Matthew Rettenmund
Boy Culture
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»Boy Culture« ist die mit Charme und Witz erzählte Geschich...
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Matthew Rettenmund
Boy Culture
scanned & corrected by Mik
»Boy Culture« ist die mit Charme und Witz erzählte Geschichte eines jungen Callboys, der gerade dabei ist, erwachsen zu werden. »X«, der seine Wohnung mit Andrew und Joe teilt, verliebt sich zum erstenmal in seinem Leben – und zwar in Andrew. Während dieser aber eher zurückhaltend reagiert, da er ganz und gar nichts davon hält, daß »X« auf den Strich geht, entfaltet Joe alle Verführungskünste, um »X« ins Bett zu bekommen... In einem Zyklus von 23 Beichten beschreibt »X« seine erste Liebe, den Sex mit seinen Freiern und die emotionalen Irrungen und Wirrungen der jungen Schwulen von heute.
ISBN 3-86187-513-6 Albino Verlag, Berlin
Dieses E-Book ist nicht zum Verkauf bestimmt!!!
»Diese Sexbeichten sind mit einer solch erotischen Anmut und entwaffnenden Offenheit geschrieben, daß man sich Hals über Kopf in den Helden des Romans verlieben möchte.« Jack Dallesandro
Matthew Rettenmund
Boy Culture
Aus dem Amerikanischen von Robert Brack Redaktion Gerhard Hoffmann
ALBINO
Die Originalausgabe erschien 1995 unter dem Titel Boy Culture bei St. Martin's Press, New York
123456 1. Auflage 1998 Copyright ©by Albino Verlag, Berlin Herausgeber: Gerhard Hoffmann Albino ist ein Imprint der Bruno Gmünder Verlag GmbH, Berlin Boy Culture Copyright © 1995 by Matthew Rettenmund Alle deutschen Rechte vorbehalten Umschlagbild: Aaron Cobbett Druck: Clausen & Bosse, Leck Printed in Germany ISBN 3-86187-513-6
Boy Culture Für Mutter, natürlich
Besonderen Dank ohne besondere Reihenfolge an: JJ, das Wunderkind Melissa, die Goettin Zafar, die Schwester Sandra, die Mitverschwoererin Tim, den Maedchenfreund Lori, die Unerreichbare Rebecca und Mark, die Kritiker Matthew, den Partyboy Jane, die Lehrerin Danielle, den Cheerleader Ensley, ein Henry Higgins und Ron, der mich laengst vergessen hat; der beste Fick aller Zeiten
"Homosexuell sein heisst, ein geborener Luegner zu sein. Wirklich schwul sein bedeutet, immer die Wahrheit zu sagen. Hand aufs Herz." - irgendeine abgetakelte alte Tunte, 1995
EINLEITUNG: JETZT Warum eigentlich sind alle schwulen Typen so scharf darauf, Geschichten zu hören? Warum machen sie jeden Anflug von Romantik schon beim ersten Rendezvous zunichte und fragen: »Wie war dein erstes Mal? Wie war es am schönsten? Wie war es beim letzten Mal?« Warum interessiert sie das? Die Männer, mit denen ich schlief, haben mich all das gefragt und noch viel mehr, manchmal verlangten sie sogar, daß ich ihnen Geschichten über Sex erzähle, während wir Sex hatten. Ich glaube, daß sie sich immer noch danach sehnten, über ihr Schwulsein zu reden. Über ihre traurige Kindheit, und wie das damals war, als sie sich Tag für Tag die Hälse verrenkten und die Ohren spitzten, um irgendeine Möglichkeit zu finden, diesen Typen von nebenan dabei zu beobachten, wie er den Rasen mäht... mit freiem Oberkörper... schwitzend. Als sie dann anfingen, mit anderen Männern zu schlafen (oder mit diesem Typen von nebenan), waren sie so scharf darauf, alles darüber herauszufinden, daß es zu einer Manie wurde. Von da an fragten sie jeden aus, den sie kennenlernten. Ich bin natürlich auch nicht besser. Vielleicht hab ich nicht so viel Erfahrung mit normalen Verabredungen wie ein durchschnittlicher Schwuler, aber mir ist klar, daß ich der Möglichkeit beraubt wurde, solche Fragen zu stellen und derartige Geschichten zu erzählen. So, nachdem ich jetzt deine Neugier erregt habe, werde ich dir eine Geschichte erzählen, die ich die ganze Zeit schon loswerden wollte, zusammen mit einigen anderen irgendwie dazu passenden Anekdoten. Ich will es... rauslassen. Aber vorher sollten wir noch ein paar Dinge klären: • Diese Geschichte, meine Geschichte, ist eine Beichte. Dein Glück, denn Beichten sind die heißesten Stories überhaupt. Kann jeder - 11 -
Priester bestätigen. Und bei der sexuellen Veranlagung der meisten Hauptpersonen ist der Hinweis auf den Priester natürlich eine doppelte Anspielung. • Ich bin zwar nicht katholisch, aber soweit ich weiß, können Beichten ziemlich schmerzhaft sein. Immerhin hat derjenige, der beichtet, das dringende Bedürfnis, seine Geschichte zu erzählen, weil er darüber hinwegkommen will. Falls das stimmen sollte, ist diese Beichte hier garantiert keine Ausnahme. • Eine Beichte muß nicht unbedingt eine Moral haben. Oftmals beichten die Leute ja gerade, weil sie wissen, daß ihr Verhalten den allgemein verbindlichen Moralvorstellungen widerspricht. Daher wirst du am Ende dieser Geschichte keine scheinheilige Moralpredigt finden. Im Gegenteil, du kannst die Geschichte auseinandernehmen und versuchen herauszufinden, welche Moral sie haben könnte, falls es überhaupt eine gibt. Oder du kannst die schweinischen Stellen suchen und dir einen runterholen. Von mir aus gerne. An deiner Stelle würde ich wahrscheinlich genau das tun. • Und schließlich sind Beichten immer anonym. Du wirst mich garantiert nicht dabei ertappen, wie ich irgendeine Regel des Genres verletze. Nenn mich »X«.
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PROLOG: KÜRZLICH Norman ist Kinderarzt. Ich glaube, er hat diesen Beruf absichtlich gewählt, um aus seinem Leben ein zunehmend enger werdendes Dauerversteck zu machen. Seit 25 Jahren lebt er über seiner kleinen Arztpraxis – wahrscheinlich hat er so gut wie alle jungen Eltern und Kinder der ganzen Nachbarschaft behandelt, Mädchen wie Jungen. Falls irgend jemand herausfinden würde, daß er es gern mit Männern treibt, wäre seine Zukunft so vielversprechend wie die eines wackeligen Milchzahns. Natürlich nur wegen dieser unsinnigen Gleichsetzung von Schwulen mit Kinderschändern. »Daddy«, sagte er, gleich nachdem ich die Tür des Hotelzimmers geschlossen hatte. Ziemlich blöde, wirklich – schließlich war ich halb so alt wie er. In der Mitte des Zimmers setzte sich Norman auf die Rücklehne des Sofas. Während ich mich an die sterile Atmosphäre zu gewöhnen versuchte und eine Flasche Mineralwasser aus dem Kühlschrank nahm, ertrug ich seinen schweigenden Blick. Norman begann, seine Brust zu reiben, indem er unter sein kurzärmliges Hemd griff, und versuchte, dabei sexy auszusehen. Als ob es darauf ankam, daß ich geil wurde. Im Gegenzug veränderte ich meine Haltung und tat so, als würde mich das anmachen. Ich musterte diesen Mann in den mittleren Jahren, der langsam fett und grau wurde (ähnlich wie Ned Beatty). Ich sah ihn an wie ein Pädo, der Frischfleisch betrachtet, ein Blick, den ich aus einer unsichtbaren Trickkiste ziehen kann, ohne eigene Erfahrungen damit zu haben. Norman knöpfte seine Hose auf und ließ sie fallen – darunter war er nackt und hatte einen Ständer, der im Gegensatz zu seinem schlaffen Bauch noch recht jung wirkte. Bei unseren Dates war Norman nie wirklich locker drauf, aber ich vermute, daß dieses Unbehagen ihn ganz schön anmachte. Er drehte sich um und beugte sich über das Sofa. Sein Arsch war - 13 -
breit und blaß, aber nicht unbedingt abstoßend. Irgendwelche gelangweilten Hausfrauen hätten beim Anblick von Normans Arsch vielleicht fröhlich gekichert, aber ich war keine gelangweilte Hausfrau – ich war ein gelangweilter Callboy. Normans Arsch war nicht gerade mein Traum, ganz bestimmt nicht. Irgendwie mußte ich an Margarine denken, die man essen muß, weil keine echte Butter da ist. Schon komisch, woran man so denkt, wenn man fürs Ficken auf Touren kommen will. Norman redete nicht viel. Ich mußte auch nicht »mein Junge« zu ihm sagen, was kein Problem gewesen wäre, wenn er es verlangt hätte. Ich glaube nicht, daß er mit seiner Vater-Sohn-Fantasie klargekommen wäre, wenn ich mitgemacht hätte. Wenn ich ihn »mein Junge« genannt hätte, wäre er gezwungen gewesen, konkreter zu werden. Und möglicherweise so unruhig, daß er sich später beim Behandeln der kleinen Patienten in seiner Praxis schuldig gefühlt hätte. Vielleicht bekam er ja schon beim Anblick eines Strichers ein Magengeschwür. Wer weiß, was aus ihm geworden wäre, wenn er seine unausgesprochenen pädophilen Fantasien ausgelebt hätte. Ich ließ mir viel Zeit – wahrscheinlich genoß er die Vorfreude noch am meisten. Er hörte, wie ich meinen Gürtel öffnete, ihn durch die Schlaufen meiner Jeans zog und dann mit einem gedämpften Klimpern zu Boden fallen ließ. Ich knöpfte meine Jeans auf, zog den Reißverschluß runter und ließ sie heruntergleiten. Norman drehte den Kopf, er wollte unbedingt jedes Geräusch mitbekommen. Ich ließ meine Jeans liegen und lief über den viel zu neuen Teppich auf mein Ziel zu. Norman mochte mich mehr als alle anderen Männer, mit denen er Sex hatte. Warum? Weil ich einen netten Eindruck mache, nehme ich an. Ich bin mittelgroß, breitschultrig und sehe ganz passabel aus, ohne besonders gut gebaut zu sein. Meine Haare sind braun und haben hier und da einen blonden Schimmer, an den Stellen, wo die Sonne oder fehlgeleitete Klümpchen Oxy 10 ein paar Farbpigmente ausgemerzt haben. Ich bin kräftig, ich bin jung, ich stehe hier mit einer Erektion, die meine Unterwäsche ausbeult – was gibt's daran nicht zu mögen? Ich bin vielleicht nicht der Größte, aber für Norman, und für all die Normans, die ich schon gefickt hatte, war ich der Perfekte Kerl, denn ich war da. Und ich war bereit. Ich ging zu Norman und schob meinen Schwanz – noch immer gut - 14 -
verwahrt in den Jockey-Shorts – an die feuchte Spalte seines Arschs. Ich stieß ihn ganz sanft dagegen, während ich mich mit den Händen auf seinem glatten Rücken abstützte. Ich kannte Norman sehr gut. Ich wußte, ich würde meinen Finger in den Mund stecken, in sein Arschloch schieben und ihn so lange damit ficken, bis sein Stöhnen mir signalisierte, daß er sich richtig gut fühlte. Und schließlich, wenn er zu keuchen anfing, wenn seine Stimme klang, als würde er stranguliert, wenn sein Schwanz schon ganz wund war vom Scheuern gegen das Sofa, würde ich meinen rausholen, das Kondom drüberschieben, das ich aus meiner Shorts zog, und es ihm schnell und hart besorgen, so wie er es wollte. Kein Gleitmittel bis auf das Zeug auf dem Gummi. Nicht 100 Prozent safe, aber fast, denn Norman verlangte ja nicht von mir, daß ich abspritzte, und er hatte sich in den letzten zehn Jahren alle sechs Monate testen lassen und war immer negativ gewesen. Um mich bei der Stange zu halten, während ich Norman fickte wie ein Wahnsinniger, dachte ich an erotische Dinge – den Unterarm eines Mannes, Männer in Sporthosen, Hart Bochner. Solche StellvertreterGedanken sind ganz nützlich. Ich fickte ihn, aber ich wünschte mir, gefickt zu werden; Norman wurde gefickt, aber er wünschte sich, er wäre zwölf Jahre alt und jemand ganz anderes. Keiner von uns beiden wollte es wirklich mit dem anderen treiben. Wir mußten es halt tun. Margarine. Immerhin hatte Norman für sein Alter noch ganz kräftige Arschbacken. Er wußte, wie man sich ficken läßt, was eine garantiert unterschätzte Begabung ist. Ich habe sogar abgespritzt, als ich es ihm besorgt habe, was mich die beiden Male, als es passierte, ziemlich überrascht hat, obwohl ich da schon wußte, daß mein Leben sich veränderte. Denn wenn ich die Augen schloß, stellte ich mir jemand viel Realistischeres vor als Hart Bochner. Ich dachte an einen dermaßen scharfen Typen, daß es mir schon kam, wenn ich mir nur ausmalte, wie er mich ficken würde, obwohl ich gerade einen Mann fickte, der älter war als mein Vater. Später, nachdem ich ausgiebig geduscht hatte, und Norman seine üblichen eineinhalb Päckchen Zigaretten geraucht hatte, plauderte er noch fünf Minuten über das Wetter, seine Arbeit, meinen Job, blablabla. Ich zog meine Jeans an und erzählte ihm, daß ich vielleicht aufhören würde zu arbeiten. Bevor ich erklären konnte warum, - 15 -
unterbrach er mich. So wie er dastand, eingehüllt in seinen flaumigen weißen Bademantel, aber immer noch unsicher, sah er vollkommen niedergeschlagen aus und schmollte: »Hoffentlich überdenkst du deinen Entschluß noch mal. Ich würde es ganz schön vermissen.« Ich vermied seinen Blick, lächelte und suchte nach meinen Schuhen. Er würde es vermissen, aber er würde nicht mich vermissen. »Keine Angst, Norman«, beruhigte ich ihn, »ich glaube, ich habe noch einiges für dich auf Lager.« Zwinker. Gedankenverloren zog Norman den Gürtel seines Bademantels fester. Ich sah ihm an, daß er nach Argumenten suchte, mit denen er mich zum Weitermachen überreden konnte. Er würde sie im gleichen doktorhaften Ton vortragen, mit dem er seinen Kinderpatienten einzureden versuchte, daß eine Spritze gar nicht weh tut. »Nein, wirklich. Du bist einfach der beste. Du bist viel zu jung, um schon aufzuhören.« Ganz vorsichtig umfaßte er die Beule vorne an meiner Jeans, als wäre sie heilig. »Du kennst mich so gut... Keiner sonst wird sich die Mühe machen herauszufinden, was ich brauche.« Da hatte er vielleicht recht. Die anderen Kerle, mit denen er es dann zu tun hätte, würden nur das Nötigste tun, und das wahrscheinlich nicht mal besonders gut. Ich drehte mich nachlässig zur Seite und zog meine Tennisschuhe an, ohne sie zuzubinden. »Das ist nett von dir, Norman.« Fall abgeschlossen. Später würde ich ihm mehr über meine Zukunftspläne erzählen, am Telefon. Norman ist einer von den Zartbesaiteten, ein aufgeblasenes, gealtertes Kind, das so klagend spricht und so sentimental tut, daß es einen in Verlegenheit bringt. Er mißbraucht keine Kinder. Ich glaube ihm, denn ich habe ihn ausgefragt, und niemand kann mir etwas vormachen. In seinen Träumen sieht sich Norman nicht als einen älteren Mann, dem es Spaß macht, kleine Jungs zu ficken, sondern er ist der kleinen Junge, der – obwohl es unmöglich ist – jede Minute davon genießt. Solche Fantasien machen nie viel Sinn. Also, ja, ich bin der Meinung, daß den Kindern, mit denen Norman zu tun hat, nichts Schlimmes passieren kann. Gerade kleine Jungs, an deren Wohlergehen er ein ganz besonderes und einfühlsames Interesse hat. Im Grunde genommen ist er einer von ihnen. Vielleicht fühle ich mich deshalb zu ihm hingezogen, sogar in - 16 -
diesem Augenblick, wo der erste Abschnitt meiner großartigen Karriere zuende geht. Ich hoffe, du hast aufgepaßt. Das ist nämlich einer von diesen ganz besonders anspielungsreichen Anfängen.
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DIE BEICHTEN: DAMALS
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BEICHTE 1: ICH BIN EIN TAGTRAEUMER Der Anfang vom Ende fand eine ganze Weile vor dieser Geschichte statt. Ich fuhr mit der Buslinie 6 vom Hyde Park zur Michigan Avenue, saß auf der linken Seite ungefähr zehn Sitze hinter diesem wirklich tollen Kerl und beobachtete genau seine Bewegungen. Er fuhr sich durchs Haar (nervös), kaute an seinen kaum noch existierenden Nägeln (nervös) und ließ sein linkes Bein im Gang hin und herbaumeln, schnell und ruckartig (nervös und ein bißchen... aufgeregt? Worüber wohl?). Er war wirklich klasse, absolut begehrenswert. Ich kannte ihn aus der Oberstufe. Er sah irgendwie anders aus, wenn auch nicht unbedingt besser. Jedenfalls war er mir damals kein bißchen aufregend vorgekommen, als ich noch eine gute Ausrede gehabt hätte, ihn anzusprechen. Wir haben uns nie unterhalten, aber ich hatte eine Menge über ihn gehört. Ich fragte mich, ob ich wohl noch ganz dicht war. Warum sollte ich meine Zeit damit verschwenden, mich an diesen College-Typen mit dem nervösen Tick ranzumachen? Warum sollte ich mich überhaupt an jemanden ranmachen? Es mußte doch umgekehrt laufen. Der Bus wich einem Fußgänger aus, der trotz einer klar erkennbaren roten Ampel die Straße überquerte, und weckte mich aus meinen Träumereien. Ich hörte eine heulende Polizeisirene und bemerkte das flackernde rote Licht durch die Fensterscheiben. Die Fahrgäste starrten gebannt auf die Szenerie dort draußen: ein paar Kleinwagen, zusammengefaltet wie kleine Akkordeons, ein hysterischer Krankenwagen und mehrere Streifenwagen. Der Bus fuhr weiter, nachdem er vorsichtig um die Unfallstelle herummanövriert war, und niemand hielt es für nötig, sich noch mal umzuschauen, um mehr zu sehen. Niemand außer dem Nervösen, der sich den Hals verrenkte nach diesem Bild einer traurigen Katastrophe, offenbar auf der Suche nach ein paar Opfern. Dann schweifte sein Blick leicht nach links und traf auf mich. Wahrscheinlich habe ich ihn ziemlich unverhohlen angestarrt. - 21 -
Ich kann wirklich kaum glauben, daß ausgerechnet mir das passierte, aber ich mußte wegsehen. Dabei hatte ich bis dahin jedem Blick standgehalten, jedenfalls seit dem Kindergarten. Ehrlich, ich kann stundenlang herumlaufen, ohne ein einziges Mal zu blinzeln, aber als es jetzt endlich mal darauf ankam, verschluckte ich mich fast. Da hatte ich diese tolle Gelegenheit, einem absolut scharfen Typen klarzumachen, daß ich ein Kind von ihm wollte, und versagte auf der ganzen Linie. Meine Netzhaut registrierte in diesem Moment, als wir uns ansahen, nur ein verschwommenes Bild von ihm: Er war blond und gut gebaut, mit Gesichtszügen, die einem beim bloßen Anblick schon das Blut aus der Nase schießen lassen, und roten Lippen. Diese Geschichte handelt nicht davon, wie ich mich in einen College-Typen verliebte und für immer glücklich wurde. Also wirklich! Ein Kind von ihm heißt natürlich nichts anderes als Er ist einfach klasse, und Sex mit ihm dürfe zur Abwechslung mal einfach nur Spaß machen. Verabredungen? Hatte ich nie. Oh, sicher, es gab Männer, die mich zum Essen eingeladen haben, aber das war nur Zeitvertreib zwischen zwei Ficks. Schwärmereien unter Schuljungen gibt es überall. Das ist weiß Gott nichts besonderes, aber ich stelle fest. Bei mir war das etwas völlig anderes. Plötzlich hatte ich eine Grenze überschritten. Ich verdiente mein Geld auf ganz altmodische Weise – ich fickte dafür. Dagegen läßt sich kaum etwas sagen, ich hatte nie irgendwelche Skrupel. Es war die einfachste Art, sich durchzuschlagen. Aber obwohl der Akt an sich kein Problem darstellte, gab es da eine Schwierigkeit: Während all der Jahre als Callboy hatte ich nebenher kein Privatleben. Sex aus Spaß war für mich kein Thema. Andere Kerle machten mich nicht besonders an, ich verliebte mich nicht. Sich verlieben! Es war so, als hätte ich meinen Sextrieb in die Rumpelkammer gestellt, ganz zu schweigen von meiner Sehnsucht nach Liebe. Aber das Erlebnis im Bus war eine Offenbarung. Ich saß da und lechzte nach einem scharfen Typen, wie ein ganz normaler Schwuler es tun würde, als wäre es das Normalste der Welt. War es aber nicht. Und jetzt plötzlich doch. Einen Jungen vom College ernsthaft als meine Rückkehr in die Welt des Sex fürs Vergnügen anzusehen, war schon ein bißchen - 22 -
absurd. Vor einigen Jahren hatte ich die Erziehungsfabrik mit Abschlußzeugnis verlassen, aber meine Arbeit brachte es mit sich, daß ich in der Nähe des Campus blieb, nicht zuletzt wegen der vielen einsamen Dozenten. Wahrscheinlich hatte ich zwei Jahre nach meinem Abschluß öfter in der Nähe des Campus zu tun als in meiner Studentenzeit. Ich kam mir vor wie eine dieser armen Seelen, die nach dreizehn Jahren Nachsitzen, Züchtigung und Sitzenbleiben in der sechsten Klasse endlich die High School hinter sich bringen, aber aus irgendwelchen obskuren Gründen weiter in der Nähe der Schule rumhängen. Sie haben die Möglichkeit wegzugehen, aber irgend etwas hält sie fest. Letzten Endes war das Leben an der High School so vertraut und so einfach geworden, daß sie nicht davon loskamen. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum ich mein erstes normales sexuelles Interesse seit den Achtzigern ausgerechnet einem Jungen aus dem College entgegenbrachte. Falls ich dort überhaupt etwas gelernt haben sollte, dann daß College-Schüler leicht rumzukriegen sind. Der Nervöse trug ein Blondie-T-Shirt. Blondie! Ganz schön retro. Seit mindestens zehn Jahren hatte man nichts mehr von der Band Blondie gehört. Die Sängerin (die der Einfachheit halber ebenfalls »Blondie« genannt wurde) war ab und zu mal aufgetaucht und hatte auf Disco-Diva gemacht. Und nun saß hier dieser absolute Supertyp von irgendeiner angesagten Schule im Mittelwesten und trug ein Blondie-T-Shirt. Unter den Schwulen munkelte man, selbst sein Zimmer sei total blond, blond, blond und die Wände mit alten Postern der Band gepflastert. Möglicherweise besaß er sogar ein paar von Blondie signierte Slips, und eine ganze Wand seines Zimmers nahm ein einziges überlebensgroßes, ziemlich unscharfes Foto ein, auf dem der Nervöse schwitzend und grinsend eine schwitzende und aufgelöste Blondie umarmt: Ein Schnappschuß von einem New Yorker Konzert, als der Nervöse noch zu jung war, um in den Club reinzukommen, weshalb er es geschafft hatte, nach dem Konzert der erste am Bühneneingang zu sein. Ich hatte mich auch mal in so eine übertriebene Begeisterung hineingesteigert – nur ein einziges Mal. Ich war auf einem Einkaufsbummel und schlug die Zeit in einem Schallplattenladen tot. Ich hasse diese Discount-Läden. Nie findet man, was man wirklich sucht – und die Platten sind nicht mit normalen Preisen ausgezeichnet wie - 23 -
»11,99«, »12,99«, und »6,99 – SONDERANGEBOT«, sondern mit irgendwelchen Buchstabenkürzeln. Die Einteilungen sind viel zu allgemein, es gibt kaum echte Angebote, alles ist systematisch geordnet wie in einem Warenlager. Ich wühlte ein bißchen in einem Stapel mit Restexemplaren – bei den Alben, damit meine ich LPs, VINYL. Richtige Platten eben. Die Dinger, die man zerkratzen und zerbrechen kann oder als Frisbee benutzen, die sich noch richtig auf dem Plattenteller drehen. Es standen eine ganze Menge Musik-Fans im Laden herum, die sich lautstark unterhielten, während Soft Cells »Tainted Love« in kristallklarer CD-Qualität aus unsichtbaren Lautsprechern dröhnte. Das Lied war schon älter, aber zeitlos gut. Es erinnerte mich an die achte Klasse und dieses dämliche und euphorische Gefühl des »Ohmein-Gott-ich-bin-schwul-und-werde-nie-davon-loskommen-bittelaß-mich-auf-der-Stelle-die-große-Liebe-finden«. Dank der Musik konnte ich mich plötzlich wieder perfekt in diesen Gefühlszustand zurückversetzen. Irgend jemand stand links neben mir, mit verschränkten Armen, und starrte mich direkt an, ziemlich dreist, während ich gerade zusammen mit Soft Cell in die Achtziger zurückgeworfen wurde und mich durch diese ganzen Plattencover arbeitete, die alle furchtbar nutzlos und lächerlich waren – Haircut 100, Breakfast Club, Kajagoogoo. Ich schaffte es beinahe, diese penetrant glotzende Person zu ignorieren, denn ich bildete mir immer noch wie in Trance ein, ich sei wieder 13 Jahre alt und würde mich niemals trauen zu »gucken«, weil es jemand »merken« könnte. Und die ganze Zeit fühlte ich mich beobachtet. Dann riß ich mich gewaltsam aus diesem Zustand und drehte mich um, mit dem ganzen Selbstbewußtsein eines Mannes, eines Schwulen, eines Strichers. Und entdeckte die lebensgroße Pappfigur von Madonna, mit weißer Haut, rotem Kleid, schwarzen Netzstrümpfen. Rumms – das waren die Neunziger. Die Pappfigur bestand aus drei Einzelteilen, Beine-OberkörperKopf. Madonnas Haare waren strahlend weiß wie die von Marilyn, ohne dunklen Haaransatz, perfekt getönt dank zahlreicher Spülungen mit Bleichmittel und fototechnischer Spielereien. Sie waren schulterlang, leicht gewellt, im Stil ungefähr zwischen denen aus »Breathless Mahoney« und Susan verzweifelt gesucht. Die Augen - 24 -
zusammengekniffen, tiefschwarze Wimpern, elfenbeinfarbene Lider, geschwungene Brauen, die an den Seiten wild wucherten. Ihre Lippen, leicht grausam geschürzt, wirkten wie auf ihr männliches Gesicht gekratzt und waren burgunderrot verschmiert, dazwischen konnte man einen kleinen Vorderzahn erkennen. Das enganliegende Kleid war ein Alptraum aus Rot und floß über ihren aalglatten Körper, klebte auf ihren eckigen Hüften, rundete sie ab, entblößte neunzig Prozent ihrer Brüste, die zum Markenzeichen geworden waren, und fiel dann gerade so weit links von der Mitte herunter, daß alle eventuell vorhandenen Schamhaare bedeckt und das linke Bein frei waren. Das Bein steckte in großmaschigen Netzstrümpfen, die am Knie gewollt und kunstvoll Falten warfen. Ich liebte diese Pappfigur. Ich habe mich immer gern im Takt von Madonnas Musik bewegt und ihr Auftreten als Schlampe gemocht, weil genau das sie von all den anderen arschkriechenden Prominenten unterschied, die sich ständig scheinheilig bei Gott für ihren Erfolg bedanken. Seien wir ehrlich: Madonna könnte problemlos und völlig glaubwürdig in einem Info-Spot über Prostitution auftreten. Aus gutem Grund verehrte ich The Big M. Tatsächlich habe ich keinen anderen Star jemals so lange und so ernsthaft bewundert. Aber dieses Standbild veränderte mich. Jedes einzelne Element, das ich beschrieben habe, war nichts im Vergleich zu ihrem Gesichtsausdruck. Der war verzückt, glamourös, wirklichkeitsnah, berechnend, spontan, wütend, fröhliche Unterwerfung – das alles auf ein Foto gebannt und dann in mindestens zwei Exemplaren in jedem Einkaufszentrum des ganzen Planeten aufgestellt. Wer sonst könnte diesen Gesichtsausdruck hervorzaubern, wenn nicht Madonna? Es war schon erstaunlich, daß ich dieses außergewöhnliche Bild an einem so profanen Ort entdecken mußte, als würde man das Lächeln der Mona Lisa im Kindergesicht auf einer Milchpackung wiederfinden. Ich starrte sie minutenlang an, ließ meinen Blick über die Pappfigur gleiten, die Lagen kostspieligen Materials suggerierte. Ich folgte der Linie ihrer Brüste, starrte auf die Stelle zwischen ihnen und versuchte, ihre Seele durch die unsichtbare linke Brustwarze hindurch zu erreichen. In diesem Moment fühlte ich mich von Madonna aufgesogen. Ich - 25 -
ahnte, wie sie sich gefühlt haben muß, als sie für dieses Bild posierte: deprimiert, weil sie gerade einen guten Freund verloren hatte; erfreut, weil sie gerade von der Kritik gelobt worden war; ängstlich, weil sie ein für alle mal versagen könnte; geil, und bis zum Mai keine Zeit zum Ficken zu haben – und das tolle Gefühl, unglaublich berühmt zu sein. In diesem Augenblick, als sich meine totale Unterwerfung in Erniedrigung, in vollkommenes Verlangen, in romantische Ersatzvergötterung verwandelte, wurde mir klar, was es bedeutet, schwul zu sein. Es geht dabei um Intensität. Deshalb konnte ich zehn Jahre lang existieren, ohne einen anderen Mann zu begehren und mich trotzdem immer noch als schwul zu begreifen. Mein Schwulsein hat nichts mit Sex zu tun, mein Strichersein hingegen schon. Bevor ich meine Suche nach Schallplatten fortsetzte, prägte ich mir diese neugewonnene Erkenntnis gewissenhaft ein. Ich brachte den stellvertretenden Filialleiter dazu, mir das Madonna-Standbild für 75 Dollar in bar zu verkaufen und versprach, es niemandem zu erzählen. Inzwischen haben sich die Zeiten geändert, und die Pose ist längst nicht mehr aktuell, aber das Standbild steht noch immer in meinem begehbaren Wandschrank. Es ist für mich zu einer Art Hinweisschild geworden. Es steht in meinem ansonsten leeren Schrank, angestrahlt von einer hellen Lampe, und trägt ein Kruzifix, das ich von einem meiner Priester-Freier bekommen habe. Obwohl mein Mitbewohner Joe wahrscheinlich ein größerer Madonna-Fan ist als Madonna selbst, habe ich ihm nie davon erzählt. Einmal erwähnte er, daß er so ein Standbild bei diversen Sammlerdiensten zu bekommen versuchte, zum Spottpreis von knapp 200 Dollar. Kein Zweifel, der Nervöse ließ mich vor Begierde erzittern. Und wie reagierte ich? Überhaupt nicht. Wozu auch? Wie ich schon sagte, mir war das noch nie zuvor passiert. Und ich mußte mich erstmal daran gewöhnen. Es gab keinen Grund, meine Unschuld erneut an den erstbesten zu verlieren, der sich nach mir umdrehte. Statt dessen beschloß ich, froh zu sein, daß ich wieder ganz normal funktionierte, und auf eine Gelegenheit zu warten, bei der ich gleichzeitig einen Kerl begehren und auf ihn fliegen würde. Ich fing nicht gleich an, mir Gedanken zu machen über Dinge wie: - 26 -
Wieso passiert mir das ausgerechnet jetzt? Was hat mich dazu gebracht? Wenn ich darüber nachgedacht hätte, wäre mir vielleicht klar geworden, daß mich nichts besonderes dazu gebracht hatte. Es war einfach nur eine Reaktion. Ich war ein erfrorener Nomade, und der Nervöse war wie ein erster Sonnenstrahl, der mich nach und nach auftauen würde. Würde ich dann wie totes Tiefkühlfleisch sein? Oder würde ich so sein, wie Walt Disney es sich erhoffte: Wundersamerweise Jahre nach dem eigentlichen Tod vor dem Vergessen bewahrt? Ich drückte auf den Halteknopf, damit der Fahrer Bescheid wußte, stieg an der nächsten Haltestelle aus (Mach's gut, Nervöser! Es hat leider nicht sein sollen; ich bin nichts für dich...) und ging die zwei Blocks nach Hause zu Fuß. Ich wußte, daß ich nichts für den Nervösen war, aber zum ersten Mal seit Culture Club sehnte ich mich nach mehr als einer regelmäßigen Arbeit.
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BEICHTE 2: ICH HABE EIN HERZ AUS GOLD Über ein Jahr später war ich immer noch auf der Suche nach Mr. Right, mehr denn je darauf bedacht, daß es kein Mr. Reinfall werden würde. Das Problem war: Ich kannte nur zwei Leute persönlich in dem Haus, in dem ich wohnte. Mit dem einen wollte ich ficken, und der andere wollte mit mir ficken. Sex ist wirklich keine schöne Sache. Es ist alles so häßlich, ich mag kaum darüber reden. Aber da es hier um eine Beichte geht, wird es wohl Zeit, daß ich ein bißchen im Schmutz herumstochere. Da war also Andrew, den wollte ich rumkriegen, und dann war da noch Joe, und der wollte mich rumkriegen. Auf jeden Fall wollte Andrew nichts von Joe, obwohl diese Vorstellung mir mehr als einen Alptraum und viele schlaflose Nächte bescherte. Andrew und Joe waren meine Mitbewohner. Andrew bezahlte nur dreihundert von den 1200 Dollar Miete (nenn mich ruhig großzügig) und brauchte noch Zeit, um mit seiner Sexualität ins Reine zu kommen (???). Ich riet ihm, ehrlich zu sein und dieses blöde Klischee von der sexuellen Orientie-rungslosigkeit zu vergessen. Jeder kommt irgendwann mal damit an. Er hat bloß gegrinst und in seinem Minnesota-Farmboy-Akzent gefragt: »Ach, und schwul sein ist also das Nonplusultra, oder was?« Mein Gott, ich schmelze dahin, wenn ein Mann meine Autorität anzweifelt. Niemand hat das bisher getan! Wenn mehr Kerle so drauf gewesen wären, wäre ich bescheidener geworden und vielleicht auch ein ganzes Stück glücklicher, weil ich dann nicht so auf Andrew fixiert gewesen wäre. Joe wiederum war einfach nur nett. Er himmelte mich an, ein Siebzehnjähriger, der sich in den Kopf gesetzt hatte, daß ich genau wie seine erste große Liebe aussah. Am Anfang achtete ich nicht besonders auf diesen netten Jungen, dem ich erlaubt hatte, bei mir einzuziehen, nachdem sein älterer Bruder und Beschützer zugestimmt hatte. Joe war von seinen Eltern verstoßen worden; er war mit seinem Schwulsein offensiv umgegangen, seit er dreizehn war, und sein - 29 -
Bruder – ein sexy Hetero-Trottel namens Tony – bemühte sich, fortschrittlich zu sein und entschied, daß das Zusammenleben mit einem anständig wirkenden Jungen wie mir für Joe besser war als ein Leben auf der Straße. Tony hatte bloß nicht kapiert, daß ich die Straße war. Manchmal machte es mir Spaß, mit Joe zu reden, dessen blonder Haarschopf mich an einen niedlichen zotteligen Hund erinnerte. Eine ganze Weile war mir gar nicht aufgefallen, daß er »Hi!« sagte und es eher wie Hi? klang, die unausgesprochene Frage im Stil von Bist du vielleicht jetzt an mir interessiert? Ich kam gegen drei Uhr nachts von einem Date nach Hause, als mir zum ersten Mal auffiel, daß Joe etwas von mir wollte. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich schon eine Menge Männer getroffen, denen ich gefallen hatte (Joe inklusive), aber keiner kam für mich ernsthaft in Frage (Joe inklusive). Keiner außer Andrew. Müde lief ich durch den langen, kahlen, mit Teppichboden ausgelegten Korridor auf meine eigene Tür zu, noch immer ganz verwirrt von der Tatsache, daß ich viel zu gut bezahlt worden war. Joes kleines Apartment lag direkt gegenüber der Drei-ZimmerWohnung, die Andrew und ich bewohnten. – Das war unser gemeinsames Reich. In Chicago geht so was: Man kann ziemlich billig die ganze Etage eines Gebäudes mieten. Als ich vor meiner Tür stand, hörte ich hinter mir ein leises Rascheln. »He, hallo«, flüsterte Joe munter. Und dann fragte er, im gleichen Ton wie diese Wissen Sie eigentlich, wo Ihre Kinder sich gerade befinden-Werbespots: »Weißt du eigentlich, wie spät es ist?« Ich zuckte innerlich zusammen und drehte mich zu meinem Inquisitor um. Abgesehen von seinem rötlichen Vorstadtgesicht war Joe ein Wucht. Er war etwa so groß wie ich und gebaut wie ein anmutiger, muskulöser Ballettänzer (der er nicht war), mit großen blauen Augen, die ungefähr so niedlich waren wie die einer BarbiePuppe. Der Haarschopf, ohne den ich ihn mir gar nicht vorstellen konnte, war momentan nicht zu sehen, weil er sich die nassen Haare straff zurückgekämmt hatte. Seine Nacktheit verhüllte nur ein papierdünner, kurzer, blauer Bademantel. Tatsächlich wurde der Bademantel seiner Aufgabe kaum gerecht, denn der größte Teil seines Oberkörpers war unbedeckt. Ich weiß noch, daß ich in diesem Moment dachte: Wieso ziehst du überhaupt einen Bademantel an, - 30 -
wenn du ihn nicht richtig zubindest? Und da wurde mir erst klar, um was es hier überhaupt ging. Da kann man mal sehen, wie unsensibel ich war. Bis zu diesem Augenblick, als ich plötzlich merkte, wie sehnsüchtig der halbnackte und Rieche ich da etwas Alkohol? betrunkene Joe mich anstarrte, war mir überhaupt nicht aufgefallen, daß er mehr wollte, als sich nur mit mir unterhalten. Und nun stand er hier mitten in der Nacht herum, kam aus seinem Zimmer und ließ mich deutlich spüren, wie sehr er mich begehrte. Ich hatte den perversen Gedanken, daß er womöglich die ganze Zeit vor seinem Spion gestanden hatte, mit einer Weinflasche in der Hand, um mich abzupassen, und sich dabei immer wieder die Haare naß machte, um so auszusehen, als habe er gerade erst geduscht. Auf diese Weise konnte er frisch wie ein Gänseblümchen auf der Bildfläche erscheinen und »Huch! Na so was!« rufen, weil ich ihn halbnackt ertappt hatte, und so ungefähr alles außer einem Kniefall zu tun, um mich in sein Zimmer und sein Bett zu kriegen. Er war so jung und noch unentschlossen, was er mit seinem Leben anfangen sollte, aber er war nicht zu jung oder zu sehr durcheinander, um geil zu sein. Ich hatte von Anfang an registriert, wie gut er aussah, und es die ganze Zeit immer gespürt. Aber mit meinen fünfundzwanzig Jahren war ich schon zu erfahren – bildete ich mir jedenfalls ein – und er war einfach nicht mein Typ. Was aber tut man, wenn ein Siebzehnjähriger sich auf dem Silbertablett anbietet? Das Leben ist einfach... hart [vorgetragen mit einem herzerweichenden Seufzer]. Na gut, vielleicht habe ich überreagiert. Eigentlich konnte es gar nicht wahr sein, daß ein so gutmütiger Junge wie Joe so berechnend vorging, um jemanden zu verführen. So schlau. Joe war ein naiver kleiner Partyhase, eine geborene Schlampe, die Spaß am. Sex hatte. Auf der anderen Seite konnte er diese kleine intime Situation auch ganz unschuldig eingefädelt haben, aus einem romantischen Gefühlsausbruch heraus, nicht um mich festzunageln, sondern einfach nur aus »Sehnsucht nach Liebe«. Die unerträgliche Leichtigkeit des Joe-Seins. »Klar weiß ich, wie spät es ist«, gähnte ich. Ich wollte so müde wie nur möglich erscheinen, um ihn zu entmutigen. »Wieso bist du denn noch auf? Hast du was getrunken?« Er lehnte gegen den Türrahmen und ließ mich sein nacktes Bein sehen. Ein obszöner Versuch, kokett zu wirken. Warum bloß zieht es - 31 -
mich so herunter, wenn die Männer mir auf die Mädchentour kommen? Bin ich etwa homophob? »Ich mag nicht gern viel trinken. Ich meine, ich trinke nicht so gern, aber wenn ich trinke, dann trinke ich... sehr viel!« Er lachte und wurde rot, weil er ein bißchen lallte, und nahm eine normale Haltung ein. Plötzlich sah er einfach nur hübsch aus, ganz unaffektiert. Unaffektiert aussehen ist für Schwule ungefähr so normal wie leidenschaftlich sein für Nonnen. Was jetzt nicht heißen soll, daß ich leidenschaftliche Nonnen vorziehe, ich hatte einfach keine große Lust auf Joe. Letzten Endes war er einfach zu »lieb« und zu »nett«. Dachte ich jedenfalls. Ich lächelte ihn freundlich an und sagte: »'Nacht« und wollte gehen, als sei nichts passiert. »Warte doch mal einen Moment«, sagte er hastig und lachte kurz. »Warum kommst du nicht rein und hilfst mir, die Flasche auszutrinken... Ich hab nur noch ein Glas, aber das würde ich dir glatt überlassen.« Gegen alle Vernunft stimmte ich zu und kam mit rein. Trotz meines gesunden Menschenverstands und meines reizbaren Gemüts lasse ich mich oft überreden, freundlich zu freundlichen Leuten zu sein. Als ich über die Türschwelle trat, fragte ich mich, ob ich Joe womöglich ficken würde, bloß weil er es irgendwie verdient hatte. Klingt ziemlich herablassend, aber ich stehe ja nur auf dem Podest, auf das er mich gestellt hat. Wenn ich mitgemacht und wir Sex gehabt hätten, wäre es für mich ein Fick zwischen Freunden gewesen, aber für ihn wäre es der große Liebesakt geworden, den er sich seit einer Ewigkeit wünschte. Sex kann für die verschiedenen Beteiligten eine völlig andere Angelegenheit sein, aber derjenige, der am meisten investiert, bekommt am Ende auch das meiste. Warum sollte ich so grausam sein, jemandem das Recht auf Glücklichsein zu verwehren, wenn es für mich doch so einfach war, es ihm zu verschaffen? Aber genau das ist der Punkt. Es wäre absolut nichtssagend für mich und absolut überwältigend für ihn, und möglicherweise würde ich ihn damit genauso schnell in die Verzweiflung treiben wie zum Höhepunkt. Sex ist Macht. Ich finde es nicht so klasse, Sex als Machtmittel zu benutzen. Ich habe mit diesem Mißverhältnis zwischen Begeisterung und Gleichgültigkeit mein ganzes Leben lang zu tun gehabt. In der High School - 32 -
gab es eine Menge Gelegenheiten, sich für jemanden zu begeistern, der unerreichbar war. Zum Beispiel wenn ich einen Typen ausfindig gemacht hatte, der dermaßen verführerisch aussah (mit so athletischen Beinen, daß es mich umhaute, und diesen dank der sommerlichen Shorts bestens sichtbaren behaarten Schenkeln, diesem schiefen Lächeln), daß ich mir wochenlang einzureden versuchte, er könnte mich genauso toll finden. Und dann erst die Mädchen, die auf mich geflogen sind. Viele von ihnen hatten sich mit den echten Kerls unserer Klasse getroffen, aber alle mochten mich, weil ich sie zum Lachen brachte oder mich einfach nur nett mit ihnen unterhielt. Vielleicht hätte ich so eine Art Amüsier-Callboy werden sollen, mit diesem tollen Werbeslogan »Ich rede stundenlang mit dir«. Eine meiner besten High-School-Freunde war ein Mädchen. Marie. Sie war sehr hübsch, aber nicht die typische High-School-Sexbombe. Sie hatte ihren eigenen Stil, trug immer Haarbänder und Jeans, trug ihr Haar glatt und hatte überhaupt kein Make-up, während die anderen Mädels sich zu Tode schminkten und in ihrer ganzen Schmiere beinahe ersoffen. Sie hatte ein tolles Gesicht, je näher man ihr kam, desto schöner wurde sie, und wir waren uns eigentlich immer ziemlich nah. Wir waren beinahe unzertrennlich. Wir gestalteten das Jahrbuch – es wurde ein echtes Kunstwerk. Und wir hätten sogar beinahe miteinander geschlafen, als wir einmal in meinem Zimmer nebeneinander lagen, Duran Duran hörten und über die Dämlichkeit der anderen Leute in unserer Stadt witzelten. Plötzlich küßte sie mich auf die Wange und kicherte und entschuldigte sich. Dann sah sie mir ins Gesicht, um herauszufinden, ob ich damit einverstanden war oder nicht. Ich fühlte mich total blutleer. »Ich bin... schwul, Marie«, war alles, was ich hervorbrachte, und dann brachen wir in unkontrolliertes Gekicher aus. Sie glaubte mir. Und sie unterstützte mich, et cetera. Aber aus irgend einem Grund bepißten wir uns vor Lachen, absolut hemmungslos, und konnten überhaupt nicht mehr aufhören. Nur dieses eine Mal bemerkte ich ein Lächeln an ihr, das sie nie mehr haben würde, nicht weil ich schwul war und deshalb seltsam oder unmoralisch, sondern weil ich schwul war und deshalb unerreichbar. Sie konnte nichts daran ändern. Sie konnte mich nicht umpolen. Sie konnte sich auch nicht in einen Mann verwandeln, um auf diese Weise mit mir zusammen zu sein. Und so sehr ich mich auch bemühte, - 33 -
einfach weiterhin ihr Freund zu sein, konnte ich es doch nicht unterdrücken, immer wieder auf ihre sanften, hoffnungsvollen Signale zu reagieren, als wollte ich sie ihre Niederlage vergessen machen. Ich mochte es wirklich nicht, derart unzugänglich zu sein, ich verabscheute es regelrecht. Ich haßte dieses Gefühl so sehr, daß ich Marie wie eine heiße Kartoffel fallen ließ. Das war meine Art, mich selbst davon zu überzeugen, daß ich viel mächtiger war, als Sex es je sein konnte. Joes Schlafzimmer war klein. Er war nicht gerade superordentlich, überall lagen Kissen herum, stapelten sich CD-Hüllen. Die ganz ernsthaft von ihm an die Wand gepinnten Poster waren so stinknormal, daß sie mir überhaupt nichts mehr sagten, die üblichen Harings und Mapplethorpes, die so interessant waren wie in der Nase bohren. SILENCE=DEATH-Sticker prangten an der Wand neben dem Fenster und umkränzten einen sorgfältig gebauten, Madonna gewidmeten Schrein, der aus einem sternförmigen Poster bestand und einer Kerze, einem alten Kruzifix und Dutzenden von Postkarten. Auf dem Fußboden entdeckte ich einen zierlichen Zauberstab (was Joe damit wohl machte?), eine Ansammlung von T-Shirts und Jeans und eine Schale als Bekenntnis zum Vegetarier-Dasein, in der mindestens ein Dutzend verschiedene Kräuterpflänzchen wuchsen. Joe war Vegetarier nicht aus gesundheitlichen Gründen oder weil er ein Herz für Tiere hatte, sondern weil Madonna es auch war. Die Lampen waren gedimmt und auf seinem aus einer Holzkiste bestehenden Wohnzimmertisch stand eine Weinflasche auf einem Spitzentischtuch, das er, wie er mir später erzählte, von einem Onkel geschenkt bekommen hatte, der ihn in die Sodomie eingeführt hatte. Mir wurde klar, daß dieses ausgeklügelte Arrangement mir galt. Ich hatte einen völlig falschen Eindruck gehabt. Hier wollte mich ganz eindeutig jemand verführen. »Setz dich da drüben hin«, sagte er und deutete auf den größeren der beiden Sessel. »Du kannst ihn ruhig an den Kamin ranschieben. Hier drin ist es bitterkalt.« Der künstliche Kamin flackerte bereits. »Hübsche Steine«, sagte ich über das (falsche) Mauerwerk, das Joe kürzlich zu einem (falschen) Kamin zusammengeklebt hatte, während ich auf dem unbequemen Stuhl (seltsamerweise echte Kirsche) herumrutschte. »Sowas haben wir bei uns drüben nicht.« - 34 -
Joe saß mir gegenüber auf dem Fußboden, reichte mir ein Glas Wein und nippte an seinem. »Na ja, auf diese Weise fühlt man sich ein bißchen mehr zu Hause, verstehst du?« Unbeholfen schlug er die Beine übereinander, und ich war froh darüber, daß es so dunkel war und ich nicht erkennen konnte, was da unterhalb des Bademantels zwischen seinen Beinen zum Vorschein kam. Ich bin mir nicht sicher, ob ihm bewußt war, was er da womöglich zeigte. An der gegenüberliegenden Wand entdeckte ich eine neues Bild von einem jungen Typen, der ganz hübsch aussah, sofern ich meinen Augen trauen konnte. »Ist das ein altes Foto von Tony?« Ich schielte rüber. Die Stimmung fiel ins Bodenlose. Joe versank praktisch im Teppich und verschwand. Er brauchte zwei Minuten für eine Antwort, und inzwischen hatte ich die perverse Genugtuung desjenigen, der ganz genau weiß, daß er das hundertprozentig falsche Thema angeschnitten hat. »Nein« antwortete er und sah dabei ziemlich armselig aus. »Nein, das ist nicht mein Bruder. Das... ist... war... meine... erste... Liebe.« Es hat schon was, wenn ein siebzehnjähriger Junge es schafft, über seine erste Liebe mit einem dermaßen überzeugenden Pathos zu sprechen. Das erinnerte mich an mein erstes ernsthaftes Gespräch mit Joe, als er so richtig fertig gewesen war. »Ich fühle mich total isoliert«, hatte er mir damals erklärt. »Ich gehe nicht zur Schule, hab keinen Job, keine Familie oder sonst jemanden, mit dem ich reden kann... Ich möchte... so gerne... « »Was möchtest du gerne?« drängte ich. Ich spürte, wie sehr er sich anstrengte, die richtigen Worte zu finden, die seinen Träumen entsprachen. »Ich möchte so gerne richtig glücklich sein«, sagte er ganz einfach. »Ich möchte T-Shirts entwerfen, die alle Leute kennen. Ich möchte gerne in den angesagtesten Clubs der Welt verkehren und dort die supercoolsten Leute sehen, die alle meinen Schmuck tragen. Ich möchte genug Geld verdienen, damit ich auf niemanden mehr angewiesen bin, genug, um meiner Familie zu zeigen, daß es ein Fehler war, mich zu verstoßen. Und ich möchte einen wirklich starken Mann haben, der mich liebt und schätzt und davon überzeugt ist, daß meine Entwürfe großartig sind. Du weißt schon, den ganzen üblichen Blödsinn. Ich möchte - 35 -
gerne berühmt sein, aber ich möchte mich dafür nicht so schrecklich anstrengen müssen... Oh Mann, wofür das alles?« In wenigen Sekunden war er aus freudiger Erregung in völlige Mutlosigkeit verfallen, nachdem er es gerade erst geschafft hatte, sich selbst von den eigenen Träumen zu überzeugen. Und nun war er im Bewußtsein der unbarmherzigen Realität zusammengebrochen. »Ich fühle mich alt«, seufzte er, obwohl er noch zu jung war, um sich an »Fury« zu erinnern. »So alt kannst du gar nicht sein«, entgegnete ich. »Du bist ein paar Jahre jünger als ich.« Aua! Da hatte der große, böse Skorpion versehentlich sich selbst gestochen. »Obwohl ich ständig mit jemanden ins Bett steige, finde ich trotzdem keinen festen Freund. Ich bin zu blöd fürs College. Und was meinen Job betrifft – der ist auch nur zur Aushilfe.« In dieser Woche arbeitete er schwarz als Kellner in einem Restaurant, das lustigerweise den Namen Galgenstrick hatte. Jeden Abend kam er nach Hause, mit mehr Trinkgeld in den Taschen, als ich jemals verdienen würde, falls ich jemals auf diese Art meinen Arsch verkaufen sollte. »Wie soll das denn weitergehen? Wie soll ich denn jemals irgendwo hinkommen und reich werden und berühmt, wenn ich in Wirklichkeit überhaupt nichts Richtiges tue? « Was ist das nun wieder für ein Syndrom? Warum fühlen sich so viele junge Schwule schon mit siebzehn wie vierzig? Mir ging's genauso, nur fühlte ich mich schon mit zehn so. Jetzt, mit sechsundzwanzig, fühle ich mich immer noch wie vierzig und sehe aus wie sechsundzwanzig, was es noch viel erschreckender macht. Um aber nochmal auf dieses »Ich-bin-total-erledigt-Syndrom« zurückzukommen: Es tritt auf an einem Wendepunkt des Lebens, wenn wir das Gefühl haben, die besten, unbeschwertesten Jahre unseres Lebens seien vorbei. Bestimmte Dinge beschleunigen diesen Prozeß, unter anderem: (1) Der Verlust der Unschuld. Au! Autsch! Peng – und schon bist du erwachsen, und zwar nicht über Nacht, sondern innerhalb von fünf Minuten. In dem Moment, wo du vor einem anderen abspritzt, spürst du dich älter werden. Üblicherweise wird das als notwendiger Reifungsprozeß angesehen, aber im nachhinein kommt es dir so vor, als sei dieser Augenblick ein Riesenschritt in Richtung Alter gewesen. - 36 -
(2) Plötzlich der erste richtige Job. Endet meistens damit, daß du als völliger Versager dastehst oder von einem schmierigen, engstirnigen, selbstgefälligen Chef fertiggemacht oder gar entlassen/rausgeschmissen wirst oder womöglich für immer und ewig dort hängen bleibst. Die ganze Zeit, die du in diesen Job investierst, kannst du komplett vergessen, und ganz egal, wann du auf den Kalender guckst, du hast immer das Gefühl, schon zehnmal so lange dort zu sein wie du eigentlich wolltest. Tatsächlich hast du dort Jahre verbracht und immer nur geschuftet und bist gealtert... gealtert... gealtert. (3) Geschlechtskrankheiten. Bei den ersten Filzläusen wird dir plötzlich die Verkommenheit der Sexualität bewußt. Bei dieser deprimierenden Erkenntnis, daß du Sex nun auf einmal auch verachten kannst, merkst du plötzlich: Du lebst für Sex. Gar nicht zu reden von der Möglichkeit, dir eine unheilbare Krankheit zuzuziehen wie beispielsweise Feigwarzen; eine unheilbare und extrem unangenehme Krankheit wie Herpes; eine unheilbare, extrem unangenehme und noch dazu tödliche Krankheit wie AIDS. All diese Krankheiten, ob sie nun relativ harmlos sind wie Feigwarzen oder unaussprechlich grauenerregend wie AIDS, machen dir klar, daß dein Körper – nachdem er Bekanntschaft mit diesem neuen, unbesiegbaren Virus gemacht hat – sich für immer verändert hat. Und dieser Gedanke läßt dich innerhalb von zehn schrecklichen Sekunden um gute zehn Jahre altern. (4) Nicht geliebt werden. Spricht für sich selbst. Eins sollte man allerdings hinzufügen: Es kann eine ganz schön unangenehme Erfahrung sein, wenn du ohne Liebhaber in einen deiner üblichen Läden gehst und feststellen mußt, daß du inzwischen schon mit einem Drittel der anwesenden Gästen geschlafen hast. Auch so was läßt einen schlagartig altern. Joe hatte in der letzten Zeit wahrscheinlich zwei oder drei von diesen Situationen erlebt, bis auf die Sache mit der Unschuld, die er ja schon in grauer Vorzeit verloren hatte. Ich konnte ihn gut verstehen und wollte ihn ein wenig aufrichten, indem ich ihm entgegenkam. Er würde sich schon bald viel besser fühlen und jünger und weniger nutzlos... wenn auch nur für eine kurze Stunde. Aber läuft es nicht immer darauf hinaus? Über was soll uns dieses Herumficken den sonst hinwegtrösten? Ich war von Joe angetan. Nachhaltig, hilflos angetan. Er war so - 37 -
