Barbara Götz
Bunte
Regentropfen
Geschichten für Schlechtwettertage
Zeichnungen von Rüdiger Stoye
KLEINS DRUCK- UN...
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Barbara Götz
Bunte
Regentropfen
Geschichten für Schlechtwettertage
Zeichnungen von Rüdiger Stoye
KLEINS DRUCK- UND VERLAGSANSTALT
© 1965 by Kleins Druck- und Verlagsanstalt GmbH.,
Lengerich i. W.
Schutzumschlag, Einband und Zeichnungen von Rüdiger Stoye
Alle Rechte, auch für Funk, Film und Fernsehen, auszugsweisen
Nachdruck und fotomechanische Wiedergabe, sind vorbehalten
Gesetzt aus der Garamond 12/14 Punkt
Gesamtherstellung in den eigenen Werkstätten
Printed in Germany
Der wunderbare Nick
1. Kapitel
Es war ein heller, sonniger Donnerstag. Tino lief nach Hause. Seine Holzsandalen klapperten, und der Schulranzen auf seinem Rücken wippte auf und ab. Seit heute morgen hatte Tino Ferien. Lange, wunder schöne Ferien. Trotzdem seufzte er plötzlich, und seine Sandalen hörten auf zu klappern. Tino blieb stehen; er dachte nach: Wie war das doch gewesen? Heute hatten sie sich in der Schule von ihrem alten, freundlichen Lehrer verabschiedet! Ein dreiviertel Jahr lang war er jeden Morgen für sie dagewesen und nun mußte er in eine andere Stadt. Weit, weit weg von ihnen. Aber das war nicht das Schlimmste! Viel schlimmer war, was Tinos Freund, der lange Franz, erzählt hatte: »Nach den Sommerferien kriegen wir einen neuen Lehrer. Der soll sehr streng sein, habe ich gehört. Da hast du nichts zu lachen, Tino. Wo du noch nicht einmal lesen kannst!« Das stimmte! Der Schulranzen auf Tinos Rücken hatte längst aufgehört zu wippen. Noch nicht einmal richtig lesen können, war das nun eine Schande oder nicht? Es war eine! Der Schulranzen wußte es auch. Gar zu oft hatte er mit anhören müssen, wie die an deren Kinder in Tinos Klasse die schwierigsten Sätze lasen. 4
Aber der Schulranzen wußte auch noch mehr! Daß Tinos Vater seit drei Jahren tot war und daß Tinos Mutter den ganzen Tag arbeiten ging, um das Geld für sich und Tino zu verdienen. Da blieb nicht viel Zeit für Tino... Tino fühlte nach dem großen Hausschlüssel. Er trug ihn an einem Band um den Hals. So, daß er ihn nicht verlieren konnte. Gleich nachher muß ich einkaufen gehen, dachte Tino. Das Brot darf ich nicht vergessen, die Eier, die Butter... und halt!... was ist denn das? Er war vor dem hohen, gelben Haus angekommen, in dem er mit seiner Mutter wohnte. Das Schönste daran war der kleine Garten. In ihm stand der schiefe Birnbaum, den Tino so sehr liebte. Und gerade auf die sem Birnbaum, da saß nun etwas, das noch nie dagewe sen war! Es flatterte, es schnarrte, und es glänzte bunt und seltsam in der Sonne. »Ein Papagei!« stotterte Tino, und dann rannte er in den Garten. Vor dem schiefen Birnbaum blieb er ste hen. »Hallo!« sagte er und schnaufte vor Erwartung. »Wer bist denn du da oben?« Der Papagei antwortete nicht. Er nickte nur mit dem gelb-roten Kopf. »Aha!« meinte Tino. »Du sagst genauso guten Tag wie ich, wenn ich schlechte Laune habe. Hast du schlechte Laune?« Wieder nickte der bunte Vogel, und Tino spitzte den Mund. »Ich pfeife dann immer«, erklärte er. »›Alle Vögel sind schon da!‹ Das ist das einzige, was ich rich 5
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tig kann. Wie das heute paßt!« Und er fing an zu pfeifen. Dem Papagei schien das Lied zu gefallen. Er legte den Kopf schief, zwinkerte mit den schwarzen Äuglein, und plötzlich ließ er den schiefen Birnbaum im Stich und flatterte zu dem klei nen Jungen hinunter. Ohne Zögern landete er auf dem dunkelbraunen Schulranzen und hockte sich zurecht. Tino hörte auf zu pfeifen. Er drehte den Kopf und schaute mitten in das Vogelgesicht mit den tinten schwarzen Äuglein. »Hallo!« sagte Tino. »Du bist aber rasch! Bitte ver kratze meinen Schulranzen nicht. Er war schrecklich teuer.« Es sah aus, als ob der Papagei lachen wolle. Sein Schnabel bewegte sich, und plötzlich krächzte er et was. Tino verstand es ganz deutlich: »Schule!« krächzte er. »Schule!« »Nanu!« staunte Tino. »Woher kennst du denn die ses Wort? Na bitte, wenn du willst, darfst du mit mir hinaufgehen.« Und den Vogel auf dem Schulranzen, stapfte er aus dem Garten und stieg die Treppe zum dritten Stock hinauf. Dem Papagei behagte es. Er hockte noch im mer auf dem gleichen Platz und hielt geschickt das Gleichgewicht. Als sie im zweiten Stock angelangt waren, blieb Tino einen Augenblick lang stehen. »Erst machen wir einmal eine Pause!« meinte er. »Du mußt wissen, ich bin noch nie mit einem Vogel 7
auf dem Ranzen spazierengegangen.« »Pause! Schule! Pause!« krächzte der Papagei, und Tino schüttelte erstaunt den Kopf. Dann waren sie im dritten Stock. Vorsichtig zog Tino den Schlüssel heraus und steckte ihn in das Schloß der Tür. Als er sich nach seinem neuen Freund umdrehte, sah er, wie dieser zur gegenüberliegenden Wohnung blinzelte. Kein Wunder! Dahinter klopfte und hämmer te es ja auch, und jetzt klang es, als ob jemand schwere Möbelstücke rücke. »Gefällt dir der Krach?« fragte Tino. »Aber dort hin ein kannst du nicht. Da zieht nämlich ein neuer Mieter ein. Denk dir nur, er heißt ›Rebe‹«. Damit deutete Tino auf das Namensschild an der fremden Tür, das heute morgen noch nicht dagewesen war. Der Papagei krächzte. »Rabe!« schnarrte er. »Rabe!« »Was sagst du da?« Tino riß die Augen auf und schaute genauer hin. Tatsächlich, er hatte sich geirrt. Auf dem Schild stand klar und deutlich »Rabe«. Tino hatte wieder einmal ein »a« für ein »e« gelesen. Er seufzte. »Puh! Ich glaube, ich lerne das Lesen nie. Und wenn der neue, strenge Lehrer kommt, bleibe ich bestimmt sitzen. Und dann ist Mutti schrecklich trau rig!« Er wandte den Kopf, um den Papagei anzusehen. Aber der zwinkerte nur und krächzte: »Sitzen! Sitzen!« »Man könnte wirklich denken, du wärst einmal zur 8
Schule gegangen«, sagte Tino. Sie waren nun in der Wohnung. Auf dem Tisch in der Küche stand das Essen für Tino. Zwei Scheiben Schinken, zwei Tomaten und ein Teller voll Kartoffeln. Die Kartoffeln mußte Tino erst noch braten. Aber das verstand er; viel, viel besser als das Lesen. Und bald schon roch es gut und kräftig in der Küche, und Tino pfiff vor sich hin. »Alle Vögel sind schon da...« Der Papagei hockte auf dem Küchentisch und pickte an einem Apfelstückchen. »Pause!« schnarrte er, als Tino sich hinsetzte und nach Messer und Gabel griff. »Eigentlich sagt man ›Guten Appetit‹!« meinte Tino, und dann ließ er es sich schmecken. Noch nie hatte er sich an einem Donnerstag so wohl und vergnügt ge fühlt! Da klingelte es. Laut und hell. »Rrrrrrrr!« schnarrte der Papagei und legte den Kopf schief. »Pause! Pause!« Gerade als ob er eine Schulklingel höre. Tino lachte und ging, um zu öffnen. Der Papagei folgte ihm. Vor der Tür stand ein großer, weißhaariger Mann und funkelte Tino aus blanken Brillengläsern an. »Guten Tag, junger Mann!« sagte er. »Ich möchte dich nur etwas fragen. Hast du einen Papagei gese hen?« »Einen Papagei?« wiederholte Tino und fühlte, wie alle Fröhlichkeit dieses Donnerstags von ihm herun terfiel. Wie ein funkelnagelneuer, schöner Anzug, den 9
man ganz zu Unrecht getragen hat... »Einen gelb-roten Papagei«, erklärte der Mann mit den vielen weißen Haaren. »Er ist mir vor einer halben Stunde weggeflogen. Ich bin nämlich der neue Mieter von gegenüber, und du weißt sicherlich, wie bei einem Umzug alles drunter und drüber geht!« Hinter Tino flatterte es. Und dann flog der bunte, der wunderbare Papagei auf die Schulter des fremden Mannes. »Schule!« krächzte er. »Pause! Rrrrrrrr! Pause!« Der fremde Mann lachte, und seine Brillengläser blitzten freundlich. »Da ist er ja, der Ausreißer. Und es geht ihm gut, wie ich sehe. Du magst ihn wohl, was?« »Ja!« sagte Tino und mußte schlucken. Etwas saß ihm plötzlich heiß und schwer auf der Brust. »Ich mag ihn!« Der fremde Mann betrachtete Tino. »Möchtest du ihn noch ein wenig behalten?« fragte er. »Ich meine, bis ich mit dem Einräumen fertig bin. Du kannst ihn mir heute abend bringen. Oder wird er deine Mutter stören?« »Meine Mutter ist nicht da«, antwortet Tino. »Sie muß arbeiten. Ich bin allein zu Hause. Und ein Vogel stört mich überhaupt nicht. Im Gegenteil!« Der fremde Mann lachte. »Dann behalte den Ausreißer nur noch ein wenig«, sagte er. »Er heißt üb rigens ›Nick‹! Hast du schon bemerkt, wie er mit dem Kopf nicken kann?« Damit drehte er sich herum, und Tino und sein neuer Freund gingen wieder nach drinnen. 10
Es wurde ein schöner Donnerstag für Tino. Nick begleitete ihn durch die ganze Wohnung, hockte sich neben ihn, und ab und zu krächzte er: »Schule! Pause! Rrrrrrrr! Pause!« »Herr Lehrer!« sagte Tino dann und verbeugte sich. »Sie sind sehr klug. Ich glaube, Sie könnten mir wirk lich das Lesen beibringen!« »Lesen!« schnarrte Nick. »Rrrrrrrr! Pause!«
2. Kapitel
Kurz bevor seine Mutter nach Hause kam, trug Tino den Papagei zu dem neuen Mieter hinüber. Alles roch frisch und gut in der fremden Wohnung. Überall blitzte es vor Sauberkeit. Das Netteste aber war der neue Mieter selbst. Er hatte die Brille abgenommen und rieb sich die Augen. »Nun, junger Mann?« sagte er. »Über was hast du dich mit Nick unterhalten?« »Über die Schule«, erklärte Tino. Und das stimmte ja auch. »Du gehst wohl gern zur Schule?« fragte der neue Mieter. Tino seufzte, und sein kleiner, brauner Rücken wur de ganz rund vor Kummer. »Schon...« antwortete er. »Bloß das Lesen ist so schwer! Ich müßte mehr üben, sagt mein Lehrer. Mit meiner Mutter. Aber Mutti ist abends sehr müde.« »Und du sicher auch!« Der neue Mieter nickte und 11
fuhr sich durch die weißen, dichten Haare. Geradeso, als ob er sich etwas überlege... »Schule!« krächzte Nick. »Lesen!« Er blinzelte mit den tintenschwarzen Äuglein zu seinem Herrn hinü ber. »Du bist gar nicht so dumm, Nick!« meinte da der neue Mieter. Und er sah mit einem Mal aus, als habe ihm Nick, der Papagei, etwas Wunderbares und ganz Einfaches erzählt. »Wirklich, Nick, das ist ein guter Gedanke!« Er wandte sich zu Tino, legte ihm die Hand auf die Schulter und meinte: »Du gefällst mir, junger Mann! Und unserem Nick ebenfalls. Wie wäre es, wenn wir da ein wenig zusam menhielten? Du achtest ab und zu auf Nick, und ich achte ein bißchen auf dich. Ich kann nämlich ganz gut lesen, und es würde mir Spaß machen, es dir beizubrin gen...« »Wie in der Schule?« rief Tino erstaunt. »Und es macht gar nichts, wenn ich ab und zu einmal daneben lese?« »Überhaupt nichts!« erklärte der neue Mieter. »Dann brauche ich ja gar keine Angst zu haben...«, stotterte Tino. »Ich meine, vor dem neuen, strengen Lehrer, den wir nach den Sommerferien bekommen. Du meine Güte!« Er atmete auf, so tief und so voller Glück, daß Nick den Kopf schief legte und ihn neugierig anblinzelte. »Rrrrrrrr!« krächzte er. »Lesen! Pause!« Der neue Mieter räusperte sich und griff nach seiner 12
Brille. »Man soll nie Angst haben«, sagte er. »Es gibt immer einen Ausweg. Nur muß man sich Mühe geben, ihn zu finden. Aber wir haben ihn gefunden, glaube ich!« Da fiel Tino der große Stein - dieser mächtige ABCStein - nun wirklich vom Herzen, und er nickte glück lich zu Nick hinüber. »Vielen Dank, Nick! Vielen Dank, Herr Rabe!« sag te er. Und er war froh, weil Nick ihm beigebracht hatte, daß ein »a« nun einmal kein »e« ist...
3. Kapitel
Schon am nächsten Tag begann der Unterricht mit Nick, dem Papagei, und Herrn Rabe, dem neuen Mieter. Tinos Mutter war es recht gewesen, und so konnten alle miteinander zufrieden sein. Drunten im Garten wurden zwei Stühle und ein kleiner Tisch aufgestellt, die Lesefibel zurechtgelegt, und im Schatten des schiefen Birnbaums fuhr Tino mit dem Zeigefinger über die Seiten und verwandelte Buchstaben und Worte in Sätze. Er stockte oft, und dann rief Nick: »Dummkopf! Pause! Lesen! Rrrrrrrr! Pause!« Herr Rabe lachte, und seine Brillengläser funkelten. Er ließ Tino die schwierigen Worte wiederholen, und er war noch viel geduldiger als der Lehrer, den Tino die ganze Zeit über gehabt hatte. Nur eines gab es, was Tino sich nicht erklären konn 13
te: Wie kam es, daß Herr Rabe so lange Ferien hatte? Mußte er nicht arbeiten? Welch eigenartigen Beruf hatte er wohl? Doch er schluckte seine Neugier hinunter. Nur ein mal fragte er Nick: »Was ist dein Herrchen eigentlich?« Nick zwinkerte. »Rrrrrrrr!« krächzte er. »Pause! Lesen! Pause! Schule!« »Du meine Güte!« rief Tino. »Aus dir wird man manchmal nicht klug!« Da sah es zum ersten Mal aus, als ob Nick ein klein wenig beleidigt wäre. So vergingen die Ferien. Es waren herrliche Tage für Tino. Endlich hatte er zwei Freunde. Einen großen und einen kleinen. Und er war gar nicht mehr allein, und der mächtige ABC-Stein lag auch nicht mehr auf seinem Herzen. Denn nun las Tino schon genauso gut wie alle Kinder in seiner Klasse, und Herr Rabe war sehr zufrieden mit ihm. »Dein neuer Lehrer wird sich freuen«, sagte er und lächelte. »Obwohl er so streng ist?« fragte Tino zweifelnd. Da lachte Herr Rabe, daß es durch den ganzen klei nen Garten schallte. »Bestimmt!« rief er. »Bestimmt!« Und er wischte sich vergnügt die Brillengläser blank.
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4. Kapitel
Einen Tag, bevor die Schule anfing, war Herr Rabe sehr beschäftigt. Tino bekam ihn kaum zu sehen. Nur Nick besuchte ihn und flatterte lebhaft in der Küche umher. »Schule!« krächzte er. »Lesen! Rrrrrrrr! Pause!« Jawohl, Pause! dachte Tino. Morgen fängt die Schule an, und dann ist der neue, strenge Lehrer da. Du meine Güte! Am nächsten Morgen stand er sehr früh auf. Er zog sich schnell an und war einer der ersten im Schulhof. Vergnügt rannten seine Freunde herbei. Sie waren alle braungebrannt, und die Schulranzen tanzten auf ihren Rücken. »Heute kommt der Neue!« sagten sie, und der lange Franz meinte: »Au weh, Tino, jetzt nimm dich zusam men!« Das tat Tino denn auch wirklich. Kerzengerade saß er in seiner Bank und wartete auf den neuen Lehrer. Die Tür ging auf. Tino reckte den Hals. Und da kam jemand in den Schulsaal hinein! Tino sah eine lange Gestalt. Weißes, dichtes Haar glänzte, Brillengläser funkelten, und eine sehr bekannte Stimme sagte: »Guten Morgen, Kinder!« »Guten Morgen!« antworteten die Kinder. Alle - bis auf Tino. Der saß mit offenem Mund in seiner Bank und starrte zu dem neuen, strengen Lehrer hinüber. Eben hatte dieser etwas auf das Pult gestellt. Einen goldenen Käfig! Darin schaukelte ein rot-gelber Vogel 15
auf einer kleinen Stange. »Schule!« krächzte er. »Lesen!« Der neue Lehrer wandte sich um. »Liebe Kinder«, begann er, »ich habe euch meinen Freund mitgebracht. Er ist ein Papagei und heißt ›Nick‹. Er kann mit dem Kopf nicken und sprechen. Er geht schon seit vielen Jahren mit mir. Und deshalb kann er auch viele Worte sagen, die mit euch und der Schule zu tun haben. Aber jetzt wollen wir ihm einmal zeigen, was ihr könnt, ja?« »Ja!« schrien die Kinder, und der lange Franz flüs terte Tino zu: »Du, der Neue ist prima!« Tino nickte, und da schaute der neue Lehrer zu ihm her. Mitten hinein in Tinos Augen. »Ich heiße Rabe«, sagte er und lächelte. »Und ich glaube, wir werden uns gut verstehen. Was meinst du, Tino?« Tino fühlte, wie es ihm warm und froh ums Herz wurde. »Bestimmt!« antwortete er, und er sagte es so laut, daß die anderen sich umdrehten. »Nun, Tino, dann zeige doch einmal, wie gut du lesen kannst«, meinte Herr Rabe. Und Tino griff zur Fibel. Er schlug sie auf, und ohne Stocken und Zögern las er die schwierigsten Sätze. Es war ganz still in der Klasse, und Tino hörte, wie sein Herz vor Freude pochte. »Gut!« rief Herr Rabe, der neue Lehrer. Und es klang sehr stolz. »Das war wirklich ausgezeichnet, junger Mann!« 16
Ganz schnell zwinkerte er dabei einmal zu Tino hin über, und Nick, der bunte, wunderbare Nick, krächzte. Gerade wie im Garten unter dem schiefen Birnbaum: »Schule! Lesen! Rrrrrrrr! Pause!«
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Peter und die Traumkiste
Peter entdeckt etwas
In einem großen, hohen Haus in der Stadt wohnt ein kleiner Junge. Er heißt Peter. Viele Leute leben in den fünf Stockwerken des großen, hohen Hauses. Am besten versteht sich Peter mit dem Hausmeister, Herrn Nagel. Er ist sein Freund. Peter geht seit einem Jahr zur Schule und kann schon recht gut lesen. Doch er hält noch mit dem Zeigefinger die Buchstaben fest. Und wenn ein besonders schwieri ges Wort kommt, reibt er sich das linke Ohr. Dann wird es leichter für ihn, sagt er. Meist ist Peter ein sehr vergnügter Junge mit strubbe ligem Haar und lustigen, braunen Augen. Heute jedoch kann das niemand von ihm sagen. Sehr langsam und artig steigt er die Treppe zum dritten Stock hinauf. Der Hausmeister begegnet ihm. »Guten Morgen, Peter!« ruft er. »Du siehst ja so verändert aus. So glatt gekämmt und so traurig!« Der Hausmeister lacht ein wenig. Peter kann nicht mitlachen, dafür ist er viel zu glatt gekämmt und viel zu traurig. »Ich verabschiede mich gerade«, sagt er. »Von allen Leuten im Haus. Morgen ziehen wir doch um.« Der Hausmeister bekommt ein ganz betrübtes Gesicht. »Natürlich! Und wir werden dich alle sehr 18
vermissen!« Peter steigt weiter die Treppe hinauf. Gerade, als er an der Wohnungstür im dritten Stock klingeln will, kommt seine Mutter heraus. Sie hat ein buntes Kopftuch umgebunden. »Bist du mit dem Abschiednehmen fertig?« fragt sie und lächelt Peter an. »Du kannst mit mir auf den Speicher gehen und mir ein bißchen leuchten. Ich muß da oben noch allerlei zusammenpacken.« Auf dem Speicher brennt nur eine trübe elektrische Birne, und Peter läßt den Schein seiner Taschenlampe wie eine hellgelbe Maus über den Boden huschen. Plötzlich bleibt Peter stehen. Er und seine Taschen lampe haben etwas Seltsames entdeckt. Als Peter näher hinschaut, merkt er, daß es eine Kiste ist. Die Kiste ist nicht groß. Höchstens so groß, daß ein Fußball darin Platz hätte. Sie ist aus Holz und sieht sehr fest aus. Und sie ist bunt, glänzend bunt! Zwei Seiten sind rot bemalt, die anderen blau, und der Deckel leuchtet in einem kräftigen Gelb. »Eine seltsame Kiste ist das!« meint Peter. »Ein bißchen seltsam ist sie schon«, sagt seine Mutter. »Aber sie ist ja auch eine Traumkiste!« Peters Augen werden kugelrund. »Eine Traumkiste? Wem gehört sie denn?« »Mir!« sagt seine Mutter. »Ich habe mit ihr gespielt, als ich noch ein kleines Mädchen war.« Peter staunt noch mehr und reibt sich das linke Ohr. »Die Kiste ist aber noch wie neu...« findet er. »Ich habe auch nicht oft mit ihr gespielt«, erklärt 19
seine Mutter und sieht mit einem Mal ein wenig nach denklich aus. »Nur an ganz bestimmten Tagen.« »Ach! Und wann war das?« »Wenn ich einmal traurig war«, antwortet seine Mutter. »Was?« ruft Peter. Er schüttelt den Kopf. Es ist schon schwer genug, sich vorzustellen, daß seine Mutter einmal ein kleines Mädchen war. Aber daran zu denken, daß sie auch einmal ein trauriges kleines Mädchen war... »Alle Kinder sind ab und zu einmal traurig«, sagt seine Mutter und nimmt ihn an der Hand. »Traurig und dann wieder lustig. So geht es dir doch auch, Peter. Nicht wahr?« Peter denkt an den bevorstehenden Umzug und muß schlucken. Und nur die feste, warme Hand seiner Mutter läßt ihn das brennende Gefühl in seinem Hals vergessen.
