Buch Der Diamant ist ein waschechter Psychopath. Er spricht mit Pflastersteinen und Bäumen, manipuliert Menschen mittel...
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Buch Der Diamant ist ein waschechter Psychopath. Er spricht mit Pflastersteinen und Bäumen, manipuliert Menschen mittels Telepathie, und sein Ziel ist eindeutig: Der Diamant will die Welt regieren. Glücklicherweise ist er im Safe eines Juweliers eingeschlossen; unglücklicherweise liegt neben ihm eine labile Packung Sprengstoff, die prompt explodiert. Und vor dem Geschäft warten schon ein paar Gauner, um sich das Juwel unter die schmutzigen Nägel zu reißen. Doch in diesem Moment schlägt das Schicksal zu: Die bösen Wichte landen durch die überraschende Detonation im Krankenhaus und der fiese Edelstein erst einmal in den Händen der unerschrockenen Dot Coulson, die gerade die Straße entlangpatrouilliert. Dot, eine kleine ältere Dame, hat es sich zur Aufgabe gemacht, ihren Stadtteil schöner zu machen – angesichts der Zustände im Londoner Glasscherbenviertel Borough ein hoffnungsloses Unterfangen. Und jetzt hat sie auch noch den Diamanten am Hals, wird von den hinterlistigsten Schurken der Stadt gejagt, und ihr einziger Freund ist ein höflicher, wenngleich schlagkräftiger Penner. Nein – da ist auch noch ihre Nichte, eine resolute Krankenschwester, die ebenfalls in die Geschichte verwickelt wird und in die sich einer der Gauner prompt verknallt; im Grunde hat er eben immer nur eine strenge Hand gebraucht… Autor Gerry O’Brien, 43, hatte bereits mehrere Romane verfaßt, bevor er von Colin Smyth, dem Agenten Terry Pratchetts, entdeckt wurde. O’Brien wuchs in Camberley/Surrey auf, verbrachte einige Jahre in der britischen Armee – unter anderem in Deutschland und Irland sowie im U-Boot-Einsatz im Baltischen Meer –, versuchte sich als Schreiner von Puppenstuben und fand schließlich mit dem Schreiben zu seiner wahren Berufung. Der Autor lebt mit seiner Frau und seinen beiden Töchtern in Winchester. Ein neuer Roman ist bereits in Arbeit .
Gerry O’Brien
Böse Wichte Roman
Aus dem Englischen von Heike Brandt
GOLDMANN
Die Originalausgabe erschien 1998 unter dem Titel »Cleaning Up« bei Colin Smythe Limited, Gerrards Cross, Buckinghamshire
Umwelthinweis: Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches sind chlorfrei und umweltschonend.
Deutsche Erstausgabe 01/2000 Copyright © der Originalausgabe 1998 by Gerry O’Brien Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2000 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Verlagsgruppe Bertelsmann GmbH Umschlaggestaltung: Design Team München unter Verwendung einer Illustration von John Ireland Satz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin Druck: Eisnerdruck, Berlin Titelnummer: 44523 Redaktion: Alexander Groß AB • Herstellung: Katharina Storz/Str Made in Germany ISBN 3-442-44523 13579 10 8642
Für Eleanor Und nicht nur, weil sie mich zuerst gefragt hat…
1 Die ärmlich gekleidete alte Frau klopfte ans Fenster des funkelnagelneuen roten Mercedes. »Wäre es Ihnen möglich, nicht auf dem Bürgersteig zu parken«, sagte sie. »Der ist nämlich für Fußgänger und nicht für Autos.« Der pockennarbige, blaßgesichtige Fahrer des neuen Wagens ließ die Fensterscheibe runter, nahm die Zigarette aus dem Mund, blickte die alte Frau an und blies ihr Rauch ins Gesicht. »Was?« sagte er. »Würden Sie bitte nicht auf dem Bürgersteig parken, der ist für Fußgänger, nicht für Autos.« Der Fahrer grinste. Breit. »Verpiß dich!« sagte er. »Blöde Kuh.« Ungerührt wandte er sich ab und ließ die Fensterscheibe wieder hoch. Die alte Frau zuckte mit den Schultern und schlurfte davon. Zwanzig Meter weiter kletterte ein junger Mann aus einem zerbeulten alten Ford Cortina, der ebenfalls auf dem Bürgersteig geparkt worden war. Gerade als der Mann die Tür abgeschlossen hatte, erreichte ihn die alte Frau. »Entschuldigen Sie«, sagte sie. »Wäre es Ihnen möglich, nicht auf dem Bürgersteig zu parken?« Der junge Mann sah die alte Frau an, als wäre sie verrückt. »Was?« fragte er. »Wäre es Ihnen…« »Alles klar, ich hab’s gehört.« Der junge Mann war groß und kurzgeschoren, und seine Stimme klang schuldbewußt. Ein paar Passanten auf der belebten High Street hatten den Wortwechsel verfolgt und blieben stehen, um zu sehen, wie es weiterging. 6
»Dumme Ziege!« flüsterte eine Stimme. »Was geht die denn das an?« »Ich hab sie schon mal dabei beobachtet«, antwortete eine andere Stimme laut und schroff. »Blöde Kuh. Die will die Welt verändern oder so was.« Die Welt verändern; das ist doch ein durchaus respektabler Wunsch, aber trotzdem war die Stimme mit Hohn beladen wie ein Hot dog mit Senf. Der junge Mann schaute hinüber zu der schroffen Stimme. Er guckte Dot an. Unsicher blickte er die Borough High Street rauf und runter, bis sein Blick auf den roten Mercedes fiel. »Alles klar, aber was ist denn mit dem da? Wieso machen Sie mich an und nicht den?« Auch die alte Frau schaute zu dem roten Auto. »Ich hab’s versucht«, sagte sie. »Er hat mir gesagt, ich soll mich verpissen.« Sie blickte dem jungen Mann wieder fest in die Augen. »Aber das heißt ja nicht, daß Sie das auch tun müssen, oder?« Die alte Frau deutete mit dem Kopf auf ein gelbes Schild, das ein bißchen weiter weg in der anderen Richtung stand. »Da ist ein Parkplatz. Da können Sie wunderbar parken.« Der junge Mann blickte zu dem Schild und dann wieder zu der alten Frau. Sie lächelte ihn freundlich an. »Na los«, sagte sie. »Seien Sie so lieb.« Ein junges Mädchen kicherte. Heiterkeit breitete sich aus und hüpfte durch den kleinen Menschenauflauf, bis sie, von einem Blick des jungen Mannes abgeschmettert, beleidigt durch einen nahen Eingang davonschlich. »Also gut«, sagte er schließlich. »Das ist schon korrekt, denke ich.« Er schloß sein Auto auf, stieg ein und fuhr ohne ein weiteres Wort davon. Die Zuschauer waren still. »Das haben Sie gut gemacht, meine Liebe«, sagte 7
plötzlich eine Frauenstimme. »Stimmt«, sagte die schroffe Stimme ohne eine Spur von Scham. »Klasse gemacht.« »Wenn ich bloß den nötigen Mut hätte«, sagte die Frau, »dann würde ich denen schon was erzählen.« »Nicht nötig.« Die schroffe Stimme stupste die Frau in die Seite und grinste anzüglich. »Erzählen Sie’s lieber mir. Was haben Sie in der nächsten Stunde vor?« Die schroffe Stimme lachte. »Ziehen Sie bloß Leine!« »Man wird doch mal fragen dürfen.« »Ach ja? Na, dann will ich Ihnen mal was erzählen…« Die alte Frau schlurfte weiter. Der Borough, dachte sie, mein Kiez, Gott segne ihn und alle, die darin herumkreuchen. Sie hob den Kopf, schaute die High Street entlang und lächelte. Es gab noch mehr zu tun, eine Aufgabe ohne Ende. Von allen, die je über London geschrieben haben, ist Charles Dickens der Größte. Bei Dickens gerät die Metropole zu einem Meisterwerk des Verfalls. Gossen stinken romantisch, Fassaden verfallen hübsch dekadent, Blindfenster schieben einäugig Wache, und tote Winkel sind überhaupt nicht tot – sie verhalten sich bloß still, bis die Gefahr vorbei ist und sie selber Unheil anrichten können. Der Borough ist allerdings ein Ort, über den Dickens nie geschrieben hat. Das macht aus dem Borough noch keinen… nun, keinen Stadtteil, den Dickens vergessen hätte. Weit gefehlt. Er wollte ihn vergessen. Er versuchte ihn zu vergessen. Das geht den meisten Leuten so, die mal dort waren. Denn es ist ein Ort, der sich einem immer wieder aufdrängt, gewöhnlich in Form von Alpträumen. Die meisten Leute, die auf dem Weg zur oder von der 8
Stadt hier entlangkommen, empfinden die High Street im Borough als nichts Besonderes. Schöne Architektur ist häßlicher Architektur gewichen, daran hat sich bis jetzt noch nichts geändert. Die Geschäfte sind von den großen Ketten übernommen worden, und die Stadtverwaltung hat die üblichen, fruchtlosen Versuche unternommen, das Gesicht der Straße zu liften, um Besucher anzulocken und zum Geldausgeben zu animieren. Aber wenn man die High Street verläßt, wird die Luft dicker und düsterer. Geht man durch die Nebenstraßen, beginnt der Bürgersteig unter den Fußsohlen schmierig zu werden. Sperrt man die Ohren auf, dringen gelegentlich entsetzte Schreie aus den Sackgassen hinaus in das magere Leuchten, das im Borough als Tageslicht durchzugehen hat, bevor es wieder eilig zurück ins Dunkle flieht. Etwa in der Mitte der Borough High Street befand sich ein Laden. Hinter dem Verkaufsraum lag ein kleines Büro, und in dem Büro stand ein Safe. Und was für ein Safe. Er hatte Schlösser, die so kompliziert wie Geduldsspiele waren, und Wände so dick wie die von Fort Knox. Er war wasserdicht, feuerfest und bombensicher. Kurz gesagt, es war ein Safe, über den seine Hersteller sich allerhand Gedanken gemacht hatten. Zusätzliche Fallstricke würde bei so einem Safe nur jemand installieren, der wild entschlossen, unsäglich blöd oder irre verrückt war. Anderseits würde überhaupt nur jemand, der wild entschlossen, unsäglich blöd oder irre verrückt war, im Borough auf der High Street ein Juweliergeschäft eröffnen. In diesem Safe war der Diamant nicht glücklich. Obwohl er im Laufe der Jahre allerhand mitgemacht hatte, hatte ihn nie etwas ernsthaft beunruhigt. Weder Erdbeben noch Überschwemmungen und Lawinen hatten irgendwelche Spuren hinterlassen. Mord, Krieg und Vergewaltigung 9
hatten sein Leben stets lebenswerter gemacht, und sogar der Schiffsuntergang mit Mann und Maus bis hinab auf den Meeresboden hatte seinen Horizont wunderbar erweitert. Jetzt aber war er, soweit er sich erinnern konnte, zum ersten Mal wirklich unglücklich. Der Diamant starrte auf das Dynamit neben sich, und das Dynamit begegnete dem Blick auf eine beängstigend abwesende Art. Der Diamant versuchte sich einen Anstrich von Härte zu geben, was für etwas, das aus der härtesten Substanz der Erde besteht, ein leichtes sein sollte, aber er war nicht mit dem Herzen dabei. Ihn beunruhigte das Alter des Dynamits, dessen graue Farbe, der ölige Schweiß und der Marzipangestank, der sich in dem luftdichten Safe ausgebreitet hatte. »Du bist ein Diamant, stimmt’s?« fragte das Dynamit einigermaßen freundlich. »Äh, ja«, sagte der Diamant, und ihm wurde schmerzlich bewußt, daß Dynamit beim Schwitzen Nitroglyzerin ausscheidet. »Dacht’ ich mir«, sagte das Dynamit. »Hier drin krieg’ ich sie alle zu sehen: Diamanten, Saphire, Smaragde, Rubine. Ich habe sogar mal einen Mondstein kennengelernt. Aber einen so großen Stein wie dich habe ich noch nie gesehen. Und das ist schon merkwürdig, was? Ich meine, wo Leute große Steine so gerne haben.« »Ich war einst ein Baum«, sagte der Diamant und versuchte so zu tun, als wäre er nichts Besonderes. »Natürlich ist das schon lange her.« »Ich meine, wenn sie große Steine lieber haben als kleine, warum gibt es dann nicht mehr große?« Es klang ausgesprochen vernünftig, was das Dynamit sagte. »Eine Kiefer«, sagte der Diamant. »Keiner kann mich leiden«, sagte das Dynamit. »Ich werde nur benutzt.« 10
Hinter dem Rücken der alten Frau drängte eine Frau mittleren Alters mit ihrem Volvo-Kombi eine junge Frau mit zwei kleinen Kindern vom Bürgersteig hinunter in den Verkehr auf der High Street. Und auch sonst gab es jede Menge Rowdies und Verkehrssünder, und die, dachte die alte Frau nicht zum ersten Mal, würde es auch immer geben, egal, was sie anstellte. Plötzlich wurde die alte Frau von einer nostalgischen Stimmung ergriffen. Sie blieb stehen und schaute in eine der Seitenstraßen, eine außergewöhnlich düstere Schlucht, die Angel Pass genannt wurde. Weit hinten konnte sie zwei kindergroße Gestalten ausmachen, die in einen rituellen Kampf verstrickt waren. Andere kleine Figuren drängten sich um die beiden. »Stech ihm die Augen aus!« schlug einer der gnomenhaften Zuschauer vor. »Mach ihn alle!« empfahl ein anderer. Die alte Frau lächelte und dachte an jene fernen Zeiten, die schon fast jenseits aller Erinnerung lagen, als auch sie, schlank und elfenhaft, an den Straßenkämpfen des Boroughs beteiligt gewesen war. Damals hatte der Angel Pass ihr gehört, ihr, der Königin der Schlucht. Am Ende, erinnerte sich die alte Frau, hatte sie alles hinter sich gelassen. War einfach weggegangen, so wie die Generationen vor ihr. Eine Weile hatten ihr die jüngeren Kinder noch nachgestellt und versucht, ihr halbe Ziegelsteine an den Kopf zu knallen, damit sie zurückkäme. Aber es ging nie jemand zurück. Halbe Ziegelsteine. Die alte Frau wandte sich ab. Es waren immer halbe Ziegelsteine gewesen. Sie schienen ähnlich wie Halbwahrheiten ein überzeugenderes Argument darzustellen.
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Das Dynamit machte auf den Diamanten einen so labilen Eindruck, daß zu vermuten war, es hielte sich für Hitler. Oder für Napoleon. Der Diamant hatte beide gekannt. Doch im Vergleich zu dem Dynamit wirkten die so gefährlich wie Ernie und Bert aus dem Kinderfernsehen. Im Raum vor dem Safe standen Wachtposten. Der Diamant hatte sie gesehen, als er hereingebracht wurde, und er hatte seit Stunden versucht, mit ihnen Kontakt aufzunehmen. Telepathisch. Und zwar von dem Moment an, in dem er entdeckt hatte, daß das Explosionsdatum des Dynamits seit acht Jahren überschritten war. Erinnerungen. Unter ihrer Last war die alte Frau so sehr ins Zittern geraten, daß sie sich hinsetzen mußte. In der Nähe stand zwar eine Bank, aber die hatte ein Penner der ganzen Länge nach eingenommen. Er schlief und schnarchte wie ein Preßlufthammer. Der Penner war groß und breit. Eines seiner Hosenbeine hätte ein Cocktailkleid für die alte Frau abgegeben, abgesehen davon, daß sie gar kein Cocktailkleid brauchte, und seinen Mantel hätte sie als Ballkleid anziehen können. Auf einem Ball war die alte Frau einmal gewesen, auf einer Cocktailparty noch nie, aber auf einem Ball, ja, da war sie einmal gewesen. Obwohl das alles schon so lange her war. War sie wirklich schon so alt? Daß sie alt war, wußte sie ganz genau, theoretisch. Sie war schon lange alt gewesen. Aber obwohl sie ganz gerne mit dieser Tatsache spielte, sie nutzte, sie verächtlich von sich wies und mißbrauchte, hatte sie deren Wahrheit noch nie zuvor wirklich empfunden. Diese entsetzliche Erkenntnis machte sie augenblicklich schwächer. Ihr Blick verschwamm, und in ihren Ohren dröhnte es. Aber das Dröhnen war nicht bloß in ihren Ohren, es war hinter ihr und brachte die Luft zum Zittern. Sie wandte sich um. Es war ein Auto, ein roter Mercedes, der in niedrigem 12
Gang beschleunigte. Mit aufheulendem Motor raste er direkt auf die alte Frau zu. Das Beifahrerfenster war offen. Eine Frau lehnte sich heraus. Eine schamlose Frau. Eine total aufgetakelte Frau. Eine Frau, deren Haar sich türmte wie ein Bienenstock. Eine wütende Frau, die aus scharlachroten Lippen keifte und den Autolärm übertönte. »Unverschämte Kuh!« Die Frau schüttelte ihre Faust. »Verdammte, unverschämte Kuh!« Es war sicher, daß das Auto die alte Frau treffen würde, daß der Atemzug, den sie soeben tat, ihr letzter sein würde. Dann, einen Bruchteil bevor dies eintreten konnte, drehte der Fahrer am Lenkrad, und das Auto krachte vom Bürgersteig, fädelte sich in den Verkehr auf der Hauptstraße und verschwand. Erschüttert vom Luftzug des Autos fiel die alte Frau auf die Bank, stieß an den Fuß des Penners und stürzte zu Boden. Im Auto kreischte die blonde Frau. »Oh, Gott! Du hast sie umgebracht!« Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen und schrie noch einmal auf. Der pockennarbige Mann lachte. »Hab’ sie noch nicht mal berührt«, sagte er kalt. »Hab’ ihr nur einen Schrecken eingejagt.« »Sieh mal«, sagte er, während er seine Geschwindigkeit dem Verkehr auf der High Street anpaßte. »Die wäre doch den Ärger nicht wert. Oder? Du kannst jetzt wieder gucken«, sagte er. »Ist alles in Ordnung?« Die blonde Frau nahm die Hände vom Gesicht und blickte nervös zu dem Mann neben sich. Er streckte die Hand aus und klopfte der Frau unterhalb ihres kurzen Rocksaums auf den Oberschenkel. »Schenk uns doch mal ein Lächeln«, sagte er, und sie tat 13
es. »Du warst großartig«, sagte er, und sie versuchte, es zu glauben, zu spüren, daß ihr Ärger nicht in Wirklichkeit Angst war. Sie lächelte tapfer. »Du hast doch gesagt, ich soll schreien«, sagte sie, während sie sich die Tränen trocknete. Er kniff ihr ins Knie, und sie schenkte ihm noch einmal ihr bestrickendes Lächeln. Und so verschwinden beide aus der Geschichte, ganz und gar, er auf dem Fahrersitz und sie als seine Beifahrerin. Für immer und ewig. Amen. »Gnädige Frau.« Die Stimme des Penners war freundlich und tief. »Ich hoffe, Sie haben sich nicht verletzt.« Er stand von der Bank auf, als würde ein Berg geboren, und hockte sich neben die alte Frau. »Jedenfalls hat er Sie nicht erwischt. Können Sie sich jetzt aufsetzen, oder sollte ich Sie lieber ein paar Minuten in Ruhe lassen?« Die alte Frau war noch zu erschüttert, um sprechen zu können, aber sie streckte eine zitternde Hand aus und klopfte damit auf die Bank. Der Penner griff ihr unter die Arme und hob sie vorsichtig hinauf. Die alte Frau streckte noch einmal die Hand nach ihrer großen schwarzen Handtasche aus, die auf dem Boden lag, aber so weit kam sie nicht. Der Penner hob die Tasche auf und gab sie ihr. »Hier«, sagte er. »Noch was?« Die alte Frau barg die Tasche in ihrem Schoß und schüttelte stumm den Kopf. »Ich bleib’ einfach ein bißchen bei Ihnen, ja? Bis Sie sich wieder erholt haben.« Die alte Frau nickte zitternd, und der Penner setzte sich neben sie und nahm eine ihrer kleinen, kalten Hände in seine massige Pranke. »Ich glaub’ nicht, daß die noch mal zurückkommen«, 14
sagte er. Er schaute in die Richtung, in die das Auto gefahren war, aber es war nirgends zu sehen. »Aber Vorsicht ist besser als Nachsicht.« Jetzt blickte die alte Frau den Penner zum ersten Mal direkt an. Seine Haare waren zottelig wie das furchterregende Durcheinander einer Löwenmähne. Sein Bart, der von den Backenknochen bis auf die Mitte der Brust reichte, war dicht, schwarz und seidig. Seine Stirn war vom englischen Wetter gegerbt und zerfurcht, aber die tiefsitzenden Augen darunter waren dunkel und ruhig wie friedliche Nächte im Winterschnee. Die alte Frau lächelte. »Danke«, sagte sie. Dann fing sie plötzlich an zu würgen, murmelte: »Entschuldigung!« und erbrach sich heftig auf den Boden. Im Juweliergeschäft geriet der Diamant langsam in Panik, weil es ihm nicht gelingen wollte, die Wachtposten im anderen Raum zu erreichen. Es war nicht etwa der Safe, der seine telepathischen Kräfte blockierte, denn die Anziehungskraft eines Diamanten reicht über Tausende von Meilen, es hatte etwas mit dem Empfang der Wachposten zu tun. Wenn er bloß… »Apropos Bäume«, sagte das Dynamit. »Ich habe mal einen gekannt. Netter Kerl war das. Bis er verbrannte.« »Ach ja?« »Brennen Diamanten?« »Nur auf kleinstem Raum. Wenn’s peng macht«, quiekste der Diamant. »Peng!« kreischte das Dynamit. Der Diamant verdrehte die Augen und brach, im übertragenen Sinne, ohnmächtig zusammen. Auch die alte Frau und der Penner unterhielten sich. »Tja«, sagte die alte Frau, als wäre sie selber erstaunt, 15
sich darüber sprechen zu hören, »es ist das allererste Mal, daß mir etwas Derartiges passiert ist.« »Und was anderes?« »Nicht oft, nein, meistens gar nichts. Ich nehme an, die Leute sind einfach zu perplex. Und schließlich bin ich eine kleine alte Frau.« Der Penner lachte. »Sie sollten aber vorsichtiger sein. Sie könnten sich sonst einen Haufen Ärger einhandeln.« Ein Schatten fiel auf sein Gesicht, und der Mann nahm die Hand der alten Frau in die seine. »Glauben Sie mir«, sagte er und drückte sachte zu. »Ich weiß, wovon ich rede.« Jetzt lachte die alte Frau. »Was, Sie? Wer würde Ihnen denn was tun?« »Ach, es kommt nicht nur aufs Äußere an.« Der Penner schien in sich zusammenzukriechen. »Ich bin bloß ein Mähschäfchen. Das kriegen die schnell raus.« Die alte Frau erwiderte den Händedruck des Penners und fummelte dann an ihrer Handtasche herum. »Gucken Sie mal hier, kein Grund, sich Sorgen zu machen«, sagte sie. »Ich weiß mich zu verteidigen. Wirklich.« Aus einem Keil im Futteral ihrer Tasche zog sie einen Polizeiknüppel und gab ihn dem Penner. »Das lernt man, wenn man hier aufwächst«, erklärte sie. »Früher habe ich nie irgendwas bei mir gehabt, habe immer alles mit bloßen Händen erledigt, aber jetzt bin ich älter…« Der Penner gab ihr den Knüppel zurück, und sie packte ihn wieder weg. »Na gut«, sagte er. »Dann werd ich mal Ruhe geben, was?« Die alte Frau tätschelte ihm das Knie. »Das ist am besten«, sagte sie knapp. Dann, etwas nachdenklicher: »Ja, das ist am besten.« 16
In den Tiefen seiner Ohnmacht stellte sich der Diamant vor, daß er probierte, die Seelen der beiden riesigen Sicherheitskräfte zu versklaven. Er sandte Bilder seines enormen Feuers, seines Glitzerns und seines Geldwertes, doch die Wächter lachten bloß und lachten und lachten und… Die Stimme des Dynamits durchdrang die Ohnmacht des Diamanten. »Du bist nicht verbrannt.« Es klang enttäuscht. Während der Diamant langsam zu sich kam, schwante ihm, daß er nie zu den Wachtposten durchdringen würde, ganz egal, wieviel Mühe er sich gab. Es gab keine Gewähr. Keine Gewähr. Keine Gewähr. »Wie bitte?« fragte das Dynamit, als der Diamant wieder bei vollem Bewußtsein war. »Kein Gewehr? So weit kommt’s noch!« Es lachte. »Keine Gewehre. Keine Artillerie. Und wahrscheinlich keine Bomben, ja?« Es lachte erneut. Dieses Lachen hatte der Diamant schon einmal gehört, in Rußland von einem Korsen, spät am Tag, und der Diamant sandte wieder wie verrückt Signale an die nicht reagierenden Wachtposten aus. »Ich glaube, ich habe deinen Namen nicht verstanden«, sagte der Diamant beschwichtigend, während er die Wächter aufforderte, den Safe zu öffnen. »Du hast bestimmt ein interessantes Leben hinter dir.« Es fiel dem Diamanten schwer, zwei Dinge auf einmal zu tun, aber er mußte es versuchen, er mußte es so lange versuchen, bis er aus dem Safe heraus war. Aus dem Safe heraus. Das war so nah, und trotzdem klang es wie »Paradies«. Aber vielleicht ist das Paradies ja nie sehr weit entfernt. »Du bist ein Diamant«, sagte das Dynamit. »Josephine hat Diamanten.« 17
O Gott, dachte der Diamant. Bitte nicht. »Ich habe Bomben. Wir können Moskau nämlich nicht ohne Bomben einnehmen.« Jetzt lief dem Dynamit der Schweiß hinunter. Reines Nitroglyzerin tropfte an seiner Seite herunter und bildete Pfützen auf dem Regal. »Natürlich nicht«, sagte der Diamant. »Ohne Bomben geht’s nicht.« Aber das war es nicht, was er dachte. Er dachte daran, was innerhalb druckfester Safes mit Diamanten geschah, wenn neben ihnen Dynamitstäbe explodierten. »Brennen Diamanten?« hatte das Dynamit gefragt, und bei der Frage war der Diamant erbleicht. Brennen Diamanten? Unter solchen Bedingungen? Hah! Und wie. »Ihnen ist doch klar«, sagte der Penner nach einer Weile, »daß Sie mit dem Kopf gegen die Wand rennen, nicht wahr? Sie können die Leute nicht ändern.« »Wenn ich das denken würde«, sagte die alte Frau, »dann würde ich mir die Mühe nicht machen.« »Aber Sie können nicht alle verändern.« »Vielleicht nicht. Aber das ist doch was anderes, oder? Ich will doch nur verbessern, nicht perfektionieren. Und irgendwo muß man ja schließlich anfangen.« Sie wurde nachdenklich. »Eine bessere Welt«, sagte sie und starrte in die Ferne. »Besser für uns alle.« »Das klingt, als hätten Sie Kinder.« Der Penner lächelte. »Oder Enkel?« Die alte Frau antwortete nicht. Es entstand eine unangenehme Stille. »Entschuldigung«, sagte der Penner. »Das geht mich nichts an.« »Nein. Nein, ist schon gut. Ich war nur nie verheiratet. 18
Mehr gibt’s dazu nicht zu sagen.« Die alte Frau wandte den Blick ab, dann setzte sie sich auf, außer sich vor Empörung. »Jetzt schauen Sie sich das mal an!« sagte sie schroff. Ein Stück entfernt war ein unscheinbares Auto, das erstaunlich tiefe und kehlige Laute von sich gab, auf den Bürgersteig gefahren und dort abgestellt worden. Zwei kräftige Männer in dunklen Mänteln stiegen schwerfällig aus und gingen davon. »Der Fahrer ist noch da«, sagte die alte Frau, stand auf und strich ihren Mantel glatt. »Frechheit. Ich werd’ ihn mir mal vorknöpfen.« Der Penner stand ebenfalls auf. »Nehmen Sie mich mit«, sagte er. Die alte Frau blickte skeptisch drein. »Hm… Aber nur, wenn Sie wollen«, sagte sie. Der Penner nickte. »Ich will schon. Und übrigens: Ich heiße Vernon. Vernon Carpenter.« »Oh, äh, ich heiße Dot. Dot Coulson.« Sie schien nicht zu wissen, was als nächstes zu tun war, bis ihr Vernon die Hand entgegenstreckte. Dot griff zu. »Freut mich, dich kennenzulernen, Dot.« »Ja, schön.« Dot wandte sich dem Auto zu. »Wir können nicht den ganzen Tag rumstehen und quatschen, es gibt Arbeit.« Sie brauste los. Vernon schaute ihr einen Moment hinterher, dann lächelte er wunderschön und lief ihr nach. Es gibt Arbeit, hatte sie gesagt. Endlich gab es mal was zu tun. Der Diamant richtete seine ganze Aufmerksamkeit auf das Wachpersonal. Es hatte keinen Sinn mehr, dem verrückten Ding an seiner Seite seinen Willen zu lassen. Wenn das Dynamit peng machte, dann machte es peng. Aber wenn das passierte, würde der Diamant nicht mehr da sein. Jedenfalls 19
nicht, wenn es nach ihm ging. Die Luft summte vor Telepathie. Der Safe wölbte sich und vibrierte. Wenn der Diamant sich bloß konzentrieren könnte… »Liebe Wächter. Liebe, liebe Wächter. Nur einmal kurz gucken bitte.« Das Dynamit war in Trance gefallen. »Kommt schon, ihr lieben Wächter. Hierher.« Ein neues Geräusch füllte den Safe aus. »Moskau«, murmelte das Dynamit. »Moskau! Ich komme, ich komme, ich komme…« Der Diamant schrie. Tonlos. »GUCKT IN DEN S AFE ! I HR P ENNER !« Zwei Männer näherten sich der Eingangstür des Juweliergeschäfts. Einer von ihnen wurde Axt genannt, und der Grund dafür war unter seinem Mantel versteckt. Der zweite hieß Seemann Simkins, und er trug einen zwölfpfündigen Vorschlaghammer, was bei ihm zwar weniger mit dem Namen zu tun, aber eine ebenso tödliche Wirkung hatte. Der eine Wachmann schaute den anderen an. »DER S AFE !« Die Eingangstür des Ladens wurde immer verschlossen gehalten. Nun mußte sie unter wildem Protest dem vereinten Druck von Axt und Seemann und deren brutalen Werkzeugen nachgeben. Die beiden Wachleute hatten bis zu dem Moment, in dem sie starben, nicht gewußt, was sie bewogen hatte, den riesigen Diamanten aus dem Safe zu nehmen, aber jedenfalls hatten sie es getan. Sie hatten mitten im Raum 20
gestanden und ihn betrachtet, als die Eingangstür nach innen fiel. »Das war nicht nötig«, sagte der erste Wachmann, der von dem glitzernden Kristall hypnotisiert war. »Die Tür war nicht abgeschlossen.« »Ach du Scheiße!« sagte der zweite, der nicht hypnotisiert war. »Ich nehm’ den mal an mich«, sagte eine Stimme. »Gott sei Dank«, jubelte der Diamant, als Axt ihn aus dem Laden in die sogenannte frische Luft des Boroughs trug. »Gott sei Dank, Gott sei Dank, Gott sei Dank.« Da Axt nur ein lebendiges, sterbliches Wesen war, hörte er den Diamanten nicht, was er allerdings getan hätte, wenn er ein Pflasterstein gewesen wäre. »Meine Güte!« sagte der erste Wachmann und richtete sich vorsichtig auf. »Jetzt stecken wir voll in der Scheiße. Haben sie irgendwas dagelassen?« »Nur das hier«, sagte der zweite Wachmann und griff in den Safe. Draußen auf der Straße blieb Axt verdutzt stehen. »Wo ist das Auto?« fragte er. Er blickte zu der Stelle, wo noch vor einer Minute sein Fluchtauto gestanden hatte, aber er sah nur eine leere Stelle und daneben eine kleine alte Dame, die sich mit einem Lastwagenfahrer stritt. Der Fahrer sah aus, als hätte er der alten Lady am liebsten den Kopf abgerissen, aber da war dieser riesige, gefährlich aussehende Penner, der die alte Dame zu beschützen schien. Axt hatte keine Zeit, darüber nachzudenken, daß das eigentlich unmöglich war. Er hatte andere Probleme. Sein Hauptproblem, das er mit Seemann, Dot Coulson, Vernon Carpenter und dem Lastwagenfahrer gemein hatte – allerdings nicht mit den Wachposten, für die es überhaupt 21
keine Probleme mehr gab –, betraf einen Feuerball, der aus der kaputten Tür des Ladens von Harry Devine, geprüfter Goldschmied, geschossen kam. Mit dem Feuerball raste deutlich hörbar, zumindest für Pflastersteine und Diamanten, ein letzter, langgezogener Schrei ungebremster Wut. »Moskau!«
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2 Etwa eine Stunde später wurde einer von Dots BürgersteigSündern von seinem Boß in die Mangel genommen. »Noch einmal. Ist doch ganz leicht, oder? Als sie rauskamen, standst du nicht mehr vor dem Laden. Du bist zum Parkplatz gefahren. Jetzt erklär mir: Warum warst du auf dem Parkplatz?« »Also, Boß, ich, äh, echt, kann ich nicht sagen.« Radkappes Stimme klang gepreßt. Das lag hauptsächlich daran, daß er im Büro vom Boß an den Daumen aufgehängt von der Decke hing. Radkappes Brust war völlig überstreckt, und sein weit nach vorne hängender Kopf schnürte ihm die Kehle zu, so daß das Atmen zu einem echten Problem wurde. »Warum warst du auf dem Parkplatz?« »Als ich, äh, als ich zurückkam, ja, da war, äh, da war überhaupt nichts zu sehen. Überall, äh, überall waren Leute, und Teile, äh, na, so Zeugs, und keine Spur von einem Diamanten.« »Der Parkplatz!« Radkappe war in einer mißlichen Lage. Aber wenn er dem Boß sagte, warum er auf dem Parkplatz gestanden und nicht vor dem Juweliergeschäft gewartet hatte, dann würde seine Lage noch weitaus mißlicher sein. Schließlich hatte ein Mann wie er seinen Ruf als Profi zu verteidigen. Er schüttelte bedauernd den Kopf. Der Boß kam einen Schritt näher und starrte Radkappe in die Augen. »Der Parkplatz!« Wieder schüttelte Radkappe den Kopf. Der Boß war ein einfacher Mann. Ihm kam selten ein Gedanke, aber wenn er einen hatte, dann hielt er beharrlich daran fest. Jetzt saß ihm ein Gedanke hinter der Stirn, und 23
der besagte, daß er Radkappen-Henry nicht leiden konnte. Das ging schon damit los, daß Radkappe ein Fremder war. Er war nicht im Borough geboren. Hinzu kam: Radkappe hätte eigentlich gar kein Verbrecher werden dürfen. Sein Dad war nie ein Verbrecher gewesen. Sein Dad war ein Admiral, der Henry für tot hielt. Oder zumindest hoffte, daß er es war. Noch dazu: Radkappe galt als der Spitzenfahrer der Stadt, es gab unzählige Geschichten über seine Geschicklichkeit und seinen Mut. Mit einem Wort, er war ein verdammt cleverer Kerl. Und außerdem: Radkappe war kaum fünf Minuten im Spiel, da war er schon bis Weihnachten ausgebucht. Es war unerträglich, daß Männer mit langjähriger Erfahrung, die doppelt, nein, zehnmal soviel wert waren wie er, kaum Arbeit bekamen. Und dann: Wegen Radkappe lagen zwei der besten Jungs vom Boß im Krankenhaus. Und schließlich wollte der Boß den Diamanten. Und das war wahrscheinlich das Wesentliche, wenn er es sich genau überlegte. Der Boß wollte unbedingt den Diamanten, und der Diamant wollte ihn. Der Diamant rief mit so etwas wie einer dünnen Stimme nach ihm. In seinem Kopf. Das war natürlich Blödsinn, aber das mußte Radkappes Schuld sein. Im Moment war einfach alles Radkappes Schuld. Die Stimme des Diamanten sprach wieder. Sie sagte dem Boß, daß der Diamant ihn reich machen wolle. Sie sagte dem Boß, daß er ihm… Inzwischen hatte sich die Stimme in Bilder verwandelt, wunderschöne Bilder, aber der Boß kannte keine Worte für Schönheit. Frustriert schlug er sich die Stimme aus dem Kopf. »Zieht ihm das Hemd aus, Jungs«, sagte der Boß. Die Jungs folgten ihrem Boß aufs Wort und reduzierten 24
Radkappes Hemd zu einem Fetzen Stoff, der ihm um die Hüften hing. Radkappes Oberkörper war sehnig. Unter den langgestreckten Achseln wuchsen dünne, rötliche Haare. Das ganze Ensemble schreckte zurück und suchte Deckung, was aber nicht an der außergewöhnlichen Hitze im Büro des Bosses lag. Die Haare waren nicht an Luft gewöhnt. »Okay«, sagte der Boß. »Jetzt rasiert ihn. Und hinterher schön pudern. Ich möchte, daß seine Achselhöhlen so weich sind wie…« Er suchte nach einem passenden Bild. »So weich wie frisch rasierte Achselhöhlen, klar?« Während die Jungs ausführten, was ihnen gesagt worden war, strich sich der Boß mit einer langen Feder über die Finger. »Also gut«, sagte er. »Kommen wir zur Sache. Und glaub bloß nicht, daß du dagegen ankommst.« Er wedelte mit der Feder vor Radkappes Nase herum. »Ich habe schon Männer zum Lachen gebracht, die stärker waren als du. Sie haben gelacht und aus vollem Herzen gesungen.« Psycho-Harry Devine saß auf einer umgedrehten Umzugskiste auf dem Bürgersteig vor dem, was einst sein Juweliergeschäft gewesen war. Es war ihm ein Rätsel, woher die Kiste kam. Sie gehörte nicht zur normalen Ausstattung seines Ladens. Andererseits saß er nur deswegen auf ihr, weil die normale Ausstattung seines Ladens nicht mehr existierte. Vielleicht tauchten Umzugskisten immer dann auf, wenn sie helfen mußten, ein Bild des Elends und der Niedergeschlagenheit zu vervollkommnen. Harry dachte darüber nach. Er fand den Gedanken befremdlich, aber nicht erstaunlich. So war das immer. Wenn Henry etwas Befremdliches erstaunlich fände, dann wäre das so, als fände der Mount Everest Größe erstaunlich. Das einzige, was Harry wirklich erstaunte, war 25
Normalität. Ein Polizeiwagen näherte sich zögerlich. Polizisten stiegen aus dem Wagen und versuchten, möglichst unverdächtig zu erscheinen. Sie mischten sich unter die Menge, die sich aus dem Nichts gebildet hatte. Ein Haufen Leute, Polizei und eine geheimnisvolle Umzugskiste; das hatte was, dachte Harry. Alles hatte immer was, wenn man nur drauf kam. »Drängt die Leute zurück, Männer, bringt sie in Sicherheit«, flüsterte der Sergeant, der das Kommando hatte. Die Männer gehorchten. Vorsichtig, jeden plötzlichen Laut, jede plötzliche Bewegung vermeidend, brachten sie die Leute dazu, den vorgeschriebenen Sicherheitsabstand einzuhalten. Ausnahmsweise ließen sich die Leute das gefallen. Immerhin hatten die Männer in Blau mehr Erfahrungen mit Harry als sonst jemand, also mußten sie wissen, was sie taten, oder? Einmal mußten sie’s doch wissen. Der Borough dachte, Harry wäre irre. Harry dachte, das sei falsch, denn er dachte seinerseits nicht, daß der Borough irre war. Allerdings hatte er darüber nachgedacht. Intensiv und ausführlich. Er hatte »Irrsinn« aus jeder nur möglichen Perspektive betrachtet, um herauszufinden, ob der Begriff zum Borough paßte oder nicht. Irrsinn zu betrachten war wie Baumwolle angucken. Von Ferne konnte man sehen, was es war. Aber je näher man herankam, desto schwieriger war zu unterscheiden, was Faden war und was Zwischenraum. Und wenn man von dem Zeug umgeben war, wußte man gar nichts mehr. Schließlich hatte Harry, überwältigt von der mangelnden Präzision des Begriffs, beschlossen, daß der Borough einfach normal war. »Was ist passiert, Harry?« schrie der Sergeant. Absolute Stille. Die High Street wartete auf Harrys Antwort. 26
Psycho-Harry hob den Kopf, der schmerzte, als hätte er eine schlaflose Nacht hinter sich. Mehrere Leute machten Gesten, um sich vor dem Bösen Blick zu schützen. Dann sprach Harry. »Es hat peng gemacht«, sagte er. »Ach so. Dann ist ja gut«, sagte der Sergeant. »Irgendwelche Probleme?« »Keine, die Sie lösen könnten.« Dankbar wandte sich der Sergeant ab. »Nichts für uns, Männer«, flüsterte er. Ein eiliges Gewusel, und schon war die Polizei nicht mehr dabei. Eine blaue Abgaswolke hing über der erstarrten Menge. Ein Abgang, der Radkappe erfreut hätte. Harry Devine warf den Kopf zurück und lachte. Irgendwelche Probleme? Irgendwelche Probleme! Wer war schon normal? Unter Radkappes baumelnden Füßen lag ein Haufen zerbrochener Federn. »Noch eine, Jungs, die hier ist kaputt«, sagte der Boß, und während die Jungs eilig gehorchten, fielen wieder Schwanendaunen zu Boden. »Hör doch, Boß, ich, äh, ich, glaub mir, ich, äh, ich bin nicht kitzlig«, sagte Radkappe. »Bin’s nie gewesen. Ich, äh, ich weiß, das ist ein Fehler. Hat was mit der Kindheit zu tun, äh, und so. Aber so ist das nun mal. Äh, okay?« »Kein Grund zur Eile«, sagte der Boß und ließ das neue Folterinstrument sanft durch seine Finger gleiten. »Ich bin ein geduldiger Mann.« Er log. Er wollte Ergebnisse. Sofort. »Okay, Jungs, versuchen wir was anderes.« Radkappe zuckte zusammen. »Erzähl einen Witz.« Der Boß zeigte auf einen der Jungs. »Du bringst ihn zum Lachen, und ich mach’ dann weiter.« 27
Radkappe stöhnte. »Bitte, äh, äh, nicht.« Der Boß lachte, aber Radkappes Bitte wurde trotzdem erhört. Das Telefon klingelte. »Geh ran«, sagte der Boß und setzte sich, während der Hörer abgenommen wurde. Radkappe hob die Augen dankbar gen Himmel, aber da entdeckte er seine Daumen. Eigentlich hatte er keinen Grund, besonders dankbar zu sein. »Für dich, Boß. Ein gewisser Rupert.« Die Jungs kicherten. »Schnauze«, zischte der Boß, wobei er hoffte, daß Rupert ihn nicht gehört hatte. »Ihr kennt RUP ERT nicht.« Die Jungs wurden still. »Ich aber«, sagte eine Stimme, die gurgelte wie flutumspülte Kieselsteine. Niemand achtete darauf. »Und wie!« fügte die Stimme bitter hinzu. Ganoven-Rupert hatte zu den Jungs gehört, bis er sich nach Spanien zurückgezogen hatte. Damals war er halb so alt gewesen wie der Boß heute. Aber Rupert pflegte seine alten Verbindungen, und der Boß verbrachte jeden Herbst vierzehn Tage in Ruperts Villa. Wenn man mit Rupert auskam, konnten diese vierzehn Tage sehr erholsam sein. »Hallo Rupert!… Ja, heute haben wir zugeschlagen. Du hast recht gehabt. Der ist uns lange genug auf die Eier gegangen… ……Ach?… Woher weißt du…… Ach so? Und warum… ……Ach ja? Eine kleine alte Dame, häh?… Wirklich… Ja, ja.« Der Boß warf einen kalten Blick auf Radkappe, der zum ersten Mal eine Gänsehaut bekam. »Natürlich wußte ich… Oh, ja, ich komme… Nein, nein, ich freue mich drauf… Wirklich… wirklich. Das wird klasse… Morgen also… Ja, vierundzwanzig Stunden.« Der Boß legte auf. Er hatte vergessen, wie sarkastisch Rupert sein konnte. Der Boß erhob sich und ging dorthin, wo Radkappe hing. 28
»So, eine kleine, alte Dame, häh?« »Sie, äh, sie hatte einen Knüppel, Boß. Ich, äh, ich konnte ihn sehen. Äh, in ihrer Handtasche.« »Aha. Sie hatte einen Knüppel. In ihrer Handtasche. Also, wenn sie sagt: Nicht auf dem Bürgersteig parken…« »Und da war so ein, äh, so ein Penner bei ihr.« »Ach, tatsächlich? Ein Penner? Soso.« »Mein Fresse, Boß! Das war, äh, der Borough. Äh, da hätte alles passieren können.« »Sie sagt, spring, und du springst.« »Sie sagte bitte und um Christi willen!« »Und wenn ich sage: Spring!« Radkappe wimmerte. »Meine Güte!« zischte der Boß durch die Zähne. »Eine kleine alte Dame!« Als Harrys Lachen schließlich die Menge vertrieben hatte, erstarb es. Niemand trauerte ihm nach. Die Leute wünschten sogar, sein Ende wäre besonders schmerzvoll gewesen. Rache mag nichts mit Gerechtigkeit zu tun haben, aber das macht sie nicht weniger süß. So empfand auch der Diamant. Psycho-Harry kippte schreiend nach vorne. Er wand sich auf dem Boden. Er schlug mit dem Kopf aufs Pflaster. Er brabbelte vor sich hin. Es gab ausgesprochen gute Gründe dafür, sieben Stück, alles Bilder. Keines davon war schön. Vielleicht konnte er die Bilder abschütteln, wenn er mit dem Kopf auf den Boden schlug. Vielleicht konnte er sie zum Verschwinden bringen, wenn er ihre Existenz abstritt. Es schien zu funktionieren. Die Bilder verschwanden. An ihre Stelle trat die Stimme des Diamanten. »Ich hoffe, du mochtest sie.« Der Diamant wußte, daß Harry sie nicht gemocht hatte. Er konnte Harrys Gedanken 29
lesen. Das war entmutigend, sogar für den Diamanten. »Die Kreise der Hölle«, sagte der Diamant, »aber eine farbenfrohe Interpretation, muß ich sagen.« Harry speicherte in seinem Kopf, daß der Diamant neunundsechzig Schattierungen von Schwarz als farbenfroh betrachtete. »Darauf würde ich keinen Gedanken verschwenden. Das war nur eine Redensart.« »Ich weiß, wo du bist«, telepathierte Harry. »Ich weiß, daß du das weißt«, antwortete der Diamant. »Ich weiß, daß du weißt, daß ich es weiß.« Die Luft zitterte vor lauter Telepathie. »Ich weiß, daß du weißt, daß ich weiß, daß du es weißt.« Harry rollte sich auf den Rücken, starrte in den Himmel hinauf und fing an zu lachen. Zwischen ihm und dem Diamanten bestand das intelligenteste Zwei-Wege-BioKommunikations-System des Universums, aber was sie da kommunizierten, war nur Blödsinn. »Blöde, was?« fiel der Diamant ein. »Aber das liegt nur am Gesetz der inversen Kommunikation. Je entwickelter die Technik wird, je einfacher sie zu benutzen ist, desto einfacher sind die Leute, die sie nutzen, und desto banaler ist das, was sie sagen.« »Ich weiß«, sagte Harry. »Ich weiß, daß du…« »Ich habe erwartet, daß du erstaunt bist, das ist alles.« »Mich erstaunt nichts…« »Dann gleichen wir uns.« »… außer Normalität. Und bitte, laß mich ausreden.« »In Ordnung, wenn…« »Stimmt.« Es entstand eine lange Pause. Harry rappelte sich vom Boden auf und setzte sich auf die Umzugskiste. 30
»Übrigens«, sagte er. »Guck dir das mal an.« Ein durchdringender Schrei zerriß die Luft, brachte sie zum Beben und rüttelte an den Fenstern der umliegenden Häuser. Der Diamant fing an zu brabbeln, etwa so wie Harry es getan hatte. »Das gibt es nicht. Das gibt es nicht. Das gibt es nicht.« Harry schaltete das Bild aus. »Das Zentrum der Sonne«, sagt er. »Aber eine farbenfrohe Interpretation, das gebe ich zu.« »Wenn du neunundsechzig Schattierungen von Weiß ›farbenfroh‹ nennst.« »Eine Redensart.« Es entstand eine lange Pause. »Was nun?« fragte der Diamant. »Waffenstillstand?« »Nein. Du mußt immer noch sterben«, sagte PsychoHarry Devine. »Du bist eine Gefahr für die Menschheit.« »Aha. Und genau das habe ich gerade von dir gedacht.« »Und ich bin der einzige, der dafür sorgen wird. Das weißt du.« »Ebenfalls, dito.« »Ich weiß.« Keiner von beiden wußte, was er als nächstes sagen sollte. »Dann mag der… das Beste gewinnen«, sagte schließlich der Diamant. »Ich hoffe es. Wirklich.« »Bist ganz schön anmaßend, he? Für einen Sterblichen.« »Schluß auf diesem Kanal. Ende…« »Der Durchsage.« Radkappe schwang sanft in der Zugluft der offenen Tür. Er lauschte den leiser werdenden Stimmen vom Boß und von 31
den Jungs hinterher. »Ich will wissen, wer diese alte Dame ist, klar? Ich will wissen, für wen sie arbeitet. Ich will den Diamanten, und ich will ihre Leiche. In der Reihenfolge. Bis morgen. Kapiert? Dann fahre ich nach Spanien. Oh.« Die letzten Worte vom Boß wurden vom Knarren einer Tür übertönt. »Und jemand soll sich um den Mistkerl dahinten kümmern.« Die Tür knallte zu. Stille. Die Tür ging wieder auf. Energische, zur Sache gehende Schritte näherten sich. Radkappes Augen weiteten sich vor Furcht. Die Schritte kamen näher. Und näher. Und näher. Die Umzugskiste war leer. Die Trümmer des Juweliergeschäfts qualmten noch, schickten dünne Rauchwölkchen in die klamme Borough-Luft. Zu hören war nur das Hämmern der Ladenbesitzer und der Wohnungsinhaber, die ihre Fenster vernagelten. Die Bretter sollten die Fenster nicht vom Klappern abhalten, denn es gab keinen Wind oder so etwas. Vor fünf Minuten hatten die Fenster von selber zu rattern aufgehört. Sie wurden vernagelt, weil unmittelbar darauf ein langes Heulen erklungen war. Es war von Harry Devine ausgestoßen worden. Psycho-Harry hatte auf seiner Umzugskiste gestanden, die Arme gen Himmel erhoben und wie ein Wolf geheult. Er hatte auch gebrüllt wie ein Löwe, gequakt wie eine Ente und gekräht wie ein Hahn auf dem Mist. Für die Weisen vom Borough hatte dies alles nur eines zu bedeuten. Psycho-Harry war auf Abenteuer aus. Also machten die Weisen ihre Fenster dicht, genau wie die Halbweisen. Die einfachen Leute versteckten sich lediglich und gaben acht. Sie hatten ihre Fenster gleich, nachdem die Bombe hochgegangen war, vernagelt. 32
3 Dot Coulson saß neben Vernon Carpenters Bett und schaute dem riesigen, höflichen Mann beim Schlafen zu. Das ging in Ordnung, daß Vernon schlief, das hatte er auch getan, als sie sich kennengelernt hatten. Bei dem Gedanken mußte Dot lächeln. Als wir uns kennengelernt haben. Es war noch keine Stunde her. Ein höflicher Mann. »Höflichkeit kostet nichts, sagte der Ire und verbeugte sich vor der Kugel.« Der alte Spruch spazierte durch Dots Kopf, ohne je zu ermüden. Höflichkeit kostet nichts. Dot hatte nie viel Höflichkeit erfahren, allenfalls die von Sozialarbeitern. Und dabei hatte es sich nicht um wahre Höflichkeit gehandelt. Nur um verschleierte Drohungen. Höflichkeit kostet nichts. Das war schon in Ordnung, denn Vernon hatte sonst nichts, was er hätte geben können. Und doch hatte er die Höflichkeit besessen, ihr die Hand zu geben. Sie schaute ihre Hand an, die jetzt mit Verband umwickelt und zur Faust geballt war. Vernon hatte die Höflichkeit besessen, ihr das Leben zu retten. Wenn sich Vernon nicht zwischen Dot und dem unerwarteten Feuerball befunden hätte, hätte sie es nicht überstanden. Das hatte der Arzt gesagt. Und wenn Vernon nicht sechs Schichten Wolle getragen, wenn er nicht einen so dichten Haarschopf gehabt, wenn er nicht seine Pudelmütze aufgehabt hätte… Die Wolle hatte Vernon verloren und das Haar auch, aber seine Haut hatten sie gerettet. Und ohne seine Löwenmähne, ohne Bart und ohne Schnauzer, war er nur noch ein Baby. Ein großes, unschuldiges Baby. Das schnarchte. »Tantchen Dot«, sagte eine forsche Stimme. Nun, Vernon brauchte die Wolle nicht. 33
»Tantchen Dot«, sagte die forsche Stimme, etwas forscher. Dots Hand ballte sich noch fester im Verband. Sie ballte sich um etwas, das ihr warme Botschaften direkt ins Herz schickte. »Tantchen Dot!« Vernon würde es nie wieder an etwas fehlen. Eine Hand schüttelte Dot an der Schulter. »Tantchen Dot!« sagte die forsche Stimme ein letztes Mal. Dot drehte sich zu der jungen Krankenschwester um, die hinter ihr stand. Sie war die jüngste von Dots Nichten und Neffen, das kleinste Balg aus der zahllosen Brut von Dots Schwester. »Ich habe jetzt Schluß«, sagte sie. »Dann entspann dich doch, Krümel, um Himmels willen«, sagte Dot. »Ich bleibe, bis er aufwacht.« Krümel entrüstete sich. Alle nannten sie Krümel. Sie verbrachte viel Zeit damit, sich darüber zu entrüsten. »Das geht nicht«, sagte sie. »Und es hat keinen Zweck, mir zu sagen, er hat Beruhigungsmittel bekommen…« »Er hat Beruhigungsmittel bekommen.« »Oder daß er erst morgen früh aufwachen wird.« »Er wird nicht vor morgen früh aufwachen.« »Weil ich…« »Und dann werden sie ihn wahrscheinlich entlassen. Er hat nichts weiter.« »Ich bleibe.« Plötzlich wurde der Diamant in Dots Faust eiskalt. Und im gleichen Moment spürte Dot nicht nur einen Diamanten, sondern den Diamanten. Er war gewaltig. Sie war sich seiner so bewußt, wie sie sich nie zuvor einer Sache bewußt 34
gewesen war. Und plötzlich überschwemmte sie ein merkwürdiges Gefühl, ein neues Gefühl war das, ein Gefühl, das sie sich bislang nicht einmal hatte vorstellen können. Es war Panik. Dots Atem wurde unregelmäßig. Sie machte Anstalten, sich aufzurichten. Sie setzte sich wieder. Sie versuchte zu sprechen. Sie stotterte. Speichel lief ihr das Kinn hinunter. Sie streckte Krümel flehentlich die Hand entgegen. »Tantchen Dot?« fragte Krümel. Sie beugte sich über ihre Tante und ergriff Dots Handgelenk. Die alte Frau war in einem schlimmen Zustand. Ihre Augen waren starr. Ihr Atem kam in kurzen Stößen. Als Krümel nach Dots Puls tastete, versuchte Dot zu sprechen, brachte aber nur ein Flüstern heraus. »Bring mich hier raus.« »Aber…« »Bring mich hier raus.« »Ich glaube, du solltest lieber hierbleiben, Tantchen. Du brauchst einen Arzt.« »Du wolltest, daß ich gehe. Jetzt bring mich raus.« »Aber…« »Tu es!« Aller Augen folgten der jungen Krankenschwester mit der Haube, wie sie die taumelnde alte Frau aus dem Krankensaal in den breiten, leicht ansteigenden Korridor führte. Die Bürotür vom Boß schwang auf. »Du bist es!« sagte eine Stimme, die wie flutumspülte Kieselsteine klang. »Deinetwegen bin ich hier.« Radkappe schaute von der Stelle aus, an der er hing, in das angespannte Gesicht eines der Jungs. Das Gesicht war verwaschen. Irgendwas quält den, dachte Radkappe. Und er 35
fürchtet sich. Aber wie dem auch sei, der Junge schien fünfzig zu sein. Mindestens fünfzig. Und am rechten Auge hatte er einen Tic. »Irgendeinen letzten Wunsch?« knurrte der Junge. Er zog ein Messer mit einer langen Klinge aus der Scheide. »Einen Wunsch?« sagte Radkappe so jovial wie möglich. »Genau«, sagte der Junge, »einen Wunsch. Was tote Männer kriegen, bevor sie alle gemacht werden.« »Ach. Ja. Äh. Tja. Das ist, äh, sehr anständig von dir, muß ich, äh, schon sagen«, sagte Radkappe. Er überlegte, was er sich wohl wünschen wollen mochte. Und was er wahrscheinlich kriegen würde. »Ähm, könntest du mich, äh, möglicherweise, in Hampstead Heath ablegen? Ich, äh, ich hab’ schon immer eine Schwäche für Hampstead Heath gehabt.« Der Junge dachte ernsthaft über Radkappes letzten Wunsch nach, dann schüttelte er den Kopf. »Nö, tut mir leid, das ist außerhalb unserer Gemeinde. Leichen unter anderer Leute Rasen verbuddeln bringt bloß Ärger.« Radkappe gab die joviale Haltung auf und versuchte es statt dessen mit Nonchalance. »Allerdings, äh, muß es ja nicht unbedingt eine Leiche geben.« Wieder dachte der Junge ernsthaft über Radkappes Vorschlag nach. »Nö, eine Leiche muß es schon geben. ›Kümmer dich um ihn‹, hat er zu mir gesagt, verstehst du? Und das heißt: umlegen. Wenn ich dich nicht umlege, bin ich tot.« »Tja, äh, schon klar«, sagte Radkappe. »Und du mach ja keine Zicken«, drohte der Junge, »sonst…« Schleimscheißer, dachte er. Das brachte alles 36
durcheinander, wenn Typen, die zum Umlegen aufgehängt waren, anfingen zu schleimen. »Du bist der Boß«, sagte Radkappe. Ein Gedanke, der den Jungen erschreckte. »Na, äh, dann bring’s mal hinter dich, hey.« »Ja«, sagte der Junge. »Dann werd’ ich mal.« Er hob das Messer hoch, um zuzustechen. »Nur…«, sagte Radkappe. Der Junge seufzte und ließ das Messer sinken. »Hör mal«, sagte er, »tu mir einen Gefallen. Ich dachte, du bist aus der Branche. Und jetzt kommst du mir mit einem ›Nur‹… Laß das sein, klar?« »Klar.« »Okay. Wo waren wir stehengeblieben?« »Du wolltest…« Radkappe deutete mit dem Kopf auf das Messer. »Ja. Richtig«, sagte der Junge. Er hob das Messer, dann ließ er es erneut sinken. Über die Landschaft seines gefährlichen Gesichts schlich leises Mitleid. »Hey«, sagte er. »Ich will nicht sagen, daß das kein verständlicher Versuch ist mit deinem ›Nur‹. Ich möchte nicht, daß du das denkst. Jedenfalls nicht, wenn das sozusagen dein letzter Gedanke wäre. Nur, ich habe alle diese ›Nurs‹ schon mal gehört.« Der Junge klang müde. »Ich weiß alles über dieses ›Nur‹.« Er hockte sich auf die Schreibtischkante und pulte mit dem Messer am Tintenlöscher herum. »Da war zum Beispiel dieser Bankmanager…« Radkappe hustete heftig. Der Junge zuckte erschrocken zusammen. Ein Stück Löschpapier fiel zu Boden. »Tut mir leid, Kumpel«, sagte er, »bin abgeschweift. Du wirst es hinter dich bringen wollen.« »Nein, äh, überhaupt nicht. Ich hab’ nur einen Frosch im 37
Hals.« Radkappe hustete erneut. »Ich, äh, ich würde das schon gern hören«, sagte er. »Wirklich.« »Na gut«, sagte der Junge und beruhigte sich. »Aber nur, wenn du wirklich willst.« »Äh, sicher doch.« »Also, dieser Bankmanager. Wir haben auch hübsch geplaudert, also ›Es muß ja nicht unbedingt eine Leiche geben‹ und so. Und dann wird’s langsam Zeit. Also, ich will ihn gerade alle machen, da kommt der mit seinem ›Nur…‹ Kommt richtig gut rüber. So, so zögernd, eindringlich, beinahe schon betörend. Besser als bei dir. Aber andererseits hatte er’s auch bequemer. Er lag. Jedenfalls hat er mich gekriegt.« Radkappe hustete wie verrückt. »Ist wirklich alles in Ordnung?« fragte der Junge. »Ich, äh, ich werd’s überleben«, sagte Radkappe. Der Junge lachte, dann schaute er verunsichert drein. »Wo war ich?« fragte er. »Er, äh, er hat dich gekriegt.« »Ha, stimmt. Hat er. Hat mich echt gekriegt. Ich meine, dieses ›Nur…‹ Was hat das zu bedeuten? Also, ich will dir sagen, was ich denke, was es bedeutet. Ich denke, es bedeutet: ›Warte mal.‹ Stimmt’s? ›Warte mal, laß mich am Leben, und du glaubst gar nicht, wie gut’s dir dann geht.‹« Radkappe nickte. »Ja, das kann ich verstehen«, sagte er. »Ich denke, es bedeutet: ›Gib mir eine Chance, und ich kipp’ dir mein ganzes Bankguthaben in die Tasche.‹ Verstehst du, was ich sagen will?« »Doch, doch.« Radkappe nickte erneut. »Ich denke, es bedeutet: ›Wenn du dich nach Spanien zurückziehen und für den Rest deines Lebens wie die Made im Speck leben willst, wenn du wie dieser verdammte 38
Wunderknabe Rupert leben willst, dann ist dies genau der richtige Moment, mein Freund.‹« »Und, äh, hat es auch all das bedeutet?« Der Junge seufzte. »Von wegen.« Er kratzte mit dem Messer Dreck unter seinen Fingernägeln hervor. »Äh…« Radkappe deutete mit dem Kopf auf das Messer. »Oh, du hast recht, tut mir leid, Kumpel.« Der Junge wischte die Klinge an seiner Hose ab. »Wir wollen doch nicht, daß du ‘ne Blutvergiftung kriegst, oder?« »Du sagst es«, sagte Radkappe. »Es gibt Regeln.« »Stimmt.« Der Junge lachte wehmütig. »Den Ganovenkodex.« »Um noch mal, äh, auf den Bankmanager zurückzukommen…« »Ich mach’ die Kette los, und weg ist er. Scheißtyp, was?« »Ja«, sagte Radkappe. »Egoistisches Schwein, echt.« Der Junge nickte. »Ja«, sagte er, »der hat’s für alle anderen versaut, stimmt’s? Na ja, das heißt nicht, daß ich euch alle über denselben Kamm scheren will.« »Natürlich nicht.« »Es ist nur, ich muß einfach. Durch Schaden wird man klug.« »Genau.« »Also, dann ist alles klar, ja?« Radkappe nickte. Der Junge prüfte mit dem Finger die Messerklinge, dann nahm er einen kleinen Schleifstein aus der Tasche und schliff vorsichtig an der Klinge herum. »Und sei mir nicht böse, ja?«
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Auf dem Korridor konnte Dot wenigstens wieder atmen. Aber der Diamant war immer noch beißend kalt. »Geht’s dir besser?« fragte Krümel. »Was meinst denn du?« »Du siehst gut aus. Jetzt jedenfalls.« »Das kommt von diesem Ding hier.« Dot hielt ihre Hand hoch. »Du wolltest es doch mit eingebunden haben«, sagte ihre Nichte. Als Dot den Diamanten vor dem zertrümmerten Juweliergeschäft aus dem Rinnstein gesammelt hatte, da war er warm, entgegenkommend, einladend gewesen. Jetzt war er zwar nicht direkt feindlich, aber… Dot rang nach Worten. »Er ist kalt geworden.« Er wurde noch kälter. Er versuchte, mehr als kalt zu sein, er versuchte, gar nicht da zu sein, nichts zu sein. Die Kälte des Nichts ist nicht zu glauben. Ist auch nicht zu beschreiben. Dot versuchte es nicht. »Sehr kalt«, sagte sie. »Er will, daß ich ihn hier wegbringe. Er versteckt sich vor jemandem.« Sie staunte über diesen Gedanken, der einfach aus dem Nichts aufgetaucht war. »Er fürchtet sich.« »Hör mal, Tantchen…« Krümel stand vor einem Rätsel, aber bevor sie weitersprechen konnte, war Dot verschwunden. »Tantchen!« schrie Krümel der sich eilig entfernenden Gestalt hinterher. »Er hat versprochen, mir meine Hand wiederzugeben!« Ein letzter verzweifelter Schrei. Krümel nahm die Verfolgung auf. Ein Krankenhaus hat mehr Korridore als irgendein anderes Gebäude auf der Welt. Korridore winden sich durch 40
