RUSS WINTERBOTHAM
Attentat auf Domega (THE PUPPET PLANET)
ERICH PABEL VERLAG • RASTATT (BADEN)
PERSONEN: Jerry Main...
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RUSS WINTERBOTHAM
Attentat auf Domega (THE PUPPET PLANET)
ERICH PABEL VERLAG • RASTATT (BADEN)
PERSONEN: Jerry Main, Captain Johann Kee, Admiral John Erskine, Sekretär Len Tanner, Koch Kindman, General Sign, Colonel Noi, Gesandter von Ard Janice Yarrow, Führerin der revolutionären Kammies Darnl, Lieferant
1. Kapitel Captain Jerry Main fühlte es bis in die Haarwurzeln, daß irgend etwas faul war. Vorsichtig näherte er sich mit seinem Ein-Mann-Aufklärungsboot dem verabredeten Treffpunkt, sieben Stunden von Domega und sechsundzwanzig Tage von Terra entfernt. Die POLARIS, die er hier treffen sollte, war bereits da; der glatte Rumpf des großen Raumschiffs glitzerte im Licht zahlloser Sterne. Und doch fühlte Jerry, daß etwas nicht stimmte. Die Ruhe, die ihn empfing, machte ihn mißtrauisch. Längst hätte er von der POLARIS irgendein Signal erhalten müssen, ein Zeichen, daß er bemerkt worden war. Obwohl er erwartet wurde und obwohl das große Schiff gegen Angriffe bis zu mehreren tausend Milliarden Elektronenvolt abgeschirmt war, hatte die Besatzung Anweisung zu strengster Wachsamkeit. Denn dieser Teil des Weltraums befand sich praktisch auf der Schwelle zum Reiche Arkad, dem schlimmsten Feind Terras. Während Jerry sich dem Kriegsschiff näherte, bremste er mit Rückstoßraketen und gab laufend Lichtsignal: „CD 12 – CD 12 …“ Das war seine Identifizierung. Als Antwort sollte ihm durch eine Reihe von Zahlen und Buchstaben die Erlaubnis zur Annäherung erteilt werden. Aber keine Antwort kam von der POLARIS. Wenn er sich ohne Erlaubnis dem großen Schiff näherte, lief er Gefahr, mit einem 2000 @Bev-Strahl (zweitausend Milliarden Elektronenvolt) empfangen zu werden. Aber da er auch auf weitere dringende Signale keine Antwort be4
kam, blieb ihm nichts anderes übrig, als an Bord zu gehen und die Lage zu klären. Er hatte Auftrag, Captain Higgins, den Nachrichtenoffizier auf der POLARIS, abzulösen. Higgins sollte dann mit dem Ein-Mann-Aufklärer eine Inspektionsreise durch die verschiedenen Welten des Terranischen Planetenbundes unternehmen, während Jerry Main mit der POLARIS Jagd auf Raumpiraten machen würde. Jerrys Instrumente zeigten kein magnetisches Feld um die POLARIS an. Das bedeutete, daß die Abschirmung des Kriegsschiffs außer Betrieb war. Wäre Jerry ein ArkadKrieger oder ein Kammy-Freibeuter gewesen, so hätte er jetzt ungehindert die POLARIS in den Raum sprengen können. Einen Augenblick dachte Jerry daran, einen Funkspruch nach Domega durchzugeben. Aber es würde Stunden dauern, bis seine Nachricht ankäme, und der Funkspruch würde nur arkadischen Raumschiffen, die vielleicht in der Nähe waren, seine Position verraten. Was auch immer mit dem Kriegsschiff passiert sein mochte, äußerlich war ihm davon nichts anzusehen. Die Platten des Rumpfs wiesen keine Einschüsse oder Brandstellen auf, nicht einmal die kleinste Beschädigung durch Meteore. Jerry verankerte sein Boot am Rumpf der POLARIS, schloß seinen Helm und kletterte an Bord. In der Gangway brannten alle Lichter, ebenso in sämtlichen Räumen des Schiffs. Main betrat den Mannschaftsraum – und erstarrte vor Entsetzen. Seine Hände in den Raumhandschuhen verkrampften sich in ohnmächtigem Zorn, und die Augen hin5
ter der Sichtscheibe des Raumhelms traten ihm fast aus dem Kopf. Die Männer der POLARIS standen in der Kabine, leicht schwankend, die Füße durch die schweren Raumstiefel fest an den Boden geheftet. Junge Burschen, alte Veteranen – alle tot. Jeder durch einen Schuß in den Rücken getötet. Einer hockte in der Kombüse und starrte Jerry mit glasigen Augen an. Übelkeit stieg in dem jungen Captain auf. Er wandte sich ab und ging mit schlaffen Knien in die Kontrollkabine hinüber. Der Funker hatte nicht geantwortet, weil er tot war. Alle waren von hinten erschossen worden. Außer Konteradmiral Blake und Captain Higgins – diese beiden hatten die Mörder kommen hören und waren ihnen mit der Pistole in der Hand entgegengetreten. Higgins war in die Brust getroffen worden, und Blake hatte ein Geschoß den halben Kopf weggerissen. Sobald Jerry Main sich von dem ersten lähmenden Schrecken erholt hatte, machte er sich sofort an die Arbeit. Er mußte alles an Informationen sammeln, was dem Zentralen Nachrichtendienst die Aufklärung des rätselhaften Falls erleichtern könnte. Es war unbegreiflich, daß die Besatzung eines modernen Kriegs-Raumschiffs überrumpelt und abgeschlachtet werden konnte, ohne daß sie sich überhaupt zur Wehr setzte. Jerry überprüfte Ausrüstung und Vorräte und zählte die Leichen. Die vier großen Bev-Kanonen, die gewaltigsten in der ganzen Galaxis, waren abmontiert und gestohlen, das Funkgerät war zerstört worden. Die Zahl der Leichen belief sich auf elf. 6
Es sollten achtzehn Mann an Bord sein, fehlten also sieben. Sechs Spinde waren leer, die Seesäcke verschwunden. Der Captain fand die Besatzungsliste und verglich sie mit den Identifizierungsmarken und den Spindschildern. Er stellte die Namen der fehlenden Leute fest: Blitz, Hansen, Kurdy, Mays, Phillips, Jones und Tanner. Aber Tanners Habseligkeiten waren noch in dessen Spind. Was ließ sich daraus folgern? Daß die Leute gefangengenommen worden waren? Arkader machten keine Gefangenen. Und Kammies würden in einem solchen Fall kaum riskieren, daß Überlebende sie durch ihre Aussage ans Messer lieferten. Meuterei? Wenn ja, dann waren die sieben, die fehlten, die Meuterer. Aber wie waren sie entkommen? Sie mußten von einem andern Schiff aufgenommen und fortgebracht worden sein. Das roch nach Verschwörung. Jerry ging wieder in die Kontrollkabine und öffnete eine Luke im Fußboden. Er spähte in den dunklen Schacht hinunter, aber das Beiboot, das sonst hier bereit lag, war fort. Es war ein winziges Raumboot für höchstens zwei Mann, das nur zu Erkundungszwecken oder bei schwierigen Landemanövern eingesetzt wurde. Aber das Fehlen des Beiboots gab keine befriedigende Erklärung für das Verschwinden von sieben Mann. Bedrückt verließ Jerry die POLARIS und begab sich auf sein kleines Schiff zurück. Sein Auftrag, Funkstille zu halten, war nun hinfällig geworden. Er mußte so rasch wie möglich Admiral Kee vom Zentralen Nachrichtendienst über das Massaker auf der Polaris informieren. 7
Main schlug das Codebuch auf und funkte die verschlüsselte Nachricht in den Raum: „CD 12. Hypernoval P Sphinx.“ CD 12 war seine Identifizierung. Hypernoval bedeutete Katastrophe. P stand für POLARIS. Und Sphinx hieß, daß die Ursache ungeklärt sei. Der Captain wiederholte seine Meldung und schaltete das Gerät ab. Die Nachricht würde sieben Stunden brauchen, um Domega, den nächsten bewohnbaren Planeten, zu erreichen. Eine Antwort, selbst wenn sie sofort anschließend aufgeben würde, brauchte weitere sieben Stunden. Aber vermutlich würde es länger dauern, bis Admiral Kee über die weiteren Maßnahmen entschied. In Mile High, dem Hauptquartier Terras auf Domega, pflegten die Mühlen der Bürokratie auch in dringenden Fällen langsam zu mahlen. Jerry nahm seine Kamera und begab sich wieder auf das Totenschiff hinüber. Er fotografierte jeden Raum, jeden Toten, die leeren Panzertürme, aus denen die Kanonen fehlten, das zerschlagene Funkgerät. Bei dieser Gelegenheit entdeckte er in der Kombüse etwas, das bisher seiner Aufmerksamkeit entgangen war. Auf dem Tisch, an dem der tote Mann saß, waren zwei Messer so aneinandergelegt, daß sie die Form einer Pfeilspitze bildeten. Genau vor diesem Pfeil lag eine kleine Streichholzschachtel, die den Namen eines Lokals auf Domega trug: „Dom-Dom, Yarrowsburg, Vergnügungszentrum von Domega“. Yarrowsburg war die Hauptstadt auf Domega, Sitz der Regierung, der Schlüssel zur Verteidigungsmacht des 8
wunderbaren Planeten. Und hier befand sich auch Mile High, das Hauptquartier des Zentralen Nachrichtendienstes und der militärischen Dienststellen, die für die Sicherheit des Terranischen Planetenbundes in diesem Teil des Universums zu sorgen hatten. Jerry Main kannte Yarrowsburg flüchtig und hatte immer den Eindruck gehabt, daß es eine recht wüste Stadt war. Er fotografierte auch die Messer und die Streichholzschachtel, auf die die Pfeilspitze wies. Vielleicht hatte das etwas zu bedeuten. Eine Nachricht, einen Hinweis. Aber natürlich konnte die Anordnung der Messer und der Streichholzschachtel auch reih zufällig sein. Nachdem er alles aufgenommen hatte, was ihm wichtig schien, blieb ihm noch viel Zeit. Er ging an Bord seines Schiffes, holte die automatisch entwickelten Fotos aus der Kamera, steckte sie in einen Umschlag und diesen in die Brusttasche seines Raumanzugs. Ob Arkad etwas mit dieser Meuterei zu tun hatte? In Mile High würde man ganz bestimmt dieser Ansicht sein; dort schob man mit Vorliebe jeden Zwischenfall auf Arkad, auch wenn es sich um gewöhnliche Kammy-Piraten handelte. Es würde ein großes Geschrei geben, diplomatische Proteste und Drohungen, aber nach einer Weile würden sich die Wogen glätten, die POLARIS und ihre ermordete Besatzung in Vergessenheit geraten. Zu einem Krieg würde es deswegen nicht kommen. Bei den ungeheuren Entfernungen des Raums war ein heißer Krieg so gut wie ausgeschlossen. Aber der kalte Krieg wurde seit Generationen geführt. Und auch der lauwarme Krieg: Angriffe aus dem Hinterhalt, Überfälle, Piraterie. 9
Die Überfälle von Kammy-Piraten waren an der Tagesordnung. Vielleicht ging auch dieser Fall auf ihr Konto. Jerry löste die magnetische Verankerung von der POLARIS und ließ sein Schiff in einiger Entfernung um diese kreisen wie einen Satelliten. Es schien ihm geraten, nicht in unmittelbarer Nähe des großen Kriegsschiffs zu bleiben. Er legte sich in seine Koje und dachte über den rätselhaften Fall nach. Vermutlich hatten die sieben Meuterer ihre Kameraden überraschend angegriffen und kaltblütig ermordet; dann warteten sie auf ein anderes Schiff, das sie von hier fortbrachte. Warum sie das Beiboot mitgenommen hatten, konnte sich Jerry nicht erklären. Aber das war im Moment auch nicht so wichtig. Ihn beschäftigte vor allem die Frage, wie es geschehen konnte, daß sieben Verräter in die Besatzungsliste der POLARIS aufgenommen worden waren. Der Captain schlief ein paar Stunden. Als er erwachte, mußte seine Nachricht Domega erreicht haben. Vielleicht war die Antwort schon unterwegs. Lustlos nahm er eine Mahlzeit zu sich: mit Vitaminen angereicherte Proteintabletten. Dann machte er sich daran, alle Einzelheiten seiner grausigen Entdeckung in sein Logbuch einzutragen. Danach schaltete er den Mikrofilm-Projektor ein und versuchte, ein wenig zu lesen, aber er konnte sich nicht konzentrieren und schlief nach einer Weile wieder ein. Er erwachte vom Schrillen der Alarmglocke. Mit einem Sprung war er auf den Füßen und hellwach. Ein anderer Raumer näherte sich und zeigte sich auf dem Radarschirm. Sicher ein Schiff von Domega, dachte Jerry erleichtert. Denn ein Raumer konnte die Entfernung schneller zurücklegen als eine Funknachricht. 10
Auf dem Radarschirm erkannte er, daß es ein großes Schiff war und daß es seine Geschwindigkeit verminderte. Es hielt direkten Kurs auf Chaligh, die Sonne von Domega, den hellsten Stern in diesem Teil des Universums. Noch war das Schiff zu weit entfernt, um mit bloßem Auge wahrgenommen zu werden, aber es kam rasch näher und mußte bald sichtbar werden. Es schien nicht so groß wie die POLARIS, aber bedeutend größer als Jerrys Aufklärer. Vielleicht ein Frachter, der durch Funkbefehl an den Schauplatz des Überfalls umgeleitet worden war, um die POLARIS nach Domega abzuschleppen. Jerry schloß seinen Raumanzug und legte den Helm in Reichweite, um gleich mit der Rettungsmannschaft an Bord der POLARIS gehen zu können. Aber plötzlich hatte er ein ungutes Gefühl. Vielleicht kam dieses Schiff gar nicht in freundlicher Absicht? Es konnte ein Arkad-Späher sein. Vielleicht hatten die Arkader seine Funkmeldung aufgefangen und dechiffriert. Oder die Piraten, die die POLARIS überfallen hatten, kamen zurück, um ihr Werk zu vollenden. Sicherheitshalber schaltete Jerry Main die Abschirmung ein, die sein Schiff gegen Strahlenbeschuß sicherte. Im Nachrichtendienst hatte er gelernt, daß man immer mit allem rechnen muß. Dieser Grundsatz rettete ihm das Leben. Ein paar Minuten später schoß ein orangefarbener Strahl aus dem schwarzen Räum und schnitt wie ein ungeheures Messer in den Rumpf der POLARIS. Der Bev-Strahl fraß sich in das Raumschiff, das rot aufglühte, dann weiß und schließlich in einem ungeheuren Blitz auflöste. Die gewaltige Explosion überrollte auch Jerrys Schiff, 11
schleuderte es herum wie einen Spielball – aber das Kraftfeld der Abschirmung schützte es vor ernstlichem Schaden. Jerry Main war nahe daran, an der Metallwand zerschmettert zu werden. Aber der Sicherheitsgurt, der im Boden verankert war, rettete ihn. Noch halb betäubt, griff er instinktiv nach dem Hebel, der den Raketenantrieb auslöste. Die Wucht der Beschleunigung warf ihn gewaltsam auf seinen Sitz. Jetzt brauchte er keinen Sicherheitsgurt mehr: der Andruck preßte ihn wie eine Riesenfaust auf den Sitz. Sein Boot schoß genau auf das feindliche Raumschiff zu. Er hatte nur eine Bordwaffe, eine 20-Bev-Kanone. Das kleine Boot war nicht auf Kampf eingerichtet; es war nur für Aufklärungs- und Kurierdienst bestimmt. Zwar besaß es eine Kraftfeld-Abschirmung; doch war diese auf die Dauer einem Angriff durch Bev-Kanonen nicht gewachsen. Sein einziger wirklicher Schutz war die Geschwindigkeit. Jerry hatte einen Vorteil; Er war offenbar von dem Feindschiff noch gar nicht bemerkt worden. Vielleicht hatte die Nähe der POLARIS dem Feind ein undeutliches Radarbild vermittelt. Aber jetzt war er allein, und als er sich dem Feindschiff näherte, schoß ein neuer Feuerstrahl in seine Richtung. Hastig schaltete der Captain das Funkgerät ein und sprach ins Mikrophon: „CD 12. Von Feindschiff angegriffen. Position: Treffpunkt mit POLARIS.“ Er nahm sich nicht die Zeit, die Nachricht an Hand des Codebuchs zu verschlüsseln. Schließlich wußte ja der Feind ohnehin, was vorging. Mile High konnte Jerry Main 12
nicht retten, aber wenigstens sollte man höhernorts wissen, was ihm zugestoßen war. Mit ungeheurer Wucht traf der Bev-Strahl das kleine Raumschiff. Gelbe Warnlichter flackerten auf der Kontrolltafel auf. Solange die Lichter nicht rot waren, hielt die Abschirmung dem 70-Bev-Strahl stand; aber in spätestens dreißig Minuten würde das Kraftfeld nachgeben und der Rumpf des Schiffes schmelzen. Noch immer hielt Jerry Kurs auf den Angreifer. Er hatte instinktiv diese Richtung eingeschlagen, weil es die Richtung war, in der Domega lag. Aber er erkannte jetzt, daß gerade darin seine einzige Chance lag. Seine Abschirmung würde standhalten, bis er seinen Angreifer passiert hatte. Danach würde dieser die Richtung des Beschusses ändern müssen, und während dieses Manövers konnte Jerry Zeit gewinnen und vielleicht entkommen. Jetzt war er nahe genug, um das Feindschiff mit bloßem Auge sehen zu können. Er schaltete die Telekamera ein und beobachtete auf dem Bildschirm den großen schwarzen Raumer, einen Frachter mit dem typischen stumpfen Bug und übertrieben großen Flossen. An den Seiten hatte er Schlitze, durch die beim Eintritt in die Atmosphäre eines Planeten Tragflächen ausgefahren werden konnten. Außerdem aber bemerkte Jerry häßlich klaffende Geschützluken, und er tippte auf ein KammyPiratenschiff. Main war jetzt so nahe, daß der Feind sein Feuer einstellen mußte; in einer Entfernung von kaum fünfzehn Meilen schoß das kleine Schiff an dem großen schwarzen Raumer vorbei. Höchste Zeit – schon hatten die gelben Warnlichter 13
auf der Kontrolltafel sich zu einem bedrohlichen Orangerot vertieft. Jerry hielt die Telekamera auf den Feind gerichtet und beobachtete dessen Wendemanöver. Den Gedanken an Übergabe verwarf er sofort: Kapitulation hätte einen schlimmeren Tod bedeutet als Vernichtung durch einen 70Bev-Strahl. Unter den Bodenplatten seiner Kontrollkabine befand sich ein winziges Rettungsboot. Es verfügte weder über Bordwaffen noch Abschirmung und konnte auch nur eine verhältnismäßig geringe Geschwindigkeit erreichen. Aber es war klein, blieb vielleicht unentdeckt und konnte ihn unbemerkt außer Schußweite bringen. Jedenfalls war es einen Versuch wert. Wieder begannen die gelben Warnlichter auf der Kontrolltafel zu glühen. Das große Schiff hatte gewendet und das Feuer wieder aufgenommen. Das kleine Beiboot war Jerrys einzige Chance. Er öffnete die Luke, zwängte sich hindurch und schlüpfte in das Rettungsboot. Er schnallte sich fest, schraubte die Luke zu und verschloß seinen Helm. Dann drückte er auf den Starthebel, und das kleine Boot schoß in den Raum hinaus. Gleich darauf bäumte es sich wild auf, von einem unerwartet heftigen Stoß getroffen. Jerry sah sich um: Eine weiß glühende Wolke verhüllte die Stelle, an der soeben noch sein Aufklärungsschiff gewesen war. Eine Hitzewelle überrollte das Rettungsboot, dessen metallene Wände jeden Augenblick zu schmelzen drohten. Das Geräusch der Explosion war nicht zu hören gewesen – im luftleeren Raum gibt es keinen Schall. 14
Einen Augenblick dachte Jerry, es ginge zu Ende. Er glaubte, sein Rettungsboot werde schmelzen. Die plötzliche Beschleunigung raubte ihm fast das Bewußtsein. Aber dann erkannte er, daß die Kraft der Explosion sein kleines Raumschiff zu so hoher Beschleunigung gebracht hatte, daß die Bev-Strahlen es nicht mehr erreichen konnten. Jerry Main war gerettet. Der Feind konnte wohl die Verfolgung aufnehmen, aber seinen Vorsprung würde es nicht so leicht aufholen. * Für den Augenblick war Jerry sicher. Aber er wußte, daß noch viele Gefahren vor ihm lagen. Er schob den Gedanken an seine persönliche Sicherheit beiseite. Viel stärker beschäftigte ihn die grausige Entdeckung, die er gemacht hatte. Mehr als ein Jahrhundert war vergangen, seit Eustace Yarrow als erster Mensch bis an die Grenze des Sternenreichs Arkad vorgedrungen war. Er hatte den Stern Chaligh entdeckt und dessen bewohnbaren Planeten Domega in einem Golf zwischen zwei wirbelnden Abschnitten der Galaxis. Hinter Domega lagen die Planeten Arkads, davor die Planeten des jungen Riesen, der sich Terranischer Planetenbund nannte. Da sich in der Nähe keine anderen Sterne zum Vergleich befanden, wirkte Chaligh viel größer und heller, als er tatsächlich war. Er war etwas kleiner als Sol, die Sonne der Erde, auch etwas älter, aber immer noch eine kraftvolle Sonne. Auch der Planet Domega war kleiner als die Erde, 15
und da er näher um seine Sonne kreiste, hatte er ein tropisches Klima. Eustace Yarrow hatte eine unerwartete Art von Leben auf Domega vorgefunden: Die Kammies waren keine Wirbeltiere, sondern formlose Klumpen von Protoplasma, eine Art von Riesen-Amöben, die in kleinen Gemeinschaften zusammenlebten. Während sich Yarrow und seine Kameraden noch über die seltsamen Lebewesen unterhielten, entwickelten diese Münder und Stimmbänder und ahmten ihre Sprache nach. Es zeigte sich, daß die Kammies über eine Fähigkeit verfügten, die den Menschen völlig unbegreiflich war. Sie konnten ihre äußere Form nach Belieben verändern, und ein merkwürdiger Nachahmungstrieb brachte sie dazu, fremde Gestalten anzunehmen. Binnen weniger Minuten sahen sich Yarrow und die Seinen von lauter Doppelgängern umgeben. Aber nicht nur in der äußeren Erscheinung paßten sich die Kammies ihren Entdeckern an, sondern bis in die letzte Einzelheit der Körperstruktur. Das einzige, was sie nicht übernehmen konnten, waren die geheimen Gedanken menschlicher Hirne. Die Kammies waren ebenso beeindruckt von den Menschen, wie diese von ihnen. Am auffälligsten erschienen ihnen die menschlichen Beine, Nasen und Finger, besonders der Daumen, der den andern Fingern gegenübergestellt ist. Noch heute enthält das Wappen Domegas eine lange Nase und einen darauf weisenden Daumen. Dieses Symbol wurde von Touristen schon viel belächelt, aber die Kammies betrachteten das Riechorgan und das Greifinstru16
ment als Marksteine ihrer Entwicklung – der Entdeckung des Feuers und des Rades durch die menschliche Rasse vergleichbar. Die Kammies standen auf einer hohen Intelligenzstufe. Sie waren zuweilen freundlich, gutmütig, zivilisiert; und dann wieder konnten sie grausam und barbarisch sein. Sie bewunderten alle menschlichen Eigenschaften, nicht nur die guten. Aber Yarrow liebte sie, die er entdeckt hatte. Er versuchte, sie den Unterschied zwischen Gut und Böse zu lehren. Er brachte ihnen viele menschliche Fertigkeiten bei, das Schreiben und Lesen zum Beispiel, später die Erkenntnisse der Wissenschaften. Und die Kammies erwiesen sich als äußerst gelehrig. Zuerst nahmen sie die Gestalten Yarrows und seiner Mannschaft an. Später aber wurde es auf Domega Mode, sich nach dem Bild berühmter Persönlichkeiten aus der Geschichte der Menschheit zu formen. So wimmelte es bald von Cleopatras, George Washingtons, Shakespeares, Greta Garbos und Julius Cäsars. Eine Zeitlang gab es viel Verwirrung und zahllose Verwechslungen, weil zu viele dasselbe Vorbild wählten. Aber Yarrow begegnete dieser Schwierigkeit, indem er ihnen klarmachte, daß sie sich nicht auf ein einziges menschliches Vorbild festlegen mußten, sondern verschiedene Züge miteinander mischen konnten: den Geist Ghandis mit dem Körper Tarzans etwa. Mit der Zeit entwickelten die Kammies auch einen gewissen Sinn für Schönheit; aber die meisten zogen es immer noch vor, sich nach dem Bild berühmter Menschen auszurichten, bis zur Glatze oder entstellenden Warze. 17
Die Stadt Yarrowsburg entstand. Auch hier wieder äußerte sich der Nachahmungstrieb der Kammies: Sie kopierten berühmte Bauwerke Terras, den Buckingham-Palast, den Kreml oder den Eiffelturm. Mile High war eine vergrößerte Kopie des Chrysler Buildings im alten Amerika. Kein Wunder, daß Yarrow diesen Geschöpfen den Namen Kammies gab: eine Abkürzung von Chamäleons. Vor der Ankunft der Terraner hatten sich die Arkader gar nicht um Domega gekümmert, sondern nur um die Planeten, die in entgegengesetzter Richtung des Terranischen Bundes lagen. Sobald aber die Terraner ihrem Reich nahe kamen, faßten die Arkader dies als eine Bedrohung auf. Sie landeten auf Domega, um zu plündern, begegneten aber unerwartet zähem Widerstand seitens der kleinen Garnison, die Yarrow in Yarrowsburg eingerichtet hatte. Die Überlegenheit der terranischen Bev-Kanonen vertrieb die Arkader von Domega. Die Arkader hatten menschliche Gestalt, der Veranlagung nach aber waren sie wie die reißenden Tiere. Sie mordeten aus Vergnügen. Mord und Plünderung waren ihre Losung. Wieder und wieder kehrten sie nach Domega zurück, um die Terraner zu bekämpfen. Aber inzwischen hatte man die Garnison verstärkt und mächtige Kriegsschiffe waren auf Domega stationiert worden. Die Arkader wurden zurückgeschlagen und mußten einsehen, daß bei den ungeheuren Entfernungen des Raums ein wirklicher Krieg für sie aussichtslos war. Von da an führten sie einen ständigen Guerillakrieg gegen Terra. Sie kaperten terranische Schiffe, überfielen und plünderten Raumfrachter, wo sie nur konn18
ten. Durch Konvois und Raumpatrouillen beschränkten die Terraner solche Zwischenfälle auf ein Minimum. In den letzten Jahren hatte sich Domega aus einer Kolonie zu einem vollwertigen Mitglied des Terranischen Planetenbundes entwickelt. Aber die Kammies mit ihrem unwiderstehlichen Nachahmungstrieb waren leicht zu beeinflussen. So ergab es sich ganz von selbst, daß terranische Geschäftsleute und terranische Politiker den Ton angaben. Die Nähe Arkads machte große militärische Vorkehrungen nötig. Und die Kammies wurden mißtrauisch und fühlten sich in ihrer Selbständigkeit bedroht. Sie fanden, daß sie immer noch wie eine Kolonie behandelt wurden, statt wie ein vollwertiger Partner. Die politischen Spannungen zwischen Terra und Domega gingen Jerry Main nichts an. Er war Soldat und hatte die Aufgabe, Domega vor Angriffen Arkads zu schützen. Der Zwischenfall auf der POLARIS war ein Warnsignal. Handelte es sich um einen neuen Angriff Arkads oder ein Piratenstück terrafeindlicher Kammies? Verschiedene Einzelheiten gaben dem Captain zu denken. Warum war die Polaris nicht gleich vernichtet worden, nachdem man die Besatzung ermordet und die BevKanonen gestohlen hatte? Das Schiff hätte als verschollen gegolten, und jede Spur des Verbrechens wäre verwischt worden. Und wie hatten sieben Verräter an Bord des Schiffs gelangen können? Gewiß gibt es in jeder Armee schlechte Soldaten, Deserteure oder Verräter. Aber sieben von achtzehn Besatzungsmitgliedern – das war ein unglaublich hoher Prozentsatz. Auch Meuterei war möglich. Aber Konter19
admiral Blake hatte den besten Ruf und galt als besonders beliebt bei seinen Leuten. Es war möglich, daß Kammies sich in die Besatzung eingeschlichen hatten; dies schien Jerry die einzig mögliche Erklärung für den Verrat. Obwohl die POLARIS nun vernichtet und ihre ermordete Besatzung zu Staub zerfallen war, hatte Main Fotos, die bewiesen, daß das große Schiff Schauplatz eines Massakers gewesen war. Der Zentrale Nachrichtendienst würde aus den Bildern und vielleicht auch aus dem Hinweis auf den Dom-Dom-Klub auf die Täter und Hintermänner ziehen können. Jerry war sicher, daß jemand versucht hatte, mit dieser Streichholzschachtel einen Hinweis zu geben. Für den Augenblick konnte er in dieser Angelegenheit nichts weiter tun. Und so beschäftigte er sich mit seinem persönlichen Problem: der Möglichkeit, zu überleben. Das Rettungsboot war für ausgedehnte Raumflüge kaum geeignet. Es besaß keine Instrumente außer dem Sternenkompaß, Kurzwellenradio und Raketenkontrolle. Immerhin lag Chaligh vor Jerry Main, so daß er ihn gut sehen konnte. Das Hauptproblem war Treibstoff. Zur Zeit befand er sich im freien Flug und brauchte keinen. Den größten Teil seines Vorrats würde er bei Annäherung an Domega für die Rückstoßraketen benutzen müssen, um zu bremsen. Und der Rest reichte höchstens, um ihn bis in den Bereich von Domegas Anziehungskraft zu bringen. Er mußte sein Boot in eine flache Bahn um Domega manövrieren, von wo aus er durch die Schwerkraft auf den Planeten niederstürzen würde. Die Atmosphäre würde die Fallgeschwindigkeit bremsen, der Hitzepanzer des Boots es 20
