OTTO ZIERER
BILD DER J A H R H U N D E R T E EINE WELTGESCHICHTE IN 18 EINZEL- UND 12 DOPPELBÄNDEN
Hohe Zeit des Aben...
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OTTO ZIERER
BILD DER J A H R H U N D E R T E EINE WELTGESCHICHTE IN 18 EINZEL- UND 12 DOPPELBÄNDEN
Hohe Zeit des Abendlandes Unter diesem Titel erscheint demnächst der 19/20. Band der neuartigen Weltgeschichte, Der Doppelband behandelt das zwölfte Jahrhundert n. Chr.
Das 12. Jahrhundert wird in seiner ersten Hälfte durch die mystische Gestalt des heiligen Bernhard, in seiner zweiten durch die wuchtige Heldengestalt Friedrich Barbarossas gekennzeichnet. Alle Gebiete der mittelalterlichen Kultur entfalten sich nun zu prächtiger Blüte. In dieser Zeit wird jenes religiös-philosophische und politisch-soziale Gebäude aus Gedanken und Gefühlen errichtet, das sich wie eine gläserne Kuppel über der in sich geschlossenen abendländischen Welt wölbt.
Auch dieser Doppelband ist in sich vollkommen abgeschlossen und enthält wieder ausgezeichnete Kunstdrucktafeln und zuverlässige historische Karten. Ei kostet in der herrlichen Ganzleinenausgabe mit Rot- und Goldprägung und farbigem Schutzumschlag DM 6.60. Mit dem Bezug des Gesamtwerkes kann in bequemen Monatslieferungen jederzeit begonnen werden. Auf Wunsch werden auch die bereits erschienenen Bücher geschlossen oder in einzelnen Bänden nachgeliefert. Erschienen ist seit Januar 1951 monatlich ein Band. Prospekt kostenlos vom
VERLAG SEBASTIAN LUX • M U R N A U / M Ü N C H E N
KLEINE
BIBLIOTHEK
DES
WISSENS
LUX-LESEBOGEN NATUR-
UND
K U L T U R K U N D L I C H E
HEFTE
Christian Jenssen
Der grolje JM. ens dienoilaner
VERLAG SEBASTIAN LUX
. MURNAU / MÜNCHEN
Was der Roland auf dem Markt zu Wedel in Holstein, diese ungeschlachte Rittergestalt aus Sandstein, bedeutet, ist ein Rätsel. In früheren Jahrhunderten war sie Mittelpunkt des Bürgerlebens der Der Roland von Wedel kleinen Stadt an der Niederelbe, ein Wahrzeichen von Kraft und Würde, von Recht und Gerechtigkeit. Der Frohsinn der Volksfeste stand ebenso unter ihrem Schutz, wie die Geschäftigkeit des Marktes. Daß die buntbemalte Gestalt, deren Kopf schwer und ohne Nacken zurückgebogen zwischen den Schultern sitzt, auf einen Knaben wie Ernst Barlach Eindruck machte, ist nicht verwunderlich. Wenn er aus dem Fenster seiner Kinderstube in dem Eckhaus am Marktplatz schaute, hatte er sie vor sich, und sie war fast zu schwer für sein Bewußtsein. Was der Knabe sonst noch von der Stadt, in der er am 2. Januar 1870 geboren wurde, im Gedächtnis bewahrt hat, sind nur wenige Begebenheiten; aber sie sind wie Zeichnungen, die mit andeutenden Strichen das Wesen des Vaters Barlach und auch schon das seines Sohnes erkennen lassen. Ernst Barlachs Vater war Landarzt, der es mit seinen Pflichten sehr genau nahm und Tag für Tag die Kranken in den umliegenden Dörfern besuchte. Er war ein kleiner, beweglicher, schwarzhaariger Mann, oft vorschnell und barsch, aber gründlich und ausdauernd in allem, was er unternahm. Wenn ein Kranker auf dem Lande einer längeren Untersuchung und Pflege bedurfte, gab er sich ganz seiner Arbeit hin und vergaß, daß draußen in der Kälte ein Pferd, ein Kutscher und oft auch sein kleiner Sohn warteten. Als Ernst Barlach Jahrzehnte später einmal wieder nach Wedel kam, rief die alte Wirtin aus: „Dor kummt ja Doktor Barlach!" Sie hatte den Sohn im ersten Augenblick für den — längst gestorbenen — Vater gehalten; er muß diesem also in manchen Zügen geglichen haben. 2
In seinen Erinnerungen erzählt Ernst Barlach von seiner frühen Neigung, die unmöglichsten Dinge, die ihm unter die Hände kamen, zu verschlucken oder zu verzehren, und er deutet diesen Trieb scherzhaft als ein erstes Anzeichen dafür, wie sehr er von Natur aus dazu bestimmt worden sei, „die Welt in sich aufzunehmen". Ebenso kennzeichnet es seine Eigenart, daß er schon damals, zusammen mit seinem Bruder Hans, das Unsichtbare, Unheimliche als greifbar nahe empfand. Der eine mußte in der gemeinsamen Kammer die Stubenseite, der andere die Wand bewachen; denn „Es" — das Geisterhafte, Spukhafte — könnte ja auch durch die Wände kommen! Die Eltern zogen von Wedel, aus der Nähe Hamburgs, nach Schönberg, der damaligen Hauptstadt des Herzogtums Lauenburg. Hier entdeckte der aufgeweckte Junge die Welt außerhalb des Hauses. Der Vater war den größten Teil des Tages zu Krankenbesuchen unterwegs, die Mutter, eine schlichte Frau, die am Wohl und Wehe der Nachbarschaft eifrig teilnahm, blieb durch die Wartung der jüngeren Kinder ans Haus gebunden; so war Ernst oft sich selbst und seinen Freunden überlassen. Dann aber führte der Lebensweg die Familie nach Ratzeburg, in die Nähe von Lübeck, wo sich dem Arzt bessere Berufsaussichten eröffneten. Das Haus „An der Kirche Nr. 3" in Ratzeburg, neben der Stadtkirche St. Petri, nannte Ernst Barlach nun sein Vaterhaus. Hier wurden ihm in den Jahren von 1878 bis 1884 Jugendfreuden und Jugendleiden besonderer Art zuteil; sie waren von nicht geringer Bedeutung für die Entwicklung seiner Persönlichkeit. Das Dach, das die Wände der Schlafstuben im Obergeschoß abschrägte, reichte bis über die schmucke Fensterreihe der Straßenseite und wurde auf der Gartenseite von Säulen getragen. Durch die Vordertür trat man in eine nicht sehr geräumige Diele; sie belebte sich im Laufe der Jahre .mit vielerlei menschlichem Jammer und Elend, das dem scharf beobachtenden Knaben nicht entging. Er horchte hin, wenn der Vater einer Bäuerin, deren Schmerz um ihr gestorbenes Kind ihn tief bewegte, tröstlich und besonnen zusprach. Er erschreckte, wenn in der Diele ein bewußtloser Knecht lag, dessen von der Häckselmaschine zerstückelter Arm von einem blutigen Leintuch umwickelt war. „Nach solchen und ähnlichen Einblicken", erzählt Barlach, „blieb ich viele Tage unbrauchbar für das Leben." Das Zimmer auf der linken Seite der Diele war für die vier Knaben eingerichtet; hier arbeiteten sie für die Schule, und zeitweilig hatten sie in diesem Zimmer auch ihr Nachtlager. Dann horchte 3
Ernst gern, wenn im Wohnzimmer, in das man geradeaus durch die Diele trat, Gäste waren und von Begebenheiten in Stadt und Land und Welt erzählten, wenn aus „David Copperfield" von Charles Dickens vorgelesen wurde, dessen Knabenschicksale er mit den seinen verglich, oder wenn die Nachtglocke schrillte und eine aufgeregte Stimme den Vater zu einem Kranken rief. Er mußte hören, wie der Vater von seiner ernsthaften Absicht sprach, ihn in eine Kadettenanstalt zu schicken; zu seiner Erleichterung widersprach die Mutter diesem Plan heftig und mit Erfolg. Es kam auch sonst nicht selten zu Streitigkeiten zwischen den Eltern, und eines Tages hieß es, die Mutter sei auf längere Zeit verreist. Während dieser Zeit führte eine ältliche Arzttochter aus einem Nachbarort den Haushalt. Sie wurde von den Jungen etwas verächtlich „die Herminsch" genannt und wußte sich wegen ihrer rauhen und freudlosen Art bei ihnen keine Achtung zu verschaffen. Auf der linken Seite der Diele lag auch das Sprechzimmer des Vaters, auf der rechten die sogenannte „gute Stube", die nur an Festtagen benutzt wurde. Im Sommer hielt sich die Familie meistens in der Glasveranda hinter dem Wohnzimmer auf, von der ein paar Stufen in einen prächtigen alten Garten führten. Hier und in einem nahegelegenen Wald tobten sich die Jungen gemeinsam mit ihren Vettern Richard Barlach und Hans Hudemann aus, die auch in Ratzeburg wohnten. Angeregt durch den „Lederstrumpf" und den „Sigismund Rüstig", die man ihnen an den Winterabenden vorlas, verwandelten sie sich in Weltfahrer, und von einer bestimmten Baumkrone aus, in der sie sich wohnlich einrichteten, erschreckten sie die Spaziergänger, die harmlos des Weges kamen. Ernst Barlach aber sah in dieser Zeit unbeschwerter Jungenfreuden den Wald auch schon mit anderen Augen an, er lernte die Schönheit seiner Naturformen, sein Rauschen, sein verborgenes Leben, seine überwirklichen Geheimnisse verstehen; wie zu dem Wasser des wunderbaren Ratzeburger Sees fühlte er sich zeitlebens auch zum Walde hingezogen, immer wieder empfand er den Aufenthalt in ihm als heilsam. Schliefen die Jungen im Dachgeschoß, so erzählte Ernst den Brüdern, die ihn „Matz" nannten, vorm Schlafen phantastische Geschichten. Sie waren angeregt durch die Erzählungen, die ihnen vorgelesen oder zum Selbstlesen in die Hand gegeben wurden, von den Erlebnissen im Wald, am Wasser und nicht zuletzt auch von den Totenschädeln, Skeletten und Knochen aus der Studienzeit des Vaters, die in einem Abstellraum des Dachgeschosses aufbewahrt wurden. Schon damals begann Ernst Barlach, seine Geschichten mit Bleistift oder Tinte in blaue Hefte zu schreiben, und eine dieser 4
