Crispan Magicker Mark M. Lowenthal 1979
MAGIE GEGEN TEUFELEI Zerfallen ist das Mittlere Reich; ein Machtvakuum entsteh...
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Crispan Magicker Mark M. Lowenthal 1979
MAGIE GEGEN TEUFELEI Zerfallen ist das Mittlere Reich; ein Machtvakuum entsteht zwischen dem Nördlichen und dem Südlichen Imperium, Söldnerheere führen einen endlosen Krieg um die Überreste der einstmals blühenden Länder. Weitab vom blutigen Geschehen, in den majestätischen Großen Bergen, liegt das Heiligtum der Magier-Bruderschaft. Oberstes Gebot des Ordens ist es, sich strikt aus allen Händeln dieser Welt herauszuhalten. Als jedoch Zhyjam, Kaiser des Nördlichen Reiches, eine unübersehbare Heerschar zusammenzieht, um den Süden in die Knie zu zwingen, greift der Orden endlich ein. Crispan, Großmeister der Magie, wird ausgesandt, dem Südlichen Reich mit seinen übernatürlichen Kräften beizustehen. Aber wie soll er - ein geschworener Verfechter des Friedens - gegen eine tausendköpfige Armee siegen... und gegen Schwarze Magie, die auf teuflische Weise ein Heer lebender Toter mobilisiert?
Für Cynthia Inhalt I Der Fall von Aishar............................ xx II Die Flucht über die Ebene...................... xx III Der Zwischenfall in der Schenke................ xx IV Zu den Großen Bergen........................ xx V Mikals Geschichte............................. xx VI Neuankömmlinge und Besucher................ xx VII Nachrichten von der Welt...................... xx VIII Unangenehme Erinnerungen................... xx IX Durch die Großen Berge....................... xx X Die Bedeutung der Magie....................... xx XI Visionen im Feuer............................. xx XII Der lautlose Wind............................. xx XIII Gurdikar..................................... xx XIV Die Rückkehr des Thronerben.................. xx XV Mit der Armee des Ostens...................... xx XVI Zifkar........................................ xx XVII Garnisonsdienst............................... xx XVIII Das Karsh.................................... xx XIX Schlimme Nachricht........................... xx XX Eine Nacht von Feuer und Blut.................. xx XXI Ein Auftrag im Westen......................... xx XXII Vertrautes Gelände............................ xx XXIII Rennar....................................... xx XXIV Nachrichten aus dem Norden................... xx XXV Ein Buch von Xirvan........................... xx XXVI Eine schwerwiegende Unterbrechung............ xx XXVII Elthwyns Geschichte.......................... xx XXVIII Ein verzögerter Aufbruch....................... xx XXIX Der Abend vor der Schlacht..................... xx XXX Die unsichtbare Schlacht....................... xx XXXI Angriff....................................... xx XXXII Vergeltung................................... xx XXXIII Ostwärts zum Orden.......................... xx XXXIV Ober den nördlichen Horizont.................. xx
I Der Fall von Aishar Die belagerte Stadt Aishar erhob sich aus der Ebene wie ein verwundetes Tier, das sich in Wut und Schmerz aufbäumt. Rote Flammennarben zogen sich über die Haut von Mauern und Wehrtürmen, während ringsherum die Belagerungsmaschinen lauerten, wie Schakale, die auf den Tod eines viel größeren Tiers warten. Seit über drei Wochen hatte die Stadt den Angriffen standgehalten, hatte jedem neuen Morgen, an dem die Sonne über dem Heer der Belagerer, östlich der Stadt, aufging, tapfer ins Auge geblickt. Dort, am Nordufer des Flusses, der die Stadt mit Wasser versorgte, standen die unzähligen Zelte von Lord Symans Söldnerarmee. Er war ein großer Kriegsherr, bereits jetzt legendär, der eines der größten Söldnerheere des Mittleren Reiches befehligte. Nur Syman und ein oder zwei andere konnten jederzeit zehntausend Mann aufstellen und die doppelte Zahl innerhalb von zwei Wochen. Nur Syman und ein oder zwei andere hatten in einem so gefährlichen Beruf so lange überlebt, ohne von anderen Armeen oder von einem undankbaren Auftraggeber getötet worden zu sein. Und nur Syman und ein paar andere konnten so harte Bedingungen durchsetzen und wurden trotzdem immer wieder von kriegführenden Herzögen, Hofschranzen und Usurpatoren beauftragt, ihre Gegner niederzukämpfen. An diesem Abend saß Lord Syman auf seinem Pferd, beobachtete von einem Hügel im Süden Aishars die belagerte Stadt und wartete auf den Beginn des letzten Angriffs. Nach drei Wochen unaufhörlicher Beschießung war die mächtige Stadtmauer geborsten, und ihre innere Holzstruktur lag frei. Nun waren statt der massiven Steinblöcke riesige Fässer und Säcke mit brennendem Teer gegen die Mauer katapultiert worden, die das tragende Holzgerüst in Brand gesetzt und zu Asche verwandelt hatten, so daß die Mauer unter ihrem eigenen Gewicht zerbröckelte und einstürzte. Syman war ein Experte für Belagerungen, der seine ersten Lorbeeren bereits während seiner ersten Kriege bei der längst untergegangenen Armee eines vergessenen Söldnerführers erntete. Er hatte einen fast unheimlichen Instinkt dafür, die Schwachstelle einer Mauer zu finden und ge nau zu wissen, wann er Steine gegen sie schleudern mußte, und wann Feuer, und wann er sein Ziel am raschesten erreichte, indem er beides kombinierte. Seiner Begabung und seines Erfolges sicher, blickte Syman interessiert auf die Stadt hinab. Er nahm seinen Helm ab, schüttelte sein graues Haar und beugte sich zu dem hageren Mann, der neben ihm auf seinem Pferd saß, Jizar Korm, Thronbewerber für das Herzogtum Aishar. „Herr“, sagte der Söldner, „heute nacht bist du der wahre Herzog von Aishar, und dein Bruder ist entweder tot oder dein Gefangener.“ Jizars verzerrtes, schmales Gesicht gönnte sich ein kleines Lä cheln, als er an seinen toten älteren Bruder dachte, und seinen jüngeren, der nun in der fallenden Stadt ebenfalls zum Sterben verdammt war. Alizar war vor fast einem halben Jahr gestorben und hatte sein Land Kaizar vererbt, und nicht seinem mittleren Bruder, den er haßte. Und jetzt hatte Jizar sich eine große Söldnerarmee gekauft, um sein vermeintliches Recht als älterer Bruder gegen das völlig legale Erbe des jüngeren durchzusetzen. Das war der Part, der ihm am meisten Spaß machte: daß er, der ewig Ausgestoßene, jetzt als Verteidiger des alten Erbrechts auftrat. Aber das zu erreichen war nicht einfach und erst recht nicht billig. Jizar verachtete den Söldner, der neben ihm auf seinem Pferd saß, mit seinem verdammt genau ausgetüftelten Vertrag und seiner sündhaft teuren Armee. Dieses Unternehmen hatte ihn den größten Teil des Vermögens gekostet, das er in langen Jahren mit Schmuggel, Sklavenhandel und anderen ge nauso anrüchigen Beschäftigungen zusammengerafft hatte. Aber er hatte es gut angelegt, erkannte er jetzt, denn er, Jizar Korm, der verachtete zweite Sohn, würde noch heute Herzog und Herrscher von Aishar sein, und mit einigen neuen Steuern würde er sein investiertes Kapital sehr bald wieder hereinbringen. Jizar wurde von einem lauten Dröhnen und dem Aufzucken von Flammen, die die ganze Ebene
erleuchteten, aus seine n Träumen gerissen. Er blickte auf die Stadt hinab und kniff die Lider zusammen, als er in die lodernden Flammen starrte. „Das Spiel ist aus!“ rief Syman lachend. „Die Stützbalken und Streben sind verbrannt, und die Mauer stürzt ein. “ Seine Augen glänzten so hell wie die Flammen. Er wandte sich im Sattel zu mehreren Meldern um, die hinter ihm standen. „Junge!“ schrie er einem von ihnen zu. „Befehl an die Katapulte: Sie sollen wieder Steine schleudern, bis die Mauer völlig zusammenbricht. Und dann, auf ein Signal von der Front, Wassersäcke. Verschwinde!“ Dies war der Augenblick, den Syman am meisten genoß, wenn die Mauern einstürzten und die Verteidiger sich hinter brennenden Trümmern verkrochen, um sich für den letzten Kampf vorzubereiten. Jetzt zeigte sich Symans wahres Genie, wenn er die Feuer selbst löschte und seine Truppe in die Stadt warf, bevor die Verteidiger bereit waren. Seine rechte Faust, die die Zügel fest umklammert hielt, schlug ungeduldig auf den Sattelknopf, während er darauf wartete, daß die Mauer ganz zusammenbrach. Und dann hörte er ein brechendes Geräusch, als Mörtel sich löste und Steinquader stürzten und die Stadt Aishar offen und ungeschützt vor der Söldnerarmee lag. Ein Hauptmann kam den Hügel heraufgeritten, beugte sich zu Syman und flüsterte ihm eine Nachricht ins Ohr. Syman strich sich seinen langen, graumelierten Bart, murmelte Jizar Korm eine Entschuldigung zu und ritt mit dem anderen Mann den Hügel hinab. Er wußte, wer ihn auf der anderen Seite des Hügels erwartete und was er heute abend von ihm wollte. Syman konnte ihn im Feuerschein der brennenden Mauer schon aus einiger Entfernung erkennen: ein großer, hagerer Mann, von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet, dessen Gesicht im Schatten einer weiten Kapuze unkenntlich war. Der Mann in Schwarz kam ohne jede Vorrede sofort auf sein Anliegen zu sprechen. „Die Belagerung ist beendet, Syman. Mein Herr verlangt das, was ihm zusteht.“ Der Söldner war verärgert. „Die Belagerung ist noch nicht beendet. Wir müssen noch in die Stadt eindringen und sie zur Unterwerfung zwingen.“ „Und wo ist die Beute?“ Der Mann in Schwarz sprach mit einem Anflug von eisigem Sarkasmus. „Ich denke, daß er heute an der Front sein wird. Keine Sorge, er ist sicher.“ „Das hoffe ich, Lord Syman. Mein Herr wäre sehr ungehalten, falls irgendein Pfeil oder ein niederbrechender Holzträger ihn seiner Beute berauben würde.“ Jetzt antwortete Syman im gleichen Tonfall, ohne Rücksicht auf die Macht des Herrn dieses Mannes in Schwarz zu nehmen und ohne seine eigene Ungehaltenheit zu verbergen. „Du kannst deinem Herrn ausrichten, daß ich die volle Verantwortung dafür trage.“ „Das wirst du wirklich, Syman.“ „Und du wirst die Verantwortung dafür tragen, meinen Zorn erregt zu haben. Wenn die Belagerung beendet ist, gehört er dir.“ Der Mann in Schwarz verneigte sich mit spöttischer Höflichkeit und zog sich in das Dunkel zurück. Es hüllte ihn ein, so wie die Kapuze seinen Kopf einhüllte und sein Gesicht verbarg. Syman ritt wieder auf die Kuppe des Hügels und beobachtete die Mauer. Seine Brust hob und senkte sich in der Brünne, als seine Verärgerung ein wenig abklang. „Wer kommandiert vor der Bresche?“ fragte er. Einer der Melder antwortete: „Die Lords Mikal und Zoltan, Sir.“ „Noch keine Nachricht von ihnen?“ „Nein, Lord.“ „Und wer kommandiert vor dem Tor?“ „Lord Gordo.“ „Gut, gut... Sofort Befehl an Mikal, Zoltan und Gordo, daß ich Gefangene haben will und kein Schlachtfest.“ Jizar Korm hob den Kopf. „Ich verlasse mich darauf, Lord Syman, daß diese Männer als Verräter behandelt werden, weil sie meinen Bruder unterstützt haben. Ich verlasse mich darauf...“ Die verhüllten Drohungen des Mannes in Schwarz und die Erschöpfung nach den langen Wochen der Belagerung ließen Syman explodieren. Er fuhr herum und bleckte die Zähne. „Ich möchte dich, Jizar Korm, an unseren Vertrag erinnern. Ich habe das Vorrecht auf alle
Gefangenen; jeder von ihnen, der sich dafür entscheidet, sich meiner Armee anzuschließen, hat die Freiheit, das zu tun. Dein kostbares Herzogtum hat mich viele gute Männer gekostet. Dein Bruder gehört dir, aber die anderen sind mein - und wenn man sie vor die Wahl stellt, werden die meisten sich dafür entscheiden, sich mir anzuschließen.“ Jizar ließ sich im Sattel zurücksinken, fluchte lautlos auf seinen Söldner und seinen verdammt klugen Vertrag: Vorrecht auf alle Gefangenen, keine Rekrutierungsversuche Jizars in Symans Armee, der verdammt hohe Preis. Der einzige Trost, der ihm blieb, war die Gewißheit, noch heute Nacht Herzog von Aishar zu sein. Der junge Melder, kaum zwanzig Jahre alt, ritt den Hang des Hügels hinab und auf die noch immer brennende Bresche in der Stadtmauer zu. Sein Pferd suchte sich vorsichtig seinen Weg zwischen Trümmern, die einmal Belagerungsmaschinen gewesen waren, düstere Erinnerung daran, wie lange und zu welchem Preis um diesen Sieg gerungen worden war. Er warf einen Blick über die Schulter, um zu sehen, wie weit er von der Hügelkuppe entfernt war. Eine Sekunde lang sah er die breitschulterige Gestalt Symans, und er dachte an das Gerücht, das behauptete, alle jungen Hauptleute und Melder seien seine unehelichen Kinder. Doch wenn dem so sein sollte, so hatte keiner von ihnen durch seinen Kommandeur irgendeine Bevorzugung erfahren. Ein brechendes Geräusch, als sein Pferd mit dem Vorderhuf auf einen To ten trat, holte seine Gedanken wieder in die Gegenwart und zu seinem Auftrag zurück. Er konnte die Brand hitze der sterbenden Stadt bereits fühlen, als er an erst eben ge fallenen Soldaten vorbeiritt und Lord Mikals Kompanie erreichte. Jeder der Männer starrte auf die Mauer, wo immer mehr Steinquader in die Flammen stürzten, während Mauer, Wehrgang und eine Bastion zusammenbrachen. Schließlich ent deckte er Lord Mikal, der ruhig auf seinem berühmten, creme farbenen Hengst saß, über seinem Kopf das Banner mit seinen Farben. „Lord Mikal, eine Botschaft von Lord Syman.“ Mikal wandte sich zu dem Melder um; der Schatten seines Helmes verdunkelte sein Gesicht, und man sah nur eine Linie schwarzen Haares und hellgrüne Augen. „Was sagt er?“ „Du sollst nach Wasser signalisieren, sowie du es für richtig hältst, und dann den letzten Angriff führen.“ „Ist das alles?“ „Ja, Lord. Ich muß weiter, zu Gordo. “ Der Melder riß sein Pferd herum und ritt zum Nordwesttor von Aishar, um Gordo davon zu unterrichten, daß bald Gefangene herausgetrieben werden würden. Während er im Dunkel verschwand, wandte Mikal sich um, und sein Blick suchte Lord Zoltan, den anderen Hauptmann, der an diesem Abschnitt kommandierte. Zuerst konnte er Zoltans untersetzte Gestalt nirgends entdecken. Dann sah er seine Silhouette vor den Flammen der Mauerbresche. „Zoltan! Nachricht von Syman!“ Zoltan wischte sich ein paar Tropfen Wein aus seinem roten Bart und schnaubte: „Was will er denn?“ „Wir sollten anfangen, wenn wir bereit sind. Ich werde jetzt den blauen Pfeil schießen lassen. Wir wollen hoffen, daß sie seit Sippian gelernt haben, die Farben auseinanderzuhalten.“ Zoltan schnaubte noch einmal, als er sich an die Belagerung von Sippian erinnerte, die knapp vier Monate zurücklag. Symans Hauptleute an der Front hatten Pfeile in verschiedene Mixturen getaucht und mit ihnen farbige Flammenzeichen zu den Katapulten geschickt. Rotflammende Pfeile bedeuteten Feuer und öl, Weiß hieß Steine, Blau war für Wasser, und Grün befahl den Männern an den Katapulten, den Beschüß einzustellen. Bei der Belagerung von Sippian hatten die Truppen Blau signalisiert, und die Katapulteure hatten statt Wasser Säcke mit öl in die Flammen geschleudert. Das auflodernde Feuer hatte mehrere Männer getötet, die sich vor der brennenden Mauerbresche zum letzten Sturm sammelten, und den Verteidigern eine Atempause verschafft. Zur Strafe wurde der Mann, der für den Irrtum verantwortlich war, später selbst auf einen Sack öl gebunden und gegen die Mauer katapultiert. Syman sah dem grausame n
Schauspiel zu und sagte dann ruhig: „Ein kostspie liger Fehler, doch er hat seine Spur in Sippian hinterlassen.“ Mehrere blauflammende Pfeile schössen zum Himmel empor, und dieses Mal reagierten die Männer an den Katapulten richtig. Das Zischen von Dampf vermischte sich mit dem verklingenden Prasseln der Flammen, als zusammengenähte Tierfelle aufprallten, platzten und ihren Wasserinhalt in das Feuer ergossen. Mikal und Zoltan starrten gespannt auf die Bresche, als Flammen, Rauch und Dampf sich verzoge n und die Stadt ihren Blicken freigaben. „Grüne Pfeile, schnell!“ rief Mikal, und Zoltan trieb sein Pferd bereits in die Mauerbresche, das Schwert über dem Kopf schwingend, und schrie: „Vorwärts! Weiter! Weiter!“ Mikal gab seinem Pferd die Sporen, als Zolt an schon den Gip fel des noch immer ein wenig qualmenden Schutthügels der Mauer erreichte und seinem Kameraden zurief: „Ich wette einen Sack Gold, daß ich als erster im Herzogspalast bin!“ Mikal hob sein Schwert zum Zeichen, daß er die Wette annahm, stand in seinen Steigbügeln auf und stieß seinen Kriegsruf aus. Mikals Streitroß war gut abgerichtet, und als der cremefarbene Hengst über die Trümmer kletterte, schlug er mit einem Vorderhuf ge gen den Schild eines Feindes und brachte ihn dadurch zu Fall; das Schwert seines Herrn fuhr herab und spaltete ihm den Schädel. Blut rauschte in Mikals Kopf; er fühlte es unter seinem Eisenhelm in den Schläfen pulsieren. Der Rausch des Kampfes kam über ihn, als seine Klinge auf und nieder fuhr, nach rechts und nach links schlug, mechanisch, doch mit routinierter Präzision auf seine Feinde einschlug, ohne zu überlegen, eins mit seinem Hengst, der genauso erregt war. Stöhnende Männer, klirrende Schwerter und prasselnde Flammen waren nicht mehr als ein undeutliches, kaum wahrgenommenes Geräusch in den Ohren des Kriegers, sein Blick war auf den einen Feind konzentriert, der vor ihm war, und blieb doch wach für jede Gefahr, die von den Seiten kommen mochte - die besondere Gabe des Veteranen. Mikal erreichte den Gipfel des Trümmerhaufens, warf einen raschen Blick auf die eingestürzte Mauer und blickte dann zurück, um sich zu überzeugen, daß seine Männer mit ihm Schritt hielten. Hinter ihnen auf der mit Trümmern übersäten Ebene konnte Mikal die Männer Grygors und Azihans sehen, die ebenfalls auf die Bresche zuritten. Der Zugang zu der fallenden Stadt Aishar war frei, da ihre Verteidiger vor Symans Angriff zurückwichen und nur blutende Männer und zerbrochenen Stein zurückließen. Mikal schüttelte den Kopf, um den Rausch des Kampfes daraus zu vertreiben, und ritt dann auf der anderen Seite des Schuttberges hinab in die Stadt. Die Häuser, die unmittelbar hinter der Mauer lagen, waren größtenteils unbeschädigt, da die Mauer sie geschützt hatte. Die Häuser, die etwas von ihr entfernt lagen, hatten jedoch durch die dreiwöchige Beschießung mit Feuer und Stein stark gelitten. Im Zentrum der Stadt hörte man noch immer das Prasseln von Flammen und das brechende Geräusch zusammenstürzenden Mauerwerks, und roter Feuerschein färbte den Himmel. Mikal trieb sein Pferd durch dieses Inferno und über immer größere Trümmerberge. Der Kampfeslärm war jetzt vor und seitlich von ihm, und er zügelte sein Pferd, um festzustellen, wo er sich befand. Nach so vielen Abzweigungen der engen, ge wundenen Gassen hatte er die Orientierung verloren. Die eng beieinanderstehenden Häuser und der dichte Rauch machten es unmöglich, irgendwelche markanten Punkte erkennen zu können, den Herzogspalast, zum Beispiel. Jizar Korm hatte ihnen den Plan der Stadt erläutert und besonders auf die breite Allee hingewiesen, die vom Haupttor aus in nördlicher Richtung zum Stadtzentrum führte. Dort war sie zu Ende und wurde Tförmig von einer anderen Hauptstraße gekreuzt, die in westöstlicher Richtung verlief und die Stadt in zwei Hälften teilte. Unmittelbar nördlich von der Stelle, an der die beiden Straßen aufeinanderstießen, lag ein großer Platz, der den Vorhof des Palastes bildete. Der Rest der Stadt bestand aus konzentrisch um diesen Mittelpunkt verlaufenden Straßen, die von enge n Gassen ge kreuzt wurden. Syman hatte jedoch die Mauerbresche westlich des Haupttors geschlagen, und Mikals Männer waren in dem Gassen-Labyrinth des westlichen Viertels gefangen. Die Läden und Häuser standen so eng nebeneinander, daß Symans Soldaten ihren Zusammenhalt
verloren und so leichte Opfer für Bogenschützen wurden. Mikal suchte nach einem Ausweg aus diesem Irrgarten und zügelte sein Pferd vor einem rauchgeschwärzten Haus. An die Mauer des Hauses gelehnt saß ein Soldat Aishars, der seine Hände auf eine klaffende Wunde in seinem Oberschenkel preßte. Mikal winkte einige seiner Männer zu sich und ließ den Verwundeten auf die Füße stellen. „Eine harte Nacht, Bruder“, sagte er zu dem Mann. „Für einige schon“, sagte der Verwundete trotzig. „Wie kommen wir zum Palast, Mann?“ Der Verwundete spuckte auf den Boden. Einer von Mikals Männern schlug mit der flachen Schwertklinge auf seine Wunde. Der Mann zuckte zusammen und stöhnte. „Sprich, und man wird sich um dich kümmern. Sonst lasse ich dich hier liegen. Es gibt schönere Arten zu sterben.“ „Was kommt es darauf an, wie ich sterbe?“ sagte er. Doch dann überlegte er einen Moment. „Also gut. Folgt dieser Gasse nach rechts, dann gelangt ihr auf eine breitere Straße. Nach rechts kommt ihr zum Haupttor, nach links zum Palast.“ Mikal nickte und befahl, daß der Mann versorgt und dann rekrutiert werden sollte. Den anderen seiner Männer, die sich jetzt allmählich um ihn sammelten, gab er den Befehl, zum Palast vorzudringen. „Und, Pabul“, setzte er hinzu, „sage Grygor, daß er der Mauer in nördlicher Richtung folgen soll, bis er auf eine breite Allee stößt, auf der er dann weiterreitet. Wir treffen uns beim Palast.“ Jetzt kämpften der Söldner und seine Männer sich zu der Straße durch, die zu der fettesten Beute und dem Ziel der Belagerung führte. Hin und wieder wurde einer von ihnen von einem Pfeil zu Boden gestreckt, als sie durch die enge, gewundene Gasse zogen, und dann drangen andere in die Häuser und Läden ein und suchten den Schützen. Neue Brände flammten auf, wenn sie das Haus des Übeltäters in Brand setzten. Schreie mischten sich in den Kampfeslärm, wenn Frauen vor den Angreifern flohen. Viele Söldnertruppen wurden in diesem Fall dezimiert, weil die Männer den Kampf vergaßen, um nach die ser Beute zu jagen, doch Mikals Haufen war diszipliniert und führte zuerst den Kampf zu Ende. Schließlich gelang Mikal der Ausbruch aus dem westlichen Viertel auf die breite Allee. Sein Weg wurde von einer Vorhut der Truppe Zoltans blockiert. „Was ist? Macht weiter!“ „Unmöglich, Lord, wir sind genau zwischen ihnen“, antwortete einer der Männer. Mikal erkannte, daß der Mann recht hatte. Zur Linken lag der herzogliche Palast, doch auf der anderen Seite der Allee waren Barrikaden aufgerichtet worden, bemannt von den letzten Verteidigern Aishars. Als Mikal nach rechts blickte, konnte er durch Rauch und Dunkel die Umrisse des Haupttors erkennen, doch auch dort sah er eine größere Menge von Aisharianern, die es bewachten, um zu verhindern, daß die in die Stadt eingedrungenen Angreifer es öffneten, um den Rest von Symans Horden in die Stadt zu lassen. Mikal sah, daß sie mitten in die letzte Verteidigungslinie der Stadt eingebrochen waren. „Was sollen wir tun, Lord?“ Immer mehr Männer drängten sich zum Ende der Gasse, während Mikal über einen brauchbaren Plan nachdachte. „Zoltans Männer greifen das Tor an. öffnet es so rasch wie möglich. Der Rest kommt mit mir. Reiter an der Spitze! Wir müssen über sie herfallen, bevor sie sich zurückziehen können! “ Zoltans Männer stürmten nach rechts auf die Verteidiger des Tors zu. Eine Wolke von Speeren dünnte die Reihen der Aisharianer aus, und dann hackten die Angreifer gnadenlos auf sie ein, und viele der eigenen Leute fielen unter den Schwertstreichen, weil Dunkelheit und der immer dichter werdende Rauch ihnen die Sicht nahmen und es fast unmöglich machten, Freund und Feind zu unterscheiden. Der wütende Nahkampf auf engstem Raum wurde chaotisch, als jeder Mann blindlings nach allen Seiten um sich hieb, bis einer von ihnen mit seiner Streitaxt gegen Holz schlug. „Das Tor!“ schrie er, und obwohl er von einem Speer getroffen tot zu Boden sank, als er nach dem großen Rad griff, dessen Mechanismus das schwere, eisenbeschlagene Tor
emporzog, waren sofort andere heran, und kurz darauf war der Weg nach Aishar frei. Die Körper der Toten wurden rasch aus dem Weg gezerrt, und dann galoppierte Symans massierte Kavallerie in die Stadt, wobei sie einige ihrer Kameraden, die das Blutbad überlebt hatten, über den Haufen ritten. Die Masse der Reiter preschte die breite Allee entlang, ohne daß die Verteidiger ihnen Widerstand leisteten. Als sie die erste Barrikade hinter dem Tor erreichten, befanden sich nur noch Tote und Sterbende hinter ihr. Mikals Truppe hatte sie auf ihrem Weg zum Palast bereits überrannt, als Tytir, der Kommandeur der Kavallerie, herangaloppierte. Mikal deutete auf die beiden weiteren Barrikaden, und Tytir teilte seine Truppe in zwei Hälften, von denen die eine das erste Hindernis angreifen sollte, während die andere sofort zur zweiten Barrikade vordrang, bevor die Aisharianer dort ihre letzte Verteidigung vorbereiten konnten. Das Donnern der Hufe ging unter im Kampfeslärm und dem Prasseln der Flammen, die die sterbende Stadt verzehrten. Männer und Pferde stürmten über Steine und Speere, Verteidiger fielen unter ihren Schwertern und Pferden, Reiter stürzten zu Boden, wenn ihre Pferde an der Barriere strauchelten. Die zweite Welle brach über das Durcheinander herein, bevor sich die Situation klären konnte, und Angreifer und Verteidiger wurden in das Gewühl gerissen. Ein jetzt ziemlich erschöpfter Mikal warf sich in die Schlacht um die letzte Barrikade, trieb sein Pferd über den Haufen von Steintrümmern, Karren und Möbelstücken und trieb die letzten Verteidiger auseinander. Als seine und Tytirs Truppen sich regruppierten, blickte Mikal die breite Allee hinauf. Auf ihrer ganzen Länge war sie mit Leichen übersät, und Tote lagen in Haufen bei den überrannten Barrikaden. Ein Stück entfernt hing eine dichte Rauchwolke über der Straße, durch die man va ge die Masse der Soldaten erkannte, die jetzt in die Stadt eindrangen. Tytir, Mikal und die anderen Hauptleute trabten vorwärts und erreichten die T-Kreuzung der beiden Hauptstraßen der Stadt. Der Palast lag jetzt vor ihnen. Er wirkte breit und ge drungen und ruhte auf einem Fundament von rundumführenden Stufen, die flach und ziemlich breit waren, Stufen von der Art, die man nicht im regelmäßigen Schritt hinaufgehen konnte. Zwei der drei Stockwerke des Gebäudes waren von einer breiten Kolonnade umgeben, deren dicke Säulen eine umlaufende Terrasse in Höhe des dritten Stockwerks trugen. Auf der obersten Stufe der Treppe stand eine lange Reihe von Soldaten, die entschlossen ihren Angriff erwarteten. Der Kommandeur der Kavallerie war darauf bedacht, den Angr iff so bald wie möglich zu beginnen und zu Ende zu bringen, doch Mikal hielt ihn zurück. „Sie wissen, daß sie erledigt sind. Vielleicht werden sie sich jetzt ergeben. “ Tytir gab seinen Männern ein Zeichen mit seiner Streitaxt, als Mikal auf den Vorhof des Palastes ritt, sein Schwert in die Scheide steckte und die rechte Hand hob. „Männer von Aishar!“ rief er. „Ich fordere euch zur ehrenvollen Obergabe auf. Eure Mauer ist durchbrochen, das Tor geöffnet. Eure Stadt ist gefallen. Lord Syman ist ein Krieger, der einem tapferen Gegner Gnade zeigt.“ Ein großer Mann, der zwischen zwei Säulen stand, rief zurück: „Und was ist mit dem Hund Jizar Korm, du Lakai? Was weiß der von Gnade?“ Einer der Soldaten auf den Stufen riß seinen Speer empor, doch der Söldner zo g sich zurück, bevor er werfen konnte. „Soviel für dein friedliches Gespräch“, grunzte Tytir zufrieden, als Mikal zu den anderen zurückkehrte. Mikal nickte und blickte zu dem Mann zurück, der ihm geantwortet hatte. Er war sicher, daß es Kaizar Korm war. Tytir stand in seinen Steigbügeln auf und musterte die Aufstellung seiner Reiter. Dann ließ er sich wieder in den Sattel fallen, stieß seinem Pferd die Sporen in die Flanken und galoppierte vorwärts. Ein Regen von Speeren und Pfeilen ging auf die Söldner nieder, als sie über den Vorhof preschten, doch für eine zweite Salve blieb keine Zeit, da die Söldner bereits die Stufen heraufkamen. Mikals Arm schmerzte, als er sein Schwert auf und nieder schwang und die erbärmlich kleine Zahl der Verteidiger unter seinen Schlägen dahinschmolz. Mit einem raschen Stoß na gelte er einen der Männer an eine Säule und überzeugte sich dann, daß seine ganze Truppe den Palast
erreicht hatte. Der grünäugige Krieger lenkte sein Pferd durch das Portal und das Vestibül in die Haupthalle des Herzogspalastes. An ihrem anderen Ende befand sich eine breite Treppe aus weißem Marmor, die sich auf einem quadratischen Absatz in zwei schmalere, nach links und rechts führende Aufgänge teilte. Auf dem Treppenabsatz stand eine letzte Gruppe von Aisharianern. An ihren Rüstungen erkannte Mikal sie als Adelige und Offiziere, und unter ihnen befand sich auch der Mann, den er für Kaizar Korm hielt. Der Söldner sprach diesen Mann an. „Lord Kaizar Korm, es ist vorbei. Rette deine Stadt und dein Vo lk und ergib dich.“ Der hochgewachsene Mann in der himmelblauen Brünne trat vor und nahm seinen mit einem weißen Federbusch verzierten Helm ab. Er warf sein Schwert vor die Hufe von Mikals Pferd und sagte: „Wer nimmt mein Schwert?“ Jetzt nahm auch Mikal seinen Helm ab und schüttelte sein schweißverklebtes Haar aus. „Lord Mikal von der Armee Lord Symans.“ Andere Männer drängten sich jetzt in die große Halle, und Mikal rief: „Die Stadt Aishar ist gefallen! Bringt Pferde her, um diese Lords zu Lord Syman zu eskortieren. “ Erschöpft von einer langen und blutigen Nacht und einer noch viel längeren Be lagerung stülpte er seinen Helm wieder auf den Kopf und verließ die große Halle. Er ritt über den Vorhof und die breite Allee entlang, die zum Haupttor führte und auf der sich jetzt siegestrunkene Soldaten drängten. Verwundete saßen an den Straßenrändern, an die Haus wände oder aneinander gelehnt, während ihre Kameraden die noch warmen Leichen der Gefallenen ausplünderten. Nur ein paar von ihnen blickten auf, als ihr Hauptmann langsam an ihnen vorbeiritt, und zwei oder drei hielten ihm triumphierend ihre Beute entgegen. Der grünäugige Krieger zügelte sein Pferd bei einer kleinen Gruppe von Soldaten, die sich ihre leichten Wunden mit Stoffstreifen verbanden, die sie von der Kleidung der Toten gerissen hatten. „Hat einer von euch Lord Zoltan gesehen?“ fragte er. Sie schüttelten die Köpfe, und Mikal ritt weiter, überquerte die Kreuzung, von der eine Straße in das östliche Viertel führte, in dem kaum gekämpft worden war. Aus diesem Grund waren Symans Männer dort zuerst eingedrungen, um zu plündern. Ein großer Teil der Häuser und Lä den war völlig unbeschädigt geblieben, die Straßen waren überfüllt von Flüchtlingen aus anderen Stadtvierteln und mit aisharianischen Soldaten, die eilig ihre verräterische Rüstung loszuwerden versuchten. Ein Schrei aus dem oberen Stockwerk des Hauses ließ Mikal aufblicken, und er sah eine junge Frau, die sich am Fensterkreuz festklammerte. Plötzlich packte sie eine Hand um die Taille, und sie verschwand, und ihre Schreie wur den von schallendem, bellendem Lachen übertönt. Ein vorbeikommender Soldat erkannte Mikal und warf ihm einen Weinschlauch zu. Mikal nahm seinen Helm ab, leerte den Schlauch und ließ den dickflüssigen Wein über Wangen und Kinn auf seine Brust rinnen. Er warf den leeren Schlauch zur Seite und ritt weiter, zwischen siegestrunkenen, plündernden Soldaten und flüchtenden Einwohnern hindurch. Eine Frau lief mit zerrissenem Mieder die Gasse entlang, ein Soldat warf goldene Teller aus einem Fenster, eine Bäckerei war in Brand ge steckt worden: die anerkannten Vorrechte einer siegreichen Armee. Schließlich entdeckte Mikal die vertraute, stämmige Gestalt eines Mannes, der auf ihn zuritt. Zoltan trank aus einem prallen Weinschlauch, und zwei weitere Schläuche hingen über seine Schultern. Und über dem Sattel vor ihm lag eine beachtenswert gut gebaute Frau, die nur ein wenig strampelte, um der Form genüge zu tun. Als Zoltan seinen Kopf senkte, nachdem er einen tiefen Schluck aus dem Weinschlauch genommen hatte, und seinen Freund erkannte, grinste er breit. „Mikal! Haha! Gute Jagd, was?“ Er reichte Mikal den Weinschlauch und schlug dem Mädchen auf den Hintern. „Du schuldest mir einen Sack Gold. Wo hast du gesteckt?“ Mikal warf den leeren Weinschlauch zu Boden. Der untersetzte Krieger strich seinen Bart. „Ich habe mich in diesen verdammten Gassen in der Nähe der Mauerbresche verirrt. Vor einem Brunnen sind wir auf einen Haufen Aisharianer
gestoßen, und als wir mit denen fertig waren und ich die große Allee erreichte, warst du bereits vor dem Palast. Hat keinen Sinn, im Kielwasser eines anderen Mannes zu kämpfen, also ritt ich gleich weiter in dieses Viertel, um etwas aufzuräumen. Sie haben sich alle ergeben.“ Mikal blickte auf das Mädche n, das über dem Sattel seines Freundes lag. „Ja, das sehe ich.“ „Was? Oh! Sie ist mein Anteil der Beute. Syman hat bestimmt nichts dagegen, daß ich sie vor den Schrecken einer gefallenen Stadt schütze. “ Sie lachten beide und öffneten einen neuen Weinschlauch. „Komm, Zoltan, wir müssen Syman die Stadt Aishar formell übergeben.“ Sie lenkten ihre Pferde durch das Chaos auf den Straßen zum Haupttor. Als sie sich ihm näherten, ritt ein Soldat auf sie zu. „Lords, die Gefangenen werden jetzt hinausgebracht. Wollt ihr sie eskortieren?“ Kaizar Korm und seine Adeligen waren durch den noch immer über der Allee hängenden Rauch bereits zu sehen, und Mikal sagte dem Soldaten, daß sie es tun würden. Kaizar Korm blickte ihn kühl an. „Lord Mikal, bist du stolz auf die Arbeit dieser Nacht?“ „Eine gefallene Stadt muß sich den Siegern ausliefern. Du hättest das verhindern können. “ Mikal war müde und nicht in der Stimmung, sich Vorhaltungen anzuhören. „Warum hast du dich bis zur letzten Minute gewehrt?“ Kaizar seufzte. „Mein Bruder Jizar ist ein Teufel. Ich würde noch immer kämpfen, wenn es möglich wäre. Sage mir, Lord Mikal, wie konntest du auf seiner Seite stehen? Du scheinst ein viel besserer Mann zu sein.“ „Ich habe einen Kontrakt mit Lord Syman, und der ist von deinem Bruder für diese Aufgabe angeworben worden.“ „So einfach ist das? Gibt es keine Fragen von Recht und Unrecht?“ Mikal schluckte. „Nein. “ Sie hatten das Tor hinter sich gelassen und ritten nun schweigend zu dem Hügel, auf dem Syman und Jizar warteten. Die Sonne war bereits aufgegangen, als Syman zu seinem Zelt zurückkehrte, und die Stadt Aishar spuckte noch immer Rauch zum heller werdenden Himmel empor. Als der Kriegsherr von seinem Pferd stieg, trat eine Gestalt in Schwarz, das Gesicht im Schatten einer weiten Kapuze verborgen, aus dem Schatten des Vorzelts. „Lord Syman, es ist getan und vorbei. Wann wirst du ihn mir ausliefern?“ Syman gab sich nicht die geringste Mühe, seine Verärgerung zu verbergen. „Nicht jetzt. Ich bin müde. Die Belagerung hat lange gedauert - und viel gekostet. Deine Beute wird dir heute abend übergeben werden, nach dem Bankett. Ich will ihn noch ein letztes Mal feiern lassen; er war ein guter Kommandeur.“ „Mein Herr wird wenig Verständnis für dieses Hinauszögern haben. Und er wäre
sehr ungehalten, wenn dieser Mann fliehen sollte“, zischte die Gestalt in Schwarz. „Sag dem Kai... !“ schrie Syman, riß sich dann aber zusammen. Er brachte sein Gesicht dicht vor das des anderen und sagte leise, durch zusammengepreßte Zähne: „Sage deinem Herrn, daß er seine Beute haben soll. Er wird nicht fliehen. Ihr werdet ihn heute abend bekommen. Und jetzt verschwinde! Ich habe deinem Herrn ein Versprechen gegeben, und ich werde es halten. “ Syman wandte sich brüsk ab, trat in sein Zelt und ließ den anderen im ersten Licht des anbrechenden Tages stehen. „Ja, Lord Syman“, sagte er mit eisiger Würde. Dann ritt er unbemerkt aus dem Lager.
II Die Flucht über die Ebene Es war nach Mittag, als Mikal aufwachte, und er fühlte sich noch immer müde vom Kampf der vorangegangenen Nacht. Er nahm eine Frucht und biß hinein, während sein Blick durch das Zelt wanderte. >Das meiste muß zurückgelassen werdenDer reist am schnellsten, der leicht reist. < Er ging im Zelt auf und ab, nahm mehrere Gegenstände auf und legte sie wieder ab: einen Becher aus Larc, ein Schwert, das er einem toten Soldaten in Kyryl abgenommen hatte, seinen besten Schild. Er zog sich rasch und lautlos an, schnallte die volle Rüstung über und nahm seine besten Waffen. Dann, als er bereits dabei war, sein Zelt zu verlassen, erinnerte er sich an etwas, das ebenfalls mitgenommen werden mußte. Er kniete sich vor die Holzkiste am Fußende seines Bettes, nahm einige kleine Gegenstände heraus, die in einer Ecke der Kiste versteckt waren, und schob sie tief in seine Satteltasche. Mikals Augen verengten sich, als er aus dem Dämmerlicht des Zelts in den grellen Sonnenschein des frühen Nachmittags trat. Das Lager war ruhig, nur ein paar Soldaten waren zwischen den Zelten zu sehen, meistens Männer, die während der Belagerung verwundet worden waren und nicht am Kampf der letzten Nacht teilgenommen hatten. Nur noch ein paar nebelhaft dünne Rauchwolken standen über Aishar. Mikal ging zu seinem Pferd und befestigte seine Waffen am Sattel: Schwert, Dolche und zwei kurze Lanzen, und versuchte, gelassen und ruhig zu wirken, obwohl sein Herz erregt schlug. Plötzlich stand sein Diener Willom hinter ihm. „Lord, ich hatte nicht erwartet, daß du so früh aufstehen würdest. Ich dachte, du würdest sicher bis zum Bankett heute abend schlafen.“ „Nein, nein. Ich konnte nicht mehr schlafen“, stammelte Mikal. „Ich habe beschlossen, auf die Jagd zu gehen. “ Er hoffte, daß die Ausrede glaubhaft klang. „Ich bin sofort fertig“, sagte Willom. „Nein, das ist nicht nötig. Ich werde mit Zoltan reiten. Ruh dich heute aus, aber sorge dafür, daß meine Robe bereit ist, wenn ich zurückkomme.“ Willom versprach es, und Mikal führte sein Pferd zu Zoltans Zelt, erleichtert, daß er die erste Hürde genommen hatte. Er schritt durch das schlafende Lager, winkte den wenigen Männern seiner Truppe zu, denen er begegnete, und sprach ein paar anerkennende Worte über ihr Verhalten während des Kampfes, bis er schließlich Zoltans Zelt erreichte. Er seufzte, als ob das Durchqueren des Lagers an diesem Tag genauso viel Mut erfordert hätte, wie als erster auf der Mauer einer feindlichen Stadt zu stehen. Zoltans Diener schlief, wie Willom, im Vorzelt und war überrascht, als er Mikal sah. „Mein Herr schläft noch“, protestierte er. „Dann wecke ihn“, sagte Mikal mit so viel Prahlerei, wie er aufbringen konnte. „Dies ist kein Tag zum Schlafen. Wir müssen für das Bankett noch ein paar Eber erlegen. “ Er trat an dem Diener vorbei in Zoltans Zelt. Der rotbärtige Krieger lag zufrieden schnarchend auf seinem Bett, einen Arm um das vollbusige Mädchen geschlungen, das er auf seinem Sattel aus Aishar mitgebracht hatte. Mikal trat auf Zehenspitzen zu Zoltans Schwert, zog es aus der Scheide und schlug Zoltan mit der flachen Klinge auf den Hintern. „Bei allen Geistern!“ Zoltan fuhr hoch. Das Mädchen schrie auf, als sie einen Krieger in voller Rüstung über sich gebeugt stehen sah. „Raus, junge Dame!“ rief Mikal und riß die Decken zurück. Das Mädchen schrie noch einmal und raffte ihre Kleider um sich, als sie aus dem Zelt floh. „Mikal“, protestierte Zoltan und rieb sich den Hintern, „sie war noch fast Jungfrau. Was ist los?“ Er griff nach einem Weinschlauch, als er sich aufrichtete. „Ja, so jungfräulich wie dein Jagdhund, der alle paar Monate Junge wirft. Aber komm jetzt, wir
müssen selbst jagen ge hen.“ „Jagen? Heute? Ich will bis zum Bankett schlafen. “ Zoltan ließ seinen schweren Körper auf das Bett zurückfallen. Sein Freund beugte sich über ihn und blickte ihm tief in die sich schließenden Augen. „Zoltan, ich bin in Gefahr und muß verschwinden. Und ich will, daß du mit mir kommst. “ Seine Stimme war zu einem Flüstern erstorben. „Was für eine Gefahr?“ „Das kann ich dir nicht sagen. Vertraue mir als dem Mann, der in Kyryl dein Leben gerettet hat, und komme mit mir.“ Zoltan setzte sich wieder auf und nickte. Dann stand er auf und suchte ein paar Sachen zusammen. „Den Rest hole ich später.“ „Wir kommen nicht zurück, Zoltan. Nimm, was du brauchst, und deine besten Waffen. Wir gehen für immer.“ „Moment mal. Ist es Syman? Vielleicht kann ich bei ihm ein gutes Wort...“ „Nein. Bitte, vertraue mir.“ Zoltan bewegte sich so schnell, wie es sein Leibesumfang erlaubte, und überlegte noch einmal, was er mitnehmen wollte. Er murmelte dabei vor sich hin, noch immer verärgert darüber, so rüde aus dem Schlaf gerissen worden zu sein, war jedoch bald fertig. Als sie aus dem Zelt gingen und aufsaßen, beugte sich Mikal zu seinem Freund und sagte: „Benimm dich natürlich, oder ich bin verloren. “ Zoltan lachte und riß Witze, als er eine Weinflasche leerte. Sie ritten durch das Lager mit seinen vielen Zelten verschie dener Farben, vor denen bunte Banner wehten, auf das Südtor zu. Inzwischen waren mehr Soldaten wach, aber nur wenige nahmen von den beiden Reitern Notiz, und niemand würde es gewagt haben, zwei der besten Truppenführer Symans irgend welche Fragen zu stellen. Schließlich erreichten sie das Tor, wo ein einsamer Posten mit dem Fuß nach Steinen stieß, um gegen seine Langeweile anzukämpfen. Als er die beiden Reiter kommen sah, hob er die Hand. „Guten Tag, Lords. Ihr kennt die Befehle. Wohin reiten die Lords?“ „Wir wollen Eber jagen“, antwortete Mikal. „Falls jemand nach uns fragen sollte: Wir sind rechtzeitig zum Bankett zurück.“ Der Posten akzeptierte diese Erklärung, ohne weitere Fragen zu stellen, und trat zur Seite. Wieder atmete Mikal erleichtert auf. Dann stieß er Zoltan in die Seite. „Wetten, daß ich als erster auf dem Hügel dort bin?“ Damit gab er seinem Pferd die Sporen. Zoltan spornte sein Pferd ebenfalls an und galoppierte Mikal nach. Sie preschten über das trockene Gras des späten Winters, Gras, das zwischen dem letzten Herbstregen und dem ersten Regen des Frühjahrs gelb geworden war. Mikal konnte seinen Vorsprung halten, doch Zoltan blieb ihm dicht auf den Fersen, bis sie die Kuppe des Hügels erreichten, hinter dem sie für das Lager und die Armee Symans außer Sicht sein würden. Mikal zügelte sein Pferd, als sie auf der Kuppe waren, und Zoltan hielt ebenfalls. „Was soll das?“ fragte er. „Entschuldige, Zoltan, aber es war die beste Möglichkeit, die mir einfiel, um rasch aus dem Lager zu kommen, ohne den Verdacht dieses Postens zu erwecken. Laß uns jetzt langsam über die Kuppe reiten, und sobald wir auf der anderen Seite außer Sicht sind, galoppieren wir wieder.“ „Darf ich vielleicht fragen, wohin?“ Zoltan reichte seinem grünäugigen Freund die Flasche. „Nach Süden, bis die Sonne tiefer steht, und dann nach Osten, immer weiter nach Osten. Man wird erwarten, daß ich südwärts reite, also dürfen wir uns nicht zu lange in diese Richtung halten. Und jetzt keine Fragen mehr. Wir müssen weiter. “ Sie ritten in leichtem Trab über die Kuppe des Hügels, und sowie sie auf seiner anderen Seite waren, spornten sie ihre Pferde wieder zum vollen Galopp. Symans Geschenk an seine siegreiche Armee, das traditionelle Bankett, fand in einem riesigen Zelt statt, das in der Mitte des Lagers für diesen Zweck aufgestellt worden war. Während die
Soldaten niederer Ränge und die große Zahl von Händlern und anderem Gefolge in kleinen Gruppen unter freiem Himmel feierten, saßen Symans Truppenführer und die Helden der Belagerung von Aishar in dem großen, roten Pavillon-Zelt. Fackeln und Lampen brannten an der runden Wand des Zelts. Zwei fast endlos lange Tafeln nahmen den ganzen Durchmesser der luftigen Struktur ein, quer zu ihnen stand eine weitere und ein Stück entfernt ein kleinerer Tisch für Lord Syman. Diener und Serviererinnen eilten hin und her, schleppten immer neue Krüge mit Wein und Bier und riesige Platten mit frisch erlegtem, gebratenem Wild. Große Schalen mit Früchten verliehen den Tafeln einen Hauch von Farbe und Fröhlichkeit. Über einer offenen Feuergrube brieten mehrere Schweine, die langsam an Spießen gedreht wurden. Frauen aus der besiegten Stadt waren zum Dienst als Serviererinnen gezwungen worden, und die feiernden Männer schienen sich nicht ganz klar darüber zu sein, zu welchem Zweck diese Frauen herbeordert worden waren. Der Lärm der vielen, lauten Gespräche und der dröhnenden Kampflieder stieg zum nächtlichen Himmel empor und drang fast bis zu den düsteren Ruinen von Aishar. Viele weniger standhafte Krieger waren bereits betrunken und auf die Tische gesunken oder lagen unter ihnen. Der neue Herzog von Aishar und Lord Syman waren in einer langen Reihe von Trinksprüchen gefeiert worden, genau wie viele der Truppenführer und hervorragenden Soldaten. Eine Gruppe von ihnen brachte jetzt Trinksprüche auf ihre Pferde aus, und die Gespräche wechselten rasch von Reittieren zu Bettgenossinnen. Lord Syman stellte sich auf seinen Stuhl und hob den Weinkrug hoch über den Kopf, um sich für einen neuen Trinkspruch zu bedanken, und verschüttete dabei einen Teil des dunkelroten Weines über sich und den Männern, die um ihn waren. Seine Augen waren fast so rot wie der Wein in seinem Krug, und er bemerkte nicht, daß einer seiner Diener zu ihm trat. Der Mann richtete sich auf die Zehenspitzen und flüsterte ihm etwas zu. Syman stieg vom Stuhl, stützte sich auf den Tisch und ging taumelnd zu einem der kleinen Zelte hinter dem Festpavillon. Dabei mußte er über einen Soldaten steigen, der betrunken am Boden lag. Als er das kleine Zelt betrat, sah er den Mann mit der schwarzen Kapuze dort im Schatten stehen und auf ihn warten. „Willst du einen Schluck Wein?“ fragte Syman, plötzlich wie der nüchtern. Der Mann in Schwarz war noch frostiger als sonst. „Lord Syman, mein Herr erwartet, daß ihm sein Gefangener jetzt übergeben wird. Ich würde seinen Zorn fürchten, vor allem, falls es diesem Mann gelingen sollte zu fliehen.“ Syman wurde wütend. „Ich habe dir ge sagt, daß du ihn heute nacht haben sollst. Bei den Geistern! Ich werde deinen Herrn davon in Kenntnis setzen, daß du meinen Unwillen erregt hast.“ „Wie du willst, Lord Syman. Aber mein Herr will diesen Mann, und ich werde ihn heute nacht mitnehmen.“ Syman wunderte sich, wie unangenehm ihm diese Angelegenheit plötzlich erschien, doch er konnte sie nun nicht weiter vor sich herschieben. Er sah sich nach Wachen um, schickte ein paar von ihnen in das Festzelt und folgte ihnen, seinerseits ge folgt von dem Mann in Schwarz. Er stieg wieder auf seinen Stuhl. Der Rauch, der Lärm und der Wein, den er getrunken hatte, machten es ihm fast unmöglich, sich zu konzentrieren. Er konnte nur die wenigsten der feiernden Männer erkennen. „Wo ist Lord Mikal?“ rief er, doch seine Stimme ging in dem Lärm unter. Er wandte sich um und warf seinen Krug an den riesigen Gong, der hinter ihm stand. Dann schlug er mit seinem Schwertknauf dagegen, bis die Stimmen erstarben. „Wo ist Lord Mikal?“ Niemand antwortete. „Ist er hier? Hat ihn jemand gesehen?“ Niemand meldete sich. Syman wurde wütend. „Holt seinen Diener! Seht unter den Tischen nach! Vielleicht ist er betrunken.“ Ein leises Gemurmel klang auf, als alle sich fragten, warum Mikal gesucht wurde und warum er nicht bei der Siegesfeier war. Schließlich wurde Willom ins Zelt gebracht. „Wo ist dein Herr?“ „Ich weiß nicht, Lord. “ Willom zitterte am ganzen Körper.
„Hast du ihn heute gesehen?“ Syman trat auf den Diener zu, der jetzt auf die Knie fiel. „Ja, Lord, ja. Er ist mit Lord Zoltan auf die Jagd geritten. Mit Lord Zoltan.“ Syman blickte umher und sah, daß der stämmige Rotbart ebenfalls nicht da war. Wütend sprang Syman auf den mittleren Tisch. „Hauptmann Frimir! Suche alle Männer, die heute Wache gehabt haben, und bringe sie her!“ Wieder erhob sich Gemurmel, als die Wachen gesucht und ins Zelt gebracht wurden. Bald standen etwa ein Dutzend Männer vor Syman, der wütend auf dem Tisch hin und her ging und in seiner Frustration die Krüge fortstieß, die ihm im Weg standen. Ein paar der Wachen waren ziemlich betrunken und mußten von ihren Kameraden aufrecht gehalten werden. „Hat einer von euch die Lords Mikal und Zoltan das Lager verlassen sehen?“ Einer der Posten vom Südtor torkelte vor, als die Namen in sein weinbenebeltes Gehirn drange n. „Ich habe sie gesehen, Lord.“ „Wann und wo?“ „Um Mittag oder kurz danach. Sie sind aus dem Südtor geritten, um Eber zu jagen, wie sie sagten.“ Syman zupfte an seinem steifen Bart, in dem rote Weintropfen glänzten. „Nach Süden! Natürlich! Goltho, wach auf!“ Doch Goltho lag quer über dem Tisch und konnte nicht geweckt werden. „Verdammt! Mazjhar! Viktor! Nehmt eure besten Männer und reitet nach Süden. Ich will die beiden zurückhaben - lebend! Tausend Goldstücke für Mikal. Jeder, der Lust hat, kann mitreiten. “ Mehrere Soldaten taumelten hoch und stürmten aus dem Zelt. Einige von ihnen schafften es jedoch nicht, da ihre Trunkenheit stärker war als ihre Gier. Syman lief zum anderen Ende des Tisches und sprang zu Bo den. Der Mann in Schwarz trat auf ihn zu und sagte mit einer von Sarkasmus triefenden Stimme: „Also ist er geflohen. Mein Herr wird sehr ungehalten sein.“ „Sage deinem Herrn, daß ich Mikal bis morgen abend gefangen habe. Wir werden ihn erwischen, bevor er die südliche Grenze erreicht.“ „Das hoffe ich, Lord Syman. Und ich hoffe, daß du dich bei seiner Verfolgung geschickter anstellst als bei seiner Gefangennahme. Gute Nacht, Lord. “ Er trat lautlos aus dem Zelt, und „Syman ließ sich auf einen Stuhl fallen. Er griff nach einer Flasche Wein, als von draußen das Donnern von Hufen hereindröhnte. Es war Morgen. Die Sonne stand schon ein Stück über dem Horizont. Syman saß unruhig in seinem Zelt und lauschte, in der Hoffnung, die zurückkehrenden Reiter zu hören. Statt dessen hörte er einen seiner Diener hereinkommen. Der Diener trat auf [ihn zu und flüsterte ihm eine Botschaft ins Ohr. „Was?“ rief Syman. „Bringt ihn herein.“ Kaizar Korm, jetzt ohne seine blaue Rüstung und mit auf den Rücken gefesselten Händen, wurde vor seinen Besieger ge bracht. Zwei Wachen blieben diskret beim Eingang des Zeltes stehen. Syman spielte mit seinem Dolch, und plötzlich verzog sich sein Gesicht zu einem ironischen Grinsen. „Ich habe dich herbringen lassen, um dir zu sagen, daß dein Bruder Jizar Korm in der vergangenen Nacht im Schlaf ermordet wurde, anscheinend von einem deiner... einem seiner Adeligen. “ Der besiegte Herzog riß die Augen auf, konnte jedoch nichts sagen oder auch nur an etwas denken, das er sagen sollte. Syman fuhr fort: „Ehrlich gesagt bringt mich das ein wenig in Verlegenheit, doch um mir den Rücken freizuhalten, wenn ich von hier abziehe, und entsprechend den Erbgesetzen bist du jetzt der rechtmä ßige Herzog von Aishar.“ Kaizar glaubte seinen Ohren nicht trauen zu können, doch der Söldner fuhr fort: „Meine Pflichten, die der Vertrag mit deinem Bruder mir auferlegte, endeten mit der Erstürmung von Aishar, sein Tod ist also nicht meine Angelegenheit. Natürlich hat er einige seiner Verpflichtungen mir gegenüber nicht erfüllt, und da du seinen Titel geerbt hast, erbst du auch seine Schulden. Die Männer Aishars, die sich mir anschließen wollen, sind bereits unter Kontrakt, und deine Stadt schuldet mir eine Menge Nahrungsmittel, Pferdefutter und andere Versorgungs güter.“
Endlich fand Kaizar die Sprache wieder. „Ich... ich kann es nicht glauben. Und ich bin sicher, daß deine Söldner kaum etwas von Wert in der Stadt zurückgelassen haben. “ „Hmmm. Ja. “ Syman stand auf und begann hin und her zu gehen. „Wir werden uns eben nehmen, was wir brauchen. Natürlich wirst du im Interesse meiner Sicherheit mein Gast bleiben, bis ich bereit bin, das Lager abzubrechen.“ „Das ist unglaublich. Du hast einen ganzen Feldzug geführt, Menschenleben geopfert, eine Stadt zerstört - und alles für nichts!“ Kalzars Stimme zitterte vor Empörung. Syman fuhr herum und blickte ihn an. „Für nichts? Für nichts? Kaum, mein lieber Herzog. Was geht es mich an, wer ir gendwo herrscht, wer das gewinnt oder verliert, solange ich genügend Beute habe, um meine Männer glücklich zu machen, und genügend Schlachten, um sie aktiv zu halten und nicht einrosten zu lassen? Jede Schlacht ist nur ein Vorspiel zur nächsten, ein Mittel, um meine Armee zusammenzuhalten und zu schärfen. Was kümmert es mich, ob du oder dein Bruder in Aishar herrschen? Weißt du, wieviel es ihn gekostet hat, dich abzusetzen, und wieviel mehr es ihn gekostet haben würde, wenn die Belagerung noch länger gedauert hätte? Nein, es war nicht für nichts, Kaizar Korm. Es hat sich bereits in dem Moment ge lohnt, als dein Bruder seinen Vertrag mit mir abschloß.“ Syman wandte ihm den Rücken zu und gab den Wachen einen Wink, den Gefangenen abzuführen, bevor der Herzog eine Gelegenheit gefunden hatte, ihm zu antworten. Als er allein war, setzte er sich wieder auf seinen Stuhl und wartete auf die Rückkehr der Leute, die den Mann einfangen sollten, den der Mann in Schwarz als Beute beanspruchte. Der Tag wurde zur Nacht, als die beiden Söldner immer weiter von Aishar fortritten. Sie legten nur kurze Pausen ein, um die Pferde ausruhen zu lassen, und setzten dann ihren Weg fort, bis zum Sonnenuntergang nach Süden und dann nach Osten, so wie Mikal es geplant hatte. Es waren keine Verfolger zu erblicken, als sie nach Osten abbogen, und Mikal fühlte sich sicher, als das Dunkel der Nacht und hohes, im Wind wo gendes Gras sie unsichtbar machten. Erst als sie am Abend des zweiten Tages nach dem Verlassen des Lagers bei Aishar eine längere Rast einlegten, fragte Zpltan seinen Freund noch einmal, warum er geflohen sei. „Es kann sich doch nur um eine Meinungsverschiedenheit zwischen dir und Syman gehandelt haben, und so etwas läßt sich wieder einrenken. Ging es um Beute oder um den neuen Kontrakt?“ „Den neuen Kontrakt?“ fragte Mikal. „Ich habe ihn noch nicht gesehen. Ich wußte nicht einmal, daß Syman ihn bereits aufgesetzt hat. Wie sind die Bedingungen?“ „Wie üblich. Er will mich für den normalen Sold verpflichten, dazu einen Anteil an der Beute und die Gestellung von zweihundert Männern, mit einem Bonus für zusätzliche Rekruten. Ich sage dir, Syman wird allmählich geizig. Er hat mit mir um jedes Goldstück gefeilscht. Und er wollte meine Quota auf dreihundert Mann erhöhen. Er weiß, daß ich mindestens vierhundert stellen kann, wenn nicht mehr, und wie sonst können wir einen Bonus verdienen, wenn nicht durch zusätzliche Re kruten?“ Die Nachricht von Symans wachsender Gier war für Mikal sehr interessant, doch sagte sie ihm nichts über das, was er wirklich wissen wollte. „Wie lange ist die Vertragsdauer? Und wer ist der Gegner?“ „Oh“, sagte der Rotbart und spielte mit einem Grashalm. „Das war es, was mir gar nicht gefiel. Er verlangte, daß ich mich für den ganzen nächsten Feldzug verpflichte, und weigerte sich, dessen Dauer und den Feind zu nennen. Das ist der Grund, warum ich noch nicht unterschrieben habe. Ich hätte natürlich unterschrieben; ich wollte es nach Aishar tun. Aber ich wollte nicht zu eifrig erscheinen.“ Es paßte alles ins Bild, wie Mikal es erwartet hatte. Er versank wieder in das Schweigen, das er bewahrt hatte, seit sie das La ger verlassen hatten. Zoltan glaubte jetzt zu verstehen, warum Mikal fortgegangen war. „War es der Kontrakt? Daß du ihn nicht gesehen hast? Ich bin sicher, daß es nur ein Versehen war.“ „Nein, es war kein Versehen. Dazu ist Syman nicht der Mann. “ Zoltan mußte zugeben, daß er recht hatte, und Mikal fuhr fort: „Nein. Das war nicht der Grund dafür, daß ich fortgehen mußte.
“ Er beließ es dabei und gab Zoltan keine Gelegenheit, weiter von dem Thema zu sprechen. „Aber wohin gehen wir, Mikal? Wir sind doch bestimmt weit genug von Aishar entfernt, um Symans Verfolger nicht mehr fürchten zu müssen. Warum machen wir nicht kehrt und reiten nach Westen? Dort gibt es eine Menge Armeen, denen wir uns anschließen können. Xavir, der Hegemon von Braza, sucht immer Männer. Wir könnten zu ihm gehen.“ Mikal sagte leise, während er die Decken fester um sich wickelte: „Nein, wir suchen keine andere Armee. Wir müssen noch eine Weile nach Osten reiten, da ich dort etwas zu erledigen habe. “ Er gab keinerlei Einzelheiten preis, sondern schlief sofort ein. „Es war unmöglich, sie im Dunkel zu finden. Die Spuren, die wir sahen, führten nach Süden, aber wir haben sie nach einer Weile verloren. Sollen wir uns neue Pferde nehmen und wieder hinausreiten?“ Syman hörte die Worte wie aus weiter Ferne. Er atmete ein paarmal tief durch. „Nein, nein“, sagte er und machte eine abwehrende Geste mit der Hand. „Laßt das Lager abbrechen. Stellt Streifen auf, die die südliche Grenze beobachten. Sie sollen genügend Gold mitnehmen, um Spione und Informanten bezahlen zu können. Ich will alles wissen: Gerüchte, Klatsch... alles. Die Streifen können später im Norden wieder zu uns stoßen.“ Innerhalb eines Tages war die riesige Zeltstadt vor den noch immer rauchenden Ruinen Aishars abgebrochen, und die Armee zog nordwärts. Mit ihr zogen viele Menschen, die in Aishar gelebt hatten, die Männer unter Todesdrohungen in der Nacht, als die Stadt gefallen war, erpreßt, manche der Frauen als Gefangene, andere freiwillig. Syman ritt bei der Vorhut, und er fühlte etwas, das ihm seit seinem allerersten Kampf unbekannt gewesen war: Er hatte Angst. Der Herr des Mannes in Schwarz würde über Symans Sorglosigkeit mehr als nur ungehalten sein, und zu diesem Herrn führte Syman jetzt seine Armee, bereits unter Kontrakt für einen neuen Krieg.
III Der Zwischenfall in der Schenke Es war am Spätnachmittag des dritten Tages, nachdem sie Aishar verlassen hatten. Oberall um sie herum erstreckte sich eine flache, grasbewachsene Ebene, nur hier und da von kleinen Baumgruppen unterbrochen, bis zum Horizont. Das Gras kam ihnen eher wie Wasser und nicht wie Pflanzenwuchs vor, da jeder Windstoß Wellen über seine Oberfläche sandte. Ihre Pferde hinterließen, wie Schiffe, Kielwasserspuren hinter sich, die jedoch bald wieder in dem üppigen Grün verschwanden. Die unzerstörte Natur wirkte wie Balsam auf sie. Sie zügelten ihre Pferde zu einem gemächlicheren Tempo, da sie sich vor Symans Verfolgung sicher fühlten. Zoltan sprach fast ununterbrochen, schwelgte in Erinnerungen an Schlachten und Frauen. Mikal kannte viele der Geschichten bereits, hörte seinem Freund jedoch höflich zu. Er hatte Zoltan fröhliche Prahlereien gern und zog sie vor allem jetzt drängenden Fragen nach ihrem Ziel vor. Er hörte den Geschichten des stämmigen Kriegers zu, dessen Heldentaten auf dem Schlachtfeld allein durch seine Heldentaten im Bett übertroffen wurden. Mikal lachte, daß ihm Tränen in die Augen traten, und erst, als er wieder klar sehen konnte, entdeckte er etwas, das wie eine Gruppe weißer Gebäude aussah, auf der leicht gewellten Ebene. Er stieß Zoltan an und deutete darauf. Beide Männer brachten ihre Pferde zum Stehen und beugten sich in den Sätteln vor. Mikal hob die Brauen und fragte Zoltan, was er davon hielte. Sie saßen eine ganze Weile. „Da ist kein Rauch oder irgend ein anderes Zeichen von menschlichem Leben“, sagte Mikal schließlich. „Wir haben schon lange keine Spur von Menschen mehr gesehen. Glaubst du, daß es ein Dorf ist?“ Mikal zuckte die Schultern und nahm den Helm ab, um sein glattes, schwarzes Haar in der leichten Brise auszuschütteln. Sie saßen noch eine Weile. „Wollen wir?“ Jetzt zuckte Zoltan die Schultern und stimmte zu. Vorsichtig ritten sie weiter, wobei sie darauf achteten, nicht direkt auf die Gebäude zuzuhalten, sondern in einer Richtung zu reiten, die an ihnen vorbeiführte. Auf diese Weise kamen sie ihnen näher, hielten sich aber trotzdem in sicherer Entfernung. Die Eintönigkeit der Ebene machte es schwer, Entfernungen richtig zu schätzen, und sie waren eine ganze Weile geritten, bevor sie etwas erkennen konnten. Es war Zoltan, der es als erster identifizierte. „Sieh mal, es ist ein großes Haus, Mikal, oder vielmehr seine Ruine.“ Sie ritten näher und näher. „Ich kann noch immer keine Spur von Bewohnern erkennen“, sagte Mikal. Zoltan stimmte zu, wollte aber sichergehen. Er richtete sich in den Steigbügeln auf, formte mit den Händen einen Trichter vor seinem Mund und stieß einen lauten, dröhnenden Schrei aus. Die Pferde und Mikal zuckten bei dem Gebrüll des Rotbarts zusammen, doch sonst zeigte sich nirgends eine Reaktion. Zoltan ließ sich sichtlich zufrieden wieder in den Sattel fallen und deutete mit dem Arm auf das Haus, als ob er seinen Freund zum Eintreten auffordern wollte. Die Pferde gingen in langsamem Schritt weiter auf das Gebäude zu, bis Mikals Tier über etwas stolperte, das in dem ho hen Gras verborgen war. Mikal ließ sich aus dem Sattel gleiten und drückte das wuchernde Gras beiseite. Eine Reihe großer, weißer Steine verlief quer über ihren Weg. „Das war eine Mauer“, sagte er. „Dies war der Besitz eines sehr mächtigen Mannes, wenn man nach der Größe des Hauses und der Grenze des Landes, die diese Mauer gesetzt hat, urteilen will. “ Zoltan nickte zustimmend, denn die Reste der Mauer befanden sich ein gutes Stück von dem Gebäude entfernt. „Aber seit langer Zeit verlassen“, setzte Zoltan hinzu. „Das Gras ist seit vielen Jahren so gewuchert.“ Das Haus glänzte im Schein der tiefstehenden Nachmittags sonne. Der Effekt seiner weißen Mauern, verbunden mit der unregelmäßigen Form der Ruine, erinnerte Mikal an das ge bleichte
Skelett eines längst vergessenen Toten, den man auf einem Schlachtfeld zurückgelassen hatte. Sie stiegen nicht ab, sondern ritten durch das Portal und die Eingangshalle in den dahinterliegenden Raum. Das Dach war eingestürzt, und zwischen den Mauern blickte man in den offenen Himmel. Der Boden war eine seltsame Mischung aus einem eleganten Steinmosaik und dem Grasteppich, von dem er überwuchert wurde. Die Wände waren merkwürdigerweise von Wetter und Verfall fast unberührt. Nur die aus gezackten Ränder berichteten von vergangenem Leid. Sie stiegen ab, ließen ihre Pferde innerhalb der Mauern grasen und zogen ihre Schwerter, um gegen Überraschungen ge feit zu sein. Aber während sie von einem verlassenen Raum zum anderen gingen, griff nur eine leichte Brise nach ihnen. Sie durchquerten einen Raum, der von vornherein kein Dach ge habt hatte, mit einem Wasserbecken in der Mitte und einem Springbrunnen, der jetzt von Krautern und Gestrüpp überwuchert war. Der neben ihm liegende Raum war offe nsichtlich der Speiseraum gewesen, und der folgende enthielt klare Beweise dafür, daß er einmal eine Küche war. Sie gingen durch Räume, die sie für ehemalige Schlafzimmer hielten, große und kleine, alle mit diesen seltsam leuchtenden Wänden und alle im Lauf vieler Jahre völlig ausgeplündert. „Was hältst du davon? “ Zoltans Stimme klang überraschend in der Stille. „Nichts anderes als vorher. Das Haus eines großen Mannes, der längst nicht mehr lebt.“ Sie gingen durch eine andere große Halle, die sich im hinteren Teil des Hauses befand. Wie bei den meisten Räumen im hinteren Teil war das Dach intakt, wodurch man ein klares Bild von dem Zweck des Raums erhielt. Wie die anderen war auch dieser völlig ausgeräumt worden. Doch die zweistufige Plattform an der Rückwand war erhalten geblieben. „Er war ein Mann, der Empfänge gab und hofhielt“, sagte Mikal, als er die langen Wände betrachtete und auf die Plattform stieg. Es lag ein neuer, unbekannter Ton in seiner Stimme, und Zoltan blickte ihn mit wieder aufwallender Neugier an. Sein Freund schien sich an einem anderen Ort zu glauben, als er die Plattform entlangschritt, und die Gegenwart des Rotbarts vergessen zu haben. Unfähig, den Grund dafür erkennen zu können, ging Zoltan ziellos im Raum umher. Er war es, der die Reste einer Inschrift auf einer der Seitenwände zwischen zwei großen Fenstern entdeckte. Er unterbrach die geistigen Spaziergänge seines Freundes und winkte ihn heran. „Ich kann es nicht lesen; die Schrift ist mir unbekannt.“ Mikal fuhr mit dem Finger über die in die Wand eingelassene Marmortafel. „Diese Inschrift ist einmal mit etwas Wertvollem eingelegt gewesen, wahrscheinlich Gold. Deshalb ist sie so zerstört worden. “ Er starrte auf die entzifferbar gebliebenen Buchstaben. „Dies ist in der Hofsprache des Adels des Mittleren Reiches abgefaßt worden. Deshalb kannst du es nicht lesen. Es ist so wenig davon übrig, daß man es kaum erkennen kann. “ Er beugte sich vor und blickte angestrengt auf die Inschrift, zog dann seinen Panzerhandschuh aus und fuhr mit den Fingerspitzen über die Buchstabenfragmente. „Warte. Etwas davon kann ich entziffern. Dieses Wort hier ist nur ein Fragment. Es könnte ein auf >mir< endender Name sein. “ Seine Augen weiteten sich. „Vielleicht Palamir! Die Worte davor lauten >... als Zeichen von... ... ewiger und unverbrüchlicher Freundschaft für seinen treuen Diener Balmir. Gekreuzte SchwerterLord Syman sucht sich die ungelegensten Zeiten aus, um mir Botschaften zu schickenNun, was ist? Was will Lord Syman mitten in der Nacht von mir?< Er zog ein gefaltetes, versiegeltes Papier unter seiner staubigen Jacke hervor. >Ich komme nicht von SymanMein lieber Sohn< und blickte den Boten an, der mich beobachtete und auf meine Reaktion zu warten schien. Ich war mißtrauisch. >Wer hat dir den Brief gegeben?“ fragte ich, da ich nicht glauben konnte, daß mein Vater mir nach so vielen Jahren schreiben würde. Der Mann antwortete ausweichend. >Der Schreiber des Brie fes hat mit seinem Namen unterzeichnet. Außerdem gab er mir dies, für den Fall, daß du mir nicht trauen solltest. < Er zog seine Handschuhe aus und streifte einen Ring vom Finger. >Er sagte, du würdest ihn erkennen. < Ich nahm den Ring: ein goldener Eberkopf auf einem blutroten Stein. Ohne jeden Zweifel ein Ring meines Vaters. Ich nickte und las den Brief. >Mein lieber Sohn - Ich weiß, daß dieses Schreiben für Dich unvermutet und überraschend kommt. Der Überbringer hat mein volles Vertrauen. Sieben Jahre lang habe ich nicht an Dich geschrieben, und ich will Dir keine Gründe für mein langes Schweigen nennen und mich auch nicht dafür entschuldigen. Doch dieser Zustand muß sich jetzt ändern, da die Geister es so wollen. Prinz Ivor ist schwer erkrankt, und ich bezweifle, daß er wieder gesundet; weder Krauter noch Gebete scheinen zu helfen. Man hat uns gesagt, daß mit seinem Tod gerechnet werden muß, und ich habe mich mit dem Unvermeidlichen abgefunden. Ivors Ehe ist ohne Kinder geblieben, und sein Tod würde Dich zum Thronerben des Reiches machen. Aber das ist nicht der einzige Anlaß für dieses Schreiben. Es sind uns viele seltsame Gerüchte zu Ohren gekommen, die ge wisse Entwicklungen im Norden betreffen, und zumindest eines ist
klar: Zhyjman hat vor, in naher Zukunft südwärts nach Anrehenkar zu ziehen und dann Anspruch auf das Mittlere Reich zu erheben, und wenn Ivor stirbt, wird er auch gegen mich Krieg führen, um alle drei Reiche unter seine Herrschaft zu bringen. Der Norden steht vereint hinter ihm. Außerdem wird behauptet, daß ein Renegat des Ordens zu ihm gestoßen ist. Kurz gesagt: Der Kaiser des Nördlichen Reiches will das tun, was er schon so lange angedroht hat, und er hat jetzt die Mittel und die Gelegenheit dazu. Das ist der Grund, warum Deine Rückkehr so wichtig ist. Für alles, was in den vergangenen Jahren geschehen ist, muß ich Dich um Verständnis bitten, so wie auch ich Dir Verständnis entgegenbringe. Die Umstände haben sich jetzt in vieler Hinsicht verändert, und ich bitte Dich deshalb um Deine Hilfe - wenn nicht für mich, dann für Dein Erbe und Deine Heimat. Wenn die Zeit gekommen ist, werde ich Dich wissen lassen, was Du zu tun hast. Bis dahin sei wachsam. Dein Vater - Thurka Re. < Die Unterschrift unterschied sich von der Schrift des Briefes. Sie stammte von der Hand meines Vaters. Ich las den Brief noch einmal und hielt ihn dann in die Kerzenflamme. >Kennst du den Inhalt dieses Schreibens?< fragte ich den Boten. >Ich kenne den Zweck meines Auftrags, das ist alles“, antwortete er. >Will mein Va... Will er eine schriftliche Antwort?“ Der Mann schüttelte den Kopf. >Er hat mich nur beauftragt, irgend etwas mitzubringen, das er als dir gehörig erkennt, doch nur, wenn du seiner Bitte zu folgen bereit bist. Falls nicht, soll ich seinen Eberkopf wieder mitnehmen.“ Ich blickte in meinem Zelt umher, überlegte und trat dann zu meiner Kiste. >Er wird dieses Medaillon wiedererkennen, er hat es mir einmal geschenkt. < Es war ein Kinderschmuck, die Darstellung des Schützenden Auges über einem Opfer-Dreifuß. Auf der Rückseite war mein Name eingraviert. Ich fragte ihn, ob er über Nacht bleiben wolle, doch er erklärte, daß er sofort zurückkehren müsse. Ich nickte zustimmend, und dann fiel mir ein, daß ich ihm überhaupt keine Fragen gestellt hatte. >Wie geht es dem Kaiser?< >Recht gut, Lord. Weniger von seinen vielen Lasten mitgenommen, als man annehmen sollte. < >JaAber er war schon immer so. Eine andere Frage: dein Name und deine Stellung. < >Churnir, Hauptmann der Leibwache. < >Sage mir noch eines: Wie hast du mich gefunden?< >Das war nicht schwer. Symans Söldner haben im Mittleren Reich deutliche Spuren hinterlassen, und dein Name hat einen besonderen Ruf. < Ich stammelte, wenn es so leicht sei, mich zu finden, müßte ich auf der Hut sein, daß Zhyjman mich nicht auch fände. Zum ersten Mal empfand ich es als Schande, Söldner zu sein. >Kehre zu deinem Herrn zurückund sage ihm dieses: Ich werde zurückkehren, und zwar aus demselben Grund, der mich zum Fortgehen veranlaßte - nicht um des Reiches willen oder meines Anteils daran, sondern allein um seinetwillen. < Ich hörte eine Weile nichts von meinem Vater. Dann, nachdem wir Kalzars Armee geschlagen hatten und nach Aishar marschierten, kam Hauptmann Churnir wieder zu mir. Die Botschaft, die er mir dieses Mal brachte, war von meinem Vater selbst geschrieben worden. >Dein Bruder, Prinz Ivor, ist heute früh gestorben. Ich möchte noch nicht, daß bekannt wird, daß wir Dich wiedergefunden haben, und mein Bruder, Prinz Belka, hat sich bereit erklärt, vorläufig an Deiner Statt offizieller Thronerbe zu sein. Die Zeit ist gekommen, wo Du Deine Pflichten übernehmen mußt. Meine nächste Botschaft wird Dir sagen, wohin Du gehen sollst, denn dort, wo Du jetzt bist, befindest Du Dich in höchster Gefahr.“ Ich bat Churnir, mir die Bedeutung dieses letzten Satzes zu erklären, und er sagte, daß Syman anscheinend bereits mit Zhyjman in Verbindung stünde und sie den Krieg gegen das Südliche Reich vorbereiteten. Er erklärte mir auch, daß ich zu dem Orden der Zauberer und Magier gehen sollte, und wie ich ihn finden könne, und daß ich dort jemanden abholen und zu meinem Vater bringen sollte. Schließlich, während der Belagerung von Aishar, kam Chur nir zum letzten Mal zu mir und teilte mir mit, daß nun die Zeit zum Aufbruch gekommen sei. Ich sagte ihm, daß ich noch nicht
fortgehen könne, da die Stadt noch nicht gefallen sei. Er wies noch einmal auf die Gefahr hin, in der ich mich befand, doch ich versicherte ihm, daß mir nichts geschehen würde, solange die Belagerung andauere, und daß ich Syman nicht verlassen könne, bevor die Stadt gefallen sei. Als guter Söldner fühlte ich mich durch meinen Kontrakt an Syman gebunden und wußte, daß auch er zu seinem Wort stehen würde, selbst wenn er sich jetzt mit den Feinden meines Vaters verbündet hatte. Ich sagte Churnir, daß ich das Lager verlassen würde, sowie Aishar gefallen sei.“ Mikal schwieg und starrte in das verlöschende Feuer. „Jetzt weißt du alles, Zoltan“, setzte er nach einer langen Pause hinzu, „warum wir fortgegangen sind und wohin wir gehen. Ich hätte es dir gerne schon früher gesagt, hatte jedoch Angst, daß wir gefangengenommen werden würden.“ „Nur eins verstehe ich nicht“, sagte Zoltan. „Warum hat Zhyjman gerade jetzt beschlossen, das Südliche Reich anzugreifen?“ „Das weiß ich nicht. Vielleicht werden wir es beim Orden erfahren.“ Zoltan stand auf. „Noch eins würde ich gerne wissen. Soll ich dich vo n jetzt an mit Prinz oder Hoheit anreden?“ „Weder noch“, sagte Mikal lächelnd. „Dann sattle dein Pferd, Mikal. Wir wollen zu diesem Orden.“ Während sie ritten, berichtete Mikal, was er von dem Orden wußte. Sie seien, sagte er, nur noch einen oder zwei Tagesritte von seinem äußeren Tor entfernt. Der Weg wurde noch steiler und schmaler und führte in engen Haarnadelkurven bergan. Die Luft war in dieser Höhe auch tagsüber eisig, und ein scharfer Wind zwang die beiden Männer, selbst während des Tages in Mantel und Kapuze zu reiten. Als es dunkel wurde, hatten sie das Tor noch immer nicht erreicht, hörten jedoch wieder den Gong. Mikal erklärte seinem Freund: „Beim Fall des Mittleren Reiches zog sich der Orden in die Großen Berge zurück. Seitdem leben seine Mitglieder dort und bilden neue Zauberer und Magier aus. Sie ernähren sich hauptsächlich von Feldfrüchten, die sie selbst anbauen, sind jedoch auf zusätzliche Versorgung von außen angewiesen. Der Gong ist das Zeichen für die Karawane, daß das Tor geöffnet ist. Wir müssen es bald erreichen, da sie es nur bei Neumond für vier Tage öffnen. Wenn wir zu spät kommen, sitzen wir vielleicht eine ganze Weile in diesen Bergen. Wir müssen uns beeilen. “ Mikal erklärte Zoltan später im Nachtlager, daß sein spärliches Wis sen über den Orden von einem Zauberer stamme, der seinem Vater gedient habe, als Mikal noch ein kleiner Junge war. „Jeder Herrscher, sei er groß oder klein, versucht ein Mitglied des Ordens als Berater zu gewinnen“, sagte Mikal. Sie erwachten sehr früh am nächsten Morgen, aßen im Dunkel kaltes Fleisch und hartes Brot und waren bereits vor Anbruch der Dämmerung unterwegs. Den ganzen Tag über lag eisige Kälte auf den kahlen Bergen, und der Wind blies ihnen ins Gesicht; den ganzen Tag über blieb der Himmel bleiern und düster. Sie ritten jetzt hintereinander den immer schmaler werdenden Pfad entlang. Mikal wurde ein wenig unruhig, da er fürchtete, irgendwo eine falsche Abzweigung genommen zu haben und daß dieser endlose Weg vor einer glatten Felswand enden würde möglicherweise war dort nicht einmal genügend Raum, um die Pferde zu wenden. Der Pfad war jetzt so schmal, daß sie oft mit beiden Stiefeln gegen die Felswände stießen. Dann erreichten sie eine Stelle, an der der Weg eine scharfe Biegung nach rechts machte. Sie war so scharf, daß die Pferde vor ihr scheuten und erst nach einiger Zeit bereit waren, weiterzugehen. Hinter der Biegung wurde der Weg plötzlich so breit, daß sieben oder acht Männer nebeneinander reiten konnten. Er stieg weiter an, und am oberen Ende des Berghanges sahen sie das Ziel ihrer langen Reise. Die Felswand zur Rechten des Weges wurde zu einer hoch aufragenden Zinne, die sich in rechtem Winkel quer zu dem Pfade stellte. Und dort, in der steilen, schroffen Felswand, befand sich das äußere Tor des Ordens. Die Wand war hier dreißig oder vierzig Fuß hoch, und das aus dem Fels geschlagene Portal nahm fast die halbe Höhe ein. Die Flügel des Portals waren rie sige,
massige Steinplatten, fugenlos in die Wand eingelassen und ohne von außen sic htbare Halterungen. Nur feine Linien, die ihre Umrisse markierten, und das über ihnen in den Stein gemeißelte Symbol des Auges mit der fünfeckigen Iris verrieten ihre Lage. Der Wind war noch eisiger geworden und wehte den beiden Reitern ins Gesicht, als sie sich dem Portal näherten. Die Pferde lehnten sich in den Wind, und ihre Reiter taten es ihnen gleich. Pferde und Reiter waren todmüde, als sie das Portal erreichten. „Es ist geschlossen“, rief Mikal gegen das Heulen des Windes. „Was jetzt?“ schrie Zoltan zurück. „Wenn wir die Öffnungszeit versäumt haben, sind wir verlo ren. “ Mikal blickte die steile, glatte Felswand zu beiden Seiten des Tores empor. „Da kommen wir niemals hinauf.“ Zoltan wandte sich um und hämmerte mit dem Schwertknauf gegen das Steintor. Das Geräusch wurde vom Wind verweht. Die beiden Männer wickelten sich fester in ihre Mäntel und drängten sich an die Wand. „Wir müssen warten. Wenn wir bei Dunkelwerden den Gong nicht hören, wissen wir Bescheid. “ Mikal wagte nicht daran zu denken, was sie tun sollten, wenn sie den Gong nicht hörten. Den ganzen Tag über wehte der eisige Wind und versuchte, sie von der Felswand fortzublasen. Sie waren völlig durchgefroren. Am späten Nachmittag hatten sie die Hoffnung fast aufgegeben und überlegten, ob es klüger sei, hierzubleiben und zu warten oder zur Ebene zurückzureiten und beim nächsten Neumond wiederzukommen. Mikal blickte immer wieder zum Himmel empor, um zu sehen, wie lange es noch hell sein würde. Zoltans Augen spiegelten seinen wachsenden Pessimismus wider. Sie saßen bewegungslos und warteten. Es wurde merklich dunkler. Lange Schatten wuchsen über den Boden. Mikal wollte Zoltan gerade etwas fragen, als das tiefe, vibrierende Dröhnen des Gongs zu ihnen hinausdrang. „Schnell, Zoltan, aufsitzen!“ rief Mikal. Ihre Glieder waren steif und gefühllos vor Kälte, als sie sich in den Sattel schwangen. Sie saßen aufrecht auf den zitternden Tieren und hatten die Kapuzen zurückgeschlagen. Mit einem stöhnenden, knirschenden Geräusch öffneten sich die Flügel des Portals - unendlich langsam. Zuerst wurden die Konturen deutlicher sichtbar, als ob Risse in der Haut des Berges aufklafften. Die Risse wurden weiter und weiter, bis sie den Blick auf ein langes, leicht ansteigendes Plateau und eine Gruppe von Reitern freigaben. Die Reiter zu beiden Seiten des Portals näherten sich vorsichtig einander. Von denen, die hinter der Mauer waren, brach ein Mann in einer schweren, grauen Robe das Schweigen. Nachdem er die beiden müden, staubbedeckten Männer ein paar Sekunden gemustert hatte, sagte er: „Prinz Mikal?“ Der schlanke Mann mit den hellgrünen Augen antwortete: „Ich bin Prinz Mikal. Dies ist Lord Zoltan.“ Der Mann in der grauen Robe nickte. „Ich bin Meister Ulric des Ordens. Entschuldige mein Zögern, aber wir haben nur einen Mann erwartet. Wir sind seit sieben Tagen an jedem Nachmittag heruntergekommen, wurden heute jedoch etwas aufgehalten. Glücklicherweise ist der Weg nicht lang. Wir können noch an diesem Abend beim Orden sein.“ „Dann wollen wir reiten“, sagte Prinz Mikal. „Wir können nach all den Nächten in diesen Bergen ein warmes Essen und ein Bett brauchen.“ Als sie durch das Portal ritten, versuchten die beiden Männer, zu erkennen, wie diese gigantischen Steinplatten bewegt wurden, konnten jedoch keine Spur irgendeiner Mechanik entdecken. Die Torflügel schlössen sich hinter ihnen, und die beiden ehemaligen Söldner ritten mit den Männern des Ordens in die herniedersinkende Nacht.