davor schützen, wie ein Meteor zu verbrennen und eine Fallschirmvorrichtung die Landung erleichtern. Es hatte keinen Sinn, um Landehilfe zu funken. Er würde früher dort sein als der Funkspruch. Sein Treibstoff war so knapp, daß er es sich nicht aussuchen konnte, wo er landen wollte, sondern auf gut Glück die erste Umlaufbahn benutzen mußte, die sich bot. So würde er vielleicht im Dschungel, in der See, der Wüste oder einer Schlucht landen – und die Chancen, daß er die Landung überlebte, standen eins zu eins. Wurde er aber von einem Bev-Strahl getroffen, so gab es überhaupt keine Überlebenschance. Der Captain wußte nicht mit Sicherheit, ob er noch verfolgt wurde, aber er hatte einen gewissen Vorteil: Das größere Schiff hatte auch ein größeres Trägheitsmoment zu überwinden, es brauchte also mehr Zeit zum Drosseln der Geschwindigkeit als das kleine Rettungsboot. Diese wenigen Augenblicke konnten über Leben und Tod entscheiden. Dreißig Minuten vor der errechneten Position von Domega wendete Jerry sein Schiff und feuerte Rückstoßraketen ab, um seine Beschleunigung zu kontrollieren. Bald würde er die Atmosphäre Domegas erreichen. Er berechnete den Winkel und benutzte seine restlichen kostbaren Unzen Treibstoff, um sein kleines Schiff in eine flache elliptische Bahn zu bringen. Die nächsten Minuten entschieden über Leben und Tod. Er hatte noch Zeit, die Fotos per Bildfunk an den Zentralen Nachrichtendienst durchzugeben. Wenn ihm etwas zustieß, würde man wenigstens die Beweise für das haben, was auf 21
der POLARIS geschehen war. Jerry schaltete sein kleines Sendegerät ein. „CD 12. CD 12. Bitte melden!“ Er wiederholte den Ruf mehrmals und wartete auf Antwort. Endlich kam eine Stimme aus dem Lautsprecher: „CF 90. Bitte sprechen!“ CF 90 war das Kennwort für den Zentralen Nachrichtendienst. „Ich kann vielleicht nicht landen“, erklärte Jerry. „Ich werde verfolgt. Möchte schnell noch einige wichtige Bilder übermitteln.“ „Sie hatten keinen Landebefehl“, antwortete der andere, ohne auf Jerrys Andeutung von einer Verfolgung einzugehen. „Sie sollen jetzt bei der POLA-RIS sein.“ „Ernster Zwischenfall“, sagte Jerry. „Näheres nach der Landung – falls ich lande. Ich muß Bilder übermitteln – für den Fall, daß ich Bruch mache.“ Eine Pause. Und dann sagte die Stimme aus Domega kühl und unpersönlich: „Tut mir leid. Das Gerät für Bildempfang ist nicht in Ordnung.“ „Verdammt noch mal, Sie haben doch ein Ersatzgerät! Nehmen Sie das!“ „Ersatzgerät ist gerade besetzt.“ „Menschenskind, es handelt sich um einen äußerst dringenden Fall. Begreifen Sie das nicht?“ „Tut mir leid, ich muß erst den Chef fragen, bevor ich etwas unternehmen kann.“ „Dann fragen Sie ihn, in Dreiteufelsnamen! Aber machen Sie rasch!“ „Bleiben Sie dran!“ 22
Stille. Jerry unterdrückte einen Fluch und wartete. Während sein Schiff um Domega kreiste, fühlte er das Ziehen der Schwerkraft immer stärker werden. Es war sechsundzwanzig Tage her, seit er Terra verlassen und zum letztenmal die Schwerkraft gespürt hatte. Mit einem Stoß, als wäre er gegen eine Steinmauer geprallt, trat er in die Atmosphäre Domegas ein. Sein kleines Schiff fiel wie ein Stein. Die Temperatur im Innern kletterte beängstigend hoch, während der äußere Schutzpanzer durch die Reibungshitze rot aufglühte. Die Geschwindigkeit wurde durch die Moleküle der Luft mehr und mehr gebremst, sein Fall wurde steiler und steiler. Immer noch kam keine Antwort vom Hauptquartier. Jetzt war es ohnehin zu spät, die Bilder hinunterzufunken. Die Übermittlung eines Fotos dauerte zehn Minuten, und er hatte im ganzen nur noch fünfzig. Das Schiff erbebte, und die Hitze stieg immer weiter. Wolkenfetzen, glitzerndes Wasser und zerfurchtes Land waren jetzt zu sehen. Am Horizont ragten schneebedeckte Berggipfel empor. Er kannte diese Berge von gelegentlichen kurzen Besuchen auf Domega. Es waren die Domegischen Anden, die sich westlich und südlich von Yarrowsburg hinzogen. Er war also näher an Yarrowsburg, als er zu hoffen gewagt hatte. Ein Lichtblick nach all dem Pech. Immerhin waren es vom Gebirge aus aber noch fünfzig Meilen bis Yarrowsburg. Als die Hitze unerträglich wurde, öffnete Jerry den ersten Fallschirm, dann den Rogallo. Der große V-förmige Flügel, aus den primitiven Anfängen zur Zeit der ersten Astronauten entwickelt, erlaubte ein sanftes Zur-Erde-Gleiten. 23
Jerry steuerte Kurs auf die Berge. Wenn er Glück hatte, konnte er die Schneegipfel vermeiden und in einem Tal landen. Von dort aus würde er schon irgendeine Transportmöglichkeit zur Stadt finden. Ihm war jetzt etwas wohler, weil er merkte, daß seine Chancen stiegen, die Landung zu überleben. Er ärgerte sich bloß über die Umständlichkeit der Bürokraten von Mile High, die nicht imstande waren, seine Bildübermittlung aufzunehmen. Plötzlich hörte und spürte er ein ohrenbetäubendes Dröhnen. Aus einer Wolke kam ein stumpfschnäuziges Frachtschiff hervorgeschossen. Er erkannte es als dasselbe, das ihn vorher angegriffen hatte. Das war der Feind! Das kleine Rettungsboot war offenbar bemerkt worden, denn das große Schiff kam geradewegs darauf zu. Es hatte seine Tragflächen ausgefahren und konnte jetzt gleiten, wenden und manövrieren wie irgendein Flugzeug. Jerry vermochte nicht das geringste zu seiner Verteidigung zu tun. Seine einzige Waffe war eine Mev-Pistole, mit der er die Panzerplatten des großen Schiffes nicht einmal anritzen konnte. Die einzige Hoffnung des jungen Captains blieb ein Fallschirmabsprung. Er hatte keine andere Wahl, wenn er am Leben bleiben wollte. Hastig schloß er den Helm und öffnete die Ausstiegsluke an der Seite. Dann sprang er, überschlug sich und taumelte durch die dünne Luft auf den Boden zu, der Meilen unter ihm lag. Das Feindschiff feuerte einen Strahl auf das führerlose Boot ab und verfehlte es zunächst. Jerry fiel immer noch. 24
Er wagte nicht, den Fallschirm zu öffnen, da dieser ein zu deutliches Ziel für seine Feinde abgegeben hätte. Der Strahl fand das Boot. Es ging in Flammen auf und verschwand. Die Hitzewelle war so stark, daß Jerry einen Augenblick glaubte, sie werde ihn versengen. Aber er war inzwischen weit genug von seinem Boot entfernt, um der Verbrennung zu entgehen. Die Atmosphäre bot einen Schutz, den es im luftleeren Raum nicht gab. Nun breitete Jerry die Arme und Beine aus, um den Luftwiderstand zu erhöhen und die Fallgeschwindigkeit zu bremsen. Auf diese Weise konnte er zwar ein wenig manövrieren, aber er wußte, daß es unmöglich war, die vor ihm liegende Bergkette zu überqueren. Er konnte nur hoffen, über den breiten, scharlachroten Canyon zu gelangen, der gerade unter ihm gähnte. Das Feindschiff nahm jetzt Kurs auf die Berge. Offenbar war man überzeugt, ihn zusammen mit seinem Schiffe vernichtet zu haben. Sobald es verschwunden war, zog Jerry die Leine seines Fallschirms. Gleichzeitig schaltete er das Funkgerät in seinem Helm ein und meldete sich: „CD 12. Lande jetzt westlich der Domegischen Anden. Falls es der Amtsschimmel erlaubt, könnten Sie mir wenigstens Hilfe schicken, um mich von hier fortzubringen.“ Das Gerät hatte nur eine begrenzte Sendereichweite. Aber vielleicht gelangte der Hilferuf doch bis Yarrowsburg. Wenige Minuten später traf Jerrys Fuß auf domegischen Boden. Der Captain war haarscharf an der Kante des Canyons gelandet. 25
2. Kapitel Als sich Jerry Main aus den Gurten des Fallschirms befreit hatte, wurde er sich bewußt, daß er jetzt mit einem neuen Feind fertigwerden mußte: mit dem schwierigen, unwegsamen, zerklüfteten Gelände. Er hatte keine Ahnung, wie weit er von Yarrowsburg entfernt war. Es mußte sich irgendwo östlich hinter den Bergen erstrecken. Zwischen ihm und der Stadt, dem nächsten Vorposten der Zivilisation, lagen dieser gewaltige Canyon und die hohen Gipfel. Aber Jerry lebte, und das war für den Augenblick schon viel. Der junge Captain hatte keine Zeit gehabt, eine Notausrüstung mit sich zu nehmen, als er das Rettungsboot bestieg. Alles, was er hatte, war seine Mev-Pistole, die zur Jagd so wenig nützlich war wie eine Kanone. Man konnte damit töten, aber von dem Opfer blieb nichts übrig, was als Nahrung dienen konnte. Sein Raumanzug war denkbar ungeeignet zum Wandern und Bergsteigen. Seine Schuhe mit den Metallsohlen waren zu schwer und plump. Der luftundurchlässige Overall schützte zwar gegen Kälte, aber er hielt die Hitze und Körperfeuchtigkeit, so daß Jerrys Körper bald von Schweiß dampfte. Der Helm stellte eine schwere Belastung dar. Jerry behielt ihn nur wegen des eingebauten Funkgeräts, obwohl dieses nur eine Reichweite von kaum fünfzig Meilen hatte. Abgesehen von all diesen Schwierigkeiten war da immer noch der Feind, der den Tod des Captains wollte. Aus irgendeinem rätselhaften Grund hatte dieser Feind ihn durch 26
den Raum verfolgt. Und wenn Jerry versuchte, um Hilfe zu funken, würde er sich nur verraten. Sein Hilferuf konnte ihm den Tod bringen. Er zog seinen Overall aus, stopfte ihn in den Helm und hängte sich diesen über die Schulter. Die schweren Raumstiefel mußte er anbehalten, wollte er nicht barfuß über den steinigen Boden wandern. In Hemd, Shorts, und Stiefeln ging er los, auf die Berge im Osten zu: Er erinnerte sich nur sehr dunkel an die Geographie Domegas. Soviel er wußte, lag Yarrowsburg am Ufer des American River, wo dieser in den Central Lake mündete. Der Fluß auf dem Grund des roten Canyons sah aus wie der American River. Wenn er es war, so brauchte Jerry nur seinem Lauf zu folgen, um nach Yarrowsburg zu gelangen. So wanderte der Captain langsam am Rande des Canyons entlang. Tief unter ihm schäumte und donnerte der Fluß. Eine Zeitlang erwog Main, hinunterzuklettern und sich ein Floß zu bauen. Aber das Tosen des reißenden Wassers ließ ihn diesen Gedanken rasch verwerfen. Nach einer Weile begannen zu beiden Seiten mehrere Nebentäler von dem Hauptcanyon abzuzweigen. Das bedeutete unabsehbare Umwege. Zu seiner Freude und Erleichterung aber sah er in einiger Entfernung vor sich eine Brücke im Sonnenlicht glitzern. Das hieß, daß auch eine Straße nicht weit und also die Zivilisation näher war, als er geglaubt hatte. Jerry wußte, daß bewohnbare Planeten gewisse Dinge gemein haben: Wasser, Atmosphäre, Temperaturen sowie auch Schwerkraft und ähnliche Gegebenheiten. Ein wichti27
ger Faktor aber wird leicht Übersehen, und das ist die Länge des Tages. Ein Planet, der sich zu langsam dreht, wird tags zu heiß und nachts zu kalt. Auf einem, der sich zu schnell dreht, herrschen atmosphärische Störungen, die das Leben beträchtlich erschweren. Der Tag auf Domega war ungefähr so lang wie der auf Terra. Nur daß die Stundenund Minuteneinteilung anders war; man teilte den Domegatag in 30 Stunden ein. Chaligh, die Sonne, hatte hoch im Mittag gestanden, als Jerry landete. Wenn die Umwege ihn nicht zu sehr aufhielten, konnte er die Landstraße vor Sonnenuntergang erreichen, ein Fahrzeug anhalten und sich bis Yarrowsburg mitnehmen lassen. Er entschloß sich, Helm und Raumanzug fortzuwerfen, um schneller ausschreiten zu können. Etwa eine Stunde vor Sonnenuntergang kletterte er endlich einen letzten Abhang hinunter, unter dem sich das Betonband einer vierspurigen Autostraße hinzog. Von weitem hatte er die Straße schon einige Male erspähen können, nie aber hatte er einen Wagen vorbeifahren sehen. Nun, wo eine Straße war, mußte früher oder später auch ein Wagen vorbeikommen; vielleicht setzte der Verkehr erst in den Abendstunden ein. Es hatte keinen Sinn, auf der Straße weiterzugehen. So setzte sich Jerry auf einen Felsblock am Straßenrand und wartete. Seine Füße waren wundgelaufen und voller Blasen. Seine Muskeln schmerzten von der Anstrengung des Marschierens in den metallbeschwerten Raumstiefeln. Zehn Minuten wartete er vergeblich. Dann hörte er das Geräusch eines näher kommenden Autos. Der Wagen kam 28
aus Richtung Yarrowsburg. Aber Jerry war es jetzt gleichgültig, wohin er mitgenommen wurde, wenn er nur Ruhe und etwas zu essen bekam. Er stand auf und winkte mit beiden Armen. In dem Wagen saßen zwei Männer. Der Fahrer war jung, bartlos, sonnengebrannt, der andere hatte einen dichten schwarzen Bart. Das Plexiglasverdeck war geöffnet, und Jerry bemerkte, daß die Insassen recht merkwürdig gekleidet waren. Sie trugen kurze rote Umhänge über engen schwarzen Trikots und flitterbestickten Hemden wie Zirkusartisten. Als sie ihn bemerkten, hielten sie, und der Bärtige sprang aus dem Wagen. Mit seinem feuerroten Umhang und dem schwarzen Bart sah er aus wie der leibhaftige Satan. „CD 12?“ fragte der Bärtige. Jerry stutzte. Die Identifizierung stimmte nicht. Sie hätten zuerst ihre eigenen Kennbuchstaben und -Ziffern geben müssen, dann hätte Jerry mit den seinen geantwortet. Außerdem galt die Bezeichnung CD 12 nur im Raum, nicht auf festem Boden. Hier hieß es DC statt CD, und die Zahl mußte zwischen 50 und 100 liegen. Die beiden Männer konnten also nicht vom Hauptquartier sein. Unwillkürlich griff Jerry nach seiner Waffe. Blitzschnell kam ihm der Bartlose, der im Wagen sitzen geblieben war, zuvor, riß die Hand hoch. Zischend schoß ein gelber Strahl aus einer Mev-Pistole knapp über Jerrys Kopf hinweg und fräste ein tiefes Loch in den Felsen hinter ihm. „Hände hoch!“ befahl der Bärtige. Jerry hob die Hände langsam über den Kopf. Der Bärtige 29
kam auf ihn zu. Von dem Bart abgesehen, sahen die beiden einander ähnlich wie Zwillinge, und irgendwie kamen sie Jerry bekannt vor. „Wer sind Sie?“ fragte er. „Umdrehen!“ herrschte der Bärtige ihn an. Der Captain gehorchte. Der Bärtige nahm ihm die Pistole ab und befahl ihm, in den Wagen zu steigen. Jerry setzte sich auf den Rücksitz, und der Bärtige nahm seinen Platz neben dem Fahrer wieder ein. Der Bartlose wandte sich halb nach Jerry um. „Wir suchen Sie, seit Sie um Hilfe gefunkt haben.“ „Mein Funkruf hat also Yarrowsburg erreicht?“ fragte Jerry. Er wußte, daß die beiden nicht vom Hauptquartier waren. Aber wenn sie seinen Hilferuf in Yarrowsburg aufgefangen hatten, konnte auch Mile High ihn gehört haben. In diesem Fall war vielleicht schon Hilfe unterwegs. „Wir haben eine Monitor-Station in den Bergen.“ Main betrachtete das klassische Profil des Bartlosen, die griechische Nase, das lockige Haar. Ja, die beiden hatten ausgeprägt klassische Züge, sie waren getreue Nachahmungen der Hermes-Statue von Praxiteles. „Ihr seid Kammies!“ rief der Captain. „Die meisten Bewohner Domegas sind Kammies“, lautete die kühle Antwort. „Wart ihr es, die versucht haben, mich abzuschießen?“ „Wenn wir Sie töten wollten, hätten wir jetzt die beste Gelegenheit gehabt“, knurrte der Bärtige. Und der Wagen fuhr mit einem Ruck an. Der Fahrer wendete auf der breiten Straße und gab dann 30
Vollgas. Mit 150 Stundenmeilen raste der Wagen in Richtung Yarrowsburg. Trotz seiner kritischen Situation als Gefangener der beiden Unbekannten bewunderte Jerry Main die auffallend modern und kühn gebaute Straße mit ihren Tunnels, Hochbrücken und interessanten Konstruktionen. Sie war tafelglatt und gerade, es gab keine scharfen Kurven oder steilen Gefälle, obwohl sie im großen und ganzen dem schlangenartig gewundenen Canyon folgte. Als der Wagen die letzte Anhöhe erreichte, sah Jerry vor sich eine weite Ebene, von den letzten Strahlen des untergehenden Chaligh beleuchtet. Es war eine flache Ebene, vermutlich in prähistorischen Zeiten von dem Fluß ausgewaschen. Im Norden, im Schatten der Berge, sah Jerry die Lichter von Yarrowsburg blinken. Als sie näher kamen, hob sich die Silhouette der Stadt dunkel und grotesk gegen den Himmel ab, gerade an der Mündung des Flusses. Architektonisch war sie ein Sammelsurium aller möglichen Baustile aus vielen Jahrhunderten der alten Erde. Da gab es Türme, Minaretts, Wolkenkratzer, Schlösser und Pagoden. Und dazu noch einige Gebäude, wie sie auf andern Planeten gebaut wurden. Der Verkehr um sie her wurde dichter und dichter. Selbst in der Luft wimmelte es von Flugzeugen und Hubschraubern. Der bärtige Hermes berührte Jerry am Arm und deutete zu einem Gebäude hinauf, das wie ein Adlerhorst den Berg krönte. „Wissen Sie, was das ist?“ Jerry sah zu dem Gebäude empor, dessen dicke Mauern 31
mit Schießscharten versehen waren, und zuckte die Achseln. „Wie soll ich das wissen? Ich war nur zwei- oder dreimal in meinem Leben auf Domega. Als RaumflottenKurier. Und von der Stadt habe ich nie viel zu sehen bekommen.“ „Wir werden herausfinden, ob Sie die Wahrheit sagen“, bemerkte der Kammy. „Jedenfalls sieht es aus wie eine Festung zur Unterdrückung freier Bürger. Finden Sie nicht?“ Der Captain unterdrückte ein Lächeln. Die Kammies hatten keinen Sinn für Humor, und er fürchtete, sein Lächeln könne sie ärgern. Er sagte: „Soviel ich weiß, bauen die Kammies Kinderheime, die Festungen, und Wohnhäuser, die buddhistischen Tempeln gleichen. Da dieser Bau wie eine Festung aussieht, dient er bestimmt keinen militärischen Zwecken.“ „Das würde zutreffen, wenn er von Kammies errichtet worden wäre“, erwiderte der bartlose Fahrer. „Tatsächlich aber wurde er von Terranern erstellt.“ „Es gibt ein paar Milliarden Terraner“, sagte Jerry. „Und die wenigsten von ihnen weihen mich in ihre Pläne ein.“ Schweigend fuhren sie weiter, über eine der Hochstraßen, die in mehreren Etagen über den Stadtkern hinwegführten. Main kannte sich in Yarrowsburg nicht aus und wußte nicht recht, wo sie waren. Jedenfalls weit von Mile High, das er in großer Entfernung wie ein Wahrzeichen aufragen sah. Der Wagen bog in eine Rampe ein, die auf Erdbodenhöhe hinunterführte. Langsam glitten sie durch eine schmale Straße, die von Marmorpalästen und Wellblechhütten ge32
säumt war, und passierten schließlich die Einfahrt eines massiven, mehrstöckigen Hauses. Der Wagen rollte in einen Autoaufzug. Ohne auszusteigen, betätigte der bartlose Hermes eine elektronische Vorrichtung, und der große Lift brachte sie in eines der oberen Stockwerke. Von hier aus fuhren sie in eine Garage, die Platz für mehrere Wagen bot, in der aber zur Zeit nur ein einziges Fahrzeug stand. Der Bärtige stieg aus und bedeutete Jerry, ihm zu folgen. Hinter ihm her ging der Captain über einen langen Korridor, während ihm der Bartlose mit vorgehaltener Pistole auf den Fersen blieb. Sie betraten einen Raum, in dem es kaum Möbel gab. In der Mitte stand ein Schreibtisch, hinter dem eine schöne junge Frau saß. Sie nickte Jerry zu und musterte ihn aufmerksam mit ihren graublauen Augen. „Ihr habt ihn also gefunden“, sagte sie zu den beiden Kammies, die sich links und rechts von ihm aufgepflanzt hatten. „Jawohl, auf der Landstraße – wie Sie vorausgesehen hatten“, antwortete der bärtige Kammy. „Um die Zeit herrschte dort nur wenig Verkehr, und so hatte ihn noch niemand mitgenommen.“ „Ihr hattet Glück“, sagte das Mädchen lächelnd und wandte sich dann wieder Jerry zu. Der Captain starrte die junge Frau an, überrascht von ihrer ungewöhnlichen, exotischen Schönheit. Er hatte das Gefühl, sie schon früher irgendwo gesehen zu haben, konnte aber nicht darauf kommen, wo Ihr hellblondes Haar stach seltsam von der olivbraunen Haut ab. Sie hatte ein feingeschnittenes Gesicht mit hohen Backenknochen und 33
langen, mandelförmigen Augen. Als sie aufstand und um den Tisch herum kam, stellte er fest, daß ihre Gestalt schlank und anmutig war und von der Grazie eines edlen Windspiels. Sie trug ein schlichtes schwarzes Kostüm und Schuhe mit hohen Hacken, die ihre vollendet schönen Beine aufs vorteilhafteste zur Geltung brachten. Um die Fußknöchel trug sie goldene Kettchen. Ihr Haar war glatt zurückgekämmt und in einem losen Knoten auf dem Hinterkopf hochgestreckt. Außer den Fußkettchen verschmähte sie jeden Schmuck und jedes Make-up. Sie brauchte nichts, um ihre Schönheit zu unterstreichen. Als sie vor Main hintrat, spürte er den zarten Duft ihres Parfüms. Sie sagte: „Wir haben gehofft, daß uns ein Fremder auf Domega helfen könnte.“ „Ist das der Grund, warum Sie mich entführen ließen? Sie wollen meine Hilfe?“ „Ja, das ist der Grund. Sie sind doch CD 12?“ „Mein Name ist Jerry Main. Ich bin Captain der Raumflotte. CD 12 ist nichts weiter als mein Kennwort für eine bestimmte Mission. Daß Sie und Ihre beiden Freunde“, er wies auf die beiden Hermes hin, „dieses Kennwort benutzen, zeigt mir, daß ich Ihnen nicht trauen kann.“ Sie entblößte ihre weißen Zähne zu einem Lächeln. „Nein, wir haben nichts mit der großen Intrige zu tun, die in Mile High gesponnen wird. Aber gerade das ist ein guter Grund, uns zu vertrauen.“ Jerry meinte: „Die Art, in der Sie meine Bekanntschaft suchten, ist nicht gerade dazu angetan, Vertrauen zu erwecken. Ich wurde von Ihren Leuten entwaffnet, bedroht und 34
gefangengenommen. Soll ich Ihnen vertrauen, nur weil Sie eine schöne Frau sind?“ Ihr Lächeln vertiefte sich noch. Aber der bärtige Hermes trat einen Schritt vor und packte Jerry grob am Arm. „Wir werden Ihnen Ihre Frechheit schon austreiben.“ „Nicht, Horaz!“ rief die junge Frau rasch. „Der Terraner hat recht. Unser Vorgehen war etwas rauh, aber notwendig. Ich will Ihnen erklären, Captain Main, warum Sie hier sind.“ Horaz ließ Jerrys Arm los. „Das möchte ich wirklich gern wissen“, sagte Main. Sie begann: „Wir sind Eingeborene von Domega. Und als solche haben wir Anspruch auf alle Rechte und Privilegien, die man den intelligenten Lebewesen der übrigen Planeten des terranischen Bundes zubilligt.“ „Sie haben keinen Anspruch darauf“, berichtigte Jerry. „Aber sie werden Ihnen zugestanden.“ „Wir bekommen nur, was die Terraner uns geben wollen. Wenn wir wie Terraner denken und handeln, ihre Art in allem nachahmen, ihre Erzeugnisse verwenden und uns genauso benehmen, wie sie wollen, lobt man uns als gute, brave Bürger. Aber sowie wir auch nur versuchen, eigene Fabriken zu bauen und uns selbst zu versorgen, nennt man uns Aufrührer. Terranische Firmen strengen Prozesse gegen uns an, boykottieren uns, sperren die Einfuhr von Rohmaterialien – kurz, sie treiben uns mit allen Mitteln in den Ruin.“ „Es gibt Gesetze, die euch gegen Ungerechtigkeit schützen.“ 35
„Die Gesetze schützen die Terraner, nicht die Kammmies.“ „Die Gesetze schützen jedermann“, widersprach Jerry. „Ihr kommt nur deshalb in Schwierigkeiten, weil ihr terranische Produkte nachahmt. Ihr mißachtet den Patentschutz und erzeugt billige Imitationen. Wenn ihr selbst etwas erfinden würdet, wenn ihr eigenständig wärt, dann würde das Gesetz euch schützen.“ „Warum laßt ihr uns dann eure Gestalt, eure Sprache und eure Sitten nachahmen? Ihr wollt, daß wir uns in jeder Hinsicht nach euch ausrichten, euch alles gleichtun. Aber wenn wir anfangen, die Dinge nachzuahmen, die uns das Leben erleichtern könnten, werden wir unter Druck gesetzt und oft mit brutaler Gewalt daran gehindert.“ Jerry zuckt die Achseln. „Darüber will ich nicht mit Ihnen streiten, Madam. Ich bin Soldat und kein Philosoph oder Volkswirtschaftler. Von diesen Dingen verstehe ich nicht genug. Wahrscheinlich werden auch die Kammies einmal zu eigener Originalität gelangen; ihr müßt nur Geduld haben.“ „Geduld!“ rief sie bitter. „Die Kammies sollen immer geduldig bleiben und sich widerstandslos von Terra ausplündern lassen!“ „Sie müssen doch einräumen, daß wir euch allerhand für das gegeben haben, was wir von euch nehmen. Und stellen Sie die Kammies bloß nicht als die reinen Engel hin! Gerade heute bin ich nur um Haaresbreite dem Tod entgangen, als …“ Main unterbrach sich. Er war nahe daran gewesen, den Zwischenfall von der POLARIS zu erwähnen. Aber dazu 36
war er nicht berechtigt. Es war Sache der offiziellen Stellen, diesen Zwischenfall an die Öffentlichkeit zu bringen oder nicht. „Sie meinen die Sache mit der POLARIS?“ fragte die junge Frau ruhig. Jerry starrte sie überrascht an. „Sie wissen davon? Aber dann müssen Sie ja …“ „Sie meinen, dann müßte ich etwas damit zu tun haben?“ Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich und die Leute, mit denen ich zusammenarbeite, sind nicht schuld an dieser Katastrophe. Es war das Werk eines gemeinsamen Feindes. Und dieser Feind ist es, gegen den ich Ihre Hilfe brauche. Wir wissen, was auf der POLARIS geschehen ist. Wir erfuhren es bereits Stunden vor Ihrer Landung auf Domega. Und wir werden diese Tatsache gegen unsern gemeinsamen Feind ausnützen. Das ist der Grund, warum ich Virgil und Horaz. nach Ihnen ausgeschickt habe, nachdem wir Ihre Nachrichten aufgefangen hatten. Wir möchten in Ihnen einen Bundesgenossen gewinnen.“ „Sie verlangen von mir, daß ich Verrat begehe?“ „Ist es Verrat, Mißstände aufzudecken? Ist es Verrat, Verräter zu entlarven? Das aber ist alles, was wir von Ihnen wollen.“ „Warum wendet ihr euch nicht an die offiziellen Stellen?“ „Als Nachrichtenoffizier müßten Sie wissen, daß ein solches Vorgehen sinnlos wäre. Man würde uns als Aufrührer hinstellen, weil wir für die Rechte der Kammies kämpfen, anstatt Terra alle Rechte an Domega zu überlassen. In Wirklichkeit wünschen wir nicht den Sturz der Regierung, sondern nur den Fortschritt.“ 37
„Es gibt bestimmt Regierungsstellen, die dafür Verständnis hätten.“ „Und andere, die uns für gefährlich halten würden. Wir können es nicht riskieren, uns ihnen in die Hand zu geben. Aber Sie werden unsere Unterredung melden. Sie werden berichten, daß wir von den dunklen Machenschaften gewisser Stellen wissen. Daß die Gesetze, die zu unserm Schutz gemacht sind, von gewissen Leuten dazu mißbraucht werden, uns zu unterdrücken. Später werden Sie Genaueres darüber erfahren. Wir bitten Sie, uns zu helfen, die Schuldigen zu entlarven. Wir wollen die echte Unabhängigkeit für unser Volk – nicht die Schein-Unabhängigkeit von Marionetten. Das ist das Ziel unserer Bewegung.“ „Welcher Bewegung? Und wie kann ich mit Ihnen Verbindung aufnehmen?“ „Wir nennen uns die Marionetten, Captain Main. Das ist der Name unserer geheimen Untergrundbewegung. Wir wollen die Drähte zerreißen, an denen Terra uns hält und gängelt. Wir selbst werden Verbindung mit Ihnen aufnehmen.“ „Und Ihr Name?“ Sie lächelte rätselhaft. „Auch den werden Sie erfahren, Captain Main. Aber jetzt brauchen Sie Ruhe. Sicher sind Sie auch hungrig. Ich werde veranlassen, daß man Ihnen zu essen bringt. Später können Sie nach Mile High gehen und Ihren Vorgesetzten über unsere Begegnung berichten. Schildern Sie uns nicht in zu schwarzen Farben, Captain. In Mile High ist man ohnehin schon schlecht genug auf uns zu sprechen. Ihre Entführung erwies sich leider als nötig. Es war die einzige 38
