Michael Scharang
Auf nach Amerika
Roman
Luchterhand
Literaturverlag
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Michael Scharang
Auf nach Amerika
Roman
Luchterhand
Literaturverlag
Die Arbeit an diesem Roman wurde vom Deutschen
Literaturfonds e. V. unterstützt.
Lektorat: Klaus Siblewski
Copyright© 1992 by Luchterhand
Literaturverlag GmbH,
Hamburg - Zürich
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlagentwurf: Max Bartholl
Umschlagfoto: Janos Kalmar, Wien
Satz: Utesch Satztechnik, Hamburg
Gesetzt aus der Bembo Antiqua
Druck und Bindung: Ebner Ulm
Printed in Germany
ISBN 3-630-86779-0
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In seinem lang erwarteten Roman erzählt Michael Scharang die Geschichte eines ungleichen Paars von heute aus zurück. In einem Wiener Cafehaus beschwören Maria, die Chefberate rin des Kanzlers, und der Ich-Erzähler, ein Museumsangestell ter, ihre gemeinsamen Erinnerungen. Damals, vor dreißig Jahren, arbeitete der Ich-Erzähler bei einer österreichischen Firma, Maria, die Tochter eines Lan deshauptmanns, war im Lager tätig. Beide wollten weg aus Österreich. Maria ist es egal, wohin die Reise sie führt, sie möchte sich nur vor dem Vater in Sicherheit bringen. Der Ich-Erzähler aber will nach Amerika. Er vermutet seine Großmutter bei den Indianern. Diese zähe Frau voller Eigen sinn ist, als man ihr ein Bein amputiert und sie daraufhin dem Arzt den Schädel zertrümmert, so behauptet es der Enkel, aus dem Gefängnis geflohen, eben nach Amerika. Michael Scharang erzählt von Hörigkeiten und Leidenschaf ten, auch politischen, die seine Heimat auszehren. Die Österreichische Kriegs- und Nachkriegsgeschichte ist allgegenwärtig. Auf nach Amerika: Der Gedanke an Flucht läßt das jugendli che Liebespaar, Maria und den Ich-Erzähler, überleben. Drei ßig Jahre später schwören ihre ironischen und bitteren Ge schichten beide noch immer aufeinander ein.
Auf nach Amerika
Als ich ein Kind war, vierzig Jahre ist es her, tat ich nichts lieber, als Großmutter zu begleiten, hinauf auf den Berg, um beim Bauern Milch zu holen. Nichts tat ich lieber - außer mich mit gleichaltrigen Mäd chen und Buben heimlich im Weinkeller des Pfarrers zu tref fen, im leeren Weinkeller, es standen ja damals, nachdem ausländische Soldaten sich tief in das Land vorgekämpft hat ten, alle Weinkeller leer; dort bliesen wir einander mit einer Fahrradpumpe Luft in den Hintern, liefen dann auf den Pfarr platz, mischten uns unter die Kirchgänger und ärgerten sie, indem wir unsere Fürze krachen ließen, bis die Luft aus den Gedärmen draußen war. Nichts tat ich lieber - außer mit anderen Kindergartenkin dern in einen ehemaligen Luftschutzbunker zu schleichen, in unser Waffen- und Munitionsdepot, das wir nach dem Ende des Krieges angelegt hatten. Wegen der Lebensmittelknapp heit in die Wälder geschickt, um Beeren und Pilze zu sam meln, fanden wir auf dem Waldboden, ehe noch ein Krug mit Schwarzbeeren gefüllt war, Hunderte Schuß Munition, und ehe wir auf einen Steinpilz stießen, Dutzende Armeepistolen; mit diesen umzugehen, brachte uns ein Sechsjähriger bei, den wir, weil er nicht nur schießen, sondern die Pistolen auch re parieren konnte, zum Häuptling machten; daß ausgerechnet er wegen geistiger Zurückgebliebenheit für ein Jahr vom Schul besuch zurückgestellt worden war, betrachteten wir als großes Glück: So hatte er mehr Zeit für uns. Nichts tat ich lieber, als an diesen Zusammenkünften teilzunehmen - außer Großmutter zu begleiten, hinauf auf den Berg, um beim Bauern Milch zu holen. Zweimal in der Woche ging Großmutter den steilen Weg, die Milchkanne in der einen, den Haselnußstock in der anderen Hand. An heißen Tagen fluchte sie über die Stech fliegen, niemand war erfinderischer im Fluchen als sie, und ich versuchte nach Kräften, es ihr gleichzutun; letzten Endes aber nahm sie jede Mühsal gern in Kauf, um zu ihrer Voll milch zu kommen, die Magermilch, die es nach dem Krieg in
unserer Stadt zu kaufen gab, schmeckte ihr nicht, behauptete sie. Wenn es ihr nicht möglich war, auf den Berg zu steigen, weil meterhoch Schnee lag, trank sie Wasser, also konnte sie gar nicht wissen, wie Magermilch schmeckte, und sie wollte es offenbar nicht wissen. Außer mir hielten sie deshalb alle für starrsinnig und verschroben, ich jedoch verstand sie sehr gut, denn mich ekelte es vor jeder Art Milch, am meisten vor fri scher Kuhmilch. Mir, der ich als Kind zum Milchtrinken ver urteilt war, schien die Magermilch von allen Milchübeln das kleinste zu sein. Nur Großmutter verstand das, sie drängte mich kein einziges Mal, von ihrer Milch auch nur zu kosten, sie nahm sogar die Milchkanne in die rechte Hand, wenn ich zu ihrer Linken ging, um mir den Anblick der Kanne zu ersparen, und wurde der Weg schmal, ließ sie mich vorangehen. Ich erwartete von ihr aber mehr als stilles Einverständnis, schließlich hörten meine Eltern nicht auf, mir meine Abneigung gegen Milch vorzuwerfen und mir Großmutter als gutes Beispiel hinzustel len. Ich durfte von ihr wohl erwarten, daß sie zumindest sagen würde: Du verstehst meine Liebe zur Kuhmilch, ich verstehe deinen Abscheu davor; doch sie sagte nichts dergleichen. Als ich sie mit einem Buschen Palmkätzchen überraschen wollte sie zu überraschen hieß, unvermittelt vor ihr zu stehen und sie zu erschrecken, sie aber müßte so tun, als freute sie sich -, stahl ich mich in die Wohnung, öffnete die Küchentür einen Spalt breit und sah, wie Großmutter gerade die Milchkanne vom Fenster nahm und den Deckel in die Höhe hob. Beim Anblick der fetten Tropfen zog sich sofort mein Magen zu sammen. Was aber tat sie jetzt? Ich traute meinen Augen nicht: Sie goß den gesamten Inhalt der Kanne in den Kübel, und mit heißem Wasser aus dem Wasserschiff des Herds spül te sie die Kanne sauber. Es machte mir fortan noch mehr Spaß, Großmutter zu beglei ten, denn nun wußte ich, daß sie nicht der ekelhaften Milch wegen auf den Berg stieg. Sie wollte offenbar so tun, als ginge es ihr wie den anderen, die sich in jener Notzeit die Füße
wundliefen, um ein Stück Brot oder eine Kanne Milch zu er gattern. In Wahrheit hatte Großmutter das nicht nötig, doch nicht weil sie zu denen gehörte, die nach dem Krieg gleich wieder an der Quelle saßen, sondern weil sie alleinstehend war und von fast nichts zu leben verstand. Von nichts leben konnte sie wahrscheinlich, weil sie tat, was ihr beliebte, und dazu zählte auch das Rauchen. Sie rauchte wie ein Schlot, und in jener Zeit war das einer mittellosen Frau wie ihr nur mög lich, wenn sie selbst Tabak pflanzte, zwischen den Stangen bohnen, damit es niemand sah, denn privates Tabakpflanzen war auch damals verboten. In ihrer Gier wartete sie jedoch nicht, bis die Blätter auf dem Dachboden getrocknet waren, sie griff voreilig danach, und mit dem feuchten Tabak vergif tete sie ihren Körper. Der schrumpfte zusammen und bestand bald nur noch aus Knochen, Sehnen und Haut; die Haut wurde gelbbraun und sah aus wie Leder, ihr Gang, wenn sie den Berg hinaufstieg, mutete noch elastischer an als früher, den Berg hinunter sprang sie wie ein Mädchen, und hielt sie an, dann nicht um zu verschnaufen, sondern um den Tabakbeutel aus dem Rucksack zu holen und sich eine Zigarette zu drehen. Als sie, hoch über der Baumgrenze, nach einer ihrer Rauchpausen einschlief, statt mir wie sonst eine Geschichte zu erzählen oder mit mir, wie sie das nannte, zu philosophieren, erkältete sie sich und blieb den ganzen nächsten Tag im Bett. Die Nachbarin, immer schon aufdringlich, doch diesmal durch nichts abzuschütteln, holte gegen Großmutters Willen den Arzt, und dieser hinfällige Mann wußte nichts besseres, als Großmutter ins Spital einzuweisen. Lungenentzündung, be hauptete er. Im Spital erwies Großmutter sich als unverwüstlicher denn je. Kaum hatte man sie ins Bett verfrachtet und zugedeckt, stand sie auf und spazierte auf dem Gang hin und her, was insbe sondere die Ärzte mit Haß und Neid erfüllte, denn die Ärzte sie nahmen in der Nachkriegszeit Unmengen von Medikamen ten ein, Medikamente waren Mangelware, und immer schon schmeckte am besten, was die anderen nicht haben -, die Ärzte
stellten damals wegen ihres maßlosen Medikamentenkonsums die kränkste Bevölkerungsgruppe, kein Wunder, daß Groß mutter für sie eine unerträgliche Herausforderung bedeutete. Sie verboten ihr, auf dem Gang zu rauchen, sie ging in den Garten, sie verboten ihr, im Garten zu rauchen, sie wich auf die Straße aus, sie verboten ihr, das Spitalsgelände zu verlas sen, andernfalls man sie aus dem Spital werfen würde, sie mühte sich bis zum Fluß hinunter, und als man dahinterkam, legte man ihr ein Formular vor: Mit ihrer Unterschrift würde sie bestätigen, die Behandlung entgegen ärztlichem Ratschlag abzubrechen. Großmutter unterschrieb, eine siegreiche Parti sanin unterzeichnete die Kapitulationsurkunde der feindlichen Armee. Morgen, hieß es, werde man ihr Rucksack und Kleider ausfolgen, dann habe sie zu verschwinden. Doch auch von diesen gehässigen Worten ließ Großmutter sich die Freude nicht vergällen. Am nächsten Morgen, sie schlief noch, fiel man über sie her: Eine Krankenschwester betäubte sie, und ein Gehilfe schleppte sie in den Operationssaal; dort amputierte ein Arzt ihr das rechte Bein. Es dauerte einen ganzen Tag, bis Großmutter sich von diesem Schock erholte. Wenn sie Besuch erhielt, eilte der Arzt herbei und lobte sich, es sei eine Opera tion auf Leben und Tod gewesen, das Raucherbein ab oder sterben, eine andere Möglichkeit habe nicht bestanden. Ich glaubte dem Arzt kein Wort, Großmutter mußte das meinem Gesicht abgelesen haben. Sie fragte, ob sie das Formular se hen könne, auf dem sie sich mit der Amputation einverstanden erklärt habe. Man brachte es ihr. Sie studierte es, sah ihre Un terschrift, die sie unter ein ganz anderes Formular glaubte gesetzt zu haben, dabei wich jede Farbe aus ihrem Gesicht und jede Bewegung aus ihrem Körper: Eine Tote schien ihre Sterbeurkunde zu prüfen und sie dann dem Arzt zurückzuge ben. Nun wußten wir Bescheid. Bald schon begann Großmutter mit dem Krückentraining; zuerst zerkaute sie die Wurzeln und Kräuter, die ich aus ihrem Garten mitbrachte, dann übte sie wie besessen, und ich half ihr dabei. Die Regeln des Krückengehens, welche die Ärzte und
Krankenschwestern ihr aufzwingen wollten, wies sie von An fang an zurück. Ihr Ehrgeiz bestand darin, ohne rechte Krücke auszukommen, sich nur mit dem linken Bein und der linken Krücke vorwärts zu bewegen, was, ich probierte es selbst, teuflisch schwer war, und nicht einmal mußte ich Großmutter auffangen, sonst wäre sie zu Boden gestürzt. Die rechte Krük ke verwendete sie grundsätzlich nur als Balancestange. Als sie in dieser Fortbewegungsart einige Fertigkeit besaß, glaubte ich Großmutters Absicht zu erkennen: Offenbar wollte sie wieder beidbeinig gehen, denn von der Entfernung sah es aus, als wäre ihr einziges Bein, das linke, nun das rechte Bein und als wäre die Krücke in ihrer Linken das linke Bein. Was ich nicht verstand: warum sie die rechte Krücke nun nicht mehr als Balancestange nützte, sondern wie einen Säbel durch die Luft schwang. Das sei, sagte sie, eine noch wirksamere Gleichgewichtsübung. Ich hingegen schlug vor, die rechte Krücke wegzugeben und stattdessen eine Tasche oder mei netwegen eine Milchkanne zu tragen, das habe für das Leben außerhalb des Spitals mehr praktischen Wert als dieses Säbel schwingen mit der Krücke; doch Großmutter hörte nicht auf mich. Zwei Tage vor ihrer Entlassung, im Spital wurde sie mittler weile wegen ihrer akrobatischen Übungen von allen bewun dert, schlug ihr der Arzt, der sie operiert hatte, einen Handel vor; ihre Geschicklichkeit in Ehren, sagte er, eines werde sie jedoch nicht mehr können, bergsteigen, das sei in ihrem Alter auch zu riskant; sollte sie deshalb für ihren Rucksack keine Verwendung mehr finden, er würde ihn kaufen; in den Ge schäften kriege man zur Zeit ja nichts; er aber könne einen Rucksack gut gebrauchen, er müsse ohnedies etwas für seine Gesundheit tun, hin und wieder auf einen Berg würde ihm nicht schaden, sagte er und klopfte sich lachend auf den Bauch. Zu meiner Verwunderung willigte Großmutter nicht nur in den Handel ein, die beiden machten sich auch sogleich auf den Weg in die Kammer, in der die Privatsachen der Pati enten verwahrt wurden. Ein Wink Großmutters hieß mich
zurückbleiben, doch aus Mißtrauen gegen den Arzt folgte ich den beiden. Als der Arzt den weißen Schrank aufsperrte, holte Großmutter mit der rechten Krücke schwungvoll aus und zer trümmerte ihm den Schädel. Der Arzt, stand in der Zeitung, war auf der Stelle tot.
Von diesem Tag an durfte ich Großmutter nicht mehr sehen, ich konnte noch so bitten und flehen und weinen, meine Eltern sagten mir nicht einmal, wo sie gefangen gehalten wurde, ich hörte immer nur, es habe keinen Sinn, sie erkenne niemanden, sie sei, wie schon zum Zeitpunkt der Tat, geistig verwirrt. Man ahnte offensichtlich, daß ich entschlossen war, die Ge fangene unter allen Umständen zu befreien. Galt ich bislang als gelehriges Kind, so stand ich bald in dem gegenteiligen Ruf, denn mich beschäftigte nichts anderes mehr, als Befrei ungspläne zu schmieden und Fluchtpläne; mit dem Überwin den von Gefängnis- oder Irrenhausmauern würde es ja nicht getan sein, Großmutter und ich müßten so schnell wie möglich das Land verlassen und von diesem Kontinent verschwinden. Als die Eltern merkten, daß ich Skizzen jenes Gefängnisses anfertigte, in dem ich Großmutter vermutete, behaupteten sie, Großmutter befinde sich im Irrenhaus, und als sie dahinterka men, daß ich das Irrenhaus auskundschaftete, hieß es, Groß mutter sei in ein anderes in einer anderen Stadt verlegt wor den, es werde eben alles für sie getan, man wolle die Hoff nung auf Genesung nicht aufgeben. Ich wiederum gab meine Pläne nicht auf, erbettelte im Reisebüro ein Verzeichnis der Schiffsrouten samt Preistabelle vom vorigen Jahr, und als ich gerade darüber brütete, teilten die Eltern mir mit, daß Groß mutter gestorben sei. Sie teilten es mir schonungsvoll mit, weil sie offenbar meinten, die Nachricht würde mich treffen; doch sie ließ mich kalt. Ich wollte nur eines, Großmutter se hen, auf der Stelle. Die Eltern zeigten sich entgegenkommend und gingen mit mir in die Aufbahrungshalle. Der Sarg aber, in dem Großmutter sich befand, war verschlossen. Als ich trotz
dem darauf bestand, sie zu sehen, versicherten sie mir, der Wahnsinn habe ihre Züge derart verzerrt, daß sie nicht wie derzuerkennen sei. Es war lachhaft: Früher sagten sie, Großmutter würde mich nicht erkennen, nun hieß es, ich würde sie nicht erkennen. Doch ich ließ mich auf eine weitere Debatte gar nicht ein, ging nach Haus, holte aus dem Keller eine Hacke, schlich in die Aufbahrungshalle und versuchte, den Sarg aufzubrechen. Der Totengräber, ein ortsbekannter Stemmer, ertappte mich dabei, entwand mir die Hacke und warf mich in hohem Bogen hinaus. Zum Glück blieb ich in den Sträuchern hängen und schlug nicht gegen die Friedhofsmauer. Die Eltern ließen mich erst wieder aus der Wohnung, als der Sarg unter der Erde war. Ob auch Großmutter dort lag, war ungewiß, weshalb ich von den Befreiungs- und Fluchtplänen nicht ablassen durfte, denn sollte ich Großmutter eines Tages aufstöbern, müßte rasch gehandelt werden, damit sie noch etwas habe vom Leben in der Freiheit, schließlich war sie schon sehr alt. Diese Beschäftigung wirkte sich auf meinen schulischen Fortgang keineswegs förderlich aus, doch für mittelmäßige Zeugnisse hätte es immer noch gereicht. Die Lehrer gewöhnten sich mit der Zeit daran, daß meine Schular beiten, ob es sich ums Schreiben oder Rechnen handelte, im mer in Zusammenhang mit meiner Hauptarbeit, den Befrei ungs- und Fluchtplänen standen, sei es, daß ich Aufsätze in Briefform an einen internationalen Gerichtshof abfaßte, in denen ich um Verständnis für Großmutter warb, sei es, daß ich Schlußrechnungen umformulierte, weil mich mehr interessier te, wann das Schiff, wenn es von Venedig um fünf Uhr ab fuhr, in Tunis ankam, als die Fahrtzeit des Zuges von Thörl nach Einöd. In Verruf brachte mich etwas anderes: Ich sah nicht ein, war um ich den Verdacht, den ich hegte, nicht auch aussprechen sollte, den Verdacht gegen die Nachbarin, die den Arzt geholt hatte, gegen den Arzt, der Großmutter ins Spital hatte einwei
sen lassen, gegen den Spitalsarzt, der Großmutter ihres Beins beraubt hatte, und gegen jene mir immer noch unbekannten Täter, die Großmutter in einem Gefängnis oder in einem Ir renhaus hatten verschwinden lassen. Wenn ich auch mit zehn noch nicht ernstgenommen wurde, so konnten meine Verdäch tigungen, je älter ich wurde, desto weniger als kindliches Ge rede abgetan werden. Die von mir Beschuldigten sprachen deshalb bei meinen Eltern vor, welche, in Sorge um ihre karge Existenz, mit einer staatlichen Erziehungsanstalt in einer fremden Stadt drohten, außerdem wurden die von mir Be schuldigten bei den Lehrern vorstellig, die von nun an meine Leistungen und gleich auch mein Benehmen unzureichend fanden. Nach dem Schulabschluß intervenierten die Beschuldigten beim Lehrherrn, so daß die versprochene Lehrstelle mit ei nemmal nicht mehr frei war. Also ging ich weg von dieser Stadt, und vorsichtshalber nicht in den nächsten Ort, sondern in einen im nächsten Tal, denn dort, dachte ich, würde ich noch nicht in Verruf geraten sein. Das war ein Irrtum. Ich fand auch hier keine Lehrstelle, kam aber als Hilfsarbeiter unter. Was mir vom Lohn blieb, sparte ich, um später in die Haupt stadt ziehen zu können, in der die üble Nachrede, sollte sie mir auch dorthin folgen, sich vielleicht unter den vielen Men schen verlieren würde. In diesem Ort lernte ich ein Mädchen kennen, es arbeitete in derselben Firma, auch als Hilfsarbeiterin, aber nicht wie ich auf der Baustelle, sondern auf dem Lagerplatz. Wir schliefen miteinander, danach verriet sie mir ihren Namen, Maria, und ich erzählte ihr die Geschichte meiner Großmutter. Ich weiß nicht, wessen Erstaunen größer war, meines oder das ihre. Maria behauptete, Großmutter zu kennen, ja, sie habe sie ge sehen, auf Krücken sei sie gegangen, wie eine Indianerin habe sie ausgeschaut, vom Berg sei sie heruntergekommen und am Waldrand von Gendarmen festgenommen worden. Gleich am nächsten Tag verlangte ich auf dem Gendarme rieposten Aufklärung. Gewiß, ich mag erregt gewesen sein,
warum aber die Aufregung der Gendarmen, warum schrien sie mich an, sie hätten niemals in ihrem Leben etwas zu tun ge habt mit einer Frau auf Krücken, und warum stürzten sie sich auf mich und warfen mich mit dem Rücken voran auf die Straße, so brutal, daß ich, obwohl ich den Sturz mit den Ell bogen abfing, mit dem Kopf auf einem Pflasterstein auf schlug, daß mir das Blut herunterrann? Aus Angst, ich würde aufdecken, daß ihr Mut damals gerade ausgereicht hatte, eine alte, beinamputierte Frau zu mißhandeln? Es ist meine Schuld, sagte Maria, als sie meine Platzwunde verband, ich bin von daheim ausgerissen und habe mich im Wald versteckt; wahr scheinlich haben die Gendarmen nicht deine Großmutter ge sucht, sondern mich; ja, sagte sie, sie hat tatsächlich ausge schaut wie eine Indianerin. Das war ihr Brief, schrie ich, der kann nur von ihr gewesen sein! Ich hatte, als ich noch zur Schule ging, zu Haus auf der Küchenkredenz einen Brief liegen sehen mit einer amerikani schen Briefmarke. Das Sternenbanner. Im selben Augenblick schlug die Hand des Vaters drauf. So ein Blödsinn, sagte er, zerknüllte den Brief und steckte ihn in die Hosentasche; zwanzig Jahre habe ich den Kerl nicht gesehen, und jetzt schreibt er, ich soll nach Amerika kommen und ihn besuchen. Warum, sagte ich zu Maria, hat der Vater den Brief so rasch an sich genommen? Damit ich die Handschrift auf dem Ku vert nicht erkennen kann, Großmutters Handschrift vermut lich! Großmutter war also, nachdem sie den Arzt erschlagen hatte, aus dem Spital geflohen, sie hatte nicht nur die Tat, sondern auch die Flucht geplant, sie war mit Krücken auf den Berg gestiegen, bis zum Gipfel, und auf der anderen Seite hinunter, in der Nacht. Sie hätte die Flucht Nacht für Nacht fortgesetzt und sich tagsüber versteckt gehalten, wenn sie nicht zufällig von den Gendarmen erwischt worden wäre. Und diese Frau sollte es nicht geschafft haben, abermals zu ent kommen, ihr sollte es nicht geglückt sein, nach Amerika zu gelangen? Und aus Amerika, sagte ich, hat sie mir den Brief geschrieben. Bestimmt hat sie sich zu den Indianern durchge
schlagen, sagte Maria, dort ist sie wenigstens in Sicherheit. Mehrerer Jahre Arbeit hatte es bedurft, bis das Geld für die Überfahrt nach Amerika zusammengespart war, dann standen wir endlich vor der Abreise. Maria beabsichtigte, bis zum letzten Tag zu arbeiten, ich wollte ein, zwei Tage früher kün digen, um Zeit zu haben, in einem Abschiedsbrief an meine Eltern alles so darzustellen, wie ich es sah. Mir könnte ja auf der Reise etwas zustoßen, und es könnte dann bis in alle Ewigkeit jeder so tun, als wäre nur Großmutter die Schuldige, ausschließlich sie allein; und hier im Ort würde es von Maria und mir heißen, die beiden seien wohlgelitten gewesen, über kurz oder lang hätten sie sogar eine Firmenwohnung bekom men, wenn sie schon kein Haus bauen wollten. Drei Tage vor der Abreise jedoch stürzte Maria ins Zim mer, voll Verzweiflung: ein Anruf aus Wien, vom Konsulat der Vereinigten Staaten, man wolle uns die Visa nicht ausfol gen. Auch mir erschien das als Unglück; doch nach und nach begann ich zu verstehen: Du hast gesagt, Großmutter sieht aus wie eine Indianerin; sie hat sicher einen Aufstand der Indianer gegen die Weißen angezettelt; also werden wir über Mexiko illegal nach Amerika einreisen.
Endlos lange war ich über Landkarten gesessen, auch hatte ich Maria bereits versichert, die ideale Route gefunden zu haben, und dann dieser plötzliche Entschluß: illegal über Me xiko nach Amerika. Wir nahmen in Hamburg ein Schiff, nicht nach New York, sondern nach Vera Cruz, von dort gelangten wir mit Eisenbahn und Bus in die Nähe der mexikanischame rikanischen Grenze, wo wir vor der Frage standen, ob wir auf gut Glück einen illegalen Grenzübertritt versuchen oder uns zuerst bei den Einheimischen informieren sollten. Alles sprach dafür, uns erst einmal umzuhören, doch wir konnten kein Spanisch, die Einheimischen kein Englisch, oder aber sie ver
standen unser Schulenglisch nicht. Einen Versuch, sagte Ma ria, sollten wir noch unternehmen, ihr sei jemand aufgefallen, ein alter Mann, der große Ähnlichkeit habe mit dem Kohlen händler aus unserem Ort. Ich konnte keinerlei Ähnlichkeit feststellen. Keine äußere Ähnlichkeit, sagte Maria, es sei eine ähnliche Kraft, die von dem alten Mexikaner ausgehe, die Kraft des Einsiedlers. Der Kohlenhändler, sagte ich, sei kein Einsiedler, ich könne das mit Bestimmtheit sagen, ich würde ihn besser kennen als sie. Dennoch brachte Maria mich dazu, den Mann anzusprechen, und zum Glück konnte der nicht nur Englisch, er hatte auch eine Art, es zu sprechen, die unserem Schulenglisch entge genkam. Wir würden eine Frau suchen, sagte ich und zeigte ihm ein Porträt von Großmutter, die Frau sei um zwanzig Jah re älter als auf dem Foto, sehr hager, vor allem aber habe sie nur mehr ein Bein, das rechte fehle ihr; wir würden sie in den Vereinigten Staaten vermuten, wüßten aber nicht, wie wir ohne Visa über die Grenze kommen könnten. Der Mann nahm das Foto und ging wortlos weg. Am Abend sahen wir ihn auf dem Dorfplatz, er winkte uns zu sich, als hätte er uns erwartet, und behauptete, diese Frau sei hier gewesen, sie sei nicht von ihm, sondern von jemand anderem über die Grenze gebracht worden, er sei damals krank darniedergelegen; von der Grenze sei die Frau weitergezogen zu einem Indianerstamm am Rio Grande; uns werde er selbst den Weg über die Grenze weisen. Nicht nur nahm er dafür kein einziges Geldstück, er erweckte sogar den Eindruck, als gehörte es zu seinen Bedürfnissen, jedem, und sei es einem fremden Weißen, dabei behilflich zu sein, die gefürchtete amerikanische Grenzpolizei zu überli sten. Wie oft hatten wir uns während der folgenden fünf Jahre, in denen wir die riesigen Staaten durchquerten, gewünscht, von der Grenzpolizei geschnappt worden zu sein und uns so den Weg erspart zu haben. Zwar fanden wir ohne Mühe den Stamm am Rio Grande, erhielten auch die gute Nachricht, daß hier Vor Jahren eine alte, einbeinige Frau aus Europa Rast
gemacht habe und dann gegen Norden weitergezogen sei, doch nachdem wir Jahre hindurch, zu welchem Stamm immer wir kamen, stets die gleiche gute Auskunft bekommen hatten, konnten wir sie schon nicht mehr hören. Erst als wir im fünf ten Jahr den Norden der USA erreichten, wurde die Auskunft konkreter: Wir sollten in die Gegend des Erie-Sees wandern und dort versuchen, mit dem Stamm der Maumees Kontakt aufzunehmen. Über die Maumees bekamen wir nur heraus, daß sie ein ge heimnisvoller Stamm waren, über den nicht nur Weiße, son dern auch Indianer ungern sprachen, ein Stamm, der sich noch zu einer Zeit, als die großen, berühmten Stämme längst ge schlagen waren, den Kolonisatoren erfolgreich widersetzt hatte. Als wir am Erie-See endlich auf die Maumees stießen, nahmen sie uns, ganz gegen unsere Erwartung, auf wie Freun de. Das verwirrte mich derart, daß ich mich, statt wie sonst eine Fotografie von der Großmutter herzuzeigen und die Frage nach einer alten, einbeinigen Frau zu stellen, nach dem Wetter erkundigte: ob es auch am Erie-See die letzten drei Tage so unerträglich schwül gewesen sei wie in der großen Ebene, die wir, von den Bergen kommend, hatten durchqueren müssen. Die Maumees antworteten mit einer solchen Anteilnahme, als hätten sie seit langem auf einen Fremden gewartet, mit dem sie übers Wetter reden könnten. Derjenige von ihnen, der das Wort führte, verstieg sich so gar zu der Behauptung, seit Menschengedenken habe keine solche Schwüle geherrscht, selbst die Kinder würden sich wie die Greise dahinschleppen. Doch jeder im Dorf wisse, daß diese Schwüle nichts mit der Wetterlage zu tun, sondern daß sie sich über diesen Landstrich gesenkt habe, damit das Feuer nicht brenne, sondern nur dahin glose. Wir hatten uns umgeschaut und weit und breit kein Feuer gesehen, und so fragte ich den Maumee, was er meine. Er senkte den Kopf und schaute verlegen zu Boden. Ich merkte zwar, daß ich eine unrechte Frage gestellt hatte, wußte aber nicht im mindesten, was daran unrecht sein sollte. Da ich
fürchtete, daß die Freundlichkeit der Maumees, sollte sich das Mißverständnis nicht aufklären, ins Gegenteil umschlagen könnte, trat ich auf ihren Wortführer zu und bat ihn um Ver zeihung: Wir würden nicht wissen, von welchem Feuer er spreche. Ohne aufzuschauen, beriet er sich mit den anderen; sie murmelten etwas in ihrer Sprache, schickten dann ihren Wortführer zu uns, der mich fragte, wie lange wir uns schon auf der Suche befänden. Fünf Jahre, sagte ich. Er lachte; habt ihr gehört, sagte er zu den anderen, sie sind erst seit fünf Jahren unterwegs, da können sie nichts wissen. Und zu uns gewandt: Wenn Menschen sterben und verbrannt werden, sprechen die Toten noch einmal durch den Rauch des Feuers; wenn aber noch nicht alle, denen die Botschaft gilt, um das Feuer versammelt sind, dann legt sich eine Schwüle über das Land, die das Feuer niederhält und den Rauch, damit er vorderhand stumm bleibt, nicht aufsteigen läßt; in diesem Augenblick aber, sagte der Maumee, hebt sich die Schwüle. Er führte uns auf den Hügel außerhalb des Dorfes, und schon während des Aufstiegs sahen wir oben auf der Kuppe einen Haufen Holz, aus dem ein Qualm drang, welcher am Boden dahinkroch. Mit jedem Schritt aber, den wir näherka men, hob sich die Dunstglocke, der dunkle Qualm stieg em por, Flammen schlugen aus dem Holzhaufen, der Qualm löste sich auf, und bald stand eine weiße Rauchwolke über dem lodernden Feuer. Ich fragte den Maumee, ob er die Rauchzei chen gesehen habe und ob sie eine Bedeutung hätten. Er nick te. Schon am Tag darauf konnte Maria im Dorf der Maumees mit einer amerikanischen Brieffreundin aus Gymnasialtagen Kon takt aufnehmen, die in Boston lebte und die Maria auf der Stelle zu sich lud, mich übrigens auch, doch ich fühlte mich an den Rat der Maumees gebunden, nach Europa zurückzu kehren - so hatten sie die Rauchzeichen gedeutet. Sollte man mir allerdings, sagten sie, im Nachtland nach dem Leben trachten, möge ich sogleich zu ihnen zurückkehren. Sie spra chen von Europa als vom Nachtland; nicht vom Abendland;
vom Nachtland, von dem alles Menschenschlachten ausgehe. Anders als mir stellten die Maumees Maria frei, zu gehen, wohin sie wolle; ihr stehe die Welt offen, ich müsse sie mir erst öffnen. Es war jedoch kein plötzlicher Abschied; Maria und ich hatten bis Cleveland einen gemeinsamen Weg, einen Weg von drei Tagen, für den wir uns sieben Tage Zeit ließen. In Cleveland lag für Maria eine Flugkarte bereit. Ich wollte mich im Hafen nach Arbeit und natürlich auch nach einem Schiff umschauen, doch der Hafen war wie ausgestorben. Immerhin bekam ich von einem arbeitslosen Automobilarbei ter, der behauptete, sich zum Sterben hierher zurückgezogen zu haben, sein Herz habe dem Hafen gehört, der aber sei tot, zuerst seien die Hochöfen gestorben, dann die Fabriken, nun auch der Hafen, immerhin bekam ich von ihm den Tip, es in der West Hall zu versuchen. Der Tip war hervorragend: Zum einen fand ich dort tatsächlich Arbeit, Schwarzarbeit, zum anderen war die West Hall die schönste Markthalle, die ich je gesehen hatte. Um rasch zu Geld zu kommen, schuftete ich wie ein Vieh für einen slowakischen Fleischhauer, was den so beeindruckte, daß er in der ganzen Markthalle herumerzählte, nirgendwo, weder in der Slowakei noch in Cleveland, habe er jemanden gesehen, der wie ich zupacken könne. Zum Lohn dafür bestach er einen Kapitän, damit der mich auf dem Schiff nach Europa mitnehme. Es gehe nach Genua, sagte der Fleischhauer am Abend vor der Abfahrt, ausgerechnet nach Genua, und er nannte mich einen Glückspilz; von dort, und nur von dort, von den Hügeln rund um Genua, beziehe er die Ingredienzien für seine berühmten Würste; insofern sei Genua das eigentliche Zentrum der slowakischen Fleischerkunst. Erst viele Jahre später kehrte Maria nach Europa zurück, pro moviert, welterfahren, erfolgreich im Beruf. Sie hatte in Bo ston die Wissenschaft von der Politik und Internationales Recht studiert und dann forschend und lehrend kurze Zeit an dieser Universität gearbeitet. Dort hätte sie, wie sie mir nach ihrer Rückkehr erzählte, in kürzester Zeit jede von ihr ge wünschte Position einnehmen können, da sie den Präsidenten
der Universität zum Liebhaber gehabt habe. Meine eifersüch tige Frage, ob er ihr hörig gewesen sei, überging Maria. Nach ihren Worten war der Präsident der Universität nicht die große Liebe, aber doch ein Mann mit Eigensinn. Er erwartete Maria einmal in der Woche, am Samstag vormittag, wenn seine Frau beim Friseur für ein weiteres Wochenende ohne Sexualität schöngemacht wurde, in der Montagegrube seiner Autogara ge, mit dem Rücken in einer Lache alten Öls liegend. Wenn Maria, wie sie erzählte, oben erschien, entblößte er rasend schnell seine Brust; wie lange er vorher unten gelegen war, wußte Maria nicht zu sagen, im Unterschied zu mir interes sierte sie das auch nicht. Der Universitätspräsident schloß fest die Augen, dann lief ein Zucken über sein Gesicht, das Maria so schrecklich anmutete, daß sie endlich ihren Rock hob und vom Rand der Montagegrube hinunterpißte, nach Möglichkeit auf die Brustwarzen des Präsidenten, wobei er, wie Maria erzählte, mit beiden Händen im Mechanikeroverall wühlte, als würde er in höchster Eile sein Glied suchen, könnte es aber partout nicht finden. Das sei wohl seine Art des Onanierens gewesen, sagte Maria, vorher nicht und nachher nicht habe sie es erlebt, daß ein Mann beidhändig onaniere; und wie er sich habe beeilen müs sen, der Präsident; eine Blase fülle sich zwar langsam - zwei Liter Mineralwasser habe sie, Maria, jeden Samstag früh in sich hineingetrunken -, leere sich aber bekanntlich recht schnell; sie habe aber nicht zu klagen gehabt, und sie beklage sich auch heute nicht. Auf meine Frage, ob ihr das Spaß ge macht habe, sagte sie, das stehe nicht zur Debatte, darüber rede sie mit mir nicht; denke sie jedoch an jene Zeit, müsse sie zwangsläufig vergleichen: das bißchen Pinkeln auf den netten alten Mann und die vielen Freundlichkeiten, mit denen er sie die Woche über bedachte - oh nein, sie beschönige nichts, sie habe oft Lust gehabt, dem Alten den Hals umzudrehen - mit den vier Jahren Arbeit in Österreich auf dem Lagerplatz des Baumeisters. Der amerikanische Universitätspräsident sei unvergleichlich zivilisierter gewesen als der österreichische
Leuteschinder, der nicht nur aus dem Mund, sondern auch aus der Hose und aus den Schuhen gestunken habe, Eigenschaf ten, die aber nicht nur auf den Baumeister, sondern auf so gut wie alle österreichischen Männer zutreffen würden; aber der Baumeister habe dazu noch eine eitrige Flüssigkeit aus den Augenwinkeln abgesondert. Dennoch, erzählte mir Maria, sei sie bald vor dem Universi tätspräsidenten geflüchtet, womit auch ihre wissenschaftliche Karriere in Boston ein Ende gefunden habe. Zum Glück sei gerade bei der österreichischen UNO-Vertretung in New York eine Stelle frei geworden; dort, in New York, besitze sie heute noch eine Wohnung, die sie über eine Agentur vermieten las se; in der Pension werde sie das Apartment gewiß wieder in Anspruch nehmen. Dem Universitätspräsidenten sei ihr neuer Aufenthaltsort nicht lange verborgen geblieben. Um seinen Anrufen zu entgehen, habe sie sich im Büro verleugnen lassen und ihre private Tele fonnummer wöchentlich geändert, dennoch sei es dem Beses senen immer wieder gelungen, sie zu erreichen. Er habe ja mit ihr, Maria, in der Tat viel verloren; und sie habe Tag für Tag, Woche für Woche damit gerechnet, daß er in New York auf tauchen würde, doch es sei bei den Anrufen geblieben. Nach Monaten erst, sagte Maria, habe sie begriffen, daß das sexuel le Leben des Präsidenten nicht nur an sie, sondern viel stärker noch an seine Montagegrube gebunden sei. Was hätte er ohne die in New York machen sollen? Jeder Anruf habe endlos gedauert, und immer wieder sei der Redeschwall von langem Schluchzen unterbrochen worden. Schließlich, sagte Maria, habe der Präsident auch noch ge droht, sich zu erschießen, er warte nur noch, bis die Aktien kurse fallen würden, und sollten sie um nichts in der Welt fallen, weil der westlichen Welt die östliche zur Verwertung anvertraut werde, bleibe immer noch die Möglichkeit, sich mit einem gezielten Schuß zu kastrieren; so gehe es jedenfalls nicht weiter. Er habe sich ja intensiv um eine Nachfolgerin für sie, Maria, bemüht und die Bostoner Zeitungen mit einer Flut
von Anzeigen überschwemmt, doch das Ergebnis sei dürftig gewesen. Nur drei Frauen hätten sich gemeldet. Die eine war, dem Prä sidenten zufolge, absolut unzuverlässig, sie kam einmal Mitt woch, einmal Freitag, nur nicht am Samstag vormittag, klin gelte die Frau des Universitätspräsidenten aus dem Haus, ließ sich nicht wegschicken, beharrte darauf, hier pissen zu wollen und dafür Geld zu bekommen, und konnte erst mit Hilfe der Nachbarn vertrieben werden; sie war tablettensüchtig, stellte sich eine spezielle Mischung aus Schlaf- und Aufputschtablet ten zusammen, die sie mit Apfelsaft, mit Styrian Apple Juice, wie der Universitätspräsident hervorhob, hinunterspülte. Bei den zwei anderen Frauen handelte es sich - was für ein Glück, sagte der Präsident am Telefon - um einfache Alkoholikerin nen. Die eine konnte nicht mehr auf natürlichem Weg urinie ren, nur über einen künstlichen Ausgang, was der Präsident als stimulierend empfand, in der Praxis jedoch machte ein Fettwulst, der über den künstlichen Ausgang hing, jedes halbwegs gezielte Pissen unmöglich. Es wundere ihn nicht, daß ihn auch noch dieser Schicksalsschlag treffe, sagte der Präsident immer wieder am Telefon. Er gestand allerdings auch ein, bei einer anderen Alkoholike rin Trost gefunden zu haben, kurzen Trost. Sie hatte den Un terleib schon entblößt, sich bereits über den Rand der Monta gegrube gebeugt - mit welcher Hingabe, erzählte Maria, dieser Mann das Wort Montagegrube ausgesprochen habe, er sei wohl der letzte Liebhaber aus der alten angelsächsischen Schule gewesen -, diese Frau fiel dann aber in ihrem Rausch hinunter und brach dem Präsidenten fünf Rippen. Nicht zu letzt wegen dieser nicht enden wollenden Telefonate, sagte Maria, die nur dann zwei, drei Tage ausgeblieben seien, wenn sie, Maria, wieder einmal die Nummer änderte, habe sie schließlich jenen Posten angenommen, den ihr das Außenmi nisterium in Wien antrug.
Selbstverständlich
holte ich Maria vom Flughafen ab; ich hetzte gerade in die Ankunftshalle, als sie die Zollkontrolle durchschritt. Ich hatte nicht nur die falsche Straßenbahn, son dern auch den falschen Bus genommen; wozu war ich eigent lich, um mich auf das Wiedersehen einzustellen, am Vortag nicht zur Arbeit gegangen? Fünfzehn Jahre hatte ich Maria nicht gesehen, zwanzig Jahre war sie nicht in Österreich ge wesen. Wird sie sich einleben? Kann man sich hier einleben? Wird sie mich überhaupt erkennen? Ich war mir nicht sicher, ob ich nach den vielen Jahren in Wien noch menschenähnli che Züge trug. Doch das Wiedersehen verlief einfacher als gedacht. Ehe wir uns in die Arme fielen, fragte Maria mich, ob ich eine Freundin habe. Die hat mich, antwortete ich wahr heitsgemäß, vorgestern verlassen. Was für eine kluge Frau, sagte Maria. Zwei Monate später heiratete sie einen hohen Diplomaten, wodurch auch das einzige ernsthafte Problem, auf das Maria in Wien stieß, das Wohnungsproblem, großzügig gelöst war. Ihr Mann sei nicht freiwillig in den Innendienst des Außenmi nisteriums zurückgekehrt, erzählte sie mir am Abend nach der Hochzeit, als wir auf ihre Vermählung mit diesem älteren Herrn, der die Abende am liebsten allein verbrachte und au ßerdem gern früh zu Bett ging, anstießen. Meine Rolle schien von Anfang an darin zu bestehen, Maria immer dann zu Dien sten zu sein, wenn sie etwas feiern wollte, und sie feierte da mals schon in jenem widerwärtigen Feinschmeckerlokal, das zu meinem Leidwesen im Lauf der Jahre zu Marias Stammlo kal wurde; sie hatte einen Hang zum Repräsentieren. Ihr Mann, sagte Maria, habe immer noch die Außenpolitik der Nachkriegszeit vertreten und es einfach nicht wahrhaben wol len, daß die jetzige Regierung Österreich bereits aufgegeben habe. Er ahne das zwar, wie jeder hellhörige und an Österreich interessierte Mensch, andererseits, wer in Österreich interes siere sich schon für die Existenz dieses Landes. Marias unwir sche Geste verfehlte mein Weinglas so knapp, daß ich, da es
meine Art ist, jedes Unglück vorwegzunehmen, den Wein bereits über meine Hose rinnen sah und das Glas schon am Boden zerschellen hörte. Ihr Mann ahne das zwar, wolle es aber, wie gesagt, nicht wahrhaben, er sei, was sie rührend finde, ein Vertreter der alten Diplomatie, unbeirrt hänge er der Einbildung nach, die Politik regiere die Welt, wo doch, sagte Maria, sogar das Sprichwort es besser wisse. Immerhin hadere er tagaus, tagein mit der Regierung. Kein Frühstück vergehe, ohne daß er spätestens beim Bestreichen des Brotes mit Honig - des Brotes! sagte Maria, die runden Wiener Semmeln, die sogenannten Kaisersemmeln, hasse er, sie würden ausschauen wie Ärsche und erinnerten ihn zu sehr an seine Vorgesetzten; insbesondere der Minister würde den Wiener Semmeln zum Verwechseln ähnlich schauen; kein Frühstück vergehe, sagte Maria, ohne daß ihr Mann die Wehklage anstimme, die jetzige Regierung verschleudere das wenige, das in diesem Land er haltenswert sei, sie setze sich aus Totengräbern und Hochver rätern zusammen und sauge dem Land das bißchen Substanz, das sich nach dem letzten Krieg mühsam gebildet habe, aus dem Leib, damit die Österreicher haltlos in den Deutschnatio nalismus zurückfallen würden und sich der nächste Anschluß noch unproblematischer gestalte als der letzte. Außerdem, so erzählte Maria am Abend nach ihrer Hoch zeit, greife ihr Mann erst dann nach der Kaffeekanne, wenn er das Frühstücksbrot verzehrt habe, nichts schlage sich seiner Ansicht nach mit dem Geschmack von Honig mehr als der Geschmack schwarzen Kaffees, und nirgendwo auf der Welt, außer in Italien, sei er auf Menschen gestoßen, welche diese Ansicht geteilt hätten, deshalb sei seine Zeit als Botschafter in Rom seine glücklichste gewesen, obwohl es ihm natürlich schwer angekommen sei, diesen weitherzigen Menschen aus gerechnet Österreichs engstirnige Außenpolitik vermitteln zu müssen. Schon als sie ihm zum erstenmal begegnet sei, er zählte Maria, habe er von seiner Rückversetzung als von einer Strafe gesprochen, denn er könne sich bei allem guten Willen in Wien nicht mehr einleben.
Ich hatte schon dagegen protestieren wollen, daß den ganzen Abend nur über den Alten geredet wird, den ich, ohne es zu zugeben, doch als Nebenbuhler empfand, nun aber begann er mich zu interessieren. Schon das erste Zusammentreffen sei eigenartig gewesen, sagte Maria auf eine entsprechende Frage von mir, unvermittelt sei er auf dem Gang des Ministeriums vor ihr gestanden, habe ihr den Weg versperrt und gesagt: Sie haben ein offenes Gesicht, und hinzugefügt: ein weltoffenes. Er habe aufs Jahr genau erraten, wie lange sie im Ausland gelebt habe, er könne das ihrem Gesicht ablesen. Wie Leute anderswo Handleser seien, habe er sich in dieser Stadt zum Gesichtsleser entwickelt, gezwungenermaßen beschränke sich sein Umgang mit Menschen aufs Gesichtslesen, das Reden erübrige sich ja, seit im Reden kein Platz mehr sei für die Sprache, wie ja auch sonst für nichts Platz sei: im Fernsehen keiner für Bilder, da es sich beim Fernsehen in Wirklichkeit um ein Nahsehen handle, so nahe an der Realität, daß man sich kein Bild von der Wirklichkeit mehr machen könne. In den Zeitungen sei kein Platz fürs Zeitgeschehen, da die Zei tungen so nah an die Zeit heranrücken würden, daß die sich zu einem Zeitgeschehen nicht mehr entfalten könne, und, wie gesagt, im Reden sei kein Platz für die Sprache, nur noch für Wortprügel, um einem Meinungen einzubleuen, und für Satz prügel, um jene Meinungen über die Welt zu verbreiten, über die immer größer werdende deutsche Welt. Nestroy würde diese Sprache gar nicht verstehen, denn das von ihm erfundene Österreichisch habe nicht aus deutschen, sondern haupt sächlich aus Fremdwörtern bestanden. Da sich somit das Reden erübrige, sei er Gesichtsleser gewor den, an sich eine unterhaltsame Sache, doch in Wien ein bitte res Geschäft, denn hier seien die Gesichter nicht nur wie an derswo zugewachsen von Übelwollen, Unfreundlichkeit und Unwissen, hier seien sie auch noch weltverschlossen, habe, sagte Maria, ihr jetziger Mann beim ersten Zusammentreffen, das sie wie einen Zusammenstoß empfunden habe, gesagt. Nun, da sie ihn genauer kenne, werde sie den Eindruck nicht
los, ihr Mann dringe zwar über das Gesichtslesen immer tiefer in die Wirklichkeit ein, verliere dabei aber die Beziehung zur Realität; habe er anfangs die Regierung verdächtigt, eine gut organisierte Bande zu sein, welche heimlich, auf jeden Fall hinter dem Rücken der Bevölkerung, das Inland an ausländi sche Interessenten verschiebe, so liebäugle er nun bereits mit der These, Regierung und Bevölkerung steckten unter einer Decke und richteten das Land in bestem Einverständnis zugrunde, wirtschaftlich und geistig, und, wie er betonte, end gültig. Davon abgesehen, sei er ein zauberhafter Mann; die Erfüllung ehelicher Pflichten habe sie, Maria, vor der Heirat ausge schlossen, was, um bei der Wahrheit zu bleiben, ihren jetzigen Mann überhaupt erst bewogen habe, um ihre Hand anzuhalten. Und er sei ein wunderbarer Mensch, er schließe sich, kaum vom Dienst nach Haus gekommen, ins kleinste Zimmer der riesigen Wohnung ein und kommandiere dort Seestreitkräfte, was sie deshalb vermute, weil sie ihn des öfteren das Wort Fregatte habe rufen hören, undeutlich allerdings, es könnte sich auch um das Wort Frittate gehandelt haben.