Die Traumkiste
Der Tag geht so langsam, als wäre er ein alter, müder Mann, der dickes, schweres Blei an seinen Fußsohlen hat. Niemand findet Zeit, mit Peter zu spielen. Alle laufen nur sehr beschäftigt hin und her und reden von dem neuen, wunderschönen Haus in der anderen Stadt. Einen hohen, dichten Zaun aus lauter Büschen habe es, eine große Tanne dicht vor den Fenstern und 20
einen kleinen Garten mit einem pfeifenrauchenden Steinzwerg darin. An diesem Abend muß Peter früh ins Bett. »Vater und ich haben noch sehr viel zu arbeiten«, sagt seine Mutter. »Wasche dich bitte und gehe in dein Zimmer. Du kannst dort noch ein wenig spielen.« Ganz plötzlich sieht es aus, als ob Peter anfangen müsse zu weinen. Aber er beißt sich auf die Lippen und beherrscht sich. Seine Mutter schaut ihn liebevoll und nachdenklich zugleich an. Gerade so wie heute morgen auf dem Speicher, nachdem sie die seltsame Kiste entdeckt hat ten... Und dann - als Peter ein wenig später in sein Zim mer kommt - bleibt er wie erstarrt an der Tür stehen. Vor ihm, auf dem kleinen Tisch an seinem Bett, da steht etwas: bunt, leuchtend und geheimnisvoll! Die Traumkiste vom Speicher! Langsam geht Peter näher und streckt die Hand nach ihr aus. Glatt und kühl fühlt sich das Holz an. Der eiserne Riegel ist offen. Ganz, ganz vorsichtig schiebt Peter den Deckel hoch und zieht etwas aus der Traumkiste hervor. »Plumm!« macht es, und dann liegt ein kleines Geschöpf auf dem Tisch. Es ist keine Puppe, es ist kein Kasper, es ist ein merkwürdiges Männchen aus Stoff und Wolle. Aus einem runden Gesichtchen blinken schwarze Knopfaugen. Wirre Haare fallen in braunen, roten 21
und gelben Fransen über die großen Ohren. Unter ih nen leuchtet ein kariertes Jäckchen mit himmelblauen Knöpfen. Zitronengelbe Hosen baumeln um zwei kur ze Stoffbeinchen. Das Schönste aber ist der breite, rote Mund. Er zieht sich wie eine freundliche Mondsichel von einem Ohr zum anderen und Peter starrt entzückt darauf. »Plumm!« sagt er. »Ich werde dich Plumm nen nen!« Er fährt mit der Hand erneut in die Kiste hinein. Als er sie wieder herauszieht, staunt er. Das sind ja ganz alltägliche Dinge, die da zum Vorschein kommen; Wollknäuel, Holzstäbchen, Schachteln, ein Säckchen mit grauweißer Watte, eine Handvoll alter Nüsse, drei goldene, ein wenig verbogene Pappsterne und ein gan zes Bündel bunter Stoffreste. »So etwas!« ruft Peter. »Und das nennt sich nun eine Traumkiste!« Enttäuscht starrt er auf das Durcheinander. Doch da fangen seine Finger plötzlich an, mit all den alltäglichen Dingen zu spielen. Sie neh men die Hölzchen hoch, stecken sie in die Wollknäuel hinein und schon werden Hunde, Schweinchen und Schafe daraus. Die Schachteln richten sich auf und bauen wie von selbst ein langgestrecktes, prächtiges Dorf. Grauschwarze Wattefähnchen wehen als Rauch von den flachen Dächern. Die Nüsse werden zu Felsen, die Knöpfe legen sich zu Straßen zusammen, und mit einem Male hockt der kleine Plumm inmitten all der Herrlichkeit, und seine runden Äuglein blinken. Peter ist glücklich. Er hat noch etwas entdeckt: eine winzige, 22
silberne Glocke. Sie kam als letztes aus der Traumkiste heraus. Schnell bindet er sie Plumm um den Hals, läßt sie einmal läuten und da...
Die Traumkiste wird lebendig
»Vielen Dank, Peter!« sagt das Stoffmännchen mit einer hellen, ein wenig schnarrenden Stimme. »Ein schönes Dorf hast du da aufgebaut, und einen hübschen Namen hast du mir auch gegeben!« Peter starrt Plumm an und reibt sich das linke Ohr. »Du kannst ja sprechen!« ruft er. »Natürlich kann ich sprechen!« erwidert Plumm, beinahe gekränkt. »Es versteht bloß niemand unsere Sprache. Nur derjenige, der richtig traurig ist. Und du bist doch traurig, Peter?« Das ist schwierig! Darf man als großer Junge, der schon zur Schule geht, zugeben, daß man traurig ist? Peter denkt nach und entschließt sich zur Wahrheit. »Ich bin traurig!« gesteht er. »So ein bißchen, weißt du? So ein ganz großes bißchen!« Plumm sieht aus, als könne er das gut verstehen. »Und warum bist du traurig?« »Weil...«, sagt Peter stockend, »weil wir morgen umziehen.« So, da ist es heraus! Und nun sprudelt Peter in ei nem Atemzug hervor, was ihm das Herz bedrückt: der Abschied von all den freundlichen Leuten hier, das unheimliche, fremde Haus, das auf ihn wartet, und die 23
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riesige Tanne, die dort in alle Fenster schaut. Als er en det, sieht Plumm ihn mitleidig an. »Du nimmst es ein wenig schwer«, findet er. »Andere Kinder freuen sich über einen Umzug. Das heißt, es gibt auch viele, die sich vor all dem Neuen fürchten. Deshalb wollen wir einmal überlegen, was da zu tun ist. Halt, ich hab‘s! Wir schauen uns dein neues Haus einfach einmal he imlich an!« »Jetzt?« ruft Peter. »Mitten in der Nacht?« »Natürlich! Jetzt! Mitten in der Nacht!« »Aber wie denn? Und womit nur?« stammelt Peter. »Wie sollen wir denn in die fremde Stadt kommen?« Plumm macht eine großartige Handbewegung, und seine schwarzen Knopfaugen blinken. »Auf dem Bun ten Valentin natürlich! Schau nur, dort liegt er!« Peter dreht sich um, und was er da sieht, ver schlägt ihm die Sprache: Die bunten Stoffreste aus der Traumkiste, mit denen er nichts anzufangen wußte, bewegen sich und heften sich aneinander. Ein gro ßer, dreieckiger Kopf wächst aus ihnen heraus. Etwas schwänzelt, etwas ruckt, und dann knurrt eine tiefe, rasselnde Stimme: »Aufsteigen, meine Herrschaften! Die Fahrt ist kos tenlos und narrensicher. Wer schwindelig wird, fällt natürlich herunter. Schluß! Aus! Schluß!« »Ein Drache! Ein richtiger Drache!« Peter holt tief Luft. Doch da zieht Plumm ihn schon zu dem schnau fenden Untier hinüber, und Peter muß auf den buntge musterten Rücken klettern. Gerade auf den rotgepunk teten Stoffschwanz kommt er zu sitzen. 25
»Los, Bunter Valentin!« kräht Plumm, und mit ei nem Ruck segeln sie durch das Fenster - hinaus in die Nacht. Es ist mild draußen, ein sanfter Wind spielt mit Plumms rotkariertem Jäckchen, der Himmel ist wie ein Tuch aus tiefblauem Samt, und mittendrin funkeln drei goldene Sterne. Sie kommen Peter sehr bekannt vor. »Kurs Nord-Nordwest!« befiehlt Plumm. »Und dann senkrecht hinunter!« »Senkrecht!« brummt der Bunte Valentin. »Ich habe keine Lust, mir meinen wertvollen Hals zu brechen. Schluß! Aus! Schluß!« Aber dann stürzt er sich doch folgsam kopfüber in die Tiefe, und wild schaukelnd landen sie auf der gro ßen Straße vor einem dunklen, fremden Haus. Peter erkennt es sogleich wieder. Es ist das neue Haus. Das schreckliche, einsame Haus, in das sie morgen einzie hen werden. Der Vater hat es ihm gestern aufgemalt, und nun entdeckt Peter auch den hohen Zaun aus dich ten Büschen, die braune Gartentür, die dunkle Tanne und vorne am Eingang den pfeifenrauchenden Zwerg. Plumm legt den Finger auf den Mund, und leise schleichen sie in den Garten hinein. »Sie schlafen alle!« murmelt Plumm. »Um so besser!« Doch da gibt es einen fürchterlichen Knall. Es dröhnt und kracht, und als sie sich umdrehen, schneuzt sich der Bunte Valentin soeben mit einem riesigen Schnupftuch. »Verzeihung!« knurrt er verdrießlich. »Mußte nie sen! Senkrecht zu landen ist zu viel für meine arme 26
Nase gewesen. Schluß! Aus! Schluß!« Natürlich ist mit einem Mal alles um sie herum le bendig geworden. Der pfeiferauchende Gartenzwerg reibt sich die Augen, die Tanne schüttelt sich, die Büsche flüstern miteinander, und ein Eichhörnchen springt herbei. »Was wollt ihr hier?« fragt es und zeigt seinen schö nen, buschigen Schwanz. »Wir wollten uns das Haus ansehen«, erklärt Plumm. »Wir haben gehört, daß es leersteht.« »Nur bis morgen!« verrät das Eichhörnchen geheim nisvoll. »Dann wird es endlich wieder lebendig bei uns.« »Ja!« sagt auch die Tanne und schüttelt ihre langen, schwarzen Äste zurecht. »Ab morgen geht es hier wie der lustig zu. Ein kleiner Junge wird einziehen. Und ich kann gerade in sein Kinderzimmer schauen und ihm beim Spielen zusehen. Das ist wundervoll!« »Und ich werde einen Spielkameraden bekommen!« erklärt der kleine Zwerg und dampft mächtig aus sei ner langen Pfeife. »Die ganze Zeit hat ein kinderloses Ehepaar in unserem Haus gewohnt. Nun wird es end lich wieder fröhlich zugehen!« »Fröhlich!« kichern die Büsche und rascheln mit ih ren Blättern. »Wir freuen uns alle sehr! Nein, das Haus ist nicht mehr zu vermieten!« Peter steht inmitten all der Stimmen und schaut von Plumm zu dem Bunten Valentin hinüber. Sie zwinkern ihm beide zu, und da wird es Peter mit einem Mal ganz froh und leicht ums Herz. Er rennt zu dem Drachen, schwingt sich auf seinen Rücken und winkt zu dem 27
neuen wunderschönen Haus hinüber. »Auf »Wiedersehen!« schreit er. »Auf Wiedersehen bis morgen!« Sie fliegen zurück, und der Nachtwind zerrt ein we nig heftiger an ihnen. Aber Peter ist glücklich. In seinem Zimmer sinkt er sofort in sein Bett, und auch Plumm legt sich in dem schönsten Schachtelhäuschen nieder.
Auf Wiedersehen, Traumkiste!
Am nächsten Morgen wacht Peter mit einem frohen Gesicht auf. »Plumm!« ruft er. Aber die Traumkiste ist weg, verschwunden. Als ob sie selbst nur ein Traum gewesen wäre. »Ach, wie schade!« murmelt Peter vor sich hin. »Aber eigentlich ist es ganz richtig so. Nun bin ich ja nicht mehr traurig!« Die Möbelwagen rollen heran, die Möbelträger stampfen die Treppen hinauf und hinunter, und dann ist plötzlich die alte Wohnung leer. Peter gibt allen zum Abschied die Hand. Am festesten drückt er sie seinem Freund, dem Hausmeister. »Heute siehst du wenigstens wieder fröhlich aus!« meint dieser und wischt sich über die Augen. »Das neue Haus freut sich ja auch auf mich«, er widert Peter. »Aber trotzdem werden Sie immer mein bester Freund bleiben, Herr Nagel!« Er stapft hinter seinen Eltern her und winkt noch oft 28
zurück. Vor dem Auto bleibt er stehen. »Mutti!« sagt er und reibt sich das linke Ohr. »Und die Traumkiste? Wo ist sie jetzt?« Es klingt ein wenig verlegen. »Im Möbelwagen!« antwortet seine Mutter und nimmt ihn bei der Hand. »Sie fährt mit uns. Falls sie wieder einmal gebraucht wird, weißt du.« »Dann ist es ja gut!« sagt Peter zufrieden, und er steigt endlich ein.