Möglichkeit, mit Ihnen in Kontakt zu kommen. Wir haben Ihnen unsern Standpunkt dargelegt. Eine schwere Gefahr bedroht Kammies und redlich denkende Terraner gleichermaßen. Der heutige Mordanschlag auf Sie war kein zufälliges Piratenstück, auch kein Überfall der Arkader – obwohl Arkad die Entwicklung mit großem Interesse verfolgt. Es war Teil eines wohlorganisierten Komplotts, zu dem auch das Blutbad auf der POLARIS gehört.“ „Aber welche Beweise habt ihr?“ „Keine greifbaren Beweise. Aber genügt, Ihnen nicht das, was Sie mit eigenen Augen gesehen haben?“ Auf ein Zeichen von ihr faßte der bärtige Horaz Jerry am Arm, diesmal weniger grob als vorher, und führte ihn in ein kleines Zimmer, in dem ein Ruhebett stand. Eine Verbindungstür führte zu einem Badezimmer. „Machen Sie es sich bequem, Captain!“ forderte Horaz ihn auf. „An einen Rasierapparat haben wir leider nicht gedacht, aber Handtücher und Seife finden Sie nebenan. Wenn Sie sich etwas erfrischt haben, bringen wir Ihnen zu essen.“ „Ich möchte lieber gleich nach Mile High“, wandte Jerry ein. „Ich muß unverzüglich Meldung über das Vorgefallene machen.“ „Es ist Nacht, Captain! Sie werden dort gar niemand erreichen. Übrigens würde es mich nicht wundern, wenn einige maßgebende Herren in Mile High ohnehin im Bilde wären.“ „Das kann ich nicht glauben.“ Horaz lächelte und ließ ihn allein. Jerry wußte, daß er immer noch ein Gefangener war und 39
ihm nichts anderes übrigblieb, als sich zu fügen. Er zog sich aus und nahm ein Bad. Kaum hatte er sich wieder angekleidet, erschien Virgil mit einem Tablett. Der Captain aß nur wenig. Dann überfiel ihn plötzlich eine bleierne Müdigkeit. Er hatte kaum Zeit, sich auf dem Ruhebett auszustrecken, da war er auch schon eingeschlafen. * Als Jerry am nächsten Morgen erwachte, fühlte er sich erholt und frisch, bis auf einen eigentümlichen Geschmack im Mund. Er wußte nicht, ob es Morgen oder Abend war, denn das Zimmer hatte weder Fenster noch eine Uhr. Er ahnte nur, daß er sehr lange geschlafen hatte. Seine Kleidung lag ordentlich zusammengefaltet neben dem Bett. Auch seine Pistole, die Brieftasche und die Fotos waren dabei. Er zog sich an und öffnete dann die Tür zum Nebenzimmer. Die junge Frau und die beiden Hermes waren fort. Jerry zuckte die Achseln. Man schien ihn also nicht mehr als Gefangenen zu betrachten. Die äußere Tür war nicht abgeschlossen. Die Trockenheit in seinem Mund war zweifellos die Folge irgendeines Schlafmittels, das man ihm ins Essen gemischt hatte. Während er schlief, hatten seine Kidnapper sich aus dem Staub gemacht. Jerry fragte sich, warum sie ihn eigentlich entführt hatten. Viel hatten sie nicht von ihm zu hören bekommen. Das Mädchen hatte mit großer Überzeugungskraft von 40
einem gemeinsamen Feind gesprochen, der Terraner und Kammies gleichermaßen bedrohte. Vielleicht gab es wirklich eine Verschwörung, die von Arkad angezettelt war. Die Phrasen von Freiheit und Unabhängigkeit gehörten zur Propaganda Arkads. Noch nie gab es eine Revolution, die nicht die Freiheit versprochen hätte; aber nur wenige Revolutionen haben dieses Versprechen gehalten. Zweifellos gehörte die Frau einer revolutionären Gruppe an, auch wenn sie behauptete, nicht den Sturz der Regierung anzustreben und nur Mißstände aufzeigen zu wollen. Die „Mißstände“ bestanden vielleicht nur darin, daß man den Kammies nicht in allem ihren Willen ließ. Aber vielleicht war doch etwas Wahres an ihrer Behauptung, daß die Kammies auf ihrem eigenen Planeten ein Marionettendasein führten, in grotesker Abhängigkeit von den Drahtziehern Terras. Das mochte daran liegen, daß die Kammies eben die geborenen Nachahmer waren und keine eigene Zivilisation besaßen. Sie hatten ihre Kultur, ihre Moral, ihre Philosophie von den Terranern entliehen. Auch der Drang nach Freiheit war ein terranischer Wesenszug. Der Terranische Bund anerkannte das Recht aller vernunftbegabten Individuen auf persönliche Freiheit, das Recht jedes einzelnen, so zu leben, wie er wollte. Dabei aber versuchte man gleichzeitig, Domega ganz nach dem Ebenbild Terras zu formen. Und das war falsch. Die Erde war gut – für Terraner. Vielleicht war den Kammies eine ganz andere Lebensweise angemessener. Der Captain ging ins Bad und besah im Spiegel seinen zwei Tage alten Stoppelbart. Dieser und die verschwitzte 41
und abgerissene Kleidung ließen ihn. wie einen Vagabunden erscheinen. Er befeuchtete sein Haar mit Wasser und kämmte es glatt, so gut es ging. Nun, Mile High würde sich mit dem Äußeren des Captains Main abfinden müssen. Das Wichtigste war jetzt, so schnell wie möglich dorthin zu gelangen und Meldung zu machen. Jerry erinnerte sich der Fotos, die er auf der POLARIS gemacht hatte, und zog sie aus der Tasche. Ein Bild fehlte – es war das mit den beiden pfeilförmig angeordneten Messern und der Streichholzschachtel aus dem Dom-DomKlub. Merkwürdig. Das Mädchen behauptete, von den Vorfällen auf der POLARIS gewußt zu haben, bevor er das Schiff überhaupt erwähnt hatte. Gehörte der Mann, der diese Nachricht in der Kombüse hinterlassen hatte, vielleicht zu ihrer Gruppe? War es Tanner, dessen Habseligkeiten sich noch in seinem Spind befanden, obwohl er selbst verschwunden war? Vielleicht war Tanner mit dem Rettungsboot geflohen. Der Dom-Dom-Klub – das konnte ein Hinweis sein. Mile High mußte davon in Kenntnis gesetzt werden. Main verließ das Zimmer, gelangte unbehelligt zum Lift und fuhr zum Dachgeschoß hinauf. Wie erwartet, befand sich oben eine Landeplattform für Hubschrauber und ein Taxiruf. Der Captain bestellte sich ein Hubschrauber-Taxi und ließ sich nach Mile High bringen. Drei Minuten später landete er auf dem Dach des Hauptquartiers, bezahlte das Taxi aus seiner Brieftasche, deren Inhalt nicht angetastet war, und nahm den Lift nach unten. Mile High lag im Zentrum der Stadt, ein Wolkenkratzer, von dessen Fenstern aus man den Hafen und die Flußmün42
dung überblickte. Es war nicht wirklich eine Meile hoch, wie der Name andeutete, aber seine 240 Stockwerke machten immerhin fast eine halbe Meile aus. Wie alle Gebäude auf Domega, war es ohne eigenen Stil, eine bloße Nachahmung terranischer Bauweise – ziemlich getreu dem Chrysler Building nachgebildet. Die gigantischen Ausmaße dienten nur dem pompösen äußeren Eindruck und erwiesen sich im Grunde als unpraktisch. Das halbe Gebäude stand leer, weil es viel zu zeitraubend war, mit dem Lift bis zum 250. Stockwerk zu fahren; Büros wären in kleineren Gebäuden günstiger untergebracht gewesen. Aber die Regierung benutzte einen Teil der überflüssigen Räume. Auch der terranische Gesandte hatte eine Wohnung in dem gigantischen Bau. Der Zentrale Nachrichtendienst war absichtlich in den oberen Stockwerken – der 203. 204. und 205. Etage – untergebracht, um lästige Besucher abzuschrecken. Der einzige Eingang befand sich im 203. Stock. Von hier aus konnte man über Rolltreppen zu den beiden andern Etagen gelangen, denn die allgemeinen Aufzüge hielten dort nicht. Jerry wurde einer ziemlich gründlichen Ausweiskontrolle unterworfen und darüber hinaus durch eine Reihe von genau festgelegten Fragen und Antworten getestet – ein Dialog, den er schon als Kadett hatte auswendig lernen müssen. Selbst dann wurde es ihm noch nicht leichtgemacht, zu Admiral Kee vorzudringen. Man erlaubte ihm nur zögernd, mit der Rolltreppe zum 204. Stock hinaufzufahren. Dort saß hinter einem Empfangstisch ein Beamter mit mißtrauisch verkniffenem Gesicht, der eine Pistole in der Schulterhalfter trug. 43
„CD 60“, sagte Jerry. Da er sich jetzt auf einem Planeten befand, galt diese neue Kennziffer als Identifizierung; CD 12 hieß er nur im Raum. Der Beamte musterte Jerry mißtrauisch und abweisend. „CF 084“, antwortete er mürrisch. „Was wollen Sie?“ Seine betonte Unfreundlichkeit galt weniger der Person als der Aufmachung des Besuchers. Jerry Main wurde sich seiner abgerissenen Kleidung und seines Stoppelbartes peinlich bewußt. Na schön, dachte er spöttisch. Ich bin zwar kein ausländischer Diplomat oder sonst ein hohes Tier, aber dafür komme ich mit Nachrichten, über die du dich wundern würdest. Er sagte: „Ich möchte Admiral Kee sprechen.“ „Bedaure“, antwortete der Beamte; und es war ihm deutlich anzumerken, daß er es nicht im mindesten bedauerte. „Admiral Kee ist nicht ohne Voranmeldung zu sprechen.“ „Ich bin Captain Main!“ Jerry zog seinen Ausweis hervor und hielt ihn dem Mann unter die Nase. Für einen Augenblick stutzte der andere. Aber er faßte sich rasch. „Wie soll ich das wissen?“ „Sie und Ihre Kollegen unten haben mich auf Herz und Nieren getestet. Außerdem ist hier mein Ausweis. Wollen Sie meine Fingerabdrücke?“ „Auch Fingerabdrücke lassen sich fälschen. Die Kammmies können alles nachmachen.“ Der Beamte zuckte die Achseln. „Wie gesagt, ich kann den Admiral jetzt nicht stören. Rasieren Sie sich erst mal und ziehen Sie sich anständig an, dann können Sie es ja noch mal versuchen.“ 44
Jerry hieb mit der Faust auf den Schreibtisch, daß der andere fast von seinem Sitz kippte. „Jetzt platzt mir aber der Kragen! Ich hatte in den letzten sechsunddreißig Stunden andere Sorgen, als mich zu rasieren und herauszuputzen. Ich habe um mein Leben gekämpft. Und jetzt komm’ ich mit einer wichtigen und brandeiligen Nachricht für Admiral Kee. Ich werde ihn sprechen, ob Ihnen meine Aufmachung paßt oder nicht. Und wenn Sie mich nicht sofort anmelden, schlag’ ich hier einen solchen Krach, daß Ihnen Hören und Sehen vergeht.“ Der Beamte erblaßte, und sein verkniffener Mund wurde noch schmaler. „Moment!“ murmelte er schwach. „Ich melde Sie.“ Er verschwand hinter einer gepolsterten Tür. Ein paar Minuten später tauchte er wieder auf, verdrießlicher noch als zuvor. „Der Admiral sagt, Captain Main gilt als tot. Aber er will Sie empfangen.“ Natürlich – da man ihm von Mile High keine Hilfe geschickt hatte, als er von den Piraten verfolgt wurde, war man jetzt von seinem Tod überzeugt. Jerry folgte dem Sekretär durch die Tür in eine Art Schleuse. Ein scharfer und süßlicher Geruch brachte ihn zum Niesen. „Anti-Kammy-Gas“, erklärte ihm der Beamte. „Ungiftig für Terraner, aber die Kammies können es nicht vertragen. Jedenfalls die meisten. Einige sollen dagegen immun sein. Wir verwenden es, um Kammies zu entlarven, die sich als Terraner hier einschleichen wollen.“ Der Captain meinte: „Wenn Kammies alles Menschliche 45
nachahmen können, müßten sie sich doch eigentlich auch die Immunität gegen dieses Gas aneignen können.“ „Ihre Fähigkeit der Nachahmung ist ein biologisches Merkmal der Kammies, und das Gas greift gerade das Nervenzentrum oder die Drüsen an, die diese Nachahmung ermöglichen. Immun sind nur Kammies, die terranisches Blut in den Adern und die Fähigkeit der Verwandlung verloren haben.“ Jerry staunte. „Ich wußte gar nicht, daß es Mischehen zwischen Terranern und Kammies gibt.“ „O doch. Eustace Yarrow zum Beispiel hat eine Kammy geheiratet. Sie sah aus wie Nofretete, die berühmte Königin aus dem alten Ägypten.“ Jerry folgte dem Beamten aus der Gasschleuse durch mehrere Räume. Fernschreiber tickten, Bildempfänger arbeiteten, Computer und Dechiffriermaschinen ratterten. Dies war die Übermittlungszentrale des Nachrichtendienstes, die mit den Agenten in allen Teilen des Universums in ständiger Verbindung stand. Der Sekretär öffnet eine weitere Tür, und Jerry betrat das Büro Admiral Kees. Johann Kee, Chef des Zentralen Nachrichtendienstes auf Domega, galt als Zyniker und hartgesottener Offizier, und so sah er auch aus. Er hatte ein gefurchtes Gesicht mit durchdringenden schwarzen Augen und stahlgraues Haar. Er war Meister in einem Handwerk, in dem es immer um Leben und Tod ging, hatte viele Jahre in der Raumflotte gedient und bekleidete den Rang eines Admirals; doch stand er in seiner Position nicht nur den militärischen, sondern auch den zivilen Dienststellen vor. 46
Kee war fünfundvierzig, aber das konnte man schwer schätzen. Er sah aus wie ein früh gealterter junger Mann oder ein alter Mann, der sich erstaunlich gut gehalten hatte. Er trug die Würde eines Diplomaten zur Schau. Aber nie ließ er sich von allzu strengen Formen und Regeln behindern. Im Gegenteil; er benutzte äußere Formalitäten nur, um seine Gegner darin zu verstricken und desto sicherer seine eigenen Ziele zu erreichen. Seine Stimme dröhnte wie ein Gong, und sein Auftreten war das eines alten Soldaten. Nun thronte er wie ein Kaiser in Zivil hinter seinem Schreibtisch aus einer Kammy-Imitation, die genau wie echt Mahagoni aussah. Bei Mains Eintritt erhob er sich und streckte ihm die Hand entgegen. „Freut mich, Jerry, freut mich aufrichtig! Ich dachte schon, die Arkader hätten Ihnen den Garaus gemacht.“ „Irgend jemand war jedenfalls nahe dran, mich umzubringen“, sagte Jerry und ergriff die dargebotene, stahlharte Hand. „Irgend jemand? Wer sonst als die Arkader sollten so etwas versucht haben? Mir liegen Berichte über ein unbekanntes Raumschiff vor, das irgendein Ziel in der Gegend angriff, wo Sie in die Atmosphäre von Domega eingetreten sein müssen.“ „Ich bin mehrmals angegriffen worden, konnte aber immer entkommen.“ Der Admiral setzte sich wieder und gab seinem Sekretär einen Wink. „Ich brauche Sie nicht mehr, Erskine.“ Er wartete, bis der Sekretär sich entfernt hatte, und bot dem Captain dann den Sessel neben seinem Schreibtisch an. „Setzen Sie sich, Sie Teufelskerl, und erzählen Sie!“ 47
Jerry zögerte einen Augenblick. Dann lächelte er entschuldigend. „Um bis zu Ihnen vorzudringen, Sir, mußte ich mich nach allen Regeln testen und durchleuchten lassen. Sogar mit Anti-Kammy-Gas wurde ich bearbeitet. Sie nehmen es mir hoffentlich nicht übel, wenn ich jetzt auch von Ihnen eine Identifizierung verlange. Sie wissen – man kann nicht vorsichtig genug sein.“ Admiral Kee schlug sich auf die Schenkel und brüllte vor Lachen. „Sie sind wirklich ein Teufelskerl, Captain! Und Sie haben recht. Wir werden uns dieser kleinen Zeremonie unterziehen – kostet ja nichts. Übrigens hab’ ich im Grunde nie daran gezweifelt, daß Sie es selbst sind. Ein Kammy hätte sich rasiert, um Ihnen wirklich so ähnlich wie möglich zu sein.“ In verändertem Ton fragte er: „Wie wär’s jetzt mit einer kleinen Erfrischung? Sagen Sie, was Sie gern hätten.“ „Vielen Dank! Am liebsten einen schottischen Whisky, wenn Sie welchen haben“, antwortete Jerry, dem Wortlaut des Geheimcodes getreu. „Ich habe nur die Kammy-Imitation“, sagte der Admiral, ebenfalls nach Vorschrift. „Im Geschmack von schottischem Whisky nicht zu unterscheiden.“ „Ein Schotte würde den Unterschied merken“, fuhr Jerry fort. „Mit Eis, bitte!“ Er nahm wahr, daß Kee ihn mißtrauisch anstarrte, und fügte hastig hinzu: „Sir, dieser rituelle Dialog mußte bis in jede Einzelheit abgespult werden.“ Die Miene des Admirals erhellte sich wieder. „Eis von der Antarktis“, lächelte er und bereitete die Drinks aus der eingebauten Hausbar in seinem Schreib48
tisch. Er reichte Jerry ein Glas und hob das andere: „Auf Eustace Yarrow!“ „Seine Nase bringe Verderben über alle Feinde!“ Damit war die Formalität beendet, und beide tranken erleichtert. „Ihre Antworten waren richtig, Jerry“, lachte der General. „Habe auch ich Sie überzeugt?“ Jerry nickte. „Identifizierung korrekt. Aber ich wünschte, der Mann, der diese Parolen schreibt, wäre Biertrinker. Ich mag keinen Whisky“, fügte er lächelnd hinzu. „Ich schon“, sagte der Admiral und schlürfte den seinen genießerisch. Dann meinte er: „Mit den Kammies kann man wirklich nicht vorsichtig genug sein. Ihre Fähigkeit, fremde Gestalt anzunehmen, ist erstaunlich. Kennen Sie die Geschichte von Eustace Yarrows Stuhl?“ „Nein, Sir.“ „Es ist natürlich nur eine Anekdote, aber bezeichnend für dieses Volk. Die Kammies bauten Yarrow ein Haus und richteten es mit Möbeln ein, die sie so haargenau terranischen Stilmöbeln nachbildeten, daß selbst der ausgekochteste Kenner sie für antik halten mußte. Nur ein Stuhl fiel immer wieder auseinander, und zwar mit verblüffender Regelmäßigkeit jeden ersten Dienstag im Monat. Yarrow pflegte dann einen Handwerker kommen zu lassen, um den Schaden zu reparieren, was jedesmal sieben Mollies fünfunddreißig Protons kostete. Das wiederholte sich so oft, daß der Handwerker schließlich jeden ersten Dienstag im Monat von selbst kam, ohne daß man ihn zu rufen brauchte. Endlich schöpfte der alte Yarrow Verdacht und besprühte 49
den Stuhl eines Tages mit Anti-Kammy-Gas. Das bekam dem Stuhl schlecht. Er verlor die angenommene Gestalt und entpuppte sich als der Bruder des Handwerkers, der diesen Trick nur zur Hebung des Geschäfts ausgeübt hatte.“ Jerry lachte. „Es würde mich nicht wundern, wenn die Geschichte wahr wäre. Den Kammies ist alles zuzutrauen.“ „Daß sie sich in tote Gegenstände verwandeln können, ist natürlich ein Scherz. Aber was lebt, können sie wirklich täuschend nachahmen.“ Der Captain wurde wieder ernst. „Sir, ich fürchte, jemand hat sich unter falscher Gestalt auf der POLARIS eingeschlichen.“ „Möglich.“ Der Admiral nickte nachdenklich. „Ich bin über die Vorgänge auf der POLARIS im Bilde.“ „Aber – wieso wissen Sie …“ „Das Wrack mit den zwölf Leichen an Bord wurde vorgestern von einem Kammy-Frachter entdeckt“, fuhr der Admiral fort. Jerry wollte einwerfen, daß nur elf Leichen an Bord gewesen waren, aber der Admiral ließ ihn nicht zu Wort kommen. „Der Frachter kam nach Domega, und wir schickten einen Kreuzer nach der POLARIS aus. Wir fanden sie nicht, weil die Kammies – wahrscheinlich zu Tode erschrocken – die Position der POLARIS falsch berechnet hatten. Als wir Ihre Nachricht erhielten, antworteten wir nicht gleich, weil wir zunächst den Kreuzer zu Ihrer Position beordern wollten. Aber der Kreuzer fand weder Sie noch die POLARIS. Was ist geschehen?“ Knapp berichtete Jerry Main, wie er angegriffen worden 50
war, Domega erreicht hatte und erneut angegriffen wurde, schließlich von seiner Entführung und der Begegnung mit der Frau, die die revolutionäre Gruppe der „Marionetten“ leitete. „Wir haben von dieser Bewegung gehört“, erklärte der Admiral grimmig. „Wie sah die Frau aus?“ „Sie – sie ist sehr schön.“ Admiral Kee verzog spöttisch den Mund. „Alle Kammies sind schön, sofern sie nicht irgendwelchen Berühmtheiten ähnlich sehen.“ „Die Frau ist blond, sie hat ganz helles Haar, helle Augen und olivbraune Haut. Ihr Gesicht kam mir bekannt vor. Ich weiß bestimmt, daß ich es schon früher gesehen habe, aber ich kann mich nicht erinnern, wo.“ „Haben Sie einmal ein Bild der Büste der Königin Nofretete gesehen?“ fragte Kee. Jerry schlug sich mit der Hand vor den Kopf. Natürlich. Darum war sie ihm so bekannt vorgekommen. „Das blonde Haar und die blauen Augen haben mich getäuscht“, gestand er. „Sie ist also eine Kammy? Und ich hatte sie für eine Terranerin gehalten.“ „Sie ist beides“, erklärte Kee. „Ihr Name lautet Janice Yarrow. Sie ist eine Urenkelin Eustace Yarrows und seiner Kammy-Frau, die die Gestalt Nofretetes gewählt hatte. Erstaunlicherweise sind diese angenommenen Züge erblich.“ „Dann sind die Kammies also doch richtige Menschen? Die Ähnlichkeit ist nicht nur Maskerade?“ Kee zuckte die Achseln. „Unsere Wissenschaft erklärt die Kammies als Ergebnis einer Blitzentwicklung. In ihrem Originalzustand als Ein51
geborene dieses Planeten waren sie primitive Gebilde aus Protoplasma, aber geistig erstaunlich entwickelt. Man muß sie sich als eine Art vernunftbegabter Amöben vorstellen, mit der Fähigkeit zu körperlicher Verwandlung. Körperlich hatten sie sich bis dahin nicht weiterentwickelt, weil es ihnen an Vorbildern fehlte. Auf ihrem Planeten gab es nur pflanzliches Leben, keine Tiere. Als die Menschen ihren Planeten betraten, begannen die Eingeborenen sich ihnen anzugleichen. Im Lauf von hundert Jahren machten sie eine Entwicklung durch, für die der Mensch Millionen Jahre gebraucht hat. Die meisten von ihnen, sofern sie reinblütig sind, können ihre Gestalt binnen weniger Minuten völlig verändern. Nur Mischlinge wie Janice Yarrow haben diese Fähigkeit verloren.“ Dies gab Jerry für eine Weile zu denken. Endlich fragte er: „Sie haben menschliche Intelligenz, aber trotzdem sind sie nicht zuverlässig in ihrer Einstellung zum Menschen?“ „Nicht immer“, antwortete Kee. „Wir wissen, daß es eine Art Untergrundbewegung gegen uns gibt. Eine Gruppe, die sich ,die Marionetten’ nennt, kämpft angeblich für die Freiheit und Unabhängigkeit ihrer Rasse. In Wirklichkeit heißt das nichts anderes, als daß man uns von diesem Planeten verjagen möchte.“ „Eine revolutionäre Bewegung also?“ „Ja. Schuld daran ist im Grunde der alte Yarrow. Er hat den Kammies viel zu viele Vorrechte eingeräumt, hat sie von Anfang an zu hoch kommen lassen. Er hat ihnen Stolz und Würde beigebracht, und sie verwechseln das mit Eitelkeit und Hochmut. Äußerlich sehen sie wie Menschen aus, aber im Innern sind sie immer noch Primitive. Nichts wei52
ter als Imitationen von Menschen. Das ist es, wogegen wir zu kämpfen haben, Captain. Diese verdammte Hochnäsigkeit, dieser anmaßende Nationalismus. Das kommt davon, wenn sich gewöhnliche Lehmklumpen die Rechte richtiger Menschen anmaßen.“ Janice Yarrow war immerhin ein recht hübscher Lehmklumpen, dachte Jerry. Aber er sah ein, daß sein Vorgesetzter mehr Erfahrung mit den Kammies hatte und vermutlich wußte, was er sagte. „Glauben Sie denn nicht an das Selbstbestimmungsrecht aller vernunftbegabten Wesen, Sir?“ fragte er unsicher. „Nicht, wenn man uns als lästige Eindringlinge behandelt“, stellte der Admiral fest. „Domega ist nicht fähig, sich selbst zu beschützen. Es ist unsere Aufgabe, es gegen Angriffe Arkads zu verteidigen. Aber darüber könnten wir noch stundenlang debattieren, ohne daß etwas dabei herauskäme, und ich habe noch anderes zu tun. Gerade heute nachmittag habe ich etwas sehr Wichtiges vor. Wir sprechen uns morgen wieder. Inzwischen ruhen Sie sich aus. Ich werde veranlassen, daß Erskine Sie hier in Mile High unterbringt.“ „Ich könnte doch in ein Hotel gehen, Sir.“ „Kommt nicht in Frage, mein Lieber! Übrigens wäre es zu gefährlich.“ „Sie haben also von dem Angriff auf mich gehört, Sir?“ „Ich habe einen ausführlichen Bericht über alles erhalten. Übrigens, da war doch etwas mit Fotos …“ „O ja, Sir!“ Jerry holte hastig die Bilder aus der Brieftasche. Kee sah sie durch, ohne mit der Wimper zu zucken. Ge53
wiß war er gewohnt, den Tod in seiner schlimmsten Form zu sehen. Aber Jerry war doch überrascht und seltsam betroffen von der völligen Ungerührtheit des Admirals beim Anblick der Raumleichen. „Noch etwas, Sir“, sagte der Captain, nachdem Kee die Fotos in seine Schreibtischschublade gelegt hatte. „Nach dem, was mir Janice – ich meine: Miß Yarrow – sagte, scheint etwas sehr Dringendes …“ „Nicht dringender als das, was ich heute vorhabe“, schnitt ihm der Admiral das Wort ab. „Übrigens scheint Miß Yarrow einen recht tiefen Eindruck auf Sie gemacht zu haben. Ich warne Sie: Diese Frau ist wie Dynamit!“ Bei diesen Worten läutete Kee nach Erskine. 3. Kapitel Der Sekretär brachte Jerry Main über eine andere Rolltreppe zum 205. Stock, wo sich mehrere Zimmer für Gäste befanden – freiwillige und unfreiwillige Gäste. Die Tür bestand aus Stahl und war mit einem schweren Schloß versehen. Erskine stellte das Schloß so ein, daß es auch von innen geöffnet werden konnte. Dann schaltete er den Ventilator an. Jerry erkundigte sich: „Ist Erskine eigentlich Ihr Vorname oder Ihr Familienname?“ „Mein Familienname. Mit Vornamen heiße ich John.“ Erskine zeigte sich jetzt sehr zuvorkommend und bemühte sich offensichtlich, seine anfängliche Unhöflichkeit wiedergutzumachen. „Ich hoffe, Sie werden sich hier wohl fühlen“, sagte er. 54
„Im Bad finden Sie einen Rasierapparat und einen Haarschneide-Roboter.“ „Fein!“ sagte Main. „Ich brauche aber auch etwas zum Anziehen. Meine Maße finden Sie in meiner Akte. Können Sie mir das Nötigste beschaffen?“ Erskine nickte. „Selbstverständlich! Sie bekommen alles, was Sie brauchen; Zivilkleidung und Planetenuniform. Sonst noch etwas, Sir? Etwas zu essen vielleicht?“ Jetzt erst wurde sich Jerry bewußt, daß er Hunger hatte. Von dem Essen gestern abend hatte er nur ein paar Bissen zu sich nehmen können, weil es ein schnell wirkendes Schlafmittel enthielt. Er brauchte übrigens nur kleine Mengen, um dieses Hungergefühl zu stillen. Im Raum war er an winzige Rationen konzentrierter Nahrung gewöhnt, so daß sein Magen mit der Zeit geschrumpft war. Wenn er längere Zeit auf einem Planeten verbrachte, genoß er es sehr, wieder normal und mit Appetit zu essen. Aber sobald er wieder auf Raumfahrt ging, stellte sich der Organismus schnell um. Nach dem, was Jerry durchgemacht hatte, wollte er sich einen kleinen Genuß gönnen. „Ich hätte Lust auf eine richtige Mahlzeit“, sagte er. „Irgend etwas Schmackhaftes, aber nur kleine Portionen.“ „Ich werde Ihnen gleich etwas heraufschicken lassen, Sir.“ Erskine zog sich unter Verbeugungen zurück. Mile High barg in seinen Mauern wirklich alles, was man sich wünschen konnte. Jerry zog sich aus, nahm ein Bad, rasierte sich und ließ sich von dem Roboter das Haar schneiden. Als er soweit war, erschien ein Lieferant mit einem Zivilanzug, einer 55
Uniform und etwas, das wie ein Karnevalskostüm aussah: hautenges Trikot, Flitterwams und hellblauer Umhang. „Was, um Himmels willen, ist das?“ erkundigte sich Jerry. „Der letzte Schrei der Herrenmode auf Domega“, erklärte ihm der Lieferant stolz. Er selbst sah aus, als entstamme er einem alten Farbfilm über Tausendundeine Nacht. „Vor ein paar Monaten gastierte hier ein Zirkus aus Terra – und die Kostüme der Artisten fanden solchen Anklang, daß sie unsere Mode beeinflußt haben.“ Der Captain zog den schlichten Zivilanzug vor. Der Lieferant bemerkte: „Ich habe Sie in der gestrigen Fernsehsendung gesehen und sofort wiedererkannt. War interessant, was Sie über die Sache mit der POLARIS erzählten.“ Jerry stutzte. „Fernsehsendung? Ich bin erst seit heute in Yarrowsburg. Und im Fernsehen habe ich bestimmt nicht gesprochen.“ Der Lieferant zwinkerte verständnisvoll. „Natürlich, Sie wollen nicht erkannt werden. Geheime Mission oder so.“ „Aber ich versichere Ihnen, ich habe kein Fernsehinterview gegeben. Sie müssen jemand anders gesehen haben. Der Admiral hat gestern durch einen Raumfrachter von der Katastrophe auf der POLARIS erfahren. Vielleicht haben Sie einen Nachrichtensprecher auf dem Bildschirm gesehen, der darüber berichtete.“ Der andere lächelte diskret. „Nein, nein. Aber wenn Sie nicht wünschen, daß ich 56
