiteten, als ob die wachsamen Augen Reginas noch über ihnen stünden. Auch Mathis selbst arbeitete mit großem Eifer, er fuhr nicht nach dem Alpenhof, nein, so viel Anstand besaß er doch. Eines Abends hatte sich Barb nach der Arbeit abgeduscht, frisch angezogen und war zur alten Emmerenz gegangen. „Da schau her", krähte die Alte, „da kommt die reiche Erbin." 180
Emmerenz sah jetzt aus wie ein altes, krummgezogenes Stück Holz, die große Nase erreichte fast das Kinn, sie glich wahrhaftig einer Hexe und sie kicherte boshaft. Aber Barb ließ sich davon nicht anfechten. Sie nahm Emmerenz als das Original, das sie war und mochte sie ganz gern. „Ich habe keine Ahnung gehabt von der Erbschaft, Emmerenz, kannst dir denken, wie überrascht ich war. Aber gefreut hab' ich mich schon riesig." „Soso", kicherte die Alte. „Und jetzt wartst wohl drauf, daß ich stirb, gelt? Aber da wirst dich schneiden. Hoffetot lebt lange. Und ich werd' hundert Jahr, vielleicht noch mehr." „Geh, Emmerenz, red doch nicht so blöd daher. Ich wart' bestimmt nicht auf deinen Tod. Jetzt brauch' ich das Schweiberlhaus doch noch gar nicht. Das ist für später einmal, wenn ich älter bin. Zuerst will ich mich ein bisserl in der Welt umschaun. Und hier hab' ich dir eine Flasche Kranwitter mitgebracht." „Ah, einen Kranwitter? Ja, der eure ist gut." Die Äuglein der Emmerenz leuchteten auf, sie war einem Schnaps durchaus nicht abgeneigt und trank auch jeden Abend ihre Maß Bier beim Unterbräu. „Geh, hol zwei Stamperl dort aus dem Schrank. Trinken wir halt auf die Erbschaft." Plötzlich wurde sie etwas elegisch. „Daß die so früh hat fortmüssen, die Kranwitterin. War ein ordentliches Leut, alles was recht ist. Freilich, das Geld wo s' mir gegeben hat für mein Häusl, ist jetzt nimmer viel wert. Aber das hat s' nicht wissen können, 181
und verhungern hat s' mich nicht lassen, die hat ein Herz gehabt für ein armes altes Weib." Barb wurde es ein bißchen unbehaglich. „Und wovon lebst du denn jetzt, Emmerenz?" „Ja, mei, das kannst wohl fragen." Emmerenz wurde weinerlich. „Das Geschäft geht doch nimmer so wie früher." Sie saßen auf der Bank vor dem malerischen, rosenumrankten Häuschen. Jetzt hatte sich eine Frau in mittleren Jahren genähert. Es war Frau Werner, eine Heimatvertriebene, die in der Mansarde wohnte, in der „Post" beschäftigt war und außerdem Emmerenz etwas betreute. Sie hatte die letzten Sätze gehört. „Aber Fräulein Emmerentia", rief sie, „Ihnen geht es doch nicht schlecht!" Sie wandte sich an Barb. „Es kommen schon noch einige alte Kunden, die sich Rat holen und dafür bezahlen. Ich gebe ihr fünfzehn Mark für meine Kammer, und von der Gemeinde hat sie eine kleine Rente. Und das viele Obst aus dem Garten verkauft sie auch. Ich wäre froh, wenn es mir so gut ginge." Emmerenz warf Frau Werner einen bösen Blick zu. „Was geht denn das dich an, du blöde Urschl", rief sie erbost. „Hat dich jemand gefragt? Die tut ja gleich gar, als ob ich eine Millionärin wäre. Steck deine Nasen nicht in ander Leut Sachen." Aber Frau Werner lachte nur und ging ins Haus. Sie kannte die Emmerenz, das war ein durchtriebenes Frauenzimmer und auf ihren Vorteil stets bedacht. Aber sie hatte auch ihre guten Seiten. Da näherte sich ein Herr, mit kurzer Pfeife im Mund und einem Zeichenblock in der Hand. 182
Emmerenz kicherte, sie stieß Barb an. „Da schau hin, da kommt der spinnete Maler. Ja grüß Gott, Herr Schulz", sagte sie mit honigsüßer Ironie, „möchten S' mein sauberes Gestell wieder einmal abmalen? Du, paß auf", sagte sie, zu Barb gewandt, „jetzt wirst dir den Bauch halten vor Lachen. Der narrische Zipf hat wirklich mich alte Heugeigen abgemalt. Kannst dir so was denken? Spinnt der oder nicht? Wo's doch so viele blitzsaubere Mädeln gibt, die er malen könnt'." Herr Schulz aber stand da und starrte Barb an. Die Abendsonne wob eine Gloriole um ihren goldroten Kopf. „Donnerwetter!" sagte er bloß, „Donnerwetter!" „Den hat's", kommentierte die Emmerenz trocken. „Donnerwetter, ist das ein Bild!" rief Schulz, „diese alte, vertrocknete Vogelscheuche —" „Hoho, Sie, tun Sie sich fein ein bisserl halten, gelt!" rief Emmerenz, aber mit einem Zwinkern in den Augen. „— und daneben dieses zauberhafte junge Menschenkind! Mein Gott, diese Haare, diese Haut, diese wundervollen Farben, einfach atemberaubend. Liebes Fräulein, ich flehe Sie an, wer immer Sie sind, bleiben Sie so. Ich hole gleich meine Farben und mache eine schnelle Skizze." Fort war er, ohne eine Antwort abzuwarten. Barb lachte. „Ja, ich glaub's bald selber, daß er ein bisserl spinnt. Das ist wohl der Kunstmaler, der seit voriger Woche im Hollerhof wohnt?" Der Hollerhof grenzte an das Schweiberlhaus. „Derselbige. Schau, da kommt er schon wieder gerannt, und seine Frau und die zwei Buben schleppen ihm seine Staffelei und den Malkasten. Du, der zahlt mir fei jedesmal ein paar Markln, wenn ich mich abmalen lass'. 183
Ja, sonst tät' ich dem auch nicht stillhalten, dem spinneten Uhu." Frau Schulz, an die plötzlichen Impulse ihres Mannes gewöhnt, fand diesmal seine Begeisterung gerechtfertigt. Aber das Licht hielt nicht mehr lange stand, bald wurde es zu dunkel zum Malen. Also versprach Barb, am nächsten Abend wiederzukommen, die Sache machte ihr Spaß. „Sokrates" fand sich auch dazu ein, mit seinem Stepke; es wurde ein recht vergnügter Kreis im Garten der alten Emmerenz. Barb, der Schulz kein Modellgeld geben konnte, bekam eine kleine, farbige Skizze des Schweiberlhauses. Für Dr. Carsten war es der Schwanengesang. Sein Buch war beendet, und wenn auch Berlin ein gefährliches Pflaster war, es zog ihn doch wieder dahin zurück. Eines Tages reiste er mit Stepke ab, zum großen Bedauern von Herrn Zierlein, aber auch Barb vermißte diesen gescheiten, gütigen Menschen sehr. Er versprach, bald einmal wiederzukommen, aber Barb glaubte nicht mehr recht an solche Versprechungen. Sie gingen fort, die Freunde, und im Strudel der großen Städte vergaßen sie das kleine Hellesried mit seinen einfachen Menschen.
Mathis war nach der Ernte fortgefahren und gleich eine ganze Woche weggeblieben. Als er zurückkam, war er übler Laune, nörgelte an allem herum, und niemand konnte es ihm recht machen. Die alte Zenzi tat ihr Bestes, aber sie war abgearbeitet, 184
ihr Gedächtnis ließ nach, die jungen Mägde nützten das aus, kurz, es gab manche Verwirrung und Unordnung. Mathis war dies kein unwillkommener Vorwand. „So geht das nicht weiter", schimpfte er eines Tages, zu seinen Kindern gewandt. „Die Zenzi wird alt und deppert, ihr seid noch zu jung und habt keine Erfahrung. Es muß eine tüchtige Wirtschafterin her." Da wußten die Kinder, was die Uhr geschlagen hatte. Kati vom Alpenhof kam eines Tages zu Besuch, gut, aber nicht übertrieben elegant gekleidet, stattlich, mit einem gewinnenden Lächeln im vollen Gesicht. Mathis zeigte ihr den Hof; Stasi und Burgl, von Argwohn erfüllt, gingen überallhin mit, während Flori sich scheu abseits drückte. Barb war seit kurzem auf dem Bürgermeisteramt in Schweigenreuth beschäftigt und also nicht anwesend. Kati war äußerst liebenswürdig gegen die Tochter, besonders gegen Stasi, die allmählich etwas freundlicher wurde, während Burgl bockig dreinblickte und lauter schnippische Antworten gab. Kati lobte alles überschwenglich, vor allem das wohlgeordnete Haus, die stattlichen Vorräte an allem und jedem, an Eßwaren, Wäsche und anderem, die große, reichausgestattete Küche. „Es ist ja bekannt, was für eine tüchtige Bäuerin und Hausfrau eure selige Mutter war", sagte sie zu den Töchtern gewandt. „Man hört nichts als Lob über sie, und das ist sicher reichlich verdient." Stasi sah den Besuch erstaunt an. Diese Kati war ja ganz anders, als sie erwartet hatte, so freundlich und ver12 Findelkind vom Kranwitthof
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ständig, und wie nett sie über die verstorbene Mutter sprach! Die gerissene Kati merkte sehr wohl, wie sich das anfängliche Mißtrauen bei Stasi verflüchtigte. Burgl allerdings blieb störrisch und sah sie nur frech an. Beim Mittagessen aß Kati nur wenig, sie stocherte bloß ein bißchen in den Speisen herum und ließ sie dann stehen. „Schmeckt's dir nicht?" fragte Mathis und warf Zenzi einen bösen Blick zu. Die hatte sich wahrhaftig nicht für den Gast angestrengt, sie konnte viel besser kochen, wenn sie wollte. „O doch", wehrte Kati höflich ab, „bloß — ich habe heute gar keinen Appetit." Als die Familie dann mit Kati allein war, meinte Mathis: „Ein Saufraß war das, ich sag's, wie's ist. Kein Wunder, daß es dir nicht geschmeckt hat." Kati zuckte entschuldigend die vollen Schultern. „Sie tut sicher, was sie kann, die gute alte Zenzi, aber —" „Aber so geht's eben nicht weiter. Sapperlot, ich hab's satt", donnerte der Mathis los. „Könntest du nicht ein bisserl früher hierherkommen, Kati? Du siehst ja, wie's ist." Kati wollte gern so früh wie möglich kommen, der Boden brannte ihr in Gschwendig unter den Füßen, sie wußte schon warum, aber es war wohl besser, sich ein bißchen kostbar zu machen. Sie wiegte zweifelnd den Kopf. 186
„Ja — ich weiß wirklich nicht, ob das so schnell geht und — ob es überhaupt deinen Kindern recht ist —" „Das bestimme nachher schon ich", brauste der Mathis auf. „Und überhaupt, die können nix wie froh sein. Daß ihr's nun wißt, die Kati kommt als Wirtschafterin zu uns und da werdets schaun, wie die kochen kann, von der könnts was lernen." „Die Schwester von der Tant' Rosl tät' auch kommen", sagte Burgl unerschrocken. „Sie ist eine Witfrau und sehr nett. Die Mutter selig hat s' auch sehr gern mögen." „Du hältst den Schnabel", sagte Mathis böse. Es wurde ausgemacht, daß Kati nächste Woche übersiedeln sollte. Die Töchter vernahmen es mit gemischten Gefühlen. Kati blieb noch bis zum Abend und lernte also auch Barb kennen. Sie lächelte ihr mit falscher Freundlichkeit zu, aber Barb gewahrte sehr wohl den feindlichen Blick hinter halbverschlossenen Lidern. Ganz meinerseits, dachte Barb, ich kann dich auch nicht ausstehen. Mathis graute es ein bißchen, Zenzi von der Veränderung in Kenntnis zu setzen, aber sie kam ihm zuvor. „Ja, nachher zieh' ich halt nächste Woche in den Hollerhof, Bauer", sagte sie noch am gleichen Abend zu ihm. Regina hatte der Zenzi auf Lebenszeit Wohnrecht im Hollerhof vermacht. Sie bekam ein hübsches Zimmer, freie Heizung und Licht und hatte eine zum Leben ausreichende Rente. „Paßt mir pfeilgrad", fuhr sie fort, „wollt' eh schon lang gehn, war mir bloß um die Kinder. Mit fünfzehn Jahr hab' ich angefangen zu dienen, jetzt bin ich fünfund12*
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sechzig, das sind fünfzig Jahr, da darf man schon aufhören, mein ich." „Freilich, freilich, das hast mehr als verdient", stimmte Mathis eifrig und geradezu herzlich zu, sehr erleichtert, daß alles so glatt gegangen war. „Mußt nicht denken, daß wir dir's vergessen, was du alles für den Kranwitthof getan hast." Er gab ihr so viel von Reginas Kleidern und Wäsche, daß sie auf Lebenszeit versorgt war. „Eier, Milch und Butter kannst dir auf dem Hof holen, was du brauchst", bestimmte er. „Geh, Bauer", sagte Zenzi nun doch gerührt, „das braucht's doch nicht. Wofür hätt' ich denn nachher meine Rente?" „Die kannst versaufen", sagte Mathis trocken. Zenzis Abschied vom Kranwitthof vollzog sich unter Tränen. „Ich weiß gar nicht, warum wir so flennen", sagte sie schließlich. „Der Hollerhof ist doch in der Nähe, da könnt's mich doch immer besuchen." Den Flori zu verlassen, fiel ihr besonders schwer. Er war es auch, der sich in Zukunft mehr auf dem Hollerhof aufhielt, als daheim. Kati kam und nahm die Zügel in ihre kräftigen Hände. Als erfahrene Wirtin war sie es gewöhnt, sich bei allen möglichst beliebt zu machen. Zunächst kochte sie auf, daß es nur so eine Art hatte. Das verstand sie, ohne Zweifel, sie wirtschaftete aus dem vollen und sparte an nichts. Regina wären über diese Verschwendung die Haare zu Berge gestanden. Den Knechten behagte dies wohl. Die Mägde merkten bald, daß sie wohl daran taten, sich gut mit Kati zu stellen, denn wenn man ihr nicht parierte, konnte sie äußerst scharf werden. 188
Burgl ließ sich freilich nicht von ihr einschüchtern. Sie war frech zu Kati und zeigte ihr bei jeder Gelegenheit ihre Abneigung. Auch gelegentliche Ohrfeigen von Mathis halfen da nichts. „Morgen bring' ich dich ins Internat, ins Kloster", schrie er sie plötzlich einmal an. „Vielleicht lernst dort ein bisserl folgen, du freches Lausdirndl." „Ist mir eh lieber als daheim, solang die gräuslige Trutschen da ist", gab Burgl schnippisch zurück. Also war Kati die unbotmäßige Burgl los, was sie sehr erleichterte. Mit den andern wurde sie schon fertig. Nach ein paar Wochen kam Katis Sohn, der einundzwanzigjährige Simmerl, an. Er war von Beruf Kraftfahrer, aber zur Zeit arbeitslos, und Kati meinte, er könne sich auf dem Kranwitthof nützlich machen. Was aber Kati wirklich meinte, war etwas ganz anderes. „Du schaust jetzt, daß du die Stasi rumkriegst", sagte sie zu ihrem Sprößling, der ein recht hübscher und kräftiger junger Mann war. „Das ist nicht schwer, sie ist ein bisserl blöd, der schmierst recht viel Honig um die Goschen, dann glaubt s' alles. Also, wenn du die heiratst, hast ausgesorgt. Sie kriegt ordentlich was mit. Aber vielleicht, wer kann's wissen, kannst auch den Hof übernehmen. Ich mein' nur für den Fall, daß der Flori vielleicht stirbt." „Warum sollt' denn der sterben?" „Sei nicht so blöd. Man sagt ja nur. Und man muß an alles denken. Jetzt schau einmal zuerst, daß du mit der Stasi einig wirst." „Mit der gscherten Mollen?" rief Simmerl, „die ist aber 189
