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Das Buch Eine Serie bizarrer Selbstmorde und unerklärlicher Todesfälle stellt die Berliner Kriminalpolizei vor ein Rätsel. Einziger Anhaltspunkt für die Ermittlungen ist der an jedem Tatort wiederkehrende mysteriöse Schriftzug: AZRAEL. Alle Spuren führen in die Pharmawerke des Dr. Sillmann, und die Nachforschungen ergeben, daß dort vor einigen Jahren Drogenexperimente durchgeführt wurden, deren katastrophale Folgen man vor der Öffentlichkeit geheimhielt. Aber was hat das alles mit AZRAEL, dem »Todesengel«, zu tun? Mittlerweile wird Mark, der Sohn von Sillmann, in Alpträumen von AZRAEL verfolgt. In seinen Angstvisionen sieht er immer wieder den Todesengel und kann doch sein Gesicht nicht erkennen. Mark spürt, daß hinter den Selbstmorden und seinen eigenen Horrorträumen etwas Mysteriöses steht - eine schreckliche Macht, der er schon einmal begegnet ist, damals vor sechs Jahren, als seine Mutter in die Nervenklinik kam und etwas geschah, an das er sich nicht mehr erinnern kann. Das Geheimnis von AZRAEL muß so schnell wie möglich gelöst werden, um dem Schrecken Einhalt zu gebieten - denn schon nimmt auch einer der Ermittlungsbeamten aus den Augenwinkeln einen dunklen Schatten wahr, der ihn verfolgt... Hohlbeins Roman ist ein nicht enden wollender Alptraum, in dem es um Leben und Tod geht. Ein erzählerisches Meisterwerk, das den Leser unerbittlich in eine Welt des Unbegreiflichen und des Grauens hineinzieht, in der die Grenzen zwischen Diesseits und Jenseits verschwimmen. Der Autor Wolfgang Hohlbein, 1953 in Weimar geboren, ist einer der erfolgreichsten deutschsprachigen Autoren. Seit er 1982 gemeinsam mit seiner Frau den Roman 0lUFKHQPRQG veröffentlichte, arbeitet er hauptberuflich als Schriftsteller. Mit seinen zahlreichen fantastischen Romanen hat er sich seither eine große Fangemeinde erobert. Im Wilhelm Heyne Verlag liegen bereits vor: 'DV 'UXLGHQWRU (01/9536), 'DV1HW](01/6874).
.DSLWHO nannte Artner wirklich so.
es nur das Haus der Pein. Es hieß nicht Auf dem längst grün gewordenen Kupferschild, das, von zwei Barockengeln getragen, über dem Eingang hing, stand ein anderer Name, und wiederum ein anderer auf dem sorgsam polierten Messingschildchen neben der Tür. Unter wieder einem anderen war es bei den Menschen in der näheren Umgebung bekannt. Und früher hatte es noch andere Bezeichnungen getragen, Namen - mit oder ohne besondere Bedeutungen -, die Geschichten erzählten und düstere Versprechungen beinhalteten. Das Haus war im Laufe seiner langen, bewegten Geschichte unter vielen Namen gefürchtet worden, aber für Artner war und blieb es: GDV +DXV GHU 3HLQ Es hatte diesen Namen nur für ihn, und er hütete ihn wie ein kostbares Geheimnis. Niemals hätte er ihn in Gegenwart anderer benutzt, obwohl er schon ähnliche Bezeichnungen gehört hatte: Haus des Schreckens, Haus der Tränen, Haus der Schmerzen, Haus des Todes. Sie alle stimmten, denn es hatte von alledem mehr als genug gesehen; seine Mauern hatten die Tränen Zahlloser getrunken, seine Wände die Schreie Ungezählter erstickt, seine Luft den Schmerz so vieler geatmet, und es hätte noch unzählige andere, zutreffendere Bezeichnungen für das große Gebäude gegeben, und jede einzelne wäre richtig gewesen. Obwohl dieses Haus von Anfang an nur einem einzigen Zweck gedient hatte, nämlich jenen, die es betraten, zu helfen und ihren Schmerz zu lindern, hatte es doch unendlich viel von genau diesem Schmerz gesehen. Und verursacht. Im Mittelalter, als es errichtet worden war, war es ein Kloster gewesen. Aber nicht lange. Irgendeiner der ebenso zahlwie sinnlosen Kriege, die das Land mit der gleichen Regelmäßigkeit wie Jahreszeiten, Naturkatastrophen und Hungersnöte heimsuchten, mußte die frommen Männer vertrieben haben, kaum daß sie mit ihrer Hände Arbeit diese wehrhaften Mauern aufgerichtet hatten. Und für eine noch kürzere Zeit 5
hatte es als Festung und Gefängnis gedient. Das Blut derer, die es errichtet hatten, war vom Blut der Gefangenen fortgespült worden und nicht lange danach von dem ihrer Wärter. Danach waren wieder fromme Männer gekommen, doch diesmal nicht nur, um zu beten. Kriege und Seuchen forderten viele Opfer in jenen Tagen, und das Kloster war zu einem Ort geworden, an dem man sich um diese Opfer kümmerte. Wieder waren es Blut und Schreie gewesen, die seine Mauern färbten und seine Luft tränkten, und daran hatte sich bis heute nicht viel geändert - das Gebäude hatte als Hospiz gedient, später, in einem moderneren und viel effektiveren Krieg, als Militärkrankenhaus, und für lange Zeit als Hospital unter kirchlicher Leitung, bis es schließlich in die Obhut der Stiftung übergeben worden war. Geändert hatte sich nichts. Die Methoden waren feiner geworden, die Schreie nicht mehr ganz so laut, und das Blut floß nicht mehr ganz so reichlich. Und trotzdem hatte sich Artner schon mehr als einmal die Frage gestellt, ob der einzige - der ZLUNOLFKH Daseinszweck dieses Hauses vielleicht nicht nur der war, den Menschen ihre Hilflosigkeit vor Augen zu führen und ihnen klarzumachen, daß, was sie taten, zum Scheitern verurteilt worden war, noch ehe sie es begannen. Sie waren hier - HU ZDU KLHU um zu helfen, doch manchmal wunderte er sich, ob seine Hilfe nicht zumeist nur daraus bestand, alten Schmerz gegen neuen zu tauschen. Wunden zu schließen, indem er größere darüber fügte, und bekannte Qual gegen neue, unbekannte zu wechseln. Oh, sie hatten Erfolge! Er war ein bekannter Arzt, eine Koryphäe auf seinem Gebiet, dessen Krankenblätter, die er mit dem Stempel >Geheilt< zu den Akten gelegt hatte, ganze Schränke füllten. Und doch - stets wenn er hierher kam, in diesen ganz speziellen Trakt - fragte er sich, ob er auch zu Recht berühmt war, und ob JHKHLOW auch wirklich immer JH KROIHQhieß. Was unterschied sie eigentlich wirklich von jenen, die vor einem halben Jahrtausend hier gewesen waren und auf ihre Weise versucht hatten, den Leidenden zu helfen? Sicher, ihre Werkzeuge waren feiner geworden, ihre Methoden subtiler, 6