VI Neuankömmlinge und Besucher Die Jungen saßen nervös in der Halle, einige von ihnen spielten unruhig mit ihren Händen, andere unterhielten sich mit ihren genauso aufgeregten Nachbarn. Sie nannten einander ihre Namen und die Orte, aus denen sie kamen, mehr hatten die mehr als zwei Dutzend Neuankömmlinge einander kaum zu sagen. Sie waren alle im Lauf der letzten Tage eingetroffen und waren zum ersten Mal versammelt. Jetzt, nach dem Frühstück, warteten sie zwischen den hohen Steinsäulen und riesigen Wandteppichen, deren helle Muster mystische Symbole und Szenen aus alten Legenden darstellten. Das Stimmengewirr erstarb, als ein junger Mann in die Halle trat, der die graue Robe trug, die sie an fast allen hier gesehen hatten. Der junge Mann war mittelgroß und schlank, hatte tiefgrüne Augen und schulterlanges, rotbraunes Haar. Um den Hals trug er eine Kette mit einem fahlgrünen Medaillon, das seinen Rang angab, für die Neulinge jedoch keinerlei Bedeutung hatte. Er trat auf das Podium und blickte auf die Schar der Jungen hinab, deren Alter zwischen acht und siebzehn Jahren lag und deren Kleidung von kostbaren Roben bis zu armseligen Bauernkitteln reichte. Er räusperte sich, mehr, um die Aufmerksamkeit der Jungen auf sich zu lenken, als um die Kehle freizubekommen. „Mein Name ist Elthwyn, und ich bin euer Adjustor für die ersten Monate bei uns. Ich will damit beginnen, euch zu erklären, wie wir, und ihr, hierherkamen. Dies ist der Orden, Heim und Schule für alle Zauberer, Magier und Hexer der Welt. Wir bilden neue Mitglieder aus und sind oberste Instanz für alle, die durch diese Hallen schreiten. Wir versorgen die Herrscher der Reiche, die außerhalb dieser Berge liegen, mit Beratern und Magiern. Außerdem tragen wir die schwere Verantwortung, die einzigen Hüter von Wissen und Tradition in einer Welt zu sein, die von ständigen Kriegen ze rrissen wird. Während unsere Mitglieder in die Welt hinaus gehen, hält sich der Orden selbst heraus aus allem Hader, der sich außerhalb der Tore abspielt. Dies vor allem ist unsere Mission und unsere Sicherheit, denn nur durch diese Loslösung von allen Dingen haben wir den Bürgerkrieg des ehemaligen Großen Reiches und die Grenzkriege im Norden und Süden überstehen können. Ich will euch eine Frage stellen“, fuhr er fort und musterte die jungen Gesichter, die ihn aufmerksam anblickten. „Wie viele von euch kommen aus dem Nördlichen Reich?“ Einige der Jungen hoben schüchtern die Hände. „Und aus dem Südlichen? Und vom Mittleren Reich? Gut. Von jetzt an dürft ihr euch nicht mehr als Angehörige des Nördlichen oder irgendeines anderen Reiches sehen. Von jetzt an seid ihr Lehrlinge, Novizen des Ordens, und dies ist eure Heimat. Ich betone das, weil es von größter Wichtigkeit ist, denn mit eurem Eintritt in den Orden weiht ihr euer Leben dem Lernen und dem Wissen, das keine Grenzen kennt und allen Menschen dient.“ Trotz der spürbaren Beunruhigung seiner Schützlinge fuhr er fort: „Ihr seid ausgewählt worden, weil Mitglieder unseres Ordens, die draußen in der Welt leben, in euch Begabung für die Künste, die wir hier lehren, entdeckt haben. Ihr werdet hier viele, viele Dinge lernen, von denen ihr einige sofort begreift und andere erarbeiten müßt. Wenn die Meister entscheiden, daß eure Ausbildung abgeschlossen ist, beginnt ihr euren Dienst. Einige von euch werden hier beim Orden bleiben, andere in die Reiche entsandt werden. Manche von euch werden die Ausbildung nicht abschließen können, doch auch für sie ist gesorgt. Einige der besten Schreiber in den Reichen waren solche weniger glücklichen Novizen des Ordens. - Hat jemand Fragen?“ Niemand wagte sich zu melden. „Gut. Dann werdet ihr jetzt eure Roben bekommen. Wir kennen hier keine Unterschiede. Alle vor uns tragen das gleiche Gewand, führen das gleiche Leben. Der Orden kennt nur eine einzige Auszeichnung: die Macht und die Kunst des Wissens richtig anzuwenden.“
Elthwyn, der Adjustor, verließ das Podium und öffnete die breite, zweiflügelige Tür. Ein Diener in einem braunen Kittel trat herein. „Laß ihnen Roben anpassen. “ Er gab den Jungen ein Zeichen, dem Diener zu folgen. Sie gingen hinaus, die meisten schweigend, einige unterhielten sich verstohlen mit anderen. Zwei oder drei der besser ge kleideten Jungen fingerten an ihren Sachen herum, von denen sie sich nun trennen mußten, während viele der ärmlich gekleideten sich offensichtlich auf ihre neue Robe freuten. Elthwyn blieb bei der Tür stehen, bis der letzte der Jungen den Raum verlassen hatte, und ging dann in die entgegengesetzte Richtung. Wie jeder Novize hatte er von dem Tag geträumt, an dem man ihn zum Adjustor ernennen würde, zu einem anerkannten Magier. Nun war dieser Tag gekommen und mit ihm die erwartete Freude. Doch dieses Hochgefühl war nur von sehr kurzer Dauer, stellte er fest, als er die lange Steingalerie entlangschritt und dann die Wendeltreppe hinaufstieg. Das Gefühl schien in den hellen bogenförmigen Sonnenfeldern, die die äußere Galerie füllten, zu schmelzen. Und als er eine weitere Treppe hinaufstieg, war es ganz verschwunden. Er bog um eine Ecke und stand vor einer halboffenen Tür. Crispan lehnte sich weit aus seinem Schlafzimmerfenster. Er liebte diese Jahreszeit, wenn der Schnee auf den hohen Berghängen zurückwich, wenn junge Falken und Habichte unter dem hellen Himmel schwebten. Man konnte den Frühling in der Luft spüren. Er atmete tief durch und fühlte den Wind durch sein hellbraunes Haar streichen und sein purpurfarbenes Amulett, das an einer Goldkette von seinem Hals hing, hin und her schwingen. Er lächelte, als er in den Hof hinabblickte. Auch dort regte sich neues Leben, als eine Gruppe von Novizen in ihren neuen Roben hin und her lief. Crispan sah einigen zu, die Fangen spielten; andere drängten und schoben einander, um ihre Kräfte zu messen. Er fragte sich, wie lange es dauern würde, bis sie ihre Kräfte auf anderen Gebieten messen würden, bevor sie heimlich >das Spiel< zu spielen begannen. Er grinste, als er sich daran erinnerte, wie er selbst anfangs auf die Herausforderung des Spiels reagiert hatte, und sein Grinsen verbreiterte sich, obwohl er wußte, daß das Spiel verboten war, daß er es unterbinden und die Novizen zurechtweisen mußte, wenn er feststellte, daß sie ihre neuen Kräfte auf diese Weise mißbrauchten. Doch er kannte den unwiderstehlichen Reiz des Spiels, den Eifer der Novizen, ihre Kräfte zu erproben und zur Schau zu stellen. Wie oft hatte er andere herausgefordert oder war von ihnen herausgefordert worden? Wie viele Novizen, die älter und weiter fortgeschritten waren, hatte er besiegt? Das Spiel war verboten, doch er dachte voller Stolz an seine Siege zurück, und die Tatsache, nie erwischt worden zu sein, erfüllte ihn mit einer besonderen Genugtuung. Während er die neu eingetroffenen Novizen beobachtete, dachte Crispan an die anderen zurück, die er hier ankommen gesehen hatte, und an den mehr als zwanzig Jahre zurückliegenden Tag, an dem er selbst den Orden betreten und den gelben Talisman eines Novizen um seinen Hals gehängt hatte. Das Geräusch klatschender Flügelschläge riß ihn aus seinen Erinnerungen. Überrascht sah Crispan einen schwarzen Raben über den weiten Hof fliegen. Es konnte nur Gorhams Rabe sein, und Gorham hielt seinen Vertrauten an einer Lederschnur. Der Vogel schien etwas verwirrt. Er flog auf Crispans Fenster zu, erkannte dann seinen Irrtum und verschwand um die Ecke des Gebäudes, hinter der Gorhams Zimmer lagen. Bevor Crispan die unterbrochenen Gedanken über den Frühlingsanfang wieder aufnehmen konnte, steckte Drisham, sein Diener, den Kopf herein. „Meister Elthwyn ist hier.“ Crispan nickte und trat in sein Studierzimmer. Er setzte sich an den Schreibtisch und schlug irgendein Buch auf, um beschäftigt zu wirken, drängte seine Frühlingsträumereien beiseite und bereitete sich innerlich auf Elthwyn vor. Er wußte genau, was er von ihm wollte. Nachdem er einmal tief durchge atmet und seine sonst glatte Stirn in gelehrsame Falten gelegt hatte, gab er Drisham den Wink, Elthwyn hereinzubitten. Der schlanke Lieblingsstudent Crispans trat herein; sein fahlgrünes Amulett war ein heller Farbfleck auf seiner Robe. Crispan deutete auf einen vor dem Schreibtisch stehenden Stuhl und
wartete darauf, daß der Adept das Gespräch beginnen würde. Der junge Mann zögerte, fummelte nervös an seinem Amulett herum und räusperte sich erregt. „Ich bin gekommen“, sagte er, „um mit dir über meine - meine Zukunft zu sprechen. “ „Bitte“, sagte Crispan lächelnd. „Es ist meine neue Aufgabe. Ich bin nicht glücklich darüber. “ Elthwyn war sichtlich erleichtert, daß es heraus war. „Warum? Was gefällt dir daran nicht?“ Elthwyns Augen verrieten seine Niedergeschlagenheit. „Vardimor ist so weit weg, so weit von allem. Es ist wie ein Exil. Und ich soll nicht einmal in seiner Hauptstadt dienen, sondern bei einem Lord an der Grenze - im Westen!“ Die Anmaßung seines Studenten verstimmte Crispan ein wenig. Sein Blick wanderte über die mit Büchern vollgestellten 70 Regale. „Selbst Markgrafen“, sagte er trocken, „brauchen Magier. Sogar geringere Markgrafen. Wo möchtest du denn beginnen, Elthwyn? Vielleicht als Berater bei einem der Kaiser?“ Jetzt war Elthwyn über Crispans Sarkasmus verärgert. „Und was ist mit Azimhar? Er ist mir nur um zwei Jahre voraus und ist Zauberer in Rhaanva-Mor.“ „Du weißt genausogut wie ich, daß Azimhar als Assistent Sules dorthin geschickt wurde. Sollen wir jeden von euch in Städte schicken, in denen ein alter Magier postiert ist, damit er dessen Platz einnehmen kann, wenn er stirbt? Azimhar hat lediglich Glück gehabt, wie du sehr wohl weißt.“ Elthwyn blickte auf seine Hände. „Ja, ich weiß“, sagte er leise. „Und ich will auch etwas ganz anderes: Ich möchte hierbleiben, beim Orden.“ Crispan schüttelte langsam den Kopf. „Das geht nicht. Du weißt, daß es nicht möglich ist. Kein Adept darf nach seiner Ernennung zum Meister hierbleiben. Ihr müßt zum Dienst in die Welt hinausgeschickt werden. Was für einen Daseinszweck hätten wir denn, wenn wir nicht hinausgehen und den Herrschern der Welt mit unserem Wissen und unseren Kräften dienen würden? Wie hätten wir all die Jahre überstehen können, wenn wir nicht denen in der Welt gedient hätten? Niemand kann hierbleiben, sobald er das tiefblaue Amulett um seinen Hals ge hängt hat. Ein Mann muß seine Künste im Dienst verbessern und praktizieren, bevor er zurückgeholt werden kann, um sie hier an andere weiterzugeben. Das ist schon immer unsere Praxis und unsere Tradition gewesen.“ „Du bist nicht hinausgegangen.“ Elthwyns Bemerkung entsprach der Wahrheit. Crispan hatte seit dem Tag seiner Ankunft den Orden niemals verlassen. Er war vom Adepten zum Meister geworden, und man hatte ihn wegen seiner außergewöhnlichen Fähigkeiten beim Orden behalten. Und er war zum Meister der Fünf
Künste geworden in einem Alter, in dem es bis dahin noch niemand gelungen war, selbst nicht Viadur oder dem legendären Ther. Elthwyn war bei allen Fähigkeiten längst nicht so begabt wie diese Meister. Er hatte einige Probleme bei der Thaumaturgie, und außerdem gab es zur Zeit beim Orden keinen Platz für ihn. „Es tut mir leid, doch ich kann dir nicht helfen. Du kannst nicht hierbleiben, und es ist kein anderer Posten frei. Oder würdest du lieber nach Kyryl oder Nor gehen? Dorthin würde ich dich niemals schicken. “ Crispan erhob sich zum Zeichen, daß das Gespräch beendet sei. Mit einem freundlichen Lächeln versuchte er den Adepten aufzumuntern. „Mach dir keine Sorge, Elthwyn. Ich werde dich nicht vergessen, wenn du dort draußen im Westen bist. Und wenn es nötig wird, holen wir dich zurück.“ Es gab für Elthwyn dazu nichts mehr zu sagen, und er ging resigniert aus Crispans Zimmer. Crispan blieb noch eine Weile hinter seinem Schreibtisch stehen, warf einen sehnsüchtigen Blick aus dem Fenster, vor dem der Frühling lockte, und dachte an seine eigenen Pflichten. Er seufzte tief und bereitete sich innerlich darauf vor, seine Studien über ein kompliziertes magisches Experiment weiterzuführen, dessen Lösung ihm gestern abend nicht gelungen war. „Drisham“, rief er. „Meine Dämpfe und Mixturen, und mehrere große Becken. Und stecke ein paar Kerzen an.“ Fahles Grau floß in helles Rot und versuchte, über den Rand des Beckens zu entweichen. Ein paar Sekunden lang schienen die Farben stabil zu sein, doch dann zerflossen sie zu einem hübschen, jedoch völlig bedeutungslosen Muster. Crispan lehnte sich enttäuscht zurück. Das Experiment war wieder fehlgeschlagen. Weder das Ancient Conjuries and Manifestations noch das umfangreiche Conjura Magicka waren ihm eine Hilfe, und das Sacridi Conjurae Thaumaturgica war so schwierig zu übersetzen, wie das Experiment durchzuführen. Dennoch: Es mußte eine Lösung geben. Crispan nahm sich wieder die Notizen Thers vor, der das Experiment zweimal durchgeführt hatte, dann jedoch feststellte, daß es den Aufwand nicht wert sei. Aber die Tatsache, daß es durchgeführt werden konnte, verärgerte Crispan. Er wollte es an diesem Tag schaffen, doch Thers Methode schien nicht zum Ziel zu führen, und Crispans Augen waren gerötet von Rauch und Dämpfen. Er schob die Bücher und Papiere beiseite und nahm sich vor, nach dem Abendessen mit Eldwig zu sprechen. Vielleicht konnte ihm der Meister der Thaumaturgie weiterhelfen. Crispan erhob sich, um vor dem Abendessen noch ein wenig zu schlafen. Er wollte gerade die Tür seines Schlafraums öffnen, als Drisham seinen Kopf ins Zimmer steckte und verkündete: „Meister Gorham will dich sprechen.“ Gorham trat herein und zog die säuerlich riechende Luft in die Nase: „Du hast hart gearbeitet, wie ich sehe - oder rieche. “ Er trat an den Schreibtisch und verzog das Gesicht, als er die Sacridi Conjurae Thaumaturgie entdeckte. „Aber doch nicht diesen trockenen Wälzer. “ Sein Vertrauter, der schwarze Rabe, hockte auf seiner Schulter und krächzte zustimmend. „Nichts Ernsthaftes, Gorham. Nur eine alte Zauberei, die mich irgendwie fasziniert. Oh, ich bin froh, deinen schwarzen Freund zu sehen. Heute vormittag sah ich ihn frei umherfliegen und fürchtete, daß er dir entwischt sei.“ „Du hast Ris frei umherfliegen gesehen? Unmöglich. Nein.“ Gorham schien über Crispans Mitteilung seltsam verstört. „Warte. Doch. Du hast recht. Er ist mir nach dem Frühstück entwischt, aber kurz darauf wieder zurückgekommen. “ Ohne Crispan Gelegenheit zu geben, weiter über diesen Punkt zu sprechen, fuhr er rasch fort: „Doch ich bin hergekommen, um dir zu sagen, daß Omir für heute vor dem Abendessen eine Be sprechung des Rats angesetzt hat.“ Crispan war überrascht. „Weißt du, aus welchem Grund?“ Gorham schüttelte den Kopf. „Nein. Aber ich glaube, daß es irgendwie mit den Besuchern zusammenhängt, die angeblich eingetroffen sind.“ „Besuchern?“ echote der jüngere Zauberer. „Schsch, Ris“, wies Gorham den krächzenden Vogel zurecht. „Ja, einer meiner Adepten hat mir
erzählt, daß Ulric gestern spät in der Nacht einen Mann oder mehrere Männer mitgebracht hat. Und es kann nicht die Karawane gewesen sein, da die vor zwei Tagen eingetroffen ist. Das ist alles, was ich weiß. Aber ich werde später mehr erfahren.“ „Ja. “ Crispan fand das für den Abend angesetzte Treffen des Rates und die Nachricht über die geheimnisvollen Besucher, die mitten in der Nacht eingetroffen waren, äußerst interessant. „Danke, daß du mir Bescheid gesagt hast.“ Gorham nickte und ging eilig hinaus. Als er auf den Korridor trat, verzog er das Gesicht. Es war dumm, daß Crispan seinen Raben gesehen hatte. Er kraulte die Brust des schwarzen Vo gels. „Nichts Neues, Ris. Schade. Aber wenigstens weiß er ge nausowenig wie wir - oder er tut nur so... “ Ris krächzte zustimmend. „Drisham, weißt du etwas davon? “ „Nein, Meister.“ Crispan war enttäuscht. Wenn selbst die Diener nichts wuß ten, wer dann? „Wecke mich rechtzeitig zu der Besprechung, bitte. Um die Bücher und Papiere brauchst du dich nicht zu kümmern. Aber später brauche ich saubere Becken.“
VII Nachrichten von der Welt Crispan trat in das mit Bücherregalen gefüllte Beratungszimmer und sah, daß er als letzter der Meister der Fünf Künste dort eintraf. Er murmelte eine Entschuldigung für sein spätes Erscheinen und setzte sich zwischen Eliborg und Hujhir. Nachdem ein Diener die schweren Eichentüren geschlossen hatte, erhob sich Omir, um die Sitzung zu eröffnen. Er strich seinen langen, grauen Bart und kam, wie gewohnt, sofort zur Sache. „Ich habe eine Sitzung des Rates einberufen, da wir wichtige Nachrichten aus der Welt haben. Die Gerüchte, die uns zu Ohren gekommen sind und die von zunehmenden anarchischen Zuständen im Mittleren Reich berichten, haben sich leider als zutreffend erwiesen. “ Er seufzte tief auf. „Es ist schwer, sich vorzustellen, daß das Land nach fünfzehn Generationen ununterbrochener Kriege noch immer nicht zur Ruhe gekommen ist, und doch ist es so. Nun haben wir die Nachricht erhalten, daß eins der beiden noch existierenden Reiche einen Krieg gegen das andere vorbereitet und eine Armee von noch nie dagewesener Größe zusammenzieht, die anscheinend stark genug ist, auch alle anderen Fürstentümer zu besiegen. Ich spreche vom Nördlichen Reich. Zhyjman II. hat seinen Herrschaftsbereich konsolidiert und Tharn und Larc vollkommen in sein Reich integriert. In Kürze wird er gegen Anrehenkar und das Südliche Reich zie hen. Falls sein Eroberungszug erfolgreich verlaufen sollte, wird er, wie ich fürchte, auch uns angreifen, um uns unter seine Herrschaft zu zwingen.“ Eliborg beugte sich vor und fuhr mit der Hand über seinen kahlen Kopf. „Bist du sicher, daß Zhyjman gegen uns ziehen wird, oder selbst, daß er erfolgreich sein wird? Das Südliche Reich ist schließlich ein mächtigerer Gegner als Tharn oder Larc.“ „Richtig“, erklärte Gorham. „Und was geht uns dieser Krieg an?“ „Er geht uns etwas an, weil Zhyjman das Gleichgewicht der Kräfte in der Welt bedroht“, antwortete Omir. „Seit dem Fall des Großen Reiches sind wir immer stärker und mächtiger geworden. Der Orden ist heute die Hauptquelle alles Wissens und Lernens. Unsere Gelehrten und Studenten haben wesentlich dazu beigetragen, das, was von der zivilisierten Welt übrig ist, zu erhalten und zu beherrschen. Und all das ist jetzt bedroht.“ „Vorsicht“, wandte Eliborg ein. „Man könnte glauben, daß du der Anarchie um unseres Vorteils willen zum Wort redest. Wir haben nur das getan, was die Zeit von uns gefordert hat.“ „Und jetzt fordert sie unsere Intervention gegen Zhyjman. “ Damit setzte sich Omir. „Warum?“ fragte der alte Nujhir. „Es ist von Anfang an unsere Tradition gewesen, als Individuen dort zu dienen, wo wir gebraucht werden, doch niemals als Orden in die Affären der Welt einzugreifen oder an Konflikten teilzunehmen. Wenn wir jetzt Partei ergreifen, verlieren wir unseren privilegierten Status, und das würde uns alle zu bloßen Beratern und Intriganten reduzieren. Nein, Omir, die Sicherheit des Ordens verlangt, daß wir passiv bleiben. Wenn wir unsere Berge verlassen, würden wir uns dem Sieger dieses Konflikts ausliefern, egal, wer es ist. Wir müssen über den Dingen stehen, um zu überleben. “ Nujhir sprach mit der Stimme des Alters und der Weisheit, die dem ältesten Meister des Ordens zukam. Omir nickte, um ihn wissen zu lassen, daß er die Wahrheit seiner Aussage anerkannte, konnte seinen Folgerungen jedoch nicht zustimmen. „Ich fürchte, daß du Zhyjman unterschätzt“, sagte er. „Er hat bereits Tharn erobert und den Herzog von Larc gestürzt. Er hat die Armeen von Kyryl und Nor hinter sich. Und er greift das Südliche Reich in einer unglücklichen Situation an. Ich habe die Nachricht erhalten, daß der älteste Prinz und Thronerbe tot ist. Der einzige andere Sohn des Kaisers ist seit Jahren verschwunden. Eldwig, du kennst Zhyjman. Würde er sich mit dem Südlichen Reich zufriedengeben? Würde er nicht auf die Großen Berge blicken und versuchen, uns ebenfalls unter seine Herrschaft zu zwingen?“ „Als ich ihn kannte, war er noch ein junger Prinz - doch schon damals grausam und habgierig.
Du könntest recht ha ben.“ Gorham schnaubte verächtlich. „Bah! Vielleicht ist er nicht gerade ein vorbildlicher Herrscher, doch die Tatsache bleibt bestehen, daß der Orden sich nicht in die Angelegenheiten der Welt einmischen darf.“ Die Worte wurden von zustimmendem Gemurmel der anderen Männer, die um den Tisch saßen, bestätigt. Diener traten herein, zündeten Kerzen an und verschwanden wieder. Crispan war ebenfalls geneigt, Gorham zuzustimmen, und spürte, daß Omir auch die anderen Meister nicht überzeugt hatte. Er blickte ihn an, als er jetzt seinen Platz verließ, zum Fenster trat und dort auf und ab zu gehen begann. Sein Schatten wurde von den letzten Strahlen der tiefstehenden Sonne auf den Boden geworfen. Der Hochmeister trat plötzlich zu seinem Stuhl zurück und umklammerte die Lehne; die weiß hervortretenden Knöchel verrieten seine Erregung. „Da ist noch ein weiteres Problem. Es wird behauptet, daß Viadur beim Kaiser des Nördlichen Reiches ist!“ Die Meister starrten ihn schweigend an. „Ja, der Renegat hat sich zum Berater Zhyjmans gemacht. Er hat seine finsteren Arbeiten fortgesetzt, und wir können sicher sein, daß er Zhyjman dazu bringen wird, gegen den Orden vorzugehen, falls es dem Kaiser nicht selbst einfallen sollte.“ „Bist du sicher?“ fragte Nujhir entsetzt. „So sicher, wie man sein kann. Er hat sich während der vergangenen zwei Jahre ruhig und unauffällig verhalten, weil er uns nicht herausfordern wollte. Doch nun fühlt er sich sicher und geschützt. Seine Anwesenheit am Hof Zhyjmans verändert das Bild völlig, denn für Viadur tragen wir die Verantwortung. Der Orden hat ihn seine Kunst gelehrt und seine Kräfte ge nährt, und der Orden hat darin versagt, die vorgeschriebenen Maßnahmen zu ergreifen, als wir von seiner Korruption erfuhren. Solange Viadur bei Zhyjman ist, müssen wir handeln, und logischerweise auf der Seite des Südens.“ Eliborg sagte: „Diese Nachricht ist in der Tat überwältigend und ändert alles. Aber ich frage mich, ob es richtig wäre, uns mit dem Süden zu verbünden. Warum versuchen wir nicht, den Renegaten selbst zu finden und zu vernichten? Ist nicht der Fortbestand unserer Sicherheit vom Fortbestehen unserer absolut neutralen Haltung abhängig?“ Omir ließ sich auf seinen Stuhl fallen. Seine Finger strichen langsam über die Tischkante. „Ich fürchte, nein. Es scheint, als ob Viadur zuerst Zhyjman bei seinem Krieg gegen Anrehenkar und den Süden helfen und sich dann gegen uns wenden wird. 78 Wir müssen uns auf die Seite des Südens stellen und hoffen, ihn vernichten zu können, bevor sein Beschützer zu mächtig wird.“ Crispan preßte seine Hände ineinander und spürte noch immer die Erregung, die ihn bei der Nennung von Vladurs Namen überfallen hatte. „Was schlägst du vor?“ „Daß wir einen von uns zum Kaiser des Südlichen Reiches schicken, um ihm gegen den Norden und Viadur beizustehen. Das ist alles, was wir tun können, wenn wir uns nicht Vladurs niedriger Gesinnung angleichen wollen. Der direkte Einsatz unserer Kräfte gegen Zhyjman wäre ein Verstoß gegen die Regeln des Ordens, wie ihr alle festgestellt habt, und wir würden uns dadurch mit dem Renegaten auf eine Stufe stellen. Außerdem könnten wir, wenn wir nur einen Mann aussenden, vielleicht über dem Unwetter bleiben, falls sich die Dinge gegen uns entwickeln sollten.“ Omirs Vorschlag schien die einzige Lösung des Problems zu sein, besonders, da er anscheinend die Neutralität des Ordens bewahrte und ihnen trotzdem erlaubte, etwas gegen Viadur und seinen Wohltäter zu unternehmen. Keine Stimme erhob sich gegen den Plan, da jeder der Männer sich an Vladurs widerwärtige Praktiken und seinen Abfall vom Orden erinnerte. Es blieb nur noch eine Frage übrig, und sie wurde von Gorham gestellt. „Wen sollen wir schicken? “ „Darüber habe ich lange nachgedacht“, antwortete Omir. „Als Hochmeister des Ordens fällt diese Aufgabe eigentlich mir zu, doch ich fürchte, daß ich nicht mehr jung genug bin, um den Strapazen eines Feldzuges gewachsen zu sein. Aus diesem Grund kommen nur drei von uns in
Frage: Eliborg, Crispan und du selbst.“ „Ich fühle mich geehrt“, sagte Eliborg, „aber auch ich bin solchen Anforderungen nicht mehr gewachsen.“ „Ja, das hatte ich auch befürchtet“, seufzte Omir. „Wer von euch soll dann gehen?“ Gorham antwortete sofort, fast bevor der Hochmeister zu Ende gesprochen hatte. „Ich will ehrlich sein, Omir. Ich wäre stolz darauf, diese Aufgabe übernehmen zu können, und werde es auch tun, sollte ich dazu bestimmt werden. Doch ich muß eingestehen, daß Crispan begabter ist als ich. Wer außer ihm ist in so jungen Jahren Mitglied des Rates geworden, und wer ist besser geeignet, gegen diesen Feind zu kämpfen? Wer ist der 79 i Nachfo lger Vladurs als Meister der Magie? Um den Sieg unserer Sache zu sichern, bin ich gerne zum Verzicht bereit.“ Während Crispan noch nach Worten suchte, um dagegen zu protestieren, sagte der Hochmeister: „Deine Überlegungen sind die meinen, Gorham. Crispan, du bist der geeignetste Mann, falls wir diese Aufgabe durchführen müssen, und ich fürchte, wir haben keine andere Wahl. Doch ich will die Entscheidung dem Rat überlassen, denn ich allein kann einen für den Orden so schwerwiegenden Beschluß nicht allein fassen. Seit der Zeit, als wir uns in diese Bergeinsamkeit zurückgezogen haben, waren wir wohl noch nie vor eine Entscheidung von solcher Tragweite gestellt.“ Die Männer stimmten ohne Ausnahme für die Notwendigkeit der Maßnahme und für die Wahl Crispans. Crispan stimmte ebenfalls dafür, doch als er dabei das Spiegelbild seines Gesichts in der Fensterscheibe sah, erkannte er, wie sehr sein Gesichtsausdruch den Widerwillen verriet, den er dabei spürte. Nur die Anwesenheit des Renegaten am Hof Zhyjmans brachte ihn dazu, mit den anderen zu stimmen. „Gut“, sagte Omir und trat zu der Tür, die in sein Zimmer führte. „Und nun will ich euch die Überbringer dieser Nachrichten vorstellen. “ Er öffnete die Tür, und zwei Männer traten herein, beide ihrer Erscheinung nach Krieger, der eine schlank und groß, der andere untersetzt und kräftig. „Ich möchte euch Prinz Mikal vorstellen, den Sohn und Thronerben Kaiser Thurkas des Südlichen Reiches, und seinen Begleiter, Lord Zoltan.“ Beide Männer verneigten sich, und Prinz Mikal trat einen Schritt vor. „Lords, im Namen meines Vaters danke ich euch für eure Hilfe und Unterstützung. Wir wollen gemeinsam versuchen, das durch unsere Feinde gefährdete Gleichgewicht der Kräfte zu erhalten. “ Mikal war von seinen eigenen Worten überrascht, als die steife Formalität des erlernten Protokolls nach vielen Jahren in seine Erinnerung zurückkehrte. Omir nahm nun seinerseits die Formalitäten wahr und stellte jeden der Meister vor: Eldwig, Meister der Thaumaturgie, Nujhir, Meister der Alchemie, Gorham, Meister der Zauberkunst, Eliborg, Meister der Astrologie und Weissagung, und Crispan, Meister der Magie. Der Prinz begrüßte sie der Reihe nach und setzte sich dann gemeinsam mit Zoltan an den langen Tisch. Während Diener das Abendessen auftrugen, gab Mikal seinen Bericht über die letzten Entwicklungen, erzählte ihnen das wenige, das er wußte, und beantwortete Fragen, wenn es ihm möglich war. Viele der Fragen mußten ohne Antwort bleiben, da er lange vom Südlichen Reich fortgewesen war und während dieser Zeit kaum über die Angelegenheiten seines eigenen Dienstes hinaussehen konnte. Schließlich stellte Gorham die einzige Frage, die die Männer des Ordens wirklich betraf und interessierte: „Bist du sicher, daß Viadur bei Zhyjman ist?“ „Nein, ich bin nicht sicher. “ Mikals Stimme war etwas leiser als zuvor. „Doch wie bereits gesagt, bin ich lange fort gewesen. Nach Informationen, die mein Vater erhalten hat, scheint sich Viadur jedoch dem Norden angeschlossen zu haben.“ Diese nicht sehr eindeutige Antwort löste am Tisch ein unbefriedigtes Murmeln aus. „Es ist nicht so wichtig“, sagte Omir. „Wenn er dort ist, wird Crispan ihn finden. Und falls sich herausstellen sollte, daß er nicht dort ist, wird Crispan zurückkehren. “ Auch diese Antwort war alles andere als befriedigend, doch unter den Umständen mußten die Männer sich mit ihr zufriedengeben. „Es ist spät geworden“, fuhr Omir fort, „und es liegt noch viel Arbeit vor uns. Lords“, wandte er
sich an Mikal und Zoltan, „mein Diener wird euch zu euren Zimmern bringen. “ Alle verließen den Raum; die Meister zogen sich in ihre Zimmer zurück, um die möglichen Konsequenzen der bösen Nachrichten zu überdenken, Mikal und Zoltan in ihre Zimmer, um zum ersten Mal nach vielen Tagen wieder eine Nacht in einem richtigen Bett zu schlafen.
VIII Unangenehme Erinnerungen Crispan lag in seinem Bett und starrte ins Dunkel. Jedes Mal, wenn er die Augen schloß, mußte er an morgen denken. Morgen würde er das schräge Plateau hinab zum Tor des fünfeckigen Auges reiten; morgen würde er den Orden verlassen. Er hatte ihn noch nie verlassen, seit er als blutjunger Novize in die Berge gekommen war. Seit über zwanzig Jahren hatte er ununterbrochen hinter diesen grauen Mauern gelebt, als Novize, Student, Adept und Meister. Sein Gehirn spulte diese lange Zeit noch einmal ab, rief sich seine Lehrer in die Erinnerung zurück Bellapon, Omir, Viadur - und die glückliche Zeit, die er hier verbracht hatte, als ob er sich daran festklammern und das Morgen verdrängen wollte. Aus irgendeinem Grund blieben seine Gedanken in der Periode hängen, als er vom frisch ernannten Meister zu einem der sechs höchsten Meister befördert wurde. Wyndholm, der Meister der Magie, war gestorben, und Viadur nahm nun sein Amt wahr, neben seinem eigentlichen als Meister der Thaumaturgie. Crispan zeigte eine Befähigung, wie man sie nur selten bei einem Studenten erlebt hatte, manche verglichen sie sogar mit Vladurs außergewöhnlicher Bega bung, die dieser fünfundzwanzig oder dreißig Jahre früher an den Tag gelegt hatte, und die ältesten Meister hielten sie sogar für größer. Und so war es gekommen, daß Crispan nach dem Tod Wyndholms vom gewöhnlichen Meister zum Meister der Fünf Künste ernannt wurde, ohne jemals draußen in der Welt gedient zu haben. Er drehte sich auf die Seite und versuchte erneut, einzuschla fen. Jetzt sah er das lange, schmale Gesicht Vladurs vor sich. Crispan dachte daran, wie eng das Leben dieses Renegaten mit dem seinen verbunden war: als Lehrer, als Kollege, als Mensch; wie dieser seine Kunst mißbraucht und verraten hatte und von Crispan entlarvt worden war und Crispan ihn gezwungen hatte, den Orden zu verlassen. Ein leises Klopfen riß ihn in die Gegenwart zurück. Er sprang aus dem Bett, ging durch sein Studierzimmer ins Vorzimmer und fand Omir auf dem matt erleuchteten Korridor. „Habe ich dich geweckt?“ Crispan schüttelte den Kopf. „Nein.“ „Das dachte ich mir. Du kannst nicht schlafen, nicht wahr?“ Omir trat an Crispan vorbei ins Zimmer. Dort setzte er sich auf den breiten Sessel in der Ecke, dessen Beine kunstvoll in der Form von Greifen-Klauen gedrechselt waren. Crispan trat hinter seinen mit Büchern und Papieren bedeckten Schreibtisch. Omir legte seine Fingerspitzen aneinander und wartete darauf, daß Crispan das Gespräch eröffnete. Nach einer Weile sagte Crispan: „Ich bin mir nicht sicher, Omir. Ich bin mir in dieser Sache überhaupt nicht sicher, weder, daß ich gehen soll, noch, daß wir überhaupt etwas damit zu tun haben sollten. Es ist nicht unsere Aufgabe. Der Orden hat das Chaos der Welt überlebt, weil er immer über den Streitigkeiten der Fürsten gestanden hat. Wenn wir jetzt von diesem Prinzip abweichen, liefern wir unser Oberleben den Launen des Krieges aus.“ Omir atmete tief durch. „Ja. Das haben wir bereits besprochen. Doch wie ich heute abend sagte, ist Viadur unser Problem. Wir müssen unseren Fehler korrigieren. Daß er jetzt in der Welt lebt und dort seine widerlichen Künste praktiziert, ist unsere Schuld. Du weißt das besser als alle anderen; du hast ihn damals entlarvt. “ Der Hochmeister erkannte, daß dieses Argument nicht ausreichte, um seinen jungen Protege zu beruhigen. „Da ist noch etwas, das dich bedrückt.“ Crispan merkte, daß er seine Stirn in tiefe Falten gelegt hatte. Er nickte. „Viadur selbst. Er war mein Lehrer.“ „Wie auch Bellapon, wie auch ich. Und er war mein Helfer in den Künsten. Ist das eine Entschuldigung für seinen Verrat? Ich habe dir niemals davon berichtet, aber Viadur hat sich deiner Ernennung heftig widersetzt. “ Omir sah, wie das Stirnrunzeln einem Ausdruck von Überraschung wich. „Ja, das stimmt. Er wollte beide Posten für sich behalten. O ja, er war stolz
auf dich, aber nur bis zu einer gewissen Grenze. Du hast seine eigene Stellung bedroht; ich würde sagen, daß du ihn übertroffen hast. Bellapon hatte recht, du bist ein geborener Magier. Niemand ist jemals in so jungen Jahren zum Meister geworden oder hat die Examen im ersten Versuch geschafft. Viadur und sogar Ther haben zwei Jahre gebraucht, um zu Meistern zu werden. Und als ich dich als Nachfolger Wyndholms vorschlug, legte Viadur Einspruch ein. Er hatte gute Argumente gegen deine Ernennung - du warst nur ein junger Meister, zu jung eigentlich, und du hattest nie in der Welt gedient. Das war im Grund genommen das entscheidende Argument. Der Orden ist immer gegen die Inzucht gewesen. Was Viadur jedoch am meisten gegen dich aufbrachte, war die Bevorzugung eines besonders Talentierten. Er wollte beide Posten behalten, um seine Überlegenheit zu beweisen. Wir hätten damals erkennen müssen, daß Viadur von einem krankhaften Ehrgeiz besessen war. Und erinnere dich auch, daß du es warst, der ihn entlarvt und seinen Sturz herbeigeführt hat. Allein deswegen ist er dein verschworener Feind. Und da ist noch etwas, was ich heute abend sagen muß. “ Omir seufzte, und seine Stimme wurde schwer und ernst. „Obwohl wir vielleicht begabter sind als andere Menschen, ist auch unsere Macht begrenzt; vielleicht enger, als wir es vermuten. Während wir unsere Künste entwickelten und pflegten, haben wir sie auch auf eine gewisse Weise, mehr oder weniger, von der Welt, die uns umgibt und der zu dienen wir berufen sind, isoliert. Das ist die Essenz des Schismas, das zur Gründung von Pyrin geführt hat, wie du sehr wohl weißt. Was du nicht weißt, ist jedoch, worin die Unterschiede liegen, da du dein ganzes Leben hier zwischen diesen Mauern verbracht hast. Deine Talente, so groß sie auch sein mögen, sind nicht in der Welt erprobt worden. Sei vorsichtig, wenn man von dir verlangt, deine Gaben einzusetzen, sowohl wegen der Macht, die sie beinhalten, als auch wegen ihrer Limitierungen. Ich fürchte, Crispan, daß diese Limitierungen für dich überraschend sein werden. Ich hoffe und bete, daß du erkennen wirst, wann die Grenze erreicht ist, doch sei auf sie vorbereitet, damit die Erkenntnis dich nicht unerwartet trifft und dein inneres Gleichgewicht stört. Es tut mir leid, daß ich dir dies sagen muß, da ich auf keinen Fall dein Vertrauen in dein erlerntes Wissen oder in deine außergewöhnlichen Fähigkeiten erschüttern möchte. Du bist derjenige von uns, der am besten dafür geeignet ist, hinaus zugehen und den Renegaten zu bekämpfen. Dessen bin ich sicher. Doch sei dir immer der Grenzen bewußt, die uns als Praktikern der Fünf Künste gesetzt sind.“ Crispan ließ die Worte einsickern. Anfangs wäre ei am liebsten aufgesprungen und hätte tausend Fragen hinausgeschrien, doch seine Ausbildung hatte ihn Geduld gelehrt. Wenn Omir ihm sagte, er würde wissen, wann er die Grenzen erreichte, dann war es auch so - hoffte er. Und doch war das alles sehr beunruhigend. Dies war schlimmer als ein kompliziertes magisches Experiment, das nicht glücken wollte. Vielleicht würde er nicht die Zeit für einen neuen Versuch finden. Alles trug dazu bei, das bereits vorhandene, erhebliche Gefühl von Beunruhigung und Minderwertigkeit zu verstärken. Omir spürte die inneren Zweifel des jungen Meisters. „Crispan, ich weiß, daß du den Orden noch nie verlassen hast. Vielleicht war das ein Fehler. Aber du mußt gehen. Wer ist so jung und so talentiert, um sich dem Renegaten stellen zu können? Glaube mir, Crispan, die Mission ist gerechtfertigt, und du bist der beste Mann, um sie durchzuführen. Sie ist logischerweise deine Pflicht. Der Orden wird nach wie vor hier sein, wenn du deine Aufgabe in der Welt erfüllt haben wirst. Ich möchte sogar sagen, daß du unser Sicherheitsfaktor bist. Der Orden wird weiterbestehen, ohne sich offen auf die eine oder andere Seite ge stellt zu haben. Wir werden sicher über dem Unwetter bleiben.“ Omirs Optimismus übertrug sich nicht auf den jüngeren Mann. „Falls ich nicht versage“, murmelte Crispan düster. „Du darfst nicht versagen. Viadur wird gewinnen, wenn du hier bleibst, und er wird uns vernichten, wenn es dir nicht ge lingt, ihn zu vernichten.“ „Aber was für eine Verteidigung gibt es gegen Nekromantie?“ fragte Crispan hilflos. „Das weiß ich auch nicht. “ Omir schüttelte langsam und ernst den Kopf. „Wir werden alle
darüber nachdenken und daran arbeiten. Vielleicht finden wir eine Antwort. Ich habe das Gefühl“, fuhr er fort, während er aufstand, „daß du die beste Chance hast, Viadur zu zerbrechen. Du kannst es schaffen, Crispan. “ Der Hochmeister trat zu seinem ehemaligen Schüler und legte ihm beide Hände auf die Schultern. „Du kannst es!“ Und du mußt es schaffen, setzte er in Gedanken hinzu, in Unruhe über die Unerfahrenheit des talentierten Meisters. Crispan blickte zu ihm auf und zwang sich zu einem matten Lächeln, das, wie er hoffte, als Zeichen von Selbstvertrauen aufgefaßt werden würde. „Und jetzt mußt du schlafen. Gute Nacht, Crispan. “ Omir ging hinaus und schloß leise die Tür. Crispan blieb noch eine Weile in dem dunklen Zimmer sitzen und ging dann wieder ins Bett. Doch auch jetzt konnte er keinen Schlaf finden. Statt dessen wanderten seine Gedanken durch die Korridore der Vergangenheit. Crispan war in seinem Studierzimmer und stand gerade von seinem Schreibtisch auf, um schlafen zu gehen, als Nujhir hereintrat. Er war totenblaß, und seine Hände zitterten. Crispan umklammerte die Schultern des älteren Mannes und drückte ihn auf einen Stuhl. „Bei den Geistern, Mann, was ist passiert?“ Nujhir schüttelte verwirrt den Kopf. „Ich habe gerade Ther gesehen. Ther selbst ist den Korridor entlanggegangen.“ „Was? Ther ist seit über sechzig Jahren tot. “ Nujhir nickte, und seine grauen Augen starrten ins Leere, da er noch immer nicht glauben konnte, was er gesehen hatte. „Ich weiß, ich weiß. Er starb, kurz nachdem ich als Novize in den Orden eintrat. Aber ich habe ihn eben gesehen.“ Crispan hätte es als offenkundigen Unsinn abgetan, wenn sein Kollege nicht in einem Zustand gewesen wäre, der ihn fast einen Nervenzusammenbruch fürchten ließ. „Wo hast du ihn gesehen?“ Nujhir versuchte, sich zusammenzunehmen, strich seine Robe glatt und nahm einen vorsichtigen Schluck von dem Wein, den Crispan ihm anbot. „Ich ging von Eliborgs Räumen zu den meinen und kam in die Nähe der Treppe im Nordturm. Plötzlich hörte ich ein leises, unheimliches Stöhnen und wandte mich um. Dort war er, im Korridor, und ging langsam in die andere Richtung. Er wandte sich um, und ich sah sein starres, ausdrucksloses Gesicht. Da packte mich die Angst, und ich lief fort. Als ich an deiner Tür vorbeikam, sah ich Licht unter ihr herausdringen...“ „Wo genau hast du ihn gesehen?“ „In der Nähe von Vladurs Räumen.“ „Dann wollen wir zu ihm gehen und mit ihm sprechen.“ Sie verließen eilig das Zimmer und gingen den von Mondlicht erhellten Korridor entlang auf den Nordturm zu. Sie näherten sich Vladurs Räumen, als Nujhir Crispans Arm packte und ihn festhielt. „Dort“, flüsterte er, „dort habe ich Ther gesehen.“ Als sie Vladurs Tür fast erreicht hatten, drang ein bestialischer Gestank in ihre Nasen, der Gestank von lange faulenden Leichen. Ihnen wurde fast übel, als sie auf die Türzutraten, um sie zu öffnen. Drinnen war der Gestank sogar noch stärker, und Viadur war über seinem Schreibtisch bewußtlos zusammengesunken. Crispan riß sofort die Fenster auf und sagte: „Geh und hole Omir. Schnell!“ Nujhir lief sofort hinaus, und Crispan beugte sich über Viadur. Er las den Titel des Buches, das unter Vladurs Hand lag, Artis Necromanci ein uralter Text aus dem Süden. Kalte Nachtluft drang durch die geöffneten Fenster, und Viadur kam allmählich wieder zu Bewußtsein, als sie den Gestank vertrieb, der im Raum hing. Crispan trat auf die andere Seite des Schreibtisches. Viadur hob den Kopf und erkannte Crispan. „Wo ist er?“ schrie er, doch dann riß er sich zusammen. „Ich meine, wo ich bin, und was willst „du...“ „Es hat keinen Sinn, Viadur“, sagte Crispan. „Du kannst es nicht verbergen. Nujhir hat Ther gesehen. Und dann der Gestank und das Buch. Du hast es praktiziert, nicht wahr?“ Crispans Kopf sank ihm auf die Brust, als er sich darüber klar wurde, in welche unvorstellbaren Tiefen sein Lehrer hinabgestiegen war. „Was meinst du? Warum dieser mitleidige Gesichtsausdruck?“ schnarrte Viadur verächtlich.
„Nekromantie, Viadur. Du hast Nekromantie praktiziert.“ „Was weißt denn du davon?“ Viadur wurde wütend. „Was weißt du davon? Ja, ich habe es getan. Schon seit geraumer Zeit. “ Seine Worte klangen wie ein Keuchen, da er vor Erregung kurzatmig wurde. „Ich habe die Geheimnisse offenbart. Ther war nicht der erste, den ich beschworen habe. Doch er war zu stark für mich. Sein Genie hat mit meinem Willen gekämpft, und ich wurde schwach und habe die Kontrolle verloren. Ich muß von der Belastung ohnmächtig geworden sein. Aber wir müssen nicht unbedingt Omir etwas davon sagen. Hör zu, Crispan, dies ist eine große und wertvolle Kunst, eine, die wir weiterentwickeln müssen. “ Seine Worte flössen wie ein Gebirgsbach, und er sprang auf und griff nach Crispan, als ob er ihn schütteln wollte. Crispan wich zurück, und sein Gesichtsausdruck verriet eine noch größere Abscheu, einen noch größeren Ekel. Die Korruption, die er so nahe spürte, widerte ihn an. „Du bist wahnsinnig, Viadur. Man darf dir nicht erlauben, das weiterzubetreiben. Es kann nur zu deiner Vernichtung führen, und auch zur Vernichtung des Ordens.“ Viadur wollte antworten, als Omir hereintrat. „Was geht hier vor? Und woher kommt dieser entsetzliche Gestank?“ Crispan antwortete sofort. „Sieh dir das an“, sagte er und reichte dem Hochmeister das verbotene Buch. Omir warf nur einen Blick darauf und sah dann Viadur an, sein Gesicht finster vor Wut und Ekel. „Woher hast du das Buch?“ Viadur blieb völlig ruhig; er hatte sich für eine Pose der Arroganz entschieden. Seine kantigen Gesichtszüge wirkten im Kerzenlicht noch schärfer als sonst. „Hast du dies praktiziert?“ Wieder keine Antwort. „Das hat er, Omir“, sagte Nujhir. „Ich selbst habe den großen Ther auf dem Korridor vor diesen Räumen gesehen.“ „Das ist wahr“, bestätigte Crispan. „Er hat das und mehr mir gegenüber zugegeben.“ Omir war sprachlos. „Dies ist ein sehr ernstes Problem. Ruft einige Adepten und laßt Viadur von ihnen in mein Studio bringen. Crispan, benachrichtige die anderen Meister, daß ich für morgen bei Tagesanbruch eine Sitzung des Rats anberaumt habe. Viadur, du hast uns alle verraten“, sagte er und schüttelte das ledergebundene Buch vor der schmalen, scharfen Nase des Nekromanten. „Mir wird übel, wenn ich nur daran denke.“ Viadur schwieg noch immer, und ein verächtliches Lächeln spielte um seine Lippen. Omir wandte ihm den Rücken zu und verließ den Raum, um die Anklage gegen seinen MeisterKollegen vorzubereiten. Noch nie hatte ein anderer Hochmeister vor einem so schwerwiegenden Problem gestanden, sich einem so furchtbaren Verbrechen gegenübergesehen. Die beiden anderen Meister wurden von einem Adepten geweckt und von der bevorstehenden Sitzung in Kenntnis gesetzt. Der Grund dafür wurde ihnen nicht genannt, und sie verbrachten die letzten Nachtstunden damit, darüber nachzudenken, waren jedoch klug und erfahren genug, diese Gedanken für sich zu behalten. Als die Hähne die ersten Sonnenstrahlen begrüßten, traten die Meister nacheinander in den Sitzungsraum. Crispan und Nujhir waren als erste dort, müde und erschöpft nach den Ereignissen dieser Nacht. Als nächster traf Gorham ein und setzte sich Crispan gegenüber. Kurz nach ihm erschien auch Eliborg. Ein Diener trat herein, zog die Vorhänge auf und löschte dann die Kerzen zwischen angefeuchteten Fingern. Fahlgrauer Rauch schwebte durch das frühe Tageslicht, das fast die gleiche Farbe hatte. Der Diener klopfte an die Tür, die zu Omirs Studierzimmer führte, und der Hochmeister trat herein. Mit langsamen, schweren Schritten ging er zu seinem geschnitzten Stuhl am Kopfende des Tisches und ließ sich hineinfallen. Er spreizte die Hände ent lang der Tischkante und blickte die anderen der Reihe nach an. „Es ist ein überaus trauriger Anlaß, der mich gezwungen hat, euch herzurufen, und ich entschuldige mich für die frühe Stunde.“ „Wo ist Viadur?“ unterbrach Gorham, dessen sonst immer ruhige Stimme eine gewisse
Erregung verriet. Omir seufzte. „Viadur ist der Anlaß für diese Sitzung. “ Besorgnis zeigte sich auf den Gesichtern Gorhams und Eliborgs. „Nein, Viadur ist nicht tot, und auch nicht krank. Die Dinge stehen viel schlimmer. Heute nacht haben Nujhir und Crispan ihn überrascht, als er“ - Omir erschauderte „Nekromantie praktizierte.“ Die anderen Meister blickten einander ungläubig an. Omir lehnte sich in seinen Stuhl zurück und sagte zu Nujhir: „Berichte uns, was gestern nacht geschehen ist.“ Nujhir und, nach ihm, Crispan erzählten, was sie vor wenigen Stunden erlebt hatten. Während sie sprachen, starrten die beiden anderen Meister sie entgeistert an, unfähig, glauben zu können, daß so etwas geschehen sein konnte. Als Nujhir und Crispan ihre Berichte abgeschlossen hatten, herrschte ein drückendes Schweigen. Gorham brach es als erster. „Sollten wir nicht auch Viadur zu Wort kommen lassen, damit er sich verteidigen kann?“ Omir nickte müde, und Crispan ging zur Tür und öffnete sie. Viadur, von zwei Adepten bewacht, trat herein. Einer der beiden jungen Männer war Elthwyn. Die drei blieben beim Kopfende des Tisches, in der Nähe Omirs, stehen. Eliborg fragte Viadur mit der ihm eigenen Direktheit: „Ist diese Geschichte wahr?“ „Was für eine Geschichte?“ fragte Viadur ausweichend. „Wie du siehst, bin ich anderswo festgehalten worden.“ Eliborg runzelte verärgert die Stirn. „Hast du Nekromantie praktiziert?“ Viadur sah den Männern an dem langen Eichentisch nacheinander in die Augen, wich jedoch Nujhirs und Crispans Blicken aus. Dann warf er den Kopf zurück und reckte seinen Spitzbart vor. „Ja!“ Die anderen Meister waren schockiert. Eines solchen Verbrechens beschuldigt zu werden und es offen und ohne jedes Schamgefühl einzugestehen... es gab kein Präzedens für so ein Verhalten. Eliborg erholte sich als erster von seinem Schock und sagte mit leiser, bedrückter Stimme: „Dann können wir nichts mehr tun. Die Konsequenzen sind festgelegt. “ Seine Kollegen nickten ernst. Viadur stand reglos, unberührt von der Verdammung durch seine Richter. „Urteilt nicht voreilig“, sagte er ruhig. „Hört mich an und laßt mich euch erklären, was ich getan habe.“ Er schüttelte den Kopf, um ein paar Strähnen seines langen, graumelierten Haars zurückzuwerfen, und atmete dann tief durch. „Ich werde angeklagt, Nekromantie praktiziert zu haben, und ich gebe es zu. Doch aus welchem Grund wird das als Verbrechen angesehen? Warum diese willkürliche Beschränkung unserer Kräfte? Das ist doch wider die Natur, und ich habe in
langer, heimlicher Arbeit sehr viel dazu beigetragen, diese Lücke in unserem Wissen zu schließen.“ Vladurs Augen begannen zu glühen, genau wie in der vergangenen Nacht, als er versucht hatte, Crispan für sich zu gewinnen. „Aus Bü chern, die ich mir heimlich in allen drei Reichen und anderen Teilen der Welt beschaffen konnte, habe ich diese Kunst erlernt. Ich bin der Überzeugung, daß wir sie praktizieren und unseren anderen Künsten hinzufügen müssen. Versucht euch doch einmal unseren Machtzuwachs vorzustellen, wenn wir unsere Vorgänger herbeirufen und von ihrem Wissen zehren können. Ein unerschöpfliches Heer von Arbeitern und Dienern stünde uns zur Verfügung. All dies und mehr liegt im Bereich des Möglichen. Was ich bisher erreicht habe, ist lediglich ein Be ginn. Wenn wir diese Kunst nicht weiterentwickeln, verurteilen wir uns zur Stagnation. Es wird Zeit, daß wir endlich neue Wege des Wissens eröffnen. Ich habe mich keines Verbrechens schuldig gemacht, sondern nur versucht, unser Wissen im Interesse aller zu erweitem. “ Sein Gesicht glänzte vor Erregung und Enthusiasmus, als er zu Ende kam. Die Reaktion auf diese wahnsinnigen Auslassungen war schockiertes Schweigen. Die anderen Meister starrten ihn entsetzt an. Zuerst die Aufdeckung der Praktizierung von Nekromantie, dann das Geständnis und jetzt diese leidenschaftliche Rechtfertigung des Verbrechens1 . Mit mühsam unterdrückter Indignation über diesen Wahnsinn erhob sich Omir, um den abgefallenen Magier zum Schweigen zu bringen und das Urteil über ihn zu fällen. Der Ausdruck von Schock, den sein Gesicht anfangs gezeigt hatte, war von einem Ausdruck maßlosen Ekels verdrängt worden, als ob er sich gezwungen sähe, etwas stinkend Fauliges zu berühren. „Als die Geister den Menschen schufen, zeichneten sie ihn gegenüber allen anderen Kreaturen aus: Sie gaben ihm die Sprache, die Fähigkeit, sein Leben selbst zu gestalten und zu verbessern, die Macht des Denkens und Wissens. Doch dort zogen sie eine Grenze, um dem Menschen nicht zuviel zu geben und ihn zur Faulheit zu verleiten und gleichzeitig auf die Geister selbst neidisch zu machen. Und doch gewährten sie einigen wenigen Menschen die Macht, diese von ihnen gezogene Grenze durch jahrelanges Studium zu überschreiten. Diese Menschen, die Magier und Zauberer, erhielten die Erlaubnis, den Schleier zu durchstoßen, den die Geister gespannt hatten. Doch gibt es noch einen Schleier, den niemand durchstoßen oder lüften darf: den Schleier des Todes. Um den Menschen - alle Menschen - an seine geringere Position zu erinnern, wurde er dem Sterben unterworfen. Ein Verstoß gegen dieses Gesetz, die Anrufung und Beschwörung von Toten durch unsere Künste, und besonders ihre Wiedererweckung, stellt deshalb eine frivole Herausforderung der Allerhöchsten dar.“ Omir wandte den Kopf und blickte Viadur an. „Und dieses Verbrechen - das niedrigste und schlimmste, das ein Mensch, und besonders ein Meister der Fünf Künste, begehen kann - hast du begangen und eingestanden. Ich erzittere vor dem, was du getan hast, und vor den Konsequenzen, die du dafür erleiden mußt. “ Mit einer harten Geste seiner Hand setzte er hinzu: „Bringt den Gefangenen hinaus!“ Sonnenlicht flutete jetzt in den Raum und verstärkte den warmen Effekt, der durch die dunkelroten Vorhänge hervorgerufen wurde, doch das wurde von keinem der Männer wahrgenommen. Nachdem Viadur hinausgebracht worden war, wandte sich Omir an die vier Meister und sagte: „Unser Gesetz ist klar. Über die Strafe kann es keine Diskussion geben. Es bleibt nur die Frage, auf welche Weise er hingerichtet werden soll.“ Sie hatten vom Augenblick seines Geständnisses an gewußt, daß Viadur für sein Verbrechen zum Tod verurteilt werden würde, und doch war es für sie ein Schock, als Omir es aussprach. „In meinem ganzen Leben ist der Orden nicht in eine solche Schande gestürzt worden“, murmelte Nujhir kopfschüttelnd. „Ich habe nie gehört, daß so etwas schon einmal geschehen sei. Nie.“ Es war Eliborg, der sie daran erinnerte, daß es eine festgelegte Art der Hinrichtung gab, und er erwähnte auch die entsetzliche Zeremonie, die ihr folgen mußte. Dann fragte er: „Wer soll das Urteil vollstrecken?“
Omir seufzte schwer. „Ich werde es tun. Ich bin der Hochmeister.“ „Es gäbe noch einen anderen Weg“, sagte Gorham, „eine Strafe, die schlimmer ist als der Tod.“ „Wie?“ fragte Omir. „Unsere Gesetze lassen uns vor allem bei einem solchen Verbrechen keinerlei Spielraum.“ „Nimm ihm seine Kunst; seine Bücher, seine Notizen, seine Geräte - alles. Und dann verstoße ihn aus dem Orden ins Exil. Teile allen in der Welt lebenden Mitgliedern des Ordens mit, daß er ein Ausgestoßener ist, dem niemand in irgendeiner Form helfen darf. Wer würde ihn unter solchen Umständen bei sich aufnehmen? Wie könnte er dann seine Künste praktizieren? Er soll irgendwo ein dürftiges, armseliges Leben fristen, abgeschnitten von allem, was er seit seiner Jugend gekannt hat, von allen Menschen gemieden, besonders von den Mitgliedern des Ordens. Ich bin sicher, daß dies für ihn eine weitaus härtere Strafe sein würde als ein rascher Tod.“ Die Ereignisse der vergangenen Nacht waren so plötzlich und unvermutet eingetreten, daß die Meister nicht genügend Zeit gehabt hatten, das ganze Ausmaß von Vladurs Verbrechen zu erkennen und zu begreifen. Für sie war er noch immer der Kollege und Lehrer, und deshalb waren sie jetzt nur zu bereit, ihm den Tod zu ersparen. Einstim mig erklärten sie sich mit Gorhams Vorschlag einverstanden - alle außer Omir. Der Hochmeister zögerte. „Unsere Gesetze sind in diesem Punkt sehr genau“, sagteer. „Wir dürfen nicht von ihnen abweichen. “ Doch selbst in seiner Stimme lag ein leiser Ton von Unsicherheit. „Könnten wir nicht Gorhams Vorschlag folgen, vielleicht in Anerkennung dessen, was Viadur zu unserem Wissen beigetragen hat, bevor er so tief sank?“ Auch Crispan wollte seinen ehemaligen Lehrer retten, und Eliborg stimmte ihm bei. „Schließlich“, setzte Nujhir hinzu, „ist so ein Urteil noch niemals verhängt und vollstreckt worden.“ „Natürlich nicht“, sagte Omir. „Es ist ja auch noch niemand wegen eines so furchtbaren Verbrechens angeklagt worden.“ „Dann brechen wir also kein Präzedens. “ Gorham hatte noch immer Hoffnung, daß man seinem Vorschlag folgen würde. „Statt dessen schaffen wir eines, indem wir diese Art der Bestrafung einführen, und ich bin nach wie vor überzeugt, daß sie härter ist.“ Omir ließ sich schwer auf seinen Stuhl fallen. „Ich kann diese Entscheidung nicht allein treffen. Laßt uns abstimmen. Wer ist für Gorhams Vorschlag der Exilierung?“ Alle vier Meister hoben ihre Hände. „Dann ist es entschieden. Doch das Urteil muß noch heute abend vollstreckt werden.“ Gorham schien noch etwas sagen zu wollen, lehnte sich dann jedoch zurück, als ob er es sich anders überlegt hätte. Viadur wurde wieder hereingeführt und starrte seine Ankläger wütend an. Seine Augen glühten noch immer, sein Kinn mit dem Spitzbart war arrogant und aggressiv vorgereckt. Der Hochmeister stand steif aufgerichtet am Kopfende des langen Eichentisches. „Ich will es kurz machen, Viadur. Es ist beschlossen worden, daß du eine härtere Strafe verdienst als einen raschen Tod. Heute nacht sollen alle deine Bücher, Notizen und Geräte verbrannt werden. Man wird dich zum Tor des Auges bringen und aus dem Orden für immer ausschließen. Jedes Mitglied des Ordens, das in der Welt dient, wird angewiesen werden, dich zu meiden. Du bist von jetzt an für uns alle mit dem Bann belegt. Niemand wird dir irgendwelche Hilfe gewähren, und sä es bei den einfachsten Lebensbedürfnissen. Du bist für immer aus unserer Gesellschaft und von unseren Künsten verbannt. Du wirst deine Tage fern von allem, was bis jetzt dein Lebensinhalt war, verbringen. Das ist unser Beschluß.“ Der abgefallene Meister schien unbeeindruckt von diesem Urteilsspruch. Er stand reglos, mit trotzig vorgerecktem Kinn, und zeigte keinerlei Reaktion. Omir trat um den Tisch herum auf Viadur zu. Mit einer müden, resignierten Geste löste er das purpurfarbene Amulett vom Hals Vladurs, trat zum Tisch zurück und legte es auf eine silberne Plat te, die ein Diener hereingebracht hatte. Aus einer reichgeschnitzten Truhe, die hinter ihm stand, nahm er die zeremonielle Axt, die mit einer großen Zahl von goldenen, mystischen Symbolen verziert war.
Mit einem plötzlichen, harten Schlag zertrümmerte er den Talisman. ]eder der Männer im Raum, selbst Viadur, fuhr bei dem krachenden Geräusch und dem Anblick der nach allen Seiten spritzenden Splitter von Gold und zerbrochenem Stein zusammen. Omir starrte auf die Rmte. Ohne den Blick zu heben, machte er eine erschöpfte Handbcuv^ung. „Das Urteil ist gesprochen. Bringt ihn fort.“ Wieder wurde Viadur in Omirs Studierzimmer gebracht. Der Hochmeister wandte sich an Crispan. „Schicke ein paar Adepten in Vladurs Räume. Sie sollen seine sämtlichen Bücher, Notizen, Geräte und alles andere in den Hof bringen und dort auf einen Haufen werfen.“ Eine steife Brise wehte in dieser Nacht. Omir und die vier verbliebenen Meister standen vor dem Haufen, der im Hof aufgeschichtet worden war. Diener standen mit langen Piken bereit, um das Feuer damit zu schüren, neben sich mehrere Krüge mit öl. Der Hochmeister, dessen langer, grauer Bart im Wind wehte, gab ihnen ein Zeichen. Auf diesen Befehl hin warfen sie die Krüge auf den Haufen; sie zerbrachen, und ihr Inhalt rann dickflüssig über Vladurs aufgeschichtete Habe. Omir richtete den Blick himmelwärts und streckte mit beiden Händen Vladurs wichtigsten Text, Artis Necromanci, vor. Eliborg reichte ihm einen brennenden Kienspan. „Wir sind durch das niedrigste aller Verbrechen entehrt worden, das ein Mitglied des Ordens begehen kann. Sein Schicksal soll all denen zur Warnung dienen, welche die Grenzen zu überschreiten wagen, an die selbst wir, die Menschen höheren Wissens, gebunden sind. “ Bei diesen Worten hielt Omir das verbotene Buch in die Flamme des Spans, bis es Feuer fing. Dann warf er das brennende Buch auf den Haufen und den Span hinterher. Ein fauchender Knall ertönte, als Vladurs Eigentum explosionsartig in Flammen aufging. Alle traten instinktiv ein paar Schritte zurück, um der Hitze auszureichen, die von dem Scheiterhaufen ausging. Das Aufflammen des Feuers war für Elthwyn und drei andere Adepten das Signal, Viadur herauszubringen. Seine Hände waren noch immer gebunden, als sie ihm in den Sattel halfen und einen Sack mit drei Tagesrationen an den Sattelknopf hingen. Das Klappern der Hufe vermischte sich mit dem Heulen des Windes und dem Prasseln der Flammen. Der Renegat, dessen graumeliertes Haar vom Wind zerzaust wurde, sah die Meister nebeneinander vor dem brennenden Scheiterhaufen stehen, reglos wie Statuen. Er konnte fühlen, daß ihre Blicke die Flamme durchdrangen und sich in ihn hineinbohrten. Die Meister blickten der kleinen Prozession nach, die quer über den Hof zog. Noch immer zeigte Viadur nicht die geringste Spur von Bedauern oder Reue. Aufrecht und mit hoch erhobenem Kopf saß er auf dem Pferd, als er zu dem Tor in der Umfassungsmauer eskortiert wurde. Sein Blick war starr geradeaus gerichtet, und er sah nicht einmal zu den Gestalten hinüber, die um das lodernde Feuer standen. Die Prozession wurde bald von der Dunkelheit verschluckt, die hinter dem offenen Tor lag und die nicht einmal die Helligkeit des lodernden Scheiterhaufens durchdringen konnte. Niemand rührte sich, als der Renegat und die Adepten im Dunkel verschwanden. Alle Blicke waren auf das Feuer gerichtet. Crispan öffnete seinen Mantel, als die Hitze der Flammen immer stärker wurde. Eine dichte, dunkle Rauchsäule stieg jetzt bis über das Dach des Gebäudes empor und wurde dort von dem scharfen Wind mitgerissen. Der ganze Hof war in ein grelles orangefarbenes Licht getaucht. Crispan warf einen Blick auf die hell erleuchtete Fassade des Gebäudes und sah die Gesichter aller Novizen, Schüler und Diener in den offenen Fenstern. Er blickte wieder in die Flammen und dann zu Omir hinüber, der jetzt die Zeremonie durchführte, die nötig war, um die Reste des zerschlagenen Talismans zu vernichten und den Ausstoß Vladurs zu besiegeln. Im Licht der Flammen war der Ausdruck des Schmerzes zu erkennen, der sich tief in das Gesicht des Hochmeisters eingegraben hatte. Er war während dieses Tages sichtlich gealtert. Sie blieben alle so stehen, bis die letzte Glut erlosch und im Osten das erste milchiggraue Licht des neuen Tages über den Horizont stieg.
IX Durch die Großen Berge Es schien alles ein Traum. Irgendwie war aus dem Dunkel der Nacht ein erstes, fahles Dämmerlicht geworden, und Crispan konnte sich nicht erinnern, geschlafen zu haben. Er wußte nur, daß er irgendwann aufgestanden und in sein Studierzimmer gegangen war, um ein paar wertvolle Bücher aus dem Regal zu nehmen. Es waren so viele, von denen er wenigstens ein paar herausziehen oder auch nur berühren wollte, bevor er fortging. Und jetzt stand er am Ende der großen Halle, vor der riesigen, zweiflügeligen Tür. Er war hier völlig allein und lauschte in die beruhigende Stille des schlafenden Gebäudes. Und dann trat er aus der Wärme in die kalte Morgenluft. Die das Hochplateau umgebenden Gipfel und Grate lagen unter einem Schleier von Frühnebel. Crispan seufzte, als er umherblickte. Er zuckte die Schultern und ging die Treppe hinab zu dem wartenden Pferd und den beiden Kriegern. Zoltan saß zurückgelehnt im Sattel und gähnte mit weit geöffnetem Mund. „Guten Morgen“, sagte er durch ein zweites Gähnen. Crispan nickte und schwang sich in den Sattel. „Fertig?“ fragte Mikal. Crispan nickte wieder. „Niemand, der uns verabschiedet?“ Zoltans Frage blieb unbeantwortet. Crispan ritt an der Spitze, als sie den Hof überquerten. Omir hatte es für das Beste gehalten, wenn niemand Crispan fortreiten sah. Es wäre für Crispan besser so, und es würde die Vorstellung verstärken, daß der Orden nach wie vor über den Zwisten stand, die sich außerhalb seiner Mauern abspielten. Und doch wurde Crispan die schmerzliche Ironie bewußt, daß Viadur vom ganzen Orden verabschiedet worden war, während er gezwungen war, sich fast wie ein Dieb davonzuschleichen. Er warf einen Blick an der Fassade des Gebäudes empor, zu den Fenstern der Räume des Hochmeisters. Wie Crispan gehofft hatte, stand Omir dort und blickte zu ihm hinab. Sie verließen den Hof durch das Tor in der Umfassungsmauer und ritten den schmalen Gebirgspfad entlang, der zum Äußeren Tor führte, das aus dem lebenden Fels geschlagen worden war. Die Morgenkälte war in dieser Höhe sehr empfindlich, und die drei Reiter zogen ihre Mäntel fester um sich. Der enge Pfad führte an den dunklen Bergriesen vorbei zum Äußeren Tor, aus den Großen Bergen hinaus zur endlosen Ebene im Westen. Und mit jedem Schritt seines Pferdes fühlte Crispan sich weiter von all dem fortgerissen, das bisher sein Leben erfüllt hatte. Er konnte sein Gefühl nicht ganz verstehen, als er unter dem fünfeckigen Auge, das am Eingang der Passage in den Fels ge schlagen war, hindurchritt. Genau wie alle anderen Novizen war er häufig hierhergeschickt worden, um den Versorgungs karawanen auf dem schmalen, zum Orden führenden Bergpfad zu helfen. Doch er war nie unter dem Auge hindurch nach draußen getreten. Er hatte geholfen, die schweren Steintore zu öffnen und die willkommenen Händler zu begrüßen, doch niemals hatte er diese Grenze überschritten. Jetzt erst wurde ihm wirklich bewußt, daß er in die Welt ging und die Geborgenheit des Ordens hinter sich ließ. Der trancegleiche Traum, in dem er sich seit dem Erwachen bewegt hatte, löste sich auf, als er nach so vielen Jahren das Auge wiedererblickte. Er war, wußte er, ein einmaliger Fall in den Annalen des Ordens. Einer der jüngsten Meister, die es jemals gegeben hatte, war er nun der erste Meister der Fünf Künste, der seine erste Aufgabe jenseits der Mauern des Ordens erfüllte. Er blickte zurück, in der Hoffnung, noch einmal das Auge zu sehen, doch der gewundene Pfad hatte es bereits außer Sicht kommen lassen. Sie verbrachten kalte Nächte und windige Tage in den Großen Bergen, als sie im fahlen Sonnenlicht auf dem allmählich weiter werdenden, gewundenen Pfad abwärts ritten und sich während der Dunkelheit in schützende Höhlen verkrochen. Die Reise wurde auch nicht durch Gespräche erleichtert, denn sie schwiegen die meiste Zeit. Mikal und Zoltan fühlten sich in der Gegenwart eines Fremden gehemmt, und der Magier fühlte sich verloren und allein. Er hatte mit diesen Männern nichts gemeinsam und fühlte sich für die Aufgabe, die ihm bevorstand, nicht
gerüstet. Wenn Viadur wirklich dort draußen war, würden seine Kräfte ausreichen? Und noch mehr quälte ihn die Frage, was er tun sollte, falls Viadur nicht dort war. Was dann? Er würde sich noch hilfloser fühlen als jetzt. Dieses Gefühl lastete auf dem Magier während des ganzen folgenden Vormittags, so drückend wie eine zu schwere Bürde. Einmal hob er sogar unwillkürlich die Schultern, wie um diese Bürde abzuschütteln. Immer wieder fuhr seine Hand zu seiner Hüfte und schloß sich tastend um den Knauf des Schwertes, das Omir ihm gegeben hatte. Daumen und Zeigefinger fuhren immer wieder über den großen Knopf, der unter seiner Faust hervorragen würde, falls er diese Waffe jemals gebrauchen sollte, umspannten dann den Griff und fuhren über die Kreuzstange zur Scheide, von der seine Finger sich unwillkürlich ha stig zurückzogen. Wieder und wieder machten seine Finger unfreiwillig diese Reise, und jedes Mal wurde das bedrückende Gefühl schwerer. Jetzt begann es sich in ihm zu stauen, drückte auf seinen Magen und krampfte seine Kehle zusammen. Je weiter sie den Berg herabkamen, desto mehr verstärkte sich das Gefühl. Wieder und wieder, in immer kürzeren Abständen, tastete seine Hand jetzt nach dem Schwertknauf. Und auch die Spasmen in seinem Leib und in seiner Kehle folgten immer rascher aufeinander. Dann umfaßte seine Hand den Schwertgriff und riß die Klinge aus der Scheide. Das schabende Geräusch, das das Ziehen eines Schwerts verursacht, ließ die beiden anderen Männer herumfahren. Zoltan, dessen rechte Hand ebenfa lls am Schwertgriff lag, zügelte sein Pferd. „Was ist los, Mann? “ Crispan blickte auf die glänzende Klinge, die auf irgendeine Weise mit seinem Arm verwachsen schien. Dann hob er den Kopf und sah Mikal und Zoltan an. „Dieses Schwert“, sagte er. „Ich weiß nicht, wie man es gebraucht. “ Die beiden Krieger tauschten einen Blick und schienen etwas überrascht. Mikal brach die kurze, verlegene Stille. „Nein? Ich dachte, daß jeder Mann...“ Zoltan mischte sich mit der ihm eigenen Direktheit ein. „Bei den Geistern! Wenn das alles ist, können wir dem abhelfen. Ein bißchen Übung am Morgen und ein bißchen am Abend. Wir werden es dir schon beibringen.“ Crispan lächelte matt und steckte sein Schwert in die Scheide zurück. Die Bedrückung wurde etwas erträglicher, als sie ihre Pferde wieder antrieben und weiterritten. Doch kurz darauf fühlte er die Last wieder auf seinen Schultern, und ihm war, als ob sie ihn über den Rücken seines Pferdes hinweg angesprungen hätte. Die Angst, die er während seiner letzten Nacht im Orden verspürt hatte, kehrte zurück. Er hatte plötzlich das Gefühl, in einen riesigen, unbekannten Raum zu treten, an irgend einem Ort zu sein, der ihm völlig fremd war, wo er nicht wußte, wo irgend etwas war oder wohin irgend etwas gehörte. Im Orden hatte er alles verstanden, war ihm alles sinnvoll erschienen, dort hatte er sich als Herr seines Lebens und seiner Umwelt ge fühlt. Aber hier draußen war es anders. Bestimmt würde er sich nicht so fühlen, wenn er jetzt als Berater zu einem Herrscher ritte. Zumindest würde er dann seine Kunst praktizieren können. Doch jetzt war er eher die Waffe für einen großen Kriegsherrn, eine Waffe, die nur einen Zweck hatte, und dieser Zweck mochte gar nicht existieren oder einem falschen Ziel dienen. Ihm war befohlen worden, sich von allem zu lösen, das seinem Leben jemals Sinn und Inhalt gegeben hatte, und für etwas zu arbeiten, das ihm bestenfalls vage erschien und im schlimmsten Fall absolut falsch und unrecht war. Der Pfad wurde breiter und die Luft wärmer, als sie auf die westliche Ebene zuritten: Die Steine waren abgerundeter und zeigten weniger schroffe Profile. Die Schneefelder wurden zunehmend kleiner und weniger, und die meisten waren bereits geschmolzen und rannen in Höhlungen, die vom Tauwasser im Lauf von Jahrmillione n in den Fels gewaschen worden waren. Alles wies darauf hin, daß sie sehr bald die Großen Berge hinter sich lassen würden. Zoltan hatte am Vortag sogar schon einen Vogel am Himmel gesehen, keinen Bergadler, sondern eine Krähe oder einen Raben, der von Osten her kommend eine Weile über ihnen kreiste. Inzwischen war der Pfad so breit geworden, daß sie nebeneinander reiten konnten, und dieser Umstand erlaubte ihnen gelegentliche Gespräche. Crispan war meistens Zuhörer für Zoltans Erzählungen von seinen
Heldentaten auf dem Schlachtfeld und im Bett und für Mikals Berichte über die Situation, auf die sie jetzt zuritten. Sie erreichten die Innenseite des Osttors, als es noch hell war. „Am besten lagern wir heute nacht hier, wo wir nicht gesehen werden können“, sagte Mikal und dachte an den hochaufragenden Wächter auf der Ebene, die hinter dem Tor lag. „Wir müssen früh schlafen gehen und zeitig aufbrechen. Ab morgen werden wir nur noch wenig Zeit haben, um uns auszuruhen, und können es nicht mehr riskieren, Feuer zu machen.“ „Richtig“, fügte Zoltan hinzu, „und auch nur wenig Zeit zu Fechtübungen. Also los, Crispan!“ Während Mikal ein Feuer anzündete, gingen sein Freund und Crispan mit ihren Schwertern aufeinander los. „Meine Augen, Crispan! Achte auf meine Augen! Meine Klinge wirst du immer sehen, selbst wenn es fast dunkel ist. Aber meine Augen sagen dir, wohin sie treffen soll. “ Während sie ihre Schwerter schwangen, rief Zoltan wieder und wieder seine Instruktionen. „Und verrate mir nicht jedes Mal, wohin du schlagen willst. Sieh eine Öffnung in meiner Deckung, ohne darauf zu starren!“ Crispans Schwert fuhr auf und herab, er schlug und stach, und es strengte ihn erheblich weniger an als an den vergange nen Tagen. Plötzlich sah er, daß Zoltans rechte Seite ungedeckt war. Mit zusammengepreßten Lidern sprang er vor und schwang sein Schwert. Nur die schnellen Reflexe des kräftigen Söldners retteten ihn vor dem Hieb. „Genug, genug! Bei den Geistern, das war gut!“ Zoltan trat einen Schritt zurück. „Ein schlechterer Fechter würde jetzt ein paar Krüge Blut auf diesem Felsen lassen.“ Mikal erkundigte sich kurz darauf nach den Fortschritten des Schülers. „Nicht schlecht“, sagte Zoltan. „Nicht schlecht.“ Crispan war enttäuscht. „Du bist noch kein großer Krieger, Crispan“, sagte Zoltan ermunternd, „aber ich würde mit dir Rücken an Rücken kämpfen!“ Das war ein großes Kompliment von einem Soldaten, und Crispan verstand es auch so.