gar nicht mein Geschmack, Da wär' mir die andere, die hübsche Rotblonde, schon lieber." „Untersteh dich!" rief Kati wütend, „wär' ja noch schöner. Das bisserl Sach, wo die hat, das war' keine Partie für dich. Du nimmst die Stasi und damit basta." Ich muß schaun, diese gefährliche Person aus dem Haus zu bringen, dachte Kati, kann sie ohnehin nicht ausstehn. Wo es irgend anging, versuchte sie Barb herunterzusetzen und ihr zu zeigen, wie überflüssig sie auf dem Kranwitthof sei, und dies erst recht sein würde, wenn Kati erst als rechtmäßige Bäuerin auf dem Hof herrschte. Daß es nach dem Trauerjahr dazu kommen würde, war kein Geheimnis. Sie stichelte auch bei Mathis. „Weißt, deine arme Stasi tut mir leid. So ein nettes, liebes Mädel, aber diese auffallende Person, die Barb, stellt sie ja direkt in den Schatten. Die tut grad, als ob sie die Hoferbin war, das hochnasige Ding." Diese Hetzreden blieben auf die Dauer nicht ohne Wirkung auf Mathis. Auch er wurde unfreundlicher zu Barb. Da nahm sie den Stier bei den Hörnern. „Weißt du, dieses tägliche Hin- und Herfahren nach und von Schweigenreuth ist schon recht lästig", sagte sie zu Mathis, „besonders im Winter. Onkel Peter hat gemeint, es wäre gescheiter, wenn ich ganz dort bliebe. Also, wenn du erlaubst, ziehe ich um." „Soso, ja, kann schon sein. Also meinetwegen bleib halt den Winter über dort. Aber dein Kammerl hier behältst auf alle Fälle." Schon weil mir sonst das Wohnungsamt noch einen Flüchtling hineinsetzt, dachte er im stillen. 190
Dann hatte er doch einige Bedenken, schließlich war er ja Barbs Vormund. „Aber zum Wochenend kommst her, nicht daß die Leut' Gott weiß was denken." „Ich komm' schon. Hab's ja der Mutter versprochen, daß ich ein bisserl nach dem Flori schau'." Dazu machte Mathis eine etwas sauersüße Miene, wußte aber nichts darauf zu erwidern. Barb bekam im Törwinghof ein nettes Zimmer und fügte sich gut in den großen, fröhlichen Familienkreis ein. Sie nannte Peter Törwing und seine Rosl auf deren Verlangen Onkel und Tante. „Weißt du, Onkel Peter", sagte sie eines Tages, „am meisten tut mir der arme Flori leid. Er hat seine Mutter sehr lieb gehabt und leidet unter den jetzigen Zuständen. Das wird natürlich noch schlimmer, wenn die Kati erst Bäuerin auf dem Kranwitthof ist. Schon jetzt ist sie häßlich zu Flori, wenn der Mathis es nicht sieht. Und manchmal schaut sie ihn heimlich an, mit einem Blick — also, wenn Blicke töten könnten, wäre er längst tot. Man könnte direkt Angst kriegen, das ist ein böses Weib." „Na na, mach's nur nicht gar zu gräuslig, vergiften wird sie ihn schon nicht. Und warum sollt' sie ihn denn aus dem Weg wünschen?" „Der Simmerl soll die Stasi heiraten, und sie möcht' wohl, daß er dann auch Hoferbe wird. Nein, ich glaub' natürlich auch nicht, daß sie dem Flori was antut, aber es ist eine ungute Luft, das fühlt der Bub, und da kann er nicht gedeihen." Peter dachte daran, daß er Regina versprochen hatte, Flori zu sich zu nehmen, wenn die Kati ungut zu ihm 191
wäre. Aber das war eine schwierige Sache, wie sollte man es dem Mathis plausibel machen? Da kam Flori eines Tages von selbst nach Schweigenreuth. Er wollte mit Barb sprechen. Sie nahm ihn mit auf ihr Zimmer. Er sah so schmal, blaß und abgehärmt aus, daß sie ihn voll Mitleid in die Arme schloß. Er schluckte krampfhaft, dann brach er unaufhaltsam in stoßhaftes Weinen aus. Sie ließ ihm Zeit, sich zu fassen, und hatte selbst mit den Tränen zu kämpfen. „Seit du weg bist, ist es ganz schlimm", vertraute er ihr an. „Sie ist so bös zu mir, wenn der Vater es nicht sieht, ich glaub', am liebsten tät' sie mich umbringen. Ich fürcht' mich vor ihr. Red halt du mit Onkel Peter, damit ich hierbleiben darf." Peter Törwing trat wieder einmal einen unangenehmen Gang an und nahm sich dem Schwager gegenüber kein Blatt vor den Mund. Der tobte und schimpfte zuerst nicht schlecht, aber wohl war ihm nicht dabei. Barb war fort, Burgl im Internat, beides konnte man vertreten. Aber wenn jetzt auch Flori ausriß? Das gab sicher üble Nachrede. Teufel auch! Sollte er vor so einem halbwüchsigen Bengel klein beigeben? Die Kati gehen lassen? Nie und nimmer, die konnte er nicht mehr entbehren. Andererseits ewiger Unfriede im Haus, das ging auch nicht. Peter Törwing behielt wie immer die Oberhand. Flori mußte ja doch bald die landwirtschaftliche Schule in Selbing besuchen, da konnte er eben etwas früher beginnen und es war praktischer, dann auf dem Törwinghof zu wohnen. Mathis willigte ein. Kati war es sehr zufrieden. Sie 192
dachte, vielleicht gefällt es ihm so gut auf dem Törwinghof, daß er gar nicht zurück will. Aber alle ihre feingesponnenen Pläne wurden zunichte, und zwar durch ihr eigen Fleisch und Blut. Ihr Sohn Simmerl weigerte sich entschieden, die Stasi zu heiraten. „Die fade Nocken", sagte er, „könnt' mir einfallen. Überhaupt die Landarbeit taugt mir nicht, kannst dir deinen damischen Hof auf 'n Hut stecken, ich geh' in die Stadt. Wenn ich überhaupt heirat', dann die Tochter von einem Garagenbesitzer oder ich heirat' in eine Autoschlosserei ein." Und genau das tat er auch einige Zeit später. Simmerl war gar kein so übler Bursche, jedenfalls viel sympathischer als die Frau Mama.
Also wurde Flori in das schon aus so zahlreichen Mitgliedern bestehende Hauswesen der Törwinger aufgenommen, und die gute Atmosphäre, die dort herrschte, bekam ihm außerordentlich. Er verlor seine seelische Bedrücktheit, wurde aufgeschlossener und der allzeit fröhliche Ton der anderen steckte ihn an. Eben war eine Nachricht gekommen, die besonderen Jubel auslöste, ein Kabel aus Amerika, das besagte, daß Rosemarie Bauer, geborene Törwing, ein munteres Zwillingspärchen bekommen hatte, einen Buben und ein Mädel. Mutter und Kinder waren wohlauf und die ganze Familie, mitsamt den strahlenden Schwiegereltern, überglücklich. „So ein Teufelsmädel", sagte Peter Törwing stolz, „muß 193
immer was Extras haben. Gleich zwei, nein, so was! Aber gut ist's schon, da wird sie jetzt alle Hände voll zu tun und keine Zeit mehr für Dummheiten haben." Seine Rosl war derselben Ansicht, wann wäre sie das nicht gewesen? „Aber schad ist's schon", sagte sie und wischte ein bißchen an den Augen herum, „daß man die Bamsen nicht zu sehen kriegt." Ja, die Familie der Törwinger wuchs und gedieh. Jetzt war auch Monika, die zweite Tochter, verlobt, mit einem jungen Gutsbesitzer, eine Partie ganz nach den Herzen der Eltern. Michel, der Jüngste, studierte in München Medizin, wie das seit jeher vorgesehen war. Das Münchner Leben schien ihm sehr zu behagen, er hatte sein gerütteltes Maß an der Törwingschen Lebenslust mitbekommen und war dabei, seine akademische Freiheit in vollen Zügen zu genießen. In Schweigenreuth ließ er sich, außer an den hohen Feiertagen, kaum sehen, so daß Rosl sich schon manchmal darüber beschwert hatte. Aber in letzter Zeit war das anders geworden. Es war, um genau zu sein, anders geworden, seit Barb auf dem Törwinghof weilte. Nun kam Michel so oft, daß es auffallen mußte. Wenn die jungen Leute ins Hotel zum Tanzen gingen, war er Barbs eifrigster Tänzer und er schielte jeden unwillig an, der sie ihm wegholte. Sonntags kam Monikas Verlobter mit seinem Auto und holte sie ab. Da fuhren Barb und Michel meist mit, auf Ausflüge in die Umgebung. Sie hatten viel Spaß dabei, aber einem längeren Alleinsein mit Michel ging Barb aus dem Wege, sie wußte schon warum. 194
Peter und Rosl Törwing, an sich der Barb durchaus wohlgesinnt, waren in letzter Zeit ihr gegenüber doch etwas kühler geworden. Die Ursache war nicht schwer zu erraten. Und Barb ahnte, daß sie wohl nicht mehr sehr viel länger bei den Törwingern bleiben würde. Sie bedauerte diese Entwicklung sehr, denn Barb fand es in Schweigenreuth recht unterhaltsam, besonders jetzt, da die Kursaison begann. In der Mittagspause saß sie einmal im Kurpark und betrachtete die mehr oder weniger sehenswerten Gäste. Ein sehr großer und fast ebenso breiter Herr, mit Baskenmütze, fesselte ihre Aufmerksamkeit. Es war, grauer an den Schläfen, aber sonst unverkennbar: Fritz Tönning, der Regisseur! Er war allein, also wagte sie es, auf ihn zuzugehen. „Guten Tag, Herr Tönning. Kennen Sie mich noch?" Tönning sah ein hübsches, rotblondes Mädchen und hatte keine Ahnung, woher er es kennen sollte. Aber das war natürlich nur ein Trick, das kannte er schon, die wollte zum Film. „Keine Ahnung, mein schönes Kind", lächelte er. „Was wünschen Sie von mir?" „Gar nichts, Herr Tönning. Oder höchstens, daß Sie sich an eine Szene in Hellesried erinnern, an ein rothaariges kleines Scheusal, mit vielen Sommersprossen, das " Tönning lachte plötzlich schallend auf. „Gott bewahre! Natürlich erinnere ich mich. Sie wollen doch nicht etwa behaupten, daß Sie das sind?" „In Lebensgröße. Und ich habe auch noch den reizenden Brief, den Sie mir damals geschrieben haben. Ich war maßlos stolz darauf, es war der erste Brief meines Lebens." 195
„Nun sieh mal einer an, das ist aber wirklich nett", sagte er geradezu gerührt und schob seinen Arm unter ihren. „Und da können Sie sehen, was für ein fabelhafter Prophet ich bin. Habe ich Ihnen nicht geschrieben, daß Sie einmal ein sehr hübsches Mädchen werden würden? Na und jetzt? Meine Voraussage ist übertroffen." „Gott, wie reizend Sie zu mir sind. Und Sie sagten auch, ich würde mich dann gern von Ihnen filmen lassen." Sie sah ihn von der Seite durchtrieben an. Er seufzte abgrundtief. „Liebes Herz, liebes, gutes Mädchen, muß das sein?" Sie lachte. „Nein, Herr Tönning, beruhigen Sie sich. Ich bin überzeugt, daß ich ganz talentlos bin." „Ja? Mir kullert ein Gebirge vom Herzen. Sie sind ein Schatz, nein, wirklich. Darf ich Sie zu einem Eis einladen? Oder was Sie sonst wollen?" Er durfte, und Barb erzählte ihm in großen Umrissen von ihren Schicksalen, weil er sich merkwürdigerweise dafür zu interessieren schien. „Soso, also Sie helfen dem Bürgermeister hier beim Regieren?" „Wahrscheinlich nicht mehr sehr lange." „Und warum das?" „Weil nun das ist so. Der jüngste Törwing studiert in München Medizin, macht jetzt seinen Doktor und hat ein Auge auf mich geworfen. Deshalb kommt er jetzt auffallend oft her, und die Eltern mißverstehen Sie mich nicht, es sind reizende Leute, sie würden sich nicht widersetzen und nicht unfreundlich zu mir sein, aber sie haben eben andere Pläne für ihren Jüngsten. Und da ich 196
nicht besonders interessiert bin, das heißt, ich mag ihn recht gern, aber es ist keine Liebe, will ich lieber gehen." „Ja, dann allerdings. Aber wo wollen Sie denn hin?" „Ja, wohin? Denken Sie an mich, wenn in Ihren Studios ein Sekretärinnenposten frei wird." Das versprach Tönning und sie hatte fast den Eindruck, daß er es wirklich ernst meinte. Aber es kam dann ganz anders. *
Peter Törwing war sich klar darüber, daß es auf dem Kranwitthof nicht so weitergehen konnte. Nicht nur hatte das skrupellose Weib, die Kati, nun glücklich alle Kinder bis auf Stasi aus dem Elternhaus hinausgeekelt, sie führte auch so eine verschwenderische Wirtschaft, daß der Hof auf die Dauer dies nicht tragen konnte. Es mußte etwas geschehen, eine radikale Lösung gefunden werden, zum Besten Floris, der Töchter und schließlich auch zum Besten von Mathis selber, dem „damischen Hirsch," wie Peter Törwing ihn nannte. Der Törwinger hatte als Bürgermeister einer großen Gemeinde natürlich auch rege Zusammenarbeit mit der Landpolizei. Gschwending galt als ein Schmugglerzentrum, viele Fäden internationaler Banden liefen hier zusammen und somit stand es unter besonderer polizeilicher Beobachtung. Die Kati hatte als Pächterin des Alpenhofs eine gute Position gehabt; warum hatte es ihr nur plötzlich so pressiert, zu verschwinden? Sehr verdächtig, besonders da sie von früher als große Schwarzhändlerin bekannt war. Al197
lerdings war dies in den schrecklichen Hungerzeiten gewesen, wo manch einer in dieser Beziehung ein wenig gesündigt hatte. Aber der Schmuggel mit Kaffee, Tee und Zigaretten vor allen Dingen ging fröhlich weiter, sogar in unvorstellbar großen Mengen. Die Polizei hatte zwar einige der Hauptschmuggler festgenommen, der Kati aber bisher nichts Konkretes beweisen können. Peter beschloß, auf eigene Faust Privatdetektiv zu spielen. Er konnte dies sogar besser als die Polizei, da er über glänzende Beziehungen verfügte. Bald hatte er genügend Material gegen Kati beisammen. Man konnte sie nun als Großschmugglerin überführen. Das Material übergab er der Polizei. Als Kati sich schon sicher fühlte und meinte, jetzt würde nichts mehr aufkommen, fiel der Schlag, sie wurde verhaftet. Aus der Traum, Bäuerin auf dem Kranwitthof zu werden. Statt dessen wanderte sie ins Kittchen und weil sie schon einschlägig vorbestraft war, bekam sie keine Bewährungsfrist, sie mußte ihre sechs Monate absitzen. Mathis traf dieser Schlag so hart, daß sein altes Leberleiden wiederkehrte. Er mußte in ein Krankenhaus, dann zur Kur nach Mergentheim. Wenigstens war er auf diese Weise dem Skandal und den Klatschmäulern entrückt. Die fürchtete er sehr, als er schließlich heimkehrte. Aber auch in Hellesried dauerten die Sensationen in dieser raschlebigen Zeit nicht lange. Der Mathis hatte sich wie ein Tor aufgeführt und einen Denkzettel verdient, darüber war man sich einig. Nun, der Denkzettel war mehr als kräftig ausgefallen, der Mathis hatte bei der Zeugenvernehmung Blut geschwitzt, aus lauter Angst, er würde selbst noch mit irgend etwas 198
hängenbleiben. Die Hellesrieder fanden, damit konnte es genug sein. Schließlich war der Kranwitter einer der Ihren und aus einem alten, angesehenen Geschlecht. „War halt so der zweite Saft bei dir, Mathis", meinte ein Nachbar, „oder der Johannistrieb, wie man sagt. Sei froh, daß du's los bist, das liederliche Frauenzimmer. Die wär' nie im Leben eine ordentliche Bäuerin worden." Mathis lächelte säuerlich und gab es zu. was blieb ihm auch anderes übrig? Die Schwester der Rosl, eine gewisse Josefine Einzinger, wirtschaftete jetzt auf dem Hof, tüchtig, energisch und sparsam. Die verschwenderische Wirtschaft hörte auf, es kam wieder Ordnung ins Haus und Zucht unter das Gesinde.