süß, so wahrhaftig. Naiv? Vielleicht. Welche Schwuchtel wäre denn nicht gern reich und berühmt und blabla, du verkommene, untreue Meute? Sogar ich, abgeklärt wie ich war, konnte mich Joes Sehnsüchten nicht entziehen. Ich trug sie ja selbst in mir. Konnte ich nicht vielleicht ein bißchen mehr davon abbekommen, wenn ich ihm näherkam... Ich entschied, daß es besser war, dieses Gefühl nicht durch Ficken zu zerstören. Aber dort, in seinem Zimmer, sah Joe mich an, mit diesem Blick aus den verträumtesten Augen, die man sich nur vorstellen kann, und murmelte vor sich hin, wie sehr ich doch seiner erste Liebe gleichen würde. »Ach so«, stammelte ich. »Er hieß Chuck.« »Ach.« »Er sieht genauso aus wie du.« Er blickte mich ganz ernst an und versuchte meine Aufmerksamkeit so sehr zu erregen, daß ich schwach werden mußte. Er hatte sich so weit vorgewagt, daß er nur fliegen oder fallen konnte, und alles hing von mir ab. Ich hatte ihn in der Hand und mußte mich entscheiden. Entscheidungen, Entscheidungen. »Ach, wirklich?« Lächeln. »Ich kann es von hier aus gar nicht erkennen – ich bin zu weit weg.« Er rutschte ein Stück in meine Richtung und richtete sich auf, so daß er jetzt auf den Knien hockte, und legte seine Hände rechts und links von mir auf den Sessel. »Jetzt... bin ich nahe genug. Und du kannst dich nicht wehren.« Joe wußte, daß ich auf den Strich ging. Er wußte es vom ersten Tag an, als ich meine Sachen wegräumte, um Platz für seine zu schaffen, und mein kleines schwarzes Adreßbuch vor seine Füße fiel. »Wahnsinn«, hatte er gesagt. »Das ist das dickste Adreßbuch, daß ich jemals gesehen habe.« »Tja, also, du weißt ja: Die Dicksten sind nicht immer die Größten«, scherzte ich und nahm es ihm weg. »Sieht beinahe so aus, als wärst du ein Stricher, mit diesem dicken Adreßbuch.« Ich baute mich vor ihm auf, blickte ihn herausfordernd an und sagte: »Bin ich tatsächlich.« Er wollte noch etwas dazu sagen, ließ es dann aber bleiben, als er - 38 -
meinen starren Blick bemerkte. Aber statt abgestoßen zu sein, zuckte er nur mit den Schultern und sagte: »Echt cool.« In diesem Moment hätte ich schon wissen müssen, daß es noch Probleme geben würde, irgendwann später, hier in der Wohnung, mitten in der Nacht, wenn Joe sich gegen, auf und über mich werfen würde. Der Geruch nach Seife und Joes Haut war berauschend genug, um mich zum Einlenken zu bewegen. Wer weiß? Vielleicht würde ich es ja mögen? Aber irgend etwas stimmte nicht: Ich hätte keinen Ständer bekommen, selbst wenn ich es gewollt hätte. Es ist einfach, wenn man dafür bezahlt wird, aber nicht so leicht, wenn es auf eigene Rechnung geht. Vielleicht lag es auch daran, daß ich Joe ganz gern mochte und ihm deshalb nicht noch mehr Probleme bereiten wollte, als er ohnehin schon hatte. Etwas ganz Bestimmtes lief hier verkehrt: Joe war nicht Andrew. »He, Kleiner, das ist ein bißchen unbequem«, sagte ich freundlich und verwuschelte sein feuchtes Haar. Wenn ich diese Situation nur schnell hinter mich bringen könnte. Plötzlich setzte er sich wieder hin und lächelte sein Kleiner-JungeLächeln. »Tut mir leid. Ich dachte nur... « »Ist schon in Ordnung. Es ist nur so... verstehst du. In letzter Zeit ficke ich nur meine Kunden. Es käme mir... unehrlich... vor.« Ich mühte mich ganz schön ab, aber Joe wußte ja, daß ich mit niemandem zusammen gewesen war, seit er mich kannte. Also glaubte er mir. Er lachte freundschaftlich. »Schon gut, ich verstehe das. Ehrlich sein ist in Ordnung... Ich wünschte nur, mein erster Freund wäre so gewesen wie du und hätte nicht nur so ausgesehen. Weißt du, als ich rauskriegte, mit wieviel anderen Kerlen er rumgemacht hat, während wir zusammen waren, wäre ich beinahe hetero geworden.« »Zwei Fehler heben sich nicht gegenseitig auf«, witzelte ich. »Ich glaube, ich bin ein Workaholic. Außerdem bin ich todmüde. Ich fürchte, ich kann nicht mal mehr meinen Wein austrinken.« Behutsam reichte ich ihm mein Glas und stand auf, um zu gehen. Er folgte mir zur Tür, fröhlich plappernd, um davon abzulenken, daß er gerade eine herbe Enttäuschung erlebt hatte. Ich faßte ihn freundlich am Arm, um ihm zu zeigen, daß nichts Schlimmes passiert war, verabschiedete mich und schlich durch den Flur in mein Zimmer. - 39 -
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BEICHTE 3: ICH BIN SKLAVE MEINES SEXTRIEBES Joes Annäherungsversuch ließ mich relativ kalt, aber wenn Andrew mich auch nur einmal so angesehen hätte, wäre ich total ausgerastet. Ich betrat meine Wohnung, schloß die Tür und vergaß Joe und seine unschuldige Sehnsucht, froh über die Dunkelheit des Zimmers, die mich angenehm umfing. Andrews plötzliche Frage traf mich wie ein Schock. »Wo kommst du denn her?« Ich zitterte, streckte den Arm aus und tastete an der Wand nach dem Lichtschalter. Trübes Licht ergoß sich in den Raum, als ich den Knopf drehte, wurde heller und heller, bis ich Andrews matten fleischfarbenen Oberkörper erkannte, seine leuchtenden Augen und Wangen. Nur leider... kein Lächeln? Unmöglich. Aber je mehr sich meine Augen an das Licht gewöhnten, desto größer wurde meine Gewißheit. Mir wurde klar, daß die Helligkeit nicht paßte. Ich dimmte das Licht. Er saß zurückgelehnt auf unserer C-förmigen Couchgarnitur und schaute mich an. Seine kräftige Figur sah so vollkommen aus, nahezu perfekt proportioniert, ohne daß er es je darauf angelegt hätte, und wurde unterhalb der Hüften von einem dünnen Tuch bedeckt, unter dem er vielleicht eine Unterhose trug. Meine Adleraugen ließen in dieser Hinsicht einigen Zweifel aufkommen. Seine großen, breiten Füße bewegten sich unruhig, während ich zögernd vor ihm stand; sie lugten unter der Decke hervor und waren der Teil seines Körpers, der mir am nächsten war. Seit ich ihn letztes Jahr zum ersten Mal gesehen hatte, war ich total scharf auf Andrew. Er war vorbeigekommen, weil er in irgendeinem Schwulenblättchen meine Anzeige gesehen hatte, mit der ich einen platonischen Mitbewohner suchte. Mit dem Geld, das ich verdiente, hätte ich problemlos ein nicht übertrieben teures Penthouse mieten können, aber es macht keinen Sinn, die Kohle zum Fenster rauszuwerfen, weshalb ich zu dem Schluß kam, daß ich ein paar Mitbewohner gut gebrauchen konnte. Wichtiger aber war, daß ich seit - 41 -
einem Jahr diese komischen Gedanken mit mir herumtrug, auf die mich der Nervöse im Bus gebracht hatte. Ich hatte immer noch keinen Sex gehabt – richtigen Sex, meine ich, mit jemandem, mit dem man wirklich Sex haben will. Ich beschloß, daß eine Suchanzeige für einen »platonischen Mitbewohner« die beste Möglichkeit für einen vielbeschäftigten Menschen wie mich war, einen möglichen SexPartner zu finden. Ich schätze, »platonisch« ist das ironischste Wort der englischen Sprache, auch wenn es eigentlich Griechisch ist. Als Andrew mir das erste Mal gegenüberstand, wäre ich beinahe ohnmächtig geworden, so gut sah er aus. Es war nicht nur ein rein körperliches Begehren nach dem Motto »Was für ein geiler Typ«, schließlich gibt es gutaussehende Männer in Unmengen von Zeitschriften zu sehen oder einfach nur an jeder Straßenecke. Ich glaube nicht, daß es einen Mann gibt, der besser aussieht als alle anderen. Falls ich ihn aber dennoch finden sollte, würde es wahrscheinlich auf eine gegenseitige Antipathie hinauslaufen. Ich werd's euch wissen lassen. Es ging also nicht um Andrew als den perfekten Mann. Aber ich war verrückt nach ihm. Die Lust wandelt auf verschlungenen Pfaden. Wie soll man eine Vorliebe für behaarte Männer erklären? Oder für schwarze Männer? Oder gar für aufdringliche, bösartige, widerwärtige Männer? Kann man nicht. Sollte man gar nicht erst versuchen. Das ist alles eine Frage des Zufalls. Und zufälligerweise war Andrew für mich so heiß wie der siebte Kreis der Hölle. Nur leider ist die Lust keine Einbahnstraße, und anscheinend hatte Andrew ohnehin erst kürzlich fahren gelernt. Er hatte es gerade mal geschafft, einen Führerschein auf Probe zu bekommen, und meine Aufgabe war es, ihm die nötige Fahrpraxis zu verschaffen. Mit ein bißchen Glück würde ich ihn vielleicht innerhalb eines Monats auf die Autobahn bekommen. Leider befand ich mich inzwischen, nach einem Jahr des Herumfantasierens über eine eventuelle sexuelle Beziehung zu Andrew, in der unerfreulichen Lage, hoffnungslos und hilflos in ihn verliebt zu sein. Lach nur. Da saß nun also mein platonischer Mitbewohner mit grüblerischem Gesichtsausdruck vor mir. Kein Lächeln. Was stimmte hier nicht? »Nun?« stieß er hervor. Ich fragte mich, ob Mr. Kenna, mein Biologielehrer aus der Unterstufe, wohl den Namen des Muskels - 42 -
gekannt hätte, der immer neben Andrews Schlüsselbein zuckte, wenn er gereizt war. Und halbnackt. Andrews Gesicht war breit (alles an ihm war »groß«, sogar so unfaßbare Dinge wie sein Charakter und sein Sinn für Humor) und uneben, hier und da verwittert, eine Narbe auf der Oberlippe wie Tom Berenger in Platoon, ungleichmäßige Wangenknochen, ein Grübchen am Kinn. Sein Körper war wie ein V geschnitten, das sich manchmal auch zu einem U verformte, mit einem kleinen Bauch und einem beeindruckenden Schwanz. Sau. Geil. Kurz gesagt, Andrews Attraktivität läßt sich nicht in Worte fassen. Wer das nicht kapiert, kann jetzt gleich mit dem Lesen aufhören. Solche Leute kann ich nicht leiden. Was mache ich hier eigentlich, erzähle ich eine Geschichte oder erkläre ich meine Psyche? Ich lehnte mich lässig gegen die Tür, spöttisch und angespannt (oder versuchte ich in Wirklichkeit, mich durch die geschlossene Tür hindurch zu verdrücken?) »Ich hatte ein Date, Andrew. Und jetzt bin ich totmüde.« Er legte den Kopf zur Seite. Ach, schau mich bitte nicht so an – »Ein Date oder ein ›Date‹?« »Für einen Bauerntölpel aus Minnesota hast du ein ganz schön freches Mundwerk.« Ich riß mich zusammen und schlenderte zu ihm rüber, ziemlich forsch, mit halbgeschlossenen Augen. Der Mumm, der mir bei Joe eben noch gefehlt hatte, kam jetzt zu seinem verspäteten Auftritt. Plötzlich war ich gutaussehend, witzig und schwul und traute mir zu herauszufinden, warum Andrew zum ersten Mal in seinem Leben so finster dreinblickte. Ich packte seine Füße – eiskalt! – und schob sie vom Hocker, um mir Platz zu verschaffen. Er spreizte die Beine und stellte die Füße rechts und links von mir auf den Teppich. Das alles war schrecklich erotisch, aber ich war gewohnt, dieses Gefühl zu unterdrücken – ich tat nichts außer atmen. Ich sah in seine dunklen Augen. »Natürlich war es ein Date. Ich habe jeden Freitag ein ›Date‹ – das weißt du doch. Wieso willst du unbedingt, daß ich darüber rede? Soll ich damit aufhören, das Wort ›Date‹ zu benutzen und einfach nur von ›Arbeit‹ sprechen? Oder von einem ›Termin‹?« Seine Lippen kräuselten sich leicht, ein halbherziges Grinsen. Es gab keinen Zweifel – er benahm sich nicht wie sonst. Irgend etwas - 43 -
Schwerwiegendes mußte vorgefallen sein. »Wieso sagst du nicht einfach, du warst anschaffen?« Ich muß wohl ziemlich überrascht ausgesehen haben. Ich war tatsächlich sehr überrascht. Ich konnte nicht glauben, daß er das Wort »anschaffen« einfach so benutzte. Ich kann ganz gut mit den üblichen Bezeichnungen für Prostitution umgehen, mit Anspielungen, bildlichen Vergleichen und ähnlichen Alltäglichkeiten (»sich verkaufen«, »billig«, »was für eine Schlampe!«), aber ich hatte keine Lust, mir so etwas Eindeutiges von meinem Ich-wohne-hier-supergünstigUntermieter in meinen eigenen vier Wänden sagen zu lassen. Die verblüffende Ironie dieser Situation – ich hatte Joe sitzen lassen, der meine Arbeit als Teil meines Charmes betrachtete, und war unheilbar scharf auf den puritanischen Andrew – entging mir nicht. »Worauf willst du eigentlich hinaus?« Wenn ich mit dem Rücken zur Wand stehe, bin ich eiskalt. Er wich meinem Blick aus und sah zu Boden. »Auf nichts. Gar nichts. Tut mir leid.« Eine feine Reihe kleiner scharfer Worte. Er wollte mich nicht verletzen; er war verstört. Ich beugte mich zu ihm, hoffte seinen Moschusgeruch wahrzunehmen, der die ganze Wohnung durchzog und mich tagtäglich verfolgte. Aber statt dessen roch ich Bier und dieses salzige Aroma echten persönlichen Leids. Tod? War jemand gestorben? Ich legte meine Hand auf seine Schulter und vernahm meine eigene Stimme, aus der nun kein Witz und keine Anspielung mehr herausklang. »Was ist passiert, Andrew? Erzähl schon.« Er schüttelte träge den Kopf, zwang sich zu einem vagen Lächeln. Seine Augen glänzten im Halbdunkel des Zimmers. »Völlig blöde«, stieß er hervor, »ich bin einfach nur blöde.« Er atmete tief ein, um seine Beherrschung wiederzugewinnen und locker zu wirken, es loswerden, es loswerden. Als er wieder den Kopf hob, um mich anzusehen, sah er trotzig aus – nicht meinetwegen, sondern weil er sich bemühte, seine Gefühle unter Kontrolle zu halten. »Es ist nichts. Wirklich. Nur meine, äh, letzte Freundin aus... also, meine letzte eben... « Ich sträubte mich innerlich, als ich mir Jill vorstellte, die selbstsüchtige Königin des Schulfestes, die Andrew mir so hingebungsvoll beschrieben hatte, dieses Mädchen, das Andrew nach einer jahrelangen Beziehung und monatelanger Verlobungszeit - 44 -
einfach fallengelassen hatte, als er sie nicht heiraten wollte. Er hatte ihr erklärt, daß er noch etwas warten wollte. Gott sei dank hat er gewartet (andernfalls wäre er einer von diesen Typen geworden, die heimlich mit Kerlen herumficken, nachdem sie das Ja-Wort gegeben haben), und Gott sei dank hatte er sich nicht von der Tatsache einschüchtern lassen, daß ihre ganze Familie – die ihm ebenfalls sehr viel bedeutete – von da an nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte. Eine entehrte Frau, mal abgesehen davon, daß sie es nicht verdiente, Frau genannt zu werden. Aber ich sollte mich nicht von meinem geilen Besitzinstinkt blenden lassen. Der Gerechtigkeit halber mußte man zugeben, daß die Verlobung für sie ein verlorenes Jahr war... Tot? War sie tot? Der Tod dieser Schlampe war mir ehrlich gesagt ziemlich egal. Aber ich spielte den Trauernden aus Rücksicht auf den Hinterbliebenen. Meine Stimme klang nicht mehr kühl, eher so als wäre sie in Haute Couture verpackt. »Ist sie... tot?« flüsterte ich und hoffte auf das Schlimmste. Er reagierte mit einem unkontrollierten Lachanfall, der so heftig war, daß er mit dem Kopf gegen den Holzrahmen des Sessels knallte und sich weh tat. Mir brach der kalte Schweiß aus, als ich diesen abrupten Wechsel von apathischer Trauer zu wildem Gelächter beobachtete. Sein ganzer Körper straffte sich und verbog sich in einem Anfall nervöser Fröhlichkeit, und ich kam mir plötzlich ganz klein vor, ein bißchen verärgert, und fühlte mich verarscht. »Was ist denn?« fragte ich. »WAS?« Er beruhigte sich langsam wieder, wischte sich die Tränen ab und blinzelte mich an mit einem riesigen schiefen Grinsen im Gesicht. »Tut mir leid. Ehrlich, ich mache mich nicht über dich lustig – es ist nur, weil du mich gefragt hast, ob sie tot ist, das war einfach zuviel. Sie hat mir eine Einladung geschickt; sie will heiraten.« Er deutete auf eine weiße Karte auf dem Tisch und schnaufte noch ein bißchen. Irgendwie brachte mir das überhaupt nichts. Ich gab ihm, leicht verärgert, einen Klaps auf den Bauch und versuchte aufzustehen. Er zuckte zurück und grunzte und lachte noch heftiger, als er mich mit seinen kräftigen Armen umschlang. Ich drehte und wand mich, versuchte zu entkommen und hätte es beinahe wirklich geschafft. »Verdammt – du miese kleine Schlange!« lachte er. - 45 -
Er hatte mich drangekriegt, jetzt hielt er mich fest, und ich fing an zu kichern. »Na, warte, ich werd's dir zeigen!« Er stieß mich ganz locker zu Boden und stürzte sich auf mich. Ich lag zwischen seinen beiden kräftigen Schenkeln und wurde von seinen muskulösen Armen auf den Teppich gedrückt. Ich hatte ganz vergessen, daß er nackt war, und wandte schnell meinen Blick ab von dem, was Autoren von Liebesromanen gerne »Männlichkeit« nennen. Tatsächlich ist »Männlichkeit« ein ganz passender Ausdruck. Ich bezeichne das Ding immer noch als Schwanz oder Riemen oder Dödel, aber »Männlichkeit« drückt viel besser die komplexen Gefühle aus, die wir dem Penis entgegenbringen und die verwegene Menschen wie mich dazu bringt, dieses Organ auf eine Art zu verehren, die uns in vernünftigeren Momenten ziemlich peinlich ist. Während des ganzen Jahres, das wir jetzt zusammenlebten und befreundet waren und praktisch so vertraut miteinander, daß es schon beinahe wie eine langweilige Ehe wirkte, hatte ich noch nie Andrews Männlichkeit gesehen. Unbeschnitten! Unbeschnitten! Unbeschnitten! »Nimm diese Käsefabrik da weg!« Am liebsten hätte ich mich drauf gestürzt. Er riß die Augen auf. »Käsefabrik?« »Na klar – Laß dich mal beschneiden. Wer will schon so'nen Schmutzschwanz.« Wie immer war er von meiner vulgären Sprache schockiert. »Ist – ist ein beschnittener Penis denn wirklich sauberer?« »Glaub mir«, säuselte ich, »ganz bestimmt.« Er starrte mich blöde an. »Na gut, wir können ja mal nachsehen... « Und er tat so, als wollte er meine Hosen ausziehen. Als er merkte, daß ich nichts dagegen unternahm, wurde er plötzlich rot und hörte abrupt auf damit, indem er mich heftig gegen die Schulter schlug. »AUA!« Er brachte meine Haare durcheinander, schob sich von mir herunter, zog sich lässig das Tuch um die Hüften und band es fest zusammen. Dann stapfte er durch die Wohnung und suchte seine Klamotten zusammen, die überall herumlagen. »Verrückt, verrückt, verrückt«, rief er aus, und mir wurde klar, daß er jetzt wieder über die Sache mit seiner früheren Freundin nachdachte. Er hatte die ganze Zeit nichts anderes im Kopf gehabt. Das war das erste Mal, daß ich Andrew gegenüber andeutete, daß - 46 -
ich verrückt nach ihm war. Andrews Antwort war eindeutig uneindeutig. Er wußte, er hätte alles mit mir machen können, und er hatte sich abgewandt, das war offensichtlich. Aber warum? Falscher Zeitpunkt? Kein Interesse an mir? Oder lag es einfach nur daran, daß er total durch den Wind war? Man könnte optimistisch argumentieren, daß er mich vielleicht nicht für ein unausgegorenes Experiment missbrauchen wollte, nur um sein Sexualleben in den Griff zu bekommen. Vielleicht hob er sich mich für später auf, hoffte, daß ich einmal sein »Liebhaber« werden könnte und nicht nur sein »Sex-Partner«. Vielleicht war er einfach nur total durcheinander, weil seine ExFreundin heiraten wollte, genau wie alle anderen Hetero-Freunde, die er hatte und die ihn jetzt zurückließen und dem lebenslangen Schwulsein ein Stück näherbrachten. Vielleicht war für ihn ja wirklich jemand gestorben. Wie auch immer, ich hatte natürlich keine Ahnung, wie er sich das alles zurechtgelegt hatte, aber anscheinend hatte Joe heute abend nicht als einziger auf mich gewartet. Aber dann fühlte ich mich plötzlich genau wie Joe, total verwundbar und verzweifelt und verbraucht und zurückgewiesen.
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BEICHTE 4: ICH BIN SENTIMENTAL Ganz offensichtlich hatte nur noch ganz wenig gefehlt, und ich hätte Andrew rumgekriegt. Nach dieser Erkenntnis war die Enttäuschung umso größer. Ich war weiter von ihm entfernt denn je, und das ließ mich wieder an Joe denken. Dabei wurde mir plötzlich klar, warum ich das Gefühl hatte, niemals mit Joe Sex haben zu können. In sexueller Hinsicht ist die Welt in zwei große Gegensätze gespalten, und diese Tatsache spielt in all diesen trüben Gefilden eine Rolle, in denen es um sexuell definierte Rollen und gegenseitige Abhängigkeit geht. Es gibt zwei Arten von sexuellen Wesen: Aktive und Passive. Solche die geben und solche die nehmen. Typen, die ficken und Typen, die gefickt werden wollen. Ich gehe seit meinem 15. Lebensjahr auf den Strich, und wenn ich eines dabei gelernt habe, dann das: ich weiß sofort, wer was ist. Joe war eindeutig passiv, und das brachte mir überhaupt nichts. Vielleicht kommt jetzt jemand beim Lesen auf den Gedanken: »BLÖDSINN! Ich gebe und nehme gerne. Ich mache beides, frag die Burschen in meinem Fitneßstudio!« Vergiß es! Laß es bleiben – wen willst du eigentlich verarschen? Mich? Ich bin doch gar nicht hier, ich bin nichts als ein paar gedruckte Worte. Du bist ganz allein mit dir selbst, also darfst du es ruhig zugeben; du kannst aktiv und passiv sein, du kannst beides machen und dabei kommen, aber wenn es darauf ankommt, dann weißt du ganz genau, auf was du wirklich stehst. Jeder kann mal umschalten. Ich habe mir manchmal die Seele aus dem Leib gefickt (im wahrsten Sinne des Wortes, fürchte ich). Ich hab mehr Kerle in Grund und Boden gefickt, als du dir vorstellen kannst. Ich hab sogar abgespritzt – wenn ein paar Scheine extra drin waren – aber was soll's? Mir geht ja schon einer ab, wenn mich der Wind von der richtigen Seite anbläst. Abspritzen ist nicht entscheidend, um wirklich Spaß zu haben. Ich habe gefickt, aber ich hatte keine Wahl. Ich habe für Geld gefickt, aber wenn man mich gefragt hätte, wäre ich viel lieber gefickt worden. Ich war und bin Mr. Bottom Number One, obwohl ich mir das schon so lange verkniffen hatte, daß ich mich kaum noch daran - 49 -
erinnern konnte. Das sollte ich mal erklären. Mir gefällt die Vorstellung, gefickt zu werden, oder besser gesagt, ich mag diese ferne Erinnerung, die ich daran habe, obwohl ich es in meinem ganzen langen Leben nur einmal zugelassen habe. Bist du jetzt überrascht? Hast du etwa erwartet, daß mein Arsch ausgeleiert ist? »Er ist ein Stricher – der hat sich doch garantiert von hier bis da und wieder zurück in den Arsch ficken lassen.« (Jede Wette, daß du das Wort »arschficken« benutzt.) Tja, ich hab so den Eindruck, du bist ganz schön anmaßend. Punkt eins, ich war nie promisk, vergleichsweise meine ich, wenn man bedenkt, daß die Hälfte aller Tunten auf diesem Planeten es ungefähr 39mal mehr in der Woche treibt als ich, und noch die Zeit findet, zweimal am Tag zu wichsen. Punkt zwei, und das ist das Wichtigste, bei meiner Arbeit habe ich nichts in meinen Arsch gelassen. Keine Finger, keine Zungen (Wirklich! Laß uns so unsafe wie möglich sein. Na los, mach schon, trink mein Blut, wenn du schon dabei bist. Sollen sich Pornostars doch den Arsch lecken lassen. Pornostars hängen nicht so am Leben wie ich. Frag doch Joey Stefano), keine Dildos (ich bin nicht »Mr. Plopp«), und absolut hundertprozentig keine keine keine Schwänze. Ohne Ausnahme. Komm mir bloß nicht zu nah. Nimm das Ding weg. Halt es selber fest, danke schön. Warum? Ich habe auf AIDS angespielt, und AIDS wäre eine korrekte, annehmbare, akzeptable LÜGE. Eine Ausrede. Nur eine bequeme Entschuldigung für mich, eine gute noch dazu. In Wirklichkeit ließ ich niemanden an meinen Arsch – in memoriam. Ich war sentimental. Falls ich jemandem erlaubt hätte, durch diese geheiligte Pforte hindurch von mir Besitz zu ergreifen, würde dies den Betreffenden auf eine gleiche Stufe mit Andy stellen. Und brächte mich dazu, mich zu erinnern. Und das wäre nicht gut. Okay. In Ordnung. So kann ich nicht weitermachen – ich geb's zu. All das hat natürlich mit Andy zu tun, wirklich alles. Meine ganze gottverdammte Geschichte beginnt hier und jetzt, und nicht auf Seite eins. Oh Gott, mir graut davor, ihn hervorzuzerren. Aber, verflucht nochmal, es ist einfach viel zu eindeutig. Ich hab mein Herz entblößt, und jetzt wird es Zeit, Farbe zu bekennen. Hier kommt also die - 50 -
Antwort auf die Frage: Wie war dein erstes Mal? Ich war dreizehn. Süße dreizehn und noch ungeküßt. Ich hatte natürlich noch niemanden geblasen oder es sonstwie besorgt bekommen. Ich war absolut unberührt mit dreizehn, war gerade erst meinen Babyspeck losgeworden und sah endlich nicht mehr so tollpatschig und furchtbar unattraktiv aus. Was passierte mir in diesem Jahr? Das wüßte Gott allein, wenn es ihn geben würde. Eines Tages wachte ich auf, sah in den Spiegel und mußte lächeln – ich sah kräftiger aus, gut gebaut, meine Augen leuchteten und meine Nase gab mir einen verschlagenen Ausdruck, mein Mund war breit und sah humorvoll aus, zeigte eine Reihe perfekter Zähne, und ich hatte einen Arsch, der erwachsene Männer zum Weinen bringen konnte. Zugegeben, ich war erst eine halbe Schönheit, aber meine jugendliche Ausstrahlung kam ja noch dazu. Vielleicht hat diese Entwicklung eine ganze Weile gedauert, aber mir kam es so vor, als wäre sie ganz plötzlich passiert, und ich bin mir ziemlich sicher, daß ich eines Tages dafür bezahlen werde, falls ich es nicht schon getan habe. Zu diesem Zeitpunkt war ich bereits alt genug, um »Bescheid zu wissen«. Mir war klar, daß ich einige Jungen aus meiner Klasse mochte, aber auch, daß ich ältere Männer attraktiver fand. Und mehr als mein eigenes Leben liebte ich meinen Cousin Andy (Ich weiß, ich weiß – »Andy«/»Andrew« – es wird immer schlimmer). Bevor ich zu einer weiteren klarsichtigen Beschreibung des männlichen Körpers ansetze, hier ein kleines Dementi: Ich liebte Andy um seiner selbst willen, ich liebte ihn, als er noch der stämmige, nicht besonders gutgebaute Dreizehnjährige war, bevor er einmal kurz gähnte, sich streckte und sich in einen sechzehnjährigen begehrenswerten Adonis verwandelte, gestählt durch Sport und Krafttraining. Und dann war da noch sein Gesicht. Wie bei Andrew hatte es etwas ganz Besonderes an sich, entsprach aber mehr dem gängigen Schönheitsideal. Er hatte dunkles, lockiges Haar (ja, ja, ich weiß, aber das hatte er wirklich), strahlend blaue Augen und fein geschwungene Lippen. Er war grundsolide, ein richtiger Kerl, dem aber nichtsdestotrotz die Tränen kamen, wenn er einen Schmachtfetzen im Fernseher ansah oder eine besonders anrührende Episode der »Golden Girls«. Einmal weinte er fast, als die Katze seines kleinen Cousins starb – ich werde es meinen Schwestern nie verzeihen, daß sie die kleine Alicia Fuzz überhaupt - 51 -
aus dem Haus gelassen haben. Ich war stolz darauf, daß Andy der einzige im Football-Team war, der sich weigerte, den einzigen Juden der Schule zu terrorisieren. Andy war einfach großartig, eine der wenigen Schönheiten ohne den geringsten Anflug von Grausamkeit. Ich traf ihn jedes Wochenende im Haus unserer Tante, praktisch schon vor meiner Geburt. Bei Tante Dell kam nach der Kirche (leider) die ganze Verwandtschaft zusammen, um eine Wochenration polnisches Essen zu verdrücken. Andy stand meist im Mittelpunkt des Interesses, wie ein prachtvoller kleiner Gott zwischen alten Monstern, die aber immerhin seine natürliche »Begabung« erkannten. Sie waren ganz verrückt nach ihm und hörten sich gerne seine Geschichten darüber an, wie er trotz miserabler Noten mal wieder durchgekommen war. Das einzige wohin ich durchkommen wollte, waren seine Unterhosen. Ich saß am Tisch Andy direkt gegenüber und beobachtete ihn, wie er Riesenportionen Kartoffeln in sich reinschaufelte und Fleischstücke, die so groß waren wie kleine Dinosaurier. Im allgemeinen hatte er den Gesichtsausdruck eines gutmütigen Menschen, wenn er kaute und lachte und Geschichten erzählte. Und alle drei Minuten, auf die gottverdammte Sekunde genau, wirklich alle drei Minuten, sah er auf und starrte mich mit diesem rätselhaften Gesichtsausdruck an. Es war ein unausgesprochenes Vertrauensverhältnis, seine Blicke bedeuteten mir sehr viel. Sie waren aufregende kleine Erinnerungen daran, daß wir trotz des ganzen familiären Durcheinanders und Geredes zusammengehörten, auch wenn er die ganze Zeit im Mittelpunkt stand. In freudiger Erregung verspeiste ich meinen Spargel und stellte mir dabei vor, wie wunderbar es wäre, die salzige Innenseite seiner Schenkel zu kosten, ihn stöhnen und schreien zu hören und ihn zum äußersten zu treiben – bis zu jener Ekstase, die er dank seiner göttlichen Schönheit verdiente. Und mein Mund wäre der Sendbote dieser Ekstase! Aber mehr noch als in meinem Mund spürte ich dieses freudig-sehnsüchtige Gefühl in meinem Arsch. Eines Tages – das Datum spielt keine Rolle, darauf kommt es wirklich nicht an – passierte das Unglaubliche. Es ist verrückt, aber ich wußte sofort, als ich ihn an diesem Tag bei Tante Dell sah, daß es - 52 -
passieren würde. Meine Eltern hatten sich darüber gestritten, wie oft wir Tante Dell besuchen sollten. »Centerfold« von der J. Geils Band war gerade Nummer eins in den American Top 40, meine Schwestern – na gut, das ist eine andere Geschichte. Aber so, wie die Alten sich immer wieder an die Details des Tages von Kennedys Ermordung erinnern, habe ich die Einzelheiten dieses Tages in mir gespeichert. Ich werde mich sogar noch an alles erinnern, wenn ich das Datum längst vergessen habe. Andy trug Badeshorts – leuchtendes Pink, denn Pink war in diesem Jahr »in« für Heteros, die sich neuerdings gut anzogen und New Wave hörten. Er hatte ein altes T-Shirt an, dessen weite Ärmel den Blick auf seine sonnenverbrannten Arme freigaben, von denen sich die Haut abschälte, und er grinste breit und lüstern. Nach meiner Theorie hat jeder Schwule einen sechsten Sinn dafür, andere Schwule zu erkennen, ob sie das wollen oder nicht. Dieser sechste Sinn funktioniert eher wie eine Antenne, die sich andauernd in alle Richtungen ausrichtet, unsichtbare Daten von überall her sammelt und die Ergebnisse in unsere Gehirne sendet. Seit ich diese Idee zum ersten Mal hatte, zu einer Zeit, als Sex einfach alles für mich war, und weil Sex tatsächlich noch immer alles für mich bedeutet, habe ich diesem speziellen Sinn den Spitznamen »Sex-Antenne« gegeben. Andy war voller Energie, und meine noch jungfräuliche SexAntenne zuckte erwartungsvoll hin und her. Irgend etwas lag in der Luft. Mein Vater und Andy unterhielten sich eine Weile – sie schafften es tatsächlich, eine Menge fröhlicher Macho-Sprüche zu klopfen – und dann wurden wir allesamt vom familiären Gewimmel aufgesogen, von den aufgedonnerten Tanten und trägen Onkeln, die wie Faultiere auf dem Sofa herumlümmelten und in den Fernseher glotzten. Reden, Reden, Reden, und Tausende umhertobender kleiner Kinder, deren immer noch jugendliche Eltern die Geschwister ihrer Ehepartner musterten und nur so aus Spaß ihre Attraktivität einschätzten. Baby Happening. Mehr Babies als der Mensch ertragen kann. Der Geruch nach gekochtem Kohl wehte von der Küche herüber und sank über die unbeweglichen Großmütter und ihre zerbrechlichen Mütter, die in vierzig Jahre alten Cocktail-Kleidern herumsaßen. Ach ja, die Familie! - 53 -
Nach einer Stunde, als alle so richtig in Fahrt gekommen waren und grüßten, lachten, auf Schultern schlugen oder sich schon mal dort hinstellten, wo die Essensschlange sich bilden würde, landeten Andy und ich im Fernsehzimmer im Untergeschoß. Dieses Fernsehzimmer war eine Welt für sich, denn für kleine Kinder und ältere Leute war es unmöglich, dorthin zu gelangen. Die Treppe, die dort hinunter führte, war steiler als eine Strickleiter. Der Raum selbst war »renoviert«, eine der großen Aktionen dieses Jahres, roch aber unangenehm feucht, weil es ein ausgebauter Kellerraum war. Auf dem Boden lag ein stoppeliger Teppich und jede Menge riesiger, leicht verschmutzter Kissen, auf die wir uns legen konnten, um über »Columbo«, »Miami Vice«, »Magnum«, Computer, die Schule und anderen Kram zu reden. Wir waren dort so abgeschieden, daß die Geräusche von oben nur noch wie ein surreales Gemurmel zu uns drangen und gelegentlich von unserer eigenen Unterhaltung völlig überdeckt wurden. »Ich hab jetzt eine Freundin«, sagte Andy. Da er gerade von etwas ganz anderem gesprochen hatte, warf mich diese plötzliche Bemerkung beinahe um. Ich hätte am liebsten laut losgeschrien, wenn er mich nicht so angesehen hätte. »Was?« Ich war damals noch ganz schön leicht aus der Fassung zu bringen. Meine schnoddrige Art habe ich erst in dem Moment entwickelt, als ich das erste Mal eine Schwulenbar betrat. »Ich sagte, ich habe jetzt eine Freundin«, wiederholte Andy. Er sah mich an und lächelte irgendwie hochnäsig. Er hob die Augenbrauen (wie ich sie liebte) und zog die Luft zwischen den Zähnen ein. »Yep, yep, yep.« Ein Markenzeichen von Richie Cunningham, das Richard Gere sich angeeignet hat. »Wer?« Ganz schön fix. Er drehte sich zu mir um, stützte sein Kinn auf die Handflächen und sank halb auf das Kissen neben mir. Sein Bizeps wölbte sich obszön. In diesem Moment stellte ich mir vor, daß Gott eine ziemlich bösartige alte Hexe sein mußte, die sich auf meine Kosten amüsierte. »Jennifer« sagte er. Was für ein unglaublich dämlicher Name – und auch noch so gewöhnlich! »Jenny, genau genommen.« Noch schlimmer! »Wie sieht sie denn aus?« Ich war furchtbar neugierig und nervös und gepeinigt und fühlte mich durchschaut. Ich wollte auf keinen Fall zu heulen anfangen, es sei denn, er würde sagen... - 54 -
»Viel besser als du«, lachte er und hob die Hand, um mir durch den Haarschopf zu fahren. Ein falsches Lachen jedenfalls, kein fröhliches. Ich konnte kaum noch aus den Augen sehen, kämpfte mit den Tränen und hatte Bauchschmerzen. Jeden Moment glaubte ich ohnmächtig umzukippen. Ich hatte mich vor diesem Augenblick gefürchtet, seit ich zehn war, vielleicht sogar schon früher, aber mit zehn war mir zum ersten Mal klar geworden, daß Frauen eine Gefahr für unsere kleine Bruderschaft darstellten. Und nun, drei kurze Jahre später, wurden wir tatsächlich, endgültig und unvermeidlich auseinandergerissen von einem Mädchen. Wieso hatte meine Sex-Antenne nicht funktioniert? Statt sich mir zu unterwerfen, warf er mich weg wie ein überflüssiges Teil. Zack, zack, das war's. Mach's gut, Kleiner. »Ach Quatsch, ich mach doch bloß Spaß.« Er lächelte und kniff träge die Augen zusammen. »Ich werde dich immer viel lieber mögen als sie. Du bist schon immer mein bester Freund gewesen, also warum sollte ich dich wie eine heiße Kartoffel fallen lassen, nur weil ich mich mit einem Mädchen treffe.« »Hat aber lange gedauert, bis du das gemerkt hast«, flötete ich, bevor ich überhaupt merkte, was ich tat. Andy öffnete die Augen und musterte mich eindringlich. »Und was soll das jetzt genau heißen?« Ich fand Gefallen an dem unglaublichen Vergnügen, ganz zufällig kleine rhetorische Bomben hochgehen zu lassen und dann mein Gegenüber noch eine Weile zappeln zu lassen. »Gar nichts.« Ich drehte mich zur Seite, rollte vom großen Kissen und blieb dann mit einem Lächeln auf den Lippen auf dem kalten Teppichboden liegen. Jetzt hab ich dich endlich, du Footballstar. Andy wiederholte seine Frage. Dann, als ich immer noch schwieg, sagte er: »Also? Was meinst du eigentlich mit ›hat aber lange gedauert‹?« »Du bist sechzehn Jahre alt, Andy.« »Und?« Schweigen. Schweigen »Und? Was jetzt? Willst du damit sagen, daß ich zu alt bin für eine Freundin?« »Nein«, sagte ich ganz ruhig, »dafür ist man nie zu alt. Ich meine, daß die meisten Typen anfangen, sich mit Mädchen zu treffen, wenn sie in meinem Alter sind, Andy. Die meisten in deinem Alter sind - 55 -
praktisch schon verheiratet...« Er jaulte laut auf. »Das ist ja ein Ding. Willst du mir etwa vorwerfen, daß ich ein Spätzünder bin?« »Nein«, antwortete ich, »du bist kein Spätzünder, Andy. Du bist schon rechtzeitig dran. Ich meine nur, es hat wirklich lang, lang, lang, arschlange gedauert, bis du die Mädchen überhaupt wahrgenommen hast.« Und, nachdem das gesessen hatte: »Ich frage mich nur, woher dieses plötzliche Interesse kommt. Setzt dich jemand unter Druck? Hast du Angst, die Familie könnte sich fragen, warum der Prachtjunge kein Prachtmädchen mit nach Hause bringt?« Andy faßte mich am Arm und zerrte mich zu sich, so daß ich ihn ansehen mußte. Sein Gesicht war dunkelrot vor Verwirrung und Zorn. »Was zum Teufel willst du damit sagen? Warum reitest du so darauf herum? Ich hab dir nur erzählt, daß ich eine Freundin habe – okay, daß ich ›endlich‹ eine Freundin habe – weil du der einzige bist, dem ich vertraue. Es ist mir egal, was diese Idioten da oben über mich denken, die müssen gar nicht wissen, daß ich eine Freundin habe. Die wissen sowieso schon so gut wie alles über mich, was es zu wissen gibt, und sie wollen immer noch mehr wissen. Als ob sie sich mein ganzes Persönlichkeitsbild auf die Kühlschranktür kleben wollen, gottverdammt nochmal!« Er stockte, lachte ein bißchen nervös, versuchte zu entschärfen, was er gerade als großen bekenntnishaften Rundumschlag begonnen hatte. Aber ich war noch immer nicht versöhnt und weigerte mich, in sein Lachen einzustimmen. Er hielt weiter meinen Arm fest, und es gefiel mir nicht, daß er mich so einfach in der Gegend herumschleudern konnte. Was hab ich da gerade gesagt? »Tut mir leid«, sagte ich ungelenk, »ich mach mich nur ein bißchen über dich lustig...» »Dann hör damit auf«, unterbrach er mich. »Du machst dich andauernd über mich lustig, sagst alle möglichen komischen Sachen, um mich zu ärgern, ich mag das nicht.« Da ich nie gemerkt hatte, daß er meine kleinen Sticheleien wahrgenommen hatte, fragte ich ihn nun, warum sie ihn geärgert hatten. »Ich fühle mich dann immer irgendwie lahm. Dir gegenüber komme ich mir manchmal einfach dumm vor.« Er lockerte seinen Griff. »Ich weiß, daß du das nicht beabsichtigst, aber du tust es. Du - 56 -
bist viel intelligenter als ich, das weißt du, und du reitest darauf herum, ohne es wirklich zu wollen.« Andy war kein großer Redner, aber an diesem Nachmittag holte er einiges auf. Die Typen aus der Football-Mannschaft würden wahrscheinlich kotzen. Aber was mich betraf, ich war begeistert. »Ich... ich hab überhaupt nicht mitbekommen, was ich alles gesagt habe«, erklärte ich. »Es tut mir leid... « Andy betrachtete verwirrt den Abdruck auf meinem Arm, wo er mich gepackt hatte. »Scheiße – tut mir leid; ich wollte dich nicht so hart anfassen.« Und dann ist es passiert. Andy schnaubte seine banale Entschuldigung und sah sich schüchtern um, dann sah er mich plötzlich todernst an, mit seinen blauen Augen. Ich glaube, ich konnte meine Bereitschaft genau wie er nicht länger unterdrücken, denn ganz offensichtlich entdeckte er in meinen Augen die Botschaft, daß es okay war. Er beugte sich vor, stützte sich auf seinen Ellbogen und legte seine heiße Wange an meine, stieß mich sanft mit dem Kopf, küßte mich dann auf den Mund, und ich spürte seinen Atem in meinem Gesicht. Ich fühlte mich schwerelos und ängstlich, als wäre ich gerade in 10.000 Meter Höhe aus einem Flugzeug gesogen worden. Ich weiß noch, wie seltsam und aufregend sich seine Zunge zwischen meinen Lippen und in meinem Mund anfühlte, und wie sie über meine Zähne glitt. Wir küßten uns, als würde es bald aus der Mode kommen, und wer weiß? vielleicht würde es das ja auch. Ich erinnere mich an viele Einzelheiten dieses Nachmittags, an alles, was wir taten während dieser sechsunddreißig oder siebenunddreißig Minuten, in denen wir uns trauten, uns dort unten zu lieben, von unserer ganzen Verwandtschaft nur durch eine billige, selbstgebaute Tür getrennt, die nach oben zur Familienfeier führte. Ich erinnere mich an mehr Einzelheiten seines Körpers, als ich jemals über meinen herausgefunden habe, und ich erinnere mich an etwas, das ich seitdem nie mehr gespürt habe, diese unanständige Erregung, wieder und wieder genommen zu werden. Ja, ja, ja. Analverkehr ist so abstrakt. Es ist nicht so, wie man es sich als Neuling vielleicht vorstellt. Es muß nicht unbedingt schmutzig oder blutig abgehen (bitte!), und vor allem muß es überhaupt nicht weh tun. Falls irgendein kleiner Teil in dir sich gegen dieses Eindringen sperrt, - 57 -
wird es entsprechend weh tun. Wenn du aber physisch und psychisch und gefühlsmäßig vorbereitet bist, wird es genau so sehr wehtun, wie du es gern möchtest. Du wirst auf angenehme Weise von dir selbst getrennt, fühlst dich befreit von der reservierten Haltung den Gedärmen gegenüber. Du weitest dich (aber hoffentlich nicht zu sehr), und schließlich spürst du dieses warme Gefühl vollkommen wehrloser Entspannung. Was könnte geiler sein? Sex hat weniger mit der Intensität körperlicher Erregung zu tun, als viel mehr mit dem Grad der Hingabe. Alles hängt davon ab, wie sehr man sich gehen lassen kann. Und ich war vollkommen weggetreten! Glaub mir, es klingt vielleicht lächerlich. Aber ich merke, daß ich etwas gehemmt bin, wenn ich diese Geschichte erzähle. Allerdings war ich überhaupt nicht gehemmt, als es darauf ankam. Vielleicht ergibt sich ein richtiges Bild, wenn ich diese einschneidende Erfahrung mit einer Tätowierung vergleiche. Ich werde sie für immer auf mir tragen (nicht mit mir, sondern auf mir), ob ich das mag oder nicht. Und inzwischen mag ich es mehr als damals in den Jahren, nachdem es passiert ist. Niemand ist besser geeignet, Sex mit solchen Sentimentalitäten zu verbinden, als ein Schwuler. Wir mußten gezwungenermaßen aufhören, als unser dreijähriger Cousin die Tür am oberen Ende der Treppe öffnete und laut losschrie, wahrscheinlich völlig grundlos, denn er konnte uns von dort aus gar nicht sehen. Ich kann nur sagen GOTT SEI DANK, daß wir nicht gerade voll dabei waren, denn man hört ja andauernd solche Krankenhaus-Horror-Geschichten: »Doktor, ich hab da ein kleines Problem... Das hier ist mein Freund Butchie, übrigens... Wir sind irgendwie ineinander verhakt...« Genau wie Suzanne Somers in Hollywood Wives. Als wir den Schrei hörten, waren wir schon zweimal hintereinander gekommen. Eine Leistung, die ich seitdem nie wieder erbracht habe. Man sollte nichts drauf geben, was Porno-Filme oder großkotzige Angeber so alles behaupten. Es geht hier ja nur um mich, und ich wüßte nicht, was es bringen sollte, danach noch weiterzumachen. Jedenfalls hat keiner meiner Freier jemals eine Zugabe verlangt. Du hast vielleicht gemerkt, da bin ich mir ziemlich sicher, daß ich ganz schön geschwätzig geworden bin in den letzten Abschnitten. Ich entschuldige mich und gebe zu, daß ich abzulenken versuche. Du - 58 -
kannst mich dafür zur Verantwortung ziehen. Du kannst einen Teil überspringen, wenn du ungeduldig bist. Für schlechtes Benehmen gibt's dann allerdings Punktabzug. Als wir fertig waren, räumten wir auf und verfielen wieder in diesen Zustand der Schüchternheit, in dem wir uns vorher befunden hatten. »Das war toll«, murmelte Andy. »Stimmt«, sagte ich. »Ich hab's echt gewollt«, fuhr er fort. »Ich weiß... mir ging's genauso.« Ich lächelte und sah mich um. »Wie man sieht.« »Also... was bedeutet das jetzt alles?« Das war das erste Mal, daß ich mir über meine Gefühle klar werden mußte, nachdem ich Sex hatte, weshalb ich die heraufziehende Gefahr nicht erkannte. Wer sich Gedanken darüber macht, was das alles bedeuten soll, bevor das Sperma trocken ist, fand es normalerweise großartig, fühlt sich aber nicht wirklich wohl dabei. Ich wußte es nicht besser und lehnte mich zurück (auch so etwas, wofür man mich zur Verantwortung ziehen könnte), um ihm zu gefallen. »Ich weiß nicht. Was immer du willst. Ich liebe dich.« Oh Mann! Er faßte mich ein bißchen distanziert an den Schultern. »Ich liebe dich auch. Ich liebe dich sehr. Ich möchte das öfter tun. Ich mag es...« Oh, diese Aufrichtigkeit! »Aber... « Dieses »aber« hing zwischen uns, während gleichzeitig das ganze Haus von Lärm erfüllt wurde. Aber aber aber. Aber. »Aber?« Mir wurde eiskalt. Mein Arsch war immer noch naß und wund. »Aber... ich weiß auch nicht.« »Es ist mir scheißegal, was du ›weißt‹.« Ich zog meine Hosen hoch, fummelte an meinem Gürtel herum. »Du hast gesagt, du liebst mich. Wo ist das Problem?« Wie wär's mit: Verführung eines Minderjährigen? Inzest? Homosexualität? Alles zusammen? Vergiß nicht, daß ich damals schrecklich jung war. Zuerst war ich davon überzeugt, daß seine Zurückhaltung mit dem Problem zu tun hatte, sein Schwulsein zuzugeben. Ich wünschte, ich wäre da immer - 59 -
noch so sicher, aber Tatsache ist, daß ich meinen Cousin Andy in all diesen Jahren möglicherweise unterschätzt habe. Vielleicht ging es ja um viel mehr als um Homosexualität. Vielleicht ging es um Sexualität überhaupt. Seine Augen waren trüb, in seinem Gesicht machte sich ein Ausdruck breit, den du vielleicht als den »Ich werde dich verlassen, obwohl es eigentlich keinen Grund dafür gibt«-Gesichtsausdruck kennst. »Ich hab dich schon vorher geliebt, und ich werde dich auch weiterhin lieben, nicht mehr, nicht weniger, aber... « »›Nicht mehr‹? Du steckst deinen Schwanz in mich rein und dann sagst du, du würdest mich genauso lieben wie vorher?« schrie ich, schrill wie eine Fledermaus und hätte mich am liebsten in irgendwas verbissen. Zum zweiten Mal an diesem Nachmittag verlor ich die Kontrolle über meinen Körper (wobei ich hier den gesamten Sexualakt als ein einziges Erlebnis zähle, weil jeder Orgasmus nur einen kleinen Höhepunkt in meiner völligen Selbst-Vergessenheit darstellte). Ich war jetzt auf Zerstörung programmiert. Andy legte seine Hand über meinen Mund, so fest, daß ich mir auf die Zunge biß, faßte mich mit dem anderen Arm um die Hüfte und zog mich an sich, dieses Mal aber kühl, asexuell, nur aus Selbstschutz. »Sei ruhig! Um Gottes Willen! Die kommen gleich allesamt hier runtergelaufen!« War es wirklich das? Oder hatte er eher Angst vor dem, was ich ihm sagen könnte? Ich wehrte mich erfolglos, verlor schließlich diesen Kampf und brach in Tränen aus. Zuerst hatte ich beinahe angefangen zu heulen, weil er irgendso eine bescheuerte Freundin hatte, und jetzt heulte ich, weil mein ganzes Leben eine grausame Wendung genommen hatte, mir weggenommen worden war, zerstört und weggeworfen. Er versuchte mich sanft zu beruhigen, strich mir übers Haar, aber ich blieb abweisend, mein Haß gab mir die zusätzliche Kraft, diesen kräftigen Athleten zu überwältigen und ihn so heftig zu Boden zu drücken, daß ihm die Luft ausging. Der Rest ist, wie man so sagt, Geschichte. Ich lief nach oben, nach draußen und war verschwunden, bevor überhaupt irgend jemand mitbekam, was los war. Ich begann zu rennen, dann ging ich mehr als zwanzig Kilometer bis nach Hause, was viel zu weit war, aber ich - 60 -
bewältigte die Strecke mit bewundernswerter Zähigkeit. Ich bemühte mich, abseits der Straße zu laufen, um nicht von irgendwelchen Autos entdeckt zu werden, die mich womöglich suchten. Ich weinte erst zwei Präsidenten später. Andy hat sich nicht mehr um mich gekümmert. Später erfuhr ich, daß er ein ganzes Stück hinter mir hergerannt war, dann aber müde wurde und sich in sein Zimmer zurückzog, wo er den Rest des Abends verbrachte. Wenig später zog er sich vom Leben zurück. Oh, nein, er beging nicht etwa Selbstmord. Schwuchteln haben so was wirklich nicht mehr nötig. Er hörte einfach auf zu leben. Er stürzte sich mehr denn je auf den Sport, bekam ein Stipendium, und zog weg. Es heißt, er sei sogar auf dem besten Weg zum Profi, was immer das bedeuten mag. Im letzten Juni hat er Jennifer geheiratet. Ich muß wohl nicht extra betonen, daß ich bei diesem Familienfest nicht anwesend war. Oh, natürlich wäre ich gern als Brautjungfer gegangen. Das hätte ich vielleicht wirklich getan. Aber so etwas war leider nicht möglich. Ich hätte den Brautführer spielen müssen. Seit damals habe ich Andy nicht mehr gesehen, nur kürzlich mal auf ein paar Fotos, die ich im Sportteil einer Zeitung entdeckte. Nach diesem Ereignis war die ganze Familie der Meinung, daß ich verrückt sein mußte, einfach so grundlos wegzurennen und in tiefster Dunkelheit nach Hause zu kommen. Meine Eltern (besonders meine Mutter, die innerlich jubilierte) akzeptierten bereitwillig, daß ich nicht mehr zu Tante Dell gehen wollte. Tante Dell nahm sich das sehr zu Herzen. Da kann man nichts machen, das Leben ist hart. War nicht persönlich gemeint.