Meine Vermutung, Maria habe den Diplomaten auch deshalb geheiratet, um im Außenministerium dessen Protektion zu genießen, erwies sich als falsch. Maria wechselte ins Bundes kanzleramt, was mich sehr überraschte, da sie mir den Kanzler immer als das geistig unbeweglichste von allen Regierungs mitgliedern beschrieben hatte. Auf seine Art, sagte Maria, sei der Kanzler dennoch faszinierend: Unglaublich, wie ein SPÖVorsitzender in idealer Weise die Politik der ÖVP verkörpere. Außerdem lasse sich nichts Abenteuerlicheres vorstellen, als dem Kanzler Reden zu schreiben: hinreißend, daß er weder frei sprechen noch vom Zettel ablesen könne; genial geradezu, wie diese beiden Unfähigkeiten sich zu der Fähigkeit verbin den würden, vom Zettel ablesend frei zu sprechen. Der Dank
des Kanzlers für den Undank, den Maria ihm im Gespräch mit mir erwies, blieb nicht aus. 1990 ernannte er sie zu seiner Ersten Beraterin. Ich stellte mir vor, Maria habe es verstanden, sich unentbehrlich zu machen, doch darum konnte es nicht gegangen sein, denn der Ernennung folgten viele Monate, in denen Maria überhaupt nicht für den Kanzler tätig war, da die Vertragsverhandlungen, wie Maria das Feilschen um ein Spit zengehalt nannte, sie vollständig beanspruchten. Als Maria von den Vereinigten Staaten zurückgekehrt war, hatte sie sich in Gelddingen unkompliziert gezeigt und sprach, anders als ich, von Geld nur, wenn sie keins hatte. In den Wiener Jahren jedoch entwickelte sie eine unvorstellbare Geldgier, beging das Sakrileg, den Status einer Beamtin abzulehnen und auf Vertragsbasis zu arbeiten, was in ihrem Fall hieß, den Vertrag beständig mit Sonderzuschlägen zu erweitern. Seit ihrer Rückkehr hatte Maria keinen einzigen Tag Urlaub genommen, jedoch allein in Europa sieben Ferienwohnungen erworben. Die Ernennung Marias zur Ersten Beraterin des Kanzlers hatte zunächst keine beratende Tätigkeit, dafür aber die Ver leihung eines pompösen Berufstitels zur Folge, denn mußte der Staat schon so viel Geld für Maria ausgeben, sollte die Empfängerin vom Titel her auch etwas darstellen. Schließlich kam es nach Ernennung und Verleihung doch zur definitiven Bestellung, die, auch das war eine Bedingung Marias, mit einem Festakt im Bundeskanzleramt begann und mit einer Pressekonferenz in der Concordia einen öffentlichen Abschluß fand. Zu Mittag desselben Tages rief Maria mich an und teilte mir diese Neuigkeiten mit. Ich wußte sofort, daß ihr Redefluß in die Bemerkung münden würde, die Ernennung müßte heute abend gefeiert werden, und ich hörte mich auch schon antwor ten: Selbstverständlich, sagte dann aber doch nur: Wenn es sein muß. Sofort stellte Maria die Frage, was ich damit sagen wolle. Ich wußte die Antwort: Ich hatte mir vorgenommen, Maria nicht mehr in allem nachzugeben, mich von ihr zumin dest ein wenig zu lösen. Im anderen Fall, das wußte ich aus
Erfahrung, sei jeder Versuch, mich mit einer anderen Frau anzufreunden, von vornherein zum Scheitern verurteilt. Seit Wochen drängte es mich, einen solchen Versuch zu wagen, mit einer Bibliothekarin der Nationalbibliothek, mit der ich bei jedem meiner Bibliotheksbesuche flirtete, die ich aber nicht ansprechen würde, solange ich mich an Maria derart gebunden fühlte. Ich wußte also die Antwort, gab jedoch eine andere: Nichts habe ich damit sagen wollen. Maria darauf: Wir sehen uns in fünf Minuten. Sie hatte recht; in fünf Minuten war es halb eins, die Zeit, uns mittags zu tref fen, nicht täglich, aber doch ein-, zweimal in der Woche, in unserer Mittagspause, im Cafe Bräunerhof, wo ich, auf Einla dung Marias, gern ein Menü zu mir nahm oder, wie sie, einen Kaffee und, anders als sie, die nur Mineralwasser trank, ein Glas Soda, im Cafe Bräunerhof, nicht weil dieses Kaffeehaus uns gefiel, sondern weil es unserer Schätzung nach sowohl von Marias Arbeitsplatz, dem Bundeskanzleramt, als auch von meinem, dem Museum für Völkerkunde, ungefähr gleich weit entfernt lag. Arbeitsplatz: Ob in den konkreten Fällen dieses Wort angebracht war, bezweifelte ich. Marias Schreibtisch, von keiner Schreibmaschine, keinem Computer, keinem Blei stift verunziert, stand in einem Barocksaal; Maria war dank ihrer Begabung, die anderen Berater arbeiten zu lassen und deren Arbeitsergebnisse in eine auch dem Kanzler zugängli che Form zu bringen, schon vor der Bestellung zur Chefbera terin, wie ich zu sagen pflegte, zur Hauptberaterin, wie sie sich ausdrückte, die wichtigste Mitarbeiterin des Kanzlers gewesen. Die wenigen Male, die ich Maria von der Arbeit abholte, hatte ich den Eindruck, sie residiere eher, als daß sie arbeite. Ich zögerte aber auch, mein Zimmer von der Größe eines Abstellraums im Völkerkundemuseum Arbeitsplatz zu nennen, nicht weil es so klein war, sondern im Gegenteil, weil es einen Luxus darstellte, der mir im Grunde nicht zukam. Ich hatte nach meiner Rückkehr aus Amerika Arbeit im Völkerkundemuseum gefunden, nachdem es mir gelungen war, dank der Gastgeschenke, mit welchen die Maumees mich
bedacht hatten, das Interesse des stellvertretenden Museums direktors auf mich zu lenken; ich wurde als sogenannter Ver tragsbediensteter eingestellt und einem Team von drei Arbei tern zugewiesen, das für den Auf- und Umbau von Ausstel lungen zuständig war. Was für eine Karriere, hatte ich damals gedacht, vom Bauarbeiter, der ich in der Jugend hatte sein müssen, zum Umbauarbeiter in einem Wiener Museum; und was für ein Glück - denn ich merkte sehr bald, daß meine An stellung auf ein Entgegenkommen des stellvertretenden Direk tors zurückging und nicht darauf, daß jenes Team hätte erwei tert werden müssen. Die drei hatten vorher schon wenig zu tun gehabt. Dann kehrte Maria nach Wien zurück, und kaum hatte sie eine Position von entsprechendem Einfluß, als sie ohne mein Wis sen, aber, ich gebe es zu, ganz in meinem Sinn, erwirkte, daß ich zum Leiter jenes Auf- und Umbauteams ernannt wurde und für diese Funktion ein kleines Büro zugeteilt erhielt, das, wie gesagt, ich mich scheute, Arbeitsplatz zu nennen. Ich kam vor Maria ins Cafe Bräunerhof; ob ich mir den ausgreifenden Bergsteigerschritt schon als Kind in den Kalk alpen oder erst später in den Rocky Mountains angewöhnt hatte, wußte ich nicht; diesem Schritt jedenfalls schrieb ich es zu, daß ich, welchen Treffpunkt immer ich mit Maria verabre dete, früher an Ort und Stelle war als sie; so auch jetzt im Cafe Bräunerhof. Aufs äußerste gereizt, weil ich spürte, daß ich Marias Wunsch, am Abend mit ihr die Ernennung zu feiern, nachgeben würde, bestellte ich einen Kaffee; die Bestellung fiel höflich aus wie immer. Als Maria ins Cafe trat und sich zu mir setzte, bemühte sie sich um ein Alltagsgesicht, dem kein Stolz über den Aufstieg zur Chefberaterin anzumerken sein sollte, aus Rücksicht auf mich, der ich schon dadurch, daß ich nicht aufstieg, den Eindruck ständigen Abstiegs vermittelte. Marias Protektion fand selbstverständlich dort eine Grenze, wo mir die Zeugnisse fehlten: das Zeugnis über einen Gymna sialabschluß als Mindestvoraussetzung, um vom Staat als Beamter anerkannt zu werden, das Zeugnis über einen Hoch
schulabschluß, um als Beamter avancieren zu können. Zur Weiterbildung fehlte mir jedoch aus zwei Gründen die Zeit: einmal weil ich im Museum angestellt war und dort die Dienststunden, auch wenn es nichts zu tun gab, abzusitzen hatte, und zweitens weil ich in der Zeit, in der nichts zu tun war, las, was mich interessierte. Ich hatte herausgefunden, daß es nicht viel gab, was mein Interesse weckte, dieses wenige jedoch las ich immer wieder, als müßte ich gutmachen, daß ich meine Lieblingsbücher, auf die ich in der Bibliothek des Kohlenhändlers gestoßen war, die Bücher von Karl Kraus und Robert Musil, zwar schon als Bauhilfsarbeiter entdeckt, aber nicht ganz verstanden hatte. Später, als Maria es hätte arran gieren können, daß ich nur halbtags arbeitete, den anderen halben Tag aber studierte, hatte ich bereits zu viel gelesen, als daß ich es hätte ertragen können, eine Schule, schon gar eine Hochschule zu besuchen - so daß nach Ansicht Marias mein sozialer Standard als das einzige in dieser Gesellschaft völlig unverändert blieb. Das war eine ideale Position, um Maria wegen ihrer Karrieresucht zu hänseln, was sie absolut nicht leiden konnte. Sie behauptete dann, ich würde den Unterprivi legierten spielen, der es nicht lassen könne, als leibhaftes schlechtes Gewissen durch ihr Leben zu geistern; ich würde nur eines nicht bedenken, daß dieses Gehabe auf sie nur lä cherlich, bestenfalls lächerlich wirke. Maria bestellte Kaffee und Mineralwasser und fragte, aller dings im Ton einer Feststellung, ob es dabei bleibe: Sie hole mich um neun mit dem Taxi von meiner Wohnung ab. Ich zitterte vor Wut über diese Unverschämtheit, mit der Maria über mich verfügte, denn ich hatte es satt, bei jedem soge nannten Anlaß, einer idiotischer als der andere, von Maria zum sogenannten Feiern beordert zu werden, noch dazu in jenes Feinschmeckerlokal, an dem außergewöhnlich nur ist, daß dort heutige Kultur- und Medienrepräsentanten mit ge strigen Visagen verkehren. Da ich nichts sagte, fragte Maria mich, ob mir neun zu spät sei. Schlimmer noch, als wenn sie über mich bestimmte, fand ich, wenn sie so tat, als könnte ich,
was sie bereits entschieden hatte, mitentscheiden. Ich wollte schon sagen, mir reiche es jetzt: ich würde mir heute erlauben, dieses Theater einmal nicht mitzumachen; da fiel mir ein, daß wir auch gestern beim Mittagessen Streit gehabt hatten. Im Augenblick wußte ich nicht, worüber, also konnte es nichts Persönliches gewesen sein; so antwortete ich Maria, ich hätte einiges gegen ihren Vorschlag für heute abend einzuwenden, wolle aber nicht schon wieder Streit mit ihr, gestern erst seien wir uns in den Haaren gelegen, ich würde glauben, wegen ihrer Haßtiraden gegen ihre Mutter, Tiraden, die ich schon nicht mehr hören könne. Nein, sagte Maria, es ging um den Sinn. Wie kannst du, schrie ich, schon wieder dieses Wort verwenden, du weißt doch, daß ich dagegen allergisch bin. Der Ober eilte herbei, um mich zu besänftigen, er tat es unaufgeregt, gewohnheitsmäßig gerade zu, schließlich verging keine Mittagspause im Bräunerhof, in welcher der Ober nicht entweder Maria oder mich besänftigen mußte. Nachdem ich ihm für seine einlenkende Geste gedankt hatte, entschuldigte ich mich bei Maria für mein aufbrausendes Benehmen. Sinn! sagte ich, ich habe gestern nach unserem Gespräch noch einmal und lange darüber nachgedacht. Trotz deiner Einwände: Es gibt kein anderes Wort, das mit so viel Verbrechen, Einschüchterung und Terror verbunden ist; un zählige Menschen, die den Sinn einer Religion nicht einsehen, die den Sinn eines politischen Systems nicht akzeptieren woll ten, weil ihnen ihr Sinn nach etwas anderem stand, mußten bloß deswegen sterben, wurden bloß deswegen verfolgt, oder aber sie mußten ihre Ansicht, der jeweils verordnete Sinn sei Unsinn, zeitlebens verleugnen. Nicht ob einer der Meinung ist, sagte ich, das Leben habe Sinn oder es habe keinen, ist von irgendeiner Bedeutung, soll doch jeder die Meinung ha ben, die sein Lebensgefühl ihm nahelegt. Nein, sagte ich, und ich lief schon wieder Gefahr, meine Stimme stärker zu erhe ben, als der Ober es erlaubte, nein, das ist nicht von Belang; sehr wohl aber, wenn das Gehirn tagaus, tagein traktiert wird mit der Aufforderung, man müsse im Leben einen Sinn sehen,
und als nächstes, man müsse dem Leben einen Sinn verleihen. Diese ultimativen Aufforderungen der weltanschaulichen Er schießungskommandos, sagte ich zu Maria, die ertrage ich nicht mehr, auch dann nicht, wenn du behauptest, es gäbe Unerträglicheres auf der Welt. Man muß sich doch fragen, wodurch etwas überhaupt erst unerträglich wird; durch den Sinn natürlich, den man einer Sache aufzwingt: der Arbeit, der vorgeschrieben wird, zu allem übrigen auch noch sinnvoll zu sein, der Freizeit, auf die man am besten verzichtet, seit sie sinnvoll genutzt werden muß. Dieser Sinnterror, sagte ich, wird noch so weit gehen, daß die Todesstrafe dem droht, des sen Leben es am nötigen Sinn fehlen läßt. Ich kenne kein an deres Wort, das sich derart aufspielt, das sich so viel heraus nimmt, das prinzipiell im Recht zu sein glaubt, das automa tisch die Schuld beim andern, niemals bei sich sucht. Wenn jemand keinen Sinn im Leben sieht, muß das ja nicht an sei nem Leben liegen, daran kann durchaus auch der Sinn Schuld tragen, dessen lebensfremde Ansprüche, dessen überirdische Anmaßungen, kurz, die ganze Sinnlosigkeit, die im Sinn steckt. Ich habe dich aber gestern, sagte Maria, etwas anderes gefragt: Ob du angesichts deiner Befürchtung, ich könnte dein Leben einengen, du könntest etwas versäumen, wenn du es nicht noch rasch, ehe du zu alt bist, mit einer Jungen versuchen würdest, mit dieser kuhäugigen Bibliothekarin zum Beispiel, die ich bis jetzt, um dich zu schonen, noch nicht erwähnt habe, ob du also, habe ich dich gestern gefragt, noch einen Sinn siehst in unserer Freundschaft, oder, wie du zu sagen pflegst, in unserer Liebe; worauf du gesagt hast, nein. Natürlich, ant wortete ich, habe ich nein gesagt, denn ich lehne es ab, daß das Wort Sinn auch noch mit meinen Gefühlen in Zusammen hang gebracht wird. Du weichst aus, sagte Maria, du bist ge stern ausgewichen und weichst auch jetzt aus; du weißt, daß mich deine Erörterungen über den Sinn nicht interessieren; ich verwende das Wort ja nicht spitzfindig wie du, sondern um gangssprachlich wie jeder andere Mensch auch. Das sagst du,
schrie ich, du, die Meisterin der Spitzfindigkeit! Der Ober eilte herbei und fuchtelte vor meinem Gesicht herum, als wollte er mir den Mund zuhalten; ich aber faßte ruhig nach seinen Händen und legte sie auf die kühlende Marmorplatte. Er genoß das und sagte, was ihm zu sagen auf erlegt war, ohne Groll: Der Herr Burgtheaterdirektor hat sich über Sie beschwert; er ist in ein Gespräch mit Herrn Bernhard vertieft, der aber einschlief, und nun furchtet der Herr Direk tor, daß Herr Bernhard geweckt werden könnte, ausgerechnet jetzt, da der Herr Direktor in ein Gespräch mit Herrn Bernhard vertieft ist. Ach, sagte der Ober, diese Theaterleute, die haben mir hier noch gefehlt.
Ich bestellte eine weitere Tasse Kaffee, in der falschen An nahme, an der ich unbeirrt festhielt, Kaffee, noch dazu Mocca, würde meine Nerven beruhigen; in Wirklichkeit wurden sie dadurch noch mehr angespannt. Um diesen Zustand, den ich, obwohl ich ihn immer wieder herbeiführte, als lästig empfand, auch etwas abzugewinnen, bildete ich mir ein, die Überrei zung fördere die Konzentration. Tatsächlich aber mußte ich die Finger zu Hilfe nehmen, um meine Gedanken auseinan derhalten zu können. Erstens, sagte ich zu Maria und streckte einen Finger in die Höhe, erstens sitzen wir hier, weil ich auf deinen Vorschlag, heute abend mit dir essen zu gehen, am Telefon nicht freudig und laut mit ja geantwortet habe. Zweitens, sagte ich und hielt Maria auch den Zeigefinger unter die Nase, zweitens muß ich mit dir über etwas reden, das mich seit längerem bedrückt: Kaum noch vergeht eine Nacht, in der ich nicht aus dem Schlaf schrecke und im Angstschweiß liege, kaum noch ein Tag, an dem der Schreck nicht gegen wärtig bleibt, so daß ich niedergedrückt dahinschleiche und für jedes Stiegengeländer dankbar bin, an dem ich mich fest halten und aufrichten kann. Was nachts als Alptraum beginnt, schrecklich und kurz, setzt sich den Tag über als Tagtraum
fort, endlos und zermürbend. Von diesen Tagträumen glaube ich mitunter, sie seien Erinnerungen an Tatsächliches; diese Erinnerungen reichen immer weiter zurück, nun schon in die Zeit meiner Geburt. Und drittens, sagte ich zu Maria und streckte nun drei Finger aus, drittens muß ich darauf bestehen, daß deine Behauptung von vorhin, daß du naiv mit Wörtern umgehen würdest, ich aber spitzfindig, das Gegenteil der Wahrheit ist. Ich habe den Umgang mit der Sprache erst von dir gelernt, ohne dich wäre ich sprachlos geblieben; denn nach dem Verschwinden meiner Großmutter im Frühherbst 1950, ich war zehn Jahre alt, redete ich mit allen nur das Nötigste. Ich spann mich vollkommen in Befreiungs- und Fluchtpläne für die Großmutter ein, in der Schule beschränkte ich mich darauf, Fragen zu beantworten, im Ort stellte ich jene Leute, die ich verdächtigte, am Ver schwinden Großmutters beteiligt zu sein, nicht zur Rede, son dern schleuderte ihnen einfach meine Beschuldigungen entge gen. Und die Zeit mit Großmutter, sagte ich zu Maria, darfst du dir nicht als ein fortwährendes Gespräch vorstellen. Groß mutter redete, gefragt oder ungefragt, gern vor sich hin, verfiel auch, ohne daß ich sie darum bat, ins Geschichtenerzählen, und wenn wir bei einer Rast ins Philosophieren kamen, wie Großmutter insbesondere das Reden über Gott nannte, begann auch ich schon, Monologe zu halten. Auch waren die Tage gar nicht selten, an denen Großmutter und ich schweigend dahin wanderten; es war aber ein Schweigen, das ich als ungezwun gen empfand und das ich liebte. Wohingegen ich unter dem Schweigen meiner Eltern, sagte ich, immer gelitten habe. Schlimmer fielen nur noch deren Versuche aus, das Schweigen zu überwinden. Diese Versuche fingen immer damit an, daß Mutter aus dem Tratsch der Nachbarn eine schlechte Meinung über mich herausgehört haben wollte, worauf der Vater jedesmal vor Wut weiß wurde und hervorzischte - denn geschrien durfte nicht werden in unserer Familie, nach vier Jahren Gebell der Austrofaschisten und nach sieben Jahren Gebrüll der Hitlerfaschisten, so hatte
der Vater gesagt, könne er kein lautes Wort mehr hören -, worauf also der Vater hervorzischte, ihn interessiere nicht die Meinung der Nachbarn, ihn interessiere die seiner Frau. Dar auf antwortete die Mutter stets: Für ihre Meinung habe sich noch nie jemand interessiert. Dabei wurde sie aschfahl im Gesicht, und sie preßte die Lippen so entschlossen zusammen, als sei das eben hervorgestoßene das letzte Wort in ihrem Leben gewesen. Erst durch dich, sagte ich zu Maria, ist die Sprache wirklich in mein Leben gekommen, eine gesprochene Sprache, die - wel che Sensation für mich - eine gewisse Ähnlichkeit mit der geschriebenen hatte; eine Sprache aus ganzen Sätzen, die sich nicht, kaum begonnen, in nichts verlieren, sondern die sogar dann zu einem Ende weitergeführt werden, wenn man wäh rend des Sprechens nachdenkt, so daß sich in den Satz noch andere Sätze einfügen. Vom ersten Satz an, sagte ich zu Ma ria, den ich aus deinem Mund hörte, bewunderte ich dich maß los deiner Sprache wegen; ich hing an deinen Lippen und war froh - nicht immer glücklich, aber immer froh -, wenn sie sich zum Sprechen formten. Das änderte sich nicht während der ganzen vier Jahre, die wir in dem verfluchten Ort miteinander in einer Bruchbude lebten und in derselben Firma arbeiteten. Jeden Tag, jede Woche war ich aufs neue davon begeistert, daß Wörter mehr sein konnten als ein Mittel notdürftigster Verständigung mit denen, die man mochte; und mehr als ein Mittel, um sich denen gegenüber blöd zu stellen, die man ver abscheute. Buchstäblich schaute ich von dir ab, wie man mit Sprache umgehen kann, ohne es dir je gleichtun zu wollen, denn anders als dir lag mir nichts daran, die Sprache zu be herrschen, um andere anherrschen zu können, und heute Maria gab mir ein Zeichen, die Stimme zu dämpfen -, und heute spielst du dich mir gegenüber als Vertreterin der naiven Umgangssprache auf. Suchst du Streit? fragte Maria. An sich nicht, sagte ich, wenn man davon absieht, daß ein Gespräch, in dem man etwas klären will, ohnedies immer im Streit endet. Doch warum
sollte ich Streit suchen, ich will dir nur sagen, daß ich dir mei ne Sprache verdanke, auch wenn du darauf bestehst, daß das wichtigste, was du mir beigebracht hast, das Ficken gewesen ist; manchmal glaube ich, das hätte mir eine andere genauso gut beibringen können. Vorsicht! rief ich und griff rasch, aber sanft nach der Hand, die Maria gegen mich erhoben hatte, Vorsicht, flüsterte ich, hinter dir sitzt ein Pressefotograf, dreh dich nicht um, seit einer halben Stunde wartet er darauf, daß du dich umdrehst; tu es nicht, sagte ich zu Maria, die dennoch einen Blick über ihre Schulter werfen wollte, du hast ein stark gerötetes Gesicht, und du weißt, daß du mit roten Backen aussiehst wie eine Landpomeranze. Ich Heß Marias Arm los, merkte, daß ich ihr Handgelenk zu fest umklammert hatte, und entschuldigte mich dafür. Stell dir vor, sagte ich, er hätte in dem Augenblick ab gedrückt, in dem du mir eine Ohrfeige gegeben hättest. In der Zeitung stünde dann neben dem Foto der Text: Kanzlerberate rin ohrfeigt kleinen Angestellten, sozialdemokratische Füh rung entfernt sich endgültig von der Basis. Ich bin, wie du weißt, bei keiner Partei, sagte Maria. Um so schlimmer, sagte ich: Sozialdemokratische Führung umgibt sich neuerdings mit Leuten, die öffentlich kleine Angestellte ohrfeigen. Wobei das Wort öffentlich entscheidend ist, sagte Maria. Ich nickte, nicht ohne Verlegenheit, was Maria sofort ausnützte. Denn, sagte sie, im Bett läßt du dich gern von mir ohrfeigen. Aber immer erst, redete ich dagegen, nachdem du mich gebeten hast, dich zu bitten, daß du mich ins Gesicht schlägst. Ins Gesicht schlägst, wiederholte ich, und nicht: ohrfeigst. Eine Ohrfeige aber hier im Kaffeehaus würde ich dir, glaube ich, als Un freundlichkeit ankreiden. Ein Schlag von dir ins Gesicht wäh rend des Fickens ist für mich ein Hochgenuß, weil dem Schlag deine Worte vorangehen: Sag bitte, daß ich dich schlagen soll. Du müßtest einmal hören, wie du das sagst; das klingt für mich jedesmal wie eine Liebeserklärung. Du bist auch in die sem Fall, sagte Maria, so ahnungslos, wie es nur ein Mann zu sein vermag. Du liebst an meinen Schlägen, ob es dir bewußt
ist oder nicht, daß ich nicht wirklich zuschlagen kann. Du ziehst Lust einzig daraus, daß ich dich schlage und dabei de monstriere, daß ich nicht nur dich nicht, sondern überhaupt niemanden schlagen kann. Seit meiner Kindheit, sagte Maria, schreckt mich nichts so sehr wie körperliche Gewalt; als sol che empfinde ich schon, wenn jemand schreit. Ich erstarre vor Entsetzen, kalter Schweiß dringt aus den Füßen und steht vier telstundenlang in meinen Schuhen. Und wenn jemand auf einen anderen einschlägt, glaube ich, vor Schreck sterben zu müssen. Mir graut, wie du weißt, sogar vor der Darstellung von Gewalt; deshalb ertrage ich nur wenige Filme, und von diesen sind die meisten aus anderen Gründen unerträglich; so daß ich die Filme, die ich mag, an den Fingern einer Hand abzählen kann, und die schaue ich mir auch immer wieder an, am liebsten, zu deinem Leidwesen, mit dir. Sehr langsam nur, sagte Maria, läßt diese Angst vor Gewalt nach, und das sicher nur, weil du mir erlaubst, dich zu schla gen, so daß ich heute angesichts von Gewalt nicht mehr in Panik falle wie in Kindheitstagen, als ich den bloßen Gedan ken an Gewalt überhaupt nur ertrug, indem ich fortwährend redete, entweder vor mich hin oder in mich hinein, ein Mittel, das mir dann auch gegenüber meinem Cousin half. Du weißt, daß der mich, als ich vierzehn war, zu erpressen begann. Er setzte den Schmuck, den ich meiner Mutter stahl, in Geld um, und dafür mußte ich ihm zu Willen sein, einmal die Woche, auch dann, wenn ich einmal nicht an die Schatulle der Mutter herankam. Einmal die Woche, das sei die Abmachung, daran hätte ich mich zu halten, er arbeite ja auch prompt; deshalb mache er pünktlich von seinem Recht auf eine Nummer, wie er sich ausdrückte, Gebrauch, selbst dann, wenn er keine Lust darauf habe. Während dieser sogenannten Nummer redete ich pausenlos, um nicht aus Angst vor diesem gewalttätigen Schwein verrückt zu werden. Zuerst redete ich in mich hinein. Er fragte mich, warum ich die Lippen ständig bewege. Ich sagte, ich würde reden, damit die Zeit schneller vergehe. Dar auf verlangte er, daß ich laut rede. Was ich rede, sei nicht von
Interesse, habe ich ihm versichert, weil ich gar nicht wirklich rede, sondern nur den Inhalt eines Buches nacherzähle, das ich eben gelesen habe. Gerade das wolle er hören. Das sei nichts Interessantes, habe ich ihm versichert, kein Roman, keine Geschichte, nichts, was außer mir jemanden interessieren würde. Das ließ der Cousin als Argument nicht gelten; also habe ich ihm die Wahrheit gesagt. Das fiel mir umso leichter, als der Cousin mich auch während dieses Gesprächs vögelte, was ich, da ich dabei redete, als weniger lästig empfand. Ich sagte zu ihm, daß ich seit meinem vierten Lebensjahr Gei ge spiele, fast zehn Jahre schon und einigermaßen gut, mitun ter sogar gern. Seit einiger Zeit würde ich mit meinem Lehrer die Sonaten für Violine allein von Johann Sebastian Bach einstudieren; ich hätte diese Sonaten so wunderbar gefunden, daß ich mich nach dem Komponisten erkundigte. Mein Lehrer habe mir zwei Bücher geborgt, eins über das Leben Bachs, eins über die Entstehungsgeschichte der Sonaten. Mein Cou sin, sagte Maria, bestand darauf, daß ich ihm während des Vögelns die Lebensgeschichte des Johann Sebastian Bach laut vorerzählte; als aber meine Erinnerung an diese Biographie erschöpft war, erfand ich Reisen; am ausführlichsten schilder te ich die Reise des Johann Sebastian Bach nach Sizilien. Sizilien, das war für mich Vierzehnjährige das ersehnte Land, nicht nur wegen jener Landschaftsaufnahme, die ich in einem der Wandkalender fand, welche mein Vater zu jedem Jahres wechsel haufenweise nach Haus schleppte, sondern vor allem wegen des Wortklangs: Sizilien, das hellste Wort, das ich je gehört hatte, ein glänzendes, ein weißes Wort, zu dem ich mir die entsprechende Landschaft und die entsprechenden Häuser vorstellte, weiße Häuser, eine sonnige Landschaft, in die ich mich immer dann hineinversetzte, sagte Maria und trank den letzten Schluck Kaffee, wenn das dumpfe, unappetitliche Grün um mich herum meine Seele derart niederdrückte, daß jeder weitere Blick aus dem Fenster meines Zimmers, vor welchem das Grün sich fett aufpflanzte, sie ausgelöscht hätte. Und wenn ich den Blick hob, prallte er gegen eine grüne
Wand: den Schloßberg. Es befremdete mich nicht wenig, sag te Maria, als die neue Opposition sich ausgerechnet die Grü nen nannte und auch noch alternativ zu sein versprach, als könnte Grün eine Alternative sein. Für mich ist Grün nur be drückend; deprimierender, sagte Maria, wirkt auf mich nur noch der Sprecher der Grünen, Herr Schwamm, der Brandre den von solch nervtötender Betulichkeit hält, daß der rhetori sche Brand schon erstickt, ehe nur ein einziges Mal Feuer in die Höhe züngelt; obendrein ist er ein Schwindler, der sich als Gewissen der Nation ausgibt, sich dann aber als Militarist und als nationales Gewissen entpuppt. Ich warf Maria, damit sie sich nicht völlig verliere, das Wort Sizilien zu. Ja, sagte sie, doch ihr abwesender Blick meinte nein. Ja, sagte sie, der Cousin; ihn ereilte ein angemes senes Schicksal: Meine Mutter verschaffte ihm, obwohl er vom Alkohol so zerrüttet war, daß er nicht einmal mehr zum Kriminellen taugte, in Wien Arbeit im Europa-Institut. Für ihn wurde sogar eine eigene Abteilung eingerichtet, im Institut die Dialoggruft genannt. Diese Abteilung, sagte Maria, hatte für das Zusammentreffen von Marxisten aus dem offiziellen Ost europa, als es noch sozialistisch war, mit den Christen des offiziellen Österreich zu sorgen, eine Aufgabe, welcher der Cousin ohne weiteres gewachsen war, denn das offizielle Ost europa schickte keine Marxisten, sondern Verkünder von Glaubenssätzen, und das offizielle Österreich keine Christen, sondern ebenfalls Prediger, so daß auf den Hunderten Sympo sien, die der Cousin leitete, der Dialog aus stummem Einver ständnis bestand: Man konnte unter der fachkundigen Anlei tung meines Cousins sofort zum tieferen Zweck der Veranstal tung kommen, sich besinnungslos zu betrinken und dann ver brüdert nach Haus zu fahren. Der Cousin, sagte Maria, versteifte sich fanatisch darauf, daß ich während des Geschlechtsverkehrs laut und deutlich die Lebensgeschichte des Johann Sebastian Bach vortrug. Er meinte wohl, mich damit noch mehr quälen und demütigen zu können, was ihn aber nicht, wie ich anfangs dachte, geiler
machte, sondern was nur seine Bosheit steigerte. Das sonst glatte und runde Babygesicht des Zwanzigjährigen verzerrte sich zu einer altersbösen Fratze, die ich mir, während ich Bachs Lebensgeschichte erzählte, in aller Ruhe anschaute, ohne daß er meinen Blick erwidern konnte, denn die Fratze war ohne Augen, die fetten Wangen hatten sie verschluckt, so daß der Cousin zu meinem Glück nicht sehen konnte, daß ich, wenn ich laut erzählte, weniger litt. Ich durfte nur nicht mit dem Reden aufhören, und um mich nicht zu wiederholen, mußte ich Bachs Lebensgeschichte ausschmücken. Ich erfand Reisen, mit Vorliebe schickte ich Bach nach Sizilien; ich ließ ihn mit Worten, die meine waren, Land und Häuser schildern, nur das Land und nur die Häuser; von den Menschen dort mir ein Bild zu machen, dazu regte mich das Wort Sizilien eigen artigerweise nicht an. Und noch einen Vorteil bescherte mir das laute Erzählen: Der Cousin, da er mich von sich abhängig wußte, verzichtete nicht darauf, mir zu seiner Abwechslung das Glied in den Mund zu stecken; zum Glück war es nur daumenlang, sonst hätte ich mich wohl erbrochen. Der Cousin gierte aber auch danach, mich unermüdlich erzählen zu hören - das muß auf ihn den Eindruck gemacht haben, hier rede eine um ihr Leben -, wes halb er davon abließ, mir mit seinem unappetitlichen Däum ling in meinem Mund herumzurühren, wie er überhaupt, wenn ich laut erzählte, mit seinem Unterleib außerhalb meines Ge sichtsfeldes blieb. Deine Ansicht, sagte Maria, von uns beiden sei ich diejenige, welche die Sprache beherrscht, dein Ton, in dem du von Sprache-Beherrschen redest, als würde ich mit der Sprache andere tyrannisieren, deine Unterstellung, mir, dem großbürgerlichen Kind, sei das herrschaftliche Lied ja schon an der Wiege gesungen worden, die sind absolut nicht ange bracht; für mich bedeutete Sprache Schutz vor Gewalt. Mein Gott, sagte Maria leise, hoffentlich hat der Mann hin ter mir nicht zugehört. Der Pressefotograf, sagte ich, sei be reits gegangen. Das hätte ich doch sehen müssen, sagte Maria; sie drehte sich um, niemand saß an dem Tisch. Wozu diese
Lüge? fragte sie. Es ist immer das gleiche, antwortete ich, wenn mir eine Si tuation zu gefährlich wird, erfinde ich eine andere, die mir zu Hilfe kommt. Ich mache das bereits automatisch, deshalb kann von Lüge nicht die Rede sein. Hätte ich den Pressefotografen nicht erfunden, hättest du mir vielleicht eine Ohrfeige gege ben. Wie oft schon hast du gespottet, ich würde Geschichten in der Hoffnung erfinden, daß die Geschichte dadurch einen anderen als den voraussichtlichen Lauf nimmt. Du kannst jetzt nicht so tun, als wäre dir das neu. Ärgerlich ist aber, sagte Maria, daß du zwischen dem Erfinden von Geschichten und dem Erzählen von Lügen immer weniger unterscheiden kannst und daß ich dann nicht mehr weiß, wor an ich bin. Du Arme, sagte ich, fünfunddreißig Jahre kennen wir uns, und die ganze Zeit über, bis heute, hast du mich im unklaren gelassen über deine Angst; und beklagst dich, nicht zu wissen, woran du seist. Und ich wußte die ganzen fünfund dreißig Jahre nicht, was Sprache und Sprechen für dich bedeu teten. Oft sah ich zwar, wie deine Lippen zitterten, und da ich das selbst nur kannte als Begleiterscheinung von Schüttelfrost, fragte ich dich jedesmal: Hast du Fieber? Und du hast genickt. Ich wunderte mich nur, wie rasch das Fieber vorüberging. Ich möge doch nicht Besorgnis heucheln, sagte Maria, nach ihrer Erinnerung sei ich nur ein einziges Mal wirklich beunruhigt gewesen, damals hätte ich sie fest umschlungen in der Mei nung, sie werde besonders schwer vom Fieber geschüttelt, wahrscheinlich würde ich mich an diesen Fall gar nicht erin nern. Doch, sagte ich, es war am Cheyenne River. Maria schaute mich überrascht an. In diesem Augenblick mußte ich mich am Sessel festhalten, um nicht aufzuspringen: Ein Radioredakteur betrat das Cafe. Er hatte mich zu spät gesehen und drängte sich an unserem Tisch vorbei. Ich nutzte die Gelegenheit und spuckte vor ihm aus. Der Redakteur verneigte sich vor Maria - sie genoß bei Journalisten mehr Respekt als der Kanzler, denn nur über Maria kamen sie an ihn heran -, die den stummen Gruß stumm
erwiderte und nun fassungslos beobachtete, wie ich mich, um gegen den Redakteur nicht auch noch tätlich zu werden, an den Sessel klammerte. Der Redakteur steuerte auf den Burg theaterdirektor zu, der ihm allerdings in aufgeregter Zeichen sprache zu verstehen gab, daß er jetzt kein Interview geben könne, da Herr Bernhard schlafe und nicht geweckt werden dürfe. Dem Redakteur blieb keine andere Wahl, als sich abermals, nun drehte er mir den Rücken zu, an unserem Tisch vorbeizuquälen. Das Bild, stellte ich fest, das ich mir von ihm gemacht hatte, entsprach immer noch der Wirklichkeit, ob wohl die Begegnung, die nicht länger als eine Viertelstunde gedauert hatte, zehn Jahre zurücklag. Immer noch vermochte der Redakteur in alle vier Himmelsrichtungen gleichzeitig zu schauen und dadurch den Eindruck eines umsichtigen Men schen zu vermitteln; immer noch drückte seine lockige Mähne kulturelle Aufgeschlossenheit aus und sein fliehendes Kinn geistige Toleranz. Das Manuskript, hatte er damals zu mir gesagt, sei in Ord nung, er werde drei halbstündige Sendungen daraus machen, er müsse mich aber um kleine Ergänzungen bitten. Ich möge in Abständen von zwei Manuskriptseiten die Diskriminierung der Indianer betonen, die sei ihm zu beiläufig abgehandelt. Ich hatte es mit dem Redakteur zuerst im Guten versucht: Jeder wisse von der Diskriminierung der Indianer in den USA; aus meinem Bericht gehe hervor, daß die Lebensbedingungen, die die Weißen den Indianern aufzwingen, miserabel seien; das anklagend in den Vordergrund zu stellen, widerstrebe mir, dies könnten die Indianer selbst weitaus besser; viele Schriften würden davon zeugen, man brauchte sie nur zu übersetzen und zu senden. Mein Manuskript sei ein Erfahrungsbericht, ich aber könne mich nicht als Diskriminierten bezeichnen, dis kriminiert würde ich hier in Österreich, in dieser Redaktion, und ich könnte ihm, dem Herrn Redakteur, darüber gern einen Erfahrungsbericht anfertigen. Gut, gut, hatte er gesagt, Sie sind ja nicht vom Fach, be trachten Sie Ihre Arbeit als abgeschlossen, Sie erhalten von
uns ein entsprechendes Honorar, und ich werde, wo nötig, die Diskriminierung selbst hineinbuttern. Hineinbuttern, hatte er gesagt. Nein, hatte ich geantwortet, das können Sie nicht ma chen. Doch, hatte er gesagt, wir arbeiten ja nicht für uns, son dern für die Hörer; und die Hörer wissen von den Indianern, was wir wiederum aus Umfragen wissen, daß Indianer diskri miniert werden; und unsere Hörer wollen ja nicht nur Neues im Radio hören, sondern zu ihrer Selbstbestätigung auch das, was sie bereits wissen. Das mit der Diskriminierung, das ma che er schon. Nein, hatte ich gesagt. Darauf hatte er schlagartig seine Freundlichkeit verloren und geschrien, ob ich besser wisse als er, was seine Hörer hören wollten. Ich hatte mein Manuskript zu mir genommen und, mich zur Ruhe zwingend, zum Redakteur gesagt: Ihre Hörer, die können Sie sich, wie sie sind und alle auf einmal, in den Arsch schieben. Dann hatte ich ausgespuckt und war gegan gen. Er folgte mir so knapp, daß ich seine Tiraden, in denen fortwährend das Wort Konsequenzen vorkam, buchstäblich im Genick spürte, und ich rechnete bereits damit, daß der Redak teur auch noch handgreiflich werde. Ich würde ihn dann, so viel Wut hatte sich in mir aufgestaut, diesen ganzen langen Gang hinunterschleudern, das traute ich meinen damals noch kräftigen Händen zu, die als Folge von vier Jahren Arbeit am Bau Schaufeln ähnlicher sahen als menschlichen Gliedmaßen. Nachdem der Redakteur das Cafe Bräunerhof verlassen hatte, verwischte ich die Spucke mit dem Schuh und sagte rasch, um einer Rüge Marias zuvorzukommen: Es war am Cheyenne River. Und weiter? fragte sie. Wir hatten, sagte ich, die Black Hills verlassen und wanderten den Cheyenne River entlang Richtung Missouri. Wir gingen zügig, und doch war mir, als würde ich mich nur noch dahinschleppen. Nach vier Jahren hatten wir nun auch die Black Hills durchstreift, ohne Groß mutter gefunden zu haben, und seitdem fühlte ich mich nur noch entsetzlich niedergeschlagen. Wahrscheinlich hing das auch mit dem quälenden Durst zusammen, denn in dieser Ge gend lagen die Wasserstellen, an denen wir unsere Flaschen
auffüllen konnten, sehr weit, nicht selten in Tagesabständen, voneinander entfernt. Im Unterschied zu dir, die du zum Le ben ja keine Flüssigkeit brauchst, litt ich halbe Tage lang un ter Durst und glaubte schon, meine Kräfte würden mich end gültig verlassen, als wir völlig überraschend in wenigen hun dert Metern Entfernung eine Farm erblickten, die auf der sonst sehr genauen Karte nicht eingezeichnet war. Mein erster Gedanke: Wasser. Im Näherkommen entdeckte ich den in dieser Gegend charakteristischen Ziehbrunnen mit dem kegelförmigen Schindeldach über dem Schacht; ich be schleunigte meinen Schritt und wollte vorausgehen, da hörte ich ein Gebrüll, wie es kein Vieh, wie es nur ein rabiater Mann auszustoßen vermag. Ich ging, als wollte ich bei dir Schutz suchen, die drei Schritte zurück, wo du, den Blick ent setzt auf das Farmhaus gerichtet, wie regungslos gestanden bist. Wüst schreiend trieb ein Mann einige Kinder aus dem Farmhaus, indem er nach ihnen trat und sie dann auch noch mit einem Stock schlug. Ich wollte den Kindern zurufen, sie sollten davonlaufen, denn ich dachte mir, alle auf einmal könnte der Mann nicht fangen, da sah ich den Revolver an seiner Hüfte: sehr wohl aber könnte er auf alle schießen. Die Kinder mußten sich um die kreisrunde Brunnenmauer aufstellen, sechs konnte ich zählen, zwei in Röcken, vier in Hosen, an die zehn Jahre alt schienen sie zu sein; dann teilte er die Kinder in zwei Gruppen, ein Mädchen und ein Bub blieben dort, wo sie standen, die anderen trieb er auf die gege nüberliegende Seite des Brunnens, so daß die vier den zweien Aug in Aug gegenüberstanden. Nachdem er sie mit dem Stie fel ins Gesäß getreten hatte, zwang er die beiden, das Mäd chen und den Buben, die Oberkörper zu entblößen, offensicht lich hatte er vor, sie mit Schlägen auf den Rücken zu züchti gen. Er holte tatsächlich mit dem Stecken aus, bedächtig, wie in Zeitlupe. In diesem Augenblick, sagte ich zu Maria, hast du meine Hand gepackt und mich fortgerissen und bist gerannt und gerannt. Als du endlich eingehalten hast, bist du zu Boden gesunken, kreidebleich, und deine Lippen zitterten. Hast du
Fieber? habe ich gefragt, und du hast genickt. Damit das Zit tern nicht deinen ganzen Körper erfaßt, habe ich dich in meine Arme genommen und fest gehalten. Maria schwieg. Wieder war sie mit den Augen bei mir, doch mit den Gedanken woanders. Ich wollte einen Schluck Kaffee trinken, die Tasse war leer. Ich wollte einen Schluck Wasser trinken, das Glas war leer. Nirgendwo, sagte ich laut, habe ich so viel Durst gelitten wie auf dem Weg vom Chey enne River zum Missouri; außer in diesem Kaffeehaus.
Dieser Schurke muß mich gehört haben, dachte ich, als der Ober, kaum hatte ich ausgeredet, uns die Rechnung auf den Tisch knallte. Gewiß, wir hatten heute sein Gebot, uns ge dämpft zu unterhalten, nicht wie gewöhnlich einmal, sondern mehrfach gebrochen; uns deshalb aber die Rechnung zu brin gen, nach der wir noch nicht verlangt hatten, empfand ich als Rausschmiß. Maria ging über das Benehmen des Obers hin weg und bestellte ein Soda-Himbeer und einen Topfenkuchen. Als wäre er einer Ungehörigkeit einem Gast gegenüber nie mals fähig, entfernte der Ober sich mit den Worten: Sehr gern, gnädige Frau, sehr gern. Zurück kam er nicht nur mit dem Bestellten, sondern auch mit einer Nachricht: Das Bundes kanzleramt, die gnädige Frau werde am Telefon verlangt, dringend. Ersparen Sie mir den Weg, sagte Maria, und geben Sie Bescheid, daß ich rechtzeitig zurück sein werde. Rechtzei tig, sagte der Ober, sehr gern. Mich wunderte Marias Gleichmut. Es könnte sich, sagte ich, wenn das Kanzleramt nach ihr verlange, tatsächlich um eine dringende Angelegenheit handeln. Daran zweifle sie nicht; sie habe sich auch vor ihrer Bestellung zur Hauptberaterin ver pflichtet, den Kanzler rund um die Uhr zu umsorgen. Man müsse, da habe sie sich nie einer Illusion hingegeben, jeder zeit damit rechnen, daß der Kanzler, auf sich gestellt, politisch über die eigenen Füße stolpere und dann mit seinem Quadrat
schädel gegen den Mostschädel des Oppositionsführers pralle, mit einer Wucht, daß das ganze Land von einem Gongschlag aufgeschreckt werde. Sie habe sich deshalb verpflichtet, dem Kanzler nicht nur rund um die Uhr, sondern auch täglich, die Sonn- und Feiertage eingeschlossen, zur Verfügung zu stehen - ausgenommen allerdings die Mittagspausen, die seien ihr heilig. Sie bemesse auch deren Länge selbst, und nichts auf der Welt, weder der drohende Zusammenbruch des Staates, noch die Drohung des Kanzlers, allein eine Entscheidung zu treffen oder eine Rede aufzusetzen, könne sie veranlassen, auf diese Annehmlichkeit zu verzichten. Die Mittagspause sei ihr auch deshalb so wichtig, weil sie um diese Zeit am wachsten sei; da habe sie die Trägheit des Morgens bereits überwunden, sei aber von der Müdigkeit des Nachmittags noch nicht befal len. Wäre ich Kanzler, sagte ich, würde ich solche Allüren nicht dulden; wenn sie, Maria, tatsächlich eine so wichtige Rolle im Staat spiele, wie sie mir das oft und ohne Ironie versichert habe, könne sie doch nicht ausgerechnet dann, wenn das Staatswesen auf Hochtouren laufe, Pausen einlegen. Dir fehlt, sagte Maria, der Einblick; das österreichische Staatswesen läuft zu keiner Zeit auf Hochtouren, es bewegt sich die meiste Zeit im Leerlauf, das aber intensiv. Das Staatsoberhaupt verstärkt den Leerlauf noch: Mit der Aufgabe betraut, Kontakt zu anderen Staatsoberhäuptern zu suchen, betritt es sein Amt nur, um dort mit sich selbst zusammenzu treffen. Und dieses Beispiel, sagte Maria, macht täglich Schu le; für die Außenpolitik wurde ein Minister bestellt, der zuvor nicht nur in der Parteipolitik sein Unvermögen, sondern auch in der Innenpolitik seine Unzurechnungsfähigkeit auf eine Freund und Feind überzeugende Art bewiesen hatte, ein poli tischer Schachzug, der übrigens seiner Partei die letzten Sym pathiebezeugungen eintrug, denn nichts, sagte Maria, stellt die Österreicher in ihrer Ausländerfeindlichkeit mehr zufrieden als ein sowohl unfähiger als auch unzurechnungsfähiger Au ßenminister.