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Der große und der kleine Riese
1. Kapitel
»Guten Morgen, Papa!« sagte der kleine Riese zu dem großen Riesen. Der kleine Riese trug ein hellblaues Hemd, hellrote Hosen, und auf dem Kopf hatte er einen hellgelben Hut. Es paßte alles sehr schön zu ihm. Der große Riese trug ein dunkelblaues Hemd, dun kelrote Hosen, und auf dem Kopf hatte er einen dun kelgelben Hut. Es paßte ebenfalls alles sehr schön zu ihm. Natürlich war der kleine Riese der Sohn des großen, und deshalb verstanden sich die beiden auch so gut. »Guten Morgen, mein Sohn!« erwiderte der große Riese und schneuzte sich bedächtig. Der Frühling war gekommen. Mit heftigem Regen und Wind war er über die hohen Berge gezogen. Er hatte viele Schnupfen mitgebracht. Einen davon besaß nun auch der große Riese... »Ich möchte heute nicht zur Schule!« erklärte der kleine Riese und zog die Stirn in Falten. Der große Riese brummte. »Du willst nicht zur Schule?« fragte er. »Du meine Güte, wenn ich das frü her zu meinem Vater gesagt hätte!« »Ich will wirklich nicht zur Schule!« wiederholte der kleine Riese. »Es gefällt mir dort überhaupt nicht 30
mehr!« »Hatschi!« machte der große Riese und schwenkte sein Taschentuch wie eine gewaltige Fahne. Wenn ihr die Fahne gesehen hättet! Na bitte, sie war drei Meter breit und drei Meter hoch, und blaukariert war sie auch! »Dieser Frühling!« murrte der große Riese. »Der soll mich nur noch einmal besuchen! Nächstes Jahr werfe ich ihn eigenhändig hinaus. Ich bitte mir aus, daß der Sommer zuerst kommt!« Danach fiel dem großen Riesen aber wieder sein kleiner Riese ein. »Weshalb gefällt es dir nicht mehr in der Schule?« wollte er wissen. »Weil ich der Kleinste von allen bin!« antwortete der kleine Riese verschämt. »Was ist schon dabei!« rief der große Riese. »Du bist ja auch der Jüngste von allen. Warte nur ab, in einem Jahr...« Der kleine Riese fiel ihm ins Wort, und sein hell gelber Hut schaukelte stürmisch. »Ich will aber nicht warten!« sagte er. »Das kann ich nicht!« Der große Riese kratzte sich am Ohr. »Jeder kann warten!« brummte er. »Und wer es nicht kann, muß es eben lernen. Verstehst du das?!« Nun nicken die Riesen, wenn sie etwas verstanden haben, mit dem Kopf. Genau so wie wir Menschen! Da aber alles bei den Riesen viel gewaltiger ist - der Kopf und das Nicken zum Beispiel! - fällt auch alles viel stürmischer aus als bei uns. Wenn die Riesen nicken, 31
erhebt sich ein richtiger Wind! Auf diesen Wind wartete nun der große Riese. Aber es erhob sich keiner, denn der kleine Riese nickte nicht. Er blinzelte nur mit seinen hellgrünen Augen unter dem hellgelben Hut hervor und sah sehr betrübt aus. »Ich kann eben nicht warten!« sagte er. »Ich möchte auf der Stelle groß sein! Und ich will nicht immer unter Riesen leben, die viel, viel größer sind als ich!« Da wurde der große Riese zornig. Er zog sein grim migstes Gesicht, schnallte dem kleinen Riesen eigen händig den Schulranzen auf, gab ihm einen Klaps hin tendrauf, nahm ihn fest bei der Hand und machte sich mit ihm auf den Weg. Vor der Schule sah der große Riese, daß sein Sohn wirklich der Kleinste von allen Riesenkindern war. Aber es störte den großen Riesen nicht!. Er wußte ja, daß der kleine Riese der Jüngste war, und außerdem fand er ihn am allernettesten. Ganz schnell fuhr er ihm deshalb über die hübschen, schwarzen Wurzelhaare. Aber der kleine Riese war nicht zu trösten. Er trot tete durch das Schultor und winkte kein einziges Mal zurück. Nachdenklich stapfte der große Riese nach Hause. In seinem Kopf liefen die Gedanken hin und her. Treppauf und treppab, kreuz und quer! »Es muß etwas geschehen!« murmelte der große Riese vor sich hin. »Da muß doch irgend etwas gesche hen!«
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2. Kapitel
Das Riesenschicksal nahm dem großen Riesen das viele Überlegen ab. Als der kleine Riese an diesem Tag aus der Schule kam, strahlte er, und sein hellgelber Hut schaukelte vergnügt. »Papa, ich habe etwas Wunderbares auf einem Bild gesehen!« rief er. »Papa, du wirst staunen!« »Und warum?« brummte der große Riese, der sich von all dem Denken immer noch ein bißchen schwach fühlte. »Ich habe einen gemalten Menschen gesehen!« schrie der kleine Riese und warf seinen Schulranzen - holterdiepolter! - zu Boden. Der große Riese fuhr auf und mußte sich an sei nem dunkelblauen Hemd festhalten. So schwindelig war es ihm auf einmal! »Einen Menschen!« schrie er zurück. »Und so etwas Mausekleines, Nageldünnes, Kurzfüßiges findest du schön?!« Der kleine Riese senkte den Kopf. »Die Menschen sind so wunderbar klein«, gestand er. »Papa, ich möch te zu ihnen. Wie herrlich muß es sein, wenn man von allen der Größte ist!« Der große Riese brüllte auf und starrte seinen kleinen Riesen an. »Mein eigener Sohn will zu den Menschen! Oh, wenn ich doch nur eine Wurzelknolle wäre!« Der kleine Riese seufzte. »Bitte, Papa!« sagte er höf lich. »Ich kann wirklich nicht warten, bis ich endlich groß bin!« 33
Dabei blickte er den großen Riesen so treuherzig aus seinen hellgrünen Augen an, daß es diesem ganz eigentümlich ums Herz wurde. Genau so wie der kleine Riese sah nämlich die Riesenmama aus, die für kurze Zeit zu ihrem kranken Bruder gegangen war. Der große Riese kratzte sich am Ohr. »Gut denn, mein Sohn!« sagte er. »Du sollst für ein Weilchen zu den Menschen gehen. Aber ich werde dich begleiten!«
3. Kapitel
Trotz seines starken Schnupfens war der große Riese noch am gleichen Tag mit dem kleinen Riesen aufge brochen. Es war ein weiter Weg ins Menschenland. An Wäl dern, Feldern, Seen und hohen Bergen ging es vorbei. Die Wolken am Himmel wanderten mit. Aber sie mußten zurückbleiben, wenn der große und der kleine Riese so richtig ausschritten. Endlich hatten die beiden den letzten Riesenberg hin ter sich gelassen und standen vor dem Menschenland. Damit war plötzlich alles viel kleiner geworden. Die Flüsse waren Bäche für sie, die Seen waren Pfützen. Die Bäume sahen wie borstige Zahnstocher aus, und die Häuser kamen ihnen wie bunte Schachteln vor. Der kleine Riese schaute sich strahlend um. »Jetzt bin ich wirklich ein Riese!« rief er. Und das stimmte ja auch. »Ich bleibe hier«, sagte der große Riese und blickte 34
dem kleinen Riesen in die Augen. »Geh du nur allein zu den buntbemalten Schachteln hinunter. Ich werde hier oben auf dich achtgeben!« Der kleine Riese bekam rote Backen vor Aufregung. Nun wußte er, daß er endlich erwachsen war: er durfte alleine gehen! Ja, im Menschenland brauchte er nicht erst zu warten, bis er groß war, da war er es ganz ein fach schon! Kurz entschlossen stiefelte er nach unten. An sei nem hellblauen Hemd zupfte der Wind, seine hellroten Hosenbeine flatterten, und der hellgelbe Hut wippte. »Auf Wiedersehen, Papa!« rief er über die linke Schulter zurück. Der große Riese hatte sich im Gras niedergelassen und wischte sich mit einem Haselstrauch den Staub von den Schuhen. »Auf Wiedersehen, mein Sohn!« erwiderte er betrübt. Der kleine Riese kam schnell voran. Bald schon stand er unten im Tal vor den buntbemalten Schachteln und schaute sich um. Nein, was haben die Schachteln für eigenartige rote Zipfelmützen auf, dachte er. Er konnte ja nicht wissen, daß die Schachteln Häuser und die Zipfelmützen ihre Dächer waren. Bei ihnen im Riesenland lebten sie in großen, wunderbaren Höhlen... Zum Spaß faßte der kleine Riese eine der Zipfelmützen an und hob sie in die Höhe. Tatsächlich, die Mütze paßte ihm! Vielleicht stand sie ihm sogar noch besser als der hellgelbe Hut?! Schnell nahm er den Hut ab und drückte sich die 35
neue Mütze auf den Kopf. Seinen Hut ließ er auf der buntbemalten Schachtel nieder. Da erhob sich plötzlich ein gewaltiger Lärm unter ihm. Aus den vielen Schachteln rannten viele Men schen, und alle schrien sie miteinander. Der kleine Riese betrachtete sich die Menschen ge nau. Es waren ja schließlich die ersten, die er aus der Nähe sah... Du meine Güte, wie waren die Menschen niedlich! Sie reichten ihm tatsächlich nur bis zu seinen kleinen schwarzen Stiefeln! »Um Himmelswillen!« schrien die Menschen. »Was ist denn bloß geschehen? Der Sturm hat das Dach unse res Bürgermeisters abgedeckt und etwas Schreckliches, Gelbes auf sein Haus gesetzt! Holt die Feuerwehr! Schnell! Schnell!« Der kleine Riese wunderte sich. Er fand den gel ben Hut auf der buntbemalten Schachtel sehr hübsch. Vielleicht stand er den Leuten vor dem Licht, so daß sie das nicht richtig erkennen konnten? Ganz langsam stakte er deshalb weiter. Da erhob sich erneut der gewaltige Lärm. »Zu Hilfe!« schrien die Leute. »Ein Ungeheuer geht durch unser Dorf. Ein Ungeheuer in hellroten Hosen! Holt doch nur endlich die Feuerwehr! Schnell! Schnell! Schnell!« Der kleine Riese traute seinen Ohren nicht. Hatte er recht gehört? Ein Ungeheuer nannten ihn die Menschen? Und etwas wollten sie holen, das sie mit lauter Stimme eine »Feuerwehr« nannten? 36
Der kleine Riese wurde sehr betrübt. In seiner Verwirrung hätte er beinahe zwei der buntesten Schachteln umgerannt, und die Leute schrien erneut auf. »Holt doch endlich die Feuerwehr! Schnell! Schnell!« Da sprang der kleine Riese mit einem riesigen Satz über das Schachteldorf hinweg. Er nahm sich seinen hellgelben Hut, steckte die rote Zipfelmütze zurück und stapfte davon. Hoch oben auf dem Berg entdeckte er die borstigen Wurzelhaare seines Vaters, und ein ei gentümliches Gefühl zog durch sein Herz. »Nun bin ich wirklich der Größte!« dachte er. »Aber was nützt das schon? Die anderen passen nicht zu mir.« Ganz, ganz langsam kletterte er den Berg hinauf und hielt endlich auf einem grünen Teppich mit vielen weißen Punkten an. Der Teppich gefiel ihm, obwohl er nicht wußte, daß es eine Wiese mit Margeriten war. Hier ist es hübsch, fand er. Hier kann ich in Ruhe nachdenken! Er schloß die hellgrünen Augen und kratzte sich hinter dem Ohr. Genau so, wie es sein Vater, der große Riese, oft tat. Da hörte er etwas hinter sich. Der kleine Riese rich tete sich auf und sah sich um. Gerade zog ein kleiner Junge mit einer großen Schafherde auf dem grünen Teppich mit den weißen Punkten daher. Dicht vor dem kleinen Riesen hielt der Junge ein und starrte an den hellroten Hosenbeinen hoch. »Wer bist denn du?« fragte er. »Dich habe ich ja noch nie hier gesehen. Nein, bist du groß!« 37
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»Ich bin der kleine Riese«, antwortete der kleine Riese traurig. »Und ich ruhe mich von meinen Abenteuern aus.« Und dann schilderte er dem Schäferjungen seine Erlebnisse. Der Schäferjunge lachte. Er hatte ein braungebrann tes Gesicht und kecke, blaue Augen. »Du meine Güte!« rief er. »Und was willst du jetzt tun?« »Das ist es ja eben!« erwiderte der kleine Riese be trübt. »Ich wollte so gern ein bißchen bei euch leben! Ich wollte so gern einmal richtig groß sein. Ich habe dir ja erzählt, daß ich bei uns zu Hause der Allerkleinste bin!« »Was macht das schon?« fragte der Schäferjunge. Da fand der kleine Riese, daß das ein sehr vernünftiger Satz war! Der kleine Riese nickte. Jetzt wißt ihr aber bereits, daß das Nicken bei den Riesen immer mit einem gewaltigen Luftzug verbun den ist! Deshalb fielen denn auch die vielen Schafe und der Schäferjunge vor lauter Wind durcheinander. »Hoppla!« schrie der Schäferjunge. »Nun muß ich erst wieder meine Schafe zählen. Eins, zwei, drei...« Der kleine Riese half ihm, so gut er konnte, und zähl te eifrig mit. Es war eine Riesenarbeit, und prustend plumpste der kleine Riese endlich wieder ins Gras. Es war nur gut, daß er dieses Mal vorsichtshalber in eine andere Richtung prustete. »So!« schnaufte er. »Jetzt sind deine Schafe wieder alle da. Aber sag mal, Schäferjunge, weshalb ziehst du 39
nun nicht mit ihnen weiter?!« »Erstens gefällst du mir«, antwortete der Schäferjunge. »Und zweitens kann ich nicht weiterzie hen. Ob du es glaubst oder nicht, du liegst mir auf dem Weg.« »Oh!« Erschrocken schaute der kleine Riese auf die Erde. Es stimmte! Der Schäferjunge konnte mit seinen vielen Schafen nicht an ihm vorbei. »Nein, so etwas!« rief er. »Weshalb hast du mir das denn nicht schon früher gesagt?« Der Schäferjunge lachte. »Man muß eben warten können! Dann gibt sich alles ganz von selbst. Oder bist du immer noch anderer Meinung?« »Oh, oh, nein...« stotterte der kleine Riese und rückte verschämt an seinem hellgelben Hut. »Oh, oh, nein...« Er stand auf und zog seine hellroten Hosenbeine zurecht. »Ich muß nun wieder gehen«, erklärte er. »Zu meinem Vater!« Der Schäferjunge verstand das und nickte zum Abschied. Da er aber kein Riese war, ging das sehr ruhig vor sich.
4. Kapitel
Geschwind kletterte der kleine Riese den Hang hi nauf. Endlich stand er wieder vor seinem Vater, dem großen Riesen. »Papa!« sagte der kleine Riese. »Ich möchte morgen wieder in unsere Riesenschule gehen!« 40
»Mir scheint, du bist ein ganzes Stück gewachsen!« sagte der große Riese, nahm sein Schnupftuch und putzte sich gerührt die Nase. So marschierten die beiden wieder zurück. Sie beeil ten sich nicht. Ab und zu hielten sie ein, schauten den Wolken zu, streckten ihre Füße in die Seen und kamen als sehr fröhliche Riesen zu Hause an. Die Riesenmama stand schon vor dem Eingang der Riesenhöhle und schaute nach ihren beiden aus. Sie war früher als erwartet zurückgekehrt und freute sich sehr. »Nein, wirklich!« rief sie ihrem Sohn, dem kleinen Riesen, zu. »Du bist gewachsen, mein Herz!« Und dann gab es noch eine freudige Überraschung: Der große Riese stellte nämlich fest, daß er auf der wei ten Reise seinen Schnupfen verloren hatte. »Ich habe es schon nicht mehr abwarten können, bis dieser Schnupfen endlich vorbei war!« schnaufte der große Riese erfreut. »Dabei muß man doch warten können!« meinte der kleine Riese und blickte den Vater aus seinen hellgrü nen Augen an. »Ich kann ja schließlich auch warten, bis ich endlich einmal groß bin!« Der große Riese lachte, daß es durch das ganze Riesenland dröhnte, und faßte den kleinen Riesen um die Schulter. »Das war wirklich eine glückliche Reise, kleiner Riese«, sagte er. »Wie gut sie uns beiden getan hat!« Er zwinkerte dem kleinen Riesen zu. Und weil selbst das schon bei den Riesen einen kleinen Luftzug gibt, 41
schüttelten sich die Bäume vor Fröhlichkeit im Wind.
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Olle Troll
1. Kapitel
In der schönen, großen Stadt Stockholm lebte ein rothaariger Junge. Er war sechs Jahre alt und hieß Erik. Er hatte viele Sommersprossen, und wenn er lachte, sah man, daß ihm ein Zahn fehlte. Diesen Zahn hatte sich Erik selbst gezogen. Mit ei nem Bindfaden, den er um die Klinke einer Tür gekno tet hatte. Als die Tür zuschlug, war der lockere Zahn draußen. Das zeigte, daß Erik ein mutiger Junge war. Aber selbst den mutigsten Jungen kann der Mut ein mal verlassen. Und das kam so: Eriks Vater war Baumeister. Er errichtete an den ent ferntesten Orten des Landes neue und schöne Häuser. Erik sah ihn nur selten, dafür blieb seine Mutter bei ihm. Aber nun hatte Eriks Mutter eine schwere Krankheit überstanden und mußte zur Erholung fahren. Und Erik - ja, Erik sollte zu seinem Großvater. Für ein ganzes, langes dreiviertel Jahr! Eriks Großvater freute sich darauf. Aber Erik konnte das nicht. Er war nämlich nicht nur ein mutiger, sondern auch ein dickköpfiger Junge. Und darum ärgerte er sich sehr. Er wollte nicht fort! Und von seinem Großvater wollte er am liebsten überhaupt nichts wissen. Doch das half ihm nichts. An einem heißen Julitag kam Britta, Großvater Gunnars Haushälterin, und holte 43
Erik ab. Lange Strecken fuhren sie mit der Eisenbahn, und Erik sagte kein einziges Wort. Durch weite Wälder rollten sie mit einem Omnibus, und Erik sagte noch immer kein unnötiges Wort. Nur, als sie an der letz ten Haltestelle ausstiegen, murmelte Erik: »Du meine Güte, nichts als Wald!« Und so war es auch! Großvater Gunnar war Bauer. Er lebte im mittleren Schweden, da, wo es schon an fängt, in den Norden überzugehen. Sein Hof stand dicht am Wald und hieß der Bärenhof. Aber das hatte Erik natürlich schon immer gewußt... Britta lachte und zog Erik zu dem Fuhrwerk, das an einem Seitenweg auf sie wartete. »Schau nur, Olaf holt uns ab«, sagte sie. Olaf war der Knecht auf dem Bärenhof. Er hinkte ein wenig und war klein. Aber sein Mund war groß und reichte beinahe von einem Ohr zum anderen. »Guten Tag, Rotschopf!« sagte er zu Erik und be trachtete schmunzelnd die breite Zahnlücke in Eriks Mund. »Du bist auch nicht mehr der jüngste, wie es scheint!« setzte er noch hinzu. Und Erik mußte alle Zähne zusammenbeißen, damit ihm dieser Olaf nicht etwa gefiel... Sie holperten zum Bärenhof. Groß und stattlich tauchte er vor ihnen auf. Die Bäume machten einen weiten Bogen um ihn und gaben das feste, braune Dach und die vielen Stallungen frei. An den weißen Gebäuden vorbei sah man auf einen blauen See. »Das ist der Bärensee«, erklärte Olaf und kletterte 44
vom Wagen herunter. Und dann stapfte Großvater Gunnar auf sie zu. Er paßte zum Bärenhof. So riesig und breit und stattlich wie er war! Er hatte dichtes weißes Haar, und sein Gesicht war so braun wie das Holzdach des Bärenhofs. »Guten Tag, Großvater Gunnar«, sagte Erik und blickte zu Boden. »Schön, daß du da bist!« antwortete Großvater Gunnar und reichte Erik die Hand. Aber Erik blickte weiter zu Boden, damit ihm diese kräftige, braunge brannte Hand nicht etwa auch noch gefiel... Großvater Gunnar lächelte. »Hier ist dein Vater großgeworden«, sagte er. »Betrachte dir nur alles ganz genau!« Seine Stimme klang tief und freundlich, und man hörte ihr nicht an, daß er längst wußte, wie es um Erik stand. Nämlich, daß Erik ein mutiger, aber auch ein sehr dickköpfiger Junge war. Kommt Zeit, kommt Rat, dachte Großvater Gunnar. Und so zog Erik im Bärenhof ein.
2. Kapitel Die ersten drei Tage waren schnell vergangen. Es gab wirklich viel Neues zu sehen, und Olaf führte Erik durch die großen Ställe und über die grünen Weiden. Aber Erik redete noch immer sehr wenig. Und trotzig dachte er, wie so ganz anders und wie so viel schöner das weit entfernte Stockholm war. 45
Am vierten Tag streifte Erik allein durch den Wald. Hoch und riesig stiegen die Bäume vor ihm auf, und ihre dicken Wurzeln liefen durch kräftiges, grünes Moos. Erik setzte sich auf einen Baumstumpf. Seine Zunge fuhr in die breite Zahnlücke hinein, und er dacht nach. Nein, es gefiel ihm überhaupt nicht auf dem Bärenhof. Und vor Großvater Gunnar fürchtete er sich sogar. Er, der mutige Junge... »O wie langweilig!« sagte Erik laut vor sich hin. »Am besten dichte ich wieder einmal!« Das war eine andere, besondere Eigenschaft von Erik. Er erfand ganze Gedichte. Und er sprach sie dann oft und feierlich vor sich hin. Ungefähr so: »Erik bin ich, Haralds Sohn, und ich gern in Schweden wohn! Schweden ist das schönste Land, was der liebe Gott erfand!« Das klang beinahe gut, aber Erik hatte auch lange dazu gebraucht. Erik schaute sich suchend um. Er hielt gern etwas in der Hand, wenn er dichtete. Das drehte er dann hin und her - und, halt: gerade vor seinen Füßen lag ja et was! Ein kleines, seltsames Holz! Aus einem knorrigen Körper streckten sich zwei steife Arme. Darüber saß ein breiter, dicker Kopf. Um ihn herum wuchs dickes Moos. Es war wie ein struppiger, mächtiger Bart. Ein Wurzelzwerg, dachte Erik und lachte. Er drehte 46
das Holz in der Hand hin und her und freute sich auf sein neues Gedicht. Langsam begann er: »Der Wald ist ja ganz schön und gut,
wenn man den Wald auch lieben tut!
Ich wäre lieber nicht mehr da,
viel schöner ist‘s... in...«
Er stockte und suchte nach einem passenden Reim. »... in Pumpera!« brummte da eine Stimme. »Du meine Güte!« rief Erik. »Na bitte!« sagte die tiefe Stimme. »Wenn du etwas Besseres weißt!« »Pumpera!« sagte Erik. »Das gibt es doch gar nicht. Es muß natürlich heißen: Viel schöner ist‘s in... Afrika!« »Wie du willst!« brummte die Stimme wieder. »Aber da ist mir ›Pumpera‹ wirklich lieber. Pumpera gibt es zwar nicht, aber es könnte wenigstens in Schweden lie gen. Dein Afrika ist ja viel zu weit!« Nun wurde es Erik zu bunt. Er riß die Augen auf und starrte um sich. Wer sprach denn da nur? Es war doch weit und breit kein Mensch zu sehen! Doch da wurde er ganz steif vor Erstaunen. Das selt same Holz in seiner Hand - wie sah denn das auf einmal aus?! Es hatte nun wirklich einen richtigen Kopf, einen struppigen Moosbart und lebendige Arme und Beine! Ja, mitten aus dem Wurzelgesicht blinzelten sogar zwei kleine, grüne Augen! »Du meine Güte!« stieß Erik hervor. »Du könntest ja 47
ein Troll sein!« Da nickte das freundliche Wurzelgesicht und sagte, als ob es die einfachste Sache der Welt wäre: »Das bin ich auch! Und wenn du es genau wissen willst, ich heiße Olle Troll!« »Olle Troll?« wiederholte Erik langsam. »Ein schö ner Name. Und du kannst sogar Gedichte machen?« Olle Troll kicherte, und sein Bart hüpfte dabei. »Warum nicht? Es macht mir sehr viel Spaß. Hör ein mal zu: Da, wo der Wald ganz tief und dunkel,
da lebt der Olle Troll!
