C. H. GUENTER
Blutsbrüder
VERLAGSUNION ERICH PABEL-ARTHUR MOEWIG KG, 7550 RASTATT
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Der Harmattan, der trockene ...
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C. H. GUENTER
Blutsbrüder
VERLAGSUNION ERICH PABEL-ARTHUR MOEWIG KG, 7550 RASTATT
1.
Der Harmattan, der trockene Nordostpassat, fegte seit Tagen über die Libysche Wüste und ließ Stein und Bein frieren. Im Pferch drängten sich die Kamele zusammen und in den Zelten die Beduinen. Obwohl die Dungfeuer glühten, schlug sich ihr Atem an den Stoffwänden als Rauhreif nieder. In einer der sturmdurchtosten Nächte des Jahres 1942 (1361 Higri nach islamischer Zeitrechnung) wurden von zwei Frauen des Stammes zwei Söhne geboren. Die Frauen waren Töchter des Stammesäl testen und ihre Ehemänner Söhne des reichsten Mannes in der Oase Fessan. Mithin waren die Neugeborenen Vettern. Bei der Geburt hatten sie beide zwischen sechs und sieben Pfund, dies nach Augenmaß und Hand gewicht der Hebamme. Sie waren gesund und fingen fast gleichzeitig an zu schreien. Die Knaben wurden Umar und Ramu genannt. Von rückwärts gesprochen ergab dies jeweils den Namen des anderen. Da beide Mütter wenig Milch hatten, legte man sie an die Brüste einer Amme. Den einen an die linke, den anderen an die rechte. Dort saugten sie sofort los, und das einundeinhalb Jahre lang. So wurden sie überaus kräftige Knaben. In einem wesentlichen Punkt jedoch unterschie
den sie sich. Während Ramu schon mit elf Monaten ohne Hilfe laufen konnte, war es Umar, der als erster aus dem üblichen Babylallen Worte und Sätze zu formen verstand. Sie spielten mit Tieren aus Leder, später mit jungen Hunden. Sie schliefen und aßen meist zusammen und machten gemeinsam die ersten Erkundungen außerhalb des Lagers. Bald waren sie unzertrennlich. Sie verstanden sich besser als Brü der. - Zeitlebens fühlten sie sich als Blutsbrüder.
Um 1366 Higri herum — Umar und Ramu waren ungefähr fünf Jahre alt - nahm sich ein Marabut, ein Lehrer, ihrer an. Er brachte ihnen bei, den Koran zu lesen, erst mit den Fingern, dann im Kopf zu rechnen sowie den Lauf von Sonne, Mond und Gestirnen zu beobachten. In Büchern, auf Landkarten und Abbildungen zeigte er ihnen, daß die Welt nicht nur aus Erg und Serir, Steinwüste und Kieswüste bestand, sondern, daß es etwas gab, das die Araber Teneré nannten, das Land weit draußen. In ihren freien Stunden, wenn sie nicht Ziegen hüten mußten, kletterten sie erst auf Bäume, uralte Akazien und Palmen, später auf die Hügel und Berge im Norden. Sie streiften durch trockene Flußtäler, durch die Dünen, kehrten auch bei anderen Stämmen ein und saßen mit den Männern am Feuer. Sie formten Couscous mit den Fingern zu kleinen Bällen und tauchten sie vor dem Essen in die scharfen Soßen. Sie tranken Tee und rauchten bald ihre erste Zigarette.
Sie trieben die Spiele und Streiche wie alle Knaben in der Wüste seit altersher. Sie fingen Wüstenfüchse, die alles kurz und klein bissen, was ihnen zwischen die Zähne kam und schließlich auf den Märkten verkauft wurden, weil sie die Zelte vollschissen. Sie fingen einen Graupapagei und brachten ihm Worte bei. Eines Tages flog der Papagei davon. Dann fütterten sie Walzenspinnen, bis sie platzten. Die Walzenspinne war nicht gewohnt, ständig etwas Freßbares zu finden. Deshalb hatte sie keine natürliche Barriere, mit dem Fressen aufzuhören, wenn sie satt war. Sie fraß, bis es sie buchstäblich zerriß. Sie fingen Skarabäuskäfer und Dornenschwänze und badeten in Regenwasserlöchern. Die fanden sie hoch oben in den Felsen. Nach so einem Bad legte Umar sich in den warmen Sand und nahm einen Stein, um damit nach einem Vogel zu werfen. Unter dem Stein saß ein Skorpion. Skorpione verkrochen sich tagsüber meist unter Steinen. Umar bemerkte ihn nicht und machte eine Bewegung, die das Tier als Angriff wertete. Der Skorpion stach zu. Er war einer von der weißen Sorte, deren Biß als tödlich galt. Binnen weniger Minuten trat die Lähmung ein. Das wußten die Knaben. Man hatte ihnen immer wieder eingeschärft, wie sie sich zu verhalten hatten. Ramu tötete den Skorpion, saugte das Gift aus der Oberschenkelwunde seines Blutsbruders und biß ein Stück Fleisch heraus. Dann schleppte, schleifte, trug er ihn bis zur Oase. Dort hatte eine 9
kundige Frau die nötigen Arzneien. Also überstand Umar den Biß des Skorpions. Nie vergaß er seinem Freund, daß er ihm das Leben gerettet hatte. - Ein Umstand, der Libyen achtunddreißig Jahre später beinah an den Rand des Untergangs brachte.
Als sie zwölf Jahre alt waren, bekamen Umar und Ramu ihren ersten Bou-Bou, das lange faltenreiche weitärmelige Gewand der Mohammedaner. Nun suchten sie die Souks, die Märkte, heim. Dort verkauften sie seltene Sandrosen oder auch Steine mit Wüstenlack, einer von der Sonne gebrannten Mineralausscheidung. Sie verkauften aber auch Baumwolle als Kamelwolle und gefärb ten Bergkristall als Halbedelsteine. Als man dahinterkam, daß ein angeblich wertvol les Tibbu-Messer aus Solingen kam, war auch die Zeit ihrer zweideutigen Geschäfte beendet. In diesem Winter brachte sie ein junger Mann des Stammes zu den Huren. Oft schon hatten sie verstohlen hingeschielt, wenn die Mädchen bade ten, wenn sie ihre kleinen Brüste und Popos hüpfen ließen, aber heute, in diesem Haus am Ende der Oase, war das alles zum Anfassen. Ein Mädchen legte für sie den Schleier ab und tanzte. Beide schliefen mit einunddemselben Mäd chen, einer kleinen, sehr dunklen Negerin, die aus dem Sudan kam. „Nun seid ihr Männer", sagte der Freund, der sie hergebracht hatte. Sie legten zusammen und kauften eine Ziselierar 10
beit aus Silber, die man um den Hals tragen konnte. Die brachten sie der Sudanesin und gingen dann nie mehr hin. „Wir lassen uns nichts schenken", sagte Umar. „Nicht von Frauen", antwortete Ramu. „Von niemandem. Hörst du." „Nur von uns", schränkte Ramu ein. Als die Sonne aufging, reinigten sie sich mit Wasser aus einem gegerbten Ziegenschlauch und knieten nieder zum Gebet. Im Herbst kam Ramus Mutter noch einmal nieder. Sie gebar ein Mädchen, das sie Mura nannte.
Der Clan, dem Umar und Ramu entstammten, galt als reich. Ihm gehörten weite Striche der Wüste bis hinunter zum Tibestigebirge. Dort fanden amerika nische Explorateure Öl und holten es aus der Erde. Ein Teil des Erlöses floß den Stämmen zu. Der Amrat, der Chef der Familien, legte es gut an. Er ließ an der Oase moderne Dhars bauen, feste Häuser aus Stein, und eine Kubba, ein Kuppelhaus. Dazu eine kleine Moschee zum Beten, und auch die Quelle ließ er fassen. Studierte Lehrer kamen an aus Bengasi. Ihnen fiel die außergewöhnliche Intelligenz von Umar und Ramu sowie die von Ramus jüngerer Schwester Mura auf. Also schickte man sie nach Norden auf eine Schule, später auf die Universität nach Derna. Die Blutsbrüder trennten sich zum erstenmal im Jahre 1959. Während Umar zur Armee ging, um dort die Offizierslaufbahn einzuschlagen, wurde 11
Ramu Verwaltungsbeamter bei der Regierung. Schwester Mura studierte Rechtswissenschaften. Umar wurde sehr bald Leutnant, Captain und Major. Ramu wechselte ins Innenministerium, wo er mit Polizei und Geheimdienstaufgaben betraut wurde. Bei der Revolution im Jahr 1969 arbeiteten die Freunde Hand in Hand. In dieser Zeit wurde Umar, inzwischen Oberst, Präsident des Revolutionsrates. Ein Jahr später, als man ihn zum Ministerpräsiden ten machte, ernannte er Ramu zum Chef des libyschen Geheimdienstes. Während Umar Gaddafi eine Politik der arabi schen Einheit auf der Grundlage eines sozialisti schen Islam vertrat, wirkte sein Vetter Ramu mehr im stillen. Er organisierte den Geheimdienst und die Spionageabwehr, um Angriffe von außen und die Gegenrevolution von innen schon im Ansatz zu bekämpfen. Wenn es in Libyen zwei Männer gab, die einander vorbehaltlos vertrauten, dann waren es Umar und Ramu. — Sie wären bereit gewesen, füreinander zu sterben.
Der Staatschef gründete eine Familie, heiratete und bekam Kinder. Ramu blieb Junggeselle. Niemand verübelte dem schwer arbeitenden Regierungsmit glied, daß er hin und wieder, speziell mit Auslände rinnen, Affären hatte. Mal war es eine britische Journalistin, mal eine deutsche Unternehmerin, dann wieder die italienische Schauspielerin aus 12
einer Produktion, die in der Wüste einen Film über Mohammed drehte. Im Sommer dieses Jahres, als der Bombenangriff von Reagans US-Air-Force auf Tripolis allmählich in Vergessenheit geriet und auch wieder Amerika ner ins Land kamen, verknallte Ramu sich in die Tochter eines Ölmagnaten. Er nahm die Einladung auf die Luxusyacht des Texaners an. Dies nicht zuletzt, weil dessen Toch ter, die blonde bildschöne Maureen Jenkins, ihm zugeflüstert hatte: „Ich bin scharf auf Sie, Minister." Das klang vielversprechend. Also ließ er sich am Freitagabend mit dem Hubschrauber an Bord bringen. Die Yacht stach sofort in See und durch querte die Große Syrte bei wirklich fantastisch gutem Wetter. Unter leichtbewölktem Himmel war es nicht zu heiß, von Sizilien her wehte eine frische Brise. Sie saßen an Achterdeck, hörten Disco-Sound, und es gab Champagner und exotische Fruchtcock tails. „Für gläubige Menschen wie Sie alkoholfrei", sagte die Amerikanerin, in einem seidigen Hauch von Abendkleid, oben tief ausgeschnitten, unten geschlitzt. „Aber ich warne Sie, Sir. Ich bin nicht alkoholfrei, sondern brennbar bis explosiv." „Ich bin auf das Schlimmste gefaßt, Madam", erwiderte der libysche Geheimdienstchef, „und ein bewährter Feuerlöscher." Sie hatte nicht zuviel versprochen. Gegen Mitter nacht kam sie in seine Kabine und warf sich mit der zielstrebigen Sinnlichkeit amerikanischer Frauen 13
in seine Arme. Das Gerücht, daß er als Liebhaber eine Sensation sei, fand sie bald bestätigt. Als Maureen Jenkins ihn verließ, war es noch dunkel. Der Minister schlief erschöpft ein. Am Morgen klopfte der Steward an seine Tür, weil alles beim Brunch auf ihn wartete. Er gab keine Antwort. Beunruhigt öffnete sie seine Kabine und fand das Bett leer. Erst dachte sie, der Minister liege am Pool oder er sei vielleicht im Meer schwimmen gegangen. Doch als sie das ganze Schiff abgesucht hatten, wußten sie, daß er verschwunden war. Dann fanden sie im Badezimmer, das zu seiner Kabine gehörte, einen Hinweis. Er hatte ihnen eine Nachricht hinter lassen. Frauen schrieben Mitteilungen mit dem Lippen stift, wenn sie nichts anderes zur Verfügung hatten. Da Männer keine Lippenstifte benutzten, hatte Ramu Körperpuder aus der Dose gegen den Bade zimmerspiegel gestaubt und mit dem Finger einige Zeichen hineingemalt. Die Amerikaner konnten es nicht entziffern, denn es war arabisch. Sie suchten den Minister bis zum Abend, dann kehrten sie nach Misurta zurück und verständigten den Sicherheitsdienst. Die Experten entzifferten die Schrift auf dem Spiegel. Übersetzt bedeutete sie MOSSAD. Und Mossad war die Abkürzung für den israelischen Geheimdienst. Somit stand eindeutig fest, daß ein Kommando der Israelis den Chef des libyschen Geheimdienstes von der amerikanischen Yacht gekidnappt hatte. Als Oberst Umar Gaddafi davon erfuhr, schäumte er. Er tobte. Wütend schrie er den Verdacht hinaus, 14
daß die Amerikaner mit den Israelis zusammenge arbeitet hätten. Als er sich einigermaßen beruhigt hatte, sah er es anders. Amerikaner, besonders dieser Tom Jenkins, waren in erster Linie Geschäftsleute. Jenkins wollte seine Konzession für die Ölfelder nicht verlieren. Immerhin zog er jährlich hundert Millionen Dollar Gewinn daraus. Das Risiko, mitsamt seiner Firma Jenkins-Oil aus Libyen vertrieben und selbst in den Kerker geworfen zu werden, ging ein Texaner wie Jenkins nicht ein. — Die Israelis hatten also ohne sein Wissen zugeschlagen. Oberst Gaddafi versuchte alle über den Verbleib seines Blutsbruders erreichbaren Informationen zu erhalten. Mehr, als daß der Mossad ihn nach Tel Aviv gebracht hatte und dort ausquetschte wie eine Zahnpastatube, war nicht zu erfahren. Der Oberst ging soweit, daß er über arabische Staaten, die mit Israel diplomatische Beziehungen unterhielten, in Verhandlungen trat. Er erklärte sich bereit, auf jede nur denkbare Forderung einzugehen, wenn sie Ramu Gaddafi freiließen. Die Israelis reagierten zunächst überhaupt nicht. Dann erklärten sie, man habe mit der Entführung des Geheimdienstchefs nichts zu tun, man sei nicht an ihm interessiert. Möglicherweise stecke eine Palästinensergruppe dahinter, die das reiche Libyen zu höheren Zahlungen erpressen wolle. Inzwischen erhielt der Staatschef aber Hinweise, daß die Israelis logen und daß in ihren Verhörkel lern in Tel Aviv ein Mann lag, der kein anderer als Ramu sein konnte. Da schwor der Oberst blutige Vergeltung. „Er ist der beste Mensch, den ich kenne", sagte er 15
in einem Kreis von Männern, denen er vertraute. „Ich habe nur einen wirklichen Freund, nämlich ihn. Ich werde seine Entführer vernichten, werde Rache üben, und wenn ich eine Million Juden töten muß. Das schwöre ich!" Wer ihn kannte, der wußte, daß Umar Gaddafi seine Schwüre hielt.
2. Für die geheimen Probefahrten mit dem neuen Panzer der deutschen Rüstungsindustrie wurde nur ein erlesener Kreis von Fachleuten geladen. Auf dem Truppenübungsplatz Stetten auf der Schwäbischen Alb stand der 60 Tonnen schwere Berg aus Stahl in Nato-Olivgrün. Der Hersteller, die Firma Kraus Maffei in Mün chen, zeigte auch dem BND-Agenten Robert Urban ihren Prototyp Leo III. Urban, bereits im Overall der Panzerfahrer, ging um den Koloß herum. Einmal, zweimal. Es war kalt. Im Schatten glitzerte die Erde von Rauhreif. Urban stieß die Fäuste in die Taschen und wandte sich an einen der Ingenieure: „Schaut ja aus wie der alte." „An dem gab es äußerlich wenig zu verbessern, aber wir bauten ihn einen halben Meter niedriger, und er bekam einen anderen Turm." Urban wußte, was ein deutscher Kampfpanzer vom Typ Leopard II kostete. Etwa fünf Millionen D-Mark. Der da sollte das Zehnfache gekostet haben. Demnach mußte eine Menge Entwicklungs 16
arbeit darin stecken. Speziell dort, wo man es nicht sah. Der Kommandeur der testenden Panzereinheit kam auf ihn zu. „Was sagen Sie, Oberst Urban?" „Es ist ja wohl keine Attrappe. - Ich möchte ihn fahren." „Deshalb sind Sie hier. Wann haben Sie Ihren Panzerführerschein gemacht?" „Vor zehn Jahren. Im Leo eins." „Inzwischen hat sich einiges verändert." „Aber ich hatte mehrere Stunden im Simulator." „Dann kennen Sie das Cockpit. Und in den Rolleigenschaften ändert sich ja nichts. Also, pak ken wir's an?" „Sofort", sagte Urban. „Bevor ich Angst kriege." Er schwang sich auf das zutrauliche, fast vier Meter breite Ungetüm, kroch schlangenartig in die Tiefe bis in das höhlenartige Cockpit. Es war enger, hatte mehr Instrumente auf den Konsolen, aber der neue Sitz kam ihm bequemer vor als der alte. Der Panzeroberst fuhr im Turm als Kommandant mit. Urban brachte sich in die richtige Position. Vor dem Bauch hatte er ein Mittelding zwischen GoKart-Lenkrad und Flugzeugknüppel. Für die Füße gab es zwei eierpfannengroße Pedale: Gas und Bremse. Er machte es so, wie man einen Leopard in Gang setzte. Hauptschalter auf zwei, Starterknopf drük ken. - Aber schon war alles anders. Beim alten Leo II begann nach dem Anlassen der 1500-DieselVielstoffmotor mit dem Hubraum von dreißig VW Golf seine Arbeit. Beim neuen fing etwas leise an zu 17
singen. Das Singen wurde lauter, ging in ein Pfeifen über, von dem bei Nenndrehzahl nur ein hohles Summen blieb. Urban vernahm die Stimme des Kommandanten im Kopfhörer. „Die MTU-Turbine hat ein bißchen mehr auf der Brust. Dreitausend PS." „Auf geht's", sagte Urban. Noch ein kurzer Blick auf die Instrumente — wichtig war die TOT-Turbinenausgangstemperatur -, dann auf die Checkleuchten. Feststellbremse los, Viergangautomatic auf D, ein satter Tritt auf das Gaspedal, Weich rollte der Leopard an. - Sofort setzte eine giftige Beschleunigung ein. Runter vom Parkplatz und quer durchs Gelände. Schon eine kleine Lenkradbewegung genügte, und der Leo reagierte. Eine Kette bremste, die andere warf ihn buchstäblich um die Ecke. Abkippen, Hinein in eine Senke. Steil heraus und himmel wärts. Buschwerk krachte. Hindurch. Kleine Bäume bewegten sich vor dem Panzerbug wie Schilf. Die Automatik schaltete ruckfrei hoch. Voraus eine weite Ebene. Vollgas. Daß das Ungeheuer dabei vierhundert Liter Kerosin auf 100 Kilometer soff, war nicht Urbans Problem. Er saß darin, um seine Meinung abzugeben, die, wenn auch nur eine von vielen Meinungen, so doch zu einem Gesamturteil beitrug. Fast mühelos beschleunigte der Leo auf sechzig, siebzig, achtzig, weit über das hinaus, was der alte schaffte. Kein Wunder. Das MTU-Triebwerk war doppelt so stark.
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Urban drosch ihn kilometerweit über die flache Hochebene. „Achtung, ich bremse", sagte er und trat auf das Pedal. Der Leo m schien sich in die Erde zu krallen. Nach knapp zwölf Metern stand er. Dabei tauchte er vorne ein, so daß das Rohr der Kanone fast die Erde berührte. Als die Staubwolke verweht war, meldete sich der Oberst aus dem Turm. „Na, ist das was?" „Tauchen und fliegen sollte er noch können." „Tauchen kann er. Bis auf zehn Meter Tiefe." „Und fliegen?" „Das kommt noch. Wir arbeiten dran." Die Turbine sang in Leerlaufdrehzahl. Urban gab Gas. Sie jodelte hoch. Der stählerne Brocken rollte wieder an. Die Steigung von nahezu fünfunddreißig Grad ließ das neue Antriebssystem geradezu unbe eindruckt. Doch plötzlich vernahm Urban die Stimme des Kommandeurs aus dem Turm. „Bitte sofort anhalten!" Urban dachte schon, er hätte durch seine sportli che Fahrweise das Ding nicht zart genug behandelt, da sah er den Hubschrauber hinter der Hügelkuppe hervortauchen. Es war ein privater BO-105. — Was hatte der hier zu suchen? „Funkspruch für Oberst Urban. Sie werden dringend in Ihrem Hauptquartier verlangt", über mittelte der Panzerkommandant. „Sehr schade. Ich fahre gern mit einem Mann, dem zuzutrauen ist, daß er einen Kampfpanzer kaputtkriegt." Mitten im Truppenübungsplatz Stetten kletterte 19
Urban aus dem Leo III. Er öffnet die Reißver schlüsse der grüngrauen Kombination und häutete sich zu einem Zivilisten in schwarzer Gabardine hose, Glenchecksakko, zweireihig, von Brioni, zart blauem Hemd, Schlips, weißen Socken und GucciSlippern. Dabei kam er sich in den Luxusklamotten ziemlich deplaziert vor. Am meisten aber bedauerte er, auf den Erbseneintopf aus der Gulaschkanone, den es nach solchen Vorführungen gab. verzichten zu müssen. Der Hubschrauber landete. Urban lief hinüber, schwang sich hinein. Der Bölkow hob ab. Der Kampfpanzer in dem ockergelben Übungsgelände wurde klein wie ein Spielzeug. Mußte ziemlich dringend sein, wenn sie ihn hier wegholten. Aber irgendeiner rotierte ja immer, und die Angst, daß an jeder Ecke ein Terrorist lauerte, ging um.
Sonnengebräunt, mit seiner Länge, die an eins neunzig herankam, betrat der Agent Nummer achtzehn die Operationsabteilung. Sein Chef, der alte Sebastian, beobachtete den energiegeladenen Ausdruck in Urbans grauen Augen stets mit Mißtrauen. Energie war für ihn gleichbedeutend mit der Neigung zu Widerspruch und Besserwisserei. Und Urban zeigte meist Power. Wenn es nach dem dackelgesichtigen Oberst gegan gen wäre, hätte man Urban längst gefeuert. Aber es gab wenig Geheimagenten, denen man zutraute, die Frankfurter Unterwelt in einer Nacht aufzuräu men. Urban gehörte zu ihnen. - Sebastian konnte 20
einen solchen Mann also gar nicht feuern. Er mußte mit ihm leben. Außerdem wäre die Abfindung dem BND verdammt teuer gekommen. Wortlos reichte der Operationschef seinem Agen ten einen Schnellhefter. Darin lagen zwei Fotos und zwei Kurzdossiers. Urban schaute sich die Gesichter an und las den Begleittext. Die Gesichter wirkten ein wenig blaß und alltäglich. Beamte oder Siemens-Ingenieure vielleicht. „Ein Elektroniker und ein Chemiker", sagte der Alte. „Steht alles hier. Namen, Alter, Wohnort. Fami lienstand und Arbeitgeber. Wo Hegt der Grund, Feurio zu schreien?" Der Alte genoß seinen Wissensvorsprung und daß es in seiner Kompetenz gelegen hatte, Urban aus dem Panzerspielzeugladen nach München-Pullach zu holen. „Der Elektroniker ist Experte für Funkfernsteue rungen jeder Art, und der Chemiker gilt als Fachmann auf dem Gebiet klassischer Spreng stoffe." „Historischer oder hysterischer?" fragte Urban spöttisch. Der Alte musterte ihn mit seinen tränensackbe hangenen Hundeaugen und verstand das Wortspiel nicht. Also verstand er auch die Frage nicht. In solchen Fällen überging er Fragen meistens. „Die beiden sitzen irgendwo auf üble Weise fest." Sebastian ließ sich alles aus den Zähnen ziehen. Urban legte den Hefter hin. „Ich bin im Casino, falls Sie geruhen, mich zu unterrichten. Aber es muß nicht sein." 21
Er steckte sich eine Goldmundstück-MC an und wollte gehen. Der Alte räusperte sich und watschelte auf seinen kurzen Beinen plattfüßig ein paar Schritte. „Sie sitzen in Libyen fest." „Ah, bei Freund Gaddafi." „Die Familien schweben in Todesangst und haben sich in ihrem Jammer erst an die Polizei, dann ans BKA, dann an uns gewandt. Sie kennen ja den Weg." „Und warum sind die zwei Herren in Libyen?" „Weil sie dort ungefähr fünfmal soviel verdienen wie . . ." Urban winkte ab. „Für pure Geldgier habe ich kein Verständnis. Wenn einer, weil mehr auf dem Gehaltszettel steht, in der Hölle anheuert, um für den Teufel zu arbeiten, es dort aber zu heiß findet und sich wundert, daß der Teufel das Tor zusperrt, dann fehlt mir nicht nur das Verständnis dafür, sondern auch das Mitgefühl. Wir sollten die beiden doch herausholen, oder?" „Die Familien sind in Panik." „Ich auch", bemerkte Urban. „Denn wenn sie einer rausholen soll, dann bin, wie ich den Laden hier kenne, ich das. Und das geht auf meine Knochen. Nicht zum fünffachen Gehalt, sondern zum normalen Staatssekretärtarif, der weit unter dem des Kanzlers liegt." „Plus Spesen", ergänzte der Alte. Das war zuviel. „Tut mir leid", entschied Urban. „Es muß Ihnen auch leid tun", wurde er mißver standen. 22
„Dann anders. Es tut mir nicht leid. Ich habe auch kein Verständnis für Leute, die mit Turnschu hen auf Hochgebirgsgletschern herumturnen und schließlich vom Wetter überrascht werden, so daß die Bergwacht ihretwegen ausrücken muß und dabei tapfere Bergwachtleute ums Leben kommen." Der Alte hob die Schultern. Weil er nichts Besseres wußte, sagte er: „Sie werden müde, Nummer achtzehn." „Ich bin schon lange müde, Großmeister. Ich hole nicht mehr jede Kartoffel aus jedem Feuer." Urban ging in sein Büro, goß sich einen doppelten Bourbon ein, lehnte sich im Sessel zurück, und schon kam der Alte angeschlichen wie ein Schatten. „Ich akzeptiere Ihre Argumente", lenkte er ein, „aber in Bonn macht man sich Sorgen. Unter uns gesagt, weniger um die zwei Herren, die mit den Arbeits- und Einkommensbedingungen in der Bun desrepublik nicht mehr zufrieden waren, vielmehr über das, was Gaddafi vorhat. Wozu engagiert er einen Elektroniker und einen Sprengstoffexperten? Davon hat er doch im eigenen Land, in der eigenen Armee, bei der Pioniertruppe und im Geheimdienst mehr als genug." Damit hatte er Urban an der weichen Stelle getroffen. „Ja, um was geht es? Nur das zählt." „Die beiden müssen spitzgekriegt haben, warum Gaddafi sie anheuerte. Sie versuchten abzuhauen und wurden daraufhin isoliert." „Vornehm ausgedrückt." „Die Familien nehmen an, daß sie wie Gefangene gehalten werden und auch wie Sträflinge arbei 23
ten müssen. Sie haben seit Wochen nichts mehr von ihnen gehört." Urban wußte, daß es sich unfreundlich anhörte, sagte es aber trotzdem. „Wer sich in die Kloake begibt, fängt an zu stinken." „Ob man den beiden irgendwie helfen kann?" „Vielleicht das Außenministerium in Bonn." „Die haben es versucht. In Tripolis weiß man angeblich nichts von den beiden." „Wenn sie ihren Job beendet haben, tauchen sie schon wieder auf." „Welchen Job? Sie sind beide Wissenschaftler. Kann ihre Arbeit in Libyen der Bundesrepublik schaden?" „Deutsche Leberwurst, an der der König von Burundi sich den Magen verdirbt, schadet der Bundesrepublik auch." „Nur ist der König von Burundi kein so großer Beelzebub wie der Libyer." Urban war nicht gerade weltfremd. Es kam immer auf den Täter, nicht auf die Tat an. Nicht auf das, was einer sagte, sondern wer es sagte. Es gab keine größere Ungleichheit als die vor Gesetz und Öffentlichkeit. „Aus Libyen kriegen Sie keinen raus. Nicht mal den Entdecker eines Serums gegen den Schwach sinn. Libyen ist ein Tresor mit sechs Schlössern." „Denken Sie trotzdem darüber nach", bat der Alte. „Falls Sie an ein Kommandounternehmen denken sollten, wie damals Guderians Panzervorstoß mit Blücher an der Katzbach, vergessen Sie es." 24
„Es handelt sich um den Hilferuf von Verzwei felten." Urban war auch verzweifelt. Er sprach nicht mehr über die Sache, dachte aber ständig daran. Es gab zwei Arten von Agenten. Die einen taten es, und die anderen taten es trotzdem. Er gehörte zu letzteren. Und das war der Grund, warum er sich schon lange selbst nicht mehr mochte.
3.