Diese aufregenden Geschehnisse ließen für eine Weile alles andere in den Hintergrund treten. Hinzu kam, daß Michel nun an seinem Doktor baute und keine Zeit hatte, so oft nach Schweigenreuth zu kommen. Er mußte nun seine Gedanken auf andere Dinge konzentrieren. Aber schließlich war es nur ein Aufschub, ein Entschluß mußte gefaßt werden, darüber war sich Barb klar. Und dann erschien Marianne Elger in Schweigenreuth, das junge blonde Mädchen, das Bill einmal mit auf den Kranwitthof gebracht hatte. Sie waren damals auch in Schweigenreuth gewesen und es hatte ihr so gut gefallen, daß sie jetzt ihren Urlaub hier verbringen wollte. Sie war hoch erfreut, Barb hier anzutreffen und freundete sich noch weiter mit ihr an. Im übrigen war sie ein wenig elegisch. Sie hatte sich in einen zwar gutaussehenden, aber, 199
wie es sich dann herausstellte, charakterlich nicht einwandfreien jungen Mann verliebt; die Sache war jedoch auseinandergegangen, hatte mit einem Mißklang geendet. Mit Bill hatte sie die ganze Zeit Briefe gewechselt und dachte jetzt etwas reuevoll an ihren früheren Verehrer. „Weißt du", sagte sie zu Barb, „Bill ist ja nicht so attraktiv, aber eine gute, treue Seele. Er hat mir vorgeschlagen, probeweise auf ein halbes Jahr als Gast seiner Eltern nach Amerika zu kommen. Ich könnte, wenn ich wollte, auch im Spencerschen Modesalon mitarbeiten, weil ich guten Geschmack und Sinn für Mode habe. Dann könnte ich sehen, wie es mir drüben gefällt und vor allem, ob mir Bill genügend gefällt, um ihn zu heiraten." „Nun, Marianne, das ist doch eigentlich ein vernünftiger Vorschlag, nicht wahr? Du hast hier niemand " „Nein, du hast recht, ich habe niemand." Es klang teils resigniert, teils bitter. „Eine Ausgewiesene aus dem Sudetenland und die Eltern gestorben. Keine Angst, ich rede nicht davon — wer will das schon hören?" Als sie noch über das Für und Wider der Reise redeten, kam ein Brief Bills an Barb, der alles entschied. Er schrieb, daß sich der Zustand seiner Stiefmutter sehr verschlechtert habe. Sie wollte Barb vor ihrem Tode gern einmal sehen. Barb möge ihr also diesen Wunsch erfüllen und am besten so schnell wie möglich und mit Marianne zusammen, herüberkommen. Die Reise würde ihr natürlich bezahlt. Da gab es selbstverständlich keine Wahl, das war eine Pflicht, löste aber auch gleichzeitig die Frage, wohin sich Barb wenden sollte. Mathis gab natürlich seine Einwilligung und einen Zu200
schuß zur Reise. Er war grau geworden und schien stark gealtert. „Du weißt, daß du immer auf den Kranwitthof zurückkommen kannst", sagte er nicht ohne eine gewisse Wärme. Fast tat er Barb etwas leid. Flori hatte sich in Schweigenreuth sehr herausgemacht, war kräftiger und forscher geworden. Aber jetzt meinte er betrübt: „Wer weiß, ob du wiederkommst?" „Ganz bestimmt, Flori. Ich habe doch euch und das Schweiberlhaus hier, das ist meine Heimat." Ja, dank Regina war sie nicht wurzellos wie die arme Marianne. Ganz allein fuhr sie vor ihrer Abreise noch einmal nach Maria im Eis und ließ den eigenartigen Zauber, die große Schönheit des Ortes auf sich einwirken. Mit Maria im Eis war sie nun einmal auf geheimnisvolle Weise verbunden, auch das war ein Stück Heimat für sie. Auch der alten Emmerenz und dem Schweiberlhaus machte Barb einen Abschiedsbesuch. Sie brachte der Alten, neben einigen anderen Dingen, auch Neskaffee aus ihrem letzten Carepaket mit, den Emmerenz über alles schätzte. Sie grinste erfreut, sah aber noch eingeschrumpfter und hexenhafter aus als zuvor. „Was du nicht sagst", krähte sie mit ihrer Fistelstimme, „bis nach Amerika willst? So weit weg? Jetzt so was!" „Aber, Emmerenz, das ist doch heutzutage keine große Entfernung mehr." „Übers große Wasser", sagte die Alte und schüttelte bekümmert den Kopf. „Da seh' ich dich nimmer." „Geh, Emmerenz! Wie kannst denn so reden. Du wirst 13 Findelkind vom Kranwitthof
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doch hundert Jahre alt und wo du noch dazu eine Naturheilkundige bist, kann es dir doch nicht fehlen." Aber die Alte hing ihren eigenen trüben Gedanken nach und sah plötzlich recht arm und verlassen aus. Sie tat Barb so leid, daß sie den Arm um sie legte und ihr einen Kuß auf die lederne Wange gab. Das war der Emmerenz seit vielen Jahren nicht mehr passiert, wenn es ihr überhaupt je begegnet war. Das Wasser schoß ihr in die trüben Augen. „Weißt, es freut mich, daß grad du das Schweiberlhaus kriegst. Ich schau schon drauf, daß es sauber gehalten wird; eine Schlampe bin ich nie gewesen und die Wernerin ist auch recht sauber." „Ich weiß, Emmerenz, bist als saubere Frau bekannt. Und jetzt behüt dich Gott!" *
Nun würde sich also Barbs Kindertraum erfüllen, sie sollte mit einem großen Schiff fahren, die Plätze waren für sie und Marianne schon von Amerika aus gebucht. Sie freute sich kindlich darauf, besonders auch, weil das Schiff von Hamburg aus abfuhr. Natürlich wollte sie Brokenhorsts besuchen, es aber nicht vorher schreiben, sondern sie überraschen. Aber, wie es oft mit Überraschungen geht, sie fiel ins Wasser! Als Barb in dem modernen Wohnhaus bei Brokenhorsts klingelte, öffnete ihr ein freundliches Mädchen, die Hausangestellte. „Die Herrschaften sind leider verreist," sagte sie. „In Italien. Darf ich etwas ausrichten?" 202
Barbs Enttäuschung war groß, sie hatte so fest mit einem Wiedersehen gerechnet. „Sagen Sie nur, Fräulein Eis wäre hier gewesen, Barbara Maria Eis aus Hellesried." „Ach, Sie sind Fräulein Eis!" rief das Mädchen, „wie nett, dann kommen Sie doch bitte rein, die gnä' Frau hat mir von Ihnen erzählt. Na, das wird den Herrschaften aber sehr leid tun, daß Sie sie verfehlt haben." Barb trat aus der Diele in ein ungewöhnlich geschmackvoll eingerichtetes Wohnzimmer. „Auch mir tut es sehr leid. Ist Herr Uwe auch mit?" „Ach, wissen Sie das nicht? Unser junger Herr ist doch in Amerika. Tchja. Bei Onkel und Tante in Boston, sehr reiche und feine Leute. Der Onkel hat eine Werft, ist Reeder, wissen Sie, tchja, und da ist unser junger Herr nu beschäftigt, praktische Ausbildung, verstehen Sie." „So, in Boston. Nein, davon hatte ich keine Ahnung." „Tchja, er hat's ja nu gar nich mit dem Briefeschreiben, unser Herr Uwe, die gnä' Frau beklagt sich auch immer drüber. Mal eine Karte hie und da, das ist alles. Die jungen Leute sind heutzutage alle so. Kann man nix machen." Nein, da kann man nix machen, dachte Barb, als sie enttäuscht ins Hotel zurückging. Sie sah sich mit Marianne die große und schöne Stadt Hamburg an und es gefiel ihr dort über die Maßen. Welche Großzügigkeit, hier wehte vom Ozean her der Atem der freien Welt, das spürte man. Die Schiffsreise bot alles, was sie sich nur wünschen konnten. Sie hatten herrliches Wetter, nette Gesellschaft und an ein paar Verehrern fehlte es den beiden hübschen jungen Damen auch nicht. 13*
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Das Ganze war ein großes Erlebnis und fast vergingen ihnen diese Tage zu rasch. Aber sobald sie die Freiheitsstatue passiert hatten, stürzten so viele Eindrücke auf sie ein, daß sie nicht wußten, wohin sie zuerst blicken sollten. Da war auch Bill. Er sah in seinem guten Zivilanzug viel männlicher und attraktiver aus, nicht so durchschnittlich wie in der Uniform. Er strahlte über sein ganzes ehrliches Gesicht. „Himmel, was seid ihr für zwei reizende Käfer", sagte er und bugsierte sie mit sanfter Gewalt in seinen Buick. „Nein, New York sehen wir uns diesmal nicht an, das läuft uns nicht weg. Mammy brennt darauf, euch möglichst bald bei sich zu haben, das könnt ihr euch denken." Also fuhren sie nach Ellscourt, einer freundlichen Stadt von 200 000 Einwohnern, in New Jersey. Sie war sehr hübsch in einer grünen, fruchtbaren Landschaft gelegen. Alles war neu und anders, als Barb es sich vorgestellt hatte. Auch das Haus von Bills Eltern war hübsch und bequem, ohne besondere Eigenart zu verraten. Barbs Tante, Elisabeth Spencer, war eine schlanke, grauhaarige Frau und sah weder Barbs verstorbener Mutter noch Barb selbst ähnlich. Sie war gepflegt und geschmackvoll gekleidet. „Liebe Barbara", sagte sie und schloß ihre hübsche Nichte in die Arme, „wie sehr du deiner Mutter gleichst! Auf den Fotos war das nicht so deutlich erkennbar." Es gab viel zu fragen und zu erzählen, bis dann Mr. Spencer eingriff, als er seine erschöpfte Frau sah. „Genug für jetzt, Elisabeth, du mußt dich hinlegen. Wir werden Barbara hoffentlich lange bei uns haben und da braucht ihr euch nicht alles auf einmal zu erzählen." 204
Bills älterer Bruder war Arzt, bereits verheiratet und hatte natürlich sein eigenes Heim. Bill war also der Juniorchef des Modehauses und es zeigte sich, daß er ein tüchtiger und gewandter Geschäftsmann war. Marianne bekam hier einen ganz anderen Eindruck von ihm. Er schien in seinem Umgangskreis sehr beliebt zu sein und hätte sicher leicht unter den vielen hübschen Mädchen der Stadt eine passende Frau finden können. Aber er schien sich nun einmal die blonde Marianne in den Kopf gesetzt zu haben. Sie bekam auf ihren Wunsch eine Stellung im Spencerschen Modesalon, sie hatte eine natürliche Begabung für modische Dinge und diese Beschäftigung befriedigte sie mehr als die Büroarbeit. Auch fand sie es angenehm, gleich Geld zu verdienen. Barb, die eine entzückende Figur hatte, wirkte manchmal bei Modevorführungen als Mannequin mit, sonst widmete sie sich meist der Tante, die viel ruhen mußte. Doch an den Abenden gingen die jungen Leute meist aus, zum Tanzen, ins Kino, irgendetwas hatten sie immer vor. Es ging sehr laut und fröhlich dabei zu. Sie strotzten alle vor Vitalität. Es dauerte nicht lange, da hatte Barb zwei eifrige Verehrer, einen Ronny und einen George, die sie beide heiraten wollten. „Merkwürdig, wie rasch diese jungen Amerikaner mit dem Heiraten bei der Hand sind", sagte sie kopfschüttelnd zu Marianne. „Ja, es ist wirklich auffallend. Sie scheinen ohne viel zu überlegen das sogenannte ewige Band zu knüpfen. Vielleicht kommt es daher, daß es so rasch wieder reißt." 205
Eines Tages kam Rosemarie mit einem Wagen, den sie selbst steuerte, von New York zu Besuch. „Wenn der Berg nicht zu Mohammed kommt, oder so ähnlich", lachte sie. „Ich habe natürlich erwartet, daß du mich zuerst besuchst, wie es sich für so ein Küken gehört." Rosemarie sah strahlend aus, war hübscher als je und alle waren von ihr entzückt. „Liebes Kind", sagte Tante Elisabeth zu Barb, „du darfst dich wirklich nicht für mich aufopfern. Wenn Frau Bauer dich mit nach New York nehmen will, dann fahre nur und amüsiere dich gut." Es wurde eine sehr vergnügliche, wenn auch turbulente Woche in der größten Stadt der Welt, die noch phantastischer war, als Barb erwartet hatte. Sie besaß eine nur ihr eigene, wenn auch etwas künstliche Schönheit. Die abendlich erleuchteten Wolkenkratzer mit ihren Millionen von Lichtern gegen den nachtblauen Himmel, das war schon ein atemberaubender Anblick. Rosemarie wohnte außerhalb New Yorks in einem Haus, das nicht groß, aber mit allen modernen Schikanen eingerichtet war. Ihren Mann kannte Barb schon von Schweigenreuth her, dagegen waren ihr Rosemaries reizende Zwillinge natürlich noch unbekannt. Der Bub hieß Peter, nach dem Törwinger-Großvater, das Mäderl Ursel, nach der Bauer-Großmutter. Zwei blondlockige, rotbäkkige Cherubine, aber kleine Teufel an Temperament und Übermut. Besonders die kleine Ursel war ein kaum zu zähmender Unband und nützte schamlos ihren Charme aus, um ihren Willen durchzusetzen. Das gelang ihr bei allen, außer bei ihrer Mutter. Rosemarie war von geradezu erstaunlicher Strenge gegen ihre übervitalen Sprößlinge 206