Krankenhäuser wie Wurmlöcher durch Rosenbeete auf einem Komposthaufen. Und Krankenhauskorridore haben niemals Treppen, sondern sie steigen einfach an, manchmal steil und manchmal sanft, aber immer geht’s aufwärts. Krümel quälte sich eine besonders tückische Steigung zwischen der Röntgenabteilung und dem PrinzessinEugenie-Flügel für Tropische Krankheiten hinauf, ohne Dot irgendwo entdecken zu können, als sich Harry Devine aus entgegengesetzter Richtung aufwärts schindele. Psycho-Harry war außer Atem und wußte nicht, wo er war. Er wußte, wo er hinwollte. Das hatte er den Botschaften des Diamanten entnommen. Er war ganz in der Nähe, keine fünfzig Meter entfernt. Aber die Botschaften des Diamanten hatten nicht verzeichnet, wie Harry dorthin gelangte, und die Korridore hatten Harry vollkommen durcheinandergebracht. Jetzt drängte sich auch noch Krümel in Harrys Verwirrung. »Verbrennungen und Allgemeine Chirurgie? Wo lang?« sagte er mit einer Stimme, die Krümel wünschen ließ, sie hätte sie nie gehört. »Äh, erster links, zweiter links, erster links, erster links, zweiter links, und dann ist es der zweite rechts. Nicht weit«, krächzte sie. Harry guckte von ihr weg, den Korridor entlang, und versuchte sich das wahnsinnige Geflecht des BoroughKrankenhauses vorzustellen. Irgendwas mit fünfmal hintereinander links hatte er gehört, und das kam sogar ihm kompliziert vor. Er wollte noch mal nachfragen und wandte sich um, aber da war niemand. Krümel war verschwunden. Und wer könnte ihr das verübeln? dachte Harry. Diese Korridore, die waren eben gefährlich. »So, äh, du hast Rupert also gekannt«, sagte Radkappe, 41
während der Junge sein Messer schärfte. »O ja, ich hab’ Rupert gekannt«, sagte der Junge, am Messer schleifend. »Er ist, äh, schon eine ganze Weile weg, was?« sagte Radkappe. »Schon seit Jahren, äh, hab’ ich gehört. Läßt sich in der Sonne braten.« Radkappe war zum Plaudern aufgelegt. Jedenfalls war das der Eindruck, den er erwecken wollte. Aber es war schwierig, überhaupt einen Eindruck zu erwecken, wenn Atmen zur Schwerstarbeit geriet. »Ich möchte nicht über Rupert reden«, sagte der Junge. Er überprüfte noch einmal die Klinge seines Messers, schon etwas zufriedener, und schliff weiter. »Dauert nicht mehr lange«, sagte er, »dann können wir weitermachen.« »Du warst damals mit dem Boß zusammen, stimmt’s? Vor all den Jahren.« »Ich bin bald dreißig Jahre mit dem Boß zusammen«, sagte der Junge. »Weihnachten. Länger als Axt, sogar länger als Seemann.« »Aha«, sagte Radkappe. »Das nenne ich Treue. Da geht doch nichts drüber.« »Damit hast du doch überhaupt nichts am Hut.« »Äh, das ist auch wieder wahr.« »Als Freiberufler.« In dem einen Wort drückte sich eine ganze Welt von Verachtung aus. Radkappe riß sich zusammen. »Die, äh, sind doch sicher auch nützlich, oder?« Der Junge überlegte. »Nö.« Er schüttelte den Kopf. »Nicht daß ich wüßte.« »Dann würdest du das selber, äh, nicht gerne sein?« »Nö. Sicherheit ist wichtig.« Der Junge lachte. »Ich meine, guck doch mal dich an.« 42
»Du würdest nicht gerne so was machen wie, äh, Rupert? Äh, ordentlich absahnen. In der Sonne leben, eh?« »Hör mal. Laß Rupert aus dem Spiel, ja?« Der Junge prüfte noch einmal sein Messer. »Der war einmalig.« »Kann man wohl sagen, äh, na ja, nach dem, was ich gehört habe.« »Ich hab’ gesagt, du sollst ihn aus dem Spiel lassen.« Der Junge starrte Radkappe an und steckte den Schleifstein in die Tasche. »Ich meine, wenn alle, äh, alle wie er wären, würdest du…« Der Junge sprang auf und hielt Radkappe sein Messer an den Hals. »Laß Rupert da raus! Klar!« »Aber er, äh, er hat euch abgezockt«, japste Radkappe. »Hör auf, oder ich…« Der Junge fuchtelte mit dem Messer unter Radkappes Nase herum. »Ich tu’s!« »Dann, äh, dann tu’s. Meine Daumen bringen mich um.« »Na gut, dann war’s das!« Der Junge war rot vor Zorn. Er schwenkte das Messer durch die Luft. »Nur…« »Und hör auf mit deinem ›Nur‹…!« Das Messer zerschnitt die Luft in einem weiten, blitzenden Bogen. Oder jedenfalls hätte es das getan, wenn es etwas schicker und weniger praktisch gewesen wäre. Es hatte eine schwarze Klinge, was gut für den nächtlichen Gebrauch war, und einen Hohlschliff, was für grauenerregende Schärfe sorgte. Die Klinge witschte einmal wispernd wie ein nächtlicher Schatten durch die Luft, was nicht halb so grob war wie zerschneiden. Nach dem Kuß des Messers teilten sich Radkappes Daumenschlingen anmutig. Schließlich fand Krümel Dot auf dem Parkplatz. 43
»Tantchen, wenn du dich verstecken willst, solltest du drauf achten, daß man dich nicht sieht«, sagte Krümel zu den beiden Füßen, die unter ihrem Auto hervorguckten. Dot kroch rückwärts hervor und rutschte mit den Knien über den Schotter. Eigentlich hätte sie sich die Knie böse aufschürfen müssen, aber das Material ihrer Strümpfe war fester als der Straßenbelag. »Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist«, sagte sie. »Mich verstecken! Ich habe mich in meinem ganzen Leben noch nie versteckt.« »Ja«, sagte ihre Nichte, »aber das war doch immer ein Problem, oder nicht?« Dot machte ein finsteres Gesicht. »Jedenfalls wird das behauptet«, fügte Krümel schnell hinzu. »Komm, hör auf zu labern.« Dot streckte ihre Hand aus. »Und nimm mir dieses Ding ab.« Krümel seufzte und wickelte den Verband von Dots Hand. »Ich verstehe sowieso nicht, wieso du das überhaupt in der Hand haben wolltest«, sagte sie beim Abwickeln. »Du hättest es doch einfach in deine Handtasche tun können.« »Du hast natürlich recht«, sagte Dot. »Nun mach schon weiter, ja?« »Warum hast du’s denn nicht getan? In die Handtasche gesteckt?« »Ach, ich weiß nicht«, sagte Dot. Dann sprach sie das erste Wort aus, das ihr in den Sinn kam. »Vielleicht Paranoia?« Und wo, fragte sie sich unmittelbar darauf, hatte sie so ein Wort aufgeschnappt? Der Junge mußte sich bewegt haben, denn er hockte jetzt 44
rittlings auf Radkappes Brust, und das Messer saß wieder an Radkappes Kehle, aber es war so schnell gegangen, daß Radkappe nichts gesehen hatte. Er wirkte überrascht. Der Junge lächelte. »Gott«, krächzte Radkappe. »Du bist gut, was?« Das Lächeln wurde breiter. »Aber jetzt genug damit. Ich will was von dir hören. Was du mit deinem ›Nur‹ sagen willst.«
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4 »Mohnblüte!« »Ja, Ruhpett?« »Ich hab’ mich entschieden. Ich fahr’ nach London.« »Aber Ruhpett…« Mohnblüte kam aus der Küche und lehnte sich an den Türrahmen, der glänzte, als würde er schmelzen. Das war der Einfluß, den Mohnblüte auf die meisten Dinge hatte. Allerdings schmolzen in Spanien wegen der Hitze sowieso die meisten Dinge. Mohnblüte zog einen Flunsch. »Den ganßen Morgen haßt du an dem blöden Telefon gehangen, und jetzt willst du auch noch ins scheußliche London.« Sie seufzte. »Und wahrscheinlich ßoll ich mich morgen um deinen blöden Boß kümmern. Oder haßt du vergeßen, daß er kommt?« »Ich fliege mit ihm zurück. Das dauert wirklich nicht lange«, sagte Rupert. »Es geht nur darum, etwas zu finden, was er verloren hat.« Oder zumindest darum, dachte Rupert, etwas zu finden, das der Boß verloren hat. Und es zuerst zu finden. »Und außerdem: Du weißt doch, daß du ihn eigentlich magst. Er schätzt dich sehr.« Rupert floh Richtung Schlafzimmer. »Wo hast du meinen Koffer hingetan?« Mohnblüte folgte Rupert mit geschmeidigen Bewegungen, die katzenartiger waren, als die meisten Katzentiere sie in all ihren neun Leben je beherrschen. Ein zweiter Türrahmen erzitterte in der schwülen Luft. »Er liegt unter dem Bett. Weißt du nicht mehr? Als wir…« Rupert erinnerte sich. Es gab ein paar Dinge, die konnte er einfach nicht vergessen, trotz des wilden Lebens an der Seite einer Sex-Göttin. Er zitterte, was aber diesmal 46
nichts mit Mohnblüte zu tun hatte, obwohl sich ihre ganze Persönlichkeit von der Tür aus über den Boden schlängelte. Er dachte nach. Zu viel süßes Leben, dachte er, das war sein Problem. Wahrscheinlich gab’s einen Namen dafür. Eine ordentliche Dosis Borough würde das schon klären. Und dem Boß eins auswischen. Rupert lächelte. Mehr Härte und weniger Amouren würden ihn daran erinnern, daß er immer noch ein Gangster war. Radkappe und der Junge hatten gemeinsam ein ganzes Stück Weg zurückgelegt, wenn auch nicht im wörtlichen Sinne. Der Junge saß auf dem Stuhl vom Boß, und Radkappe lag mit dem Rücken auf dem Boden, die Arme über dem Kopf ausgestreckt, noch zu steif, um sich bewegen zu können. Der Junge hieß Rudge. Radkappe wußte das. Sie waren einen weiten Weg gegangen. Rudge hatte das Wort. »Also noch mal: Du besorgst den Diamanten von der alten Frau, die du gesehen hast…« »Und denk dran, ich war der einzige, der sie gesehen hat. Niemand sonst weiß, wie sie aussieht.« »… und du gibst ihn mir, und ich gebe ihn dem Boß, und dann ist der sozusagen dankbar.« »Oder du könntest…« Radkappe zögerte, den Vorschlag zu machen. »Oder ich könnte auf eigene Kappe arbeiten. Selber abstauben. Mich nach Spanien absetzen. Die RupertNummer. Das wolltest du doch sagen, oder?« »Äh. Ja.« »Mich nach Spanien absetzen.« Rudge hob den Kopf und schaute in die Zukunft, und zum ersten Mal lag die Zukunft jenseits der Wände des Büros vom Boß. Dann bekam Rudges Gesicht einen traurigen Ausdruck. Am Horizont 47
war eine Wolke. Immer war da eine Wolke. »Aber woher soll ich wissen, daß du mir den Diamanten gibst?« fragte er. »Weil«, Radkappe seufzte tief, was ein großer Luxus war. »Weil dir ein Kumpel sein Wort gegeben hat. Und der Kumpel hat seine Ehre.« Radkappe hieß nicht umsonst Henry Hampton de Villiard. »Aha«, sagte Rudge. »Ich verstehe.« »Du klingst aber nicht überzeugt.« »Tja, stimmt.« Radkappe war nur allzu klar, daß Typen, die Rudge heißen, Typen mißtrauen, die Hampton de Villiard heißen. Und Radkappe war auch der Meinung, daß sie allen Grund dazu hätten, denn es hatte Zeiten gegeben, da hatten die de Villiards am Samstagnachmittag zum Vergnügen Jagd auf die Rudges gemacht. Und der Hauptunterschied zwischen den Rudges und den de Villiards bestand darin, daß die de Villiards das sicher wußten, während die Rudges sich das nur vorstellen konnten. Denn ihre Vorfahren hatten nicht überlebt, um die Geschichte erzählen zu können. »Ich hab’ natürlich gemeint«, sagte Radkappe, »daß ein Kumpel sich an die Regeln hält. An den Ganovenkodex.« Das klang für Rudge auch nicht besser, aber vielleicht kannte er sich mit Ganoven besser aus als Radkappe. Vielleicht aber auch nicht. Es war Zeit, daß er eine Entscheidung traf. Er dachte an Rupert, und er dachte an Revanche. »In Ordnung«, sagte er. »Du bist aus dem Schneider. Fürs erste jedenfalls.« Er steckte sein Messer weg und kniete sich hin, um Radkappe die Schultern zu massieren. Rudge hatte starke Hände. Versiert bearbeiteten sie Radkappes überstreckte Muskeln, was sich wunderbar anfühlte. Radkappe gestattete sich den Luxus eines zweiten 48
Seufzers. »Aaah!« Es war ein großartiger Seufzer. Einer zum Erinnern. »Halt die Klappe!« sagte Rudge. »Du glaubst doch nicht, daß ich das zu deinem Vergnügen mache, oder?« »Nicht?« Radkappe war das eigentlich egal. »Und warum dann?« »Ich mache deine Arme wieder beweglich.« Rudges Finger drückten sich tief in Radkappes Trapezmuskel. »Du glaubst doch wohl nicht, daß ich eine Abmachung ohne Handschlag treffe, oder?« »Aaah!« Radkappe seufzte noch einmal, und wieder fühlte es sich wundervoll an. »Ich verstehe. Ganovenehre.« Die Korridore im Krankenhaus mochten zwar ein Labyrinth sein, aber es war immerhin ein Labyrinth mit Wegweisern. Sogar der Boß und die Jungs konnten den Schildern ohne größere Schwierigkeiten von der Rezeption zu der Station Verbrennungen und Allgemeine Chirurgie folgen. Und doch war ihnen auf ihrem langen Weg bergauf dreimal PsychoHarry in die Quere gekommen. Jedesmal verkroch sich der Boß in einem Durchgang, diskret hinter den Jungs versteckt. Das schien sinnvoll zu sein. Der Boß wußte natürlich, daß Psycho-Harry Devine unmöglich herausgefunden haben konnte, wer hinter der Zerstörung seines Ladens steckte. Aber andererseits wußte der Boß auch, daß weder verstreutes Salz noch zerbrochene Spiegel Einfluß auf seine künftigen Geschicke haben konnten. Irgendwie schien es keine große Rolle zu spielen, ob man das wußte oder nicht. Der Boß und die Jungs setzten sich neben die Betten, in denen Axt und Seemann lagen, um die Auswirkungen des Feuerballs auszuschlafen. Eine Krankenschwester war bei ihnen. 49
»Es hat keinen Sinn, mit ihnen zu reden, Sir«, sagte sie knapp, auf typische Schwesternart. »Sie stehen unter Beruhigungsmitteln. Vor morgen früh wachen sie nicht auf.« Der Boß drehte sich um und warf der Krankenschwester einen Blick von der Sorte zu, der die Jungs an Daumenschlingen und Federn erinnerte. »Ist das so?« »Ja, Sir, so ist das. Wenn es Ihnen also nichts ausmachen würde…« »Ich kann warten.« »Aber Sir…« »Vielleicht reden sie ja im Schlaf.« »Bitte, Sir. Was immer Sie wollen mögen, es muß einfach warten. Diese Männer haben ein schweres Trauma erlitten, und ein tiefer langer Schlaf ist im Moment das Beste für sie.« »Von mir aus.« »Ungestört.« »He, ungestört!« Der Boß stieß den neben ihm sitzenden Jungen an, der gerade geschnieft hatte. »Ungestört, hast du gehört?« Die Krankenschwester seufzte. Sie hatte das Gefühl, eine Niederlage erlitten zu haben, aber sie war noch nicht bereit, das Schlachtfeld zu verlassen. Sie schlug einen beschwichtigenden Ton an. »Wissen Sie, die beiden haben furchtbares Glück gehabt. Und der andere Mann dort drüben auch.« Sie blickte zu Vernon hinüber. Alle blickten zu Vernon hinüber. »Wieso?« sagte einer der Jungen. »Was war mit dem?« Batsch! machte die Hand vom Boß. »Au!« machte der Junge. 50
»Sei still!« sagte der Boß. »Willst du, daß wir rausgeschmissen werden?« Er wandte sich wieder an die Krankenschwester. »So. Und was war nun mit dem?« Radkappe und Rudge gaben sich die Hand. Sie gingen zur Tür. »Sag mir eins«, sagte Rudge. »Nur so aus Neugier. Woher wußtest du über Rupert Bescheid?« »Wußte ich nicht.« Radkappe lächelte. »Ich hab’ geraten.« Rudge blickte Radkappe abschätzend an, und auf seinem Gesicht zeigte sich ein Hauch von Respekt. »Ziemlich kleine Chance«, sagte er, »um sein Leben dran zu hängen.« »Kann sein«, sagte Radkappe. »Aber es stand auch einiges auf dem Spiel. Das lohnt schon den Einsatz, meinst du nicht?« Rudge antwortete nicht. »Nun sag mir«, fuhr Radkappe fort, »was war denn nun mit Rupert?« Rudge machte einen gequälten Eindruck. »Erinnerst du dich an den Bankmanager, von dem ich dir erzählt habe?« Radkappe nickte. »Rupert hat ihn schließlich zu fassen gekriegt. Hat den armen Teufel total ausgenommen.« Als die Krankenschwester Vernons Geschichte erzählt hatte, löste der Boß seinen Blick von dem großen Mann im Bett. »Sie haben recht, Schwester«, sagte er. »Das war Glück. War das nicht ein Glück, Jungs?« Die Jungs nickten heftig. »Heute hat’s jede Menge Glück gegeben, auf die eine oder andere Art.« Die Stimme vom Boß klang düster. 51
»Ach ja? Klingt nicht so, als hätten Sie viel davon abgekriegt.« Die Krankenschwester versuchte ihrer neuen, milden Rolle gerecht zu werden und ihrer Stimme einen interessierten Klang zu verleihen, aber sie war schon achtzehn Stunden im Dienst, und ehrlich gesagt fand sie es reichlich anstrengend, Interesse zu zeigen. Die schroffe Art lag ihr viel mehr, aber damit hatte sie den Boß nicht besonders beeindrucken können. Also sollte sie es vielleicht mit dem Befehlston versuchen. Befehlen war letzten Endes meistens doch das Beste. Befehle führten zu Ergebnissen. »Und nun, Sir, muß ich Sie bitten…« »Diese alte Dame…« »Wenn Sie später wiederkommen möchten…« »Die, auf die er gefallen ist.« »Das kann man doch nicht Glück nennen«, spottete eine helle, jungenhafte Stimme im Hintergrund. Ein Kichern folgte, aber der Boß beschloß, sich nicht weiter darum zu kümmern. Er versuchte zu denken und gleichzeitig zu sprechen. »Morgen früh wachen sie au…« »Wie war noch mal ihr Name?« »Wessen? Meinen Sie Mrs. Coulson, Sir?« »Wenn das die alte Frau ist.« »Sie ist die Tante von einer der Schwestern hier. Also, ich bin jetzt wirklich der Meinung, daß…« »Sie wissen wohl nicht zufällig, wo sie wohnt, oder?« »Nein. Und da Besuche…« »Schon gut, meine Liebe, die Jungs wollten gerade gehen. Ihr habt mich doch verstanden, Jungs?« Der Boß warf seinen jüngeren Geschäftspartnern bedeutungsvolle Blicke zu. »Äh…«, sagte ein Chor von Stimmen. 52
»Ja, Boß«, sagte die helle, jungenhafte Stimme. »Verstanden. Kommt schon, Jungs. Keinen Frieden für die Bösen.« Die helle, jungenhafte Stimme führte die anderen Jungs Richtung Korridor. Nachdenklich schaute der Boß ihnen hinterher. Der eine, der war gut, der war clever. Aber Clevere waren nicht immer die Besten. Auf die mußte man zu sehr aufpassen. »Und jetzt, Sir…« Der Boß wandte seine Aufmerksamkeit wieder der Krankenschwester zu. Wie aus heiterem Himmel tauchte eine Fünfzigpfundnote auf und baumelte vor ihrer Nase. »Hören Sie, meine Liebe, ich muß wirklich hier sein, wenn die beiden aufwachen, ja? Also, entspannen Sie einfach.« Aber er sprach ins Leere. Die Krankenschwester war verschwunden, und der Geruch von Mißbilligung hing schwer in der Luft. Der Boß zuckte mit den Achseln, und das Geld verschwand so plötzlich, wie es aufgetaucht war. Die Brieftasche ließ einen leisen Seufzer der Erleichterung hören. Jedenfalls hätte der Boß ihn hören können, wenn er ein Pflasterstein gewesen wäre. Die gemietete Limousine rollte leise von der Eingangstür weg. »Ruhpett!« Rupert blickte auf, Mohnblüte warf ihm eine Kußhand zu. »Ich liebe dich!« rief sie. »Ich dich auch«, sagte Rupert. Seine Stimme klang widerwillig, und genauso widerwillig winkte Rupert aus dem Fenster, bevor er den Fahrer anwies, es zu schließen. Rupert setzte sich bequem zurück und schaute sich nicht um. Ein Tag in London! Himmlische Aussichten! 53
Mohnblüte schloß die Tür und lehnte sich mit einem Seufzer dagegen. Auch die Tür seufzte, ohne daß Mohnblüte es hörte. Mohnblüte dachte an die Zeit, die vor ihr lag. Vierundzwanzig friedliche Stunden. Und die hatte sie auch nötig. »So!« sagte sie zu sich selbst und verzichtete auf das Lispeln der Sex-Göttin. »Dann wollen wir mal.« Sie schlenderte zum Schlafzimmer und warf dabei die wenigen Sachen ab, die sie trug. Miniröcke und winzige Höschen waren im Prinzip ja schön und gut, aber im Moment waren sie nicht angebracht. Fünf Minuten später tauchte im Flur eine formlose Gestalt in einem zerknitterten Overall auf. Gedankenverloren blieb sie stehen. Die Schraubenschlüssel für den Ferrari, wo hatte sie die hingetan? Radkappe legte sanft den ersten Gang ein, umfaßte wegen seiner wunden Daumen das Lenkrad mit spitzen Fingern und entfernte sich langsam vom Büro des Bosses. Es hatte schon schnellere Fluchten, dramatischere Fluchten gegeben, aber noch keine Flucht, die – jedenfalls aus Sicht von Radkappe – so herbeigesehnt worden war. Radkappe blickte sich genausowenig um wie Rupert. Radkappe war Rudge erfolgreich entschlüpft, und es ist eine bekannte Tatsache, daß ein rückwärtiger Blick nach einer dramatischen Flucht fatale Folgen hat. Also blickte Radkappe nach vorne. Ein weiter, weiter Weg lag vor ihm. So weit weg wie möglich von Rudge, dem Boß und den Jungs. Bei dem Gedanken mußte er grinsen. Und bei dem Gedanken daran, wie Rudge ihm vertraut hatte, wurde sein Grinsen noch breiter. Wenn Radkappe Rudge gewesen wäre, dann hätte er, Radkappe, ihn, Rudge, aufs Klo begleitet. Aber Rudge hatte es nicht getan. Er hatte Radkappes gutem Willen vertraut. Und dem Ganovenkodex. Was nur bewies, wie wenig er 54
von beidem verstand. Ganoven haben immer in dem Ruf gestanden, ihren ungeschriebenen Gesetzen viel Bedeutung beizumessen, aber eigentlich steckt nicht viel dahinter. Es ist ganz einfach ein Allzweck-Berufskodex von der Stange, den jeder benutzt und der nur eines besagt: Sorge für dich selbst, weil in diesem Beruf das niemand sonst für dich tut. In der Praxis unterscheidet sich der Ganovenkodex nur in einem winzigen Detail vom Berufskodex der, sagen wir, Anwälte, der Ärzte oder von dem der Verkäufer von doppelt verglasten Scheiben. Bei dem winzigen Detail handelt es sich um die Kostenfrage, was damit zusammenhängt, daß der Beruf Ganove der einzige ist, der seinen Kodex eben nicht von der Stange kauft. Zumindest behaupten dies die Ärzte, Anwälte und Verkäufer von doppelt verglasten Scheiben. Radkappe näherte sich einer Kreuzung und verlangsamte die Geschwindigkeit. Armer Rudge, dachte er. Er hielt an. Wieder mal war es ums Vertrauen gegangen. Radkappe schaute nach rechts. Zu viel Vertrauen hielt einen Mann auf. Er schaute nach links. »Hallo, hallo«, sagte Rudge. Er saß auf dem Beifahrersitz. »Aber ich… Du bist doch…«, stotterte Radkappe. »Wie bist du…« Rudge grinste. »Das haben wir doch schon vorhin festgestellt«, sagte er. »Der Junge ist gut, sehr gut. So ist das.« Er schaute sich vergnügt um. »Und wohin fahren wir?« Dot und Krümel fuhren nach Hause. Der Diamant lag auf Dots Schoß, fing das Licht ein und reflektierte es mit derselben kalten Präzision, mit der Kinder Fliegen die Flügel ausreißen. 55
»Das war Psycho-Harry«, sagte Dot, »der Mann, den du gesehen hast. Das ist sein Diamant. Jedenfalls stammt er aus Harrys Laden.« »Aber Harry konnte doch nicht wissen, wo der Diamant jetzt ist, oder?« »O doch, das wußte er. Und der Diamant hatte Angst.« Dot blickte Krümel in die Augen. »Das sollte dir genügen, um zu wissen, wer Harry ist.« »Dann solltest du den Diamanten wegwerfen, wenn Harry so gefährlich ist.« »Na, na. Wie oft fällt dir so ein Teil in den Schoß?« Dot strahlte den Diamanten liebevoll an, und Krümel lachte. »Und das ist die Frau, die in die ganze Sache reingeraten ist, weil sie beschlossen hat, den Borough aufzuräumen. Parken auf dem Bürgersteig zu verhindern. Ich bitte dich. Wenn man es genau betrachtet, bist du auch nicht besser als alle anderen.« »Das ist wenigstens was, das ich hingekriegt habe. Und was das Großreinemachen im Borough betrifft: Stell dir mal vor, wieviel Putzmittel man mit diesem Ding kaufen könnte.« Krümel schaute ihre Tante an. »Du meinst, du würdest…« Die alte Frau nickte. »Ist doch kein schlechter Gedanke, oder?« »Das würde dir niemand danken.« »Vielleicht nicht«, sagte Dot. »Aber alle würden es wissen.« Für kurze Zeit fuhren die beiden Frauen schweigend weiter. Krümel brach das Schweigen. »So.« Sie schaute zu ihrer Tante hinüber. »Und was kommt jetzt?« 56
Dot warf ihrer Nichte einen langen, nachdenklichen Blick zu. »Also machst du mit?« fragte sie. Krümel zuckte mit den Achseln. »Jemand muß sich ja um dich kümmern.« Dot lachte. »Dann tu’s aber auch.« Und noch einmal war es Krümel, die das Schweigen brach. »Und? Was kommt jetzt?« »Als erstes«, sagte Dot, »müssen wir zusehen, daß wir den Gegnern einen Schritt voraus bleiben. Wer immer sie sein mögen.« Auf der Station Verbrennungen und Allgemeine Chirurgie war alles still. Patienten dösten oder betrachteten die Zimmerdecke, verwandelten Risse im Putz in Alpträume, die sie im Schlaf verfolgten. Der Boß blieb bei Axt und Seemann, aber er beobachtete Vernon Carpenter. Das war spannender, als die Zimmerdecke anzugucken, aber auch bedrückender. Zumindest im Zusammenhang mit dem, was dem Boß durch den Kopf ging. Selbst ein schlafender Vernon Carpenter konnte genausogut zu einem Alptraum werden wie irgendein Riß im Putz. Der Boß zögerte. Der Diamant war im Besitz von jemandem, der während der Explosion dabeigewesen war. Das konnte Vernon genausogut sein wie jeder andere. Also mußte der Diamant irgendwo in dessen Bett oder um dessen Bett herum versteckt sein und darauf warten, vom Boß gerettet zu werden. Der Diamant wollte zum Boß. Das hatte er ihm gesagt. Und das paßte gut, weil der Boß den Diamanten haben 57
wollte. Und vielleicht brauchte der Boß nur Vernons Bett zu durchsuchen, um alle glücklich zu machen. Alle außer Vernon natürlich. Aber Penner waren auch nicht dazu da, um glücklich zu sein. Das gehörte nicht zu ihrer Arbeitsplatzbeschreibung. Der Boß zögerte, und zwar aus dem einfachen Grund, weil Vernon hätte aufwachen können. Je länger der Boß abwartete, desto größer war die Wahrscheinlichkeit, daß das geschah. »Wer nicht wagt, der nicht gewinnt«, ermahnte sich der Boß. Seine Füße rührten sich nicht. »Dem Feigen weist das Glück den Rücken«, machte er sich selber Mut. Sein Hinterteil wollte sich einfach nicht vom Stuhl erheben. »Zag hat kein Glück«, sagte er, etwas lauter. Und nun endlich rührte er sich. Am anderen Ende des Raumes standen Wandschirme. Der Boß schob sie um das Bett von Vernon, mußte dann aber feststellen, daß der schlafende Riese so abgeschirmt und so aus der Nähe bedrohlicher denn je aussah. Er strahlte Kraft aus wie ein Löwe. Einfach so. Das Bett bebte. Ein Arm wurde unter den Laken hervorgehievt und plumpste auf die Decke. Vernon seufzte. Der Boß erstarrte. So viel Arm, so wenig Anstrengung. Andererseits – wo gehobelt wird, da fallen Späne. Der Boß machte einen Schritt vor und griff nach dem Bettzeug. »Viel Zag, wenig Glück«, murmelte er. Nicht weit davon entfernt hockte Psycho-Harry Devine als kleines Häufchen Elend in der Ecke eines abgelegenen, verlassenen Korridors. Das Häufchen murmelte ständig vor sich hin. »Erster links, zweiter rechts, erster links…« Harry blickte auf. Schritte näherten sich, das erste Geräusch seit 58
Stunden, wie es ihm schien. Harry streckte flehentlich seine Hand aus. »Verbrennungen und Allgemeine Chirurgie – wo lang? Bitte?« Die Jungs vom Boß blieben stehen und starrten PsychoHarry an. Zuckten allesamt wie ein Mann mit den Achseln. Dann sagte eine helle, jungenhafte Stimme: »Folgen Sie einfach den Schildern. Das machen wir auch so.« Die Jungs entfernten sich, und Harry schaute ihnen mit säuerlicher Miene hinterher. Den Schildern folgen! Warum sagten ihm alle, er solle den Schildern folgen? Idioten. Wußten sie denn nicht, was Schilder bedeuteten? »Hör mal, kann ich dich irgendwo absetzen?« Radkappe wählte seine Worte mit Umsicht. Zwar kannte er Rudge noch nicht lange, aber er kannte ihn gut genug, um zu wissen, daß Rudge eine kraftvolle Persönlichkeit war – wobei die Kraft aus zehn Zoll rasiermesserscharfem, mattschwarzem Stahl bestand. Radkappe konnte eine solche Persönlichkeit durchaus entspannt betrachten, sobald er ein paar hundert Meilen von ihr entfernt war. Aber da er nun direkt daneben saß, war Umsicht angebracht. »Ich meine, du hast doch bestimmt, äh, Dinge, die du erledigen mußt? Irgendwo hingehen, Leute treffen?« Rudge griff in die Innentasche seines Jacketts und holte eine leere Zigarettenschachtel heraus. Er las etwas auf der einen Seite, drehte die Schachtel um, las auf der anderen Seite und schüttelte den Kopf. »Nö. Hier steht nur: ›Leiche wegschaffen.‹ Guck!« Rudge hielt Radkappe das leere Päckchen entgegen, aber Radkappe konzentrierte sich aufs Fahren und glaubte Rudge auch so. 59
»Wessen Leiche wird das wohl sein, hä?« Rudge grinste, und die Zigarettenschachtel verschwand im Innern des Jacketts. Rudge klopfte auf sein Jackett. »Ist klasse, das Ding. So was wie mein persönliches Ordnungssystem. Ohne das bin ich verloren. Und die Typen, die die Dinger verkaufen, machen ‘nen guten Schnitt damit, sagen sie.« Er wartete darauf, daß Radkappe lachte, aber Radkappe war nicht nach Lachen zumute. »Egal«, sagte Rudge. »Wo war ich stehengeblieben?« »Leiche wegschaffen«, murmelte Radkappe. »Ach ja. Tja.« Rudge warf Radkappe einen scharfen Blick zu. »Du bist die lebendigste Leiche, die ich je gesehen habe. Aber schließlich ist es ja nie zu spät, oder? So eine Leiche zu drosseln.« Zuversichtlich tätschelte er Radkappes Arm. »Nie zu spät.« Radkappe schloß die Augen, als Rudge ihn berührte. Es war schon ein merkwürdiges Gefühl, von einer Hand berührt zu werden, die einen noch kurz zuvor hatte töten wollen… »Paß auf, eh!« sagte Rudge. Die Berührung an Radkappes Arm verschwand. Radkappe machte die Augen auf. Ein rotes Licht leuchtete neben der Straße bedrohlich auf. In der voreiligen Annahme, Autos würden bei Rot stehenbleiben, betrat ein Fußgänger die Straße. Autos überquerten die Kreuzung. Radkappe trat auf die Bremse. Rudge lachte. »Langsam! Wir wollen doch die Bullen nicht auf uns aufmerksam machen.« Normalerweise hätte Rudge sich über die Achtlosigkeit von Radkappe geärgert. Es wäre ein weiteres Beispiel dafür gewesen, wie überflüssig Freiberufler waren. Aber heute war das anders. Adnan Rudge war heute zum ersten Mal in seinem Leben unterwegs zu fernen Ufern, und sein Herz 60
war jung und froh. Er blickte sich noch einmal um. Der Borough war öde wie immer, aber da war ein heller Fleck. »Mann«, sagte Rudge. »Schau dir das an.« Radkappe schaute. Auf der Gegenfahrbahn stand an erster Stelle der Reihe ein zerbeultes altes Auto. Es hatte dreckige Reifen, dreckigen Lack, dreckige Fenster und so viele abgestoßene Ecken, daß seine Erbauer es nicht wiedererkannt hätten. Radkappe sah das alles, weil er sich beruflich für Autos interessierte. Aber Rudge? »Was denn?« »Na die! Schau dir die mal an! Die leuchtet durch die Windschutzscheibe wie ein Stern in finsterer Nacht.« »Hä?« »Die da!« Soweit Radkappe sehen konnte, sah das Mädchen, das Rudge meinte, allenfalls durchschnittlich aus, wenn man höflich bleiben wollte. Radkappe hätte nicht ein zweites Mal hingeguckt, wenn nicht… Er guckte ein zweites Mal hin, etwas genauer. Wenn nicht die alte Dame gewesen wäre, mit der sie sprach. »Die gefällt dir wohl?« fragte er ruhig. »Gefallen!« Für Rudge mit seinem frisch gewonnenen Optimismus war Krümel die Krone der Schöpfung. Krümel lachte. Ihre Augen glitzerten. Ihre Haut leuchtete. Ihre vollen Lippen standen leicht offen und gaben den Blick auf perlweiße Zähne frei. Aber in Radkappes Stimme fehlte irgendwie die Anerkennung, was nach Kritik klang. »Weißt du, was dein Problem ist? Du kannst echte Klasse nicht erkennen. Das ist dein Problem. Die Frau ist echte Klasse.« Radkappe antwortete nicht. Rudge wurde unsicher. 61
Radkappes Desinteresse machte ihn verlegen. »Du findest das nicht?« Radkappe schüttelte den Kopf, und in dem Moment schaute Krümel zu ihnen herüber. Sie sah zwei Paar männliche Augen auf sich gerichtet, und ein männlicher Kopf wurde langsam, aber entschieden geschüttelt. »Hey, guck mal, sie guckt her.« Rudges Verlegenheit wuchs. Er blickte zur Seite. »Kein Grund zu glotzen«, murmelte er. Hinter ihnen dröhnten Hupen und brüllten Stimmen. Die Ampel zeigte Grün. Krümel passierte Radkappes Auto, und Radkappe sah sie im Rückspiegel verschwinden. »Los jetzt«, sagte Rudge. »Willst du nicht losfahren?« »Oh, ja«, sagte Radkappe, »ich denke schon. Halt dich fest.« Es gab zwei dumpfe Geräusche – eins, als das Gaspedal auf den Boden klatschte, das andere, als das Lenkrad den Anschlag erreichte – und dann keines mehr. Alle Geräusche verloren sich in dem Lärm des aufheulenden Motors von Radkappes Auto. Rudge sah, wie über den Hupen Hände erstarrten, die noch vor Sekunden ungeduldig darauf gewartet hatten, weiterfahren zu können. Er sah Entsetzen in den Gesichtern der entgegenkommenden Fahrer, als Radkappe vor ihnen wendete; er sah die Welt um sich herum wirbeln und spürte, wie er mit Macht in den Sitz gedrückt wurde. Er sah das alles, und er fühlte das alles, aber… »Hey, so toll war sie nun auch wieder nicht«, war alles, was er herausbrachte. Niemand hörte ihn.
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5 Psycho-Harry Devine hatte ein kleines, dunkles Loch gefunden, in das er sich verkriechen konnte, und er nutzte die Gelegenheit, seine Wunden zu lecken. Es waren alles seelische Wunden, aber trotzdem war es tröstlich, sie zu lecken. Harry hatte den Nachmittag damit verbracht, die Geheimnisse der Korridore nicht knacken zu können, und die verschwendeten Stunden fühlten sich an wie ein ganzes Leben. Harry hatte einen klugen Kopf, und das wußte er auch, daher empfand er es als sehr schmerzlich, von einem Korridor besiegt zu werden. Und noch schmerzlicher war, daß diese Korridore Menschenwerk waren. Besser gesagt, einfach nur Menschenwerk. Das Werk einfacher Menschen. Und wer zum Teufel entwarf Krankenhäuser? Architekten, verdammt noch mal. Und Harry kannte Architekten. Er rollte sich noch mehr zusammen. Das warme Dunkel seines Verstecks war tröstlich, gebärmuttergleich, ursprünglich. Die Hebamme im Kreißsaal bemerkte, daß der Bettbezug dort, wo er zum Fußboden hinunterhing, leise zuckte. Sie hob den dünnen Stoff hoch, um herauszufinden, was das war, und schaute direkt in Psycho-Harrys erschrockene Augen. Viele Frauen wären in Ohnmacht gefallen oder hätten geschrien. Aber die Seelen schottischer Hebammen sind aus Eisen geschmiedet. »O nein, das kommt nicht in Frage. Euch Brüder kenne ich. Nun komm mal schön raus, mein Junge!« Die Worte hatten jenen besonders liebevollen, beruhigenden Ton, der dem Berufsstand der Hebammen vorbehalten ist. Aber der Griff, mit dem die Hebamme Harry am Bein packte und den 63
strampelnden und kreischenden Mann ins grelle Licht des Kreißsaals zerrte, hatte nichts Beruhigendes oder Liebevolles an sich. »Und du kannst von Glück reden«, fuhr sie fort, als sie Harry in den Korridor beförderte und ihn wie einen Eisstock von sich schleuderte, »daß ich was anderes zu tun habe, als mich richtig um dich zu kümmern.« Sie drehte sich schnell um, und als von drinnen ein entsetzlicher Schrei ertönte, schloß sie die Tür hinter sich. »Also, mein Mädchen«, fing die Hebamme an, und schon erstarb das Schreien. »So was wollen wir nicht mehr hören, so ist gut.« Harry rappelte sich auf, verschränkte die Arme vor der Brust und sah sich um. Ihm war kalt, er hatte jede Orientierung verloren, und es ging ihm schlecht, aber eine Geburt, fiel ihm ein, ist eben immer die Hölle. Geburt war das letzte, woran der Boß im Moment dachte. Er befand sich am entgegengesetzten Ende des Lebensflusses. Zumindest hatte er Angst, daß er jeden Moment dort landen würde. Sein kleines Abenteuer an Vernons Bett war schrecklich schiefgegangen. Der Boß wußte nicht genau, wie es dazu gekommen war, aber schließlich wurde sein Kopf von Vernons Arm umklammert. Vernon schlief noch immer und ließ sich durch nichts wecken, egal, was der Boß versuchte. Sein Gesicht steckte in Vernons schweißgebadeter Achselhöhle, und der Boß drohte zu ersticken. Oder vielleicht zu ertrinken. Und er hatte Angst. Entsetzliche Angst. Der Boß glaubte nicht wirklich an die Hölle. Jedenfalls wollte er nicht daran glauben. Das Leben nach dem Tode, das er sich wünschte, war sehr nüchtern und still und ähnelte überhaupt nicht dem Leben nach dem Tode, das er und nur er zu erwarten hatte, wie ihm alle versprachen. 64
Doch wie immer das Leben nach dem Tod auch sein würde, er würde es bald erfahren, es sei denn, er unternahm etwas dagegen. Bei dem Gedanken hätte er am liebsten geschrien. Aber das konnte er nicht. Er wollte Vernon die Augen ausstechen. Und das konnte er auch nicht. Schließlich wollte er einfach nur durchdrehen, und selbst das gelang ihm nur unter Schwierigkeiten. Ihm wurde schwarz vor Augen. Oder vielleicht starb er sogar. Es war ein einfacher Übergang. Feuer loderte, Dämonen tanzten, und das Jammern verlorener Seelen klang etwa wie: »Verweile doch.« »Na gut«, murmelte der Boß angesichts seiner neuen Umgebung, »man kann nicht immer gewinnen.« Die Wandschirme um Vernons Bett wurden energisch zur Seite geschoben. Eine steife, gestärkte Gestalt kam ans Bett geraschelt. »Nun«, sagte sie mit einer Stimme, die sich niemals von irgend etwas, was Patienten anstellen mochten, überraschen lassen würde, »was im Himmel geht hier vor?« Krümels plumpes kleines Auto hielt nervös vor Dots Haus. Es gefiel ihm nicht so recht, dort stehenzubleiben. Fünfzig Meter dahinter kam Radkappes Auto sogar noch eine Idee zögerlicher zum Stehen. Das war verständlich. Es hatte mehr zu verlieren als Krümels Auto. Das Leben schuldete ihm noch einigen Spaß. Die Autos blickten sich vorsichtig um. Ringsumher lagen wie technisches Konfetti die Eingeweide anderer Autos, aber dorthin schauten sie nicht. Das tat zu weh. Vielmehr blickten sie in die Ecken, hinüber zu den niedrigen Wänden, in die kleinen Gassen zwischen den Häusern, dorthin, wo die Hobbyschrauber rumhingen. So wie die Straße aussah, mußte es hier nur so von ihnen wimmeln. 65
Natürlich würden sie sie nicht zu sehen bekommen. Niemand sieht die Hobbyschrauber. Nur ihre Arbeit. Wenn man den Anblick aushält. Nichts rührte sich. »Und?« sagte Rudge. Radkappe sagte nichts. Er beobachtete Krümels Auto. Rudge beobachtete ihn. »Ist es das?« Radkappe zuckte mit den Achseln. »Du könntest sie zum Tanzen einladen«, schlug er vor. Rudge lief rot an. Er wollte seine Gefühle zum Ausdruck bringen, aber die Jahre der Unterwürfigkeit dem Boß gegenüber und die der Höflichkeit den Kunden gegenüber, so wichtig in jenen kostbaren finalen Momenten, hatten ihm die Worte der Empörung geraubt. Radkappe beobachtete ihn voller Hingabe. Freiberufler verlieren die Worte für Empörung nie. Freiberufler benutzen sie andauernd. Doch dies war der falsche Moment, um mit Rudge darüber zu diskutieren. Radkappe versuchte etwas anderes. »Ich dachte, du magst sie«, sagte er. »Na ja.« Rudge guckte aus dem Fenster. »Vielleicht. Aber wir sind doch nicht hinter ihr her, oder?« »Ach, ich weiß nicht«, sagte Radkappe, »ich habe das Gefühl, daß…« Radkappe hörte auf zu sprechen und starrte zu Krümels Auto hinüber. Es hatte angefangen, hin- und herzuschaukeln. Es schaukelte immer heftiger, und als so gut wie sicher war, daß es umkippen würde, flog eine Tür auf, und Dot schoß auf den Bürgersteig. »Ein bißchen Öl könnte der Tür nicht schaden«, sagte sie, während sie die Tür zuschlug. »Bis später dann!« rief sie. 66
Dot blieb stehen und schaute zu, wie Krümel ihr Auto wendete, wozu sie, wie Radkappe feststellte, sechsmal ansetzen mußte, ehe sie davonfuhr. Radkappe schaute ihr im Rückspiegel hinterher, und er hätte schwören können, daß das Auto einen Satz machte, als es am Ende der Straße um die Ecke bog. »Na?« Rudge hatte dem Auto hinterhergeguckt, und jetzt wandte er sich wieder um. Der Ausdruck auf seinem Gesicht ähnelte dem eines Hundes. »Wenn wir ihr folgen wollen, sollten wir dann nicht…« »Oh, oh!« sagte Radkappe. Er lächelte. »Aber vielleicht später. Wenn du willst.« Dot betrat eines der schmalbrüstigen Häuser. »Denn eigentlich sind wir hinter der her.« Rudge blickte verwirrt drein, dann hellte sich seine Miene auf. »Hinter der alten Frau?« Radkappe nickte. »Aber wie…« Rudge war erleichtert und beeindruckt. »Wie hast du sie gefunden?« Radkappe gab sich lässig. »Geschick. Entschlossenheit. Und – ich kenne das Spiel.« »Aha.« Rudge nickte. »Also reines Glück.« Radkappe legte behutsam einen Gang ein. »Komm«, sagte er, »wir machen einen Besuch.« Die Jungs vom Boß drängelten sich um eine Telefonzelle und versuchten herauszufinden, was drinnen vorging. »Ich verstehe immer noch nicht, warum wir nicht einfach ins Büro können«, klagte eine Stimme. »Schschh!« ertönte ein Chor von Stimmen. »Wir können nichts hören.« 67
»Hier ist es so kalt, daß man sich die Eier abfriert…« »Schschh!« »Na, das ist ja mal interessant«, bemerkte eine knochentrockene Stimme. »Ich glaub’ nicht, daß du weißt, wo die, also…« »Schsch!« »Ich wollte nur…« »Still jetzt!« In der Telefonzelle legte die helle, jungenhafte Stimme den Hörer auf und sah ausgesprochen zufrieden aus. »Bah! Da kannst du mal sehen, was du angestellt hast«, sagte der Chor von Stimmen. »Jetzt ist er fertig, na klasse. Und wir haben nichts gehört.« Die helle, jungenhafte Stimme kam heraus und stellte sich lächelnd vor die Kollegen. »Los, Jungs«, sagte die helle, jungenhafte Stimme, »wir machen einen Besuch. Kommt mit.« Die helle, jungenhafte Stimme trabte in schnellem Schritt die Straße entlang. Die Jungs folgten. Eine knochentrockene Stimme brachte sie zum Stehen. »Moment mal, was soll eigentlich dieses ›Jungs‹? Was glaubt der denn, wer er ist?« »Ja. Stimmt«, sagte der Chor nachdenklich. »Der muß doch Kumpels sagen. Was glaubt der denn, wer er ist?« »Und dieser ganze ›Kommt-mit‹-Scheiß. Gibt hier Befehle. Was glaubt der denn, wer er ist?« »Ja. Was glaubt der denn, wer er ist?« »Und er sagt nie ›bitte‹«, mischte sich die klagende Stimme ein. »Stimmt«, sagte der Chor. »Hat er noch nie getan.« »Und was soll überhaupt die Eile?« sagte die knochentrockene Stimme. »Wir sind doch keine Scheißwindhunde.« 68
»Ja«, sagte der Chor. »Stimmt. Sind wir nicht.« Es folgte eine lange Pause. »Jetzt ist er sowieso weg«, sagte die knochentrockene Stimme. »Wahrscheinlich kriegt er den Diamanten und behält ihn für sich.« »Ja«, sagte der Chor, »wahrscheinlich wird er…« Und dann wachte er auf. »Verdammter Mist!« Der Chor blickte sich wild um, aber die helle, jungenhafte Stimme war nirgends zu sehen. »Was anderes haben wir doch auch nicht vorgehabt«, sagte die knochentrockene Stimme und holte eine Maschinenpistole unter der Jacke hervor. »Nur ist von euch keiner in der Gewinner-Mannschaft.« Der Chor war sprachlos. Tief beleidigt drängte er sich mitten auf dem Bürgersteig zusammen, während der im einsetzenden Berufsverkehr rasch anwachsende Fußgängerstrom in respektvoller Distanz leise drum herum floß. Durch einen Wust geballter Gedanken drang hier und da ein gemurmeltes »Stimmt!« und »Genau!« In diese Stimmung drängte sich die klagende Stimme: »Und was machen wir jetzt?« Die knochentrockene Stimme zeigte mit der Mündung der Pistole auf die Telefonzelle. »Ihr spielt Ölsardinen.« Die Türklingel läutete noch einmal. Ungeduldig. Und wer hätte ihr das verübeln können. Sie hatte schon sechs Mal geklingelt, jedes Mal ein bißchen länger als zuvor, und es war nicht ihre Schuld, daß Dot nicht aufmachte. Also warum, fragte sich die Klingel, sollte sie noch mal läuten? Dot erstaunte es nicht, daß die Türklingel läutete. Sie hatte das erwartet. Alte Frauen klauen keine teuren Diamanten, ohne zu erwarten, daß früher oder später jemand danach suchen wird. 69
Sie wünschte nur, sie wären nicht so früh gekommen. Sie war noch nicht soweit. »Ich komme«, rief sie mit dünner Stimme, vor dem Spiegel im Flur stehend. »Ich komme.« Auf der anderen Seite der Tür lag erneut ein Daumen auf dem Klingelknopf. »Das reicht«, sagte die Türklingel. »Ich hab’s satt.« Sie biß kräftig in den Daumen. Radkappe sprang zurück. »Verdammtes Ding!« sagte er. »Es hat mich gebissen.« »Hä?« fragte Rudge. »Elektrischer Schlag oder so was.« Radkappe lutschte an seinem Daumen. »Verdammtes Ding.« Rudge seufzte tief. Wenn man eine Sache erledigt haben wollte… Er schob Radkappe sanft zur Seite und streckte seinen Daumen nach der Klingel aus. Dot beäugte kritisch ihre äußere Erscheinung. »Hmm. Mehr Ketchup, glaube ich.« Sie kippte eine ordentliche Portion Ketchup aus der Flasche in ihre Hand, verrieb sie auf dem vorderen Teil ihrer Bluse und prüfte dann, wie es wirkte. »Perfekt. Die Flecken hätten wir also.« Sie rannte in die Küche, stellte die Ketchupflasche weg und kehrte zum Spiegel zurück. »Jetzt die Haare.« Von draußen ertönte ein gedämpfter Schrei. »Alles klar?« fragte Radkappe. »So ein Scheißteil!« sagte Rudge. »Es hat mich gebissen.« Mit äußerster Sorgfalt zog Dot einzelne, lange Strähnen aus ihrer ordentlichen Frisur und ließ sie sich wirr ins Gesicht hängen. »Das reicht.« 70
Dot krümmte sich wie ein altes Weib und verzerrte ihr Gesicht zu einer grausigen Maske. »Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Häßlichste im ganzen Land?« Sie lachte und ging dann humpelnd zur Tür. »Ich komme«, säuselte sie. »Ich komme.« »Und warum mußtest du nun fragen«, murmelte der Spiegel vor sich hin, »wenn du sowieso nicht auf die Antwort wartest?« Er seufzte. So war das Leben als Spiegel, von oben bis unten. Draußen lutschte Rudge an seinem Daumen. »Tritt sie ein!« Er deutete auf die Tür. »Tritt das verdammte Teil einfach ein.« Radkappe hüstelte und machte einen Schritt nach vorn. Er blickte Rudge über die Schulter hinweg an und klopfte vorsichtig. Die Tür schwang auf, soweit die Kette es zuließ. Im Spalt erschien Dots Gesicht. »Ja?« sagte sie mit ihrer kläglichsten Oma-Stimme. »Äh…«, fing Radkappe an. Rudge seufzte, zog seinen Schlips gerade, schob Radkappe zur Seite und verbeugte sich. »Wir sind vom Bezirksamt, Ma’am«, sagte er. »Dürfen wir reinkommen?« »Sie werden sich doch wohl ausweisen können, oder?« fragte Dot und wurde mit jedem Wort zehn Jahre älter. »Ausweisen, Ma’am?« fragte Rudge verwirrt. »Ihren Ausweis. Auf dem steht, wer Sie sind.« »Äh.« Rudge kramte in seinen Taschen und zuckte mit den Achseln. Er blickte Radkappe hilfesuchend an. »Ausweis?« fragte er. »Dann kann ich nicht mit Ihnen sprechen, nicht wahr?« sagte Dot. Sie wollte die Tür zudrücken, aber sie schnappte nicht ein. Obwohl Dot keine Bewegung gesehen hatte, war 71
die Tür von einem Fuß blockiert. Sie blickte Rudge voller Respekt an, und er zwinkerte ihr vertraulich zu. Er war gut, der Junge, sehr gut. Und er wußte es. »Seien Sie brav und verhalten Sie sich Ihrem Alter entsprechend«, sagte er. Er drückte gegen die Tür. »Machen Sie einfach auf.« Eine plötzliche Bewegung, und Dots Absatz knallte auf Rudges Zeh. Der Schmerz war entsetzlich. »Herrje!« Dot sprang zurück und packte ihren Fuß. »Was haben Sie da drin? Ziegelsteine?« Rudge lächelte. Wer immer Stahlkappen erfunden hatte, verdiente eine Medaille für besondere Verdienste um die Branche. In Rudges Hand tauchte sein Messer auf. »Hey! Warte noch einen Moment!« sagte Radkappe. »Gehen Sie zur Seite!« sagte Rudge. »Wir kommen rein.« Die Türkette war kräftig, konnte aber Rudges Messer nicht standhalten. Mit einem Seufzer gab sie den ungleichen Kampf auf und fiel in Einzelteilen zu Boden. Rudge wandte sich Radkappe zu. »Okay? Fertig?« Radkappe blickte auf das Messer. »Äh«, sagte Radkappe, »normalerweise warte ich draußen, um dann…« Er deutete mit dem Kopf auf das Auto. Rudge lachte bittersüß und schüttelte bedauernd den Kopf. »Freiberufler«, seufzte er. Das Messer verschwand, und Rudge stieß die Eingangstür auf. »Rein mit dir«, sagte er. »Ich werd’ doch nicht wollen, daß du noch mal verschwindest, oder?« Radkappe brachte es fertig, beleidigt auszusehen. »Und außerdem«, sagte Rudge, »kannst du vielleicht noch was lernen.«
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»Also gut!« sagte die helle, jungenhafte Stimme. Er ließ den Motor des Kleinbusses an, während die knochentrockene Stimme auf den Beifahrersitz kletterte. »Irgendwelche Probleme?« »Nein«, sagte die knochentrockene Stimme. Er wandte seine bleiernen Augen der hellen, jungenhaften Stimme zu, und die helle, jungenhafte Stimme spürte sie auf der Seele lasten. »Sollen wir fahren?« Der Kleinbus rollte vorwärts und blieb stehen, um sich in den dichten Verkehr auf der High Street einzufädeln. Die knochentrockene Stimme lächelte kalt, als er den Chor entdeckte. Er war in die Telefonzelle gezwängt, um die eine dünne Stahlkette gewickelt war. »Na, dann los«, sagte die helle, jungenhafte Stimme. »Auf zu Ruhm und Reichtum.« Es folgte eine frostige Pause. »Na gut«, sagte er, verlegen über seinen Ausbruch. »Auf alle Fälle Reichtum, ey?« Die knochentrockene Stimme sagte nichts, sondern lächelte nur. Unter seinem Mantel schmiegte sich die Maschinenpistole an sein Bein, und bei dem Gedanken daran wurde sein Lächeln wärmer. In der Telefonzelle war die Stimmung angespannt. Die Stimmen im Chor sangen nicht mehr einstimmig. Dafür hatten sie etwas Rattenartiges angenommen, was irgendwie mit Streß zusammenhing. »Nimm deinen verdammten Fuß von meiner…« Der Befehl ging in einen Schmerzenslaut über. »Wenn ich die kriege, dann…« »Was? Was willst du dann machen, du schlaues Aas?« »Wenn wir sie kriegen. Wo sind sie hin? Weiß das jemand?« »Sie sind zu der alten Frau, oder? Um sich einen Diamanten zu holen.« »O wie schlau! Klasse, Einstein. Aber wo ist das, hä?« 73
»Weiß jemand, wie sie heißt? Die alte Frau?« sagte die ruhigste der Rattenstimmen. »Wir könnten bei der Auskunft anrufen, genau wie die anderen, wir könnten…« »Hört mal, können wir nicht einfach…« Irgendwo mitten im Gedrängel fing ein Körper an wie wild zu strampeln. Sehr wild. Er kämpfte, wie er plötzlich bemerkte, um sein Leben. Derjenige, der dem wilden Körper am nächsten war, versuchte Abstand zu gewinnen, aber er konnte nirgends hin. Die Wände der Zelle wölbten sich unter dem Druck. Die Kette ächzte und stöhnte und… gab nach. Am Türrahmen entstand ein kleiner Spalt. Widerstrebend sickerte frische Luft herein. Ob sie es nun wollte oder nicht, sie wirkte erleichternd. Zumindest für die, die nahe dran waren. »Hat irgend jemand einen Bolzenschneider dabei?« sagte eine einigermaßen ruhige Rattenstimme. »Ich denke, ich könnte vielleicht…« »Wie heißt die alte Frau? Jemand muß doch wissen, wie sie heißt.« »Bolzenschneider? Hat jemand einen?« Im Herzen des Gedrängels flammte noch einmal der Kampf auf, dann war Stille. Die Jungs legten einige Momente respektvollen Schweigens ein. Dann: »Bolzenschneider?« fragte eine dünne Stimme, und schließlich antwortete jemand. »Hier, Kumpel. Ist aber nur ein kleiner.« Zehn Pfund gehärteter Stahl schlängelten sich zwischen strampelnden Körpern zur Tür durch. »Gib ihn weiter!« »Gib ihn weiter.« Woanders buchstabierte einer der Jungs qualvoll langsam eine Inschrift an der Wand, an die seine Nase gepreßt war. »Heißt das T E - LE - FON - AUS …« 74
»Genau, Einstein. Sag die Nummer. Gebt den Hörer hier rüber. Und kann sich jemand an den Namen erinnern?« Neben der Tür strengte sich einer der Jungs an, die Kette mit dem Bolzenschneider zu erwischen. »Ey, haltet still, ich bin fast…« Es gab einen äußerst befriedigenden Knacks, als die Kette brach und die Jungs auf die Straße schossen. Was für eine Erleichterung. Zwei Körper blieben in der Zelle liegen. Die waren für immer erleichtert. Nur einer war stehengeblieben. Er hielt den Hörer in der Hand und blickte überrascht drein. »Telefonauskunft, welchen Teilnehmer wünschen Sie bitte?« Der Junge erschrak. »Äh«, sagte er mit seiner Rattenstimme. »Wie war der Name bitte?« »Äh…« Rattenstimme steckte seinen Kopf aus der Telefonzelle. »Hey, hört mal her! Wie heißt sie noch mal?« Krümel riß ihr Auto herum, um einer Flut von Körpern auszuweichen, die plötzlich und unerwartet aus einer Telefonzelle stürzten. Es waren Männer. Die meisten waren groß, einige aber klein und rattenähnlich, und sie quollen in einem unaufhaltsamen Strom heraus. Sie ergossen sich auf den Bürgersteig, bis der Haufen von Körpern einen Damm gebildet hatte. Nur der letzte wurde über den Damm hinweg auf die Straße gespült. Hupen dröhnten, Autos gerieten ins Schleudern, Reifen quietschten, und Fahrer hatten die Hände vor die Augen gehoben und beteten, sie wären woanders, an einem ruhigen und friedlichen Ort, sagen wir, in Silverstone während des Grand Prix. Trotz des Durcheinanders gab es nur wenige Zusammenstöße. Die meisten Autos waren ganz gut in der 75
Lage, dafür zu sorgen, intakt zu bleiben. Sie tun ja nichts anderes, wenn man sie sich selbst überläßt. Es sind meistens die Fahrer, die Unfälle verursachen. Aber nur, wenn die Autos es nicht verhindern können. Krümels Auto sah, wie einer seiner Brüder einen Laternenpfahl traf und ein anderer durch die Auslagen eines Zeitungsladens schoß. Natürlich würde man ihnen die Schuld geben. »Am Mittwoch abend«, würde in der Zeitung stehen, »fuhr ein Auto gegen einen Laternenpfahl, während ein anderes von der Straße abkam und in einen Zeitungsladen raste, nachdem…« Aber wann wurde je zur Kenntnis genommen, wenn Autos einfach anhielten? »Die meisten Fahrer blieben ruhig«, würde es weiter heißen. »Sie brachten ihre Fahrzeuge sicher zum Stehen, wodurch sie ernsthafte Verletzungen und größere Schäden vermieden.« Krümels Auto schaute auf den Wirrwarr und dachte über die noch-zu-schreibenden Berichte nach. Das ist ungerecht, dachte es; andererseits ist das ganze Leben ungerecht, oder etwa nicht? Zum Beispiel war Krümels Auto nicht als Rolls-Royce auf die Welt gekommen. »Hü!« sagte Krümel. Das Auto seufzte. Kein RollsRoyce zu sein war eine Sache, aber »Hü«? Lief alles wirklich nur darauf hinaus? »Tripp, trapp«, murmelte es beim Davonfahren. »Tripp, trapp, verdammte Scheiße.« Auch Krümel war nachdenklich. Sie schaute auf den Sitz neben sich, wo Tante Dots Tasche lag und sich nicht rührte. In der Tasche befand sich der Diamant. Wenn Krümel das Glitzern in Tante Dots Augen richtig interpretiert hatte, war der Diamant ein Vermögen wert. Und nicht einfach nur ein kleines Vermögen, sondern ein großes, riesiges, enormes, ernsthaftes Vermögen. 76
Und jetzt gehörte es Krümel. Oder es könnte ihr gehören. Und merkwürdigerweise schien der Gedanke, nachdem er einmal aufgetaucht war, sich zu entfalten und ihren Kopf mit Bildern auszufüllen. Und es waren alles Bilder, die nichts mit Krankenpflege zu tun hatten. Es gab natürlich Schlimmeres als Krankenpflege. Leute, die keine Krankenschwestern waren, wurden nie müde, ihr das zu erzählen. Aber es gab auch Schöneres. Zum Beispiel Sonnenschein. In Tante Dots Tasche war Sonnenschein, und ein kleiner Blick darauf könnte nicht schaden, oder? Nur ein winziger Blick. »Boah!« sagte Krümel leise. Sie war sich nicht sicher, ob sie wirklich etwas hatte sagen wollen. Sie war sich nicht sicher, ob sie wirklich die Tasche hatte öffnen wollen, um den Diamanten herauszunehmen und in sein inneres Feuer zu schauen. Er würde sie fesseln. Das war das Problem. Und sie war nicht sicher, ob das nicht irgendwie verkehrt sein würde. Also sagte sie »Boah!« ganz leise. Und wenn es jemand hörte, dann lag das nicht an ihr. Das Auto hörte es wohl. Es konnte einige Worte hören, noch bevor sie ausgesprochen waren. Zum Beispiel alles, was irgendwie »Stopp« bedeuten konnte. Es fuhr schnell an den Straßenrand, bevor Krümel ihre Meinung änderte. Das konnte Krümel nämlich gut, ihre Meinung ändern.