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BEICHTE 5: ICH BIN NEUGIERIG Nach Andy, Andrew, Joe und mir selbst – aber nicht unbedingt in dieser Reihenfolge – war Gregory wohl die wichtigste Person in meinem Leben. Gregory war einer meiner Kunden, aber gleichzeitig war er für mich ein echter Freund und Lehrer. Ein makellos gepflegter und äußerst charmanter Gentleman von achtzig Jahren, der immer noch gut in Form war, wenn er sich hinlegte. Er war der einzige Freier, dem ich jemals einen geblasen habe, und ehrlich gesagt, beunruhigt mich der Gedanke, daß ich einmal sogar alles runtergeschluckt habe. Falls du der Meinung sein solltest, daß es ziemlich schwierig ist, einen aufgegeilten jungen Muskelkerl davon abzuhalten, in deinem Mund abzuspritzen, dann solltest du das erstmal bei einem alten Knacker versuchen. Das ist wirklich ziemlich zwecklos. Russisches Roulette mit Proteinen. Gregory wurde mir von Lucy vermittelt, der Kellnerin in dem netten kleinen italienischen Cafe in Hyde Park. Das Mo-da Fromaggia befand sich ungefähr einen Block von der Gegend entfernt, wo ich meine College-Jahre verplempert habe, und ich verbrachte dort ziemlich viele freie Abende mit Essen und einem Buch in der Art von Andy Warhols Tagebuch oder dem Matt-Dillon-Quiz-Buch oder einer Abhandlung über männliche Prostitution. Lucy war eine alte Klatschtante, eine aufgedrehte Alte, die es schaffte, sich deine gesamte Lebensgeschichte mit allen intimen Details innerhalb von fünf Minuten erzählen zu lassen. Mit mir hat sie das auch versucht, aber sie bekam lediglich aus mir heraus, daß ich Stricher war. Nachdem sie dieses tolle Geheimnis aufgeschnappt hatte, stellte sie folgende Bedingungen: Erstens, Safer Sex ist Pflicht. Zweitens, sie bekommt 20 Prozent für jeden Tip. Ich hab ihr gesagt, daß ich ihr 25 Prozent für jeden Job gebe, den ich auch wirklich wahrnehme, denn eigentlich war ich nicht auf neue Kunden aus. Selbst wenn einige meiner Stammkunden schlagartig wegziehen, sterben oder einfach nur unauffindbar würden, wäre ich extrem wählerisch gewesen, was einen Ersatz betraf. Kurz nachdem John, der schwarze Tuchhändler und Familienvater, - 63 -
an einem Herzanfall starb (seine Frau meldete sich bei mir, nachdem sie meine Telefonnummer in seinem Adreßbuch fand und dachte, ich wäre einer seiner Kunden gewesen), rief Lucy mich an und gab mir ihren ersten und einzigen Tip. »Da ist so ein alter Kerl«, flüsterte sie verschwörerisch am Telefon, »von dem alle U.C.-Kids sagen, er sei ein Homo.« Für Lucy war die University of Chicago eine Art mystischer Ort, den die Insider »JuhSieh« nannten, und »Homo« war ihre altmodische Art, jemanden als schwul zu bezeichnen. Angesichts der Tatsache, daß sich die Schwulenbewegten längst auf dem ganzen Globus etabliert hatten, war die gute alte Lucy hinsichtlich ihrer Wortwahl ganz schön schräg drauf. Man muß nur lange genug warten, bis die ausgemusterten Sachen wieder in Mode kommen; wer hätte gedacht, daß ein Schimpfwort eines Tages plötzlich als Waffe dienen würde? »Er lebt in einem Studentenwohnheim gegenüber vom Lake Shore, in diesem alten Hotel, das sie in den Sechzigern umfunktioniert haben.« Einem Gerücht zufolge hatten sich alle damaligen Bewohner dieses ehemaligen Hotels, das eher eine Pension für Dauergäste gewesen war, damals entscheiden können, ob sie dort wohnen bleiben wollten. Die meisten beschlossen wegzuziehen. Warum sollten Personen mittleren Alters in einem Haus bleiben, das in ein Studentenwohnheim umfunktioniert wurde? Trotzdem blieben einige der älteren Herrschaften – vielleicht aus Angst vor einem Ortswechsel, vielleicht aus Sturheit, vielleicht auch weil sie gern unter aufgeweckten jungen Leuten leben wollten – im Lake Shore Hotel wohnen. Und nun, dreißig Jahre nachdem der erste frischgebackene Student dort eingezogen war, war immer noch eine Handvoll von ihnen übrig. Einer dieser alteingesessenen Dauermieter war also Mr. Knopf. Gregory Knopf ging schon seit Jahren ins Moda, und Lucy, die ihn dabei beobachtete, wie er die Tellerwäscher ansah, hatte schon immer vermutet, daß er Jungs mochte. Nachdem sie mitbekommen hatte, wie zwei Idioten von der Studentenverbindung den alten Mann mies behandelten, entschied Lucy, daß es an der Zeit war, ihn kennenzulernen. Sie unterhielt sich mit ihm und fand heraus, daß er ein ziemlich amüsanter Kerl war, sehr offen und anscheinend ziemlich einsam. Sie brachte das Thema auf den einzigen schwulen Kumpel, den sie hatte (mich), kam auf meine Arbeit zu sprechen, und Gregory - 64 -
ging augenzwinkernd darauf ein. Ich konnte es kaum erwarten, Gregory zu treffen, so sehr hatte mich Lucys Begeisterung beeindruckt. Sie hatte ihn als überaus interessanten Mann beschrieben, und ich war fasziniert von der morbiden Idee, Sex mit einem Achtzigjährigen zu haben. Würde er sich linkisch benehmen und schnell aus der Puste kommen? Runzelig sein und mit Leberflecken übersät? Würde ich es mit einer Mumie treiben? Ich suchte Gregory in seiner ausgesprochen großen und vollgepackten Wohnung im obersten Stock des alten Lake Shore auf, das einst ein Luxus-Hotel gewesen war, in dessen Ballsaal die Tochter von Teddy Roosevelt geheiratet hatte, und später eine mondäne Absteige mit Seeblick für die Reichen und Schönen wurde. Irgendwann – ungefähr ein Jahr bevor ich geboren wurde – war das Lake Shore zu einer Dauerpension für größtenteils wohlhabende, vor allem snobistische Gäste mit wenigen sozialen Bindungen und noch weniger Manieren geworden. Doch die Tage des Glamours waren längst vorbei, jetzt herrschte der vulgäre Ton der Jugend, die über den pflegeleichten Polyester-Teppichboden schlurfte. Niemand beachtete mich, als ich hineinging und mich auf den Weg zu Gregory machte. Meine College-Zeit lag noch nicht so lange zurück, daß ich den Wachleuten aufgefallen wäre. Für sie war ich nichts weiter als einer dieser weißen Studenten, die sich gerne darüber beschwerten, daß der Wasserdruck nicht ausreichte. Gregory öffnete die Tür, eingerahmt von einer großartigen Aussicht auf den See, die allein schon tausend im Monat wert gewesen wäre, wenn es sich bei dem Gebäude nicht um diesen heruntergekommenen Kasten in der berüchtigten South Side von Chicago gehandelt hätte. Das machte das gemütliche Hyde-ParkViertel auch nicht wett. »Hallo, hallo!« begrüßte er mich überschwenglich, in der Art eines John Gielgud, bloß gelenkiger. »Bitte, komm doch rein.« Gregory sah aus wie sechzig, nicht wie achtzig und trug eine hübsche Strickjacke, die gut zu seinen Hosen, den Schuhen, dem Hemd und seinem Ring paßte. In diesen braunen, grauen, und an Lavendel und Rost erinnernden Farben sah er irgendwie herbstlich aus. Sein winterlich gelb-graues Haar war die logische Ergänzung seines September-Lächelns. Huch, »September-Lächeln« klingt wie - 65 -
der Titel einer vergessenen Carpenters-Single. Alles in allem machte Gregory auf den ersten Blick einen verwitterten, aber sehr lebendigen Eindruck. Gregorys Wohnung war vollgepackt mit Büchern und dekoriert mit Drucken von Vögeln, Katzen und Mäusen – kleine Dinge, die zahllose Geschichten zu erzählen hatten. Er ließ mich auf einem Sofa Platz nehmen, auf dem irgendwann vielleicht mal ein revolutionärer General mit seiner Geliebten gesessen hatte. Dann verschwand er, um mir ein Mineralwasser und für sich selbst einen Eistee zu holen. »So«, sagte er lächelnd, als er mit den Getränken zurückkam. »Erzähl mir von dir – ich möchte gern wissen, in welche Richtung unsere kleine Romanze sich entwickeln wird.« Ich trank einen Schluck und sagte dann: »Ich weiß nicht, was Lucy Ihnen erzählt hat, aber das hier hat nichts mit einer kleinen Romanze zu tun.« »Aber natürlich hat es das.« Gregory blieb dabei. »Mir ist selbstverständlich klar, daß ich dich bezahlen muß – und nicht zu knapp, denn du bist ein ziemlich hübscher Junge (Ich versuchte rot zu werden.) – wenn ich Sex mit dir haben will. Dagegen hab ich gar nichts einzuwenden. Aber ein Kerl mit deiner Erfahrung – wahrscheinlich machst du's schon seit mindestens zehn Jahren (Jetzt hätte ich ihm am liebsten eine verpaßt.) – weiß doch, daß Sex ohne Leidenschaft einfach unmöglich ist.« Ich lachte laut auf und Gregory lachte mit, obwohl er es genauso meinte, wie er es gesagt hatte. »Mal sehen, Gregory, mal sehen.« Von da an verbrachte ich jeden Samstagmorgen bei Gregory. Wir redeten drei Stunden miteinander, was mich anfangs verunsicherte, nach und nach aber begeisterte. Seine Fähigkeit, Leute auszuspionieren, übertraf noch meine eigene. Er wußte so gut wie alles über die Studenten, die um ihn herum lebten, als wäre er eine Wanze, die über ihre Wände kriecht. »Das Mädchen in 612 ist schwanger«, sagte er einmal mit weit aufgerissenen Augen, »und sie ist dumm genug zu glauben, sie könne das Kind bekommen und wieder zur Schule gehen, wenn es erstmal in den Kindergarten kommt.« Er schnalzte mit der Zunge. »Der liebe Gott hat nicht umsonst die Abtreibung erfunden, verstehst du. Das wäre zwar ekelhaft... und tragisch... aber was bleibt ihr übrig? Eine - 66 -
achtzehnjährige Mutter? Kannst du dir das vorstellen? Natürlich kannst du das – die gibt's ja überall. Ich fände es viel besser, wenn die Leute bis zum dreißigsten Lebensjahr unfruchtbar wären. In diesem Alter würden sie sowieso viel bessere Eltern abgeben. Es war natürlich ihre Mutter, die sie überredet hat, auf die Abtreibung zu verzichten. Ich hab übrigens zufällig mitbekommen, daß ihre Mutter mit einem der Sicherheitsleute geschlafen hat, als sie am Elterntag hierher kam.« Er machte eine Pause und knabberte an seinem Salzcracker. »Typisch katholisch – viel Gerede, keine Moral.« Am Anfang wollte Gregory von Sex überhaupt nichts wissen. Als ich ihn darauf ansprach, lachte er mich aus: »Geduld, junger Liebhaber, Geduld. Unsere Zeit kommt noch. Aber bevor wir miteinander schlafen, möchte ich dich soweit bringen, daß du wenigstens halb so scharf darauf bist wie ich.« Jedesmal wenn ich ihn besuchte, bekam er einen Ständer, wenn er den Scheck aus seinem Kassenbuch zog. Immer wenn ich ihn verließ, war ich ein bißchen verwirrt, aber auch reicher. Abzüglich der fünfundzwanzig Prozent für Lucy.
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BEICHTE 6: ICH BIN EIN OFFENES BUCH Am Morgen nach Andrews melancholischem Anfall hätte der Weltuntergang sein können, und ich hätte es nicht gemerkt. Panisch herumhastende Menschen, die schreiend vor siebenköpfigen Drachen davonliefen, die den Short Lake Drive heruntertanzten, wären mir egal gewesen, ich schlief wie ein Stein bis drei Uhr nachmittags. Joes Versuch, mich rumzukriegen, und mein Versuch, Andrew rumzukriegen, hatten mich total ausgelaugt. So viel Aufregung haut jeden um. Als ich die Augen aufschlug, sah ich, daß Andrew im Schneidersitz auf einem Stuhl neben meinem Bett saß. Mit zusammengekniffenen Augen versuchte er angestrengt, ein Buch zu lesen. Stephen King natürlich. Andrew findet seine Lieblingsautoren in der Bestsellerliste. »Was machst du denn da?« raunzte ich, Schleim in der Kehle und sonstwo, was kein Wunder war nach so langem Schlaf. Er sah auf und legte den Kopf zur Seite. »Du hast drei Tage geschlafen. Es ist Montag.« »Sehr witzig.« Ich drehte mich um. Willst du mir Gesellschaft leisten? »Ich habe darauf gewartet, daß Aschenputtel die Augen aufschlägt und eine formelle Einladung vom Traumprinzen entgegennimmt.« Ich drehte mich zu ihm um, und nun war ich es, der zusammengekniffene Augenbrauen hatte. »Aschenputtel hat nicht geschlafen, das war Schneewittchen. Aber woher sollst du das auch wissen, bei deiner Lektüre geht es ja nur um lebende Leichen und Massenmörder.« Er sprang aufs Bett und begann mich zu kitzeln, mit genauso viel Energie wie bei dem Ringkampf am Abend zuvor. Ich bin zwar nicht kitzlig, aber ich hasse es, gekitzelt zu werden. Würde er das denn nie kapieren? Zu seinem Glück kitzelte er mich nicht am Schwanz, denn sonst wäre aus dem feuchten Traum, aus dem ich gerade erwacht war, ein zweiter geworden. Ich schrie ihn an, er solle endlich aufhören, und er tat es. »Na... willst du mich denn gar nicht fragen, was es für eine Einladung ist?« »Was?« Schnaubend. »Na ja, es handelt sich um ein echtes Ereignis... « - 69 -
Ich sah ihn mit nur einem geöffneten Auge erstaunt an. Er kostete den Moment aus, und nun erschien sein eben noch nicht vorhandenes Lächeln und verschwand schlagartig wieder. Dieser Idiot war außerdem gerade dabei, meine roten Pyjamahosen aus Seide zu weiten, das Geschenk ein Richters, der in solchen Dingen einen guten Geschmack hatte. Ich grinste ihn teuflisch an. »Nicht, daß ich was gegen dich in meiner Hose hätte«, stieß ich hervor, »aber könntest du mir bitte mal mitteilen, warum du sie hier in meinem Zimmer trägst, mit einem Buch in der Hand, während du darauf wartest, daß ich aufwache? Los, raus damit!« Er beugte sich herunter, bis er so nahe war, daß er in mein Ohr flüstern konnte. Diese unmittelbare Nähe brachte meinen Körper dazu, völlig falsche Erwartungen zu hegen. Das tut er manchmal absichtlich, davon bin ich überzeugt. »Den Schlafanzug hab ich im Wäschekorb gefunden – alles klar?« Das war ja nett, daß Andrew sich einfach so in meinem Wäschekorb bediente. »Das Buch hab ich von deinem Elèven Joe geliehen. Und der Grund, warum ich hier sitze und warte, ist, daß ich total aufgeregt bin und ein bißchen nervös wegen der Frage, die ich dir stellen will.« Die Anspielung auf Joe sollte wohl andeuten, daß er wußte, was da lief. Vielleicht war Andrew doch aufmerksamer, als ich ihm bisher zugetraut hatte. Tatsächlich war Andrew wirklich nicht dumm; ich wollte bloß, daß er es war, damit er mein Leben nicht so leicht durcheinander bringen konnte. »In Ordnung, ich werde dich heiraten.« Er verschränkte mißbilligend die Arme. »Gar nicht schlecht geraten. Es geht wirklich um eine Hochzeit, aber nicht unsere, äh, ich möchte gerne, daß du mitkommst zu, äh, der Hochzeit meiner ExFreundin.« Ich zog mir die Decke über den Kopf und zog sie gleich wieder runter. »Niemals!« »Wieso denn nicht?« Dabei wußte ich schon, daß ich mit ihm zu dieser Hochzeit gehen würde, ob ich wollte oder nicht. »Ich bitte dich als Freund um einen Gefallen. Ich möchte, daß du mitkommst, weil es schrecklich für mich werden wird. Ich finde es überhaupt nicht toll, daß Jill heiratet, obwohl sie mir in dieser Hinsicht längst egal ist. Aber ich weiß ganz genau, daß es für mich ein großer Schritt nach vorne wäre, wenn ich hingehen würde.« - 70 -
»Und was hab ich damit zu tun?« »Du sollst mich unterstützen. Wie eine Art Trainer. Du warst es schließlich auch, der mich in die Bars mitgenommen hat, du warst es, der mich mit dem ersten Mann bekannt gemacht hat, mit dem ich was hatte... « Das stimmte, ob du es glaubst oder nicht. Ich hatte ihn auf eine Party mitgenommen, die ein Lokalpolitiker, mit dem ich befreundet war, geschmissen hat. So eine kleine Schwulenfeier, auf der ich hilflos zusehen mußte, wie ein Andrew-Clone ihn schnappte und nach oben in ein Schlafzimmer schleppte. Wäre eine Pistole im Haus gewesen, hätte ich zuerst die beiden umgebracht und dann alle anderen. Dabei brachte ihm dieses Erlebnis nicht mal besonders viel. Der Typ war im Bett ziemlich schräg drauf, wie Andrew später erzählte, obwohl er nicht genauer sagen wollte, was er mit »ziemlich schräg« meinte. So naiv wie Andrew war, konnte es sich auch einfach nur um Oralsex gehandelt haben. Ich erfuhr nie, was eigentlich passiert war. Aber ich habe nicht vergessen, wie Andrew mich später zu Hause umarmte und sagte: »Auch wenn ich über all das jetzt noch nicht reden kann, möchte ich dir sagen, daß es mir unheimlich viel bedeutet, daß ich dich habe. Danke – du bist der Größte.« Es hat noch andere Männer in Andrews Leben gegeben, meist waren es kurze, enttäuschende Affären. Die einzige halbwegs vernünftige Beziehung dauerte vier Monate, während denen ich zwanzig Pfund zunahm und zu rauchen anfing. Als Andrew mit ihm Schluß machte, hörte ich sofort mit dem Rauchen auf und nahm zweiundzwanzig Pfund ab, vielen Dank auch. Ich selbst habe mich nie um Andrew bemüht. Nicht etwa, weil ich »der Größte« war, sondern weil ich wußte, daß er mich abweisen würde. Ich würde es niemals irgend jemandem erlauben, mich so zu demütigen. Unterwerfung ist eine Sache, aber sowas, nein danke. Mir war schon klar, daß er immer wieder mal darüber nachdachte, wie es wohl wäre, Sex mit mir zu haben, aber aus irgendeinem Grund schreckte er davor zurück. Vielleicht lag es an seiner negativen Einstellung zu meinem Beruf. Und auf diese Weise war ein Jahr vergangen, ohne daß sich was ergeben hätte... bis auf kleine Neckereien. Ich war sehr erleichtert, als Andrew eines Tages bekannte, daß er mit seinem Freund nie weiter gekommen war, als - 71 -
sich gegenseitig einen runterzuholen, weil er gefühlsmäßig noch nicht für mehr bereit war. Sich einen runterholen zählt nicht als Sex, also hatte ich immer noch eine Chance, Andrews erster Liebhaber zu werden. Jeder hat natürlich eine andere Definition, was als Sex zählt. Damals im College gab es drei Koreanerinnen – sie wohnten zusammen – die mir versicherten, daß sie treiben könnten, was sie wollten, es hätte nichts mit Sex zu tun, so lange ihre Jungfernhäutchen intakt blieben. Diese Einstellung machte sie natürlich zu begehrten Verabredungen, weil sie für alles zu haben waren, angefangen bei lesbischem Sex bis hin zu endlosem Oralverkehr und Arschficken. Obwohl ich diese Einstellung ziemlich lächerlich fand, muß ich zugeben, daß sich gegenseitig wichsen für mich kein »richtiger« Sex war, auch wenn ich das nicht begründen konnte. Wahrscheinlich war es einfach nur eine bequeme Ausrede, um Andrew weiterhin als Jungfrau zu sehen. So viel faulen Kompromiß mußt du mir schon erlauben. Um wieder auf diese Hochzeit zurückzukommen: »Zum zweiten Mal innerhalb von zwei Tagen kommst du mir mit diesem Thema. Um was geht es hier eigentlich, Andrew?«. Er zuckte mit den Schultern. »Und wie kommst du überhaupt drauf, daß ich da mitmachen könnte? Was ist, wenn irgend jemand Fragen stellt? Wie stehst du denn da, wenn wir Arm in Arm auf einer Hochzeit aufkreuzen, ziemlich eindeutig, findest du nicht?« Andrew ließ das nicht gelten. »Na und? Laß es doch eindeutig aussehen. Jedenfalls,« er senkte geschickt die Augen, um die Sache noch ein bißchen zu versüßen, »gebe ich dir hiermit die Erlaubnis... « »Erlaubnis? Er gibt mir endlich die Erlaubnis!« Ich neckte ihn ein bißchen. »Laß mich bitte ausreden; Ich gebe dir hiermit die Erlaubnis, ganz offiziell meine schwule Affäre zu sein. Ich möchte, daß wir da zusammen hingehen.« Kein schlechter Plan. »Werden wir Hadley, Minnesota unsicher machen?« Wie aus der Pistole geschossen. »Na klar, wie ein Wirbelwind.« »Kann ich über alles sprechen?« »Klar. Sag alles.« »Alles tun, was ich will?« - 72 -
»Tu's einfach.« »Und völlig unangebrachte schwule Themen in peinlich falschen Momenten zur Sprache bringen?« Andrew hob begeistert die Arme. »Ja! Ja! Ja! Wenn du willst, machen wir eine regelrechte Demonstration daraus, oder wir lassen es bei Andeutungen.« Wir brachen in eine tiefes, boshaftes Lachen aus. Die Idee, diesen Provinzlern eine schwule Beziehung vorzuspielen, war noch viel verrückter, als im Fummel ihr kleines Kaff unsicher zu machen. Alle würden herumrätseln: »Sind sie nun zusammen, oder sind sie's nicht?« Und der größte Witz wäre, daß wir es tatsächlich nicht waren. Auf jeden Fall konnte es unheimlich lustig werden, genauso, als würden wir es in meiner Heimatstadt tun, bloß daß ich in Hadley mit Sicherheit niemanden kannte. Außerdem war es eine Möglichkeit, ganz vorsichtig an Andrew ranzukommen, eine Art Probelauf für eine richtige Beziehung. Ein bißchen Praxis kann nie schaden, zumindest wenn es der Vervollkommnung dient. Er sah mich mit großen Augen an, und ich stimmte widerstrebend zu, ein Auto zu mieten, mit dem wir zur Südspitze von Minnesota fahren würden, um auf die Hochzeit einer Frau zu gehen, deren vermeintliches Ableben ich eben noch bejubelt hatte. Ich sollte das Auto besorgen, weil ich der Wohlhabendere von uns beiden war. Wegen meines Jobs war ich so sehr daran gewöhnt, ausgehalten zu werden, daß ich es eigentlich genoß, den Spieß einmal umzudrehen. Vielleicht hab ich ihm ja auch deshalb einen Teil der Miete erlassen. Hmmm. Anscheinend hab ich eine Veranlagung zum Sugardaddy. Andrew war total aufgedreht wegen der anstehenden Fahrt zur Hochzeit, und ein aufgedrehter Andrew war schon ein Erlebnis. Er lief auf Zehenspitzen umher, grinste dämlich, fing unvermittelt zu tanzen an, während er gerade versuchte, eine Dose mit Pfirsichen zu öffnen, oder sich einen Kaffee machte. Er ist so energiegeladen, so offenherzig auf eine Art, in der ich mich niemals vorstellen könnte (und über die ich mich bei anderen immer lustig mache). Das ist ein Grund, weshalb ich mich in ihn verliiieeebt habe. Uff. Während er herumtänzelte, wünschte ich mir, daß er zu mir kommen würde, um mit mir zu tanzen, eng umschlungen, und sei es nur, um einen Teil dieser Energie auf mich zu übertragen. - 73 -
Aber eigentlich war ich deshalb so verrückt nach Andrew, weil er so normal war. Er las Bestseller, hatte einen richtigen Job, trug schmutzige Klamotten aus der Dreckwäsche, kaufte bei Gap ein, hatte eine Ex-Freundin. Hatte Freunde. Er war einer von den Typen, die jeden Freitag eineinhalb Stunden mit ihrer Mutter telefonieren, einfach nur so. Er war der Sohn, den meine Eltern nie gehabt hatten, und er war Andy viel ähnlicher, als ich jemals zugeben wollte. Ich sehnte mich nach dieser Normalität, dieser Normalität und dieser fröhlichen Lebenseinstellung. Und diesem Dominanzgehabe. Und seinem Oberkörper, den darf man auch nicht vergessen. Außerdem ist Andrew schlau, nur daß er sich ein bißchen wie in einer Fernsehserie bewegt, was seine Aufmerksamkeit betrifft. Zweiundzwanzig Minuten, dann die Werbung, und schon macht er sich auf zum nächsten Kapitels seines Lebens. Sein Job paßte ganz ausgezeichnet zu ihm – er leitete eine Blockbuster-Filiale. Glotz, bis du dich zu Tode gelangweilt hast. Ein paar Pfennige für jedes kostenlose Video, das ich damals gesehen habe, und ich könnte Andrew einfach bestechen, mich zu bumsen. Andrew hatte Jill in einem Familien-Video-Laden in Hadley kennengelernt. Jetzt heiratete sie ihren Cousin, einen Schlägertyp, den Andrew während der ganzen Zeit mit ihr gefürchtet hatte. Dieser Bräutigam, er hieß übrigens Abe, war immer auf Jills Parties aufgetaucht und schien sich mehr als nur flüchtig für sie zu interessieren. Jill spielte es immer als Andrews übertriebene Fantasie herunter, aber wer Andrew kennt, weiß, daß er gar keine Fanatsie besitzt, soviel dazu. Andrew hatte sich irgendwann beruhigt, weil Abe zur Army ging und bei der Befreiung von Panama ewigen Ruhm erntete. Einige Monate lang hatten sie sogar gedacht, er wäre umgekommen, bis sich herausstellte, daß er sich unerlaubt von der Truppe entfernt hatte. Tatsächlich wurde er nach einer psychiatrischen Untersuchung entlassen. Gerüchten zufolge trug er seine gelbe »Support our troops«-Schleife so lange, bis sie sich in eine weiße »Senior Citizen rights«-Schleife verwandelt hatte. Jill und Abe würden hübsche Kinder haben. Was nicht dem Inzest zum Opfer fiel, würde die erbliche Veranlagung zum Wahnsinn erledigen. Ich sprang unter die Dusche und freute mich über die Tatsache, daß ich Andrews Affäre auf dieser Provinzhochzeit sein würde. Andrew - 74 -
hatte mir grünes Licht gegeben! Ich würde jedem erzählen dürfen, daß Andrew und ich schwul waren, und würde sogar darauf anspielen können, daß wir womöglich sogar ein Paar waren, wenn ich Lust dazu hatte. Das wäre der nächste Schritt in diesem rekordverdächtigen Coming-out. Natürlich gab es mögliche Gefahren, wenn man mal den Ruf des Bräutigams in Rechnung stellte und die Tatsache, daß die Hochzeitsgesellschaft wahrscheinlich nicht besonders vertraut mit dem schwulen Liebesleben war. Aber wenn man fünfundzwanzig Jahre alt ist und eine ganze Weile keinen guten Sex hatte, dann ist man einfach scharf auf ein kleines bißchen Spaß. Ich war bereit. Als ich aus der Dusche trat und mir Jeans und Rugby-T-Shirt anzog, hörte ich, wie Andrew mit jemandem sprach. Entweder hatte seine Mutter gerade angerufen oder der Vermieter hatte gemerkt, daß ich die kaputte Tür gegen eine schöne neue ausgewechselt hatte – ich bin eben sehr pingelig. Stell dir meine Überraschung vor, als ich Joe im Wohnzimmer antraf, wie er sich gerade mit meinem Andrew unterhielt. Natürlich wohnte er hier, aber er kam ziemlich selten rüber. Er zog es vor, in seiner eigenen Bude zu überwintern. Vielleicht tauchte er auch nur ab, weil er ahnte, wie sehr mich nervte, daß er mir gegenüber so unterwürfig war. »Nanu, Joe« Nanu, Joe? »Was machst du denn hier drüben? Brauchst du was?« Andrew? Mir gefiel es nicht, die beiden dort so nebeneinander sitzen zu sehen, Andrew schamlos in seidenen Pyjamahosen und Joe in einem schamlosen Jogging-Outfit – schwarze Radlershorts, ein kurzes weißes T-Shirt, rote Tennisschuhe ohne Socken. Die beiden hatten zusammen weniger an als ich unter meinen Klamotten. »Nein, nein, ich brauche nichts, wirklich«, flötete Joe. »Ich hab nur Andrew gefragt, ob er mir für heute abend einen Film besorgen kann.« All About Joe? »Was für einen?« Andrew strahlte. »Der Kleine möchte, daß ich ihm einen Porno besorge.« »Ich bin schließlich alt genug für sowas.« Joe machte den Spaß mit. Blockbuster hat gar keine Pornos. Nur Sex-Komödien. »Wie alt bist du denn, Joe?« Auf einmal war Andrew an Joes Biographie interessiert. - 75 -
»Siebzehneinhalb.« Manchmal konnte ich einfach nicht glauben, daß Joe nur rein zufällig kokettierte. So was ist ja nicht geschlechtsspezifisch. In diesem Moment hätte er nur noch eine Mütze mit einem Propeller drauf gebraucht. Was ich brauchte, war ein stumpfer Gegenstand. Joe flirtete einfach mit jedem, was nicht bedeutete, daß ich es gewohnt war, ihn mit Andrew flirten zu sehen. Ich kann ganz schön besitzergreifend sein. Besitzergreifend oder richtig zickig. »Hey, Andrew erzählte mir gerade, daß ihr zu einer Hochzeit fahren wollt.« Ich setzte mich auf den riesigen Thron, den ich aus einem pleitegegangenen Scherzartikelladen gerettet hatte, und begann in den Comic-Heften rumzuwühlen, konnte aber nichts annähernd so Albernes finden wie die Szene, der ich gerade beiwohnte. L'il Abner glotzte mich an und wartete darauf, daß ich auf Joes Sprüche locker reagierte. »Ja, stimmt. Ich bin seine Affäre. Dürfte spaßig werden.« Ta-taa. Ich knallte Joe ja nicht irgendeine schreckliche Anspielung hin, also fühlte ich mich auch nicht besonders grausam. Ich hatte gar keine Lust, ihn fertig zu machen. Ich mochte ihn wirklich furchbar gern, aber er war einfach ein großes emotionales Problem auf zwei Beinen. Er war mir verfallen, und das machte ihn zu einem wandelnden Spiegelbild meiner selbst in meinem Verhältnis zu Andrew. Und er war wirklich ein verdammt attraktives Kerlchen, das mußte man zugeben. Auf Joes Gesicht zeigte sich eine Ahnung, worum es hier ging. Er merkte, daß er nicht erwünscht war. »Na dann. Ich hoffe, ihr erzählt mir später, wie es gelaufen ist.« Er zuckte mit den Schultern, grinste, verabschiedete sich und joggte lässig zur Tür. Andrews Blick ruhte auf ihm ein kleines bißchen länger als nötig, er hatte einen nachdenklichen Ausdruck im Gesicht. Aber natürlich ist es schwierig, den Blick von einem Exhibitionisten abzuwenden, auch wenn es nur um eine kleine Spaßeinlage geht. Ich war ganz schön durcheinander. Ich hatte Angst, daß Andrew sich plötzlich für Joe begeistern könnte, was ja nicht ungewöhnlich gewesen wäre. Vor meinen Augen verschwammen die grellen Farben der Comic-Hefte, als ich versuchte, mich auf die Bilder zu konzentrieren. Dieser Zustand dauerte etwa zwei Sekunden. - 76 -
»Wie lange weißt du schon, daß Joe scharf auf mich ist?« fragte ich wütend und warf die Hefte beiseite. Andrew schloß die Tür, lehnte sich dagegen, als wollte er sie hermetisch abriegeln und die Außenwelt verbannen. Er sah mächtig aus, wie er da vor der hohen, weißen Tür stand. Vielleicht hatte ich die Tür ja unbewußt ausgewechselt, um einen besseren Hintergrund für Andrew zu haben, wenn er in dieser aufreizenden Pose dastand. Er legte den Kopf zur Seite und lächelte angestrengt, anders als sonst, wenn er seine hübschen Zähne zeigte. Oh, oh... »Seit ich weiß, daß du scharf auf mich bist.«
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BEICHTE 7: ICH BIN EIN ROMANTIKER Später am Abend lehnte ich mich in Gregorys altertümlichem Sessel zurück und genoß einen Augenblick der Ruhe nach zwanzig Minuten Unterhaltung. Mein Blick fiel auf eine Fotografie in einem Messingrahmen. Das zweidimensionale Porträt wirkte auf mich wie das archetypische Bild männlicher Schönheit. Es zeigte einen dunkelhäutigen Mann mit einem beeindruckenden, breiten Gesicht: tiefliegende Augen, welliges glänzendes Haar, volle Lippen ohne jeden Anflug von Fröhlichkeit, die aber eindeutig verwegen wirkten und eine gewisse Sanftheit versprachen, und Augenbrauen... »Wer ist das?« fragte ich müde, während Gregory mich beobachtete. »War das dein Ehemann?« Er antwortete nicht sofort, und als ich mich zu ihm umdrehte, bemerkte ich, daß er mich gerade verwirrt angesehen hatte. Zum zweiten Mal in zwei Tagen hatte ich jemandem ganz unschuldig eine schwerwiegende Frage nach einem geheimnisvollen Foto gestellt. »Nun ja, ich schätze, das war wohl mein Ehemann«, seufzte Gregory. Er machte eine Pause und fuhr dann mit einem plötzlichen Wortschwall fort. »Er war viele Jahre lang mein Geliebter, und ich habe ihn tief und innig geliebt. Wir haben ein Vierteljahrhundert hier zusammen gelebt. Unsere Liebesbeziehung bestand schon dreißig Jahre, bevor er hierherkam, um mit mir zu leben. Ja, man könnte ihn wohl meinen ›Ehemann‹ nennen... Jedenfalls war er nicht bloß mein Liebhaber.«, »Wahnsinn.« Ich war beeindruckt. Eine (schnell mal kopfrechnen und alles an den Fingern abzählen) fünfundfünfzig Jahre dauernde Beziehung zwischen zwei Männern. Die meisten Schwulen fühlen sich ja schon nach zwei Wochen wie verheiratet. Ich selbst hatte überhaupt noch keine Beziehung gehabt. Nicht eine. Aber meine Mitgift war nicht zu verachten. »Renaldo«, trällerte er, als hätte er meine Gedanken gelesen. »Ein Mann, der mich über seine wahren Gefühle im Unklaren ließ bis zu dem Tag, an dem er hier einzog. Aber als er sich endlich scheiden ließ und mit mir zusammenlebte, wußte ich ein für alle Mal, daß er mich - 79 -
liebte.« »Scheidung?« »Ja, ja«, lachte er fröhlich. »Weißt du, Renaldo und ich waren schon Liebhaber hier im Lake Shore, als wir noch Kinder waren, aber er machte ziemlich viele... Stimmungsschwankungen... durch, und heiratete schließlich eine Frau, die für ihn mehr wie eine Schwester war, er hatte sogar Kinder... und ließ sie schließlich alle im Stich... meinetwegen.« Unglaublich! Plötzlich kam mir Andrew richtig banal vor. Renaldo war ja ein potenzierter Andrew. Mir war klar, daß ich mit meinem Latein am Ende wäre, wenn Andrew jemals heiratete. Ich sah Gregory in ganz neuem Licht, mit Bewunderung und – nachdem ich einen zweiten Blick auf Renaldos Porträt geworfen hatte – mit Neid. Gregory war ein toller alter Knabe, aber um einen Typen wie Renaldo herumzukriegen, mußte er in seiner Jugend ein echter Valentino gewesen sein. Gregory strahlte. »Ich habe schon seit Jahren nicht mehr über Renaldo gesprochen – er starb im August '82, und keiner unserer gemeinsamen Freunde lebt noch, nur sein Bruder. Aber der ist nicht in der Verfassung, sich zu erinnern, nicht im geringsten.« Ich hatte die Vision eines stummen, gelähmten alten Mannes in Agonie. Gregory ging hinaus und kam mit einem kochend heißen Lammeintopf für uns beide zurück. Dieses Essen kam mir seltsam vertraut vor. Es erinnerte mich an das, was es früher bei uns gegeben hatte, es schmeckte nur besser. Während wir aßen, hörte ich Gregorys Erzählungen davon, wie er Renaldo kennengelernt hatte, und verlor mich in einer Liebesgeschichte, die viel komplizierter war als meine eigene. Laß dich nicht von Gregorys zähflüssiger Erzählweise irritieren. Ich hab's ja auch ausgehalten. Gregory wurde in England geboren und lebte dort, bis er fünfzehn war, daher kam auch sein leichter Akzent. Seine Eltern waren Adelige, junge, gelangweilte, charakterlose Snobs, die sich weigerten zu arbeiten, weil ihr Erbe groß genug war. Nach Amerika kamen sie zusammen mit ihren Eltern, die Anteile an einer Firma hatten, deren Sitz an einen möglichst gewinnträchtigen Ort verlegt worden war – nach Chicago. Die Knopfs zogen in den späten Zwanzigern ins Lake Shore Hotel, in eine großzügige Suite, die sie während der nächsten dreißig Jahre - 80 -
mit allen unmöglichen und platzraubenden Antiquitäten und Kunstwerken vollpackten, die sie kriegen konnten. Gregory hatten die vielen Unterschiede zwischen England und Amerika völlig verunsichert. Dieses wilde Amerika, so wurde ihm erzählt, habe einstmals zu England gehört, bevor seine anmaßenden Bürger es sich angeeignet hatten. Der kleine Gregory war fasziniert von den schwarzen Kindern, die er zum ersten Mal in seinem Leben aus der Nähe betrachten konnte. Diese schwarzen Kinder stammten aus den Mittelklasse-Familien des Hyde-Park-Viertels und waren furchtbar amerikanisch, sehr frech und lebhaft auf eine Art, die Gregory aus dem gemütlichen alten England überhaupt nicht kannte. Natürlich war es überhaupt nicht möglich, daß Gregory mit den schwarzen Kindern spielte – seine Begegnungen mit ihnen fanden heimlich in den hintersten Ecken des Süßigkeitenladens oder zu unbeaufsichtigten Momenten in dem kleinen Park des Lake Shore statt. Sogar als Heranwachsender war er immer noch begeistert dabei, Dinge zu erforschen, die anders waren. Verboten war natürlich auch jede Art gleichberechtigter Kommunikation mit den Latino-Familien, deren Angehörige im Lake Shore als Türsteher, Köche und Pförtner arbeiteten. Vom ersten Moment an war Gregory begeistert von, wie er es ausdrückte, »ihrer angenehmen Fröhlichkeit, ihrem großartigen Aussehen und ihrer aufrichtigen Arbeitsethik.« Mehr noch als die Schwarzen, die sein Vater so sehr verabscheute, daß er niemals mit einem von ihnen sprach, liebte Gregory die Latinos, die sein Vater für nicht besonders erwähnenswert hielt. Renaldos Vater war Kubaner, seine Mutter Italienerin. Ihr Sohn war ein Jahr jünger als Gregory, aber mit vierzehn Jahren schon eindeutig weiter entwickelt. Gregory hatte Renaldo vom ersten Tag seines Einzugs ins Lake Shore beobachtet, aber nie über den Grund dieser Faszination für einen anderen Jungen nachgedacht. »Ich erinnere mich noch gut an den Tag, als mir zum ersten Mal klar wurde, daß ich Renaldo gegenüber sexuelle Gefühle hegte«, erzählte Gregory, und sein dünnes Lächeln verwandelte sich in ein breites Grinsen. »Ich werde es nie vergessen, denn es war gleichzeitig der Tag, an dem er mich zum ersten Mal fickte.« Als ich mich über diese wunderbare Mißachtung jeder Romantik amüsierte, fügte er hinzu: »Machen wir uns nichts vor: Sex lohnt sich nur, wenn beide - 81 -
Partner es tun, um zuallererst sich selbst zu befriedigen, erst in zweiter Linie den anderen. Du bist ein Stricher – du weißt ganz genau, daß deine Kunden den besten Sex ihres Lebens mit dir haben, aber dir selbst macht es überhaupt keinen Spaß. Weil du es für sie tust, und überhaupt nicht für dich selbst.« Mein Schweigen schockierte mich, und Gregory legte sich wieder ins Zeug, um seine Geschichte fortzusetzen. »Diesen Tag werde ich nie vergessen – draußen tobte ein furchtbarer Sturm, die Wellen auf dem See machten mehr Lärm als der Donner selbst und überschwemmten den Park, weshalb wir schon alle auf der Hut waren, falls wir evakuiert werden mußten. Ich war gerade mal fünfzehn und hatte schon genug Selbstbewußtsein zu erkennen, daß ich mehr als nur der Sohn meiner Eltern war. Ich war ziemlich verärgert, denn wegen des Wetters mußte ich auf meine tägliche heimliche Exkursion runter zum See verzichten, die ich immer unternahm, wenn meine Eltern mich unten in der Küche beim Essen, in der Bibliothek oder in meinem eigenen Zimmer vermuteten. Ich saß da und kam mir ziemlich dämlich vor, weil meine Eltern wie immer aus dem Fenster starrten, egal ob dort etwas passierte oder nicht. Als würden sie fern sehen, zwanzig Jahre bevor das überhaupt erfunden wurde. Ich wußte, daß sie sich an diesem Tag ausschließlich mit dem Sturm beschäftigen würden. Ich ignorierte alle Vorsichtsmaßnahmen (wer weiß, was passiert wäre, wenn wir evakuiert worden wären und man mich nicht in meinem Zimmer gefunden hätte!), schlich aus dem Zimmer und lief die Stufen hinunter zu einem Treppenabsatz auf der Rückseite des Hauses, wo ich manchmal zum Alleinsein hinging und weil man von dort aus ganz ausgezeichnet beobachten konnte, wie Renaldo kam und ging.« Der »Absatz«, wie er es nannte, war ein drei Quadratmeter großer Bereich direkt über dem Treppenschacht. An der einen Seite war ein Fenster, und er war überall mit schweren Stoffen zugehängt, weil niemand dafür Verwendung hatte. Bis auf Gregory, der von hier aus aufmerksam wie ein Falke das Treppenhaus beobachten konnte und manchmal den Kopf durch die Vorhänge steckte oder, wenn er sich nicht traute, nur einen kurzen Blick riskierte. »Renaldo war für mich eine Idee, die Idee der großen Liebe, er war einfach mehr als nur ein Mensch. Das ist keine Verallgemeinerung, das ist Vergötterung! Ein Kompliment, keine Beleidigung!« erklärte - 82 -
er hastig, als ob ihn jemand deswegen getadelt hätte. Ich wunderte mich über Gregorys hektische Umstandskrämerei, und natürlich war ich eifersüchtig auf seine direkte Verbindung zur einzig wahren Leidenschaft, die ich zwar gelegentlich erahnen konnte, aber niemals wirklich erfahren hatte. Er erzählte seine Geschichten immer so gründlich, daß ich mir einbildete, sie wären mir passiert. Immer wenn ich an diese Geschichten denke oder versuche, Teile davon zu erzählen, beginne ich unwillkürlich, Gregorys Stimme zu imitieren, und sehe die Ereignisse durch seine Augen. Wie Gregory erzählte, war Renaldo für seine vierzehn Jahre schon sehr gut gebaut, aber noch nicht der kräftige Mann, der er später werden sollte – er besaß noch diese Weichheit der Muskeln, diese Glätte der Haut und war hübsch auf eine mädchenhafte Art, doch bald schon würde er sich in einen erschreckend schönen Marlon-BrandoTyp verwandeln. Auch wenn sein Aussehen – »meterlange Wimpern, Augen wie ein Reh, sanft geschwungene Lippen« (Gregory konnte nie davon aufhören.) – in seiner Anmut eher weiblich wirkte, war sein Benehmen alles andere als das. Renaldo war ein harter Bursche, aufgewachsen mit viel körperlicher Arbeit und wenig Aufsicht, ein eigensinniger kleiner Kerl. Er hatte die Begabung, Menschen genauso herumzuschubsen wie die Kisten, mit denen er zu tun hatte. Renaldo ging oft ins Souterrain, vorbei an Gregorys Absatz, der hinter einer halboffenen Tür lag, verdeckt durch die alten, schweren Vorhänge des hohen Fensters. Renaldos Schultern ragten aus dem ärmellosen weißen Unterhemd, seine Schenkel dehnten die abgetragenen schmutzigen Arbeitshosen. Er hatte einen abwesenden Blick, als würde sein Gehirn vor sich hinarbeiten, sich gegen jedes Eindringen von außen abschotten. Renaldo war ein echter Eigenbrötler. Renaldo merkte, daß er beobachtet wurde. Er sah immer hinüber zu Gregory, der auf seinem Absatz saß. Gregory war jedes Mal völlig verwirrt, wenn er dabei entdeckt wurde, wie er durch den Vorhang nach draußen spähte, und dann kam er aus seinem Versteck heraus und tat so, als hätte er nie vorgehabt, unbeobachtet zu bleiben. Er setzte sich auf den Rand und ließ seine blassen Beine zwischen den Stäben des Messinggeländers baumeln, das den Absatz umgab. Gregorys Blick war nie auf einen bestimmten Bereich von Renaldos Körper fixiert, sondern auf Renaldo als Ganzes. Renaldo - 83 -
hielt immer kurz inne, bevor er weiterging, und nickte Gregory kurz zu; Gregory fühlte sich jedes Mal wie vom Donner gerührt bei diesem kurzen Gruß, weil er nicht sicher war, ob es wirklich ihm persönlich galt oder vielleicht nur eine Art Ehrerbietungsgeste einem Höherstehenden gegenüber war. Gregory verehrte diesen rauhen jungen Kerl, der ihn kein bißchen an all die schmutzigen Sachen erinnerte, die Jungs mit Mädchen machten, von denen seine Freunde immer erzählten. Es war so ähnlich wie meine Heldenverehrung in Bezug auf Andy, merkte ich, nur daß ich ihn schon als kleinen Jungen gekannt hatte. Am Tag des Sturms wurde Gregory klar, was Sache war. Gregory wurde sehr still, und es kam mir so vor, als wären wir zusammengewachsen. Der Geist von Renaldo schwebte durch den Raum. »Ich saß dort auf dem Absatz, betrachtete trübsinnig das Wetter und sehnte mich nach etwas – ohne zu wissen, was das war. Auf einmal gab es eine heftige Bewegung neben mir und ich merkte, wie etwas Schweres gegen die Tür drückte. Noch ehe ich wußte, wie mir geschah, wurde ich niedergedrückt und fiel um, als die schiefhängende Tür aus den Angeln krachte. Verwirrt fand ich mich auf dem Boden wieder, und noch bevor ich mich orientieren konnte, bemerkte ich Renaldo, der in mein Versteck stürzte, die Tür notdürftig in den Rahmen zurückstellte und hastig die Vorhänge zuzog, bis es um uns herum total dunkel wurde. ›Ich wußte, daß du kommen würdest.‹ sagte er laut flüsternd. Er war klatschnaß, das Regenwasser tropfte von ihm herunter, als er so über mir stand. Ich wußte überhaupt nicht, was er damit meinte. Hatte meine Anwesenheit auf der Treppe eine besondere Bedeutung?« Noch so einer, an den Gregory mich erinnert: E. M. Forster. Oder die Art wie E. M. Forster schreibt, die Stimmung in Maurice. »Ich hatte plötzlich so ein gräßliches Gefühl im Magen; ihm so nahe zu sein, machte mir furchtbar angst. Ich versuchte aufzustehen und spürte, wie Renaldos Arme sich um mich schlossen, mich hochzerrten und an sich zogen. In meiner Familie war es nicht üblich, daß man sich berührte, und ich bin meinen Eltern wirklich dankbar für ihre Distanziertheit. Andernfalls wäre mein erstes Erlebnis körperlicher Nähe niemals so überwältigend gefühlvoll gewesen. Renaldo war klatschnaß, seine Haarsträhnen klebten in Zickzackmustern über - 84 -
seinen Augen. Er trug nur sein übliches Unterhemd, und sogar in dieser Dunkelheit konnte ich sehen wie sich seine Brustwarzen von dem dünnen, nassen Stoff abhoben. Er preßte mich gegen seinen Körper, und ich wehrte mich, weil ich die Absicht nicht erkannte. Warum sollte er mich umarmen wollen? Er tat es aber. Er umfaßte mich unbeholfen, rieb seinen ganzen Körper an meinem, bis ich das Gefühl hatte, gleich ohnmächtig zu werden, und dann nahm er mich. Ich wäre nicht weniger überrascht gewesen, wenn mir jemand erzählt hätte, die Marsmenschen stünden vor der Tür. Ich hatte keine Ahnung, daß es körperlich überhaupt möglich war, daß Männer sich küssen, ganz zu schweigen vom Geschlechtsverkehr.« Gregory lachte laut, als er sich an seine jugendliche Naivität erinnerte, eine Naivität, die ich niemals in meinem ganzen Leben besaß. Ich wußte immer, wo es langging. Bei uns zu Hause lag immer mal eine Ausgabe des Hustler herum oder von Penthouse, und ich hatte die Begabung, sie immer irgendwo zu finden. Ich merkte mir alles, was ich sah, und war mit acht Jahren schon eine wandelnde Enzyklopädie für jede Art Sex. Gregory lehnte sich nach vorn, um die Wirkung seiner Worte zu verstärken, und begann zu gestikulieren. »Er packte mich am Hemd, schob gewaltsam« (mit geballten Fäusten, heftige Bewegung) »meine Hände beiseite. Er rieb seine Daumen gegen meine Brustwarzen, und allmählich wurde mir das Ausmaß dieser Situation bewußt. Ich begann zu schreien und wand mich, aber seine Zunge auf meinen Lippen, in meinem Mund, ließ mich verstummen. Ich spürte, wie er mein Gesicht abküßte, als wollte er es verschlingen, und dann küßte er heftiger. Er biß in meine Lippen, bis sie beinahe bluteten, und ich merkte, wie mein Körper sich hingab, meine Beine zitterten – und plötzlich lagen wir auf dem Boden, meine Knie schwach und biegsam, als er sie mit seinen Schenkeln auseinanderbog. Ich klammerte mich an seinen Hals und stöhnte in seine Ohren, als er an meinem Hals knabberte. Er küßte und biß meine Brust, ich tastete unter seinem Unterhemd nach seiner Haut. Ohne Anleitung faßte ich in seine Hose und zerrte an seinem Schwanz, überrascht von der elastischen Weichheit und der geschmeidigen Spitze. In Sekundenschnelle stand er auf, zog sein Hemd aus, ließ die Hosen herunter – sein Schwanz war dunkelbraun mit einer rosa Eichel, die aus der Vorhaut herausragte. So etwas hatte ich noch nie - 85 -
gesehen, und sofort kam er mir unglaublich exotisch und verführerisch vor. Ich massierte seine Eier so lange mit den Händen, bis sie sich vor Erregung zusammenzogen. Er hielt seinen Schwanz und wichste ihn heftig, mit geschlossenen Augen, seine Zungenspitze im Mundwinkel. Ich faßte ihn an den Hüften und zog ihn zu mir. Ich wußte, daß ich seinen Schwanz blasen mußte, als würde das beweisen, daß es ihn wirklich gab. Er schwenkte ihn über mein Gesicht, und ich zögerte – er roch nach Schweiß und ungewaschen. Aber gleichzeitig war da dieses verlockende Gefühl: Das war Renaldo. Ich schluckte seinen Schwanz. Es ging nicht um den Geschmack, sondern um dieses großartige Gefühl, das pulsierende Herz eines anderen im Mund zu haben. Er setzte sich rittlings auf mein Gesicht – und ich leckte dankbar seine Eier, dann stöhnte ich, als er meinen Kopf faßte und mir seinen Schwanz in den Mund schob. Ich konnte kaum noch atmen – meine Augen traten hervor, als er meinen Mund fickte, und sein Ächzen und Grunzen belohnte mich dafür, als ich meine Kehle zusammenzog, um ihn auf Touren zu bringen. ›Du bist meine Frau‹, sagte er. ›Ich werde dich ficken wie eine Frau.‹ Das war primitiv, aber bei mir wirkte es.« Wir brachen in lautes Gelächter aus. »Er drehte mich um und zog mir die Hose aus, dann faßte er durch die Unterhose hindurch und steckte mir den Finger in den Arsch. Ich wollte genau das, stöhnte und hielt ihm meinen Hintern entgegen, stieß ihn wieder und wieder gegen den Finger. Ein zweiter Finger kam dazu, naß von Spucke – ich war so aufgelöst, daß ich nach diesen Fingern geradezu lechzte und nach der Spucke, die er direkt auf mein Arschloch tropfen ließ. Als er sich auf mich legte und seinen Schwanz reinsteckte, schrie ich auf vor Schmerz. Noch nie hatte mir etwas so weh getan! Ich versuchte davonzukriechen, aber er hielt mich fest. ›Nein!‹ schrie ich auf. ›Bitte tu es nicht!‹ Aber er stieß seinen Schwanz immer wieder und wieder und wieder in mich hinein, bis ich jenseits des Schmerzes angelangt war, und befahl mir, ruhig zu sein. Nach dem Schmerz kam dieses eigenartige Gefühl, nur noch Teil eines eingespielten, monotonen Mechanismus zu sein. Mein Arschloch war sein Schwanz. Ich war tatsächlich eine Frau, eine willige Hure für diesen brutalen Kerl, der sich nahm, was er wollte. Sogar als seine Stöße heftiger wurden und ich eigentlich um Gnade bitten - 86 -
wollte, verlangte ich, daß er fester und fester zustieß, bis ich fühlte, daß er seinen Schwanz ganz aus mir herauszog, um ihn dann mit aller Kraft wieder hineinzurammen. Ich kam in meiner Unterhose, im gleichen Rhythmus pulsierend wie seine Stöße. Bevor ich wieder bei Sinnen war, spürte ich, wie er sich in mich ergoß und aus mir herausrann, als er von mir abließ und nach hinten gegen die Wand fiel. Er keuchte laut. Aber dann hatte er sich auch schon wieder angezogen. Ich blieb stocksteif liegen, meinen Arsch nach oben gereckt. Sein Samen tropfte von meinen Hoden in eine Regenpfütze auf dem Boden. Und dann ging er. Vorher kniete er sich nieder, streichelte meinen Rücken und küßte mich durch die feuchten Haare auf die Stirn. ›Bis zum nächsten Mal‹, mehr sagte er nicht. Dann stürzte er durch die Vorhänge nach draußen und machte sich nicht mal die Mühe, sie wieder so zusammenzuziehen, daß sie mich verdeckten. Plötzlich war auch ich wieder angezogen und wie versteinert – ich traute mich nicht, mich zu bewegen, aus Furcht, entdeckt zu werden. Wie hatte das nur passieren können? Ratlos stolperte ich die Treppen hinauf. Ich hatte völlig vergessen, daß ich heimlich fortgegangen war. Meine Eltern waren empört, daß ich mitten im Sturm draußen gewesen war, während sie dachten, ich wäre im Bett. Sie bestraften mich hart, aber ich kann mich gar nicht mehr genau erinnern.« Gregory war aufgewühlt durch diese Schilderung seines ersten großen erotischen Erlebnisses. Es erinnerte mich an mein eigenes, aber seine Reaktion war tausendmal intensiver, geradezu theatralisch. Er starrte mich mit seinen winzigen Augen an und flüsterte: »Renaldo... « Ich sah Gregory an und konnte nur noch an Andy denken... Ich rutschte zu ihm hin wie auf Kommando, bereit, ihn zu ficken, wie es nur Renaldo bisher getan hatte. Mein Annäherungsversuch schockierte ihn. »Nein! Nein!« protestierte er heftig. »Warum?« fragte ich ruhig, mehr verwirrt als enttäuscht. »Du bist nur aufgegeilt. Du bist noch nicht halb so scharf auf mich wie du glaubst.« Er lachte trocken und sprang auf, um unsere Teller wegzubringen.