X Die Bedeutung der Magie Sie aßen gut an diesem Abend und nutzten das Feuer, das sie ab morgen entbehren mußten, noch einmal aus. Crispan drängte sich in die Wärme der Flammen und dachte zurück an seinen ersten Ritt über die weite Ebene und durch die Großen Berge. Seine Gedanken führten ihn weit in den Westen zu einem Dorf, das er vor vielen Jahren verlassen hatte. Er dachte an seine Familie und fragte sich, wie es ihr während dieser Zeit ergangen sein mochte, wer von ihnen noch am Leben war und ob sie noch dort lebten, wo er sie damals verlassen hatte. Sein Vater war ein kräftiger Mann namens Otho, der die Herberge und Schenke in einem Dorf besaß, das etwa sechs Tagesreisen nördlich der Grenze von Vadul lag, mitten im Trümmerfeld des Großen Reiches. Das Leben war ruhig dort, dAdas Land nach dem Fall des Großen Reiches unzählige Male überrannt und ausgeplündert worden war. ]etzt kämpften die Menschen ums Überleben auf einem Boden, der zu ausgelaugt war, um ihre Mühen besser lohnen zu können. Otho ging es besser als vielen anderen, da er sein Geld von Nachbarn verdiente, die abends auf einen Krug Bier hereinkamen, und von gelegentlich über Nacht bleibenden Söldnern, die durch das Dorf kamen, um sich irgendeiner Söldnerarmee anzuschließen. Als Crispan elf Jahre alt war, traf ein interessanter Reisender in der Herberge ein. Crispan sah ihn vom Fenster eines Zimmers im Obergeschoßaus, das er gerade gesäubert hatte. Der Mann war ungeuwhnlich groß, hager und hatte einen kahlrasierten Schädel und einen langen, grauen Bart. Crispan bemerkte, daß er gut gekleidet war, jedenfalls im Vergleich zu den Männern, die üblicherweise hier abstiegen, und ihm fiel vor allem das herrliche, lavendelfarbene Amulett auf, das der Fremde an einer Goldkette um den Hals trug. Crispan ließ seinen Besen fallen und lief nach unten, als ob er dem Mann helfen wollte, seine Sachen von seinem Pferd zu nehmen und sie ins Haus zu tragen, doch in Wahrheit nur, um sich ihn genauer anzusehen. Sein Vater und zwei jüngere Brüder trugen bereits die Bündel des Mannes in die Herberge, und Crispan entdeckte ein Buch, das unbemerkt herausgefallen sein mußte und am Boden lag. Er nahm es auf und blickte rasch umher, um festzustellen, ob man ihn dabei beobachtet hatte. Als er sich überzeugt hatte, daß er allein war, warf er einen Blick auf den Einband, auf dem in goldenen Lettern der Titel The Magicker’s Elementaries stand. Dies war das erste neue Buch, das er seit über vier Jahren zu Gesicht bekam. Das Dutzend Bücher, das die Familie besaß, stammte aus dem Besitz eines durchreisenden Gelehrten, der in der Herberge gestorben war, ohne vorher seine Rechnung beglichen zu haben. Crispan preßte das Buch gierig an seine Brust, und nachdem er sich noch einmal versichert hatte, unbeobachtet zu sein, lief er in den Keller. Den ganzen Nachmittag über hockte er dort zwischen Mehlsäcken und blätterte eine Seite nach der anderen um. Erst als er merkte, wie viel er gelesen hatte, erkannte er, daß er zu spät kommen würde, um das Abendessen auftragen zu helfen. Er stürzte zur Treppe, blieb jedoch plötzlich stehen, als ihm einfiel, daß er seinen neugewonnenen Schatz irgendwo verstecken mußte. Crispan wollte das Buch zwischen die Mehlsäcke stecken, doch dann überlegte er, daß vielleicht eine Maus daran knabbern könnte. Schließlich stieg er auf ein Bierfaß und schob das Buch hinter eine unordentliche Reihe von Krügen, die auf einem Regalbrett standen. Bevor er es aus der Hand legte, las er jedoch noch einmal den Titel: The Magicker’s Elementaries. Eine seltsame Be zeichnung! Otho sah ihn an, als er sich in die Küche schlich. „Du kommst spät. Wo hast du gesteckt? Wieder draußen am Fluß mit deinen Freunden?“ „Nein. Ich war unten im Keller. Ich habe... aufgeräumt und bin auf den Mehl- und Kornsäcken eingeschlafen.“ „Ha. Aus dir wird nie ein richtiger Arbeiter, das ist sicher. Hier, bring das unserem neuen Gast. “ Othos kräftige Hände drückten dem Jungen ein Holztablett auf die Arme und schoben ihn zur
Tür, die von der Küche in den Gastraum führte. Das Abendessen bestand aus wenig Fleisch, einer dünnen Suppe und einem Brot, auf das eine sparsame Schicht Schmalz gestrichen war. Crispan trug das Tablett durch den Gastraum, stellte es aufderfleckigen Tischplatte ab und wollte rasch in die Küche zurück. Doch er blieb stehen, als er die Stimme des Fremden sagen hörte: „Komm her, Junge.“ Crispan wandte sich zögernd um. „Ja?“ Seine Stimme zitterte etwas. Der Reisende schwang lächelnd seinen mächtigen Bart hin und her und fragte: „Hat dir das Buch gefallen, Junge?“ Seine Stimme klang neugierig, aber freundlich. „Das Buch?“ „Ja. Ich habe eines fallen lassen, als ich ins Haus ging. Hat es dir gefallen? Oder sollte ich wohl eher fragen: Kannst du eigentlich lesen?“ „Aber ja, ja. Ich kann lesen.“ In die Augen des Mannes trat ein leichter Glanz. „Und hat das Buch dir gefallen?“ Crispans junges Gesicht wurde ernst. „Es war - interessant. Ich meine, ich habe begriffen, wie es geht, aber einige Teile waren sehr schwer zu verstehen. Doch ich begreife, wie alles gemacht wird. Ich habe sogar... “ Er verschluckte seine letzten Worte. Der Mann beugte sich vor. „Du hast sogar was? Was hast du getan?“ „Nichts, nichts. Ich habe nur begriffen, wie man es machen muß. Ich meine, wenn man alles wirklich glaubt, gelingt es auch.“ Der Reisende wirkte überrascht, drängte jedoch weiter: „Ja, ja. Aber was hast du getan?“ Er packte den Arm des Jungen, ließ ihn jedoch sofort wieder los. Die Berührung erschreckte Crispan, und er stieß erregt hervor: „Die Ratte. Ich habe eine Ratte gesehen.“ Der Mann reichte dem Jungen seinen Krug, um ihn zu beruhigen. „Keine Angst, Kleiner. Ich will dir nichts tun. Was war mit der Rat te?“ Crispan schluckte und wischte mit dem Handrücken Bierschaum von seinem Mund. „Nun, ich war unten im Keller und habe gelesen, als ich plötzlich diese Ratte sah. Wir haben da unten eine Menge Rat ten, nehme ich an, besonders wegen der Nahrungsmittel, die dort lagern. Also, ich las gerade über Presti... ah, Presti... “ Er versuchte, sich an das Wort zu erinnern. „Prestidigitatio.“ „Richtig. Und Levitation. Und ich habe es an der Ratte ausprobiert.“ „Wirklich? Undwas ist geschehen? „ DerMann hob erwartungsvoll die Brauen. „Nun ja, ich habe sie schon richtig anheben können, aber dann bekam ich sie nicht wieder herunter. Tut mir leid.“ Der Reisende lachte, und wieder trat
ein Glanz in seine Augen. „Bei den Geistern! Was hast du dann mit ihr getan?“ „Ich konnte sie doch nicht so in der Luft schweben lassen, also habe ich sie mit einem Bierkrug eingefangen und ihn umgekehrt ins Regal gestellt.“ „Wunderbar! Junge - wie heißt du?“ „Crispan.“ „Junge, bring mich zu dieser Ratte. “ Er lächelte amüsiert. Aber Crispan zögerte. Er sagte, er könne ihn nicht durch die Küche und an seinem Vater vorbei in den Keller bringen. „Wenn du um das Haus herumgehst, öffne ich dir die rückwärtige Falltür.“ Der Reisende nickte und stand auf und war im nächsten Augenblick schon aus der Tür. Crispan ging in die Küche und schlich sich an seinem Vater vorbei. Als er die Falltür aufstieß und den Kopf hinausstreckte, schob er ihn fast unter die lange Robe des Reisenden. Crispan gab ihm ein Zeichen, leise zu sein, und führte ihn die Stufen hinab in den Keller. Unten angekommen, kletterte er sofort auf ein Bierfaß und deutete auf das Regalbrett. „Hier ist sie“, sagte er. „Hebe den letzten Krug an!“ Crispan sprang vom Faß, als der Fremde seinen langen Arm ausstreckte und den mit dem Boden nach oben stehenden Krug anhob. Eine Ratte schwebte unter ihm hervor. „Ha ha! Wunderbar! Unglaublich! Nein, es ist ein Zeichen, Junge, so wahr ich Bellapon heiße. Es ist phantastisch!“ „Du bist nicht böse?“ „Böse? Im Gegenteil. Wie war noch dein Name?“ „Crispan.“ „Ja, natürlich. Ich muß mit deinen Eltern sprechen. Ha ha! Wunderbar!“ Bellapon fing die schwebende Ratte wieder mit dem Krug ein und stellte ihn ins Regal zurück. „Komm, wir müssen zu deinen Eltern gehen.“ Sie gingen jetzt durch die Küche, und als Otho sie die Kellertreppe hinaufkommen sah, verengten sich seine dunklen Augen mißtrauisch. „Was geht hier vor? Was habt ihr da unten gemacht? Etwa nicht genug zu essen auf deinem Teller?“ Er griff nach einem Fleischhacker. Bellapon trat vor und schüttelte Staub aus den Falten seiner Robe. „Nein, nein, guter Mann, du verstehst nicht. Ich war...“ „Hat der Junge dir den Weg gezeigt?“ knurrte Otho. „Ich weiß, wie man Diebe behandelt.“ Als sein Vater auf Bellapon zutrat, stellte Crispan sich vor ihn. „Nein! Wir haben nicht gestohlen.“ Crispans Mutter trat in die Küche. „Was geht hier vor? Otho! Leg den Fleischhacker fort!“ „Sie waren im Keller und haben gestohlen“, erklärte Otho. „Dein Sohn hat ihn hinuntergeführt.“ Bellapon hob die Hand. „Mein guter Mann, du verstehst nicht. Wir haben nur... nur miteinander gesprochen. Du hast einen sehr hellen Jungen, und ich möchte ihn morgen früh mit mir nehmen.“ „Oh! Dann bist du also Sklavenhändler. “ Wieder griff Otho nach dem Fleischhacker. „Nein, nein, nein. Du verstehst noch immer nicht. Laß es mich dir erklären. Mein Name ist Bellapon, und ich bin Mitglied des Ordens, Meister der Fünf Künste. “ Auf Othos bärtigem Gesicht zeigte sich noch immer kein Zeichen des Verstehens. „Ich bin Magier, ein Zauberer, und möchte deinen Sohn in die Lehre nehmen. Ich glaube, daß er eine außergewöhnliche Begabung für unsere Kunst besitzt.“ Othos Augen verrieten seine Skepsis. „Wir haben hier gerade genug, um satt zu werden. Ich kann ihm keine Lehre bezahlen. Er wird Schankwirt wie sein Vater.“ „Bitte. Wir werden von dir kein Lehrgeld für ihn verlangen. Ich nehme ihn nur mit.“ Otho begann, sich für die Idee zu erwärmen, doch Crispans Mutter griff Bellapons letzte Worte auf. „Mitnehmen? Für wie lange?“ „Für eine lange Zeit. Zehn Jahre, vielleicht länger.“
„Zehn Jahre? Otho, wir können Crispan nicht so lange fortgehen lassen.“ „Warum nicht?“ Otho dachte daran, daß sein ältester Sohn eine freie Lehrstelle erhalten und er einen Mund weniger zu füttern haben würde. „Aus ihm wird nie ein guter Schankwirt. Er ist ein Träumer. Ich sage, laß ihn gehen.“ Crispans Mutter setzte sich auf den einzigen Hocker, der in der Küche stand. „Ja, vielleicht hast du recht. Aber für so lange...“ „Der Junge ist klug“, sagte Bellapon, „zu klug, um Schankwirt zu werden.“ „Was hast du gegen Schankwirte?“ knurrte Otho. „Nichts, nichts. Aber wie du selbst sagtest, wird er in dem Beruf nie etwas leisten. Wahrscheinlich wird er deine Herberge in den Ruin treiben. Laß ihn mit mir gehen. Ich werde dafür sorgen, daß er mit euch in Verbindung bleibt, soweit es die Umstände erlauben.“ Crispans Mutter blickte ihren Mann zweifelnd an. In seinem Gesicht las sie, daß sein Entschluß gefaßt war. Sie wandte sich an ihren Sohn. „Was ist mit dir, Crispan? Willst du fortgehen?“ Crispan hatte noch keine Gelegenheit gefunden, darüber nachzudenken. Er blickte Bellapon an und dachte an die Ratte, die im Keller schwebte. Dann sah er einen seiner Brüder mit verklebten Schüsseln und Tabletts in die Küche kommen und mit mehreren gefüllten Bierkrügen in den Gastraum zurückgehen. „Ja, ja. Ich würde gerne fortgehen. Darf ich?“ Bellapon rieb sich die Hände. „Gut, gut. Dann ist es also geregelt. Wir reiten morgen früh, da ich in vier Tagen meine Eskorte und eine Handelskarawane in der Nähe der südlichen Grenze treffen muß. “ Bellapon blickte strahlend auf seinen neuen Schüler hinab. Wie Bellapon gesagt hatte, brachen sie am nächsten Morgen in aller Frühe auf. Crispans Vater war bereits bei seiner Arbeit und hatte den anderen Kindern die ihre zugewiesen. Crispans Mutter hatte die wenigen Sachen zusammengesucht, die er besaß, und sie zusammen mit einem Stück Brot und etwas kaltem Fleisch in einen Sack getan. Und dann war es Zeit zum Aufbruch. Bellapon war bereits aufgesessen und wartete nur noch darauf, den Jungen vor sich auf den Sattel ziehen zu können. Seine Mutter rief ihren Mann und die anderen Kinder heraus. Bevor sie kamen, gab sie Crispan den einzigen Rat, den sie ihm geben konnte. „Sei ein guter Junge“, sagte sie und küßte ihn auf die Stirn. Otho trat aus dem Haus. „Bist du fertig? Gut, dann zieh los. Sei folgsam und tue, was er dir sagt. “ Er wandte sich an Bellapon. „Er wird niemals ein guter Schankwirt“, sagte er. „Aber er ist ein guter Junge. Sorge gut für ihn. “ Dann packte er seinen Sohn und hob ihn auf das Pferd. Bellapon wußte, wann der richtige Zeitpunkt für den Abschied war, bevor es allen nur noch schwerer wurde. Er riß an den Zügeln, rief der Familie ein freundliches >Lebt wohl< zu, und sie ritten davon. Sie ritten lange und rasch an diesem Tag. Bellapon sprach fast ununterbrochen und füllte den Kopf Crispans mit allen möglichen Kenntnissen. Er sprach über Beschwörungen, Manifestationen und Zauberformeln, aber auch über so grundlegende Dinge wie Arithmetik und Rechtschreibung. Am meisten aber gefielen Crispan Bellapons Geschichten über Orte, an denen er gewesen war, und magische Experimente, die er durchgeführt hatte. Sie ritten lange und rasch an diesem Tag, und Crispan wußte nicht, wie weit die Strecke war, die sie zurückgelegt hatten, und wie lang der Weg, der noch vor ihnen lag. Als sie an diesem Abend lagerten, starrte Crispan lange in das wärmende Feuer und folgte mit seinen Blicken der aufsteigenden Rauchsäule, die zu den Wolken emporquoll, wo sie vom Wind verweht wurde. Der Himmel war Crispan noch nie so erschienen wie jetzt, so lebendig, so tief, so geheimnisvoll, so verlockend. Er spürte jede Bewegung über sich und die Persönlichkeit jedes der Akteure: der schleierartigen Wolken, der wunderbaren, stolzen Sterne, des warmen, beschützenden Mondes. Über ihm war ein Leben, dessen Vorhandensein ihm vorher nie richtig bewußt geworden war. Das Erstaunen und die Zufriedenheil, die ihn erfüllten, ließen ihn auch den Grund dafür erkennen, und das war die Magie. „Ist es wahr, Bellapon, daß die Sterne die Schönheit von Geistern und Helden sind?“ Der Magier lächelte. „Wer hat dir das gesagt?“
„Meine Mutter. Sie hat uns manchmal Geschichten erzählt und erklärt, daß sie in den Sternen niedergeschrieben sind, als Beweis dafür, daß sie geschehen sind, und damit alle es sehen können.“ Bellapons bärtiges Gesicht strahlte genausoviel Wärme aus wie das Feuer. „Und welche Geschichten hat sie euch erzählt?“ „Über die dort. “ Crispan deutete auf eine Gruppe von Sternen. „Über den Jäger, der für die Liebe des Mädchens starb. Kannst du die beiden sehen? Sie kommen Jahr für Jahr herauf und umkreisen den Mond und verschwinden dann wieder, und sie ist immer nur ein kurzes Stück hinter ihm. Mutter sagt, daß sie einander finden, wenn sie außer Sicht sind, unter den vielen anderen Sternen jedoch wieder voneinander getrennt werden und sich jedes Jahr erneut suchen müssen. Und dort. Jivir, der Krieger, und Rosinfar, der Drache. Kannst du sie alle sehen?“ Bellapon freute sich über den Eifer des Jungen. „Ja. Ich kenne sie gut. Aber es gibt noch andere Arten, die Sterne zu sehen. Sie sind Wegweiser für den Reisenden.“ „Oh, das weiß ich auch“, sagte Crispan stolz. „Ich weiß, wie ich mit Rosinfar zu meiner Linken und Bronas, dem Falken, zu meiner Rechten gehen muß.“ „Ja, aber es gibt noch andere Arten, sie zu sehen. Ein geschultes Auge kann die Geschehnisse kommender Tage aus den Sternen lesen. Es ist eine schwere Kunst, und man muß die Botschaften der Sterne so sorgfältig pflücken wie reife Früchte von einem überladenen Baum, doch ein voll ausgebildeter Magier kann es tun.“ Crispans Augen weiteten sich. „Kannst du es, Bellapon?“ Der Magier zuckte die Schultern. „Ja, aber nicht so gut wie einige andere. Es ist schon immer eine meiner schwächer entwickelten Gaben gewesen. Doch wir wollen es versuchen. Wann bist du geboren?“ „Im Zeichen des Offenen Auges.“ „Natürlich. Ich hätte es wissen müssen. Siehst du, allein das sagt mir schon einiges über dich. Viele Magier sind im Zeichen des Offenen Auges geboren worden. Weißt du, in welcher Phase?“ „Ziemlich am Ende, glaube ich. Nur ein paar Tage vor dem Schwert.“ Bellapon blickte ihn überrascht an. „Das ist höchst merkwürdig. Die meisten von uns sind in der Nähe der Fackel geboren worden. Du mußt wissen, daß jedes Zeichen eine bestimmte Bedeutung für das Leben des Menschen hat. Das Offene Auge bedeutet den weiteren Blick eines Magiers, die Fackel die größere Erleuchtung des Priesters, das Schwert die Kraft eines Kriegers. Magier und Priester waren früher, bis zu den letzten Tagen des Mittleren Reiches, fast dasselbe. Doch wie so viele Dinge wurde auch. diese enge Verbindung mit dem Reich zerstört.“ „Was bedeuten die anderen Zeichen? Der Adler? Das Pferd? All die anderen?“ „Der Adler ist das Zeichen der Könige, das Pferd das der Bauern, die Feder repräsentiert Schreiber und Gelehrte, das Geschlossene Auge jene, die die Geister während ihrer Winterruhe übersehen haben, die Krähe die Vagabunden und die Kugel die Geister selbst.“ „Und jedes Zeichen sagt auch, was aus einem Menschen werden wird?“ „O nein. “ Bellapon lachte. „Ganz so einfach ist das nicht. Ich habe einmal von einem Mann gehört, der in der Mittelphase des Schwert-Zeichens geboren und in seiner ersten Schlacht getötet wurde; und von einem Mann des Geschlossenen Auges, der reich und glücklich wurde. Nein, Crispan, das sind nur Wegweiser, wie die, welche man in der Wüste findet. Weißt du, was eine Wüste ist?“ Der ]unge schüttelte den Kopf. „Nun, stell dir vor, daß alles Land, so weit du sehen kannst, mit Sand bedeckt wäre, wie ein Flußufer, nur, daß es nirgends Flüsse gibt und auch sonst kein Wasser, nichts als Sand. Das ist eine Wüste, und die Wegweiser, die Menschen manchmal in der Wüste aufstellen, werden von dem wandernden, windgetriebenen Sand vergraben. Sie sind nur vorhanden, um einem die Richtung zu zeigen, wenn sie nicht von Sand verdeckt sind.“ „Und was ist mit mir und meinem Zeichen?“ fragte der Junge begierig. „Wie ich bereits sagte, sind viele Magier unter deinem Zeichen geboren worden. Aber so nahe beim Schwert?“ Bellapon hob die Brauen und verfiel in nachdenkliches Schweigen.
Die Augen des Jungen waren vor Erregung geweitet. „Werde auch ich das lernen? Aus den Sternen zu lesen und in die Zukunft zu blicken?“ „O ja. Wir nennen diese Kunst Astrologie oder Weissagung. Sie ist eine der Fünf Künste, die man dich lehren wird. Aber du darfst nicht so ungeduldig sein. Es gibt viele andere Dinge, die du vorher lernen und verstehen mußt. Nach dem zu urteilen, was du in eurem Keller getan hast, möchte ich sagen, daß du am meisten für die Magie begabt bist. Doch sage mir, weißt du, warum es dir gelungen ist?“ „Nicht genau. Aber das Buch... das Buch sagt, wenn es keinen Grund dafür gibt, warum etwas nicht sein kann, dann kann es sein. Und wenn man will, daß es sei, brauchte man nur eine Möglichkeit dafür zu finden, denn eine Möglichkeit sei immer vorhanden. “ Er sprach stockend, zögernd, da er wirklich nicht verstand, was er getan hatte, und warum es ihm gelungen war, nur, daß es ihm möglich erschien. „Ja, Crispan. Nur glaube ich nicht, daß du es schon wirklich begriffen hast. Aber es gibt vorher noch eine Menge wichtigerer Dinge zu begreifen. Bevor du lernst, ein Magier zu sein, mußt du wissen, warum du lebst. Du mußt lernen, was der Orden ist und warum es ihn gibt. Wir sind die Reste des zerstörten Friedens, den das Große Reich einmal darstellte. Solange es bestand, herrschte Friede und Ordnung in der Welt, und die Menschen hatten andere Dinge zu tun, als Kriege zu führen und Schlachten zu schlagen. Oh, es hat auch damals Kriege gegeben, so wie es immer Kriege geben wird, doch die Menschen konnten sich immer an eine andere, bessere Art des Lebens erinnern. Und wir Magier beschützten und förderten diese Lebensart. Wir waren die Männer, die neue Wege als erste sahen und andere zu ihnen führten. Das war nicht schwer, solange Friede herrschte und die Menschen ungehindert reisen und Ideen austauschen konnten. Solange die drei Reiche bestanden, bestand auch das Gleichgewicht der Kräfte in der Welt, und vieles war möglich. Doch als Palamir VI. starb, ohne einen direkten Thronerben zu hinterlassen“, fuhr Bellapon fort, „und als das Reich auseinanderfiel, weil ein entfernter Zweig seiner Familie, die Tourides, gegen ihre Vettern, die Roda-Tourides,in den Krieg zogen und keine der beiden Seiten die Oberhand gewinnen konnte, war alles verloren. Warum sollte ein entfernter Vetter einem anderen den Thron überlassen? Und wenn keiner der beiden ihn für sich erobern konnte, warum sollte sich, nicht irgendein Außenstehender, sei er ein Höfling, ein Söldnerführer oder ein Dieb, diese riesige Beute nehmen? Es war eine schreckliche Zeit, in der wunderbare Städte in Schutt und Asche gelegt wurden, in der jeder Handel durch räuberische Söldnerheere erstickt wurde, in der sogar die Geister zitterten, als die Welt zusammenzubrechen drohte. So wenig hat diese Katastrophe einigermaßen intakt überstehen können. Oh, die beiden überlebenden Reiche vergrößerten natürlich ihren Besitz und füllten ihre gierigen Bäuche mit dem Kadav er ihres vernichteten Nachbarn. Doch mit welchem Ziel? Nur um höhere, festere Mauern zu errichten und einander über das Land des zerschlagenen Mittleren Reiches anzustarren, immer in Angst, daß der andere noch weiter vordringen könnte. Und die schönste aller Städte, Anrehenkar, überlebte das Chaos unter der Herrschaft von Resten des kaiserlichen Hauses, ein Zerrbild vergangenen Ruhms inmitten eines Meeres plündernder Söldnerheere. Und in jener finsteren Epoche war es, daß wir unseren Auftrag erhielten. Wir, die wir von den Geistern damit betraut worden waren, unsere Mitmenschen zu führen, mußten von nun an das, was wir bereits geschafft hatten, bewahren, es vor allen Gefahren schützen bis zu dem Tag, an dem die Kriege und Plünderungen aufhören würden und die Menschen wieder bereit waren, dem richtigen Pfad zu folgen. Wir beschlossen, unser Wissen in das riesige Gebirge mitzunehmen und es dort zu verbergen, es zu fördern und zu mehren und für die kommenden Zeiten bereitzuhalten. Und wir verschworen uns, nach wie vor all jenen beizustehen, die uns um Hilfe bitten würden, vor allem jedoch, niemals bei diesen erbärmlichen Streitereien und dem sinnlosen Töten Partei zu ergreifen. Und der Orden ist nicht allein beim Praktizieren der Künste. In Pyrin leben die EinsiedlerMagier, die früher einmal zu uns gehört haben, später unsere erbitterten Feinde wurden und
jetzt wieder zu guten Freunden geworden sind. Und draußen in der Welt gibt es auch einige Frauen, die die Künste praktizieren. Sie werden Hexen genannt.“ Crispan starrte Bellapon erschrocken an, als er das Wort hörte. „Hexen?“ wiederholte er. „Nein“, lachte Bellapon, „nicht solche Hexen, wie sie in den Geschichten vorkommen, die deine Mutter dir erzählt hat. Hexe, Zauberer, Magier - es ist gleich, wie man es nennt. Doch es hat sich eingebürgert, eine Frau Hexe zu nennen und ihr männliches Gegenstück Magier. Hexenkunst und Magie werden als eine Disziplin gelehrt. Es gibt natürlich gewisse Unterschiede zwischen dem Zauberer, dem Magier und der Hexe. Doch die sind jenen, die in den Künsten ungeübt sind, kaum erkennbar. Das also ist unser Daseinszweck, unsere Aufgabe. Das mußt du wissen, und du mußt verstehen, warum wir unsere Künste praktizieren und warum wir uns nicht zu fest an die Welt, so wie sie jetzt ist, binden dürfen, bevor du dich mit den Künsten befaßt. Wenn du unseren Da seinszweck vergißt und dich über unsere Distanzierung von den Geschehnissen der Welt hinwegsetzt, bringst du uns in Gefahr, in das uns umgebende Chaos hineingezogen zu werden, und könntest all das zerstören, was wir aufgebaut und erhalten haben. Denke vor allem anderen daran, und begreife es, bevor du versuchst, die Magie zu verstehen.“ Bellapon erkannte, daß Crispan ihm ernst und konzentriert lauschte, und wollte ihn dafür belohnen. „Komm, ich werde dir eine Weissagung zeigen“, sagte er; dann erstarb seine Stimme, und seine Augen starrten in das weiße Herz der Flammen. Plötzlich hob er den Kopf, und seine Augen weiteten sich, als ob sie so viel Licht wie nur möglich von den Sternen einfangen wollten, zu denen sie hinaufblickten. Dann begann er zu sprechen, sehr leise, als wenn seine Stimme aus weiter Ferne käme. „Du bist dem Schwert nahe. Du reitest unter dem Offenen Auge, doch ]ivir reitet mit dir. Ich sehe viele Städte, von Stein, von Kronen, von Wasser. Große Triumphe und großes Leid. Der Beste der Besten, der Letzte der Besten. Wanderungen... Eine Frau am Ufer eines unbekannten Meeres... “ Bellapons Kopf sank herab, er schwieg. Crispan starrte ihn mit aufgerissenen Augen an. Er wartete, bis der Magier leise seufzte und sich wieder aufrichtete. „Was bedeutet das alles?“ Der lange Bart des Magiers wehte hin und her, als er den Kopf schüttelte. „Ah! Das ist das Mysterium, mein Junge. Einiges davon hat vielleicht große Bedeutung, anderes gar keine. Wenn du älter wärst, könnte ich dir viel mehr sagen. Jetzt ist es noch zu früh dazu, denn du stehst gerade erst am Anfang deines Lebens. Doch eines kann ich dir sagen, Crispan. Deine Geburt in der Nähe des Schwerts ist ein Zeichen, und es mag in deinem Leben eine Zeit kommen, wenn du vom Offenen Auge zum Schwert überwechselst, und eine Zeit, wo du beide verlassen wirst. Doch das ist alles, was ich dir heute sagen kann.“ Bellapon hielt inne, um wieder zu Atem zu kommen und einen Schluck Wasser zu trinken. Dann zog er seine Decke näher zum Feuer. „Und das ist genug für einen Abend. Schlafe jetzt, Crispan. Wir müssen rechtzeitig an der südlichen Grenze sein, um uns mit der Karawane und unserer Eskorte zu treffen.“ Crispan wickelte sich ebenfalls in seine Decke und drehte sich auf die Seite, den Rücken zum Feuer. Seine Augen waren noch eine ganze Weile geöffnet, während seine Gedanken die vielen Eindrücke und Erlebnisse dieses Tages zu verarbeiten suchten. Er dachte an den Himmel, an die Sterne, an das, was er bereits getan hatte, und wie wenig er wirklich wußte. Doch vor allem versuchte er sich an all das zu erinnern, was Bellapon ihm gesagt hatte, und als er einschlief, hatte er die Vision, seinen Magier als Riesen in einer schneeweißen Robe über einer in Flammen aufgehenden Stadt stehen zu sehen.
XI Visionen im Feuer Sie verließen die Großen Berge, bevor die Sonne über ihnen aufging. Mikal führte sein Pferd als erster durch den engen, niedrigen Tunnel des Osttors. Crispan folgte ihm, und beide grinsten amüsiert, als Zoltan seinen massigen Körper wieder hindurchzwängte. Dann saßen sie auf und ritten in leichtem Galopp über das flache Land. „Hier müssen wir uns am meisten beeilen“, sagte Mikal, als sie ihre Pferde anspornten. „Dies ist der nördlichste Punkt unserer Route, also auch der gefährlichste. Ich frage mich, ob irgend jemand dort oben sitzt und beobachtet. “ Alle drei blickten zum Gipfel des Wächters hinauf. Als das Land unter dem Licht der höher steigenden Sonne heller wurde, nahm der Wächter seine Aufgabe als einsamer Posten auf der Ebene wieder wahr. „Ich dachte, der Wächter sei schon vor vielen Jahren verlassen worden“, sagte Crispan. „Ja, aber wer kann dessen in diesen Zeiten sicher sein? Wenn die Gerüchte, die wir gehört haben, wahr sein sollten, wäre der Berg ein idealer Beobachtungsposten für unsere Feinde.“ Crispan nickte. „Nehmen wir denselben Weg, auf dem wir hergekommen sind“, fragte Zoltan, der an einem Stück harten Schwarzbrotes herumbiß, „oder reiten wir südlich an den Falchions vorbei?“ Mikal deutete nach Südwesten. „Der kürzeste Weg ist der beste, und er ist sicherer als das Land nördlich der Falchions.“ Zoltan erinnerte sich an den Zwischenfall in der Schenke und dachte an all die Söldner, die jetzt durch das Mittlere Reich zogen, besonders in diesen Tagen, wo Zhyjman und Syman neue, riesige Armeen aufstellten. Und er erinnerte sich an Mikals Warnung, daß diese beiden Strauchdiebe den Thronerben des Südlichen Reiches in ihre Gewalt bringen wollten. Den ganzen Tag über, und auch den nächsten, ritten sie, so schnell ihre Pferde laufen konnten, nach Südwesten. Nur wenn die Tiere erschöpft waren, legten sie kurze Ruhepausen ein. Aus Sicherheitsgründen erlaubten sie sich den Luxus eines Feuers nur während der nebelverhangenen frühen Morgenstunden, wenn Flammen und Rauch aus einiger Entfernung nur schwer auszumachen waren. Abends aßen sie kalt, getrockne tes Fleisch und hartes Brot. Ihr Schlaf war unruhig und flach, da sie ständig auf die gefahrbringenden Geräusche von Stimmen und Hufschlägen lauschten. Einige Tage später ließen sie die Tore hinter sich, und nachdem Zoltan und Crispan wieder miteinander gefochten hatten, um den Magier fit zu halten, hockten sie in einer Felsnische, die von Ausläufern der Falchions gebildet wurde. Zoltan hielt sein Schwert auf den Knien und reinigte die Klinge. „Erzähle mir etwas über deine Macht, Crispan“, sagte er nach einer Weile. „Schließlich gebe ich dir Unterricht im Fechten. Sage mir etwas von deiner Kunst, und erzähle mir mehr von dem Orden.“ Crispan blickte ihn durch das Halbdunkel der Felsnische an. „Der Orden? Der Orden ist das Zentrum aller Macht, all unseres Lernens und Wissens. Jeder, der Magier werden will, muß zum Orden gehen, um dort seine Kunst zu erlernen, um seine Kräfte zu wecken und zu stärken. Man tritt schon mit sehr jungen Jahren in den Orden ein und bleibt dort, bis man alle Künste beherrscht.“ „Wie viele Künste gibt es?“ fragte Mikal. „Fünf: Astrologie und Weissagung, Magie, Zauberei, Alchemie und Thaumaturgie. Jede von ihnen wird von einem Meister gelehrt, der sich nach vielen Jahren des Studiums in jeder der Fünf Künste bewährt hat. “ „Und bist du so ein Meister?“ Crispan nickte. „Aber du bist doch noch sehr jung“, sagte Zoltan. Crispan lächelte verlegen. „Nun... ja. Wie ich sagte, wird jede der Künste von einem der fünf Meister der Fünf Künste ge lehrt. Ober diesen steht der Hochmeister oder Ordensmeister, der von den fünf Meistern gewählt wird. “ „Welche
Kunst ist die deine?“ wollte Zoltan wissen. „Magie.“ „Ein Magier! Ha! Hast du gehört, Mikal? Wir reisen mit einem Magier. Was kannst du tun?“ „Vieles. Beschwörungen sprechen, Visionen hervorrufen, magische Tränke herstellen und Zaubersprüche entwerfen. Ich kann ungewöhnliche Dinge tun, die keine Magie sind, und andere, die Magie sein könnten. “ Die Möglichkeit, von seinen geliebten Künsten sprechen zu können, wärmte den Magier gegen die Kälte der Nacht. Mikal blickte ihn interessiert, aber skeptisch an. „Ich habe alle Namen verstanden, die du genannt hast, bis auf die Thauma...“ „Thaumaturgie“, ergänzte Crispan. Mikal nickte. „Ja. Was ist das?“ „Etwas wie Magie oder Zauberkunst, aber viel, viel schwieriger. Die Priester und unwissende Menschen nennen es Wunder. Doch in Wirklichkeit ist es nichts weiter als ein noch härteres Studium der Künste, um größere Leistungen vollbringen zu können. Thaumaturgie ist eine sehr schwierige Kunst, die viel Geschick und Kraft erfordert. Und sie kann sehr gefährlich sein. “ Crispan schwieg einen Moment. Sein Kopf sank ein wenig herab, und er fügte mit leiser Stimme hinzu: „Viadur war der Meister der Thaumaturgie.“ Zoltan brach das Schweigen. „Und was ist mit den anderen? Hast du die auch gelernt?“ Crispan nickte. „Kannst du jetzt irgend etwas tun? Wie wäre es, wenn du meine Zukunft voraus sagtest?“ Crispan lächelte und fragte sich, warum jeder als erstes diese Bitte stellte. „Ein anderes Mal, Zoltan. Heute bin ich zu müde, und außerdem sind die Sterne von Wolken verdeckt. Ohne diese Wegweiser verirren wir Wanderer uns. Morgen früh, wenn wir ein Feuer haben, werde ich dir etwas zeigen.“ Zoltan war wie ein Kind, dem man eine Süßigkeit verweigerte, und diesmal war es Mikal, der Crispan eine Frage stellte. „Warte. Wenn du in die Zukunft blicken kannst, warum kannst du dann nicht sagen, wo Viadur ist und wer diesen Krieg ge winnen wird?“ Crispan lächelte ein wenig über die Fragen, die die Unwissenden stellten. „Weil das, was wir in der Zukunft sehen, nie mals endgültig ist, sondern nur ein Schattenbild dessen, was sein könnte, oft so undeutlich und kryptisch, daß es falsch ge deutet werden kann. Und außerdem, was noch wichtiger ist, dürfen wir unsere Künste niemals zu unserem eigenen Nutzen gebrauchen, und das wäre, fürchte ich, bei Viadur der Fall.“ Nachdem ihr Interesse einmal wachgerufen war, bedrängten die beiden Krieger Crispan mit weiteren Fragen über das Leben im Orden. Er erklärte ihnen, daß sie von Feldfrüchten lebten, die sie in den Tälern anbauten, die das Hochplateau umgaben, jedoch auf zusätzliche Versorgung durch Karawanen angewie sen waren, die während der warmen Monate von Pyrin aus in die Berge kamen. Zoltans Augen weiteten sich, als Crispan das Land der legendären EinsiedlerMagier erwähnte. Crispan erklärte ihm, daß Pyrin von Mitgliedern des Ordens gegründet worden war, die nach dem großen Schisma von ihm abgefallen waren, als der Orden sich in zwei Faktionen spaltete, von denen die eine für die Reinerhaltung der Fünf Künste eintrat und die andere ihr Wissen zur Lösung der Probleme in der Welt anwenden wollte. Schließlich verließen jene, die sich mehr für die Welt interessierten, die Berge und ließen sich in Pyrin nieder. Dort, so erklärte Crispan, verloren sie im Lauf der Jahrzehnte vieles von ihrem profunderen Wissen, wurden jedoch zu verläßlichen Lieferanten für vom Orden benötigte zusätzliche Nahrungsmittel, und so söhnte man sich wieder aus. Zoltan wollte noch mehr Fragen stellen, doch Mikal hob die Hand. „Wir sind erst im Eingang des Hochpasses und haben noch einen langen Weg vor uns, bevor wir wirklich in Sicherheit sind. Ob wir nun die Grenze schon erreicht haben oder nicht, wir können uns erst sicher fühlen, wenn wir tief im Reich meines Vaters sind. Also schlaft jetzt.“ „Auf die Beine, wir müssen weiter!“ Mikal sattelte bereits sein Pferd, obwohl seine grünen Augen noch verschlafen wirkten. „Warte, Mikal. Crispan hat versprochen, uns etwas Magie vorzuführen.“ Crispan erkannte die Ungeduld in Mikals Gesicht. „Es dauert nicht lange. Ist etwas grünes Holz
da? Ich brauche Rauch.“ Mikal warf dem Magier ein paar feuchte Zweige zu, und Crispan steckte sie ins Feuer. Kurz darauf stieg eine weißgraue Rauchwolke aus den Flammen. Crispan legte auch etwas trockenes Holz nach, um das Feuer nicht ausgehen zu lassen, und winkte seine beiden Begleiter näher zu sich heran. Sie hockten dicht vor dem Feuer, während Crispan auf seiner anderen Seite kniete. Dann hob der Magier beide Hände, die locker von den Gelenken herabhingen, und streckte seine Finger in den aufquellenden Rauch. Die Rauchsäule begann zu wabern und auseinanderzubrechen. Crispans Augen verengten sich, als er sich konzentrierte und seine Kräfte mobiliserte. Seine in den Rauch hängenden Finger bewegten sich schneller und schneller. Der Rauch begann zu rollen und zu zucken, wie eine gereizte Schlange. Crispan schien ihn aus dem Feuer herauszuzwingen und vor ihren Augen zu formen. Und dann, mit einer ruckartigen Geste seiner rechten Hand, war es vorbei. Zoltan schüttelte den Kopf, als der Rauch sich von einem Augenblick zum anderen auflöste. „Was war das, Crispan?“ „Eine Beschwörung. Sage mir, was du gesehen hast.“ „Es war seltsam. Der Rauch schien sich zu einem Bild zu formen. Ich glaubte, einen großen Mann zu sehen, einen Krieger, der gegen eine riesige, geflügelte Kreatur kämpfte. Doch in dem Augenblick, als er ihr den tödlichen Streich versetzen wollte, verwandelte sich die Bestie in eine Frau, und er nahm sie in seine Arme.“ „Ha!“ lachte Mikal. „Du siehst eben, was du sehen willst!“ „Nein“, korrigierte Crispan. „Er sah, was ich beschworen habe, doch ich schuf etwas, das auf seinen Gedanken beruhte. Was hast du gesehen?“ „Ich sah einen Krieger auf einem Pferd reiten, und er schien einen weiten Weg hinter sich zu haben. Doch dann kam er zu einem Mann, der auf einem reichverzierten Stuhl saß, vielleicht war es ein Thron, und er verneigte sich vor ihm.“ „Das kannst du tun? Zur gleichen Zeit verschiedene Visionen hervorrufen?“ Zoltan war tief beeindruckt. „Bei einer so einfachen Sache sind Beschwörungen leicht zu kontrollieren. “ Crispan erschauerte innerlich, während er das sagte. Es hatte noch eine dritte Vision gegeben, eine, die er gesehen, jedoch nicht bewußt hervorgerufen hatte. Er hatte einen Mann gesehen, der widerstrebend eine Rüstung angelegt hatte und nun auf seinen Feind wartete. Der Feind hatte die Gestalt eines Phantoms, das mit dem Mann in der Rüstung spielte, sich jedoch niemals zum Kampf stellte und damit den Mann dazu verdammte, auf ewig in seiner unbequemen Rüstung stecken zu bleiben. Der Magier verstand den Sinn dieser Vision nur zu gut. Er begriff jedoch nicht, wie sie erscheinen konnte, ohne daß er sie beschworen hatte. Das fand er noch beunruhigender. Der Tag versprach genauso zu werden wie alle anderen. Sie ritten, so schnell ihre Pferde laufen konnten, immer mit den langgestreckten Bergketten der Falchions zu ihrer Rechten. Sie versuchten, einen gehörigen Sicherheitsabstand von den Bergen zu halten, weit genug, um nicht Überfällen von Räubern ausge setzt zu sein, die in den Felsen kampieren mochten, doch nahe genug, um in ihnen Schutz suche n zu können, wenn sie ihn brauchen sollten. Mikal blickte immer wieder unruhig zu den Bergen hinüber und fragte sich, wie weit ein Mann von ihren unteren Hängen aus sehen konnte. Es war am späten Nachmittag, als Mikal hörbar aufatmete. „Seht. Dort ist der Hochpaß. “ Er deutete auf einen tiefen Spalt in der sonst fugenlos wirkenden Wand der Falchions. „Wir befinden uns auf dem Boden des Reiches. “ Diese Worte gaben ihnen mehr frische Kräfte als ein Bad in einem eisigen Bergbach oder ein Schlaf in einem sauberen Bett, und sie ritten bis tief in die Nacht. Als sie endlich lagerten, sprachen sie kaum ein Wort. Erschöpfung und Erregung ließen die drei Männer schweigen, und kurz darauf waren sie fest eingeschlafen. Irgendwann in der Nacht hörte Mikal jemand seinen Namen flüstern. Er war nicht sicher, ob es nicht nur ein Traum war. Doch dann erkannte er deutlich Zoltans Stimme, die seinen Namen
flüsterte. „Was ist?“ knurrte er verschlafen. „Wir haben Gesellschaft.“ Mikal öffnete die Augen und sah die Klinge eines Schwerts dicht vor seinem Gesicht.
XII Der lautlose Wind Crispan war ebenfalls wach. Jetzt verstand er, was Zoltan ge meint hatte, als er sagte, man könne eine Klinge auch im Dunkeln sehen. Die Klinge, deren Spitze auf seine Kehle gerichtet war, konnte er unangenehm deutlich sehen. Es war weitaus schwieriger, zu erkennen, wieviel Männer um sie herumstanden, doch sechs oder sieben konnte er ausmachen. Mikal stützte sich auf einen Ellbogen und drückte mit einer sanften Bewegung das Schwert, das auf ihn gerichtet war, beiseite. „Was wollt ihr? Wir sind nur harmlose Reisende.“ „Das werden wir entscheiden“, sagte eine Stimme aus dem Hintergrund. „Wohin wollt ihr?“ „Nach Süden, nach Rhaan-va-Mor“, log Mikal. „Warum?“ „Warum nicht? Es ist ein Ort, der so gut ist wie jeder andere.“ „Ihr seid Söldner, nicht wahr?“ Die Stimme klang hart. Bevor Mikal es abstreiten konnte, befahl die Stimme, einen Feuerstein anzureißen. Jemand, der hinter Mikal stand, befolgte den Be fehl, steckte einen trockenen Zweig in Brand und reichte ihn über Mikal hinweg der Stimme zu. „Lord!“ rief die Stimme, als das Licht der Flamme auf Mikals Gesicht fiel. „Churnir?“ Mikal atmete tief durch. „Bei den Geistern!“ Der Hauptmann der kaiserlichen Leibgarde trat vor. „Es ist gut, dich wiederzusehen, Lord.“ „Wie hast du... aber warte. “ Mikal wandte sich zu seinen Begleitern um. „Zoltan, Crispan, dies ist Churnir, der zum Haushalt meines Vaters gehört. Zoltan, er ist der Mann, von dem ich dir berichtet habe, der mir den Brief meines Vaters brachte. “ Beide Männer erhoben sich rasch, und Mikal wandte sich wieder Churnir zu. „Wie habt ihr uns gefunden? Hattet ihr den Auftrag, uns zu suchen?“ „Ja, Lord. Der Kaiser dachte, daß du diesen Weg nehmen würdest, und hat sich Sorgen um dich gemacht.“ Mikal war verwirrt. „Warum? Wir befinden uns doch längst im eigenen Land, seit wir den Hochpaß überschritten haben.“ „Das stimmt. Aber die Dinge stehen schlimmer, als du anzunehmen scheinst. Wir haben nicht genügend Truppen, um alle Grenzen zu sichern. Das Gros der Armee ist in der Nähe der drei Grenz-Königreiche zusammengezogen worden und wartet auf Zhyjmans ersten Schlag. Wir beherrschen den Zugang zum Unterpaß, aber der Hochpaß ist sehr schwer abzusichern. Es wagen sich nur noch wenig Reisende in diese Gegend. Das war der Grund für mein Mißtrauen, als du behauptetest, daß ihr Reisende wärt.“ Mikal war entsetzt. „Ist es wirklich so schlimm?“ Churnir nickte düster. „Ich fürchte, ja. Wir sind seit acht Ta gen hier draußen, um auf dich zu warten. Während dieser Zeit haben wir mit über einem Dutzend Banditen und Söldnern fertig werden müssen.“ Der Prinz brauchte nicht zu fragen, auf welche Weise sie mit ihnen fertiggeworden waren. Außerdem war er mehr daran interessiert, seine kleine Gruppe sicher zum Ziel der Re ise zu bringen. „Wie viele Männer hast du bei dir?“ „Elf in diesem Trupp. Und es sind noch ein paar andere, kleinere unterwegs. Ich werde sie zurückholen lassen, sowie wir dich in Sicherheit gebracht haben. Sollen wir noch heute nacht reiten?“ „Sofort. “ Mikal blickte seine beiden Freunde an und erkannte, wie müde sie waren. Doch Zoltan und Crispan nahmen bereits ihre Waffen und Decken auf. „Gut. Wohin reiten wir?“ „Das Feldlager deines Vaters ist vor Gurdikar.“ „Dann reiten wir dorthin. “ Mikal sammelte ebenfalls seine Sachen zusammen und begann, sein Pferd zu satteln. Wenig später galoppierten die drei Männer und ihre Eskorte durch die Nacht auf
die Festungsstadt Gurdikar zu. Die ganze Nacht hindurch und den größten Teil des nächsten Tages holten sie das letzte aus ihren Pferden heraus, bis sie am frühen Nachmittag gezwungen waren, eine Rast einzulegen. Mikal war jetzt ungeduldig und unruhig, und deshalb dauerte die Rast nicht lange. Sie ritten weiter und legten eine ziemliche Strecke zurück, bevor sie gegen Mitternacht eine längere Pause einlegen mußten. Glücklicherweise konnten sie als Rastplatz das Ufer eines der Flüsse wählen, die aus den Falchions strömten. Mikal und seine Freunde begleiteten Churnir, als er die Posten inspizierte, die am Ufer aufgestellt worden waren. „Seltsam, daß der Fluß um diese Jahreszeit noch immer zuge froren ist“, sagte Crispan. Churnir zuckte die Schultern. „Ja, es ist ungewöhnlich“, gab er zu, „doch wir hatten einen langen Winter und einen kühlen Frühling. Außerdem weht der Wind ständig von den Bergen, und die Luft bleibt kühl. “ Crispan nickte und blickte auf die graue Eisfläche, die das Wasser des Flusses bedeckte. Zufrieden mit der Aufstellung der Wachen gingen sie zum Lager zurück, das sich auf einer kleinen Anhöhe ein Stück vor dem Flußufer befand. Kurz darauf lagen sie schlafend neben dem kleinen Feuer, das sie sich jetzt erlaubten. „Hauptmann! Hauptmann!“ Es klang wie ein Aufschrei. Ein Reiter galoppierte vom Ufer her ins Lager. Alle waren sofort auf den Beinen und sahen nach ihren Waffen. „Banditen! Mehr als zwei Dutzend! Ich bin mit Daliin über den Fluß und ein Stück landeinwärts geritten. Sie müssen unser Feuer gesehen haben und kommen direkt auf uns zu. “ Der Reiter rang nach Atem, und kleine Dampfwolken drangen aus seinem Mund. Churnir fragte den Prinz: „Was sollen wir tun?“ „Pferde satteln und aufsitzen. Dann werden wir uns ent scheiden. “ Zoltans Pferd scharrte erregt mit den Hufen, als es die körperliche Anspannung seines Herrn spürte. „Könnte es nicht eine unserer Patrouillen sein?“ Mikal schüttelte den Kopf. „Nein. Sie hätten sich ja nur erkennenzugeben brauchen, als sie auf unsere Streife stießen. Außerdem sind es zu viele.“ Churnir war wieder zurück, nachdem er seine Männer am Ufer des zugefrorenen Flusses Aufstellung hatte nehmen lassen. Er schob seinen linken Unterarm in die Schildschlaufen und sagte: „Der Fluß bietet uns keinen Schutz. Und es sind mindestens zwanzig Männer, vielleicht auch mehr. “ Jetzt hörte man bereits das Trommeln von Pferdehufen auf dem hartgefrorenen Boden. „Und wir sind nur vierzehn“, sagte Mikal. „Wir müssen vor allem dafür sorgen, daß Crispan sicher zum Kaiser gelangt.“ „Und du, Lord“, setzte Churnir hinzu. „Ich schlage vor, daß du und er sofort losreiten. Wir können sie eine Weile aufhalten, lange genug, daß ihr im Dunkel entkommen könnt.“ Der Vorschlag gefiel Zoltan, der darunter zu leiden begann, daß er lange nicht im Kampf gestanden hatte. „Mir gefällt er, Mikal. Aber du solltest vielleicht zwei oder drei Männer als Eskorte mitnehmen.“ Der Prinz schüttelte energisch den Kopf. „Und nur neun hier zurücklassen? Die Banditen würden euch überrennen und dann noch immer in der Lage sein, uns einzuholen. “ Churnir schlug vor, daß sie alle gemeinsam fortreiten sollten, doch Zoltan war dagegen, da sie einander im Dunkel leicht verlieren und dann einzeln eingefangen werden konnten. Die Dringlichkeit, sofort zu einer Entscheidung zu kommen, wurde von dem immer lauter werdenden Donnern der Hufe unterstrichen. Mikal setzte seinen Helm auf. „Zu spät“, sagte er. „Wir müssen kämpfen. Aber wir haben eine Chance, sie zurückzuschlagen.“ „Aber, Lord“, protestierte Churnir. „Dein Vater hat mir den Auftrag gegeben...“ Mikal unterbrach ihn. „Bringe deine Männer näher zusammen. “ Als Churnir wieder protestieren wollte, sah er, daß Crispan plötzlich auf das Ufer zuritt. Die drei Krieger wollten ihn aufhalten,
doch Crispan wandte sich im Sattel um, hob die rechte Hand und rief: „Bleibt zurück. “ Seine Stimme war ruhig und fest, und in seinen grauen Augen lag ein Ausdruck von Autorität. Jeder der drei Männer gehorchte ihm, ohne wirklich zu wissen, warum. Crispan ritt über das Ufer bis zum Rand der dicken Eisdecke, die den Fluß gefangenhielt. Es war völlig still, bis auf das nä herkommende Geräusch von Hufschlägen auf dem gefrorenen Boden. In den ziehenden Nebelschwaden auf der anderen Seite des Flusses tauchten jetzt schemenhafte Gestalten auf, die sich rasch dem zugefrorenen Fluß näherten. Die drei Krieger, die hinter dem Magier auf ihren Pferden saßen, starrten ihn gespannt an. Crispan steckte sein Schwert in die Scheide zurück, stand in seinen Steigbügeln auf und hob die linke Hand mit nach oben gerichteter Handfläche gen Himmel. Seine Finger winkten ungesehenen Dingen, und dann, als er etwas ergriffen zu haben schien, übergab er es seiner rechten Hand. Er wiederholte diese Gesten fünf oder sechs Mal, winkte, ergriff und übergab etwas. Dann riß er plötzlich seinen rechten Arm zurück und schien das, was er in der Hand hielt, auf die gefrorene Fläche des Flusses zu schleudern. Alle Soldaten am Ufer blickten ihn gespannt an, denn auf der anderen Seite des Flusses waren jetzt dreißig oder vierzig Reiter im Nebel auszumachen. Mikal packte instinktiv sein Schwert fester, genau wie alle anderen Männer. Das harte Donnern der Hufe wurde lauter, und Crispan fuhr mit seinem Einsammeln unsichtbarer Dinge fort, immer schneller und schneller. Wieder und wieder winkte er mit seiner linken Hand, übergab das, was sie ergriff, der rechten, die es dann auf den zugefrorenen Fluß schleuderte. Ein seltsamer, lautloser Wind erhob sich plötzlich am anderen Ufer, wehte den heranstürmenden Briganten entgegen und zerriß die Nebelschwaden. Jetzt hatten die ersten Reiter das Eis erreicht und drangen bis zur Flußmitte vor. Und noch immer sammelte und warf Crispan, bis fast alle Reiter auf dem vereisten Fluß waren. Mikal, Zoltan und die anderen Männer begannen, auf Crispan zuzutraben, um bei ihm zu sein, wenn die Banditen ihr Ufer erreichten. Dann, als alle Reiter - bis auf drei oder vier - auf dem Eis waren, machte Crispan mit seinem rechten Arme eine letzte, harte Schleuderbewegung. Der Wind wurde zum Sturm, war aber nach wie vor völlig lautlos. Das einzige Geräusch war der Hufschlag der Pferde auf dem kristallinen Eis. Der Wind wurde noch stärker, und plötzlich hörte man ein lautes Krachen, und riesige Risse tauchten in der Eisdecke auf. Der erste der Banditen war nur noch fünf Speerlängen vom Ufer entfernt, als das Eis vor ihm krachend zerbrach. Reiter und Roß stürzten und wurden von den befreiten Fluten stromabwärts gerissen. Oberall auf dem Fluß bot sich das gleiche Bild: der scharfe, böige, lautlose Wind blies den herangaloppierenden Briganten entgegen, vor denen sich plötzlich klaffende Risse in der Eisdecke öffneten. Einer nach dem anderen stürzten sie zwischen die grauen Schollen, und durch das Krachen und Brechen des Eises gellten jetzt entsetzliche Schreie. Die Reiter, die am weitesten zurückgeblieben waren, rissen ihre Pferde herum und versuchten, auf den festen Boden zurückzukommen, doch die meisten schafften es nicht. Nur zwei oder drei von ihnen erreichten das rettende Ufer, wo sie ein paar andere trafen, die ihre Pferde zurückgehalten hatten, bevor sie auf das tödliche Eis traten. Als der letzte Bandit in den tosenden Fluten des Flusses versunken war, erstarb der lautlose Wind so plötzlich, wie er aufgekommen war. Alles war still, bis auf das Rauschen des Wassers, das jetzt Männer in Panzern und auch Pferde fortspülte. Crispan ließ sich in seinen Sattel fallen und wischte sich den Schweiß von der Stirn, als die anderen ihn umringten. Staunen und Verwirrung standen in ihren Gesichtern. Mikal sagte bewundernd: „Jetzt weiß ich, daß mein Vater dich braucht.“ „Aber ein paar sind entkommen“, beklagte sich Zoltan. Crispan atmete tief durch. „Ja. Lassen wir einige von ihnen leben und berichten, was sie heute nacht hier gesehen haben. Lassen wir die Feinde des Kaisers wissen, daß auch er über Magie verfügt. Das wird Zhyjman und Viadur etwas nachdenklich stimmen, hoffe ich.“
„Gut überlegt“, sagte Mikal. „Ruft die Männer zusammen. Ich will sofort weiterreiten.“ Während die anderen das Lager abbrachen und sich zum Aufbrach rüsteten, saß Crispan schweigend auf seinem Pferd. Die Kühle der Frühlingsnacht hing in der Luft, doch nicht sie war es, die ihn am ganzen Körper zittern ließ. Die Tatsache war unwiderleglich, und es half ihm nicht, daß er sich fester in seinen Mantel wickelte. Er hatte seine Macht dazu gebraucht, um zu töten. Alles, was er dagegen einwenden mochte, daß er es getan hatte, um das Leben anderer zu retten, daß er es getan hatte, um Viadur Einhalt zu gebieten - jede Entschuldigung zerbrach an der unwiderleglichen Tatsache, daß er getötet hatte. Vielleicht wäre es nicht nötig gewesen, wenn er etwas mehr Zeit gehabt hätte. Dann hätte er den Fluß vom Eis befreien können, bevor die Banditen ihn erreicht hatten. Aber diese Überlegung half ihm auch nicht. Es war nun einmal nicht genügend Zeit gewesen, und er hatte seine Macht dazu benutzt, um Menschen zu töten. Er rief sich die Regeln des Ordens ins Gedächtnis zurück, dachte an das Advisarium, das allen Meistern mitgegeben wurde, wenn sie zum ersten Dienst in die Welt gingen, und versuchte, sich an die Anweisungen zu erinnern, die genau festlegten, was im Dienst eines Herrschers zulässig war und was nicht. Doch es gelang ihm nicht, denn da er den Orden noch nie verlassen hatte, hatte er auch das Advisarium niemals gelesen, und bei diesem eiligen Aufbruch hatte er es natürlich nicht mitge nommen. „Die Ordensregeln binden uns im Lernen und in unseren Künsten aneinander. “ Zumindest konnte er sich an diesen Einleitungssatz erinnern. Und dann fragte er sich, ob er, wenn er die Regeln wirklich überschritten haben sollte, in irgendeiner Weise besser war als der Renegat, den er suchte.
XIII Gurdikar Gurdikar war eine alte Grenzfestung. Ihre altersdunklen Wände standen an der Stelle, an der die Grenze des Südlichen Reiches verlaufen war, bevor das Chaos begann. In jenen Tagen sicherte Gurdikar die kaiserliche Domäne, wo die Ostgrenze Perrigars endete und die Nordgrenze exponiert war. In den Jahren nach dem Chaos und der Ausdehnung des Reiches in das entstandene Vakuum war Gurdikar zu einer verschlafenen, verfallenden Festung geworden. Die Ankunft der Armeen Thurka Res und seiner Verbündeten hatte die Stadt brutal aus ihrem Dämmerschlaf gerissen. Der Kaiser hatte sie zur Versorgungsbasis seiner Truppen gemacht, und vor der uralten östlichen Mauer war eine riesige Zeltstadt entstanden. Dieses Heerlager war das Ziel Mikals und seiner Begleiter. Der Prinz ging ungeduldig auf dem Hügel hin und her, der nur wenige Stunden von dem Lager entfernt war. Hauptmann Churnir versuchte, ihm die Notwendigkeit des Aufenthaltes noch einmal zu erklären. „Der Kaiser wünscht es. Er möchte unbedingt vor unserer Ankunft durch Herolde informiert werden.“ Mikal setzte sich zu Crispan und Zoltan auf einen großen, flachen Stein, der aus dem jungen Gras ragte. Doch seine Unge duld war zu groß, um ruhig sitzen zu können, er stand auf und ging wieder auf und ab. Zoltan blickte den Magier an. „Du bist recht schweigsam.“ Crispan antwortete nicht. Zoltan wußte, wann er aufhören mußte, doch als er aufstand, sagte Crispan: „Hast du jemals Zweifel gehabt, ich meine, über irgend etwas, das du getan hast?“ Der Gesichtsausdruck des Rotbarts sagte ihm, daß seine Frage nicht verstanden worden war. „Ich wollte sagen, hast du dich jemals gefragt, ob die Sache, für die du kämpfst, gerecht ist?“ Diese Frage schien den stämmigen Krieger zu amüsieren. „Crispan“, sagte er lächelnd, „einen Söldner interessiert nur, wieviel man ihm zahlt, und ob er es auch bekommt, wenn der Kampf vorbei ist. Warum willst du das wissen?“ „Weil ich glaube, daß ich nicht hierher gehöre. “ Crispans Stimme klang seltsam hohl. „Und weil ich eine unverzeihliche Sünde begangen habe. Ich habe mit meiner Magie getötet.“ Zoltan blickte ihn eine Weile nachdenklich an, bevor er ant wortete: „Glaubst du, dein Hochmeister hat dich ohne Grund hergeschickt? Er erwartet von dir, daß du alles tust, um deinen Auftrag zu erfüllen. Du bist als Berater zu einem großen Herrscher entsandt worden, dem Kaiser des Südlichen Reiches, und auch als Magier bist du ein Soldat im Dienst des Kaisers, nur, daß du mit anderen Waffen kämpfst als wir.“ Crispan blickte auf. Vielleicht hatte Zoltan recht. Trotzdem fragte er sich, was er vielleicht alles tun mußte, um Viadur zu bekämpfen. Und dann erinnerte er sich an die ersten Nächte mit Bellapon, als der bärtige Meister über die Bedeutung des Umstandes nachgedacht hatte, daß Crispan so nahe dem Zeichen des Schwerts geboren worden war. Er würde sich dagegen zur Wehr setzen, vom Zeichen des Offenen Auges zum Schwert gezogen zu werden. Ja. Er würde Kaiser Thurka helfen, aber nur als ein Meister der Fünf Künste. Mikal ging noch immer unruhig auf und ab, als Churnir auf ihn zutrat. „Es ist Zeit zum Aufbruch, Lord.“ Der Prinz flog beinahe in den Sattel und ritt neben Churnir die nach Gurdikar führende Straße entlang. Zoltan lenkte sein Pferd neben Mikals. „Wie fühlst du dich?“ fragte er. „Warum?“ fragte Mikal verwundert. „Ich meine, wie fühlt sich jemand, der seinen Vater nach so vielen Jahren wiedersehen wird und als Thronerbe des Reiches zurückkehrt?“ Mikal zuckte die Schultern. „Darüber habe ich noch gar nicht richtig nachgedacht. “ Diese
Antwort überraschte ihn selbst, und sie war wahr. Sie ritten ein scharfes Tempo, doch der Prinz spornte seinen cremefarbenen Hengst, ohne dessen bewußt zu werden, noch mehr an. Er ritt fast in Hauptmann Churnir hinein, als dieser sein Pferd auf dem Gipfel eines Hügels plötzlich zügelte. „Warum halten wir?“ fragte Mikal ungeduldig. „Weil wir am Ziel sind, Lord. Gurdikar liegt direkt vor uns auf dieser Ebene.“ Mikal ritt zur anderen Seite des flachen Gipfels. Unter ihm lagen die grauen Mauern von Gurdikar, aus denen in unregelmäßigen Abständen schwarze Türme zum Himmel aufragten. In lebhaftem Kontrast zu dem dunklen Stein standen die Tausende von Zelten von Thurkas Armee, in allen Formen und Farben, die es in den drei Reichen gab. Mikal sah die Banner, die über den Zelten wehten. Er erkannte die Farben von Ernyr, Gar und Perrigar, die des exilierten Herzogs von Larc und einiger Lords von Tharn. Über einem großen, goldfarbenen Zelt in der Mitte des Lagers wehte ein Banner, das einen goldenen Eber auf blutrotem Feld zeigte. Es war das Emblem von Thurka Re, das ne ben dem dunkelblauen Banner des Südlichen Reiches wehte. Das Herz des Prinzen schlug schneller. Er fühlte sich wie so unzählige Male kurz vor einer Schlacht, doch jetzt kehrte er nach Hause zurück. Zoltan fragte, ob er in vollem Galopp ins Lager reiten wollte. Mikal lächelte. „Nein. Ich fürchte, es wird Zeit, daß der Prinz wieder ein wenig Würde zeigt. “ Er schlug Zoltan auf die Schulter, dann auch Crispan und Churnir. „Übrigens, Zoltan“, sagte Mikal, als sie den Hang des Hügels hinabritten, „ist der Herzog von Larc im Lager. Er ist jetzt der Verbündete meines Vaters.“ „Na und?“ antwortete der Rotbart schroff. „Wie ich dem Magier sagte, war ich als Söldner immer loyal. “ Er machte eine kurze Pause. „Früher.“ Mikal mußte sich Mühe geben, sein Pferd nur Trab laufen zu lassen, und er mußte gegen seinen eigenen Impuls ankämpfen, nicht gegen den des Tieres. Die Straße verlief jetzt schnurgerade, ein staubiges Band in der frischgrünen Ebene, auf dem sie sich dem Heerlager näherten. Bald waren die Zelte mehr als nur ein Haufen von Farbtupfen vor der grauen Mauer, und dann hatten die Reiter die äußeren Zelte erreicht. Posten standen jetzt entlang der Straße, und ihre Panzer glänzten in der Sonne. Die Straße verlief schnurgerade zu dem altersdunklen Stadttor von Gurdikar, doch Soldaten, die vor dem geschlossenen Tor standen, wiesen die Reiter auf einen großen Platz rechts vom Tor. Sie ritten im Schritt, als sie sich dem großen Zentralzelt näherten. Eine Gruppe von Männern stand vor dem goldfarbenen Leinen-Pavillon. Mikal zügelte sein Pferd. Seine Faust umklammerte die Zügel, als er ein paar Sekunden lang reglos im 130 Sattel sitzen blieb. Dann atmete er tief durch, stieg ab und zö gerte wieder, als er auf dem Boden stand. Ein großer, breitschulteriger Mann trat auf ihn zu. Sein Haar und der kurz ge trimmte Bart waren schwarz und von silberfarbenen Strähnen durchzogen. Er war etwas kleiner als Mikal, doch seine Augen waren von der gleichen, intensiv grünen Farbe. Mikal trat auf Thurka zu und streckte ihm die Hand entgegen. Thurka umklammerte Mikals Arm und zog ihn an sich. „Willkommen, Mikal.“ Mikal lächelte. „Wie geht es dir?“ Das war alles, was er sagen konnte. Es war eine lahme Begrüßung, und er wußte es. Als der Kaiser ihn zu den versammelten Lords führte, riß Mikal sich los und lief auf einen Mann zu, der ihnen beiden ähnelte. Er war erheblich größer als sie, und sein langes, welliges Haar war vorzeitig weiß geworden, genau wie der Schnurrbart, der über seine Oberlippe hing. „Belka!“ rief Mikal und streckte seine Hand aus. „Belka, wie geht es dir?“ Dieses Mal lag mehr Herzlichkeit in der Frage. Sein Onkel begrüßte ihn genauso herzlich und hieß ihn willkommen. Thurka trat zu seinem Sohn und seinem Bruder, ein wenig neidisch auf die Wärme, mit der sie einander begrüßten. „Komm, die anderen warten auf dich. “ Mikal erneuerte seine Bekanntschaft mit vielen Männern, die er in seiner Kindheit und Jugend
gekannt hatte: König Anthul von Perrigar und Borgas von Gar. Er wurde Prinz Noal von Ernyr vorgestellt, einem sehr schlanken, jungen Mann in der traditionellen schwarzen Rüstung seiner Familie. Der Herzog von Larc war der nächste, ein mittelgroßer Mann in einem braunen Pelzmantel. Die Überraschung, die sich in seinem Gesicht abzeichnete, erfüllte Thurka und Mikal mit höchster Befriedigung. Der Herzog starrte Mikal mit offenem Mund an. Als er sich einigermaßen von seiner Bestürzung erholt hatte, wandte er sich an den Kaiser und stammelte: „Dies ist... ist der Mann, von dem ich dir erzählt habe. Der Söldner...“ „Ja, ich weiß“, unterbrach Thurka ihn lächelnd. „Dein Söld nerführer.“ „Es freut mich, dich wiederzusehen, Lord“, grinste Mikal. „Aber... ich bin es, der dich mit Lord anreden sollte.“ Als Thurka seinen Sohn weiterführen wollte, blieb dieser stehen und sagte: „Warte, Vater, da sind noch ein paar andere Männer, die du kennenlernen mußt. “ Er winkte seine Begleiter heran, als er Thurka zu ihnen führte. Zoltan fummelte an seiner Rüstung herum. Mikal sagte: „Vater, dies ist Zoltan, ein großartiger Soldat und mein Freund. “ Thurka schüttelte dem bulligen Krieger die Hand. „Willkommen, Lord Zoltan. Willkommen im Südlichen Reich. “ Der Titel klang viel besser, wenn er von einem Kaiser ausgesprochen wurde als nur von einem Söldnerführer. „Und dies ist Meister Crispan“, sagte Mikal und deutete auf den Mann in der langen, grauen Robe, vor dessen Brust ein purpurfarbenes Amulett hing. Der Kaiser war ehrlich erfreut, ihn zu sehen. „Ich bin froh, daß du bei uns bist, Crispan. Meister Omir hat viel Gutes über dich erzählt.“ Der Magier verneigte sich tief. „Ich danke dir, Lord. Der Hochmeister entbietet dir seine Grüße und die besten Wünsche. Wir beide hoffen, daß ich dir zu Diensten sein kann. “ Crispan verneigte sich noch einmal, wie es Form und Ritual verlangten. Thurka warf seinen schweren Umhang zurück und wandte sich an den Hauptmann seiner Leibwache. „Du hast deinen Auftrag sehr gut erfüllt, Baron Churnir“, sagte er und verlieh auf diese Weise seinem treuen Hauptmann einen Adelstitel. Thurka machte die Männer jetzt mit seinen Verbündeten bekannt. Alles verlief glatt, bis Zoltan dem Herzog von Larc ge genüberstand. Die Augen des Herzogs verengten sich, als er den Krieger erkannte, und er erinnerte sich sofort an eine wenige Jahre zurückliegende Nacht, als dieser Krieger sich während einer Schlacht auf ihn gestürzt hatte. Larcs Wut war für alle deutlich erkennbar, doch unter dem eisigen Blick des Kaisers mußte er sie zügeln. Als die Vorstellung vorbei war, ging man auseinander, um sich für das Willkommensbankett vorzubereiten. Als Mikal und Thurka sich voneinander trennten, umklammerte der Kaiser wieder den Arm seines Sohnes, wandte sich dann wortlos um und ging zu seinem Zelt. Das Festzelt hatte gigantische Ausmaße und bestand aus sechs oder sieben der größten Zelte, die man aneinandergereiht hatte. Es war unmittelbar an der Mauer von Gurdikar errichtet worden. In diese große Halle aus Zeltleinen hatte Thurka seine Lords, Heerführer und Verbündeten und ihre Begleitung eingeladen, um die sichere Rückkehr seines Sohnes und Thronerben zu feiern. Crispan trug die beste Robe, die er mitgenommen hatte, tiefgrün, mit schwarzen und goldenen Bordüren. Er fingerte an seinem Amulett, als er von einem Offizier der Garde zum Festzelt geleitet wurde. Die Stille, die in dem riesigen Heerlager herrschte, setzte ihn in Erstaunen. Er hatte erwartet, daß in dem mit Menschen, Pferden und Waffen vollgestopften Lager ein Gewirr von Geräuschen und Lärm zu hören wäre. Statt dessen hatte sich mit der Nacht eine fast absolute Ruhe auf die Zeltstadt gesenkt. Die Atmosphäre im Festzelt kontrastierte jedoch scharf zu der des Lagers. Entlang den Tischen brannten Fackeln in hohen Eisenständern. Crispan verzog das Gesicht, als er aus dem Dunkel in das grelle Licht trat, das von den goldenen und silbernen Schüsseln, Tellern und Weinbechern auf den Tischen reflektiert wurde. Das Licht fiel auf den blutroten Inhalt der Weinkannen, streichelte die Braten und Soßen und Fruchtschalen, warf tanzende Schatten auf die Zeltwände,
die in einer leichten Brise waberten und pulsierten. Crispan wurde zum längsten der reich gedeckten Tische ge führt, der in der Mitte des Zentralzeltes stand. In dem Gewimmel von hin und her eilenden Dienern und eintreffenden Gästen, entdeckte er Zoltan, der bereits hinter einem randvollen Krug Rotwein saß. Er hatte neben Mikal Platz genommen, der in seiner blauen, silberbestickten Robe und mit drei juwelenbesetzten Armreifen jetzt wirklich wie ein Prinz aussah. Neben Mikal saß Thurka, der immer kaiserlich wirkte, ganz egal, wie er gekleidet sein mochte, und zu seiner Rechten sah Crispan die alle überragende Gestalt Belkas, der jetzt aufstand und ihm winkte, an seiner anderen Seite Platz zu nehmen. Eine große Platte mit herrlichen Vorspeisen stand vor Crispan, als er sich setzte, umgeben von kleinen Silberschalen mit verschiedenen Soßen. Neben ihr eine andere Platte mit frisch gebackenen kleinen Broten und eine große goldene Schüssel voller Früchte. Crispan war von dem Anblick überwältigt. Noch nie hatte er eine solche Festtafel gesehen. Belka schenkte ihm Wein aus einer goldenen Karaffe ein. Als Mikal seinen Becher hob, tat Crispan es ihm nach und leerte ihn auf einen Zug. Belka wollte ihn sofort wieder füllen, als ein lautes Fanfarensignal ertönte. Crispan blickte auf. „Die Trinksprüche“, murmelte Belka und füllte Crispans Be cher. Lord Gremard, der Gouverneur von Gurdikar, begann den Reigen mit einem Glückwunsch zur Rückkehr des Thronerben, den der Kaiser erwiderte, bevor er selbst einen Trinkspruch ausbrachte. Und so ging es weiter, als jeder der anwesenden Lords die Neuankömmlinge beglückwünschte und willkommen hieß. Diener eilten hin und her, um die geleerten Becher, Krüge und Karaffen sofort nachzufüllen. Viele, viele Trinksprüche später erhob sich Mikal, um sich zu bedanken,und machte der strapaziösen Höflichkeitstour ein Ende, indem er seinen Trinkspruch auch im Namen seiner Begleiter aussprach. Endlich konnte das Bankett beginnen. Die prächtige Ausstattung, die gelöste Stimmung der Gäste faszinierten den Magier. Er saß in seinen Stuhl zurückgelehnt und schälte eine Frucht, die aus dem Süden des Reiches ge bracht worden war, und nahm alles, was um ihn herum ge schah, in sich auf. Und doch fühlte er sich ein wenig unbehaglich, ausgeschlossen von den vielen lauten, fröhlichen Gesprächen, die er von allen Seiten hörte. Zu seiner Linken saß Prinz Noal von Ernyr, der außer den üblichen Höflichkeitsfloskeln nichts zu sagen hatte. Der Prinz war von Geburt und Erziehung Krieger und freute sich offensichtlich auf den bevorstehenden Feldzug. Glücklicherweise beugte sich jetzt Belka zu ihm herüber, und der Magier fühlte sich nicht mehr so isoliert. Sie begannen eine unverbindliche Konversation, aus der sich jedoch sehr bald ein ernsthaftes Gespräch entwickelte. „Bist du schon einmal in Rhaan-va-Mor gewesen?“ fragte Belka, riß ein Stück vom Rinderbraten und schob die Platte Crispan zu, der Belkas Frage mit einem Kopfschütteln beantwortete. „Das solltest du wirklich nachholen. Eine sehr schöne Stadt. Einst Teil des Großen Reiches. Einer der Sieben Juwelen.“ „Sieben Juwelen?“ echote Crispan. „Richtig“, sagte Belka und füllte wieder das Glas des Magiers. „Die zweitschönste Stadt des Reiches, nur von Anrehenkar übertroffen, wird behauptet. Die früheren Kaiser des Mittleren Reiches gaben ihren größeren Städten die Namen von Edelsteinen: Anrehenkar, der Diamant, Izikar, der Saphir, Ker-en-kar, der Rubin, und so weiter. Rhaan-va-Mor wurde der Türkis genannt, nach der See, an der es liegt, vermute ich. Auf jeden Fall ist es eine faszinierende Stadt. Seit dem Fall des Reiches ein freier Stadt-Staat mit einem wunderbaren Hafen. Schiffe aus allen Teilen der Welt laufen dort ein, selbst aus fernen Ländern, die von unseren Schiffen noch nie erreicht wurden. Und Frauen! Elegante, schöne Damen von großen Handelshäusern, hübsche Sklavenmädchen aus exotischen Ländern. Ich habe mal ein paar von ihnen mitgebracht Sklavenmädchen, meine ich. Ich sage dir, Crispan, wenn ein Mann die Welt kennenlernen will, und nicht nur die Reiche, gibt es für ihn keinen besseren Startplatz als Rhaan-va-Mor. Im Norden sind wir von den Gebirgen eingeschlossen, doch in Rhaan- va-Mor öffnet sich einem die ganze Welt.“
Crispan hätte gerne weiter über dieses Thema gesprochen, denn er hatte bisher kaum etwas über die Länder jenseits der drei Reiche gehört. Er hätte gern mehr darüber und über andere Angelegenheiten der Welt erfahren. Doch fand er keine Gele genheit dazu, da Belka ihm von seinen eigenen Beziehungen zu Rhaan-va-Mor berichtete, das er einmal von der Belagerung durch eine große Söldner-Armee befreit und dann eine noch längere und noch härtere Belagerung durchgestanden hatte, die inzwischen bereits zur Legende geworden war. Die Geschichte war ziemlich alt, und Belka hatte sie so oft erzählt, daß er sie flüssig und routiniert abspulen konnte, doch für Crispan war sie neu und faszinierend. Er hörte Belka so angespannt und konzentriert zu, daß er die Abwesenheit des Kaisers und seines Sohnes erst viel später bemerkte.