.Fries der Lauschenden' (Holz), 1935 vollendet (Text Seite 28) Geschichten, die er in Verse faßte, erhielt einen schon echt Barlachschen-Titel: „Das Kuhgesicht". Sie handelte von einem wenig beliebten, vollbärtigen Gymnasiallehrer, der diesen Spitznamen trug, weil er einmal einen Schüler „Du Kuhgesicht" geschimpft hatte. Ein Kasperltheater, das dem Zwölf- oder Dreizehnjährigen zu Weihnachten geschenkt wurde, regte ihn zur Vorführung abenteuerreicher Stegreifspiele an; anfangs hatten ihn die holzgeschnitzten Puppen kalt gelassen, nachdem er sie aber mehrmals in die Hand genommen und ein wenig bewegt hatte, formten sich die Handlungen von selbst. Mehr Mühe bereitete ihm das Zeichnen, aber nur deshalb, weil er sich nicht damit begnügte, selbst etwas zu erfinden, sondern die fein ausgeführten Bilder in prächtigen Märchenausgaben nachzuzeichnen versuchte. Als der Vater einmal ein solches Blatt, das er von Ernst zu Weihnachten bekommen hatte, einem Bauern in seinem Sprechzimmer zeigte, meinte der: „Dat mütt jo een kloken Jung sien." Eines Tages, als die Jungen aus der Schule kamen, war die Mutter wieder im Hause. Kaum hatten sie sich nach Überwindung der ersten Befangenheit an den neu geregelten Zustand gewöhnt, als ein schweres Verhängnis die Familie traf. Kurz vor Pfingsten 1884 erkrankte der Vater; da er sich trolzdem in einer Nacht nicht vergebens zu einem Kranken rufen ließ, verschlimmerte sich die Er5
kältung zur Lungenentzündung. Die Kollegen nahmen den Fall leicht, der Vater starb wenige Tage nach Pfingsten im Alter von
Ernst Barlach war vierzehn Jahre alt, als die Sorgen der verwitweten Mutter auch schon zu den seinen wurden. Er war ihr oft der unbequemste, eigensinnigste und widerspenstigste unter den Söhnen; sie hatte kein Verständnis für seine unbürgerlichen Neigungen, für seine Ausflüge in die Welt der Phantasie, der Dichtung, der Kunst, sie wollte nichts wissen von der ungewöhnlichen Art, in der er das absonderlich Schöne und das abgründig Schreckliche des Lebens sah und darstellte. Aber er stand ihr stets bei in der Sorge für die jüngeren Brüder und hat es ihr allzeit gedankt und, soviel er's vermochte, vergolten, daß sie seit dem Tode ihres Mannes einzig für das Wohl ihrer Kinder lebte, schaffte und plante. Im Herbst 1884 zog sie mit den Kindern nach Schönberg zurück. Ernst ging weiter zur Schule. Er war ein mittelmäßiger Schüler, die Quellen seiner Selbstbildung flössen anderswo: in der Natur, in den Menschengesichtern, in der Bücherei des Vaters oder in Kunstwerken. Er war voll innerem Abenteuerdrang, voll von sonderbaren und schrulligen Einfällen. Zu jedem Familienereignis lieferte er die passenden Verse, er schrieb weiterhin Geschichten und bald auch überschwengliche Briefe, als er in dem Primaner Friedrich Düsel, einem später bekannten Schriftsteller, einen Freund gefunden hatte, der ihn in seinen literarischen Versuchen lobend bestärkte. Diese Freundschaft überdauerte die Jahre. Eines Tages wurde Ernst Barlach wie zufällig auf seine stärkste Begabung aufmerksam gemacht. Unversehens wurde ihm — so erzählt er's selbst — die Tür zu einem Werkstübchen aufgetan, von dem er nicht ahnen konnte, daß es einmal zur Lebenswerkstatt werden sollte. Die Frau des Schuldirektors benötigte für ein Brettspiel ein Dutzend Tierfiguren. Sie wandte sich an Ernsts Mutter mit der Frage, ob er, der doch ein so guter Zeichner sei, die Figuren nicht anfertigen könne. Der Knabe beschaffte sich Lehm und begann aus einem Klümpchen einen Kiebitz zu kneten. Er gelang über Erwarten gut, die Freude an dieser Aufgabe wuchs von Stück zu Stück, und so war das Dutzend bald voll. Es dauerte nicht lange, da schnitzte er aus Buchenscheiten, die eigentlich für den Ofen bestimmt waren, Tiere oder Tierköpfe, und bald reizten ihn auch Bruchstücke von 6
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Grabsteinen bei dem gegenüber wohnenden Steinmetz zu Gestaltungsversuchen mit Hammer und Meißel. Als Barlach achtzehn Jahre alt war, wurde er von seinem Vormund vor die beunruhigende Frage der Berufswahl gestellt. Die Schule, die er besucht hatte, führte nur bis Unterprima. Da eine akademische Laufbahn nicht in Frage kam, wurde der Übergang in eine weiterführende höhere Schule gar nicht erst erwogen. Diejenigen seiner Mitschüler, die sich in ähnlicher Lage befanden, wurden Tierärzte, Post- oder Verwaltungsbeamte. Barlach konnte sich nicht dazu entschließen, es ihnen nachzutun, obwohl er noch keinen Augenblick daran dachte, Künstler zu werden. Da fügte es sich, daß der Sohn des Sehönberger Kantors auf Urlaub kam; er besuchte die Gewerbeschule in Hamburg. Darin sah der Ratlose einen Fingerzeig. Der Zeichenlehrer unterstützte seinen Wunsch, und der Vormund legte ihm keine Steine in den Weg zu einem „praktischen" Beruf. Es ist wohl das Schicksal jedes überragend begabten Menschen, daß ihm der Unterricht an einer Schule im Grunde nicht genügen kann. Der Drang nach freier, selbständiger Entfaltung seiner ursprünglichen und unbewußt schon stark ausgeprägten Anlagen läßt ihn am herkömmlichen Unterrichtsschema leicht Anstoß finden und reizt ihn zum Widerstand gegen jede Anleitung, die seinen Eigentümlichkeiten nicht genügend Baum gibt. Der Unterricht an der Hamburger Kunstgewerbeschule befriedigte Barlach keineswegs. Er hatte an seinen Lehrern vieles auszusetzen, besonders an dem dänischen Zeichenlehrer Woldemar, einem Schüler Thorwaldsens, der dem jungen Kunstbeflissenen allzusehr seinen Willen und seine Art aufzuzwingen versuchte. Der Dresdener Bildhauer Thiele, dem er sich enger anschloß, als ihm seine besondere Begabung für die Bildhauerei bewußt wurde, ließ wenigstens das Streben nach eigener Erfindung und selbständiger Darstellung gelten, aber er war zu großzügig und lobte den Schüler auch dann, wenn er sich auf ausgefahrene Wege verirrte und nach geläufigen Vorbildern arbeitete. In Hamburg traf Barlach seine Ratzeburger Jugendgenossen Hans Hudemann und Vetter Richard wieder und führte mit ihnen zeitweilig ein fröhliches und ausbündiges Studentenleben. Das war seinem sehr kleinen monatlichen Geldvorrat und seiner Gesundheit wenig bekömmlich; denn er schonte eher die volleren Geldtaschen der Kameraden als seine eigene und mußte dann am Essen sparen. Bei nächtlichen Spaziergängen durch die windigen Straßen zog er sich eine gefährliche Brustkrankheit zu. Seine Mutter, die inzwischen mit den Brüdern nach Lübeck übergesiedelt war, pflegte ihn in langen Wochen gesund. Danach schickte ihn der Arzt in ein Erholungs7
heim an der Nordsee, und hier festigte sich seine Einsicht, daß die I Bildhauerei seine Berufung sei. Man sagt, daß jede schwere Krankheit den Menschen seelisch I verändere. Es scheint, als sei auch Barlach aus der seinen reifer und j einsichtiger hervorgegangen. Er gab es bald auf, die großen Gestalten I der Sage und Geschichte, der Religion und Kunst formen zu wollen. 1 Zwar war er ihnen durch diese Versuche innerlich nahe gekommen, * hatte ihre ehrwürdige und überpersönliche Größe ahnen gelernt, aber ihm fehlte noch die Reife, ihr ganzes Wesen zu erfassen; er spürte, daß sie ihm vieles gaben, daß er ihnen aber, wenn er sie gestaltete, noch nicht viel aus seinem eigenen Inneren geben konnte. Da wandte er sich dann den schlichten Menschen zu, denen er auf der Straße begegnete. Der Mensch an und für sich begann ihn zu beschäftigen, der Mensch in seiner Schönheit und Häßlichkeit, seiner J Erhabenheit und Erbärmlichkeit, mit dem Licht des Ewigen und 1 der Finsternis des Zeitlichen in seinem Angesicht. Ständig trug der M junge Künstler ein Skizzenbuch bei sich, jede Erscheinung, die ihm 1 als Ganzes oder in einer menschlichen Merkwürdigkeit auffiel, hielt | er fest, und aus der Überfülle von Skizzen griff er einzelne heraus, um nach ihnen einen Kopf oder eine Figur aus Holz zu schneiden oder aus Ton zu kneten. Auch dabei überkamen ihn zwiespältige Gefühle. Er liebte wohl den Menschen und erkannte in jedem einzelnen Leben einen hohen Sinn; mitunter erfaßte ihn aber auch der Abscheu vor der Unzulänglichkeit, der Bösartigkeit und dem Elend vieler Menschen, und das Dasein kam ihm so sinnlos vor, daß ihn die Gewißheit seines eigenen künftigen Todes mit Trost erfüllte. Im Guten oder Bösen, das erkannte er schließlich, war er aber selber ein Teil dieser Menschheit, und in jedem Menschenantlitz mußte er eine Art Spiegel seiner selbst sehen. Merkwürdig war, daß Ernst Barlach das Aktzeichnen, zu dem er sich zweimal wöchentlich mit einigen Mitschülern zusammentat, von Anfang an nicht lag. Er habe nie einen einzigen j leidlichen Akt zustandegebracht, erzählt er in seinen Erinnerungen, j Wenn man ihn in späteren Jahren fragte, warum er sich in seiner | Kunst so wenig mit dem unbekleideten Menschen befaßt habe, I antwortete er etwa: „Der Mensch in diesen Zonen ist zwar nackt geboren, doch hinterher zieht man ihm etwas an. Das Tier hat sein gewachsenes Fell. Dem Menschen ist die Kleidung gegeben, Gott weiß wohl, wozu." Er stand in dieser Hinsicht den Bildhauern des Mittelalters nahe, die das Wesen einer menschlichen Gestalt in ihrer Haltung und Gebärde, im Faltenwurf des Gewandes und vor allem im Antlitz darzustellen wußten. 8