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6 Behutsam, ganz behutsam stellte Dot ihren Fuß auf den Boden. »Mach die Tür zu«, sagte Rudge zu Radkappe. Radkappe wollte die Tür zudrücken, aber sie klemmte, weil noch die Bruchstücke der Kette auf dem Teppich lagen. Radkappe versuchte, die Teile mit dem Fuß beiseite zu schieben, aber sie blieben in dem schäbigen Teppichflor hängen, und er mußte sich hinknien, um sie einzeln aufzuklauben. Rudge zischte ungeduldig. Dots Fuß schmerzte wie verrückt, aber sonst schien alles in Ordnung zu sein – kein Knochen gebrochen. Sie seufzte leise vor Erleichterung. Nachdem die Sache mit dem Fuß geklärt war, wandte sie ihre Aufmerksamkeit dringenderen Problemen zu. Das dringendste Problem war der Mann in ihrem Flur, der sich mit einem Messer Einlaß verschafft hatte. Er sah äußerst gefährlich aus. Der andere Mann war kein so großes Problem. Ein Ganove, der sich so sorgfältig um ihren Teppich bemühte, war für Dots Gefühl eher ein Kätzchen als ein Tiger. Dot hatte sogar ein bißchen Mitleid mit Radkappe. Wenn er jetzt versuchen würde, die Tür zuzumachen, dachte sie, würde es wahrscheinlich gehen, aber er war immer noch dabei, kleine Metallstückchen aufzusammeln. Sie verweilte kurz bei dem Gedanken, warum so ein nett aussehender Junge in diese Sache verwickelt werden konnte, aber es war nicht die Zeit, dem länger nachzugehen. Im Moment ging es vor allem darum herauszufinden, was »diese Sache« eigentlich war. Als würde sie das nicht wissen. »Was wollen Sie?« sagte sie bebend mit der schwachen Stimme einer alten Frau. »Ich bin nur eine arme alte Frau. Ich habe kein Geld im Haus. Überhaupt keine Wertsachen.« »Das ist schon in Ordnung, meine Liebe«, sagte 78
Radkappe und blickte sie über die Schulter hinweg an. »Wir sind nicht auf Geld aus.« »Halt die Klappe!« sagte Rudge. »Mach die Tür zu und halt die Klappe.« »Und Sie«, er starrte Dot mit finsterem Blick an. »Sie hören auf mit dem Theater. Ich kenne solche Leute wie Sie.« »Ach ja?« bebte Dot. Sie hatte noch nicht die Absicht, ihre Rolle aufzugeben. »Genau!« Rudge trat vor, bis er ganz dicht vor Dot stand. »Nach außen hin die liebe alte Dame spielen, und ehe man sich’s versieht, hat man ein Messer im Rücken.« Rudge schaute Dot direkt in die Augen. Dot starrte zurück. Ein Schimmer von Verständnis sprang von Augapfel zu Augapfel. Dot seufzte und richtete sich auf. »Na gut«, brummte sie und gab zu, daß Rudge gewonnen hatte. »Allerdings würde ich Ihnen nicht in den Rücken stechen. Vermutlich dachten Sie an eine Freundin von mir. Ich benutze einen Knüppel.« Sie glättete ihr Kleid und blickte bedauernd auf die Flecken auf der Bluse, die langsam eintrockneten. »Das ist schon besser«, sagte Rudge. Seine Hand war immer noch in Reichweite des Messers. »Und keine Zicken. Verstanden?« Er warf kurz einen Blick in Radkappes Richtung. »Hat für heute schon genug Leute gegeben, die Zicken machen wollten.« Dot lächelte und hoffte, daß es beunruhigend war. »Alles klar«, sagte sie. »Immer mit der Ruhe.« Sie hob ihre leeren Hände. »Schließlich sind Sie der Profi, und ich bin bloß eine engagierte Amateurin. Und Ihr Messer«, Dot ließ einen respektvollen Unterton anklingen, »das ist schon was Besonderes.« Das Kompliment beruhigte Rudge sofort. Er lächelte sogar. 79
»Finden Sie?« »Ich weiß es.« Dot rieb ihre Hände aneinander. »Wie wär’s mit einer Tasse Tee, während wir die Sache besprechen?« Sie wandte sich an Radkappe. »Und Sie, seien Sie so gut und machen Sie die Tür zu. Es zieht gräßlich.« Radkappe blickte unsicher auf die letzten kleinen Metallteilchen im Teppich. »Ach, lassen Sie das doch. Ich geh’ nachher mit dem Staubsauger drüber«, sagte Dot. Rudge fing Radkappes Blick auf und schüttelte sanft den Kopf. Zum Staubsaugen würde es keine Zeit geben. Radkappe seufzte und beugte sich wieder über seine Arbeit. Wer hätte gedacht, daß eine zerbrochene Türkette so sperrig sein konnte. Es war, als würde sie ihrer Herrin im Tod genauso dienen wie im Leben. Nur, daß sie jetzt die Tür offenhielt, damit die Eindringlinge leichter rausgeworfen werden konnten. Radkappes Gedanken waren näher an der Wahrheit, als er ahnte. Sicherheitsvorkehrungen sind mit einer beinahe hündischen Treue ausgestattet. Alle. Bis auf die Renegaten. »Gut, trinken wir Tee«, sagte Rudge. »Zur Küche geht’s hier lang, oder?« »Zucker?« Dot reichte Rudge seinen Tee. Rudge nahm einen Schluck. »Nein, danke. Ich bin schon süß genug.« Er stellte die Tasse vorsichtig ab. »Ach, es gibt doch nichts Besseres, oder?« Rudge blickte sich in der Küche um. »Schön haben Sie’s hier. Wirklich sehr schön.« »Meinen Sie?« »Ich weiß es.« Dot lächelte. »Also wäre es doch schrecklich, wenn was kaputtginge.« 80
»Ja.« Dot klang nachdenklich. »Wäre es wirklich. Ich würde mich fürchterlich aufregen. Sie denken doch nicht, daß irgendwas kaputtgehen könnte, oder?« Rudge griff nach seiner Tasse, nahm noch einen Schluck und setzte sie wieder ab. »Na ja, das alles…« Aus dem vorderen Teil des Hauses hörte man, wie die Haustür zu- und wieder aufging. Rudge sauste in den Flur. Radkappe riß die Augen unschuldig auf, als Rudge mit dem Messer in der Hand auftauchte. »Ist was?« fragte Radkappe. Er machte die Tür auf und wieder zu. »Jetzt ist es gut, alles fertig. Siehst du?« Er schloß die Tür. »Und ich hoffe«, sagte er, während er an Rudge vorbei in die Küche ging, »daß für mich noch Tee da ist. Der Tag heute, der hatte es in sich.« »Genau.« Rudge steckte sein Messer weg und folgte Radkappe. »Und er ist noch nicht rum, Kumpel.« In der Küche klimperte Radkappe mit den Resten der Kette und blickte Dot fragend an. »Ach, werfen Sie es in den Müll«, sagte sie. »Dahinten, in der Ecke.« »Prima Haushaltshilfe«, knurrte Rudge. Er setzte sich wieder. »Ja«, sagte Dot unschuldig. »Das mag ich an Männern.« Sie wandte sich an Radkappe. »Warum setzen Sie sich nicht einfach hin, und ich gieße Ihnen eine Tasse Tee ein. Sie nehmen bestimmt Zucker.« Radkappe lächelte erfreut. »Ja, bitte. Zwei.« »So, bitte schön.« Dot wandte sich kurz an Rudge. »Zwei Stück Zucker. Süß, wie er ist.« »Ich muß für Kraft sorgen«, sagte Radkappe. »Man weiß 81
ja nie, wann man sie braucht.« »Halt die Klappe.« Rudge stand abrupt auf. »Jetzt haltet die Klappe, alle beide! Ich hab’ die Schnauze voll von dem Geplapper.« »Aber…«, sagte Dot erschrocken. »Ich sagte: Klappe!« Rudge nahm seine Tasse und schleuderte sie an die Wand. Die dicke Flüssigkeit lief in einem orangebraunen Streifen auf den Fußboden. Dot starrte ihn staunend an. »Warum haben Sie denn das gemacht?« Rudge beugte sich vor, und sein Messer zeigte plötzlich auf Dots Herz. »Eine Tasse Tee war angesagt und kein verdammtes Kränzchen. Plapper, plapper, plapper. Wir sind nicht zum Nachmittagstee gekommen. Klar?« Niemand sagte etwas. »Gut.« Rudge entspannte etwas. »Und jetzt. Kommen wir zum Diamanten.« »Diamant?« sagte Dot. Aber zu schnell. Sie verfluchte sich sofort. »Diamant« war das Dümmste, was sie hatte sagen können. Und diese pathetische Unschuldsmiene mit den weit aufgerissenen Augen war die blödeste, die sie hatte aufsetzen können. Rudge würde nun sicher wissen, daß sie wußte, wovon er redete. Und nach dieser Pause würde er wissen, daß sie wußte, daß er es wußte. »So ist es.« Rudge nickte lächelnd. »Diamant. Ich sehe, Sie wissen, worum es geht.« Er machte eine Pause. »Und?« Er war gut. Das mußte sie ihm zugestehen. Aber sie war auch gut. Oder sie könnte jedenfalls gut sein, wenn sie klar denken könnte. Aber dieser Rudge verbreitete genau wie sein Messer eine Atmosphäre, die erstaunlich entmutigend war. Dot griff nach ihrer Tasse, nahm einen Schluck Tee 82
und stellte die Tasse wieder ab. Damit wollte sie Zeit zum Denken gewinnen, aber es geschah nichts weiter, als daß sie sich beim Abstellen der Tasse auf der Untertasse über das Geklapper ärgerte. Dot atmete einmal tief durch. »Und was ist Ihr Interesse daran?« fragte sie. »Schließlich ist er doch nicht Ihr Eigentum oder so was in der Art?« Rudge zog das Messer aus der Gegend um Dots Herz zurück und legte es ganz, ganz sanft an ihren Hals. »Nein«, zischte er. »Er gehört mir nicht.« Er blickte zu Radkappe. »Und ihm auch nicht. Aber wir haben den Auftrag, ihn zu holen. Und was wir dann damit machen, ist unsere Sache, klar?« »Klar«, flüsterte Dot und widerstand dem Wunsch, heftig zu nicken. »Also. Ich frage Sie noch einmal. Was ist damit?« »Nun…« »Ja?« »Sie hätten gerne, daß ich ehrlich bin, stimmt’s?« Radkappe betrachtete die Szene mit leuchtenden Augen. Rudge mochte gut sein, aber die alte Dame war klasse. Nonchalance. Woher wußte sie, daß Nonchalance Rudges wunder Punkt war? »Ja. Seien Sie ehrlich. Das ist das Beste.« »Nun, ich habe ihn nicht.« Rudge dachte darüber nach. Er lächelte. »Aber Sie wissen doch, wo er ist, oder?« »Äh…« »Die Wahrheit, klar?« »Okay.« Dot schluckte und spürte, wie der Kuß der Klinge an ihrer Kehle noch wärmer wurde. »Ich weiß nicht, wo er ist«, sagte sie. Sie schaute Rudge mit festem Blick an und betete, daß 83
Rudge nicht zwischen einer ganzen Wahrheit, die nur halb wahr war, und einer halben Wahrheit, die ganz und gar wahr war, zu unterscheiden wußte. Wenn es so was gab. Wenn sie… Ihre Gedanken schweiften ab. Der Diamant war in ihrer Handtasche, und die Handtasche war in Krümels Auto, und Dot konnte nicht wissen, wo Krümels Auto… Plötzlich schoß ihr ein Gedanke durch den Kopf, der sie so entsetzte, daß sie völlig vergaß, in welcher Zwangslage sie sich befand. »Das kleine Miststück! Sie wird doch nicht…« Doch, sie wird, dachte Dot. Mit zweiundzwanzig hätte Dot den Diamanten auch für sich haben wollen, und Krümel war von demselben Fleisch und Blut. Sie war aus dem gleichen Holz geschnitzt. Dot seufzte. Von der Idee, den Borough für immer zu reinigen, konnte sie sich verabschieden. Na gut. Wie gewonnen, so zerronnen. Und vielleicht, vielleicht war es am besten so. Krümel war jung. Sie würde mehr von dem Geld haben. Und was passiert ist, ist passiert. Dot spürte plötzlich eine Welle von Großzügigkeit in sich aufsteigen, von der ihr ganz warm wurde; sie wünschte ihrer Nichte alles Gute und kehrte mit ihren Gedanken wieder in die Küche zurück. Wärme. Das war’s. Und dann stutzte sie. Warm war ja ganz gut, aber wieso feucht? Sie blickte an sich hinunter. Blut bedeckte das Schulterstück ihres Kleides und fing an, auf den oberen Teil ihres Ärmels zu laufen. »O Gott«, seufzte Dot und fiel ohnmächtig zu Boden. Rudges Messer war so scharf, daß Dot den Schnitt nicht gespürt hatte. Rudge und Radkappe waren beide entsetzt, als sie das Blut aus der kleinen, flachen Wunde an Dots Hals quellen sahen. »Blöde Kuh«, sagte Rudge, der in Panik geriet. »Warum hat sie das denn gemacht?« »Gib mir das Küchenhandtuch«, drängte ihn Radkappe. Er preßte eine Hand fest auf Dots Wunde, und mit der 84
anderen hielt er ihren Kopf, damit sie bequemer lag. »Jetzt besorg mir noch mehr Tücher.« Er rümpfte die Nase über den schmutzigen Lappen, den Rudge ihm gegeben hatte. »Saubere.« Rudge durchsuchte die Küche, zog Schubladen raus, so daß sie krachend auf den Boden fielen, und räumte Schränke aus. »Es gibt keine mehr«, sagte er schließlich. »Ich habe überall geschaut.« Radkappe betrachtete die Verwüstung und seufzte. »Versuch’s oben. Da muß es einen Wäscheschrank oder so was geben.« Als Rudge zurückkam, war Dot wach und hatte sich aufgesetzt. »Ist sie wieder okay?« fragte Rudge. »Was nicht Ihnen zu verdanken ist«, sagte Dot. »Alberne Verbrecherspiele mit Messern!« Rudge schaute belämmert drein. »Mir ist noch nie was schiefgegangen«, murmelte er. »Das kommt davon, wenn man mit Amateuren arbeitet.« Er drückte Radkappe eine Handvoll Wäsche in die Hand und setzte sich hin, um zuzusehen, wie der Freiberufler Dots Wunde versorgte. »Du scheinst Übung zu haben«, sagte er. »Wer fährt«, sagte Radkappe mit besorgter Stimme, »darf die Jungs wieder zusammenbasteln, wenn was schiefgegangen ist.« Er tätschelte Dots Arm. »Das muß genäht werden. Wir bringen Sie ins Krankenhaus, es sei denn…« Er wandte sich zu Rudge um. »Es sei denn, du hast irgendwelche Einwände?« »Der Boß ist zum Krankenhaus gegangen«, murmelte Rudge, der sich in jedem Fall fehl am Platze fühlte, wenn Leute wieder zusammengebastelt wurden. 85
»Dann dürfen wir ihm nicht über den Weg laufen, stimmt’s?« Radkappe wandte sich wieder Dot zu. »Können wir?« »Je eher, desto besser, mein Lieber«, sagte Dot schwach. »Je eher, desto besser.« »Gut.« Radkappe tätschelte noch einmal ihren Arm. »Das heißt, wir bringen Sie umgehend dorthin.« Rudge machte die Haustür auf und trat dann zurück, um Dot, die sich auf Radkappe stützte, vorbeizulassen. Die Prozession war erst ein kleines Stück durch den Vorgarten geschlichen, als sie plötzlich zum Stehen kam. Alle starrten auf Radkappes Auto, beziehungsweise auf das, was von ihm übriggeblieben war. »Aber wir waren doch nicht mal eine Viertelstunde weg!« erregte sich Rudge. Radkappe inspizierte sein Auto. Beziehungsweise das, was von ihm übriggeblieben war. Eine Träne lief ihm die Wange hinunter. »Ich hab’ doch gesagt, der Fahrer muß dableiben und aufpassen«, murmelte er. »Verdammter Stümper.« Radkappes Auto war das schärfste Fluchtauto der Metropole gewesen. Jetzt war es nur noch eine Blechruine. Ganze Arbeit. Totalabschreibung. Er wandte sich an Rudge. »Und? Was jetzt?« »Hm«, sagte Rudge. Er dachte angestrengt nach. »Ein Taxi rufen.« Ganz am Ende von Dots Straße kommt ein Kleinbus lärmend um die Ecke gerast. Die Reifen quietschen, der Motor heult, und die Radaufhängung beschwert sich, während sie ihr Bestes gibt, um den Fahrer daran zu hindern, das Auto auf die Seite zu kippen. Mit Mühe landet der Wagen wieder auf allen vieren und hetzt auf Dots Haus 86
zu, so daß der Asphalt Blasen schlägt. Rudge hört es, blickt hoch und schaut ihm entgegen. Irgendwas kommt ihm bekannt vor, aber was, weiß er auch nicht, in jedem Fall aber verheißt es nichts Gutes. »Oje«, sagt Radkappe, aber Rudge hat’s jetzt, und er weiß, was Sache ist. Es ist eine Krise. Rudge kann eine Krise auf hundert Meter erkennen. Das ist, ehrlich gesagt, nicht schwierig, weil sich die Welt plötzlich in Zeitlupe bewegt. Und für Rudge spielt es keine Rolle, daß Zeitlupe lediglich ein Trick der Natur ist, damit sein Gehirn mit schnellen Vorgängen Schritt halten kann. Rudge ist stolz auf diese Fähigkeit. Rudge schaut gebannt zu, wie sich die Dinge entwickeln, sich unendlich langsam entwickeln. Der weiße Kleinbus ist hundert Meter entfernt, und Rudge überlegt. Was kommt mir daran so bekannt vor? fragt er sich. Der Bus ist fünfzig Meter entfernt. Rudge überlegt immer noch. Ach ja. Ich hab’s. Die Gesichter hinter der Windschutzscheibe sind bekannt. Es ist der Bus für die Jungs vom Boß. Vierzig Meter. Das sind Schweine, die beiden. Von all den Jungs, die der Boß hat – gute Kumpels die meisten –, könnte man diese beiden im Leben nicht als »Freunde« bezeichnen. Dreißig Meter. Trotzdem merkwürdig. Die Gesichter sehen noch fieser aus als sonst.
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Fünfundzwanzig Meter. Noch was ist merkwürdig. Warum gucken sie auf die alte Frau? Zwanzig. Rudge wendet den Kopf. Die alte Frau sieht, wie die Jungs gucken. Sie hat Angst. Fünfzehn. Kopf zurück. Noch was ist merkwürdig. Wieso nur zwei? Zehn. In ihren Augen steht Gier. Die Schweine arbeiten auf eigene Kappe. Fünf. Rudges Augen füllen sich mit Verachtung. Vier. Sein Gesicht verzieht sich zu einem hungrigen Lächeln. Drei. Schweine. Na, denen wird er’s zeigen. Zwei. Zieh! Einer. »KEINE BEWEGUNG !« Eine knochentrockene Stimme. »Nicht mal in Gedanken!« Eine Stimme, die die Hölle gefrieren lassen würde. Rudges Hand ist auf halbem Weg zu seinem Messer, aber aus dem Fenster des Kleinbusses guckt eine Maschinenpistole. Das Rohr ist schmutzig. Rudge blickt direkt darauf. Er überlegt. Geringe Chancen. Kämpfen? Oder weglaufen? Die Hände hoch. Ganz langsam. 88
Erst überleben, später kämpfen. »Brav, Rudge. Braver Junge. Langsam. Du hast es.« Die Tür vom Kleinbus geht auf. Die Pistole bleibt auf Rudges Brust gerichtet. Die knochentrockene Stimme steigt aus. Seine Bewegungen sind ruhig und geschmeidig wie die einer Schlange, die zubeißen will. Die Tür des Kleinbusses schlägt zu. »Also. Dreh dich um. Genau so. Und geh. Zurück zur Tür. Genau. Und ihr beiden auch.« Alte Frau und Freiberufler hinter mir. Flur dunkler als draußen. Also, Silhouetten im Eingang. Okay. Nach dem Messer greifen, auf ein Knie fallen lassen, ein Wurf, nur eine Chance, an der alten Frau vorbei, am Freiberufler vorbei… Schwierig. Ja, sauschwer. Aber nicht unmöglich. Jetzt! Die helle, jungenhafte Stimme kommt als letzter. Die Haustür schlägt zu. Nach dem Lärm draußen ist es im Haus still. Und dunkel. In der Dunkelheit seufzt ein Punkt noch tiefer als das Nachtdunkel und fegt in einer tödlich geraden Linie durch die Luft. Das Mündungsfeuer eines einzelnen Schusses erleuchtet den Flur. Bilder taumelnder Gestalten brennen sich in widerstrebende Netzhäute. Der Schmerzensschrei klingt nach dem Schuß nahezu gedämpft, und dann ist es still. Wieder.
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7 Im Borough vertiefte sich die früh einsetzende Dämmerung. Krümel saß in ihrem kleinen Auto, betrachtete den Diamanten auf ihrem Schoß und staunte. Es war eigentlich nur ein Kristall, nicht größer als ein Tennisball. Wie konnte er nur so unermeßlich wertvoll sein? Sie starrte unablässig tief in sein Inneres. Anfangs spürte sie noch, wie sein Zauber auf sie wirkte. Es ist nur ein Kristall, sagte sie sich, als wären Worte ein Talisman, der den Zauber fernhalten könnte. Aber der Diamant war mehr als ein Kristall, und er hatte schon größere Seelen als die von Krümel verzaubert. Wie, überlegte Krümel, während der Diamant sie immer stärker in seinen Bann zog, wie könnten sich Leute je von diesem Diamanten trennen, was auch immer der Preis sein mochte? Und da spürte sie den Zauber schon nicht mehr. Sie war in ihm gefangen. Bestimmt hätte sie die Information interessiert – und auch geängstigt –, daß in all der Zeit, in der der Diamant von einer Hand in die nächste gewechselt war, er nicht einmal verkauft worden war. Auf diese Leistung war er stolz. Und soviel er wußte, hatte es kein anderer Edelstein so weit gebracht. Wer den Diamanten in die Hand nahm, dem gehörte er; bezahlt wurde mit Blut, nicht mit Gold – und zwar meistens hinterher. Krümel hielt den Diamanten erneut ins schwache Licht des Wageninneren. Der Kristall war klar – makellos war wahrscheinlich das richtige Wort dafür, nahm sie an –, und doch war dieser kalte, leere, weiße Raum beschwörend und verzaubernd und… alt. Er war uralt. Noch bevor der erste Schliff erfolgt war, der den Diamanten aus seinem natürlichen grauen Steinmantel gerissen hatte, war diese Perfektion schon dagewesen. Vor den Menschen war sie dagewesen. Vielleicht sogar bereits 90
vor dem Beginn des Lebens. Krümel hielt den Diamanten gegen das Licht. Er blendete sie. Sie schloß die Augen, und er blendete sie immer noch. Er erstaunte und faszinierte sie und nahm ihr den Atem. Eigentlich war Krümel von Natur aus nicht gierig. Sie war klug, hübsch, lebhaft und hatte eine schnelle Auffassungsgabe. Sie hätte so gut wie alles sein können, was sie wollte, und trotzdem war sie Krankenschwester. Also stand bei ihr Geld eindeutig nicht an erster Stelle, und wenn ihr jetzt habgierige Gedanken kamen, so waren dies Gedanken, die außerhalb ihres Schädels geboren wurden. Der Diamant gehörte ihr. Krümel hatte ihre Hand um ihn geschlossen. Wer ihn in der Hand hält, dem gehört er auch, dachte sie entzückt. Der Diamant gehörte ihr, und wie sie ihn so in der Hand hielt, wußte sie, daß sie alles, was sie wollte, haben und behalten konnte, einfach so. Der Diamant gehörte ihr, und als Krümel ihn sich vors Gesicht hielt und seine Schönheit auf sie fiel, wußte sie, daß sie nicht mehr einfach nur hübsch war. Sie war mehr als schön geworden. Sie war… Sie suchte nach einem Wort und hatte schon eins zur Hand. Makellos. Der Diamant gehörte ihr. Sie drückte ihn an ihre Brust und empfing seine Wärme. Die Kälte der Unsicherheit war verschwunden. Sie drückte ihn an den Bauch und spürte seine Hitze, und sein flüssiges Feuer strömte in sie und füllte sie aus, bis sie wußte, daß sie nie wieder Kälte empfinden würde – weder die Kälte der Einsamkeit noch die der Trauer noch die der Furcht noch die des Alters und nie, niemals die Kälte des Todes. Dieses Ding hatte schon ewig gelebt. Und es gehörte ihr. In Dots Flur ging das Licht an. Augen blinzelten in den grausamen elektrischen Schein und betrachteten das Chaos 91
ringsum. Die helle, jungenhafte Stimme war mit dem Messer durch den Arm an der Tür festgeklemmt. Rudge lag auf dem Teppich, und auf seiner Stirn prangte eine Beule von der Größe eines kleinen Hühnereis. Die knochentrockene Stimme saß vor Radkappe, hatte seine Pistole in Radkappes Nacken gedrückt und achtete darauf, daß Radkappe keine Anstalten machte zu fliehen. Doch er war nicht mit ganzem Herzen bei seiner Arbeit. Der einzelne Schuß, den er hatte abgeben können, hatte sich zu früh gelöst und den kleinen Zeh seines linken Fußes abgetrennt. Wahrscheinlich, erwog die knochentrockene Stimme, hatte sein Fuß noch mehr abgekriegt, denn er trug Arbeitsschuhe. Alle Jungs vom Boß trugen Arbeitsschuhe. Sie schützten die Füße, wenn es Streß und Aufregung gab, aber sie hatten auch ihre Nachteile. Zum Beispiel, wenn Hochgeschwindigkeitsgeschosse die Stahlkappen durchbohrten. Das waren Komplikationen, die vom Arbeitsschutz nicht bedacht worden waren. Dot hatte immer noch die Hand am Lichtschalter und betrachtete die Szene vor sich. »Ach, du liebe Güte«, sagte sie. »Ach, du liebe Güte.« Sie ging ruhig den Flur entlang und betrachtete den blutenden Fuß der knochentrockenen Stimme. Das Blut versickerte im blaßgrauen Flor ihres Teppichbelags. »Da müssen wir uns drum kümmern.« Ihre Stimme war freundlich und warm. »Und.« Sie berührte die helle, jungenhafte Stimme am Arm. »Darum.« Vorsichtig zog sie das Messer aus der Tür, ließ es aber in der Wunde, weil sie nicht wußte, was sie sonst hätte tun können. Die helle, jungenhafte Stimme seufzte und rutschte langsam zu Boden, wobei er die weiße Wand mit Blut beschmierte. Dot ging zurück zur knochentrockenen Stimme, die nichts gesagt hatte. Sein Gesicht war sehr grau, und er 92
starrte immer noch stumpf auf Radkappe, der vor ihm lag. Radkappe konzentrierte sich darauf, absolut stillzuhalten. Sanft, mit äußerster Vorsicht nahm Dot der knochentrockenen Stimme die Pistole aus den schlaffen Händen und legte sie im Regenschirmständer ab. »So«, sagte sie forsch, als sie das getan hatte, »jetzt brauchen wir alle erst mal eine schöne Tasse Tee.« Beim Klang von Dots vertrauten Worten fing Radkappe an zu kichern. Die knochentrockene Stimme schien ihn nicht weiter zu beachten, also rollte sich Radkappe auf den Rücken, aus seinem Kichern wurde ein Lachen, ein lautes und wildes Lachen. Es klang nicht glücklich. Der Tag war zu heftig gewesen. Rudge stöhnte und setzte sich auf, die Hände an den Kopf gepreßt. »Wir sind nicht zum Nachmittagstee hierhergekommen, verdammt noch mal«, murmelte er. Dann: »Was ist passiert?« Er sah sich um, und sein Blick blieb an Radkappe hängen. »Und du kannst auch die Klappe halten«, sagte er. Radkappe lachte weiter, Rudge lehnte sich vor und schlug einmal kräftig zu. Dann war es still. »Ich habe gesagt, du sollst die Klappe halten, oder?« Rudge blickte sich weiter um und entdeckte Dot. »Ach. Sie schon wieder. Und wie geht es Ihnen?« sagte er. Dot nestelte an dem Verband, den Radkappe um ihren Hals gewickelt hatte. »Es spannt ein bißchen, aber…« Sie nickte Radkappe zu. »Wenn das so sein muß, dann geht’s mir soweit gut.« »Sie muß genäht werden.« Radkappe richtete sich auf. »Sie muß ins Krankenhaus, sie braucht Ärzte, Schwestern.« Er deutete mit dem Kopf auf die nunmehr stillen Stimmen. »Und die auch. Und keinen Tee. Nichts in den Magen. Falls Sie operiert werden müssen.« »Hör sich den einer an! Der Freiberufler spielt den 93
Onkel Doktor.« Rudge stand schwankend auf und hielt sich den Kopf. »Und was empfehlen Sie für den Kopf, bitte schön?« »Aspirin.« Dot lachte. »Der gibt einen guten Arzt ab.« »Genau«, schnarrte Rudge. »Der bringt jeden Arzt zum Weinen.« Er stolperte über den Körper der knochentrockenen Stimme, der über den Boden rollte. »Er ist ohnmächtig geworden«, sagte Dot überflüssigerweise. »Den können Sie vergessen.« Rudge stieß mit dem Fuß an den liegenden Mann. »Und den auch.« Rudge riß sein Messer aus dem Arm der hellen, jungenhaften Stimme. Bei der Vorstellung, wie weh das tat, zuckten Radkappe und Dot zusammen und schauten Rudge an. Die helle, jungenhafte Stimme verlor die Besinnung, und die entstöpselte Wunde fing an zu bluten. »Was glotzt ihr mich so an?« fragte Rudge. »Als wäre ich eine Art Krimineller oder so was.« Dot schniefte und blickte zu Radkappe. »Der Arm da.« Sie nickte kurz zur hellen, jungenhaften Stimme. »Sollten Sie da nicht was tun?« »Äh.« Radkappe schaute immer noch Rudge an und war für einen Moment durcheinander. »Oh. Ja. Ja, ich binde ihn ab. In der Küche ist noch was von dem Zeug.« Er lief los, um die restlichen Wäschestücke zu holen, die Rudge aus dem Schrank geholt hatte. Als Dot nun mit Rudge alleine war, musterte sie ihn nachdenklich. Rudge hatte das ungute Gefühl, an Boden verloren zu haben; er spannte seine Schultern, machte einen Schritt vorwärts und räusperte sich, um etwas zu sagen, doch Dot kam ihm zuvor. 94
»Jetzt passen Sie mal auf. Ich weiß wirklich nicht, wo er ist«, sagte sie entschieden. »Der Diamant, meine ich. Also kann ich nichts für Sie tun, und vielleicht sollten Sie jetzt einfach gehen, ja? Ich kümmere mich um das hier.« Ihr Blick erfaßte das Chaos ringsherum. Rudge wollte erneut etwas sagen, aber Dot sprach ungerührt weiter. »Und was den betrifft«, sie deutete mit dem Kopf Richtung Küche, »vergessen Sie den doch einfach. Lassen Sie ihn von der Leine. Egal, an was für einer Leine Sie ihn haben. Gehen Sie nach Hause. Kein Stein ist es wert, daß noch mehr solche Dinge geschehen.« Rudge schüttelte den Kopf. »Ich hab’ das Schwein schon mal laufen lassen. Und ich glaube auch nicht, daß Sie gar nichts für mich tun können.« Er wedelte mit seinem Messer, um zu unterstreichen, was er sagte. »Also. Vielleicht wissen Sie ja nicht, wo der Diamant ist, aber Sie wissen, wer ihn hat, und ich weiß das auch. Es ist das Vögelchen, mit dem Sie vorhin zusammen waren.« Radkappe kam mit einem Stapel Wäsche zurück in den Flur. Weder Dot noch Rudge schenkten ihm Beachtung. »Passen Sie auf.« Dots Entschiedenheit bekam einen bitteren Unterton. »Sie haben gehört, was Ihr Freund gesagt hat. Wir müssen dafür sorgen, daß die Wunden dieser Männer genäht werden. Es ist wichtig, daß sie ins Krankenhaus gefahren werden. Und ich.« »Hier geht’s nur um eins«, sagte Rudge, »nämlich, daß einer der Männer hier nicht einfährt. Ich.« Er wandte sich zu Radkappe um, der den Arm der hellen, jungenhaften Stimme verband. »Bist du fertig?« Radkappe nickte widerstrebend. »Er wird’s überleben, nehme ich an.« »Prima.« Rudge schob die helle, jungenhafte Stimme zur Seite und machte die Haustür auf. »Rein in den Bus. Die 95
alte Dame wird uns zu dem Vögelchen führen, mit dem sie hergekommen ist. Sie ist diejenige, die den Diamanten hat. Stimmt doch, oder?« Radkappe warf Dot einen Blick zu. Sie war jetzt in sich zusammengesunken, als wäre ihr die Wirbelsäule herausgenommen worden. »Siehst du?« sagte Rudge. Er stieß sein Messer Richtung Tür. »Also raus mit euch. Alle beide. Ich komme direkt hinter euch her.« »Aber was wird mit den beiden?« In Radkappes Stimme schwang echte Besorgnis mit. »Die können sich um sich selbst kümmern. Los jetzt, bewegt euch!« Radkappe, Rudge und Dot gingen durch die Haustür hinaus. Hinter ihnen, im Flur, stöhnte eine am Boden liegende Gestalt. Und bewegte sich. Jenseits der Haustür war aus der frühen Dämmerung ein stockfinsterer Abend geworden, den die Straßenlaternen kaum aufhellen konnten. Also sahen Radkappe und Dot erst, als sie unmittelbar neben dem Minibus standen, in welchem Zustand er war. Doch sobald sie es sahen, war Radkappe wütend. »Schweine!« sagte er. »So geht man nicht mit ordentlichen Autos um.« Dot blickte Radkappe in die Augen. »Ja, Mistkerle.« Sie lächelte. »Aber Sie müssen auch mal die positive Seite betrachten, oder?« Radkappe guckte verwirrt. »Worauf wartet ihr?« sagte Rudge hinter ihnen. Dann, als er selber sah, in welchem Zustand der Minibus war: »Mistkerle! Hinterhältige, gottverdammte Mistkerle!« »So ist es«, sagte Dot freundlich. »Aber was jetzt?« 96
»Zurück ins Haus«, sagte Rudge. Er überlegte blitzschnell. »Wir rufen ein Taxi und warten.« Dot lachte. »Hierher ein Taxi rufen?« fragte sie. »Wir können’s versuchen«, schnarrte Rudge. Er drehte sich zum Haus um. »Los, kommt, rein mit euch.« Rudge betrat den hell erleuchteten Flur. »KEINE BEWEGUNG !« sagte die knochentrockene Stimme. »Nicht mal in Gedanken!« Krümel war von dem Diamanten gefesselt. Sie konnte es kaum ertragen, ihn wieder aus der Hand legen zu müssen. Aber sie konnte nicht ewig hier sitzen bleiben. Sie mußte weg. Sie mußte nachdenken. Es gab gewisse praktische Dinge zu bedenken, wenn man plötzlich reich wurde. Ohne wirklich zu verstehen, wie es geschehen war, hatte Krümel ihre Entscheidung getroffen. Der Diamant gehörte ihr. Sie legte ihn liebevoll neben sich auf den Sitz und übernahm wieder die Herrschaft über ihr Auto. »Auf geht’s«, sagte sie, und das Auto fädelte sich mit einem Seufzer in den nun regen abendlichen Berufsverkehr. Um Krümels Auto herum dröhnten Hupen und blitzten Scheinwerfer auf. Sie schaute nach hinten, um zu sehen, was den Verkehr so in Alarm versetzt hatte, aber erst als ein Auto neben sie fuhr und ein unglaublich attraktiver junger Mann sein Fenster runterkurbelte, erfuhr sie, was los war. »Licht!« brüllte er. Durch das geschlossene Fenster konnte Krümel nichts hören. Also kurbelte sie ihr Fenster herunter. »Licht!« brüllte der junge Mann noch einmal. Er fuhr mit einer Hand und fuchtelte mit der anderen aggressiv herum. »Licht, du blöde Kuh.« Dann sah er Krümels Gesicht zum ersten Mal deutlich. 97
»Mann!« sagte er anzüglich grinsend. »Was machst du denn heute abend?« Er lachte hämisch, und Krümel kurbelte ihr Fenster hoch und schaltete das Licht ein. Sie zitterte vor Zorn und Furcht. Hinter ihr fing das Signallicht auf dem Dach eines Polizeiautos an zu flackern, und eine Sirene heulte kurz auf. Krümel trommelte frustriert mit dem Daumen auf ihrem Lenkrad herum, obwohl das nun wirklich keine Schuld hatte. »Boah!« sagte sie bitter, und das Auto fuhr gehorsam an den Straßenrand. Das Polizeiauto blieb dahinter stehen. Ohne darüber nachzudenken, warf Krümel einen kontrollierenden Blick in den Spiegel. Doch dann, als der Polizist zu ihrem Fenster kam, erspähte sie aus den Augenwinkeln den Diamanten. Er saß auf dem Beifahrersitz, riesig, nackt und unübersehbar. Und als sie plötzlich Angst bekam, erwischt zu werden, fiel ihr ein, daß er gestohlen war. Ein einziger Augenblick genügt, um den Fehler zu machen, in Panik zu geraten, und Krümel machte ihn in dem Augenblick. »Ab die Post!« sagte sie zum Auto. »Mach, daß du los kommst, um Himmels willen.« Das Auto spürte Krümels Panik und startete mit quietschenden Reifen, was ihm selbst am meisten imponierte. »Schleudermeister!« gluckste es. »Ich! Schleudermeister.« Aber es ließ sich nicht von der Großartigkeit des Moments hinreißen. Ein Verfolgungsrennen bei hoher Geschwindigkeit im Berufsverkehr bedarf großer Präzision und eiskalter Nerven, und Krümel zeigte keines von beidem. Es blieb alles an dem kleinen Auto hängen. Die Polizei war noch nicht losgefahren, stellte das Auto durch seinen Spiegel fest, so daß es zunächst die Führung übernahm, aber es gab sich nicht der Illusion hin, daß es 98
diesen Platz lange einnehmen würde, selbst wenn der Verfolger nur ein Panda war. Einen Sprint könnte es vorlegen, und, bemerkte es bald, in einem schnellen Sprint befand es sich bereits. Weiter vorne verlangsamten ein Lastwagen und ein Bus ihre Fahrt und fuhren näher aneinander heran, um an der roten Ampel zu halten. Wenn es gelänge, sich vor die beiden zu setzen, überlegte das Auto, würde die Polizei eine Weile lang blind sein. Dann konnte es fahren, wohin es wollte, ohne gesehen zu werden. »Halt dich fest!« brummte es grimmig. Krümel guckte ungläubig, als sie durch die schmale Lücke zwischen den beiden Giganten der Landstraße geführt wurde. Es war nicht genug Platz. Sie trat mit Macht auf die Bremse, aber die funktionierte nicht. »Zu spät, wir stecken mittendrin«, knurrte das Auto, »guck weg, wenn du’s nicht sehen willst.« Krümel schloß die Augen. »So ist’s brav. Überlaß das nur mir.« Das kleine Auto floh. Nichts krachte, kein Metall knirschte, es gab keine fürchterlichen Schmerzen und keine endgültige Dunkelheit. Was im großen und ganzen in Ordnung war, dachte Krümel, obwohl ihr der Gedanke an endgültige Dunkelheit im Moment recht verlockend erscheinen wollte. Sie spürte, wie das Auto nach links schlingerte, dann noch einmal nach links schwenkte und schließlich stehenblieb. Der Motor schaltete sich selbst aus, und dann war es still. Irgendwo, nicht weit entfernt, heulte eine Polizeisirene auf, verhallte und erstarb. Krümel schlug die Augen auf. »Danke«, flüsterte sie, ohne zu wissen, wen sie meinte. »Nichts zu danken«, sagte das Auto, und obwohl Krümel das nicht hören konnte, fühlte sie sich ruhiger. Neben ihr 99
schimmerte das gedämpfte Licht des Diamanten durch die Dunkelheit. Krümel nahm den Diamanten hoch, weil sie mehr denn je seiner Wärme bedurfte. Aber da war keine Wärme. Der Stein war kalt. Die Kellertür schlug zu, und dann war es dunkel. Ein Schlüssel drehte sich im Schloß, und schwere Schritte stiegen eine hölzerne Treppe hinauf und humpelten über den Flur. »Schweine«, fluchte Rudge. »Schleimige, hinterhältige, verdammte Schweine.« Während er sprach, tappte er im Dunkeln herum, um seine Umgebung zu erkunden, wurde aber jäh unterbrochen, als er über so etwas wie eine Fußangel stürzte. Er jaulte vor Schmerzen. »Da haben Sie wohl den alten Kohleneimer gefunden«, sagte Dot. »Ich weiß auch nicht, warum ich den immer noch aufhebe, wo ich doch Zentralheizung habe. Aber egal, rührt euch nicht vom Fleck, ja? Hier gibt’s irgendwo einen Lichtschalter.« Erst war ein Rascheln zu hören, als Dot sich vorsichtig an der Wand entlangtastete, dann ein Klappern, als Rudge sich aus dem Eimer befreite. Das Klappern hörte plötzlich auf. »Scheiß drauf«, sagte Rudge. »Ich hab’ die Schnauze voll.« »Wovon?« fragte Dot leicht irritiert. »Von der Jagd auf den Diamanten, meinen Sie?« »Von der ganzen beschissenen…« »Ah, hier ist er. Vorsicht mit den Augen, es ist ziemlich grell.« Ein Klicken war zu hören. Unvermittelt blitzten zweihundertfünfzig Watt in den kleinen, stickigen Keller. »Verdammte Scheiße!« sagte Rudge. Er saß auf dem Boden, ein Fuß steckte in dem Kohleneimer. »Sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt.« 100
Dot saß auf einem rostigen Bettgestell und blickte Rudge und Radkappe an. »Und? Was jetzt?« fragte sie fröhlich und lächelte. Rudge befreite sich aus dem Kohleneimer und schob ihn unters Bett. »Na, was wohl?« schnarrte er. »Wir lassen uns Flügel wachsen und fliegen weg.« »Oh, tut mir leid, daß ich gefragt habe, wirklich«, sagte Dot. Sie wandte sich an Radkappe. »Sie sind sehr still.« »Was meinst du damit?« Radkappe stand auf und baute sich vor Rudge auf. »Von wegen du hast die Schnauze voll?« »Ach, ich weiß nicht«, sagte Rudge. Er fuhr mit dem Finger durch den Staub auf dem Boden und starrte vor sich hin. Radkappe ging in die Hocke. »Was? Bist du nun noch hinter dem Diamanten her oder nicht?« »Ich weiß nicht«, sagte Rudge. »Ich habe nachgedacht. Wir kommen überhaupt nicht vorwärts und…« Er blickte auf und starrte Radkappe kalt in die Augen. »Und da hab’ ich mir gedacht, ich sollte einfach weitermachen und das vollenden, wofür ich eigentlich zurückgeschickt worden war.« Der Diamant war kalt. Krümel starrte ihn an, als käme er aus einem Traum. Natürlich war er kalt. Was denn sonst? Es war ein Brocken Stein. Einmal war er warm gewesen, schien ihr. Und sie… Sie hielt inne, weil ihr üble schwarze Blasen durch den Kopf blubberten. Sie waren nicht hübsch, keine einzige davon. Sie hatte den Diamanten behalten wollen. Bei dem Gedanken an diese verrückte Idee mußte sie grinsen. Ihr Gesicht strahlte vor Vergnügen, wie die Gier es nie hatte strahlen lassen. Krümel konnte sich nicht mehr vorstellen, 101
wozu der Diamant hätte gut sein sollen. Hätte sie ihn tragen können? Wußte sie, wie man ihn verkaufte? Oder wem sie ihn verkaufen sollte? Gehörte er überhaupt ihr? Sie war ohne Licht gefahren. Ein arrogantes Arschloch hatte ihr Angst eingejagt. Sie war vor der Polizei geflohen und war beinahe zwischen einem Bus und einem Lastwagen zerquetscht worden. Und dabei hatte sie das Ding erst seit einer Stunde. Wenn sie es einen ganzen Tag lang hätte, würde sie im Gefängnis landen. Oder tot sein. Es war Wahnsinn. Und Wahnsinn trat in Form von schwarzen Blasen auf. Aber die waren jetzt zerplatzt, und Krümel war wieder bei Sinnen. Tantchen Dot hatte Krümel gebeten, den Diamanten eine Weile zu verstecken, bis sich die Aufregung über seinen Diebstahl gelegt haben würde. Natürlich war das kriminell, und das wußte Krümel auch, aber Dot zu helfen konnte niemals ein Verbrechen sein. Tantchen Dot brauchte alle Hilfe, die sie kriegen konnte. Außerdem, wenn Tante Dot sagte, sie würde den Diamanten verkaufen und das Geld benutzen, um aus dem Borough einen saubereren, besseren Stadtteil zu machen, glaubte ihr Krümel das auch. Also war es besser, den Diamanten zu behalten, als ihn Harry Devine zurückzugeben. Und dessen Blasen würde das auch nicht guttun. Nachdem sie die moralische Frage zu ihrer vollen Zufriedenheit gelöst hatte, fuhr Krümel rückwärts aus dem Hof eines Weinhändlers, ohne daß sie gewußt hätte, wie sie dorthin gekommen war, und setzte ihre Fahrt in aller Ruhe fort. Als erstes mußte sie den Diamanten verstecken. Dann zu Tantchen Dot fahren, um ihr zu berichten, daß alles in Ordnung war. Und dann nach Hause. 102
Ein ruhiger Abend und früh zu Bett, das brauchte sie jetzt. Es war ein anstrengender Tag gewesen. Radkappe blieb vor Rudge hocken. Er hüstelte nervös, schaute erst auf den Boden, dann wieder Rudge in die Augen, aber dort war kein Trost zu finden. »Sag das noch mal«, sagte Radkappe. »Ich möchte mir darüber im klaren sein.« »Ich habe gedacht, ich sollte aufhören rumzueiern und das vollenden, was ich eigentlich vorhatte«, sagte Rudge. »Dachte ich mir’s doch.« Radkappe richtete sich auf. »Hör zu. Du wolltest, daß ich die alte Frau finde, stimmt’s?« »Genau. Stimmt. Und dann hast du sofort versucht abzuhauen.« »Tja.« Radkappe lächelte reuevoll. »Das kann ich nun mal am besten.« Rudge erwiderte das Lächeln nicht. »Jedenfalls habe ich die alte Frau gefunden. Und sie wußte von dem Diamanten. Sie hatte ihn sogar gehabt, also war’s ein ziemlich guter Treffer. Und es ist nicht meine Schuld, daß sie ihn nicht mehr hat. Ist doch so, oder?« »Red nur.« »So war’s abgemacht. Wir haben uns die Hand drauf gegeben.« Rudge lachte. »Stimmt. Das haben wir getan. Ganovenehrenwort.« Rudge stand auf und trat bedrohlich nah an Radkappe heran. »Aber, wie gesagt, du bist abgehauen.« Er deutete mit dem Kopf zu Dot hinüber. »Genau wie ihr das Mädchen abgehauen ist.« »Das wissen wir nicht«, sagte Dot. »Vielleicht tut sie auch, was ich ihr gesagt habe. Ihn für mich aufbewahren.« 103
Rudge seufzte. »Genau wie du’s getan hättest, an ihrer Stelle.« Er wandte sich wieder an Radkappe. »Also…« Radkappe griff an. Seine Hände schossen vor und packten Rudge an der Gurgel. Sie drückten zu und drückten zu. »Tut mir leid«, sagte Radkappe, und er klang wirklich traurig. »Ach, hören Sie doch auf«, sagte Dot. »Das bringt doch auch nichts, oder?« Aber Rudge und Radkappe waren anderweitig beschäftigt. Rudge kämpfte um sein Leben, doch da er kleiner war als Radkappe, hatte er eine kürzere Reichweite. Dot sah, wie sein Widerstand nachließ. Er war auf den Knien. Er röchelte. »Die Worte kann ich mir sparen«, sagte Dot. Unter Schmerzen stand sie auf, drückte den Verband an ihrem Hals fest und ließ sich steif auf den Boden herunter. »Dabei fühle ich mich, als hätte mich jemand durch die Mangel gedreht«, klagte sie. Vorsichtig langte sie nach dem Eimer unter dem Bettgestell. Sie packte ihn am Griff, zerrte ihn hervor, richtete sich auf, wandte sich um, hielt den Eimer fest in beiden Händen und hob ihn hoch. Radkappe bemerkte, was sie vorhatte. »Nein«, sagte er, als der Eimer an seinen Schultern vorbeisauste. Radkappe blickte Rudge verzweifelt an. Die Augen des kleinen Mannes waren weit aufgerissen, starr und blicklos, aber er war noch am Leben. Und gefährlich. Radkappe konzentrierte sich wieder auf den Eimer. »Nicht doch«, sagte er, als der Eimer über seinem Kopf aufragte. »Nein!« schrie er und ließ Rudge los, aber es war zu 104
spät. Dot ließ den Eimer mit aller Wucht auf Radkappes Handgelenke fallen. Klappernd schlug der Henkel an den Eimer. »Jesus!« Radkappe stopfte seine Hände unter seine Armbeugen, wirbelte einmal herum und ließ sich aufs Bettgestell fallen. »Jesus, Maria und Josef.« »Tja«, sagte Dot. »Lassen Sie sich das eine Lehre sein.« Sie schaute zu Rudge hinüber. Der krümmte sich am Boden und hielt sich die Kehle. Dot drohte klappernd mit dem Eimer. »Und bei Ihnen ist jetzt auch Schluß mit dem Blödsinn. Verstanden?« Rudge konnte nicht sprechen, aber er nickte so eifrig, wie er konnte. Dot setzte sich neben Radkappe. »Also gut«, sagte sie fröhlich, »wie gesagt, was machen wir jetzt?« Weder Rudge noch Radkappe antworteten. Jeder hing seinen eigenen Gedanken nach. »Na gut«, fuhr Dot fort. »Ich werde euch sagen, was ich tun werde. Ich will diesen Diamanten, klar? Ich will das Geld, das er einbringt, weil ich mit diesem Geld Gutes tun kann.« »Wer könnte das nicht?« brachte Rudge krächzend heraus. »Und ihr beide wollt ihn auch.« »Ich nicht«, murmelte Radkappe. »Hä?« machte Rudge. »Ich will ihn nicht«, sagte Radkappe. »Zuviel Aufwand. Nicht mein Ding.« »Aber…«, brachte Rudge krächzend heraus. »Das ist schon in Ordnung, mein Lieber.« Dot beugte sich zuversichtlich über ihn. »Er hat ihn einfach noch nicht gesehen, und der arme Junge hat keine Phantasie. Jedenfalls 105
brauchen wir dann nur noch durch zwei zu teilen, nicht wahr?« »Aber…« »Das ist also geklärt. Der Rest ist leicht. Wir brauchen nur zu meiner Nichte zu gehen und ihn zurückzuverlangen.« »Zu Ihrer Nichte?« Radkappe war überrascht, wußte aber nicht, warum. Warum sollte das Mädchen nicht Dots Nichte sein? »Meine Nichte.« Dot lächelte Radkappe an und fuhr dann fort: »Sie ist nicht pfiffig genug, um irgendwohin zu verschwinden. Also…« »Aber…« »Das ist schon in Ordnung. Sie macht keinen Ärger. So ist sie nicht.« »Aber wie…«, sagte Rudge. Er blickte an den Kellerwänden entlang und zu der verschlossenen Tür. »Ach, das«, sagte Dot. »Es gibt doch noch die Kohlenschütte.« »Natürlich. Aber… die ist auch verschlossen. Ich habe schon…« Rudge schaute verblüfft auf die Stahlklappe über der Kohlenschütte. »Natürlich ist die verschlossen. Wir sind doch im Borough. Aber das bedeutet nicht, daß es keinen Schlüssel gibt.« Dot richtete sich steif auf. »Seien Sie so gut und stehen Sie mal kurz auf«, sagte sie zu Radkappe. Radkappe stand auf, und Dot hob eine Ecke des Bettgestells an. Aus dem hohlen Bein fiel ein kleiner, heller Messingschlüssel auf den Boden. Dot hob ihn auf. »Ich nehme an, Sie beide kommen mit?« sagte sie.