darüber rede … Paßt der Anzug, Sir? Dann ist es gut. Ich empfehle mich, Sir.“ Er verdrückte sich so eilig, daß Jerry ihn nicht mehr zurückhalten konnte. Offenbar fürchtete er, sich einer Indiskretion schuldig gemacht zu haben. Der Captain hätte ihn am liebsten zurückgeholt und ausgequetscht. Aber da er in Unterhose war, konnte er nicht gut hinter ihm herlaufen. Übrigens brachten die Kammies oft etwas durcheinander. Auch die Kammies auf dem Raumfrachter hatten eine falsche Position für die Polaris angegeben. Diese Erinnerung lenkte Jerrys Gedanken in eine neue Richtung. Wieso hatte Admiral Kee nicht gemerkt, daß die angegebene Position nicht stimmte? Die POLARIS hatte Order, Captain Main zu treffen, der Treffpunkt war genau festgelegt worden. Warum wurde der Kreuzer nicht zu diesem vereinbarten Treffpunkt geschickt? Nun, der Admiral konnte der Ansicht gewesen sein, daß das Schiff vom Kurs abgekommen war. Aber die Nachricht von dem Angriff auf Jerry innerhalb der Atmosphäre Domegas hatte ihn wenig beeindruckt. Wie konnte überhaupt ein fremdes Schiff bis in die Atmosphäre Domegas gelangen, ohne von der Raumabwehr bemerkt zu werden? Admiral Kee hätte wegen dieses Vorfalls außer sich sein müssen. Er schien nachzulassen. Oder er hatte zuviel anderes um die Ohren! Wenn Jerry ihn das nächstemal sah, würde er ihm verschiedene Fragen stellen. Der Captain zog die bequeme Sporthose und die leichten Schuhe an und überprüfte den Inhalt seiner Brieftasche. 86 Mollies und 60 Protons – das reichte für ein paar Tage, besonders wenn der Zentrale Nachrichtendienst für sein 57
Quartier und Essen aufkam. Überdies hatte er noch Sold nachzubekommen und konnte, wenn nötig, eine Abschlagzahlung beantragen. Für die Kleidung würde man ihm wahrscheinlich morgen eine Rechnung vorlegen. Die Pistole konnte er schlecht in die Hosentasche stecken. Aber hier in Mile High würde er ja keine brauchen. Gerade als er angekleidet war, kam das Essen. Es bestand aus Käseomelettes nach Altairart, einem Siriuspudding und einem Getränk, das wie Kaffee schmeckte, aber vermutlich irgendein domegischer Kaffee-Ersatz war. Ein ausgezeichnetes, delikat zubereitetes Mahl. Nach dem Essen läutete Main dem Boy. Aber statt dessen erschien ein vierschrötiger Sicherheitsoffizier, der die Teller abräumte und ihn dann ganz beiläufig fragte: „Was hat Barata Ihnen erzählt?“ „Wer?“ „Barata, der Schneider. Was hat er zu Ihnen gesagt?“ Der Sicherheitsoffizier war Terraner. „Er glaubte mich gestern in einer Fernsehsendung gesehen zu haben.“ „So?“ Der Offizier kniff die Augen zusammen. „Also schön, er hat einen gesehen, der Ihnen ähnlich sah. Einen Kammy, auf Captain Main zurechtgemacht. Der Bursche hat an Ihrer Stelle gesprochen.“ „Aber warum?“ „Stellen Sie keine Fragen! Der Zentrale Nachrichtendienst tut nichts ohne Grund.“ Damit nahm er das Tablett und verließ das Zimmer. Jerry biß sich auf die Lippen. Was mochte dahinterstecken? Offenbar hatte Admiral Kee einen Kammy an seiner 58
Stelle im Fernsehen auftreten lassen, um die Attentäter glauben zu machen, Captain Main sei direkt nach Domega gekommen. In dem Fall wäre Jerry indessen nicht im Raum angegriffen worden, was doch aber geschehen war. Kees List hatte also ihren Zweck verfehlt – oder es gab einen andern Grund für diese Maskerade. Noch eine Frage, die er Kee stellen wollte. Der Captain verließ sein Zimmer und ging durch den langen Korridor zum Empfang. Erskine trug sein verbindlichstes Lächeln zur Schau. „Na also, jetzt sehen Sie wieder ganz menschlich aus.“ „Besprühen Sie mich mit Anti-Kammy-Gas, und Sie werden sehen, daß ich wirklich ein Mensch bin!“ entgegnete Jerry lachend. „Und jetzt möchte ich mich endlich wieder unterhalten wie ein Mensch. Admiral Kee sagte, ich solle hierbleiben. Aber vielleicht könnten Sie mir einen Tip geben, wie ich den Nachmittag am besten verbringe.“ Der Sekretär runzelte die Stirn. „Der Admiral meint, es sei für Sie zu gefährlich, das Haus zu verlassen.“ „Das seh ich nicht ein. Ich habe dem Admiral meine Meldung gemacht und ihm die Beweise über den Zwischenfall auf der POLARIS abgeliefert. Also hat eigentlich niemand mehr Grund, mich zum Schweigen zu bringen. Ich hab ja nichts mehr zu sagen.“ „Das kann ich nicht beurteilen. Der Admiral will, daß Sie im Haus bleiben, und hat keinen Grund dafür angegeben. Im 203. Stock liegt ein Aufenthaltsraum für unsere Angestellten, dort langweilen Sie sich bestimmt nicht. Es ist alles da: Billard, eine Bar, ein Leseraum, Projektor und 59
Filmbibliothek. Sogar ein Fernsehapparat – aber die Kammies sind nicht sehr originell in ihrem Programm.“ „Um die Zeit totzuschlagen, wird es schon reichen“, meinte Jerry. „Vielen Dank!“ „Die Bar ist auf Selbstbedienung der Besucher eingerichtet. Stecken Sie das Geld für die Drinks in die Box hinter der Theke.“ „Das Vertrauen des Zentralen Nachrichtendienstes ehrt mich“, lächelte Jerry. „Darf ich Sie zu einem Drink einladen?“ „Wo denken Sie hin? Ich bin im Dienst.“ Jerry schlenderte zur Rolltreppe und fuhr zum 203. Stock hinunter. Ein Sicherheitsoffizier wies ihn zu dem Aufenthaltsraum, der an dem Korridor mit den Aufzügen lag. Als Main die Tür aufstieß, ging automatisch die Beleuchtung im Raum an, durch eine elektronische Vorrichtung geschaltet. Der komfortabel eingerichtete Aufenthaltsraum war leer; offenbar wurde er erst nach den Dienststunden benutzt. Er war geräumig wie ein Ballsaal. In der entferntesten Ecke befand sich eine schwere Sitzgarnitur aus imitiertem Leder, dahinter ragten Bücherborde bis zur Decke hinauf. Neben der Bar stand eine riesige Musikbox, deren Nachbarschaft zu dem angrenzenden Leseraum typisch für die bizarre Logik dieses Planeten war. Irgendwo stand ein Billardtisch, und der Filmprojektor war in einem Nebenraum untergebracht. Das Fernsehgerät stand neben der Bar. Der Captain ging zur Bar, die aus reichgeschnitztem, imitiertem Mahagoni gefertigt war. Die Uhr über der Theke zeigte auf 22.34 Uhr; das war früher Nachmittag. 60
Jerry ging um die Bar herum und besah sich die ausgestellten Getränke. Die meisten Marken waren ihm unbekannt, aber die Bezeichnungen Kognak, Whisky, Rum oder Wermut entsprachen den terranischen. Main entschloß sich für einen Martini, den er aus Mars-Gin mixte. Über der Geldbox hing die Preisliste. Sein Drink kostete fünfzig Protons. Er faltete eine Ein-Molekül-Note, steckte sie in den Schlitz und mixte sich gleich einen zweiten Drink, um ein Geldwechseln zu vermeiden. Und auch, weil er einen kräftigen Schluck gebrauchen konnte. „Auf den Raum, der das Nichts ist“, sagte er, in jeder Hand ein Glas, und begann abwechselnd, aus beiden Gläsern zu trinken. Dann stellte er die Gläser ab, lehnte sich gegen die Theke und begann nachzudenken. Unter den Ereignissen der letzten zwei Tage gab es einige Punkte, die bisher ganz im dunkeln lagen. Die Theorie, daß die POLARIS von Piraten angegriffen worden sei, hatte Jerry längst verworfen. Erstens würde kein Pirat, der halbwegs bei Verstand war, versuchen, ein Kriegsschiff zu kapern, und wenn, hatte es keinen Sinn, die Bordkanonen abzumontieren und zu stehlen. Ein Pirat würde das Schiff kapern und dann selbst benutzen, weil er es dann mit fast jedem Kriegsschiff innerhalb des Bundes aufnehmen konnte. Wer konnte auf den Gedanken kommen, die Kanonen abzumontieren? Die Arkader vielleicht; aber sie waren nicht imstande, einen komplizierten Plan auszuarbeiten. Dahinter steckten entweder verräterische Besatzungsmitglieder – oder Kammies, die als Besatzung eingeschmuggelt worden waren. 61
Offen war auch die Frage, warum man die POLARIS nicht gleich anschließend vernichtet hatte. Damit ließen die Täter unverständlicherweise Spuren zurück, die zur Aufklärung der Tat und zu ihrer Überführung beitragen konnten. Hätten sie die POLARIS vernichtet, so wäre sie als verschollen gemeldet worden, und bald hätte kein Hahn mehr danach gekräht. Der Verrat an Bord wäre unentdeckt geblieben. Man hätte annehmen müssen, das Schiff sei durch irgendein technisches Versagen in den Raum abgetrieben oder durch einen Meteor havariert worden. So etwas kam vor und war immer noch wahrscheinlicher als Verrat, besonders so plumper und blutiger Verrat. Jerry Main fragte sich sogar, ob man die POLARIS vielleicht absichtlich verschont hatte, ob dies mit zu dem Plan gehörte. Aber er konnte beim besten Willen keinen Grund für ein solches Vorgehen finden. Gewiß hatten die Verbrecher kein Interesse daran, entdeckt zu werden. Es sei denn … Der Captain war selbst überrascht von diesem Einfall. Vielleicht wollten die Täter, daß die Tat entdeckt und jemand anders zur Last gelegt wurde. Aber wem? Den Arkadern oder den Kammies? Nichts wies auf eine Verbindung der beiden Rassen zu dem Verbrechen hin. Nichts – außer der Streichholzschachtel aus dem Dom-Dom-Klub. Wurde dieser Hinweis absichtlich hinterlassen? Plötzlich fiel Jerry ein, daß er dem Admiral nichts von dieser Streichholzschachtel gesagt hatte. Das Foto war ihm von Janice Yarrow entwendet worden, während er unter der Wirkung des Schlafmittels stand. Und seine Unterre62
dung mit dem Admiral war zu kurz gewesen, als daß er alle Einzelheiten hätte berichten können. Um zu beurteilen, ob der Hinweis auf den Dom-DomKlub irgendeine Bedeutung hatte, mußte er zunächst etwas über diesen Klub in Erfahrung bringen. Er trank ein Glas leer, nahm das andere in die Hand und trat hinter der Bar hervor. Als er auf die schwere imitierte Ledergarnitur am andern Ende des Raumes zuging, blickte er zufällig seitwärts zur Tür und stutzte. Die Tür stand einen Spaltbreit offen und bewegte sich leicht, als hätte jemand sie öffnen wollen und sich dann rasch zurückgezogen. Jemand bespitzelte ihn. Wenn das stimmte, waren sie also immer noch hinter ihm her. Er war immer noch die Zielscheibe mörderischer Anschläge aus dem Hinterhalt. * Wäre Jerry Main nicht in den letzten eineinhalb Tagen mit knapper Not mehreren Attentaten entgangen, so hätte ihm dieser neue Zwischenfall wenig Kopfzerbrechen bereitet. Seine Pistole hatte er in seinem Zimmer gelassen. Es hatte ihm unnütz geschienen, im Hauptquartier bis an die Zähne bewaffnet herumzulaufen. Hier gab es Sicherheitsbeamte, die ihn wie jeden anderen Mitarbeiter des Zentralen Nachrichtendienstes zu schützen hatten. Zweifellos wußte derjenige, der sich hinter der Tür verbarg, daß Jerry unbewaffnet war. Offenbar beabsichtigte 63
er, ihn zu überrumpeln, damit er keine Zeit fand, um Hilfe zu rufen. Jerry sah sich nach einem Telefon oder einer Klingel um. Aber es gab nur eine Telefonzelle am Ende des Raums. Dem Captain fiel plötzlich die elektronische Vorrichtung ein, die beim öffnen der Tür die Lichter anschaltete. Wie funktionierte sie? Als er eintrat, gingen die Lichter an; wenn er die Bar verließ, würden sie vermutlich wieder ausgehen. Was aber, wenn gleichzeitig mehrere Personen kamen und gingen? Die Lichter konnten nicht jedesmal ausgehen, wenn einer den Raum verließ. Vermutlich war die Vorrichtung darauf eingestellt, die Personen zu zählen. Die Lichter blieben an, bis die Zahl der Ein- und Ausgehenden gleich war. Jerry bemerkte auf dem Fußboden an der Tür rote Linien, die ein Rechteck bildeten. Vermutlich war das die Zone, in der die Personen automatisch gezählt wurden, die die Tür passierten. Er schob einen Sessel gegen diese Linien vor. Als er innerhalb des Rechtecks stand, stieß er den Stuhl über die zweite Linie, und die Lichter gingen aus. Der Elektronenstrahl, oder was es sonst war, konnte nicht zwischen Jerry Main und einem Sessel unterscheiden. Aber wenn nun ein anderer Mann den Raum betrat, würden die Lichter wieder angehen. Schnell überschritt Jerry die Linie. Jetzt würden zwei Personen den Raum betreten müssen, bevor es hell wurde. Elektronische Instrumente machen keinen Unterschied zwischen Plus und Minus: eine Minuszahl ist ebenso wirklich wie eine Pluszahl. 64
Der Captain stand reglos an der Wand neben der Tür und wagte kaum zu atmen. Es war dunkel, und er konnte nichts sehen, aber er fühlte einen Luftzug, als die Tür plötzlich aufgerissen wurde. Da sprang Jerry vor und packte mit beiden Händen zu. Er bekam einen Arm zu fassen. Als geübter Judokämpfer riß er seinem Gegner den Arm hoch und stieß ihm gleichzeitig das Knie in den Rücken, so daß der andere rücklings zu Boden stürzte. Ein metallisches Klirren begleitete den Aufschlag, und ein orangefarbener Strahl aus einer Mev-Pistole schoß quer durch den Raum. Zischend schmolz die gläserne Bar; aus geschmolzenen Flaschen ergoß sich die Flüssigkeit und ertränkte die Flamme. In diesem flackernden Halblicht erkannte Jerry Main das verzerrte Gesicht seines Angreifers: Es war niemand anders als Erskine, der Sekretär des Admirals. Jerry holte aus und traf ihn mit aller Kraft an der Kinnspitze. Erskine sackte zusammen. Noch einmal schlug der Captain zu. Erskine rührte sich nicht mehr. Als Jerry von dem Bewußtlosen zurücktrat, gingen die Lichter in der Bar an. Erskine hatte die Linien überschritten, und Jerry wurde als zweiter Eintretender gezählt. Die elektronische Einrichtung funktionierte blindlings, ohne Logik. Die Mev-Pistole hatte kein Geräusch verursacht, und das Feuer war fast augenblicklich durch den Inhalt der geborstenen Flaschen gelöscht worden. So war der ganze Vorfall bisher unbemerkt geblieben. Jerry schloß die Tür und zerrte Erskine in den Nebenraum, in dem der Filmprojektor untergebracht war. Hier 65
würde der Bewußtlose nicht so schnell entdeckt werden, während sein Überwältiger flüchtete. Main ging zu der Stelle zurück, wo Erskines Pistole auf dem Fußboden lag, hob sie auf und steckte sie in einen Gürtel. Was nun? Hier war er nicht sicher. Die Jagd auf Leben und Tod, die im Weltraum begonnen hatte, setzte sich mitten im Hauptquartier des Zentralen Nachrichtendiensts fort. Janice Yarrow hatte recht gehabt. Die Feinde der Terraner und der Kammies auf Domega saßen in Mile High. Jerry wußte nicht, wer hier sein Freund und wer sein Feind war. Auf Zehenspitzen schlich er zur Tür. Sobald er die roten Linien passierte, gingen die Lichter aus. Er öffnete die Tür und sah einen Sicherheitsbeamten draußen stehen, gleich rechts neben den Aufzugstüren. Der Mann starrte Jerry entgeistert an. „Kommen Sie her!“ rief Main und winkte dem Mann. Der Beamte näherte sich zögernd, die rechte Hand am Pistolengurt. „Sie sind Captain Main, wie?“ fragte er mißtrauisch. Jerry nickte. „John Erskine hat soeben versucht, mich umzubringen.“ Der andere riß die Pistole aus der Halfter. „Zurück in die Bar!“ fuhr er Jerry an. Instinktiv wich der Captain zurück, ohne aber die roten Linien zu berühren, die die Lichtanlage in Tätigkeit setzten. Der Sicherheitsbeamte trat in die Tür, verwirrt über das Versagen der automatischen Beleuchtung, und spähte ins Dunkel, um Jerry zu entdecken. Mit einem Fausthieb schlug Main ihm die rechte Hand nach unten. Der Mann schrie vor Schmerz auf. ließ aber die 66
Waffe nicht los. Statt dessen stürzte er einen Schritt vor und schaltete die Beleuchtung ein. Aber inzwischen hatte Jerry die Mev-Pistole aus dem Gürtel gezogen und feuerte. Der Strahl traf den Sicherheitsbeamten mitten in die Brust. Ein Geruch nach verbranntem Stoff und Fleisch stieg auf. Der Mann fiel in sich zusammen wie ein Bündel Kleider. Im Fallen ließ er die Pistole los. Jerry starrte auf die Leiche hinunter, selbst blaß wie ein Toter. Dann wandte er sich hastig um, als erwarte er, daß im nächsten Augenblick ein neuer Feind hinter einem der Sessel auftauchte und sich auf ihn stürzte. Aber nichts geschah. Jerry versuchte seine Gedanken zu sammeln und sich über seinen nächsten Schritt klarzuwerden. Aber er war noch zu verwirrt, um die Lage übersehen zu können. Allzuviel war in diesen letzten Tagen auf ihn eingestürmt. Zuerst der grausige Fund auf der POLARIS. Dann die Angriffe auf ihn im Raum und in der Atmosphäre von Domega. Seine Gefangennahme und Entführung durch Kammies. Und zweimal innerhalb weniger Minuten hatte er sich gegen Meuchelmörder zu verteidigen gehabt. Wie weit ging dieses ganze mörderische Komplott? Wo lagen seine Wurzeln? War der ganze Zentrale Nachrichtendienst an seinem Tod interessiert? Jetzt verstand er auch die Weigerung, die Bildübermittlung anzunehmen, die er noch vor seiner Landung so dringend vorgeschlagen hatte. Man hatte ihm erklärt, die Empfangsanlage sei gestört. Wahrscheinlich stimmte das gar nicht, und der Funkoffizier gehörte zu den Verschwörern. Wer noch? Etwa auch Admiral Kee? 67
Jerry schüttelte den Kopf. In diesem Punkt wollte er vorsichtig sein. Vielleicht hatte Erskine gelogen, als er behauptete, der Admiral habe für Captain Main ein Ausgangsverbot erlassen. Aber eines stand fest: Hier in der Zentrale war er so sicher wie ein Lamm im Wolfsrachen. Er mußte so schnell wie möglich fort. Je früher, desto besser, denn sobald Erskine erwachte, würde er Alarm schlagen. Jerry hätte den Sekretär natürlich töten können, aber es widerstrebte ihm, einen Menschen kaltblütig zu ermorden. Der Captain ließ sich neben dem toten Sicherheitsbeamten auf ein Knie nieder. Er hatte das unbestimmte Gefühl, die Identität des Mannes könnte irgendeine Bedeutung für ihn haben. Hastig suchte er nach dem Ausweis. Der Mann hieß Kurdy, Wallace Kurdy; ein Name, der Jerry bekannt vorkam. Und plötzlich wußte er, woher. Kurdy war einer von den Leuten, die an Bord der POLARIS fehlten. Wenn es wirklich derselbe Mann war, dann hatte der Zentrale Nachrichtendienst bei dem Blutbad die Hand im Spiel. Jerry Main hörte ein Stöhnen aus dem Filmraum und begriff, daß Erskine erwachte. Er mußte sofort weg. Rasch versteckte er die Pistole in der Tasche und ging zur Tür. Die Lichter blieben brennen, als er die roten Linien überschritt, denn die elektronische Vorrichtung zählte den toten Sicherheitsbeamten immer noch als Lebenden. Main spähte hinaus, bemerkte aber niemanden in der Halle. Das war zu erwarten gewesen. Zweifellos hatte Erskine den Beamten dort postiert, um sich vor Überraschungen zu schützen und ungestört Captain Main ermorden zu können. Kurdy war vielleicht gar kein Sicherheits68
beamter, sondern von den Verschwörern, wer immer sie waren, nur als solcher eingeschmuggelt worden. Die Aufzüge befanden sich gegenüber der Tür, und Jerry ging vorsichtig hinüber, die Hand an der Pistole. Er drückte auf einen Knopf. Sekunden später öffnete sich eine Aufzugstür. Der Captain stieg ein und fuhr fünf Stockwerke tiefer. Der Lift hielt, um einen andern Passagier aufzunehmen, einen vierschrötigen Mann in Majorsuniform. Jerry stieg aus, ging drei Treppen hinunter und nahm dort einen andern Lift, der ihn bis zur Hubschrauber-Plattform auf dem Dach des 240. Stocks brachte. Fünf Hubschraubertaxis standen wartend in der Nähe des Lifts. Der Pilot des ersten, der aussah wie Julius Cäsar mit Mütze statt mit Lorbeerkranz, öffnete die Tür, und Jerry kletterte hinein. „Wohin?“ fragte der Pilot und startete den Motor. Die Suche nach Captain Main war mittlerweile wahrscheinlich schon angelaufen, und die Taxipiloten würden befragt werden. „Zum Raumflughafen, aber rasch, bitte!“ Julius Cäsar nickte, und der Hubschrauber hob sich in die Luft. Auf dem Raumflughafen wollte Jerry seine Spur verwischen. Zu allen Stunden des Tages besuchten Hunderte von Personen den Flughafen, um zu verreisen, Besucher abzuholen oder sich die gigantischen Maschinen anzusehen, die hier zu andern Planeten starteten. Neugier war zu allen Zeiten ein Vorrecht der Kutscher und Fahrer – und Taxipiloten machten darin keine Ausnahme. 69
Sobald der Hubschrauber in der Luft war, wandte der Pilot sich nach seinem Fluggast um und erkundigte sich: „Wo sind die andern, Captain?“ Jerry war nicht in Uniform und wunderte sich daher über die Anrede. Aber vielleicht sprach der Kammy-Pilot alle Passagiere aus Mile High mit Captain an, sofern sie nicht die Abzeichen eines höheren Ranges trugen. „Ich bin allein.“ Main warf einen Blick auf die Registrierkarte an der Rückseite des Pilotensitzes. Danach war der Name des Piloten Hari Kitt, und er hatte die Genehmigung zur Personenbeförderung. „Das seh’ ich.“ Für den Augenblick war Kitt zu beschäftigt, um näher darauf einzugehen. Viele Hubschrauber, private und Taxis, schwirrten über der Stadt. Es war eine Hauptverkehrszeit, und abgesehen von der grotesk zusammengewürfelten Architektur der Stadt, hätten sie ebensogut über irgendeiner anderen Hauptstadt des Universums fliegen können. Domega war recht fortschrittlich, wenn man die kurze Entwicklungszeit von nur hundert Jahren berücksichtigte. Sobald die Verkehrslage es zuließ, kam Kitt wieder auf die Frage zurück: „Soviel ich weiß, sollten Sie doch mit großem Tamtam zum Flugplatz gebracht werden, Captain. Hatte natürlich keine Ahnung, daß Sie ausgerechnet mein Taxi beehren würden. Vielleicht geben Sie mir ein Autogramm für meine Gören?“ „Für wen halten Sie mich eigentlich?“ fragte Jerry unsicher. 70
„Na, Captain Jerry Main natürlich, den ich gestern nachmittag auf dem Bildschirm sah!“ rief der Pilot grinsend. „Außerdem hab’ ich Ihr Bild in einer Nachtausgabe gesehen. Sind Sie nun Captain Main – oder ein Kammy wie ich?“ Gestern nachmittag hatte Jerry um sein Leben gekämpft, bis er von Janice Yarrows Leuten gefangengenommen wurde. Für einen Augenblick fragte er sich, ob er dort nicht nur eingeschläfert, sondern auch hypnotisiert worden war. Vielleicht war er wirklich in diesem Zustand im Fernsehen aufgetreten, wie Barata, der Schneider, und der Taxipilot glaubten. „Ich bin Captain Main“, gab er zu. „In Zivil habe ich Sie auf den ersten Blick gar nicht erkannt“, sagte Hari Kitt. „Dann bemerkte ich die Pistole in Ihrem Gürtel. Ich wollte schon nach der Polizei rufen, aber dann sah ich Sie mir noch mal genauer an und erkannte Sie. Wenn Sie in Zivil reisen, sollten Sie Ihre Waffe etwas besser verstecken.“ Er zwinkerte ihm lächelnd zu. Jerry lächelte zurück und steckte die Pistole unter sein Hemd. „Kann mir vorstellen, was das für ein Schreck für Sie war auf der POLARIS“, fuhr der geschwätzige Kammy fort. „Muß ein entsetzlicher Anblick gewesen sein – zwölf Leichen auf einem Schiff mitten im Raum.“ Der Captain hatte nur elf Leichen gefunden. Auch Admiral Kee hatte von zwölf Toten gesprochen – und der mußte doch eigentlich wissen, daß die Nachricht falsch war. Jerry begann dem Admiral zu mißtrauen. „Ja, ein schrecklicher Anblick“, sagte er schließlich. 71
Hari Kitt schnalzte bedauernd mit der Zunge. „Ich nehme an, Sie wollen zum Zivilflugplatz, Captain?“ fragte er. Main war es recht, wenn der Fahrer das dachte. Auf dem Militärflugplatz, südöstlich des Zivilplatzes, würde er sich einer Paß- und Ausweiskontrolle unterziehen müssen. Das konnte unangenehm werden, falls Kurdys Leiche inzwischen gefunden worden war. Inzwischen hatte Erskine bestimmt längst Alarm geschlagen und einen Haftbefehl für ihn erlassen. Der Zivilhafen befand sich auf dem Ostufer des American River. Eine lange Betonbahn für Raumschiffe mit Tragflächen erstreckte sich nahe dem Flughafengebäude, und dahinter befanden sich zahlreiche Rampen für die altmodischen Raketenschiffe, die immer noch für Planetenumkreisungen und kürzere Raumreisen verwendet wurden. Zwei Schiffe standen auf der Betonrollbahn. Eines, das offenbar erst vor kurzem angekommen war, wurde gerade entladen. Das andere stand startbereit in der Mitte der Rollbahn. Es kam Jerry bekannt vor, und als er es sich näher ansah, wußte er, warum. Es war dasselbe Schiff, das zweimal in den letzten zwei Tagen auf ihn gefeuert hatte. Jerry starrte den Raumer an, während der Pilot immer noch schwatzte. „… und Gerüchte in der Stadt, daß über Yarrowsburg der Kriegszustand verhängt werden soll. Weiß nicht, ob was Wahres dran ist. Gemunkelt wird hier viel. Aber die Piraten sind wirklich zu unverschämt geworden, und vielleicht haben sie ihr Hauptquartier auf Domega.“ Der Captain fragte: „Wie steht’s mit dem Verteidigungs72
system des Planeten? Wie kann ein Piratenschiff hier landen, ohne sofort bemerkt und beschossen zu werden?“ „Wenn Sie die Frage beantworten können, Sir, dann werden einige von den höchsten Herrschaften ins Schwitzen kommen.“ „Was meinen Sie damit? Daß es Korruption in den militärischen Dienststellen gibt?“ „Vielleicht, vielleicht auch nicht. Es kann auch sein, daß die Piratenschiffe falsche Erkennungssignale verwenden, die ihnen durch korrupte Beamte verraten wurden.“ Kitt wies auf das stumpfschnauzige schwarze Schiff hin. „Ist dies das Ihre, Captain?“ „Meines? Wieso?“ „Ich meine das, mit dem Sie starten sollen? Wissen Sie das etwa selber noch nicht? Das wäre wieder typisch Mile High! Aber es stimmt schon, die APOLLYON ist Ihr Schiff. Gut getarnt, was? Sieht aus wie ein Frachter, hat aber Bev-Kanonen an Bord, mit denen es jedes Piratenschiff unschädlich machen kann.“ „Ein Piratenjäger, wie?“ „Klar! Aber verraten Sie nicht, daß ich’s Ihnen gesagt habe. Ich hör’ eine Menge, weil ich meine Ohren spitze, wenn meine Fluggäste sich unterhalten. In meinem Beruf kriegt man allerhand zu hören, das können Sie mir glauben.“ Jerry begann allmählich zu begreifen. Captain Main sollte auf Piratenjagd in den Raum hinausgeschickt werden. Ein Auftrag, der durch Gerüchte und durch offizielle Nachrichten bekannt wurde. Captain Main erschien persönlich auf dem Bildschirm und vor Pressefotografen – und zwar zur selben Zeit, als Jerry sich auf der 73
Flucht vor eben diesem getarnten Piraten Jäger oder in Gefangenschaft der sogenannten Marionetten befand. Es war leicht zu durchschauen, wie dieser Schwindel durchgeführt wurde. Kammies konnten jede beliebige Gestalt annehmen. Schwerer zu begreifen war, wie ein solcher Schwindel ohne Wissen Admiral Kees und des Zentralen Sicherheitsdienstes bewerkstelligt werden konnte. Der logische Schluß für ihn war, daß der Verrat und das Blutbad auf der POLARIS ihren Ausgang von Domega nahmen und der Admiral selbst mit im Komplott war. Es sei denn, Kee wäre ermordet und durch einen Kammy ersetzt worden, der seine Gestalt angenommen hatte. Aber Jerry gegenüber hatte sich der Admiral einwandfrei identifiziert. Er beherrschte den Ritus der Kennsätze vollkommen. Auch war sein Büro durch Anti-Kammy-Gas geschützt. Immerhin – Erskine hatte gesagt, daß manche Kammies gegen das Gift immun seien. Der geschwätzige Kitt bemerkte: „Mich wundert, daß man Sie allein zum Flughafen kommen läßt.“ Er steuerte die Betonrollbahn an, auf der das große Schiff stand. „Wir wollten kein großes Aufsehen“, murmelte Jerry. „Am liebsten wäre uns gewesen, wenn niemand gewußt hätte, daß ich mit der APOLLYON starte.“ „Verstehe. Dienstgeheimnis und so. Da können Sie ganz ruhig sein. Es wissen nicht viele. Ich habe nur. zufällig ein Gespräch aufgefangen. Aber ich schweige wie ein Grab, darauf können Sie sich verlassen.“ Jerry unterdrückte ein Lächeln. Er zog seine Brieftasche und steckte dem Mann eine 5-Molly-Note zu. 74