ihre Therapien erfolgreicher. Statt Knochensägen benutzten sie Laserskalpelle, statt Aderlässen winzige Mengen farbloser Flüssigkeiten, die auf Glaskolben aufgezogen waren, und selbst die brutalen Elektroschocks des vergangenen Jahrzehnts waren durch einen kaum noch spürbaren Stich in eine Vene ersetzt worden. Nur fragte er sich manchmal, ob sie ihren alten Feind, die Pein, wirklich besiegt - oder vielleicht vielmehr nur dafür gesorgt hatten, daß sie die Schreie der Gequälten nicht mehr hörten. Der Aufzug hielt mit einem kaum spürbaren Ruck an, und Artner zwängte sich schräg gehend durch die Tür, deren Hälften wie üblich mit enervierender Langsamkeit auseinanderglitten. Das taten sie nur hier unten, und der Mechaniker der Aufzugsfirma hatte es schon vor drei Jahren aufgegeben, nach der Ursache dafür suchen zu wollen. Artner kannte sie. Es war der gleiche Grund, weswegen es hier unten immer ein wenig muffig roch und feucht war, weswegen die Wände, obwohl in freundlichen Pastelltönen gestrichen, trotzdem nichts anderes als ein finsteres Gewölbe waren, und weswegen es hier niemals ULFKWLJ hell wurde, allen Neonbatterien und Halogenstrahlern zum Hohn. Dieser spezielle Trakt lag anderthalb Stockwerke unter den Kellern und zweieinhalb Stockwerke unter der Straße, und heute wie damals war es ein Ort, an dem weder die Zeit noch irgend etwas, was Menschen taten, wirklich zählte. Heute wie damals enthielt er einige wenige Räume, die den allersichersten Teil dieses Gebäudes darstellten: jene Zellen, in denen die Hoffnungslosen untergebracht waren, die Unheilbaren und gefährlich Gewalttätigen, denen man nur eine einzige Hilfe angedeihen lassen konnte; eine Hilfe, die darin bestand, sie vor sich selbst und davor zu schützen, anderen Schaden zuzufügen. Hier wurden ihm die Grenzen seines Könnens vor Augen geführt, vielleicht die absolute Grenze, die niemals überschritten werden konnte vielleicht auch nicht sollte. Auch das war etwas, das Artner niemals laut eingestanden hätte, aber er wußte, daß es jene Schwelle gab, an der jedes ärztliche Können scheiterte, vor der jede Chemie kapitulierte und hinter der das Wissen nichts mehr zählte. Eine Grenze, hinter 7
der der Geist verloren war und die sich nur in eine Richtung überschreiten ließ: hinein in ein Gefängnis, dessen Mauern aus Furcht und dessen Ketten aus Grauen bestanden, und dessen Fenster groß und ohne Gitter waren und direkt in die tiefsten Abgründe der Hölle führten. Seit einem halben Jahrtausend lag hier unten die Schwelle zu jenem Grenzbereich, und so hatte dieser Ort vielleicht einfach zuviel Qual gesehen, um noch irgend etwas anderes zurückgeben zu können. Deshalb war es für Artner >das Haus der Peinai< war zurückgekehrt, und er sah aus, als träfe ihn jeden Moment der Schlag. »Aber das... das... das ist ja unfaßbar«, stammelte er. »Eine solche Schweinerei hab' ich ja noch nie gesehen! Das... das muß ich sofort der Hausverwaltung melden!« »Tun Sie das«, sagte Sendig. »Am besten von einem Münzfernsprecher am Hauptbahnhof aus.« Er wiederholte seine Aufforderung, die Tür zu schließen, mit einer ungeduldigen Geste und schüttelte den Kopf, als Bremer ihr endlich nachkam. »Idiot«, murmelte Sendig. Er war in der Mitte des überraschend großen Raumes stehengeblieben und sah sich noch immer unentwegt kopfschüttelnd um. Er sagte nichts mehr, aber es fiel ihm offenbar ebenso schwer wie Bremer, wirklich zu glauben, was er sah. Bremer erinnerte sich endlich an den Rest des Befehles, den Sendig ihm erteilt hatte, und hatte es plötzlich sehr eilig, sein Funkgerät einzuschalten und die Zentrale anzurufen. Während er es tat, bewegte sich Sendig raschelnd durch den Raum und verschwand hinter einer der beiden anderen Türen, die es gab. Bremer erledigte seinen Anruf und folgte ihm. Es war nicht unbedingt so, daß er Sendigs Gesellschaft übermäßig schätzte - aber allein in dieser unheimlichen Wohnung zu bleiben, gefiel ihm noch sehr viel weniger. Die Tür führte in ein großzügig bemessenes Bad, das neben Toilette und Badewanne eine zusätzliche Duschkabine und ein Bidet enthielt. Und alles war mit einer dicken Schicht schwarzer Ölfarbe überzogen. Auf den glasierten Fliesen und dem Porzellan haftete die Farbe nicht gut, weshalb Löbach 73