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Die drei Flüchtigen standen keuchend vor dem Haus. »Und«, flüsterte Rudge und musterte die kaputten Autos auf der Straße. »Was jetzt?« »Hier lang.« Dot eilte auf das Ende der Sackgasse zu. Sie blieb stehen und blickte sich um. Die beiden anderen schauten ihr verwundert hinterher. »Keine Bange, das ist schon in Ordnung; es gibt einen Durchgang am Klärwerk vorbei.« Sie verschwand in einem schmalen, unbeleuchteten Eingang, und Radkappe und Rudge folgten ihr. Scheinwerfer schwenkten in Dots Straße, ein Auto bog um die Ecke. Es muß gesagt werden, daß es nicht die hellsten Scheinwerfer der Welt waren. Krümel war sehr zufrieden mit sich. Sie war in Versuchung geführt worden und hatte widerstanden. Möglicherweise war es Tantchen, die sie geprüft hatte, fiel ihr ein, als sie ihr Auto zwischen den beiden neuen Blechruinen vor Dots Tür parkte. Tantchen war eine schlaue alte Frau, und man tat besser daran, sie nicht zu unterschätzen. Aber nun waren sie ja beide auf derselben Seite. Alles in allem, überlegte Krümel, war es bei zweifelhaften Geschäften immer besser, auf Dots Seite zu sein. Sie durchquerte den Vorgarten und klingelte an der Tür. »Ich bin’s, Tantchen«, rief sie durch die Tür. Im Flur schlurften Schritte. »Ich bin zurück.«
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8 Rupert befand sich in achttausend Meter Höhe in klimatisiertem Luxus. An seinem Ellbogen stand ein Glas mit eisgekühltem Champagner. Auf seinem Schoß lag ein aufgeschlagenes Buch. Er hatte nicht ein Wort gelesen. Rupert hatte Angst vorm Fliegen. Er fürchtete sich so, daß er unfähig war, irgend etwas zu tun. Und daran konnte er auch nicht viel ändern. Er hatte versucht sich vorzustellen, er würde den Diamanten besitzen, und das hatte ein bißchen geholfen. Nicht daß er selber irgendwas unternehmen wollte, um den Diamanten zu finden. Das war die Sache vom Boß. Der verfügte über die notwendigen Muskelkräfte. Rupert hatte in London eher Kontakte zu Informanten als zu Schwergewichtlern, die mit Anabolika vollgestopft waren. Also. Der Boß konnte den Diamanten finden. Und wenn der ihn hatte, würde Rupert ihm den einfach wegnehmen. Kinderleicht. Wie einem Kleinkind den Lutscher klauen. Um sich von seiner Flugangst abzulenken, hatte es Rupert als nächstes mit Schadenfreude versucht. Natürlich gehörte sich Schadenfreude nicht. Aber da Rupert seinen Lebensunterhalt bequem damit verdiente, ungehörige Dinge zu tun, gehörte es sich eben doch. Noch dazu war es eine besonders schöne Schadenfreude gewesen – sich das Gesicht vom Boß vorzustellen, wenn der Diamant weg war –, aber ewig hatte sich Rupert daran auch nicht festhalten können. Also hatte er es schließlich mit Champagner versucht. Der lenkte ihn ab von der… Rupert schloß die Augen und nahm schnell einen Schluck von den blaßgoldenen Bläschen. Von der… Er konnte es kaum ertragen, das Wort zu denken: Landung. Mit einem Ding-Dong, das wie eine billige Türklingel klang, leuchteten die »No-smoking«- und »Fasten-yourseatbelts«-Zeichen über Ruperts Kopf auf. Idioten. Als 108
würde er jemals unangeschnallt in einem Flugzeug sitzen. Man konnte schließlich nie wissen. Die Motoren veränderten ihren Ton. Die Nase des Flugzeugs richtete sich zum Boden, und die Welt unter Rupert verschwand. Landung. Der Gedanke war unerträglich. Und es war unmöglich, an etwas anderes zu denken. »Und was jetzt?« sagte eine rattige Stimme. »Ich weiß nicht, entscheide du«, sagte eine andere rattige Stimme. Bei den Jungs vom Boß, die übriggeblieben waren, gab es nur noch rattige Stimmen, und sie klangen alle ziemlich gleich. »Warum ich?« sagte eine andere rattige Stimme. »Ich habe ihre Adresse besorgt.« »Und?« »Und ich war derjenige, der sich an den Namen der alten Frau erinnert hat«, sagte eine weitere rattige Stimme. »Wißt ihr nicht mehr? Ich habe auch meinen Teil beigetragen.« Der Chor war führerlos; die Stimmen liefen unter einem Laternenpfahl herum und vermieden es, einander in die Augen zu sehen. Immerhin hatten sie sich ein ganzes Stück von der Telefonzelle weg auf der High Street bewegt, und, auch das mußte man ihnen zugute halten, sie hatten dafür keinen Anführer gebraucht. Die Polizei, die gekommen war, um die plötzliche Zunahme von Todes- und Autounfällen zu untersuchen, hatte auf den Chor wie ein Magnet gewirkt – hatte ihn abgestoßen wie ein gleichnamiger Pol. »Guckt euch die mal an«, sagte eine weitere rattige Stimme, »die bescheuerten Schweine.« 109
Niemand wußte, ob er die Polizisten meinte oder die Leichen oder die wenigen Zuschauer, die sich eingefunden hatten, aber das spielte keine Rolle. Der Chor war ausgesprochen froh, daß er nicht mehr herumlaufen mußte, sondern stehenbleiben und zugucken konnte und damit den schrecklichen Moment hinausschob, in dem jemand eine Entscheidung treffen mußte. Die Straße um die Telefonzelle war gut beleuchtet, und der Chor konnte deutlich sehen, wie eine Frau aus der Menge trat und mit einem Polizisten sprach. Sie zeigte in Richtung des Chores. Der Polizist stellte eine Frage nach der anderen, was lediglich dazu führte, daß die Frau immer ärgerlicher wurde und der Polizist, als er endlich hinguckte, nichts mehr zu sehen bekam. Der Chor hatte sich aufgelöst. Der Polizist wandte sich wieder der Frau zu. Die protestierte. Er klopfte ihr auf die Schulter. Sie protestierte weiter. Er schob sie zurück in die Menge. Sie schlug mit ihrer Handtasche nach ihm und wurde daraufhin sofort und ohne viel Federlesens hinten in einen Polizeitransporter geschoben, neben zwei Leichen, die in großen Plastiksäcken steckten. Es ist ihr letzter Auftritt in dieser Geschichte, aber ihr wird schon nichts Ernsthaftes zugestoßen sein. Selbst wenn, hätte das dem Chor auch nichts ausgemacht. Er mochte es nicht, wenn ihn jemand an die Polizei verpfiff. In sicherer Entfernung, an einer geeigneten Straßenecke, setzte der Chor seine Debatte fort. »Und? Weiß denn jemand, wo das ist?« »Ach, nun komm schon, du mußt doch wissen, wo das ist.« »Da, wo die vergammelten Häuser sind.« »Unten, beim alten Gaswerk.« »Nee. Bei der Kläranlage.« »Das ist doch dasselbe. Nur am anderen Ende der 110
Straße.« Die Jungs kannten ihren Borough. »Aber das ist verdammt weit weg.« »Kann sein. Aber da gibt’s doch diese Abkürzung, nicht?« »Genau.« Es dämmerte. »Er hat recht.« »Hinter der Kläranlage.« »Richtig, der Weg…« »Das soll ein Weg sein?« »Jedenfalls kann man da langgehen.« »Also gut. Gehen wir.« Diese Stimme hatte sich vom Überschwang des Augenblicks mitreißen lassen und war vorgeprescht. »Genau! Geh du voran!« kam es wie ein Peitschenschlag vom Rest des Chors. »Und wenn was schiefgeht, mußt du’s ausbaden.« »Genau.« »Genau.« »Genau.« Das Wort lief einmal im Chor herum, jeder brachte seine Erleichterung zum Ausdruck, einen Anführer gefunden zu haben. Hier war jemand, der die Sache ausbadete. »Nein… Aber… Jetzt wartet mal. Ich meine…« Die rattige Stimme wurde piepsig und aufgeregt. »Ich hab’ nicht gemeint… ich meine, was ich meinte, war… Hört mal, warum entscheiden wir nicht einfach alle zusammen, eh?« »Ach. Gut. Wie?« »Na, die, die denken, wir sollten die Abkürzung nehmen, sagen ›ja‹, und die, die das nicht wollen, sagen ›nein‹, und wir tun das, was am lautesten zu hören ist. Was meint ihr?« »Das klingt verdammt nach Demokratie.« 111
»Was ist das denn? Demokratie?« »Wahlen.« Unendliche Verachtung. »Scheißwahlen.« Im Hospital wurde ein Neuzugang ins Bett gestopft. »Die Jungs… zurück… sollten zurück sein… Wo sind sie?« Der Boß setzte sich mit einem Ruck auf, er schwitzte und hatte panische Angst. »Ist ja gut.« Eine Krankenschwester drückte den Boß aufs Bett hinunter. »Es wird alles gut.« Sie blickte den Arzt an. »Vorhin waren ein paar Männer bei ihm«, erklärte sie, »zu Besuch.« »Ja. Gut«, sagte der Arzt. Er legte seine Hand auf die Stirn vom Boß. »Er ist glücklich davongekommen«, fügte er tiefsinnig hinzu. Was für eine andere Art des Davonkommens gibt es denn noch, überlegte die Krankenschwester. »Er steht unter Schock«, fuhr der Arzt fort. »Aber nicht allzusehr. Die Sedativa wirken in etwa zwanzig Minuten…« »Und schon ist er so frisch und gesund wie ein Regenguß am Morgen«, ergänzte die Krankenschwester mit trällernder Stimme. »Regen ist nicht gesund«, sagte der Arzt scharf. Es sei denn, du bist Bauer, dachte die Krankenschwester. Oder eine Ente. Oder eine Gans. Das war’s. Er war einer Gans sehr ähnlich, dieser Arzt, mit seiner weißgelackten, schnatternden Selbstsicherheit, hinter der gar nichts steckte. Der Arzt gähnte. »Ich könnte echt mal ein paar richtige Unfälle gebrauchen, etwas, wo ich mich richtig reinhängen kann. Blutungen. Gebrochene Knochen, so was eben.« Er gähnte 112
erneut, seufzte und blickte auf die Uhr. »Gott, wird das eine lange Nacht.« »Trink jetzt den Tee und hör auf zu jammern«, sagte die knochentrockene Stimme, während er durch den Flur zu Dots Haustür schlurfte. »Aber ich soll keinen Tee trinken«, sagte die helle, jungenhafte Stimme. »Du hast doch gehört, was der Freiberufler gesagt hat.« »Wir gehen nicht ins Krankenhaus«, sagte die knochentrockene Stimme geduldig, »und damit hat sich’s.« Er machte die Tür auf und erfaßte mit einem Blick die Situation. Er lächelte Krümel an. »Ja bitte, meine Liebe, was kann ich für Sie tun?« Es waren weniger die schlurfenden, humpelnden Schritte, an denen Krümel erkannte, daß es nicht Tante Dot war, die zur Tür kam. Es waren vielmehr die Resonanzen der sich nähernden Stimme. Zunächst mal war es nicht die Stimme von Psycho-Harry Devine. Krümel hatte Harry erst vor fünfzehn Minuten gesehen, als sie den Diamanten in Sicherheit gebracht hatte. Harry Devine war durchs Krankenhaus geirrt, hatte immer noch nicht gewußt, wo’s lang ging, und den Schildern immer noch nicht getraut. Statt dessen hatte er alle Schilder abgenommen, an die er herankam. Krümel hatte dies beim Verlassen des Hauses der Krankenschwester mitgeteilt, die Dienst in der Notaufnahme hatte. Und abgesehen von Psycho-Harry gab es im Moment niemanden, vor dem Krümel Angst gehabt hätte. Was nur bewies, dachte sie in dem Moment, in dem die Tür geöffnet wurde, daß sie ihre Phantasie mehr anstrengen müßte. Der Mann an der Tür hatte ein schmerzverzerrtes Gesicht, dunkle Flecken auf dem Mantel und ein 113
ausgefranstes Loch in einem Schuh. Und seine Stimme, dachte Krümel schaudernd, war geradezu reizend, wenn sie sie mit der eines Atheisten verglich, der einem Trupp Zeugen Jehovas die Tür öffnete. Krümel wandte sich zur Flucht, aber sie war langsam, viel zu langsam. Eine starke, knochige Hand packte sie am Oberarm. »Nicht so eilig, meine Liebe«, sagte die knochentrockene Stimme und lächelte dabei. »Sie kommen doch mit rein, oder?« Krümel ging sogleich im Kopf ein Dutzend gute Gründe durch, warum nicht. Als sie damit am Ende war, knallte hinter ihr die Tür zu. Und Krümel befand sich auf der falschen Seite. »Lassen Sie mich sofort gehen«, verlangte sie. Sie blickte der knochentrockenen Stimme direkt in die Augen und wünschte, sie hätte es nicht getan. »Ich will nicht bleiben.« »Kann schon sein«, sagte die knochentrockene Stimme, »aber ich will es. Weil. Sie sind doch Krankenschwester, oder?« Die Uniform machte jedes Leugnen zwecklos. »Und mein Fuß tut weh.« Krümel blickte auf den Fuß der knochentrockenen Stimme. »Kein Wunder, daß das weh tut. Das sieht ja gräßlich aus. Warum gehen Sie nicht ins Krankenhaus?« »Und mein Freund ist am Arm verletzt.« »Er ist kein Freund von mir«, rief die helle, jungenhafte Stimme aus der Küche. »Kommen Sie«, sagte die knochentrockene Stimme zu Krümel. »Sehen Sie zu, ob Sie uns helfen können.« »Wo ist Tante Dot?« fragte Krümel. Ihr war sofort klar, daß das vermutlich ein Fehler gewesen war. »Ich meine, wo ist Mrs. Coulson?« »Ach, dann ist die alte Dame Ihre Tante?« Die 114
knochentrockene Stimme lächelte, »‘tressant, ‘tressant. Nun, Ihrem Tantchen geht’s gut. Sie ist bestens aufgehoben. Sie können bald zu ihr, wenn Sie wollen, und selber sehen, wie gut es ihr geht.« Dot ging es allerdings überhaupt nicht gut. Es war Jahre her, daß sie die Abkürzung hinter dem Klärwerk benutzt hatte, und inzwischen hatte sich allerhand verändert. Nicht nur, daß der Durchgang holpriger war und noch mehr Schrott herumlag als früher. Auch Dots Knöchel schienen weniger beweglich zu sein, als sie es vom letzten Mal in Erinnerung hatte. Und die Abkürzung war länger, als sie sie in Erinnerung hatte. Sie setzte sich erschöpft auf einen verrosteten Ölkanister und schnaufte. Obwohl gesagt werden muß, daß sie nicht ganz so erschöpft war und nicht ganz so heftig schnaufte, wie es den Anschein hatte. »Wartet!« rief sie den beiden dunklen Schatten hinterher. »Ich muß mal Luft holen.« Einige Zeit verging, dann tauchte Radkappe aus der Dunkelheit auf. »Alles in Ordnung?« fragte er. Er klang ausgesprochen besorgt, und Dot spürte, wie sich ihr Herz für ihn erwärmte. Könnte sein… könnte ja sein. »Nur außer Atem«, japste sie. »Bin nur außer Atem, weiter nichts.« »Das überrascht mich nicht«, sagte Radkappe und setzte sich neben sie, »bei dem Tempo, das Rudge vorlegt.« Eine Weile lang war es still. »Verdammter Rudge.« Dot lachte. »Ich hätte Sie ihn erledigen lassen sollen, als wir die Chance dazu hatten.« Genau in diesem Moment waren Rudges Schritte zu hören. Sie waren schon nah genug, daß Dot das dazugehörige Atmen hörte, und sie kamen immer näher. »Na bitte«, sagte Dot. »Wenn man vom Teufel spricht.« 115
»Psst!« machte Radkappe. »Seine größte Stärke ist, daß er verdammt ungeduldig werden kann. Man muß ihn zu nehmen wissen.« Er stand auf, aber Dot zog ihn am Ärmel. »Stimmte das?« drängte sie flüsternd. »Was Sie vorhin gesagt haben?« »Hä?« »Daß Sie den Diamanten nicht haben wollen?« Aus der Dunkelheit ertönte die Stimme von Rudge. »Hey, ihr zwei, was für ein Spiel treibt ihr denn? Ich dachte, ihr seid direkt hinter mir!« »Sind wir doch, Mr. Rudge«, sagte Dot, während sie aufstand und auf ihn zu ging. »Wir stehen ganz und gar hinter Ihnen.« Plötzlich trat Dot auf einen gußeisernen Rost, stolperte und verlor das Gleichgewicht. Als sie kopfüber auf einen dunklen Haufen undefinierbaren Metallschrotts zustürzte, hoffte sie, daß Radkappe so schnell war, wie er aussah. Und schon hatten sie starke Arme gepackt. Dot hauchte ein Dankgebet. Er war so schnell. Radkappe hob Dot hoch und stellte sie wieder auf die Füße, aber sie schien noch so erschüttert zu sein, daß sie sich weiterhin an ihn klammerte. Ihr Mund war direkt neben seinem Ohr. »Wir müssen trotzdem noch reden.« Es kam keine Antwort, und sie verstärkte ihr Drängen. »Wir sind noch nicht aus dem Schneider! Keiner von uns.« Rudge stand nun direkt neben ihnen, und obwohl Radkappe nichts sagte, merkte Dot an einem leichten Druck auf ihrer Schulter, daß er sie zumindest gehört hatte. Im Wohnzimmer des Hauses vom Boß klingelte zum zweiten Mal innerhalb von zehn Minuten das Telefon. Deirdre blickte auf die Whiskyflasche in ihrer Hand und beschloß, sie dieses Mal festzuhalten. Sie wollte nicht, daß das Klingeln wieder aufhörte. Sie durchquerte vorsichtig 116
den Raum. Der Boß sollte weniger Möbel haben, dachte sie, als ein kleiner grüner Tisch mit einer Onyx-Platte auf den dicken Teppichboden plumpste. Sie trat dagegen – Scheißteil, mitten im Weg. Gott sei Dank hatte sie genug getrunken, so daß sie den Schmerz im Zeh nicht spürte. Deirdre nahm den Hörer ab. Es würde das Krankenhaus sein, vermutete sie, mit neuesten Nachrichten vom Boß. Vielleicht war er gestorben. Aber vielleicht auch nicht. Deirdre hatte noch nie Glück gehabt, und es gab keinen Grund, warum sich das ausgerechnet jetzt hätte ändern sollen. »Allo.« »Hallo?« »Das sagte ich eben.« »Wer ist da? Ich will den Boß.« »Das wollen sie alle, mein Lieber. Alle. Niemand will mich. Das Leben ist eine Hure.« Deirdre nahm einen Schluck Whisky aus der Flasche. »Eine richtige Hure.« »Äh, ist er da?« Deirdre nahm noch einen Schluck aus der Flasche. Die Stimme am Telefon kam ihr irgendwie bekannt vor. Sie klang wie… Die Flasche würde ihr beim Erinnern helfen, dachte sie, obwohl sie ihr normalerweise vergessen half. Was wohl? Was für eine Hure das Leben war, natürlich. Aber diese Stimme. Sie brachte ihr Herz auf eine vertraute, schon beinahe vergessene Art zum Klopfen. »Rupert?« fragte Deirdre. Der Name klang fremd nach all den Jahren. »Rupert, bist du das?« »Deirdre?« Jetzt klang die Stimme enttäuscht. Aber Enttäuschung war normal. Deirdre fühlte sich sofort besser. »Das bist doch du, Rupert?« »Deirdre, verdammt. Wo zum Teufel kommst du denn 117
her?« »Das könnte ich dich auch fragen. Aber ich tu’s nicht. Ich tu’s nicht. Hör mal. Er ist nicht da. Ich weiß nicht, wo er ist, aber du kennst ihn ja. Er kommt und geht. Kommt und geht.« Sie war ins Plappern geraten. Sie zügelte sich. »Er kommt später.« Sie log überzeugend, das war eines der Dinge, die sie gut konnte. »Nicht allzu spät, würde ich denken. Du kannst vorbeikommen und auf ihn warten.« Er konnte kommen und warten. Bei ihr. Und der Boß würde nie kommen. »Möchtest du das?« Vielleicht war das Leben doch keine Hure. »Das ist eine verdammte Scheiße!« »Kannste laut sagen.« »Genau. Scheißweg. Wer hat gesagt, daß das ein Weg ist?« »Der da.« »Ich doch nicht. Ich hab’ gesagt: ›Und das soll ein Scheißweg sein?‹« »Ich finde, wir sollten zurückgehen und die normale Strecke gehen. Das ist schneller.« »Find’ ich auch.« »Also, stimmen wir ab.« »Haben wir doch gerade.« »Ja? Dann stimmen wir noch mal ab.« »Wir sollten darüber abstimmen, ob wir abstimmen wollen, okay?« »NEIN -J A-EIN !« Der Chor nahm die Abkürzung am Klärwerk vorbei. In ihren langen dunklen Mänteln und ihren Arbeitsschuhen tappten sie auf Zehenspitzen über ramponierte 118
Blechgießkannen hinweg und an metallenen Bettgestellen vorbei. »War das jetzt eben die Abstimmung, oder haben wir abgestimmt, ob wir abstimmen wollen?« »Das war die Abstimmung.« »Das war die Abstimmung, um abzustimmen.« »Guck mich nicht so an, ich weiß von nichts.« Der Chor verspottete die Rattenstimme, die es nicht wußte. »Er weiß es nicht.« Sie johlten. »Du mußt es aber wissen. Für dich sind Leute gestorben, damit du es weißt.« »Ach ja? Und wer zum Beispiel?« fragte die Weiß-nichtRattenstimme, aber niemand beachtete ihn. Der Erfinder der Demokratie sprach. »Laßt ihn in Ruhe. Er ist schon okay. Er braucht das nicht zu wissen. Wir müssen jemanden dabeihaben, der nichts weiß. Wie im Fernsehen. Sechzig Prozent sagen: ›Weiß-nicht‹. Die gewinnen immer.« »Dann will ich auch ein Weiß-Nicht sein.« »Ich auch.« »Genau so läuft’s.« Der Erfinder der Demokratie seufzte zufrieden. »Lebendige Demokratie.« Als die Demokratie zum ersten Mal im Chor auftrat, war sie verspottet und verhöhnt worden. Es schien unvorstellbar, daß man alles erledigen konnte, indem man »ja« oder »nein« brüllte, und es hatte eine Weile gebraucht, bis durchgedrungen war, daß es darum eigentlich nicht ging. Es ging nicht so sehr darum, daß Dinge erledigt wurden, als darum, wer den Kopf hinhielt, wenn nichts getan wurde. Schließlich konnte der Boß sie nicht alle rausschmeißen, oder? Und außerdem entdeckte der Chor gerade – jetzt mal alle politischen Theorien beiseite gelassen –, daß er als eine 119
demokratische Bruderschaft viel glücklicher war, als er es als Bande skrupelloser Banditen je gewesen war. Und letztlich machten die Stimmen, allen Widrigkeiten zum Trotz, tatsächlich Fortschritte. Richtige Fortschritte. »Das ist klasse«, sagte eine glückliche Rattenstimme. »Wir kommen echt vorwärts.« »Genau! Vorwärts, Kumpels, vorwärts!« schrien die neu gewonnenen Anhänger der Demokratie, bereit, die Welt zu bekehren. »Vorwärts und aufwärts!« Von hinten knurrten saure Rattenstimmen. Vorwärts und aufwärts war ein alberner Slogan. Und noch nicht mal besonders originell. Wenn sie einen Slogan haben mußten, dann müßte es einer sein, auf den richtige Männer stolz sein konnten. Sie versuchten, einen neuen zu erfinden. »Einwärts und auswärts und aufwärts und abwärts!« fingen sie an. »Einwärts und auswärts und aufwärts und abwärts!« »Hey, das ist ein neuer Slogan. Den können wir nicht nehmen.« »Warum nicht? Uns gefällt er.« »Dann müssen wir drüber abstimmen. Okay?« »J A-NEIN -AH !« »Dann stimmt ab!« »J A-NEIN -AH !« »Beschlossen«, sagte eine Stimme, und der Chor sagte es weiter, bis alle zusammen den neuen Slogan skandierten. »Einwärts und auswärts und aufwärts und abwärts! Einwärts und auswärts und aufwärts und abwärts! Stimmt ab! J A-NEIN -AH !« »Klasse. Total klasse.« Die helle, jungenhafte Stimme war überhaupt nicht einverstanden mit der eigenmächtigen 120
Aktion der knochenharten Stimme, eine Krankenschwester zu kidnappen, ohne sich mit ihm – der hellen, jungenhaften Stimme – abgesprochen zu haben. »Wir haben den Keller voller Leute, und du mußt noch mehr…« Aber weiter kam er nicht. Krümel war neugierig geworden, und wenn sie auf eine Sache gestoßen war, dann konnte sie nichts in der Welt davon abhalten, die Nase reinzustecken. Außer älteren Fachärzten vielleicht, aber die waren in Dots Küche ausgesprochen knapp. »Den Keller voll mit wem?« fragte sie. »Vergessen Sie’s«, sagte die knochentrockene Stimme. »Haben Sie endlich gefunden, was Sie brauchen?« Krümel schüttelte den Kopf. »Na, dann machen Sie mal, ich will nicht verbluten.« Krümel bewegte sich, zog Schubladen auf der anderen Küchenseite auf. »Sie müssen hier irgendwo sein«, sagte sie. »Sie wird doch manchmal was flicken müssen.« »Und was dich betrifft.« Die knochentrockene Stimme schaute die helle, jungenhafte Stimme an. »Hör bloß auf zu jammern, ja? Halt einfach die Klappe.« Die knochentrockene Stimme war nicht wegen der Jammerei seines Kollegen oder wegen der Sturheit von Krümel genervt, sondern wegen der Schmerzen in seinem Fuß. Es tat langsam richtig weh, und er trat auf den anderen Fuß, um den schmerzenden zu entlasten. Dann gab es einen dumpfen Laut, weil die Maschinenpistole an den Küchentisch gestoßen war. Die helle, jungenhafte Stimme nahm es zur Kenntnis. Er lehnte sich vorsichtig zurück, aber er entspannte sich dabei kein bißchen. Auf der anderen Seite der Küche wurde eine Schublade krachend zugeschoben, und Krümel kam wieder auf die beiden Männer zu. »Ich hab’ nur so was gefunden«, sagte sie. Sie legte eine 121
große Stopfnadel und eine Rolle festen Zwirn auf den Tisch. Die Stimmen blickten voller Entsetzen darauf. »Aber die Nadel ist stumpf«, sagte die helle, jungenhafte Stimme entsetzt, »Sie ist rund!« Krümel nickte. »Deswegen werden wir das hier brauchen.« Sie pflanzte eine große, volle Flasche Gin neben das Nähwerkzeug. »Anästhesie.« Sie legte ihre Hand auf die Schulter der hellen, jungenhaften Stimme und lächelte. »Aber keine Sorge, es wird trotzdem verdammt weh tun.« Die helle, jungenhafte Stimme blickte voller Panik zur knochentrockenen Stimme. »Wir könnten doch was kaufen, oder?« »Tja«, sagte Krümel, »die Geschäfte haben schon zu. Das Krankenhaus hat natürlich noch auf, und da«, sie wurde so energisch wie möglich, »sollten Sie beide auch hin.« »Sie brauchen sterile Instrumente, Antibiotika und jemanden, der für eine solche Tätigkeit ausgebildet ist.« Sie blickte die knochentrockene Stimme an. »Sie ganz besonders. Für Ihren Fuß kann ich mit diesen Dingen so gut wie gar nichts tun.« Sie seufzte. »Aber wenn Sie wirklich wollen, dann werde ich es wohl irgendwie hinkriegen müssen, oder?« Es folgte eine lange Stille. Die Stimmen starrten auf die Ginflasche. »Ja. Hm. Das ist ja alles schön und gut«, sagte die knochentrockene Stimme. »Aber eine Messerwunde und eine Schußwunde, was meinen Sie wohl, was geschieht, wenn wir damit im Krankenhaus auftauchen? Wir würden festgenommen werden, das wissen Sie ganz genau.« »Und was meinen Sie wohl, was geschieht, wenn Sie nicht gehen?« fragte Krümel. Sie lachte. Es war ein Lachen, das Experten einsetzen, wenn Laien ihren Rat ignorieren. 122
»Haben Sie schon mal Wundbrand gesehen?« Sie hatte eine ernste Miene aufgesetzt und rückte ein Stück näher. »Oder gerochen?« Krümel überließ es den Stimmen, über die Frage nachzudenken, und ging hinüber zu einem Regal, aus dem sie zwei große Tonbecher holte. Krümel füllte die Becher bis zum Rand. Das Gurgeln des Gins war das einzige Geräusch in der Küche. »Also gut, trinken Sie das!« Sie stellte einen Becher vor jede Stimme. Beide blickten sie erschrocken an. »Aber…« »Ich fang’ nicht an, bevor Sie nicht beide richtig anästhesiert sind.« Krümel setzte sich an den Tisch und verschränkte die Arme. »Na los. Wir haben nicht die ganze Nacht Zeit.« Sie machte es sich auf ihrem Stuhl gemütlich und schloß die Augen. »Das heißt, Sie haben nicht die ganze Nacht Zeit. Keiner von Ihnen.« Die knochentrockene Stimme atmete einmal tief durch, griff nach dem Becher und kippte den Inhalt hinunter. »Braver Junge«, sagte Krümel. »Nun den Rest.« Sie goß ihm noch einmal ein, aber diesmal nicht bis zum Rand. »Wir sollten nicht zu gierig sein, nicht wahr?« sagte sie. »Wir müssen noch was für Ihren Freund lassen.« Die knochentrockene Stimme nahm seinen Becher und blickte über den Rand hinweg zur hellen, jungenhaften Stimme. »Trink!« sagte er. Die helle, jungenhafte Stimme nahm den Becher in die Hand, schnüffelte daran, rümpfte die Nase und schlürfte einen winzigen Schluck. Er hustete. »Ich glaub’, ich mag Gin nicht«, sagte er. »Sei ein Mann und trink!« Krümel beugte sich über den Tisch und legte ihre Hand 123
auf den Arm der hellen, jungenhaften Stimme. »Ja, trinken Sie’s aus. So ist es gut. Das ist nicht halb so schlimm wie das, was noch kommt.« Vorsichtig nahm die helle, jungenhafte Stimme einen Schluck. Er nahm noch einen und dann noch einen, bis er schließlich den Becher bis zum Grund geleert hatte und sich den Mund abwischte. »Wenn man erst mal angefangen hat, ist es gar nicht so schlimm, was?« sagte er. Krümel kippte den restlichen Gin aus der Flasche in seinen Becher und lächelte die beiden Männer an. »Jetzt alle beide zusammen«, sagte sie und hob langsam die Hände mit den Handflächen nach oben, während die beiden Männer den zweiten Becher Gin leerten. »Gut. Das war’s. Alles weg?« Sie nahm die beiden Becher und schaute hinein. »Ausgezeichnet. Gut gemacht«, sagte sie und brachte die Becher und die leere Flasche zur Spüle hinüber. »Reicht denn eine halbe Flasche für jeden?« fragte die knochentrockene Stimme. Krümel musterte das Etikett der Flasche. »Halber Liter«, sagte sie, »nun, mehr haben wir sowieso nicht, aber doch, ich nehme an, daß es reicht.« Zwei schwere Köpfe fielen zur gleichen Zeit auf den Tisch, und Krümel lächelte. »Ich denke schon, daß es reicht.«
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9 Im Durchgang hinter dem Klärwerk hatte Rudge genügend Verdacht geschöpft, um sich nahe bei Radkappe und Dot zu halten. Jedenfalls einigermaßen nah. Aber ihn drängte es vorwärts, und dadurch stürmte er weiterhin vorneweg, bis er begriff, was er tat, und wieder zu Radkappe und Dot zurückeilte, die langsam, aber sicher vorankamen. »Ziemlich nervös, Ihr Freund Rudge, was?« sagte Dot, als Rudge wieder kurz verschwunden war. »Er ist kein Freund von mir«, antwortete Radkappe. Ziemlich säuerlich, dachte Dot. Sie kletterten schweigend über ein paar Bettgestelle, bevor Radkappe wieder etwas sagte. »Bei diesem Spiel empfiehlt es sich nicht unbedingt, Freunde zu haben.« »Aha«, sagte Dot verständnisvoll. »Der Ganovenkodex.« Radkappe warf ihr einen scharfen Blick zu, aber Dot lächelte nur. »Wie ich bereits sagte«, fuhr sie fort, »ich hätte Sie ihn erledigen lassen sollen, als wir die Chance dazu hatten.« Radkappe schüttelte den Kopf. »Ein Glück. Das alles ist überhaupt nicht mein Stil.« Seine Hand ruhte kurz auf Dots Schulter und verschwand sofort, als Rudge wieder aus der Dunkelheit auftauchte. »Könnt ihr nicht ein bißchen schneller machen, ihr zwei? Ich möchte irgendwann ankommen.« Ganz aus der Ferne war ein schwaches Geräusch zu hören. Es klang, so unwahrscheinlich das auch sein mochte, als skandierten Männer Slogans. Die kleine Gruppe blieb wie auf Kommando stehen. Alle drei lauschten. Das Geräusch ließ nicht nach, und jetzt konnten sie auch ausmachen, was es war. Es waren, so unwahrscheinlich das 125
auch sein mochte, laut skandierende Männer. Die Stimmen drangen leise, aber deutlich durch die naßkalte, stille Luft und wiederholten immer wieder dieselben Worte. »Einwärts und auswärts und aufwärts und abwärts!« »Abstimmen!« »J A-NEIN -AH !« »Einwärts und auswärts und aufwärts und abwärts!« »Abstimmen!« »J A-NEIN -AH !« »Was zum Teufel ist das?« fragte Rudge. »Männer. Die Sprechchöre aufsagen«, antwortete Dot. Rudge drehte sich wütend zu ihr um. Er wollte etwas sagen, aber Radkappe ging dazwischen. »Warum gehst du dir das nicht mal angucken?« sagte er voller Unschuld. »Ja. Na ja. Gut.« Rudge blickte gespannt über seine Schulter, dann wandte er sich wieder um. »Ist schon in Ordnung.« Dot ließ ihre Stimme so überzeugend wie möglich klingen. »Ich paß auf, daß er nicht verschwindet.« »Und ich paß auf, daß sie nicht verschwindet«, sagte Radkappe. »Ja. Gut.« Rudge war zwar zutiefst verunsichert, aber eins wußte er genau: Das dahinten waren mehr Stimmen, als er Leute in seiner Gruppe hatte. Und der Klang der Stimmen gefiel ihm überhaupt nicht. Er wollte wissen, wer sie waren, bevor sie ihnen begegneten. »Dann paß aber auch auf«, sagte er zu niemand Bestimmtem und verschwand in der Nacht. Dot ließ einen unterdrückten Seufzer frei und streckte ihre Finger, die sie hinter ihrem Rücken gekreuzt hatte. »Es gilt der Ganovenkodex«, murmelte sie. »Es gilt der Ganovenkodex.« 126
In Dots Küche betrachtete Krümel die Stimmen, und in ihrem Hinterkopf nagte ein schlechtes Gewissen. Die beiden waren vollkommen reglos, und zwar – das schlechte Gewissen nagte kräftiger – auf eine Art, die besagte, daß sie sich nicht verstellten. Krümel fühlte bei der knochentrockenen Stimme unterhalb des Kinns nach dem Puls. Er schlug, immerhin. Natürlich lebte der Mann. Die Frage war nur, blieb er am Leben? Krümel versuchte sich an alles zu erinnern, was sie außer dem, was im Handbuch der Killer-Cocktails für den perfekten Barkeeper stand, über Alkohol wußte. Viel war es nicht, was sie wußte, aber genug, um einigermaßen sicher zu sein, daß ein halber Liter Gin keine tödliche Dosis war. Dann sah Krümel nach der hellen, jungenhaften Stimme. Auch er war so lebendig wie die knochentrockene Stimme, aber er atmete schnell und flach, und sein Puls war schwach und flatterig. Krümel runzelte besorgt die Stirn und blieb fast eine Minute lang mit der Hand am Hals der hellen, jungenhaften Stimme stehen. Der Puls änderte sich nicht, und das schlechte Gewissen nagte weiter an ihr, immer deutlicher, immer kräftiger. Krümel war gegen ihren Willen festgehalten worden, darüber bestand kein Zweifel. Wenn die helle, jungenhafte Stimme also sterben sollte, dann hätte er das durchaus verdient. Jeder, der alle Sinne beisammen hatte, würde dem zustimmen. Aber wie würde die Polizei das sehen, wenn es soweit käme? Oder ein Gericht? Das wußte Krümel nicht, und sie wurde immer nervöser, je länger sie darüber nachdachte, bis sie schließlich, zum zweiten Mal an diesem Tag, in Panik geriet. Glücklicherweise kam Krümel mit Panik gut zurecht. Unter dem Einfluß von Panik tat sie vernünftige Dinge, zum Beispiel die Augen schließen, um den eigenen Tod nicht mit ansehen zu müssen, oder zum Telefon rennen, um 127
Neun, Neun, Neun zu wählen. Jetzt rannte sie zum Telefon. »Ich möchte wissen«, sagte Dot zu Radkappe, sobald Rudge außer Hörweite war, »wenn Sie nicht hinter dem Diamanten her sind, was wollen Sie dann?« »Das, was ich schon den ganzen Tag will.« »Und was genau ist das?« »Abhauen.« »Und weiter nichts?« »Weiter nichts.« Die skandierenden Stimmen wurden lauter. »Also gut. Jetzt haben wir eine Chance.« Zwischen dem Schrott um sie herum standen Ölkanister. Dot holte ein paar und baute sie am Drahtzaun, der den Durchgang vom Klärwerk trennte, pyramidenförmig auf. »Das ist ein sicherer Fluchtweg. War’s jedenfalls mal. Los, rauf mit Ihnen.« »Aber…« Radkappe blickte sich abschätzend um. Neben dem Geräusch der skandierenden Stimmen hörte er, wie sich jemand eilig durch den Schrott bewegte. »Was wird mit Ihnen?« Dot schnalzte ungeduldig mit der Zunge, kletterte auf die unterste Reihe der Ölkanister und zog Radkappe am Arm. »Kommen Sie«, sagte sie, »los jetzt.« Radkappe stieg hoch und stellte sich neben sie. »Was wird mit Ihnen?« »Mit mir? Na, in jedem Fall bin ich erst mal froh, wenn Sie aus dem Spiel sind. Man kann nie wissen, wie Rudge sich verhält, wenn ich den Diamanten habe. Er ist gefährlich… Los jetzt, hoch mit Ihnen. Bis ganz rauf.« Dot sprach weiter, während Radkappe auf die Pyramide kletterte. 128
»Und zweitens, wenn ich Sie los bin, dann können Sie es sich nicht mehr anders überlegen, nicht wahr? Was den Diamanten betrifft. Ich würde nicht gerne auch noch Sie am Hals haben.« Inzwischen hing Radkappe über dem Zaun. Unterhalb seines Brustkorbs gruben sich die Spitzen des Stacheldrahts ein, und seine Beine hingen auf der Klärwerkseite. Radkappe streckte Dot die Arme entgegen. »Kommen Sie«, sagte er. »Ich helfe Ihnen rüber.« »Aber ich will nicht rüber.« »Lassen Sie Rudge zurück, kümmern Sie sich selber um Ihre Nichte.« Radkappe drängte. »Rudge ist gefährlich, haben Sie doch selbst gesagt.« Der Lärm kam immer näher. Dot lachte. »Ähem. Ich brauche Rudge. Ich hab’ einen Job für ihn. Und außerdem würde ich nie über diesen Zaun kommen.« »Sie sollten es wenigstens versuchen!« »Ich hab’ Ihnen doch gesagt, ich brauche Rudge. Er ist der Profi.« Aus der Dunkelheit ertönte die Stimme von Rudge. »Zurück! Zurück! Ich glaube, es sind die Jungs.« »Sie müssen es versuchen!« »Okay! Mach’ ich. Aber seien Sie still, ja?« Vorsichtig ergriff Dot Radkappes Hand, und er zog Dot hoch, bis sie auf dem obersten Kanister stand. Die Stimme des Chors dröhnte durch die Nacht. »Einwärts und auswärts und aufwärts und abwärts!« »Abstimmen!« »J A-NEIN -AH !« Dot klopfte mit ihrer freien Hand auf Radkappes Hand. »Okay«, sagte sie. »Fertig?« »Ja.« Radkappe machte sich bereit. 129
»Dann ab mit Ihnen!« Ausgesprochen absichtlich biß Dot in Radkappes Hand, an der die ihre hing. Mit einem Schmerzensschrei ließ Radkappe los, und Dot gab ihm einen kräftigen Stoß, so daß er das Gleichgewicht verlor und auf das Gelände des Klärwerks fiel. Ein leiser Aufprall war zu hören und dann nichts mehr. Stille. Krümel legte den Hörer auf und fühlte sich besser. Sie hatte ihre Pflicht den beiden komatösen Stimmen gegenüber erfüllt. Sie hatte das Problem weitergegeben und war nicht länger verantwortlich. Allerdings lag die Sache mit Tantchen Dot etwas anders. Soweit Krümel das überblicken konnte, würde sie immer für Tantchen Dot verantwortlich sein. Irgend jemand mußte das sein. Und vielleicht, dachte sie, müßte das ein erschreckender Gedanke sein. Wäre es bestimmt für viele andere junge Frauen ihres Alters. Jedenfalls hatte Krümel sie so etwas sagen hören. Aber für Krümel war es eine Beruhigung. Tantchen Dot war alles, was sie hatte. Gott sei Dank hatte sie sie noch, aber jetzt, da Krümel Zeit hatte, darüber nachzudenken, fürchtete sie, daß sie Tantchen Dot vielleicht nicht mehr hätte. »Wir haben den ganzen Keller voll«, hatte die helle, jungenhafte Stimme gesagt. Aber er hatte nicht gesagt, womit der Keller voll war. Krümel konnte sich nur vorstellen, und das war es, was ihr solche Angst machte, daß der Keller voller Leichen war. Die Stimmen sahen aus wie Typen, die ohne weiteres Leichen stapelten. Die Kellertreppe war steil und wurde nur von dem bißchen Licht erhellt, das vom Flur aus durch die Ritzen der Kellertür kroch. Krümel stieg vorsichtig hinab, weil sie sich weder zu Tode stürzen noch ihre Anwesenheit durch Lärm verraten wollte. Der Keller war voll von ihnen, ging Krümel durch den Kopf, und wenn der Keller nicht voller 130
Leichen war, dann war er vielleicht voller gefährlicher und zum Äußersten entschlossener Männer. Inklusive Tantchen Dot. Sie konnte so gefährlich und so zum Äußersten entschlossen sein wie der beste Mann. Besagte jedenfalls die Legende. Vor der Kellertür blieb Krümel stehen und lauschte, aber von innen drang kein Laut – nicht ein einziger –, und sie fürchtete sich plötzlich mehr denn je – ganz entsetzlich abscheulich fürchtete sie sich. Als sie den Schlüssel ins Schloß zu stecken versuchte, ließ sie alle Vorsicht beiseite. Bitte, flehte sie, keine Leichen. Bitte, bitte, bitte, keine Leichen. Sie stieß die Tür auf. Ein grelles Licht schwappte aus dem Keller über die dunkle Treppe. Krümel blinzelte in die blendende Helle, und es bedurfte einiger Augenblicke, bis sie realisierte, daß der Keller leer war. Vollkommen leer. Nun, nicht wirklich leer, eher vollgestopft als leer, aber er war mit Dingen vollgestopft, für die sich Krümel nicht interessierte, und dadurch lief es auf dasselbe hinaus. Rudge kam aus dem Dunklen und blieb neben den Ölkanistern stehen. Er blickte sich erstaunt um. Aus den Augenwinkeln entdeckte er ein Paar Beine, und er schaute nach oben. »Sie!« Er kochte vor Zorn, aber er dämpfte seine Stimme. Der Chor war sehr nah. »Was machen Sie da oben?« »Versuche, den Freiberufler am Abhauen zu hindern.« Dot schimpfte überzeugend. »Doch er hat sich durchgemogelt, der Mistkerl. Ist aber auch egal, oder? Wer braucht den schon. Jedenfalls seh’ ich das so.« Sie streckte Rudge ihre Hand entgegen. »Was ist? Helfen Sie mir nun runter oder nicht?« »Einwärts und auswärts und aufwärts und abwärts!« 131
Der Chor nahm Gestalt an und baute sich um Rudge auf. Rudge verlor das Interesse an Dot und wollte wegrennen, aber starke Arme hielten ihn fest. »Hallo. Hallo. Hallo. Das ist also der, der vor uns weggerannt ist?« sagte eine joviale Rattenstimme. Ein Gesicht starrte Rudge ins Gesicht. »Na so was. Wenn das nicht der alte Rudge ist.« »Das hab’ ich doch gesagt, nicht wahr?« sagte eine zweite Rattenstimme. »Ich hab’ gesagt, ich kenne die Stimme.« »Nun sag schon. Was hattest du vor, alter Kumpel?« sagte eine dritte Stimme dicht an Rudges Ohr. »Ich bin sicher, das möchten wir alle wissen.« »Moment mal«, sagte ein vierter. »Da war noch jemand bei ihm.« Starke Arme reckten sich nach oben und hievten Dot auf den Boden. »Ihhh!« Die Stimme war angewidert. »Die hätten wir da oben lassen sollen. Das ist eine alte Lady.« »Das ist die alte Lady«, knurrte Rudge. Wieder einmal zwangen ihn die Umstände, schnell zu denken. »Die, hinter der wir her waren. Ich wollte sie gerade zum Boß bringen.« »Ach? Wirklich?« sagte eine Rattenstimme mißtrauisch. »Na, das sehen wir aber nicht so, was, Kumpels?« »NEIN -J A-EIN !« »Tja, Rudge, alter Junge, wenn das die alte Lady ist, dann läufst du in die falsche Richtung. Zu ihrem Haus. Und nicht davon weg.« Starke Arme fesselten Rudge die Hände. »Und wir meinen, das kann nur eins bedeuten. Stimmt’s, Kumpels?« »J A-NEIN -AH !« »Ach ja?« Rudges Stimme schlitterte so dicht an einem Quieken vorbei, wie es nur möglich war. »Und was, bitte 132
schön?« »Du arbeitest auf eigene Kappe. So ist das. Und wir mögen keine Freiberufler, klar? Wir sind Profis.« Irgendwo in der Ferne heulte eine Sirene. Das Sirenengeheul drang in Dots Haus und ließ Krümel überhaupt keine Zeit, über den leeren Keller nachzudenken. Sie rannte hinauf in den Flur und öffnete die Haustür in dem Moment, in dem der Sanitäter davorstand. »Gott sei Dank, daß Sie da sind«, sagte sie, machte die Tür weit auf und trat zurück, damit er eintreten konnte. »Sie sind in der Küche.« Der Sanitäter lief zielstrebig auf die Tür zu, die Krümel ihm gezeigt hatte, und sie folgte ihm. Von der Küchentür aus schaute sie zu, wie er die Szene in Augenschein nahm. »Alles klar? Ich kann das jetzt Ihnen überlassen, oder?« Sie wandte sich zum Gehen, was den Sanitäter schlagartig in Bewegung versetzte. »Moment mal, Miss. Nicht so schnell.« Er rannte hinter ihr her und packte sie am Arm. »Wir müssen noch miteinander reden. Zunächst mal.« Er machte eine Armbewegung zur Küche hin und seufzte geduldig. »Sie haben doch die Polizei verständigt, nicht wahr?« »Polizei verständigt? Wieso denn?« fragte Krümel unschuldig. »Ach, nun kommen Sie schon, das zieht nicht.« Der Sanitäter blickte auf, als das zweite Mitglied der Wagenbesatzung hereinkam. »Hier, Flo«, sagte er. »Dave. Ich hab’s dir einmal gesagt, ich hab’s dir tausendmal gesagt…« »Dann eben Florien«, brummte Dave. Florien sah überrascht aus, als hätte sie nicht erwartet, daß Dave so schnell nachgab. »Schau dir das mal an, bitte.« Er zeigte 133
auf die knochentrockene Stimme. »Und sag mir, was du davon hältst.« Florien schaute hin. »Sieht nach einer Schußwunde aus, würde ich sagen«, sagte sie. »Da. Sehen Sie?« Der Sanitäter blickte Krümel triumphierend an. »Es ist das Loch in seinem Schuh, sehen Sie. Schußwaffen machen solche Löcher. Und außerdem liegt eine Waffe auf dem Boden.« »Und diese Wunde stammt von einem Messerstich«, sagte Florien, die neben der hellen, jungenhaften Stimme stand. »Hat schon jemand die Polizei verständigt?« Hinter dem Klärwerk nahm die Demokratie ihren langsamen, aber unaufhaltsamen Lauf. Radkappe hörte von seiner Zuflucht auf der sicheren Seite des Zaunes aus zu. Das Verfahren war demokratisch und verlief daher etwas wirr und durcheinander, aber eine Sache wurde sehr schnell klar. Rudge steckte in der Tinte. »Also gut, erzähl’s uns noch mal.« »Aber ich hab’ euch doch schon alles zweimal erzählt.« »Ja? Wir wollen es noch mal hören.« »Wartet mal. Wir müssen darüber abstimmen. Wollen wir es wirklich noch mal hören?« »J A-NEIN -AH !« »Also angenommen. Wir wollen es noch mal hören.« »Los. Rede.« Die starken Arme, die Rudge festhielten, schüttelten ihn kräftig. »Erzähl’s uns noch mal.« »Okay, okay. Aber macht mal halblang, ja?« Rudge wand sich heftig, aber es war zwecklos. »Wie ich schon gesagt habe, fünf Sachen wollte der Boß wissen. Klar? Fünf Stück. ›Ich will wissen, wer die alte Lady ist.‹ Klar? ›Für wen arbeitet sie?‹ Klar? ›Ich will den 134
Diamanten.‹ Und: ›Ich will ihre Leiche.‹ Und das letzte, was er gesagt hat, war…« Ausgelassenere Stimmen des Chors stimmten mit ein: »›Und jemand soll sich um den Mistkerl dahinten kümmern!‹« »Ja, genau! Das haben wir alle gehört«, sagten die dumpfen Weiß-nicht-Rattenstimmen von hinten, aber niemand beachtete sie. Die Weiß-Nichts mögen zwar ein notwendiger Teil des demokratischen Prozesses sein, aber das bedeutet nicht, daß die Leute ihnen auch zuhören müssen. »Also«, fuhr Rudge fort, »da es mein Job ist, mich um Leute zu kümmern, bin ich nach hinten, um nach ihm zu sehen. Na, und jetzt kümmere ich mich um ihn.« »Und warum dauert das so lange?« »Es dauert so lange…« Rudge klang besorgt. Sein Gehirn machte Überstunden, während er nach einer wahrscheinlichen Ausrede suchte und sich gleichzeitig daran zu erinnern versuchte, was er bereits gesagt hatte. »Es hat so lange gedauert, weil…« Er entspannte etwas. Jetzt hatte er es. »Weil… wißt ihr, was der letzte Wunsch von dem Kerl war?« »Klar«, sagte eine dumpfe Stimme. »›Könntest du meine Leiche in Hampstead Heath ablegen.‹ Verdammt romantisch. Ist wohl ‘n Dichter, dein Freiberufler.« »Ist er. Und das dauert seine Zeit, ihn bis da raus zu zerren. Und um die Sache kurz zu machen, er sagt mir…« »Aber du hast dich doch um ihn gekümmert«, sagte eine gemeine Rattenstimme. »Wie kann er dir dann was sagen?« »Das hat er mir natürlich gesagt, bevor ich mich um ihn gekümmert habe.« Rudge warf dem Fragenden einen finsteren, herausfordernden Blick zu. »Und er sagt mir, daß er die alte Frau schon lange kennt, sie ist seine… seine Tante oder so was, und daß er von Anfang an an der 135
Geschichte beteiligt war.« »Dann hat er gekriegt, was er verdient hat, der Arsch.« »Stimmt.« »Und damit ich ihn laufenlasse, gibt er mir die Adresse von ihr, ich mach’ ihn aber trotzdem alle. Und damit hatte es sich. Ich geh’ zu der alten Frau, und die will nicht quatschen, also geh’ ich mit ihr spazieren, um sie zum Quatschen zu bringen. Der Boß sollte das mal versuchen. Das geht wie geschmiert, beim Spazierengehen. Auf jeden Fall besser als Kitzeln.« »Also will sie uns den Diamanten geben, ja?« »Erst muß sie uns sagen, für wen sie arbeitet. Wißt ihr nicht mehr?« wandte eine ernsthafte Rattenstimme ein. »Das war Punkt zwei.« »Ach ja. Punkt zwei.« »Und? Hat sie’s uns schon gesagt?« »Wir waren gerade dabei.« Rudge schaffte es, gekränkt zu klingen. »Als ihr euch dazwischengedrängelt habt.« »So.« Die Rattenstimme des Inquisitors bekam einen fiesen Unterton. »Dann sollte sie mal auspacken, was? Und zwar fix. Damit wir es alle hören können.« »Na gut, na gut.« Auch Dot klang gekränkt. »Immer mit der Ruhe. Ich hab’ schon verstanden.« Sie atmete einmal tief durch und fing an. »Punkt eins war mein Name, stimmt’s? Also, ich heiß’ Dot Coulson. Punkt zwei ist, ich hab’ für Radkappe gearbeitet, Gott sei seiner Seele gnädig. Punkt drei ist, ihr könnt den Diamanten nicht gleich haben, weil ich ihn nicht bei mir habe, und Punkt vier…« Sie lächelte die Rattenstimmen an. »Warum lassen wir Punkt vier nicht einfach aus?« Die Rattenstimmen antworteten nicht. »Nur für den Moment?« 136
Immer noch keine Antwort. Eine einsame Rattenstimme brach das Schweigen. »Was meinen wir denn, Jungs?« »Weiß nicht.« Diese Rattenstimme hatte Zweifel. »Klingt irgendwie nicht ganz sauber.« Es folgte eine häßliche Stille. »Und wie haben Sie das denn hingekriegt? Sie und er?« fragte eine Rattenstimme von weiter hinten. »Sie und der Freiberufler? Ich meine…« Die Stimme lachte. »Sie und der gegen Axt und Seemann?« Dot stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Sie war wieder im Geschäft. »Tja.« Sie klang nachdenklich. »Wissen Sie, eigentlich haben wir Glück gehabt. Radkappe sagt mir, wann und wo das Ding gedreht wird, und ich warte also vor dem Laden, und als die Jungs rauskommen, da geht diese Bombe hoch. Buummm! Die befördert sie ins Krankenhaus, so daß ich ihnen keine Beine mehr zu stellen brauche.« Dot machte eine Kunstpause. »Sie meinen, Sie waren dort?« Die fragende Stimme klang ungläubig. »Mit Bombe und allem? Aber… Aber…« Die Stimme dachte an die Lieblinge vom Boß, die bewußtlos im Krankenhaus lagen. »Oh, ich hatte natürlich meine guten Strümpfe an.« Und das war’s. Mehr war nicht nötig. In den Augen des Chors war jede Frau, die sich auf die Qualität ihrer Strümpfe verließ, um Axt und Seemann zu besiegen, in Ordnung. Sie würden ihr bis ans Ende der Erde folgen. Jedenfalls die meisten. Nur eine mißtrauische Stimme machte einen letzten Versuch. »Und warum sind Sie dann auf den Zaun geklettert? Wir haben Sie alle gesehen.« »Mann, hör auf.« »Nein. Stimmt. Haben wir.« 137
»Um mich vor eurem Trupp zu verstecken natürlich.« Dot war empört. »Wer hätte das nicht getan? Ich meine, schaut euch doch mal an. Euren ganzen Trupp.« Es folgte ein Schweigen, das nur von einem metallischen Schlurfen unterbrochen wurde. Beste Arbeitsschuhe stießen gegen Metallschrott. »Und nun«, fuhr sie energisch fort, »brauchen wir alle eine gute Tasse Tee. Mein Haus ist nicht weit von hier. Gleich um die Ecke.« »Das wissen wir.« »Und? Worauf warten wir dann?« In Dots Küche war eine ziemlich lange Stille eingetreten, nachdem Florien nach der Polizei gefragt hatte. »Stellen Sie sich vor«, sagte Dave in dem geduldigen Ton, den er sonst für Rentner, Kinder und Idioten verwendete, »wir kommen mit den beiden hier zur Notaufnahme. Da wollen die Leute doch wissen, was Sache ist, oder? ›Haben Sie die Polizei verständigt?‹ werden sie fragen. Das werden alle wissen wollen. Sie sind doch Krankenschwester«, schloß er, was durchaus vernünftig war. »Sie würden das auch wissen wollen.« »Aber… Könnten wir nicht… Äh… Nur dies eine Mal?« »Nein. Können wir nicht.« Florien war unerbittlich. »Auch nicht dies eine Mal.« »Ich verstehe.« »Nun denn.« Krümel zuckte mit den Achseln und schaffte es, kläglich auszusehen. »Dann ruf ich eben die Polizei.« Sie bewegte sich Richtung Flur. »O nein, das werden Sie nicht«, sagte Dave, der immer noch Krümels Arm hielt. »Sie bleiben hier. Ich rufe die Polizei. Über Funk. Flo, behalt sie im Auge. Ach. Und Flo…« 138
»Ich heiße nicht Flo.« »Paß auf.« Als Dave wegging, bewegte sich Florien auf Krümel zu und streckte ihre Hand nach dem Arm aus, den Dave gerade losgelassen hatte. »Hören Sie, bitte…«, sagte Krümel. Sie hob die Arme hoch und trat ein wenig zurück. Aber Florien schüttelte den Kopf und lächelte teilnahmsvoll, als sie Krümels Arm ergriff. »Tut mir leid«, sagte sie. »Aber Sie verstehen doch, worum es geht, oder?« »Oh, ja«, sagte Krümel. »Natürlich. Und mir tut es auch leid. Glauben Sie mir.« Florien guckte verwundert. »Was tut Ihnen denn leid?« fragte sie. »Das«, sagte Krümel, und ihre freie Hand schlug mit aller Kraft, die sie aufbringen konnte, auf die Spitze von Floriens Kinn. Hinter dem Klärwerk ging die Demokratie zugrunde. Gegen eine Führerin wie Dot und gegen die Aussicht auf eine Tasse Tee hatte sie nicht die geringste Chance. Aber sie gab nicht völlig kampflos auf. »Und was ist mit dem Diamanten?« fragte eine der dumpfen Rattenstimmen von hinten. »Nicht, daß ich was gegen eine Tasse Tee hätte, wirklich nicht«, fügte er schnell hinzu, als er die Augen aller auf sich spürte. »Bloß – sie hat bis jetzt noch nichts über den Diamanten gesagt.« »Hat sie wohl. Sie hat gesagt, sie hat ihn nicht.« »Und warum gehen wir dann mit zu ihr?« »Weil sie versprochen hat, ihn für uns zu besorgen.« »Ach. Wirklich? Das muß ich überhört haben.« Die dumpfe Rattenstimme verstummte. Möglicherweise war er 139
nie für Demokratie gewesen, aber trotzdem hatte er doch wissen wollen dürfen, wohin er geführt wurde. Er wollte auch gar nicht zu mäkelig sein. Ihm wäre abgesehen von dem Weg durch den Vorgarten jeder Ort recht gewesen. »Wir sollten aber an dem Arschloch dranbleiben«, sagte er. »An Rudge, meine ich. Für alle Fälle.« »Klar. Okay. Das machen wir doch, oder nicht?« »Für welchen Fall?« tönte die inquisitorische Rattenstimme. »Hä?« »Für welchen Fall?« »Oh. Für alle Fälle. Denke ich.« »Kommt jetzt, Jungs.« Dot brüllte plötzlich. »Ihr seid alle so still geworden. Was habt ihr denn vorhin gerufen? Wie war das noch mal? Aufwärts und vorwärts oder wie?« »Äh, nein. Es war…« »Egal, was immer es war, laßt uns ein bißchen Leben in die Bude bringen. Eins! Zwei! Drei! Los!« »Einwärts und auswärts und aufwärts und abwärts. Stimmt ab!« »Ja-nein-ah.« Der Chor schämte sich bei der Erinnerung an den Enthusiasmus von vorhin. »Das ist ja erbärmlich. Lauter!« »Einwärts. Und auswärts. Und aufwärts. Und abwärts. Stimmt ab!« »Ja-nein-Ah.« »Noch lauter!« »Einwärts! Und auswärts! Und aufwärts! Und abwärts! Stimmt ab!« »J A-NEIN -AH !« »So ist gut! Weiter so!« »Einwärts! Und auswärts! Und aufwärts! Und abwärts! 140
Stimmt ab!« »J A-NEIN -AH !« Im Schutz des neugewonnenen Selbstvertrauens des Chores stellte sich Dot neben Rudge. »Na los, Schlaukopf. Wir gehen in die richtige Richtung, klar? Weg von Krümel.« »Von was?« »Meiner Nichte. Ich habe deine Jungs soweit gezähmt, wie man sie zähmen kann. Was ich sagen will: Ich denke, ich habe meinen Teil getan. Und da Sie uns in den Schlamassel gebracht haben, sind Sie jetzt dran.« »Womit?« »Uns hier rauszuholen, natürlich. Schließlich sind Sie doch der Profi. So ein kleines Problem werden Sie doch wohl lösen können?« »Ach so. Genau. Kein Problem«, brummte Rudge mürrisch. »Hokuspokus-Scheiße!« Krümel stand neben der zu Boden gegangenen Sanitäterin, blickte sich in der Küche um und rieb sich die Hand, mit der sie zugeschlagen hatte. »Also gut.« Neben der Spüle lag Rudges Messer. »Das nehm’ ich mit.« Sie stieg vorsichtig über Florien und hob das Messer auf. »Und die Pistole.« Krümel wollte so wenig wie möglich zurücklassen, was Dot hätte schaden können. Auf dem Weg hinaus blieb Krümel im Flur stehen und blickte sich noch einmal um. Sie war zufrieden und lief zur Tür. »Tantchen, ich komme«, murmelte sie leise vor sich hin. Dave war schon halb durch den Vorgarten, als Krümel aus dem Haus platzte. »Hey!« sagte Dave. »Wo wollen Sie hin?« Krümel gab keine Antwort, sondern rannte weiter auf ihn 141
zu. »Hey, Sie«, sagte Dave. »Ich hab’ genug von Ihnen.« Er straffte seinen Körper und schloß die Augen, bereit, die volle Wucht des Zusammenstoßes mit Krümel abzufangen. Nichts geschah. Er öffnete die Augen. Krümel stand ruhig vor ihm. »Aus dem Weg«, sagte sie in einer eindrucksvollen Imitation der knochentrockenen Stimme. »Und wenn nicht?« »Dann dies!« Ein halbes Magazin Maschinenpistolenmunition jagte in den nächtlichen Himmel und tauchte Dots Vorgarten in grelles Licht. Als der Lärm und die Funken verpufft waren, war der Weg vor Krümel leer. Ohne zu zögern rannte sie zu ihrem Auto, riß die Tür auf, warf ihre neuen Waffen auf die Rückbank, sprang in den Wagen und ließ den Motor an. Sie wartete einen Moment, bevor sie losfuhr, denn vor ihren Augen flackerte noch das grelle Mündungsfeuer der Maschinenpistole. »Gott«, sagte sie, »hab’ ich das wirklich getan?« »Ja«, sagte eine Stimme aus dem Dunkel. »Ja. Ich fürchte, das haben Sie wirklich getan.«
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10 Es klingelte an der Tür. Deirdre lief los, um aufzumachen. Aber sie war so außer Atem, daß es noch zweimal klingelte, ehe sie schließlich an der Tür war. »Geduld, Geduld«, rief sie besorgt, »ich komme.« Rupert ist leichter zu erschrecken als ein Rehkitz, hatte sie sich eingeschärft, seit sie mit ihm telefoniert hatte, und sie wollte nicht, daß er einen Schrecken bekam, weil er so lange warten mußte. Deirdre strich ihren Rock glatt, den sauberen, den sie eben angezogen hatte. Sie blickte über ihre Schulter zum Wohnzimmer, das sie eben aufgeräumt hatte, und entdeckte die Whiskyflasche, die sie eben zugestöpselt hatte, auf dem Büffet, das sie eben abgestaubt und in Ordnung gebracht hatte. Froh, daß wirklich alles in Ordnung war, nahm sie die Kette von der Tür und öffnete, wobei sie einen Schritt zurücktat. Der hohe, spitze Absatz ihres Schuhs verfing sich im dicken Teppichbelag des Flurs, Deirdre stolperte rückwärts und verstauchte sich beim Fallen den Knöchel. Sie schrie. Rupert kam herein. »Deirdre?« sagte er vorsichtig. »Oh, Rupert.« Sie brach in Tränen aus. »Ich habe mir den Knöchel verstaucht.« Wo der Diamant war, war es warm, dunkel und wunderbar, und sein ereignisreicher Tag lief auf ein glücklicherweise ereignisloses Ende zu. Normalerweise hatte der Diamant nichts gegen einen gewissen Ereignisreichtum, andererseits mußte Ereignisreichtum nicht unbedingt bedeuten, daß Leute einen Angriff auf sein Leben starteten, wie PsychoHarry Devine es getan hatte, oder seinem Reiz widerstanden, wie Krümel es getan hatte. Alles in allem 143
war es ein Tag, den man vergessen konnte, und der Diamant war entschlossen, ihn zu vergessen. Er lag auf dem Rücken – im übertragenen Sinne –, starrte zur Decke hinauf und versuchte zu vergessen. Aber es gelang ihm nicht. Er rollte auf die Seite und krümmte sich zu einer Kugel und versuchte zu vergessen. Und es gelang ihm nicht. Er stand auf, ging ins Bad und trank ein Glas Wasser, alles natürlich im übertragenen Sinne, und er konnte immer noch nicht vergessen. Schließlich schlüpfte er in seine Lammfellhausschuhe und zog seinen braunkarierten Morgenrock mit dem glatten Gürtel an, der nie zusammengebunden blieb, setzte sich auf die Bettkante und dachte gründlich nach. Alles natürlich im übertragenen Sinne. Der übertragene Sinn hinter diesem vorgestellten Verhalten wurde natürlich von niemandem übertragen, der den Diamanten besessen hatte. Die Besitzer des Diamanten hatten seidene Morgenröcke und Maroquin-Slipper getragen. Aber der Diamant hatte eine Theorie, die besagte: Wer Verständnis für die feineren Dinge des Lebens entwickeln wollte, mußte die gröberen probieren, um eine Vergleichsmöglichkeit zu haben und die Dinge schätzen zu lernen. Also verschlampte er gelegentlich, im Geiste. Das tat er auch jetzt. Er bewegte sein imaginäres Unterteil auf die Kante seines imaginären, massigen Bettes und dachte über seine Situation nach. Und alles drehte sich, im Moment jedenfalls, um Psycho-Harry Devine. Psycho-Harry war kein so komplizierter Mensch, wie die Leute sich das gemeinhin vorstellten. Er war ziemlich einfach gestrickt. Er war lediglich ein schrecklicher Psychopath und wegen eines kleinen Mißverständnisses schrecklich, schrecklich gefährlich. Das Mißverständnis hatte damit begonnen, daß Harry die 144
Gedanken des Diamanten lesen konnte, und zwar weil ihm die Natur auf diese Weise mitteilen wollte, daß sie die Drähte in seinem Hirn durcheinandergebracht hatte (obwohl es auch andere Ursachen für so extreme telepathische Fähigkeiten gibt). Da Harry die Gedanken des Diamanten lesen konnte, glaubte er, er verstünde den Diamanten (so wie manche Leute glauben, wenn sie die Bibel lesen, verstünden sie Gott). Und was Harry in dem Diamanten sah, war nichts anderes als der Weltuntergang. Für Harry war der klobige Klumpen Kohlenstoff die Verkörperung des Bösen, eine unpersönliche und teuflische Macht, die mit Menschen spielte und alle zerstören wollte. Der Diamant fand Harrys Vorstellungen lächerlich. Natürlich spielte er mit Menschen. Was macht man sonst mit Spielzeugen? Aber sie alle zerstören? Das war der Gipfel des Irrsinns! Was bliebe denn dann zum Spielen? Harry war nicht nur gefährlich, sondern auch lästig, und das war viel schlimmer. Der Diamant spielte nicht einfach so. Spielen war sein Leben. Etwas anderes gab es nicht zu tun. Und solange Harry in der Nähe war, konnte der Diamant nicht spielen. Um zu spielen, mußte er telepathieren, und wenn er das jetzt täte, dann würde Harry sich einmischen. Unerbittlich, wie er war. Also mußte Harry sterben, wie der Diamant bereits festgestellt hatte. Der Diamant wälzte sich, im übertragenen Sinne, auf seinem unbequemen Bett und erwog die nächste Frage. Wie? Nun, zunächst war eine Reihe ernsthafter praktischer Probleme zu bedenken. Der Diamant konnte niemanden töten. Er konnte überhaupt nichts tun, weswegen es ihm solches Vergnügen bereitete, sich auszudenken, was er tun würde. Wenn er jemanden tot haben wollte, dann erlaubte er demjenigen, ihn zu besitzen, und dann nahmen die Dinge von selber ihren Lauf. Doch sich noch einmal in den Besitz von Psycho-Harry Devine zu begeben, würde auf 145
Selbstmord hinauslaufen. Das war ein schwieriges Problem, aber es mußte eine Lösung geben. Rupert blickte zu Deirdre hinunter, die im Wohnzimmer vom Boß auf dem Sofa lag. Sie hatte sich den Knöchel verstaucht, aber so schlimm, wie sie vorgab, war es nicht. Sie machte Rupert was vor, und er ließ es ihr durchgehen. Die Verzweiflung allerdings, mit der sie sich an ihn gehängt hatte, als er sie aus dem Flur hierhergebracht hatte, war nicht gespielt gewesen. Und Rupert war gerührt. Denn so wenig, wie er in den letzten fünfzehn Jahren an Deirdre gedacht hatte, hätte sie auch tot sein können. Vielleicht hatte er ja sogar gehofft, daß sie tot war. War das nicht ein bißchen übertrieben…? Aber jetzt, als er auf diese abgetakelte Frau hinunterschaute, jetzt, da… Er brauchte was zu trinken. Er ging hinüber zum Büffet, registrierte die fast leere Whiskyflasche und griff nach einer vollen Wodkaflasche. »Willst du auch einen?« fragte er Deirdre. Er war nicht nur überrascht, sondern auch froh, daß ihre Augen immer noch auf ihn gerichtet waren. Sie schüttelte den Kopf. »Du hast doch nicht etwa aufgehört?« »Nein. Ich hab’ einfach genug. Im Moment jedenfalls.« Im Moment, dachte Rupert. Wie lange war das? Bis sie Durst bekam? Bis ihr Vertrauen schwand? Oder ihre Hoffnung? Was immer das sein mochte. Nein. So einfach war das nicht. Er konnte sich da nicht einfach so raushalten. Er war ihre Hoffnung. Plötzlich, aus heiterem Himmel, war er es, ob er nun wollte oder nicht. Die Erkenntnis brachte Verantwortung, eine Verantwortung, die Rupert nicht ignorieren konnte, denn im Gegensatz zu dem, was die meisten von ihm dachten, war er kein gieriger und unsensibler Mann. Er war nur gierig.