und vor allem gegen ihre Tochter. Es war sehr drollig zu beobachten, was für ein Übermut sie selber war. Barb konnte nicht umhin, eine lachende Bemerkung darüber zu machen. „Bist du aber eine strenge Mama", sagte sie. „Hm, hm. Von wem glaubst du wohl, daß deine Tochter ihren Übermut hat?" „Du naseweises junges Ding!" erwiderte Rosemarie. „Glaubst du vielleicht, ich will, daß meine Tochter ein ebenso unnützes Lausdirndl wird, wie ich eins war? Ha, das könnte mir passen. Mir wird die nicht auf der Nase herumtanzen, mir nicht!" Die Bauer-Großmutter, die dabei anwesend war, fiel hier ein: „Ja, liebe Rosemarie, ich finde ja nun auch, daß du allzu streng bist gegen die süßen, kleinen Engelchen —" „Engelchen!" sagte Rosemarie ironisch. „Sag gleich, daß ich eine brutale Rabenmutter bin!" Sie nahm ihre zwei Sprößlinge und schwenkte sie lachend im Kreis herum. „So, ihr Rasselbande, jetzt werdet ihr angezogen und dann fahren wir zur Oma." Unter dem Jubelgekreisch der Zwillinge zog sie mit ihnen ab. Herr und Frau Bauer bewohnten ein größeres und reicher ausgestattetes Haus als die jungen Leute, schließlich war der alte Herr auch der Chef einer angesehenen Firma und mußte repräsentieren. Doch im Familienkreis ging es angenehm bürgerlich zu. Sie sprachen noch ihr gemütliches Schwäbisch, es gab heimische Gerichte, die unvermeidlichen Spätzle und Zwiebelkuchen, und Frau Bauer machte sich das Vergnügen, sie selber zuzubereiten. 207
Sie hielten überhaupt mit rührender Anhänglichkeit an ihren heimischen Gebräuchen fest, die vielen Deutschamerikaner. Es gab einen Bayernverein, wo es ganz zünftig zuging, und auch viele andere deutsche Vereine, die Gesang und Geselligkeit pflegten und vor allem auch eine äußerst großzügige Hilfe für die notleidende Bevölkerung in der alten Heimat organisiert hatten. Man mußte die Dinge nur aus der Nähe sehen und ohne vorgefaßte Meinungen betrachten, dann bekam vieles ein anderes Aussehen. Bauers führten Barb auch in einige hochvornehme Lokale, damit sie diese Seite New Yorks ebenfalls kennen lernte. Sie waren in dem feudalen „Plaza", dann in einem eleganten Dachgartenrestaurant, von dem man einen wirklich zauberhaften Blick über das Lichtermeer und die unzähligen Leuchtreklamen der Riesenstadt hatte. Sie besuchten auch ein sehr schickes Nachtlokal, wo man die schönsten Frauen in den erlesensten Toiletten und den kostbarsten Pelzen bewundern konnte. Viele trugen ein Vermögen an Schmuck nebst vornehm blasierten Mienen zur Schau. „Sie scheinen sich alle furchtbar zu langweilen", sagte Barb. „Warum kommen sie denn dann eigentlich her?" Herr Bauer senior lachte. „Um gesehen zu werden. Im Grunde ist es nichts als ein Jahrmarkt der Eitelkeiten." Er war der Gastgeber und als Barb, die es wissen wollte, Rosemarie heimlich nach der Höhe der Rechnung fragte, glaubte sie nicht recht zu hören. „So viel? Aber das ist ja beinahe " „Beinahe sündhaft, willst du sagen", ergänzte Rosemarie. „Ja, für unsere Begriffe schon. Na weißt du, oft 208
gehen wir auch nicht in diese — Schwiegervater nennt es ,Nepplokale'." „Nein", stimmte dieser zu, „das wäre schade ums Geld und wir sind keine Millionäre. Ab und zu ist es ja ganz amüsant, aber im allgemeinen ist mir Mutters Sauerbraten lieber und unsere Gemütlichkeit daheim." Rosemarie wollte natürlich viel von zu Hause wissen, denn ab und zu packte sie doch die Sehnsucht nach der Heimat. „Nächstes Jahr fahren wir alle zusammen nach Deutschland, mit den Zwillingen, und die Schwiegereltern wollen auch gern wieder einmal ihre Verwandten besuchen. Wie ich höre, soll die Burgl mir ähnlich, aber auch so ein freches Lausdirndl sein, wie ich es früher war." „Sie ist im Internat etwas zahmer geworden, aber ein hübscher Racker ist sie schon, das stimmt." „So? Na, dann werde ich sie mitnehmen und hier verheiraten, dann wird ihr der Übermut schon vergehen, genau wie mir." Sie schnitt ihrem Mann eine Grimasse, die er mit einer Kußhand erwiderte. Es war nicht schwer zu sehen, daß die beiden sehr glücklich waren. Nach einer Woche kehrte Barb, vollgesogen mit neuen Eindrücken, nach Ellscourt zurück. Bald darauf wurde bei Spencers eine Verlobung gefeiert. Marianne hatte sich in Ellscourt gut eingewöhnt, sie, die Heimatlose hatte ein gutes Heim gefunden und in Bill einen Mann, den sie nicht nur schätzen, sondern auch lieben konnte. Kurz, sie waren sich einig, und da Spencer senior die Verbindung gut hieß, wurde im engeren Familienkreis die Verlobung gefeiert. Die jungen Leute soll209
ten in dem geräumigen Haus eine kleine Wohnung für sich bekommen, das ließ sich ganz leicht einrichten, es war also nichts im Wege, daß sie bald heiraten konnten und das wollten sie auch tun. Barb freute sich aufrichtig über das Glück der Freundin und doch — manchmal fragte sie sich, was soll eigentlich aus mir werden? Denn daß sie nicht dauernd hier bleiben würde, darüber war sie sich klar. Und dann kam ein Brief von Uwe. Kurz, natürlich, das war nun mal seine Art, aber eben doch ein Brief! Er schrieb: „Liebe Barb, habe mit einiger Mühe via Hellesried Deine Adresse ausfindig gemacht. Finde es pfundig, daß wir denselben Kontinent bevölkern. Höchste Zeit, daß wir uns mal wiedersehen. Kannst Du nächstes Wochenende zu uns nach Boston kommen? Meine Tante würde sich sehr freuen und ladet Dich hiermit ein. Also auf baldiges Wiedersehen und herzliche Grüße! Dein Uwe." Barb bekam Herzklopfen. Warum eigentlich? fragte sie sich halb ärgerlich. Dann überlegte sie. Nein, so ging das nicht. Glaubte er vielleicht, er brauche nur gnädig mit dem Finger zu winken und dann käme sie gleich angeflogen? Er konnte ja zu ihr kommen, wenn er sie sehen wollte. Sie schrieb: „Lieber Uwe, Deiner Frau Tante meinen besten Dank für die freundliche Einladung. Ich möchte aber meine Tante, die leidend 210
ist, nicht gern allein lassen. Wenn Du mal in unsere Gegend kommst, dann vergiß nicht, uns zu besuchen. Ich hoffe, es geht Dir gut. Herzlichen Gruß von Deiner Barb." So! Und nun wartete sie gespannt, ob er wohl kommen würde. Aber das Wochenende ging vorbei ohne Uwe. Nun, dann eben nicht, dachte Barb trotzig. Aber am nächsten Wochenende kam er dann angebraust, in dem prachtvollen Cadillac seiner Tante. Barb war zufällig auf der Veranda und hatte, dies allerdings nicht ganz zufällig, ihr hübschestes Kleid an, denn im stillen hatte sie eben doch auf sein Kommen gehofft. Und nun standen sie sich gegenüber und starrten sich einige Augenblicke stumm an. Fünf lange Jahre hatten sie sich nicht gesehen und was war inzwischen aus ihnen geworden? Aus Uwe ein junger Mann, der aussah wie das Idealbild eines Leichtathleten, und aus ihr? „Herrgott, Mädel, d a s ist aus dir geworden? Ich war ja auf einiges gefaßt, nach der Beschreibung, die Helga, unser Mädchen, Mutter gegeben hat und die mir Engelke dann brieflich weitergab. Aber so ! Na, ich kann nur sagen, da bleibt mir die Spucke und die Sprache weg." Barb lachte. „Hoffentlich steigt mir dieses so überaus zartsinnige und poetische Kompliment nicht zu Kopf." „Ach so, du willst es poetisch haben? Kann ich natürlich auch. Also Haare, wie eine venezianische Schöne von Tizian, Haut wie feinstes Porzellan, nur viel zarter, ein reizendes Näschen — ach, hol's der Teufel, das ist doch alles abgedroschener Zimt, und du Racker weißt natür211
lich sehr gut, wie du aussiehst. Hast ja einen Spiegel, außerdem werden sicher eine Menge widerwärtiger Gockel um dich herumbalzen und dir so viel Honig ums Mäulchen schmieren, daß du schon Bauchschmerzen davon kriegst." „Ich werde bald Bauchweh vor Lachen bekommen, wenn du weiter solchen blühenden Blödsinn verzapfst. Komm jetzt lieber ins Haus und laß dich vorstellen." Unnötig zu sagen, daß Uwe mit seiner frischen, unbekümmerten Art und seinem unwiderstehlichen Lächeln alle bezauberte, bis auf die Negerköchin Dinah, der er unbedingt bei einem Omlett helfen wollte. „Passen Sie auf, Sie schwarzer Engel", sagte er ihr, „wir machen das heute mal anders. Wir machen Salzburger Nockerln. Barbara kann die nämlich großartig und ich helfe ihr dabei, ich schlage den Eiweißschaum." „Er ist wirklich ein talentierter Schaumschläger", sagte Barb. „In mehr als einer Hinsicht." Sie lachte verschmitzt. Uwe nahm die dicke Dinah um ihre umfangreiche Taille. „Glauben Sie ihr kein Wort, Dinah, sie will mich bloß bei Ihnen schlecht machen. Sie ist furchtbar eifersüchtig." Die Negerin gluckste vor Entzücken. „Huch nein, Mr. Uwe, Sie sind aber einer!" Am Sonntag fuhren sie an die Küste zum Baden, Marianne und Bill waren auch dabei, aber die Pärchen fuhren getrennt. Es war herrliches Wetter, sie hatten im Wasser herumgetollt, nun lagen sie faul im Sand und ließen sich braten. Barbs kurze, dichte Locken schimmerten in der starken Sonne wie ein Goldhelm. Uwe blickte sie unverwandt an, es schien, als ob er sich gar nicht satt sehen könnte an ihr. Plötzlich sagte er: 212
„Sag mal, Barb, findest du, daß ich eigentlich ein größerer Idiot bin oder ein größerer Flegel?" Barb lachte. „Was für eine Gewissensfrage. Warum denn?" „Nun, weil ich dir so lange nicht geschrieben habe." „Hm. Es werden dich halt andere Mädchen mehr interessiert haben." Uwe runzelte die Brauen. „Ich will dir nichts vormachen, Barb. Außer meiner angeborenen Schreibfaulheit wird es zum Teil auch an anderen Mädchen gelegen haben. Ein Mann muß eben seine Erfahrungen sammeln." „Nun ja, ihr behauptet es ja immer. Und daß ihr euch die Hörner abstoßen müßt." „So ist es, freilich wachsen sie später manchmal nach. Oder vielmehr, man bekommt sie zuweilen von der holden Gattin aufgesetzt." Barb kicherte. „Das könnte aber dir sicher nie passieren." „Kaum. Und da brauchst du gar nicht so spöttisch zu kichern. Weil ich mir nämlich schon die richtige Frau aussuchen werde, bei der ich so was nicht riskiere. Ja, mein Engel, und siehst du, dazu sind eben doch die Erfahrungen etwas nütze." „Na, ihr zwei Hübschen", sagte Marianne, die mit ihrem Bill in einiger Entfernung gelegen hatte, jetzt aber auf sie herankam, „ich denke, es wird Zeit zur Heimfahrt." Sie reihten sich in die endlose Wagenkolonne ein, Bill mit seinem Buick, Uwe mit dem Cadillac. „Gräßlich, daß man immer und immer von Menschenmassen umgeben ist", brummte Uwe. „Nie allein, wirklich, das ist der Fluch unserer Zeit." 213
„Du wirst ja geradezu philosophisch. Aber wenn du so gern allein sein willst, dann halte an und ich steige zu Bill ein." „Kleines Schaf. Wie nur so ein hübscher kleiner Mund so großen Blödsinn reden kann. Bill kann dich gar nicht brauchen, während Uwe also vielleicht reichen deine geistigen Fähigkeiten so weit, daß du den Satz selbst beenden kannst." „Es wäre denkbar." „Ha, was sehe ich", rief Uwe, „da ist endlich ein Seitenweg. Hier biege ich ein." Er fuhr einen grünumwachsenen Pfad hinunter. In weiten Abständen standen einige Bungalows daran. Es duftete aus den kleinen Gärten, ein junger Mond stand am blaßgrünen Himmel, einige Heimchen zirpten. Sonst war es ganz still. Da hob er ganz zart ihren Kopf und küßte sie Sie kamen erst eine gute Stunde nach Bill und Marianne heim. „Wir haben uns verfahren", log Uwe mit frecher Stirn, wohl wissend, daß dies auf der schnurgeraden Autostraße ganz unmöglich war. Aber sie waren nett, die andern, sie taten, als ob sie es glaubten, wenn es auch um ihre Mundwinkel zuckte. *
Es war mit Uwe ausgemacht, daß Barb am nächsten Wochenende nach Boston zu Mr. und Mrs. Kingston kommen sollte. Sie hatten einen minderjährigen Sohn und zwei erwachsene Tochter. „Sehr angesehene, reiche Leute", sagte Spencer sen. 214