Schiffe, Schiffe und noch mal hundert Schiffe. Ein Wald von Ladebäumen und Schornsteinen. Frach ter, Tanker, Passagierdampfer, Autofähren, Hoch seecontainerschiffe, fast immer Zehntausendton ner, Lastkähne und Küwos lagen an den Piers. Vor den Lagerschuppen, in den Werften, auf Reede, vor Anker, an der Boje, am Haken der Schlepper. Dazwischen das Gewusel von Prahmen, Pinassen, Leichtern für Trinkwasser, Benzin, Rohöl, Verpfle gung, Ausrüstung. Schiffe jedes Alters. Rostige Zossen, neue, die noch nach Farbe stanken, mit Besatzungen aller Hautfarben und Rassen fernster Länder. Dazu das Tuten von Preßlufttyphoons, das Rattern der Kräne, das Schlürfen der GetreideElevatoren, das Fauchen der Winschen, die Schreie der Schauerleute. — Und an Land Lastwagen, Gabelstapler, Containerkräne. Dazu Gestank, Hitze, Diesel- und Brackwassermief. Das war Piräus. Der Hafen von Athen. Der größte Griechenlands. Ein geordnetes Chaos. Auf dem Balkon des zweiundzwanzig Stockwerke hohen Marathon-Hauses saßen zwei Männer. — Sie 25
hatten das Apartment ganz oben gewählt, weil es den besten Blick über den Hafen bot. Um jede Einzelheit zu erkennen, bedienten sie sich eines monokularen Fernrohrs, eines einäugigen also, das von Lord Nelson den Namen hatte. Allerdings benutzten sie die moderne Ausführung. Wegen der enormen Vergrößerung von fünfzig mal fünfzig war es wackelfrei auf einem Stativ befestigt. Einer der zwei libyschen Agenten hatte den Hafen ständig unter Kontrolle. „Wann ist er in Genua ausgelaufen?" fragte er seinen älteren Kollegen. „Montag." „Und wie lange braucht er bis Athen?" „Drei Tage." „Dann muß er heute kommen." „Falls er nicht in Malta Ladung löscht." „Tut er das?" „Mitunter schon." „Wie lange verzögert das seine Reise?" „Streckenmäßig kaum. Höchstens zwölf Stunden." Der Libyer am Spektiv trat auf den Balkon und süßte seinen Frühstückstee. „Er müßte längst da sein." „Geduld. Frachter sind nicht die Eisenbahn." „Deutsche Frachter schon. Man behauptet, danach könne man die Uhr stellen. Nach Linien frachtern ganz besonders." „Vergiß das Wetter nicht. Es gab Sturm im Ionischen Meer." „Kommt er durch den Kanal von Korinth?" 26
Der Ältere hatte sein Frühstück beendet, rauchte eine Zigarette und sagte: „Hör zu. Ich bin kein Seefahrtexperte, aber soviel weiß ich. Ein Frachter, der die Route HamburgMarseiile-Genua-Athen-Haifa bedient, hält seinen Fahrplan ein wie ein Güterzug. Zwei Wochen runter, zwei Wochen rauf. Und das jahraus, jahrein, Sommer und Winter." Der andere war nicht nur jünger, sondern auch ungeduldiger. „Zum Teufel, dann müßte er heute vormittag die Mole passieren." „Wenn deine Rechnung stimmt, dann kommt er auch." „Ein Stückgutfrachter, der auch Container mit nimmt." „Ich weiß." „Zehntausendtonner. Gebaut auf der VulkanWerft in Bremen." „Von wem hast du das? Aus dem Schiffsregister etwa? Oder von mir? Von mir weißt du es. Also hab Vertrauen und gedulde dich." „Fährt unter der Flagge des Hanseatischen Lloyd. Name Goedekke." „Und du fährst mir allmählich über den Wecker", sagte der Ältere. Das Telefon läutete. Der Jüngere ging hinein und hob ab. Er horchte, antwortete, horchte und legte auf. Beim Herauskommen setzte er die Sonnenbrille auf, als würde er sich Schutzblenden vorklappen. „Was ist?" „Mura meldet aus Neapel, der Frachter Goedekke 27
lief nicht Malta, sondern Neapel an. Ladung eine Million tiefgekühlter Hühnerbrüste für Israel." „Wann?" „Gestern. Gegen Mittag legte er wieder ab." Der Jüngere rechnete. Dazu nahm er seinen Taschencomputer. „Er ist vierzehn Knoten schnell. Distanz bis Piräus elfhundert Kilometer. Elfhundert durch einskommaacht." „Macht rund siebenhundert Seemeilen." Der Ältere rechnete im Kopf schneller als der Computer. „Geteilt durch vierzehn." Während der Jüngere die Werte eintippte, hatte der Ältere schon das Ergebnis. „Fünfzig Stunden." „Gegen Mittag lief er aus. Also kann er erst morgen mittag hier sein." „Was regst du dich also auf", sagte der Ältere. „Wir haben einen Nachmittag, eine Nacht und einen Vormittag Zeit. Was stellen wir an?" Der Jüngere suchte im Schiffskatalog die Silhou ette des deutschen Kombifrachters heraus. „Eigentlich", bemerkte er, „brauchen wir nur die fotografische Bestätigung. Aber ich hege keinen Zweifel, daß es genau das Schiff ist, das wir suchen. Schlage vor, wir fahren in die Bucht von Elefsis." „Was willst du auf diesem Schiffsfriedhof?" „Die Silhouetten vergleichen." Der Ältere wußte, um was es ging, verabscheute aber jede Hektik. „Ist das nicht verfrüht?" „Wie lange zögerst du noch, Mann. Wir arbeiten jetzt zwei Wochen an dem Auftrag. Tripolis wartet auf Ergebnisse." 28
„Schön", erklärte der Ältere sein Einverständnis. „In Allahs Namen, fahren wir raus, klappern wir die aufliegenden Pötte ab." „Der Abend ist dann zu unserer freien Verfü gung." Was Männer, die aus einem streng islamischen Land kamen, in einer Stadt wie Athen, wo Prostitu tion zum alltäglichen Leben gehörte, suchten, darüber verloren sie keine weiteren Worte.
Pünktlich wie die S-Bahn von Hamburg nach Altona schob der Frachter Goedekke seinen Bug durch die Hafeneinfahrt von Piräus. Nachdem die libyschen Geheimagenten ihn im Fernrohr erkannt hatten, schössen sie eine Fotose rie. Mit dem langen Tele vor der Laica zog der Kameramotor einen ganzen Film durch. Sie nahmen den Frachter von vorne auf, dann von schräg vorne. Als er beidrehte, um in eines der Hafenbecken zu gelangen, ihnen erst seine Breit seite zeigte und später das Heck, ließen sie noch einmal sechsunddreißig Bilder durchlaufen. „Schon ein betagtes Schiff", äußerte der jüngere Agent. „Deutsche Wertarbeit. Da ist es wie bei Autos. Die japanischen kannst du nach zehn Jahren wegschmeißen. Ein Mercedes halt eben länger." Sie brachten den Film zum Entwickeln. Mit genug Trinkgeld bekamen sie ihn schon nach wenigen Stunden wieder. Nun verglichen sie die Bilder mit den Silhouetten im Flottenkalender und 29
mit den Aufnahmen der aufliegenden Frachter in der Bucht von Elefsis. Das Ergebnis war befriedigend. Doch ehe sie aktiv wurden, telefonierten sie mit ihrer Dienst stelle in Tripolis. Zuständig für das Projekt war eine Frau. „Die Suche verlief positiv", meldeten sie aus Athen. „Wie ist die Übereinstimmung?" „Fast hundertprozentig, wenn die Silhouette an den Aufbauten und am Schornstein leicht verändert wird." „Ist das Schwesternschiff zu kriegen?" „Es liegt auf. Das heißt, es wurde außer Dienst gestellt, damit das Überangebot an Frachtraum die Frachtraten nicht drückt. Zweifellos ist es billig zu haben." In Tripolis fiel sofort die Entscheidung, denn das Projekt hatte Dringlichkeitsstufe eins. „Überlaßt den Kauf Andropos", forderte der weibliche Führungsoffizier. „Diesem schwulen Hinterlader?" „Wir dürfen nicht als Erwerber auftreten." „Verstanden", bestätigten die Agenten aus Athen. „Wie hoch darf er gehen?" „In diesem Fall", erklärte die Vorgesetzte in der Zentrale, „spielt der Preis keine Rolle. Der Oberst wünscht, daß die Sache vorangetrieben wird. Jeder Preis, der sich im üblichen Rahmen bewegt, abzüg lich fünfundzwanzig Prozent, wird akzeptiert. Wenn wir den Preis drücken, dann nur, um keinen Verdacht zu erregen." Später riefen sie den Griechen an. Sie erreichten ihn in seiner Homo-Kneipe. 30
Mit seinem mädchenhaften Schwulengetue ver sprach er, sofort zum Treffpunkt zu kommen. „Ich hasse die warmen Brüder", sagte der ältere Agent. „Aber er ist so zuverlässig, wie er sich täglich den Arsch pudert."
4.
Um schneller voranzukommen, nahm die dunkel blaue Chevrolet-Limousine von Langley nach Wa shington den Highway Nr. 6. Es war der erste Donnerstag im November, 22.00 Uhr, schon dunkel und die Autobahn ziemlich leer. Der Chevrolet überschritt die im Staate Virginia erlaubten achtundachtzig Stundenkilometer. Für amerikanische Verhältnisse raste er mit der gera dezu kriminellen Geschwindigkeit von hundert dreißig nach Osten. Eine bei der Abfahrt Potomac lauernde Verkehrs streife beobachtete ihn und setzte sich hinter ihn. Der Polizeiwagen verfügte über einen getunten Motor und holte rasch auf. Als der Deputy des Streifenführers Rotlicht und Sirene einschalten wollte, sagte der Fahrer: „Noch nicht." „Warum nicht, Sergeant? Dieser Wahnsinnige ist reif. Wo kommen wir hin, wenn wir so was durchgehen lassen?" „In die schwarze Liste kommen wir, wenn wir es nicht durchgehen lassen, Mann." „Wieso das denn?" tat der Deputy erstaunt. „Es ist vermutlich ein Behördenfahrzeug." „Trotzdem. Limit ist Limit." 31
„Kommt auf die Behörde an", meinte der ältere, erfahrenere und nicht so hitzige Streifenführer. Er rückte so dicht auf, daß die zwei Männer im Chevrolet den Verfolger sehen mußten. Trotzdem mäßigten sie ihr Tempo nicht. Sie taten eher das Gegenteil davon. Die Cops im Streifenwagen waren ein wenig ratlos. „Ein Regierungsfahrzeug", sagte der Jüngere, der gerne Protokolle sammelte. „Aber woher? Weißes Haus, State Department, Pentagon, CIA?" „Sie kommen aus Langley." Der Jüngere glaubte, etwas blitzen zu sehen, dünn und silbrig, wie ein in Zeitlupe aus dem Kofferraum wachsender Spargel. „Er fährt die Funkantenne aus." „Jetzt telefonieren sie." „Ob sie sich von uns belästigt fühlen?" „Dann sind es Agenten im Einsatz." „Und gleich kriegen wir was auf den Deckel, he." Sie ließen sich zurückfallen, bemerkten aber noch, daß der Chevrolet die Ausfahrt Dulles Airport nahm. Sie folgten ihm mit Abstand. Bis zum internatio nalen Flughafen hielten sie Kontakt. Über dem Airport war der Himmel rosa und flimmerig. Selbst um diese Stunde herrschte noch reger Start- und Landebetrieb. Mit aufheulenden Triebwerken schwebte über ihnen eine Düsenver kehrsmaschine herein. Inzwischen näherte der dunkelblaue Chevrolet sich der Einfahrt für Flughafenbedienstete, etwa hundert Meter nördlich des Hauptgebäudes. 32
„Auch der Geheimdienst muß sich an Verkehrsre geln halten", bemerkte der jüngere Streifenpolizist. „Nicht bei Erfüllung hoheitlicher Aufgaben", wurde er belehrt. „Im Einsatz, meinst du. Zum Teufel, Sergeant, die sind doch immer im Einsatz." Der Ältere lachte vor sich hin. „Hast du dir noch nie mit Blinklicht und Sirene freie Fahrt verschafft, wenn du zu spät zum Mittagessen dran warst?" An der Sperre wurde der blaue Chevrolet nur kurz angehalten und durfte sofort weiter. Der Streifenwagen wurde ebenfalls angehalten. Draußen auf dem Rollfeld schien irgend etwas los zu sein. Sie sahen die Scheinwerfer von Feuerwehr und Rettungsfahrzeugen. „Was ist passiert?" fragte der Sergeant den Posten am Tor. „Notlandung." „Wer ist notgelandet?" „Der Jet aus Tunis." „Linienjet?" Der Flughafenangestellte informierte die Polizi sten. „Zwischen Washington und Tunis gibt es keinen Linienverkehr. Ist ein Charterjet. Mit dreihundert Touristen." „Hatten sie Feuer an Bord, Triebwerksausfall oder was?" „Nein, sie baten nur um vorrangige Landeerlaub nis und bestellten einen Notarztwagen. Ich glaube, es geht um einen Schwerkranken." Die Streifenpolizisten folgten dem Chevrolet, 33
beobachteten aber die Vorgänge auf dem Rollfeld aus hundert Meter Abstand. Die Stelle, wo man die Boeing 747 aus Tunis hinbugsiert hatte, war hell beleuchtet. Über die vordere Gangway verließen die Passagiere den Jet, über die hintere Gangway trugen zwei weißbekit telte Sanitäter des Notarztwagens eine Trage. Ein dritter hielt den Infusionsbehälter, mit dem der Kranke durch einen Schlauch verbunden war. Da er mit einem Laken zugedeckt war, sah man wenig von ihm. Die Polizisten hörten den Sprechfunk ab und erfuhren einiges. „Sie bringen ihn ins Walter-Reed-Hospital." „Und was hat der Geheimdienst damit zu tun?" „Womit", fragte der Streifenführer, „hat der Geheimdienst nichts zu tun, Mann?"
Seit dem Bombenangriff der US-Air-Force auf Gaddafis Hauptquartier in Tripolis herrschte in Washington Angst vor einem Racheschlag des unberechenbaren Libyers. Die Terroristenfahnder des FBI reagierten ebenso übertrieben wie die Geheimdienste. An diesem Novemberabend war es die CIA, die eine Niederlage einstecken mußte. Zunächst folgten die Agenten im dunkelblauen Chevrolet dem Notarztwagen von Dulles Airport bis zum Walter-Reed-Hospital. Dort ließen sie die Krankentrage nicht aus den Augen. Erst an der Luftschleuse zur Intensivstation wurden sie von einer resoluten Oberschwester gestoppt. 34
„Hier ist Schluß für Sie, Gentlemen." „Er ist unser Mann." „Falls wir ihn wieder hinkriegen. Derzeit handelt es sich wohl mehr um eine männliche Leiche." Sie warteten im Vorraum, konnten aber durch die Fenster sehen, was sie mit dem Mann aus der Tunismaschine machten. Drei Ärzte bemühten sich um ihn. Sie setzten Spritzen, erneuerten die Infusion, dann gaben sie Sauerstoff, und als die Herztätigkeit auf dem Oszillographen nur noch eine Linie anzeigte, ver suchten sie es mit Elektroschocks, um den Herz muskel anzuregen. Kurz vor Mitternacht gaben sie auf. Der Chefarzt kam heraus und beantwortete die Fragen der CIA-Agenten. „Wir haben alles versucht, spritzten ihm noch ein Breitbandmedikament gegen alle nur möglichen Vergiftungen." „Gift also. Was vermuten Sie, Doktor?" Der Arzt zögerte und zählte dann die Symptome auf: Untertemperatur, Hautverfärbungen, vermin derte Reaktion des motorischen Nervensystems. „Ich fürchte, es handelt sich um eine Pilzvergif tung." „An Bord gab es kein Pilzgericht." „Er muß es schon in Nordafrika zu sich genom men haben. Bei Pilzvergiftungen, etwa durch den Knollenblätterpilz, der leicht mit Champignons zu verwechseln ist, treten Vergiftungserscheinungen durch das Amanutatoxin erst nach zehn Stunden auf. Deshalb kommt fast jede Therapie zu spät. Wir haben seinen Magen gespült, gaben ihm Kupfersul fat zum Erbrechen, Bittersalz, um den Stuhlgang zu 35
beschleunigen, sowie ein Herz- und Kreislauf stär kendes Mittel." „Welches?" „Luminal. Merkwürdigerweise ist auch ein Mus carin-Syndrom aufgetaucht, was auf eine Vergif tung mit Fliegenpilzen hindeutet." „Dann war es Mord", bemerkte einer der Agen ten. „Ein Pilzgift im Essen, das mag noch Zufall sein, aber zwei verschiedene Pilzgifte, das war Absicht." Der Arzt stieß die Hände in seinen weißen Mantel. „Woher kommt Ihr Kollege?" „Aus Tunesien." „In Nordafrika werden Pilze in der Küche so selten verwendet wie Schlangenaugen in der fran zösischen oder Alligatorensteak in der skandinavi schen Küche." Die Agenten dankten dem Doktor. „Wir melden den Vorfall dem Staatsanwalt." „Eine Obduktion wird nichts anderes ergeben, als ich diagnostizierte", befürchtete der Arzt. „Aber wir müssen sichergehen." Die Agenten fuhren ins Hauptquartier zurück. „Verdammt und zugenäht", sagte der neben dem Fahrer. „Wir haben ihn gewarnt, und er konnte aus Libyen entkommen. Er dachte schon, in der Reise gruppe wäre er sicher wie in Abrahams Schoß. Hat der libysche LSS also doch noch zugeschlagen." „Das wäre Fall Nummer drei." „Schlage vor", sagte der andere Agent, „wir setzen uns mit dem Mann in Verbindung, der Fall eins und zwei bearbeitet." Die Uhr am Armaturenbrett zeigte an, daß der neue Tag eine halbe Stunde alt war. 36
„In München drüben ist es jetzt Frühstückszeit." „Dann kriegen wir Urban", hoffte der andere Agent.
Mitunter kam man via Satellit von den USA nach München schneller durch als über Draht in einen Vorort von Philadelphia. So war es auch heute. „Hallo, Dynamit!" rief der CIA-Agent Major Creequer, als er Urban so störungsfrei, als säßen sie sich gegenüber, am Apparat hatte. „Du erlaubst, daß ich weiterfrühstücke", sagte Urban. „Suchst du einen Job? Wird die CIA nach der Wahl mal wieder verkleinert oder gar aufge löst?" „Auflösung droht uns gewiß", erwiderte der Major, „wenn wir nicht bald dahinterkommen, was dieser bescheuerte Libyer wieder vorhat."
Der BND-Agent Nr. 18 erkannte gleich die Richtung. „Habt ihr auch Probleme mit Leiharbeitern?"
Der Amerikaner stieg sofort darauf ein. „Ihr vermißt zwei Wissenschaftler in Libyen. Stimmt's?" „Und ihr einen Experten der Bohrmannschaft von Gulf-Oil, wie man hört." „Was hört man noch?" fragte Major Creequer. „Daß er den libyschen Greifkommandos auf algerisches Gebiet entwischte." Nun weihte der Amerikaner den BND-Kollegen ein, denn er wollte etwas von ihm. „ Unser Mann ist tot", berichtete er. „ Zwar 37
erreichte er noch Washington, starb aber kurz danach an einer Pilzvergiftung." „Ja, sie wählen neuerdings subtilere Mittel. Sie schießen nicht mehr Löcher in Köpfe, sondern streuen giftige Gewürze auf Hammelkoteletts." „Muß man das etwa hinnehmen?" „Wir müssen es auch hinnehmen, daß er zwei unserer Leute verschwinden ließ. Was willst du tun, Creequer?" „Was tust du, Bob?" fragte der Amerikaner. „Zumindest habe ich eine Spur aufgenommen", eröffnete Urban ihm. „Inzwischen weiß ich, wer der Jobvermittler ist und daß es noch einen dritten Deutschen gibt, der sich vom Geld des Libyers blenden ließ. Nur konnte er nicht pünktlich in Tripolis antreten, weil er erkrankte. Nun ist er unterwegs, und ich versuche, ihn vor dem Höllentor abzufangen. Deshalb bin ich ein wenig in Eile." Der Amerikaner bat Urban um Informationen, sobald er Näheres über Gaddafis Pläne wisse. „Da läuft doch was. Er hat etwas vor. Wem schiebt er diesmal die Kiste mit faulen Eiern unter den Hintern?" „Euer Mann wußte es nicht?" erkundigte Urban sich. „Wie sollte er? Er ist Fachgeologe für die Ausbrei tung von Schockwellen im Erdreich." „Geologen bringt man gewöhnlich nicht mit Pilzgift um", bemerkte Urban. „Er wollte abhauen." „Mal ganz ehrlich", bat Urban. „Betrieb er neben seiner Geologie nicht auch Spionagetätigkeit für euch?" Der Amerikaner räumte ein, daß es so sei. Wegen 38
des Verdachts, daß Gaddafi in den USA etwas plane, hatte man den Mann eingeschleust. „War er vielleicht auch ein Mitglied der Geheim loge Al Burkan, die sich aus Exillibyern rekrutiert, die Gaddafi unterstützen wollen?" „Wie kommst du darauf?" tat der Major erstaunt. „Wie kam Gaddafis Geheimdienst darauf, sollte deine Frage lauten." Der Amerikaner wollte zur Sache kommen. „Deine Regierung bemüht sich um eine gewisse Neutralität im Verhältnis zu Libyen. Ihr kauft ihnen ja auch eine Menge Öl ab. Die Bundesrepu blik gehört nicht zu den Nationen, die der Oberst aufs Korn genommen hat. Wir hingegen schon. Wir fürchten irgendeine Riesensauerei. Zum Glück hat er keine Atombombe, sonst würde er sie auf das Weiße Haus werfen. Aber es gibt andere Möglich keiten. Da wir Freunde und Verbündete sind, hoffe ich, daß du mich unterrichtest." „Zumindest mein Chef deinen Chef", erklärte Urban, „denn ich habe dringend in Südfrankreich zu tun." Das Gespräch mit München war für die Sachbe arbeiter der CIA eher unbefriedigend verlaufen. „Woher weiß dieser Bastard Urban, daß unser Mann der Geheimloge Al Burkan angehörte?" Der Assistent des Majors äußerte: „Er hat es frei behauptet, und du bist darauf hereingefallen." „Ja, er ist ein Bastard", sagte Creequer, „aber ein hochbegabter."
39
5.
Durch die Altstadt von Kairo eilte ein Mann, der sich in Körpergröße, Hautfarbe, Augen und Haar kaum von einem Ägypter unterschied. Auch der weiße, leicht angeschmutzte Leinenanzug paßte durchaus in die engen Gassen des El-Musk-Viertels. Immer wieder drehte sich der etwa fünfunddrei ßig Jahre alte Mann um. Einmal beschleunigte er seine Gangart, dann wieder suchte er im halbdunk len Laden eines Basarhändlers Deckung und war tete. Er fühlte sich verfolgt. Als er sicher zu sein glaubte, daß der Beschatter ihn aus den Augen verloren hatte, wagte er sich aus der Werkstätte des Kupferschmieds und strebte dem Osteingang zu, der zum Abakia-Park führte. Links davon war das Opernhaus, dann schlössen sich Regierungsbüros an. - Dorthin wollte er. Obwohl nicht in Kairo geboren, kannte der Mann sich im Gassengewirr des El Musk, in den Gängen, den Zwischen- und Hinterhöfen, gut aus. Er kannte versteckte Treppen, schulterschmale Durchlässe, Nischen, Winkel, alle Ein- und Ausgänge in diesem Labyrinth. Nun verließ er die Gasse der Kupferund Messingschmiede, kam durch die Gänge, in denen es nach gegerbtem Leder duftete, zu jenen, wo die reichen Juweliere ihren Schmuck aus Gold und Edelsteinen anboten. Er schaute sich um. Die Luft war rein. Er kaufte eine Tüte Pistazien, kaute die Samen und verschwand zwischen einem Limonadenver käufer und einem Träger mit einem Berg von Seidenballen auf dem Buckel links in einem der 40
Häuser. Er wußte, daß man durch den Innenhof den Basar verlassen konnte. Der Korridor war schmal und düster, bog nach rechts ab, dann kam eine Treppe. — Durch ein Mauerviereck fiel Licht. Dann wurde es wieder dunkel. In diesem Moment lief der Mann auf etwas auf. Es war keine Mauer, dazu war es viel zu weich. Eher der Körper eines Menschen. Frauen dufteten hier nach Zimt und Vanille, Männer nach Tabak, Kaffee oder Schweiß. In Nabelhöhe des Gegners glaubte der Mann eine stahlartige Erhebung zu spüren. Blitzschnell wurde ihm klar, daß es sich um den Lauf einer Waffe handelte. „Jetzt haben wir dich, Dschahur", sagte der Gegner im Dunkeln. Dschahur überlegte so präzise und schnell, wie er konnte. Wie würde der andere reagieren. — Sie wollten ihn lebend, also würde er nicht schießen. Vielleicht schoß er, dann aber nur, um ihn so zu lahmen, daß er ihn aus dem Basar heraus in ein Auto bekam und mit dem Auto über die Grenze. Sie waren beide ausgebildete Agenten, trainiert in der harten Schule des libyschen Geheimdienstes. Aber Dschahur glaubte, daß er der bessere Mann sei. „Du hast gewonnen", sagte Dschahur, um Zeit zu schinden. Er hob die Hände. Daß er mit der Rechten sein Tibbu-Messer aus dem Hosenbund gezogen hatte, konnte der andere nicht erkennen. - Blitzschnell warf Dschahur sich nach links. Der Gang war schmal, aber doch ausreichend 41
breit, daß der Schuß aus der Pistole nicht traf. Zwischen der ersten und der zweiten Kugel stach er zu. Genau dahin, wo das Herz des Gegners saß. Das Messer hatte Mühe, durch die Rippen zu dringen, aber es war eine Tibbu-Klinge, schmal und zweischneidig, und sie schaffte es. Ehe er noch einmal durchgezogen hatte, begann der LSS-Mann zu tönen, als gurgle er mit einem Mittel gegen Halsentzündung. Dann taumelte er und sackte zusammen. Dschahur stieg über ihn hinweg und rannte wie gehetzt davon. Er mäßigte sein Tempo erst zu normaler Gangart, als er draußen in der Sonne war und die Abd-el-Aziz-Straße überquerte.
Durch den Hintereingang betrat er das ägyptische Innenministerium. Dort kannte man ihn. Zwei Stockwerke höher stand er vor dem Staats sekretär, der die Aufsicht über diverse Exilanten gruppen führte. „Setzen Sie sich, Bruder", sagte der Ägypter, leutselig wie alle dicken Glatzköpfe. „Tee, Kaffee, eine Zigarre?" Der Libyer winkte ab. „Sie sind hinter mir her," „Sie sind hinter allen Al-Burkan-Leuten her. In Europa, in Nordafrika, in Arabien, im Libanon." Der Ex-Captain des libyschen Geheimdienstes wählte Tee und Gebäck. „Der King plant etwas", begann der Libyer. „Er besteht nur noch aus Mißtrauen, seitdem sie 42
seinen Blutsbruder Ramu entführten", ergänzte der Ägypter. „Er wird Ramu befreien. Etwas anderes hat er nicht im Sinn. Es beschäftigt ihn Tag und Nacht." „Was durchaus ehrenhaft ist." „Und nützlich." „Nützlich? Inwiefern?" erkundigte der Ägypter sich. „Auf diese Weise können wir ihn auflaufen lassen." Der Ägypter wippte mit seinem Sessel und grinste feist. „Wie, bitte, verstehe ich das?" fragte er. Der Libyer beugte sich vor und senkte die Stimme auf konspirative Lautstärke. „Die Israelis haben seinen Blutsbruder. Wir spielten Ramu dem Mossad zu. Er wird ihn befreien wollen. Befreiung ist ohne Einsatz von Waffen nicht möglich. Einsatz von Waffen bedeutet Krieg, und Krieg ist die Krise, die den King stürzen wird." „Dein Wort in Allahs Ohr", äußerte der Regie rungsbeamte. „Und was können wir dazu bei tragen?" Der Libyer wußte, daß die Ägypter den unbere chenbaren Nachbarn gern losgeworden wären. Ihr Frieden mit Libyen stand stets auf des Messers Schneide. „Wir müssen ihm Zunder geben", riet der Libyer, „damit er seinen Plan beschleunigt." „Ramu zu befreien." „Oder ihn zu rächen." „Und wie", fragte der Ägypter, „stellt die Firma Al Burkan sich das vor, bitte?" Daß der Ägypter die Geheimloge eine Firma 43
nannte, mißfiel dem Libyer aufs äußerste. Aber was sollte er anderes tun, als den Hohn hinnehmen. Sie brauchten Verbündete im Kampf gegen Gaddafi. Abrechnen konnte man später. Also lächelte er, was immer ein Zeichen von Klugheit und Diplomatie war. „Wir werden gezielte Informationen durchsik kern lassen", schlug er vor. „Über seinen Vetter Ramu." „Und sie entsprechend frisieren." „Genügt nicht schon die Wahrheit?" gab der Ägypter zu bedenken. Dazu setzte er seine Brille auf, als gelte es, den Besucher zu belehren. „Was ist die Wahrheit?" Der Ägypter las Akten in Umschlägen mit Ge heimstreifen. „Sie haben Ramu in ein Lager im Sinai gebracht. Es ist ein Palästinenserlager, verfügt aber über sogenannte Hochsicherheitsbereiche. Also beson ders streng bewachte Lager im Lager." „Lebt er noch?" fragte der Libyer.