Drei Jahre blieb Ernst Barlach'auf der Hamburger Gewerbeschule, dann zog ihn, wie die meisten seiner Studienkameraden, der Ruf von Thieles Lehrmeister Hähnel an die Kunstakademie in Dresden. Seine Mutter begleitete ihn, sie mietete in der sächsischen Hauptstadt eine Wohnung, damit der Sohn dort einmal wieder ein richtiges Zuhause und seine regelmäßige Pflege habe. Daß einen gerade mündig gewordenen Jünger der Kunst, der erfüllt ist von hochfliegenden Plänen, an einer wohligen Häuslichkeit viel weniger liegt, als ihre sorgende Mütterlichkeit wahrhaben wollte, daß er vielmehr selbständig, unabhängig, vielleicht auch einsam sein möchte, konnte sie nicht begreifen. Enttäuscht und verbittert gab sie die Wohnung nach kurzer Zeit wieder auf und zog zu einem anderen ihrer Söhne. Kaum ein Vierteljahr war Barlach in der Unterklasse des Professors Hähnel, als dieser starb. Sein Nachfolger Robert Diez nahm ihn als Meisterschüler an. Er war der erste Lehrer, der seine ganz eigenartige Begabung erkannte und ihn darin verständnisvoll und ermunternd bestärkte. Er beachtete nicht nur seine bildhauerischen Leistungen im Atelier, sondern auch die Zeichnungen und Studien, die er auf Streifzügen durch die Straßen, Winkel und Kneipen der
Teil des Magdeburgers Ehrenmals (Holz). 1929 (Text Seite 22 und 29) 9
Stadt in sein Skizzenbuch sammelte. Diez war ein Künstler, der weder I bei sich selbst, noch bei seinen Schülern in der Nachahmung alter 1 und herkömmlicher Stilarten Befriedigung fand; er war immer auf ] der Suche nach dem Ursprünglichen und echt Neuartigen, gerade auch, wenn es sich nicht anmutig und gefällig gab, sondern unscheinbar, knorrig oder grob. In seinem Atelier wurde es Barlach ganz und gar bewußt, was er früher schon, als er sich entschloß, nicht Dichter oder Maler, sondern Bildhauer zu werden, als notwendig empfunden hatte: „Daß man sich für ein Einziges und Wichtigstes bestimmen müsse." Der Dichter und der Maler — vielmehr der Zeichner — in ihm sind gleichwohl nicht untergegangen; auch die späteren Dramen und Zeichnungen gehören zu seinem „Einzigen und Wichtigsten". Noch ein anderer Mann machte in Dresden starken Eindruck auf Barlach. Das war der Arzt Dr. Klencke, der ihn behandelte, als er unter Herzbeschwerden litt. Klencke war ein Mann von mächtiger Leibesfülle — Barlach verglich ihn mit einem gedrungenen Eichenfaß —, aber er war von einer zarten und feinen Seele, geistvoll und kunstverständig. Gleich beim ersten Gespräch mit dem jungen Bildhauer sagte er ihm: „Ihr Künstler seid die einzigen, die sich ihrer Sache opfern, ohne sie durch Zwecke zu schänden." Er besaß ein Waldhäuschen auf den Loschwitzer Höhen und lud seinen Patienten häufig ein, Feiertage mit ihm zu verbringen oder auch allein dort zu hausen, solange es ihm gefiel. Barlach ließ es sich dann recht wohl sein, er schlenderte durch den Wald oder bemalte die Wände mit wuchtigen und phantastischen Fresken. Unvergeßlich blieb ihm eine romantische Weihnacht, die er in dem einsamen, verschneiten Berghaus mit dem Gastgeber, dem Dichter Hermann Stegemann und seinem Studienfreund Garbers verbrachte. Später erfuhr er dann an Klencke den erschreckenden Wandel, dem die Gesinnung eines Menschen durch den Einfluß von Reichtum und Wohlleben unterworfen sein kann. Dem begüterten Oberarzt und Grundstückbesitzer galt die Kunst nicht mehr viel, und er meinte, dem jungen Freund einen guten Rat zu geben, als er ihm beim Abschied sagte: „Wenn Sie die dämelige Kunst nicht aufgeben, werden Sie auf dem Misthaufen enden." Das war im Mai 1895. Garbers hatte das Glück, ein Stipendium für einen Studienaufenthalt in Paris zu bekommen. Das ließ Barlach keine Ruhe. Da sein Lehrer Diez zuriet, ließ er sich den halben Rest seines Anteils am väterlichen Erbe auszahlen und schloß sich dem Kameraden an. 10
Paris, wie ein Sehnsuchtsland in jener Zeit das Ziel aller jungen Künstler, bezauberte auch Barlach; aber nicht, weil es das Märchenreich war, das Garbers und er sich vorgestellt hatten, sondern -weil die teilweise erschreckende Fremdartigkeit der Stadt auch in ihrer harten Wirklichkeit noch erregend schön war. Nach den ersten Enttäuschungen, besonders in einem Atelier, das ihn lehren sollte, Akte zu zeichnen, „Zustände einer schlechten, langweiligen Kleiderlosigkeit", wie er sagt, wurde ihm Paris bald vertraut und gab ihm tausenderlei neue Anregungen. Er sammelte die Eindrücke des heftig pulsenden Lebens auf den herrlich weiten Straßen, Plätzen und Ufern in sein Skizzenbuch. Er trieb sich wochen- und monatelang in den Ausstellungshallen des Louvre herum und wurde wie ein Hausgeist in diesem großartigen und unendlich erlebnisreichen Museumsschloß heimisch. Nachdem er eine Zeitlang mit Garbers in einem kleinen deutschen Hotel gewohnt hatte, mietete er, um zu sparen, im Süden der Stadt ein abseitiges, billiges Atelier. Es lag idyllisch mit anderen Werkstätten und Künstlerklausen an einem von dem niedrigen Gebäude umschlossenen Gärtchen. Seine Nachbarn waren Maler, Bildhauer und Dichter, fleißig, arm, verliebt und heiter. Der Hauswirt, selbst ein Künstler, veranstaltete in seinem weiträumigen Atelier gesellige Abende, an denen die Dichter ihre Verse vortrugen und über neu entstandene Kunstwerke lebhaft gestritten wurde. Vor Barlachs Zeichenblättern wiegte er den Kopf und meinte lobend: „Tres philosophique!" („Sehr philosophisch!"). Merkwürdigerweise machte der große französische Bildhauer jener Zeit, Auguste Rodin, den der Dichter Rainer Maria Rilke wenige Jahre später voll schwärmerischer Begeisterung aufsuchte, auf Ernst Barlach nur geringen Eindruck. Erlcümmerte sich kaum um dessen Werke. Er ging eigensinnig seinen Weg, „wie ein Frischling schnüffelnd und schmausend im wilden Wald", und suchte nicht nach Beispielen und Vorbildern. Im Frühling 1896 begab sich Barlach für einige Zeit zu seiner Mutter nach Friedrichsroda im Thüringer Wald. Aber Freund Garbers, der Barlachs bewährte Hilfe bei seinen großen bildhauerischen Aufträgen für Hamburg benötigte, holte ihn 1897 noch einmal für vier Monate nach Paris. Danach hielt sich Barlach, vorerst noch ziellos zeichnend, formend und schreibend, in Friedrichsroda, Berlin und, wieder als Mitarbeiter von Garbers, in Hamburg auf. Von da war es nur ein Sprung zu 11
seinem Geburtsort Wedel, der ihm so gut gefiel, daß er sich dort "l für mehrere Jahre einnistete. Er mietete in der Kuhstraße einen leer- I stehenden Laden und richtete ihn als Atelier ein. In diesen Jahren ; wurde er sich über die seltene Doppelbegabung als Bildhauer und Dichter klar, die vielleicht nur Michelangelo als Vorbild kennt; während das äußere Leben des Dreißig- bis Fünfunddreißigjährigen noch scheinbar ungeordnet, ungebunden, in mancherlei kleinen Abenteuern und zufälligen Beziehungen zu anderen Menschen dahinfloß, festigten sich zunehmend sein Wollen, seine innere Kraft und Eigenart. Er formte zunächst ein paar schlichte Grabplatten, begann ein Drama zu schreiben und arbeitete nun zielbewußt und unermüdlich an sich selbst, bis jene reiferen Werke entstanden, auf die Kunstsachverständige und Verleger aufmerksam wurden. Als erster setzte sich in diesen Jahren, da Barlach in mehreren Städten arbeitete, Karl Scheffler für ihn ein, einer der bedeutendsten deutschen Kunstschriftsteller, der jahrzehntelang eine für Malerei, Plastik und Architektur maßgebende Zeitschrift, „Kunst und Künstler", herausgab. Er schrieb schon 1901 einen Aufsatz über Ernst Barlach, der auf die vielversprechenden Anlagen des jungen Bildhauers in klarer Erkenntnis seiner besonderen Wesenszüge hinwies. Scheffler, mit dem Barlach bis an sein Lebensende verbunden blieb, hat uns aus dessen Berliner Zeit manches Merkwürdige erzählt. Der Künstler lebte dort sehr zurückgezogen, in kümmerlichen Verhältnissen, als ein Außenseiter und „Eremit der Großstadt". Äußere Erfolge waren ihm noch versagt, innere Nöte bedrängten ihn, er war • schweigsam und menschenscheu. Aber auf alle, die mit ihm in Berührung kamen, machte er schon den Eindruck einer ausgeprägten Persönlichkeit. In seinem Atelier sah man unter anderen Bildwerken, die in scharfen Zügen von Menschengesichtern vielfach Leid und Seelenqual, mitunter auch grimmigen Humor ausdrückten, eine Modellfigur des jungen Goethe, mit der er sich erfolglos an einem Wettbewerb für ein Denkmal in Straßburg beteiligt hatte. Sie stellte den Straßburger Studenten dar, der mit einem Krückstock den Rücken stützt, um mit zurückgebeugtem Kopf zu den Sternen entgegenschauen zu können. Eines der innigsten Bildwerke späterer Jahre, „Der Sterndeuter", war darin schon vorgeahnt. Mit rührender Liebe hing Barlach an seinem kleinen Sohn Klaus, dessen Mutter eine Frau war, die er liebte, aber wegen seiner dürftigen Verhältnisse nicht heiraten konnte. Er hatte ihn ständig bei sich, betreute, ernährte und kleidete ihn und wußte den Freunden nicht genug der Vorzüge des Kindes zu rühmen, das der Trost seiner Einsamkeit war. An einem Wintertag kam er Karl Scheffler auf der 12