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BEICHTE 8: ICH BIN GEDULDIG Nachdem Andrew unsere Gefühle füreinander so plötzlich auf den Punkt gebracht hatte, setzten wir uns, um darüber zu reden, wie es weitergehen sollte. Andrews Verhalten hatte mein Verlangen geweckt, er sah es mir an und zeigte mir, daß er genauso fühlte... oder so ähnlich. Er gab zu, daß er sich niemals jemandem so nah gefühlt hatte wie mir und daß er sich vorstellen könnte, für immer mit mir zusammenzuleben, nur leider sei er noch nicht zu 100 Prozent bereit für die sexuelle Seite des ganzen. Das war wahrscheinlich das Schmerzhafteste, das mir jemals gesagt wurde. Ich war völlig ausgeliefert und hätte am liebsten laut geschrien. Es hätte ja keinen Zweck gehabt, meine Frisur zu ändern oder Vegetarier zu werden; selbst wenn ich netter oder gemeiner oder überzeugender geworden wäre, hätte es nichts genützt; es hatte keinen Zweck, irgend etwas an mir zu ändern, um ihn rumzukriegen. Ich steckte in einer Situation, die mir ganz und gar nicht gefiel. «Es ist so eigenartig«, sagte er zu mir, als wir auf dem Küchenfußboden saßen, mit Judy, seinem neuen Kätzchen. Andrew war das blühende Leben, wie er da so auf dem roten Linoleum hockte, mit seinem üblichen Sweatshirt über der Unterwäsche, die ich so mochte: Blendend weiße Boxershorts, die niemals schmutzig wurden, ein ärmelloses Unterhemd, wie es alte Männer und Models im Katalog tragen. Tennissocken. Er lehnte sich halb gegen eine Ecke des Küchen-schranks, und ließ die Schranktür durch die Bewegung des Oberkörpers rhythmisch auf und zu klappen. Ich lag flach auf dem Boden und hatte einen zerknitterten Anzug an, ohne Weste, und roch nach Eau de Cologne, was mir nach einem schweißtreibenden Tag wie diesem besonders gut gefiel. Ich war mit dem Richter im Theater gewesen. M. Butterfly. »Es ist eine eigenartige Vorstellung, Sex mit dir zu haben, nachdem wir die ganze Zeit ohne Sex zusammen waren«, sagte er. »Ich meine es ernst, wenn ich sage, daß ich dich liebe und daß du der hübscheste Kerl bist, den ich kenne, aber... ich weiß nicht. Ich glaube, ich muß - 89 -
das meinem Schwanz erstmal klarmachen.« Ich war sprachlos. Ich beobachtete das kleine weiße Kätzchen, wie es auf der Zeitung von gestern herumtollte. Es war noch so jung, daß es kaum richtig sehen konnte. Es stammte aus einem Wurf, den Malcolm, mein letzter Kater, zu verantworten hatte. Der gute alte sensible Malcolm, der sich nicht um seine Kinder kümmerte und noch wählerischer war als ich. Als ich herausfand, daß er die Katze von nebenan geschwängert hatte, war ich schon ein bißchen enttäuscht. Ich stellte mir gern vor, Malcolm wäre ein schwuler Kater. Morgens hatte er mich immer interessiert beobachtet, wenn ich mir einen runterholte, während Andrew unter der Dusche stand und ich mir vorstellte, ich sei das Wasser. Malcolm schnurrte immer und streckte sich, wenn ich in seine Nähe kam, und krallte sich in meiner leuchtend roten Decke fest. Tja, der gute alte Malcolm, der sich früher bei den Wichsern rumgetrieben hatte, war schließlich zum Kinderzeuger geworden. Vielleicht war er bisexuell. Oder einfach nur verwirrt. »Hörst du mir überhaupt zu? Ich versuche, dir die Sache zu erklären.« »Ja«, sagte ich verbittert, während ich das herumtollende neue Familienmitglied streichelte, »ich hör dir genau zu. Erzähl weiter.« Er seufzte schwer und dehnte seinen Brustkorb, indem er die Arme hinter dem Rücken bog. Seine Brust war wahrscheinlich angespannter als Bobby Bradys Arschloch. Andrew ist ziemlich schnell gestreßt. »Ich bin sexuell erregt, aber immer nur im Kopf... ich stelle mir vor, wie ich es mit einem Mann treibe, und es macht mich an. Sex mit Frauen erregt mich überhaupt nicht mehr. Aber mit Männern... daran zu denken ist echt geil.« »Aber wenn es dann zur Sache geht?« Er lächelte und bereute es womöglich gleich wieder. »Nichts zu machen. Als ich mit meinem ersten Typen zusammen war... es war einfach gräßlich. Irgendwie schaffte ich es nicht, den Gedanken an Sex mit meinem Körper in Verbindung zu bringen. Bei den anderen, mit denen ich was hatte... mußte ich mich zwingen... « Er bedeckte sein Gesicht mit den Handflächen, eine Geste, der ich schon immer mißtraut habe, weil dabei mehr versteckt wird als nur Nase und Augen. Was kam als nächstes? »Vielleicht mache ich ja Fortschritte... «, murmelte er. Ich kraulte Judys Brust und betrachtete mein Opfer eingehend. - 90 -
»Welche?« Plötzlich war der Raum kleiner geworden. »Wenn ich über all das rede, kann ich mir vorstellen, wie... es sein könnte, wenn wir uns lieben würden. Ich habe... zum Beispiel jetzt gerade einen Ständer.« Meine Nackenhaare richteten sich auf. Beinahe hätte ich die arme kleine Judy erdrückt. Zum Glück miaute sie erbärmlich, und ich ließ sie los, damit sie über das Horoskop tapsen konnte. Ich wollte ihn fragen, was er damit anfangen wollte, aber statt dessen legte ich impulsiv meine Hand auf die Innenseite seines Oberschenkels, berührte seinen Schwanz und spürte ihn an meiner Hand warm pulsieren. Er stöhnte und entspannte sich zu meiner großen Überraschung. »Fühlt sich gut an«, flüsterte er und sah mich durch seine verschränkten Finger hindurch an. Diese vier Worte, die jedes menschliche Wesen antreiben, sollten überall draufgedruckt werden, auf die Geldscheine, auf die Staatsflagge, überall hin: Fühlt sich gut an. Ich streichelte ihn sanft, und er rutschte mir entgegen. Meine Augen brannten, aber nicht von Tränen, sondern vor Sehnsucht. Ich begann in meinem Anzug zu schwitzen. Dann fiel seine Hand auf meine und er hielt sie fest. Ich sah ihn an und wußte... beinahe war es soweit, aber noch nicht ganz. Irgend etwas in ihm war wachsam und kämpfte gegen seine Versuche, sich zu öffnen. Ich fragte mich, ob es vielleicht damit zu tun hatte, daß ich als Callboy arbeitete. »Ich würde gern, aber... « Ich unterbrach ihn, indem ich ihn verständnisvoll anblickte, denn ich hatte keine Lust, mit ihm über meine Arbeit zu sprechen. »Du mußt dich nicht rechtfertigen, okay? Ich weiß nicht, wie es ist durchzumachen, was du gerade durchmachst, aber es ist bestimmt nicht angenehm. Du mußt mir nichts erklären, Andrew. Hör einfach auf und laß dir Zeit.« Ich wollte nicht zu barsch klingen. »Ich werde da sein.« Ich werde niemals aufgeben. »Wirst du? Da sein?« Er faßte mich an den Schultern, womit er das abrupte Ende unseres sexuellen Kontakts umso schmerzhafter machte. »Unser Mietvertrag geht schließlich noch bis zum nächsten Frühling... « Ich lächelte. Das war der dümmste Witz, den ich seit - 91 -
Monaten gemacht hatte, und wir beendeten unsere Unterhaltung mit Gelächter, während Judy auf mein Jackett pißte. Die meisten Schwulen würden sich über all das nicht beklagen. Trotz allem liebte er mich doch... Irgend etwas mußte geschehen. Bald.
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BEICHTE 9: ICH WILL KONTROLLE Ich ging ins Bett, aber nicht um zu schlafen. Ich onaniere gern. Ich mag es, mich anzufassen und zu beobachten, wie mein Körper unfreiwillig reagiert. Ich schließe die Augen, drehe meine Brustwarze und spüre, wie mein Schwanz sich aufrichtet. Ich warte mindestens eine Stunde, bevor ich es kommen lasse – es bringt einfach nichts, nach fünf Minuten schon abzuspritzen. Auf diese Weise kann ich meinen Körper auch soweit trainieren, daß mir nicht zu früh einer abgeht, und ich habe mich besser unter Kontrolle, wenn ich für Geld ficke. Wichs-wichs-wichs. Ich mag das Gefühl, wenn sich meine Hand um den steifen Schwanz legt, sich hoch und runter bewegt wie ein Kolben, ihn massiert und ein glitschiges Geräusch macht, wenn ein Lusttropfen meine Finger befeuchtet. Ich gehe völlig auf in diesem Vergnügen, mein Arm bewegt sich mechanisch in einem monotonen Rhythmus. Wenn es mir dann kommt, betrachte ich immer wieder aufs Neue dieses absurde Wunder eines steifen Schwanzes, der zuerst ganz unbeweglich dasteht, kurz davor, wie ein Vulkan diese klebrige Masse auszustoßen -und dann kommt der Moment, wo Sehen und Fühlen eins werden, und ich werfe meinen Kopf zurück aufs Kissen und stöhne: »Ja-ja-ja-ja-ja.« Seltsam – »Ja«, als würde ich den Orgasmus zulassen, statt mich seiner Macht hinzugeben. In solchen Momenten unbeschränkten Vergnügens habe ich das Gefühl, allmächtig zu sein, weil ich mir solchen Genuß verschaffen kann. Zwei Sekunden später bin ich zufrieden. Noch zwei Sekunden später fühle ich mich leer. Dann bin ich schlecht drauf – »Was bedeutet das alles?« Der Orgasmus ist eine Falle, das Wichsen aber das reine Glück. Sich einen runterholen hat nichts mit Einsamkeit zu tun. Das glaube ich nicht. Das bin ja nicht ich allein, das bin ich mit einem inneren Liebhaber, mit diesem Bild vom Mann meiner Träume, das ich in mir trage – und das sowohl Andrew als auch Andy oder irgendeinen anderen Ersatz weit überragt. Ich trage ihn immer in mir. Wenn ich - 93 -
sterben werde, muß ich nicht allein sterben. Das ist der Grund, warum ich so ungerührt und furchtlos schwul sein kann. Ich habe es nicht nötig, mich mit einem Dauerpartner um jeden Preis herumzuschlagen – »er« wird immer bei mir sein. Meine Hand hat keine Probleme mit ihren Gefühlen für mich. Ich wichse sogar nach einer Nummer. (Das ist doch der richtige Ausdruck dafür, oder? Ja. Okay. Klar.) So kurz danach kann es weh tun, aber es reinigt. Es ist ein Akt der Säuberung. Ich schlief ein, klebrig und rein.
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BEICHTE 10: ICH SEHNE MICH NACH ORDNUNG Ich war so frustriert wegen der Küchen-Szene mit Andrew, daß meine Dates am Freitag total danebengingen. Ich stümperte herum und hatte soviel Mühe, die Angelegenheit durchzuziehen, daß ich kaum auf die Bedürfnisse der Freier eingehen konnte. Der Richter war sehr verständnisvoll. Ich glaube, es hätte ihm schon gereicht, wenn ich ihm sonstwas in den Arsch gesteckt und was Dreckiges gesagt hätte. Normalerweise mochte ich es, mit dem Richter zusammen zu sein, weil es immer wieder erstaunlich war, wie sehr er Sex mit seiner Arbeit in Verbindung brachte. Er wollte, daß ich wie ein Straßenjunge redete, aufmüpfig war und so tat, als wären wir in seinem Büro, um einen Deal auszuhandeln. Ich fragte mich, ob er so etwas jemals in Wirklichkeit getan hatte, aber als ich ihn eines Tages beim Abendessen darauf ansprach, zwinkerte er nur und kaute weiter. Mein anderer Kunde war so brutal, daß ich mich entschloß, ihn fallen zu lassen. Er erwartete ganz besondere Aufmerksamkeit bei allem, was er verlangte, und mein offensichtliches Desinteresse statt großer Begeisterung darüber, daß ich was ganz Besonderes im Leben mitmachen durfte, weckte seinen militärischen Instinkt, und er brüllte, ich solle »aufwachen«. Das ist dann immer der Moment, wo ich den Schlußstrich ziehe. Ich zog meinen Schwanz raus und erklärte ihm so schnell, was Sache war, daß sein Arsch vibrierte. Vorbei waren die Tage meiner Jugend, als ein älterer Herr noch dankbar war, seine Zeit mit einem jungen Burschen verbringen zu dürfen. Was ist bloß aus der guten alten Dankbarkeit geworden? Wo ist eigentlich Dr. Dick abgeblieben? Seit meinem zweiten Zahnarztbesuch bei Dr. med. dent. Richard Perry, in jenem Sommer, als ich gerade fünfzehn (!) wurde, hatte ich mehr Geld, als ich brauchte. »Dr. Dick« (zuerst nannte ich ihn nur für mich so, später sagte ich es ihm ins Gesicht) war ein guter Zahnarzt und leistete im Gegensatz zu vielen seiner Berufskollegen immer saubere Arbeit. Er war ein einfacher Mann mit dunklem, teilweise - 95 -
angegrautem Haar, lebhaften haselnußbraunen Augen und rauhen Gesichtszügen. Er war ein Bär von einem Mann, aber sein Penis war verhältnismäßig klein. Nicht jeder kennt den Penis seines Zahnarztes. Ich kann ihn nur deshalb so gut beschreiben, weil ich in den zwei Jahren bis zu meinem Schulabschluß regelmäßig Sex mit ihm hatte und dabei ein hübsches Geldpolster für die Collegezeit anlegte. Mein erster Besuch bei ihm war recht spaßig, ich mochte seine Art. Und ich kam zu dem Schluß, daß er schwul sein mußte, denn seine Hosen waren ziemlich eng. Das ist immer ein deutliches Zeichen, wenn ein Mann Hosen trägt, die ihm viel zu eng sind. Bei meinem zweiten Besuch trug ich ziemlich weite Shorts und ein knappes TShirt. Mit fünfzehn war ich viel weiter entwickelt als zu der Zeit mit Andy. Ich war gebaut wie ein Erwachsener, auch wenn ich nicht gerade behaart war oder muskulös wirkte. Wenn ich mir heute Fotos von damals ansehe, wird mir klar, was ihn an mir faszinierte – ich war nicht »jungenhaft«, sondern sah eher wie ein handfester, sportlicher Hetero aus. Ich war mir meiner Attraktivität kaum bewußt und auch nicht der Tatsache, daß ich mich in ein ziemlich genaues Abbild meines Cousins Andy verwandelt hatte. Dr. Dick war da aufmerksamer. Er zitterte leicht, als er mit mir sprach, was mir sofort auffiel und der ganzen Situation etwas Bedeutsames gab. Er wollte von mir einige merkwürdige Details über meinen Schulalltag wissen (»Also, wo ist euer Umkleideraum ganz genau?«), bevor er mich über Sport ausfragte. Ich erzählte ihm, daß ich Sport haßte und nur an den Pflichtstunden teilnahm. Auf seiner Stirn bildeten sich Schweißperlen, als er mich weiter über den Turnunterricht und die Umkleideräume ausfragte. »Prügeln sich die Jungen immer noch in den Umkleideräumen?« fragte er, wobei er so tat, als würde ihm das mißfallen. »Was meinen Sie damit?« In meinem Kopf läuteten die Alarmglocken. Ich hatte eine Menge darüber gelesen, wie die alten Kerle um den heißen Brei herumreden, um einen auszuloten. Ich hatte Gore Vidals Geschlossener Kreis gelesen. »Du weißt schon.« (Während er an meinen Schneidezähnen herumpiekste, auf der Suche nach Löchern.) »Was Jungs eben so tun... sich gegenseitig mit Handtüchern schlagen... sich als ›Schwanzlutscher‹ - 96 -
beschimpfen... sich prügeln... « »›Schwanzlutscher?‹« fragte ich unschuldig und spreizte meine Beine ein wenig, so daß mein steif gewordener Schwanz beinahe zum Vorschein kam. »Jaja.« (Pieks, pieks.) »Benutzen die Jungs heutzutage immer noch solche Worte?« »Mmmm... ich weiß nicht... glaub ich nicht.« Ich zögerte, rieb mir die Augen, dann sagte ich: »Aber es kann sein, daß manche so was sagen.« Er unterbrach seine Arbeit und starrte mit gierigen Augen auf meine Hose. Dann legte er seine Hand auf meine Schulter, ließ sie dort liegen, ganz eindeutig und schwer. »Weißt du... es gehört sich einfach nicht, daß man über einen Jungen lästert, der nur etwas tut, das jeder irgendwann mal macht.« Ich sah meinem Zahnarzt in die Augen. Er bemühte sich um einen väterlichen Gesichtsausdruck, sah aber verzweifelt und ängstlich aus. Bei seinem Anblick hörte ich bares Geld in meinen Ohren klingeln. Ich glaube, genau das macht eine erfolgreiche Hure aus: Jemandes Leid zu entdecken und gleich dahinter die Möglichkeit, Profit daraus zu schlagen. »Meinen Sie denn, daß es in Ordnung ist, diesen... Sex-Kram mit... anderen Jungs zu machen?« fragte ich schüchtern. Dabei war ich unglaublich geil! Denk dran, das waren die Achtziger, nicht die Fünfziger. Rock Hudson bekam AIDS nicht wegen einer Spritze, und ich hatte meine Unschuld nicht an Caspar das freundliche Gespenst verloren. Ich war mir vollkommen darüber im klaren, was schwuler Sex war. Er blickte auf mich herab wie ein Versicherungsvertreter, der kurz vor Vertragsabschluß steht. »Aber ja, sicher, sicher. Es ist in Ordnung. Das ist absolut natürlich.« Sein Hand rutschte herunter auf meine Brust. Ich kam ihm entgegen, indem ich mich abstützte, so daß seine Finger auf meinen steifen Brustwarzen liegen blieben. Dabei tat ich so, als würde ich diese Berührung gar nicht registrieren. »Tun Sie denn sowas mit anderen Männern?« flüsterte ich mit weit aufgerissenen Augen. Und dann, bevor er antworten konnte: »Wollen Sie das auch mit mir machen?« Er preßte seine beiden Hände gegen meine Brust und rieb meinen - 97 -
Oberkörper durch den Baumwollstoff hindurch, langsam und ernst. »Oh, ja – ich würde es gern mit dir machen. Ich werde dafür sorgen, daß du dich sehr wohl fühlst und du wirst dafür sorgen, daß ich mich sehr wohl fühle... aber du darfst es (Pause, reiben) niemals (Pause, reiben) jemandem erzählen.« Von den Ermahnungen in der Schule kannte ich das alles schon, nur daß diese Warnungen auf etwas zielten, das ich eigentlich wollte. Ich wollte laut loslachen, beherrschte mich aber und lächelte glücklich, um mein Rollenspiel nicht zu gefährden. »Toll! Ich wollte schon immer so was mit einem Mann machen, und ich würde es so gern mit Ihnen tun!« Jetzt war der Moment gekommen, wo alle Kinderschänder, die sich genommen hatten, was ihnen nicht gehörte, ihre Schulden zurückzahlen mußten. Der gute Doktor war kurz davor, in Freudentränen auszubrechen, angesichts dieses unglaublichen Glücks. Seine sterile weiße Schürze fiel zu Boden, ich zerrte an den Knöpfen seines karierten Hemdes und stöhnte und japste beglückt, als er seine Hüfte gegen mich preßte. Er kostete diese für ihn so glückliche Fügung aus und sagte alle Termine ab. Und so wurde Dr. Dicks Glück sehr bald zu meinem eigenen. Ich habe ihn nie aufgefordert zu bezahlen. Ich wollte gerade damit anfangen, als er sich sein wiederhergestelltes Äußeres glattstrich. Aber er unterbrach mich mit verschwörerischer Stimme wie eine Katze, die gerade einen fünfzehn Jahre alten Kanarienvogel verspeist hat. »Du solltest wissen, daß das, was wir hier getan haben, ganz normal und natürlich war. Viele Männer tun das, ganz gewöhnliche Männer.« Ja, ja, ja, ich bin cool, ich bin schwul. Ich setzte ein zweites Mal an, um ihn nach dem Geld zu fragen. »Und außerdem,« fuhr er fort, »sollst du nicht denken, was wir hier gemacht haben, könnte schmutzig oder unsauber sein.« Abgesehen davon, daß er mir einen geblasen und den Samen runtergeschluckt hatte, hatte der Zahnarzt mir auch den Arsch geleckt, weshalb ich ein bißchen skeptisch war, ob seine Feststellung den Tatsachen entsprach. Natürlich war es schmutzig... Kam es nicht gerade darauf an? »Und,« sagte er dann, als er sich zu mir umdrehte und mir die Hand auf die Schulter legte, »ich möchte dir das hier geben.« Er schob hundert Dollar in fünf Zwanzigern in meine heiße kleine Hand. Wo hatte er plötzlich das Geld her? Er mußte es irgendwo - 98 -
zwischen seinem Zahnarztbesteck deponiert haben. Als ich ihm einen runterholte, hatte er ins Spuckbecken abgespritzt. Es hätte mich nicht gewundert, wenn er diese bazillentragenden Scheine zwischen den »sterilen« Instrumenten aufbewahrt hätte. »Ich will dich nicht bezahlen. Ich geb's dir einfach, weil ich dich mag.« Er hat nie wieder meine Zähne behandelt. Als ich im College mal zu einem Hetero-Arzt ging, waren meine Zähne aber absolut in Ordnung. Denn dort versetzten sie das Wasser mit Fluoriden, was Zahnärzte überflüssig machte. Ich denke oft an die Leute, die sich angeblich bei ihrem Zahnarzt mit HIV infiziert haben. Was soll ich dazu sagen? Mein Zahnarzt hat immer seine Gummihandschuhe anbehalten... na ja. Diese frühe Affäre fiel noch in eine Zeit, als ich mir nicht so schrecklich viele Gedanken über AIDS machte, so wie jetzt, wo ich zweimal im Jahr ganz aufgeregt zum HIV-Test gehe. Ich bin negativ. Bis jetzt. Trotzdem bereue ich nichts. Eher bin ich froh darüber, daß ich Dr. Dick, diesen korrumpierenden Engel, kennengelernt habe, aber vielleicht finde ich diesen Lebensabschnitt erst schön, seit ich Andrew kennenlernte, diese größte und frustrierendste Herausforderung aller Zeiten. Ich bereue nichts von dem, was ich getan habe. Nichts davon möchte ich ungeschehen machen. Ich finde es nur schade, daß ich keine Jungfrau mehr bin, in keinster Weise. Mein Körper wurde genommen und hat genommen, und zwar in jeder möglichen Stellung. Mit einem meiner Kunden habe ich herumgealbert, daß wir beide noch unberührt seien... in den Ohren. Also hat er eines Tages ganz spielerisch seinen Penis an meine Ohrmuschel gelegt. Jetzt bin ich nicht mal mehr da Jungfrau. Ich habe geliebt, also ist das auch vorbei. Die letzte Hoffnung, das letzte »erste Mal« war, einmal geliebt zu werden, und nun hatte ich Andrew, und damit war das auch vorbei. Es ist erschreckend. Ich werde nie mehr Jungfrau sein können. Ich kann mich nicht einmal mehr erinnern, wie das war, Jungfrau zu sein, außer daß ich nicht geliebt wurde. Daran erinnere ich mich noch gut. Ich mochte es nicht. Glaube ich jedenfalls. Aber ich bin mir nicht sicher. Während meiner Zeit des Auf und Ab mit Andrew erfuhr ich etwas über Joe, das mich wirklich überraschte. Ich war mit Joe ins Kino - 99 -
gegangen. Wir gingen ins Fine Arts Theatre, diesen alten Schuppen mit den hohen, gewölbten Decken, kunstvollen Ornamenten und mehreren Sälen, in denen Filmkunst gezeigt wird. Es ist ein toller Ort, um sich üppige und großartige und sehr britische Schinken anzusehen, Filme eben, die genauso altertümlich wirken wie das Kino. Es ist die Maggie Smith unter den Kinos, nur daß es noch fünfzig Jahre älter ist. Wir sahen uns ein paar Andy-Warhol-Filme an. Ich schlief beinahe ein, wünschte mir aber trotzdem, ich hätte die Factory erfunden. Joe dagegen langweilte sich zu Tode, außer bei dem Film, in dem diesem Typen einer geblasen wird. Das hat ihm sehr gut gefallen, vermute ich. Als es (endlich) vorbei war, saßen wir noch ein bißchen herum, bevor wir aufstanden und Joe fragte mich, wie man denn Drehbücher für Filme schreibt, in denen überhaupt nichts passiert. »Ganz einfach«, sagte ich. »Sie haben überhaupt kein Drehbuch geschrieben – darum geht's ja, alles passiert einfach so... Sie wollten auf alle Vorgaben verzichten.« »Ich finde das erschreckend«, meinte er, während er sich in seinen Sitz sinken ließ. Er trug sein liebstes T-Shirt und ausgebleichte kurze Jeans, die ihm bis zu den Knien reichten. Während der zwei Stunden mit der Klimaanlage mußte ihm ganz schön kalt geworden sein. »Mir wäre es lieber, ich hätte einige Vorgaben, an die ich mich halten könnte, verstehst du? Anstatt einfach nur, einfach nur alles wegzuwerfen und ganz von vorne anzufangen.« Ich glaube, ich sagte so etwas ähnliches wie »Was weißt du denn schon davon?« oder etwas anderes Abschätziges, denn er erzählte mir plötzlich, daß er einmal ganz von vorne hatte anfangen müssen und das überhaupt nicht gemocht hatte. Ich dachte, er meinte irgendeine ganz alltägliche Erfahrung, aber er schüttelte den Kopf. »Nein, nein, nicht so was – unser Haus ist abgebrannt.« »Im Ernst – das ganze Ding ist einfach so bis auf den letzten Rest abgebrannt?« Ich drehte mich halb zu ihm um und betrachtete sein Profil. Er nickte und eine Haarsträhne fiel im großen Bogen träge auf seine Nasenspitze. Gedankenverloren blickte er auf den Abspann dieses verschrobenen Films auf der Leinwand. »Mhm-hm. Das war vor vier Jahren. Es war wirklich schlimm – wir haben alles verloren. Ich brauchte neue Klamotten, neue Möbel und all das. Am schlimmsten - 100 -
war der Verlust meines – mein Gott, darüber hab ich schon lange nicht mehr nachgedacht, und nun hast du mich wieder darauf...« »Was hast du verloren?« bohrte ich nach. Das hatte ganz eindeutig nichts mehr mit Andy Warhol zu tun. »Ach, na ja, ich hab damals ein Tagebuch geführt. Jeden Tag habe ich meine Eintragung gemacht, es war ein Ritual, jeden Tag seit der dritten Klasse, als wir es in der Schule als Hausaufgabe bekamen. Ich hab es dann aber ganz allein für mich weiter geschrieben. Ich schrieb darüber, wie ich herausfand, daß ich schwul war, was es für mich bedeutete und so fort. Alles, was mir passiert ist, stand da drin. Und ein paar schlechte Gedichte. Und dann hab ich meine ganzen Aufzeichnungen verloren – alles was ich in meinem ganzen Leben jemals geschrieben hatte, ging in Rauch auf. Es war wie«, er suchte angestrengt nach einem Vergleich, »wie das Nichts. Es war einfach nichts. Einfach nur – puff!« Ich habe ihn nie gefragt, wie das Feuer ausgebrochen ist, weil ich ahnte, daß noch viel mehr hinter dieser schrecklichen Geschichte steckte. Aber ich habe noch lange über Joes großen Verlust nachgedacht. Der Gedanke, in einem einzigen Moment alles zu verlieren, macht mir angst. Was noch viel schlimmer war, ich besaß keinen einzigen Gegenstand, den ich wirklich ernsthaft vermissen würde... nichts so Persönliches wie ein Tagebuch (ich bitte dich!) oder Gedichte (also wirklich!) oder Kunstwerke (BITTE!). Aber dennoch, wie würdest du von vorne anfangen? Würdest du einfach vergessen, was du besessen hast, oder, im Falle von Tagebüchern, würdest du alles vergessen, was du bis dahin erlebt hast? In meiner College-Zeit führte ich mal ein sogenanntes Tagebuch, einen ganzen Monat lang, geschrieben von einem gradlinigen, unberührten kleinen Schüler. Es war wie eine zweite Existenz, aber gleichzeitig eine Art Schreibübung. Meine letzte Eintragung beschrieb, wie ich von meinen Kameraden vergewaltigt wurde und wie sehr ich es genossen hatte. Dann habe ich das Tagebuch ganz einfach in den Kasten für »Fundsachen« vor dem Büro der CampusZeitung geworfen. Die Überschrift des darauffolgenden Tages möchte ich hier nicht wiedergeben. Etwas später habe ich den Fehler begangen, Joe zu bitten, in sein Tagebuch nur Gutes über mich zu schreiben, und er hat mich mit diesen leeren Blick angesehen und ganz teilnahmslos erklärt: »Ich - 101 -
führe kein Tagebuch mehr.« Es war natürlich klar, daß Joe weiter so in den Tag hineinleben würde, wie jetzt mit siebzehn, weil ihm bewußt geworden war, wie gefährlich es ist, sich auf niedergeschriebene Erinnerungen zu verlassen. Sein einziges Glück war, daß das Feuer ihn davor bewahrt hatte auch die schlechten Dinge und solche, die er längst bereute, mit sich herumzuschleppen. Aber wenn es stimmt, daß ich, wie ich eben behauptet habe, keine wertvollen Besitztümer hatte, was würde dann vernichtet werden, wenn meine Wohnung abbrannte? Es gab nichts, das ich bereute, nur einige beklagenswerten Dinge und das Beklagenswerteste davon war: Ich hatte fünfundzwanzig Jahre damit zugebracht, absolut nichts anzusammeln. War es die Schuld von Dr. Dick oder meine eigene? Wen interessiert das schon? Das Ergebnis war das gleiche.
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BEICHTE 11: ICH BIN FUERSORGLICH Am Tag vor unserer großen Fahrt zur Hochzeit machte ich mich fertig, um bei Marshall Field's einen schicken -neuen Anzug zu kaufen. Was trägt man anläßlich der Vereinigung zweier Schwachköpfe? Marineblau ist immer gut, egal zu welcher Jahreszeit oder auf welcher evolutionären Stufe der Gastgeber. Es war schon spät – ungefähr 21 Uhr – aber Field's hatte bis Mitternacht auf und außerdem war gerade kein Schlußverkauf, weshalb ich mir ausrechnete, daß ich in aller Ruhe einkaufen konnte, wenn ich an einem Freitagabend losging. Auf diese Weise würde ich alles anprobieren können, ohne taxiert zu werden oder mit VerkäuferSchwuchteln flirten zu müssen, die garantiert extra ihre Schicht mit den weiblichen Angestellten getauscht hatten, um am ach so wichtigen Freitagabend dabeisein zu dürfen. Joe kam aus dem Badezimmer, umgeben von einer Wolke schwuler Gerüche nach Seife, Deodorant, Zahnpasta, ZU VIEL RASIERWASSER. Sauberer als sauber, als hätte er ein Seifenhäubchen aufgesetzt. Gerade diese übertriebene Sauberkeit machte die Gerüche so absolut schwul. Er trug eine weiße Jeans-Shorts, ein blaues langärmliges Jeanshemd mit aufgekrempelten Ärmeln, ein strahlend weißes T-Shirt darunter und dazu passende Socken, die bis zum Knöchel runtergerollt waren, und braune Slipper. Sein Erscheinungsbild wurde gekrönt von einem einfachen silbernen Kreuz, das auf seiner Brust herumhüpfte, als er in die Küche stürmte, auf den Lippen einen Song von diesem heiseren Katholiken, der ein Jahr lang überall lief. Hab vergessen, wie er hieß. Jeder einzelne mag ein Individuum sein, aber die meisten Individuen funktionieren innerhalb eines bestimmten Schemas. Man entdeckt Stereotypen genauso wie unangenehme Wahrheiten. Es gibt klar erkennbare Gruppen, deren Angehörige sich meist eindeutig von anderen unterscheiden. Es ist nicht ganz abwegig, bei der Suche nach coolen Lesben darauf zu achten, wer Doc Martens trägt. Die Schwulen erkennt man leicht am superkurzen Haarschnitt. Innerhalb dieser - 103 -
großen Einheiten gibt es Untergruppen. Das war schon in der High School so, wo sich jeder für eine von fünf Gruppen entscheiden konnte. Das ist das Breakfast Club-Syndrom. Unter den Schwulen gibt es verschiedene Gruppen. Die größten Untergruppen sind die der Ausgeh-Schwulen. Da gibt es die ClubKids. Die Club-Kids kleiden sich schwarz, und staffieren sich mit schockierenden Accessoires aus wie Matrosenmützen, gräßlichen Ringen, benutzen das Make-up ihrer Mutter, Plateau-Schuhe, Umhänge aus Gaze, Trockenblumen-Arrangements, was auch immer. Sie fühlen sich als Künstler, egal ob sie jemals etwas kreiert haben oder nicht. Außerdem sind sie viel zu cool, um jemals einen Finger zu heben und zu arbeiten oder ihren immensen IQ für niedrige Denksportaufgaben zu verschwenden. Statt dessen inhalieren sie alles, was ihnen unter die Nase kommt, und versuchen, sich dabei gegenseitig zu übertreffen, bis einer von ihnen tot umfällt. Dann ändern sie plötzlich ihren Lebensstil und werden echte Langweiler, dumpf dreinblickende Allzweckangestellte, oder machen so lange weiter, bis sie die nächsten sind, die in die Kiste springen. Mit ihnen verwandt sind die Party-Boys. Die Party-Boys werden von ihrer Lust angetrieben, die Club-Kids tun nur so als ob. PartyBoys tragen Jeans-Sachen, haben die gleichen Mittelklasse-Ideale wie ihre Eltern (mit einer abweichenden Vorliebe für Techno-Musik), und vertreten eindeutige moralische Vorstellungen und Werte, die sie nur nicht auf Sex anwenden, weil da alles erlaubt sein soll. Sie sind so amerikanisch wie Applepie, wählen heimlich Republikaner, sehnen sich nach teuren Autos und einem Anwesen im Grünen und waren irgendwann einmal mit einer Frau zusammen. Wie die Club-Kids gehen sie vor allem aus. Aber im Gegensatz zu den Club-Kids reden sie sich nicht ein, daß sie ausgehen, um Spaß zu haben. Sie wissen, sie kommen in einen Laden, um aufzufallen, sich umzutun, jemanden abzuschleppen oder sich abschleppen zu lassen. Der echte Spaß kommt erst später, wenn sie und die Burschen, die hier mit ihnen rumhängen, abspritzen – wo auch immer. Party-Boys trinken viel, nehmen aber keine Drogen, außer Dope, das für sie nicht als Droge zählt, und verbringen ihre Jugend mit deprimierenden dreiwöchigen Sex-Beziehungen, ficken wild in der Gegend herum, lassen sich gelegentlich Feigwarzen wegmachen, haben Mühe, sich die HeteroFrauen in ihrem Betrieb vom Leib zu halten, die sie hinter ihrem - 104 -
Rücken »Quarktaschen« nennen, gehen brav zu Familienfesten, lehnen es ab, darüber zu sprechen, wer ihrer Meinung nach als nächster heiraten wird, und haben gutbezahlte, solide, unspektakuläre Jobs. Sie tragen gern ein Goldkettchen, weil das was hermacht. Sie werden alt auf ihren Barhockern und machen sich über ihre eigenen Jugendfotos lustig. Lange bevor sie mit fünfzig eines natürlichen Todes sterben, wünschen sie sich schon, tot zu sein. (Tut mir leid, ich bin kein Cheerleader. Ich weiß, daß es eine Million großartige Sachen übers Schwulsein zu erzählen gibt. Aber leider gibt es gleichzeitig diese zwei Millionen ekelhaften Sachen darüber zu sagen. Was wäre andererseits die Alternative? Hetero sein? Asexuell? Bi? Nichts davon ist besonders erstrebenswert oder weniger konfliktreich.) Obwohl ich ihn immer als Club-Kid bezeichnet habe, war Joe ein Party-Boy der Luxusklasse, mit einem Hauch von Club-Kid. »Wo gehst du hin?« fragte ich ihn, während ich mich gegen den Türrahmen zwischen Küche und Wohnzimmer lehnte. Er tanzte auf der Stelle und schenkte sich dabei zum dritten Mal einen Saft ein. »Ins Boykultur«, antwortete er, indem er das Wort falsch aussprach. Ich schwöre dir, daß jede Schwuchtel in der ganzen Stadt glaubt, daß dieser Laden »Boypicture« heißt. Witzigerweise können diese BodyNazis die Deutschen nicht mal richtig imitieren. Das Boykultur war ein riesiger Kuppelbau, eine groteske Spielwiese mit Emporen, auf denen Männer fickten, kurzum, der erste Chicagoer Nachtclub im New Yorker Stil. Hier trieben sich die Party-Boys herum, hier fanden sich genug verschwendungssüchtige Club-Kids ein, um dem Laden ein gesundes Überleben zu sichern. Darüberhinaus wurde gelegentlich eine Mini-Orgie gefeiert, bei der irgendeine abgehalfterte Diva vor einer Horde Zeitschriften-Redakteure auftrat, wodurch eine Menge Kohle reinkam. Wer im Boykultur nicht abgeschleppt wurde, hieß es, der schaffte es nirgendwo. »Ich treffe mich mit Steven und David.« (Beide waren dafür bekannt, daß sie immer solche hübschen kleinen Mützen trugen.) »Eine Menge Matrosen sollen in der Stadt sein. Die Woche der Flotte. Das wollen wir nicht verpassen.« Er lachte verschmitzt. Nach drei nervtötenden Stunden hatte er das Badezimmer endlich wieder freigegeben. »Du glaubst wohl, du bist unwiderstehlich?« fragte ich spitz. - 105 -
Joe kicherte und tanzte einen Shimmy, als einer von diesen verhärmten Taylor-Dayne-Songs aus seinem Ghetto-Blaster dröhnte. Er antwortete nicht, er tanzte einfach seine Antwort. »Nun«, sagte ich väterlich, »sei bloß vorsichtig, wenn du mit diesen Kerlen zu tun hast. Die gehen ganz schön ran. Abgesehen davon ist ein Matrose nicht gerade der ideale Ehemann.« Ich haßte es, wenn ich versuchte, so darum herumzureden, obwohl ich tatsächlich besorgt war. Aber wer war ich denn eigentlich, daß ich mir Sorgen machen durfte? Ich war bloß ein beschissener Stricher, der einem Jungen lächerliche Vorschriften machen wollte. »Ich bitte dich«, lachte er und tänzelte in sein Zimmer. »Ich paß schon eine ganze Weile auf mich allein auf.« Was ja das eigentliche Problem war. Ich ging ins Badezimmer und durchsuchte den Medizinschrank, wobei ich Joes Föhn runterwarf und kaputtmachte – hupps! – muß ich ihm ja nicht sofort beichten. Ich holte meinen Elektrorasierer raus und eliminierte die Stoppeln im Gesicht, bevor ich losging, um mein Glück bei Marshall Field's zu versuchen. State Street, diese verderbte Straße... Wenn ich noch länger wartete, würde ich mir den Weg mit dem Ellbogen durch eine Ansammlung verheirateter Schwarzer bahnen müssen, die vor Woolworth cruisten. Willkommen in der drittgrößten Stadt der Vereinigten Staaten. »Sei einfach ein bißchen vorsichtig«, rief ich. »Du tust ja gerade so, als hättest du den Rat deines Freundes nicht mehr nötig.« Nur weil ich nicht mit dir schlafen will, sollst du nicht mit jedem anderen außer mir schlafen. Falls Joe das vorhatte, wäre er hinterher sowieso nur frustriert. Ich wäre dann das letzte noch fehlende noch-nicht-malwirklich-seltene Baseball-Sammelbild, das in dem Set von 792 Stück noch fehlte. Mir war nie klar, wann Joe mich ernst nahm und wann er über mich lachte. Jetzt, als ich mich gerade rasierte, tauchte er plötzlich hinter mir auf und umarmte mich warm und herzlich. Ich verspannte mich, und er merkte es, aber er ließ nicht ab, bis ich meine Arme auf das Waschbecken sinken ließ, mich entspannte und seine Umarmung entgegennahm, ohne meine Arme zu benutzen. Als Joe mich losließ, konnte ich sein Gesicht im Spiegel sehen, seine braungebrannten Wangen, sein sanftes Lächeln; ein Bild von einem Jungen, die Essenz des Männlichen. Ich spürte mich wieder zu ihm hingezogen, aber nur - 106 -
für einen kurzen Augenblick. Ich beschäftigte mich weiter mit meiner Rasur, und er mit seinen vor-vorletzten Ausgehvorbereitungen. Offenbar traf er sich erst zum Anheizen mit seinen Freunden, bevor sie dann richtig loszogen – was man im Boykultur vor Mitternacht antraf, waren entweder Tuntenmütter oder irgendwelche Soziologen, die empirische Daten über sie sammelten. »Du weißt, daß ich dich brauche«, sagte Joe mit einem melancholischen Unterton, wobei er sich unnützerweise bemühte, ganz ernsthaft zu erscheinen, obwohl man ihm das ja ansah. Nachdem er noch eine Weile zu seinen Party-Tapes herumgehüpft war, stürmte Joe aus der Tür gen Mekka. Ich weiß nicht, wieso ich die ganze Zeit über Joe nachdachte. Ich glaube, meine Pleite mit Andrew und die Renaldo-Geschichte von Gregory machten mir immer noch zu schaffen, und Joe war einfach die naheliegendste Adresse für meine Gefühle. Kurze Zeit später ertappte ich mich dabei, wie ich über den Flur ging und in sein leeres Zimmer starrte. Alles darin war so jugendlich, ein einziges Durcheinander von Sachen, die jedermann nur in seiner Jugend toll findet – außer den Schwulen, die solche Sachen ihr ganzes Leben aufheben. »Was gibt's?« Ich schrak zusammen. Es war Andrew. Er stand ganz dicht neben mir. Ertappt! Aber ich tat ja nichts Schlimmes, oder? Andrews Blick fiel an mir vorbei auf die neueste von Joes Errungenschaften, eine große Puppe vom Jahrmarkt, zurechtgemacht wie Madonna. »Ganz schön kreativ, unser Mitbewohner, wirklich kreativ.« »Er ist kreativ,« sagte ich verteidigend. »Er ist großartig. Er ist nur... etwas verstört.« Wir wußten beide, daß Joes in Heimarbeit hergestellten Armbänder nicht der Rede wert waren. Andrew sah mich seltsam an, und ich fühlte mich auch seltsam, aber gleichzeitig gut, weil es richtig war, Joe zu verteidigen. Obwohl ich mich lieber gegenüber Andrew verteidigt hätte, mit dem Rücken zur Wand, heftig von meinem Gegner bedrängt. »Alles klar für die Hochzeit?« Natürlich war ich fertig. Das Auto stand bereit, ich hatte meinen kleinen Koffer schon vor eine halben Ewigkeit gepackt, und in weniger als einer Stunde würde ich einen nagelneuen Anzug besitzen. - 107 -
Ich hatte alles bestens organisiert. Ich hatte einen hübschen Eiskübel besorgt, ganz professionell verpackt. Ich hatte zwei schlaflose Nächte verbracht und darüber nachgedacht, wie krank die ganze Veranstaltung sein würde. War ich fertig? Ja, allerdings. »Ich muß nur noch zu Field's, dann hab ich alles. Dann ist es dein Job, mich nach Minnesota zu bringen.« Andrew würde fahren. »Und deiner, mir dabei zu helfen, es heil zu überstehen." »Ich komme einfach nur als unmoralische Unterstützung mit,« antwortete ich. »Überstehen wirst du es ganz allein.« Er sah müde aus. Vielleicht hatte er wegen des Fests auch schon ein paar schlaflose Nächte hinter sich. »Du bist nie einfach nur dz. Du bist überhaupt nicht unwichtig. Du bist dagewesen, als ich mir so viele Gedanken darüber gemacht habe, du bist derjenige, der mich unterstützt hat. Sogar mehr noch als meine Mutter; jedenfalls hast du nicht geheult, als ich dir erzählt habe, daß ich schwul bin.« Er atmete langsam aus. »Du bist mein Fels.« Beide, Andrew und Joe, liebten mich also wegen meiner Ausgeglichenheit. Ich dagegen liebte Andrew wegen seiner Wankelmütigkeit. Für viel zu viel Leute war ich ein Fels. Das zog mich runter. »Wir sehen uns morgen früh«, antwortete ich und schlich durch den Flur davon. Meine Schulter streifte die Wand, als ich leicht taumelte, weil mich eine plötzliche Müdigkeit überwältigte.