XIV Die Rückkehr des Thronerben Thurka und Mikal verließen das Festzelt, als das Bankett noch andauerte, und ihr Fortgang wurde von niemandem bemerkt außer dem treuen Churnir, der ihnen folgte, als sie durch das nächtlich stille Lager zum Zelt des Kaisers gingen. Selbst im Dunkel der Nacht schien das Zelt einen goldenen Glanz abzustrahlen. Sie traten durch den Vorraum in den Privatraum des Kaisers und schickten alle Diener hinaus. Churnir blieb vor dem Eingang des Zelts und sicherte es durch einen Kordon seiner Leibgarde. Thurka goß gekühlten Wein aus einer Karaffe in zwei goldene Becher. Er war müde von vielen langen Tagen und Nächten, angefüllt mit Beratungen, Gesprächen und den Truppenübungen, und von dem Bankett dieses Abends. Er ließ sich schwer in seinen fellbezogenen Sessel fallen und runzelte die Stirn, als er sah, daß sein Sohn ihn über den Rand seines Bechers hinweg anblickte. Nach einer verlegenen Pause machte Thurka Re den ersten Zug. „Eine lange Zeit, Mikal. Ober sieben Jahre. Du siehst gut aus. “ Es war nicht leicht, nach einer so langen Zeit ein Gespräch zu beginnen. Jetzt übernahm Mikal die Initiative. „Hat Ivor gewußt, daß du mich rufen ließest?“ fragte er direkt. Thurka nickte. „Was hat er gesagt?“ „Nichts. Jedenfalls nicht zu mir. Aber ich glaube, daß er mich verstand. Was hat es eigentlich zwischen euch gegeben? Warum habt ihr einander so gehaßt?“ Mikal stützte die Hand mit dem Weinbecher auf die Sessellehne und seufzte. „Ivor haßte mich wegen meiner Überlegenheit. Ich war klüger und ich war ein besserer Soldat. Und ich haßte ihn, weil er der erste war, weil er dich gegen mich beeinflußte. Er hielt mir ständig vor Augen, daß er der Thronerbe und dein Lieblingssohn war, daß er eines Tages Ivor Re sein würde, während ich mein Leben lang nur Prinz Mikal bliebe. Er brachte es fertig, daß ich meinen Titel hassen lernte.“ Thurka verzog schmerzlich sein Gesicht. Dann starrte er auf den tiefroten Wein in seinem Becher. „Du bist also der Meinung, daß ich Ivor bevorzugt habe?“ Mikal nickte. „Ja, ich fürchte, das stimmt. Doch er war der Erstgeborene, er war älter. Ich mußte ihn zum Herrschen erziehen, und er besaß nicht deine Fähigkeiten. Solltest du einmal zwei oder mehr Söhne haben, wirst du das verstehen. Ein Sohn sichert die Nachfolge, doch zwei Söhne sichern sie noch besser. Es besteht dann aber die Gefahr, daß sie um den Thron kämpfen. Das ist ein Dilemma, das noch kein König lösen konnte. Doch sage mir, warum bist du gegangen, und wohin?“ Mikal schloß die Augen und ließ seine Gedanken durch die vergangenen sieben Jahre zurückwandern. Er leerte seinen Be cher, ohne sich dessen bewußt zu werden, dann öffnete er seine Augen wieder und goß sich Wein nach. „Du warst krank. Man sprach sogar davon, daß du sterben würdest. Ivor und ich hatten wieder gestritten - ich war ihm bei der Jagd auf einen Eber zuvorgekommen und hatte das Tier erlegt, das er entdeckt hatte. Als wir an diesem Abend zurückkamen und erfuhren, daß es dir schlechter ging, kam Ivor zu mir. Er drohte mir und sagte, daß der Speer, den er nicht benutzen konnte, ein anderes Ziel finden würde, falls du sterben solltest. Er war betrunken. Ich ging zur Kaiserin... wie geht es Mutter?“ „Sie lebt in Kerdineskar. Es geht ihr gut. “ Thurka verzog das Gesicht, als das Gespräch auf seine ihm entfremdete Frau kam. „Mutter haßte dich damals. Es war kurz nachdem du diese Affäre mit dem Vaduli-Mädchen begonnen hattest. Ich berichtete Mutter von Ivors Drohung, und sie bot mir an, gemeinsam mit ihr einen Coup gegen dich und Ivor zu unternehmen. Ich wußte, daß er
fehlschlagen würde, selbst wenn du sterben solltest. Die Armee ist dir immer ergeben gewesen und würde zu Ivor halten. Ich wünschte ihr eine gute Nacht und verließ sie, entschlossen, sofort fortzugehen, noch in jener Nacht. Ich konnte weder deinem Gesundheitszustand noch Ivor vertrauen, deshalb ging ich fort.“ Thurka trank einen Schluck Wein, als ob er die Bitterkeit von sieben Jahren fortspülen könnte. Mikal fühlte sich besser, aber ausgelaugt. „Ich ritt nach Vadul. Anfangs hatte ich vor, mich für eine Weile im Großen Wald zu verbergen und dann zurückzukehren. Doch unterwegs beschloß ich, nicht wieder zurückzukehren, also ritt ich weiter, in das Gebiet des Mittleren Reiches.“ Er brauchte jetzt keine Ermunterung mehr, sondern fuhr mit seinem Bericht fort und unterbrach ihn nur hin und wieder, um einen Schluck Wein zu trinken. Mikal sprach davon, daß er eines Tages, als sein Geld zu Ende ging, den einzigen Weg beschritt, der einem ausgebildeten Krieger in einer Zeit des Chaos offenstand: Er wurde Söldner. Er beschrieb die Welt der Söld ner in allen Einzelheiten, die festgefügte Hierarchie, die von jungen Rekruten über erfahrene Veteranen zu den Kommandeuren von Kompanien und Armeen reichte und jeden Mann an den über ihm stehenden band, durch einen Kontrakt, dessen Bestimmungen von allen strikt eingehalten wurden. Mikal berichtete, wie wenige der Söldnerführer lange genug lebten, um das erbeutete Gut genießen und den Rest ihrer Tage in Frieden leben zu können, sondern durch die Bedürfnisse ihrer Armeen dazu gezwungen würden, endlos weiterzukämpfen, gefangen in einem endlosen Kreis von Kriegen, um die Beute heranzuschaffen, die sie brauchten, um neue Rekruten anwerben zu können, durch die die Stärke ihrer Armeen erhalten wurde, und dann noch mehr Beute, um die Männer zufrieden und loyal zu halten. Und dann beschrieb er seine eigene Karriere in der isolierten Welt der Söldner. Nachdem er sich zuerst einer Bande ange schlossen hatte, die mehr aus Räubern als aus Söldnern bestand, hatte er allmählich immer mehr Beute angesammelt, als er durch das Mittlere und das Nördliche Reich zog, von Vardimor bis nach Kyryl und Nor, dann zurück nach Larc. Sein einziges Prinzip, an das er sich strikt hielt, erklärte Mikal, war seine Weigerung, Krieg gegen das Südliche Reich und seine Verbündeten zu führen, eine Politik, die ihn zumindest eine Kompanie kostete, die er unter seinem eigenen Banner aufgestellt hatte. „Auf diese Art habe ich sieben Jahre lang gelebt“, fuhr Mikal fort, leerte seinen Becher und dachte zurück an seinen Weg durch das Chaos, zu dem das Mittlere Reich geworden war, sah wieder die zerstörten Städte, die breiten Schneisen von Tod und Elend, die die Söldnerheere in das Land schlugen. Er schüttelte den Kopf und sah seinen Vater an. „Sage mir, wie hast du mich bei Syman entdecken können?“ Jetzt war es am Kaiser zu sprechen, und er berichtete, wie der exilierte Herzog von Larc vor Zhyjmans unprovoziertem Angriff, den selbst sein grünäugiger Söldnerführer nicht aufhalten konnte, nach Süden geflohen sei. Thurka schilderte ausführlich die Berichte, die ihm über diesen geheimnisvollen Lord Mikal zu Ohren gekommen seien, über seinen hinhaltenden Widerstand im Grenzgebiet von Larc, seinen erfolgreichen Rückzug nach Izikar, der Hauptstadt vo n Larc, und seine geschickte Verteidigung der Stadt. Mikals Augen hatten sich geschlossen, als er dieser Schilderung zuhörte. Er sah wieder die furchtbare Belagerung Izikars vor sich, erinnerte sich daran, wie der Krieg Tag und Nacht verkehrt hatte, als lodernde Feuer die Nacht erhellten und dichte Rauchwolken das Tageslicht verdunkelten. Er versuchte, sich daran zu erinnern, ob und wann er in dieser Zeit geschlafen hatte, doch er sah sich nur von Stadtmauer zu Wehrturm eilen, ständig Befehle schreien und seine eigenen Männer und die Soldaten von Larc anfeuern, bis die Situation aussichtslos wurde und er den Herzog dazu überredete, die Stadt aufzugeben, um sein eigenes Leben zu retten. „Ich wußte, daß ich auf den Füßen landen und überleben würde, denn das gehört zu dem Können eines klugen Söldners. Der Tod ist der wirkliche Feind, nicht die Niederlage. Doch ich wußte auch, daß Zhyjman den Herzog von Larc auf keinen Fall am Leben lassen würde, wenn er in Gefangenschaft geraten sollte.“ Thurka nickte. „Also hast du ihn zu mir geschickt, und als ich seine Geschichte hörte, hoffte ich, daß du der Söldner seist, den er beschrieb.“
„Aber du hast nicht nach mir geschickt. “ Mikals Stimme klang bitter. „Nein. Wärst du zurückgekommen, solange ich noch am Le ben und Ivor nach wie vor der Thronerbe war?“ „Nein.“ Der Kaiser legte die gespreizten Hände auf seine Knie. „Es ist viel zwischen uns geschehen, Mikal, und wir sind beide verletzt worden. Du bist als ein anderer Mensch zurückgekommen, und das ist vielleicht gut so. Vielleicht ist es Lord Mikal, der Söldner, den wir jetzt brauchen. Wie siehst du unsere Chancen?“ „Ehrlich gesagt, halte ich sie für sehr schlecht. Zhyjman hat Truppen von überlegener Stärke und Ausbildung, kann Zeit und Ort der Schlacht bestimmen. Und er ist, wie Syman, ein sehr vorsichtiger Mann. Er würde nie etwas so Entscheidendes wie den Angriff auf Anrehenkar und unseren Sturz versuchen, wenn er nicht sehr gute Erfolgschancen sähe. Und auch Syman würde keinen Kontrakt für ein solches Unternehmen abschließen, wenn er nicht seinerseits des Erfolges sicher wäre. Trotzdem reichen alle Armeen Zhyjmans nicht aus, um unser Reich zu erobern. Doch Armeen sind nicht das wirkliche Problem, fürchte ich. Vielleicht liegt hier die Aufgabe unseres Magiers. Vielleicht kann er einen gewissen Einfluß auf Zhyjman ausüben und dessen Hoffnungen und Pläne zunichte machen. Irgend wie habe ich das Gefühl, daß er unsere stärkste, vielleicht unsere einzige Waffe gegen den Norden ist. “ „Was hältst du von ihm?“ Mikal zuckte die Schultern. „Ich dachte, daß du dich über diese Frage mit dem Hochmeister ausgesprochen hättest. Wir müssen uns auf das Urteil des Ordens verlassen, daß er der am besten geeignete Mann ist, um uns zu helfen, obwohl ich fürchte, daß seine Kräfte durch die Gesetze, die der Orden für sich selbst und seine Mitglieder erlassen hat, stark beschränkt werden. Und ich bin der Ansicht, daß es mehr braucht als einen plötzlich aufkommenden Wind und tauendes Eis, um Zhyjman zu schlagen.“ Thurka nickte düster und spürte jetzt die Erschöpfung, die die Heimkehr seines Sohnes und die lange Nacht mit vielen Gesprächen und viel Wein in ihm hinterlassen hatten. Sie traten durch die äußere Kammer des Zelts in die Nacht hinaus. Die Sterne funkelten noch am Himmel, doch am östlichen Horizont war schon das erste, dunkle Rot des neuen Tages zu sehen. Das Lager und die Stadt lagen in friedvoller Ruhe; das Bankett war längst zu Ende gegangen. Thurka blickte seinen Sohn an und lächelte. „Komm. Es wird Zeit, ein wenig zu schlafen.“ Mikal wußte nicht, wie lange er geschlafen hatte oder wie spät es war. Er hatte einen Kienspan angezündet, ihn aber sofort wieder gelöscht, lag jetzt auf seinem Feldbett und sah den dünnen Rauchfäden nach, die zum Zeltdach emporstiegen. Er war tief in Gedanken und dachte über sein Leben während der letzten sieben Jahre nach, als Belka ins Zelt trat. Er winkte seinem Neffen zu, setzte sich auf den Stuhl, der am Fußende des Bettes stand, und strich sorgfältig seine Robe glatt, bevor er sprach. „Dein Vater hat mich geschickt, um dich für morgen vorzubereiten.“ Mikal zog verwundert die Brauen zusammen. „Morgen?“ fragte er. Belka schien von der Frage irritiert. „Ja, morgen. Deine Inve stitur als Thronerbe soll sofort durchgeführt werden, um jeder Schwierigkeit aus dem Weg zu gehen.“ Das Wort ließ den Prinzen überrascht aufblicken. „Schwie rigkeiten? Von wem?“ Belka zog sein Jagdmesser, nahm die Frucht aus der Schale die auf einem kleinen Tisch neben Mikals Bett stand, und begann sie zu schälen. Er ließ die Schalenstücke auf den Boden fallen und achtete darauf, daß die Klinge nicht das Fruchtfleisch verletzte. Als er mit dem Schälen fertig war; schnitt er ein Stück der Frucht ab und warf es seinem Neffen zu. „In jedem großen Staat gibt es illoyale oder unzufriedene Adelige. Vielleicht ha ben einige Bestechungsgelder oder Versprechungen von Zhyjman erhalten. Ich glaube zwar nicht, daß es. zu ernst zu nehmenden Zwischenfällen kommt, aber wir dürfen keinerlei Risiko eingehen. Wenn wir versagen, verlieren wir Verbündete und gewinnen keine. Das ist der Grund, warum du die Eidesformel und die Details der Zeremonie beherrschen mußt. Es wird ohnehin etwas schwierig sein, weil du so lange fort gewesen bist. Natürlich hilft dir die Tatsache, daß ich auf deiner Seite stehe. Schließlich bin
ich jetzt der anerkannte Thronerbe. Aber komm jetzt. An die Arbeit!“ Den größten Teil dieses Tages verbrachten die beiden damit, die uralte Zeremonie zu proben, die Mikal als Zweitgeborener nicht hatte erlernen müssen. Belka begann mit seinen Instruk tionen, als Mikal noch beim Frühstück saß. Die Eidesformel stammte aus einer friedlicheren Zeit, als das Südliche Reich sich der Überlegenheit von Anrehenkar bewußt war. Mikal stieß sich jedoch so sehr an der ausführlichen Erwähnung möglicher Illoyalität, daß ihm das Erlernen dieses Passus einige Schwierigkeiten bereitete. Mikal würde schwören müssen, seine zum Reich gehörenden Lords im Osten, Westen und Norden zu beschützen und mit den anderen Kaisern in Harmonie und Frie den zu leben. Doch die Welt, zu der diese Formel gehörte, gab es schon lange nicht mehr. Die meisten der zum Reich gehö renden Lords hatten auch die letzten Reste ihrer Unabhängigkeit aufgegeben, und es gab nur noch einen anderen Kaiser. Und dieser hatte genausoviel Anteil an dieser Zeremonie und ihrer entscheidenden Bedeutung wie Mikal und Thurka. Der Tag, der zwischen dem Bankett und der Investitur lag, war dem Magier sehr willkommen. Er hatte lange geschlafen, etwas, das er sich seit seiner Adepten-Zeit nicht hatte leisten können, und den verbleibenden Teil des Tages damit verbracht, mit Zoltan seine Fechtkunst zu verbessern. Beide Männer fühlten sich etwas fremd hier, der eine, weil ihm die vertraute Umgebung des Ordens fehlte, der andere, weil man ihm die Gesellschaft seines Freundes entzogen hatte. Sie blieben auch am Tag der Zeremonie zusammen, einem strahlend schönen Sonnentag, wie ihn Gurdikar seit vielen Dekaden nicht erlebt hatte. Alle Fürsten, Lords und Truppenführer hatten sich in ihre schönsten Roben und Rüstungen gekleidet und wirkten wie schimmernde Juwelen, als sie in feierlicher Prozession zum Palast des Gouverneurs in die Stadt zogen. Crispan und Zoltan waren bereits in der großen Halle des Palasts und saßen mit anderen Gästen auf dem Balkon, der sich um drei Seiten der Halle erstreckte. Auch sie hatten sich der Gelegenheit entsprechend gekleidet; Zoltan trug eine Rüstung, die mit Gold und Onyx verziert war, Crispan eine Robe feinster Färbung und Textur, die jedoch von dem Glanz seines purpur farbenen Amuletts überstrahlt wurden. Zwischen ihnen saß Lorkar, ein Offizier der Garde, in seiner Paraderüstung, der vom Kaiser dazu beordert worden war, sie durch die Zeremonien dieses Tages zu führen. Er hielt seinen Helm in der rechten Armbeuge und deutete mit der linken Hand auf die versammelten Würdenträger. „Das ist der Fürst von Vadul“, sagte er und deutete auf einen Graubart in einem weißen Pelzcape. „Und dort ist Mabiz, einer der Ältesten von Rhaan-va-Mor; seine Anwesenheit ist von großer Bedeutung, ein Signal für den Norden. “ Neben dem Ältesten, dessen Kahlkopf und langer Bart Crispan an Bellapon erinnerten, erkannte er die Prinzen von Ernyr und Gar, Noal und Dhelo. Der Einzug der Lords dauerte noch eine Weile fort, und jeder von ihnen sah aus wie ein Pfau, der weiß, daß er im Mit telpunkt des Interesses steht. Die Prozession wurde von Gran, dem obersten Kämmerer des Reiches, abgeschlossen. Seine weite, burgunderfarbene Robe wurde von einem Gürtel mit einer riesigen Goldschnalle zusammengehalten, ein Zeichen seines Amtes, genau wie der lange Silberstab. Grans Augen, die unter buschigen Brauen hervorsahen, blickten autoritativ im Raum umher und brachten das Murmeln zum Schweigen. Als er zufrieden war, trat er vor die drei Sessel, die auf einem erhöhten Podest standen, und stieß seinen Stab dreimal auf den teppichbedeckten Boden. „Unser Herrscher und Beschützer, Thurka Re, hat uns zu sich gerufen, um sich mit uns zu beraten. Sind alle seinem Ruf gefolgt?“ Margrave Undhym, Steward der Adelsliste, antwo rtete: „Alle sind versammelt. Wir erwarten unseren Herrscher und Be schützer, um ihm mit unserem Rat zur Verfügung zu stehen.“ Gran nickte und machte eine fast unmerkliche Handbewegung zur Tür. Ein Posten gab den Befehl an die Trompeter weiter, deren Fanfarenstoß die Versammlung auf die Füße brachte. Gran trat zur Seite, als Thurka Re hereintrat, flankiert von seinem Sohn und seinem Bruder. Crispan war von der Zeremonie sehr beeindruckt, da er nichts von dem Protokoll eines kaiserli-
chen Hofes wußte. Die einzige Zeremonie, die dieser vergleichbar war, war seine eigene Einführung als Meister und später als Meister der Fünf Künste, und die hatte in einem dunklen Raum stattgefunden, der nur vom unheimlichen Halblicht wechselnder Farben erleuchtet und von Rauchschwaden verhangen war. Hier herrschte strahlend helles Licht. Die beiden Prinzen setzten sich auf ihre Sessel, die etwas niedriger waren als der des Kaisers. Thurka trat an den Rand des Podests, wölbte seine Brust in dem goldenen, pelzverbrämten Küraß vor und stemmte die in silbernen Panzerhandschuhen steckenden Hände in die Hüften. Gran verkündete, daß alle versammelt seien, um ihm zu Diensten zu sein. Thurka nickte. „Meine Lords, ich habe in diesen dunklen Zeiten eine gute Nachricht für euch. Mein jüngerer Sohn, Prinz Mikal, ist zu uns zurückgekehrt und bereit, seinen rechtmäßigen Platz in unserem Reich einzunehmen. “ Diese Nachricht war für niemanden neu, da das Gerücht von seiner Rückkehr bereits seit einiger Zeit die Runde gemacht hatte und die ses Gerücht durch seine Ankunft in Gurdikar bestätigt worden war. „Seine Ankunft ist ein Glück für uns alle, denn durch den Tod seines Bruders, Prinz Ivor, ist er der rechtmäßige Thronerbe. Ich bitte euch jetzt, ihn als solchen einzusetzen und ihm Treue zu schwören, so wie ihr mir Treue geschworen habt.“ Einen Augenblick herrschte völlige Stille. Dann stand einer der Lords auf. „Graf Franzis“, flüsterte Lorkar mit einem abfälligen Grinsen. „Mein Lord“, sagte der Graf, „wir alle sind erfreut über diese gute Nachricht. Ich möchte jedoch um Erlaub nis bitten, zur Vorsicht zu mahnen. “ Thurka nickte; er hatte dies erwartet. Selbst vom Balkon aus konnte Zoltan Mikals Wut spüren, als er sah, wie sich seine Schwerthand ballte. „Danke, mein Lord. “ Franzis’ von einem schütteren Bart umgebener Mund verzog sich zu einem Lächeln kaum versteckter hämischer Befriedigung. „Mein Lord, mein einziges Anliegen ist unsere Sicherheit. Wir leben in einer gefahrvollen Zeit und müssen Vorsicht walten lassen. Wie können wir sicher sein, daß es wirklich Prinz Mikal ist, der zu uns zurückkehrte? Er ist als junger Mann fortgegangen und als reifer Mann wiedergekommen. Er hat sich verändert. Wir dürfen nicht zulassen, daß die Thronfolge auf einen Betrüger übergeht, der uns von unseren Feinden untergeschoben wird, um deinen Bruder um die Thronfolge zu bringen. Er soll sich vor uns identifizieren, mein Lord.“ Thurka lächelte gewährend und winkte seinem Sohn, vorzutreten. Belka flüsterte Mikal ein paar Worte zu, als er sich erhob, und berührte ihn leicht am Handgelenk, wie um ihn zu beruhigen. Wieder herrschte Stille, doch dann erhob sich ein anderer Lord, der Graf Arganes, der durch eine uneheliche Linie mit der kaiserlichen Familie verwandt war. Der Graf zog pedantisch seinen Mantel zurecht, bevor er zu sprechen begann, und dann wandte er sich allein an die versammelten Würdenträger und schloß den Kaiser absichtlich und verächtlich von seiner Anrede aus. „Lords, dieser junge Mann könnte tatsächlich der Sohn des Kaisers sein, jedenfalls in seiner äußeren Erscheinung. Doch sieben Jahre sind eine lange Zeit, das Aussehen ändert sich, wie Graf Franzis soeben feststellte. Können wir wenigstens erfahren, wo sich der Prinz während dieser sieben Jahre aufgehalten hat und aus welchem Grund er so lange fort war?“ Belka, der die Vorgänge aufmerksam verfolgte, schien von dieser Aufforderung überrascht. Er hatte nicht erwartet, daß sie Mikal so hart bedrängen würden. Wußte der Graf, daß Mikal Söldner gewesen und unter Syman gekämpft hatte? Das würde Mikals Anspruch auf jeden Fall gefährden. Und warum die 144 Frage nach dem Grund seiner langen Abwesenheit? Wollte Arganes eine Andeutung über ein Mordkomplott gegen Ivor ma chen? Thurka, den diese Frage ebenfalls unvorbereitet traf, schwieg ein wenig zu lange. Doch Mikal selbst rettete die Situa tion. „Mein lieber Vetter“, sagte er betont freundlich, „hat völlig recht, wenn er von mir eine Erklärung verlangt. Ich bin auf Bitten meines Bruders fortgegangen. “ Erregtes Murmeln folgte diesen Worten, die das Schlimmste zu bestätigen schienen. „Er wollte, daß ich etwas von der Welt kennenlernen sollte, was ihm aus Sicherheitsgründen verwehrt war, damit ich ihm später, wenn er den Thron bestiegen hatte, raten und helfen könnte, so wie mein Onkel meinem Vater geholfen hat. Wo ich gewesen bin, kann ich dir leider nicht sagen, lieber Vetter; es waren viele Länder und Städte, und ich habe dort vieles gesehen und erfahren, das meinem Vater und dem
Reich besonders in dieser düsteren Zeit von Nutzen sein wird. Ich bin sicher, daß mein Vetter nicht die Absicht hat, unsere Sicherheit zu gefährden. “ Die Notlüge, die er mit Belka für diesen Fall vorbereitet hatte, kam flüssig und ohne Stocken. Arganes’ Augen verengten sich. „Nein, natürlich nicht. Aber trotzdem müssen wir jeden Zweifel ausräumen.“ Belka war jetzt ebenfalls aufgestanden. „Glaubt mein lieber Vetter“ - und der Widerwille selbst gegen die entfernte Verwandtschaft mit diesem Mann war offensichtlich -, „daß ich meinen Anspruch auf die Erbfolge aufgeben würde, wenn ich nicht absolut sicher wäre?“ Viele der Anwesenden lächelten, weil Belka keinerlei Ehrgeiz besaß, den Thron zu besteigen,und mit seiner Position völlig zufrieden war. Jeder, der ihn kannte, wußte, wie sehr er seine Freiheit liebte und mit welchem Widerwillen er sich nach dem Tod Ivors der Notwendigkeit gebeugt hatte, Thronerbe zu werden. „Ich denke, daß meine Be reitwilligkeit, auf meinen Titel zu verzichten, Beweis genug dafür sein sollte, daß dieser Mann tatsächlich mein Neffe ist, Prinz Mikal, der rechtmäßige Thronerbe des Reiches.“ Arganes war geschlagen und wußte es. Er verbeugte sich steif und setzte sich. Sein Gesicht war düster. Jetzt trat Gran, der seitlich vom Podest gestanden hatte, vor und sagte zu Thurka: „Mein Lord, wir haben beraten und abge sprochen und erkannt, daß dieser Mann, der vor uns steht, der wahre Thronerbe ist, und wir werden ihm ewige Treue schwören und dadurch auch unseren Treueschwur für dich erneuern.“ Mikal ließ nun die lange Zeremonie über sich ergehen. Er nahm von Belka die Zeichen seiner Würde entgegen: das Diadem, das zeremonielle Schwert, den Schild und sein Mandat von Thurka. Anschließend legte jeder der versammelten Lords in genau festgelegter Rangfolge den Treueeid auf den Prinzen und auf den Kaiser ab und schwor, Besitz und Leben für die Verteidigung des Reiches hinzugeben. Crispan erkannte, welche Bedeutung das gerade in diesen Tagen hatte, und blickte dann in der weiten Halle umher, musterte die Schilde und ge kreuzten Schwerter, die an den Täfelungen zwischen den ho hen, schmalen Fenstern hingen, und die riesigen Gobelins über den Türen. Seine Aufmerksamkeit wurde wieder von der Ze remonie eingefangen, als Franzis und Arganes ihren Eid ablegten, der erste trotzig, der zweite düster. Die Eide tönten den ganzen Nachmittag über, und die Sonne war von der einen Seite des Gebäudes zur anderen gewandert, als endlich die rangniedrigsten Adeligen, neuernannte Barone aus den südöstlichen Sümpfen, ihren Treueschwur abgelegt hatten. Gran schloß die Zeremonie sehr eilig und führte die Lords zu dem anschließenden Festbankett. Der Kaiser und die beiden Prinzen blieben auf dem Podest sitzen, und Thurka winkte Churnir zu sich. Der Kaiser deutete auf Arganes, der mit seiner Begleitung junger Lords gerade die Halle verließ. „Laß ihn verfolgen, aber unauffällig. Ich will wissen, wohin er geht und mit wem er sich trifft. Aber er darf nichts davon merken, verstanden?“ Churnir ging sofort, und Thurka wandte sich an seinen Bruder. „Das war schwieriger, als ich es erwartet hatte. Hältst du es für möglich...?“ „Nein, Bruder. Arganes ist ehrgeizig, aber sehr vorsichtig. Er mag daran denken, tief in seinem Herzen, aber er wird sich niemals mit Zhyjman in Verbindung setzen oder zulassen, daß Zhyjman Verbindung zu ihm aufnimmt - auf jeden Fall nicht so, daß er sich kompromittiert. Aber wir müssen ihn ständig überwachen. “
XV Mit der Armee des Ostens Zum ersten Mal seit Jahren war Crispan vor einem Gespräch nervös. Während er im Vorzimmer des Kaisers wartete, fingerte er an den Ärme lstulpen seiner Robe und umklammerte immer wieder seinen Talisman. Sein Blick glitt von einer Seite der mit Zeltleinen umschlossenen Kammer zur anderen, von den dekorativen Waffen zu den Gold- und Silberschalen mit Früchten, den Weinkaraffen und den beque men Sitzmöbeln, doch er nahm kaum etwas davon auf, so unruhig war er. Thurka begrüßte ihn sehr herzlich und führte ihn in seinen Privatraum. Der Kaiser war ebenfalls ein wenig unkonzentriert. Drei Tage waren seit der Investitur vergangen, drei Tage, angefüllt mit unzähligen und endlosen Besprechungen und Beratungen. Die Initiative lag völlig bei Zhyjman, und das Warten machte den Kaiser des Südlichen Reiches nervös. „Wir haben noch keine Zeit zu einem ernsthaften Gespräch gehabt“, sagte er und zupfte an seinem kurzgeschnittenen Bart. „Nein“, sagte Crispan leise. „Omir hat mir sehr viel Gutes über dich gesagt. Er behauptet, daß du der beste Magier des Ordens seist. Ich vertraue seinem Urteil in dieser und jeder anderen Hinsicht.“ Crispan errötete leicht. „Du sprichst, als ob du ihn kennen würdest.“ Thurka goß einen leichten Weißwein, der dieser Stunde angemessen war, in einen kleinen Becher und mischte ihn mit Wasser. „Ja, ich habe ihn vor langer Zeit kennengelernt. Ich war damals noch Prinz und Omir Assistent des Magiers am Hof meines Vaters in Kerdinneskar.“ Die Erwähnung der Hauptstadt des Südlichen Reiches erinnerte Crispan an eine Frage, die er gleich nach seiner Ankunft hätte stellen sollen. „Wie geht es...“ Er schwieg, weil er sich schämte, nicht längst gefragt zu haben. „Xirvan?“ sagte Thurka. Crispan nickte. „Xirvan ist noch immer krank und ist deshalb in Kerdinneskar geblieben. Er ist sehr alt und weiß, daß seine Kraft und seine Fähigkeiten nachlassen. Du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Er versteht deinen Auftrag und hat mir ausdrücklich gesagt, daß er dir vollen Erfolg wünscht. Er bietet dir jede Hilfe an, die er dir geben kann. “ Thurka begann mit seinem jetzt leeren Becher zu spielen und fuhr mit dem Zeigefinger um seinen Rand. Crispan wußte, daß er jetzt von einem wichtigeren Thema sprechen würde, als über den Gesundheitszustand des alten Magiers in seiner Hauptstadt. Der normalerweise ruhige, stete Blick des Kaisers wich dem Crispans aus, und er fragte leise: „Was kannst du mir über Viadur sagen?“ Die Frage verwirrte Crispan. „Was meinst du damit? Seine Ausbildung? Seine Fähigkeiten? “ „Nein, nein. Ich will wissen... “ Seine Stimme wurde fester. „Weißt du, wo er ist?“
Crispan war entsetzt. „Ich dachte, du wüßtest das.“ Seine Augen weiteten sich vor Entsetzen, als er seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt sah. Thurka schüttelte den Kopf. „Nein, ich weiß es nicht. Wir ha ben aus verschiedenen Quellen, darunter auch Omir, erfahren, daß Viadur bei meinen Feinden ist. Aber ich war sicher, daß der Hochmeister dir sagen würde, wo der Renegat, wie er ihn nennt, sich aufhält.“ „Aber er weiß es nicht.“ Crispans Stimme klang fast weinerlich. „Wir wissen nur, wo Zhyjmans Truppen stehen. Einige sind noch in Larc, und zwei starke Kolonnen marschieren auf Anrehenkar und die Tore zu. Aber von Viadur selbst haben wir nichts gehört.“ Der Magier lachte kurz auf. „Mit anderen Worten, du hast keinen wirklichen Beweis, daß Viadur bei deinen Feinden ist. Weißt du, was das bedeutet? Allein meine Anwesenheit hier kompromittiert die Stellung des Ordens in der Welt. Wir haben unser Neutralitätsprinzip gebrochen und unsere Sicherheit aufs Spiel gesetzt, nur weil wir hörten, daß Viadur sich angeblich gegen dich gestellt hat, und jetzt sagst du mir, daß du nicht weißt, wo er ist. “ Seine Stimme hatte sich zu einem schrillen, anklägerischen Diskant erhoben. „Verstehst du denn nicht?“ beschwor ihn Thurka unter dem Gewicht seiner Anschuldigungen. „Wir sind sicher, daß er bei unseren Feinden ist. Wo könnte er sonst sein? Wir wissen nur nicht, an welchem Ort er sich aufhält. Aber wir sind genauso wenig darüber informiert, wo Zhyjman und sein oberster Feld herr, Kirion, stecken. Wir müssen annehmen, daß sie zusammen sind. In diesem Punkt mußt du mir vertrauen.“ „Ich fürchte, es bleibt mir nichts anderes übrig. Wir haben uns bereits zu deiner Sache bekannt. Doch was soll ich tun, bis Zhyjman angreift? Soll ich nur herumsitzen und warten, daß der Renegat irgendwann aus dem Norden auftaucht?“ Der Kaiser hatte noch keine Antwort auf diese Frage gefunden, als sein Sohn hereintrat, gefolgt von seinem stämmigen Freund. Sie waren beide staubig von einem langen Ritt, wirkten jedoch munter und frisch. „Ja, das stimmt, Vater“, sagte Mikal mit einem breiten Grinsen, „was sollen wir mit unserem Magier anfangen?“ Es war Crispan, der seine eigene Frage beantwortete, und seine Augen waren groß und erwartungsvoll. „Was ist mit Pangals Armee, die Zhyjmans Armee aufhalten soll, welche Zifkar bedroht?“ „Nein“, sagte der Kaiser entschieden, entsetzt über diese Idee. „Das kommt nicht in Frage. Warum willst du zu dieser Armee?“ Crispans Entsetzen hatte sich jetzt in Wut verwandelt. Er sprang auf und begann hin und her zu gehen. „Weil ich helfen will, wenn ich schon einmal hier bin. Ich bin durch mein Hiersein bereits
kompromittiert, also sollte ich auch etwas tun.“ Thurka blieb fest. „Nein und noch einmal nein. “ Er wedelte dabei erregt mit den Händen und schlug den Becher von der Lehne seines Sessels; er flog quer durch den Raum und zersplit terte am Boden. „Du hast gesagt, daß du ausschließlich herge kommen bist, um gegen Viadur zu kämpfen. Er zieht nicht ge gen Zifkar.“ „Aber seine Verbündeten“, erwiderte Crispan. „Warum eigentlich nicht, Vater? Es würde Crispan ein wenig praktische Erfahrung geben, und es dürfte nicht gefährlich werden. Wer weiß, vielleicht kann er Pangal nützlich sein.“ „Und was ist, wenn Viadur auftauchen sollte, während du fort bist?“ Doch das bildete kein Problem, da Crispan und eine Eskorte sehr rasch wieder hier sein könnten. Thurka spürte nach dem Ausbruch des Magiers noch immer Schuldgefühle, und so stimmte er schließlich zu. Als Crispan zu seinem Zelt zurückging, um sich für den Feld zug vorzubereiten, blieb er plötzlich stehen. Er wußte noch immer nicht, warum er hier draußen in der Welt war, und jetzt wußte er auch nicht, warum er darauf bestanden hatte, nach Zifkar zu gehen. Das unbehagliche Gefühl, daß die Kontrolle über sein Leben, die er im Orden immer so hoch geschätzt hatte, ihm immer mehr entglitt, war nicht mehr nur ein vager Verdacht, sondern eine ständig stärker werdende Gewißheit. Der Anblick war zugegebenermaßen äußerst eindrucksvoll. Auf der Ebene nördlich von Gurdikars schwarzen Mauern waren zwei Armeen und der Kern einer dritten zusammengezogen worden. Panzer glänzten im Licht der Morgensonne, Flaggen, Banner und Standarten flatterten in der kühlen Brise. Das dunkelrote Symbol des Südlichen Reiches, das grüne Vaduls und das gelbrote Larcs, die Banner der Grenzfürstentümer und einiger hoher Adeliger bildeten einen imposanten Hintergrund für die Ankunft des Kaisers und seiner Begleitung. Thurka saß aufgerichtet auf seinem grauen Kriegsroß, und seine Augen blickten die langen Reihen von Soldaten entlang, die auf der Ebene angetreten waren. Er gab den Herolden einen Wink, und ein klares, scharfes Trompetensignal klang auf. Thurka stand in seinen Steigbügeln und hielt sein Schwert vor sich. „Soldaten des Reiches, von Vadul, Ernyr, Gar und Perrigar, Tharn und Larc! Ihr verlaßt heute Gurdikar, um uns alle vor den Vorstößen des Kaisers des Nördlichen Reiches zu schützen. Er ist es, dessen Kriegslüsternheit diesen Krieg heraufbeschwo ren hat; und um das Gleichgewicht der Kräfte zwischen den Reichen zu wahren, müssen wir ihn schlagen. Das ist der Grund, daß ihr heute marschiert, nicht um eure Gier auf Beute zu befriedigen, sondern um unser aller Sicherheit willen. Mögen die Geister euch beschützen und zum Sieg führen!“ Ein lauter, zustimmender Schrei drang aus Tausenden von Soldatenkehlen. Zur Rechten ertönten Kampflieder der verbündeten Armee unter dem Kommando von Prinz Zascha von Perrigar. Die Lanzenreiter von Ernyr auf ihren schnellen Hengsten schwenkten ihre Lanzen mit den goldenen, dreieckigen Flaggen hin und her. Die Schwertkämpfer von Gar und Perrigar schlugen mit ihren Waffen gegen die eisenbeschlagenen Schilde und stießen ihre rauhen Kriegsrufe aus. Die gefürchteten Bo genschützen aus Vadul in ihren braungrünen Lederwämsen standen ernst und schweigend, denn Lautlosigkeit gehörte zu ihrem Waffenhandwerk. Ein Kontingent Kavallerie und Infanterie stieß den uralten Kriegsruf des Reiches aus, in dem sie sich dem Sieg verschworen. „Sieg für Thurka Re! Sieg oder Tod!“ Und alle anderen wiederholten diesen Kriegsruf des Südens. Der Lärm gellte Crispan in den Ohren, der in seiner ungewohnten Rüstung auf dem Pferd saß. Man hatte ihm den Ehrenplatz zugewiesen, zwischen Pangal und seinem Stellvertreter, Lord Oslon. Das triumphierende Geschrei der Männer wurde noch vehe menter, als der Kaiser ihre Front abritt. Crispan lächelte über das Selbstvertrauen dieser Soldaten, und für einen kurzen, glücklichen Moment wurden seine Zweifel davon erstickt. Zuerst ritt Thurka zu Prinz Zascha und der Armee, die die Garnison von Anrehenkar verstärken sollte. „Du hast die schwierigste Aufgabe. Du mußt die Hauptstadt des Mittleren Reiches verteidigen, damit Zhyjman sie nicht beanspruchen kann. Denke immer daran, daß du alle
Staaten des Südens repräsentierst, so daß Zhyjman nicht behaupten kann, daß du es warst, der Anrehenkar usurpiert hat. “ Zascha salutierte mit seiner Streitaxt und drückte dann die Hand, die der Kaiser ihm entgegenstreckte. Thurka, immer noch von seinem Sohn und seinem Bruder begleitet, ritt nun zu der Armee Baron Pangals. „Du hast drei Aufgaben“, erklärte er ihm. „Du mußt unsere Ostgrenze sichern und die Hochstadt Zifkar entsetzen. Außerdem bist du für die Sicherheit des Magiers verantwortlich. Er wird dich bis nach Zifkar begleiten, nicht weiter. “ Auch Pangal salutierte und drückte Thurkas Hand. Thurka beugte sich im Sattel vor, um mit Crispan zu sprechen. „Ich bin mir noch immer nicht sicher, ob es richtig ist, was du vorhast. Setze dich keinerlei Gefahren aus. Omir würde mir nie wieder einen Magier schicken, wenn dir etwas passieren sollte. “ Er lächelte freundlich, und Crispan lächelte zurück. Pangal stieß den rechten Arm empor, und die Soldaten seiner Armee salutierten dem Kaiser. Pangal stand aufgerichtet in den Steigbügeln, und seine hellblauen Augen blitzten in dem sonnengebräunten Gesicht, als er von einem Ende der Truppe zum anderen blickte. Als er den Arm wieder senkte, ertönten Trommeln und Fanfaren. In Paradeaufstellung setzte sich die Armee des Ostens in Bewegung und marschierte zur Straße nach Zifkar. Jetzt stimmten die Männer der dritten Truppenformation, die magere Reserve, die in Gurdikar zurückblieb, Kriegsgesänge an, mit denen sie ihre ausziehenden Kameraden anfeuern und ihnen Glück wünschen wollten. Man sah ihnen an, daß sie die anderen beneideten, und sie sangen laut und ausdauernd. Als die lange Kolonne nach Osten abschwenkte, ritt ein Mann auf die beiden Kommandeure und den Magier zu. „Stova, Kommandeur der Kavallerie “, sagte er und streckte Crispan die Hand entgegen. Crispan drückte sie, und sie ritten weiter. Gurdikar war längst hinter ihnen verschwunden, der Klang von Trommeln und Fanfaren und das Triumphieren der Kriegsge sänge nur noch eine Erinnerung. Die Armee Baron Pangals marschierte mit der Zuversicht, die ihnen der Abschiedsappell gegeben hatte, und legte an diesem Tag eine weite Wegstrecke zurück. Die Feuer ihres Lagers erhellten die Ebene und schienen das Licht der Sterne zu reflektieren. „Du scheinst unruhig zu sein“, sagte Stova, als er sich neben Crispan setzte. „Das mag an der Rüstung liegen. Ich bin nicht daran ge wöhnt.“ „Oh“, sagte der Kommandeur der Kavallerie lachend. „Wenn es nur das ist, brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Wir reiten ab morgen ohne Panzer. Die müssen wir erst wieder anlegen, wenn wir in die Nähe Zifkars kommen.“ „Wann wird das sein?“ „In zwanzig Tagen, vielleicht etwas mehr. Ich nehme an, daß Pangal uns von Süden aus an die Stadt heranführen wird.“ Crispan war überrascht. „Weißt du nicht, was er vorhat? Du bist doch der dritte in eurer Rangordnung.“ Stovas Gesicht verzog sich zu einem sardonischen Lächeln. Er trug sein braunes Haar entgegen der herrschenden Mode kurzgeschnitten und einen ebenso kurz getrimmten Bart. „Ja, das stimmt“, sagte er und zuckte die Schultern. „Aber Pangal behält seine Pläne meistens für sich. Er ist ein ausgezeichneter Kommandeur, ein wenig kühl vielleicht, aber er führt seine Armee gut. Er wird es uns wissen lassen, wenn er es für notwendig hält.“ „Und das genügt dir?“ Trotz seiner soldatischrauhen Erscheinung fand Crispan ihn sehr sympathisch. Vielleicht deshalb, weil er nur wenig älter war als der Magier, vielleicht wegen seiner unkomplizierten Direktheit. Seine dunklen Augen waren ständig zugekniffen, der Reflex eines Mannes, der lange Tage in der Sonne zubringt. Seine Erscheinung paßte zu einem Kommandeur der Kavallerie: er war groß, schlank und muskulös. „Ein Soldat“, antwortete Stova, „lernt sich mit vielem abzufinden. Außerdem haben wir nur wenige wirklich gute Kommandeure, und Pangal ist einer von ihnen. Wie auch Oslon, obwohl der manchmal etwas übereifrig ist. Aber dennoch könnte er sogar noch besser sein als Pangal. “
„Warum ist dann nicht er Kommandeur?“ „Aus vielen Gründen. Pangal ist älter und hat größere Erfahrung. Außerdem ist seine Familie ranghöher als die Oslons. “ Es war mehr als nur eine Spur von Bitterkeit in Stovas Stimme, erkannte Crispan. „Warum stört dich das?“ Stovas Lippen verzogen sich zu einem dünnen Lächeln. Er zog seinen Dolch und schürte damit die Glut des Feuers. „Weil meine gesellschaftliche Stellung sogar noch tiefer ist. Ich bin ein Bastard, ein unehelicher Sohn des Markgrafen Humbyrt, und nur auf Grund dieser dubiosen Vaterschaft bin ich überhaupt so weit gekommen. Er war gut zu mir und hat mich in sehr jungen Jahren als Adjutant zu sich gerufen. Ich hatte Glück, daß wir damals lange Kriege gegen Plünderer an der Westgrenze führ ten, wo Humbyrts Mark liegt, so daß ich mich auf dem Schlacht feld bewähren konnte. Sonst wäre ich nie so weit gekommen, aber viel weiter geht es wahrscheinlich nicht. “ Er lehnte sich zurück und blickte nachdenklich in die Flammen. „In vieler Hinsicht“, sagte er in einem fast scherzhaften Tonfall, „ist dieser Krieg vielleicht meine einzige Chance. “ Er stand abrupt auf, wünschte Crispan eine gute Nacht und verschwand im Dunkel. Während der nächsten Tage zogen sie durch ein Land, in dem noch immer der Winter hartnäckig seine Herrschaft zu behaup ten versuchte und der Frühling ihn nur quälend langsam zu verdrängen vermochte. Braunes Wintergras bedeckte noch immer große Flächen des Bodens, doch es gab schon Hoffnungszeichen: In den Wäldern, durch die sie ritten, zeigte sich das erste zarte Grün an den Ästen. Stova hatte seine bedrückte Stimmung der vergangenen Nacht überwunden. Er ritt neben Crispan und versuchte, den Magier ebenfalls aufzuheitern. „Ich habe gehört, daß du dich freiwillig angeboten hast, mit uns zu reiten“, sagte er. Crispan gab es zu und erklärte auf Stovas weitere Fragen, daß er es getan habe, weil er sich in Gurdikar nutzlos vorgekommen sei. „Das Gefühl kenne ich“, sagte Stova mitfühlend. „Ich bin mir auch so vorgekommen, als ich an der Grenze in der Nähe von Vadul langsam verrottete. Vielen von uns war es seit langem klar, daß es zu diesem Krieg kommen mußte, und zu der Zeit, als Zhyjman Tharn eroberte, hätte es allen klar sein müssen. Damals hätten wir zumindest eine gewisse Frist gehabt, die nö tigen Vorbereitungen zu treffen. Doch statt dessen saßen wir untätig herum. Jedem wurde erklärt, daß Zhyjman auf gar keinen Fall wagen würde, noch weiter vorzustoßen - die Anarchie, die wir Frieden nennen, schien so unverletzbar. Und die Bedrohung von Zhyjmans Flanke durch Larc schien wie eine Garantie gegen alle weiteren Eroberungsgelüste Zhyjmans. Doch inzwischen ist Larc gefallen, und Zhyjman dringt rascher vor, als es sich jemand vorzustellen ge wagt hätte. Und du und ich sind jetzt hier, bereit und willens, etwas zu tun, und man schickt uns auf diesen Marsch in die Vergessenheit. “ Wieder klang Bitterkeit in seiner Stimme. Crispan blickte ihn verblüfft an. „Vergessenheit? Warum?“ „Wir können von diesem Unternehmen kaum etwas erwarten. Der Entsatz von Zifkar ist ein Kinderspiel, genau wie die Absicherung seines Umlandes. Ein paar Truppen werden zurückbleiben, um das Gebiet zu halten, und Pangal und Oslon werden mit dem Gros der Armee nach Gurdik ar zurückmarschieren und dort weiter warten. Ah! Du hast Glück! Pangal hat den Befehl, für deine Sicherheit zu sorgen, und wird dich nach Gurdikar zurückbringen, wenn diese Sache vorbei ist.“ „Und du?“ „Pangal hat mir nichts gesagt, aber ich fürchte, daß er mich in Zifkar zurücklassen wird. Das gibt mir Gelegenheit, die Ent wicklung der Dinge nun von der extrem entgegengesetzten Seite des Reiches zu verfolgen.“ Beide Männer verfielen in Schweigen. Crispan dachte über den seltsamen Mann nach, der neben ihm ritt. Er war ein Pessimist, doch seine Offenheit und völlige Ehrlichkeit machten ihn dem Magier sympathisch. Stova war zweifellos ein Mann von rascher Auffassungsgabe, der in Crispan einen passenden Gefährten und Vertrauten sah. Der Magier stellte fest, daß er ihn mochte. Am nächsten Tag zügelte Stova sein Pferd neben Crispan, nachdem er mit Pangal und Oslon
konferiert hatte. „Nachricht aus dem Süden, von Ker-en-kar“, sagte er. „Ein Melder hat Pangal mitgeteilt, daß der Gouverneur, Ludivo, uns entgegenreitet. Wir sollten ihn noch im Lauf dieses Tages treffen. Er will über die Situation im Osten hören, und Pangal hat Botschaften des Kaisers für ihn.“ Am frühen Nachmittag stießen sie auf den Gouverneur und seine Eskorte und lagerten. Für die Soldaten war die se Rast eine willkommene Unterbrechung des Marsches, besonders an einem so warmen, sonnigen Tag. Für Stova und Crispan war die Besprechung die erste Gelegenheit, etwas über Pangals Pläne zu erfahren. Sie waren als letzte eingetroffen und wurden von Pangal dem Gouverneur Ludivo flüchtig vorgestellt. „Magier?“ sagte Ludivo überrascht, als er Crispans Titel hörte. „Ja, richtig. Ich habe gehört, daß wir jetzt einen Zauberer hätten, der den Hexereien Zhyjmans entgegenwirken soll. “ Er wandte sich wieder Pangal zu. „Wie ich eben sagte“, fuhr Pangal fort, „will der Kaiser, daß du deine Kräfte hier konzentriert läßt. Sein einziger weiterge hender Befehl betrifft eine Ausweitung deiner Patrouillentätigkeit nach Osten. Ich werde Zifkar entsetzen und das Gebiet nördlich der Stadt, auf die Tore zu, absichern. Wenn das erledigt ist, werden wir unsere Truppen neu gruppieren und auf Zhyjman warten. “ Bei diesen Worten warf Stova Crispan einen wissenden Blick zu. Ludivo kratzte sein unter einem graumelierten Bart verborgenes Kinn. „Und das ist alles? Ha! So einfach. “ Er wandte sich Crispan zu. „Ich hoffe, du wirst uns helfen, falls etwas schiefgehen sollte. “ Crispan zwang sich zu einem Lächeln, als er die sarkastischen Worte hörte. Ludivo fragte ihn anschließend nach seiner Meinung über den Plan, doch Crispan sagte ihm nur, er sei kein Krieger. Ludivo murmelte unwillig, als Pangal ihn zur Seite führte, um mit ihm allein zu sprechen. Oslon befahl den Soldaten, in Marschordnung anzutreten. „Ruhig, Crispan“, riet Stova, als sie aufsaßen, da er die Erregung des anderen spürte. „Es ist nur, daß einige Heerführer der Meinung sind, Thurka habe zu lange gewartet, und daß dieses Gerede von Magiern und Zaubersprüchen, die von beiden Seiten eingesetzt werden würden, nur dazu diene, Schwächen und wirkliche Absichten zu verschleiern, insbesondere unsere Schwächen. Wir wollen keine falschen Hoffnungen erwecken. Es wäre besser, diese Sache ein für alle Mal hinter uns zu bringen.“ Der Magier wollte antworten, überlegte es sich dann jedoch anders. Das Sonnenlicht ließ seinen Talisman glänzen und erinnerte ihn an die uralte Weisheit, die allen Mitgliedern des Ordens mitgegeben wurde, wenn sie zu ihrer ersten Aufgabe hinausgeschickt wurden: „Erwartet nicht, daß die Menschen mit nur zwei Augen euch verstehen. “ Er wiederholte diesen Satz in seinem Geist mehrere Male.
XVI Zifkar Die Marschroute der Armee schwenkte von Südost nach Osten, und einige Tage darauf wich sie ein wenig nach Nordosten ab. Das Gras wurde immer spärlicher, je weiter sie sich der Steppenlandschaft näherten, die den größten Teil der Ostgebiete bedeckte, doch das wenige Gras, das sie sahen, war von einem prächtigen, frischen Grün, ein sicheres Zeichen dafür, daß der Winter besiegt war. „So“, sagte Stova mit sachlicher, trockener Stimme, „jetzt ist das Reich endgültig im Krieg.“ „Was soll das heißen?“ Crispan blickte ihn überrascht an. „Siehst du die Stele dort?“ Er deutete auf eine schlichte Granitplatte, an der sie gerade vorbeiritten. „Sie markiert die östliche Grenze des Reiches, wie sie im ersten Grenzkrieg nach dem Fall des Mittleren Reiches festgelegt wurde. Kaiser Durghan II. selbst hat sie nach der Schlacht von Ksir aufgestellt. Wir haben also eben den Boden des Südlichen Reiches verlassen und befinden uns nun im Krieg. Darauf wollen wir einen Schluck trinken. “ Er löste einen Weinschlauch vom Sattelknopf. Nachdem er sich eine gehörige Portion in den Mund gespritzt hatte, reichte er den Schlauch Crispan, dessen erster Versuch den Weinstrahl gegen Wangen und Kinn spritzen ließ. „Ha!“ grinste Stova. „Es ist nicht so leicht, gleichzeitig zu reiten und zu trinken, wie? Wenn du das gelernt hast, bist du ein echter Soldat.“ Sie lachten beide, als Crispan sich das Gesicht mit dem Ärmel trocknete. Dann bog er den Kopf zurück, hielt den Weinschlauch empor und drückte ihn noch einmal. Jetzt traf er richtig. In der Nacht darauf rief Pangal seine Kommandeure zu sich. Crispan wurde ebenfalls zu der Besprechung gebeten, mehr aus Höflichkeit als aus Interesse an seinen Ansichten. Pangal bot ihnen Wein an und erklärte seinen Plan. Er hoffte, Zifkar innerhalb von acht Tagen zu erreichen, und wollte es von der Westseite angreifen. Sie würden noch einmal darüber sprechen, wenn sie näher herangekommen waren und die Lage besser überschauen konnten. Als er seine Karte zusammenrollte, sah er die drei Männer an und sagte: „Noch Fragen?“ Während Stova und Crispan vom Feuer der Kommandeurs zu ihrem eigenen zurückgingen, schnaubte Stova verächtlich. „Noch Fragen? Bah!“ Crispan steckte seine Hände unter das Cape. „Du sagtest doch, er sei ein guter Kommandeur.“ „Das ist er auch. Seine Soldaten wissen immer, was er von ihnen erwartet, und versuchen, es zu tun. Du kannst mir glauben, mir ist Pangal zehnmal lieber als einer von diesen anderen Kommandeuren, die so nett und jovial sind, daß ihre Soldaten glauben, er würde niemals etwas von ihnen fordern. So ein Kommandeur war es, der schuld an Humbyrts Tod ist. Wir griffen eine Horde Banditen an und verließen uns darauf, daß die Truppen dieses anderen Kommandeurs ihnen in den Rücken fallen würden. Sie taten es auch - einen halben Tag zu spät. Nein, mir ist Pangal zehnmal lieber, auch wenn er ein eiskalter Hund ist.“ Während der nächsten Tage, bevor sie Zifkar erreichten, erkannte Crispan die Richtigkeit von Stovas Feststellungen. Die Soldaten marschierten, ohne Fragen zu stellen und ohne sich zu beklagen. Sie vertrauten Pangal, seiner Kompetenz und seinem Urteil, und verlangten nicht mehr von ihm als gelegentlich ein paar aufmunternde Worte und eine Andeutung dessen, was er vorhatte. Pangal war oft bei der Truppe und ritt immer wieder die lange Kolonne auf und ab. Stova kam an dem Magier vorbeigaloppiert. Crispan spornte sein Pferd ebenfalls an und folgte ihm. Kurz vor der Kolonnenspitze holte er ihn ein. „Was ist los?“ fragte er atemlos. „Wir müssen die Marschordnung ändern. “ „Weil wir jetzt nach Norden abgebogen sind?“ Stova hob die Brauen. „Du hast es gemerkt. Du lernst rasch. “ Das war ein Kompliment, das Crispan ziemlich kalt ließ. Stova fuhr fort: „Wir müssen die Marschordnung ändern, weil wir uns Zifkar nähern.“ Gemeinsam ritten sie zur Spitze der langen Kolonne, wo Pangal und Oslon die Durchführung des Manövers überwachten. Schwadronen leichter Kavallerie, deren Reiter mit zwei La nzen und
Bogen und Pfeilen bewaffnet waren, galoppierten auf ihren kleinen, schnellen Pferden zur rechten Flanke. Schwere Reiter mit langen Speeren, Schilden und Schwertern donnerten nach allen Richtungen und formten einen Kordon um die während der Umgruppierung sehr verwundbare Armee. Infanterie-Einheiten marschierten im Schnellschritt und verkürzten die Länge der Kolonne. Pangal warf einen prüfenden Blick auf die neue Formation. „Weiter, Oslon“, sagte er dann. „Ich will übermorgen in Zifkar sein. “ Mit erneuter Energie und Entschlossenheit setzte die Armee ihren Marsch nach Osten fort. Ein warmer Rückenwind erleichterte ihnen das Vorwärtskommen und wehte Wellen in das frische, grüne Gras, das hier und dort auf der baumlosen östlichen Ebene wuchs, die sich bis zu den Großen Bergen erstreckte. Vor der Kolonne der ostwärts ziehenden Armee öffnete sich eine karge, harte Land schaft mit Gruppen von zähem Gestrüpp und kaum erkennbaren Straßen. Wie Pangal gehofft hatte, durchquerten sie dieses wenig reizvolle Land innerhalb von zwei Tagen, sorgfältig abgeschirmt von Patrouillen leichter Kavallerie. Ihre Berichte über die Lage von Zifkar veranlaßten Pangal, eine letzte Beratung anzusetzen. „Der Feind lagert nördlich der Stadt. Zumeist Kavallerie, wenig oder gar keine Belagerungsmaschinen. Ich glaube, sie hatten vor, die Stadt zu stürmen, bevor Entsatz eintraf. Es ist eine gemischte Truppe, von Nor, von Kyryl, einige Söldner.“ Oslon unterbrach ihn mit der Frage: „Stehen sie unmittelbar vor den Mauern? “ „Nein. Das Haupttor befindet sich im Norden, und sie haben sich in seiner Nähe massiert. Die Stadt ist umzingelt, aber nicht belagert.“ Sie schwiegen. Pangal stützte das Gesicht in die Hände, senkte die Lider halb über seinen Augen und runzelte die Stirn. „Wir werden morgen angreifen. Die Infanterie wird vom Westen vorgehen und einen Keil zwischen den Feind und Zifkar treiben. Damit ist die Umzingelung der Stadt gebrochen. Die Kavallerie wird den Feind dann in der Flanke packen und in eine Schlacht verwickeln, bevor er sich nach Norden zurückzie hen kann. Einverstanden?“ Niemand widersprach. „Wir marschieren in nordöstlicher Richtung weiter, um morgen in der richtigen Ausgangsposition zu sein.“ Crispan bemerkte, daß die Stimmung im Lager in dieser Nacht anders war als sonst, anders als in jeder anderen Nacht während ihres Marsches, anders als in Gurdikar. Die Männer saßen in kleinen, schweigsamen Gruppen zusammen und beschäftigten sich damit, ihre Waffen zu reinigen und zu schärfen. Feuer waren in dieser Nacht untersagt, damit keine feindliche Patrouille das Lager entdecken konnte. Im Licht einer blassen Mondsichel wurden Schwerter aus ihren Scheiden gezogen und geschliffen, Schäfte von Speeren und Pfeilen auf Risse oder andere Schwachstellen überprüft. Stille senkte sich über das Lager, als die Soldaten endlich schliefen, um den Strapazen des kommenden Tages gewachsen zu sein. Die Armee ging genau nach Plan vor und stieß erst gegen Mittag auf den Feind. Crispan, der außer Gurdikar noch nie eine Stadt gesehen hatte, bemerkte, wie anders Zifkar wirkte. Seine Mauern waren grauweiß und hoben sich strahlend von den dunklen Farben des Steppenlandes ab. Zahlreiche Türme überragten die Mauer in unregelmäßigen Abständen. Sein Blick wurde besonders von den markanten Wahrze ichen dieser ehe maligen Hochstadt des Mittleren Reiches angezogen, den schlanken, hellen Türmen, die den Palast des Kämmerers überragten, und den drei großen Tempeln. Er fand den Anblick der Stadt nach dem langen Marsch mehr als angenehm. Die Armee zog in geschlossener Formation auf Zifkar zu, in Deckung einer hohen, schmalen Hügelkette, die westlich der Stadt lag. Das Glück war auf ihrer Seite, denn der Feind hatte aus reiner Bequemlichkeit weder Posten aufgestellt noch Patrouillen ausgesandt, da man keine Hilfe für das abgelegene Zifkar erwartete. Pangal registrierte dies alles, als er, den Helm in der linken Armbeuge, zum Kamm der Hügelkette ritt. Nachdem er sich überzeugt hatte, daß alles zum Angriff bereit war, wandte er sich plötzlich an Crispan und sprach ihn vielleicht zum vierten Mal seit Verlassen Gurdikars direkt an. „Und was sollen wir mit dir machen, Magier?“
Crispan zuckte, von der Frage verwirrt, die Schultern. Doch bevor er bitten konnte, ihn mit Stovas Kavallerie reiten zu lassen, fuhr Pangal fort: „Du wirst bei den Reserven und dem Troß bleiben.“ „Baron Pangal!“ protestierte Crispan. „Der Befehl des Kaisers ist eindeutig. Ich soll für deine Sicherheit sorgen, und genau das werde ich tun. Ich will ehrlich sein, Lord Crispan. Ich habe nie ganz verstanden, was du hier willst, und ich mag es nicht, wenn Leute sich an mich hängen, um Abenteuer zu suchen. Du wirst hierbleiben. Entweder freiwillig oder unter Bewachung.“ Niedergeschlagen führte Crispan sein Pferd zum Rand der Hügelkuppe. Auf dem Westhang des Hügels formierte Oslon die Armee. Der Feind lagerte, wie berichtet, dicht vor den Mauern Zifkars. Die Truppen hatten die Stadt eingeschlossen, griffen sie jedoch nicht an. Es würde ein leichtes sein, Baron Pangals Plan durchzuführen. Oslon ritt zu Pangal und meldete, daß die Armee aufmarschiert und bereit sei. „Dann los! Du führst die Infanterie im Sturmschritt. Ich folge mit der Kavallerie, um dich zu unterstützen. Stova und der Rest der Reiter fallen dem Feind in die Flanke.“ Oslon hob salutierend sein Schwert und lenkte sein Pferd über die Hügelkuppe. Mehrere Kolonnen Infanterie folgten ihm im Trab, und ihre Speere zuckten beim Laufen auf und ab. Auf der Ebene, zwischen Hügelkette und Stadt, formierten sie sich im Lauf zu einem großen Stoßkeil. Ihre lautlose Annäherung und die Sorglosigkeit des Feindes ließen sie fast auf Speerwurfweite herankommen, bevor die anderen reagierten. Ein lautes Geheul erhob sich aus dem Lager der Feinde, und es klang wie das Aufbrüllen eines überraschten, wütenden Tieres. Doch es war zu spät. Die Spitze des Keils hatte sie bereits erreicht. Oslons Soldaten schleuderten ihre Speere auf die verstört durcheinanderhastenden Feinde und rissen dann ihre Schwerter heraus. Als die Klingen klirrend gegeneinanderschlugen, war auch Pangal mit seinen Reitern heran und fiel über sie her. Einer der Soldaten, der neben Crispan saß, deutete über die Ebene. „Sie haben es geschafft!“ rief er. „Sie haben einen Keil zwischen die Feinde und die Stadt getrieben!“ Oslons Soldaten kämpften sich zum Tor der Stadt vor. Im ersten Moment waren die Verteidiger Zifkars zu überrascht, um zu reagieren. Crispan hatte Mühe, dem Verlauf der Schlacht zu folgen. Dichte Staubund Rauchwolken stiegen auf, als die Feinde einen verzweifelten Gegenangriff versuchten. Die verbissen kämpfenden Männer verschwanden in den dunklen Wolken aus Staub und Rauch. „Das Tor!“ schrie Crispan, als es plötzlich aufschwang und die Verteidiger der Stadt herausströmten. „Jetzt achte auf Stova“, sagte Crispans Bewacher. „Es wird Zeit, dem Feind den Todesstoß zu geben.“ In zwei breit auseinandergezogenen Kolonnen führte Stova seine Reiter gegen die Flanke des Feindes. Es war alles so schnell vorbei, daß Crispan es kaum glauben konnte. Der Feind, der schon dem Druck des Angriffs von vorn nicht standhalten konnte, mußte jetzt auch seine Flanke verteidigen. „Sie weichen zurück! Sie fliehen!“ rief Crispan, als die Reihen der Feinde auseinanderbrachen. Sie wurden von Panik ergriffen. Die Männer in den hinteren Reihen warfen sich herum und flohen nordwärts, während die in der vordersten Linie verzweifelt versuchten, sich von ihren Gegnern zu lösen. Die Leute, die noch in ihren Zelten waren, wurden von ihren fliehenden Kameraden und den voranstürmenden Siegern überrannt. Crispan galoppierte bereits den Hang hinab auf Zifkar zu, begleitet von seiner Eskorte und den Reserven. Es war so unglaublich schnell gegangen, daß Crispan die Blitzoperation nicht mit dem Töten und Sterben von Menschen in Verbindung brachte. Erst als er sich dem offen stehenden Stadttor näherte und Dutzende von Toten auf dem Boden liegen sah, Männer, die noch vor wenigen Minuten tapfer angreifende Soldaten ge wesen waren, kam es ihm zu Bewußtsein. Er erschauerte, als er an den noch warmen Leichen vorbeiritt. Oslon und Stova saßen auf ihren schaumbedeckten Pferden vor dem offenen Tor. Neben ihnen standen Soldaten, die Crispan für Verteidiger Zifkars hielt. „Crispan! Das ging schneller, als wir zu hoffen gewagt hatten.“
Crispan blickte umher. „Wo ist Pangal?“ fragte er. Oslon deutete auf eine dichte Menschenmenge vor dem Tor. Er ist tot“, sagte er ruhig, „von einem Pfeil getroffen.“ Crispan war entsetzt über Oslons ruhigen, sachlichen Tonfall. Er fand die Plötzlichkeit von Pangals Tod unbegreiflich. „Tot? Aber es war doch kaum mehr als ein Scharmützel. Es ging alles SO schnell. Wie...“ Stova drängte sein Pferd zu Crispan und ergriff seinen Arm. „Beruhige dich. Sowas geschieht eben. Im Krieg ist jeder Mann verwundbar. Pangal war ein guter Krieger und ein ausgezeichneter Führer. Seine Zeit war eben gekommen.“ Crispan fand keine Antwort darauf, sah keine Möglichkeit, gegen die Sinnlosigkeit von Krieg und Töten zu protestieren. Außerdem wurde jede weitere Unterhaltung durch das Siegesgeschrei der Soldaten unmöglich gemacht. Pangals Männer machten sich jetzt über die Zeltstadt der Belagerer her und durchsuchten sie nach zurückgebliebenen Feinden und nach Beute. „Stova“, befahl Oslon, „ziehe die Armee von der Stadt zurück. Und schicke die Kavallerie dem fliehenden Feind nach. Wir sind noch nicht fertig.“ Hinter dem Körper ihres gefallenen Kommandeurs, der auf drei Schilden getragen wurde, betraten Oslon, Stova und Crispan wenig später die Hochstadt Zifkar. Die Straßen waren voller Soldaten, und Bürger behinderten ihr Vorwärtskommen. Erst als eine Gruppe von Reitern in glänzenden Bronzerüstungen, die mehr dekorativ als funktionell waren, auf sie zukam, wich die Menge nach beiden Seiten zurück. Ein kleiner, dicker Mann in einer goldenen Rüstung ritt in der Mitte der Eskorte. Baldomir, der Hohe Kämmerer von Zifkar, wirkte eher wie eine goldene Kugel als wie ein gefürchteter Grenzland- Lord. Sein Gesicht war rund und feist und wurde von einem schütteren, rotblonden Schnurrbart geziert. Als er die Befreier seiner Stadt erreichte, streckte er ihnen seine Hand entgegen, die in einem reich ziselierten Panzerhandschuh steckte, und stellte sich vor. „Ich bin Oslon“, kam die Antwort, „Kommandeur dieser Armee des Ostens, hierher entsandt durch meinen Lord, den Kaiser Thurka. Er hat mich beauftragt, dir seine Grüße zu entbie ten. Dies sind Lord Stova, Kommandeur der Kavallerie, und Lord Crispan, ein - Berater des Kaisers.“ „Für den Kommandeur einer Armee bist du noch sehr jung. “ Oslon machte eine vage Geste. „Mein Lord, ich bin nur der Stellvertreter. Dort ist die Leiche unseres Kommandeurs, des Baron Pangal, der vor den Toren deiner Stadt fiel. “ Der Tote war mit seinem schwarzen Cape zugedeckt, auf dem ein großer, roter Fleck entstanden war. „Wir trauern mit euch. Doch trösten wir uns mit der Gewiß heit, daß er im Augenblick des Triumphs gestorben ist. Es wird uns eine Ehre sein, ihn hier in Zifkar mit allen ihm zukommenden Ehren zu begraben.“ Pangal wurde noch an diesem Abend in einem kleinen, in aller Eile errichteten Mausoleum gleich hinter dem Stadttor, vor dem er gefallen war, beigesetzt. Die Körper der anderen Toten, zumeist Feinde, wurden an der Stelle, wo sich ihr Lager befunden hatte, auf einem riesigen Scheiterhaufen verbrannt. „Es ist ein alter Brauch“, erklärte Stova Crispan, als sie zu der schwarzen, dichten Rauchwolke hinüberblickten, die sich vor dem nördlichen Horizont erhob. „Sonst begraben wir unsere Toten, wenn es möglich ist, doch wenn ein Kommandeur in der Schlacht fällt, erweisen wir ihm die Ehre und greifen auf diesen alten Brauch zurück: ein Scheiterhaufen mit seinen Soldaten und den besiegten Feinden, um ihm auf seinem Weg zu leuchten.“ Das Feuer des Scheiterhaufens war vom Beratungszimmer des Kämmerers, das in einem der Türme seines Palastes lag, deutlich zu sehen. Das Licht der Flammen tanzte auf den blaugoldenen Mosaikwänden, auf denen Tierszenen inmitten einer üppigen Vegetation dargestellt waren. Die Schönheit des Raums wurde allerdings von den Soldaten, die dort versammelt waren, kaum wahrgenommen, dafür um so stärker von Crispan, der spürte, daß es hier irgend etwas gab, auf das seine Kräfte ansprachen. Oslon sprach kühl und geschäftsmäßig, als er seinen Trup penführern und Baldomir und dessen Beratern seine Pläne für die Fortsetzung des Feldzuges erklärte.
„Ich werde mit zwei Dritteln der Armee dem Feind nachsetzen und morgen früh zu dieser Verfolgung aufbrechen. Ich will sie aus dem ganzen Gebiet vertreiben, bis zu den Toren, wenn es möglich ist, und die Region absichern. Stova wird mit der Re serve hierbleiben, um die Garnison von Zifkar zu verstärken und das Gebiet östlich der Stadt durch Patrouillen zu überwachen. Wenn ich die Sache im Norden erledigt habe, kehre ich direkt nach Gurdikar zurück, denn der Osten des Reiches ist dann sicher.“ Stovas Schatten sprang über die Mosaikwand, als er aufstand. „Findest du nicht auch, daß du zu viele Männer mit nach Norden nimmst? Damit öffnest du uns Angriffe von allen Seiten.“ Oslon wischte den Einwand beiseite. „Dies war Pangals Plan, bevor er der me ine wurde. Ich folge damit lediglich den Befehlen und Wünschen des Kaisers.“ „Nein“, widersprach Stova. „Der Kaiser hat nur befohlen, die Ostgrenze abzusichern. Von einem Vormarsch bis zu den Toren war niemals die Rede. “ Stova trat zu der auf ein gegerbtes Fell gezeichneten Karte, die zwischen zwei hohen Kerzen hing. „Du siehst, wie unendlich weit die Ebene nördlich von hier ist. Eine ganze Armee könnte unbemerkt an einer deiner Flanken vorbei vorstoßen und Zifkar bedrohen, oder selbst das Reich. Wir brauchen nur die Region um die Stadt und das Gebiet bis zum Hochpaß abzusichern.“ „Unsinn“, sagte Oslon verächtlich. „Du machst dir unnötige Sorgen. Dem Feind ist durch unseren Sieg hier das Rückgrat gebrochen. Wenn wir seine Truppen jetzt energisch verfolgen und weiter dezimieren, werden sie nie wieder eine Bedrohung für Zifkar oder den Osten werden. Und Zhyjman kann unmöglich so rasch eine neue Armee aufstellen. Sieh doch auf deine Karte. Die Tore sind das Nadelöhr, an dem man der ganzen Osten abriegeln kann. “ Ohne einen weiteren Einwand seines Stellvertreters abzuwarten, wandte Oslon sich an den Kämmerer. „Reichen meine Reserven aus, um deine Stadt abzusichern?“ Baldomir, ein Mann von nur geringen militärischen Kenntnissen, wagte nicht, Oslons Plan zu kritisieren. „Wenn du die Reste der feindlichen Armee aufreiben kannst, wie du sagst, werden sie ausreichen. “ „Gut. “ Oslon schob seinen Stuhl zurück. „Gib den Hauptleuten die notwendigen Befehle, Stova. Wir brechen beim Morgengrauen auf.“ Crispan fühlte sich gedrängt, etwas zu sagen. Oslons Be hauptung, daß es Zhyjman unmöglich sei, eine neue Armee aufzustellen, verstörte ihn aus Gründen, die er nicht fassen konnte. Wenn er jetzt in seinem Studierzimmer im Orden ge wesen wäre, hätte er dieses bedrückende Gefühl vielleicht ana lysieren können, so aber, durch die Anwesenheit der vielen Soldaten eingeschüchtert, ertränkte er seine Zweifel bei der Runde von Trinksprüchen, die jetzt begann.
XVII Garnisonsdienst Beim ersten, rauchigen Grau der Dämmerung waren sie alle beim Nordtor von Zifkar versammelt. Die abmarschbereite Armee war eine schattenhafte Masse auf der Ebene vor der Stadt. Ein paar Gestalten bewegten sich in dem Zwielicht des frühen Morgens. Oslon war voller Zuversicht. Er kniete eine Weile vor Pangals Grab, ein schweigender Abschied von dem Toten, und schüttelte dann den Zurückbleibenden die Hände. „Sei wachsam, Stova. Du wirst bald von mir hören.“ Stova zwang sich zu einem Lächeln, als Oslon aufsaß und durch das Tor der Hochstadt ritt. Nebelfetze n zogen um ihn und seine Begleiter, als sie zu der abmarschbereiten Armee ritten. Kurz darauf hörte man gedämpfte Stimmen, das dumpfe Dröhnen von Schritten und Klirren von Waffen, die Geräusche einer marschierenden Armee, aus dem Nebel. Stova blickte vom Stadttor aus in die graue Nebelwand auf der Ebene. Nach einer Weile gähnte er ausgiebig und sagte: „Schließt das Tor.“ „Und was jetzt?“ fragte Baldomir, der bei dem Abzug der Armee sehr nervös geworden war. Stova fühlte sich von der verspäteten Besorgnis des Kämme rers angeödet und gelangweilt. „Ich werde jetzt wieder schlafen gehen und würde dir dasselbe vorschlagen. Bei dem Nebel kann man nichts unternehmen. Wenn die Sonne hochkommt und die Sicht klar wird, haben wir genügend Zeit, Pläne zu machen. “ Damit ging Stova zu seinen Räumen im Palast des Kämmerers zurück. An den folgenden Tagen waren Stova und seine kleine Truppe ziemlich aktiv. Immer wieder durchkämmten Reiterpatrouillen die Ebenen und Steppen um Zifkar. Doch nach den wenigen Tagen, die sie brauchten, um sich zu versichern, daß das Land östlich und südlich der Stadt völlig menschenleer war, breitete sich unendliche Langeweile über die Stadt und ihre Soldaten. Jeder Tag, der verging, machte Crispan unruhiger. Kein Wort von Oslon, der nordwärts marschierte, und nur spärliche Nachrichten vom Kaiser aus dem Westen. Er belagerte den Platz vor dem Palast des Kämmerers, wo die Kuriere eintrafen, doch die wenigen, die dort von ihren Pferden stiegen, waren für ihn eine Enttäuschung. Sie kamen ohne Ausna hme aus Gurdikar, und keiner von ihnen brachte eine Meldung über Viadur. Crispan verbrachte nun den größten Teil seiner Zeit in der reichhaltig ausgestatteten Bibliothek Baldomirs, studierte und praktizierte seine Künste. Er fühlte, daß er aus der Übung kam, und sehnte sich nach seinem mit allem Notwendigen ausgestatteten Studierzimmer zurück, wo er bis spät in die Nacht lesen und seltene Zauberformeln und Beschwörungen praktizieren konnte. In Zifkar war seit vielen Jahren kein Mitglied des Ordens gewesen, und so enthielt die Bibliothek selbst von den einfachsten, grundlegenden Werken nur wenige Exemplare. Auch die Märkte erwiesen sich als enttäuschend, da er dort nur ein paar der simpelsten Essenzen und Krauter kaufen konnte. Diese Be schränkung seiner Mittel und sein Widerstreben, die tieferen Kräfte seiner Kunst innerhalb der Mauern einer Garnisonsstadt einzusetzen, zwangen ihn, auf einfachste Tricks, simple Fertigkeitsübungen des Geistes zurückzugreifen. Das war natürlich in keiner Weise befriedigend und trug nur dazu bei, seine Unruhe und wachsende Frustration weiter zu verstärken. Angewidert warf er die primitiven Geräte und Mixturen fort und wandte sich wieder den Büchern der Palast-Bibliothek zu. Doch die zahlreichen, wunderbar gebundenen Bände vo n Gedichten und Sagen konnten ihm auch keine Ablenkung verschaffen, und er begann, ziellos durch die Stadt zu streifen. Er lernte sie auf diese Weise recht gut kennen und wurde für ihre Bewohner ein gewohnter Anblick. Er schlenderte durch enge Gassen, die weit vom Palast entfernt lagen, und über die zahlreichen lauten, fröhlichen Märkte. Zwei widerstreitende Stimmungen lagen in der Luft: das Gefühl der Erleichterung, das die Bevölkerung von Zifkar zeigte, und die angespannte Geschäftigkeit der Soldaten, die Stova damit beschäftigte, die Mauern und. Wehrtürme und andere Verteidigungsanlagen der Stadt zu verbessern.
Crispan ging dazu über, Tag und Nacht auf den Mauern entlangzuschlendern und auf die Ebene hinauszustarren. Er stand oft stundenlang an den massiven Nordostturm gelehnt, und sein Gesicht war so leer wie die unendlich scheinende Ebene. Eines Nachts, als er auf der Mauer stand, zu den Sternen emporstarrte und versuchte, ihre Botschaft zu entziffern, trat Stova zu ihm. „Was sagen sie dir?“ Crispan starrte ihn verwirrt an. „Die Sterne - was sagen sie dir? Du kannst sie doch lesen, nicht wahr?“ Der Magier zuckte die Schultern. „Manchmal. Aber nicht heute nacht.“ Sie verfielen in Schweigen. Stova wickelte sich fest in seinen Mantel, und nach einer langen Weile sagte er: „Was bedrückt dich, Crispan? Ich habe bemerkt, daß du kaum etwas ißt. Du irrst ruhelos durch die Stadt, du starrst stundenlang auf die Ebene hinaus. Was hast du?“ „Weißt du, wie es ist, wenn man sich völlig nutzlos vorkommt, am falschen Platz zu stehen glaubt? Ich habe die ganze Bibliothek des Palasts durchgesehen. Ich habe versucht, Gedichte, Epen und geschichtliche Werke zu lesen. Ich habe mit deinen Soldaten gefochten. Aber nichts hilft. Begreifst du nicht, Stova? Mein Hiersein ist völlig sinnlos, wenn nicht Viadur ir gendwo dort draußen lauert. Stell dir vor, der Sinn meines Hierseins ist völlig an diesen Nekromanten gebunden! Ich habe ihn für das, was er getan hat, gehaßt, und doch kann ich ohne ihn nichts rechtfertigen, was ich getan habe oder was ich jetzt tue.“ Stova nickte mitfühlend. „Ich weiß kaum etwas von Magie, Crispan. Ist das, was Viadur getan hat, wirklich so furchtbar, daß du herkommen mußtest, um ihn zu finden?“ Crispan wandte den Kopf, sah ihn an und mußte über seine Naivität beinahe lächeln. „Weißt du, was ein Nekromant tut? Er holt die Toten aus ihren Gräbern zurück.“ „Ins Leben?“ „Nein, nicht ganz. In einen Zustand des Nicht-tot-Seins, doch auch nicht ins Leben. In diesem Zustand besitzt er fast völlige Macht über sie.“ „Und wie gebraucht Viadur diese Macht?“ Crispan zuckte die Schultern. „Das weiß ich nicht. Vielleicht hat er verstorbene Magier und Zauberer auferweckt und mit ihrem Wissen seine Macht vergrößert. Vielleicht hat er sie auch auf eine andere Weise gebraucht. Ich weiß es nicht.“ Stova glaubte, das Gefühl der Hilflosigkeit des Magiers zu verstehen. „Wenn du es nicht weißt, wie kannst du dann gegen ihn kämpfen?“ fragte er leise. „Das ist es, was mich am meisten bedrückt. Es kommt kaum darauf an, auf welche Weise er seine bösen Kräfte verwendet, da nichts oder nur sehr wenig darüber geschrieben wurde, wie man sie bekämpfen kann. Etwas, das strikt verboten ist, erfordert keine Gegenmaßnahmen. “ Seine Stimme war sarkastisch vor beherrschter Wut. „O! Er ist eine Schande für unsere Künste, ein Verräter an unserem Pakt mit den Geistern!“ Seine Stimme wurde wieder ruhiger. „Es gibt einige Passagen in uralten Werken, doch sie sind zumeist vage. Wenn er wirklich dort draußen ist, bleibt mir nichts anderes übrig, als meine Kräfte als Meister der Fünf Künste gegen die seinen zu setzen, und gegen die zusätzliche Macht, die er während seiner zwei Jahre im Exil gewonnen haben mag. Ich wünschte nur, ich hätte die Gewißheit, daß er dort draußen ist.“ „Es ist spät“, sagte Stova leise und legte seinen Arm um Crispan. Der Magier nickte, und sie stiegen von der Mauer und gingen in ihre Zimmer, um zu schlafen. Nach dieser Aussprache mit Stova schlief Crispan besser als in den vorangegangenen Nächten. Fest in seine Decken gewickelt, fand er wirkliche Ruhe, ohne von Ängsten und Zweifeln gestört zu werden. Irgendwann, aus weiter Ferne, wie es ihm schien, hörte er plötzlich eine Stimme seinen Namen rufen. „Crispan, Crispan, wach auf!“ Eine Hand rüttelte ihn behutsam an der Schulter. „Wach auf, Crispan!“ Er öffnete die Augen und sah Stova, der sich über ihn beugte. „Was... was ist?“ Er rieb sich verschlafen die Augen. Stovas Stimme war sehr leise und ruhig. „Ein Bote ist eingetroffen.“
Das ließ Crispan schlagartig wach werden. „Was hat er gesagt?“ „Er kommt von Oslon. Er ist in eine Falle des Feindes gelaufen. Der Bote sagt, die Armee sei entlang der Südflanke der Falchions vorgerückt, als sie nördlich des Hochpasses von einer überlegenen feindlichen Armee überfallen worden sei. Oslons Truppen seien abgeschnitten worden und säßen auf den Berghängen fest. Der Bote sagt, er sei der vierte, den Oslon zu uns geschickt habe. Er sagt, die feindliche Armee sei so stark, daß nur ein Teil von ihr Oslons Truppen in den Bergen festhielte und zur Übergabe zu zwingen versuche, während der Rest bereits weiterzöge, um Zifkar zu erobern. Er sagte, es sei eine starke Armee, und sie führe eine Menge Belagerungsgerät mit sich.“ Crispan hörte schweigend zu. Der leichte Sieg vor den Toren Zifkars war plötzlich gefährdet, die Armee, mit der er marschiert war, von der Vernichtung bedroht. Zifkar und die östlichen Grenzländer des Reiches schienen so gut wie verloren. Stova sah in das ausdruckslose Gesicht des Magiers und stieß ihn an. „Crispan, hörst du mir überhaupt zu?“ „Ja, ja. Was sollen wir tun?“ „Ich habe eine Beratung in Baldomirs Studio angesetzt. Zieh dich an. “ Stova verließ das Zimmer. Crispan saß einen Moment reglos auf dem Bettrand und dachte über die plötzliche Wende ihres Geschicks nach. Als seine Füße den kalten Steinboden berührten, während er seine Hose anzog, überlegte er, wie grund legend sich diese Situation von seinem Leben im Orden unterschied. Wo, fragte er sich, als er die Ärmel herabrollte, sind die Zusammenhänge zwischen Tatsachen und Umständen? Er spürte eine wachsende Unruhe, als er die Gürtelschnalle schloß und seinen Talisman umhing. Sowohl im Palast als auch in der Stadt herrschte eine neue, hektische Aktivität. Zusätzliche Wachen und Späher wurden auf der Mauer aufgestellt, und Reiterpatrouillen streiften durch die Umgebung Zifkars. Alle Waren auf den Märkten wurden beschlagnahmt, um später rationiert an die Bevölkerung verteilt zu werden. Die Belagerung hatte begonnen, bevor der Feind in Sicht gekommen war. Als Crispan in das Zimmer Baldomirs trat, waren die anderen bereits versammelt. Er nahm sich eine Frucht als Frühstücksersatz und trat in den Kreis um die große Karte, die ausgebreitet auf dem Tisch lag. „Wann bist du losgeritten?“ fragte Stova den blassen, erschöpften Boten. „Vor zehn Tagen. Aber ich bin der vierte Mann, den Oslon ausgeschickt hat, wie ich dir bereits sagte. Die zweite Armee des Feindes war bereits auf dem Weg nach Süden, als ich Oslons Truppen verließ. Ich bin weit um die östliche Flanke des Feindes herumgeritten, um nicht entdeckt zu werden. “ Seine Stimme zitterte vor Nervosität, und er nahm immer wieder einen Schluck roten Wein. „Das bedeutet, daß du mehr Zeit gebraucht hast. „Stova dachte eine Weile nach. „Wir haben also fünf Tage, höchstens sechs, es hängt davon ab, wie rasch sie mit ihren Belagerungsmaschinen vorankommen. “ Er starrte auf die Karte und fuhr mit der Spitze seines Dolchs über die Ebene zwischen Zifkar und den Falchions. „Ich sehe für uns keine Möglichkeit, etwas zu unternehmen. Wir können die Stadt nicht aufgeben. “ Baldomir fuhr bei diesen Worten empört auf. „Keine Sorge“, beruhigte Stova ihn, „das werden wir bestimmt nicht tun. Zifkar ist ihr Ziel, und wir müssen versuchen, die Stadt so lange wie möglich zu halten. Die Zeit arbeitet für uns, wenn es uns gelingt, einen Boten zum Kaiser zu schicken, und wenn er die Truppen zum Entsatz der Stadt entbehren kann. “ Seine Stimme war zu einem beunruhigten Flüstern erstorben. „Ich frage mich, woher Zhyjman so viele Männer hat.“ „Es ist zu weit bis nach Gurdikar“, bemerkte der Kämmerer und zupfte nervös an seinem Schnurrbart. „Die Truppen des Kaisers können niemals rechtzeitig hier eintreffen.“ „Und es könnte auch nur eine Finte Zhyjmais sein, um die Truppen des Kaisers nach Westen abzuziehen und an anderer Stelle anzugreifen. “ Stova wandte sich Crispan zu, der neben ihm stand. „Was schlägst du vor?“
Crispan blickte auf die Karte. „Wie weit ist es bis zur nächsten größeren Garnisonsstadt?“ „Das wäre Ker-en-kar, mindestens fünfzehn Tagesritte von hier. Sieh auf die Karte.“ Crispans tiefgraue Augen verengten sich. „Das ist zu lange. Aber ich kann nicht glauben, daß man fünfzehn Tage von hier nach dort reitet“, sagte er und fuhr mit dem Finger von einem Punkt zum anderen. „Man kann nicht den direkten Weg nehmen. Durch das Karsh? Niemals. Das schafft kein Reiter. Lieber nach fünfzehn Tagen in Ker-en-kar eintreffen als niemals.“ „Fünfzehn Tage nach Ker-en-kar und noch länger für den Rückweg mit dem Entsatz-Heer? So lange kannst du hier nicht aushalten, Stova.“ „Aber Lord Crispan“, unterbrach der Kämmerer, „Lord Stova hat völlig recht. Das Karsh ist unpassierbar, besonders um diese Jahreszeit.“ Crispan gestand sich ein, daß er trotz all seiner Kenntnisse, auch in Geographie, sehr wenig von der Welt wußte. „Warum?“ fragte er. „Das Karsh ist eine gigantische Schüssel“, erklärte Baldomir, „die an allen Seiten von Bergen umgeben ist. Sein Boden besteht aus rissigem, trockenem Lehm, der bei jedem Schritt zu Staub zerfällt. Es gibt dort kein Wasser und weder Pflanzen noch Tiere.“ „Das mag alles sein, Kämmerer, aber es ist nun einmal die kürzeste Route.“ „Natürlich. Durch das Karsh brauchte man nur zehn Tage, vielleicht sogar noch weniger. Aber es hat noch nie jemand versucht. Man hat uns von einer Generation zur anderen erklärt, daß das Karsh ein Teil der Welt sei, den die Geister absichtlich kahl und unwirtlich gelassen hätten, um dem Menschen ständig vor Augen zu führen, daß es in ihrer Hand läge, Leben zu geben oder zu verweigern. Im Sommer wird das Karsh zu einem Backofen, da sich die Sonnenhitze in dem riesigen Becken sammelt. Im Winter ist es ein Tummelplatz der Winde, die aus allen Richtungen von den Bergen herabstürzen.“ „Und jetzt, im Frühling?“ „Und jetzt“, antwortete Stova, „kann es zu eine m Schlammmeer werden, wenn die Frühlingsregen einsetzen, und wird dadurch noch unpassierbarer als zu jeder anderen Jahreszeit. Der zähe Schlamm umklammert die Beine von Mensch und Tier, bis sie völlig erschöpft zusammenbrechen und sterben. Und selbst, wenn es nicht regnet, ist es aussichtslos. Eine Gruppe von Reitern, die bei Trockenheit durch das Karsh zieht, wirbelt eine riesige Staubwolke auf, die von den umgebenden Bergen nicht zu übersehen ist. Vielleicht hat Zhyjman bereits Späher und Patrouillen so weit im Süden. Nein, die Südroute mag länger sein, aber sie ist sicher.“ Crispan trommelte mit seinen langen, schlanken Fingern auf die Tischplatte. „Sie ist zu lang. Nein, Stova, wir müssen das Karsh durchqueren und hoffen, daß es nicht regnet. Gib mir eine Eskorte. Die Männer sollen genügend Wasser, Nahrungs mittel und Futter für die Pferde mitnehmen. Wir brechen sofort auf.“ Stova riß entsetzt die Augen auf. „Du willst doch nicht etwa selbst gehen?“ Erst jetzt begriff er den Sinn von Crispans Fragen. „Das ist unmöglich. Du bist zu wertvoll. Ich werde gehen.“ „Stova, denke doch praktisch. Ich bin kein Krieger. Du mußt hierbleiben und die Stadt verteidigen. Das ist deine Aufgabe.“ „Aber... aber falls du im Karsh umkommen solltest... wird mich der Kaiser dafür zur Verantwortung ziehen.“ „Wäre es besser, wenn ich hier in Zifkar gefangengenommen werden würde? Ich bin hier am entbehrlichsten, also werde ich nach Ker-en-kar reiten. Wenn ich die Route durch das Karsh nehme, kann das Entsatzheer vielleicht noch rechtzeitig in Zifkar eintreffen. Außerdem werde ich von dort aus einen Bericht an Thurka in Gurdikar schicken. “ Damit verließ Crispan die Beratung und ging zu seinen Räumen zurück. Stova und Baldomir machten einen Plan für die bevorstehende Belagerung und die Verteidigung der Hochstadt Zifkar. Crispan ging in seinem Zimmer hin und her und warf die Dinge, die er brauchen würde, in seine Satteltaschen. Als er das Schwert umgürtete, trat Stova herein und versuchte erneut, ihm sein Vorhaben auszureden. „Weißt du eigentlich, was du tust?“
„Ich weiß nur, was getan werden muß“, sagte der Magier. „Und ich bin der Mann, auf den die Garnison am ehesten verzichten kann.“ „Aber das Karsh... “ „Wie weit ist das Karsh von hier?“ „Zwei oder drei Tagesritte.“ „Ich bin in spätestens zehn Tagen in Ker-en-kar. “ Crispan legte seinem Freund die Hand auf die Schulter. „Das Karsh oder Zifkar. “ Er lachte kurz auf, als er Stova umarmte. Crispan war der letzte der kleinen Gruppe, der auf den Hof hinaustrat, wo seine Eskorte bereits auf ihn wartete. Die hohen Lords von Zifkar und Stova waren ebenfalls im Hof, als Crispan zu seinem Pferd trat. „Ich habe dir die besten Reiter gegeben“, sagte Stova. „Viel Glück.“ „Mach nicht so ein finsteres Gesicht, Stova. Wir werden in Ker-en-kar ankommen. Ich hoffe nur, daß wir rechtzeitig zurück sind, um dich retten zu können. Laß dich nicht von Friedensangeboten einfangen. Du hast nur die Wahl zwischen Kampf oder Folter und Tod. “ Crispan schwang sich in den Sattel. „Mögen die Geister dich führen, Lord Crispan“, rief der Kämmerer, als der Magier und seine Eskorte durch das Tor auf die weite Ebene ritten. Durch dasselbe Tor, durch das Oslon siegessicher die Stadt Zifkar verlassen hatte, ritten sie westwärts über das von Buschwerk und verstreuten Grasflächen bedeckte Land. Crispan kannte den Kommandeur der Eskorte, Hauptmann Portar, einen Mann, der bei seinen Soldaten großes Ansehen genoß. Er war ein Veteran vieler Feldzüge und trug die Narben in seinem Gesicht wie Orden. Eine von ihnen verlief wie eine gezackte Furche durch seinen schwarzen Bart. Wie Stova gesagt hatte, war Portar einer der besten Reiter und Kämpfer der Armee. „Wieviel Proviant haben wir?“ „Stova hat dafür gesorgt, daß wir Rationen für elf Tage mitnehmen, und den gleichen Vorrat an Wasser. Vier Krüge pro Mann.“ „Gut. Das wird reichen. Wir müssen hier auf der Ebene so schnell wie möglich reiten. Wir wissen nicht, wie wir im Karsh vorankommen werden.“ Sie ritten, so rasch ihre Pferde laufen konnten, über die Steppe und tranken Wasser aus den wenigen Bächen, auf die sie trafen, um die eigenen Vorräte zu schonen. Sie ritten, bis die Sonne zweimal über ihnen und Zifkar untergegangen war. Am Abend des zweiten Tages erreichten sie den Rand des Karsh. Das matte Licht des vergehenden Tage s ließ den kraterartigen Rand der gigantischen Mulde, die vor ihnen lag, zu einem undeutlichen Schatten werden. „Es ist zu spät, um weiterzureiten“, sagte Portar. Crispan nickte zustimmend. „Wir wollen hier lagern und morgen beim ersten Licht aufbrechen. Laß die Männer ein Feuer machen. Das wird sie beruhigen.“ Der Magier verbrachte den Rest des Abends bei den Soldaten und unterhielt sich mit ihnen. „Weißt du“, sagte einer, der Trofan hieß, „ich habe dir nicht geglaubt, als du sagtest, daß wir das Karsh durchqueren würden.“ „Hast du Angst davor?“ „Nein.“ Die Antwort war klar und direkt, und Crispan war erleichtert, als er das Vertrauen in den Gesichtern der Männer sah.