mehrere Schichten übereinander aufgetragen hatte, bis sie so rauh und uneben wie glänzender Teer geworden waren. Es gab sogar ein Fenster, das Bremer aber erst beim zweiten Hinsehen überhaupt bemerkte. Scheibe und Rahmen waren so dick mit schwarzer Farbe bekleistert, daß sie mit der Wand zu verschmelzen schienen. Es war auch nicht sehr hell. In den Deckenpaneelen befanden sich die gleichen, einen Sternenhimmel simulierenden Halogenlämpchen wie im Wohnzimmer, aber die meisten Birnen waren herausgezogen, so daß der Raum nur aus einem Konglomerat schwarzer Schatten mit verschwimmenden Kanten bestand. »Unheimlich«, murmelte Sendig. »Ich frage mich, was in einem solchen Menschen vorgehen muß.« Er machte einen weiteren Schritt in den Raum hinein, und die Dunkelheit und das allgegenwärtige Schwarz verliehen der Bewegung eine sonderbare Tiefe. Es war, dachte Bremer, als mache er zugleich einen Schritt in eine bizarre, fehlfarbene Welt mit verschobenen Dimensionen. »Wahrscheinlich werden wir das nie erfahren.« Sendig beantwortete seine Frage selbst, als Bremer es nicht tat. »Aber vielleicht muß man den Verstand verlieren, in einer solchen Umgebung.« »Er hat sich selbst so eingerichtet«, gab Bremer zu bedenken. »Ja, das hat er wohl.« Sendig drehte sich einmal um seine Achse und trat schließlich an den Spiegelschrank über dem Waschbecken heran. Löbach hatte sämtliche Plastikteile und zwei der drei Türen geschwärzt; nur ungefähr ein Drittel des mittleren Spiegels war seiner Malwut entgangen. Sendig betrachtete ihn einen Moment nachdenklich, dann hob er die Hand und öffnete den Schrank, wobei er nur den Nagel des kleinen Fingers benutzte. Vorsichtig, dachte Bremer, aber ziemlich überflüssig. Welchen Beweis brauchte er nach dem Anblick GLHVHU Wohnung eigentlich noch, daß Löbach einen Riß in der Schüssel gehabt hatte, der so breit war wie der Grand Canyon? Der Schrank war fast leer: ein schmutziges Glas, eine noch in Cellophan eingepackte Zahnbürste und ein halb aufge74
brauchtes Röhrchen Thomapyrin. Löbach hatte versäumt, auch das Innere des Schrankes schwarz anzumalen, und auf dem weißen Kunststoff war eine mehrere Millimeter dicke Staubschicht zu erkennen. Es mußte Monate her sein, daß dieser Schrank das letzte Mal geöffnet worden war. Sendig musterte das Innere des Schränkchens erstaunlich lange und erstaunlich ausgiebig, ehe er das Röhrchen mit Schmerztabletten herausnahm. Er schraubte es auf, schüttete sämtliche Tabletten auf seine Handfläche und berührte jede einzelne mit der Zungenspitze, als wollte er sich persönlich davon überzeugen, daß sie auch wirklich nichts anderes als ein harmloses Schmerzmittel enthielten. Ebenso sorgfältig praktizierte er die Tabletten wieder in das Kunststoffröhrchen zurück und ließ es dann in seiner Manteltasche verschwinden. Bremer blickte fragend, aber Sendig machte sich nicht die Mühe, sein sonderbares Verhalten irgendwie zu erklären. Er versuchte auch die anderen beiden Türen zu öffnen, aber es ging nicht. Sie waren mit Farbe verklebt, dasselbe galt auch für den Wasserhahn darunter; ebenso übrigens wie für die Dusche und die Armaturen der Badewanne. »Scheint, als hätte er sich auch nicht mehr gewaschen«, sagte Sendig kopfschüttelnd. »Völlig plemplem, wenn Sie mich fragen. Ich verstehe das nicht... Sie sagen, den Nachbarn ist nichts an ihm aufgefallen?« »Nichts Besonderes«, antwortete Bremer. »Außer eben, daß er ein ziemlicher Eigenbrötler war.« 3DUDQRLG trifft die Sache wohl eher«, sagte Sendig. »Sehen Sie sich nur diese Tür draußen an. Was ich nur nicht verstehe, ist... das hier.« Er ließ seine Hände in einer flatternden Bewegung kreisen. »Ich meine, daß... daß sich jemand bedroht fühlt, kommt vor. Aber warum verwandelt er seine eigene Wohnung in eine Gruft?« Er seufzte. »Sehen wir uns den Rest an. Und versuchen Sie, irgendwo Licht aufzutreiben. Ich komme mir allmählich vor wie lebendig begraben.« Sie verließen das, was einmal ein Badezimmer gewesen war, und Bremer durchsuchte das Apartment nach einem weiteren Lichtschalter oder einer Lampe, ohne allerdings fündig zu werden. Wie im Bad waren die meisten Birnchen 75
aus der Decke herausgezogen worden. Er fand auf dem nur spärlich bestückten Bücherregal hinter dem Fernseher zwar eine Leselampe, die allerdings nicht mehr funktionstüchtig war: Löbach hatte sich nicht die Mühe gemacht, die Birne herauszuschrauben. Er hatte sie kurzerhand übermalt. Nur aus Neugier versuchte Bremer, die Titel der wenigen Bücher zu entziffern. Soweit er es in dem kaum vorhandenen Licht erkennen konnte, handelte es sich ausnahmslos um Bücher, die sich mit religiösen oder esoterischen Themen befaßten. Die Titel der wenigen CDs, die er fand, paßten dazu. Es war schwere, zum größten Teil schwermütige Klassik: Wagner, Mussorgski, Grieg. . Er hörte ein Geräusch, und als er aufsah, glaubte er eine Bewegung aus den Augenwinkeln heraus zu bemerken. Ein Schatten, der sich - draußen auf dem Balkon? - bewegte. Aber noch bevor er sich ganz herumdrehen konnte, hörte er Sendigs Stimme, die hinter der Tür auf der anderen Seite des Raumes erklang. »Bremer! Kommen Sie her!« Er hatte nicht einmal sehr laut gesprochen, aber das war auch nicht nötig. In seiner Stimme war etwas, das Bremer alarmierte. Er vergaß augenblicklich den Schatten, den er sich wahrscheinlich sowieso nur eingebildet hatte. So rasch er gerade noch konnte, ohne zu rennen, folgte er Sendig - und prallte erschrocken unter der Tür zurück. Sendig stand in einer kleinen, aber komplett eingerichteten Küche, die sich nicht nur in ebenso verwahrlostem Zustand befand wie der Rest des Apartments, sondern ebenfalls komplett schwarz angemalt worden war. Angefangen von den Möbeln bis hin zu den Fliesen über der Arbeitsplatte. Das einzige, was nicht schwarz war, waren die Kochplatten- und die krakeligen, zwanzig Zentimeter großen Druckbuchstaben, die jemand in stumpfem Rot an die Wand neben der Tür gemalt hatte. »O verdammt!« murmelte er. »Was ist GDV" Er wollte nähertreten, doch Sendig hob rasch die Hand und hielt ihn zurück. »Rühren Sie nichts an«, sagte er. »Wir warten auf die Spurensicherung.« 76