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BEICHTE 12; ICH BIN ALTMODISCH Am nächsten Morgen gab es einen plötzlichen Temperatursturz und leichten Frost. Perfekte Reisebedingungen. Die Reise nach Hadley, Minnesota war eine Erfahrung, die Männer zusammenschweißen konnte. Sie hatte alle Elemente eines gutgemachten Films über eine Männerfreundschaft, bis auf die Tatsache, daß die normalerweise unausgesprochenen homosexuellen Untertöne hier ganz deutlich zutage traten. Andrew benahm sich ziemlich bescheuert während des ersten Teils der Fahrt, weil er seiner Ansicht nach eine Art gute Tat vollbracht hatte, als er zugab, mich zu lieben und mich ein bißchen an sich ranließ. Er benahm sich wie ein frischgebackener Vater. Ich dagegen war extrem launisch. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so miserabel gefühlt. Mein Sieg schien ziemlich läppisch, so ganz ohne Sex. Und dann waren da noch diese neuen Gefühle, die ich plötzlich für Joe empfand. Aus diplomatischen Gründen gab ich vor, ich wäre einfach nur schlecht gelaunt. Ich glaube, er spürte meinen verzögerten Frust, nach meiner einfühlsamen Reaktion auf seine Offenbarungen in der Küche. Hinzu kam die nette Nachricht auf einem Zettel in Häschen-Form, die Joe am Morgen unter meiner Tür durchgeschoben hatte: »Falls ich Dich nicht mehr sehe, viel Spaß auf der Hochzeit. Alles Liebe.« Einfach nur »alles Liebe«, kein Name. So süß. So gefährlich. »Warum gehst du immer noch auf den Strich?« fragte Andrew ganz plötzlich. Manchmal hatte er wirklich eine Begabung, die hundertprozentig falsche Frage zu stellen und mich total nervös zu machen. Er stellte die Frage in einem gezwungen neutralen Ton. Ganz eindeutig war er wegen meiner Arbeit ziemlich verunsichert. Ich schreckte aus meinem Tagtraum auf, sank noch etwas tiefer in meinen Sitz und sehnte mich nach Doughnuts mit Kaffee. »Weil ich eine Menge Geld damit verdiene und es sehr interessant ist,« anwortete ich unwillkürlich. »Im übrigen hasse ich diese Formulierung ›auf den Strich gehen‹.« - 109 -
»Was ist daran so interessant?« Ich preßte mein Gesicht gegen das kalte Glas der Windschutzscheibe auf meiner Seite und beobachtete, wie mein Atem sich abzeichnete. Wenns unbedingt sein muß, können wir auch drüber reden. »Ich hasse die Menschen, Andrew, aber gleichzeitig faszinieren sie mich. Sie sind so eigenartig. Sie laufen herum und strotzen vor Selbstbewußtsein, machen Geschäfte, kommen mir mit Moral, und plötzlich bricht die Fassade zusammen, und sie geben sich diesen barbarischen, zügellosen Ritualen hin... « »Sex?« Ich verdrehte die Augen. »Schon mal davon gehört?« Fünf Meilen später kam er wieder auf diesen Gedanken zurück. »Ich glaube, ich verstehe, was du meinst.« Nein, das tust du nicht. »Aber das kommt mir alles so... schrecklich... vor, daß du Sex mit Leuten hast, nur weil dich die Neugierde treibt. Nur um zu sehen, wie ihre Fassade bröckelt.« »Was sollte ich sonst für einen Grund haben?« Ein dünnes Lächeln zeigte sich auf seinem sonst so unnatürlich ernsthaften Gesicht. Vielleicht fragte er sich ja, ob ich mich an unser Gespräch in der Küche erinnerte und was es mir bedeutet hatte. »Liebe?« Er zuckte mit den Schultern. »Jetzt bist du mir in die Falle gegangen, Andrew.« Ich hob tadelnd den Zeigefinger. »Denk mal drüber nach, was du gerade gesagt hast. Wenn es so wäre, daß wir immer nur Sex mit Leuten haben, die wir lieben, dann müßtest du aus eigenem Antrieb Sex mit mir haben wollen, anstatt dir hier im Auto auf der Fahrt zu dieser Hochzeit den Arsch abzufrieren.« Er drückte die Arme durch und preßte sich in den Fahrersitz. »Nein... nein. Das stimmt nicht. Wir müssen nicht mit jedem ins Bett gehen, den wir lieben, aber wir sollten jeden lieben, mit dem wir ins Bett gehen... Ist das nicht logisch?« Ich malte kleine Smileys auf die beschlagene Scheibe. »Nein«, grummelte ich. Dann faßten wir uns plötzlich an den Händen. Warum ging ich weiterhin meiner Arbeit nach? Ganz unverhofft kam mir einer meiner Kunden in den Sinn. Mein unliebster Stammkunde war Cort gewesen, ein Mann in den Vierzigern, sehr, sehr kräftig gebaut, ein Rotschopf mit Schmissen im - 110 -
Gesicht und einer strikten Art, die ihn eindeutig als Soldat auswies. Er war ein Bekannter meines Richters. Ein unbeweglicher Klotz, dessen Bekanntenkreis kaum aus mehr Personen bestehen konnte als dem Richter, ihm selbst und neuerdings mir. Ich erinnere mich noch genau an Corts allerersten Anruf. Er klang so, als würde er lieber Liegestützen machen, als über seine sexuellen Vorlieben zu reden. »Ich will deinen Körper verehren«, erklärte er. »[Der Richter] hat mir erzählt, dein Körper ist einfach wahnsinnig... « »Mhm-hm.« »Und du wirst in mich eindringen.« »In den Mund oder in den Arsch?« Ich konnte mir nicht verkneifen, ihn ein bißchen zu provozieren. »Beides,« antwortete er und brachte mich damit um das Vergnügen, ihn so ein schmutziges Wort wie »Arsch« benutzen zu hören. Wir verabredeten uns für ein Date drei Wochen später, den ersten Samstag, den ich frei hatte, aber er rief mich drei Tage früher an und verlangte, daß ich ihn so schnell wie möglich bumsen sollte. Ich mag nicht, wenn man mich drängt, aber ich war neugierig. Außerdem war ich an diesem Abend frei (bildlich gesprochen), nachdem der Richter abgesagt hatte. (Ich hatte den Verdacht, daß Cort den Richter angerufen und ihn gebeten hatte, sein Date zu verschieben.) Ich sagte zu. Ich kam als erster ins Hotel. Ein paar Minuten später ließ ich ihn herein und dirigierte ihn zum Sofa. Ich setzte mich gegenüber auf einen Stuhl. Ich trug nur noch einen weißen Bademantel und Badeschuhe, meine Haare waren noch naß, weil ich kurz geduscht hatte. Irgendwie wußte ich, daß Cort, so präzise wie er sich immer ausdrückte, ein Sauberkeitsfanatiker war. »Freut mich zu sehen, daß du dich gewaschen hast«, sagte er. »Ich mag saubere Männer.« Ich lockerte den Gürtel des Bademantels, zog ein Knie an und stellte den Fuß auf den Stuhl. Diese Haltung war total obszön – er konnte meinen Schwanz sehen und ein bißchen von meinem Arsch. Ich zog diese Show ab, um ihn aus der Reserve zu locken. »Fährst du wirklich auf einen sauberen Mann ab?« fragte ich in unschuldigem Plauderton. »Wirklich?« - 111 -
Mir war klar, daß Andrew auf seine mißbilligende Art davon ausging, daß ich bei jedem Date mit neuer Lust an die Sache ranging. Cort stand auf und zog sein Polo-Shirt aus. Er lächelte nicht. Seine Erregung brodelte hinter der Maske des Unbeteiligten. Sein Oberkörper war breit, eckig, durchtrainiert und fest. Seine Brusthaare waren rostfarben, aber ansonsten war er wenig behaart, bis auf dieses Gewusel von orangeroten Haaren rund um seinen Schwanz, den ich sah, als er seine Jeans auszog. Ich war total fasziniert von diesem orangefarbenen Schamhaar, fasziniert und etwas unangenehm erregt – ich kämpfte gegen eine undeutliche Erinnerung an, von einem nackten rothaarigen Mann in der Umkleidekabine im Schwimmbad meiner Heimatstadt, dem ersten erwachsenen Mann, den ich nackt gesehen habe. Cort behielt die Socken an und ein kleines Goldkreuz an einem Goldkettchen, das komischerweise einen Linksdrall hatte. Ohne etwas zu sagen, kniete er sich hin und rieb sein Gesicht an meinem Bauch, leckte mich mit einem Ernst, als hätte er eine Tüte Eis vor sich. Er leckte und saugte an meinem ganzen Oberkörper und ließ sich für die Achselhöhlen jeweils fünf Minuten Zeit. Eine Zunge auf dem eigenen Körper zu spüren, ist ein schönes Gefühl – geleckt zu werden, ist eine tolle Sache, egal welche Emotionen dahinterstehen. Es verursacht das reine Wohlgefühl. Es fühlt sich gut an. Ich trainiere nie. Ich bin gut gebaut und mußte mir nie wegen meiner Muskeln Sorgen machen. Ich bin nicht gerade Charles Atlas, aber mein Körper hat nie jemanden enttäuscht, nicht mal den anspruchsvollen Cort, der seine Zurückhaltung seufzend und mit wachsender Erregung vergaß. Dann kam das unvermeidliche Blasen. Er war gut darin, geschickt genug, um zu wissen, wann er wie ein Wahnsinniger saugen und wann er sich zurückhalten mußte, um ganz leicht zu lecken und zu kitzeln. Wer auf Cort abfuhr, wäre dabei wahrscheinlich schon gekommen. Meine Eier machten ihn total an, vor allem die feuchte Zone direkt hinter dem Sack. Die Sauberkeitsfanatiker sind immer total scharf auf Ärsche. Natürlich leckte er zielstrebig auf mein Loch zu, was ich eigentlich nicht so gut fand, deshalb wechselte ich das Thema. »Willst du, daß ich dich in den... « »Ja, « unterbrach er mich. »... Arsch ficke?« - 112 -
»Ja,« sagte er und versuchte noch mal schnell, ein bißchen was vom Geschmack meines Lochs zu erhaschen. Ich stand auf, holte das Kondom aus der Tasche meines Bademantels, schob es über den Schwanz und schmierte es ein. Ich schmierte den ganzen Rest ForPlay auf meinen Gummi und seinen Arsch. Er kniete sich auf das Sofa, die Hände auf die Lehne gelegt, die Knie auf den Kissen, den Arsch nach oben gereckt, weit gespreizt und unter meinen glitschigen Fingern vor Erregung bebend. Ich steckte ihm einen Finger rein und war angenehm überrascht, wie eng er war. Ich machte weiter, bis er stöhnte, was mir immerhin bewies, daß er trotz allem kein Roboter war. Ich fickte ihn ohne jedes Gefühl; er war damit absolut zufrieden. Er holte sich einen runter, während ich ihn fickte und kam kurz nach mir. »Ich komme nie als erster«, murmelte er und brach zusammen, triefend von Schweiß, Sperma und Gleitgel. Er entschuldigte sich und ging ins Badezimmer. Er ließ die Tür auf, er wollte wohl, daß ich ihm zusah, wie er sich mit einem feuchten Waschlappen den Arsch saubermachte. Er wusch den Waschlappen aus und legte ihn gefaltet auf den Rand der Duschkabine. Dann wusch er sich das Gesicht, starrte sich einen Moment lang im Spiegel an und kam dann zum Sofa zurück, um sich anzuziehen. Ich brachte meinen Bademantel in Ordnung. Ganz unterwürfig fragte ich: »War das okay?« Er sah mich an und war kurz davor, etwas Unüberlegtes zu sagen, riß sich dann aber zusammen und erklärte kurz: »Das war prima. Du hast es gut gemacht.« Er ließ einen Briefumschlag mit Geld für mich da, und ich brachte ihn zur Tür – er wollte vorausgehen, um das Zimmer zu zahlen. Vorher redeten wir noch ein bißchen über dies und das. Immerhin fand ich heraus, daß er während der letzten Jahre in zwei verschiedenen Städten gelebt hatte, ein weiterer Hinweis darauf, daß er Soldat war. Angesichts seines unfreundlichen, stocksteifen Benehmens fragte ich mich später, ob nicht besser die Schwulen das Militär aus ihren Reihen ausstoßen sollten statt umgekehrt. Als er gerade gehen wollte, holte ich meinen Schwanz noch mal heraus und verlangte ohne Drumherum, er solle hinknien und ihn sauberlecken. Er tat es, ohne zu zögern und stand danach gleich - 113 -
wieder auf. Ich salutierte, und er runzelte die Stirn. Beim nächsten Treffen erzählte er mir, sein Nachname sei Marshall. »Cort Marshall? Du heißt ›Cort Marshall‹? Na ja, ich habe schon unpassendere Pseudonyme gehört.« Er lächelte nervös und sah gar nicht fröhlich aus. »Ich hab sowieso nie geglaubt, daß du ›Cort‹ heißt; du kamst mir eher wie ein ›Anthony‹ vor.« Er stolperte, als er ging, einer der seltenen Momente, in denen er Schwäche zeigte. Ich hatte womöglich richtig gelegen. Aber der eigentliche Grund, warum ich Cort meinen unliebsten Freier aller Zeiten nenne, war sein Moralischer kurz vor meiner Abreise nach Minnesota, als er mir eine Geschichte erzählte, die mich ziemlich kalt erwischte und bei der es mich jetzt noch eisig überlief, als ich Andrews Hand hielt. »Es könnte sein, daß du mich infiziert hast«, sagte er wie nebenbei, als wir uns abtrockneten. Ich spürte, wie mich ein furchtbarer Schreck durchzuckte. »Und? Bist du's?« fragte ich viel zu schnell. »Nein«, sagte er. »Ich glaube nicht. Aber wenn du es hast, dann könnte ich es auch haben. Ich hab dich nicht in meinen Mund abspritzen lassen, aber ich hab dein Sperma geschmeckt. Ich hab dir den Arsch geleckt. Und noch mehr.« »Also weißt du, wenn ich eine AIDS-Broschüre brauche, geh ich rüber in die Klinik und hol mir eine... « Er hörte nicht auf. »Wie alt bin ich wohl?« Ich versuchte nett zu sein. »Neununddreißig?« Er verzog das Gesicht. »Ich bin achtundvierzig. Ich hab immer mal wieder hier in der Stadt gelebt, seit ich fünfunddreißig bin. Vorher hab ich in San Francisco gewohnt. Ich hab Urlaub in Key West gemacht und war auch mal in Saugatuck. Ich hab's mit mehr Männern getrieben, als ich mich erinnern kann oder will. Ich hab gefickt, wann immer ich Lust daraufhatte, aber ich hatte gleichzeitig auch feste Beziehungen. Jedes Mal wenn einer von ihnen krank wurde«, er dachte einen Moment nach, »war ich erstaunt. Ich wußte nicht, was ich davon halten sollte. Ich bereitete mich darauf vor, der nächste zu sein.« Er rauchte und nahm einen tiefen Zug, bevor er weiterredete. »Statt dessen wurde aus der Schwulenpest GRID, aus GRID wurde - 114 -
AIDS, aus HTLV3 wurde HIV und Kofaktoren, Menschen mit Aids, AZT... was auch immer. Ich bin niemals krank geworden. Meine Tests waren immer negativ. Alle meine Liebhaber, alle meine Freunde sind gestorben. Sie starben«, betonte er, als könnte er es noch immer nicht glauben. »Mal hörte ich es über Umwege von dem einen, mal erreichte mich die Nachricht direkt über einen anderen, mal fand ich die Anzeige in der Zeitung oder bekam eine Weihnachtskarte mit dem Aufdruck ›verstorben‹ zurück. Ich habe sogar anonyme Benachrichtigungen bekommen. ›Jemand, zu dem sie eine intime Beziehung hatten, hat AIDS‹. Sie sind alle an AIDS gestorben, manche 1982, manche ein Jahr, manche zwei Jahre später... Einer von ihnen starb erst letztes Jahr, ein anderer ist positiv, aber noch gesund, noch ein Tod, der mich in den nächsten Jahren oder Monaten oder Stunden erwartet. Ich habe nie verstanden, wieso ausgerechnet ich gesund geblieben bin. Warum ich? Bin ich etwa superimmun? Dann hab ich ein bißchen nachgerechnet und festgestellt, daß ich mit all diesen Männern Sex hatte – Ficken, Lecken, Blasen, alles – bevor sie sich infiziert haben. Albert – das ist der, der immer noch lebt – glaubt, daß er sich im Darkroom einer Bar infiziert hat, in die er seit 1981 geht, kurz nachdem wir uns trennten. Jede Wette, daß er sich bei dem nächsten Kerl angesteckt hat, mit dem er fickte. Ich habe überlebt, weil ich Glück hatte. Ich hatte Glück, weil ich immer in dem Moment Reißaus nahm, als es brenzlig wurde, ohne daß es mir bewußt gewesen wäre...« Cort war am Ende. Er hatte gar nicht so viel erzählen oder preisgeben wollen. »Ich müßte eigentlich längst tot sein«, sagte er schließlich. Dann sah er mich an und sagte: »Du eigentlich auch.« Ich beendete das Date und weigerte mich, ihn jemals wiederzusehen. Als ich »wieder zu mir kam«, merkte ich, daß ich die Geschichte von Cort gerade Andrew erzählt hatte. Ohne irgend etwas auszulassen, hatte ich sie heruntergeleiert. Als wären die Gedanken auf einem Ticker-Streifen direkt aus meinem Kopf gekommen. Ich weiß nicht, ob ich das tat, um Andrews Gefühle für mich zu testen oder aus zerstörerischem Antrieb oder mit irgendwelchen anderen Hintergedanken. Die letzte Möglichkeit machte mir am meisten angst. Auf diese Weise erfuhr er zum ersten Mal Einzelheiten über meine - 115 -
Arbeit. Der Ekel in seinem Gesicht stand in extremem Gegensatz zum Mitgefühl, das mir seine streichelnden Fingerkuppen vermittelten. »Laß uns mal anhalten«, sagte ich plötzlich, wobei ich ihm unwillkürlich die Hand entzog. »Ich muß pinkeln.« Andrew hielt an einer Raststätte, und ich zog ab zur Toilette, während er tankte, damit wir in einem Rutsch bis nach Hadley kamen. Die Toilette war das übliche Horrorkabinett, ein enges verkommenes Loch, in dem noch nicht mal die Larve einer Stechmücke überlebt hätte, ganz zu schweigen von einem zerbrechlichen, empfindsamen Wesen wie mir. Ich verschloß die Tür hinter mir, atmete durch den Mund und ging zum Pissen ans Waschbecken. Ich war nicht etwa plötzlich durchgedreht oder so – die Pißbecken waren verstopft und voll. Scheiße im Pissbecken, Pisse im Waschbecken, ich wollte gar nicht wissen, was womöglich in der Kloschüssel war, die sich in einem Holzverschlag an der Wand hinter mir befand... Seife vielleicht? Als ich fertig war, säuberte ich das Waschbecken so gut es ging mit eiskaltem Wasser aus dem Hahn, der mit einem »W« gekennzeichnet war, erfrischte mir das Gesicht und trocknete es mit dem Zipfel meines Hemds ab. Hauptsache kein Kontakt mit dem Handtuch, das aus dem Handtuchspender hing wie Rotz aus der Nase eines Sechsjährigen. In der Tat sah der sauberste Teil dieses Handtuchs aus, als hätte ein Sechsjähriger hineingerotzt, falls es nicht die Wichse eines sechsunddreißigj ährigen Fernfahrers war. Ich werde nie verstehen, was so toll an Klappensex sein soll. Für mich ist das Aufregende ja gerade, alles über denjenigen zu wissen, mit dem ich es treibe, nicht garnichts. Auch wenn ich nicht so ein Sauberkeitsfanatiker bin wie Cort Marshall, meide ich doch lieber solche Treffpunkte, wo Schimmelpilze die Wände überziehen und irgendwelche unbekannten Viren in den Mülleimern hausen. Was für eine geile Nummer soll man denn an so einem Ort erwarten? Ich sehe Vincent Price vor mir, wie er mich durch das Fickloch anlächelt. Der Spiegel war immerhin sauber genug, daß man etwas darin erkennen konnte, aber was ich sah, erfreute mich nicht besonders. Ich sah ziemlich stoned aus, mit Ringen unter den geröteten Augen und erweiterten Pupillen. Wenn ich mir die Wangen tätschelte, würde ich wahrscheinlich auch nicht lebendiger aussehen, aber schaden konnte es nicht. Patsch-patsch-patsch... - 116 -
Das war wohl ein Erkennungszeichen, denn jemand versuchte plötzlich, die Tür zu öffnen, und fluchte vor sich hin, als er merkte, daß abgeschlossen war. Hätte schlimmer kommen können; hätte ich die Tür nicht abgeschlosssen, hätte mich irgend ein Kerl dabei ertappt, wie ich meinen Schwanz ins Waschbecken hängte. Ich stopfte ihn zurück, zog den Reißverschluß hoch und riß mich zusammen. Ich nahm mir vor, Andrew keine Kriegserinnerungen mehr zu erzählen, bis wir ein paar klärende Worte über meinen Beruf gesprochen hatten – er würde garantiert alles mißverstehen, weil ich ihm bisher nur die unangenehmsten Sachen erzählt und spaßige Erlebnisse und lehrreiche Erfahrungen weggelassen hatte. War ja kein Wunder. Bevor ich rausging, fuhr ich mir noch durchs Haar und stellte mich mir in einem Hochzeitskleid vor, mit einem Gesicht, daß wie Millionen Diamanten hinter dem Brautschleier glänzte. Ich würde garantiert toll aussehen. Vielleicht sehnte ich mich ja auch nach dieser einen Frage, auf die jedes Mädchen wartet... »Los, mach schon, Kumpel!« Schluß mit dem Blödsinn. Ich rappelte mich zusammen und öffnete die Tür. Draußen war die Luft wieder brauchbar. Was zum Teufel ist das denn? war mein erster Gedanke, als ich das häßliche Monster sah, das auf die Toilette wollte. »Ich hab nicht in das Pißbecken geschissen«, versicherte ich hastig und ging zurück zum Wagen. Dann rief ich aus sicherem Abstand: »Aber an deiner Stelle würde ich nicht aus dem Wasserhahn trinken!« Wir fuhren weiter. Ich wollte die Sache nicht einfach so auf sich beruhen lassen, also fuhr ich Andrew nach ein paar Meilen an: »Wenn du meinst, daß mein Hang zur Prostitution krank ist, dann sieh dich mal selbst an. Deine Sex-Phobie, was ist das denn?« Andrew verdrehte die Augen. Ich bin mir ziemlich sicher, daß er genervt war, weil ich erst am Boden zerstört gewesen war und nun schon wieder rumnörgelte. »Und? Fällt dir dazu irgendwas ein?« »Ja«, antwortete er zurückhaltend, »das schon. Ich meine halt nur, daß man Sex nicht verkaufen sollte wie Schokoriegel.« »Warum nicht?« Er schnaubte. »Über diese grundsätzlich Frage kannst du selber - 117 -
nachdenken.« Nachdem er sich etwas beruhigt hatte, sagte er: »Ich weiß nicht. Ich bin nun mal sexuell konservativ erzogen worden. Es war... Ich hatte immer die Vorstellung, daß Sex etwas ganz Großes, Besonderes sein muß, aber alle anderen in der Schule nahmen es so locker, und alle gingen so mies damit um.« Und was war ich? Nett? »Und die Sache mit dem Schwulsein gehört auch dazu. Immer wenn ich etwas über Schwule hörte, hatte es mit Sex zu tun. Du weißt doch, wie das damals war, wenn man in den Siebzigern und Achtzigern aufgewachsen ist. Alle wußten eine Menge über Schwule, das meiste von Anita Bryant, die andauernd zeterte, wie eklig sie wären. Statt sie und die anderen einfach zu ignorieren, nahm ich es irgendwie an. Ich wurde defensiv und dachte: ›Wir sind nicht alle nur sexbesessen... manche von uns haben auch Moral.‹ Jedenfalls hatte ich da diesen Freund, oder besser einen Fan, den Sohn eines Freundes von meinem Vater. Er war ein paar Jahre jünger als ich und fest davon überzeugt, daß ich der coolste Typ überhaupt war.« Ich sah ihn ungläubig an. »Nein, wirklich. Ich war zwar beliebt, aber dieser Junge war so ein Schleimer, daß er mich zu einer Art Gott machte. Es machte mich völlig verrückt, ehrlich. Es war, als hätte ich zuviel Macht. Und natürlich wußte ich, daß ich schwul war oder bi oder so, aber er wußte es nicht – auch niemand sonst – weshalb seine Verehrung für mich wie die Belohnung für etwas war, das man gar nicht getan hat. Einmal saßen wir in meinem Auto vor seinem Haus. Ich brachte ihn von einer Party nach Hause, und es war höllisch anstrengend, ihn aus dem Wagen zu bekommen – er fragte mir die ganze Zeit Löcher in den Bauch, wie man es schaffen könnte, total cool zu sein, Mädchen anmacht und so was. Wir sprachen über Musik, und aus irgendeinem Grund kam er plötzlich auf das Lied, das gerade im Radio lief und das der AIDS-Hilfe zugute kam, du weißt schon.« Ich nickte. »Zuerst dachte ich: Heilige Scheiße! Er ist auch schwul! Aber als ich dann davon anfing, wie toll ich es fände, daß sie das ganze Geld für die AIDS-Hilfe spendeten, machte er ein angewidertes Gesicht und sagte: ›Ach, tatsächlich?‹ und meinte dann, daß die AIDS-Kranken es gar nicht besser verdient hätten, denn Tunten wären sowieso nur Typen, die vom vielen Rumbumsen so gelangweilt wären, daß sie - 118 -
dann abartigen Sex ausprobierten, Sex mit anderen Männern. Das war seine ehrliche Meinung über Schwule. Er dachte sie seien... « »Wir seien... « stellte ich klar. »... wir seien bloß Perverse, abartige Typen, die immer was Neues brauchen, damit ihnen einer abgeht. Das hat mich total genervt, und das war der einzige Punkt, wo dieser Junge nicht mit mir einer Meinung war. Alles andere, was ich sagte, hat er sich gemerkt und nachgeplappert, aber er wollte nichts davon wissen, daß Schwule etwas anderes sein könnten als pervers.« Am Straßenrand tauchte ein Schild auf: HADLEY 120. »Ich habe mich nie als pervers empfunden. Ich fand mich immer ganz normal, bloß daß mein Traum von der großen Liebe von einem Jungen und nicht von einem Mädchen handelte. Ich schaffte es schließlich, diesen Typen loszuwerden – was er mir nie verziehen hat. Immer wenn mein Name erwähnt wurde, machte er mich schlecht. Allerdings hat er wohl nie herausbekommen, daß ich ihn fallen gelassen habe, weil ich schwul war.« »Und deshalb... « »Und deshalb habe ich meine Schwierigkeiten mit dem Thema Prostitution. Und mit Schwulen, die andauernd mit einem anderen ins Bett gehen. Ich weiß, daß Heteros es auch wie die Kaninchen treiben, aber der Punkt ist folgender: Nachdem ich herausgefunden hatte, daß der einzige Unterschied zwischen mir und einem Hetero ist, in wen ich mich verliebe, wollte ich genau die gleichen Tabus haben wie Heteros. Rumbumsen ist mies. Prostitution ist unmoralisch. Das hab ich im Hinterkopf, damit muß ich mich rumschlagen, okay?« Ich nickte und schaute aus dem Fenster. Mir wurde klar, daß die Sache schwieriger war, als ich angenommen hatte. Ich dachte wehmütig an die Zeit, bevor Andrew wußte, daß ich ihn liebte und er mich. Ich dachte daran, wie es gewesen war, einfach nur die Wohnung zu teilen. Einmal hatte es einen echten »Brady Family«-Moment gegeben, vor ewigen Zeiten, als ich einmal mitten in der Nacht aufgewacht war und ins Wohnzimmer stolperte, mit dem dringenden Bedürfnis nach einem Glas Wasser aus der Küche. Es war eine von diesen Nächten, wo man sich mit achtzehn Wolldecken ausstattet, weil eine Kältewelle angesagt wurde, und dann wacht man auf und stellt fest, daß die - 119 -
Heizung viel zu hoch gestellt und die Luft im Zimmer viel zu heiß und trocken ist. Von wegen Küche. Statt dessen fand ich mich plötzlich auf allen vieren wieder zwischen lauter herumliegenden Typen, die über den Raum verteilt in Schlafsäcken steckten. Es war wie eine große Pyjama-Party. Die beiden direkt vor mir wachten auf und versuchten herauszufinden, ob es sich um einen Einbrecher oder nur einen von ihnen handelte, der sich mitten in der Nacht an sie ranmachte. Es war mir peinlich, daß ich mich auf einen Hintern fallengelassen hatte, um meinen Sturz zu mildern. »Entschuldigung«, flüsterte ich, dabei fühlte ich mich gar nicht danach. Ich war stocksauer. »Was ist denn hier los?« »Wir sind abgestürzt«, sagte einer der Typen. Es war einer von Andrews Kollegen aus dem Videoladen, Larry, so eine Art Goofy, der immer eine Baseballmütze trug. Sogar im Bett, wie sich jetzt zeigte. Wenn sie abgestürzt waren, wieso taten dann mir die Knie weh? Ich stand auf und fragte, ohne mich um die Lautstärke zu kümmern: »Was ist denn hier los? Seid ihr alle betrunken oder was?« »Nein«, grunzte Larry, »wir sind nicht betrunken, wir sind müüüüüde.« Der andere Kerl, den ich aufgeweckt hatte, begann zu kichern. Es war Andrews anderer Kollege Terry, eine ziemliche Schwuchtel, obwohl er Stein und Bein schwor, daß er es nicht war. Er war eine Petze, man konnte ihm nicht trauen – erst kürzlich hatte er Andrew erzählt, daß ein Kollege ein Videoband gestohlen hatte, als ob das nicht jeder tat. Terry verlor völlig die Kontrolle, er kicherte und schnappte nach Luft. Das ist wie wenn man Besuch hat, unglaublich müde ist und trotzdem über alles mögliche redet, bis die dämlichsten Ideen total witzig klingen und man so heftig lacht, daß man sich in die Hose pißt, was man dann am nächsten Morgen verbergen muß. Aber nicht daß du denkst, so etwas wäre mir schon mal passiert. Ich wankte in die Küche, machte das Licht an und betrachtete die Bescherung, während ich mir ein Glas echtes Chicagoer Leitungswasser einschenkte. Sämtliche Gläser, die wir besaßen, standen herum, halbgefüllt mit Wasser, Bier, Wein und/oder Soda; ungefähr neuntausend aufgerissene Tüten mit Chips, Bretzeln und (würg) Combos lagen herum; dazu noch fünf fettriefende Pizza-Kartons, die - 120 -
den ganzen Platz auf der Anrichte einnahmen und einen Teil des Fußbodens. Hatte man mich betäubt? Wie hatte ich während dieser drei Meter entfernten Pizza-Orgie überhaupt schlafen können? »Tut mir leid«, sagte Andrew, und ich schrak zusammen. Er kam aus dem Wohnzimmer in die Küche, rieb sich die Augen und wand sich unbehaglich in T-Shirt und Jeans. »Wir haben die Gehaltserhöhung gefeiert, die ich allen geben darf, und ich hab ihnen angeboten hierzubleiben.« Ich mochte Andrews Freunde nicht. Ich mochte es nicht, daß Andrew andere Freunde hatte. Er verbrachte eine Menge Zeit mit diesen und anderen Typen – und Mädchen – außerhalb der Arbeitszeit und jenseits meiner Reichweite. Wenn er keine Lust hatte, zu Hause rumzuhängen, verfügte er über ein umfangreiches Netz sozialer Beziehungen. Er konnte jederzeit Larry anrufen – einer seiner besten Freunde und ein eher aufgeschlossener Hetero – oder Doug oder Rand oder den anderen Doug. Oder Marcia, falls er sich nicht gerade darüber beklagte, daß sie ihre Freundschaft dazu benutzte, um sich vor der Arbeit zu drücken. Ich weiß nicht, ob ich wirklich eifersüchtig auf Andrews Freunde war; bestimmt nicht auf diese abgetakelte Klemmschwester namens Terry, die irgendwann auf ihrem Lebensweg vergessen hatte, ein Mann zu werden. Einige von den anderen waren ja ganz in Ordnung. Larry war ein netter Kerl, wenn er nicht gerade ein Klugscheißer war, und Marcia konnte nach einem Bier unglaublich witzig sein. Aber ich beneidete ihn nicht um seine Freunde, sondern darum, daß er so beliebt war. Ich arbeitete nur, ruhte mich aus und verzehrte mich nach Andrew. Es wäre natürlich cool gewesen, meinen besten Freund John, eine militante Tunte, anzurufen und vorzuschlagen: »He, Schwester, laß uns mal was im Pornokino aufreißen.« Nicht daß ich solche Worte jemals in den Mund nehmen würde, aber du weißt schon, hm? »Macht nichts«, lenkte ich ein, »ich hab's nur nicht so gern, wenn ich die Wohnung (DICH!) mit wildfremden Menschen teilen muß. Jedenfalls nicht ohne Vorwarnung. Ich bin da draußen über Larrys Arsch gestolpert.« »Vielleicht hast du ihm ja die Augen über seine Homosexualität geöffnet.« Andrew setzte sich auf den Küchentisch und strich sich über ein imaginäres Psychotherapeuten-Bärt-chen. - 121 -
»Ja«, sagte ich und atmete schwer wie ein lüsternes Weib, das vorgibt, genau das nicht zu sein, »ich glaube, dieses kleine Zusammentreffen könnte Larry endlich... einen Namen... einen Namen geben für dieses Gefühl, das er hat, wenn er die Kinder zur Schule bringt, bei Rot an einer Ampel hält oder mit seiner streitsüchtigen Frau schläft... « »Du bist krank«, diagnostizierte Andrew. Dann lachte er: »Geh ins Bett.« Mit dir gern. »In Ordnung.« Ich wusch das Glas, das ich benutzt hatte, gründlich aus, trocknete es ab, während er amüsiert zuschaute, und stellte es weg. Dann schlenderte ich an ihm vorbei und bahnte mir meinen Weg zwischen den herumliegenden Körpern hindurch – sie rückten natürlich beiseite – zurück in mein Zimmer. Ich erinnere mich an dieses unwichtige Ereignis, weil es so einfach vonstatten ging. Es ist ein gutes Beispiel für die lockere Stimmung zwischen uns, bevor ich Andrew gestand, was ich für ihn empfand. Aber ich weiß, daß es richtig war, Andrew alles zu erzählen, was mich bewegt – auch das über Cort. Monatelang mit einer unerwiderten Liebe zu kämpfen, kann einen ganz schön fertig machen, wenn man sich nicht irgendwann entschließt, es rauszulassen. Und bei mir hatte es fast ein Jahr gedauert. Eigentlich hatte ich nie eine Wahl. Ich meine, ich hätte niemals bloß Andrews bester Freund sein können. Ich war nicht Larry oder Terry oder Marcia oder einer von den Dougs. Ich wollte mehr von ihm als nur Pizza-Parties und Geschichten von der Arbeit, egal was ich riskierte. Und ich hatte mich durchgesetzt. Er hatte mich nicht abgewiesen. Auch wenn Andrew nicht gerade scharf auf einen Stricher war, war er doch scharf auf mich. Was ich von unserem Trip nach Hadley in Erinnerung behalten habe, ist eine große Tüte Tortilla-Chips und die bescheuerte Mariah Carey: Wir hörten die ganze Zeit die American Top 40. Alles, was auf diesen Pop-Sendern läuft, hat das gleiche Strickmuster. You love someone, set them free; Love me or let me go; Prove your love. Ist es Liebe oder ist es nicht Liebe. Sex ist Liebe, Liebe ist Sex. Es gibt keinen Song, in dem es heißt: »Ich liebe dich, aber ich weiß nicht, was Liebe überhaupt ist und ehrlich gesagt, interessiert mich Sex nicht so sehr wie bla-bla-bla.« Es ist einfach schwerer zu reimen. Die Fahrt dauerte lang und unsere Gespräche waren intensiv, - 122 -
weshalb ich mich ziemlich fertig fühlte, als wir nach sechs Stunden in Hadley ankamen. Die ganze Zeit mit Andrew in diesem Auto reden zu müssen... das war eine gefühlsmäßige Extremerfahrung! Wer hätte gedacht, daß Andrew plötzlich mit all diesem sensiblen und schrecklich tiefschürfenden Kram anfangen würde? Einfach so, in kindlicher Unschuld. Apropos Kinder, Jills Baby war jeden Tag fällig, so wie sie aussah. Deshalb also war die Einladung in letzter Minute erfolgt. Da war ein süßer kleiner Mutant unterwegs, was für ein schöner Anlaß für eine Hochzeit in Weiß. Jill begrüßte uns in dem funktionalen, großen Haus ihrer Eltern. Das Gebäude war so riesig, geräumig und voll von schweren Möbeln, daß es mir unzerstörbar vorkam, genauso wie Jills Vater Orin, eine untersetzte Figur hinter ihr im Korridor. »Hallo, Andy!«, schrie sie begeistert durch die Fliegengittertür. Obwohl es ziemlich kalt war, waren alle Fenster geöffnet. Ich hatte schlagartig eine Vision von Tante Dell. Außerdem war es ein Schock zu hören, wie Andrew »Andy« genannt wurde. Offensichtlich waren jetzt, wo Jill unter die Haube gebracht wurde, alle Haßgefühle vergessen. Jill riß die Tür auf und zog uns ins Wohnzimmer, wo sie Andrew umarmte und die üblichen Fragen stellte, zum Beispiel »Wie geht's dir?«, »Was gibt's Neues?« oder »Was macht die Arbeit?« Ich wunderte mich über Jills Herzlichkeit, nachdem es so heftige Auseinandersetzungen wegen ihrer Trennung gegeben hatte. Andrew nahm das gerne an. Er brauchte es einfach, daß sie ihm vergab, nachdem er ihr durch die Verlobung ein Jahr ihres Lebens gestohlen hatte. Jill war nichts Besonderes. Sie hatte lange, glatte, rotbraune Haare und lange Wimpern, jedenfalls nahm man das als erstes wahr. Ihre Gesichtszüge waren fein und lebendig, sie war ein »Sweetheart«, wie man sie wahrscheinlich in der Schule genannt hatte: »ein echtes Herzchen.« In ihrem Hochzeitskleid sah sie ziemlich normal aus, wenn man mal von ihrem dicken Bauch absah. Sie war nicht direkt häßlich. Vielleicht sogar ein bißchen hübsch. Okay, scheiß drauf: Sie war eine Wucht! Es machte mich total fertig, als ich mir vorstellte, daß Andrew diese rothaarige Schönheit geküßt hatte, und es gefiel mir nicht besonders, als er sie jetzt umarmte. Wie hatte er es geschafft, mit ihr - 123 -
zu schlafen und sich mit ihr zu verloben? Ich versuchte, ein paar Worte mit ihrem Vater zu wechseln, aber er konnte überhaupt nichts verstehen, weil seine engelsgleiche Tochter vor lauter Begeisterung laut aufschrie. »Sie hat ein Brot im Ofen«, stellte der Alte lachend fest. Er wippte mit seinem unförmigen Körper vor und zurück. »Jetzt können wir nur noch hoffen, daß es ein Junge wird!« »So ist es.«. Ich lächelte und nickte, als würde ich verstehen, was er meinte. Ich kämpfte gegen einen Brechreiz an, fand es gleichzeitig aber auch ganz spaßig, daß es solche Väter auch außerhalb meiner eigenen Familie gab. Vielleicht ist das typisch für den Mittelwesten. Ich weiß noch, wie mein uralter Großonkel total bestürzt reagierte, als er erfuhr, daß die Frau seines Sohns gerade die dritte Tochter bekommen hatte, nirgendwo war ein Sohn in Sicht. »Der dritte Streich«, hatte er gegrummelt, als er seine jüngste Enkelin zu Gesicht bekam. Jill sprach überhaupt nicht mit mir. Vielleicht war ihr intuitiv klar, daß ich wohl eher ein schmuddeliger Zaungast war und bestimmt nicht ihre verloren geglaubte allerbeste Freundin. »Ich finde es toll, daß du einen Freund mitgebracht hast, Andy«, strahlte sie ihn an. Ihr Zukünftiger schien ihr offenbar in den letzten Monaten ihrer Schwangerschaft nicht »die nötige Aufmerksamkeit« entgegengebracht zu haben, jedenfalls klebte sie an Andrew wie eine Briefmarke auf dem Umschlag. Eine von den Marken, die schon beim Kauf drauf sind. Vielleicht empfand sie ja noch etwas für ihren früheren Verlobten. Andrew... vielleicht... auch? »Ich, äh, hab einfach meinen Mitbewohner mitgebracht.« »Ach wäre das schön, wenn wir uns einfach zusammensetzen könnten und stundenlang erzählen... « sagte sie. »Genau das würde sie tun«, warf ihr Vater ein, lachte und stieß mich an. »... aber ich muß natürlich erstmal diese kleine Hochzeitsprozedur über mich ergehen lassen.« Andrew lächelte tapfer, verkniffen, verkniffener, noch verkniffener. »Du klingst ja gar nicht begeistert, Jill.« Los Andrew! Gib's ihr! Mit einem Mal wurde sie todernst, und ein Teil ihrer Schönheit - 124 -
verblaßte, als ihre Zähne verschwanden, ihre bisher verdeckte, ziemlich auffällige Oberlippe sichtbar wurde und sie versuchte, feierlich auszusehen. »Ich liebe ihn mehr, als ich jemals einen Mann in meinem Leben geliebt habe, Andrew.« Oho! Das also war ihr Spielchen. Locke den ehemaligen Liebhaber auf deine Hochzeitsfeier und reib es ihm unter die Nase. Sie mußte total verrückt nach Andrew gewesen sein. Andrew hatte die Hände in den Hosentaschen, sein Lächeln lockerte sich und er sagte ziemlich glaubhaft: »Ich freue mich so für dich, Jill.« Sie führte uns nach oben und zeigte uns ein von Dampfschwaden vernebeltes Badezimmer, wo wir uns für die Hochzeit umziehen sollten. So weit ich sehen konnte, war sonst niemand im Haus. Sie waren wohl schon alle auf dem Weg zur Kirche, obwohl die Trauung erst in zwei Stunden beginnen sollte. Sobald wir im Badezimmer allein waren, fing ich an, über Jill zu lästern und machte mich lustig über ihre Schwangerschaft und darüber, wie lächerlich es doch sei, kirchlich zu heiraten, wenn die Braut es nicht mal schaffte, erst nach der Hochzeit schwanger zu werden. Ich redete wie ein schwuler Papst... und argumentierte wahrscheinlich kaum anders als irgendein Spießer. Ich machte Jills (perfektes) Aussehen schlecht, indem ich mich über ihren einzigen offensichtlichen kleinen Fehler hermachte (die Lippe, die ganz Minnesota geblasen hat). Ich erklärte ihm, daß er mit Leichtigkeit eine attraktivere Fotze gefunden hätte, falls er als heimlich schwuler Ehemann hätte enden wollen. Er zog sich bis auf seine Unterwäsche aus und drehte sich zu mir um, der Zimtzicke neben ihm, die sich gerade mit ihren Jeans herumplagte. Er hielt mich fest, als ich das Gleichgewicht verlor, und umarmte mich heftig. Er preßte sich so heftig an mich, wie Joe es am Abend vor unserer Abfahrt getan hatte. War es das? Würde sich meine Leidenschaft für Andrew etwa ausgerechnet hier im Badezimmer der Eltern seiner Ex-Verlobten erfüllen? Jaaa! Das wäre das Allergrößte! Ich legte meine Arme um ihn und drückte meine Fingerkuppen in seinen Rücken und spürte die durch den Dampf schlüpfrige Festigkeit seines Körpers. Er hatte wieder einen Ständer, und ich hatte das Gefühl, ich müßte eine Party schmeißen, um es zu feiern – Er hat einen Ständer! Er hat einen Ständer! Ich wollte, daß er mich fickt, und - 125 -
spürte, wie sich mein Körper vorbereitete, alles mitzumachen, was sein Körper wollte. Aber als ich spürte, wie er meinen Nacken mit einem harmlosen Kuß liebkoste, wußte ich, daß es noch nicht soweit war. Er ließ mich los und lächelte mich schief an. »Halt einfach den Mund«, sagte er sanft. »Ich weiß, daß Jill nicht perfekt ist. Denn sie ist nicht du.« Ich fühlte mich wie ein Hund, der nach allen Regeln der Kunst gestriegelt wurde, stolz und schön und »perfekt«. »Aber ich bin zu dieser Hochzeit meinetwegen gekommen. Nicht deinetwegen und nicht wegen Jill.« Er grinste gemein. »Also mach einfach gute Miene zum bösen Spiel, und vielleicht bin ich ja dann so nett und ficke dich.« Er lachte übertrieben. Ich schob ihn beiseite und zog meine Jeans ganz aus, völlig von den Socken über das, was er gerade gesagt hatte. Er war unglaublich! »Du bist nicht nett zu mir.« Ich zog mich um und war total verwirrt. Ich war davon ausgegangen, daß ich ihn die ganze Zeit heimlich gejagt hatte, aber nun, nachdem ich ihm einmal erzählt hatte, wie es um mich stand, drehte er den Spieß um. Der Jäger wird zum Gejagten. Nicht, daß ich das nicht verdient hätte. Ich sehnte mich geradezu danach. Egal wer hier jagte und wer gejagt wurde, wie lange sollte ich mich denn noch gedulden? Ich verging vor Sehnsucht, während ich darauf wartete, daß jemand zum Schuß anlegte. Wir zogen uns hastig und leise an und liefen nach unten, wo wir von Vater und Tochter an der Haustür erwartet wurden. Jill sah ein bißchen bedrückt aus, anscheinend hatte sie gemerkt, wie billig ihre Versuch gewesen war, Andrew zu ärgern. Zum ersten Mal sah sie mich an, um sich einen verspäteten Eindruck zu verschaffen. Möglicherweise kam ihr nun etwas in den Sinn, an das sie vorher gar nicht gedacht hatte. Ich sträubte mich. »Findet die Hochzeit nicht erst um sechs Uhr statt?« fragte ich, um klarzumachen, daß nicht nur Andrew wegen der Feier gekommen war. Der Vater scheuchte uns hinaus. »Nein, schon um fünf. Wir haben sie vorverlegt. Nachher gibt's noch ein Spiel, und wir wollten es allen recht machen.« Jill verzog das Gesicht und sprang fröhlich nach draußen zum Wagen. »Football, uh!« Andrew und ich grinsten uns an, als wir zum Auto gingen. - 126 -
Die Hochzeit war aufwendig, ein Riesenspektakel mit allen Schikanen. Die Kirche war klein, aber ziemlich überladen, auf den Holzsäulen standen mehr Statuen als es Heilige in der Bibel gibt. Die bunten Kirchenfenster zeigten sämtliche Stufen der Hölle in allen verfügbaren Farben und ohne eine klare ästhetische Linie. Die Kirchenbänke sahen aus wie Kajaks, waren groß und gebogen, mit Ablagen für die Bibel und bereitliegenden Gesangsbücher. Hadley war eine Stadt der Lutheraner, wer hätte das gedacht. Und lutheranische Kirchen sind vor allem angenehm gewöhnlich. Lutheraner sind ein ziemlich lascher Haufen, der während der Sonntagsmesse kaum aufpaßt. Aber sie fürchten ihren Gott und benutzen ihn, um alles zu rechtfertigen, was sie tun. Da ich selbst protestantisch erzogen wurde, habe ich wohl das Recht, so kategorisch zu urteilen. Das ist wie mit dem Wort »Schwuchtel«, das ich benutzen darf, weil ich selbst zum Club gehöre. Ich glaube, ich habe ein Problem mit der Religion, seit ich die Predigt über die Sodomiten gehört habe, die den Engel »erkennen« wollten und ich erfuhr, was damit gemeint war, nämlich die einzige wirklich unverzeihliche Sünde. Falls Homosexualität das Kränkeste ist, das sich die Bibel vorstellen kann, dann will ich nichts mit dieser Religion zu tun haben. Um ehrlich zu sein, wurde ich während des Gottesdienstes richtig nostalgisch. Ich erinnerte mich an die Zeit vor dieser ekelhaften Predigt, als ich noch zur Sonntagsschule ging und während des Gottesdienstes und den süßlich klingenden Gesängen auf der Kirchenbank einschlief. Tante Dell nahm mich immer mit, wenn meine Eltern zu faul waren. Tante Dell fürchtete Gott wirklich. Sie hatte Todesangst, er könne sie irgendwann einfach vernichten oder so ähnlich. Jedenfalls war sie damals so. Wahrscheinlich ist sie es heute immer noch. Ich saß neben Andrew, lernte alle Heteros aus Minnesota kennen und mußte einigen jungen Männern, die rein äußerlich meinem Cousin Andy sehr ähnelten, erklären, daß ich wirklich keine Ahnung hatte, wie das Footballspiel gerade stand, aber aus zuverlässiger Quelle von einem riesigen Fernsehapparat auf dem Empfang wüßte, wenn wir diese verdammte Hochzeit nur rechtzeitig hinter uns brachten. Andrew war so aufgeregt, als wären wir in einer Talkshow, und er bereitete sich auf das unvermeidliche Zusammentreffen mit alten - 127 -
Freunden von ihm und Jill vor. »Ich fühle mich so schuldig«, gestand er, »wie ein Flüchtling, auf den alle mit dem Finger zeigen und... und... einsperren wollen.« »Du hast doch das Recht, hier zu sein«, sagte ich, »und ich bin mir ziemlich sicher, daß Jill überall herumerzählt hat, daß du kommst.« »Glaube ich auch, aber ich fange an mir Sorgen zu machen, daß ich vielleicht nicht so kampflustig bin, wie ich dachte. Ich bin froh, daß du da bist – ich fühle mich viel besser dadurch.« »Wieso?« »Weil ich ganz genau weiß, daß du jedem, der sich mit mir anlegen will, den Kopf abreißen wirst.« »Ich würde am liebsten gleich mehrere Köpfe abreißen, nur um diese langweilige Feier zu sprengen. Ich weiß gar nicht, wie du es in dieser Stadt so lange aushalten konntest.« Andrew richtete sich halb auf und sah sich um, erkannte aber niemanden außer Jills Verwandten. Andrew hätte möglicherweise seine eigenen Eltern mitbringen können, doch die sonnten sich gerade in Florida, und außerdem hatte Jill sie gar nicht eingeladen. Als er sich wieder zurückfallen ließ, hörten wir eine Art Grillenzirpen hinter uns. »Andrew?« Andrew drehte sich um. »Candace... hallo... wie geht's dir?« So unüberzeugend begeistert konnte Andrew sein. Candace war ziemlich klein, unter einssechzig, hatte eine leichte Dauerwelle mit (an hiesigen Standards gemessen) geschmackvollen Strähnen und einer feingearbeiteten Goldrandbrille mit ihren Initialen, die dezent ins linke Glas graviert waren. Sie trug ein Kleid aus rosa Seide, das vom Hals ab bis ganz nach unten auf ihre Füße fiel und sie aussehen ließ wie ein kleines Mädchen, daß ein Ballkleid ihrer Oma angezogen hat. Zuerst schien sie zu flüstern, aber dann stellte ich fest, daß sie immer so sprach. »Wo sind sie denn alle?« fragte Andrew schließlich. »Wo ist Rory? Wo ist Al? Und Buck?« Buck. »Ehrlich gesagt, bin ich ganz schön überrascht, dich hier zu sehen, Andrew.« Sie glotzte absichtlich etwas blöd. Ich fragte mich, ob sie früher der Klassenclown gewesen war oder ob sie als doofe Ziege gegolten hatte. »Ich bin eigentlich davon ausgegangen, daß ich die - 128 -
einzige Freundin aus der guten alten Zeit bin, die eingeladen wurde.« (Die gute alte Zeit, bevor Andrew Jill den Laufpaß gegeben hatte, ächz.) »Sie hat ganz schön aufgeräumt, nachdem du sie verlassen hast, Andrew. Sie hat alle verstoßen.« Andrew zuckte zusammen, als er »verlassen« hörte, schien aber vor allem von der Nachricht überrascht. »Wie das?« »Sie sagte, sie könne ihnen nicht trauen. Sie machte eine Liste mit allen Intrigen, die je hinter ihrem Rücken angezettelt wurden, und von wem. Und dann hat sie einen nach dem anderen durchgestrichen. Ich hatte Glück, daß sie die Grundschule nicht einbezogen hat, sonst wäre ich auch weg gewesen.« Sie amüsierten sich über irgendeinen Vorfall in ihrer Kindheit, als Candace Jill hintergangen hatte. Es ging anscheinend um Buntstifte. »Aber warum hat sie mich dann eingeladen?« fragte Andrew. »Ich war doch der Schlimmste von allen.« Candace genoß diesen Tratsch, den die neue Jill ja ganz offensichtlich aus ihrem Leben verbannt haben wollte. »Ich glaube, sie will dir das alles unter die Nase reiben«, sagte sie atemlos mit dem Stolz einer Amateurdetektivin, die ein großes Verbrechen aufgeklärt hat. »Sie will dich verletzen.« Abgesehen davon hatte Candace nichts Wesentliches mehr zu sagen. Wahrscheinlich würde sie jetzt den ganzen Abend high sein, weil sie Jill hinter ihrem Rücken erfolgreich schlecht gemacht hatte. Wir drehten uns auf unserer Bank um und verdauten ihre Bemerkungen, während wir hin und wieder höflich Konversation mit verschiedenen fremden Leuten machten. Ich erzählte niemandem, daß ich schwul war, und Andrew ließ es ebenfalls bleiben. Ich merkte, wie mein Handschlag kräftiger wurde, meine Stimme tiefer wurde und ich immer breiter dasaß, statt mit übergeschlagenen Beinen. »Ich schaff es nicht«, flüsterte ich Andrew zu, als es eine kleine Pause zwischen den Begrüßungen gab. »Ich kann's kaum glauben, aber so wies aussieht, werde ich nicht nur darauf verzichten, den Leuten zu erzählen, daß ich schwul bin, ich werde sogar versuchen, so straight wie möglich auszusehen." Er schien sich in seinem einzigen Anzug ganz schön unwohl zu fühlen. »Ich weiß, was du meinst. Ich habe mir schon Sorgen - 129 -
gemacht, daß Jill es vorhin vielleicht herausbekommen hat.« »Es würde diese Leute hier glatt umbringen, Andrew. Oder sie würden uns umbringen.« Ich sah mich um und betrachtete die spießigen Gesichter, die mich an meine Jugendzeit erinnerten. Das waren die typischen Football-Spieler. Aber wieso hatte ich eigentlich etwas gegen Football? Weil sie mich früher nie in ihre Mannschaft aufgenommen hatten zum Beispiel. Außerdem bin ich einmal beinahe von einem Football-Team gelyncht worden, bloß weil ich behauptete, Culture Club würden gute Musik machen. (Ich kämpfte für Boy George, damals, bevor er sich dieses dämliche Ding auf die Stirn malte.) Und nun, wo wir von solchen Typen geradezu umzingelt waren, war es eine leichte Entscheidung. »Wir müssen nichts beweisen. Laß uns einfach mitmachen.« Er nickte begeistert, und unser Plan, uns in Hadley »zu outen« verlor sich im Bedürfnis nach Selbstschutz und Bequemlichkeit. Als alle Platz genommen hatten, konnte ich endlich einen Blick auf den Bräutigam werfen. Er hätte geradewegs von den Wasserspeiern auf dem Kirchendach heruntergestiegen sein können, fand ich. Was für ein Monster! Er war der größte Mann, den ich je gesehen hatte, und sein Gesichtsausdruck war irgendwie... bösartig. Er hatte kurzgeschorene Haare und verlagerte sein Gewicht permanent von einem Fuß auf den anderen. Er schlug seinem Trauzeugen auf die Schulter, und wenn er lächelte, sah man mehr Kaugummi als Zähne. Er war bei den Marines. »Ein toller Fang«, flüsterte ich Andrew zu. »Das kann ja was werden.« Immerhin würde Jill heute abend noch gefickt werden. Und was stand bei mir auf dem Programm? »Roseanne«? Der Hochzeitsmarsch setzte ein, und ich überlegte, wann ich ihn das letzte Mal gehört hatte. Er war aus unserer Kirche verbannt worden, als ich noch ein Knirps war. Der Pastor hatte irgendwo gelesen, daß der Marsch aus einem heidnischen Stück stammte, das sich über das Heiraten lustig machte, also wurde er verboten. Auch die Reiskörner wurden verboten, weil es ein heidnisches Fruchtbarkeitsritual war. Als ich aufhörte, in die Kirche zu gehen, so kurz vor der Mittelstufe, hatte der Pastor alle Hochzeitsbräuche abgeschafft. Die Paare hörten nur noch den Text des Versprechens, nickten und durften verheiratet von dannen ziehen. Die hochschwangere Jill sah in ihrem weißen Kleid aus wie ein - 130 -
albernes Klischee. Sie lächelte verhalten und hielt sich am Arm ihres schwitzenden Vaters fest. Er übergab sie jetzt der Obhut des Bräutigams und postierte sich feierlich an der Seite seiner Ehefrau, Jills gewaltiger Mutter. Die Mutter trug einen lavendelfarbenen Kaftan, und ihre Frisur türmte sich über ihrem Kopf, mehrmals um sich selbst gewickelt unter einer kleinen Pillenschachtel mit einem kurzen Schleier. Sie war eine Matrone mit einem Unterleib, in dem die ganze Verwandschaft Platz gefunden hätte. Sie weinte sich die Augen aus, vielleicht weil sie sich dafür schämte, ihre schwangere Tochter dort vor dem Altar stehen zu sehen, mit dem Ungeheuer aus der Schwarzen Lagune neben sich. Dann ging es endlich richtig los, die ganze Zeremonie, das Eheversprechen und so weiter. Jills Brautjungfern spähten in die Menge und winkten ihren potentiellen Verehrern heimlich zu. Es war wie eine Realsatire – eine wahnwitzige Hochzeit. Der Bräutigam würde unter Garantie auf dem Empfang eine Sahnetorte ins Gesicht bekommen. Die ganze Angelegenheit machte sowieso den Eindruck, als wäre sie von einem B-Film-Regisseur unter dem Titel »Die Horror-Hochzeit« inszeniert worden. Als das Paar sich das Ja-Wort gab, beugte Andrew sich zu mir und flüsterte: »Ich weiß, das klingt total bescheuert... aber ist das nicht einfach romantisch?« »Nein«, zischte ich. »Denk nur mal, wie das wäre, wenn es schwule Hochzeiten gäbe.« »Dann gäbe es auch schwule Scheidungen.« Sie küßten sich, die Menge jubelte, und was sonst noch passierte, steht in den Geschichtsbüchern von Hadley. Wir warteten, bis der Brautstrauß flog und wir einen Blick auf das Geschenk des Bräutigams für seine Braut werfen konnten. Es war ein blitzendes Medaillon mit dem Slogan: »Death before Dishonour«, nicht gerade das nächstliegende Geschenk für eine schwangere Ehefrau. Aber wer wollte das beurteilen? Jill war traurig, als Andrew sich verabschiedete. »Mach's gut Andy. Schön, daß du gekommen bist... und vielen Dank für das Geschenk.« Er hatte gar keins mitgebracht, aber das mußte sie ja nicht unbedingt wissen. Ich für meinen Teil dachte nur: Viel Spaß mit dem Eiskübel, du Schlampe! »Das ist schon in Ordnung«, sagte er lächelnd. »Ich hoffe, ihr - 131 -
werdet sehr glücklich miteinander.« Sie faßte an ihr Medaillon und blickte fromm nach oben: »Was könnte uns daran hindern, Andy?« Sie küßte ihn etwas zu heftig auf den Mund und entließ uns zu unserem Mietwagen. Byebye! Trotz allem wünschte ich, Andrew würde mir einen Antrag machen. Vielleicht würde es ja mal soweit kommen. Immerhin hatte ich den Brautstrauß gefangen. Aber vielleicht mußte er seine Lektion noch lernen: wer sich nicht entscheiden kann, kommt am Ende zu spät.