Ich sah das anders, ich meinte, die Ausländerfeindlichkeit resultiere daraus, daß die Schwächsten der Gesellschaft, In länder, die ihren Arbeitsplatz verloren haben oder um ihn bangen, gegen die Allerschwächsten, vollkommen mittellose Ausländer, in einen Kampf ums Überleben gehetzt würden. Maria fand mich bedauernswert; ich würde, warf sie mir vor, meinen geistigen Horizont der landesüblichen Enge im mer mehr anpassen. Statt aufzubrausen, gestand ich die Wahr heit: Seit Monaten, sagte ich, suchen mich Alpträume heim; wenn ich morgens im Völkerkundemuseum meine Arbeit aufnehmen will, ist mein Arbeitsplatz bereits von einem Aus länder besetzt, der kein Wort Deutsch kann, mit Ausnahme des einen Satzes, den er, und das wiederholt sich von Alp traum zu Alptraum, mit einem nicht nur freundlichen, sondern geradezu liebenswürdigen Lächeln deklamiert: Es sei für die Arbeit, die er nun an meiner Stelle mache, nicht nötig, auch nur ein Wort Deutsch zu können. Der Ausländer, sagte Maria, dem du in deinen Träumen bege gnest, bist du selbst; die deutsche Sprache wird sich ja jedem anderen eher erschließen als dir, der du schweigen, doch nie reden gelernt hast. Du, der typische Ausländer, hoffst wahr scheinlich zurückkehren zu können in die Provinz, zu dem widerwärtigen Baumeister, um wie früher für ihn Kanal schächte zu graben, anstatt die passenden Worte zu finden über jenen Mann und jene Arbeit. Es ergeht dir darin, sagte Maria, nicht anders als jedem Österreicher: Er erkennt zu sei nem Entsetzen im Ausländer sich selbst. Das klang neu für mich, und Maria gestand auch gleich, zu diesem Gedanken von ihrem Mann angeregt worden zu sein. Die Österreicher, sagte sie, sind sich fremd; aus Gründen, die ich selbst noch nicht kenne, wollen sie unter allen Umständen anders sein, als sie sind; sie wollen nicht slawisch, jüdisch, romanisch und umgänglich sein, sondern deutsch und tüchtig; statt sich an den Annehmlichkeiten ihrer niederen Zivilisation zu erfreuen, streben sie nach der Barbarei der deutschen Kul tur. Da sie es aber nicht schaffen, deutsch und tüchtig zu sein,
hassen sie sich und empfinden sich als Ausländer im eigenen Land, die hier im Grunde nichts verloren haben. Deshalb rot ten sie sich durch Selbstmord und Selbstzerstörung aus, zu einem Prozentsatz, sagte Maria, der nirgendwo sonst in der Welt erreicht wird; und die verbliebene Bevölkerung würde statt sich selbst lieber andere ausrotten. Der Österreicher, fuhr Maria fort, sich selbst fremd und des halb voll Haß gegen sich, treffe, wenn er auf einen Fremden stoße, auf sich selbst, und das treibe ihn zur Raserei. Er ver nichte den Ausländer, um das eigene Spiegelbild nicht sehen zu müssen. Das Schrecklichste daran aber sei, daß der Öster reicher einen Ausweg aus seiner Verzweiflung entdeckt habe: wenn schon nicht deutsch und tüchtig, dann wenigstens deutschnational und gewalttätig. Da er sein stärkstes Bedürf nis nie befriedigen könne, nehme er, sagte Maria, die Befrie digung jenes Ersatzbedürfnisses selbst in die Hand und über treffe, wenn er als gewalttätiger Deutschnationaler auftrete, jeden Deutschen an Mordlust und Brutalität. Schon möglich, sagte ich uninteressiert - ich konnte es nicht leiden, daß Maria ihren Mann ausführlich zitierte -, wenn aber die Österreicher in ihrer Ausländerfeindlichkeit so weit gehen, sogar Außenpolitik abzulehnen, wozu wird dann ein Außen minister beschäftigt? Man könnte dieses Ministerium einspa ren und mit dem Geld die Grenze hermetisch abriegeln. Du bist nicht der erste, sagte Maria, der sich diese Frage stellt; es gab auch mehrere Versuche, den Außenminister in ein Pflege heim abzuschieben, doch sie scheiterten, nicht am Minister, sondern an den Heimen: keines wollte seinen Ruf wegen die ses Mannes aufs Spiel setzen. Ich werde nie verstehen, sagte ich zu Maria, daß du dir ausge rechnet diesen Staat als Arbeitgeber ausgesucht hast. Du ahnst nicht, sagte sie, wieviel sich dort verdienen läßt; als ich meine erste Stelle in Österreich antrat, wurde die Regierung eben mit einer ausländischen Studie konfrontiert, die sie selbst in Auf trag gegeben hatte, eine Studie, die zu dem Ergebnis kam, daß heimische Delegationen, ob politische oder wirtschaftliche,
aus einem einfachen Grund erfolglos nach Haus kommen: Sie werden nicht verstanden. Sprechen sie deutsch, bleiben dieje nigen Ausländer, welche bislang der Meinung waren, sie seien des Deutschen mächtig, ratlos zurück; versuchen sie es mit Englisch, weicht die Ratlosigkeit dem Entsetzen. Diese Stu die, sagte Maria, hat der Regierung zu denken gegeben. Zu denken! sagte sie lachend, als wäre ihr ein Witz gelungen; und zum vorbeigehenden Ober bemerkte sie, der Topfenkuchen, den er ihr serviert habe, sei nicht zu essen. In dieser Situation, sagte sie, arbeitete die Regierung nicht nur einen Notstands plan aus für die Zeit, zu der Österreich völlig isoliert sein werde, sondern sie suchte auch nach einem Ausweg; sie fand ihn in mir, der Vielsprachigen, der noch dazu das Ausland vertraut war. Das ließ ich mir entsprechend honorieren. Entsprechend? fragte ich, im ganzen Staat verdienen nur noch der Bundespräsident und der Kanzler mehr als du. Sie wisse, sagte Maria, ich würde ihr Geldgier nachsagen, ich würde eben nicht begreifen, daß sie bloß der Logik des österreichi schen Systems folge. Man buckle vor ausländischem, insbe sondere vor deutschem Geld, bitte es, doch ins Land zu kom men und sich hier breitzumachen, in der Hoffnung, selbst kein Geld verdienen zu müssen, sondern es sich einfach vom Staat zu holen. Das österreichische Bürgertum habe bis auf den heutigen Tag nur diese eine Moral entwickelt, und nicht an ders hielten es die Unternehmer. Sie forderten zwar einerseits als Menschenrecht, ihren Reichtum auf Kosten anderer zu mehren, würden dieses geistlose und primitive Tun auch als Inbegriff menschlicher Freiheit hinstellen, hätten aber weder Absicht noch Fähigkeit, selbst unternehmerisch etwas zu lei sten. Mit ganz wenigen Ausnahmen könnten ihre Betriebe nur mit staatlicher Hilfe aufrechterhalten werden. Dazu komme, sagte Maria, daß der klassische österreichische Industrielle Arbeiter und Angestellte abgrundtief verachte und am liebsten als Kulturmensch auftrete, der sich sogar zu fein sei, andere auszubeuten. Er betrachte nicht nur sein Unternehmen, son dern den ganzen Staat als sein Privateigentum und hole sich
von dort seinen Gewinn in Form von Subventionen. Und sie, sagte Maria, habe dieses perverseste Unternehmertum, das sich auf der ganzen Welt finden lasse, auf die Spitze getrie ben, indem sie sich mit ihrer Ein-PersonenKanzlerberatungsfirma in den Staat selbst eingenistet habe. Ein solcher Staat lasse einem ja nur die Wahl, entweder von ihm ausgeplündert zu werden oder ihn auszuplündern. Oder aber man schaffe ihn ab; zu verbessern jedenfalls gebe es dar an nichts. Noch während Maria sprach, kam der Ober mit einem Stück Joghurttorte, blieb neben dem Tisch stehen und hörte auf merksam zu. Wohl auch deshalb brach Maria ihre Erläuterung ab. Ich habe, sagte der Ober, Ihrem Sekretär Bescheid gesagt. Maria bedankte sich bei ihm, dennoch ging der Ober nicht weg. Offenbar erwartete er nach dem, was er aus Marias Mund gehört hatte, von mir eine heftige Reaktion; er blieb gleich stehen, um mich unverzüglich ermahnen zu können. Ich nahm mir zwar vor, dem Ober einen Wink zu geben, daß er als Zuhörer nicht erwünscht sei, brachte es aber nicht zustande. Sosehr mir Marias Tonfall gegenüber Kellnern miß fiel, sosehr ärgerte mich an mir, daß ich in jedem Kellnerlehr ling, von einem Ober gar nicht zu reden, eine Respektsperson sah. Ich fühle mich offenbar schon dadurch schuldig, dachte ich, daß ich mich in einem Lokal bedienen lasse. Selbst wenn ich ungenießbares Essen serviert bekomme, fällt mein Protest so zaghaft aus, daß ich obendrein noch mit der Belehrung abgespeist werde, es handle sich bei dem Essen durchaus nicht um einen Fraß, sondern um richtige Wiener Küche. Wiener Küche, dachte ich, für mich mittlerweile ein Schrek kenswort, wie anderswo Cholera und Pest Schreckenswörter sind. Wiener Küche, dachte ich, eine Seuche, an der in diesem Land wahrscheinlich mehr Menschen sterben als durch Selbstmord. Wohl deshalb wird in die Welt hinausposaunt, daß Österreich bei Selbstmorden eine führende Stelle einneh me, um vor der Welt zu verbergen, wie viele Tote auf das Konto der Wiener Küche gehen. Diese These schien mir der
Wirklichkeit näher zu kommen als jene Gedanken, die Maria vorhin als die ihres Mannes zum besten gegeben hatte. Jeder Fremde sieht ja schon beim ersten Blick auf dieses Land, daß es eine durchaus lebenswertere Möglichkeit sein kann, sich umzubringen, als mit den gegenwärtigen Repräsentanten von Politik, Wirtschaft und Kultur die Gegenwart zu teilen, wes halb von Fremden die noch größere Gefahr, die Wiener Kü che, leicht übersehen wird. Ich hatte mir nun so viel Mut zugesprochen, daß ich dem Ober, der immer noch an unserem Tisch auf eine unziemliche Reaktion von mir wartete, ein leeres Glas in die Hand zu drücken wagte, so daß er keine andere Wahl hatte, als uns allein zu lassen. Ich wollte Maria endlich sagen, daß ich sie, anders als sie sich selbst, keineswegs als Opfer dieses Systems sehe, doch sie war schneller. Sie sei, sagte sie, vorige Woche im Traum gestorben, ob mir das auch schon einmal passiert sei. Zum ersten Mal habe sie unzweideutig den eigenen Tod geträumt, früher sei das immer ein Schwanken zwischen Le ben und Tod gewesen. Diesmal aber sei sie an ihrem eigenen Sterbebett gesessen wie schon so oft und habe zu sich gesagt, sie möge doch endlich die Hoffnung aufgeben, ihre Mutter auch nur um einen Tag zu überleben, diesmal sei sie, Maria, auf diese Worte hin tatsächlich gestorben und habe, am Ster bebett sitzend, sich, der Toten, die Hand gehalten. Nein, sagte ich, bis zum Tod bin ich im Traum noch nie vor gedrungen, und ich furchte allmählich, daß mir das auch nicht gelingen wird. Alles habe ich schon versucht, habe mich vom Felsen gestürzt, bin im Fluß versunken, bin von einem Auto bus angefahren und von einer Giftschlange verfolgt worden, doch ehe ich starb, erwachte ich. Das verwundert mich umso mehr, als meine Erinnerung immer weiter zurückreicht, wo hingegen meine Träume nicht und nicht bis zu meinem Tod vordringen wollen. Meine Erinnerung, sagte ich, reicht zurück bis zu Dingen, an die es gar keine Erinnerung geben kann. Sie reicht nun schon zurück bis zu meiner Geburt: Ich bin ein Neugeborenes, das
noch nicht sehen kann, und ich sehe eine Frau, die sich alle Mühe gibt, freundlich mit mir umzugehen. Das Gesicht ist breit und gemütlich, die Augen darin aber regungslos und kalt. Löcher, Gewehrmündungen, Austrittsöffnungen. Und es tritt tatsächlich etwas heraus: ein Gedanke. Er hat die Gestalt einer Warze, aus der ein Haar hervorwächst, an dessen Ende eine blaue Flamme brennt. Dieser Gedanke in dieser Gestalt be wegt sich auf mich zu, der ich, gerade zur Welt gekommen, winzig und spindeldürr, über und über behaart, auf einer Win del liege; er kommt immer näher, ich spüre schon die Hitze der Flamme, die vorn so spitz züngelt wie die Flamme eines Schweißbrenners, und schließlich ist er, der Gedanke, so nahe, daß die Flamme die Haut meiner Brust versengt. Vor Schmerz brülle ich auf, und die Flamme erlischt vor Schreck. Sie hin terläßt am Ende des Haares eine mundartige Öffnung, aus der, damit der Gedanke nicht nur seine qualvolle Form, sondern endlich auch seinen entsetzlichen Inhalt preisgeben kann, eine Stimme spricht: Ich, die Hebamme, habe, damit du zur Welt kommen konntest, Beistand geleistet; nun bist du schrecklich erweise da; wenn du dich sehen könntest, würdest du dich nicht wundern, daß ich für dich keinen Finger mehr rühre; du kannst froh sein, daß ich nicht Hand an dich lege, während deine Mutter noch vor Erschöpfung schläft; unsere Zeit braucht Lichtgestalten, nicht solche Erdwürmer wie dich. Wieder brülle ich, so durchdringend nun, daß meine Sinnesor gane sich öffnen, auch die Augen, und sie sehen, wie der Ge danke in sein Versteck, in die Augenlöcher, hineinhuscht. Zum Glück, sagte ich zu Maria, geht meine Erinnerung nicht auch noch vor meine Geburt zurück; sie hält sich aber weiterhin in der frühesten Kindheit auf, in einer Zeit, von der ich nichts weiß, so daß sie, die Erinnerung, als wäre sie ein zweites, von mir unabhängiges Ich, mich mit Geschichten, die nicht wahr sein können, als mit wahren Geschichten konfron tiert: Sie tischt mir auf, ich hätte Geschwister gehabt, vier sogar, zwei Schwestern und zwei Brüder, und ich sei der Jüngste und einzig Überlebende; die Ermordung meiner Ge
schwister habe im Jahr 1943 stattgefunden, Täterin sei, zeit lich unmöglich, ich weiß, die heutige Familienministerin ge wesen; bald nach der Tat schon erfuhr ich davon, und zwar im Kino. Meine Mutter schob mich, den Dreijährigen, im Kinderwagen in den Kinosaal, stellte den Wagen so, daß ich gut zur Lein wand sah, und ging weg. In der Wochenschau, dem Vorpro gramm zum Film, sah ich einen Fliegerangriff auf den Amts sitz des heutigen Bundespräsidenten: Kampfflugzeuge aus dem Zweiten Weltkrieg setzen zum Sturzflug an, der Adjutant des heutigen Bundespräsidenten will diesen in Sicherheit bringen, doch der wehrt sich, reißt sich los, eilt zum Fenster und öffnet es; mit großen Gesten lädt er die Kampfflieger ein, doch zu ihm zu fliegen, und sie steuern tatsächlich auf das Fenster des Präsidenten zu. Der Präsident weicht höflich zur Seite, die Maschinen sausen ins Innere des Gebäudes, und der Präsident schließt mit glücklichem Gesicht das Fenster. Er weiß noch nicht, was ich als Zuschauer bereits gesehen habe: daß die Flugzeuge durch das gegenüberliegende Fenster das Weite gesucht haben. Als der alte Mann das bemerkt, kehrt er enttäuscht und verdrossen zum Fenster zurück und öffnet es wieder. Da erhellt sich sein Gesicht: Unten auf dem Heldenplatz winkt eine Frau zum Fenster hinauf, nicht respektvoll, wie es dem höchsten Mann im Staat gebührte, sondern so vertraulich, als handelte es sich beim Präsidenten um einen alten Freund. Mit der einen Hand winkt sie hinauf, an der anderen zieht sie an Schnüren vier kleine Kinder hinter sich her. Aufs äußerste überrascht, sagte ich zu Maria, setze ich mich im Kinderwa gen auf, denn ich habe die vier Kinder als meine Geschwister erkannt. Die Frau Familenminister greift sich nun ein Mäd chen, es ist die jüngere meiner beiden Schwestern, hält es in Richtung des Präsidenten und ruft hinauf: Diese Kleine, ist sie nicht entzückend? Sie hätte durch Abtreibung den Tod gefun den, wenn sie nicht durch mein Mutterbedrohungsamt gerettet worden wäre. Sie ruft das mit einer gräßlichen Stimme,
schnarrend, schrill, dabei süßlich, hebt meine Schwester noch höher und wirft sie dann ohne Emotion, aber mit Wucht auf das Pflaster. Nun kommt die andere Schwester an die Reihe. Dieses Kind sei von ihr der Gottlosigkeit entrissen und der Taufe zugeführt worden, so rühmt die Familienministerin sich. Kaum hat sie ausgeredet, schmeißt sie auch dieses Kind auf das Pflaster. Und dieser Bub, nun spricht die Familienministe rin direkt in die Kamera, wäre an Unterernährung zugrunde gegangen, hätte sie nicht Orden für kinderreiche Familien eingeführt, wohingegen der andere Bub an kaputten Bronchi en gestorben wäre, hätte sie der Chemiefabrik nicht aufgetra gen, nachts den Lärm zu verringern. Dann zerschmetterte sie auch meine beiden Brüder. Als ich die Geschwister tot auf dem Pflaster des Heldenplat zes liegen sehe, schließe ich die Augen und warte auf Tränen. Doch statt zu weinen, schreie ich, so laut, daß die Mutter an gerannt kommt, mich aus dem Kinosaal schiebt und droht, es werde mir, wenn ich nicht aufhöre zu brüllen, genauso erge hen wie meinen Geschwistern in der Wochenschau, sagte ich zu Maria und bat den Ober um ein Achtel Weißwein, aufge spritzt auf ein Viertel. Zahlen, sagte Maria, als der Ober mir das Nationalgetränk servierte. Es ist deshalb so beliebt, weil seine Anhänger es mit der Selbsttäuschung umgarnen, Wein gemischt mit Soda oder mit Mineralwasser sei kein alkoholi sches Getränk. Selbst wenn sie weder ihre unheilbare Trunk sucht noch ihre tödliche Leberzirrhose vor sich und anderen verbergen können, heben sie das Glas mit ihrem Lieblingsge tränk, ein Achtel, aufgespritzt auf ein Viertel, mit der asketi schen Miene dessen, der im Augenblick auf Alkohol verzich tet. Ich hielt es nicht anders. Zahlen, sagte Maria, doch jetzt hatte der Ober die Rech nung nicht parat, jetzt, da ihm niemand deshalb böse gewesen wäre. Während ich das Glas in einem Zug leer trank, ließ der Ober sich von Maria aufzählen, was wir konsumiert hatten. Immer wenn wir uns ungehörig benahmen, mußte Maria zur
Strafe die gesamte Konsumation herbeten, obwohl Posten für Posten auf dem Block des Oben notiert war. Normalerweise machte Maria belustigt bei diesem Ritual mit, doch im Au genblick hatte sie keinen Sinn dafür, und sie strafte den Ober ihrerseits, indem sie seinen Dank fürs Trinkgeld nicht entge gennahm, sondern abrupt aufstand und hinauseilen wollte. Ich riß sie zurück. Herr Bernhard war, die Hände in den Ho sentaschen, den Kopf auf der Brust, die Augen geschlossen, nach und nach von der Bank gerutscht, und seine gestreckten Beine ragten weit hinein in jenen Gang, der zur Tür ins Freie führte. Maria wäre darüber gestolpert. Der Burgtheaterdirektor redete, schweißgebadet schon und mit hochrotem Kopf, unbe irrt auf den Schriftsteller ein, der keine Reaktion zeigte, außer daß er immer weiter von der Bank rutschte, wodurch seine Beine für die anderen Kaffeehausgäste zum Hindernis wur den. Draußen fragte Maria, ob ich noch Zeit hätte. Ich mußte la chen: Sie, die Vielbeschäftigte, fragte mich, den Tagedieb, ob ich Zeit hätte. Machen wir, schlug sie vor, einen Umweg über den Neuen Markt. Nach einigen Schritten blieb ich stehen und wartete. Maria ging noch langsamer als sonst. Allmählich, sagte ich zu ihr, eignest du dir den Schritt der Einheimischen an, bedächtig und fest, als dürfe, wo man hintritt, kein Gras mehr wachsen. Sei dir aber nicht zu sicher. Hinter der näch sten Ecke könnte meine Hebamme stehen und dich umbrin gen, hinter der übernächsten die Familienministerin und dich auf dem Pflaster zerschmettern, hinter der überübernächsten deine Mutter und dich mit dem Kruzifix erschlagen.
Ich verstehe nicht, sagte Maria, wie du mit deinen Gewaltbil dern leben kannst. Mich würden sie verrückt machen. Ich liebe die sanften Bilder aus meiner Kindheit: Der Vater, ein großer, schützender Engel. Selbst die immer schon vorhande ne Abneigung zwischen der Mutter und mir äußerte sich nur
in einem Aneinander-Vorbeistreifen der Blicke; und wenn etwas mein Behagen störte, wie die große Pendeluhr im Salon, gab ich nicht eher nach, als bis es entfernt wurde. Ich sprang bei jedem Schlag erschrocken auf, bei jedem, und hielt mir die Ohren zu, und als das nichts nützte, ließ ich mich steif zu Bo den fallen, als hätte die Uhr mir das Leben aus dem Leib ge schlagen, und ich hielt diesen Zustand minutenlang durch. Mutter nahm mich deshalb zum Glück nie mit, wenn sie in eine ihrer lauten Fabriken fuhr. Sie besaß mehrere? fragte ich, weil Maria, wenn die Rede auf das Besitztum ihrer Mutter gekommen war, bisher immer von der Fabrik gesprochen hatte. Drei, sagte Maria, ursprüng lich war es eine, heute sind es drei. Eine hat sie von ihren El tern geerbt, einen Betrieb, der Lebensmittelkonserven her stellt. Ihr erster eigener spezialisiert sich auf Delikatessen, auf besondere Arten von Essig und Senf vor allem; ihr zweiter hat nur noch indirekt mit Lebensmitteln zu tun, er produziert Aus rüstung für Fleischhauer, spezielle Messer, so habe ich im Prospekt gelesen, und Fleischsägen. Nie zuvor hatte ich Maria so ruhig über ihre Mutter sprechen hören, sie pflegte sonst von der Mutter nur voll Haß zu reden. Wir hatten am Neuen Markt die Kapuzinergruft erreicht. Ich faßte Maria bei der Hand und zog sie fort, um mich nicht län ger als unbedingt notwendig in der Nähe dieses häßlichen Knochensilos aufhalten zu müssen. Ich habe, sagte Maria, keine der Fabriken je von innen gesehen. Was Mutter dort machte, wenn sie ein-, zweimal in der Woche für ein paar Stunden dorthin fuhr, weiß ich nicht; doch kannte ich die mei sten Leute, die in den Betrieben arbeiteten. Es verging kaum ein Monat, in dem nicht Delegationen zu uns nach Haus ka men, Beschäftigte aus allen Abteilungen, ob Direktoren oder Hilfsarbeiter, aber nie einzeln, sondern immer in größerer Anzahl. Sobald ich in die Volksschule ging, wurde ich diesen Besuchern vorgestellt, Mutter schien Wert darauf zu legen, daß ich, die Erbin, von Kindheit an mitbekäme, wie mit diesen Leuten umzugehen sei, wie man sie im großen Salon Platz
nehmen hieß, wie man, wenn Sommer war, die drei großen Glastüren zur Terrasse und zum Park hin öffnete, den großen Fauteuil ins hereinfallende Licht schob, sich setzte und zu sprechen begann. Verhandlungen nannte Mutter ihre Auftritte, die ich schon im Alter von sechs Jahren als peinigend empfand, ohne sie im Detail begreifen zu können; Mutter verhandelte nicht, sie hielt Predigten; dabei ging es immer und ausschließlich um Geld, worüber zu reden sie nur in ihrem Haus, keinesfalls in einer der Fabriken bereit war. Im Sommer 1946, sagte Maria, von da an war ich regelmäßig dabei, fand Mutter ein Argument, das sich offenbar bewährte. In den Jahren danach und wahr scheinlich bis heute mußte sie kein weiteres bemühen: Wir haben, hatte damals die Mutter zu den Arbeitern gesagt, wir haben sofort nach dem Krieg die Fabrik wieder aufgebaut, sofort nach dem Krieg haben wir die Fabrik wieder aufgebaut, und wir werden es nicht zulassen, daß diese Aufbauarbeit nun aufs Spiel gesetzt wird, daß diese Aufbauarbeit von einer klei nen Gruppe unverantwortlicher Menschen aufs Spiel gesetzt wird - Mutter bekam nicht genug von ihren Wiederholungen, die allerdings sehr gut zu ihrem Predigerton paßten -, von einer kleinen Gruppe unverantwortlicher Menschen, welcher der Geist der Gemeinsamkeit, in dem wir den Wiederaufbau vollbrachten, auf einmal nichts mehr bedeutet, von einer klei nen Gruppe, den Angestellten, hatte die Mutter zu der Delega tion von Arbeitern gesagt, die nun eine unverschämte Ge haltserhöhung fordert; gerade von den Angestellten, die ohne dies schon immer mehr verdient haben als sie, die Arbeiter, gerade von den Angestellten, die in Anzügen und weißen Mänteln in den Büros sitzen und die nicht wie sie, die Arbei ter, die schwere Arbeit in den Hallen machen müssen, werden Forderungen gestellt; meine Herren, hatte die Mutter gesagt, ich habe Sie hierhergebeten, um Ihnen das mitzuteilen und um Ihnen zu sagen, daß ich angesichts solcher Forderungen: 1,7 %, rückwirkend zum Ersten dieses Monats, um Ihnen zu sa gen, daß ich mich nicht in der Lage sehe, die gemeinsame
Aufbauarbeit fortzusetzen; ich werde die Fabrik verkaufen müssen, und was dann mit ihr geschieht, darauf werde ich keinen Einfluß haben. Nachdem die Arbeiter gegangen waren, kam Mutter auf mich zu und sagte: Sie sind gekommen, um 4 % mehr Lohn zu fordern, und sie gehen weg und werden die Angestellten von deren Forderung nach 1,7 % abbringen. Die Mutter, sagte Maria im Weitergehen, spielte die Arbeiter gegen die Angestellten aus, aber auch die Angestellten gegen die Direktion, die Facharbeiter gegen die Hilfsarbeiter, die drei Chemiker gegen die zwei Prokuristen oder später die Werbeabteilung gegen die kaufmännische Direktion. Mutters Erpressungen hatten jedoch keineswegs zur Folge, daß die Löhne in ihren Firmen niedriger waren als bei anderen, im Gegenteil. Meine Mutter lehnte nur ab, daß Forderungen ge stellt werden; man konnte von meiner Mutter nichts fordern. Maria sprach sarkastisch, und doch hörte ich in ihrer Stimme zum ersten Mal neben dem Abscheu vor der Mutter auch Be wunderung. Ich dachte mir, das würde ich Maria bei Gelegen heit sagen, auch wenn sie es nicht hören wolle, und ich wußte auch, welche Gelegenheit ideal wäre: Wenn Maria mit mir badet, wenn sie mir mit Kamillenseife, extra für diesen Zweck angeschafft, das Glied wäscht, wenn sie es danach wie eine Zigarette zwischen ihre Zähne steckt, dann werde ich auf ihre uneingestandene Bewunderung für die Mutter zurückkommen, und Maria wird gewiß zubeißen, wie sie es früher getan hat, wenn ich ihren Mann einen alten Deppen nannte. Man konnte von meiner Mutter nichts fordern, sagte Maria, diese Frau gab zwar, sie gab aber niemals etwas her; sie verteilte Gaben, sie beschenkte, sie erwies sich als gnädig, und sie erwies sich gern als gnädig. Ihre Arbeiter und Angestellten wurden, wenn sie zurückhaltend auftraten, immer etwas besser bezahlt als die Belegschaften vergleichbarer Firmen. Auch alles, was mit Forderungen einherging, haßte sie: Gewerkschaft, Betriebsrä te, Streikdrohungen. Und während der Vater vom Krieg nur als von etwas Entsetzlichem sprach, schienen der Mutter, die sen Eindruck hatte ich jedenfalls als Kind, Betriebsräte ein
schlimmerer Greuel zu sein als der Krieg. Vom Krieg redete sie, wenn sie den Abordnungen der Belegschaft ihre Predigten hielt, nicht ohne Sympathie: Wir dürfen nicht vergessen, pflegte sie zu sagen, daß wir dieses wunderbare Gemein schaftsgefühl des Wiederaufbaus dem Krieg verdanken; keine Nachkriegszeit und damit kein Wiederaufbau ohne Krieg; den Krieg haben wir zwar verloren, doch, auch das dürfen wir nicht vergessen, nur militärisch. Die Mutter, sagte Maria, sah sich zwar auf seiten des Friedens, war aber überzeugt, ein Krieg müßte die Menschen hin und wieder heimsuchen, damit sie den Frieden zu schätzen wüßten. Da Mutter es sich immer leisten konnte, gemäß ihren An schauungen zu leben, vermute ich, daß sie auch ihre Meinung über Krieg und Frieden in die Praxis umsetzte, den Krieg in die Betriebe hineintrug und danach im großen Salon Frieden stiftete. Sie zeigte sich dann auch materiell großzügig, und wäre ihr jemand in einer solchen Situation begegnet, er hätte sie für einen guten Gott gehalten. Dieser kehrte dann ja auch, nachdem er die jeweilige Abordnung in Gnade entlassen hatte, in den Himmel zurück: Mutter verschloß die Tür des Salons, verschloß die drei Flügeltüren und zog, auch wenn noch hell lichter Tag war, die dicken Vorhänge zu. Einmal, wie ich dir schon erzählt habe, schloß die Mutter mich mit ein. Sie wähn te mich längst draußen, ich aber hatte im Hinausgehen einen Fotoband entdeckt, legte das große, schwere Buch auf den Teppich, es war ein Buch über Sizilien, und blätterte darin. Ich wollte die Mutter, die zurückgekehrt war, alles abge schlossen und die Vorhänge zugezogen hatte, bitten, einen Vorhang wenigstens einen Spalt breit zur Seite zu ziehen, da merkte ich, daß sie Unterkleider und Strümpfe auszog. Solche Augenzeugenschaft war mir gerade der Mutter gegenüber peinlich, so daß ich mich, gut verborgen von einem Fauteuil, still verhielt. Mutter schlug den Rock nach oben und setzte sich mit entblößtem Unterleib aufs Kanapee, als würde sie zu einer gymnastischen Übung ansetzen, hielt aber, als die Beine abgewinkelt waren, inne und spreizte die Oberschenkel. Eine
Zeitlang schaute sie erwartungsvoll zum Schreibtisch, ihr Gesicht entspannte sich vollkommen und wirkte unverstellt freundlich. Dann begann Mutter zu sprechen: Worauf wartest du? Vor Schreck war ich so starr, daß ich nicht gleich, wie ich das wollte, aufsprang, mich für meine Anwesenheit entschuldigte, die Tür aufschloß und mich hinausstahl. Mutter redete, ohne den Blick mir zuzuwenden, weiter in Richtung Schreibtisch: Du vergibst dir nichts, sagte sie, wenn du zu mir kommst. Nun merkte ich erst, an wen sie sich wandte: an das Kruzifix, das auf ihrem Schreibtisch stand. Es war aus Messing und nicht höher als eine Spanne. Ich habe heute wieder, fuhr Mutter fort, Frieden unter die Menschen gebracht, ich habe ihn wirk lich gebracht, ich habe ihn nicht wie du bloß versprochen; würde ich mein Unternehmen, wie du den Weltenlauf, nur auf Versprechungen gründen, wäre mir die Belegschaft schon davongelaufen, oder sie hätte mich davongejagt, und nicht nur ich wäre mittellos, sondern auch du, da ich deinen Dom nicht renovieren lassen könnte; so groß du im Himmel bist, so klein bist du auf Erden; hier zähle ich; du gehörst deshalb weder dir selbst noch der Menschheit, sondern du gehörst mir. Nach diesen Worten, sagte Maria, schnellte die Mutter vor, griff nach dem Kruzifix und brachte es wie in Trance ihrem Körper näher. Sie lenkte das Kruzifix mit ruhiger Hand ihrem Geschlecht zu. Mit der Hand des Gekreuzigten kraulte sie ihre Schamhaare, so war, sagte Maria, mein Eindruck, denn wie eine Frau onaniert, wußte ich mit sieben noch nicht. Ich dach te, Mutter müsse es fürchterlich jucken, da die Hand des Ge kreuzigten immer lebhafter an ihrem Geschlecht kratzte, und das alles hätte mir zur Not eingeleuchtet, hätte Mutter dabei nicht furchterregend gestöhnt, hätte sie nicht auch noch den Christuskopf mit der Dornenkrone ins Geschlecht gesteckt und hätte sie dann nicht, als wäre sie vom Kruzifix gebissen worden, aufgeschrien. Danach trat vollkommene Ruhe ein: leise, als bewegte sie sich auf Zehenspitzen, ging Mutter zum Weihwasserbecken neben der Tür, lautlos wusch sie darin das
Kruzifix, trocknete es mit dem Unterrock ab, so behutsam, als würde sie es in Watte wickeln, stellte es zurück auf den Schreibtisch und schlüpfte geräuschlos in die Unterkleider. Als sie den Vorhang langsam zur Seite schob, hielt sie den Kopf so, daß ihr das Licht nicht in die Augen fiel. Maria blieb stehen und schwieg. Sie schien nachzudenken. Ich fragte mich, da wir auf dem Albertinaplatz standen, ob wir, wie üblich, über den Michaelerplatz oder, da die Sonne heute nicht herunterbrannte, durch den Burggarten gehen soll ten, dann fragte ich Maria, was ihr Heber sei. Ich denke gera de darüber nach, sagte sie, warum ich so selten durch den Burggarten gehe, durch mein Kinderparadies. Ich wußte nicht, sagte ich, daß du schon als Kind in Wien warst. Als Kind, sagte sie, war Burggarten für mich nur ein Wort, aber ein Wort für Paradies. Gesehen habe ich ihn erst später, mit vier zehn, als ich kein Kind mehr war, denn wer wie ich in diesem Alter von seinem Cousin sexuell mißbraucht wird, altert ra scher. Burggarten, sagte sie, war unser Zauberwort, mit dem Vater und ich eine Welt aufschließen konnten, die nur für uns be stimmt war. Vater mußte oft nach Wien - als Landeshaupt mann und weil er einer der stellvertretenden Obmänner der Volkspartei war. Jedesmal, wenn er zurückkam, erzählte er mir von unserem Burggarten, von den verschlungenen Wegen, vom geheimnisvollen Teich, von den uralten Bäumen und vom häßlichen Mozartdenkmal, aus dem, und das wußten nur Vater und ich, Mozart sich hinausgestohlen hatte, um Goethe zu besuchen, den man ja nicht in den Garten hereinließ, des sen Denkmal draußen vor dem hohen Parkgitter stehen mußte. Dort, so hatte Vater mir erzählt, disputierten die beiden über einen zweiten Teil der Zauberflöte. Ich fragte Maria, ob sie der Sache nachgegangen sei, warum Goethe einen zweiten Teil der Zauberflöte geplant und damit begonnen, doch dann die Arbeit abgebrochen habe. Ich bin, sagte Maria, als hätte sie meine Frage gar nicht ge hört, gewiß nicht arm an abscheulichen Erinnerungen; die bei
weitem abscheulichste aber ist, wie immer man die Vorge schichte dreht und wendet, daß mein Vater mich als seine Mörderin bezeichnet hat. Er schneidet sich mit einem Messer den Hals auf, liegt im Spital tagelang im Koma, einmal noch kommt er zu sich, doch er ruft nicht mich ans Sterbebett, son dern einen Journalisten. Und wozu? Nur um mich als seine Mörderin zu bezeichnen. Dann stirbt er. Du warst, sagte ich zu Maria, was deinen Vater betrifft, stets blind; nicht nur in deiner Liebe, auch in deinem Haß. Du hast mir erzählt, sagte ich zu Maria, daß du dich in der Volksschu le der Bemerkungen deiner Mitschülerinnen und Mitschüler, dein Vater sei ein Kinderschänder und der Schrecken der Vor städte, kaum erwehren konntest. Du hast das immer als Ge hässigkeit abgetan, dennoch sind dir diese Schmähungen im Gedächtnis geblieben: Von der Polizei unbehelligt habe dein Vater sein Unwesen treiben können; mit Vorliebe habe er sich in den ärmsten Gegenden herumgetrieben, wo er Mädchen mit Süßigkeiten anlockte; Eltern geschändeter Kinder hätten sich zusammengerottet, um ihn mit Prügeln zu vertreiben, doch die Polizei sei sofort zur Stelle gewesen und habe die Leute aus einandergejagt; wer bei einer höheren Polizeistelle nachge fragt habe, sei mit der Auskunft abgefertigt worden, der Lan deshauptmann habe in seiner volkstümlichen Art Kinder be schenken wollen, deren Eltern aber hätten in beispielloser Gier die Kinder beiseite gedrängt. Auch deine Mutter sei ins Gerede gekommen, hast du mir erzählt, sie habe mit Geld die Eltern geschändeter Kinder davon abgehalten, Anzeige zu erstatten; und mehrere Male hast du mir von dem Fall erzählt, daß dein Vater in einem Ziegenstall ertappt wurde, doch selbst dann von dem Kind nicht abließ, sondern es in die Au ver schleppte. Er war eine Bestie. Du bist, sagte Maria, sogar auf meinen toten Vater eifer süchtig. Eifersüchtig? sagte ich, auf diesen Ausbund an Ge walttätigkeit und Gemeinheit und Unförmigkeit? Diese von Alkohol aufgedunsene Nase, die wie ein zweiter Kopf im Gesicht stand, diese winzigen Augen, die zur Seite schielten,
weil sie an der Nase nicht vorbeisahen, diese Tränensäcke, die weit auf die Wangen herunterhingen! Dennoch, sagte Maria, war er der einzige Mensch, vor dem ich nie Angst hatte, in dessen Gegenwart ich nie leise vor mich hin sprechen mußte, weil eine in der Luft Hegende Ge fahr zu bannen gewesen wäre. Ich fühlte mich in seiner Ge genwart behütet, und sicher fühlte ich mich bereits, wenn ich nur an ihn dachte. Und hast dich doch, sagte ich, mit vierzehn in verrückter Anhänglichkeit an eine Freundin geklammert. Weil sie die einzige war, sagte Maria, die nicht in das Gerede der Mitschüler über meinen Vater einstimmte. Deshalb war ich nur noch mit ihr zusammen und redete nur mit ihr. Sie hatte auch allen Grund, den Mund zu halten, sagte ich. Trottel, erwiderte Maria; sie hat doch nicht von Anfang an mit meinem Vater geschlafen. Es muß begonnen haben, kurz be vor ich es entdeckte, ich hätte es sonst gespürt. Gerade in der ersten Zeit haben wir uns so wunderbar verstanden, ohne die geringste Verstellung. Ich wollte mich nicht mehr von ihr unterscheiden, nannte sie sogar mit meinem Namen. Alles machten wir nach Möglichkeit gemeinsam: Aß sie, ich aber ausnahmsweise nicht, weil mir übel war, dann kaute ich in ihrem Rhythmus mit und schluckte und verdaute gewisserma ßen auch mit ihr. Schließlich durfte sie sogar bei mir wohnen, ihre Eltern hatten es erlaubt; erlaubt!, was für eine Übertrei bung für das gleichgültige Kopfnicken ihrer Mutter auf unsere erwartungsvolle Frage. Ihre Mutter, sagte Maria, war nach dem entsetzlichen Unfall ihres Mannes schwermütig gewor den; der Baukran, den er führte, war von einer Sturmböe er faßt und auf die Straße geschleudert worden. Schädel, Rippen, Arme, Beine, alles gebrochen; auch erkannte der Mann nie manden mehr, saß, vom Spital nach Haus gebracht, nur noch im Bett und starrte Tag und Nacht in ein Fischaquarium. Muß te er vom Aquarium weg, weil seine Frau ihn zum Waschen oder zum Essen oder aufs Klo führte, begannen ohne irgend eine Regung in seinem Gesicht die Tränen aus seinen tot scheinenden Augen zu rinnen, und der Tränenstrom versiegte
erst wieder, wenn der Mann dem Aquarium gegenübersaß. Sehr bald wurde seine Frau neben ihm trübsinnig; und da sie zu allem, was man ihr sagte, gleichgültig nickte, hofften wir, sie würde auch auf unsere Frage, ob meine Freundin für ein, zwei Wochen bei mir wohnen dürfe, nicken. Mein Vater hatte ja bereits zugestimmt, meine Mutter hingegen - das brauche ich dir nicht zu sagen. Damals waren meine Freundin und ich so sehr eins, daß ich nur einschlafen konnte, wenn ich hörte und spürte, wie ihr Atem langsamer wurde, dann erst atmete auch ich langsamer, und erstmals schlief ich ein, ohne an den Vater zu denken, erstmals ohne mir, halb wach noch, halb schon im Traum, auszumalen, daß wir, Vater und ich, über kurz oder lang heira ten und von hier wegziehen würden. Ich muß, sagte Maria, damals noch sehr kindlich gewesen sein: aber auch gerissen. Neben der schönen Zeit mit der Freundin die eklige Geschich te mit dem Cousin; doch um den kam ich nicht herum; ich brauchte ihn, damit er den Schmuck verkaufte, den ich der Mutter aus ihren in Generationen angehäuften, unerschöpfli chen Schmuckvorräten stahl, schließlich hatten meine Freundin und ich einen aufwendigen Lebenswandel: Kino, Taxi, Konditorei; und feine Wäsche, die wir jedoch nie zur Schmutzwäsche geben konnten, sondern wegwerfen mußten, damit niemand, insbesondere meine Mutter nicht, dahinter kam. Den Vater, sagte Maria, vergaß ich in dieser Zeit zwar nicht, doch dachte ich nicht mehr an ihn; früher freute ich mich auf nichts mehr, als daß er sich für eine Stunde am Tag von der Politik losriß und mit mir durch die Geschäftsstraßen flanierte, zu unserem Lieblingsgeschäft, wo wir für den Tag unserer Hochzeit die Garderobe immer wieder neu zusam menstellten, je nach Laune und je nachdem, in welchem Land, in welcher Stadt wir zu heiraten und welche Existenz wir dort zu führen gedachten. In der Politik, das stand fest, würde Va ter nicht bleiben, dieser Beruf, Landeshauptmann, ließ ihm zu wenig Zeit - darüber tröstete ich mich als Kind mit der Tatsa
che hinweg, daß auch meine Mutter den Vater selten zu Ge sicht bekam. Die Zeit mit der Freundin, sagte Maria, wurde außer durch den Cousin nur noch durch die Geigenstunden getrübt; zwei mal in der Woche wurden wir deshalb auseinandergerissen. Ich liebte es zwar, Geige zu spielen, es wäre aber ganz un möglich gewesen, meine Freundin, die keine Vorkenntnisse hatte, zu diesem schwierigen Instrument zu überreden, nur damit sie mit in die Stunde gehen konnte. So radelte ich auch an unserem letzten Tag allein dorthin. Begonnen hatte der Tag damit, daß wir gemeinsam zur Schule gingen; zu Mittag spazierten wir gemeinsam nach Haus, nah men den Weg durch den Stadtpark, wo wir stehenblieben, um den Schmetterlingen zuzusehen. Ein paar saßen auf den Tul penkelchen und verzehrten ihr Mittagsmahl, andere warteten flatternd, bis ein Platz frei würde. Ich wandte mich zur Freun din, um sie zu fragen, ob wir weitergehen, da schaute sie zu mir und setzte ebenfalls zu einer Frage an. Doch dazu kam es nicht; zu meiner größten Verwunderung sah ich in ihren ein deutig vom Tulpenbeet abgewandten und auf mich gerichteten Augen etwas sich spiegeln, das sich ganz unmöglich dort spiegeln konnte: die Tulpenkelche, die Schmetterlinge. Aus Angst, einem Hirngespinst aufzusitzen, griff ich schnell nach der Hand der Freundin, und wir verließen den Stadtpark, ob wohl ich fühlte, daß sie gern noch geblieben wäre; deshalb hielt ich bald ein, um mich bei der Freundin für meine Eigen mächtigkeit zu entschuldigen, doch ich brachte kein Wort hervor. Wieder sah ich in ihren Augen etwas sich spiegeln, diesmal mein Zimmer mit dem großen Bett für uns beide, so groß, daß es auch unseren Puppen und Stofftieren Platz bot. Ich sah in den Augen der Freundin uns beide auf dem Bett einander ge genübersitzen, vor dem Bett kniete mein Vater, den Kopf auf einen Polster gebettet, und wir streichelten über sein braunes, schon schütteres Haar. Wieder riß ich mich von den Augen der Freundin los, nun schon aus Angst, den Verstand verloren
zu haben, und griff nach ihrer Hand. So eilten wir, sie ratlos, ich verwirrt, nach Haus, wo ich mich sofort der Geige widme te, um, wie ich vorgab, gut vorbereitet in die Stunde zu kom men. Das Geigenspiel und die Tatsache, daß ich ohne Schwie rigkeiten die Noten lesen konnte, beruhigten mich: Mein Verstand schien noch intakt zu sein. Als es Zeit war, in die Geigenstunde zu radeln - Mutter konnte mich mit dem Auto nicht hinfahren, sie befand sich an diesem Tag in einem ihrer Unternehmen -, war die Irritation verflogen. Ich fühlte mich wieder eins mit der Freundin und stieg schweren Herzens aufs Rad. Maria und ich waren vor dem Völkerkundemuseum ange kommen, und ich schlug ihr vor, sie zu begleiten und den Weg über den Michaelerplatz zu nehmen. Maria nickte, und wir gingen, jeder in Gedanken, eine Zeitlang dahin. Sie wird diese Geschichte so oft erzählen, dachte ich, bis ihr Vater als un schuldig erscheint. Da schreckten mich Leute auf, die grölend aus der Kirche am Michaelerplatz kamen und im Triumphzug über den Platz schritten, vorne weg ein schnauzbärtiger Wanst mit einem Kleinstkind in einem pompösen Wickelpolster. Zuerst, dachte ich, vergehen sie sich an einem unschuldigen Kind, indem sie es taufen, und dann sind sie auch noch stolz darauf, daß sie diese Schandtat in Österreich immer noch un gestraft begehen dürfen. Unwillig beobachtete Maria, wie ich meine Aufmerksamkeit diesen Leuten zuwandte. Der Geigenlehrer, sagte sie, war an jenem Tag krank, Magendurchbruch, hatte der Portier des Konservatoriums zu mir gesagt. Mich ließ das Wort Bruch zusammenzucken. Hoffentlich, dachte ich, sind seine Finger unversehrt geblieben. Sogleich fuhr ich zurück, schob das Rad lautlos durchs Gartentor zur Villa und schlich ans offene Fen ster meines Zimmers. Ich fühlte mich als die leibhafte freudi ge Überraschung und sah das freudig überraschte Gesicht der Freundin schon vor mir. Doch als ich durchs Fenster schaute, erblickte ich den Vater. Nackt lag er auf dem Rücken im Bett, auf ihm ein nacktes, kleines, dünnes Mädchen, die Freundin,
aufgespießt auf einem riesigen Glied, das zur einen Hälfte sichtbar war, zur anderen im Leib der Freundin steckte. Das Glied bewegte sich nicht, und auch der Unterleib des Mäd chens blieb regungslos. Der Vater hatte den Oberkörper der Freundin unter den Brüsten umfaßt und schüttelte ihn wie einen Baumstamm. Wild sprangen die kleinen Brüste auf und ab und hin und her; er machte es mit ihr genauso wie der Cou sin mit mir, der mich schon Dutzende Male halb zu Tode ge schüttelt hatte. Es schien in der Familie zu liegen: Auch den Vater erregte am meisten die eigene rohe Gewalt angesichts hilflos zitternder, winziger Brüste. Mir drehte sich der Magen um, und ich spie einen dünnen Strahl hinein ins Zimmer. Dar auf mußte ich durchatmen, denn für einen Augenblick war mir schwarz vor den Augen geworden, dann erst rannte ich weg, rannte tagelang. Vorige Woche, sagte Maria, träumte ich, daß ich von zu Haus zum Bahnhof lief, um mit dem Zug zu fliehen; daß mein Vater mich im Waggon erwischte und mich unter tausend Entschul digungen überreden wollte, mit ihm zurück nach Haus zu gehen; daß er mir immer wieder versicherte, später würde ich ihn gewiß verstehen; daß ich aber den Bitten des Vaters ge genüber nicht nur hart blieb, sondern ihn auch aufs obszönste provozierte; und daß er sich daraufhin mit dem Messer den Hals aufschnitt. Eine bequeme Abkürzung, die der Traum gefunden hat, sagte Maria, und ging an dem salutierenden Polizisten vorbei ins Bundeskanzleramt, drehte sich nach mir um und sagte: Acht Uhr. Neun Uhr, erwiderte ich. Nein, sagte sie, acht Uhr. Ich darauf: Nein, neun Uhr. Uns um neun zu treffen, dachte ich, sei ihr eigener Vorschlag gewesen; und auf diesem Vorschlag würde ich bestehen.
Ich
schlenderte zurück zum Museum. Das Bild von ihrem Vater, dachte ich, wie er im Eisenbahncoupe sitzt, blutüber strömt bereits, und immer noch quillt Blut aus der Halswunde,
dürfte sich, da Maria beim Anblick des Vaters einen Nerven zusammenbruch erlitt, tiefer in sie eingegraben haben als in mich. Ein Nervenzusammenbruch, dachte ich, wäre auch für mich damals von Nutzen gewesen: Die Polizei hätte mich dann gewiß nicht verhaftet. Zuerst hatte ich geglaubt, die Po lizei würde sich deshalb so sehr meiner annehmen, damit ich mich in dem Getümmel nicht verlaufe; ich war ja der erste gewesen, der auf den schwerverletzten Landeshauptmann stieß. Doch in Wien im Landesgericht bezichtigte man mich dann unmißverständlich des Mordes, und der Untersuchungs richter hatte mich auch bald mit allen nötigen Beweisen der Tat überführt - mit gefälschten Beweisen, wie er offen be kannte. Auf Beschluß des Ministerrats und auf Weisung des Ju stizministers, auch daraus machte der Untersuchungsrichter kein Hehl, schlug er mir einen Handel vor: Mit den gefälsch ten Beweisen könne man mich in jedem Fall der Tat überfüh ren, und ich müßte dann eine lebenslange Strafe absitzen; zu dieser Infamie müßte aber erst gegriffen werden, wenn ich mich uneinsichtig zeigte. Geradezu stolz sprach der Untersu chungsrichter von diesem Plan als von einer Infamie. Würde ich jedoch Einsicht zeigen, könnte man mich nach ein, zwei Jahren einfach entlassen; man würde sich auch erkenntlich zeigen und sich finanziell meiner annehmen. Um meine Zu kunft stehe es ohnedies nicht zum besten, die vier Jahre als Hilfsarbeiter auf dem Bau sehe man mir deutlich an, noch zehn solche Jahre, und ich würde unter der Erde liegen. Auf meine Frage, wozu ein Scheingeständnis, wozu der ganze Aufwand, hatte der Untersuchungsrichter ebenfalls eine Ant wort parat: Die österreichische Wirklichkeit schließe die Mög lichkeit aus, daß ein Landeshauptmann, der nicht nur als Poli tiker, sondern auch als Katholik landesweit bekannt sei, Selbstmord begehe. Es widerstrebe hiesiger Tradition, daß Politiker, Wirtschaftsführer, Kirchenfürsten oder Kulturträger, Leute also, die dafür sorgen, daß andere Menschen sich um bringen, Hand an sich legen. Somit sei von Anfang an festge
standen, daß der Herr Landeshauptmann ermordet wurde. Als der Untersuchungsrichter mir das vortrug, war der Lan deshauptmann, was mir verschwiegen wurde, noch gar nicht tot, er lag im Koma, allerdings ohne Überlebenschance. Ich erbat mir zwei Wochen Bedenkzeit. Daraufhin fuhr der Unter suchungsrichter mir beinahe an die Gurgel: Sie haben keine Wahl, brüllte er. Was wollen Sie bedenken, Sie stehen als Mörder in der Zeitung, und damit stehen Sie als Mörder fest. Wir kommen Ihnen nur unter der Bedingung entgegen, daß Sie sofort ein volles Geständnis ablegen und daß Sie auch während des Prozesses mit uns zusammenarbeiten. Sie können aber auch alles leugnen - dann werden Sie erst recht verurteilt. Was wollen Sie da bedenken, wozu, um Himmels willen, wol len Sie Bedenkzeit? Da mein Gefühl mir sagte, dieser Mann brauche mich ebenso wie ich ihn, gab ich nicht nach, schloß mit ihm aber einen Kompromiß: Wir einigten uns auf eine Woche Bedenkzeit. Innerhalb dieser einen Woche kam ich dann tatsächlich frei, dank des alten Kohlenhändlers, der mir nach Wien nachgereist war. Maria und ich kannten ihn aus dem Ort, in dem wir vier Jahre lang bei einem Baumeister gearbeitet hatten. Der Koh lenhändler hatte mich mit Hilfe einiger Männer seines Alters, mit denen ihn seit der Schreckenszeit im Konzentrationslager Buchenwald eine außergewöhnliche Freundschaft verband, aus dem Gefängnis befreit und außer Landes gebracht, nach Hamburg, wo Maria schon auf mich wartete und von wo aus wir mit einem Schiff nach Mexiko aufbrachen. Bis auf den heutigen Tag, dachte ich auf dem Weg zum Völkerkundemuseum, ist mir der Kohlenhändler nach Maria und nach der Großmutter der nächste Mensch, wenn er auch, wie Großmutter, nicht mehr lebt; und während mich Marias Erzählungen über den Kanzler letzten Endes nicht kümmern, berühren mich die Geschichten, die Großmutter und der Koh lenhändler mir erzählt haben, immer stärker. Und seit ich den Zeitschriften- und Zeitungssaal der Nationalbibliothek ent deckt habe, welcher unmittelbar neben dem Völkerkundemu
seum liegt, und seit ich in der Bibliothek die Blätter der Vor kriegs-, Kriegs- und Nachkriegszeit lese, finde ich die Ge schichten Großmutters und des Kohlenhändlers aufs furcht barste bestätigt. Da ich mich dieser Lektüre hauptsächlich während der Dienstzeit widmete, überlegte ich auch jetzt, als ich an der Nationalbibliothek vorbeiging, wo ich den Nachmittag zu bringen sollte, im Museum oder in der Bibliothek, doch nach dem Vorfall des vergangenen Tages hatte ich keine Wahl: Ich wußte nun, daß wir, die drei Umbauarbeiter und ich als ihr Vorgesetzter, tatsächlich gebraucht wurden und mehr waren als Dienstposten auf dem Papier. Wenn einmal alle Stricke rissen, rechnete jeder im Museum damit, daß wir die Sache in Ordnung brächten, ausgerechnet wir, die weitaus kleinste Gruppe im Haus. Die größte Gruppe, die der Aufseher, erwies sich als hilflos, dennoch würden die Aufseher weiter ge braucht werden, ohne sie müßte das Museum als geschlossene Anstalt geführt werden, was leider nicht möglich ist, da es zu den Aufgaben der Wiener Museen zählt, die Einkaufszentren der Innenstadt vom Touristenstrom zu entlasten; unabdingbar unter den gegenwärtigen Bedingungen auch das Reinigungs personal, denn wo Öffentlichkeit hingenommen wird, müssen Schmutz und Abfall in Kauf genommen werden, von Straßen schuhen abbröckelnder Hundekot vor Eskimozelten ebenso wie neulich ein Tampon auf der Spitze einer afrikanischen Lanze. Welche Bedeutung uns, den Umbauarbeitern, zukam, wußten wir erst seit dem Vortag, seit der Katastrophe. Obwohl ich schon zweieinhalb Jahrzehnte hier beschäftigt war, konnte ich mich an einen ähnlichen Vorfall nicht erinnern, und ein weit aus harmloserer lag fünfzehn Jahre zurück. Uns war deshalb längst nicht mehr bewußt, daß zu unseren Aufgaben gehörte, im Katastrophenfall zur Stelle zu sein. Die übliche Arbeit bestand darin, einen Schauraum umzugestalten oder eine Son derausstellung einzurichten. So etwas wußten wir lange im voraus, darauf konnten wir uns einstellen, auf ein Unglück
wie das vom Vortag nicht. Es begann damit, daß eines der wertvollsten Objekte, der Melkschemel eines tibetischen Schamanen, von allein umfiel. Holzwurmbefall, ergab die Untersuchung tags darauf. Der Aufseher, der sitzend vor sich hindöste, glaubte eine Detona tion gehört zu haben und erschrak derart, daß es ihn vom Ses sel schmiß; dieser Aufprall ließ zwei andere Aufseher, die im Nebensaal in einen Plausch vertieft waren, blindlings davon stürzen: mitten in die Vitrine, die den ältesten noch erhaltenen Teebeutel sibirischer Eskimos schützen sollte; die Vitrine zerbarst in tausend Stücke, die Glassplitter schossen auf dem glatten Boden dahin bis in den Saal nebenan, wo ein junger Anthropologe über einer Baumrindenzeichnung australischer Aborigines meditierte und dabei unabsichtlich, wirklich unab sichtlich, wie er am nächsten Tag dem Museumsdirektor ver sicherte, das auf der Baumrinde dargestellte Geschlecht einer Göttin berührte. Das sei genau in dem Augenblick geschehen, in dem die Glassplitter auf ihn zuschossen, und er sei in der Meinung, durch das Berühren des Geschlechtsorgans ein Tabu gebrochen und die Göttin erzürnt zu haben, zu Tode er schrocken. Der Oberaufseher unterstützte diese Aussage: In der Tat habe der Schrei des jungen Wissenschaftlers sich wie ein Todes schrei angehört; er, der Oberaufseher, habe deshalb auch keine Sekunde gezögert und sofort das ganze Magazin seiner Pistole leergefeuert - er als einziger im Museum trug eine Waffe, gegen seinen ausdrücklichen Willen, er war von der Staatspo lizei dazu mit dem Argument gezwungen worden, immer mehr aufbegehrende Naturvölker forderten ihr Eigentum zu rück, die Zeit sei nicht mehr fern, in der sie es gewaltsam zu rückerobern würden - nein, er habe nicht gezielt, daß alle Pro jektile in den Einbaum eingeschlagen hätten, sei Zufall. Die Schüsse wurden oben in der Direktion gehört, nicht aber unten im Kellerraum der Umbauarbeiter. Der herbeigeeil te Direktor schrie, nachdem er sich ein erstes Bild von der Lage gemacht hatte, nach den Umbauarbeitern und selbstver
ständlich nach mir, dem Leiter der Gruppe, und da wir von allein nicht auftauchten, schickte er nach uns. Dann rief er nach seinem Stellvertreter; der, wurde ihm beschieden, sei auf einer Tagung; der Direktor bekam einen Wutanfall und schimpfte minutenlang über wissenschaftliche Tagungen. Er wisse um deren Sinnlosigkeit ja seit langem, nun sei sie end lich erwiesen: Brauche man einmal einen von diesen Sieben gescheiten, sei er nicht da. Inzwischen kamen meine Kollegen herbeigerannt und ver suchten auf Anweisung des Direktors den Melkschemel auf zustellen, doch das eine Bein war so wackelig, daß der Sche mel immer wieder umfiel. Zornig versuchte es der Direktor selbst, auch er blieb ohne Erfolg, was ihn äußerst verärgerte, denn er verstand sich als Praktiker seiner Wissenschaft; ge scheitert an der Praxis, disponierte er um und verlangte eine Prüfung des ganzen Vorfalles: Genau und umfassend solle diese Katastrophe untersucht werden, Ursachen, Ausmaß, aber auch deren Begleitumstände. Zu letzteren zählte ich; schließ lich hatte der Direktor nach mir geschickt, man hatte mich gesucht und nicht gefunden, es lag keine Krankmeldung vor und keine Abmeldung, auch war ich in der Früh im Haus ge sehen worden. Als ich, wie gewohnt, am späten Nachmittag den Zeitschrif tensaal der Nationalbibliothek verließ und die paar Schritte ins Museum hinüberging, setzte mich der Portier, der mir gewo gen war, sofort ins Bild; er verhehlte nicht seinen Eindruck, daß der Direktor, auch wenn er nun mit so vielen Problemen eingedeckt sei, es auf mich abgesehen habe; am besten, ich ginge gleich zu ihm. Das tat ich. Auf sein Befragen sagte ich, wo ich gewesen war, und log, ich hätte mich dort anthropolo gisch weitergebildet. Er halte nichts von Weiterbildung, ent gegnete der Direktor, ich solle hier meiner Pflicht nachkom men. Ob ich dazu nicht mehr willens sei? Doch, beeilte ich mich zu sagen. Meines Wissens, sagte der Direktor, reicht dieses Vergehen nicht für eine Kündigung; andererseits habe ich Sie schon öfters verwarnt, weil Sie Ihre Zeit statt auf Ih
rem Arbeitsplatz in der Nationalbibliothek verbringen; was würden Sie an meiner Stelle tun? Ich würde, sagte ich, ein Disziplinarverfahren einleiten. Immer der gleiche Vorschlag, sagte der Direktor, obwohl Sie wissen, daß mir nicht bekannt ist, wie man ein solches Verfahren einleitet. Mir leider auch nicht, sagte ich. Ich hatte mich am Katastrophentag in der Früh im Museum eingefunden, meine drei Kollegen begrüßt, mit ihnen ein paar Worte gewechselt, mich einigen Aufsehern und dem Oberauf seher gezeigt, ehe ich in die Nationalbibliothek ging, wo ich den Tag wie die Tage zuvor im Zeitschriftensaal verbrachte und systematisch die Zeitungen und Zeitschriften der Jahre unmittelbar nach dem Krieg durcharbeitete, gefesselt von der Lektüre, zunehmend aber auch entsetzt. Ich suchte den histori schen Hintergrund für die Geschichten, die der Kohlenhändler mir als seine Lebensgeschichte erzählt hatte; ich suchte nach einem Hintergrund, in der Hoffnung, die Erzählungen des Kohlenhändlers würden dadurch an Schrecken verlieren. Ich hatte gedacht, vielleicht habe der Mann zuviel gelitten, als daß er maßvoll erzählen könne. Nun stellte sich heraus, daß er seine Leidensgeschichte verharmlost haben mußte und daß die Zeit damals schrecklicher war, als sie der Kohlenhändler dar stellte. Die Uhren wurden nach dem Krieg einfach auf Null gestellt und liefen von da an weiter, wie sie vorher schon ge laufen waren. Die Sieger bestanden ratlos aber auch berech nend, bloß auf ein paar zivilisatorischen Maßnahmen. Der Kohlenhändler selbst hatte mir von den Gewalttaten ge gen ihn, seine Frau und seine Tochter zwar erzählt, in den Vordergrund aber hatte er stets gerückt, daß er Maria und mir helfen wolle. Und seine Hilfe war ja für uns außerordentlich wichtig: Wir waren beide, als wir nach Mexiko aufbrachen, noch nicht volljährig, Maria hatte überhaupt keine Papiere, und hätte der Kohlenhändler nicht Pässe für uns gefälscht, wir wären nicht einmal aus Österreich hinausgekommen, so wie ich die Untersuchungshaft nicht so schnell hinter mich ge bracht hätte, wäre der Kohlenhändler nicht nach Wien gereist
und hätte er nicht seinen Freund, einen Arzt im Gefängnisspi tal, dazu gebracht, mir zur Freiheit zu verhelfen. Mit vierzehn lernte ich den Kohlenhändler in dem Ort kennen, in dem ich auf dem Bau arbeitete. Er war der erste Mensch, der mich mit Sie ansprach. Von der ersten Begegnung an hielt ich ihn gleichermaßen für verrückt und für normal. Die Art, wie er redete, wirkte außerordentlich überlegt, ja gemessen; was er aber sagte, grenzte für mich anfangs an Wahnsinn. Ich habe Sie beobachtet, sagte er, als er mich zum erstenmal auf der Straße ansprach, und dabei festgestellt, daß Sie ein guter Beobachter sind. Sie tun auch gut daran, Ihre Mitmenschen genau unter die Lupe zu nehmen; schauen Sie sie nur an, kaum zehn Jahre sind vergangen, seit sie den Krieg verloren haben, und sie beginnen schon mit der Vorbereitung des näch sten. Denn die Österreicher und natürlich auch die Deutschen haben in ihrer Geschichte nur einmal eine Zeit ganz nach ih rem Geschmack erlebt: die Nazizeit, die Mordzeit, die Kriegs zeit. Nie konnten sie es als triumphal empfinden, wenn es einmal ein Jahr gab, in dem in ihren Ländern niemand hun gern mußte, wenn einmal ein Winter vorüberging, in dem niemand fror, wenn einmal ein Jahr einen guten Wein hervor brachte, wenn einmal in einem Jahr eine Sonate glückte und in einem anderen eine Erzählung gelang, nein, das empfanden sie nicht als triumphal. Triumph hat für sie nichts mit Freude zu tun, sondern immer nur mit Vernichtung. Daraufhin strei chelte mir der Alte über den Kopf, als wollte er mir damit sagen, ich möge ihn nicht ernst nehmen. Als wir einander wieder begegneten, sagte der Kohlenhändler mit einem Blick auf meinen Brotgeber, den Baumeister, der auf dem Marktplatz mit jemandem beisammen stand: Schauen Sie sich den an, der kann es nicht mehr erwarten, er mar schiert schon auf dem Stand. Keine zwei Häuser weiter beu telte die Frau des Apothekers ein Leintuch aus dem Fenster, und schon hatte der Kohlenhändler einen Reim darauf: Schau en Sie sich die an, sie wird sich freiwillig zu den Fallschirm springern melden. Beim nächsten zufälligen Zusammentreffen
nannte der Kohlenhändler den Männergesangsverein des Orts eine brüllende Horde, die so viel Tod brächte wie hundert Maschinengewehre. Beim übernächsten Treffen, an einem Feiertag, bezeichnete er die Fronleichnamsprozession, die an uns vorbeizog, als einen Stoßtrupp, der mit christlicher Kriegslist desto sicherer sein Ziel erreiche, je sturer er im Kreis gehe. Und als ich ihn wieder traf, nun schon aus Ge wohnheit, nannte er den Wiederaufbau, der auch vor unserem Ort nicht halt mache, die Front, an die sich die Arbeiter schon wieder schicken ließen, während die neuen Befehlshaber der Wirtschaft den Schweiß, der in den Produktionsstätten fließe, bereits in Champagner verwandelten. Mein Gott, dachte ich im Zeitschriftensaal der Nationalbi bliothek, wie recht hat der Kohlenhändler gehabt, und wie begriffsstutzig bin ich damals gewesen. Und wo, fragte ich mich, säße ich jetzt, hätte ich den Kohlenhändler nicht ken nengelernt; sicher nicht in der Nationalbibliothek; und gewiß nicht in Wien; obwohl daß ich in Wien lebte, noch auf jemand anderen zurückging, auf den slowakischen Fleischhauer aus Cleveland. Er hatte mit einem Kapitän ausgehandelt, daß der mich mit seinem Frachter nach Genua bringe, und er händigte mir auch, auf den Dollar genau, das Geld für die Zugfahrt von Genua nach Wien aus. Ich bin dann tatsächlich nach Öster reich gefahren; hätte ich gewußt, daß der Kohlenhändler und seine Tochter nicht mehr lebten, wäre ich vielleicht, entgegen dem Rat der Maumees, in Amerika geblieben. Der Fleischhauer hatte auch die Überfahrt umsichtig geregelt. Ich brauchte nur auf der faulen Haut zu liegen und mir den Bauch vollzuschlagen. Mit einem Dollarbündel in der Hand hatte der Fleischhauer dem Kapitän eingebleut, ich sei wie ein Passagier zu behandeln, er wolle nicht, daß ich fluchend an ihn zurückdenke, an ihn und die Plackerei in seinem Betrieb, die Überfahrt nach Europa möge für mich ein Erholungsur laub sein. Der Kapitän hielt sich leider daran und ließ absolut nicht mit sich reden, als ich ihm nach einigen Tagen, vom Nichtstun müde, vorschlug, ich könnte mich gegen ein paar
Dollar auf dem Schiff nützlich machen. Meine Ersparnisse waren ja minimal, sie würden gerade reichen, um mich zwei Tage in Genua aufzuhalten, und, nach der Fahrt mit der Ei senbahn, ein paar Tage in Wien; dann müßte ich mir sofort Arbeit suchen. Der Kapitän blieb während der ganzen Überfahrt unerbitt lich, ich war für ihn und für die Mannschaft des Frachters nur Gast; mit entsprechend wenig Geld ging ich in Genua an Land, und mit nicht viel mehr als den Kleidern am Leib kam ich in Wien an. Was ich trug, war nicht schlecht, denn ich hatte mich in Cleveland neu eingekleidet, dieses Mal nicht so blödsinnig wie fünf Jahre zuvor, als ich mir vor der großen Reise einen Anzug gekauft hatte, ohne ihn zu probieren. Da mals hatte ich es nicht gewagt, im Geschäft mit meiner schlei ßigen Unterhose in den neuen Anzug zu schlüpfen. Der hatte dann auch nicht gepaßt, und ich hatte darin ausgesehen wie ein Stummfilmkomiker, der ständig über zu lange Hosenbeine stolpert. In Cleveland hatte ich praktisches und strapazfähiges Zeug gekauft und es auch probiert. Mit einem Seesack, der frische Wäsche enthielt, und mit den beiden Jutesäcken voll mit Gastgeschenken der Maumees Jagdwaffen aus der Blütezeit des Stammes und kleine Kost barkeiten, die sie nun herstellten - stieg ich in den Zug nach Wien. Als die Fahrt bereits durch Niederösterreich ging, fragte ich mich, ob ich wohl die Stelle wiedererkennen würde, wo die Polizei mich festnahm, nachdem ich, des blutüberströmten Landeshauptmanns ansichtig geworden, die Notbremse gezo gen hatte. Ohne Mühe erkannte ich die Gegend wieder, ich hatte sie genau so in Erinnerung, wie sie jetzt aussah, flach, ohne eine Ebene zu sein, von Bäumen bestanden und doch nicht bewaldet, mit wenigen und häßlichen Häusern bebaut, als wäre sie nur probeweise besiedelt. Ja, sagte ich zu mir, jetzt bin ich wieder in dem Land, in dem ein Mörder nicht derjenige ist, der einen Mord begangen hat, sondern derjenige, den die Behörden zum Mörder ausersehen haben. Was werden sie mir anlasten, wenn sie mich mittellos in Wien aufgreifen?