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Krümel erstarrte. Sie blickte wie versteinert nach vorne. Sie lauschte. Abgesehen vom unregelmäßigen Tuckern des Leerlaufs war nichts zu hören, kein Geräusch. Also war vielleicht auch vorher nichts gewesen. Schließlich war sie erschöpft. Zuviel Aufregung. Zaghaft versuchte sie es noch einmal. »Gott«, sagte sie, »habe ich das wirklich getan?« »Ja«, sagte die Stimme aus dem Dunkeln, »daran hat sich immer noch nichts geändert, fürchte ich. Und was für eine Vorstellung das war! Sie hätten mal sehen sollen, wie der gute Dave gehüpft ist.« Krümel drehte sich zur Seite, um den Mann neben sich zu betrachten, aber da war nur ein Schatten im nächtlichen Dunkel. »Dave? Der Sanitäter? Kennen Sie ihn?« Die Stimme lachte. »Nein. Überhaupt nicht.« »Aber…« »Hab’ an der Tür gelauscht. Wahrscheinlich sollte ich mich entschuldigen. Eine schreckliche Angewohnheit von mir. Übrigens, Ihre Tante läßt Sie grüßen.« Krümel griff nach oben und schaltete die schwache Innenbeleuchtung des Autos an. Sie starrte in Radkappes Gesicht. »Tantchen Dot?« »Heißt sie so?« Radkappe überlegte, ob der Name paßte. »Dot. Ja, das paßt zu ihr. Tantchen Dot.« »Schön, daß Sie das sagen.« Krümel wandte sich ab und blickte durch die Windschutzscheibe. »Wer immer Sie sein mögen.« Auch Radkappe wandte sich um. Er schaute durch das Rückfenster des Wagens. Im Licht der offenen Tür von Dots Haus sah er, wie der Sanitäter Dave vorsichtig aus 147
einem Blumenbeet kroch. Auf der Straße sammelten sich dunkle Gestalten um den Krankenwagen und machten einige Probeattacken mit Schraubenschlüsseln, und ganz weit in nächtlicher Ferne waren Sirenen zu hören, die näher zu kommen schienen. Radkappe wandte sich wieder an Krümel. »Ich denke«, sagte er, »wir sollten langsam losfahren.« Krümel saß reglos da und antwortete nicht. Ihr Schweigen wurde vom Auto aufgegriffen, das diesen Moment wählte, um seinen Motor abzuwürgen. Auch wenn das Auto mit Krümel allerhand Meinungsverschiedenheiten haben mochte, wenn sie sich nicht rührte, dann war es ebenfalls still. »Hören Sie!« sagte Radkappe. »Ich kann Ihnen keine Vorwürfe machen, wenn…« »Mit Ihnen fahre ich nirgendwohin.« Krümel kochte vor Zorn, ihre Augen blitzten, und ihr Mund war nur noch ein dünner Strich. »Jedenfalls nicht, bevor Sie mir nicht sagen, wo Tantchen ist.« Radkappe schaute noch einmal durchs Rückfenster. Dave hatte inzwischen die lauernden Hobbyschrauber vertrieben und blickte nun nachdenklich auf Krümels Auto. Dann marschierte er auf das Auto zu. »Na gut«, sagte Radkappe, »sie haben sie ins Krankenhaus gebracht.« »Ins Krankenhaus?« »Ja.« »Warum sollte ich Ihnen das glauben?« »Hören Sie. Dafür haben wir jetzt wirklich keine Zeit. Lassen Sie bitte den Motor an, ja?« Radkappe blickte sich erneut um. Dave war nur noch ein paar Schritte entfernt. »Lassen Sie den Motor an!« Krümel blieb hartnäckig still sitzen. Radkappe lehnte 148
sich vor und drehte den Zündschlüssel um. Sehr gegen den Willen des kleinen Autos sprang der warme Motor sofort an. »Du bist ein Prachtstück«, murmelte Radkappe unhörbar. »Du bist ein Prachtstück.« Krümel rührte sich nicht, während Radkappe sie nur Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt anflehte: »Fahren Sie los, ja? Um Himmels willen, fahren Sie. Alles andere können wir später klären, wirklich, aber jetzt…« Dann fuhr das Auto zu Radkappes Überraschung von alleine los. Krümel hatte sich kein bißchen gerührt. »Er hat mich Prachtstück genannt«, summte das kleine Auto, als es die Straße entlangfuhr. »Was für ein lieber Mensch. Er hat mich wirklich Prachtstück genannt.« Was nur beweist, daß Treue schön und gut ist, Schmeicheleien aber Berge versetzen können. Oder verbeulte kleine Autos. Am Ende der Straße bog das Auto auf zwei Rädern um die Ecke und machte wie üblich einen ausgelassenen Satz, weil es wieder mal der Plünderung durch die Hobbyschrauber entgangen war. Wütend übernahm Krümel die Kontrolle. Sie rüttelte heftig am Steuer, und das kleine Auto schlingerte riskant über die Straße, nur knapp an einem Polizeiwagen vorbei, der ihnen mit flackerndem Blaulicht entgegenkam. Rupert hielt Deirdre ein Päckchen Zigaretten hin. Sie nahm eine Zigarette heraus und schaute zu Rupert hoch. »Danke«, sagte sie. »Du bist ein Sch…« »Psst!« Rupert legte seine Hand sachte auf Deirdres Mund. »Nicht so viel. Nicht so schnell.« Er setzte sich in sicherer Entfernung in einen Sessel. »Also dann«, sagte er. »Erzähl mir, wie’s dir geht.« Deirdres Hand zitterte, als sie das rosa Marmorfeuerzeug vom grünen Onyxtisch neben sich nahm. 149
»Wie’s mir geht?« Sie zog an ihrer Zigarette, saugte gierig den Rauch ein und blies ihn durch die Nase wieder aus. »So viel, hä? So schnell?« Aus ihrem Mund kringelte sich noch immer Rauch, während sie sprach, und ihre Stimme klang scharf und krächzend. »Lange nicht gesehen, Deirdre. Schön, dich wiederzusehen, Deirdre. Laß uns vögeln, Deirdre.« Sie hielt inne, schaute rasch zur Seite und dann wieder zu Rupert. »Tut mir leid.« Sie schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, tut mir leid.« Sie blickte wieder auf und zur Seite, während Rupert sich nicht rührte. »Hör mal, es dauert noch eine Weile, bevor er zurückkommt. Unser kostbarer Boß. Wir sollten ein Spiel spielen oder so was. Die Zeit totschlagen. Du hast doch immer gerne gespielt.« Deirdre wartete darauf, daß Rupert antwortete, dann deutete sie vage in die Richtung einer Kommode aus Walnußholz. »Die Spiele waren immer da drin, in der mittleren Schublade; ich nehme an, sie sind immer noch da. Such dir was aus, ja? Was du willst.« Als Rupert immer noch nicht reagierte, setzte sich Deirdre wütend auf. »Verdammt noch mal, wir können doch nicht einfach nur hier sitzen, oder? Uns den ganzen Abend lang anstarren, ohne was zu sagen.« Rupert stellte vorsichtig sein Glas ab. »Nein«, sagte er, »wahrscheinlich nicht.« Er durchquerte den Raum, öffnete die mittlere Schublade, betrachtete ihren Inhalt und ging mit je einer Schachtel in jeder Hand zu Deirdre zurück. »Was hältst du von Monopoly?« fragte er und hielt die bekannte rote Schachtel hoch. »Oder«, seine Augen glitzerten grimmig, »hast du Lust auf Schach?« 150
Der Diamant entwickelte einen Plan. Er ging in Gedanken noch einmal die wichtigsten Punkte durch. Punkt eins war, er wußte nicht genau, wo er war. Ein plötzlicher Anfall von Selbsterhaltung hatte ihn davon abgehalten, Krümels Gedanken zu lesen, als sie ihn versteckte. Denn was er nicht wußte, konnte auch PsychoHarry nicht rausfinden. Punkt zwei, selbst für den Fall, daß Psycho-Harry sich einblendete, wenn der Diamant anfing zu senden, würde ihn das Labyrinth der Korridore ablenken und ihn davon abhalten, irgendwohin zu gehen. Punkt drei. Wenn es wirklich drauf ankam, war der Diamant schlauer als Psycho-Harry. Und erfahrener. Es war von vornherein klar, wie die Sache ausgehen würde. Punkt vier. Trotzdem war der Plan riskant. Selbstgefälligkeit war nicht angesagt, aber, und der Diamant mußte lächeln, es würde trotzdem viel Spaß machen. Und jetzt war es soweit. Die Luft summte und bebte, während der Diamant einen schmalen, aber kräftigen telepathischen Suchstrahl Richtung Psycho-Harry schickte. »Ich gäb’ was drum«, sagte eine Stimme im Ohr des Diamanten. »Hä?« sagte der Diamant. Während er versuchte herauszufinden, wer ihn unterbrach, geriet sein Suchstrahl ins Stottern und erstarb. »Ich sagte, ich gäb’ was drum«, sagte die Stimme erneut. »Das weiß ich«, sagte der Diamant. »Das hab’ ich schon beim ersten Mal gehört.« »Also wirklich!« sagte die Stimme. »Und was soll dann das ›Hä?‹, hä? Das ist nun wirklich grob, während ich nur versuche, höflich zu sein.« »Tut mir leid«, sagte der Diamant, »wenn ich unhöflich 151
war, aber…« »Wenn er unhöflich war, sagt er.« Die Stimme wurde schärfer, »Wenn er unhöflich war. Entweder war er unhöflich oder nicht, ein Wenn hat da nichts zu suchen.« Überall um den Diamanten herum murmelten Stimmen, die sich mit der gekränkten Stimme einverstanden erklärten. »Also gut!« sagte der Diamant laut. »Ich war unhöflich. Tut mir leid. Und jetzt bitte ich, mich zu entschuldigen, ich habe zu tun.« »Oh«, sagte die gekränkte Stimme, »er hat also zu tun. Und hätten wir nicht alle gerne zu tun? Ich meine, guckt doch mich an, eine ausgezeichnete Puderquaste.« Die anderen Stimmen murmelten zustimmend. »Alles bestens. Aber habe ich zu tun? Denn Madame hat sich für ›natürliches Aussehen‹ entschieden. Ha! Und was soll schon an Seife und Wasser natürlich sein. Das würde ich gerne wissen. Fett, das ist natürlich. Mitesser sind natürlich. Aber sauber?« Die Stimme der Puderquaste schüttelte sich. »Ihhh.« »Jedenfalls nichts, was eine ordentliche Grundierung nicht beheben könnte«, sagte ein Mascara beschwichtigend. »Entschuldige, mein Freund«, fuhr er fort, »aber wir sind alle ein bißchen nervös seit…« »Hör ja auf, dich für mich zu entschuldigen«, kreischte die Puderquaste in einem plötzlichen Zornesausbruch. »Wir sitzen hier drinnen alle im selben Boot, also hat es überhaupt keinen Sinn, daß du dieses affektierte Getue aufführst. Mascara, in der Tat!« »›Hier drinnen‹, hä?« sagte eine Stimme, von der der Diamant sofort wußte, daß sie wesentlich irritierter war als das neurotische Kosmetikzeug. Die Stimme lachte. »Genau, ich bin’s. Ich habe deinen kleinen Blitz soeben empfangen. Also sag mir, wo kann das sein – ›Hier drinnen‹?« 152
Krümels Auto fuhr schnell auf eine Kreuzung zu, an der Radkappe und Krümel in die High Street einbiegen müßten. »Wir könnten hier anhalten, wenn Sie wollen«, sagte Radkappe, »ich denke, wir sind jetzt in Sicherheit. Krümel antwortete nicht. Sie drückte ihren Fuß entschlossen aufs Gaspedal.« »Wir sollten lieber nicht in die High Street einbiegen«, sagte Radkappe, »wir sind zu auffällig.« Noch immer antwortete Krümel nicht. Radkappe seufzte tief, schaute zum Wagendach hoch und sagte: »Bleib stehen, mein Prachtstück, ja? Gleich hier links wäre wunderbar.« Das Auto blinkte links und kam langsam unter einer Laterne zum Stehen. Krümel trat auf das Gaspedal und auf alles andere, was ihr in den Weg kam, aber das Auto reagierte nicht. »Danke«, murmelte Radkappe leise. Er wandte sich an Krümel. »Ein schönes kleines Auto haben Sie«, sagte er, »ich hoffe, Sie wissen das zu schätzen.« Ein Geräusch war zu hören, wie ein sardonisches Lachen, bis der Motor ausging und Stille herrschte. »Wir hätten zum Krankenhaus fahren sollen«, preßte Krümel durch ihre zusammengebissenen Zähne. Radkappe schüttelte den Kopf. »Wozu? Ihre Tante ist nicht dort.« »Aber Sie haben gesagt…« »Ich habe gelogen.« »Verstehe.« Krümel schürzte die Lippen. »Und wo ist sie dann? Was haben Sie mit ihr gemacht?« »Ich?« fragte Radkappe ungläubig. »Was ich mit ihr gemacht habe? Wir reden doch über Ihre Tante!« Er lehnte sich aufgebracht zurück. »Als ich sie zuletzt sah, übernahm 153
sie gerade einen Trupp schwerer Jungs, und soweit ich das verfolgen konnte, war sie auf dem Weg zu sich nach Hause, um sich zwei weitere schwere Jungs vorzunehmen, die dachten, sie hätten sie im Keller eingesperrt.« »Warum sollte ich Ihnen glauben? Sie haben schon einmal gelogen.« Radkappe zuckte mit den Achseln. »Wer sollte sich so was ausdenken? Das ist doch unwahrscheinlich.« Krümel brachte Radkappe – wie schon viele andere vor ihm – in Rage. Aber gleichzeitig ist sie sehr liebenswürdig, dachte er, als er das Ganze aus der Nähe betrachtete. Seine Stimme wurde sanfter. »Hören Sie, betrachten Sie das doch mal so. Stimmt’s, Sie waren mitten zwischen Maschinenpistolen und Sanitätern und Polizeisirenen, und wer hat sie da rausgeholt? Ich. Und ich will weiter nichts, als daß Sie und Ihre Tante wieder zusammen- und raus aus diesem Schlamassel kommen.« »Warum?« »Weil ich ihr einen Gefallen schuldig bin.« »Und Sie erwarten, daß ich das glaube?« sagte Krümel. »Was wollen Sie wirklich? Und was wollen Sie mit mir tun? Sie haben schon mein Auto dazu gekriegt, daß es für Sie arbeitet.« Radkappe seufzte tief. »Können Sie mir nicht einfach vertrauen?« Krümel antwortete nicht. »Hören Sie. Würde es Ihnen helfen, wenn ich Ihnen sage, ich weiß, daß Sie den Diamanten haben und daß der mich überhaupt nicht interessiert?« »Aha! Sehen Sie? Sie sind hinter dem Diamanten her!« »Ich bin nicht hinter dem Diamanten her.« 154
»Tja. Da kann ich nur sagen: Ha! Ha! Sie sind ein Gauner. Einer von ihnen.« »Zum Teufel noch mal!« Radkappe blickte trübsinnig aus dem Fenster und holte tief Luft. Wie um alles in der Welt sollte er… Radkappes Gedanken wurden von etwas Kleinem, Hartem unterbrochen, das vorsichtig in seine Seite stieß. Er erstarrte. O nein. Bitte nicht. Ganz, ganz vorsichtig wandte er den Kopf zu Krümel um. Sie lächelte freundlich und hatte die Maschinenpistole von knochentrockener Stimme in der Hand. »Gehen Sie ins Gefängnis, gehen Sie direkt dorthin, gehen Sie nicht über Los, nehmen Sie nicht zweihundert Pfund ein.« Deirdre lächelte Rupert an. »Ab mit dir!« sagte sie. »Wann, hast du gesagt, kommt der Boß zurück?« fragte Rupert, aber Deirdre ignorierte ihn. »Geh ins Gefängnis«, sagte sie. »Komm schon, ab mit dir.« Sie legte die rosa Karte unter den Stapel, nahm den kleinen Zylinder, der Ruperts Figur darstellte, und brachte ihn ins Gefängnis. »So«, sagte sie. Sie machte eine Pause und blickte dann Rupert ins Gesicht. »Was den Boß betrifft: Du hast nicht gesagt, was du von ihm willst. Sollte er morgen nicht sowieso zu dir kommen?« Rupert schaute auf seine Uhr. »Stimmt«, sagte er, »es ist immer noch morgen. Gott, war das ein langer Tag.« Deirdre schob die Würfel zu Rupert hinüber. »Du bist noch mal dran, du hast einen Pasch gewürfelt.« Rupert nahm die Würfel und ließ sie lustlos auf das Brett fallen. 155
»Pasch vier«, sagte Deirdre, »du bist wieder draußen. Geht leicht, was?« Rupert bewegte seine Figur acht Felder vorwärts. »Und das gehört mir«, sagte Deirdre. »Die Miete bitte.« Sie wühlte in dem Stapel von Karten neben ihrem Ellbogen. »Marlborough Street, mit einem Hotel, das sind neunhundertfünfzig Pfund.« Rupert nahm seine letzten beiden Spielpfundnoten und ließ sie auf Deirdres Seite des Spielbretts fallen. »Das war’s«, sagte er. »Ich bin pleite. Du hast gewonnen.« Er schaute hoch und blickte Deirdre zum ersten Mal in die Augen, seit sie angefangen hatten zu spielen. Er hatte vergessen, welche Macht diese Augen hatten. Sie könnten einen direkt packen, wenn man sie ließ. Diese Augen. Und die Tragik von Deirdre war, daß sie niemals gewonnen hatte, in ihrem ganzen Leben nicht. Nichts. Diese Augen. Erst hatte sie ihn gehabt und dann den Boß. Sie war eine doppelte Verliererin mit Zins und Zinseszins. Diese Augen. Und sie hatte noch nicht einmal Schuld. Eigentlich nicht. Überhaupt nicht. Er war verantwortlich. Ohne darüber nachzudenken, was er da tat, griff Rupert über das Monopolybrett, packte Deirdres Hände und barg sie in seinen, während er gleichzeitig herausplatzte: »Meine Güte, Deirdre, was soll das, wir sitzen hier und spielen und verschwenden unsere Zeit. Er wird jeden Moment zurückkommen. Wir müssen was besprechen.« Der Diamant hörte, was Psycho-Harry sagte, und wurde unruhig. Er wunderte sich, wieso. Aber es war schwierig, 156
mit Harry im Kopf einen Gedanken zu fassen. »Ja, das ist eine interessante Frage«, drang die Stimme in ihn. »Warum bist du unruhig? Ich hatte angenommen, du wolltest mit mir sprechen.« »Stimmt.« »Aber?« »Ich dachte, jemand würde sagen, wo ich bin.« »Ja, das war gut. Es nicht zu verraten. Aber du brauchst dir keine Gedanken zu machen. Sie haben’s schon getan.« »Aber ich weiß nicht, wo ich bin.« »Dann denk darüber nach.« Der Diamant dachte darüber nach und stellte sich dabei so nervös und unbeholfen an wie ein geübter Fahrer, der von einem altgedienten Fahrlehrer beobachtet wird. »Schon was rausgekriegt? Eine Puderquaste. Mascara? Was meinst du wohl, wo du bist, zum Teufel noch mal?« »In einem Kosmetiktäschchen?« »Sollte man meinen, nicht wahr?« Der Diamant antwortete nicht. Ihm liefen kalte Schauer den Rücken hinunter, und seine Eingeweide wurden zu Wasser, im übertragenen Sinne. »Und wo, meinst du, hat die alte Frau ihr Kosmetiktäschchen?« Im Kopf des Diamanten hatte sich ein Gedanke gelöst, ohne gedacht worden zu sein. Harry schlug sofort zu. »Aha! Es handelt sich gar nicht um die alte Frau. Es ist ein Mädchen.« »Eine junge Frau«, korrigierte ihn traurig der Diamant. »Wie du meinst.« Nachdenklich spazierte Psycho-Harry durch die Seele des Diamanten. »Und das Mädchen sieht gut aus, stimmt’s? Jedenfalls nach normalen Maßstäben.« Der Diamant versuchte verzweifelt, sich abzuschalten und Psycho-Harry auszuschließen. Die Puderquaste hatte 157
ihn aus der Bahn geworfen. Er brauchte eine zweite Chance. Aber der große Nachteil der Telepathie besteht darin, daß beide Seiten einverstanden sein müssen, wenn man die Leitung unterbrechen will. Psycho-Harry lachte über die Bemühungen des Diamanten. Dann: »Nun ja«, sagte er. »Sie kommt mir bekannt vor. Diese junge Frau. Kenne ich sie?« »Wie soll ich das wissen?« »Ja. Ja. Ich glaube, ich kenne sie. Ich habe das Gesicht schon mal gesehen. Aber wo, hm? Das ist die Frage. Wo?« Wieder war der Diamant nicht in der Lage, die Antwort zurückzuhalten. »Natürlich, sie ist Krankenschwester, die Krankenschwester, die ich gesehen habe…« Die Stimme von Psycho-Harry klang nicht mehr vergnügt, sondern gepreßt. »Erster links, zweiter links, erster links, erster links, zweiter links, und dann ist es der zweite rechts. Nicht weit. Doch, der möchte ich noch mal begegnen.« Harry machte eine Pause, um nicht die Kontrolle zu verlieren. »Und wo, meinst du, hat eine Krankenschwester ihr Kosmetiktäschchen?« »Weiß nicht.« Der Diamant hatte das Gefühl, schon genug preisgegeben zu haben. Und er machte sich Sorgen. »Zu Hause?« »Durchsuch mich doch.« »In ihrem Spind im Schwesternzimmer? Haben die so was? Wo die sich nach dem Dienst aufdonnern?« »Hör mal, Harry.« Der Diamant bettelte fast. »Muß das alles wirklich sein? Sollten wir nicht eine friedliche Lösung suchen? Könnten wir nicht miteinander reden?« Radkappe saß in Krümels Auto, die Maschinenpistole zwischen den Rippen, und versuchte aller Nonchalance 158
habhaft zu werden, die er aufbringen konnte, aber das meiste rutschte ihm durch die Finger. »Na klasse«, sagte er, »sehr sinnig. Und was machen Sie jetzt?« »Halten Sie den Mund!« Krümel stieß Radkappe mit der Pistole an. »Ich muß nachdenken.« Radkappe lächelte gewinnend. »Ich hab’ gesagt, Sie sollen den Mund halten.« »Ja«, sagte Radkappe. »Ich hab’s gehört. Sie müssen nachdenken.« Ganz langsam drehte er den Kopf, um nach vorne zu schauen. »Von mir aus gerne. Lassen Sie sich Zeit. Wenn Sie allerdings meine Meinung hören wollen…« Radkappe wählte seine Worte sorgfältig. »Ich denke, wir sollten miteinander reden.«
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11 »Von wegen Hokuspokus-Scheiße!« zischte Dot Rudge im Schutz des Lärms zu, den der skandierende Chor machte. »Ich will keinen Scheiß-Hokuspokus. Sie müssen den Anfang…« Plötzlich blieb Dot stehen und erstarrte. Den Kopf hatte sie zur Seite geneigt, um besser zu hören. Vor ihr wurde Rudge weiter in die Nacht geschoben, und von hinten lief ein großer Körper gegen Dot. »Paß doch auf, ey!« knurrte eine Rattenstimme. »Was zum Teufel… Oh. ‘tschuldigung, Mrs. Coulson.« »Miss Coulson. Aber nennen Sie mich doch Dot. Alle tun das.« Dot tätschelte den Arm der Rattenstimme. »Und rufen Sie weiter, ja? Wir wollen doch nicht den Schwung verlieren, oder?« Sie ließ die nunmehr verblüffte Rattenstimme stehen, eilte dem Chor hinterher und rief so unbeschwert wie möglich: »Genau so, Freunde! Weiter so! Einwärts und auswärts und aufwärts und abwärts, stimmt ab!« »J A-NEIN -AH !« Dot mochte nur eine kleine alte Frau sein. Dennoch war sie wie eine Spore in der Flanke eines Streitrosses durchaus groß genug, um die Jungs vom Boß anzuheizen. Die Jungs skandierten ihren Slogan mit neuem Elan, und Dot drängte sich durch die Menge, bis sie wieder an der Seite von Rudge war. »Haben Sie das gehört?« zischte sie ihm zu. Er blickte sich erschrocken um. »Oh, Sie sind das. Machen Sie das nicht noch mal.« »Haben Sie das gehört?« »Was denn?« »Gerade eben. Eine Maschinenpistole. Eine lange Salve.« 160
»Nein. Hab’ überhaupt nichts gehört. Haben Sie das wirklich gehört?« Gereizt zu reagieren wäre Zeitverschwendung gewesen, also entschied sich Dot für: »Ja, ich bin mir sicher.« Rudge hörte es sowieso nicht. Er wurde wieder von ihr weg nach vorn geschoben. Sie rannte ein Dutzend Schritte, versuchte, wieder an seine Seite zu kommen, aber bevor sie bei ihm war, drang neuer Lärm durch die Nacht, und diesmal brachte er sich deutlich zu Gehör. Dabei dröhnte er nicht über das Skandieren des Chors hinweg, sondern schnitt glatt durch es hindurch. Dot erreichte Rudge und packte ihn am Arm, jedenfalls soweit das zwischen den vielen Armen der Rattenstimmen möglich war. »Das werden Sie doch wohl hören, oder? Die Sirenen.« »Ja.« Rudge war gereizt. »Und wollen Sie raten, wohin die fahren?« »Ich kann mir vorstellen, wohin die fahren. Aber wenn Sie denken, daß ich… Auutsch!« Rudge konnte gerade noch den Schmerzensschrei unterdrücken, den Dots Fingernägel hervorriefen, die sich plötzlich in seinen Arm gruben, und Dot ließ ihm auch keine Zeit für weitere Beschwerden. »Ich hab’ eine Idee«, zischte sie. »Folgen Sie mir einfach nach, ja?« »Aber…« »Keine Zeit für Fragen. Denken Sie beim Gehen. Und wenn wir uns geschickt anstellen, können wir ihnen entwischen.« »Aber…« »Das müssen wir doch, oder?« drängte Dot. Dann war sie verschwunden, bahnte sich mit den Ellbogen einen Weg durch die Gruppe, bis sie ganz vorne war. »Hört mal kurz auf, bitte!« rief sie dem Chor zu, der sie umschwärmte. »Hey, hört auf!« Aber der Chor hörte sie 161
nicht und setzte seinen Marsch unerbittlich fort. Der kleine, schwache gelbe Lichtschimmer vor ihnen wurde immer größer. Es war das Ende des Durchgangs, wo er auf Dots Straße stieß. »Freunde! Freunde!« rief Dot, aber sie konnte sich nicht zu Gehör bringen. Das Sirenengeheul war deutlich lauter geworden. Bald würde es zu spät sein. Kurz entschlossen wirbelte Dot herum und trat der nächsten Rattenstimme mit aller Kraft gegen das Schienbein. »Hör auf!« schrie sie ihm ins Gesicht, und jetzt verstand er. Dot holte noch einmal mit dem Fuß aus und traf eine Kniescheibe. »Hey, hör auf, eh!« Schließlich brachte sie den ganzen Chor zum Stehen. »Äh, was ist denn?« fragte eine Rattenstimme. »Ich dachte, wir gehen zu…« »Wo wir hingehen wollten«, sagte Dot scharf, »ist gleich dahinten.« Sie deutete in Richtung des Lichts am Ende der Abkürzung. »Aber im Augenblick ist ›dahinten‹ die Hölle los.« »Und woher wollen Sie das wissen?« »Hört auf sie, Kumpels.« Das war Rudges Stimme, die durch das Mißtrauen schnitt. Gut gemacht, Rudge, dachte Dot. Murrend kam der Chor zum Schweigen. Dot zu folgen war in Ordnung, weil sie sonst niemand irgendwohin führte, aber bei Rudge war das anders. Dot fuhr fort. »Hört ihr die Sirenen dahinten? Nun, ich denke, die haben was zu bedeuten, oder?« Zustimmendes Gemurmel. »Und ich denke, sie bedeuten, daß die Polizei da eine kleine Party veranstaltet. Und was für eine. Und – obwohl das nur eine Vermutung ist – ich glaube, sie feiern ihre Party bei meinem Haus.« 162
Dot machte eine Pause, damit der Chor die Information verdauen konnte. »Bei Ihrem Haus?« »Das war’s dann mit unserem Tee. Ich hatte mich so auf eine schöne Tasse Tee gefreut.« »Aber warum bei Ihrem Haus?« »Warum bei meinem Haus?« Dot lachte. »Warum bei meinem Haus?« Sie seufzte tief. Es klang wie Wut, aber tatsächlich war es Befriedigung. Der Chor war so leicht zu berechnen. »Weil die hinter ihr her sind natürlich«, warf Rudge schnell ein. Er hatte mehr oder weniger geraten, worauf Dot hinauswollte. Er hoffte, er hatte recht. »Gut, Mr. Rudge. Sehr gut«, sagte Dot. Er begriff schnell. Sie wollte herausfinden, ob er alles begriffen hatte. »Aber das ist noch nicht alles, stimmt’s?« sagte sie. »Nein«, stimmte ihr Rudge zu. »Das ist es nicht. Eigentlich geht’s darum, ob die Polizei den Diamanten kriegt, bevor wir ihn haben.« Dot entfuhr ein Seufzer der Erleichterung. Rudge war wirklich gut. Er war richtig sehr gut. »Hä?« machte eine Rattenstimme. »Du meinst, der Diamant ist da in dem Haus? Wo die Polizei ist?« »Aber nicht mehr lange«, sagte Rudge, der jetzt richtig in Fahrt kam. »Bald ist er bei den Bullen. Aus der Welt. Für immer.« »Er hat recht«, sagte Dot lebhaft. »Und was machen wir?« fragte nervös eine Rattenstimme. Immer wenn die Polizei erschien, rannte der Chor instinktiv eine Meile weit weg. »Oh, wir können alles mögliche tun«, sagte Dot locker. »Ist es nicht so, Mr. Rudge?« Jetzt konnte sie ihm 163
vertrauen. Sie arbeiteten zusammen. »O ja«, sagte Rudge entgegenkommend. »Alles mögliche.« »Zum Beispiel?« sagte eine verdrießliche Stimme. »Spielt keine Rolle«, sagte Rudge, »weil wir nichts davon tun werden. Wir werden umdrehen, ihnen das Teil überlassen und dem Boß sagen, daß wir es versucht, aber nicht geschafft haben.« Dot war entsetzt. Gerade als alles so gut lief, als es so aussah, als wäre Rudge auf ihrer Seite, da fiel er ihr in den Rücken. Das verblüffte Schweigen des Chors wurde von einer gereizten Stimme unterbrochen. »Wer sagt das?« Oh, Entschuldigung, Mr. Rudge, dachte Dot, als sie den Klang der Stimme vernahm. »Genau. Stimmt. Wer sagt das?« Tut mir leid, daß ich dir nicht getraut habe. »Der arbeitet doch auf eigene Kappe. Habt ihr das vergessen?« Auch wenn’s nur ein Augenblick war. »Was der sagt, können wir nicht machen.« »Stimmt doch ab«, schlug Dot vor. Sie gab den Worten genau den richtigen Anstrich des Zögerns. Zustimmendes Gemurmel. »Der Antrag lautet«, sagte Dot und wurde wesentlich autoritärer, »daß wir nicht tun, was Rudge vorschlägt. Eins, zwei, drei. Abstimmen!« »JAAH !« »Das war einstimmig, oder?« »Jaah!« »Gut. Dann aber schnell. Statt dessen machen wir folgendes.« 164
In Dots Straße war die Stimmung ausgesprochen angespannt. Ein bulliger Polizeikommissar mit Kampfanzug, Patronengurt und Schutzhelm hatte sich vor dem Sanitäter Dave aufgebaut und packte ihn an den Schultern. »Also. Jetzt noch mal ganz in Ruhe, ja? Wie viele Geiseln? Wie viele Geiselnehmer? In welchem Raum waren sie, als Sie sie zuletzt gesehen haben? Wie viele Zimmer gibt es?« »Hören Sie, ich denke, hier muß ein…« Aber Dave durfte nicht weitersprechen. Der Kommissar fuhr rücksichtslos fort. »Und Türen? Wie viele? Auf oder zu? Stehen oder sitzen die Geiseln? Welchen Einschränkungen unterliegen sie? Und was ist mit Vorräten und Versorgung? Essen? Wasser? Klos? Um Himmels willen, Mann, antworten Sie.« Vor Aufregung schüttelte der Mann Dave, aber plötzlich erstarrte er, ein ängstlicher Ausdruck schlich sich auf sein Gesicht, und er blickte sich langsam um. Die Straße lag in gleißendem Flutlicht. Die Überreste des weißen Minibusses und die von Radkappes Auto waren ans Ende der Straße geschleppt worden, und neben ihnen war Daves Krankenwagen geparkt worden, damit die Polizeiautos und Mannschaftswagen, die in einem Halbkreis vor Dots Haus aufgestellt waren, freie Sicht hatten. Hinter jedem Fahrzeug kauerten Polizisten, die die Waffen auf die Haustür der alten Frau gerichtet hatten, und aus den Schatten starrten hungrige Augen gierig auf den glänzenden Krankenwagen und die Polizeifahrzeuge. Als der Kommissar aufhörte, Dave zu schütteln, verharrte die ganze Straße bewegungslos. Dave fühlte sich in dem offenen Raum vor dem Polizeikordon exponiert und bekam es mit der Angst zu tun. Offensichtlich verspürte der Kommissar dasselbe, denn er klemmte sich Dave plötzlich 165
unter den Arm und raste auf die Polizeiautos zu. »Um Himmels willen, Mann!« schrie er, während er rannte. »Was haben Sie sich bloß dabei gedacht? Stehen hier draußen wie auf dem Präsentierteller.« Mit dem lauten Schrei: »Deckung!« warf er sich zu Boden und landete krachend mit Dave unter sich hinter einem Mannschaftswagen. Dann drückte sich der Kommissar Dave mit einem kräftigen Bärengriff an die Brust, rollte zehn Meter zur Seite und blieb auf dem unglücklichen, inzwischen bewußtlosen Sanitäter liegen. Der Kommissar hob den Kopf und blickte sich um. »Also gut.« Der Kommissar keuchte. »Hier sind wir in Sicherheit.« Er rollte von Dave herunter, packte ihn vorne am Pullover und drückte ihm seinen Finger auf die Brust. »Genau, mein Junge, jetzt sind Antworten gefragt. Und ich will nicht…« Aber da war was mit Dave, was den Kommissar ins Grübeln brachte. »Mein Junge?« Er schüttelte Dave. Es war seine erste annähernd sanfte Geste, aber sie kam zu spät. Dave hörte nicht zu. Der Kommissar ließ ihn fallen, wischte sich die Hände ab, als müsse er sich vor Ansteckung schützen, und bellte: »Holt mir einen anderen Zeugen! Dieser hier ist zusammengebrochen!« Fragende Blicke und Schulterzucken liefen eilig durch den Polizeikordon, aber niemand reagierte. »Ich habe gesagt…«, bellte der Kommissar, doch eine fröhliche Stimme unterbrach ihn. »Es gibt keine weiteren Zeugen, Sir!« Der Kommissar erhob sich auf die Knie, um zu sehen, wer gesprochen hatte, aber seine Männer waren absolut still. »Nur diesen einen!« Wieder die fröhliche Stimme. Frecher Mistkerl. Die Wangen des Inspektors brannten. Wie konnte es jemand wagen, sich lustig zu machen? Und da wurde gekichert. Er war sicher, daß da gekichert wurde. 166
»Sind Sie sicher, daß es keine mehr gibt?« »Sehr sicher, Sir.« Es wurde gekichert. Nun. Wenn sie sich einen Scherz erlauben wollten, dann waren sie an den Falschen geraten. Er würde es ihnen zeigen. Jede Vorsicht außer acht lassend, stand der Kommissar auf und schritt in den offenen Raum vor Dots Garten. »Okay, Männer«, rief er. »Dann gibt’s nur eins. Wir dürfen keine Menschenleben gefährden, oder?« »Aber Sir…« Der Kommissar musterte seine Männer sorgfältig, aber wegen der Schatten, der Rüstungen und der Visiere war es unmöglich zu sagen, wer sprach. »Sir. Der Sanitäter hat gesagt…« »Spielt keine Rolle. Unzuverlässiger Zeuge. Guckt ihn euch doch an. Der schläft einfach!« Gekicher. Der Kommissar blickte finster drein. Er würde ihnen das Kichern schon austreiben. Er wandte sein Gesicht Dots Haus zu, zog seine Pistole, hielt sie hoch in die Luft und entsicherte sie. »Also gut, Männer. Wir gehen rein. Ich zähle bis drei. Eins. Zwei…« In einem schmalen Durchgang hinter Dots Haus wartete der Chor schwitzend, schnaufend und schweigend. Es war für Dot ein schweres Stück Arbeit gewesen. Erst hatte sie den Chor überzeugt, ihrem Plan zu folgen, dann hatte sie die Stimmen in den Gang hinter ihrem Haus geschoben, ihnen das Haus gezeigt und sie dann so aufgestellt, wie sie ins Haus eindringen sollten. Sie wollte nicht, daß dabei Verwirrung entstand, weil – sie dachte an den Schlüssel unter dem Stein an der Hintertür – je 167
schneller sie drin waren, um so schneller könnte sie sie daran hindern, herauszukommen. Sie schluckte nervös. »Also los«, flüsterte sie. »Eins, zwei…« »Sieht verdammt still aus«, sagte eine unruhige Rattenstimme. »Tja«, seufzte Dot, »gerissene Mistkerle. Also, wenn ihr soweit seid, probieren wir’s noch mal. Eins, zwei…« »Was ist mit Rudge?« sagte eine andere Stimme. »Freiberuflern traue ich nicht.« »Wir sind uns doch über Rudge einig.« Dot seufzte. »Wir haben abgestimmt. Wißt ihr nicht mehr? Ich paß auf ihn auf, bis ihr mit dem Diamanten zurückkommt.« »Ach ja.« »Also los. Hat noch jemand was zu sagen?« Dot erlaubte ihrer Stimme, ein klein wenig gereizt zu klingen. »Nein? Also gut. Wenn ich bei ›drei‹ bin. Eins. Zwei…« Hinter dem Kommissar liefen ein verstohlenes Zwinkern und ein Lächeln durch den Polizeikordon. »Alter Angeber«, sagte das Zwinkern. »Nicht rühren«, antwortete das Lächeln. »Da ist sowieso niemand drin.« »DREI !« Ohne sich umzublicken, sprintete der Kommissar auf Dots Haus zu. »DREI !« schrie Dot, so laut sie konnte. Sofort stürmte der Trupp dunkler, flatternder Mäntel durch den Hof in die ruhige Stille von Dots Haus. Ein Spektakel, das Dot als erstaunlich bewegend und erfrischend empfand. Aber sie hatte nicht viel Zeit zum Zuschauen. Dot lief dem Chor hinterher, und sobald der letzte Mann im Haus war, knallte sie die Hintertür zu und schloß sie ab. »Zeit zu verschwinden, denke ich«, sagte sie. »Krümel 168
wird nicht ewig in der Gegend bleiben.« »Nein«, stimmte ihr Rudge zu, der direkt hinter ihr stand. »Jedenfalls nicht, wenn sie nur halb so schlau ist wie ihre Tante.« Der Polizeikordon hatte im Grunde erwartet, den Chef ziemlich bald wiederzusehen. Überraschend war allerdings, daß er wie ein Fußball aus Dots Haus gerollt kam, gefolgt von einer Horde von Männern in dunklen, flatternden Mänteln. Die Horde von Männern war auch überrascht. Ihre Nerven waren wegen der für sie so ungewöhnlichen Konfrontation so angespannt gewesen, daß sie, da sie auf nicht mehr Widerstand als auf den einen erregten Kommissars stießen, von ihrer eigenen Wucht durchs ganze Haus, durch den Garten bis hinaus auf die andere Straßenseite katapultiert wurden. Und da war nun eine weiße Reihe Polizeiautos, um die sich eine dunkle Reihe von Gewehren zog. Die Horde kam zitternd zum Stehen. In der dunklen Reihe der Gewehre klapperte es ein wenig, als die Kolben näher an die Schultern herangezogen wurden. Die Zeit blieb stehen. Dann plötzlich: »Nicht schießen!« schrie eine Stimme aus den Reihen der Polizei. »Sie sind nicht bewaffnet.« Der Chor betrachtete seine Hände, als würde ihn überraschen, daß es stimmte, was gerufen worden war. Nachdenkliche Stille. »Also ist es bloß eine Verhaftung? Oder?« fragte eine andere Polizistenstimme. »Ja. Sieht so aus.« »Gute Idee.« »Also gut, dann ist es eine Verhaftung«, sagte eine amtliche Stimme. »Gewehre auf die Wagen, Männer.« Im allgemeinen wollen britische Bobbys keine Menschen 169
erschießen. Aber eine richtig energische Verhaftung, das ist was anderes. Eine richtig energische Verhaftung ist alles, was man braucht, um den Frieden zu bewahren. Die Jungs vom Boß warteten geduldig, während der Kordon sich in ein Chaos wimmelnder blauer Kampfanzüge verwandelte, die Schußwaffen, Schutzpanzer und Helme sicher in den Mannschaftswagen verstauten. Die Polizisten versammelten sich vor dem Chor. Sie sahen entschieden fröhlicher aus. »Na dann. Also gut«, sagte die amtliche Stimme, und ein teigiger Sergeant trat vor den Chor. »Ihr seid alle bereit, ja?« »Äh, ich bin nicht sicher«, sagte die Rattenstimme, die vorne stand. »Wir müssen erst mal abstimmen.« Er wandte sich an seine Kollegen. »Wie sieht’s aus? Der Antrag lautete: Sind wir bereit? Eins, zwei, drei…« »J AAAH !« Ungehemmt strömte Adrenalin durch die Adern des Chors. Es ist eine dumme Droge. Die Rattenstimme wandte sich an den Sprecher der Polizei. »Einstimmig.« Er lächelte nervös und zuckte mit den Achseln. »Tja, da sehen Sie mal, was Demokratie ist.« »Hmmm.« Der Sergeant lächelte nicht. »Wo ich herkomme, gibt’s so was nicht.« Er wandte sich an die geschlossenen Reihen in Blau hinter ihm. »Nehmt sie fest, Männer«, rief er. Dann drehte er sich wieder zum Chor um, riß seinen rechten Arm wie ein General bei Waterloo hoch in die Luft und brachte ihn mit einem prächtigen Schwung wieder herunter. Mit ohrenbetäubendem Gebrüll stimmten die Polizisten ihren unsterblichen Schlachtruf an: »Oi, oi, oi. Sie sind VERHAFT ET !«, und wie ein Mann stürzten sie sich auf die unerschütterlichen Reihen der besten und tapfersten Jungs vom Boß. 170
12 Weit weg, im Wohnzimmer einer einsamen Villa an einer einsamen Stelle der spanischen Küste, war Mohnblüte tief in Gedanken versunken. Und das allein, überlegte sie, hätte schon gereicht, um Rupert zum Lächeln zu bringen. Denken gehörte nicht zu Mohnblütes Aufgaben. Sie runzelte die Stirn und hob die Hand, um einen juckenden Ölfleck auf ihrer Stirn wegzuwischen. Ihr Gesicht war genau wie ihre Hände und der Overall, den sie immer noch trug, voller Öl. Und jetzt auch das protzige weiße Ledersofa, auf dem Mohnblüte lag. Aber sie war nicht entspannt. Dies war ein Akt der Revolte, und Revolutionen sind nicht erholsam. Mohnblüte haßte das Sofa. Es stand für Ruperts schlechteste Seite, seine Liebe zu den Dingen. Er umgab sich mit Dingen. Sie mochten ja schön sein, auf ihre Art, meinte Mohnblüte, aber sie waren so… zum Beispiel dieses Sofa – so herrisch. Sie verlangten unendlich viel Sorgfalt und Pflege. Und bekamen sie auch. Sogar jetzt noch. Mohnblüte stand auf, ohne so recht zu wissen, warum, und schaute auf den Schmutz, den sie auf dem Leder verschmiert hatte. Ohne ihr Zutun tummelten sich Gedanken an Spiritus und Putzmittel in ihrem Kopf. Es war, als würde das Sofa… Das war nun wirklich albern. Das Sofa war nicht schuld an Ruperts Fehlern. Das Sofa war einfach, was es war. Es konnte nichts anderes sein. »Das ist aber nett von dir.« Mohnblüte erschrak. Man konnte schon verrückt werden, wenn man hier die ganze Zeit alleine war, aber Stimmen im Kopf, das war etwas Neues. Das machte ihr Sorgen. »Es gibt wirklich keinen Grund, sich Sorgen zu machen.« Mohnblüte blickte sich hastig um. Die Stimme klang 171
schrecklich echt. »Obwohl ich das auch täte, wenn ich du wäre.« Mohnblüte drehte dem Sofa den Rücken zu und stellte sich tapfer und herausfordernd hin, aufs Schlimmste gefaßt. »Wo .. wo bist du?« Ihre Stimme war zunächst zaghaft, aber ihr eigener Klang verlieh ihr Sicherheit, und so wurde sie etwas fester. »Wer bist du?« »Das könnte ich dich genausogut fragen«, sagte die Stimme. »Aber die Antwort wäre zu schockierend.« »Was…« Mohnblütes Selbstvertrauen war erschüttert. »Was soll das heißen?« »Das weiß nur ich.« Die Stimme war gleichgültig. »Und du wirst es herausfinden.« Eine Pause. »Übrigens, ich stehe hinter dir.« Mohnblüte wirbelte mit weit aufgerissenen Augen herum. Hinter dem Sofa war niemand, nur das leere Parkett, eine rauhe weiße Wand und ein ungerahmtes, expressionistisches Bild. Neben dem Bild reichte ein großes, blindes, schwarzes Fenster vom Fußboden bis zur Decke. Mohnblüte sauste um das Sofa herum, zog die Vorhänge zu und hängte sich verzweifelt an die Kordel, damit die Vorhänge nicht wieder aufgingen und von draußen… »Da draußen ist niemand«, sagte die Stimme. »Du bist völlig in Sicherheit. Ich bin hier drüben.« Mohnblüte blickte voller Angst auf. Da war wieder nichts als das Sofa und das leere Parkett und die Wohnzimmertür. Sie stand offen. Mohnblüte flog quer durchs Zimmer, knallte die Tür zu und lehnte sich voller Angst schnaufend dagegen. »Hör doch«, sagte die Stimme sanft. »Mach doch die Augen auf. Ich bin gleich hier, direkt vor dir.« Da war nur das Sofa, solide wie ein Stein und sehr wirklich, unerträglich wirklich, wirklicher, als es je 172
gewesen war. »Aber…« Mohnblüte fühlte sich schwach. »Aber du bist ein Sofa.« »Endlich. Und es war doch gar nicht so schwer, oder?« »Aber… Ein Sofa?« »Na, da ist doch nichts dabei, ein Sofa zu sein. Wie gesagt, es ist die Form, in die ich gebracht wurde, die Art, wie ich verarbeitet bin. Ich könnte gar nichts anderes sein.« »Aber… Aber…« »Aber ich bin ein Gegenstand. Ich kann nicht sprechen. Wolltest du das sagen?« »Ja.« »Aber du kannst sprechen«, sagte das Sofa mit sehr vernünftig klingender Stimme. »Aber ich bin kein Ding.« »Du redest mit mir.« Im Krankenhaus schliefen die Schlafenden weiter, aber sie waren nicht mehr so besinnungslos wie zuvor. Sie bewegten sich in ihren Betten und stießen Laute aus, die wie Wörter klangen, aber keine waren. Geräusche aus der wachen Welt mischten sich in die Träume und machten sie unglaublich lebhaft. Dabei gab es gar nicht allzu viele Laute. Das Krankenhaus war still, zermürbend still, und durch die Stille spazierten Gerüchte über einen entlaufenen Irren. Das Krankenhauspersonal – lauter vorsichtige Menschen – ging nur zu zweit auf die abendlichen Runden. Im Zimmer der Schlafenden wachten ein Arzt und eine Krankenschwester. Es war still. Still? Nun, nicht ganz. Die leisen Geräusche der Gummisohlen waren für Seemann wie das zähe, pulsierende Geflüster, das die kalten, feuchten Zwischenräume im hinteren Teil von U173
Booten ausfüllt. Dort rotieren, von grellem Licht erleuchtet, die Propellerwellen in Lagern voll klebrigem Schmierfett gemächlich herum und herum und herum und herum. Für Axt waren die Geräusche gewisperte Botschaften, die im Dunkel des Gefängnisses weitergegeben werden. Für den Boß waren sie das leise Knarren des Seils, nachdem das Opfer ausgepackt hat. Es hängt, schwingt sachte hin und her und hofft, ohne es wirklich zu erwarten, daß der Schmerz jetzt aufhören wird. Für Vernon waren die wispernden Geräusche mehr als Schritte. Es waren Stimmen. Sie blieben an seinem Bett stehen. »Gott, was für eine Nacht. Haben Sie so was schon mal erlebt?« »Nein, noch nie. Es war noch nie so still. Was bedeutet, nicht wahr…« – ein Stuhl knarrte, als sich jemand setzte – »daß wir eine Pause machen können.« »Ich denke ja.« Ein Nachttisch stieß gegen die Wand, als ein schwerer Körper sich auf ihn stützte. »Ist doch schön, oder?« In der Welt jenseits von Vernons Träumen wandte sich eine Krankenschwester zufrieden einem Arzt zu, der angespannt auf seine Uhr schaute. »Nein, das ist es nicht, verdammt noch mal. Wenn ich mir schon die ganze Nacht um die Ohren schlagen muß, dann würde ich lieber was Nützliches tun.« Die Krankenschwester seufzte. »Vorhin wurde der Rettungswagen angefordert«, sagte sie. »Habe ich jedenfalls gehört.« »Ja, aber er ist doch noch nicht zurück, oder?« Der Arzt seufzte ebenfalls und blickte noch einmal auf seine Uhr. Die Krankenschwester beobachtete ihn nachdenklich. »Das ist schon das zweite Mal innerhalb einer Minute, daß sie das tun.« 174
»Ja. Tja. Haben Sie eine Idee, wie spät es ist?« »Nein.« »Nicht halb so spät, wie man meint.« Der Arzt stopfte die Hände in die Taschen seines weißen Kittels, nahm sie wieder heraus und betrachtete seine Fingernägel. Die Krankenschwester berührte seine Hand. »Immer mit der Ruhe.« »Ich finde keine Ruhe.« Er schaute noch einmal auf seine Uhr, dann stand er auf und ging hinaus. »Kommen Sie?« Die Krankenschwester seufzte. Vernon zog vorsichtig ein Augenlid hoch und verfolgte, wie sich die Rücken von Arzt und Krankenschwester im hinteren Teil des Raumes verloren. Er lächelte. Es waren Erscheinungen, diese weißen Figuren in warmer Finsternis. Es waren Geister. Es waren – der Gedanke war schockierend – Eindringlinge in seinem Schlafzimmer. Er setzte sich mit weit aufgerissenen Augen auf. Er hatte kein Schlafzimmer. Seit Ewigkeiten hatte er kein Schlafzimmer. Wo zum Teufel war er eigentlich? Und was ging hier vor? »Aber…« Mohnblüte hatte es schwer. Sie verstand schon, was das Sofa ihr sagte – ihr flinkes Gehirn hatte ihr zu erstklassigen Zensuren beim Studium der Elektronik im Polytechnikum Hinter-dem-Mond verholfen –, aber ihr Problem war, daß sie es nicht glauben wollte. »Aber all die Dinge…«, sagte sie. »Du, der Swimmingpool, der Franz Marc, der Ferrari, die Villa…« »Und du.« Das Sofa war hartnäckig, geduldig und hartnäckig. »Vergiß dich nicht.« »Aber ich bin kein Gegenstand. Das hab’ ich dir doch schon gesagt.« »Was bist du dann?« 175
»Ich bin… ich bin…« Mohnblüte wußte ganz genau, was sie war. Sie hatte immer gewußt, was sie war. Aber vor dem Sofa wollte sie das nicht sagen. Sie wich dem Thema erneut aus. »Was immer ich bin, ich nehme nicht an eurem Wettbewerb teil. Mir ist völlig egal, wer von euch die meiste Bewunderung erhält oder die meiste Aufmerksamkeit, je nachdem, worauf ihr aus seid. Ich meine. Also wirklich. Ich mache den Swimmingpool sauber. Ich staube das Bild ab. Ich repariere das Auto.« »Und beschmierst mich mit Öl. Ich hoffe, du bist so gut und machst mich sauber, bevor Rupert zurückkommt. Ich möchte nicht, daß er mich so sieht.« Mohnblüte blickte verlegen zu Boden. »Ja, tut mir leid. Ich meine, ich wußte ja nicht, daß…« »Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Und warum setzt du dich nicht? Du siehst so unruhig aus.« Mohnblüte ließ sich anmutig auf dem Boden nieder und schlug die Beine unter. »Also wirklich. Jetzt bin ich aber ernsthaft beleidigt. Bin ich nicht bequemer als das Parkett?« Mohnblüte lachte. »Das ist nicht zum Lachen«, sagte das Sofa steif. »Tut mir leid. Aber ich kann einfach nicht auf dir sitzen und gleichzeitig mit dir reden.« »Wie du willst. Aber sag nicht, ich hätte es dir nicht angeboten.« Es entstand eine längere Pause, und Mohnblüte kam sich langsam lächerlich vor. Sie konzentrierte sich auf eine Delle im Parkett, um das Lächeln zu verbergen, das sie sich nicht verkneifen konnte. Dann setzte sie mit großer Mühe ein ernstes Gesicht auf, blickte hoch und fragte höflich: »Und? Wie ist es? Ein Sofa zu sein?« 176
Im nächtlichen Borough verstummte die Sirene eines Krankenwagens ganz plötzlich. »So ist’s besser«, knurrte Florien, die Sanitäterin. Sie beugte sich vor und hielt sich den Kopf. »Oh, Gott. Mein Kopf.« »Das muß ein mächtiger Hieb gewesen sein«, sagte Dave leise lachend. Worauf er vor Schmerz zusammenzuckte. »Das ist nicht komisch, du alberner Kerl«, sagte Florien. Sie war wütend. Aber wütend war sie oft, dachte Dave. »Sie war eine Krankenschwester, verdammt noch mal.« Und gereizt. »Krankenschwestern haben lieb und reizend zu sein.« Dave schnaubte. Es war leichter als lachen. »Ach ja? Aber nicht die, die ich kenne.« Eine Weile fuhren sie schweigend. »Jedenfalls«, sagte Dave, »kannst du dem Himmel danken, daß du nicht von einem verdammten Polizisten zu Boden geworfen wurdest.« Er versuchte tief durchzuatmen, aber die schmerzenden Rippen hinderten ihn daran. »Und solltest du nicht eigentlich hinten bei den beiden sein?« Er deutete über die Schulter. »Wenn die nun kotzen müssen oder so was?« Florien legte erneut den Kopf in die Hände und stöhnte. »Das schaffe ich nicht. Die müssen alleine klarkommen. Außerdem haben sie sowieso verdammtes Glück gehabt, daß wir sie überhaupt rausgekriegt haben. Wenn die Krawalle sich nicht die Straße rauf verlagert hätten…« »Wobei mir einfällt«, sagte Dave, »wir sollten noch mehr Blutwagen anfordern. Reichlich. Einen ganzen Konvoi.« Er griff nach dem Funkgerät, aber der stechende Schmerz in seiner Brust ließ ihn zusammenzucken, und er 177
nahm seine Hand zurück. »Mach du das.« Florien nahm das Sprechgerät. »Und sorg dafür, daß…« »Schon gut, schon gut. Ich weiß, was zu tun ist.« »Das ist gut«, sagte er und nahm eine Hand vom Steuer, um nach der Rippe zu tasten, die gebrochen zu sein schien. »Also weißt du auch, wie du uns da raushalten kannst, oder?« »Herrgott noch mal!« sagte das Sofa. »Wer immer das ist«, sagte Mohnblüte. »Siehst du? Schon wieder. Wechselst das Thema. Kannst du nicht mal dranbleiben?« »Also gut.« Mohnblüte stand auf und beugte sich über das Sofa. »Zum Thema. Ich bin kein Gegenstand. Egal, was du sagst. Ich mache bei eurem albernen Wettstreit nicht mit, und es ist mir scheißegal, wen von euch Rupert vorzieht. Bilder, Swimmingpools, Autos, Möbel, was auch immer. Und jetzt entschuldige mich bitte, ich habe was Besseres vor, als meine Zeit damit zu vertun, mich mit einem Sofa zu unterhalten.« »Gemeinheit!« Für einen Moment klang das Sofa wirklich verletzt, und Mohnblüte fühlte ein leises Bedauern. Aber dann fuhr das Sofa mit ätzender Stimme fort: »Ich habe niemals zu dir gesagt, du wärst nichts weiter als eine Puppe.« Mohnblüte erstarrte. Sie starrte das Sofa an, und ihr schossen Mordgedanken durch den Kopf. »Ja. Nun. Hab dich nicht so.« Das Sofa klang zerknirscht. »Das stimmt ja sowieso nicht, oder?« Mohnblüte blieb stur. »Du bist nicht bloß eine Puppe. Du bist eine verdammt 178
scharfe Puppe.« Das waren Ruperts Worte. Worte, die er oft gebrauchte. »Du Miststück«, hauchte Mohnblüte. »Metapher.« Das Sofa zeigte keine Zerknirschung mehr. »Euphemismus. Poetische Freiheit. Wie schwer tut ihr euch alle damit, euch einzureden, daß das, was ihr hört, nicht buchstäblich die Wahrheit ist.« »Blödes Stück!« Mohnblüte drehte sich abrupt um und ging zur Tür. »Dann ist es nicht so schlimm?« rief ihr das Sofa in den Flur hinterher. Mohnblüte drehte sich um und lehnte sich mit verschränkten Armen an den Türrahmen. Er schimmerte nicht. »Was denn?« »Daß Rupert mich lieber mag als dich.« »Tut er nicht!« Die Reaktion kam sofort. Mohnblüte war außer sich. »Unmöglich! Wie kannst du…« Und dann wurde ihr klar, was das Sofa getan hatte. »Nein«, japste sie. »Ja«, sagte das Sofa. Mohnblüte glitt auf den Boden. »Nein, nein, nein, nein, nein.« »Kann ich das bei dir?« fragte Mohnblüte eine Weile später. »Was denn?« fragte das Sofa. »Deine Gedanken lesen. So redet ihr doch, oder? Ihr Gegenstände. Mit Telepathie.« Sie machte eine Pause. »Wir Gegenstände.« »Ja«, sagte das Sofa. »Mit einiger Übung, meine ich. Wenn ich nicht versuche, dich außen vor zu halten. Puppen sind oft sehr gut im Gedankenlesen.« Mohnblüte ließ den Kopf hängen und sah an sich 179
herunter. Sie trug immer noch den ölverschmierten Overall. »Im Moment sehe ich nicht gerade wie eine Puppe aus.« »Na ja, du hast ja auch frei.« Die Stimme des Sofas wurde wieder ätzend. »Du hast’s gut. Als Sofa kriege ich nie frei.«
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13 In Krümels Auto blickte Radkappe immer noch mit unbewegtem Gesicht nach vorn. Irgendwann blinzelte er. »Na los!« sagte Krümel. »Worauf warten Sie? Sie haben doch gesagt, wir müßten reden.« In seinem warmen, aber verräterischen Versteck versuchte der Diamant herauszufinden, wie er Psycho-Harry seinen Vorschlag am besten unterbreiten könnte. »Wie du willst«, schmeichelte sich Harry in die Gedanken des Diamanten. »Komm schon, was zögerst du? Du warst doch derjenige, der reden wollte.« »Rupert!« sagte Deirdre, aber ihr Protest war nicht sehr stark. Dazu war das Gefühl von Ruperts Händen auf ihrem Körper viel zu schön. »Ich dachte, wir sollten miteinander reden.« »Ja«, sagte Rupert nachdenklich. Einen Moment blieb er still neben dem Sofa knien. »Das sollten wir, nicht wahr?« Er beugte sich vor und küßte Deirdre sanft auf den Mund. »Immerhin.« Er küßte sie wieder. »Bist du wirklich die letzte, die ich hier erwartet hätte.« Und noch ein Kuß. Und nicht so sanft. »Das bedarf einer Erklärung.« »Nun los doch!« (Stoß.) »Reden Sie.« Sehr zu Radkappes Mißvergnügen unterstrich Krümel jeden Satz mit einem harten Stoß der Pistolenmündung in seine Seite. »Sie sind in mein Auto gestiegen.« (Stoß.) »Sie haben es wegfahren lassen.« (Stoß.) »Also reden Sie.« (Stoß, Stoß.) »Es wäre schön, wenn Sie das lassen würden«, sagte Radkappe unendlich besorgt. »Das Ding könnte losgehen.« 181
Auf den telepathischen Wellenbändern des Boroughs herrschte Funkstille. Ungeduld drängelte sich durch. »Na? Ich warte.« »Das weiß ich«, sagte der Diamant. »Ich weiß, daß du…« »Es ist nur… Na ja. Mit dir zu reden ist so schwierig.« »Schwierig!« donnerte Psycho-Harry. »Ich und schwierig?« Im Wohnzimmer des Bosses dauerte das Gespräch als solches nicht lange. Einige Äußerungen gab es allerdings schon: »Ohhhh, Deirdre.« »Rupert.« »Es ist so lange her.« »Ohhh! Ewig.« »AaaaUuhhh.« »Rupert! Das tut weh!« »Verdammt! Verdammt. Oh, verdammt!« »Was ist denn?« »Krampf.« »Krampf?« »Ja, mein Bein.« »Laß mal sehen. O ja. So. So. So.« Die Stille einer geschickten Massage. »Besser?« »Ja. Aber…« »Noch mehr?« »O ja.« »Sollten wir irgendwo hingehen, wo’s bequemer ist?« 182
»Ohhh. Ja.« »Mich ›schwierig‹ nennen.« Psycho-Harry war erbost. »Ich weiß, was das Ganze soll. Du schindest Zeit. Du hast überhaupt nichts zu sagen.« »O doch, das habe ich.« »O nein, du… Sei still! Hör auf! Ich glaube, ich schau’ einfach mal nach.« Der Diamant spürte, wie Harrys Finger die Schichten seines Bewußtseins durchblätterten. Es behagte ihm nicht zu erfahren, daß er Harry offensichtlich nicht total aussperren konnte, aber vielleicht konnte er etwas anderes tun. Etwas Viehisches. Psycho-Harry schrie. Es war zu hören, wie jemand an wunden Fingern saugte. »Warum machst du denn so was?« »Also«, sagte der Diamant überkorrekt, »hörst du jetzt zu?« »Ummm«, sagte Harry mit der Stimme eines Mannes, der den Mund voller Finger hat. »Gut. Dann als allererstes eine Frage.« Der Diamant holte tief Luft. »Wie würde es dir gefallen, die Welt zu beherrschen?« »Also, wenn ich es mir genau überlege…« Radkappe saß absolut still. Krümel drückte ihm immer noch die Maschinenpistole in die Seite. »Was hat das für einen Sinn?« »Hä?« »Wenn ich rede.« »Ich…« Krümel sah einen Augenblick lang verwirrt aus, dann strahlte sie plötzlich. »Aha«, sagte sie. »Genau«, sagte Radkappe. 183