Er ist sehr froh und voller Flunkel,
und oft sein Lied erscholl!«
»Recht gut!« meinte Erik. »Nur - was ist Flunkel?« »Das weiß ich leider selbst nicht«, verriet Olle Troll. »Aber auf irgend etwas muß ein Reim sich doch rei men - oder?« »Hm!« sagte Erik, und plötzlich war es ihm ganz warm und froh. Er war nicht mehr allein! Ja wirklich, er hatte jemanden gefunden, mit dem er lachen und sprechen konnte. Jemanden, dem er all seine Sorgen erzählen durfte. »Du bist gerade zur rechten Zeit gekommen!« sagte Erik. Olle Troll nickte und strich sich den struppigen Moosbart. »Natürlich!« erklärte er. »Das weiß ich. Ich weiß überhaupt schon alles: Du bist seit vier Tagen im 48
Bärenhof. Und es gefällt dir gar nicht. Und am liebsten möchtest du deinen Großvater gar nicht anschauen. Aber das ist sehr ungehörig, muß ich sagen! Denn was kann Großvater Gunnar dafür, daß du solch ein Dickkopf bist?« »Halt!« Erik schüttelte die roten Haare. »Wie redest du denn mit mir? Ich denke, du willst mein Freund sein?« »Deshalb rede ich ja so mit dir!« antwortete Olle Troll und rieb sich die Nase. »Richtige Freunde reden bekanntlich die Wahrheit - oder?« Erik kratzte sich hinter dem Ohr und stand auf. Olle Troll sprang ebenfalls auf die Beine und blinzelte. »Wie wäre es mit einem Spaziergang?« fragte er. Erik nickte, und gemeinsam wanderten sie durch den Wald. Es wurde ein wunderschöner Nachmittag für Erik und Olle Troll. Von Wurzel zu Wurzel hüpften sie. Sie spielten Verstecken und Nachlauf, und oft sangen sie laut und vergnügt: »Der Wald ist doch ganz schön und gut,
wenn man den Wald auch lieben tut!
Wir sind sehr gerne in ihm da,
nicht schöner ist‘s in Pumpera!«
3. Kapitel
Erik hatte sich schnell an Olle Troll gewöhnt. Er
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kam gar nicht mehr ohne ihn aus. Nur in den Bärenhof wollte Olle Troll ihn nicht begleiten. »Was denkst du?« meinte er. »Ein Troll gehört nicht hinter feste Mauern. Ein Troll gehört in den Wald. Laß mich nur da, wo du mich gefunden hast. Immer wenn du mich rufst, werde ich dort sein!« Und so war es auch; Olle Troll hielt sein Wort. Großvater Gunnar, der alte Olaf und Britta wunder ten sich sehr. Erik war den ganzen Tag unterwegs, und manchmal hörte man sein Lachen bis in den Bärenhof hinein. Aber wenn er mit ihnen am Tisch saß, war er plötzlich wieder der kleine, dickköpfige Junge und sprach kaum ein Wort. Selbst wenn Olaf sagte: »Du mußt einmal den Mund aufmachen, Rotschopf! Sonst will dein Zahn überhaupt nicht mehr wachsen!«, schüttelte er nur den Kopf. Und Großvater Gunnar trat Olaf auf die große Zehe, damit er still war. »Kommt Zeit, kommt Rat!« brummte Britta, und Großvater Gunnar nickte ihr zu. Erik merkte es wohl, aber er trotzte noch immer. Er dachte: Wie schön wäre es erst mit Olle Troll in Stockholm! Olle Troll mochte solche Gedanken gar nicht. »Du bist wirklich sehr, sehr dickköpfig!« sagte er. »Was kann denn Großvater Gunnar dafür...« »Hör auf!« rief Erik. »Das will ich gar nicht hören! Ich denke, du bist mein Freund!« »Eben!« sagte Olle Troll und rieb sich nachdenklich die Nase. »Eben!« 50
Wieder einmal war es ein heißer Nachmittag gewor den. Erik hatte Olle Troll abgeholt und marschierte mit ihm am Bärensee entlang. Das Wasser glitzerte, und kleine, hübsche Wellen schlugen an das Ufer. Erik fühlte sich sehr wohl und fing an zu reimen: »Wie herrlich wär ‚ne Reise!« rief er.
»So übern blauen See!
Der Wind bläst dann ganz leise,
die...«
»... die Backen tun ihm weh!« ergänzte Olle Troll und kicherte. Sein Wurzelgesicht glänzte vergnügt. Erik schüttelte den Kopf. »Das ist das Dümmste, was ich je gehört habe! Wann wirst du jemals ein rich tiges Gedicht machen, Olle Troll?« »He!« rief Olle Troll. »Was ich mache, reimt sich doch immer, oder?« Erik blinzelte über den See. »Du, Olle!« sagte er, »wie wär‘s, wenn wir uns ein Floß bauten und dann ein bißchen über den Bärensee...« »So ganz allein?« fragte Olle Troll. »Bei meinem Bart! Auf einmal kippt das Floß um, weil der Wind doch nicht so leise bläst. Stell dir vor, ihm tun die Backen wirklich nicht weh, und dann...« »Ach was!« meinte Erik und fing schon an, dicke Äste herbeizuschleppen. »Wenn du nicht willst, dann rudere ich eben ohne dich!« Er konnte wirklich sehr dickköpfig sein. 51
Da fuhr sich Olle Troll durch den struppigen Moosbart und schwieg. Endlich hatte Erik das Floß fertig. Mit einer starken Kordel hatte er die dicken Äste verbunden, und das kleine Fahrzeug sah fest und kräftig aus. »Bitte einsteigen!« rief Erik. Olle Troll blinzelte zum Himmel hinauf. »Du wirst es schon sehen!« brummte er. Aber dann kletterte er doch auf das schaukelnde Floß.
52
er.
Erik hatte einen Ast in der Hand, und damit ruderte
»Wir fahren zur Insel hinüber«, erklärte er. »Da drü ben weiden Großvater Gunnars Kühe. Die werden sich über unseren Besuch freuen!« Und sie glitten in die Mitte des Bärensees. Das Floß schaukelte sanft, und Erik war sehr vergnügt. Nur Olle Troll schwieg. Beinahe so, wie Erik jeden Abend im Bärenhof... Die grüne Insel tauchte auf. Der Wind wehte den Duft des Grases herüber, und da merkte es auch Erik: der Wind war stärker geworden! Er blies nicht mehr sanft und leise, sondern er strengte sich mächtig an. Hohe Wellen rollte er auf sie zu, und das Floß schwank te unter ihrem Anprall. »Laß das doch!« rief Erik ärgerlich, und da verlor er den Ast, mit dem er gerudert hatte. »Diesem Wind tun die Backen wirklich nicht weh!« knurrte Olle Troll. Sie schwankten immer heftiger. Sie trieben von der Insel ab und kamen mitten in den starken Wellengang. Wenn das nur gutgeht! dachte Erik. Und dann sah es aus, als würde es wirklich nicht gutgehen! Der Wind blies immer kräftiger, die Wellen schlugen immer höher, und das Floß neigte sich, als ob es schwach und müde wäre. »Es löst sich auf!« rief Erik. »Olle, komm zu mir!« Und ganz schnell steckte er Olle unter die Jacke. Da stürzte eine riesige Welle auf sie zu, und... »Hallo, was treibst du denn, Erik?« rief eine laute 53
Stimme. Erik schaute sich um und blickte in das braune Gesicht von Großvater Gunnar. Er saß in seinem Nachen und ruderte mit kräftigen Schlägen von der Insel auf sie zu. Und gerade, als die nächste, noch rie sigere Welle ankam, war Großvater Gunnar ganz nahe und zog das Floß zu sich heran. »Wolltest du vielleicht nach Stockholm?« brummte er. Erik zog den Kopf ein und wartete, was nun kom men würde. Aber Großvater Gunnar hob nur Erik und Olle Troll zu sich herüber und wickelte sie beide in eine warme Decke. Erik saß dicht neben ihm. Der Himmel war ganz schwarz geworden. Der Wind heulte wie ein richtiger Sturm, und nun fing es auch an zu regnen. Doch Erik fühlte sich sicher und froh. Und es war seltsam, er fühlte sich so sicher und froh, weil Großvater Gunnar bei ihm war... Im Bärenhof sagte Großvater Gunnar kein Wort von der gefährlichen Floßfahrt. Weder zu Olaf, noch zu Britta. Und das war sehr schön von ihm.
4. Kapitel
»Olle!« sagte Erik am nächsten Tag und sah sehr nachdenklich aus. »Olle, findest du nicht, daß Großvater Gunnar sich sehr anständig benommen hat?« Olle Troll nickte und fuhr sich über den struppigen 54
Moosbart. »Habe ich je etwas anderes gesagt, Erik?« Er war plötzlich sehr vergnügt und pfiff vor sich hin. Nur, als Erik sich wie jeden Abend von ihm verab schiedete, wurde er ernst und sagte: »Ich glaube, das war unser letzter Tag, Erik! Sei nicht traurig, es war sehr schön mit dir, und ich werde viel an dich denken!« Eriks Augen wurden groß. »Du willst doch nicht fortgehen, Olle Troll?« rief er. »Gerade jetzt, wo es an fängt, richtig schön zu werden. Mit Großvater Gunnar, dir und mir...« Olle Troll seufzte ein wenig. »Das ist es ja gerade«, sagte er. »Sei einmal ehrlich, Erik, gibt es nun nicht andere Kinder, die mich viel nötiger haben als du? Du hast doch jetzt einen Ersatz für mich gefunden...« Da schwieg Erik verdutzt, und erst viele Stunden später verstand er, was Olle Troll gemeint hatte. Am nächsten Morgen regnete es in Strömen. So, als ob jemand mit gefüllten Eimern über den Wolken stün de. Großvater Gunnar steckte sich seine Pfeife an. »Heute ist es am schönsten zu Hause!« sagte er. Aber Erik stand schon an der Tür. Er mußte nach Olle Troll sehen! Doch als er unter dem großen Baum ankam, wo Olle Troll immer auf ihn gewartet hatte, da war alles still und leer. »Olle!« schrie Erik. Niemand antwortete. Erschrok ken lief Erik von Baum zu Baum. Aber er hatte sich nicht geirrt: Olle Troll war nicht mehr da! »Er ist wirklich fort!« rief Erik. »Wer ist fort?« fragte jemand. Und als Erik sich um 55
wandte, stand Großvater Gunnar hinter ihm und hielt einen Regenumhang in der Hand. »Für dich! Damit du nicht zu naß wirst!« sagte er. »Kann ich dir beim Suchen helfen?« »Danke, nein!« antwortete Erik und fuhr sich über die Augen. »Es ist schon wieder gut!« Großvater Gunnar legte Erik den Regenumhang über. »Komm, dann gehen wir nach Hause!« Und während sie zum Bärenhof hinüberstapften, er zählte Großvater Gunnar: »Weißt du, was mir als kleiner Junge sehr viel Spaß machte? Ich reimte. Aber meine Gedichte waren sehr merkwürdig, denn mir fielen nie die passenden Reime ein. Da habe ich dann die sonderbarsten Worte erfun den.« Erik sah zu ihm auf. Zum ersten Mal schaute er Großvater Gunnar richtig an. Und er war froh, weil er es tat und gleichzeitig ein bißchen traurig, weil er es erst heute versucht hatte. Großvater Gunnar besaß wirklich sehr gute, blaue Augen. »Ich dichte auch gern«, sagte Erik. »Wie findest du das: ›Der Wald ist doch ganz schön und gut,
wenn man den Wald auch lieben tut!
Ich bin sehr gerne in ihm da,
nicht schöner ist‘s in...‹«
Er stockte und mußte an Olle Troll denken. Großvater Gunnar aber lachte und fuhr fort: »Nicht schöner ist‘s 56
in Pumpera! Siehst du, das ist alles, was mir einfällt!« »Oh!« rief Erik. »Aber das ist ja das Schönste, was ich je gehört habe!« So kamen sie im Bärenhof an. Und Erik wußte nun endlich, wen er für Olle Troll gefunden hatte: seinen Großvater! Und Olle Troll mußte es so gewollt haben! Ganz genauso!
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Der Hexenwald, der keiner
war...
1. Kapitel
In einem großen, dunklen Wald lebte eine alte Frau. Sie war klein und dünn, und mitten aus ihrem Gesicht schaute eine spitze, rote Nase. Die alte Frau mit der spitzen, roten Nase lächelte nie. So wurde ihr Mund immer schmaler und strenger, und die Mundwinkel zogen sich tief herab. Ungefähr so:
Alle Leute, die in ihre Nähe kamen, fürchteten sich vor ihr und nannten sie nur die rote Hexe. Das kränkte die alte Frau sehr. Ihre spitze, rote Nase wurde immer spitzer und röter und der schmale Mund immer schmaler. Ungefähr so:
Da fürchteten sich die Leute noch mehr, und es wur de sehr still und einsam in dem großen Wald. Ja, der König, der nicht weit davon wohnte, zäunte 58
die dunklen Bäume ein und ließ ein riesiges Schild an bringen: Vorsicht! Hexenwald!
Nun geschah es, daß eines Abends ein schweres Unwetter über das Land fegte, gerade, als die Kutsche des Königs mit dem Staatsschatz unterwegs war. Der Kutscher wollte wie immer um den Hexenwald herum fahren, aber die Pferde scheuten und rasten mitten in die rabenschwarze Finsternis hinein. Das holperte! Das rumpelte! Das krachte! Die alte Frau streckte die spitze, rote Nase aus der Hütte, und ihr Mund wurde so dünn wie ein Zwirnsfaden. Ungefähr so:
Schnell zog der Kutscher den Kopf ein und preschte in vollem Galopp an der roten Hexe vorbei. Und da zuckte ein mächtiger Blitz durch den Wald, der Donner grollte, die Pferde schnaubten, und die Kutsche schwankte, als ob sie betrunken sei. Etwas polterte zur Erde, aber der Kutscher merkte es nicht. Er kniff die Augen zusammen und schaute kein einziges Mal hinter sich. Erst als er im Schloß ankam, und der dicke König Kugelrund trotz des Regens in die tropfnasse Kutsche spähte, da wurde es allen mit einem Male klar: 59
Von dem schweren, reichen Staatsschatz fehlte die große Truhe. Sie mußte bei der wilden Fahrt durch den Hexenwald heruntergefallen sein! Der König schimpfte, der Kutscher schämte sich, aber davon kam der Schatz nicht wieder. Keiner wollte in den Hexenwald, um die verschwundene Truhe zu suchen. Da ließ der König ein Plakat anschlagen. Auf ihm stand: An alle meine Untertanen!
Hiermit verkünde ich, König Kugelrund,
voll tiefem Kummer, daß
die Truhe mit meinen Staatsschatz
in dem uns allen bekannten Hexenwald
verloren gegangen ist.
Demjenigen meiner Untertanen,
der den Mut hat, mir die
goldgefüllte Truhe
zurückzubringen, verspreche ich,
König Kugelrund,
ein Viertel des Schatzes!
Da standen nun die Leute und starrten mit riesen großen Augen auf das blaue Plakat mit der zierlichen Königskrone darauf. Aber keiner wagte es, in den Hexenwald zu gehen...
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2. Kapitel
Die alte Frau hatte den Schatz natürlich längst ge funden. Dafür besaß sie schließlich die spitzeste und findigste Nase der Welt! Sie hatte die Truhe in ihre Hütte getragen und in den hintersten Winkel geschoben. »Wenn jemand kommt, der den Schatz dem König wiederbringen will, so werde ich ihn gerne hergeben.« Sie war nämlich eine ehrliche, alte Frau. Aber es kam niemand... Es verging ein ganzes Jahr. Wieder einmal fegte ein heftiges Unwetter durch den Hexenwald, und die schwarzen Bäume stöhnten und bogen sich unter dem gewaltigen Sturm. Da klopfte es an die Hütte der alten Frau. Der Wind konnte es nicht sein. Er hatte ganz andere Finger. Die hörten sich nicht so höflich und leise an! Verwundert schlurfte die alte Frau zur Tür, öffnete sie, streckte ihre spitze, rote Nase heraus und fragte: »Ist da jemand?« »Ja!« erwiderte es. Und als die alte Frau näher hin schaute, da stand mitten im Regen ein dunkelhaariges, kleines Mädchen. Es hatte trotz all der Nässe vergnügte Augen und trat von einem Bein auf das andere. »Möchtest du hereinkommen?« fragte die alte Frau und glaubte selbst nicht daran. Sie hatte seit vielen, vie len Jahren keinen Besuch mehr gehabt. Aber das kleine Mädchen nickte. »Natürlich!« sagte es, und schon war es drinnen. Der Regen sprühte hinter 61
ihm drein. In der Stube setzte es sich auf den dreibeinigen Hocker und schaute sich neugierig um. Die alte Frau betrachtete es noch immer verwundert. Schließlich fragte sie: »Hast du denn keine Angst vor mir? Die Leute nen nen mich die rote Hexe!« Das Mädchen blinzelte und lachte, als ob es zehnmal klüger wäre als alle die vielen Leute auf der ganzen Welt. »Wieso denn nur?« erwiderte es. »So etwas Dummes! Hexen gibt es doch gar nicht!« Na bitte!!! Die alte Frau mußte sich rasch einmal räuspern. Sie zog dabei einen sehr verwunderten Mund. Und seltsamerweise war dieser Mund plötzlich gar nicht mehr wie ein Zwirnsfaden, sondern viel mehr wie ein vergnügter Schnörkel, der an beiden Seiten nach oben hüpft. Ungefähr so:
Das kleine Mädchen hatte es sich bequem gemacht. Es hatte die Schuhe von den Füßen gestreift und hockte vor dem prasselnden Feuer. »Wie heißt du eigentlich?« fragte es die alte Frau. »Sicher hast du doch einen richtigen Namen?« Die alte Frau nickte. Sie schämte sich ein bißchen, denn ihr wirklicher Name gefiel ihr gar nicht. Er paßte 62
weder zu einer roten Hexe, noch zu einer kleinen, dün nen Frau mit einer roten, spitzen Nase. Aber endlich war sie mit ihrem Husten fertig und sagte: »Ich heiße... nun ja, ich heiße Mirabell. Aber so hat mich schon lange niemand mehr genannt...« »Und ich heiße Immeline!« rief das kleine Mädchen. »Paßt das nicht großartig zusammen? Mirabell und Immeline!« Und es lachte, daß die braunen Haare flogen und daß plötzlich von dem großen Gewitter gar nichts mehr zu hören war. »Du solltest auch einmal lachen«, meinte das kleine Mädchen, nachdem es verschnauft hatte. »Ich könn te wetten, daß dich dann niemand mehr eine Hexe nennt!« Damit zog sie die alte Frau vor den runden, blinden Spiegel, und Mirabell starrte hinein. So leicht soll das sein? dachte sie. Nur ein biß chen Lachen und Freundlichkeit soll man brauchen? Und dann ist eine - hm! - rote Hexe und ein - hm! Hexenwald gar kein Hexenwald mehr? Mirabell versuchte es. Sie lächelte ein wenig. Ungefähr so:
Immeline nickte, aber sie war noch nicht recht zu frieden. »Wir werden es üben müssen«, sagte sie. »Das Lachen, meine ich. Und außerdem mußt du dich ein 63
bißchen hübscher frisieren und dir die Röcke ein wenig richten. An der Nase ist ja nun nichts mehr zu ändern. Aber die drei dummen Haare daran können wir ab schneiden. Was meinst du?« Und von dieser Minute ab fing das Mädchen an, die rote Hexe in eine alte Frau zu verwandeln. Wenn es »Achtung« rief, mußte Mirabell lächeln und so lange üben, bis ihr Mund der freundlichste und vergnügteste Schnörkel war. Nämlich so:
Und wenn der Morgen kam, mußte sie sich bürsten und ihre Röcke glätten und stets darauf achten, daß die drei dummen Haare an der Nase nicht nachwuchsen. Wahrhaftig, es war ein schönes Leben! »Du gefällst mir immer besser«, sagte das kleine Mädchen. »Das heißt, du hast mir schon am ersten Abend gefallen.« Da fragte Mirabell, was sie schon immer hatte wis sen wollen: »Wieso bist du eigentlich zu mir gekommen? Da mals, mitten in der Nacht?« Immeline blinzelte, aber es war zum erstenmal nicht ganz so fröhlich wie sonst. »Ich habe keine Eltern mehr«, sagte sie. »Und ich hatte mich verirrt. Ich war auf dem Weg zu meinem Vormund. Er mag mich nicht, und deshalb fürchte ich mich vor ihm.« »Dich nicht mögen?« rief die kleine, alte Frau, 64
die nun wieder Mirabell hieß, und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Weißt du was, am besten bleibst du erst einmal eine Zeitlang hier.« Und so wurde es auch. Immeline blieb im Hexenwald! Sie fegte aus, stellte Blumen vor die Fenster, kochte morgens einen kräftigen Brei, sorgte für Wasser, Seife, Kamm und Bürste und brachte überall das Lachen hin. Schon nach vierzehn Tagen hätte niemand mehr die rote Hexe wiedererkannt. Sie war endlich das, was sie eigentlich schon immer gewesen war: eine freundliche, alte Frau. Nur daß man es jetzt auch von außen sah. Sie und Immeline verstanden sich immer besser, und eines Nachts, mitten in einem neuen Gewitter, kam der kleinen, alten Frau ein Gedanke: Sollte es Immeline nicht schöner haben als bisher? Hatte sie nicht ein besseres Leben verdient? Natürlich! Kaum hatte sie das gedacht, da stand Mirabell auch schon auf und fing an, die Truhe des Königs Kugelrund auf Hochglanz zu bringen. Am nächsten Morgen war sie damit fertig. Sie hob den schweren Schatz auf einen kleinen Handkarren und befahl Immeline, damit in das Schloß des Königs zu fahren. Dort solle sie nur sagen: »Ich habe den Schatz im Hexenwald gefunden!«
3. Kapitel
Immeline tat auch, was Mirabell ihr geraten hatte. Sie ratterte mit ihrem Wägelchen durch den dunk 65
len, dichten Wald, sang und pfiff dabei und holperte geradewegs in den blitzsauberen, großen Hof des Königsschlosses. Dort hielt sie vor einem der baumlangen Wachsoldaten, die stocksteif und kerzengerade das Königshaus bewachten, und sagte ihr Sprüchlein auf. Sogleich ging eine gewaltige Bewegung durch alle stocksteifen, kerzengeraden Wachsoldaten, und die Bewegung lief bis in den Königssaal hinein. Sie erfaß te sogar den König Kugelrund, der wie ein glänzender Ball mit einer Krone darauf aus dem Thronsessel hüpf te und schleunigst die Freitreppe hinuntersauste. Er traute seinen Äuglein nicht, als er seine schwere, so lange vermißte Truhe wiedersah. »Mein Schatz!« rief er. »Bei meiner Krone, ich habe nicht gedacht, daß ich ihn jemals wiedersehen würde! Ich danke dir, mein Kind. Komm mit, du sollst sofort deine Belohnung haben!« Und er hüpfte wieder in den Thronsaal zurück, zwängte sich in seinen Sessel hinein und rief alle seine Minister zusammen. Das war eine Versammlung von vielen, kugelrunden Bällen! Immerzu sah es aus, als würde einer von ihnen davonrollen. Aber endlich wurde es doch ruhig unter ihnen. Mit schallender Stimme verkündete König Kugel rund, was geschehen war. Er war von all der Wieder sehensfreude tief ergriffen und mußte sein grüngolde nes Taschentuch ziehen, um sich damit über seine dik ken Bäckchen zu wischen. Unter heftigem Schnauben 66
lobte er das tapfere Mädchen, das ihm die Truhe wie dergebrachte hatte und übergab Immeline feierlich ein Viertel des Schatzes. Genau so, wie er es versprochen hatte. Er war schon ein sehr ehrlicher, sehr ergriffener König... Die vielen dicken Bälle - das heißt, die wohlbeleib ten Minister - klatschten Beifall, und schließlich fragte König Kugelrund, wer denn nun eigentlich die Mutter von Immeline sei. Man müsse sie schleunigst benach richtigen. Da rückte sich Immeline auf ihrem Stuhl ganz gera de, strich sich die Haare glatt und sagte: »Meine richtige Mutter ist tot. Aber ich habe eine neue gefunden. Sie ist sehr nett, und ich möchte immer bei ihr bleiben.« »Aha! Hmm! Hmm! Sehr schön. Und wer ist das?« fragten der König und seine Minister, und alle hatten nun auch kugelrunde Augen vor lauter Erwartung. »Sie heißt... nun ja, sie heißt Mirabell!« antwortete Immeline. »Und sie wohnt dort im Wald!« Sie deutete in die Richtung des Hexenwaldes. Da wunderten sich alle sehr, aber niemand wollte sich schließlich von einem kleinen Mädchen beschä men lassen. Mit viel Räuspern, Schaudern und Husten folgten sie Immeline in die große Staatskutsche. Der Kutscher vorne auf dem Bock zog den Kopf ein (doch so, daß es keiner sah!), und fort ging es in den Hexenwald. Noch niemals hat es so viele kugelrunde, verblüffte 67
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Minister und einen so kugelrunden, verblüfften König gegeben wie an diesem Tag. Nein, wirklich, sie alle fanden ihren Hexenwald nicht wieder! Nun ja, der Wald um sie herum war ein bißchen dunkel, aber was wollte das schließlich schon heißen? Da machte man eben die Augen ein wenig weiter auf. Ganz so, wie es das Mädchen Immeline tat. Und auch von der roten Hexe fanden sie keine Spur. Nur eine freundliche, alte Frau mit einer lustigen, spit zen Nase sahen sie, die die kleine Immeline fest in die Arme nahm. »Und dazu haben wir nun Hexenwald gesagt!« murmelten sie alle. »Hmm! Hmm! Und die alte Frau dort haben wir eine Hexe genannt! Hmm! Hmm!« Sie schüttelten über sich selbst die Köpfe. »Schön ist es jedenfalls, daß wir unseren Schatz wie derhaben«, meinten sie dann, nachdem sie sich ausge schüttelt hatten. Aber auch darin irrten sie. Wie so oft! Das Schönste an der ganzen Geschichte war nicht der Schatz! Das Schönste war, daß die rote Hexe nie eine Hexe und der Hexenwald nie ein Hexenwald ge wesen war.