„Vermutlich." „Angenommen, er wäre tot." „Mit Annahmen gibt der King sich nicht zu frieden." „Aber würde das seinen Rachedurst nicht ins Unermeßliche steigern?" Der Ägypter hob die Hände und besänftigte mit einer Bewegung, die er dem Dirigenten eines Symphonieorchesters abgeschaut hatte, den Eifer seines Besuchers. „Man muß das stufenweise steigern." „Anheizen." „Richtig." 44
„Und was schlagen Sie vor, Exzellenz?" Der Libyer gab dem Beamten einen Rang, den er noch gar nicht hatte. Das war dort ebenso üblich wie in Österreich, wo man einen Mann, den man achtete, Herrn Baron titulierte. Der Ägypter schwitzte. Die Klimaanlage war ausgefallen. Es handelte sich dabei nur um eine Kleinigkeit, aber es war ein amerikanisches Modell, und das Land hatte nicht einmal genug Devisen für Ersatzthermostate übrig. „Lassen Sie", riet der Ägypter, „Ihrer Fantasie freien Lauf, Dschahur. Wir schleusen es dann schon in die richtigen Kanäle." Der Libyer dachte nicht erst lange nach. „Fast so schlimm wie der Tod seines besten Freundes ist die Nachricht, daß er gefoltert wird." „Schön, dann wird Ramu also in israelischen Folterkellern zu Tode gequält." „Das macht den King mürbe." Nun war es der Ägypter, der eine Rechnung aufmachte. „Und was haben wir davon?" Der Exil-Libyer, der Aussicht hatte, nach dem Sturz des Staatschefs in Tripolis ein Ministeramt zu besetzen, sagte; „Es wird Ihr Schaden nicht sein, Bruder." „Und wie hoch beziffert sich das?" „Libyen ist ein reiches Land", erinnerte Ali Dschahur. „Ägypten ist übervölkert und schiebt einen hohen Schuldenberg vor sich her. Unseren Freunden gegenüber werden wir uns ewig dankbar erweisen." Der Ägypter stand auf und reichte seinem Besu cher die Hand. Sie war weich wie die eines Babys. 45
„Wir tragen unseren Teil bei. Tun Sie den Ihren. Und was den Toten im Basar betrifft, das wird besorgt. Unter anderem." „Unter anderem", wiederholte der Exil-Libyer. Sie hatten sich verstanden. Es war unnötig, noch einmal Einzelheiten aufzuzählen. Wie er gekommen war, verließ er das Ministe rium. Draußen herrschte Gluthitze. Ein Herbsttag in Kairo war wie ein Sommertag in Paris. 6. Seit Tagen regnete es in Marseiile. Die Stadt kühlte aus. Nicht in allen Häusern gab es Heizungen. Die Menschen froren. Der BND-Agent Robert Urban, an bayrische Wetterverhältnisse gewöhnt, holte den gefütterten Burberrys aus dem BMW. Für ihn galt das englische Sprichwort: Es gibt kein schlechtes Wetter, es gibt nur unzureichende Kleidung. Schon im Begriff, die rechte Tür seines Trommel feuer-Coupés abzuschließen, drehte er den Schlüs sel noch einmal nach der anderen Seite, beugte sich hinein und nahm die Fotografie aus dem Hand schuhfach. Sie stammte aus den Akten des Jobvermittlers, der die Verträge der drei Deutschen mit Libyen ausgehandelt hatte. Das Foto zeigte einen blonden Mann mit längli chem Gesicht, klarem Blick, hellen Augen und Energie in den Zügen. Es hätte gut auf ein Plakat zur Anwerbung von Matrosen gepaßt. So würde
jeder Maler einen Friesen darstellen. - Hinten auf dem Foto klebte ein Notizzettel mit Maschinen schrift: Hank Monro, geb. 1959 in Aurich. Kapitän (Große Fahrt), Zusatzpatente Funk/Masch. Reservedienst grad Oberleutnant z. See. Unverheiratet. Mit dem Foto betrat Urban das Hotel Montgol fiere. Parfümierte Wärme, die nach Staub roch, schlug ihm entgegen. Offenbar waren die Radiatoren nach langer Sommerpause zum erstenmal wieder ange heizt worden. An der Rezeption war erst niemand. Dann tauchte ein roter Schöpf auf. Eine Hotelsekretärin mit Brille, Urban zeigte ihr das Foto. Sie kannte den Mann. „Monsieur Monro aus Aurich." Sie sprach es französisch aus. Es klang wie Oriesche. „Polizei?" fragte die Rothaarige besorgt. „Nein, aber ich kann sie mitbringen, falls Sie es wünschen." „O non, Monsieur!" Sie blätterte in einem großen Buch. Dies aber nur pro forma. Kaum war sie fündig geworden, blin zelte sie über den Brillenrand. „Monsieur Monro wohnte hier. Qui, zwei Tage." „Und wo ist er jetzt?" Sie blickte auf die Uhr. „Weggefahren. Vor einer Stunde ungefähr. Oder weniger. Ich rief ein Taxi." „Abgereist?" „Samt Koffer." 47
Mist, dachte Urban. Er hatte sich, so gut er konnte, beeilt, aber es hatte einfach Zeit gekostet. Über die Nachforschungen nach den in Libyen festgehaltenen Fachleuten, den Elektroniker und den Chemiker, war er auf den Jobvermittler in Stuttgart gestoßen. Der hatte sich erst geziert, als hatte er verbotene Waffengeschäfte mit einem Land in einem Spannungsgebiet abgeschlossen. Schließ lich war er damit herausgerückt, daß er einen dritten Mann nach Tripolis verkauft hatte. Kapitän Hank Monro. Monro war aber von einem Malariaanfall - oder waren es die Nachwirkungen einer Gelbsucht daran gehindert worden, pünktlich in Tripolis zur Arbeit anzutreten. In der Hoffnung, das würde Monro das Leben retten und ihm eine Spur liefern, hatte Urban sich an seine Fersen geheftet. - In Aurich hatte er von Monros Arzt und Monros Freundin erfahren, wann der Kapitän abgereist war und wohin. Die Sucherei in den Hotels hatte Urban einen halben Tag gekostet. - Und jetzt kam er um eine Stunde zu spät. „Taxi wohin?" fragte Urban. „Wissen Sie das zufällig?" „Zufällig schon." Beim Lächeln wurde die Rothaarige hübscher, weil das Bittere um ihren Mund verschwand. „Ich hatte noch seinen Paß. Er verlangte ihn und sagte, daß er ohne ihn im Hafen nicht durch die Zollkontrolle komme." Urban setzte zusammen: Hafen, Kapitän, ein Schiff nach Libyen. - Klar. „Merci", sagte er und eilte durch den Regen zu seinem stahlblauen Coupe. 48
Es regnete noch stärker als vorher. Also bestand die Hoffnung, daß es sich um den Rand der Wolke handelte und daß er bald aufhörte.
Urban fuhr die Rue Paradis hinunter, um den alten Hafen, der mit Segelbooten vollgeschlichtet war wie eine Schachtel mit Streichhölzern, und bog nach rechts in die Rue Dunkerque. Sie führte an Mauern mit Arkaden und eisernen Toren entlang, die den Hafen zur Stadtseite hin abschlössen. Bei der Haupteinfahrt stoppte er, stieg aus und zeigte dem Beamten an der Sperre das Foto. „Haben Sie diesen Mann gesehen?" „Möglich." „Er hat einen deutschen Paß. Grün." „Dann kam er durch. Kann eine Stunde her sein." Urban zeigte ebenfalls seinen Paß. „Sparen Sie sich die Mühe", rief der zweite Zollbeamte, der seinem Kollegen über die Schulter geblickt hatte. „Eben kam er wieder heraus." „Wann eben?" „Eben ist bei mir ungefähr vor einer Zigaretten länge." Urban geriet in einen Gefühlszustand von Wut und Enttäuschung. „Sind Sie sicher?" „Es war ein Privatfahrzeug. Renault, glaube ich." „Und Sie haben ihn deutlich gesehen?" Nun zögerte der Beamte. „ . . . aber mit Sicherheit seinen Paß. Der gleiche wie der Ihre. Vielleicht etwas abgegriffener." 49
„An seine Kleidung erinnern Sie sich nicht?" „Bedaure, Monsieur." Da stand für Urban fest, daß der Zöllner zwar den Paß gesehen, den Wagen aber durchgewinkt hatte. Schließlich regnete es, und keiner verließ gern das schützende Vordach seiner Wachstube. Monro fuhr also erst hinein, dann wieder hinaus. Mit dem Taxi zu den Piers, mit einem Privatwagen wieder in Richtung Stadt. „Liegt ein Libyer im Hafen?" „Ja, die El Gatrun." „Wann geht sie in See?" Einer der Beamten telefonierte. „Hat schon ausklariert", übermittelte er. „Sie sind eben damit fertig. Sie warten nur noch auf den Lotsen." Urban hatte es jetzt eilig. Den BMW ließ er stehen. Er fragte nur, in welchem Becken der Libyer lag, „Bassin National. Keine hundert Meter, Mon sieur." Urban rannte los. Daß Kapitän Monro den Hafen wieder verlassen hatte, hielt er für eine Finte, um damit eventuelle Nachforschungen zu erschweren. Gewiß war er an Bord des Frachters oder wurde an Bord gebracht, sobald der Zoll den Stempel gesetzt und der Hafenkapitän die Erlaubnis zum Auslaufen gege ben hatte. Kurz bevor sie die Leinen lösten und die Gangway hochzogen, würden sie den Fremdarbei ter an Bord nehmen. Urban hoffte, daß es so sei und daß er Glück hätte. Er rannte über das Kopfsteinpflaster, über die 50
Schienen und wich einem Traktor aus, der auf einem Tieflader einen Container schleppte. Schon sah er zwischen den Gitterstreben der Krane das weiße, mennigfleckige Heck eines dickarschigen Frachters. Es ragte noch heraus, hatte also wenig geladen. Der Name stand zweimal da. El Gatrun — einmal in lateinischen und darunter in arabischen Lettern. Die Gangway hing noch herunter. Ein Schiffsof fizier begleitete einen Zollbeamten im naßglänzen den, schwarzen Lederolmantel zum Kai. Der Zöll ner hatte eine Mappe unter dem Arm und bestieg sein Fahrrad. Das Ohr am Sprechfunkgerät, warteten die Lei nenposten bei den Pollern auf den Befehl, die Trossen ins Wasser zu werfen. Da sah Urban eine Frau in einem dunkelblauen Kostüm, wie es Schiffsstewardessen trugen. Sie war hinter dem Schiffsoffizier und dem Zöllner von Bord gegangen. Sie schaute sich um und schien zu warten, bis der Beamte weggeradelt war. Nun eilte sie auf einen der Schuppen zu. Die Lagerhalle mit Blechdach hatte ungefähr alle zwanzig Meter ein Schiebetor. Das mittlere ver suchte die zierliche Frau zu Öffnen. Urban sprang in Deckung und riß ebenfalls eines der Tore auf. Wenn es keine Zwischenmauer gab, stieß er drinnen mit der Stewardeß zusammen. Die Halle hatte eine Zwischenmauer. Bei Tor C lagerten Stapel von Kartons, Wein, in Flaschen gefüllt. Urban kletterte auf einen der Stapel und schwang sich unter dem Dach, wo die Rohrleitun gen liefen, durch den Mauerspalt nach drüben. 51
Überall brannte nur Notlicht. Hinter Tor D lagerte Stückgut. Urban sprang von der Mauer auf eine hohe Kiste, dann auf eine kleinere und war unten. - Wieder eine Zwischenmauer. Aber sie hatte eine Tür. Er hörte Stimmen und sah den Kegel einer Lampe. „Monsieur Monro!" rief die Stewardeß. „Hier." „Die Luft ist rein." Urban wußte nicht, was sie Monro erzählt hatten. Jedenfalls hatte der Kapitän das Spiel mitgespielt und sich bis zum letzten Moment versteckt ge halten. So war es immer. Wenn man für die gleiche Arbeit in einem anderen Land den fünf- bis zehnfachen Lohn bekam, dann stellte man die Frage, ob etwas faul daran sei, gar nicht. Dann rechnete man damit, kassierte und hielt den Mund. In einem schmalen Gang zwischen Baumwonbal len bewegte sich etwas. Erst sah Urban den Schatten, dann den ganzen Körper. Er näherte sich ihm lautlos. Dabei umging er die Quelle des Lichts, um hinter die Stewardeß zu gelangen. Es glückte ihm nur durch einen Sprung auf den nächsten Baumwollballen und wieder herunter, „Das Ganze, halt!" rief Urban. „Hände hoch, keine Bewegung!" Der Lampenkegel beschrieb einen Kreis. Doch ehe er ihn beleuchtete, packte Urban die Hand des Mädchens, entwand ihr die Lampe und leuchtete sie an. „Was soll das?" rief Monro, ihr beistehend. „Das frage ich mich auch", sagte Urban. Ein hübsches Mädchen, auch in ihrem Zorn. 52
Gebräuntes Gesicht mit einem Schimmer mattoliv, die schönsten Mandelaugen, die man sich vorstellen konnte, von Make-up umrahmt, die rosenroten Lippen an den Rändern von Konturenstift gezeich net, das Haar fast dunkelblau, straff nach hinten gekämmt, darauf schräg das Stewardessenkäppi. An der Brusttasche der Jacke prangte der Schiffs name in Gold gestickt. Links hielt Urban die Lampe, mit rechts das Handgelenk der Frau, die sich freizuwinden ver suchte. Sie riß an seinem Griff und trat gegen ihn. Sie holte mit dem freien Arm aus, landete eine Handkante, aber nicht dort, wo sie Wirkung zeigte. Und dann zog sie ihm mit den Fingernägeln vier Striemen über den Hals. Bei dem Zweikampf bewegte sich das Licht auch auf Urban. „Sie sind das?" zischte sie verblüfft.
„Kenne ich Sie, Madame?" „Das werden Sie bald." Einhändig wurde er mit ihr nicht fertig. Nach einem Sidestep umfaßte er sie von hinten mit den Armen. Sie befand sich jetzt in einer Art Zwangs jacke. „Hauen Sie ab, Monro", rief Urban, „ehe Verstär kung kommt!" „Ich verstehe überhaupt nichts", äußerte der Friese, „Dann müssen Sie bescheuert sein, Mann. Zwei Ihrer Vorgänger sind verschwunden, der dritte tot. Eben fuhr einer mit Ihrem Paß in die Stadt, um Ihre Spur zu verwischen. Hauen Sie ab. Wir treffen uns am Tor."
„Kann ich Ihnen helfen?" 53
„Nein, aber wenn Sie einen Tampen finden, mit dem wir dieses wildgewordene Frauenzimmer bän digen können, lehne ich das nicht ab." Monro suchte herum und brachte einen Sisalsack. Den stülpten sie der libyschen Stewardeß über den Kopf. Der Sack war lang und reichte bis zu den Füßen. Unten knoteten sie die Sackzipfel zu und dachten, daß es damit geschafft wäre. Im selben Moment fiel der Schuß, Die Libyerin hatte ihre Waffe aus dem Rockbund gerissen und durch den Sack gefeuert. Sie schoß wieder und dann noch einmal. Das Tor war offen. Man würde es bis zum Frachter hören und ihr zu Hilfe eilen. „Nichts wie weg!" schrie Urban.
Urban brachte Kapitän Monro nach Lyon.
Unterwegs erzählte Urban ihm, wie er ihn gefun
den hatte, und Monro berichtete, was er wußte.
„Ich sollte einen Frachter übernehmen."
„Und die Höhe des Gehaltes wunderte Sie nicht?"
„Nun, Sonderaufträge werden hoher bezahlt.
Gefahrenzulage heißt das,"
„Worin bestand der Sonderauftrag?"
Der junge, von der Gelbsucht noch gezeichnete
Kapitän zögerte.
„Da kann ich wirklich nur raten", gestand er. „Die Libyer scheinen ein Problem zu haben. Einer ihrer führenden Männer sitzt irgendwo im Ausland im Gefängnis. Er soll befreit werden." „Wie?'' Urban hob die Brauen. „Mit einem Schiff?" 54
„Irgendwie hat mein Kommando damit zu tun", mutmaßte Monro. „Und ich war froh, den Posten zu kriegen. Durch die Hepatitis verlor ich letztes Jahr meinen Job. Man bot mir eine Stellung als Zweiter Offizier an. Aber wer fährt schon gern als Zweiter, wenn er schon ein eigenes Schiff hatte." „Wenn obendrein ein Superluxus-Tarif winkt." „Ich wußte ja, daß da etwas stinkt." Die Fahrt auf der Autoroute nach Norden dauerte mehrere Stunden. Sie redeten viel. Urban hakte sich in die feinste Öse ein.
„Fielen auch Namen?" „Kaum." „Wie heißt das Mädchen?" „Mura, glaube ich." „Agentin?" „Mir kam es so vor, als sei sie mehr als das. Die anderen folgten ihr aufs Wort."
„Welche anderen?" „Wir trafen uns gestern in einer Bar. Sie kam mit Begleitung. Zwei Typen. Ein Fahrer und ein Leib wächter. Sie ist zweifellos der Boß." Urban stellte immerzu Fragen. Oft führte von hundert Antworten nur eine einzige weiter. „Wo liegt Ihr Schiff, Kapitän?" „Vielleicht in Tripolis. Dorthin geht die El Gatrun." „Haben Sie den Eindruck, daß es sich um eine Operation größeren Stils handelt?" „Ja, ganz oberste Etage." „Woraus schließen Sie das?" „Der Name King fiel mehrmals. So nennen sie Gaddafi intern." Bei Urban entstand ein Kurzschluß. — In Libyen 55
hatte es eine Entführung gegeben. Der Geheim dienstchef war auf rätselhafte Weise verschwun den. Das lag schon einige Zeit zurück. Aber Allahs Mühlen mahlten ohnehin langsamer als solche mit Turbinenantrieb. Möglicherweise plante Gaddafi etwas in dieser Richtung. „Fiel dabei irgendein Codebegriff?" „Mit mir sprach das Mädchen englisch. Mit ihren Leuten arabisch." „Eine Abkürzung wie CIA, FBI oder Interpol vielleicht?" Monro schüttelte den Kopf. „ .. . oder Mossad", fügte Urban noch hinzu. „Wie war das?" „M-o-s-s-a-d" „Mossad, das könnte sein." „Mossad ist der israelische Geheimdienst." Der Friese schüttelte sich wie nach einem Glas hochprozentigem Rum. „Mein Gott, wo bin ich da hingeraten. Wie komme ich da wieder raus?" „Wie Sie hineinkamen." „Und das Handgeld?" „Nehmen Sie es für den Schreck in Marseiile. Verwenden Sie es, um ein paar Wochen wegzutau chen." „Ohne Paß?" „In Lyon", riet Urban, „steigen Sie in den Expreß nach Paris. Ich veranlasse, daß man Ihnen bei der Botschaft einen neuen Paß ausfertigt." „Sie fahren nicht nach Paris?" „Ich habe noch in Genf zu tun", erklärte Urban kurz. 56
„Warum nehmen Sie mich nicht mit in die Schweiz?" „Wie denn, ohne Papiere. Im Kofferraum etwa? Sie haben offenbar Tonfilmvorstellungen von Agentenarbeit. — Außerdem befördern wir in Kof ferräumen nur Leichen", setzte Urban ironisch hinzu. Urban setzte Monro am Bahnhof von Lyon ab. Kurz nach Mitternacht ging noch ein Zug. Monro bedankte sich bei Urban und sagte: „Schon komisch. Erst passiert ein halbes Leben lang gar nichts . . . " Urban klopfte ihm auf die Schulter. „Bis es dann doch passiert", bemerkte er und ging. In Lyon regnete es wieder.
Sie trafen sich in der Kajüte eines Segelbootes in einem Yachthafen am Lac Léman. Das Boot gehörte dem BND-Residenten von Genf. Der Mann, den Urban erwartete, war ein israelischer Major und Geheimagent. Selbst in der neutralen Schweiz zogen die Leute des Mossad es vor, sich an Land wie Maulwürfe und im Wasser wie Tiefseefische zu benehmen. Sie kamen ungern an die Oberfläche. Urban sah ihn durch das Bulleye den Anleger entlangmarschieren. Trotz Angelzeug links und Kescher rechts sah er aus wie ein Guerilla-Offizier, der mit durchgedrücktem Kreuz heil aus allen Kämpfen hervorgegangen war. 57
Der Mossad-Mann blieb stehen und schaute sich um. Urban trat aus der Seglerkajüte. Sie grüßten sich, begannen ein Schwätzchen, wie es Männer tun, die sich zufällig begegnen. „Fischen Sie zum Zeitvertreib?" fragte Urban. „Sport. Nur Sport. Essen kann man das vergiftete Grobzeug ja nicht mehr." „Ob sie heute anbeißen?" „Weiß nicht. Zu kalt, zu windig. Mal sehen." „Einen Schluck Rum?" „Gern", sagte der Angler. „Kommen Sie an Bord. Aber ziehen Sie die Gummilatschen aus. Mein Holzdeck mag das nicht." Der Angler legte das Gerät nieder, streifte die Gummischuhe ab und kam in Socken an Bord. Urban stand mit einer Flasche und zwei Gläsern im Niedergang. Man wußte nie, ob man beobachtet wurde. Die nächsten mehrstöckigen Häuser waren nur wenige hundert Meter entfernt, und es gab scharfe Ferngläser. Erst in der Kajüte, als die Tür geschlossen und das Radio spielte, ließen sie die Masken fallen. „Oberst Urban." „Major Kronstein." Als der Israeli sich setzte, wußte Urban, warum er so bolzengerade mit durchgedrücktem Kreuz ging. Er trug ein Stützkorsett. Offenbar einer Rückgrat verletzung wegen. Nach zwei Drinks kamen sie zur Sache. Urban berichtete von den letzten achtundvierzig Stunden. „Es geht mich nichts an", endete er, „aber 58
Gaddafi schmiedet wohl an einem Racheplan. Diese Erkenntnis will ich Ihnen nicht vorenthalten, Major." Der Israeli peilte über das Glas hinweg. „Ihnen eilt ein gewisser Ruf voraus, Commander. Sie liefern keine Informationen für nichts." „Erraten. Was können Sie bieten?" „Was hätten Sie denn gern?" „Hat Mossad den libyschen G-Chef wirklich entführt?" „Sie meinen Ramu aus dem Gaddafi-Stamm", erklärte der Israeli. „Blutsbruder des Staatschefs, Oberst Umar Gaddafi. Ja, wir haben ihn. Er heckte eine Riesenschweinerei aus. Ein Kommandounter nehmen vom Sinai her gegen unser Atomkraftwerk Dimona." „Atombombenfabrik", verbesserte Urban. „Um sie zu zerstören oder sich eine Bombe zu beschaffen. Aber es ist nicht der erste Versuch dieser Art und wird nicht der letzte sein. Wir sind drauf vorbereitet. Wir entführten ihn von der Yacht eines Amerikaners in der Syrte und machten damit das Vorhaben schon im Ansatz zunichte. Ist das legitim für ein Volk wie das israelische, das seit dem Tag seiner Staatsgründung gegen die gesamte arabische Welt kämpfen muß?" „Absolut legitim", erklärte Urban. „Ebenso legi tim wie Gaddafis Rache." Major Kronstein war Realist. „Damit muß man rechnen." „Er scheint bereits Rache geschworen zu haben." „Wir sind stark", äußerte der Major. „Aber", gab Urban zu bedenken, „so was schau kelt sich gern auf." 59
„Dann schlagen wir ihnen die Köpfe ein." „Allen einundzwanzig Staaten, die Sie gegen sich haben?" „Sie sind sich nicht einig." „Gaddafi bann sie einigen." „Wir sind trotzdem überlegen." Urban hob die Rechte und meldete Zweifel an. „Nicht mehr so wie damals im Sechstagekrieg, im Jom-Kipur-Krieg. Die anderen haben nachgerüstet, hochgerüstet. Sie besitzen Flugzeuge, Panzer, Raketen, modernste Abwehrelektronik, gedrillte Armeen, neue Strategien und ungeheuer viel Geld." Der Major lachte. „Wollen Sie mir angst machen?" Urban blickte ihn lange an, dann nickte er. „Ja, das versuche ich, sonst kriegen nämlich wir es mit der Angst zu tun. Besser ein anderer hat sie. Sturheit kann Kriege auslösen. Und so ein Krieg bleibt nicht auf Nahost beschränkt." Der Israeli war nicht der Mann, der von einem Außenstehenden, auch wenn er ihn als Experte schätzte, Rat einholte. Trotzdem fragte er, wohl auch um die Meinung der NATO zu erkunden: „Was schlagen Sie uns vor?" „Anders käme es billiger." „Wie anders?" „Ich meine die Freilassung von Ramu, statt eines . . . statt einer zumindest bösen kriegerischen Auseinandersetzung." „Wir fangen keinen Krieg an," „Angenommen, Gaddafi droht mit dem Abwurf einer Bombe auf die Knesseth." „Dann schießen wir den Bomber vorher ab." „Und wenn er durchkäme?" 60
„Erpressen lassen wir uns nicht." „Und für den Fall, daß doch etwas außer Kon trolle gerät, was bedeutet ein Mann gegen Tausende von Toten." „Und das Gesicht, das Image. Wir haben uns nie unter Druck setzen lassen." „Weiß ich", sagte Urban. „Es gibt Dinge, wenn man da nur einmal nachgibt, ist man zeitlebens verratzt." „Na bitte." Urban goß nach. Sie tranken. „Und es wäre trotzdem billiger", beharrte Urban. Der Israeli steckte sich eine Zigarette an und machte sich bereit zum Aufbruch. „Ich muß noch ein wenig angeln gehen." Urban begleitete ihn an Deck. „Es wäre trotzdem die billigere Lösung", warnte er noch einmal. Der Major blickte ihm fest in die Augen. „Und wenn Ramu, der Boß aller libyschen Spione, längst tot ist, was dann?" Urban verstärkte sein Grinsen. „Warum sind Sie dann gekommen, Major? Sie wußten, um was es gehen würde." „Es ist alles so schwierig geworden", antwortete der Mossad-Major. „Es ist entschieden ganz und gar zu lange her, daß alles mal schön einfach war." Er sprang zum Anleger, stieg in die Gummistiefel, nahm sein Angelzeug auf und marschierte mit durchgedrücktem Kreuz zur Mole.
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7.
'„Kaufen wir?" fragte der libysche LSS-Agent den aus Bengasi eingeflogenen Schiffbauexperten. „Wenn der Preis stimmt." „Was ist ein Preis, der stimmt?" Sie waren in die Bucht der sterbenden Schiffe hineingefahren, hatten den Friedhof aus eisernen Rümpfen abgegrast und waren bei dem Kombi frachter geblieben, dessen Silhouette der Goedekke des hanseatischen Lloyd stark glich. Sie waren mit dem Makler an Bord gegangen. Der Fachmann hatte den Zehntausendtonner von der Bilge bis zum Funkmast, vom Bug bis zur Ruderma schine überprüft. „Was ist ein Preis, der stimmt", wurde die Frage wiederholt. Der Experte legte sich noch nicht fest. „Ein paar Reisen muß der Diesel noch halten. Er hat immerhin siebzigtausend Betriebsstunden am Zähler. Das sind locker fünfzehn Jahre Dienstzeit." „Ist das viel?" „Nicht für einen guten MAN." „Ist er gut?"
„Das kann ich erst abhorchen, wenn er läuft." Aber ehe er lief, mußte man den Kolcher seeklar machen, und um ihn seeklar zu machen, mußte man ihn kaufen. Das war leider die Prozedur. „Und was ist ein angemessener Preis?" „Knapp über dem Schrottwert", schätzte der Experte. „Und der Schrottwert?" „Wird nach Gewicht ermittelt. Preis für Stahl 62
schrott, abzüglich Zerschneide- und Transportko sten." Der LSS-Mann verlor schon die Geduld, beherrschte sich aber wegen des anwesenden Grie chen. An den wandte er sich nun: „Jetzt mal Hosen runter. Was kostet das Schiff?" „Einskommazwei Millionen, Sir." „Was? Kaubonbons?" „Dollar." Forderungen von Maklern, speziell im levanti nischen Raum, waren stets um hundert Prozent überhöht. Diesen Leuten war jedes Geschäft, bei dem nicht geschachert wurde, zuwider. Sie einigten sich bei einem Drittel, bei vierhundert tausend. „Vorausgesetzt, der Eigner stimmt zu", schränkte der Makler ein. Bis zum Abend hatten sie das Okay. Der notarielle Akt wurde von ihrem schwulen griechischen Strohmann erledigt. Andropolos unterschrieb, bezahlte und ließ das Schiff auf seinen Namen neu registrieren. Einen Tag später zogen es Schlepper vom Schlick in die Tiefe. Kaum notdürftig schwimmfähig gemacht, ging auch schon die neue Besatzung an Bord. Sie kam aus Nordafrika und hatte exotische Pässe und Seefahrtsbücher. Eine abenteuerliche Mischung aus Libanesen, Ägyptern, Marokka nern, Tunesiern und Schwarzen von der Elfen beinküste. Tatsache war, daß sie alle Angehörige der liby schen Kriegsmarine waren. Nur ihr Kapitän war Zivilist. Für den ausgefalle 63
nen Deutschen Hank Monro hatte man nun einen Italiener angeheuert. Aber er sprach recht gut Deutsch.