„Sozusagen stinkfein", bemerkte Bill. „Wir sind dagegen bloß ganz kleine Pinscher, Mittelklasse. Die Kingstons rechnen sich zur Aristokratie." „Ich dachte, das gibt es nicht in Amerika?" fragte Barb erstaunt. Sie lachten. „Nein, eigentlich nicht, aber die feinen Familien tun so, als ob." „Himmel, ihr macht mir ja beinahe Angst", sagte Barb. „Wie soll ich Landpomeranze da bestehen?" Nun, sie bekam das beste Abendkleid und überhaupt die ausgesuchteste Garderobe mit, die das Modehaus Spencer mustern konnte, ging zum besten Friseur der Stadt, ließ sich auf Hochglanz herrichten und hoffte, daß sie damit nicht allzusehr aus dem Rahmen fallen würde. So etwas wie das Haus der Kingstons hatte Barb noch nie gesehen. Es war mit vollendetem Geschmack eingerichtet, es fehlte nicht an herrlichen, antiken Möbeln, Bildern, Plastiken und wundervollen Teppichen. Die Schlafzimmer waren modern und das Letzte an raffiniertem Komfort. Uwes Tante, Frau Gudrun Kingston, sah ihrer Schwester Engelke äußerlich ähnlich. Barb fand aber Engelke viel netter. Ein großer Kreis junger Leute war versammelt und Barb wurde von allen freundlich aufgenommen. Auch sie schienen darauf aus, dauernd Betrieb zu machen, allerdings ging alles vornehmer und nicht ganz so laut zu wie in Ellscourt, aber Barb wollte es scheinen, als ob die Fröhlichkeit dort natürlicher, herzlicher sei. Im Park der Kingstons gab es ein großes Schwimmbassin, es gab herrliche Treibhäuser, Tennisplätze und auch sonst alles, was gut und teuer war. Es gab auch viele 215
schöne, wunderbar gepflegte Frauen. Eine der schönsten war Muriel Dexter, eine Freundin einer der Töchter des Hauses. Dunkel, zart, mit großer Kunst zurechtgemacht, hochgezüchtet wie eine kostbare Orchidee. Dagegen bin ich das reinste Gänseblümchen, dachte Barb. Aber die Herren schienen nicht so zu denken, sie holten Barb eifrig zum Tanz, wenn auch ihr Haupttänzer Uwe blieb. Die schöne Muriel beobachtete es mit schmalen, feindseligen Augen. Es konnte Barb nicht verborgen bleiben, daß sie eifersüchtig war. Aus gutem Haus, reich und schön, wie sie war, hätte sie sicher die Wahl gehabt unter vielen Bewerbern. Aber sie hatte sich nun einmal auf diesen großen, blonden Deutschen kapriziert, zum Verdruß ihrer ehrgeizigen Mutter, die natürlich den Habenichts Uwe als keine geeignete Partie für ihr kostbares Kind betrachtete. Daher sagte sie auch süßlächelnd zu Uwes Tante: „Ein reizendes junges Mädchen, diese deutsche Freundin Ihres Neffen. Ich glaube, sie paßt gut zu Uwe. Ich finde es ja überhaupt besser, wenn man in seiner eigenen Sphäre bleibt und seine eigenen Landsleute heiratet. Sind Sie nicht auch dieser Ansicht, meine Beste?" Sie wußte dabei aber sehr wohl, daß Frau Kingston Uwe gern mit einem reichen Bostoner Mädchen verheiratet hätte. So kreuzten sich mancherlei Interessen an diesem Bostoner Wochenende. Die gaben auch Barb einiges zu denken. Gewiß, es hatte ihr gefallen, es war ein Einblick in eine ihr bisher 216
verschlossene, unbekannte Welt gewesen. Aber es war eben nicht ihre Welt. Das sagte sie auch zu Uwe, als er sie beim Abschied aufforderte, bald wiederzukommen. Er würde das schon mit seiner Tante arrangieren. „Sehr nett von dir, Uwe, aber weißt du, ich passe doch nicht recht zu diesen extrafeinen Leuten. Wenn du mich sehen willst, dann komme lieber nach Ellscourt." Er blickte sie etwas erstaunt an. „Waren sie etwa nicht nett zu dir?" „Doch, sie waren sogar sehr nett, das ist es nicht. Aber es sind eben nicht meine Kreise." Uwe lachte. „Aber Liebling, was redest du da für Blech! Wer denkt denn heute noch an so veraltete Klassenunterschiede! Außerdem hast du es doch wahrhaftig nicht nötig, Minderwertigkeitskomplexe zu kriegen." „Ach, die habe ich gar nicht. Aber — — komm du lieber zu mir." „Na schön. Kann aber erst in vierzehn Tagen sein. Nächstes Wochenende ist hier große Geburtstagsfeier mit gardenparty, da darf ich nicht fehlen." „Na, wie war die gardenparty?" fragte Barb, als Uwe dann zwei Wochen später nach Ellscourt kam. Zwei Wochen, die ihnen beiden sehr lang erschienen waren. „Gott, so das übliche", meinte Uwe. „Ach so. Der Herr ist wohl schon recht blasiert von dem vielen Luxus, der ihn umgibt." „Der Herr wird dir gleich eins auf deinen kecken, kleinen Schnabel geben", sagte er und gab ihr einen Kuß. „Hm. Warum küßt du nicht lieber Muriel? Die ist doch viel schöner als ich. Hast du sie schon geküßt?" 14 Findelkind vom Kranwi'tthof
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Uwe zog es vor, nicht direkt zu antworten. „Oh, ich hatte einen kleinen Flirt mit ihr. Ist aber längst vorbei." „Bei ihr nicht. Ich glaube, sie möchte dich heiraten. Also greif doch zu. Sie ist schön und aus reicher Familie " „Und sie weiß das auch alles viel zu gut. Schön ist sie, zugegeben. Reich auch und das wäre an sich kein Hinderungsgrund", sagte Uwe ironisch. „Aber sie ist dabei entsetzlich verwöhnt. Allüren wie eine Prinzessin, und neurotisch, wie viele von diesen überzüchteten Pflänzchen. Nein, nix für mich. In zwei Jahren wären wir geschieden; und wenn ich heirate, möchte ich doch nicht im vornhinein mit dieser Möglichkeit rechnen. Darin bin ich konservativ, weißt du. So — und damit genug von Muriel — mag sie in der Versenkung verschwinden." Uwe wurde zur Hochzeit von Marianne und Bill eingeladen und seine Anwesenheit trug nicht wenig dazu bei, daß das Fest überaus munter wurde. Als die Stimmung auf dem Höhepunkt angekommen war, sagte ein Onkel Bills zu Uwe: „Ihre junge Landsmännin ist ein bezauberndes Mädchen. Warten Sie mal, wie heißt es bei eurem Goethe? — ,war so jung und morgenschön !' ja, das ist es, morgenschön, wie ein Frühlingsmorgen." Barb sah in einem zartblauen Tüllkleid, mit sehr weiten Rock, allerdings bezaubernd aus. „Ja", sagte Uwe stolz, „made in Germany. Das ist Qualitätsarbeit, mein Bester, ein Spitzenerzeugnis." „Ich glaube, ein gewisser Ronny und ein gewisser George würden dieses Spitzenerzeugnis gern für sich erwerben." „Wird nix draus", sagte Uwe prompt. „Barb ist kein 218
Exportartikel. Sie ist für einheimische Liebhaber bestimmt und bereits vorgemerkt." Er fischte sich die überraschte Barb aus der Menge heraus und gab ihr vor allen Leuten einen Kuß. „Aber Uwe", rief sie verlegen, „was fällt dir denn ein?" Alle sahen sich bedeutungsvoll lächelnd an. „Dann darf man wohl zur Verlobung gratulieren", sagte Marianne, die Jungvermählte. „Halt, halt", rief Barb, „das ist eine Überrumpelung, ein Trick!" Das Gespräch war natürlich auf englisch geführt worden, jetzt flüsterte Uwe ihr auf deutsch zu: „Aber Mädchen, du wirst mich doch nicht blamieren wollen?" „Das wirst du sehen", rief sie mit blitzenden Augen, „hüte dich davor, ein rothaariges Mädchen herauszufordern! Liebe Leute, hört mal zu. Dieser Uwe ist ein ganz unmöglicher Mensch. Er hat mich gar nicht gefragt, ob ich ihn überhaupt will. Kann man denn so was heiraten?" „Abstimmen!" rief Herr Spencer senior. „Ja, ja", schrie es von allen Seiten mit gewaltiger Lautstärke. Nur die Herren Ronny und George riefen nein. Also wurde unter großem Jubel die Verlobung gefeiert. Uwe holte eine Kiste Veuve Cliquot aus seinem Wagen. „Ich habe meinem Freund James, seines Zeichens Butler bei Kingstons, durch meine hinreißende Überredungskunst diese Kiste entrissen. James ist mein Freund." „Hört euch das an", rief Barb, „dieser Intrigant! Er ist schon mit diesem finsteren Plan angerückt gekommen. 14*
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Was hättest du denn mit dieser Kiste Champagner gemacht, wenn ich nein gesagt hätte?" „Dann hätte ich mir ein paar der wüstesten Vagabunden von Ellscourt gegriffen und hätte mit denen bei Mutter Grün die Kiste ausges ausgetrunken. Wäre eigentlich auch ganz schön gewesen." Er grinste Barb durchtrieben an. „So", gab sie scheinbar empört zurück, „dann freue ich mich ja doppelt, daß ich ja gesagt und dir dieses ekelhafte Vagabundengelage verpatzt habe." „Ist sie nicht goldig?" rief Uwe der Versammlung zu, „wir werden furchtbar viel Spaß miteinander haben." *
Die Hochzeitsgäste, die zu Bills und Mariannes Vermählung gekommen und noch eine so originelle Verlobung obendrein erlebt hatten, waren einstimmig der Ansicht, daß man nicht leicht ein schöneres Paar sehen konnte, als Barb und Uwe. Beide strahlten nur so vor Jugend, Frohsinn und Glück. Elisabeth Spencer hatte sich, ihres leidenden Zustandes wegen, früher von der Hochzeitsfeier zurückgezogen, aber die Neuverlobten kamen an ihr Bett, um da die Glückwünsche der Tante zu empfangen. Sie waren herzlich und doch auch ein wenig elegisch. Als Uwe, wenn auch sehr ungern, nach Boston zurückgefahren war, sagte die Tante etwas wehmütig zu Barb: „Ob du glücklich bist, liebes Kind, brauche ich nicht zu fragen, es leuchtet dir ja nur so aus den Augen, und Uwe ist ja auch wirklich ein Prachtkerl. Freilich, ich muß es 220
gestehen, habe ich mir heimlich gewünscht, du würdest dich hier verheiraten, und somit in meiner Nähe bleiben. Jetzt wirst du wohl bald abreisen wollen, um alles für die Hochzeit vorzubereiten." „Aber nein, Tante, so weit ist es noch nicht. Uwe muß ja auf alle Fälle erst sein Examen machen." Die müden Augen der Tante leuchteten auf. „Ja? Dann bleibst du also noch eine Weile bei mir? Wie schön! Ich habe dich sehr lieb gewonnen, Barbara. Aber ich will nicht egoistisch sein, wenn es so weit ist, dann nimm keine Rücksicht auf mich, sondern reise ab." Barb blickte besorgt in das bleiche Gesicht der Tante, das heute besonders kränklich aussah. Wahrscheinlich war der Trubel der Hochzeit zu viel für sie gewesen. Bei allem inneren Glück, das Barb erfüllte, konnte sie doch einige Zweifel nicht ganz unterdrücken und als Uwe schon am übernächsten Tag wieder nach Ellscourt kam, äußerte sie ihre Bedenken. „Sag mal, Uwe, hast du dich nicht ein bißchen zu impulsiv in diese Verlobung mit mir gestürzt? Hast du dir auch alles gut überlegt? Was werden zum Beispiel deine Eltern dazu sagen, daß du so einen Niemand und Habenichts heiraten willst? Wo du doch sogar eine Dollarprinzessin hättest haben können?" Uwe nahm sie so fest in die Arme, daß ihr die Luft ausging. „Du, ich warne dich", rief er und rollte drohend die Augen, „ich kann nämlich furchtbar zornig werden und ich zerreiße dich in der Luft in lauter kleine Stückchen, wenn du noch mal so einen hirnverbrannten Blödsinn redest." 221
Barb lachte. „Ich habe kein bißchen Angst vor dir. Aber ich habe Angst davor, deinen Eltern eine Enttäuschung zu bereiten."' „Hörst du noch nicht auf? So was von Verbohrtheit! Du kennst doch Engelke!" „Natürlich. Und ich habe sie sehr lieb." „Na, siehst du. Und sie dich auch. Und mein Vater mag dich auch sehr gern, das weiß ich." „Ja, schon, aber als Schwiegertochter " „Jetzt paß einmal auf. Engelke hatte geradezu Angst, daß ich ihr so eine maßlos verwöhnte und neurotische Dollarprinzessin bringen würde. Sie ist doch nicht wie ihre Schwester. Tante Gudrun, ja, die ist ehrgeizig, sehr erpicht auf Familie und Geld und Position und was weiß ich. Alles nicht zu verachten, zugegeben, aber doch nicht die Hauptsache." „Was hat sie denn zu der Neuigkeit gesagt? War sie sehr enttäuscht?" „Was heißt enttäuscht und was geht uns Tante Gudrun an? Übrigens ist sie ein Realist und stellt sich immer auf den Boden der Tatsachen. Und sie hat auch ihre guten Seiten, zum Beispiel ist sie sehr großzügig, sie wird uns ein pfundiges Geschenk machen. Und weißt du, was Onkel Kingston gesagt hat? Nein, du ahnst es nicht. Er hat gesagt, ,ihr werdet schöne und gesunde Kinder bekommen', jawohl." Barb lachte. „Und was hast du darauf gesagt?" „Na, was soll man da schon sagen? Ich habe gesagt: ,Dein Wort in Gottes Ohr'. Mit dem müssen wir uns gut stellen, mein Engel, weil der uns sehr nützlich sein kann. Nämlich was du in deinem jugendlichen Unverstand vor222