Aufgreifen! dachte ich mir, fast schon habe ich das Wort ver gessen, doch kaum bin ich im Land, fällt es mir wieder ein, dieses Wort, das ständig als Drohung über den Menschen hängt: Wer vorlaut ist, wird aufgegriffen, wer auf der Straße singt, wird aufgegriffen, wer die Zeitung anzündet, statt sie zu lesen, wird aufgegriffen, ebenso wer auf Meinung lieber ver zichtet, als die erlaubte nachzuplappern, wie überhaupt jeder, der nicht mit angehaltenem Atem lebt. Sollte ich nicht, fragte ich mich, von Wien gleich weiterfahren zu meinen Eltern? Nein; ich wollte ihnen nicht mittellos gege nübertreten, insbesondere der Mutter nicht, die, selbst ein Leben lang mittellos, mir als das Schlimmste immer prophe zeit hatte, ich würde einmal mittellos enden. Oder zum Bau meister gehen, bei dem ich früher gearbeitet hatte, und erst einmal Geld verdienen und dann weiterschauen? Doch gab es ein Weiterschauen, nachdem man sich bei diesem Baumeister verdungen hatte? Ich blieb in Wien und gleich am Bahnhof. Ich hatte wäh rend der fünf Jahre in Amerika gelernt, mich in Geduld zu fassen und wußte aus dieser Erfahrung, die sich während des Aufenthalts bei den Maumees noch vertieft hatte, daß es sinn los sei, blindlings drauflos zu rennen. Am Bahnhof setzte ich mich in eine Ecke des Warteraums und machte erst einmal Inventur: Alles Geld in den drei Währungen zusammen, der amerikanischen, italienischen und österreichischen, ergab umgerechnet 200 Schilling - das war 1963 doch noch mehr als nichts; dennoch, eine Übernachtung in einem Gasthaus oder gar in einem Hotel kam nicht in Frage. Ich würde diese Nacht auf jeden Fall im Warteraum bleiben. Nach acht Uhr abend wurden zum Glück die Gespräche inter essanter, vorher hörte ich nur Reisefloskeln, als würden die Leute sich damit auf die Zugfahrt einstimmen, nun, nach acht, wurde der Warteraum fast nur noch von betrunkenen Obdach losen benutzt. Ihre Themen waren begrenzt - wer wie die Wohnung verloren habe, wer warum die Arbeit, und wie man von denen, die noch Arbeit und Wohnung hätten, verfolgt und
gedemütigt und immer tiefer ins Elend getrieben werde. Das Reden über das Immergleiche wiegte mich in den Schlaf, und als mich jemand weckte, galt mein erster Blick der Uhr. Es war eins. Ein Polizist stand vor mir: Der Warteraum werde geschlossen. Auch für Reisende? fragte ich; ich hatte ja eine Fahrkarte in der Tasche, zwar nicht für eine Reise, die noch vor mir lag, dennoch redete ich mir ein, diese Fahrkarte gebe mir zumindest ein halbes Recht darauf, den Warteraum zu benutzen. Es gibt um diese Zeit keine Reisenden, sagte der Polizist, denn es wird jetzt nicht nur der Warteraum, es wird der gesamte Bahnhof geschlossen. Da der Polizist nicht un freundlich geantwortet hatte, wagte ich noch einen Einwurf: Und die Nachtzüge? Steigt hier niemand zu und niemand aus? In der Nacht, sagte der Polizist, verkehren hier keine Züge. Was für eine Teufelei, dachte ich, den Fahrplan so zu erstel len, und nicht nur den inländischen, sondern auf österreichi sches Drängen auch den der internationalen Züge, daß ausge rechnet in den unwirtlichsten Stunden, zwischen eins und dem Morgengrauen, kein Zug in Wien ankommt und keiner ab fahrt, nur damit man den gesamten Bahnhof sperren und die Unterstandslosen hinaus in die Kälte treiben kann. Schlaftrun ken war ich aus dem Warteraum geschlurft und wurde richtig wach erst, als ich sah, daß der Polizist mir folgte. Ich hatte kein gutes Gefühl dabei, mußte an meine Festnahme denken und an meinen gefälschten Reisepaß, und als der Polizist mich ansprach und auch noch auf die beiden Jutesäcke deutete, zuckte ich zusammen. Sieht aus wie Jute, sagte er, für Jute ist der Stoff aber viel zu fein gewebt. Es handle sich um indiani sche Jute, erklärte ich ihm und erzählte, woher die Säcke stammten und was sie enthielten. Wenn Sie im Freien schlafen, sagte der Polizist, wird man Ihnen die Sachen stehlen. Was soll ich machen? antwortete ich, werden sie mir heute nicht gestohlen, dann morgen oder übermorgen. Er an meiner Stelle, sagte der Polizist, würde sie verkaufen; er würde jetzt zum Völkerkundemuseum gehen und warten, bis in der Früh aufgeschlossen werde; bis dahin
würde er kein Auge zumachen. Sobald das Museum geöffnet wird, sagte er, wenden Sie sich gleich rechts nach dem Ein gang an den Portier und bestellen ihm einen Gruß von mir, seinem Schwager. Und sagen Sie ihm, daß ich gesagt habe, er soll Sie zu jemandem bringen, der für Indianersachen zustän dig ist. Wenn der die Sachen nicht kauft, können Sie es immer noch bei einem Antiquitätenhändler versuchen.
Am nächsten Vormittag kniete der stellvertretende Direktor des Völkerkundemuseums mir gegenüber, auf dem Boden lagen die Jagdwaffen der Maumees, und er begutachtete Stück für Stück. Ihn begeisterte, daß er, der ähnliche Waffen nur aus anderen Museen kannte, meine Waffen nun in seinem Muse um in Händen hielt. Daß er sie sogar zum Kauf angeboten bekam, schien er nicht fassen zu können. Selbstverständlich werde er die Waffen erwerben, für sich, wie er sagte, so sehr identifizierte er sich mit der von ihm ausgebauten Sammlung indianischer Kulturen. Gute zwei Stunden kniete er auf dem Boden, und wenn er redete, dann vor sich hin und nicht zu mir. Dann warf er sich, als wäre er gerade abgehetzt zu einer Verabredung gekommen, in einen Lederfauteuil und traktierte mich mit Fragen, als gelte es, die letzten zwei Stunden aufzu holen. Als ich merkte, daß er jeden meiner Schritte in Amerika re konstruiert haben wollte, machte ich ihn darauf aufmerksam, daß ich fünf Jahre, fünf!, unterwegs gewesen war; doch er quetschte mich weiter aus. Sollte ich es, fragte ich mich, bei diesem Mann, der so sensibel wirkte, mit einem Klotz zu tun haben? Ich versuchte es noch einmal: Nicht nur Amerika sei strapaziös gewesen, auch die Rückreise; nach dem sanften Schwanken des Schiffes das enervierende Rattern der Eisen bahn. Er lachte, als hätte ich einen Witz gemacht, und so nahm ich noch einen Anlauf: Auch letzte Nacht habe ich nicht geschlafen, da bin ich vor dem Museum gesessen.
Sie haben wahrscheinlich, sagte er und machte dabei ein Ge sicht, als sei ihm ein Licht aufgegangen, noch nicht einmal gefrühstückt. Ich nickte. Ich lasse Ihnen Kuchen und Kaffee bringen. Erschrocken wehrte ich ab: Kuchen esse ich nicht. In der Tat hatte ich mich von Kindheit an geweigert, in einen Kuchen zu beißen. Ich stellte mir damals vor, die Millionen Brösel, aus denen ein Kuchen bestehe, würden nur durch ei nen faulen Trick zusammengehalten; habe man ein Stück Ku chen erst einmal im Mund, könnte es jederzeit auseinanderfal len, und man könnte an den Bröseln ersticken. Kaffee? fragte er. Nein, sagte ich. Das hörte er nicht ungern, da es im Haus, wie er sagte, anderes als Kaffee und Kuchen leider nicht gebe. Ich stand auf und begann die Sachen einzupacken; er sprang dazwischen. Ich wollte damit nur sagen, sagte er, ich könnte, wenn Sie andere Wünsche haben - nun zögerte er, gab sich dann aber einen Ruck -, ich könnte von auswärts was holen lassen. Das hörte sich schon besser an. Würstel? fragte er, und eine Flasche Bier? Was für ein Arschloch, dachte ich, sitzt in einem pompösen Büro, hat sicher ein paar Hunderter eingesteckt, weiß, daß ich die Nacht im Freien zugebracht habe, kann sich denken, daß so einer nicht viel Geld hat, und lädt mich auf ein Paar Wür stel und ein Bier ein. Während ich das dachte, nahm ich mit einem Nicken das Angebot des stellvertretenden Direktors an. Auch er sagte nichts, er verließ einfach das Zimmer. Ich konn te nicht wissen, daß er nur zu seiner Sekretärin nebenan ging. Nach einer halben Stunde kam er zurück, erschöpft und nie dergeschlagen, die Tür hinter sich ließ er offen, als hätte er nicht mehr die Kraft, sie zu schließen. Ob er sich, fragte ich mich, unterwegs besonnen und eine ganze gebratene Sau her beigeschleppt hat? Gleich nach ihm trat eine Frau ins Zimmer, der stellvertretende Direktor stellte sie mir als seine Sekretärin vor. Gebannt starrte ich auf ihren Mund: Er war so verkniffen, daß die Lippen wie ein schmaler, weißer Strich wirkten. In fürchterlichem Kontrast dazu hingen die Augen wie lose, braune Knöpfe aus dem Gesicht und schauten nirgendwohin;
zwischen diesen Lippen und diesen Augen eine verwüstete Haut. Die Sekretärin trat gleich nach dem stellvertretenden Direktor, der in seinem Lederfauteuil immer kleiner wurde, ins Zimmer und pflanzte sich vor ihm auf. Nun? fragte sie. Gut, sagte er. Morgen, sagte sie. Gut, sagte er. Nachdem sie gegangen war, erklärte er mir, daß die Sekretärin als Gegenleistung da für, daß sie Bier und Würstel hole, was tatsächlich nicht zu ihren Aufgaben gehöre, einen freien Tag verlangt habe. Dar um also, dachte ich, der Kampf zwischen den beiden. Ich fühl te mich aufgewertet. Der stellvertretende Direktor erholte sich von der Auseinan dersetzung mit der Sekretärin an diesem Tag nicht mehr; zwar versuchte er, gleich nachdem sie das Zimmer verlassen hatte, zu seiner ursprünglichen Begeisterung für die Waffen der Maumees zurückzufinden, doch hatte ihn der Streit zu sehr mitgenommen. Ich beneide Sie um Ihre Erlebnisse, sagte er; ich muß mich mit meinem Lieblingsthema hier im Museum oder an der Hochschule beschäftigen. Indianer und diese Insti tutionen sind an sich schon ein grotesker Widerspruch, sagte der stellvertretende Direktor; innerhalb der Institutionen aber herrscht statt Liebe zur Sache eine vollkommen perverse Lei denschaft: glühendes Desinteresse. An keinem anthropologi schen Institut werden Sie das Interesse an den sogenannten Naturvölkern verbunden sehen mit der Einsicht, daß Kenntnis des Fremden nur Sinn hat, wenn sie zur Selbsterkenntnis bei trägt. Doch hier im Museum finden Sie nicht einmal Interesse am Exotischen. Als ich der Sekretärin von der wunderbaren Fügung erzählte, welche Sie hierher führte, und von den Schätzen, die Sie uns gebracht haben, schaute sie gar nicht auf; und als ich sie bat, von außerhalb des Hauses etwas für unseren Gast zu essen zu holen, wußte sie nichts Besseres, als jene Bestimmung der Dienstordnung herunterzuleiern, derzu folge sie dazu nicht verpflichtet sei. Dienstordnung! rief ich, in Ihrem Museum gibt es eine Dienstordnung, schwarz auf weiß festgehalten, auf die man
sich berufen kann? Der stellvertretende Direktor nickte gei stesabwesend. Von so etwas, sagte ich, habe ich immer ge träumt, von einer Dienstordnung, in der geregelt ist, was ei nem Bauarbeiter zugemutet werden darf und was nicht, und in der dem Baumeister und dem Polier untersagt wird, einen auch noch mit Beschimpfungen fertigzumachen. Ich habe nämlich, sagte ich, einmal auf dem Bau gearbeitet. Ich hätte nicht gedacht, war die Antwort des stellvertretenden Direktors, daß jemand für meine Sekretärin Sympathie auf bringen kann. Daß ausgerechnet Sie an dieser verschlagenen Person etwas finden, der Sie Gelegenheit gehabt haben, das offene Wesen der Indianer kennenzulernen, erstaunt mich sehr. Sie irren sich, sagte ich, nicht Ihre Sekretärin beeindruckt mich, sondern die Dienstordnung, auf die sie sich berufen hat; Sie irren sich noch in einem zweiten Punkt: Ich zog nicht der Indianer wegen fünf Jahre lang durch die Vereinigten Staaten. Ich weiß, sagte der stellvertretende Direktor, ich weiß, Sie erzählten etwas von einer Großmutter; was Sie da sagten, klang aber nicht sehr überzeugend. Sogleich disponierte ich um; schließlich hatte ich noch keinen Kaufvertrag in der Ta sche, geschweige denn, daß ich einen Groschen bekommen hätte. Wenn er, dachte ich, die Großmuttergeschichte nicht hören will, werde ich eben wieder die Indianergeschichten ausschlachten, und ich beeilte mich, ihm zu versichern, nichts auf der Welt habe mich mehr beeindruckt als die Maumees. Daß der Direktor auf diese Bemerkung überhaupt keine Reak tion zeigte, machte mich stutzig, doch meine Befürchtung, er habe das Interesse am Kauf der Waffen verloren, war unbe gründet. Ob er indiskret sein dürfe, fragte er. Selbstverständlich, wollte ich schon sagen, doch derart anbiedern wollte ich mich nicht, und ich sagte: Ja. Ob ich diese Gastgeschenke nur verkaufen würde, fragte er, weil ich Geld brauchte, oder ob ich sie auch, wenn ich nicht in Not wäre, veräußern würde. Die Maumees, sagte ich, hätten mir die Waffen gegeben, damit die mich gut
nach Haus brächten; das hätten sie getan; ewig wolle ich sie nicht herumschleppen und übers Bett würde ich sie mir auch nicht hängen; recht wäre mir allerdings schon, wenn sie nicht in falsche Hände gerieten, außerdem sei es ungewiß, wann ich wieder in einem Bett liegen würde, über das ich die Waffen hängen könnte. Das lassen Sie meine Sorge sein, sagte der stellvertretende Direktor, Sie sind für die nächsten Tage mein Gast. Sagte er tatsächlich: die nächsten Tage, und nicht nur: den nächsten Tag? Die nächsten Tage, das erschien mir unabsehbar lange. Seit ich nach Europa zurückgekehrt war, lebte ich ohne Zu kunft. Diesen Zustand hatte ich mir während der letzten zehn Jahre nicht einmal vorstellen können, da ich mit meinen Fluchtplänen nur in der Zukunft gelebt hatte. Doch nachdem wir bei den Maumees ans Ziel gekommen waren, gab es für mich nichts mehr, das vor mir lag. Selbst der Rat der Mau mees, nach Europa zurückzukehren, gehörte für mich der Ver gangenheit an. Erst die Einladung des stellvertretenden Direk tors, für einige Tage sein Gast zu sein, ließ mich wieder an die Zukunft denken. Die Aussicht, für zwei, drei Tage einen Schlafplatz zu haben, blieb allerdings nur ein Versprechen, solange der Direktor keine Anstalten traf, von hier aufzubrechen. Auch war die Sekretärin noch nicht mit den Würsteln und dem Bier zurück. Nachdem sie mir dann das Zeug in einer Verpackung, die aussah wie billiges Klopapier, hingeworfen und eine Flasche Bier auf den Tisch gestellt, stillte ich rasch Hunger und Durst. Darauf sagte ich dem Direktor unverblümt, ich könne mich nicht mehr wachhalten. Er, der mir offenbar nicht zugehört hatte, antwortete, als hätte er eine langgesuchte Formulierung gefunden: Ihre Berichte sind für mich ungeheuer wertvoll, ich bringe im Augenblick nur nicht die Konzentration auf, Ihnen die richtigen Fragen zu stellen. Ich atmete auf; auch ich hätte, sagte ich, im Augenblick nicht die Kraft für erschöpfende Antworten. Wieder schien er mir nicht zugehört zu haben; es sei hundert und eins, sagte er,
ob jemand wie er sich als Forscher mit den Indianern beschäf tige, belastet mit einem Vorwissen, das einen unbefangenen Blick ohnedies nicht zulasse, und getrieben von dem Zwang, diesem Wissen neues, eigenes in Form von Publikationen hinzuzufügen, oder ob jemand wie ich auf der Suche nach seiner Großmutter zufällig auf Indianer stoße. Meinen Aus führungen liege ein zwangloses und insofern tieferes Beo bachten zugrunde. Der Direktor bat mich mit einer Geste, einen Augenblick zu warten. Er öffnete die Tür und ersuchte die Sekretärin, das Tonbandgerät in Betrieb zu setzen, er komme mit dem Apparat nicht zurecht; es war, als hätte er ins Leere gesprochen. Resigniert setzte er sich und nahm Zettel und Bleistift zur Hand; ich nützte den Augenblick, in dem er sich zurechtsetzte, und sank, als würde ich schlafen, in mich zusammen. Erschrocken sprang der Direktor auf, packte mich bei den Schultern, damit ich nicht vom Sessel fiele, und brach te mich endlich zu sich nach Haus, zu Fuß, da es, wie er mir versicherte, mit dem Taxi länger dauern würde; wir hätten nur über den Ring zu gehen. Er wohne ganz in der Nähe, Ecke Schillerplatz/Elisabethstraße. In seiner Wohnung brachte er mich ins Gästezimmer, richtete mir das Bett und wünschte mir, obwohl es erst Nachmittag war, eine gute Nacht. Aus dieser einen Nacht wurden, was weder er noch ich wissen konnten, einige Wochen. Als ich am nächsten Tag erwachte, hatten der Direktor und seine Frau, sie hatte ich noch nicht zu Gesicht bekommen, die Wohnung bereits verlassen. Da die beiden nicht wußten, was ich gern frühstückte, breiteten sie, gewiß ein Willkommens zeichen, alles auf dem Frühstückstisch aus, was Wien an Wür sten, Käsen, Aufstrichen, Säften und Kaisersemmeln zu bieten hatte, und Kaffee und Tee standen in Thermosflaschen bereit. Ich hielt es für höflich, alles, was diese Leute auf den Früh stückstisch gehäuft hatten, auch aufzuessen, und damit hatte ich, nachdem ich um zehn Uhr aufgestanden war, bis Mittag zu tun. Danach wartete die Arbeit auf mich. Der stellvertretende Di
rektor hatte in der Zwischenzeit in seinem Büro etliche For mulare vorbereitet, die ich nur zu unterschreiben brauchte. Als Gegenleistung bekam ich dreißigtausend Schilling auf die Hand. Zunächst schien mir das viel Geld zu sein, doch nach einer Woche wußte ich, was diese Summe wirklich wert war: Ich konnte damit in der äußersten Vorstadt eine äußerst be scheidene Wohnung, nein, nicht erwerben, sondern mieten. Denn um in Wien eine Wohnung überhaupt mieten zu können, mußte man dem Hausbesitzer oder dem Verwalter eine Ablöse zahlen. Diese Praxis war zwar per Gesetz verboten worden, florierte aber seither noch mehr, denn seit Sozialdemokraten in Wien regierten, wurde nichts lieber gebrochen als deren soziale Gesetze. Meinen Erlös aus dem Verkauf der indianischen Jagdwaf fen durfte ich angesichts dieser Zustände auf dem Woh nungsmarkt nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. Ich hatte schon eine Wohnung besichtigt: Ablöse dreißigtausend, ein passables Loch in Ottakring, an einer Ausfahrtsstraße, Küche, Zimmer, Kabinett; Klo und Wasser auf dem Gang, doch eine Wasserleitung würde sich in der Küche installieren lassen. Dieses Loch war sehr renovierungsbedürftig, doch mich, den ehemaligen Bauarbeiter, reizte daran, die elektrischen Leitun gen neu zu legen, die schadhaften Mauern zu verputzen, alles neu zu weißen, Fenster und Türen zu streichen und den Boden zu erneuern. Das Geld für die Ablöse habe ich hier, sagte ich zum Hausei gentümer und hielt ihm die dreißig Tausender unter die Nase. Doch ich kann die Wohnung jetzt noch nicht nehmen, ich muß erst Arbeit finden, um auch die Miete zahlen zu können. Für zehntausend, schlug der Hauseigentümer vor, würde er mir die Wohnung reservieren. Mein Gegenvorschlag lautete eintau send. Schließlich stieg er darauf ein und gab mir für das Geld sogar eine Quittung. Als ich zwei Monate später Arbeit hatte und mich beim Hausherrn meldete, behauptete er, ich hätte einen vereinbarten Termin verstreichen lassen. Den Tausender sah ich nicht wieder, die Wohnung auch nicht. Doch fand ich
am selben Tag in derselben Straße eine andere zum selben Preis, die nicht renoviert werden mußte; Dusche in der Woh nung, das Klo allerdings auf dem Gang. Was Jahre später nur Maria störte, wenn sie bei mir übernachtete. Den Zeitungsannoncen zufolge wäre es viel einfacher gewe sen, Arbeit zu finden als eine Wohnung, in meinem Fall war es jedoch umgekehrt. Der stellvertretende Direktor beteuerte mindestens einmal jeden Tag, Arbeitssuche, das möge ich ihm überlassen, er bemühe sich, daß ich hier im Museum eine Anstellung erhalte; nur der ihm vorgesetzte Direktor sei dage gen, dessen Widerstand gelte es zu überwinden, und er, der stellvertretende Direktor, erziele bei den mit der Sache befaß ten Stellen, im Ministerium ebenso wie hier im Haus, in dieser Sache täglich einen kleinen Fortschritt. Vorderhand hielten wir es jedenfalls so, daß ich bei ihm wohnte, auch dann noch, als ich mir das Mietrecht auf eine eigene Wohnung bereits erkauft hatte; ich wollte nicht in eine leere Wohnung ziehen, und ein Bett mußte ich mir erst erwirtschaften. Ich stand dem stellvertretenden Direktor jeden Tag ein paar Stunden zur Verfügung, werktags in seinem Büro, am Wochenende in seiner Wohnung. Er wollte mich offenbar möglichst bald aus gequetscht haben für den Fall, daß es mit meiner Anstellung nicht klappte, ich anderswo arbeitete und mir die Lust vergin ge, mich dem Frage-Antwort-Spiel zu unterziehen. Für die Gespräche sollte ich stundenweise entlohnt werden, doch das lehnte ich ab, schließlich wohnte und aß ich gratis bei ihm; ich nahm nur Taschengeld.
Der Aufenthalt in der Wohnung des stellvertretenden Direk tors und seiner Frau war für mich nur während der ersten Wo che einigermaßen erträglich, danach begann ich unter den Mahlzeiten zu leiden. Die Speisen waren daran noch der harmloseste Bestandteil. Täglich um halb sieben begann diese Großveranstaltung in einem extra dafür eingerichteten Raum
namens Speisezimmer. Als zwanghaft empfand ich schon, daß die Zeremonie stets auf die Sekunde pünktlich einsetzte. Es sen nach Zeitplan hatte ich bereits als Kind gehaßt, und ich sah auch jetzt nicht ein, daß es außer Hunger andere Gründe geben sollte, zu Tisch zu gehen. Nur bei Großmutter hatte es keinen Mahlzeitenterror gegeben, sie selbst hatte unregelmä ßig gegessen, und, wenn sie aß, niemals von mir verlangt, es ihr gleichzutun. Der stellvertretende Direktor und seine Frau setzten als selbstverständlich voraus, daß ich mich ihrem Ri tual ohne weiteres unterwarf. Der erste Anlaß auszubrechen ergab sich am zweiten Donnerstag; eine Woche zuvor war eine besondere Hauptspeise serviert worden. Eine Konstante, sagte der stellvertretende Direktor, gebe es im wöchentlichen Speisenplan: Kalbsmedaillons. Diese Spezialität bereite nie mand so zu wie seine Frau, sie selbst habe das Rezept erson nen, und nicht einmal ihm, ihrem Mann, gebe sie es preis. Er hatte recht: In Zartheit und Geschmack ähnelte das Fleisch gepreßtem Stroh, und die Beilage, Kohlsprossen, sah aus wie Salatblätter, die, in einer Steige vergessen, einen Winter lang zusammengefault waren. Um nicht auch noch den Geschmack ertragen zu müssen, schluckte ich Kohlsprosse für Kohlspros se, als handelte es sich um große Medikamentenkapseln, im ganzen hinunter. Dieser Tortur wollte ich mich am darauffolgenden Donnerstag auf keinen Fall unterziehen, schon deshalb nicht, weil ich am Tag zuvor eine verlockende Alternative entdeckt hatte, Pfer deleberkäs von einem Würstelstand; Pferdeleberkäs, bei dem der unvergleichlich herb-süße Geschmack von Pferdefleisch voll zur Entfaltung kam, war schon beim slowakischen Fleischhauer in der West Hall mein Lieblingsessen, hier, bei einem Wiener Würstelstand, schmeckte er noch saftiger. Zu Mittag sagte ich dem stellvertretenden Direktor Bescheid und gebrauchte dabei erstmals einen Vorwand, der mir später oft von Nutzen war: Ich sei am Abend mit jenem Polizisten ver abredet, der mir am Südbahnhof den rettenden Weg zum Mu seum gewiesen habe. Wegen dessen komplizierter Dienstein
teilung sei es gar nicht leicht, sich mit ihm zu verabreden, heute aber sei es mir gelungen. Befreit spazierte ich am Abend stadtauswärts. Mich befiel ein solcher Übermut, daß ich auf dem Gehsteig zwischen den Passanten dahinhüpfte, bis deren Blicke mich zur Raison brachten, strafende Blicke aus verbitterten Gesichtern, eine Kombination, die, wie ich augenblicklich begriff, den soge nannten Charme dieser Stadt und ihrer Bewohner ausmachte. Am Ziel, beim Würstelstand, angelangt, nützte ich die Befrei ung vom Eßzwang so ausgiebig, daß ich weder Pferdeleberkäs noch Burenwurst aß. Ich stand dort nur umher und sog auf, was die Leute redeten. Der Würstelstand schien mir der einzi ge Ort in dieser Stadt zu sein, wo Menschen, die einander nicht kannten, beisammen standen und miteinander sprachen. Gierig lauschte ich den Belanglosigkeiten, nachdem ich schon eineinhalb Wochen lang nichts anderes zu hören bekommen hatte als die Fragen des stellvertretenden Direktors. Umso mehr genoß ich beim Würstelstand den Stumpfsinn, mit dem die Leute sowohl sich als auch einander amüsierten, und als sie entdeckten, daß ich nur zuhörte, aber nicht lachte, er klärten sie mir, dem Nichtwiener, bei dem, was sie redeten, handle es sich um den Wiener Schmäh, dessen Wesen darin bestehe, daß alle, ob Schmähführer oder nur Zuhörer, zum Lachen verpflichtet seien; also lachte ich. Damit hatte ich die Aufnahmeprüfung für Wien bestanden. In den Tagen und Wochen danach empfand ich die tägliche Vergatterung zu Suppe, Vorspeise, Hauptspeise, Nachspeise, Eis, Bier, Wein, Likör und Schnaps sogar als das kleinere Übel im Vergleich mit dem Gesprächsthema, das die beiden, der stellvertretende Direktor und seine Frau, anschlugen; im Privatleben galt die Leidenschaft des stellvertretenden Direktors nicht den India nern, sondern der eigenen Lebensgeschichte. So lernte ich mit einer Gefahr umzugehen, auf die ich nicht ganz unvorbereitet war: Jeder Wiener ist überzeugt, sein Leben sei ein Roman, woraus er den Schluß zieht, es erübrige sich, Romane zu le sen; eine äußerst populäre Meinung, auf der nicht nur die Le
seunlust, sondern auch der tiefe Abscheu der Wiener vor Lite ratur überhaupt beruht. Ich wußte das schon vom Kohlenhänd ler, der, Besitzer einer umfangreichen Bibliothek, mich in meiner Zeit als Bauhilfsarbeiter mit Literatur bekannt gemacht hatte: Von den beiden größten Schriftstellern, hatte der Koh lenhändler gesagt, die in der ersten Jahrhunderthälfte in Wien gewirkt hätten, habe der eine, Kraus, den Roman als sprachli che und gedankliche Ungestalt mißbilligt, der andere hinge gen, Musil, habe ihn als höchste Gestalt von Sprache und Denken gepriesen, wodurch freilich auch er den Roman ad absurdum geführt habe. Daraus hatte der Kohlenhändler ge schlossen, daß die Meinung der Wiener, ihr Leben sei ein Roman, den Schriftstellern in dieser Stadt nur die Wahl gelas sen habe, den Roman entweder in die Hölle zu verdammen oder in den Himmel zu heben, weil anders der populären Mei nung über den Roman nicht zu entkommen gewesen wäre. Ungenießbarer noch als die Mahlzeiten erwiesen sich die Gespräche. Sie mit ihren dreiundzwanzig Jahren, pflegte die Frau des stellvertretenden Direktors zu mir zu sagen, können sich gar nicht vorstellen, was das heißt, wenn man, wie mein Mann und ich, schon dreiundzwanzig Jahre das Leben mitein ander teilt und schon ganze zwanzig Jahre verheiratet ist. Das gleiche hatte sie gestern und vorgestern und vorvorgestern gesagt, und wahrscheinlich würde sie das gleiche morgen und übermorgen und überübermorgen während der Mahlzeiten wiederholen. Das Leben zu teilen, was für ein bezeichnender Ausdruck! Ich hatte keine Lust, mir das auch nur vorzustellen. Wie gern hätte ich das der Frau gesagt, aber zum Glück stellte sich die Frage, ob ich den Mut dazu aufbrächte, gar nicht. Als ich meinen Einwand im Kopf vorformuliert hatte, war der Redefluß der beiden Lebensgeschichtenerzähler bereit woan ders angelangt, und sie hätten meinen Einwand gar nicht ver stehen können. Beim Wort Honiglecken war der Redefluß diesmal ins Stok ken geraten: Die lange Beziehung, sagte die Frau zu mir, sei nicht immer ein Honiglecken gewesen. Bei Gott, fuhr der
Mann dazwischen, gerade in der ersten Zeit sei die Beziehung alles andere als ein Honiglecken gewesen. Die Frau nickte; vor allem jene Zeit, sagte sie, ist schwierig gewesen, als es um die Frage der Haushaltsführung ging. Denn, sagte der Mann, seine Frau habe zur gleichen Zeit das Studium abgeschlossen wie er. Sie sei Historikerin, spezialisiert auf Zeitgeschichte, und sie sei bereits in der Zeit, als sie ihre Dissertation ge schrieben habe, am Institut für Zeitgeschichte als wissen schaftliche Assistentin beschäftigt gewesen. Damals schon hätten sich, was selten vorkomme, mehrere Wiener Verlage für das Manuskript interessiert, so sensationell sei das Thema gewesen; seine Frau habe sich aber gegen eine wissenschaftli che Karriere entschieden; dennoch sei das Buch erschienen, das Thema sei, wie gesagt, zu sensationell gewesen, als daß die Verlage daran hätten vorbeisehen können. Hier, sagte der Mann, nachdem er in ein Regal gegriffen hatte, in dem neben einander an die hundert gleiche Bücher standen, und reichte mir ein Exemplar. Stolz warf die Frau ihren Kopf zurück. Wie Sie wissen, sagte der Mann zu mir, herrschte in Österreich von 1934 bis 1938 eine klerikalfaschistische Diktatur, unter der nicht nur alle linken Parteien verboten waren, sondern auch die Partei der faschistischen Konkurrenz aus Deutschland, die Nazipartei. Moderne Diktaturen jedoch verbieten nicht nur alles, was bislang zur Wahl gestanden ist, sie lassen auch noch, um die Menschen doppelt zu demütigen, Wahlen abhal ten. Und mit den Wahlergebnissen und dem Wahlverhalten in der Zeit des Klerikalfaschismus beschäftigt sich dieses Buch. Es deckt auf, daß in mehreren Regionen Österreichs, zum Beispiel im obersteirischen Ennstal, wo meine Frau her stammt, die Nazis, obwohl verboten, offiziell für die Gemein deratswahl kandidierten, die Wahl in einigen Orten gewannen und tatsächlich den Bürgermeister stellten. Was für eine Komplizenschaft, rief der Mann, eine reaktionäre Partei ver bietet eine rechtsextreme, bringt es dann aber nicht über sich, dieser Partei auch nur ein Haar zu krümmen. Vier Jahre lang wurde im Dorf meiner Frau auf diese Weise Politik gemacht,
und ähnlich ging es in ganz Österreich zu, bis das Land derart faschistisch verseucht war, daß es der reichsdeutsche Aasgei er, um nicht an seine österreichische Herkunft erinnert zu werden, verschlingen konnte, ohne auf Gegenwehr zu stoßen. Erste Hinweise auf jene Komplizenschaft, sagte der Mann, erhielt meine Frau von ihrem Vater. Als Studentin dann ging sie der Sache auf den Grund. Ich hatte das Buch aufgeschlagen und einen Blick hineinge worfen; es ist, sagte ich voll Anerkennung, in Schladming erschienen. Die Frau errötete. Diejenigen Wiener Verlage, sagte sie, die sich ursprünglich um das Manuskript bemüht haben, sind, als ich mich für ein Leben als Hausfrau entschie den habe, an meiner Arbeit nicht mehr interessiert gewesen. Ich kenne diesen Schladminger Verlag nicht, sagte ich, finde es aber ganz normal, daß dieses Buch nicht in einem Wiener Verlag erschienen ist. Wiener Verlag, betonte ich, das sei ein Widerspruch in sich. Sogleich merkte ich, daß ich zuviel ge plaudert hatte: Meine Gastgeber warfen einander äußerst ver wunderte Blicke zu. Rasch wechselte ich das Thema, redete, ganz gegen meine Gewohnheit, über das Abendessen, lobte den Gorgonzola, von dem ich eben gekostet hatte und der mir überhaupt nicht schmeckte, und stellte die aberwitzige Be hauptung auf, in der West Hall einen Gorgonzola gegessen zu haben, der wie Tilsiter geschmeckt habe. Auf keinen Fall sollte das Gespräch noch einmal auf Verlage kommen, ich wollte mich nicht noch einmal verplappern, schon gar nicht wollte ich mein Geheimnis preisgeben: Ich hatte an jenem Donnerstag, an dem ich vor den Kalbsmedail lons zum Würstelstand geflüchtet war, einen Mann kennenge lernt, er war, stellte sich heraus, gleich alt wie ich, dreiund zwanzig. Er hatte mich angesprochen, weil ihm, einem gebür tigen Wiener, imponiert hatte, wie hartnäckig ich trotz Lach befehls dem Wiener Schmäh widerstand, und gefragt, woher ich käme. Als ich sagte, aus Amerika, mußte er lachen. Darauf wäre er nie gekommen, er habe von meinen Händen auf Ar beit in einem Kohlenbergwerk geschlossen und gedacht, ich
käme aus Fohnsdorf oder aus Köflach. Um mehr von mir zu erfahren, wie er unverblümt zugab, lud er mich auf einen Kaf fee ein, wir müßten allerdings bis zu seinem Kaffeehaus eine Viertelstunde gehen. Er habe hier am Würstelstand zwar sein letztes Geld ausgegeben, doch das sei nicht von Belang, der Ober im Cafe Bräunerhof würde ihm die Zeche stunden. Ehe wir losgingen, machte er eine knappe Verbeugung und stellte sich vor: Reinhard. Ich, noch den Umgangsformen in der West Hall verhaftet, sagte nur: Hi. Im Kaffeehaus fragte er mich über Amerika aus, und ich er zählte ihm zuerst von den Maumees, doch das interessierte ihn nicht. Ich deutete an, warum ich überhaupt nach Amerika gefahren war, und kam dabei auf Großmutter, auf Maria und auf den Kohlenhändler zu sprechen. Das interessierte den jungen Mann außerordentlich. Ich aber scheute mich, einem Wildfremden gegenüber mit diesen Geschichten herauszurük ken. Er merkte das und zeigte Verständnis dafür. Er sei Lyri ker und würde auch nicht dem Erstbesten seine Gedichte vor lesen. Doch wer weiß, sagte er, vielleicht würden wir im Lauf der Zeit einander vertraut werden. Diese Überlegung griff ich gern auf und schlug für das nächste Treffen den Donnerstag in einer Woche vor, um diese Zeit und in diesem Cafe, er werde mein Gast sein. So ist auch der nächste Donnerstag, dachte ich, als kalbsmedaillonloser Tag gesichert. Danach blieben wir beim Donnerstagabend als dem Zeitpunkt für unsere Ge spräche. Meinen Gastgebern aber verschwieg ich den Lyriker und schützte jedesmal ein Treffen mit dem Polizisten vor. Ich wollte ihnen nicht auf die Nase binden, daß ich nun einen Bekannten hatte, mit dessen Hilfe ich die Nachrichten aus der gebildeten Welt, die ich bei meinen Gastgebern aufschnappte, überprüfen konnte. Die Nachricht zum Beispiel, Wiener Verlage hätten sich um ein Manuskript meiner Gastgeberin gerissen, löste beim Lyri ker Gelächter aus. In Wien, sagte er, gebe es gar keine Verla ge. Firmen, die sich so nennen würden, täten das nur, um steuerliche Vorteile oder um Subventionen zu erschwindeln.
Werbebroschüren würden sie als zeitgenössische Literatur deklarieren, womit sie in einem tieferen Sinn, den sie aber nicht begreifen könnten, sogar recht hätten, denn was in dieser Stadt unter literarischem Experiment verstanden werde, habe sich meist sehr bald als Vorlage für Reklame und Kabarett erwiesen. Nach dieser Ausführung fragte ich mich, warum es meine Gastgeberin als Makel empfand, daß ihr Werk bei ei nem Schladminger Verlag herausgekommen war. Erst als ich vorgab, ihre Ansicht zu teilen, ließ sie Verlag Verlag sein und fuhr fort: Mein Mann und ich warteten das Ende des Studiums ab, dann erst heirateten wir und zogen in eine gemeinsame Wohnung. Für mich, sagte der Mann, kam der Entschluß mei ner Frau, nicht mehr berufstätig zu sein, völlig überraschend. Ich hatte gedacht, sagte sie, der Haushalt werde mich bald langweilen. Doch es stellte sich heraus, daß einen Haushalt richtig zu führen mich so ausfüllt wie früher der Beruf. Was glauben Sie, wie lange es braucht, eine Wohnung einzurich ten; Sie dürfen sich das nicht so vorstellen, daß man an einem Tag etwas in der Auslage eines Möbelhauses sieht und es am anderen Tag daheim stehen hat; nein, sagte die Frau, eine Wohnung einzurichten müssen Sie sich vorstellen wie das Komponieren einer Symphonie: Jeder Ton, jedes Detail muß abgestimmt werden auf das andere, und da jedes Möbel auch noch eine Geschichte hat, kommt zur künstlerischen Tätigkeit eine wissenschaftliche. Endlich verstand ich, warum ich mich in der Wohnung der beiden wie in einem Museum fühlte, im Büro des stellvertretenden Direktors aber, welches ihm im Museum zur Verfügung stand, wie in einer Wohnung. Schlimmer noch war die Unterhaltung mit den Gastgebern, wenn sie sentimental wurden. Nach dem dritten Glas fiel dann der Satz: Wir stammen, wie Sie, aus einfachen Verhältnissen. Warum sie ausgerechnet auf diese Feststellung so versessen waren, verstand ich nie. Die beiden versteiften sich aber nicht nur auf gleich ärmliche Herkunft, sie versuchten, mich darin sogar zu übertrumpfen: Sagte ich, mein Vater sei Arbeiter, kam als Antwort, die Väter der beiden seien einfache Arbeiter;
sagte ich, meine Mutter sei Hausfrau, kam als Antwort, ihre Mütter seien gewöhnliche Hausfrauen. Wahrscheinlich hätte ich auf das Gerede von der gemeinsamen Herkunft aus einfa chen Verhältnissen nicht so gereizt reagiert, hätte es nicht aufs unangenehmste die Erinnerung an jenen Untersuchungsrichter im Wiener Landesgericht wachgerufen, der sich in mein Ver trauen hatte einschleichen wollen, indem er fortwährend unse re gemeinsame Herkunft beschwor: Auch er sei ein Arbeiter kind; er sagte das mit dem Hintergedanken, mich dazu zu bringen, einen Mord zu gestehen, den ich nicht begangen hat te. Er werde, sagte der stellvertretende Direktor, die herablas senden Blicke der gutbürgerlichen Studentinnen und Studen ten nie vergessen, jene Blicke, mit denen seine jetzige Frau und er ihres ärmlichen Aussehens wegen taxiert worden seien. Damals habe er sich geschworen, daß er, wo immer er später gesellschaftlich stehe, seine Herkunft niemals vergessen wer de und daß sein Platz an der Seite der Arbeitenden, der Aus gebeuteten und der Unterdrückten sei. Sosehr mir das ein leuchtete, so wenig verstand ich, warum insbesondere der stellvertretende Direktor die Worte, er komme aus einfachen Verhältnissen, spätestens nach dem dritten Schnaps zwanghaft wiederholte. Mein Verdacht war, es gehöre zum Lebensgenuß meiner Gastgeber, sich dafür, daß sie angenehm leben, fort während zu entschuldigen. Mein Mißtrauen gegen die beiden spornte mich an, mehr über ihre Einkommensverhältnisse zu erfahren.