XVIII Das Karsh Bevor die Sonne über den östlichen Horizont stieg, waren sie auf den Beinen. In der Kühle des frühen Morgens drängten die Männer sich um das Feuer und aßen nur so viel Brot und Trockenfleisch, um das Hungergefühl zu stillen. Portar trat zu Crispan und sagte: „Wir sind marschbereit. Sollen wir aufsitzen?“ „Ja. Aber wartet hier. Ich will erst reiten, wenn das Licht das Karsh erreicht.“ Sie löschten das Feuer und saßen auf. Hinter ihnen zeigte sich das erste Grau der Morgendämmerung am Himmel. Die Männer saßen schweigend auf ihren Pferden. Einige von ihnen blickten nach Osten und verfolgten das Zurückweichen der Nacht, die anderen schauten auf die gigantische Schüssel, die vor ihnen lag und mit dichten Nebelschwaden gefüllt war. Das graue Licht im Osten färbte sich rosa, und der Himmel über ihnen wurde hell. Portar berührte Crispans Arm und deutete in das Karsh hinab. Crispan beugte sich im Sattel vor. Der Nebel begann sich zu heben, und er konnte das Karsh sehen. Keiner der Männer hatte das Karsh jemals gesehen. Sein fahlroter Boden, der sich vor ihnen bis zum jenseitigen Ho rizont erstreckte, schien fest und solide zu sein. Das ganze Land lag jetzt im sanften Licht des frühen Morgens, und Crispan winkte den Männern, ins Karsh hinabzureiten. Sie suchten sich einen Weg auf dem sanft abfallenden Hang, und das Geräusch der Pferdehufe war der einzige Laut, der die absolute Stille durchbrach. Crispan erreichte den Grund als erster, dicht gefolgt von Portar. Am Rand des Karsh, unmit telbar vor dem Hang, lag das gebleichte Skelett eines Menschen. Er hatte es fast geschafft, war schon fast in Sicherheit, als das Karsh ihn getötet hatte. Crispan erschauerte bei dem Anblick und fragte sich, was für ein Omen Eliborg darin sehen würde. Crispan zugehe sein Pferd und wandte sich an seine Begleiter. „Wir werden ein mittleres Tempo reiten, damit wir so rasch wie möglich vorankommen, ohne die Pferde zu ermüden.“ Dann lenkte er sein Pferd in das Karsh. Die ersten Schritte des Tieres zeigten ihm, daß der so fest wirkende Boden eine dicke Staubschicht über der zerrissenen Lehmsohle war. Das Pferd sank bis über die Knöchel ein und wirbelte bei jedem Schritt eine kleine Staubwolke auf. Crispan ritt langsam, um Portar Gelegenheit zu geben, auf zuholen, und den anderen, sich und ihre Pferde an den Boden zu gewöhnen. Dann, als sie alle zusammen waren, ritt er wieder an und spornte sein Pferd zu einem leichten Galopp. Sofort erhob sich eine Staubwolke um die kleine Kolonne, die ihnen die Sicht nahm und jedes Gespräch unmöglich machte. Noch schlimmer aber war die absolute Stille, durch die sie ritten. Die einzigen Geräusche waren das leise, dumpfe Trommeln der Pferdehufe in dem lockeren Staub und das Klirren ihrer Waffen. Es war, als ob sie die Welt der Lebenden verlassen und eine Zone betreten hätten, in der gesunde Männer anscheinend blind, taub und stumm waren. Sie waren noch nicht weit geritten, der östliche Rand des Kessels war noch immer in Sicht, als Crispan und Portar von hinten Rufe hörten, die sie zum Halten aufforderten. Sie taten es und sahen Artor, einen der Soldaten, auf sich zukommen. Er und sein Pferd waren mit einer dicken Staubkruste bedeckt. „Lord, wir können nicht so weiterreiten. Die Männer am Ende der Kolonne ersticken im Staub.“ „Gut“, sagte Portar. „Wir formieren uns in drei Gruppen. Eine besteht aus Crispan und mir und drei Soldaten, die anderen beiden reiten links und rechts von uns. Auf diese Weise muß keiner den Staub schlucken, den die anderen aufwirbeln. Aber versucht immer, die anderen im Auge zu behalten, damit niemand von der Truppe abkommt.“ Während die Männer sich neu formierten, blickte Crispan zurück. Der Staub, den sie aufgewirbelt hatten, hatte sich schon wieder gesetzt, und nichts wies darauf hin, daß sie eist vor kurzer Zeit hier entlanggeritten waren. Er hatte einen Augenblick lang das Gefühl, vom Karsh
verschlungen worden zu sein, und erschauerte. Als die Männer die neue Marschordnung eingenommen hatten, gab Crispan den Befehl, weiterzureiten. Wieder stiegen erstickende Staubwolken auf, und hinter ihnen blieb ein wabernder, roter Vorhang zurück. Sie ritten schweigend. Niemand wagte, seinen Mund zu öffnen, da er sich sofort mit dem Lehmstaub füllen würde. Alles war zeitlos im Karsh, zwanzig Männer verloren in einer toten Welt. Nach einer Weile wagte Portar es, ein paar Worte zu sprechen, und schlug Crispan vor, eine kurze Rast einzulegen. Menschen und Tiere fuhren bei dem plötzlichen Geräusch seiner Stimme zusammen. Crispan stimmte zu, zugehe sein Pferd und blickte die anderen Männer prüfend an. Unter der dicken Staubschicht schienen sie zu Teilen des Landes zu werden, durch das sie ritten. Crispan griff nach seinem Wasserkrug und ermahnte die Männer, nur soviel zu trinken, um ihre Lippen zu befeuchten und den Staub aus der Kehle zu spülen. Die Männer öffneten sofort ihre Wasserkrüge und tranken mehr, als Crispan ihnen geraten hatte. Sie streckten sich in ihren Sätteln und wischten sich Staub aus den Gesichtern und Barten. Es war Portar, der die plötzliche Unruhe der Pferde bemerkte. Die Tiere scharrten mit den Hufen, warfen die Köpfe empor, und ein paar von ihnen schnaubten leise. Crispan sah Portar an. „Was haben sie?“ „Sie sind auch durstig. Sie riechen das Wasser. “ Crispan begriff sofort. In der Eile ihres Aufbruchs in Zifkar hatten sie zwar ausreichend Futter für die Pferde mitgenommen, jedoch nicht daran gedacht, daß auch sie Wasser brauchten. Portar runzelte die Stirn; Staub rieselte aus den Narben in seinem Gesicht. „Ohne Wasser machen sie es nicht lange.“ Crispan kniff die Augenlider zusammen. „Wir haben vier Krüge Wasser pro Mann. Dann muß jeder zwei davon seinem Pferd abtreten. Männer! Gebt ihnen nur soviel Wasser, daß sie ruhig werden und wir weiterreiten können.“ Als sie absaßen, sagte einer von ihnen zu Crispan: „Aber was ist, wenn das Wasser zu Ende geht? Wir müssen auch trinken. “ „Wir können uns zusammennehmen und weitermachen. Unsere Pferde können das nicht. Und wir brauchen sie, um nach Ker-en-kar zu kommen. Wir müssen hoffen, daß es reicht.“ Crispan stieg ebenfalls ab, um sein Pferd zu tränken. Als seine Füße den Boden berührten, sanken sie sofort ein, und er stand bis über die Knöchel in dem feinen Staub. Als er den Befehl zum Aufsitzen gab, sah er, daß einige der Männer ihre Ärmel abrissen, den Stoff mit Wasser befeuchteten und ihn sich dann vor Mund und Nase banden. Crispan machte es ihnen nach und befahl den anderen, es ebenfalls zu tun, um sich vor dem Staub zu schützen. Außerdem sollten sie auch die Nüstern der Pferde auf diese Weise verbinden. Kurz darauf setzte sich die staubbedeckte Kavalkade wieder in Bewegung und ritt tiefer in das Karsh hinein, das ständig größer zu werden schien, je weiter sie hineindrangen. Als die Sonne sich dem westlichen Horizont näherte und ihre Strahlen die riesige Senke nicht mehr erreichten, verwandelte sich die Tageshitze schlagartig in eisige Kälte. Männer und Pferde drängten sich näher aneinander und lehnten sich in den aufkommenden, kalten Wind. Sie zogen weiter, blind, stumm und taub. Nur das Gefühl war noch aktiv und reagierte auf die Kälte und den Staub. Schließlich, als Crispan sein Pferd unter sich taumeln fühlte, ließ er anhalten und rasten. Er und Portar erkannten, daß es besser sei, während der kühlen Morgenstunden vor Dämmerungsbeginn zu reiten und so die Nachtkälte und die Tageshitze zu vermeiden. Crispan sah Männer und Pferde zusammenbrechen, zu erschöpft, um zu essen oder zu trinken. Mehrere Pferde brachen in die Knie und schliefen schon, bevor sie abgesattelt waren. Und um sie herum tanzten der Wind und der Staub, fröhlich, erwartungsvoll. Der Himmel war noch tiefschwarz, als Portar Crispan weckte. „Lord, wir haben noch etwas Zeit bis zur Dämmerung. “ Crispan löste den Tuchfetzen, der Mund und Nase schützte, und reckte
seine kältesteifen Glieder. Portar ging von einem der Männer zum anderen, bis alle wach waren und etwas hartes Brot und Trockenfleisch aßen. Die Pferde bekamen einen kleinen Schluck Wasser, und noch bevor sich das erste Grau der Dämmerung am Horizont zeigte, brachen sie auf. Der zweite Tag im Karsh war eine triste Wiederholung des ersten. Die drei Gruppen ritten nach Westen, ohne das Aufgehen der Sonne zu bemerken, deren Strahlen das Karsh kaum erwärmten und lediglich die roten Staubwolken beleuchteten, die im Dunkel unsichtbar gewesen waren. Kein Laut außer den dumpfen Hufschlägen und dem Klirren der Waffen, und natürlich dem Heulen des Windes; nichts zu sehen außer den Staub wänden und den Gestalten der anderen Männer, die immer mehr die Farbe des Karsh annahmen; und jetzt, in der Mitte der riesigen Schüssel, verloren sie auch jedes Raumgefühl. Trofan, der in Crispans Gruppe ritt, bemerkte, daß sie kaum Schatten warfen. „Sieh“, sagte er zu dem Magier, „der Staub hält sogar das Sonnenlicht ab - wir haben keine Schatten. Alles, was lebt, selbst ein Stein, wirft einen Schatten. Wir sind wie Tote!“ Crispan öffnete seine aufgesprungenen Lippen, um ihm zu antworten, doch es gab nichts darauf zu sagen. Er band sich den Tuchfetzen fester vor das Gesicht und ritt weiter. Gegen Mitte des dritten Tages begannen die Männer wieder miteinander zu reden, weil es ihnen weniger ausmachte, Staub in die Kehle zu bekommen, als allmählich verrückt zu werden. Stelba, ein anderer Soldat in Crispans Gruppe, fragte sich, ob die Belagerung Zifkars bereits begonnen hatte und ob sich die Stadt halten könnte. Artor beschrieb ihm die Verteidigungsanlagen in allen Details. Der dritte Soldat, der früher als Söldner gekämpft hatte, sprach von Belagerungstaktiken. Stelba fragte noch einmal: „Wird Zifkar sich halten können?“ Ein Soldat der linken Gruppe rief: „Gibt es Zifkar überhaupt?“ Aber niemand lachte über den Scherz, und sie verfielen wieder in Schweigen. Gegen Ende dieses Tages, als die Männer ihre Wasserkrüge überprüften und überlegten, wie weit die Strecke war, die noch vor ihnen lag, erkannten sie, daß ihre Lage ernst war. Zwei Pferde waren nahe den Zusammenbruch vor Durst und Erschöpfung, und es war allen klar, daß sie wahrscheinlich den nächsten Tag nicht mehr überstehen würden. „Was tun wir, wenn sie zusammenbrechen?“ fragte ein Soldat seinen Kameraden „Dann gehen wir zu Fuß weiter. Ich werde ohnehin hier sterben, und so sterbe ich wenigstens auf den Füßen. Der Wind muß mich schon zu Boden werfen, bevor er mich unter dem Staub begraben kann. Crispan sah, wie die Männer kraftlos zu Boden sanken. Er hatte sich noch nie so hilflos gefühlt. Wie konnte er ihnen erklären, daß seine Kräfte nicht ausreichten, um diese Hölle zu transformieren und ihren Marsch sicher zu machen? Ihm selbst war erst in dieser Situation klar geworden, wie beschränkt seine Kräfte in Wirklichkeit waren. Er konnte einen Wind hervorrufen, Eis zum Schmelzen bringen, Illusionen heraufbeschwören — doch die meisten seiner Kräfte beschränkten sich auf Dinge, die waren oder sein könnten, oder Illusionen, welche die Wirklichkeit widerspiegelten. Doch das Karsh war nichts von dem; es war das Gegenteil von Leben, von Gestalt, von Existenz. Es gab nichts, an dem er sich festhalten, das er zum Objekt seiner Kräfte machen konnte. Er konnte nicht einmal den Männern eine andere Umgebung vorgaukeln. Zum ersten Mal seit seinem Eintritt in den Orden fühlte er sich so schwach wie Jene mit nur zwei Augen, wie die Magier die Unwissenden nennen. Die Erkenntnis seiner Hilflosigkeit schien seinen Körper dem eisigen Nachtwind zu öffnen, und er zitterte vor Kälte. Crispan schlief flach und unruhig und war sofort wach, als jemand seinen Arm berührte. Er sah in Portars Gesicht. „Was ist?“ flüsterte er. Portar sagte nur: „Höre...“ Crispan richtete sich auf, hörte jedoch nichts außer dem Wind. Portar winkte ihm, still zu sein, als er etwas sagen wollte, also lauschte er weiter und hörte noch immer nichts. Aber nein, da war etwas. Sehr weit entfernt, sehr leise, aber doch vernehmbar. Er blickte den Hauptmann an. „Donner?“ Portar nickte, und Crispans Augen weiteten sich, als er die Bedeutung dieses Phänomens erkannte. Beide Männer waren auf den Beinen und versuchten zu schätzen, wie weit das Gewitter von ihnen entfernt war. Weit, weit im Westen glaubten sie hin und wieder einen schwachen
Widerschein von Blitzen zu erkennen. „Wie weit, glaubst du?“ fragte Crispan. Portar zuckte die Schultern. „Wer kann das hier sagen? Es könnte am Rand des Karsh stehen, aber wer weiß, wie weit der von hier entfernt ist? Ich glaube jedoch, daß es am Rand steht oder kurz davor. Glaubst du, daß es uns erreichen wird?“ Jetzt zuckte Crispan die Schultern. „Es könnte nördlich oder südlich an uns vorbeiziehen, oder es entlädt sich am Rand des Karsh. Wenn nicht... “ Seine Worte verloren sich in der Nacht. „Es ist Zeit zum Aufbruch. Wecke die Männer, aber sage ihnen nichts. Ich bete, daß das Gewitter an uns vorbeizieht. Wenn nicht... “ Und wieder erstarb seine Stimme. Sie ritten langsamer an diesem vierten Tag im Karsh. Die Pferde gingen mit hängenden Köpfen, und die Männer trieben sie nicht an, um ihre Kräfte zu schonen. Jeder von ihnen beobachtete aufmerksam sein Pferd, ständig in Angst, daß es unter ihm zusammenbrechen könnte. Gegen Mittag ritt Stelba neben Crispan. „Wie viele Tage werden wir brauchen?“ fragte er. „Fünf?“ Crispan sagte, vielleicht sechs oder sieben. „Das ist der Triek des Karsh“, sagte der Soldat. „Oberall sonst wären es fünf Tage, höchstens sechs - weil es Straßen gibt, oder zumindest Wisser und Futter für die Pferde. Aber hier wird der Weg immerlänger, je weiter man reitet!“ Wieder kam Crispan die Nutzlosigkeit all seines Wissens zu Bewußtsein. Er sah nicht, daß mehrere Soldaten plötzlich ihre Pferde zügelten. Dann hielten fast alle, und als sich die Staubwolke etwas legte, sah Crispan Artor in den Steigbügeln stehen und mit ausgestrecktem Arm voraus deuten. Eine riesige, dunkle Gewitterwolke trieb auf sie zu. Blitze zuckten herab, als der Wind die brodelnde Masse über das Karsh jagte. „Ich glaubte vorhin, Donner zu hören“, sagte Artor, und alle Männer blickten Crispan an. Sein erster Impuls war, sich bei ihnen zu entschuldigen, nicht für das Gewitter, sondern dafür, daß er sie in eine Situation ge führt hatte, der seine eigenen Kräfte nicht gewachsen waren. Doch dann erinnerte er sich, daß er jetzt nicht nur Magier, sondern auch Krieger und Kommandeur der kleinen Truppe war. „Wir reiten, so schnell wir können, um eine möglichst große Strecke zurückzulegen, bevor das Gewitter über uns herfällt. Jeder Mann, dessen Pferd zusammenbricht, wird von einem anderen mitgenommen. Verstanden?“ Er blickte von einem zum anderen und sah, daß die Männer ihren Atemschutz fester knoteten und ihren Pferden beruhigend auf den Hals klopften. Seine Worte hatten ihnen neuen Mut gegeben, besonders denen, deren Pferde kurz vor dem Zusammenbrechen standen. Doch Crispan selbst hatte ein seltsames, ungutes Gefühl, als der Krieger den Magier verdrängte, als er vom Offenen Auge zum Schwert hinüberwechselte. Sie ritten Galopp, aber bei dem geschwächten Zustand der Pferde war es kaum mehr als ein schneller Trab. Der Himmel über ihnen verdunkelte sich und schränkte die durch die Staubwolken behinderte Sicht noch mehr ein. Und dann sahen sie die Regenfront des Gewitters, die auf sie zuraste. Sie starrten auf den grauen Wasservorhang, halb in Furcht vor dem niederprasselnden Regen, halb froh über die Erleichterung, die er bringen würde. Wie eine graue Mauer kam die Regenfront auf sie zu, und plötzlich hatte sie sie erreicht. Im ersten Moment war der Regen eine willkommene Erfrischung nach so viel Hitze und Staub. Und der Boden wurde fest, als der Regen den Staub band und in ihm versickerte. Wie trockener Strand, der von Wellen überspült wird und fester ist als die wandernde Düne oder das durchnäßte Ufer. Die Pferde warfen die Köpfe empor und liefen schneller auf dem festeren Boden. Doch dann, nach einer viel zu kurzen Zeit, die gerade aus reichte, um den Männern den Staub aus den Gesichtern zu spülen, verwandelte sich der feste Boden in zähen Schlamm. Und der war schlimmer als der Staub. Er umschloß die Beine der Pferde und hielt sie fest. Die Tiere wurden wild, als ihre Beine ihnen nicht mehr gehorchten, und blieben schließlich stehen. Crispan befahl eine kurze Rast, um die Pferde zu beruhigen. Die Tiere keuchten und zitterten, wurden jedoch ruhiger, nachdem sie ihren quälenden Durst mit Regenwasser gestillt hatten. Die Männer legten ihre Köpfe in den Nacken und ließen den Regen auf ihre verschmierten Gesichter prasseln, füllten ihre Helme mit dem kühlen Wasser, tranken und kippten den Rest über sich. Portar, in dessen Bart statt Staub jetzt roter Schlamm klebte, wandte sich an Crispan. „Wir
müssen so rasch wie möglich weiter“, sagte er. „Der Regen wird immer stärker. Wenn er anhalten sollte, kommen wir überhaupt nicht mehr vorwärts.“ Der Regen hielt an und wurde immer stärker, bis er einen Vorhang um sie zog, der so dicht war wie vorher der Staub. Sie ritten jetzt langsamen Trab, da der Schlamm die Beine der Pferde umklammerte und festzuhalten versuchte. Je länger der Regen andauerte, desto tiefer und zäher wurde der Schlamm, bis er den Pferden fast an die Knie reichte. Und dann hörten sie durch das Trommeln des Regens hinter sich einen Schrei. „Hilfe!“ Talmon, der Soldat, der scherzhaft gefragt hatte, ob es Zifkar überhaupt gäbe, lag neben seinem Pferd, das sich den linken Vorderlauf gebrochen hatte. Portar ritt zu ihm zurück und streckte ihm seine Hand entgegen. „Komm. Mein Gaul ist noch einigermaßen frisch. “ Talmon hing Satteltasche und Wasserkrüge an den Sattelknopf von Portars Pferd, doch als er aufsitzen wollte, wandte er sich um und schlurfte durch den Schlamm zu seinem Pferd zurück. Er stellte sich mit gegrätschten Beinen über das leise stöhnende Tier und redete beruhigend auf es ein. Dann zog er seinen Dolch und schnitt ihm die Kehle durch. Rotes Blut schoß aus den Adern und mischte sich mit dem rotbraunen Schlamm und den sich bildenden Pfützen. Talmon schwang sich hinter Portar auf dessen Pferd. „Besser so, als ihn leiden zu lassen“, sagte er und ließ die blutige Klinge vom Regen sauberwaschen. Sie ritten weiter, und der Regen prasselte weiter, und der Schlamm streckte weiter seine Finger aus, um sie festzuhalten, herabzuziehen, in sich aufzunehmen. Wo vorher Hitze und alles durchdringender Staub gewesen waren, waren jetzt Schlamm und eisiger Regen. Das Karsh zeigte ihnen, daß es durch Wasser genauso vernichten konnte wie durch Hitze. Bis zum Abend waren drei weitere Pferde zusammengebrochen, eins starb an Erschöpfung, die anderen beiden hatten sich ein Bein gebrochen und wurden wie das erste von ihrem Leiden erlöst. Im Lauf des Tages wurden die Wolken immer schwärzer, und der Regen prasselte mit unverminderter Wucht auf sie herab. Sie ritten nur noch Schritt, als es dunkelte, aus Angst, einander zu verlieren und weil Mensch und Tier am Ende ihrer Kraft waren. Doch Crispan ignorierte ihre Erschöpfung und ließ sie weiterreiten. Schließlich, als es völlig dunkel geworden war, ritt Artor an seine Seite und sagte: „Lord, die Männer brechen in den Sätteln zusammen. “ Crispan war ebenfalls am Ende seiner Kraft, doch sie mußten weiter. „Was willst du tun?“ schrie er durch den Regen. „Hier im Schlamm kampieren? Wir müssen vorwärtskommen, das ist unsere einzige Chance. Wir werden jetzt eine kurze Rast machen und dann weiterreiten. Wenn wir Glück haben, sind wir
morgen am Westrand. “ Noch während er sprach, brach Artors Pferd unter ihm zusammen und war tot, bevor es in den immer tiefer werdenden Schlamm fiel. Artor blickte zu Crispan auf. „Es ist sinnlos, Lord.“ Crispans Augen glühten. „Bei den Geistern, wir machen weiter! Steig auf!“ Er streckte Artor seine Hand entgegen. Die Geste schien den Männern neue Zuversicht zu geben, und Crispan erkannte, daß seine Kräfte jetzt ein neues Ziel hatten. Sein ganzer Wille war darauf konzentriert, die Männer in Bewegung zu halten und dafür zu sorgen, daß die herabstürzenden Wassermassen nicht ihren Glauben und ihren Lebensmut erstickten. „Hört zu“, sagte er. „Wir dürfen auf keinen Fall voneinander getrennt werden, sonst kommen einige von uns bestimmt um. Wer ist am rechten Flügel?“ „Ich, Efrim.“ „Gut. Jeder von euch hält Rufkontakt mit seinem Nebenmann. Falls jemand von den anderen getrennt werden seilte. soll er sich sofort melden. Wir lassen niemanden zurück!“ Nach kurzer Rast, bei der sie in ihrer durchnäßten Kleidung froren, setzten sie sich wieder in Bewegung, doch bereits beim Anreiten brach ein weiteres Pferd zusammen urd verendete. Einige der Männer schüttelten die Köpfe, während sie warteten, bis der Reiter sich hinter einem anderen auf dessen Pferd ge schwungen hatte. Dann ritten sie weiter. Während der ganzen Nacht schallte die Litanei von Namen durch die Nacht, als die Männer Rufkontakt miteinander hielten: Efrim, Trofan, Analdo, zu Portar und Talmon, Crispan und Artor, bis sie Stelba erreichte, und dann wieder zurück zu Efrim. Der Regen war jetzt wie ein dichter Vorhang, der ihnen vom Nachtwind ins Gesicht gepeitscht wurde. Der Schlamm wurde immer tiefer, je weiter das Wasser den festen Boden aufweichte, und ließ sie immer langsamer vorankommen. Cie Pferde sanken mit jedem Schritt tiefer ein, und gegen Mitternacht mußten wieder zwei Tiere getötet werden. Hin und wieder zuckte ein Blitz über den dunklen Himmel, als ob das Karsh sie sehen lassen wollte, was aus ihnen geworden war. Doch die Männer blickten kaum auf, sondern starrten apathisch in den Schlamm. Kurz vor Morgengrauen brach Trofans Pferd zusammen, und es versank so rasch in dem Schlammeer, daß er nicht einmal Zeit hatte, Satteltasche und Wasserkrüge zu retten, Crispan sah durch den von seinem Helm rinnenden Regen, daß Trofan sich hinter Analdo setzte, und trieb sein Pferd wieder an. Das Tier hob den rechten Vorderlauf, machte einen Schritt vorwärts, blieb dann reglos stehen und schwankte leicht hin und her. Crispan versuchte wieder, es durch Schenkeldruck anzutreiben, doch das Pferd blieb stehen. Das Schwanken wurde stärker, und es begann zu wimmern. Artor sprang von seinem Rücken und versank bis zu den Oberschenkeln im Schlamm. Crispan blieb im Sattel. Er preßte wieder die Schenkel in die Flanken des Tieres, doch es reagierte nicht. Das Schwanken wurde stärker, und es begann zu stöhnen, und plötzlich brach es in die Knie und fiel auf seine rechte Seite. Der Magier zog seinen rechten Fuß aus dem Steigbügel, der bereits tief im Schlamm stak, und warf sich über den Rücken des Pferdes, kurz bevor er von ihm überrollt wurde. Es war tot, bevor Crispan wieder auf den Beinen stand. Artor watete durch den Schlamm, um Crispan zu helfen. Jetzt hatten sie nur noch zehn Pferde für zwanzig Männer. Artor setzte sich hinter einen anderen Soldaten, und Crispan kletterte auf das Pferd Stelbas. Sie kamen jetzt noch langsamer voran, kaum im Schrittempo, die Pferde sanken mit jedem Schritt tiefer in den Schlamm, und jedes Reiterpaar hatte Angst, daß sein Tier als nächstes zusammenbrechen könnte. Der Regen begann gegen Morgen ein wenig nachzulassen, doch jeder der schweren Tropfen ließ die schlammigen Pfützen, die sich gebildet hatten, aufspritzen, und es war wie eine Verhöhnung der verzweifelten Anstrengungen von Mensch und Tier. Die Männer waren zu durchnäßten Klumpen geworden, die Pferde waren zweifarbig: glänzend naß auf dem Rücken und bis zur halben Höhe der Flanken mit braunem Schlamm verklebt. Der Regen wusch hellere Streifen auf
ihre Flanken und Läufe und weichte den Lehmboden des Karsh noch tiefer auf. Endlich zeigte sich im Osten ein erstes Grau am dunklen Himmel. Als die Sicht besser wurde, lehnte sich Crispan hinter dem breiten Rücken Stelbas vor und blinzelte in den niederge henden Regen. Keine Spur vom Westrand des Karsh. Er fragte sich, ob sie während der Nacht die Richtung verloren hatten und im Kreis geritten waren. Von einem Horizont zum anderen bot sich das gleiche Bild: ein braunes, mit Pfützen bedecktes Schlammeer. Er blickte zum Himmel empor, doch die Wolkendecke war zu dicht, als daß er hätte feststellen können, ob die Sonne wirklich genau hinter ihnen stand. Es schien so, doch er war dessen nicht sicher. Sie konnten genausogut in nördliche Richtung reiten oder, noch schlimmer, nach Südwesten, und damit tiefer in den Morast. Crispans Überlegungen wurden durch einen Schrei abgebrochen. Wieder war ein Pferd völlig erschöpft zusammengebrochen. Innerhalb weniger Augenblicke erstickte es in der flüssigen Erde und versank. Die beiden abgeworfenen Reiter blickten den Magier an, und in ihren Gesic htern stand die Frage, was er jetzt tun würde, wo nur noch neun Pferde übriggeblieben waren. Er schloß die Augen gegen den Regen und dachte nach. Portar fragte: „Sollen wir abwechselnd reiten, Lord?“ Crispan wollte zustimmen, doch dann rief er: „Nein!“ Portar war überrascht und verwirrt, doch Crispan fuhr fort: „Absteigen! Alle! Wir gehen zu Fuß weiter. Ohne Pferde kommen wir nicht nach Ker-en-kar, wenn wir den Westrand des Karsh erreicht haben. Wir marschieren paarweise und führen die Pferde zwischen uns. Ohne sie kommen wir niemals nach Ker-en-kar, und dann war alles umsonst. “ Er sprang vom Pferd und versank bis zu den Oberschenkeln im Schlamm. Stelba, Trofan und Artor folgten seinem Beispiel, und dann auch die anderen. Kurz darauf hatten sie sich paarweise geordnet. Crispan wählte Portar als Partner. Selbst durch den dichten Regenschleier sah Crispan Zweifel und Fragen in den Gesichtern der Männer. Wie konnte er ihren die Grenzen seiner Kräfte erklären, die er ahnte, fühlte? Es gab nichts, das er tun konnte, keine Macht, die er beschwören würde, war der Gewalt des Karsh gewachsen. Er erinnerte sich mit Bitterkeit an Omirs Warnungen über die Grenzen, die den Fünf Künsten gesetzt seien. Aber wie konnte er das den Soldaten erläutern? Wie konnte er von ihnen Verständnis für eine Kunst erwarten, die so subtil war, daß sie nicht immer und überall angewandt werden konnte? Die Macht der Soldaten war die Gewalt, Gewalt, die jederzeit einsetzbar war. Wie konnte er es ihnen klarmachen? Einen Augenblick lang überlegte er, ob er sie unter einen Bann nehmen, in ihren Gehirnen eine Illusion hervorrufen sollte, die sie von der furchtbaren Wirklichkeit ablenkte. Aber er sah sofort ein, daß es unfair wäre, denn falls sie dem Karsh nicht entkommen würden, könnte er die Illusion nicht so langeaufrechterhalten, bis sie, einer nach dem anderen, in den Todglit ten. Er durfte sie nicht dem plötzlichen Terror aussetzen, wenn die Illusion verblaßte und sie sich wieder der Wirklichkeit gegenübersahen, einem Tod, den sie nicht me hr erwartet hatten. Nein, er mußte ihnen die Wahrheit sagen. Nachdem er sie hierhergeführt hatte, war er ihnen das schuldig. Er nahm seinen Helm ab und ließ den Regen über seine Wangen rinnen, durch die immer länger werdenden Bartstoppeln. „Ich weiß, ich bin euch eine Erklärung dafür schuldig, warum wir ohne Unterlaß leiden“, sagte er. „Ich kann nur sager, daß auch die Kräfte eines Magiers ihre Grenzen haben. Wir können Beschwörungen machen und Zaubertränke herstellen, Ilusionen hervorrufen. Wir sind in der Lage, größere Möglichkeiten zu sehen, Routen und Wege vorzuschlagen, Alternativen zu erkennen, die für andere unsichtbar sind. Das ist der wirkliche Wert unseres Rats. Doch eine bestehende Wirklichkeit kann durch Magie nicht in ihrer Gänze verdrängt werden. Veränderungen in beschränktem Umfang sind möglich. Unsere Gaben gestatten es uns, diese Möglichkeiten aufzuspüren und zu wis sen, wann wir unsere Kräfte einsetzen können. “ Er zuckte die Schultern, eine Geste der Niederlage. „Das ist der Grund, warum ich das Karsh nicht ändern kann.“ Die meisten der Männer blickten ihn fragend an, versuchten, ihn zu verstehen, wollten ihn jedoch nicht mit Fragen bedrängen, da er offensichtlich unter seiner Machtlosigkeit litt. Doch
Efrim konnte sich nicht zurückhalten. „Was war mit dem Fluß? Wir haben gehört, daß du die Eisdecke auf einem Fluß zum Schmelzen gebracht hast.“ „Ja, das stimmt. Doch das war so eine Möglichkeit, von der ich eben gesprochen habe, von begrenzter Wirkung und in einer Situation, die eine rasche und sogar plausible Alternative bot. Dies“ - Crispan deutete mit einer ausholenden Geste auf das gleichförmige Schlammeer, das sich von einem Horizont zum anderen erstreckte - „bietet keine solche Alternative. In seiner Größe und Anordnung ist es der Wid erspruch alles Le benden.“ Crispans Stimme erstarb im unaufhörlichen Prasseln des Re gens. Die Männer standen schweigend und starrten ihn an, während die schweren Tropfen auf ihre Helme klatschten. „Genug!“ rief Portar. „Lord, du schuldest uns keinerlei Erklärungen. Daß unser Kaiser dich als seinen Berater erwählt hat, ist Beweis genug für deine Fähigkeiten. Und daß du nicht versuchst, dich unseren Strapazen zu entziehen oder allein zu ent kommen, ist alles, was für uns wichtig ist. Du bist für uns mehr als ein Magier - du bist ein treuer Kamerad. Habe ich recht?“ schrie er den anderen zu. Sie antworteten im Chor. Crispan lächelte. Bevor er etwas sagen konnte, enthob ihn Portar dieser Notwendigkeit. „Wir sollten weitermachen, sofort!“ Jetzt begann die wirkliche Tortur, die ihnen die Tage im Staub, die kalten Nächte und den Ritt durch Schlamm und Re gen fast als einen fröhlichen Ausflug erscheinen ließ. Die Männer zogen ein Bein aus dem zähen, saugenden Schlamm und zwangen ihren Körper vorwärts. Einige vo n ihnen versuchten, ihr Gewicht rasch von einem Fuß auf den anderen zu verlagern, ermüdeten jedoch nach kurzer Zeit. Alle waren sie bald von Kopf bis Fuß von einer rotbraunen Schlammschicht bedeckt, da jeder irgendwann einmal stürzte, wenn sein Fuß festsaß. Viele der Männer warfen ihre Schilde und Helme fort, und bald waren die verbliebenen Pferde mit den schweren, behindernden Mänteln beladen. Sie bewegten sich wie in Trance. Irgendwo vor ihnen, hofften sie, lag der rettende Westrand des Karsh. Der Gedanke an harte, feste Felsen gab ihnen die Kraft, durchzuhalten, sich vorwärtszuquälen. Hinter ihnen gab es nur Schlamm; stehenzubleiben bedeutete den Tod. Und der Regen prasselte wieder stärker auf sie herab. Sie stellten fest, daß sie leichter vorwärtskame n, wenn ein Mann stillstand, während sein Partner einen Schritt vorwärts machte. Dann wurden die Rollen vertauscht, und so arbeiteten sie sich voran wie ein plumpes, vierbeiniges Tier. Gegen Mittag - falls sie die Zeit richtig schätzten - starb wieder ein Pferd, und einer der Soldaten wäre beinahe im Schlamm erstickt, als sein Bein steckenblieb und er hinfiel. Portar grunzte, als Crispanan der Reihe war, einen Schritt vorwärts zu machen: „Glaubst du, daß wir hier herauskommen?“ Crispan atmete keuchend. „Ich... ich weiß es nicht. Wenn wir den Westrand nicht bald erreichen, heute nacht... sind wir erledigt. “ Er schüttelte den Kopf und sah zu, wie Portar sein linkes Bein aus dem Schlamm zog und einen Schritt vorwärts machte. Dann er, dann wieder Portar, und so weiter, durch den zähen, saugenden Schlamm und den unaufhörlichen Regen. Sie waren zu wandelnden Schlammklumpen geworden, die sich durchein Meer aufgeweichten Lehms quälten. Schilde und Helme waren längst weggeworfen worden, und bald darauf wurden auch die Sättel der überlebenden Pferde abgeschnitten, um es den Tieren leichter zu machen. Und nicht ein Stück, das sie fortwarfen, blieb als Spur hinter ihnen zurück, sondern versank sofort im Schlamm. Das Karsh, tückisch wie immer, versagte ihnen jeden Anha ltspunkt, jedes Gefühl des Vorwärtskommens. Am späten Nachmittag bat Portar Crispan, einen Augenblick stehenzubleiben, und tat etwas, das er nie für möglich gehalten hätte: Er löste seine Gürtelschnalle und ließ sein Schwert im Schlamm versinken. „Es war das Geschenk meines Kommandeurs“, sagte er, als er wieder einen Schritt vorwärts machte. Bald taten die Soldaten es ihm nach, und niemand hatte mehr eine Waffe, bis auf einen Dolch vielleicht. Sie mußten den Westrand bald erreichen, wenn sie ihn überhaupt erreichen wollten. Sie hatten fast zwei Tage lang nicht geschlafen, und Crispan fürchtete den Augenblick, wo einer der
Männer nicht mehr weiter konnte. Seine Entschlossenheit, sie alle am Leben zu erhalten, hatte ihnen die Kraft zum Durchhalten gegeben. Wenn der erste Mann starb, war der Bann gebrochen, und alle anderen würden mehr als zuvor um ihre Leben fürchten. Crispan lachte inwendig über die Ironie: Genau wie beim Orden versuchte er, die Zivilisation vor dem Chaos zu retten, doch jetzt durch seine Willenskraft und nicht durch magische Kräfte. Er schüttelte seinen benommenen Kopf und quälte sich weiter. Er blickte zurück, nach Osten, wie er annahm, und der dunkler werdende Horizont schien das zu bestätigen. Seine Lider waren ständig halbgeschlossen, um die Augen vor dem Regen zu schützen, und es war ihm so zur Gewohnheit geworden, daß er das Nachlassen des Regens erst nach einer Weile wahrnahm. Es war kein wirklicher Regen mehr, nur noch ein leichtes Nieseln. Er blickte umher, doch die Männer waren zu sehr auf jeden ihrer anstrengenden, kräftezehrenden Schritte konzentriert, um es zu merken. Er wollte ihnen zurufen, daß der Regen aufgehört habe, tat es aber aus irgendeinem Grund nicht. Wer konnte sich schon über das Aufhören des Regens freuen, wenn sie nach wie vor in diesem grenzenlosen Schlammmeer steckten? Analdo merkte es kurze Zeit später, als er feststellte, daß Sonnenlicht auf den braunen Morast fiel. Er schrie es den anderen zu und deutete zum Himmel empor. Zum ersten Mal seit vielen Tagen sahen sie Sonnenlicht, das nicht durch erstickende Staubwolken oder niederprasselnden Regen verdüstert wurde. Einen Augenblick blieben sie alle wie hypnotisiert stehen und starrten zu dem Blau zwischen den bleifarbenen Wolken hinauf. Sie waren noch am Leben. Doch ihr Traumbild zerstob, als Portar sie anknurrte, weiterzumachen, und sie damit an ihre erdgebundenen Körper erinnerte. Als sie sich weiterquälten, blickte Crispan zum Himmel empor, um festzustellen, welche Tageszeit sie hatten. Die Färbung war nicht mehr das helle Blau des Nachmittags, sondern neigte sich den Pastelltönen des Abends zu. Der Tag ging zu Ende, und noch immer keine Spur von dem Westrand des Karsh. Crispan senkte den Kopf und sah, daß seine Beine bis über das Knie einsanken. Der wabernde Schlamm faszinierte ihn. Bis zum Knie! Die Erkenntnis traf ihn wie ein Schlag. Vorher waren seine Beine bis zu den Oberschenkeln eingesunken. Er hatte die Veränderung nicht bemerkt, doch jetzt sah er sie. Der obere Teil seiner Hose war zwar verdreckt, doch nicht mit frischem Schlamm verklebt. Das Karsh konnte nach dem heftigen Regen nicht so rasch trocknen. Sie mußten sich auf ansteigendem Bo den befinden. Er schritt im Rhythmus mit Portar voran und versuchte festzustellen, ob seine Annahme richtig war. Er blickte auf die langen Beine seines Partners, und sie schienen seine Vermutung zu bestätigen. Doch er schwieg noch darüber, weil er keine falschen Hoffnungen erwecken wollte. Sie stapften weiter, und jeder Schritt war schwerer und anstrengender als der vorhergehende. Für ein weiteres Pferd war das Leiden vorüber, und jetzt waren nur noch sieben übrig. Der Himmel über ihnen färbte sich bereits blau und purpurn. Crispan schluckte hart, als er das Dunkel der Nacht kommen sah. Aber er war sicher, daß sie sich dem Rand des Karsh näherten, denn der Schlamm reichte jetzt nicht einmal bis zu seinen Knien. Sein Blick suchte aufmerksam den Horizont ab, und er betete, irgend etwas hinter dem flachen Schlammeer zu sehen, bevor das Tageslicht ganz erlosch. Er blickte von rechts nach links, und dann wieder zurück, in der Hoffnung, irgendeine Erhe bung hinter der endlosen, flachen Monotonie zu entdecken. Und dann, einen Augenblick lang, glaubte er etwas zu sehen. Ein klein wenig links von ihrer Marschrichtung. Aber nein, es war sicher nur aufgehäufter Schlamm. Er blickte nach allen Seiten, doch der Schlamm war überall völlig eben. Crispan ging unwillkürlich schneller, und Portar verlor fast das Gleichge wicht. „Was ist los?“ knurrte er. „Dort! Dort! Siehst du es nicht?“ „Was?“ „Sieh doch!“ Und als Crispan auf die Erhöhung deutete, brach das Licht der sinkenden Sonne durch die Wolken und beleuchtete sie. Sie war grauschwarz, dunkler, als der rotbraune Schlamm. Portar war noch immer unsicher, doch Crispan rief erregt: „Der Rand! Der Rand!“ Die anderen schreckten aus ihrer dumpfen Betäubung und blickten in die Richtung, in die er deutete. Die weiter zurückge bliebenen konnten kaum etwas erkennen, doch die anderen sahen
die dunkel aufragende Masse und drängten mit neuer Kraft vorwärts. Ihre Beine quälten sich durch den dicken Schlamm. Einige von ihnen stürzten immer wieder in den rotbraunen Morast, weil sie es nicht erwarten konnten, auf das nun greifbar nahe liegende feste Land zu kommen. Der dunkle Fels ragte gerade über den Horizont, doch von dem Rand, der das Karsh abschloß, war nichts zu sehen. War es nur ein einziger, riesiger Stein, der wie eine Insel aus dem Schlammeer ragte, um ihre Hoffnungen zu wecken und wieder zu zerstören? Wieder wurde Crispan von Zweifeln gequält. Hatte er zu früh gerufen? Es war Talmon, der den anderen ein Stück voraus war, der sich plötzlich aufrichtete und schrie: „Seht! Seht! Der Rand! Der Rand!“ Jetzt konnte sie nichts mehr zurückhalten. Unter Mobilisierung ihrer letzten Kraftreserven drängten sie voran. Ihre Erregung übertrug sich sogar auf die Pferde, und auch sie gingen schneller als je zuvor in den letzten Tagen. Im sterbenden Licht des Tages drängten sich Mensch und Tier durch den zähen Schlamm auf den festen Grund des rettenden Felsrandes zu. Sie liefen so schnell, daß jeder von ihnen einige Male in den Schlamm fiel und ein Kamerad ihm wieder auf die Beine helfen mußte. Talmon war noch immer in Führung und schrie aus voller Kehle. Die anderen brüllten ebenfalls vor Erregung und Erleichterung. Jetzt war der ganze Rand des Karsh deutlich erkennbar, kaum noch zweihundert Speerlängen entfernt. Sie liefen und stürzten, zogen sich wieder aus dem zähen Schlamm und liefen weiter. Manche von ihnen liefen mit ausgebreiteten Armen, als ob sie den sicheren, festen Boden umarmen wollten. Hundert Speerlängen, und sie liefen schneller. Fünfzig. Der Schlamm reichte ihnen jetzt nur noch knapp bis zum Knie. Zwanzig Längen zehn... Talmon warf sich auf den kühlen, schwarzen Fels und küßte ihn in ungläubiger Freude. Kurz darauf waren auch die anderen auf dem Felsen, schrien und lachten und weinten vor Glück - und keiner von ihnen wollte die guten, festen Steine loslassen. Sie klammerten sich an ihnen fest, als ob sie Angst hätten, ins Karsh zurückgezerrt zu werden. Eine ganze Weile gaben sie sich so ihrer Freude hin und lie ßen ihre Erschöpfung abklingen. Bis schließlich Portar, der als erster seine Haltung wiedergewann, aufstand. „Kommt!“ rief er. „Wir haben nur das Karsh besiegt. Denkt an unseren Auftrag. Denkt an Zifkar.“ Sie blickten einander an, lächelten und nickten. Denkt an Zifkar, weiter nach Ker-en-kar. Sie begannen, den Westrand hinaufzuklettern, stiegen wie Bergziegen über die schwarzen, steilen Felsen. Das Karsh, das sich um ihre Knochen betrogen sah, holte sich noch ein letztes Opfer. Eins der Pferde stieß ein ängstliches Wiehern aus, als es auf den glatten Steinen den Halt verlor. Die Männer stoben auseinander, als es den Steilhang hinab und in den gierigen Schlamm stürzte. Sein zerschmetterter Körper versank in der zähen, braunroten Masse, und die Männer versuchten, so rasch wie möglich den oberen Rand zu erreichen.
XIX Schlimme Nachricht Die Männer rollten über die Felskante und ließen sich in das lange, kühle Gras fallen. Die wenigen von ihnen, die noch Pferde hatten, mußten aufpassen, daß die Tiere sich nicht überfraßen. Portar und Crispan lagen wie die anderen auf dem Rücken und blickten zum Himmel empor, an dem sich die ersten Sterne zeigten. „Was jetzt?“ seufzte der Magier. Portar sah ihn überrascht an. „Wir reiten nach Ker-en-kar.“ „Auf sechs Pferden?“ „Wir müssen eben einige der Männer zurücklassen. Sie können irgendein Dorf in der Nähe suchen und später zu uns stoßen.“ „Daran habe ich auch gedacht“, gab Crispan zu. „Aber wie sollen wir bestimmen, wer mit uns kommt und wer zurückbleibt?“ Portar setzte sich auf und sah Crispan an. Sein Gesicht war schlammverschmiert, doch die grauen Augen blickten klar wie immer. „Du unterschätzt diese Männer, Lord. Sie gehören jetzt dir und würden dir überallhin folgen. Du hast sie durch das Karsh geführt, ohne einen einzigen von ihnen zu verlieren. Sie würden sogar Mujdhur, Zhyjmans Hochstadt, stürmen, wenn du es von ihnen verlangst! Schildere ihnen einfach die Lage. Sie sind Soldaten und werden dich verstehen.“ Damit erhob sich Portar, um mit den Männern zu sprechen, doch Crispan wollte sich diese Aufgabe nicht abnehmen lassen. „Wir müssen nach Ker-en-kar reiten“, sagte er, „denn das ist unser Auftrag. Aber nur sechs von uns haben Pferde, also müssen wir entscheiden, wer von euch mit uns reiten soll.“ „Ja, und in welche Richtung“, warf Profan ein. Erst jetzt fiel Crispan ein, daß sie keine Ahnung hatten, an welcher Stelle sie aus dem Karsh gekommen waren. Die anderen erkannten das auch, doch Efrim hob ein wenig zaghaft die Hand und erklärte, daß er in der Nähe von Ker-en-kar aufgewachsen sei. „Ich kenne diesen Teil des Reiches und würde sagen, daß wir beim Durchqueren des Karsh ein wenig nach Norden abgekommen sind und Ker-en-kar mehr südlich als westlich von hier liegt.“ „Bist du sicher?“ fragte Portar. „Nein. Aber westlich von hier verläuft eine Straße. Ich denke, daß wir noch vor Sonnenaufgang das nächste Dorf erreichen können.“ Crispan nickte nachdenklich. „Dann werden die Reiter zunächst nach Westen bis zur Straße reiten und dann nach Süden abbiegen, in Richtung Ker-en-kar. Die anderen folgen zu Fuß auf demselben Weg.“ „Bei unseren erschöpften Pferden werden sie mit uns Schritt halten können“, sagte Artor lachend. Die sechs Reiter waren schnell bestimmt. Crispan und Portar, Efrim und Analdo, weil sie sich in diesem Gebiet auskannten, und zwei andere. Der Rest wurde dem Kommando Stelbas unterstellt. Nachdem das entschieden war, ruhten sie sich noch eine Weile aus, und dann war es Zeit zum Aufbruch. „Im ersten Dorf, auf das wir stoßen, besorgen wir Pferde für euch“, versprach Crispan. „Wir sehen uns in Ker-en-kar wieder. “ Er und die anderen fünf Reiter verschwanden im Dunkel der Nacht. Die Pferde liefen gut. Sie hatten gefressen und sich etwas ausgeruht und schienen nach den Strapazen im Schlamm glücklich, dichtes Gras und festen Boden unter den Hufen zu spüren. Gegen Mitternacht erreichten sie die Straße, anscheinend die, welche Efrim erwähnt hatte, einen breiten, ausgetretenen Weg, der jedoch seit dem Zerfall des Großen Reiches kaum benutzt zu
werden schien. Efrim, der neben Crispan ritt, beugte sich vor und deutete nach rechts. „Dort sind Lichter, ein Dorf. Sollen wir hinreiten?“ Crispan und Portar beantworteten die Frage, ind em sie ihre Pferde in die von Efrim angedeutete Richtung lenkten, auf den matten Schein der Lichter zu. Als sie sich dem Dorf näherten, sahen sie, daß das Licht von Laternen kam, die an kleinen Wachttürmen auf einer Erdmauer hingen. Die Mauer umschloß das ganze Dorf, wie es bei Dörfern im Grenzgebiet üblich war. Ihr Kommen war von den Hufschlägen ihrer Pferde angekündigt worden, und weitere Laternen erschienen auf den Mauern. Dann konnten sie die Gestalten mehrerer Männer erkennen, und kurz darauf erreichten sie die Mauer und hielten vor dem verschlossenen Tor. „Wer seid ihr?“ knurrte ein stämmiger Mann, der über dem Tor auf der Mauer stand. „Was wollt ihr hier mitten in der Nacht?“ „Wir sind Soldaten des Kaisers Thurka und in seinem Auftrag unterwegs nach Ker-en-kar“, sagte Portar. „Wir brauchen frische Pferde, öffne das Tor!“ Der stämmige Mann blieb unbeeindruckt. „Wer will mir befehlen, das Tor zu öffnen?“ „Ich bin Hauptmann Portar. “ Er hielt es für besser, Crispan nicht zu erwähnen. Statt das Tor zu öffnen, senkte der Mann eine Laterne an der Spitze seines Speers herab. „Soldaten! Ha! Keine Rüstungen, keine Waffen, nicht einmal Sättel! Ihr seid nichts weiter als dreckige Vagabunden, wahrscheinlich die Vorhut einer Bande von Plünderern. Verschwindet und seid dankbar, daß wir euch ungeschoren laufen lassen!“ Die Laterne wurde wieder emporgezogen. „Bei den Geistern! Wir haben das Karsh durchquert, weil Zifkar in Gefahr ist. Das erklärt unser Aussehen. Mach jetzt das Tor auf, oder...“ „Das Karsh durchquert?“ Der Wächter lachte höhnisch. „Niemand hat jemals das Karsh durchquert. Verschwindet jetzt, oder wir kommen hinaus und machen euch Beine. Oder wir hetzen die Hunde auf euch. “ Er trat vom Mauerrand zurück. Portar ritt zum Tor und hämmerte mit der Faust dagegen. „Aufmachen! Aufmachen! “ Jetzt tauchte der stämmige Posten wieder auf, den Speer wurfbereit in der Hand. „Hör auf, oder ich lasse ihn fliegen!“ Doch Portar hämmerte weiter, den Blick auf den erhobenen Speer gerichtet. „Hör auf! Meine letzte Warnung!“ „Was gibt es, Edvar? Wer sind diese Leute?“ Es war eine andere Stimme, sicherer, ruhiger. „Sie behaupten, Soldaten zu sein, von Zifkar. Sie sagen, sie wären durch das Karsh gekommen und müßten im Auftrag des Kaisers nach Ker-en-kar.“ Der Mann, zu dem die neue Stimme gehörte, erschien auf der Mauerkrone. Er war mittelgroß und schlank und trug einen Offiziersmantel, offensichtlich der Kommandeur. „Wer seid ihr?“ rief er. Crispan sagte rasch, um dem jetzt vor Wut kochenden Portar zuvorzukommen: „Es ist so, wie es der Mann gesagt hat. Wir müssen nach Ker-en-kar, um Verstärkung für Zifkar zu ho len.“ Der Kommandeur zögerte einen Moment zwischen seiner möglichen Pflicht und natürlicher Vorsicht. „Woher soll ich wissen, daß ihr keine Spione seid, die sich in Ker-en-kar einschleichen wollen?“ Crispan überlegte einen Augenblick. „Du hast recht. Aber wenn wir Spione wären, könntest du uns entlarven, indem du uns nach Ker-en-kar eskortierst. Es gehört noch eine zweite Gruppe zu uns, die zu Fuß folgt. Wir haben im Karsh viele Pferde verloren. Ich hatte gehofft, daß ihr den Männern Pferde entgegenschicken könntet. Es sind vierzehn.“ Die Nachricht schien den Kommandeur zu beunruhigen. „Wenn wir unseren Auftrag nicht durchführen können“, sagte Portar, „wird man dich an deiner eigenen Mauer aufhängen. Das verspreche ich dir.“ Der Kommandeur zuckte die Schultern. „Gut. Edvar, stelle eine Eskorte von acht Männern zusammen, um sie nach Ker-en-kar zu begleiten, und eine zweite von zwanzig Männern, um die
anderen zu holen. Wie finden wir sie?“ rief er hinab. „Einer von uns wird mit euch zurückreiten. Und wir brauchen auch Futter und Wasser.“ Immer noch mißtrauisch ließ der Kommandant Futter, Wasser und frische Pferde herausbringen, anstatt zu riskieren, die unbekannten, schlammbedeckten Reiter durch das Tor zu lassen. Im pastellfarbenen Licht des nächsten Abends tauchte die Stadt Ker-en-kar vor ihnen auf und schien ihnen lockend zuzuwinken. Stadt und Festung boten Ruhe, Bequemlichkeit und Sicherheit. Sie war - der am weitesten vorgeschobene Außenposten des Südlichen Reiches in dieser Region und voller Trup pen, die den Osten gegen Zhyjman verteidigen sollten. Als Gouverneur Ludivo von dem bevorstehenden Krieg informiert worden war, hatte er alle lokalen Kräfte mobilisiert, ohne erst auf den Befehl des Kaisers zu warten, der später eintraf. Die Festung war Tag und Nacht von hektischem Leben erfüllt, denn Ludivo war ein strenger Feldherr, der Disziplin und ständiges Üben verlangte. Die Männer von Zifkar, die immer noch wie Ba nditen aussahen, wurden nun durch das Stadttor gelassen, weil sie mit einer Eskorte ritten. Portar grinste Crispan an, da er erst jetzt begriff, warum der Magier um eine Eskorte gebeten hatte. Es war mehr im eigenen Interesse, als um das Mißtrauen des Kommandeurs zu beschwichtigen. Die engen Straßen von Ker-en-kar wirkten schon feierabend lich. Die Läden wurden geschlossen, Menschen gingen nach Hause. Doch je näher sie der Zitadelle kamen, desto mehr Le ben sahen sie auf den Straßen, und immer häufiger begegneten ihnen marschierende Kolonnen von Soldaten, hin und wieder auch Wagen, die Vorräte in die Festung brachten, damit man für eine mögliche Belagerung gerüstet war. Ker-en-kar hatte eine zweifache Bedeutung: als Zitadelle der Ostgrenze und als Truppenbasis für die Armeen in den Ostgebieten der drei Reiche. Am Tor der Zitadelle wurden sie wieder von feindselig- mißtrauischen Wachen aufgehalten. Crispan verlangte, ihren Hauptmann zu sehen, und als er erschien, benutzte Crispan zum ersten Mal seinen Namen und seine Position, um sich durchzusetzen, da er wußte, daß sie hier bekannt waren. „Ich bin Crispan, Magier und Berater des Kaisers. “ Er zog seinen Ta lisman hervor, den er im Karsh unter die Jacke gesteckt hatte, um ihn zu schützen. „Bringe uns sofort zu Gouverneur Ludivo. Ich bringe Nachricht aus Zifkar.“ Der Hauptmann reagierte sofort, als er Crispans Namen hörte, und ließ ihnen das Tor öffnen. Plötzlich verlegen wegen ihres verschmutzten Aussehens,versuchten sie, ihre Kleidung zurechtzustreichen, um ein wenig repräsentabler auszusehen. Wachen, denen sie auf ihrem Weg begegneten, durch die große Haupthalle, die breite Treppe hinauf, die Galerie entlang und an der Arkade vorbei, starrten sie mißtrauisch an. Schließlich, nachdem sie eine weitere Treppe hinaufgestiegen waren, standen sie vor der Tür von Ludivos Quartier, müde, doch bestrebt, ihre Nachricht an den Mann zu bringen. Der Hauptmann klopfte an und war etwas erschrocken, als der Gouverneur selbst öffnete. Der Hauptmann sagte etwas, und der Gouverneur blickte die schmutzstarrenden Gestalten prüfend an. „Sind das Spione?“ fragte er. „Unsere oder feind liche?“ „Nein, Gouverneur“, sagte der Hauptmann und trat zur Seite. „Das ist Lord Crispan.“ Bevor Ludivo antworten konnte, trat Crispan vor. „Lord Ludivo, wir bringen Nachricht aus Zifkar“, sagte er, trat am Gouverneur vorbei ins Zimmer und winkte Portar und den drei anderen, ihm zu folgen. Die durchgestandenen Strapazen im Karsh und die Erinnerung an sein letztes Zusammentreffen mit Ludivo hatten sein Selbstvertrauen gestärkt. Crispan goß Wein in einen Becher und reichte die Karaffe seinen Begleitern, während Ludivo die Tür schloß und sie mit offenem Mund anstarrte. Sowie der Gouverneur zu ihnen ge treten war, berichtete Crispan alles, was geschehen war, und die Worte stürzten ihm aus dem Mund. „Bei den Geistern! Mann! Nicht so schnell!“ protestierte Ludivo. Crispan begann von vorn, etwas langsamer, und benutzte eine Karte, um alle Einzelheiten zu schildern. Ludivo saß völlig reglos, offensichtlich verstört von Crispans Bericht. Er starrte auf die Karte, kalkulierte Entfernungen und die zur Verfügung stehenden Kräfte. Seine Lippen waren ein schmaler Strich in seinem graumelierten Bart, und er fuhr nervös mit der Hand durch
das Haar. „Wie du gesagt hast, muß Zifkar sofort entsetzt werden. Aber es wird ein paar Tage dauern, um eine Armee zu mobilisieren. Wie lange kann Zifkar sich halten?“ Crispans graue Augen funkelten. „Du hast keine paar Tage“, sagte er scharf. „Wir haben Zifkar vor neun Tagen verlassen. Die Belagerung hat spätestens vor drei Tagen begonnen. Stova hat nicht genügend Truppen. Der größte Teil der Armee ist in den Falchions eingeschlossen - falls sie überhaupt noch existiert. Ich habe nicht das Leben von zwanzig Männern riskiert, damit du ein paar Tage Zeithast!“ Crispans Stimme wurde lauter, und die Farbe seines Gesichts ähnelte der des Rotweins in seinem Becher. Ludivo strich ruhig die Karte glatt, die vor ihm auf dem Tisch lag. „Ich sehe ein, daß die Zeit ein wichtiger Faktor ist, aber ich kann einen so großen Truppenverband nicht sofort abmarschbereit haben, und es wäre ein Fehler, die Armee in einzelnen Gruppen nach Zifkar zu schicken. Außerdem darf ich Ker-en-kar nicht völlig von Truppen entblößen, wenn die Lage so ernst ist, wie du sie schilderst. Unser Hauptvorteil ist der Überraschungseffekt. Der Feind wird es für unmöglich halten, daß uns die Nachricht so schnell erreicht hat. Gib mir zwei Tage.“ Crispan schlug mit der Faust auf die Lehne seines Sessels. Ludivos ruhige Sachlichkeit brachte ihn in Rage. „Zwei Tage! In zwei Tagen kann Zhyjman Späher auf den Rändern des Karsh haben und einen Angriff auf diese Stadt vorbereiten. Du mußt eher bereit sein. Spätestens übermorgen früh, und nicht erst in zwei Tagen. Und du mußt sofort starke Patrouillen ausschicken, die unsere Marschroute absichern und nach dem Feind Aus schau halten.“ „Sieh mal an“, grinste Ludivo. „Du bist ja ein richtiger Soldat geworden. Also gut, wir werden versuchen, übermorgen früh bereit zu sein, und die Patrouillen werden noch heute nacht losgeschickt. Aber ihr müßt müde sein und braucht Schlaf. Wir können morgen weitersprechen. Ich lasse euch Quartiere anweisen.“ Unter dem ständigen Drängen des Magiers, der bei jeder Be sprechung anwesend war und alle Vorbereitungen genau verfolgte, hielt Ludivo sein Versprechen, und die Armee war innerhalb der vereinbarten Frist abmarschbereit. Boten waren nach Gurdikar entsandt worden, um dem Kaiser die Entwicklung zu melden, und starke Reiterpatrouillen sicherten die Gebiete nördlich und östlich der Stadt. Ludivo hatte aus seinen schnellsten und besten Schwadronen eine starke Kavallerie-Truppe zusammengestellt. Er plante, sie in einem Gewaltritt nach Zifkar zu führen und eine Infanterieformation folgen zu lassen. Am frühen Morgen begann der Marsch nach Zifkar, auf der Route, die Pangal erst vor so kurzer Zeit genommen hatte. Portar und Crispan ritten mit Ludivo und seinem Stab, zählten besorgt jeden Sonnenuntergang und versuchten, trotz ihrer düsteren Ahnungen optimistisch zu bleiben. Zehn, elf Tage vergingen. Ludivo führte seine Streitmacht nach Osten und versuchte, so rasch wie möglich vorwärtszukommen, ohne jedoch Männer und Pferde zu sehr zu ermüden. Am zwölften Tag nach dem Verlassen von Ker-en-kar berichteten zurückkommende Patrouillen, daß sie vor drei Tagen in Sichtweite der belagerten Stadt gelangt seien. Sie stand noch und leistete Widerstand, erklärten sie, würde jedoch vom Feind ohne Unterlaß berannt. Von dieser Nachricht gleichzeitig ermutigt und bedruckt, drängten Crispan und Portar den Gouverneur zu noch größeren Anstrengungen. Doch Ludivo mußte jetzt nicht mehr ge drängt werden, da er Wert und Bedeutung Zifkars kannte und die Vorteile und Gefahren, die der Besitz der Festung darstellte.
XX Eine Nacht von Feuer und Blut Endlich standen sie vor der bedrängten Stadt Zifkar. Ihr Anmarsch war durch den Einbruch der Nacht und die Konzentration der Feinde auf die Belagerung der Stadt, deren Fall unmit telbar bevorzustehen schien, gedeckt. „Diese Söldner sind lausige Soldaten“, sagte verächtlich Portar, der neben Crispan ritt. „Auch hier keine Patrouillen oder Posten.“ So wie Pangal es vorher getan hatte, hielt auch Ludivo seine Truppe hinter der langgestreckten Hügelkette westlich der Stadt in Deckung und wartete auf die Berichte seiner Späher. Crispan fieberte dem Angriff ungeduldig entgegen, doch Ludivo war entschlossen, nichts zu unternehmen, bis er mehr über die Lage vor Zifkar wußte. Wir müssen sofort losschlagen, dachte Crispan. Die Stadt kann sich nicht mehr lange halten. Seine Befürchtungen wurden ein wenig von dem Umstand gemildert, daß Ludivo seine Männer in dieser Nacht unter Waffen schlafen ließ und ihnen den Komfort eines Lagers verwehrte. Noch ermutigender war das Eintreffen einer Truppe Infanterie unter Ludivos Stellvertreter, Nedivir, der die Garnisonen und Dörfer entlang der Ostgrenze durchkämmt und alle Männer bis auf unbedingt notwendige Restbestände mitgenommen hatte. Jetzt werden wir sicher bald angreifen, hoffte Crispan. Unfähig, weiter herumzusitzen, lenkte Crispan sein Pferd auf den Grat des schmalen, langgestreckten Hügels, von wo aus er auf Zifkar hinabblicken konnte. Er sah lodernde Brände aus den Häusern und Befestigungsanlagen schlagen. Zwei Kräfte vereinigten sich zum Angriff auf die gequälte Stadt: die Nacht und der Feind. Das feurige Inferno beleuchtete die Stadt und ermöglichte es Crispan, das Vorgehen der Feinde zu verfolgen. Von seinem Standort aus blickte er auf die nördliche Mauer und ihr Tor. Die Torflügel standen in Flammen, und im Licht der Flammen sah er einige Dutzend Verteidiger auf der Mauerkrone und Gruppen von Feinden, die darauf warteten, daß das Tor zu Asche verbrannte. Zerbrochene Sturmleitern lagen am Fuß der Mauer, andere lehnten verlassen an ihren Zinnen. Der Magier schlug ungeduldig mit der Faust auf den Sattelknopf und blickte zurück auf den Hang des Hügels, wo Ludivo mit Nedivir und dem Kommandeur der Kavallerie, Droba, zusammensaß. ET fand den Anblick so unerträglich, daß er wieder auf Zifkar hinabstarrte. Er hörte ein galoppierendes Pferd, wandte den Kopf und sah einen Reiter den Hang heraufkommen. Er zügelte sein Pferd und war fort, bevor Crispan zu ihnen hinabgeritten war. Ludivo war jetzt allein. „Was hat er gesagt, Gouverneur?“ „Alle Patrouillen sind zurück und warten am Fuß des Hügels. Zweien der Männer ist es gelungen, sich in das Lager des Feindes einzuschleichen, und sie haben gehört, daß Oslon noch immer kämpft, jedoch nach wie vor eingeschlossen ist.“ Crispan sagte ungeduldig: „Gut, gut - aber was ist mit Zifkar?“ „Sie sagen, daß die Stadt kurz vor dem Fall steht. Es könnte heute nacht passieren, auf jeden Fall aber morgen nacht. Der Feind hat bereits auf den Mauern gestanden, wahrscheinlich sogar zweimal. Du hast recht gehabt, Crispan, wir sind gerade noch rechtzeitig gekommen. “ Ludivo stülpte den Helm auf sein eisengraues Haar. „Warum sitzen wir dann hier herum?“ Crispans Stimme klang beinahe schrill. Ludivo blieb eiskalt. „Man hat mir gesagt, Crispan, daß deine Magie eine sehr subtile Kunst ist. Aber das ist die Kriegskunst auch. Wir können nicht einfach lospreschen. Zuerst müssen wir unsere Truppen sammeln, und dann müssen wir warten. Erst wenn der Feind sich völlig auf seinen Angriff konzentriert hat, fallen wir über ihn her. Sie wissen noch nicht, daß wir hier sind, also wollen wir es ihnen nicht eher verraten, bis wir bereit sind, damit wir diesen einzigen Vorteil, den wir haben, nicht verlieren. Denke daran, Crispan, daß eine reife Frucht zu Boden fällt, ohne daß man sie pflücken muß.“
Die beiden Männer blickten zur Stadt hinab, wo der Feind jetzt gegen die geschwächten Mauern anstürmte. Der Schwerpunkt des Angriffs war die Nordmauer, wo das brennende Haupttor der Stadt gerade noch zusammenhielt. Andere Trup pen berannten die kleineren Tore im Westen und Süden. Crispan begann schwerer zu atmen, als er sah, wie Sturmleitern gegen die Mauer gelehnt wurden. Er blickte Ludivo an. Der Gouverneur von Ker-en-kar spürte seinen Blick und erwiderte ihn, wandte seine Aufmerksamkeit aber sofo rt wieder Zifkar zu. Die Verteidiger waren nicht mehr in der Lage, Hunderte von Sturmleitern fortzustoßen, und feindliche Soldaten standen jetzt auf der Westmauer. Crispan drängte sein Pferd ein Stück vorwärts, als er an Stova dachte, an den Kämmerer und an die Männer, mit denen er von Gurdikar nach Zifkar geritten war. Ludivo sagte: „Ruhig, ruhig. Sehr bald, aber jetzt noch nicht“, sagte er leise, aber sehr bestimmt. Zumindest ein Teil der westlichen Mauer war jetzt fest in der Hand des Feindes, und immer mehr Männer stürmten auf die Leitern zu, die an den Mauerzinnen lehnten. Crispan hatte plötzlich das Schwert in der Hand, als der erste Sturm auf das Haupttor begann. Er sah, wie das Tor einen Augenblick nachgab, aber doch noch standhielt. Er schob den linken Unterarm in die Schildschlaufen. Sein Daumen fuhr ständig über den Schwertknauf. Er fühlte, daß seine Knie zuckten. Lippen und Kehle waren völlig trocken und spröde, und er mußte sich zusammennehmen, um nicht vor Ungeduld und Erregung zu schreien. Und noch immer saß Ludivo ruhig auf seinem Pferd. Immer mehr Sturmleitern wurden an die Mauern gelehnt, die Feuer loderten immer heller, und Crispans Herz schlug immer erregter. Sein Pferd spürte seine Ungeduld und begann mit den Hufen zu scharren. Crispan fuhr mit der Zunge über seine aus getrockneten Lippen. Er war überzeugt, daß die Ungeduld ihn zerreißen würde. Dann hörte er Ludivos Befehl: „Droba, Angriff mit den Schweren Reitern! Die leichte Kavallerie folgt sofort! Nedivir, Infanterie im Sturmschritt! Vorwärts!“ Crispan war angaloppiert, bevor Ludivo seinen Befehl ganz ausgesprochen hatte. Er spürte die Schnelligkeit seines Pferdes nicht, als er den Abhang hinabritt. Sein Blick war auf das Nordtor gerichtet. Er ritt an den Männern der Patrouillen vorbei, die sich am Fuß des Hügels versammelt hatten. „Angriff! Angriff!“ schrie er ihnen zu und schwang sein Schwert über den Kopf. Die Reiter folgten ihm, und das Trommeln der Pferdehufe war Musik in seinen Ohren. Der Boden am Fuß der Hügelkette war völlig eben und ließ ihn auf Zifkar zufliegen. Er mußte ständig an seine Kameraden denken, die in der Stadt eingeschlossen waren, und der Name Zifkar dröhnte in seinem Kopf, als er von Kampflust gepackt wurde, die ihn unwiderstehlich in die Schlacht zog. Er bemerkte zwei Reiter, die ihn auf ihren schnelleren, leichteren Pferden überholt hatten und als erste am Feind waren. Sie hatten bereits mehrere Soldaten des Nordens mit ihren Schwertern zu Boden gestreckt, als er sie erreichte. Der Anblick von Blut und Toten ernüchterte ihn, und er zügelte sein Pferd. Dann hörte er Ludivos Stimme hinter sich. „Crispan! Bei den Geistern! Ich dachte schon, wir würden dich niemals einholen. Kommt her, Soldaten. Ihr seid die Eskorte für den Magier. Nehmt ihn in die Mitte.“ Crispan schüttelte den Kopf. „Was soll das?“ fragte er indigniert. „Der Kaiser hat befohlen, auf deine Sicherheit zu achten, und das werde ich auch tun. Er würde wenig Freude an dem Entsatz Zifkars haben, wenn der Sieg ihn deine Dienste kosten sollte, worin auch immer die bestehen mögen. Hauptmann, du bist mir für seine Sicherheit verantwortlich. “ Ludivo galoppierte weiter. Crispan blieb halb benommen einen Moment reglos sitzen, dann schüttelte er noch einmal den Kopf. Er spornte sein Pferd an, und seine Eskorte setzte sich ebenfalls in Bewegung. Ludivo hatte seine Kavallerie nach Nordwesten geschwungen, so daß sie dem Feind in den Rücken fielen. Dadurch gerie ten die Truppen des Nordens zwischen die frischen Kräfte Ludivos und die verzweifelten Verteidiger, denen das Auftauchen der Entsatztruppe neuen Mut gab. Ludivos Kavallerie brach in die Reihen der Feinde ein und trieb sie an die Mauern der Stadt zurück. Der plötzliche, unerwartete Angriff versetzte die Bela-
gerer in Panik, und sie begannen zu schreien, als sie immer weiter zusammengedrängt wurden, bis sie als bewegungsunfähiger Haufen an der Mauer standen. Dabei rissen sie die schmalen Sturmleitern um, und die herabstürzenden Körper verstärkten die Panik noch weiter. Die Verteidiger eroberten die Mauerkronen zurück und warfen Waffen, Rüstungsstücke und brennende Trümmer in den Haufen der Belagerer. Dabei drängte Drobas Kavallerie sie immer weiter zusammen; die Reiter schlugen mit ihren Schwertern auf sie ein. Jetzt führte Nedivir auch seine Infanterie von Westen und Süden heran, isolierte die Belagerer an diesen Mauern und zerstörte jede Leiter und jede Belagerungsmaschine. Die Belagerung wurde zur Schlacht, und aus der Schlacht wurde ein Abschlachten. Crispan und seine Eskorte waren die ersten, die sich zu den in hellen Flammen stehenden Resten des Nordtors durchkämpften. Ein plötzlicher Blutdurst packte ihn, zog ihn vom Offenen Auge zum Schwert. In der Mitte seiner Beschützer griff er selbst in den Kampf ein, hieb wild mit dem Schwert um sich und wurde von einem Speer an der Schulter gestreift. Er trieb sein Pferd über die ineinander verkeilten Leichen von Angreifern und Verteidigern und erreichte das brennende Tor, als es von innen aufgestoßen wurde; dabei wäre er fast von den herausstürmenden Verteidigern, die jetzt zu Angreifern geworden waren, überrannt worden. „Crispan!“ Stovas Stimme drang durch den Lärm der Schlacht. Crispan starrte durch den ätzenden Rauch und sah seinen Freund auf einer Barrikade unmittelbar hinter dem Tor stehen. „Stova! Als ich die brennende Stadt sah, glaubte ich nicht, dich wiederzusehen. “ Er streckte ihm beide Hände entgegen. „Und ich glaubte dich nicht wiederzusehen, wenn ich westwärts zum Karsh sah. “ Stovas Augen strahlten aus seinem rauchgeschwärzten Gesicht. Als er die Hände des Magiers ergriff, bemerkte er das Blut an dessen Schulter. „Du bist verwundet!“ Crispan hatte in der Hitze der Schlacht nicht einmal gemerkt, daß der Speer ihm die Schulter aufgeritzt hatte. „Nein. Ich bin völlig in Ordnung.“ „Dann komm. Wir haben noch etwas zu erledigen. Und diese Hunde verdienen es, abgeschlachtet zu werden. “ Er deutete mit seinem Schwert auf die verwüstete, brennende Stadt, sprang von der Barrikade und stürmte durch das offene Tor. Crispan verlor jedes Zeitgefühl, als er den Kämpfen zusah, die unmittelbar jenseits des Tors entbrannten. Die Flammen der brennenden Stadt wurden von der blanken Schwertklinge reflektiert. Er blickte auf seine Waffe und war von dem Anblick frischen Blutes gleichzeitig fasziniert und angewidert. Er konnte sich kaum erinnern, sein Schwert gebraucht zu haben. Er wußte nur, daß er und seine Eskorte sich einen Weg durch die zusammengedrängten Belagerer freigeschlagen hatten. Er erinnerte sich, seinen Arm auf und ab geschwungen und gelegentlich Widerstand gespürt zu haben. Doch er hatte es niemals mit Tö ten in Verbindung gebracht. Erst jetzt wußte er, was er getan hatte, woran er teilgenommen hatte, was noch immer um ihn herum geschah. Ludivo war plötzlich neben ihm, blickte eine Weile auf Pangals frisches Grab und wischte die blutige Schwertklinge an seiner Hose ab. Er schien die Stimmung des Magiers zu spüren und machte keinen Versuch, ihn zu stören. Sie saßen schweigend auf ihren Pferden und sahen, wie die siegreichen Soldaten von Ker-en-kar zusammen mit den Verteidigern Zifkars in die befreite Stadt strömten. Ein paar von ihnen trieben Gefangene vor sich her, die meisten aber waren mit Beute beladen. Droba wurde von der Menschenflut hereingespült und mußte sich aus ihr befreien, um seinen Kommandeur zu erreichen. „Gute Arbeit, Droba. Aber wo ist Nedivir?“ „An der Westmauer. Deswegen will ich ja mit dir sprechen. Die feindlichen Soldaten, die dort auf der Mauer festsitzen, wollen sich nicht ergeben. Alle Leitern sind gestürzt, und Nedivir steht am Fuß der Mauer.“ Ludivo drängte sich gegen die hereinströmenden Menschenmassen aus dem Tor. Crispan folgte ihm. Sie verließen die Stadt und ritten nach links zur Westmauer. Dort entdeckten sie Nedivir, der den Resten der Belagerungsarmee gegenüberstand. Sie starrten zur Mauerkrone hinauf, wo mehrere hundert feindlicher Soldaten standen, deren Gestalten sich klar gegen die Flammen der
immer noch wütenden Brände abzeichneten. Ludivo knurrte, als Nedivir ihm die Lage geschildert hatte. „Schicke die Hälfte deine r Leute von der Innenseite her auf die Mauer“, befahl er. „Und ziehe die anderen ein Stück von der Mauer zurück. “ Nedivir begriff sofort und schickte die Männer los. „Du willst sie doch nicht etwa abschlachten?“ Crispans Gesicht verriet seinen Horror. „Das ist nicht Krieg. “ Wie immer blieb Ludivo eiskalt und ruhig. „Die Regeln der Kriegführung sind klar. Es gibt nur eine Antwort auf die Weigerung, sich in einer hoffnungslosen Lage zu ergeben.“ „Aber... aber was ist mit Zifkar? Die Garnison hat genauso ge handelt. Auch unsere Soldaten haben sich geweigert, in einer hoffnungslosen Lage den Kampf aufzugeben.“ „Ja, und sie hätten dafür den gleichen Preis bezahlen müssen, wenn du uns nicht rechtzeitig hergebracht haben würdest. Und sie haben das gewußt. Du mußt noch viel lernen, Magier.“ Ludivo ritt ein Stück von der Mauer fort, und Crispan folgte seinem Beispiel. Er konnte nicht glauben, was er sah, als Nedivirs Männer auf der Mauer erschienen und sofort zum letzten Angriff dieser Schlacht übergingen. Die Soldaten des Nordens kämpften, als ob ihr Widerstand das Blatt noch wenden könnte, doch sie wurden nach und nach erschlagen und aufgerieben. Nedivirs Soldaten und Männer der Garnison von Zifkar, die zu ihnen stießen, drangen immer weiter vor und drängten die Feinde auf immer kleinerem Raum zusammen. Immer mehr Feinde sanken unter ihren Schwertstreichen zu Boden. Und dann wurden die ersten von dem Druck der Menge über den Mauerrand gepreßt und stürzten ab, anfangs einzeln, dann in ganzen Gruppen. Crispan war gleichzeitig entsetzt und fasziniert bei dem Anblick. Alles in ihm schrie, daß dieses Töten unrecht und sinnlos war, daß es über die Notwendigkeiten des Krieges und selbst der Vergeltung hinausging. Doch die Tapferkeit der Soldaten des Nordens zwang ihn, dem grausamen Schauspiel weiter zuzusehen, denn nicht einer der Männer gab einen Laut von sich, als er von der Mauerkrone in den Tod stürzte. Crispan schlief gut und schlecht in dieser Nacht. Die Erschöpfung von den Strapazen der letzten Wochen ließen ihn anfangs in einen totenähnlichen Schlaf fallen, und im Traum sah er wieder den korpulenten Hochkämmerer, in seine enge Zeremo nienrüstung gezwängt, der in seiner Halle saß und auf den Fall seiner Stadt wartete, wie Crispan selbst im Lauf dieses Abends festgestellt hatte. Doch als sein Geist tiefer in die Korridore des Schlafs eindrang, verblaßte das Bild, und ein anderes erschien. Er warf sich hin und her, als er wieder die von der Mauerkrone herabstürzenden Soldaten sah. Er glaubte, mit festen Stricken an den Boden gefesselt zu sein, und jeder der Männer stürzte direkt auf ihn zu, schlug dann jedoch dicht neben ihm auf. Er sah die verzerrten Gesichter, die blutenden Wunden. Er schreckte auf und wartete auf die Erlösung, die nur der Sonnenaufgang nach einer einsamen, schlaflosen Nacht bringen kann.