hin geflüstert hast von wegen Habenichts, das trifft auf mich viel eher zu. Du bist ja eine Hausbesitzerin! Weißt du, daß du das Schweiberlhaus kriegst, finde ich nämlich pfundig. Das hat uns doch allen so riesig gefallen — kannst du dich erinnern?" „Na und ob. Da gehn wir alle Jahre mal hin. Ja?" „Klar. Aber weiter. Ich dagegen bin ein junger Dachs, der noch nicht mal sein Examen gemacht hat, also wirklich keine gute Partie. Dieser widerwärtige George mit seiner Schuhfabrik wäre da ein ganz anderer Fang." „Da kann ich nur kichern." „Na schön, kichere, Mädchen. Aber weißt du, ganz so armselig wird es ja bei Brokenhorst junior auch nicht zugehen. Wenn ich nämlich in einem halben Jahr mein Examen gemacht habe, dann kriege ich gleich eine gute Anstellung bei derselben Werft, wo mein alter Herr tätig ist, und zwar ist er jetzt schon eine ziemlich große Nummer. Aber nicht genug damit, ich habe hier, dank Onkel Kingston, sehr gute Verbindungen angeknüpft und unserer Werft in Hamburg einige ganz schöne Aufträge vermittelt. Reparaturen und so, weißt du, es werden aber vermutlich auch Neubauten folgen, Onkel Kingston wird da schon einiges für mich tun." „Er mag dich wohl sehr gern?" „Oh, er mag mich schon, aber das tut er nun nicht nur meiner allerdings bildschönen Augen wegen, sondern weil eben deutsche Wertarbeit ihren alten guten Ruf nicht verloren hat. Ja und siehst du, für diese Vermittlungen bekommt dann Brokenhorst junior eine kleine Provision. Sagte ich kleine? Da war ich ausnahmsweise zu bescheiden. Nein, Mädchen, sie ist sogar sehr anständig. Ich glaube, 223
ich werde dir sogar ab und zu ein Kleidchen dafür kaufen können. Im Ausverkauf natürlich." „Du alter Angeber. Aber schön ist das schon und ich sehe ein, daß wir uns Onkel Kingston warmhalten müssen." „Eben. Und daher Sonntag Familienempfang für das charmante neuverlobte Paar bei Kingstons. Na, na, mach nur kein so bedenkliches Gesicht, es wird wirklich nur die engste Familie zugegen sein." „So? Na, dann geht es ja. Ich hatte ein bißchen Angst vor der schönen Muriel Dexter." „Ach Gott, die hätte dir auch keine Salzsäure ins Gesicht geschüttet, dazu ist sie viel zu vornehm. Übrigens ist sie abgereist. Ja, mit ihrer Mutter nach Europa geflogen. Muriel hätte ja hier einen gänzlich bankerotten italienischen Prinzen haben können, aber der war der Mutter nicht gut genug. Sie will für ihr gutes Geld mindestens einen englischen Herzog für ihr kostbares Kind haben. Also sie werden sich bei Hofe vorstellen lassen und da wird die Sache schon klappen. Meinen Segen haben sie." „Oh, meinen auch", lachte Barb. „So, und jetzt lang mal in meine Tasche, hole die Brieftasche heraus, doch ja, übe dich nur darin, das wird dir dann als Ehefrau zugute kommen. So, und jetzt lies mal das Kabel, das gestern gekommen ist. Ja, ich habe den Eltern natürlich meinerseits gleich die frohe Nachricht gekabelt und das ist also ihre Antwort." Und Barb las: „Liebe Kinder, innigen Glückwunsch, Barb ist uns als Schwiegertochter von Herzen willkommen. Brief unterwegs. Eure Euch liebenden Eltern." 224
Da wurde Barb ganz still, es stieg ihr feucht in die Augen und sie fühlte, jetzt war ihr Glück erst vollkommen. Uwe nahm sie fest in die Arme und sie versanken in einem langen Kuß. Bill und Marianne kehrten von ihrer Hochzeitsreise zurück, bezogen ihre eigene kleine Wohnung und waren nunmehr für die übrigen Hausbewohner weniger sichtbar. „Nun ja, junges Glück", sagte Elisabeth Spencer lächelnd, und fügte, zu Barb gewandt, hinzu: „Laß dich ja durch mich nicht stören, widme dich deinem Uwe, solange er noch in Amerika ist. Du sagst ja, daß er bald nach Hamburg zurückkehrt?" In der Tat, Uwes Zeit war bald um. Es graute beiden etwas vor der Zeit der Trennung, aber es war schon besser, daß er sich dann ganz auf sein bevorstehendes Examen konzentrierte. „Nicht, daß mir davor bange wäre", sagte Uwe mit schöner Zuversicht, „das schüttelt meines Vaters Sohn aus dem Hemdärmel. Bloß möchte ich es gern extra gut machen." „Sollst du auch. Brauchst mir nicht einmal oft oder viel zu schreiben. Ich weiß ja, was für ein Faulpelz du in dieser Hinsicht bist. Bloß so ab und zu ein paar Zeilen, daß du mich nicht vergessen hast und mich noch liebst." „Aber Mädchen, du weißt doch, daß ich dich liebe. Nicht nur für jetzt oder für ein paar Jahre, sondern für immer. Wirklich, Liebling, für immer." Es war wieder einmal ein Kuß fällig. 225
„Nun ja, Uwe, aber weißt du trotzdem! Frauen wollen das immer wieder hören. Es mag euch komisch und überflüssig vorkommen, aber es ist schon so", sagte die plötzlich in Liebesdingen so weise gewordene Barb. Uwe lachte. „Gut, abgemacht. Ich werde es dir jeden Tag, hörst du, tagtäglich werde ich es dir schreiben. Ja, guck mich nur nicht so ungläubig an, das mach' ich, verlaß dich drauf. Ich kann doch jetzt schon flink auf der Maschine schreiben. Also direkt vor dem Schlafengehen tippe ich dir immer ein paar Zeilen. Und alle drei oder vier Tage gebe ich diese schriftstellerischen Erzeugnisse auf. Zufrieden?" „Na, wunderbar! Ich bin bloß gespannt, ob du es durchhältst." „Das wirst du sehen. Allerdings erwarte ich dasselbe von dir." „Worauf du dich verlassen kannst." Schneller, als ihnen lieb war, kam der Abschied. Am Tage vor seinem Abflug war Uwe noch in Ellscourt. „Wir wollen uns lieber hier Lebewohl sagen", meinte Barb, „ich komme nicht zum Flugplatz. Vor all den Leuten, die dich hinbringen, möchte ich nicht Abschied nehmen." „Du hast recht, Liebling. Obwohl die Kingstons sicher so viel Verständnis haben würden, uns dann allein zu lassen. Weißt du, was sie uns zur Hochzeit schenken? Na, rate mal!" „Aber Uwe, wie kann ich denn das? Wahrscheinlich etwas sehr Pfundiges?" „Ha, das kann man wohl sagen. Sie schenken uns ein funkelnagelneues Auto, einen Cadillac und dazu noch 226
einen prachtvollen Trailer, weißt du, so einen Anhänger, in dem man wohnen kann. Und wie! Da ist einfach alles drin: komfortable Betten, mit Schaumgummimatratzen, sehr praktische Wasch- und Duschgelegenheit, eingebaute Kleider- und Küchenschränke, eine raffinierte kleine Küche, einfach süß, wirst du sagen, Wäsche, Plastikgeschirr, kurz alles, was man zu einem wirklich komfortablen Camping braucht. Du, damit können wir losziehen, ganz unabhängig von allem, überall hin, wo es uns gefällt, aber nicht wie ungewaschene Zigeuner, nein, durchaus kultiviert und bequem. Na, was sagst du nun? Ist das was?" Uwe strahlte über das ganze Gesicht bei der Vorausahnung künftiger Sommerfreuden. Und Barb strahlte natürlich auch. „Oh, Uwe, das ist wirklich wunderbar. Da können wir jedes schöne Wochenende ausnützen." „Klar. Und wir gehen mit dem pfundigen Wagen natürlich auch auf Hochzeitsreise." „Oh, fein. Aber weißt du, den Trailer lassen wir dann lieber daheim. Dann möchte ich nämlich in einem guten, feinen Hotel wohnen, mit einer Terrasse vor dem Zimmer und schöner Aussicht." „Sollst du alles haben, Mädchen, das feine Hotel, die Terrasse mit Aussicht, und auch einen Mond lasse ich scheinen, das richte ich schon ein. Wo möchtest du denn am liebsten hin? Barb lächelte. „Nach Italien. Du wirst das vielleicht altmodisch und etwas banal finden. Hochzeitsreise nach Italien, wie die Großeltern!" „Was ist dabei altmodisch? Wenn etwas schön ist, dann 227
ist es wohl immer schön. Oder? Wir fahren an irgendeinen oberitalienischen See und dann weiter, wohin wir gerade Lust haben." „Wunderbar! Da freue ich mich schon jetzt jeden Tag darauf." Dann kam der letzte Händedruck, der letzte Kuß und Uwe war gegangen. „Wir müssen sehen, die kleine Braut etwas aufzumuntern", sagte Herr Spencer senior zu Barb. „Und da haben wir, deine Tante und ich, uns etwas ausgedacht, was dir vielleicht Freude macht." „Ja, liebe Barbara", sagte Elisabeth. „Wir sind keine Millionäre wie die Kingstons, aber wir möchten dir doch auch gern ein schönes Geschenk machen. Und da ist es naheliegend, daß wir dir eine Brautausstattung stiften. Also alles, was du an Kleidern und Wäsche, Strümpfen und Zubehör brauchst, eine vollständige Garderobe." Barb stand da, wie mit Blut übergossen. „Aber nein, Tante, das geht doch nicht, das wäre ja viel zuviel." „Keine Widerrede, junge Dame", sagte Herr Spencer, „das ist beschlossene Sache, basta. Und zwar wird alles vom Besten sein, was Material und Ausführung betrifft, Schnitt und Farbe kannst du dir natürlich selber aussuchen. Ich, als Geschäftsmann, verfolge damit aber auch eine Reklamewirkung. Ich werde diesen Trousseau, wie man es hier nennt, in einer Spezialschau zeigen und wenn du, liebe Barbara, die Sachen selbst vorführen wolltest, so wäre das natürlich eine besonders zugkräftige Reklame." „Ja, natürlich, Onkel Spencer, das will ich gern tun, das ist sicher eine gute Idee." Es gab in den folgenden Wochen viele wichtige Be228
ratungen in dieser Angelegenheit. Marianne, die nun viele Modelle des Modehauses Spencer selbst entwarf, gab sich natürlich besondere Mühe, ihre Freundin so gut und schön wie möglich auszustatten. Dabei wurde aber von jeder übertriebenen Extravaganz abgesehen, das würde weder zu Barb noch zu ihrem künftigen Lebenskreis passen. Tante Elisabeth lebte förmlich ein bißchen auf, bei den so reizvollen Vorbereitungen zu dem großen Tag. Endlich war es so weit, die Einladungen waren verschickt und die Gäste, vor allem Mütter mit heiratsfähigen oder schon verlobten Töchtern, drängten sich zu dieser Schau, die unter dem Motto stand: „Die Braut und ihr Trousseau", vorgeführt von der Braut persönlich, Miß Barbara Maria Eis. Herr Spencer hatte auch an Frau Gudrun Kingston eine Einladung gesandt. Zu Barbs Überraschung kam sie tatsächlich mit ihren beiden Töchtern in dem wohlbekannten Cadillac angerollt. Sie besah sich die auf Tischen und in Vitrinen ausgestellten Wäschegarnituren, alles sehr schöne, zum Teil handgenähte Sachen. Sie nickte anerkennend. Ein Ansager trat vor den grausamtenen Vorhang, machte eine kleine, recht amüsante Conference, dann teilte sich der Vorhang und Barb erschien. Zuerst in Morgen- und Hausanzügen, lustige, originelle Sachen, dann ging es über Tageskleider, Kostüme und Mäntel zu Cocktailkleidern und zwei großen Abendkleidern, zum Clou des Ganzen, dem Brautkleid. Es war ganz schlicht gehalten, wirkte aber durch die 229
Kostbarkeit der schweren, altelfenbeinfarbigen Seide und den besonders guten Schnitt. Myrte und Schleier hatte Barb jedoch nicht anlegen wollen, es wäre ihr wie eine Entweihung erschienen, diese bräutlichen Symbole sollten dem großen Tag selbst vorbehalten bleiben. Der Ansager erklärte dies mit einigen Worten und die Damen nickten Beifall. Es war ein großer Erfolg für das Modehaus Spencer und die beiden Chefs strahlten. Frau Kingston bestellte für ihre beiden Töchter ähnliche Kostüme, wie Barb sie bekam, für sich selbst Waschegarnituren und ein Tageskleid. Zwei Mütter mit verlobten Töchtern gaben die Trousseaus für die Bräute in Auftrag. Barb war dies sehr angenehm, so kamen doch die Spesen für ihre elegante und kostspielige Aussteuer wieder herein. Frau Gudrun Kingston sollte mit ihren Töchtern das Dinner bei Spencers einnehmen. Dinah war fast gestorben vor Aufregung, hatte ihre großen Augäpfel gerollt und sich außerstande erklärt, solche verwöhnten Gäste zufriedenzustellen. Herr Spencer ließ einige Platten aus dem ersten Hotel kommen und sie von einem Lohndiener servieren. So verlief alles ganz zufriedenstellend und Frau Kingston gab sich sehr huldvoll. „Wirklich, ich war sehr angenehm überrascht von Ihren Modellen, Mr. Spencer", sagte sie, „es war alles von gutem, gediegenem Geschmack, nicht so grell in den Farben und nicht so extravagant, wie man es sonst leider oft sieht. Das liebe ich nämlich gar nicht, dazu bin ich wohl zu hanseatisch. Es hatte alles einen damenhaften Anstrich und gewissermaßen eine europäische Linie." Mr. Spencer senior lächelte. „Diese europäische Linie 230