69
Otto Blau und Emil Grün
1. Kapitel
In der alten Grundmühle ist es Abend geworden. Bernd liegt in seinem Bett und versucht zu schlafen. Das ist gar nicht so einfach, wenn man erst sechs Jahre alt ist, wenn der Sturm um die Fenster heult und wenn man weiß, daß man in dieser Nacht ganz allein ist. Ganz allein? Nein, das stimmt nicht! Tante Adelheid ist noch da. Aber Tante Adelheid hört schlecht und braucht eine dicke Brille, sobald sie etwas sehen will. Bernd kneift die Augen zusammen. Er hat keine Angst. Er wünscht sich nur, daß die Eltern zu Hause geblieben wären. Und das ist schließlich etwas ande res, findet er... »In unserer Mühle braucht man nicht allein zu sein«, hat der Vater beim Weggehen gesagt und dabei gelacht. »Das habe ich als Junge bald gemerkt. Es ist gar nicht schwer, sich jemanden herbeizuträumen.« Bernd überlegt. Im Geist spaziert er durch die alte Grundmühle. Sie hat viele wunderschöne Winkel und Ecken und viele alte und neue Geheimnisse. Aber wie soll Bernd sich jemanden herbei träumen? So etwas kann man doch gar nicht, auch wenn der Vater es meint... Bernd dreht sich auf die andere Seite, und gerade, als er damit fertig ist, fallen ihm die Augen zu, und er schläft ein. 70
Im Zimmer wird es dunkler, und der Mond am Fenster rückt ein Stückchen weiter. Der Sturm heult auch nicht mehr so laut wie vorher... Bernd richtet sich auf. Er ist plötzlich sehr munter, obwohl alles um ihn herum ein wenig verschwommen ist: der Tisch, das Bett, der Schrank und das bunte Spielzeug dort auf dem Gestell. Bernd lacht. Vielleicht finde ich jetzt wirklich je manden, mit dem ich nicht allein bin, denkt er. Tante Adelheid schläft, sie wird bestimmt nichts hören! Und mit einem Satz springt Bernd aus dem Bett. Er schlüpft in die roten Pantoffel und schleicht sich zur Zimmertür hinaus. »Wohin? Er sieht sich um. Hier kennt er alles. Am liebsten ginge er zum Speicher. Dort oben ist es herr lich, da gibt es so vieles zu entdecken! Und schon steigt Bernd die Speichertreppe hinauf und öffnet die knarrende Tür. Hui, wie pfeift hier der Wind! Rauh und ein wenig unheimlich klingt er. Aber Bernd stapft weiter. Dahinten in die Ecke möchte er. Da liegen seine alten Spielsachen und dort sieht es wunderbar aus. Bernd weiß das ganz genau. Halt! Und hier ist ja auch der alte Schaukelstuhl, auf dem der Großvater so gern gesessen hat! Bernd bleibt stehen. »Potz und Blitz!« brummt da eine tiefe Stimme. »Potz und Blitz, Bernd! Wir kennen uns doch!« Bernd fährt sich über die Augen. Das kann doch nicht wahr sein! Auf dem alten, lila Schaukelstuhl 71
hockt eine kleine, seltsame Gestalt und funkelt ihn aus schwarzen Augen an. »Guten Abend!« sagt Bernd ein wenig unsicher und fährt sich noch einmal über die Augen. »Es ist sehr traurig mit diesem schönen Schaukel stuhl!« brummt die Stimme wieder. »Ich fürchte tat sächlich, er ist zu groß für mich. Meinst du, er denkt daran, mich nur ein bißchen zu schaukeln?« »Ach?« kann Bernd nur sagen. Aber das genügt dem kleinen, seltsamen Wesen. Es hüpft von dem Schaukelstuhl herunter, und jetzt sieht Bernd, daß es ihm gerade bis zu den Knien reicht. »Wer... wer... bist du denn?« fragt Bernd, und dabei hat er plötzlich das Gefühl, als ob ihm das alles gar nicht so unbekannt wäre. »Ich?« brummt die tiefe Stimme. »Ich bin der Hausgeist der Grundmühle, und ich bin vor drei Tagen hundertundsiebenundneunzig Jahre alt geworden. Ei gentlich solltest du mich kennen, lieber Bernd! Hat dir dein Vater nicht schon oft von mir erzählt?! Erinnerst du dich nicht? Ich bin Otto Blau!« Und Otto Blau macht eine tadellose Verbeugung, und Bernd weiß nun alles wieder. Natürlich, das ist Otto Blau, der uralte Hausgeist der Grundmühle! Klein und rundlich ist er und über und über mit struppigen, blauen Haaren bedeckt. Und einen Schnurrbart hat er, gerade, wie ihn der Vater immer be schrieben hat! »Ich gefalle dir wohl?« fragt Otto Blau, und es klingt ein wenig eitel. »Potz und Blitz, warum eigentlich auch 72
nicht? Ich glaube, ich bin der hübscheste Hausgeist, den es weit und breit gibt. Schau dir nur einmal meine Kleider an! Sie sind alle selbstgeschneidert. Aus Tante Adelheids großem Flickkorb!« Und Otto Blau dreht sich, daß der steife Schnurrbart zittert. »Was macht eigentlich Tante Adelheid?« fragt er dann und kneift das rechte Auge zusammen. »Ich möchte wetten, sie schläft so tief wie ein Hamster in der Winterszeit!« Bernd nickt und muß lachen. Otto Blau streicht sich den langen Schnurrbart zurecht. »Nun, da muß ich heute besonders gut wa chen!« erklärt er. »Ein Hausgeist hat nun einmal sei ne Pflichten. Ach ja! Uaaah!« Er gähnt herzhaft und schämt sich kein bißchen darüber. Schließlich ist er ja auch schon hundertundsiebenundneunzig Jahre alt... Danach glättet Otto Blau seinen selbstgeschneider ten Rock, wischt über seine schwarzen Stiefelchen und fährt sich noch einmal durch die vielen blauen Haare. »Fertig!« ruft er. »Wie ist es, Bernd? Gehst du mit auf die Runde?« Der Sturm heult, schwere Regentropfen klatschen, die Läden klappern, irgendwo quietscht eine Tür, aber Bernd nickt und ist so vergnügt wie selten. »Natürlich!« sagt er. »Natürlich!«
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2. Kapitel
Otto Blau und Bernd steigen die steile Treppe nach unten. »Zuerst geht es in den Hof!« befiehlt Otto Blau, und Bernd findet, daß sein neuer Freund wirklich ein wach samer Hausgeist ist. Im nachtdunklen Hof der Grundmühle späht Otto Blau in alle Ecken, und seine schwarzen Augen glit zern durch die Finsternis. Bernd glaubt, daß alles in Ordnung ist. Doch plötzlich bleibt Otto Blau stehen und seine Haare sträuben sich. »Potz und Blitz!« tuschelt er. »Hier ist etwas nicht so, wie es sein soll!« Und da hört Bernd es auch. Etwas schneuzt sich. Und dann hustet es. Und dann niest es. Und dann schneuzt es sich wieder. Und dann... »Halt!« schreit Otto Blau. »Halt, wer da?!« Das Niesen hört auf. Es hustet noch einmal, und aus dem Schatten der Scheune schiebt sich eine kleine, merkwürdige Gestalt! Sie ist so groß wie Otto Blau und über und über mit kurzen, struppigen Haaren bedeckt. Otto Blau pfeift durch die Zähne (selbst das kann er!), und die Enden seines Schnurrbartes stehen steif nach oben. »Eindringling!« ruft er. Jawohl, er ruft: »Eindring ling!« Und dann fährt er fort: »Woher führt dich dein Weg?« Bernd staunt. Er weiß noch nicht, daß Hausgeister, wenn sie aufgeregt sind, immer sehr feierlich reden. 74
Der Fremde muß schon wieder niesen, und da klopft ihm Otto Blau kurzerhand auf die Schulter. »Laß das!« sagt er barsch. »Deine Niessprache ver stehe wer will. Potz und Blitz! Wenn du mir nur kurz und einfach sagen möchtest, woher du kommst!« Der Fremde kratzt sich hinter dem rechten Ohr und kann endlich antworten. Er sagt: »Ich heiße Emil Grün. Und ich bin ebenfalls ein Hausgeist. Ich habe lange Jahre oben in den Bergen auf einer einsamen Hütte gelebt. Aber da ist es mir nun zu langweilig geworden, und da...« Er hält ein und muß schon wieder sein riesiges, gras grünes Schnupftuch ziehen. Otto Blau nickt; er hat ihn auch so verstanden. »Da bist du in die Welt gegangen!« sagt er streng. »Und du hast dich dabei erkältet. Wie es sich gehört! Hm! Laß dich einmal anschauen.« Er schiebt den Fremden in das Licht der Hoflaterne. Und nun sieht Bernd, daß Emil Grün wirklich seinem Namen alle Ehre macht. Über und über ist er mit dich ten, grünen Haaren bewachsen. »Die Hausgeist-Zeichen sind echt!« murmelt Otto Blau. »Spitze Ohren, spitze Nase, dicker Pelz und schwarze Augen! Nun gut. Und was soll jetzt mit dir werden, Emil Grün?« Bernd hat plötzlich einen Einfall. Einen Einfall, der so schön ist, daß er ganz froh dabei wird. »Laß ihn doch bei uns bleiben, Otto Blau!« ruft er. Otto Blau streicht sich über den steifen Schnurrbart. »Man merkt dir an, wie jung du bist, junger Freund!« 75
brummt er. »Potz und Blitz! Wieso kann ich einfach jemanden in mein Haus nehmen, von dem ich noch gar nicht weiß, ob er sich wie ein echter Hausgeist beneh men kann?!« Das war eine lange Rede, und Otto Blau hat nur noch wenig Atem, als der Satz zu Ende ist... »Versuche es doch wenigstens!« meint Bernd, und Emil Grün nickt dankbar. Sprechen kann er noch im mer nicht, weil seine spitze Nase schon wieder in dem grasgrünen Schnupftuch verschwindet. »Also gut!« meint Otto Blau nach kurzem Überlegen. »Aber Emil Grün kann nur bleiben, wenn er auch wirk lich ein tadelloser Hausgeist ist!« Und damit sind alle drei einverstanden.
3. Kapitel
Zunächst einmal wird Emil Grün auf den Speicher geführt, wo er trockene Schuhe und Strümpfe be kommt. Dabei stellt sich leider heraus, daß Emil Grün viel zu große Füße besitzt. Er humpelt und hinkt in Otto Blaus kleinen Stiefeln und verzieht den Mund unter der langen, spitzen Nase. »Du hättest ein Riese werden sollen!« meint Otto Blau mißbilligend. »Und kein Hausgeist!« Doch dafür kann Emil Grün schließlich nichts... Der Sturm heult, der Regen klatscht, und die Läden klappern auch noch immer. Aber Bernd fühlt sich so wohl wie selten. Es ist doch herrlich auf unsrer alten Grundmühle, denkt er. Vater hat recht. 76
»Und nun zeige, was du kannst!« befiehlt Otto Blau und schiebt Emil Grün zum Speicher hinaus. Aber da geschieht es schon! Gleich bei dem ersten Schritt stolpert Emil Grün die Treppe hinunter. Er fällt tatsächlich über seine eigenen Füße, und es poltert, und es rumpelt, daß sogar der Wind draußen vor den Fenstern erschrickt. »Potz und Blitz!« knurrt Otto Blau. »Und so etwas will ein Hausgeist sein!« Emil Grün kratzt sich verlegen hinter dem rechten Ohr und hustet. Es schallt durch die ganze Grundmühle, und Otto Blau fährt erneut zusammen. »Potz und Blitz!« schimpft er. »Und so etwas...« Bernd weiß schon, was er sagen will, und Emil Grün weiß es sicherlich auch. Er kratzt sich schon wieder am Kopf... Und darauf geht es endlich weiter. Leise schlei chen sie in jedes Zimmer, um nachzusehen, ob alles in Ordnung ist. Zuerst geht es auch ganz gut. Doch dann kommen sie an das Schlafzimmer, in dem Tante Adelheid schläft. Aus ihm dringen merkwürdige Töne. Tante Adelheid, nun, Tante Adelheid... schnarcht ein wenig... »Wwwwas iiiist ddddennn ddddas?« stottert Emil Grün, und man merkt nun wirklich, daß er lange keine Menschen mehr erlebt hat. »Potz und Blitz!« stöhnt Otto Blau und wirft einen Blick zur Decke. »Nun hat er auch noch Angst! Und so etwas will ein Hausgeist sein!« Dann aber stößt er Emil Grün an und erklärt: »Das ist Tante Adelheid. Und sie schläft!« 77
Emil Grün streckt den haarigen Kopf in das Zimmer und schnüffelt leise. »Sie schläft... sie schläft... sie schläft aber - hatschi! - sehr laut!« Und da niest er auch schon, daß es wie ein Kanonen schlag hallt! Selbst Tante Adelheid, die doch sonst so schwer hört, fährt in ihrem Bett zusammen. »Ist da jemand?« ruft sie und greift nach ihrer Brille. »Bestimmt nicht!« schreit Emil Grün erschrocken. Denn er will doch alles so gut wie möglich machen. Otto Blau stöhnt auf, und Bernd sieht, wie Tante Adelheid aus ihrem Bett steigt. So schlecht hört sie nun auch wieder nicht... »Sie wird nach mir sehen wollen!« sagt Bernd auf geregt. »Du liebe Zeit! Ich muß so schnell wie möglich in mein Bett!« Und er läuft eilig in sein Schlafzimmer hinüber. Als Tante Adelheid zu ihm hereintrippelt, hat er sich bis zum Kinn zugedeckt und kneift die Augen zusammen. Tante Adelheid beugt sich über ihn. »Er schläft!« sagt sie beruhigt. »Wie gut! Er ist doch wirklich ein braver Junge. Vielleicht hat er im Traum gesprochen.« Und damit trippelt sie wieder in ihr Schlafzimmer zurück. Otto Blau hat Emil Grün böse angefunkelt. »Potz und Blitz!« knurrt er. »So etwas wie du kann doch un möglich ein Hausgeist sein!« Aber er hat ein weiches Herz. Das hat er übrigens schon seit einhundertsiebenundneunzig Jahren! Und so versucht er es doch noch einmal mit Emil Grün. 78
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Vorsichtig schleichen sie weiter. Auch Bernd, der wieder aus seinem Bett gestiegen ist. Sie kommen zur Küche. Dort riecht es wunderbar nach frischem Brot und geräucherter Wurst. Emil Grün reibt sich die spitze Nase. »Humm! Humm! Humm!« macht er. »So etwas Gutes habe ich ja seit einhun dertundelf Jahren nicht mehr gerochen.« So alt ist er nämlich vor vier Wochen geworden. »Weiter!« befiehlt Otto Blau streng. »Ein Hausgeist darf erst essen, wenn er seine Pflicht getan hat. Das ist gerade so wie bei den Menschen.« Und Emil Grün muß wieder zur Küche hinaus. Aber in der Tür wendet er noch einmal den Kopf, und sein grüner Schnurrbart zittert wehmütig. »Dieser Milchduft!« seufzt er. Natürlich hat er dabei nicht achtgegeben und ist dem Milchtopf zu nahe gekommen. Es rumpelt und schep pert, und gleich darauf liegt der Topf in Scherben auf dem Boden. Egon, der schwarze Kater, fegt mit einem Sprung aus der Ecke, und Emil Grün stößt einen ent setzlichen Schrei aus. »Ein Gespenst!« keucht er. »Ein Gespenst auf vier Beinen!« Bernd muß lachen. »Das ist doch nur Egon, unser Kater!« erklärt er. »Vor ihm brauchst du dich wirklich nicht zu fürchten!« Da ist Emil Grün sehr still.