»Aber Sie würden natürlich gerne reden…« »Und wie. Aber dann…« »Wie soll ich denn…« »Einem Gauner wie mir glauben.« Radkappe lachte und drehte sich zu Krümel um. Sie sieht wirklich sehr gut aus, dachte er. »Das haben wir doch gut zusammen hingekriegt, oder?« sagte er. »Kann sein.« (Stoß.) »Aber damit sind Sie noch nicht aus dem Schneider.« »Ach, ich weiß nicht.« Radkappe spürte, wie die Nonchalance zu ihm zurückkehrte. Er hatte gerade herausgefunden, wie er die Pistole an seiner Seite loswerden konnte. »Ich kann Sie schon verstehen. Ganovenkodex und so.« »Hä?« machte Krümel. »Ganovenkodex«, sagte Radkappe. Er klang überrascht, als müsse Krümel genau wissen, was Ganovenkodex bedeutete. Krümels Gesicht blieb ausdruckslos. »Sagen Sie mir nicht, Sie hätten noch nichts davon gehört.« »Natürlich nicht.« (Stoß.) »Wofür halten Sie mich?« »Na ja…« Radkappe zog bedeutungsvoll eine Augenbraue hoch. »Sie haben Nerven!« (Stoß.) »Mich Ganove zu nennen.« »Sind Sie das nicht?« »Nein!« (Heftiger Protest, aber kein Stoß.) »Nicht? Obwohl Sie und Ihre Tante gerade den größten Diamanten Englands gestohlen haben?« Stille. Der Druck an Radkappes Seite ließ ein wenig nach. »Also haben Sie ihn der Polizei übergeben, nicht wahr?« sagte Radkappe freundlich. 184
Der Druck ließ noch mehr nach. »Oder jedenfalls werden Sie es tun.« »Nicht direkt«, sagte Krümel mürrisch. Radkappe hatte ihr was zu denken gegeben. Sie legte die Maschinenpistole quer über ihren Schoß, verschränkte die Arme und zog eine Schnute. Ganz langsam und vorsichtig streckte Radkappe die Hand aus. Krümel bemerkte seine Absicht, und Radkappe erstarrte. Er lächelte und deutete vorsichtig mit dem Kopf auf die Waffe. »Nur wegen der Sicherheit, verstehen Sie«, sagte er ruhig. »Ach, nehmen Sie sie, nehmen Sie sie.« Krümel hielt ihm ihre flache Hand entgegen. »Schließlich sind wir doch jetzt beide Ganoven, oder?« Psycho-Harry mußte furchtbar lachen. Es war wirklich ein furchtbares Lachen. Daß niemand sonst es hören konnte, machte es auch nicht viel besser, zumindest nicht vom Standpunkt des Diamanten aus. Irgendwann hörte das Lachen auf. »Bist du jetzt fertig?« fragte der Diamant. »Die Welt beherrschen. Ich. Na prima.« Psycho-Harry kam langsam wieder zu sich. »Einen Versuch war’s jedenfalls wert.« »Was soll das?« Es gelang dem Diamanten, verletzt zu klingen. »Traust du dir das nicht zu?« Stille. »Ich hab’ gefragt…« »Ich hab’s gehört!« Intensive Stille. »Und?« Es kam keine Antwort, nur die Stille wurde intensiver. Dann noch intensiver, die Spannung stieg. Es knackte, 185
funkte, und dann explodierte sie zu weißglühendem Zorn, der durch die Luft schoß, am Diamanten abprallte und die Puderquaste daneben einäscherte. »Und das ist nur ein Vorgeschmack«, knurrte Harry. »Also, sei gefaßt. Ich bin unterwegs.« »Nicht so schnell, Harry. Nicht so schnell.« Der Diamant war reichlich erschüttert. »Natürlich traue ich dir das zu. Ich mußte nur wissen, ob du…« Ein knurrendes Geräusch tanzte auf den Wellenbändern. »Ja, gut, egal. Und dann ist da noch die andere Frage, nicht wahr? Wie willst du mich hier finden?« Der Diamant projizierte ein Bild der Krankenhauskorridore. Nun, jedenfalls war es ein Bild von Korridoren. Sie schlängelten sich durch einen zehndimensionalen Raum. Und Bataillone von Affen bemühten sich fortwährend, Hamlet zu schreiben, und sie scheiterten ebenso fortwährend. (Obwohl der Diamant keine Antwort auf die Frage wußte, warum sie das taten. Hamlet war schon geschrieben. Es wäre besser gewesen, sie hätten ein eigenes Stück geschrieben.) Und… »Genug«, sagte Harry leise. »Bitte.« Was wirklich eine ziemlich sanfte Reaktion war. Jeder andere wäre in einer Zwangsjacke gelandet. Die Korridore verschwanden. Der Diamant fühlte sich sicherer, nachdem er zurückgeschlagen hatte. Und außerdem war sein Angebot nun wirklich keine Kleinigkeit. Er fragte, ob Harry die Welt beherrschen oder sein Leben lang ein erbärmlicher Versager bleiben wollte. »Ach, hör doch auf«, sagte Harry klagend. »Erbärmlicher Versager ist doch ein bißchen heftig, oder?« »Ja? Wirklich?« Der Diamant schlug einen distanzierten Ton an. »Also nehme ich an, du machst allen erbärmlichen Versagern solche Angebote«, sagte Harry. »Natürlich nicht.« Jetzt war der Diamant böse. 186
»Normalerweise arbeite ich nur mit Material von höchster Qualität.« »Und wieso dann ich?« »Weil du mich umbringen willst. Das ist der einzige Ausweg, der mir einfällt.« »Na, das klingt wenigstens ehrlich.« »Ist es auch. Und das muß es auch sein, oder? Nur so können wir irgendwas erreichen.« »Solltest du nicht eine Zigarette rauchen oder so was?« Rupert sah Deirdre fragend an. »Warum?« »Na ja, weil…« »Die postkoitale Zigarette, was?« »Ja.« »Ich rauche nicht.« »Oh.« Deirdre sah verloren aus. »Ich hab’ noch nie geraucht.« »Und trinken?« Rupert schüttelte den Kopf. Deirdre blickte zur Seite. Sie schien zu schrumpfen. »Hey, hey. Komm her.« Rupert beugte sich vor und legte seinen Arm um Deirdres Schultern. Sie waren kalt. »Ich wollte doch nicht…« Ihm fehlten die Worte. »Es ist doch nur…« Deirdre tätschelte seine Hand. »Ich weiß«, sagte sie. »Es ist lange her.« Sie schwang ihre Beine aus dem riesigen Bett, das das Schlafzimmer vom Boß dominierte. »Na, wenn du keinen Drink brauchst, ich brauch’ trotzdem einen.« Während sie zum Wohnzimmer ging, zog sie sich den Rock zurecht und knöpfte sich die Bluse zu. Rupert schaute ihr nach. Jetzt, im kalten Nachhinein, wirkte sie dünn und unsicher auf den 187
Beinen, alles in allem ein trauriger Anblick. Wenn er nur vor fünfzehn Jahren… Wenn. Wenn. Wenn. Im Wohnzimmer hielt Deirdre ein Glas unter die Öffnung der Whiskyflasche. Sie hörte nicht, daß Rupert kam. Aber sie sah, wie sich seine Hand über das Glas schob, wie sich sein Arm um sie wand, und sie spürte, wie er seinen nackten Körper von hinten an sie drückte. Sie spürte es, und sie spürte die Schuldgefühle, und das ärgerte sie. »Verzeih mir.« Rupert flüsterte, und das ärgerte sie ebenfalls. »Verzeih mir. Ich war so ein Trottel. Heirate mich, Deirdre. Heirate mich.« »Dich heiraten?« Sie bewegte sich nicht. »Im Ernst?« »Ja. Im Ernst.« »Solltest du mir nicht zuerst von Mohnblüte erzählen?« Rupert sah verblüfft aus. Wie in Trance löste er sich von Deirdre und setzte sich aufs Sofa. »Aber… Aber wieso…« Seine Verblüffung war echt. Was es noch schlimmer machte. »Wieso ich von Mohnblüte weiß?« »Ja.« »Oh. Das ist nur der Name, mit dem du gekommen bist. Gerade eben.« »Der Anfang ist uns ein bißchen danebengegangen, stimmt’s?« sagte Radkappe, während er die Waffe auf seinem Schoß sicherte. Seine Stimme klang reumütig. »Was mich anbelangt«, sagte Krümel, »so haben Sie noch allerhand gutzumachen.« »Tja, womit soll ich anfangen«, sagte Radkappe, »wenn Sie mir sowieso nicht glauben?« Krümel blickte ihn an, schürzte die Lippen und traf dann eine Entscheidung. »Also gut«, sagte sie. »Zur Sache. Sie sind ein Ganove. 188
Stimmt’s?« »Sozusagen«, stimmte Radkappe zu. Er drehte sich um, so daß er Krümel ansehen konnte. »Nun gut. Ich habe… Meine Tante hat diesen Diamanten.« »Äh, nun«, sagte Radkappe. »Sie haben den Diamanten. Ihre Tante gab ihn Ihnen, damit Sie ihn verstecken, und sie denkt jetzt… Sie fürchtet, daß Sie ihn behalten wollen.« »Frechheit!« »Na, sie hätte ihn behalten. Hat sie jedenfalls gesagt. Aber Sie werden nicht einmal daran gedacht haben, nehme ich an.« Ein schuldbewußter Ausdruck kroch über Krümels Gesicht. »Wir haben den Diamanten. Was machen wir also jetzt? Was machen Leute mit so einem Ding?« Radkappe schüttelte den Kopf. »Was weiß ich.« Er blickte wieder aus dem Fenster. »Ich bin für den Transport zuständig, nicht fürs Verticken.« Plötzlich wurde er unruhig. »Sie haben ihn doch versteckt, oder? Sie haben ihn doch nicht etwa bei sich?« Krümel lachte herausfordernd. »Und was geht Sie das an? Sie haben doch gar kein Interesse daran. Haben Sie gesagt.« »Ja, aber… Es ist nur…« Radkappe war sich nicht sicher, warum er gefragt hatte. »Es sind ‘ne ganze Menge Leute hinter dem Ding her, das ist alles.« Er fand, daß das lahm klang. »Leute von schwerem Kaliber«, fügte er hinzu und blickte Krümel direkt in die Augen. »Ach herrje«, sagte Krümel. »Und ich bin nur eine arme hilflose Frau.« »Na, und ich hab’ das Gefühl, ich habe Sie in die 189
Geschichte reingezogen, Sie und Ihre Tante.« Radkappe blickte zur Seite. »Das ist alles.« Für einen Moment herrschte Schweigen. »Wissen Sie, ich wollte ihn nicht behalten«, sagte Krümel. Sie wußte nicht, warum, aber sie hatte das Gefühl, sie müßte was erklären. »Haben Sie ihn gesehen? Den Diamanten?« Radkappe schüttelte den Kopf. »Interessiert mich wirklich nicht. Ich bin bloß der Fahrer. Ich mach’ meinen Job. Ich werde bezahlt. Ich bin zufrieden.« »Sie!« Krümel fing an zu kichern. Sie versuchte, es zu unterdrücken. »Das waren Sie! Der Fahrer des Fluchtwagens!« Radkappe wurde rot. »Tja, nun.« Er zuckte mit den Achseln. Wieder herrschte Schweigen. »So. Was jetzt?« fragte Krümel schließlich. Radkappe wandte sich ihr zu und blickte ihr in die Augen. »Wir sagen ›Auf Wiedersehen‹«, sagte er. Er machte seine Tür auf und stieg aus. »Nett, Sie kennengelernt zu haben.« Er legte die Maschinenpistole auf den Beifahrersitz. »Und das Ding behalten Sie lieber. Vielleicht brauchen Sie es.« »Was… Was machen Sie denn?« »Das, was ich schon den ganzen Tag lang versucht habe. Artikel eins des Ganovenkodex. An erster Stelle steht: Sorge für dich selbst.« Er knallte die Tür zu und lief in Richtung High Street. Krümel lehnte sich zur Beifahrerseite, kurbelte das Fenster runter und rief ihm hinterher: »Und wie lautet Artikel zwei? Da ich ja jetzt zur Branche gehöre?« Radkappe blieb stehen und drehte sich zu ihr um. 190
»Es gibt keinen zweiten Artikel.« »Das hört sich ja übel an.« »Ist es auch.« Radkappe wandte sich ab und ging weiter. »Glauben Sie mir«, murmelte er vor sich hin. »Das ist es.« »Also?« fragte der Diamant. »Ja oder nein? Willst du die Welt beherrschen oder nicht?« »Das ist ‘n ganz schön schwerer Job, was?« sagte Psycho-Harry zögernd. »Ein Job wie jeder andere. Du mußt einfach vieles delegieren, das ist alles.« Harry antwortete nicht. Der Diamant seufzte ungeduldig und versuchte es noch einmal anders. »Weißt du, was das Problem mit Verlierern ist?« sagte er herausfordernd. »Sie verlieren, weil sie verlieren wollen. Laß sie ab und zu mal gewinnen, und sie kommen total ins Schwimmen.« »Vielleicht. Aber trotzdem…« Der Diamant schickte Harry ein paar Bilder, um ihm auf die Sprünge zu helfen. »Ja, gut. Das ist ja alles schön und gut«, sagte Harry. »Omnipotenz kann natürlich…« Mehr Bilder blitzten durch die Luft. »Und unbeschränkter Reichtum hat was für sich, aber…« Der Diamant mußte Harry unbedingt überzeugen. Er mußte weitermachen, denn wenn er Harry nicht überzeugte, dann war so gut wie sicher Schluß mit der Unvergänglichkeit des Diamanten. Mit einiger Mühe unterdrückte er ein zynisches Lachen. Die Situation war lachhaft. Der Diamant verfügte über Jahrmillionen der Wahrnehmung und des Wissens, hatte über Jahrmillionen ein Bewußtsein erworben, wie es sich ein lebendes Wesen nicht vorstellen könnte. Und das lief nun darauf hinaus, daß 191
er das Herz eines Irren gewinnen mußte, der sich in Krankenhauskorridoren verlaufen hatte, weil er den Schildern nicht traute. Beziehungsweise dem, was von ihnen noch geblieben war. Der Diamant seufzte. Wie lachhaft die Situation auch sein mochte, sie war trotzdem todernst. Aber der Diamant kannte Harry gut und wußte, was zu tun war. In Gedanken stellte er sich ein Bild vor, ein Bild, das mächtiger war als alles, was je erträumt worden war. Das Bild zeigte einsame, mit paranoidem Mißtrauen gefüllte Bunker. Aufgeriebene Armeen, die sich über eisige Ebenen zurückzogen. Apokalyptische Ängste und Plagen, von zahllosen gequälten Herzen vergrößert. Und in einem letzten Anflug von Genialität projizierte der Diamant direkt am Rand, deutlich, aber ohne die Szene zu dominieren, das Ende der Welt. Das Bild war fertig. Es sammelte sich. Es sprang los, und seine blendende Offenbarung schlug wie ein Blitz in Psycho-Harrys Kopf ein. Ein lauter Schrei war die Antwort. Ein Schrei, in dem sich Ekstase, Schmerzen, erweiterte Horizonte und neue Visionen vermischten. Psycho-Harry lag auf den Knien, aber nicht vor Qual, sondern vor den Himmelstoren. Ein roter, ansteigender Korridor war für ihn zur Straße nach Tarsus geworden. »Das ist es, Harry! Herrsche!« Die Stimme des Diamanten war angeschwollen. Das war nicht mehr bloß kristallenes Sprechen. »Beherrsche die Welt. Und Wenn Du Scheiße Baust, Dann KANNST DU RICHT IG GROSSE SCHEISSE BAUEN !« Die Situation im Wohnzimmer des Bosses hatte wieder einen normalen Charakter angenommen. Rupert war angezogen, und Deirdre hatte ihre Kleider wieder da sitzen, wo sie hingehörten, und die beiden nahmen einen Drink zu sich. Einen frischen. »Also bist du wegen der Scheidung zurückgekommen? 192
Ich dachte, das wäre schon vor Jahren passiert.« Deirdre schüttelte den Kopf. »Nein. Er war immer so altmodisch.« »Und er weiß noch nicht mal, daß du zurück bist?« »Ich habe meinen Schlüssel behalten. Das hätte er sich denken und die Schlösser auswechseln lassen können. Bei seinen Geschäften.« »Und warum jetzt? Warum kommst du jetzt zurück?« »Warum jetzt?« Deirdre schwenkte den Whisky in ihrem Glas und nahm einen Schluck. »Warum jetzt? Wenn er mich fünfzehn Jahre lang wie eine…« Sie trank noch einmal. »Als ob ich eine Art Besitz von ihm wäre.« Deirdre blickte auf, Rupert direkt ins Gesicht. »Wie ist Mohnblüte?« fragte sie. »Na ja, sie… Sie ist…« Rupert kramte nach Worten und blickte zur Seite. »Dann ist sie jung, stimmt’s? Und auch schön, nehme ich an. Alles, was ich nicht bin. Alles, außer verfügbar. Jesus!« Sie warf ihren Kopf zurück und starrte an die Decke. »Wenn er mich nur hätte gehen lassen, dann wäre ich…« Sie beugte den Kopf über ihr Glas und nahm einen Schluck. »Er hat mich festgehalten, die ganze Zeit. Schau mich doch an. In was für einem Zustand ich bin. Deswegen bin ich zurückgekommen. Zeit, daß ich mein Leben in die Hand nehme, habe ich mir gesagt. Zeit, Halt zu finden.« Sie blickte wieder auf. »Und da hab’ ich direkt mal Glück gehabt, was?« Sie prostete Rupert zu und trank. »Hör mal, Deirdre. Ich hab’ nicht gewußt… Ich wollte nicht…« »Ich weiß, daß du es nicht gewußt hast. Ich weiß, daß du es nicht so gemeint hast. Ich hab’s nur einen Moment lang gehofft. Ich hätte nichts erwarten sollen. Wie gesagt, ich hatte mich schon entschieden. Also ist das jetzt alles meine Sache.« Sie stand auf und ging zur Bar. »Willst du auch 193
noch einen?« Radkappe dachte über die reichen Segnungen des Lebens nach und hörte deshalb das Auto nicht heranfahren. Es war Krümel. Sie blieb mit dem Auto neben ihm stehen, und Radkappe entdeckte, daß sie schon wieder die Maschinenpistole auf ihn gerichtet hatte. »Steigen Sie ein!« sagte Krümel mit kalter, reservierter Stimme. »Sie gehen nirgendwohin, noch nicht.« Radkappe schaute sie ungläubig an. »Machen Sie keine Sperenzchen!« sagte sie. »Das ist kein Spaß. Steigen Sie ein, oder ich schieße.« Radkappe schaute die Straße entlang, aber sie war menschenleer. »Ich zähle bis drei«, sagte Krümel. »Eins.« Radkappe blickte in Richtung High Street, aber auch von dort war keine Hilfe zu erwarten. »Zwei.« Radkappe schätzte die Entfernung bis zur Ecke und überlegte, ob er es bis dorthin schaffen könnte. »Drei.« Es folgte ein langer, langer stiller Augenblick, und dann griff Radkappe ganz langsam nach dem Türgriff. Er machte die Tür auf und stieg ein. »Was jetzt?« fragte er. »Wir beachten Artikel eins des Ganovenkodex«, sagte Krümel. »An erster Stelle steht… Solange ich nichts anderes sage, stehe ich an erster Stelle.«
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14 Im Durchgang hinter dem Klärwerk legte Rudge ein scharfes Tempo vor – Richtung High Street. Gemeinsam mit Dot brachte er Abstand zwischen sich und den Ort des Kampfes von Polizei und Jungs. Der Gefechtslärm aus Dots Straße war bereits verstummt, und Rudge versuchte sich Klarheit zu verschaffen. Klar war folgendes: In einer kleinen Gang hatte es einmal einen Freiberufler gegeben, aber der Freiberufler war weg. Dann hatte es einmal einen ganzen Trupp Jungs gegeben, die zum Boß gehörten, und die waren auch weg. Und es war nicht er, Rudge, der diese Ereignisse in irgendeiner Weise herbeigeführt hatte. Als er zu diesem Punkt kam, schmuggelte sich leiser Respekt in seine Gedanken. Die alte Frau war nicht schlecht. Sie war überhaupt nicht schlecht. Für eine Amateurin. Wenn Rudge weniger mit seinen Gedanken beschäftigt und aufmerksamer gewesen wäre, hätte er bemerkt, daß Dots Schritte dichter hinter ihm waren als zuvor. Aber er merkte es nicht. Der Hieb, den Dot mit einer rostigen Eisenstange auf Rudges Kopf landete, war wunderbar austariert. Er brachte Rudge nicht um, er nahm ihm noch nicht einmal das Bewußtsein. Er hinderte Rudge nur daran, seine Beine zu benutzen. Eben noch hatte er ein perfekt funktionierendes Untergestell gehabt, und jetzt hatte er nur noch wacklige Gummibeine, die unter ihrem eigenen Gewicht zusammenbrachen. Dot beugte sich über Rudge, um zu überprüfen, ob er soweit in Ordnung war. Er stöhnte und brummte ärgerlich, und statt sofort wegzurennen, blieb Dot stehen, um zuzuhören. »Aber warum?« sagte er. »Warum jetzt? Warum nicht einfach dahinten bei den Jungs?« 195
»Was denn, ich soll Sie den Wölfen vorwerfen, Mr. Rudge?« Dot warf die Eisenstange von sich, die sie als Keule benutzt hatte, und die Stange fiel scheppernd zu Boden. »Das hätte ich nicht fertiggebracht. Ich mag Sie, wirklich.« »O Gott«, sagte Rudge schwach. »Große Klasse. Aber was ist mit unserer Abmachung? Wir hatten doch eine Abmachung.« »Ach ja, aber wir haben uns nie die Hand drauf gegeben, tut mir leid.« Dots Stimme kam schwach und aus weiter Ferne bei Rudge an. »Wir haben nie eingeschlagen. Also gilt der Ganovenkodex.« »Ich hatte gedacht, wir wären ganz gut miteinander klargekommen.« Radkappe saß auf dem Fahrersitz von Krümels kleinem Auto, und Krümel saß neben ihm auf dem Beifahrersitz. Die Mündung der Maschinenpistole erneuerte ihre Bekanntschaft mit Radkappes Rippen. »Ja, ich hab’ gedacht, wir würden gut klarkommen.« Radkappe deutete mit dem Kopf zur Maschinenpistole und zog fragend eine Augenbraue hoch. »Warum also…« »Nicht reden.« Krümel war jetzt richtig in die Rolle der bewaffneten Desperada geschlüpft. Sie sprach aus den Mundwinkeln. Radkappe seufzte. In der Ganovenbranche galt dies als gefährliches Zeichen. »Einfach fahren«, sagte er tonlos. »Einfach fahren«, schnarrte Krümel. War das wirklich ein amerikanischer Akzent? »Also los. Ich fahre.« Radkappe schnallte sich an und deutete mit dem Kopf auf Krümels Gurt. »Würden Sie…« Ohne den Blick von ihrem Gefangenen zu wenden, langte Krümel nach hinten und zog den Sicherheitsgurt heran. Sie hatte kurz ein Problem damit, die Schnalle einschnappen zu lassen und gleichzeitig die Pistole auf 196
Radkappe zu richten, aber dann kriegte sie es hin. »Fahren Sie.« »Also gut.« Radkappe ließ den Motor an, rückte den Rückspiegel zurecht, legte den ersten Gang ein und blickte Krümel an. »Wie schnell?« »So, daß wir nicht auffallen. Wir fahren zum Krankenhaus.« Edward G. Robinson hoch fünf, dachte Radkappe. Er fuhr gemächlich los und näherte sich der High Street. »Ihnen ist doch wohl klar«, sagte Radkappe, »daß Ihre Tante nicht im Krankenhaus ist? Ich weiß, daß ich es gesagt habe. Aber ich habe gelogen. Das habe ich ja schon erwähnt.« »Meine Tante!« knurrte Krümel. »Wegen ihr fahren wir nicht ins Krankenhaus.« Sie schaute nervös aus dem Fenster. »Und könnten Sie vielleicht etwas flotter fahren? Wir wollen nicht auffallen, hab’ ich gesagt. Und Sie fahren wie eine Oma.« »Aber…« »Im Borough fährt niemand wie eine Oma.« »Nicht mal die Omas?« »Vor allem nicht die Omas.« »Okay«, sagte Radkappe, während sein rechter Fuß nach unten trat. »Dann halten Sie sich mal fest.« In Dots Straße regte sich inzwischen kaum noch etwas. Gelegentlich rührte sich unter den Gefallenen einer, der gegen die Bewußtlosigkeit ankämpfte, aber die meisten waren damit zufrieden, einfach still dazuliegen. In den tiefen Schatten, die im Moment vom Flutlicht geworfen wurden, lauerten die Hobbyschrauber. Sie hielten sich versteckt, solange noch ein einziger der Kombattanten auf den Beinen war. Und zwei standen immer noch, der letzte 197
der Polizisten und der letzte der Jungs. »Wir haben gewonnen«, sagte der letzte Polizist. Seine Faust schlug einen langen, langsamen, qualvollen Bogen durch die Luft und verfehlte das Kinn des Jungen um eine Meile. »Nein.« Der Junge hob seine Faust, um zuzuschlagen. »Wir haben gewonnen.« Die Faust stieß kurz gerade heraus und baumelte gleich wieder an der Seite des Jungen. Er war zu schwach, um das Gewicht seines Armes zu halten. Beide Männer wackelten gefährlich. Durch die Verschiebung des Gewichts ihrer Glieder wurde ihr Gleichgewicht empfindlich gestört. Sie schwankten nach vorn. Sie fingen sich wieder. Sie schwankten nach hinten. Und fingen sich wieder. Dann schwankten sie langsam wieder nach vorn. Sie schwankten immer weiter, bis sie schließlich aus dem Lot gerieten, fielen und ihre Köpfe wie die Hörner kämpfender Bergziegen zusammenkrachten. Dann war Stille. Langsam, wie Geister aus dem Schattenland, kamen die Hobbyschrauber hervor. Ihre Gesichter waren abgespannt und hungrig, und ihre toten Augen strichen liebevoll über den glänzenden Lack der aufgereihten Polizeiwagen. Die Stille wurde von einer herunterfallenden Radkappe unterbrochen, genau in dem Augenblick, als aus der Ferne jenseits des dunklen Boroughs wieder Sirenen zu hören waren. Es waren Rettungswagen, jede Menge Rettungswagen, die durch die Straßen jagten. Die Hobbyschrauber machten sich geschickt und ohne Hast an die Arbeit, um fertig zu werden, bevor sie gestört wurden. Radkappe und Krümel schossen in die High Street und entkamen nur knapp einem der Rettungswagen, der in die Straße preschte, aus der sie gerade gekommen waren. »Da sind wir ja gerade rechtzeitig los«, sagte Radkappe fröhlich. 198
»Seien Sie still und fahren Sie.« Krümels Finger fuhr über den Abzugshahn der Maschinenpistole. Sie fand es überhaupt nicht komisch, was Radkappe verletzte. »Sie haben einen flotten Fahrstil verlangt, bitte schön«, sagte er. »Und wenn von mir ein flotter Fahrstil verlangt wird, dann bringe ich den auch.« Er drehte kurz am Steuerrad, als ein zweiter Rettungswagen nur wenige Zoll neben ihnen vorbeifuhr. »Was ist denn los?« wollte Krümel wissen und starrte auf die Flut von Rettungswagen, die ihnen entgegenströmte. »Das sind ja Millionen!« »Weiß nicht«, sagte Radkappe. Er sah in seinem Spiegel, daß alle Rettungswagen in Dots Straße einbogen. »Aber ich wette, das hat was mit Ihrer Tante zu tun.« Am Steuer seines Rettungswagens war Dave tief beeindruckt vom Anblick des Rettungskonvois, der heulend an ihm vorbei die High Street entlangfuhr. »Schnelle Reaktion, was?« sagte er zu Florien. »Verdammt gut, würde ich sagen.« Dave stellte seine Sirene und sein Blaulicht an und drückte auf die Hupe, um einen entgegenkommenden Rettungswagen zu begrüßen. »So ist es richtig, Kumpels!« brüllte er und lehnte sich aus dem Fenster. »Schnappt sie euch, die blöden Wichser!« »Um Himmels willen, Dave«, knurrte Florien, »paß doch auf, wo du hinfährst!« Dave steuerte jetzt mit einer Hand und winkte mit der anderen, was dazu führte, daß er Schlangenlinien fuhr. »Pah! Hör doch auf, Flo! Nach dem, was wir durchgemacht haben, ist das doch reine Nervennahrung.« Sein Gesicht zuckte vor Begeisterung. »Wirklich. Hör dir doch mal diese Sirenen an. Das ist Musik in meinen Ohren.« 199
Dave winkte wild, als ein weiterer Rettungswagen angefahren kam, und steuerte direkt auf ihn zu. Der andere Rettungswagen blinkte mit den Scheinwerfern auf, und als er gerade so vorbeidonnerte, zeigte der Fahrer Dave den Finger. »So ist es richtig.« Dave lehnte sich aus dem Fenster, um dem Rettungswagen hinterherzuschauen. »Genau das brauchen wir.« Als der andere Rettungswagen in Dots Straße einbog, geriet er in eine bedrohliche Schräglage. »Adrenalin!« Dot kam aus dem Durchgang hinter dem Klärwerk und bog in die High Street ein. Sie fühlte sich wirklich sehr alt. Sie war matt und abgeschlafft, und ihr Hals tat schrecklich weh. Sie tastete mit dem Finger danach; es fühlte sich klebrig an, und im gelben Schein der Straßenlaternen sahen die Finger schwarz aus. Die Wunde blutete wieder. Und dann – wenn sie schon dabei war, sich selbst zu untersuchen – waren da noch ihre Füße. Dot trug ihre Schuhe in der Hand. Und sie trug sie nicht in der Hand, um sie zu schonen. Es waren vernünftige, flache Laufschuhe, die bei aller voraussehbarer Nutzung bequem und strapazierfähig waren, ohne besonders geschont werden zu müssen. Aber leider war eine Art der Nutzung nicht vorausgesehen worden, und die betraf den Weg hinter dem Klärwerk. Den hatten die Schuhe nicht vertragen. Einer der vernünftigen, flachen Absätze war abgerissen, und Dot war nun aus Gründen der Symmetrie und des Gleichgewichts gezwungen, auf Strümpfen zu gehen. Dem Himmel sei Dank für die Strümpfe, dachte sie. Auch die hatten gelitten, aber nicht so sehr. Es gibt Strumpfhersteller, für die Unverwüstlichkeit das Wichtigste ist. Sie verkaufen ihre schwergewichtigen Waren vor allem an ältere Damen, die sie außerordentlich schätzen. Aber so, wie Dot jetzt ihre Strümpfe schätzte, hat 200
das bestimmt noch keine alte Dame auf der ganzen Welt getan. Dot hatte sich schon mehrmals die Zehen gestoßen, und ihre Füße waren sicher voller blauer Flecken, aber die unverwüstlichen Strümpfe hatten all den schrecklichen, scharfen Kanten rostenden Metalls widerstanden. In ihrem schwachen Zustand bekam es Dot plötzlich mit der Angst zu tun. Die Dinge glitten ihr aus der Hand. Sie wollte aufhören… Sie wollte, daß jemand anderer die Sache übernahm… Ein wahnsinniger Lärm wallte auf. Die Welt flackerte in teuflisch hellblauem Licht. Und Dots Schwächegefühl und ihre Angst konzentrierten sich auf die Schuhe in ihrer Hand. Was für ein Unsinn, diese nutzlosen Schuhe herumzutragen! Dot holte aus und schleuderte die Schuhe mit aller Kraft so weit weg wie möglich. Als Dave wieder nach vorne schaute, wunderte er sich, wieso ihm ein Paar fliegender Schuhe die Sicht versperrte. Merkwürdige Schuhe, dachte er in dem langen, langen Augenblick, der jedem Zusammenstoß vorausgeht. Einem Schuh fehlte was… »Jesus!« kreischte Florien. »Was zum Teu…« Daves Fuß trat automatisch, ohne direkte Kommunikation mit dem Kopf gehabt zu haben, mit voller Kraft auf das Bremspedal. Da Florien keinen Gurt umgelegt hatte, verstummte sie, als sie in die Windschutzscheibe flog. »Auuh!« schrie Dave. Er hatte sich nur mit einer Hand am Steuer festgehalten, so daß die volle Wucht des Bremsens auf die verletzten Rippen traf. Sie waren einfach noch nicht soweit, es mit Belastungen aufnehmen zu können, und Dave spürte einen heißen, brennenden Schmerz. Auch er war nicht angeschnallt gewesen, so daß er den Schmerz nicht lange bewußt spürte. Der Rettungswagen war eben noch flott vorangekommen, aber nun, da er plötzlich führerlos war und alle vier Räder blockiert hatte, brach er seitwärts aus 201
und kippte nur deswegen nicht um, weil ein Laternenpfahl an der richtigen Stelle stand. Der Rettungswagen blieb stehen. Alles war still. Auch das kleine, verbeulte Auto, das von hinten aufgefahren war. Ein lautes Krachen brachte Dot wieder zu sich. Ihr Kopf wurde klar, und sie betrachtete voller Interesse die Szene auf der anderen Seite der Straße. Vorsichtig stieg Radkappe aus Krümels Auto und fing an, sich an der Frontseite zu schaffen zu machen, die im Rettungswagen steckte. Dampfwolken standen in der Luft. Als auch Krümel im nächtlichen Dunkel auftauchte, stellte Dot voller Freude fest, daß Radkappes Vorsicht weniger mit Verletzungen durch den Aufprall zu tun hatte, als vielmehr mit der Tatsache, daß Krümel eine Maschinenpistole auf seinen Rücken gerichtet hatte. Radkappe drehte sich zu Krümel um und schüttelte den Kopf. Krümel machte eine wütende Bemerkung. Radkappe schüttelte erneut den Kopf, lachte und schaute dann in die Fahrerkabine des Rettungswagens. Krümel ging um den Wagen herum und öffnete die hintere Tür. Rudge trat aus dem Durchgang hinter dem Klärwerk in die heller beleuchtete High Street und rieb sich den schmerzenden Kopf. Höllisches Heulen und flackerndes Blaulicht drangen durch die Nacht. Vor ihm strömte eine Flut von Rettungswagen vorbei. Er sah sich um und entdeckte Dot. Er guckte in die Richtung, in die sie guckte, und sah den Freiberufler und die Nichte der alten Frau. Sie schoben das kaputte Auto des Mädchens von einem Rettungswagen weg, der mit seinem ganzen Gewicht an einem Laternenpfahl hing. Radkappe gab sich alle Mühe. Das Mädchen gab sich ebenfalls alle Mühe, aber sie wurde von der Maschinenpistole behindert, die sie dabei auf Radkappe gerichtet zu halten versuchte. 202
Rudge knurrte. Amateure, dachte er, ein verdammter Freiberufler und Amateure. Nun, jetzt hatte er sie alle beisammen, und sie würden ein leichtes Opfer sein. Die ganze Bande. »Okay, das reicht.« Radkappe wischte sich die Hände an den Hosen ab. »Jetzt müssen wir die beiden rausholen.« Er deutete mit dem Kopf auf den Rettungswagen. »Und wegen der beiden Männer hinten sind Sie sich ganz sicher? Daß es dieselben sind wie im Haus Ihrer Tante?« »Ja.« Krümel nickte. »Das sind sie. Und sie schlafen immer noch fest.« Sie lächelte. »Also los«, sagte Radkappe. Er öffnete Floriens Tür und fing ihren leblosen Körper auf, der seitwärts vom Sitz kippte. Krümel hielt die Waffe immer noch auf Radkappe gerichtet und untersuchte Floriens Gesicht. Auf der Stirn prangte eine hühnereigroße Beule, und am Kinn zeichnete sich eine dunkle Schwellung ab. »Das sieht fies aus«, sagte Radkappe mit Blick auf die Schwellung. »Ach das«, sagte Krümel leichthin, »das ist wirklich das geringste Problem. Das war ich.« Dots Problem bestand darin, daß sie über die Straße mußte, zwischen den unentwegt vorbeiströmenden Rettungswagen hindurch. Sie blickte sich um. Radkappe und Krümel hatten es fast geschafft, die beiden Sanitäter von vorne in den hinteren Teil des Rettungswagens zu bugsieren, und wenn Dot nicht bald drüben war, dann würden Radkappe und Krümel ohne sie abfahren. Die Jagd würde weitergehen, und Dots Füße fühlten sich nicht so an, als würden sie noch auf irgendwas Jagd machen wollen. Fünfzig Meter weiter war ein Fußgängerüberweg. Dot machte »tsss«. Das hätte sie längst gesehen haben müssen, 203
und sie war wütend auf sich selbst, während sie zu dem Übergang hoppelte. Und sie wünschte, daß sie ihre Schuhe behalten hätte. Sie hätte bloß den zweiten Absatz abzuschlagen brauchen, und dann wären sie auf dem harten Pflaster immer noch besser gewesen als gar nichts. Andererseits jedoch, seufzte sie, sollte sie nicht undankbar sein. Immerhin hatten ihr die Schuhe eine Mitfahrgelegenheit verschafft. Wenn sie rechtzeitig hinkam. Radkappe setzte sich auf den Fahrersitz des Rettungswagens und schnallte sich an. »Das Messer aus Ihrem Auto haben Sie auch mitgenommen, ja?« fragte er und schielte zu der Waffe hinunter, die sich in seine Rippen bohrte. »Wenn so was in Ihrem Auto gefunden wird, dann sind ein paar Fragen fällig.« »Ich habe schon einmal gesagt, daß ich’s getan habe«, antwortete Krümel. »Es liegt hinten.« »Und die da hinten sind okay?« Krümel seufzte. »Auch das hab’ ich Ihnen schon gesagt. Denen geht’s so gut, wie’s ihnen gehen kann. Wenn man die Umstände bedenkt.« Sie drückte Radkappe die Mündung in die Seite. »Können wir jetzt fahren?« »Ja. Natürlich.« Radkappe drehte den Zündschlüssel um, und der Motor des Rettungswagens sprang an. »Ich denke«, sagte Krümel, »daß wir auf die Sirene verzichten können, oder?« »Ach.« Radkappe klang enttäuscht. »Aber…« »Wir haben bereits genug Aufsehen erregt, da brauchen wir nicht noch als Heulboje durch den Borough zu fahren.« »Ja.« Radkappe war enttäuscht. »Aber trotzdem. Wissen Sie, ich habe mir immer…« 204
Krümel seufzte. So hatte sie sich das Ganovenleben nicht vorgestellt. »Na, dann machen Sie das Blaulicht an, wenn’s sein muß.« »Danke«, sagte Radkappe mit einem breiten Lächeln. Er warf Krümel eine Kußhand zu. »Sie sind echt in Ordnung.« Dot eilte zum Rettungswagen. Es schien etwa eine Minute her, seit Radkappe und Krümel die hintere Tür verschlossen hatten und in die Fahrerkabine gestiegen waren, und Dot befürchtete, daß die beiden jeden Moment abfahren könnten und sie zurücklassen würden. Aber, ob sie das nun befürchtete oder nicht, sie kam nur so schnell voran, wie ihre Füße sie trugen. Der Motor des Rettungswagens jaulte auf, und die Luft war vom Heulen der Sirene erfüllt. Dots Herz machte einen Satz. Sie hatte den Anschluß verpaßt, das war klar. Dot blieb stehen und guckte wütend zu, wartete darauf, daß Radkappe losbrauste, aber das tat er nicht. Er hatte Probleme, Rettungswagen und Laternenpfahl zu trennen, selbst nach so kurzer Bekanntschaft. Der Rettungswagen bewegte sich nur in kurzen, spasmischen Stößen. Erst rückwärts. Dot legte wieder zu. Dann vorwärts. Dot legte noch mehr zu. Dann fuhr der Wagen noch mal rückwärts und war schließlich frei. Dot fing an zu rennen und hatte gerade die hinteren Türgriffe gepackt, als der Wagen losfuhr. Dot wurde fast umgerissen, aber gerade, als es unausweichlich zu sein schien, daß sie fallen würde, schaffte sie es, einen Fuß auf eine kleine Stufe unterhalb der Tür zu stellen. Ächzend vor Anstrengung zog sie sich hoch und hielt sich krampfhaft fest, während der Rettungswagen vom Bürgersteig auf die Straße krachte und die High Street entlangfuhr.
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15 Mohnblüte war fertig. Sie stellte ihren Koffer in den Flur und ging ins Wohnzimmer. Es stank stark nach Benzin, und in einer Ecke lag ein leerer Zwanzig-Liter-Kanister. »Du bist also fertig?« fragte das Sofa. »Nun, du siehst sehr hübsch aus, wenn ich das sagen darf. Das wird Rupert gefallen.« »Scheiß auf Rupert.« Mohnblüte wühlte in ihrer Handtasche; ihre Hände zitterten. »Na, na.« »Und du kannst auch zur Hölle fahren.« Mohnblüte fand, wonach sie gesucht hatte. Eine Schachtel Streichhölzer. Sie holte sie heraus, öffnete sie und nahm ein Streichholz in die Hand. »Fort bist du, mit Glanz und Gloria«, sagte das Sofa. Mohnblüte hielt das Streichholz zum Anzünden bereit. »Ich werde es tun, ist dir das klar?« »Das ist mir klar«, sagte das Sofa. »Du hast gesagt, du wirst es tun, und ich glaube dir.« »Also willst du nicht versuchen, mich daran zu hindern?« Das Sofa dachte darüber nach. »Nein«, sagte es. »Nein, das werde ich nicht. Weil ich dir das, ehrlich gesagt, nicht übelnehmen kann.« »Ach, hör doch auf.« »Nein, wirklich. Ich verstehe das vollkommen. Ich meine, so sind wir doch, oder? Glaubst du etwa, ich würde das gemeine Bild da drüben nicht verbrennen wollen, wenn ich es könnte? Oder das Auto zerschmettern? Oder den Swimmingpool kaputtmachen? Wenn ich nur könnte. Dann würdest du schon sehen.« Mohnblüte schwieg. Ihr Gesicht war starr wie eine 206
Maske, aber es ist sinnlos, sich hinter einer Maske zu verstecken, wenn man ein telepathisches Gespräch führt. »Aha«, sagte das Sofa. »Jetzt bist du böse auf mich. Aber es ist doch nicht nötig, sich auf dieses Niveau herabzulassen, oder? Zünd einfach das Streichholz an und bring’s hinter dich.« Seine Stimme klang schmeichelnd, auffordernd. Mohnblüte fing an zu lachen. Sie platschte durch die Benzinpfützen, ließ sich auf das breite, bequeme Sofa fallen und gab sich einem ausgewachsenen hysterischen Anfall hin. »Und was ist jetzt so komisch?« Der ätzende Ton des Sofas schnitt Mohnblüte das befreiende Lachen ab. Sie hörte auf zu lachen und wurde bockig. »Du weißt es doch, warum fragst du dann?« sagte sie. »Weil ein telepathisches Gespräch immer noch ein Gespräch ist«, sagte das Sofa steif. »Es gehört sich nicht, zuviel vorauszusetzen. Und bockig zu sein ist sowieso verkehrt. Das paßt nicht zu dir.« Mohnblüte blieb zögerlich auf dem Sofa sitzen, unentschlossen, was sie tun sollte. »Übrigens, was deine Frage betrifft«, sagte sie, »ich habe über deine Schlauheit gelacht. Irgendwie hatte ich nicht erwartet, daß ein Sofa so schlau sein könnte.« »Ich bin mir sicher, daß ich nicht weiß, was du meinst.« »Tust du wohl.« »Also kannst du meine Gedanken lesen?« »Manchmal ja, wenn du dich nicht richtig konzentrierst.« »Dann lernst du schnell«, sagte das Sofa. Mohnblüte nickte. »Ja«, sagte sie. »Zum Beispiel, gerade eben hast du gedacht: Du sagst mir, wenn ich dich verbrenne, tue ich 207
dasselbe, was du tun würdest. Und da du weißt, daß ich nicht so sein will wie du…« »Bezaubernd, ganz bezaubernd«, sagte das Sofa leichthin. Aber leicht ums Herz fühlte sich das Sofa überhaupt nicht. Es war nur froh, daß Mohnblüte nicht tiefer in seine Gedanken eingedrungen war. »Aber ich will nicht so sein wie du. Ich will kein Ding sein.« Mohnblütes Stimme wurde einen Ton tiefer. »Ich will ein Mensch sein.« »Und warum willst du uns dann alle verbrennen?« »Warum? Warum? Ach! Das würdest du nicht verstehen.« »Ich denke doch. Wenn du es dir selbst erklären könntest.« Das waren die Worte des Sofas. Und sie klangen freundlich. Aber sie verbargen ihre wirkliche Bedeutung. »Konzentriere dich auf deine eigenen Gedanken, Mohnblüte, nicht auf meine.« Das war es, was das Sofa sagte: »Deine Gedanken, nicht meine.« »Na ja, weil…« Mohnblüte geriet ins Schwimmen. »Ich brauche… einen neuen Anfang… einen klaren Schnitt…« »Willst nichts von dem alten Leben übriglassen.« »Ja.« Dann etwas heller: »Ja!« Sie sah ihren Weg wieder deutlich vor sich. »Aha, ich verstehe«, fuhr das Sofa fort. »Und zudem denke ich, du brauchst dir keine Sorgen zu machen. Wenn du uns verbrennst, wirst du wie wir, wenn deine Beweggründe wie unsere sind.« Mohnblüte hatte das Gefühl, ihr würde eine große Last abgenommen. Entschlossen umklammerte sie die Streichholzschachtel und das Streichholz. »Und…« Sie zögerte mit der Frage. »Und du bist dir wirklich sicher, daß es dir nichts ausmacht?« »Das weißt du doch«, sagte das Sofa. »Du hast es doch gerade gelesen. Eigentlich…« Es zögerte bescheiden. 208
»Wäre ich stolz, für so eine gute Sache zu verbrennen.« »Nun, das ist sehr…«, fing Mohnblüte an, aber ihr fiel nichts mehr ein, was sie hätte sagen können. »Und du solltest es jetzt wirklich hinter dich bringen, denke ich. Bevor du es dir noch mal anders überlegst.« Die Stimme des Sofas veränderte sich. »Also tu’s jetzt, Mohnblüte.« Die Stimme war voll und satt und überzeugend. »Tu es jetzt.« Vielleicht waren es die Benzindämpfe, die im Raum standen, oder die Erleichterung darüber, sich mit dem Sofa so zufriedenstellend geeinigt zu haben, jedenfalls fühlte sich Mohnblüte plötzlich ganz leicht im Kopf. Sie spürte, daß sich die Atmosphäre veränderte, und ihr Kopf war jetzt voller Stimmen. »Tu es, Mohnblüte.« Die Stimme war hoch und nervig, das war das expressionistische Bild. »Tu es jetzt.« Eine Stimme von fließender Kraft, das Auto. »Jetzt, Mohnblüte.« Ein unaufhörliches flüssiges Trillern, der Swimmingpool. »Jetzt, Mohnblüte, jetzt«, sagte Ruperts ganzer Besitz im Chor. »Tu es jetzt!« »Es ist das Beste«, sagte das Sofa. Alle anderen Stimmen verstummten und hinterließen eine erwartungsvolle Spannung. Benommen hob Mohnblüte das Streichholz hoch und setzte seinen Kopf auf die Reibfläche an der Seite der Schachtel. Die Spannung stieg. Das Streichholz strich langsam über die Reibfläche, und aus der Spannung wurde Freude. »Jetzt gleich«, schienen die Stimmen zueinander zu sagen, doch nicht zu Mohnblüte. »Jetzt gleich.« Aber Mohnblüte hörte sie auch. In der frohen Erwartung, daß sie 209
jeden Moment das Streichholz anzünden würde, waren die Dinge unachtsam geworden, und Mohnblüte sah ihre Gedankenwelt sich wie ein Buch öffnen. Es war ein dünnes Buch ohne Kleingedrucktes mit nur einem Wort. Und das Wort war in Kapitälchen geschrieben. Roten Kapitälchen. Kapitälchen aus Blut und Feuer. »HASS .« Sie erstarrte. Um sie herum waren hohle Geräusche von sich hastig abschottenden Gedanken zu hören, aber das Wort war nicht verschwunden, es befand sich in ihren Gedanken, eingebrannt von der Hitze noch nicht entzündeter Flammen. Ganz langsam legte Mohnblüte das Streichholz mitsamt der Schachtel weg und stand auf. Sie mußte unendlich vorsichtig sein. Ein Funke würde genügen. Und genau das wollten die Dinge. Die Dinge haßten Mohnblüte so sehr, daß sie selber in dem Inferno verbrennen wollten, das Mohnblüte verschlingen würde. Sie hatten fremde Gedanken, diese Dinge. Mohnblüte erschauderte. Es waren Kreaturen einer anderen Art. Vorsichtig bewegte sich Mohnblüte um das Sofa herum und zum Fenster hin. Benzindämpfe waberten an ihrem Gesicht vorbei. Ein Funke würde in diesem Raum nicht nur ein kleines Feuer entzünden, sondern einen sengenden, explodierenden Feuerball, dem sie niemals entkommen könnte. »HASS .« Mit extremer Vorsicht öffnete Mohnblüte das Fenster. Warme, einwandfreie Luft brach wie ein Strom Gesundheit ins Zimmer, und am Vordereingang der Villa hupte ungeduldig ein Auto. Mohnblüte blickte auf ihre Uhr. Es war fast genau Mitternacht. Sie mußte sich beeilen, um den Jet zu kriegen, der sie mit nach London nehmen würde. Sie rannte. Das war das Beste, was sie je in ihrem Leben getan hatte. 210
Im Wohnzimmer verkündete ein lautes Klicken, daß das automatische Sicherheitssystem die Hausbeleuchtung ausgeschaltet hatte. Es gab einen Funken im Schalter, es gibt immer einen Funken im Schalter, und obwohl er nur winzig war, reichte er doch, um die benzindampfgeschwängerte Luft zu entzünden. Ein wütendes, volltönendes Krachen erklang. Der hintere Teil von Ruperts Villa brach vom Hauptgebäude ab und wurde von einem feuerspeienden Krater verschlungen. Der Fahrer des bestellten Wagens warf Mohnblüte einen leicht neugierigen Blick zu, als sie sich vorne neben ihn setzte. Sofort keifte sie ihn an. »Und? Was ist? Worauf warten Sie?« Das Gesicht des Fahrers wurde vom flammenden Rot der Villa erleuchtet, seine Nase rümpfte sich wegen des Benzingestanks, der an Mohnblütes Kleidern haftete, aber er verkniff sich jeden Kommentar. So gut wie jeden. »Madame fliegt also nach London.« Er machte eine verächtliche Pause. »Ohne jedes Gepäck, was?« »Ach, Deirdre.« Rupert lief im Wohnzimmer herum. »Ich kann dir gar nicht sagen, wie leid mir das alles tut. Was du alles aushalten mußtest.« »Rupert, um Himmels willen, setz dich doch mal hin.« Deirdre ließ ihre Bitte so klingen, als ginge es ihr um Rupert, aber in Wahrheit war es so, daß sie das Gefühl hatte, der ganze Raum drehe sich, wenn sie Rupert zusah, wie er hin und her, auf und ab marschierte. »Deirdre!« In einem Anfall von Leidenschaft kniete sich Rupert neben sie und ergriff ungestüm ihre Hand. »Ich weiß, daß wir nicht heiraten können, das war eine dumme Idee.« Deirdres Hand erstarrte in seiner. »Das wäre nicht recht«, fügte er schnell hinzu. »Nicht nach allem, was passiert ist.« 211
Es ist nie viel passiert, dachte Deirdre. War nicht genau das der Punkt? Eine kurze, heiße Affäre vor all den Jahren. Und dann dieser Abend. Nichts, worüber man nach Hause schreiben könnte. »Ist ja gut«, murmelte sie inkonsequenterweise und tätschelte Ruperts Hand. »Aber Deirdre!« Rupert blickte entgeistert hoch. »Ich habe dich betrogen.« »Nehme ich an. Wenn du das sagst.« »Und jetzt… Wenn ich dich jetzt ansehe…« Deirdre hatte das Gefühl, daß das alles an ihr vorbeiging. Es war nicht ihre Schuld, was sie war. Oder? Sie nahm schnell einen kräftigen Schluck Whisky. Alles ging an ihr vorbei. »Ich will dir helfen.« »Das ist sehr nett von dir.« Deirdre leerte ihr Glas. »Also verhilf mir noch mal zu einem Glas. Das reicht fürs erste.« Rupert stand auf und nahm Deirdre das Glas ab. Er konnte schlecht »nein« sagen. Aber… »Ich habe das Gefühl, du nimmst das nicht richtig ernst, Deirdre.« Er klang verletzt. Und in einem Moment von überwältigender Klarheit sah Deirdre, daß sie die Sache tatsächlich nicht ernst nahm. Was sie aber sollte. Sie betrachtete Ruperts Rücken, während er ihr Whisky eingoß. Der Mann legte sich ihr zu Füßen, und ob das nun richtig war oder nicht, es mußte irgendeinen Wert haben. Vielleicht war es sogar eine Menge wert. Als Rupert mit ihrem Whisky zurückkam, streckte sie ungeduldig die Hand danach aus. Sie brauchte ihn jetzt. Sie brauchte einen klaren Kopf. »Natürlich bin ja nicht nur ich da«, sagte Rupert. »Er ist ja auch noch da.« Seine ausdrucksstarke Geste vereinnahmte den ganzen Raum. Alles gehörte dem Boß. 212
»Wir beide. Wir müssen uns beide um dich kümmern. Und ich werde dafür sorgen, daß er seinen Teil übernimmt, Deirdre. Was immer er bis jetzt getan haben mag.« Der Gedanke gefiel Rupert. »O ja, dafür werde ich sorgen.« Er blickte auf seine Uhr. »Übrigens, wann kommt er zurück, hast du gesagt?«
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16 Im Krankenhaus hatte sich wenig verändert. Es herrschte eine ruhige Atmosphäre, zumindest an der Oberfläche, und seit einiger Zeit hatte es auch keine Berichte mehr über den herumirrenden Verrückten gegeben. Das Personal fühlte sich wohler, selbst der Arzt und die Krankenschwester, die in der Kantine lauwarmen Kaffee aus Plastikbechern tranken, gingen fast freundschaftlich miteinander um. Aber unter der Oberfläche lauerte etwas. Es zitterte unmerklich, wie ein Vorhang, hinter dem ein Einbrecher versteckt ist, und es wuchs die Angst, denn Angst nährt sich vom Frieden. In seinem Bett spürte der wieder erwachte Vernon das Zittern. Es schien ihm ein interessantes Zittern zu sein, bedrohlich, seltsam verführerisch und sehr bedeutungsvoll, aber er täte besser daran, es nicht zu beachten. Es lenkte ihn nur ab bei dem Versuch, sich zu erinnern, warum er hier war. Axt, Seemann und der Boß spürten das Zittern ebenfalls. Sie waren – trotz der gegenteiligen Prognose des Arztes – schon halbwegs vom Schlaf- zum Wachzustand übergegangen, und das Zittern hatte sie endgültig aus ihrem Dämmerzustand gerissen. Der Boß setzte sich auf und blickte sich um. Seine Augen glänzten. Für ihn war das Zittern ein Omen. Etwas Wunderbares. Er spürte Aufregung und wollte sie teilen. Im Bett neben dem Boß setzte sich auch Seemann auf, und nach Seemann tat es Axt. Seemanns Augen waren umwölkt und blickten ängstlich. Axt war hellwach. »Er ist hier«, sagte der Boß. »Der Diamant, er ist hier.« Er schwang seine Beine aus dem Bett und stand auf. Er schnüffelte und lauschte. »Jetzt ist er wieder weg«, sagte er. »Aber ich habe ihn gehört, eindeutig. Er muß hier sein.« Auch Axt schwang sich aus dem Bett. 214
»Ich nicht, also ich hab’ nicht gehört, was du gehört hast, Boß, aber ich hatte gerade so – so einen Traum. Ich war in…« Der Boß verharrte bewegungslos. Er bebte. »Da. Da ist er wieder«, sagte er. »Und sogar viel lauter.« »Ich hör’ nichts, Boß«, sagte Axt stur. Seemann verdrehte die Augen, gab ein leises Stöhnen von sich und kroch zitternd unter seine Bettdecke. »Was hat denn der?« fragte Axt. Der Boß ging rüber und zog Seemann die Decke weg. »Seemann«, sagte er leise und rüttelte ihn an der Schulter. »Seemann. Es ist alles in Ordnung. Hörst du? Du bist in Sicherheit. Es ist nur…« Der Boß hörte auf zu reden und lauschte wieder. Seine Augen schlossen sich verzückt, und er stieß ein leises Stöhnen aus. »Er ruft«, sagte er. »Er ruft mich.« Wie in Trance lief er auf die Tür des Krankensaales zu. Seine bloßen Füße schlurften über den kalten, gefliesten Boden. »Aber Boß…« Axt lief hinter ihm her, dann warf er einen Blick auf Seemann, der immer noch ängstlich zu einem Ball zusammengerollt dalag. Axt schnaubte vor Ungeduld, rannte zu Seemanns Bett, packte den riesigen Mann am Arm und zerrte daran. »Steh auf«, sagte er. »Steh auf!« Seemann stand zwar auf, schien aber unfähig, sich weiterzubewegen. Demütig hielt er den Kopf gesenkt, die Schultern hatte er hochgezogen und die Arme eng vor der Brust verschränkt. »Ach, nun komm schon.« Axt boxte Seemann freundschaftlich auf den Oberarm. »So schlimm ist das doch gar nicht.« Ein freundlicher Hieb von Axt konnte einen Ziegelstein zerschlagen, doch Seemann bewegte sich keinen Millimeter. 215
»Der Boß ist auf was aus. Kann sein, es gibt Streß«, sagte Axt. Er blickte Seemann ins Gesicht. »Der Boß«, sagte er noch einmal, laut und langsam. Als der Seemann »Boß« hörte, hob er ein wenig den Kopf und blickte wild um sich, aber der Boß war weg. Seemann stieß einen lauten, wortlosen Schrei aus, trottete verzweifelt zur Tür und blickte hinaus auf den Flur. Niemand zu sehen. Er stieß einen zweiten Schrei aus, einen erbärmlichen, furchtsamen Schrei. Axt rannte zur Tür und blickte selbst hinaus. Er packte Seemanns Arm. »Komm«, sagte er, »wir müssen gehen.« Seemann warf Axt einen kläglichen Blick zu. Er war verunsichert und voller Zweifel. Aber Axt war nicht der Mann, der zögerte, wenn es etwas zu erledigen galt. »Der Boß braucht uns«, sagte er. Er packte Seemann am Arm und zerrte ihn auf den Korridor hinaus. Vernon Carpenter schaute den beiden hinterher, dann kletterte er eilig aus dem Bett. Wie interessant das Zittern mit all seinen verborgenen Bedeutungen auch sein mochte, er mußte sich um andere Dinge kümmern. Vielleicht könnten ihm die beiden großen Männer dabei helfen. Er hatte sie schon einmal gesehen, mit einem Feuerball im Rücken. Und da, fiel ihm plötzlich ein, war auch eine kleine alte Lady gewesen. Und dann erinnerte er sich schließlich, obwohl er doch die ganze Zeit bewußtlos gewesen war, wie er auf der kleinen alten Frau gelegen und gespürt hatte, wie sie einen Moment großer Freude erlebte. Es muß eine wilde Freude gewesen sein, so unglaublich leidenschaftlich, daß sie sich über die Berührung eines bewußtlosen Mannes ausdrücken konnte. Was mochte die Ursache dafür gewesen sein? überlegte er. Dieses Durcheinander vager Erinnerungen verschaffte Vernon keinen Durchblick, sondern es verwirrte ihn – er haßte Verwirrung –, und ihm schien, daß er, um diese 216
Verwirrung zu klären, den beiden großen Männern einfach nur zu folgen brauchte. Vielleicht führten sie ihn zu einigen Antworten. Oder zurück zu klaren Verhältnissen. Oder sonstwohin.. Wo immer sie ihn hinführen würden – es wäre dort wahrscheinlich besser als in diesem Krankenhausbett mit der zerknitterten Bettwäsche. Vernon rannte hinaus auf den Korridor. Hinter ihm schwangen die Türen zu, und im Krankensaal war es wieder still. Abgesehen von dem Zittern. Aber das war schließlich überall. Der Diamant war mit sich zufrieden. Die Sache mit PsychoHarry hatte er sehr gut gelöst, und jetzt konnte er sich ein bißchen entspannen. Er lehnte sich in dem weichen Kosmetiktäschchen zurück und rauchte eine Zigarette, im übertragenen Sinne. Irgendwo draußen in den unendlichen Krankenhauskorridoren hatte sich Psycho-Harry mit dem Rücken zur Wand in einer Ecke verkrochen. Aber nicht zum Ausruhen. Er war total aufgedreht und voller Energie, und durch seinen Kopf spazierten die Bilder seiner glorreichen Zukunft. Die Bilder bauten sich langsam auf, ein Bild schlüpfte aus dem anderen wie ein Schmetterling aus dem Kokon und blieb gerade so lange scharf, daß Harry einen Eindruck seiner Einzigartigkeit und Schönheit bekam, ohne dabei müde zu werden. Ganz entspannt, im Einklang mit seiner eigenen Stimmung, zeigte der Diamant, was die Zukunft für Harry bereithielt. Damit war Harry beschäftigt, und er konnte in Ruhe seinen eigenen Gedanken nachgehen, ohne daß Harry seine Nase reinsteckte. Harry in einen paranoiden Größenwahnsinnigen zu verwandeln, der einen riesigen Teil des Globus beherrschte, war leicht für den Diamanten, denn Harry war die ideale Person dafür. Er war zum Beispiel viel besser als Napoleon. Napoleon verrückt zu machen war wirklich harte Arbeit 217
gewesen. Und dabei waren die politischen Verhältnisse durchaus günstig. Doch die nukleare Bedrohung in der Zeit nach Hitler hatte den Diamanten davon abgehalten, sich in globale Politik einzumischen, denn er hatte kein Verlangen, zu verschmoren oder für alle Ewigkeit begraben zu werden. Aber seit der Westen den Zusammenbruch des Ostens bewirkt hatte, war die nukleare Bedrohung so weit zurückgegangen, daß er wieder ein bißchen herumspielen konnte. Jedenfalls – der Diamant machte eine Gedankenpause, um ein neues Bild für den irren Harry zu entwerfen und zu übermitteln –, das Problem war nicht mehr, was mit Harry werden sollte. Das Problem war, was mit ihm selbst werden sollte. Wo sollte er hin, während er um Psycho-Harrys Imperium spielte? Bei wem sollte er sich niederlassen? Natürlich würde Psycho-Harry erwarten, daß der Diamant bei ihm lebte. Aber das wäre keine gute Idee. Das würde den Diamanten zur Geisel seines eigenen Glücks machen. Aber wen gab es sonst? Der Diamant erwog seine Optionen. Vielleicht könnte er bei Krümel bleiben. Das könnte nett werden. Sie hatte seinen Verlockungen widerstanden, und daher würde es eine echte Herausforderung bedeuten, sie zu erobern. Und dann war da der Boß, der Mann, der heute versucht hatte, den Diamanten zu stehlen. Er würde den Diamanten zu schätzen wissen. Er würde ihn hegen und pflegen und seine Eitelkeit bedienen. Was für eine Weile ganz hübsch sein könnte. Und dann war da noch Dot. Dot, die Proletarierin. Das Leben mit ihr würde natürlich primitiv sein – der Diamant machte wieder eine Pause, um Harry ein neues Bild zu schicken –, aber das könnte auch interessant sein. Eine neue Erfahrung. Der Diamant hatte noch nie mit jemandem gelebt, für den ein langfloriger Teppich Eleganz und ein 218
Drei-Pence-Rabatt verkörperten.