Bremer fand diese Bemerkung ebenso überflüssig wie die von vorhin. Er hatte nicht vorgehabt, irgend etwas anzurühren, schließlich war er lange genug Polizist. Aber er schluckte seinen Ärger herunter und beugte sich statt dessen nur zur Seite, um an Sendig vorbei einen genaueren Blick auf die Schrift an der Wand zu werfen. »Das... das ist Blut «, murmelte Sendig. Ungeachtet dessen, was er selbst gerade zweimal gesagt hatte, hob er die Hand und tastete mit den Fingerspitzen über die Schrift. Sie hinterließen kleine, runde Flecken in den verschmierten Buchstaben, in denen man bei genauerem Hinsehen sogar noch seine Fingerabdrücke erkennen konnte, und Bremer hatte das absurde Gefühl, daß er dadurch irgendwie zum Mittäter wurde. Er rieb die Finger aneinander, roch daran und verzog angeekelt das Gesicht, ehe er noch einmal und mit größerem Nachdruck sagte: »Das ist Blut!« Bremer kämpfte tapfer weiter gegen das flaue Gefühl, das von seinem Magen Besitz ergriffen hatte und seine Kehle hinaufzukriechen versuchte, und zwang sich, die Schrift genauer zu betrachten. Die Buchstaben waren verschmiert und offensichtlich mit zitternden Fingern geschrieben, so daß er sie kaum identifizieren konnte. »A... Z... R... A... E... L«, buchstabierte Sendig. »Azrael. Was bedeutet das?« Bremer konnte nur mit den Schultern zucken. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Aber... « Sendig sah ihn fragend an. »Aber?« »Ich bin nicht sicher«, antwortete Bremer, »aber der Tote Löbach... Auf seiner Brust waren Schnittwunden. Der Arzt hat mich darauf aufmerksam gemacht. Es sah fast aus, als hätte er versucht, sich etwas in die Brust zu ritzen. Ich konnte es nicht entziffern, aber es könnte dasselbe Wort gewesen sein.« »Azrael...« Sendig wandte seine Aufmerksamkeit wieder den blutigen Buchstaben auf der Wand zu und schüttelte abermals den Kopf, »Irgendwoher kenne ich dieses Wort. Ich weiß nicht mehr genau, woher, aber ich habe es schon einmal gehört.« 77
Bremer erging es übrigens ebenso. Aber auch er konnte nicht sagen, wieso ihm dieser Begriff bekannt vorkam. Er ZROOWH auch nicht darüber nachdenken. Er fühlte sich... wie erschlagen. Bisher war alles, was sie gefunden hatten, bizarr und vielleicht ein bißchen unheimlich gewesen, aber ihre grausige Entdeckung rückte die ganze Geschichte in ein vielleicht nicht neues, aber doch anderes Licht. Sie gab dem Entsetzen über Löbachs Tat eine Tiefe, die es bisher trotz allem nicht gehabt hatte. Ganz plötzlich und nur für ein paar Sekunden, in dieser Zeit aber sehr intensiv, haßte er Löbach. Er hatte diesen Mann nicht einmal gekannt, und er verdiente wohl sehr viel eher sein Mitleid als seinen Zorn, aber er hatte ihn gezwungen, sich einer Facette der menschlichen Psyche zu stellen, die er in GLHVHU Ausprägung bisher weder gekannt hatte, noch jemals hatte kennenlernen wollen. Und dafür haßte er ihn. Dann wurde ihm klar, wie ungerecht dieses Gefühl war, und sein schlechtes Gewissen nahm die Stelle des Hasses ein, allerdings war es auch nicht viel leichter zu ertragen. Vielleicht half ja Normalität, um dem Wahnsinn Einhalt zu gebieten. Mit einer bewußten Anstrengung löste er seinen Blick von der Blutschrift an der Wand und sah sich aufmerksam in der kleinen Küche um. Er wurde fast sofort fündig. Wäre er nicht so schockiert gewesen, dann hätte er es wohl noch viel eher bemerkt. »Dort!« Bremer deutete auf ein blutiges Steakmesser, das auf der Arbeitsplatte lag. Eine dünne rote Spur führte von dort aus zur Wand unter der Schrift und in der anderen Richtung hinaus ins Wohnzimmer. »Damit hat er es wohl getan.« »Wahrscheinlich. Und er war sogar ordentlich genug, das Messer wieder zurückzulegen, ehe er hinausgegangen ist, um sich vom Balkon zu stürzen.« Sendig zog eine Grimasse. »Völlig verrückt. Das ist wohl eher ein Fall für die Psychiater als für uns.« 8QG ZDV WXVW GX GDQQ KLHU" dachte Bremer. Er hütete sich, das laut auszusprechen, aber es mußte entweder deutlich in seinem Gesicht geschrieben stehen, oder Sendig hatte begriffen, welche Frage er mit seinen Worten implizierte, denn er 78