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BEICHTE 13: ICH BRAUCHE LIEBE Nach der Hochzeit hätte ich beinahe Gregory angerufen, um über Andrew zu lästern, als mir plötzlich klar wurde, daß ich Gregory inzwischen als Freund betrachtete. In den letzten zehn Jahren hatte ich keinen Liebhaber gehabt und auch keinen Freund. Meine Erkenntnis brachte mich fast so sehr durcheinander wie der Moment, als ich den Nervösen im Bus entdeckt hatte und sich meine Eier zusammenzogen. Ich machte mir Sorgen darüber, daß ich mich zu einem Kunden dermaßen hingezogen fühlte. Er war mein Vertrauter – der einzige Vertraute, den ich je hatte – und mein Mentor. Er führte mir meine Zukunft vor Augen, ich identifizierte mich mit ihm. Wenn Gregory und Renaldo für immer zusammen sein konnten, dann durfte ich ja wohl auf eine lange Zeit mit Andrew hoffen, oder? Als ich merkte, wie sehr ich mich zu ihm hingezogen fühlte, riß ich mich zusammen, begrub meinen Kummer, und ging am nächsten Samstag morgen zu Gregory. Ich kam absichtlich ein bißchen zu spät, als müßte ich mir beweisen, daß ich gar nicht ungeduldig war. Gregory merkte mir die ernste Stimmung an, und natürlich ließ sich unschwer erraten, daß Andrew der Grund dafür war. Er setzte sich dicht neben mich aufs Sofa und legte seine seidige Knitterhand in meine. Ich schüttete ihm mein Herz aus über die Hochzeit und redete drum herum, als ich Andrews halbherzige Annäherung im Badezimmer seiner ExFreundin beschrieb und was vorher zu Hause vorgefallen war. »Du warst total scharf auf ihn«, meinte Gregory ganz schlicht. »Nein«, sagte ich starrköpfig, »ich hab einfach keine Lust mehr, mich seinem Tempo anzupassen. Ich will doch nur, daß endlich was passiert.« »Du wolltest ihn rumkriegen, das ist ja keine Schande. Du wolltest es und du wolltest ihn.« Ich hörte ihm regungslos zu, mein Kopf war so schwer, daß er beinahe auf Gregorys Strickjacke fiel. Oder gegen seine Brust. »Hattest du eigentlich jemals einen Liebhaber?« »Nein«, antwortete ich und war gleichzeitig voller Angst, ihm so - 133 -
viel über mich zu erzählen, »jedenfalls keinen, den ich mir ausgesucht hätte.« Er lachte verschwörerisch, und ich verspürte plötzlich diesen verrückten Drang, meinen Adoptiv-Großvater zu küssen. Ich wußte, daß Gregory allmählich Erfolg hatte damit, mich wenigstens halb so scharf auf ihn zu machen, wie er auf mich war. Als mir klar wurde, daß ich noch nicht soweit war, verstand ich, wie sehr Gregory mich wollte. Wir rückten voneinander ab, und ich bekam ein Mineralwasser, weitere tröstende Worte und sogar eine Geschichte von Renaldo erzählt. »Bestimmt denkst du, da wir so lange zusammen waren und praktisch unzertrennlich, waren wir die ganze Zeit glücklich. Aber das stimmt nicht. Renaldo war ziemlich eigensinnig, schon mit sechzehn. Er war sich zwar über seine Sexualität im klaren, konnte aber mit den dazugehörigen Gefühlen nicht viel anfangen.« Er zuckte zusammen, als er diese verstaubten Erinnerungen hervorholte, ganz der fesselnde oder gar theatralische Geschichtenerzähler. »Es gab eine Periode, in der er plötzlich keine Zeit mehr für mich hatte. Er entschuldigte das mit Verpflichtungen seinem Vater gegenüber oder dem Lake Shore oder Freunden. Mir war unsere Trennung gar nicht bewußt, bis ich mir darüber Gedanken machte, warum es mir so schlecht ging. Drei Wochen lang hatte dieser Kerl sich von mir ferngehalten, aber dann ertappte ich ihn in der Eingangshalle, wie er gerade versuchte, unbemerkt in die Küche zu entwischen. ›Renaldo!‹ schimpfte ich. ›Seit Wochen gehst du mir aus dem Weg. Du kannst mich nicht einfach links liegen lassen und davon ausgehen, daß ich das einfach so hinnehmen.‹ Er gab mir einen Stoß. ›Ich hab genug von dir. Laß mich in Ruhe.‹ Ich war wie gelähmt, aber ich wußte, ich durfte das nicht wörtlich nehmen. Ich faßte mir ein Herz und sagte: ›Renaldo, du lügst. Du bist bloß feige, du willst nur nicht zugeben, daß du mit mir schläfst, weil du echte Gefühle für mich entwickelt hast, Gefühle, wie sie ein Mann seinem Geliebten entgegenbringt. Wir lieben uns, Renaldo.‹ Ich hab keine Ahnung, woher ich so viel über Liebe und Sex wußte. Ausgerechnet ich, der überhaupt keine Ahnung von der technischen Seite der Liebe hatte, geschweige denn von den - 134 -
komplexen Gefühlen nach dem... Akt. Renaldo stand vor mir und dachte eine ganze Weile nach. Ich hörte die Köche in der Küche unter uns lachen, ein unheimlicher Kontrast zu dem versteinerten Gesicht vor mir.« Gregory hielt inne, wie Renaldo es getan hatte, als er vor drei Generationen plötzlich mit der Tatsache konfrontiert wurde, daß er einen anderen Mann liebte. Ich wollte mehr davon hören und war überhaupt nicht in der Stimmung, Gleichgültigkeit zu heucheln. »Und?« »Dann«, Gregory hauchte ein leichtes Seufzen wie Gräser im Wind, »kam Renaldo zu mir an diesem Abend, direkt in mein Zimmer, und er hielt mich so fest wie niemand danach.« Er lachte fröhlich in sich hinein: »Ich spüre sie immer noch, diese Arme.« »Wenn du Renaldos Körper immer noch so sehr spürst«, warf ich ein, »warum willst du dann meinen?« »Ab und zu muß eben die Erinnerung aufgefrischt werden. Der Witz ist, du bist genauso wie Renaldo – wie ihm muß man auch dir erstmal klar machen, daß du emotionale Bedürfnisse hast.« Als er plötzlich aus Versehen über Renaldo in der Gegenwart sprach, durchfuhr mich ein Schauer, und ich wünschte mir, ich wäre ein italienischer Junge mit so kräftigen Armen, daß ich meinen Geliebten für immer festhalten konnte.
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BEICHTE 14: ICH BIN SCHWACH Meine Wohnung sah aus wie ein Farbkasten. Ich liebte die Grundfarben, ihre Einfachheit und die seltsame Tatsache, daß man sie nur sehr selten rein zu sehen bekommt. Und wo konnte ich besser Reinheit herstellen als in meiner eigenen Wohnung? Ironie hoch zwei. Ich besaß ein zitronengelbes Sofa, einen flaschengrünen Eßtisch, einen königsblauen Kühlschrank und einen aubergi-nefarbenen Läufer, der auf meinem feuerroten dicken Teppich lag. Als ich irgendwann mal Dick Tracy ausgeliehen habe, hätte ich am liebsten Selbstmord begangen. Warum hatte mir Joe nie erzählt, daß unsere Wohnung wie ein blödsinniger Film-Set aussah? Wahrscheinlich liebte er es, so zu tun, als würde er in Dick Tracy leben. Ich habe schlagartig alles wieder geändert. Ich wünschte, ich hätte niemals diesen Film gesehen. Na ja, hinterher ist man immer schlauer. Die Wohnung ist jetzt mehr ein buntes Durcheinander aus Fototapete und altmodischen Postern. Vive la différence. Vor meiner Tracy-Phobie und der großen Umdekorierungsaktion besaß ich eine orangefarbene Jukebox mit allen guten Songs aus den wilden Jahren zwischen 1977 und 1989 auf Vinyl. Manchmal, wenn ich allein war und in eher alberner Stimmung, öffnete ich meinen Wandschrank mit dem Madonna-Standbild, schmiß die Jukebox an und trällerte »Like a Virgin« oder »Burning Up«, die beiden besten Songs, die sie je gemacht hat. Das Standbild blickte mich dabei stumm an und weigerte sich, die Worte zu singen, die es nur allzu gut kannte. Statt dessen sah es mir bei meinem Auftritt zu und lächelte abfällig. So viel zum Thema Karton. Ich drückte einen Knopf an der Jukebox, und durch die ganze Wohnung schallte »Roxanne«, laut genug, um den Putz von der Decke auf meine schlafenden Nachbarn ein Stockwerk tiefer fallen zu lassen. Wegen ihnen machte ich mir keine Sorgen. Der Ehemann zahlte mir ab und zu hundert Dollar, um meine Füße lecken zu dürfen, weshalb er es garantiert nicht zulassen würde, daß sich seine Gattin beim Vermieter über mich beschwerte. Ich tanzte und stampfte ein bißchen - 137 -
herum, um meine Macht zu testen. Andrew war in die Küche geflohen, und ich hörte, wie er sich Milch einschenkte. Zweifellos würde er gleich mit einem übervollen Teller Cornflakes oder so was auftauchen. Am liebsten aß er das Zeug nachts. Zum Frühstück verzehrte er ausschließlich Pop-Tarts, eine ganze Packung, mit dem Bild von O. J. Simpson drauf. Was für ein Mann! Gregory hatte mir aufgetragen, mich zu meinen Wünschen zu bekennen. Nun denn. So sei es. Bevor Andrew aus der Küche kam, legte ich mich schnell aufs Sofa. Ich zog das Fußteil heraus, was nicht besonders ungewöhnlich war, weil wir das Sofa oft zum Fernsehen ausklappten. Dann zog ich mich bis auf die Unterhose aus. Für mich war es nicht die natürlichste Sache der Welt, mich auszuziehen. Ich hatte Andrew schon nackt gesehen, aber ich glaube nicht, daß er mich jemals in Unterhosen gesehen hat, wenn man mal von dem schnellen Umziehen in Jills Badezimmer absieht. Nicht, daß ich irgend etwas zu verstecken hatte, aber ich hasse es nun mal, Haut zu zeigen. Ich wollte mich einfach nie zu weit vorwagen. Abgesehen davon erschien es mir noch viel aufregender (und sehr sichtbar), wenn Andrew mich nackt sehen, als wenn er mich ficken würde. Eine derart offensichtliche Strategie, Andrew zur Strecke zu bringen, war für mich nie in Frage gekommen. Bis jetzt. Ich lag da und wartete, und meine Augen wurden schwer von der Anstrengung, sich in einer mit grellen Farben ausgestatteten Wohnung zurechtzufinden, die außerdem auch noch unglaublich ordentlich und sauber war. Visuell aufregend und gleichzeitig total langweilig, wie MTV. Andrew kam herein, wie erwartet mit einem Teller Corn-flakes oder Müsli in der Hand. Er lehnte sich lässig gegen den Rahmen des türfreien Durchgangs zwischen Wohnzimmer und Küche. Die Türrahmen waren im Gegensatz zu allem anderen blendend weiß wie die Wohnungstür. Dadurch hatte man immer das Gefühl, von strahlend weißen Rahmen umgeben zu sein. Andrew trug Jeans und ein ›Taste of Chicago‹-T-Shirt, er lehnte sich in seiner ganzen Schönheit gegen den Türrahmen, kaute und sah mich an. Er würde mich in Grund und Boden ficken – ich wußte es. Schluß mit platonisch. - 138 -
Andrew zitterte leicht, und ich merkte plötzlich, daß die Wohnung ziemlich kühl war, was auf das Konto unseres geizigen Vermieters ging, Marty, Queen of Scots, ein angeberischer schottischer Damenimitator, der immer ein dickes Portemonnaie mit dem Geld bei sich trug, das er seinen frierenden Mietern abpreßte. Die verschnupfte, schmollende Judy, die ein bißchen durcheinander war, nachdem sie durch mein Streicheln so plötzlich aus dem Schlaf gerissen war, machte sich aus dem Staub zum anderen Ende des Sofas. Sie wollte einen Teil der Decke für sich haben, und ich hätte sie am liebsten einfach von meinem Hochzeitsbett gekickt. »Weißt du«, begann Andrew, während er die Reste seiner Cornflakes (oder was auch immer) verputzte, »ich hab dich jetzt gerade so gern, daß ich dir am liebsten... Gesellschaft leisten würde.« Ich sah ihn über meine Schulter an, spannte jeden Muskeln in meinem Arsch und streckte mich. »Bist du sicher, daß du jetzt bereit bist?« Ich mußte das Schicksal herausfordern, mußte die Rolle des besorgten Freundes spielen. Er lächelte ein bißchen. »Das werde ich wohl erst auf halbem Weg wissen, schätze ich. Aber ich glaube, ich bin bereit, den Anfang zu machen. Verstehst du? Ich hab das Gefühl, daß ich es will.« Das klang so nebulös, daß ich plötzlich Angst bekam. »Du klingst nicht gerade enthusiastisch.« Seine eindeutige Antwort zerstreute meine Zweifel. »Doch, ich bin enthusiastisch. Ich liebe dich doch. Ehrlich.« Ich ließ mich in das Sofa sinken wie eine Katze und entspannte mich total, denn ich wußte jetzt, daß es mir nicht so gehen würde wie Joe, der am Wegesrand zurückgeblieben war. »Aber es gibt schließlich ein paar Grundregeln«, sagte Andrew lässig. Mein altes Bild von Andrew, dem Jäger, kam mir plötzlich wieder in den Sinn. Was hatte er eigentlich vor? »Welche Grundregeln denn?« fragte ich und wälzte mich träge herum, und sah ihn an. Die Cornflakes waren alle, jetzt kaute er an seinen Lippen. »Nichts Wichtiges eigentlich, nur daß du dein Interesse an anderen Männer ein bißchen einschränken solltest. Und zwar ganz schön einschränken.« Ich spürte, wie mir das Blut in den Kopf stieg. Wie konnte er es wagen zu verlangen, daß ich meinen Job aufgab! - 139 -
Warum sollte irgend jemand unbedingt Stricher sein wollen, wirst du dich jetzt vielleicht fragen. War das nicht was für arme Schlucker, Obdachlose, Drogensüchtige, heruntergekommene Typen? Ja, stimmt. Aber es war auch die einzige Tätigkeit, die ich mir für mich vorstellen konnte. Es war mehr als nur ein Job, es war ein Lebensstil. Mehr als das sogar. Es war mein Leben. Das war ich. Ich weiß gar nicht mehr genau, wie ich da reingeraten bin. Ich weiß, ich weiß, da war »Dr. Dick«, aber nicht jeder Junge wäre auf sein Angebot eingegangen. Ich habe keine Ahnung, welcher Bereich meiner Psyche mich in diese Richtung gelenkt hat, und ich habe keine moralischen Skrupel wegen meiner Entscheidung – genauso wenig kann ich erklären, wieso ich schwul bin oder stark, smart, eingebildet, glücklich, was auch immer. Mein erster Eindruck von Prostitution war definitiv glamourös. Liz Taylor in Telefon Butterfield 8. Marlene Dietrich in Shanghai Express. Marlene Dietrich in fast jedem Film, den sie je gemacht hat. Als Junge kamen mir Call Girls, wie die Erwachsenen sie nannten, als die schönsten Geschöpfe überhaupt vor (gleich nach Donny Osmond und Richard Gere, der, wie mir bei der Gelegenheit einfällt, das erste männliche Call Girl war, das ich im Kino sah). Prostituierte waren witzig, schlau, extravagant. Sie gaben sich pragmatisch und betrachteten die Welt mit abgeklärten Augen und sahen dabei unglaublich teuer aus. Ich mußte einfach so werden. Ich erinnere mich daran, daß ich sein wollte wie Marlene Dietrich, mit einer Federboa geschmückt nach oben ins Licht schauend, mit Augen und Wangenknochen von betörender Schönheit. Ich fragte meine Mutter, ob das möglich war, und sie antwortete ohne mit der Wimper zu zucken: »Nein.« Na ja, ich bin tatsächlich nie so geworden wie Marlene, aber ich kam so dicht dran, wie es die Umstände erlaubten. An den Prostituierten im Film gefiel mir vor allem, daß man aufpassen mußte und sich nicht allzu sehr von ihrem Glanz blenden lassen durfte, weil man sonst das Wichtigste verpaßte, nämlich daß sie am meisten zu sagen hatten. Von einer Hure kann man immer eine Menge lernen. Im Film sagten sie immer die Dinge, auf die es ankam. Vom sexuellen Teil ihrer Tätigkeit hatte ich keine Vorstellung. Ich bekam nicht heraus, was diese Prostituierten wirklich taten bis zu dem Zeitpunkt, als ich selbst damit anfing, und da war es bereits zu spät. - 140 -
Ich verehrte sie. Als sich die Gelegenheit bot, an ihrer Welt teilzuhaben, ergriff ich sie freudig. Es kam mir ganz selbstverständlich vor, mich in die Reihen aller großen Hollywood-Schauspielerinnen einzureihen, die jemals eine Hure spielten. Wahrscheinlich hat jede Schauspielerin einmal eine gespielt. Ich war also in guter Gesellschaft. Es ist schon komisch – aber ich habe nie aufgehört, meine Dates mit Film-Szenen zu vergleichen. Ich war Shanghai Lily, aber ich spielte auch die Nackt-Szenen. Ich lebte selbst die Einstellungen, die aus den Filmen herausgeschnitten worden waren. Wenn ich behaupte, ich sei wegen Marlene Dietrich Callboy geworden, ist das problematisch. Aber ich kann auch keine Liste mit Gründen aufstellen, warum ich eine männliche Hure wurde: »falscher Glanz, Unsicherheit, Einsamkeit.« Das muß du dir schon selbst ausdenken. Immerhin steht fest, daß ich niemals so geworden wäre, wenn es nicht in mir gesteckt hätte. Glaubst du ernsthaft, ich würde mein ganzes Leben auf etwas ausrichten, das ich gar nicht wirklich will? Ich kann dazu nur sagen: Was immer mich als Kind in diese Richtung beeinflußt hat, hat mich auch als Erwachsener angetrieben. Andrews Forderung hatte mich verärgert. »Du willst also, daß ich meine Dates aufgebe?« Andrew lächelte und schnaubte: »Ja. Ist das etwa zu viel verlangt?« Er versuchte, es ins Lächerliche zu ziehen, weil er sich nicht vorstellen konnte, daß ich ablehnen würde. »Glaubst du denn, ich würde jetzt einfach mit einer goldenen Armbanduhr in Rente gehen? Ganz so einfach wie ›An-drew sagt stop und schon höre ich auf‹ ist es aber nicht.« Plötzlich wünschte ich mich auf Jills Feier zurück, mit einem Glas Punsch in jeder Hand. Dieser Typ ging mir auf den Geist! »Wie meinst du das? Du willst nicht aufhören anzuschaffen?« Allmählich wurde es ihm klar, und er klang jetzt ernsthaft verärgert. »Du verstehst das nicht«, erklärte ich. Das war mein letztes Argument, das keiner meiner Gegner anzweifeln konnte. Und Andrew war mein Gegner. »Klar verstehe ich das nicht. Ich kapier das überhaupt nicht. Du tust so, als würdest du mich so sehr lieben, aber du erwartest von mir, daß ich eine Beziehung mit jemandem eingehe, der für Geld mit anderen Männern schläft? Vielen Dank, daß du dir über meine - 141 -
Gesundheit so viele Sorgen machst... « Ich wußte nicht, worauf er tatsächlich hinauswollte, aber ich hatte jetzt die Schnauze voll. »Fang bloß nicht an, mir altklug was über AIDS zu erzählen, Kleiner! AIDS ist hier nicht das Hauptthema. Es ist überhaupt kein Thema, basta. Du weißt ganz genau, wie sehr ich meine Dates safe halte, und du weißt außerdem ganz genau, daß ich nur Safer Sex mit dir machen würde und du weißt sowieso, daß jeder von uns schon längst AIDS haben könnte, ohne es überhaupt zu wissen... « Jetzt war er wütend. »Was sind denn das für lächerliche Entschuldigungen! Als ob es so etwas wie Safer Sex überhaupt gäbe! Als ob es das Risiko nicht erhöht, wenn man dauernd mit anderen Sex hat! Du kannst mir doch nicht erzählen, daß du immer hundertprozentig geschützt bist.« »Und du könntest endlich mal die Schnauze halten, Andrew.« Die Alarmglocke schrillte, und wir hörten auf zu streiten, aber in jedem von uns gärten Ärger und Frustration weiter. Das also war unser erster Streit gewesen. Meine Abwehrhaltung schockierte mich. Wo zum Teufel waren eigentlich meine Klamotten? Es gab da tatsächlich etwas am Stricherdasein, weshalb mich die bloße Vorstellung krank machte, es aufzugeben. Lieber würde ich Andrew aufgeben, den ich bis zu diesem Moment als meinen Retter in Sachen Sex gepriesen hatte und mit dem ich »Zusammensein« wollte. Hatte ich ein Jahr verschwendet? Oder zehn Jahre? »Hör mal.« Andrew klang, als sei er tausend Jahre alt, als er die eiskalte Stille brach. Ich fühlte mich zweitausend Jahre alt. »Ich finde es einfach sehr egoistisch, wenn du unsere Gesundheit aufs Spiel setzt.« Er war mehr auf eine monogame Beziehung fixiert als ich auf die Prostitution. Ich trug weniger dick auf als vorher, blieb aber unbarmherzig. »Deine Gesundheit, Andrew. Wenn du dich wirklich für meine Gesundheit interessieren würdest, hättest du deine Sorgen schon früher äußern können. Immerhin hatte ich ich immer Dates, solange du hier wohnst.« Und nachdem das gesessen hatte: »Es geht hier doch überhaupt nicht um AIDS. Wenn es sowas wie AIDS nicht gäbe... « »Oder Syphilis oder Feigwarzen oder Herpes... « »Oder Keuchhusten«, unterbrach ich schroff. »Selbst wenn es keine - 142 -
Geschlechtskrankheiten gäbe, würdest du trotzdem verlangen, daß ich meine Dates aufgebe.« Andrew schnaubte wieder. »Du immer mit deinen ›Dates‹. Jetzt weiß ich jedenfalls, was meine Mutter meinte, als sie mich vor ›Dates‹ warnte, bis ich sechzehn war. Dates, Dates!« »Hör auf, Andrew. Hör mal zu, okay? Wärst du so nett?« »Wenn du was Vernünftiges zu sagen hast«, sagte er grimmig. Ich wäre am liebsten im Boden versunken, als mir plötzlich klar wurde, was passiert war. Da stand dieser hübsche Kerl vor mir, mit verzerrtem Gesicht und völlig verstört. Er sah aus wie einer, der innerhalb von zwei Stunden alles verloren hatte, und vielleicht stimmte das ja sogar. Seine Sexualität war ungefähr so stabil wie Connie Francis, und als er sich endlich mal entschlossen hatte, eine Beziehung mit mir einzugehen, verwandelte ich mich in einen militanten Verfechter der Prostitution. Ich war mit meinem Latein am Ende. Zu diesem Zeitpunkt hätte ich Berge versetzt, um ihn rumzukriegen, aber ich würde ihm niemals versprechen, meine Dates aufzugeben. Da ging es ums Prinzip. Sollte ich denn allen Ernstes zugeben, daß ich zehn Jahre meines Lebens verschwendet hatte? Vielleicht war ich jetzt derjenige, der Zeit brauchte, um zu einer Entscheidung zu kommen. »Okay, du hast gewonnen. Ich werde das Wort Dates in diesem Zusammenhang nicht mehr benutzen. Ich weiß auch nicht, wieso ich es mir überhaupt angewöhnt habe. Sollte wahrscheinlich witzig klingen.« Er seufzte. »Das ist ja das Problem. Du bist immer witzig. Viel zu witzig, als daß es dir noch guttut. Und dann wunderst du dich, warum ich dir nicht immer zuhören will. Ganz einfach deswegen, weil mir nicht immer zum Lachen zumute ist.« AUA. Ich wollte schon einen kleinen Scherz machen, um die Wirkung dieses Tiefschlags abzuschwächen, merkte aber noch rechtzeitig, daß ich in den nächsten zwanzig Minuten nicht die kleinste witzige Bemerkung machen durfte. »Laß endlich deinen Schutzpanzer fallen, laß endlich deinen verdammten Schutzpanzer fallen.« Ich starrte ihn an, ich war am Ende. Für das, was ich als nächstes sagte, mußte ich meinen ganzen Mut zusammennehmen, und ich - 143 -
fühlte mich total miserabel dabei. »Ich kann nicht.« »Warum?« Ich schloß die Augen und versuchte zu sagen, was mir unmittelbar in den Sinn kam, bevor ich mir eine bequemere Antwort ausdenken konnte. »Wenn ich das tue, wird jemand... mich ausnutzen.« Ich wünschte sofort, es nicht gesagt zu haben. Das war zu roh, zu wahr. Ich versuchte, diese Aussage abzufedern: »Wieso müssen wir ausgerechnet jetzt darüber sprechen?« »Weil jetzt der richtige Moment ist. Jetzt oder nie.« »Du hast recht, ich weiß«, räumte ich ein und täuschte echten Schmerz vor und redete mir dabei ein, daß ich ihn ja nur vortäuschte. Ich senkte die Augenlider und ließ eine Träne zum Vorschein kommen. Ich war wirklich kurz vorm Heulen, schon aus reiner Erschöpfung. Nimm mich, nimm mich. »Ich weiß, daß ich immer Witze mache. Ich kann's auch nicht ändern. Ich glaube, ich kann ohne Witze gar nicht ernsthaft sein. Aber trotzdem mußt du zugeben, daß ich auch rechthabe. Du denkst, Prostitution ist total schmutzig, stimmt's? Du hast nicht nur Angst vor den Krankheiten oder bist eifersüchtig, weil ich mit einem anderen Kerl zusammen bin, hab ich recht? Für dich bin ich schmutzig. Moralisch schmutzig. Du kommst nicht über deine Erziehung weg.« »Das ist deine Ansicht, nicht meine«, sagte er. Und dann mit mehr Überzeugung: »Ja, du hast recht. Ich glaube, Prostitution ist... häßlich.« Seine Wortwahl war so komisch, daß ich nervös zu lachen anfing. Das brach das Eis, und wir brachen gemeinsam in Lachen aus. »Darum geht es also letzten Endes, hm? Ich bin häßlich.« »Nein.« Er stieß mit der Hüfte rhythmisch gegen den Türrahmen. »Das ist es ja. Nicht du bist häßlich. Aber Prostitution ist häßlich. Ich bringe das nicht zusammen – dich und was du tust. Ich kann gar nicht glauben, daß du wirklich getan hast, was du mir immer erzählst... zum Beispiel die Sache mit diesem Cort...« »Ich lüge nie, Andrew. Ich hab das alles gemacht.« »Warum?« Es war, als hätte man einen Scheinwerfer auf mich gerichtet, auf mich, der ich ganz allein auf dem Sofa saß. Aber ich war noch nicht so weit, meine ganze Lebensgeschichte zu erzählen. »Wenn ich die Antwort wüßte, müßte ich vielleicht nicht - 144 -
andauernd so witzig sein. Warum hast du denn ein ganzes Jahr deines Lebens den Hetero gespielt? Um Jill zu gefallen?« Ich sah ihn aufrichtig an und merkte, daß diese Bemerkung ihn getroffen hatte. Dann sagte ich sanft: »Bitte... verlange nicht von mir, daß ich aufhören soll. Wenn du es verlangst, wird es für mich nur noch schwerer, es zu wollen. Aber ich möchte unbedingt mit dir Zusammensein... « »Man kann aber nicht alles gleichzeitig haben.« »Warum nicht? Wer sowas sagt, ist nur verbittert.« Es hatte keinen Sinn, Andrew zu belügen und ihm zu versprechen, ich würde meinen Job für immer aufgeben, um mich dann von ihm ficken zu lassen und am nächsten Tag so weiterzumachen wie bisher. Nein, trotz meines quälenden Verlangens war ich vernünftig genug, an die Zukunft zu denken. Ich wollte Andrew mehr als nur einmal. Ich hatte Zukunftspläne für diesen Kerl. Ich wollte mit ihm zusammenleben. Falls das bedeutete, daß ich mein Stricherdasein aufgeben mußte, dann mußte es auch endgültig sein. Und der Gedanke daran ängstigte mich mehr als jeder andere zu Tode. Ich kam mir vor wie ein Künstler, der alle seine Bilder zerstören will, um anschließend ganz neu anzufangen. Oder wie Joe, der der Asche seiner Tagebücher nachtrauerte. Ganz plötzlich fühlte ich ein eigenartiges Gefühl für Joe in mir aufsteigen. Joe, den ich so schnell beiseite geschoben hatte. Joe, den sicheren Kandidaten. Ich war verrückt nach Andrew, aber ich erinnerte mich noch sehr gut an Joes Umarmung. Ich schob den Gedanken beiseite und sah Andrew an. Du wirst mich wahrscheinlich für ziemlich oberflächlich halten, aber ich schwöre zu Gott, daß ich verliebt war. Aber im Augenblick hatte ich nur einen Wunsch: Ich will gefickt werden, ich will gefickt werden... Verstehst du dieses Gefühl? Ich war wie eine von diesen Oberstufenschülerinnen, die unbedingt ihre Unschuld verlieren müssen. Der Unterschied war bloß, ich mußte meine nochmal verlieren... Und was dann? Andrew gab auf und zuckte mit den Schultern. Er stellte seinen Cornflakes-Teller, der noch zur Hälfte mit süßer Milch gefüllt war, für die flinke Judy hin und schlurfte in sein Zimmer zurück, um sich schlafen zu legen. Ich bezweifelte ernsthaft, jemals wieder einen Ständer zu bekommen. - 145 -
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BEICHTE 15: ICH BIN KLEINLICH Wie du vielleicht schon herausbekommen hast, bin ich ein bißchen ungesellig. Außerdem halte ich mich von der Szene fern, ich bin nicht auf schnellen Sex aus oder darauf, meinen Kundenkreis zu erweitern. Also fragst du dich jetzt vielleicht, wieso ich auf einmal in einer schwulen Kneipe saß, zwei Stunden nach dem Showdown mit Andrew. Dicks (man beachte das Fehlen des Apostrophs) war die einzige schwule Bar, in der ich mehr als einmal war. So gesehen fühlte ich mich dort beinahe zu Hause. Es war keine von diesen schmuddeligen Kneipen voller grauhaariger Lederkerle (ich werde Al Pacino nie verzeihen, daß er mir so viel Angst vor Lederkerlen gemacht hat) oder einer dieser typischen (schnipp) Cluuuubs mit Gesichtskontrolle und mehr Darkroom als Barbetrieb. Dicks war einfach eine nette, gutbesuchte kleine Kneipe mit jungen Leuten, durchschnittlichen Kerls oder Typen »von nebenan« wie der schwule Onkel Artie, den ihr Kids ja so gerne mögt. Hier trank man einfach »ein Bier«, und wem nach Tanzen zumute war, für den gab es eine Tanzfläche, hell genug, um nach Mr. Right Ausschau zu halten, aber auch schummrig genug, um einen alten Hintern ein paar Jahre jünger zu machen. Was machte ich ausgerechnet im Dicks? Vor allem dachte ich nach. Ich saß da an einem kleinen Tisch mit nur einem leeren Stuhl neben mir, über dessen Lehne ich meine Jacke gelegt hatte, damit niemand auf den Gedanken kam, er sei frei und dies als Einladung verstand, und trank ein Mineralwasser. Ich sah mir gern den schwulen Nachwuchs an, wie sie sich benahmen und welche Kleidung sie für passend hielten, um Männer aufzureißen. In der Bar wurde nicht besonders viel geraucht, niemand drehte sich einen Joint, und es gab keine halbwüchsigen Schönlinge in italienischen Anzügen, die mir Ecstasy oder Koks anboten. Jeder dritte Song war von REM, dazwischen gab es einen Donna-SummerKlassiker oder irgendeinen gerade aktuellen Hit. Kurz gesagt, Dicks war das Lokal, wo ich ohne große Ablenkung schwul sein konnte. An diesem Abend dachte ich über Andrews Vorbehalte hinsichtlich - 147 -
meines Lebens als Stricher nach und über meine eigenen Ansichten dazu. War Andrew es wert, mein ganzes Leben zu ändern? Ich würde eine Menge aufgeben, aber auf was würde er verzichten? Auf das Zölibat? Aber gerade diese Art des Aufrechnens mußte ich loswerden. Bei der Prostitution wird alles, was man macht, in Dollarscheinen aufgewogen. Gib mir hundert Piepen und du darfst mich überall lecken. Zweihundert, und du darfst mir einen blasen. Für fünfhundert fick ich dich. Immer ging es um Geld. Mit Andrew würde ich eine Menge Dinge tun – sexuelle und andere – nicht nur weil er es wollte, sondern weil wir es wollten. Ich konnte Andrews Wert nicht wie üblich messen und mich danach entscheiden. Denn ich mußte mir eingestehen, daß ich in diesen Kerl verliebt war und ihn mehr alles auf der Welt haben wollte. Fast alles. Ich trank einen Schluck. Um mich herum fand der Tanz der gurrenden Tauben statt. Hast du schon mal gesehen, wie die Tauben im Park umeinander herumscharwenzeln? Die männliche Taube plustert ihr Gefieder auf und stolziert um das Weibchen, das die ganze Zeit in Bewegung bleibt, bis er sie in eine Falle gelockt hat, auf sie springt und sie eine Minute wie ein Wahnsinniger fickt. Und jetzt stell dir mal vor, wie das bei zwei männlichen Tauben aussieht: beide sind aufgeplustert, beide stolzieren umeinander, beide versuchen, den anderen zu bespringen, um eine Minute wie wahnsinnig zu ficken... So ungefähr ging es im Dicks zu. Die Jungs cruisten in allen Ecken; die meisten trugen Polo-Shirts und Bermudas (viele hübsche Beine heute abend). Es ist ja ganz nett anzuschauen, aber ich werde nie verstehen, warum die Burschen alle so scharf aufs Herumficken sind. Das entwertet doch den eigenen Körper, wenn man ihn so freigiebig verschenkt, verstehst du? Ich meine, ich habe eine Menge Sex mit anderen, aber nur wenn ich dafür bezahlt werde. Manche Typen denken vielleicht, daß man tiefer gar nicht sinken kann. Aber ist es so nicht besser, als sich selbst total zu erniedrigen, indem man sich von jedem flachlegen läßt, der einen anlächelt und zuzwinkert und ein Bett für die Nacht bietet? Letzten Endes geht es ums Vergnügen. Wenn es Spaß macht, wird es schon in Ordnung sein. Ich frage mich nur: Macht dieses wahllose Herumficken wirklich so viel Spaß? Dieser Gedanke macht mich ziemlich fertig, denn ehrlich gesagt glaube ich nicht, daß ich körper- 148 -
lich in der Lage wäre, es mit so vielen verschiedenen Kerlen wirklich zu treiben. Bin ich anspruchsvoll? Prüde? Stimmt was nicht mit mir? Außerdem wird unglaublich viel Energie dabei verschwendet. Schon allein die Zeit, die man im Fitneßstudio verbringt, um in Form zu sein, der Aufwand, charmant zu wirken, sich zurechtzumachen, an der Bar zu sitzen, um jemanden kennenzulernen, trinken, sich unterhalten. Dann wird man endlich aufs Kreuz gelegt. Und anschließend sieht man den Typen nie wieder. Also vergeudet man wieder eine Menge Energie aufs Cruisen, in der Hoffnung, daß der nächste Kerl der Traumprinz ist. Würden die Schwulen aufhören, so viel Energie in den Clubs zu lassen, wieviele da Vincis kämen da Ende der Neunziger plötzlich aus dem Schwulenghetto! Denk nur mal an die ganzen Schuberts und Nijinskys. Statt dessen gab es ein paar Millionen wirklich gutaussehender Typen mit festen Jobs, die toll tanzen konnten. Und mich. »He, du, macht's dir was aus, wenn ich mich zu dir setze?« Es war nicht da Vinci. Der Typ legte mir meine Jacke auf den Schoß, seine Hand streifte mein Bein, und dann setzte er sich auf den verbotenen Stuhl neben mir. Er war ein großer, blonder Vorstadttyp mit einem kleinen Schnäuzer, der offensichtlich auf Bodybuilding stand. Er hatte ein trotteliges Gesicht, und sein mächtiger Körper paßte irgendwie nicht zu ihm, ein ziemlich ekliger Typ, der seine Komplexe mit dem Training kompensierte. Wenn ich mich manchmal so unter den Schwulen umsehe, fühle ich mich wie Donald Sutherland in Invasion of the Body Snatchers, nur daß in diesem Fall die Körper nicht gestohlen, sondern aufgeblasen werden. Er kippte sein Light-Bier in sich rein und lächelte gezwungen. Er hatte es nicht für nötig befunden zu warten, bis ich ihn zum Hinsetzen einlud, also hielt ich es nicht für nötig, ihn gehen zu lassen, bevor er sich die Eier eingeklemmt hatte. Ich sah ihn mit aller Bösartigkeit an, die mir zu Verfügung stand, und er fiel beinahe vom Stuhl. Dann riß er sich zusammen und legte los. »Du hast wohl gerade über was Wichtiges nachgedacht?« (Sauf/grins/sauf/grins.) »Nein«, antwortete ich. »Ich hab nur das Alleinsein genossen.« (Schluck-schluck.) Keine Chance. »Hm, vielleicht solltest du nicht so oft allein sein. Du siehst viel zu - 149 -
gut aus, um dich zu verstecken.« »Ich versteck mich seit dem Kindergarten.« Mein Gott, alle wollen was von mir. Laßt mich doch in Ruhe. (Sauf/grins/sauf/grins.) »Du bist ja ein Spaßvogel. Ich kann mir vorstellen, daß du es gewohnt bist, von Typen angemacht zu werden. Aber ich bin bestimmt keiner von diesen schmierigen Kerlen. Ich dachte, du hättest vielleicht Lust, mit mir was essen zu gehen.« Hoppla! Was essen. Seinen Schwanz wahrscheinlich. Ich musterte sein Gesicht. Nein, da war wirklich nichts... »Warum bist du dir eigentlich so sicher, unwiderstehlich zu sein?« fragte ich sachlich. »Was könntest du haben, was eine Million anderer Typen nicht haben, hm?« Ihm schwante jetzt endlich, daß ich wirklich nichts von ihm wollte und daß sein Auftritt mich nicht besonders beeindruckt hatte. Tatsächlich hatte ich ihm gerade etwas sehr Gemeines gesagt. Ich hatte ihn sozusagen kastriert. Aber er wollte nicht klein beigeben. »Und was macht dich so unwiderstehlich?« Er war ganz schön sauer. (Sauf/grins/sauf/grins.) Seinen Stil zu kopieren, setzte dem Ganzen die Krone auf. »Keine Ahnung. Was meinst du denn?« Er gab auf und ging, wobei er irgendwas wie »Arschloch« und »Scheißspiel« murmelte. Ich hab ihn doch nicht verarscht! Mal ehrlich: Hab ich mit ihm geflirtet, ihn angelächelt, ihn angemacht? Soll er doch seine Freundin ficken. Mach's gut, Schluckspecht. Schwänze gibt es überall. Soviel zu Ruhe und Frieden. Ich trank mein Wasser aus und bahnte mir den Weg durch die Menge zum Ausgang. Ein letztes Mal durfte ich einen Blick auf den Schluckspecht werfen. Er deutete auf mich und sprach wohl mit einem Freund über mich. Sein Kumpel war ein süßer, rotgesichtiger, asiatischer Unityp mit Muskeln und vollen Lippen. Als beide rüber-schauten, warf ich dem Unitypen den verführerischsten Blick zu, den ich zustandebrachte, und formte mit den Lippen die Worte »Ich will dich«, bevor ich durch die Tür verschwand. Das, Leute, ist Verarschen.
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BEICHTE 16: ICH BRAUCHE MENSCHEN Ich saß bei Gregory herum und dachte gar nicht mehr daran, als es soweit war. Vereinigung. In diesem Wort steckt eine Menge Sex, stimmt's? Wenn ich meine Augen schließe und das Wort vor mich hinsage, sehe ich kleine Blumensträuße, die langsam in Flammen aufgehen, während eine flinke Feuersbrunst über ihnen tanzt. Innerhalb einer Sekunde wird Funke zu Flamme zu Rauch. Vollzogen. Das verstehe ich unter Leidenschaft. Natürlich dauert es eine Weile, bis man soweit ist, aber der eigentliche Moment, wenn es endlich passiert, gleicht diesen Blumen, die in Flammen aufgehen. Für eine Minute sind deine Gedanken so fein und zart wie eine Blume. Dann verschmilzt dein Blick mit dem eines anderen Menschen und deine Gedanken fließen auseinander: Fleisch wird zu Feuer wird zu Rauch. Es ist unausweichlich und unersetzbar. Deshalb ist der Verlust der Unschuld eine so unglaubliche Angelegenheit. Nicht nur, daß man etwas zum allerersten Mal tut, es bedeutet auch, daß sich dein Leben in einem Moment auflöst und dann als ein neues, anderes Ganzes weitergeht. Zu diesem Zeitpunkt war es mir angenehm gleichgültig, wann oder ob ich überhaupt jemals Sex mit Gregory haben würde. Ich ging eher davon aus, daß er nie glauben würde, ich sei scharf genug auf ihn. Ich lag auf seinem Sofa, die Arme hinter dem Kopf über die Lehne gelegt, während meine bloßen Füße auf der anderen Lehne ruhten, wenige Zentimeter von Gregory entfernt, der abwechselnd aus der Chicago Tribüne vorlas – »Bette Davis ist gestorben! Ich kann es nicht glauben! Das bedeutet, daß sie tatsächlich noch am Leben war die letzten Jahre.« In Wahrheit kam er über diesen Verlust kaum hinweg – und Brandy aus einem unglaublich aufwendig verzierten Weinglas nippte. »Ich mache mir Sorgen wegen Joe«, murmelte ich und überraschte mich selbst damit. Ich hatte doch die ganze Zeit über meinen Streit mit Andrew und unser großes Schweigen gegrübelt. Oder nicht? »Nach allem, was du mir erzählt hast«, begann Gregory, »kann ich nur sagen, daß es ihm anscheinend ganz gut geht. Er ist ein junger - 151 -
Kerl, der seinen Weg sucht. Er hatte das Pech, bei seinen Eltern früher rauszufliegen als üblich, also muß er sich ein bißchen früher um seine Zukunft Gedanken machen als die andern Jungs. (Ich hatte immer den Verdacht, daß Gregory nicht mochte, wie selbstverständlich die schwulen Jugendlichen der Neunziger mit ihrer relativ großen Freiheit umgingen.) »Du machst dir weniger Sorgen um ihn als um deine Gefühle für ihn.« Darüber mußte ich erstmal eine Weile nachdenken. Wahrscheinlich hatte er recht. Ich brauchte Joe, denn er war, wie Gregory, einer meiner wenigen Freunde. Ich brauchte Andrew, weil, na ja, es hatte wohl damit zu tun, daß er mich seinen »Fels« nannte. Er brauchte mich als Halt, und ich brauchte jemanden, der mich hielt. Ich hatte es während der letzten Jahre ganz großartig geschafft, mich von allen emotionalen Bindungen zu trennen, so daß mich die Erkenntnis geradezu überwältigte, wie sehr ich Andrew und Joe brauchte, auf verschiedene Weise natürlich, aber beide gleichzeitig. Meine erste Trennung war die schwerste gewesen, und gleichzeitig hatte ich mit ihr die Grundlage für alle weiteren Trennungen gelegt. Wahrscheinlich müssen alle Schwulen so eine Trennung durchmachen, obwohl immer mehr (ich gebe zu, daß ich sie deswegen beneide) das nicht mehr müssen: Ich mußte mich von meinen Eltern trennen. Wie jede gute kleine Schwuchtel hatte auch ich meinen Vater geliebt und an meiner Mutter gehangen. Als ich klein war, war meine Mutter so hübsch mit ihren langen blonden Haaren im Stil der frühen Siebziger und dem Stilbewußtsein einer Hausfrau – letzteres war sozusagen ein Rückschritt in die Fünfziger. Sie ging nicht arbeiten; das war kein Thema. Mein Vater hatte es ihr nicht direkt verboten, es wurde einfach nie darüber gesprochen. Sie hat in ihrem ganzen Leben keinen einzigen Tag gearbeitet. Vor ihrer Ehe bekam sie Geld von ihren Eltern, und dann bekam sie das Geld von ihm. Sie war eine von diesen Prinzessinnen, denen keiner einen Wunsch abschlagen konnte, weshalb sie sich nie Gedanken darüber machen mußte, woher ihre nächste Mahlzeit wohl kommen würde. Meine Mutter war vernarrt in mich. Mehr als einmal fragte sie mich, nachdem sie ihre kecke kleine Nase direkt vor meine hielt: »Wie kommt es nur, daß du so hübsch bist? Wer hat dich zu so einem hübschen Jungen gemacht?« Die Antwort blieb unausgesprochen und lautete natürlich: Das ist - 152 -
Mommys Verdienst. Laß einfach den lieben Gott beiseite – Mommy war Atheistin, und viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um an so etwas zu denken. Vergiß Daddy, der zwar ziemlich sexy und eher klassisch gutaussehend war, denn rein äußerlich konnte man ihn nicht als meinen leiblichen Vater identifizieren. Mein dunkles Haar mit den verräterischen blonden Strähnen ist das einzige, was an meinen Daddy erinnert. Ich vergötterte meine Mutter. Sie war immer für mich da und überhäufte mich mit Spielsachen – nie mußte ich um irgend etwas betteln. Als der Earthquake Tower herauskam, hatte ich schon nach einer Woche einen. Ich bekam den Grünen Schleim vor allen andern und den Zauberwürfel und Generationen von Stofftieren (diese Dinger haben ungefähr die Lebenserwartung von Hamstern). Mommy schenkte mir einfach alles, nur keine echte Wärme. Schluchz. Daddy. Mein Herz machte einen freudigen Sprung, wenn ich nur an ihn dachte, bis zu dem Tag, an dem er mich beim Wichsen erwischte. Das war viele Jahre später, nachdem Mommy und ich ein Herz und eine Seele waren, als ich zu alt zum Knuddeln war und schon ein kleiner Konkurrent im Kampf um Aufmerksamkeit. Damals war ich zwölf, und es sollte nicht mehr lange dauern, bis ich meine Beine über die muskulösen Schultern meines Cousins werfen würde. Obwohl ich schon früh alles über Sex wußte, hatte ich es gerade mal geschafft, das erste Sperma aus mir herauszukitzeln. Und nun verbrachte ich viele Stunden in meinem Zimmer damit, diese Technik zu perfektionieren, wozu ich mich im Wandschrank versteckte, damit ich mir schnell die Hosen hochziehen konnte, falls jemand reinkam. Als er mich ertappte, blätterte ich gerade in einem Katalog für Herrenunterwäsche, wahrscheinlich Sears, und einem kleinen Stapel Lorenzo-Lamas-Fotos, die ich gehortet hatte (okay, mach dich nur darüber lustig, aber mein Geschmack hat sich im Laufe der Jahre weiterentwickelt). Ich stellte mir nie richtige Sex-Szenen vor, sondern immer nur Männer, die mir in die Augen sahen, meine Hand hielten und mir übers Haar strichen. Übers Haar streichen! Ich werde rot, wenn ich daran denke, und zwar ganz ehrlich, denn dies ist das erste Mal, daß ich mich zu meiner allerersten erotischen Obsession bekenne. Ich mag es immer noch, gestreichelt zu werden. Kein Geräusch verriet mir, daß mein Vater heimlich ins Zimmer kam – obwohl meine schwere hölzerne Zimmertür unglaublich laut - 153 -
war und die Scharniere quietschten wie die Knochen deiner uralten Tante Soundso. Ohne Vorwarnung wurde die Tür meines Wandschranks aufgerissen und ich blickte direkt in das starre Gesicht meines Vaters, als mein Sperma über Seite achtunddreißig des Katalogs spritzte, Herrenunterbekleidung. »Schau nur, was du angerichtet hast,« sagte mein Vater und seine Stimme brach sich vor Zorn. Er sah mich unbarmherzig an, und ich zog die Knie an meine Brust und versuchte, den Katalog irgendwo zu verstecken. Mein Vater ist immer ein Mistkerl gewesen, weshalb er sich auch gerne als Kleinstadt-Politiker betätigte. Aber vor allem war er Trainer einer Football-Mannschaft der Regional-Liga. Etwas Männlichers gab es höchstens noch bei den Green Berets, wo sie aber keinen nehmen, der sich während der College-Zeit dem Einberufungsbefehl durch eine schnelle Flucht über die kanadische Grenze entzogen hat. Er war schon ein heißer Typ, das gebe ich zu, der klassische GI-Typ mit echtem Macho-Schnäuzer. Er wurde von seinen Spielern geliebt, ausnahmslos Schwarze, die nicht ahnten – es sich vielleicht aber denken konnten, falls sie nicht vollblind waren – wie sehr er Schwarze verabscheute. Mein Vater gewann viele Bezirkswahlen dank 80 Prozent schwarzer Stimmen, während er zu Hause Sprüche klopfte über die unfähigen Negerärsche, die er trainieren mußte. Er lästerte über sie und steigerte sich richtig in eine Haßtirade hinein, wenn sie damit geprahlt hatten, ein weißes Mädchen gebumst zu haben. Dann beruhigte er sich wieder und benahm sich so charmant, daß meine Mutter die Nachbarn einlud, um mit ihrem tollen Mann anzugeben. Sein Körper war schön, sehr muskulös, aber nicht wie bei diesen aufgeblasenen Typen, die man heutzutage in den Schwulenbars rumhängen sieht. Er hatte eine behaarte Brust und riesige Hände. Ich erinnere mich, wie ich einmal mit ihm zusammen unter der Dusche stand und ihn nackt sah, als ich noch keine fünf Jahre alt war. Ich faßte ganz unschuldig nach seinem Penis und fragte, was das sei und warum es bei mir so anders war. Er war so gnädig, einfach locker darüber zu lachen und schob meine Hand weg mit den Worten: »Den sollst du nicht anfassen. Das ist ein (flüsternd) Penis.« Meine Kindheit war eine Aneinanderreihung von beinahekatastrophalen Zurückweisungen durch meinen Vater. Ich war eigentlich ziemlich sportlich und ein verdammt guter Sprinter, aber ich hatte - 154 -
furchtbares Lampenfieber und weigerte mich mitzuspielen. Trotzdem mußte ich in jede Jugendmannschaft der Stadt und wurde damit gezwungen, mich die ganze Zeit zu drücken. Und das machte mich zum Feindbild jedes kleinen Jungen: zum Schwuli. Ich bedauerte meine Schwestern, weil sie noch viel schlechter behandelt wurden, aber sogar sie sahen auf mich, das Weichei, herab. Mit acht Jahren hatte ich endlich herausgefunden, warum ich anders war. Ich hatte Bilder von Jungs gesehen, die sich gegenseitig an den Penis faßten und eine Menge anderer pornographischer Werke, die mein Freund (Jake? Jack?) mir im Wohnmobil seines älteren Bruders zeigte. Ich verschlang die Bilder, auf denen Männer zu sehen waren, die sich kaum berührten, während mich die Bilder, auf denen Männer sich gemeinsam über ein unscheinbares Mädchen hermachten, kalt ließen. Die Männer sahen zwar auch nicht gerade klasse aus, sie waren mager, bleich, und man wußte, daß sie nach Schweiß rochen und von Deos nichts wissen wollten. Aber ich sehnte mich danach, von ihnen berührt zu werden. Ich wollte möglichst über Nacht erwachsen werden, um endlich den Penis eines Mannes anfassen zu dürfen. Mir war klar, daß ich ein Penis-Grabscher war und kein Mädchenficker, und ich wußte, ich durfte es niemandem erzählen. Woher weiß ein kleiner Junge so etwas? Es gibt wenige Eltern, die sagen: »Das ist Homosexualität. Das läßt du bitte bleiben.« Statt dessen gab es so ein ungeschriebenes Gesetz, das mir sagte, ich sollte das mit dem Penis nicht weitererzählen, bis ich jemanden traf, der es auch nicht weitererzählen würde. Nach dieser Erkenntnis mit acht erinnere ich mich an ein paar Szenen, bevor mein Vater mich mit zwölf abspritzen sah: • auf einem Parkplatz warte ich ängstlich auf meinen Vater, der eine halbe bis dreiviertel Stunde zu spät kommt... mein Vater kam zu spät... ich mußte immer warten... • meine Haare sind zu lang geworden, weil mein Vater zu beschäftigt ist und meine Mutter sich mehr um sich selbst und/oder den Haushalt kümmert, anstatt sie zu schneiden... werde von einem älteren Jungen gefragt, ob ich ein Junge oder ein Mädchen bin... • das zwanghafte Töten von Käfern und wie ich dann meine Mutter - 155 -
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belüge, als sie mich fragt, was diese seltsamen kleinen Holzkreuze (gefertigt aus Streichhölzern) bedeuten, die ich im Garten aufgestellt habe... ich war der Goebbels der Insekten... ich stecke mir zum ersten Mal den Finger in den Hintern und komme mir vor, als hätte ich die Perversion erfunden... eine Folge von »Real People«, in der Dragqueens gezeigt werden, und ich fasziniert bin von ihren enormen, echten Brüsten und der umständlichen Erklärung meiner Mutter, wie sie dazu kamen... sie sind einfach zum Arzt gegangen und haben ihre Körper verändern lassen... ich ertappe zwei der Lieblingsspieler meines Vaters, wie sie sich auf die gleiche Weise küssen wie meine Eltern... Sind sie so wie ich? ich bekomme Probleme mit meiner Tante, weil ich nackte Mädchen gezeichnet habe... sie fand nie die Bilder von den nackten Jungs, die ich in meinen Hosentaschen hatte... während eines Football-Spiels sage ich laut »Nigger« und meine gutherzige Babysitterin zischt mich an... ich merke, daß dieses Wort, das meine Eltern andauernd benutzen, ein schlechtes Wort ist... ich hasse sie, weil sie mich dazu gebracht haben, es zu gebrauchen... ich bin immer noch fasziniert von Bauklötzen und kleinen Plastiktieren, als Gleichaltrige längst auf exotischere Dinge umgestiegen sind, zum Beispiel Video-Spiele oder den PlayboyKanal, nachdem sie ganz clever den Decoder mit einer Spielkarte manipuliert haben...