„Vergessen Sie, daß Sie mich gesehen haben!“ „Na, klar!“ Kitt strahlte beim Anblick des Geldes. „Danke, Captain! Offiziell vergeß ich sogar, daß ich Sie im Fernsehen gesehen habe. Aber inoffiziell natürlich nicht. Wie wär’s jetzt mit dem Autogramm?“ Er drückte Jerry Notizbuch und Schreibstift in die Hand. „Meinetwegen!“ Der Captain schrieb seinen Namen auf eine leere Seite, während der Hubschrauber landete. Beim Aussteigen versicherte Kitt seinem Passagier noch einmal, daß er ihn nie gesehen habe. Jerry steckte die Pistole tiefer unter seinen Gürtel und zog das Hemd darüber. Die Waffe war so zwar nicht ganz verborgen, aber nur bei näherer Untersuchung sichtbar. Er ging auf das Flughafengebäude zu und versuchte im Geist die erhaltenen Informationen zu ordnen, von denen ihm der Schädel brummte. Sollte ein als Jerry Main getarnter Kammy mit der APOLLYON starten? Warum sollten seine Feinde, die ihn zu töten versucht hatten, einen Doppelgänger an seine Stelle setzen? Vielleicht war das der Grund, warum man ihn beseitigen mußte: Es gab einen Jerry Main zuviel. Das Flughafengebäude war nur mäßig besucht. Raumschiffe starten nicht so oft wie gewöhnliche Flugzeuge oder Züge; es gibt oft lange Zeiten, in denen gar kein Start erfolgt. Aber eine Gruppe von Leuten war erschienen, um den Start der APOLLYON zu beobachten. Die meisten von ihnen waren Kammies, das sah man an den Gesichtern, die ausnahmslos Kopien berühmter Persönlichkeiten aus der Geschichte Terras waren. Manche von ihnen mochten 75
Verwandte oder Freunde von Besatzungsmitgliedern sein, andere Touristen oder einfach Neugierige. Der Captain bemerkte das ungewöhnlich große Polizeiaufgebot auf dem Gelände. Alle Flughafenpolizisten waren gekleidet wie römische Zenturionen. Sie trugen außer ihren Mev-Pistolen zur Zierde römische Schwerter. Es gab für Jerry keinen Grund, sich innerhalb des Gebäudes aufzuhalten, wo er leicht erkannt werden konnte. So unauffällig wie möglich schlenderte er hinaus und stellte sich in die Nähe des Gitters, wie ein Tourist, der sich einen Raumschiffstart ansehen will. Während er dort stand, hörte er das Geräusch eines anderen Hubschraubers. Dieser landete in der Nähe, worauf sofort ein halbes Dutzend Polizisten angelaufen kamen. Sie standen stramm, als drei Männer ausstiegen. Der erste war Admiral Kee, der zweite General Kindman von der Garnison Domega. Und der dritte Jerry Main in der Uniform eines Captains. Obwohl er mindestens fünfzig Yards entfernt stand, konnte Jerry seinen Doppelgänger sehr gut sehen. Er war verblüfft über die vollkommene Ähnlichkeit. Das gleiche hellbraune Haar, die gleiche schlanke Figur, das Gesicht bis in jede Einzelheit das seine. Wahrscheinlich hatte der falsche Jerry Main sogar die gleichen Plomben in den Zähnen. Wenn sein eigenes Abbild ihm so vollkommen glich, woher sollte er wissen, ob nicht auch Admiral Kee und General Kindman nur Imitationen waren? Der falsche Jerry Main ging zwischen zwei Offizieren, 76
ihnen folgte die Garde pseudo-römischer Krieger. Als sie das Flughafengebäude erreichten, öffnete sich die Tür, aber nicht durch die elektronische Anlage, die durch ihre Annäherung ausgelöst wurde. Ein kleiner, auffallend häßlicher Mann kam herausgestürzt. Der ist bestimmt kein Kammy, sagte sich Jerry unwillkürlich. Kammies wählen ihre Gestalt selbst, kein Wunder, daß sie sie entweder besonders anziehend oder nach dem Muster einer Berühmtheit bilden. Bestimmt aber wählen sie kein so abstoßendes Äußeres. Dieser Mann hatte ein groteskes Vogelgesicht mit einer gewaltigen Hakennase, abstehende Ohren und eine feuerrote Narbe, die sich über seine ganze linke Wange zog. Er trug ein schäbiges, knallrotes Hemd, verbeulte Hosen und keinen Hut. „Aus dem Weg, bitte!“ sagte einer der Polizisten und trat auf ihn zu. Der Mann im roten Hemd riß blitzschnell die Hand hoch, in der er eine Mev-Pistole hielt. Ein orangegelber Strahl schoß heraus und traf den falschen Jerry Main mitten in die Brust. Ein Polizist sprang vor, duckte sich aber rasch, als der Attentäter zum zweitenmal feuerte. Bevor noch irgend jemand etwas unternehmen konnte, war der Attentäter zurückgewichen und in der Tür verschwunden. Drei Polizisten nahmen die Verfolgung auf. Aber ein Flammenstrahl traf den ersten schon in der Tür. Jerry hörte von drinnen laute Schreie und Tumult. Das Ganze war für Jerry so überraschend gekommen, daß er wie gelähmt dastand und Mord und Flucht des Mörders mit ansah. Alles geschah so schnell, daß er es ohnehin 77
nicht hätte verhindern können. Er fand keine Zeit, seine Pistole zu ziehen. Das war ein Glück, denn er hätte damit nur die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt, und gerade das wollte er doch vermeiden. Jetzt erst ging ihm auf. daß dieser Anschlag ja eigentlich ihm galt. Er war Zeuge seiner eigenen Ermordung geworden. Und der Mörder war kein Kammy, kein Arkader, sondern ein Terraner wie er selbst. Hastig sah er sich um, forschte in den Blicken der Umstehenden nach einem Erkennen. Aber niemand schien ihn beachtet zu haben. Alle Aufmerksamkeit galt dem Ermordeten oder der Verfolgung des Täters. Jerry eilte um das Gebäude herum zur Straßenseite, um den Killer abzufangen, wenn er den dort liegenden Ausgang benutzte. Als er die Straße erreichte, sah er, wie der Mann im roten Hemd in einen Wagen sprang, der sofort mit ihm abfuhr. Unwillkürlich griff Main nach der Pistole in seinem Gürtel. Aber er schoß nicht. Zwischen ihm und dem Wagen lag ein verkehrsreicher Straßenabschnitt. Ein Schuß aus der Mev-Pistole hätte das Leben vieler Unschuldiger gefährdet. Unschlüssig wandte sich Jerry um. Aus dem Tor hinter ihm kamen Polizisten herausgeströmt, schrien und rannten ziellos hin und her. Keiner kam auf den Gedanken, den Killer in dem Wagen zu suchen, der sich bereits im Verkehrsgewühl verlor. Der Captain ging die Straße entlang. Er konnte es nicht riskieren, von der Polizei verhört zu werden. Man würde 78
ihn höchstens wegen eines andern Mordes ins Gefängnis werfen; wegen des Mordes an einem Mann namens Kurdy, der ihn in der Uniform eines Sicherheitsbeamten in Mile High angegriffen hatte. Selbst wenn Erskine den Tod Kurdys noch nicht gemeldet haben sollte, durfte Jerry nicht gesehen werden. Denn Kee war hier auf dem Flugplatz, und der Admiral mußte wissen, daß der tote Mann dort hinten nicht Jerry Main war und daß der echte Jerry Main nicht hier sein sollte. Selbst wenn der Admiral nicht selbst zu den Verschwörern gehörte, hatte er doch irgendwelche Pläne, die durch Jerrys Auftauchen gestört würden. Main mußte zunächst herausfinden, worin diese Pläne bestanden und warum sein Tod gewissen Leuten so wichtig war. So lange durfte er nicht entdeckt werden. Er schlug die Richtung ein, in die der Mörder geflüchtet war. Sein Entschluß stand fest: Er wollte jetzt vor allem dem Dom-Dom-Klub einen Besuch abstatten. Das war von Anfang an seine Absicht gewesen; den Abstecher zum Flughafen hatte er nur gemacht, um seine Spur zu verwischen. Jerry hatte gehofft, über den Dom-Dom-Klub Janice Yarrow aufzuspüren. Sie wußte etwas über diesen Klub; darum hatte sie das Foto mit dem Hinweis auf den DomDom-Klub aus seiner Brieftasche entfernt. Jetzt aber hoffte er außerdem, dort etwas über den Attentäter zu erfahren. Er mußte Janice finden. Er wußte, daß sie nie wieder zu dem Haus zurückkehren würde, in dem ihre gestrige Zusammenkunft stattgefunden hatte. Sie erwartete, daß Jerry dem Admiral über dieses Treffen berichtete, und natürlich würde Mile High sofort die Suche nach ihr einleiten. Aber 79
Jerry hatte in seinem kurzen Gespräch mit dem Admiral nicht alles berichtet. Dazu hatte es an der Zeit gefehlt, und außerdem schien der Admiral nicht daran interessiert. Vermutlich weil er seine eigenen Pläne hatte, bei deren Verwirklichung ihm Jerrys unerwartetes Auftauchen nur hinderlich war. Es gab noch einen andern Grund, warum der Captain Janice wiedersehen wollte; aber diesen Grund mochte er sich nicht eingestehen. Sie hatte wenigstens nicht versucht, ihn zu töten. Sie hätte Gelegenheit dazu gehabt und tat es nicht. Wollte sie ihn aus dem Weg räumen, so wäre das für sie ganz einfach gewesen. Main befand sich jetzt in sicherer Entfernung vom Flughafen. Er sah Polizei-Hubschrauber in Richtung auf den Flugplatz schwirren, hörte die Sirenen von Streifenwagen, die die Gegend nach dem Killer abkämmten. Er winkte einem Straßentaxi. „Dom-Dom-Klub!“ sagte er, als er einstieg. Der Fahrer schloß die Tür, wandte sich nach seinem Fahrgast um und starrte ihn an. Zuerst dachte Jerry, der Mann habe ihn erkannt. Aber der Kammy, der wie Plato aussah, schüttelte nur den Kopf und wiederholte: „DomDom?“ Er gab kein Zeichen des Erkennens. Offenbar hatte er weder die Fernsehsendung noch Jerrys Bild in der Zeitung gesehen. „Ganz recht, Dom-Dom.“ „Ach du liebe Zeit!“ seufzte der Fahrer mißbilligend und fuhr mit einem Ruck los. „Haben Sie was gegen den Dom-Dom-Klub?“ fragte Jerry. 80
„Ziemlich übler Laden“, meinte der Fahrer. Jerry war jetzt wohler. Das Gelände, das von der Polizei durchkämmt wurde, lag hinter ihm. „Ich habe eine Vorliebe für anrüchige Lokale“, meinte er lässig. „Es wird mich schon nicht den Kopf kosten.“ Der Fahrer zuckte die Achseln. „Das ist Ihre Sache. Ich kann Ihnen nur sagen, daß dort jedem Touristen das Fell über die Ohren gezogen wird.“ Main lächelte. „Sie bekommen wohl von den andern Klubs höhere Prozente für die Werbung von Gästen?“ „Quatsch! Mir kann’s gleich sein. Wenn Sie sich gern neppen lassen, bitte schön! Der Dom-Dom-Klub hat miserable Getränke, schlechte Bedienung und schäbige Darbietungen, aber dafür gesalzene Preise. Na, Sie müssen ja wissen, was Ihnen Spaß macht. Bloß wird Ihnen der Spaß vergehen, wenn Sie dort bestohlen werden oder beim Weggehen eins über den Schädel kriegen. Für dasselbe Geld könnten Sie in eines der piekfeinen Lokale gehen, wo wirklich was geboten wird. Dort gibt’s Barfrauen nach dem Muster der berühmtesten Schönheiten der Geschichte; Filmstars und Schönheitsköniginnen zum Aussuchen. Sie brauchen nur zu sagen, welchen Typ Sie wünschen, und die Geschäftsleitung schickt Ihnen ein Kammy-Mädchen an den Tisch, das schöner ist als das Original. Na, wie wär’s damit?“ „Klingt sehr verlockend. Ein andermal. Heute nicht.“ Der Fahrer brummte verärgert vor sich hin. Sie fuhren jetzt in Richtung Haren nach Norden zu. Die Gebäude unter der Hochstraße sahen schäbig und düster 81
aus, obwohl sie berühmten Schlüsseln nachgebildet waren. Rauch und Ruß vom Hafen her hatten die Fassaden geschwärzt, die Zinnen der falschen Schlösser waren abgebröckelt, die Fenster der falschen Kathedralen zerbrochen. Nach ein paar Minuten fuhr das Taxi eine Rampe hinunter und hielt vor einem schäbigen Haus im früheren Kolonialstil. Über der Tür stand in roter Neonschrift: „DomDom-Klub“. „Da wären wir!“ brummte der Fahrer mißlaunig. „Macht einen Molly fünfundsiebzig.“ Jerry gab ihm zweieinhalb Molly und sägte, er solle den Rest behalten. Es war noch früh am Nachmittag, aber als der Captain eintrat, sah er eine Anzahl von Gästen an der Bar und an Tischen Cocktails schlürfen. Drei Barkeeper, die alle drei wie Edgar Allan Poe aussahen, bedienten. Außerdem war da ein Mann im grünen Smoking, wie man ihn auf Altair trug. Offenbar der Geschäftsführer. Der Mann im grünen Smoking kam mit verbindlichem Lächeln auf den neuen Gast zu. „Sie wünschen einen Tisch?“ Er sah aus wie ein Terraner, sprach aber mit dem Akzent von Altair. Vielleicht ein Terraner, der auf Altair geboren ist, dachte Jerry. „Nein, danke, ich setze mich an die Bar.“ Auf dem Weg zur Bar kam er an einem Garderobenfräulein vorbei, das ihm zulächelte. Es war Mona Lisa. Jerry setzte sich an das Ende der Bar, das am schwächsten besetzt war. Ein Edgar Allan Poe näherte sich ihm erwartungsvoll. Der Captain bestellte einen Martini. Wäh82
rend der Barkeeper die Bestellung ausführte, sah Jerry sich in dem Lokal um. Ein halbes Dutzend Leute saßen an der Bar, und mindestens acht Tische waren besetzt. Ein Kammy mit dem Kopf Einsteins spielte Klavier. Außer dem grünen Smoking waren lauter Kammies hier, alles Imitationen berühmter Persönlichkeiten. Aber es war merkwürdig still im Lokal. Die Gäste unterhielten sich leise und gesittet. Nichts wies darauf hin, daß es von hier eine Verbindung zu dem Blutbad auf der POLARIS gab. Auch die abfälligen Äußerungen des Taxifahrers über dieses Lokal schienen ganz unberechtigt. Der Barmann brachte den Drink, und Jerry bezahlte gleich. Eine Weile saß er da, nippte an seinem Glas und dachte an die Streichholzschachtel in der Kombüse der POLARIS. Dann betraten zwei Männer das Lokal. Der eine war offensichtlich ein Kammy, untersetzt und muskulös, das Abbild irgendeines berühmten Sportlers. Aber der andere war Terraner, und Jerry freute sich durchaus nicht, ihn zu treffen. Denn der Mann hatte ein Vogelgesicht mit Hakennase und eine tiefe Narbe auf der Wange; er trug ein knallrotes Hemd und ausgebeulte Hosen. Es war der Mann, der den falschen Jerry Main auf dem Flugplatz erschossen hatte. Er hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, seine Kleidung zu wechseln. Die beiden Männer kamen auf die Bar zu und schwangen sich auf die Hocker neben Jerry. Der mit dem roten Hemd sah Main an, und sein häßliches Gesicht verzerrte sich zu einem bösen Grinsen. 83
„Ich weiß, was du denkst, Freundchen!“ knurrte er. „Und du hast recht; diesmal bist du geliefert.“ Jerry setzte sein leeres Glas ab und wollte etwas sagen. Aber seine Lippen gehorchten ihm nicht mehr. Kein Ton kam aus seiner Kehle. Vor seinen Augen begann sich alles zu drehen. Er kippte vom Hocker und fiel wie ein Stein zu Boden. 4. Kapitel Eine heisere Stimme, die des Mannes im roten Hemd, war das erste, was Jerry Main hörte, als er langsam zum Bewußtsein erwachte. Und dann eine andere Stimme mit Altair-Akzent. „Hier könnt ihr das nicht machen“, sagte der Mann vom Altair. „Schafft ihn doch mit einem Hubschrauber weg und schmeißt ihn ins Wasser. Oder bringt ihn in die Berge. Mir ist es gleich. Nur will ich keine Leiche in meinem Lokal haben.“ „Der Boß hat gesagt, wir sollen ihn umlegen“, antwortete die heisere Stimme. „Ich kann ihn ja anrufen und fragen, wie wir es machen sollen. Aber das gescheiteste ist wirklich, wir erledigen ihn gleich jetzt. Bei dem ist man nie sicher. Er ist aus Mile High entkommen, hat Kurdy umgelegt und Erskine zusammengeschlagen. Solange er am Leben ist, macht er uns immer wieder einen Strich durch die Rechnung.“ Vorsichtig öffnete Jerry die Augen. Er sah den Killer im roten Hemd, den grünen Smoking vom Altair und den athletischen Kammy mit dem Gesicht eines berühmten Boxers. Der Boxer stand mit verschränkten Armen vor der Tür. 84
„Ruft lieber den Boß an“, meinte der grüne Smoking. „Telefon steht im Büro. Sagt ihm, ich kann hier keinen Mord und Totschlag dulden. Schließlich ist es in seinem Interesse, den guten Ruf meines Lokals zu erhalten.“ „Was daran schon zu verderben ist“ knurrte der Killer verächtlich. Aber er ging doch ins Büro hinüber. Jerry schloß die Augen. Die Droge hatte keine unangenehmen Nachwirkungen hinterlassen. Vermutlich war es das gleiche Mittel, das man ihm bei Janice Yarrow eingegeben hatte. „Mir ist das Ganze schleierhaft“, sagte der Boxer. „Wenn wir Jerry Main heute nachmittag umgelegt haben, wer ist dann der da?“ „Das ist Jerry Main“, antwortete der grüne Smoking. „Der andere war ein Kammy namens Endor.“ Der Boxer riß verwirrt die Augen auf. „Verdammt, das paßt mir aber gar nicht“, schnaubte er ärgerlich. „Ich hab’ nichts dagegen, einen Terraner umzulegen. Aber bei einem Kammy hört für mich der Spaß auf. Das ist Mord.“ „Spiel dich nicht so auf, Vold!“ sagte der grüne Smoking. „Du würdest für zwei Molly deiner Großmutter die Kehle durchschneiden. Außerdem hast ja nicht du ihn umgelegt. Was machst du dir also Gedanken? Du hast bloß den Fluchtwagen mit Wingy gefahren.“ „Sag mal, Dom“, fragte Vold nachdenklich, „war das etwa der Endor, der immer hier ‘rumlungerte?“ „Derselbe.“ Der grüne Smoking, der Dom hieß, nickte. „Und er hat’s nicht anders verdient.“ „Mir paßt das nicht“, wiederholte der Boxer mürrisch. 85
„Der Boß hat ihn vorgeschoben und dann fallenlassen. Meinst du, mit uns würde er es nicht genauso machen, wenn’s ihm in den Kram paßt?“ „Kümmere dich nicht um Sachen, die dich nichts angehen, Vold!“ warnte ihn Dom. Die Tür ging auf, und hastig schloß Jerry wieder die Augen. Wingy, der Terraner im knallroten Hemd, war eingetreten. „Der Boß sagt, Dom hat recht. Auf den Klub soll kein schiefes Licht fallen“, berichtete er. „Wir bringen ihn weg und schmeißen ihn vom Hubschrauber aus in die Bucht.“ Vold machte Anstalten, den scheinbar bewußtlosen Jerry abzuschleppen, aber Barbesitzer Dom hielt ihn zurück. „Wie sieht denn das aus! Erst müssen wir ihn wachmachen. Wenn er benebelt ist, kann man glauben, ihr helft einem Betrunkenen hinaus. Vielleicht können wir ihn auch zum Reden bewegen. Ich möchte wissen, wie er ausgerechnet hierherkam. Ich mag es nicht, wenn Leute in meine Bar kommen, die hier nichts verloren haben. Sieht so aus, als ob irgendwas über uns durchgesickert wäre.“ „Wir können ihn ja fragen“, meinte Wingy. „Hol den Wagen, Vold! Fahr ihn an den Hinterausgang ‘ran. Wenn du hupst, bringen wir ihn ‘raus.“ „Okay!“ sagte Vold. Jerry hörte ihn weggehen und die Tür zuschlagen. Dom bemerkte halblaut: „Er ist sauer, weil wir einen Kammy umgelegt haben.“ „Vold ist genauso ein dämlicher Nationalist wie Endor“, meinte Wingy verächtlich. „Denen spukt allen die Unabhängigkeit Domegas im Kopf herum.“ 86
„Wenn er nicht aufpaßt, geht es ihm nicht besser als Endor“, brummte Dom. „Hör mal, Dom!“ sagte Wingy. „Mir ist die Sache mit Endor nicht ganz klar. Was ist eigentlich passiert?“ „Na, Endor hat euer Gespräch nach der Sache auf der POLARIS mit angehört. Dabei muß ihm aufgegangen sein, daß nicht die domegischen Freiheitskämpfer dahintersteckten. Aber naiv, wie er war, ging er schnurstracks nach Mile High und meldete die Sache ausgerechnet Erskine.“ „Erskine!“ Wingy lachte schallend. „Ja. Erskine sagt, er wäre beinahe herausgeplatzt. Endor hatte die Sache mit Fort Conquest und den Kanonen mitgekriegt und erzählte alles Erskine. Na, der brachte ihn zum Boß, und der Boß fragte ihn, ob er als Geheimagent arbeiten wollte. Er sollte Captain Jerry Main verkörpern, genau nach den Fotos und Maßen. So erschien Endor gestern als Jerry Main im Fernsehen und gab den Bericht über die POLARIS-Sache, wie der Chef ihn haben wollte. Schob die Geschichte den Arkaden in die Schuhe. Der Boß wird seine Gründe dafür haben.“ Admiral Kee war also mit im Komplott, nicht nur Erskine. Und doch war der Admiral kein getarnter Kammy, das wußte Jerry durch das Erkennungs-Zeremoniell. „Der Boß war in der Klemme, als der wirkliche Jerry Main auftauchte“, fuhr Dom fort. „Die APOLLYON hätte Main zuvorkommen sollen, aber sie hat ihn verpaßt. Main ist glatt wie ein Aal. Er ist entkommen und kreuzte plötzlich in Mile High auf, als alle ihn für tot hielten. Das Attentat auf Endor mußte trotzdem steigen; das gehörte zum Plan und war das Stichwort für alle Beteiligten. Es war zu 87
riskant, den wirklichen Main in letzter Minute an Endors Stelle zu setzen. Main hätte zuviel Schwierigkeiten gemacht. Außerdem hoffte der Boß, er könnte ihn still und unauffällig aus dem Weg räumen.“ Wieder wagte Jerry die Augen ein wenig zu öffnen. Er lag auf einer Pritsche in einem kleinen Raum, vermutlich einem Nebenraum des Dom-Dom-Klubs. Dom saß auf einem Stuhl am Tisch, so daß seine linke Seite Jerry zugewandt war. Er drückte gerade eine Filterzigarette in einem Aschenbecher aus. Wingy saß Dom gegenüber, die rechte Seite Jerry zugekehrt. Keiner achtete auf den Gefangenen. „Glaubst du, daß wir heil aus diesem Schlamassel herauskommen?“ fragte Wingy. Dom stäubte etwas Zigarettenasche vom Aufschlag seines grünen Smokings. „Ich bin überzeugt, der Boß läßt uns nicht im Stich.“ Wingy zuckte ärgerlich die Achseln. „Du redest wie nach einer Gehirnwäsche. Überleg doch mal: Wir nehmen alles Risiko auf den Buckel. Wer garantiert uns, daß er uns nicht ‘reinlegt, wenn’s darauf ankommt?“ „Er braucht uns“, meinte Dom. „Der Boß kann ohne uns nicht auskommen. Das ist unsere Garantie. Er weiß, daß er ohne mich überhaupt nichts anfangen kann.“ „Um so besser für dich. Aber was ist mit mir?“ knurrte Wingy. „Versteh mich nicht falsch, ich mache mit und habe nicht vor, auszusteigen. Aber ich bin kein Hampelmann. Wenn der Boß mit mir irgendeinen schmutzigen Trick versucht, kann ich Fort Yarrow warnen.“ „Das kannst du“, sagte Dom. „Du bist ja morgen dort; 88
der Boß wünscht es sogar schon für heute nachmittag. Aber es wäre ratsamer für dich, zu spuren, als uns in den Rücken zu fallen. Du verstehst mich doch?“ „Ich versteh schon“, brummte Wingy „Aber ich bin kein Kammy. Mit mir kann man nicht so umspringen.“ „Tu, was man dir sagt, und überlaß das Denken dem Boß!“ riet ihm Dom. „Aber du sorgst dafür, daß sich die Sache für uns lohnt?“ „Hab’ ich dir ja gesagt“, erklärte Dom. „Geld ist für mich das einzige, was zählt. Aber wenn die Sache nicht so funktioniert, wie wir uns das vorstellen …“ „Na, es wird schon gutgehen“, meinte Wingy schließlich. „Wenn nicht, werden wir uns auch unser Recht verschaffen, so oder so.“ „Vold mit dem Wagen“, sagte Wingy und stand auf. Jerry hörte ihn den Stuhl zurückschieben. Gleich darauf fühlte er den warmen Atem des Killers, der sich zu ihm hinunterbeugte. „Also, was ist? Wecken wir ihn auf?“ „Klar!“ sagte Dom. „Er soll lebendig aussehen, wenn ihr ihn von hier fortbringt. Schlag ihm ins Gesicht! Er kann nicht sehr fest schlafen, hat nur wenig Calla getrunken.“ Jerry öffnete die Augen. Er sah Wingys Hand zum Schlag ausholen, packte sie mit festem Griff am Gelenk und warf sich herum. Wingy verlor das Gleichgewicht, fiel vornüber auf die Pritsche und knallte mit dem Kopf gegen die Wand. Der Aufprall war so heftig, daß der Killer das Bewußtsein verlor; sein Körper erschlaffte und blieb reglos quer über dem Jerrys liegen. Ebenso wie Wingy wurde auch Dom von Mains plötzli89
chem Angriff völlig überrumpelt. Bevor er noch begriff, was geschah, hatte Jerry den bewußtlosen Wingy von sich gestoßen, sprang auf und stürzte sich auf den Klubbesitzer. Dom konnte sich losreißen und hinter den Tisch zurückweichen. Seine Hand griff nach einer Waffe, die er unter der Achselhöhle trug. Der Captain reagierte blitzschnell. Er packte den Tisch und stieß ihn mit aller Kraft auf den Altair-Terraner zu. Dom warf sich zur Seite, fing den Stoß mit der Hüfte ab und hielt sich auf den Füßen. Gleichzeitig hatte er die Pistole aus der Halfter gerissen. Ihre Mündung zeigte jetzt auf Jerrys Brust. „Stehenbleiben und Hände hoch, Main!“ zischte er. Jerry war sich darüber klar, daß es keinen Zweck hatte, sich zu ergeben. Das hieße nur, das Unvermeidliche hinauszuschieben, denn die Gangster hatten den Auftrag, ihn zu töten. Der Befehl kam vom Boß, der vermutlich niemand anders war als Admiral Kee. Wenn sie ihn in die Bucht warfen, würde seine Leiche bis zur Unkenntlichkeit verunstaltet sein, ehe man sie fand – wenn überhaupt jemals. Andererseits wußte er, daß Dom einen Mord in seinem Lokal vermeiden wollte. Es paßte ihm nicht, am hellichten Tag eine Leiche von hier fortschaffen zu sollen. So riskierte Jerry einen Schritt nach vorn, einen einzigen kleinen Schritt. Doms Finger spannte sich um den Abzug. Aber er drückte nicht ab. „Halt!“ knurrte er. „Noch einen Schritt, und ich drück’ ab!“ 90
Main zögerte. Dom scheute eine Leiche in seinem Klub. Aber wenn es hart auf hart ging, würde er keine Umstände machen. Noch war Jerry nicht nahe genug an den Gegner herangekommen, um ihn plötzlich anspringen zu können. Aber einen zweiten Schritt zu riskieren, war nicht ratsam. Lauernd starrten sie einander an, jeder Nerv gespannt. Eine winzige Veränderung im Auge des Gegners – und Jerry wußte, daß Dom sich entschlossen hatte, abzudrücken. Schon setzte der Captain zum Sprung an. In dieser Sekunde glitt ein Schatten durch die Tür hinter Dom. Jerry sah eine kleine Gestalt mit hoch erhobenem rechtem Arm ins Zimmer stürzen. Dom hatte die Bewegung hinter sich bemerkt und wandte sich hastig um. Der Fremde ließ etwas metallisch Glänzendes, das er in der Hand hielt, auf den Kopf des Barbesitzers herunterschmettern. Doms Waffe klirrte zu Boden, seine Knie knickten ein, und er stürzte wie ein gefällter Baum. Jerry sah auf den Bewußtlosen hinunter und dann zu dem Fremden hinüber. „Danke!“ sagte er einfach. „Gern geschehen, Captain Main!“ erwiderte grinsend der Fremde, ein kleiner, drahtiger Mann, den Jerry nie zuvor gesehen hatte. „Aber jetzt müssen wir machen, daß wir wegkommen. Schnell!“ Er rannte zur Tür, steckte den Kopf hinaus und winkte Jerry, ihm zu folgen. Der Captain hielt ihn zurück. „Nicht durch den Hinterausgang! Dort wartet ein Kammy mit dem Wagen.“ 91
„Durch den Klub kommen wir erst recht nicht“, sagte der Fremde und eilte hinaus. Jerry folgte ihm. Vold war gerade im Begriff, auszusteigen, um nachzusehen, warum seine Gefährten ihn warten ließen. Der Fremde drückte ihm die Pistole in die Rippen. „Keinen Laut!“ Vold riß Mund und Augen auf und hob langsam die Hände über den Kopf. Der Fremde hieb ihm den Pistolenknauf über den Schädel, und Vold brach auf dem Beton der Straße zusammen. „Steigen Sie ein, Captain!“ sagte der Fremde. „Ich fahre.“ Beide bestiegen den Wagen. Der Fremde ließ den Motor an und fuhr los. „Ich heiße Len Tanner“, sagte er dann. „Dann sind Sie einer der Männer, die von der POLARIS entkamen!“ rief Jerry überrascht. Tanner nickte. „Ich bin keiner von den Meuterern. Ich hatte Glück. Stellte mich während der Schießerei tot, und sie fielen darauf herein.“ Über eine Rampe fuhr der Wagen zur oberen Fahrbahn hinauf, die zum Hafen führte. Tanner schlug die Richtung nach Süden ein, zur Stadt zurück. „Ja, ich weiß“, sagte Jerry. „Ihr Spind war noch voll. Die andern hatten ihre Sachen mitgenommen.“ „In dem kleinen Rettungsboot war kein Platz dafür. Lebensmittel waren wichtiger. Ich wußte ja nicht, wie lange ich unterwegs sein würde. Außerdem hatte ich Angst, die POLARIS könnte jeden Augenblick hochgehen. Sie hatten 92