Straße entgegen mit dem Jungen auf dem einen Arm und einer soeben gekauften Petroleumlampe in der anderen Hand. „Er sah aus", schreibt Scheffler, „wie ein Auswanderer, und das war er eigentlich auch immer." Er meint damit, daß Barlach immer unterwegs schien nach einem fernen Ziel, immer auf der Suche nach Neuland, das er allein und ohne Hilfe zu roden hoffte, „ein Robinson der Seele", wie ihn Scheffler ein andermal nennt. Klaus Barlach blieb übrigens zeitlebens^er Stolz und die Freude seines Vaters. Am ersten Silvester in Wedel schrieb Barlaeh an Scheffler: „Heute Altjahrsabend sitze ich einsam in meinem Wedeler Atelier und grüble über das sogenannte Glück und ob's nicht ein Deckname für das vermaledeite ,Nichts Gutes' ist." Von den Wedeler Jahren hat Barlach stets gern und mit Behagen erzählt, am schönsten in seinem Roman „Seespeck", der erst zehn Jahre nach seinem Tode von Dr. Friedrich Droß, dem um Barlachs nachgelassenes Werk hochverdienten Vorsitzenden der Barlach-Gesellschaft, herausgegeben wurde. Die alten Wedeler kannten ihn fast alle noch, manche glaubten in ihm den Vater wiederzuerkennen, dem er sehr ähnlich war und dessen ärztlichem Wirken sie ein dankbares Andenken bewahrten. Die Kinder drückten sich an der Ladenfensterscheibe seines Ateliers die Nasen platt und riefen: „He malt!" In dem Helden des Romans „Seespeck" stellt Barlach sich, etwas abgewandelt, selber dar; in der breiten, urlebendigen und malerischen Art, mit der er seine Erlebnisse schildert, offenbart sich der tiefe, launige, herbe und überlegene Humor des Bildhauer-Dichters. Dieser Humor leuchtet mitunter auch in seinen Bildwerken und Zeichnungen auf und verträgt sich überraschend gut mit dem niederdeutschen schweren Ernst der meisten seiner Werke. Mit solchem Humor erzählt Barlach z. B. von seiner Ankunft in Wedel, von einer Zecherei am ersten Abend mit alten und neuen Bekannten und von seinem Erwachen am nächsten Tag in dem kleinen Hotel am Markt: „Als Seespeck (= Barlach) spät am Tage aus seinem Fenster sah, fand er sich Auge in Auge mit der Rolandsfigur, die in vollem Sonnenlichte stand. Sie musterten sich gegenseitig, schwere Köpfe hatten sie beide, und wenn Seespeck nicht hintenüber lehnte, so lag das vielleicht nur daran, daß er nicht auf freiem Markt und oben auf einem Sockel stand." Im Grunde fühlte sich der Künstler in der kleinen Landstadt wohler als in den Großstädten Paris und Berlin. Er streifte in der Landschaft herum, segelte auf der Elbe, verkehrte mit einem alten, im Ruhestand lebenden Lehrer, der ein Freund seines Vaters gewesen war, mit dem Posthalter, mit Kaufleuten und Handwerkern und verliebte sich hier oder da in 13
deren Töchter, ohne sich schon zu einer Heirat entschließen zu können. An allen Ecken und Enden tauchten ihm liebe oder böse Kindheitserinnerungen auf. Er hatte seine Augen „nicht in der Tasche", und „was so auf den Straßen, auswärts und in der Nachbarschaft, an menschlichen Wesen vorkam, das holte er sich mit den Augen wie mit dem geistigen Fangorgan an seine Seele". Und dann wieder widmete er sich wochenlang ganz seiner Arbeit im Atelier, „in der Zurückgezogenheit des Murmeltieres", zeichnete, knetete und schnitzte die Gestalten, in denen ihm Größe und Elend, Schicksal und Not des Menschenherzens begegnet waren, oder schrieb an seinen Dramen. Manchmal besuchte er einen Bruder, der in der Nachbarstadt die Fischerei betrieb und das väterliche Erbe für ihn verwaltete, von dem er immer noch seinen bescheidenen Lebensunterhalt bestreiten mußte. Einen anderen Bruder sah er 1905 in Berlin wieder. Dorthin war Barlach einstweilen zurückgekehrt, nachdem er ein halbes Jahr Lehrer an einer rheinischen Fachschule für Keramik gewesen war. Dieser Bruder, Niko, kam aus Amerika, wohin ein dritter der Brüder ausgewandert war, und war auf dem Wege nach Bußland. Er brauchte Ernst nicht lange zu überreden, ihn auf dieser Beise zu begleiten.
Es war nicht Zufall, daß das Erlebnis Bußlands die entscheidende Wende im Leben und Schaffen Ernst Barlachs herbeiführte. Ähnlich war es einige Jahre vorher Rainer Maria Rilke ergangen. Auch manchen anderen westeuropäischen Künstler hat dieses von jeher geheimnisvolle Land mit seinen unendlichen Weiten, seinen Wundern und Schrecken innerlich gewandelt und sich tiefer auf sich selbst besinnen lassen. Barlach empfand es als ein „höllisches Paradies" oder feine w paradiesische Hölle". Die russischen Menschen, die ihn zu den ersten, ihn selbst befriedigenden Bildwerken anregten, schieSien ihm sinnbildlich für das rätselhaft schwere, im Ungewissen schwebende menschliche Dasein zwischen Himmel und Erde. Büke nannte sie „einsame Menschen, jeder mit einer Welt in sich, jeder tief in seiner Demut, ohne Furcht, sich zu erniedrigen, und deshalb fromm". Solche Menschen waren die russischen Bauern, Bettler und Frauen, die Ernst Barlach nach seiner Rückkehr aus Rußland aus Ton formte oder aus Holz schnitzte. Im Frühjahr 1907 stellte er zwei Porzellan14
»Frau im Wind", „Bettler" und „Sänger" an der Katharinenkirdie in Lübeck. Eine NachDildung des „Sängers" halt auf Barlachs Grab die Totenwache
figuren in der Berliner Sezession ans: eine hockende Bettlerin, breit von Gestalt, schwerfällig, von groben und doch ergreifenden Gesichtszügen, und einen Bettler mit herbem, innerlich angespanntem, klagend zum Himmel gewandtem Gesicht. Etwas Urmenschliches war darin ausgedrückt, die schwerste, härteste Wirklichkeit des Lebens, und doch lag in der Haltung der Körper, in den Falten der Kleider, in den Zügen der Gesichter eine Verklärung, als ruhte das Auge Gottes auf ihnen, durch dessen Liebe sie aus der Not der Wirklichkeit herausgehoben werden. Die Bildwerke wurden von den Sachverständigen beachtet und anerkannt. Damit begann die Zeit der äußeren Erfolge für den Künstler. Diese Erfolge verdankte er in der ersten Zeit vor allem einem Manne, der behutsam und geduldig um sein Vertrauen warb, seine Menschenscheu überwand und sich wagemutig und mit bewundernswerter Zähigkeit für seine Werke einsetzte. Das war der Kunsthändler und Verleger Paul Cassirer. Er schloß einen Vertrag mit Barlach, nach dem ihm der Künstler seine sämtlichen Arbeiten überließ; dafür sicherte ihm Cassirer einen angemessenen Lebensunterhalt zu. Barlach war glücklich, daß er sich um den Verkauf seiner Werke nicht selbst zu kümmern brauchte, daß ihm die Sorge ums tägliche Brot abgenommen war und daß er zurückgezogen leben und schaffen konnte, wo es ihm gefiel. Die Erfolge des bald vierzigjährigen Bildners schlössen freilich nicht aus, daß die Bedeutung seiner Werke immer wieder angefochten wurde. Sie wurden mißverstanden, in ihrem eigentlichen Sinn verkannt und vielfach angegriffen. Seltsam! Gerade dieser am liebsten in der Stille schaffende und unbeirrt seiner inneren Vorstellung vom Bildwerk dienende Künstler stand bis an sein Lebensende im Streite der Öffentlichkeit. Das war zum Teil darin begründet, daß seine Bildwerke sowohl wie seine Dichtungen in der Tat nicht leicht zugänglich sind. Um sie zu verstehen, muß man sich tief in sie versenken. Erwarten doch viele Menschen vom Kunstwerk, besonders von dem des Bildhauers, daß es nur eine Seite des menschlichen Wesens darstellt: das Schöne, das Gefällige, Anmutige oder das Starke und Heldenhafte, kurz, das auf den ersten Blick Eindrucksvolle und das, was der Betrachter selbst vorzustellen sich wünscht. Barlach aber fühlte sich gedrängt, den ganzen Menschen darzustellen, nicht nur mit den Unschönheiten und Schwächen, die er an sich hat, nicht nur mit seiner Mühsal, Angst und Beladenheit, sondern auch mit den untergründigen Träumen, den verborgenen Wünschen und Trieben, die er, mehr oder weniger streng beherrscht, mit durchs Leben schleppt. Aber das Bild vom Menschen wird in dieser Ganzheit der Darstellung nicht häßlich und verzerrt, vielmehr von innen her ver16