XXI Ein Auftrag im Westen Crispan stand bereits auf dem breiten Balkon, der als Terrasse des Kämmerers bekannt war, als die aufgehende Sonne enthüllte, wie stark Zifkar während der Belagerung gelitten hatte. Noch immer quollen dicke, schwarze Rauchwolken aus den zerstörten Gebäuden und behinderten die Sicht auf die Verwü stungen. Doch Crispan kannte die Stadt gut genug, um durch den Qualm zu erkennen, daß ganze Viertel niedergebrannt waren und daß der Marktplatz, auf dem ein so reges Leben geherrscht hatte, geräumt worden war, um Platz für die Verwundeten zu schaffen; doch selbst er reichte nicht aus. Auch auf den umliegenden Straßen sah Crispan Verwundete liegen. Es waren wieder Menschen unterwegs, doch ihren Bewegungen fehlte die frühere Vitalität. Sie gingen langsam und vorsichtig durch die Zerstörung, suchten zwischen den Ruinen nach ihren Häusern, nach Familienmitgliedern und Freunden. „Bist du schon in der Stadt gewesen?“ Crispan wandte sich um, als er die Stimme Stovas hörte. Sie hatten sich nicht gesehen, seit der Hauptmann gestern abend von der Barrikade ge sprungen war und sich in die Schlacht gestürzt hatte. Jetzt war er sauber und trug eine helle zeremonielle Rüstung. Doch obwohl er in der vergangenen Nacht geschlafen hatte, zeigten Augen und Gesicht noch immer Spuren von den Strapazen der Belagerung. Crispan schüttelte den Kopf. „Weißt du“, sagte Stova und lehnte sich gegen die Balustrade, „du kannst hundert Schlachten schlagen und gewöhnst dich doch niemals an den Anblick des Schlachtfeldes oder der Stadt am nächsten Morgen. Der Gestank, der Rauch, die bereits in Verwesung übergehenden Leichen. Es wird niemals leichter. Aber komm, wir müssen zu Baldomir.“ Als sie den Balkon verließen und in den Palast traten, erklärte Stova, daß der Kämmerer heute durch Zifkar reiten wolle, um den Bürgern neuen Mut zu geben und die Rettung der Stadt zu feiern. „Und er erwartet, daß alle Kommandeure an der Spitze der Parade reiten. “ Er stieß Crispan in die Rippen. Crispan ging in seine Räume zurück, um eine passende Robe für die Parade auszusuchen. Seine Rüstung lag als schmutzverschmierter Haufen neben seinem Bett, wo er sie gestern abend abgeworfen hatte. Er stieg über sie hinweg und trat zum Schrank. Der Kämme rer hatte ihm dort umsichtigerweise eine prächtige Paraderüstung bereithängen lassen, deren Küraß mit Silber und Ebenholzverzierungen bedeckt war. Er griff bereits nach der Rüstung, als sein Blick auf seine graue Robe fiel. Er legte sie an und zog das Amulett hervor, so daß es auf seiner Brust hing. Er konnte es nicht glauben, wie gut es ihm tat, wieder als Meister der Fünf Künste gekleidet zu sein. Er hoffte, daß Baldomir nicht gekränkt sein würde. Im Hof des Palastes, wo sich die Prozession versammelte, bemerkte Crispan, daß Drova nicht da war. „Ist nach Norden geritten“, erklärte Stova, „um Oslon herauszuhauen.“ Stova sagte leise, als die Prozession sich in Bewegung setzte: „Wir müssen die Reste der Belagerungsarmee nach Norden jagen. Selbst wenn wir sie nicht aufreiben können, müssen wir sie unter ständigem Druck halten und sie nicht zur Ruhe kommen lassen. Nedivir folgt im Laufe des Tages.“ „Aber die Männer werden vor Erschöpfung aus den Sätteln kippen!“ Stova antwortete nicht, da sie jetzt das Stadtzentrum erreichten. Der Kämmerer ritt in der ersten Reihe, flankiert vom Hauptmann seiner Leibgarde und Gouverneur Ludivo. Doch als sie durch die Straßen ritten, wurde sehr bald klar, daß das Hauptinteresse der Menschen der zweiten Reihe galt, wo Crispan zwischen Stova und Nedivir ritt. Es begann fast unmerklich, kaum vernehmbar in dem allgemeinen Jubel. Doch als sie weiterritten, wurde es lauter und lauter, bis der Ruf alle anderen Hochrufe übertönte. Der Magier konnte es anfangs nicht recht glauben, und seine Verwirrung wuchs mit der Lautstärke der Rufe. Die Menge rief in ihrem breiten, östlichen
Akzent seinen Namen. „Crispan! Crispan!“ Stova grinste breit. Crispan blickte ihn an. „Warum ich? Woher wissen sie davon?“ „Wir mußten ihnen irgend etwas erzählen, um ihre Hoffnungen zu stärken. Also sagten wir ihnen, daß du fortgeritten seist, um eine Armee herzubringen, und daß du als Meister es schaffen würdest.“ „Und wenn ich es nicht geschafft hätte?“ „Wer wäre dann übrig geblieben, um zu protestieren?“ „Crispan! Crispan!“ Es war zu einem Orkan geworden, zu einem tausendstimmigen Chor. Crispan dankte mit einem matten Lächeln. „Wie fühlt man sich, wenn man von einem rohen Rekruten zum gefeierten Helden wird?“ Stovas herzliches Lachen machte jede Antwort unmöglich. Sie ritten durch die ganze Stadt, durch ganze Viertel, die nur noch aus schwarzen, rauchenden Ruinen bestanden, durch Straßen, in denen wunderbarerweise überhaupt keine Schäden zu bemerken waren. Und immer und überall riefen die glücklichen Menschen seinen Namen. Sie empfanden das, was Baldomir beim Festbankett dieses Abends in Worte faßte, als er seinen Weinkelch hob. „Auf unseren Lord Crispan, dem wir in Ewigkeit Dank schulden, denn er hat mehr als jeder andere dazu beigetragen, daß die Stadt Zifkar gerettet wurde.“ Kaiser Thurka wiederholte Baldomirs Lob, als er Crispan bei seiner Rückkehr nach Gurdikar willkommen hieß. Inzwischen war eine Menge geschehen. Vadul hatte widerwillig Patrouillen an den Nordrand des Waldes von Swann entsandt; die Stadt Rhaan-va-Mor kümmerte sich genauso unwillig um den Aus bau ihrer Verteidigung. „Es ist seltsam“, sagte Thurka nachdenklich. „Seit vielen Jahren haben wir hier im Süden Frieden und Ruhe aufrechterhalten, und sie haben es dankbar akzeptiert. Jetzt aber, wo ich einmal ihre Hilfe fordere, würden sie sie am liebsten verweigern. “ Noch weniger ermutigend war die Nachricht, die Belka übermittelte. „Zhyjman soll angeblich nach Anrehenkar ziehen, um dort die seit langem erwartete Belage rung zu beginnen. Er hat eine Armee von etwa sechzigtausend Mann aufgestellt und rückt mit ihr von Norden aus auf die Stadt vor.“ Alle Mitglieder des Rates blickten Belka entsetzt an. „Sechzigtausend!“ rief der Herzog von Larc. „Das ist unmöglich. Nie mand hat jemals eine so starke Söldnerarmee aufstellen können.“ Zoltan spielte mit seinem Dolch. „Jeder Söldner wäre bereit, sein Leben zu riskieren, um an die Schatzkammern von Anrehenkar zu kommen. In der Stadt würde eine Beute verteilt, wie man sie noch nie in einem der Reiche gesehen hat. Niemand ist es bisher gelungen, diesen Schatz zu plündern. Syman hätte mit dieser Beute als Köder sogar eine noch größere Armee aufstellen können.“ Doch keiner der anderen konnte sich vorstellen, eine so große Streitmacht zu mobilisieren. „Besonders, wenn man berücksichtigt, daß Kirion, der wichtigste Heerführer Zhyjmans, nicht bei Syman ist“, sagte der Kaiser. „Zweifellos hat er seine eigene Armee im Feld. Wo immer er stehen mag, dort ist Zhyjmans Hauptstreitmacht. Aber wie viele Soldaten kann er noch haben, nachdem er zwei Armeen vor Zifkar verloren hat?“ „Und wo“, fragte Crispan, „steckt Viadur?“ Die Stille, die dieser Frage folgte, war bedrückend. Schließlich gab Thurka zu: „Auch über ihn haben wir keinerlei Informatio nen.“ „Mit anderen Worten“, zog Zoltan die Schlußfolgerung und gab sich kaum Mühe, seinen Hohn zu verbergen, „ist bis jetzt nur einer unserer Feinde aufgetaucht. Was sollen wir machen? Warten, bis es ihnen paßt, sich zu zeigen, vielleicht an den Grenzen von Gar und Perrigar? Man gewinnt keinen Krieg, indem man auf seinen Feind wartet. “ Die Stimme des ehemaligen Söldners klang bitter, und selbst die warnenden Blicke seines alten Kameraden, Prinz Mikal, konnten ihn nicht beruhigen. „Vielleicht“, sagte Larc grinsend, „willst du dem Kaiser und diesen Fürsten vorschreiben, wie man ein Reich regieren und einen Krieg führen soll? Hast du das beim Plündern der freien Staaten gelernt?“
„Nein, aber ich weiß genausogut wie du, wie man einen Staat verliert!“ Und mit diesen Worten verließ Zoltan trotz Mikals beschwörender Blicke das Zelt. Die anderen gingen kurze Zeit später, und nur der Kaiser und der Magier blieben vor der großen Landkarte sitzen. Crispans graue Augen waren auf den weiten Raum zwischen den beiden verbliebenen Reichen fixiert, als er an den Renegaten und die Zukunft des Ordens dachte. Thurka sah den Schmerz in den Augen des Magiers und erriet seine Gedanken. „Viadur muß irgendwo dort draußen sein, genau wie Kirion, auch wenn wir nicht genau wissen, wo. Omir ist auch davon überzeugt, denn sonst würdest du nicht hier sein. Vertraue mir.“ Ein Ausdruck tiefen Schmerzes breitete sich über Crispans Gesicht. „Ich muß es wohl. Ich bin schon viel zu weit gegangen.“ Mikal merkte, wie spät es war, als er sah, wie wenige Feuer noch zwischen den Zelten Rauchwolken gen Himmel schickten. Eine leichte Brise wehte sie vom Lager auf Gurdikar zu. Das Lager war unter dem Schein der warmen Frühlingssonne zum Le ben erwacht. Soldaten schärften ihre Waffen, Kavallerie übte auf der Ebene Formationswechsel, Händler und Krämer kamen aus der Stadt, um ihre Waren anzubieten: Früchte und frisches Brot, Stoffe und Wein. Entgegen Belkas Befehl kamen auch Frauen aus den Herbergen und Schenken und boten sich als abendliche Unterhaltung an. Das Lager war voller Menschen, doch der stämmige Krieger, den der grünäugige Prinz suchte, war nirgends zu entdecken. Er ging von den Zelten in der Nähe der Mauer zu den größeren Zelten, in denen sechs bis acht Soldaten ihr Quartier hatten. Als er sich dem großen, freien Platz näherte, den Belka für Truppenübungen vorgesehen hatte, entdeckte er seinen Vater und seinen Onkel, den Herzog von Larc und Crispan und einige andere, die dort standen. Er trat auf sie zu. „Hat einer von euch Zoltan gesehen? “ Thurka blickte seinen Sohn verwundert an. „Ist er nicht in seinem Zelt?“ „Nein. Ich habe dort nachgesehen. Ich glaubte, er wäre vielleicht hier bei euch.“ Doch niemand hatte den massigen Krieger gesehen. Mikal schickte einen Soldaten, um Zoltans Diener zu holen. Während sie warteten, sahen sie einer Attacke der Kavallerie zu, die unter Stovas Kommando übte. Crispan war von der Präzision und Schneidigkeit, mit der die Reiter sich formierten und Attacken ritten, sehr beeindruckt, mußte jedoch daran denken, daß sie nichts gegen Viadur ausrichten konnten - falls er bei Zhyjman war. „Ja“, sagte der Diener, als Mikal ihn nach Zoltan fragte. „Mein Herr ist heute sehr früh aufgestanden, noch bevor es hell wur de. Er hat sofort seine Rüstung angelegt und ist fortgeritten. “ „Wohin, Mann, wohin?“ Mikal war so ungeduldig, daß er ihn am liebsten gepackt und geschüttelt hätte. „Nach Norden. Er ist nach Norden geritten.“ Die Antwort erschütterte ihn, und er wiederholte dumpf: „Norden...“ Larc konnte sein triumphierendes Grinsen nicht unterdrücken. „Ich vermute, daß er seinen eigenen Geschichten über die sagenhaften Reichtümer von Anrehenkar nicht widerstehen konnte.“ Mikals Hand griff nach dem Dolch, doch Belka trat zwischen die beiden und sagte scharf: „Geh zu deinem Zelt zurück, Larc!“ Sein Neffe trat einen Schritt zurück und dachte an einen Tag, der noch gar nicht so lange zurücklag, als zwei Männer am frühen Morgen heimlich ein Lager bei Aishar verlassen hatten und nach Süden geritten waren. Die Tage, die Zoltans vermeintlicher Desertion folgten, verstrichen ruhig. Keine Nachricht über Viadur oder Kirion, und auch nicht über Zoltan. Während die Armee ständig übte, verbrachte Crispan den größten Teil der Zeit in seinem Zelt. In den Morgenstunden trainierte auch er mit seinen Waffen, und seine Fertigkeit und Sicherheit wuchsen. Doch es war nicht sein Ziel, ein guter Soldat zu werden. Er verbrachte den größten Teil des Ta ges mit Studien, praktizierte Beschwörungen und Zauberformeln, wobei ihn jedoch der Mangel an Büchern und Ausrüstung behinderte. Er wagte nicht, an Omir zu schreiben und ihn zu bitten, ihm die Dinge, die er brauchte, zu schicken, weil er die Fiktion seiner Unabhängigkeit und der Neutralität des Ordens aufrechterhalten wollte. Also versuchte er, mit den wenigen Büchern, die er mitgenommen hatte, und denen, die er von dem alten Xirvan in Kerdineskar ausleihen konnte, zurechtzukommen. Der
kranke Meister hatte ihm schon das seltene Incantatia et Contra zugeschickt, damit er sich auf den Kampf mit dem Renegaten vorbereiten konnte. Doch was nützten Vorbereitungen gegen einen Feind, der so phantomgleich war wie seine Be schwörungen? Crispan stellte fest, daß er sich nicht auf diese Aufgabe konzentrieren konnte. Es gab in keinem der Bücher etwas, das sich mit der verbotenen Kunst der Nekromantie oder ihrer Bekämpfung befaßte. Wieder und wieder hatte er ein Gefühl absoluter Hilflosigkeit. Im Orden war er glücklich und zufrieden gewesen, hatte das Gefühl des Zuhauseseins gehabt. Er war dort einer der sechs großen Meister, von allen respektiert, und befaßte sich mit Arbeiten, die ihm zum Lebensinhalt geworden waren. Jeder Tag hatte ihm tiefe Befriedigung verschafft. Und jetzt war er von den Bergen herabgestiegen, um einem kriegführenden Kaiser zu dienen. Sein einziger Orientierungspunkt, seine Magie, schien in ständiger Gefahr zu sein, entweder mißbraucht zu werden oder in den Affären der Welt völlig unnütz zu sein. Crispan begann zu erkennen, wie viel er aufgegeben hatte, als er den Orden verließ. Seine Waffenpraxis, die ihm bisher so viel Spaß gemacht hatte, wurde jetzt zu einer lästigen Pflicht. Und, was noch schlimmer war, sie erinnerte ihn daran, wie weit er sich vom Orden und dem von ihm gewählten Leben entfernt hatte. Eines Tages, als er mit Portar focht, überkam ihn eine unwiderstehliche Versuchung. Portar schwang sein Schwert nach rechts, um Crispan durch eine Finte zu verleiten, seine Flankendeckung der anderen Seite fallen zu lassen. Doch Crispan parierte den Hieb, und als die Klingen gegeneinander schlugen, ließ Portar seine Waffe plötzlich fallen und starrte Crispan mit weit aufgerissenen Augen an. „Was ist los, Portar?“ Crispans Stimme klang überrascht und besorgt, während er versuchte, ein amüsiertes Grinsen zu unterdrücken. „Mein... mein Schwert... es schien plötzlich in Flammen zu stehen. “ Portar bückte sich und starrte auf seine Waffe. „Das war sicher nur eine Reflektion des Sonnenlichts. “ Er kicherte, als Portar sich aufrichtete. Sein Schwert hob sich vom Boden und schwebte vor ihm in der Luft. Er packte es beim Knauf und trat einen Schritt zurück. „Nein! Du hast das getan, nicht wahr?“ Crispan schüttelte den Kopf, grinste jedoch weiter. Portar war nicht verärgert, sondern zeigte sich beeindruckt. „Wie hast du das gemacht?“ „Eine simple Illusion und Levitation, Portar, nichts weiter. Entschuldige.“ Portar hob die Hand. „Nein, du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Kannst du noch mehr davon?“ Der Magier sah sich nach einem geeigneten Objekt um, und seine Langeweile war verschwunden. Auf der anderen Seite des Platzes sah er Mikal mit einer Halbschwadron Kavallerie üben. Sie ritten eine Attacke, schleuderten ihre Speere und schwenkten dann in Formation. Wieder und wieder galoppierten sie auf eine Reihe leerer Fässer zu, die feindliche Infanterie repräsentierte, schleuderten ihre Speere und schwenkten scharf zur Seite, um vermeintlichen Pfeilen auszuweichen. Crispan beobachtete sie eine Weile aufmerksam, um den günstigsten Augenblick abzupassen. Wieder ritten sie in vollem Galopp an und schleuderten ihre Speere. Als sie in die leeren Fässer einschlugen, sproß plötzlich ein Kohlkopf am Ende jedes Speerschafts. Portar starrte verwundert auf das seltsame Schauspiel. Die Soldaten merkten kaum etwas davon, da sie sich auf das Schwenkmanöver konzentrierten. Doch es war ihnen unmöglich, ihre Pferde wieder geradeaus zu lenken; statt dessen blieben die Pferde in der Schwenkbewegung und liefen im Kreis. Und plötzlich blieben sie stehen, ohne irgendwelche Wirkung ihres seltsamen Verhaltens zu zeigen. Die armen Soldaten jedoch schwankten schwindelig im Sattel. Zwei von ihnen fielen von ihren Pferden, einige sanken zusammen und mußten sich am Sattelknopf festhalten. Crispan und Portar lachten schallend und merkten nicht, daß der Kaiser hinter sie getreten war. „Sage mir, Crispan“, sprach er den Magier an, „kannst du das auch mit einer ganzen Armee tun?“
Crispan hörte eine Spur Sarkasmus in den Worten des Kaisers. „Vielleicht“, sagte er. „Dann werden wir Zhyjman auf diese Weise besiegen?“ „Nein, mein Lord. Es war nicht mehr als ein kleiner Scherz. “ Während er das sagte, spürte er eine tiefe Bitterkeit. Ein Scherz, dachte er. Ich bin so weit gesunken, daß ich meine Kunst zu billigen Scherzen verwende. Eines Morgens trat Thurka in Crispans Zelt. „Rennar könnte wissen, ob Viadur bei unseren Feinden ist“, sagte er. Crispan starrte den Kaiser an. „Rennar?“ Es überraschte ihn, aus Thurkas Mund den Namen der mächtigen Hexe zu hören, die im Westen des Reiches lebte. „Wieso meinst du, daß sie es wissen könnte? Sie ist weise und mächtig, aber ob sie etwas von Viadur weiß?“ „Ich habe ihr in der Vergangenheit oft eine Gunst erwiesen. Und“ - Thurka zögerte -, „und es gibt noch etwas, das ich wissen möchte. Wenn Zhyjman diesen Krieg mit Hilfe des Renegaten begonnen hat, wird er, wie ich fürchte, versuchen, auch sie auf seine Seite zu ziehen. Wie du eben sagtest, ist sie sehr mächtig, vielleicht zu mächtig, um in Ruhe gelassen zu werden^ Doch ich will nicht so undiplomatisch sein, sie zu bitten, sich auf unsere Seite zu stellen. Ich respektiere ihre Integrität und ihre Unabhängigkeit. Ich möchte sie nur bitten, neutral zu bleiben und uns die Informationen zu geben, die sie besitzt. “ „Und darum soll ich sie bitten?“ Crispans Stimme klang resigniert. „Ja. Frage sie, was sie weiß und was sie ge hört hat. Frage sie, ob man von der anderen Seite an sie herangetreten ist und ob sie neutral bleiben wird. “ Nach einer höflichen Pause setzte der Kaiser hinzu: „Wie bald kannst du aufbrechen?“ „Sobald eine Eskorte aufgestellt ist. “ „Du kannst Portar mitnehmen und die anderen Männer, die mit dir im Karsh waren.“ Crispan bedankte sich dafür und begann wieder einmal zu packen.
XXII Vertrautes Gelände Über Crispans Reise nach Westen gibt es wenig zu berichten. Wie Thurka versprochen hatte, war Portar wieder Kommandeur seiner Eskorte, und unter den acht Soldaten waren fünf, die mit ihm im Karsh gewesen waren. Einige der anderen waren in Ker-en-kar zurückgeblieben, oder bei Oslon in Zifkar, und drei oder vier waren beim Entsatz der belagerten Stadt gefallen, darunter Stelba und Efrim. In einfacher Kleidung, ohne Uniform, Rüstungen oder Rangabzeichen, unterschieden sie sich in nichts von den Tausenden kleinen Banden von Soldaten oder Söldnern, die durch das Gebiet der drei Reiche zogen. Ihr Ritt verlief ereignislos, bis auf einen kurzen Zusammenstoß mit einer Patrouille von Vadul, die sie auf dem Weg zum Wald von Swann beschatteten, da sie sie für Banditen hielten. Nachdem Crispan sich und seine Begleiter identifiziert hatte, tauchten die Männer des Waldes wieder zwischen den Bäumen unter. Nachdem sie den Wald hinter sich hatten, ritten sie in scharfem Tempo über die Ebene, die einmal das Mittlere Reich gewesen war. Die Landschaft zeigte kaum Veränderungen, als sie zu dem Wald ritten, wo Rennar zu Hause war. Crispan mußte ehr lich zugeben, daß auch er nicht genau wußte, wo er sie finden würde, doch er verließ sich auf seine Instinkte. Das ganze Land kam ihm gleichförmig vor, doch fühlte er, daß er genau wußte, wohin er gehen mußte. Und eines Tages wurde das Land plötzlich seltsam vertraut. Es war nicht die Anziehungskraft von Rennars Höhle, die er spürte. Er hatte eher das Gefühl, nach Hause zu kommen, obgleich er dessen nicht ganz sicher war. Der einzige Mensch, der ihm jemals hätte erklären können, woher er gekommen war, hatte sich ständig geweigert, es ihm zu sagen. Aber er mußte sich eingestehen, daß er Bellapon mehr aus Neugier denn aus Interesse gefragt hatte. Doch der ältere Magier hatte ihm stets eine Antwort verweigert und ihn daran erinnert, daß im Orden die Vergangenheit nicht zählte. „Im Orden sind wir der Ansieht, daß das, was du einmal warst, endgültig tot ist; das einzige, was zählt, ist, wohin du von hier aus gehst. “ Also hatte Crispan die Sache fallen gelassen und vergessen. Doch jetzt, auf dem Weg zu Rennar, spürte er, daß er sich seiner alten Heimat näherte. Trotz der Gleichförmigkeit der Land schaft, durch die sie bisher geritten waren, und dieser Hügel, Täler und Bäche, übte alles eine seltsame Anziehungskraft auf ihn aus. Gegen Abend, ein paar Tage später, ritt Analdo ein Stück voraus und meldete, daß sie sich einem Dorf näherten, in dem es auch eine Herberge gäbe. „Wollen wir dort über Nacht bleiben?“ fragte Portar erwartungsvoll. Crispan zögerte. Er nahm den Helm ab und ließ den Wind durch sein braunes Haar wehen. „Nein. Ich will sie vorher sehen.“ „Sie ist völlig sicher, Lord“, sagte Analdo eifrig. „Ich habe das überprüft.“ Doch der Magier blieb dabei, die Herberge vorher sehen zu wollen. Sie erreichten einen Punkt, von dem sie das Dorf und die Herberge erblicken konnten, wenn auch nur aus einiger Entfernung. Crispan starrte lange zu ihr hinüber. Bei der Ent fernung und dem schwachen Licht konnte er nicht sicher sein, aber dennoch... Portar wurde ungeduldig, er sehnte sich nach dem weichen Bett und dem Essen, die dort lockten. „Nun, Lord?“ „Nein. Wir werden heute nacht hier lagern. Doch ich möchte, daß du zwei oder drei Männer in die Herberge schickst. Sie sollen sich dort alles genau ansehen und mir morgen berichten.“ Portars Gesicht verriet seine Verblüffung. „Tu, was ich dir befohlen habe“, sagte Crispan. Der Magier war am nächsten Morgen sehr früh wach. Er ging am Rand der Straße unruhig auf und ab, verzichtete auf den Komfort des Lagerfeuers und wartete auf die Rückkehr der Männer. Nach einer Ewigkeit, wie es ihm vorkam, sah er sie die Straße heraufreiten. Unter den neugierigen
Blicken Portars begann er sie auszufragen. „Wir haben nichts Ungewöhnliches feststellen können. “ „Wem gehört denn die Herberge?“ fragte Crispan überaus gespannt. „Einem Mann und einer Frau. Ein geiziger, alter Knochen. Ich mußte um ein Stück Brot zu meinem Eintopf fast betteln“, sagte Trofan. Portar knurrte unwillig, als von frischem, warmen Essen die Rede war. Crispan überhörte es. „Waren sie allein?“ „Nein. Da waren zwei junge Männer, die ihnen beim Auftragen halfen.“ Crispan lächelte, als er das hörte. Portar blickte ihn nur an und zuckte dann die Schultern. „Laß die Männer aufsatteln, Portar. Wir brechen sofort auf. Ich möchte in einem weiten Bogen um das Dorf herumreiten. “ Sobald er das gesagt hatte, fragte Crispan sich nach dem Grund dafür. Eine zu lange Zeit, erkannte er. Was hätten wir uns nach all diesen Jahren noch zu sagen? Bellapon hatte recht. Mein altes Zuhause ist mir fremd geworden. Die Einsicht schmerzte ein wenig, doch er war entschlossen, einen weiten Bogen um das Dorf zu machen, wenn er auch seine Männer so führte, daß es immer in Sicht blieb. Als sie das Dorf hinter sich gelassen hatten, ritten sie noch ein paar Tage nach Nordwesten. Die Ebene wich einer Hügelland schaft, in deren Täler dichte Wälder standen. Crispan inspizierte jedes dieser Waldstücke von der Kuppe eines nahegelegenen Hügels aus. Doch jedes Mal schüttelte er nach einer Weile den Kopf, und sie ritten weiter, allein von seinem vagen Instinkt geleitet. Portar war beunruhigt, weil sie keine Karte des Gebietes hatten, und Crispan konnte ihm nicht klarmachen, wieso er wußte, wohin sie zu gehen hatten. Er war sich dessen selbst nicht sicher, doch spürte er ein Zerren, das fast physisch war. Manchmal schien dieses Gefühl in seinem Körper zu sitzen, manchmal in seinem Herzen. Von Zeit zu Zeit spürte er dieses seltsame Zerren auch in seinem Kopf, als ob seine magischen Kräfte von einem verwandten Geist angezogen würden. Wenn das stimmen sollte, überlegte er, kann ich Viadur niemals aus eigener Kraft finden, denn seine Kräfte und die meinen sind jetzt ge gensätzlich, und wir stoßen einander über Zeit und Raum hinweg ab. Sie waren seit mehreren Tagen einer Straße gefolgt, abwechselnd auf ihr geritten oder querfeldein galoppiert, damit Crispan sich von einer Hügelkuppe aus umsehen und orientieren konnte. Und dann, plötzlich, wußte er, daß sie ihrem Ziel nahe waren. „Der Wald dort unten“, sagte er und deutete von einem Hüge l hinab. „Bist du sicher?“ fragte Portar. Crispan zögerte. „Nein, ich bin nicht sicher. Aber sie muß hier in der Nähe wohnen. Ich werde sie morgen suchen. Doch vorher müssen wir uns ausruhen. Ein Stück zurück war ein Dorf. Gab es dort eine Herberge?“ „Ja“, knurrte Portar, als er daran dachte, was geschehen war, als sie zum letzten Mal an einem Dorf mit einer Herberge vorbeigekommen waren. Nachdem Crispan seinen Plan erklärt hatte, teilte er die Männer in drei Gruppen, die dann nacheinander ins Dorf ritten und dort keinerlei Notiz voneinander nahmen. So verbrachten sie einige Zeit beim Essen und vor dem Kamin und gingen dann in ihre Zimmer. Crispan war seit dem Tag, an dem Bellapon ihn aus dem Haus seiner Eltern geholt hatte, nie wieder in einem Gasthof gewesen. Bis tief in die Nacht lag er wach in seinem Bett, roch die vertrauten Gerüche und erinnerte sich an seine lange zurückliegende Kindheit. Irgendwann glitt er aus Nachdenken und Erinnerung in den Schlaf, und aus der Nacht wurde Morgen. Crispan und Trofan standen als erste auf und waren bereit zum Aufbruch, als Portar und drei andere herunterkamen. Wie Crispan es geplant hatte, ritten er und Trofan allein zu dem Wald, in dem er Rennar vermutete. Portar und seine Gruppe sollten am Waldrand mit Trofar zusammentreffen, wenn der Magier allein weiterritt, um die Hexe zu suchen. Die anderen vier sollten in dem besten Horchposten dieser oder jeder anderen Gegend Wache halten: in der Herberge.
XXIII Rennar Crispan lächelte in das warme Sonnenlicht, als sie auf den Wald zuritten. Der Frühling hatte den Winter endgültig besiegt, und er ritt ohne Helm, damit sein Haar vom Wind zerzaust werden konnte. Der Wald war nicht weit vom Dorf entfernt, und der Gesang der Vögel wurde vom Wind zu ihnen getragen. Sie ritten nach Norden, schneller als Menschen, die viel Zeit hatten, doch nicht so schnell, um einen zufälligen Beobachter mißtrauisch zu machen. Die Straße schlängelte sich wie ein loses Tau durch die immer hügeliger werdende Landschaft. Sie befanden sich in den Hügeln, zwischen denen Rennar zu Hause war. Crispan zügelte sein Pferd zum Schrittempo, um feststellen zu können, welches der dichten, doch voneinander getrennten Waldstücke das ihre war. „Sage mir, Lord, wer ist diese Rennar?“ „Eine mächtige Frau, vielleicht die beste Hexe aller drei Reiche.“ Trofan blickte Crispan verwundert an. „Warum nennst du sie eine Hexe, wie in den Kindermärchen, und nicht eine Magierin?“ Crispan lachte amüsiert, erklärte Trofan dann jedoch den Unterschied, so wie Bellapon ihn einst ihm erklärt hatte. Sie ritten weiter, und Crispan versuchte, Trofan so weit wie möglich die einzelnen Titel der Künste zu erklären. Es war so kompliziert, daß Trofan sogar zu fragen vergaß, warum es so wichtig war, die berühmte Hexe Rennar aufzusuchen. Eine ganze Weile ritten sie am Südrand des Waldes entlang, den Crispan ausgewählt hatte. Es war das größte zusammenhängende Waldstück in diesem Bezirk, das sein Tal völlig aus füllte und sogar noch die umliegenden Hügel hinaufkroch. Crispan zügelte sein Pferd und suchte die richtige Stelle in der dichten Wand von Bäumen und Unterholz. Immer wieder starrte er angespannt in die grüne Mauer und lauschte. „Hier dringen wir ein. “ Trofan lenkte bereits sein Pferd auf den Wald zu, als der Magier ihn zurückrief. „Warte“, sagte er in einem ominösen Flüsterton. „Wir wollen vorher nachsehen, ob wir nicht verfolgt oder beobachtet werden. “ Sie blickten die Straße hinauf und hinab, sie beobachteten die Hänge der Hügel, doch sie entdeckten niemand; nirgends konnten sie eine Waffe im Sonnenlicht aufblitzen, nirgends eine verräterische Staubwolke sehen. Befriedigt ritt Crispan auf die grüne Mauer des Waldes zu. Sie waren nur ein kleines Stück im Schutz der Bäume geritten, als Crispan sein Pferd anhielt und zu seinem Begleiter sagte: „Hier müssen wir uns trennen. Behalte die Straße und die ganze Umgebung sorgfältig im Auge. Portar wird dich schon finden. Gehe auf keinen Fall näher an die Straße heran, damit man dich nicht entdeckt. Von hier aus kannst du alles sehen, ohne selbst gesehen zu werden. Ich hoffe, morgen oder übermorgen zurück zu sein.“ Trofan nickte und stieg ab. Nachdem er sein Pferd an einem Baum festgebunden hatte, sah er sich nach einem bequemen Beobachtungsplatz um und setzte sich in eine Mulde zwischen zwei dicken Baumwurzeln, die mit Gras und Moos bewachsen war. Dann blickte er dem Magier nach, der zwischen den Bäumen verschwand. Crispans Weg schlängelte sich zwischen den dicken, dunklen Baumstämmen hindurch wie ein Faden, der durch ein kompliziertes Labyrinth gewoben wird. Er war glücklich, in der Ruhe des Waldes allein zu sei, die hohen Baumstämme anzublicken, an denen er vorbeiritt, ab und zu in die breiten, grünen Kronen hinaufzusehen und sich an dem Moosbewuchs der Bäume zu orientieren. Er genoß den einsamen Ritt, hoffte jedoch gleichzeitig, daß er bald vor der Höhle Rennars enden würde. Aus dem Vormittag wurde Nachmittag, und der Wald blieb unverändert, ohne Zeichen von Leben. Aus Glücksgefühl und Zufriedenheit wurden Zweifel und Besorgnis. Vielleicht ist dies doch nicht der richtige Wald, überlegte er, oder ich bin an der falschen Stelle hineingeritten. Aber nein, ich habe genau gefühlt, daß ich auf dem richtigen Weg war. Vielleicht habe ich
zwischen den Bäumen die Richtung verloren. Er blickte auf, um nach der Sonne zu sehen, doch die war jetzt hinter dichten Wolken versteckt. Nur das Moos an den Bäumen gab ihm etwas Sicherheit. Doch die Zweifel blieben, als er sein Pferd einen immer steiler werdenden Hang hinauflenkte. Er hatte die Senke verlassen, und es wurde Abend. Eine kalte Brise ließ die Blätter rascheln. Zu spät, um umzukehren, überlegte er. Ich werde weiterreiten, bis es völlig dunkel geworden ist, und dann lagern. Wenn ich sie morgen nicht finde... Seine Gedanken verloren sich in der zunehmenden Dunkelheit. Trotzdem es Frühling war, wurde es zur Nacht eisig kalt im Wald; die Kälte wurde vom Wind zwischen den Bäumen hindurchgepeitscht. Crispan sah sich verzweifelt nach irgendeinem Richtungshinweis um, und sein Blick fiel auf einen Schaft Mondlicht, der direkt voraus auf den Waldboden fiel. Aber es kann kein Mondlicht geben, überlegte er, es sind zu viele Wolken am Himmel. Erleichterung und Mißtrauen stritten in ihm, als er auf den Lichtfleck zuritt. Das Licht schien zu flackern und zu tanzen, doch Crispan erkannte bald, daß dieser Effekt nur von den im Wind schwankenden Zweigen der Bäume hervorgerufen wurde. Er sprach ein paar leise, beruhigende Worte zu seinem Pferd, als er abstieg und das Tier am Zügel führend zu Fuß weiterging. Er erreichte eine alte, riesige Ulme, die vor der Lichtquelle stand, trat an den Stamm und blickte um ihn herum. Er entdeckte, daß das Licht von einer kleinen Laterne kam, die über dem Eingang einer kleinen Höhle hing. Crispan trat hinter dem Baum hervor auf die Lichtung, die sich vor dem Höhleneingang befand, und befestigte die Zügel des Pferdes an einem Gebüsch. Dann ging er den steilen Hang hinauf, in dem der Höhleneingang lag. Ein paar Schritte vor der Öffnung blieb er stehen und versuchte hineinzusehen. Die Laterne beleuchtete eine Art natürliches Vorzimmer, das durch einen Vorhang vom Hauptteil der Höhle getrennt war. Noch immer von Unsicherheit und Zweifeln geplagt, atmete er tief durch, trat hinein und zog den Vorhang zur Seite. Die Höhle, entdeckte er, glich dem Inneren eines kleinen Hauses. Mehrere Kerzen, die in Halterungen von der Decke herabhingen, beleuchteten den langgestreckten Raum, doch ihr Rauch ließ ihn düster und trübe wirken. Er wartete, bis seine Augen sich an das Halbdunkel gewö hnt hatten. Es war völlig still in der Höhle, bis auf das leise Prasseln eines Feuers auf einem offenen Herd am anderen Ende des Raums. Schließlich entdeckte er die Gestalt einer Frau hinter den Flammen. Ihr Haar hatte die graue Farbe von Eisen und hing in unordentlichen Strähnen auf ihre Schultern herab. Sonst konnte er kaum etwas von ihr sehen, da ihr ganzer Körper, bis auf die mageren, ledern wirkenden Unterarme und das faltige Gesicht, unter einer weiten, dunkelroten Robe verborgen war. Ihre Augen, die wie glühende Kohlen wirkten, starrten ihn an. Crispan trat in den Lichtkreis des Feuers. „Sei gegrüßt, Rennar. Mögen die Geister deine Kräfte wachsen lassen. “ Es war die übliche Begrüßungsformel für einen anderen Praktiker der Künste. Rennar erwiderte gleichgültig: „Willkommen, Crispan. Ich habe eine Menge über dich gehört und bin überrascht, daß du noch so jung bist. Ich dachte, du wärst etwas älter. Bitte, setz dich. “ Sie deutete auf ein bejahrtes Kissen auf der anderen Seite des Feuers. „Du weißt, wer ich bin?“ „Ich habe dein Kommen seit einiger Zeit vorausgesehen und dich zu diesem Ort geführt. Doch schon bevor ich dein Kommen voraussah, habe ich deinen Namen gehört, und man hat ihn sehr gerühmt.“ „Dein Ruf ist im Orden immer der beste gewesen“, gab er das Kompliment zurück. Sie nickte und reichte ihm einen irdenen Becher. „Magst du etwas?“ Crispan zögerte, da er nicht wußte, was der Becher enthielt und ob er ihr vertrauen konnte, nahm ihn aber dann doch. Er hob ihn an die Lippen und stellte erfreut fest, daß er einen Kräuterabsud enthielt, der ihn sogleich angenehm durchwärmte. „Überrascht, wie?“ Bevor er antworten konnte, fuhr sie fort: „Wir wollen das Versteckspielen
lassen. Wir wissen beide, warum du hier bist, also heraus damit. Aus welchem Grund sollte ich Thurka helfen?“ Er war über ihre Direktheit sowohl erleichtert als auch überrascht. Doch wieder ersparte Rennar ihm eine Antwort. „Will er mich dazu zwingen? Ich bin vom Südlichen Reich bisher immer in Ruhe gelassen worden und habe auch nie gegen ihn gearbeitet. Doch das gleiche gilt auch für den Norden. Warum also sollte ich mich auf seine Seite stellen? “ „Wir wollen dich nicht bitten, dich auf unsere Seite zu stellen“, antwortete er etwas beunruhigt über das vermeintliche Nachlassen ihrer hellseherischen Fähigkeiten. „Unsere einzige Befürchtung ist, daß Zhyjman zu mächtig würde, wenn du dich auf seine Seite stellen solltest.“ Sie blickte ihn an, und er sah in ihren Augen Verwunderung und Überraschung, doch vor allem Verachtung. „Was in aller Welt könnte er mir bieten?“ „Schutz, Unterstützung. Hilfe zur Erweiterung deiner Macht.“ „Bah! Und das ist alles?“ Crispan wußte keine Antwort darauf. Er stellte seinen leeren Becher auf den festgetretenen Boden und blickte auf die zahllosen Nischen, Löcher und Höhlungen, die mit Phiolen und kleinen Krügen gefüllt waren, auf Ritzen und Spalten in den Wänden, aus denen Kräuter wuchsen, die im Dunkel leuchteten. „Und das ist auch alles, was mir deine Seite bieten kann. “ Ihre Stimme klang scharf und trocken. „Diese Krieger verstehen den wahren Wert der Künste nicht und haben keine Ahnung, was wir wirklich suchen. Sieh dich vor, Crispan, daß du nicht einer der Ihren wirst. Ich werde mich, wie immer, heraushalten und mich auf niemandes Seite stellen. Wie beim Orden liegt auch meine Sicherheit in der Neutralität.“ Crispan fühlte sich erleichtert. „Das war alles, um was ich dich bitten wollte, um deine Neutralität. Doch was ist, falls Zhyjman siegen sollte? Er könnte dir deine Neutralität vielleicht übelnehme n. Thurka wird deine Position immer respektieren, aber Zhyjman...“ „Das würde er nicht wagen“, rief sie indigniert. Sie schwiegen eine Weile. Rennar rührte in dem Topf, der auf dem Feuer stand, und Crispan sah sich wieder in der erstaunlich komfortabel eingerichteten Höhle um. Nach einer Weile fragte er: „Hat Viadur dich aufgesucht?“ „Nein.“ „Überhaupt nicht? Und was ist mit Zhyjman? War der hier?“ „Er hat mir kürzlich ein paar kleine Geschenke geschickt. Das ist alles. Aber ich denke, es ist ein Anfang.“ „Dann sage mir eines: Glaubst du, daß Viadur auf der Seite des Nordens steht? Wir haben so etwas gehört, sind aber nicht sicher. “ Crispan suchte jetzt verzweifelt eine Antwort auf diese Frage, und man konnte es ihm anhören. „Man hört so viele Gerüchte und so wenige Wahrheiten. Ich habe sogar gehört, du hättest den Orden verlassen und seist Krieger geworden!“ Crispan lachte darüber, doch Rennar faßte sofort nach: „Warum bist du dann hier, in der Welt?“ „Um gegen Viadur zu kämpfen, wenn er hier ist.“ „Du sagst das wie ein Mann, dem die wirkliche Oberzeugung fehlt. Nimm meine Warnung ernst, Crispan. Du könntest einer der Ihren werden, sie könnten dich zu sich herabziehen. In der Gegend, in der ich aufgewachsen bin, gab es eine Fabel von dem goldenen Bergadler. Er war ein mächtiger und geschickter Jäger und sehr stolz auf sein goldfarbenes Gefieder. Doch der Tag kam, als er zur Jagd hinausflog und keine Beute auf den Berghängen entdecken konnte. Also flog er zu den Wäldern hinunter. Doch auch hier suchte er vergeblich, bis er schließlich müde wurde und sich auf einen niedrigen Ast setzte. Während er dort saß, lief ein Rudel von Wildhunden unter ihm hindurch, und jedes der Tiere trug frisch gefangene Beute in den Fängen, Kaninchen und Eichhörnchen. Der Adler begrüßte sie herzlich. >Guten Morgen. Wie ich sehe, wart ihr schon fleißig. Darf ich fragen, wo ihr alle diese Tiere gefunden habt?“
„Die Wälder sind voll davonKomm und iß mit uns.< Der Adler flog zum Boden hinab und fragte, ob er nicht einmal mit ihnen jagen könne. >Wir jagen morgen wieder. Aber du mußt mithalten können. Heute warst du unser Gast, doch wir füttern keine Versager durch. < Der Adler, der sich auf seine mächtigen Schwingen verließ, sagte, er könne ihnen jederzeit und überallhin folgen. Am nächsten Morgen brachen sie gemeinsam auf. Die Witterung von Kaninchen lag in der Luft, und die Hunde hetzten mit gewaltigem Tempo durch den Wald. Der Adler flog dicht über ihnen, unterhalb der Baumäste. Das Kaninchen, das sie jagten, war jedoch noch schneller als sie, und der Adler streifte bei seinem raschen Flug immer wieder die Äste der Bäume, unter denen er flog. Aus seiner Höhe konnte er das Kaninchen besser sehen als die Hunde und flog noch schneller. Das Kaninchen sprang in einen Bach und schleuderte dem Adler dabei Schaum und Wasser in das Gefieder. Schließlich packte der Adler das Kaninchen mit seinen scharfen, kräftigen Klauen, doch das Gewicht des Tieres zog ihn in das verschmutzte Wasser. Nachdem sie an diesem Abend gegessen hatten, ging der Ad ler an einen Tümpel, um zu trinken, und sah sein Spiegelbild. Sein Gefieder war zerrupft und verschmutzt und mit trocknendem Schlamm, Blättern und Borkenstückchen verklebt. Er erblickte seinen jammervollen Zustand und begann zu weinen. “ Als Rennar mit ihrer Geschichte zu Ende gekommen war, lehnte sie sich zurück und goß aus einem Krug, der über ihr in einer Nische stand, eine nach Gewürzen duftende Flüssigkeit in ihren Becher. Crispan blickte sie eine Weile an, dann begann er im Feuer zu stochern und wechselte das Thema. „Wie ist die Antwort, die ich dem Kaiser überbringen soll?“ „Sage Thurka Re, daß ich weder seinen Feinden noch ihm helfen werde. Ich wünsche ihm Glück. Und du kannst ihm aus richten, daß ich so einen Wunsch nicht an Zhyjman habe übermitteln lassen.“ Crispan verstand, was sie ihm damit sagen wollte, und sah sich nach seinem Mantel um. „Es ist spät geworden, Meister des Ordens, und du könntest dich in den Wäldern verirren. Ich kann dich nicht hinausführen, so wie ich dich hereingeführt habe. Du kannst die Nacht hier verbringen, vor dem warmen Feuer.“ Er lehnte sich zurück und stellte ihr jetzt die Frage, die er ge genüber dem alten Eliborg niemals zu äußern gewagt haben würde. „Was siehst du über den Ausga ng dieses Krieges?“ Er bereute seine Worte, sobald sie heraus waren. Rennar schüttelte langsam den Kopf und wiegte sich vor und zurück, vor und zurück. „Ich weiß
es nicht. Aus Gründen, die ich nicht verstehe, herrscht ein solches Durcheinander auf der Welt. Die Magie ist nicht mehr so wirkungsvoll, wie sie es einmal war und wie sie es sein sollte. Es liegt Schwere in der Luft. Vielleicht ist es irgendein Omen, doch das kann ich nicht sagen.“ Ihre Antwort verstörte und beunruhigte ihn, doch er wußte, daß er nicht hätte gehen können, ohne ihr diese Frage gestellt zu haben. Rennar warf ein paar Holzscheite ins Feuer und zog sich in einen Raum zurück, der tiefer in der Höhle lag. Es war nach Mittag, als Crispan den dichten Wald verließ und auf seine wartende Eskorte zuritt. Erleichtert über seine Rückkehr und die Tatsache, daß sie nun nach Gurdikar zurückreiten konnten, begrüßte ihn Portar voller Wärme. „Ich bin sehr froh, dich zu sehen, Lord. War deine Mission erfolgreich?“ Crispan nickte nur. „Wollen wir dann die heutige Nacht in der Herberge verbringen?“ „Nein“, sagte Crispan und zerschlug damit Portars Hoffnungen. „Wir werden nur kurz haltmachen, um die anderen abzuholen, und dann sofort weiterreiten. Ich habe eine wichtige Nachricht, die ich dem Kaiser sofort überbringen muß.“ Er spürte selbst, wie hohl seine Worte klangen. Ja, er hatte eine Nachricht für den Kaiser, doch sie besagte lediglich, daß er einmal wieder nichts über den Renegaten hatte erfahren können. Die Hoffnungen, die er in seinen Besuch bei Rennar gesetzt hatte, waren erneut quälenden Zweifeln und drückender Unsicherheit gewichen.
XXIV Nachrichten aus dem Norden Die Tage, die Crispans Rückkehr nach Gurdikar folgten, waren eine Wiederholung der Niedergeschlagenheit, die ihn vorher bedrückt hatte. Rennars Warnung lastete schwer auf seinem Gemüt, und er stürzte sich mit doppeltem Eifer wieder in seine Studien. Xirvan hatte ihm aus Kerdineskar einige Bücher ge schickt, und er verbrachte ruhelose Tage und Nächte damit, die Antworten auf Fragen zu suchen, die niemals gestellt werden durften, zu denen es niemals hätte kommen dürfen. Das größte Erfolgserlebnis dieser Zeit war eine gewisse Orientierung in seiner Umgebung. Sehr bald bedeckten Bücher und Schriftrollen und Papiere Boden und Tisch des inneren Raums seines Zelts, und eine eindrucksvolle und ständig wachsende Kollektion von Töpfen und Schalen und Ampullen für seine Tränke und Mixturen. Und doch war all dies auch ein Symptom für seine Hilflosigkeit, denn seine Arbeit machte nur geringe Fortschritte, und er verbrachte die meiste Zeit damit, einfache Beschwörungen und Zaubereien zu wiederholen, die er vor langen Jahren gelernt hatte. Nichts brachte ihn der Lö sung des Problems näher, das Viadur darstellte. Keine Beschwörung und kein Blick in die Zukunft brachte ihm eine Antwort. Es gab auch keinerlei Hinweise in den erlaubten Bü chern und Schriften. Er hatte keinerlei Möglichkeit, seine Fähigkeiten zur Bekämpfung der Nekromantie zu entwickeln und zu schärfen. Mikal verbrachte seine Tage ebenfalls in ermüdender Mono tonie. Die Übungen mit seinen Soldaten wurden zu einem reinen Ritual, und sonst gab es kaum etwas, womit er sich die Zeit vertreiben konnte. Er verbrachte Stunden um Stunden in Crispans Zelt, hockte in einer dunklen Ecke und sah dem Magier bei seinen Experimenten zu. Während Crispan verzweifelt gegen das Unwissen ankämpfte, das vom Orden durch seine strengen Regeln selbst hervorgerufen worden war, versuchte Mikal, gegen das ungute Gefühl anzukämpfen, das Zoltans plötzliche und unerwartete Desertion hinterlassen hatte. Gegen Mittag überquerten sie den kleinen Platz, an dessen anderer Seite die Zelte der Lords standen, und gingen zum Es sen in Mikals Zelt. Die rotverhängten Zeltwände, mit kleinen, ornamentalen Schilden verziert, verliehen ihm eine wohltuend warme Atmosphäre. Käse, Früchte und mehrere Arten von Trockenfleisch füllten die Schalen auf dem runden Tisch im Mittelpunkt der inneren Kammer. Mikal schenkte Crispan und sich Wein ein. Das Licht der Kerzen spiegelte sich in der goldfarbenen Flüssigkeit. Crispan blickte in das unruhige, melancholische Gesicht des Prinzen. „Hast du einmal daran gedacht, für eine Weile nach Kerdineskar zu gehen und dich auszuruhen?“ Mikal blickte über den Rand seines erhobenen Bechers. „Warum? Was gibt es in Kerdineskar?“ „Deine Mutter, zum Beispiel.“ „Die Kaiserin und der Kaiser haben sich schon seit Jahren auseinandergelebt. Und jetzt, da ich zurückgekommen und zu meinem Vater gegangen bin, habe ich damit auch zwischen uns jede Beziehung zerstört, fürchte ich. Warum also sollte ich nach i Kerdineskar gehen?“ „Dort gibt es die Komtesse Celine“, sagte Crispan und schob ein Stück getrocknetes Fleisch in den Mund. „Du hast mit Belka gesprochen, nicht wahr? Oder, richtiger, er mit dir.“ „Sie ist nicht verheiratet.“ „Das liegt alles viele Jahre zurück. Wir sind nicht mehr die selben, weder sie noch ich. Und außerdem kann ich nicht riskieren, so lange von Gurdikar fortzubleiben, wie eine solche Reise dauern würde.“ Crispan lächelte und biß in einen Apfel. „Mikal, ich habe den Eindruck, daß der berühmte Söldnerführer, der Thronerbe des Reiches, tatsächlich Angst hat.“ Etwas verlegen versteckte Mikal sich hinter seinem Weinbecher. Ein Diener trat geräuschlos in
den Raum, als Mikal den Becher mit eine m Zug leerte. Der Diener trat hinter Mikal und flüsterte ihm etwas zu. Mikals Augen weiteten sich. „Er ist zurückgekommen, Crispan! Zoltan ist wieder da!“ Beide Männer sprangen auf und liefen aus dem Zelt. Vor dem Zelt des Kaisers stand der stämmige, rotbärtige Krieger, bewacht von mehreren Soldaten Larcs. Der Herzog grinste triumphierend in die immer größer werdende Menschenmenge. „Du siehst, mein Lord“, rief er Mikal entgegen, „daß meine Soldaten den Deserteur gefangen haben. Er ist zurückgekommen, um bei uns zu spionieren.“ „Nicht so voreilig, Larc“, sagte Mikal, als er sie erreichte und vor ihnen stehen blieb. „Zuerst wollen wir Zoltans Geschichte hören.“ „Du willst dem Wort eines Deserteurs, eines Söldners glauben?“ fragte der Herzog indigniert. „Ich möchte dich daran erinnern, mein lieber Larc, daß auch ich einmal Söldner war und für dich gekämpft habe.“ Thurka trat zwischen sie. „Wir wollen diese Diskussion bitte im Beratungsraum fortsetzen. “ Er wandte sich an den ständig in Reichweite befindlichen Churnir. „Rufe Belka und die anderen Prinzen.“ Zoltan wurde in einen anderen Teil des großen, kaiserlichen Pavillons gebracht, während der Rat zusammentrat. Belka traf als erster ein und setzte sich neben seinen Neffen. „Ist er wirklich zurück? Das ist eine gute Nachricht. “ Mikal zuckte nur die Schultern. Churnir führte die anderen Ratsmitglieder herein, und dann kam Thurka in den Raum. Er setzte sich und achtete dabei ge nau darauf, daß seine schwarze Robe faltenfrei über den Knien lag. Dann gab er Chur nir einen Wink, den Gefangenen hereinzuführen. Zoltan, dessen Gesicht und Kleidung noch die Spuren eines langen, harten Rittes zeigte, stand schweigend vor den Räten des Kaisers. Der Kaiser blickte den massigen, rothaarigen Krieger ein paar Sekunden lang an und seufzte. „Du bist am Rand des Lagers von Patrouillen Larcs entdeckt worden. Die Soldaten behaupten, daß du versucht hättest, dich der Entdeckung zu entziehen und ungesehen ins Lager zu gelangen. Ist das richtig?“ „Ja.“ „Das ist ein fast unwiderlegbarer Beweis für böse Absichten. Kannst du uns eine Erklärung für dein Verhalten geben?“ Bevor Zoltan antworten konnte, sagte sein alter Freund: „Sollten wir ihn nicht seine Geschichte von Anfang an erzählen lassen? Anschließend können wir ihm Fragen stellen. “ Nie mand hatte etwas dagegen einzuwenden, und so winkte Thurka Zoltan zu beginnen. „Ich bin bei Anrehenkar gewesen, meine Lords. “ Larc zischte triumphierend bei diesen Worten, da sie seine Beschuldigungen zu bestätigen schienen. Doch Zoltan ignorierte ihn. „Ich bin zu dieser Stadt geritten, weil ich auf andere Weise keine verläßliche Information über unsere Feinde bekommen konnte. Wir haben hier nur tatenlos herumgesessen und herumgeraten, also habe ich diese Aufgabe selbst übernommen. Ich bin in hartem Tempo durch das Gebiet des Mittleren Reichs geritten und habe mich dem Lager des Feindes während der Nacht genähert. Lord Syman hat ein gutes Gedächtnis und macht gerne kurzen Prozeß; ich hatte die Befürchtung, daß meine Rückkehr nicht sehr willkommen sein würde. Das Lager der Söldner ist erheblich größer, als ich es erwartet hatte, es ist das größte Heerlager, das ich jemals gesehen habe. Seine Armee ist doppelt so stark wie die vor Aishar. “ Mikal blickte ihn überrascht und beunruhigt an und versuchte, sich eine so riesige Horde von Söldnern vorzustellen. „Seine Armee belagert die Stadt, doch scheinen ihre Verteidiger unter Prinz Zascha sich gut zu halten. “ Zaschas Bruder, Prinz Farnar, lächelte befriedigt über diese Mitteilung. „Ich habe jedoch Grund zu der Annahme“, fuhr Zoltan fort und spreizte seine gefesselten Hände, „daß dies nicht Zhyjmans Hauptarmee ist. Ich bin der Ansicht, daß seine Hauptstreitmacht irgendwo im Osten steht, doch darüber sind sich selbst die Leute vor Anrehenkar nicht im klaren.“ „Und wer von den Leuten vor Anrehenkar versieht uns liebenswürdigerweise mit diesen Nachrichten?“ fragte Larc hä misch.
„Ein paar Söldner meiner ehemaligen Truppe und der Mikals. Es ist mir gelungen, diejenigen von ihnen, die uns am ergebensten waren, zu bestechen, und mit ihnen eine kleine Spionagegruppe aufzustellen. Unsere Namen haben in gewissen Kreisen jener Armee noch immer einen guten Klang.“ Jetzt zeigte selbst Thurka einige Skepsis. „Und du hast das alles tun können, ohne entdeckt zu werden?“ „In einem Lager, dessen Truppen eine Stadt belagern, ist das nicht schwer. Ich wartete auf eine stürmische, regnerische Nacht, um mich ins Lager zu schleichen. Mit Mantel und Kapuze sieht ein Soldat wie der andere aus, und mich hat bestimmt niemand dort zu sehen erwartet. Ulham, Rober und zwei oder drei andere sind Mikal und mir nach wie vor ergeben, besonders wegen der schlechten Behandlung, die sie nach unserem Weggang erfahren haben. Syman hat ihnen das Recht verweigert, mit ihm einen neuen Kontrakt auszuhandeln, und sie gegen ihren Willen Viktor unterstellt. Sie sind der Ansicht, daß er damit das Söldner-Gesetz gebrochen hat und sie deshalb frei waren, mit mir zu verhandeln. Wir haben jetzt, zu dieser Stunde, mehrere Spione in dieser Armee und andere, die durch das Mittlere Reich streifen und Nachrichten sammeln.“ „Und trotz dieses Corps treu ergebener Spione kannst du dem Kaiser nicht mehr berichten?“ Larcs Mißtrauen war nicht zu beschwichtigen. Wieder mußte Thurka seinem Alliierten recht geben. „Das stimmt, Zoltan. Hast du keine Nachricht über Kirion? Und was ist mit der Armee, die der Feind zu den Toren entsandt hat?“ „Zu den Toren?“ echote der stämmige Krieger. „Ja, Zoltan“, erklärte Belka. „Oslons Patrouillen bei den Toren wurden von einer starken, von Norden her anrückenden Streitmacht zurückgetrieben. Das ist die dritte Armee, die sie dort aufgestellt haben. Wir haben Ludivo in Ker-en-kar einige Verstärkungen gesandt, und eine dritte Belagerung der Stadt scheint nicht zu befürchten zu sein, da der Feind sich diesmal mit der Besetzung der Tore zufriedenzugeben scheint. Weißt du, was Zhyjman vorhat, Zoltan?“ Zoltan furchte die Stirn. „Nein. Vielleicht will er uns nur in Atem halten. Vielleicht ist Kirion bei jener Armee, doch ich glaube es nicht. Und solange er nicht in Erscheinung tritt, hat Zhyjman seine Hauptstreitmacht noch nicht ins Spiel gebracht. Ich begreife nicht, wie es dem Norden möglich ist, so große Armeen an so vielen Fronten einzusetzen.“ „Bah!“ sagte Larc verächtlich. „Ich sage euch, man hat ihn hergeschickt, um uns durch Lügen irrezuführen und zu schwächen.“ Trotz seiner gefesselten Hände trat Zoltan drohend auf den Herzog zu. Larc sprang auf. Mikal war ebenfalls sofort auf den Beinen, als er den Haß in den Augen der beiden Männer sah. „Zoltan!“ rief er und streckte seinen starken Schwertarm aus. „Dies ist der Arm, der dich bei Balluskar gerettet hat. Reiche mir den Arm, der mich bei Sippian gerettet hat, und schwöre, daß alles, was du gesagt hast, die Wahrheit ist.“ Churnir trat hinter Zoltan und zerschnitt die Fesseln. Der rotbärtige Krieger streckte seinen Arm aus und schwor. „Sein Wort reicht mir, Lords. Ich garantiere für ihn und schwöre vor euch allen, daß ich ihn in dem Fall, daß er falsch geschworen haben sollte, mit diesem Arm töten werde.“ Dagegen konnte niemand etwas einwenden, sehr zum Verdruß des Herzogs von Larc, der die Versammlung sofort verließ. Die anderen drängten sich jedoch um Zoltan und bestürmten ihn mit Fragen. Noch einmal ging er sämtliche Informationen durch, die er hatte. „Syman muß die Belagerung zu Ende führen. Ein Ab bruch des Unternehmens würde seine Truppen demoralisieren. Aber er kann die Stadt nicht einnehmen. In jedem Fall befindet er sich in einer ungewohnten und äußerst unangenehmen Situation. “ Und dann wiederholte er noch einmal, daß er keine Nachricht über Kirion habe und auch nicht wisse, wozu Zhyjman eine Armee bei den Toren stehen habe. Als er Crispans fragenden Blick auf sich ruhen sah, setzte er hinzu: „Und über Viadur gibt es auch keinerlei Nachrichten. “ Doch eine zusätzliche Information hatte er. An den Kaiser gewandt, sagte er: „Dies ist zwar nur ein unbestätigtes Gerücht, doch es wird behauptet, daß Zhyjman nicht in seiner Hauptstadt ist und Mujdhur kürzlich verlassen hat.“
Es war, wie gesagt, nur ein Gerücht, doch Thurka dachte lange darüber nach. Während der ganzen Nacht hielt Mikal seinen Freund mit immer neuen Fragen wach. Wie ein gefangener Falke, der plötzlich in Freiheit gesetzt worden ist, fühlte Mikal sich von der Langeweile des Lagerlebens und den Belastungen, die ihm Rang und Titel auferlegten, befreit. Die Informationen aus dem Söldnerlager erinnerten ihn an lange zurückliegende, glücklichere Tage, und er lauschte begierig auf alle Details, die Zoltan ihm gab, und fragte nach allem, was sein Freund ungesagt ließ. Sie unterhielten sich über Symans vergebliche Jagd nach ihnen, das Schicksal ihrer Soldaten und Diener und, vor allem anderen, über die Belagerung von Anrehenkar. „Wie ich schon sagte, Mikal, hat Syman noch nie eine so starke Armee kommandiert. Sein Lager liegt westlich der Stadt und hat einen Durchmesser von fast sechs Meilen. Die Belagerungsmaschinen stehen wie ein Wald vor den Mauern Anrehenkars, doch es ist ihnen noch nicht gelungen, eine Bresche hineinzuschlagen. Und die Belagerung kostet große Opfer. Pyotir ist gefallen und auch Azjhan, und Grygor wird nie mehr kämpfen können. Aber trotzdem hat sich Syman in die Belage rung verbissen und weigert sich, sie aufzugeben. Ulham sagte mir, daß Syman durch die ganze Angelegenheit zutiefst niedergeschlagen ist, und daß sich auch bei den Truppen Unzufrie denheit ausbreitet. Aber sie sind an ihn gebunden, so wie er an Anrehenkar gebunden ist, bis dieser Krieg beendet ist oder Zhyjman ihnen andere Befehle gibt.“ Mikal lachte kurz auf. „Es sieht aus, als ob unser gerissener Lord Syman endlich beim Aushandeln eines Kontrakts seinen Meister gefunden hat. “ Sie lachten amüsiert, und Mikal reichte seinem Freund die Weinkaraffe. „Es ist schön, daß du wieder da bist, Zoltan.“ „Ja, und es ist gut, wieder hier zu sein. Aber dies ist nicht der richtige Ort, um das zu feiern. Komm, ich kenne ein Haus in Gurdikar, wo es jede Menge Wein gibt - und Frauen. “ Sie lachten noch immer, als sie sich auf ihre Pferde schwangen und zu den engen, gewundenen Gassen Gurdikars ritten.
XXV Ein Buch von Xirvan „Mein lieber Crispan“, begann das kurze Schreiben Xirvans. „Ich habe dieses Buch auf dem Boden einer meiner Kisten entdeckt. Ich kann mich nicht erinnern, wie es dorthin geraten ist, aber es scheint, daß es aus Rhaan-va-Mor kommt, falls man die Eintragung auf der ersten Seite als Hinweis nehmen kann. Doch wer weiß, wie es dorthin gekommen sein mag? Ich habe nur einen flüchtigen Blick hineingeworfen, doch vielleicht kann es dir eine Hilfe sein. Mögen die Geister deine Kräfte ständig mehren.“ Der junge Magier bedankte sich bei dem Boten und wickelte dann den alten Band aus dem Leder, in das er mit großer Sorgfalt eingeschlagen worden war. Sein Dolch, ein Geschenk Belkas, durchtrennte die Schnüre, und dann schlug er vorsichtig das Leder auseinander, bis es flach ausgebreitet auf dem Tisch lag. Auf dem Einband stand in verblaßten Goldbuchstaben der Titel des Buches: Thaumaturgical Demonology and Goety. Crispans Fingerspitzen fuhren behutsam über das rote Leder, das die Seiten des Buches zusammenhielt. Bestimmt hat Viadur es gele sen, überlegte er. Ist dies die Antwort, die ich so lange gesucht habe, oder wird es mich genauso verderben, wie Viadur verdorben worden ist? Seine Finger fuhren noch immer über den Einband und die Goldbuchstaben des Titels. Thaumaturgie - das war Vladurs Kunst. Wie ein Blinder, der nach einem festen Halt an einer steilen Klippe tastet, umschlossen seine Finger die Kante des Buches. Es wurde von einem Lederstreifen mit einem kleinen Schloß zusammengehalten. Er versuchte, es zu öffnen. Vergeblich. Noch einmal - mit demselben Ergebnis. Was würde Eliborg dazu sagen? überlegte er. Ist es ein Omen? Eine ganze Weile dachte er über diese Möglichkeit nach. Dann griff seine Hand, wie von einem eigenen Willen beseelt, nach dem Dolch und durchtrennte den Lederstreifen. Auf der Innenseite des Einbandes stand ein Name, den Crispan kannte, der Name einer berühmten Handelsfamilie in Rhaan-va-Mor, der das Buch von einem ihrer Kapitäne zugeeignet worden war. Der Name des Autors, Feinno aus Uindarh, sagte ihm dagegen nichts. Er schlug die Seite um. Glücklicherweise war das Buch in einer älteren Variante der Umgangssprache geschrieben, so daß Crispan keinerlei Schwierigkeiten hatte, die Einleitung zu lesen. Bei der Reise entlang der unbekannten Straße, die den meisten Menschen versperrt ist, trifft man auf viele Biegungen und Abzweigungen, auf Tore der Möglichkeiten und auf Tore des Grauens. Ich bin durch viele dieser Tore geschritten, ich bin viele dieser Wege gegangen und habe viele neue Tore gefunden und aufgestoßen. Manche von ihnen hätte ich niemals berühren dürfen, andere führten zu großen, neuen Einsichten. Ich habe in diesem Buch meine eigenen Erfahrungen, mein Wissen und meine Experimente beschrieben, damit andere meinem Weg folgen und meine Fehler vermeiden können. Crispan lehnte sich zurück. Eine seltsame Einführung, dachte er. Dieser Feinno aus Uindarh hat vieles gesehen, vor dem er andere warnt. Gleichzeitig jedoch erweckt er einen Funken Hoffnung. Mit plötzlichem Entschluß rief er seinen Diener. „Räume alles von meinem Tisch!“ Lenid, sein Diener, beeilte sich, die ge brauchten Schalen und rußgeschwärzten Töpfe fortzuschaffen. „Es gibt sicher einen Laden in der Stadt, wo man die Dinge kaufen kann, die ich brauche Elixiere, Tränke und so weiter, nicht wahr?“ Lenid nickte. „Gut. Dann wirst du sofort losgehen und einige Dinge für mich einkaufen. Ich brauche neue Feuersteine, feinen und groben Zunder, und... Nein, es ist besser, wenn ich mit dir gehe.“ „Ja, Lord“, sagte Lenid und lächelte über die neue Aktivität seines Herrn. Während der ganzen Zeit, die er in dem Lager vor Gurdikar verbracht hatte, war Crispan nur selten in die hinter grauschwarzen Mauern liegende Stadt gegangen. Die alte Festung, ein Relikt einer älteren Krieger-Ära, hatte nichts zu bieten, das ihn interessieren oder reizen konnte. Trotz
mehrerer Einladungen des Gouverneurs zu Banketten und mehrmaliger Aufforderung Zoltans, ihn zu Genüssen anderer Art zu begleiten, hatte Crispan die Stadt Gurdikar bisher gemieden. „Der Laden, in dem du meine Gefäße und Pulver gekauft hast - gehört er einem ausgebildeten Praktiker der Künste?“ Lenid, der früher ein Diener Xirvans gewesen war, meinte, daß der Besitzer zwar nicht in den Künsten ausgebildet sei, aber eine große Auswahl entsprechender Artikel führe. Sie ritten durch das offene Tor, und Lenid führte seinen Herrn in das Gassengewirr des östlichen Stadtviertels. Die Gassen waren so schmal, daß sie hintereinander reiten mußten und sich oft ducken mußten, um nicht mit dem Kopf gegen überhängende Stockwerke der niedrigen Häuser zu stoßen. Die Geräusche, Gerüche und Bilder, die seine Sinne auffingen, hatten etwas Faszinierendes für Crispan; es war, als ob die neue Hoffnung, die das Buch in ihm erweckt hatte, ihn für die Welt aufnahmebereit gemacht hätte. „Crispan! Crispan!“ Als er eine Stimme seinen Namen rufen hörte, wandte er sich verwundert um. Er blickte nach allen Richtungen auf der Suche nach einem bekannten Gesicht. Und dann entdeckte er Zoltan, dessen breiter Oberkörper aus einem Fenster im oberen Stockwerk eines Hauses lehnte. Er füllte es fast völlig aus, so daß die blonde Frau, die hinter ihm stand und an seinem Arm zerrte, kaum zu sehen war. „Hast du dich endlich doch dazu entschlossen, die Freuden der Stadt mit mir zu teilen?“ rief der ehemalige Söldner. „Komm herauf, sie hat viele willige Freundinnen!“ Crispan lächelte. „Nein, danke, mein Freund. Ich habe Wichtigeres zu tun. “ Er lachte leise, als er Zoltan zuwinkte und erkannte, daß Zoltan niemals ganz begreifen würde, daß Frauen und die Künste miteinander unvereinbar waren. „Aber Crispan!“ rief Zoltan ihm nach. Crispan winkte ihm noch einmal zu und ritt weiter. Der Laden, zu dem Lenid ihn führte, lag in der engsten und dunkelsten Gasse der Stadt. Kaum erkennbar in dem schmalen Haus, das zwischen zwei anderen eingekeilt war, erschien der Laden wie ein nachträglicher Einfall des längst vergessenen Erbauers. Crispans Versuch, einen Blick durch das Ladenfenster zu werfen, wurde durch eine jahrealte Schicht von Schmutz und Staub zunichte gemacht. Lenid winkte ihn zu der schmalen, niedrigen Tür und drückte auf die Klinke. Die Tür gab nicht nach. Er versuchte es noch einmal. Schließlich drückten sie beide mit ihrem ganzen Gewicht gegen die Tür, und sie schwang auf. Der Ladenraum war fast völlig dunkel. Nur eine einzige Kerze verbreitete mattes, gelbliches Licht, das durch Hunderte von Spinnweben gefiltert wurde. Crispan und sein Diener standen im Zentrum des Raums und warteten, daß ihre Augen sich an das Halbdunkel gewöhnten. Plötzlich erschien ein alter Mann und trat händereibend auf sie zu. „Meister?“ fragte er mit einer hohen Fistelstimme. Lenid trat vor, und seine Füße stießen kleine Staubwolken über den Boden. „Mein Herr ist ein Meister der Künste“, sagte er. „Dies ist Lord Crispan.“ Der alte Mann verbeugte sich tief. Die Haare seines schütteren Bartes berührten dabei die Robe, die alt und abgetragen war. „Wie kann ich dir zu Diensten sein, Lord Crispan?“ „Ich brauche einige Pulver und Elixiere und verschiedene Gefäße. Kannst du lesen?“ Der alte Mann nickte. „Hier ist meine Liste. Hast du alles, was ich brauche?“ Der alte Mann runzelte die Stirn, als er Crispans Liste überflog. „Einige dieser Dinge sind ziemlich rar - und teuer. Hm... Odyl-Steine, Moly-Kraut, dunklen Zaubertrank. Ich habe das meiste davon, und für den Rest kann ich dir Gleichwertiges ge ben. “ Er schob seine Kappe zurück und kratzte sich den Kopf. Nach einem nochmaligen Blick auf die Liste begann er durch den Ladenraum zu schlurfen, reckte sich, um etwas von den oberen Regalen zu holen, und kroch unter den Ladentisch, um etwas anderes hervorzukramen. Allmählich entstand auf der Tischplatte eine ansehnliche Kollektion von Krügen und Phio len. „Sage mir“, fragte Crispan den geschäftigen Ladeninhaber, „warst du jemals ein Mitglied des
Ordens?“. Der alte Mann kicherte. „Ha! Des Ordens? Nein. Aber du ge hörst ihm an. Dein Talisman hat es mir verraten, als du hereintratest. Dein Diener hat mir nie gesagt, in wessen Auftrag er all die Dinge bei mir kaufte, doch ich wußte, daß kein lokaler Amateur oder ein Möchtegern-Zauberer diese Mittel gebrauchen oder auch nur kennen konnte. Du bist der Magier des Kaisers, nicht wahr?“ Crispan war von dieser Frage überrascht. Er fühlte sich plötzlich nackt und schutzlos, als ei erkannte, daß seine Anwesenheit beim gewöhnlichen Volk so bekannt war, auch wenn er sich sagte, daß es keinen Grund gab, warum dem nicht so sein sollte, besonders nach seiner Aktion zur Rettung Zifkars. Crispan schluckte. „Ja, der bin ich.“ Der alte Mann schlurfte weiter durch den verstaubten Laden, kicherte und sprach mit sich selbst, während er seine Vorräte durchwühlte, von denen die meisten in dem düsteren Licht und unter einer dicken Staubschicht kaum zu erkennen waren. Schließlich hatte er eine beachtliche Kollektion von Feuersteinen und Gefäßen, feinem und grobem Zunder, Phiolen, Flaschen und Pulvern zusammengetragen. „Ist das alles?“ fragte Crispan. „Alles außer dem Moly-Kraut. Ich könnte vielleicht etwas beschaffen, wenn du mir ein paar Tage Zeit läßt. Wie ich hörte, wird oben im Norden Moly gehortet.“ Crispan blickte ihn an. „Wie bitte? Wer hortet Moly?“ Seine Augen waren hell und aufmerksam, und eine plötzliche Angst krampfte seinen Magen zusammen. Der alte Mann trat einen Schritt zurück, furchtsam, ohne daß er den Grund dafür hätte angeben können. „Das weiß ich nicht, Lord. Wirklich nicht. Ich habe es nur von Händlern gehört, die ich kenne. Sie sagen, daß fast alles Moly im Mittleren Reich und im Norden verschwunden ist. Einer der Händler sagte mir, daß der Kaiser des Nordens riesige Summen für das Kraut zahlt.“ Crispan wollte ihn fragen, warum er das nicht gemeldet habe, ließ es dann jedoch, da er wußte, daß es sinnlos war. „Kannst du mir etwas beschaffen?“ fragte er statt dessen. „Ich kaufe jede Menge, die du kriegen kannst. Ich brauche es, jetzt dringender als zuvor. “ Er gab Lenid einen Wink, die auf der Ladentheke zusammengestellten Sachen einzupacken, und gab dem alten Mann einige Goldstücke. Als Crispan bei der Tür war, wandte er sich noch einmal um. „Noch etwas. Niemand darf wissen, daß ich hier war, und falls es doch jemand erfahren sollte, wirst du ihm nicht sagen, was ich gekauft habe. Außerdem möchte ich, daß du mir alles berichtest, was du von den Händlern in Erfahrung bringen kannst. Man wird dich dafür reich entlohnen. “ Er warf eine Goldmünze durch den dunklen Raum. Der alte Mann fing sie auf, drückte sie an seine Stirn und verneigte sich. Aufgerüttelt durch das Gerücht, das er gehört hatte, arbeitete Crispan bis in die frühen Morgenstunden, studierte das Buch, machte lange Notizen, las bestimmte Passagen noch einmal. Er experimentierte mit Beschwörungen, Bannsprüchen und Zauberformeln, bis sein Tisch und der Boden mit den gebrauchten Schalen und Töpfen vollgestellt war, in denen er die dazu benötigten Elixiere hergestellt hatte. Graue Rauchschleier hingen im Licht der Öllampe. Der scharfe Geruch und der Staub röteten seine Augen, bis er schließlich das Zelt verlassen mußte und in die frische Luft des dämmernden Morgens hinaustrat. Lenid lag zusammengerollt auf seinem Bett in der Vorkammer des Zelts. Crispan gähnte ausgiebig, als er hinaustrat. Die kühle Luft machte seinen Kopf wieder klar. Er rieb sich die Augen, um seine Müdigkeit zu vertreiben. Dunkelblaue und tiefgraue Wolken zogen über den heller werdenden Himmel. Crispan blickte zu ihnen hinauf und dachte an die Rauchwolken in seinem Zelt. Ohne sich dessen bewußt zu werden, begann er langsam durch das schlafende Lager zu schlendern. Es gibt nirgends eine Antwort, dachte er. Nichts von dem, das ich probiert habe, zeigt irgendeine Wirkung. Weder eine Zauberformel noch das Beschwören von Geistern kann gegen Nekromantie aufkommen. Ist es Viadur, der alles Moly aufkauft? Was für Kräfte kann ich anrufen, um den seinen gewachsen zu sein? Er verbarg seine klammen Hände in den Falten der
Robe und schritt gedankenverloren zwischen langen Zeltreihen und erloschenen Feuern entlang. Er erschauerte unter der Kühle dieses Frühlingsmorgens. Seine Gedanken suchten ruhelos nach einer Antwort, nach einem Schimmer von Hoffnung, daß es ein Mittel geben könnte, das ihm beim Kampf gegen den Renegaten helfen würde. Als er schließlich zu seinem eigenen Zelt zurückschlenderte, kam ihm eine Passage aus Feinnos Werk in den Sinn, die sich auf ein Experiment bezog, bei dem er in die Gewalt seines eigenen Bannspruchs geraten war. Ich fühlte, daß die Dämpfe nach mir griffen, schrieb Feinno, ich fühlte meinen Verstand schwinden. Als ich unter den Effekt meines Bannspruchs geriet, sah ich dessen Zauber vor mir wachsen. Er wuchs zuckend und schwankend ins Riesenhafte, bis er den ganzen Raum füllte. Ich konnte sein Wachsen in mir fühlen, während meine Augen ihm zusahen, denn er schien seine Kraft aus der meinen zu saugen, die sie hervorgebracht hatte. Ich war durch die Dämpfe so geschwächt, daß ich nicht fähig war, die Erscheinung zu bannen, Und sie forderte immer mehr meiner schwindenden Kräfte, saugte sie aus, rang mit mir um sie. Hilflos mußte ich zulassen, daß sie zu einem Parasiten wurde, der mich und meine Kräfte immer weiter aufzehrte. Ich weiß nicht, wie lange dieses Ringen andauerte, da ich bei dem scheinbar endlosen Kampf jedes Zeitgefühl verlor. Erst als die Dämpfe sich verzogen und mein Kopf etwas klarer wurde, gelang es mir durch äußerste Konzentration der mir verbliebenen Kräfte, das Phantom zu besiegen. Es war entsetzlich: mein Verstand mußte seine eigene Schöpfung vernichten. Daß es mir gelang, war allein auf meine äußerste Gedankenkonzentration zurückzuführen, die der Erscheinung die Nahrung entzogen hatte, so daß sie verdorrte und erstickte. Ich verbrannte alle Gefäße und Elixiere, die ich in jener Nacht verwendet hatte, und habe diese Beschwörung niemals wiederholt. Crispan ging diese Passage in Gedanken wieder und wieder durch, als er sich auf sein Bett legte und einzuschlafen versuchte. „Diese Worte, diese Worte... “ Es lag etwas in ihnen, das seine Aufmerksamkeit wachrief, doch er konnte nicht sagen, was es war. Irgend etwas zerrte an seinen Gedanken, zog sie auf sich zurück, doch er war zu müde, um es erkennen zu können. Seine Gedanken wanderten von Feinnos Buch zu dem verbotenen Spiel, mit dem er, wie fast alle anderen jungen Adepten des Ordens, seine neu gefundenen Kräfte gemessen hatte, und wieder zurück. Warum mußte er gerade jetzt daran denken? fragte er sich verwundert. Aber er konnte sich auf diese Frage genausowenig konzentrieren wie auf die andere. Völlig erschöpft schlief er schließlich ein.
XXVI Eine schwerwiegende Unterbrechung „Dieser Krieg verwirrt mich“, gab Thurka zu. „Er ist so völlig anders als alle Kriege, die ich kenne. In früherer Zeit versammelten Könige ihre Armeen, ließen sie gegeneinander marschieren und ein paar Schlachten schlagen, tauschten eroberte Gebiete und Gefangene aus und zogen wieder nach Hause. Trotz aller Unsicherheiten hat etwas seltsam Verläßliches in dem Chaos gelegen, ein Fehlen wirklicher Bedrohung, eine Begrenzung der Gefahr. Doch jetzt, jetzt marschieren vier oder fünf Armeen durch das Gebiet von drei Reichen. Ich fürchte, daß dies über meinen Verstand geht, und vielleicht auch über den Zhyjmans. Ich fürchte, das Chaos wird sich immer weiter ausbreiten und die beiden verbliebenen Reiche auffressen.“ Mikal suchte nach Worten, um seinen Vater zu beschwichtigen, konnte jedoch keine finden. Thurka bemerkte es und fragte: „Du machst dir auch Sorgen, nicht wahr?“ „Ja.“ Thurka war erleichtert, als er erkannte, daß seine Befürchtungen nicht grundlos waren, und gleichzeitig beunruhigt über die Sorgen seines Sohnes. „Warum?“ „Weil unsere Feinde sich seltsam verhalten, so ganz gegen ihre Gewohnheiten. Zhyjman, Syman und Kirion - sie wirken wie völlig andere Menschen. Zhyjman ist noch nie so schnell und entschlossen auf sein Ziel losgegangen, und auch nicht so bald nach seiner letzten Eroberung. Wozu diese Eile? Und wo her hat er so viele Soldaten? Wo steckt Kirion? Warum hört man so lange nichts von dem besten Heerführer des Norden? Und Syman: Es sieht ihm so gar nicht ähnlich, sich so lange in eine Belagerung zu verbeißen. Jeder Söldnerführer haßt Belagerungen, weil er weiß, was eine lange und erfolglose Belagerung bei seiner Armee anrichten kann. Sie benehmen sich alle, als ob sie in einen Bann geschlagen wären.“ „Vielleicht hat Viadur eben das mit ihnen getan. “ „Kaum“, sagte Crispan, der gerade ins Zelt trat. „Seine Unauffindbarkeit ist und bleibt das größte Rätsel. Was ist, wenn er überhaupt nicht bei Zhyjman ist? Was dann?“ In seiner Stimme schwang der nun schon bekannte besorgte Unterton mit. „Und deshalb“, sagte der Kaiser offensichtlich resigniert, „sitzen wir hier in Gurdikar und wissen nicht, wer gegen uns steht und was wir tun sollen. Die Initiative bleibt bei unseren Feinden, und sie verhöhnen uns durch ihre Inaktivität.“ „Vielleicht haben wir heute Nachrichten über die Lage. “ Mikal stand auf. „Wir wollen den Rat zusammenrufen und hören, was die anderen erfahren haben.“ Wieder nahmen die Prinzen, Lords und Heerführer ihre Plätze um den langen, mit Karten bedeckten Tisch ein und versuchten, sich für eine Strategie zu entscheiden und nicht nur auf die Initiative der Feinde zu warten. Einer von Zoltans Hauptleuten trat herein, gefolgt von zwei Soldaten, die eine neue Karte brachten, auf der die letzten Informatione n über die Bewegungen von Zhyjmans scheinbar unerschöpflichen Truppen eingetragen waren. Thurka bedeutete dem Hauptmann mit einer müden Geste, seinen Vortrag zu beginnen, und der Mann zog einen langen Dolch aus dem Gürtel und trat vor die Karte. „Lords, dies sind die letzten Meldungen unserer Späher und Patrouillen. Sie haben starke Truppenverbände hier und dort festgestellt. “ Er deutete auf die nun bekannten Flügel von Symans Armee. „Doch wir wissen noch immer nicht, was diese dritte Armee macht, die kürzlich die Außenposten Lord Oslons bei den Toren zurückgetrieben hat. Außerdem ist kürzlich eine große Streitmacht südlich der kyrylischen Grenze aufgetaucht, zur Hälfte aus Kyryl und Nor bestehend, zur Hälfte aus Söldnern, doch Kirion ist auch nicht bei ihr, was bedeutet, daß Zhyjman weitere Reserven zur Verfügung hat, die noch nicht eingesetzt worden sind. Die Streitkräfte sind so
gruppiert, daß sie den gesamten Norden für unsere Patrouillen gesperrt haben. Es wird immer schwerer, Informationen zu bescha ffen. “ Der Hauptmann wandte den Kopf und sah den Magier gespannt vorgebeugt auf seinem Stuhl sitzen. „Und auch über Viadur haben wir nichts erfahren.“ Thurka ließ die Hände in seinen Schoß sinken. „Danke, Hauptmann. Das ist alles. Lord Zoltan kann uns weiterberichten.“ Nachdem die drei Soldaten das Zelt verlassen hatten, wandte sich Lord Gwyn von Perrigar an den Rotbart. „Warum wirft Zhyjman so viele Truppen nach Osten? Was weißt du von der Armee bei den Toren?“ „Sehr wenig. Es ist eine starke Streitmacht von vielleicht fünfzigtausend Mann. Nachdem sie Oslons Außenposten nach Süden abgedrängt haben, sind sie an Ort und Stelle geblieben. Wir hatten einen erneuten Angriff auf Zifkar befürchtet, aber sie sind nicht über das Südtor hinaus vorgestoßen.“ Der Herzog von Larc stand jetzt auf und trat auf die Karte zu. „Seht! Achtet auf die Verteilung von Zhyjmans Truppen: Syman hier bei Anrehenkar, eine Armee in der Nähe von Kyryl, die starke Streitmacht bei den Toren. Wie Lord Gwyn bereits sagte, stehen die meisten Truppen im Osten. Wenn wir jetzt zuschlagen, können wir ihm auch unser Handeln aufzwingen.“ Seine Augen wurden schmal, als er sich für seine neue Strategie erwärmte. „Um das zu erreichen, müssen wir Zhyjman massiv bedrohen. Dadurch, daß der Westen völlig offen ist, selbst wenn seine eigene Armee unter Kirion noch im Norden stehen sollte, können wir gegen Mujdhur vorstoßen und Syman ausflankieren. Zhyjman wird dadurch gezwungen, seine Hauptstadt zu verteidigen, und...“ „Und“, unterbrach Zoltan ironisch, „du kannst dich wieder in deinem Herzogtum niederlassen.“ Ein Ausdruck von Haß trat auf Larcs schmales Gesicht. „Natürlich könnten wir Larc für unsere Ziele gewinnen und als Ba sis verwenden. Die Truppen, die Zhyjman dort haben mag, reichen nicht aus, um mein Volk niederzuhalten und unseren Vormarsch zu stoppen. Wie sollte er sich gegen uns stellen können? “ Aus Zoltans Ironie wurde Verachtung. „Überhaupt nicht“, sagte er. „Aber verrate mir doch, wie wir den Süden verteidigen sollen, wenn wir heimlich durch das Mittlere Reich marschie ren, um dich wieder einzusetzen? Wir können keine so große Armee aufstellen wie er. Und was ist, wenn Syman seine Belagerung aufgibt und uns unterwegs in die linke Flanke fällt? Und selbst, wenn wir mit einer intakten Armee in Larc eintreffen sollten, was passiert, wenn Zhyjman und Kirion uns abschneiden, wenn wir dort oben im Norden sind? Ein prächtiger Plan - zumindest wirst du in Larc sterben können.“ Larcs Gesicht war jetzt ein Vulkan unbeherrschter Haßgefühle. „Was?“ schrie er. „Muß ich mir von einem Söldner Ratschläge in Strategie geben lassen?“ „Zumindest kann ich über meine eigenen Interessen hinaussehen. Geh doch nach Norden, wenn du willst, und laß uns hier über ernsthaftere Dinge reden.“ „Ich brauche mir das nicht von dir bieten zu lassen, du na menloser Bastard!“ „Ich hätte dich töten sollen, als ich damals, in deinem verstunkenen Herzogtum, Gelegenheit dazu hatte. “ Zoltans Hand war an seinem Dolch, und Larc griff nach seinem Schwert. Mikal, Belka und die anderen waren sofort auf den Beinen und versuchten, sie voneinander zu trennen, denn diesmal würde sicher Blut fließen. Belka umspannte Larcs Arme mit seinen riesigen Händen und riß sie ihm auf den Rücken. Als sein Schwert zu Boden klirrte, schrie er: „Ich verlange eine Entschuldigung und daß dieser Hund sofort vor die Tür geschickt wird.“ „Hund?“ schrie Zoltan zurück und versuchte, sich an Mikal vorbeizudrängen. „Ich werde dich...“ Mikal drängte seine Brust vor den Dolch seines Freundes. „Zoltan! Nein!“ Jetzt stand auch der Kaiser zwischen den beiden Männern. „Larc, ich habe dich bereits mehrmals gewarnt. Zoltan ist jetzt ein Vertrauter meines Hauses und ein zuverlässiger Kommandeur meiner Patrouillen. Du wirst dich beherrschen, oder ich schicke dich nach Kerdine skar. Und du, Zoltan, wirst nie wieder einen meiner Verbündeten, Lords oder Heerführer bedrohen.“
Beide Männer standen völlig reglos, und Thurka sah, daß sie einander noch immer voller Haß anstarrten. „Was soll das?“ sagte er scharf. „Soll Zhyjman uns besiegen, ohne auch nur ge gen uns zu marschieren? Ist das seine Strategie?“ Doch diese Worte zeigten nur wenig Wirkung. Alle Männer standen reglos und wirkten wie Teile eines hektischen Frieses. Der Bann wurde erst gebrochen, als ein junger Mann ins Zelt stürzte und Crispan bei seinem Anblick überrascht ausrief: „Elthwyn!“ Hinter ihm tauchte Churnir auf, packte den jungen Mann und hielt ihn an seiner Robe fest. Der Hauptmann der Leibwache wandte sich entschuldigend an den Kaiser. „Ich bitte um Vergebung, Lord, er ist mit Gewalt...“ „Keine Sorge, Lords“, sagte Crispan. „Er ist einer meiner Schüler. “ Er blickte seinen schluchzenden Adepten an. „Elthwyn, was tust du hier? Was ist geschehen?“ In seiner Stimme schwang eine böse Vorahnung. Elthwyn blickte mit rotge weinten Augen zu seinem Lehrer auf. Von Schluchzen geschüttelt stammelte er: „Meister... sie haben den Orden zerstört!“ Crispan ließ sich auf seinen Stuhl fallen.
XXVII Elthwyns Geschichte Sie brachten Wein, um Elthwyn zu beruhigen, und Crispan schickte Lenid zu seinem Zelt, um Kräuter zu holen, falls man die brauchen sollte. Kurz darauf erstarb das Schluchzen des Adepten, und er blickte wieder zu seinem Lehrer auf. „Wann ist das geschehen?“ fragte Crispan mit belegter Stimme. „Vor so vielen Tagen, wie man braucht, um von den Toren hierher zu reiten, plus vier weitere Tage oder so.“ Mikal zog sich einen Stuhl heran. „Gut“, sagte Crispan ruhig. „Und jetzt berichte uns, was geschehen ist.“ Elthwyn leerte seinen Becher, und während Mikal ihm nachschenkte, begann er seine Geschichte. „Nachdem du den Orden verlassen hast, ging das Leben bei uns seinen ganz normalen Gang. Wir hörten nur sehr wenig von dir oder über dich, aber sonst änderte sich nichts. Wie ich von einer Sitzung der Meister hörte, war man sehr zufrieden mit der Lösung, die es erlaubte, dem Süden zu helfen, ohne das Prinzip der Neutralität des Ordens zu gefährden. Das war, nachdem wir ein paar vage Geschichten über Kämpfe bei Zifkar gehört hatten. Ich glaube, ich war es, der herausfand, was wirklich geschah. Ich befand mich im Hof und teilte einigen Novizen ihre Tagesaufgaben zu, als ich über mir Flügelschlag hörte. Ich blickte auf und sah Gorhams Raben, seinen Vertrauten, der zum Südturm flog, zu Gorhams Zimmerfenster. Natürlich habe ich zu diesem Zeitpunkt keinen zweiten Gedanken daran verschwendet, doch kurz darauf sah ich Gorham von den Lagerräumen zur Halle gehen, und er hatte seinen Raben bei sich. Auch darüber habe ich mich nicht sofort gewundert, sondern erst später, als ich ihm auf dem Korridor in der Nähe seiner Räume begegnete. Zu diesem Zeitpunkt, als ich ihm auf dem Korridor begegne te, fiel mir ein, daß ich seinen Raben zweimal gesehen hatte, doch nicht bemerkt hatte, daß Gorham das Ordensgebäude betreten hatte, um ihn zu holen. Aber trotzdem war ich mir meiner nicht sicher, und wegen dieser dummen Verzögerung habe ich den Orden zum Untergang verurteilt.“ Elthwyn begann wieder zu schluchzen; Crispan klopfte ihm beruhigend auf die Schulter und bat ihn, weiterzuberichten. “Am nächsten Morgen war ich früh unterwegs. Ich mußte zum äußeren Tor reiten. Auf dem Weg dorthin sah ich den Ra ben wieder über mich hinwegfliegen, ebenfalls in Richtung Westen, doch am Abend, als ich zurückkehrte, saß er auf Gorhains Schulter. Den ganzen folgenden Tag über versuchte ich Gorhams Fenster im Auge zu behalten, doch kein Rabe kehrte von jenseits der Berge zurück - trotzdem sah ich Gorham niemals ohne seinen Vertrauten. Das war auch am nächsten Tag so und am übernächsten. Doch zwei Tage darauf war ich sicher, einen Raben über den Hof fliegen und in Gorhams Fenster verschwinden zu sehen, einen Raben, der vermeintlich die ganze Zeit über im Orden gewesen war. In dieser Nacht beobachtete ich wieder und sah den Knaben fortfliegen und nicht zurückkehren. Ich wachte weiter, so weit es Ring, ohne ihn mein Mißtrauen merken zu lassen, und ich wagte noch immer nicht, einen Meister vielleicht ungerechtfertigt zu beschuldigen. Doch am frühen Morgen des dritten Tages danach sah ich ihn wieder zurückkommen. Gorham war an jenem Vormittag beschäftigt, wie ich wußte; er hatte Schülern eine Vorlesung über magische Kräuter zu halten Ich warf einen Blick in das Unterrichtszimmer, um mich zu versichern, daß er seinen Vertrauten bei sich hatte, und als ich mich davon überzeugt hatte, ging ich sofort zu seinen Räumen. Als Adept hatte ich keine Schwierigkeiten, mir einen Satz Schlüssel zu besorgen, und nachdem ich mich umgesehen hatte und wußte, daß niemand auf dem Korridor war, trat ich in seine Räume.