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4. Kapitel
Otto Blau schüttelt den Kopf, und die Enden seines Schnurrbartes wackeln, so aufgeregt ist er. »Du wirst es nie lernen, Emil Grün!« sagt er. »Potz und Blitz! Es war vergebliche Mühe mit dir!« Emil Grün schaut auf seine viel zu großen Füße in den viel zu kleinen Schuhen, und er sieht aus, als müs se er sich vor lauter Kummer gleich drei Mal schneu zen... Da seufzt Otto Blau. »Versuchen wir es eben noch einmal!« sagt er. »Aber es ist wirklich das aller! - aller! - allerletzte Mal! Und nun vorwärts! Wir müssen noch in dem Keller nachschauen, ob dort alles in Ordnung ist.« »Ob dort alles in Ordnung ist!« wiederholt Emil Grün, und es klingt für einen guten Hausgeist schon wieder ein wenig zu laut. Sie marschieren zum Keller hinunter. Und da ge schieht es! Wieso, das weiß keiner zu sagen. Vielleicht kommt es daher, weil Otto Blau ein wenig aufgeregt ist? Vielleicht ist es aber auch gar nicht so ungewöhn lich, daß selbst ein uralter, erfahrener Hausgeist einmal stolpert? Jedenfalls schreit Otto Blau plötzlich auf und fällt die Kellertreppe hinunter. »Hopp! Hopp! Hopp!« macht es, und dann liegt Otto Blau unten und reibt sich stöhnend das rechte Bein. »Uaah!« jammert er. »Potz und Blitz!« Emil Grün ist mit einem Satz bei ihm. »Du meine Güte!« sagt er mitleidig. Und er zieht die Nase hoch, 81
was nicht einmal ein Mensch, geschweige denn ein Hausgeist darf. »Du meine Güte. Hier unter deinem schönen blauen Pelz ist der Fuß dick geschwollen!« Und er packt Otto Blau und schleppt ihn die Kellertreppe hinauf. »Trapp! Trapp!« geht es, und Bernd kommt kaum mit. Schon ist Emil Grün auf der Speichertreppe ver schwunden; so rasch und zügig steigt er! Und er niest, und er schneuzt, und er hustet kein einziges Mal. Im Speicher setzt Emil Grün Otto Blau vorsichtig auf den alten, lila Schaukelstuhl. Er zieht sein grasgrü nes Schnupftuch und wickelt es Otto Blau um den Fuß. Als er fertig ist, hört Otto Blau auch mit dem Stöhnen auf und betrachtet sein rechtes Bein. »Potz und Blitz!« sagt er. »Schöner bin ich nicht geworden!« »Ruhig liegen!« befiehlt Emil Grün streng. »So, Otto Blau! Und nun werde ich die Wache in dieser Nacht allein übernehmen. Egal, ob du mich behalten willst - oder nicht! Und ich werde weder husten noch schneuzen, noch niesen. Hatschi!« Doch das ist das letzte »Hatschi« in dieser Nacht! Denn Emil Grün nimmt sich nun wirklich zusammen und huscht wie ein eiliger, lautloser Schatten treppauf und treppab. Alles kommt in Ordnung! Tante Adelheid kann ru hig und fest schlafen: In der Küche verschwinden die Scherben des Milch topfes. Die klappernden Fensterläden werden geschlos sen. Bernds Bett wird neu aufgeschüttelt und Otto 82
Blaus Verband erneuert... Als die halbe Nacht vorbei ist, liegt die Grundmühle in tiefem Frieden und ist so wohlbehütet wie immer. Droben auf dem alten, lila Schaukelstuhl lehnt Otto Blau und blinzelt. »Gut gemacht, Emil Grün!« knurrt er. »Wie ist es, Bernd? Soll Emil Grün bleiben?« Bernd, der gerade ein wenig müde wird, gähnt und meint: »Aber natürlich, Otto Blau! Wir können ihn alle brauchen!« Otto Blau nickt und befühlt seinen steifen Schnurr bart. »Reiche mir einmal den Spiegel, Emil Grün!« sagt er zu seinem neuen Freund. »Zur Feier dieser Nacht werde ich mich noch ein wenig bürsten.« Und Emil Grün reicht Otto Blau einen uralten, run den Spiegel und hockt sich dazu auf die Kante des gro ßen Schaukelstuhles. »Schrumm! Schrumm!« macht es, und der alte lila Schaukelstuhl fängt tatsächlich an zu schaukeln. Jetzt, wo zwei auf ihm sitzen, hat er endlich das richtige Gewicht gefunden. »Schrumm! Schrumm!« macht er. Und Otto Blau und Emil Grün wippen aus Leibeskräften. Bernd verläßt die beiden. Er freut sich auf sein Bett, und er freut sich auch, weil er nun weiß, daß er nie mehr allein sein wird. Er hat jemanden gefunden! Und es war wirklich gar nicht so schwer. Nur ein bißchen Nachdenken gehörte dazu. Ganz so, wie es der Vater sagte. Zufrieden zieht Bernd sich aus und schläft sofort ein. 83
Die Sonne scheint ihm ins Gesicht, als er aufwacht. Vor ihm stehen seine Eltern. Der Vater lacht und streicht über Bernds blonden Schopf. »Gut geschlafen, mein Sohn?« fragt er. »So ganz allein?« Bernd nickt. »Ich war überhaupt nicht allein!« ant wortet er. »Stell dir vor, Vater, ich habe Otto Blau ge troffen!« »Wunderbar!« ruft sein Vater. »Hat er sich verän dert?« »Überhaupt nicht!« erklärt Bernd. »Er ist noch genauso, wie du immer erzählst hast. Aber was noch schöner ist, er hat einen Freund bekommen!« Die Mutter schüttelt den Kopf. »Das war aber ein schöner Traum!« sagt sie. Der Vater lacht und sieht sehr vergnügt aus. Beinahe so, wie er als kleiner Junge ausgesehen haben mag. »Das ist wirklich eine Überraschung!« meint er. »Und wie heißt der Freund von Otto Blau?« »Das ist doch ganz klar!« antwortet Bernd und blin zelt seinem Vater zu. »Emil Grün, natürlich! Und er ist ein tadelloser Hausgeist, muß ich sagen!«
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Die Mutter geht in die Küche, der Vater setzt sich an Bernds Bett, und Bernd hört ganz deutlich, wie über ihm auf dem Speicher der alte Schaukelstuhl wippt: »Schrumm! Schrumm!« macht es.
»Schrumm! Schrumm!«
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Das kleine, krumme Haus
1. Kapitel
Am Rande einer kleinen Stadt schaute ein Junge aus dem Fenster. Der Wind kam und zerrte an seinen kur zen, braunen Haaren. Seit gestern wohnte Uli in dieser kleinen Stadt. Er war mit seinen Eltern für einen langen Urlaub hierher gekommen. Alles war neu und fremd für Uli. Er wäre viel lieber bei seinen Großeltern und seinen vielen Freunden geblieben. Uli seufzte. Er dachte: Solch einen dummen Wind hat es zu Hause nicht gegeben. Und die Straßen waren viel schöner! Und uns gegenüber hat auch nicht solch ein kleines, krummes Haus gestanden! Nein, wie sah dieses Haus nur aus! Alles an ihm war bunt und seltsam. Es besaß eine breite, rote Tür. Sie äh nelte einem großen Mund. Darüber blitzten rechts und links zwei Fenster und schauten Uli wie richtige Augen an. Grasgrüne Fensterläden klapperten leise im Wind. Auf dem Kopf trug das kleine, krumme Haus ein schie fes, graues Dach. Wie eine verrutschte Zipfelmütze saß es da oben, und ein winziger Schornstein klebte als schwarze Bommel daran. Eben öffnete sich die Tür des Hauses. Eine kleine, runde Frau trippelte heraus. Der Wind fing sich in ih rem Rock und bauschte ihn. 86
Die kleine, runde Frau nickte freundlich zu Uli hin auf. Aber Uli nickte nicht zurück. Er schloß das Fenster und fing an, in seinen Spielsachen zu kramen. Doch er hatte keine rechte Freude daran. An diesem Tag wurde es nur sehr langsam Abend für Uli. Endlich klappten in der Ferienwohnung keine Türen mehr, und die Schritte der Eltern wurden ruhig. Uli lag in seinem fremden Bett, an der fremden Wand mit der fremden Tapete und sperrte die Augen auf. Er durfte nicht einschlafen, denn er hatte einen großen Plan. Einen Plan, der so groß war, daß er sich beinahe ein wenig vor ihm fürchtete. Einen - nun ja! - einen Weglauf-Plan! Gerade da segelte der Mond hinter den dicken Wolken hervor und schaute durch das Kinderzimmerfenster. Uli riß erneut die Augen auf. Nun war es also so weit! Ganz, ganz leise und vorsichtig schob er die Beine aus dem Bett. Schnell zog er sich an. Als er die Zimmertür öffnete, hielt er den Atem ein. Aber die fremde Tür quietschte kein einziges Mal. Wie ein Dieb schlich sich Uli die Treppe hinunter. Unten angekommen, wunderte er sich. Niemand hatte die Haustüre verschlossen, sie war nur leicht angelehnt. Gerade so, als ob sie sagen wollte: »Bitte, lieber Uli, öffne mich nur. Da draußen ist die Straße, und auf ihr kommst du ganz gewiß weiter!« Entschlossen stapfte Uli nach draußen. Huh, war es kalt! Der Wind wehte eisig. Die Sterne schimmerten kühl, und der Mond zog sein undurch 87
dringlichstes Gesicht. Was hatte er nur, dieser Mond? Für solch einen Wolken-Wandersmann konnte es doch nichts Seltenes sein, wenn jemand auf die Reise ging?! Selbst wenn dieser Jemand ein paar Jährchen jünger war. Oder? »Hallo, junger Freund!« knarrte da eine Stimme. »Hallo!« Uli fuhr herum, so sehr war er erschrocken. Und als er in die Richtung der Stimme sah, blieb ihm das Herz einen Augenblick lang stehen. Da drüben auf der an deren Straßenseite, da stand das kleine, krumme Haus, und eben hatte es den Mund - nein, die Tür! - geöffnet und sprach zu ihm. Seine Fensteraugen zwinkerten, und die graue, verrutschte Zipfelmütze wackelte. »Hallo, junger Freund!« knarrte das kleine, krumme Haus wieder. »Wohin gehst du? Es interessiert mich sehr, mußt du wissen. Mir ist es nämlich genauso lang weilig wie dir!« Die grasgrünen Läden an den Fensteraugen klapper ten, und eigentlich sah das alles recht lustig aus. Uli faßte sich ein Herz. »Mein liebes Haus«, antwor tete er. »Mir ist es gar nicht langweilig. Mir gefällt es hier bloß nicht! Und deshalb gehe ich von hier weg, verstehst du? Auf Wanderschaft, wenn du weißt, was das ist!« »Aber natürlich weiß ich das!« erklärte das kleine, krumme Haus feierlich. »Ich habe nämlich so etwas Ähnliches vor. Die Gelegenheit ist äußerst günstig, mußt du wissen. Tante Hulda ist vor ein paar Stunden verreist. Sie ist die kleine, runde Frau, die in mir wohnt 88
und meinen Ofen heizt. Also, wie ist es, willst du mich mitnehmen?« Ulis Augen wurden riesengroß. Mitnehmen? Das kleine, krumme Haus? Ja, ging denn das überhaupt? »Bitte!« rief das kleine, krumme Haus, als ob es Ulis Gedanken erraten hätte. »Bitte, ich kann sehr fein lau fen! Möchtest du einmal meine Füße sehen?« Und damit zog es zwei zierliche Beine aus dem Keller, strampelte stolz mit den spitzen, roten Stiefelchen, und Ulis Augen wurden noch größer. »Ich bin nun einmal kein alltägliches Haus«, meinte das kleine, krumme Haus. »Das weiß ich schon lan ge!« Uli wußte es nun auch, und deshalb nickte er. »Gut, wenn du mit mir gehen willst!« Die kleinen, roten Stiefelchen sprangen über den Kellerrand hinweg, die schiefe Zipfelmütze hüpfte, die Schornsteinbommel wippte, und dann stand das kleine, krumme Haus neben Uli und schwankte von dem ra schen Lauf ein wenig in der Mitte. Das heißt, irgendwo zwischen der roten Tür und den blanken Fenstern. »Gehen wir!« sagte das kleine, krumme Haus. »Gehen wir!« sagte auch Uli, und gemeinsam marschierten sie los. Nebeneinander und im gleichen Schritt. Über ihnen glänzten die Sterne und dazwischen ein sehr verwunderter Mond.
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2. Kapitel
Die Lichter in den meisten Häusern waren erlo schen. Sie trafen keinen Menschen. Nur ein paar Autos hörten sie aus der Ferne, und das kleine, krumme Haus wunderte sich. »Möchte wissen, was die um diese Zeit noch wol len!« sagte es und vergaß ganz, daß es ja ebenfalls so spät noch unterwegs war. Uli ging neben dem kleinen, krummen Haus. Der Wind wehte ihnen heftig entgegen, und es fing an, di cke, eisige Regentropfen zu sprühen. »Puh!« machte das kleine, krumme Haus. »Wenn nur mein Ofen nicht ausgeht! Wahrscheinlich hat er riesigen Hunger, und ich habe keine Kohlen für ihn. Die sind im Keller geblieben. Puh!« Und es hob die winzigen Beinchen und setzte die roten Stiefelchen so eilig, daß Uli kaum mitkam. Sie waren eine breite Straße entlang gelaufen und standen mitten auf einer Kreuzung. »Nach rechts oder nach links, junger Freund?« frag te das kleine, krumme Haus. »Wohin sollen wir unsere Schritte lenken?« Das kleine, krumme Haus sprach wirklich gern ein wenig feierlich. Da bimmelte es hinter ihnen. Es war die Straßenbahn! Eilig und herrisch rollte sie mit ihren vielen Lichtern die Hauptstraße entlang. Sie bimmelte aus Leibeskräften, und der Schaffner stand im Führerwagen und rieb sich die Augen. 90
»Nanu!« schrie er. »Auf dieser Kreuzung hat doch noch nie ein solches Hindernis gestanden?!« »Du meine Güte!« knarrte das kleine, krumme Haus. »Was ist denn das für eine feurige Raupenschlange?« Am Stadtrand, wo das kleine, krumme Haus wohnte, fuhren nämlich keine Straßenbahnen vorbei. »Das ist eine Straßenbahn«, erklärte Uli rasch. »Komm nur, der Schaffner wird gleich aussteigen!« Richtig, so war es! Der Schaffner war vom Wagen gesprungen, schob sich die Mütze in den Nacken und rief: »Das ist ja wie verhext! Etwas Unerhörtes ist ge schehen! Mitten auf die Kreuzung hat jemand über Nacht eine alte Bude gebaut!« Doch die Leute in der Straßenbahn waren viel zu verschlafen, um sich die Sache näher anzusehen. »Fahren Sie doch endlich weiter, Herr Schaffner!« sagten sie ungeduldig. »So fahren Sie doch drumher um!« Das kleine, krumme Haus aber hatte es falsch ver standen. Es hatte: »So fahren Sie es doch endlich um!« gehört. Entsetzt hob es die roten Stiefelchen und trippelte davon. Uli rannte hinterher. Endlich hörten sie die vielen Leute nur noch ganz aus der Ferne auf den Schaffner einreden: »Sie haben wohl ein bißchen viel getrunken, mein Herr? Wo ist denn das Haus, von dem Sie erzählt ha ben? Wollen Sie vielleicht sagen, es sei weggelaufen? Ein Haus? Ich bitte Sie, mein Herr! Wir werden uns 91
über Sie beschweren!« »Das geschieht dem Schaffner eigentlich recht«, fand das kleine, krumme Haus. »Wie kann er es wagen, mich eine alte Bude zu nennen?« Sie wanderten weiter. Doch nun hielten sie sich eng an die Seite einer jeden Straße und blieben schleu nigst stehen, sobald sie jemanden kommen hörten. Manchmal seufzte das kleine, krumme Haus: »Puh, es wird immer kälter! Merkst du es auch, jun ger Freund? Und es ist niemand da, der meinen Ofen heizt! Tante Hulda ist nicht da, und die Kohlen sind im Keller geblieben. Puh!« Sie kamen an einem riesigen Hochhaus vorbei. Mindestens fünfzehn Stockwerke reckten sich in die Luft, und das kleine, krumme Haus schaukelte aufge regt hin und her. »Du meine Güte!« schnaufte es. »Du meine Güte! Was ist denn das? Sind da vier oder fünf Häuser auf einandergekrochen? Vielleicht, weil sie genauso frie ren wie ich?« »Das ist ein Hochhaus«, erklärte Uli. »So baut man mitten in der Stadt. Weil unten auf der Erde so wenig Platz ist, verstehst du?« »Der arme Himmel!« seufzte das kleine, krumme Haus. »Da kriegen die Wolken ja einen Schluckauf, wenn sie andauernd am Bart gekitzelt werden. Du mei ne Güte, hier möchte ich nicht wohnen!« Vor lauter Staunen hielt das kleine, krumme Haus mitten auf der Straße an, und da hatten sie es auch schon! Wieder bimmelte es hinter ihnen. Und nun wuß 92
te auch das kleine, krumme Haus, wer das war. »Die feurige Straßenbahn-Raupen-Schlange!« schrie es aufgeregt. »Und da ist auch schon wieder dieser gräßliche Schaffner, der mich eine alte Bude genannt hat!« So schnell sie konnten, bogen sie in eine stille Seiten straße ein und blieben aufatmend stehen. »Das muß anders werden«, überlegte das kleine, krumme Haus laut und schüttelte sich den Schweiß vom Dach. Seine Ziegel klirrten dabei, und die SchornsteinBommel wippte. »Es ist wirklich nicht einfach, auf Wanderschaft zu gehen!« seufzte Uli und wischte sich ebenfalls die Stirn. Das kleine, krumme Haus betrachtete ihn aus den Augenwinkeln heraus. »Nun, junger Freund?« fragte es. »Hast du denn überhaupt noch Lust, weiter zu reisen? Ich für meinen Teil...« »Aber ich will noch weiter!« rief Uli. »Ich will nicht für so lange Wochen in die Ferienwohnung zurück! Am liebsten möchte ich in die Stadt, in der wir immer woh nen. Da weht nicht so ein ekliger, kalter Wind. Da ist es bestimmt nicht so dunkel, da...« »Schon gut, schon gut!« brummte das kleine, krum me Haus. »Trotzdem müssen wir es anders anfangen! Am besten kommst du zu mir herein, junger Freund.« Damit öffnete es seinen Mund - das heißt, seine Tür - und ließ Uli eintreten. Drinnen war es gemütlich. Uli sah glänzende, braune Möbel und ließ sich in einen tie 93
fen Sessel nieder. »Und jetzt paß auf!« rief das kleine, krumme Haus aufgeregt. »Jetzt fliegen wir!« Es setzte seine dunkelgraue Zipfelmütze so schief, daß sie fast wie ein Segel stand, legte die SchornsteinBommel an, zog die winzigen Füßchen ein - und auf ging‘s in die Luft! Seltsamerweise wußte das kleine, krumme Haus genau, wo es hinwollte. Schon nach ein paar Minuten schwebten sie über der Stadt, in der Uli bis zu den Ferien gewohnt hatte. »Achtung!« schrie das kleine, krumme Haus. »Es geht abwärts!« Und mit einem gewaltigen Ruck setzten sie auf der Erde auf - gerade im Schulhof der Schule, die Uli so lange besucht hatte. »Meine Schule!« schrie Uli glücklich und stürzte aus der Tür. »Da muß ich doch gleich...« Aber was er mußte, wußte er plötzlich selbst nicht mehr. Alles war dunkel und still um ihn herum. Verlas sen lagen die Häuser da. Alle Türen waren verschlos sen. Keine Lichter brannten. Die Großeltern schliefen. Niemand war da, der ihn empfing. Hier ist es sehr fremd, dachte Uli. Noch fremder als in der fremden Ferienwohnung! Ganz plötzlich sehn te er sich dahin zurück. Nach dem fremden Bett, der fremden Tapete, den fremden Möbeln - und nach den Eltern, durch die ein Zuhause erst wirklich ein Zuhause war... Da hörte er hinter sich das kleine, krumme Haus. Es 94
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schlurfte ein wenig mit den zierlichen Beinchen. So, als ob es entsetzlich müde wäre... »Mir ist es kalt!« knarrte es. »Du liebe erstaunliche Güte, wie ist es mir kalt. Wenn ich nur bei Tante Hulda wäre. Wie würde sie jetzt meinen Ofen einheizen!« »Mir ist es auch kalt!« sagte Uli. Ja, so war es nun einmal: Die Menschen hatten ein Herz und die Häuser einen Ofen. Und wenn beides nicht warm ist, so ist die ganze Welt nicht mehr schön. »Weißt du«, sagte das kleine, krumme Haus und zwinkerte mit den Fensteraugen, »wir fliegen zurück! Hoppla, junger Freund, wir beenden die Wanderschaft!« Es öffnete weit den Mund - das heißt, die große Tür - und Uli spazierte hinein. Wieder ging es holterdipol ter durch die Luft. Bald schon schwebten sie über der neuen, fremden Stadt mit den Hochhäusern und den bimmelnden Straßenbahnen. Und dann waren sie wieder da, wo sie ihre Wanderschaft angefangen hatten. Ehe Uli es sich ver sah, stand das kleine, krumme Haus auf seiner alten Stelle und streckte seine zierlichen Beinchen in den Keller. »Danke, kleines, krummes Haus!« sagte Uli. »Puh, wie bin ich froh, daß ich wieder da bin!« »Ich auch!« seufzte das kleine, krumme Haus und wackelte müde mit den Fensterläden. »Ich auch!« Uli ging über die Straße, Er schlich sich in sein Zimmer hinauf, und ein paar Sekunden später schliefen sie alle beide: Uli und das kleine, krumme Haus. 96
3. Kapitel
Am nächsten Morgen schien die Sonne. Der Wind hatte aufgehört zu wehen, die Eltern waren fröhlich und guter Laune, und Uli sprang mit einem Satz aus dem Bett. Das erste, was er sah, war das kleine, krumme Haus. Ich muß sofort zu ihm hinüber, dachte Uli. Sicher spricht es wieder mit mir. Schnell frühstückte er, und dann lief er auf die Straße. »Guten Morgen!« rief er laut. »Guten Morgen!« antwortete eine Stimme von der anderen Seite. Aber es war eine fremde Stimme. Uli riß die Augen auf. Aus der Tür des kleinen, krummen Hauses trippelte die kleine, runde Frau und nickte freundlich zu Uli hinüber. »Ich bin Tante Hulda!« sagte sie. »Und du bist der Ferienjunge, nicht wahr? Möchtest du zu mir herein kommen? Es ist schön warm in meinem kleinen Haus, Ich war bis heute morgen verreist. Aber nun habe ich wieder tüchtig eingeheizt.« Zögernd kam Uli näher. »Du kommst dir wohl noch ein wenig fremd vor, nicht wahr?« meinte die kleine, runde Frau. »Aber gib acht, in ein paar Tagen gefällt es dir bei uns. Ich weiß, im Anfang ist es manchmal so schwer, daß man am liebsten weglaufen möchte.« »Das stimmt«, antwortete Uli erstaunt. 97
Ein Lächeln zog das Gesicht der kleinen, runden Frau in hundert Fältchen. »Da werde ich dir am besten einmal eine Geschichte erzählen! Kennst du die von dem kleinen, krummen Haus, das eines Nachts heim lich davonwandern wollte?« Hörte Uli da etwas? Nein, es blieb alles ganz still! Uli wunderte sich noch mehr. »Die Geschichte kenne ich wirklich!« erwiderte er. »Ich habe sie sogar selbst erlebt!« Die kleine, runde Frau lachte und strich ihm über den Schopf. Und da hörte Uli es doch! Die Fensterläden des klei nen, krummen Hauses klapperten ganz leise, und die rote Tür - nein, der Mund - wippte wie zum Gruß auf und ab. »Ich glaube, die Ferien werden doch noch schön!« sagte Uli. Und ganz plötzlich wußte er, weshalb er mit einem Mal so fröhlich war: Weil er über Nacht zwei neue Freunde bekommen hatte: die kleine, runde Frau und das kleine, krumme Haus!