Der wieder in Betrieb gesetzte Frachter, 1956 auf einer schottischen Werft als Kombischiff gebaut, erhielt vorübergehend einen britischen Namen. Man einigte sich auf Good Wind, was so viele Buchstaben wie Goedekke hatte und leicht überzu malen war. Wenige Stunden, nachdem der Leitende Inge nieur mit zwei Mechanikern an Bord gegangen war, lief das Aggregat für den Notstromgenerator. Der Diesel hatte jahrelang kaum Umdrehungen gemacht und war still vor sich hin gerostet. Sie hatten die Filter gereinigt, Treibstoff vollgepumpt, die Düsen gesäubert, die Kolben in den Zylindern mit Benzin entharzt und gängig gemacht und dann das Öl gewechselt. Der Motor wurde per Hand durchgedreht und sprang tatsächlich an. - Mit ihm liefen auch die Generatoren und speisten Strom in das Bordnetz. Zwar schlugen einige Sicherungen durch, und es gab Schmorstellen in den verrotteten Leitungen, doch auch das bekamen sie in den Griff. Gegen Mittag ratterten die mit Schmieröl versorg ten Winden los und zogen die Anker aus dem Schlick. Gleichzeitig liefen die Pumpen und drückten das Wasser aus den Bilgen, dem Wellentunnel und den Maschinenfundamenten. Die Pumpen vermochten das Schiff einigermaßen trocken zu halten. Demnach handelte es sich nur 64
um Wassereintritt durch. die üblichen kleinen Lecks. Am Nachmittag lief der Hauptgenerator. Zwei Schlepper kamen, machten ihre Trossen fest und 20gen den Frachter aus der Bucht von Elefsis in Richtung Piräus. Inzwischen arbeiteten die Techniker sowohl oben auf der Brücke als auch im Hauptmaschinenraum. Sie setzten die zur Navigation nötigen Geräte wie Kreiselkompaß, Funk, Funkpeiler und das alte Loran-Gerät instand. Der erste Ingenieur war recht zufrieden, bis man ihm meldete, daß es Probleme mit der Hauptma schine gab. Schon beim bloßen Hinsehen kam einem Techni ker das Grausen. Der fünfzylindrige MAN-Zwei takt-Turbodiesel war nur noch das verwitterte Denkmal eines Motors. Sie spritzten ihn mit Druckwasser ab, saugten das alte Schmieröl aus dem Sumpf, überholten die Einspritzdüsen und das Dutzend Pumpen, Hilfs pumpen und Filter. Sie schütteten literweise Lösungsmittel in die Zylinder, um die verklebten Kolbenringe freizubekommen und drehten die rie sige Schwungmasse mit Hilfe von Stemmeisen und Spillspaken durch. - Immerhin bewegten sich jetzt die Kolben. „Die Haupteinspritzpumpe ist im Arsch", jam merte der Zweite Ingenieur. „Wir werden in die Werft müssen." „Unsinn", entgegnete der Chief. „Wir fahren nur zum Ausrüstungskai. Wir schaffen das." Er hatte Order, das Schiff möglichst ohne fremde 65
Hilfe klarzumachen, und das in so kurzer Zeit wie möglich. Dafür gab es saftige Prämien. In einem entlegenen Seitenbecken des Handels hafens von Piräus bugsierten die Schlepper den Frachter an die Pier. Die Good Wind übernahm Schweröl, Treibstoff und Wasser. Elektriker brachten Leitung und Schalter in den Logis und Kammern in Ordnung, ebenso die Posi tionslampen. Putzfrauen reinigten das Schiff innen notdürftig. Klempner machten die verstopften Abwasser- und WC-Rohre durchlässig. Die Propan gasherde in der Kombüse wurden angefahren, ebenso der Kühlraum. Dann kam Proviant an Bord. Unermüdlich arbeiteten sie weiter an der Haupt maschine. Sie wurde mit Druckluft gestartet. Die t Druckluftbehälter waren längst gefüllt. Die Mano meternadeln standen am roten Strich. Am Morgen war die Maschine soweit, daß sie den ersten Anlaßvorgang riskierten. Es zischte. Preßluft fuhr in die Zylinder, die Kolben bewegten sich. Treibstoffnebel wurden inji ziert. Sie halfen mit Zündbeschleunigern nach. Dann erfolgte tatsächlich die erste Explosion, der erste Arbeitstakt. Er riß die anderen Zylinder mit, und der Motor lief. - Was oben aus dem Schorn stein kam, war eine schwarze Wolke mit Fetzen von Ruß, Fett und Gestank. Aber der Motor lief. Sie brachten ihn allmählich auf 120 Umdrehungen. Die Kühlung funktionierte, die Drücke waren in Ordnung und der Chief zufrieden. Nun schmierten sie die Wellenlager ab und wechselten einen Elektromotor an der Ruderma schine aus. Sechsundzwanzig Stunden, nachdem sie 66
den Frachter aus der Bucht geschleppt hatten, war er seeklar. Der Chief meldete es dem Kapitän, und der funkte es nach Tripolis. Kurz darauf brachte der Funker die Antwort. Der Kapitän entschlüsselte sie. Der Befehl lau tete: - an good wind — auslaufen kurs gibraltar name zielhafen folgt. - gez. G II. Der Kapitän wandte sich an den Chief, der Libyer war. „Was bedeutet G-zwo?" „G ist das Kürzel des Geheimdienstchefs." „Und zwei?" „Sein Stellvertreter." „Und wer ist sein Stellvertreter?" „Weiß ich nicht genau. Man hört, Ramus Schwe ster Mura sei an seine Stelle gerückt." „Dann muß sie eine tüchtige Frau sein." „Und ob." „So eine Schwester wollte ich auch immer haben", gestand der italienische Kapitän. „Wie steht es mit der Seenotausrüstung?" „Nur Schwimmwesten und Gummiflöße. Die Rettungsboote sind Schrott, die können Sie verges sen, Käpten." „Schon vergessen", sagte der Italiener. „Alte Schiffe sterben langsam. Wir wollen ja nicht die Welt umsegeln, oder?" „Dieser Eimer", meinte der Chief, „ist gar nicht so übel. Schätze, der reitet noch so manchen Sturm ab."
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Auf seiner Reise an der Küste Westafrikas entlang steuerte der Frachter Good Wind, unter der Flagge Panamas fahrend, mehrere Ziele an. Stets bei Dunkelheit näherte er sich einem kleinen, unbedeutenden Hafen und nahm den ein geborenen Lotsen an Bord. Alles war militärisch vorbereitet. Der Frachter lief ein, legte an und bekam in der Nacht Ladung. Meist handelte es sich um alte Flugzeugbomben und Artilleriemunition, Kartuschen, Granaten voll TNT, aber ohne Zünder. Sie nahmen nur schwere Kaliber. Auch Minen, Torpedosprengköpfe und Sprengsätze, wie sie von Pionieren zum Knacken von Bunkern verwendet wurden. Auf Infanteriemu nition verzichteten sie. — Daß manche der rostigen Granaten Markierungen trugen, die auf Giftgase wie Gelbkreuz, Lost et cetera hindeuteten, küm merte sie wenig. Die brisante Fracht wurde auf die Laderäume I bis IV verteilt. Einmal luden sie in einer Nacht nur neunzig Tonnen, dann wieder das Zehnfache, wie in den Häfen weiter südlich, in Mauretanien, Dort und in Marokko hatten die Alliierten 1944 enorme Vorräte angelegt, um sie bei der Bombardierung Italiens und Deutschlands schnell zur Hand zu haben. Kaum war der Frachter Good Wind wieder auf See, trafen neue Orders ein, alle mit G-II gezeich net. Per Funk wurde er in Häfen des Senegal, Sierra Leones, Liberias, der Elfenbeinküste und Ghanas dirigiert. Er betätigte sich im Grunde als Schrott sammler. Die zuständigen Behörden waren froh, den 68
gefährlichen Dreck loszuwerden und auch noch Geld dafür zu bekommen. In Togo übernahm der Frachter TNT in Kisten aus dem Vorrat einer Firma, die den Bau einer Eisenbahnlinie nach Nigeria eingestellt hatte. Bis nach Kamerun hinunter dampfte die Good Wind. Binnen zehn Tagen füllte sie ihren Bauch mit nahezu neuntausend Tonnen tödlichem Sonder müll. Dann wendete sie ihren Bug nach Norden und kehrte ins Mittelmeer zurück. Auf der Fahrt dorthin veränderte sie ihr Aus sehen. Die Aufbauten wurden weiß, der Rumpf azurblau bemalt. Den Schornstein ebenfalls blau anzustrei chen und mit weißen Ringen zu verzieren, so wie ihn die Frachter des hanseatischen Lloyd führte, darauf verzichtete die Schiffsführung zunächst noch.
Im Hauptquartier des libyschen Geheimdienstes LSS in Tripolis verfolgte man die Bewegungen des Frachters Good Wind genau und aktualisierte seine Position mehrmals täglich auf der Karte. Die Operation Good Wind wurde im Bereich des Geheimdienstes wiederum streng geheim gehalten, denn man fürchtete, daß es undichte Stellen gab. Man nannte sie Lecks, weil man sich scheute, von Verrätern zu sprechen. Der Ablauf von Good Wind war direkt dem Chef unterstellt, der, obgleich meist unterwegs, sich doch täglich über den Stand der Vorbereitungen unter richtete. Einmal rief er aus Neapel an, dann aus Madrid, 69
dann wieder aus Marseille, Paris oder Genf. Die Gespräche kamen über die normalen Fernleitungen herein und waren stets kurz, denn die internationa len Geheimdienste lauschten in allen Telefon netzen. Deshalb meldete Mura sich auch meist in den späten Vormittagsstunden, wenn geschäftlich quer durch Europa telefoniert wurde. Ihre erste Frage galt stets ihrem Bruder. „Eine neue Entwicklung mit R?" „Unseren Unterhändlern gelang bis zur Stunde kein Fortschritt." „Dann muß ich es selbst versuchen. Gut, daß wir Good Wind haben. Das wird ihnen Angst in die Knochen jagen." „Good Wind hat guten Wind", sagte der Mann im Hauptquartier in Tripolis hoffnungsvoll. „Was macht die Loge?" Damit meinte die Stellvertreterin des entführten Geheimdienstchefs die Exil-Libyer, die sich in der Al-Burkan-Loge organisiert hatten. „Einer unserer Männer in Kairo war Oberst Dschahur dicht auf den Fersen. Wir ließen ihn beschatten, weil wir Hinweise Der Mann in Tripolis wurde unterbrochen, „Also Dschahur auch." „Leider ja." „Beweise?" „Er versuchte, unseren Mann im Basar abzu schütteln. Unser Mann konnte ihn vermutlich stellen, wurde dabei aber getötet. Ein zweiter Agent sah Dschahur im ägyptischen Innenministerium verschwinden. Sind das genug Beweise?" „El Dschahur also auch", stöhnte Mura. „Bei 70
Allah, wem kann man noch trauen. Diese verräteri sche Al-Burkan-Bande wird von den USA finan ziert. Ihren Spitzel konnten wir enttarnen und ihm in Tunis eine Portion Gift verabreichen, die er nicht überlebte." Daß Ali Dschahur auch zu jenen Leuten gehörte, die den King stürzen wollten, das schien sie regelrecht zu erschüttern. „Weiß der Oberst schon davon?" „Noch nicht. Ich wollte erst mit Ihnen darüber sprechen, Mura." „Ja, das war klug. Er hat andere Sorgen. Der Angriff der Amerikaner, der Boykott des Öls, die Niederlage bei der Konferenz der afrikanischen Staaten, Arafats Verhalten. Alle wollen sie Geld von ihm, und dann die Kuh auch noch töten, nachdem sie gemolken ist. Aber das Schlimmste ist, daß Ramu, mein Bruder, in israelischen Folterkel lern schmachtet." „Die Operation Good Wind wird ihn befreien." „Oder es gibt Krieg." „Das wünschen nur seine Gegner, weil sie hoffen, daß das Volk das nicht hinnimmt und auf die Straßen geht, Sie schüren die Konterrevolution und hoffen, den Staatschef zu stürzen." „Eine verdammt schwierige Lage", erklärte Mura. „Zeigt er Charakter und tut alles, um seinen Blutsbruder zu befreien, kann es Krieg geben. Tut er nichts, schimpft man ihn einen Feigling, bezich tigt ihn der Untreue, des Verrats. Damit disqualifi ziert er sich als Führer des großen arabischen Befreiungskrieges." „Und wenn Ihr Bruder tot ist. Was dann?" „Das ändert nichts. Außerdem ist er nicht tot. Die 71
Israelis wollen es so hinstellen, aber ich habe Beweise, daß er lebt." „Wer", fragte der Offizier in Tripolis, „wird es dem King sagen, daß die Gegner sich in Ägypten formieren?" Muras Lachen klang wie eine verzögerte Explo sion. „Ich werde es ihm beibringen. Ich, wer sonst." „Wann sind Sie da?" „Es gibt in Genf noch etwas zu erledigen. Machen Sie mir einen Termin beim Staatschef." „Er ist in der Wüste bei seinem Stamm." „Dann halten Sie den Hubschrauber für mich bereit. Ich denke, wir stehen vor einer Reihe schwieriger Entscheidungen." Der Abteilungsleiter im LSS, der mit Good Wind und anderen Top-secret-Operationen betraut war und als loyal galt, dachte lange über die letzte Bemerkung von Mura nach. Er hatte angenommen, die Entscheidung für Good Wind wäre bereits gefallen. Offenbar gab es aber noch eine Alterna tive. Es hätte ihn auch gewundert, wenn der trickrei che King nicht noch etwas in Reserve gehabt hätte. - Aber wenn Good Wind ablief, und er sah keinen Grund, was die Unternehmung verhindern sollte, was gab es dann noch? Worüber sollte noch entschieden werden? - Das hätte er gerne gewußt. Nicht aus Neugier, sondern weil es ihn kränkte, daß man ihm nur scheinbar Vertrauen schenkte. Wie oft in letzter Zeit, dachte er darüber nach, was die Zukunft bringen würde. Sowohl für Libyen als auch für ihn. Am Ende kam es wegen Ramur zum Krieg. Wie 72
oft schon war es wegen eines einzigen Mannes zu einem Krieg gekommen. - Ob der Oberst diesen Krieg überstand? Wer kam danach? Was wurde dann aus ihm, aus seinem Job? - Übernahm die neue Regierung die Experten oder stellte man sie an die Wand? Unsinn, dachte er. Noch lebte er, der große King. Männer wie er gingen nicht so schnell unter.
Drei Tage spielte Robert Urban Agent außer Dienst. Es gab wenig zu tun. Der Fall schien im ruhigen Auge des Orkans zu treiben. Er hatte keine Bot schaft erhalten, keinen Ruf, keinen Befehl. Als er sich zu fühlen begann wie ein Jäger, der nicht mehr jagt, wie ein Löwe ohne Zähne, wie eine Kobra ohne Gift, beschloß er, einen letzten Törn über den Genfer See zu machen und dann nach München zurückzukehren. Die Sonne kroch mühsam aus dem Dunstschleier über der Stadt. Das Laub der Bäume oben beim Clubhaus raschelte unter seinen Bordschuhen. Urban fühlte sich nicht in Hochstimmung. Ein dreifacher Bourbon hätte sie vielleicht verbessert. Aber dafür war es noch zu früh. Er warf den Matchsack mit den Segelklamotten auf die weiße Yacht, zog sie an der Leine heran und stieg hinüber. Bevor er sie segelklar machte, schloß er die Kajüttür auf, bückte sich, ging hinein und spürte sofort das feine Signal. 73
Es war nicht stärker, als wenn man die Pole einer Taschenlampenbatterie an die Zunge führte, um zu prüfen, ob die Zellen voll sind. Dabei kam es zu einem kribbelnden Ziehen, so, wie er es jetzt zwischen den Schulterblättern fühlte. Irgend etwas war anders als gestern. Er schaute sich um. Vorsichtig zog er die Vor hänge von den Bulleyes. Seine Nase erschnupperte Fremdartiges. Es gehörte nicht zu einer Segelyacht, die vorwiegend von Männern benutzt wurde, die nur Whisky und Tabak konsumierten. - Parfüm war es auch nicht. Kein Duft nach Weib. Was riecht so, überlegte er. Ein Attentat, Angst oder der Tod. Da entdeckte er es. Auf der Back stand ein flacher schwarzer Kasten. Urban schob sich auf das Ecksofa und starrte das Ding an. Ein Tonbandgerät. Eines von der billigen Kaufhaussorte, Kunststoff und ein wenig Elektro nik. Preis kaum fünfzig Mark. Durch die Plastikscheibe sah er die eingelegte Kassette. So ein Ding - es mochte ein Kilo wiegen oder weniger und hatte die Größe einer Schachtel für fünfundzwanzig Zigarren - konnte genug Spreng stoff enthalten, um die Zwölf-Meter-Yacht zu zerbröseln. Und ihn selbstverständlich auch. Das Kribbeln im Nacken verstärkte sich nicht. Sein hochentwickelter Instinkt sagte ihm, daß das Ding kein Killer, sondern ein Bote war. Er streckte den Finger, tastete zum Wiedergabe knopf, zog den Finger zurück und riskierte es dann doch. Die Spule in der Kassette drehte sich. Nichts war 74
zu hören. - Er bewegte den Lautstärkeregler. — Noch immer nichts. Und plötzlich vernahm er seine eigene Stimme. „Fischen Sie zum Zeitvertreib?"
„Sport, nur Sport", wurde geantwortet. „Essen
kann man das vergiftete Grobzeug ja nicht mehr." Das waren er und der Mossad-Major Kronstein. Ihr Treffen an Bord war also per Richtmikrofon mitgeschnitten worden. Oder durch eingebaute Wanzen. Das war kein Jux, sondern Geheimdienst arbeit. Es ging weiter:
„Ob die heute beißen?"
„Weiß nicht", sagte der Mossad-Mann. „Zu kalt,
zu windig. Mal sehen." „Einen Schluck Rum?" „Gern." Dann Geräusche. Der Major ging an Bord. Was folgte, war die wortwörtliche Aufzeichnung von Urbans Gespräch mit dem israelischen Geheim dienstkollegen. Bis zu Kronsteins letzter Bemer kung, als er schon wieder ging: „Und wenn Ramu, der Boß aller libyschen Spione, längst tot ist, was dann?" Daraufhin Urbans Stimme: „ Warum sind Sie dann gekommen, Major? Sie wußten, um was es gehen würde." Und der Mossad-Mann antwortete: „Es ist alles so schwierig geworden. Es ist entschieden ganz und gar zu lange her, daß alles mal schön und einfach war." Man hörte noch seine Schritte, wie sie sich zum Anleger hin entfernten. 75
Die Kassette war zu Ende und stellte sich automatisch ab. Urban saß da. Seine Reaktion war ein langer, stummer, seitenlanger, innerer Fluch.
Während der BND-Agent Nr. 18, Robert Urban, genannt Mister Dynamit, sein Glas mit Bourbon vollgoß und eine Zigarette mit Goldmundstück rauchte, schliff die Schiebetür zum Schlafraum im Vorschiff auf. Ein Geräusch, nicht lauter, als poliere man die Lackschicht eines Automobils, bis sie das hatte, was man als glänzende Tiefe bezeichnete. - Die Frau in der schmalen Türöffnung besaß noch mehr als das. Sie hatte nicht nur ein glänzendes Äußeres, sondern auch das Unergründliche von spiegelnden Flächen. Verwundert blickte er sie an. Sie waren einander schon einmal begegnet. Im Schuppen D, in Mar seille. Inzwischen wußte er auch, wer sie war. „Hallo, Mura", sagte er. „Ich verwechsle Sie hoffentlich nicht mit Umar und Ramu. Aber nein, Umar ist der King´, der Staatschef, Ramu ist Ihr Bruder, den man entführte, und Sie sind Mura aus dem Wüstenclan der Gaddafis, Umars Kusine." „Und Stellvertreterin meines Bruders — bis zu dem Tag . . . " Sie sprach nicht weiter. Wenn je Rosen in den Gärten der Geheimdienste geblüht 'hatten, dann war sie die schönste. Sie erinnerte Urban an eine Zigeunerin. Die Bräune stammte nicht von der Sonne, sondern kam von innen. Ihre sinnlichen Lippen standen halb offen 76
und zeigten so regelmäßig weiße Zähne, wie sie sonst nur von Hollywood-Dentisten für Filmstars gebaut wurden. Sie trug ein hellgrünes Kleid, enganliegend, offenbar Popeline. Es war ein wenig uniformhaft geschnitten, hatte einen Jackettkragen - busenweit offen — und aufgesetzte Taschen an der Brust und unter dem eleganten mit Messingnie ten verzierten Cordgürtel. Das Kleid war vorne von oben bis unten geknöpft. Eigentlich vermißte Urban die Schulterklappen mit den Generalssternen und einer rote exotische Blume in ihrem Haar. - Aber mit den Augen stimmte etwas nicht. Ihr tiefblauer Samt paßte nicht zu der Härte. Stahlaugen waren das. „Sie nennen dich Mister Dynamit", sagte sie. „Ich kenne dich, Oberst Urban. Ich weiß Dinge von dir, die du längst vergessen hast." Ihre Beine wirkten schlank in den hochhackigen braunen Krokolederpumps, und der Busen hatte eine Form, wie sie eigentlich nur eine straffe BHKonstruktion modellieren konnte. Aber er sah nichts dergleichen unter dem grünen Seidenpope line. „Und ich weiß Dinge von dir, Mura, die du noch gar nicht erlebt hast. Ein Geheimdienstchef an der vordersten Agentenfront. Das muß böse enden." Sie hatte eine Waffe in der Hand, aber wohl nicht, um sie zu benutzen. Sie hätte es längst getan. Mit dem Pistolenlauf deutete sie auf das Tonbandgerät. „Was sagst du dazu?" „Gute Arbeit", mußte Urban anerkennen. „Frauen können erwiesenermaßen auch profes sionell vorgehen." „ Nun, jede hat mal eine Glückssträhne", 77
schränkte er ein. „Es fragt sich nur, ob sie von Dauer ist." „So wie deine", höhnte sie. „Sie wird auch eines Tages enden." Es sah nicht aus, als würde sie es heute an diesem Herbsttag am Genfer See an Bord des Segelbootes tun. Denn Mura legte die Waffe auf die Back und schaltete den Recorder auf Aufnahme. Urban schaltete wieder ab. „Das ist streng privat, denke ich." „Wir haben von euch gelernt. Von allen Diensten die besten Tricks." Sie setzte sich. Der Rock rutschte über die Knie. Sie schlug die Beine übereinander. Ihre Waden hatten einen feinen schwarzen Flaum. Gewiß rasierte sie ihn ab, sonst wäre er länger gewesen. Aber der Job ließ ihr wohl keine Zeit dazu, es täglich zu kontrollieren. Sie tastete nach seiner blaugoldenen Zigaretten schachtel, nahm aber dann doch die eigene aus einem in Silber gefaßten Schildpatt-Etui. Nicht einmal sein Feuer benutzte sie. Sie rauchte auf Lunge und blies ihm den Rauch ins Gesicht. „Was werden die Israelis nun tun?" fragte sie. „Du weißt", antwortete Urban, „was ich ihnen zu tun riet." „Damit steht es eins zu eins. Daß du uns Kapitän Monro wegnahmst, wird durch deine Vernunft ausgeglichen. Wird der Mossad oder der Shin-Bet seiner Regierung raten, ebenfalls Vernunft walten zu lassen?" Urbans Antwort war ein Schulterzucken. Sie schwieg so lange, wie es dauerte, die Zigarette 78
bis nahe an den Filter zu rauchen, und drückte sie in den Ascher. Entschlossenheit lag in ihrer Stimme. „Entweder meinen Bruder, oder es gibt ein Feuerwerk, das die Welt in Brand setzt." „Krieg eines Mannes wegen?" zweifelte Urban. „Krieg einer Sache wegen. Der Anlaß ist oft geringfügig." „Aber absichtlich herbeigeführt", ergänzte er. „Die Israelis haben meinen Bruder entführt." „Ging er nicht ein so hohes Risiko ein, daß sie nicht anders konnten?" Ihr Lachen kam jetzt bitter wie Galle hoch. „Nun ist das Opfer auch noch schuld. Das ist eure perverse Denkweise." Er hob die Hand als Zeichen seines guten Willens. „Ich riet den Israelis, ihn freizulassen, und zwar auf eine Weise, daß sie ihr Gesicht nicht verlieren." „Du weißt, Urban, daß sie darauf nicht eingehen, und ich weiß es. Und wer sagt mir, daß euer Gespräch nicht nur so geführt wurde, weil ihr wußtet, daß wir es abhören. Wolltet ihr uns in die Irre führen, was eure wirklichen Absichten be trifft?" Er versuchte das ihm angeborene Grinsen zu unterdrücken, indem er es aus dem Mundwinkel massierte. „Damit wäre zu rechnen." Der Stahlblick änderte sich, als hätte man aus dem Stahl ein Messer geschmiedet. „Ihr werdet es alle büßen." Urban lehnte sich gegen das Lederpolster der Sitzbank. „Kapitän Monro", begann Urban zusammenzu
zählen, „dann ein Experte für Funkfernsteuerung, ein Sprengstoffchemiker und ein amerikanischer Geologe, Fachmann für die Ausbreitung unterirdi scher Schockwellen. Hinzu kommt, daß zur Zeit ein geheimnisvoller Frachter in Afrika jede erreichbare Tonne alter Munition an Bord nimmt. . . " „Dein Beruf", unterbrach sie ihn, „hat dich zum Fantasten gemacht. Zum Märchenerfinder. Wer von uns kommt eigentlich aus der Welt von Tausend undeiner Nacht?" Wenn er diese Andeutung richtig verstand, dann war sie es, eine Araberin, der es zustand, Geschich ten zu erfinden. Bedeutete das, daß es sich bei dieser Begegnung um ein Täuschungsmanöver handelte, um eine absichtliche Irreführung?
Er versuchte dahinterzukommen, aber diese Frau ließ sich nicht in die Karten blicken. „Was ist der wirkliche Grund für unser heimli ches Rendezvous?" Wegen der Möglichkeit, daß er sie durchschaut hatte, faßte sie zu dem Revolver. Urban war eine Idee schneller. Seine Hand lag als erste auf der 7,65er. „Geh zum Teufel", fluchte er. „Schön, laß uns gehen", antwortete sie. „Aber du kommst mit." Wie das ablaufen sollte, konnte er sich nicht vorstellen. Sie waren beide Agenten fremder Staa ten in einem neutralen Land. Der Teufel saß zwar überall, aber es gab unendlich viele Wege, um in die Hölle zu gelangen.
Die Libyerin stand auf, streifte den Rock über den Oberschenkeln glatt und schien die Taktik abermals zu ändern. 80
Mit der Schärfe einer Brotschneidemaschine sagte sie: „Laß uns den Stecker herausziehen." „Einfach rausziehen?" „Du bist ein Mann, und ich bin eine Frau. Gibt noch andere Dinge als Feindschaft." „Nicht für dich", zweifelte er. „O doch, weil ich nämlich . . . Ich bin schon lange keinem Kerl mehr begegnet wie dir." Sie ließ die Waffe liegen, ging in den Bugraum und schloß die Tür. Urban leerte das Glas.
So leise, wie sie sich geschlossen hatte, ging die Tür wieder auf. Am Boden verteilt lagen Textilien: ein Kleid und ein Slip. Die Libyerin lag auf der unteren Koje an Steuer bord. Sie war völlig nackt. Eine Schönheit, nicht nur für den, der den Orient mochte, sondern für jeden. Mit Ausnahme derer vielleicht, die als Busen die Dimensionen von Kuheutern liebten. Mit dem einen Arm stützte sie den Nacken. Ein Knie — das an der Wand - hatte sie angewinkelt. Das rechte Bein hing zu Boden. Mit der freien Hand bedeckte sie ihre Scham, bewegte die Hand jetzt aber nach oben über den Nabel und höher, in einer Bewegung, als genieße sie die Glätte ihrer Haut und die Formen ihres Körpers. „Mein Stecker ist raus", flüsterte sie. „Laß uns vergessen, unter welch verschiedenen Stromspan nungen wir stehen." Frauen in extremen Positionen wie diese Libyern 81
hatten oft extreme Wünsche und verfielen in extreme Reaktionen. Aber sie bekamen sich auch extrem rasch wieder in den Griff. Trotzdem entkleidete er sich und legte sich zu ihr. Die Koje war schmal, bot gerade Platz für einen. „Es geht nur aufeinander, oder wie sagt man?" „Übereinander." Ihr Körper war heißer als seiner. Dennoch erzeugte die Berührung bei ihm einen Schauer, als wäre sie kalt wie eine Tote. Er lag auf ihr, ihre Gesichter berührten sich beinah. Er spürte, wie sie die Beine weit öffnete, sich ihm darbot und wie sie seinen Hals umschlang. Sie begann, schwer und tief zu atmen und leise zu stöhnen. Ihren Unterleib bewegte sie begehrlich, aber sie vermied es, ihn zu küssen. Obwohl er noch gar nicht in ihr war, schrie sie vor Lust. Dabei machte sie eine ungestüme ange strengte Bewegung. Ihre Muskeln verhärteten sich. Sie löste eine Hand aus der Umarmung und tastete zum unteren Kojenrand. Dort riß sie irgend etwas aus der Matratze und versetzte ihm einen Schlag gegen den Hinterkopf. Das ungeheure Ding narkotisierte Urban nur deshalb nicht, weil der Kolben — oder war es der Lauf der schweren Waffe — abrutschte und die Nackenpartie traf, die dort von Muskeln geschützt war. Er streckte sich und nahm schlagartig die Span nung aus seinem Körper. Er wurde so schlaff, als sei er total weggetreten. Gleichzeitig schloß er die Augen und ließ sich von ihr in die gewünschte Position bringen. Sie wälzte ihn zur Bordwand hin und schob sich unter ihm hervor. 82
Für Sekunden war sie überzeugt, daß sie ihn ausgeschaltet hätte. Doch er erwischte sie, als sie glaubte, sie hätte schon gesiegt und müsse nur noch den Lauf gegen seine Schläfe pressen und ab drücken. Er packte ihren Arm, den mit der Pistole, und verdrehte ihn so, daß sie schrie und die Pistole fallen ließ. Was ihn wunderte, war, daß sie es nicht gleich getan hatte, als er hereingekommen war. Demnach hatte sie noch etwas auf Lager. Zweifellos war sie so trickreich wie er. Sie fuhr herum und hatte einen Dolch in der Hand. Ein zweischneidiges Tibbu-Messer, wie es Saharastämme benutzten, wenn sie mit einem raschen Schnitt Ziegen die Kehle durchtrennten. Ohne Ansatz stieß sie mit dem Messer zu. Blitzschnell drehte er sich zur Seite. Das Messer ging dort ins Kajütholz, wo sein Unterleib gewesen war. Sie zog das Messer heraus, stach wieder zu und traf. Seine Haut blutete an der Schnittstelle sofort stark. Nun hämmerte er brutal auf ihr Gelenk. Das Messer flog weg. Mura gab kaum Schmerzenslaute von sich, nur in ihren Augen stand der Wunsch, ihn zu töten. Jetzt erst recht. Diese ganze Inszenierung auf dem Segler hatte zweifellos der Absicht gegolten, einen ihrer gefähr lichsten Gegner zu vernichten. Erst mit ihm zu reden, alles, was er wußte, aus ihm herauszuholen und ihn dann abzuschlachten. Das Messer lag irgendwo am Boden. Unerreich 83
bar für sie. Ihre Brüste hoben und senkten sich. Der Kampf hatte sie stärker erregt als stundenlanges Liebesspiel. Was jetzt, dachte er, als sie sich keuchend gegenüberstanden. Hat sie noch eine Waffe in Reserve? Wenn ja, dann wo. — Oder riß sie mit den Zähnen wie eine Löwin. Da sah er, wie sie das Bein bewegte. Ihr Fuß näherte sich der Pistole am Kajütboden. Er erkannte ihre Absicht, und sie merkte, daß er ihre Absicht durchschaute. Rasch zog sie die Waffe heran, bückte sich, entsicherte und schoß. Die Kugel sirrte haarscharf an Urban vorbei und klatschte in die Innenvertäfelung. Die Pistole, eine 7,65, war eine Automatic, die sich selbständig nachlud. Entsichert war sie auch. Man brauchte nur abzudrücken, dann schoß sie, bis das Magazin leer war. Wieder feuerte Mura. Sein Hieb auf den Unter arm machte ihr das Zielen schwer. Aber wie lang ging das noch gut? Wenn sie Abstand nahm, und das würde sie tun, war er geliefert. Auf Distanz war gegen einen schießwütigen Killer nichts auszu richten. Sie tat, was er befürchtet hatte, und ging zwei Schritte zurück. Aber sie stolperte über die eigenen Schuhe und taumelte. Der Schuß fuhr in die Decke. Verzweifelt warf er sich auf und über sie und preßte alles gegen ihren nackten Leib, was an ihr gefähr lich werden konnte. Den linken Arm mit der Hand mit den langen Fingernägeln, die Rechte mit der Waffe. In diesem Moment löste sich wieder ein Schuß. Zwischen ihrem und seinem Körper spürte Urban 34
nur das Zucken der Waffe, aber keinen Schmerz. Nicht ihn hatte es erwischt, sondern sie. Sie knickte sofort ein und sackte zu Boden. Sein Unterleib war rot von Muras Blut. Die Kugel war neben ihrem Nabel eingedrungen. Aber sie war bei vollem Bewußtsein. Der Schmerz, das wußte Urban, kam bei schweren Verletzungen erst später oder gar nicht. „Laß mich sterben", flüsterte sie. „Nein." „Warum nicht?" „Du bist zu kostbar." Er suchte die Bordapotheke und machte ihr einen Druckverband. Dann kleidete er sich an, ging an Deck, sprang auf den Anleger, rannte zum Club haus und telefonierte mit einem Mann, der alles arrangieren konnte, was nötig war. „Ich brauche einen Arzt, einen Rettungswagen, der nicht aussieht wie einer vom Roten Kreuz und eine erstklassige Unfallklinik, wo sie keine Fragen stellen."