Gorhams Vorzimmer war fast kahl und hatte ein winziges Fenster; es war nicht das, durch den ich den Raben ein- und ausfliegen gesehen hatte. Der benachbarte Raum, sein Studierzimmer, war natürlich mit Büchern und Arbeitsgerät gefüllt. Ich blickte einmal umher, konnte jedoch nichts entdecken als einen Stand, auf dem der Rabe hockte, wenn Gorham in seinem Zimmer arbeitete... Dann trat ich in seinen Schlafraum, und dort sah ich wie vermutet den Käfig des Raben. Doch er war leer, und Gorham hatte einen Raben bei sich im Unterrichtsraum. Ich streckte den Kopf aus dem Fenster und erkannte, daß dies das Fenster war, durch das ich den Vogel ein- und ausfliegen gesehen hatte. Ich ging ins Studierzimmer zurück und blickte hinter die Bücherreihen, um zu sehen, ob dort vielleicht ein zweiter Käfig war, konnte jedoch keinen entdecken. Ich ging wieder ins Schlafzimmer und blickte noch einmal aus dem Fenster. Beim Hinauslehnen griff ich haltsuchend an der Wand entlang. Das unterste Paneel glitt zurück, und ich hörte das unverwechselbare Krächzen eines Raben. Ich trat zurück und drückte gegen die anderen Paneele. Ich weiß nicht mehr, wie viele es waren, doch eins von ihnen gab endlich nach, und auf einer inneren Verlängerung des Fenstersimses saß ein anderer Rabe, ein Stück Papier an den linken Fuß gebunden.“ Elthwyn nahm einen raschen Schluck Wein, um Lippen und Zunge zu befeuchten, und fuhr dann fort: „Ich löste die dünne Lederschnur und rollte den Zettel auseinander. Er trug die Inschrift: Ich kann das Westtor sehen. Meine letzte Nachricht bis zu unserem ‘Wiedersehen. V.“ Crispan schluckte erregt, als er den Buchstaben hörte. „Ich rollte das Papier wieder zusammen und war so damit beschäftigt, es wieder an den Fuß des verdammten Vogels zu binden, daß ich Gorham nicht eintreten hörte. Ich merkte seine Anwesenheit erst, als er dicht hinter mir stand und sagte: >War es interessant, Elthwyn?< Ich stand wie eine Statue und wandte nur meinen Kopf nach ihm. Er stand dicht hinter mir und setzte seinen Raben, den er auf der Schulter trug, auf den Tisch neben dem Bett. >Du hast also mein Geheimnis entdeckt“, sagte er. >Aber darauf kommt es jetzt nicht mehr an. Er ist auf dem Weg hierher, doch ich muß vermeiden, daß die anderen etwas davon erfahren. Noch nicht jetzt. < Seine Hand griff unter die Robe und riß einen Dolch hervor. Ich war halb besinnungslos vor Angst und Verzweiflung. Ich fühlte, daß meine Hand noch immer den rechten Fuß des Raben umklammerte. Ich riß ihn empor und schleuderte ihn Gorham ins Gesicht. Der Vogel schrie und krächzte, als er auf Gorhams Gesicht zuflatterte. Gorham riß
instinktiv die Hände empor, und der Dolch bohrte sich in den Körper des Raben. In diesem Augenblick sprang ich Gorham an und schlug ihn zu Boden. Der andere Rabe flog mir auf den Rücken. Ich packte ihn und schleuderte ihn durch den Raum. Gorham war bewußtlos, oder zumindest schien es mir so, und ich lief durch das Studierzimmer und den Vorraum auf den Korridor. Als mir ein Student entgegenkam, schrie ich ihm zu, Omir zu holen, dann ging ich in Gorhams Räume zurück. Die Tür seines Schlafzimmers war geschlossen, und als ich sie aufdrücken wollte, stellte ich fest, daß er sie von innen verrie gelt hatte. Ich hämmerte gegen sie und warf mich schließlich gegen das Holz. Vergeblich. Dann erinnerte ich mich an den Schlüsselbund, den ich noch immer in der Tasche hatte. Ich fummelte eine Ewigkeit, wie es mir schien, doch dann schnappte das Schloß zurück. Gorham hockte über dem noch lebenden Raben, den ich nur betäubt hatte, und band eine Botschaft an sein Bein. Ich stürzte auf ihn zu, als er den Vogel auf das Fensterbrett hob. Er stieß den Vogel mit seiner rechten Hand an, um ihn zum Fliegen zu bringen, doch ich sah, daß er noch immer benommen war. Ich warf mich durch den Raum und griff nach dem Vogel, als Gorham ihn aus dem Fenster stieß. Sekundenlang trafen sich unsere Hände, und einer von uns, ich glaube, daß ich es war, packte die Krallen des Raben. Wir rangen um ihn, und dabei entglitt er unserem Griff, schlug gegen die Hauswand und stürzte in den Hof. Noch während er fiel, packte Gorham mich an der Kehle. In diesem Augenblick erschien Omir in der Tür. >Gorham!< rief er, und Gorhams Hand gab meinen Hals frei. Ich massierte meine schmerzende Kehle und rang nach Luft. >Was geht hier vor?< fragte Omir. Gorham nutzte den Umstand aus, daß ich noch nach Atem rang, und antwortete sofort. >Omir, ich bin von meinem Vormit tagsunterricht zurückgekommen und fand Elthwyn hier in meinen Räumen herumschnüffeln. Als ich ihn deshalb zur Rede stellte, griff er mich sofort an. Sieh, er hat sogar meinen Vertrauten getötet, als er zu fliehen versuchte. “ Gorham deutete auf den Vogel, den er selbst erstochen hatte. Ich wollte mich empört verteidigen, doch Omir gebot mir durch eine Geste zu schweigen. Er ging in dem Raum umher, blickte den toten Raben an und blieb dann vor mir stehen. >Stimmt das, Elthwyn?< Ich gab zu, in seine Räume eingedrungen zu sein, und bevor ich den Grund dafür angeben konnte, unterbrach mich Gorham und schrie: >Siehst du, er gibt es zu. Ich verlange, daß er festgenommen und gefangengehalten wird. < Während er sprach, trat Gorham zum Fenster, um das noch immer offen stehende Paneel mit seinem Körper zu verdecken. Omir ging wieder langsam durch den Raum und fragte dann leise: >Was meinst du, könnte er hier gesucht haben?< Wieder wollte ich mich verteidigen, doch Omir sagte: >Sei still! Es ist ein schweres Vergehen, wenn ein Schüler in die Räume eines Meisters eindringt und ihn angreift. Du sollst deine Chance haben. Doch jetzt sei still. < Zwei der Adepten, die Omir begleiteten, traten auf mich zu und hielten mich an beiden Armen fest. >Also, Gorham, was hat er hier gesucht?< Gorham tat, als ob er sich das nicht einmal vorstellen könnte. > Woher soll ich das wissen? Ich weiß nur, daß er hier war, als ich hereintrat, und mich sofort angriff. Er hat mich zu Boden geschlagen und ist dann sofort hinausgelaufen. Omir, ich verlange, daß er bestraft wird. < >Ja, jaaber was wollte er hier? Und warum war er es, der mich rufen ließ, und nicht du?< Gorham schien vo n dieser Frage überrascht und versuchte, eine glaubhafte Antwort zu fabrizieren. Er sagte, ich sei wahr scheinlich bemerkt worden, als ich auf den Korridor stürzte, und außerdem habe er zu dem Zeitpunkt halb bewußtlos in seinem Schlafzimmer gelegen. Jetzt schrie ich heraus: >Und warum bin ich dann zurückgekommen?< Die beiden Adepten packten mich fester. Gorham sagte zu Omir: >Er ist natürlich zurückgekommen, um das zu Ende zu bringen, was immer er vorgehabt haben mochte, in der Hoffnung, wieder verschwunden zu sein, bevor du kamst. Vielleicht wollte er mich sogar ermorden, damit es keinen Zeugen gegen ihn gäbe. Glücklicherweise war ich bis dahin wieder etwas bei Sinnen. < Gorham fabrizierte seine Geschichte, und ich mußte schweigend zwischen meinen Wächtern stehen und mir diese gemeinen Lügen anhören.
Doch Omir wirkte alles andere als überzeugt. >Trotzdem hätte ich gewußt, daß Elthwyn mich rufen ließ. Das konnte er nicht verhehlen. Vielleicht sollten wir ihn jetzt darüber selbst reden lassen. < Gorham wurde bleich, nannte mich einen Dieb und Mörder und erinnerte Omir daran, daß ich bereits den größten Teil meiner Schuld zugegeben hätte und sie selbst gesehen hätten, daß ich gegen ihn gekämpft habe. >Ich verlange seine Festnahme, Omir. Von diesem Hund werden wir nie ein wahres Wort hö ren. < >Dann werden wir ihm eine Falle stellen und so die Wahrheit aus ihm herausbekommenSprich, Elthwyn. Was hast du hier getan?< Ich berichtete ihnen von den beiden Raben und dem geheimen Paneel und der Botschaft und daß Gorham und nicht ich den Raben getötet hätte. Gorham stand noch immer vor dem Fenster. Omir forderte ihn durch eine Geste auf, zur Seite zu treten, und da war das offene Paneel. Dann trat Omir ans Fenster und blickte in den Hof hinab. Draußen war es inzwischen bewölkt und dunkel geworden, und ein leichter Regen hatte eingesetzt. Omir befahl einem Adepten, die Leiche des zweiten Raben heraufzubringen. Inzwischen waren auch die anderen Meister hereingetreten, und wir alle warteten darauf, daß Rollin den Raben brachte. Omir stand jetzt im Zentrum des Raums und blickte hin und wieder Gorham an. Ich sah auch in sein Gesicht und bemerkte, daß sein Ausdruck von Selbstgerechtigkeit zu kalter, arroganter Wut gewechselt hatte. Es schien Stunden zu daue rn, bis Rollin zurückkam. Omir winkte die anderen Meister näher heran und befahl einem der Adepten, die Tür des Studierzimmers zu schließen und zu verriegeln, da sich inzwischen andere Adepten und Novizen im Korridor versammelt hatten. Omir nahm Rollin den Raben aus den Händen. Sein zerschmetterter Körper war glänzend schwarz vom Regen. Omir löste die Botschaft von seinem Bein. Die Schrift war vom Regen verwischt, doch noch deutlich zu entziffern. Die Worte lauteten: Bin entdeckt worden. Komme sofort. Omir ließ das Papier bei den anderen Meistern herumreichen und wandte sich Gorham zu. Er stand völlig reglos, lachte jedoch laut auf. >Es kommt nicht mehr darauf an, Omir. Es ist zu spät. Er wird bald hier sein, und ihr könnt nichts tun, um ihn aufzuhalten.< Omirs Gesicht veränderte sich schrecklich. Es wirkte nicht furchtsam, sondern gebrochen. Schließlich sagte er leise: >Wie konntest du, Gorham? Wie konntest du?< Gorhams Stimme war voller arroganter Schärfe. >Ich habe von diesem Vorhaben seit langem gewußt. Aber ich habe ge schwiegen. Ich war von Anfang an überzeugt, daß unser Weg der richtige ist. Wir müssen neue Wege finden. Und er hat mir das Versprechen abgenommen, daß ich, falls er jemals entdeckt und bestraft werden sollte, nicht auch mich in Gefahr bringen würde, indem ich ihn verteidigte. Das war der Zeitpunkt, als er mir die Zwillingsraben gab, damit wir im Fall seiner Entlarvung unauffällig in Verbindung bleiben konnten. Ihr seid zu spät darauf gekommen, ihr alle. “ Er machte eine ausholende Geste, die den ganzen Raum einschloß. O mir stand eine ganze Weile schweigend und schüttelte nur den Kopf; dann befahl er, Gorham in sicheren Gewahrsam zu nehmen, und schickte Rollin los, um alle anderen Adepten und Lehrer in die Haupthalle zu rufen. An diesem Tag traf der erwartete Lebensmitteltransport nicht ein. “ Elthwyn machte eine kurze Pause, aß ein kleines Stück Brot und nahm einen Schluck Wein dazu. Crispan wartete ungeduldig, daß der Schüler seinen Bericht fortsetzte. Der Kaiser, der sich um die Gesundhe it des jungen Mannes Sorgen machte, schlug vor, daß er sich ein paar Stunden ausruhen sollte. Crispan war entsetzt über diesen Gedanken, doch zum Glück bestand Elthwyn darauf, weiterzusprechen. „Wir versammelten uns etwas später in der Haupthalle. Omir berichtete, was vorgefallen war, und sagte dann sehr offen, was zu erwarten stand. >Wir müssen damit rechnen, daß der Renegat hier auftaucht, sicher begleitet von einer starken Armee, um Rache zu suchen. Die jüngeren Schüler und Novizen dürfen nichts davon erfahren; alles soll so normal wie möglich weitergehen. Dies bedeutet eine zusätzliche Aufgabe für euch, Adepten, da ihr dafür verantwortlich seid, die Jüngeren unter Kontrolle zu halten. Wir sind nicht in der Lage, uns gegen Soldaten zu verteidigen, wir haben keinen Ort, an den wir fliehen könnten, und Hilfe wird uns wohl nicht rechtzeitig erreichen. Ich habe die Vorsichtsmaßnahme getroffen, einen Boten zum Kaiser des Südlichen Reiches zu schicken. Mit einigem Glück erfährt er bald von der Gefahr, in der wir uns
befinden. Aber falls Viadur vor ihm hier eintreffen sollte, können wir nur hoffen, daß er sich nur an denen rächen wird, die ihn verurteilt haben, und daß der Orden überlebt. Das ist unsere Hauptaufgabe: das Überleben des Ordens. < Nachdem diese Sitzung vorbei war, blieben die Meister noch zu einer weiteren Besprechung unter sich. Ich weiß nicht, was dort besprochen wurde, doch ich glaube, daß einer der Meister Omir die Schuld an allem gab, da es nicht geschehen wäre, wenn der Hochmeister nicht zugestimmt hätte, dich aus dem Orden in die Welt zu entsenden und damit gegen das Prinzip der Neutralität zu verstoßen. Doch sie stimmten alle zu, als Omir feststellte, daß Vladurs Verbrechen und nicht deine Aufgabe es war, die den Orden in diese Gefahr gebracht hatte, was am schlüssigsten durch die beiden Raben bewiesen würde, die er Gorham schon vor so langer Zeit übergeben habe, da er alles für den Fall seiner Entdeckung vorbereiten wollte. Die Meister waren alle einer Meinung, daß ihnen nichts anderes übrig blieb, als den Fortgang der Dinge abzuwarten. Unsere Lebensmittel trafen auch nicht am nächsten Tag ein und auch nicht am übernächsten. Noch nie hatte sich die Lieferung so sehr verspätet, außer gelegentlich im tiefsten Winter. Zwei Diener wurden zu den Äußeren Toren hinabgeschickt und hätten gegen Sonnenaufgang des folgenden Tages zurück sein müssen, waren es jedoch nicht. Omir entschied, daß es wahrscheinlich sinnlos wäre, weitere Boten zu dir und dem Kaiser zu schicken. Tagelang warteten wir, und es geschah nichts: weder die Le bensmittel trafen ein noch irgendwelche Meldungen, und es gab auch keinerlei Anzeichen einer sich nähernden Armee. Die Belastungen begannen sich jetzt bei allen von uns zu zeigen, die wir versuchten, eine normale Routine aufrechtzuerhalten und gleichzeitig wachsam zu sein. An einem dieser Tage suchte ich Gorham auf, und selbst sein Vertrauen in eine baldige Rettung war ins Wanken geraten. Eines sehr frühen Morgens, etwa sieben oder acht Tage nach der Entdeckung von Gorhams Verrat, kamen sie. Es war noch dunkel draußen, als ich das Klappern vieler Pferdehufe vom Hof hörte. Ich lief über den Korridor in Juzhers Zimmer - er war bereits am Fenster. Soldaten erschienen auf den Mauern, andere hatten bereits das Tor aufgeschwunge n und ließen eine Truppe Reiter in den Hof. Wir liefen instinktiv nach unten zur Haupttür des Gebäudes. Auch andere kamen jetzt aus ihren Zimmern herunter. Manche hielten Fackeln in den Händen. Omir stand aufrecht vor der offenen Tür, Eliborg, Nujhir und Eldwig hinter ihm. Wir hörten die Pferde über das Pflaster des Hofs traben, und dann kam eine Gruppe von Reitern auf uns zu. Einer von ihnen war den anderen etwas voraus und kam als erster in den Lichtkreis der Fackeln. Es war Viadur. Als er sich aus dem Sattel schwang, sagte er: >Guten Morgen, Omir. Diese Soldaten haben den Befehl, jeden Unruhestifter oder Rebellen sofort zu töten, und mir würde es nicht passen, später die Kleinen für eure Dummheit sterben zu lassen. < Er lächelte, als er das sagte! Wir zogen uns also auf unsere Zimmer zurück, und er führte die Meister in Omirs Beratungszimmer. Ich erfuhr später von Eldwig, was dort geschah. Er sagte, daß Viadur sofort den Stuhl des Hochmeisters für sich beanspruchte und Omir einen anderen zuwies. Viadur erklärte, daß Omir für alles, was an
diesem Tag mit dem Orden geschähe, verantwortlich sei, da er sich in die Angelegenheiten der Welt eingemischt habe. Omir erwiderte, daß er in der Tat dafür verantwortlich sei, doch nur deshalb, weil er nicht auf dem durch Gesetz vorge schriebenen Urteil und seiner Vollstreckung bestanden habe, und daß Vladurs Hilfe für Zhyjman unsere Intervention nötig gemacht habe. Nach diesen Worten Omirs stand Viadur auf und beendete die Sitzung - er ging einfach hinaus.“ „Und was geschah dann?“ Crispan saß wieder auf der Stuhlkante. „Das kann ich nicht sagen. Wir mußten alle den ganze n Tag in unseren Zimmern bleiben. Jeder, der auch nur seinen Kopf aus der Tür streckte, riskierte einen Speerstich. Doch während der Nacht gelang es einigen der Tutoren, die am nördlichen Korridor wohnen, zu entweichen und einige der Jungen mitzunehmen. Sie sind in die Berge geflüchtet und wurden nicht verfolgt. Am kommenden Morgen wurden wir in die Große Halle gerufen. Die Meister, die Tutoren und die verbliebenen Adepten waren dort. Viadur stand hinter dem Pult, mit seinem Scha kal Gorham an seiner Seite. Als ich eintrat, zeigte er auf mich, und ich wurde sofort von Wachen zur Wand geführt. Als wir alle versammelt waren, wurden sämtliche Türen geschlossen, und Viadur trat auf uns zu. >Man hat mich schwerer Verbrechen gegen den Orden beschuldigtDabei habe ich nichts weiter getan, als unsere beschränkten Kräfte um einiges erweitert, wofür man mich in ein grausames Exil geschickt hat, gemieden von allen meinen Brüdern. Jetzt bin ich zurückgekehrt, um ausgleichende Gerechtigkeit zu üben. < Seine Stimme klang seltsam, Lords, noch immer kraftvoll, doch er mußte sich anstrengen, sie unter Kontrolle zu halten. Dann sagte er, daß er im Exil den Kaiser des Nördlichen Reiches kennengelernt habe, einen visionären Herrscher, der die Notwendigkeit begriff, neue Wege zu finden, und daß sie gemeinsam diese neuen Wege beschreiten würden, doch vorher müßten einige alte zerstört werden. Bei diesen Worten sprang Omir auf und schrie: >Das kannst du nicht ernst meinen, Viadur! Gestern hast du gesagt, ich allein sei verantwortlich. Wenn du das glaubst, dann bestrafe mich, aber nicht den Orden! Nicht den Orden!< Viadur blickte ihn an, als die Wachen Omir auf seinen Stuhl zurückstießen. >Narr! Glaubst du, daß ich jemals die Absicht hatte, diesen Orden nicht in meine Gewalt zu bekommen? Von dem Moment an, als ich hier zu arbeiten begann, erkannte ich die Notwendigkeit, auf dieses neue Wissen hinzuarbeiten. Ich hatte gehofft, daß ihr auf mich hören würdet, obwohl mir bereits damals Zweifel kamen. Ich war jedoch so gut wie sicher, daß ich einer Entdeckung entgehen könnte und bereit sein würde, bevor ich meinen entscheidenden Zug tat. Aber du, du und deine Lakaien haben diese Hoffnung zerstört. Im Exil habe ich jedoch die Zeit und den Gönner gefunden, die ich braucht e, und jetzt bin ich bereit. Du sollst dafür nicht mit deinem Leben bezahlen, und auch nicht dein junger Lakai, der jetzt draußen in der Welt ist. Ich werde dich hier erledigen und ihn draußen, und dann werde ich einen neuen Orden gründen, der in eine Richtung geht, die ich bestimme. Ich kann dir versichern, daß Zhyjman diesen Krieg durch meine Hilfe gewinnen wird, und dann wird er mir meinen Orden geben. < Seine Stimme hob sich, während er sprach, immer mehr, bis sie fast kreischte. Und dann fiel sie plötzlich wieder, und er befahl, das Hauptgebäude sofort zu räumen.“ Elthwyn senkte den Kopf, da er wieder gegen Tränen und Schluchzen anzukämpfen hatte. „Wir wurden alle hinausge trieben, ich zusammen mit den Meistern. Es war schrecklich, Omir anzusehen. Er war völlig gebrochen. Die anderen versuchten, ihn zu trösten, doch es war vergeblich. Er saß nur da, schüttelte den Kopf und seufzte, als wir alle draußen waren und Vladurs Soldaten Brände legten. Gorham half ihnen dabei, indem er eine Mixtur zubereitete, welche die Mauern einstürzen ließ, wenn sie vom Feuer erwärmt wurden - als wenn sie von Katapulten mit Steinen bombardiert würden. Und wir standen hilflos herum und sahen den Orden abbrennen - die Flammen konnten selbst von einem plötzlich einsetzenden Regen nicht gelöscht werden. Es regnete die ganze Nacht hindurch, und Omir wurde von einem Fieber befallen. Niemand konnte ihm helfen. Gegen Morgen war das Gebäude nur noch eine rauchende Ruine, und als Omir sie im ersten Licht des Tages sah, stöhnte er laut. “ Crispan stand auf und legte einen Arm um Elthwyns Schultern. „Oh, es war entsetzlich. Omir starb kurz darauf, und wir - die
verbliebenen Meister und ich - begruben ihn bei strömendem Regen. Wir verwandten die noch warmen Steine des Ordens, um seinen Körper zu bedecken. Es war schrecklich, und es gab nichts, das wir tun konnten.“ Als Crispan die Geschichte vom Ende des Ordens gehört hatte, fühlte er seine Knie weich werden, ging zu seinem Platz zurück und ließ sich auf den Stuhl fallen. „Wir wurden alle auf dem trümmerübersäten Vorhof zusammengetrieben“, fuhr Elthwyn fort. „Viadur ritt heran und erklärte uns, daß er uns später brauchen würde, uns aber nicht traute. Wir würden deshalb unter Bewachung ins Reich des Nordens gebracht werden und dort so al nge bleiben, bis der Krieg vorüber wäre. Der Marsch war brutal. Es war kalt, und wir bekamen nicht ausreichend zu essen. Die Strapazen zehrten besonders an den älteren Tutoren und den Meistern. Die jungen Novizen, die nickt in die Berge gebracht werden konnten und nicht begriffen, was vorging, begannen zu weinen. Wir versuchten, die kleinsten von ihnen so lange wie möglich zu tragen. Jeder, der zurückblieb, wurde mit Speeren vorangetrieben. Wir mußten alle zu Fuß gehen und mit ihren Pferden Schritt halten. Der arme Nujhir war den Anstrengungen nicht gewachsen und starb am zweiten Tag. Sie haben die Leiche nur an den Straßenrand ge zerrt und dort liegen lassen. Man hat uns nicht erlaubt, ihn zu begraben. Wir durften nicht einmal... “ Das Schluchzen überwältigte ihn. Auch Crispan mußte gegen die Tränen ankämpfen, genau wie die anderen Männer in dem Zelt. Der Magier blinzelte, um sie zurückzuhalten, als er versuchte, Elthwyn zu beruhigen. „Du darfst dich nicht aufregen. Ich verstehe, daß es über deine Kraft geht. Erzähle uns jetzt, wie du ihnen entkommen konntest.“ „Wir waren bereits hinter dem Osttor. Es war früh am Morgen und noch völlig dunkel. Unsere Wachen waren fortgegangen, um das zu holen, was sie unser Frühstück nannten. Ich stand auf und ging zu den Pferden. Sie waren alle aneinandergebunden. Ich suchte eins heraus, das stark und schnell aussah, und löste seine Zügel. Dann sprang ich auf seinen Rücken und ritt in vollem Galopp nach Süden. Ich habe keine richtige Pause zu machen gewagt, bis ich hier eintraf.“ Mikal sagte: „Und man hat dich nicht verfolgt?“ „Wahrscheinlich ja, doch ich muß sie wirklich überrascht ha ben. Und viele der anderen Pferde wurden befreit, als ich das meine nahm. Ich war einfach zu schnell für sie. Niemand hat mich verfolgt, als ich das Südtor passierte.“ „Das Südtor?“ Prinz Belka beugte sich über die Karte. „Aber bist du dort nicht auf Truppen gestoßen, und haben die nicht versucht, dich aufzuhalten? Wir haben erfahren, daß Zhyjman dort Truppen stationiert hat.“ „Ich habe Lagerfeuer an den Hängen der Falchions bemerkt, bin aber in großem Bogen an ihnen vorbeigeritten.“ Thurka sagte: „Wir können später weitersprechen. Churnir, bringe ihn zu Lord Crispans Zelt und sorge dafür, daß er schlafen geht.“ Als Churnir den Adepten hinausbrachte, versammelten die anderen sich wieder um die Karten. Der Kaiser blickte besorgt zu Crispan hinüber. Crispan fing den Blick auf und machte eine beruhigende Handbewegung, um anzudeuten, daß mit ihm alles in Ordnung war. Belka sprach als erster. „Seine Geschichte erklärt zumindest eines: Jetzt wissen wir, warum diese Armee am Südtor stand, ohne wieder Zifkar anzugreifen.“ „Richtig“, sagte sein Neffe. „Sie war eine Deckung für Vladurs Unternehmen gegen den Orden. Und jetzt sind wir sicher, daß Viadur auf selten Zhyjmans steht. Aber was jetzt? Elthwyn sagte, daß Viadur seine Gefangenen nach Norden verschleppt. Was könnte das bedeuten?“ „Nein. “ Crispans Stimme klang belegt. „Elthwyn hat lediglich gesagt, daß sie nach Norden gebracht werden, nicht, daß Viadur ebenfalls nach Norden geht. Nein. Ich kenne Viadur. Er unternimmt nur etwas, wenn er dazu bereit ist oder wenn er dazu gezwungen wird. Elthwyns Flucht war eine rechtzeitige Warnung. Jetzt sind sie zu dem entscheidenden Zug gegen uns bereit, sonst hätte Viadur sich nicht so offen gezeigt. Fragt mich nicht, wo sie zuschlagen werden, denn das weiß ich nicht. Sie haben sämtliche Möglichkeiten. Die Strategie muß ich euch
überlassen. “ Mit diesen Worten sprang er auf und lief aus dem Zelt.
XXVIII Ein verzögerter Aufbruch Crispan lag reglos in seinem Zelt. Er hatte sich die ganze Nacht über nicht gerührt und konnte sich auch nicht erinnern, ge schlafen zu haben. Noch immer stand ihm der entsetzliche Ausdruck auf Elthwyns Gesicht vor Augen, als dieser von der Zerstörung des Ordens durch Viadur berichtete. Er sah Omir, Eldwig und die anderen von Schwertern und Speeren getrieben durch rauchgeschwärzte Korridore hetzen. Ganz egal, woran er zu denken versuchte, seine Gedanken kamen immer wieder zu diesem Punkt zurück. Durch ihren Eingriff in die Angelegenheiten der Welt hatten sie den Orden zerstört. Sie in seiner Trauer klagte er Bellapon, Omir und sich selbst an. Bellapon beschuldigte er dafür, ihn überhaupt zum Orden gebracht zu haben, und Omir dafür, daß er zustimmte, dem Süden zu helfen. „Was ist denn noch geblieben von der Welt, die wir zu erhalten versuchen wollten?“ fragte er halblaut. „Nichts. Ich bin ein Anarchist geworden!“ Plötzlich richtete er sich kerzengerade auf und spürte die Angst, die einen Menschen nur in der einsamen Dunkelheit der Nacht befällt. Sein Herz schlug fast hörbar, als er aufstand und wie in Trance im Zelt hin und her zu gehen begann. Elthwyn schlief tief und fest, noch immer erschöpft von den überstandenen Schrecken und Strapazen. Es gab nur wenig, das er jetzt brauchte, nur ein paar Sachen zum Anziehen, etwas Proviant und - ja, sein Schwert. Zoltan hätte darauf bestanden, daß er es mitnahm. Es gab viele Möglichkeiten, Viadur aufzuhalten. Viadur, Viadur, Viadur! Sein schmales, kantiges Gesicht stand Crispan vor Augen wie ein Fanal des Bösen. Es war bereits später, als er angenommen hatte. Wie lange hatte er in seinem Zelt gelegen? Egal. Crispan trat hinaus, ging zu seinem Pferd und sattelte es, ohne sich dessen recht bewußt zu werden. Er wollte gerade aufsitzen, als Mikal auf ihn zuge laufen kam. „Crispan! Was hast du vor? Wohin willst du?“ rief er zwischen schnellen Atemzügen. Er hatte geahnt und befürchtet, daß der Magier in dieser Nacht etwas unternehmen würde. „Was kann ich schon vorhaben?“ Crispans Stimme klang flach und distanziert. „Ich werde Viadur suchen. Jetzt weiß ich endlich, daß er hier draußen ist.“ „Aber du kannst ihn nicht finden! Nicht allein!“ „Doch, das kann ich, Mikal. Sein Stolz wird ihn dazu bringen, sich von mir finden zu lassen. Zu einer endgültigen Konfrontation. Und das gibt mir die Chance, ihn aufzuhalten. Nur ich bin dazu in der Lage. Und deshalb bin ich schließlich hier.“ „Dann laß ein paar von uns mit dir reiten.“ „Nein!“ Die Augen des Magiers funkelten. „Allein. Ich muß allein gehen. Ihr könnt mir nicht viel helfen, wenn ich dem Re negaten Auge in Auge gegenüberstehe. Und falls ich den Kampf verlieren sollte, braucht man jeden einzelnen von euch, um das Reich gegen sie zu verteidigen. Belka würde sagen, daß ich die erste Schlacht bereits verloren habe, da ich mich dem Feind zu seinen Bedingungen stellen muß. Aber das ist egal“, setzte er hinzu und schwang sich in den Sattel. „Das war von Anfang an so vorbestimmt, und ich kann es nicht ändern.“ Crispan zog an den Zügeln und ritt in einem ruhigen, entschlossenen Tempo an. Mikals Arme hingen resigniert an seinen Seiten herab, als er ihm nachblickte. Dann erinnerte er sich an Zoltans Patrouillen und lief zurück, um einige der Männer dem Magier nachzuschicken. Der Prinz hatte knapp die Hälfte des Weges hinter sich ge bracht, als er die Hufschläge eines galoppierenden Pferdes hörte. Er wandte den Kopf und sah einen von Zoltans Spähern durch das Lager rasen. Mikal lief auf das Zelt seines Vaters zu und erreichte es kurz nach dem Melder. Thurka war bereits auf den Beinen, und Belka war ebenfalls anwesend. Als Mikal hereintrat, sagte Thurka zu dem erschöpften Reiter: „Wiederhole deine Meldung.“ Der Mann fuhr mit der Hand über seine Stirn und atmete tief durch. „Es geht los. Alle Späher
und Patrouillen melden, daß Zhyjmans Armee südwärts marschiert und daß Kirion und Viadur bei ihm sind. “ Jetzt kamen auch der Herzog von Larc und ein sehr verschlafener Zoltan ins Zelt, gefolgt von anderen Lords und Heerführern. Thurkas Finger trommelten nervös auf die Tischplatte. „Bist du ganz sicher?“ „Ja, Lord. Alles deutet darauf hin. Die Armee in den Falchions ist näher zum Südtor gerückt, und Syman hat die Belagerung Anrehenkars endgültig abgebrochen und nur so viele Truppen zurückgelassen, um seinen Abzug zu tarnen und Prinz Zascha dort festzuhalten. Eine unserer Patrouillen von Zifkar hat den Rückzug von Symans Armee bis zum Südtor verfolgt und konnte den Hochpaß über die Falchions erreichen. Von dort aus haben sie eine riesige Armee beobachtet, die parallel zu den Bergzügen in südlicher Richtung vorstieß. Unsere Spione bei Syman sagen, daß auch er nach Süden zieht, und die Späher am Niederen Paß haben sie alle zusammen nach Süden reiten sehen: Zhyjman, Syman, Kirion und Viadur.“ Thurka ging vor dem Tisch auf und ab. „Dann ist es Zeit. “ Er blickte umher. „Wo ist Crispan?“ Mikal machte eine nervöse Handbewegung und wollte antworten, als der Magier hereintrat. „Hier, Lord. “ Mikal blickte sich überrascht um. Als Crispan an dem Prinzen vorbei zur Karte trat, flüsterte er ihm zu: „Ich bin umgekehrt, als ich den Melder sah.“ Belka zog einen Dolch aus dem Gürtel und beugte sich über die Karte. „Wo sind sie zuletzt beobachtet worden?“ Der Melder deutete auf das Gebiet westlich der Falchions. Belka nickte. „Dann ist es ganz einfach. Wir müssen sofort aufbrechen und ihnen entgegenmarschieren. Mit etwas Glück stoßen wir auf sie, bevor sie unser Territorium erreichen. Wir haben vier bis acht Tage, würde ich sagen. Die feindlichen Kräfte sind den unseren erheblich überlegen, doch einen Angriff durch uns werden sie deshalb kaum erwarten.“ Lord Larim, der Kommandeur der Streitkräfte von Ernyr, räusperte sich. „Ist das weise, Prinz Belka? Wie du sagtest, sind uns die feindlichen Armeen zahlenmäßig weit überlegen. Gibt es keine andere Möglichkeit? Vielleicht sollten wir unsere Trup pen auf den Westhängen der Falchions massieren und ihnen in die Flanke fallen. Auf jeden Fall können wir sie nicht durch einen Frontalangriff besiegen.“ Bevor Belka antworten konnte, machte Larc ein Zeichen, daß er reden wollte. Zoltan starrte ihn wütend an. Doch ein Zusammenstoß wurde durch den Mann verhindert, der die Entscheidungsgewalt besaß. Thurka Re hob die Schultern und sagte: „Ich glaube, daß Belka recht hat, Larim. Wir müssen sie angreifen, bevor sie eine feste Schlachtordnung eingenommen haben und auf unseren Angriff vorbereitet sind, und bevor sie Zerstörung und Unzufriedenheit in unserem Land verbreiten können.“ Der Kaiser wollte fortfahren, doch Crispan trat vor und schüttelte den Kopf. „Auf eure Armeen kommt es jetzt nicht an, Lords. Zhyjman unternimmt nur etwas, wenn er seines Sieges sicher ist, und in diesem Fall verläßt er sich dabei auf Viadur. Ich kenne Vladurs Kunst und auch sein Verbrechen, und ich glaube zu wissen, was er euren Feinden zu geben versprochen hat. Marschiert gegen ihn, wenn ihr es wollt, aber erwartet keine Entscheidung, falls es mir nicht gelingt, mit Viadur fertigzuwerden. Zhyjman riskiert diese Schlacht nur in einem Bündnis mit Schwarzer, sündiger Magie. “ Er sagte diese Worte ruhig und sicher, eine einfache Feststellung der Wahrheit vor seinen in die Enge getriebenen Freunden. Er wußte, daß er ihnen die Wahrheit sagen mußte, bevor sie aufbrachen. Nach so vielen Mona ten der Inaktivität verliefen die Vorbereitungen zum Aufbruch langsam und schwerfällig. Es dauerte eine ganze Weile, bis die Armee sich aus dem Lager vor Gurdikar gelöst hatte und ihren Marsch nach Norden begann. Crispans ernüchternde Worte hatten den Prinzen und Lords einen schweren Schock versetzt, der noch anhielt, als sie nordwärts ritten. Sie zeigten nur wenig Enthusiasmus für den bevorstehenden Kampf, eine Stimmungslage, die weniger der Feigheit als vielmehr einem realistischen Pessimismus zuzuschreiben war. Selbst Belka und der sonst immer fröhliche Zoltan waren verschlossen und schweigsam, als die Armee des Südens und ihre Verbündeten nordwärts zogen. Doch am schweigsamsten von allen war Crispan. Sein Gesicht zeigte keinen anderen Ausdruck als den finsterer Entschlossenheit. Er sprach nur, wenn
es unbedingt nötig war. Verstört von der finsteren Stimmung des Magiers, lenkte der Kaiser sein Pferd an die Seite Elthwyns, der als Crispans Assistent mitritt. „Nein“, antwortete der Adept auf eine Frage Thurkas, „ich habe ihn noch nie so erlebt. Aber es gibt sicher keinen Grund zur Sorge. Jetzt weiß er, daß Viadur auf der anderen Seite steht, und hat sein Ziel vor Augen, den Renegaten zu vernichten. Darin ist er unsere einzige Hoffnung. Wir sind nicht mehr als eine Eskorte, die Crispan in die Schlacht begleitet.“ „Und wie wird diese Schlacht sich abspielen? “ fragte Thurka. „Das weiß ich nicht. Ich bezweifle sogar, daß er es schon weiß. Er ist einer der Besten, die der Orden jemals hervorge bracht hat, und doch mag selbst seine Kunst jetzt nicht ausreichen.“ Der Enthusiasmus und der Eifer, mit denen die Truppe des Südens den Krieg begonnen hatten, war längst einer finsteren Entschlossenheit gewichen, hervorgerufen durch die schweren Schlachten, die sie hinter sich hatten, und der noch schwereren, die ihnen jetzt bevorstand. Die Armee des Kaisers des Südens und seiner Verbündeten zog nach Norden, auf die schmale Ebene zu, die zwischen den Falchions und der Inland See lag. Sie waren jetzt seit Tagen unterwegs, und noch immer konnten die Patrouillen, die das vor ihnen liegende Land in einem weiten Kreisbogen absicherten, keine Spur des Feindes finden. Nur das Glänzen der Rüstungen und die vielfarbigen Banner verliehen der schweigend und düster marschierenden Kolonne ein wenig Leben. Belka zuckte hilflos die Schultern. „Ich weiß nicht, was ich daraus machen soll. Seht hier. “ Er deutete auf die Karte, die neben dem Lagerfeuer ausgebreitet lag. „Wir sind nur noch drei Tagesmärsche von Perrigar entfernt, und noch immer keine Spur. Nichts. Nach dem Bericht, den wir in Gurdikar erhielten, hätten wir spätestens gestern auf den Feind stoßen sollen.“ „Glaubst du, daß sie versuchen, uns nach Norden zu locken?“ fragte Mikal. „Nein. Sie haben sich in das Gebiet zwischen den Toren zurückgezogen. Wir beherrschen den Niederen Paß und hier den Zugang nach Perrigar und haben eine so starke Streitmacht, wie wir sie entbehren können, bei Ernyr. “ Belka blickte Zoltan an. Zoltan zuckte die Schultern. „Meine Patrouillen waren völlig sicher. Syman, Kirion, Zhyjman und Viadur. Alle zusammen. Vielleicht hatten sie Schwierigkeiten, die Belagerung von Anrehenkar aufzuheben und ihre Truppen von der Stadt zu lösen. Auch von dort gibt es keine Nachricht.“ Während dieser Diskussion saß Crispan reglos vor dem Feuer und starrte in die Flamme. Er war darauf so konzentriert, daß er nichts merkte, als sich die Mitglieder der fruchtlosen Besprechung erhoben und im Dunkel der Nacht verschwanden. Gespräche über Armeen und Patrouillen hatten für ihn keinerlei Bedeutung mehr. Die Wissen um das, was geschehen war und was ihm noch bevorstehen mochte, isolierte ihn von den Männern, die Konflikte nur in Maßstäben von Waffen und Armeen sahen. Alles, was geschehen war, seit er aus dem Orden in den Süden gekommen war, hatte jetzt jede Bedeutung verloren. Zwei Mitglieder des Ordens würden das Schicksal der drei Reiche nach generationenlangem Chaos entscheiden. Ihr Marschtempo verlangsamte sich am nächsten Tag, damit Zhyjman sie nicht zu weit nach Norden locken und hinter ihnen in ihre Länder eindringen konnte. Crispan teilte diese Sorge jedoch nicht. „Keine Angst, sie sind immer noch vor uns. Viadur ist jetzt ihre stärkste Kraft, und wir werden auf sie stoßen, wenn er zu einer Konfrontation mit uns bereit ist. Er ist irgendwo vor uns und wartet.“ Zum ersten Mal seit Tagen sprach Crispan mit Zoltan. „Was für Nachrichten von den Spähern?“ „Keine.“ Crispan zuckte die Schultern. „Das macht nichts. Wir haben es nicht mehr weit. Ich spüre das. Viadur ist jetzt bereit und sucht mich überall auf der Ebene.“ Zoltan sah ihn ein wenig skeptisch an, da er keinerlei Berichte über feindliche Patrouillentätigkeit erhalten hatte, doch er hatte inzwischen gelernt, die Worte des Magiers nicht in Frage zu stellen.
„Sage Belka, er soll die Marschrichtung etwas nach Norden abweichen lassen. Es handelt sich nur noch um ein paar Tage. “ Damit versank Crispan wieder in Schweigen. Crispan nahm das Vergehen der Tage und die Veränderung der Landschaft, durch die sie ritten, kaum wahr. Er konnte fühlen, daß Viadur ihn suchte, an ihm zerrte, ihn selbstsicher zu ihrer endgültigen Konfrontation nach Norden zog. Tag und Nacht wurden dasselbe für ihn und vergingen, ohne daß er es wahrnahm. Crispans Sinne verengten sich, konzentrierten sich auf einen Punkt, den er nicht sehen konnte, doch zu dem es ihn unwiderstehlich hinzog. Es war, als ob er durch einen endlos langen Tunnel ritte und nur dessen weit entferntes Ende sah, ohne das wahrzunehmen, was links und rechts davon lag. Jetzt drängte es ihn, schneller über die weite Ebene zu reiten, ange zogen von der zwingenden Kraft des Renegaten und dem eigenen Ehrgeiz, seinem ehemaligen Lehrer, der jetzt zu seinem Feind geworden war, endlich gegenüberzutreten. Wie viele Tage vergingen, wurde ihm nicht bewußt. Ein bleierner Herbsthimmel hing über ihnen, als Zoltan, der an der Seite Mikals ritt, sich unruhig im Sattel hin und her bewegte. „Es ist, als ob man blind ritte“, beklagte er sich. „Meine Patrouillen sind uns ständig voraus, doch sie finden nichts, melden nichts. Und doch ziehen wir unentwegt weiter nach Norden. Verdammt! Man könnte aus der Haut fahren. “ „Aber Crispan scheint sich klar zu sein, in welche Richtung wir marschieren müssen.“ „Das stimmt“, nickte Zoltan. „Nur mein Glaube an ihn läßt mich weitermachen. Bei jedem anderen hätte ich sehr starke Zweifel - und würde sie auch laut und deutlich äußern!“ Mikals Augen blinzelten seinen Freund an. „Darüber habe ich nicht die geringsten Zweifel. Nicht die geringsten.“ Zoltan ging nervös neben dem Lagerfeuer auf und ab, wie ein gefangenes Tier, das verzweifelt nach einem Ausweg aus seinem Käfig sucht. „Wie lange noch, Crispan? “ Die Stimme des Kaisers verriet, daß auch er nervös und gereizt war. „Nur noch ein paar Tage. Wie viele genau kann ich auch nicht sagen. Aber Viadur ist hier und ruft mich.“ In der gespannten Atmosphäre war jedes weitere Gespräch unmöglich. Dann wurde die Stille von Lärm und lauten Rufen jenseits der Lichtkreise ihrer Feuer gebrochen. „Was gibt es?“ fragte Belka einen Soldaten der Leibgarde. „Ein Melder, Lord.“ Zoltans Augen begannen bei dieser Nachricht zu funkeln wie die Flammen. Der Mann, den man vor die Lords und Heerführer brachte, bot einen jammervollen Anblick. Er war offensichtlich zu Tode erschöpft und hatte einen harten Ritt hinter sich. Doch was den Männern vor allem auffiel, war der Ausdruck einer überwältigenden, grauenhaften Angst in seinem Gesicht. Thurka ließ sofort Wein für ihn bringen. Der Mann nahm ein paar gierige Schlucke und atmete schwer. Als er sprach, verriet seine Stimme eine Mischung von Horror, Verwirrung und Trauer. „Es war entsetzlich, Lord“, sagte er und begann anscheinend in der Mitte seiner Schilderung. „Wir ritten in zwei Patrouillen-Gruppen von je sechs Mann nach Nordosten. Ulnars Gruppe war der unseren ein Stück voraus. Er ließ für uns eine Botschaft an einem in den Boden gestoche nen Speer zurück, da er wußte, daß wir ihrer Spur folgten. Er befahl uns, nach Osten abzubiegen, zu einem Dorf, das in dieser Richtung lag. Wir folgten seinen Spuren in die angegebene Richtung und gelangten in das Dorf, das jedoch verlassen war, offensichtlich in großer Eile. Möbel waren umgeworfen, Mäntel an den Haken hängengelassen worden - als ob die Leute nicht schnell genug fortkommen konnten. Wir folgten Ulnars Spuren weiter — bis wir zum Friedhof gelangten. Alle Gräber - jedes einzelne von ihnen - waren aufgewühlt und leer. Es lagen viele Skelette herum, doch zumeist von kleinen Kindern, nicht ein einziges von erwachsenen Männern, wie es uns schien. Und der Gestank, Lord. Es war entsetzlich. Selbst unsere Pferde scheuten davor zurück. “ Die Augen des Mannes waren jetzt weit aufgerissen. „Wir ritten sofort weiter und fanden Ulnar und seine Männer - oder das, was von ihnen übrig
war. Sie waren alle tot. Aber sie waren nicht nur getötet worden, man hatte sie abgeschlachtet, ihre Körper verstümmelt. In all meinen Jahren als Soldat habe ich nie solche Wunden gesehen, furchtbare, klaffende Wunden. “ Seine Stimme wurde schrill. „Und ihre Augen - soweit sie noch Augen hatten - zeigten einen Ausdruck unvorstellbaren Grauens. Noch nie habe ich einen solchen Ausdruck von Grauen gesehen. Und nicht ein einziger gefallener Feind in ihrer Nähe oder eine zurückgebliebene Waffe, und nicht die ge ringste Spur von Blut an den Waffen unserer Männer. Ich kannte Ulnar, er wäre nicht gestorben, ohne wenigstens ein paar Feinde mit ins Grab zu nehmen. Doch wir konnten nirgends gefallene Feinde entdecken; da war aber wieder dieser entsetzliche Gestank. Wir glaubten, Hufschlag und das Klirren von Waffen zu hö ren, und folgten dem Geräusch. Ich schwöre dir, Lord, wir sahen nichts, und ich dachte, es sei das beste, sofort zurückzukommen und dir Meldung zu machen, damit wir nicht genauso in einen Hinterhalt gerieten wie Ulnar. “ Er wandte sich dem Magier zu. „Was ist ihnen dort draußen geschehen?“ Alle Augen blickten jetzt Crispan an, der seltsam ernst vor sich hinstarrte. „Es gibt nichts, wovor du Angst haben müßtest“, sagte er schließlich. „Sind die Leute deiner Gruppe auch im Lager?“ Der Mann nickte. „Dann geh zu ihnen.“ Der Mann stand auf und ging. Als er aus dem Lichtkreis des Feuers verschwunden war, wandte sich Crispan an Churnir. „Versuche ihn und die Männer seiner Gruppe zu finden und lasse sie sofort isolieren. Sie dürfen auf keinen Fall die anderen in Panik versetzen, denn genau das will Viadur erreichen.“ „Ist das alles?“ fragte Thurka enttäuscht. „Ja“, sagte Crispan mit einer fast unheimlich ruhigen Stimme. „Es ist eine Warnung Vladurs, eine Warnung, deren Sinn ich verstehe. Wir werden sehr bald auf den Feind stoßen.“ Schon am nächsten Morgen trafen Patrouillen mit der Nachricht ein, die er jetzt erwartete. „Der Feind ist einen Tagesmarsch entfernt“, meldeten sie und deuteten nach Norden. „Das Lager liegt westlich von dem Pfeil und Bogen.“ Mikal preßte die Lider zusammen. „Ich kenne das Gebiet. Wir sollten schnellstens vorrücken und den südlichen Bergkamm besetzen, den man den Bogen nennt.“ „Es gibt keinen Grund zur Eile, Lord“, versicherte der Melder. „Wir konnten nicht sehr nahe an sie herankommen, doch war deutlich zu erkennen, daß sie es sich im Lager bequem ge macht haben und nicht an einen baldigen Aufbruch zu denken scheinen. Es sieht aus, als ob sie dort einfach auf uns warten.“ „Und wie viele Truppen sind dort?“ fragte Belka gespannt. „Weniger, als wir angenommen haben, erheblich viel weniger. Sie sind uns trotzdem zahlenmäßig überlegen, doch längst nicht so sehr, wie wir gefürchtet haben.“ Anstatt die Kommandeure des Südens zu beruhigen, schien diese Nachricht sie noch mehr zu beunruhigen. Sie suchten nach einer Erklärung. War es ein Trick? Wollten die Feinde nur Thurkas Armee hier binden, während ihre Hauptstreitmacht an anderer Stelle vorstieß? Aber wo? Anrehenkar? Die Tore? Zifkar? Ernyr? Vadul? Rhaan-va-Mor? Crispan, der wieder schweigend und tief in Gedanken versunken ein wenig abseits saß, sagte mit der Andeutung eines Lachens in der Stimme: „Nein. Wir haben Zhyjmans Stärke immer überschätzt. Sie liegt allein in Viadur. Wir müssen den südlichen Bergkamm bis morgen abend eingenommen haben. “ Nach diesem Rat stand er auf und ging fort. Den Heerführern blieb keine andere Aufgabe mehr, als die Befehle herauszugeben, um die Armee an den von Crispan bestimmten Ort zu bringen. Die vorrückenden Soldaten des Südens wurden von einer neuen Spannung und Entschlossenheit ergriffen. Die tödlich akkuraten Bogenschützen aus Vadul in ihrer Lederkleidung sangen Lieder von ihrem geliebten Wald. Das Kontingent aus Rhaan- va-Mor konterte mit rauhen SeemannsBalladen; und alles übertönend erklangen die siegesgewissen Kriegslieder der kaiserlichen Armee Thurka Res. Crispan ritt in selbstgewählter Isolierung neben den anderen her und konzentrierte sich auf die
bevorstehenden Tage.
XXIX Der Abend vor der Schlacht Hinter dem südlichen Gebirgszug, der wie ein gewaltiger, nach Norden offener Bogen vor der Ebene lag, lagerte die Armee des Südens in der ungewöhnlich kalten Herbstnacht. Hinter dem Bergkamm lag eine leicht wellige Ebene, in die ein anderer Gebirgszug, der vage Ähnlichkeit mit einem vom Bogen abge schossenen Pfeil aufwies, sich nach Nordwesten erstreckte. Am Westhang des Pfeils und weit in die Ebene hinaus strahlten die Lichtpunkte unzähliger Lagerfeuer von Zhyjmans Armee in das Dunkel der Nacht. Es sah aus, als ob die Sterne vom Himmel herabgefallen wären. Mikal, Zoltan und die anderen Lords und Heerführer ritten zum Kamm des Bogens hinauf und starrten lange und nachdenklich zum Lager ihrer anscheinend völlig sorglosen Feinde hinüber. „Ich habe noch nie eine so starke Streitmacht gesehen“, sagte Mikal, der vorgebeugt auf seinem Pferd saß, die in Panzerhandschuhen steckenden Hände auf den Sattelknopf ge stützt. „Aber wahrscheinlich ist sie nicht stärker als die Symans vor Anrehenkar, wie du sagst.“ Zoltan nahm den Helm ab und kratzte sich den Kopf. „Vielleicht eineinhalb Mal so viele Feuer würde ich sagen. Ich hatte mehr erwartet, aber wir sind trotzdem noch unterlegen. Sie sind etwa doppelt so stark wie wir.“ „Wo sind ihre Patrouillen und Wachen? Ich kann nirgends welche ausmachen. Wenn ich an Kirions Stelle wäre, hätte ich auf jeden Fall diesen Bergkamm besetzt. Es wäre ein großer Vorteil für sie, wenn wir gezwungen gewesen wären, auf der offenen Ebene zu bleiben. “ Belkas strategische Kompetenz empörte sich gegen eine so grobe Leichtfertigkeit. Das unruhige Scharren seines Pferdes erinnerte ihn an die für diese Jahreszeit ungewöhnliche Kälte. „Kommt, wir wollen unten weiterdiskutieren, wo wir dem Wind nicht so ausgesetzt sind.“ Sie ritten zum Fuß des Bergzuges hinab und blieben auf ihren Pferden sitzen. Eine Weile herrschte drückendes Schweigen. Belka blickte seinen Bruder fragend an, und der wandte sich an Crispan. „Was sollen wir tun?“ „Laßt die Zelte aufschlagen und Wachen aufstellen, soweit sie nötig sind. Die Männer sollen sich heute nacht gründlich aus schlafen. Es wird keinen Überraschungsangriff geben, und sie sollen morgen früh frisch und ausgeruht sein.“ Die lapidare Kürze seines Rats verblüffte sie, doch der Kaiser kannte Crispan jetzt so weit, um nicht zu fragen, ob das alles sei. Er fühlte, daß es noch vieles andere gab, vieles, das er niemals begreifen würde, ganz egal, was der morgige Tag bringen sollte. Er wandte sich an den wie immer dienstbereiten Baron Churnir. „Gib die entsprechenden Befehle. Wir wollen essen und dann unsere Pläne für morgen besprechen.“ Aber was für Pläne? fragte Thurka sich. Allein Crispan mochte ahnen, was ihnen bevorstand, und der wollte oder konnte nicht darüber sprechen. Mikal teilte sich in dieser Nacht das Zelt mit seinem alten Waffenbruder, so wie sie es an den Vorabenden vieler Schlachten getan hatten. Sie aßen schweigend und stocherten gedankenverloren in ihrem Essen herum. Schließlich schob Zoltan den Teller zurück und setzte sich auf den Rand seines Feldbettes. Er zog sein riesiges Schwert aus der Scheide, hielt es am ausgestreckten Arm ins Licht der Kerze und betrachtete es kritisch. Dann, wie so oft zuvor, nahm er Wetzstein und Tuch aus seiner Satteltasche und begann, die Klinge zu säubern und zu schärfen. Der Prinz sah dem Ritual zu, das er schon so oft erlebt hatte, und versuchte, das Gefühl von Beunruhigung zu unterdrücken, das er noch nie zuvor verspürt hatte. Wie es unter Kriegern üblich war, hatten sie einander Andenken übergeben für den Fall, daß einer von ihnen den nächsten Tag nicht überleben sollte. Mikal drehte Zoltans Geschenk in den Händen, einen wunderbaren Dolch mit versilberter Klinge und einem Griff aus Goldfiligran. Der Prinz wußte, daß es kein Gelegenheitsge schenk war, denn Zoltan hatte seinen Namen eingravieren, ihn also eigens
für diese Schlacht anfertigen lassen. Offensichtlich erwartete der rotbärtige Krieger für morgen ebenfalls das Schlimmste. In den meisten anderen Zelten war die Situation die gleiche. Die Männer überprüften ihre Waffen, versuchten sich zu beschäftigen und nicht an den kommenden Tag zu denken. PfeilSchäfte wurden untersucht, Bogen neu gespannt, Klingen ge schärft, Schilde überprüft. Vor jeder Schlacht entsteht erneut dieses furchtbare Unsicherheitsgefühl, die Angst, daß man trotz Können und Mut und Vorsicht Unglück haben könnte. In dieser Nacht fühlten die Soldaten der Südlichen Armee es stärker als je zuvor. Immer neue Gerüchte machten die Runde durch das Lager: Zhyjman habe eine riesige Armee aufgestellt; er besäße magische Kräfte, die stärker seien als die jedes anderen Menschen; lediglich ein Bruchteil seiner Streitkräfte stehe ihnen hier gegenüber. Und jedes Gerücht war auf seine eigene Weise sowohl wahr als auch falsch, wie es bei Gerüchten häufig der Fall ist. Die klügeren der Soldaten beschäftigten sich mehr als alle anderen, um nicht nachdenken zu müssen, oder sie flüchteten sich in den Schlaf. Auch der Kaiser litt in dieser Nacht unter der Beunruhigung, die über seiner Armee lag. Unfähig, zu schlafen, verließ er sein Zelt. „Meister?“ „Ja, Elthwyn. “ Crispan erhob sich von seinem Feldbett, als er die Stimme des jungen Adepten hörte. „Komm herein. “ Elthwyn stand in seinen Mantel gewickelt beim Eingang des Zelts und zitterte vor Kälte. „Ich wollte sehen, ob du etwas brauchst.“ Crispan rückte die Kerze etwas näher heran. „Nein, danke. “ Seine Stimme klang ruhig und leise. „Kann ich dir irgendwie helfen? Jetzt - oder morgen?“ „Nein. Ich glaube nicht. Du bist Viadur noch nicht gewachsen. “ Seine Stimme verklang und hinterließ die unausgesprochene Befürchtung, daß auch er ihm vielleicht nicht gewachsen sein könnte. „Morgen wirst du meinen Platz beim Kaiser einnehmen. Der Kampf wird allein zwischen Viadur und mir aus getragen, wie ich hoffe. Du mußt den Kaiser nach besten Kräften beraten. Und wenn es notwendig werden sollte, mußt du mich ersetzen. “ Elthwyn wollte protestieren, doch Crispan brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. „Wir beide wissen, was Viadur getan hat, was er studiert. Wir wissen nicht, wie weit seine Kräfte gewachsen sind. Aber wir sind hier, an einem Ort und zu einer Zeit, die er gewählt hat. Eliborg würde das als ein schlechtes Omen bezeichnen. “ Ein Ausdruck von Schmerz grub sich in sein Gesicht, als er den Namen eines seiner Meister-Kollegen erwähnte. Doch er nahm sich zusammen und stand auf. Er trat zu Elthwyn und legte seinem Schü ler beide Hände auf die Schultern. „Nimm mein Exemplar von The Magickers Elementaries und hebe es für mich auf. Wenn du in dein Zelt zurückgehst, lies die angekreuzte Seite gleich zu Anfang.“ Elthwyn preßte das Buch an sich und verließ das Zelt so eilig, daß er draußen mit dem Kaiser zusammenstieß. „Lord!“ rief er erschrocken und trat einen Schritt zurück. „Wie fühlt er sich?“ „Ruhig, glaube ich. “ „Sage mir, Elthwyn, du kennst in doch recht gut. Weiß er, was uns - oder ihm - morgen bevorstehen wird?“ Der Adept schüttelte den Kopf. „Vielleicht. Aber wenn, so hat er es mir nicht gesagt. Ich glaube, er hat eine gewisse Ahnung, aber wie kann er da sicher sein?“ Thurka zuckte die Schultern unter seinem dicken, schwarzen Mantel. „Du hast recht. Geh jetzt schlafen. Morgen wird ein langer Tag.“ Elthwyn verbeugte sich und wünschte dem Kaiser eine gute Nacht. Als er in sein Zelt zurückgekehrt war, schlug er das dünne, abgegriffene Buch auf. Auf der Innenseite des Einbandes stand der Namenszug Bellapons, auf der nächsten Seite eine Widmung für Crispan. Er fand ohne Mühe die Passage, die Crispan angekreuzt hatte. Der Magier muß vor allem fest an das glauben, was er sich vornimmt. Nur dann kann es ihm gelingen, seine Kräfte von dem, was sein könnte, in das, was ist, zu übertragen.
Er las die Passage zweimal, bevor er einschlief. In Crispans Zelt saß der Kaiser dem Magier gegenüber. Thurka schenkte sich einen halben Becher Wein ein und trank ihn in einem Zug. Dann strich er zögernd mit der Hand über seinen graumelierten Bart. Schließlich sagte er: „Ich mache mir große Sorgen um dich - und um morgen.“ Als ob er die Bemerkung des Kaisers nicht gehört hätte, sprudelten die Worte aus Crispans Mund, und der Schmerz, den er seit Elthwyns Eintreffen mit sich herumgetragen hatte, war unüberhörbar. „Erst jetzt habe ich erkannt, was für Fehler ich in allem, was ich tat, begangen habe. Als ich aus dem Orden kam, war ich nur zu bereit, die Bedingungen, die ich in der Welt vorfand, zu akzeptieren, auf euch Krieger zu hören. Ich zögerte und fürchtete mich, die mir zustehende Rolle zu übernehmen, wartete darauf, daß Viadur sich zeigte, und hoffte im stillen, daß er es nicht tun würde. Ich hätte wissen müssen, daß er ir gendwo dort draußen ist, bei deinen Feinden. Wo sonst hätte er sein können? Was sonst hätte Zhyjmans ungewohnt rasches, entschlossenes Vorgehen erklären können, seine plötzliche Be reitschaft, Risiken auf sich zu nehmen? Statt dessen aber habe ich gewartet. Und jetzt, wo er bereit ist, muß ich mich ihm stellen. Ich hätte mich sofort nach Verlassen des Ordens auf seine Spur setzen sollen. Alles hätte dadurch gerettet werden können... die Leben der Soldaten bei Zifkar und den Toren, und der Orden. Aber statt dessen habe ich versucht, meine Neutralität zu bewahren, indem ich ihn nicht offen suchte, obwohl sie bereits dadurch verletzt worden war, daß ich den Orden verließ, sogar schon durch Vladurs Anwesenheit in der Welt.“ „Aber es wäre doch unmöglich gewesen, ihn zu suchen“, sagte der Kaiser, um den erregten Crispan zu beruhigen. „Wie hättest du ihn finden können? Und selbst, wenn es dir gelungen wäre, hätte er dich nicht an Ort und Stelle getötet - oder dich durch Zhyjman töten lassen?“ Crispan, der auf der Kante seines Feldbettes saß, starrte zu Boden und schüttelte den Kopf. „Du verstehst nicht. Diese Konfrontation war von dem Tag an vorbestimmt, als Viadur bei seinem Verbrechen erwischt wurde. Er hat es seit damals auch gewußt. Deshalb blieb er verborgen und konzentrierte sich auf das Studium seiner verwerflichen Kunst, bis er bereit war. Nein, wenn ich ihn früher gesucht haben würde, hätte ich ihn gefunden. Er wußte, daß er dieser Konfrontation nicht ausweichen konnte, und hätte sie früher oder später selbst gesucht - ich hätte ihn nur eine Weile bedrängen müssen. Sein Stolz, der ihn auch zur Nekromantie getrieben hat, wäre der Hebel gewesen, den ich angesetzt hätte. Er will diese Konfrontation und hat sich lange darauf vorbereitet. Er muß seine völlige Überlegenheit unter Beweis stellen. Das weiß er seit langem. Ich war ein Narr, es nicht erkannt und ihm so viel Zeit gegeben zu haben. Viadur war unsere Schöpfung, unsere Verantwortung. Der Orden hat dafür bezahlt, daß er versucht hat, sich dieser Verantwortung zu entziehen, so wie er versucht hat, sich dem Chaos hier in der Welt zu entziehen. Wir hätten wissen müssen, daß auch dies vorbestimmt war. Unsere privilegierte Stellung hat uns blind gemacht und uns schließlich vernichtet. Ich stehe jetzt allein vor dieser Aufgabe, da es für den Orden zu spät ist und für euch vielleicht ebenfalls.“ Darauf gab es keine Antwort, und eine Weile herrschte Schweigen. Schließlich fragte Thurka Re: „Was sollen wir dann morgen tun?“ „Wir müssen uns auf eine Schlacht vorbereiten. Es wird nicht sofort dazu kommen, und ich hoffe, daß es nie dazu kommt. Halte die Truppen angriffsbereit hinter dem Bergkamm. Ich bin der Meinung, daß sie nicht sehen sollten, was geschieht, ganz egal, wie es ausgehen mag. Und dann können wir nur noch abwarten.“ In Crispans Stimme schien ein neuer Unterton von Hoffnung mitzuschwingen, und der Kaiser richtete sich daran auf. „Dann weißt du also, was er tun wird?“ „Vielleicht. Aber woher kann ich wissen, welche Form seine Nekromant ie annehmen wird? Wie gesagt, wir können nur abwarten.“ Wieder herrschte Schweigen. Thurka suchte nach Worten, um ihm gut zuzureden und sein Selbstvertrauen stärken zu können. Als er sie nicht fand, stellte er seinen Becher auf den Tisch und erhob sich. Crispan folgte dem Kaiser zum Ausgang des Zeltes. Als Thurka ins Dunkel
hinaustrat, wandte er sich um und streckte seine Hand aus. „Schlaf jetzt. Ich glaube an dich und wünsche dir um deinetwillen viel Glück. “ Sein Händedruck war warm und fest. Thurka wandte sich ab und trat in die Nacht hinaus. Crispan ging ins Zelt zurück und setzte sich wieder auf den Bettrand. Sein Blick glitt von einem Gegenstand zum anderen: Tisch, Stuhl, Kerze, Satteltasche, Schwert. Er empfand nichts, er war wie in einem leeren Raum. Er war sich nur bewußt, daß sein Gehirn fieberhaft arbeitete. Er fühlte, daß es unaufhörlich nach etwas Friedlichem suchte, auf das es sich konzentrieren konnte, irgend etwas, in dem es sich ausruhen konnte. Als es von Objekt zu Objekt glitt, von einem Thema zum anderen, unfähig, sich irgendwo niederzulassen, fühlte er seinen Puls schneller schlagen, und sein Gehirn arbeitete noch hektischer. Alles verschwamm vor seinen Augen, seine Gedanken rotierten wie verrückt, sein Atem kam in kurzen, keuchenden Stößen. Jetzt fühlte er das harte Pulsieren seines Blutes in den Schläfen. Alles wurde schwarz, dann zu einem dunklen Grau. Das Pochen in seinen Schläfen sank langsam in die Kehle, und sein Blick wurde allmählich wieder klar. Mit weit geöffnetem Mund atmete er ein paarmal tief durch, bis sein Körper sich wieder etwas beruhigte. Crispan wischte den Schweiß von seiner Stirn. Sogar sein hellbraunes Haar war feucht und strähnig geworden. War es Viadur, der mit ihm gespielt hatte? Nein, wies er den Gedanken sofort zurück. Nachdem er ihn hierhergelockt hatte, würde der Renegat sich mit nicht weniger als einer offenen Konfrontation zufriedengeben. Dessen war Crispan sicher. Nein, es war seine eigene... was? Angst? Unruhe? Schuldgefühl? Ein letztes Suchen nach einer Antwort? Er blies die Kerze aus und ließ die Frage im Raum stehen. Er legte sich auf das Feldbett und zog die Decke über seinen Körper. Er zwang sich dazu, tief und regelmäßig zu atmen, und konzentrierte sich darauf, in seinem Gehirn ein dunkles Vakuum zu schaffen.
XXX Die unsichtbare Schlacht Als Crispan zum Fuß der Bergkette ritt, versuchte er sich zu erinnern, ob er geschlafen oder die Nacht lediglich in einem Zustand wachen Ausruhens verbracht hatte. Er fühlte sich nicht besonders ausgeruht, war jedoch auch nicht müde. Das Lager war bereits zum Leben erwacht. Soldaten hockten um die Feuer, ein Luxus, den man sich am Morgen vor einer Schlacht leistete, wärmten sich auf und kochten ihr Frühstück. Einige von ihnen begannen sich bereits in kleinen Gruppen westlich vom Lager zu sammeln. Speere funkelten im frühen Morgenlicht. Zwischen den Zelten sah man Reiter beim Satteln ihrer Pferde; andere führten sie zu den Sammelplätzen. Flaggen und Banner hingen schlaff an ihren Stangen, da nicht die kleinste Brise wehte. Die Kommandeure hatten sich unter dem mondsichelförmigen Bergrücken versammelt. Kaiser Thurka wirkte sehr prächtig in seiner stählernen Rüstung, die mit seinem Wappen, dem roten Eber, verziert war. Sein Bruder, Prinz Belka, überragte alle anderen Männer. Sein Küraß war in Silber und Blau gehalten, und an seiner Seite hing seine Lieblingswaffe, eine überdimensionale Streitaxt. Mikal, der auf eine zeremonielle Rüstung verzichtete, trug die gleiche, mit der er durch das ganze Mittlere Reich geritten war. Auch Zoltan trug seine alte, kampfbewährte Rüstung, und seine Schwertklinge glänzte an diesem Morgen noch heller als sonst. All die anderen, der Herzog von Larc, die verbündeten Prinzen und Heerführer, saßen auf ihren ruhigen Schlachtrössern. Auch Elthwyn befand sich in dieser Gruppe und fingerte immer wieder an dem ungewohnten Helm, den er auf Crispans Geheiß tragen mußte. Crispan trug ein Panzerhemd unter seiner Meisterrobe und hatte einen Helm an den Sattelknopf seines Pferdes gehängt, wollte jedoch keine äußerlich sichtbare Rüstung anlegen. Wie alle anderen trug auch er einen Mantel, um sich vor der für diese Jahreszeit ungewöhnlichen Kälte zu schützen. „Es ist seltsam, sehr seltsam“, berichtete Zoltan, „sie haben keine Schlachtenordnung gegen uns gebildet. Sie haben die Wachen verstärkt und befinden sich im Alarmzustand, doch sie haben nicht auf der Ebene Aufstellung genommen und scheinen auch nicht daran zu denken, das in absehbarer Zeit zu tun. Sie benehmen sich, als ob sie nicht vorhätten, heute in die Schlacht zu ziehen. Sie sind noch nicht einmal unter Waffen. “ Nachdem Zoltan seine Meldung abgegeben hatte, wandte sich der Kaiser Crispan zu. Ohne irgendeine Gefühlsregung zu zeigen, sagte der Magier: „Haltet die Armee unter Waffen und bereit zum Angriff, doch hinter der Bergkette. Wir wollen jetzt zum Bogen hinaufreiten. “ Damit trieb er sein Pferd an und führte die anderen den Hang hinauf zum schmalen Grat des Bergrückens. Der Himmel war grau verhangen, fast bleiern, und nirgends war auch nur eine Andeutung von Sonnenschein zu sehen. Sie konnten vom Grat des Bogens aus kaum die Wachen in Zhyjmans Lager erkennen, das ein gutes Stück links von ihnen lag. Alles andere auf der Ebene und auf den Hängen des diagonal zum Bogen liegenden Bergrückens lag noch unter dichtem Frühnebel verborgen. Ein leichter, stetiger Wind war aufgekommen, doch die dichten Wolken blieben über ihren Köpfen hängen. Es war Elthwyn, der die fünf Reiter am westlichen Ende des Pfeils als erster entdeckte. Er deutete mit ausgestrecktem Arm auf sie und rief: „Seht! Dort!“ Die anderen beugten sich in ihren Sätteln vor. „Es ist Syman!“ rief Mikal, der die kräftige Gestalt des Söld nerführers in der grauschwarzen Rüstung erkannte. „Und Kirion und Zhyjman!“ rief Larc, der einzige Mann in dieser Gruppe, der dem Kaiser des Nördlichen Reiches jemals begegnet war. „Wo?“ riefen einige der anderen, die keinen der Männer auf dem vor ihnen liegenden
Bergrücken genau erkennen konnten. „Der sehr schlanke Mann in der hellen Rüstung, der in der Mitte reitet“, erklärte Larc, „das ist Zhyjman. “ Alle anderen blickten auf die silberig glänzende Gestalt, deren Erscheinung durch ein rotes Cape noch auffälliger wurde. „Die beiden anderen müssen seine Lakaien von Nor und Kyryl sein.“ „Aber wo ist Viadur?“ Crispans Stimme zitterte vor Enttäuschung. Sie blickten wieder zu den Gestalten auf dem Grat des Bogens hinüber. Zhyjman, Kirion, Syman, Nor und Kyryl, jetzt klarer zu erkennen, als der Nebel sich ein wenig lichtete. Aber keine Spur von Viadur. Crispan schüttelte ungläubig den Kopf. Er blickte Elthwyn an, der neben ihm auf seinem Pferd saß. „Ich habe ihn gesehen! Ich weiß, daß es Viadur war!“ rief der Adept erregt. Sie saßen einander gegenüber, und keine Seite machte einen Zug. Die fünf Reiter auf dem Grat des Pfeils wirkten nervös, unruhig, und blickten oft nach allen Seiten, als ob sie auf irgend etwas warteten. „Hört!“ Crispan hatte das Geräusch als erster vernommen, das weit entfernt, doch deutlich hörbar von der Ebene zu ihnen heraufschallte: das dumpfe Dröhnen von Trommeln, immer näher und lauter. Es kam aus der dichten Nebelwand, die noch immer nördlich der Spitze des Pfeils hing. Es wurde lauter und lauter und immer drohender. Jetzt konnte man den Takt der dumpfen Trommeln identifizieren: Bum-bum-ba-dum! Bum-bum-ba-dum! Immer lauter, immer deutlicher wurden die dumpfen, schweren Schläge. Sie starrten in den Nebel. Wie aus einem auf gleitenden Vorhang erschien jetzt eine lange Reihe von Trommlern aus dem Nebel, und sie schlugen ihre drohend e Botschaft: Bum-bum-ba-dum! Bum-bum-ba-dum! War es der Nebel oder die Entfernung? Die näherkommende Reihe erschien abgestumpft, fast ohne Leben. Noch nie hatte einer der Männer aus dem Südreich eine so farblose Truppe ge sehen. Die Trommler kamen weiter auf sie zu, und hinter ihnen, aus dem Nebel, erschien eine riesige Armee. In chaotischem Durcheinander rückte sie vor, Kavallerie völlig sinnlos mit Fußtruppen vermischt, und alle bewegten sich schleppend und bleiern, mit einer unheimlich wirkenden Langsamkeit. Elthwyn schluckte erregt. Das Dröhnen der Trommeln dauerte an. Immer mehr Truppen tauchten aus dem Nebel auf. Dann blieben sie plötzlich stehen, und das Dröhnen der Trommeln verstummte abrupt. Ein entsetzlicher Gestank wurde vom Wind herübergeweht. Es war der Geruch von Verwesung und Fäule, und er ließ den Männern fast übel werden. Ein Reiter schrie auf dem Grat des Pfeils und ritt zu dessen Ostende, auf die anderen zu. Crispan starrte zu ihm hinüber und flüsterte den Namen: „Viadur!“ „Meine Patrouillen haben nördlich von hier kein Lager finden können“, protestierte Zoltan. „Das konnten sie auch nicht“, beruhigte Crispan ihn. „Diese Soldaten waren und
sind alle tot. Viadur hat eine Armee toter Soldaten aus ihren Gräbern geholt.“ Sie starrten auf die graue Masse von Männern. Wie konnten sie tot sein? Sie waren doch dort, für alle sichtbar. Aber ihre Bewegungen waren so schwerfällig, ihre Gestalten so ohne jede Vitalität. Bum-bum-ba-dum! Die Armee der Toten wurde wieder in Be wegung gesetzt. Und jeder der Männer auf dem Grat des Bogens stellte sich dieselbe Frage: Wie kann man etwas töten, das bereits tot ist? Crispan löste den Helm vom Sattelknopf und reichte ihn Elthwyn. „Bleibe hier beim Kaiser und steh ihm bei, ganz gleich, was passieren mag. “ Er trieb sein Pferd an und ritt über den Grat auf den anderen Hang. „Crispan!“ rief Thurka ihm nach. „Du kannst sie nicht aufhalten!“ Der Magier wandte den Kopf und rief zurück: „Kannst du es?“ Crispan lenkte sein Pferd den vorderen Hang des Bogens hinab. Das entsetzliche Trommeln dauerte an. Vladurs Sklaven rückten unaufhaltsam gegen sie vor. Der Magier blickte zum anderen Grat hinauf. Jetzt war noch ein weiterer Reiter dort oben erschienen. Der Schakal Gorham, vermutete er. Er hatte die Ebene erreicht. Mit Ausnahme der Bergketten vor und hinter ihm erstreckte sie sich scheinbar endlos nach allen Richtungen. Und die Heerscharen des Nekromanten kamen unaufhaltsam auf ihn zu, wie eine feste, graue Wand. Bum-bum-ba-dum! Bum-bum-ba-dum! Immer näher und näher. Crispan befand sich jetzt weit auf der Ebene und war sich seiner Einsamkeit sehr wohl bewußt. Sein Puls dröhnte fast genauso wie die Trommeln. Sie kamen näher und näher, und Crispan hatte noch immer keine Vorstellung, wie er sie aufhalten konnte. Das Dröhnen der Trommeln wurde lauter und lauter. Dann blieben sie plötzlich stehen. Der einzige Laut auf der Ebene war das Pfeifen des auffrischenden Windes. Wenn er nicht auch den schrecklichen, durchdringenden Gestank mit sich gebracht hätte, wäre Crispan die erfrischende Kühle sehr willkommen gewesen. Er blickte zum Grat des Pfeils hinauf, zu Viadur. Er konnte sein Gesicht deutlich erkennen. Es schien hagerer zu sein als früher, die Wangen tiefer eingesunken. Seine Überlegungen wurden durch eine plötzliche Bewegung des Renegaten unterbrochen. Viadur hob den rechten Arm und schnippte zweimal mit den Fingern. Im gleichen Augenblick trabte einer der toten Reiter heran, und Viadur deutete auf Crispan. Der unheimliche Krieger legte seine Lanze ein. Crispans Pferd spürte die Unnatur des herantrottenden Feindes und versuchte auszubrechen, doch Crispan verstärkte den Schenkeldruck um die Flanken des Tieres und zwang es stehenzubleiben. Er begriff, daß der Rene gat mit diesem Manöver sowohl eine Demonstration seiner eigenen Kräfte geben als auch Crispans Mut auf die Probe stellen wollte. Der Magier konnte den angreifenden Reiter jetzt deut lich sehen. Er war fast farblos, sein Gesicht von einer widerlich grauen Tönung und völlig ohne Ausdruck. Mit eingelegter Lanze hockte er auf seinem Pferd, das schwankend auf Crispan zustürmte. Crispan schloß die Augen und sammelte verzweifelt das, was Bellapon einmal veranlaßt hatte, ihn zum Orden zu bringen. Sein Gesicht wurde zu einer starren Maske, als er all seine Kräfte auf den Mann mit der Lanze konzentrierte, der auf ihn zustürmte. Er begann, schwer zu atmen, während er sich zwang, die Augen geschlossen zu halten und seine ganze Willenskraft zu sammeln, selbst wenn er den schweren Hufschlag des toten Pferdes jetzt sehr nahe hörte. Dann riß er die Augen auf, und im gleichen Augenblick wurde der Lanzenreiter von einer blauen Flamme eingehüllt. Als die Flamme und der mit ihr verbundene Rauch verschwunden waren, sah man einen schwarzen, versengten Fleck am Boden, das war alles, was von dem Lanzenreiter übriggeblieben war. Er wischte sich den Schweiß von der Stirn, als er zu begreifen versuchte, was er durch seine Willenskraft gerufen hatte. Einen Feuerball? Einen Kugelblitz? Crispan glaubte es nicht. Nein, es war etwas, das stärker war. Er hatte all seine Energien und Kräfte mobilisiert und die einen Moment lang real werden lassen. Er fühlte sich völlig ausgepumpt und blickte über die Ebene zu Vladurs Armee hinüber. Er fuhr zusammen, als er einen zweiten Reiter aus der Heerschar der
Toten auf sich zukommen sah. Er wußte jetzt, was zu tun war, doch dieses Mal würde es schwieriger sein. Während er sich zu konzentrieren und noch tiefer in sein inneres Selbst einzudringen versuchte, fühlte er, wie sein Pferd langsam zurückscheute. Er preßte und preßte, bis seine Augen vor Schmerzen zu tränen begannen. Immer näher dröhnten die dumpfen Hufschläge. Sicher hatte er den Grad von Konzentration erreicht, der beim ersten Angriff zum Erfolg geführt hatte. Seine Zähne waren fest zusammengebissen und knirschten aufeinander. Sein Körper begann zu zit tern. Immer lauter und lauter dröhnten die Hufschläge des toten Pferdes. Dann sprangen seine Augen auf, und ein plötzlicher, blauer Blitz löste seinen Angreifer in Nichts auf. Crispans Gehirn schien wie Feuer zu brennen, als er sein Pferd ein Stück zurückzügelte. Noch ein paar solcher Angriffe oder ein massierter Vorstoß, und er war erledigt. Jede neue Konzentration seiner Kräfte würde sie mehr erschöpfen als beim vorhergehenden Mal. Er konnte sich das triumphierende Grinsen auf Vladurs Gesicht vorstellen, der vom Bergkamm aus seine Totenarmee kommandierte. Viadur mußte seinen bevorstehenden Sieg fühlen können. Er konnte es sich leisten, seinen Triumph hinauszuschieben, seine Rache zu genießen, seinen Feind erst dann zu Boden zu schleudern, wenn es ihm paßte. Wenn es ihm paßte! Die Erkenntnis traf Crispan wie ein Blitzschlag. Viadur war nur so lange sicher, wie er die Initiative besaß. Er war damals im Orden nur deshalb entdeckt worden, weil der Geist des großen Ter ihn überwältigt und seine Kräfte für kurze Zeit ausgeschaltet hatte. Er erinnerte sich plötzlich an die Passage in dem Buch, das Xirvan ihm zugeschickt hatte, die Passage Feinnos, die ihn so lange verfolgt hatte. Wenn es ihm gelang, Vladurs Gedanken abzulenken, konnte er vielleicht einen Weg finden. Crispan trieb sein Pferd weiter rückwärts, während diese Überlegungen durch seinen Kopf gingen. Das dumpfe Dröhnen der Trommeln setzte erneut ein, als Viadur seine ganze Totenarmee wieder in Bewegung setzte. Er würde sie einfach vorrücken lassen, bis Crispan von ihrer Masse überwältigt wurde oder bis er völlig ausgeleert war durch seine vergeblichen Versuche, seine geringeren Kräfte gegen die toten Krieger zu schleudern. Bum-bum-ba-dum! Das Dröhnen der Trommeln trieb Crispan zum Handeln, und er schickte seine Gedanken über die Ebene, versuchte, sie in das Gehirn seines Gegners eindringen zu lassen. Und als diese Herausforderung nicht angenommen wurde, kannte Crispan auch den Grund dafür. Um seine Totenarmee beherrschen zu können, war Vladurs Geist in Tiefen abgeglit ten, in die Crispans Geist ihm nicht folgen wollte und konnte. Doch er mußte Vladurs Aufmerksamkeit auf sich ziehen, seine Konzentration brechen. Aber wie? Einen Augenblick dachte er daran, wieder einen Feuerball heraufzubeschwören und ihn zum Berggrat hinaufzuschleudern. Zu viel Zeit, zu viel Energie. Die Totenarmee rückte ständig weiter auf ihn vor. Nein, er mußte einen anderen Weg finden. Immer näher dröhnten die Trommeln, und ihr dump fer Ton ließ Crispans Brust vibrieren. Der entsetzliche Gestank wurde immer unerträglicher. Ich brauche Kraft! Kraft! Seine Augen wurden zu schmalen Schlitzen, und er starrte zum Berggrat hinauf. Vladurs Pferd bäumte sich auf, schlug mit den Vorderhufen in die Luft und wieherte ängstlich. Viadur riß am Zügel, um das Tier unter Kontrolle zu bekommen, und im gleichen Moment blieb die Armee stehen. Es hatte geklappt! Viadur war abge lenkt worden. Jetzt schickte Crispan seine Gedanken in Vladurs Gehirn, bevor der Renegat seine Kräfte wieder konzentrieren konnte. >Sehr schlau, kleiner Lehrling, aber sinnlos. < >Du hast den Orden zerstörte >Er war alt und lag ohnehin im Sterben. Er hat nicht auf mich gehört, als ich ihm neue Kräfte anbot. < >Deine Kräfte können nur zerstören - andere und dich selbst. < >Meinst du, Crispan? Zwei Jahre Exil, zwei Jahre konzentriertes Studium. Ich habe eine Armee auf die Beine gestellt, ich habe längst verstorbene Magier von den Toten auferweckt, um mir ihr Wissen anzueignen.“ >Kein Magier des Ordens würde dir jemals helfen. Selbst ihre Geister wären von dieser Vorstellung angewidert.“ Viadur runzelte die Stirn, weil Crispan die Wahrheit erraten hatte. >Deine Macht ist nicht vollkommen, Viadur. Kannst du deine Armee und dein Pferd gleichzeitig
unter Kontrolle halten?“ Wieder griffen Crispans Gedanken das Tier an, und Viadur hatte Mühe, es zu bändigen. Nun versuchte der Renegat, sein Gehirn zu verschließen, seine wie eingefroren wartende Armee wieder zum Leben zu erwecken. Doch Crispans Gedanken hielten die seinen fest. Viadur versuchte, sie zu befreien. Crispan fühlte, wie seine Gedankenkraft geschwächt wurde, als Viadur gegen sie ankämpfte. Der Schmerz in seinem Kopf wich einem dumpfen Pulsieren, und sein ganzer Körper war schweißnaß. Die Initiative; er mußte die Initiative behalten. Das laute, gellende Schreien überraschte Viadur. Instinktiv bedeckte er seine Ohren mit den Händen, doch das Geräusch kam aus seinem Gehirn, hervorgerufen durch Crispans Gedankenkraft. „Verdammt!“ Vladurs Gedanken übermittelten Wut und Verachtung, und er schleuderte einen Feuerball auf Crispan zu, ein simpler Trick, für den Crispan sich zu schade gewesen war. Crispan riß sein Pferd herum und antwortete mit einem plötzlichen Wasserguß. Viadur blieb unbeeindruckt, doch irgendwie defensiv. >Ich bin besser als du, Junge. Ich war dein Lehrer, erinnerst du dich?< Der verletzte Tonfall war selbst in Crispans Gehirn zu vernehmen, und er schenkte sich eine Antwort. Er überlegte ange strengt, suchte verzweifelt nach einer neuen Vision, mit der er den Nekromanten angreifen konnte. Sein Kopf schmerzte, seine Kräfte schienen stärker als je zuvor und gleichzeitig auch äußerst geschwächt. Irgendwie hatte er seine Grenze überschritten, ein Fehler, vor dem Omir immer wieder gewarnt hatte. Die wenigen Sekunden, die er für diese Erkenntnis brauchte, waren schon zu viel, denn Viadur hatte sich seinem Gegner zugewandt, machte ein paar hektische Gesten mit seinen Händen und stieß sie dann vor, als ob er etwas auf Crispan zuschleuderte. Der junge Magier fühlte einen harten, stechenden Schmerz, als ob ihm jemand auf beide Ohren geschlagen hätte. Er mußte sich am Sattelknopf festklammern, um nicht vom Pferd zu stürzen, und Tränen quollen ihm in die Augen. Trotz seiner Schmerze n und der zunehmenden Erschöpfung fühlte Crispan, daß auch Viadur ermüdete, fürchtete jedoch, daß der Renegat länger durchhalten könnte, wenn sie Bannsprüche, Zauberformeln und physische Manifestationen ihrer Kräfte gegeneinander schleuderten. Vladurs Jahre der Praxis im Exil hatten ihm einen zu großen Vorsprung gebracht, als daß Crispan das Duell unter diesen Umständen lange überstehen konnte. Er mußte eine andere Möglichkeit finden, ein reines Kräftemessen, ohne Zaubereien und Visionen. Plötzlich fiel ihm >Das Spiel< ein. Was war denn dieses Spiel anderes als ein reines Duell der Macht, bei dem der Stärkere dem Schwächeren seine Kräfte entzog und sie absorbierte, um die so verstärkte Macht wieder auf den Gegner zu schleudern? Würde Crispan es schaffen? Es mußte ein sehr geschickter, ge nau ausgeklügelter Angriff werden, denn er fürchtete, von Vladurs niederen Künsten beschmutzt zu werden. Crispan atmete einige Male tief durch, um neue Kräfte zu sammeln. Diese Überlegungen hatten nur einen Moment gedauert, und Viadur hatte die Gelegenheit nicht ausgenutzt, da er selbst ebenfalls eine Pause brauchte. Jetzt schien er anzunehmen, daß die plötzliche Inaktivität seines jungen Gegners auf dessen unmittelbar bevorstehende völlige Erschöpfung hinwies, und der Renegat griff erneut an, um ihm den Rest zu geben. Doch wie Pfeile, die weit am Ziel vorbeifliegen, verfehlten auch Vladurs Attacken Crispan, ohne ihn zu berühren oder zu beeindrucken. Verzweifelt versuchte Viadur es wieder und wieder, doch ohne auch nur die geringste Wirkung zu erzielen. Crispan setzte jetzt alles auf eine Karte und provozierte die direkte Konfrontation. Nachdem er sein Gehirn versiegelt hatte, konzentrierte er die ihm verbliebenen Kräfte in einem Maß, das weit über dem lag, das er für den simplen Schlagabtausch verwandt hatte, auf den er sich eingelassen hatte. Er konnte Vladurs brutalere Attacken noch immer spüren, doch sie schienen unter ihm vorbeizuschießen, während er sich über die Ebene erhob. Eine plötzliche Stille umhüllte ihn, während seine Kräfte sich sammelten, und er empfand dieses Gefühl als so angenehm, daß er sich für kurze Zeit von ihm einlullen ließ, bis er sich daran
erinnerte, daß er einen Teil seiner Kräfte allein dafür verbrauchte, diesen erhöhten Bewußtseinszustand aufrechtzuerhalten. Seine Gedanken schickten die uralte Herausforderung über die Ebene: >Meine Kräfte gegen die deinen. Deine Kräfte sollen mir gehören, denn ich bin mächtig in den Fünf Künsten. < Crispan sah, daß Viadur wie ein witterndes Tier den Kopf hob, als die Herausforderung in sein Gehirn eindrang. Der Renegat wirkte enttäuscht, sogar verletzt, und Crispan erinnerte sich, daß Viadur und er in all den gemeinsamen Jahren im Orden >Das Spiel< niemals gegeneinander ausgetragen hatten. Doch jetzt nahm Viadur die Herausforderung an, wie ein ange schlagener Faustkämpfer, dem keine andere Wahl mehr bleibt. Wie zwei Ringer, die nach einem Griff am Körper des Gegners suchen, tasteten ihre Gehirne über die Ebene. Crispan verzog das Gesicht, als seine Gedankenkraft immer wieder auf die Abwehrkräfte Vladurs stieß, unfähig, ihn irgendwo zu packen, und dann wand er sich vor Schmerzen, als der Renegat seinerseits zum Angriff überging. Dies war der übliche Beginn des >SpielsDas Spiel< zu riskieren. Für einen Augenblick zog Crispan seine Kräfte in sich zurück und vereinte die, welche er bisher eingesetzt hatte, mit dem kleinen Rest, den er in Reserve gehalten hatte, um denken zu können. Jetzt waren sie zu einem Paket reiner Macht gebündelt. Crispans Gehirn war völlig leer oder vielmehr zur Gänze von seinen Kräften absorbiert. Vor seinen Augen wuchs eine tiefrote Kugel von der gleichen Farbe wie sein Amulett. Er konnte den Griff Vladurs spüren, sein Ziehen und Zerren, seinen Widerstand, der immer schwächer wurde. Crispans Gedanken zogen und zerrten, und Viadur setzte sich mit wachsender Verzweiflung und nachlassenden Kräften zur Wehr. Jetzt war es für Viadur zu spät, den Kampf abzubrechen. Die Wucht des Kampfes zog seine Kräfte zu Crispan hinüber. Crispan spürte, wie sie seinen eigenen Kräften hinzugefügt wurden, und mit jedem Atemzug wurde es leichter, mehr zu absorbieren. Wieder frei, um denken zu können, erinnerte er sich an die Gefahr, die darin lag, zu viel von Vladurs Kräften in sich aufzunehmen, da mit ihnen auch dessen Nekromantie auf ihn überging. Er sog noch einige in sich auf, und dann noch etwas mehr, wobei er versuchte, Vladurs verbleibende Kraft und die Tiefe seiner Korruption richtig einzuschätzen. Noch ein wenig... und noch einmal. Er fühlte, daß Viadur verzweifelt versuchte, sich von ihm zu befreien. Noch etwas... und ein letztes Mal... Dann löste Crispan seinen Griff. Plötzlich befreit, strömten Vladurs verbleibende Kräfte über die Ebene zu ihm zurück. Dies war normalerweise das Ende des >SpielsSpiel< wurde niemals mit dem Ziel völliger Unterwerfung ausgetragen, sondern als reines
Kräftemessen. Doch diesmal war es anders. Crispan durfte Viadur nicht die Zeit lassen, sich auszuruhen und die verlorenen Kräfte zurückzugewinnen, und er wuß te, daß der Nekromant noch längst nicht besiegt war. Und doch fürchtete er sich davor, ihn mit allen seinen Kräften anzugreifen. Er wollte Vladurs Niederlage, doch er sollte lebend und bei vollem Bewußtsein in Gefangenschaft gehen, und nicht als hirnlose Kreatur, die nicht mehr begriff, was mit ihr geschah. Crispan schickte deshalb grausame Visionen über die Ebene, mit denen er das Duell gegen seinen geschwächten, aber noch immer potenten Gegner beenden zu können hoffte, Visionen, die mehr Produkte seiner Kunst als seiner Macht waren. Wieder und wieder konzentrierte er sich und schickte Schwärme kreischender Fledermäuse durch den Raum. Vladurs Verstand wurde zu einer dunklen Höhle, und der Renegat schüttelte gequält den Kopf, als die unheimlichen Tiere ihre grellen Schreie ausstießen und sein Gehirn zerfetzten. Die Wildheit dieses Angriffs nahm Viadur den Rest seiner Kraft. Er und Crispan spürten fast gleichzeitig, daß er am Ende war. Über den weiten Abstand der Ebene fühlte Crispan, daß der Renegat sich nicht mehr in der Gewalt hatte. Sein Gehirn geriet in Panik und suchte nach einem Unterschlupf. Seine Gedanken zerfielen vor Schreck über ihre nie erlebte Schwäche. Sein Verstand schrie nach einer kleinen Pause, um neue Energien sammeln zu können. Crispan atmete schwer. Auch er fühlte sich ausgepumpt. Doch er mußte Vladurs Schwäche ausnutzen und ihn erneut angreifen. Er atmete tief durch, um seine angeschlagenen Kräfte neu zu mobilisieren. Seine Gedanken warfen sich auf Vladurs zusammengebrochenen Verstand. Geisterhafte Visionen tauchten auf, die dem Renegaten jede Ruhepause verwehrten. Er ertrank in einem Meer seines eigenen Blutes; Maden krochen in seiner Haut. Heiße, lodernde Flammen wuchsen aus seinem Kopf. Wieder und wieder warf Crispan solche Visionen über die Ebene, ließ Vladurs Gehirn nicht eine Sekunde lang zur Ruhe kommen, die Sekunde, die er vielleicht benötigte, um sich wieder auf seine Totenarmee konzentrieren zu können. Viadur fühlte sich wie ein Mann, der sich in einem labyrinthischen Käfig verirrt hat. Er lief durch enge, dunkle Passagen, in der Hoffnung, seinem Verfolger irgendwie entkommen zu können. Und durch eine verzweifelte Konzentration seiner verbliebenen Kräfte gelang es ihm endlich, die Gedanken des jüngeren Magiers für einen Augenblick zu blockieren. Viadur war frei, frei, um seine Heerscharen wieder zum Le ben zu erwecken. Sein Gehirn rief ihnen über die Ebene hinweg einen Befehl zu. Doch sie reagierten nicht. Wieder schickte er den Befehl und wieder und wieder. Einige der Krieger begannen sich zu bewegen, doch nicht alle. Von den Trommlern waren es nur ein knappes Dutzend, die einen langsamen, ersterbenden Wirbel schlugen. Es war nicht genug. Er mußte sie alle in seiner Gewalt haben. Wieder versuchte er es, doch seine Gedanken brachen über ihnen wie Wellen an einem Strand. Viadur schrie laut auf, als sein Gehirn taub wurde. Crispan griff wieder an, warf seine ganze Energie gegen Viadur. Vladurs Verstand krümmte sich zusammen. Seine Kraft war dahin, herausgesogen. Ein grelles, weißes Licht wuchs in seinem Gehirn, und er war nicht mehr fähig, es abzuwehr en oder sich davor zu schützen. Crispan konzentrierte sich weiter. Er mahlte mit den Zähnen und war am ganzen Körper schweißnaß. Er trieb seine Kräfte weit über den Punkt hinaus, den er bisher als äußerste Grenze betrachtet hatte. Mehr und mehr und mehr. Viadur preßte die Augen zu und krümmte sich vor Schmerz. Das Licht wuchs und wuchs, es kochte in seinem Kopf. Höher, heißer und immer größer. Sein Verstand schrie in Agonie. Crispan verstärkte seine Konzentration - und noch mehr. Viadur wand sich im Sattel, als das grelle Licht noch weiter wuchs, sein Gehirn aufzehrte und seinen Kopf zu sprengen drohte. Größer und noch größer. Er preßte die Hände an seinen Kopf. Es wuchs weiter, wurde immer heller und heißer. Aufhö ren! schrie alles in ihm. Aufhören! Alles wurde dunkel vor seinen Augen, und Viadur sackte im Sattel zusammen. In diesem Augenblick begannen die Krieger der Totenarmee zu schwanken, und als ihr Herr endgültig zusammenbrach, waren sie plötzlich verschwunden. Crispan konnte sich bei Bewußtsein ha lten, um das noch zu sehen, dann sank auch er völlig ausgepumpt im Sattel
zusammen.