Genau drei Wochen, nachdem ich, aus Genua kommend, am Wiener Südbahnhof eingetroffen war, besuchte mich meine Mutter in Wien. Gleich nach meiner Rückkunft hatte ich dem Kohlenhändler und seiner Tochter geschrieben; zu meinem Entsetzen war der Brief mit dem Vermerk zurückgesandt worden, die beiden seien verstorben. Ich hatte dann den Eltern geschrieben, daß ich zurückgekehrt sei und mich nun bemühe,
in Wien Fuß zu fassen, und daß ich, sobald mir das gelungen sei, sie besuchen werde. Vorderhand sei ich bei Bekannten gut aufgehoben. Ich hatte mit einer Antwort der Eltern gar nicht gerechnet, ich wußte, daß sie nur zum Bleistift griffen, wenn es ein Formular auszufüllen galt. Deshalb wunderte es mich nicht, als plötzlich meine Mutter vor der Tür stand, ohne sich auch nur mit einem Wort angekündigt zu haben. Ich befand mich allein in der Wohnung meiner Gastgeber; verlegen und schüchtern streckte Mutter mir ihre Hand hin, die sie aber schnell wegzog, als ich einen Schritt auf sie zu ging und sie so fest umarmte, daß die kleine Frau sich offen bar überfallen fühlte. Sie löste sich behutsam, aber bestimmt aus meiner Umarmung, betrachtete mich von oben bis unten, als wollte sie sich vergewissern, ob nach den vielen Jahren, die sie mich nicht gesehen hatte, noch alles dran sei, und gab mir, glücklich darüber, wie mir schien, daß ich unversehrt geblieben war, einen Kuß, faßte nach meiner Hand - Mutter wird doch nicht, dachte ich, das formelle Händeschütteln nachholen wollen - und streichelte sie. Ich dachte, wir seien nun lange genug auf dem Gang gestanden, zog Mutter herein ins Vorzimmer und schloß hinter ihr die Wohnungstür. Ängst lich blickte Mutter hinter sich, als wäre eine Falle zuge schnappt. Komm, sagte ich, ich zeige dir mein Zimmer. Sie schüttelte den Kopf; verschreckt stand sie zwischen den Bie dermeiermöbeln: einem Spiegel mit Holzrahmen, einem Schreibpult, zwei um ein Tischchen gruppierten Sesseln; zwi schen Möbeln, die, soweit ich das nach drei Wochen Erfah rung sagen konnte, keinerlei Zweck erfüllten, nicht einmal ein Halstuch wurde auf dem Schreibpult abgelegt, nicht einmal eine Handtasche auf dem Tischchen abgestellt. Verschreckt stand Mutter da, und mir schien, als habe sie in einem einzigen Augenblick begriffen, wozu ich Tage ge braucht hatte: daß jedes dieser Möbel in erster Linie da war, um einzuschüchtern. Ich versuchte es anders und sagte, ich wolle ihr in meinem Zimmer etwas zeigen; zwar hätte ich, wie sie aus meinem Brief wisse, die großen und wertvollen Sa
chen, welche die Indianer mir geschenkt hatten, ans Museum verkauft, ein paar Kleinigkeiten aber würde ich noch besitzen, eine Gabelbockfellmütze, eine kleine, gewobene Matte, eine wunderschön verzierte Tabakpfeife, einen Beutel aus den Astfasern der Schwarzlinde, und mit diesen Dingen, sagte ich, hätte ich mein Zimmer geschmückt. Doch noch während ich redete, war mir bewußt, daß Mutter durch nichts dazu zu be wegen war, einen Schritt weiter in die Wohnung zu setzen, und so verließ ich rasch mit ihr das Haus. Eine Straße nach dem Albertinaplatz kehrten wir in ein Gasthaus ein, feilschten erst einmal darum, wer wessen Gast sei, Mutter wollte offen bar nicht zur Kenntnis nehmen, daß ich nicht am Hungertuch nagte. Ich dachte schon, Mutter müsse einen Haupttreffer gemacht haben, weil sie nach der Suppe, nach Blutwurst, Sauerkraut und Erdäpfeln noch einen Pudding bestellte, doch als auch ich einen serviert bekam, stellte sich heraus, daß Pudding im Me nü inbegriffen war. Nach dem Zahlen sagte Mutter kenne risch, das Essen sei für Wiener Verhältnisse erstens nicht schlecht, zweitens nicht teuer gewesen. Nun, sagte sie, da sie mich gesehen habe, fahre sie erleichtert nach Haus. Doch nicht jetzt schon? fragte ich. Doch, sagte sie, und wir fuhren mit der Straßenbahn zum Bahnhof. Mutter löste eine Fahrkarte, während ich mich nach Ab fahrtszeit und Bahnsteig erkundigte. Wir waren eine Stunde zu früh, doch der Zug stand schon da, so daß wir einsteigen und in einem Nichtrauchercoupe Platz nehmen konnten. Herr lich, sagte die Mutter, endlich ein Raum, und wenn es nur ein Eisenbahncoupe ist, in dem nicht geraucht werden darf. Das heißt, sagte ich, Vater raucht immer noch. Alle fünf Jahre, sagte die Mutter, hört er damit auf, immer wenn er die Woh nung frisch ausmalt. Wir sind, sagte ich zur Mutter, eine Stunde zu früh. Ich muß auf Nummer sicher gehen, antwortete sie, nur wenn ich mit diesem Zug fahre, brauche ich nicht dreimal umzusteigen. Noch etwas war mir merkwürdig erschienen: Du hast, sagte
ich zu ihr, am Schalter eine Fahrkarte gekauft; ist die Retour karte abgeschafft worden? Sie verstehe nicht, sagte Mutter, wie ihr so etwas habe passieren können; zeitig in der Früh habe sie sich zu Haus noch das Wichtigste eingeschärft: min destens eine halbe Stunde vor der Abfahrt am Bahnhof sein, um nicht, der Schnellzug halte nur kurz, in letzter Sekunde aufspringen zu müssen, und zweitens: am Schalter eine Re tourkarte nach Wien verlangen, eine Retourkarte nach Wien! Doch dann hätten die Ereignisse sich überstürzt: Der Schalter beamte habe sie, anders als erwartet, gefragt, wo es denn heu te hingehe, und da habe sie doch nicht antworten können: Eine Retourkarte nach Wien, sie habe vielmehr sinngemäß geant wortet, es gehe nach Wien. Erst im Zug sei sie draufgekom men, daß es sich um eine einfache Fahrkarte handelte. Den finanziellen Schaden daraus werde sie auch noch überleben, außerdem sei die Fahrt nicht umsonst gewesen, sie habe das Glück gehabt, mich anzutreffen. Die paar Schilling mehr, das sei es ihr wert, schon gar, wenn sie daran denke, wie oft sie, zwar mit der preisgünstigen Retourkarte, aber immer vergeb lich, nach Graz gefahren sei. Nach Graz? fragte ich. Ach, sagte Mutter, das geht nun schon seit fünf Jahren. Begonnen hat es damit, daß ich im Haus haltsbogen, in dem auch nach der Zahl der Nutztiere gefragt wurde, wahrheitsgemäß vier Hühner angegeben habe. Nur vier? fragte ich. Ich erinnerte mich, daß wir, wie auch die anderen Wohnparteien in der Werkssiedlung, hinter dem Haus einen Schuppen besaßen, und daß wir darin immer an die fünfzehn Hühner und auch ein paar Hähne hielten. Fünfzehn, sagte die Mutter, das war uns zuviel. Vier aber, wie damals, das war uns wieder zuwenig, und so kaufte ich drei dazu. Ein halbes Jahr nach der Volks- und Tierzählung kam ein Kontrol leur der Landesregierung; er hatte den von mir ausgefüllten Bogen vor sich, verglich die von mir angegebene Zahl mit der jetzt vorhandenen Zahl von Hühnern und setzte, wir standen beide noch in dem Schuppen, ein endlos langes Protokoll auf. Daraufhin kam von der Grazer Landesregierung eine Vorla
dung nach der anderen, zuerst von der statistischen, dann von der landwirtschaftlichen Abteilung, und schließlich wurde der unlösbare Fall der Kulturabteilung zugewiesen, die, damit er weiterbehandelt werde, eine Künstlervereinigung namens Grazer Stadtpark gründete, obwohl bis dahin in Graz gar keine Künstler vorhanden waren. Diese Künstlervereinigung, sagte meine Mutter, fand unseren Fall von den vier und den sieben Hühnern insbesondere literarisch interessant. Wir hielten das, sagte die Mutter, für eine vorübergehende Narretei, tatsächlich aber wurde auch noch ein Festival gegründet, der Neblige Herbst, das unseren Fall nicht nur interessant, sondern auch rätselhaft fand, so daß das Problem mit den vier und den sie ben Hühnern auch musikalisch und theatralisch dargestellt wurde. Eine halbe Stunde war über dieser Erzählung der Mutter vergangen. Wir saßen im Coupe, und ich schaute dem Minu tenzeiger der großen Bahnhofsuhr zu. Wie geht's dem Nach bar? fragte ich. Gut. Gibt es den Luftschutzbunker noch? Ja. Lebt der alte Pfarrer noch? Nein. Und der Vater, ist er zufrie den mit der Arbeit und mit dem Lohn? Ja, er hat eintausend achthundert netto im Monat. Über diesen Sätzen war die rest liche halbe Stunde wie im Flug vergangen. Dieser Betrag, eintausendachthundert Schilling im Monat, ging mir deshalb nicht aus dem Kopf, weil ich ihn nicht einzuordnen wußte: Ich selbst stand ja noch in keinem Arbeitsverhältnis und hatte mir auch noch nie den Kopf darüber zerbrochen, was ich an Lohn zu erwarten hätte. So schien es mir am nächstliegenden, mich in der Wohnung meiner Gastgeber umzusehen. Extra danach suchen, dachte ich, würde ich gewiß nicht, das wäre ein Miß brauch der Gastfreundschaft. Am Tag nach dem Besuch meiner Mutter schlief ich, wie üblich, länger als meine Gastgeber, ich befand mich allein in der Wohnung und ging ohne Scheu ins Arbeitszimmer des stellvertretenden Direktors. Ich kannte die Räumlichkeiten von den Gesprächen an Samstagen und Sonntagen. Als ich einen Blick auf den Schreibtisch warf, wurde mir bang: Die
Hälfte des Schreibtischs war voll mit genau sortierten Belegen aus den letzten sechs Monaten, die Einnahmen und die Aus gaben schön geordnet nebeneinander. Eine Falle? fragte ich mich. Oder will man demonstrieren, daß man vor mir nichts zu verbergen hat? In der ersten Reihe die Abrechnungen der monatlich gleich bleibenden Bezüge vom Museum: zwölftausendsiebenhundert Schilling netto. In der zweiten Reihe die Abrechnungen der ebenfalls Monat für Monat gleichen Bezüge für Vorlesungen an der Universität: fünftausendzweihundert Schilling netto. Andere Einkommen stammten von Vorträgen, die Honorare schwankten zwischen tausend und viertausend Schilling. Doch diese Nebeneinkünfte interessierten mich nicht, ich hatte ja Mutter auch nicht nach den Nebeneinkünften des Vaters gefragt, der seit jeher die Arbeitsschuhe der Leute aus unse rem Wohnviertel mit Gummi von alten Autoreifen besohlte und dafür Geld nahm. Im Nebenzimmer, das die Frau des stellvertretenden Direk tors sich als Arbeitsraum eingerichtet hatte, das gleiche Bild: auf dem Schreibtisch Belege, geordnet nach Einnahmen und Ausgaben. Die Honorare stammten vom österreichischen Fernsehen, als Zahlungsgrund las ich einmal: Prüfung des B. auf h. W., dann: Prüfung des F. auf h. W. Ich notierte diese Abkürzungen; dann rechnete ich die Honorare von sechs Mo naten zusammen und kam auf dreiundvierzigtausend Schil ling, das waren zirka siebentausend pro Monat; dazu die sieb zehn- bis achtzehntausend des Mannes; das erschien mir da mals, 1963, ein Vermögen zu sein. Ich freute mich, daß mein Vorurteil über die beiden allmählich Konturen eines Urteils annahm. Nun bin ich zwar, dachte ich, auf ein Einkommen gestoßen, das ich in Relation zum Lohn meines Vaters setzen könnte, doch ist der Unterschied zwi schen den Beträgen so gewaltig, daß ein Vergleich wiederum nicht möglich scheint. Ich erinnerte mich, daß Mutter gesagt hatte, sie und der Vater würden mit achtzehnhundert Schilling leicht durchkommen; früher kam man durch, dachte ich, jetzt
kommt man leicht durch; das sind die zwei Formen des Durchkommens; von Leben ist nie die Rede, nur vom Leben als Krieg: vom Durchkommen. Das erzählte ich meinem neuen Bekannten, dem Lyriker, als wir uns zum zweitenmal an einem Donnerstag trafen. Ich lud ihn zum Abendessen ins Cafe Bräunerhof ein. Er habe hier noch nie gegessen, sagte der Lyriker, ihm sei das Essen in diesem Cafe zu teuer. Er halte sich an den Pferdeleberkäs bei den Würstelständen. Warum er so wenig verdiene, fragte ich. Man könne ja von Lyrik nicht leben, sagte er, es sei denn, man produziere Gesinnungssprüche, egal ob linke oder rechte, in dieser Hinsicht seien beide Lager gleich anspruchslos. Von ihm sei noch kein einziges Gedicht erschienen, außer in Al gier, in arabischer Übersetzung; er habe in Algier eine Vereh rerin gefunden, sie bitte ihn immer wieder um Gedichte, über setze die dann und sorge auch für deren Publikation. Sogar ein Gedichtband von ihm sei in Algier erschienen. Wenn er ehr lich sei: Er schreibe im Grunde nur mehr für diese Frau. In Wien halte er sich mit literarischen Gelegenheitsarbeiten über Wasser, ansonsten schnorre er sich durchs Leben, und in mir habe er, wie man sehe, soeben ein neues Opfer gefunden. Ich sagte ihm den Namen meiner Gastgeberin und fragte ihn, ob ihm der schon einmal untergekommen sei. Ich hätte Belege gefunden, denen zufolge diese Frau vom Fernsehen beträchtli che Honorare erhalte; ich holte den Zettel, auf den ich die Abkürzungen notiert hatte, aus der Geldtasche: Prüfung des B. auf h. W., Prüfung des F. auf h. W. In welche Schlangengrube sind Sie da geraten! sagte der Lyri ker. Wieso? fragte ich. Die Abkürzungen bedeuten, sagte er: Prüfung des Buchs - gemeint ist Drehbuch - auf historische Wahrheit und Prüfung des Films auf historische Wahrheit. Wenn dem Fernsehen ein Drehbuch vorliegt, wird es nicht nur von Redakteuren und Dramaturgen gelesen, sondern auch von sogenannten Historikern. Paßt dem Fernsehen ein Drehbuch oder ein Film nicht in den Kram, werden Historiker beauf tragt, Gutachten zu erstellen. Unter dieser wissenschaftlich
getarnten Zensur, fuhr der Lyriker fort, kann im Fernsehen nichts Schöpferisches gedeihen. Ich und meinesgleichen sind aber ohnedies vom Aussterben bedroht, sagte er, unsereins schreibt auch gar nicht mehr, wir projektieren Gedichte und Texte; und im Wissen, daß sie weder publiziert noch gelesen werden, schreiben wir sie nur nieder, wenn es die Sache unbe dingt verlangt. Deshalb schreiben wir sehr wenig, das Wenige aber ist von ungeheurer Qualität, und die paar von außen zu gezogenen Lesekundigen und Kunstverständigen wissen das auch zu schätzen und futtern uns durch. Doch auch das findet nun ein Ende. Denn der Staat, sagte der Lyriker, hat sich ge gen uns eine Literaturförderung ausgedacht; man winkt mit Geld, auf das wir natürlich nicht verzichten können, verlangt als Gegenleistung aber auch ein gehöriges Quantum an Ge schriebenem; das, sagte er, ist das Ende der Literatur. Der literaturvernichtende Effekt des Fernsehens und der Literatur förderung ist stärker als der der Reichsschrifttumskammer. Was der Lyriker eben sagte, erinnerte mich an die Geschich ten des Kohlenhändlers, und da die mich immer geängstigt hatten, wollte ich nicht weiter zuhören und verlangte die Rechnung. Wenn Ihre Freundin aus Amerika kommt, sagte er, werden wir sie fragen, wie es dort um die Literatur bestellt ist. Doch als Maria zurückkehrte, allerdings erst nach fünfzehn Jahren, lebte der Lyriker nicht mehr, er war an Lungenkrebs gestor ben.
Nachdem ich zu Mittag auf Marias Wunsch ins Cafe Bräu nerhof geeilt war, wo sie mit mir ihre Mittagspause verbrach te; nachdem wir anschließend über den Albertinaplatz und durch den Burggarten spaziert waren; nachdem ich, da nichts und niemand mich in meinem Büro erwartete, Maria bis zum Ballhausplatz begleitet hatte, wobei wir den Weg über den Michaelerplatz nahmen; nachdem ich am Ballhausplatz noch
beobachtet hatte, wie Maria durch das riesige Tor ins Bundes kanzleramt schritt, ging ich allein weiter zum Völkerkunde museum. Ich nahm dort, um mit dem Portier nicht die üblichen Freund lichkeiten austauschen zu müssen, ein Brauch, den ich sonst gerne pflegte, den Hintereingang, kletterte über die Nottreppe bis ins oberste Stockwerk und setzte mich in die Kammer, die ich mein Büro nannte. Ich erinnerte mich, daß ich, nachdem ich mit dem Lyriker am Abend das Mittagsmenü gegessen und nachdem ich überstürzt gezahlt hatte, erst nach Mitter nacht nach Haus gekommen war. Lange streifte ich durch die Stadt, suchte zwischendurch ein Cafe auf, das der Lyriker mir empfohlen hatte, das Cafe Sport - in diesem Cafe, hatte er gesagt, würden sich Künstler treffen, die am Rande des Irre seins stünden und nur noch mit sich selbst redeten. Im Cafe wurde mir klar, warum ich nicht nach Haus ging: Ich würde meine Gastgeberin nach dem, was ich über sie gehört hatte, zur Rede stellen. Besser wäre es wohl, ich wartete, bis sie zu Bett gegangen sei. Ich erinnerte mich, mir im Cafe Sport ge dacht zu haben: sehr klug vom Staat, Leute wie meine Gast geber so zu bezahlen, daß sie ihm verpflichtet seien und dabei noch ein schlechtes Gewissen hätten. Ich erinnerte mich, im Cafe Sport nach zwei Schnäpsen zu mir gesagt zu haben: Mein Gott, wie lange mußten Maria und ich rackern, bis wir das Geld für die Reise nach Amerika beisammen hatten. Ich rückte den Sessel zum offenen Fenster, die Sonne stand im Westen und schien in mein Büro im Völkerkundemuseum. Mein Gott, wer könnte das je vergessen: Vier Jahre nichts als Plackerei, von unserem vierzehnten bis zu unserem achtzehn ten Lebensjahr, und anfangs, mit vierzehn, waren wir körper lich für diese Arbeit gar nicht geeignet. Vier Jahre lang legten wir jeden Schilling, den wir beim Baumeister verdienten, zu dem Geld, das wir bereits gespart hatten, fast jeden, unsere Lebenshaltungskosten waren minimal. Wir versteckten das Geld in einem toten Kaminschacht jenes Hauses, in dem ich
mit Maria das einzige bewohnbare Zimmer teilte, in den ande ren war entweder der Fußboden durchgebrochen oder der Plafond heruntergefallen, oder eine Zimmerwand, von Feuch tigkeit zerfressen, war einfach auseinandergebröckelt. Ein Sparbuch bei der örtlichen Sparkasse anzulegen, schien uns zu riskant, denn der Leiter der Sparkasse gehörte zur Fa milie des Baumeisters, er hatte dessen Cousine geheiratet, und jedermann im Ort wußte: Was der Sparkassenleiter als Bank geheimnis hätte hüten müssen, war in der Familie des Bau meisters beliebter Gesprächsstoff. Insbesondere die Arbeiter des Baumeisters wußten das, da der Baumeister ihnen auf den Groschen genau sagen konnte, wie hoch ihre Spareinlagen waren. Hätten wir ein Sparbuch gehabt und hätte der Baumei ster gewußt, daß wir jeden Groschen weglegten, er hätte mit dem Stänkern nicht mehr aufgehört. Außerdem wollte Maria auf gar keinen Fall, daß wir mit einer halböffentlichen Institution, wie es eine Sparkasse ist, in Be rührung kämen, sie lebte anonym, gewissermaßen im Unter grund. Der Baumeister hatte sie, ohne nach Papieren zu fra gen, eingestellt, und sie wurde auch nie aufgefordert, einen Meldezettel auszufüllen, denn wer vom Baumeister aufge nommen wurde, den belästigte die Behörde nicht weiter. Den noch traute Maria während dieser vier Jahre dem Frieden nicht; sie war überzeugt, ihr Vater würde nicht aufhören, nach ihr zu suchen, und er würde die Behörden immer wieder ver anlassen, intensiv nach ihr zu fahnden. Ich hielt Marias Be fürchtungen für übertrieben; aber auch ich atmete auf, als wir das Reisegeld beisammen hatten. Wir packten unsere Klamotten, und zwei Stunden vor Ab fahrt des Zuges machten wir uns auf den Weg zum Bahnhof; so hatten wir es seit langem geplant, damit wir den Zug auf keinen Fall versäumten und nicht schon eine Panne eintrete, ehe die Reise begonnen habe; auch dürfe man den Weg zum Bahnhof nicht unterschätzen, ohne Gepäck und zügig ausge schritten brauche man eine gute halbe Stunde, mit Gepäck die doppelte Zeit, und die sollte man, um ganz sicherzugehen,
noch einmal verdoppeln. Maria verließ als erste das Zimmer und zwängte sich mit der Reisetasche die Treppe hinunter, ich stand noch oben und überlegte einen Augenblick, dann ließ ich die Zimmertür un versperrt. Der Vermieter würde schon merken, daß wir ausge zogen waren. Die Haustür unten trat ich mit aller Wucht ins Schloß, doch meine Hoffnung, dieser Verbund wackeliger Bretter würde endgültig auseinanderfallen, erfüllte sich nicht. Der Bahnhof lag außerhalb des Ortes. Bis zum Ortsende gin gen Maria und ich nebeneinander, wir hatten, es war zeitig in der Früh, die ganze Straße für uns. Vor Glück und Erleichte rung konnten wir kein einziges Wort sagen, wir schauten ein ander nur an, als könnten wir es nicht fassen, diesen lange herbeigesehnten Augenblick tatsächlich zu erleben. Am Orts ende blieb ich stehen und bat Maria weiterzugehen, ich würde sie schon einholen. Die Hosenbeine meines Anzugs waren zu lang, ich trat bei jedem Schritt auf eine Stulpe, es nützte auch nichts, die Hose hochzuziehen, sie saß um die Hüfte nicht fest genug. Ich mußte etwas unternehmen, denn würde ich weiter hin bei jedem Schritt auf die Hose treten, dachte ich, würde sie schon kaputt sein, ehe ich den Bahnhof erreicht hätte. In Wien würde ich mir Hosenträger oder einen Gürtel kaufen. Ich krempelte die Hosenbeine hinauf. So viele Gedanken hatte ich mir über passende Reisekleidung gemacht: strapa zierbar und unauffällig müsse sie sein. Unauffällig! Mehr auffallen als ich mit den hinaufgekrempelten Hosenbeinen konnte man gar nicht. Wer mit einem gefälschten Paß unter wegs ist, hatte ich mir gedacht, sollte nicht durch sein Äußeres die Aufmerksamkeit von Polizisten und Zöllnern auf sich ziehen; deshalb das graue Kostüm für Maria, deshalb der graue Anzug für mich; nur, ich hätte die Hose im Geschäft anprobieren sollen. Ich hörte ein Auto sich nähern, ich drehte mich um, eine schwarze Limousine fuhr, wie es der schlechten Schotterstra ße angemessen war, langsam dahin: ein Fahrer mit Kappe, ein Mann auf dem Rücksitz, beide schauten nicht zu mir her. Ein
so vornehmer Wagen, dachte ich, in dieser Gegend, und ich gaffte der Limousine nach. Da hielt das Auto neben Maria, die bereits gute hundert Schritt von mir entfernt war, die hintere Tür ging auf, der Mann sprang heraus, Maria setzte über den Straßengraben, der Mann rannte ihr nach, er streckte den Arm nach ihr aus, es schien, als würde er jeden Augenblick Marias Reisetasche zu fassen bekommen, doch Maria schlug einen Haken und lief ins Maisfeld. Nun konnte ich sie nicht mehr sehen, da der Mais höher stand, als Maria groß war; anders verhielt es sich bei dem Mann, sein Kopf ragte über den Mais hinaus. Ich sah bald: Der Mann hatte keine Chance, er war zu dick, um zwischen den Maisstauden rasch genug voranzukommen. Und tatsäch lich gab er die Verfolgung auf; er ging zurück auf die Straße und stieg ins Auto ein, welches sofort wegfuhr. Was wollten die, fragte ich mich: Maria überfallen, berau ben, entfuhren? Rasch ging ich dorthin, wo der Mann aus dem Auto gesprungen war, und sah als einzige Spur eine Schneise, die er ins Maisfeld getreten hatte. Ich rief, so laut ich konnte, nach Maria. Nach einer Viertelstunde gab ich auf. Hätte sie hierher zurückkehren wollen, hätte sie das längst getan. Hier zu warten hatte jedenfalls keinen Sinn, und so nahm ich mei nen Koffer und hastete in Richtung Bahnhof. Ich wußte, am Ende des Maisfeldes befand sich ein Karren weg, der ebenfalls zum Bahnhof führte, Maria werde, dachte ich, um vor dem Mann sicher zu sein und um den Zug nicht zu versäumen, gewiß diesen Weg nehmen. Im Weitergehen frag te ich mich: Was aber, wenn die beiden vor dem Bahnhof stehen? Würde Maria es wagen, sich dem Bahnhof zu nähern? Sollte ich nicht als erstes vom Bahnhof aus die Polizei anrufen und sie um Schutz bitten? Polizei? Mir fielen die gefälschten Pässe ein. Ich stellte den Koffer ab, öffnete ihn und kramte zwischen den Sachen das Messer hervor, ich hatte es nicht jetzt schon bei mir tragen wollen, später erst, in Übersee, aber nicht wäh
rend einer harmlosen Bahnfahrt in Europa; nun hatte ich es griffbereit. Ich würde, sollten die beiden vor dem Bahnhof auftauchen, nach Maria rufen und ihr mit gezücktem Messer zuwinken, damit es für sie keinen Zweifel gebe, daß sie sich bis zum Bahnhof vorwagen könne. Doch als ich schwitzend auf dem Bahnhofsplatz ankam, war weit und breit keine Li mousine zu sehen. Maria, dachte ich, würde auf dem Karren weg länger brauchen als ich auf der Straße, und so nützte ich die Zeit, bis sie kommen würde, ging ins Bahnhofsgebäude und kaufte zwei Fahrkarten nach Wien - wie es unser Plan vorgesehen hatte, damit nicht jeder im Ort gleich wisse, daß wir ins Ausland reisten, denn wüßte es einmal der Schalterbe amte, würde sich die Nachricht im Nu herumgesprochen ha ben. Nachdem der Schalterbeamte, ein Rundschädel mit Vollbart, mir Fahrkarten und Wechselgeld hingeschoben hatte, ohne mich ein einziges Mal anzusehen, verließ er eilends das Büro. Ich sah durchs Fenster, wie er kurzen, aber raschen Schritts über den Vorplatz des Bahnhofs eilte und in einen Weg ver schwand, der zu einem Gutshof führte. Sollte er Dienstschluß haben, dachte ich, müßte doch jemand anderer an seiner Stelle am Schalter sitzen; oder er macht nur eine Besorgung, eilt zum Gutshof, um billig Eier und Fleisch zu kaufen, und ist rechtzeitig vor Abfahrt des Zuges zurück. Maria müßte jeden Augenblick eintreffen. Soweit ich mich erinnerte, verlief der Feldweg parallel zur Straße, ein holpriger Weg zwar, doch kein Umweg. Ich ging hinaus auf den Bahn hofsplatz, nirgends ein Mensch, auch kein Fahrzeug. So laut ich konnte, rief ich Marias Namen. Keine Reaktion. Daß Ma ria sich von der anderen Seite dem Bahnhof nähern würde, hielt ich für ausgeschlossen, dort befanden sich der Bahnsteig, die beiden Gleisstränge und dahinter ein Bach; der nächste Steg, der darüber führte, lag meines Wissens viele Kilometer bachabwärts, und am anderen Ufer erstreckte sich eine dicht verwachsene Au. Ich wartete und wagte es nicht, auf die Armbanduhr zu schau
en, die ich mir ebenfalls extra für die Reise gekauft hatte; ich schrie auch nicht mehr Marias Namen, Maria wußte so gut wie ich, wo der Bahnhof sich befand. Nichts ist, dachte ich, so blödsinnig, wie hier zu stehen und zu schreien; was aber soll ich sonst tun? Vielleicht hat Maria durch den Überfall einen Schock erlitten und ist nach Haus zurückgelaufen, in der Mei nung, ich würde sie dort erwarten; oder aber der Mann hatte Maria in das Feld hineingetrieben, weil an dessen Ende, am Feldweg, seine Komplizen auf sie warteten, und sie könnten die erschöpfte Maria fernab der öffentlichen Straße stellen und fesseln. Vier Jahre lang, dachte ich, habe ich auf diesen Tag hingearbeitet, und heute endet alles im Chaos, ehe die Reise begonnen hat. In meiner Verzweiflung sagte ich mir, ich sollte auch auf dem Bahnsteig nach Maria Ausschau halten. Ich nahm den Koffer und rannte durch Kassenhalle und Warteraum auf die andere Seite des Bahnhofes zu den Gleis anlagen. Zu meinem Entsetzen sah ich auf der großen Bahn steigsuhr, daß es nur noch fünf Minuten waren, bis, dem Fahrplan nach, der Zug einfahren würde. Es muß doch, dachte ich, auch einen Fahrdienstleiter geben. Ich rannte den Bahn steig entlang und fand endlich eine Tür mit der Aufschrift Fahrdienstleitung. Ich klopfte, gleichzeitig öffnete ich die Tür und schrie die Frage hinein, ob der Zug Verspätung habe. Der Fahrdienstleiter saß, mir zugewandt, auf seinem Sessel, als hätte er mich erwartet, und antwortete freundlich und ruhig: Nein, nein, keine Sorge, der Zug ist pünktlich. Verwirrt schloß ich die Tür, stellte mich wieder auf den Bahn steig und konnte nur das eine denken: Pünktlich, hat er gesagt, keine Sorge. Ich hörte das Pfeifsignal; fuhr ein Zug durch den Ort in Richtung Bahnhof, gab er drei Pfeifsignale, bei jeder Bahnübersetzung eins. Ich hörte das zweite. Gespannt wartete ich aufs dritte - und entdeckte Maria erst, als sie schon die Mitte des Baches erreicht hatte, in der einen Hand die Reiseta sche, in der anderen Schuhe und Strümpfe. Das Wasser reich te nur bis zu ihren Knien, und sie kam rasch vorwärts. Als sie über die Holzschwellen der Gleiskörper lief, ertönte
der dritte Pfiff der Lokomotive, und als der Zug in den Bahn hof einfuhr, hatte Maria die Strümpfe bereits übergestreift und die Schuhe angezogen. Der Zug stand noch nicht, da riß Maria eine Tür auf und sprang in den Waggon. Schnell, rief sie, die Sachen. Ich reichte ihr Reisetasche und Koffer hinauf, sie nahm sie mir blitzschnell aus der Hand. Schnell, rief sie, steig ein, und als ich im Waggon stand, schlug sie die Tür zu. Nun, sagte sie, kann nicht mehr viel passieren. Ich wollte Ma ria fragen, warum sie so aufgeregt sei, doch sie war im Wag gon schon weitergelaufen. Sie hatte ein freies Coupe gefun den, in welches sie mich nun samt dem Gepäck einwies. Nachdem Reisetasche und Koffer im Netz verstaut waren, zog sie mich zu sich ans Fenster. Sie gebot mir, mit den Fragen noch zu warten und stattdessen den Bahnsteig im Auge zu behalten. Der war leer. Der Lokführer gab, offenbar schon ungeduldig, zwei kurze Signale, und tatsächlich trat nun der Fahrdienstleiter auf den Bahnsteig heraus, doch er stand nur da mit hängender Kelle und traf keine Anstalten, das Zeichen zur Abfahrt zu geben. Fragend schaute ich zu Maria. Sie aber bedeutete mir, mich auf das Geschehen draußen zu konzentrieren. Der Schalterbe amte kam auf den Bahnsteig gerannt, eilte auf einen Waggon zu und öffnete die Tür. Dann kam der große, dicke Mann, der Maria verfolgt hatte, angekeucht und mühte sich in den Wag gon. Der Schalterbeamte schloß die Tür; der Fahrdienstleiter gab das Zeichen zur Abfahrt. Maria setzte sich, ich nahm ihr gegenüber Platz. Er ist zwei Waggons hinter uns, sagte sie. Ich habe für alle Fälle, sagte ich, das Messer aus dem Koffer genommen. Gib es mir, sagte Maria; ich bitte dich inständig, gib mir das Messer. Ich reichte es ihr, und sie verstaute es in der Reisetasche. Der Mann ist mein Vater, sagte sie, jetzt hat er mich gefunden.
Marias
Vater gönnte sich keine Zeit zu verschnaufen. Ich
war noch nicht dazugekommen, mir zu überlegen, warum sich dieser Mann nun im Zug befand, als er auch schon die Coupe tür öffnete und Maria begrüßen wollte. Die aber wandte sich sofort von ihm ab. Also fragte er mich, ob er Platz nehmen dürfe. Er trug seine Bitte so vor, daß ich sie ihm nicht ab schlagen konnte. Maria kehrte dem Vater immer noch den Rücken zu und schaute völlig regungslos aus dem Fenster. Der Mann sprach mich abermals an: Er habe sich auf das Wiedersehen gefreut und auf Versöhnung gehofft, doch werde er, was den Umgang mit seiner Tochter betreffe, offenbar vom Unglück verfolgt; schon daß Maria von zu Haus weggelaufen sei, habe auf einem Mißverständnis beruht. Marias Freundin habe bei einem Notar zu Protokoll gegeben, was damals ge schehen sei: Die Freundin habe ihn verführt, Wochen hin durch habe sie es versucht, stets habe er sie zurückgewiesen, nur einmal unglücklicherweise nicht. Die Kleine sei ein Biest gewesen, sie habe ihn auch noch erpreßt. Er habe für ihren schwerstbehinderten Vater einen Heimplatz beschaffen, für ihre Mutter psychiatrische Behandlung bezahlen müssen. Nach zwei Jahren sei alles, was die Kleine sich in den Kopf gesetzt hatte, erhandelt gewesen, auch noch Geld. Schließlich sei sie mit sechzehn außer Landes gegangen, nach Sizilien, ausgerechnet nach Sizilien, so eine Verrücktheit. Er habe sich damals in Marias Augen unmöglich benom men und heute wieder. Er habe aus dem offenen Fenster des Autos hinausgerufen, Maria, liebste Maria! Doch sie sei weg gerannt, sie habe sich nicht einmal umgedreht. Sie habe seine Stimme gehört und sei weggerannt. Mit allem habe er gerech net, nur damit nicht, und er sei ihr nachgerannt, weil er sich einfach vergessen habe. Das Gesicht des Mannes, das anfangs stark gerötet gewesen war, verfiel, während er redete, und wurde grau und schlaff. Ich hatte keine andere Wahl, sagte er, ich mußte Maria heute gegenübertreten. Ich weiß seit zwei Jahren, daß Sie und Maria hier leben. Ich wußte, daß ihr gekündigt habt, daß ihr gestern abend eure Sachen gepackt habt, also mußte ich heute etwas
unternehmen. Daß das Wiedersehen so ausfiel, tut mir von Herzen leid. Nun wandte der Mann sich ganz mir zu. Soweit ich das aus meinen Nachforschungen weiß, und sollte ich irren, bitte ich Sie, mich zu korrigieren, haben Sie vier Jahre lang mit meiner Tochter zusammengelebt. In dem Zimmer, in dem ihr beide gewohnt habt, haben Sie anfangs allein gelebt. Man könnte sagen, Maria habe kein anderes Quartier gefunden, Sie hätten sie aufgenommen, insofern sei sie Ihnen zu Dank verpflichtet, ansonsten nicht. Sie haben sich nicht sonderlich um sie ge kümmert. Maria mußte arbeiten wie Sie, Maria mußte in dem gemeinsamen Haushalt, sofern man das Haushalt nennen kann, die halbe Arbeit machen, sie ist Ihnen auch diesbezüg lich nichts schuldig. Maria hat in all den Jahren kein einziges Geschenk von Ihnen bekommen, nicht zum Geburtstag, nicht zu Weihnachten. Diese Anlässe wurden nicht einmal feierlich begangen, und Sie waren es, der das so wollte. Nicht einmal eine Halskette aus Holzperlen, nicht einmal billige Ohrringe haben Sie ihr gekauft. Maria ist Ihnen also absolut nichts schuldig. Jetzt reichte es mir. Sie tun, sagte ich, als hätte ich etwas an deres behauptet. Ich sagte das laut und scharf und war nahe daran, vollends die Geduld zu verlieren angesichts der Anma ßung, mit welcher dieser Mann über unser Leben sprach. Doch mein Versuch, ihn durch einen scharfen Ton in die Schranken zu weisen, war vergeblich. Mäßigen Sie sich, sagte er, Ihre Situation ist denkbar schlecht; ich werde das aber nur ausnützen, wenn Sie mich dazu zwingen. Er blickte abermals zu Maria; sie behielt ihre starre Haltung bei. So hoch gesteckt ist meine Erwartung nicht, sagte er, zu hoffen, daß Maria nach Haus zurückkehrt. Sie soll sich niederlassen, wo sie will. Ihrer Mutter und mir liegt nur daran, daß Maria endlich eine Aus bildung erhält, egal wo, egal welche. Das Kind hat mit vier zehn die Schule verlassen und vier Jahre lang Hilfsarbeiten verrichtet. Sie ist, müssen Sie wissen, sehr begabt, sprachlich, musikalisch, sogar mathematisch, es wäre schade, diese Bega
bungen nicht zu fördern, und würde man damit nicht sofort beginnen, Maturaschule stelle ich mir vor, Matura, Studium, wäre Marias ganzes Leben verpfuscht. Ich nickte, der Mann atmete auf; er lehnte sich in seinen Sitz zurück. Daß auch ich Fähigkeiten habe und sie auszubilden gedenke, fragte ich ihn, das können Sie sich nicht vorstellen? Mir wurde unheimlich, als der Mann mich aus seinen schma len Augen anblickte, ohne daß sich sonst in dem schlaffen, teilnahmslosen Gesicht irgendeine Regung zeigte. Ich kann mir vorstellen, sagte er, daß Marias und Ihre Wege sich bald trennen; ich werde deshalb keine Gelegenheit haben zu ver folgen, wie Ihre Fähigkeiten sich entwickeln; ich bin mir aber sicher, daß einiges in Ihnen steckt und daß Sie daraus etwas machen werden; Maria wird ja nicht vier Jahre lang mit einem Vollidioten zusammengelebt haben; meine Frau, fuhr der Mann fort, hat für Sie eine Summe lockergemacht, die zu bekommen sogar mich freuen würde. Maria stand auf, ging aus dem Coupe und schlug mit aller Wucht die Tür zu; der Mann folgte ihr und ließ die Coupetür offen; ich hörte, daß an der Klosetttür der Riegel vorgescho ben wurde; der Mann kehrte ins Coupe zurück. Ihr Geld, sagte ich, interessiert mich selbstverständlich, alles, was Sie sonst vorschlagen, interessiert mich nicht; Sie müssen mit Ihrer Tochter zurechtkommen, nicht mit mir, und ich werde, wozu immer Maria sich entscheidet, ihre Entscheidung akzeptieren. Wir hatten nicht gleich bemerkt, daß Maria in der Coupetür stand, rasch setzte sich der Mann nieder, damit Maria an ihm vorbeigehen und wieder am Fenster Platz nehmen könne, doch sie blieb in der Tür stehen. Sie hatte das Schweizermes ser in der Hand, das sie sich für die Reise gekauft hatte, und ich sah, daß an diesem Messer der Schraubenzieher herausge klappt war. Komm mit, sagte Maria zu mir. Ich stand auf; wozu sie den Schraubenzieher brauche, fragte ich. Komm mit aufs Klo, sagte Maria. Starr blieb ich stehen, so peinlich berührte es mich, daß die Tochter vor dem Vater das Wort Klo aussprach.
Komm mit, sagte Maria, ich habe den Spiegel zerbrochen. Welchen Spiegel? Ich habe versucht, sagte Maria, den Klo spiegel von der Wand zu schrauben, dabei ist er zerbrochen. Schon wieder das Wort Klo! Warum, fragte ich, hast du den Spiegel von der Wand geschraubt? Ich bin auf dem Klo geses sen, sagte sie, und habe gebrunzt, da bemerkte ich den Spiegel über dem Waschbecken, und mir fiel ein, daß ich meine Fut noch nie im Spiegel gesehen habe; ich bin achtzehn und habe meine Fut noch nie im Spiegel gesehen! Schon gut, sagte ich. In welchem Spiegel auch! sagte Ma ria, wir hatten kein Bad, wir hatten kein Klo, nur das Plumps klo hinter dem Haus, und dein winziger Rasierspiegel war zur Hälfte blind. Ich weiß, sagte ich. Komm mit, sagte Maria. Um zu überspielen, daß ich, schockiert über ihr Reden, keinen Fuß vor den anderen setzen konnte, sagte ich: Ein zerbrochener Spiegel läßt sich nicht reparieren, schon gar nicht mit einem Schraubenzieher. Du sollst nicht den Spiegel reparieren, ant wortete Maria, sondern die abgebrochene Spiegelhälfte so halten, daß ich meine Fut sehen kann; außerdem möchte ich, daß du mich vögelst und daß ich uns im Spiegel beim Vögeln zuschauen kann. Maria ging auf mich zu, faßte meine Hand und zog mich bis zum Klo, schob mich hinein und schloß hinter uns ab. Du bist übergeschnappt, sagte ich, als sie im Klo Rock, Strümpfe und Unterhose auszog. Dann schlüpfte sie wieder in die Schuhe, um nicht barfuß auf dem urinfeuchten Gummiboden stehen zu müssen. Draußen dein Vater, sagte ich, ärger als der Teufel, und jetzt noch du, ärger als eine Furie. Ich kann in dieser Si tuation nicht ficken. Maria knöpfte meine Hose auf und schob sie samt der Unterhose bis zu den Knien hinunter. Zum Glück, dachte ich, sind die Hosenbeine noch immer aufgekrempelt. Du brauchst nur den Spiegel zu halten, sagte Maria, und sie drückte mir den Scherben, der auf der Waschmuschel lag, in die Hand. Soll sie mir zehnmal die Hose hinunterziehen, dach te ich, mit einem Schwanz, der nicht steht, wird sie nichts anfangen können. Maria drehte mir den Rücken zu, beugte
sich tief nach unten, so daß ich nur noch ihren nackten Unter leib vor mir hatte, dabei griff sie nach meinem Schwanz, der zu meinem größten Erstaunen kerzengerade wegstand, und sie schob, indem sie näher rückte, ihr Loch über die Spitze mei nes Glieds, nur über die Spitze. Ich beobachtete fasziniert, wie Maria mich zu ficken begann, ohne daß ich mich im gering sten bewegte. Sie sagte, ich solle den Spiegel doch so halten, daß sie etwas sehen könne, und folgsam drehte ich nach ihren Anweisungen den Scherben hin und her, bis er sich in der richtigen Position befand. In diesem Augenblick gellte ein derart gräßlicher Schrei durch den Waggon, daß ich den Scherben fallen ließ und aus dem Klo rannte. In unserem Coupe sah ich nichts als Blut. Der Hals des Landeshauptmanns war eine klaffende Wunde, aus der das Blut stoßweise hervorquoll. So darf Maria ihren Vater nicht sehen, dachte ich. Doch sie stand bereits hinter mir und schrie auf; dann brach sie bewußtlos zusammen. Einige Fahr gäste, die herbeigeeilt waren, rannten vor Entsetzen über den Anblick des blutüberströmten Mannes davon, und ich mußte sie zurückstoßen, damit sie nicht auf Maria herumtrampelten. Da immer mehr Menschen herbeidrängten, hatte ich Mühe, Maria in eine sichere Ecke zu ziehen. Beruhigt stellte ich fest, daß Maria atmete, wenn auch kurz und flach. Eine Bewußtlo se, dachte ich, ein Schwerverletzter oder Sterbender, und der Zug fährt immer noch. Ich zog die Notbremse. Ich kauerte noch neben Maria, als bereits Polizisten und Rettungsleute im Waggon hin- und herliefen. Statt den Lan deshauptmann aus dem Waggon ins Freie zu tragen und dort erst auf eine Bahre zu legen, brachten die Sanitäter eine Bahre in den Waggon und hatten dann die größte Mühe, sie mitsamt dem Mann hinauszuhieven. Zu viert hoben, kippten und stemmten sie die Bahre, bis sie endlich zur Waggontür drau ßen war; sollte der Mann noch zwischen Leben und Tod ge schwebt haben, ist sein Schicksal nun besiegelt. Maria, die aussah, als schliefe sie, reagierte nicht einmal auf das Folgetonhorn des Rettungswagens. Ich rüttelte sie vorsich
tig und tätschelte ihre Wangen. Allmählich wäre es Zeit, dach te ich, daß sie zu sich kommt. Ich hatte gesehen, daß zwei Busse gekommen waren, in welche die Zugspassagiere nun umstiegen. Ich rüttelte Maria etwas kräftiger. Wäre sie nicht bewußtlos, dachte ich, könnten wir schon im Bus sitzen, und ich würde sie auf der Weiterfahrt auf alles aufmerksam ma chen, was zu sehen ist, auf jedes Fahrzeug, das uns entgegen kommt, auf jede Plakatwand, auf der in diesem Bundesland wahrscheinlich etwas anderes zu sehen ist als in unserem Ort, nur um Maria abzulenken, nur damit sie nicht an ihren Vater denken muß. Doch sie kam nicht zu sich. Gewiß, ich hätte sie hinaustragen können, doch dann hätte ich Koffer und Reiseta sche zurücklassen müssen. Draußen sah ich den Schaffner; er war unter den ersten ge wesen, die sich an der Coupetür gedrängt hatten; nun stieg er in einen der beiden Busse, zwei Polizisten folgten ihm, doch sie stiegen mit dem Schaffner wieder aus. Auch im zweiten Bus hielten die drei sich nur kurz auf, dann fuhren beide Busse ab. Was, fragte ich mich, könnten die drei in den Auto bussen kontrolliert haben? Die Zugkarten? Dazu brauchte man keine Polizisten. Ausweise? Dazu brauchte man keinen Schaffner. Die drei gingen auf den Zug zu und stiegen zu mir in den Waggon. Da ist er, rief der Schaffner, und das Mädchen ist auch noch da. Einer der beiden Polizisten forderte mich auf, ihm nach draußen zu folgen. Und das Mädchen? fragte ich. Jetzt kommen Sie mit der Bewußtlosen, sagte der Polizist, jetzt, wo die Rettung weg ist. Und er bat seinen Kollegen, über Funk einen weiteren Rettungswagen anzufordern. Der Polizist half mir, Maria aus dem Waggon zu tragen und sie auf die Wiese zu betten, wo er Maria fachkundig den Puls fühlte. Keine Angst, sagte er, sie stirbt nicht. Er schickte mich zu seinem Kollegen im Streifenwagen; er würde bei Maria blei ben. Nein, sagte ich, ich kümmere mich schon um sie. Ich hätte ihn mißverstanden, sagte er und lachte, das sei sozusa gen ein Befehl.
Ein Wagen mit Blaulicht näherte sich, der Rettungswagen. Maria wurde mitsamt ihrer Reisetasche, die der Schaffner aus dem Zug geholt hatte, abtransportiert. Wieder kam ein Wagen mit Blaulicht; das sei, sagte der Polizist zu mir, die Mord kommission. Mordkommission? fragte ich, wer ist ermordet worden? Der Polizist lachte. Zuerst wurde mein Koffer im Auto der Mordkommission verstaut, dann ich; viel Glück, sagte der Polizist zu mir. Wir fuhren, wie ich von den Stra ßenschildern ablas, nach Wien. Keiner von den drei Beamten wechselte während der Fahrt auch nur ein Wort mit mir. Von der fachlichen Seite leuchtete mir das ein: Man brachte mich zur Zeugeneinvernahme - ich war der Hauptzeuge, der erste am Tatort -, und eine Zeugenaussage ist etwas Hochoffizielles und wird maschinschriftlich festgehalten. Ganz anders be nahm sich der Beamte, zu dem man mich in Wien rührte: Er wirkte auf mich geradezu überschwenglich im Vergleich zu den wortkargen Kriminalpolizisten, und er änderte sein Be nehmen auch nicht, als er mir eröffnete, ich sei wegen Mord verdachts verhaftet.
Ich saß in meinem Büro im Völkerkundemuseum, die Sonne war ein Stück gewandert, und ich rückte den Sessel ein Stück weiter; es wunderte mich, daß ich mich nicht erinnern konnte, wie ich auf die Neuigkeit, ein Mörder zu sein, reagiert hatte. Als ein wirklich niederschmetterndes Er eignis hingegen hatte sich mir eingeprägt, wie Maria drei Tage vor meiner Verhaftung ins Zimmer stürzte: Das amerikanische Konsulat in Wien lehne es ab, uns Visa auszustellen. Wie groß war Marias Verzweiflung, wie fassungslos war ich im ersten Augenblick, und wie tobte ich dann: Saubande, schrie ich, sollen sie doch ihre Visa behalten, wir reisen illegal über Me xiko ein; lächerlich, schrie ich, wie dieses Konsulat sich auf spielt; als könnte man uns dadurch von der Reise abhalten, daß man uns einen Stempel verweigert. Gewiß hatte ich mich
auch in Rage geredet, um über den ersten Schrecken hinweg zukommen und, selbstverständlich, um Maria zu beruhigen. Doch schien mein Schrecken größer zu sein als ihre Verzweif lung. Sie griff, noch während ich mich ereiferte, seelenruhig nach einem kleinen Leinenbeutel, der, seit Maria bei mir ein gezogen war, auf dem Boden unseres Schrankes lag. Schrank! Ein türloses, wackeliges Gestell, das nur nicht umfiel, weil es in eine Zimmerecke gelehnt war. All die Jahre, die wir in die sem Loch gehaust hatten, war Marias Leinenbeutel dort gele gen, unberührt, unbeachtet, verstaubt; nun nahm sie ihn und leerte den Inhalt auf ihren Schoß: Schminksachen, eingetrock nete Wimperntusche, ausgetrocknete Lippenstifte und anderer alter Mist. Wozu das? Putzt sie sich für die Reise heraus, oder macht sie sich schön, weil sie es sich überlegt hat und hier bleiben will? Nicht weil ich unbedingt noch auf das Konsulat schimpfen wollte, sondern weil Marias plötzliche Ruhe mich irritierte, schimpfte ich weiter, nannte die Saubande Indianer mörder und ein Diplomatengesindel, das sich gewiß nicht entblödet habe, in unserem Fall sogar den Geheimdienst ein zuschalten, und schließlich verstieg ich mich dazu, den Kon sul persönlich verantwortlich zu machen: In einer derart bri santen Angelegenheit, in der es vielleicht wirklich um die Sicherheit der Vereinigten Staaten geht, denn was wissen wir schon darüber, welche Formen der von Großmutter angezet telte Aufstand inzwischen angenommen hat, ist gewiß der Konsul persönlich eingeschaltet worden. Er und niemand an derer ist für die Ablehnung der Visa-Anträge verantwortlich, dieses Arschkappelmuster! Arschkappelmuster? Ewig hatte ich dieses Wort nicht mehr gehört, ich wußte gar nicht mehr, was es bedeutete, ich wußte nur, daß ich es von Großmutter gehört hatte, denn Schimpfwörter und Großmutter, das gehör te zusammen wie der Dompfaff zu Steyr und die blechernen Eier, wie Nudelbrett und Tuttl weg. Arschkappelmuster, hatte sie das nicht über den Notar gesagt? Ich wußte es nicht mehr. Kaprizenstange, nannte sie so nicht die Frau des Diplominge nieurs, des Widovitz? Hatte sie nicht den Eisenhändler Dreck
schleuder genannt, den Fink? Nein, der hieß anders; Rupert Fink, das war der, der mit einem Pferdegespann und später mit einem Traktor von Haus zu Haus fuhr und die Senkgruben auspumpte, in den Gassen, in denen es noch keine Kanalisati on gab. Und wem hatte Großmutter den Namen Quetschkra xen gegeben? Ich wußte es nicht. Und Arschkappelmuster? Doch was traktierte ich mich mit Fragen, hatten der Baumeister und der Polier mich nicht heute den ganzen Tag genug traktiert? Diese beiden, wenn sie an rückten mit ihren Maßbändern, wichtigtuerisch, als handelte es sich um hochkomplizierte Meßinstrumente, eigens entwik kelt für ein bedeutendes Forschungsprojekt - uns, den Arbei tern, konnten derart kostbare Geräte natürlich nicht in die Hand gedrückt werden -, wenn sie anrückten mit ihren alten, dreckigen, zerfransten Maßbändern und nachmaßen und fest stellten, daß der Graben noch zu seicht war, daß wir hier und dort noch zehn oder zwanzig Zentimeter Erdreich ausheben mußten, dann sagten sie das nicht, sondern brüllten es. Und ihre widerwärtigen Visagen verzerrten sich derart, daß ich hoffte, jetzt und jetzt würden sie in Fransen gehen, und das Gebrüll hätte mit einem Schlag ein Ende. Wo eine sachliche Anweisung für die exakte Durchführung unserer Grabungsarbeiten genügt hätte, da brüllten die beiden auf uns ein, nein, auf uns nieder. Wir unten im frisch ausge hobenen Kanalschacht, sie oben, das war die ideale Position für die zwei, in der wuchsen sie über sich hinaus, in der konn te sich ihre christliche Nächstenliebe entfalten. Neben uns stehend, nannten sie uns nur faule Hunde; rackerten wir aber unten im Graben, hieß es, wir seien Dreckschweine, denen man ins Hirn geschissen habe; die Firma würden wir zugrun derichten mit unserer Faulheit, erschlagen gehörten wir an Ort und Stelle und gleich im Kanalschacht verscharrt. Oder aber, diese kostspieligere Variante war dem Baumei ster vorbehalten, hier im Graben, wo wir herumstünden und in die Luft schauten und uns Witze erzählten, würde er uns eines Tages Feuer machen unterm Arsch, Benzin in den Graben
schütten, Superbenzin, damit's schöner brennt, und wir wür den uns wundern, wie schnell wir uns dann bewegen könnten. Nach einem Arbeitstag in dieser Firma fühlte ich, der Acht zehnjährige, mich dann wie achtzig; tagsüber, während der Arbeit, drang die Müdigkeit in mich ein, setzte sich nach und nach in den Knochen fest und ließ mir, nun, im Sommer, auch noch das Blut stocken, so daß die Füße anschwollen und mir vor den Augen schwarz wurde. Es bedurfte einer übermensch lichen Anstrengung, um über diesen toten Punkt hinwegzu kommen. Doch es waren nicht die Schinderei und die Hitze allein, die mir die Arbeit zur Qual machten; schwere Arbeit und stechende Hitze mußten anderswo auch ertragen werden; andere mußten sie jahrzehntelang ertragen, ich nur die paar Jahre, bis das Geld für die Reise beisammen war. Bei einer anderen Firma aber hätte man wahrscheinlich ein paar Minuten verschnaufen, sich mit einem Schluck Wasser abkühlen, sich mit einem Biß in einen Apfel stärken dürfen. Im ganzen Tal waren die Wiesen schon ab Juli mit Fallobst übersät, Äpfel hatte ich um diese Jahreszeit immer in meinen Taschen; ein Biß in einen Apfel, und ich hätte erfrischt wei tergearbeitet. Doch bei diesem Baumeister wurde uns nicht nur ein Arbeits pensum abverlangt, das uns an den Rand der Erschöpfung trieb; typisch für diese Firma war, daß man sich die Erschöp fung nicht anmerken lassen durfte, schon gar nicht in Gegen wart des Poliere oder des Baumeisters. In den ersten Arbeits wochen - ich war damals erst vierzehneinhalb, zwar ausdau ernd und zäh, doch alles andere als ein Kraftlackl, klein au ßerdem, die Waden zwar kräftig vom Bergsteigen, doch was nutzte mir das bei der Arbeit auf dem Bau - in den ersten Wo chen hatte ich über das mörderische Arbeitstempo das Nahe liegende gedacht: ein verfluchter Antreiber der Baumeister, und der Polier sein Handlanger, holt das Letzte heraus aus einem, zahlt einen Schandlohn, weiß schon nicht mehr, wohin mit dem Geld, errichtet Niederlassungen in jedem Kaff, kauft auf, was er kriegen kann - so erzählten es die Älteren, so hörte
man es im Ort, ich war mir aber nie sicher, ob das stimmte. Wenn er, sagte ich mir, wirklich so viele Niederlassungen besaß, warum verbrachte er die meiste Zeit in diesem Ort? Kümmerte er sich um die anderen Firmen nicht? Quälte er die Leute auf den anderen Baustellen weniger als uns? Oder bil dete ich mir nur ein, daß er die meiste Zeit hinter uns stand und uns antrieb? Später fiel mir auf, daß es tatsächlich Tage gab, an denen er bei uns nicht auftauchte; er kam überhaupt nicht regelmäßig oder zu einem bestimmten Zeitpunkt, son dern unerwartet und überfallsartig, dadurch wohl entstand der Eindruck, daß er uns ständig schikanierte. Diese vier Jahre waren dennoch eine wichtige Lehrzeit; Lehrling war ich zwar nie, ich wurde ja als Hilfsarbeiter miß braucht, die fachliche Ausbildung beschränkte sich darauf, stumpfsinnig Löcher in die Erde zu graben. Dennoch brachte jede neue Bausaison neue Erfahrungen: zu Anfang das Ar beitstempo, dann ärgerte mich immer mehr, daß man uns kei ne Atempause gönnte, und ich dachte mir schon, ach, das Ar beitstempo, das wäre gar nicht so schlimm, und schließlich machte ich die Entdeckung, daß der Baumeister und sein Po lier uns nicht nur bis zum körperlichen Zusammenbruch trie ben, sondern diesen auch noch voll Gier erwarteten. Wenn tatsächlich einer von uns auf dem Boden lag oder im Baugerüst hing als menschengroße Puppe oder im Graben nur deshalb noch stand, weil er dort nicht umfallen konnte, die Augenlider zusammengepreßt, damit sich vor ihm nicht alles noch stärker drehte, dann stürzte der Baumeister oder der Po lier oder beide auf den Hilflosen zu, mit derart gut gespielter Empörung, daß es lange brauchte, bis ich das Spiel durch schaute. Sie taten, als hätten sie wieder einen beim Faulenzen ertappt, befahlen ihm, sofort nach dem Werkzeug zu greifen, das dem Halbohnmächtigen entfallen war, und der parierte auch, aber nicht aus Gehorsam, sondern weil es die einzige Chance war, daß die beiden weitergingen und aufhörten zu brüllen, sie hätten gerade den ärgsten Tachinierer aller Zeiten erwischt. So wie mir das wieder passiert war.