geht viel auf das Konto meiner Schwiegertochter, Mrs. Spencer junior." Er hob sein Glas und trank Marianne zu, die seit ihrer Heirat noch hübscher geworden war. Mrs. Kingston verabschiedete sich bald nach dem Essen, sie wußte, daß die Hausfrau leidend war und der Ruhe bedurfte. Barb nahm sie mit in ihr Hotel und als sie in der Halle saßen, sagte sie zu ihr: „Es war kein bloßes Kompliment, das ich Herrn Spencer machte, mir hat dein Trousseau wirklich gefallen und es ist genau das, was du für Hamburg brauchst. Nur eines fehlt noch: ein Pelzmantel. Und den möchte ich dir als meine persönliche Gabe schenken." Barb wurde verlegen. „Aber nein, Tante Gudrun" — sie mußte notgedrungen nun diese Anrede gebrauchen, obwohl sie ihr noch etwas schwer über die Lippen ging —, „das geht doch nicht. Ihr habt uns schon diesen wundervollen Wagen geschenkt, das wäre wirklich viel zuviel." Da griff Dorothy, die jüngste Tochter, ein. Sie war ein nettes, natürliches Mädchen, das sich nicht scheute, offen seine Meinung zu sagen. „Geh, zier dich doch nicht, Barbara, das können die Kingstons schon noch erschwingen. Und wo du doch jetzt unsere Kusine wirst. Ich bin für meinen Teil heilfroh, daß es nicht die Muriel Dexter geworden ist, diese anämische Zierpuppe." „Aber Dorothy!" rief ihre Mutter mißbilligend. „Also Barbara, du kommst nächste Woche einmal nach Boston, dann suchen wir einen Pelzmantel aus. Natürlich keinen Nerz, so üppig brauchst du dir ihn nicht vorzustellen. Ich denke grauen Persianer. Sage aber den Spencers nichts davon, sie könnten den Eindruck bekommen, daß sie etwas versäumt haben und das wäre mir leid." 231
Barb fühlte zum ersten Male etwas wie Sympathie für die stolze Gudrun. Sie besaß also doch Feingefühl und wollte die guten Spencers nicht verletzen, das war ein hübscher Zug von ihr. „Dein Onkel", fuhr Frau Kingston fort, „wird den Wagen mit Trailer auf einem unserer Schiffe hinüberschicken und da kann der Mantel gleich mitbefördert werden. Das mit dem Zoll ordnen wir schon." Nun, Frau Kingston war es gewöhnt, daß ihr Wille befolgt wurde, und so blieb es also dabei. Barb bekam einen grauen Persianer mit dazu passendem Mützchen, und das stand vorzüglich zu ihrem rotgoldenen Haar. Im stillen dachte sie: Ich komme mir vor wie Aschenbrödel im Märchen. Bin ich das wirklich? Die kleine Barb aus Hellesried, das arme, häßliche, von allen verspottete Findelkind? Uwe hielt tatsächlich Wort. Alle drei oder vier Tage kamen Briefe von ihm, mit lustigen, kurzen Notizen und immer stand zum Schluß: „Ach ja, ehe ich es vergesse, ich liebe dich nämlich!" Das nächstemal stand „I love you" darin, dann folgte „Je t'aime", hierauf italienisch „io ti amo", er schrieb es auf spanisch und noch in vielen anderen bekannten und unbekannten Sprachen. Er mußte sich direkt angestrengt haben, die betreffenden Nationen ausfindig zu machen und ihre Form „ich liebe dich" zu lernen. Das war zweifellos ein bißchen verrückt. Und weil Barb es so nett fand, wollte sie sich revanchieren. Sie holte sich ein Stück schöne, gelbe Seide aus dem Modehaus Spencer, zeichnete all die Sprachen, mit 232
denen Uwe sein „ich liebe dich" ausgedrückt hatte, in lustiger Anordnung darauf und stickte die Worte in schönen, bunten Seiden nach. Dann machte sie ein Kissen daraus, schickte es Uwe zu seinem Geburtstag und schrieb dazu: „Wenn Du zwischen all Deinen Studien Deinen weisheitsgeladenen Kopf für ein Weilchen auf dieses Kissen legst, dann soll es Dir in allen Sprachen in die Ohren flüstern, was ich Dir hoffentlich bald in Wirklichkeit sagen kann: Ich liebe Dich! Wie Du siehst, habe ich es auf deutsch ganz groß und mit roter Seide in die Mitte gestickt. Denn in der Muttersprache klingt es eben doch am schönsten, nicht wahr?" Tante Elisabeth hatte sich die letzten Wochen viel wohler gefühlt, war förmlich aufgelebt und hatte sich lebhaft für die Herstellung von Barbs Ausstattung interessiert. Um so schmerzlicher war die Überraschung, als man sie eines Morgens tot in ihrem Bett auffand; ein plötzlicher Herzschlag hatte sie dahingerafft. Obwohl seit langem mit so einem Ausgang gerechnet werden mußte, traf er die Angehörigen nun doch völlig unerwartet. Als das Begräbnis vorüber war, wurde das Testament eröffnet. Elisabeth Spencer hatte ihr kleines, eigenes Vermögen von 18 000 Dollar zu gleichen Teilen ihren beiden Stiefsöhnen und Barb vermacht. Außerdem erbte Barb einige Schmuckstücke. 6000 Dollar sind gewiß an sich nicht viel, aber doch eine großzügige Erstattung für die 3000 Mark, die Elisabeth seinerzeit mitgenommen hatte. Und es war zweifellos angenehm, auch den Hamburger Schwiegereltern gegenüber,
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daß Barb nun auch selbst einige gute Möbel kaufen konnte. Nun, da die Tante tot war, hatte Barb ihre eigentliche Mission erfüllt und dachte daran, in die Heimat zurückzukehren. „Du hast meiner lieben Frau ihre letzten Monate durch deine Anwesenheit sehr verschönt", sagte Herr Spencer, „ich bin dir dafür sehr dankbar, Barbara. Nun fühle ich mich recht vereinsamt. Kannst du nicht noch ein kleines Weilchen bleiben?" Barb hatte nichts als Gutes von Herrn Spencer erfahren, also willigte sie ein, ihre Abreise um einige Wochen zu verschieben. Aber es blieb nicht dabei, immer wieder bat Mr. Spencer um einen Aufschub, bis es Barb schon peinlich wurde, denn nun wollte sie wirklich heim, nach Hellesried, es zog sie mit Macht in die Heimat, die jetzt in sommerlicher Schönheit prangte. Da kam ihr ein Schreiben aus Hellesried sehr gelegen. Der Bürgermeister teilte ihr als Erbin mit, daß die alte Emmerenz gestorben war, und fragte an, was nun mit dem Schweiberlhaus geschehen solle. Die alte Emmerenz! Nun war sie also doch nicht hundert Jahre alt geworden, aber zweiundneunzig ist ja auch ein ganz schönes Alter. Jetzt hatte sie einen Vorwand Herrn Spencer gegenüber, sie mußte ihre Erbschaft antreten und den Nachlaß ordnen. Das sah Herr Spencer ein. „Aber weißt du was, Barbara?" sagte er, „ich werde mir selber mal wieder eine Europareise leisten, da bringe ich dann gleich deinen Trousseau mit hinüber und du hast keine Schererei damit. Ich werde einige Modehäuser in 234
Paris aufsuchen und vielleicht auch Düsseldorf und Berlin, die ja jetzt wieder auf der Höhe sein sollen, was Mode betrifft. Und dann mache ich auch einen Abstecher nach Hellesried." „Das ist eine gute Idee, Onkel", sagte Barb herzlich, „richte es doch so ein, daß du bei meiner Hochzeit dabei sein kannst." Er schien im stillen auf diese Einladung gewartet zu haben, so eifrig sagte er zu. „Ihr kommt dann später mal", sagte Barb zu Bill und Marianne. „Ich baue den viel zu großen Boden im Schweiberlhaus zu einem Fremdenzimmer aus, da könnt ihr wohnen, so oft und so lange es euch gefällt." „Das sollst du nicht umsonst gesagt haben", meinte Bill. Barb machte noch einen kurzen Abschiedsbesuch bei Kingstons und nahm sich dann ihre Flugkarte. Ja, diesmal wollte sie fliegen, um auch einmal das Erlebnis eines großen Fluges zu haben.
Natürlich blieb sie zunächst in Hamburg, gar so eilig war es mit dem Schweiberlhaus nicht. Uwe wiederzusehen und sich seinen Eltern als Schwiegertochter vorzustellen, war bedeutend wichtiger. Ihr Herz schlug wie toll, als das Flugzeug sich Hamburg näherte, der Flugplatz auftauchte und sie tief unten eine hohe, schlanke Gestalt erspähte. Nun setzte das Flugzeug zum Landen an und Uwe wurde immer größer, sein helles Haar leuchtete in der Sonne. Und dann lagen sie sich in den Armen, die Welt versank um sie, endlich hatten sie sich wieder. 15*
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Als sie wieder zu sich kamen, führte er sie zu dem wartenden Wagen. Ja, da stand der Cadillac und nahm sich prächtig aus. „Ein richtiger Angeberwagen", sagte Uwe grinsend, „und zu denken, daß der Eigner nichts ist als ein lausiger Student!" „Dir geb' ich gleich von wegen lausiger Student", erwiderte Barb, „ich verbiete dir, von meinem zukünftigen Mann so respektlos zu sprechen." Unter Lachen kamen sie bei Uwes Eltern an. „Mein Gott, Barb", sagte Engelke und drehte sie um die eigene Achse, „bist du aber ein Staatsmädel geworden! Kein Wunder, daß Uwe sich Hals über Kopf in dich verliebt hat." Sie gab Barb einen Kuß. „Ich freue mich von Herzen, liebes Kind. Du weißt, ich habe dich immer lieb gehabt." „Und ich habe schon als Kind für dich geschwärmt, nein, dich geliebt. Viel früher als Uwe, den ich zuerst gar nicht leiden konnte." „Hört, hört", brummte Uwe. „Na, ich hoffe, daß sich das nun grundlegend geändert hat." „Na und ich?" fiel da der Schwiegervater ein. „Wer küßt mich? Ich möchte doch sehr gebeten haben, daß man den Schwiegervater nicht ganz vergißt." Er bekam lachend sein Teil und dann ging man zu Tisch. Das nette Mädchen Helga trug die Speisen auf und meinte mit verschmitztem Lächeln: „Tchja, Fräulein Eis, ich hab' mir ja nu gleich so was gedacht, doch, ganz bestimmt. Na, denn auch von mir recht herzlichen Glückwunsch!" Barb wurde in der Brokenhorstschen Familie und in 236
dem Bekanntenkreis herumgereicht und da sie nun schon etwas in der Welt herumgekommen war, mehr Sicherheit besaß und ihre Kleidung nichts zu wünschen übrigließ, überstand sie diese Prozedur durchaus erfolgreich. Uwe hatte in seinen letzten Briefen von einer Überraschung gesprochen und nun sollte also das Geheimnis gelüftet werden. Sie fuhren im Cadillac an ein nicht genanntes Ziel. Auch die Schwiegereltern waren mit. Sie hielten vor einem ganz modernen Hochhaus, es war noch nicht einmal ganz fertig, aber der Fahrstuhl funktionierte zum Glück bereits. Sie fuhren damit bis in den neunten Stock. Da stand eine wunderschöne Wohnung für das junge Paar bereit. Vater Brokenhorst hatte den Bauzuschuß gestiftet und wollte auch einen Teil der Einrichtung stellen. Von hier oben hatte man eine prächtige Fernsicht, man sah fern am Horizont die Ozeandampfer ziehen, viel Luft und Sonne kamen durch die großen Glasschiebetüren, die auf eine Terrasse führten. Es gab alle nur erdenklichen, modernen Bequemlichkeiten, eine entzückende und nicht zu große Küche mit raffinierten Einbaumöbeln, kurz, es war ein kleines Paradies für eine junge Hausfrau; denn in dieser appetitlichen Umgebung zu schalten, mußte in der Tat das reinste Vergnügen sein. Barb war beinahe sprachlos vor Entzücken. „Aber gleich dreieinhalb Zimmer?" staunte sie, „Da braucht ihr wenigstens in ein paar Jahren nicht gleich wieder umzuziehen", meinte Engelke trocken. „Denn ich hoffe doch —" „Drei!" sagte Uwe mit männlicher Entschlossenheit, jeder Zoll ein Diktator. 237
Barb lachte. „So? Na, da habe ich wohl auch noch ein Wörtchen mitzureden." „Ach so, du willst mehr? Na, meinetwegen. Wenn's mehr sind, lasse ich sie auch nicht verhungern." „Die sind richtig!" sagte Brokenhorst senior zu seiner Frau und lachte. Das waren sie auch. Frische, tüchtige Jugend von heute. Die würden das Leben schon anpacken. Uwe hatte in seinen Jungensjahren die Schrecken der Bombennächte erlebt, Barb in ihrer Kindheit viel frühes Leid und Verlassensein erfahren. Jetzt würde sie so leicht nichts umwerfen. Nach etwas über einer Woche reiste Barb ab. Uwe sollte ungestört durch ihre Nähe sein Studium vollenden.