eine Bombe im Laderaum hinterlassen. Ich fand sie und warf sie hinaus, so daß sie im Raum explodierte und keinen Schaden anrichtete. Aber ich wußte ja nicht, ob sie nicht noch ein paar andere gelegt hatten.“ „Sie können von Glück sagen, daß Sie so ungeschoren davonkamen.“ „Nicht ganz ungeschoren!“ Tanner lachte und- strich sich mit der Hand über die Hüfte. „Hab’ einen Streifschuß abgekriegt. Aber die Wunde heilt ganz gut. In einer Woche ist alles wieder okay.“ „Wenn Sie nicht davongekommen wären“, meinte Jerry, „dann hätte es vor fünf Minuten auch mich erwischt.“ „Wenn ich nicht davongekommen wäre, hätten Sie gar nichts von dem Dom-Dom-Klub gewußt“, berichtigte Tanner. „Es war doch mein Trick mit den beiden Messern und der Streichholzschachtel, der Sie auf den Gedanken brachte, hierherzukommen?“ „Stimmt! Sie hätten sich ruhig etwas deutlicher ausdrücken können.“ „Zu riskant! Die Verräter waren von einem andern Schiff aufgenommen und fortgebracht worden. Es war nicht die APOLLYON, aber ein ähnliches. Wenn sie später zurückgekommen wären, hätten sie eine schriftliche Nachricht vernichtet. So kam ich auf den Gedanken, einen Hinweis zu hinterlassen, den nicht jeder gleich verstand.“ „Ich begriff sofort, daß es ein Hinweis sein sollte.“ „Tut mir leid, daß ich Sie damit direkt in ein Wespennest geschickt habe, Captain“, sagte Tanner. „Zum Glück hab’ ich Sie in letzter Sekunde heraushauen können.“ „Hoffentlich können Sie mir auch helfen, zu verstehen, 93
was hier eigentlich vorgeht“, erwiderte Jerry. „Ich sehe nicht mehr durch. Ich weiß nicht mehr, wer zu welcher Seite gehört. Zuerst die Marionetten, dann Mile High und schließlich Dom-Dom. Da segelt mancher unter falscher Flagge.“ „Ich bringe Sie zu jemandem, der Ihnen alles erklären wird“, sagte Tanner. „Zu wem?“ fragte Jerry und hoffte auf eine ganz bestimmte Antwort. „Janice Yarrow. Sie sind ihr schon begegnet. Janice kämpft auf der richtigen Seite.“ „Und von jetzt an bin ich auf ihrer Seite“, erklärte Jerry. „Tut mir leid, daß ich ihr bei unserer Begegnung nicht vertraut habe.“ Tanner trat den Gashebel durch. Er schielte in den Rückspiegel. „Beobachten Sie, ob wir verfolgt werden!“ sagte er und legte ein Höllentempo vor. * Über eine andere Rampe gelangten sie zu einer der westlichen Ausfallstraßen, folgten ihr ein Stück und strebten dann auf Umwegen wieder der Südstraße zu. Jerry spähte aufmerksam in die Straße hinter ihnen, konnte aber keine Verfolger entdecken. „Sie haben sicher eine Menge Fragen“, bemerkte Tanner während der Fahrt. „Das kann man wohl sagen! So viele, daß ich nicht weiß, wo ich anfangen soll. Nach dem, was ich im Dom94
Dom-Klub aufgeschnappt habe, gilt es hier eine organisierte Bewegung gegen die Vorherrschaft Terras. Ich weiß auch, daß Miß Yarrow für die Unabhängigkeit kämpft. Ich weiß, daß es in den Reihen des Zentralen Nachrichtendienstes Verräter gibt und daß jemand sich in der Öffentlichkeit für mich ausgegeben hat. Aber wie das alles zusammenhängt, ist mir ein Rätsel.“ „Es ist auch alles ziemlich kompliziert. Manchmal finde ich selber nicht mehr durch“, gab Tanner zu. „Auf jeden Fall müssen wir erst mal die schwarzen und die weißen Schafe auseinanderklauben.“ „Dom-Dom ist das Hauptquartier für die Schwarzen“, sagte Jerry. „Soviel steht fest. Aber was ist mit Miß Yarrow?“ „Sie ist keine Feindin Terras; sie ist nur für Domega. Vor der Sache mit der POLARIS hätte ich sie zu den schwarzen Schafen gerechnet, aber jetzt bin ich nicht mehr so sicher. Die Kammies wollen das Selbstbestimmungsrecht auf ihrem eigenen Planeten, aber die Terraner schränken ihre Rechte ein, wo sie können. Es gibt hier eine militärische Streitmacht, den Zentralen Nachrichtendienst und eine Menge Terraner, die auf dem Rücken Domegas Geschäfte machen. Alles unter dem Vorwand, daß die Kammies noch nicht imstande seien, sich selber zu regieren und gegen Angriffe von außen zu verteidigen.“ „Immerhin muß man bedenken, daß sie wirklich noch nicht viel Zeit hatten, Selbständigkeit zu lernen“, sagte Jerry. „Stimmt! Das wissen sie auch, denn sie sind intelligent. Sie wollen ihre eigene Zivilisation aufbauen, wie die Terraner das auf der Erde getan haben.“ 95
„Wir wollen ihnen helfen, die Fehler zu vermeiden, die wir selbst begingen.“ „Trotz aller Fehler ist Terra zu einem mächtigen Planeten geworden. Fehler kommen immer wieder vor und können nie ganz vermieden werden.“ „Das mag bis zu einem gewissen Grad stimmen“, sagte Jerry. „Aber warum wollen sie sich von uns nicht helfen lassen? Sie haben ja sonst genug von uns angenommen, sogar unsere menschliche Gestalt.“ „Ja, die Kammies haben menschliche Gestalt angenommen“, sagte Tanner nachdenklich. „Und doch sind sie eine fremde Rasse. Bedenken Sie, Captain, als Eustace Yarrow sie entdeckte, waren sie formlose Klumpen Protoplasma. Ihre wertvollste Gabe war die Fähigkeit, diesem Protoplasma jede beliebige organische Form zu geben. Damit lösten sie das Problem der Erhaltung der Art auf die einfachste Weise: Wenn sie auf einen Feind trafen, nahmen sie dessen Gestalt an und schlugen ihn mit seinen eigenen Waffen.“ „Wie steht es nun mit den schwarzen Schafen?“ erkundigte sich Jerry. „Für die ist Domega eine fette Beute, die sie unter sich aufteilen möchten. Das sind skrupellose Schmarotzer, die nur an ihren persönlichen Vorteil denken. Sie haben schon vor geraumer Zeit begonnen, Unterschlagungen zu begehen und Raumpiraterie zu betreiben. Und dabei verstanden sie es, den Verdacht auf die Kammies abzuschieben. Damit trieben sie einen Keil zwischen Terraner und Kammies, die sich immer weiter voneinander entfernten, anstatt einander immer besser zu verstehen.“ 96
„Nicht schlecht ausgedacht“, meinte Jerry. „Uneinigkeit macht schwach.“ „Eben! Die Dunkelmänner schüren die Feindschaft zwischen Terra und Domega und sind dann die lachenden Dritten.“ „Aber was wollen sie eigentlich dabei gewinnen?“ fragte Jerry. Immer noch beobachtete er aufmerksam die Straße hinter ihnen, um sich zu vergewissern, daß sie nicht verfolgt wurden. „Ist ein Planet nicht genug?“ fragte Tanner. „Ich verstehe bloß nicht, wie sie genug Anhänger finden.“ „Es gibt immer Hyänen, die sich auf Kosten anderer bereichern wollen – ohne Rücksicht darauf, daß Tausende ihretwegen ums Leben kommen.“ „Wollen Sie behaupten, daß die ganze Armee und der ganze Zentrale Nachrichtendienst korrupt sind?“ „Aber durchaus nicht!“ rief Tanner. „Eine Armee ist eine Maschine. Sie denkt nicht, sie handelt nur auf Befehl. Wenn ein Falscher am Drücker sitzt, handelt sie eben falsch. Und das gilt auch für den Sicherheitsdienst. Was wußten Sie denn von all den Verwicklungen, bevor Sie selbst hineingezogen wurden? Sie gehorchten nur den Befehlen, die von oben kamen. Wie hätten Sie auch ahnen sollen, daß Admiral Kee der Feind ist! Die meisten Kammmies haben heute noch keine Ahnung, was vorgeht. Ein Glück, daß es einige gibt, die die Lage durchschaut haben: die Marionetten. Freilich haben sie nur wenige Anhänger und sind für einen Bürgerkrieg überhaupt nicht gerüstet.“ Arme Janice, dachte Jerry. Was will sie mit ihren paar 97
Leuten gegen das mächtige Terra ausrichten? Mit den paar Kanonen, die sie von der POLARIS geraubt haben. Allein Fort Yarrow hatte mindestens viermal so viele BevKanonen. Aber Yarrowsburg war das Nervenzentrum des Planeten. Wenn es lahmgelegt wurde … „Janice braucht dringend Hilfe“, murmelte er. „Sie erwartet Hilfe von Ihnen“, sagte Tanner mit einem Seitenblick. „Sie hoffte, daß Sie die Vorgänge in Mile High durchschauen und sich auf ihre Seite schlagen würden. Wissen Sie eigentlich, daß am Tag vor Ihrer Ankunft ein angeblicher Jerry Main im Fernsehen erschien?“ „Ich weiß. Es war ein Kammy namens Endor.“ „So? Den Namen wußte ich nicht. Niemand von uns hat den Schwindel durchschaut – bis Sie auftauchten. Selbst dann glaubten wir noch, Kee habe sich von Endor täuschen lassen. Wir wußten vieles noch nicht. Kee hat seine Sache sehr raffiniert eingefädelt. Aber etwas an Endors Bericht machte uns gleich stutzig: Er sprach von zwölf Leichen auf der POLARIS.“ „Kee sagte das gleiche. Ich hätte schon damals Verdacht schöpfen sollen.“ Tanner entgegnete: „Sie zählten mich mit, weil sie nicht wußten, daß ich lebte. Aber ich weiß nicht, warum Endor im Fernsehen sprach und warum er ermordet wurde.“ „Dom sagt, es hätte etwas mit dem ,Großen Plan’ zu tun. Vielleicht erfahren wir bald mehr darüber. Erzählen Sie mir jetzt etwas über sich, Tanner!“ Der drahtige kleine Mann lachte. „Na, ich war Koch auf der POLARIS, gehörte zu terranischen Mannschaft. Nach dem Blutbad flüchtete ich, wie 98
ich Ihnen schon erzählte. Ich war verwundet und schlecht ausgerüstet, aber nach einigen Schwierigkeiten erreichte ich den Planeten doch. Ich hatte gehört, wie Wingy und die andern miteinander sprachen, während sie die Bordkanonen abmontierten. Mir war klar, daß es keinen Sinn hatte, mich an Mile High zu wenden; allzu leicht konnte ich dort an die Falschen geraten. So blieb ich eine Weile in den Bergen westlich von Yarrowsburg, wo ich gelandet war. Dort ist ein neues Gebäude errichtet worden. Sieht aus wie eine mittelalterliche Festung; Schießscharten, Zinnen und was so dazugehört.“ „Ich habe es gesehen“, sagte Jerry. Er erinnerte sich, wie die beiden Hermes ihn auf das Gebäude hingewiesen hatten, als sie ihn in die Stadt brachten. „Auf Domega“, fuhr Tanner fort, „sieht man einem Haus im allgemeinen seinen Zweck nicht an. Eine Festung kann ein Heim für alte Damen sein und ein Hochofen das Klubhaus eines Eislaufvereins. Nur Fort Yarrow sieht wirklich wie eine Festung aus. Aber als ich sah, wie die Kanonen der POLARIS in das Fort in den Bergen gebracht wurden, und zwar von denselben Männern, die meine Kameraden umgebracht hatten, da wußte ich, daß es wirklich eine Festung war.“ „Horaz und Virgil glaubten, ich wüßte etwas darüber“, sagte Jerry. „Horaz und Virgil? Ach so, die beiden Hany-Brüder, Janices rechte und linke Hand.“ Tanner lachte. „Ich kenne sie. Und auch Janice Yarrows Hauptquartier in den Bergen, nicht weit von der Festung. Ich trieb mich dort in den Bergen umher und entdeckte es zufällig. Horaz fand mich und 99
stieß mir seine Pistole zwischen die Rippen. Er hielt mich für einen der Arbeiter aus der Festung, und ich hatte Mühe, ihm das auszureden. Er wollte mich auf der Stelle töten, weil das Hauptquartier der Marionetten geheim bleiben sollte. Schließlich brachte er mich doch zu Janice. Als ich ihr von dem Verrat auf der POLARIS erzählte, erkannte Janice, daß ich nicht zu den Verschwörern gehörte. Sie schlug mir vor, den Marionetten beizutreten, und das tat ich auch. Diesen Leuten kann man wirklich vertrauen. Übrigens gehören auch einige andere Terraner zu ihnen; Männer, die Admiral Kee am liebsten persönlich umbringen möchten.“ „Was verlangten die Marionetten von Ihnen?“ fragte Jerry. „Da man mich für tot hielt, war ich in der Lage, für die Marionetten Spionage zu betreiben. Ich heuerte im DomDom-Klub als Koch an. Bald hatte ich Gewißheit darüber, daß dort das Zentrum der Verschwörung ist. Es ist ein Schlupfwinkel für Piraten, sowohl Kammies als auch Terranern. Ich hatte mir mein blondes Haar schwarz gefärbt, trug einen Bart und eine Brille, und niemand erkannte mich. Zwei meiner früheren Kameraden, Wingy Blitz und ein anderer namens Hansen, kamen vorgestern abend in den Klub, und selbst sie erkannten mich nicht. Meist war ich; ja auch in der Küche, unter lauter Kammies. Aber ich bekam doch allerlei zu hören und zu sehen. Und so konnte ich auch im rechten Augenblick eingreifen, als es Ihnen an den Kragen gehen sollte. Es war übrigens Hansen, von dem die Streichholzschachtel stammte, die Sie auf der POLARIS sahen. Ich fand sie dort in seinem Spind.“ 100
„Sie wissen soviel mehr als ich. Meinen Sie nicht auch, daß die Verschwörer jetzt bald ihren großen Schlag führen werden?“ „Wahrscheinlich. Auch das Attentat auf dem Flugplatz deutet darauf hin. Janice hatte so eine Ahnung, als Sie ankamen. Darum hat sie Sie auch durch die Hany-Brüder auflesen lassen. Sie wußte, Mile High würde keinen Finger rühren, um Ihr Leben zu retten, und darum konnte sie Ihnen vertrauen. Aber Sie wußten noch sehr wenig und konnten ihr kaum etwas Neues sagen. Darum ließ sie Sie nach Mile High gehen. Sie hoffte, daß Sie dort mehr erfahren würden.“ „Es hätte mich beinahe das Leben gekostet“, erwiderte Jerry und erzählte von dem Anschlag im Aufenthaltsraum von Mile High. „Ehrlich gesagt, ich kann mir nicht recht vorstellen, wie die Marionetten mit vier Bev-Kanonen den Planeten erobern wollen.“ „Es ist eine Frage der Taktik“, meinte Tanner. „Eine Handvoll Idealisten kann oft mehr ausrichten als eine ganze korrupte Armee. Es kommt nur darauf an, die Bevölkerung von Domega zu überzeugen, sie für den Freiheitskampf zu begeistern. Übrigens ist die Lage für einen Staatsstreich günstiger, als Sie glauben. Die ganze Regierung ist in einem einzigen Gebäude zusammengefaßt. Die Verteidigungsanlagen sind für die Abwehr außerplanetarischer Angriffe eingerichtet, nicht für Bodenkämpfe auf dem Planeten selbst. Vier Bev-Kanonen könnten genügen, um Fort Yarrow in Schach zu halten und ein Geschütz nach dem anderen zu vernichten.“ „Das verstehe ich nicht ganz“, sagte Jerry. „Können denn die Geschütze nicht zurückfeuern?“ 101
„Diese schweren, eingebauten Geschütze nicht“, antwortete Tanner. „Sie können nur in einem bestimmten Sektor eingesetzt werden.“ Das leuchtete Jerry ein. Schwere Geschütze konnten hinauf und hinunter oder von links nach rechts bewegt werden, ließen sich aber nicht im Kreis schwenken. Im Raum spielte das keine Rolle, das Anvisieren wurde durch Manövrieren des Schiffs erleichtert. Aber auf Planeten wurden Geschütze von vornherein in einer bestimmten Schußrichtung montiert. Die Kanonen von Fort Yarrow waren auf Abwehr außerplanetarischer Angriffe eingestellt, feuerten also nach oben; nach unten war ihr Feuerbereich begrenzt. Bei einem Angriff aus den Bergen der Umgebung konnten sie nicht zurückschießen. Der Wagen bog jetzt in eine Ostweststraße ein, die nach einer Weile in südlicher Richtung weiterführte, parallel zu der Bergkette. Jerry erkannte die Straße wieder; es war dieselbe, über die er mit den Hany-Brüdern gerollt war. Die Festung thronte wie eine mittelalterliche Burg auf den Bergen, die die Stadt überragten. Beim erstenmal hatte Jerry nichts Auffälliges bemerkt, aber diesmal sah er sich alles genauer an. Er stellte fest, daß die aus Stein gebauten Mauern noch mit Stützpfeilern aus Beton verstärkt waren. Manche der schmalen Schießscharten waren so erweitert worden, daß sie Platz für Bev-Kanonen boten. Und zwar gerade diejenigen, die in Richtung Fort Yarrow wiesen. „Ich fange an zu verstehen“, sagte Jerry. „Sie sind sich hoffentlich auch darüber klar, daß es kein Kinderspiel ist, was uns da bevorsteht“, warnte Tanner. „Wir sind nur wenige. Wir haben kaum Waffen. Wir ver102
fügen nicht über eine Streitmacht, mit der man den Gegner beeindrucken oder einschüchtern könnte. Wir brauchen jeden Mann. Und wir sind auf Ihre Hilfe angewiesen.“ „Eigentlich müßten doch alle Kammies zusammenstehen wie ein Mann“, meinte Jerry. „Schließlich geht es doch um ihren Planeten.“ Tanner schüttelte den Kopf. „Sie sind intelligent, aber sie haben noch nicht gelernt, sich eine eigene Meinung zu bilden. Bedenken Sie, Captain, daß dieses Volk in hundert Jahren eine physische und soziale Entwicklung durchgemacht hat, für die die Menschheit Millionen Jahre brauchte.“ „Kann man das wirklich Entwicklung nennen?“ „Aber sicher! Sie ist zwar gesteuert worden, aus dem Verstand heraus geboren. Aber sie verlief ganz ähnlich wie auf der Erde, vom einfachsten Organismus zum Menschen. Manche fragen sich heute sogar, ob dieses Volk sich in dem Tempo weiterentwickeln und in hundert Jahren ein Volk von Supermenschen sein wird. Aber das ist wenig wahrscheinlich. Was sie bisher erreicht haben, verdanken sie ihrer Fähigkeit, nachzuahmen. Um darüber hinauszukommen, müßten sie schon einen andern Weg finden.“ Bevor die Straße den Canyon erreichte, bog Tanner ab und fuhr auf einer schmalen, zweispurigen Landstraße weiter. Hier endeten die letzten Ausläufer der Stadt, und die Wildnis begann. Nach kurzer Fahrt steuerte Tanner den Wagen durch ein großes offenes Tor. Sie näherten sich einem Landhaus im Viktorianischen Stil, das halb hinter Bäumen versteckt lag. Vor dem Haus hielt Tanner, und sie stiegen aus. 103
Gleich darauf trat Janice Yarrow aus der Tür und kam ihnen entgegen. Sie trug eins der hautengen Trikots, die hier Mode waren, und dazu eine kurze schwarze Tunika, in die Goldfäden verwebt waren. Sie sah bezaubernder aus als je. Mit großer Herzlichkeit streckte sie den Männern beide Hände entgegen. „Ich freue mich, Sie wiederzusehen, Captain Main!“ rief sie lächelnd. „Und ich hoffe, Sie nehmen mir nicht mehr übel, daß …“ „Ganz bestimmt nicht. Ich freue mich mindestens ebensosehr wie Sie!“ fiel er ihr ins Wort. Seine Freude war aufrichtig. Und es machte ihn glücklich, daß er auch in ihren Augen ein frohes Leuchten bemerkte. Sie nahm seinen Arm und führte ihn ins Haus. Im Gegensatz zu der altmodischen äußeren Architektur war das Innere ganz modern eingerichtet. Alles Material war auf Domega hergestellt; domegische Imitation der Stoffe, die auf Terra verwendet wurden. Indirekte Beleuchtung, Fußbodenheizung – alles nach dem neuesten Stand der Wohnkultur. Die Räume waren groß und äußerst elegant. In dem Haus herrschte lebhaftes Treiben. Große, vornehme Kammies unterhielten sich gruppenweise in den verschiedenen Räumen. Sie sahen aus wie eine Galerie historischer Persönlichkeiten; da gab es Cleopatras und Cäsars, Talleyrands und Napoleons, Sokrates’ und Tolstojs. Janice führte Jerry zu einem kleinen Salon im ersten Stock und lud ihn zum Sitzen ein. Auch Tanner war mit ihnen gekommen. 104
„Sie werden sich vor dem Abendessen noch etwas erfrischen wollen“, sagte sie. „Ich habe Ihnen auch neue Kleidung vorbereiten lassen.“ Lächelnd fügte sie hinzu: „Sie brauchen keine Angst zu haben, diesmal wird kein Calla im Essen sein.“ Jerry lachte. „Ich bin so müde, daß es kaum einen Unterschied machen würde.“ Seine Kleidung, die vor wenigen Stunden noch neu gewesen war, sah aus, als sei er damit in einen Meteorschwarm geraten. „Ich werde Ihnen gleich Ihre Zimmer zeigen“, fuhr Janice fort. „Aber zunächst muß ich Ihnen eine Neuigkeit mitteilen.“ Sie wandte sich an Tanner: „Sind Sie auf dem Weg hierher aufgehalten worden?“ „Nein, Miß Yarrow“, antwortete Tanner. „Dann haben Sie Glück gehabt. Polizei und Militär errichten Straßensperren und Kontrollen in ganz Yarrowsburg.“ „Straßensperren?“ „Soeben kam die Nachricht im Fernsehen durch. Admiral Kee hat über die Stadt das Kriegsrecht verhängt. Kammy-Miliz, verstärkt durch einige Einheiten der terranischen Truppen von Fort Yarrow. Die Stadt steht unter Militärgewalt.“ „Es geht also los“, murmelte Tanner. „Sieht so aus.“ Janice nickte düster. „Und wir sind nicht für einen Kampf gerüstet. Admiral Kee hat alle Fäden in der Hand. Er erklärt, er wolle jeden Widerstand gegen die Staatsgewalt im Keim ersticken. Es ist klar, daß das Blutbad auf der POLARIS und die Ermordung des angeblichen Jerry Main mit zu dem Plan gehören.“ 105
Jerry begriff jetzt, was Admiral Kee plante. Das Kriegsrecht schränkte alle bürgerlichen Rechte ein. Es würde für ihn sehr einfach sein, die ganze Regierungsgewalt an sich zu reißen und Fort Yarrow angesichts der drohenden Kanonenmündungen zur Übergabe zu zwingen. * Gegen Mitternacht war das Militär völlig Herr der Lage. Zweitausend gut ausgebildete Kammies der DomegaStreitkräfte, ausgerüstet mit Panzern, Geschützen und automatischen Mev-Strahlern, patrouillierten durch die Straßen. Verstärkt wurden diese eingeborenen Truppen durch fünfhundert terranische Soldaten und Offiziere der Garnison von Yarrowsburg sowie die reguläre Polizeitruppe von fünfzehnhundert Mann. Eine Ausgangssperre wurde verhängt, alle Verdächtigen wurden verhaftet. Überall gab es Straßensperren und Ausweiskontrollen; die Ausfallstraßen waren gesperrt und das Verlassen der Stadt allgemein verboten. Mehr als zweihundert Verdächtige, denen man antiterranische Umtriebe vorwarf, wurden in den ersten Stunden nach Ausrufung des Kriegszustands verhaftet; mindestens fünfzig andere erschoß man, als sie Widerstand leisteten. In den offiziellen Berichten wurden sie als „Verschwörer im Auftrag Arkads“ bezeichnet. Damit wälzte man auch gleich die Verantwortung für die POLARIS-Affäre und den Mord an Captain Jerry Main auf Arkad ab. Aber im Morgengrauen konnte man eine neue Stimme in 106
den Rundfunkempfängern in der Stadt hören. Sie nannte sich die „Stimme der Freiheit“ und strafte die offiziellen Berichte Lügen. Der Sprecher dieses Schwarzsenders erklärte, Arkad habe nichts mit den letzten Zwischenfällen zu tun. Sie seien vielmehr von skrupellosen, ehrgeizigen Verbrechern angezettelt worden, die die Macht über den Planeten an sich reißen wollten. Ihr erster Schritt dazu sei die Verhängung des Kriegsrechts. Mile High begann augenblicklich, diese Sendungen zu stören und stellte das Abhören des Schwarzsenders unter Strafe. Über Funk und Fernsehen wurde eine Proklamation des Gouverneurs von Yarrowsburg, Cetty, bekanntgegeben, der Admiral Kee um Hilfe bat. Kee war zum Kommandanten über die Stadt Yarrowsburg ernannt worden, da General Kindman sich ganz der Verteidigung der Stadt gegen einen erwarteten Angriff von Arkad widmen sollte. Ferner erließ Kee einen Aufruf an die Bevölkerung, angesichts des Notstands Ruhe zu bewahren und jeden Mitbürger zur Anzeige zu bringen, der Verbindung zu der Untergrundbewegung der Marionetten habe. Gleichzeitig gab Admiral Kee mit dem Ausdruck des Bedauerns bekannt, daß Janice Yarrow, eine Urenkelin des großen Yarrow, die Haupträdelsführerin der Aufständischen sei; für Hinweise, die zu ihrer Ergreifung führten, wurde eine Belohnung von fünftausend Mollies ausgesetzt. Nachdem er seinen Aufruf gesprochen hatte, begab sich Admiral Kee in sein Büro im 204. Stock von Mile High. Er war recht zufrieden mit dem bisherigen Verlauf der Dinge. Trotzdem gab es noch einige Probleme, die ihm Kopfzerbrechen machten. 107
Zunächst hatte die Razzia auf die bekannten Führer der Marionetten nicht den erhofften Erfolg gehabt. Unter den zweihundertfünfzig gefangenen oder erschossenen Kammmies befand sich keiner der bekannten Führer. Die meisten von ihnen gehörten nicht einmal zu den Marionetten. Janice Yarrow und ihre beiden Adjutanten, Horaz und Virgil Hany, waren spurlos verschwunden. Dann war da noch Captain Jerry Main – der wirkliche, nicht der Kammy Endor, den man an seiner Stelle auf dem Flugplatz erschossen hatte. Zweimal war ihm dieser Main schon zwischen den Fingern hindurchgeschlüpft. Er hatte Kurdy getötet, diesen zuverlässigen Mann, der sich bei der POLARIS-Affäre bewährt hatte. Und Erskine litt immer noch an Kopfschmerzen. Dann war Main in den DomDom-Klub gegangen wie eine Fliege in ein Spinnennetz – und wieder war er entkommen, nachdem er drei Männer ausgeknockt hatte, darunter den unschätzbaren Dom, den man als Verbindungsmann zwischen Mile High und der Unterwelt von Yarrowsburg so nötig hatte. Kee brauchte Domegas Unterwelt. Er gewann die Diebe und Ganoven für sich, indem er ihnen viel Geld und Straffreiheit für begangene Verbrechen bot. Für den Chef des Sicherheitsdienstes war es leicht, Kontakt zu Gangstern wie Kurdy, Blitz oder Hansen aufzunehmen; und zu Leuten wie Dom, die ihnen als Hehler und Zwischenträger dienten. Jeder von ihnen hatte längst den Elektrischen Stuhl verdient, und nur Admiral Kee vermochte sie davor zu bewahren. Er konnte sie nach Belieben für seine Zwecke einsetzen. In ihnen fand er skrupellose Helfer, die vor keinem Mord zurückscheuten. 108
Ein paar Minuten bevor er sein Büro betrat, hatte Kee von Dom die Nachricht erhalten, daß Len Tanner, ein Angestellter des Dom-Dom-Klubs, Captain Jerry Main zur Flucht verholfen hatte. Der „Große Plan“ war so sicher, daß Admiral Kee nichts mehr zu fürchten brauchte. Kee hatte sich das Geld für sein Vorhaben durch Piraterie beschafft. Nachdem er die Unterwelt für sich gewonnen hatte, waren seine Gangster auf terranischen Frachtschiffen wie der APOLLYON durch den Raum gekreuzt. Diese Frachter galten als getarnte Piratenjäger, waren aber in Wirklichkeit selbst nichts anderes als Piratenschiffe. Gewiß waren einige Fehler unterlaufen. Kein menschlicher Plan ist fehlerfrei. Aber der Gegner war ahnungslos, und die Fehler hatten sich kaum nachteilig ausgewirkt. Einer der Fehler war im Zusammenhang mit der POLARIS-Sache passiert. Jerry Mains Fotos zeigten nur elf Tote, statt zwölf. Offenbar war einer der Männer am Leben geblieben und mit dem Rettungsboot geflüchtet. Wer war das? Vermutlich hatte er Domega nie erreicht. Denn sein Auftauchen wäre Mile High sofort gemeldet worden; und dann hätte Kee dafür gesorgt, daß der Überlebende zum Schweigen gebracht worden wäre. Ein anderer Fehlschlag war die Sache mit Main. Dieser Jerry Main hatte es bisher immer wieder verstanden, aus dem Netz zu schlüpfen. Aber Jerry Main und der unbekannte Überlebende von der POLARIS wären zu unbedeutend, um den „Großen Plan“ ernstlich zu gefährden. Kee überflog den Bericht, den Erskine ihm auf den Schreibtisch gelegt hatte. Er las, daß es gelungen war, Yarrowsburg restlos unter Kontrolle zu bringen. Während der 109
Nacht waren viele Verhaftungen erfolgt und zahlreiche Kammies bei Straßenkämpfen umgekommen. Von Kees Leuten war nur einer getötet worden. Das war ein weiterer Fehler: Einer der Gangster, ein gewisser Mays, hatte unglücklicherweise einen Kammy namens Wen erschossen, als dieser bei seiner Verhaftung Widerstand leistete. Wen war erklärter Anti-Terraner und als Marionette verdächtig. Aber er war sehr beliebt in der Hafengegend, und seine Freunde stürzten sich unbewaffnet auf den Mörder, überwältigten ihn und warfen ihn in die Bucht, wo er ertrank. Zur Strafe befahl Erskine, das ganze Viertel zu zerstören und alle Einwohner zu verhaften. Die Häuser wurden durch Mev-Strahler dem Erdboden gleichgemacht. Aber die Einwohner waren verschwunden. Sie hielten sich irgendwo in der Stadt verborgen und würden die erste Gelegenheit ergreifen, ihm in den Rücken zu fallen. Kein großer Fehler, aber mehrere kleine, dachte Admiral Kee, als er den Bericht beiseite legte. In diesem Augenblick steckte Erskine den Kopf zur Tür herein. Er zögerte, als er Kees schlechte Laune bemerkte. „Was wollen Sie?“ fuhr der Admiral ihn ungnädig an. Erskine fühlte sich heute nicht ganz auf der Höhe. Sein Kopf schmerzte noch immer von der Begegnung mit Captain Main, und der Arzt hatte ihm eigentlich Ruhe verordnet. Davon konnte natürlich zu einem so kritischen Zeitpunkt keine Rede sein. „Ein – ein Mann möchte Sie sprechen, Sir“, stotterte er unsicher. „Zum Teufel, Erskine! Sie wissen doch genau, daß ich nicht jeden Hergelaufenen empfange. Schon gar nicht heu110