„Wird erledigt", versprach der andere. „Im Yachthafen bei der Rhônebrücke." „Wird erledigt." „Beeilt euch." „Wird erledigt", mann monoton.
wiederholte
sein
Vertrauens
85
9.
Im israelisch besetzten Teil des Sinai, bei Euzu am Rande des Negev, warnten Totenkopfschilder vor dem Betreten der Sperrzone. Dahinter kamen Minenfelder und hohe Zäune. Innerhalb dieses Sperrgebietes gab es ein Gefan genen-Camp, und in diesem Camp wiederum einen Hochsicherheitsbereich für besonders wichtige oder gefährliche Gefangene. Dort lag schon seit Monaten Ramu aus dem Gaddafi-Clan, der Chef des libyschen Geheimdien stes. Nach den wochenlangen Verhören war er in Apathie verfallen, was auf beruhigende Drogen im Essen zurückzuführen war. Allmählich kehrten seine Kräfte zurück und seit einigen Tagen war er zum letzten Risiko bereit. Der Soldat, der ihm zweimal täglich Brot, Suppe und manchmal Gemüse und Hammelragout brachte, war schuld daran. Als Fachmann wußte Ramu, daß es aus solchen Lagern kein Entkommen gab. Der Kontakt mit dem Soldaten — sie waren sich im Lauf der Zeit etwas nähergekommen - hatte seine Meinung jedoch geändert. Wußte man erst mehr über sein Gefäng nis, dann fand man auch einen Weg, um es zu verlassen. Ramu fragte sich, warum der israelische Soldat überhaupt mit ihm redete. Als er ihn darauf ansprach, machte der Israeli eine der ältesten und bekanntesten Bewegungen aller Zeiten. Er rieb den Zeigefinger unter dem Daumen. „Du hast Gold, Libyer." 86
„Ich bin arm wie eine Ratte in der Moschee." „Ein Mann wie du hat Geld", beharrte der Soldat. Nach der Entführung hatten sie ihn immer wieder durchsucht, bis auf die Haut entkleidet, wieder untersucht und ihm andere Kleidung verpaßt. Aber als er vom Mossad-Hauptquartier in Tel Aviv hierher ins Camp gebracht worden war, hatte man ihm seine Schuhe und seinen Gürtel ausgehändigt. Er trug verwaschenes geflicktes israelisches Um formzeug. Hemd, Hose, Unterwäsche. Aber man hatte ihm seinen Gürtel und seine Schuhe zurück gegeben. Gewöhnlich führten Leute wie er stets gewisse Reserven im Zwischenleder des Gürtels mit. Sie hatten es aufgeschlitzt, aber nichts gefunden. Kein Wunder, er hatte die Münzen im Absatz versteckt. Nicht im Hohlraum unter den verschiebbaren Absatzgummis, sondern im Hohlraum unter dem Hohlraum. Schon seit geraumer Zeit verzichtete er nicht auf diese Art von Sicherheitsmaßnahmen. Im rechten Absatz lagen sieben Krüger-Rand-Münzen, im anderen Morphiumtabletten und eine Ampulle. Wenn man sie zerbiß, war man in zehn Sekunden tot. Alles war noch vorhanden. Vielleicht würde er eines Tages auf die Zyankali-Kapsel beißen, aber erst, wenn die Flucht mißlang. Ramu gab dem Soldaten eine der Münzen. Sie war immerhin fünfhundert Dollar wert. „Das einzige, was ich tun kann", sagte der Israeli, „ist wegschauen." „Mach mir einen Plan des Lagers." „Nichts Schriftliches, Libyer." 87
„Dann erzähl mir davon." Der Libyer erhielt eine recht genaue Darstellung der einzelnen Sektoren, der Zäune, der Wachtürme, der Streifenwege, wie weit es bis zur nächsten Oase und wie weit bis zu einer befahrenen Überland straße war. Bald wußte er, ob, wie und wann er eine Chance hatte. Aber der Zaun war elektrisch geladen und hatte Sensoren. „Besorg mir eine Zange", bat er seinen Bewacher. „Jede Berührung nach 22.00 Uhr löst Alarm aus. Selbst wenn ein Moskito mit dem Arsch dran kommt."
„Dann bohr mir ein Loch." Der Soldat grinste. „Ist schon gegraben", sagte er. Nach dem Geschäft mit der Goldmünze hatte der Libyer das Gefühl, daß der Wächter ihn loswerden wollte. Möglich war aber auch, daß man ihn auf der Flucht erschießen würde.
Er sparte Brot von der kargen Ration. Bei der Runde, die er täglich, von MPi-Läufen bewacht, absolvierte, gelang es ihm, eine Plastikflasche an sich zu bringen. Die füllte er mit Tee. Dann, als es auf den Mondwechsel zuging, fragte er seinen Wächter: „Wie wird das Wetter?" „Es wird stürmen, Libyer." „Regen?"
„Erst im neuen Jahr." Verdammt kalt war es schon in diesem Spät
herbst. Nachts gab es Frost. Er fror. Aber an Frostnächte im Zelt war er gewöhnt. Dann zeigte er dem Israeli noch zwei von den Münzen. „Ich brauche einen Wagen." „Nichts zu machen, Libyer." „Einen Jeep. Uralt meinetwegen, aber er muß laufen. Bis zur Grenze." Der Soldat nahm die Münzen und ging. Zwei Tage später sagte er: „Der Sturm ist da."
„Und der Wagen?" „Ein Jeep, morgen nacht, vier Meilen im Süden. Halte dich an den hellsten Stern." „An den Sirius?"
„Ja, den Sirius." Der Ghibli wehte. Die einen schläferte sein Blasen ein, die anderen machte es wahnsinnig. Die Luft war wie nach einer Staubexplosion, im Freien ohne Mundschutz kaum zu atmen. Trotz Neumond betrug die Sichtweite bei Nacht keine fünf Meter. Und mit den Wachturmscheinwerfern höchstens zwanzig Meter. Ramu wagte es. Nach dem Wachwechsel, der durch einen Heulton der Sirenen angekündigt wurde, verließ er das Zelt. Er suchte und fand die Spur, die der Soldat mit einem Ast gezogen hatte, Flugsand hatte sie fast schon verweht. Aber er konnte ihr folgen. Niemand war zu sehen. In einem der Mann schaftszelte brannte Licht. Soldaten sangen ihre Lieder: Hava nagila venis mecha .. . Es war ziemlich weit bis zum Zaun. Nichts stimmte an der Beschreibung des Soldaten. Aber 89
die Spur führte zu einem kleinen Graben, fußtief, drei Fuß breit. Ausreichend für einen Mann zum Durchkriechen, ohne den Draht zu berühren. Ramu warf sich hin und schlängelte sich ins Freie wie eine Viper. — Das war die erste Hürde. Er richtete sich auf, suchte den Sirius. Kein Stern war zu sehen. Aber ein Sohn der Wüste bestimmte die Richtung mit dem Instinkt. Ohne im Kreis zu gehen hielt er sich südlich. Bald kam er an die Mauer, auf der zwar Stacheldraht angebracht war, die aber auch kein Hindernis für Ramu darstellte. Nach dem Minenfeld kam ein letzter Zaun. Er schlich daran entlang. Das Tor war mit Ketten gesichert, das Vorhängeschloß jedoch nicht ver sperrt. Endlich war er draußen. In Freiheit. An die Straße nach Ismailia zu kommen, stellte auch für Blinde kein Problem dar. Und dort sollte der Jeep stehen. Aber nimm nicht die Straße nach Nordwesten, die suchen sie ab, hatte der Soldat ihm noch geraten, fahr über Bir el Hadira. Er kam an die Straße. Es mochte schon auf den Morgen zugehen. Es wurde eisig kalt. Höchstens noch zwei Stunden bis zur Dämmerung. Und kein Jeep. Er wußte nicht, ob er im Norden oder im Süden suchen sollte. Er ging nach links. Und dann stand etwas abseits der Straße, halb im Graben, das irreparable Wrack eines endgültig aufgegebenen Automobils. Er blieb auf Distanz, wartete eine Weile und lauschte. Vielleicht war es eine Falle. Dann schlich er näher, setzte sich in den Jeep, tastete zum 90
Zündschalter und drückte den Anlasserknopf. Der Motor sprang an. Ohne Licht fuhr er durch die Kieswüste des Negev. Irgendwann mußte er auf die Straße zur Oase stoßen.
Im Ezuz-Kamp saß der Soldat vor dem wachhaben den Offizier. Auf dem Schreibtisch vor dem Offizier lagen drei Goldmünzen. Südafrikanische Krüger Rand zu je 31 Gramm, eine Unze also. „Behalte es", entschied der Captain. „Du hast es dir verdient." Der Soldat ließ das Gold liegen. Offenbar hatte er ein schlechtes Gewissen. „Ich hörte keine Schüsse", sagte er. Links am Spind stand ein Zivilist. „Wir ließen ihn durchkommen", sagte der Mos sad-Agent und schaute auf die Uhr. „Wir haben sogar den Jeep bereitgestellt. Er dürfte inzwischen angelangt sein. Aber er wird nicht weit kommen." Der einfache Soldat, der den Libyer bedient hatte, begriff nichts. Er wischte sich übers Gesicht und betrachtete ratlos die Schweißnässe an seiner Hand. „Wie befohlen, sollte ich ihm zur Flucht verhel fen. Sie haben ihn nicht erschossen, sondern gaben ihm einen Jeep und schraubten daran irgendwas. Soll er in der Wüste verdursten?" Der Agent winkte ab. „Wir wollen ihn unter Kontrolle haben. Aber das ist zu hoch für dich." „Kann ich gehen, Captain?" 91
„Ja, du kannst gehen", sagte der Captain. „Und nimm die Münzen mit." Der Soldat steckte seinen Judaslohn ein. Als der Lagerkommandant und der Geheim dienstmann allein waren, trat der zweite an die Karte. „Er ist jetzt ungefähr hier, bei Sonnenaufgang zirka da. Wir schicken ein Flugzeug los, das ihn beobachtet. Wir möchten, daß er die Grenze nach Ägypten an einer Stelle überschreitet, die uns genehm ist."
„Aus welchem Grund?" Der Mossad-Agent blieb wortkarg - wie alle Agenten. „Er soll entkommen. Aber er darf nicht überle ben. Wir werden ihn nicht töten, um dem King keinen Kriegsgrund zu liefern. Ramu soll in die Hände der Exil-Libyer fallen."
„In die der Loge?" „Ja, sie bekamen einen Tip. Al Burkan wird ihn erwarten, verfolgen und liquidieren. Und unsere Hände sind sauber." „Kommt es denn auf diesen Ramu an?" „Es käme nicht auf ihn an", sagte der MossadAgent, „wenn er nicht ein so fähiger Bursche wäre. Er ist mehr wert als eine Panzerdivision. Und wer wünschte nicht, daß sein Gegner eine Division Panzer weniger hätte." Der Lagerleiter nickte. Er hatte nicht alles verstanden, aber zumindest das, was ihn unmittel bar betraf. Er trat ans Fenster und öffnete die Läden. Die Sonne ging über der Wüste auf. Nur ein gelber 92
Punkt in dem aufgewirbelten Sand, aber der Sturm
ließ nach.
Der Captain löschte das Licht in der Baracke.
Bei Sonnenaufgang brachte der Libyer den Jeep vor dem Suchflugzeug in Deckung einer Felsgruppe. Als das Flugzeug nicht mehr zu hören war und er den Jeep anlassen wollte, gab der Motor keinen Mucks von sich. Ramu kannte sich einigermaßen bei Motoren aus. In der Oase hatte er so manchen Pumpendiesel repariert und in den Karawansereien hatte er bei der Reparatur von Lastwagen mitgeholfen. Er stand also nicht ratlos da wie vor einem sterbenden Gaul. Systematisch ging er alles durch. Zündung, Küh lung, Schmierung, Vergaser. Er hatte nur einen halbzölligen Maulschlüssel. Damit kam er nicht weit. Als er die Benzinleitung oberhalb der Pumpe absog, war die Pumpe trocken und von oben kam auch nichts. - Dreck im Filter oder Pumpendefekt. — Meist lag es an der Membrane oder an den Ventilplättchen. Dazu brauchte man einen Repara tursatz und Schraubendreher. Auch mit einem Kanister und einem Schlauch ließ sich eine Menge erreichen. Er hatte beides nicht. Ramu warf den Schlüssel in den Jeep und trat aus dem langen Schatten der Felsen. Er nahm den Plastikbeutel mit dem harten Fladenbrot und der Flasche mit Tee und ging sofort los. - Aber in die andere Richtung, denn sie würden den Jeep finden. Wenn sie im Camp erst merkten, daß er fehlte, würden sie binnen weniger Stunden alles wissen. 93
Sie würden ihn hetzen, denn er war ein kostbares Stück Wild, und so viele Jäger würden ihn auch kriegen. Es sei denn, er setzte alles ein, was er als Sohn der Wüste je gelernt hatte. Ramu marschierte nach Nordwesten, auf dem kürzesten Weg nach Ägypten. In einer geraden Linie war das allerdings nicht möglich, denn er richtete sich nach den Bodenverhältnissen. Kieswü ste und Felsuntergrund hinterließen keine Spuren. — Es gab viele Felsen hier im Übergang zwischen Negev und Sinai. Eine Stunde, bevor die Sonne ihren höchsten Punkt erreichte, kroch er in einen Felsspalt, wartete dort die Dämmerung ab und setzte dann seine Flucht fort. Wieder hörte er einmotorige Suchflugzeuge. In der Ferne sah er mehrmals die hochwirbelnden Staubwolken von Wüstenpatrouillen. Kaum war die Sonne untergegangen, bekam er schwere Magenkrämpfe. Am Brot konnte es nicht liegen. Vielleicht der Tee. Tee war nicht unbegrenzt haltbar, erst recht nicht, wenn man ihn portions weise sammelte. Bakterien vermehrten sich darin wie in drei Tage altem Wasser, und es konnte zu Gärprozessen kommen. Die Krämpfe verspannten seinen Leib. Die Schmerzen wuchsen so an, daß er nur mit äußerster Anstrengung vorwärts kam. Noch acht Meilen bis zur Grenze, schätzte er, als ihn die Kraft verließ. Er lag da, Schweiß brach aus, dann überfiel ihn die Eiseskälte. In der Stille glaubte er, Hunde bellen zu hören. Er nahm eine der Morphiumtabletten aus dem Stiefel
absatz. Sie bändigten die Hölle in seinen Eingewei den. Er kämpfte sich weiter. Gegen den Horizont sah er Kamele über die Hügel kommen. Er wankte auf die Karawane zu und rief, bis die Hunde ihn bemerkten, auf ihn zurannten und ihn verbellten. Wenig später war der Mann, dem die drei Kamele gehorten, bei ihm. In der Wüste fragte man nicht nach Namen, woher und wohin. Der Mann bändigte erst seine Hunde, dann bot er dem Libyer Wasser. Der winkte ab und preßte die Hände auf seinen Leib. Erst war der Mann, der ihn gefunden hatte, ratlos, dann fragte er: „Kannst du ein Kamel reiten?" Der Libyer nickte. „Auf einem der Tiere ist Platz." Der Fremde half ihm auf das Leittier, das sich niedergelassen hatte und mit dem Gebiß mahlte. Der Händler versorgte die Beduinenlager im Sinai mit dem Nötigsten und kannte die Gegend gut. Er brachte den Libyer nach Ägypten und dort in einen Distrikt, der von Patrouillen selten kon trolliert wurde. Der Libyer zahlte ihn mit einer seiner Münzen. Dafür nannte der Händler ihm den Namen eines Hakim, eines Arztes. Der Arzt in Bir-Lafhan tastete Ramus Leib ab, gab ihm ein Klistier und setzte ihn aufs Klo. „Komm nicht wieder", sagte er, „bis der Topf voll ist." Danach ging es dem Libyer besser. „Von Tee kommt das nicht", erklärte der Arzt, „aber wohl von dem, was sie dir in den Tee gemischt haben." 95
„Ich danke Ihnen, Doktor", sagte der Libyer. „Ich muß weiter." „Morgen", entschied der Arzt. „Kann ich bei Ihnen telefonieren?" „Morgen", sagte der Arzt. „In der Nacht ist die Vermittlung bei der Polizeistation nicht besetzt."
Die Mossad-Zentrale in Tel Aviv war stets auf dem laufenden. Der libysche Geheimdienstchef hatte seit seiner Flucht aus dem Camp im Negev nicht einen Schritt getan, von dem die Zentrale nichts wußte. Am ersten Morgen hatten sie ihn vom Flugzeug aus beobachtet, als er den Jeep hinter dem Felsen in Deckung brachte, und sie hatten dafür gesorgt, daß ein Benzinzusatz alle Dichtungen in der Pumpe und im Vergaser nach geraumer Zeit zerstörte. Wüstenstreifen hatten Ramu später verfolgt, als er nach Norden marschierte. Der Mossad hatte ihm ein geschmackloses Glaubersalzkonzentrat in den Tee gemischt und seine Magenkrämpfe program miert. - Noch einmal war er in der Dämmerung von einem Aufklärungsflugzeug gesichtet worden, auch die Stelle, wo er nicht mehr weiterkam. Daraufhin hatte Mossad in der Nacht die Karawane an ihn herangeführt und dafür gesorgt, daß der Händler, ein Mossad-Agent, ihn fand. Der Händler brachte den kranken Libyer zu einem ägyptischen Arzt, der das Vertrauen der Israelis genoß. Der Arzt wußte, welches Medika ment er dem Kranken verabreichen mußte, denn 96
ihm war bekannt, was seine Magen- und Darm krämpfe auslöste. Anweisungsgemäß hatte er Ramu veranlaßt, noch zu bleiben. Dies aus zweierlei Gründen. Der Mossad brauchte Zeit, um seine Informationen an die libyschen Kontras in Kairo, an die Verschwörer der Al-Burkan-Loge, durchsickern zu lassen. Sie soll ten sich von jetzt an mit dem Geheimdienstchef befassen. - So war es von den Mossad-Strategen vorgesehen. Einerseits sollte Gaddafi der Grund für einen Racheakt genommen werden, auf der anderen Seite durfte der tüchtige Geheimdienstchef nicht nach Tripolis zurückkehren und dort seine Arbeit wie deraufnehmen. In Tel Aviv hatte man den Eindruck, daß alles nach Plan lief, als der ägyptische Arzt aus BirLafhan noch einmal anrief. „Er hat telefoniert", meldete er. „Mit wem?" „Mit einer Nummer in Alexandria." „Was hat er gesagt?" „Er sprach in einem Dialekt, den ich nicht verstand. Aber er gab wohl ein Codewort durch. So etwas wie einen SOS-Ruf. Agent in Not." „Er nimmt das libysche Geheimdienstnetz in Anspruch. Damit ist zu rechnen. Aber er wird dies inkognito tun, und zwar aus Angst vor Verrätern, die überall sitzen. In Verwaltung, Armee, General stab, sogar bei den Mullas in den Moscheen." „Was soll ich mit ihm machen?" bat der Arzt um Anweisung. „Ihn gehen lassen?" „Kann er das?" „Er ist okay." 97
„Laß ihn gehen, Doktor", entschied der Mossad. „Aber wir brauchen die Nummer in Alexandria, die er anrief. Sie ist wichtig, wenn wir die Fäden in der Hand behalten wollen." „Wird besorgt", versprach der Arzt. In Tel Aviv wurde die Taktik ständig der neuesten Lage angepaßt. Sie spielten alle möglichen Situa tionen durch, denen Ramu in Ägypten ausgesetzt sein könnte, legten ihre Gegenzüge fest und warte ten ab. „Aber eines ist sicher", sagte der verantwortliche Mossad-Offizier. „Die Burschen von der AI-Bur kan-Loge in Kairo dürften inzwischen ziemlich nervös geworden sein."
10. Der CIA-Major Creequer nahm seinen Kollegen Urban beiseite. „Was macht dich so sicher, daß der King keinen Vergeltungsschlag gegen Washington plant?" Der Amerikaner war ebenso wie der Deutsche dem Ruf der NATO-Geheimdienste gefolgt und binnen zwölf Stunden nach Brüssel geeilt, um die Lage zu analysieren. „Ich habe es soeben ausgeführt." „Ja, lang und breit. Jetzt aber mal kurz und bündig, bitte." „Washington ist noch nicht an der Reihe", versi cherte Urban noch einmal. „Der Libyer ist eine Trickkiste." Sie saßen in der improvisierten Bar, nahmen einen Drink und kauten Erdnüsse dazu. 98
„Washington", sagte Urban, „ist ein verdammt weites Stück von Tripolis entfernt. Für einen Angriff auf eure Hauptstadt fehlt Gaddafi einfach die Technologie." „Man kann ein Schiff mit viel Sprengstoff den Potomac hinaufschicken. Von einem Schiff ist doch die Rede?" „Gaddafi hat noch andere Gründe, sich in bezug auf die USA zurückzuhalten. Der Schlag, den Reagen vor Jahren gegen ihn führte, kam nicht von ungefähr. Gaddafi hat ihn durch Scheinangriffe seiner Jäger auf die Sechste Flotte und mit Schnell bootattacken gegen Flugzeugträger provoziert. Er wurde gewarnt, hörte nicht auf die Warnung und bekam was auf den Schädel. Ein Vergeltungsschlag gegen die USA, ganz gleich wo in der Welt, würde ihm eure geballte Faust zu schmecken geben. Nein, das riskiert er nicht. Er wird älter und abgeklärter." „ Du glaubst also an das Märchen von der Blutsbrüderschaft." „Kein Märchen", erklärte Urban. „Man hat ihn, ohne rechten Grund, wie er glaubt, aufs tiefste verwundet. Man entführte seinen besten Freund. Das ist eine völlig andere Situation. — Er handelt nach dem Gesetz der Ehre arabischer Machos. Er muß es tun, um sein Gesicht zu wahren, um sich den Ruf zu erhalten, tapfer und unerschrocken zu sein, ein loyaler Freund bis in den Tod, der Mann mit dem Charisma zum Anführer für den großen arabi schen Krieg. Sein Motiv ist: Ich bin der King." Der Amerikaner trank hastig und kaute noch heftiger die Erdnüsse. „Diese verdammten Peanuts", fluchte er. „Gibt nichts Schädlicheres für den Magen, und nichts 99
macht den Darm mehr kaputt als diese spitzen Dinger." „Aber sie schmecken", ergänzte Urban. „Und ein Gesunder hält es aus." „Seitdem ich diesen Fall bearbeite, bin ich bröselig wie alter Kuchen", gestand Creequer. Urban wußte warum. Er kannte einen der Gründe, weshalb Major Creequer die deutsche Theorie nicht zu seiner eigenen machte. „Ihr gabt Gaddafi wirklich einen Grund", äußerte Urban. „Du meinst diesen Geologen, den Experten für künstliche Erdbeben zur Auffindung von unterirdi schen Öllagerstätten." „Er war Al-Burkan-Mann. Ihr habt ihn als Spion eingeschleust. Sie haben es gemerkt und ihn mit Knollenblätterpilz vergiftet." „Es waren Fliegenpilze. Gaddafi hat ein Gedächtnis wie ein Elefant. Er rechnet alles auf, bis eines Tages die Summe erreicht ist, bei der er zuschlägt." „Aber nicht in Washington." „Was wäre", fuhr der Amerikaner fort, „denn die Aufgabe unseres Mannes, den der LSS vergiftete, in dem Viererteam gewesen?" Urban überlegte. „Ein Funkingenieur, ein Chemiker, ein friesischer Kapitän und ein Tektologe. Setzen wir das Puzzle mal zusammen. Der Funkingenieur ist Fachmann für Fernsteuerung. Eine Ladung Sprengstoff, die der Chemiker durch irgendwelche Zusätze in der Wirkung verbessert, wird durch Funk ausgelöst, sobald das Schiff am Zielort angelangt ist und die 100
Besatzung es verlassen hat. Der deutsche Kapitän soll es dorthin bringen." „Und warum ein Deutscher?" „Weil man das Schiff wohl als deutschen Linien frachter tarnt. Man traut den Hafenbehörden näm lich zu, daß sie einen deutschen Kapitän von einem libyschen unterscheiden können. Sie denken wirk lich an alles." „Und unser Geologe, welcher Job war ihm zugedacht?" „Er sollte berechnen, wo ein Schiff voll Spreng stoff die beste Explosionswirkung hinterläßt. Ver giß nicht, Schiffe schwimmen im Wasser, einem elastischen Element. Wasser kann unter bestimm ten Umständen eine federnde Wirkung haben. Wasser schluckt Explosionsenergie. Man wünscht aber die volle Kraftentfaltung. Deshalb engagierte man einen Fachmann zwecks Analyse des Zielha fens sowie des Liegeplatzes im Hafen. Vielleicht dachte man auch an eine Flußmündung oder daran, den Frachter an einem geeigneten Punkt der Küste in der Nähe einer Industrieansiedlung oder einer Stadt auf Grund zu setzen. Die Wirkung soll jedenfalls exakt berechnet werden." Der Amerikaner kam jetzt auf das Transportmit tel zu sprechen. „Ist es ein Schiff oder nur ein Phantom?" „An der Westküste Nordafrikas wurden alte Schrottplätze mit überlagerter Munition überra schend schnell leergeräumt. Da man diesen Kriegs schrott nicht ins Meer geworfen hat, muß er verkauft und eingesammelt worden sein. Und zwar von einem Schiff. Mithin ist es kein Phantom." 101
„Aber es ist verschwunden. Also doch ein Phantom." „Es hat sich nur versteckt", befürchtete Urban. „Aber verdammt gut versteckt. Wir fanden es weder auf Satellitenfotos noch mit Aufklärern. Die spanische Marine, die jeden Hering da unten mit Namen kennt, meldet Fehlanzeige. Wo, zum Teufel, ist dieser Sprengstoffdampfer abgeblieben?" Urban leerte sein Glas und klopfte dem Amerika ner auf die Schulter. „Nicht auf dem Weg nach Virginia, mein Freund." „Wir würden ihn torpedieren und bombar dieren."
„Das bleibt euch immer noch." Über Lautsprecher wurde Urban ans Telefon gebeten. Später, als Urban das Hauptquartier von Nato-Nord verließ, traf der Amerikaner ihn noch einmal. Creequer sah Urbans Reisetasche. „Wir sind noch nicht fertig hier", protestierte er. „Ich schon", antwortete Urban. „Wer entscheidet das?" „Die Wichtigkeit einer Sache, Völlig neue Lage."
„Habt ihr das Schiff?" „Nicht den Drachen, aber sein Ei." „Du bist hier als Experte Nummer eins." „Tut mir leid", bemerkte Urban. „Ich habe das Okay von ganz oben. Die Sache hat Vorrang." „Und wo findet man dich?" Urban zögerte. Der Amerikaner gehörte einem Kreis von Leuten an, die weitreichende Verbindun gen hatten, und denen auf Dauer nichts verborgen blieb.