klärt, ganz und gar beseelt, mit seinem inneren Adel, aber auch mit seinen menschlichen Gebrechen liebend umfaßt. Wenn dann aus dieser tiefsten Wahrhaftigkeit der Menschengestaltung heraus einmal ein Bildwerk entsteht, das eine edle Sehnsucht, eine tiefe innere Schau oder eine reine Unschuld darstellt, so wirkt es doppelt ergreifend. Aus Rußland hatte Barlach die Erkenntnis heimgebracht: „Du darfst alles Deinige, das Äußerste, das Innerste, Gebärde der Frömmigkeit und Ungebärde der Wut, ohne Scheu wagen; denn für alles gibt es einen Ausdruck." Er wagte es fortan immer wieder, in immer großartigeren Entwürfen, drückte das Innerste der Menschen in ihrem Äußeren aus und schuf in seinen Bildwerken und Zeichnungen erschütternde Gleichnisse von Stärke und Schwäche, Hoffnung und Verzweiflung, Verzückung und Schrecken, Begeisterung und Trauer, von der Last des Schicksals und der Größe seiner Überwindung. Zahlreiche Motive, in denen er das Erlebnis des russischen Menschen verbildlichte, lassen die vollendet gereifte Eigenart seiner Kunst erkennen: Holzbildwerke wie „Sitzender Steppenhirt", „Liegender Bauer", „Der Geldzähler" und „Sorgende Frau", Bildwerke in Bronze wie „Die Bettlerin mit Kind" und „Der Melonenschneider" oder Porzellanplastiken wie „Russisches Liebespaar" und ein anderes: „Liegender Bauer". Gleichzeitig arbeitete Barlach an seinem Drama „Der tote Tag". Er spielt wie alle seine Dramen in einer dämmerhaften, übersinnlichen Welt voll Spuk und Geisterwesen. In diesen Geisterwesen werden die guten Kräfte wie auch die unheimlichen Gewalten angedeutet, die tief im Menschen verborgen sind und die ihn zu Gott hinan- oder zum Teufel hinabziehen. Seelische Beziehungen und seelische Kämpfe zwischen Menschen bilden die Handlung. Im „Toten Tag" kämpft eine Mutter gegen das Fernweh des Sohnes, den sie nicht von sich lassen will. Das Fernweh wird versinnbildlicht in einem märchenhaften Pferd, das draußen vor dem Haus auf ihn wartet. Die Mutter tötet es, allen guten Warnungen zum Trotz, aber sie vernichtet damit auch die Seele und das Leben des Sohnes. Ein toter Tag, der aus der Nacht heraufkommt, in der das Pferd erschlagen wird, ist — so heißt es in dem Drama — „ein Schreckgespenst für eines Schuldigen Seele". Kule ist der gute Geist des Stückes. Ihm legt der Dichter weise Erkenntnisse in den Mund, die für seine Lebensauffassung kennzeichnend sind. Kule erklärt: „Geschicke sind nicht böse, man selbst ist es. Gute Menschen haben gute Geschicke. Gutsein ist das beste Schicksal." Er versichert: „Wer sich noch mit anderer Leid dazu belädt, der ist erst der wahre Mann." 17
Im Jahre 1909 reiste Barlach nach Italien und mietete in Florenz ein Atelier, in dem er sich fürs erste einmal wieder von der Außenwelt abschloß. In wahrer Besessenheit arbeitete er erst mit der Axt, dann mit dem Meißel aus seinen Holzblöcken Gestalten heraus wie den stehenden und den sitzenden „Sterndeuter", die beide mit angespannter Hingebung und mit einem Blick, der von den Geheimnissen und den leuchtenden Figuren am Himmel überwältigt scheint, über sich schauen, den „Ruhenden Wanderer" oder den „Berserker", der mit seiner zum Schlag ausholenden Gebärde in jeder Wölbung, Mulde oder Kerbe, man möchte sagen: in jeder Zelle des Holzes Wucht und Wut ist. Dann aber begegnete er eines Tages dem Dichter Theodor Däubler, der, in Triest geboren, in Italien fast ebensosehr seine Heimat sah wie in Deutschland. Diesen „majestätischen" Mann, in dessen mächtiger Leibesfülle eine zarte, lyrische Seele wohnte und der in zwölf Jahren ein dreibändiges Versepos über die abend- und morgenländischen Kulturen, „Nordlicht", geschaffen hatte, stellte Barlach später in dem Roman „Seespeck" — mit wahrer Wonne all seine Absonderlichkeiten ausmalend — ungeheuer lebendig vor uns hin, schonungslos und doch liebe- und humorvoll. Er verlegt darin in dichterischer Freiheit die erste Begegnung, die hier in Florenz stattfand, ins ferne Mecklenburg und schildert als einen der bleibenden Eindrücke die Art, wie Däubler aß: „Wie behende er zur Schüssel griff und rechts und links nagte, knusperte, teilte und gebratene Materie durch den Zauber der Zähne zu Geist umschuf; denn Nehmen und Geben verstand sein Mund gleich gut. Wie sein Appetit löwenähnlich auf der Lauer lag, wie er die Tatzen dirigierte zum Empfangen und Erlangen!" Er erzählt, wie er mit dem Dichter, der ihn in der Tat später in Güstrow besuchte, durch Mecklenburg gereist sei: „Sie verzehrten Doberan, übernachteten in Rostock, verschlangen Rostock und reisten mit Wolfshunger nach Stralsund weiter. In den Gasthäusern ward Däubler wie ein fahrender Fürst, manchmal fast als aus der Hölle entfahrener, angesehen, der in Begleitung seines zahlenden Sekretärs reiste." In Wirklichkeit ging diese erste gemeinsame Reise in der Landschaft Toskana und durch deren Städte vonstatten. Däubler zeigte und deutete Barlach die Denkmäler italienischer Geschichte, Architektur und Malerei, sie „arbeiteten sich", wie der Dichter das nannte, „hindurch". Der Bildhauer Barlach nahm die formschönen Erscheinungen dieser südlichen Welt offenen Sinnes in sich auf; aber er empfand sie als seiner Art fremd und kehrte gegen Ende des Jahres nach Berlin zurück. Die Freundschaft zu Däubler blieb bestehen; im Jahre 1916 schnitzte er ein kraftvolles Bildnis des Dichters. 18
Barlach als 66jähriger vor dem „Fries der Lauschenden"
Güstrow - Zufall und Schicksal Wenn Ernst Barlach später gefragt wurde, wie er zu dem Wohnsitz gekommen sei, in dem er fast die halbe Zeit seines Lebens sich aufgehalten hat, antwortete er: „Durch Zufall." Das Lächeln, das diese schlichte Auskunft begleitete, mochte wohl andeuten, daß er den Zufall als gut und vielleicht auch ein wenig als Fügung empfand. Barlachs Mutter hatte bei keinem ihrer Söhne eine bleibende Stätte gefunden, obwohl sie dem einen bis nach Texas gefolgt war und schweres Schicksal mit ihm geteilt hatte. Enttäuscht und abgekämpft kehrte sie zurück und zog um 1910, fünfundsechzig Jahre alt, nach Güstrow, einem geruhsamen, freundlichen Landstädtchen, im Herzen Mecklenburgs gelegen und reich an alten niederdeutschen Kulturdenkmälern. Hier fand sie überraschend eine neue Aufgabe, an der sie innerlich wieder erstarkte und die sie vollenden konnte: Ernst Barlach vertraute ihr seinen Sohn Klaus zur Erziehung an. Der Enkel erwies sich als ein stärkeres Bindemittel als alle anderen Beziehungen zwischen Mutter und Sohn. Ernst wohnte damals noch in Berlin, kam aber häufig nach Güstrow, blieb Wochen und Monate lang und richtete sich schließlich ganz dort ein. 19
Einige Jahre wohnten Mutter, Sohn und Enkel im oberen Stock eines unschönen Mietshauses, dessen äußerer Anblick dem Künstler ein Greuel war. Seine Werkstatt aber hatte er in einem früheren Pferdestall irgendwo auf dem Hinterhof einer Seitenstraße. Hier schuf er im Jahre 1912 vier wuchtige Holzbildwerke, die jedem, der sie oder auch nur Abbildungen von ihnen gesehen hat, in ihrem wesentlichen Gehalt immer vor der Seele stehen bleiben werden. Es sind zwei Einzelgestalten: „Der Wüstenprediger", mit seinen zum Gesichte hin geballten Händen ein Sinnbild innerer Sammlung und des Redens aus heiligem Geiste, und „Der Spaziergänger", der mit seiner breiten, ruhig-kräftigen Statur und mit seinem offenen Gesicht gleichsam den Raum in sich aufnimmt, den er durchschreitet; dann zwei Gruppen: „Schlafende Vagabunden", ein hingelehntes Paar, in dem die ganze Müdigkeit auf der Lebenswanderung zum Bilde wird, und „Panischer Schrecken", zwei bärtige Männer, die zurückgebeugt in furchtbarer Bestürzung ein Verhängnis von oben nahen 6ehen, ein Bildwerk, das fast wie eine Vorahnung der Schrekken des Luftkrieges anmutet. Wie der „Spaziergänger" nahm Barlaeh auf fast täglichen Wanderungen die weite mecklenburgische Landschaft in der Umgebung Güstrows in sich auf. Er kam mit gewöhnlichen und absonderlichen Menschen ins Gespräch und in nähere Berührung und hielt die Erlebnisse mit ihnen in köstlicher Frische fest. Daraus erwuchsen nach und nach einige Kapitel des schon genannten Romans „Seespeck". Allabendlich schrieb er ein paar Zeilen oder Seiten in seine schwarzen Hefte, nicht nur die Abenteuer Seespecks -— das war er in dichterischer Verkleidung selber —, sondern auch malerische Schilderungen der Landschaft, wie er sie tagsüber erlebt hatte, oder idyllische und drollige Bilder des Zusammenlebens mit der Mutter und dem Sohn Klaus. Wie deutlich wird uns das Wesen der Mutter etwa aus folgender Beobachtung: „Warum setzt Mutter abends vorm Zubettgehen ihre Blumenstöcke, die Araukaria, die Azalie mit einer Blüte und ein anderes Pflänzchen, vom Blumentisch aufs Büfett rechts vom Fenster? Weil sie dort von der Morgensonne gleich die ersten Strahlen bekommen, wenn sie über dem neuen roten Dach hinten im Garten aufsteigt. Das ist ihr Letztes am Abend, damit ein Haupterstes am Morgen vorgesorgt ist. Und dann, wenn die Sonne am Tag von rechts des Zimmers nach der Mitte und langsam bis zu vier Uhr an die linke Wand gelangt, zieht sie mit den Töpfen hinterdrein, und die Araukaria kommt sogar auf die Kommode hinten im Zimmer, denn da flaut die Sonne ab." Und mit welch liebevollem Humor beschreibt er das Auskleiden und Baden des sechsjährigen Klaus: 20