XXXI Angriff Der Kaiser und die Heerführer des Südens auf dem Grat des Bogens starrten wie hypnotisiert auf die wenigen Manifestationen der Schlacht der Magier, die sie wahrnehmen konnten: die unheimliche Armee, die Vernichtung der beiden Reiter, die Feuerkugel. Lediglich Elthwyn war in der Lage, den titanischen Kampf der Gehirne zu erahnen, der auf der anderen Seite der Ebene tobte, und als er Viadur zusammensinken sah, wandte er sich an den Kaiser und sagte drängend: „Jetzt, Lord! Jetzt! Vladur ist besiegt! Wirf deine Armee gegen Zhyjman, bevor er seine Truppen sammeln kann!“ Thurka Re mußte erst in die Wirklichkeit zurückfinden, bevor er antworten konnte. „Ja, ja. Belka! Churnir! Gebt den Befehl sofort durch. Sturm auf Zhyjmans Lager!“ Sein Bruder nahm die Kriegstrompete von seiner Schulter und blies ein kurzes Signal. Dann richtete er sich in seinen Steigbügeln auf und winkte Stova und der bereitstehenden Kavallerie mit seiner gigantischen Streitaxt. Auf dieses Signal brachen sie hinter dem westlichen Ende des Bergzuges hervor und galoppierten wie eine riesige Sichel über die Ebene. Elthwyn sah nichts davon, da er sofort den Nordhang des Bogens hinabgeritten war. Er erreichte die Ebene in vollem Galopp und raste auf Crispan zu, von der Angst getrieben, daß der Magier der Armee des Nordens zum Opfer fallen könnte. „Meister! Meister!“ schrie er, als er die Zügel von Crispans Pferd ergriff. Crispans Gesicht war völlig ausdruckslos, sein hellbraunes Haar schweißverklebt. Er saß zusammengesunken im Sattel, und nur der hohe Sattelknopf verhinderte, daß er zu Boden stürzte. Wieder rief Elthwyn ihn an, und jetzt hörte Crispan die Stimme, die aus weiter Ferne zu ihm zu dringen schien. Das Dunkel vor seinen Augen löste sich auf, und er konnte das besorgte Gesicht des jungen Adepten erkennen. „Alles in Ordnung, Meister?“ Der Magier nickte mehrere Male. Wie konnte er irgend jemand erklären, was er gesehen hatte, wie das Eindringen seiner Gedanken in Vladurs Gehirn, das ihm für einen kurzen Moment offenbart hatte, wie tief er gefallen war, um seine makaberen Praktiken ausüben zu können? Er ließ den Gedanken fallen und fragte: „Wo ist Viadur?“ „An dem Ort, wo du ihn besiegt ha st. Sage mir, wie hast du das geschafft?“ Elthwyn war immer begierig, sein Wissen zu vergrößern. Crispan überging die Frage. Er blickte zum Pfeil hinauf. Gerade rechtzeitig, um
zu sehen, wie Gorham heranritt, das Pferd des Renegaten am Zügel packte und zu Zhyjmans Lager führte. Jetzt vernahm der Magier lauten Lärm von links. Er wandte sich um und sah Thurkas Legionen, ein Wald von Speeren und Bannern, Reitern und Fußtruppen, auf das Lager des Feindes zustürmen. „Wir haben sie, Elthwyn. Zhyjman hat alles auf Vladurs Totenarmee gesetzt. Er ist völlig unvorbereitet. Nein“, korrigierte er sich, „wahrscheinlich hat Viadur ihm das eingeredet. Komm, wir wollen uns an der Jagd beteiligen.“ Doch bevor er die Worte ganz ausgesprochen hatte, sah er sich von Soldaten der Leibgarde des Kaisers eingeschlossen. „Befehl des Kaisers“, erklärte der Hauptmann. „Ich soll dir ausrichten, daß er es zutiefst bedauern würde, dich jetzt zu verlieren.“ Der Magier gab nach, noch zu erschöpft, um sich mit dem Mann zu streiten. Langsam ritten sie auf das feindliche Lager zu, von dem jetzt Schlachtenlärm zu ihnen herüberdrang. Sie hielten sich in vorsichtigem Abstand vom Hang des Pfeils, um sich vor einem Oberfall durch Feinde zu schützen. Als sie in weitem Bogen um die südliche Spitze des Bergzuges herumritten, sahen sie das Lager und die kämpfenden Armeen. Crispan fühlte einen plötzlichen Drang, sich in die Schlacht zu stürzen und zu töten, doch eine innere Stimme sagte ihm, daß er seinen Feind bereits besiegt habe, daß diese Schlacht ihn nichts anginge. Wie Crispan vermutet hatte, war Zhyjmans Armee nicht kampfbereit, als Viadur zusammenbrach. Überzeugt von den überlegenen Kräften des Nekromanten, hatte der Kaiser des Nordens seinen Soldaten einen Ruhetag gewährt und beabsichtigt, zuzusehen, wie seine Feinde von einem viel schlimmeren Heerbann vernichtet wurden. Wozu sollte er lebende Soldaten verschwenden, wenn die toten für diese Schlacht auferweckt werden konnten? Deshalb traf ihn der Angriff der südlichen Armee völlig unvorbereitet. Die Truppen Thurkas mähten wie eine riesige Sichel über die Ebene, überrannten Zhyjmans wenige Posten und Patrouillen und brachen in das aufgescheuchte Lager ein. Soldaten des Nordens, Verbündete und Söldner wurden niedergemacht, als sie - die meisten ohne Rüstung und kaum bewaffnet - aus ihren Zelten stürzten. Und diejenigen, die sich hinter den Zeltwänden zu verstecken suchten, fielen der Infanterie zum Opfer, die Stovas wilden Reitern folgte. Die Lords des Südens rissen ihre Männer weiter mit sich voran, und ihre Waffen fuhren unaufhörlich nieder, als alle Niederlagen und Demütigungen der Vergangenheit im Rausch dieses unerwarteten Sieges untergingen. Jeder organisierte Widerstand wurde unmöglich gemacht, da die Armee des Südens in einem einzigen Vorstoß bis zum Mittelpunkt des Lagers stürmte, während eine andere Kolonne seinen Westrand besetzte und so den einzigen Fluchtweg abschnitt. Verwirrt und von plötzlicher Verzweiflung gepackt, kämpften die umzingelten Krieger nur in wenigen, isolierten Widerstandsnestern. Ihre Führer waren nicht bei ihnen, um die richtigen Befehle zu geben, also kämpfte jeder für sich, ohne Koordination, ohne Hoffnung. Plötzlich kam ein Ruf vom Westrand des Lagers, der sich rasch fortpflanzte. „Der Kaiser ist gefangen!“ Sofort hörten die Kämpfe auf, da beide Seiten auf genauere Informationen warteten. Welcher Kaiser ist gefangen? fragten sich alle. Dann kamen Rufe der Lanzenreiter Thurkas. „Zhyjman ist gefangen! Kirion und Syman auch!“ Laute Jubelschreie der Soldaten des Südens hallten durch das Lager, und die Männer Zhyjmans ließen ihre Waffen zu Boden fallen. In diesem Augenblick des Triumphs erreichten Crispan, Elthwyn und ihre Eskorte das Lager und suchten sich einen Weg durch die Trümmer. Hier und dort brannten Zelte, Hunderte von Toten, zumeist Männer mit flüchtig übergeworfenen Rüstungsteilen und ohne Schilde, lagen überall verstreut, Leichen von Thurkas Soldaten neben denen erschlagener Feinde, denn jeder Sieg hat seinen Preis. Crispan dachte wieder einmal mehr wie ein Krieger und nicht wie ein Meister der Fünf Künste, als er erleichtert feststellte, daß relativ wenige der Toten Uniformen des Südens trugen. „Crispan! Crispan! Wir haben gewonnen!“ Mikals Augen waren hell und strahlend unter dem Rand seines Helms. Er lächelte den Magier an. „Komm. Alle haben sich im Zentrum des Lagers versammelt. Alle Feinde sind gefangen: Zhyjman, Syman, alle!“ „Auch Viadur?“
„Ja, er und sein Lakai ebenfalls. Komm!“ Crispan zögerte einen Moment. Alles in ihm sträubte sich bei dem Gedanken an ein Zusammentreffen mit dem Renegaten. Er schluckte hart und umklammerte einen Augenblick Elthwyns Arm. Dann nickte er und folgte Mikal, um dem Mann ge genüberzutreten, der den Orden vernichtet hatte.
XXXII Vergeltung Thurkas Soldaten waren bereits dabei, einige Zelte abzureißen und die Toten fortzuschaffen, um vor Zhyjmans grandiosem Zelt-Pavillon einen freien Platz zu schaffen. Während der kur zen Dauer der Schlacht hatte gerade hier ein gewaltiges Blutbad stattgefunden, als Lanzenreiter des Südens Zhyjmans Leibgarde niedergeritten hatten. Sämtliche Lords des Südens waren bereits versammelt, als Crispan, Elthwyn und Prinz Mikal heranritten. Crispan sah, daß seine Freunde, die auf der linken Seite des freien Platzes standen, zu einer kürze ren Reihe von Männern auf der anderen Seite hinüberblickten, die gefesselt waren und von Thurkas Gardesoldaten bewacht wurden. Crispan blickte zweimal die Reihe der Gefangenen entlang, konnte jedoch weder Viadur noch Gorham entdecken. Hatte Mikal sich geirrt? Waren sie entkommen? Er sprang von seinem Pferd, und seine Knie knickten ein, ein Zeichen dafür, wie erschöpft er noch immer war. Thurka lief auf ihn zu und umarmte ihn herzlich, was dem Magier dabei half, sein Gleichgewicht wiederzufinden. „Du warst großartig!“ sagte der Kaiser strahlend. „Wo ist Viadur?“ „Als sie ihn fanden, war er bewußtlos und wurde von den anderen geführt. Sie sind dort drin. “ Thurka deutete auf Zhyj mans Zelt. „Ich will sie sofort sehen.“ Noch während Thurka zustimmend nickte, schritt Crispan in das dunkle Zelt und trat vor die beiden gefallenen Magier. Sie hatten auf einem Sofa hinter einem reichgeschnitzten Tisch gesessen, standen jedoch sofort auf, als er auf sie zutrat. Viadur war größer als sein ehemaliger Schüler, und wie Elthwyn gesagt hatte, wirkte sein Gesicht jetzt hager und einge fallen. Sein graumeliertes Haar stand wirr um seinen Kopf, doch sein Spitzbart hatte seine Form bewahrt und unterstrich noch die hohlen, eingefallenen Wangen. Als er seinem siegreichen Gegner gegenüberstand, zeigte er weder Niederlage noch Reue. Seine ganze Haltung drückte die Arroganz und Überheblichkeit aus, die ihn bis an diesen Punkt gebracht hatte. Gorham, immer noch der Lakai, stand mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf neben ihm. Als Crispan dem Renegaten als Sieger Auge in Auge gegenüberstand, wußte er plötzlich nicht, was er sagen sollte. Er starrte ihn nur schweigend an und kochte vor Wut. Inzwischen waren Thurka und die Lords des Südens ins Zelt getreten, um die Konfrontation der beiden mitzuerleben. Der Kaiser fühlte, daß der Magier im Augenblick nicht fähig war, klar zu denken oder zu handeln, und beschloß, ihm zu helfen. „Crispan“, sagte er leise und ruhig, „was sollen wir mit ihnen tun?“ Ohne ein Wort zu erwidern, trat Crispan auf Viadur zu und riß ihm den Talisman ab, der an einer Kette um seinen Hals hing. Er war genauso, wie Elthwyn ihn beschrieben hatte: ein runder, blutroter Stein mit einem unheimlichen, weißen Auge in seiner Mitte. Statt der fünfeckigen Iris, die das Emblem des Ordens gewesen war, hatte das Auge auf Vladurs Talisman eine sechseckige Iris, durch die seine zusätzliche Macht dargestellt werden sollte. Crispan hielt den Talisman an seiner Kette auf Armeslänge entfernt und blickte ihn angewidert an. Dann legte er ihn auf den Tisch, mit dem Augensymbol nach oben. „Belka, deine Axt, bitte.“ Er nahm die schwere Waffe, die der Prinz ihm reichte, in beide Hände, schwang sie über seinen Kopf und schlug die scharfe Schneide auf das Amulett. Splitter spritzten nach allen Seiten, und die Axtschneide fuhr tief in das Holz des Tisches. Dann trat er zu Gorham und riß auch ihm seinen Talisman ab. Er war vom Orden. „Er muß verbrannt werden, wie es unserem Brauch entspricht“, sagte Crispan. Er wandte sich wieder den beiden Gefangenen zu, und jetzt beantwortete er Thurkas Frage. „Sie müssen so bestraft werden, wie er“ - er deutete auf Viadur - „hätte bestraft werden sollen,
als man seinen Frevel entdeckte. Sie müssen enthauptet werden. Heute nacht. Köpfe und Körper müssen getrennt verbrannt und die Asche getrennt vergraben werden. Das ist unser Gesetz.“ Gorham rief entsetzt: „Nein! Nein!“ Viadur blickte ihn nur verächtlich an und wandte sich dann Crispan zu. Mit leiser, trockener Stimme sagte er: „Du hast gut gelernt. “ Das Urteil ließ ihn erkennen, daß Crispan sich auf die Konfrontation mit ihm vorbereitet hatte; er wußte, daß ein Meister, der sich einmal mit der Nekromantie befaßt hatte, selbst als Geist gefährlich und korrupt blieb. Nur diese Bestrafung konnte den Geist für immer unschädlich machen. Ohne ihn zu beachten, wandte Crispan sich wieder an den Kaiser. „Er ist noch immer geschwächt und machtlos, doch das dauert nicht ewig. Solange er lebt, bildet er eine Gefahr für alle Menschen. Bis zu seiner Hinrichtung muß er gefesselt, gekne belt und mit verbundenen Augen von allen anderen getrennt gehalten werden. Das gleiche gilt für Gorham.“ „Wie du befiehlst, Crispan. Ich lasse das sofort erledigen.“ Sie traten wieder auf den freien Platz vor dem Zelt. Die anderen Gefangenen waren fortgebracht worden, doch Thurka machte sich Sorgen um ihr Schicksal. „Gilt diese Bestrafung auch für Zhyjman?“ Crispan schüttelte den Kopf. „Nein. Zhyjman war ein Unwissender, wie wir im Orden zu sagen pflegten. Er wußte nicht, was Viadur getan hatte, um seinen Erfolg zu sichern. Obwohl ich sicher bin, daß er auch zugestimmt hätte, wenn er darüber informiert worden wäre, erlauben unsere Gesetze es nicht, ihn auf die gleiche Weise zu bestrafen. Er und die anderen sind deine Angelegenheit.“ „Dann gib mir einen Rat, Crispan. Was soll ich mit ihnen tun? Soll ich sie hinrichten lassen für all die Zerstörung und das Unglück, das sie über uns gebracht haben?“ „Aber, Vater, Syman kannst du doch keinen Vorwurf dafür machen. “ Es war der ehemalige Söldner, der aus Mikal sprach. „Er hat lediglich mit Zhyjman einen Vertrag abgeschlossen, für ihn zu kämpfen. Dafür kann man ihn nicht hinrichten.“ Thurkas Gesicht verdüsterte sich, doch Crispan sprach, bevor er antworten konnte. „Können wir unter diesem Gesichtspunkt Zhyjman Vorwürfe machen? Ist er nicht von Vladurs Versprechungen verleitet worden? Sieh dir doch seine Armee an. Jetzt wissen wir, warum er so plötzlich vorstieß und wo seine Trup pen waren. Er ließ sie marschieren, weil Viadur ihm sagte, er sei jetzt bereit. Und wie wir vermuteten, hatte er nicht genügend Armeen, um Anrehenkar zu stürmen, die Tore zu besetzen und auch gegen uns vorzugehen. Zhyjman hat sich auf Vladurs To tenarmee verlassen, die uns schlagen sollte. Und obwohl sie einander dienten, wer kann sagen, welcher der beiden diesen Krieg und diese furchtbare Strategie angezettelt hat?“ „Weißt du, was sie für die Zeit nach dieser Schlacht geplant haben?“ fragte der Kaiser. „Ich glaube, das wissen sie nicht einmal selbst. Diese Frage würde ich gern dem Kaiser Zhyjman stellen.“ Die Sieger saßen an dem langen Tisch, an dem Zhyjman während seiner Feldzüge mit seinen Heerführern getafelt hatte. Vor dieser Reihe der Sieger standen die Gefangenen, jeder zwischen zwei Wachen, und weitere Soldaten standen hinter ihnen. Zhyjman, der noch immer seinen goldenen Helm trug, wirkte auch jetzt eindrucksvoll. Er war groß und schlank, hatte schulterlanges, schwarzes Haar und einen sorgfältig gekräuselten Bart. Noch immer arrogant, ergriff er sofort die Initiative. „Nun, Thurka Re, was wirst du mit mir tun?“ Er sprach mit dem harten Akzent des Nordens. „Weniger, denke ich, als du mit mir getan hättest. “ Zhyjman schnaubte verächtlich. „Bah! Glaubst du das wirklich? Bist du sicher, daß du diesen Zauberer zurückgewiesen hättest, wenn er sich dir angeboten hätte?“ Crispan blickte Zhyjman an. In den Augen des Magiers stand Verachtung, und er gab sich nicht die geringste Mühe, seine Gefühle zu verbergen. „Wie hätte die Zukunft wohl ausgesehen, wenn du heute gesiegt hättest?“ „Hellsehen und Wahrsagen ist dein Gewerbe, nicht wahr?“ Crispan konnte es nicht glauben, daß
Zhyjman selbst in der Niederlage das Posieren nicht lassen konnte. Crispans Stimme klang eisig, als er den Kaiser des Nordens ansprach. „Glaubst du wirklich, daß ein Sieg über uns das Ende gewesen wäre? Glaubst du, daß Viadur sich mit der Errichtung irgendeines perversen neuen Ordens zufriedengegeben hätte, nachdem er einmal die Macht seiner neuen Kräfte ausgekostet hat? Wenn es ihm möglich war, einen Kaiser zu entthronen, warum nicht auch einen zweiten? Irgendwann hätte er sich gegen dich gewandt oder dich gezwungen, ihn zu verfolgen. “ Crispans Stimme war zu einem scharfen Flüstern erstorben. „Du magst es heute noch nicht einsehen, aber ich habe heute auc h dich und dein Reich ge rettet.“ Zhyjman hatte das Gefühl, daß er persönlich dieses Debakel überleben würde, und diese Vorahnung ermutigte ihn. „Hebe dir deine Ratschläge für deinen Herrn auf“, sagte er. „Viadur hatte recht. Ihr seid kleingeistige Narren. Eure Magie ist euch so wichtig, daß ihr nicht darüber hinausblicken könnt. Ihr seid so sicher, daß Viadur mich nur benutzt hat, um seine eigenen Ziele zu erreichen. “ Zhyjman sprach in einem arroganten, selbstsicheren Ton, doch Crispan konnte er nicht überzeugen. „Selbst jetzt willst du die Wahrheit noch nicht sehen. Oder, was noch schlimmer wäre, du siehst sie, weigerst dich aber, es zuzugeben. “ Crispan lehnte sich in seinem Stuhl zurück und machte eine wegwerfende Handbewegung, eine Geste, die den gefangenen Kaiser mehr in Wut versetzte als alles, was er zu ihm gesagt hatte. Thurka erhob sich. „Bringt sie alle fort. Ich kann nicht sofort über ihr Schicksal entscheiden. Sie werden die Nacht über hier im Lager bleiben und morgen früh nach Kerdineskar gebracht.“ Crispan war für den Rest dieses Tages sehr beschäftigt. Als erstes schickte er eine Truppe schneller Reiter nach Norden, um die Gefangenen zu befreien, die Viadur aus dem Orden verschleppt hatte. Dann verbrachte er einige Stunden damit, das Zusammentragen aller Besitztümer Vladurs und Gorhams zu überwachen: Bücher, Kräuter, Gefäße, Elixiere, Notizen, selbst ihre Kleidung. Er ließ alles auf den freien Platz bringen und dort auf einen Haufen schichten. Unwillkürlich mußte er an die Nacht im Orden zurückdenken, als er und andere dieselbe Arbeit zum gleichen Zweck verrichtet hatten. Als alles beisammen und aufgeschichtet war, gingen er und Elthwyn noch einmal zu den Zelten der beiden zurück und ließen auch die abreißen und auf den Haufen werfen. Mikal und Zoltan dachten ebenfalls an die Vergangenheit, als sie zu dem Zelt gingen, in dem Syman gefangengehalten wur de. Das Gesicht mit dem vertrauten grauen, steifen Bart wirkte überrascht, als sie hereintraten. „Also bist du wirklich der Erbprinz des Südlichen Reiches“, sagte der Söldner. „Ich habe es Zhyjman nie recht geglaubt. Es kam mir alles reichlich unwahrscheinlich vor. Und er konnte mir auch keine wirklichen Be weise liefern. “ „Warum hast du dich dann bereit erklärt, mich auszuliefern?“ Mikals Stimme klang ein wenig verletzt. „Ich mußte es tun. Es war Teil seines Kontrakts. Für den Fall, daß ich mich weigern sollte, seine Bedingungen zu akzeptieren, hat er mir angedroht, meine Männer abzuwerben. Wer von ihnen hätte den Verlockungen der Schatzkammer von Anrehenkar widerstehen können? Und wie hätte ich dann dagestanden?“ Mikal und der schweigende Zoltan wandten sich zum Gehen. „Aber Mikal!“ rief Syman ihnen nach. „Ich habe ihm gesagt, daß ich dich nicht ausliefern könne, solange die Belagerung von Aishar andauerte. Ich habe mich an unsere Abmachungen ge halten, oder? Das mußt du mir doch zugute halten.“ Nur für einen Söldner war das von Bedeutung. Doch Mikal verstand ihn. Es war Abend. Crispan schritt über den freien Platz und trat in das große Zelt Zhyjmans. Auf dem langen Tisch mit der frischen Axtnarbe stand eine große Kerze, die sanftes Licht verbreitete. Er gab einem der Wachen einen Wink, dem Gefange nen den Knebel abzunehmen und die Binde von den Augen zu lösen. Selbst bei dem matten Licht kniff Viadur geblendet die Lider zusammen. „Willst du dich an meinem Anblick weiden, Crispan?“ Vladurs Stimme klang arrogant wie
immer. „Nein. Ich will nur wissen, warum du den Orden zerstören mußtest. War es nichts als Rachsucht?“ „Was glaubst du?“ „Warum hast du sie dann nicht nur an mir ausgelassen? Ich war schließlich derjenige, der dich entlarvt und bei Omir ange klagt hat. Ich war derjenige, der herabgekommen ist, um gegen dich zu kämpfen. Warum mußten die anderen so dafür leiden?“ Vladurs Mund verzog sich zu einem bösen Lächeln. „Trotz all deines Wissens und Könnens bist du noch immer der naive Novize, der du warst, als du dem Orden beitratest. Glaubst du wirklich, daß es einen Kompromiß zwischen diesen Stümpern und meinem Wissen gegeben haben könnte? Ich habe gehandelt, als ich den richtigen Zeitpunkt für gekommen hielt, um dich zu isolieren, dich von den anderen zu trennen, dich zu schwächen, dich zu verletzen. Ich habe immer gewußt, daß du die einzig ernsthafte Bedrohung meiner Pläne warst. Ich stand gerade vor meiner letzten Prüfung als Adept, als Bellapon dich zum Orden brachte“, fuhr Viadur fort. „Er sagte mir an jenem Abend, daß du über außergewöhnliche Kräfte verfügtest. In der folgenden Nacht sah ich dich in einem Traum - und in diesem Traum besiegtest du mich - meine Kräfte. “ Selbst nach all den Jahren konnte Viadur sich an jede Einzelheit dieses Traums erinnern. „Ich träumte, daß Bellapon mir meinen Meister-Talisman verlieh, ein Amulett von dem schönsten, strahlendsten Blau. Plötzlich fiel ein Schatten zwischen Bellapon und mich, und das Strahlen erlosch. Dieser Schatten warst du. Ich sah dich nicht in meinem Traum, doch ich wußte, daß du der Schatten warst, und auch nach dem Erwachen war ich dessen absolut sicher. Ich galt immer als der beste, der begabteste Schüler des Ordens, bis du bei uns erschienst. Aber du warst wie alle anderen, die sich an das Althergebrachte klammerten. Ihr alle habt das ignoriert, was ich euch anbot: unbeschränkte Macht und grenzenlose Möglichkeiten. Wo“ - er lachte kurz auf - „ist dein kostbarer Orden jetzt? Habt ihr euch von mir befreien können?“ Viadur lachte wieder, lange und schallend. Auf dieses letzte Ausspucken bitterer Galle gab es nichts zu. erwidern. Crispan befahl, Knebel und Augenbinde wieder anzulegen, und verließ das Zelt. Die weichen Schatten des Abends waren dem Dunkel der Nacht gewichen. Im Licht von Fackeln, die in Eisenkörben auf hohen Ständern brannten, sah er Kaiser Thurka und seine Lords, die auf ihn warteten. Er bemerkte, daß die anderen Gefa ngenen, noch immer gefesselt, noch immer unter Bewachung, ebenfalls auf dem Platz waren. Er nahm eine der brennenden Kienfackeln aus einem Korb, trat zu dem aufgeschichteten Haufen in der Mitte des Platzes und warf sie hinein. Sofort züngelten hohe Flammen zum nachtdunklen Himmel empor. Die Menschen auf dem Platz wurden in ein helles, orangefarbenes Licht getaucht und starrten in die Flammen, die sich in Windeseile weiterfraßen. Brennende Stoffetzen wurden von der Hitze emporgeschleudert, Flaschen und Phiolen zersprangen knallend, und ihr Inhalt ließ vielfarbige Stichflammen aufzucken. Schließlich hatten die Flammen ihr Vernichtungswerk fast vollendet und wurden kleiner. Crispan nahm eine Hellebarde und schürte die weißglühende Asche im Zentrum des Feuers noch einmal auf. Dann zog er das Amulett, das einst Gorham gehört hatte, aus der Tasche seiner Robe und warf es in die Flammen. Anschließend goß er Elixiere, die Elthwyn ihm aus seinem Zelt geholt hatte, in die Flammen, bis die Hitze fast unerträglich wurde. Crispan blieb beim Feuer stehen, bis der Ta lisman mit lautem Zischen aufflammte und innerhalb von Sekunden zu Asche wurde. Dann intonierte er, sekundiert von Elthwyn, die vorgeschriebenen, uralten Verse, die den Geistern den Fall eines Magiers verkündeten. Als das getan war und die letzten Flammenzungen in sich zusammengefallen waren, gab Crispan Baron Churnir ein Zeichen. Aus zwei verschiedenen Zelten wurden Viadur und Gorham auf den Platz geführt. Viadur schritt aufrecht und steifbeinig zwische n seinen Wächtern, noch immer arrogant und unnachgiebig, frei von jedem Schuld- oder Reuegefühl. Gorham mußte von seinen Bewachern vorangestoßen werden, und als er sich der Richtstätte näherte, begann er zu wimmern
und warf sich zu Boden, so daß den Soldaten nichts anderes übrigblieb, als ihn das letzte Stück zu schleppen. Als Viadur an Crispan vorbeischritt, sagte er kein Wort, sondern begnügte sich damit, ihm einen letzten haßerfüllten Blick zuzuwerfen. Gorhams Augen blickten ihn flehend und um Gnade bettelnd an, doch Crispan wandte den Kopf ab. Sie wurden zu beiden Seiten des noch rauchenden Asche haufens auf die Knie gestoßen, so daß ihre Gesichter einander zugewandt waren. Zwei Soldaten zogen ihre Schwerter und nahmen neben den Verurteilten Aufstellung. „Ihr habt die heiligsten Regeln des Ordens gebrochen“, sagte Crispan. „Ihr habt das Wissen und das Vertrauen mißbraucht, das euch gegeben wurde. Ihr habt eure Kräfte gegen den Orden und gegen die Welt gebraucht. Eure Namen sollen verflucht sein, für die Wissenden wie auch für die Unwissenden.“ Die beiden Schwerter fuhren herab. Blut spritzte aus zerschlagenen Adern, und zwei enthauptete Körper fielen in sich zusammen.
XXXIII Ostwärts zum Orden „Du hast nicht geschlafen, nicht wahr?“ Elthwyn wußte die Antwort auf seine Frage, als er das erschöpfte, eingefallene Gesicht des Meisters sah. „Ich hatte gehofft, der lange Ritt, um die Asche der beiden nach den Regeln zu vergraben, hätte dich müde gemacht. Wir müssen fast die ganze Nacht über unterwegs gewesen sein.“ Crispan nickte und dachte an die Überreste eines Kopfes und eines Körpers, die er viele Meilen weit voneinander entfernt eingegraben hatte. Die beiden anderen Behälter, die ebenfalls Asche eines Kopfes und eines Körpers enthielten, hatte er Mikal und Zoltan anvertraut, die dafür sorgen würden, wie er wußte, daß auch sie weit voneinander entfernt vergraben wurden. „Nein, ich bin erst gegen Morgen eingeschlafen. Ich habe immer wieder Viadur und Gorham auf ihren Knien vor mir sitzen sehen, und in der Sekunde, als die Schwerter herabfuhren, waren plötzlich Bellapon und Omir an ihrer Stelle. Und ich konnte die Klingen nicht mehr aufhalten. Ich habe das Gefühl, daß ich diese beiden alten Männer irgendwie verraten habe.“ „Bestimmt nicht“, widersprach Elthwyn. „Du hast mir selbst erzählt, daß Viadur den Orden so oder so vernichten wollte. Wie also kannst du dir dann einen Vorwurf machen?“ Crispan blieb auf dem Weg zum Hauptzelt stehen und blickte dem jungen Mann in die Augen. „Als ich von Bellapon zum Orden gebracht wurde, hat er mir meine Zukunft nach den Sternen vorausgesagt. Und schon damals stellte er fest, es sei seltsam, daß ich so nahe dem Zeichen des Schwerts geboren sei, jedenfalls seltsam für einen Magier. Damals war ich noch zu jung, um mir Gedanken darüber zu machen, und ich habe auch während der Jahre im Orden nicht viel daran gedacht. Doch ich glaube, daß es mich unbewußt ständig bedrückt hat, seit ich den Orden verließ. Ich habe mich verzweifelt an das Offene Auge geklammert und mich zu sehr bemüht, dem Schwert auszuweichen. Man hat uns gelehrt, in allen Dingen unserer Natur zu folgen, und diesem Grundsatz habe ich mich verweigert. Ich habe mir naive Grenzen für mein Tun gesetzt, Grenzen, die vielleicht zum Vorteil Vladurs waren, da sie ihm erlaubten, Zeit und Ort der Konfrontation selbst zu wählen, anstatt ihn zu zwingen, sich zu zeigen. Ich war zu sehr darauf bedacht, mein Selbstbild als Meister zu bewahren, zu allen Konzessionen bereit, um es zu erhalten. Es ist ironisch, Elthwyn, doch ich fühle, daß ich in dieser Zeit etwas gelernt habe, von dem der ganze Orden profitieren könnte. Aber es gibt ja keinen Orden mehr.“ Crispans Stimme klang erstickt, als er das sagte. Sie gingen den Rest des Weges schweigend; Crispan, weil er nicht mehr reden wollte, Elthwyn, weil er keine Worte fand, die den Meister trösten konnten. Keiner der beiden bemerkte, daß sich die Anzahl der Truppen im Lager stark verringert hatte, als sie über den freien Platz auf das Zelt Zhyjmans zuschritten, in dem Thurka Re eine Ratssitzung einberufen hatte. Sie traten ins Zelt und gingen zu den beiden Stühlen in der Nähe des Kaisers, die für sie freigehalten worden waren. Crispan ließ sich auf seinen Stuhl fallen und starrte auf eine Fruchtschale, die vor ihm auf dem Tisch stand. Sein Gesichtsausdruck sagte Thurka, daß jetzt nicht der richtige Zeitpunkt für Höflichkeitsfloskeln und andere Vorreden war, und kam deshalb sofort zum Thema. „Die Gefangenen sind auf dem Weg nach Kerdineskar. Prinz Xander von Gar ist nach Anrehenkar aufgebrochen und Lord Stova zu den Toren. Sie haben Offiziere Zhyjmans und Symans bei sich, die den dort stehenden Truppen des Nördlichen Reiches ihre Niederlage bestätigen sollen.“ „Was ist mit den Gefangenen?“ fragte Larc. „Es kommt darauf an, Was wir mit ihnen anfangen wollen. Mein Sohn hat vorgeschlagen, Symans Männer für meine eigene Armee anzuwerben. Einen Teil von ihnen kann ich übernehmen, nicht jedoch alle, und das will ich auch nicht. Sie könnten zu einem Gefahrenfaktor in
meinem Reich werden.“ „Entschuldige, Lord, doch du hast meine Frage nicht beant wortet. Ich meine Zhyjman und die anderen. “ Der Herzog von Larc, der sich selbstsicherer fühlte, da er nun nicht mehr völlig vom Kaiser abhängig war, drängte weiter: „Ich sage, daß sie den Tod verdienen. “ Endlich lag diese Sache auf dem Tisch. „Und wen willst du an die Stelle Zhyjmans setzen?“ Die Frage Crispans ließ Larc herumfahren. „Soll sich das Herzogtum von Larc nun ausdehnen und zu einem neuen Reich des Nordens werden? Glaubst du, daß dadurch Frieden und Ordnung in der Welt wiederhergestellt werden können?“ Crispan blickte den Kaiser an. „Lord, der Orden hat mich zu deiner Unterstützung entsandt, um das, was vom Chaos verschont ge blieben ist, zu retten. Wenn du das Reich des Nordens zerstörst, wirst du das Chaos nur noch vergrößern. Es wird dann über zwei Reiche fluten und an deine Grenzen branden. “ Der Kaiser seufzte tief auf. „Was schlägst du vor?“ „Vergrößere Larc. Gib dem gefallenen Tharn seinen alten Status zurück. Annektiere die Grenzländer Zhyjmans, Nors und Kyryls. Weite die Grenzen deines eigenen Reichs aus, um größere Sicherheit zu gewinnen. Aber nimm dir nicht mehr, als du halten kannst, und vor allem zerstöre nicht die Reste von Ordnung und Stabilität im Norden. “ „Bei den Geistern!“ Larc war aufgesprungen, rot vor Wut. „Haben wir diesen Krieg geführt, um Zhyjman auf seinem Thron und sein Reich so gut wie unberührt zu lassen?“ „Ich würde sagen“, warf Zoltan ein und starrte dabei in seinen Weinbecher, „du hast diesen Krieg geführt, weil du keine andere Wahl hattest.“ „Genug“, unterbrach Thurka, um einen neuen Streit zwischen den beiden zu verhindern, und wandte sich wieder Crispan zu. „Was schlägst du vor?“ „Der Herzog hat recht, Lord. Die Wiedereinsetzung Zhyjmans wäre keine Lösung. Du kannst dich nicht darauf verlassen, daß er sich an eure Abmachungen halten wird. Andererseits aber wäre es ein schwerer Fehler, einen Kaiser hinzurichten. Doch Zhyjman hat einen jungen Sohn. Exiliere Zhyjman in den Süden und setze seinen Sohn auf den Thron, mit einem Regenten, dem du vertrauen kannst, zur Seite. Es gibt kaum eine andere Möglichkeit außer der Wiedereinsetzung Zhyjmans oder der Auflösung des Nordreiches.“ Thurka rieb sich das Kinn und dachte über Crispans Rat nach. „Vielleicht. Aber wir müssen auch alle Söldnerarmeen entwaffnen. Die Männer, die ich in dem vergrößerten Reich nicht brauchen kann, müßten über das ganze Mittlere Reich verstreut angesiedelt werden. Die regulären Truppen des Nördlichen Reiches werden waffenlos nach Hause geschickt.“ Mikal, der bis jetzt geschwiegen hatte, warf eine Frage auf, an die keiner der anderen gedacht hatte. „Und was soll mit Syman und Kirion werden?“ Bevor sein Vater antworten konnte, machte der Prinz einen eigenen Vorschlag. „Kirion freizulassen, wäre ebenfalls ein Fehler. Er war der Stratege des Kaisers und ihm eng verbunden. Syman jedoch hat lediglich seinen Beruf ausgeübt, nichts weiter. Es gibt für einen Söldner keine gerechte oder ungerechte Sache, sondern nur Bezahlung. Exiliere auch die beiden innerhalb der Grenzen unseres Reiches, einzeln und zu unter ihrem Stand entsprechenden Bedingungen.“ Thurkas Widerwille, diesem Vorschlag zu folgen, war offensichtlich. Wieder spürte er eine Eifersucht auf Syman, auf die wie immer geartete Verbindung, die zwischen ihm und Mikal bestand. Belka nahm seinem Bruder die Entscheidung ab. „Es wäre eine sehr geschickte Lösung“, sagte er. „Damit würdest du gleichzeitig den Söldnern ihren beliebtesten Heerführer und Zhyjman seinen fähigsten Strategen nehmen. Das wird ihm mehr als die Rückverlegung seiner Grenzen und die Entwaffnung seiner Soldaten jede Handlungsmöglichkeit nehmen und uns helfen, den Frieden wiederherzustellen.“ Der Kaiser trommelte mit den Fingern auf die mit feinen Schnitzereien verzierte Tischplatte. Dann kratzte er sich am Kopf. „Vielleicht. “ Seine Finger trommelten wieder. „Damit wäre also alles geregelt, zumindest im Prinzip. “ Er beugte sich dem Magier zu. „Und was wird aus dir? Was hast du vor?“ „Das weiß ich nicht“, antwortete Crispan leise. „Ich will zunächst nach Osten, zum Orden. Was
danach sein wird, muß sich finden.“ „Es wäre mir eine Ehre, dich begleiten zu dürfen. Ich bin sicher, daß ich auch für alle anderen an diesem Tisch spreche. “ Die Männer stimmten ihm ohne Zögern zu, Larc allerdings nur widerwillig, da er sobald wie möglich in sein Land zurückkehren wollte. Doch auch er wußte, wieviel er diesem Mann schuldete. „Churnir, lasse sofort eine Eskorte von tausend Lanzenreitern aufstellen. Das sollte ein ausreichender Schutz sein, da Stova bereits auf dem Weg zu den Toren ist.“ Der Prinz von Vadul wurde mit den noch zurückgebliebenen Teilen der Armee und den Gefangenen nach Süden geschickt, der Hochkämmerer Gran für die Zeit der Abwesenheit von Kaiser und Thronerbe zum Regenten eingesetzt. Nur vier Tage nach dem Sieg über ihre Feinde brach die Armee des Südens das Lager ab. Selbst jetzt konnten die Soldaten ihren Sieg noch nicht ganz begreifen. Sie verstanden einfach nicht, warum die Nordarmee so völlig unvorbereitet gewesen war. Die meisten von ihnen glaubten, daß der Magier Crispan sie behext habe. Schließlich hatte er auch Zifkar gerettet, nicht wahr? Und da blieb noch immer das Geheimnis dieser entsetzlichen, dumpfen Trommeln und des unerträglichen Gestanks. Aber genau wie der Sieg selbst blieb auch diese Frage ungeklärt. Banner und Standarten flatterten im Wind, Rüstungen glänzten im Sonnenlicht, als sie nach Osten aufbrachen. Es war dieselbe Route, auf der Mikal und Zoltan vor noch gar nicht allzulanger Ze it vor Syman geflohen waren, und die Ironie dieses Umstandes entging keinem der beiden. Sie ritten über weites Grasland und folgten dann dem Weg, der am Fuß der Falchions entlangführte, wie so viele vor ihnen, die zu den Toren unterwegs waren. Crispan ve rsuchte beinahe verzweifelt, die fröhliche, fast ausgelassene Stimmung der anderen zu teilen. Doch für ihn gab es keinen Grund dafür. Der Traum, den er Elthwyn erzählt hatte, verfolgte ihn so manche Nacht, und am Tag fragte er sich immer wieder, was er in den Großen Bergen vorfinden würde. Er konnte nicht einmal sagen, was ihn zwang, dorthin zurückzugehen, er wußte nur, daß er zurückgehen mußte. Die Ebene zog an ihnen vorbei, und die Falchions rückten nä her und näher, und mit jedem Tag, der verging, wurde die Vorstellung, den Orden wiederzusehen, drückender. Er fürchtete sich davor, den Ort, an dem er so viele Jahre gelebt hatte, in Schutt und Asche liegen zu sehen; aber er mußte noch einmal zurückgehen. Sie umrundeten die nördliche Schulter der Berge und
gelangten in das kahle Felsengebiet der Tore. Ein kühler Herbstwind blies durch die Schluchten und verkündete die herannahende Kälte. Crispan hatte zum letzten und einzigen Mal in seinem Leben vor dem Osttor gestanden, als Bellapon ihn zum Orden ge bracht hatte. Als sie an diesem Abend bei dem Tor das Lager aufschlugen, starrte er lange auf das Symbol des fünfeckigen Auges, das über einer Nische in den Fels geschlagen worden war. „Du hast versagt “, sagte er leise zu ihm. „Was du bewachen solltest, ist nicht mehr, du bist nur noch eine schmerzliche Erinnerung an das, was einst war. “ Mit einer Eskorte von weniger als hundert Reitern machten sie sich am nächsten Morgen auf den letzten Teil der Strecke, den steilen Weg, der in die Großen Berge führte. Der Pfad führte in engen Windungen nach Norden und Osten. Elthwyn ritt bei den Lords an der Spitze der Kolonne und wies ihnen den Weg durch das Labyrinth von Pfaden und Abzweigungen. Crispan sprach kein Wort, sondern saß fest in seinen Mantel gewickelt auf seine m Pferd, als sie immer tiefer in die Großen Berge eindrangen, wo der kurze Sommer längst vorbei war. Als sie weiterritten, verengte sich der Pfad mehr und mehr, und die Kolonne zog sich immer weiter auseinander. Elthwyn ritt an der Spitze, gefolgt von Zoltan, der mehr Raum brauchte als alle anderen. Ihnen folgten Crispan und der Kaiser, und hinter ihnen ritten, in lang auseinandergezogener Kolonne, die anderen Männer der Kavalkade. „Warum halten wir?“ rief der Kaiser, als es plötzlich nicht weiter ging. „Ein Toter versperrt den Weg“, rief Elthwyn und deutete voraus. Thurka und Crispan drängten sich an Zoltan und dem Adepten vorbei, die vor einer Biegung hielten. Zwei Vorreiter, die die Kolonne absicherten, waren von ihren Pferden gestiegen und standen vor dem Toten, der mitten auf dem schmalen Pfad lag. Der Wind pfiff durch die engen Schluchten und Nischen der Großen Berge, und die Pferde der Vorreiter zitterten vor Kälte. Der Tote lag auf seinem Gesicht, der Körper war von einem schmutzstarrenden Mantel verhüllt. Der Kaiser und Crispan traten auf die reglose Gestalt zu. „Dreht ihn um“, sagte Thurka zu den beiden Soldaten. Die Männer wälzten ihn auf den Rücken. Er war ein großer, kräftiger Mann gewesen, und der Körper war steif gefroren. „Nein! Nein!“ schrie Crispan, als das Gesicht zu erkennen war. Sein eigenes Gesicht war totenbleich. „Wer ist es?“ fragte Thurka. Elthwyn, der sich zu ihnen vorgedrängt hatte und ihnen über die Schultern blickte, stieß einen kleinen Schrei aus, als er das Gesicht des Toten sah. „Es ist Meister Nujhir.“ „Zoltan, hole ein paar Soldaten her und laß ihn sofort begraben!“ Thurka legte dem völlig verstörten Magier die Hand auf die Schulter. Crispan fühlte, daß ihm übel wurde, ging in eine Nische und übergab sich dort. Während er fort war, sagte Thurka zu Churnir: „Schicke ein paar Männer voraus. Elthwyn wird ihnen den Weg erklären. Falls noch irgendwo Tote herumliegen, sollen sie sie sofort beiseite schaffen und begraben. Ich will nicht, daß er sie sieht.“ Nachdem er Churnir diesen Befehl gegeben hatte, trat der Kaiser zu Crispan, der in einer Felsnische stand und sich mit den Händen an ihren Wänden abstützte. Er wandte sich um, als er hinter sich Schritte hörte. „Alles in Ordnung?“ fragte Thurka Re. Crispan nickte. „Willst du wirklich weiterreiten? Was kannst du dort oben finden?“ „Ich muß den Orden sehen“, sagte Crispan fast unhörbar. Nach Nujhirs Begräbnis fühlte Crispan eine neue Entschlossenheit. Er war so schweigsam wie zuvor, doch jetzt war es die Schweigsamkeit eines Mannes, den es zu seinem Ziel treibt, nicht die von einem, der in Lethargie versinkt. Er drängte die anderen zur Eile und weckte sie morgens schon vor Beginn der Dämmerung, damit sie beim ersten Licht aufbrechen konnten, und trieb sie so lange vorwärts, bis die Dunkelheit sie zwang, Rast zu machen. Sie erreichten das äußere Tor des Ordens an einem späten Nachmittag. Die benachbarten Berggipfel warfen lange Schatten auf die Felswand, in die das Tor eingelassen war. Das Symbol
des Auges im Sims des Tores war von einem klaffenden Riß entstellt. Die rechte der beiden riesigen Steinplatten, die die Torflügel gebildet hatten, hing ein wenig schief. Von der linken war nur ein Haufen Trümmer übrig. Obwohl er sich die ganze Zeit über für diesen Augenblick gestählt hatte, fühlte Crispan, wie sich sein Magen zusammenkrampfte. Er hob den Kopf, da er wußte, daß alle anderen ihn anblickten. Zögernd und zugleich eilig führte er sie auf das hinter dem Tor liegende Plateau. Zu seinem Glück stand die Sonne jetzt schon so tief, daß die anderen nicht sehen konnten, wie fest er die Augen schloß, während er durch das zerstörte Tor ritt. Als er das Gefühl hatte, es passiert zu haben, öffnete er sie wieder, blickte jedoch nicht ein einziges Mal zurück, sondern starrte die Straße ent lang, die über das Plateau führte. Thurka war jetzt neben ihm. „Laß uns hier lagern und morgen weiterreiten“, drängte er. „Aber wir sind fast da“, protestierte Crispan und deutete den Weg entlang, der im letzten Zwielicht des Abends kaum noch zu erkennen war. „Nein, Meister“, widersprach Elthwyn. Seine Sorge um Crispan stand deutlich in seinem Gesicht geschrieben. „Wir könnten uns in der Dunkelheit selbst hier verirren. Und du weißt, daß es an den Rändern des Plateaus tiefe Schluchten gibt.“ „Crispan“, sagte Thurka, „was seit Vladurs Rückkehr übriggeblieben ist, wird auch morgen noch da sein. Ich weiß, daß es dich zum Orden zurückzieht, doch auf einen Tag mehr oder weniger kommt es wirklich nicht an. Wir werden hier lagern und morgen früh weiterreiten. “ Dagegen gab es keinen Widerspruch. Enttäuscht und bedrückt blieb Crispan noch eine Weile im Sattel sitzen, als die anderen abstiegen, ihre steifen Glieder reckten und umhergingen. Crispan seufzte und atmete die kühle, reine Bergluft tief in seine Lungen. Nur noch eine Nacht, sagte er sich immer wieder. Nur noch eine Nacht, und dann... Seine Gedanken verwirrten sich. Und dann was? Was war ein Leben ohne den Orden? Für Menschen und Tiere war das Plateau nach dem Marsch durch die kahlen Felsen ein grünes Paradies. Das Gras war noch nicht winterlich braun und gefroren. Es gab den Pferden reichliche Nahrung und den Männern ein weiches Bett nach den vielen Nächten auf den harten, kalten Felsen der Berge. Der ungewohnte Luxus verlockte sie alle, sich in ihre Decken gewickelt auszustrecken, und nach kurzer Zeit war kaum noch jemand wach. Nur einer der Männer machte nicht den Versuch, Schlaf zu finden. Er blieb vor dem Feuer sitzen, den Mantel fest um sich gezogen, die Kapuze tief im Gesicht, und suchte immer wieder eine Antwort auf die Frage, die jetzt seine Gedanken beherrschte. Was kommt nach dem Orden? Wo ist mein Platz? Er war jetzt darauf vorbereitet, was ihn morgen erwartete, fühlte er. Er wußte, daß nichts für ihn übriggeblieben war, und er dachte an die Welt, die jenseits der Berge lag. Aber dort gab es nichts, was ihn anzog. Es mußte irgend etwas anderes geben. Vielleicht konnte er die Antwort in den Flammen finden. Er starrte tief in das Herz des Feuers und rief die Mächte an, ihm eine Antwort zu geben, ihm zu sagen, wohin er gehen sollte. Aber da war nichts. Er versuchte, die Antwort in sich selbst zu finden, und konzentrierte sich auf das Problem, doch er fühlte, daß seine Kraft dazu nicht mehr ausreichte. Seit seinem Sieg über Viadur fühlte er sich leer und ausgebrannt. Ein aufstiebender Funke zog seine Aufmerksamkeit an, und er sah, wie er aus der Hitze des Feuers zum nachtdunklen Himmel emporstieg. Ein paar Sekunden lang nur, dann erlosch er, und Crispan blickte nun zu den Sternen hinauf, von einem Sternbild zum anderen. Rosinfar, der Drache, stand weit im Norden. Und jetzt, als er zum Drachen emporstarrte, kam er zu seinem Entschluß. Dann legte er sich auf das weiche Gras und schlief.
XXXIV Über den nördlichen Horizont Die Sonne lockte sie über das Plateau; die Morgenbrise spielte im Gras zu ihren Füßen. Der Weg, der über die leicht ansteigende Fläche führte, war deutlich zu erkennen, und als sie ihn entlangritten, entdeckten sie links und rechts von ihm die Spuren der vergangenen Ereignisse. Die wenigen Waffen und Teile von Rüstungen, die dort lagen, behielten ihre Würde, selbst wenn sie weggeworfen worden waren, doch die zerbrochenen Gefäße und Phiolen und vom Regen durchnäßten und ange schimmelten Bücher, die überall herumlagen, wirkten wie ein Sinnbild der Vergänglichkeit. Nach der Kälte und dem harten Fels des Bergpfades genossen die Pferde den weichen Grasboden unter ihren Hufen. Ihre Köpfe hoben und senkten sich im Rhythmus ihrer Schritte, als sie lebhaft und mit weit ausgreifenden Läufen über das Plateau liefen, und so mancher Reiter mußte sie fest am Zügel halten, um sie am Ausbrechen zu hindern. Crispan, der als erster ritt, wurde auch vorwärtsgetrieben, aber aus anderen Gründen. Er hatte an diesem Morgen nicht gefrühstückt und fühlte sic h deshalb jetzt ein wenig schwindelig. Er spürte auch den schnelleren Schlag seines Herzens und eine plötzliche Trockenheit im Mund. Pferd und Reiter bewegten sich wie ein einziges Lebewesen über das Plateau. Elthwyn, den es ebenfalls zu dem Ort zog, der einmal seine Heimat gewesen war, schlug die Sporen in die Flanken seines Pferdes, um seinen Meister einzuholen und mit ihm zusammen in den Hof des Ordens einzureiten. Um nicht hinter ihnen zurückzubleiben, spornten auch die anderen Männer der kleinen Kavalkade ihre Pferde an. Und dann kam der Orden in Sicht. Zuerst nur als eine schmale, graue Linie über dem Horizont, die jedoch feste Konturen annahm, als sie sich ihr näherten. Bald konnten sie den Frühnebel erkennen, der noch immer vor der Mauer über dem Boden hing. Sie ritten schneller; nach kurzer Zeit wurde der Nebel lichter, und sie konnten Einzelheiten der Mauer ausmachen. Der Weg führte nicht mehr auf ein festes Tor aus Steinplatten zu, sondern auf eine klaffende Höhlung. Crispan und Elthwyn erreichten das zerstörte Portal als erste. Nichts war von den mit feinen Reliefarbeiten verzierten Torflü geln übrig geblieben. Sie sahen nur feuergeschwärzten Schutt. Als die anderen hinter den beiden Magiern die Stelle erreichten, waren auch sie entsetzt über das unheimliche Aussehen der Trümmer. Sie waren Soldaten, die Dutzende geplünderter Städte gesehen hatten, doch keiner konnte sich erinnern, jemals Spuren einer so teuflisch gründlichen Zerstörung erblickt zu haben. Als Crispan auf seinem nervösen Pferd inmitten der ge schwärzten Trümmer saß, erkannte er, daß Viadur sich große Mühe gegeben hatte, dieses Portal zu zerstören, nicht nur durch physische Gewalt, sondern er hatte die Trümmer auch mit Bannsprüchen und Flüchen belegt. Crispan konnte den Bannspruch spüren, der jetzt über dem Ort hing. Es gelang ihm nicht, sich an ihn zu erinnern, nur die ersten Worte fielen ihm ein: >Mache dies zu einem Ort, an dem kein Stein auf dem anderen bleibt... < Wieder erkannte er, wie abgrundtief der Haß des Renegaten auf den Orden gewesen sein mußte, denn das Studium von Bannsprüchen und Flüchen geschah nur aus Neugier und wurde im Orden kaum berührt, da man beides für sündige Aberrationen hielt. Während er noch darüber nachdachte, sah er den Orden selbst durch den weiche nden Nebel. Sein Herzschlag stockte, und er preßte unwillkürlich die Hand vor den Mund. Sein Blick glitt immer wieder über die Ruine des Gebäudes, suchte nach einer Stelle, die von der Zerstörung verschont geblieben war. Die Fassade und der Ostflügel standen noch, doch überall waren die schwarzen Spuren von Feuer, und viele Fenster waren leere, rauchgeschwärzte Höhlen. Der Westflügel hatte weitaus mehr gelitten, und sein Eckturm war nur noch ein Schutthaufen. Wie die Maske eines Narren wirkte die intakte Fassade, hinter der sich die Trümmer verbargen. Auch hier war es die teuflische Gründlichkeit der Zerstörung, die aus jedem der verstreuten Steinfragmente
schrie. Viele von ihnen waren von einem Schwarz, das tief eingeätzt schien. Zur Überraschung aller stiegen noch immer hier und dort dünne Rauchschleier aus den Ruinen, denen weder Regen, noch Wind, noch Kälte etwas anhaben zu können schienen. Schwefel, überlegte Crispan. Nur Schwefel kann Stein so zerstören und nach so langer Zeit noch die Hitze halten. Er drängte sein Pferd vorwärts, und das Klingen der Hufe auf den Steinplatten wurde von den zerstörten Wänden zurückge worfen. Weggeworfene Rüstungsteile, zerbrochene Gefäße und Phiolen, zerrissene Bücher und Papiere lagen überall verstreut. Es war ein passender Kommentar dafür, was für Männer hier gelebt hatten und was für Männer diesen Ort geschändet hatten. Seltsamerweise sah man nirgends Leichen, und Thurka war erleichtert darüber. Entsetzt und zögernd ritten sie über den Hof. Eins der Pferde trat unabsichtlich gegen ein Trümmerstück und wieherte erschrocken wegen der Hitze, die es ausstrahlte. Crispan ritt den anderen weit voraus und hatte den Hof fast zur Hälfte überquert. Elthwyn spornte sein Pferd an, um ihn einzuholen, gefolgt von Thurka und den anderen, doch der Magier winkte ihnen, zurückzubleiben. Allein. Er mußte es allein sehen, ob die Katastrophe irgendwie sein Werk wäre. Er war abgestiegen und ging zu Fuß weiter. Jeder Schritt war genau abgemessen, und mit jedem nahm er einen anderen Teil des Gebäudes in Augenschein, um dessen Leiden ermessen zu können. Es ist doch nur Stein, sagte er sich immer wieder, es bedeutet schließlich nicht das Ende. Doch eine andere Stimme in seinem Inneren sagte, daß das nicht wahr sei. Hier war mehr zerstört worden als nur Stein. Jetzt stand er vor den Türen, die offengelassen worden waren. Seine Bemühungen, hineinzusehen, wurden durch das Spiel von Schatten und Rauch verhindert. Elthwyn, der Kaiser, Mikal, Belka und Zoltan traten jetzt zu ihm, während die anderen in der Nähe ihrer Pferde blieben, unfähig zu begreifen, was hier wirklich geschehen war, genauso wie sie nicht begreifen konnten, daß es ihnen gelungen war, Zhyjman und seine Kohorten zu schlagen. Crispan trat zwischen den offenen Türflügeln hindurch in die Große Halle. Ein breiter Schaft Sonnenlicht fiel durch ein großes Loch in Wand und Dach, das an der Stelle klaffte, wo sich früher ein Fenster befunden hatte. In dem Lichtschaft, der das Dunkel in der Halle durchdrang, sah er Milliarden Staub- und Ascheflocken unentwegt auf- und abtanzen. Die anderen folgten ihm, als er an dem Lichtschaft vorbei zum Fuß der Haupttreppe ging. „Zum letzten Mal stand ich hier“, sagte er mehr zu der Treppe als zu den Männern hinter sich, „an dem Morgen, als Mikal und Zoltan mich von hier fortbrachten. Wenn ich damals ge wußt hätte... “ Die Worte erstickten in seiner Kehle. Crispan fragte sich, wie die Räume des Hochmeisters aussehen mochten. Er war sicher, daß Viadur dort am schlimmsten gehaust hatte. Crispan konnte die Tür selbst durch das ge wohnte Spiel von Licht und Schatten deutlich erkennen, doch er ging nicht in die Richtung. Da war etwas, das er vorher sehen mußte. Wie ein unerwarteter Eindringling fiel Zoltans Stimme ihn an. „Wohin willst du?“ Crispan blickte sich um wie ein Mensch, der plötzlich aus dem Schlaf gerissen wird. „Der Ostflügel scheint noch intakt zu sein. Ich will meine Räume sehen. “ „Das kannst du nicht“, sagte Zoltan. „Warum nicht?“ „Wegen der Treppe“, antwortete der rotbärtige Krieger deutend. „Sie ist nicht sicher. Crispan, ich habe genügend Belage rungen mitgemacht, um das beurteilen zu können. Ich sehe, ob eine Ruine sicher ist oder nicht, und meine Nase warnt mich vor dieser. “ Da Zoltan die Entschlossenheit des Magiers spürte, nahm er ein schweres Trümmerstück auf, bevor Crispan einen Fuß auf die Treppenstufen setzen konnte. Sekundenlang spürte er die Hitze des Steins, die selbst durch seine Panzerhand schuhe drang, als er ihn hoch über den Kopf schwang und ge gen die Treppe schleuderte. Seine ungeheure Kraft wuchtete den Stein bis zur Mitte der Treppe, die unter dem Gewicht sofort zusammenstürzte. Ihr oberer Teil hing noch einen Augenblick grotesk vom oberen Treppenabsatz herab, dann krachte auch er herunter. Alle Männer, die vor der Treppe standen, sprangen sofort zurück, als Steintrümmer zu Boden polterten und graue
Staubwolken aufwirbelten. Zoltan wandte sich an den Magier. „Siehst du? Und der Stein wiegt sicher längst nicht so viel wie du.“ Thurka führte Crispan und die anderen hinaus, da er ihre Sicherheit nicht länger gefährden wollte. Churnir, der das Krachen gehört hatte, kam bereits hereingestürzt. Crispan schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht... Irgendwie fühle ich mich betrogen. Als ob Viadur am Ende doch gewonnen hätte.“ Der Kaiser blickte ihm gerade in die Augen. „Vielleicht nicht. Vielleicht hat er damit gerechnet, daß du hierher zurückkehrst, und gehofft, du würdest in den Ruinen sterben. Vielleicht ist dies dein endgültiger Sieg über ihn.“ „Vielleicht. Doch es gibt noch einige andere Dinge, die ich tun muß, bevor ich gehe. “ Er wandte sich um und blickte in die Große Halle zurück. Dann umspannte er sein Amulett mit beiden Händen und sprach mit leiser Stimme die Worte, durch die alle Bannflüche, die Viadur zurückgelassen haben mochte, aufgehoben wurden. Crispan wußte nicht, ob Viadur es getan hatte oder wie wirksam diese Bannflüche und seine Gegenbeschwö rungen sein mochten, doch er füllte, daß er es tun mußte. Die anderen blickten ihn schweigend an, bis er den Kopf wieder hob. Dann wandte er sich an dm Adepten. „Elthwyn, führe mich zu Omirs Grab.“ Elthwyn führte sie um den stehengebliebenen Ostflügel herum zu einem Landstück, das im Schutz eines der sanfteren Hänge der Großen Berge lag. Seltsamerweise hatten die Steine vo n den Ruinen, aus denen de: Grabhügel geformt worden war, ihre unnatürliche Wärme verloren, als ob Omir selbst noch im Tod gegen Vladurs Frevel kämpfte. Crispan verbeugte sich abermals tief und umfaßte seinen Talisman mit beiden Händen. Dann sagte er mit lauter Stimme: „Hier liegt der Mann, dem ihr euer Reich verdankt. “ In seinem Inneren aber sagte er zu seinem toten Hochmeister: >Omir, war es dies alles wert? Sieh, was unser Sieg uns gekostet hat. Wo ist der Orden jetzt? Mußten wir so große Verantwortung auf uns nehmen? War es das wert, Omir? Oder hast du bereits damals, als du mich hinausschicktest, gewußt, was du auf uns herabbeschwörst und auf dich? Vergib mir, Omir!< Und dann vollzog er die uralten Riten, die ein Magier für einen anderen vollzieht, wenn er stirbt. Es war vorbei, und sie wollten die Grabstätte verlassen, als der stets wachsame Churnir den Hang hinauf deutete. „Seht, Lords, dort oben!“ Instinktiv griffen alle Männer nach ihren Schwertern. Ein paar Sekunden lang standen sie so, abwartend, gespannt, bis Crispan rief: „Bei den Geistern! Es ist Eliborg!“ Der alte Meister kam den Hang herab, gefolgt von zwei Dutzend Schülern und Dienern. Viele der Schüler waren noch sehr jung, Novizen, die dem Orden gerade beigetreten waren. „Bist du es wirklich, Crispan?“ rief Eliborg mit tränenfeuchten Augen. „Bist du es wirklich?“ Crispan umarmte den älteren Mann schweigend. „Was ist geschehen? “ sagte Eliborg atemlos. „Sage mir, was geschehen ist.“ „Es ist vorbei. Viadur ist tot, und Zhyjman ist besiegt.“ Die tiefbraunen Augen Eliborgs strahlten. „Wo? Wie? Erzähle.“ „Warte, warte. Vorher möchte ich wissen, wie es kommt, daß du noch hier bist.“ Also berichtete Eliborg, wie es ihm in dem Durcheinander während Vladurs Racheakts gelungen war zu entkommen, ge nau wie einigen anderen, und sich in die umliegenden Berge zu flüchten. Dort hatten sie sich, einzeln oder in kleinen Gruppen, verborgen, bis der Renegat und seine Soldaten wieder abgezo gen waren, und erst nach geraumer Zeit hatten sie einander entdeckt und sich zusammengefunden. „Wir haben von dem gelebt, was wir auf den Berghängen finden konnten, und sind auch zum Orden hinabgestiegen und haben uns die Reste der Vorräte aus dem Lagerhaus geholt “, fuhr er fort. „Aber wir haben nicht gewagt, die Berge zu verlassen, da wir befürchteten, Viadur könnte schon gesiegt haben und würde uns gefangennehmen lassen. Ich sage dir offen, Crispan, ich wußte nicht, was wir tun sollten, wenn es kälter wur de, und mir war völlig klar, daß wir den Winter hier nicht überleben würden. Einige von uns, oben in den Bergen, sind schon krank oder sehr entkräftet. Ich war sicher, daß unser Ende nahte.
Als wir euch heute morgen hier ankommen sahen, dachten wir, es sei Viadur, der zurückkehrte, und haben uns wieder versteckt. Doch dann sah ich dich bei Omirs Grab stehen, und als ich dich genauer sah... und hier sind wir nun.“ Crispan schüttelte den Kopf, lächelte und umarmte Eliborg wieder. Dann erinnerte er sich an seine Pflicht und machte den Meister mit den anderen bekannt. Churnir hatte bereits eine Gruppe von Soldaten den Hang hinaufgeschickt, um denen zu helfen, die es aus eigener Kraft nicht mehr schafften. „Jetzt könnt ihr die Berge verlassen und mit uns in die Welt kommen“, sagte Crispan. „Wir brechen sofort auf, nachdem ihr richtig gegessen habt. “ Als er Eliborg und die anderen zu den Männern der Eskorte führte, damit sie sich um sie kümmerten, hatte Crispan einen kurzen, viel zu kurzen Augenblick lang ein Gefühl von Tröstung und Versöhnung. Sie aßen außerhalb des zerstörten Tores, da sie sich ihre Mahlzeit nicht durch den niederdrückenden Anblick der Ruinen verderben lassen wollten. Als sie das karge Mahl aus getrocknetem Fleisch und hartem Brot hinter sich hatten, gaben sie Eliborg eins der Packpferde und ließen die Schüler, Diener und Lehrer bei den Soldaten mit aufsitzen. Als alles bereit war, blickte Thurka Crispan an, der nickte. Der Kaiser deutete voraus auf das Plateau, und die Kavalkade setzte sich in Bewegung. Thurka Re sah, daß Crispan sich in den Steigbügeln aufrichtete und umwandte. Er packte seinen Arm. „Nein, Crispan, tu es nicht“, sagte er. „Behalte den Orden so in deiner Erinnerung, wie er einmal war, nicht wie er jetzt ist.“ Sie ritten über das Plateau und durch das einst feste Außentor des Ordens, das aus dem lebenden Fels geschnitten war. Sie kamen durch das Labyrinth der Schluchten, getrieben durch die zunehmende herbstliche Kälte. An jedem Tag ritten sie schneller, an jedem Tag wurde der Pfad breiter und weniger gewunden. Alle waren sie froh, diese Bergeinöde verlassen und in die Welt zurückkehren zu können, alle außer einem. Crispan war noch immer bedrückt und unruhig, obwohl er seit jener Nacht, als er das Sternbild des Rosinfar hoch über dem Plateau hatte stehen sehen, wußte, was er tun würde. Elthwyn und Thurka spürten seine innere Ruhelosigkeit, stellten ihm jedoch nicht die Frage, die sie am meisten bewegte, da sie die Antwort fürchteten. Der Pfad verbreiterte sich zu einem Weg, und der Weg wurde immer glatter und ebener. Und dann drängten sie sich einzeln durch den engen, tunnelartigen Ausgang bei dem Auge. Unter dem Horizont sahen sie das Lager, in dem das Gros von Thurkas Eskorte unter dem hohen, schweigenden Wächter sie erwartete, eine große, mobile Stadt aus Leinwand. Thurka schätzte die Entfernung und den Stand der Sonne gegeneinander ab. „Wir können es eine gute Weile vor Einbruch der Dunkelheit erreichen“, stellte er dann fest. „Wartet. “ Crispans ruhige Stimme verkündete den anderen, daß der Augenblick gekommen war, den sie alle erwartet und auch befürchtet hatten. „Ich kann nicht mit euch gehen, Lords.“ Thurka, der mit Crispans Entscheidung fast gerechnet hatte, fragte ihn trotzdem: „Und warum nicht?“ „Ich kann es nicht. Es gibt hier nichts für mich, und vom Orden ist nichts übriggeblieben. Ich muß anderswo hinge hen.“ „Wie kannst du sagen, daß es hier nichts für dich gibt?“ Der Kaiser war verletzt, und es zeigte sich in seiner Stimme. „Wie du selbst erklärt hast, muß in der Welt ein neues Gleichgewicht geschaffen, der Friede gesic hert werden. Und wir müssen sofort damit beginnen. Ich hatte damit gerechnet, daß du dabei helfen würdest. Ist es nicht das, was der Orden immer zu erreichen gehofft hatte? Und könntest du nicht den Orden hier wiederaufbauen, in Kerdineskar? Was ist mit den Mitgliedern, die Viadur gefangengenommen hat? Könnten sie nicht dabei helfen?“ Doch Crispan hatte ein taubes Ohr für die Bitten Thurkas. Wie könnte er ihm und den anderen Männern schildern, was er in seinem Herzen fühlte? Er erkannte jetzt mehr als vorher, wie sehr er sich von all den anderen unterschied, die jemals durch die Schule des Ordens gegangen waren. Wer von den anderen war mit so jungen Jahren Meister der Fünf Künste geworden, wer von ihnen hatte in der Welt auf die Weise gedient, wie er es getan hatte? Als er gegen den Renegaten kämpfte, hatte er in Abgründe der Verkommenheit geblickt, die kein Magier sehen dürfte, und er hatte überlebt; doch auch dies hatte eine Narbe in seinem Herzen hinterlassen. Und vor allem,
wie konnte er den anderen erklären, daß die Kräfte, die zuerst von Bellapon in ihm entdeckt und geweckt wurden, gestorben waren, daß er fürchtete, nur noch dem Namen nach ein Meister der Fünf Künste zu sein? Er konnte keine Worte finden, um diese Gefühle zu beschreiben, die ihn zutiefst verstörten und die niemand, nicht einmal Eliborg oder Elthwyn, wirklich verstehen würde. „Nein, Lord“, sagte er, „der Orden ist tot. Was dort in den Großen Bergen bestanden hat, kann niemals neu aufgebaut, niemals restauriert werden. Er war nicht perfekt, und seine Isolation trug zu seinem Ende bei, doch seine Einmaligkeit kann und wird es nicht wieder geben. Und was meine Hilfe angeht, so brauchst du sie nicht mehr. Außerdem hast du Eliborg, der dir zur Seite steht.“ „Mich?“ protestierte Eliborg verblüfft. „Nein, Crispan, ich bin zu alt für eine so große und schwere Aufgabe.“ Crispan fuhr fort: „Und Elthwyn ist schließlich auch noch da. Er ist voll ausgebildet. Er kann dir helfen.“ Das Gesicht des Adepten lief rot an. „Aber, Meister, ich kann doch nicht...“ Crispan winkte ab. „Du hast mir einmal gesagt, daß du Magier und Berater eines großen Lords sein wolltest. Hier hast du nun so eine Aufgabe, beim größten Lord aller drei Reiche.“ „Aber so habe ich das doch nicht gemeint, und das weißt du. “ Auch Elthwyns Stimme klang verletzt. „Ich weiß“, sagte Crispan beruhigend. Seine Hand griff unter den Mantel. „Eliborg hat mir dies gegeben. Es war Omirs Ta lisman als Meister. Jetzt“ - er legte die goldene Kette um Elthwyns Hals - „gehört er dir. Du bist von nun an ein Meister der Fünf Künste und mußt den Kaiser nach besten Kräften beraten. Und wenn dir Eliborg und die anderen dabei zur Seite stehen, kannst du unser Wissen bewahren und es an die Jungen weitergeben. Wir werden noch immer gebraucht, doch unser Platz ist von nun an hier in der Welt. Ich bin dafür nicht ausgebildet worden, doch du kannst dazu beitragen, die Art der Magier zu ändern.“ Eine leichte Brise war aufgekommen, ein warmer Südwind, der die Kälte fortwehte, die von den Großen Bergen ausstrahlte. „Aber wohin willst du gehen, Crispan?“ Auch Mikals Stimme verriet seine Sorge, und seine normalerweise strahlend grünen Augen wirkten düster. „Die Lage in der Welt ist noch immer sehr unsicher. Es gibt noch immer Banden von Söldnern und Plünderern, welche die Ebenen unsicher machen.“ „Sie werden einen einsamen Reiter nicht belästigen. Und außerdem“ - er lächelte Zoltan zu „habe ich gelernt, auf mich aufzupassen.“ Thurka Re schob die Kapuze zurück und fuhr mit den Fingern durch sein graumeliertes Haar. Da er Crispans Abschied vorausgesehen hatte, seitdem sie bei den Ruinen des Ordens eingetroffen waren, fand er sich als erster damit ab. „Ich hätte dich vor allen anderen Männern geehrt“, sagte er. „Ich hätte dich zum Reichsprinzen erhoben. Gibt es denn nichts, was ich für dich tun kann?“ Crispans Gesicht wurde nachdenklich. „Doch, es gibt etwas. “ Thurka blickte ihn abwartend und hoffnungsvoll an. „Finde Portar, den Hauptmann, der mit mir durch das Karsh und zu Rennar geritten ist. Er wird dich zu einer Herberge führen, die wir auf unserem Weg zu Rennars Waldhöhle passierten. Nimm den Eigentümer dieser Herberge und seine Familie in deine Dienste. Der Mann und seine Frau werden dir gute Diener sein; und ich möchte, daß die Söhne der beiden in deinem Dienst ausgebildet werden. “ „Wer sind diese Leute?“ „Meine Familie.“ „Dann ist es versprochen. Aber bestimmt gibt es noch etwas, das ich für dich tun kann.“ „Nein. Aber vielleicht werde ich eines Tages zurückkehren, und dann...“ Eine drückende Stille folgte. Belka fuhr mit der Hand über seinen langen, weißen Schnurrbart und sagte leise: „Du hast einen guten Wind für deine Reise. Ein gutes Omen.“
Crispan lächelte und schüttelte sein hellbraunes Haar in der Brise. „Ich danke dir, Belka. “ Er drückte die ausgestreckte Hand des hünenhaften Prinzen. Dann verabschiedete er sich auch von allen anderen durch Handschlag. In Thurkas Gesicht standen tiefe Falten der Resignation; Elthwyn ließ den Tränen, ge gen die er bis jetzt angekämpft hatte, freien Lauf; Mikal und Zoltan nahmen ihre Helme ab, ein Zeichen des Respekts, und beide empfanden einen nie gekannten Schmerz, als sie von ihrem Retter und Waffengefährten Abschied nahmen; Eliborg, der den Grund für Crispans Entschluß vielleicht besser verstand als alle anderen, saß steif aufgerichtet im Sattel, als er Crispans Hand mit seinen beiden Händen umspannte. Während der ganzen Zeit fiel nicht ein einziges Wort, da Worte nicht ausreichten, um das auszudrücken, was sie alle empfanden. Es war Zeit. Er wendete sein Pferd. „Mögen die Geister euch alle beschützen.“ „Und dich, Crispan. “ Thurka sprach für sie alle, wie es ihm zukam. Der Magier zerrte an den Zügeln und setzte sein Pferd in einen leichten Trab - nach Norden. Er war versucht, sich noch einmal umzudrehen und zu winken, doch er erinnerte sich an den Rat des Kaisers, als sie die Ruinen des Ordens hinter sich gelassen hatten, und widersetzte sich diesem Impuls. „Sage mir“, wandte Thurka Re sich an seinen neuen Magier, „weiß er, wohin er geht?“ Elthwyn, dessen Gesicht tränenfeucht war, hielt noch immer Omirs Talisman in der Hand. „Das kann ich nicht sagen. Er weiß nur, daß er gehen muß.“ Die Lords des Südlichen Reiches und ihre Verbündeten saßen reglos auf ihren Pferden und blickten dem einsamen Reiter nach, der kleiner und kleiner wurde, als er auf den Wächter zuritt und schließlich hinter dem nördlichen Horizont verschwand.
ENDE