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„In Kairo", sagte Urban, „bei den Pyramiden. Ich möchte hin, bevor sie endgültig verwittert sind." Urban ließ die Scheibe des Dienstwagens, der ihn zum Flugplatz brachte, hochsurren und tippte einen Gruß an die Schläfe. Der schwarze Citroen mit dem NATO-Wappen an den Seiten zog an.
11. El Dschahur, der Führer der Opposition gegen Gaddafi in Ägypten, verließ das Ministerium am Azbakia Park und sagte seinem Fahrer, er solle ihn nach Hause bringen. Der Führer der Al-Burkan-Loge unterhielt aus Gründen der Sicherheit mehrere Wohnungen. „Heute ist Nummer drei in Heliopolis dran, Sergeant." Der Exil-Libyer war stets bemüht, daß aus dem Wechsel seiner Verstecke kein bestimmter Rhyth mus zu erkennen war. Nach drei Tagen spätestens stieg er in einem anderen Quartier ab. Ausnahms weise beschloß er, eine vierte Nacht in Heliopolis zu bleiben. Doch auf dem halben Weg dorthin, als sie den Flughafen schon passierten, überlegte er es sich anders. „Zur Zamalek-Brücke." Der Fahrer wendete und nahm den kürzesten Weg zum Bahnhof, dann die Galaa-Straße hinunter. Vor der Einmündung zum Nilufer ließ Dschahur anhalten. Er betrat ein Cafe, telefonierte, und als er herauskam, sagte er: „Zum Shepard's Hotel." 103
Vor dem Hotel brauchten sie nicht zu warten. Ein Mann in dunkler Hose und weißem Hemd, der aussah wie ein Angestellter, trat aus dem Seiteneingang und setzte sich zu dem Präsidenten der Loge in den Fond. Er hatte die Telefonzentrale des Hotels unter sich und war der Nachrichtenoffizier der Verschwörergruppe. Kaum war der Ford angefahren, platzte er mit der neuesten Information heraus. „Anruf aus der Heimat." „Tripolis?" „Nein, Misurata. Marinebasis. Ein Frachter, etwa zehntausend Tonnen, geflaggt in Panama, Rumpf blau, Aufbauten weiß, Schornstein blau, Name Good Wind, ist in der Nacht eingelaufen und unter Tarnnetzen vertäut worden." „Das ist das Schiff", sagte Dschahur, „das mir beschrieben wurde. Es gilt als von den Weltmeeren verschwunden." „Was soll dieser Zivilfrachter auf unserer streng gesicherten Marinebasis?" Der Führer der Exil-Libyer ahnte es. Er sprach aber nur über Dinge, die in logische Zusammen hänge zu bringen waren. „Unser Mann in Misurata soll die Augen offen halten."
„Natürlich wird er das." „Was spricht man drüben über Ramu?" „Man hält ihn für tot." „Dann schlägt der King zu." „Wird er wohl müssen." „Das ist der Galgenstrick, an dem er sich selbst erhängt. Einen Krieg, eine Art Privatkrieg aus familiären Gründen, das nimmt ihm das Volk nicht ab. Seine Tage sind gezählt." 104
„Hoffen wir es", sagte der Nachrichtenoffizier der Verschwörer. Sie ließen ihn beim Ägyptischen Museum aus steigen. Wenig später betrat Dschahur mit gewohnter Vorsicht seine Wohnung am Nilseitenkanal. Nichts hatte sich verändert. Nur die Reste seiner letzten Mahlzeit im Kühlschrank waren in Verwesung übergegangen.
Bei Dunkelheit trafen sie zusammen. „ Wir hatten eine Spur", meldeten sie, „verloren die Spur, nahmen sie aber in Alexandria wieder auf." „Und verlort sie wieder", ergänzte Dschahur die Berichte seiner Agenten. „Der Satan soll ihn holen, Ramu, diesen Hundesohn." „Er stützt sich auf die ägyptische Organisation seines Dienstes." Der Präsident der Loge bezweifelte das. „Er traut keinem." „Wir haben nur zwei Leute im LSS-Netz in Ägypten."
„Was melden sie?" „Man hat sie nicht informiert. Vermutlich stehen sie auf der Liste der unsicheren Elemente. Sie wissen nur folgendes: Ramu hat das Camp der Israeli im Negev verlassen und ist in Ägypten." „Aber noch siebenhundert Kilometer von Libyen entfernt." „Er kann sich telefonisch bei seinem Blutsbruder melden." Dschahur winkte ab. 105
„Das wird er nicht. Leitungen werden abgehört. Das Risiko wäre zu groß. Nie ist ein Mensch vorsichtiger als auf der Flucht. Und was ist schon eine Stimme, die aus dem Draht kommt. Es zählt nur, wenn man sich gegenübersteht, Auge in Auge, Angesicht zu Angesicht. Er hält sich versteckt und wird versuchen, nach Tripolis zu gelangen." „Das müssen wir verhindern", forderte einer der Al-Burkan-Männer. „Sonst ändert Gaddafi am Ende seine Pläne." „Ohne diesen Wahnsinn und seine Durchführung bleibt er so fest im Sattel wie bisher." „Man wird ihn schwerlich stürzen können, solange er das Volk auf seiner Seite hat. Im Falle eines Krieges ändert sich das schlagartig. Dann ist der Mob nicht zu halten." „Also müssen wir Ramu kriegen, töten und behaupten, der Mossad wäre es gewesen." Vielmehr gab es nicht zu sagen. Der ehemalige Geheimdienstoffizier Ali Dscha hur begann, die Suche nach dem Blutsbruder des Staatschefs zu organisieren. „Machen wir in Alexandria weiter." „Wie viele Leute bringen wir auf?" „Zu wenige. Wie steht es mit den Ägyptern?" „Sie sind auf unserer Seite", erklärte Dschahur. „Fahndungsfotos gehen hinaus. Sie werden bereits gedruckt. Die Ägypter wissen, wir sind ihre Freunde, und der King ist ihr Feind. Sie werden tun, was sie können." „ . .. was sie wollen", schränkte einer der Logen offiziere ein. „Und das ist zu wenig. Vergeßt nicht, die Mullas stehen auf Gaddafis Seite. Polizei und 106
Armee in diesem Staat sind von Angehörigen der Mullas durchsetzt." Der Führer der Loge sah das anders. „Ägypten ist eines der verschuldetsten Länder der Welt. Nur zwei Gruppen können Ägyptens Staatskonkurs verhindern. Und beide Gruppen sind interessiert, daß der King beseitigt wird. Die USA und wir. Haben wir erst Libyen unter Kontrolle, dann haben wir auch das öl unter Kontrolle. Die Wirtschaftshilfe für Kairo wird uns Milliarden kosten, aber der Sieg ist das wert. Und den USA ist unser Sieg sogar noch eine Menge mehr wert." „Das sind alles Illusionen, wenn der King nicht über seinen eigenen Rachewahn stolpert." „Deshalb", lautete die erste und die letzte Forde rung von Ali Dschahur, „sucht ihn, findet ihn, tötet ihn, und werft ihn als Opfer des Mossad vor Gaddafis Füße." Sie entfalteten die grüne Fahne des arabischen Krieges und erneuerten ihren Schwur. 12. Ramu G., der Mann aus Libyen, überquerte den Suez-Kanal auf der Fähre. Die Brücke war im Sechstagekrieg gesprengt und nicht wieder aufge baut worden. Der Libyer mischte sich unters Volk, das sich zwischen den Lastwagen und Bussen an Oberdeck verteilte. Dort fühlte er sich zum erstenmal sicher. Er schnorrte einen Bauern um Tabak und Papier an. Während er sich die Zigarette drehte, zitterten seine Hände noch. Sie hatten früher nie gezittert, es 107
hatte erst nach seiner Entführung von der JenkinsYacht begonnen. Es war nicht die Angst - Angst auf egal welche Art war schon von Jugend an sein Begleiter -, aber es gab da eine berüchtigte Krankheit. Ihr Name war ihm entfallen. Sie befiel Männer seines Alters, hatte er sich sagen lassen. Der Bauer bot ihm Feuer. Ramu starrte ins Kanalwasser, während die Fähre schräg zum El-Ballah-Ufer hinübertuckerte. Als bei den Autos schon die Motoren ansprangen, machte er sich an einen LKW-Fahrer heran. „Nach El Qahira?" So nannte sich hier die Hauptstadt. „Nein, Alexandria über Zagazig."
„Auch recht." Ramu stieg ein. „Was kostet es?" „Nichts, für einen, der so ausgehungert ist wie du, Bruder." Sie fuhren mit vierzig Tonnen Öl auf dem Hänger in einem Rutsch durch. Es wurde früh dunkel um diese Jahreszeit. Als sie nach Zagazig kamen, gingen schon die Lichter an. An einer Ampel stieg der Libyer aus und ver schwand in der Menge. Immer wieder schaute er sich auf dem Weg zum Basar um. Kein Verfolger war zu sehen. Er hatte noch Goldmünzen. Zwei davon wollte er in Landeswährung umtauschen. Das machten die Schmuckhändler. Er suchte sich den richtigen aus. Keinen supereleganten Laden und keinen der her untergekommen war, wo man nur beschissen wurde. Er wartete, bis die Kunden gegangen waren, und legte zwei Münzen auf den Glastisch. Der Schmuckhändler schaute ihn an, nahm eine Münze unter die Lupe und brummte. 108
„Du wartest hier." Da packte der Libyer sein Handgelenk. „Wenn du telefonierst, steche ich dich ab." „Mit wem sollte ich telefonieren?" „Der Polizei." Der Juwelier deutete zur Wand. „Dort ist mein Telefon und hinten meine Werk statt. Ich prüfe nur die Echtheit." Er kam ziemlich bald wieder. „Vierhundert Dollar pro Stück", bot er. „Fünfhundert." Der Juwelier wollte den Mann loswerden. Sie einigten sich bei vierhundertfünfzig Dollar oder neuntausend ägyptischen Pfund. Der Libyer steckte die Papierrolle ein.
„Jetzt darfst du telefonieren", sagte er. „Und zwar nach einem Taxi."
Mit dem Taxi fuhr er zum Bahnhof. Aber nicht in Zagazig, sondern zur nächsten Station in Zufta. Der Zug nach Kairo ging um 23.00 Uhr. Nach Alexan dria schon in einer Stunde. Neben dem Fahrplan hing eine vergilbte Land karte unter einer zerfetzten Folie. — In Kairo konnte man besser untertauchen. Aber wenn sie ihn fanden, war dort auch die Hölle heißer, weil sie in der Hauptstadt ihre Kräfte versammelt hatten. Von Alexandria zur Grenze nach Libyen hatte er noch vierhundert Kilometer. - Küstenlinie gerechnet. An der Küste gab es Fischer und Boote. Der Heimweg von Kairo hingegen führte durch die Wüste. Von Geburt an konnte er sich in der Wüste 109
besser bewegen als auf dem Wasser, aber gerade das Wüstengelände wurde von beiden Seiten scharf kontrolliert. Er wählte den Zug nach Alexandria. Vorher rief er an. Es war die Nummer jener Leute, die er schon vom Arzt aus verständigt hatte. „Bringt einen Wagen nach Alexandria. Vollge tankt, Papiere und eine Waffe. Bis morgen früh. Und sorgt für ein Versteck. Adresse sowie den Weg dorthin zeichnet in den Stadtplan." Sie sagten nicht, daß es Schwierigkeiten gebe oder die Zeit zu kurz sei. Sicherlich ahnten sie, wer er war. . „Wird erledigt", versprachen sie. „Ruf an, wenn du in Alexandria bist, Bruder." Ramu löste die Fahrkarte, setzte sich draußen auf eine Bank und beobachtete die Umgebung. Er konnte nichts Beunruhigendes feststellen. Da war er wie ein Hund. Wenn er nichts sah, dann gab es auch nichts. Er sprang auf, als der Zug schon anfuhr. Nun hatte er fünf Stunden Zeit, um zu schlafen. Einmal kam der Schaffner und kontrollierte die Fahrkarte. Später der Kellner mit Tee. Er nahm ein Glas und eine Tüte mit süßen Vanillebiskuits. Sie waren hart. Er fühlte Schmerzen beim Kauen. In der Gefangen schaft hatten sich seine Zähne gelockert. Skorbut oder beginnende Paradentose. Kein Wunder bei dem vitaminreichen Fraß im Camp. Der Zug hielt oft. Erst die letzten fünfzig Meilen auf Alexandria zu donnerte er durch die Nacht. Im Osten begann es zu dämmern. Am Bahnsteig in Alexandria gingen die Lampen aus. Der Libyer betrat einen Friseurladen. Seit dem Tag, an dem sie ihn gekidnappt hatten, hatte er sich nicht mehr 110
rasiert. Er sah wild aus, wie ein entsprungener Sträfling. Wangen und Kinn ließ er glatt rasieren. Der Bart auf der Oberlippe mit Spitzen über die Mundwinkel tarnte ihn ausreichend. Mit dem Bus fuhr er in die Stadt, kaufte im Basar ein Hemd, eine Hose und eine alte Lederjacke. Dann telefonierte er wieder. „Du bist schon in Alexandria, Bruder?" „Nein", log er. „Komm zu uns her."
„Nein." „Der Wagen steht hinter dem Zollamt, wo es zur Zypern-Fähre geht. Ein gelber Ford Anglia. Schlüs sel in der Tankkappe. Den Rest findest du in der Türtasche links." „Ich melde mich." Er legte auf und ging zu Fuß zum Hafen. Es war nicht weit. In weltoffenen Städten wie Alexandria hatte man die Eisenbahn so weit wie möglich an den Hafen herangeführt. Vor dem Hospital parkten viele hundert Autos. Er brauchte einige Zeit, bis er den gelben, angerosteten Anglia entdeckte. Sie hatten professionell gearbei tet. Er fand den Schlüssel und das andere in der Türtasche. Der Tank war voll, der Motor sprang willig an.
Während der Mann aus Libyen anhand der Karte den Weg zu der Wohnung am Nordrand der Stadt nahm, arbeitete sein Gehirn auf drei verschiedenen Ebenen. 111
Zuerst mußte es den dringenden Wunsch, sofort und auf schnellstem Weg nach Westen in Richtung Heimat zu fahren, unterdrücken. Auf der Küsten schnellstraße konnte er bis zum Mittag dort sein. Aber was dann? - Die Grenze war dicht. Natürlich kam man über jede Grenze, aber irgendwann würden seine Jäger aus den Löchern auftauchen und hoffen, daß er ihnen an der Grenze nach Libyen in die Arme lief. Also mußte er den letzten Abschnitt seiner Flucht anders planen. Erst ein paar Tage den Kopf wegstecken, abwarten, sie müde machen, zermür ben. Dann in einer Nacht in einem Rutsch rüber. Möglichst mit Voranmeldung, damit sie drüben etwas organisierten, ein Loch in der Grenze, eine Auffangstellung. Er kam in ein schmutziges Neubauviertel mit unverputzten Hochhäusern, kaum halbfertig und schon bezogen. Überall Abfall, Müll, Autowracks, verwahrloste Kinder, Hunde. Er rollte einmal durch und zurück und fühlte, daß das hier eine Falle war. Alleinstehende Häuser mit zehn und mehr Stockwerken waren immer Fallen. Egal ob Feuer ausbrach oder ob man einen Mann verfolgte. Er fuhr in die Stadt zurück. Mitten im alten Viertel, hinter der Koptenkirche in einer schmalen Gasse, fand er ein Haus, wo Zimmer zu mieten waren. Er fragte und bekam einen Wohnraum mit Bett, Tisch, Stuhl und Schrank nach hinten hinaus. Über den Balkon konnte man die Wohnung verlas sen. Vorausgesetzt, man schaffte die zwei Meter zum Dach des nächsten Hauses. Dort gab es ein Spalier und einen Hinterhof mit Bretterstapeln. 112
„Gemietet", entschied er. „Eine Woche." Er zahlte im voraus. „Mit Tee?" „Ohne. Ich komme und gehe unregelmäßig. Kann ich mein Auto in den Hof stellen?" „Das Tor ist immer offen", sagte die alte Frau, der das Haus gehörte und deren Kinder aufs Land gezogen waren. Er verhielt sich unauffällig, kaufte sich eine Krawatte, eine Brille und einen Trenchcoat. Am nächsten Morgen, als er das Haus verließ, sah er zum erstenmal einen Burschen, der ihm mißfiel. Er kauerte etwas weiter oben in einer Nische und lutschte an einem Stück Süßholz. Der Mann aus Libyen glaubte zu wissen, daß dieser Mann ebenfalls Libyer war. Der Unbekannte folgte ihm, aber Ramu schüttelte ihn ab und sah ihn auch nicht wieder. — Sie wechselten die Beschatter. Das war es. Er speiste ausgiebig zu Mittag, rief noch einmal die Nummer in Tripolis an, kam aber nicht durch, wie schon zweimal vorher. Teufel, was ist drüben los, dachte er und beschloß, das Quartier zu wechseln. Zurück in seiner Wohnung, schlief er bis zur Dämmerung. Als es dunkel wurde, kletterte er über den Balkon und das Dach in den Hinterhof. Er warf seine Sachen in den Ford Anglia, prüfte Öl und Wasser, öffnete das Tor und fuhr ohne Licht hinaus durch die Gassen, durch die Stadt in Richtung Westen. Als er den Ford zum erstenmal auf Tempo fünfzig hatte, mitten im Strom anderer Wägen, bemerkte er es. - Er mußte blind gewesen sein, seine Ohren taub, 113
sein siebter Sinn weggetreten. - Das Geräusch, der Atem in seinem Nacken, der kalte steife Druck im Genick, das war das Ende. „Du tust genau, was ich dir sage, Ramu." Der Mann sprach akzentfreies libysches Arabisch. „Oder ich jage dir eine Kugel hinten hinein und vorne heraus." „Ihr habt gewonnen", sagte der libysche Geheim dienstchef. Er dachte aber nicht daran, sie den kurzen Sieg auch genießen zu lassen.
Ramu wurde in das Neubauviertel am nördlichen Stadtrand, das er für zu gefährlich gehalten hatte, dirigiert. „Ihr Verräter", sagte Ramu. „Ihr Schweine." „Nein, Kämpfer gegen die Diktatur für die Freiheit", antwortete der andere. „Wenn wir erst gesiegt haben, wird man uns Denkmäler errichten." Ramu fragte sich, wie sie ihn gefunden hatten. Er war nicht in die vorbereitete Falle gegangen, also hatten sie ihn gesucht. Ein gelber Anglia, was für eine idiotische Signalfarbe. Und wo versteckte sich ein Mann? Natürlich dort, wo viele Menschen dicht zusammenlebten. Ramu mußte den Anglia am letzten Hochhaus nahe der Eisenbahnlinie parken und zweimal hupen. Als oben Licht anging, hupte er noch einmal. Dann dauerte es nicht lange, und zwei Männer kamen aus dem Haus und quer herüber zum Parkplatz. Vor dem Anglia blieben sie mit gezogenen Waffen stehen. 114
„Er lebt ja noch, dieser Bastard." „Sollen ihn andere umlegen." „Der Befehl war eindeutig." „Ich habe ihn hergebracht und basta." Sie rissen die Tür auf, zogen Ramu heraus, hämmerten ihm eine Waffe in den Nacken, daß er taumelte und keuchend würgte. Aber er stand. Sie stießen ihn vorwärts. Zwei gingen neben ihm, einer hinten. Der neben ihm drückte den Lauf der Waffe in seine Niere. Ramu hatte sich schon des öfteren in einer bösen Lage befunden. Aber diese war aussichtslos. Er war in ihrer Hand. Diesmal in der Hand der Kontras wie vorher in den Händen der Israeli. Die Israeli hatten Gründe gehabt, ihn nicht zu töten. Seine Landsleute hatten Gründe, dies sofort zu tun. Aber warum brachten sie ihn erst nach oben. Leichen aus Hochhäusern wegzuschaffen war kein leichtes Geschäft. Aber er wußte wohl mehr als sie alle. Darauf kam es ihnen an. Sie mochten noch zwanzig Schritte vom Haus entfernt sein. Drüben ging das Licht aus. Dann ging es wieder an. In der Tür wartete ein schlanker Bursche, eigentlich nur als Silhouette erkennbar. „Samir!" riefen sie. „Ist was?" Und weil er nicht antwortete, fragten sie: „Was ist Samir?" „Polizei! " rief der Mann im Haus. „Deckung! " Die zwei neben Ramu spritzten weg, der hinter ihm packte ihn am Arm, riß ihn hinter einen Lastwagen und dort zu Boden. Sie lagen da, warteten und lauschten. „Verdammt, sie sind ohne Sirene gekommen", fluchte der Al-Burkan-Agent. 115
„Sie sind schon da", frohlockte Ramu. Der andere lachte leise. „Nicht deinetwegen, Ramu." „Euretwegen etwa?" „Irrtum, sie sind auf unserer Seite." Sie hörten Schritte und das Hecheln eines Hundes. Der Lange, den sie Samir nannten, war verschwun den. Doch mit einemmal kam er um den Lastwagen herum. Es war dunkel. So dunkel, daß man die zwei Männer am Boden nicht unterscheiden konnte. Samir fragte: „Ramu?" Der Gefangene hob die Hand. „Ich lege ihn um, und wir hauen ab", sagte der Mann neben Ramu und bewegte die Hand mit der Waffe. Der Lauf schimmerte matt. In dieser Sekunde, noch ehe der Schuß fiel, hob sich ein Arm. Mit dem satten Klatschen eines Metzgerbeils, wenn es Knochen durchtrennte, traf er ein Genick. Es war nicht Ramus Genick, sondern das des Killers der Al-Burkan-Loge. Ohne einen Ton, abgesehen von einem leisen Seufzer, ging er in tiefen Schlaf über. Er zuckte noch einmal mit den Beinen wie ein Hund im Traum, dann schlaffte er weg. „Kommen Sie, Ramu", flüsterte der Mann aus dem Dunkel. „Wer sind Sie?" „Später." „Wohin?" „Fünfzig Meter, wenn wir die schaffen . . ." Sie schlichen an den Büschen entlang. Dann hörten sie die anderen rufen. „Wo seid ihr?" 116
„He, Samir!" Ramu reagierte schnell. Er imitierte die hohe Stimme seines Henkers und antwortete: „Haltet die Schnauze! Hört ihr die Sirenen? Nichts wie weg!" Sie vernahmen hastige Schritte, mit denen die anderen ihre Positionen wechselten. Dann hatten sie die fünfzig Meter geschafft. Versteckt zwischen einem Stapel Betonsteine und einem Abfallhaufen, stand ein schwarzer Mercedes. Sie stiegen ein und fuhren ohne Licht weg.
Ramu blickte den Fahrer des Wagens an. „Ich kenne Sie." Der andere sprach wenig, wie schon vorher. „Unmöglich." „Mossad?" Der Retter grinste. „Wir können Sie doch nicht vor die Hunde gehen lassen. Nicht auf diese Art." „Wohin bringen Sie mich?"
„In Sicherheit." „Wo ist die? In Tel Aviv?" „Zunächst am Flugplatz", erklärte der große, schlaksige Kerl mit dem klassischen Profil. Erst auf der Zubringerstraße zum Flugplatz schaltete er die Beleuchtung ein. „Damit hat die Loge wohl nicht gerechnet", äußerte Ramu G. „Ja, sie bekamen wohl ein paar Flusen ins Sieb." „Sie sind zu blöd, um einen Regenschirm aufzu machen. Und so was will die Regierung meines Landes übernehmen." „Fast", sagte der Fahrer des Mercedes, „hatten sie den Regenschirm aber schon aufgespannt, Sir." 117
Der Libyer war sehr erleichtert. Er geriet beinah in Euphorie. „Dieser Dschahur". fuhr er fort. „Wissen Sie, wo Sie sein Foto finden? Im Lexikon unter Idiot." Der Fahrer lächelte, aber nur im Mundwinkel. „Freuen Sie sich nicht zu früh", riet er dem Libyer. „Egal wer Sie rettete, der Teufel oder ein Engel, beide wollen Ihre Seele." 13. Der libysche Marinehafen Misurata war gesichert wie eine sowjetische Raketenbasis. Doch seitdem der Frachter Good Wind unter den Tarnnetzen lag, war er wie hermetisch abge schlossen. Vor seiner letzten Reise waren an dem Frachter noch Arbeiten zu verrichten. Zunächst wurde die Ladung nach den Wünschen eines Sprengstoffex perten umgeschichtet. Dann kamen schwere Last wagen zur Pier gerollt. „Was wird das?" fragte der Projektleiter den Pionieroffizier. „Ich konnte einige Tonnen Semtex organisieren, Major." „Semtex ist doch dieser neue britische Super sprengstoff." „Richtig. Ich würde sagen, wenn es überhaupt gelang, die Wirkung von TNT noch zu verstärken, dann ist das mit Semtex gelungen. Wir packen ihn zwischen die alte Munition. Damit ist die Wirkung garantiert." Das Semtex wurde ordnungsgemäß verstaut. 118
Inzwischen war die Anstreicherkolonne der Marine schon an der Arbeit. Der Schornstein bekam die Ringe des hanseatischen Lloyd. Dreimal wurde der Name Goedekke auf den Rumpf gemalt. Beider seits des Bugs und am Heck. Schwierigkeiten bereitete die Schrift. Zwar hat ten sie Fotos, aber es kam ihnen so vor, als seien die Buchstaben zu groß geraten. „Das merkt keiner", entschied der Projektleiter. „Beeilt euch. Die Farbe muß noch trocknen." Die Experten für Funkfernsteuerung und Funk fernzündung gingen an Bord. Sie verdrahteten die Zündboxen, schalteten die Relais auf Batterien und die Funksensoren auf die Antennen. Dann folgte der Test, Sie telefonierten mit einem Mann im fernen Tripolis. Der funkte ein codiertes Signal. Als die Sensoren darauf ansprachen, waren sie zufrieden. „Wenn ich diesen Schalter hier", sagte der Experte zu dem Projektleiter, „diesen roten Schalter auf On gelegt hätte, dann wäre Misurata jetzt ein Schrottplatz." „Nur", spottete der Projektleiter, „wäre mir ein Hafen in Israel lieber." Nachdem der Sprengstoff-Frachter von den Tech nikern einsatzklar gemeldet war, warteten sie auf die Nachricht aus Marseille, wo die echte Goedekke lag und Ladung nahm. Am Dienstag war es soweit. Die Strategen beim Geheimdienst machten die Hochrechnung, auch Kreuzerrechnung genannt. Wann stand der Frachter des Hansa-Lloyd so nahe, daß man ihn kapern konnte, vorausgesetzt er nahm den gewohnten Kurs zwischen Korsika und 119
Sardinien durch die Straße von Bonifacio, das Tyrrhenische Meer querend, geradewegs auf Sizilien zu, durch die Meerenge von Messina und dann Kurs 115 Grad. In wieviel Stunden passierte er nördlich Tobruk die Küste. - Dampfer geizten mit Zeit, Weg und Brennstoff. Sie nahmen immer den kürzesten Weg.
Die falsche Goedekke fuhr nur nachts und blieb innerhalb der libyschen Zwölfmeilenzone. Jäger der Luftwaffe sorgten dafür, daß sich dem Kurs des Sprengstoffschiffes kein anderes Fahrzeug näherte. Selbst Linienflugzeuge der internationalen Gesellschaften wurden angewiesen, andere Routen zu nehmen. So glaubte man vor Fernaufklärern sicher zu sein. Gegen U-Boote der 6. Flotte sicherten Jagdfregat ten, Schnellboote und zwei Zerstörer den Dampfer ab, als handelte es sich um einen Geleitzug mit dem Propheten Mohammed an Bord. Tagsüber suchte der Frachter in einer verschwie genen Bucht oder bei einer Insel Deckung. Dann lief das Tagesprogramm an. Die Besatzung durfte alles darstellen, aber keine libyschen Seeleute. Filipinos, Malaien, Chinesen, Sudanesen, alles, aber keine Libyer. Bei Alarm ging es darum, das Schiff blitzartig zu verlassen. Erst versuchte man es mit den Rettungsbooten. Das dauerte zu lange. Außerdem waren die Davits festgerostet und die Boote morsch und unbrauchbar. Also schrieb man eine andere Seenotrolle. Man warf Schlauchboote über Bord. Die Besat 120
zung sollte auf ein besonderes Signal hin ins Meer springen. Zwei Matrosen konnten nicht schwimmen. Man brachte es ihnen bei. Außerdem bekamen sie die neuen Schwimmwesten mit dem luftgefüllten Hals kragen. Mit laufender Stoppuhr überwachte der Projekt leiter alle Manöver. Als er endlich zufrieden war, lauteten auch die Wettervorhersagen günstig, Zu diesem Zeitpunkt, zwei Nächte nach dem Auslaufen in Misurata, stand der SprengstoffFrachter noch sechshundert Seemeilen von Tel Aviv entfernt. Bei einer Geschwindigkeit von zwölf Knoten war diese Distanz in etwas mehr als zwei Tagen zu scharfen.