„Die Hose läßt er herab und stemmt dann die Hände gegen die Lehne des Kanapees und beginnt hinten auszuschlagen, wie ein wütendes Pferd, bis ihm das Kleidungsstück hinten wegfliegt. Die Strümpfe zieht er den Beinen schräg über die Füße weg ab, bis die Spannung so stark wird, daß sie wie aus der Pistole losgehen und einen schlenkernden Satz durch die Luft machen; das Unterzeug muß die Prozedur der Hose erdulden, und das Hemd streif ich ihm über den Kopf, dann ins Wasser. Da schwimmt schon das holländische Schiffchen aus Amsterdam mit braunen Segeln und dickem Bauch, er selbst ist eine Insel und läßt das ahnungslose Schiff leise herantreiben, als ob Sindbad, der Seefahrer, darauf wäre .. ." Ruhige, reicherfüllte Schaffensjahre folgten, die Aufträge mehrten sich, Freunde seines Werkes besuchten ihn und warben für ihn; Museen stellten seine Bildwerke aus, und Kunstzeitschriften setzten sich mit ihnen auseinander. Freilich meldete sich auch immer wieder Widerspruch gegen die herbe, schwerfällige, bäuerische Art seiner Plastiken, die sich mit dem von der Klassik her eingewöhnten Idealbild nicht vertrugen und eher mit den Heiligen- und Teufelsfiguren mittelalterlicher Bildschnitzer verwandt erschienen. Dabei sind sie, wie wir heute deutlicher erkennen, umfassender Ausdruck des Lebensgefühls der Menschheit des 20. Jahrhunderts. Sie halten dem Menschen unserer Zeit den tiefdeutenden Spiegel seines Wesens vor. In Reliefs wie „Die Verlassenen", „Hunger", „Der Übergang", „Die Apfeldiebin", und in Holzplastiken wie „Trauer" (die ein wie erstarrt sitzendes Paar darstellt), „Frierendes Mädchen", „Barmherzigkeit", „Der Mann im Stock", „Die gemarterte Menschheit", „Das Grauen", „Der Flüchtling" und „Weinende Frau" — Werken, die in dem Jahrzehnt nach 1912, um die Zeit des ersten Weltkriegs herum entstanden — werden Not, Angst, Schicksalslast, Gottentfremdung und seelische Erstarrung des Menschen dieser Zeit offenbar. Freilich weist Barlach in Werken von hohem und tröstlichem Sinnbildgehalt auch den Weg aus dieser Bedrängnis heraus, in Bildwerken etwa wie „Der Ekstatiker", „Moses", „Der Wartende", „Der Apostel" und „Der Beter". Um das Jahr 1920 wohnte Barlach mit seiner nun recht gealterten Mutter, dem heranwachsenden Sohn und einer vertrauten Hausgenossin und Helferin, Albertine Heidebruch, in fünf Zimmern eines Erdgeschosses, zu dem ein Garten mit Blumenbeeten, Beerensträuchern und Obstbäumen gehörte. In den Pausen zwischen den großen Arbeiten wanderte er gern mit Klaus oder mit „Tine" über Land. Meistens aber schaffte er bis zum Dunkelwerden in seinem Atelier, kam dann erschöpft, „geisterhaft bleich" nach Hause und 21
plauderte mit Tine, während nebenan die zittrige Greisenstimme der Mutter auf die letzten Fragen des Enkels vorm Einschlafen antwortete. Oder er zog sich in sein Zimmer zurück und schrieb oder zeichnete. Ungern empfing er neugierige und aufdringliche Besucher, die ihm nur die Zeit stahlen. Aber er stand zu Unrecht im Ruf der Ungeselligkeit. Oft und gern saß er mit Nachbarn und vertrauten Freunden zusammen; zu ihnen gehörte vor allem der Güstrower Zeichenlehrer Friedrich Schult, der zugleich ein feinsinniger Schriftsteller und Kunstforscher war. Auch besuchten ihn gelegentlich Theodor Däubler, Paul Cassirer mit seiner Frau Tilla Durieux, einer bedeutenden Schauspielerin, und seinem Mitarbeiter Kerstenberg, auch ein anderer Verleger, der sich für Barlachs Werk einsetzte: Reinhard Piper. Von ihm schuf Barlach eine wunderbar lebendige Bildnisbüste in gebranntem Ton, von Tilla Durieux je eine in Porzellan und Bronze. Die Jahre nach 1918, in denen der Expressionismus, die um reinen und leidenschaftlichen seelischen Ausdruck ringende Kunstrichtung, zur Hoch- und Spätblüte kam, brachten dem Ruhm Barlachs und der öffentlichen Anteilnahme an seinem Schaffen einen neuen Aufschwung. Man sah in ihm, gerade weil er abseits des großstädtischen Kunstbetriebes lebte und arbeitete, einen der stärksten und eigenwilligsten Vorkämpfer dieser Bewegung. Mehr und mehr Ausstellungen seiner Bildwerke und Zeichnungen wurden veranstaltet. Die Gestaltung von Grabmälern und Ehrenmälern für die Gefallenen des ersten Weltkrieges wurde ihm. aufgetragen: für die Nikolaikirche in Kiel," für den Magdeburger Dom, für die Stadt Hamburg und für den Dom seiner Heimatstadt. Der ersten Aufführung des „Toten Tags" am 22. November 1918 in Leipzig folgten weitere Vorstellungen seiner Dramen an verschiedenen größeren Bühnen. 1918 vollendete Barlach das Schauspiel „Der arme Vetter", in dem er dem Menschen unserer Zeit das Ostererlebnis vor die Seele stellt, das ewige „Stirb und Werde". Der Held, Hans Iver, der in der furchtbaren Einsamkeit des Geistmenschen am Leben verzweifelt, erfährt Tod und Wiedergeburt an sich auf einem traumhaften Osterspaziergang durch die Heide. Zwar stirbt er an dem Unheil der Welt, doch wird ihm im Tode die Auferstehung zuteil in der Liebe eines Mädchens, das sich aus der seichten Umgebung losreißt. Ein weiteres Drama entstand 1920: „Die echten Sedemunds", eine komödienhafte, heiter-groteske Auseinandersetzung des „vom Gottesfunken gebrannten" Menschen mit dem Jahrmarkt der menschlichen Eitelkeiten. In diesen Jahren wurde Ernst Barlach mehrfach öffentlich geehrt. 22
Er legte nicht sehr viel Wert darauf. Als ihn eine Universität zum Ehrendoktor ernannte, meinte er: „Nimmt einer so eine Ehre an, gleich ist es wie eine Last, gleich ist man irgendwie verpflichtet." An seinem 50. Geburtstag, dem 2. Januar 1920, hätte er freilich nicht mit dem Sohn nach Warnemünde zu fliehen brauchen, denn außer einigen Briefschreibern hatte keiner des Tages gedacht. Die treusorgende Tine Heidebruch, die Barlachs Reizbarkeit kannte, hatte nur ein paar Maiglöckchen auf den Frühstiieksteller von Barlachs Mutter gelegt. Die Mutter wurde erst dadurch an die Bedeutung des Tages erinnert und legte das Sträußchen auf den Teller des Geburtstagskindes. Tine aber nahm es sofort wieder weg und gab es der Mutter zurück mit den Worten: „Nein, Sie sollen es haben, er ist ja nur geboren worden!" Da taute Barlach aus seinem dunklen Brüten auf und sagte lächelnd: „Das ist vernünftig, das lasse ich mir gefallen." — „Er hat die schönste Seele, das größte Herz, das ich kennenlernen durfte", schrieb Tine Heidebruch später. „Er gehört zu den echten deutschen Männern, die, wie Bach und Luther, bei aller ehrbaren Bürgerlichkeit das Gewaltigste, die Philisterruhe Erschütternde in sich tragen."
Als im Jahre 1927 Ernst Barlachs großartigstes Gefallenenmal im Dom zu Güstrow angebracht wurde, ahnte er nicht, für wie kurze Zeit es dort in seiner gewaltigen, stumm-beredten Sprache auf die Mitwelt wirken sollte und welche Drangsale ihm selbst für das letzte Jahrzehnt seines Lebens noch bevorstanden. Er hatte eine überlebensgroße, waagerechte Bronzefigur geschaffen, die in einem Seitenschiff des Domes hing — zweieinhalb Meter hoch über einem schlichten, von einem alten kreisrunden Gitter eingeschlossenen Stein mit den Jahreszahlen 1914—1918. Diese Gestalt, die mit gekreuzten Armen, geradeaus gerichtetem Antlitz und nach innen gewandtem Blick im freien Raum schwebt, sollte kein Engel sein; es fehlten ihr die Fittiche. Sie stellte ein Sinnbild der am Kriege leidenden und zugleich das Leid überwindenden Menschheit dar, ein Sinnbild des Opfers der Gefallenen und der im Opfertode vollbrachten Erlösung von der Erdenschwere. Was Ernst Barlach einmal an sich selbst und was auch sein „Armer Vetter" erfahren hatte, „die Beglücktheit des selig Erwachenden, der noch die Pein des mühsamen Sterbens nicht vergessen hat", verkörperte diese Figur, die auf jeden Besucher des Güstrower Domes unvergeßlichen Eindruck machte. 23