Dabei hatte ich mir vorgenommen, während der letzten Monate vor der Abreise die Zähne zusammenzubeißen, noch früher schlafen zu gehen, um noch besser ausgeruht zur Arbeit zu kommen. Und dann war es doch geschehen. Ich vertrug die Hitze nicht mehr wie früher. Wie früher! Mit achtzehn redete ich daher wie ein Alter. Die Hitze war stechend, die Sonne schien nicht auf den schmalen Talboden, sie brannte herunter, die steilen Hänge bündelten die Sonnenstrahlen zu einem ein zigen, und der bohrte sich einem in den Kopf. Den anderen Arbeitern schien es nicht besser zu gehen. Wenn endlich ein paar Wochen Sommer herrschte in die sem Tal, dann fluchten alle wie sonst über den Nebel und die Kälte und die tiefen Wolken, vor allem über die tiefen Wol ken: Riß auf der einen Talseite der Himmel endlich einmal auf, schoben sich über den Bergkamm der anderen Talseite schon die nächsten Wolken, als befände sich dort ein uner schöpflicher Vorrat. Es war wieder passiert: Der Baumeister kam gerade zurecht, als ich, um Atem ringend, einige Augenblicke nicht arbeiten konnte, und er stellte mich als den größten Nichtsnutz hin. Nach der Arbeit kommst du zu mir ins Büro, brüllte er, du Sandler, du stinkender, und holst dir die Fristlose. Am Abend dann in seinem Büro: Wie schaust du aus? Hinein mit dir in den Waschraum! Und frisier dich und kratz dir den Dreck von den Schuhen. Ich gehorchte und wußte: Dieser Abend und, wenn ich Pech habe und der Baumeister sich nicht rechtzeitig unter den Tisch säuft, auch noch die halbe Nacht, sie werden ablaufen wie schon so oft. Schau, schau, sagte der Baumeister, jetzt kann man ihn herzeigen, ohne daß man sich genieren muß. Ein fescher Bursch, wenn er frisch gewaschen ist; da würde man am lieb sten ein Aug zudrücken. Was hältst du davon: Gnade vor Recht; falls du versprichst, daß mir eine solche Tachiniererei nicht mehr vorkommt. Im ganzen Ort gab es kein Wirtshaus, in dem für den Bau meister nicht ein Platz am Stammtisch reserviert war. Das
hatte für den Baumeister den Vorteil, daß er, wenn er mit ei nem seiner Arbeiter auf Sauftour ging, den Gasthof, in dem er mit den Honoratioren zusammensaß, meiden konnte. Genier dich nicht, sagte der Baumeister nach dem ersten Bier, und iß was Ordentliches, sonst speibst dich nach dem dritten Bier an. Und nach dem dritten Bier: Jetzt sag mir, wie lang das so wei tergehen soll. Ich tat, als wüßte ich nicht, was er meinte. Das weißt du genau, schrie er: Wie ihr zwei haust, du und die Ma ria, nicht viel besser als die Säue; so haust sonst keiner von meinen Leuten. Ich versuchte, die Art, wie wir lebten, mit dem geringen Lohn zu rechtfertigen. Red nicht vom Lohn, schrie er, erstens ist er hoch genug, zweitens kriegst du nicht weniger als die anderen, noch dazu lebt ihr, wie man hört, sehr bescheiden, fahrt nie in die Stadt; was macht ihr mit dem Geld? So viel, sagte ich, ist es nicht, daß man viel damit ma chen kann. Auf Grund dieser Antwort befand er, daß ich noch zuwenig getrunken hatte, bestellte einen Verdauungsschnaps für mich, noch was zu essen und noch ein großes Bier. Mir war klar, daß es nun ernst wurde: Ich mußte alles hin unterfressen, was er auf den Tisch stellen ließ, und alles hin einsaufen, durfte aber keine Sekunde die Konzentration verlie ren und schon gar nicht besoffen werden. Der Baumeister, der über alle im Ort alles wußte und sich maßlos ärgerte, daß er nicht herausbekam, was Maria und ich mit unserem Lohn machten, lauerte nur darauf, daß ich zu plaudern begänne. Zum Glück vertrug ich, nicht aus Gewohnheit und nicht durch Übung, sondern von Natur aus, viel Alkohol, und da ich au ßerdem nur den einen Gedanken im Kopf hatte, unser Ge heimnis nicht zu verraten, drehte sich das Gespräch im Kreis, was den Baumeister so wütend machte, daß er vor Zorn bei nahe platzte. Aber auch er war auf der Hut und verriet nicht, daß er einen bestimmten Verdacht gegen Maria und mich hegte. Er ahnte wohl, daß wir in nicht ferner Zeit in seinem Büro stehen und kündigen und am nächsten Tag über alle Berge sein würden, und daß er dann keine Macht mehr über uns hätte. Nur darum ging es ihm. Er warf bedenkenlos Leute
auf die Straße, doch er litt es nicht, wenn jemand von sich aus ging. Wir waren schon beim fünften Bier, als dem Baumeister ei ne neue List einfiel: Maria, behauptete er, habe auf dem La gerplatz herumerzählt, sie wolle auswandern. Schon möglich, sagte ich und fixierte ihn, so gut ich das im angetrunkenen Zustand vermochte, schon möglich, mir aber hat sie nichts davon gesagt. Ich dachte, jetzt werde der Baumeister zuschla gen, doch er besann sich und winkte nur die Kellnerin herbei: Noch eine Runde Schnaps! Mir war das recht, denn während ich vom Bier einen schweren Kopf bekam, machte Schnaps mich nur stur. Wer, sagte ich, will heutzutage nicht auswandern, in Kanada, hört man, kann man sich als Holzfäller blödverdienen. Ich kann mir aber Maria nicht als Holzfäller vorstellen. Mit mir redet Maria, sagte ich, nur darüber, wie wir zu einer Wohnung kommen. Man hört, Sie bauen in nächster Zeit für eine Genos senschaft Häuser, wo kann man sich da anmelden? Oder wäre es nicht gescheiter, wir warten und kaufen von Ihnen einen Grund und bauen ein Haus? Das war dem Baumeister zuviel; für diesen Abend resignierte er und schüttete nur mehr Bier und Schnaps in sich hinein, so daß ich bloß warten mußte, bis er aufs Pissoir ging und nicht mehr zurückkam. Von nun an lief alles ab wie gewohnt: Ich wußte, der Baumeister lehnte sich der Bequemlichkeit halber beim Pissen über die Muschel und stützte sich mit dem Kopf an der Wand ab; wegen seiner Trunkenheit kam er aber aus der Schräglage nicht in eine senkrechte; ich hörte ihn auch schon nach dem Wirt brüllen. Ich saß am Tisch, trank mein letztes Krügel leer, es war das achte, da winkte mich der Wirt hinaus. Gemeinsam stellten wir den Baumeister gerade, dann hakte ich mich so fest bei ihm ein, daß ich sicher war, er könne mir nicht entgleiten, und führte ihn aus dem Pissoir direkt über den Hof des Wirtshau ses hinaus auf die Straße.
Er hatte die Augen fest geschlossen, damit die Welt sich nicht zu drehen beginne; ich führte ihn wie einen Blinden. Wenn ich zu ihm sagte: Bald haben wir es geschafft, oder: Gleich sind Sie daheim, oder: Ich danke Ihnen für den schö nen Abend, antwortete er mit keiner Silbe. Er schnaubte auch nicht, wenn ich absichtlich schneller wurde, brummte nicht, wenn ich seine Schritte so lenkte, daß er über einen Erdklum pen stolpern mußte; ich hatte das Gefühl, Arm in Arm mit einem Scheintoten dahinzuziehen. Als ich am nächsten Morgen mit schmerzendem Kopf zur Arbeit ging, überhäufte ich mich mit Selbstvorwürfen: Hättest du ihn doch auf die Brücke geführt und dort losgelassen. Ge wiß wäre er in den Fluß gestürzt und ertrunken, und du wärst deinen Peiniger los. Er an deiner Stelle wäre gewiß mit dir so umgegangen, keine Sekunde hätte er gezögert, er, der die Leu te sogar am hellichten Tag und vor aller Augen umbringt. Doch ich hatte wieder nicht anders gekonnt, als ihn unversehrt nach Haus zu bringen. Mich hatte sogar den ganzen Weg nur der Gedanke beherrscht, dieses Ungeheuer, das nun ohne den Funken eines Bewußtseins und ohne sich wehren zu können, neben mir hertrottete, auf jeden Fall gut heimzubringen. Ach was, dachte ich auf dem Weg zur Arbeit, wahrscheinlich kann ich nicht anders. Dennoch verzieh ich mir nicht; so tief saß mein Haß gegen diesen Mann.
Ein Schreckenstag war es, genauer: eine Schreckensnacht, als Maria, von der Arbeit heimgekehrt, mir erzählte, wie sie ge gen den Baumeister aufbegehrt hatte. Das sei das Ende, dachte ich, morgen werde der Baumeister sie entlassen, er habe die Entlassung nur deshalb noch nicht ausgesprochen, um Maria auf die Folter zu spannen. Damals hatten wir erst zwei Jahre Arbeit hinter uns, und das Reisegeld war noch lange nicht zusammengespart. Der Abend hatte schon merkwürdig begonnen: Fast immer
gingen Maria und ich nach Arbeitsschluß gemeinsam nach Haus, denn in dieser Firma wurden selten Überstunden ge macht, wozu auch hätte der Baumeister Überstunden bezahlen sollen, wenn seine Arbeiter für den normalen Lohn die fünffa che Leistung erbringen mußten, und wer hätte nach solchen acht Stunden auch noch eine neunte oder zehnte durchgehal ten. Doch ausgerechnet an jenem Abend mußte Maria eine Überstunde machen. Ein Lastwagen mit Ziegeln sei noch nicht eingetroffen, sagte mir eine der Sekretärinnen, Maria als Lagerplatzarbeiterin müsse warten und die Lieferung entge gennehmen. Der Lastwagen hatte eine Panne, Maria kam erst zwei Stunden nach mir heim. Ich hatte mich aufs Bett gelegt und vor mich hingedöst. In der ersten Zeit auf dem Bau wollte ich die Müdigkeit nicht wahrhaben. Ich würde mich doch in meiner Freizeit nicht ein, zwei Stunden hinlegen und schlafen, dachte ich, das wäre eine Art verlängerte Arbeitszeit. Deshalb begann sofort nach der Arbeit das Freizeitvergnügen: Müde und geistesabwesend saß ich auf einer leeren Bierkiste, unserem Sessel, vor dem umge drehten Sautrog, unserem Tisch. Um nicht einzunicken, hielt ich den Kopf gerade, und in dieser Stellung stierte ich vor mich hin. Das hatte zu Mißverständnissen geführt: Ob der Baumeister oder der Polier mich angebrüllt hätten, war Marias Frage gewesen; ob ich Zweifel hätte, daß wir jemals nach Amerika gelangen würden; ob die Sache mit den Reisepässen sich nun doch als schwieriger erweise, als der Kohlenhändler behauptet hatte. Doch bald war ich nicht mehr so dumm, mich gegen die Mü digkeit zu wehren. Ich ließ mich, sobald ich nach Haus kam, im dutzendfach geflickten Arbeitsgewand und mit den Ar beitsschuhen aufs Bett fallen. Bett! Wir verwendeten für alles in diesem Zimmer neutrale und harmlose Ausdrücke Das wirkte komisch und versöhnte ein wenig mit der elenden Rea lität. Bett sagten wir zu diesem Gerümpel, das wir zusammen getragen und zusammengestohlen hatten: ein halbes Scheu nentor, Ziegel als Unterlage, denn der Boden war feucht, ein
Strohsack, zerschlissene Pferdedecken. Um unser Ziel zu erreichen, mußten wir uns an den Vorsatz halten, nur die nötigsten Lebensmittel zu kaufen. In meinem Fall war das schwieriger als bei Maria, ich mußte Schwerar beit verrichten und kam ohne kräftige Nahrung nicht aus. Ich fand aber erschwingliche Auswege, einer hieß Braunschwei ger, eine Wurst, rot und appetitlich, aber nicht des frischen Fleisches, sondern der chemischen Zusätze wegen, die zu sammen mit den hineinverarbeiteten Fleischabfällen einen hervorragenden Geschmack garantierten, nicht zu vergleichen mit dem Mehlgeschmack der teuren Wurstsorten, die bei den Arbeitskollegen beliebt waren. Ein anderer Ausweg hieß Grammelschmalz, dick aufgestri chen auf eine Scheibe Bauernbrot von einem Viertelmeter Länge. Oder ich konnte von Bauern wenig begehrte Teile von geschlachteten Tieren schnorren, Hälse und Haxen von Hüh nern, Schwänze und Ohren von Schweinen. In der Nacht schlich ich in fremde Gärten und stahl Suppenkräuter, Karot ten, Peterwurz, Sellerie, Zwiebeln und Erdäpfel und kochte tags darauf ein Festmahl. Es duftete, daß Maria behauptete, ihr drehe sich schon der Magen um, wenn sie in unsere Straße einbiege. Das waren die Abende, an denen sie lange spazieren ging und die Gegend um den Ort ein wenig kennenlernte. Ich war allein von der Arbeit nach Haus gegangen, hatte mich aufs Bett gelegt, hatte nur dahingedöst, doch fühlte ich mich erholt, als Maria zwei Stunden später kam. Ich fragte sie, ob der Lastwagen doch noch eingetroffen sei. Das ist uninter essant, sagte sie und setzte sich zu mir. Sie war kreidebleich. Ich war am Vormittag gerade dabei, sagte sie, die Kalkgrube abzudecken, als ich einen Pfiff hörte. Ich schaute mich um und sah im offenen Fenster des Büros den Baumeister, er steckte die Finger in den Mund und pfiff noch einmal, dann winkte er mich zu sich. Er fing mich schon im großen Büro raum ab, wo die Lohnbuchhalterin und die Sekretärinnen sit zen. Er fragte mich, ob ich irgendwas gelernt hätte in meinem Leben. Ja, sagte ich, was man in der Schule eben lerne. Das
meine er nicht; ob ich maschinschreiben könne. Ich nickte. Gewonnen, gewonnen! rief der Baumeister, eine Flasche Sekt! Schon den dritten Tag sei eine Sekretärin krank, man würde Aushilfe brauchen, da habe er gesagt, man solle mich, die Vogelscheuche, fragen, doch seine Damen hätten gemeint, die Kleine, die würde nicht einmal lesen und schreiben können. Wer nun habe sich, sagte der Baumeister, wieder als der bes sere Menschenkenner erwiesen. Er drängte mich, sagte Maria, an einen Schreibtisch und for derte mich auf, ein Blatt Papier einzuspannen, er mache ein Probediktat. Ob es, fragte er die Sekretärinnen, ein Schreiben gebe, das noch nicht erledigt sei. Ja, antwortete eine und brachte ihm ein Schriftstück, diesen Brief habe der Herr Bau meister noch nicht unterschrieben, warum, wisse man nicht, vielleicht sei etwas zu ergänzen. Her damit, sagte der Baumei ster und setzte sich in Positur. Er diktierte nicht schnell, sagte Maria, und ich hatte keine Mühe mitzuhalten, obwohl ich nur nach einem selbsterlernten Zweifingersystem schreiben kann, doch darin habe ich eine große Fertigkeit, denn meine amerikanische Brieffreundin konnte meine Handschrift nicht lesen, so mußte ich mit der Maschine schreiben, und da wir sehr viel korrespondierten, bin ich im Maschinschreiben geübt. Der Baumeister, sagte Maria, diktierte immer langsamer, und er schien immer nach denklicher zu werden, so daß ich mich nicht nur auf das Tip pen konzentrierte, sondern auch in dem Schriftstück nachlesen konnte, was ich überhaupt schrieb. Der Formulierung nach handelte es sich um ein Gesuch, um einen Bittbrief, der Sache nach aber um eine Absage. Ein Bauer, so ging aus dem Schreiben hervor, hatte um einen Stallanbau gebeten: Er habe den Sommer über den Rinder bestand aufgestockt. Wenn die Tiere im Herbst von der Alm herunterkämen, würde der Stall zu klein sein. Das Gebäude müsse, koste es, was es wolle, rechtzeitig vergrößert werden, unbedingt vor dem Winter. Die Fakten, sagte Maria, die der Bauer angeführt hatte, zählte der Baumeister in seinem Ant
wortbrief noch einmal auf, gewissermaßen um sich selbst klarzumachen, wie dringend das Anliegen des Bauern war. Die Antwort fiel aber negativ aus. Hätte er, so diktierte mir der Baumeister, auch nur einen einzigen Termin in diesem Jahr frei, würde er ersuchen, den Auftrag erledigen zu dürfen; es tue ihm leid, daß der Bauer nach der schriftlichen Anfrage schon so oft vergeblich angerufen habe; auch er, der Baumei ster, sei der Meinung, ein Telefonat sei zielführender als ein Brief, ihm, dem Baumeister, sei überhaupt das persönliche Gespräch am liebsten, doch leider habe er dafür keine Zeit; er habe, wie gesagt, heuer keinen freien Termin mehr, deshalb ersuche er höflichst, das Treffen mit dem Bauern umgehend nachholen zu dürfen, über Kosten und Baubeginn werde man sich mühelos einigen. Nach dem Diktat, sagte Maria, hat der Baumeister mich ge fragt, ob ich alles mitgeschrieben habe; ich nickte. Das sei keine Kunst, sagte er, wie aber stehe es mit der Rechtschrei bung. Einer, der einen solchen Brief diktiert, sagte Maria zu mir, fragt mich nach der Rechtschreibung, und das auch noch höhnisch. Ich vergaß mich und sagte: Nein, Herr Baumeister, Fehler finden sich in dem Brief keine. Ich würde ihn dennoch in den Papierkorb werfen, denn kein Mensch wird daraus schlau. Der Baumeister, sagte Maria, schwieg, er schwieg so hartnäk kig, daß die Sekretärinnen sich hinter ihren Schreibmaschinen duckten, die Lohnbuchhalterin hinter ihren Ordnern, alle eines Wutausbruchs gewärtig. Der Baumeister aber starrte nur in den Herrgottswinkel, als würde er mit dem Gekreuzigten Zwiesprache halten, doch es schien, daß er von dort keine Ermutigung erfuhr: Ohne Gepolter stand er auf und ging stumm und gemessenen Schrittes hinaus. Als hätte die älteste Sekretärin ein Zeichen vom Chef be kommen, folgte sie ihm, kam alsbald zurück, mächtig aufge blasen, und wies mich an, hinaus zu verschwinden und meine Arbeit auf dem Lagerplatz wieder aufzunehmen. Wenn ich morgen in der Früh hinkomme, sagte Maria, bin ich schon
entlassen. Maria und ich machten während der ganzen Nacht kein Auge zu. Am nächsten Tag wurde Maria abermals ins Büro gerufen, diesmal von der ältesten Sekretärin, und es wurde ihr für zwei Stunden Schreibarbeit zugeteilt; das wiederholte sich nach ein paar Tagen, und das wiederholte sich sogar, als die Sekretärin, die krank gewesen war, wieder zur Arbeit kam. Maria bekam einen kleinen Schreibtisch mit einer uralten Maschine zuge teilt, und immer, wenn sich im Büro die Arbeit häufte, rief man sie. Sie tippte vor allem Geschäftsbriefe; honoriert wurde diese Arbeit nicht extra, Maria leistete Büroarbeit zum Hilfs arbeiterlohn. In dieser Zeit schien sie sich zu verändern; daß sie einmal aus sich herausgegangen war, noch dazu gegenüber dem Baumei ster, und dennoch die Arbeit nicht verloren hatte, dürfte sie ermutigt haben, nicht mehr in dem Maß getarnt und versteckt zu leben wie bisher. Die Arbeit im Büro freute sie, sie bekam, erzählte sie mir, Einblick in die Firma, in die Rolle, die der Baumeister in der Gemeinde spielte, und sie genoß zuneh mend, wie der Baumeister sich in Geschäftsbriefen auszu drücken pflegte. Das war kein einmaliger Fall, erzählte Maria, daß eine Ab sage in der Form eines Gesuchs erteilt wurde, vielmehr wer den alle Briefe, die der Baumeister diktiert, auch Bestellungen und Mahnschreiben, in der Form eines Gesuchs abgefaßt. Offensichtlich sei das Gesuch die dem Baumeister eigene Form, sich schriftlich auszudrücken. Er, der im direkten Um gang mit Menschen sich entweder beleidigend oder befehlend äußere, verfalle, sobald er einen Brief diktiere, in einen ande ren Ton. Die Tatsache, daß Maria sich gegen den Baumeister unge bührlich betragen hatte und dennoch nicht hinausgeflogen war, veränderte auch mich: Ich bewunderte Marias Mut. Nie mand im Ort, einschließlich der Honoratioren und des Notars, würde es wagen, sich dem Baumeister zu widersetzen, ich
schon gar nicht. Ich war nicht so beredt wie Maria und hätte nur sagen können: Herr Baumeister, Ihr Brief ist ein Scheiß dreck. Das wäre weiter nichts als Selbstvernichtung gewesen. Diese Widersetzlichkeit weckte Marias Lebensgeist. Es war auch höchste Zeit: Ihr Äußeres schlug sich schon auf ihr Ge müt. Sie hatte ständig Angst, von ihrem Vater und von den Behörden ausgeforscht zu werden, und war bei jedem Schritt außer Haus, auch wenn sie nur Brot kaufen ging, darauf be dacht, unerkannt zu bleiben. Ihr wichtigstes Requisit war ein großes, schwarzes Tuch, so groß, daß man einen Sarg damit hätte bedecken können, und dieses schlang sie in einer Weise um den Kopf, daß es nicht nur die Haare bedeckte, sondern auch einen Schatten aufs Gesicht warf. So hergerichtet, sah Maria den alten Kroatinnen zum Ver wechseln ähnlich, die neben der Baufirma in einer Großgärt nerei arbeiteten, einem Unternehmen, das der Frau des Bau meisters gehörte. Oft schon hatte ich die Kroatinnen bei der Arbeit beobachtet, während ich nach Arbeitsschluß auf dem Lagerplatz das Werkzeug, Schaufel und Krampen, reinigte und auf Maria wartete. Als sie endlich kam und wir heimgin gen, erzählte sie mir, daß es dem Baumeister erstmals gelun gen sei, Grüße zu erledigen; und erledigen Sie bitte, so habe er ihr diktiert, meine Grüße an Ihre Gattin. Auf Marias Frage, ob sie das wirklich schreiben solle, habe der Baumeister gebrüllt: Ich verbiete mir die Fragerei, ich verbiete mir das für allemal. Der Baumeister, sagte ich, brüllt wenigstens noch, seine Frau hat das nicht mehr nötig; du hast, fuhr ich fort, in der Gärtne rei nebenan gewiß schon die alten Kroatinnen arbeiten sehen. Tief gebückt gehen sie hundert Meter und mehr die Beete entlang, mit winzigen Schritten bewegen sie sich vorwärts und jäten und jäten. Sie richten sich niemals auf. Ich weiß, was das heißt: Wenn ich den Krampen ins Erdreich schlage und dann die Erde herausschaufle, schmerzt mich nach wenigen Minu ten der Rücken derart, daß ich mich, und sei es auch nur für eine Sekunde, aufrichten muß. Diese Frauen aber haben es bereits aufgegeben, sich zwi
schendurch aufzurichten und zu strecken, als würde es sich nicht mehr lohnen: weil das noch schmerzhafter ist, als stän dig gebückt zu arbeiten. Wenn ich, sagte ich zu Maria, die Arbeit nicht mehr ertrage, denke ich mir: Beiß die Zähne zu sammen, es dauert nicht ewig, mit jedem Wochenlohn kommst du dem Tag näher, an dem das alles ein Ende hat. Was aber denken sich diese Frauen, für die diese Arbeit nie mals ein Ende zu nehmen scheint? Der Baumeister und seine Frau, sagte Maria auf dem Heim weg, herrschen wie Fürsten. Wenn du wüßtest, welchen Ein blick man bekommt, auch wenn man nur hin und wieder zur Arbeit im Büro herangezogen wird. Diesseits des Marktplat zes herrschen der Baumeister und seine Frau, jenseits des Marktplatzes als Fürst-Erzbischof der Notar. Dessen Reich tum, sagte Maria, wächst aber sichtbar langsamer als der des Baumeisters, weil der Notar sich zu sehr mit Ehrenämtern beschäftigt: Er ist Obmann des katholischen Männerbundes, Vorsitzender der Vereinigung christlicher Familien und Präsi dent des Ortsverschönerungsvereins. Außerdem muß er dafür sorgen, daß der Pfarrer im Sinne des Baumeisters ordentlich spurt und jeden Sonntag von der Arbeitsmoral als der höch sten Pflicht predigt. Ich frage mich, sagte Maria, wie lange der Notar noch Lust hat, für die hohen Ideale zu fechten, knöpft ihm doch der Baumeister währenddessen Grundstück für Grundstück ab. Im Büro, sagte sie, liegen nicht nur die Geschäftsbriefe des Baumeisters offen herum, sondern auch seine politische Kor respondenz, die jeden Tag zumindest um einen Brief an wächst, um einen Brief an den oder über den Bürgermeister; ich selbst, sagte Maria, habe die Antwort des Baumeisters auf einen Brief des Obmanns der hiesigen Sozialdemokraten ge tippt; der Obmann zeigte sich mit dem Bürgermeister, auch einem Sozialdemokraten, unzufrieden; der Baumeister erwi derte, der sei nach wie vor sein Mann, ihn unterstütze er, schließlich habe er, der Bürgermeister, ihn, den Baumeister, als Parteilosen in den Gemeinderat geholt. Einmal bat der
Bürgermeister den Baumeister brieflich, doch der Partei der Sozialdemokraten beizutreten, er könnte es dann leichter rechtfertigen, daß er den Baumeister zum Baureferenten im Gemeinderat gemacht habe. Der Baumeister, sagte Maria, schlug diese Bitte aus, er sei einmal, habe er im Büro ge scherzt, dumm genug gewesen, einer Partei beizutreten, und wenn er nochmals so dumm wäre, dann müßte es wieder eine Partei geben, die eine solche Dummheit wert sei. Seit der Baumeister als Baureferent in den Gemeinderat einzog, wird das Kanalnetz rasant ausgeweitet, das dürfte für den Baumeister das beste Geschäft sein, sagte Maria, denn ihr grabt schon dort, wo zur Zeit gar kein Bedarf nach einem Ka nal besteht. Denkt ihr euch dabei nichts? Ich weiß nicht, sagte ich, ob die anderen sich dabei was denken, ich nicht; mir wär's am liebsten, wenn ich blind und taub und ohne einen Gedan ken im Schädel auf den Tag zuleben könnte, an dem wir von hier verschwinden; doch gelingt mir das nicht. Als hätte ich schon zuviel ausgeplaudert, hörte ich abrupt zu reden auf, und ohne daß ich mich Maria zuwandte, spürte ich, daß sie mich fragend anschaute. Ich wollte mit dir darüber nicht sprechen, sagte ich, aus Angst, mich lächerlich zu ma chen. Während ich auf dich gewartet und die Kroatinnen beo bachtet habe, stellte sich im ersten Stock des Bürogebäudes der Baumeister für einige Augenblicke ins Fenster, wie er das gern tat, wenn wir abends von den Baustellen zurückgekro chen kamen, und ich sah dann, nicht zum ersten Mal, seine Vernichtung: Wie von einem Feldherrnhügel aus überschaut er das Gelände; dann greift er zum Taktstock und hebt die Hand zum Einsatz. Meine Kollegen ringsum, die eben erst die Geräte in den Schuppen geworfen haben, holen sie wieder. Als jeder sein Werkzeug in der Hand hält, gibt der Baumeister den Einsatz, die Arbeitskollegen spielen auf ihren Geräten einen lustigen Manch, und der Baumeister sorgt mit dem Taktstock dafür, daß Schwung und Spritzigkeit nicht nachlas sen. Da schlägt eine Stichflamme aus dem Dach des Büroge bäudes, im Nu lodert der ganze Dachstuhl, der Baumeister
beschleunigt das Tempo der Musik, und der Dachstuhl stürzt brennend zusammen. Das Feuer greift auf das Mauerwerk über, der Baumeister treibt die Musiker an, lauter und schnel ler zu spielen. Das Feuer frißt sich bis ins Erdgeschoß durch, und ein glühender Balken stürzt vor den Augen des Baumei sters vom Dach; endlich wird der Baumeister des Brandes gewahr. Doch jeder Weg ist ihm abgeschnitten, und so springt er aus dem Fenster auf die Dachplane eines Lastwagens, der aber, ebenfalls von den Flammen erfaßt, explodiert in diesem Augenblick. Wir hatten unsere Bruchbude erreicht, Maria wusch sich, ich hatte mich aufs Bett fallen lassen und ruhte mich aus; so, ge nau so, hatte sie sich gewaschen, dachte ich, als sie sich zum ersten Mal in diesem Zimmer befand. Sie ist größer geworden in den zwei Jahren, dachte ich, doch dünn ist sie immer noch so wie damals. Mir war, als ich sie zum ersten Mal sah, sofort dieser Gegensatz aufgefallen: das Mädchenhafte dieser Gestalt und das riesige, schwarze Tuch. Meine erste Frage, als ich ihr auf dem Lagerplatz gegenüberstand, ich hatte schon drei Wo chen Arbeit beim Baumeister hinter mir, lautete deshalb: Wie alt bist du? Vierzehn. Ich auch; seit wann arbeitest du hier? Den dritten Tag. Und bleibst du? Wahrscheinlich nicht. Scha de; ist dir die Arbeit zu schwer? Ich fürchte, ich finde in dem Ort kein Quartier. Da konnte ich ihr nur beipflichten. Ein Quartier in diesem Ort, rief ich, das könne sie sich aus dem Kopf schlagen, eher stoße man hier auf eine Goldmine als auf ein freies Zimmer. Ich hätte mich zwei Wochen auf Quartiersuche befunden, die Sonntage von in der Früh bis zum Abend, die Arbeitstage vom Abend bis in die Nacht, sogar eine Gehstunde vom Ort ent fernt hätte ich alles abgeklappert, kein Hausherr, keine Fami lie, bei der ich nicht vorgesprochen hätte, am Schluß schon unter Tränen. Wer neu hierherkomme, sagte ich zu dem Mädchen, sei fremd, und wer fremd sei, den könne man nicht ins Haus nehmen. Es sei ja nicht so, rief ich, daß Raummangel herr
sche, ganze Häuser stünden leer, weil man sich neben dem alten ein neues hingebaut habe, halbe Wohnungen stünden leer, denn offenbar sei auch aus diesem Ort jeder, der einen Beruf erlernt habe, bei Kräften sei und auch noch einen Fun ken Verstand besitze, ausgewandert. Wo wohnst du, fragte das Mädchen, im Freien? Beinahe, sagte ich. Jemand hat sich, zufällig, glaube ich, erinnert, ein Haus geerbt zu haben, das halbverfallen ist und abgebrochen wer den soll, der Eigentümer wartet darauf, daß die Grundstücks preise steigen. Bis dahin kann ich dort wohnen, illegal natür lich. Wo sie denn nächtige, fragte ich. Sie führte mich in einen Schuppen, den größten auf dem Firmengelände, Zement wur de hier gelagert, und hinter den Säcken, gut abgeschirmt, in einer Ecke ein paar Pferdedecken und eine alte, zerfetzte Ar beitsschürze. Da sie mir kein Zimmer geben, sagte sie, habe ich mir ein ganzes Haus genommen; wie gefällt es dir? Ich schaute mich um: Der Schuppen war sehr hoch, zum Lagerplatz hin offen, das Dach primitiv, aber gewiß wasserdicht, Rückwand und Seitenwände bestanden aus groben Holzplanken mit breiten Fugen dazwischen - es mußte ja durchziehen, damit die Bau stoffe keine Feuchtigkeit annahmen. Ich würde, dachte ich, lieber im Wald schlafen als hier. Doch zum Mädchen sagte ich: Ein richtiger Palast; mir wäre der zu groß. Wenn ich ein mal nicht mehr alle Räumlichkeiten brauche, sagte das Mäd chen, kann ich ja vermieten. Sie lachte und ging wieder hinaus auf den Lagerplatz. Ich folgte ihr; sie gefällt mir, dachte ich, und mein Körper sagte mir unzweideutig - der Schwanz hatte sich in der Hose aufgerichtet -, daß ich das Mädchen begehre. Draußen auf dem Lagerplatz sagte ich: Ein schöner Herbst. Zum Glück, antwortete sie. Jetzt ist es noch auszuhalten im Schuppen, sagte ich, aber was machst du, wenn es kalt wird? Eine kalte Nacht hat es schon gegeben, sagte sie, der Wind hat mir um die Ohren gepfiffen, es war ärger als im Freien. Im Winter, sagte ich, kannst du hier nicht schlafen, da erfrierst du. Ich
weiß, sagte sie, ich kann aber auch nicht weggehen. In den umliegenden Ortschaften habe ich nirgends Arbeit gefunden, zwar Quartier, aber keine Arbeit. Hier ist es umgekehrt, sagte das Mädchen, der Baumeister scheint zur Zeit jeden aufzu nehmen, der um Arbeit vorspricht, er verlangt nicht einmal Papiere. Und das ist für jemanden, sagte ich, der keine Papiere hat, besonders wichtig. Das Mädchen schaute mich an und überlegte; dann nickte sie. Ich schaute zu Boden; ich dachte, ich könnte die Miete und die Kosten für Strom und Heizung mit ihr teilen. Dieser Vor schlag schien mir obendrein unverfänglich zu sein, und so sprach ich ihn aus. Das ist nett von dir, sagte sie, dann erst überlegte sie, wie sie sich entscheiden sollte. Sie ging in den Schuppen und kehrte mit einem kleinen Leinenbeutel und ein paar zerschlissenen Pferdedecken zurück. Als wir nach einem Fußmarsch vom einen Ortsende zum anderen in mein Zimmer kamen, nahm sie als erstes das gro ße, schwarze Tuch vom Kopf. Ich wollte dem Mädchen etwas anbieten, fand aber in der Mauernische unter dem Fenster, wo ich meine Vorräte zu lagern pflegte, nur ein Stück hartes Brot, im Schmalztopf nur mehr einen unansehnlichen Rest und zwei leere Milchflaschen. Das Mädchen hatte inzwischen eine erfreulichere Entdeckung gemacht: die Waschschüssel und den Wasserkrug, die auf der Kohlenkiste standen. Ob sie sich waschen dürfe? Selbstver ständlich, sagte ich. Das habe sie bitter nötig, sie stinke schon wie ein Tschick, sagte das Mädchen, goß Wasser ein und zog sich die Bluse aus. Ich sah kurz hin: Unter dem Unterleibchen winzige Brüste. Wenn wir hier gemeinsam wohnen, sagte sie, wird es sich nicht vermeiden lassen, daß wir uns voreinander ausziehen; und sie schlüpfte auch aus dem Leibchen. Ich kam mir, wie ich hier stand, in Arbeitsschuhen und Montur, tölpelhaft vor. Ich drehte mich schuldbewußt weg und entkleidete mich bis auf die Clothhose und das Unterhemd. Nun aber, halbnackt,
wußte ich erst recht nichts mit mir anzufangen, flüchtete mich ins Bett und starrte gegen den Plafond; je angestrengter ich nicht zu dem Mädchen hinschaute, desto genauer hörte ich alles: wie sie sich mit kleinen, kreisenden Bewegungen ein seifte - ihren Hals, vermutete ich; wie die Hände auf den Kör per klatschten - auf den Rücken wahrscheinlich; wie das Mäd chen auf einem Bein hüpfte - gewiß wusch sie gerade den anderen Fuß; dann hörte ich, wie sie das Schmutzwasser aus dem Lavoir in den Kübel schüttete, aus dem Krug frisches Wasser nachfüllte und sich nochmals wusch. Ob sie das Hand tuch benützen dürfe, fragte sie; ja, sagte ich und dachte mir, mit einem Handtuch werden wir auf die Dauer nicht auskom men. Das Mädchen sprang auf das Bett, ihre Haut war gerötet vom kalten Wasser und vom Frottieren, es schien mir, als würde es sie frösteln, und tatsächlich wollte sie unter die Decke, doch das gelang ihr nicht, da ich ja drauflag. Was steht hier? fragte sie und zeigte auf ein paar Großbuchstaben, die in die Decke gewoben waren: AN und RZ, die anderen Buchstaben waren auf dem schäbigen Stoff nicht mehr sichtbar; das Mädchen beugte sich über die Buchstaben und überlegte; AN, sagte sie, könnte der Anfang von ANDREAS sein; RZ, sagte ich und rückte näher zu dem Mädchen hin, dieses Wort könnte KURZ geheißen haben. Nun rückte das Mädchen näher zu mir und beugte sich über das R und das Z; ihr Kopf war so nahe neben dem meinen, daß ich ihr Haar spürte, und bei dem Gedanken, daß es nur einer kleinen Bewegung bedürfe, um sie zu küssen, um zum ersten Mal in meinem Leben ein Mädchen zu küssen, schlug mein Herz so stark, daß ich zu keiner Bewegung fähig war. Das Mädchen nützte das aus: Sie zog mir die Decke weg und schlüpfte darunter. Wie es kam, daß ich mich im nächsten Augenblick unter der Decke befand, daß ich auf dem Mädchen lag und auch schon den Schwanz in der Fut hatte, weiß ich nicht; auch nicht, ob es wirklich nur so kurz dauerte, bis der Samen sich ergoß, wie es
mir damals schien; jedenfalls wurde mein Atem, der, wie ich das noch nie erlebt hatte, rasend schnell gegangen war, nach und nach ruhiger, mein Glied wurde nach und nach wieder steif, und als wir abermals miteinander schliefen, begann jenes Verhängnis, das Maria Beziehung, das ich Liebe nenne.
Danach erst sagte das Mädchen, es heiße Maria. Das erschien mir ein derart großer Vertrauensbeweis zu sein, daß ich von Großmutter zu erzählen begann, die Geschichte von der Milch, von der Amputation und vom Totschlag. Dann wollte ich mich über die Zukunfts- und Fluchtpläne verbreiten, doch Maria bestand darauf, die Geschichte vom Totschlag noch mals zu hören. Danach wollte sie wissen, warum Großmutter den Arzt erschlagen habe, ob noch anderes als die Amputation eine Rolle gespielt habe. Maria erkundigte sich auch deshalb so angelegentlich, weil sie glaubte, Großmutter zu kennen, vom Sehen jedenfalls. Jene Gendarmen, die hinter ihr, Maria, hergewesen seien, hätten vor ihren Augen eine alte Frau ge stellt und sich brutal auf sie gestürzt. Amputation und Totschlag, sagte ich zu Maria, waren nur das Ende einer langen Feindschaft. Großmutter kannte den Arzt schon aus einer Zeit, als er noch Assistenzarzt im Spital war. Gleich nach der Besetzung Österreichs durch die Hitlertrup pen, hat Großmutter mir erzählt, setzte der junge Assistenzarzt seinen Ehrgeiz darein, sich unter den eifrigen Nazis als der eifrigste hervorzutun. Großmutter war damals schon Rentne rin, und sie wirkte wegen ihrer hageren Gestalt gebrechlich. Beides, hoffte sie, würde sie vor den Nazis schützen. Die hät ten von Anfang an nur Krieg im Sinn gehabt, zuerst Krieg gegen die eigene Bevölkerung, soweit diese nicht faschistisch, sadistisch, idiotisch, also arisch war, und dann Krieg gegen andere Länder. Dazu werden die Nazis junge, kriegsfähige Menschen brauchen; um mich werden sie sich nicht scheren. Großmutter, sagte ich zu Maria, hatte damit recht - mit der
einen Ausnahme, die sie selbst bildete. Der junge Nazi-Arzt nahm daran Anstoß, daß Großmutter allein in den Bergen umherkletterte. Bei einer Kundgebung auf dem Marktplatz meinte er, nun, da das deutsche Volk wieder vereinigt sei, würden die Menschen endlich wieder von einem Gemein schaftsgefühl beseelt, welches sich nicht nur darin manifestie re, daß man wie ein Mann hinter dem Führer stehe. Dieses Gemeinschaftsgefühl nehme auch tiefen Einfluß auf Arbeit und Leben, er habe das an sich selbst erfahren. Im Spital gelte nicht mehr das Karrierestreben des einzelnen, sondern nur noch das Streben aller, die Kranken möglichst rasch wieder ins arbeitende Volk einzugliedern. Doch auch außerhalb der Arbeit stünden die Menschen zusammen, dafür sei er eben falls ein Beispiel. Man kenne ihn im Ort als leidenschaftlichen Bergsteiger und Kletterer, und wie andere auch habe er in den vergangenen Jahren manche Tour allein gemacht, freudlos und stumm. Nun aber besteige er Sonntag für Sonntag kame radschaftlich mit anderen die Berge der Heimat. Nur eine sonderbare Alte habe den Aufbruch des deutschen Volkes nicht mitbekommen. Das, sagte ich zu Maria, war seine erste Warnung; sie kam Großmutter zu Ohren, doch die nahm sie nicht ernst. Als Auf rüstung und Kriegspropaganda so intensiv wurden, daß der Ausbruch des Krieges nur noch eine Frage von Tagen war, kam der Arzt bei einer Kundgebung wiederum auf Großmutter zu sprechen. Sie galt ihm nicht mehr als die seltsame Alte, welche die Welt nicht verstand, sondern als asoziale Einzel gängerin, vor der man auf der Hut zu sein hatte. Das deutsche Volk sei umstellt von Feinden, niemals sei größere Wachsam keit geboten gewesen als jetzt. Es sei nicht auszuschließen, daß die Alte die Gegend für den Feind auskundschafte. Großmutter wurde, sagte ich zu Maria, am Tag darauf zum Arbeitsdienst verpflichtet, sie, die Rentnerin. Das verstieß zwar gegen das Gesetz, da aber damals die Gesetzgeber die selben Gesetze, die sie erließen, ohne Bedenken brachen, lehnte Großmutter sich gegen jene Verfügung gar nicht auf.
Sie trat, wie es schriftlich angeordnet worden war, den Dienst in der Stadtgärtnerei an. Dort verlangte man zwar keine son derliche Leistung von ihr, doch der Obergärtner hatte Groß mutter stets im Auge. So erreichte der junge Arzt, daß der einzige Mensch im Ort, der trotz Nazizeit und Gemeinschafts gefühl vor sich hingelebt hatte wie früher, nun auch der Volksgemeinschaft einverleibt war. Großmutter, sagte ich zu Maria, empfand den Arbeitsdienst zwar als Einschränkung, nicht aber als Strafe; sie konnte ja nach wie vor den Tag im Freien verbringen; ein ganzer Tag zusammen mit anderen war für sie zwar ungewohnt, doch ging ihr das, entgegen ihrer Befürchtung, keineswegs auf die Nerven; sie konnte sich bei der Gärtnerarbeit zwar nicht aus laufen wie beim Bergsteigen, dafür aber austratschen. Ihr Arbeitsplatz war der Stadtpark, zu dessen Attraktionen ein Rondeau zählte, das dicht bepflanzt war mit den Blumen der jeweiligen Jahreszeit; im Spätherbst 1940, nach drei Jah ren Arbeitsdienst, verwies Großmutter auf ihre Erfahrung im Bepflanzen des Rondeaus und machte sich erbötig, allein die Narzissenzwiebeln auszusetzen, da der Obergärtner seine Leu te ohnedies zum Laubrechen in jenem Park brauchte, der die Villa umgab, in der die Nazis ihr Hauptquartier hatten. Im Frühjahr 1942 dann, zufällig an meinem zweiten Ge burtstag, standen die gelben Narzissen in Blüte. Alle, die an diesem Morgen durch den Stadtpark zu ihrem Arbeitsplatz eilten, kamen zur Arbeit zu spät, aber nicht, sagte ich zu Ma ria, weil die Blütenpracht sie in ihren Bann gezogen hätte, sondern weil die blühenden Narzissen eine bestimmte Form bildeten: die Form eines Judensterns, eines narzissengelben Judensterns. Ein Polizist, der in der Menge stand, anstatt zum Dienst zu gehen, besann sich dann doch seiner Pflicht: Er lief weg, um Meldung zu machen. Da es sich eindeutig um ein politisches Verbrechen handelte, zog die Polizei die Partei zu Rate; im Nu waren die Bonzen des Ortes zur Stelle. Der Obergärtner, inzwischen alarmiert, war auch schon im Stadtpark eingetroffen; er, der Verantwortliche, wurde von
den Nazis sogleich verhört, in einer Lautstärke und begleitet von Drohgebärden, daß Großmutter, die ja im Stadtpark Dienst hatte und hier stand wie die anderen Leute auch, damit rechnete, daß der Obergärtner sie als die Täterin preisgeben werde; doch der konnte sich einfach nicht erinnern, wer im vergangenen Herbst die Narzissenzwiebeln ausgesetzt hatte. Ein paar Männer sprangen aus einem Auto, der Rest der örtli chen Nazi-Prominenz, unter ihnen der junge Assistenzarzt, bahnten sich eine Gasse durch die Leute, um den Judenstern aus Narzissen, von dem inzwischen der ganze Ort sprach, aus der Nähe zu sehen, und erfuhren, daß noch kein Täter ausge forscht war. Der junge Arzt begann die Umstehenden zu mustern, einen nach dem anderen, schließlich fixierte er Großmutter, und sie wich seinem Blick nicht aus, er fixierte sie weiter, und sie hielt seinem Blick weiterhin stand. Da riß der junge Arzt ei nen Pflock, an den ein Bäumchen gebunden war, aus dem Boden, stürzte damit auf Großmutter zu und drosch blindwü tig auf sie ein. Sie hätte die Attacke nicht überlebt, wären die Polizisten dem Arzt nicht doch noch, als Großmutter bereits bewußtlos und blutüberströmt auf dem Kies lag, in den Arm gefallen. Ein Jahr lang mußte Großmutter im Spital verbringen, dann waren auch die inneren Verletzungen verheilt. Obwohl sie bald wieder in den Bergen umherkletterte, weil sie so am ra schesten zu Kräften kam, trat der junge Arzt nicht mehr gegen sie auf. Auch zum Arbeitsdienst, von dem sie nie entbunden worden war, wurde sie nicht mehr einberufen. Nach der Be freiung von den Nazis, sagte ich zu Maria, verzichtete Groß mutter auf eine Anzeige, da der Assistenzarzt ohnedies vom Spitalsdienst suspendiert und einem aus Naziverbrechern be stehenden Bautrupp zur Wiedererrichtung des bombenbeschä digten Elektrizitätswerkes zugeteilt wurde. Nach eineinhalb Jahren kehrte er auf seinen früheren Posten zurück. Großmut ter verzichtete auf eine Anzeige, weil sie die Frage fürchtete, warum sie damit so lange zugewartet hätte; denn ihre wahr
heitsgemäße Antwort schien ihr nicht zureichend zu sein. Ich kann mir denken, sagte Maria, warum deine Großmutter den Arzt erschlagen hat, ich weiß aber immer noch nicht, vor ausgesetzt, daß es tatsächlich keinen medizinischen Grund gab, warum er ihr das Bein amputiert hat. Ich weiß es auch nicht, sagte ich, ich vermute aber, daß er die ganze Zeit über in der Angst lebte, Großmutter könnte sich eines Tages doch zu einer Anzeige entschließen; das hätte seine rasante Karriere bremsen können. Schon bald nach seiner Wiedereinstellung wurde er 1947 zum Oberarzt ernannt, und drei Jahre später, im Jahr seines Todes, war er als der zukünftige Primar im Ge spräch. Würde, so dürfte der Arzt spekuliert haben, Großmut ter nach der Amputation Anzeige erstatten, wäre Großmutters Motiv klar: Eine alte, nicht mehr zurechnungsfähige Frau, die nicht einmal bereit ist, das Rauchverbot im Spital zu akzeptie ren, kann den medizinischen Grund der Amputation nicht begreifen und will sich am Arzt rächen. Ihre Anzeige würde bestenfalls von der Polizei protokolliert, dann aber in den Papierkorb geworfen. Ich sah, daß Maria nur noch mit Mühe die Augen offenhalten konnte. Und jetzt, sagte ich, erzähle mir, warum du von zu Haus weggelaufen bist. Alles, sagte Maria, erzähle ich dir, nur das nicht. Aber auch ein anderes Thema war damals tabu: daß Maria an meinen Reiseplänen nur insofern Anteil nahm, als sie Österreich unbedingt verlassen wollte; wohin, war ihr im Un terschied zu mir gleichgültig. Wenn ich mich einmal betrank, war mir nachher nur leid ums Geld. Wenn Maria sich einmal etwas gönnte, dachte ich sofort, sie sei es überdrüssig, für die Reise nach Amerika zu sparen, ihr würde es genügen, sich nach Italien abzusetzen, sie wolle ja nur vor ihrem Vater si cher sein. Das war auch mein erster Gedanke, als Maria eine Flasche Wein kaufte, um zu feiern, daß sie nicht entlassen worden war. Vielleicht, sagte ich, ist der Baumeister doch nicht mehr der Alte, der Allmächtige, der alles hier bestimmt; daß Hannes sich nicht unterkriegen ließ, dürfte dem Baumei ster zu denken gegeben haben.
Maria machte eine wegwerfende Handbewegung. Doch, sagte ich, ich glaube, das hat dem Baumeister zu denken gegeben; er hat Hannes beschuldigt, mehr Zement verwendet zu haben als notwendig, und er hat kurzerhand den Lohn einer Woche einbehalten, mit der Begründung, Hannes müsse den Schaden gutmachen. Da hat Hannes, der seit zehn Jahren an der Mischmaschine steht und der das Verhältnis zwischen Schot ter und Zement so festlegt, wie die Statik es erfordert, und nicht wie der Baumeister es sich einbildet, da hat Hannes sich bedächtig gebückt, einen faustgroßen Stein aufgehoben, genau gezielt und ihn nach dem Baumeister geworfen, der rücklings auf den Boden gestürzt ist, sich vor Schmerzen gekrümmt hat und nur noch sagen konnte, man möge nicht die Rettung, son dern seinen Hausarzt rufen; der diagnostizierte ein gebroche nes Schlüsselbein und ein zersplittertes Schulterblatt. Hannes saß seine Strafe ab, dann kehrte er zurück, obwohl der Bau meister gebrüllt hatte, dieser Kerl habe hier nichts verloren; und weil Hannes den Mut fand zurückzukehren, brachte ein anderer den Mut auf, ihm Arbeit zu geben, wenn auch nur als Knecht auf einem Bauernhof. Maria unterbrach mich. Weißt du nicht, sagte sie, wie diese Geschichte ausgegangen ist? Haus und Hof des Bauern, der Hannes aufgenommen hat, sind inzwischen verkauft, der Bau er und Hannes verschwunden. Unmöglich, rief ich, darüber wäre doch in der Arbeit gesprochen worden. Merkwürdig, sagte Maria, daß nicht einmal du davon weißt; ich dachte, du seist ein Freund von Hannes, und er habe zumindest dir davon erzählt. Ich habe euch beide nur einmal zusammen erlebt, und da hatte ich den Eindruck, ihr müßtet sehr befreundet sein, was mich wunderte, denn du hast von dieser Freundschaft nie gesprochen. Du erinnerst dich vielleicht an diese Begegnung: Es war ein Samstag, wir befanden uns nach Arbeitsschluß mit dem Wochenlohn in der Tasche auf dem Heimweg, als Han nes uns entgegenkam. Du bist mit ausgebreiteten Armen auf ihn zugelaufen, und ich dachte, du würdest ihn umarmen, doch du hast ihn bei den Schultern gepackt, als wolltest du ihn
aus den Kleidern beuteln. Als Antwort hat Hannes wie ver rückt mit seinen Fäusten gegen deine Brust getrommelt. Schon vom Zuschauen, sagte Maria, ist mir die Luft wegge blieben. Du hast ihn gefragt, ob er mit dir ein Bier trinken wolle, und dabei mich angeschaut , um herauszufinden, wie ich dazu stünde, daß du, der Sparsame, einen Wirtshausbesuch vorgeschlagen hast. Geh nur, habe ich gesagt und mich darauf gefreut, einmal ein paar Stunden allein in unserem Zimmer zu sein. Es wurden mehr als ein paar Stunden. Du bist erst Sonn tag vormittag nach Haus gekommen. Ich habe, sagte Maria, vom frühen Abend bis in den nächsten Vormittag hinein geschlafen und wurde erst wach, als Hannes heraufrief. Er konnte noch reden, du nicht mehr. Es ist nicht meine Schuld, rief er, ich wollte ihn daran hindern, doch er war nicht zu bändigen; jeden, der uns über den Weg lief, hat er eingeladen, und in der Früh war der ganze Wochenlohn versoffen, und das, rief Hannes herauf, obwohl ich meine Zeche selbst bezahlt habe, ich weiß ja, was für sparsame Men schen ihr seid. Du, sagte Maria, hast währenddessen am Strommasten vis-a-vis das Schlüsselloch der Haustür gesucht. Schließlich erbarmte Hannes sich, packte dich, legte dich über seine Schulter, trug dich ins Zimmer, warf dich aufs Bett und sagte, sogar die Ältesten würden behaupten, es habe in diesem Ort noch nie ein derart ausgelassenes Fest gegeben, wie letzte Nacht eines zu seinem Willkommen gefeiert worden sei; die Leute hätten ja geglaubt, er würde es wegen der Drohungen des Baumeisters nicht wagen, nach der Entlassung aus dem Gefängnis in den Ort zurückzukehren. Seitdem, sagte Maria, habe ich ihn nicht mehr gesehen. Ich auch nicht, sagte ich. Eine Nacht lang, fuhr Maria fort, habt ihr ihn als euren Helden gefeiert, aber schon am Tag darauf war er vergessen. Ein typischer Volksheld. Niemand hätte es in jener Nacht gewagt, ihm und euch entgegenzutreten, dieser Triumph aber hat euch offenbar verschreckt. Schon am näch sten Tag ist wieder jeder allein und trübsinnig in seinem Zimmer gesessen, am übernächsten Tag verbittert seiner Ar
beit nachgegangen, und am Tag darauf konnten die Honora tioren in aller Ruhe beginnen, die Rädelsführer des nächtli chen Exzesses, allen voran Hannes, unschädlich zu machen. Nicht einer von euch merkte etwas davon, geschweige denn, daß er dagegen auftrat. Der Eder-Bauer, sagte ich zu Maria, soll Haus und Hof ver kauft haben und weggezogen sein? Das glaube ich nicht. Der Eder, heißt es, gehört der ältesten Familie des Ortes an, fünf zehn Generationen von Eders sollen auf diesem Hof gelebt haben, außerdem heißt es vom jetzigen Eder, er gehöre zu den wenigen Bauern, die weder bei der Sparkasse noch beim Baumeister noch beim Notar verschuldet sind. Außerdem wäre der ganze Ort in Aufruhr geraten, sagte ich, wenn der Eder-Bauer verkauft hätte und weggezogen wäre. Ebenso wäre es in aller Munde gewesen, wenn Hannes den Ort hätte verlassen müssen. Du lebst, sagte Maria, in Illusionen: Der Filialleiter der Spar kasse hat das Gerücht ausgestreut, der Eder-Bauer sei bis über den Kopf verschuldet, der Baumeister hat die Lüge verbreitet, der Eder-Bauer sei seit fünf Jahren nicht mehr in der Lage, Rechnungen zu begleichen, der Notar hat behauptet, der ver meintliche Eder-Bauer gehöre gar nicht der Familie der Eders an; die Wirren des Ersten Weltkriegs hätten diesen Mann hierher verschlagen, er stamme aus dem kroatischen Teil des Burgenlands und sei, wie sein wirklicher Name, Gregorich, verrate, nicht einmal deutschstämmig. Kurzum, sagte Maria, gleich nachdem der Eder-Bauer Hannes als Knecht aufge nommen hatte, wurden Fakten durch Gerüchte ersetzt, und diese bekamen so viel Gewicht, daß niemand mehr mit dem Eder etwas zu tun haben wollte. Niemand nahm ihm seine Produkte ab, niemand belieferte ihn, und jeder im Ort war bald davon überzeugt, es gar nicht mit einem Eder, sondern mit einem Gregorich zu tun zu haben. Dem Eder-Bauer blieb nur noch, überstürzt die eine Hälfte des Besitzes dem Notar, die andere dem Baumeister zu verkaufen. Niemand hat den Bauern wegfahren sehen, und wahrscheinlich ist Hannes mit
ihm gegangen, denn auch von dem sah und hörte man nichts mehr. Mich jedoch, sagte Maria, machte am meisten stutzig, daß man im Ort entweder die Gerüchte nachplapperte oder aber sich ahnungslos gab. Ein paar Leute, von denen ich meinte, sie würden Einblick haben, sprach ich an, zuerst die Apothe kerin, als ich Kopfwehtabletten kaufte. Doch die tat ganz er staunt: Sie wußten nicht, daß der tief verschuldet war? Als ich enttäuscht wegging, sah ich, daß der taubstumme Wegmacher hinter mir stand. Ich sprach die Fleischhauerin an, als ich Braunschweiger einkaufte: Sie wußten nicht, daß der eigent lich ein Ausländer war? Als ich das Geschäft verließ, sah ich, daß der Wegmacher draußen stand. Auf dem Markt kaufte ich Eier und sprach die Marktfrau an: Einen Verbrecher wie den Hannes, sagte die, haben wir hier noch nie geduldet. Als ich, des Nachfragens überdrüssig, wegging, sah ich, daß der Wegmacher hinter mir stand. Er folgte mir bis in die Nähe unserer Wohnung, immer wieder schaute er sich um, ob er beobachtet werde. Schließlich kam er auf mich zu, bedeutete mir stehenzubleiben und sagte: Glauben Sie niemandem, sie lügen alle. Daraufhin ging er ohne Gruß weiter; erst als er weg war, sagte Maria, wurde mir bewußt, daß der Wegmacher ja als taubstumm galt. Nein, rief ich, auch mit dir hat er geredet? Was heißt, sagte Maria: auch mit mir?