fuhr nach einem kurzen Moment unaufgefordert fort: »Ich kannte Löbach, wissen Sie. Ich hatte schon einmal mit ihm zu tun, wenn auch nur indirekt. Sie übrigens auch.« »Ich?« Sendig nickte. »Sillmann«, sagte er. »Na, klingelt's jetzt? Die Geschichte vor sechs Jahren, in die er verwickelt war. Erinnern Sie sich?« Ob er sich HULQQHUWH" dachte Bremer. Sollte das ein Witz sein? Niemand, der auch nur am Rande mit dieser *HVFKLFKWH wie Sendig es genannt hatte, in Berührung gekommen war, würde sie jemals wieder vergessen. Es hatte ein paar Tote zuviel gegeben, und ein paar Antworten zuwenig. Außerdem hatte er damals Sendig kennengelernt. »Ich erinnere mich«, sagte er. »Aber was - « »Löbach arbeitet als Chemiker für die Sillmann-Werke«, fiel ihm Sendig ins Wort. »Wenigstens hat er das getan. Wenn ich mich allerdings hier so umsehe, frage ich mich, ob er überhaupt noch irgendwo arbeitete.« »Die Leute hier im Haus sagen, daß er viel auf Reisen gewesen ist und offenbar Geld hatte.« Bremer warf einen übertrieben stirnrunzelnden Blick in die Runde. »Auch wenn es hier nicht so aussieht.« »Ziehen Sie keine voreiligen Schlüsse«, sagte Sendig. »Ich kenne die Gegend hier. Dieses Apartment dürfte im Monat mehr Miete kosten, als Sie verdienen.« »Kein Wunder, daß nichts mehr für eine Putzfrau übrigblieb.« Sendig lachte, aber es wirkte nicht besonders amüsiert. Vielleicht lag das auch an ihrer Umgebung. Löbach hatte sich mit Erfolg Mühe gegeben, diese Wohnung in einen Ort zu verwandeln, an dem jede Äußerung menschlichen Lebens und ein Lachen vor allem - deplaciert wirkte. Der Laut durchbrach die Dunkelheit nicht, die sie umgab, sondern schien sie im Gegenteil zu betonen, und er ließ etwas wie einen schlechten Nachgeschmack zurück. Sendig räusperte sich gekünstelt und wandte sich wieder der verschmierten Schrift an der Wand zu. »Azrael«, murmelte er zum dritten Mal. »Wenn ich nur wüßte, woher ich 79
dieses Wort kenne. Er hat es sich in die Brust geritzt, sagen Sie?« Konkret JHVDJW hatte Bremer das nicht, aber es war vielleicht nicht der passende Moment für Haarspaltereien. »Es sah so ähnlich aus«, sagte er vorsichtig. »Aber ehrlich gesagt, habe ich nicht sehr genau hingesehen. Er bot... keinen besonders schönen Anblick.« »Es ist ein ziemlich langer Sturz nach unten.« Sendig war an diesem Abend ungewöhnlich versöhnlicher Stimmung; normalerweise wäre Bremers Eingeständnis ein guter Grund für einen Verweis gewesen und einen Vortrag darüber, daß Polizeibeamte keine Rücksicht auf ihre persönlichen Gefühle zu nehmen hatten und sie gefälligst bei Dienstantritt zusammen mit ihrer Zivilkleidung in den Spind hängen sollten. Aber vermutlich ließ etwas wie das hier nicht einmal ihn vollständig kalt. Wahrscheinlich ging Bremer auch mit sich selbst zu hart ins Gericht. Er hätte wohl eher Anlaß gehabt, sich Sorgen zu machen, wenn er bei diesem AnblickQLFKW ins Schleudern gekommen wäre. Sendig zog plötzlich mit einem übertriebenen Schnüffeln die Luft durch die Nase ein, und als reiche ihm diese Imitation eines witternden Polizeihundes noch nicht, legte er auch noch den Kopf schräg. »Wonach riecht es hier eigentlich?« fragte er. 1DFK 0OO dachte Bremer. Aber das war es nicht, was Sendig gemeint hatte. Er hatte Bremer mit seiner Frage erst darauf aufmerksam machen müssen, aber nun, als er es einmal getan hatte, fiel es auch ihm auf: Unter dem süßlichen Abfallgeruch war noch etwas, ein Aroma, das längst nicht so aufdringlich und n icht einmal annähernd so stark wie der Verwesungsgestank war, trotzdem aber irgendwie seinen Platz behauptete. Und das er nicht nur kannte, sondern jetzt endlich auch HUNDQQWH »Marzipan!« Sendig sprach es eine halbe Sekunde schneller aus, als Bremer es tun konnte. »Es riecht nach Marzipan.« Bremer konnte nur wortlos nicken und die Lippen aufeinanderpressen. In Verbindung mit dem Müllkippengeruch, der die Wohnung erfüllte, war allein der Gedanke an etwas Eßbares ekelhaft. 80
Was aber nichts daran änderte, daß Sendig recht hatte - es ZDU Marzipangeruch, der jetzt, wo sie ihn einmal identifiziert hatten, mit jedem Moment stärker zu werden schien. Und da war noch etwas: Bremer erkannte den Marzipangeruch jetzt nicht nur wieder, weil es Marzipangeruch war und man Marzipangeruch eben kannte - er hatte ihn vor ein paar Minuten erst in fast gleicher Intensität wahrgenommen und nur nicht richtig einordnen können. Unten, auf der Straße. »Löbach!« sagte er. Sendig starrte ihn an. »Löbach?« »Er hat ganz genauso gerochen«, antwortete Bremer. »Ich habe es nicht erkannt, aber jetzt... Er hat so sehr nach dem Zeug gestunken, als hätte er darin gebadet.« Sendig überlegte einige Sekunden, ehe er mit den Schultern zuckte und in bewußt beiläufigem Ton sagte: »Vielleicht hat er es ja, aber bestimmt nicht in der lackierten Badewanne dahinten.« Bremer verzichtete diesmal darauf, so zu tun, als würde er über den Scherz lachen. Statt dessen sah er sich aufmerksam in dem kubischen Schwarzen Loch um, in das Löbach die Küche verwandelt hatte. Auch hier stapelten sich Abfälle und aufgeplatzte Tüten mit verschimmelten Lebensmittelresten gut knöchelhoch, aber die Arbeitsfläche und die Spüle waren leer, abgesehen von dem Steakmesser und der roten Tropfenspur, die es hinterlassen hatte. Sendig öffnete der Reihe nach und auf die gleiche, übervorsichtige Art wie im Bad sämtliche Türen oder versuchte es zumindest. Die meisten waren allerdings ebenso verklebt wie die des Spiegelschrankes. Irgend jemand hätte Löbach vielleicht sagen sollen, daß es kaum einen zuverlässigeren Kleber gab als frischen Lack. Die wenigen Türen, die sich überhaupt öffnen ließen, waren eine Enttäuschung. Sie fanden ein halbes Dutzend Teller, einige Tassen und zwei Gläser, alles seit Monaten nicht mehr benutzt, und zwei Dosen Hühnersuppe mit abgelaufenem Haltbarkeitsdatum. »Viel gegessen scheint er hier in letzter Zeit nicht zu haben«, sagte Bremer. »Ich frage mich, wie jemand nach außen 81