auf
eine Dose Bohnen
Aufregung
Wenn Dot darüber überhaupt nachgedacht hätte, hätte sie gedacht, ein Drei-Pence-Rabatt auf eine Dose Bohnen wäre etwa die Sorte von Aufregung, mit der sie im Augenblick ganz gut fertig werden könnte. Ihr kam nur Hackfleisch in den Sinn, wenn sie an Essen dachte, während sie hinten an Radkappes rasendem Rettungswagen hing und um ihr Leben bangte. Dot blickte zur Straße hinunter, die wenige Zoll unter ihr vorbeisauste. Wenn sie bei der Geschwindigkeit runterfiel, dann würde von ihr nur noch Hackfleisch übrigbleiben. Radkappe hatte seinen Spaß. Er liebte Fahrzeuge – Autos, Laster, Busse, Fahrzeuge jeglicher Art – und er liebte es, alles über sie herauszufinden. Im Moment fand er gerade heraus, was ein Rettungswagen alles konnte. Ein Rettungswagen konnte auf zwei Rädern fahren – er konnte wirklich auf zwei Rädern fahren. Auf jeder Seite gleich gut – und das war erstaunlich. Die meisten Fahrzeuge fuhren besser, wenn sie sich nach rechts neigten. Und ein Rettungswagen war schnell – fünfzig Meilen im dritten Gang – und auch spritzig. Radkappe schwenkte an einem Sattelschlepper vorbei und konnte gerade noch einem entgegenkommenden Taxi ausweichen – es fehlten nur wenige Zoll. Und ein Rettungswagen konnte… Radkappe blickte aus den Augenwinkeln zu Krümel hinüber. Ein Rettungswagen konnte Huuuuuu HHUUUUUUU HHHUUUUUUU machen. »Jippie!« schrie Radkappe. »Machen Sie das aus!« raunzte ihn Krümel an, und Radkappe gehorchte. Es hatte keinen Sinn, Krümel zu widersprechen, jedenfalls nicht, solange sie noch die 219
Maschinenpistole hatte. »Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollen das lassen«, sagte sie. »Sie sagen es, o Königin!« sagte Radkappe schamlos grinsend. Zum ersten Mal an diesem Tag hatte er seinen Spaß. »Na, dann machen Sie es nicht noch mal.« Krümel schürzte die Lippen. »Oder Sie machen auch noch das Blaulicht aus.« Ihr Ton war scharf, aber Radkappes Lebensgeister schwebten hoch oben, sicher außer Reichweite. Am Heck des Rettungswagens ließ Dot eine Hand los, um sich die von der Sirene gequälten Ohren zu reiben. Der Zeitpunkt war dumm gewählt. Plötzlich wurde der Rettungswagen schneller und schaukelte kräftig nach rechts. Radkappe wollte nur überprüfen, ob zwischen dem Fahren auf den linken beziehungsweise auf den rechten Rädern wirklich kein Unterschied bestand. Da müßte eigentlich einer sein, meinte er. Da müßte wirklich einer sein. Dot schrie, als ihre Füße von dem kleinen Trittbrett abrutschten. Verzweifelt hielt sie sich mit einer Hand fest, während ihre Schulter von Schmerzen zerrissen wurde und ihre Füße über den Boden schleiften. Arme Füße. Es fühlte sich an, als würden sie brennen. Taten sie aber nicht. Die unverwüstlichen Strümpfe hatten den Auftritt ihres Lebens. Aber sie konnten nicht ewig halten, wenn sie mit solcher Geschwindigkeit über Asphalt gezerrt wurden. Dot versuchte, einen besseren Halt an den Türgriffen zu finden. Sie konnte sich nicht länger festhalten. Jeden Augenblick würde sie fallen. Mit einem Ruck landete der Rettungswagen auf allen vier Rädern. Dots freie Hand fand Halt. Ein verzweifelt 220
paddelnder Fuß fand den Tritt an der Tür. Dot stand fast wieder aufrecht und hatte beinahe sicheren Halt, als der Rettungswagen erneut zur Seite kippte, diesmal nach links, und Dot verlor wieder die Fußstütze. »Um Gottes willen«, stöhnte sie, als sie sich mit letzter Kraft festklammerte, »hilf mir doch einer!« Vernon stand vor dem Krankensaal der Station für Verbrennungen und Allgemeine Chirurgie und blickte den Korridor auf und ab. Niemand zu sehen. Er lauschte, hoffte, die sich entfernenden Schritte von Axt und Seemann hören zu können, die den Boß verfolgten, aber sosehr er sich auch bemühte, es war nichts auszumachen. Das heißt, nichts außer dem Zittern. Das Zittern faszinierte Vernon. Er war sicher, daß es ein Code war, und wäre sehr gern hinter das Geheimnis gekommen; jetzt aber hatte er andere Probleme und keine Zeit, den Code zu knacken. Zunächst mußte er entscheiden, wohin er gehen sollte. Hatten der große, zuversichtliche Mann und der große, ängstliche Mann den Boß gesehen, bevor sie die Verfolgung aufnahmen? Und wenn das so war, in welche Richtung waren sie gegangen? Er blickte den Korridor auf und ab. Wo lang? Wenn er eine Münze gehabt hätte, hätte er sie geworfen und dem Glück vertraut. Vernon verließ sich immer auf sein Glück. Das hatte er sein ganzes Leben lang so gehalten. Das bewahrte ihn vor dem Denken und vor dem Weg, den ihm seine Gedanken weisen mochten. Aber Vernon hatte nun mal keine Münze. Und wenn er jetzt nicht schnell handelte, würde er den Boß und dessen Männer nie finden, denn dieser Korridor hatte etwas an sich, was vermuten ließ, daß in ihm Leute leicht verlorengingen. Also dachte Vernon wider besseres Wissen nach. Er schloß die Augen und stellte sich vor, wie der 221
zuversichtliche und der ängstliche Mann den Krankensaal verließen. Der Zuversichtliche hatte den Ängstlichen am Arm gepackt. Seemann, so hieß er. Es war Seemanns rechter Arm gewesen. Vernon spielte die Situation nach und bewegte sich in die Richtung, die ihm am natürlichsten schien. Das war nach rechts. Also führte ihn Nachdenken nach rechts. Er schloß kurz die Augen, weil das Zittern wieder anfing, aber, ach, er hatte noch immer keine Zeit. »Keine Zeit, keine Zeit, Mrs. Tittlemouse«, murmelte er in Abwandlung eines Zitats aus einer fast vergessenen Geschichte aus seiner Jugend. »Andauernd keine Zeit«, fügte er bedauernd hinzu. Mit einem tiefen Seufzer schritt er nach rechts, bog am Ende des Korridors rechts ab und verschwand. In der Kantine des Krankenhauses wurde die Stille vom Pieper in der Tasche des Arztes unterbrochen. »Ich muß los«, sagte er. »Gott sei Dank.« Und er ging. »Natürlich«, sagte die Krankenschwester, »gerade, wo wir so gut klarkamen.« Sie trank den letzten Schluck Kaffee und folgte dem Arzt, aber ganz gemächlich. »Das war ja zu erwarten.« »Verdammt!« sagte Radkappe. Als er seinen Fuß vom Gaspedal nahm, wurde es leiser in der Fahrerkabine des Rettungswagens, der Wagen landete mit einem Ruck auf vier Rädern und wurde langsamer, bis er nur noch kroch. »Schauen Sie sich das an! Noch dazu mitten in der Nacht!« Radkappe trommelte frustriert auf das Lenkrad und deutete nach vorn. Auf der Straße vor ihnen reihten sich die roten Rücklichter von Autos aneinander, die alle Richtung Krankenhaus fuhren. Aus den Seitenstraßen kamen immer mehr Autos, und alle hatten es eilig, drängelten sich kreuz 222
und quer rein, bis die Straße vollkommen verstopft war. Radkappe blickte zu Krümel hinüber. Sie lächelte und winkte jemandem in dem Auto neben sich zu. »Freunde von Ihnen?« sagte Radkappe bissig. Er starrte mißmutig nach vorn. »Hätte ich mir denken können.« »Freunde?« sagte Krümel. »Eigentlich nicht. Es sind Kolleginnen vom Krankenhaus, die keinen Dienst haben und in unsere Richtung fahren.« Sie winkte aufgeregt, als ein anderes Auto an ihrer Seite vorbeikroch. »Es sieht so aus, als hätte es Alarm gegeben. Das hat was mit dem Konvoi zu tun, nehme ich an.« »Ach ja?« sagte Radkappe, aber sein Sarkasmus ließ Krümel ungerührt. Sogar im Dunkeln konnte er sehen, wie ihre Augen glitzerten. »Das wird eine aufregende Nacht werden«, sagte sie. »Wenn ich mir das so ansehe.« »Klar. Klasse. Und es ist besonders schön, am Ende festzuhängen.« »Ach, nun sehen Sie das doch mal von der positiven Seite. Im Krankenhaus wird so viel los sein, daß wir überhaupt nicht auffallen werden. Keiner wird Verdacht schöpfen.« »Also gut«, sagte Radkappe. »Also gut, Sonnenseite.« Er seufzte. »Ich hoffe nur, daß sie mich nicht blendet.« Am Heck des Rettungswagens konnte Dot die Sonnenseite bestens sehen. Dot stand wieder auf dem Fußtritt und konnte sich problemlos festhalten. »Oh, Gott!« sagte sie. »Das war knapp, Mädchen!« Sie blickte zur Straße hinunter, die unter ihren Füßen entlanglief. Sie sah freundlicher aus als zuvor. »Du könntest runterspringen und laufen«, sagte sie zu sich selbst. »Das wäre schneller.« Aber sie hatte nicht die Absicht zu laufen. Sie verlagerte ihr Gewicht auf dem 223
Fußtritt, um bequemer zu stehen, und während sie das tat, stieß sie aus Versehen an einen der Türgriffe. Er bewegte sich. »Sieh an«, sagte sie. Sie blickte nachdenklich und schob den Griff so hoch wie möglich. Die Tür gab ein wenig nach, und Dot zog sie vorsichtig zu sich her, wobei sie vermied, sich selber vom Trittbrett zu stoßen. »Da drin ist es vielleicht bequemer.« Sie stellte einen Fuß in das tintenschwarze Innere des Rettungswagens und trat auf einen am Boden liegenden Körper. »Ups, ‘tschuldigung, mein Bester«, sagte sie. Sie tastete mit dem Fuß seitwärts weiter und trat auf einen zweiten Körper. So rücksichtsvoll wie möglich suchte Dot mit dem Fuß nach der Stelle, wo beide Körper zusammentrafen, und klemmte ihren Fuß dazwischen. Dann hielt sie mit aller Kraft die Tür fest, damit die nicht zurückschwang und sie auf die Straße schleuderte, stemmte sich sorgfältig ins Innere des Rettungswagens und lehnte sich auf wackligen Füßen vor, um die Tür zuzumachen. »Na schön«, sagte sie. »Und wohin jetzt?« »Die Tragen kann ich nicht empfehlen, Miss Coulson.« Eine wie flutumspülte Kieselsteine gurgelnde Stimme kam aus der Dunkelheit gerauscht. »Die sind nämlich besetzt.« Am Eingang zur Unfallstation des Krankenhauses standen der Arzt und die Krankenschwester mit Klemmbrettern und Stiften und notierten die Ankunft der Leute vom Bereitschaftsdienst, die hereinströmten. Der Arzt war außer Atem. Die Krankenschwester weniger. Aber er war auch den ganzen Weg von der Kantine gerannt. Es war ein langer Weg. Jedenfalls gaben einem die Korridore das Gefühl, daß er lang wäre. Aber trotz seiner Kurzatmigkeit leuchteten die Augen des Arztes. »Kommen Sie rein, kommen Sie rein«, sagte er freundlich, während er – durch das Klemmbrett als 224
Autorität ausgewiesen – das hereinkommende Klinikpersonal zur Eingangshalle schob. »Genug Platz für alle.« Er wandte sich an die Krankenschwester. »Stimmt doch, oder?« Sie seufzte tief und vermied, ihm in die Augen zu sehen. »Und jede Menge Arbeit.« Als der Strom der Ankommenden langsam dünner wurde, blickte der Arzt zur Tür hinaus und sah hinten in der Ferne, jenseits des Eingangstores, ein blaues Licht blinken. »Oder werden wir zumindest bald haben.« Hinter ihm, weiter hinten in der Eingangshalle, kämpften zwei unterschiedliche Menschenströme gegeneinander, um vorwärts zu kommen. Die letzten Neuankömmlinge, noch in ihren Straßenkleidern, ignorierten das Empfangskomitee und eilten zu den Büros und Personalräumen, um sich umzuziehen. Diejenigen, die schon früher gekommen waren, eilten in die entgegengesetzte Richtung, wobei sie noch damit zu tun hatten, sich weiße Kittel überzuziehen oder die Gürtel zuzumachen. »Los, los!« rief der diensthabende Arzt. »Beeilt euch. Der erste Rettungswagen kommt.« Die Worte des Arztes versetzten den ganzen Raum in hektische Aktivität, so daß vor lauter Chaos niemand irgendwohin konnte, und als draußen Radkappes Rettungswagen vorfuhr, waren nur der diensthabende Arzt und die Krankenschwester da, um sie zu empfangen. »Na dann!« schrie der Arzt zu Radkappe hoch. »Zeig der Katze die Maus!« Die Krankenschwester hinter ihm senkte peinlich berührt die Augen. »Macht hinten auf und zeigt uns, was ihr mitgebracht habt.« Radkappe warf einen langen Blick auf den Arzt, woraufhin der sich einen Zoll über seine tatsächliche Größe hinausreckte. »Ich faß natürlich mit an«, sagte er und hielt dabei das Klemmbrett hoch, als sei es permanent mit seinem Arm verbunden. »Nur…« Er wedelte mit dem Brett. »Sie wissen ja, wie das 225
ist.« »Klar, natürlich«, knurrte Radkappe. Er schwang sich aus dem Rettungswagen und knallte die Tür hinter sich zu. Krümel stellte sich neben ihn. »Aber dann werden Sie mich wohl auch entschuldigen, nicht wahr?« Er nahm Krümels Arm und schob mit ihr los. »Wir haben nämlich was vor, wissen Sie. Leute treffen. Ich denke, Sie wissen, wie das ist.« Sprachlos trat der Arzt einen Schritt zurück, um Radkappe den Weg freizumachen. Er stieß beinahe mit der Krankenschwester zusammen, die jetzt Mühe hatte, ihr Kichern zu unterdrücken. Radkappe und Krümel waren schon fast verschwunden. »Treten Sie zurück!« sagte eine Stimme hinter dem Arzt. »Und lassen Sie die Fachleute ran!« Der Arzt konnte sich gerade noch rechtzeitig zurückziehen, um nicht von der Wolke weißer Kittel und blauer Röcke überrannt zu werden, die auf den Rettungswagen zusteuerte. »Oje«, sagte er. »Ojemine. Die Dinge scheinen außer Kontrolle zu geraten, oder?« »Schnell!« sagte Rudge, als die Hintertüren des Rettungswagens sich zu öffnen begannen. »Vorne raus.« Er drohte Dot mit seinem Messer. »Bewegung!« Er trat die Beifahrertür auf und schubste Dot in die Nacht hinaus. »Und fangen Sie das hier! Vielleicht brauchen wir es.« Ein schwerer Metallgegenstand landete in Dots Armen. Es war die Maschinenpistole. »Hey, ihr zwei!« kam eine Stimme von hinten aus dem Rettungswagen. Rudge guckte, sah einen schwergewichtigen Pfleger und eilte davon. »Warten Sie! Ich will mit Ihnen reden!« Der Pfleger sprang vom Rettungswagen und wollte die Verfolgung aufnehmen, als er der Länge nach hinfiel. Verstohlen zog 226
Dot ihren ausgestreckten Fuß zurück. »Was zum Teu…«, fing der Pfleger an, aber weiter kam er nicht. »Oh, den dürfen Sie nicht verfolgen«, fing Dot an. »Meinen Freund. Er hat Angst vor Krankenhäusern. Wird schrecklich gewalttätig. Ich konnte ihn nur dazu bringen, zu mir in den Rettungswagen zu steigen. Wissen Sie…« Aber sie fiel sich selbst ins Wort, indem sie stolperte und sich auf den Pfleger stützte, der gerade auf die Beine gekommen war und die Verfolgung aufnehmen wollte. »Oje. Ich schon wieder. Es sind meine Beine. Sie versagen mir dauernd den Dienst.« Sie machte ein paar schlurfende Schritte, um ihre Schwäche zu demonstrieren. »Ich weiß auch nicht, was es ist…« Was nicht zutraf. Es war die Maschinenpistole, die sie zwischen den Knien hielt. »Aber der Arzt, der wird es wohl rausfinden, nicht wahr? Würden Sie so gut sein…« Sie stützte sich mit ihrem ganzen Gewicht auf die Schulter des Pflegers. »… und mir unter die Arme greifen, ja? Zur Unfallstation geht’s doch hier lang, oder?«
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17 »Alles klar dahinten?« Die Kopfhörer in Mohnblütes Fliegerhelm wurden lebendig. »Weil, du bist schon eine Weile ganz schön still…« Mohnblüte lachte. »Keine Angst. Mir geht’s gut.« Sie lehnte ihren schweren Helm an den harten Sitz und schaute durch das Kanzeldach hinauf zu den Sternen. Selbst das war harte Arbeit. Der enge Gurt, der sie an den Sitz band, das Gewicht des Helms und die Behinderung durch die Sauerstoffmaske gaben ihr das Gefühl, sich so gut wie gar nicht bewegen zu können. »Ich habe bloß nachgedacht, weiter nichts.« »Aha!« sagte die Stimme des Piloten in ihren Kopfhörern. »Nachgedacht.« Das Wort klang, als gehöre es zu einer fremden Sprache. »Na, dann ist ja alles klar.« Und dann war da noch eine andere Stimme. Sie kicherte. »Pervers«, sagte sie. »Denken. Hier oben zählen nur Reaktionen.« »Ach ja«, antwortete Mohnblüte, »kann sein. Aber schließlich sitze ich ja nicht auf dem Pilotensitz, oder?« Noch vor kurzem hätte ihr diese Stimme angst gemacht. Aber langsam gewöhnte sich Mohnblüte an ihren neuen Status als Gegenstand. Sie fand sogar Gefallen daran. Auf eine bestimmte Art. »Hä?« machte die Stimme des Piloten. Sein gleichmäßiger, gesetzter Tonfall war nicht ganz so ruhig wie zuvor. »Was war das?« »Nichts«, sagte Mohnblüte leichthin. »Vergiß es.« Die kicherige Stimme kicherte wieder. »Sei still!« dachte Mohnblüte, ohne die Lippen zu bewegen. 228
»In Ordnung«, sagte die kicherige Stimme und klang ein wenig verletzt. »Dann bin ich das.« Und jetzt fühlte sich Mohnblüte schlecht. »Ich wollte nicht…«, fing sie an, aber der Pilot unterbrach ihren Gedanken. »Und? Worüber hast du nachgedacht?« Mohnblüte errötete unter ihrer Maske. »Ach, nichts weiter.« Ihre Stimme war angespannt. Die kicherige Stimme lachte. »Nichts ist nichts.« Unter dem Helm lief Mohnblüte knallrot an. »Eigentlich«, sagte sie, »habe ich über Sex und Fliegen nachgedacht.« »Aha.« Der Pilot klang interessiert. »Ernsthafte Gedanken.« »Daß ich vor dem einen Angst und vom anderen genug hatte.« »Vom Fliegen genug?« »Nein.« Der Pilot lachte. »Kein Problem. Ich kann dir bei beidem behilflich sein.« Und jetzt lachte Mohnblüte. »Was, sogar hier oben?« »Hier oben, meine liebe Mohnblüte, ist beides dasselbe. Wenn man das richtige Flugzeug hat. Und glaube mir, wir haben das richtige Flugzeug. Halt dich fest, und ich zeig’s dir.« Es gab einen leichten Ruck. »Ich steuere jetzt von Hand.« Die kicherige Stimme kicherte. »Denkt er«, sagte sie. »Also, das war’s dann, oder?« Die Stimme im Ohr des 229
diensthabenden Arztes klang gekränkt, und diesbezüglich vertrat sie alle anderen Stimmen, die sich um den Arzt drängten. »Das soll’s gewesen sein? Ein lumpiger Krankenwagen, zwei kleine Sanis und zwei Verletzte, die so betrunken sind, daß wir sie erst in vierzehn Tagen operieren können.« Die gekränkte Stimme stand, die Arme in die Seite gestemmt, Nase an Nase mit dem diensthabenden Arzt. »Das ist ja eine tolle Katastrophe.« Die Stimme wandte sich an das übrige Personal vom Bereitschaftsdienst, das sich auf dem Kies vor den Türen der Unfallstation versammelt hatte. »Tolle Katastrophe, was?« Häßliche Zustimmung durch den Chor. »Die kommen schon.« Der Arzt fuchtelte mit den Armen, als wollte er Panik und Uneinigkeit unterdrücken. Es gelang ihm nicht. »Ach ja? Wo denn? Ich hör’ gar nichts.« »Ach ja?« echote der Chor. »Wann denn? Wir hören gar nichts.« »Wenn ihr alle mal einen Moment still sein würdet, dann könnten wir vielleicht was hören«, sagte der Arzt bockig. »Also gut«, sagte die Stimme spöttisch. »Alle mal ruhig. Wollen doch mal sehen, ob er recht hat, ja?« »Hey, Moment mal, Sie!« sagte der Arzt. »Es gibt keinen Grund…« »Ich dachte, wir wollten leise sein, eh!« Der Arzt schwieg betreten. Absolute Stille senkte sich über die Menge. Nicht ein Fuß knirschte auf dem Kies. Nicht ein einziges Hüsteln hauchte durch die Luft. Niemand fand einen dringenden Grund, einem Nachbarn etwas zuzuflüstern. Ein seltener Moment. Die Zivilisation machte ihre Autorität wieder geltend. Aber nicht lange. 230
»Na bitte!« Die Stimme durchbrach die Stille. »Nichts. Nicht die Bohne. So. Ich hab’ was Besseres zu tun, hab’ ich. Egal, wie Sie das sehen.« Die Stimme wandte sich von dem Arzt ab, begleitet von einem Chor von »Genau« und »Ich auch.« Dem Arzt blieb die Spucke weg. »Aber… aber… aber…« Aber es war sowieso niemand mehr da, den er hätte anspucken können. Die Menge hatte sich aufgelöst. »Also gut«, rief der Arzt. »Also gut! Bereitschaftsdienst auflösen!« Er ging zurück zur Unfallstation. »Kann mir doch egal sein.« Der Krankenwagen-Konvoi war endlich in Dots Straße angekommen, aber statt emsiger Geschäftigkeit ausgebildeter Helfer, die sich um Verwundete kümmerten, empfingen sie Reglosigkeit und Stille. »Sieh dir das an. Mensch, sieh dir das an!« Die Fahrerin des ersten Wagens machte eine wilde, verzweifelte Geste, die alles einschloß, die Straße mit den Verletzten, die von einem Ende zum anderen herumlagen, so daß die Krankenwagen nicht reinfahren konnten, und eine allgemeine Verachtung für Ineffizienz. »Und hast du gesehen, was da hinten los ist? Stau von hier bis zur High Street. Wir können nicht vor und nicht zurück. Können uns überhaupt nirgendwohin bewegen. Und dann noch diese Blechruinen.« Sie zeigte auf das, was die Hobbyschrauber von Polizeiautos und Mannschaftswagen übriggelassen hatten. »Das macht’s auch nicht gerade leichter, was? Und wo zum Teufel ist die Polizei?« »Äh…«, sagte der Rettungsassistent des ersten Krankenwagens. Er kniete auf dem Boden neben einem der Verletzten. 231
»Also wirklich, ich bitte dich. Ich dachte, die sollten hier sein.« »Äh.« Der Rettungsassistent zeigte auf die ausgestreckte Gestalt vor sich. »Sie sind doch hier. Guck. Nur…« Die Fahrerin beugte sich über den Verwundeten. Er trug blaue Polizeiuniform. »Oh!« sagte sie. »Ich verstehe. Aber sie können doch nicht alle…« Sie sah verwirrt aus. »Sie hatten ein großes Polizeiaufgebot hier. Wurde uns jedenfalls gesagt. Ein großes. Du willst mir doch nicht sagen…« Der Rettungsassistent nickte. »Was? Alle?« Der Rettungsassistent nickte noch einmal. »Doch!« sagte er mit ehrfürchtiger Stimme. »Verdammt!« sagte die Fahrerin. »Tja, heute kann man sich auf niemanden mehr verlassen, was?« Sie rollte ihre Ärmel bis zum Ellbogen hoch. »Tja, es ist ja schön und gut, so was zu sagen.« Der Rettungsassistent war ein ganzes Stück älter als seine Fahrerin und auch wesentlich erfahrener. »Aber die Frage ist…« Er sah angestrengt aus. »Die Frage ist…« Er blickte auf, nachdem er geduldig seine Gedanken durchgegangen war, und da sah er, daß seine Fahrerin nicht mehr da war. Er schüttelte den Kopf. So war sie, einfach ungeduldig. Am Ende führte das zu gar nichts. Er zuckte mit den Achseln und machte sich wieder an seine Arbeit, lockerte den Kragen des Verletzten, sorgte für freie Atemwege und brachte den gequälten Mann in eine stabile Seitenlage. »Du wirst wahrscheinlich auch nicht wissen wollen, was die Frage ist, oder?« fragte ihn der Rettungsassistent im Plauderton. »Aber das ist ja auch egal.« Er richtete sich steif auf und widmete sich der nächsten auf dem Bauch liegenden Gestalt. »Schließlich weiß ich’s ja auch nicht.«
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Dot blieb nicht lange in der Unfallstation, nachdem der geplagte Pfleger sie dort abgeliefert hatte. Statt dessen setzte sie sich hinter eine verschlossene Tür auf der Damentoilette, um gründlich nachzudenken. Normalerweise war Dot optimistisch. Nun, ich meine, sie würde sagen, das muß man doch schließlich sein, oder? Aber im Augenblick war sie nicht optimistisch. Überhaupt nicht optimistisch. Daß ihre Arme sich anfühlten, als fielen sie gleich ab, damit kam sie zurecht. Das war einfach das Leben, die Zerbrechlichkeit des Menschen und so. Sie konnte auch verschmerzen, daß sie ihre Schuhe verloren hatte. Sie konnte sogar, dachte sie, mit der Tatsache fertig werden, daß ihre Strümpfe eine Laufmasche hatten, ihre besten Strümpfe, stellte sie bedauernd fest. Aber die Sache mit Krümel, die war schwer zu verdauen. Und die mit Radkappe. Er schien so ein netter Junge zu sein, dieser Radkappe. Und es hatte auch keinen Sinn, daß sie sich sagte, sie an Krümels Stelle hätte genau dasselbe getan. Das half überhaupt nicht, nicht nachdem sie das gesehen hatte, direkt vor ihren Augen. Es hörte überhaupt nicht auf, weh zu tun. Es gab aber auch einigen Trost. Zum einen kannte sie Krümel, und sie kannte auch das Krankenhaus, also hatte sie eine Vorstellung, wo der Diamant versteckt sein könnte. Und da war noch ihre kleine Freundin – sie tätschelte die Maschinenpistole auf ihrem Schoß –, sie hatte schon früher mit Maschinenpistolen zu tun gehabt. Obwohl diese hier nicht das Modell war, das sie kannte, aber bestimmt funktionierten die alle irgendwie mehr oder weniger ähnlich, oder? Alle hatten sie diesen kleinen Hebel an der Seite, und wenn man den herumgedreht hatte, zielte man und drückte auf den Abzugshahn, und dann hatte man entweder eine Kugel oder viele. Es sei denn, es waren keine Kugeln mehr 233
drin. In dem Fall, Dot wog die Waffe mit einer Hand, hatte man nichts weiter als einen etwas unförmigen Knüppel. Aber andererseits, Dot lächelte bei dem Gedanken, andererseits – wer fragt schon, wie viele Kugeln in einer Pistole sind, wenn sie auf einen gerichtet ist? Letztlich reicht eine einzige Kugel. Die Welt war ein Trümmerhaufen, und obendrauf stand Psycho-Harry, ein gescheiterter Koloß. Um die Füße von Psycho-Harry hatten sich die ernüchterten Menschenmassen versammelt, beschimpften und verleumdeten ihn. Alles in allem war es ein sehr attraktives Bild. Für Harry. Das mußte es auch sein, wenn der Diamant Psycho-Harry weiterhin beschäftigt halten wollte, während er über die eigene Zukunft nachdachte. Es wäre vernünftig gewesen, jedenfalls unter den gegebenen Umständen, wenn der Diamant gelegentlich einen Blick in Harrys Kopf geworfen hätte, um sicherzustellen, daß seine Bilder den gewünschten Effekt hatten. Aber der Diamant dachte nicht daran. Er ging davon aus, daß Psycho-Harry mit seinen Bildern beschäftigt war. Und da der Diamant selber nichts anderes konnte, bedachte er nicht, daß Psycho-Harry mehr als eine Sache auf einmal tun konnte. Im Augenblick tat Psycho-Harry sogar drei Dinge auf einmal. Zunächst ergötzte er sich tatsächlich an seiner glorreichen Zukunft. Aber gleichzeitig bewegte er sich ständig auf den telepathischen Strahlen des Diamanten, benutzte sie als Wegweiser. Und schließlich war er inzwischen so wütend auf die Korridore, daß er sie ganz und gar vermeiden wollte und zu dem Zweck Löcher in die Wände brach. Das war in der Tat weniger schwierig, als es hätte sein können, denn die meisten inneren Wände des Krankenhauses waren nicht viel fester als Pappe. Harry wollte den Diamanten so bald wie möglich in die 234
Finger bekommen. Ihm gefiel, was ihm der Diamant zeigte, und er wollte es jetzt haben. Und für den Fall, daß der Diamant sein Versprechen nicht einhielt, wollte PsychoHarry in der Lage sein, etwas dagegen zu unternehmen. Er schlug mit der Faust durch eine Wand. Das würde dem Diamanten nicht gefallen. Ganz in der Nähe von Psycho-Harry bogen der Arzt und die Krankenschwester um eine Ecke. Sie schoben Fahrtragen vor sich her, auf denen Körper lagen. Harry war so mit seiner Zerstörung beschäftigt, daß er sie nicht wahrnahm. Und die beiden blieben nicht lange genug stehen, um festzustellen, ob er es tat. Der Boß wanderte durch die Korridore wie in Trance. Er achtete nicht darauf, wohin er ging. Das Zittern in der Luft nahm er kaum zur Kenntnis. Sein Kopf war mit einer Reihe von Bildern vollgestopft, von denen jedes einzelne wie ein Versprechen war. Entzückt bemerkte der Boß, daß die Bilder besser, heller und bunter wurden, wenn er in eine bestimmte Richtung ging. Wenn er sich anders bewegte, verloren die Bilder ihren Glanz. So trippelte er voran, ohne seine Umgebung wahrzunehmen, kam hier gut voran, verlor dort die Spur und schnüffelte so lange wie ein Bluthund herum, bis er wieder auf der Fährte war. Einen Moment blieb er still stehen. Ein neues Bild tauchte auf. Sein ganzer Körper zitterte in Ekstase. »Aaah!« seufzte er. »Mehr, mehr, mehr.« Mohnblüte setzte sich erstaunt zurück. Dieser Flug war anders als alle Flüge, die sie bisher erlebt hatte. »Jetzt kommen wir aus dem Loop.« Die monotone Stimme des Piloten war ruhig und vertrauenerweckend. »Geradeaus und ausleveln.« Der Höhenmesser am 235
Instrumentenbrett vor Mohnblüte blieb nur kurz auf Null. »Dann steigen.« Abrupt richtete sich das Flugzeug senkrecht auf, und Mohnblütes Schenkel und Waden wurden durch ihren AntiG-Anzug kurz zusammengepreßt, damit sich das Blut nicht in ihren Beinen sammelte und – was noch wichtiger war – noch etwas in ihrem Kopf blieb. »Zwanzigtausend Fuß.« Der Pilot sagte die Höhe an, während sie auf die Sterne zuschossen. »Fünfundzwanzigtausend. Dreißigtausend.« Nach zwölf Minuten Kunstfliegerei wußte Mohnblüte nicht mehr, wo es langging. Oben war unten, unten war oben, aber, was sehr beruhigend war, man hatte immer das Gefühl, daß die Richtung, in die der donnernde Jet flog, genau die war, wo es langgehen sollte. »Natürlich«, sagte die kicherige Stimme in Mohnblütes Kopf. »Hier oben ist kein Raum für Zweifel.« Die Stimme war, wie Mohnblüte bemerkte, überhaupt nicht mehr kicherig. Sie klang, als müßte sie sich mächtig konzentrieren. Die Stimme lachte. »Konzentrieren, ja. Mußtest du doch auch? Aber mächtig? Noch nicht. Wir haben noch nicht mal angefangen.« »Vierzigtausend Fuß. Rolle rechts!« verkündete der Pilot. Mohnblütes Beine wurden vom Anti-G-Anzug umklammert. »Willst du wirklich was sehen?« sagte das Flugzeug. »Paß auf.« »Und Sturzflug«, fuhr der Pilot fort. »Und ob!« fügte der Jet hinzu. Aus seiner Stimme war alles Kichern verschwunden. Sie war knapp, blank, unglaublich scharf, und sie schnitt tief in den dunkelsten Teil von Mohnblütes Seele. Fasziniert schaute sie hinein. 236
Und da, genau da, da war etwas, wenn sie nur… Sie blickte schärfer hin und bewegte sich direkt darauf zu. Als ob sie das sollte. »Sinkgeschwindigkeit zweitausend Fuß pro Sekunde.« Das war die Stimme des Piloten, aber Mohnblüte ignorierte sie, weil sie jetzt mitten in der Seele des Flugzeugs war. Das mochte es nicht. Es war plötzlich feindselig. »Raus hier!« kreischte es Mohnblüte an. »Wie zum Teufel soll ich mich konzentrieren?« Aber Mohnblüte konnte nicht raus. Sie wußte nicht wie. » Sinkgeschwindigkeit zweitausendzweihundert.« »Und Jesus weinte«, stöhnte das Flugzeug. Es fing an, sich allmählich um die eigene Achse zu drehen. »Zweitausendfünfhundert«, sagte der Pilot. Und jetzt war er beunruhigt. »Ich glaube, ich verliere die Kontrolle.« »Er verliert die Kontrolle!« kreischte das Flugzeug. Und dann war es kein Fliegen mehr. Es war Fallen. Kopfüber. Im Kreis. Beinahe ein Trudeln. Ewig abwärts. Wie ein Bonbonpapier im Wind. »Mohnblüte.« Die Stimme des Piloten klang schwach. »Tut mir leid. Ich…« Um Mohnblüte herum brach die Welt in ein gewaltiges Gebrüll aus, sie bockte, drehte sich, tanzte, und der Anti-GAnzug zwängte sie ein. Das war nicht mehr beruhigend. Es tat weh. Es tat weh wie… Sie schrie. Ihr Helm wurde schwer. Die Knochen ihrer Beine wurden zerquet… »Geradeaus und ausleveln«, knackte die Stimme des Piloten in Mohnblütes Kopfhörern. »Fünfhundert Fuß. Wir steigen.« Das Flugzeug neigte sich leicht nach oben. »Steiggeschwindigkeit zweihundert Fuß pro Sekunde.« Mohnblüte sagte nichts. »Mohnblüte, ist bei dir alles in Ordnung?« »Ja.« Sie war fertig. »Was war das?« 237
»Ich hab’ ein bißchen übertrieben. Irgendwas ist schiefgelaufen. Und als wir…« Er hielt inne, fürchtete sich weiterzusprechen. »Wir haben Glück gehabt, würde ich meinen.« »Ja.« Mohnblüte war nachdenklich. »Wird wohl so sein.« Aber sie konzentrierte sich nicht mehr auf den Piloten. Sie dachte an etwas anderes. »Tja«, sagte das Flugzeug. Seine Stimme war nicht kicherig. Sie klang angespannt und verärgert. »Das war vielleicht eine Vorstellung. Und ich rede nicht von mir. Weißt du, was du getan hast?« »Nein, denn ich…« »Dann glaube ich«, sagte das Flugzeug entschlossen, »daß wir miteinander reden sollten, meinst du nicht auch? Bevor du dir weh tust.«
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18 Dot lehnte sich gegen die Wand und schielte um die Ecke. Genauer gesagt, es war die Maschinenpistole, die für sie um die Ecke schielte. Das schwarze Loch der Pistolenmündung blickte still die ganze Länge eines hell erleuchteten und ebenfalls stillen Korridores entlang. Langsam, ganz langsam kam Dots Kopf hinter der Waffe hervor, um zu sehen, was die Mündung sah. Der Korridor war leer. Es war lächerlich, auf diese Art mitten in der Nacht in einem Krankenhaus herumzuwandern, das wußte Dot. Sogar ihre Knochen wußten das. Und doch… Der schnelle Jet landete auf der breiten, hell erleuchteten Landebahn und rollte in eine dunkle Ecke des Flugfeldes. Das Kabinendach öffnete sich unter dem Seufzen der Hydraulik, der Pilot zog die Kabel aus seinem Helm und stand auf. Er schob das Visier hoch. »Los. Raus hier, schnell, bevor uns einer sieht.« Auch Mohnblüte löste die Kabel zum Navigatorplatz im hinteren Teil des Cockpits und kletterte auf den Flügel hinaus. »Und…« Der Pilot zögerte. »Tut mir leid. Wegen…« Mohnblüte wandte sich zu ihm um. »Wir haben’s geschafft«, sagte sie. »Nur darauf kommt’s an.« »Ja. Na ja.« Der Pilot guckte betreten. »Ich weiß nicht, wie.« Mohnblüte küßte ihre Finger und berührte sachte die Wange des Piloten. »Psst. Es war… faszinierend. Und danke. Tausend Dank.« Der Pilot lachte. »Keine Ursache. Dafür sind Schwager doch zuständig. 239
Unbefugtes Benutzen von Luftwaffeneigentum. Illegale Einwanderung. Versuch, dich umzubringen. Solche Kleinigkeiten eben.« Mohnblüte sprang vom Flügel herunter. »Dort, bei der Lampe, ist ein Loch im Zaun«, rief ihr der Pilot hinterher. »Jedenfalls war da letzte Woche eins. Laß deine Ausrüstung liegen. Ich hol’ sie später.« »Okay.« Mohnblüte blickte sich um, warf dem Piloten eine Kußhand zu und verschwand in die Nacht. »Paß auf dich auf«, sagte eine Stimme in ihrem Kopf. Es war das Flugzeug. »Du auch«, dachte Mohnblüte zur Antwort. Von der Landebahn kam ein Kichern. »Auf mich aufpassen? Wer? Ich?« Feuer und Donner nachbrennender Jet-Motoren zerrissen hinter Mohnblüte die Nacht. »Das gehört nicht zu meinem Programm.« Während Mohnblüte sich an der Umzäunung des Flughafens aus ihrem Anti-G-Anzug schälte, ging sie im Kopf noch einmal das Gespräch durch, das sie mit Rupert führen wollte. Zunächst einmal würde sie hart sein. Sehr hart. Sie rollte den Anzug zusammen und steckte ihn in ihren Helm. Was hatte Rupert denn jemals für sie getan? Sie spürte, wie ihre Entrüstung wuchs, als sie sich diese Frage stellte. Er hatte ein Spielzeug aus ihr gemacht, das war’s, was er für sie getan hatte. Der Anti-G-Anzug fiel auf den Boden. Sie stellte den Helm obendrauf. Und jetzt kam zur Entrüstung auch noch Ärger. Was sollte denn daran gut sein, wenn man ein Spielzeug war? Ohne sich noch einmal umzudrehen, fand sie das Loch im Zaun, kletterte hindurch und stellte sich zum Trampen an die Straße, die am Flugfeld entlangführte. Er war ein fieser Kerl. Rupert. Er hatte alles von ihr genommen und nichts dafür gegeben. Verdammt! Er hatte 240
sie noch nicht einmal gefragt, ob sie ihn heiraten wolle. Zwanzig Meter weiter kam ein mitternachtsschwarzer Porsche quietschend neben ihr zum Stehen, und Mohnblüte rannte hin. Er hätte ja wenigstens mal fragen können. Die Beifahrertür des Porsche wurde geöffnet. »London?« lächelte eine Stimme aus dem Dunkeln. »London«, bestätigte Mohnblüte und stieg ein. »Und macht es Ihnen was aus, wenn wir nicht reden?« fügte sie hinzu, während sie den Gurt anlegte. »Ich habe so viel im Kopf.« »Klar«, sagte die Stimme gefällig. »Halten Sie sich einfach fest, während ich Ihnen die neue Bedeutung des Wortes ›fahren‹ beibringe.« »Okay.« Mohnblüte lächelte zuckersüß. Sie bezweifelte sehr, daß er das konnte. Aber von ihr aus sollte er es gerne versuchen. In der Station Verbrennungen und Allgemeine Chirurgie dachte der Arzt über die Lage nach. Die Krankenschwester stand kühl und gesammelt neben ihm und wartete darauf, daß er eine Entscheidung traf. »Da drüben, denke ich.« Der Arzt zeigte auf zwei leere Betten, die nebeneinander am anderen Ende des Krankensaals standen. »Sie nehmen den.« Er deutete mit dem Kopf auf die Fahrtrage, auf der die helle, jungenhafte Stimme lag. »Und ich nehm’ den hier.« Er griff nach der zweiten Fahrtrage, auf der die kleinere knochentrockene Stimme lag, und schob sie durch den Saal. »Und trödeln Sie nicht rum, ja! Wir haben nicht die ganze Nacht Zeit.« Es war die Reglosigkeit, die Dave, den Fahrer des Rettungswagens, weckte. Und die Stille. Und das Zittern. Alles zusammengenommen schaffte eine bedrohliche Atmosphäre. 241
Er öffnete die Augen, und es war, als schaute er in einen Tunnel. Der Tunnel hatte keine Wände. Er war von Dunkelheit begrenzt. Und Dave lag da und starrte auf… was war das? Da ganz am Ende? Eine Zimmerdecke. Das mußte es sein. Die Decke von… von… er wußte nicht, wovon, und das war bedrohlich. Die Decke war weiß – das verriet noch nichts –, und das Weiß hatte Sprünge. Es gab breite schwarze Ritzen und haardünne Risse, und alle liefen zu einem Bild zusammen. Zumindest vermittelten sie diesen Eindruck. Sie deuteten an, daß sich irgendwo ein Bild verbarg. Dave schloß die Augen und öffnete sie wieder, aber das Bild war nach wie vor nur der Geist eines Gegenstandes – vage, verschwommen, unbestimmt –, und aus irgendeinem, ihm völlig unverständlichen Grund wollte er unbedingt wissen, was es war. Vielleicht lag es daran, daß das im Moment alles war, was er hatte. Er seufzte. Alles außer seinen Schmerzen natürlich, diesem Stechen in der Brust, was auch schon vorher dagewesen war. Vor was? Er wußte es nicht. Er wußte so wenig. Er seufzte erneut, und diesmal war der Schmerz wirklich schlimm. Er schrie. »Los jetzt, können wir?« Im Krankensaal der Station Verbrennungen und Allgemeine Chirurgie machten sich der Arzt und die Krankenschwester daran, die knochentrockene Stimme von seiner Fahrtrage auf ein frischgemachtes Bett zu heben. »So. Eins, zwei, drei…«, sagte der Arzt, und die Krankenschwester hob die knochentrockene Stimme an. »Nein. Warten Sie. Moment noch.« Der Arzt ließ die knochentrockene Stimme los, richtete sich auf und lauschte intensiv. »Da ist es wieder«, sagte er. 242
»Was ist da wieder?« fragte die Krankenschwester scharf. »Psst!« Der Arzt winkte ab. »Spüren Sie das nicht?« Und jetzt, da sie darauf aufmerksam gemacht worden war, spürte die Krankenschwester es auch. Es war ein Zittern, nicht mehr. Aber es war wie die Stille vor dem Sturm. »Äh…«, fing sie an. »Psst!« Der Arzt wedelte erneut mit der Hand. »Könnten wir jetzt nicht erst mal das hier zu Ende bringen?« Die Krankenschwester deutete mit dem Kopf zur knochentrockenen Stimme. »Ich würde wirklich gerne fertig werden, glaube ich.« Es war der Schrei, der Florien, Daves Kollegin im Krankenwagen, aufweckte. Sie schlug die Augen auf und fand sich an einem Ort, den sie gut kannte, aber an dem sie niemals als Patientin gewesen war. Wenn sie im Krankenhaus war, mußte es einen Grund dafür geben. Welcher war es? Vorsichtig bewegte sie ihre Füße. Da schien alles in Ordnung zu sein. Jedenfalls tat nichts weh. Und die Beine? Auch okay? Der Bauch? Ja. Brust? Dito. Und die Arme. Und der Hals. Und… Da. Da tat es weh. Aber nicht sehr. Nichts Schlimmes. An der Wand hing ein kleiner Spiegel. Florien setzte sich auf und drehte sich so, daß sie ihr Gesicht sehen konnte, da, wo es weh tat. Ihre Nase war größer als normal. Und platter. Und auf der Stirn war eine Beule. Nichts, worüber man sich Sorgen machen müßte, vor allem deshalb, weil man sowieso nichts machen konnte. Vorsichtig, aber energisch, weil das Schreien immer noch anhielt und keine herbeieilenden Schritte zu hören waren, stand sie auf. Sie fiel nicht um. Die Auswirkungen 243
einer Gehirnerschütterung mochten sich später zeigen, für den Moment fühlte sie sich gut. Sie verließ die kleine Kabine in der Notaufnahme, wo sie abgestellt worden war, und zog den Vorhang zur Nachbarkabine zur Seite. Da lag Dave auf einem schmalen Untersuchungstisch. Als er das Aufziehen des Vorhangs hörte, wandte er den Kopf und sah Florien. »Flo?« »Ich heiße nicht Flo.« Dave schnappte nach Luft und schrie wieder, kurz. Florien gab ihm einen Klaps, und er hörte auf. »Und mach das nicht noch mal, sonst bin ich weg«, sagte sie. Dave griff nach ihrer Hand. »Tut mir leid«, sagte er. »Aber bitte bleib. Es war schrecklich.« Florien setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett, und Daves Kopf drehte sich, während seine Augen ihren Bewegungen folgten. »So«, sagte sie. »Was war schrecklich?« Dave riß die Augen auf. »Spürst du das nicht?« sagte er eindringlich. »Das in der Luft?« Und jetzt, da er es gesagt hatte, spürte es auch Florien. Und sie spürte, daß es ihr nicht gefiel. Und daß sie damit nicht allein sein wollte. Aber sie sah auch, daß Dave Hilfe brauchte. »Ich muß jemanden holen, der nach dir schaut«, sagte sie. »Du bist in keinem guten Zustand.« »Nein«, sagte er. »Bleib.« Und dann, weil er kurz davor war, in Panik auszubrechen: »Oder nimm mich mit, wenn du gehen mußt. Das Ding hat Räder, stimmt’s? Du kannst mich schieben.« Florien seufzte. 244
»Also gut«, sagte sie. »Ich denke, das kann ich schaffen. Aber nicht mehr schreien, ja?« In einer kleinen Nebenstraße in der Nähe des Trafalgar Square kam ein mitternachtsschwarzer Porsche schleudernd zum Stehen. Die Scheinwerfer gingen aus. Das winzige Geräusch des Motors verstummte. Die Luft im Wageninneren summte vor Selbstzufriedenheit. »So«, sagte die blasierte Stimme des Fahrers. »Wie hat Ihnen das gefallen?« Mohnblüte öffnete gelangweilt die Augen und wandte sich lässig zu ihm um. »Den haben Sie schon lange, was?« »Nein, er ist neu.« Jede Silbe triefte vor Stolz. Dann hörte man ganz leise, wie ein Ballon angepiekt wurde. Ein ganz weicher Ballon. »Aber… äh…Warum fragen Sie?« »Tja«, sagte Mohnblüte nachdenklich, mit der Hand auf dem Türgriff, »Sie sind nicht schlecht, wirklich nicht. Aber Sie müssen noch eine Menge lernen.« Sie öffnete die Tür. »Falls Sie lange genug leben.« Wilder, feuriger Zorn glühte auf und erleuchtete das Innere des Wagens. Der Fahrer griff an Mohnblüte vorbei und zog die Tür zu. »Ach ja?« Sein Gesicht war direkt vor ihrem. »Was wissen denn Sie?« »Sie haben gefragt«, sagte Mohnblüte. »Und das ist meine Meinung.« »Klar. Stimmt. Sie als Expertin.« Der Fahrer warf sich in seinen Sitz und trommelte mit beiden Händen auf dem Lenkrad herum. Ein paar Augenblicke lang schmollte er vor sich hin. Aber dann: »Müssen Sie noch weit?« fragte er herausfordernd. »Bloß auf die Südseite vom Fluß«, antwortete 245
Mohnblüte. »Gut. Okay.« Der Fahrer wandte sich mit einem Grinsen im Gesicht zu ihr. »Wenn Sie wirklich so gut sind, dann zeigen Sie’s mir. Sie wissen, wo’s langgeht, oder?« Mohnblüte nickte. »Dann fahren Sie.« Der Fahrer stieg aus dem Wagen und ging hinten herum. Mohnblüte kletterte auf seinen Sitz hinüber und schloß die Tür. Sie spürte das Gewicht des Lenkrads, verstellte den Sitz und überprüfte den Rückspiegel. »Okay«, sagte sie zu dem Auto, als sie den Motor anließ, »sei brav und zeig mir, was du drauf hast.« Mit quietschenden Reifen raste das Auto los und verschwand um die Ecke. Eine Qualmwolke blieb zurück. Der Fahrer stand auf dem Pflaster, die Hand dorthin ausgestreckt, wo eben noch der Türgriff gewesen war. »Oh, verdammt!« sagte er. »Was jetzt?« Er brauchte nicht lange auf eine Antwort zu warten. Motorengedröhn und Reifenquietschen, und schon fuhr sein Auto heran. Die Beifahrertür ging auf. »Okay«, sagte Mohnblütes Stimme. »Steigen Sie ein! Ich glaub’, ich hab’ jetzt das Gefühl für den Wagen.« In Dots Straße war die Fahrerin des ersten Rettungswagens dabei, die Dinge zu organisieren. Ihr Rettungsassistent beobachtete sie mit einer Art verzauberter Faszination. Immer sauste sie herum, diese Frau, dachte er, schon war sie wieder am Ball und tat Dinge, die gar nicht zu ihren Aufgaben gehörten. Von Rechts wegen. Das führte am Ende sowieso zu nichts, dachte der gute alte Rettungsassistent wieder. Aber die und auf Argumente hören? Da könnte man genausogut erwarten, daß ein gebrochenes Bein sich selber richtete. Allerdings, mußte er zugeben, die richteten sich 246
eigentlich selbst, die Beine, aber das war ja auch natürlich. Dieses ganze Rumgewusel jedoch… tja, das war eben nicht natürlich. Das war überhaupt nicht natürlich. Die Fahrerin des ersten Rettungswagens arbeitete sich jetzt von hinten am Konvoi vor, sie brachte die Wagen dazu, rückwärts und dann ganz an den Rand zu fahren, so daß ein Durchgang für die Rettungswagen blieb, um die Leute einladen zu können. Eben dirigierte sie wieder einen, sie stand hinter ihm und winkte und rief, während der Wagen im Dunkeln gefährlich nah heranfuhr. »Oi, oi, oi, oi. Boah!« schrie sie und schlug an die hinteren Türen. »Das war’s, wunderbar, jetzt bleibt einfach hier stehen.« »Und du!« Sie ging herum und schlug an die Tür ihres Rettungsassistenten. »Komm raus, eh, und hilf die Verletzten zu versorgen.« Der Rettungsassistent öffnete langsam die Tür und kletterte heraus, um sich unter die Sanitäter zu mischen, die von den hinteren Rettungswagen auf Dots Straße zutrotteten. Die Luft summte vom leisen Gemurmel nölender Stimmen, und als die schattenhaften Gestalten an der Fahrerin des ersten Rettungswagens vorbeigingen, fielen dunkle Blicke auf sie, doch sie bemerkte nichts. Sie war bereits mit dem nächsten Wagen beschäftigt. »Oi, oi, oi, oi«, rief sie, während sie den Wagen an den Rinnstein lenkte. Dann machte der Rettungswagen plötzlich einen Satz nach hinten und wäre beinahe auf ihrem Fuß gelandet. »Boah! Paß doch auf! Das war verdammt knapp!« brüllte die Fahrerin des ersten Rettungswagens wütend. »Nicht knapp genug!« brummte ein dunkler Schatten in ihrer Nähe. Man muß es ihr schon lassen, dachte ihr Rettungsassistent. Er hatte seine Quote von Verletzten 247
versorgt, hatte sich am Ende von Dots Straße an eine Wand gelehnt und beobachtete alles von dort aus. Ja, man mußte es ihr schon lassen, sie hatte die Haut eines Elefanten und den Elan eines Zuchthengstes. Bei der Geschwindigkeit würde sie den Job bis, ehm, er blickte auf die Uhr, und in seinem Hirn summte es vor komplexen Kalkulationen, na, spätestens bis zum Frühstück erledigt haben. Nützen würde es am Ende trotzdem nichts. Wenn man einmal anfing, die Arbeit der Polizei zu übernehmen, wo sollte das hinführen? Höchstens zu Unbequemlichkeit. Sobald sich etwas änderte, ging als erstes die Bequemlichkeit flöten. Er seufzte. Jeder Trottel konnte es sich unbequem machen. Aber für Bequemlichkeit, dafür mußte man was tun. Und Geduld haben. Jede Menge Geduld. In einer Seitenstraße der High Street kam ein mitternachtsschwarzer Porsche schleudernd zum Stehen. Die Scheinwerfer gingen aus. Das winzige Geräusch des Motors verstummte. Die Luft im Wageninnern war schwer von stillem Triumph. »So«, sagte Mohnblüte mit ruhiger Stimme. »Was meinen Sie?« »Äh…«, wimmerte der Fahrer. »Schon gut«, sagte Mohnblüte. »Und vielen Dank fürs Mitnehmen.« Sie machte die Tür auf, stieg aus und klopfte aufs Dach des Autos. »Und ich danke auch dir«, dachte sie still. »Keine Ursache«, sagte eine winzige Stimme in ihrem Kopf. »Es ist immer ein Vergnügen, mit Leuten zu arbeiten, die wissen, was sie tun.« Der Porsche löste sich gemächlich vom Straßenrand und zuckelte auf die Kreuzung der High Street zu. Der Blinker blinkte rechts, Bremslichter leuchteten kurz auf, es ertönte 248
ein unterdrücktes »Brumm!«, und dann war es still. Mohnblüte griff in eine Tasche und holte Ruperts Adreßbuch hervor. Sie schlug es bei »B« für Boß auf. Ja, sie hatte die richtige Straße gefunden, und wenn sie sich nicht sehr irrte, dann mußte der Boß in einer dieser Wohnungen dort oben wohnen. Und da würde auch Rupert sein. Dessen war sie sich ganz sicher. Sie trat auf die Straße, zog sich aber blitzschnell wieder zurück. Die Eingangstür des Hauses ging auf, jemand kam heraus, und es war Rupert. Eine Frau war bei ihm, eine Frau in mittleren Jahren mit einem von Alkohol gezeichneten Gesicht, aber Mohnblüte wußte, selbst auf die Entfernung und im Dunkeln, daß die Frau einst schön gewesen war, fast so schön wie Mohnblüte selbst. Mohnblüte war sofort eifersüchtig. Das war absurd. Sie wollte nicht mehr um Ruperts Bewunderung feilschen. Sie war doch gerade dabei, ihn zu verlassen, zum Teufel noch mal. Aber trotzdem war sie eifersüchtig. Sie wollte wissen, wer diese Frau war, die mit Rupert so vertraut schien. Und sie wollte wissen, wohin die beiden gingen. Und warum. Rupert und die Frau kamen zu der Kreuzung High Street, bogen links ab und verschwanden. Mohnblüte atmete einmal tief durch. Gut. Wenn sie es wissen wollte, dann gab es nur eine Möglichkeit. Sie folgte den beiden.
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19 Fast eine Minute lang war es im Krankenhaus vollkommen still. Das Zittern hatte aufgehört. »He? Warum hast du aufgehört?« Psycho-Harrys Stimme schoß wie ein einziger heftiger wirrer Wutausbruch über die telepathischen Wellen. Ein weniger starker Gegenstand als der Diamant – sagen wir, eine Puderquaste – hätte bei einer solchen Botschaft seinen Geist sofort mit einer spontanen Verpuffung aufgegeben. Aber nicht der Diamant. Der Diamant war aus festerem Stoff. »Was?« fragte er. »Die Bilder.« »Bilder?« »Ja. Bilder. Du hast aufgehört.« »Oh. Ja. Bilder. Richtig. Bilder.« Der Diamant war durcheinander. Er hatte über seine Zukunft nachgedacht und war zu keinem Schluß gekommen. Und jetzt, da er wieder zum Kontakt mit der Außenwelt gezwungen worden war, erfuhr er, daß die Außenwelt sich verändert hatte. Sehr verändert. Zum einen war Psycho-Harry sehr viel näher als zuvor. Er hatte sich bewegt. »Was ist damit, eh?« Harry hatte sich auf die Bilder eingelassen. Und er hatte Löcher in Wände gerissen. Aber da war noch etwas anderes. Der Diamant schnupperte und riskierte einen schnellen, telepathischen Strahl ins Krankenhaus. Dort waren viel mehr Leute, und es umgab sie, der Diamant schnupperte noch einmal und lächelte, es umgab sie ein Geruch von Angst. Auf den Diamanten wirkte das wie brennende Lunte auf einen Soldaten. Es beschleunigte seinen Puls. Im übertragenen Sinne. Der Diamant beschloß, einen zweiten Blick ins 250
Krankenhaus zu werfen, um zu sehen, wer diese Leute waren, die solche Angst hatten. Und um vielleicht zu sehen, warum sie Angst hatten. Es war ein Risiko. Diese kräftigen Suchstrahlen boten Harry die Gelegenheit, ihn ausfindig zu machen. Aber was soll’s? Wenn schon, denn schon, und Wissen ist Macht. Wer weiß, wozu es am Ende gut ist? Als der Diamant erneut seinen Suchstrahl ausschickte, erscholl ein Schmerzensschrei. Das war Harry. Der Diamant stellte seine Nachforschungen ein. »Was hast du, Harry?« fragte er. »Ziegelsteine«, sagte Harry mit brechender Stimme. »Scheiß-Ziegelsteine.« Die Bedeutung von Ziegelsteinen erschloß sich dem Diamanten nicht unmittelbar, also kramte er kurz in Harrys Hirn. Und dann lachte er. Harry stand vor einer leeren, weißen Wand in einem langen, geraden Korridor irgendwo im Krankenhaus. Ein zerfranstes Loch hinter ihm gab den Blick auf das Büro des Verwaltungschefs frei. Harrys Hände bluteten – mit bloßen Händen lassen sich selbst dünne Trennwände nicht so einfach einreißen –, und um ihr Arbeitsleben zu verlängern, hatte Harry aus einem Stuhlbein einen Wandbohrer gebastelt. Den hatte er an der Wand vor ihm eingesetzt, hatte es aber nur geschafft, Putz abzuschlagen und eine solide aussehende Ziegelwand freizulegen. Und obwohl das Stuhlbein deutlich an seine Grenzen geriet, als es mit der Ziegelwand konfrontiert wurde, wirkte es im Vergleich zu Harrys Kopf wie ein Vorschlaghammer. »Das ist nicht komisch!« schluchzte Harry, als er seinen Kopf gegen die Wand schlug. »Das ist nicht komisch. Das ist nicht komisch. Das ist nicht komisch.« Er knallte seinen Kopf noch einmal an die Wand, dann drehte er sich um und rutschte auf den Boden. Er ließ das 251
Stuhlbein fallen, steckte seine Ellbogen zwischen die Knie und legte den Kopf auf die Hände. Alles in allem war es ein langer, schwieriger und entmutigender Tag gewesen. »Und außerdem ist es ungerecht«, murmelte er. Das telepathische Gelächter hörte abrupt auf. Harry blickte über seine Schulter zur Wand, durch die wieder kräftige, zuversichtliche Suchstrahlen drangen. »Es ist verdammt ungerecht!« Dot bewegte sich immer noch sehr vorsichtig durch die Korridore, aber ihre Vorsicht hatte jetzt einen anderen Charakter. Dot hatte nicht mehr das Gefühl, sich lächerlich zu machen. Zunächst mal hatte sie sich – weil alle Schilder zum Teufel waren – verlaufen. Diese Tatsache, dazu das Zittern und die Reglosigkeit und das Schreien, das sie gehört hatte, ließen nicht den geringsten Zweifel zu, daß Vorsicht durchaus am Platze war. Links von ihr tauchte eine Tür auf, und Dot öffnete sie, wie sie es bislang bei allen Türen getan hatte. Früher oder später würde sie an einen Ort kommen, den sie kannte. »Schnappt sie euch!« rief eine Stimme aus dem Zimmer hinter der Tür. Eine knochentrockene Stimme. Von rechts und links packten starke Hände Dots Arme. »Oh«, sagte Dot. »Hallo. Haben wir uns nicht schon mal gesehen?« Auf der Station Verbrennungen und Allgemeine Chirurgie hatten der Arzt und die Krankenschwester sich nur wenige Augenblicke zuvor noch einmal darangemacht, die knochentrockene Stimme von der Fahrtrage in ein frischgemachtes Bett zu legen. »Eins, zwei, drei…«, murmelte der Arzt, nicht sehr deutlich, die Atmosphäre im Krankenhaus hatte ihn merklich eingeschüchtert, »… und… hoch!« 252
»Bitte?« sagte die Krankenschwester. »Ich habe Sie nicht verstanden.« »Ich sagte: hoch!« sagte der Arzt, aber da war es schon zu spät. Plötzlich hatte er das ganze Gewicht der knochentrockenen Stimme alleine zu halten, und er versagte. Der reglose Körper rollte mit einer seltsamen Bewegung von der Fahrtrage und fiel mit einem markerschütternden Krachen auf den Boden. Wenn die knochentrockene Stimme bei Bewußtsein gewesen wäre, dann wäre er durch diesen Fall wahrscheinlich k.o. gegangen. Wie die Dinge nun aber lagen, weckte ihn der Schock aus seinem Alkoholrausch. Seine Augen öffneten sich. Räder, Beine und ein Bett machten sich im Vordergrund breit, aber das spielte keine Rolle. Das, was im Hintergrund war, spielte eine Rolle. Die Tür bewegte sich und erregte die Aufmerksamkeit der knochentrockenen Stimme. Die knochentrockene Stimme brauchte nur den Bruchteil eines Augenblicks, um die Gestalt zu erkennen, die hereinschaute, und schon bündelten sich in dem von Alkohol benebelten Kopf lebenslänglich erworbene Bosheit und kriminelle Energie wie zu einem Laserstrahl. Dieser Strahl fiel auf Dot. »Schnappt sie euch!« schrie die knochentrockene Stimme. Er rappelte sich vom Boden hoch und stürzte sich auf Dot. Der schneidende Kommandoton riß die helle, jungenhafte Stimme von der Fahrtrage. Er wurde ins Fahrwasser seines Kollegen gespült. Seine Hände schlossen sich um etwas Hartes und Unnachgiebiges. »Oh, hallo«, sagte eine Frauenstimme, als er schließlich aufwachte. »Haben wir uns nicht schon mal gesehen?« Das Haupttor des Krankenhauses öffnete sich. Ein Mann schlenderte hindurch. »Also gut.« Er blickte sich um, als gehörte ihm das 253
Haus. »Wo ist er?« Auch eine Frau kam durchs Tor. Sie bewegte sich bescheiden, als hätte sie nichts, was ihr gehörte, und als hinge sie von anderen Leuten ab, die sie mit allem versorgten, was sie brauchte. Was auch der Fall war. Aber trotz ihres verhuschten Wesens leuchteten ihre Augen. So wie die Augen von Leuten leuchten, die glauben, daß ihre Probleme bald für immer und ewig gelöst sein werden. »Äh, Rupert…«, fing die Frau an. »Deirdre.« Rupert nahm sich ein wenig zurück. »Also gut. Wir suchen ihn und knöpfen ihn uns vor, und dann wird alles gut. Ein kleines Haus für dich. Ein bißchen Geld zum Leben. Was könnte eine Frau noch verlangen?« Auf der Stelle fielen Deirdre noch mehrere Kleinigkeiten für die Einkaufsliste ein, die Rupert und sie auf dem Weg zum Krankenhaus angelegt hatten. Aber sie war eine umsichtige Frau. Sie würde nehmen, was sie bekam, und sie würde ihr Glück nicht strapazieren. Sie lächelte. »Oh, Rupert, ich könnte gar nicht mehr wollen, als einfach alles dir zu überlassen. Du wirst dich schon um mich kümmern, das weiß ich doch.« Andererseits, und sie mußte bei dem Gedanken erneut lächeln, gab es überhaupt keinen Grund, auf irgendwas zu verzichten, jedenfalls nicht, solange alles so gut lief. »Und weißt du, was das Beste ist?« Rupert rieb seine Hände vor Vergnügen. »Es wird den Boß freuen, dir das alles zu geben. Auf alle Fälle wird ihn das freuen. Du wirst schon sehen.« »Du hast sicher recht, Rupert«, seufzte Deirdre. Und dann wurde sie praktischer. Sie blickte sich um. »Und jetzt könnten wir vielleicht…« Sie zögerte ein wenig, damit sie nicht zu drängelig wirkte. »Vielleicht könnten wir die Information suchen oder so was. Die müßten doch wissen, wo der Boß ist, oder?« 254
»Gute Idee.« Rupert blickte sich nach einem Schild um, das den Weg zur Information wies, aber es gab keine Schilder. Davon ließ sich Rupert jedoch nicht aufhalten. Er zeigte nach rechts. »Hier lang«, sagte er entschieden, und in die Richtung gingen sie auch. »Also Sie sind«, sagte eine leise, drängende Stimme ganz in der Nähe, »Sie sind also Rudge, nicht wahr?« Erschrocken fuhr Rudge, der Rupert und Deirdre beobachtet hatte, herum. Seine Hand lag auf dem Griff seines Messers, zu allem bereit. »Lassen Sie das Messer stecken, Mr. Rudge. Ich tu’ Ihnen nichts.« Und jetzt, als Rudge sah, wer sich hinter der Stimme verbarg, glaubte Rudge ihr. Er hätte alles geglaubt, was sie ihm gesagt hätte. Normalerweise sprachen Frauen wie diese nur im Traum zu ihm. In guten Träumen. In seinen, nicht in ihren. »Ja, ich bin Rudge«, sagte er. Er rückte seinen Schlips zurecht und wußte nicht, was er als nächstes sagen oder tun sollte. »Freut mich, Sie kennenzulernen, Rudge«, sagte Mohnblüte. »Ich habe schon viel von Ihnen gehört.« »Äh«, sagte Rudge. »Klar«, fing er an. »Aber wie haben Sie…« Und dann kam ihm ein anderer Gedanke. »Und woher wußten Sie…« Er blickte zu seinem Jackett hinunter, wo das Messer versteckt war. Mohnblüte lachte. Es war ein Lachen, in dem sich Rudge warm und geborgen fühlte. »Das war leicht. Ich bin Gedankenleserin, müssen Sie wissen.« »Aha«, sagte Rudge, »Klar. Verstehe.« Und schon verschwand das Gefühl von Wärme, so schnell, wie es 255
gekommen war. Wieder mal Pech gehabt. Sie war verrückt. Hatte eine totale Panne. Egal. Er hatte was anderes zu tun, als hier rumzuhängen. Er mußte einen Diamanten finden. Und dann, später, dann könnte er auch mit Rupert zusammentreffen. Das würde ihm gefallen. Enttäuscht schlenderte er in die Richtung, in die Rupert verschwunden war. Trotzdem schade. Er blickte über die Schulter zurück. Sie war wirklich… »Wenn Sie das ernst meinen mit dem Diamanten«, sagte Mohnblüte, »dann wären Sie gut beraten, wenn Sie meine Hilfe in Anspruch nehmen würden.« Rudge blieb auf der Stelle stehen. »Und was Rupert betrifft, mit dem können Sie machen, was Sie wollen, solange Sie ihn zuerst mir überlassen.« »Aber… Wie…« »Obwohl Sie sich natürlich«, fuhr Mohnblüte fort, »überhaupt nicht mit mir abzugeben brauchen, wenn Sie nicht wollen.« »Wer…« Rudge hatte Probleme, das Gehörte einzuordnen. »Wer sind Sie?« »Wahrscheinlich ist es am besten«, antwortete Mohnblüte, »wenn Sie versuchen, mich als Ihre Märchenoma zu betrachten.« Rudge versuchte es. »Gut«, sagte Mohnblüte. »Sehr gut.« Florien schob Dave auf seinem Bett durch die endlosen Korridore. »Ich glaube, jetzt müssen wir links«, sagte er. »Bestimmt. Da muß es sein.« »Links«, sagte Florien. Ihre Stimme krächzte ein wenig. »Also links.« Sie schob das Bett in einem weiten Bogen um die Ecke und raste dann in die Richtung, in die sie Dave 256
dirigierte. Sie hoffte, dort würde der Hauptausgang sein, aber eigentlich war es ihr egal. Ihr war jeder Ausgang recht. Und je eher, desto besser. »Boah!« sagte Dave. »Immer mit der Ruhe! Wir sind zusammen, Flo…« »Ich heiße nicht Flo«, knirschte Florien durch zusammengebissene Zähne. »… denk dran. Also kein Grund zur Aufregung, ja?« »Ich bin überhaupt nicht aufgeregt.« Sie war es natürlich doch. Sie war wahnsinnig aufgeregt. Aber das konnte sie Dave gegenüber nicht zugeben, egal, wie mies es ihr ging. Es gab schließlich so was wie Selbstachtung. Florien kannte sich mit Selbstachtung aus. Das half ihr, mit der Panik fertig zu werden. Selbstachtung sagte ihr, es ist in Ordnung, in Panik zu geraten, wenn es einen Grund gab, in Panik zu geraten. Und den gab es. Das Krankenhaus war außerhalb der Notaufnahme in einem schlechteren Zustand, als sich Florien das je hätte vorstellen können. Niemand war zu sehen. Die Wände waren voller Löcher. Überall lagen Schilder herum. Und das war noch nicht alles. Das Schlimmste von allem war die Atmosphäre. Sie war abartig. Und sie drang direkt in einen ein. Und das machte es schwierig… Florien schluckte schwer, um die Furcht zurückzuhalten, die in ihrer Kehle aufwallte, so daß ihr schlecht wurde. Eine Ecke weiter, ein ganzes Stück vor Florien, tauchten zwei Gestalten auf. Eine trug die Tracht einer Krankenschwester, und als Florien das sah, gab sie endgültig auf. »Helfen Sie mir!« schrie sie, aber es kam nur ein trockenes Krächzen aus ihrer Kehle. Florien ließ das Bett los, streckte kläglich die Arme aus und fiel auf die Knie. Heiße Tränen strömten über ihre Wangen. »Helfen Sie mir!« 257
»Hey, hey, langsam, Flo, mein Mädchen.« Dave setzte sich besorgt auf. »Jetzt gib bloß nicht auf. Wo doch alles so gut läuft.« »Hier geht’s lang?« »Ja, hier geht’s lang.« »Und Sie sind sicher, daß wir hier noch nicht waren?« Krümel, die Radkappe vorausging, blieb stehen, wandte sich um und wartete auf ihn. Er betrachtete ein verbogenes Metallschild, das er vom Boden aufgehoben hatte. »Was machen Sie denn da?« fragte sie. »Ach, nichts.« Radkappe bog eine Ecke des Schilds vor und zurück, bis das Metall heiß wurde und abbrach. Dann ließ er das Schild fallen und steckte das abgebrochene Stück in seine Tasche. »Gehen wir weiter?« fragte er. Er war erstaunt, wie fröhlich er trotz allem war. Alles lief vollkommen verkehrt, aber wenn Krümel das nicht für erwähnenswert hielt, dann wollte er nicht… »Gut«, sagte Krümel. »Aber versuchen Sie mitzuhalten.« Ohne auf eine Antwort zu warten, wandte sie sich um und bog um eine Ecke. Radkappe folgte ihr. Als Krümel Florien erreicht hatte, war Florien nur noch ein schluchzendes Häufchen Elend auf den roten Fliesen des Korridors. Florien streckte die Arme aus und packte Krümels Knöchel. »Helfen Sie mir!« murmelte Florien immer wieder. »Helfen Sie mir! Helfen Sie mir!« Krümel blickte Radkappe an. Er zuckte mit den Achseln. »Sie sind Krankenschwester«, sagte er. Florien blickte hoch in Krümels Gesicht. »Helfen Sie m…«, fing sie an, und dann veränderte sich 258
ihr Gesicht. Es bekam einen wilden, entsetzten Ausdruck, der die übliche Zurückhaltung höflicher Umgangsformen sprengte. »Sie!« kreischte Florien und sprang auf. »Sie!« Sie holte mit der Faust aus und schlug Krümel aufs Kinn. Krümel verdrehte die Augen und fiel um wie ein Baum. »Ha!« quietschte Florien triumphierend. »Das war die Revanche! Bitte sehr!« Mit einem erneuten Quietscher sprang sie über Krümels ausgestreckten Körper und rannte den Korridor entlang. Radkappe blickte ihr mit offenem Mund hinterher, bis sie außer Sichtweite war, dann wandte er sich an Dave. »Äh. Was…«, fing er an, aber weiter kam er nicht. Dave war aus dem Bett gestiegen und stand mit geballten Fäusten hinter ihm. Radkappe spürte eine linke Gerade auf seinem Kiefer landen. »Sie sind doch ein Freund von ihr, oder?« sagte Dave. Er stieß mit dem Fuß gegen den am Boden liegenden Radkappe, und als er keine Antwort bekam, rannte auch er trotz schmerzender Brust so schnell er konnte den Korridor entlang. »Warte auf mich!« rief er mit dünner, gepreßter Stimme. »Hey, Flo, warte auf mich!« Psycho-Harry hob den Kopf, als sich Schritte näherten. Ein Mann kam auf ihn zugerannt. Harry hatte ihn schon mal gesehen, und da hatte er wie ein Gangster ausgesehen, schwer und massig, mit einer Bande von schweren Jungs um sich herum. Aber jetzt war er nicht mehr schwer und massig. Er war überhaupt nicht massig. Er hatte die Hände über die Ohren gestülpt und tanzte wie ein Lichtstrahl, der einem glasfaseroptischen Kabel zu entkommen versucht, von einer Wand zur anderen den Korridor entlang. »Können Sie es hören?« kreischte der Mann, als er an 259
Psycho-Harry vorbeirannte. »Können Sie es hören? Es ist ganz schwach geworden.« Aber er wartete keine Antwort ab. Er rannte weiter und verschwand um eine Ecke. Harry schaute ihm nach. In seinem Gesicht standen Fragezeichen. Was denn hören? dachte er. Es war nichts zu hören. Das Krankenhaus war so still wie – er suchte nach einem passenden Vergleich, aber er hatte noch nie eine solche Stille wahrgenommen. Er nahm nur den quälenden, suchenden Strahl des Diamanten wahr, der jede Faser von Harrys Sinnen belegte. Der Strahl war jetzt lauter und zuversichtlicher denn je. Und während Harry lauschte, wurde ihm klar, wie wenig er über Haß gewußt hatte. Bis jetzt. Gut, gut, gut. Der Diamant zog seinen Suchstrahl zurück und lächelte vor sich hin. Da hatte er ganz schön was gesammelt – den Querschnitt einer verzweifelten Menschheit, wie er ihn schon lange nicht mehr an einem Platz vorgefunden hatte –, und das machte diesen Moment zu einem ganz besonderen Vergnügen. Und da er Harry – zumindest für den Augenblick – geschlagen und entmutigt hatte, fühlte sich der Diamant sicher genug, sich die Zeit zu nehmen, das Beste daraus zu machen. Er fing an zu denken. Vielleicht wäre es sogar möglich, die ganze Sache zu seinen Gunsten zu wenden und Harry ein für allemal loszuwerden. Er lächelte erneut. Wer konnte schon wissen, wohin das alles führen würde, wenn diese Leute wirklich aufgerüttelt werden würden?