Im Grund genommen hatte ich eine relativ glückliche Kindheit. Mir taten Freunde leid, deren Eltern starben oder solche, die so dumm waren, daß die Schule für sie eine einzige Folter war, oder andere, die so arm waren, daß sie abends kein warmes Essen bekamen, die Brillen tragen mußten oder Zahnspangen oder in Rollstühlen saßen. Ich kam mir vor wie der einzig normale Junge, bis ich schließlich angeekelt feststellen mußte, daß ich ein Penis-Grabscher war. Ich vereinsamte. Ich lebte nur noch in meinem eigenen Zimmer. Ausschließlich. Ich wurde dick, trank mehr Cola als du Wasser trinken kannst, las alle Bücher, an die ich herankam und schrieb kleine - 156 -
Geschichten über seltsame Morde und großartige Romanzen (zwischen Jungs und Mädchen). Meine Mutter machte sich Sorgen, dann war sie verstört, dann gab sie auf und sprach kaum noch mit mir oder über mich und fing an, bei Nachbarschaftswachen und gelegentlichen Tupperware-Parties (wirklich!) mitzumachen. Als sie Mary Kay entdeckte, fühlte sie sich wie neugeboren. Unglücklicherweise sah ihr Gesicht – die Wangen übertrieben geschminkt, die Augen dunkel umrandet, die Lippen tiefrot glänzend – jetzt mehr nach Nachgeburt als Wiedergeburt aus, und ihre transenhafte Erscheinung machte es mir umso leichter, mich von ihr zu distanzieren. Meine Mutter? Ich liebte sie. Mein Vater? Ich betete ihn an, verehrte ihn, ich wollte genauso gut aussehen, so stark sein wie er; manchmal begehrte ich ihn sogar, aus Mangel an anderen Lustobjekten. Nicht wirklich natürlich, es war nur so ein Freudscher Reflex, ein Wunsch, der mir später völlig unglaubwürdig vorkommen sollte. Aber alle diese Gefühle sind längst vergangen, denn, wie ich schon vor langer, langer Zeit sagte, ich habe mich von ihnen getrennt. Meinem Vater war wahrscheinlich gar nicht aufgefallen, daß ich mir beim Wichsen Bilder von Männern ansah, aber als er da so auf mich herabsah, wie ich herumstrampelte, um meine Hosen wieder hochzuziehen, beschloß ich, mich zu verändern. Wenn Mom das konnte, wenn Transsexuelle das konnten, dann konnte ich es auch. Meine Mutter war zu nichts mehr zu gebrauchen, mein Vater gefühllos und bis oben hin voller unbestimmtem Haß. Zur Hölle mit ihnen. »Wie, zum Teufel, kommst du eigentlich dazu, dich in mein Zimmer zu schleichen? Hau sofort ab, oder ich BRING DICH UM!« Mein Vater wurde aschfahl im Gesicht, machte den Mund auf, drehte sich dann aber um und knallte die Tür zu. Ich saß ungefähr eine halbe Stunde da, mit einem schmerzhaften Gefühl der Feindschaft in mir und einem Kratzen im Hals, weil ich so laut wie ich nur konnte gebrüllt hatte. Mein Sperma war schon fast trocken, als ich die bespritzten Seiten wieder hervorholte und abrieb. Ich wischte mich mit einer schmutzigen Socke ab, zog meine Hosen ganz hoch und taumelte zu meinem Bett. Nach zwölf Jahren hatte ich innerhalb von zwei Minuten meine Eltern fallen gelassen wie die Hosen, die ich jetzt wieder anhatte. Von diesem Tag an waren sie mir - 157 -
absolut hundertprozentig scheißegal. Zwischen meinem Vater und mir gab es diese unausgesprochene Abmachung: Wir waren nicht mehr Vater und Sohn, aber wir wahrten den Schein. Ich brauchte sie als Ernährer während meiner Highschool-Zeit. Dann verließ ich sie. Ich wollte nicht während des College weiter von ihnen abhängig sein. Nach all den Jahren, in denen sie mich versorgt hatten, war ich bereit, auf eigenen Füßen zu stehen. Ich glaube, dieser mitleidlose Pragmatismus ist heutzutage unter Schwulen die Regel, unter den mutigsten jedenfalls. Vielleicht wirkt es rücksichtlos, wenn man den Selbstschutz über die Familie stellt, aber nur, wenn man nie an der elterlichen Aussage »Wir werden dich immer lieben – egal was kommt« gezweifelt hat. Wenn dir mit zwölf Jahren klar wird, wo die Liebe aufhört, dann fängst du an zu fragen, was wohl passiert, wenn du irgendwann auf der Straße sitzt. Wenn du das die nächsten sechs Jahre bis zum Highschool-Abschluß im Hinterkopf behältst (gehen wir mal davon aus, du schaffst es), kann das eine Menge Haß aus einem sanftmütigen Wesen herausholen. Und du lernst, mit Fehlschlägen umzugehen. Ich wurde nie zu Hause rausgeworfen, weil ich schwul war. Statt dessen wurde ich emotional ausgehungert, und zwar nur (davon bin ich überzeugt), weil meine Eltern irgendwie dachten, daß mit mir etwas »nicht stimmte«. Ich löste mich von meinen Eltern, weil mir mein Gefühl sagte, daß ich schwul war und sie mich deswegen automatisch zurückweisen würden. Meine Eltern wissen nicht, wo ich wohne, wenn sie nicht im Telefonbuch nachgesehen haben. Daß ich schwul bin, wissen sie nur, weil es ihnen der Rest der Stadt irgendwann erzählt hat. Ich hoffe, ich werde sie nie mehr wiedersehen und wünsche ihnen einen schmerzhaften Tod, der genauso weh tun soll wie das, was sie mir zugefügt haben, als ich klein war und von unschuldiger Liebe direkt auf den schlimmsten Verrat gestoßen wurde, den man jemandem überhaupt zufügen kann. Ich habe sie auf dem Weg zurückgelassen wegen ihrer unausgesprochenen Abneigung gegen mich. Die ganze Angelegenheit wurde wortlos entschieden. Wir haben nie darüber gesprochen, und nun werden wir nie mehr miteinander sprechen. Und das hat überhaupt nichts mit »sich einen anderen Lebensstil angewöhnen« zu tun oder »sein Leben ändern«. Es hat vielmehr damit zu tun, daß ich - 158 -
das verdammte Pech hatte, von zwei der kältesten Scheißtypen, die jemals aufeinander gekrochen sind und ein Baby gemacht haben, in die Welt gesetzt worden zu sein. Während Gregory seinen Brandy schlürfte, grübelte ich über meine verschiedenen Trennungen: zuerst von Eltern und Familie, dann von Andy, dann von einer ganzen Reihe schlechter Freunde, dann von jedem, den ich auch nur ansatzweise attraktiv fand. Zuletzt habe ich immerhin ein paar Leute in meine Nähe gelassen. Vielleicht war Andrew deshalb so wichtig für mich, weil ich mich ihm angeboten hatte, ihn eingeladen hatte, in mein Leben zu treten. Vielleicht ging es bei diesen ganzen Trennungsgeschichten eigentlich nur darum, Menschen zurückzuweisen, bei denen ich diese Wahl gar nicht hatte, Menschen, die das Schicksal mir zugewiesen hat. Wenn das so ist, ist das Wort »Trennung« sowieso falsch; man kann sich nicht von jemandem trennen, mit dem man gar nicht zusammen war. Ich hörte auf zu grübeln und sah Gregory an. Er sah mich verstohlen an und wirkte verwirrt, obwohl er mein Gesicht ohne sichtbare Gefühlsregung zu studieren schien. Er war mein Freund, und ich liebte ihn dafür. Jetzt oder nie. Ich stand auf. Und ging auf ihn zu. Ich küßte ihn – er seufzte wie ein Stück Papier, das unter einer Tür hindurchgeschoben wird. Ich küßte ihn heftiger. Er erwiderte den Kuß nachlässig, als ob wir alle Zeit der Welt hätten oder als ob er sich etwas Seltenes und Besonderes für später aufheben wollte. Gregorys Kopf lag in der Mulde meines Halses, seine Hände knöpften flink mein Hemd auf, zogen es auseinander. »Er riecht nach Fichte«, dachte ich. Seine Fingerspitzen umkreisten meine Brust, glitten über harte, aufgerichtete Brustwarzen. Noch nie hatte sich jemand mit solcher Hingabe und so erregend mit meinem Körper beschäftigt wie Gregory. Er bedeckte meine Brust mit mehr Küssen, als ich während meiner ganzen Zeit als professioneller Liebhaber auf den Mund bekommen hatte. Als er mir einen blies, schloß ich die Augen und stellte mir vor, er sei ein blonder Junge, kaum sechzehn Jahre alt und schon verrückt nach Renaldo, dem dunkelhäutigen kleinen Gott. Als er meine Eier mit seiner lebhaften Zunge liebkoste, öffnete ich meine Augen und sah ihn, wie er wirklich war: ein gutaussehender alter Mann, kräftig gebaut und voller Leidenschaft, mit strahlend weißem Haar. Ich lenkte - 159 -
ihn wieder zu meinem Schwanz, und unsere Augen trafen sich, bevor er wieder den Kopf senkte; wir betrachteten meine Erektion und erfreuten uns daran, beide gleichermaßen beeindruckt, nicht von der Größe (bitte!), sondern von der Form eines menschlichen Penis, seinem Aussehen, seiner pulsierenden Kraft, der zarten Haut an seiner Spitze, die ein Mund jeden Alters in ein Zentrum des Vergnügens oder gar der Ekstase verwandeln konnte. Diese Erektion war unser gemeinsames Ziel gewesen, vom ersten Tag an. Gleich darauf lag er wieder in meinen Armen, und ich roch seinen Körper. Wir zogen uns aus, und es war ganz selbstverständlich, daß ich ihn umdrehte und von hinten umschlang. Ich konnte gar nicht aufhören, meine Hände über seine papierene Haut gleiten zu lassen, über die dunklen Flecken auf seinen Unterarmen, die man zwar deutlich sehen, aber überhaupt nicht fühlen konnte. Sein Hintern schob sich gegen meinen Schwanz, fühlte sich warm und trocken und weich an – nicht viel anders als bei anderen Männern, mit denen ich zusammengewesen war, aber Welten entfernt von den festen, muskulösen Ärschen, die die meisten in meinem Alter bevorzugten, mit denen ich nie geschlafen hatte. Er faßte nach hinten und hielt meinen Schwanz ganz fest und strich den Lusttropfen mit dem Daumen über die Eichel. Plötzlich stand er auf, um ein Kondom aus dem Nachtschränkchen zu nehmen und eine Tube ForPlay, die neben seinem Bett lag. Es war schon verrückt, einen so alten Kerl mit der For PlayTube hantieren zu sehen, aber so überlebt man wohl in dieser Welt achtzig Jahre – man paßt sich an. Ich bat Gregory, mir das Kondom überzuziehen, und er tat es. Dann bat ich ihn, das Gleitgel draufzuschmieren, und er tat es. Wir lagen nebeneinander auf seinem Bett und ich nahm mir selbst etwas Gel aus der Flasche und schmierte es zwischen seine weichen Arschbacken und in sein Loch – er stöhnte – und ich umarmte ihn wieder. Er schob sich gegen meine Finger und hob das Bein leicht an, was ihn einige Anstrengung kostete. Ich half ihm, indem ich meine Faust zwischen seine Schenkel legte, dann schob ich ganz langsam, nach drei mißglückten Versuchen, meinen Schwanz in ihn hinein. Ich habe niemals jemanden so langsam gefickt und so zielbewußt. Ich unterbrach meinen einfachen Vor-und-zurück-Rhythmus nur einmal gegen Ende, als ich ihn heftiger und mit kleinen Kreisbewegungen stieß, damit ich so heftig kommen würde, wie ich wollte. Ich - 160 -
wollte es meinem Freund richtig gut machen. Ich erschauerte bei der Erkenntnis, daß ich dasselbe auch ohne Gregorys Bezahlung gemacht hätte. Gregory faßte nach hinten, hielt meinen Arm fest und keuchte, ich sei »so stark, so stark« und zog sich um meinen Schwanz zusammen. Schließlich holte ich meinen Schwanz ganz heraus und stieß ihn dann wieder hinein, und er schien ohnmächtig zu werden vor Erschöpfung. Aber mehr als diese letzte Bewegung war nicht mehr nötig, ich kam, laut und anhaltend... ... ich ließ meine Hand auf seinen Körper fallen und spürte, daß er irgendwann auch einen Orgasmus gehabt hatte, obwohl ich das nicht mitbekommen hatte. Ich ließ meine Finger über sein Sperma gleiten und stellte mir vor, es wäre noch immer voller Leben. Wir atmeten gleichzeitig tief ein und aus und sagten kein Wort. Wir schliefen bis zum Morgengrauen und standen auf, als wir die Geräusche der College-Studenten vor Gregorys Tür wahrnahmen, die sich anhörten wie Schulkinder. Dann machten wir es nochmal. Diesmal nahm ich ihn in den Mund und molk ihn, bis nichts mehr zu holen war. Ich fühlte mich so, wie ich hoffte, daß Andrew sich fühlen würde, nachdem er mich genauso intensiv geliebt hätte. Es war wie eine Vorahnung. Es war eine Art Appetizer. Es war das erste Mal, daß ich dieses Gefühl einer intimen Vereinigung hatte, seit jenem einen, lange vergangenen Ereignis, als ich am anderen Ende der Stöße gelegen hatte. Es war außerdem das erste wirkliche Vergnügen, das ich mir seit Jahren gegönnt hatte. Und deshalb flippte ich aus.
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BEICHTE 17: ICH BIN STOLZ, SCHWUL ZU SEIN Ich kann es einfach nicht glauben, daß ich eine ganze Nacht mit Gregory verbracht habe, dachte ich, als ich aus dem Bus stieg und die Belmont Ave raufging. Mir klingelten die Ohren und meine Schläfen pochten. Ich war unendlich zufrieden mit mir und der letzten Nacht und gleichzeitig total durcheinander. Das war einfach zu viel und zu früh gewesen. Hatte ich leichtfertig etwas sehr Kostbares verschwendet, etwas, das mit Andrew nochmal so schön gewesen wäre? Ich fühlte mich, als hätte ich meine Unschuld ein zweites Mal verloren, mit dem Unterschied, daß ich nach dem ersten Mal nicht so verunsichert gewesen war. Was passierte mit mir? Wen liebte ich eigentlich? Ich mußte unbedingt diese wirren Gedanken aus meinem Kopf faxen. Wähl 011 und acht beliebige Ziffern und drück auf »Start«. Ich konnte mir nicht leisten, mit meinen Gefühlen für Andrew und Gregory zu spielen. Vielleicht hatte Andrew wegen diesem Gefühlsdurcheinander etwas gegen Prostitution. Vielleicht hatte er recht. Ich überschlief das Ganze, bis das Ereignis des Tages begann, die Gay Pride Parade. Die Parade in Chicago ist eine große Sache, zu der unzählige Schwule aus dem Mittelwesten kommen, voll Stolz, und voll mit Bier, die offenherzig alles zeigen, was sie haben, oder nicht haben. Die Umzugswagen sind meist nichts besonderes, und es sind immer viel zu viele Politiker da (leise Erinnerung an Daddy), die einen schwulen Sohn niemals verkraften würden, aber nichts dagegen haben, sich von Schwulen wählen zu lassen... andererseits ist das Gemeinschaftsgefühl nie so stark wie während der Parade. Tatsächlich verschwindet dieses Gefühl danach mehr oder weniger für den Rest des Jahres. Aber das ist eher mein Problem, oder? Ich hänge immer nur zu Hause herum, in meiner eigenen Welt, oder werde dafür bezahlt, Männer zu ficken, die überhaupt keine schwule Selbstachtung kennen, sondern sich für das schämen, was sie sind. Und Geld haben. Joe kam auf mich zu, er sah stoned aus wie ein Grunge-Rocker. Nachdem er hallo gesagt hatte, platzte er damit heraus: »Ich glaube, - 163 -
diese Parade wird der große Wendepunkt für mich.« Er tänzelte über den Bürgersteig mit einer Leichtigkeit, die andere nur beim Gehen haben, aber er war sich seiner selbst sehr unsicher. »Weg von zu Hause, offen schwul, völlig außer Rand und Band!« Nicht zu vergessen, »total durchgeknallt«. »Wird bestimmt klasse«, sagte ich zurückhaltend. Joe legte seinen Arm um meine Schultern. »Ich kann gar nicht verstehen, wie du die Belmont langlaufen kannst, ohne beim Pride mitzumachen. Wo bleibt dein Stolz? Du bist nur einen Block entfernt von einem Riesenhaufen Fahnen schwenkender Schwuler. Bist du da nicht stolz?« Er war einfach süß, so süß. Seine Augen strahlten. Wer entscheidet wohl, wer hübsche Augen bekommt oder solche, die nur sehen? Ich wollte am liebsten sofort erzählen, was in der letzten Nacht passiert war, wollte Joe nach seiner Meinung fragen. Statt dessen schluckte ich all meine Verwirrung hinunter und hielt den Mund. »Natürlich bin ich stolz«, sagte ich. »Ich bin gern schwul. Aber mein persönliches Vergnügen hat nichts mit Politik zu tun.« »Du bist wirklich ein mieser Homo«, zog Joe mich auf. Es sollte ein Scherz über mein Alter sein und eine Anspielung auf die neue Generation, mit der ich nichts zu tun hatte, obwohl ich nur ein paar Jahre älter war. »Ich habe den Homo erfunden«, höhnte ich. »Was weißt du schon von den Homos?«. Es war ein Witz, aber er kam ziemlich nah an die Wirklichkeit heran. Joe mochte ja ein Homo des Neuen Zeitalters sein, aber ich lebte ein echtes Homo-Leben, indem ich meinen Körper verkaufte, mein Ich aber bewahrte. Ich war ein Individuum. Oder so ähnlich. »Klar hast du den Homo erfunden. Und bestimmt auch das Rad, hm?« Er erzählte, er wolle den ganzen Tag auf Acid sein, sich betrinken und so viele hübsche Jungs wie möglich kennenlernen, aber ohne Sex, weil er fand, daß der Gay Pride nur zum Feiern und Tanzen und Spaßhaben da war. Die Tatsache, daß Sex mit Fremden nicht zum Spaß gehörte, war schon bezeichnend. Wenn es nichts mit Spaß zu tun hatte, warum war er dann immer so dahinter her? Und wenn er sich weiterhin so herumtreiben würde, was passierte, wenn er auf jemanden traf, der ihn übel ausnutzen würde? Die ganze - 164 -
Zeit über machte ich mir Sorgen wegen Joe. Wenn sein Bruder Tony mir nur nicht aufgetragen hätte, mich um den Jungen zu kümmern. Gloria Gaynors Stimme schallte über die Straße, aus einer Ecke, wo ein paar Leute zusammenstanden, um den Umzug zu beobachten. »Ein Klassiker!« rief Joe. Er war zu jung, um sich an Disco zu erinnern. Er wußte nur, daß es ein Klassiker war, weil es ihm jemand erzählt hatte. Manchmal merke ich, daß ich morbid veranlagt bin. Ich kann diese Disco-Musik nicht hören, weil ich immer daran denken muß, daß danach die Seuche über uns kam. Vorbei ist die Zeit, in der sich die Körper in einem wilden Rausch aus Polyester, Öl und Sex verloren... wie viele von ihnen sind inzwischen tot? Wenn ich ein Stück von Donna Summer oder Gloria Gaynor höre, muß ich immer daran denken, wie reaktionär sie inzwischen geworden sind, jedenfalls nach den Äußerungen, die man ihnen zugeschrieben hat. Ich weiß noch, wie ich einmal mit meinen Eltern eine reiche Tante in Miami besuchte. Sie war eine fette, ledrige, alte Matrone, völlig heruntergekommen und bis zur Bewußtlosigkeit betrunken. Aber wir hatten eine Menge Spaß, weil wir in ihrem nierenförmigen Swimmingpool baden durften, über den Strand liefen und nach exotischem Meeresgetier Ausschau hielten. Ich spielte mit ihrem Hund Rubel (dessen Namen weiß ich immer noch, obwohl ich damals keine Ahnung hatte, was ein Rubel überhaupt war), dem cleversten Pudel der Welt. Aber ich kann mich nicht an diese wunderschöne Reise erinnern, ohne daran zu denken, daß Rubel längst tot ist, ein kalter Kadaver im Grab. Morbid. So betrachtete ich auch mein Liebesleben. Meine Liebe zu Andrew machte mich nicht glücklich, sondern unglücklich, weil Joe darunter litt. Aber wenigstens machte er im Moment keinen besonders desolaten Eindruck. Als Joe gerade losgehen wollte, merkte ich, daß ich die ganze Zeit auf einen großen entzündeten Fleck auf seiner Lippe gestarrt hatte, und mir wurde klar, daß es ein Herpes war. Es sah ziemlich übel aus, nicht wie ein Erkältungsherpes, den jeder mal bekommt, sondern eher wie ein Genitalherpes – es war nicht schwer, sich vorzustellen, wie er von da unten auf seine Lippe gekommen war. Woher ich das weiß? Mal ehrlich, so ein Ding muß man nur ein einziges Mal gesehen haben, um es immer wiederzuerkennen. - 165 -
»Sag mal, Joe, was ist das da eigentlich an deiner Lippe?« Ich werde bestimmt nie einen Preis für besonderes Einfühlungsvermögen bekommen. Joe erstarrte bei dieser Frage und fragte böse, was ich meine. »Nur so – es sieht halt so aus, als solltest du es mal untersuchen lassen.« Ich versuchte, beiläufig zu klingen. Während dessen rechnete ich nach, daß Joe mir erzählt hatte, er hätte zuletzt mit diesem ClubKid Max Prince Sex gehabt, und zwar vor zwei Tagen, rechtzeitig, um diesen Herpes jetzt sprießen zu lassen. Ein bißchen hoffte ich, dieser Herpes könne eine Art Strafe für sein wahlloses Herumficken sein. Mich überlief es, als ich merkte, daß ich überhaupt auf so einen Gedanken kommen konnte. »Ich hab es nicht nötig, mir noch mehr Gedanken über mein Aussehen zu machen als ohnehin schon«, sagte er mit überraschender Klarsicht. Sein Badezimmer ist vollgestopft mit Herren-Kosmetika, Haarpflegemitteln, Lotionen, Bürsten und Kämmen, Kleenex... Es war schon erstaunlich, daß er überhaupt merkte, wie lächerlich dieser ganze Krempel war, vor allem angesichts der Tatsache, daß er selbst nach einem Nickerchen und auf direktem Weg vom Bett auf die Straße kaum schlechter aussehen würde als jetzt, eher besser. »Ich mach mir keine Sorgen um dein Aussehen. Ich meine nur, du solltest mal zum Arzt gehen und diesen Herpes untersuchen lassen... « »Herpes?« Schien ihm völlig unbekannt zu sein. Natürlich war er nicht zu jung, um sich daran erinnern zu können, daß Herpes einmal die Gefürchteste aller Geschlechtskrankheiten gewesen war... Dann traf es mich wie ein Blitz: Selbstverständlich war er zu jung, um sich an die Zeit zu erinnern, als Herpes die große neue Sache war. Er ist fast acht Jahre jünger als ich. Ich spürte, wie sich in meinen Augenwinkeln zwei neue Fältchen bildeten. »Ja, du könntest dir Herpes bei einem deiner vielen Typen geholt haben, du weißt schon (aua!) aber am ehesten wohl von Max.« Betrunken wie er war, behauptete er steif und fest: »Bestimmt nicht.« Damit war unser Gespräch beendet, aber ich stellte mir vor, wie Joe auf einem dieser Boykultur-Mitternachts-Raves tanzen würde, wenn die Parade vorbei war... ... Joe im wilden Taumel, er sieht aus wie der Fiebertraum eines alten Mannes, ein geiles kleines Monster in Gummi und Stiefeln. Die - 166 -
Lichter pulsieren mechanisch, eine Gruppe ineinander greifender junger Zahnräder wie die eines Motors tanzt mit der gleichen elektrischen Präzision. Ihr Treibstoff ist die Sehnsucht, ihre Gliedmaßen sind das Getriebe. Diese »Boykultur«-Raves tendierten immer dazu, sich in Orgien zu verwandeln. Joe steht immer im Mittelpunkt. Warum auch nicht? Er ist sehr jung und sieht auch so aus, er hat naturblondes Haar, ein hübsches Gesicht, einfach alles, was man für eine heiße Nacht voller Spaß haben muß: den Haarschnitt, volle Lippen, Titten, Bizeps, einen knackigen Arsch, strahlende Augen und die Art, sich zu bewegen. Aber auf einem besonders heißen Rave sieht Joe nicht geiler aus als irgendein anderer von den Jungs; für die Typen, die keine Club-Kids sind, aber deren Herzen erzittern lassen, sehen sie alle gleich aus. Also tut Joe alles, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Er lächelt sein strahlendstes Lächeln, er zwinkert allen zu, er zeigt mehr von sich als erlaubt. Er würde auch vor aller Augen einen Typen im Darkroom blasen, nur um im Gespräch zu bleiben... Wirklichkeits-Check: ich habe den Hochmut einer Irma la Douce. ... Joe bemerkt einen Typen, der ihn ansieht – nichts besonderes, aber er hat etwas, das Joe ein zweites Mal hinschauen läßt. Der Fremde starrt ihn direkt an, erstaunlich offensiv. Er ist größer als Joe, breiter, hat kräftige Arme. Er ist für die Ewigkeit gebaut, hat dunkles lockiges Haar und rasiert sich bestimmt die Brust, die teilweise entblößt ist. An seiner gepiercten Brustwarze glänzt ein kleines Silberkreuz. Er hat eine Figur wie aus dem Bilderbuch. Er ist »dunkelhäutig«. Meine Großmutter hätte ihn »einen Farbigen« genannt. Joe würde ihn Gott nennen. Gott lächelt Joe herausfordernd an, schüttelt Seinen Kopf im Rhythmus der Musik, um anzudeuten, wie Er Joe rannehmen würde, wenn er die Gelegenheit hätte. Er läßt Seine Hüften kreisen, während Er lässig an der Wand lehnt und die Stöße andeutet, mit denen Er Joe wie einen hübschen kleinen Schmetterling auf Seinem Bett aufspießen würde, mit ausgebreiteten Flügeln, festgenagelt wie im gläsernen Schaukasten eines bösartigen Kindes. Joe löst sich von seinen Freunden, tanzt rüber zu Gott und faßt dreist nach Seinem Brustschmuck. »Das ist hübsch«, sagt er schmeichelnd. »Gefällt mir.« »Das glaub ich gern.« - 167 -
Eine halbe Stunde später sind sie in Gottes Auto. Es steht direkt neben der Bar, weshalb man das schwere Wummern der TechnoRhythmen durch Wände und Türen und Metall und Glas hören kann. Gott läßt sich von Joe den Schweiß vom Gesicht lecken, von Seinem Hals. Joe ist erregt, ekstatisch. Dieser Typ ist sooooo geil und sooooo schön... Gott spricht zu Joe und will, daß er Seinen Schwanz bläst. Joe macht sich an die Arbeit, nimmt Gottes schwellenden Schwanz in den Mund, saugt daran wie ein Kind an der Mutterbrust, schluckt den unerlaubten Lusttropfen und denkt nicht an AIDS, weil sie in Kanada behauptet haben, Blasen sei absolut sicher. Jedenfalls solange du Ihn nicht in deinem Mund kommen läßt, was Gott jetzt aber verlangt, und Joe – höflich wie er ist – schluckt das Sperma, als es gegen seinen Gaumen spritzt. Ganz automatisch; sozusagen als kleine Gefälligkeit für einen neuen Freund. Solche halbherzigen Zugeständnisse sind ganz normal heutzutage. Alle tun so etwas immer wieder, unter Mißachtung von Logik, Vernunft, Intelligenz, Vorsicht, nur wegen dieses geilen Gefühls, etwas Gefährliches zu tun in einer Welt, die so safe ist, daß man kaum in ihr leben kann. Im wahrsten Sinne des Wortes. Willkommen beim schwulen Sex der Neunziger. Gott ist wahnsinnig geil heute abend, und glücklich, einen willigen Minderjährigen vernaschen zu können. »Ich will deinen Arsch ficken«, stöhnt er, während er Joe wild küßt, bis sich sein Schwanz wieder aufrichtet. Joe wird von tausend verwirrenden Emotionen durchgeschüttelt. Einerseits möchte er sich benutzen lassen, andererseits möchte er sich davor schützen. Zuletzt ist Joe viel zu erregt von dem kräftigen Finger, der sich in seinen Arsch bohrt, um nein zu sagen. Als er seinen Mund öffnet und ablehnen will, hört er sich statt dessen darum betteln, von Ihm gnadenlos rangenommen zu werden. In Gottes Auto ist nicht gerade viel Platz, aber es gelingt Ihm, Joe über Seinen Schwanz zu ziehen und seine Beute ohne weiteres Vorspiel aufzuspießen. Er bewegt ihn mechanisch auf Seinem Schwanz auf und ab, als wäre er ein lebloses Werkzeug. Joe fühlt sich großartig, unglaublich lebendig. Es tut weh und fühlt sich gut an und er genießt jede aufregende Minute, die der Schwanz seines neuen Liebhabers rein- und rausgleitet. »Ich komme... « Diesmal ist Gott vorsichtig – es wäre wirklich - 168 -
idiotisch, vollkommen unsafe zu sein – und Er schiebt den Jungen von Sich und spritzt ab auf das Armaturenbrett des Wagens Seines Bruders. Joe wichst sich den Schwanz, aber dann wird er es aufgeben abzuspritzen und sauer sein, weil er noch nicht einmal gekommen ist, während Er seine Ladung schon zweimal verschossen hat. »Ist schon okay«, sagt Joe versöhnlich. Aber natürlich wird Gott dies als ein Zeichen interpretieren, daß der Junge ihn nicht sexy fand. Nicht scharf genug. Sie sprechen leise, säubern das Auto, richten ihre Kleidung, und dann wird Joe nach Hause gefahren. Er kritzelt seinen Namen und seine Telefonnummer auf eine Schachtel Streichhölzer, die möglicherweise Gottes nächstem Lebensgefährten dazu dienen wird, den heimischen Herd anzuzünden. Joe steigt aus dem Wagen, geht in die Wohnung, total erregt, betört. Was für ein Abend! So lange ich es niemandem erzähle, macht es auch nichts, daß ich gerade wilden ungeschützten Sex hatte... Ich sorgte mich wirklich um mein kleines Monster. Einmal war ich einem schlaftrunkenen Puertoricaner begegnet, der frühmorgens aus Joes Zimmer kam; und ich wollte wissen, ob Joe eigentlich Kondome benutzte, wenn er mit diesen ganzen Typen zusammen war. Also wartete ich, bis Joe ins Bad ging, und schlich in sein Zimmer, wo ich nach leeren Schachteln oder gebrauchten Kondomen suchte, benutzten Kleenex oder anderen Utensilien, die mir einen Hinweis geben könnten. Dann wurde mir klar, daß Joe seinen Sex-Abfall wahrscheinlich in den Müll im Flur warf, also kroch ich rüber in die Ecke, wo der Papierkorb stand. Plötzlich tauchte Joe hinter mir auf und fragte, was ich da tat. »Ich suche nach meinem Leben – ich glaube, ich hab es versehentlich weggeworfen.« Er war ganz zerzaust und sah aus wie eine mißbrauchte Stoffpuppe. »Also ich finde, du solltest nicht im Müll herumwühlen.« Es war ihm offenbar unangenehm, und er ging in sein Zimmer zurück, womit er einer weiteren Diskussion auswich. Ich entschied, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Ich ging in mein Zimmer zurück und versuchte, nicht weiter darüber nachzudenken. Am nächsten Tag kaufte ich eine Schachtel mit einhundert extra starken Kondomen und zwei Tuben ForPlay und erzählte Andrew (als ob er dafür Verwendung hatte) und Joe, ich hätte sie auf einer Demonstration geschenkt bekommen und sie sollten sich - 169 -
ruhig bedienen. Von diesem Tag an registrierte ich mit Befriedigung, wie Kondome verschwanden, die Gleitcreme mysteriöserweise weniger wurde und freudig erregte Club-Kids aus Joes Zimmer kamen. Er machte es safe. Oder versuchte es zumindest. »He, Monster,« sagte ich einschmeichelnd, »tu mir doch bitte den Gefallen und laß es untersuchen. Ich kenn mich mit solchen Sachen aus. Herpes kann jeder kriegen.« »Mach ich«, sagte er zustimmend, obwohl er wußte, daß er es doch nicht tun würde. Wenn er zur Untersuchung gegangen wäre, hätte er dort bestimmt Max getroffen. Später würde der Herpes Joe nur noch die ersten Male nerven. Danach und nach dem ersten Kummer und Selbstekel blieb der Herpes nur noch eine lästige Erscheinung, aber auch eine nützliche Erinnerung, ein Warnsignal. Es hätte auch schlimmer kommen können. Ich ließ die Sache auf sich beruhen, wünschte ihm viel Spaß und umarmte ihn schwungvoll, ohne gleich alles durcheinander zu bringen... oder ihn. Er schien es zu mögen und umarmte mich auch. »Viel Spaß, Monster,« stieß ich hervor. Du siehst, ich nannte ihn so, weil er alles andere als ein »Monster« war. Er flitzte davon und mitten hinein ins schwule Gewimmel. Ich verscheuchte die Gespenster und merkte, wie meine Zuneigung oder sogar Liebe für Andrew, Gregory und Joe wie Grassaat in Zeitlupe aufging und nun überall sproß. Ich spürte einen gewissen Stolz, vielleicht nicht unbedingt, weil ich schwul war, aber ich war stolz und fühlte mich gut. Ich wollte was von der Parade sehen. An der Ecke Broadway und Belmont Avenue unterdrückte ich ein Niesen und merkte, als ich mir die Nase zuhielt, daß ich mich an diesem Morgen gar nicht rasiert hatte. Ich blieb stehen und strich mir über Wangen und Kinn. Tatsächlich, ich hatte mich nicht rasiert. Das war wahrscheinlich der erste Tag seit meiner ersten Rasierklinge mit dreizehn, an dem ich unrasiert nach draußen gegangen war. Seltsam, wie kleine Risse in der Alltagsroutine einen völlig durcheinanderbringen können. Ich war wirklich total durcheinander und fragte mich, ob das ein Anzeichen für eine größere Krise war, und ob das wirklich so schlimm war. Die Menge war begeistert, sie jubelte jedem Wagen, jeder Tunte zu und sogar einer geschickten Transe, die einen Taktstock in der Luft - 170 -
herumwirbelte und dafür Bravorufe erhielt, die sonst ein Hochseilartist bekam. Sie/Er war einfach großartig, dünn wie ein Bleistift, eingehüllt in ein grellrosa Paillettenkostüm, mit dem Gesichtsausdruck einer gelangweilten alten Matrone, fast gleichgültig oder abschätzig ihren Kunststückchen mit dem glänzenden Stock gegenüber. Es war warm, Gott sei dank, vielleicht zum letzten Mal für lange Zeit, und die Straßen rochen nach Menschen, Junkfood und nach etwas, das ich vergessen habe. Ich verbrachte die Parade damit, eher die Menschenmenge zu beobachten als die Wagen. Es gab so viele geölte Muskel-Typen, was ich überhaupt nicht verstehen konnte. Sie verbrachten ihre gesamte Freizeit damit, ihre Körper zu trainieren, um anderen Männern gefallen zu können, und trotzdem stritten sie sich andauernd mit ihren One-Night-Stands darüber, wer wem den Arsch hinhalten sollte. So dumm das auch klingen mag, es war trotzdem eine aufregende Vorstellung, daß diese zig- (hundert-?) tausend Schreihälse fast alle schwul waren. Gregory hatte nicht mitkommen wollen, und seine miesepetrigen Entschuldigungen kamen mir seltsam vor. Er schien mit der Idee der Parade nichts anfangen zu können. Ich konnte nicht glauben, daß er in zwanzig Jahren nicht einmal hingegangen war. Das war wirklich seltsam. Andererseits war ich froh, daß er abgelehnt hatte, weil ich gern für eine Weile allein sein wollte. Es war angenehm, mal nicht mit jemandem reden zu müssen. Ein paar Monate früher hätte ich mich auf der Gay Parade traurig und einsam gefühlt. Aber an diesem Tag fühlte ich mich super. Ich mußte nicht tausend Bekannte treffen (wie viele andere anscheinend), um zu wissen, daß ich geliebt wurde. Ich wußte ja, daß ich Joe hatte und Gregory und sogar – auch wenn wir momentan nicht miteinander redeten – Andrew. Nach Einbruch der Dunkelheit kam ich zurück in mein Zimmer, während die anderen Schwulen draußen von einer Bar in die nächste zogen, vom Mother's ins Dicks oder ins C-Street und dann in die größeren Kneipen wie Carol's Speak-easy oder ins Bistro und dann in die angesagten Läden wie das Vortex oder das schauderhafte Boykultur. Ich hatte genug Leute beobachtet, fühlte mich angenehm aufgekratzt und wollte mir dieses Gefühl nicht damit verderben mitanzusehen, wie sich der Gay Pride wieder in das übliche Theater - 171 -
verwandelte, bei dem jeder unbedingt einen abkriegen wollte. Punkt. Bezeichnenderweise war Andrew heute ausgegangen. Ich machte mir ein bißchen Sorgen, daß er einen Mann kennenlernen könnte, der ihn gegen Mitternacht vernaschen würde, aber ich verbannte diesen Gedanken aus meinem Kopf, bevor er sich festsetzte. Joe war ebenfalls unterwegs, wahrscheinlich war er die aufregendste Erscheinung auf der Tanzfläche des Boykultur und hoffentlich nicht auf Gottes Vordersitz. Ich fütterte Judy, die wie verrückt schnurrte, während sie ihr Fertigfutter verschlang, dann kroch ich ins Bett und dachte über alles nach. Ich fühlte mich großartig, nachdem das mit Gregory passiert war, auch wenn zweifellos Andrew mein wahrer Renaldo war.
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BEICHTE 18: ICH LASSE MICH SCHOCKIEREN Am Abend nach der Gay Pride Parade passierte etwas Ungewöhnliches: Wir hatten einen Gast in unserer Wohnung. Joes älterer Bruder/Schutzengel Tony war bei uns, zu Pizza, Fernsehen und so weiter. Es war das erste Mal, daß er uns besuchte und länger als eine Stunde blieb. Anscheinend wollte Joe ihn unbedingt sehen. Als Joe mir erzählte, er habe seinen Bruder eingeladen, entdeckte ich diesen depressiven Schimmer in seinen Augen, die Einsamkeit. Das Verhältnis zu seinem Bruder war gut, er war der einzige in seiner Familie, der ihn ohne Vorbehalte akzeptierte. Allerdings hatte er keine rechte Vorstellung vom Schwulsein. Als ich Andrew erzählte, daß Tony vorbeischauen wollte, sah er mich schüchtern an, was ich glücklicherweise registrierte. Einige Zeit war vergangen, wir – jedenfalls ich – hatten nachgedacht, und unser eisernes Schweigen war aufgeweicht. Als Andrew unnötigerweise »Danke, daß du mich gewarnt hast« sagte, wußte ich, wir waren wieder Freunde, zumindest für einen Abend. »Waffenstillstand?« bot er an. »Waffenstillstand.« Hoffentlich waren wir wieder auf dem richtigen Weg und würden es schaffen. Tony kam gegen acht, wir begrüßten ihn und vertieften uns gleich in ein langes Gespräch. Wir tranken Bier oder Mineralwasser oder was sonst gerade rumstand. Es war schon erstaunlich, wie männlich wir alle klangen, wie wir nur dasaßen und uns unterhielten. Oder versuchten wir drei einfach nur, uns Tonys unübersehbaren Machismo anzupassen? Wie wir da so herumsaßen, wurde mir plötzlich klar, was für ein seltener Moment dies war – wir hatten noch nie alle so zusammengesessen. Unser Nicht-Zusammensein hatte eher ungewöhnliche Verbindungen zwischen den einzelnen entstehen lassen: Joe wußte nicht das Neueste über mich und Andrew, Andrew hatte keine Ahnung, daß ich mir so viele Sorgen um Joe machte, und Tony wußte nur, was Joe ihm gut zensiert am Telefon erzählte. Was mich selbst - 173 -
betrifft, hatte ich natürlich keine Ahnung, was ich vielleicht nicht wußte. Wir alle hatten ein persönliches Verhältnis zueinander, das aber vor allem aus Verdrängung, Hörensagen, Intuition, Verdächtigung bestand... sehr starke Bindungen. Das meine ich nicht sarkastisch. Ich fühlte mich innerlich erschöpft, weshalb ich ungewöhnlich still blieb. Der einzige Typ im Raum, demgegenüber ich keine sexuellen Gefühle hegte, war Tony, und er sah wirklich ziemlich geil aus an diesem Abend. Keine Sorge, es wird nicht darauf hinauslaufen, daß ich über Tony herfalle. So eine Schlampe bin ich nun auch wieder nicht. Tony war irgendwie niedlich, hatte einen süßen, unschuldigen Gesichtsausdruck und eine bodenständige Art, auf Dinge zuzugehen. Ein bißchen dumm war er auch. Und eben hetero, das sollte man nicht vergessen. Er trank sein Bier, sah ziemlich zerzaust aus und so schläfrig, daß ihm die Augen zufielen. Er lümmelte auf dem Sofa herum, direkt neben seinem kleinen Bruder Joe, dem schwarzen Schaf der Familie, der genauso unkompliziert veranlagt war, aber schamlos sinnlich. Joe hatte sich gerade die Haare schneiden lassen, und sein blonder Haarschopf war seltsam plattgedrückt, als hätte er darauf geschlafen. Er trug einen Schlafanzug aus grober Baumwolle (gelb mit roten Herzen darauf), in dem er am liebsten schlief. Zusammen sahen die beiden aus wie ein Bruce-Weber-Foto mit dem Titel: »Beef and Chicken«. Andrew saß im Schneidersitz und ohne Hemd auf dem Fußboden und trug nur weiße Calvins, so wie Marky Mark, aber mit einem vernünftigen Gesicht dazu. Er war der einzige, der sich diesen dämlichen Stella-Stevens-Nutten-Film im Fernsehen wirklich ansah, während wir andern nur so taten. Ich saß in meinem Sessel den beiden Brüdern gegenüber, Andrew zwischen meinen Beinen. Ich streichelte mit der Hand über seinen Rücken – unter normalen Umständen, das gebe ich zu, hätte ich mir die Finger danach geleckt, aber ich war gefühlsmäßig so durcheinander, daß ich noch nicht mal einen Ständer bekam. Tony nahm das alles gelassen hin. Es war schon lustig, uns drei Mitbewohner in verschiedenen Stadien der Entkleidung zu sehen, und wie zwei davon sich offensichtlich zueinander hingezogen fühlten, und daneben den alten - 174 -
Macho Tony, der alles cool hinnahm. »Sie ist ganz schön alt für eine Nutte«, meinte Andrew über die mittelalte Lady mit Federboa auf dem Bildschirm. »Wie alt wird sie inzwischen wohl sein? Fünfzig?« »Sie ist noch älter«, sagte Joe, der beim Star-Getratsche etwas lebhafter wurde, während er einen ganzen Becher Chee-rios in sich hineinstopfte. »Sie war vielleicht neununddreißig oder vierzig, als der Film gedreht wurde – 1979.« »Zu alt«, wiederholte Andrew. Man mußte keine Leuchte sein, um zu merken, worauf er hinauswollte. Als ihm klar wurde, wie dämlich es war, mich zu beleidigen, während ich hinter ihm saß, mit meinen Händen an seinem Hals, hielt er den Mund. »Ich fände Madonna als Nutte toll«, begeisterte sich Joe. »Eine richtige unglamouröse Rolle wie eine Heroinsüchtige oder sowas, wie in Lady Sings The Blues.« Tony meldete sich zu Wort. »Klar, sie wäre einfach großartig.« Joe hielt das für einen Seitenhieb, als wäre Tony so dumm oder gemein, The Big M in seiner Anwesenheit schlecht zu machen. Schon wieder einen Nutten-Film sehen zu müssen, machte mich krank. Wieso gab es bloß so viele davon? Warum sind alle von der Prostitution so fasziniert? Aus der Nähe verliert sie schnell an Attraktivität, und man begreift, worum es eigentlich geht: ums Geschäft. Es hat nichts Tiefgründiges, Bedeutungsschwangeres, nichts Dunkles und Düsteres, das alles ist nicht aufregender als ein Gemüsehändler, der ein paar Äpfel verkauft. »He, Jungs«, sagte Tony, »ich will euch mal was fragen.« Wir sahen alle innerlich zur Decke, und Joe – der direkt neben Tony saß, von ihm also nicht gesehen werden konnte – tat es wirklich. Wir wußten natürlich sofort, daß dies die Einleitung zu einer ganzen Reihe von völlig unzusammenhängenden und peinlichen Fragen über Homosexualität werden würde. Man sah es ihm geradezu an. »Ja?« fragte Joe widerstrebend. »Es geht um was Schwules«, sagte Tony. »Ich hab da mal eine Frage über Sex, die ihr Jungs mir vielleicht beanworten könnt. Denkt ihr eigentlich jemals darüber nach, daß Frauen miteinander Sex haben?« Joe und Tony hatten immer solche seltsamen Geschwistergespräche drauf, über die Schwulenbewegung zum Beispiel, - 175 -
angespornt durch Tonys Unbedarftheit und Joes Erinnerung an die Zeit, als er seinen Bruder verehrt hatte. Wenn sie sich stritten, sagte Tony immer genau das Gegenteil, ohne es wirklich böse zu meinen. Aber ob man jemanden verletzen will, ist im entscheidenden Moment ziemlich egal. »Du meinst Lesben?« fragte ich schnell, um zu verhindern, daß Joe sich auf seinen dämlichen Bruder stürzte. »Nicht unbedingt«, antwortete Tony. Pause. »Ja und? Wenn Frauen mit anderen Frauen Sex haben, dann sind sie doch lesbisch, oder?« fragte Joe ungeduldig. »Es gibt auch bisexuelle Frauen«, erklärte Tony, stolz darauf, seinen Bruder bei einem unbedacht geäußerten Vorurteil ertappt zu haben. Bravo! »Bisexuell-scheißsexuell«, sagte Joe abfällig. »Das ist nicht der Punkt – ich frag euch doch nur, ob ihr jemals darüber nachgedacht habt, wie das ist, wenn Frauen miteinander Sex haben, und ihr antwortet mir nicht... « »Meine Antwort lautet nein«, sagte ich. »Versteh mich nicht falsch – es ist ja nicht so, daß ich Frauen nicht mag. Das einzige, was ich gegen Frauen habe, ist, daß sie keine Männer sind. Aber sich aneinander reibende Muschis machen mich nicht gerade an.« Andrew mußte natürlich mitmischen. »Mich schon, Tony.« »Aber dann bist du ein bißchen... « Tony drehte die Hand hin und her und Andrews Hals versteifte sich unter meinen Fingern. Also hatte Joe seinen Bruder über den Stand der Dinge in unserer Wohnung informiert. Joe wurde wütend. »Wie kannst du so etwas sagen! Andrew ist nicht – (wieder diese Handbewegung) – er hatte doch gerade erst sein Coming-out.« »Okay, es gibt da ein bißchen Verwirrung«, lenkte Andrew ein. Erzähl mir mehr davon. »Bin ich indiskret?» fragte Tony und breitete hilflos die Arme aus. »Ich glaube nicht. Mein Gott, Joe, alles was ich sage, faßt du als Angriff auf. Jedes Mal, wenn ich eine Frage habe, bist du beleidigt.« »Nein, das stimmt nicht, Tony«, fiel Joe ihm laut ins Wort. »Ich denke nicht über Frauen nach, die Sex miteinander haben. Warum sollte ich? Warum fragst du das überhaupt? Du hoffst nur, daß ich - 176 -
vielleicht... « »Aha, so sieht's also aus! Na bitte! Ich bin der Hetero, ich bin der Scheißkerl. Sag ihm, daß ich das nicht so gemeint habe, sag's ihm bitte.« Dummerweise drehte er sich zu mir um, aber im Grunde genommen fand ich ja, daß er recht hatte. »Warum erzählst du uns nicht einfach, wieso du dich für lesbische Frauen interessierst?« sagte ich zurückhaltend, obwohl ich jetzt endlich wissen wollte, was eigentlich Sache war. Tony erklärte uns, daß seine Freundin bi sei, sich aber mehr für Frauen interessiere, und daß sie neuerdings Sex zwischen Männern geil fände. Das kam uns allen ziemlich seltsam vor, und einen Moment lang dachten wir darüber nach. Wie war dieser Typ denn an eine Bi-Frau geraten? »Huh – das klingt ja noch viel mehr nach – (er machte die Handbewegung) – als bei mir,« scherzte Andrew. »Die ist ja drauf«, sagte Joe. »Ich finde es nicht ungewöhnlich, daß sie solche Fantasien hat«, meinte ich. »Das ist wie bei Hetero-Männern, die sich irgendwelche... Gedanken über Lesben machen.« »Aber ich komm damit nicht klar,« sagte Tony. »Ich meine, sie sagt, sie mag Frauen mehr als mich, und jetzt ist sie von schwulen Männern fasziniert – sie findet alle interessant, nur mich nicht.« »Dann solltest du dich mal fragen, wieso du mit ihr zusammen bist«, meinte Joe. Tony überraschte uns alle, als er plötzlich seinen Bruder an sich zog und ihn umarmte. Joe schmiß seine Beine theatralisch in die Luft, während Tony ihn albern abküßte. »Vielleicht sollte ich mich mal fragen, wieso ich hier mit drei Tunten rumhänge.« Joe bekam fast die Oberhand und machte sich plötzlich frei, halb amüsiert, halb beleidigt. Er haßte das Wort »Tunte«, sogar wenn Schwule es benutzten, aber daß Tony es benutzte, paßte ihm überhaupt nicht. »Nenn mich nicht Tunte«, schimpfte er. »Ich will es nicht hören. Ich will nicht, daß du mich Tunte nennst – das passiert mir so schon oft genug. Es ist ein häßliches Wort – als wäre ich ein Stück Scheiße.« Tony nahm sich die Ausfälle seines Bruders immer viel zu sehr zu Herzen. Er zog Joe wieder an sich und umarmte ihn wie ein kleines Kind – der Pyjama machte diesen Eindruck perfekt. Joe entspannte - 177 -
sich, und man sah, wie sehr sich die beiden mochten. Es war schön, den großen Macho-Tony so einfühlsam zu sehen. Aber dann schaffte er es, uns alle ganz gewaltig zu schockieren. Er liebkoste Joe wie ein kleines Kind, dann beugte er sich über ihn und küßte ihn auf den Mund. Es war ein keuscher Kuß, aber kein brüderlicher. Eher mütterlich, aber mit einem unmißverständlichen (hier wieder diese Handbewegung) Beigeschmack. Ich glaube, Andrew fand es abstoßend – er verspannte sich, und wir haben später nie über diesen Vorfall gesprochen. Ich wollte es nicht glauben – aber bis heute hole ich mir darauf einen runter. Ich weiß, ich weiß, Was soll das mit dem Inzest überall? Keine Ahnung. Vielleicht finde ich es nicht schockierend, weil ich nur Schwestern hatte. Tony sah auf den völlig perplexen Joe herab und sagte: »So, jetzt bin ich auch eine Tunte, okay?« Wir wußten, daß er es nicht wirklich war, aber es war aufrichtig gemeint. Wir schalteten den Nutten-Film ab, und Andrew und ich verabschiedeten uns. Peinlich berührt gingen wir in unsere Zimmer, während die beiden Brüder bis tief in die Nacht weiterredeten.