hin einen ganz normalen Schein wahren, aber in Wirklichkeit so leben kann.« »So JDQ] QRUPDO war sein Leben nun auch wieder nicht.« Sendig rieb Daumen und Zeigefinger gegeneinander und roch daran. »Die Farbe ist noch nicht sehr alt. Allerhöchstens zwei, drei Tage, schätze ich. Es würde mich nicht wundern, wenn das Labor herausfindet, daß er diese ganze Verwüstung hier erst in den letzten Tagen angerichtet hat.« Er ließ sich in die Hocke sinken und öffnete die Kühlschranktür. Auf den drei gläsernen Borden lagen ein paar vergammelte Lebensmittel - und eine Anzahl kleiner, durchsichtiger Plastikbeutel, die eine körnige weiße Substanz enthielten. Der Marzipangeruch entströmte eindeutig einem dieser Beutel, der aufgeschnitten und nicht besonders sorgfältig verschlossen worden war. »Was ist das?« Bremer ließ sich neben Sendig in die Hocke sinken und verhielt sich, nicht zum ersten Mal an diesem Abend, nicht besonders professionell, denn er wollte die Hand nach einem der Beutel ausstrecken, aber Sendig hielt ihn zurück. »Um Gottes willen, nicht anrühren!« sagte Sendig - nein, er NHXFKWH HV Seine Finger umschlossen Bremers Handgelenk so fest, daß es weh tat. Schon im nächsten Moment hatte er sich wieder unter Kontrolle; er ließ Bremers Arm los und lächelte nervös. »Tut mir leid«, sagte er. »Aber was ist denn los?« fragte Bremer. Er rieb sich gedankenverloren das Handgelenk. Sendig hatte mit aller Gewalt zugegriffen. Er konnte jeden einzelnen seiner Finger noch immer auf der Haut spüren. »Was ist das für ein Zeug?« »Woher soll ich das wissen?« fragte Sendig mit einer Stimme, in der schon wieder eine deutliche Spur der gewohnten Unfreundlichkeit mitschwang. »Ich wollte nicht, daß Sie es anfassen, das ist alles. Haben Sie Handschuhe dabei?« Bremer zog ein Paar zusammengerollter Einmalhandschuhe aus der Jackentasche und reichte Sendig unaufgefordert noch eine Plastiktüte mit Clipverschluß. Sendig praktizierte die kleinen Kunststoffbeutelchen so vorsichtig hinein, 82
daß er seiner Behauptung, nichts über ihren Inhalt zu wissen, damit auch noch den letzten Rest von Glaubwürdigkeit nahm. Er verschloß die Tüte pedantisch, verstaute sie in der Manteltasche und schob die Kühlschranktür zu, ehe er aufstand. »Aber Sie wissen nicht, was das für ein Zeug ist, wie?« fragte Bremer spöttisch. Sowohl die Frage als auch erst recht der Ton, in dem er sie stellte, wären unter normalen Umständen eine glatte Unverschämtheit gewesen. Aber das hier ZDU nun einmal nicht normal - und Sendig war entweder viel zu perplex über seinen unerhörten Ton oder selbst zu schockiert, um entsprechend darauf zu reagieren. Er sah Bremer nur einen Moment nachdenklich an, dann sagte er kühl: »Nein, ich weiß tatsächlich nicht, um welche Substanz es sich handelt, Herr Polizeiobermeister. Ich halte es nur für prinzipiell angeraten, vorsichtig zu sein.« »Bitte entschuldigen Sie«, sagte Bremer, »ich wollte nicht -« Sendig winkte ab. »Schon gut. Wir sind wohl beide ein bißchen nervös, schätze ich. Das beste wird sein, wir bringen das Zeug morgen früh ins Labor und überlassen es denen, sich den Kopf darüber zu zerbrechen, die dafür bezahlt werden.« Bremer sagte nichts mehr. Er gestattete sich nicht einmal, sich zu ärgern. Er war hier mit 6HQGLJ zusammen, der wohl nicht ganz umsonst einen gewissen Ruf besaß. Was hatte er erwartet?
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6. .DSLWHO war schließlich doch noch eingenickt und wurde erst Erwach, als der Zug die Endstation erreichte. Seine vielleicht
etwas vorschnell gefaßte Meinung über den Kellner revidierte er in Form eines Zehnmarkscheines, den er als Trinkgeld neben seiner Tasse zurückließ; immerhin hatte der Mann ihn schlafen lassen, obwohl dies der Speisewagen und er gerade zur Frühstückszeit sicher knapp an Plätzen war. Und das war ganz und gar nicht selbstverständlich. Marks Traum war nicht wiedergekommen, was ihn einigermaßen beruhigte. Es war wohl doch nur ein Traum gewesen, ein ganz besonders scheußlicher Traum vielleicht, aber trotzdem nicht mehr. Was erwartete er nach einer Nacht wie der, die hinter ihm lag? Streß, Aufregung, Furcht, dazu kam, daß er seit annähernd vierundzwanzig Stunden nichts gegessen hatte, so daß sein Blutzuckerspiegel gegen Null tendieren mußte... Er hatte sich ja geradezu darauf programmiert, Alpträume zu haben! Mark verließ als einer der letzten Fahrgäste den Zug und eilte zu den Taxiständen vor dem Bahnhof. Es gab noch einmal eine kurze peinliche Erinnerung an die vergangene Nacht, als er die Frau aus seinem Abteil wiedersah, die behauptet hatte, bei der nächsten Station aussteigen zu müssen. Aber Mark war diplomatisch genug, so zu tun, als erkenne er sie nicht, und sie verlegen genug, das Spiel mitzuspielen und hastig in einem Taxi zu verschwinden. Mark wartete, bis es abgefahren war, ehe er selbst einen zweiten Wagen herbeiwinkte und auf dem Beifahrersitz Platz nahm, sehr zur Verstimmung des Fahrers übrigens, der mit demonstrativ zur Schau getragenem Unmut ein Sammelsurium aus Zeitungen, Papieren, Zigarettenschachteln und einem zerlesenen Stadtplan nach hinten schaufelte, damit er sich setzen konnte. »Wo soll's hingehen?« Mark fuhr sich mit Daumen und Zeigefinger über die Augen und versuchte einen Moment lang vergeblich, ein Gäh84