Ich trank ein ganzes Glas Wein in einem Zug aus und über legte, ob ich Maria diese Geschichte, die ich ihr aus gutem Grund verschwiegen hatte, erzählen sollte. Was würde dage gen sprechen, nun, da das Unglaubwürdigste an der Geschich te, daß der Wegmacher hören und sprechen konnte, Maria ohnedies bekannt war? Du kennst, sagte ich, den Kirchhügel, wo die Einheimischen am Karsamstag, damit Christus aufer stehe, ihre Böller abfeuern und sich dabei besaufen. Heuer wollte ich mir das aus der Nähe ansehen; ein paar dürften
schon zu Mittag mit dem Trinken begonnen haben. Sie waren am Nachmittag bereits so gut gelaunt, daß sie einander nur noch anbrüllten, und einer von ihnen war so betrunken, daß er sich von dem grölenden Haufen absetzte, um sich zu überge ben. Als er danach erleichtert aufschaute, sah er mich, zwan zig Schritt von sich entfernt, am Waldrand auf einem Baumstrunk sitzen. Ich kannte ihn, es war der Sohn des Tischlers; er kannte mich gewiß nicht. Komm her, sagte er zu mir, lallend, aber dennoch bemüht, seinen Dialekt möglichst aggressiv herauszubellen. Nein, sagte ich. Komm her zu uns und trink was. Oder muß ich dich holen? Ich stand auf; ich warte, sagte ich. Komm her zu uns, ich sag es dir zum letzten Mal. Ich war mir sicher, daß er, betrunken wie er war, mir nicht gefährlich werden konnte, und setzte mich wieder. Warte nur, sagte er, wir holen dich. Er drehte sich um, als wollte er zu seinen Kumpanen zurücktor keln, doch hielt er inne und starrte abermals zum Waldrand. Ich folgte seinem Blick und sah den Wegmacher dort stehen, abseits von den anderen, allein wie ich, doch halb verdeckt von einem Gebüsch. Ich weiß nicht, sagte ich zu Maria, warum er ausgerechnet dort stand, wo er auf die Besoffenen den Eindruck eines heim lichen Beobachters machen mußte; deshalb wunderte es mich nicht, daß der Tischlerssohn seine Aggression nun am Weg macher ausließ. Steh nicht blöd herum! brüllte er ihn an. Da der Tischlerssohn, wie jeder andere im Ort auch, wußte, daß der Wegmacher taubstumm war, konnte er selbst im Rausch nicht mit einer Reaktion des Alten gerechnet haben. Der Be trunkene wankte zurück zu den anderen. Die Fäuste schwin gend, redete der Tischlerssohn auf seine Kumpane ein, laut genug, daß ich es hören, doch so unartikuliert, daß ich es nicht verstehen konnte. Die Ansprache schien sie zu begeistern. Die hecken einen Plan aus, dachte ich. Ich wollte keine Verletzung und damit Arbeits- und Lohnausfall riskieren, deshalb zog ich mich so weit in den Wald zurück, daß sie mich nicht sehen, ich aber alles beobachten konnte.
Immer noch stand der Wegmacher wie angewurzelt da. Ich sah ihn jetzt von hinten, den mittelgroßen, schmächtig wir kenden Mann. Nein, dachte ich, an dem werden sie sich nicht vergreifen. Als sie, angeführt vom Tischlerssohn, auf ihn zu gingen, glaubte ich, sie würden ihn zum Saufen animieren, und war neugierig, ob er, was immer sie ihm anbieten würden, entgegennehmen oder zurückweisen würde. Ich hatte mich geirrt; sie packten ihn, zwei an den Armen, zwei an den Bei nen, schleppten ihn in die Mitte der Lichtung des Kirchhügels, wo neben dem Stand mit Wein und Schnaps zwei Böller auf gebaut waren und wo sich das große Bierfaß befand, das sie zur Ehre des himmlischen Herrn angeschlagen hatten. Dann zwangen sie den schwach Widerstrebenden zu Boden, drück ten ihn mit dem Rücken gegen das Bierfaß, fesselten den Wegmacher an das Faß, traten zurück und beklatschten voller Freude ihr Werk. Mühsam nur konnte sich der Tischlerssohn mit weit ausholen den Bewegungen Gehör verschaffen. Seit er sich erinnern könne, brüllte er, gehe das Gerücht, der Wegmacher sei in Wahrheit gar nicht taubstumm, er verstelle sich nur. Es sei allerhöchste Zeit, diesem Gerücht auf den Grund zu gehen. Er werde jetzt die Böller neben dem Wegmacher abfeuern, und sollte der darauf reagieren, hätten sie endlich Gewißheit. Ein paar Jüngere waren skeptisch, doch die Alten stimmten ein hellig zu. Der Tischlerssohn plazierte die beiden Böller unmit telbar neben dem gefesselten Wegmacher. Ich dachte immer noch, es handle sich um einen Scherz, da lud der Tischlers sohn tatsächlich die Böller, und, ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, feuerte er sie ab. Jedesmal gab es einen Knall, der sogar mich, der ich in sicherer Entfernung stand, zusammen fahren ließ. Die Druckwellen waren so stark, daß der Kopf des Wegmachers zuerst auf die eine, dann auf die andere Seite geschleudert wurde. Darin sahen die Umstehenden den Be weis, daß der Wegmacher, da er ja auf den Knall reagiert ha be, sehr wohl höre. Einer aus der Karsamstagsrunde jubelte: Gottesbeweis! Die anderen brüllten im Chor: Gottesbeweis!
Habt ihr es gesehen, er hört! rief einer. Und wie der hört, alle haben es gesehen! ließ der Chor sich vernehmen. Von den Jungen waren zwar ein paar angewidert wegge gangen, die übrigen aber droschen einander ausgelassen auf den Rücken, die Alten kugelten sich einfach vor Lachen, ein paar, vom Lachkrampf geschüttelt, ließen sich in ihren feier täglichen Steireranzügen ins feuchte Gras fallen und hatten, als sie sich aufrappelten, nasse Flecken auf der Hose. Unter ihnen befand sich der Tischlermeister, ein ortsbekannter Scherzbold und Veteran zweier Weltkriege. Daß er sich der maßen in Szene setzte, störte seinen Sohn, der sich noch als Mittelpunkt fühlte, es aber nicht mehr war, und er herrschte seinen Vater an: Aufstehen! Erstaunt hielten die Alten einen Augenblick inne, dann rief der Tischlermeister schlagfertig zurück: Auferstehen! Was. denn sonst: auferstehen! Es ist ja Karsamstag! Er mimte feierlich grotesk eine Auferstehung, erhob sich wie in Zeitlupe aus dem feuchten Gras, als müßte er dabei Fels blöcke zur Seite schieben, und machte komisch würdevolle Bewegungen, als würde er aus dem Felsengrab steigen. Diese Darbietung kam derart gut an, daß der Tischlermeister offen bar vergaß, nicht der Sohn Gottes, sondern nur der Vater des blödesten Lümmels im Ort zu sein, und die ganze Welt zu Brot und Wein ins Wirtshaus einlud. Im Nu lag der Kirchhü gel verlassen da. Mein Gott, dachte ich, wäre ich an deiner Stelle, würde ich es nicht zulassen, daß mein Sohn derart lächerlich gemacht wird, ich würde dieser Bagage, und ginge sie noch so oft zur Beichte, nicht vergeben, ich würde sie. in Beichtstühle ver wandeln und sie von Holzwürmern zerfressen lassen, das würde ich an deiner Stelle tun. Zögernd ging ich zum Weg macher; ich fürchtete, er sei nach diesen gewaltigen Detona tionen nicht mehr bei Sinnen. Seine Folterknechte versammel ten sich in der Zwischenzeit im Wirtshaus, um auf Kosten des Tischlermeisters weiterzusaufen. Was sich dort abspielte, sagte ich zu Maria, erfuhr ich drei Tage später, am ersten Ar
beitstag nach Ostern. Ein Arbeitskollege hatte am Karsamstag abend beim Post wirt hinter der Schank ausgeholfen, wie er das immer tat, wenn ein großes Besäufnis erwartet wurde. Er erzählte mir, daß der Polier plötzlich auf den Sessel gestiegen war und, da ihm nicht alle sofort ihre Aufmerksamkeit zuwandten, wie wild mit den Fäusten auf den Tisch geschlagen hatte. Dann hielt er wieder einmal, sagte mein Arbeitskollege, eine seiner berüchtigten Reden: Wir wissen jetzt, schrie der Polier, daß der Wegmacher nicht taub ist; jahrelang hat er uns getäuscht. Fragt sich von euch Idioten niemand, ob der Wegmacher euch nicht auch vor spielt, daß er stumm ist? Natürlich nicht. Deshalb sage ich euch: Der Wegmacher ist weder taub noch stumm; ich selbst habe ihn reden hören; leider habe ich damals meinen Sinnen mißtraut, aber auch meinem Gefühl, das mich immer schon vor dem Wegmacher gewarnt hat; immer schon. Doch ich habe mir gedacht, laß die alten Zeiten ruhen, heute ist der Kerl taubstumm, bettelarm und alt, schleppt sich jahraus, jahrein bei jedem Wetter als Tagelöhner mit seinem Wagen und sei nem Werkzeug die Fuhrwege entlang, kratzt den Sand aus den Regenrinnen, füllt die Schlaglöcher auf und sichelt das Un kraut ab. Doch nun weiß ich: Ich habe mich täuschen lassen. Nun weiß ich: Es waren tatsächlich zwei Stimmen, die ich im Keller des Kohlenhändlers gehört habe. Ich bin in den Keller hinuntergegangen, um die Rechnung für die Kohlen zu bezah len, die Rechnung vom vorigen Jahr, denn ich zahle immer zu spät, und ich habe dem Kohlenhändler auch erklärt, warum: Bringen Sie erst ihrer Tochter das Grüßen bei, habe ich ihm erklärt, dann werde ich auch meine Rechnung pünktlich be zahlen. Ihre Tochter ist der einzige Mensch im Ort, der nicht ordentlich grüßt. Ich verlange von euch hochnäsigem Gesindel ja keinen Anstand, ich verlange nur, daß dieses Rotzmensch, wenn ich mit einem Grüß Gott eintrete, mit einem Grüß Gott, wie es bei uns üblich ist, und nicht mit einem gottlosen Guten Tag antwortet. Ich bin alles andere als ein Heiliger, habe ich
dem Kohlenhändler erklärt, aber ich weiß zumindest, was sich gehört. Sie wissen das offenbar nicht. Sie behaupten, ein Chri stenmensch zu sein, nichts als ein Christenmensch, halten aber Ihre Tochter nicht einmal zum richtigen Grüßen an. Und als ich neulich in die Kohlenhandlung hinuntersteige, fuhr der Polier fort, um Kohlen für den Winter zu bestellen, höre ich zwei Männer miteinander reden. Als ich unten an komme, sehe ich aber nur den Kohlenhändler, seine Tochter und den Wegmacher. Geht euch endlich ein Licht auf, ihr Idioten? Der zweite, der geredet hat, war der Wegmacher! Seit Jahren also horcht er uns aus. Da alle ihn für taubstumm gehalten haben, ist ihm nie jemand aus dem Weg gegangen, und niemand hat sich seinetwegen ein Blatt vor den Mund genommen. Habt ihr euch schon einmal gefragt, warum der Wegmacher Abend für Abend einmal in diesem, einmal in jenem Wirtshaus sitzt und stundenlang an einem einzigen Viertel Wein herumnuckelt? Um uns auszuspionieren! Wer lacht da? schrie der Polier, als ein paar Burschen nicht mehr an sich halten konnten. Natürlich! Blöd lachen, aber von nichts eine Ahnung haben! Keine Ahnung davon, daß der Wegmacher immer schon eine zwielichtige Gestalt war; und daß seine Eltern nicht viel besser waren. Sie besaßen ein Fuhrunternehmen, das einzige, das es vor dem Krieg in unse rem Ort gab, ein Unternehmen mit ein paar Rössern, aber auch schon mit zwei Lastautos. Die Eltern haben sich früh zur Ruhe gesetzt, und er hat die Firma gut geführt; er war der einzige Sohn und ledig: mit Ab stand die beste Partie im Ort; er hätte die Reichste zur Frau haben können, zumindest aber die Schönste; er aber hat sich, es war im Jahr 1920, eine vom Nachbartal geholt, weder reich noch jung noch schön, verwitwet und schon vierzig wie er, und mit dieser Person hat er in einer wilden Ehe gelebt. Sie ist knapp vor ihm aus dem Ort verschwunden und nach dem Krieg nicht wieder aufgetaucht. Sie ist in ihr Tal zurück gekehrt, wie man nun weiß, seit sie vor ein paar Jahren in
allen Zeitungen abgebildet war: Sie hat, obwohl schon siebzig, im Spital einem Arzt mit der Krücke den Schädel eingeschla gen. So eine war das. Und ihr damaliger Lebensgefährte war nicht nur Fuhrunternehmer, sondern auch ein schrecklicher Spinner. Er steckte, wann immer er Zeit hatte, mit dem Buch händler zusammen, dem heutigen Kohlenhändler; der Buch händler hat den Fuhrunternehmer vollends verrückt gemacht, er hat ihn überredet, am Abend mit ihm nach Wien zu fahren und in der Nacht zurück, nur um sich die Vorlesungen eines Knaus oder Kraus oder Klaus anzuhören. Zu einem Ärgernis wurde der Fuhrunternehmer aber erst 1934. An einem Sonntag kam er mit einer roten Nelke im Knopfloch auf den Kirchplatz und stänkerte uns an: Ich, hat er gesagt, war immer Kirchgänger, denn mich hat mein Vater von Kindheit an in die Kirche geschickt, und ich habe euch Sozialdemokraten immer beneidet, weil ihr nicht in die Kirche gehen mußtet; doch jetzt, da die Schwarzen eure Partei verbo ten haben, tragt ihr nicht nur keine rote Nelke mehr im Knopf loch, was ich noch verstehen kann, sondern ihr besucht sogar Sonntag für Sonntag die Messe, und seither bewundere ich euch nicht mehr; und doch möchte ich, daß ihr eure große Zeit nicht ganz vergeßt; die rote Nelke, die ich trage, soll euch daran erinnern. Du Idiot, habe ich zum Fuhrunternehmer gesagt, hast du noch nicht bemerkt, daß jetzt eine Zeit ist, in der man besser den Mund hält? Deine Stänkereien werden dich teuer zu ste hen kommen; mag sein, daß die Schwarzen dich verschonen, weil du aus einer christlichen Familie kommst und weil du Unternehmer bist; nach den Schwarzen aber kommt der Hit ler, und dann möchte ich sehen, wie du mit einer roten Nelke im Knopfloch herumspazierst. Und als achtunddreißig die Nazis gekommen sind, fuhr der Polier fort, war ihre erste Amtshandlung, daß ein Trupp in Marsch gesetzt wurde, um den Fuhrunternehmer zu verhaften; doch der muß gewarnt worden sein, denn er hat sich rechtzei tig davongemacht. Die Nazis behaupteten, der Fuhrunterneh
mer sei in die Berge geflüchtet, halte sich dort mit anderen Volksschädlingen versteckt, sie würden verbrecherische An schläge planen, die Bevölkerung möge auf der Hut sein. Wir hielten das für Nazipropaganda, wurden aber schon in der Nacht darauf, als auf dem Hauptplatz, vor dem Gebäude der Gestapo, zwei Autos in Flammen aufgingen, eines besseren belehrt. Die Nazis haben alle, die gehen konnten, zusammengefan gen, und dann mußten wir tagelang die Berge durchkämmen, nicht einmal für Proviant sind die Nazis aufgekommen, den mußten wir bei den Bauern erbetteln. Schließlich waren be reits die Schuhe kaputt, doch von den Partisanen keine Spur, die Feiglinge hatten sich wahrscheinlich ins Ausland abge setzt. Eines war sicher: Ihr Anführer konnte nur der Fuhrunter nehmer sein, denn niemand war in den Bergen so zu Haus wie er. Als wir erschöpft zurückkamen, zogen wir vor das Haus seiner Eltern und wollten eigentlich nur, daß die sich von ih rem Sohn, diesem Verbrecher, lossagten. Es war Abend, im Haus brannte schon Licht; einer von uns klopfte an die Tür, doch niemand öffnete; stattdessen wurde im Haus das Licht abgeschaltet; wir klopften nochmals; wieder keine Reaktion. Also warfen wir die Scheiben ein, und auf einmal hatten es die Alten eilig: Sie kamen aus dem Haus und behaupteten, ihr Sohn sei weder Partisan noch in den Bergen, er sei seit zwei Wochen im Ausland, seine Tante feiere ihren siebzigsten Ge burtstag, in Lyon, in Frankreich, und sie hielten uns eine An sichtskarte unter die Nase: gestern erst sei sie angekommen, wir sollten den Poststempel prüfen und auch die Handschrift, es sei eindeutig die ihres Sohnes. Die Alten haben lamentiert, fuhr der Polier fort, bis sich das keiner mehr anhören konnte; wir waren erschöpft, hungrig und durstig und zogen weiter, ins Wirtshaus, wo die Gestapo-Leute auf uns warteten. Wir berichteten von unserer erfolglosen Suche; und was unsere Wut auf die Eltern des Banditenhäuptlings anlangte, nahmen wir kein Blatt vor den Mund.
An Ort und Stelle wurde ein Erlaß vorbereitet, demzufolge alle Fahrzeuge des Unternehmens, aber auch das Wohnhaus requiriert würden. An diesem Abend noch, versicherte uns der Leiter der örtlichen Gestapo, würde dieser Erlaß den Fuhrun ternehmern übermittelt. Wir, die wir von den beiden Alten so arrogant abgefertigt worden waren, versammelten uns aber mals vor deren Haus, um zu sehen, ob ihnen jetzt die Hochnä sigkeit vergehen würde. Unser Weg dorthin war nicht umsonst: Die beiden Alten war fen, als sie uns sahen, alles, was sie schleppen und heben konnten, aus den Fenstern; die Lebensmittel zuerst; Mehl, Zucker, Nudeln warf die Frau auf die Wiese, wo die großen Papiersäcke zerplatzten; der Alte schleuderte eine Unmenge Krawatten ins Freie, den Schachtisch aber warfen sie zu zweit hinaus, die aus Elfenbein geschnitzten Schachfiguren hinter drein, und als Draufgabe flog ein Stapel Bettwäsche auf die Wiese. Dann trat im Haus absolute Stille ein; die GestapoMänner sprangen auf, traten die Haustür ein und stürmten ins Haus. Als sie die beiden Alten herausschleppten, sahen wir, daß man sie vom Strick geschnitten hatte. Sie sollen noch gelebt haben und am nächsten Tag in einen Zug nach Frank reich gesetzt worden sein. Zurückgekommen sind sie nicht mehr; nur der Herr Sohn, aber erst nach dem Krieg, ein Jahr danach. Wir hatten schon geglaubt, das Schlimmste hinter uns zu ha ben: die Russen; sie haben sich eingebildet, uns in gute De mokraten und böse Faschisten sortieren zu können. Dann die Engländer: Die haben geglaubt, sie können uns mit ihrer Ent nazifizierung kommen. Doch dann tauchte der ehemalige Fuhrwerksunternehmer auf, ging von Haus zu Haus, von Wohnung zu Wohnung und erzählte jedem seine Geschichte; er forderte seine Lastwagen zurück, obwohl sie von den Nazis kaputtgefahren und vom Herrn Baumeister mit hohen Kosten repariert worden waren; er wollte in das Haus einziehen, das der Notar vor vielen Jahren erworben hatte; er hetzte die Leute auf gegen den Notar und den Herrn Baumeister und brachte
Unruhe in den Ort, unmittelbar nach dem Krieg, als wir uns nichts mehr wünschten als Ruhe. Er versammelte immer mehr Leute um sich, die seinen Geschichten Glauben schenkten, so daß es mich nicht wunderte, daß er eines Nachts auf dem Marktplatz, mehr tot als lebendig, aufgefunden wurde. Das Leben hat man ihm im Spital noch retten können, die Fähig keit, zu sprechen und zu hören, nicht mehr - haben wir bis zum heutigen Tag geglaubt. Im Spital also schon stellte der Kerl sich taubstumm, und nachdem er es geschafft hatte, die Ärzte zu täuschen, war es ihm ein leichtes, uns zehn Jahre lang zum Narren zu halten. Doch nun kennen wir die Wahr heit, schrie der Polier. In diesem Augenblick, sagte mein Arbeitskollege, sei durch das geschlossene Fenster ein Ziegelstein geflogen und an die Holztäfelung der gegenüberliegenden Wand geknallt; zum Glück sei niemand verletzt worden. Das war mir bekannt, sagte ich zu Maria, denn ich selbst hatte den Ziegelstein ge worfen. Du Wahnsinniger, sagte sie, stell dir vor, man hätte dich erwischt. Ich habe geglaubt, antwortete ich, die Besoffenen hätten den Wegmacher vergessen, und der müßte die ganze Nacht gefesselt auf dem Boden sitzenbleiben. Ich war also zum Faß gegangen, hatte mich zum Wegmacher hinunterge beugt und gehört, wie er schwer und röchelnd atmete. Haben Sie Schmerzen? fragte ich. Da fiel mir ein, daß es keinen Sinn hatte, einem Taubstummen Fragen zu stellen. Er schlug die Augen auf, schaute mich an und sagte, nein, er habe keine Schmerzen, nur die Arme seien ihm eingeschlafen. Ich war fassungslos. Es kommt jemand, sagte er, versteck dich. Ich sah zwar nie manden, es war inzwischen dunkel geworden, aber auch ich hörte Schritte, und ich versteckte mich hinter dem Faß. Der Tischlerssohn. Als er des Wegmachers ansichtig wurde, brüll te er: Wegen dir muß ich noch einmal da herauf; steh sofort auf und hau ab, oder ich trete dir in die Eier. Daß der Wegma cher gefesselt war und nicht aufstehen und weggehen konnte,
schien der Tischlerssohn in seinem Rausch nicht begreifen zu können. Tatsächlich holte er zu einem Tritt gegen den Weg macher aus. Ich sprang hinter dem Faß hervor, und als ich gleich darauf den Tischlerssohn auf dem Boden liegen sah, wurde mir bewußt, daß ich ihm mit der Faust ins Gesicht ge schlagen hatte. Mir tut die Hand weh, dachte ich, und der Scheißkerl liegt da und spürt nichts. Ich durchschnitt mit mei nem Messer die Fesseln, massierte die Arme des Wegma chers, damit sie durchblutet würden, und half dem Alten auf die Beine. Gehen Sie ein bißchen auf und ab, sagte ich, Sie frieren ja. Der Wegmacher aber stand da, als hätte er mich nicht gehört. Auf Wiedersehen, sagte ich, kommen Sie gut nach Haus. Der Wegmacher rührte sich nicht von der Stelle. Ich fesselte dem bewußtlosen Tischlerssohn die Hände auf den Rücken, riß aus seinem Hemd ein Stück Stoff und ver band ihm damit die Augen. An den Beinen zog ich ihn nah zu der Stelle, wo das Osterfeuer gebrannt hatte und wo jetzt nur mehr ein paar Scheiter glosten. Ich steckte einen Ast in die Glut, und mit der glühenden Spitze brannte ich sorgfältig Loch um Loch in den Steireranzug. Dabei ging ich bedacht sam vor, der Tischlerssohn sollte auf keinen Fall während der Prozedur aus der Bewußtlosigkeit erwachen, ich hätte sonst auch seine Beine fesseln müssen, um mein Vorhaben zu Ende führen zu können. Ein paarmal dürfte ich ihm die Haut ange sengt haben, ein Zucken überlief dann seinen Körper, gefolgt von einem Grunzen. Als die Kirchturmuhr elf schlug, ließ ich es gut sein. Soviel ich im Schein des heruntergebrannten Osterfeuers sah, war es nicht ratsam, noch mehr Löcher in den Steireranzug zu brennen, er sollte dem Tischlerssohn auf kei nen Fall vom Leib fallen, wir beide hatten ja noch einen Fuß weg vor uns. Der Wegmacher, der mir die ganze Zeit über teilnahmslos zugesehen hatte, kam nun auf mich zu. Du bist nicht besser, sagte er, als diejenigen, die mich gefoltert haben. Das habe ich auch nicht behauptet, antwortete ich. Warum machst du nicht gleich bei ihnen mit? fragte er. Weil ich keine Lust habe, sagte
ich. Es ist besser, du ziehst weg von hier, sagte er, du wirst mit dem einen hier fertig, niemals aber mit allen. Ich habe zu tun, sagte ich, ging zum Bierfaß, rüttelte es, hörte einen Rest Bier darin gluckern, zog das Faß über das feuchte Gras zum Tischlerssohn und kippte es dann so, daß sich das Bier über seinen Kopf ergoß. Der Besoffene kam zu sich; er prustete das Bier aus Mund und Nase, rollte sich auf den Bauch und ver suchte, die Fesseln zu lösen. Als ihm das nicht gelang, brüllte er um Hilfe. Rasch riß ich ein weiteres Stück Stoff aus seinem Hemd und knebelte ihn. Zufrieden mit meiner Geschicklich keit, wandte ich mich um, ich wollte sehen, ob der Wegma cher sich nicht doch ein kleines Zeichen der Zustimmung ab ringen konnte, ein beifälliges Nicken vielleicht. Doch der Wegmacher war verschwunden. Ich packte den Tischlerssohn unter den Armen und zog ihn hoch, mit einem Stoß in den Rücken bedeutete ich ihm, sich in Bewegung zu setzen; rasch begriff er, in welcher Situation er sich befand, jedenfalls ge langten wir ohne Schwierigkeiten den Kirchhügel hinunter auf die Straße. Dort überprüfte ich, ob die Augen noch gut ver bunden waren, ob der Knebel fest saß und ob die Fesseln sich nicht gelockert hatten. Die Kirchturmuhr schlug die dritte Viertelstunde. Da ich den Hauptplatz erst um Mitternacht erreichen wollte, gingen wir gemächlich über Seitengassen dorthin. Nach meiner Erfahrung war der Hauptplatz vor Mit ternacht meist menschenleer, man verließ das Wirtshaus vor der Sperrstunde, um zehn oder um elf, oder man wartete gleich, bis geschlossen wurde, und brach gemeinsam mit den letzten auf. Würde mir dennoch jemand begegnen, müßte ich den Tischlerssohn eben stehenlassen und davonlaufen. Doch weder in den Gassen war jemand zu sehen noch auf dem Hauptplatz. Von hier hatte ich endlich Sicht auf den Kirchturm: Fünf Mi nuten noch. Wie erwartet fand ich auf dem Hauptplatz vor, was ich brauchte: Ziegel. Seit Wochen wurde daran gearbeitet, die hölzerne Umfriedung des Kriegerdenkmals durch eine gemauerte zu ersetzen. Ich führte den Tischlerssohn in die
Mitte des Hauptplatzes, und zwar so, daß er den Eindruck gewinnen mußte, von mir in unwegsames Gelände geführt oder in eine gefährliche Situation gebracht zu werden; schließ lich versuchte ich ihm durch einen festen Griff auf seine Schultern den Eindruck zu vermitteln, wir würden vor einem Abgrund stehenbleiben. Dann schlich ich auf Zehenspitzen weg, hinüber zum Ziegelhaufen, nahm einen Ziegel, ging während der zwölf Schläge der Kirchturmuhr vor das Gast haus zur Post und warf, sozusagen als den dreizehnten Schlag, den Ziegel durchs Fenster. Von meinem Arbeitskollegen, der an der Schank ausgehol fen hatte, war nur zu erfahren, sagte ich zu Maria, daß alle hinausrannten und daß es Minuten brauchte, bis der Tischlers sohn sich aus seiner Erstarrung löste. Der Tischlermeister brüllte fortwährend: Einen Arzt, einen Arzt! Polizei, Polizei!, aber der Arzt ging gleich wieder weg, ebenso die beiden Poli zisten. Die Verletzungen waren nicht der Rede wert, und Aus kunft, was vorgefallen war, konnte niemand geben: Die Be soffenen schrien wüst durcheinander, der Tischlerssohn hin gegen brachte kein Wort hervor.
Du hast, sagte Maria, im Polier einen Gesinnungsgenossen gefunden. Ich errötete. Meinem Arbeitskollegen zufolge hatte der Polier im Wirtshaus vom Kohlenhändler als von einem Christenmenschen gesprochen. Dieser Hohn schlug dem Koh lenhändler auch von anderen im Ort entgegen, weil er das Werben von Vereinen, Parteien und Kirchen mit den Worten abwehrte, ihm genüge es, ein Christenmensch zu sein, ihn verlange es nach keiner Mitgliedschaft. Maria hatte darauf angespielt, daß auch ich Bedenken gegenüber dem Christen menschentum des Kohlenhändlers hatte. Zwar liebte und ach tete ich wenige Menschen so wie den Kohlenhändler, doch mißtraute ich seiner arglosen, der Kirche abgekehrten Gott gläubigkeit. Dieses Mißtrauen ging auf Großmutter zurück:
Sie war der Ansicht, die Kirche habe ihr ewiges Bestehen im Grunde jenen Menschen zu danken, welche die verderbte Kirche ablehnten. Sie, die ohne Kirche auszukommen behaup ten, seien deren beste Propagandisten; die Kirche werde ja nur dadurch immer wieder ins Gespräch gebracht, daß Leute rei nen Glaubens sich von ihr lossagten; deshalb, hatte Großmut ter gemeint, seien ihr die Pharisäer lieber als die Heiligen. Ich glaube, sagte ich zu Maria, daß der Kohlenhändler sich deshalb so viel darauf zugute hält, ein Christenmensch zu sein, weil er sich vor der Welt retten muß; er rettet sich in einen Glauben, in eine jenseitige Verrücktheit, um im Dies seits nicht verrückt zu werden. Ohne die Fähigkeit zu verzei hen würde der Kohlenhändler wahrscheinlich an seinen Erin nerungen zugrunde gehen. Im Diesseits nicht verrückt zu wer den, sagte ich zu Maria, schafft er dennoch nicht, das habe ich schon bei der ersten Begegnung gemerkt. Er ging auf mich zu und behauptete, daß er mich seit meiner Ankunft in diesem Ort ständig beobachtet habe, zuerst nur mich, später auch dich. Er sagte mir auf den Kopf zu: Ich weiß alles über Sie das erste Mal übrigens, daß mich jemand mit Sie ansprach. Sie halten sich hier nur auf, um zu arbeiten, um Geld zu verdienen und um dieses Geld zu sparen. An Lebensmitteln und Klei dung kaufen Sie nur das Notwendigste. Sie treffen keine An stalten, ein besseres Quartier zu suchen, ja Sie haben sogar eine Mitbewohnerin in dieses Loch aufgenommen, die sich, was die Lebensführung betrifft, in nichts von Ihnen unter scheidet. Der Schluß liegt nahe, daß Sie beide nicht hierzu bleiben gedenken. Winken Sie nicht ab, hatte der Kohlenhänd ler zu mir gesagt, Sie sprechen mit niemandem in diesem Ort über Ihre Reisepläne, und ich erwarte nicht, daß Sie es mit mir anders halten. Ich frage Sie nur, wie Sie ohne Reisepässe au ßer Landes kommen wollen. Sie und Ihre Freundin sind jetzt sechzehn; um ohne Einverständnis der Eltern einen Paß bean tragen zu können, müßten Sie bis einundzwanzig warten. Da zu kommt, daß Ihre Freundin überhaupt keine Papiere besitzt, vermutlich ist sie von daheim weggelaufen, und sie will alles,
nur nicht dorthin zurück. Ich sehe Ihnen an, hatte der Kohlenhändler gesagt, daß Sie sich mit diesem Problem noch nicht gründlich beschäftigt haben; ich werde es mit Ihnen erörtern, aber nicht hier auf der Straße. Kommen Sie mit. Die Kohlenhandlung im Keller ken nen Sie; wir gehen aber hinauf in die Mansarde. Das Haus gehört dem Notar, ich habe alle Kellerräume und das gesamte Dachgeschoß gemietet; diese Tür führt bloß in meine Woh nung, die hier, die offensteht, in den Dachboden, wo sich in unzähligen Kisten meine Bibliothek befindet. Sie können je derzeit kommen und sich ein Buch ausborgen, Ihre Freundin selbstverständlich auch. Diese Tür aber ist mit fünf Schlössern gesichert. Was Sie hier sehen, hatte der Kohlenhändler gesagt, nach dem wir eingetreten waren, ist eine Fälscherwerkstatt. Die Maschinen wirken veraltet, sie sind aber sehr gut, ich bin an diesen Maschinen ausgebildet worden - mein Vater hat mich angehalten, auch das Druckerhandwerk zu erlernen. Wie Sie an den Dingen, die herumliegen, sehen, habe ich mich auf Dokumente und Reisepässe spezialisiert und, für meine jüdi schen Freunde, auf Ariernachweise. Österreich wird nicht noch einmal wie 1938 erst fünf Jahre später als Deutschland in den Genuß der Barbarei kommen, das nächste Mal wird Öster reich früher dran sein, deshalb appelliere ich jetzt schon an meine Freunde, bei mir Ariernachweise zu bestellen. Arier nachweise und Reisepässe, das ist das Wichtigste, was man angesichts der heraufziehenden Diktatur braucht; die Flucht meiner Freunde vor der nächsten Diktatur soll nicht wie in der letzten an irgendwelchen Papieren scheitern. Sie schauen mich an, als wäre ich verrückt. Bedenken Sie doch: Wer wie meine Freunde und ich das Konzentrationsla ger überlebt hat und in der Zweiten Republik erleben muß, wie das neue Österreich im Geist derer wieder aufgebaut wird, welche die Konzentrationslager sich ausgedacht, welche sie gebaut, geleitet und betrieben haben, der muß ja verrückt wer den. Aber keine Angst: Handwerklich bin ich besser denn je,
Sie würden also, falls Sie mich mit der Anfertigung von Päs sen für Sie und Ihre Freundin beauftragen, absolut kein Risiko eingehen. Ich weiß, warum Sie zögern: wegen der Kosten; keine Sorge, ich verlange nichts, ich mache das ja auch nur für Freunde, gestatten Sie deshalb, daß ich Sie als neuen Freund betrachte. Und besuchen Sie mich bald wieder, hatte der Koh lenhändler gesagt und mich unvermittelt zur Tür geleitet, so daß ich mich zu seinem Angebot mit keinem Wort hatte äu ßern können. Als ich dem Kohlenhändler das nächstemal begegnete, konnte ich ihm versichern, daß wir ihm sehr dankbar wären, wenn er Reisepässe für uns anfertigen würde. Endlich wieder ein ernstzunehmender Fall, hatte er gesagt, es ist nicht gut für das Werkzeug und die Maschinen, wenn sie zu selten benützt werden, und würden sie gar nicht mehr genutzt, hätte ich sie umsonst gerettet. Die Maschinen sind das einzige, was ich aus meinem Unternehmen heimlich hatte wegschaffen können, sonst wären auch sie verschrottet worden, wie alles Übrige aus meiner Druckerei. Man hat das Gebäude abgerissen, und auch mein Zeitungsverlag wurde geschlossen, dann hat man meine Buchhandlung geschlossen, und das Gebäude wurde ge schleift - damit nichts an mich erinnert. Die Verantwortung dafür tragen nicht die Herren aus der Nazizeit, sondern die Herrschaften der Zweiten Republik. Man nennt die Nachkriegsjahre die Wiederaufbauzeit, hatte der Kohlenhändler gesagt, mein kleines Unternehmen aber haben sie dem Erdboden gleichgemacht, so sehr haben sie mich gehaßt. Mein Großvater hat die Firma um die Jahrhun dertwende gegründet, sie hat selten floriert und befand sich oft am Rande des Bankrotts, einmal weil mein Vater sich wäh rend des Ersten Weltkriegs weigerte, Kriegsgedichte in seiner Zeitung abzudrucken, einmal in der Wirtschaftskrise der zwanziger Jahre, einmal als die Klerikalfaschisten mich boy kottierten, weil ich zu ausführlich über die Hinrichtung von Koloman Wallisch berichtet habe. Ich bedaure es, daß es nie zum Bankrott gekommen ist, denn jedes Ende wäre rühmli
cher gewesen als das, welches diese Republik mir bereitet hat. Ich hielt mein Ende ja für besiegelt, hatte der Kohlenhändler gesagt, als die Nazis kamen. Zwei Tage nach der Okkupation tauchten Uniformierte bei mir auf, ließen sich die letzten zehn Jahrgänge der Zeitung bringen, transportierten sie ab, brachten sie aber nach einer Woche mit dem freundlichen Bescheid zurück, besondere Weisungen an mein Unternehmen würden im Augenblick nicht für notwendig erachtet, meine Zeitung habe sich nicht der Propaganda gegen den Nationalsozialis mus schuldig gemacht, ich möge meine Arbeit machen wie bisher. Kaum waren die beiden draußen, lachte ich wie selten in mei nem Leben. Was für ein Mißverständnis! Sie hielten mich für nazifreundlich, zumindest für keinen Feind, und wußten nicht, daß, von einigen vordergründigen Informationen abgesehen, über Nazis in meinem Blatt nicht geschrieben werden durfte, so sehr verabscheute ich sie. Außerdem hielt ich sie nicht für gefährlich, nach meiner Meinung würden die österreichischen Katholiken sich niemals den gottlosen Nazis unterwerfen. Wie Leute, zwischen denen Welten zu liegen schienen, in Eintracht darangingen, sich die Welt Untertan zu machen, konnte ich ja bald erleben. Nichts fiel mir leichter, als den Rat der Uniformierten zu befolgen und meine Arbeit zu machen wie bisher: Ich erwähn te die Nazis weiterhin nicht. Im Jahr achtunddreißig führte das zu einem Leserrückgang, und ich wollte die Zeitung schon einstellen und nur noch die Buchhandlung weiterfuhren, doch im Jahr 1940 nahm die Leserschaft wieder zu. Offenbar be gann damals die Zahl derer, die das Wort Nazi nicht mehr hören konnten, zu steigen, und Ende 1940 beratschlagten mei ne Frau und ich, was wir mit dem Jahresgewinn machen soll ten. Ich plädierte für einen neuen Lieferwagen, sie hielt das für sinnlos, bald würde das Fahrzeug für Kriegszwecke einge zogen. Wir hatten die Debatte noch nicht abgeschlossen, da wurde ich verhaftet. Die örtliche Gestapo warf mir vor, ich würde
das Dritte Reich schädigen, die Gestapo in Graz wiederholte bloß den Vorwurf, sie konkretisierte ihn nicht, ich wurde nicht einmal einvernommen. Von Graz brachte man mich direkt ins Konzentrationslager Buchenwald. Meiner Frau sagte man, ich sei in einen komplizierten Spionagefall verwickelt, die Auf klärung würde sich hinziehen; daß ich in ein Konzentrations lager transportiert worden war, verschwieg man ihr all die Jahre. Man zwang sie, die Firma um einen Pappenstiel an den Grazer Roschel-Verlag zu verkaufen. Das Wohnhaus zu ver äußern weigerte sie sich. Daraufhin wurden sie und unsere zweijährige Tochter delo giert und bei einem Bauern untergebracht, bei dem meine Frau für Kost und Quartier arbeiten mußte. Vereinbart war auch, daß sie Taschengeld erhalten sollte, doch das verweigerte der Bauer beharrlich. Er zeigte sich auch unerbittlich, als meine Frau ihn im Februar 1945 bat, ihr ein paar Pfennige zu geben, der Geburtstag der Tochter stehe bevor - ein besonderer Ge burtstag, der sechste, im Herbst würde die Kleine in die Schu le kommen -, sie würde zum Geburtstag gern ein paar gleich altrige Mädchen einladen, und da würde sie, meine Frau, gern etwas aufwarten, ausnahmsweise nicht Rahmsuppe und Sterz, sondern Himbeersaft und Butterbrote. Du kannst haben, was du willst, hat der Bauer meiner Frau geantwortet, und du weißt seit vier Jahren, was du zu tun hättest: Kittel rauf und Hose runter. Unsere Tochter bestand darauf, hatte der Koh lenhändler gesagt, ihre Freundinnen einzuladen, auch wenn es nichts aufzuwarten gab, man traf sich eben nicht zur Jause, sondern zum Schlittenfahren. Viel Schnee lag zwar nicht, doch auf dem Nordhang hinter dem Bauernhaus konnte man noch rodeln. Damit Sie verstehen, warum dieser sechste Geburtstag zum Schreckenstag wurde, hatte der Kohlenhändler zu mir gesagt, muß ich Ihnen erzählen, daß ich meine Frau erst 1937 ken nengelernt hatte und daß unsere Liebe, als ich verhaftet wur de, noch sehr stürmisch war. Wir lernten uns in Wien bei einer privaten Musikveranstaltung kennen, die einzig zu dem
Zweck organisiert wurde, Alban Bergs Violinkonzert aufzu führen. Der Zufall fügte es, daß meine spätere Frau neben mir saß, und schon nach den ersten vier Tönen, den langsam ge strichenen leeren Saiten der Geige, saßen wir Hand in Hand, obwohl keiner von uns das angestrebt hatte. Noch in der Nacht, in einem Wiener Hotel, entschloß sich die Dreiundzwanzigjährige, mir, dem Vierzigjährigen, in die Pro vinz zu folgen, eine Entscheidung, die uns keineswegs als abenteuerlich erschien, da meine spätere Frau ihre berufliche Tätigkeit in meiner Verlagsbuchhandlung fortsetzen konnte: Sie war in Wien bei einem kleinen Verlag beschäftigt, der Bauernkalender herstellte, das Beste übrigens, was je von einem Wiener Verlag publiziert wurde. Doch hätte es dieser gemeinsamen beruflichen Neigung gar nicht bedurft, unser Gefühl sagte uns, daß wir unzertrennlich waren. Bald heirate ten wir, und ein Jahr später wurde unsere Tochter geboren. Obwohl ich meine Geschäftsreisen nach Wien jetzt allein unternehmen mußte, blieben meine Frau und ich auch wäh rend dieser ein, zwei Tage ständig in Verbindung: Wir hatten die Idee, jeder dahinziehenden Wolke eine Liebesbotschaft mitzugeben. Kein Wunder, daß meine Frau nach meiner Verhaftung, un sere Tochter war inzwischen drei Jahre alt, das Spiel mit den Wolken fortsetzte, weil es ihr so leichter fiel, die Tochter über das Schicksal des Vaters im unklaren zu lassen. Meine Frau erzählte dem Mädchen, der Vater sei von Beruf Zeitungsma cher, lange sei er seinem Beruf in diesem Land nachgegangen, dann aber habe die Welt sich geändert: Es gebe nicht nur kei nen Kaiser mehr, das Land habe auch keine Regierung, es habe sogar aufgehört, ein wirkliches Land zu sein, es sei ei nem größeren einverleibt worden, Deutschland; dort herrsche ein mächtiger Führer, der ein Land nach dem anderen erobere, und alle diese Länder, die Deutschland Untertan seien, müßten mit Zeitungen versorgt werden, und so werde der Vater, ein Zeitungsmacher, vom mächtigen Führer hinaus in die Welt geschickt; er sei zwar so weit weg, daß er nicht zu Besuch
kommen könne, doch gebe er seine Grüße und Küsse den Wolken mit. Am sechsten Geburtstag, hatte der Kohlenhändler gesagt, unsere Tochter fuhr mit ihren drei Freundinnen hinter dem Bauernhaus mit der Rodel immer wieder den steilen Hang herab, sahen die Mädchen plötzlich etwas, das sie in ihrem Leben noch nie gesehen hatten: einen Fallschirm. Ein Mensch hing daran, er schwebte über das Tal, verlor sichtbar an Höhe und trieb rasch auf den Berg zu. Unsere Tochter rief: Das ist mein Vater, heute schickt er keine Wolke, heute, an meinem Geburtstag, kommt er selbst. Sie ließ Freundinnen und Schlit ten stehen und lief den Berg hinan. Die Freundinnen berichte ten meiner Frau von dem Vorfall, auch davon, mit welchen Worten unsere Tochter auf den Wald zugelaufen sei, und mei ne Frau verstand sofort: Die Wolkengeschichten waren für das Mädchen Wirklichkeit geworden. Meine Frau trug den Kin dern auf, schnurstracks nach Haus zu gehen, sie selbst rannte in den Wald und schrie nach dem Kind, bis sie keine Stimme mehr hatte. Inzwischen war unsere Tochter, der Richtung folgend, in die der Fallschirm getrieben worden war, auf einen Fuhrweg ge stoßen; den lief sie entlang, bis sie nach einer Kurve Traktor und Anhänger des Bauern stehen sah. Diesen Mann verab scheute sie nicht nur, sie fürchtete ihn auch; deshalb verließ sie den Weg, um in sicherer Entfernung dem Bauern, der nicht weit sein konnte, auszuweichen. Als sie aber mehrere Män nerstimmen hörte, schlich sie näher. Sie sah nicht den Bauern, sondern die beiden Männer, die jeder im Ort kannte: den Baumeister und den Notar. Die Männer schauten und redeten nach oben; da unsere Tochter sich auf dieses Verhalten keinen Reim machen konnte, schlich sie näher. Was sie sah, freute und ärgerte sie zugleich: Der Mann, den sie für ihren Vater hielt, hatte sich mit dem Fallschirm in einer Baumkrone verheddert, und es schien, als könne er ohne fremde Hilfe nicht herunter; gut also, daß ihm jemand zu Hilfe kam, aber daß es der Polier und der verhaßte Bauer waren, die
auf den Baum kletterten, paßte unserer Tochter nicht. Sie würde jedenfalls hinter den Sträuchern warten, bis man dem Vater heruntergeholfen habe und bis die vier Männer wegge fahren seien. Wieder rief der Notar etwas zu dem Mann hin auf, und unsere Tochter war nun überzeugt, daß sie richtig gehört hatte: Es waren Worte in einer fremden Sprache, und der Mann antwortete aus der Baumkrone ebenfalls in einer Sprache, die unsere Tochter nicht verstand. Ihr erster Gedanke war: Vater hat sich lange in den fremden Ländern aufgehalten, selbstverständlich spricht er jetzt Aus ländisch; ihr zweiter Gedanke aber: Er kann doch in den paar Jahren seine Sprache nicht vergessen haben. Der Mann, den unsere Tochter für mich hielt, hatte der Kohlenhändler gesagt, wurde vom Polier und vom Bauern aus einem Gewirr von Schnüren und Ästen befreit, er brauchte aber auch zum Herun terklettern Hilfe: Er schien verletzt zu sein. Unsere Tochter sah, daß der Mann Stiefel und Uniform trug, und nun stand für sie fest: Das war der Vater. Sie wußte schließlich, daß er sich in eroberten Ländern aufhielt, und daß man in einem eroberten Land Uniform trug, wußte sie aus der Zeitung. Die drei kletterten sehr langsam vom Baum, denn der Mann in Uniform konnte den rechten Arm überhaupt nicht benutzen. Als sie endlich herunten waren, dankte der Verletzte dem Polier und dem Bauern mit der Linken, dann schüttelte er, ebenfalls mit der Linken, dem Notar und dem Baumeister die Hand. Sein freundliches Lächeln erwiderten sie nicht; rasch zog der Verletzte aus der Uniformjacke eine Schachtel Ziga retten, bot jedem eine an und gab ihnen Feuer. Anders als seine vier Retter behielt er die Zigarette immer im Mundwin kel, auch als er auf den Notar einredete; der aber bedeutete ihm zu schweigen und beriet sich leise mit den anderen. Dann traten sie gemessen und ernst vor den Engländer hin: Der No tar schlug ihm die Zigarette aus dem Mund, der Baumeister gab ihm eine Ohrfeige, der Bauer hieb ihm mit der Faust auf die verletzte Schulter, daß der Mann aufschrie, und schlug dessen Kopf mit solcher Wucht gegen den Baumstamm, daß
der Mann vornüber sackte. Daraufhin versetzte der Polier dem Bewußtlosen mehrere Messerstiche in den Rücken. Unsere Tochter, so berichtete sie mir, drückte ihr Gesicht in den Waldboden, in der Hoffnung, darin für immer zu ver schwinden. Als sie die Stimme ihrer Mutter hörte, glaubte sie tatsächlich, die Hoffnung habe sich erfüllt, und sie befinde sich im Inneren der Erde, wo die Mutter sie schon erwarte. Doch dann verstummte die Stimme, und unsere Tochter merk te, daß sie noch immer auf dem Waldboden kauerte. Rasch hob sie den Kopf, um nach der Mutter Ausschau zu halten, und sie sah sie auch. Die Mutter stand bei dem erstochenen Mann, sie warf einen Blick auf die vier Männer, sie schaute hinauf in die Baumkrone, wo der Fallschirm hing, senkte dann ihren Blick und verharrte absolut regungslos. Unsere Tochter war wie betäubt: Sie konnte zwar alles se hen, sie konnte aber, was geschah, nicht mehr fassen: wie die vier Männer sich besprachen, wie der Baumeister und der Notar auf den Anhänger stiegen und sich dort auf eine Bank setzten, wie der Bauer der Mutter von hinten Arme und Kopf festhielt, wie der Polier ihr die Augen ausstach, wie der Bauer ihr den Mund aufriß und der Polier ihr die Zunge abschnitt, wie der Polier sich daraufhin zusammenkrümmte und sich übergab, wie er sich immer wieder aufzurichten versuchte, doch jedesmal niederfiel und erbrechen mußte, wie der Bauer, der bereits auf dem Traktor saß, sich angewidert vom Polier abwandte und mit dem Baumeister und dem Notar wegfuhr, und wie der Polier ihnen auf allen vieren nachkroch. Unsere Tochter blieb in ihrem Versteck, bis ihre Mutter nicht mehr vor Schmerzen schrie, sondern nur noch stöhnte, ging dann zu ihr, gab sich zu erkennen und versuchte, mit einem Taschentuch das Blut vom Gesicht der Mutter zu wischen, doch für so viel Blut war das Taschentuch zu klein. Die Mut ter streckte die Hand nach der Tochter aus; die ergriff die Hand und geleitete die Mutter umsichtig zu Tal. Das einzige, was unsere Tochter auf dem Weg sprach: Ist der Mann, den
sie umgebracht haben, mein Vater? Meine Frau schüttelte den Kopf. Auf die Freude über die Befreiung aus dem Konzentrations lager, hatte der Kohlenhändler zu mir gesagt, folgte die Freu de des Wiedersehens: Trotz der entsetzlichen Verfassung, in der wir drei uns befanden, die Frau mit leeren Augenhöhlen und ohne Zunge, die Tochter mit den kalten und uralten Au gen eines Menschen, der sämtliche Schrecken der Welt hatte sehen müssen, ich selbst zum Skelett abgemagert und schloh weiß, trotz unserer entsetzlichen Verfassung freuten wir uns darüber, daß wir einander lebend wiederfanden. Über Einzel heiten zu sprechen, interessierte uns in der ersten Zeit nicht, wir hatten nur das Bedürfnis, einander über die Finger zu streichen, über die Haare, über die Wangen, als könnten wir nicht genug davon bekommen, uns immer wieder zu verge wissern, daß es jeden von uns noch gab. Wir bekamen unser Haus zurück, so daß wir aus dem Gasthof ausziehen konnten. Ich erhielt die Buchhandlung und den Verlag zurück und hätte schon im Sommer 1945 beginnen können, meine Zeitung wieder erscheinen zu lassen, denn eine Lizenz der Alliierten hatte ich, ohne darum angesucht zu ha ben, bereits bekommen. Doch ich wartete mit der Arbeit bis zum Herbst, der Sommer gehörte ganz meiner Frau. Sie liebte es, zur Verständigung nur einzelne Wörter aufzuschreiben, vornehmlich Hauptwörter, Strumpf zum Beispiel, und ich mußte herausfinden, ob sie neue Strümpfe wolle, ob die Strümpfe repariert werden sollten oder gewaschen, und nur in dringendsten Fällen fügte meine Frau ein aufklärendes Zeit wort hinzu. Meist blieb es beim Hauptwort, das alles offen ließ, jede komische Verwicklung, jedes Mißverständnis - mei ne Frau legte es darauf geradezu an, und ich machte nur allzu gern mit. Anders unsere Tochter: Lachten wir, lächelte sie, und ich hatte mitunter den Eindruck, auch das tue sie nur mir zuliebe; waren meine Frau und ich ausgelassen, bemühte sich unsere Tochter, gutgelaunt zu sein, mir aber schien, als übe sie, die
Sechsjährige, nur Nachsicht mit uns, den Kindern. Mir war bewußt, daß meine Frau und ich unsere Tochter gewisserma ßen zwangen, erwachsen zu werden, denn sie mußte, da wir nicht ausgingen, sich um unseren Lebensunterhalt kümmern, auch setzte sie, da ich noch zu schwach war, mit Hand anzu legen, das Haus instand, das die Leute vom Roschel-Verlag in einem katastrophalen Zustand hinterlassen hatten - sie dürften seit längerem geahnt haben, daß die Tage der Nazis, und da mit ihre Tage in meinem Haus, gezählt waren. Unsere Tochter nahm sofort, als die englische Besatzungs macht im Ort Quartier bezog, Kontakt mit dem Kommandan ten auf. Ein paar Soldaten meldeten sich freiwillig und halfen unserer Tochter bei den groben Aufräumarbeiten, und so hat ten meine Frau und ich den ganzen Sommer Zeit für den Ver such, lebensfähige Menschen aus uns zu machen. Bald waren die Augenhöhlen meiner Frau nicht mehr finstere Löcher, in denen der Tod zu sitzen schien, sondern geheimnisvolle Öff nungen, durch die ich in ihre Seele schauen konnte. Wenn meine Frau die Lippen bewegte, weil sie sich noch nicht daran gewöhnt hatte, nicht sprechen zu können, dann erinnerte mich das nicht mehr an jene schreckliche Grausamkeit, sondern ich empfand es als Einladung, diese Lippen zu küssen. Meine Frau erschuf mich sogar neu: Ihre Fingerkuppen, mit denen sie tastend die Gegenstände erkannte, mit denen sie gleichsam sehen, aber auch sprechen konnte, mit denen strich sie, unend lich geduldig, lindernd und heilend über meinen Körper, mit denen wirkte sie auf meinen Brustkorb ein, damit der sich endlich wieder ohne Ächzen und Stöhnen hebe und senke, mit denen ermunterte sie meine Wangen, wieder Fleisch anzuset zen, damit die Backenknochen nicht so verloren aus dem Ge sicht stünden, mit denen massierte sie meine Fußknöchel, damit sie nicht schon nach drei Schritten schmerzten, knetete meinen Bauch, damit er sich wieder an Nahrung gewöhne, und sie konnte schließlich sogar mein Glied davon überzeu gen, daß es nicht nur zum Urinieren da sei. Dieserart zum Leben erweckt, wagte ich im Herbst den Ver
such, mit der Arbeit zu beginnen, was heißt: ich. Meine Frau tat desgleichen, und wir arbeiteten, ehe sie sich das Leben nahm, vom Herbst fünfundvierzig an zwei Jahre lang zusam men. Diese beiden Nachkriegsjahre waren nach der grauen vollen Zeit im Konzentrationslager ebenfalls entsetzliche Jah re. Im Konzentrationslager hatte eine unerbittliche Logik ge herrscht: So gewiß man sich an einem Tag war, daß einem jetzt das Schlimmste im Leben widerfuhr, so gewiß war man sich, daß einem am nächsten Tag Schlimmeres widerfahren werde. Nach der Befreiung aus dem Konzentrationslager aber hatte ich eine Hoffnung in mir, von der ich glaubte, sie würde mit der gleichen Gewißheit wachsen, wie im Konzentrations lager die Hoffnungslosigkeit gewachsen war; denn ich glaubte vom Augenblick der Befreiung an, die Welt würde sich nur aus einem Grund weiter drehen: daß nie mehr geschehe, was unter den Nazis geschehen sei. Selbst als die Wirklichkeit mich eines besseren belehrte, hatte der Kohlenhändler gesagt, wollte ich mir nicht eingestehen, daß meine Hoffnung Illusion war. Mein Unternehmen Heß sich gut an, die Leute kauften und lasen meine Zeitung, ob wohl darin - heute sage ich: obwohl! - selbstverständlich die kleinste und unbedeutendste tagespolitische Frage immer auch unter dem Gesichtspunkt behandelt wurde, daß eine Lehre aus Krieg und Faschismus gezogen werden muß. Doch die örtli chen Vertreter der beiden großen österreichischen Parteien, der konservativen ÖVP und der sozialdemokratischen Partei, kamen gemeinsam zu der Auffassung, mein Blatt sei ein Hetzblatt, es trage Unruhe in die Bevölkerung, und würde ich diesen Stil, Stil, sagten sie, nicht ändern, müßten sie sich Maßnahmen einfallen lassen. Eine Zeitlang, hatte der Kohlenhändler zu mir gesagt, er klärte ich mir diese Anwürfe als Mißverständnis, schließlich kannte ich die Parteienvertreter als den begriffsstutzigsten Teil der Bevölkerung, als ich aber bemerkte, daß ehemalige Nazis in den neuen Parteien Funktionen übernahmen, zwar noch keine Spitzenfunktionen, begann ich jene Anwürfe zu begrei
fen. Doch keinesfalls wäre ich im Jahr sechsundvierzig auf den Gedanken gekommen, daß die Nazis ein Jahr darauf die beiden großen Parteien so fest im Griff haben würden, daß sie zum vernichtenden Schlag gegen mich ausholen konnten. Die Bevölkerung war so lange bearbeitet worden, einer der beiden Parteien beizutreten, bis es mehr Parteimitglieder gab als in der Nazizeit und bis gewissermaßen keine Bevölkerung mehr existierte. Man konnte nun auf die Parteimitglieder ein wirken, mein Blatt nicht zu kaufen, darüber hinaus konnte man die Trafikanten, ebenfalls Parteimitglieder, zwingen, mein Blatt gar nicht erst zu führen. Ich Idiot aber begriff nicht, was um mich vorging, vermute te einen vorübergehenden Geschäftsrückgang, wollte den mit einem Kredit überbrücken, doch erhielt ich keinen, weder in unserem Ort noch in der Landeshauptstadt noch in Wien. Im Herbst 1947 schließlich ging ich bankrott. In dieser verfluch ten neuen Republik, in welcher nicht ein neuer Geist, sondern die alten Nazis den Ton angaben, hatte ich also nur Schulden, einen bankrotten Betrieb und einen Haushalt, in welchem unsere Tochter die im Keller gelagerten Erdäpfel rationieren mußte, damit noch für eine Woche eine Mahlzeit pro Tag gesichert war. Meine Frau schrieb auf, sie habe die Dinge kommen sehen, mir jedoch die Illusion nicht zerstören wollen; sie werde aber die Dinge nicht hinnehmen. Ich ermaß damals nicht die Be deutung ihrer Worte, ich merkte bloß, wie die Kälte nicht nur in unser Haus einzog, sondern auch in unsere Körper und in unsere Seelen. Die Tochter nahm unsere Resignation nicht ohne Befriedigung wahr: Ihr, der körperlich Unversehrten, schien der Schrecken tiefer zu sitzen als ihrer Mutter und mir, und so war sie, anders als wir, für Optimismus oder gar Le bensfreude nie zu gewinnen gewesen. Diesen Vorsprung der Tochter holten meine Frau und ich in jenen Herbsttagen auf, und nun vegetierten wir alle drei in völliger Übereinstimmung dahin. Um so überraschter waren meine Tochter und ich, als meine
Frau, nachdem sie eine Nacht im Lehnstuhl statt im Bett zu gebracht hatte, am Morgen nach einem Zettel verlangte und schrieb: Ich kann mir nicht vorstellen, daß wir die einzigen sind, die schon wieder gepeinigt werden, und ich verstehe nicht, daß sich niemand wehrt. Die neue Demokratie, so schlecht sie auch sein mag, wird zur Unterdrückung gewiß nicht über die Mittel der alten Diktatur, verfugen; das würden die Siegermächte nicht zulassen; gebt mir eine Waffe, und ich setze mich zur Wehr; das wird das Zeichen zum Aufstand sein. Hätte ich damals nur, hatte der Kohlenhändler zu mir gesagt, meiner Frau eine Pistole gegeben; sie hätte sich nicht aus dem Haus stehlen, zum Fluß hinuntertasten und darin ertränken müssen. Der Selbstmord meiner Frau wühlte die Bevölkerung des Orts für ein paar Tage auf, lange genug und tief genug, so daß die Parteileitungen und der Gemeinderat meinten, etwas un ternehmen zu müssen: Um die aufgebrachte Bevölkerung zu beschwichtigen, versprach man mir eine neue Existenz und bot mir an, da etwas anderes zur Zeit sich nicht finde, Koh lenhändler zu werden. Es sei nicht gottgefällig, dachte ich, Selbstmord zu verüben, es sei verantwortungslos, eine unver sorgte Tochter zurückzulassen, und so nahm ich das Angebot an. Aber auch Sie, hatte der Kohlenhändler zu mir gesagt, haben einen Nutzen davon, daß ich noch am Leben bin: Sie bekommen von mir Reisepässe.