In der Nacht zum Freitag lief der Kombifrachter Goedekke des hanseatischen Lloyd Kurs 125 Grad, um von Kap Lithinon mit der nötigen Distanz klarzukommen. Auf 27 Grad Ost, nahe der Insel Kasos, lag plötzlich starkes Rauschen im Äther. Der Funker meldete Totalausfall der Geräte. „Sonnenflecken", vermutete der Kapitän. „Ich denke, da feuert mal wieder die sechste USFlotte ihre Störfrequenzen ab", meinte der Funker. „Meldung, wenn die Störung beendet ist", ver langte der Kapitän, übergab die Wache an seinen Ersten Offizier und legte sich in der Kapitänskam mer schlafen. 121
Als er aufwachte, blickte er in die Mündung einer Maschinenpistole. Wie es dazu gekommen war, daß ein maskierter Terrorist vor seiner Koje stand, diese Frage stellte der Kapitän der Goedekke gar nicht erst, Es gab zu viele Möglichkeiten. Entweder waren die Burschen in Marseille heim lich an Bord geschlichen und hatten sich versteckt gehalten, oder sie waren mit schnellen Motorbooten längsseits gegangen und hatten den Dampfer wäh rend der Fahrt geentert. Zuzutrauen war ihnen alles. Und passiert war auch schon alles. „Was verlangen Sie?" fragte der in fünfunddreißig Seefahrtsjahren erfahrene Frachterkapitän. „Daß Sie Ihre Reise fortsetzen", lautete die Forderung. „Wohin?" „Das erfahren Sie gleich." „Das nennt man Shanghaien eines Schiffes, Gentlemen", protestierte der Kapitän empört. „Hören Sie", erklärte man ihm daraufhin. „Worte, Begriffe, Seerecht, Gesetze, sind uns absolut scheiß egal. Wir haben Ihr Schiff in der Hand. Falls einer Ihrer Leute versucht, ein Notsignal abzusetzen, egal wie, egal womit, dann gehen alle über Bord. Ohne Rettungsring, aber mit einem Loch im Kopf," Der Kapitän hatte für solche Fälle besondere Anweisungen. „Wo denken Sie hin", sagte er. „Wir fügen uns der Gewalt." Dieses Wort schien den Piraten zu mißfallen. Wenn der Kapitän gesagt hätte, daß sie sich ihren Wünschen fügen würden, hätten sie das noch 122
hingenommen, aber Gewalt war der falsche Aus druck. Sie schlugen den Kapitän nieder und fessel ten den Bewußtlosen, wie sie auch die anderen Offiziere inaktiviert hatten. Die Seeleute und das Maschinenpersonal fügten sich jeder Anordnung. Dies um so mehr, als den Befehlen mit Maschinenpistolen Nachdruck verlie hen wurde. „Brüder", erklärte einer der Männer, die man auf der Goedekke für Terroristen hielt, über Lautspre cher. „Euch geschieht nichts. Ihr werdet nur für drei Tage außer Dienst gestellt. Haut euch in die Kojen, oder zieht euch ein Video rein. Essen gibt es wie immer. Nur wenn einer durchdreht, dann wird er abgeknallt. Ist das klar?" Die Männer der Goedekke hielten sich daran. An Bord von Schiffen war es üblich, den Befehl desjenigen zu befolgen, der das Kommando führte. So stand es auch in den Heuerverträgen. - Und wer das Kommando führte, war ihnen egal. Zur Erhal tung irgendwelcher bestehender Ordnung waren sie nicht verpflichtet. Man bezahlte sie für ihre Arbeit, nicht für ihre Tapferkeit. Der Frachter Goedekke änderte seinen Kurs. Zwar nur um wenige Grad, aber er brachte ihn zu den Inseln, die der libyschen Cyrenaika vorgelagert waren.
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14.
Am Flugplatz von Alexandria stand eine einmoto rige Sportmaschine vom Typ Beechcraft Skipper bereit. Ein winziger, nicht gerade vertrauenerwek kender Zweisitzer. Der libysche Geheimdienstchef nahm rechts neben dem Piloten Platz. Im fahlen Schein der Cockpitarmaturen musterte er seinen Retter. „Ich kenne Sie", entschied er. „Wir sind uns nie begegnet." „Sie wissen, wer ich bin, und Sie dürfen davon ausgehen, daß ich mir alle wichtigen Männer aus der Branche eingeprägt habe. Ihr Dossier sowie ihr Aussehen." „Tüchtig, Sir. Wirklich beachtlich." „Sie haben ein Profil wie dieser Oberst Urban vom Bundesnachrichtendienst, genannt Mister Dy namit." „Besonders von der Seite", sagte Urban und startete den Motor. „Auch Ihr Foto ist im Lexikon. Aber unter Agenten. Rubrik: Top gefährlich." „Was ist Ihnen lieber? BND oder Mossad?" fragte Urban. „Am liebsten wäre mir, ich hätte nicht diese verdammten Kopfschmerzen. Meine Hände zittern, mein Schädel platzt gleich." „Meiner auch. Wen wundert's." Der israelische Geheimdienst hatte Urban den Ägypten-Tip zugespielt. Irgendwann hatte bei Mos sad die Vernunft gesiegt. Man hatte sich des militärischen Grundsatzes erinnert, wonach ein erkannter Gegner besser war als einer, über dessen 124
Stellung, Stärke und Absichten man im unklaren schwebte. Wir ließen ihn entkommen, hatten die MossadLeute Urban gemeldet, damit die Al-Burkan-Loge ihn umlegt. Inzwischen sind wir aber zu der Überzeugung gekommen, daß das Risiko heute und jetzt zu groß ist. Er soll am Leben bleiben und seinen Blutsbruder in die Arme schließen. Leider können wir nichts weiter tun. Übernimmst du das, Dynamit? Das war in Brüssel gewesen. Binnen weniger Stunden hatte er sich einge schaltet. In Kairo hatte er erfahren, daß der Libyer nach Alexandria gefahren war. Das Pflaster in Kairo war ihm zu heiß. Der Motor lief. Urban faßte in die Sakkotasche, zog einen Streifen in Folie gepackter Tabletten heraus und drückte zwei davon in seine Hand. „Eine Todespille statt einer Kugel?" fragte der Libyer. Urban schluckte die Thomapyrin. „Im Gegenteil, ein Lebensverbesserer. Nehmen Sie ruhig." Der Libyer würgte sie trocken hinunter. Er hatte es geschafft, als der Lycoming-Motor Touren zu legte. „Klingt recht dünn, das Motörchen." „Sind Sie Flieger, Sir?" „Früher. Aber Mitgliedern der Regierung ist die Benutzung einmotoriger Flugzeuge verboten." „Pardon, ich fand in der Eile kein anderes, Sir." „Wieviel PS?" fragte der Libyer, als ob es darauf ankäme. 125
„ Hundertfünfzig." „Mein Dienstwagen hat schon zweihundert." „Der ist ja auch gepanzert." „Eben." Kaum sind sie aus der schlimmsten Klemme, dachte der BND-Agent, stellen sie schon Ansprüche. Immer diese Kameltreiber. „Wir kommen damit, wohin wir wollen, Sir." „Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, Comman der. Aber wann immer möglich, habe ich die Komponenten meiner Sicherheit sehr ernst genom men. Werden wir mit diesem Floh auch unser Ziel erreichen?" Urban gab dem Lycoming-Motor halbes Gas. Der Tiefdecker vibrierte und setzte sich langsam in Fahrt. Trotz der Dunkelheit rollte Urban ohne Scheinwerfer, nur nach Gefühl zur Startbahn. Er orientierte sich danach, ob die Räder des Fahrwerks über Gras oder Beton rollten. Bald standen sie am Ende des langen, in Richtung Meer führenden Bandes der Startbahn.
„Müssen Sie sich beim Tower nicht abmelden?" fragte der Libyer. „Unnötig. Der Flug ist nicht angemeldet." „Bringt Sie das nicht in Schwierigkeiten?" „Vielleicht morgen früh", antwortete Urban. „Aber bis dahin sind wir längst. . . und außerdem, was, bitte, sollte ich der Flugleitung angeben?" „Natürlich nicht Libyen. Irgendeinen anderen Zielflughafen." Urban richtete den Zweisitzer aus, schob den Gasknopf voll nach vorn. In das Aufbrummen des Motors hinein rief er: 126
„Damit das klar ist, Sir. Libyen soll ohnehin nicht unser Ziel sein." Den Rest des Satzes fetzte ihm das Startgeräusch von den Lippen.
Schon nach wenigen hundert Metern rollen hatte Urban den fünfhundert Kilo leichten Vogel abgeho ben. Bis auf tausend Fuß mußte der Motor neunzig Prozent leisten. Dann nahm Urban das Gas zurück. Sie waren jetzt hundertachtzig Stundenkilometer schnell, stiegen weiter mit Kurs Nord. Sein Passagier blieb äußerlich ruhig. Nur am Spiel seiner Hände und seiner Finger sah Urban, was in ihm los war. Da wehten Stürme. „Nicht nach Libyen? Wohin dann?" brach es aus Ramu hervor.
„Zypern, Sir," „Das ist ebensoweit wie Libyen." „Etwas weiter, Sir." „Und Libyen wäre sicherer." „Vielleicht, Sir." „ Also warum, zum Teufel, fliegen Sie nach Zypern?" „Weil jedes Ziel nur so sicher ist wie der Weg dorthin, Sir", versuchte Urban zu erklären. Er stieg nicht höher als 1200 Fuß. So blieben sie unterhalb des Radarbereiches. „Haben wir nicht eine echte Chance, abgeschossen zu werden", bemerkte der Libyer. „Nein", erwiderte Urban mit fester Stimme. „Die Ägypter beschießen nur anfliegende Maschinen, die sie als Kriegsflugzeuge identifizieren. Ihr Radar ist 127
lückenhaft und sehr altertümlich. Sie werden uns wahrscheinlich gar nicht registrieren. — Anders Ihre Landsleute im Westen. Das libysche Radar ist hochmodern. Die Ostgrenze Libyens und die Küstenregionen sind gespickt mit Batterien von Boden-Luft-Raketen und automatischer Flak. Damit möchte ich keine Bekanntschaft machen. Die ballern doch auf jeden größeren Geier," „Stimmt", bestätigte der Libyer. „Oder kennen Sie eine Methode, sich durch Winken mit dem Taschentuch erkennbar zu ma chen?" Ramu G. spürte den Spott seines Retters und nahm ihn hin. Er war stolz auf die Abwehrkraft seines Landes. „Es gibt ein paar Korridore in der Wüste", deutete er schwach an, „die werden für diesen und jenen Zweck offen gehalten." „Leider", sagte Urban, „ist das zu weit. Wir haben nur für vier Stunden Sprit. Wenn wir mit sechzig Prozent Motorleistung auf dreitausend Fuß fliegen, kommen wir knapp hin. „Dann brauchen wir im Moment aber zuviel Benzin." Längst hatten sie jene Linie überflogen, die das Festland vom Wasser schied. Eine am Rande hellgrüne unregelmäßig verlaufende Küste. Außerhalb der ägyptischen Hoheitszone ging Urban langsam steigend auf Reiseflughöhe. „Nach Zypern also", sagte der Libyer wieder. „Und in welches Umfeld?" „Sie werden zufrieden sein, Sir." „Zu den Türken oder zu den Griechen. Die Insel ist doch geteilt." 128
„Auf einen Nato-Flughafen." „Dann war das nur eine kurze Freiheit. Ich meine zwischen zwei Gefangenen-Camps. Ist doch egal, ob man im Sinai oder in Zypern schmort." „Ich versichere Ihnen, Sir, Sie sind kein Gefan gener." „Sie retteten mich also aus reiner Menschlich keit." Urban nickte mehrmals und hielt plötzlich damit inne. „Ich erlebte schon Fälle, da starben hundert Menschen, damit wir einen einzelnen lebend irgendwo herausholten. Heute rette ich einen, um vielleicht Tausende am Leben zu erhalten." „Dann bin ich also ein Faustpfand gegen gewisse Maßnahmen Libyens." „Man kann es so sehen", räumte Urban ein, „aber auch anders. Sie kennen die Lage nicht, Sir." „Dann weihen Sie mich ein, zum Teufel. Ich bin der Geheimdienstchef meines Landes." Urban faßte sich so kurz wie möglich. „Ihr Blutsbruder Gaddafi plant eine fürchterliche Vergeltungsaktion. Man fürchtet nämlich, daß Sie tot sind. Aber Sie leben und sind relativ wohlbehal ten. Ich möchte nur, daß Sie Gaddafis Rachefeldzug stoppen." Sie stiegen auf 3000 Fuß. Hin und wieder nahmen ihnen Wolkenbänke die Sicht. „Er wird", hoffte Ramu, „darauf verzichten, wenn er weiß, wenn er den Beweis hat, daß ich lebe." „Warum", fragte Urban, „haben Sie sich nicht bei ihm gemeldet?" „Woher wissen Sie, daß ich das nicht tat?" „Ein Frachter, beladen mit zehntausend Tonnen 129
Sprengstoff, mit hunderttausendfachem Tod also, ist auf dem Weg zu einem Levantehafen. Natürlich zu einem israelischen. Haifa, Tel Aviv, Ashkelon, ich weiß es nicht genau. Das Schiff ist unauffindbar. Also schon unterwegs." „Ich habe es versucht", äußerte der Libyer auf Urbans Eröffnung hin, „ihn anzurufen." „Man muß das Schlimmste verhindern, diesen totalen Wahnsinn beenden." Der Libyer schwieg. Sein Schweigen drückte alles aus. Dann schluckte er schwer. „Ich habe es wirklich versucht." „Nun, als Mann auf der Flucht hatten Sie wohl keine allzugroßen Möglichkeiten, Ihren King zu sprechen. Wir versuchen es von Zypern noch einmal." „Ich hatte schon die Staatskanzlei", sagte der Libyer. „Aber der Oberst ist verschwunden. Zugege ben, ich schöpfte nicht die allerletzte Möglichkeit aus. Dazu hätte ich Geheimcodes durchgeben müs sen, die nur Leuten aus der Regierung bekannt sind. Damit hätte ich mich möglicherweise verraten ausgeliefert." „Wie in Alexandria." „ Natürlich haben wir Feinde", räumte der Geheimdienstchef ein. „Wichtig ist nur, daß dieses Schlachtschiff, ich meine das im Sinne von Schlachthof, gestoppt wird." „Wenn ich meinen Bruder erreiche", versicherte der Libyer, „wird er meinem Rat folgen. Es gibt tausend Dinge, die nur er und ich kennen, womit er mich identifizieren kann." Urban schaute auf die Uhr. 130
Sie hatten erst die Hälfte des Weges zurückgelegt. Noch zwei Stunden. Es zog sich zu. Als er eine halbe Stunde blindgeflogen war, in einer Maschine, die für Blindflug nicht eingerichtet war - außer Kompaß, Geschwindigkeitsmesser, Höhenmesser und künst lichem Horizont hatte sie nichts zu bieten -, ging er tiefer. Endlich war er dem Ziel so nahe, daß er dem NatoStützpunkt Limassol seinen Anflug melden konnte. In der Frühdämmerung näherten sie sich Zypern. Die Insel war noch nicht zu sehen, da tauchten beidseits der Beechcraft zwei Marinekampfflug zeuge auf. F-18 der Air Force. Da ihre geringste Geschwindigkeit etwa doppelt so hoch lag wie die Maximalgeschwindigkeit der Beech, zogen sie übersie hinweg, beschrieben einen weiten Kreis und kamen wieder. Aber in behütender Absicht. „Was für ein Empfang", staunte der Libyer. „Ein Roter Teppich", sagte Urban, „wäre billiger. Steht aber nur Staatschefs zu." Siebzig Minuten später setzte Urban das kleine Flugzeug auf die Erde. In diesem Fall ein wenig hart. Man konnte sagen, er schmiß sie regelrecht hin. Schließlich hatte er seit vierzig Stunden kein Auge mehr zugemacht.
In den nächsten Stunden wurde der libysche Geheimdienstchef, soweit dies überhaupt möglich war, in die Lage eingeweiht. Er bekam Fotos des Frachters vorgelegt. Man nannte ihm afrikanische Häfen bis hinauf ins 131
Nigerdelta, wo er Sprengstoff in Form von alter Munition übernommen hatte. „Das war vor einer Woche", sagte Ramu. „Wir verloren ihn aus den Augen." „Auf dem ganzen Weg vom Kongo durch Gibraltar bis ins Mittelmeer'', bezweifelte der Libyer. „Und das bei all den Aufklärungsmöglichkeiten der Nato, der Luftraumüberwachung, der Seeraumkontrolle, den Spionagesatelliten?" „Er muß sein Aussehen, seine Silhouette geändert haben. Täglich laufen Hunderte von Dampfern auf diesen Routen." „Dann", tat der Libyer alles ab, „ist das kein Beweis, Gentlemen." „Ich habe noch einen anderen", erklärte Urban, „den Sie gewiß akzeptieren. Ich möchte ihn aber erst nennen, wenn es keinen anderen Weg mehr gibt." „Machen Sie mir eine Verbindung mit Oberst Gaddafi", forderte Ramu G. Sie versuchten es über Telefon, Fernschreiber und Funk. Sie kamen selbst mit den von Ramu genannten Kennworten nicht durch. Die Leitungen waren wie tot. Die Telefonzentra len in Libyen verbanden nicht weiter, die Telexlinie war tot, aus dem Funk kam ebenfalls nichts. „Vielleicht weiß Ihre Familie Rat", schlugen sie Ramu vor. „Unsere Familie lebt zehn Tagesreisen südlich von Tripolis in der Sahara, Gentlemen." „Wen können Sie privat anrufen?" „Frauen", sagte der Libyer, „Sportfreunde, Kameraden. Aber keiner von ihnen hat Zugang zu den aktuellen Plänen und Maßnahmen." Urban versuchte es über die deutsche Botschaft. 132
Dort erfuhr er nur, daß der Staatschef seinen Regierungssitz schon vor zehn Tagen verlassen hatte. Angeblich weilte er bei Manövern der Armee an der Sudangrenze, wo es immer wieder zu bewaffneten Auseinandersetzungen kam. - Viel leicht, so folgerte man, spitzte sich in der Hauptstadt wieder etwas zu. Man hörte von Aktivitäten der AlBurkan-Loge. In solchen Krisen begab sich der Staatschef gern aus dem Schußfeld, bis die Geheim polizei die Lage wieder im Griff hatte. Urban erklärte, um was es ging, nämlich nicht nur um Leben und Tod, sondern vielleicht sogar um Krieg. Aber die Diplomaten bedauerten. Sie wußten nicht, wo der Oberst sich aufhielt. Und die Aufklärungsabteilung von Nato-Süd fand das Sprengstoffschiff ebenfalls nicht. „Wie auch", sagte einer der zuständigen Admiräle. „Allein im Mittelmeerraum haben wir Tag und Nacht Bewegungen von einigen tausend Schiffen, vergleichbar mit den Würmern in einer Kloake grube." Und die Zeit rannte ihnen davon. Schließlich nahm Urban den Libyer und zog ihn ins Vertrauen. — Er sah nur noch diese eine Möglichkeit.
15. In der Telefonzentrale einer Privatklinik am Genfer See summte spät das Telefon. Da niemand abhob, hörte es auf. Nach wenigen Minuten begann das Summen erneut. 133
Schließlich meldete sich die Schwester vom Nachtdienst und verständigte den Oberarzt. „Ich glaube, da erlaubt sich einer 'nen Scherz", sagte sie. „Irgend etwas mit Botschafter von Libyen. Nehmen Sie den Anruf entgegen, Doktor?" Kurz darauf wurde in ein Privatzimmer neben der Intensivstation durchverbunden. Eine junge Frau, in deren Unterbauch noch Drainageschläuche steckten, um Sekret abfließen zu lassen, die intravenös durch den Tropf ernährt wurde, die aber schon soweit war, daß sie sich aufrichten konnte, nahm den Hörer ab. Sie meldete sich auf englisch: „Hallo, ja bitte?" „Wie geht es dir?"
Sie erkannte die Stimme. „Danke, ich werde nicht sterben." „Ich bin hier in Zypern", sagte Urban. „Die Lage spitzt sich zu." „Trotz allem", erwiderte sie, „was du für mich getan hast — ich bleibe dabei: keine Angaben über Aussehen, Namen, Kurs und Ziel unseres Vergel tungsschiffes." Nach einer Pause war Urban wieder nah und deutlich zu hören. „ Und wenn Vergeltung nicht mehr sinnvoll wäre?" „Sie ist es und wird es bleiben solange . . . " Plötzlich sprach Mura, Ramus Schwester, nicht weiter. „Wie lange?" drängte Urban. „Das weißt du. Wir haben darüber diskutiert. Was für eine neue Schweinerei brütest du aus, Dynamit?" „Sekunde", bat Urban. „Ich übergebe." Dann eine Stimme, die ihr vertraut war, seitdem 134
sie zu hören und menschliche Sprache zu erkennen begonnen hatte. „Mura", sagte der Mann, der ihr Bruder war. „Mura, ich lebe und bin hier." Erst empfand sie tiefe Freude, die jedoch schnell in Mißtrauen überging. War es nicht leicht, einem libyschen Schauspieler die Stimme ihres Bruders anzutrainieren, ihn mit Wissen über die Familie, ihre Kindheit, über all dies vollzustopfen. Sie verfügten über umfangreiche Dossieres bei der Nato. Sie fluchte. „Das ist eine ganz gemeine Falle, ein Bluff."
„Mura, glaub mir."
„Kein Wort."
„Mura, ich bin es, wer sonst."
Sie zögerte.
„Erst wenn ich dich sehe."
„Sie fürchten, daß es dann zu spät ist. Und in der
Schweiz gibt es Komplikationen, wenn sie mich nach Genf schaffen. Es war schwierig genug, dich in diese Klinik zu bringen, ohne daß .. . ich weiß alles, Mura." Ihr Lachen klang wie das Rascheln von dürrem Laub. „Und nun möchtest du alles hören, was ich über das Projekt Good Wind weiß." „Ich lebe", wiederholte der Libyer. „Ich habe versucht, den King zu erreichen. Er ist ver schwunden. "
„Mit gutem Grund", erklärte seine Schwester.
„Sag mir, wo wir ihn finden."
„Eher reiße ich mir alle Schläuche heraus und
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bringe mich um, ehe ich das preisgebe", entgegnete sie scharf. Mit verzweifelten Worten drang Ramu in sie. Er bat sie, ihm Fragen zu stellen über Dinge, die nur er und sie wissen konnten, um sie zu überzeugen, daß man sie nicht betrog. Schließlich willigte sie ein und dachte nach. Sie verfiel in ihren Stammesdialekt. Merkwürdi gerweise konnte Ramu nicht alle Fragen beantwor ten. Oft stotterte er ratlos herum. Sie fragte, wann, wo und auf welche Weise er Umars Leben gerettet hatte. Sie fragte nach dem Namen seines Lieblingskamels, nach dem Mutter mal, das sie hatte, nach den Steinen und mit welchem Lack sie sie gefälscht hatten. Sie fragte nach den singenden Dünen im Teneré, nach den Queltas, den Wasserbecken, in denen sie gebadet hatten, nach dem Graupapagei, nach den Akazien und Fahnen in der Oase, nach den Krankheiten, die sie befallen hatten. „Wir hatten nichts anderes als eine Büchse mit grünem und blauen Lack. Damit bemalten wir die Steine", antwortete er. Viele Fragen blieben offen. Er dachte angestrengt nach, aber er wußte keine Antwort. „Ich fürchte", erklärte er, „jetzt hältst du mich für einen Betrüger." Zu seiner Überraschung reagierte sie ganz anders. „Erst jetzt", gestand sie, „glaube ich dir. Die Fragen, wann unsere Mutter graue Haare bekam, kannst du nicht beantworten. Sie hatte kein graues Haar bis zu dem Tag, als sie starb. Und es war keine Krankheit, woran das. weiße Rennkamel starb, es 136
starb an Herzversagen, wie es viele Kamele nach einem pausenlosen tagelangen Ritt erleiden." „Allah sei Dank", äußerte Ramu erleichtert. „Ich mußte sichergehen", sagte seine Schwester. „Und jetzt hör mir zu. - Ich handle im Sinne unseres Blutsbruders, wenn ich dir eröffne, daß der Dampfer nicht mehr Good Wind, sondern Goedekke heißt. Er trägt die Bemalung von Frachtern einer deutschen Israellinie, des hanseatischen Lloyd. Blauer Rumpf, weiße Aufbauten und ein blauer Schornstein mit Streifen. Das Schiff ist aus Misurata ausgelaufen. Vor drei Tagen. Es fährt nur nachts. Ein Kommando hat sein Schwesterschiff, die echte Goedekke, aufgebracht und aus dem Verkehr gezogen. An seiner Stelle bringt unser Schiff zehntausend Ton nen Explosionsstoff an die Levanteküste." „Wohin?" „Vermutlich nach Haifa. Es ist aber auch Tel Aviv möglich. Die Entscheidung fällt in den letzten Stunden." „Und wann beginnen die?" „Sie haben schon angefangen", gestand Mura. Sie schien der Meinung zu sein, daß eine Vergel tung nicht nötig war, weil ihr Bruder lebte. Und daß es jetzt galt, das Risiko eines Krieges zu verhindern, denn er konnte zum Sturz des Regimes führen. „Falls sich etwas verändert", sagte Ramu, „gib mir Bescheid." „Ihr werdet das Schiff stoppen?" fragte sie. „Die Sechste Flotte, die Israelis, ich weiß nicht wer." „Sind wir nun Verräter?" deutete sie an. „An welcher Sache", gab ihr Bruder die Frage zurück. 137
„Egal, ob man an einer guten oder an einer schlechten Sache zum Verräter wird", äußerte sie. „Verrat ist Verrat, und Verrat ist schändlich." Damit legte sie auf. Man verabreichte ihr Schlafmittel, aber sie wirk ten nicht. Sie konnte nicht schlafen, denn es gab da noch eine Sache. Sie war nicht nur streng geheim, sondern das Geheimste vom Geheimen. Und ihr Gewissen peinigte sie, ob sie ihren Bruder hätte einweihen sollen, oder ob es besser war, in dieser Nacht zu sterben.
16. Das dichteste militärische Überwachungssystem von Seegebieten wurde trotz modernster Elektronik von einem anderen mühelos übertroffen, nämlich von der Aufmerksamkeit der Dampferkapitäne. Deshalb wurden alle Schiffe im östlichen Mittel meerraum zur Mitarbeit an der Suche nach dem Lloyd-Frachter Goedekke aufgefordert. Parallel dazu lief das normale Suchprogramm weiter. Beteiligt daran waren die jeweils auf den Koordi naten durchlaufenden Spionagesatelliten, die Fern aufklärer der Nato, die Bordaufklärer der 6. USFlotte, sämtliche für diese Operation zusammenge zogenen Verbände und das Küstenschutzsystem der Israelis. Gesucht wurde der beschriebene Frachter. Gene ralkurs Levante, also um neunzig Grad, vermutliche Position um 6.00 Uhr Zulu-Zeit 33 Grad Ost und 34 Nord. 138
Aber das Wetter war schlecht. Wie immer, wenn der Herbst in den Winter überging, suchten atlanti sche Randtiefs den Mittelmeerraum und die Levan teküste heim. Tausende von Radiostationen durchdrangen Nebel und Dunst, Zwar zeigten die Bildschirme aufund ablaufende Fahrzeuge an, aber Schiffe strahlten keine Kennung aus, wie etwa Linienflugzeuge. Die Aufklärer flogen schon im Tiefflug über die See. Sie mußten zurückgeholt werden, um das Leben der Besatzung nicht zu gefährden. Deshalb sah es auf der dreißig Quadratmeter großen Projektion im Lagezentrum von Nato-Süd in Neapel traurig aus. Die Admiräle steckten die Köpfe zusammen und waren sich einig. „Nun haben wir alle Daten und trotzdem kein Ergebnis." „Es ist, als sei selbst die Natur auf ihrer Seite."
„Und gegen uns." Im kritischen Seebereich waren die Positionen von mehr als drei Dutzend Schiffen, von Frachtern, Fähren, Dampfern, Tankern und Grobzeug wie Fischkuttern und Yachten, markiert, aber nicht die der gesuchten Goedekke. Kein Schiff, das den Namen des Seeräubers und Freundes von Klaus Störtebeker trug. Und dann, zu später Stunde — in den Kommando zentralen hielt sich das Personal nur noch mit Kaffee und Pervitin aufrecht - lief die sensationelle Nachricht ein. Ein Tankerkapitän der Esso meldete Kontakt. Er war mit einem Frachter, auf den die Beschreibung paßte, auf Gegenkurs beinah kollidiert. 139
Er nannte die genaue Position. Die Meldung war noch keine dreißig Minuten alt, als der Exekutivausschuß von Nato-Süd zusammen trat. Sofort wurde das Problem, in dem sich alle befanden, deutlich. Wer sollte den Sprengstoff-Frachter versenken? — Würde Gaddafis Rache sich nicht erneut auf diesen Punkt konzentrieren? Gegen die 6. Flotte der Amerikaner, gegen einen Jagdbomber der Griechen oder Türken, gegen eine Schiffrakete der Israelis. Für einige Zeit war man ratlos. Es galt, Politik gegen militärische Maßnahmen abzuwägen. Über Standleitung war die Nato-Basis mit Limas sol auf Zypern zusammengeschaltet. Der BND-Agent Robert Urban hörte die Debatten mit und mischte sich ein. „Bringen Sie alles, was Bomben, Kanonen und Torpedos hat, an den Frachter heran, Gentlemen." „Das ist veranlaßt. Nach unserer Berechnung hat der erste Zerstörer in fünfundzwanzig Minuten Kontakt." „Er soll den Frachter stoppen", riet ein Admiral, „bis die anderen zur Stelle sind. Dann müssen alle gleichzeitig losballern." Der Oberkommandierende erhob Einspruch. „Irgendeiner wird den entscheidenden Treffer landen. Mit Sicherheit wird Libyen es herausfinden und sich auf ihn stürzen." Da meldete Urban sich noch einmal. „Und wenn es gar keiner gewesen ist?" „Gar keiner bewirkt auch nichts." „Und wenn ein Unsichtbarer zuschlägt, Gen tlemen?" „Wie meinen Sie das?" 140
Urban präzisierte seinen Vorschlag. „Gibt es ein U-Boot in der Nähe?" Sie prüften die Lageprojektion. Ein U-Boot stand in achtzig Seemeilen Entfernung. Es konnte den Frachter noch rechtzeitig erreichen. „Das meinte ich", sagte Urban. „U-Boote haben Torpedos, U-Boote können unsichtbar aus der Tiefe operieren. Niemals wird bekannt werden, wer den Torpedo abfeuerte." Sie meinten, daß es ein übler Trick - aber auch ein ganz glänzender Einfall sei. Die Staatschefs trafen binnen weniger Minuten die Entscheidung.