In den zwanziger Jahren schuf Ernst Barlach auch seine bedeutendsten Zeichnungen. Es sind keineswegs bloß Entwürfe oder Skizzen für bildhauerische Arbeiten, sondern selbständige Kunstwerke, die einen wichtigen Teil seines Lebenswerkes ausmachen. Es sind ausschließlich figürliche Darstellungen: der Mensch ist der unerschöpfliche Gegenstand seiner Bildwerke und Dichtungen wie auch seiner Zeichnungen. Der Mensch nicht in der Oberfläche seiner Erscheinung gesehen, sondern tief erschaut in allem, was sich aus seinem innersten Wesensgrunde, von seiner Seele in der Erscheinung ausprägt. Schicksal, Leid, Entsetzen, Verfehlung, grimmige Gewalt und Bosheit, aber auch Glück, Verzückung, Liebe, Innigkeit und Ergriffenheit sind vielfältig darin ausgedrückt und gehen dem Betrachter unmittelbar zu Herzen. Manche der Zeichnungen erzählen auch, veranschaulichen Vorgänge aus dem weltlichen und religiösen Leben, aus Sage und Dichtung: zum Beispiel „Das Wiedersehen", das die Begegnung des auferstandenen Christus mit dem ungläubigen Thomas schildert, „Der Gang zum Scheiterhaufen", „Flucht aus dem Hungerland", „Zwei Mädchen, ein Tuch prüfend", oder eine Reihe von Blättern, die Vorgänge aus dem „Nibelungenlied" illustrieren, und die packend lebensvolle Zeichnung „Faust und Mephisto in der Walpurgisnacht". Daneben wuchs das Werk seiner Dramen. 1922 erschien „Der Findling". Wie im „Armen Vetter" das Ostererlebnis, so hob Barlach in diesem das Weihnachtswunder ganz aus der gewohnten Vorstellung heraus, um es in zeitnahen und zugleich märchenhaften Gleichnissen den Menschen seiner Zeit neu in die Seele zu senken. Alle Macht des „roten Kaisers" dieser Welt und seines prahlenden Propheten über Gier, Haß und „Menschenfraß" ist ohnmächtig gegenüber der wunderwirkenden Liebe eines Menschenpaares, in dessen Hut aus der ausgesetzten Mißgeburt ein Kind der Gnade und des Heils wird. 1924 folgte „Die Sintflut", die in großartig sagenhaften Bildern und tiefen Zwiegesprächen zwischen Mensch und Gott begreiflich macht, wieso selbst unter der Herrschaft des Guten — das ist Noah auf seiner Arche — das Böse immer wieder arglistig Eingang findet; dem widergöttlichen Calan wird zwar die Aufnahme in die Arche versagt, er kommt in der Flut um, aber ein Mädchen auf der Arche trägt ein Kind von ihm unterm Herzen. Das 1926 veröffentlichte Schauspiel „Der blaue Boll" zeigt dagegen, wie Dumpfes und Böses in einem Menschen durch ein erschütterndes Erlebnis, durch ein Gotteslicht, das in ihm angezündet wird, durch eine unerwartete und von der Umwelt unverstandene Liebe ausgebrannt wird, wie der abgestumpfte Erdenmensch durch innere Er24
.Der Bettler" vor der Lübecker Katharinenkirche (Text Seite 27)
neuerung zum gotterfüllten Menschen wird. Ein ähnliches Erlebnis ist der Inhalt des 1930 erschienenen Dramas „Die gute Zeit". Die Heldin Celestine erfährt, daß die gute Zeit nicht die des Wohllebens, der „absoluten Versicherung", der Macht und Herrlichkeit ist, sondern daß sie allein im Innern des Menschen, in Liebe und Hingabe, immer neu ersteht. Alle diese Dramen haben einen festen, durch Not, Grauen und Ratlosigkeit unserer Zeit hindurchleuchtenden religiösen Kern. Als Ernst Barlach im Jahre 1930 gebeten wurde, sich über die Art seines Glaubens zu äußern, antwortete er: „Die Gläubigkeit meines Wesens möchte um alles Heiligen willen von Befragung verschont bleiben . . . Doch gehöre ich zu den gläubigen Menschen, deren Letztes sich allerdings nicht in Worte bringen ließe, indem ich der Überzeugung bin, daß die mir'gegebene Sprache und Darstellung von etwas zeugt, das vom Wort, von Wille, Verstand und Vernunft überhaupt nicht berührt wird. Es sei denn in der Art der Kunst-Sprache, indem ihr i n n e w o h n t . . . was nicht gewollt, gelernt, gewonnen oder ursächlich erkannt werden kann, sondern zweckfreie Gnade ist." Als Ernst Barlaeh 60 Jahre alt war, wohnte er mit seiner Gefährtin, Frau Marga, die er spät gewonnen hatte, in einem kleinen Landhaus am Heidberg bei Güstrow zwischen Wald und See. Daneben hatte er ein großes Atelierhaus bauen lassen, das zugleich das Heim seines Mitarbeiters B. A. Boehmer war, der ihm die Rohbearbeitung der Holzblöcke und die geschäftlichen Verhandlungen abnahm. Das Atelier war ein hoher, lichter Raum. Er war mit allen neuzeitlichen Hilfsmitteln zur Erleichterung der Arbeit ausgestattet, mit Vorrichtungen für eine günstige Lichtverteilung und mit einem Kran für die Beförderung schwerer Stücke. Fertige und halb ausgearbeitete Holzfiguren und Reliefs standen herum, stehende, hockende, liegende Gestalten mit mannigfaltigen Gebärden menschlicher Erhebung und Erschütterung. Auf Gestellen und Gesimsen leuchteten die kleinen Gipsentwürfe der großen Bildwerke. Und inmitten all dieser unbeweglichen und doch sprechend lebendigen Schöpfungen, unter denen man in dieser Zeit einer „Mutter mit dem Kind", einer „Gefesselten Hexe" oder einem wunderbar an die Schlafgesichte hingegebenen „Träumer" begegnen konnte, bewegte sich der kleine, schlanke Mann mit dem hageren Gesicht, den großen, schwermütigen Augen, aus denen doch manchmal auch der Schalk blitzte, dem locker aufwallenden Haar und dem grauen Bart (Abb. S. 19). Auf mehreren Selbstbildnissen erkennen wir ihn so wieder. Mitunter kam dem bescheidenen Künstler die prächtige Einrichtung der neuen Ateliers unheimlich großartig vor, und er sprach mit einem Seufzer, der fast 26
nach Heimweh klang, von dem alten schlichten Arbeitsraum im Pferdestall der nahen Stadt. Hatte Barlach Gäste, die ihm lieb waren, so machte er gern weite Spaziergänge mit ihnen über die Höhenwege des Heidbergs, durch den sommerlich grünen und rauschenden oder winterlich verschneiten Wald oder am Inselsee entlang. Er überraschte sie durch seine genaue Kenntnis der Naturvorgänge, in die er sein Leben lang hineingehorcht hatte, durch sein Wissen um die Eigenheiten und Gewohnheiten der Tiere und durch die Liebe, mit der er sie in seiner Umwelt willkommen hieß, vom winzigen Insekt bis zum räubernden Wildschwein. Als ein junges Mädchen, das er einmal vor diesen „Schwarzkitteln" warnte, ihn fragte: „Und Sie selber?", antwortete er schmunzelnd: „Ach, mir tun sie nichts — ich bin ja sozusagen einer ihresgleichen." Gern führte er seine Gäste auch in die kleine Arbeitsklause und holte aus einem schweren Eichenschrank Bleistiftskizzen, Steinzeichnungen und Holzschnitte. Oder er schwatzte, Zigaretten rauchend, mit ihnen, wobei er in späteren Jahren ein Hörrohr benutzen mußte, und erzählte mit gemütlich brummender Baßstimme aus seinem Leben. Im Jahre 1930 erhielt Ernst Barlach auf Anregung des damaligen Lübecker Museumsleiters, des Professors Carl Georg Heise, den Auftrag, für die Nischen an der Backsteinfassade der Katharinenkirche zu Lübeck neun Klinkerfiguren zu schaffen, eine Art „Gemeinschaft der Heiligen" — Heiliger im Sinne schlichter, gläubiger Menschenseelen, geeint im Heiligen Geist. Der Künstler hat lange mit sich gekämpft, ehe er diesen Auftrag annahm, hat lange mit der Frage gerungen, ob er es wagen dürfe, seine Kunst in dieses altehrwürdige Bauwerk einzufügen. Als er dann an die Ausführung ging, erhob sich ein überraschender Widerstand gegen den Plan. Über achthundert Anwohner der Straße, an der die Katharinenkirche steht, unterschrieben einen Aufruf, der sich über die „Verschandelung" der Kirche entrüstete. Barlach wurde durch diese immer lauter werdende Gegnerschaft derer, die das Neuartige und Außerordentliche in der Kunst als unbehaglich empfanden und unduldsam ablehnten, so entmutigt, daß er nur drei der Figuren ausführte: den „Bettler", die „Frau im Wind" und den „Sänger" (Abb. S. 15 und 25). Sie wurden aufgestellt, aber später von den neuen Machthabern, die sich das Urteil der Menge zu eigen machten, entfernt. Zum Glück konnten sie vor der Vernichtung bewahrt werden und im Jahre 1947 den ihnen bestimmten Platz wieder einnehmen. Heute befremden sie kaum noch einen der vielen vorübergehenden Betrachter, die meisten lassen sich bewundernd von ihnen ergreifen, und die Kunstsachverständigen bezeichnen sie als 27
die Krönung von Barlachs Lebenswerk. Auch die übrigen sechs Nischen blieben nicht leer. Der Hamburger Bildhauer Gerhard Marcks, den Barlach selbst für die Fortführung des von ihm begonnenen Werkes empfahl, vervollständigte die „Gemeinsdiaft der Heiligen." Ein anderes großes Gruppenwerk, den „Fries der Lauschenden", neun Holzbildwerke für einen Musiksaal, konnte Barlach in den dreißiger Jahren vollenden. Es sind Sinnbilder von Menschenseelen, die Musik als Gnade empfangen, die Musik in sich selbst haben und die durch Musik verwandelt und vereint werden. Diese Gestalten, die Träumende, die Erwartende und die Pilgerin, der Gläubige, der Begnadete und wie sie alle heißen, muten an wie aus dem harten Eichenholz herausgewachsen, ja fast wie aus weichstem Stoff emporgetaucht. Alles an ihnen ist Musik: die Köpfe und die Hände, die Gewänder und die Gebärden. Es sind mit die innigsten Menschenbilder, die Barlach gestaltet hat, diejenigen, auf denen die Schicksalslast am sanftesten ruht, weil sie vom Glück und Segen reiner Kunst durchdrungen sind.