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Tom, Till und Kasimir
Wie es zu Kasimir kam
Till lebte bei seinem Onkel Tom. Das war schon seit vielen Jahren so. Und genauso lange redeten sie sich auch gegenseitig mit »Tom« und »Till« an und waren die besten Freunde. Im Hause gab es noch jemanden, der zu ihnen ge hörte. Das war Jette, die Haushälterin. Sie war lang und dünn, hatte eine strenge Stimme, aber ein weiches Herz. Jette liebte Tom und Till sehr, sie konnte es nur nicht so zeigen... Manchmal kam es Tom und Till vor, als ob ihnen doch noch ein klein wenig an ihrer Zufriedenheit feh le. Und das war, wenn sie einem kleinen oder großen, braunen oder schwarzen Hund begegneten. Tiere lieb ten sie nämlich sehr. Jette leider gar nicht, und deshalb würden Tom und Till wohl auch niemals einen Hund bekommen... Eines Tages gingen Till, der gerade sechs Jahre alt geworden war, und Tom, der schon weit über fünfzig war, zusammen spazieren. Und weil es ein ganz be sonders schöner Tag war, mochten sie gar nicht mehr umkehren und wanderten immer weiter. Mit einem Mal standen sie vor dem großen Tierheim, das vor kurzem am Stadtrand erbaut worden war. »Wie es wohl innen aussieht?« fragte Till, der Neffe, 99
und stellte sich auf die Zehenspitzen, als ob er damit mehr sehen könne. »Es sollen sehr viele Hunde darin untergebracht sein«, sagte Tom, der Onkel. »Alte und junge, große und kleine.« »Schade, daß Jette keine Hunde mag«, seufzte Till und schob seine Faust in Toms kräftige Hand. »Sollen wir weitergehen?« Das klang aber so, als ob er gesagt hätte: »Können wir nicht einmal hineingehen?« Und deshalb schlenderten Tom und Till denn auch kurz darauf durch die langen Gänge des neuen Tierheimes und schauten sich die vielen Hunde, Katzen, Papageien, Meerschweinchen und Wellensittiche in ih ren kleinen, sauberen Wohnungen an. »Ein schönes Tier, nicht wahr?« fragte Tom und deu tete auf einen hellgrauen, grünäugigen Kater, der hinter seinem Drahtgitter hockte. »Er wird noch heute abgeholt!« erklärte der Pfleger stolz. »Er hat sofort einen neuen Herrn gefunden!« »Aha!« sagte Tom. Und dann blieben sie beide mit einem Ruck stehen! Vor ihnen hatte sich ein großes, schwarzes Etwas er hoben und glitzerte sie aus lebhaften, tintenschwarzen Augen an. Das Etwas besaß krumme, dicke Pfoten, ei nen wolligen, breiten Kopf und einen kurzen Schwanz, der freundlich wackelte. »Das ist Kasimir«, sagte der Pfleger, und es lag et was Mitleidiges in seiner Stimme. »Er ist schon lange hier. Die Leute nehmen nur schöne Tiere. Deshalb will 100
keiner den Kasimir haben!« Till schluckte und stieß Tom an. »Kasimir heißt er!« sagte er andächtig. »Sieh nur mal, was er für Augen hat. Wie schwarze Tinte! Ich finde ihn wunderschön!« »Danke, mein Herr!« kläffte da eine etwas heisere Stimme. »Das freut mich ungemein, wenn ich so sagen darf. Es ist eine hübsche Abwechslung, einmal ein ver nünftiges Wort zu hören!« Till schaute sich um. Wer sprach denn da? Der Pfleger konnte es nicht sein. Der fuhr mit seinem Besen durch den Gang und jagte winzigen Strohhalmen nach. Sollte der Hund Kasimir...? Aber - das gab es doch gar nicht! »Verzeihung, wenn ich so gesprächig bin!« schnauf te es da wieder. »Manches Mal braucht man das eben. Es ist schon sehr langweilig hier, wenn ich so sagen darf.« Es war also doch der schwarze Kasimir gewesen! Till verschlug es den Atem, und er starrte den Hund mit offenem Mund an. Kasimir wedelte erfreut, und seine tintenschwarzen Augen glänzten. »O Tom!« sagte Till, und »O Till!« sagte Tom. Und dann hatten sie es auf einmal sehr eilig. Der Pfleger mußte sofort seinen Besen hinstellen und ihnen den häßlichen Kasimir verkaufen. Kasimir war nicht teuer. Dafür war er schon viel zu lange hier gewesen. Wenn es einen Winter-Schlußver kauf in Tieren gegeben hätte, so wäre er sicher schon mehrmals im Preis heruntergesetzt worden. Nach fünf Minuten bereits standen Tom, Till und 101
Kasimir vor dem Tierheim und schauten sich freudig an. »Hurra!« rief Till. »Nun haben wir endlich einen Hund. O Tom, du bist einfach wunderbar!« Das sagte er öfter, und Tom freute sich jedes Mal darüber. Schließlich ist es für niemanden leicht, ei nem kleinen, verwaisten Neffen Vater und Mutter zu ersetzen. Aber Tom hatte es mit so viel Liebe und Fröhlichkeit angefangen, daß Till sehr glücklich bei ihm geworden war. Kasimir hatte sich gesetzt und zwinkerte mit den Augen. »Ich bin ebenfalls sehr froh!« brummte er. »Nur - wie werden wir es Jette beibringen, daß es mich gibt?!« Till und Tom erschraken. Daran hatten sie nicht gedacht! Wirklich! Viele lange Monate hindurch hat ten sie sich immer wieder an Jettes Abneigung gegen Hunde erinnert. Aber nun, da sie Kasimir begegnet waren, hatten sie einfach alles vergessen. Wie man einen Regenschirm vergißt, sobald die Sonne aus den Wolken schaut. Tom fuhr sich durch die grauen Haare. Schließlich meinte er: »Es wird uns schon etwas einfallen! Und bis dahin werden wir Kasimir eben ein bißchen verstecken!« »Im Schuppen!« rief Till begeistert. »Kasimir, da bist du sicher! In den Schuppen geht Jette nie von allei ne. Sie ist ein bißchen ängstlich, mußt du wissen.« Sie lachten alle drei und marschierten miteinander nach Hause. Kasimir genoß den Wald, die Blumen, 102
die Luft und die Freiheit, und seine tintenschwarzen Augen glänzten.
Wie es bei Kasimir blieb
Sie hatten Glück gehabt. Sehr viel Glück! Als sie zu Hause ankamen, war Jette nicht da. So konnten sie Kasimir erst einmal im Schuppen unterbringen. Till schleppte zwei weiche Kissen herbei und Tom eine blau-rot-grün gestreifte Decke. Kasimir such te sich in der Küche den allerschönsten Teller aus. Till legte ein halbes Pfund Fleischwurst darauf, und Tom schüttete einen Viertelliter Milch in einen Napf. Endlich sah es im Schuppen beinahe hunde-fürstlich aus, und Tom, Till und Kasimir waren miteinander au ßerordentlich zufrieden. Kasimir erklärte: »Wirklich, ich hatte ein elefanten großes Glück mit euch! Wenn ich so sagen darf!« Da klappte im Haus eine Tür. Tom und Till schauten sich an und liefen in die Wohnung hinüber. Zuerst Till und dann Tom... Jette stand in der Küche und blickte sich ratlos um. »Wo ist denn die Wurst?« fragte sie. »Und die ganze Milch?« Tom kratzte sich hinter dem Ohr. »Wurst und Milch?« stotterte er. »Waren denn überhaupt Wurst und Milch da?« Jette blickte ihn strafend an, und an diesem Abend gab es nur ein mageres Essen. 103
Das war aber noch lange nicht alles, was geschah. Denn schließlich hatten Tom und Till zwar keinen be sonders hübschen, aber einen sehr, sehr klugen Hund gekauft! Zuerst einmal wunderte sich Jette, wo ihre weichs ten Kissen geblieben sein mochten. Danach vermißte sie ihre Decke. Die blau-rot-grüne mit den breiten Streifen! Es war aufregend, und Jette wollte sich gar nicht beruhigen. Endlich jedoch nickte sie vor lauter Nachdenken in ihrem Schaukelstuhl ein. Ein heftiger Wind war aufgekommen. Er pochte an die Fenster. Dicke Regentropfen patschten zur Erde, und manches Mal klang es, als ob beide in das Haus hereinwollten: der Sturm und der Regen! Tom, der Onkel, schrieb einen Brief, und Till blätter te in seinem Lieblingsbuch. Plötzlich erhob sich ein schreckliches Getöse. Draußen im Flur polterte es, und etwas scharrte. Jette war hochgefahren, und Tom ließ seinen Federhalter fallen. Till jedoch sah nur kurz auf und sagte: »Au fein! Endlich haben wir Mäuse!« Jette schrie auf, und ihr Schaukelstuhl wackelte hef tig. »In unserem Haus gibt es keine Mäuse!« rief sie. Da plumpste etwas an die Tür. Es hörte sich an, als ob jemand sehr rasch eintreten wolle. Jette wollte das aber gar nicht, und deshalb schrie sie auch nicht: »Herein!« sondern nur: »Hilfe!« Da schnaubte es seltsam vor der Tür, und dann wur 104
de es wieder still. Nun hielt es Jette nicht länger. Sie verließ ihren Schaukelstuhl und sprang auf die Tür zu. Im Nu stand sie draußen auf dem Flur, doch noch schneller rannte sie in das Zimmer zurück. »Ich habe etwas gesehen!« keuchte sie. »Es sieht aus wie unsere Decke. Aber sie bewegt sich. Als ob jemand unter ihr steckte!« Atemlos fiel Jette in ihren Stuhl. »Die blau-rot-grüne Decke?« rief Till. »Die mit den breiten Streifen?« »Natürlich! Oder auch nicht! Du meine Güte, ich weiß schon gar nichts mehr!« antwortete Jette, und ihr Stuhl schaukelte wie noch nie. Tom stand auf, faßte Till um die Schulter, und ge meinsam schoben sich die beiden In den Flur. Dort sah es heiter aus. Ein Stuhl war umgeris sen, eine Blumenvase lag zerbrochen am Boden, die Fußmatten waren verschoben, und über ihren Köpfen tappte es unheimlich. »Irgend jemand ist noch hier!« schrie Jette aus dem Zimmer. »Vielleicht ist es ein Dieb, der unsere Decke, die Kissen und auch die Wurst und die Milch gestohlen hat!« Tom und Till schlossen die Tür und schlichen sich vorsichtig die Treppe hinauf. Im zweiten Stock, auf einem geblümten Sessel, fan den sie, was sie gesucht hatten: Kasimir, den Hund! Er hatte die blau-rot-grüne Decke hinter sich hergezogen und blinzelte mit seinen tintenschwarzen Augen darun 105
ter hervor. »Wie habe ich das gemacht, meine Freunde?« fragte er, heiser vor Freude. »Ich glaube, das war ein toller Einfall von mir. Wenn ich so sagen darf!« »Was?« rief Till, und »Was?« rief auch Tom. Kasimir kicherte zufrieden. »Entschuldigt, daß ich ein bißchen heftig mit euren Sachen gespielt habe! Aber unsere gute Jette mußte auf jeden Fall erschre cken! Und sie ist doch auch erschrocken - oder?« »Stimmt!« sagte Till und lachte. Kasimir schnaufte selbstbewußt. »Ihr werdet schon sehen, Freunde, was Jette sich nun ausdenkt! Laßt mich nur noch ein bißchen poltern. Ich kenne die Menschen. Sie sind eine merkwürdige Rasse, wenn ich so sagen darf!« Er nickte wie ein sehr häßlicher, aber auch wie ein sehr kluger Hundegeneral, und deshalb stiegen Tom und Till folgsam wieder nach unten. Jette schaute ihnen aufgeregt entgegen. »Es war nichts zu finden!« behauptete Tom, der Onkel. »Es muß der Sturm sein!« »Es ist wie verhext!« sagte Till, der Neffe. Und da mit kam er der Wahrheit eigentlich am nächsten. Jette blieb wie angenagelt in ihrem Schaukelstuhl sitzen, und Tom und Till durften sie nicht verlassen. Draußen im Flur polterte es weiter. Mal hier und mal da! Um das Haus herum stürmte der Wind, und die Regentropfen prasselten... Das ging noch über eine Stunde so. Schließlich aber wurde es nach und nach ruhig. Auch der Sturm legte 106
sich. »Siehst du, Jette, es war nur das Unwetter!« erklärte Tom. »Irgendwo hat der Wind ein Fenster aufgesto ßen.« »Und wenn es nur der Wind war!« sagte Jette streng. »Hört mir bitte einmal zu. Ich habe mir etwas über legt!« Tom und Till hörten zu. »Wir leben hier sehr einsam!« sagte Jette. »Wir brauchen noch jemanden in unserem Haus!« Tom und Till starrten sie in atemloser Spannung an. Genau das hatten sie Jette schon immer erzählt! »Wir brauchen einen Hund!« sagte Jette entschie den. »So etwas wie heute abend möchte ich nicht noch einmal erleben! Bitte, besorgt morgen einen Hund. Aber einen recht häßlichen. Einen, vor dem sich jeder Dieb oder jeder Geist fürchtet!« »Wird erledigt!« erwiderte Tom, der Onkel, und zwinkerte heftig mit den Augen. »Und wie werden wir unseren Hund nennen?« »Natürlich Kasimir!« rief Till, der Neffe, und zwin kerte ebenso heftig mit den Augen. Darauf schlichen sie sich beide noch einmal in den Schuppen. Kasimir lag etwas erschöpft, aber sehr zu frieden auf der blau-rot-grünen Decke mit den breiten Streifen. »Nun, Freunde...« schnaufte er. »Ist alles so gekom men, wie ich es mir gedacht habe? War es nicht eine großartige Idee von mir, durch das ganze Haus zu pol tern?! Ich frage mich nur, wer mir da alle Türen offen 107
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gelassen hatte? Damit ich aus dem Schuppen herausund in das Haus hineinkonnte, wenn ich so sagen darf!« Tom, der Onkel, sah ein wenig verlegen drein. »Ich!« gestand er. »Aber es war ein - hm - Zufall! Bitte, was sollte es wohl sonst gewesen sein?!« Kasimir glaubte es, doch Till dachte noch lange dar über nach. Schließlich wußte er, daß Tom ein sehr, sehr kluger Onkel voll guter Einfälle war. Und es war Tom schon zuzutrauen, daß er die Türen absichtlich für Kasimir offengelassen hatte. Vielleicht hatte er sogar den gan zen Abend darauf gewartet, daß Kasimir endlich her umgeistern würde... Aber - eigentlich war es ja gleichgültig, durch wen Jette dazu gekommen war, sich einen Hund zu wün schen. Hauptsache, es hatte geklappt! Und so brachten denn Tom und Till am nächsten Morgen den Hund Kasimir feierlich in das Haus. Es war ganz selbstverständlich, daß die blau-rot-grüne Decke, die weichen Kissen und noch vieles andere sein Eigentum wurden. Jette verwöhnte ihn am meisten.
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Till war sehr glücklich darüber. Nur eines wunderte ihn: Kasimir redete nur, wenn Tom dabei war! Und oft war Kasimirs Stimme wirklich nicht von Toms Stimme zu unterscheiden. Aber das war eben das Geheimnis da bei. Das kleine Geheimnis von Tom, Till und Kasimir.