Versunken in Erinnerungen an diesen Mann saß ich am Büro fenster und sah der Sonne zu, wie sie hinter dem Bundeskanz leramt unterging, dann machte ich mich auf den Heimweg. Dessen erste Etappe bildeten die zahllosen Stufen der Hinter treppe, über die ich vom Dachgeschoß des Völkerkundemuse ums, wo mein Büro lag, ins Parterre zum Hinterausgang ge langte. Der Kohlenhändler und die Großmutter, dachte ich im Hinuntergehen, sie hatten mir die Welt geöffnet und mich so
erst wirklich zur Welt gebracht. Ich wollte damit meinen leib lichen Eltern nicht unrecht tun; ihre Schuld war es nicht, daß sie von der Welt nichts wußten und nur die Arbeit kannten und die Sorge, der Arbeitsplatz könnte verlorengehen. Sie lebten in Sorge um alles und jedes, um die Gesundheit des Vaters, denn jede längerwährende Krankheit könnte zur Ent lassung führen, in Sorge, es könnte eine Teuerung geben und das Geld würde nicht bis zum Ersten reichen, in Sorge um das Benehmen des Kindes in der Schule, ich galt als vorlaut, und das könnte sich über den Lehrer und den Schuldirektor bis zum Fabriksdirektor herumsprechen. Vorlaut! Woher das Kind diese Unart habe, wo doch sie, die Eltern, außer wenn sie gefragt würden, nie den Mund aufgemacht hätten. Wor über hätten sie auch reden sollen, wenn nicht über die Arbeit und über die Sorgen, dachte ich; dabei war meine Mutter gar keiner Lohnarbeit nachgegangen, sie war als Hausfrau tätig gewesen; doch das hieß damals - ich spreche nicht von einem vergangenen Jahrhundert, sondern von den Vierziger und Fünfziger Jahren -, das hieß für meine Mutter, zweimal in der Woche die öl- und dreckverschmierten Schlossermonturen des Vaters zu waschen, und das wieder hieß, um fünf Uhr früh in der Waschküche unter dem Kessel Feuer zu machen, das Dreckzeug zuerst zu kochen, dann mit Schmierseife und Bür ste zu schrubben, noch einmal zu kochen und noch einmal zu schrubben und endlich, gegen Mittag, die blauen Monturen, die immer noch übersät waren von schwarzen Flecken, als wären sie nie ausgekocht und geschrubbt worden, hinter dem Haus auf den Wäschestrick zu hängen. Nach dem Wäscheaufhängen war nicht einmal so viel Zeit, daß meine Mutter hätte überlegen können, ob sie sich nicht besser selbst an diesem Strick aufhängen sollte, denn sofort galt es, und zwar im Sommer wie im Winter, den Küchenherd einzuheizen, mit zwei Kübeln vom Parterre, wo sich unser Wasseranschluß und unser Klo befanden, Wasser in die Man sardenwohnung zu schleppen, wo es, während die Mutter kochte, in riesigen Töpfen gewärmt wurde. Wenn der Vater
von der Arbeit kam, zog er sich wie jeden Tag bis auf die Unterhose aus, stellte einen Sessel, mit der Waschschüssel drauf, in die Mitte der Küche und begann, sich zu reinigen - in seinem Betrieb gab es ja weder Umkleideraum noch Wasch gelegenheit. Nach dieser Prozedur rutschten Mutter und ich mit einem Reibfetzen in der Hand auf dem Küchenboden her um, um die Überschwemmung, die allein schon aus dem Miß verhältnis: großer Mann - kleine Waschschüssel entstand, in Grenzen zu halten. Als es mir, dem Heranwachsenden, immer lästiger wurde, der Mutter in der Wohnung oder dem Vater im Garten zur Hand zu gehen, dachte ich, die beiden suchten, wenn eine Arbeit getan war, sofort eine andere, und als ich es einmal wagte, das auch zu sagen, aufbegehrend noch dazu, schauten die beiden mich entsetzt an, als hätte ich das Schicksal herausgefordert, und fielen daraufhin tagelang in Schweigen, so daß ich mich hinfort hütete, mit ihnen über etwas zu reden, wovon ich wuß te, daß wir gegensätzlicher Meinung waren. Auf der Höhe des Burgtors überquerte ich die Ringstraße, auf eigene Gefahr, weil es hier keinen gesicherten Fußgänger übergang gab. Das war auch den Autofahrern bekannt, wes halb sie, wenn sie eines Fußgängers ansichtig wurden, ihr Fahrzeug beschleunigten, um den Fußgänger zu verscheuchen oder, noch lieber, ihn zu überfahren. Ich lief, obwohl die nächste heranrollende Welle von Autos noch einige hundert Meter entfernt war, über die Ringstraße, im Bewußtsein, um mein Leben zu laufen. Dann setzte ich meinen Weg umso gemächlicher fort und schlenderte über den Platz zwischen dem naturhistorischen und dem kunsthistorischen Museum. Vor letzterem stand eine kleine Gruppe italienischer Touri sten. Sie wirkte vollkommen ratlos: Es hatte ihr nicht nur die Sprache verschlagen, auch die Gestik war erstorben. Ein jun ger Mann löste sich doch aus der Gruppe und lief auf mich zu, den einzigen Passanten weit und breit auf diesem trostlosen Platz. Der junge Mann schlug einen Stadtführer für Wien in italienischer Sprache auf und zeigte mit dem Finger auf eine
Textstelle, die besagte, das museo della storia dell'arte sei am martedi und venerdi von 20 bis 22 Uhr aperto. Er deutete auf seine Uhr - es war acht Uhr vorbei -, er deutete auf die Touri stengruppe, der er zugehörte, und warf sodann die Arme in die Höhe, in Zeichensprache Antwort erbittend auf die Frage, warum das Museum geschlossen sei. Sempre, sagte ich, al ways; sempre chiuso, always closed, sagte ich. Ich merkte, daß ich dem jungen Italiener keine Tatsachen mitteilte, sondern eine alte Wunschvorstellung. Perche? fragte der junge Mann. Selbst diese Frage ernüchterte mich nicht: Sempre, sagte ich, absolutely chiuso, forever. Forever? Perche forever? fragte der Italiener fassungslos. Si, sagte ich, als wäre das die definitive Antwort, absolutely forever, und schüttelte dem jungen Mann herzlich die Hand, dankbar dafür, daß ich mich über dieses Thema endlich einmal mit jemandem hatte aussprechen können. Hätte dieser Mann sich nicht an mich gewandt, wäre das Thema kunsthistorisches Museum vielleicht nie wieder aus meiner Erinnerung aufgetaucht. Früher hatte es mich immer, wenn ich den Weg über diesen Platz nahm, beschäftigt: dieses Gebäude, das, abgesehen von seinem Spiegelbild, dem natur historischen Museum vis-a-vis, mir als Inbegriff eines Gefän gnisses erschien, mächtige, abstoßende Mauern und giganti sche Tore, die verkündeten, ausbruchssicher zu sein, eine Pa lastwache in Gestalt zahlloser Statuen, die darauf achtete, daß niemand einbrach. Was die Könige und Kaiser dieser Stadt an Kunstschätzen raubten, an Kunstschätzen, denn ich war mir sicher, daß Herr scher damals wie heute nur an Kunstschätzen, niemals an Kunstwerken Interesse zeigten, sperrten sie in dieses Museum; es wird dem von Habgier verdorbenen Geschmack der Herr scher entsprochen haben und somit wertlos sein. Gewiß aber befanden sich zufällig auch Kunstwerke darunter. Mußten sie nicht entsetzlich leiden in diesem Gefängnis, würden sie es nicht verdienen, befreit zu werden, und sollte man bei dieser Gelegenheit, fragte ich mich - wobei ich schneller ausschritt,
da ich das Gefühl nicht loswurde, das Museum werde sich für diesen Gedanken rächen, indem es eine seiner steinernen Fi guren auf mich herunterfallen lasse -, sollte man eine solche Befreiungsaktion nicht nutzen, um dieses Bauwerk endlich in Schutt und Asche zu legen? Ich ging über die Lastenstraße zur Tramway und fuhr bis zu meiner Wohnung. Da es bis dorthin nur ein paar Stationen waren, setzte ich mich nicht, sondern blieb, unweit vom Fah rer, im Mittelgang stehen, spürte meinen Körper im Fahrt rhythmus hin- und herpendeln, und je mehr ich mich dabei entspannte, desto erschöpfter fühlte ich mich. Seit Marias Anruf zu Mittag war es mir nicht gelungen, zur Erholung eine Zeitlang an nichts zu denken, eine Regenerationstechnik, die ich sonst oft und gern einsetzte, da nichts das Denken besser stimuliert als vorübergehendes Nichtdenken. Ich würde mich aber auch an diesem Abend der Erschöpfung nicht hingeben können, in einer halben Stunde schon würde Maria mich von zu Haus abholen: Ich mußte ja mit ihr die Ernennung zur Chefberaterin des Kanzlers feiern. Aber auch ohne diese Verabredung hätte ich mich nicht entspannen und den Tag für beendet erklären können: Der Kohlenhändler ließ mir keine Ruhe. Jemand anderer allerdings auch nicht: Ein dicker Wiener hatte sich in der Straßenbahn an mir vorbeigedrängt. Er hätte hinter mir in dem fast leeren Wa gen auf einem der mindestens dreißig freien Sitze Platz neh men können, doch nein, er kaprizierte sich auf einen der paar Sitze vor mir, und so mußte er sich an mir vorbeiquetschen und mir auf die Zehen steigen. Das wunderte mich nicht, da die Wiener in erster Linie deshalb mit der Straßenbahn fahren, um sich an anderen vorbeizudrängen, sie dabei anzurempeln, ihnen, wenn es sich irgendwie machen läßt, auf die Zehen zu steigen und dann dieses unvergleichliche »Erlauben« fallenzu lassen, das besagt, sowohl der Rempelnde wie auch der Ge rempelte sei mit diesem Vorgang einverstanden, er »erlaube« ihn. Ohne die Hilfe des Kohlenhändlers, dachte ich, wäre ich
wahrscheinlich nicht nach Amerika gelangt, hätte ich mich nicht in Wien niedergelassen und müßte mir nun nicht das blödsinnige »Erlauben« anhören.
Und
wie wäre es ohne Amerika-Reise mit Maria und mir weitergegangen? Hätten wir uns niemals oder hätten wir uns für immer aus den Augen verloren? Wäre ich ohne die Hilfe des Kohlenhändlers je aus dem Gefängnis herausgekommen? Hatte die Justiz nicht tausend Gründe, mich dort sterben zu lassen? Ich hatte dem Untersuchungsrichter jedenfalls zutiefst mißtraut und ihm zum Glück eine Woche Bedenkzeit abge handelt; zwei Tage später erhielt ich im Gefängnis Besuch: der Kohlenhändler. Als erstes habe er einen Gruß zu bestellen, von Maria; er habe mit ihr im Park des Spitals einen langen Spaziergang gemacht, sie habe sich von dem Nervenschock gut erholt. Ich möge ihm nun genau zuhören: Spätestens in einer Woche würde ich Ma ria wiedersehen, und zwar in Hamburg; auch für die Überfahrt sei bereits gesorgt; erst nach der Landung in Mexiko müßten wir uns um uns selbst kümmern; keine Fragen, dazu sei jetzt keine Zeit; nicht von ungefähr bemühe er sich um einen Be fehlston, was mir, da er leise sprechen müsse, vielleicht noch nicht aufgefallen sei; und das skeptische Gesicht, das er von mir gewohnt sei, brauchte ich gar nicht erst aufzusetzen, viel mehr müsse ich alles, was er sage, für bare Münze nehmen: Jetzt wendet der Aufseher uns den Rücken zu, jetzt lege ich ein Brotklümpchen auf den Tisch, jetzt ziehe ich meine Hand zurück, jetzt wendet der Aufseher sich wieder uns zu, jetzt geht er an uns vorbei, jetzt wendet er uns den Rücken zu; grei fen Sie rasch nach dem Brot und stecken Sie es in den Mund; nicht beißen, nicht kauen, sondern sofort hinunterschlucken. Bravo. In dem Brot befindet sich eine kleine Dosis Gift, es wird am Nachmittag zu wirken beginnen: Magenkrämpfe und Erbrechen, äußerst unangenehm, aber ungefährlich.
Man wird Sie ins Inquisitenspital transportieren; den Ober arzt dort, hatte der Kohlenhändler gesagt, kenne ich aus dem Konzentrationslager, er wird Sie aus dem Spital schmuggeln und Sie jemandem anvertrauen, der Sie sicher über die Grenze und dann nach Hamburg zu Maria bringt; man kann euch bei de, wie sich gezeigt hat, ja nicht allein reisen lassen. Zum Glück liegt Marias Fall einfacher; sie hat ihren Paß und ihr Geld bei sich; Ihr Geld und Ihren Paß, von der Gefängnisver waltung gut verwahrt, müssen Sie wohl verloren geben. Ver lieren Sie doch nicht die Fassung; vier Jahre beim Baumeister für nichts und wieder nichts geschuftet zu haben, das müssen Sie akzeptieren und vergessen. Ich habe für Sie bereits einen neuen Paß angefertigt, der Oberarzt wird Ihnen das Dokument aushändigen. Etwas Geld haben wir auch für Sie zusammen gekratzt, nicht so viel, wie Sie in vier Jahren gespart haben, doch fürs Nötigste wird es reichen. Sie sehen blaß aus, hatte der Kohlenhändler gesagt, das Gift scheint schon zu wirken. Die Straßenbahn blieb an meiner Station stehen, doch der Fahrer zögerte, die Türen zu öffnen: Er hatte im Spiegel gese hen, was ich erst jetzt sah, daß sich von hinten mit unvermin derter Geschwindigkeit eine Regierungslimousine näherte; nun preschte sie vorbei. Ich schaute ihr während des Ausstei gens nach und sah im Fond Maria sitzen. Bewußt langsam, so daß jedem die Absicht auffallen mußte, schlenderte ich zu meinem Haus, wechselte die Straßenseite, nur um einen Blick in ein Uhrengeschäft zu werfen. Es war so spät, wie ich ge dacht hatte: dreiviertel neun. Im Weitergehen sah ich die vor meiner Haustür geparkte Limousine. Maria, die gerade aus stieg, ging mir entgegen und sah mich vorwurfsvoll an. Es hat geheißen, sagte sie, daß wir uns um acht treffen; ich warte seit einer Dreiviertelstunde. Da ich in dieser Frage schon einmal einen Standpunkt ein genommen hatte und mir dabei lächerlich vorgekommen war, lenkte ich ein, indem ich den Vergeßlichen spielte. Ich habe geglaubt, um neun, sagte ich; wir können aber sofort losfah ren. Willst du dich nicht umziehen? fragte Maria. Das würde
eine Viertelstunde dauern. Darauf kommt es nicht mehr an, sagte sie. Bist du dir sicher? fragte ich; es wäre dann neun, und ich hätte mit der Annahme, daß wir um neun verabredet sind, recht behalten. Mir liegt nichts daran, sagte Maria, gegen einen kindischen Deppen recht zu behalten. Hast du seit heute einen Dienstwagen? fragte ich. Nein, das ist eine Leihgabe des Kanzlers für den heutigen Abend. Da ich im fünften Stock ohne Lift wohnte, wartete Maria lie ber auf der Straße. Ich wechselte das Hemd, zog statt des kurzärmeligen ein langärmeliges an, wechselte die Hose, mei ne Wahl fiel auf die, welche ich mir von meinem ersten Lohn in Wien gekauft hatte, eine Hose mit Bügelfalten und Stulpen und mit Knöpfen am Hosentürl statt eines Reißverschlusses. Für den Fall, daß es in der Nacht abkühlen sollte, nahm ich eine Leinenjacke mit, aber auch weil sie Maria gefiel: Ich würde darin wie ein Sträfling aussehen. Auf der Fahrt in die Innenstadt wunderte Maria sich, daß ich so ohne weiteres in diese Limousine eingestiegen war. Ich gestand, während des Umkleidens einen Protest überlegt zu haben, mir sei aber nur mein Stolz als Argument eingefallen; gegenüber einem Auto der Luxusklasse nehme sich jedoch mein Stolz mittelklassig aus, wenn er sich darauf beschränke, nicht einzusteigen und nicht mitzufahren; wirkungsvoller wäre es, den Wagen in die Luft zu sprengen. Da haben Sie recht, sagte der Chauffeur. Ins Goldene Pfandl, sagte Maria. Ich weiß, antwortete der Chauffeur. Schon wieder dorthin? fragte ich. Es gibt in Wien nichts Besseres, sagte Maria. Es gibt nur Besseres, behauptete ich. Der Chauffeur lachte und nickte. Finden Sie nicht auch, sagte ich zu ihm und hoffte in dieser ewigen Streitfrage zwischen Maria und mir endlich Unterstüt zung zu finden. Er antwortete aber nur, dieses Lokal sei sicher sehr gut, doch es sei sicher nichts für ihn. Als wir es betraten, unterbrach ein Kellnerlehrling, als hätten wir ihn bei einer Untat ertappt, den Schwatz mit der Gardero befrau und wollte Maria entgegeneilen, um ihr, dem Stamm gast, die Tür zu halten, die wir aber schon durchschritten hat
ten. Mit einem Bückling entschuldigte er sich, nicht rascher zur Stelle gewesen zu sein, und wollte ihr den langen, mantel artigen Seidenumhang abnehmen, ein Hochzeitsgeschenk ihres Mannes, das sie mit Vorliebe trug, wenn sie mit mir ausging. Die Garderobefrau erwischte den Kellnerlehrling und zog ihn zurück, so heftig, daß der Lehrling in der Garderobe zwischen den Sommermänteln verschwand. Offenbar betrachtete sie es als ihre Pflicht und ihr Vorrecht, Maria den Umhang abzu nehmen. Sie trippelte auch schon mit ihren schweren Beinen auf dem roten Teppich Maria entgegen. Doch ein leises, aber scharfes »Frau Herta!« bewirkte, daß die Garderobefrau ste henblieb. Der Geschäftsführer eilte an ihr vorbei und begrüßte Maria mit einer Höflichkeit, die er in dem Maß übertrieb, in dem er sie mir gegenüber vermissen ließ. Er drängte mich, nachdem er ihr den Umhang abgenommen hatte, von ihrer Seite und geleitete sie zum bestellten Tisch. Dort bemächtigte er sich des Sessels und drückte ihn Maria so gegen die Knie kehlen, daß sie wohl oder übel Platz nehmen mußte. Dann beugte er sich zu Maria hinunter, damit er mit seiner Konver sation die anderen Gäste nicht störe - zu deren Leidwesen hatte er aber ein wagnerianisches Organ, das seine Stimme bis in den hintersten Winkel trug - und erteilte Maria die Order, sie möge einen angenehmen Abend verbringen. Mir war es recht gewesen, daß der Geschäftsführer mich hinter ihm und Maria hatte herzappeln lassen: So konnte ich, ich hatte das zu Haus in der Eile vergessen, das Hosentürl zuknöpfen, zumindest bis auf die untersten zwei, die optisch unwichtigen Knöpfe. Ich werde heute, dachte ich währenddes sen, nicht wieder geräucherte Forelle und Vanillerostbraten essen, und bedauerte, daß, worauf ich Gusto hatte, Gemüse suppe und gebackene Leber, nicht auf der Karte stehen werde. Damit Maria nicht, wie zu Mittag im Cafe Bräunerhof, wieder Schimpftiraden auf den Kanzler loslasse, redete ich über das mir Naheliegende: daß es weder Gemüsesuppe noch gebackene Leber gab und daß ich Maria zu Ehren diese elegante,
wenn auch altmodische Hose angezogen hatte, deren Hosen türl ich erst hier im Restaurant zugeknöpft hatte, was Maria, während sie mit der einen Hand in der Speisekarte blätterte, mit der anderen genau überprüfte, wobei sie so nahe an den Tisch rückte, daß den übrigen Gästen dank des weit hinunter reichenden damastenen Tischtuchs verborgen blieb, wie sie Knopf für Knopf meinen Hosenschlitz abtastete, dort, wo noch nicht zugeknöpft war, zwei Finger hineinsteckte, die Öffnung als zu klein empfand, die anderen Knöpfe öffnete, mein Glied herausfischte und es fürsorglich auf seine Festig keit prüfte; um die war es allerdings schlecht bestellt. Heute nicht, sagte ich zu Maria, zumindest jetzt nicht. Vor drei Wo chen, als wir hier ihren Hochzeitstag feierten, hatte sie mit ihrer Schuhsohle durch die Hose hindurch mein Glied bearbei tet, worauf ich es eilends unter dem Schutz des Tischtuchs herausgeholt und Maria inständig gebeten hatte, mit dieser Liebkosung fortzufahren; schon lange nicht habe mich etwas derart erregt, sie könne sich nicht vorstellen, wie wunderbar ihre von Steinchen gerauhte Ledersohle an dem bloßen Glied sich anfühle, und sie kam meiner Bitte auch nach, allerdings unter der Bedingung, daß ich mit dem Essen und Reden ganz normal fortzufahren hätte und mir auch dann nichts anmerken lassen dürfe, wenn ich ejakuliere, sie wolle jedes Aufsehen in ihrem Stammlokal vermeiden. So zwang sie mich, Bissen um Bissen des Vanillerostbratens hinunterzuwürgen, wo doch die Erregung in die entgegengesetzte Richtung ging, vom Glied in Richtung Kopf, und als der Samen aus meinem Glied schoß, schwindelte mich einerseits, andererseits konzentrierte ich mich ganz darauf, mir nichts anmerken zu lassen. Ich möge mich umschauen, sagte sie und lachte. Ich schau te mich um und sah, daß ich die Aufmerksamkeit aller erregt hatte. Sie habe mich, sagte Maria, im Bett schon lange nicht so laut stöhnen hören wie hier. Da Maria mein Glied heute abend schlaff vorfand und da sie auch damit keine Wirkung erzielte, daß sie ihre Fingernägel in das Glied grub, schaute sie mich verwundert an und fragte, ob
ich in der Arbeit Schwierigkeiten hätte. Nein, sagte ich, der Kohlenhändler gehe mir nicht aus dem Kopf. Mir scheine, daß - nach der Großmutter und nach den Maumees - daß nun er es sei, der mich in seinen Bann ziehe. Das aber interessierte Ma ria offenbar nicht. Worüber ich mich denn aufrege, sagte sie, sowohl Gemüsesuppe als auch gebackene Leber stünden auf der Karte. Ich hätte mich aber schon, sagte ich, für geräucherte Forelle und Vanillerostbraten entschieden. Im übrigen, fuhr ich fort, sei es egal, was man in diesem Lokal bestelle, es gehe doch bloß darum, ein Vermögen hinzulegen für ein Essen, an dem nur das Geschirr erstklassig sei, für einen Wein mit altem Etikett, der bestenfalls nach Schwefel schmecke, und für eine unverschämte Bedienung, die einem in den Arm falle, sobald man sich selbst die Speisen auf den Teller häufen und das Glas vollschenken wolle. Serviert bekomme man zwei Bissen und einen einzigen Schluck, so daß man, hergekommen, um zu feiern, den Eindruck nicht loswerde, das Fastenritual einer Sekte mitmachen zu müssen. Ein Lokal, das wie geschaffen für Marias Chef sei, der sich tagsüber mäste, abends aber nur noch ein paar Bissen hinunterbringe; andernfalls würde er aus den Nähten platzen. Du solltest, sagte ich zu Maria, nachdem ich beim Ober das Übliche bestellt hatte, den Kanzler auch in Kleiderfragen beraten. Der Kanzler sollte wenigstens auf sein Äußeres besser achten und, wenn er schon zur Fettleibigkeit neigte, sich nicht auch noch in Hemden und Anzüge zwängen, in die er vor zehn Jahren gepaßt hätte. Du siehst das falsch, sagte Maria; gerade mit dem Äußeren des Kanzlers identifizieren sich die Österreicher. Sie, die wäh rend der letzten zwanzig Jahre dadurch zu einem Kollektiv zusammengewachsen sind, daß sie aus ihrem Gewand he rauswuchsen, sie, denen der Kampf gegen die eigene Fettlei bigkeit Hauptbeschäftigung und Hauptthema geworden ist, sie alle erkennen sich im Kanzler wieder. Er wie sie kämpfen zwar vergeblich gegen ihr Übergewicht, er wie sie resignieren jedoch nicht. Ihrem Heroismus geben sie Ausdruck, indem sie
den Körpermaßen von heute unerbittlich die Kleidermaße von gestern entgegensetzen. Hörst du mir nicht zu? fragte Maria. Doch, antwortete ich. Warum schaust du ständig zu anderen Tischen? Ich schaue zu niemand Bestimmtem, sagte ich, mich faszi niert, was sich an diesem Abend wieder an Fratzen in diesem Lokal versammelt hat. Dein Kanzler, vor dem schaudert es mich bestenfalls. Doch diese Typen hier, alterslos, weil sie den Geist, den sie verkörpern, für ewig halten und weil sie ihr Fortleben gesichert wissen durch ihren geistigen Nachwuchs, diese Nazis, sagte ich zu Maria, die hasse ich. In ihrer ersten Glanzzeit, unter Hitler, konnten sie ihre Menschenverachtung vollkommen ausleben: als Menschenvernichtung. Im Öster reich nach dem Krieg, in ihrer zweiten Glanzzeit, konnte ihr Vernichtungsdrang sich nicht mehr uneingeschränkt austoben. An den Körpern durften sie sich nicht mehr vergreifen, denn Mord ist in unserer Demokratie nicht einmal als Todesstrafe erlaubt. Das trifft sie, aber nicht hart: Sie disponieren um. Sie stellen sich auf die neuen Möglichkeiten ein und gehen daran, Seele und Geist zu vernichten. Die autoritären Typen dieses Landes drängen nicht in die Wirtschaft, in die Justiz, nicht zur Polizei oder zum Militär, sondern ins Kultur- und Geistesle ben, und die Fratzen, die du hier siehst, sie bringen das Kul tur- und Geistesleben um. Schau sie dir an: den Theaterdirektor, den Zeitungsheraus geber, den Museumsdirektor, den Chefredakteur, den Leiter der Festspiele, den Galeriebesitzer, den Rektor, den Kulturre ferenten, den Organisator literarischer Begegnungen, den Ver leger, den Kulturredakteur, den Intendanten, den Minister. Überall sonst, sagte ich, bezeichnen diese Wörter Berufe, in diesem Land bezeichnen sie Berufungen: Verteidiger des christlichen Abendlandes zu sein, Obersturmführer redlichen Denkens, Anführer des geistigen Stoßtrupps. Sosehr ich es zu schätzen weiß, sagte ich, daß man gegenwärtig seines Lebens einigermaßen sicher ist, so frage ich mich, wie lange dieser Zustand vorhalten kann, wenn ein Land ständig seelischer und
geistiger Barbarei ausgesetzt ist. Wahrscheinlich nicht mehr lange, sagte Maria und bestellte eine Nachspeise, ich werde mich deshalb um Frühpensionie rung bemühen und nach New York gehen, wozu habe ich dort eine Wohnung. Das teilst du mir so nebenbei mit? fragte ich. Immerfort malst du den Teufel an die Wand, sagte Maria, und wenn ich dir einmal Glauben schenke und die Konsequenz daraus zu ziehe, tust du, als wärst du überrascht. Der Kellner brachte die Nachspeise, einen Raurieser Räu cherkäse, der sich auf dem Weg von der Küche zum Tisch weitgehend in Rauch aufgelöst haben mußte, denn vor mir lag ein erbärmlicher Rest von der Größe eines Daumennagels, und obwohl ich noch hungrig war, verzichtete ich darauf, mich an dieser Miniatur zu vergreifen. Zum Ausgleich nahm ich, als der Kellner ausnahmsweise nicht herschaute, einen großen Schluck aus der Flasche. Maria ließ sich die Rechnung bringen. Was wird aus mir werden? fragte ich. Du hast nur noch zehn Jahre bis zur Pensionierung, sagte sie, dann kannst du nach kommen. Meine Rente wird nicht reichen, um mir in New York eine Wohnung zu nehmen, antwortete ich. Wir haben zwar, sagte Maria, seit unserem achtzehnten Lebensjahr nicht mehr zusammengewohnt, wir könnten es aber in New York nochmals probieren; ständig miteinander unter einem Dach, das werden wir nicht aushalten, wochenweise aber könnte das durchaus gutgehen. Und die übrige Zeit? fragte ich. Die ver bringst du, sagte Maria, bei den Maumees; sie haben dir ange boten, dich im Notfall aufzunehmen, und sie haben das gewiß nicht vergessen. Nein, sagte ich, vergessen werden sie es nicht haben; doch die Tatsache, eine zu kleine Rente zu beziehen, um sich in New York eine Wohnung leisten zu können, ist genausowenig ein Notfall wie der Umstand, daß wir es in einer Wohnung nicht miteinander aushalten. Zerbrich dir dar über nicht den Kopf, sagte Maria, das sollen die Maumees selbst entscheiden.
Wir verließen das Restaurant und spazierten, es war Mitter nacht geworden, in Richtung meiner Wohnung, wobei wir auf meine Bitte einen Umweg um die beiden Museen machten. Ich fühlte mich wohl wie schon lange nicht: Maria an meiner Seite, ihr Arm an meiner Hüfte, die Nacht mild, und der dritte Betrunkene schon, der uns nicht anpöbelte. In meiner Woh nung zog ich mich, wie immer, wenn Maria bei mir zu Gast war, in die Küche zurück. Es war eine alte Verabredung, daß Maria die Küche nicht betrat, damit mir ein Reservat zum Überleben blieb. Die übrigen Räume, Arbeitszimmer, Schlaf raum und Bad, wurden von ihr im Handumdrehen in An spruch genommen, denn unter Sich-Auskleiden verstand sie, die Dinge, vom Schuh bis zur Haarspange, über alle Räume zu verteilen. Ich trank mir mit einem Slibowitz Gleichmut an und redete mir zu, auch diesmal die Nerven nicht zu verlieren, selbst dann nicht, wenn sie abermals ihre Haarbürste auf mei nen Schreibtisch legte und die Haare dann zwischen meinen Zetteln wie Lesezeichen hervorschauten. Nach der Okkupation der Zimmer ging sie ins Bad - auch dann, wenn sie nicht die Absicht hatte, mit mir zu schlafen, sondern nur halbnackt in der Küche sitzen und mit mir Kaffee trinken wollte -, um sich ihre, wie sie sich auszudrücken pflegte, Geschlechtsorgane zu reinigen, wobei sie sich von Kopf bis Fuß wusch, denn für sie zählte jede Öffnung, in wel che das männliche Geschlechtsteil eindringen konnte, als Ge schlechtsorgan. Ein weiterer Grund, warum mein Platz, wenn Maria zu mir zu Besuch kam, in der Küche war: Maria wollte beim Wa schen allein sein, und ich respektierte das, mit einer Ausnah me: Wenn ich, wie jetzt, am Rauschen des Wassers erkannte, daß Maria den Brausenkopf nah an den Schoß hielt, eilte ich ins Badezimmer, um dabei zu sein, wenn sie einen Orgasmus hatte. Etwas Schöneres als die Art und Weise, wie ihre Wan gen dann erröteten, wie ihr Blick meine Augen zwar suchte,
sie aber nicht fand, weil er verzückt nach oben gerichtet war, wie ihr Atem stockte und erst durch einen kurzen, hellen Schrei wieder einsetzte, etwas Schöneres gab es nicht auf der Welt. Ich hatte mich vergeblich beeilt: Auf dem Rand der Badewan ne sitzend, schaute ich Maria erwartungsvoll an, ihre Wangen waren schon gerötet, meinem erwartungsvollen Blick aber antwortete sie mit einem Kopfschütteln. Sie hatte das Onanie ren unterbrochen, aber gewiß nicht weil ich mich zu ihr ge setzt hatte, denn nach Marias Ansicht ist jede Form von Ona nie am schönsten, wenn man sie zu zweit betreibt, alles hinge gen, wozu unbedingt zwei nötig sind, schätzt Maria weniger. Daß sie mit dem Onanieren nicht fortfuhr, hieß, daß sie eine lustvollere Tätigkeit vorhatte. Sie stieg aus der Badewanne, trocknete sich ab und zog sich die Unterhose an, denn Nacktheit empfand sie als unerotisch. Sie wollte im Bett nicht nur entkleidet werden, ihr diente Wä sche auch als Verkleidung. Sie zog aus ihrem Lederbeutel einige alte Unterhemden, ehe sie das richtige fand: ein altmo disch bäuerliches mit breiten Trägern, einer schlichten Sticke rei, vorn durchgehend mit Knöpfen, der Stoff von mir schon oftmals eingerissen und genauso oft von Maria akribisch zu sammengenäht. Sie zog das Unterhemd an, was uns beide sofort außerordentlich erregte. Rasch stieg Maria ins Bett, legte sich zur Wand und rollte sich in eine Decke ein. Ich folgte ihr ins Bett und näherte mich ihr langsam auf allen vie ren. Nichts war für mich aufregender, als wenn Maria im Bett vorgab, sie würde sich mir verweigern, außerdem brannte ich vor Neugierde zu erfahren, als wen sie sich ausgeben würde. Ich wünsche dir eine gute Nacht, sagte ich, mit dem Mund an Marias Ohr; laß mich vor dem Einschlafen nur kurz deine Brüste streicheln. Nein, sagte sie. Ich bestand auf meiner Bit te: Ich würde, wenn Maria mich abwiese, nicht einschlafen können. Es sei ihr, sagte sie, absolut unmöglich, dieser Bitte nachzu kommen, für jede andere sei sie empfänglich, sie würde ohne
weiteres ihre Beine öffnen, wenngleich sie mich ersuchen müßte, mit meinem Glied nicht wild in ihr herumzufuhrwer ken, sie sei schon müde. Nein, sagte ich, ich wolle nicht mit ihr schlafen, sondern ih re Brüste streicheln. So leid es ihr tue, antwortete Maria, doch das sei zur Zeit nur einem erlaubt, ihrem neuen Liebhaber. Wer der Mann sei, ob ich ihn kenne. Ja, sagte Maria, es sei der Chauffeur des Kanzlers, nicht zufällig habe er sie gestern abend zuerst zu mir und dann zum Restaurant gefahren. Mehr darüber zu reden war überflüssig, unseren alten Spiel regeln zufolge mußte nun gehandelt werden: Ich versuchte, Maria die Decke wegzuziehen, sie wehrte sich, schließlich gelang es mir doch. Ich versuchte, das Unterhemd aufzuknöp fen, doch Maria hatte die Hände so über ihre Brüste gekreuzt, daß es sich nicht aufknöpfen ließ. Ich versuchte, unter das Hemd zu greifen, doch damit hatte ich ebensowenig Erfolg. Es war nicht nur Marias Widerstand, der uns beide immer stärker erregte, hinzu kam, daß wir das Spiel, Maria untersage mir eines neuen Liebhabers wegen, ihre Brüste zu berühren, seit mehr als einem Jahr nicht mehr gespielt hatten. Keuchend wiederholte Maria das Verbot einige Male, und ich bemühte mich immer entschiedener, es zu brechen, bekam das Unterhemd am oberen Rand zu fassen und zerrte so fest daran, daß das Hemd einriß, seit jeher für uns das Zeichen, vom Hemd abzulassen - es würde sonst zu weit einreißen, was Ma ria zu viel Näharbeit aufhalsen würde - und zur verbalen Aus einandersetzung überzugehen. In gespieltem Entsetzen zeigte Maria auf das zerrissene Hemd und hieß mich ein Schwein, worauf ich sie, wie üblich, eine Drecksau nannte, die sich mit jedem Dahergelaufenen ins Bett lege, worauf sie mich, wie üblich, bat, sie zu bitten, daß sie mich ohrfeige; worauf ich ihr, atemlos vor Begierde, mei nen Kopf entgegenstreckte, damit sie zuschlage, was sie end lich auch tat. Sodann verklammerten sich meine Hände in ihrem Haar, drückten ihren Kopf gegen meinen, und ich küßte
sie auf den Mund. Ich durfte nun auch die Knöpfe des Unter hemds öffnen, nicht aber das Hemd auseinanderschlagen oder gar die Brüste berühren. Meine Sache war nur das Aufknöpfen, alles andere war Sa che Marias: Sie schlüpfte aus dem Hemd, hob mit den Händen ihre Brüste nach oben und mir entgegen. Meine Lippen wan derten über Marias Kinn und Hals bis zu den Brüsten, den eben noch verbotenen, und begrüßten sie überschwenglich. Maria faßte nach meinem Glied, steckte es in die Scheide und ließ ihre Finger zwischen ihren Beinen liegen. Während ich Maria fickte, spielte sie, da ihr, wie sie zu sagen pflegte, ein Schwanz nicht viel bedeute, mit ihrer Klitoris, was mich min destens so erregte, wie eine anschwellende Vagina mich hätte erregen können, so daß ein Orgasmus sich weder bei Maria noch bei mir aufschieben ließ. Danach legte Maria sich eng neben mich und schaute mich freundlich und spöttisch an. Wie seit Jahrzehnten versuchte ich auch jetzt, diesen Blick zu deuten, doch sehr ernsthaft dürfte der Versuch nicht gewesen sein. Mir fiel die italieni sche Touristengruppe ein, und ich erzählte Maria von dem Museum und von meinem Plan, die Kunstwerke aus diesem Gefängnis zu befreien. Eine Fortsetzung der Großmutterge schichte? fragte sie. Ich errötete. Maria streichelte mit den Fingerkuppen meine Brustwar zen, dann zog sie mit den Fingernägeln immer kleinere Krei se, wobei die Nägel sich immer tiefer ins Fleisch bohrten, was mich so schmerzte, daß ich hätte aufschreien wollen. Ich un terließ es jedoch aus gutem Grund: Maria würde sonst ihre Krallen aus dem Fleisch ziehen, wodurch zwar der Schmerz, aber auch die Lust schwinden würde. Um einen Schmerzensschrei zu verhindern, preßte ich mei nen Mund auf Marias Brust, bis sie wie ein Knebel in meiner Mundhöhle steckte, und diesen Knebel hielt ich mit den Zäh nen unerbittlich fest, worauf Maria mit den Fingernägeln der einen Hand noch tiefer in meine Brust stach, die andere Hand
aber auf ihre Klitoris legte, über welche die Finger sich nun leicht und geschwind bewegten; wie Libellenflügel, dachte ich; ich sah ja nie, wie Maria es machte, spürte es nur, indem ich meine Hand nah über Marias Finger hielt. Mich entzückte das dermaßen, daß ich mit der freien Hand nach meinem Glied faßte, so grob, als würde ich es ausreißen wollen. In diesem Augenblick ließ Maria, wie üblich, von meiner Brust ab, ich mit meinen Zähnen von ihrer, denn nun, da die Wollust nicht mehr körperlich, nur noch seelisch ge steigert werden konnte, kamen unsere Gesichter einander so nahe, daß ein Augenpaar nur mehr die Augen des anderen wahrnahm, und ich sah in Marias Augen, wie mich vor Lust die Sinne verließen. Maria legte einen Kopfpolster auf meinen Bauch. Gegen frischen Samen hatte sie zwar nichts einzuwenden, dessen wäßrige Zerfallsform aber fand sie unter dem Polster besser aufgehoben. Wenn du, sagte ich zu Maria, tatsächlich in Früh pension gehst und nach New York übersiedelst, könntest du doch zu den Maumees fahren und fragen, ob sie sich noch an mich erinnern. Ich? fragte Maria. Warum nicht? sagte ich, wir sind von den Maumees wie alte und lang erwartete Freunde aufgenommen worden, und gerade du zeigtest dich darüber glücklich. Weil mir ein Stein vom Herzen fiel, sagte Maria; Jahre hin durch nur diese Andeutungen über die Maumees, Andeutun gen, die mir Angst machten, doch als wir dann derart freund lich aufgenommen wurden, schlug die Angst in Freude um, sagte Maria und stieg aus dem Bett, wobei sie über mich klet tern mußte und über den Kopfpolster, der auf meinem Bauch lag. Anstatt den Samen mit einem Handtuch wegzuwischen, dachte ich, nimmt sie einen Kopfpolster, und das nächstemal wird sie sich aufregen, daß der Polster fleckig ist; sie bedenkt nicht, daß mein Haushalt, anders als der ihre, nicht von einem Dienstmädchen geführt wird, und daß ich keine Lust habe, ständig Wäsche zu waschen. Ich bemerkte, daß Maria nicht, wie ich gedacht hatte, aufs
Klo, sondern ins Badezimmer gegangen war. Was machst du im Bad? rief ich. Maria kam zurück, sie hatte die Haare, wie immer, ehe sie duschte, aufgesteckt. Es ist erst sieben, sagte ich. Ich muß um acht am Ballhausplatz sein, antwortete Maria, heute wird wieder einmal Staatsbesuch gespielt: Der Vize kanzler kommt zum Kanzler, und sie besuchen dann gemein sam den Bundespräsidenten. Maria ging wieder ins Badezim mer und stellte sich unter die Dusche. Es paßt dir gut, rief ich ihr nach, wenn du die Haare auf steckst; du solltest sie nicht nur beim Duschen so tragen. Mir passen aufgesteckte Haare nicht, rief Maria aus dem Bade zimmer. Im Gegenteil, sagte ich, das steht dir sehr gut. Nein, sagte sie, für aufgesteckte Haare ist mein Gesicht zu lang und zu schmal, und die Ohren stehen zu weit ab. Du irrst, entgeg nete ich, früher, mit vierzehn und auch noch mit zwanzig, ist dein Gesicht tatsächlich schmal gewesen; am Tag deiner Rückkehr aus Amerika aber ist mir als erstes aufgefallen, daß dein Gesicht voller geworden ist, und daran hat sich in den letzten zehn Jahren nichts geändert. Mit anderen Worten, sag te Maria, ich bin fett geworden. Dein Mädchengesicht, ant wortete ich, hat sich zu einem Frauengesicht entwickelt. Also nicht nur fett, sagte Maria, sondern auch alt. Seit ich dich ken ne, antwortete ich, seit fünfunddreißig Jahren, trägst du diese Mädchenfrisur, die Haare glatt und schulterlang, und in der Mitte einen Scheitel; du wirst doch nicht behaupten wollen, immer noch ein Mädchengesicht zu haben. Maria, mit einem Badetuch um den Leib, in der Hand einen Taschenspiegel und ein paar Haarnadeln, setzte sich zu mir aufs Bett und versuchte, aus den notdürftig aufgesteckten Haaren eine Frisur zu formen. Erinnerst du dich, fragte ich Maria, wie kunstvoll aufgesteckt die Maumees das Haar tru gen? Ich habe sie bewundernd angestarrt, noch als sie uns auf den Hügel zum Holzhaufen führten, und mein Blick löste sich erst von ihnen, als ich merkte, daß der Holzhaufen ein Schei terhaufen war, und als ich sah, daß die Flammen um einen Menschen schlugen, von dem nur noch das Skelett übrig war,
das Skelett eines einbeinigen Menschen. Erinnerst du dich, fragte ich, wie die Maumees lachten, als sie erfuhren, daß wir seit fünf Jahren - erst seit fünf Jahren wie sie sagten, unterwegs waren? Da könnten wir nichts wis sen; da könnten wir nicht wissen, daß die Toten durch den Rauch des Feuers noch einmal sprechen würden, sobald alle, denen die Botschaft gelte, um das Feuer versammelt seien. Glaubst du, fragte ich, daß die Maumees die Rauchzeichen richtig gedeutet haben; und wenn die Deutung richtig war: ob wir sie richtig verstanden haben? Zornig, weil ihr die Frisur nicht gelang, warf Maria die Haar nadeln aufs Bett, bürstete ihr Haar glatt und kleidete sich an. Wenn wir unsere alten Geschichten nicht hätten, sagte Maria im Weggehen, hätten wir uns wahrscheinlich nichts mehr zu sagen.
Michael Scharang, 1941 in Kapfenberg geboren, lebt und arbeitet in Wien. Zuletzt erschienen im Luchterhandverlag: Harry, eine Ab rechnung (1984); Die List der Kunst. Essays (1986); Das Wunder Österreich oder Wie es in einem Land immer besser und dabei immer schlechter wird. Essays, Polemiken, Glossen (1990)
Michael Scharang im Luchterhand Literaturverlag Charly Traktor Roman 131 Seiten. Sammlung Luchterhand 573 »Mit geradezu unheimlicher Genauigkeit demonstriert Scharang, wie es einem ergeht, der nicht sagen kann, woran er leidet.« Michael Krüger Die List der Kunst Essays 102 Seiten. Sammlung Luchterhand 615 Eine Sammlung essayistischer Arbeiten zu unterschiedlichsten Themen. Das Wunder Österreich oder Wie es in einem Land immer besser und dabei immer schlechter wird Essays, Polemiken, Glossen 192 Seiten. Sammlung Luchterhand 955 Diese Aufsätze aus den Jahren 1986 und 1987 lesen sich wie eine zugespitzte Geschichte der Republik Österreich der