nen zu unterdrücken, ehe er seine Adresse nannte - eigentlich aus einem reinen Reflex heraus, nicht weil er wirklich nach Hause ZROOWH Er hatte Prein zwar versprochen, es zu tun, aber irgendwie hatte er sich die ganze Nacht hindurch erfolgreich davor gedrückt, wirklich darüber nachzudenken. Nach Hause... Was hieß das eigentlich? Die Adresse, die er dem Taxifahrer genannt hatte, war es jedenfalls nicht. Es war ein Haus in einer der vornehmeren Gegenden der Stadt, die Adresse, unter der er gemeldet war und wo er auch ein Zimmer hatte und den allergrößten Teil seines persönlichen Besitzes. Aber sein =XKDXVH war es nicht. Mark versuchte zwar noch eine Weile, sich gegen die Erkenntnis zu wehren, aber es blieb wohl dabei: Das einzig wirkliche =XKDXVH das er in den letzten Jahren gehabt hatte, war das Internat. »Ich habe es mir überlegt«, sagte er plötzlich. »Fahren Sie raus zum Institut.« Der Fahrer warf einen schrägen Blick auf das Taxameter, das wunderbarerweise bereits einen Fahrpreis von etwa acht Mark anzeigte, obwohl sie gerade erst losgefahren waren, dann auf seinen Fahrgast und fragte: »Was für ein Institut?« »Das St.-Eleonor-Stift«, antwortete Mark. »Ich weiß nicht, wie die Straße heißt.« »Die Klapsmühle, meinen Sie? Kein Problem. Ist aber ein ziemlich weiter Weg. Das wird nicht ganz billig.« Mark seufzte. Er mußte dringend etwas an seiner Aufmachung ändern. Allmählich wurde es lästig, jedermann und ständig beweisen zu müssen, daß er nicht so war, wie er aussah. Mit einer ärgerlichen Bewegung zog er seine Geldbörse heraus, entnahm ihr einen Fünfziger und reichte ihn dem Fahrer. »Das sollte wohl reichen. Und ich ziehe den Ausdruck 1HUYHQNOLQLNvor.« Der Mann strich den Geldschein ein und war klug genug, nichts mehr zu sagen, sondern sich zumindest für die nächsten Minuten ganz darauf zu konzentrieren, den Mercedes durch den einsetzenden Berufsverkehr zu manövrieren. Die Anzahl der Wagen, die auf der Straße waren, überraschte Mark. Er wußte, daß die Stadt sich verändert hatte und immer noch veränderte, aber die Schnelligkeit dieses Wandels 85
verblüffte ihn jedesmal. Sein ruppiges Auftreten hatte dafür gesorgt, daß der Fahrer nicht mehr versuchte, Kilometer zu schinden, sondern den kürzesten Weg zu ihrem Ziel einschlug, aber sie kamen trotzdem kaum von der Stelle. Andererseits war er bisher auch noch nie zu dieser Uhrzeit hier angekommen, sondern meistens an einem Samstag- oder Sonntagabend, an dem die Straßen einen radikal anderen Anblick boten. Vielleicht veränderte sich seine Umwelt gar nicht immer schneller, sondern er hatte nur aufgehört, diese Veränderungen wahrzunehmen. Er sah auf die Uhr. Wenn Prein Wort gehalten hatte, dann wußte sein Vater noch nicht, daß er in der Stadt war, sondern würde es in frühestens zwei oder drei Stunden erfahren. Mark hätte es im Grunde gleich sein können, aber das war es nicht. Wenn sein Vater wußte, daß er in der Stadt war, ohne direkt nach Hause zu kommen, dann würde er auch wissen, wo er war - und das machte einen großen Unterschied. Mark war nicht oft im St.-Eleonor-Stift, aber jedesmal, wenn er es tat, war ihm der Unterschied deutlicher aufgefallen: Irgend etwas war anders, wenn sein Vater wußte, daß er dort war. Der Verkehr nahm ein wenig ab, als sie aus dem Zentrum heraus waren, und schließlich fuhren sie auf die Stadtautobahn. Zwanzig Minuten später bog das Taxi von der Straße ab und rollte, langsamer werdend, die Zufahrt des Stifts hinauf, um schließlich direkt vor dem Haupteingang zu halten. Ein banges Gefühl begann sich in Mark breitzumachen. Er fühlte sich nie gut, wenn er hierherkam, das tat niemand. Und es war eine der großen Absurditäten von Orten wie diesem: Sie dienten dem erklärtermaßen einzigen Zweck, Menschen zu helfen und Leid zu lindern, und doch riefen sie bei allen, die sie betraten, die genau gegenteiligen Gefühle wach - nämlich Unwohlsein und Beklemmung, und nur allzuoft Furcht. Aber all dies kannte er. Heute war es anders. Schlimmer. Irgend etwas war hinzugekommen. Vielleicht etwas, das er aus seinem Traum mitgebracht hatte. Mark wurde plötzlich klar, daß er jetzt schon fast eine geschlagene Minute dasaß und die Treppe vor dem gewaltigen Eichenholzportal anstarrte. Hastig öffnete er die Tür und 86
schwang die Beine aus dem Wagen, wandte sich aber dann noch einmal an den Fahrer. »Es wird nicht sehr lange dauern - vielleicht eine halbe Stunde. Wenn Sie wollen, können Sie warten. Ich muß dann zurück in die Stadt.« Er zögerte einen Moment, dann fügte er hinzu: »Sie können die Uhr laufen lassen.« »Kein Problem.« Mark stieg endgültig aus und begann, langsamer als nötig, die Treppe hinaufzugehen. Sein Blick tastete über die durchbrochene Fassade und blieb schließlich an den beiden lebensgroßen Engelsfiguren über der Tür hängen. Vielleicht war es das. Er hatte diese Statuen nie besonders gemocht. Ihre barocke Wucht und ihre strengen Gesichter schienen viel mehr dazu angetan, Besucher abzuschrecken, als Vertrauen zu verbreiten. Und heute kam noch etwas dazu: Die beiden Figuren erinnerten ihn an den Engel aus seinem Traum. Ein Mann in weißem Kittel verließ eilig die Klinik. Mark wollte die sich vor ihm schließende Tür noch erreichen. Er war nicht schnell genug. Das Portal schlug zehn Zentimeter vor seinem Gesicht mit einem schweren Laut zu. Er streckte die Hand nach dem Bronzegriff aus, drückte ihn nieder und mußte sich wie immer ziemlich anstrengen, um die Tür zu öffnen. Ein weiteres Rätsel, das er niemals lösen würde: Wenn dies ein Krankenhaus war, warum war das Portal dann eigentlich so schwer, daß selbst ein gesunder Mensch seine liebe Mühe hatte, es aufzubekommen? Mark betrat die Eingangshalle und wandte sich nach rechts, während die Tür hinter ihm langsam zufiel. Ein vornehmes Schweigen empfing ihn, und wie jedesmal, wenn er hierherkam, wunderte er sich für einen kurzen Moment, daß so gar nichts an dieser Halle darauf hinwies, was sich in diesem Gebäude wirklich verbarg. Es hätte die Eingangshalle eines Museums sein können oder eines teuren Hotels, nur eines nicht, eine - wie hatte der Taxifahrer es genannt? - Klapsmühle. Andererseits konnte man das von einem Etablissement dieser Preisklasse auch erwarten. Sein Vater ließ sich seine Freiheit eine Menge kosten. 87