te, wo ich an tausend Dinge gleichzeitig zu denken habe! Was will er überhaupt?“ „Das hat er nicht gesagt, Sir. Aber es ist nicht irgendein Dahergelaufener. Es ist …“ „Werfen Sie ihn hinaus! Wenn er nicht sagen will, worum es sich handelt, machen Sie keine langen Umstände mit ihm.“ Der Sekretär trat nervös von einem Fuß auf den andern. Er hatte Angst, Kees Zorn zu erregen, wagte aber auch nicht, den Besucher abzuweisen. „Es – es ist ein diplomatischer Besuch, Sir“, murmelte er scheu. „Er hat ein Beglaubigungsschreiben gebracht.“ Erskine brachte eine ledergebundene Mappe zum Vorschein und hielt sie mit ausgestrecktem Arm von sich, als fürchte er, sich daran zu verbrennen. Als er sie auf Kees Schreibtisch legte und auseinanderschlug, wurde der Tyrannosaurier sichtbar, das Wappen Arkads. Betroffen starrte Kee darauf, und der Fluch blieb ihm im Halse stecken. Zögernd griff er nach der Mappe und las das Empfehlungsschreiben. „Königlicher Gesandter Noi aus Arkad.“ Er warf Erskine einen bedeutungsvollen Blick zu. „Ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt!“ Der Sekretär räusperte sich. „Wie gesagt, Sir, er weigert sich, mir den Zweck seines Besuchs anzugeben. Er ist mit dem Lift heraufgekommen und machte einen Höllenkrach, als die Wächter ihn aufhalten wollten. Ich konnte ihn nur mit Mühe bewegen, zu warten, bis ich ihn angemeldet hätte.“ 111
Kee biß sich auf die Lippen. Seit mindestens zwanzig Jahren, lange bevor er Chef des Zentralen Nachrichtendienstes war, hatte kein diplomatischer Vertreter Arkads einen Fuß auf Domega gesetzt. Natürlich wußte. Kee, daß es hier arkadische Spione gab, so wie auf Arkad terranische. Spione waren überall. Kee kannte sie und ließ sie ihn Ruhe. Es war besser, ihre Tätigkeit zu beobachten, als dem Gegner Veranlassung zur Entsendung neuer, unbekannter Agenten zu geben. Kee sorgte dafür, daß diese Spitzel ab und zu Informationen bekamen, aber unwichtige Informationen, die ihrer Regierung nicht viel nützten. Wahrscheinlich wandte Arkad ganz ähnliche Methoden gegen terranische Spione an. „Ein Gesandter Arkads“, wiederholte Kee kopfschüttelnd. „Unfaßbar!“ Erskine wagte zu bemerken: „Seine Exzellenz ist sehr empfindlich, was das Warten betrifft.“ „Wollen sehen, was er bringt. Schicken Sie ihn herein!“ „Jawohl, Sir!“ sagte Erskine sichtlich erleichtert und eilte hinaus. Sekunden später bereits ging die Tür auf. Erskine führte einen gedrungenen Mann in langen Beinkleidern und goldschimmerndem Kettenpanzer herein. Hinter Erskine und dem Besucher marschierten zwei Sicherheitsbeamte mit Mev-Pistolen auf. Der Besucher war bedeutend kleiner als die drei andern Männer und von fast grotesker Gestalt: o-beinig, mit langen Armen und mächtigem Rumpf, sah er einem Affen ähnlicher als einem Menschen. Sein Kopf dagegen erinnerte an den eines Raubvogels. Er hatte eine scharfe Hakenna112
se und große runde Eulenaugen. Der Schädel war kahlgeschoren und mit einer kleinen Fellkappe bedeckt. Vor Kees Schreibtisch schüttelte der arkadische Gesandte Noi Erskines Hand ab, die dieser, ihn höflich geleitend, unter den Arm geschoben hatte. „Weg mit der schmutzigen Pfote, Hund!“ zischte er. Seine Stimme kratzte wie Sandpapier auf Glas. Erskine zuckte zusammen und ließ den Arm des Arkaders los, als habe er sich daran die Finger verbrannt. Der Admiral überhörte geflissentlich die Grobheit seines Besuchers und empfing ihn mit ausgesuchter Höflichkeit. Er stellte fest, daß der Arkader beträchtlich kleiner war als er; trotzdem wäre er bei einem Zweikampf seiner langen Arme und gewaltigen Muskeln wegen vermutlich der Überlegene gewesen. „Ich begrüße Euer Exzellenz. Darf ich fragen, wie Sie eigentlich hierhergekommen sind?“ „Nein, das dürfen Sie nicht!“ lautete die unhöfliche Antwort Nois. „Meine Ankunft beweist Ihnen jedenfalls, daß wir Arkader kommen und gehen können, wie es uns beliebt. Uns kann kein Terraner aufhalten.“ „Es kommt vor, daß sehr kleine Schiffe unbemerkt auf Domega landen“, warf der Admiral lässig hin. „Aber ein oder zwei Mann sind noch lange keine Invasion.“ Er nahm lächelnd seinen Platz hinter dem Schreibtisch wieder ein. „Reden wir nicht über Lappalien“, sagte Noi. Mit einer verächtlichen Handbewegung wies er auf Erskine und die beiden Wächter. „Schicken Sie die Hunde fort, damit wir reden können.“ 113
„Erskine bleibt!“ sagte der Admiral. „Die Wächter können meinetwegen gehen.“ Er nickte den beiden Beamten zu, die daraufhin das Zimmer verließen. „Ich spreche nur mit Admiral Kee!“ zischte Noi wütend. Aber Kee blieb fest. „Erskine ist mein Sekretär und kann alles hören, was wir miteinander zu besprechen haben. Selbst wenn er bei unserer Unterredung nicht dabei wäre, würde ich nachher alles mit ihm erörtern.“ Mit seinen runden Eulenaugen musterte Noi den Sekretär mißtrauisch. „Weg da!“ herrschte er ihn schließlich an. „Setz dich dort hinüber!“ Er wies auf einen Stuhl am andern Ende des Raums. Erskine sah den Admiral an. Als Kee nickte, zog er sich zurück und setzte sich in die äußerste Ecke des Zimmers. Der Gesandte wandte sich jetzt Kee zu. „Sie haben große Pläne, Admiral“, bemerkte er in drohendem Ton. „Von meinen Plänen wissen Sie gar nichts“, gab Kee gelassen zurück. „Arkad kennt Ihre Pläne, Admiral. Arkad liest in Ihnen wie in einem aufgeschlagenen Buch. Da steht geschrieben, daß der Starke immer vom Schwächeren nehmen soll. Sie sind stark. Und sie sind von Schwachen umgeben. Alles, was sie besitzen, gehört Ihnen.“ Kee antwortete: „Es steht auch geschrieben, daß Arkad nicht stark genug ist, um von mir zu nehmen.“ „Arkad bewundert Stärke. Aber auch der Starke kann nur nach einer Seite kämpfen. Sie kämpfen gegen die 114
Kammies. Sie kämpfen gegen Terra. Auch noch gegen Arkad zu kämpfen, dürfte Ihre Kräfte übersteigen.“ „Terra ist weit“, sagte der Admiral achselzuckend. „Auf diesem Planeten gibt es nicht genug terranische Streitkräfte, um meine Pläne zu durchkreuzen. Die Kammies sind unorganisiert, sie haben keine Waffen. Und Arkad ist ebensowenig imstande wie Terra, Streitkräfte auf Domega zu landen.“ „Die Garnison von Fort Yarrow wird sich nicht ergeben. Die Artillerie des Forts ist viermal so stark wie die Ihre.“ „Aber die Kanonen sind gegen Arkad gerichtet“, erklärte der Admiral. „Ich kann sie eine nach der andern vernichten, bevor General Kindman imstande ist, sie umzubauen und gegen mich einzusetzen. Er wird sich ergeben müssen.“ „Und womit wollen Sie sich dann gegen Arkad verteidigen?“ „Greifen Sie an – und Sie werden es merken!“ lachte Admiral Kee spöttisch. „Fordern Sie mich nicht heraus, Kee!“ warnte ihn Noi. „Arkad könnte es darauf ankommen lassen.“ „Was wollen Sie?“ fragte der Admiral direkt. „Fünfzig Quadratmeilen von der Oberfläche dieses Planeten.“ Betroffen starrte Kee den Gesandten an. Er hatte großen Respekt vor Arkad. Dieses Volk kannte keine geschmeidige Diplomatie, kein verlogenes Geschwätz von Ehre oder Freiheit, keine listigen Umwege. Die Arkader waren brutal und offen; sie sagten ohne Umschweife, was sie wollten, und sie nahmen es sich, wobei sie nicht wählerisch in den Mitteln waren. 115
„Was bekäme ich als Gegenleistung?“ erkundigte sich Kee vorsichtig. „Arkad würde sich nicht einmischen.“ „Wozu wollen Sie das Stück Land?“ „Arkad will Handel treiben. Wir brauchen einen Stützpunkt, einen Flughafen für unsere Frachter. Sie bekommen einen ganzen Planeten, Arkad nur fünfzig Quadratmeilen. Ist das kein gutes Geschäft?“ „Für wie lange? Bis ihr Waffen und Truppen gelandet habt?“ „Wir werden keine Waffen und Truppen landen. Wir wollen keinen Krieg. Arkad will Handel treiben, das ist alles.“ „Mr. Noi, lassen Sie uns vernünftig miteinander reden. Ich bin nicht so dumm, zu glauben, daß Arkad sich auf die Dauer damit zufriedengeben würde. Arkad will selbstverständlich mehr. Wenn ich euch fünfzig Meilen gäbe, würdet ihr bald tausend verlangen, und wenn ihr die hättet, wolltet ihr den halben Planeten und schließlich den ganzen. Daß Arkad keinen Krieg anfangen will, glaub’ ich Ihnen gern. Ihr wißt so gut wie wir, daß die Kammies die geborenen Nachahmer sind. Als die Terraner hier landeten, haben die Kammies ihnen alles nachgemacht, und sie würden das gleiche tun, wenn ihr auf den fünfzig Quadratmeilen eine arkadische Kolonie errichten könntest. In wenigen Monaten würden alle Kammies im Umkreis getreue Abbilder der Arkader. Sie würden weitere Kammies beeinflussen. Und bald hättet ihr genug Kammies zu euren Anhängern gemacht, um sie eure Kriege für euch führen zu lassen.“ 116
„Eine solche Entwicklung würde lange dauern“, sagte der Arkader. „Vielleicht fünf Jahre.“ „Fünf Jahre sind keine lange Zeit.“ „Für einen Toten sind fünf Jahre die Ewigkeit.“ „Wollen Sie mir drohen, Noi?“ „Sie können Ihren Plan nicht ohne die Hilfe Arkads durchführen“, beharrte der Gesandte. „Und wenn er mißlingt, sind Sie ein toter Mann. Sind fünf Jahre Erfolg nicht besser als die Ewigkeit des Todes?“ „Ich brauche eure Hilfe nicht“, sagte Kee. Er wollte hinzufügen, daß er Domega bereits in der Hand habe, unterdrückte aber diese Bemerkung. „Woher wollt ihr so genau wissen, was ich plane und was ich brauche?“ „Das geht Sie nichts an!“ Arkad schien jedenfalls einige gute Agenten auf Domega zu haben. Sie wußten genau, was vorging. „Ich traue Ihnen nicht, Noi“, sagte Kee. „Ich bin durchaus dafür, mit allen in Frieden zu leben. Aber mit Arkad kann man leider keinen Frieden halten. Arkad ist unersättlich. Ihr wollt alles: Domega, den terranischen Planetenbund, die Galaxis. Ich selbst will nichts weiter als Frieden und Ruhe auf Domega. Und die Freiheit, mein Leben zu leben, wie es mir paßt.“ „Falsch! Sie wollen Domega. Sie wollen die Freiheit aller andern unterdrücken.“ Kee lachte und sagte nichts. „Domega ist nicht Arkads Feind, Admiral Kee“, fuhr Noi fort. „Der Feind ist Terra. Wie Sie ganz richtig sagen, würden die Kammies sich uns schnell angleichen, und eines Tages hätte Domega eben eine arkadische Kultur, statt 117
einer terranischen. Aber sind Sie selbst nicht im Herzen mehr Arkader als Terraner? Sie leben nach unseren Grundsätzen. Ihr Glaubensbekenntnis ist das Recht des Stärkeren. So leben wir auf Arkad. Schwache Hunde können nur überleben, indem sie sich den starken unterordnen. Wenn Sie sich uns unterordnen, ist es Ihr eigener Vorteil. Sie würden Gouverneur von Domega. Sie würden alles das bekommen, wonach Sie jetzt streben, nur daß Ihnen der Erfolg sicherer wäre.“ „Welche Garantien bekäme ich?“ „Mein Wort ist Garantie genug.“ „Ihr Wort ist für mich wertlos“, erwiderte Kee kalt. „Und wenn Sie es mir auf einem goldenen Tablett präsentierten. Sagen Sie Ihrer Regierung, daß Kee ihre Hilfe nicht braucht. Und wenn eines eurer Kriegsschiffe auf Schußweite herankommen sollte, werden meine Bev-Kanonen sprechen.“ Nois gelbliches Gesicht lief vor Zorn rot an. „Arkad kann fair sein, Kee. Es kann aber auch sehr unangenehm werden. Sie haben die Wahl. Machen Sie sich Arkad nicht zum Feind!“ „Arkad ist nie mein Freund gewesen. Und ich habe euch immer als Feinde betrachtet.“ „Wir glauben daran, daß ein Feind sterben muß“, zischte der Gesandte drohend. Kee gab Erskine einen Wink. „Führen Sie ihn hinaus!“ befahl er ruhig. „Ich habe ihm nichts mehr zu sagen. Und rufen Sie mir Sergeant Hansen her! Ich will ihm meine Anweisungen für den Plan Q geben.“ 118
Erskine nickte. Kee hatte ihm mit diesen Worten das geheime Zeichen zur Ermordung Nois gegeben. Sergeant Hansen war derjenige, der ihn töten sollte. Noi folgte Erskine aus der Tür, und Kee lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück. Er versuchte sich einzureden, daß das Gespräch mit Noi ihn nicht weiter beunruhigt habe. Und doch drängten sich ihm unwillkürlich einige recht unbehagliche Gedanken auf. Der Summer auf seinem Schreibtisch ertönte. Kee beugte sich vor und schaltete das Sprechgerät ein. „Ja?“ „Admiral Kee!“ drang Erskines verstörte Stimme aus dem Apparat. „Sergeant Hansen ist tot! Ermordet! Er ist im Aufzug erstochen worden.“ „Wo ist Noi? Wo ist dieser eulengesichtige Affe?“ „Ich weiß es nicht, Sir. Er ist verschwunden“, stöhnte Erskine. „Er war nicht im Aufzug, als man Hansens Leiche im 110. Stock fand.“ Kee stieß einen Fluch aus. „Versuchen Sie Noi zu finden“, sagte er schließlich. „Und wenn Sie ihn finden, bringen Sie ihn um!“ 5. Kapitel Obwohl noch viele Probleme zu lösen waren und er sich immer noch in Gefahr befand, schlief Jerry Main tief und ruhig in dem Landhaus, das Janice Yarrow als Hauptquartier diente. Er war todmüde, und sein Körper brauchte den Schlaf. Als er aufwachte, fühlte er sich wieder frisch und bereit, 119
den kommenden Schwierigkeiten und Gefahren ins Auge zu sehen. Gefahr war für ihn nichts Neues, und in seinem Beruf als Nachrichtenoffizier im Raum gehörten Schwierigkeiten zum täglichen Programm. Er rasierte sich, kleidete sich an und verzehrte das Frühstück, das eine Kammy-Frau mit den Zügen Greta Garbos ihm brachte. Es war kein gutes Frühstück. Der Kaffee war schwach und der Toast etwas angebrannt. Aber es war immerhin richtiges Essen, keine Raumration. Sobald die junge Kammy-Frau das Frühstücksgeschirr weggebracht hatte, erschien der bärtige Hermes. „Janice bittet Sie, sobald wie möglich in ihr Büro zu kommen.“ „Ich komme sofort“, antwortete Jerry. Er folgte Horaz über eine Treppe hinunter zu Janices Büro, das am Ende eines langen Ganges lag. Zwei Wächter in domegischen Trikots mit blauen Radmänteln, beide dem General Grant wie aus dem Gesicht geschnitten, standen mit Mev-Strahlern an der Tür Wache. Horaz öffnete die Tür und ließ Jerry eintreten. Janice saß hinter ihrem Schreibtisch, auf dem sich die Schriftstücke zu Bergen türmten. Aber sobald Jerry eintrat, wandte sie sich ihm sofort zu und empfing ihn mit einem warmen Lächeln. „Ich hoffe, Sie haben gut geschlafen, denn heute steht uns ein harter Tag bevor.“ „Ich bin wieder frisch wie ein Fisch im Wasser. Und ich freue mich darauf, gegen Kee zu kämpfen. Ich hoffe, Sie haben einen guten Plan.“ Ihre Miene verdüsterte sich. 120
„Wir sind entschlossen, mit allen Mitteln zu kämpfen. Aber offen gestanden, einen festen Plan haben wir noch nicht. Wir sind nur sehr wenige, Jerry. Unsere Bewaffnung ist kläglich. Wir haben einen Sender und können den Leuten in Yarrowsburg sagen, was vorgeht. Aber Kee stört die Sendungen und benutzt den Bildfunk für seine Gegenpropaganda.“ Betroffen starrte Jerry Janice an. „Ist das alles, was ihr tut?“ „Was können wir machen?“ Sie zuckte niedergeschlagen die Achseln. „Ich habe gehofft, daß Sie eine Antwort auf diese Fragen finden werden, Jerry.“ Es erfüllte ihn mit heimlicher Freude, daß sie fortfuhr, ihn mit seinem Vornamen anzureden. Als sei er für sie mehr als ein Kampfgenosse. Eigentlich hätte er als Angehöriger der terranischen Raumstreitkräfte auf der Seite Kees stehen und gegen Aufrührer wie Janice Yarrow kämpfen müssen. Aber da Kee ein Verräter war, hatte sich die Lage völlig gewandelt. Er kämpfte nicht für eine Revolution, sondern gegen Verrat – den Verrat des Admirals Kee. „Wissen Sie, was Kee jetzt macht?“ erkundigte er sich. „Haben wir Agentenberichte darüber?“ „Ja“, antwortete Janice eifrig. „Unsere Gruppe ist zwar klein, aber sie besteht aus intelligenten Leuten, die gut beobachten und sich Informationen beschaffen. Die Kammytruppen in der Stadt sind etwa zweitausend Mann stärk. Darüber hinaus würden etwa fünfhundert Terraner von Fort Yarrow hierhergebracht, aber meine Leute konnten bisher nicht herausbekommen, wo sie stationiert sind oder warum sie eingesetzt werden.“ 121
„Vielleicht ist Kindman doch mit im Komplott und hat seine Leute Kee zu Hilfe geschickt.“ „Das wissen wir leider nicht“, erklärte Janice. „Wir haben keine Möglichkeit, festzustellen, wie Kindman eingestellt ist. Er ist kein richtiger General, nur Brigadier und Kommandant der Garnison. Darüber hinaus hat er keine Pflichten. Kee dagegen bekleidet wirklich den Rang eines Admirals, so daß er den höchsten Beamten Domegas mindestens ebenbürtig ist. Kindman ist ihm also eigentlich untergeordnet.“ „Es spielt demzufolge gar keine große Rolle, wie Kindman eingestellt ist, da er ja doch seine Befehle von Kee empfängt?“ „Stimmt. Und im übrigen kann Kee mit seinen Kanonen seinen Befehlen Nachdruck verleihen. Es gibt noch weitere schlechte Neuigkeiten. Die APOLLYON ist letzte Nacht mit zwei Schwesterschiffen, der VULKAN und der DÄDALUS, auf dem Flughafen gelandet.“ „Zur Unterstützung Kees?“ „Zweifellos. Noch haben wir nicht herausgefunden, wie sie eingesetzt werden sollen, aber Kee wird sich schon etwas dabei gedacht haben. Sie sind nahe von Fort Yarrow und könnten mit leichter Artillerie angegriffen werden. Darum ist es unwahrscheinlich, daß sie zur Unterdrückung des Widerstandes in der Garnison eingesetzt werden sollen. Aber irgendeinen Grund hat ihre Anwesenheit bestimmt.“ Jerry ging nachdenklich vor ihrem Schreibtisch auf und ab. „Was kann ich tun? Was könnten Sie tun? Begreifen Sie nicht, Janice, daß jetzt jeder Widerstand sinnlos ist? Wie groß ist Ihre Gruppe überhaupt?“ 122
„Sehr klein.“ „Wie viele Marionetten gibt es, alles in allem?“ beharrte er. Sie ließ den Kopf hängen. „Ungefähr fünfzig“, gestand sie endlich kleinlaut. „Und davon die Hälfte Frauen.“ „Großer Gott! Wir haben keine Waffen, so gut wie keine kampffähigen Männer. Wir haben ein paar Agenten, die uns sagen, was sowieso jeder sieht. Und wir stehen gegen eine gut ausgebildete Streitmacht mit den mächtigsten Waffen, die es je gab, und gegen eine Horde skrupelloser Gangster. Das einzige, was wir haben, ist ein geheimer Sender, der Kees Störsender nicht gewachsen ist.“ „Ich gebe zu, Jerry, daß wir sehr wenig in die Waagschale zu’ werfen haben. Unsere Zivilisation ist eben noch jung, unerfahren.“ „Und trotzdem habt ihr eine Revolution angezettelt, weil ihr euch selbst regieren wollt!“ „Sollte das nicht das Ziel jedes denkenden Volkes sein?“ „Ja, aber zuerst müßt ihr euch eine Zivilisation schaffen! Die eure ist kaum hundert Jahre alt.“ „Manches Volk in der Geschichte der Erde hat sich innerhalb von hundert Jahren zu höchster Kulturstufe aufgeschwungen. Daß uns Kammies das nicht gelang, liegt daran, daß ihr uns zu sehr in Abhängigkeit gehalten habt. Ein Kind lernt nie gehen, wenn man ihm nicht Gelegenheit dazu gibt.“ Eine Weile ging Jerry schweigend auf und ab. Gewiß war etwas Wahres an dem, was sie sagte. Die Zivilisation Terras war Tausende von Jahren alt. Vor hundert Jahren 123
waren die Kammies noch formlose Amöben gewesen; mit unglaublicher Schnelligkeit hatten sie sich zu menschlichen Wesen entwickelt. „Eines muß man euch lassen: ihr habt Mut“, sagte er schließlich. Sie nickte. „Wir haben Mut, aber keine Erfahrung, Jerry. Wollen Sie uns führen? Wir brauchen Sie.“ „Ohne einen Plan wird es schwer sein. Und unsere Chancen sind sehr gering. Zunächst müßten wir versuchen, die schwachen Stellen des Feindes ausfindig zu machen.“ „Er hat keine schwachen Stellen, Jerry“, seufzte sie. „Kee hat eine Festung, Kanonen, Soldaten. Wir ahnten nicht, daß er das Haupt dieser Verschwörung ist, bis er durch den Anschlag auf die Polaris und die Ermordung Endors seine Karten aufdeckte.“ Jerry nickte. Tanner hatte ihm das schon erzählt. „Kees Schwäche müßte in ihm selbst liegen“, meinte er nachdenklich. „Männer wie er geben sich nicht mit einem Teil der Macht zufrieden, sie wollen immer mehr. Alle Macht in der Galaxis würde seine Machtgier nicht befriedigen.“ Janice sah ihn fast flehend an. „Sagen Sie, daß es noch Hoffnung für uns gibt, Jerry!“ bat sie. „Ich kann nur sagen: ich hoffe, daß es eine Hoffnung gibt. Ich weiß noch nicht, womit wir kämpfen sollen. Aber ich weiß, daß wir kämpfen müssen und daß wir zu kämpfen bereit sind. Wir brauchen Männer. Mindestens tausend. Wo sollen wir die hernehmen?“ 124
Janice schüttelte bekümmert den Kopf. „Unter Kees Kriegsrecht wird es sehr schwer sein, einen Widerstand zu organisieren.“ „Was für Waffen haben wir, falls wir überhaupt welche haben?“ „Ein paar Handfeuerwaffen, Mev-Strahler. Und Kee hat mindestens vier 2000-Bev-Kanonen, abgesehen von der normalen Truppenbewaffnung.“ Jerry ging zum Fenster und sah auf die Stadt hinunter, die sich vom Fuß der Berge bis zum Fluß hinzog. Schweigend überlegte er eine Weile. Dann wandte er sich zu Janice um. „Wir sollten die zahlenmäßige Überlegenheit des Feindes nicht überschätzen, Janice. Kee verfügt über Kammies und vielleicht über terranische Truppen, aber seine Leute wissen noch nicht, was er vorhat. Er kann seine Karten nicht aufdecken, ehe er wirklich Herr der Lage ist. Ich bezweifle, ob auch nur tausend von seinen Leuten wissen, was hier gespielt wird.“ „Tausend Gangster, die vor nichts zurückschrecken“, meinte Janice düster. „Und wir haben fünfzig Leute; Männer und Frauen. Aber wir könnten eine Waffe benutzen, mit der auch Kee rechnet.“ „Und das wäre?“ „Überraschung.“ Jerry nickte nachdenklich. „Ja, ein überraschender Handstreich – das wäre die Lösung. Aber auch dafür brauchen wir Hilfe. Wir müssen uns mit General Kindman in Verbindung setzen.“ „Und wenn der zu den Verrätern gehört?“ 125
„Dann sind wir nicht schlimmer dran als jetzt. Und vielleicht hilft er uns, wenn er nicht im Komplott ist. Aber wir müssen schnell handeln. Kee kann Fort Yarrow jeden Augenblick angreifen.“ „Und wenn es mißlingt? Wenn Kee angreift?“ „Dann müssen wir irgend etwas Verzweifeltes tun.“ Virgil kam ins Zimmer und sagte mit einem Seitenblick auf Jerry: „Ich habe eine wichtige Nachricht, Miß.“ „Reden Sie!“ „Eine vertrauliche Nachricht.“ „Captain Main gehört zu uns, Virgil“, erklärte Janice. „Eine gute oder schlechte Nachricht?“ „Schlecht. Hari Kitt läßt uns durch einen Boten sagen, daß Admiral Kee soeben einen Botschafter Arkads empfangen hat.“ „Arkad!“ „Ja. Hari sagt, es war ein hoher diplomatischer Beamter namens Noi.“ „Hat Hari etwas über den Inhalt der Unterredung erfahren können?“ „Leider nein. Es war eine kurze Unterhaltung mit einem überraschenden Nachspiel. Einer von Kees Leuten, ein Gangster namens Hansen, wurde im Aufzug erstochen, und man hält Noi für den Täter. Noi ist entkommen, aber Kee läßt ihn verfolgen.“ „Der Arkad ist an den Wächtern vorbeigekommen und hat das Gebäude verlassen?“ „Darüber wußte Hari nichts Genaueres“, sagte Virgil. „Vielleicht ist Noi noch in dem Gebäude, denn Kee hat die Wachen an allen Ausgängen verdoppeln lassen.“ 126
Jerry meinte: „Wenn Noi am hellichten Tag einen von Kees Leuten erstechen und der Gefangennahme entgehen konnte, dann kann er vielleicht auch aus Mile High entkommen.“ Janice forschte ängstlich in Jerrys Augen. „Glauben Sie, das bedeutet ein Bündnis zwischen Arkad und Kee?“ „Ich glaube nicht, daß Kee so dumm ist, Janice. Arkad ist kein zuverlässiger Partner für ein Bündnis. Außerdem braucht Kee keine Hilfe von fremder Seite.“ „Aber wenn wir uns Kee bei seinen Plänen entgegenstellen, ruft er vielleicht doch Arkad zu Hilfe.“ „Das kann sein“, erwiderte Jerry. „Kee würde vor nichts zurückschrecken, um sich selbst zu retten, nicht einmal vor einem Bund mit Arkad.“ „Arkad kann keine Truppen auf Domega landen“, meinte Janice. „Fort Yarrow würde das verhindern.“ „Kee hat Kanonen, um Fort Yarrow zur Übergabe zu zwingen. Das wird sein erster Schritt sein.“ „Was machen wir also?“ „Ich muß mit Kindman Verbindung aufnehmen“, wiederholte Jerry. „Ganz gleich, was wir sonst machen. Wir müssen versuchen, Hilfe von Fort Yarrow zu bekommen.“ Janice sagte: „Vielleicht kann ich den General telefonisch erreichen.“ Sie griff nach dem Hörer, aber Jerry hielt ihre Hand fest. „Telefonieren hat keinen Zweck. Kindman würde einem Anruf keinen Glauben schenken. Telefonieren kann jeder.“ „Aber Sie können unmöglich zu ihm gehen!“ „Wenn wir ihn anriefen, würde Kindman sofort mit Kee 127
Fühlung aufnehmen – und genau das darf nicht geschehen. Kee darf nicht erfahren, daß wir Verbindung zu Kindman suchen. Ich muß versuchen, selbst mit dem General zu reden.“ „Er wird Sie nicht empfangen“, warf Virgil ein. „Sie müßten sich mit sturen Vorzimmerbeamten herumschlagen, und die würden Kee verständigen.“ „Ich kann mich ausweisen.“ „Wenn Sie Ihren Namen nennen, wirft man Sie sofort ins Gefängnis. Für die Öffentlichkeit ist Jerry Main tot, vergessen Sie das nicht! Kindman würde Sie für einen Kammy halten, der sich für Jerry Main ausgibt.“ „Man kann mich mit Anti-Kammy-Gas testen.“ „Der Test ist nicht unfehlbar“, sagte Virgil. „Miß Janice zum Beispiel ist gegen das Gas immun.“ „Jerry hat recht“, erklärte Janice. „Eine persönliche Unterredung mit dem General ist unsere einzige Chance. Vielleicht kommen Sie bis zu ihm durch, Jerry.“ Sie lächelte ihm vertrauensvoll zu. „Ich breche sofort auf“, sagte Jerry. „Ich kann Ihnen helfen, in das Fort zu kommen“, erklärte Janice. „Alles Weitere liegt dann bei Ihnen.“ Sie wandte sich an Virgil. „Versuch Darnl zu erreichen.“ Virgil salutierte und eilte davon. „Ist Darnl eine Marionette?“ fragte Jerry. Sie nickte. „Er hat ein Geschäft in der Hafengegend und beliefert die Garnison täglich mit frischem Fleisch. Er ist gut bekannt in der Festung, und niemand wird Verdacht schöpfen, wenn er in seinem Lieferwagen einen neuen Beifahrer mitbringt. Aber wie Sie nach Ihrer Unterredung mit 128
Kindman wieder aus der Festung herauskommen, ist Ihre Sache.“ „Wenn alles gutgeht, dürfte das kein Problem sein. Und wenn der General mich einsperren läßt, ist sowieso alles verloren.“ „Sie müssen zurückkommen, Jerry!“ sagte Janice eindringlich. „Wir brauchen Sie als unsern Führer!“ Virgil kam zurück und berichtete: „Darnl meint, er kann Jerry in die Festung schmuggeln. Er soll in einer Stunde an der Brücke über den American River sein.“ „Gut!“ Janice nickte. „Verschaffen Sie Jerry etwas zum Anziehen; etwas in der Art, wie es die Arbeiter auf Domega tragen.“ Dann wandte sie sich an Main. „Viel Glück, Jerry!“ Sie trat auf ihn zu – und plötzlich lag sie in seinen Armen. Ihr Kuß war leidenschaftlich, aber kurz. Hastig schob sie ihn von sich. „Geht jetzt, Virgil, bringen Sie ihn sicher bis zur Brücke!“ „Keine Schwierigkeit“, sagte Virgil. Jerry fragte etwas bedenklich: „Genügt es denn, nur die Kleidung zu wechseln? Müßte ich nicht auch mein Gesicht unkenntlich machen?“ „Nein“, erklärte Virgil. „Seit dem Attentat im Flughafen ist Ihr Bild in allen Zeitungen erschienen. Und unter den Kammies wurde es Mode, Ihre Züge anzunehmen. In Arbeitskleidung werden Sie wie einer der vielen Jerry-MainVerehrer aussehen. Niemand wird sich etwas dabei denken.“ 129