D e r Bildersturm Barlachs Kunst hatte ihre höchste Beife erreicht und sich weithin, in ganz Deutschland und auch über die Grenzen hinaus, Anerkennung errungen, als 1933 die „Umwertung aller Werte" begann. Die Bildwerke des Meisters waren in die Kunsthallen der meisten großen deutschen Städte aufgenommen worden, seine Ehrenmäler in Kiel, Hamburg, Magdeburg und Güstrow hatten auch die anfangs Widerstrebenden zu überzeugen begonnen, seine Zeichnungen wurden vielfach ausgestellt, und viele Bühnen bemühten sich darum, seine Dramen durchzusetzen. In einer Ausstellung der Preußischen Akademie der Künste wurde seinem Sdiaffen im Eingangssaal besondere Ehre erwiesen, und der Künstler wurde mit dem Orden Pour le merite ausgezeichnet. Da setzte jene Umwälzung in Deutschland ein, die wie- mit Hagelschlag seine gesamte Lebensernte zu vernichten drohte. Glücklicherweise ist ihr nur ein kleiner Teil seiner Werke zum Opfer gefallen. Doch hat nicht nur die zunehmende Sorge um die Arbeitsmöglichkeit, ja um den Lebensunterhalt, sondern auch die begründete Befürchtung, daß gerade die wesentlichen Teile seines Schaffens von dem Bildersturm betroffen werden möchte, die letzten fünf Lebensjahre Ernst Barlachs verdüstert. Wäre die emporgekommene Bewegung 28
das gewesen, was sie zu sein vorgab: ein neuer Aufbruch der ursprünglichen Kräfte deutscher Art und Kultur, so hätte sie gerade einen im besten Sinne so erdhaften, einen so urständig niederdeutschen Künstler wie Ernst Barlach, der zugleich mit der stoffgebundenen Sdiwerfälligkeit niederdeutschen Wesens in sich rang und sie vergeistigte und beseelte, erfreut zu den Ihren zählen müssen. Aber nun waren Männer an der Macht, die die Halbbildung und den Allerweltsgeschmack zum Maß aller Dinge machten. So blieb es nicht aus, daß schon bald das erste Zeichen zum Angriff vor allem gegen Ernst Barlachs Ehrenmäler gegeben wurde. Den Verkündern eines äußerlich begriffenen Heldentums und des Geistes der Eroberung war die Auffassung, daß der Krieg eine Geißel für die Menschheit sei, die nur mit innerem Heldentum überwunden werden könne, ein Dorn im Auge. Von den Rednerpulten ergoß sich Spott und Hohn über das Werk des Meisters; seine Landsturmmänner am Magdeburger Ehrenmal seien keine Idealgestalten, sie ständen „stumpf und blöde nebeneinander". Der Kirchenrat der Magdeburger Domgemeinde wurde gezwungen, das Mal aus dem Dom zu entfernen. Es wurde in die Berliner Nationalgalerie gebracht, aber nicht ausgestellt, sondern in einem Kellerraum verschlossen. Diese erste amtliche Maßnahme gegen Barlach hatte zur Folge, daß der Entwurf für ein Ehrenmal in Stralsund, an dem er seit längerem arbeitete, abgelehnt wurde. Schlagartig blieben die Aufträge aus, Aufführungen seiner Dramen wurden verhindert. Die Bildwerke in den Kunsthallen wurden nach und nach entfernt. Zeichnungen, die er zu einer Ausstellung geschickt hatte, kamen beschädigt und beschmiert zurück. Barlach trug diese Schicksalsschläge mit großer Gelassenheit und arbeitete im Stillen unbeirrt weiter: am „Fries der Lauschenden", an dem tief ergreifenden Holzbildwerk „Der Zweifler", an dem höchst anmutigen „Flötenbläser" oder an einer mit der ganzen Trauer über die Zeit erfüllten Frauengestalt, die er „Das Jahr 1936" nannte. Auch schrieb er an einem neuen Drama, „Der Graf von Ratzeburg". Dieses Werk faßt den Helden auf einer Kreuzfahrt einigen symbolischen Gestalten des Alten und des Neuen Testaments (Moses, Hilarion, Christophorus.) begegnen und erhebt ihn in einer inneren Läuterung von der Ungeduld zur Geduld, von der äußeren „Geltung" zum wahren „Sein". Man fand diese Dichtung in Barlachs Nachlaß, aber erst vierzehn Jahre nach seinem Tode, im Frühjahr 1952, wurde sie in Darmstadt zum ersten Male aufgeführt. Auf die Dauer freilich zehrten Schwermut und die Verbitterung Über die fortgesetzten Anfeindungen an der Gesundheit des nun über fünfundsechzigjährigen, herzleidenden Künstlers. Als im Herbst 29
1935 das Buch „Zeichnungen von Ernst Barlach" herauskam, wurden bald darauf sämtliche Exemplare, die sich noch in den Buchhandlungen und im Verlag befanden, staatspolizeilich beschlagnahmt und eingestampft. Bald wurden auch die Ehrenmäler in Kiel und Hamburg entfernt. Im Jahre 1937 nahm noch einmal ein wagemutiger Museumsleiter vier Holzbildwerke von Barlach in die Berliner Jubiläumsausstellung der Preußischen Akademie auf; sie mußten zwei Tage vor der Eröffnung auf ministerielle Anordnung entfernt werden. Selbst bei Kunsthändlern wurden seine Plastiken und Zeichnungen beschlagnahmt. Im gleichen Jahre wurde sein Schaffen öffentlich gebrandmarkt: mehrere seiner Arbeiten standen in der Münchener Ausstellung „Entartete Kunst" zur Schau. Der härteste Schlag aber war es für den Künstler, daß in seiner Heimatstadt Güstrow das Ehrenmal aus dem Dom herausgeholt und eingeschmolzen wurde. Niemand wußte damals, daß Barlach für sich selbst ein zweites Stück der schwebenden Gestalt hatte gießen lassen, das von guten Freunden heimlich bewahrt wurde. Am 18. Mai 1952 fand es einen würdigen Platz in einem kapellenartigen Seitenranm der wiederaufgebauten Antoniterkirche in Köln. Barlach hatte sich geschworen, Güstrow zu verlassen, wenn man das Ehrenmal antasten würde. Nun brachte er nicht mehr die Kraft zu einem entscheidenden Entschluß auf. „Bin eben man ein leeger (kranker) Barlach", schrieb er im Frühjahr 1938 einem treuen Freund, dem Hamburger Schriftsteller Paul Schurek. Er fühlt sich „recht abgeschirrt und wagt an ein segensreiches Wirken in der alten Umgebung gar nicht zu denken . . . Was man möchte, darf man nicht, und das bloße Weitertrotten ist auch blöde. Kurz, es fehlt schlechthin alles, Gesundheit, Frische, Ruhe, Ungeschorenheit, und man hofft nur, daß die Freunde nicht staunen, sondern begreifen." Er arbeitete zwar noch an einem Taufbecken, aber nur, um die Auftraggeber, eine Kirchengemeinde in Hamm, nicht zu enttäuschen, wo, wie er sagte, „eine Bestellung nun überhaupt so etwas Unglaubliches, seit langem nicht mehr Dagewesenes ist." Im Grunde war er müde, vergrämt, auch von körperlichen Schmerzen geplagt und ahnte wohl, daß es bald mit ihm zu Ende gehen werde. „Abgetan zu werden", heißt es in einem anderen Brief vom April 1938, „kann ich nicht hindern, seit einem guten Jahre fehlt mir jede Arbeitsruhe und das Vertrauen, etwas fertig machen zu können, welchem allen ich nicht gewachsen bin, da es mich physisch lähmt." Wenige Wochen vor seinem Tode wurde Ernst Barlach noch ein beglückendes und für seinen Nachruhm verheißungsvolles Erlebnis zuteil. Ein amerikanischer Verehrer besuchte ihn, um einen Film von 30
idlkeit T^irjifer ' d e r U m w e l t u n d d e m Schaffen des berühmten Bildhauers zur Vorführung in amerikanischen Schulen aufzunehmen. Barlach begrüßte ihn mit den Worten der bekannten Schnurre von der Aufnahme des Columbus durch die Amerikaner: „Ja, denn helpt dat nix mehr, nu sünd wi entdeckt!", und ließ sich in stiller Laune alles gefallen, was der Filmmann von ihm verlangte. Das war wie ein letztes Aufleuchten der Sonne vor dem Untergehen. Kurz vorher hatte er wie in einer Vorahnung einem jungen Freunde, der ihn besuchen wollte, geschrieben: „Ich kann nicht einmal wissen, ob jemand anwesend sein wird, der Ihnen die Türen öffnet. Mit größter Wahrscheinlichkeit werde ich auf und davon sein, und der Rest ist mehr oder weniger Ungeklärtheit." Anfang Oktober mußte Ernst Barlach mit einem schweren Herzund Lungenleiden ins Rostocker Krankenhaus eingeliefert werden. Er verbat sich jeden Besuch, jeden Brief, jede Blume. Noch einsamer, als er gelebt hatte, wollte er sterben. Nur Frau Marga war bei ihm, und eines seiner liebsten Holzbildwerke, „Der Träumer", stand neben dem Krankenlager. Der letzte Blick auf dieses Geschöpf seiner Sehnsucht über das Leben hinaus erleichterte ihm den Tod, der am 24. Oktober 1938 eintrat. Es war sein Wunsch, nicht auf dem Güstrower Friedhof, sondern in Ratzeburg, seiner Jugendheimat, bestattet zu werden. An der Beerdigung nahm nur ein kleiner Kreis von Verwandten und getreuen Freunden teil. Nach dem Geistlichen sprach Friedrich Düsel dem Jugendfreunde den Abschiedsgruß: „Gewaltig und erhaben, ergreifend und erschütternd sind seine Werke, aber schöner und edler noch waren seine Seele und sein Herz!" Lange Jahre lag das Grab des großen Mannes unscheinbar und fast verschollen zwischen den zahlreichen Totenplätzen des Ratzeburger Friedhofs; erst im Jahre 1950 nahmen sich Freunde der letzten Ruhestätte Ernst Barlachs an. Eine Nachbildung der Keramik-Figur des „Sängers", einer der großen Figuren der Lübecker Katharinenkirche, wurde im Grün des Grabbezirks aufgerichtst und hält dem Meister die Totenwache.
Umschlaggestaltung: Karlheinz Dobsky Die Bilder auf dem Umschlag zeigen: Vorderseite: „Der singende Mann" (Bronze), 1928 modelliert, 1930 gegossen — Rückseite: „Frierendes Mädchen" (Holz), 1917.
L u x - L e s e b o g e n 129 ( K u n s t ) - H e f t p r e i s 2 5 P f g . Natur- und kulturkundliche Hefte — Bestellungen (viertel] ährl. 6 Hefte DM 1.50) durch jede Buchhandlung und jede Postanstalt —Verlag Sebastian Lux, MurnauMünchen — Druck: Buchdruckerei Mühlberger, Augsburg
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HABEN S I E S C H O N IHRE LESEBOGEN-KASSETTE
1952?
sind von uns schon ausgeführt worden. Aber auch für Sie haben wir noch eine Kassette vorrätig. Sie müssen uns aber bald schreiben. Die Kassette ist karminrot und trägt auf dem Goldetikett den Aufdruck des Titels „Lux-Lesebogen". Jeder Kassette ist auch ein gummiertes Sammeletikett in Goldprägedruck zum Abschneiden und Selbstaufkleben beigegeben. Es enthält den Aufdruck der Jahreszahl 1952 sowie alle früheren Jahreszahlen, außerdem die Titel: Kunst und Dichtung/ Geschichte / Völker und Länder / Tiere und Pflanzen / Physik.Technik, Sternenkunde. So kann man die Lesebogen beliebig nach Jahrgängen oder nach Sachgebieten ordnen. Größe 15 x 11 x 4,5 cm für 24 Lesebogen Preis 1.20 DM einschließlich Versandspesen. Bezug durch jede Buchhandlung oder unmittelbar vom Verlag Seb. Lux. Wird beim Verlag bestellt, Betrag auf PostscheckKonto München 73823 erbeten. VERLAG SEBASTIAN LUX • MURNAU VOR MÜNCHEN