Das im Seeraum nahe der Levanteküste operierende U-Boot eines Nato-Mitgliedes bekam den Angriffs befehl. Die Koordinaten waren bekannt. In der Zentrale des U-Bootes wurden die Kurse berechnet. Eine jedem Obersteuermann geläufige Rechenaufgabe. Eigene Position, Gegnerposition. Eigenkurs, Geg nerkurs, Eigengeschwindigkeit, Gegnergeschwin digkeit. „Kurs eins-sieben-neun", befahl der Komman dant, „jede Minute um ein Grad abfallend. Geleit zugsuchkurve, Maschinen alles was drin ist." Das Boot blieb auf Tiefe und wollte das Sehrohr erst ausfahren, wenn der Dampfer im Horchgerät und im Asdic Ortung ergab. Inzwischen wurden die Bugrohre mit Torpedos geladen und bewässert. Sie hatten alles zur Verfü gung, was moderne Torpedotechnik anbot. Köpfe 141
mit Magnet- und Geräuschpistole, lageunabhängige Torpedos und Zielsuchende. „Rein schulmäßiger Ablauf", sagte der Komman dant. „Wir kriegen ihn, und es wird leicht. Und weil es so leicht ist, noch einmal Rückfrage nach NatoSüd. Bitten um AB, um Angriffsbestätigung." Die verlangte Order traf ein, als das U-Boot noch vierzehn Meilen vom Objekt entfernt war. Oder einunddreißig Minuten bei einer Unterwasserge schwindigkeit von dreißig Knoten. Wenig später fuhr der Kommandant den Angriff. Als er das Objekt im Sehrohr hatte, stellte er erleichtert fest: „Die Besatzung geht über Bord." „Man hat sie vorgewarnt." „Aber wir dürfen die Schiffbrüchigen nicht aufnehmen. Das ist uns verboten." „Laut Funk sind genug Schiffe unterwegs."
„Dann wollen wir mal." Der junge Korvettenkapitän des Atom-U-Bootes leitete den Torpedobeschuß exerziermäßig ein. Er wählte einen Elektrotorpedo mit Magnetpistole. „Gegnerlage zwanzig. Entfernung vierzehnhun dert." Die Werte wurden eingetippt und in den Schuß rechner programmiert.
„Fahrt neun Knoten." Vom Rechner liefen die Werte elektronisch direkt in die Selbststeueranlage des Torpedos. „Bug links." „Lage laufend", wurde gemeldet. „Tiefe fünf Meter." Und Sekunden später, als der Frachter langsam ins Zielkreuz einwanderte: 142
„Rohr eins und zwei." „Eins und zwei klar." „Videokamera ein!" „Schußaufzeichnung läuft." „Rohr eins, Achtung!" Da meldete der Mann am Horchgerät Geräusche aus 220 Grad. „Vermutlich schnellaufende Turbine. Doppel schrauben. Entfernung neunzig, hundert." „Der Zerstörer, der die Schiffbrüchigen auf nimmt", mutmaßte der Kommandant. „Bis der rankommt, ist alles vorbei." Lautlos drehte das Boot in Schußposition. „Backbord langsame Fahrt voraus. Steuerbord stopp." Er hatte den Frachter in der Torpedozieloptik. „Schuß!" Im Boot entstand ein sanfter Ruck. Der Leitende ließ zum Ausgleich für den Torpedo ein paar hundert Liter Wasser zu den vorderen Trimmtanks pumpen. „Torpedo läuft", meldete der Zweite Offizier. Die Digitalstoppuhren maßen die Zeit. Auf den Leuchtdioden rasten die Zehntelsekunden. Die Stoppuhren, kleine Taschenrechner, waren sowohl mit der Entfernung des Objekts als auch mit der Torpedolaufzeit gefüttert. Vor der Torpedotreffzeit blinkte eine Diode grün, später rot, dann gelb. Wenn es blau blinkte, war der Torpedo vorbeigelaufen. Aber damit war heute nicht zu rechnen. Der Kommandant hing in aller Ruhe am Sehrohr. Die Zeit war schon abgelaufen. Nichts. - Ver dammt! Und dann, Sekunden später als berechnet, die übliche Abfolge. Die Zündung des Torpedos, sei es 143
durch die Kontaktpistole oder den Magnetzünder, ein tiefes vibrierendes Wummern, dem — einen Herzschlag später — die erste große Detonation folgte. Das schwere Atom-U-Boot vibrierte und wurde geschüttelt, als würde das Meer vor Wut kochen. „Immerhin zehntausend Tonnen Sprengstoff", kommentierte der I.WO. „Hab es mir schlimmer vorgestellt", gestand der Leitende Ingenieur. Aber wie es sich anfühlte, wenn in der Nähe ein Sprengstoffschiff explodierte, wußten sie alle nicht. Sie hatten noch keinen Krieg erlebt. Was die Kamera sah und aufzeichnete, wurde gleichzeitig auf mehrere Bildschirme im Boot über tragen. Der Dampfer, der einen Kreis mit Meilenradius beschrieben hatte - Schiffe, die nicht gesteuert wurden, fuhren nie eine gerade Linie —, hatte erst dagelegen. Plötzlich hatte sich an der Bordwand das Meer gewölbt und war geplatzt wie ein Furunkel. Hinter der Gischtfontäne dann das Zucken des Magnesiumblitzes. Nach dem Blitz eine Explosion, als würde ein Vulkan ausbrechen. Trümmer wirbel ten hoch, und schon verbarg alles eine wachsende gelbfarbene Wolke gleich einem Blumenkohl. In der Wolke schienen Feuerwerksraketen zu starten. Sie zogen mit gefiederten weißen Streifen himmelwärts. Es war nicht eine Explosion, es waren mehrere. Immer neue Sekundärexplosionen folgten und zer fetzten die Trümmer in immer kleinere Trümmer. Dann Stille. Nur noch eine gewaltige Wolke von Sprengstoffgasen schwebte über der See. 144
„Rettungsfahrzeuge aus Nord", meldete der Hor cher. „Dieselmaschine." Der Kommandant hatte seinen Befehl ausgeführt. „Sehrohr rein!" befahl er in das Summen der Liftmotoren. „Auf Tiefe gehen. Zweihundert Fuß." „Neuer Kurs?" fragte der Navigator. „Hart backbord. Neuer Kurs ist alter Kurs. Drei eins fünf Grad." Jeder an Bord wußte, das war die Richtung zum Nato-Marinestützpunkt auf Kreta. „Auf große Fahrt gehen!" fügte der Kommandant noch hinzu. Und der L.I. bestätigte. „Beide Maschinen laufen vierhundert Umdrehun gen."
Die Videoaufzeichnung des Angriffs wurde zum Nato-Hauptquartier in Neapel und zur Navy-Basis in Limassol überspielt. Sie lief gleichzeitig mit der Meldung über die erfolgreiche Ausführung des Befehles ein. Inzwischen wußte man bei der Nato schon einiges mehr. Die Besatzung des Sprengstoffschiffes war von einem Zerstörer der 6. Flotte aufgefischt worden. Die Verhöre liefen bereits. Ob das libysche Oberkommando schon Wind bekommen hatte, war nicht zu erkennen. Aus Tripolis jedenfalls kam keine Reaktion. Die Experten in Limassol saßen im großen Lagerraum um den Videoprojektor herum und sahen sich die Color-Aufzeichnung des Atom-U-Bootes immer wieder an. 145
„Ein Angriff wie aus dem Bilderbuch", schwärmte einer der Admiräle. „Den Film werde ich für die Schulung von jungen U-Boot-Offizieren ver wenden." Nur einer war nicht sonderlich begeistert. Als Kapitän zur See der Reserve fühlte sich der BND-Agent Robert Urban einigermaßen kompetent. Er saß nachdenklich dabei, hatte nicht applaudiert, und als man ihn fragte, was ihm mißfiele, äußerte er: „Ganz populär ausgedrückt, ist das für mich eine äußerst schwache Vorstellung, Gentlemen." „Ich fand es ungeheuer stark", beharrte der Admiral. „Die Explosion, meine ich", präzisierte Urban. „Diese zehntausend Tonnen uralter Munition sind doch mehr verpufft als explodiert. Damit hätten sie, selbst wenn sie den Frachter mitten in der Dizen goff-Straße in Tel Aviv geparkt hätten, vielleicht ein paar Häuserblocks flachgelegt, aber auch nicht mehr. Das alles scheint mir ein bißchen dünn für einen grandiosen Rachefeldzug." „Sie sind auch mit nichts zufrieden, Urban." Ein anderer spottete: „Er ist eben Besseres gewöhnt. Der Job hat ihn abgestumpft." „Und noch etwas", gab Urban zu bedenken. „Die hübschen weißen Federstreifen, die aus der Explo sionswolke nach oben zischten wie Zirruswolken." „Was ist damit?" Ehe Urban zur Antwort ansetzte, kam ihm ein Korvettenkapitän zuvor. „Typisch für die Verwendung von Semtex." „Semtex, Semtex, was ist das? Klingt wie Papier taschentuch." 146
„Ein neuer Supersprengstoff", führte Urban aus. „Sie müssen Semtex dazugepackt haben, damit der Mist überhaupt hochging." „Na schön, das ist doch wohl reine Routine, oder?" „Gewiß." Urban zögerte. „Natürlich mußten sie sichergehen, daß das Schiff auch explodierte und halfen mit Semtex nach. Aber . . . " „Verdammt, immer ist irgend etwas mit aber bei Ihnen." „Aber", kam Urban zum Ende, „es beweist mir, daß sie über den besten aller konventionellen Sprengstoffe verfügen. Ein Schiff voll Semtex hätte jede Hafenstadt Israels zu Staub zerblasen. Warum haben sie nicht nur Semtex benutzt."
„Weil sie nicht soviel davon hatten." „Hundert Tonnen hätten genügt." „Nicht einmal die hatten sie." „Oder", gab Urban zu bedenken, „sie brauchen sie anderswo und für einen anderen Zweck." Mit einemmal hatte er eine böse Vorahnung. Weil alle ihn anstarrten wie den ewigen Nörgler, fühlte er, daß er ihnen seinen Verdacht nicht klarmachen konnte. Außerdem waren diese Navy-Komman deure nicht die Instanz, um die nötigen Maßnahmen zu beschließen. „Kommen Sie, Bob", rief der Admiral. „Gehen wir ins Casino. Gibt was zu feiern, denke ich. Ich gebe einen aus." „Ich komme nach", versprach Urban. Bevor er den Nato-Kameraden ins Casino folgte, ging er zu Ramu G., der streng bewacht in einer der Gästebaracken einlogiert war. Er redete mit ihm und führte dann ein letztes Telefongespräch mit Genf. In der Privatklinik hieß es, die Patientin würde 147
schlafen. Doch Urban gab keine Ruhe, bis man Mura weckte. Es gehe um Leben und Tod, erklärte er. 17. Auf dem Flugplatz in der libyschen Wüstengarnison Audschila stand ein vogelartiges Ungetüm aus Stahl und Aluminium. Die sandgelbe Lockheed C-58 Galaxy war noch immer das größte Flugzeug der Welt. Der schwere strategische Transporter konnte nahezu hundert fünfzig Tonnen Ladung nehmen. - Das entsprach dem Fassungsvermögen von zehn Güterwaggons. Noch war die Heckrampe abgesenkt. Die torar tige Öffnung schluckte Palette um Palette. Als sich die Sonne den Homra-Bergen näherte und die Schatten länger wurden, brachten geländegän gige Dreiachser noch weitere Paletten aus den Bunkern. Darauf plastifizierte Kartons. Auf den Kartons stand in schwarzen Buchstaben: Semtex-88. Der Lademeister führte die Strichliste und hakte alle Positionen ab. „Vierunddreißig. . . fünfunddreißig." Der letzten Frachtpalette vom Typ 463 L versetzte er einen Klaps. „Sechsunddreißig. Schluß!" Sie füllte die noch vorhandene Lücke und wurde verzurrt. Ingenieuroffiziere wandten sich aus dem Spalt zwischen Ladung und Rumpfwand ins Freie. Sie meldeten dem Leiter der Operation, daß alles klar sei. Zündboxen, Relais, Servos, Fernauslösung, Funkempfänger, Entzerrer und Störgeneratoren. 148
Ein schlanker hochgewachsener Mann, der meist Sonnenbrille trug, dazu eine Schirmmütze und Uniform ohne Rangabzeichen, stand stumm dabei. Er verfolgte die Vorbereitungen bis zum Start bei Sonnenuntergang.
Im Breefing-Raum wurden die Piloten eingewiesen. Aus Sicherheitsgründen hatte man die übliche Fünfmannbesatzung der Galaxy auf zwei Mann verkleinert. Das Ziel der fliegenden Bombe war für einen Jet nicht allzuweit entfernt. Nur 1500 Kilometer. Knapp zwei Flugstunden. Der Einsatzoffizier leierte die Flugdaten herunter. „Start neunzehn Uhr Ortszeit." Die Piloten machten sich Notizen. „Kurs Nord. Auf Höhe von Bengasi Kurs Ost acht fünf Grad. Ziel Jerusalem." Die Piloten wurden mit Einzelheiten der Flugor der vertraut gemacht. „Anflughöhe dreißigtausend Fuß." Draußen ging ein Telefon. „Maximalgeschwindigkeit." Das Telefon wurde abgenommen. „Angriffshöhe dreitausend Fuß." Jemand kam herein, schaute sich um und ver schwand wieder. „Sie bringen die Maschine im extremen Sinkflug auf Endkurs und Höhe. Dann springen Sie ab. Zündung erfolgt per Funk." Die Piloten hatten es gehört und mitgeschrieben, aber sie schienen zu zweifeln, ob es klappen würde. Einer sagte: 149
„Und die israelische Abwehr?" „Sie hängen sich an den Linienjet der El Al." „Ist er pünktlich?" Der Offizier schaute auf die Uhr. „Soeben kam durch, daß er in Madrid gestartet ist." Ein Meteorologe brachte die letzte Wettermel dung. Der Einsatzoffizier verlas sie. „Über der Levante sich verdichtende Wolken schicht. Untergrenze siebenhundert Fuß. Wind aus NO drei Knoten. Über dem Ziel noch klar." „Mondaufgang?" „Zweiundzwanzig Uhr." „Bis dahin ist alles erledigt. Dann wird der Mond auf ein Trümmerfeld scheinen." Nachdem sämtliche Punkte abgecheckt waren, salutierte der Einsatzoffizier und wünschte seinen Männern Glück. Vor der Küste warteten Fischkutter, die sie aufnehmen würden.
Die Sonne war jetzt endgültig hinter das HomraGebirge getaucht. Die Dunkelheit fiel rasch herein. Die zwölf Meter hohe Galaxy warf den Schatten eines Hochhauses. Ein Jeep holte die Piloten ab und brachte sie hinaus zu dem Transporter. Als sie hinkamen, sahen sie eine Gruppe von Offizieren stehen. Sie begutachteten gerade die Tarnmaßnahmen. Man hatte der Galaxy in letzter Stunde israelische 150
Kokarden auf Rumpf und Flächen gemalt. Die Farbe war noch feucht. Als der Jeep vor der Offiziersgruppe hielt, nahmen die Piloten die ledernen Funkhauben ab und banden sich grüne Bänder um die Stirn, ähnlich denen, wie sie vor fünfundvierzig Jahren die japanischen Piloten vor dem Einsatz auf Pearl Harbor getragen hatten. Die Bänder waren aus Seide und ihre Farben die der Freiheitsfahne. Sie bauten sich vor dem Mann ohne Rangabzei chen auf.
Noch immer trug er die dunkle Brille. Die Piloten salutierten. Der Staatschef reichte ihnen stumm die Hand. Nun kletterten die Piloten durch den Rumpfein stieg in den Transporter. Wenig später waren sie hoch oben hinter den Cockpitscheiben zu erkennen. Sie machten Zeichen, gaben ihre Anweisungen über Sprechfunk. Der Startwagen stand schon bereit. Die vier Mantelstromtriebwerke wurden der Reihe nach angelassen. Während sie noch warmliefen, nahm der Schlep per die Galaxy auf den Haken und zog sie weit hinaus zum Startpunkt der meilenlangen Beton piste. Als der Todesbomber dort angekommen war, koppelte der Schlepper ab und entfernte sich rasch. Um 19.00 Uhr erfolgte die Startfreigabe. Noch ein Wortwechsel im Sprechfunk. Für einen Moment ging auf der verdunkelten Luftbasis die Pistenbeleuchtung an. Die Turbinen pfiffen und heulten auf. Im Licht der Scheinwerfer 151
sah man die Galaxy anrollen und schneller werden. Die achtzigtausend Kp Standschub der Triebwerke wurden voll entfesselt. Sie rissen Wolken von Sand und Staub hoch, hüllten die Piste wie ein Nebel ein und zogen eine Fahne hinter sich her, die sich wie ein Banner über der Wüste erhob. Das infernalische Heulen der Turbinen drang bis zu der Offiziersgruppe auf dem Vorfeld. Mit Fern gläsern verfolgten sie die Galaxy, die jetzt abgeho ben wurde, sich von der Piste löste und gen Himmel stieg. Die Offiziere applaudierten. „Allah sei mit euch", sagte der Mann ohne Rangabzeichen und nahm die Sonnenbrille ab. Er hatte die Augen eines Falken. Er konnte den allmählich verschwindenden Punkt noch ausma chen, als er für die übrigen schon nicht mehr zu sehen war. Draußen ging die Pistenbeleuchtung aus. Die Gruppe der Offiziere begab sich in die wartenden Jeeps und Limousinen. In diesem Moment flammte das Lichterband der Startbahnbeleuchtung wieder auf, so als würden beiderseits eines Boulevards die Laternen angehen. Der Basis-Kommandeur verließ seinen Dienst wagen. „Was ist das?" schrie er. „Die kommen doch nicht etwa zurück?" Der General ließ sich das Sprechfunkmikrofon reichen. „Flugleitung! Was, zum Teufel, ist los?" „Wir wissen es nicht genau." „Und trotzdem schalten Sie Festbeleuchtung ein? Sind Sie wahnsinnig?" 152
„Ein Anflug, General." „Wer fliegt an?" „Irgendeine Kuriermaschine. Sehr klein, sehr langsam und sehr niedrig. Kaum erkennbar auf dem Radar."
„Ist sie gemeldet?" „Nein." „Und wenn es ein Terroranschlag ist? Warum läßt man das zu? Warum schießt man sie nicht ab? Wir haben hier Sicherheitsstufe eins." Der Mann im Tower brachte seinen Kommandeur jetzt endgültig außer Fassung. „Er nannte den Code, General." „Welchen?" „Die Tageslosung für heute. Den Code für Aud schila, den Schlüssel für vorrangig-streng-geheim und einen Zusatz, den wir nicht entschlüsseln können."
„Welchen Zusatz?" Der General bekam ihn durchgesagt und notierte ihn. „Schön. Holt ihn herein. Aber er bewegt sich keinen Meter von der Landebahn. Geben Sie mir den Offizier vom Dienst." Ihm befahl der General, alle verfügbaren Wachen, die Jeeps mit MGs und Bazookas sowie die Panzer wagen zu alarmieren und dem Kurierflugzeug entgegenzuschicken. Es sollte ein eiserner Ring um dieses Flugzeug gebildet werden. „Ich nehme das selbst in die Hand. Ende." Sirenen heulten auf. Sekunden später herrschte auf der schlafenden Basis eine Hektik, als wäre Krieg ausgebrochen. 153
Der General wandte sich an den Staatschef im Fond seiner Limousine. „Ein Zwischenfall, Exzellenz. Ein angemeldetes Kurierflugzeug aus Bengasi." Der Staatschef behielt seine überlegene Ruhe. „Melden Sie mir später, was es damit auf sich hat." „Der Pilot kennt alle Codes und dann noch einen Zusatz, den wir nicht entschlüsseln können." „Welchen Zusatz?" fragte der Staatschef. Der General las es von einem Zettel: „Umarramumura." Der Staatschef saß einen Moment ratlos in seiner gepanzerten Limousine und war wie erstarrt. Doch dann lächelte er, stieg aus und setzte wie üblich seine Sonnenbrille auf. „Haben Sie sich auch nicht verhört, General?" „Umarramumura, Exzellenz." „Nicht zu glauben", murmelte der Staatschef. „Ich würde meinen, sogar gänzlich unmöglich." Er gab seinem Adjutanten einen Wink. „Wir warten", entschied er.
Das windige, kleine Flugzeug war gelandet. Nur so einem Floh aus etwas Aluminium und Plastik mit einem kaum nennenswerten Motor vorne dran konnte es gelingen, unter dem Radar, ungeschoren von Flak und Raketen, bis zu der Luftbasis in der Wüste durchzukommen. Die Tür schwang auf. Ein Mann, den in Libyen jeder kannte, stieg aus. Elastisch sprang er von der Tragfläche zu Boden und ging auf den Staatschef zu. 154
Sie blickten sich in die Augen, umarmten sich und schämten sich ihrer Tränen nicht. „Mein Bruder!" rief Umar. „Mein Bruder", sagte Ramu. „Du hast dich an unseren Schwur erinnert. Immer Freunde bis zum Tode. Umarramumura." Sie traten zur Seite, als gäbe es nur sie beide, und gingen nebeneinander über das weite Areal des Flugplatzes hinüber zu den Baracken. Das Gefolge hielt respektvoll Abstand. Die Freunde hatten viel zu reden. Was sie sprachen, horte keiner. Aber mit einemmal blieben sie stehen. Der Staatschef fragte etwas, auf den Piloten in der Beechcraft deutend. „Und wer ist er?" „Mein Retter."
„Wer er ist?" „Du kennst ihn, Bruder. Er ist gehaßt und gefürchtet bei uns. Aber ich sagte ihm sicheres Geleit zu." „Dein Wort ist auch mein Wort", erklärte der Staatschef. „Woher wußtest du, wo ich bin?" „Ich bemühte mich seit Tagen darum. Vergebens." „Und wie fandest du mich?" „Mit Muras Hilfe." Der Staatschef nickte. „Ich verschwand für eine Weile. Zu viele Verräter sind um uns herum. Aber wir werden sie finden und liquidieren." Plötzlich traf ihn die Erkenntnis, daß die Vergel tung, die er übte so sinnlos war, wie ein Schrei gegen den Sturm, als würde man die Wasser des Meeres peitschen, um sie aufzurühren. 155
Der Geheimdienstchef sprach es aus. „Kriege", sagte er, „haben jeden Staatsmann gefährdet. Man muß sie vermeiden." „Glaubst du, es würde Krieg geben?" „Wenn es Feuer über Jerusalem regnet wie einst über Sodom und Gomorrha, dann schon." Nach Minuten des Zauderns erteilte der Staats chef den Befehl. „Ruft den Bomber zurück", entschied er, „falls es noch möglich ist." Die Beechcraft des BND-Agenten Robert Urban wurde aufgetankt. Er erhielt Starterlaubnis und einen sicheren Flugkorridor bis zur Küste zuge wiesen. Er startete sogleich hinaus in die Nacht. Sie waren froh, daß sie ihn loshatten. Und Urban war froh, so schnell wie möglich aus Libyen wegzukommen.
Zwischen dem Sprengstoff gefüllten Transporter, der Kurs auf Jerusalem flog, und seiner Basis war strengste Funkstille vereinbart. Als Schutzmaßnahme gegen mögliche Manipula tionen von Seiten der Nato oder der Israelis war ferner befohlen, keinen wie auch immer lautenden Befehl zur Rückkehr zu befolgen. Es war also unmöglich auf dem Kommandoweg den Vergeltungsangriff des mit Semtex-88 vollgela denen Todesengel zu verhindern. Auch ein Abschuß mit Raketen schied aus. Er hatte bereits libysches Territorium und somit die Reichweite der Boden-Luft-Raketen verlassen. 156
Die Position des Bombers wurde für Istzeit 19.40 Uhr ermittelt. Die Luftwaffentaktiker stellten ihre Hochrechnungen auf und kamen zu einem erschrek kend eindeutigen Ergebnis. „Mit Abfangjägern", sagten sie, „ist die Galaxy nicht mehr einzuholen." „Was jetzt, bitte?" fragte der Mann, der trotz des Dämmerlichtes im Lagerraum die dunkle Brille trug. „Vielleicht, wenn sie sofort starten." „Und warum starten sie nicht schon?" „Mit dieser Entwicklung war nicht zu rechnen, Exzellenz." „Sie ist eingetreten", erklärte der Staatschef. „Werden Sie gefälligst fertig mit der neuen Lage. Versuchen Sie alles. Wenn die Galaxy ihr Ziel erreicht, ist es auf Grund der neuen Lage möglicher weise unser aller . . . Ende." Der Oberkommandierende der libyschen Luft waffe übernahm selbst die Koordination. Er telefo nierte über Blitzleitung mit einer Abfangjäger-Basis an der Küste. Alarmsirenen heulten durch die Quartiere in Derna. Ihrem Dauerton entnahmen die Piloten, daß es ein Ernstfall war. Sie sprangen in ihre Druckanzüge, in die Stiefel, setzten die Helme auf, flankten in die wartenden Jeeps und rasten zu den splittersicheren Bunkern, wo die Mirages parkten. Noch während der Startprozedur bekamen sie Einsatzorder. Sie klang einfach, und wie alles Einfache enthiel ten die Befehle enorme Schwierigkeiten. Die Piloten erfuhren Position, Kurs, Flughöhe und 157
Typ eines Transporters, den sie mit allen Mitteln aufhalten mußten. Entweder indem sie ihn zur Umkehr zwangen oder zur Landung oder indem sie ihn abschössen. Die Bordkanonen der Mirages wurden scharf munitioniert. Die Luft-Luft-Raketen bekamen Gefechtsköpfe. Die Mirages wurden angelassen. Sie starteten aus dem Bunker heraus in halsbrecheri scher Weise und waren sechs Minuten nach dem Alarm am Himmel. Mit Nachbrenner donnerten sie auf Überschall. „Es wird klappen", sagte der Basiskommandeur über Funk, „denn sie haben eine Chance." „Eine wie große?" „Etwas mehr als null." „Die Galaxy ist noch ein gutes Stück vor der Levanteküste, aber sie müssen sie erst finden." „Wozu verfügen wir über Suchradar", prahlten die Piloten. „Allah sei mit ihnen", sagte der Staatschef, der den Funk mithörte. „Und mit ihrer Intelligenz, ihrem Können, ihrem Mut und ihrer Erfahrung", ergänzte der Geschwa derchef. Gegen 20.30 Uhr meldeten die Abfangjäger, daß ihr Treibstoff zu Ende gehe und daß sie zur Basis zurückkehrten. Noch waren zwei Mirages am Himmel. Minuten später nur noch eine. Geflogen von Captain Ali Sur, hatte sie, schon im Abdrehen, ein Signal auf dem Radar eingefangen. Ein dicker Punkt, wie ihn nur Kolosse der Luft zurückwarfen. Obwohl die Treibstoffanzeige längst Rotlicht 158
hatte und halb leer anzeigte, raste der Captain auf den Punkt zu. Er sah den Gegner nicht. Es war Nacht und wolkig. Aufs Geratewohl schoß er seine Sidewinder raketen ab. — Sie verfehlten das Ziel. Er hatte noch die vier Sparrows und aktivierte sie. Sie waren unterwegs, als er schon abdrehte, Aber sein Radar hatte den Treffer registriert. Die vier Raketen hatten sich tänzelnd dem Sprengstoffflug zeug genähert und es eingeholt. Der Punkt blähte sich auf und zerplatzte, ehe er vom grünen Bildschirm für immer verschwand. Dem Piloten war es, als würde die Druckwelle der fürchterlichen Explosion ihn einholen. Aber es war wohl ein Irrtum. Reine Halluzination, eine Fata Morgana des Gefühls. Nur kurz dachte Captain Ali Sur an die Kameraden, die er in dreißigtausend Fuß Höhe hatte verglühen lassen. Dann setzte er seine Meldung ab. „Hier Interceptor. Captain Ali Sur. Einsatzziel erreicht und Befehl ausgeführt. Kehre zur Basis zurück. - Bitte um Ausweichflughafen für den Fall von vorzeitigem Treibstoffende und Brennschluß."
Robert Urban hatte den Kamin angesteckt, hatte Bourbon getrunken und seine Lieblingsplatten ge hört. Nun ging er hinauf in sein Schlafzimmer, ließ aber die Tür offen, damit er den beruhigenden Wider schein der Flammen an den Wänden züngeln sah. Da ging sein Telefon. Der BND-Vizepräsident war am Apparat. 159
„Sie?" staunte Urban. „So spät? Was ist schon wieder los? Haben wir jetzt Krieg mit China?" „In den nächsten Tagen wird es dick kommen", kündigte sein Chef an. „Ja, es wird", befürchtete Urban, „Vorwürfe hageln." „Man wird Sie offiziell beschuldigen, daß Sie mit einem Mann kooperierten, der international verfemt ist." „Was sollte ich tun? Nur die zwei deutschen Raffkes herausholen?" „Stimmt. Was sollten Sie anderes tun. Nur wer die Lage genau kennt, weiß, daß Sie richtig handelten", pflichtete der Vize ihm bei. „Aber niemand wird offiziell alles erklären, ausbreiten und begründen." „Wir müssen die Linie der Regierung befolgen." „Ist mir klar." „Deshalb", deutete der Vizepräsident vorsichtig an, „werden Sie einige Zeit verdammt allein sein, Bob." „Das bin ich gewohnt", antwortete Urban. Es sagte sich so leicht hin, aber um es zu ertragen, brauchte er noch einen doppelten Dreifachen. ENDE
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