„Kee vielleicht doch.“ „Er hat nichts mit den Ausweiskontrollen zu tun. Kommen Sie, Captain!“ * Am späten Vormittag hielt eine Kolonne von Lieferwagen vor dem Haupttor von Fort Yarrow. Darnl, der Fahrer des ersten Wagens, zeigte den Sammelausweis vor, und der Wachtposten ließ ihn passieren. Darnl war hier gut bekannt als der Lieferant, der täglich frisches Fleisch für die Truppenverpflegung brachte. Darnl sah nicht gerade so aus, wie man sich auf Terra einen Lastwagenfahrer vorstellt. Mit seinem klassischen Profil, dem schwarzen Trikot, von irgendeinem berühmten terranischen Schauspieler dargestellt. Die Kolonne fuhr weiter, vorbei an den Betonbunkern, und hielt an der Rückseite eines großen Gebäudes, von dem aus die Lastenaufzüge zu den unterirdischen Lagerräumen und Mannschaftsunterkünften führten. Fort Yarrow war bald nach der Entdeckung und Besiedlung des Planeten durch die Terraner errichtet worden. Aber im folgenden Jahrhundert wurde es mehrfach vergrößert, ausgebaut und verstärkt, bis es fest genug war, für mindestens zwei Stunden einem Angriff durch BevKanonen und Atomwaffen zu widerstehen. Dies bedeutete einen ausreichenden Schutz gegen Angriffe aus dem Raum, denn die Abschirmungen der Raumkriegsschiffe hielten nicht so lange stand. Darnl und seine Leute begannen die Wagen zu entladen. 130
Daß sein Beifahrer, ein Mann in blauem Overall, dem ermordeten Captain Jerry Main wie aus dem Gesicht geschnitten war, fiel niemandem auf. Wie Jerry Main auszusehen, war der letzte Modeschrei in Yarrowsburg. Hätten die Soldaten der Garnison das Ausladen der Lieferwagen beaufsichtigt, so wäre ihnen das plötzliche Verschwinden eines Arbeiters im blauen Overall aufgefallen. Aber niemand beobachtete Jerry, und so stieg er seelenruhig in einen der Lastenaufzüge voll domegischer Bohnen und fuhr damit abwärts. Er war schon früher in der Festung gewesen, aber nie in den Lagerräumen. Trotzdem fiel es ihm nicht schwer, durch die unterirdischen Gänge zu einer Treppe und einem andern Ausgang in Erdgeschoßhöhe zu finden. Niemand hielt ihn auf, denn es gab noch mehr Kammies, die überall in der Festung arbeiteten – als Handwerker oder Hilfskräfte. Es bestand keine Veranlassung, diese Kammies ständig zu kontrollieren; die Unruhen waren ja nur auf die Stadt beschränkt. Von seinen früheren Besuchen her wußte Jerry, in welchem Gebäude sich das Büro des Kommandanten befand. Ein Soldat mit gezogener Pistole bewachte den Eingang. Jerry ging auf ihn zu und sagte: „Ich habe eine wichtige Nachricht an General Kindman zu überbringen.“ Der Posten starrte ihn mißtrauisch an. „Worum handelt es sich, Kammy? Was heißt hier wichtig?“ „CD 60. Nachrichtendienst.“ Der Soldat konnte Jerry Mains Identifizierung nicht kennen, aber Jerrys sicheres Auftreten schien ihn zu beein131
drucken. Jerry hoffte nur, bis ins Innere des Gebäudes zu gelangen, alles Weitere würde sich ergeben. Der Soldat faßte ihn am Arm und rief dann nach dem Sergeanten, der gleich darauf auftauchte. „Was gibt’s?“ fragte der Sergeant. „Er behauptet, vom Nachrichtendienst zu sein.“ Der Sergeant musterte Jerry. „CD 60“, wiederholte Main. Nach kurzem Zögern meinte der Sergeant: „Sprechen Sie mal mit Leutnant Halley. Sie haben doch einen Ausweis?“ Jerry holte seinen Ausweis aus der Tasche, den man ihm im Dom-Dom-Klub versehentlich nicht abgenommen hatte. Aber der Sergeant winkte ab. „Mir brauchen Sie ihn nicht zu zeigen. Ich könnte eine Fälschung doch nicht erkennen. Aber die drinnen wissen Bescheid.“ Er führte ihn in das Gebäude, durch einen langen Korridor, vorbei an Büros, in denen kleine Beamte den Papierkrieg führten, der zu jedem richtigen Krieg gehört. Ein paar Posten lungerten in dem Korridor herum, aber niemand hielt sie auf. Der Sergeant führte Jerry über eine Treppe zum ersten Stock hinauf. Dann blieb er stehen. „Jetzt geben Sie mir mal Ihren Ausweis, Kammy!“ forderte er ihn auf. Jerry tat dies. Der Sergeant warf einen Blick hinein und zuckte zusammen. „Wo hast du den gestohlen, Kammy?“ fuhr er Jerry an. „Ich bin kein Kammy. Ich bin Jerry Main.“ „Du siehst so aus wie er, das stimmt. Aber Captain Jerry 132
Main ist gestern auf dem Flughafen erschossen worden. General Kindman hat es mit eigenen Augen gesehen.“ „Der Mann, der erschossen wurde, war ein Kammy“, sagte Jerry so ruhig wie möglich. „Das ist der Grund, warum ich General Kindman sprechen muß. Das Attentat war Teil eines Komplotts. Es gab Admiral Kee den Anlaß, die Stadt unter Kriegsrecht zu stellen.“ „Das soll ich Ihnen glauben?“ „Es ist nicht Ihre Sache, das zu entscheiden. Bringen Sie mich zum Leutnant! Oder noch besser, zu General Kindman. Ihm werde ich alles erklären.“ Der Sergeant zögerte, dann rief er einen der weißbehelmten Posten heran, übergab ihm Jerry und verschwand in einem der Büros. Der Posten zog seine Pistole und blieb schweigend neben Jerry stehen, bis sein Vorgesetzter zurückkam. „Kommen Sie mit!“ sagte der Sergeant und führte Jerry hinein. Der Raum enthielt drei Schreibtische. Nur einer davon war besetzt. Der junge terranische Leutnant beugte sich auf seinem Stuhl vor und musterte Jerry mit kalten blauen Augen. „Das ist er, Sir“, sagte der Sergeant. Überraschend brachte der junge Leutnant eine Sprühflasche zum Vorschein und sprühte Jerry einen süßlich riechenden Nebel ins Gesicht. Anti-Kammy-Gas. Jerry grinste und wischte sich die Feuchtigkeit vom Gesicht. „Das beweist nichts“, sagte der Leutnant kalt. „Manche Kammies sind immun.“ „Ich bin kein Kammy“, wiederholte Main geduldig. „Ich 133
bin Captain Jerry Main, und der Mann, der auf dem Flughafen erschossen wurde, war ein Betrüger. Ich habe drei Tage lang um mein Leben gekämpft und möchte jetzt dem General Mitteilung von dem geplanten Staatsstreich Admiral Kees machen.“ „Sie sollten wissen, daß eine solche Mitteilung sofort an Admiral Kee weitergeleitet wird“, sagte der Leutnant. „Das allein zeigt mir schon, daß Sie kein Nachrichtenoffizier sind, wie Sie behaupten.“ Jerry bot alle Überredungskunst auf, um dem Leutnant klarzumachen, daß er eine ungeheure Verantwortung auf sich lud, wenn er seinem Ansuchen um eine Unterredung mit dem General nicht entsprach. Der Leutnant ließ sich zwar nicht von Jerrys Identität überzeugen, aber aus Angst vor der Verantwortung bequemte er sich immerhin, ihn zu Captain Murray weiterzuschicken. Dort wiederholte sich alles: Fragen, Zweifel, Mißtrauen und schließlich das Abschieben der Verantwortung auf die nächste Instanz. So gelangte Jerry etwa eine Stunde später an Colonel Sigh, nachdem man ihn unzählige Male getestet, verhört, mit Anti-Kammy-Gas besprüht, angeschnauzt und bedroht hatte. Colonel Sigh war der erste, der einiges Verständnis zeigte. „Wissen Sie was, Captain“, sagte der Colonel. „Wenn Sie es fertiggebracht haben, bis zu mir vorzudringen, lohnt es sich jedenfalls, Sie anzuhören. Also schießen Sie los!“ Erleichtert begann Jerry von neuem seinen Bericht. Der Colonel hörte ihn aufmerksam an und ließ ihn ausreden, ohne ihn zu unterbrechen. Als Jerry geendet hatte, sagte er: 134
„Das sind sehr ernste Anschuldigungen gegen Admiral Kee. Ich begreife nicht, was er mit all dem beabsichtigen sollte.“ „Er ist krankhaft ehrgeizig, Sir. Und er will das, was alle ehrgeizigen Männer immer gewollt haben, von Alexander dem Großen über Napoleon bis zu Hitler: Macht! Nur noch ein kurzer Schritt trennt ihn von seinem Ziel, dei Herrschaft über diesen Planeten. Seine Kanonen sind auf Fort Yarrow gerichtet. Da die Stadt unter Kriegsrecht steht, ist die Festung das einzige Hindernis für ihn.“ „Die Miliz in Yarrowsburg besteht aus Kammies“, wandte der Colonel ein. „Sie werden doch nicht ihren eigenen Planeten verraten.“ „Sie werden den Befehlen ihrer Offiziere gehorchen, und Kee setzt seine eigenen Leute in die Schlüsselstellungen.“ „Seine Leute sind terranische Nachrichtenoffiziere.“ „Nein!“ widersprach Jerry. „Es sind größtenteils Gangster übelster Art.“ Sigh meinte nachdenklich: „Etwas spricht für die Wahrheit Ihrer Angaben, Captain. Wir boten dem Admiral Truppenverstärkung an, nachdem wir ihm fünfhundert Mann geschickt hatten. Er lehnte die Verstärkung ab. In einer solchen Lage ist es recht sonderbar, eingeborene Truppen zur Unterdrückung eines Aufstands einzusetzen, wenn eigene Truppen verfügbar sind.“ „Kee wären Ihre Soldaten bei der Verwirklichung seiner Pläne nur im Weg, das ist klar. Sir, geben Sie mir tausend Mann, um Kee anzugreifen!“ „Unmöglich!“ 135
„Aber Sie haben doch schon fünfhundert in der Stadt und Kee noch mehr angeboten.“ Colonel Sigh überlegte ein paar Sekunden. „Wir müssen die Sache mit General Kindman besprechen. Ob er Ihre Geschichte glaubt, bezweifle ich. Er wird eher dazu neigen, Kee zu glauben. Ich bin VizeKommandant. Aber heute kam ein terranischer Colonel hier an, der laut Order des terranischen Sicherheitsdienstes als Kindmans rechte Hand eingesetzt ist. Sieht einem Soldaten so ähnlich wie ein Arkader einem griechischen Gott. Dieser Colonel Blitz …“ „Blitz?“ rief Jerry. „Doch nicht Wingy Blitz?“ „Sie kennen ihn?“ „Das ist der Mann, der den falschen Jerry Main auf dem Flughafen erschossen hat.“ „Kommen Sie mit zum General!“ Colonel Sigh führte Jerry zu Kindmans schalldichtem Büro im hinteren Flügel. Der General, ein grauhaariger, würdig aussehender Mann, hörte sich seinen Bericht schweigend an. Dann holte er ein Papier aus seiner Schreibtischschublade. „Colonel Blitz hat mir bereits einen Bericht über diesen Mann übergeben, der sich für Jerry Main ausgibt.“ „Sir“, wandte Colonel Sigh ein, „Captain Main bezeichnet diesen Blitz als einen der Verräter.“ „Der Bericht kam verschlüsselt“, fuhr Kindman unbeirrt fort, „und ich weiß, daß Kee ihn geschickt hat. Jerry Main ist tot. Dieser Betrüger arbeitet für Arkad. Verhaften Sie ihn!“ „Sir …“, versuchte Sigh zu protestieren. 136
„Das ist ein Befehl, Colonel Sigh! Verhaften Sie diesen Mann!“ Jerry handelte blitzschnell. Er stieß den Colonel, der ihn am Arm ergreifen wollte, mit dem Ellbogen in die Seite, daß er zurücktaumelte. Dann versetzte er ihm einen wohlgezielten Kinnhaken. Stöhnend brach Colonel Sigh zusammen. Der General hatte sofort nach dem Telefonhörer gegriffen, um Hilfe herbeizurufen. Aber in Sekundenschnelle hatte Jerry sich gebückt und dem gestürzten Colonel die Mev-Pistole aus der Halfter gerissen. Er richtete sie auf Kindman. „Legen Sie den Hörer weg, General!“ Zögernd ließ der General den Hörer auf die Gabel gleiten, versuchte aber heimlich mit der anderen Hand die Alarmklingel zu erreichen. Jerry machte eine leichte Bewegung mit der Pistole. „Lassen Sie das, Sir!“ warnte er. „Ein Planet steht auf dem Spiel.“ „Das ist Meuterei! Verrat!“ schäumte der General. „Stehen Sie auf, Sir! Drehen Sie sich um!“ Widerwillig gehorchte Kindman. Jerry schlug ihn nieder, und der General sackte lautlos zu Boden. Jerry wandte sich um und sah, daß der Colonel die Augen geöffnet hatte. „Captain!“ „Sir?“ „Der General wird in ärztliche Behandlung müssen, und so lange habe ich das Kommando.“ Vorausgesetzt, daß Wingy ihm keinen Strich durch die Rechnung macht, dachte Jerry. 137
Der Colonel fuhr fort: „Ich werde sofort Befehl an unsere Truppen in der Stadt erlassen, Admiral Kee als Verräter zu behandeln.“ „Gut.“ „Allerdings konnte Kindman vorhin den Befehlshaber der Einheiten in der Stadt, Major Hendricks, nicht erreichen. Vielleicht hatte Kee dabei schon die Hände im Spiel.“ Jerry nickte. „Wahrscheinlich. Ich muß selbst Verbindung mit den Einheiten in Yarrowsburg aufnehmen.“ „Dort drüben steht ein gepanzerter Wagen, Main. Nehmen Sie den. Wir können alle nur hoffen, daß Sie Glück haben.“ Als Jerry über den Hof auf den gepanzerten Wagen zuging, trat ihm ein Mann in der Uniform eines Colonels in den Weg. Wingy Blitz! „Main!“ Wingy erkannte ihn sofort. Er brauchte kein Verhör und keinen Test, um zu wissen, daß Jerry Main noch lebte. Wingy griff nach seiner Pistole, aber Jerry war schneller. Er hatte die seine bereits im Anschlag. „Einsteigen, Wingy!“ befahl er. Wingy zögerte. Aber nach einem Blick auf die Mündung der Mev-Pistole und Jerry Mains entschlossenes Gesicht gehorchte er. „Sie fahren!“ befahl Jerry und schwang sich auf den Beifahrersitz. „Wenn Sie mich hier nicht ‘rauskriegen oder Zicken machen, drück’ ich ab!“ An der Ausfahrt gab es die erste Schwierigkeit. Der Schlagbaum war zu, die Wache verstärkt auf vier Mann. 138
Offenbar war General Kindman zu sich gekommen und hatte befohlen, das Gelände abzuriegeln. „Durch!“ befahl Jerry. „Das Ding ist gepanzert.“ Wingy gehorchte schweigend. Die Posten stoben beiseite, als der Wagen in voller Fahrt auf die Sperre zuraste und sie durchbrach. Die Posten schossen hinter ihnen her, verfehlten sie aber. „Hören Sie“, versuchte Wingy zu handeln, „Sie bringen sich nur in Teufels Küche, Main. Machen Sie mit! Kee nimmt Sie bestimmt gern.“ „Halten Sie den Mund und fahren Sie weiter!“ Jerry erwartete, daß man sie verfolgte. Gewiß würde Colonel Sigh sein möglichstes tun, die Flucht zu begünstigen, aber letzten Endes mußte der Colonel den Befehlen Kindmans folgen. Plötzlich brach aus der Festung hinter ihnen ein orangeroter Strahl hervor. Er fuhr über den Wagen hinweg und traf die Straße vor ihnen in einer Entfernung von ein paar hundert Yards. Das war keine der 2000-Bev-Kanonen des Forts, sondern eine der kleineren, die nur zehn bis fünfzig Bev Leistung hatten. Gleich darauf spien die Berge Feuer gegen das Fort. Ein gewaltiger Strahl aus einer der Kanonen, die Kee von der POLARIS gestohlen und in der Bergfestung verborgen hatte, traf Fort Yarrow. Admiral Kee hatte die Maske fallenlassen und zeigte sich Domega als der Mann, der den Planeten an sich zu reißen beabsichtigte. Drei weitere Strahlen folgten dem ersten. Kee hatte alle vier Kanonen in der Bergfestung einbauen lassen. Fort Yarrow erbebte unter der Gewalt des Beschusses, 139
aber die Abschirmung hielt stand. Es war kein Kraftfeld, sondern eine Art Schutzschicht, die Energie absorbierte wie ein Löschpapier Tinte aufsaugt. Aber diese Abschirmung konnte nur eine begrenzte Energie aufnehmen. Jerry wußte, daß Fort Yarrow eine oder höchstens zwei Stunden standhalten würde. Der unerwartete Angriff Kees auf Fort Yarrow hatte für ein paar Sekunden das Feuer aus den kleineren Kanonen, das dem flüchtenden Wagen galt, unterbrochen. Aber jetzt wurde es wieder aufgenommen. Natürlich hielt man in Fort Yarrow die Ausbrecher für mitschuldig an diesem Angriff. Der erste Schuß war nur eine Warnung gewesen. Jetzt richtete sich der Feuerstrahl genau auf die Straße vor dem Wagen und wühlte einen tiefen Krater auf. Jerry riß die Tür auf und sprang ins Freie. Aber Wingy war nicht schnell genug. Der Wagen überschlug sich, stürzte in den Krater und ging im nächsten Augenblick in Flammen auf. Das war das Ende von Wingy Blitz. Jerry kroch aus dem Gebüsch am Straßenrand, in das er gestürzt war, und stellte fest, daß seine Knochen heil waren. Er hatte großes Glück gehabt und sich nur ein paar Schürfwunden zugezogen. Aber seine Lage schien aussichtslos. Er befand sich auf halbem Weg zwischen Fort Yarrow und Yarrowsburg. Von der Festung her kamen jetzt mehrere Wagen angerast, offenbar auf der Suche nach ihm. Er duckte sich in einen Graben. Seine Hand umklammerte die Strahlenpistole Colonel Sighs. Er wollte es möglichst vermeiden, auf terranische Soldaten zu schießen. Aber im Notfall mußte er sich seinen Weg mit der Waffe bahnen. Janice mußte erfahren, 140
daß wenigstens ein Offizier in Fort Yarrow auf ihrer Seite war. Dann hörte er Schritte und Rufe über sich und erkannte die Stimme Darnls, des Kammys, der ihn in die Festung geschmuggelt hatte. Erleichtert kroch Main aus seiner Deckung. * Jerry sah auf die Uhr am Armaturenbrett von Darnls Wagen. Es war 26 Uhr nach Domegazeit – vier Stunden vor Sonnenuntergang. Die Abschirmung von Fort Yarrow würde nur noch eine oder zwei Stunden standhalten. Allerdings griff Kee nur einen Teil der Geschützstellungen an. Aus triftigem Grund; er wollte es wohl vermeiden, alle Kanonen von Fort Yarrow zu zerstören, um den Planeten nicht schutzlos einem Angriff Arkads auszusetzen. Alles hing jetzt davon ab, ob Kindman die Festung hielt oder sich zu einer Übergabe entschloß. Jerry fragte sich, ob der General wieder zu sich gekommen war oder Colonel Sigh immer noch das Kommando hatte. In diesem Fall standen die Chancen wesentlich besser. Wenn die Marionetten nur Flugzeuge hätten, um einzugreifen. Aber sie besaßen nur ein paar Hubschrauber und ganze fünfzig Leute, Männer und Frauen. „Wir brauchten mindestens tausend Mann“, sagte Jerry niedergeschlagen. Darnl erwiderte: „Ich kann Ihnen tausend Leute verschaffen.“ „Ausgebildete Soldaten?“ 141
„Das nicht. Aber die Kammies, die aus ihren Häusern am Hafen fliehen mußten, als Kee das Viertel schleifen ließ. Sie sind zu allem bereit, wenn es gilt, Kee zum Teufel zu jagen.“ „Es wäre Mord, sie gegen Bev-Kanonen einzusetzen“, meinte Jerry nachdenklich. „Aber vielleicht fällt Ihnen etwas anderes ein; irgendeine Möglichkeit, die uns Terranern nicht gegeben ist. Eure wertvollste Gabe ist die der Nachahmung. Könnte man die nicht irgendwie ausnützen? Kees Festung ist nur von der Luft aus angreifbar.“ Darnl schüttelte den Kopf. „Wir können uns nicht in Flugzeuge verwandeln, Captain Main. Nur in lebende Wesen.“ „In Vögel vielleicht?“ rief Jerry hoffnungsvoll. „Wenn eine Armee von Adlern sich auf die Bergfestung stürzte …“ „Kee würde sofort wissen, daß es Kammies sind, und sie mit Anti-Kammy-Gas abwehren.“ „Ich muß Kee sprechen!“ sagte Jerry in plötzlichem Entschluß. „Vielleicht kann ich ihn von seinem wahnsinnigen Plan abbringen. Ihm klarmachen, daß Arkad nur auf den günstigen Augenblick lauert, den Planeten zu überfallen.“ „Kee wird Sie töten!“ rief Darnl. „Das Risiko nehme ich auf mich. Es ist unsere einzige Chance, ihn umzustimmen.“ „Wie wollen Sie hineinkommen?“ fragte Darnl, während sich der Wagen der Brücke über den American River näherte. Jerry lachte grimmig. „Ich werde einfach hingehen und Einlaß verlangen.“ „Vielleicht können wir Kammies doch etwas tun, um Ihnen zu helfen, Captain“, murmelte Darnl gedankenvoll. 142
Jerry ließ sich an der Brücke absetzen und ging zu Fuß zur Bergfestung weiter. Sie war wie ein mittelalterliches Schloß gebaut, barg aber die modernste Energieanlage des Planeten. Schon auf große Entfernung konnte Jerry das hohe Summen der Generatoren hören, die die Abschirmung speisten. Je näher er kam, desto langsamer und vorsichtiger ging er. Der Captain war sich bewußt, daß er von der Festung aus beobachtet wurde. Zweihundert Yards vor der Zugbrücke warf er seine Pistole weg und hob die Hände über den Kopf. „Halt!“ klang eine Stimme aus einem verborgenen Lautsprecher. Er erkannte Erskines Organ. „Bei allen Sternen, Main!“ schrie der Sekretär fassungslos. „Haben Sie den Verstand verloren, oder sind Sie lebensmüde, daß Sie hierherkommen?“ „Ich muß Admiral Kee sprechen“, antwortete Jerry ruhig. „Sind Sie allein?“ „Nein, er ist nicht allein!“ zischte eine Stimme dicht neben ihm. Aus dem Gebüsch richtete sich Noi, der Gesandte Arkads auf. „Auch ich will den Admiral sprechen.“ „Bringt sie beide herein!“ schrie Erskine. Gleich darauf kamen zwei Soldaten in terranischen Uniformen aus dem Tor gerannt. Sie untersuchten Jerry und Noi nach Waffen und führten sie dann in die Festung. Überall in der Festung sah Jerry Soldaten in terranischer Uniform. Er wußte jetzt, was mit den Leuten geschehen war, die General Kindman dem Admiral zur Verstärkung geschickt hatte: Sie saßen irgendwo in den unterirdischen 143
Verliesen, und ihre Waffen und Uniformen wurden von Kees Leuten benutzt. Erskine empfing die beiden Gefangenen mit höhnischem Triumph und brachte sie sofort zu Kee, der beide mißtrauisch musterte und sich zuerst an Jerry wandte. „Warum sind Sie hergekommen? Was hofften Sie zu gewinnen?“ Gelassen setzte Main ihm seinen Standpunkt auseinander. „Geben Sie Ihren wahnwitzigen Plan auf, Admiral Kee. Sie setzen den Planeten aufs Spiel. Nicht General Kindman, sondern Colonel Sigh hat jetzt das Kommando. Er wird sich nicht ergeben.“ „Das ist nur eine Frage der Zeit“, erwiderte Kee höhnisch. „Und wenn Sigh stur bleibt, bring’ ich auch noch die Bev-Kanonen der drei Raumschiffe zum Einsatz, deren Besatzungen mir ergeben sind. Dann können meine Truppen die Festung stürmen.“ „Schade!“ sagte Noi ruhig. „Sie hätten Arkad einen kleinen Stützpunkt auf Domega geben sollen. Jetzt nimmt sich Arkad, was es haben will. Sie irren, wenn Sie glauben, die Raumschiffe stünden unter Ihrem Kommando. Wir haben uns mit Mr. Dom geeinigt. Er ist Geldangeboten sehr zugänglich. Die Raumschiffe kämpfen jetzt unter arkadischer Flagge.“ „Werft den Kerl ins Gefängnis!“ schrie der Admiral mit zornrotem Gesicht. Sobald Noi abgeführt war, erinnerte sich Kee seines zweiten Gefangenen. „Den auch!“ schrie er und deutete auf Jerry. In diesem Augenblick sah Main, wie sich eine Efeuranke durchs Fenster schlängelte. Eine zweite, dritte, vierte folg144
ten blitzschnell, wanden sich um Arme und Beine der nächststehenden Soldaten und brachten diese zu Fall. In ganzen Bündeln tauchten jetzt Efeuranken in allen Fenstern auf. Und in Sekundenschnelle waren Kees Leute in ein Gewirr wuchernder Ranken verstrickt, die sich wie Schlangen um ihre Leiber wanden, ihre Kehlen umklammerten und sie erdrosselten. „Kammies!“ schrie Admiral Kee entsetzt. „Sie haben sich in Pflanzen verwandelt!“ Das, dachte Jerry, sind Darnls tausend Mann! Es war wohl der seltsamste Kampf, den Männer je zu führen hatten. Was nützten da Pistolen und Strahlenwaffen? Bald war das ganze Zimmer von einer lebendigen grünen Masse erfüllt, und einer nach dem anderen erstickte unter dem Würgegriff der Efeuranken. Aber wo war der Admiral? Jerry merkte plötzlich, daß Kee verschwunden war, und rannte hinaus, um die Verfolgung aufzunehmen. Im Hof der Festung bot sich ihm das gleiche Bild: Überall kämpften Kees Gefolgsleute verzweifelt gegen den grünen Feind. Aber keine der Pflanzen hielt Jerry auf. Es war klar, daß sie ihn kannten. Plötzlich sah Main den Admiral, der unbehelligt das Tor erreicht hatte und hinausstürzte. In diesem Augenblick setzte der von Noi angekündigte Angriff der arkadischen Raumschiffe ein. Es war Ironie des Schicksals, daß der erste Schuß aus den gewaltigen BevKanonen die Zugbrücke der Festung traf. Wo eben noch der flüchtende Admiral Kee zu sehen gewesen war, gähnte ein weißglühender Krater. 145
Jerry rannte ins Haus zurück, griff nach dem erstbesten Telefon und rief Fort Yarrow an. „Hier Captain Jerry Main. Geben Sie mir Colonel Sigh!“ Diesmal erreichte er den Colonel ohne Verzögerung. Er klärte ihn über die veränderte Lage in der Bergfestung auf. So konnte Sigh das Feuer auf die Festung einstellen und sich ganz der Abwehr des arkadischen Luftangriffs zuwenden. Der Rest war eine Angelegenheit von Minuten. Sobald die Arkader merkten, daß sie auf Widerstand trafen, zogen sie ihre Raumschiffe von Domega ab. Kees Freibeuter in der APOLLYON und den beiden Schwesterschiffen waren führerlos geworden und ergaben sich schon nach kurzem Beschuß durch die Bev-Kanonen beider Festungen. Der Krieg war zu Ende. Jerry wußte, daß Arkad keinen Versuch mehr machen würde, den Planeten anzugreifen. Es würde einige laue diplomatische Proteste von beiden Seiten geben. Aber Arkad war klug genug, die Rechte des Stärkeren zu achten. Und Terra hatte bewiesen, daß es stärker war. Als Jerry eine Stunde später Janice den Hergang berichtete, hatte sie Tränen der Dankbarkeit in den Augen. „Ohne Sie wären wir verloren gewesen, Jerry!“ „Nicht ich habe den Krieg entschieden“, wehrte er bescheiden ab. „Es waren die Kammies, die zum erstenmal bewiesen, daß sie nicht nur nachahmen können, sondern auch eigener Gedanken und eigener Initiative fähig sind. Ihre Gabe der Nachahmung ist ihre Stärke, wenn sie sie richtig anwenden. Wir beide, Janice, werden mithelfen, eine neue Welt zu bauen, in der Domega und Terra gleichberechtigt sind.“ 146
„Wir beide?“ „Du und ich, Janice! Für uns und unsere Kinder. Oder muß ich erst niederknien und dir einen förmlichen Heiratsantrag machen?“
Utopia-Zukunftsroman erscheint wöchentlich im Verlagshaus Erich Pabel GmbH. & Co. 7550 Rastatt (Baden), Pabel-Haus. Einzelpreis 0,70 DM. Anzeigenpreise laut Preisliste Nr. 16. Die Gesamtherstellung erfolgt in Druckerei Erich Pabel GmbH. 7550 Rastatt (Baden). Verantwortlich für die Herausgabe und den Inhalt in Österreich: Eduard Verbik; Alleinvertrieb und -auslieferung in Osterreich: Zeitschriftenvertrieb Verbik & Pabel KG – alle in Salzburg, Bohnhofstraße 15. Nachdruck, auch auszugsweise, sowie gewerbsmäßige Weiterverbreitung in Lesezirkeln nur mit vorheriger Zustimmung des Verlegers gestattet. Gewerbsmäßiger Umlausch, Verleih oder Handel unter Lodenpreis vom Verleger untersagt. Zuwiderhandlungen verpflichten zu Schadenersatz. Für unverlangte Manuskriptsendungen wird keine Gewähr übernommen. Printed in Germany. Copyright ©, 1964 by Russ Winterbotham. Gepr. Rechtsanwalt Horn
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Der Massenmensch … und andere Utopia-Kurzgeschichten von Jack Vance, Avram Davidson, Philip K. Dick, Lester del Rey Mit diesem Utopia-Story-Band bringen wir allen SF-Fans wieder einen besonderen Leckerbissen. LESTER DEL REY erzählt die Geschichte eines Sterbenden und eines Mannes, der nicht weiß, ob er in der Hölle gelandet ist. AVRAM DAVIDSON berichtet von Knox, der äußerst seltsame Ware verkauft: Leichen. PHILIP K. DICK stellt uns ein Wesen vor, das völlig entbehrlich ist, nämlich ein Exemplar des homo sapiens. Außerdem zeigt er uns eine Konservierungsmaschine, die Wagnertiere und andere Merkwürdigkeiten hervorbringt. JACK VANCE endlich nimmt uns mit auf Ullwards Farm und zu Ullwards Planeten. UTOPIA-STORY-BÄNDE SIND ETWAS BESONDERES Sichern Sie sich Ihr Exemplar dieser Nummer bitte rechtzeitig.
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