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BEICHTE 19: ICH BIN LEICHTGLAEUBIG Der Rest meines Lebens mochte ungewiß sein, aber eines war sicher: Ich konnte nie mehr mit Gregory schlafen. Andrew war dagegen, daß ich weiterarbeitete, und obwohl ein Urteil noch nicht gesprochen war, ob ich aufhören würde oder nicht, mußte ich zugeben, daß Gregory mehr als nur eins meiner »Dates« war. Er war viel zu wichtig für mich geworden; wenn ich ihn weiter besuchte, war das eindeutig Betrug an Andrew. Ich konnte nicht Andrew lieben und gleichzeitig eine liebesähnliche Beziehung zu Gregory haben. Deshalb war ich ausgerastet – ich wußte, daß meine Beziehung zu Gregory sich radikal ändern mußte in dem Augenblick, als wir intim geworden waren. Sie mußte sich verändern oder ganz aufhören. Ich hatte mir immer eingebildet, der schlimmste Tag in meinem Leben wäre der gewesen, an dem mein Cousin Andy mich zurückwies. Wie üblich habe ich übertrieben. Bevor Andy und ich Sex miteinander hatten, fürchtete ich, daß er mich zurückweisen würde, wenn er erfuhr, was ich für ihn empfand. Als er es dann tat, nachdem wir es getrieben hatten, war das einfach vernichtend für mich, denn nun traf meine schlimmste Befürchtung wirklich ein. Aber der allerschlimmste Tag meines Lebens war zehnmal furchtbarer, denn ich war völlig unvorbereitet. Es war wie dieser Alptraum, in dem ganz normale fröhliche Kids sich plötzlich in wildgewordene Zombies verwandeln, die lautlos in die Betten ihrer Eltern kriechen. Es war Gregory. Wahrscheinlich denkst du jetzt, ich hätte Gregory tot aufgefunden oder so was. Fast alle Geschichten, in denen ein netter alter Mann vorkommt, enden mit einem herzergreifenden Begräbnis. Ehrlich gesagt, machte ich mir oft genug Sorgen, nicht nur darüber, daß mir Gregory wegsterben könnte, sondern daß ausgerechnet ich seinen kalten Leichnam finden würde. Hätte ich nur. Ich sollte Gregory später am Abend in seiner Wohnung besuchen, aber ich beschloß, etwas früher zu kommen, um ihn zu überraschen. Ich kam ganz außer Atem an. Der Aufzug fuhr langsamer als je zuvor nach oben und war voll mit Studenten. Als die Studenten ausstiegen, blieb eine Person in der Ecke des - 179 -
Aufzugs übrig, ein untersetzter alter Mann mit weißer Mähne und zahllosen Lachfalten, obwohl er eigentlich wie der humorloseste Mensch überhaupt aussah. Ich betrachtete ihn aufmerksam, verglich ihn mit Gregory, was mir ziemlich schwer fiel, weil ich diesen widerlichen Alten überhaupt nicht mit dem netten Kerl in Zusammenhang bringen konnte, den ich neulich erst gefickt hatte. Der Mann war ungefähr so alt wie Gregory, sah aber verbrauchter aus. Außerdem trug er einen armselig aussehenden schwarzen Trenchcoat, den er sich wahrscheinlich gegen Ende des Zweiten Weltkriegs angeschafft hatte oder als er das Ende des Bürgerkriegs feierte. Da steh ich nun, als Gottes Ebenbild. Der Mann erwiderte meinen Blick, und ich lächelte freundlich. Das muß einladend auf ihn gewirkt haben, denn er beklagte sich über die Langsamkeit des Aufzugs und tat geschäftig, indem er immer wieder auf die Uhr sah. »Er ist immer langsam, wenn ich zu spät komme.« Ich nickte. Wir näherten uns dem obersten Stockwerk und jetzt wurde mir plötzlich klar, daß der Alte das gleiche Ziel hatte wie ich. Wen anderen als Gregory sollte er denn besuchen? Oder war er etwa der Großvater eines Studenten nebenan? Ich tat so, als wolle ich mich um ihn kümmern, und bot ihm an, den richtigen Knopf zu drücken – »Ach so, Sie wollen auch ganz nach oben?« Er reagierte beleidigt und sagte, das sei richtig, ob ich da auch hinwollte. Ich nickte verblüfft. »Sind Sie ein Freund von Gregory?« fragte ich indiskret. Falls er es war, würde ich so tun, als sei ich nur Student und keineswegs auf dem Weg zu Gregory. »Ja. Kennen Sie ihn etwa?« fragte er herablassend mit hochgezogener Augenbraue und einem deutlichen Akzent. Klang europäisch. Er hatte gelbe Strähnen im Nacken und früher wohl mal schwarze Haare. Seine Augen lagen wie leblos in ihren Höhlen, trüb und eingesunken, dunkel wie ausgebrannte Glühbirnen, aber sie funktionierten noch, ungefähr ein Jahrhundert nach dem ersten Augenaufschlag. »Wir sind Nachbarn.« Ich zuckte fröhlich-lässig mit den Schultern. »Sind Sie sein Bruder?« fragte ich, so eine Frage, die ein junger Nachbar einen alten Mann fragen könnte, der einen anderen Alten - 180 -
besuchte. »Nein«, sagte er zögernd. »Aber er war der Freund meines Bruders.« Plötzlich spürte ich, wie sich eine Katastrophe anbahnte. Die Türen gingen auf, der Mann nickte mir zu und schlurfte zu Gregorys Wohnung, ein bißchen verwirrt, weil ich nicht mit ihm ausstieg. Ich blieb im Aufzug, fuhr wieder nach unten, stieg aus, ließ mich auf eine Bank in der Eingangshalle fallen und wartete. Wenn man mal davon absah, daß dieser alte Mann natürlich irgendwer sein konnte, gab es eigentlich nur eine vernünftige Erklärung. Einen solchen Zufall konnte es nicht nochmal geben – das mußte Renaldos Bruder sein. Witzigerweise hatte ich mir, ausgehend von Gregorys Beschreibungen, Renaldos Bruder als Pflegefall vorgestellt. Dieser Kerl war zwar altersschwach, aber immer noch mobil. Ich hatte Gregorys Erzählungen nie in Zweifel gezogen, also nutzte ich die Gelegenheit. Innerlich tadelte ich mich dafür, mein ganzes Leben lang immer allen alles geglaubt zu haben. Natürlich hatte ich noch gar keinen Grund, mißtrauisch zu sein. Dieser Mann konnte – realistisch betrachtet – eher Moses sein, als ausgerechnet Renaldos Bruder. Ich saß ganz ruhig auf meiner Bank, eine Menge Kids liefen um mich herum in alle Richtungen, aber ich beachtete sie nicht weiter. Ich hörte sogar auf, über Gregory und den Großen Unbekannten nachzudenken; ich war völlig abwesend und versuchte gar nicht erst, mir ein Szenario auszudenken, bevor es wirklich passierte. Ich weiß nicht, wie lang es dauerte, aber irgendwann rauschte der alte Mann an mir vorbei, ganz offensichtlich zufrieden mit dem Ergebnis seines Besuchs. Jedenfalls sah er fröhlicher aus als vorher. Ich stand auf, um ihm die Tür aufzuhalten. Er murmelte ein Dankeschön, dann merkte er erst, daß ich der Typ aus dem Aufzug war und nickte freundlich, aber ein bißchen desorientiert. »Alles in Ordnung?« »Ja«, sagte er freundlich, »vielen Dank.« »Sind Sie Renaldos Bruder?« fragte ich im gleichen lockeren Tonfall. Mein Gesicht war taub, und mein Herz zappelte in der Brust. Es kam nicht oft vor, daß ich jemanden so direkt ansprach, am wenigsten einen Fremden, dem ich normalerweise aus dem Weg gegangen wäre. - 181 -
Der Alte sah schockiert aus, dann lächelte er dünn ein bittersüßes Lächeln, und mit diesem verwitterten Gesicht sah er wirklich herzzerreißend aus. »Nun, ja, ja, das stimmt. Ich bin Carlo – aber Sie können unmöglich meinen Bruder gekannt haben... Das ist so lange her... Jahre... « Er machte eine große Geste, eine Handbewegung, die mein ganzes Leben einzuschließen schien und noch einen ziemlich großen Teil seines eigenen. »Nein«, sagte ich. »Aber Gregory hat ihn sehr geliebt.« Diese Bemerkung schien ihn eigenartigerweise aus der Bahn zu werfen, er sah überrascht aus, was ich überhaupt nicht erwartet hatte – oh Gott. »Er hat mir alles über ihn erzählt... « »Sie müssen ja sehr eng mit Gregory befreundet sein, wenn er Ihnen so viel über seine Jungenstreiche erzählt hat«, lachte er nervös und sah sich heimlich nach möglichen Mithörern um. »Wiedersehen«, sagte er dann. Er wollte sich aus dem Staub machen. Ich blieb hartnäckig. »Aber sie waren doch ein Paar«, sagte ich schlicht, »stimmt's?« Bitte – das muß doch wahr sein. Der alte Mann sah beunruhigt aus. »Nein«, sagte er deutlich und überzeugend. »Ganz und gar nicht. Wer hat Ihnen das erzählt? Hat Gregory das etwa gesagt?« Ich sagte ja. Carlos Gesichtsausdruck wechselte von ärgerlich zu alarmiert und dann zu jenem Blick, den jemand aufsetzt, wenn er mit einer verwirrten Großmutter oder einem hoffnungslos zurückgebliebenen Kind zu tun hat. Gregory. Wir gingen in eine Nische neben der Tür, und der Alte erklärte mir nach und nach alles und zerstörte mich mit der Effizienz und dem Einfühlungsvermögen eines Chirurgen. »Gregory ist ein sehr netter Mann«, begann er, »aber er ist sehr einsam. Und manchmal auch sehr grausam. Grausam, weil er so viel Sehnsucht hat. Er liebte meinen Bruder seit damals, als sie beide hier in den dreißiger Jahren als Hotelpagen arbeiteten. Er war schon der beste Freund meines Bruders, bevor ich ihn überhaupt kennenlernte. Wir kamen uns näher, aber es dauerte nochmal ein Vierteljahrhundert, bevor Gregory überhaupt fähig war, mir gegenüber laut zuzugeben, daß er homosexuell war, trotz der Tatsache, daß ich ihm gegenüber immer sehr offenherzig gewesen bin, trotz der Tatsache, daß ich vom ersten Moment an wußte, daß er in meinen Bruder verliebt war.« - 182 -
Carlo ließ das alles hervorsprudeln, begleitet von großen theatralischen Gesten, als hätte er ein Leben lang darauf gewartet, endlich jemandem diese Geschichte erzählen zu dürfen. Also war Carlo ebenfalls schwul, daran hatte ich noch gar nicht gedacht – bei einem so alten Mann gab es keine verräterischen Hinweise darauf. Als junger Mann war er womöglich atemberaubend gutaussehend, lebendig, impulsiv, macho oder sonstwas gewesen... Ich versuchte, die Horrorgeschichte zu verdrängen, die er mir gerade erzählte. »Gregory hat sich damals sehr gequält. Er versuchte, sich damit abzufinden, daß er in einen heterosexuellen Jungen verliebt war, der ihn niemals wiederlieben würde, einer, der noch dazu nie merken würde, daß Gregory solche Gefühle für ihn hegte und ihn also auch nicht zurückweisen konnte. Heutzutage macht das alles keinen Sinn mehr, alle sind so offen und sogar stolz. Für mich hat das damals auch keinen Sinn gemacht, obwohl alle Welt den Schwulen nur mit Verachtung begegnete. Gregory hatte sein Coming-out erst in den sechziger Jahren, da war er schon fünfzig. Er ist nie der Liebhaber meines Bruders gewesen, denn mein Bruder hat sich nur für Frauen interessiert und starb lange bevor Gregory sich überhaupt gegenüber irgend jemandem offenbart hat. Gregory hatte eigentlich niemals einen ›Liebhaber‹... « Ich war am Boden zerstört, aber ich verstand die Anspielung trotzdem. Ich konnte nicht mehr klar denken – sollte ich protestieren, nein ich bin nicht Gregorys Liebhaber, zugeben, ja ich bin Gregorys Liebhaber? Gregory hat eigentlich niemals einen Liebhaber gehabt... Es war dieses »eigentlich« das mich fertigmachte. Eigentlich. Ich war nicht Gregorys Liebhaber; nicht eigentlich. Gregory war einer meiner ersten richtigen Freunde und wenn ich alt war, wollte ich so sein wie er. Er war der erste Freier, für den ich jemals irgendwelche Gefühle entwickelt hatte, und nun wurde ich mit der Tatsache konfrontiert, daß unsere Beziehung, was ihn betraf, eine einzige große Lüge war. So etwas würde ich nie jemandem antun, einen Menschen so betrügen. Ich fühlte mich dermaßen verletzt, daß ich es zugeben mußte... Gregory war ein guter Freund gewesen, und vielleicht hätte er noch viel mehr sein können. »Er bezahlt mich«, sagte ich schroff, und der Alte hörte auf zu sprechen. Ich blinzelte zornig. Mit diesen drei Worten zerschnitt ich alle emotionalen Bindungen, die ich zu Gregory hatte. Man nennt es - 183 -
das Gesicht wahren, auch wenn all das, was sich hinter deinem Gesicht abspielt, mit Wahrheit nicht viel zu tun hat. Carlo runzelte die Stirn und zwang sich dann zu einem höflichen Lächeln. »Wie auch immer«, gluckste er, »das spielt ja auch gar keine Rolle. Ich dachte nur, Sie sollten wissen, daß Gregory ein sehr, sehr netter Mann ist... dem man überhaupt nichts glauben darf.« Carlo zog seinen uralten Mantel zusammen, bewegte sich wieder in Richtung Ausgang und lief durch die Tür nach draußen in den sonnigen Vorgarten. Ich versank in Mitleid für Gregory und Verachtung für mich selbst und meine Leichtgläubigkeit. Ich war so überrascht, daß der eigentliche Schmerz betäubt wurde. Es war einer dieser Momente, wo man sich plötzlich ein Stückchen größer fühlt, aber tatsächlich kam ich mir kleiner vor, geradezu nicht existent. Meine ganze Freundschaft mit Gregory hatte nie stattgefunden, gründete nur auf einer selbstgefälligen, selbstverachtenden Lüge, einer Lüge, die womöglich nur in die Welt gesetzt worden war, um ein Sex-Spiel zu spielen. Aber das war doch in Ordnung, oder? War es nicht genau das, was es hatte sein sollen? Es gibt doch nichts Schöneres, als Master Gregory mal eben einen zu blasen, statt dieser Mätzchen? Dann wurde ich pathetisch. Gregory war... ein Versager. Ein komplettes und völliges Wrack von einem Mann, impotent noch dazu. Und ich hatte ihn fast bewundert. Hatte ihn geliebt. Aber er war genauso wenig wert wie alle anderen; schlimmer noch. Und ich war auch nicht besser, denn ich hatte ihm alles geglaubt. Ich ging. Ich habe Gregory nie mehr gesehen, aber er lebt noch. Ab und zu ruft er an, aber er versteht meine Anspielungen, wenn ich Ausreden erfinde, um aufzulegen oder ein mögliches Treffen zu umgehen. Ich nehme an, er hat gemerkt, daß ich ihn durchschaut habe. Vielleicht hat Carlo etwas gesagt. Ihn zurechtgewiesen. Ich wußte, ich würde Gregory nie mehr wiedersehen dürfen, denn dann würde ich entweder vor Scham im Boden versinken oder ihm den Hals umdrehen. Ich habe eine Menge von ihm gelernt, und einiges davon sollte niemand lernen müssen. Und du fragst mich, wieso es mir so schwerfällt, Leuten nahezukommen. - 184 -
BEICHTE 20: WIEDERHOLUNG War ich jemals verliebt? Ja. Zweimal.
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BEICHTE 21: ICH BIN EINE HEULSUSE Nachdem ich mit dem Bus zur North Side zurückgefahren war, machte ich einen Spaziergang. Immer wenn mich etwas total fertigmacht, laufe ich herum wie eine aufgedrehte Kakerlake nach einem Angriff mit chemischen Kampfstoffen. Mit Gregorys Lügen im Kopf ging ich gedankenverloren die Straße entlang. In meinem Hirn spielte ich eine häßliche Szene durch, eine kurze Unterhaltung, die ich einmal mit Gregory gehabt hatte: »Meine jüngsten Freunde«, seufzte Gregory trocken, »vierzig Jahre – fünfzig Jahre jünger als ich, sind alle gestorben. Alle meine alten Freunde sind tot, und ich bin einfach zu müde, um jemand neuen kennenzulernen.« Bei dieser Aussicht war ich zusammengezuckt. »Du bist der einzige. Du bist der einzige.« Es ist erschreckend, wenn Leute ihre eigene Geschichte verändern. Wer weiß schon, wer die Wahrheit erzählt? Die meisten Menschen sind unbedeutend genug, daß man sie automatisch beim Wort nimmt. Was aber, wenn sie sich alles nur ausgedacht haben? Sich selbst erfunden haben? Ich kann behaupten, daß meine Bekenntnisse wahr sind, aber warum solltest du mir glauben? Vielleicht bin ich selbst meine beste Erfindung, ein wandelnder Roman. Sonst gar nichts. In der Halsted Street war eine Menge los an diesem Tag. Die Straße war voll von braungebrannten Clones und ein paar unscheinbaren Zweite-Wahl-Typen, plötzlich sehr offensiven Hetero-Paaren, und Kentucky-Fried-Chicken-futternden schwarzen Drag Queens, die sich gerne affektiert über die üblichen Gap-Klamotten lustig machten, obwohl ihr eigenes Outfit aus viel zu engen Kinder-T-Shirts mit aufgedruckten Comic-Figuren bestand. Es war unerträglich sonnig und heiß, Indian Summer. Ohne nachzudenken, lief ich zum See. Ich ging so lange, bis ich kurz davor war, ins Schwitzen zu geraten. Ich setzte mich auf meinen Lieblingsstein bei den Rocks, diesen fremdartig aussehenden, von Menschenhand dort angelegten Dammanlagen am Ufer des Lake Michigan, einer beliebten Cruising-Gegend der Einheimischen. Das Stichwort Cruisen erinnerte mich an einen Nachmittag, als ich - 187 -
einmal in dem kleinen Park vor meinem Wohnheim irgendwelchen Leuten beim Grillen zusah. Da war so ein kleiner Hosenscheißer, dessen Eltern damit beschäftigt waren, sich zu streiten, während er versuchte, sich mit zwei anderen kleinen Jungen anzufreunden, die sich köstlich dabei amüsierten, so zu tun, als würden sie sich gegenseitig umbringen. Der Hosenscheißer rannte um sie herum, feuerte sie an und hoffte darauf, als Mitspieler akzeptiert zu werden. Schließlich rief einer der Jungs ihm zu: »Was willst du eigentlich?« Und der Hosenscheißer sagte einfach nur: »Ich will mitspielen.« Der Junge zog ein Gesicht, als fühlte er sich angemacht, und sagte dann: »Na los, dann komm.« Der Hosenscheißer lachte und sprang in ihre Mitte, und schon waren sie alle drei dabei, ihr Kriegsspiel nach eigenen, undurchsichtigen Regeln weiterzuspielen. Dieser Moment beschrieb das Wesen des Cruising. Crui-sende Schwule sind nichts als kleine Jungs, die von den anderen akzeptiert werden wollen, die mitspielen wollen. Schwule sind kleine Jungs auf dem Weg in erwachsene Körper. Leider wurden so viele Regeln in der Erwachsenenwelt verändert, daß es nicht ganz einfach ist, die richtige Rolle zu spielen, das Richtige zu sagen oder zu tun. Allzu oft verprellen wir jemanden, ohne es zu bemerken und das endet dann meist damit, daß eine gute Freundschaft in die Brüche geht, obwohl keiner der Beteiligten wirklich weiß, warum. Im Innersten sind wir, oder manche von uns, einfach Kinder, verkümmert, und sehnen uns nach der Kindheit zurück, als wir unsere Bedürfnisse viel leichter befriedigen konnten. Warum kommen in dieser Geschichte soviele Minderjährige vor, die Sex haben? Etwa weil Allen Ginsberg mein Ghostwriter ist? Nein, weil Sex mehr ist als herumspritzendes Sperma und weil die Zeit des Heranwachsens die Zeit ist, in der wir die wichtigsten Erfahrungen auf diesem Gebiet machen. Und erst viel, viel später, wenn dich ein Nicht-nur-SexErlebnis aufweckt, wirst du erwachsen. Einige werden so ein Erlebnis nie haben und benehmen sich mit fünfzig lächerlicherweise immer noch wie mit fünfzehn. Ein Glück für mich, daß ich es mit fünfundzwanzig geschafft habe. Die Sonne brannte auf mich herab, aber in meinem Inneren waren die Gefühle schon verkocht. Gregory hatte mich in jeder Beziehung ausgenutzt. Vielleicht hätte ich ihn ebenso ausnutzen können, aber ich war immer aufrichtig zu ihm gewesen. Ich hatte ihn nie belogen. Und - 188 -
er hatte mich die ganze Zeit nur belogen. Alle Menschen lügen, aber man belügt jeden nur in bestimmten Dingen. Man belügt niemanden generell. Es sei denn, der Betreffende ist einem gleichgültig. Neben mir saß ein recht hübscher Kerl; er hatte dort schon gesessen, als ich kam. Jetzt dachte er wohl, daß ich mich seinetwegen hingesetzt hatte – er rutschte näher, lächelte entwaffnend und deutete auf den See. »Ist doch toll, nicht?« begann er. Er war vielleicht dreißig, hatte kurzes, dichtes, dunkles Haar und einen dünnen kleinen Schnurrbart (Chicago ist die Hauptstadt der Gesichtsbehaarung), breite Schultern, ein Grübchen und Lachfalten. Er sah ein bißchen aus wie Errol Flynn, aber leider wirkte er hoffnungslos provinzlerisch, ein Zugezogener. Ganz süß. Im nächsten Moment blickte ich auf den ruhigen See, auf dieses atemberaubende blaue Glitzern in der Sonne und dann auf den Mann neben mir, und brach zusammen. Ich weiß nicht mehr, wie es über mich kam, warum ich in Tränen ausbrach, was genau ich fühlte. Ich weiß nur, daß ich plötzlich laut losschluchzte und nicht mehr aufhören konnte. Tränen liefen mir übers Gesicht, die Muskeln zuckten unkontrolliert. Der Mann rückte näher, und nahm mich vorsichtig in seine Arme, ein bißchen nervös, vielleicht hatte er sich erst noch umgeblickt, ob irgend jemand diesem verrückten Jungen beim Heulen zusah. Er tröstete mich einfach durch seine Anwesenheit, nur durch seine starken Arme. Die Arme waren trainiert, sie waren zu muskulös und kräftig, um naturgegeben zu sein. Ich bereute, mich jemals über diese Muskeltypen lustig gemacht zu haben; in diesem Moment konnte ich einen Killerbizeps gut gebrauchen. Schwule Muskeln sind eben mehr als nur Angeberei. Die Statur des Mannes mochte künstlich sein, aber seine Augen waren warm und natürlich. Schließlich versiegten meine Tränen, aber ich blieb weiter in seinen Armen. Mein Kopf lehnte an seiner Brust, meine Wange berührte die bloße, behaarte Haut, wo sie in seinem weißen T-Shirt verschwand. Ich roch seinen Schweiß und versuchte herauszufinden, welches Parfüm er benutzte und verglich diesen Geruch mit dem von Andrew, von Gregory und anderen Männern. Ich strengte mich unglaublich an zu denken, um die Tatsache beiseite zu schieben, daß ich mich völlig in meine Gefühle verrannt hatte. - 189 -
»Jetzt geht's wieder«, sagte ich, richtete mich auf, zog die Knie an und schlang meine Arme darum. Ich bemühte mich nicht, meine Augen zu verbergen – so nahe wie wir uns gekommen waren, spielte es keine Rolle mehr. Der Mann war wirklich besorgt, aber auch interessiert, in Ermangelung eines anderen Opfers. Vergiß nicht, daß ich hier mitten in der Cruising-Gegend saß. Ich wußte, daß ich dort weg mußte, bevor er die Situation mit einem Annäherungsversuch ausnutzen würde. Er versuchte, die Peinlichkeit zu entschärfen. »Du bist wohl ein ziemlich gefühlvoller Typ.« Er grinste. »Ja«, sagte ich lächelnd, »das bin ich wohl.« Ich stand auf, entschuldigte mich, was er mit einer Handbewegung beiseite schob, und erklärte ihm, daß ich gehen müßte. »Viel Spaß noch mit dem Ausblick.« Damit ging ich. Ich weiß, das alles klingt ganz schön dick aufgetragen, aber es ist wirklich so passiert. Und es war viel zu wichtig für mich, um es zu ändern, zurechtzufeilen oder darüber zu witzeln. Andrew hatte schon recht: Nicht alles kann man mit einem »Ha!« abtun. Manches verdient auch ein »Aha!«
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BEICHTE 22: ICH BIN FLEXIBEL Ich ergab mich meinem Schicksal. Es war jetzt mehr als eine Woche her, seit ich mich mit Andrew über mein Leben als Stricher gestritten hatte. Tagelang hatten wir uns gemieden, bis zu diesem wackeligen Waffenstillstand bei Tonys Besuch. Ich mußte die Gedanken an Gregory loswerden, Freier zufriedenstellen, mir wegen Joe Sorgen machen. Aber ich liebte Andrew – mit einer explodierenden, unkontrollierbaren Liebe, die sich über alles und jeden in meiner Nähe ergoß – und als er mich zu einem Versöhnungstreffen einlud, war ich zutiefst berührt und faßte die Gelegenheit beim Schopf. Er hatte mich am frühen Morgen darauf angesprochen. Ich war erschöpft und torkelte durch mein Zimmer, als hätte ich einen üblen Kater (zu viel Evian?), als Andrew seinen Kopf hereinsteckte und »guten Morgen« sagte. Ich grüßte zurück und war dann wieder reserviert, als mir die Spannung zwischen uns wieder einfiel. »Hör mal«, sagte er. Ist das nicht witzig? Wenn jemand etwas Ernsthaftes sagen will, fängt er meist mit »Hör mal« an. Als wolle er sagen: »Hör zu, jedes meiner Worte ist wahr und ehrlich, ich will dich nicht betrügen.« »Hör mal, wie wär's, wenn wir heute abend was unternehmen?« »Zum Beispiel?« Er schob sich ein kleines Stück weiter ins Zimmer, ermutigt. »Zum Beispiel... ich weiß auch nicht... Kino? Essen, trinken... « »Reden?« »Reden.« Ich war umgänglich. »Klar, machen wir.« Wir aßen in einem altbewährten Lokal – Rose's –, schaufelten Pasta mit Shrimps und gegrillten Tintenfisch in uns rein und sahen uns im Kerzenlicht verstohlen an. Dann nahmen wir ganz spontan ein Taxi zum Water Tower an der Michigan Avenue. Die Nacht war rabenschwarz, aber die Brücke strahlte wie am hellichten Tag, beleuchtet von den seltsamen grellen Lampen an der - 191 -
Seefront, die einen blenden, wenn man hineinsieht. Ich starrte hinein, bis ich nur noch Rot sah und mich gegen Andrew lehnen mußte, um nicht in das eisige Wasser zu fallen. Der Abendverkehr rauschte vorbei, aber es gab keine anderen Fußgänger. Wir sprachen nicht; das war gar nicht nötig. Wir liebten uns wieder. Als wir von unserem ersten gemeinsamen Ausgehabend zurückkamen, konnte ich geradezu hören, wie Andrews Gehirn arbeitete. Er war noch immer nicht vollkommen überzeugt und suchte angestrengt nach einer Möglichkeit, mich dazu zu bringen, ein anderer zu werden. Viel Glück, dachte ich und meinte es auch so. Ich hatte viel mehr Lust auf einen ganz harmlosen gemeinsamen Abend, ohne Streit. Wir hatten Judy bei Joe gelassen. Ihr Niesen war in einen Katzenschnupfen übergegangen, und Andrew war der festen Überzeugung, daß sie nur dann nicht sterben würde, wenn jemand auf sie aufpaßte. Wir klopften bei Joe, und die Tür ging auf. Joe sah uns an. »Oh... ihr seid zurück... « Er öffnete ganz und ließ uns rein. Sein Zimmer war zehnmal so warm, wie es nötig gewesen wäre. Der künstliche Kamin hatte wahrscheinlich den ganzen Abend gebrannt. Als ich an Joe vorbeiging, sah ich ihm ins zerknitterte und ernste Gesicht und fand ihn viel attraktiver. Auch ungewaschen roch er viel besser, nach einigen Stunden im Bett seines infernoartigen Zimmers. »Wie ist es gelaufen?« fragte er, immer noch schläfrig, aber dann tanzte er lässig in die Küche und holte O-Saft aus dem Kühlschrank. Ich fand es ziemlich lustig, daß er lange weiße Unterhosen trug, die hinten eine kleine Öffnung hatten. »Wo ist Judy?« fragte ich. Ich suchte den Raum ab, konnte sie aber nirgends entdecken. »Sie liegt in meinem Bett«, grinste Joe. »Sie ist auf meinem Kopfkissen eingeschlafen, also hab ich's ihr überlassen.« Wir setzten uns zusammen auf den Fußboden. »O-Saft?« fragte Joe. Andrew und ich lehnten ab, und wir schwiegen. Plötzlich war es mir sehr unangenehm, dort mit den beiden zu sitzen, so dicht nebeneinander wie in einer Falle. Es war so ähnlich wie bei meinem ersten beinahe zustande gekommenen flotten Dreier, als eine der Frauen lachend vorschlug, wir sollten uns ausziehen. Die beiden Frauen taten genau das, und ich verabschiedete mich. - 192 -
Ich hatte nicht wirklich Angst, daß so etwas passieren könnte, aber vielleicht wäre diese Möglichkeit angenehmer gewesen, als das hier. Damals war ich einfach weggegangen, aber diese neue Situation war ein bißchen komplizierter, heikler und es war unmöglich, sich einfach davonzustehlen. Ich sah Joe in die Augen, in seine blaßblauen Augen, die von hübschen langen Wimpern geschützt wurden, Augen, die erfolglos meinem Blick auszuweichen versuchten. Er gab auf und sah mich fragend an. Ich konnte jetzt nicht einfach mit so etwas anfangen wie Joe, ich weiß, du bist scharf auf mich, und ein Teil von mir ist auch scharf auf dich, aber es wird niemals funktionieren und, äh, übrigens wird Andrew mich gleich ficken. In diesem Dreieck konnte überhaupt nichts erklärt werden, jedenfalls nicht, wenn alle drei anwesend waren. Also sah ich Joe an, und meine Augen erzählten ihm das, was ich ihm mit witzigen Worten und versteckten Andeutungen nicht erklären konnte. Ich merkte, daß Andrew uns beobachtete, vor allem mich. Andrew saß etwa genauso weit von mir entfernt wie von Joe, aber er schien viel mehr mit mir verbunden zu sein, und ich glaube, daß Joe es merkte. Ganz plötzlich wußte Joe, was die Stunde geschlagen hatte. »Ich hab heute einen Typen hier im Haus gesehen... «, begann Joe und versuchte, so viel Begeisterung wie möglich in seine Stimme zu legen. Er hatte einen wahnsinnig tollen italienischen Studenten namens Mauro kennengelernt, ein Freund von dem alten Ekel, das unter uns wohnte. Mauro war schlank, beinahe schon spindeldürr, mit einem strahlenden Lächeln und rabenschwarzen Locken. So wie Joe ihn beschrieb, war er absolut sein Typ, und schon nach einem fünfzehnminütigen Gespräch hatten sie ihre Telefonnummern ausgetauscht. »Das ist echt super, Joe.« Andrew kaufte es ihm ab. Nicht, daß ich behaupten will, Joe habe gelogen – er war sogar eine Weile mit Mauro zusammen, und wir gaben seinem Freund den Spitznamen »Haarteil«, weil Joe uns von der dichten Brustbehaarung unter Mauros unschuldigem Hemd erzählte. Mir war klar, daß es diesen Mauro wirklich gab. Aber Joes Begeisterung war nur gespielt. Wir wußten alle, wen er wirklich wollte. Oh, natürlich. Aber es gibt doch noch so viele andere Männer. Oder nicht? Auf dem Weg nach draußen nahm ich Judy auf den Arm, und wir - 193 -
verließen Joe und sein heißes, dunkles Zimmer. »Gute Nacht, ihr beiden.« Erwartungsvoll fragte ich mich, ob wir es nach alledem in dieser Nacht miteinander treiben würden. Die wichtigste Frage bei unserer Auseinandersetzung war unbeantwortet geblieben. Ich hatte nicht versprochen aufzuhören, und er hatte nicht gesagt, daß er das akzeptieren wollte. Da die Möglichkeit, daß wir miteinander schliefen, aber im Raum stand, kämpfte ich nun mit einer Angst, die ich bisher noch nie gehabt hatte... Was passierte, wenn ich zu gut war? Ich hatte jahrelang andauernd Sex gehabt und war in der Lage, jeden Mann so schnell und intensiv wie möglich zu befriedigen. Was, wenn Andrew mich für zu... professionell hielt? Was, wenn ich es genießen würde, er aber keinen Spaß hatte, weil er sich nach einem »romantischen« Gefühl sehnte, das ich ihm nicht bieten konnte? Noch viel schlimmer als das Gefühl, jemanden toll zu finden und einen Korb zu bekommen, ist toller Sex mit einem, der es überhaupt nicht toll fand. Ich kroch ganz kühn in Andrews Bett, während er unter der Dusche stand, und hätte mir am liebsten wie üblich einen runtergeholt, während ich das Wasser auf ihn plätschern hörte, aber ich riß mich zusammen. Ich war immer noch angezogen, weil ich ihn nicht unnötig in die Enge treiben wollte. Aber wenn er heute nacht nicht mit mir fickte, würde Andrew den nächsten Morgen nicht erleben. Vollkommen nackt stapfte er ins Schlafzimmer, das Wasser schimmerte auf seinem Körper. Zuerst hielt er sich das Handtuch vors Gesicht und konnte mich nicht sehen, aber dann entdeckte er mich auf seinem Bett, wie ich jeden Zentimeter seines nassen Körpers mit den Augen verschlang. Andrew ließ das Handtuch fallen und sah mich überrascht an, dann änderte sich sein Gesichtsausdruck und er grinste. Oh-oh, jetzt war ihm etwas eingefallen: Er hatte eine Strategie gefunden, wie er mich dazu bringen konnte, mein Leben als Strichjunge aufgeben. »An was denkst du?« fragte ich und rieb meine Beine unter der Bettdecke aneinander, um mich warm zu halten. Vor meinen Augen sah ich das Cover eines klassischen Pornos: Meine großen Brüste quellen aus dem Korsett, während mich der potente Andrew an sich zieht, um mich zu nehmen. Das nächste, an was ich mich erinnere, war wesentlich romantischer. Ich sah wie Andrew mich sanft küßte, und meine Wangen streichelte. Jesus! Wir - 194 -
hatten uns bis jetzt noch kein einziges Mal geküßt, nicht mit dem Lippen, nicht mit der Zunge, überhaupt nicht. »Ich denke über dich nach«, sagte er, schlüpfte neben mich unter die Bettdecke und begann mich zu stupsen. Ich war willig genug mitzumachen, aber dann hörte er plötzlich auf, mir wurde mulmig, und er flüsterte: »Aber vorher hast du deine letzte Chance, mir zu erklären, warum du Stricher bist. Ehrlich.« Ich verspannte mich und fühlte mich in die Enge getrieben. Plötzlich war er mir zu nahe, obwohl ich diese Nähe immer ersehnt hatte. »Ich weiß es nicht.« Seine Hand schob sich unter meinem Hemd über meinen nackten Bauch, und begann ihn sachte zu streicheln, gleichzeitig redete er geduldig auf mich ein. »Komm schon«, hauchte er, »du mußt doch irgendeine Ahnung haben... Versuch doch mal, mir zu erklären, was du daran magst.« Nichts. Alles. Ich mochte das Geld. Ich mochte die Freiheit. Ich mochte es, Männern für zehn Minuten ein gutes Gefühl zu vermitteln, sogar wenn ich mich gerade mies fühlte. Ich mochte Kontrolle. Ich mochte Aufmerksamkeit. Ich mochte es, begehrt zu werden. Ich haßte es, wenn sie sich in mich »verliebten«. Ich haßte es, Bilder von Ehefrauen anzusehen. Ich haßte diese Angst vor Geschlechtskrankheiten. Ich haßte es, schlecht drauf zu sein und trotzdem ficken zu müssen. Ich haßte es, Steuern zu zahlen. Ich haßte es, von Gregory verarscht zu werden. Vor allem aber haßte ich Fragen. »Ich mag das Geld«, gab ich zu. Das war meine Standardantwort. »Und du magst es auch, andernfalls müßtest du nämlich ein- oder zweihundert mehr im Monat bezahlen.« Er lächelte und verkniff sich die Retourkutsche, falls er eine hatte. »Du bist doch intelligent. Du könntest viel mehr Geld mit einem Bürojob verdienen.« Körperlich ergab ich mich immer mehr dieser sanften Bauchmassage, aber innerlich war ich immer noch störrisch genug, ihm weiter zu widersprechen. »Ich will keinen Bürojob.« Er schob sich auf mich, stützte sich mit den Ellbogen rechts und links von mir ab und sah mir direkt in die Augen, während das - 195 -
Duschwasser in meine Augen, auf die Nase, die Lippen tropfte. Dann wurde er anmaßend. »Na gut, wenn du das Geld so sehr liebst, werde ich dich bezahlen«, sagte er. Ein Ausdruck des Ekels huschte über mein Gesicht, was ich sofort bereute, denn ich wußte, daß er es bemerkt hatte und gegen mich verwenden würde. »Siehst du?« Er lächelte. »Es würde dir nicht gefallen, wenn ich dich bezahlen würde, aber der Hauptgrund, Sex mit deinen... Dates... zu haben, ist das Geld, also mußt du mehr Achtung vor mir haben als für sie, und wenn das so ist, mußt du... « »Das ist nicht wahr. Es würde mir nichts ausmachen, wenn du mich bezahlst, solange ich darauf bestehe. Jedes Mal.« »Das ist in Ordnung. Aber es gibt einen Unterschied zwischen ihnen und mir. Deine Aufgabe wäre es natürlich, mir Vergnügen zu bereiten, aber du könntest auch selbst eine Menge Vergnügen dabei haben. Also solltest du mir einen guten Preis machen. Jedesmal wenn wir uns lieben, werde ich einen Penny in die Sparbüchse werfen. Wie wäre das?« Er wollte handeln! Was für eine Frechheit. »Woher dieser plötzliche Sinneswandel?« fragte ich. »Plötzlicher Sinneswandel?« sagte er. »Wieso plötzlich? Ich habe ein Jahr gebraucht, um mir das auszudenken. Für den Sinneswandel bist du zuständig«, bohrte er weiter. Ich wand mich unter ihm, um zu protestieren, blieb aber still liegen, als ich spürte, was für einen Ständer er hatte. Gott, ist der groß... Er war nicht riesig, aber wenn ein Kerl seinen Ständer an dich preßt, kann man gar nichts anderes denken... Ich wurde schwach, war bereit, mich zu unterwerfen und meine gute alte, immer noch funktionstüchtige Sex-Antenne stand kopf. »Du kommst hier nicht weg, Kleiner. Und du wirst mich nicht an der Nase herumführen.« Und dann küßte er mich. Ich spürte seine Zunge noch vor den Lippen, und schon waren wir mittendrin. Meine Sachen weigerten sich an diesem Tag ganz besonders, ausgezogen zu werden, aber als dann endlich der Kleiderhaufen auf dem Fußboden landete (bis auf die Socken... du mußt es einfach mal mit Socken probieren), fühlte ich mich wie ein kleines Kind mit einer großen Portion Eis... Banana Split sogar. Haut fühlt - 196 -
sich nie so gut an wie auf anderer Haut, und Andrews roch nach dem Duschen wie immer nach Moschus. Es war unglaublich, aber nach einem Jahr Nachdenken über Sex, nach all dem Verlangen und der Aufregung hielt ich endlich den Mund und ließ mich von einem anderen führen. Dann küßte er mich wieder, während ich meine Beine hinter seinen Schultern verschränkte. Wir waren beide mehr feucht als trocken. Und schon war die Unantastbarkeit meines Schließmuskels Geschichte, er wurde brutal erobert und mißbraucht zum Vergnügen eines anderen, und endlich aus seinem Dornröschenschlaf erweckt. Während er mich fickte, dachte ich (neben vielen, vielen anderen Dingen) darüber nach, daß Andrew für einen puritanischen Jungen mit Vorbehalten gegenüber Prostituierten mich wirklich ganz schön rannahm. Als hätte er es von langer Hand geplant. Aber natürlich hatte er das nicht. Genauso wenig wie ich. Vielleicht hat er es kommen sehen, vielleicht sah ich es kommen, aber keiner von uns wußte, bis wir schon mitten drin waren, mit Sicherheit, daß es wirklich passieren würde. Es war wunderbar unsafe. Wahrscheinlich war es der gefährlichste Sex, den ich je hatte. Die Risiken waren unkalkulierbar, vor allem für ihn, und die AIDS-Gefahr war nur ein starkes Symbol für die tieferen Gefahren, die der Vollzug dieser besonderen Affäre mit sich brachte. Manchmal entscheidet man sich instinktiv dafür, Risiken einzugehen, die der gesunde Menschenverstand verbietet. Ich werde dir rechtzeitig Bescheid geben, wenn es mich wieder packt. Aber die ganze Zeit wußte ich nur, daß ich ein Blumenfeuer riechen konnte. Als wir duschten, ließ Andrew nicht von mir ab. Er hielt mich ganz fest und flüsterte: »Ich liebe dich so sehr, X.« Natürlich werde ich keine unanständigen Details über meine erste Nacht mit Andrew erzählen. Manche Dinge behält man besser ganz für sich. Also mal es dir selbst aus. Mit Andrews Unterstützung schaffte ich es, ungefähr ein Dutzend Anrufe zu erledigen, mit denen ich meinen Rückzug ins Privatleben bekanntgab. Andrew wird es nie erfahren, aber ich hatte den Anstand, dem Richter zwei Wochen Kündigungsfrist einzuräumen. In meiner Glückseligkeit, meiner vollkommenen Betäubung angesichts dieser überraschend neuen Tatsache, daß ich mein - 197 -
Stricherleben aufgab, um der Geliebte eines Video-Shop-Managers mit bescheidenen Zukunftsaussichten zu werden, wußte ich, daß ich den Rest meines Lebens mit Andrew verbringen würde. Er würde mein treuster Kunde werden und sich niemals weigern, mich für meine Dienste zu bezahlen. Die Pennies in der Sparbüchse würden immer mehr werden, und ich würde sie einrollen, um Platz zu sparen. Mit diesen ganzen Pennies würde es kein Problem sein, Judy das College zu finanzieren. Und ich glaubte auch, daß ich nie mehr auf den Strich gehen würde. Hättest du das geglaubt?
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BEICHTE 23: ICH BIN UNVERBESSERLICH Dreiundzwanzig Beichten, eine für jedes Jahr, das ich ohne Andrew gelebt habe, abzüglich der beiden Jahre an der Uni, als ich viel zu sehr mit dem Studium beschäftigt war, um irgend etwas zu tun, das man beichten könnte. Falls ich etwas weggelassen habe, dann bestimmt mit Absicht. Du kannst nicht erwarten, über alles informiert zu werden, es kommt nur auf das an, was der Sünder glaubt, erzählen zu müssen. Andrew und ich zogen weg aus der Belmont in eine kleine Wohnung, immer noch in Boy's Town, aber nicht mehr mit Joe, der jetzt mit seinem Bruder zusammenlebt. Wir treffen die beiden ziemlich oft, seit Tony sich »geoutet« hat. Sei mir bitte nicht böse deswegen – dieses eine Mal hatte ich wirklich keine Ahnung, nicht mal nach diesem schrägen Kuß, der bestimmt nicht das war, was du jetzt denkst. Trotzdem, meine Sex-Antenne hatte wohl gerade Mittagspause. Tony und Joe haben beide Liebhaber... ebenfalls Brüder. Anfängerglück. Ich liebe Andrew, und ich bin sicher, daß wir lange Zusammensein werden. Immer noch zittern mir die Knie, und mein Herz pocht laut, wenn ich nur an ihn denke, selbst wenn er wieder mit diesem alten Streit übers Anschaffen anfängt. Auch auf die Gefahr hin, daß du angesichts meines Starrsinns die Achtung vor mir verlierst, gebe ich zu, daß ich meine Gewohnheiten nicht ganz aufgegeben habe... in gewisser Weise. Hin und wieder habe ich ein Date (mit Norman, dem Kinderarzt, dem guten alten Richter, und ein paar anderen) und lehne ansonsten jede geregelte Tätigkeit ab. Laß mich das erklären. Ich habe ein ziemlich großes Bankkonto und keine Schuldgefühle wegen der Tätigkeit, mit der ich das ganze Geld verdient habe. Die Welt ist einfach ein zu finsterer Ort, um sich Gedanken darüber zu machen, wie man in ihr überleben kann. Statt ins Büro zu gehen oder Hamburger zu servieren oder eine eigene Boutique aufzumachen, Tankwart zu werden oder Drogen zu verkaufen oder Arzt zu werden, hab ich mir ein nettes Polster verschafft, indem ich meine Haut - 199 -
verkaufte. Gähn. Dazu verdiene ich mir ein kleines Taschengeld als Geschichtenerzähler (nicht als »Schriftsteller« – ich hasse dieses Wort!). Mal für Literatur-Magazine, mal für Anthologien, oft für Pornohefte. Aber ich verdiene mehr Geld, indem ich Männer besuche und ihnen meine erotischen Geschichten vorlese, was im Grunde auf »verbalen Sex« mit Textbuch hinausläuft. Das ist wirklich neu, eine echte Innovation im ältesten Gewerbe der Welt. Joe hat mir mal vorgeworfen, ich hätte das Rad erfunden, und er war nicht weit von der Wahrheit entfernt – ich habe es neu erfunden. Wenn ich keinen Sex mit diesen Männern haben muß und trotzdem Geld bekomme, warum soll ich mir dann die Frisur durcheinanderbringen? Ich werde diese Beichten an den verkaufen, der am meisten bezahlt. Vielleicht eine Zeitschrift, vielleicht ein richtiger Verlag, vielleicht wird sich ja auch Johnny Depp für hundertausend schnelle Dollar die Option sichern. Einmal Hure, immer Hure. Kann das immer so weitergehen? Natürlich nicht. Alles geht einmal zu Ende, und wenn es das Geld auf meinem Konto ist. Seien wir ehrlich – es gibt nun mal nicht allzu viele Leute, die einfach so dreioder vierhundert Piepen für »Verbalen Sex« ausgeben. Irgendwann werde ich meine Stammkunden verlieren, und ich schätze, es wird nicht einfach sein, Ersatz zu finden. Aber es würde keinen Sinn machen aufzugeben, was ich jetzt am liebsten tue, denn später werde ich es vielleicht nicht mehr können. Das wäre so ähnlich wie nicht gut auszusehen, wenn man jung ist, nur weil man später, wenn man älter ist, sowieso nicht mehr gut aussieht. Oder wenn man sich weigerte zu lieben, weil man es eines Tages vielleicht nicht mehr kann. Ich bin für das hier und jetzt. Und im Moment mag ich es, Geschichten zu erzählen, genau wie Gregory es tat. Und was macht es schon, wenn ich ein bißchen lüge? Oder sehr? Immerhin bin ich ein Mann, der einen Orgasmus überzeugend vortäuschen kann. Warum sollte ich dieses Talent ignorieren und immer nur die öde Wahrheit erzählen? Zur Zeit tue ich nichts anderes als leben und lieben, und das ist mehr als man von den meisten Menschen behaupten kann. Das ist auch mehr, als ich von mir selbst behaupten kann für die Zeit vor den Ereignissen, die ich in diesen Beichten beschrieben habe. - 200 -
Aber jetzt entschuldige mich bitte. Der Kinderarzt legt wert auf Pünktlichkeit.
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NACHWORT: DIE ZUKUNFT Nun, wieviele »Ave Marias« macht das?
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