Das liebe alte Hellesried empfing Barb mit Sonnenschein, wie sich das gehört, mit der frischen Luft der Berge, dem Duft seiner Wiesen, dem Atem der Heimat. Sie wohnte natürlich im Kranwitthof, in ihrer alten Kammer, wo im Schrank noch einige ihrer früheren Dirndlkleider hingen. Sie zog sich gleich eins davon an, nun war sie richtig daheim. Frau Einziger, Rosls Schwester, eine tüchtige, vernünftige Frau, hatte das Hauswesen gut im Schuß und dachte nicht im entferntesten daran, sich etwa den Wittiber Mathis einfangen zu wollen. Übrigens waren wohl auch ihm selbst alle derartigen Gedanken längst vergangen. Er sah gelb, um viele Jahre gealtert, ja, geradezu krank aus, so daß Barb erschrak. 238
Als sie die alte Zenzi im Hollerhof aufsuchte und ihr ein paar Geschenke aus Amerika brachte, machte sie eine Bemerkung darüber. „Ja, ja", nickte Zenzi, „er ist nicht gut beieinand, der Mathis, ich glaub alleweil, der stirbt bald seiner Bäurin nach. Ist schon ein Glück, daß der Flori bald erwachsen ist und sich gut schickt." Ja, das stimmte. Der Flori hatte sich prächtig herausgemacht und war nun ein tüchtiger, im guten Sinne selbstbewußter Jungbauer geworden. Zwischen ihm und Barb war sehr bald die alte Vertraulichkeit wiederhergestellt. Die Stasi war nicht daheim, sie war auf Besuch bei einer entfernten Verwandten. „Ich glaub' alleweil, da spinnt sich was an", sagte Flori. „Weißt, die Erlhoferin hat einen Sohn und es tät' alles recht gut passen. Mit dem Schneithofer Alois und der Stasi ist's nämlich nix worden, und da darf sie schon direkt froh sein drüber. Grad jetzt sitzt der Alois in Untersuchungshaft wegen schwerer Körperverletzung. War so eine besoffene Wirtshausschlägerei. Er ist und bleibt halt ein Rohling." Burgl, nun bald ganz erwachsen, war ein hübsches Mädel, immer noch keck und selbstbewußt, aber doch etwas manierlicher als früher. Sie wußte immer genau, was sie wollte, und bekam es auch sehr oft. Barb richtete ihr aus, was Rosemarie ihr gesagt hatte, aber Burgl lachte bloß. „Besuchen möchte ich sie schon, die Rosemarie, warum denn nicht? Aber mich drüben verheiraten? Nein, das reizt mich weniger. Ich möcht am liebsten ein Hotel haben, wie der Onkel Peter, aber in einem großen Kurort, Gar239
misch oder Tegernsee vielleicht, da ist immer was los, man kann viel Geld dabei verdienen und überhaupt, das tat mir am meisten Spaß machen." Barb lachte. „Suchst du ein alleinstehendes Hotel, oder darf auch ein Mann dabei sein?" Burgl grinste. „Freilich gehört auch ein Mann dazu, das kannst dir denken." „Schau, schau, hast du am Ende schon einen im Auge?" „Das grad nicht, aber den krieg' ich schon", sagte die Burgl siegesgewiß und drehte sich dabei übermütig vor dem Spiegel. Sie gefiel sich offenbar sehr in dem geblümten Seidenkleid, das Barb ihr mitgebracht hatte. Der Rittersporn „Seraphim" blühte im Ziergarten, er hatte sich kräftig entwickelt. Barb brach einige Stengel ab und brachte sie, zusammen mit anderen Blumen, zu Reginas Grab, wo sie eine Weile in stummer Andacht verblieb. Auch den frischen Hügel der alten Emmerenz suchte sie auf und nahm sich vor, dem wunderlichen Kräuterweiblein ein hübsches Holzkreuz setzen zu lassen. Frau Werner hatte das Schweiberlhaus in guter Ordnung gehalten. Aber nun bangte sie um ihre Kammer. Würde sie die hergeben müssen? Barb beruhigte sie sofort. „Natürlich behalten Sie Ihre Kammer, Frau Werner, mir ist es nur lieb, wenn Sie als Hausverwalterin hier bleiben. Ich lasse Ihnen aus einem Teil des Bodens eine nette Wohnküche einrichten und Sie nehmen sich vom Hausrat der Emmerenz alles, was Sie brauchen können, das übrige verschenke ich." Die Augen der Flüchtlingsfrau leuchteten auf. Es war wunderbar, wieder ein eigenes, kleines Heim zu haben. 240
„Wie ist die alte Emmerenz denn eigentlich gestorben?" fragte Barb. „Ja, das war ganz merkwürdig. Sie wurde die letzte Zeit doch recht hinfällig und ging kaum noch aus. Ich brachte ihr mit, was sie brauchte, holte auch ihre tägliche Maß Bier, aber dann plötzlich, eine Woche vor ihrem Tod, schien es ihr wieder besser zu gehen. Sie war nun wieder oft unterwegs und trank auch ihre Maß wieder beim Unterbräu. Und dann ist sie eines Tages wieder in den Wald gegangen, sie hat oft gejammert, daß ihr der so fehlt, also da hat es sie wohl hingezogen und da hat man sie dann auch gefunden, an einen Baumstamm gelehnt, tot. Ich finde ja, es ist ein passendes Ende für das alte Kräuterweiberl, nicht?" Ja, Barb fand das auch. Die Zimmerleute kamen und der Umbau begann. Oben auf dem Boden wurde ein hübsches Fremdenzimmer eingebaut, unten von der zu großen Küche ein Badezimmer abgetrennt und beides, Bad und Küche, gelb gekachelt, mit blauen Vorhängen an den Fenstern und alles elektrisch eingerichtet, praktisch und modern. Das große Wohnzimmer wurde bloß neu getüncht, es kamen ganz leichte, moderne, lustigbunte Möbel hinein, aber der alte schöne Kachelofen blieb. An den Wanden hingen eingerahmt die alten Stiche aus den Medizinbüchern der Emmerenz, sie blieben also im Schweiberlhaus, wo sie hingehörten, und auch der Geruch von unzähligen Heilkräutern blieb, trotz Umbau und frischer Farbe, der hatte sich durch viele Jahrzehnte in die alten Mauern eingefressen und gab dem Haus seine besondere Atmosphäre. Barb hatte auch streng darauf geachtet, daß den Schwalbennestern kein Schaden geschah; diese flinken 241
und schönen Glücksbringer, die Schweiberln, wollte sie natürlich keinesfalls verscheuchen. Das Ganze hatte nur wenige tausend Mark gekostet, und die waren wohl angewendet, denn nun war es ein wirklich entzückendes und originelles Landhäuschen geworden. Frau Werner war überglücklich über ihre schöne gemütliche Wohnküche. Sie brauchte keine Miete zu bezahlen und konnte den größten Teil der Obsternte für sich verbrauchen oder verkaufen. Sie war eine ehrliche und saubere Frau, die jedes Vertrauen verdiente. Auch das letzte Carepaket, das Barb an die Emmerenz geschickt und das diese nicht mehr erhalten hatte, stand noch unberührt da. Nun bekam Frau Werner es verehrt. Barb hatte sich aus Reginas Ziergarten von den Stauden einige Ableger und Wurzelstöcke geholt, die pflanzte sie nun in einer Staudenrabatte an. Natürlich war auch der Rittersporn Seraphim dabei. Als sie einmal im Garten arbeitete, lugte eine ältere Dame von stattlicher Fülle über den Zaun und sprach Barb an. „Sind Sie nicht Fräulein Eis?" Barb blickte auf und schaute in ein vergnügt lächelndes, rosiges Gesicht unter kurzen, silbergrauen Locken. „Ja, die bin ich. Und Sie, gnädige Frau, sind sicher Frau Sabine Huisken?" „Erraten; meine Liebe, ich hätte Sie gleich an der Ähnlichkeit erkannt, Sie gleichen Ihrer lieben Mutter sehr. Nun, ich habe inzwischen alles über Sie gehört, ganz Hellesried ist voll von Ihrer romantischen Geschichte, und da war ich so neugierig, Sie kennenzulernen, daß ich hergekommen bin." 242
„Worüber ich mich herzlich freue, gnädige Frau. Wollen Sie nicht hereinkommen?" Frau Huisken bewunderte alles sehr, bekam einen auf dem elektrischen Kocher rasch zubereiteten Tee vorgesetzt und bat dann Barb, sie gleich am nächsten Tag auf Sabinenhöhe zu besuchen. „Gott sei Dank können wir nun wieder darin wohnen", sagte Frau Huisken. „Wir haben die Flüchtlinge umgesiedelt, ihnen zweckentsprechende Wohnungen und Arbeitsplätze verschafft und dann das Schlößl renovieren lassen. Ein Spezialist für historische Bauten hat es sehr schön wieder hergerichtet. Nun, Sie werden ja sehen." Ja, Barb sah und mußte zugeben, daß es ein reizendes Kleinod darstellte, mit seinen nun erneuerten Stukkaturen, dem ausgebesserten Parkett und den schönen alten Möbeln im großen Saal. Herr Bichlmeier strahlte über sein ganzes, faltiges Gesicht, vor Freude, das noch erlebt zu haben. Barb mußte zum Abendessen bleiben, lernte die übrige Familie kennen, lauter lebenslustige Menschen mit rheinischem Humor und immer zu einer Gaudi aufgelegt. „Jetzt steigt bald das Sabinenfest", sagte Frau Huisken, „und Sie können sich denken, daß wir es diesmal ganz besonders festlich begehen wollen, nach so langer Pause." „Mit Glanz und Gloria", rief Jupp, der jüngste, noch unverheiratete Sohn, der ein rechter Frechdachs zu sein schien. „Nur schade, daß die Primadonna", er hob sein Glas gegen Barb, „schon vergeben ist. Wo kriege ich jetzt ein schönes Mädchen her?" 243
Barb lächelte. „Ich habe eine hübsche, sehr lustige Ziehschwester. Sie heißt Burgl." „Wirklich? Das beruhigt mich ungemein. Das heißt nein, eigentlich regt es mich auf. Diese Burgl muß ich gleich morgen besichtigen. Darf ich?" „Ich werde Burgl vor dir warnen", sagte seine Mutter. „Oh, die Burgl hat Haare auf den Zähnen und wird schon mit Herrn Jupp fertig", meinte Barb, und das erwies sich auch in der Folge als durchaus zutreffend. Burgl gab dem zungengewandten jungen Herrn so schlagfertig heraus, daß er platt war vor Staunen. Es war eine fröhliche Tafelrunde und einmal machte sich Frau Huisken den Spaß, sich ein Kleid anzuziehen, das genau einer Toilette nachgebildet war, welche die Urahne Sabine auf dem Porträt aus ihrer Matronenzeit trug. Dieses Bild hing jetzt natürlich, gleich dem aus ihrer Jugend, wieder im großen Saal. Frau Huisken hatte sich die grauen Locken ganz weiß gepudert, sich geschminkt, Schönheitspflästerchen angebracht, und so nahm sie unter dem Bild ihrer Ahnin Platz. Jetzt konnte man sehen, daß die Ähnlichkeit geradezu verblüffend war. „Eigentlich war sie ja ein recht unartiges Mädchen, meine Ahnin", meinte Frau Huisken lachend, „aber ich bin ihr bestimmt nicht böse darum. Ohne sie wäre ich nicht auf der Welt und die finde ich nämlich recht vergnüglich. Und wir säßen alle nicht hier in dem reizenden Sabinenschlößchen. Prost, Sabine, sei gegrüßt!" Sie hob ihr Glas und trank lachend dem Bild zu. „Und für wann ist eigentlich Ihre Hochzeit festgesetzt?" fragte sie Barb. „Hoffentlich ist der Bräutigam nicht durchs Examen gefallen?" 244
Barb lachte. „Oh, nein, im Gegenteil, das hat er mit Glanz absolviert. Wir wollen Ende August heiraten." „Oh, wunderbar. Dann können alle Ihre Hochzeitsgäste am Sabinenfest teilnehmen." So wurde es also beschlossen. Ein paar Tage vor der Hochzeit kamen Brokenhorsts mit dem Cadillac an. Die Schwiegereltern bezogen ihr früheres Zimmer im Kranwitthof und Mathis war sichtlich froh und nicht wenig stolz, daß sie das Quartier bei ihm allen anderen vorzogen, denn auch Frau Huisken hatte ein Zimmer angeboten. Uwe wohnte im Schweiberlhaus, das alle bezaubernd fanden. Es würde sicher außer Barb und Uwe, die immer zum Skilaufen und auch im Sommer herkommen wollten, oft Logiergäste haben. Oben im Fremdenzimmer wohnte der ebenfalls angekommene Herr Spencer. Ihm machte diese ungewohnte Umwelt viel Spaß und er photographierte alles und jedes, um es daheim in Ellscourt vorzeigen zu können. Und als sie alle einmal im Schweiberlhaus versammelt waren, hielt plötzlich ein Wagen mit einer Berliner Nummer vor der Tür. Heraus sprang ein laut bellender Airedaleterrier, dem ein älterer, untersetzter Herr folgte. „Sokrates!" rief Barb jubelnd und fiel ihm in ihrer Freude um den Hals. „Das ist aber lieb, daß Sie gekommen sind. Sie haben mir zwar oft reizende Briefe geschrieben, aber das ist doch nicht dasselbe, als Sie persönlich hier zu haben. Ich freue mich schrecklich." Dr. Carsten mußte sich räuspern. Kein Zweifel, er war ein wenig gerührt über Barbs sichtbare Freude und seine Stimme klang daher etwas rauh. „Ich werde doch nicht fehlen, wenn meine Lieblings245
Sekretärin heiratet", meinte er und begrüßte nun auch die andern, die sich ebenfalls über das Wiedersehen sehr erfreut zeigten. Stepke aber raste wie ein Irrer herum, als er die altgewohnten, ihm so liebvertrauten Hellesrieder Gerüche in die Nase bekam. Er war ganz aus dem Häuschen vor Freude. „Ja, ja, beruhige dich nur, alter Knabe", sagte Dr. Carsten lachend. „Wir bleiben ja jetzt eine Weile hier." Dann erzählte er, daß er bei seinem alten Freund, dem Lehrer Zierlein, absteigen wollte. Der war bei seinen Blumen, den Bienen und dem beschaulichen Leben recht rüstig geblieben und glücklich darüber, „Sokrates" plus Hund wieder einmal bei sich zu haben.
Frau Huisken hatte für das Sabinenfest auf einem freien Platz zwischen hohen Buchen einen Tanzboden aufschlagen lassen und daneben vorsichtshalber ein großes Zelt, falls es doch regnen sollte. Ganz Hellesried konnte darin Platz finden und sie kamen alle, frohgemut und voller Erwartung, denn auf dem Sabinenfest ging es immer sehr lustig und großzügig zu. Viele Bierfässer waren aufgestellt, riesige Wurstkessel dampften, Käse und Brezeln, und was sonst dazu gehörte, gab es in Fülle, eine zünftige Musik spielte lustige Weisen, es war fast wie ein Oktoberfest im kleinen. Barb und Uwe waren die Ehrengäste und sie mußten den ersten Tanz allein unter den teils bewundernden, teils gerührten Blicken der Zuschauer tanzen. 246
Barb hatte eines ihrer schönen Ausstattungskleider, in einem Blau, das fast dem Rittersporn Seraphim glich, angezogen und Uwe war schmuck in hellgrauem Flanell. „Das ist schon ein Anblick, bei dem auch einem alten Knaben noch das Herz warm werden kann", meinte „Sokrates", zu seinem alten Freund Zierlein gewandt. Die Burgl hatte viel Spaß mit dem kecken jungen Herrn Jupp, ihre braunen Augen sprühten nur so vor Übermut. Auch Stasi war zugegen, etwas schlanker geworden und dadurch viel vorteilhafter aussehend. Es war ein richtiges Volksfest; zum Glück regnete es nicht und die Wogen der Fröhlichkeit schlugen hoch. Die Hellesrieder waren sehr zufrieden, daß die Familie Huisken wieder unter ihnen weilte. Am nächsten Morgen war Barbs und Uwes Hochzeit in der kleinen Hellesrieder Dorfkirche. Derselbe Pfarrer, der einst das kleine, häßliche Findelkind getauft hatte, nun ein würdiger Greis, sprach die bindenden Worte zu der jungen, schönen Braut und ihrem Bräutigam. Uwes männlich-attraktives Gesicht trug heute einen ernsteren Ausdruck, der ihm sehr wohl anstand. Sein Blick suchte einige Sekunden Barbs Augen. „Ich liebe dich", flüsterte er leise, „für immer." „Ich liebe dich", gab sie leise zurück, „für immer und alle Zeit." Das Hochzeitsmahl wurde in der „Post" abgehalten. Es war keine mondäne Affäre, sondern trug bewußt bodenständigen Zuschnitt, und das fanden alle besonders nett und passend. Herr Spencer nahm die Hochzeitsfeier, ebenso wie das 247
Sabinenfest am Tag zuvor, auf Schmalfilm auf. Es war eine Liebhaberei von ihm, er war darin sehr geschickt und versprach dem jungen Paar, eine Kopie zu senden. Das war natürlich sehr nett, so hatten sie ein bleibendes Andenken an ihren großen Tag. Mitten in der Fröhlichkeit schlich sich Barb für eine kurze Weile weg auf den nahen Friedhof. Da legte sie einige Blüten aus ihrem Brautbukett auf Reginas Grab nieder, mit einem stillen Dank an die brave Frau, die hier ruhte. Aber dann gab sie sich mit vollem Herzen wieder der allgemeinen Freude hin. Ja, es war ein schöner Tag, alles glückte, es gab keinen Mißton. Und als die Neuvermählten schließlich den Cadillac bestiegen, um ihre Hochzeitsreise anzutreten, da gab es niemand, der ihnen nicht aufrichtig alles Glück der Erde gewünscht hätte. Aber am schönsten war es dann doch, als sie allein waren und auf der Terrasse ihres Hotelzimmers am Gardasee saßen. Ein junger Mond leuchtete ihnen, die Aussicht war herrlich, der See schimmerte in abendlichen Farben und alles war ganz so, wie Barbara es sich gewünscht hatte. Als sich ihre Lippen fanden, versank die Welt und es gab nichts mehr als diese zauberhafte Nacht und ihre junge, wunderbare Liebe.
Ende
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