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Der dicke Räuber Kalk Drall
1. Kapitel
Am Tag vor seinem sechsten Geburtstag war Walter sehr aufgeregt. Noch nie war ihm ein einziger Tag so lange vorgekommen! Schließlich hielt er es nicht mehr aus und ging mit seinem Vater zu dem großen Spielzeugladen hinüber. Da standen die Stofftiere und Puppen, die Hampelmänner und Autos, die Lokomotiven und Schiffe. Aber nichts war schöner als der große Räuber! Stolz und mutig sah er aus. Er hatte einen prächtigen Bart, und seine schwarzen Augen blitzten. »Ich werde ihn ›Fürchtebart‹ nennen!« sagte Walter zu seinem Vater. »Denn ich bekomme ihn ganz be stimmt!« »So?« fragte der Vater. »Natürlich!« antwortete Walter. »Schließlich ist er der größte und schönste Räuber, den ich kenne. Und alle meine Freunde werden mich um ihn beneiden!« »Oho!« sagte der Vater. »Das ist nicht der beste Grund, sich etwas zu wünschen. Außerdem kommt es gar nicht so sehr auf das Aussehen an.« »Auf was denn sonst?« rief Walter und wunderte sich. »Das mußt du schon selbst herausfinden«, meinte der Vater. »Wirst du nicht morgen sechs Jahre alt?« 111
Und dann war es endlich soweit: der Geburtstag war da! Mit einem Satz sprang Walter aus dem Bett und rannte in das Wohnzimmer. Und wirklich! Die Geburts tagskerzen leuchteten, der Geburtstagskuchen duftete, und der Geburtstagstisch war voller Geschenke. Walter sah den neuen Schulranzen, den neuen Fußball und das neue Würfelspiel. Aber - wo war denn der neue Räuber? Der mächtige Räuber Fürchtebart, um den ihn alle seine Freunde beneiden würden? Walter lief im ganzen Zimmer umher. Schließlich kroch er sogar unter den Tisch. Doch nirgends konnte er seinen Räuber entdecken! Die Eltern kamen herein und gaben Walter den Geburtstagskuß. »Danke!« sagte Walter. Und dann konnte er es nicht mehr länger aushalten. »Und wo ist mein Räuber?« fragte er. »Auf dem Geburtstagstisch!« antwortete der Vater. Walter schüttelte den Kopf. »Wo denn?« rief er. »Ich kann ihn nirgends sehen. Dabei ist er doch der größte Räuber, den es gibt!« Der Vater hustete und schaute zur Mutter hinüber. »Das ist er eben nicht!« sagte er. »Wir wollten dir näm lich nicht den größten, sondern den nettesten Räuber schenken! Und dort sitzt er!« Tatsächlich! Nun entdeckte Walter ihn auch. Mitten auf dem Geburtstagstisch hockte ein Räuber. Aber wie sah er aus?! Klein und drall war er, gerade wie eine festgestopfte Leberwurst. Er hatte ein rotes Gesicht, 112
abstehende Ohren und einen kugelrunden Bauch. Auf dem Kopf saß ihm ein breiter Hut, und um den Hals leuchtete ein knallrotes Tuch. Walter riß die Augen auf. Dadurch wurde der Räuber aber auch nicht größer. »Das soll ein Räuber sein?« rief Walter. »Es ist einer«, sagte sein Vater. »Schau ihn dir nur einmal richtig an!« »Nein!« sagte Walter, »Ein kleiner Räuber ist nicht einmal ein halber Räuber. Und ein kleiner dicker Räuber ist schon gar keiner! Oh, was werden nur meine Freunde sagen!« Heute war Walter unten auf der Straße sehr still. Und von den Geschenken erzählte er seinen Freunden über haupt nichts. Am Abend ging er früh ins Bett, und den kugelrun den Räuber versteckte er. In die entfernteste Ecke des Kinderzimmers setzte er ihn. Da schaute nur noch die Nase hervor, und von dem drallen Bauch und den kur zen Beinen war endlich nichts mehr zu sehen. »Schlaf gut!« sagte die Mutter zu Walter. »Und träu me etwas Schönes. Die Geburtstagsträume sind wich tig. Wichtig für das ganze, neue Jahr!« »Ich will überhaupt nichts träumen!« brummte Walter. Die Mutter lachte und knipste die Lampe aus.
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2. Kapitel
Der Mond leuchtete in das Zimmer, und die ersten Sterne schauten ihm über die Schulter. »Wenn ich nur nichts träume!« sagte Walter laut vor sich hin. »Sonst träume ich noch von diesem komi schen Räuber. Am besten schlafe ich erst gar nicht ein. Uaah, bin ich müde! Uaah!« »Du kannst aber gähnen!« rief da jemand. »Ich den ke, du willst nicht müde sein?!« »Will ich auch nicht!« antwortete Walter ärgerlich. Aber dann fuhr er mit einem Ruck hoch. Aufrecht saß er im Bett und schaute sich um. Hatte da wirklich je mand zu ihm gesprochen? »Hier bin ich!« rief es da wieder. »Bei allen Räubern, du hast mich vortrefflich versteckt!« Es raschelte, und ganz hinten in der entferntesten Ecke des Kinderzimmers bewegte sich etwas. »Der kugelrunde Räuber!« sagte Walter. »Du meine Güte! Das gibt es doch gar nicht!« Es polterte ein wenig, und dann hüpfte etwas Kleines, Dickes zu Walter herüber. Es war der Räuber! Vor Walters Bett blieb er stehen. »Bei allen Räubern...«, begann er, »es wird Zeit, daß ich mich dir endlich vorstelle! Mein Name ist Kalle Drall, und ich finde, das paßt gut zu mir.« Damit zupfte er sein rotes Halstuch zurecht und sah sehr zufrieden aus. Er schämte sich kein bißchen. Nicht einmal darüber, daß er solch einen merkwürdi gen Namen besaß! 114
Walter schüttelte den Kopf. Um diesen Räuber wür de ihn niemand beneiden! Kalle Drall nickte, als ob er Walters Gedanken er raten hätte. »Bei allen Räubern!« sagte er. »Ich weiß, daß ich dir nicht gefalle! Und deshalb möchte ich dir auch einen Vorschlag machen. Wollen wir nicht in das Spielwarengeschäft gehen und mich umtauschen?!« »Dich umtauschen?« rief Walter. »Vielleicht gegen den schönen, großen Räuber Fürchtebart? Du meine Güte, das wäre wunderbar!« Kalle Drall zupfte wieder an seinem roten Halstuch. »Gut, gut!« brummte er. »Na bitte! Gut!« Aber trotz der vielen »Gut« klang es beinahe ein wenig betrübt... Walter merkte es nicht. Er war schon aus dem Bett gesprungen und schlüpfte in den Bademantel mit den blauen Punkten. »Am liebsten ginge ich gleich hin!« sagte er. »Damit ich morgen früh meinen Freunden endlich den großen Räuber zeigen kann!« Kalle Drall nickte, und sein Räuberbart nickte mit. »Bitte!« sagte er. »Wir können gehen! Es trifft sich prächtig, daß heute deine Geburtstagsnacht ist! Da sind alle Türen für uns offen!« Und so war es auch! Die Türen des Hauses, in dem Walter wohnte, sprangen ganz von alleine auf, und Walter und Kalle Drall kamen schnell auf die Straße. Droben am Himmel schien noch immer der Mond, und er hatte jetzt unzählige Sterne um sich versam melt. Der kleine Räuber ging voran. Geradewegs zu dem 115
großen Spielzeugladen stapfte er. Der Hut saß ihm auf den abstehenden Ohren, und sein knallrotes Halstuch flatterte. Die Tür des Spielzeugladens stand ebenfalls offen. So, wie es sich für eine Geburtstagsnacht gehört! »Bitte einzutreten!« rief Kalle Drall. »Bei allen Räubern, hier ist ja alles schon munter!« Und das stimmte! In dem großen Laden war es taghell, und auf den bunten Regalen ging es lustig zu. Alle die Stofftiere und Puppen, die Hampelmänner und Autos, die Lokomotiven und Schiffe sprachen und lachten miteinander. Ganz hinten in der Ecke lag der mächtige Räuber Fürchtebart und blinzelte. »Sehr laut, diese Gesell schaft!« brummte er. »Wann soll unsereins da wohl ein Auge zumachen?« Unter Walter piepste etwas. »Dieser Räuber!« pieps te es. »Den ganzen Tag - bim-bim! - will er nichts an deres als schlafen. Bim-bim!« Walter schaute zu Boden. Gerade vor seinem linken Bein entdeckte er eine winzige rosa Maus. Um ihren Hals hing ein hellblaues Glöckchen, und das bimmelte bei jeder Bewegung. »Ich bin Adalbert!« piepste die rosa Maus. »Bim bim! Und ich weiß schon alles. Ich bin nämlich - bimbim! - Kalle Dralls bester Freund. Und er hat mir er zählt, daß du ihn umtauschen willst. Das kann keiner von uns verstehen. Wirklich! Bim-bim!« Die anderen nickten, und ein großes Auto hupte zu stimmend. 116
»Dieser Lärm!« schimpfte der Räuber Fürchtebart. »Wenn ich jetzt nicht sofort einschlafen kann, werde ich noch alt und faltig werden! Was für ein entsetzli cher Gedanke!« Ein hellbraunes Stoffpferd wieherte, Adalbert bimmelte, und eine grüne Lokomotive bekam einen Schluckauf vor Lachen. Alle waren sehr lustig. Alle außer Walter. Er schaute nachdenklich zu dem schläfrigen Räuber hinüber. Aus der Nähe betrachtet war auch der größte Räuber manchmal ein seltsamer Räuber.
3. Kapitel
Da hörten sie mit einem Mal eine Stimme! So scharf und schneidend war sie - wie ein eiskalter Wind! Allen lief es kalt den Rücken hinunter. »Hoppla, Leute!« schnarrte die Stimme. »Hoppla! Ihr seid ja sehr vergnügt. Um so besser! Um so besser! Denn eben kommt Eugen Nil!« Und vorne am Eingang, wo ein riesiges Paket ge standen hatte, raschelte und scharrte es. Ein häßliches Krokodil streckte seinen Rachen hervor, und mit einem fürchterlichen Krach sprang es aus dem Papier. Breit und lang lag es in der Mitte des Ladens. »Oh!« schrien alle, und plötzlich war es sehr still. »Gut, gut!« schnaufte Eugen Nil. »Immer hübsch brav, ihr Lieben! Wie ihr seht, bin ich ein wundervol les Krokodil! Morgen komme ich in einen Puppenzoo. 117
Aber bis dahin ist noch eine lange Zeit. Und was glaubt ihr wohl, was ich jetzt habe?« Niemand antwortete. Alle wußten sie, was Eugen Nil, das Krokodil, meinte. Endlich aber piepste Adalbert, die rosa Maus: »Vielleicht hast du Schlaf, liebes Krokodil? Bitte, wir wollen dich nicht stören! Wenn du also - bimbim!...« Adalbert verstummte. Mitten hinein in sein schöns tes »Bim-bim« schnarrte das Krokodil: »Papperlapapp! Eugen Nil hat Hunger. Einen Riesenhunger! Und er will etwas fressen! Jetzt auf der Stelle! Habt ihr mir einen Vorschlag zu machen? Bitte, ein bißchen fix, sonst fresse ich euch nämlich alle zusammen auf! Mein Magen ist wie ein leerer Vorratskeller!« »Oh!« stöhnten wieder alle. Hinten in der Ecke hatte sich der Räuber Fürchtebart aufgerichtet. Seine Augen waren so schwarz und rund wie rußige Tassen. »O bitte, nein!« rief er. »Ich habe überhaupt keine Lust, aufgefressen zu werden. Was für ein entsetzlicher Gedanke! Ich finde, da gibt es doch andere Geschöpfe, die längst nicht so hübsch sind wie ich...« »Aha!« rief Eugen Nil, das Krokodil. »Man will mir jemanden zur Verfügung stellen! Gut, ich höre. Wen schlägst du mir vor?« Alle schauten entsetzt zu dem prächtigen Räuber Fürchtebart hinüber. Würde er wirklich einen von ih nen nennen? 118
»Nun...«, schnarrte der Räuber Fürchtebart und sei ne Augen wurden wieder kleiner. Aber sie sahen noch immer wie schwarze Tassen aus, »nun, ich glaube, da fängst du am besten mit dieser entsetzlichen Maus dort an!« Alle schrien auf, und Adalbert, die rosa Maus, bim melte ängstlich. Aber das Krokodil lachte. »Bin ich ein Kater?« fragte es. »Sieht Eugen Nil aus, als ob ihm eine Maus genügen würde?« Der Räuber Fürchtebart schnaufte. »Wie wäre es dann mit diesem komischen Räuber?« meinte er. »Er heißt Kalle Drall. Bekommst du bei diesem Namen keinen Appetit?!« Wieder schrien alle auf, nur Kalle Drall blieb still. Das Krokodil lachte erneut. »Er sieht aus wie eine Leberwurst!« grunzte es. »Und Leberwürste mag ich nicht! Auch wenn sie noch so dick und drall sind! Hast du nichts besseres?« Der Räuber Fürchtebart dachte nicht lange nach. Als nächstes schlug er das hellbraune Stoffpferd vor. Aber auch das war Eugen Nil nicht gut genug. Da bot ihm der große Räuber ein Spielzeug nach dem anderen an. Doch immer hatte das Krokodil etwas auszusetzen. »Jetzt reicht es mir!« schnarrte es schließlich. »Mein Hunger ist so gewaltig, daß ich selbst auf die Suche gehen muß. Und ich weiß auch schon, wer Eugen Nil schmecken wird! Ha!« Es grunzte und riß vergnügt den Rachen auf. »Hört einmal zu: 119
›Nicht zu groß und nicht zu klein, nicht zu mager, nicht zu fein! Ratet nur, wer wird das sein?‹ Und ganz langsam watschelte es auf den großen Räuber Fürchtebart zu. Dieser riß die schwarzen Augen weit auf und schrie: »Aber Eu... Eugen Nil! Bester Eu... Eugen Nil! Du wirst doch nicht mich meinen? Mich, den schönen Räuber Fürchtebart?« Doch das Krokodil meinte ihn. Wirklich ihn! Walter sah es ganz deutlich. Und er sah auch, daß der Räuber Fürchtebart nur von außen ein schöner Räuber war. Sein Herz war böse und klein. »Zu Hilfe!« brüllte der Räuber Fürchtebart. »Zu Hilfe! Mich zu fressen. Was für ein entsetzlicher Gedanke! Oh, bester Eugen Nil, friß doch lieber alle die anderen auf!« Aber Eugen Nil grunzte nur und watschelte weiter! Und da, als es gar niemand mehr erwartet hätte, sprang plötzlich Kalle Drall mit einem Satz herbei. Geradewegs vor Eugen Nil! »Bei allen Räubern!« rief er. »Was sehe ich da?« Eugen Nil blinzelte mißtrauisch. »Kleine Leberwurst, was ist?« fragte er. »Es ist nur dein Rachen!« sagte Kalle Drall beschei den. »Fühlst du nichts, Eugen Nil?« »Nichts als Hunger!« antwortete Eugen Nil ver drießlich. »Und darum geh mir aus dem Weg, kleine Leberwurst!« 120
»Aber nein!« rief Kalle Drall. »O Eugen Nil, dein Rachen ist so rot wie mein Halstuch! Bei allen Räubern, du bist furchtbar erkältet!« »Erkältet?« grunzte Eugen Nil und hustete zur Probe. Wie alle Krokodile war er sehr ängstlich, wenn es sich um seine Gesundheit handelte. »Erkältet? Hua, hua, hupp! Tatsächlich, es kratzt in meinem Hals! Und ich merke es erst jetzt. Erstaunlich! Hua, hua, hupp! Oh, es schmerzt wirklich scheußlich!« »Kein Wunder!« sagte Kalle. »Puterrot ist dein Rachen! Bald wirst du nichts mehr reden können!« »Um alles in der Welt!« rief Eugen Nil. »Da muß so fort etwas geschehen! Und noch, bevor ich den großen Schnauzbart dort verschlucke. Was rätst du mir, kleine Leberwurst?« »Oho!« sagte Kalle Drall. »Da gibt es doch nur eines, Eugen Nil. Ein warmer Wickel muß um deinen Hals. Und damit du siehst, wie ehrlich ich es mit dir meine, werde ich dir mein schönes, rotes Halstuch geben!« »Her damit!« schnarrte Eugen Nil. »Und daß du mir vorsichtig bist, kleine Leberwurst!« Damit streckte das Krokodil den Kopf in die Höhe, und Kalle Drall stapfte herzu. Schnell nahm er sein knallrotes Halstuch und schlang es um Eugen Nil. Aber nicht um den Hals, wohin es eigentlich gehört hätte, sondern geradewegs um den großen, gefräßigen Rachen. Es knirschte und krachte, so fest zog Kalle Drall! Aber er und sein Halstuch schafften es: Eugen Nil konnte sein Maul keinen Spalt breit mehr öffnen! 121
»Mum-mum-mum-mum!« stöhnte er. »Mum-mum mum-mum!« »Hurra!« schrien die anderen. »Nun kann Eugen Nil niemanden mehr fressen! Und Kalle Drall ist der tap ferste Räuber der Welt!« »Und der klügste dazu!« piepste Adalbert, die rosa Maus. »Denn Eugen Nil ist gar nicht erkältet gewesen! Bim-bim!« Der Räuber Fürchtebart stieg von dem hohen Regal, auf das er in seiner Angst geklettert war. »Das ist ja noch einmal gut gegangen!« brumm te er. »Mich zu fressen! Was für ein entsetzlicher Gedanke!« Aber niemand hörte auf ihn. Alle redeten nur noch von Kalle Drall. »Du warst großartig!« sagte Walter. »Bitte, Kalle, 122
gehe doch wieder mit mir!« Der Räuber kniff ein Auge zusammen. »Obwohl ich so klein und dick bin?« fragte er. »Darauf kommt es doch gar nicht an!« sagte Walter. »Das weiß ich jetzt! Außerdem gefällst du mir, so, wie du bist!« »Dann ist ja alles gut!« piepste Adalbert, die rosa Maus. »Oh, ich wünsche dir viel Glück, Kalle! Bimbim!« Und sie fing ihren dünnen, rosa Schwanz und fuhr sich mit ihm schnell einmal über die Augen. Danach verabschiedete sich Walter und Kalle Drall von den Stofftieren und Puppen, Hampelmännern und Autos, Lokomotiven und Schiffen. Die Geburtstagsnacht ging auch bald zu Ende... Draußen stand der Mond noch immer am Himmel, und er und die Sterne sahen zu, wie die beiden neuen Freunde über die Straße stapften. »Das war mein schönster Geburtstag!« sagte Walter. Und als er in seinem Zimmer war, nahm er Kalle Drall mit in sein Bett.
4. Kapitel
Am Morgen nach seinem Geburtstag blinzelte Walter erstaunt. Wer saß denn da neben ihm auf dem Kissen? So klein und so rund und so bunt? Aber dann sah Walters daß es Kalle Drall war, und er wurde sehr fröhlich. Der Vater kam ins Zimmer. »Hast du wirklich nichts 123
geträumt?« fragte er. »Trotz der Geburtstagsnacht?« »Doch!« antwortete Walter. »Wenn ich es nicht wirklich erlebt habe!« setzte er nachdenklich hinzu. »Kalle Drall und ich sind Freunde geworden.« »Oho!« sagte der Vater erstaunt. »Kalle Drall heißt unser Räuber! Habe ich nicht gesagt, daß er ein präch tiger Kerl ist? Nun fehlt dir wohl nichts mehr, wie?« »Doch!« sagte Walter und blinzelte seinem Vater zu. »Etwas wünsche ich mir noch!« »Etwas Großes?« rief der Vater, und es sah aus, als wolle er gar nicht zurückblinzeln. »Im Gegenteil!« sagte Walter. »Etwas ganz Kleines! Es ist eine Maus, und sie heißt Adalbert. Kalle mag sie sehr gern.« Nun kniff der Vater doch ein Auge zu und sah sehr lustig aus. »Über eine Maus läßt sich reden«, meinte er. »Besonders, wenn sie Adalbert heißt!« Noch am gleichen Tag sprang Walter vergnügt die Treppe hinunter. Auf seinem Arm saßen der dicke Räuber Kalle Drall und Adalbert, die rosa Maus. Sie schauten ebenfalls sehr fröhlich aus. Als Walters Freunde herbeirannten, wunderten sie sich. »Ist das der große Räuber Fürchtebart?« fragten sie. Walter lachte. »Nein!« sagte er. »Das ist Kalle Drall! Er ist nicht der schönste Räuber, den es gibt, aber er ist der allerbeste! Und darauf kommt es schließlich an!« Die Freunde nickten. Und Walter merkte, daß er an einem einzigen Geburtstag sehr viel gelernt hatte. Kein 124
Wunder! - dachte er. Schließlich bin ich ja auch ein ganzes Jahr älter geworden...
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