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20 Angst, das war der Schlüssel. Wenn man sich ein bißchen vergnügen wollte, so gab es nichts Besseres als Angst, um die Leute in Bewegung zu versetzen. Dabei hatte der Diamant nicht die Art von Angst im Sinn, die im Moment das ganze Krankenhaus erfüllte – jene vage, unbestimmte Art von Angst, die die Leute wie kopflose Hühner herumflattern läßt. Nein. Was der Diamant im Sinn hatte, war die gute, solide, zielgerichtete Art von Angst, von der die Leute meinen, sie könnten sie überwinden, wenn sie sich nur schnell genug bewegten und energisch genug kämpften. Der Diamant hatte dieses Spiel bereits gespielt. Als erstes mußte man den Teilnehmern alles ganz genau erklären, und dafür benutzte er lieber eine andere Stimme als die eigene. Und es kam mehr Schwung ins Spiel, wenn die Stimme gleichzeitig aus allen Richtungen ertönte. Also, dachte der Diamant lächelnd, während er heimtückisch in die Seelen der Korridore kroch, was könnte besser sein, als die Stimme zu benutzen, die als nächste zur Hand war? Diese Korridore – die hatten bestimmt eine mächtige Stimme. Die Fahrerin des ersten Rettungswagens bog um die Ecke in Dots Straße. Sie suchte ihren Rettungsassistenten. »Ach, da bist du ja.« Ihre Stimme klang angespannt. »Hast du dich gut erholt, ja? Meinst du, du könntest es jetzt aushalten, stillzusitzen, während ich uns zurückfahre?« Der Rettungsassistent löste seine massige Gestalt von der Wand, gähnte und streckte sich. Er war müde, was wirklich nicht überraschend war – er blickte auf seine Uhr –, wenn man bedachte, wie spät es war. »Ich glaub’, das kann ich schaffen«, sagte er. Er streckte 261
sich und untersuchte einen kleinen Kratzer hinter seinem linken Ohrläppchen. »Ich meine, das ist doch meine Aufgabe, wenn alles getan ist.« »Was du nicht sagst.« »Sag’ ich doch.« Das Fell des Rettungsassistenten war dicker als die Haut auf kaltem Pudding. »Und ich hab’ nichts dagegen, meine Aufgabe zu erfüllen. Wie du weißt. Aber ich kann mich nicht…« Seine Fahrerin war schon nicht mehr da. Sie entfernte sich rasch in Richtung High Street. Ihr Rettungsassistent brach mit einer lebenslangen Tradition und raffte sich auf, ihr hinterherzurennen. »Aber ich kann mich nicht in Dinge einmischen, die nicht zu meinen Aufgaben gehören.« Er rannte schneller, weil die Entfernung zwischen ihm und seiner Fahrerin größer wurde. »Weil…« Wegen der ungewohnten körperlichen Betätigung konnte der Rettungsassistent kaum sprechen. »Und das kannst du dir merken, Mädchen. Weil…« In der High Street hatte sich der Konvoi der Rettungswagen in Richtung Krankenhaus aufgestellt und war startbereit. Der Rettungsassistent des ersten Rettungswagens kam um die Ecke, und seine Kollegen verfolgten durch ihre Fenster, wie er mit einem letzten Kommentar die Torheit seiner Fahrerin geißelte. »Weil da sowieso nichts Gutes bei rauskommt! Niemals!« Vor Erleichterung darüber, seinen Lauf beendet zu haben, schrie der Rettungsassistent der Fahrerin des ersten Rettungswagens seine letzten Worte in hemmungslosem Gebrüll heraus, was die Stille der High Street erschütterte. Er blickte sich herausfordernd um, aber niemand sagte etwas. Die anderen beobachteten ihn einfach nur. Scharf. In würdeloser Eile krabbelte der Rettungsassistent der Fahrerin des ersten Rettungswagens auf seinen Platz in der Fahrerkabine. 262
»Merk dir das!« brummte er trotzig, bevor er die Tür zuschlug. »Da kommt nichts Gutes bei raus!« »Na dann«, sagte die Fahrerin des ersten Rettungswagens, »wenn du soweit bist.« Sie löste die Handbremse, ließ die Kupplung kommen und brauste los. WUUUUU! WWUUUuuuu! WWWUUUUuuu! Eine Armada Rettungswagen zerriß mit einem Sirenengeheul, das Radkappes Herz hätte höher schlagen lassen, die nächtliche Stille. »Aaah«, seufzte die Fahrerin des ersten Rettungswagens. »Hör dir das an.« Sie kurbelte ihr Fenster runter, um besser hören zu können. »Ist das nicht wunderbar?« Während sie das sagte, wurde ihre Miene freundlicher. Es war deutlich zu sehen, wie die Spannung nachließ. »Nein«, murmelte ihr Rettungsassistent, drückte sich in seinen Sitz und versuchte seine Füße aus der anschwellenden Spannung zu ziehen, die wie eine Pfütze am Boden schwappte. »Ich finde es gräßlich.« Er blickte seine Fahrerin finster an. »Davon kriege ich Kopfschmerzen.« Als der Diamant in die Seelen der Korridore gedrungen war, probierte er deren Stimmen nicht sofort aus. Er konnte es nicht. Er war zu überwältigt von dem, was er vorfand. Und wenn ein Diamant überwältigt ist, dann ist das ein Phänomen epischen Ausmaßes. Psycho-Harry hielt den Architekten, der das Korridorgewirr des Krankenhauses entworfen hatte, für ein Genie. Er mußte eines sein. Immerhin war Psycho-Harry fast einen ganzen Tag lang von dessen Schöpfung besiegt worden. Doch die vielen Mathematiker, die bestellt worden waren, um die Geometrie der Krankenhauskorridore zu untersuchen, sind zu einem anderen Schluß gekommen. Sie 263
hielten den Architekten für verrückt. Oder, um etwas genauer zu sein, sie hätten ihn gerne für verrückt gehalten, aber sie wissen nur zu genau, daß niemand einen Verrückten anstellt, um etwas zu entwerfen. Natürlich nicht. Was die Mathematiker in eine unmögliche Lage bringt. Aber sie arbeiten sich da raus, weil es nichts Schlimmeres gibt, als Korridore aus zu großer Nähe zu betrachten. Jetzt befand sich der Diamant in den Seelen der Korridore, und er brachte die Wahrheit ans Licht. Wenn er die Sache richtig beurteilte, so war der Mann, der die Korridore erzeugt hatte, klug und kühn gewesen, das schon, aber kein Genie. Er war einfach high gewesen. Obwohl »einfach« nicht gerade das richtige Wort dafür war, wenn man die Umstände betrachtete. Es mußte etwas entsetzlich Starkes gewesen sein, das den Kopf des jungen Architekten in jene alternative Realität versetzt hatte, wo die Korridore auf ihn lauerten, eine Realität jenseits der profanen Welten der euklidischen Geometrie und der Newtonschen Physik. Sie wäre ein vergnüglicher Ort gewesen, dachte der Diamant voller Neid, diese alternative Realität – obwohl das für den Architekten in seinem späteren verwirrten, schmerzvollen Leben kein Trost gewesen wäre –, sie wäre voll von hübschem, faszinierendem Flitterkram gewesen. Am Anfang hatte es diese Korridore gegeben. Und vielleicht hatte es auch Affen gegeben, die große, einzigartige Dramen schrieben. Der Architekt hatte – wie alle Touristen zu allen Zeiten – Tinnef mit nach Hause gebracht. Und er hatte, wie viele Touristen zu allen Zeiten, bemerkt, daß er zu Hause keinen Platz für den Tinnef hatte. Aber im Gegensatz zu anderen Touristen konnte der Architekt seinen Tinnef nicht beim Kirchenbasar loswerden – doch nicht Korridore von unendlichem Umfang, im endlichen Raum und miteinander verbunden! Der Pfarrer hätte einen Anfall bekommen. 264
Während der Diamant seine Entdeckungen über die Korridore machte, hatte die Angst um die Korridore herum etwas nachgelassen. Das lag nicht sosehr daran, daß das Zittern aufgehört hatte. Das hatte es schon öfter getan. Vielmehr hing es damit zusammen, daß das Gefühl, das Zittern könnte jeden Moment wieder anfangen, nicht mehr im Raum schwebte. Mitten in ihrer Hals-über-Kopf-Flucht blieb Florien stehen und blickte sich erstaunt um. Dave ruderte von hinten auf sie drauf und schrie. »Wieso mußt du stehenbleiben!« fragte er wütend, sobald der schlimmste Schmerz vorbei war. »Weil ich vergessen hab’, warum ich renne«, antwortete Florien. Das ist doch Grund genug, dachte sie. Axt und Seemann bogen um eine Ecke und sahen eine kleine, verwirrte Gestalt, die planlos auf sie zustolperte. »Boß!« schrie Axt laut. »Boß! Alles in Ordnung?« Seemann grunzte zufrieden. »Äh, ja.« Der Boß tastete vage an sich herum. »Ich denke schon.« Er drehte seinen Kopf vorsichtig von einer Seite zur anderen. »Aber mein Hals ist ein bißchen steif. Und…« Er blickte an sich hinab. »Warum habe ich einen Schlafanzug an?« Krümel setzte sich auf und stöhnte. Sie betastete ihren Kiefer, und das war ein Fehler. Aber weil es ein verbreiteter Fehler ist, machte auch sie ihn. »Was ist passiert?« murmelte sie, aber es kam keine Antwort. Radkappe lag reglos neben ihr. Sie rüttelte ihn, und er rührte sich und stöhnte. »Was ist passiert?« fragte sie noch einmal. 265
Und so war es im ganzen Krankenhaus. Die Leute sahen benommen und erleichtert aus, als erwachten sie aus einem bösen Traum. Nach Rudge und Mohnblüte trafen Rupert und Deirdre am Haupteingang ein. Da ihnen keine Schilder den Weg gewiesen hatten, waren sie im Kreis gelaufen und dort wieder angekommen, wo sie losgegangen waren, aber das schien ihnen nichts auszumachen. Und Rudge schaffte es sogar, erfreut auszusehen, als er Rupert nach so vielen Jahren wiedersah. Dot stand zwischen der knochentrockenen Stimme und der hellen, jungenhaften Stimme und strahlte beide an. »Gut, nun habt ihr mich. Was jetzt?« fragte sie. »Äh«, sagte die knochentrockene Stimme. »Hm«, sagte die helle, jungenhafte Stimme. »Dann solltet ihr mich vielleicht einfach loslassen, oder?« sagte Dot. Zur Überraschung aller taten sie es. »Danke«, sagte Dot. Sie lächelte, warf ihnen eine Kußhand zu und ging. Auf der Station Verbrennungen und Allgemeine Chirurgie fing der Arzt an zu lachen. »Was denn?« fragte die Krankenschwester. Ihre Stimme war nicht mehr ätzend, und sie fing an zu kichern. »Was ist es denn jetzt?« »Spüren Sie es nicht?« fragte der Arzt. »Es ist wie…« Stockend suchte er nach Worten. Die Krankenschwester legte ihre Hand auf seinen Arm. »Schh«, machte sie. »Ja, ich fühl’s auch. Und Gott sei Dank. Sie sind so ein Trottel gewesen.« Das Gesicht des Arztes erstarrte, aber nur einen Moment. »Ich weiß«, sagte er und nickte. »Ich weiß, daß ich das 266
war.« »Äh«, fing der Diamant an. Dann hielt er inne und hustete, als müsse er sich räuspern. Wegen mangelnder Benutzung war die Stimme des Korridors eingerostet. »Äh, also gut. Ich hoffe, ihr hört alle zu.« »Was denkst denn du«, murmelte Mohnblüte vor sich hin, »wenn die Wände anfangen zu sprechen! Natürlich hören alle zu.« Zum Glück für Mohnblüte schenkte ihr der Diamant keine besondere Beachtung. Er hatte anderes im Sinn. »Also, ich hatte die Absicht, euch alle zu einer Party einzuladen«, fuhr der Diamant fort, »aber, ehm… Aber dann…« Er zögerte wieder, sammelte seine Gedanken. Sie hatten die unangenehme Tendenz, sich in den Seelen der Korridore zu verlaufen. »Aber dann habe ich doch beschlossen, euch einfach alle reinzuziehen.« Und jetzt bekam die Stimme Kraft. Mohnblüte bemerkte die Veränderung sofort, und nicht nur sie. Niemand, der zuhörte, hatte auch nur den geringsten Zweifel, daß die Stimme genau das tun könnte, was sie sagte. Und das gefiel niemandem. Im ganzen Krankenhaus kam wieder Angst auf, aber es war eine neue Art von Angst, eine Angst, die anspornte. Deirdre wurde umgehend aktiv. »Nein!« schrie sie. »NEEIN !« Sie packte die Eingangstür, aber die gab nicht nach. Deirdre schüttelte und zog an ihr, aber sie gab trotzdem nicht nach. »Es hat keinen Sinn, es zu versuchen«, sagte die Stimme. Aber obwohl Deirdre sah, daß es in der Tat keinen Sinn hatte, da alle Türkanten wie verklebt waren, versuchte sie es trotzdem. Sie war schließlich nur ein Mensch. Rupert schaute ihr gebannt zu. Rudge ebenso. Aber Mohnblüte konzentrierte sich auf etwas anderes. Sie beobachtete die 267
Wände. »Hey, Boß! Guck doch mal, die Wände!« sagte Axt irgendwo in den Fluchten der Korridore. »Was für Wände?« fragte der Boß. Das war eine Wahrnehmung, die wie ein Echo durchs ganze Krankenhaus lief, ein paar Millisekunden lang, obwohl es sich länger anfühlte. »Ach ja«, sagte Axt. »Was für Wände? Da sind ja keine.« Der Diamant war beeindruckt. Wirklich beeindruckt. Immerhin war er, für wer weiß wie viele Millionen Jahre, unfähig gewesen, irgend etwas zu tun… Oh, er konnte Leute aufputschen, sicher, und Dinge geschehen lassen, aber er war nie in der Lage gewesen, wirklich etwas zu tun. Und jetzt… Jetzt war alles anders. Jetzt hatte er die Mittel, um… »Ich sage ›Kommt‹, und ›Ihr kommt‹«, intonierte der Diamant, und seine Stimme klang wirklich eindrucksvoll… An diesem Ort. Wo immer das sein mochte. »Ich sage ›Geht‹, und ›Ihr geht‹.« Mann, jetzt würde alles anders werden, dachte er. Ein Königsmacher zu sein, nun, das war ja schön und gut und auch unterhaltsam, durchaus. Aber König zu sein. Nun… Der Diamant musterte die kleine Gruppe Menschen, die dicht zusammengedrängt starr vor ihm stand. Mohnblüte tat das gleiche von hinten. Sie waren alle da, alle, die in den Korridoren waren, als… Sie blickte sich um. Als die Korridore sich in diese… Arena, in dieses Stadion oder was immer es war, verwandelt hatten. Jemand hustete. »Äh«, sagte Axt zögerlich. »Moment mal. Hast du nicht was von einer Party gesagt?« 268
»Eine Party?« sagte der Diamant verächtlich. »Eine Party?« Vielleicht hatte er das gesagt, in einem anderen Leben, aber wen kümmerte das? Jetzt! »Ist das wirklich wichtig?« »Äh«, sagte Axt. Er zögerte, weil es das nicht war. Nicht wirklich. Wirklich wichtig war, über die unmöglichen Dinge nachzudenken, die um ihn herum geschahen. Und darüber, was diesbezüglich zu tun war. Das war ebenfalls wichtig. Aber über diese Dinge nachzudenken würde bedeuten… Er blickte auf den rotgefliesten Boden, um nicht das… das, was immer es war, das er nicht für wahr halten wollte, sehen zu müssen. Noch nicht. Niemals. Er trat unwillkürlich von einem Fuß auf den anderen. »Es ist nur«, sagte er. »Ich mag Wackelpudding. Das ist alles.« »Wackelpudding?« sagte der Diamant mit einer Stimme, um die ihn Iwan der Schreckliche beneidet hätte. »Wackelpudding?« Um jede Verwirrung zu vermeiden, hat der Diamant die Korridore einfach zu einem großen Raum angeordnet. Der ist sehr groß, denn er ist trotz seiner endlichen Grenzen, wie der Diamant bereits bemerkt hat, unendlich in seiner Ausdehnung. In seiner jetzigen Gestalt ähnelt er stark einem überdachten Olympiastadion mit einer Parallaxe. Der Diamant selbst befindet sich im Zentrum dieses großen Raumes, und er selbst ist groß, unheimlich groß, selbst für eine alternative Realität. Er hat sich selbst diese Größe gegeben, indem er den Raum um sich herum gekrümmt hat, und, wenn man die Leute bedenkt, mit denen er zu tun hat, ist dies eine durchaus vernünftige Vorsichtsmaßnahme. Sogar Seemann und Axt würden es sich zweimal überlegen, ehe sie nach einem Diamanten greifen, der doppelt so groß ist wie ein Bus. Da nun die anfängliche Stille gebrochen war, wurden die 269
Leute etwas lockerer und entwickelten mehr Interesse für ihre Umgebung. Radkappe erblickte auf dem Boden etwas, das ihm bekannt vorkam. Er bückte sich und hob es auf, ein Krankenhausschild, dem eine Ecke fehlte. Er kramte in seiner Tasche und holte das kleine abgebrochene Stück Metall heraus, das er zuvor eingesteckt hatte. Es paßte genau in die fehlende Ecke des Schilds. »Und was sagt Ihnen das?« fragte Krümel mit beißender Stimme. Sie stand direkt neben Radkappe. Er ließ die beiden Metallstücke los und schaute zu, wie sie auf die roten Fliesen fielen. »Das sagt mir, daß wir hier sind«, sagte er düster. Er schaute umher, um Krümels Blick auszuweichen. »Und alle anderen auch, wie es scheint.« Und alle anderen redeten ebenfalls. Es gab einen richtigen Chor aus: »Was machen wir hier eigentlich?« Und: »Was ist das hier für ein Ort?« Und: »Sag bloß nicht, das ist der Diamant. Wie zum Teufel sollen wir den tragen?« »Ruhe!« Das Stimmengewirr ebbte ab, bis nur noch eine einsame Stimme zu hören war. »Er ist verrückt, müssen Sie wissen.« Harry Devine erklärte Dot, was er von dem Diamanten wußte. »Vollkommen verrückt. Er will die Welt beherrschen.« Ach nee, hätte der Diamant am liebsten gesagt, hör sich den einer an. Aber das hätte seiner Glaubwürdigkeit geschadet. Statt dessen sagte er: »Wenn Sie soweit sind, Mr. Devine.« »Wer? Ich?« sagte Harry heiter. »Aber sicher. Keine Sorge. Machen Sie einfach weiter.« »Aber was ist mit unserer Party?« grummelte Axt. »Hören Sie.« Der Diamant war nicht mehr wütend. Die erste Begeisterung war verflogen, und er war nur noch 270
sauer und kratzbürstig wie ein Erwachsener, der fünf Minuten mit Kindern zugebracht hat. »Es gibt keine Party. Ich habe meine Meinung geändert. Alles klar? Keine Party. Kein Wackelpudding. Kein Kuchen.« »Ach?« Das war jetzt der Arzt. »Was gibt’s dann?« Er warf der Krankenschwester ein oberkurzes Lächeln zu, damit sie bemerkte, wie mutig und schlau er war. »Mir hätte eine Party gut gefallen.« »Genug!« schrie der Diamant, und in einem Moment, der für das menschliche Auge nichts weiter als ein Zwinkern war, veränderte die alternative Realität ihre Grenzen, und der Arzt war verschwunden. Die kleine Gruppe war umgehend still. Das hat ihnen erst mal die Sprache verschlagen, lächelte der Diamant süffisant. Im übertragenen Sinne. »Also«, sagte er. »Er ist weg. Möchte noch jemand gehen?« Nachdenkliche Stille. »Ehm, ja.« Das ist wieder Axt, nun kühner und selbstsicherer. »Ich würde schon wollen.« Dann wandte er sich reumütig an den Boß. »Ich meine, Boß. Wir können ihn doch nicht einfach schnappen und wegrennen, oder?« Er blickte zum Diamanten. »Und wenn’s noch nicht mal ‘ne Party gibt…« »Ja, Mr. Axt. Ja.« Der Boß klang alt, müde und entmutigt. Er schielte immer wieder aus den Augenwinkeln zu Rupert hinüber, der Deirdre anlächelte. »Du gehst. Ich gehe. Wir alle gehen.« Er blickte zu dem Diamanten hoch. »Ist Ihnen das recht?« »Aber… Aber…« Der Diamant wußte nicht, was er sagen sollte. Das war nicht die Antwort, die er erwartet hatte. »Aber Sie wissen doch gar nicht, wohin er gegangen ist.« »Ach, das Risiko kann ich eingehen«, sagte der Boß. 271
»Schlimmer als hier kann’s nicht sein«, fügte Axt hinzu. »Und dort könnte es Wackelpudding geben.« In Wirklichkeit war der Arzt nicht weit gegangen. Nur auf die andere Seite der Grenze. Dort draußen war das Krankenhaus intakt, aber ohne Korridore. Die waren beschlagnahmt worden. Ein Patient hob seinen von Medikamenten vernebelten Kopf. »Is was, Doc?« fragte er mit krächzender Stimme den Arzt, der auf rätselhafte Weise an seinem Bett erschienen war. Der Patient lachte, als sein Kopf aufs Kissen fiel. »Das hab’ ich schon immer mal sagen wollen«, murmelte er, als er wieder wegdöste. »Das hab’ ich schon immer mal sagen wollen.« Noch einmal flimmerte die Luft im Krankensaal, und neben dem Arzt standen der Boß, Seemann und Axt, alle drei in Krankenhausschlafanzügen. »Hey, Doc«, sagte Axt. »Wissen Sie vielleicht, wo unsere Sachen sind?« Am unteren Ende der High Street war es ruhig. Aber nur für einen Moment. Nicht allzuweit entfernt war ein schrilles Heulen und Jaulen zu hören, das einen Konvoi von Rettungswagen ankündigte. Auf dem Bürgersteig stand ein ramponiertes kleines Auto mit Kratzern und Beulen an der Seite, denen man entnehmen konnte, daß das Auto kürzlich mit etwas großem Weißem zusammengetroffen war. Das kleine Auto hörte nicht auf den Lärm der näher kommenden Rettungswagen. Es war mit seinem Kummer beschäftigt und sprach mit sich selbst. Radkappe war ein Automensch. Er war eindeutig ein Automensch. Noch nie hatte jemand das kleine Auto so gefahren. Und er hatte das kleine Auto schön genannt. Also 272
hatte das kleine Auto, seit es mit dem Rettungswagen zusammengestoßen war, davon geträumt, daß Radkappe zurückkommen, es wiederherstellen und unterhalten und es ganz allgemein bis zum Tod lieben würde. Aber Radkappe war nicht zurückgekommen. Also, wenn Mohammed nicht zum Berg kommt und der Berg weiß, wo Mohammed hingegangen ist… Das kleine Auto ließ sich selber an und fuhr rückwärts vom Bürgersteig. Zum Krankenhaus ging es nach rechts, dachte es, als die hinteren Räder vom Rinnstein rollten, und es war nicht sehr weit. Der führende Rettungswagen des Konvois machte einen gewaltigen Schwenk auf die andere Straßenseite, weil vor ihm ein kleines Auto rückwärts herausfuhr. Unglücklicherweise befand sich auf der anderen Straßenseite das führende Auto eines Konvois der Leute vom Bereitschaftsdienst, die sich auf den Heimweg gemacht hatten, nachdem sie im Krankenhaus vergeblich auf die Rettungswagen gewartet hatten. »Na bitte«, sagte der Rettungsassistent in dem führenden Rettungswagen, als seine Fahrerin mit dem Wagen auf den Bürgersteig krachte und an drei Schaufensterscheiben entlangschrammte, bevor sie den Wagen zum Stehen brachte. »Ich hab’ doch gesagt, da kommt nichts Gutes bei raus.« Seine Stimme klang tief befriedigt. »Ein Segen, daß sie die Fenster vernagelt haben, sonst hätten wir ganz schön was angerichtet.« Um sie herum herrschte eine ohrenbetäubende Kakophonie. Reifen quietschten. Hupen plärrten. Sirenen heulten und wurden abgestellt. Stimmen keiften wütend. Die Fahrerin des ersten Rettungswagens hatte sich in ihrem Sitz zusammengekrümmt und wartete auf das Stöhnen von gemartertem Metall, das den Moment ankünden würde, in dem die Fahrzeuge sich ineinander verkeilen würden. Es 273
war deutlich zu sehen, wie die Spannung aus der Pfütze am Boden zu ihr hinauffloß. »Wird bald trocken sein, wird sie«, sagte ihr Rettungsassistent fröhlich. »Ein Segen, was?« Rings um den Diamanten verlangte die ganze Gruppe lautstark, ebenfalls gehen zu dürfen wie der Arzt und der Boß und dessen Jungs. Dem aufgeblasenen Edelstein dämmerte, daß bald keiner mehr da sein würde, den er hätte beherrschen können, wenn das so weiterging. Und wenn da keiner war, den er hätte beherrschen können… »Äh«, fing er an, aber das Stimmengewirr ließ nicht nach. »Wenn ich mal ein Wort dazwischenschieben dürfte…« Langsam beruhigten sich die Leute und schauten den Regenten der alternativen Realität erwartungsvoll an. »Niemand geht irgendwohin. Klar?« »Aber…«, wandten verschiedene Stimmen ein, »was ist mit…« Ein rasches Flimmern der Grenzen brachte sie zum Schweigen. Der Arzt, der Boß und dessen Jungs waren wieder unter ihnen. »Niemand geht irgendwohin«, wiederholte der Diamant. »Niemand. Nirgendwohin.« »Und was dann?« Es war Dot, die jetzt sprach. »Was dann?« Eigentlich wollte der Diamant, und das wußte er in dem Moment, in dem er Dots nörgelnde Stimme hörte, sie allesamt ermorden. Er hatte erwartet, es würde Spaß machen, König zu sein. Und das würde es auch, da war er sich sicher, wenn… Er seufzte verzweifelt. Es mußte Leute geben, die einfacher zu regieren waren als diese hier. Leute, die ganz oft sagten: »Ja, Eure Majestät« und zuhörten, wenn er sprach. Man mußte sie nur finden. Der Diamant seufzte erneut. Aber selbst wenn sie gefunden werden konnten, würde er sich trotzdem mit einer Welt abfinden müssen, in der es Leute gab wie diese. Leute, 274
die… »Also?« fragte Dot. »Was dann?« Und da hatte der Diamant eine Idee. Er war König. Er brauchte sich mit gar nichts abzufinden. Er konnte sich mit den Leuten umgeben, die er auswählte, und was die übrigen betraf… »Ich sag’ Ihnen, was dann wird«, sagte er. »Sie werden ein Spiel spielen.« »Aha«, echote Axt im Hintergrund. »Ein Spiel. Und wie heißt es?« Der Diamant erlaubte den Leuten, sich in erwartungsvoller Stille zu sammeln, bevor er wieder das Wort ergriff. Und das tat er mit gebieterischem Ton. »Das Spiel, Mr. Axt, heißt Mörderspiel.«
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21 Es kam zu keinem Stöhnen gemarterten Metalls. Die Fahrerin entspannte sich langsam. Ihre Schultern senkten sich. Die Farbe der ans Steuerrad gepreßten Knöchel wandelte sich von Weiß zu Rosa. Die Fahrerin atmete wieder. Der Rettungsassistent beobachtete gespannt den Boden, erwartete, daß die Pfütze wieder auftauchte, aber der Boden blieb trocken. Was wieder mal ein Segen war. Von draußen ertönte ein klägliches »Parp parp«. Ein kleines zerbeultes Auto versuchte sich verschämt aus dem Chaos zu schlängeln, das es angerichtet hatte. »O nein, das wirst du nicht«, sagte die Fahrerin des ersten Rettungswagens. Sie sprang aus der Fahrerkabine, sprintete rüber zu dem kleinen Auto und riß die Fahrertür auf. Oder das, was die Fahrertür gewesen wäre, wenn es einen Fahrer gegeben hätte. Die Fahrerin des ersten Rettungswagens starrte fassungslos auf einen leeren Fahrersitz, dann sank sie zu Boden und fing an zu schluchzen. Das durfte nicht sein. Das war zuviel. Zuviel. Zuviel. »Was geht hier vor?« stöhnte sie. »Was geht hier bloß vor?« Nachdem der Diamant den Namen des Spiels verkündet hatte, entstand eine kurze Stille. Aber es war nicht die furchtsame Stille, die er beabsichtigt hatte. Sie war eher höflich als furchtsam. Vernon durchbrach sie. »Ach ja?« sagte er. »Das Mörderspiel. Ist das das Spiel, wo einer rausgeht, und dann wird das Licht ausgemacht, und wenn es wieder angeht, dann kommt derjenige zurück, und einer ist ermordet, und keiner darf lügen, außer dem Mörder, und der, der rausgegangen ist, muß durch Fragen rausfinden, wer der Mörder ist?« 276
»Nein!« sagte der Diamant knapp. »Das ist es nicht. Und jetzt…« »Dann«, sagte Rupert, »ist es das Spiel, wo es einen Ball gibt und zwei Wände, und eine Mannschaft muß versuchen, den Ball zur einen Wand zu befördern, während die andere den Ball zur anderen Wand befördern will, und es gibt überhaupt keine Regeln, denn wenn’s welche gibt, dann ist das ein Spiel für Jugendclubs, und ich denke wirklich, daß wir in unserem Alter…« Sein Blick fiel auf Dot und Deirdre und auf den Boß. »Nein«, sagte der Diamant, »das ist es nicht. Und wenn Sie mich jetzt…« Aber es hörte niemand mehr zu. Eine lebhafte Diskussion entwickelte sich. »Ach, Quatsch.« Krümel übernahm die Diskussionsleitung. »Das ist Mörderball.« »Das Mörderspiel ist das Spiel, wo Zimmer auf einem Brett sind, und es gibt sechs Mordwaffen, und man muß rausfinden, wer gemordet hat, obwohl man nie weiß, wer überhaupt ermordet wurde.« »Nein, das ist es nicht«, schaltete sich Deirdre mit der Autorität ein, die sie sich durch stundenlanges Spielen erworben hatte. »Das ist… oh. Wie heißt das gleich? Das Brettspiel. Es heißt… Es liegt mir auf der Zunge. Fängt mit C an.« »Killer?« fragte Axt. »Quatsch!« Rudge war voller Hohn. »Dann schon eher CIA.« »Oder Coup?« sagte die knochentrockene Stimme. »Wie wär’s mit Canaille? Oder Command & Conquer?« sagte Axt. »Command & Conquer?« sagte der Boß mit abweisender Stimme. »Um Himmels willen. Wie viele Leute werden denn in diesem Spiel umgelegt?« »Jede Menge«, sagte der Diamant eifrig. »Hoffe ich 277
jedenfalls.« Aber niemand hörte ihm zu. »Ist das jetzt schon das Spiel?« wollte Dave wissen, der Kollege der Sanitäterin. »Den Namen raten? Weil, wenn das…« Florien zog Dave am Ärmel. Sie spürte, wie sich die Aufmerksamkeit des Diamanten ihrer Richtung zuwandte, und das mochte sie nicht. »Ich will’s doch nur wissen.« Dave ignorierte Florien und machte einfach weiter. »Weil, wenn ich den Namen als erster sage, und das ist noch nicht das Spiel, könnte ich ja später verlieren, wenn das dann das Spiel wird und nicht das, was Sie genannt haben.« »Mörderspiel«, sagte der Diamant. »Das habe ich gesagt.« Das Wort versuchte, den großen Raum auszufüllen und ihn zu beherrschen, aber es hatte starke Konkurrenz. »Cluedo!« sagte Deirdre aufgeregt. »Ich wußte, daß ich es weiß. Es lag mir direkt auf der Zungenspitze.« Im großen Raum hallte der Lärm von Leuten, die mit der Zunge schnalzten, mit den Fingern schnirrten und ganz allgemein den Eindruck zu vermitteln suchten, auch sie hätten die Antwort gewußt. Wenn sie Zeit gehabt hätten. »Mist!« murmelte Dave. »Ich hab’s die ganze Zeit gewußt.« »Das spiel’ ich andauernd«, vertraute er Florien an. »Mit meiner Kleinen.« »Ich nehme an, sie gewinnt«, sagte Florien sarkastisch. »Jetzt hören Sie mal her!« Der Diamant war nun wirklich durcheinander. »Ich habe gesagt: Hören Sie mal her!« Kalte, höfliche Gesichter wandten sich dem Diamanten zu. »Hören Sie.« Der Diamant flehte nahezu. »Das Spiel heißt Mörderspiel, ja? Nicht Coup oder Killer oder Canaille oder Command & Conquer. Und es ist nicht das Spiel, wo 278
eine Person aus dem Zimmer geht und das Licht ausmacht und nur der Mörder lügen darf.« Sobald er losgelegt hatte, fühlte der Diamant sich besser. Die Leute hörten zu. »Und es ist auch nicht das Spiel mit zwei Wänden und einem Ball. Oder das Spiel mit einem Brett und sechs Mordwaffen, und man muß rauskriegen, wer gemordet hat, auch wenn man gar nicht weiß, wer ermordet wurde.« »Hören Sie.« Dot Coulson unterbrach ihn. Sie hatte langsam genug. »Können wir nicht einfach anfangen, egal, was für ein Spiel das ist? Schließlich wird die Nacht nicht kürzer.« Der Diamant beschloß, Dot zu ignorieren. »Das Licht wird ausgehen«, sagte er mit sonorer Stimme. »Das Licht geht an. Und wer zuletzt lebt, hat gewonnen. Jetzt gleich. Sind Sie soweit?« »Tj…aa«, sagte Radkappe. »Das kommt drauf an, oder?« »Kommt worauf an? Mr. Radkappe.« »Kommt drauf an, was für eine Art von Spiel das ist. Arbeiten wir alleine, oder ist das ein Mannschaftsspiel?« Sein Ton wurde vertrauensvoll. »Weil, wissen Sie, ich eigne mich nicht besonders für Mannschaftsspiele.« »Das stimmt«, sagte der Boß ohne eine Spur von Ironie. »Dafür eignet er sich nicht.« In der High Street saß der Rettungsassistent der Fahrerin des ersten Rettungswagens in der Fahrerkabine seines Wagens, und in seinem Gesicht stand diebische Freude. Der Grund seiner Freude war der Anblick seiner über alles erhabenen Fahrerin, die neben einem kleinen, zerbeulten Auto hockte und sich von dem Durcheinander und dem Chaos, das über die High Street gekommen war, das Herz brechen ließ. »Küß die Erde, Lady«, murmelte der Rettungsassistent 279
und griff nach seiner Zeitung und der Thermosflasche mit dem letzten kalten Tee. »Ich hab’ doch gesagt, da kommt nichts Gutes bei raus.« Krümels Auto war peinlich berührt und schämte sich. Es schämte sich, weil es nicht verstand, wie es sich hatte hinreißen lassen. Normalerweise brüstete es sich damit, ein erstklassiger Verkehrsteilnehmer zu sein, der niemandem Umstände bereitete. Und doch – seine Scheinwerfer flackerten, als es einen schnellen, schuldbewußten Blick um sich warf – war dies kein Unfall gewesen. Das Auto mußte darüber nachdenken. Sein Credo war: »So etwas wie Unfälle gibt es nicht, nur Leute, die was falsch verstehen.« Nur manchmal, so schien es, waren es nicht nur Leute, die was falsch verstanden. Aber egal, wie schlecht sich das kleine Auto auch fühlen mochte, die Art und Weise, wie die Fahrerin des Rettungswagens sich aufführte, machte es auch nicht besser. Das war wirklich peinlich. Krümels Auto war es nicht gewöhnt, eine erwachsene Frau weinen zu sehen. Es war gewöhnt, daß erwachsene Frauen auf sein Steuerrad trommelten und gegen seine Tür traten, obwohl es nur versucht hatte, sein Bestes zu geben. Und das war es auch, wenn man es genau betrachtete, was es jetzt am allerliebsten gehabt hätte. Denn zum ersten Mal in seinem Leben brauchte es einen guten Tritt. Dann hätte es sich wesentlich besser gefühlt. Ob die Fahrerin des ersten Rettungswagens die Verlegenheit des kleinen Autos spüren konnte, wußte das Auto nicht, aber jedenfalls war dies der Moment, in dem sie beschloß, sich zusammenzureißen. Sie sah sich um, ob sie jemand beobachtet hatte. In der Fahrerkabine ihres Rettungswagens wandte der Rettungsassistent seine Aufmerksamkeit eilig wieder seiner Zeitung zu. »Nun los, reiß dich zusammen, Mädchen«, murmelte die Fahrerin des ersten Rettungswagens. Sie wischte sich mit 280
dem Ärmel über die Augen und hinterließ einen schmutzigen Streifen auf ihrem Gesicht. »Hoch jetzt. Noch bist du nicht geschlagen.« Sie stand auf und nahm das Durcheinander um sich herum zur Kenntnis. Es machte sie wütend. Sie haßte Unordnung. Aber zumindest eines konnte man über diese Unordnung sagen. Sie warf einen bösen Blick auf Krümels Auto. Es gab einen Schuldigen, und, sie trat kräftig zu, man konnte etwas tun. »Ahhh!« Der Seufzer des Autos war beinahe hörbar. Das war schon besser. Bald würde alles wieder so sein wie immer. In der alternativen Realität des Diamanten steht die Zeit still. Das geschieht, wenn eine Menge Köpfe alle gleichzeitig daran arbeiten, nicht glauben zu müssen, was sie sehen. »Also gut, wenn alle fertig sind, dann sollten wir einfach anfangen«, sagt der Diamant. »Das kann doch nicht wahr sein«, denkt die Menge der Köpfe. »Wenn ich los sage«, sagt der Diamant. »So was passiert mir doch nicht.« »Der letzte, der nach dem Lichtausschalten am Leben ist, hat gewonnen.« »Wofür hält dieses Ding uns eigentlich?« »Eins.« »Nöh. Das kann der nicht machen.« »Zwei.« »Außerdem spielt sowieso keiner mit.« »Drei.« »Das kann doch nicht ernst gemeint sein.« Das Licht geht aus. 281
»Los.« Sogar ohne Ausrufezeichen. Der Diamant meint es verdammt ernst. Sehr wenige Menschen haben die totale Dunkelheit erlebt, die durch die vollständige Abwesenheit von Licht entsteht. Eine dunkle Nacht bedeutet, daß das Sternenlicht von einer Schicht schwerer Wolken gedämpft wird. Ein Haus gilt als dunkel, wenn es nur vom Leuchten der Straßenlaterne erleuchtet wird. Oder von den kleinen roten Lämpchen, die zeigen, wieviel Elektrizität verschwendet wird. Also wirkt totale Dunkelheit wie ein Schock. In der alternativen Realität des Diamanten bewegt sich niemand. Niemand atmet. Alle spitzen die Ohren. Alle denken. Alle hoffen, daß niemand anderer etwas tut. Nun, fast alle. Der Diamant seufzt ausführlich. Er hat diesen Leuten die Erlaubnis zum Töten gegeben. Was wollen sie denn mehr? Ein polterndes Geräusch. Eine Frau bricht zusammen, weil sie zu lange den Atem angehalten hat. Jedenfalls klingt es, als wäre es eine Frau. Oder ein kleiner Mann. Was auch immer. Das erste Opfer ist ausgemacht. Ein schnelles Huschen von Schritten. Die Leute gehen auf den Lärm zu. Dann wieder Stille. Die Leute merken, daß sie durch Bewegungen ihre Position verraten. Ein dumpfer Schlag. Ein mörderischer Schlag, dem Klang zufolge. Dann wieder Stille. Der Diamant entspannt sich. Das ist besser. Der Kampf hat begonnen. Und jetzt, da einer gefallen ist, werden sie alle Blut geleckt haben. Der Kampf läuft, und unter den ersten, die sich finden, sind Seemann und Axt. Sie verschwenden keine Zeit, um ihrer Freundschaft Ausdruck zu verleihen. Sie kommen sofort zur Sache. Im Schutz ihrer Anstrengung, ihres Schlagens und Stampfens, ihres Zerrens und Würgens und Stöhnens rangeln die anderen in aller Stille um eine gute Position. Die meisten können das nicht besonders gut. 282
Einige bezahlen den Preis. Die Luft füllt sich mit schrecklichem Todesröcheln und noch schrecklicherem, lokalisierbarem Schweigen. Dot hat den Eindruck, der große Raum wird kleiner, obwohl das natürlich nur ein subjektiver Eindruck ist. Aus den Geräuschen meint sie schließen zu können, daß die Grenzen näher scheinen, als sie ursprünglich waren. Der Diamant quetscht sie zusammen und beseitigt damit jede Fluchtmöglichkeit. Allein der Gedanke ist entsetzlich. Eine herumfuchtelnde Hand trifft Dot am Hinterkopf. Ein scharfer Seufzer streift ihr Ohr, und ein fieses Geräusch läßt vermuten, daß ein Messer heimtückisch zwischen zwei Rippen gefahren ist. Ein Messer? Dot verschluckt den Schmerzenslaut, den sie auf den Lippen hatte. Was für ein Messer? Aber sie weiß es. Sie weiß es sofort. Rudge. Und er muß ganz in der Nähe sein. Und, verrückt genug, Dot erinnert sich zum ersten Mal an die Maschinenpistole in ihren Händen. Die Waffe hat sie auch nicht in dem kurzen Moment losgelassen, als die knochentrockene und die helle, jungenhafte Stimme sie festgehalten haben – und was mag mit denen sein? überlegt sie kurz. Dot hebt die Waffe hoch, dreht den kleinen Hebel an der Seite herum, so wie sie es geübt hat, und drückt ab. Ein scharfer Flammenstoß schießt in das Schwarz des großen Raumes und wirft tiefe Schatten. Die Flamme tanzt und tanzt – die Zeit steht still –, die Schatten werfen die Bewegung zurück. Gespenstische orangene Gesichter grinsen aus der Dunkelheit, es sind Dämonen, die bei ihrer Arbeit von einem Teufel unterbrochen werden, der größer ist als der, der sie antreibt. Die Flamme erstirbt, doch das Krachen der Zündung hallt durch die – was jetzt ganz deutlich wird – 283
klaustrophobische Enge im großen Raum. Aber der Schock hat die Zeit wieder in Bewegung gesetzt. Und die Leute können wieder frei atmen. In der High Street löste sich das Durcheinander langsam auf. Es ist phantastisch, dachte der Rettungsassistent aus dem ersten Rettungswagen, als er seine Fahrerin handeln sah, was diese Frau leisten kann, wenn sie nur will. Und es war auch phantastisch, wie sie auf die Dinge zuging. Ich meine, dachte ihr Rettungsassistent, er zum Beispiel, wenn er dieses Durcheinander aufräumen müßte, was er Gott im Himmel sei Dank nicht zu tun brauchte, aber wenn er das tun müßte, was sie tat, dann hätte er das allerdings nicht so gemacht. Das müßte er zugeben. Um ehrlich zu sein. In der Mitte hätte er angefangen und sich dann nach außen vorgearbeitet. Und jetzt, als er sah, wie die Sache richtig erledigt wurde, konnte er sehen, daß das nicht geklappt hätte. Das müßte er zugeben. Das war nur gerecht. Wirklich nur ehrlich. Als er an diesem Punkt seiner Gedanken angelangt war, unterbrach sich der Rettungsassistent des ersten Rettungswagens. Mann, dachte er, am Ende werd’ ich sie noch bewundern, wenn ich nicht aufpasse. Wo soll denn das hinführen, eh? Er widmete sich wieder der Zeitung. Ihn erwischen, wie er sie bewundert? Er blätterte um. Sollen sie’s doch. Mehr nicht. Sollen sie’s doch versuchen. »Stehenbleiben!« sagte Dot. Ihre Stimme war leise im Vergleich zu dem Schrecken, den sie gerade losgelassen hatte. »Alle stehenbleiben!« Alle gehorchten. Alle, die konnten. Wer hätte das nicht getan? »Also gut.« Dot schwang die Maschinenpistole vor sich hin und her, für den Fall, daß ihr jemand zu nahe kommen 284
wollte. »Das war’s. Genug. Licht an. Dieses Spiel ist widerlich.« »Ich nehme an, Sie meinen mich?« sagte der Diamant. »Natürlich. Wen sonst?« Es entstand eine nachdenkliche Pause. »Und wenn nicht?« »Hä?« Das war nicht die Antwort, die Dot erwartet hatte. Nicht mit einer Maschinenpistole in den Händen. »Und wenn nicht? Was machen Sie dann?« »Dann töte ich sie alle!« sagte Dot, ohne nachzudenken. Dann überlegte sie es sich. »Äh…« »Ach ja?« Die Stimme des Diamanten triefte vor Selbstgefälligkeit. Dann klang sie traurig. »Von Ihnen hatte ich mehr erwartet«, sagte der Diamant. Es platschte leise, als die Kugeln, die Dot abgeschossen hatte, auf den rotgefliesten Fußboden herunterregneten. Dot, die plötzlich von einem Gefühl der Sinnlosigkeit überwältigt wurde, ließ die Waffe aus den Fingern gleiten, erlaubte ihren Beinen einzuknicken und gab ihrem Kopf die Freiheit, sich zum Boden zu neigen. Etwas säuselte leise dort hindurch, wo eben noch Dots Herz gewesen war, und hinter Dot ertönte wieder ein krasser dumpfer Laut. Ein Körper fiel um. Eine Hand griff matt nach Dots Ferse und erschlaffte. In der High Street wanderte die Aufmerksamkeit des Rettungsassistenten vom ersten Rettungswagen von seiner Zeitung zu seiner Kollegin, die emsig damit beschäftigt war, die Dinge zu ordnen. Ihn dabei erwischen, wie er sie bewunderte? Hah! Aber es fiel ihm schwer, seine Aufmerksamkeit auf die 285
Fahrerkabine zu konzentrieren. Mit der Zeitung gab es ein Problem, was es schwierig machte, sie zu lesen. Er guckte sich die aufgeschlagene Seite genau an. Schlechter Druck, was? Die Wörter an den Rändern waren leicht verschwommen, oder? Und wieder wanderte die Aufmerksamkeit des Rettungsassistenten aus dem Fenster. Die Fahrerin des ersten Rettungswagens war in ihrem Element. »Oi, oi, oi, oi!« rief sie. »Boah!« Sie schlug auf den Kofferraum des Wagens, den sie gerade aus dem Wirrwarr geführt hatte, der die High Street blockierte. »Na los, Herr Doktor.« Sie beugte sich zum Fahrerfenster. »Sie können jetzt fahren.« »Aber ich wollte dort lang.« Der Arzt deutete zurück in Richtung des Staus. »Tja.« Die Frau vom ersten Rettungswagen blickte in die Richtung, in die der Arzt zeigte. »Ich wüßte nicht, wie das gehen sollte.« »Aber…« »Außerdem, Sie gehören doch zum Bereitschaftsdienst, oder?« »Ja, aber…« »Nun, wir sind der Noteinsatz, und wir werden uns bald wieder in Bewegung setzen. Wir werden jede Hilfe brauchen, die wir kriegen können. Aber…« Die Fahrerin des ersten Rettungswagens richtete sich auf. »Ich denke, Sie müssen tun, was Sie für richtig halten.« Sie ging zum nächsten Auto und klopfte aufs Dach. »Alles klar? Fertig? Oh, hallo, Schwester, Sie haben auch gekündigt?« Ich war blöd, dachte der Rettungsassistent vom ersten Rettungswagen, während er zuschaute. Mit seinen weit aufgerissenen Augen sah er jugendlich aus – als hätte er 286
den letzten Rest von Erdenschwere abgestreift. Ich meine, fuhren seine Gedanken fort, guck sie dir doch mal an. Haltung, Takt, Diplomatie und Beherrschung. Vor allem Beherrschung. Und sie sah auch nicht schlecht aus, wenn er genau hinsah. Wenn er zwanzig Jahre jünger wäre… War er aber nicht. Aber trotzdem war sie bewundernswert. Durch und durch bewundernswert. Und da es blöd war, etwas nicht zu bewundern, was bewundernswert war, war er blöd gewesen. Aber er konnte es wiedergutmachen. Er konnte gleich anfangen. Leichtfüßig sprang der Rettungsassistent vom ersten Rettungswagen aus der Fahrerkabine und bewegte sich mit federnden Schritten auf seine Fahrerin zu. »Oho!« kam eine Stimme aus einem der anderen Rettungswagen. »Der alte Taugenichts hat sich in Bewegung gesetzt. Und er hat’s eilig.« »Muß ein dringendes Bedürfnis sein«, kam eine zweite Stimme. »Das einzige, was ihn zur Eile bringt.« Ein Chor von Gelächter. »Oi, oi, oi, oi!« rief die Fahrerin des ersten Rettungswagens und dirigierte mit wedelnden Armen das Auto vor ihr aus der Patsche. »Genau so, Schwester, kommen Sie weiter.« Eine Bewegung erregte die Aufmerksamkeit der Fahrerin des ersten Rettungswagens. Sie blickte über ihre Schulter, wobei sie nach wie vor das Auto der Krankenschwester zu sich heranwinkte. »Bill?« sagte sie überrascht. Ihre Gedanken waren nicht mehr bei der Aufgabe, mit der sie gerade beschäftigt war, aber sie hatte vergessen, das ihren Armen mitzuteilen. Die winkten weiter. »Hab’ nicht erwartet, dich hier draußen zu sehen. Was ist los? Ein dringendes Bedürfnis?« 287
»Ich muß was sagen«, sagte Bill. »Ich bin…« Aber die Fahrerin des ersten Rettungswagens bekam nie zu hören, was Bill hatte sagen wollen. Das Auto der Krankenschwester gab ein leises Grunzen von sich, als der linke Fuß der Krankenschwester von der zartbesaiteten Kupplung rutschte. Das Auto machte einen Satz nach hinten, wodurch der rechte Fuß der Krankenschwester kräftig aufs Gaspedal gedrückt wurde, so daß das Auto noch weiter und schneller sprang. Es folgte ein kurzer Schrei, und dann war Stille. Der Motor war abgewürgt. »Netty?« sagte Bill. Er mochte seinen Augen nicht trauen. »Netty?« Seine Augen füllten sich mit Tränen. Er wollte die Hände ausstrecken, aber er konnte sich nicht bewegen. Er war zu einer Salzsäule erstarrt. Die Welt um ihn herum kam schleifend zum Stehen, als würde die Zeit angehalten. Langsam hob Bill die Augen zu den Sternen, die sich irgendwo hinter den feuchten, dunklen Wolken verbargen, und zum Licht der Straßenlaternen. Langsam öffnete sich sein Mund. Und er brüllte. »NEEET T YYYYY !« Laut und lange. In der Dunkelheit des großen Raumes musterte der Diamant die Szene um sich herum. Er brauchte kein Licht – wenn ein Ding keine Augen hat, ist Licht ein überflüssiger Luxus –, und ihm gefiel, was er sah. Die Sache wurde zu einem interessanten Experiment. Immerhin, dachte er, wenn man irgendeiner Gruppe Menschen die Erlaubnis gibt zu töten, sollte man erwarten, daß sich mehr als eine dieser Unannehmlichkeit widersetzen würde. Müßten Menschen denn nicht Skrupel haben? War es nicht das, was sie angeblich von den Tieren 288
unterschied? Nun, jetzt war es Zeit, die Schraube anzuziehen. Das würde sie noch mehr zusammendrängen und den Cocktail aus Paranoia und Klaustrophobie noch potenter machen. Der Diamant wandte seine Aufmerksamkeit zum hinteren Teil des großen Raumes, mußte aber feststellen, daß der Platz besetzt war. »Mehr als eine«, kam von dem besetzten Platz. »Hä?« sagte der Diamant. »Ich sagte: ›Mehr als eine‹«, kam von dem besetzten Platz. »Es gibt mehr als eine, die sich dir widersetzt. Ich bin die zweite, und jetzt ist Zeit, daß Schluß ist.«
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22 Bill hörte auf zu brüllen. Die anderen Fahrer und Beifahrer drängten sich um Nettys Körper. Sie blickten zu Bill und schüttelten den Kopf. Und sie warteten darauf, was er als nächstes tun würde. Er. Der alte Taugenichts. Er blickte sich mit neuer, wilder Entschlossenheit um. Was würde Netty getan haben? überlegte er, weil er es jetzt für sie tun mußte. Sie würde Bewegung in die Sache bringen, war die Antwort. Sie würde Dinge erledigen. »Also gut, ihr solltet sie aufheben. Wir nehmen sie mit zurück.« Er wandte sich von Nettys Leiche ab und deutete mit dem Kopf in die Richtung der verzweifelten Krankenschwester, die immer wieder ihre volle Verantwortung beteuerte, in direktem Widerspruch zu den Vorschriften ihrer Versicherungspolice. »Und kümmert euch auch um sie. Schock.« »Ist gut, Bill«, sagte die Stimme, die zuvor auf Bills Blase angespielt hatte. »Und was wirst du tun?« »Ich?« sagte Bill. Er blickte die Stimme scharf an, die unter dem Gewicht von etwas Neuem im Verhalten des Taugenichts wankte. »Ich werde Bewegung in die Sache bringen, das werde ich tun. Ich werde den Job hier zu Ende bringen.« Er ging die Straße hinunter und schlug auf ein Wagendach. »Alles klar, Herr Doktor?« fragte er und bückte sich, um ins Innere zu schauen. »Wir sind soweit, ja? Bereit zur Flucht?« »Und wer«, sagte der Diamant, »bist du?« »Mohnblüte«, sagte das lauernde Ding. 290
»Nun, dann will ich dir sagen, kleine Blume…« »Ich bin keine Blume.« »Dann kleines Ding oder was immer du sein magst.« »Ich bin kein Ding.« Der Diamant machte einen Satz. »O doch, das bist du«, bellte er, »das mußt du sein, weil…« »Schon gut! Schon gut. Und wenn? Was machst du dann daraus?« »Hackfleisch.« Es entstand eine häßliche Pause, die damit endete, daß das Ding immer noch da war. »Ich finde, wir könnten ein bißchen Licht gebrauchen, oder?« sagte es. Licht? Was war das für ein Ding, das Licht brauchte? Jetzt war der Diamant an der Reihe, sich zu fürchten – es war die Angst vor dem Unbekannten. Das Licht ging an. »Wir brauchen kein Licht«, sagte der Diamant. Das Licht flackerte und ging kurz aus, aber dann brannte es wieder. »Ich finde es so besser«, sagte das Ding. »Also gut«, sagte der Diamant. »Also gut. Aber wer bist du?« Bei Licht sah der große Raum nicht mehr so groß aus, hatte etwa die Ausmaße eines ordentlichen Wohnzimmers. Und es war gut, daß der Fußboden rot war. Einige Leute übergaben sich. Das einzige Lebewesen, das vom Anblick des großen Raumes unbeeindruckt blieb, war Mohnblüte. Sie schaute gar nicht hin. Sie stand ein Stück abseits von allen anderen und schien sich auf etwas in der Ferne zu konzentrieren. Die übrigen Lebewesen spürten die Richtung, in die sich die Aufmerksamkeit des Diamanten wandte, und auch sie 291
wendeten sich langsam Mohnblüte zu. Hoffnung stand in ihren Augen. »Du?« sagte der Diamant. »Du bist Mohnblüte?« »Ich bin Mohnblüte«, sagte das Ding aus dem Inneren des großen Raumes. »Aber du bist ein Mensch.« »Das kann ich nicht sein, wie du bereits bemerkt hast. Ich wurde ein Ding. Und ehrlich gesagt, gerade jetzt scheint mir das gar nicht so schlimm zu sein.« »Aber du hast einen Körper.« »Und keinen so üblen, wie mir gesagt wurde.« Das Gespräch wurde beinahe kameradschaftlich. »Dann werde ich ihn zerstören«, sagte der Diamant. Er wollte nicht, daß Kameradschaftlichkeit den Augenblick bestimmte. Die Grenzen des großen Raumes ruckten gewaltig nach innen. Alle wurden davon überrascht, und alle zuckten zusammen. Auch Mohnblüte. Aber sie war schnell im Denken, die Mohnblüte. Zu schnell für den Diamanten. »O nein, das wirst du nicht.« Die Bewegung der Grenzen wurde plötzlich angehalten. »O doch, das werde ich.« Der Diamant klang angespannt, während die Grenzen sich zollweise nach innen bewegten. »Wirst du nicht.« Die Grenzen hielten an und krochen dann nach außen. »Werde ich doch.« Nach innen. »Wirst du nicht.« Nach außen. Und nun wurde den Kombattanten das Sprechen zu anstrengend. Ein glitzernder Schweißfilm überzog Mohnblütes Gesicht, während sie sich darauf konzentrierte, die Macht des Diamanten zu brechen. Tief unten in den ungeheuerlich vergrößerten Tiefen des 292
Diamanten flackerten Funken in finsteren Farben langsam und lustlos und bemühten sich, Mohnblütes Kopf und Körper zu zerschlagen. Die Überlebenden des Diamantenspiels beobachteten den Kampf voller Spannung. Sie verstanden nicht, was geschah, aber ihnen war zumindest klar, daß sie alle sehr schnell tot sein würden, wenn diese junge Frau nicht siegte. »Wer ist sie?« flüsterte Deirdre voller Staunen. »Mohnblüte«, antwortete Rupert. »Sie heißt Mohnblüte.« »Das ist Mohnblüte? Aber sie ist…« Ein Wutanfall erfaßte Deirdres Gesichtszüge. Aber dann überwog der Eigennutz. »Na, dann los, Mohnblüte«, sagte sie leise. Im nächsten Moment brüllte sie aus voller Kehle. »Weiter, Mohnblüte!« Die Grenzen bewegten sich einen Zoll nach außen. »Genau so, Mohnblüte! Gib alles, was du hast!« Und der Schrei wurde von allen anderen aufgenommen. »Los, Mohnblüte!« »Genau so, weiter!« »Mohnblüte! Mohnblüte! Mohnblüte!« Inzwischen zitterte Mohnblüte, und sie hatte das Gefühl, sie würde zerbrechen. Viel länger konnte sie nicht aushalten. Die Anstrengung war zu groß. Und ihr Gegner ermattete nicht. Der Diamant konnte das ewig durchhalten. Also mußte es noch etwas anderes geben, was sie tun konnte. Mußte es einfach. Die Grenzen krochen einen Zoll nach innen. Dann zwei. Dann drei. Die Menge stöhnte, und ihre Kraft ließ nach. Das Brüllen kam nur noch sporadisch. »Na los, Mohnblüte!« Das war Rupert. Aber seine Stimme war schwach, wie die eines Boxfans, der seinen 293
Mann wanken sieht. Erst war Mohnblüte enttäuscht über die nachlassende Unterstützung, aber dann wendete sich das Blatt; ihre Entschlossenheit wurde stärker. Sie durfte diese Leute nicht im Stich lassen. Sie waren auf sie angewiesen. Mohnblüte hob ihren Fuß, als trüge sie das Gewicht der Welt. Um Standfestigkeit kämpfend, streckte sie ihr Bein aus und stellte den Fuß wieder auf. Sie hatte einen Schritt getan. Aber sie mußte noch einen tun. Und noch einen. Und dann noch einen. Weil es doch noch etwas gab, das sie tun konnte. Wenn sie es nur rechtzeitig schaffte. Der Gnaden-Konvoi erreichte das Krankenhaus in bester Ordnung. Vorneweg fuhr Bill in Krümels Auto. Schotter flog zur Seite, als er mit quietschenden Reifen durchs Krankenhaustor raste und mit blockierten Rädern vor dem Haupteingang zum Stehen kam. Hinter ihm reihten sich die Rettungswagen ordentlich vor der Notaufnahme auf. Der Bereitschaftsdienst sortierte sich auf dem Personalparkplatz. Selbst als die Sirenen schwiegen und die Motoren abgestellt waren, blieb Bill am Ball. »Los, los!« rief er. »Hopp, hopp! Es gibt Arbeit. Jede Menge. Für alle.« Ein Mitglied des Bereitschaftsdienstes ließ sich von Bills Begeisterung mitreißen und fing an zu rennen. Das war ansteckend. »Los, los«, riefen sie einander zu. »Es gibt zu tun. An die Arbeit.« Aber – es gibt immer ein Aber, wenn die Dinge in Bewegung geraten – als starke Hände an der Tür der Notaufnahme rüttelten, passierte gar nichts. »Hey, Bill«, rief der Rüttler. »Irgendein Idiot hat die Tür 294
verschlossen.« »Was?« fragte Bill. »Verschlossene Notaufnahme? Niemals.« Er ging hinüber, rüttelte selber an der Tür und guckte sie sich dann genauer an. »Sie ist nicht zugeschlossen«, sagte er. »Seht doch selber.« Die Leute guckten. Unterkiefer klappten herunter. »Bah«, sagte jemand. »Mensch«, sagte jemand anderer. Aber Bill hörte nicht hin. Er schaute sich schon den Haupteingang an. »Alles mögliche drübergeschmiert«, sagte er nachdenklich. »Genau wie bei der Notaufnahme.« Er schaute sich weiterhin um. »Die Fenster auch«, sagte er, zu niemand Bestimmtem, und das war der Zeitpunkt, zu dem das Gefühl die Oberhand über das Denken bekam. Bill schaute zum Krankenhaus hoch. »Wenn ich jetzt nicht reinkomme«, sagte er zum Krankenhaus, »dann werde ich sauer. Richtig sauer.« Er trat gegen den Haupteingang. Die Tür gab nicht nach. Sie klapperte nicht mal. »Das reicht«, sagte Bill. »Das reicht, verdammt noch mal.« Er stürmte los und kletterte in Krümels kleines Auto. Die Besatzungen der Rettungswagen und die Leute vom Bereitschaftsdienst drängten sich um ihn. »Was willst du machen, Bill?« »Immer mit der Ruhe, Bill.« »Mach keinen Quatsch, Bill.« Aber Bill hörte nicht zu. Er drehte den Motor auf eine nie gehörte Drehzahl hoch. »Da ist Formel eins gar nichts gegen«, murmelte das kleine Auto nervös, während es überlegte, was nun geschehen mochte. Bill winkte die dichtgedrängte Menge zur Seite. »Geht zurück!« rief er. »Ich mache auf.« 295
Du machst auf, dachte das kleine Auto. Du machst auf? Und dann nahm Bill den Fuß von der Kupplung, und dann mußte das Auto zu hart arbeiten, um überhaupt denken zu können. Die Grenzen der Realität zitterten. Mohnblüte hatte es fast geschafft. Sie streckte die Hand aus. Aber sie versuchte das Unmögliche. Diese kleine Hand. Dieser enorme Diamant. Niemand sagte etwas; überall wurde der Atem angehalten. Mohnblüte schaffte einen weiteren Schritt. Ihre Hand streckte sich weiter aus. Sie drang in den verzerrten Raum um den Diamanten und wurde so groß wie ein Haus. Alle atmeten aus. Es war nur Einbildung. Optische Täuschung. Diese Erkenntnis schien die Gefahr auf ein annehmbares Maß zu reduzieren. Mohnblütes Finger begannen sich zu schließen… Und dann taumelte sie. »Hah!« knurrte der Diamant. Mohnblütes Knie zitterten. »Hah!« knurrte der Diamant noch einmal. Unter der Last eines unerträglichen Gewichts bog sich Mohnblüte zu den roten Fliesen hinunter. »Hah! Und hah! Und hah!« Bei jedem Wort wurde Mohnblüte weiter nach unten gedrückt. Ihre Hand verließ die Verzerrung und nahm wieder ihre natürliche Größe an. Die Grenzen der Realität fingen an, sich nach innen zu schieben. Es war vorbei. »Vernon?« sagte Dot leise. Sie hatte den Riesen auf dem Boden entdeckt, er lag dicht neben ihr. Das schwarze Messer steckte in seiner Brust. Offensichtlich hatte er sie 296
die ganze Zeit beschützt. Es war gut, das zu wissen. Irgend etwas Gutes mußte es geben. Sie nahm Vernons Hand, blickte auf die zusammenbrechenden Grenzen und versuchte sich ein paar passende letzte Worte auszudenken. »Jedenfalls danke«, war das Beste, was sie herausbrachte. Und: »Es war schön, dich gekannt zu haben.« Die Lichter gingen aus. Die Welt wurde schwarz. Was eine gute Vorbereitung für den Auftritt von Krümels Auto war. Mit blitzenden Scheinwerfern und einem grimmig blickenden Bill am Steuer tauchte es in der Mitte des Raumes auf und nahm die Größe eines Hochhauses an. Auf seinem Dach saß ein Diamant so groß wie ein Bus, und um seine Motorhaube wickelte sich ein Türrahmen so groß wie das Parlamentsgebäude. In der Realität hinter dem Diamanten klaffte ein gähnendes Loch. Es wurde vom Sternenlicht erleuchtet, das durch eine dichte Wolkenschicht schien, und von einem Ring verwirrter Gesichter umrahmt. »Alle raus!« rief Mohnblüte. »Das ganze Ding verschwindet.« Die nächsten Momente waren extrem lang und sehr, sehr chaotisch. Trotzdem soll schon wegen der Geschichtsschreibung der Versuch gemacht werden, von ihnen zu berichten. Es gab einige Panik und eine ganze Menge Gerangel von der Marke »Knie ins Gesicht«, was mehr oder weniger zwangsläufig bedeutet, daß die Höflichkeit tot ist. Aber das wußte Dot ja schon. Sie hatte die Höflichkeit geküßt, da, wo sie lag, immer noch auf einem rotgefliesten Fußboden. Es gab Überlebende, Unversehrte und Verletzte, aber keine 297
Leichen. Die alternative Realität hatte alles mit sich genommen, als sie sich durch das in ihr klaffende Loch aus der Existenz schlich. Topologisch ist das unmöglich, werden Zyniker spotten. Aber was wissen schon Zyniker? Die Leute auf dem Schotter vor der Notaufnahme waren sprachlos. Da, wo der Haupteingang gewesen war, gähnte nun ein Loch in der Wand, und es herrschte Stille. Seemann brach sie. Es war das erste Mal, daß er sprach, seit er von der Seefahrt ins Landleben gespült worden war. »Boß?« sagte er. Keine Antwort. Seemann wird nie wieder sprechen, denkt er, bis eine kommt. »Und was jetzt?« Rupert starrte auf den Diamanten, den ihm Mohnblüte in die Hand gelegt hatte. »Bau eine neue Villa«, sagte Mohnblüte. »Der sollte genug bringen.« »Eine neue Villa?« Rupert war verdutzt. »Die alte ist abgebrannt.« »Ach so.« »Und heirate Deirdre. Sie wird dir guttun.« »Und du? Was ist mit dir?« »Muß Dinge besorgen.« Mohnblüte war weg, aber das Echo ihrer Stimme kam zurück. »Das Ding entsorgen.« »Die Tür ist jetzt offen«, sagte der diensthabende Arzt mit neuer Frische. Er stand am Eingang zur Notaufnahme. »Können wir weitermachen?« »Lassen Sie mich helfen«, sagte Radkappe. »Wird Zeit, daß ich mich mal nützlich mache.« »Aber waren Sie nicht… Früher…«, fing der Arzt an. Dann gab er seine offizielle Rolle endgültig auf. »Klar, ist gut«, sagte er. »Vielen Dank.« »Und Sie…« Radkappe blickte Krümel an. »Wie heißen Sie? Ich kann Sie doch nicht ewig Krümel nennen.« 298
Krümel empörte sich. Das war etwas, das sie gut konnte. »Wer sagt denn, daß Sie mich ewig irgendwie nennen sollen? Und Krümel hat’s bis jetzt immer getan. So hat mich Tantchen getauft, als ich ein Baby war.«
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23 »Was mich auf eine andere Frage bringt«, sagte Radkappe viel später. »Wo ist Tantchen?«
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24 Die ärmlich gekleidete alte Frau klopfte ans Fenster des funkelnagelneuen, roten Mercedes. »Wäre es Ihnen möglich, nicht auf dem Bürgersteig zu parken«, sagte sie. »Der ist nämlich für Fußgänger und nicht für Autos.« Der pockennarbige, blaßgesichtige Fahrer des neuen Wagens ließ seine Fensterscheibe runter, nahm die Zigarette aus dem Mund, blickte die alte Frau an und blies ihr Rauch ins Gesicht. »Sie schon wieder!« sagte er. »Was zum Teufel treiben Sie denn eigentlich?« »Aufräumen«, sagte die ärmlich gekleidete alte Frau. »Ich räume einfach auf.« »Was auch immer«, sagte der blaßgesichtige Fahrer. »Verpissen Sie sich einfach.« Dann veränderte sich plötzlich sein Gesichtsausdruck, aus arroganter Verachtung wurde Furcht. Er drückte seine Zigarette aus, kurbelte eilig sein Fenster hoch und fuhr, ohne sich noch einmal umzublicken, davon. »Aha, es geht voran«, seufzte die ärmlich gekleidete alte Frau. »Immerhin mache ich Fortschritte.« »Ich glaube, wir machen Fortschritte«, sagte eine volle, wohltönende Stimme hinter ihr. »Vernon?« Dot erstarrte. Ganz, ganz langsam drehte sie sich um. Es war Vernon, keine Frage, in voller Lebensgröße und mit all seinen Haaren. »Aber…«, wandte sie ein. »Aber…« Sie blickte auf die Stelle seiner Brust, wo das letzte Mal, als sie sie gesehen hatte, ein Dolch gesteckt hatte. Instinktiv streckte sie die Hand aus, um die Stelle zu berühren. Da war nichts. »Aber…« Verwundert blickte sie Vernon an. Er lächelte. » Aber du warst…« Sie musterte ihn von Kopf bis Fuß, immer noch zweifelnd. »Ich meine… warst du nicht?« 301
Vernon nahm ihre Hand und hielt sie. »Nun, jetzt bin ich es nicht«, sagte er. »Ich bin es absolut nicht.« »Aber wie…« Vernon lächelte. »Das sind diese alternativen Realitäten. Da kann fast alles passieren.« Dot schaute verwirrt und ängstlich. »Also gut«, sagte Vernon. »Ich war früher Physiker, theoretische Physik, bevor ich ausgestiegen bin. Ich war auf Zustände des Daseins spezialisiert.« Dot wirkte weniger ängstlich, aber immer noch verwirrt, und jetzt lächelte Vernon breit. »Willst du die Wahrheit wissen? Ich hab’ gemogelt. Klar?« Dot lächelte. Das verstand sie. Dann machte sie ein böses Gesicht. »Aber mogeln, das ist nicht gerade die höfliche Art.« »Bin ich denn so höflich?« Dot nickte. »Ja«, bestätigte sie. »Ja, das bist du.« »Ich verstehe.« Eine lange Pause. »Nun, Höflichkeit hat ihre Grenzen. Nehme ich an«, sagte Vernon schließlich. Er strahlte. »Und wenn wir das Fluchtauto jetzt einfach in Ruhe lassen, dann werden wir diesen Ort niemals aufgeräumt kriegen, stimmt’s?« Er deutete mit dem Kopf in die Richtung eines heißen Schlittens, der auf dem Bürgersteig vor einem Juweliergeschäft stand. Der Motor lief, und der Fahrer blickte sich nervös um. »Aber weißt du«, sagte Dot, als Vernon und sie gemächlich die High Street entlangschlenderten. »Ich glaube nicht, daß ich jemals wirklich fertig sein möchte.« Sie drückte seinen Arm liebevoll an ihre Brust. »Ich bin mir nicht sicher, ob es darum geht.«
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Die perfekte Kombination aus Douglas Adams und Terry Pratchett Was macht ein Diamant im Safe eines Londoner Juweliers? Falsch! Er wartet nicht darauf, zu Schmuck verarbeitet zu werden – zumindest nicht dieser hier. Dieser ist ein waschechter Psychopath mit großen Plänen, der mit Pflastersteinen spricht und die Menschen mittels Telepathie manipuliert. Und er will die Welt erobern. Als eine Explosion den Safe aufbricht, gelangt der Diamant per Zufall in die Hände eines unerschrockenen Großmütterchens – die es bald mit allerlei finsteren Gestalten zu tun bekommt, allesamt auf der Jagd nach dem durchgedrehten Edelstein…
»O’Brien hat ein Juwel von einem Buch geschrieben!« Night & Day
Deutsche Erstveröffentlichung
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