Mark steuerte das einzige an, was die Illusion vielleicht ein bißchen störte, nämlich den in schlichtem Teakholz gehaltenen Empfangsschalter, hinter dem zwei Computermonitore und eine Schwester in einer blütenweißen Tracht Wache hielten. Da er seit einigen Jahren regelmäßig hierherkam, kannte er einen Großteil des Personals. Diese Schwester gehörte jedoch nicht dazu. Mark schätzte, daß sie ein oder zwei Jahre jünger war als er. Wahrscheinlich arbeitete sie noch nicht lange hier. »Guten Morgen«, begrüßte sie ihn. »Was kann ich für Sie tun?« Ihr Blick glitt rasch und taxierend über sein Gesicht und seine Kleidung, aber sie beherrschte sich perfekt. Mark konnte auf ihrem Gesicht nicht ablesen, zu welchem Schluß sie kam. »Mein Name ist Sillmann«, antwortete Mark. »Mark Sillmann. Ich möchte meine Mutter besuchen.« Ein Ausdruck von leiser Verblüffung zeigte sich auf dem durchaus hübschen Gesicht unter dem weißen Häubchen. »Ihre Mutter?« »Erika Sillmann«, bestätigte Mark. »Sie ist Patientin hier.« Die Finger der Schwester huschten geschickt über die Computertastatur, und der Ausdruck auf ihrem Gesicht begann zwischen Verwirrung und Ratlosigkeit zu schwanken. »Hatten Sie einen Termin, Herr Sillmann?« »Nein«, antwortete Mark. Er wußte, was nun unweigerlich folgen würde, aber er war müde und nicht unbedingt allerbester Laune, und er hatte verdammt noch mal keine Lust, sich mit einer Lernschwester herumzustreiten, ganz egal wie freundlich oder hübsch sie auch sein mochte, und so fuhr er in hörbar schärferem Ton fort: »Und ehe Sie es sagen: Ich weiß auch, wie spät es ist und daß die offizielle Besuchszeit erst in ein paar Stunden anfängt. Aber ich komme gerade vom Bahnhof. Ich bin die ganze Nacht gefahren, und ich habe meine Mutter seit einem halben Jahr nicht mehr gesehen. Und ich muß sie wirklich GULQJHQGsprechen. Verstehen Sie?« Das war eindeutig die falsche Taktik. Schwester Beate - wie das dezente Namensschild an ihrer Tracht verriet - mochte noch ziemlich jung sein, aber sie gehörte nicht zu den Men88
sehen, die sich so leicht einschüchtern ließen. Jeder Ausdruck verschwand von ihrem Gesicht. Sie wirkte nur noch kühl und kein bißchen verunsichert. »Herr Sillmann, das hier ist ein Krankenhaus«, sagte sie. »Unsere Patienten brauchen vor allem - « »Hören Sie, Schwester Beate«, unterbrach sie Mark. »Ich weiß, was Sie sagen wollen, und Sie haben vollkommen recht damit. Aber ich habe es auch wirklich eilig. Wir können uns jetzt also eine Weile streiten und vielleicht ein bißchen laut werden, und jeder von uns könnte eine Menge Dinge sagen, die er eigentlich gar nicht so meint und die ihm gleich darauf schon wieder leid tun, das ist die eine Möglichkeit. Die andere ist, daß Sie jetzt den Telefonhörer nehmen und Professor Artner anrufen und ihm sagen, daß der Sohn von Gustav Sillmann hier ist und darum bittet, seine Mutter besuchen zu dürfen.« »Professor Artner ist... im Moment nicht hier«, antwortete sie, eindeutig überrascht, aber auch ein bißchen erschrocken. Sie schien nicht damit gerechnet zu haben, daß Mark den Chefarzt der Klinik persönlich kannte. Das war im Grunde auch nicht der Fall. Er hatte Artner ein einziges Mal getroffen und sich vielleicht zehn Minuten mit ihm unterhalten, aber er wußte, daß sein Vater und er sich gut kannten, und baute einfach darauf, daß die bloße Erwähnung des Namens seiner Forderung den nötigen Nachdruck verlieh. »Dann eben den zur Zeit diensthabenden Arzt«, sagte er. Diesmal ging seine Rechnung auf. Schwester Beate blickte ihn noch eine Sekunde verstört an, aber dann streckte sie die Hand nach dem Telefon aus und sagte: »Ganz wie Sie wünschen. Bitte gedulden Sie sich einen Moment. Ich werde sehen, was ich für Sie tun kann.« Sie tippte eine dreistellige Nummer ein und lauschte, und Mark trat einen Schritt von der Theke zurück, um sie nicht noch mehr in Verlegenheit zu bringen, sich selbst übrigens auch. Er fühlte sich alles andere als wohl in seiner Haut, und schon gar nicht in der Rolle, die er plötzlich spielte. Wenn Prein ihn jetzt sehen könnte, dachte er, würde sich wahrscheinlich ein selbstzufriedenes Grinsen auf seinem Gesicht 89
ausbreiten. Tat er nicht genau das, was er ihm prophezeit hatte? Er schrie Protest und Widerstand, er behauptete, nichts von alledem haben zu wollen, was ihm das Schicksal als Geschenk mitgegeben hatte, und doch nutzte er das Gewicht seines Namens - genauer gesagt: des seines Vaters - und vor allem das seines Geldes aus, um ein Ziel zu erreichen. Und das schon bei der ersten kleinen Schwierigkeit, die sich zeigte. >Die dunkle Seite der Macht